Protokoll:
14041

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Metadaten
  • date_rangeWahlperiode: 14

  • date_rangeSitzungsnummer: 41

  • date_rangeDatum: 8. Juni 1999

  • access_timeStartuhrzeit der Sitzung: 09:30 Uhr

  • av_timerEnduhrzeit der Sitzung: 14:34 Uhr

  • account_circleMdBs dieser Rede
  • tocInhaltsverzeichnis
    Plenarprotokoll 14/41 Deutscher Bundestag Stenographischer Bericht 41. Sitzung Bonn, Dienstag, den 8. Juni 1999 I n h a l t : Tagesordnungspunkt 1: a) Abgabe einer Regierungserklärung des Bundeskanzlers Ergebnisse des Europäischen Rates am 3. und 4. Juni 1999 in Köln und zum Stand der Friedensbemühungen im Ko- sovo-Konflikt ............................................ 3483 A b) Antrag der Bundesregierung Deutsche Beteiligung an einer interna- tionalen Sicherheitspräsenz im Kosovo zur Gewährleistung eines sicheren Um- feldes für die Flüchtlingsrückkehr und zur militärischen Absicherung einer Friedensregelung für das Kosovo (Drucksache 14/1111) ................................ 3483 B Gerhard Schröder, Bundeskanzler ................... 3483 B Dr. Wolfgang Schäuble CDU/CSU ................. 3488 A Rudolf Scharping, Bundesminister BMVg ...... 3492 C Dr. Wolfgang Gerhardt F.D.P.......................... 3495 D Dr. Ludger Volmer, Staatsminister AA ........... 3497 C Dr. Gregor Gysi PDS....................................... 3501 C Michael Glos CDU/CSU.................................. 3504 B Dr. Helmut Lippelt BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN................................................... 3505 A Gernot Erler SPD............................................. 3507 D Dr. Helmut Haussmann F.D.P. ........................ 3509 D Dr. Helmut Lippelt BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN................................................................. 3511 C Dr. Friedbert Pflüger CDU/CSU...................... 3512 B Günter Verheugen, Staatsminister AA............. 3514 B Dr. Norbert Wieczorek SPD ............................ 3516 C Tagesordnungspunkt 2: Aktuelle Stunde betr. Haltung der Bundesregierung zu den Ankündigun- gen einer Mehrwertsteuererhöhung und einer fortlaufenden Erhöhung der Mi- neralölsteuer durch den Bundesfinanz- minister ..................................................... 3519 C Rainer Brüderle F.D.P. .................................... 3519 D Jörg-Otto Spiller SPD...................................... 3520 D Gerda Hasselfeldt CDU/CSU .......................... 3522 A Klaus Wolfgang Müller (Kiel) BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN................................................. 3522 D Heidemarie Ehlert PDS.................................... 3524 A Karl Diller, Parl. Staatssekretär BMF.............. 3525 A Friedrich Merz CDU/CSU............................... 3526 C Dr. Reinhard Loske BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN................................................................. 3527 D Dr. Günter Rexrodt F.D.P................................ 3528 D Wolfgang Grotthaus SPD ................................ 3529 D Dietrich Austermann CDU/CSU ..................... 3531 A Lydia Westrich SPD ........................................ 3532 B Dr. Klaus W. Lippold (Offenbach) CDU/CSU 3533 B Reinhard Schultz (Everswinkel) SPD.............. 3534 C Nächste Sitzung ............................................... 3535 C Berichtigungen................................................. 3535 B Anlage Liste der entschuldigten Abgeordneten ........... 3537 A Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 41. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 8. Juni 1999 3483 (A) (C) (B) (D) 41. Sitzung Bonn, Dienstag, den 8. Juni 1999 Beginn: 9.30 Uhr
  • folderAnlagen
    Berichtigungen 40. Sitzung am Freitag, 7. Mai 1999, Seite 3414 D, na- mentliche Abstimmung zum Entschließungsantrag auf Drucksache 14/997: Abgeordneter Dr. Reinhard Loske (BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN) hat sich bei der namentli- chen Abstimmung nicht, wie angegeben, der Stim- me enthalten, sondern mit Nein gestimmt. Dement- sprechend ändert sich das endgültige Ergebnis der Abstimmung. Die Zahl der Nein-Stimmen beträgt tatsächlich 567 und der Enthaltungen 8. Im selben Plenarprotokoll ist auf Seite III sowie auf Seite 3473 A jeweils bei Anlage 6 statt Günter Veit ,,Rüdiger Veit“ zu lesen. Bei den unter Anlage 6 aufgeführten Namen gehört die Abgeordnete Claudia Roth (Hamburg) nicht der SPD- Fraktion an, sondern der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN. Auf Seite 3478 D ist bei dem Rednerkopf Petra Ernstberger statt PDS ,,SPD“ zu lesen. Reinhard Schultz (Everswinkel) Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 41. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 8. Juni 1999 3537 (A) (C) (B) (D) Anlage zum Stenographischen Bericht Anlage Liste der entschuldigten Abgeordneten Abgeordnete(r) entschuldigt biseinschließlich Altmann (Aurich), Gila BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 8.6.99 Blank, Renate CDU/CSU 8.6.99 Dr. Böhmer, Maria CDU/CSU 8.6.99 Braun (Augsburg), Hildebrecht F.D.P. 8.6.99 Brinkmann (Hildesheim), Bernhard SPD 8.6.99 Bruckmann, Hans-Günter SPD 8.6.99 Bulmahn, Edelgard SPD 8.6.99 Eichhorn, Maria CDU/CSU 8.6.99 Eppelmann, Rainer CDU/CSU 8.6.99 Fischer (Berlin), Andrea BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 8.6.99 Fischer (Frankfurt), Joseph BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 8.6.99 Frick, Gisela F.D.P. 8.6.99 Friedhoff, Paul K. F.D.P. 8.6.99 Friedrich (Bayreuth), Horst F.D.P. 8.6.99 Friedrich (Altenburg), Peter SPD 8.6.99 Funke, Rainer F.D.P. 8.6.99 Gebhardt, Fred PDS 8.6.99 Dr. Geißler, Heiner CDU/CSU 8.6.99 Gradistanac, Renate SPD 8.6.99 Günther (Plauen), Joachim F.D.P. 8.6.99 Hartenbach, Alfred SPD 8.6.99 Heinrich, Ulrich F.D.P. 8.6.99 Dr. Höll, Barbara PDS 8.6.99 Hoffmann (Wismar), Iris SPD 8.6.99 Hornung, Siegfried CDU/CSU 8.6.99 Hübner, Carsten PDS 8.6.99 Jäger, Renate SPD 8.6.99 Janz, Ilse SPD 8.6.99 Jüttermann, Gerhard PDS 8.6.99 Kalb, Bartholomäus CDU/CSU 8.6.99 Kampeter, Steffen CDU/CSU 8.6.99 Kasparick, Ulrich SPD 8.6.99 Abgeordnete(r) entschuldigt biseinschließlich Dr. Köster-Lößack, Angelika BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 8.6.99 Kolbow, Walter SPD 8.6.99 Koschyk, Hartmut CDU/CSU 8.6.99 Kumpf, Ute SPD 8.6.99 Leidinger, Robert SPD 8.6.99 Lengsfeld, Vera CDU/CSU 8.6.99 Lensing, Werner CDU/CSU 8.6.99 Leutheusser- Schnarrenberger, Sabine F.D.P. 8.6.99 Mante, Winfried SPD 8.6.99 Dr. Mayer (Siegertsbrunn), Martin CDU/CSU 8.6.99 Meckel, Markus SPD 8.6.99 Dr. Meyer (Ulm), Jürgen SPD 8.6.99 Möllemann, Jürgen W. F.D.P. 8.6.99 Moosbauer, Christoph SPD 8.6.99 Müller (Jena), Bernward CDU/CSU 8.6.99 Müller (Kirchheim), Elmar CDU/CSU 8.6.99 Nahles, Andrea SPD 8.6.99 Neumann (Bremen), Bernd CDU/CSU 8.6.99 Oswald, Eduard CDU/CSU 8.6.99 Otto (Frankfurt), Hans-Joachim F.D.P. 8.6.99 Philipp, Beatrix CDU/CSU 8.6.99 Reiche, Katherina CDU/CSU 8.6.99 Reinhardt, Erika CDU/CSU 8.6.99 Rönsch (Wiesbaden), Hannelore CDU/CSU 8.6.99 Dr. Rössel, Uwe-Jens PDS 8.6.99 Roth (Gießen), Adolf CDU/CSU 8.6.99 Rübenkönig, Gerhard SPD 8.6.99 Schaich-Walch, Gudrun SPD 8.6.99 Schauerte, Hartmut CDU/CSU 8.6.99 Scherhag, Karl-Heinz CDU/CSU 8.6.99 Schmidt-Zadel, Regina SPD 8.6.99 von Schmude, Michael CDU/CSU 8.6.99 Schuhmann (Delitzsch), Richard SPD 8.6.99 Schulhoff, Wolfgang CDU/CSU 8.6.99 3538 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 41. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 8. Juni 1999 (A) (C) (B) (D) Abgeordnete(r) entschuldigt biseinschließlich Dr. Schwall-Düren, Angelica SPD 8.6.99 Seehofer, Horst CDU/CSU 8.6.99 Späte, Margarete CDU/CSU 8.6.99 Spanier, Wolfgang SPD 8.6.99 Spranger, Carl-Dieter CDU/CSU 8.6.99 Dr. Staffelt, Ditmar SPD 8.6.99 Steiger, Wolfgang CDU/CSU 8.6.99 Tappe, Joachim SPD 8.6.99 Tauss, Jörg SPD 8.6.99 Teuchner, Jella SPD 8.6.99 Abgeordnete(r) entschuldigt biseinschließlich Uldall, Gunnar CDU/CSU 8.6.99 Voß, Sylvia BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 8.6.99 Weißgerber, Gunter SPD 8.6.99 Wiesehügel, Klaus SPD 8.6.99 Willner, Gert CDU/CSU 8.6.99 Wissmann, Matthias CDU/CSU 8.6.99 Wöhrl, Dagmar CDU/CSU 8.6.99 Wolf, Aribert CDU/CSU 8.6.99 Wolff (Zielitz), Waltraud SPD 8.6.99 Würzbach, Peter Kurt CDU/CSU 8.6.99 Druck: Bonner Universitäts-Buchdruckerei, 53113 Bonn 53003 Bonn, Telefon: 02 28/3 82 08 40, Telefax: 02 28/3 82 08 44 20
Gesamtes Protokol
Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1404100000
Guten Morgen, liebe
Kolleginnen und Kollegen! Die Sitzung ist eröffnet.

Die heutige Sitzung habe ich gemäß Art. 39 Abs. 3
des Grundgesetzes in Verbindung mit § 21 Abs. 2 der
Geschäftsordnung auf Verlangen des Bundeskanzlers
einberufen.

Ich rufe die Tagesordnungspunkte 1a und b auf:
1.a) Abgabe einer Regierungserklärung des Bun-

deskanzlers
Ergebnisse des Europäischen Rates am 3. und
4. Juni 1999 in Köln und zum Stand der Frie-
densbemühungen im Kosovo-Konflikt

b) Beratung des Antrags der Bundesregierung
Deutsche Beteiligung an einer internationalen
Sicherheitspräsenz im Kosovo zur Gewährlei-
stung eines sicheren Umfeldes für die Flücht-
lingsrückkehr und zur militärischen Absiche-
rung einer Friedensregelung für das Kosovo
– Drucksache 14/1111 –

(federführend Es liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion der PDS vor. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache im Anschluß an die Regierungserklärung zweieinhalb Stunden vorgesehen. – Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung hat der Herr Bundeskanzler, Gerhard Schröder. Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Europäische Rat in Köln hat in der vergangenen Woche Be schlüsse gefaßt, die ihn als wichtigen Gipfel in Erinnerung behalten lassen werden. Am vergangenen Donnerstag überbrachte Präsident Ahtisaari die Nachricht aus Belgrad: Die jugoslawische Führung und das serbische Parlament haben dem von ihm und Viktor Tschernomyrdin vorgelegten Petersberger Friedensplan zu einer Beilegung des Konfliktes ohne Einschränkung zugestimmt. Damit ist die Tür zum Frieden geöffnet. Wir haben Grund zu Optimismus, aber Vorsicht ist weiterhin angebracht. Die Belgrader Führung – das hat sich in den letzten Tagen gezeigt – versucht weiter, einzelne, auch wesentliche Bestimmungen des Petersberger Dokumentes zu umgehen. Dies war zu erwarten, dies kann aber nicht zugelassen werden. Wir werden fest bleiben und auf der genauen Umsetzung jeder einzelnen Bestimmung des Dokumentes bestehen. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie des Abg. Dr. Hermann Kues [CDU/CSU])

Gerhard Schröder (SPD):
Rede ID: ID1404100100

Belgrad muß jetzt einem detaillierten Abzugsplan für die
jugoslawischen Sicherheitskräfte zustimmen. Ansonsten
werden die Flüchtlinge nicht in Sicherheit und ohne
Furcht in ihre Heimat zurückkehren können. Erst wenn
ein vollständiger Abzug begonnen hat, können die Luft-
schläge der NATO gegen Jugoslawien ausgesetzt wer-
den.

Meine Damen und Herren, der EU-Beauftragte Ahti-
saari, der russische Sonderbeauftragte Tschernomyrdin
und der stellvertretende US-Außenminister Talbott ha-
ben in der letzten Woche eine, wie wir alle hoffen, ent-
scheidende Dynamik in Gang gebracht. Ihnen gebührt
größter Dank für ihren Einsatz, ihre Beharrlichkeit und
ihr diplomatisches Geschick.


(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, der CDU/CSU und der F.D.P.)


Ich bin sicher, daß ich diese Dankbarkeit auch im Na-
men des Deutschen Bundestages und der gesamten Be-
völkerung unseres Landes aussprechen darf. Respekt
gebührt vor allem aber auch Präsident Jelzin, ohne des-






(B)



(A) (C)



(D)


sen Vertrauen Viktor Tschernomyrdin seine Aufgabe
nicht hätte bewältigen können.


(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, der CDU/CSU und der F.D.P.)


Die Arbeit von Ahtisaari und Tschernomyrdin zeigt:
Frieden können wir in Europa nur schaffen und bewah-
ren, wenn wir gemeinsam, das heißt mit Rußland mit
den Vereinigten Staaten, agieren. Heute können wir mit
Fug und Recht sagen: Die Politik der Bundesregierung
in der Kosovo-Krise hat sich als richtig erwiesen – mi-
litärische Festigkeit einerseits, gleichzeitig aber die Ent-
schlossenheit, eine breite internationale Plattform zu
schaffen, von der aus die Zustimmung der Belgrader
Führung zu einer politischen Lösung erreicht werden
kann und erreicht werden konnte.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Wir haben in den vergangenen Wochen nicht nur die
Einheit innerhalb der NATO bewahrt. Die deutsche Prä-
sidentschaft hat diese Einheit auch in der Europäischen
Union maßgeblich gestaltet und erhalten, also auch unter
denjenigen europäischen Staaten, die der NATO nicht
angehören. Über die G 8 und die Beauftragung von Prä-
sident Ahtisaari hat sie erreicht – das ist insbesondere
ein Verdienst des Bundesaußenministers –, daß sich
Rußland dem internationalen Konsens angeschlossen
hat.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Europa hat unter deutscher Präsidentschaft in der Kosovo-
Krise politische Führungskraft bewiesen.

Der von Belgrad akzeptierte Friedensplan beinhaltet
die folgenden Elemente: ein sofortiges Ende der Gewalt
und Unterdrückung im Kosovo; Abzug aller – ich be-
tone: aller – jugoslawischen Sicherheitskräfte, das heißt:
Militär, Sonderpolizei und paramilitärische Einheiten;
Stationierung einer internationalen Friedenstruppe mit
einem NATO-Kern und einer erheblichen Beteiligung
russischer Truppen und Truppen anderer Nicht-NATO-
Staaten – alles unter dem Dach der Vereinten Nationen –;
die Rückkehr aller Flüchtlinge und Vertriebenen in ihre
Heimat unter Überwachung des UNHCR; Beginn eines
politischen Prozesses mit dem Ziel, eine substantielle
Autonomie für das Kosovo im Rahmen der Souveränität
und der territorialen Integrität der Bundesrepublik Jugo-
slawien zu erreichen.

Die Meldungen und Entwicklungen seit dem Wo-
chenende haben aber eines gezeigt: Schon die nächsten
Tage und Wochen werden eine kritische Phase auf dem
Weg zu einer tragfähigen, stabilen Situation im Kosovo
sein. Die internationalen Friedenstruppen müssen un-
mittelbar hinter den abziehenden jugoslawischen Si-
cherheitskräften in das Kosovo einrücken, um kein Si-
cherheitsvakuum entstehen zu lassen. Der Einzug einer
robusten internationalen Friedenstruppe mit 50 000 Sol-
daten wird schwierig sein und gewiß nicht ohne Risiko.

Wir kennen noch nicht das volle Ausmaß der Zerstö-
rungen. Es wird Gefahren durch Minen geben. Wider-

stand durch unkontrollierte serbische Einheiten ist denk-
bar. Sodann müssen sich die Kämpfer der UCK demo-
bilisieren, und sie müssen ihre Waffen abgeben.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Auch wenn sie nicht auf den Widerstand der einen oder
anderen Seite trifft, wird die Friedenstruppe bei ihrem
Einzug und ihrer Stationierung vor wirklich schwierige
Herausforderungen gestellt sein. Sodann muß die Rück-
kehr von einer Million Flüchtlingen und Vertriebenen
ins Werk gesetzt werden. Die Menschen sollen noch vor
Einbruch des Winters in ihre Städte, Dörfer und Häuser
zurückkehren können.

Dem UNHCR wird hierbei eine führende Rolle zu-
kommen. Aber – wir haben es erfahren – er kann die
Probleme nicht alleine lösen. Wohnhäuser und lebens-
wichtige Infrastruktur sind zerstört. Durch den Ausfall
der landwirtschaftlichen Produktion mangelt es an Nah-
rung. Hier werden eine Reihe von internationalen Orga-
nisationen, vor allem aber die Soldaten der Friedens-
truppen anpacken und helfen müssen.

Meine Damen und Herren, die Bundeswehr hat sich
in den vergangenen Wochen nicht nur an den militäri-
schen NATO-Operationen im Rahmen unserer Bündnis-
solidarität, sondern auch in vorbildlicher Weise an der
Hilfe für Hunderttausende von Flüchtlingen in Mazedo-
nien und Albanien beteiligt. Sie hat sich hierdurch gro-
ßen Respekt und den Dank bei den Menschen in der Re-
gion, aber auch bei den vielen internationalen zivilen
Helfern erworben. Dafür möchte ich den Soldaten der
Bundeswehr noch einmal herzlich danken und ihnen
meine und, so denke ich, unser aller Anerkennung aus-
sprechen.


(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, der CDU/CSU und der F.D.P.)


Die Bundeswehr wird ihre Tätigkeit im Dienst für
den Frieden im Kosovo gemäß den Beschlüssen dieses
Hohen Hauses fortsetzen. Sie soll ihre Erfahrung von
Anfang an in der internationalen Friedenstruppe nutzbar
machen und so für ein stabiles und sicheres Umfeld für
die zurückkehrenden Flüchtlinge sorgen. Ich habe kei-
nen Zweifel daran, daß die Bundeswehr bestens auf die
ihr bevorstehenden Aufgaben vorbereitet ist.

Die Bundesregierung hat gestern unter Bezugnahme
auf vorherige Beschlüsse und vorbehaltlich der Zustim-
mung des Deutschen Bundestages die Teilnahme der
Bundeswehr an der Friedensmission im Kosovo be-
schlossen. Ich bitte Sie, dem Beschlußvorschlag Ihre
Unterstützung zu geben, sobald die Voraussetzungen
vorliegen und der Sicherheitsrat mit der Entsendung der
Friedenstruppe befaßt ist. Ich hoffe sehr, daß dies in
ganz kurzer Zeit – noch heute oder spätestens morgen –
der Fall sein wird.

Zu Beginn der Luftschläge der NATO habe ich am
24. März vom Berliner Gipfel aus erklärt, daß wir im
Kosovo gemeinsam mit allen Bündnispartnern die
grundlegenden Werte von Freiheit, von Demokratie und
von Menschenrechten verteidigen. Ich habe gesagt, daß
wir nicht zulassen dürfen, daß diese Werte nur eine

Bundeskanzler Gerhard Schröder






(A) (C)



(B) (D)


Flugstunde von uns entfernt buchstäblich mit Füßen ge-
treten werden. Die Belgrader Führung habe ich aufge-
fordert, die Kämpfe im Kosovo sofort zu beenden und
sich für den Frieden zu entscheiden. Wir alle haben da-
mals gehofft, daß sich die Vernunft in Belgrad schnell
durchsetzen würde. Wir sind in diesen Hoffnungen ent-
täuscht worden. Statt dessen hat die Belgrader Führung
die Vertreibung und das Morden auf grausamste Weise
intensiviert. Die im Kosovo begangenen Verbrechen
werden nicht dadurch rückgängig gemacht, daß die
Menschen – hoffentlich bald – in ihre Heimat zurück-
kehren. Die Kosovaren haben einen Anspruch auf Ge-
rechtigkeit. Die Verantwortung für das Leid, das ihnen
zugefügt wurde, muß festgestellt und strafrechtlich ge-
ahndet werden.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der F.D.P. und der Abg. Dr. Heidi Knake-Werner [PDS])


Der Strafgerichtshof in Den Haag hat am 27. Mai
Anklage gegen den jugoslawischen Präsidenten Milose-
vic und gegen weitere Mitglieder der Belgrader Führung
wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit erhoben.
Die Bundesregierung hat die Arbeit dieses Tribunals in
der Vergangenheit vorbehaltlos unterstützt und wird es
auch in Zukunft tun. Ohne Gerechtigkeit kann es keine
dauerhafte Stabilisierung und keine wirkliche Demokra-
tisierung in Jugoslawien geben.

Lassen Sie mich an dieser Stelle aber auch ein Wort
über die Opfer und über das Leiden der serbischen Zi-
vilbevölkerung sagen. Wir haben gemeinsam mit den
NATO-Partnern von Anfang an klargestellt, daß sich die
Militäraktionen nicht gegen das serbische Volk richten
und daß wir alles tun werden, Verluste unter der Zivil-
bevölkerung zu vermeiden. Aber doch – gleichsam ohne
die Möglichkeit, dies zu verhindern – hat es unschuldige
Opfer gegeben. Ich bedaure dies zutiefst und bin mir
bewußt, daß es für die Opfer und ihre Familienangehöri-
gen keine zufriedenstellende Erklärung sein kann, wenn
ich darauf hinweise, daß die Belgrader Führung die volle
Verantwortung für die Konsequenzen der militärischen
Auseinandersetzung zu tragen hat.

Für mich gibt es keinen Zweifel, daß die NATO-
Intervention im Kosovo zwingend notwendig war. Dabei
will ich einräumen, daß die Verteidigung der Menschen-
rechte von Regierenden Maßnahmen verlangt, durch die
der Handelnde auch Schuld auf sich lädt. Doch auch der,
der nicht handelt, würde in dieser Situation Schuld auf
sich laden. Ich bin sicher: Nicht gehandelt zu haben
hätte zu noch größerer Schuld geführt, nämlich der
Schuld unterlassener Hilfeleistung für bedrängte und
gequälte Menschen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Die Kosovo-Krise führt uns eindringlich vor Augen,
daß Europa sein Engagement auf dem Balkan nicht auf
das Management periodisch immer wieder auftretender
Krisen beschränken kann und darf. Es kann in Südosteu-
ropa kein Nebeneinander von Stabilitätsinseln und Kri-

senherden geben. Wir müssen uns auf eine regionale
Konfliktprävention konzentrieren. Deshalb hat die
deutsche Präsidentschaft noch während des Fortgangs
der Kosovo-Krise beschlossen, eine umfassende Hilfs-
strategie für die Länder dieser Region auf den Weg zu
bringen. Am 10. Juni werden die Außenminister der Eu-
ropäischen Union, der Staaten der Region, der USA,
Rußlands und der Türkei sowie die EU-Kommission und
die wichtigsten internationalen Organisationen ein-
schließlich der Finanzorganisationen in Köln zusam-
mentreffen, um einen Stabilitätspakt für Südosteuro-
pa zu verabschieden.

Ziel dieses Stabilitätspaktes ist die Entwicklung einer
Perspektive von Frieden, Wohlstand und damit Stabili-
tät. Wir wollen gewaltsame Konflikte gar nicht erst zum
Ausbruch kommen lassen; wir wollen sie verhindern.
Dazu müssen wir dauerhafte Voraussetzungen für De-
mokratie, Marktwirtschaft, regionale Zusammenarbeit
und gutnachbarliche Beziehungen schaffen sowie die
betreffenden Staaten nachhaltig, wenn auch Schritt für
Schritt, in Europa verankern.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der F.D.P.)


Beim Kölner Gipfel haben wir beschlossen, daß die
Europäische Union eine führende Rolle beim Stabili-
tätspakt und beim wirtschaftlichen Wiederaufbau der
Region spielen soll. Der Europäische Rat hat auch seine
Bereitschaft erklärt, die Länder der Region enger an die
Union heranzuführen, mit der Perspektive einer vollen
Integration in ihre Strukturen. Die Kommission hat hier-
zu eine neue Form vertraglicher Beziehungen vorge-
schlagen. In Köln hat die Union weiterhin beschlossen,
beim Wiederaufbau und bei der Übergangsverwaltung
im Kosovo eine zentrale Rolle zu übernehmen.

Wir alle wissen, daß Jugoslawien eine Schlüsselrolle
für die Stabilität auf dem Balkan zukommt. Das Land
muß so schnell als möglich ein voller, ein gleichberech-
tigter Partner im Stabilitätspakt sein.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Aber – auch das gilt es hinzuzufügen – es ist kaum
denkbar, daß ein Jugoslawien mit seiner derzeitigen
Führung ein vertrauenswürdiger Partner in der Region
und in Europa sein kann.


(Beifall bei der SPD und der F.D.P. sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der CDU/CSU)


Der Präsident von Montenegro und der serbische Op-
positionsführer Djindjic haben kürzlich zu Recht festge-
stellt, daß nur ein demokratisches Jugoslawien Stabilität
auf dem Balkan auf Dauer gewährleisten kann.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Sie haben erklärt, daß die Kosovo-Krise die Chance
bietet, mit internationaler Hilfe einen Neuanfang für Ju-
goslawien zu schaffen. Ich hoffe, daß das Land und sei-
ne Menschen diese Chance so schnell wie möglich er-

Bundeskanzler Gerhard Schröder






(B)



(A) (C)



(D)


greifen. Europa jedenfalls ist zur Hilfe bei der Demo-
kratisierung bereit.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der F.D.P.)


Meine Damen und Herren, die Europäische Union hat
beim Gipfel in Berlin zu Beginn der NATO-Operation
große Geschlossenheit bewiesen, und sie hat diese Ge-
schlossenheit bis zum Europäischen Rat in Köln be-
wahrt. Am Ende der deutschen Präsidentschaft in der
Europäischen Union blicken wir auf ein ungemein ar-
beitsintensives Halbjahr zurück. Schon heute besteht
Anlaß, mit dem Ergebnis von Köln eine erste Bilanz der
deutschen Präsidentschaft zu ziehen.

Wir haben die Präsidentschaft in einer für Europa und
die Europäische Union gewiß schwierigen Zeit über-
nommen. Wir waren wie noch keine Präsidentschaft vor
uns mit einer Bündelung von Herausforderungen kon-
frontiert: Agenda 2000, Rücktritt der Kommission,
Krieg im Kosovo. Wir haben in diesem Halbjahr viel, ja
sehr viel erreicht.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Unruhe bei der CDU/CSU und der F.D.P.)


Schon beim Sondertreffen des Europäischen Rates im
März 1999 konnte die deutsche Präsidentschaft in zwei
ganz wichtigen Bereichen grundsätzliche und rich-
tungsweisende Entscheidungen erreichen. In Berlin gab
es – das hatte niemand erwartet – eine Einigung über die
Agenda 2000.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Dr. Peter Ramsauer [CDU/CSU]: Aber zu welchem Preis für Deutschland? – Weitere Zurufe von der CDU/CSU)


– Ich erinnere mich an Ihre aufgeregten Stellungnah-
men, wir sollten den Gipfel in Berlin besser verschieben.
Das haben Sie doch ständig erklärt. Erinnern Sie sich
dessen nicht mehr?


(Zurufe von der CDU/CSU)

– Es waren gar nicht Sie, Herr Schäuble. Es war Ihr
ehemaliger Kanzlerkandidat Stoiber, der immer von der
Verschiebung geredet hat.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Und in Berlin hat sich der Europäische Rat auf mei-
nen Vorschlag hin darauf verständigt, den früheren ita-
lienischen Ministerpräsidenten Romano Prodi als neuen
Präsidenten der Kommission vorzuschlagen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Die überragende Zustimmung durch das Europäische
Parlament ist der beste Beweis dafür, daß Romano Prodi
eine gute Wahl ist.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Auch der Europäische Rat in Köln stand natürlich im
Zeichen der aktuellen Entwicklungen in der Kosovo-
Krise. Dennoch hat dieser Europäische Rat – der erste
nach Inkrafttreten des Amsterdamer Vertrags – erneut
die Handlungs- und Entscheidungsfähigkeit der Euro-
päischen Union unter deutscher Präsidentschaft unter
Beweis gestellt. Entscheidende und bedeutende europa-
politische Vorhaben sind auf den Weg gebracht worden.
Europa hat deutlich gemacht, daß es gewillt ist, die neu-
en Möglichkeiten, die es mit dem Amsterdamer Vertrag
gewonnen hat, entschlossen zu nutzen. Bester Ausdruck
hierfür ist, daß sich die Mitgliedstaaten der Europäi-
schen Union rasch und in großem Einvernehmen auf den
jetzigen NATO-Generalsekretär Solana als künftigen
Hohen Beauftragten für die Gemeinsame Außen-
und Sicherheitspolitik der Europäischen Union ver-
ständigt haben. Auch das war ein Vorschlag der Präsi-
dentschaft.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Ich denke, einen besseren und profilierteren Kandi-

daten hätten wir nicht finden können. Solana wird der
europäischen Außen- und Sicherheitspolitik die Stimme
verleihen, die ihr bisher so sehr fehlte. Damit wird Eu-
ropa international erheblich an Gewicht gewinnen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Europa wird außenpolitisch mit einer Stimme sprechen,
und es wird weltweit mehr als je zuvor Gehör finden.

Vom Europäischen Rat in Köln gehen darüber hinaus
wichtige Impulse und Orientierungen für die Fortent-
wicklung Europas aus. Wir haben in einigen wesentli-
chen Bereichen Ergebnisse erzielt, die weit über die
deutsche Präsidentschaft hinausweisen und die für die
kommenden Arbeiten in Europa eine Art Fahrplan bis
Ende 2000 skizzieren:

Erstens. Wir haben einen Europäischen Beschäfti-
gungspakt beschlossen. Ziel ist, nationale Anstrengun-
gen zur Schaffung von mehr Beschäftigung auf europäi-
scher Ebene zu begleiten und zu unterstützen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Flankierend dazu haben wir eine europäische Investiti-
onsinitiative auf den Weg gebracht.

Zweitens. Vor dem Hintergrund der Kosovo-Krise
haben wir in Köln einen Fahrplan für die Ausgestaltung
einer eigenständigen europäischen Sicherheits- und
Verteidigungspolitik verabschiedet. Europa braucht
mehr denn je eigene Kapazitäten zum Krisenmanage-
ment.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Dabei steht fest: Dies soll keine Alternative zur
NATO sein. Dies wird das Atlantische Bündnis und das
europäische Gewicht in der NATO stärken. Eine stärke-
re Rolle Europas in der Sicherheits- und Verteidigungs-
politik wird Europa wie auch der NATO nützen. Des-
halb wollen wir die im Amsterdamer Vertrag formulier-
ten Perspektiven möglichst bald im Rahmen der euro-

Bundeskanzler Gerhard Schröder






(A) (C)



(B) (D)


päischen Integration umsetzen. Bis Ende des Jahres
2000 sollen unter französischer Präsidentschaft die dafür
erforderlichen rechtsförmlichen Beschlüsse gefaßt wer-
den.

Drittens. Der Europäische Rat in Köln hat eine ge-
meinsame Strategie für Rußland beschlossen. Von ihr
gehen wichtige Signale aus: Zum einen ist sie Beweis
dafür, daß sich Europa zu mehr außenpolitischer Ge-
meinsamkeit zusammenfindet, und zum anderen dafür,
daß es seine Politik gegenüber wichtigen Partnern bün-
deln und koordinieren will. Daß sich die erste gemein-
same Strategie der EU auf Rußland richtet, ist Beweis
dafür, welch außerordentliches Gewicht wir Europäer
einer engen und partnerschaftlichen Kooperation mit
Rußland auf ökonomischem – aber nicht nur auf öko-
nomischem – Gebiet beimessen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Wir Europäer wollen diese Partnerschaft ausbauen und
Rußland auf seinem Weg der Reformen und der Demo-
kratisierung weiter mit aller Kraft unterstützen.

Viertens. Ferner haben wir uns in Köln auf das weite-
re Vorgehen bei der Lösung der seinerzeit in Amsterdam
offengebliebenen institutionellen Fragen verständigt.
Anfang des Jahres 2000 wird eine Regierungskonferenz
einberufen werden, um auch auf diesem Felde die EU
erweiterungsfähig zu machen. Europa steht zu seinen
Zusagen. Wir wollen die mittel- und osteuropäischen
Länder sobald als möglich in die Europäische Union
aufnehmen. Dafür haben wir in Berlin mit der Verab-
schiedung der Agenda 2000 wesentliche Grundlagen
gelegt.


(Dr. Helmut Haussmann [F.D.P.]: Na, na!)

Die letzten Hindernisse für die Erweiterung werden wir
mit dem Abschluß der in Köln beschlossenen Regie-
rungskonferenz zu den institutionellen Reformen bis
Ende 2000 aus dem Weg geräumt haben.

Die Bilanz der deutschen Präsidentschaft ist ein Be-
weis für unser Engagement zugunsten der Erweiterung
der Union. Das wird in den ost- und mitteleuropäischen
Staaten durchaus so gesehen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Wir haben damit den Weg für schnelle Fortschritte in
diesem Prozeß frei gemacht. Jetzt sind in erster Linie die
Beitrittsländer selbst gefordert. Sie müssen ihre konse-
quente Reformpolitik fortsetzen. Erfolge in diesem Be-
reich werden letztlich über konkrete Beitrittstermine
entscheiden. Die Fortschrittsberichte, die die Kommissi-
on regelmäßig vorzulegen hat, und die Tatsache, daß sie
über den Stand der Verhandlungen zu berichten hat, sind
ein Beweis dafür.

Fünftens. Schließlich haben wir in Köln ein weiteres
zukunftsweisendes Projekt angestoßen. Wir haben uns
darauf verständigt, daß unter der kommenden finnischen
Präsidentschaft eine Art Konvent aus nationalen Parla-
mentariern, Europaparlamentariern, Vertretern der Re-
gierungen der Mitgliedstaaten und Vertretern der Kom-

mission unter Beteiligung gesellschaftlicher Gruppen
einberufen wird, die eine Grundrechtscharta der Eu-
ropäischen Union erarbeiten soll.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Dieses politische Grundsatzdokument wollen wir – so
sehen es die Festlegungen vor – beim Europäischen Rat
im Dezember 2000 unter französischer Präsidentschaft
verabschieden. Europäische Grundrechte sind aber un-
mittelbar Angelegenheit der europäischen Bürger. Wir
wollen eben nicht nur einen Vertrag zwischen Regierun-
gen, sondern eine intensive öffentliche Diskussion, in
der die Europäer selbst über ihre Grundrechte befinden.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, lassen Sie
mich noch einen Punkt erwähnen, der mir am Herzen
liegt und bei dem der deutsche Vorsitz in Köln leider
keinen Erfolg erzielen konnte. Ich meine die Fortent-
wicklung der Beziehungen zwischen der Europäischen
Union und der Türkei. Es war mein Ziel, bei diesem
Europäischen Rat das Verhältnis der Europäischen Uni-
on zur Türkei neu zu ordnen. Wir wollten einen klaren
Zeitplan für die Heranführung an die Union vereinbaren.
Nachdem sich Ministerpräsident Ecevit mir gegenüber
zu den Kopenhagener Kriterien und den Bestimmungen
des Art. 6 des EU-Vertrages bekannt hat, sollte auch die
Türkei als Kandidat gleichberechtigt in den Beitrittspro-
zeß einbezogen werden. Hierzu konnten wir in Köln
trotz der Unterstützung der meisten Mitgliedstaaten auf
Grund der Bedenken einiger weniger Partner noch keine
Einigung erzielen.

Die Türkei – das bleibt aber festzustellen – ist für Eu-
ropa und die Region ein ganz gewichtiger und damit
wichtiger Partner.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Wir alle müssen darum ein Interesse daran haben, die
Demokraten in der Türkei zu stärken, sie für Europa, für
unsere Politik und unsere gemeinsamen Werte zu ge-
winnen. Dazu wäre ein deutliches Signal in Köln der
richtige Weg gewesen. Daß dies nicht gelungen ist, be-
daure ich, aber ich werde mich davon unbeeindruckt
weiterhin um Fortschritte im Verhältnis zur Türkei, und
das heißt: um die Konkretisierung ihrer Beitrittsper-
spektive bemühen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Meine Damen und Herren, diese Tage werden für die
Lösung der Kosovo-Krise entscheidend sein. Ich sage
das deshalb, weil vielleicht schon heute ein entscheiden-
der Tag sein wird. Ich jedenfalls wünsche dem Außen-
minister, der gleich erneut zu dem Treffen der G-8-
Staaten fahren wird, dabei alles Glück dieser Welt.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Ich habe die Hoffnung, daß der Konflikt jetzt zu ei-
nem Ende kommt. Er hat auch zu Spannungen in unserer
eigenen Gesellschaft geführt. Ich möchte niemandem
meinen Respekt versagen, der das Engagement der

Bundeskanzler Gerhard Schröder






(B)



(A) (C)



(D)


NATO aus ethischen Gründen und Überzeugungen
nicht mittragen konnte. In diesem Zusammenhang
möchte ich Ihnen, den Abgeordneten des Deutschen
Bundestages, und zwar allen, Dank sagen, daß Sie in Ih-
rer überwältigenden Mehrheit die Kosovo-Politik der
Bundesregierung mitgetragen haben.

Ich glaube, daß uns in den vergangenen Wochen bei
allen auch kontroversen und oft emotional geführten
Diskussionen hier im Bundestag wie in der Bevölkerung
ein Grundkonsens verbunden hat, nämlich der, daß
Europa unteilbar ist. Seine Werte und seine demokrati-
schen Errungenschaften dürfen – das hat uns verbunden
– eben nicht an den Grenzen der Europäischen Union
haltmachen, sondern beanspruchen universelle Geltung.


(Anhaltender Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1404100200
Ich erteile das Wort
dem Vorsitzenden der CDU/CSU-Fraktion, dem Kolle-
gen Wolfgang Schäuble.


Dr. Wolfgang Schäuble (CDU):
Rede ID: ID1404100300
Herr Präsi-
dent! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Herr
Bundeskanzler, den Grundkonsens, von dem Sie im Zu-
sammenhang mit Europas Rolle, Auftrag und Verständ-
nis und der Unteilbarkeit unseres Auftrags über die
Grenzen der Europäischen Union hinaus zuletzt gespro-
chen haben, teilen wir in der Tat. Alle Menschen in un-
serem Lande teilen die Hoffnung, daß das Morden und
die Vertreibung im Kosovo bald ein Ende finden. Jeder
Tag früher, an dem Morden und Vertreibung im Kosovo
beendet werden, ist um so besser. Jeder Tag früher, an
dem militärische Maßnahmen der NATO unter Beteili-
gung der Bundeswehr nicht mehr notwendig sein wer-
den, ist um so besser.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Ich will noch einmal hervorheben, was wir schon

während Ihrer Rede zum Ausdruck gebracht haben: Wir
teilen den Dank an den finnischen Staatspräsidenten
Ahtisaari, an Herrn Tschernomyrdin und an Herrn Tal-
bott für ihre Bemühungen, endlich ein Ende der Gewalt
im Kosovo und im ehemaligen Jugoslawien herbeizu-
führen.

Die militärische Entschlossenheit der NATO hat
einen entscheidenden Beitrag zur Annäherung an eine
politische Lösung geleistet. Die Debatte in diesem Haus
und in unserer Bevölkerung war schwierig. Die Bundes-
regierung hat sich in dieser Debatte im Rahmen unserer
Beschlußfassung auf die Unterstützung der CDU/CSU,
wie ich es Ihnen vorhergesagt habe, immer verlassen
können, teilweise mehr als auf die Unterstützung in
Ihren eigenen Reihen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der F.D.P.)


Weil der militärische Einsatz von NATO und Bun-
deswehr unausweichlich geworden war, um eine politi-
sche Lösung zu erreichen, will ich auch in dieser Stunde
noch einmal den Soldaten der Bundeswehr und den Sol-

daten der Streitkräfte aller Verbündeten unseren Dank
für ihren gefährlichen, mutigen und entschlossenen
Dienst aussprechen.


(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der F.D.P.)


Es war immer klar: Wir brauchen eine politische Lö-
sung. Wir haben immer auch gesagt: Die Vorstellungen,
nach denen manches ein bißchen unklar war – auch sie
hat es da und dort im Bündnis gegeben; selbst innerhalb
der Bundesregierung mußten sie gelegentlich dementiert
werden, weil der eine oder andere hohe Beamte viel-
leicht nicht richtig verstanden worden ist oder etwas
falsch ausgedrückt hat –, daß man notfalls auch mit
Kampftruppen am Boden in Jugoslawien einmarschiert
und nach Belgrad zieht, um, wenn es nicht anders geht,
mit ausschließlich militärischen Mitteln ein Ende der
Auseinandersetzung herbeizuführen, haben wir immer
abgelehnt. Das haben wir stets klar gesagt. Es ist gut,
daß inzwischen auch im Bündnis darüber Klarheit
herrscht. Dieser Weg hat sich zu jedem Zeitpunkt als
nicht gangbar erwiesen. Das muß auch heute gesagt
werden; denn wir brauchen eine politische Lösung. Wir
teilen die Wünsche, daß das Treffen der Außenminister
der G-8-Staaten in Köln das Ergebnis des Kriegsendes
in diesen Tagen bringt.

Wenn eines bei Milosevic und der serbischen Füh-
rung sicher ist, dann ist es, daß man ihr nicht trauen
kann und sehr vorsichtig sein muß. Herr Bundeskanzler,
mein Rat lautet, aus Erfahrung klug zu werden: Der
Jubel in Köln war zu früh und zu laut.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Wir hätten gerne eingestimmt, wenn die Grundlagen da-
für gegeben wären.


(Widerspruch bei der SPD)

Ich will Ihnen sagen, warum der Jubel falsch war.

Verehrte Kolleginnen und Kollegen, wenn Sie einen
Moment nachdenken, dann stellen Sie fest: Es liegt noch
ein schwerer, risikoreicher und gefährlicher Weg vor
allen Dingen vor den Soldaten der Bundeswehr und all
denjenigen, die in den Kosovo gehen müssen. Lassen
Sie uns einen Moment darüber nachdenken, was alles
falsch war.


(Ernst Schwanhold [SPD]: Scheinheiligkeit!)

Es war falsch, Herrn Primakow in Bonn so zu behan-

deln, wie er behandelt worden ist.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)


Vielleicht hat es Herr Tschernomyrdin heute in Moskau
leichter.

Als ich den Jubel in Köln letzte Woche sah, habe ich
einen Moment gedacht: Wie mag das auf unsere ameri-
kanischen Freunde wirken? Man muß wirklich immer
und immer wieder sagen: Wir haben die Amerikaner ge-
rufen; die Amerikaner haben sich nicht auf den Balkan
gedrängt. Ein paar Jahre lang haben sie gesagt: Das sol-
len die Europäer einmal selber machen. Die Europäer
haben es nicht gekonnt; vielmehr haben wir Europäer
unsere amerikanischen Freunde gebeten. Es war sehr

Bundeskanzler Gerhard Schröder






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(B) (D)


unklug, den Eindruck zu erwecken, den Krieg machten
die Amerikaner und den Frieden die Europäer. Gegen-
über den Amerikanern war dies nicht nur rücksichtslos,
sondern im Sinne unserer langfristigen Zukunftsinteres-
sen auch falsch.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Verehrte Kolleginnen und Kollegen, wenn Sie einen

Moment über die Schwierigkeiten in der russischen In-
nenpolitik nachdenken, die mit Händen zu greifen wa-
ren, dann werden Sie das, was ich zu Primakow gesagt
habe, vielleicht doch anders beurteilen. Vor allen Din-
gen werden Sie sich fragen, ob das Ausmaß des Jubels
in Köln und der Kontrast zu dem Empfang von Herrn
Tschernomyrdin auf dem Flughafen in Moskau nicht
wiederum die Lage in Moskau eher erschwert als er-
leichtert hat.


(Joachim Poß [SPD]: Das war doch eine Trendwende!)


Mir geht es darum, daß wir den Weg gemeinsam er-
folgreich zu Ende gehen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Weil das einige, wie es die Zwischenrufe zeigen, im-

mer noch nicht begreifen wolle, will ich eine dritte Fra-
ge stellen: Hat der Jubel in Köln nicht möglicherweise
bei der serbischen Führung in Belgrad, bei Milosevic
und anderen, den Eindruck erweckt, daß diejenigen, die
jetzt so sichtbar Erleichterung zeigen, vorher furchtbar
unsicher gewesen sein müssen,


(Joachim Poß [SPD]: Sie sind dabei zu filibustern, Herr Schäuble!)


und die Entscheidung erleichtert, es noch einmal zu ver-
suchen und die Zugeständnisse, nachdem man sie müh-
sam akzeptiert hat, gleich zu Anfang, noch ehe der
Rückzug begonnen hat, sofort wieder zurückzunehmen?
Darüber mag man auch nachdenken.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. – Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Kleinkariert! – Joachim Poß [SPD]: Ein Staatsmann ist der nicht, der Herr Schäuble!)


Wir haben die Auseinandersetzung hierüber in diesen
schwierigen Monaten bisher nicht sehr polemisch und
kritisch geführt, aber es sind sehr viele atmosphärische
Fehler gemacht worden. Dieser Bundestag, der heute
über einen Antrag der Bundesregierung, dem er zu-
stimmen muß, berät, steht vor einer der schwierigsten
und weittragendsten Entscheidung, die er je zu treffen
hatte. Die Dimension dieser Entscheidung ist so weitrei-
chend wie die Entscheidung zur Beteiligung an den
Luftangriffen, die wir im März zur Kenntnis nehmen
mußten. Jedermann weiß – welche Absprachen auch
immer in den nächsten Tagen getroffen werden –, daß es
sich um einen ungeheuer schwierigen, gefahrvollen und
risikoreichen Auftrag handelt, der sich über Jahre er-
streckt. Je besser es gelingt, die Lage in Belgrad oder in
Moskau nicht weiter anzuheizen, indem man hier, aus
welchen Gründen auch immer – und sei es nur, daß man
nicht genügend darüber nachdenkt und ausreichend das

Ende bedenkt –, die Dinge provoziert, und die Lage ru-
hig zu halten,


(Hans Büttner [Ingolstadt] [SPD]: Sie machen es jetzt schlimm!)


desto geringer ist das Risiko für die Soldaten der Bun-
deswehr und der anderen Streitkräfte der Nationen, die
diesen gefährlichen Dienst leisten müssen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Der Antrag der Bundesregierung bedarf noch einer

Veränderung, vermutlich einer Neufassung, denn die
Bundesregierung sieht nach dem, was sie heute nacht
den Fraktionen mitgeteilt hat, eine andere Rechtsgrund-
lage für die Beschlußfassung durch den Bundestag vor,
als sie im Antrag steht. Wir begrüßen es, daß die Bun-
desregierung anstrebt, ein Mandat des Sicherheitsrates
der Vereinten Nationen zur Grundlage zu haben, was
in dem vorliegenden Antrag so nicht enthalten ist. Wir
werden das ebenso gründlich prüfen, wie wir auch kei-
nerlei Verzögerung bei den Beratungen hinnehmen.
Auch das sage ich Ihnen noch einmal zu. Es ist natürlich
richtig, daß, wenn der Rückzug beginnt, möglichst
schnell Streitkräfte in das Kosovo einrücken müssen, um
dort eine Sicherheitspräsenz herzustellen. Deswegen
sind wir zu einer zügigen Beratung bereit, werden daran
mitwirken und mithelfen.

Genauso klar sage ich aber auch, damit es daran kei-
nen Zweifel gibt: Die Verantwortung, die jedes Mitglied
dieses Hauses bei der Zustimmung zu diesem Antrag auf
sich nimmt, ist außergewöhnlich hoch. Täuschen Sie
sich, meine verehrten Kolleginnen und Kollegen von der
sozialdemokratischen Fraktion, darüber nicht! Deswe-
gen werden wir zügige Beratung mit gründlicher Prü-
fung verbinden. Vielleicht, Herr Bundeskanzler, ist es
eine ganz vernünftige Arbeitsteilung, die auch gemäß
der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts in
der Notwendigkeit konstitutiver Zustimmung des Bun-
destages angelegt ist, daß diejenigen, die von der ver-
ständlichen, notwendigen und unvermeidlichen Hektik
dieser sich jagenden Gespräche und Verhandlungen auf
europäischer Ebene, im Rahmen der G 8, in der UNO
oder wo auch immer betroffen sind, mit anderen Argu-
menten austauschen und diese von denen prüfen lassen
müssen, die von dieser Hektik nicht betroffen sind und
mit ein wenig mehr Atem und weniger Atemlosigkeit
prüfen können, was wir unter welchen Voraussetzungen
verantworten und den Soldaten der Bundeswehr zumu-
ten können.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Es ist der gefährlichste Einsatz in der Geschichte der
Bundeswehr.

Hierzu möchte ich eine weitere Bemerkung anfügen:
Herr Bundeskanzler, Herr Bundesfinanzminister, Sie
wollen uns in den nächsten Wochen mit allen möglichen
Entscheidungen zur Finanz- und Haushaltspolitik
überraschen. Da Herr Eichel angekündigt hat, er habe
praktisch alles zusammen, wäre es mir lieber, wenn er es
in dieser Woche sagen würde. Dann muß man nicht
nach der Wahl am kommenden Sonntag feststellen:
Hätte man es vor der Wahl gewußt, wäre vielleicht man-

Dr. Wolfgang Schäuble






(B)



(A) (C)



(D)


ches anders gelaufen. Ein wenig Klarheit vor der Wahl
würde überhaupt nicht schaden.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. – Joachim Poß [SPD]: Jetzt sind Sie aber weit unter Ihrem Niveau!)


– Wenn Sie zu tollen Ergebnissen gekommen wären,
würden Sie es ganz bestimmt vor der Wahl sagen, so
wie ich Sie kenne. Sie haben sich nie durch einen Man-
gel an Zurückhaltung ausgezeichnet. Das kann man Ih-
nen nicht vorwerfen.


(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: So wie Sie das früher auch immer gemacht haben!)


In diesem Zusammenhang will ich darauf hinweisen,
daß wir vor der Situation stehen, daß 10 000 Soldaten –
wenn man alles zusammenrechnet, sind es über 10 000
Soldaten – für einen langen Zeitraum im ehemaligen Ju-
goslawien, vor allem im Kosovo, aber auch in Bosnien
Dienst tun sollen. Das wird die Bundeswehr bis an die
Grenzen ihrer Belastbarkeit fordern. Wir alle verweisen
hier darauf, daß im Kosovo nur Soldaten zum Einsatz
kommen, die sich dafür auch freiwillig gemeldet haben.
Jeder, der sich als Zeitsoldat verpflichtet hat, hat sich
damit freiwillig bereit erklärt, dort Dienst zu tun. Dieser
Einsatz wird eine ungeheure Belastung und Herausfor-
derung für die Bundeswehr sein. Angesichts dieser Ver-
hältnisse und der finanziellen Auswirkungen, die dieser
Einsatz auf die Bundeswehr haben wird, halte ich es für
völlig unvorstellbar, daß die Bundesregierung ihre Zu-
sage, nicht in die mittelfristige Finanzplanung der Bun-
deswehr einzugreifen, nicht einhalten wird. Das muß
man auch in diesem Zusammenhang sagen. Etwas ande-
res könnte man der Bundeswehr nicht zumuten.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der F.D.P. – Joachim Poß [SPD]: Der liest doch Zeitung und weiß, daß Kosovo nicht angerechnet wird!)


Wenn Sie, Herr Kollege, erlauben, möchte ich ein
paar Bemerkungen über die deutsche Präsidentschaft
in der Europäischen Union machen. Ich möchte auch
hier mit dem beginnen, worin wir übereinstimmen: Wir
haben schon im März darauf hingewiesen – ich wieder-
hole das –: Die Entscheidung, Romano Prodi als künf-
tigen Präsidenten der Europäischen Kommission zu be-
nennen, ist gut. Daß das Europäische Parlament der Er-
nennung von Romano Prodi mit übergroßer Mehrheit
zugestimmt hat, hat die Richtigkeit dieser Entscheidung
bestätigt. Auch die Entscheidung für Solana als künfti-
gen Repräsentanten einer Gemeinsamen Außen- und
Sicherheitspolitik der Europäischen Union ist eine gute
Entscheidung, die wir begrüßen und unterstützen. Auch
die Absprachen und die Ergebnisse von Köln bezüglich
der Integration der Westeuropäischen Union in die
Europäische Union und der Stärkung der Handlungsfä-
higkeit sowie der verteidigungs- und sicherheitspoliti-
schen Identität der Europäischen Union finden unsere
Zustimmung und unsere Unterstützung.


(Helmut Wieczorek [Duisburg] [SPD]: Ist ja toll!)


Darüber hinaus sind aber keine Ergebnisse während
der deutschen Präsidentschaft in der Europäischen
Union erzielt worden.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der F.D.P.)


Ich habe zuerst daran gedacht, von mageren Ergebnissen
zu sprechen. Aber auch bei magerem Fleisch gibt es
immer noch Knochen. Hier gibt es noch nicht einmal
Knochen, denn es sind keine Ergebnisse erzielt worden.

Die Agenda 2000, die in Berlin verabschiedet wurde,
ist gescheitert. Herr Bundeskanzler, es ist doch ganz ein-
fach: Als Sie an einem Freitag morgen in Bonn nach
einer langen Nacht der Verhandlungen in Berlin ange-
kommen sind, haben wir Verständnis dafür gehabt, daß
Sie uns nicht direkt sagen konnten, wie sich die Ergeb-
nisse des Berliner Gipfels auf die Beitragslast der Bun-
desrepublik Deutschland auswirken würden. Aber in-
zwischen sind drei Monate vergangen. Trotzdem erklärt
sich die Bundesregierung bis auf den heutigen Tag au-
ßerstande, dem Hohen Hause mitzuteilen, ob Deutsch-
land nach dem Berliner Gipfel nun mehr oder weniger in
die EU zahlen muß.


(Dr. Norbert Wieczorek [SPD]: Das liegt doch vor!)


Sie müssen doch inzwischen wissen, was Sie beschlos-
sen haben. Ich weiß, warum Sie die Zahlen nicht vorle-
gen. Wenn Sie das nämlich täten, dann würde deutlich,
daß die Belastung durch den Berliner Gipfel für den
Haushalt der Bundesrepublik Deutschland nicht gesun-
ken, sondern gestiegen ist. Das ist die Wahrheit.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der F.D.P. – Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Unsinn!)


Ihr bisheriges Verhalten steht in einem merkwürdigen
Widerspruch zu Ihren wirklich verantwortungslosen
Ankündigungen im Januar. Sie haben damals gesagt, die
Zeiten seien vorbei, in denen in Brüssel das Geld der
deutschen Steuerzahler verbraten werde, die Engländer,
die Franzosen und die Spanier sollten jetzt endlich ein-
mal mehr zahlen, damit wir in Deutschland weniger be-
zahlen müssen. Nichts davon haben Sie erreicht. Sie
konnten es auch gar nicht erreichen; denn wenn man
einstimmige Ergebnisse erzielen will, dann stellt man
mit solchen Erklärungen von vornherein nur das eigene
Scheitern sicher. Das haben Sie auch erreicht. Aber von
dem, was Sie angekündigt hatten, haben Sie nichts er-
reicht.


(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Wer hat uns denn die Einstimmigkeit hinterlassen?)


Die Agenda 2000 hat zu keiner grundlegenden Re-
form der Agrar- und Strukturpolitik, zu keiner grundle-
genden Reform der europäischen Finanzpolitik geführt
und auch nicht die Europäische Union auf die Riesen-
aufgabe der Osterweiterung mit den Beitrittsanwärtern
Polen, Tschechien und Ungarn in der ersten Reihe vor-
bereitet. Diese Reformen werden angesichts der Not-
wendigkeit, jetzt ein noch größeres Aufbauwerk auf dem
Balkan zu bewältigen, zu einem noch viel größeren De-

Dr. Wolfgang Schäuble






(A) (C)



(B) (D)


saster führen. In keiner Weise ist Europa durch den Ber-
liner Gipfel auf die Riesenaufgabe eines Stabilitätspak-
tes für den Balkan vorbereitet worden. Darin besteht das
Scheitern Ihrer Arbeit.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der F.D.P. – Helmut Wieczorek [Duisburg] [SPD]: Das ist Provinztheater!)


Vor dem Kölner Gipfel haben Sie groß von Beschäf-
tigungspakt und von Beschäftigungsprogrammen gere-
det. Man konnte richtig Angst bekommen, das klang
nach einer Drohung. Europäische Beschäftigungspro-
gramme werden die Arbeitslosigkeit in Europa nicht
verändern. Es wäre viel gescheiter, Europa würde das
machen, was auf dem Luxemburger Gipfel mit dem Be-
schäftigungskapitel im Amsterdamer Vertrag vereinbart
worden ist, nämlich daß jedes Mitgliedsland seine natio-
nale Wirtschafts-, Finanz-, Steuer-, Haushalts- und So-
zialpolitik an dem Ziel ausrichtet, mehr Arbeitsplätze zu
schaffen. Aber genau vor dieser Herausforderung ver-
sagt Ihre Regierung kläglich.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Jetzt ist in Brüssel nichts herausgekommen außer

noch so einer Art Bündnisrunde auf europäischer Ebene.
Da Sie uns in diesen Tagen gezeigt haben, was Sie unter
„Bündnis für Arbeit“ verstehen, will ich an dieser Stelle
meine Warnung vorbringen. Sie haben jetzt ein kleines
„Bündnis für Arbeit“ abgeschlossen. Wissen Sie, was
das kleine „Bündnis für Arbeit“ hinsichtlich der
Schlechtwettergeldregelung bedeutet? Es bedeutet, die
Arbeitnehmer zahlen ein bißchen weniger, die Arbeitge-
ber zahlen auch ein bißchen weniger, und die Gemein-
schaft der sozialversicherungsbeitragspflichtigen Ar-
beitnehmer und Arbeitgeber insgesamt zahlt ein bißchen
mehr – ein Vertrag zu Lasten der Allgemeinheit.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. – Widerspruch bei der SPD)


Wenn das ein kleines „Bündnis für Arbeit“ ist, dann
kann man bei der Vorstellung, was erst ein großes
„Bündnis für Arbeit“ bringen würde, nur Alpträume be-
kommen. Das brauchen wir auf europäischer Ebene
ganz gewiß nicht.


(Peter Dreßen [SPD]: Seien Sie doch froh, daß er etwas zustande bringt!)


Dann will ich Ihnen noch folgendes sagen: Ihre Poli-
tik der Steuererhöhungen besteht ausschließlich darin,
selbstgemachte Fehler teilweise zu korrigieren. Anfang
des Jahres haben Sie die Steuern für Wirtschaft und
Mittelstand erhöht und angekündigt, Sie würden sie in
ein, zwei Jahren korrigieren. Davon ist gar nicht mehr
die Rede. Jetzt wird nur noch gesagt, man hoffe, viel-
leicht ohne Steuererhöhungen auszukommen.

Außerdem herrscht bei Ihnen ein Durcheinander in
der Gesundheitspolitik und in der Rentenpolitik. Uns
haben Sie Vorwürfe gemacht, als wir in der Rentenver-
sicherung einen demographischen Faktor eingeführt ha-
ben, durch den das Wachstum der Renten weiterhin ge-
sichert, aber verstetigt bzw. verlangsamt worden ist.
Jetzt machen Sie Rentenpolitik nach Kassenlage: jeden

Tag eine neue Ankündigung, zwei Jahre Aussetzung der
Rentenanpassung oder Halbierung oder was auch im-
mer. Renten nach Kassenlage, das ist nicht das, was wir
uns bei der gesetzlichen Rentenversicherung vorgestellt
haben.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Die Folge von alldem ist – wir reden von Beschäfti-

gung in Europa, und die muß man zu Hause machen –:
Das Wachstum in Deutschland im ersten Quartal 1999
– gerade habe ich die Meldung auf den Tisch bekommen
– beträgt noch 0,7 Prozent. Das heißt, nach dem OECD-
Bericht sind wir in der Wachstumsentwicklung inzwi-
schen unter den Schlußlichtern in Europa. Die Ursache
dafür liegt nicht in Brasilien oder sonstwo, sondern in
Deutschland, in Ihrer falschen Politik.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Deswegen geht die Arbeitslosigkeit, seit Sie Kanzler

sind, saisonbereinigt nicht mehr zurück, während sie im
vergangenen Jahr zurückgegangen ist.


(Helmut Wieczorek [Duisburg] [SPD]: Mein Gott! Die Rabulistik ist nicht mehr zu ertragen!)


Auch die wirtschaftliche Entwicklung und die Inve-
stitionen gehen zurück.


(Helmut Wieczorek [Duisburg] [SPD]: 4,5 Millionen Arbeitslose haben Sie hinterlassen! Verlogene Bande! – Gegenrufe von der CDU/ CSU: Was?)


– Aber liebe Kollegen, lassen Sie sich doch nicht ablen-
ken, die wollen doch nur stören.

Lassen Sie mich ganz ruhig sagen: Es zeigt doch das
gesunkene Vertrauen in die Nachhaltigkeit der wirt-
schaftlichen und finanziellen Entwicklung in Europa
unter der deutschen Präsidentschaft als Folge insbeson-
dere der schlechten Entwicklung in Deutschland, daß
der Wechselkurs zwischen Euro und Dollar von 1,18 zu
Beginn Ihrer Amtszeit auf unter 1,03 am gestrigen Tage
gesunken ist – ein Menetekel. So haben wir nicht ge-
wettet, als wir den Euro eingeführt haben. Einen stabilen
Euro, so stabil wie die D-Mark, haben wir alle miteinan-
der versprochen. Jetzt machen Sie in Deutschland, dem
größten Teilnehmerland der Europäischen Währungs-
union, eine Politik, die die Wachstumskräfte und die
Stabilitätserwartungen schwächt. Das schafft an den Fi-
nanzmärkten eine Vertrauenskrise bezüglich des Euro.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Wir hatten einen Stabilitätspakt verabredet – ein

großes Verdienst von Theo Waigel. Danach sollten sich
alle dazu verpflichten, ihre Neuverschuldung auch nach
Erreichen der Kriterien 1999, 2000 und 2001 schrittwei-
se stetig zu senken. Ausnahmen würden nur in äußersten
Notfällen von der Europäischen Union genehmigt wer-
den. Die erste Ausnahme ist bereits genehmigt worden.
Sie als Ratspräsident haben aber zugesichert, es würde
eine einmalige Ausnahme bleiben, in Zukunft gäbe es
keine weitere.


(Heiterkeit bei der CDU/CSU)


Dr. Wolfgang Schäuble






(B)



(A) (C)



(D)


Herr Bundeskanzler Schröder, jemandem, der ewige
Treue schwört, aber bei der ersten Versuchung dieser
nachgibt, um anschließend zu erklären, einmal sei kein-
mal, dem glaubt man nicht. Deswegen zerstören Sie mit
dieser Politik Vertrauen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Ich lese in einer Agenturmeldung: Blair und Schröder

rufen zu Kurswechsel auf. – Wenn Sie den Kurs Ihrer
Politik korrigieren, dann kann ich Sie nur unterstützen.


(Helmut Wieczorek [Duisburg] [SPD]: Ihre Politik!)


Wechseln Sie endlich den chaotischen Kurs der Wirt-
schafts-, Finanz-, Steuer- und Sozialpolitik der Bundes-
regierung! Dazu brauchen Sie aber nicht Tony Blair; das
müssen Sie nicht in Londoner Zeitungen verkünden, Sie
müssen vielmehr hier in Deutschland handeln. Da sind
Sie schwach. Nur mit Aufrufen in der Presse sind Sie
stark.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Bemerkenswert ist – das muß man einmal sagen –:

Der Aufruf soll sich vor allem an die sozialdemokrati-
schen Regierungen in Europa richten. Dazu haben Sie
allen Grund: Fordern Sie sich selber auf! In diesem Auf-
ruf sprechen sich – hören Sie einmal zu! – Blair und
Schröder für drastische Maßnahmen zur Sanierung der
öffentlichen Finanzen aus. Außerdem fordern sie Re-
formen des Sozialstaats, flexiblere Arbeitsmärkte und
eine allgemein unternehmerfreundlichere Politik. – Mei-
ne Damen und Herren: herzlichen Glückwunsch!


(Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)


Ich will Ihnen noch einmal sagen: Von Ihren Medien-
auftritten haben wir genügend gehabt. Ich schlage vor,
daß Sie oder Ihr zuständiger Minister in dieser Woche –
wir haben noch eine Bundestagssitzung – an dieses Pult
gehen und sagen, was Sie vorhaben. Sie müssen vor den
Wahlen Klarheit schaffen, damit wir nicht nach der
Wahl sagen müssen: Sie haben die Leute vor der Wahl
angelogen. Wir wollen bei den Renten, bei den Kürzun-
gen und bei den Steuern keinen Wahlbetrug.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Die schrecklichen Erfahrungen im Kosovo lehren:

Wir brauchen politisch, sicherheitspolitisch und wirt-
schaftspolitisch ein starkes Europa. Aber ein starkes Eu-
ropa geht nur nach dem Prinzip der Dezentralisierung
und nicht dadurch, daß wir noch mehr Bürokratie nach
Brüssel schieben. Ein starkes Europa wird nur gelingen,
wenn jeder in Europa seiner Verantwortung nachkommt.
Deswegen fängt ein starkes Europa, wenn man Europa
richtig machen will, zu Hause an.


(Hans-Werner Bertl [SPD]: Das haben Sie jahrelang vergessen!)


Darin versagt diese Regierung.

(Anhaltender Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1404100400
Für die SPD-
Fraktion erteile ich das Wort Bundesminister Rudolf
Scharping.

Rudolf Scharping, Bundesminister der Verteidi-
gung: Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Bevor ich zu den Fragen komme, die mit der
Entwicklung im Kosovo zu tun haben, einige kurze Be-
merkungen, die Sie sich, Herr Kollege Schäuble, einmal
vor Augen führen sollten: Die Bundesregierung hat im
letzten November nach eingehender Beratung entschie-
den, daß in Deutschland insbesondere denjenigen jungen
Menschen geholfen werden soll, die schlechtere Chan-
cen hatten und keine ordentliche Ausbildung erreichen
konnten, und hat deswegen beschlossen, daß 100 000
Plätze für berufsqualifizierende Maßnahmen zu fi-
nanzieren seien.

Wir hatten zunächst eine gewisse Sorge, daß die vor-
gesehene Zahl von 100 000 Plätzen zu hoch sein könnte.
Denn der öffentliche Eindruck war ja, daß die meisten
Jugendlichen eigentlich gar keinen Ausbildungsplatz
haben wollten und kein Interesse an ihrer Zukunft hät-
ten. Das hat sich im öffentlichen Eindruck ebenso verfe-
stigt, wie es sich in der Realität als falsch herausgestellt
hat: Ende April dieses Jahres befanden sich 117 000 Ju-
gendliche in solchen berufsqualifizierenden Maßnah-
men. Ich sage Ihnen in aller Deutlichkeit: Zu einer fairen
Bilanz, die nicht allein durch den kommenden Wahl-
sonntag motiviert ist, gehört, daß wir in Deutschland
stolz auf unsere Jugend und auf die Tatsache sein kön-
nen, daß jetzt 117 000 Jugendliche weniger arbeitslos
sind.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Hans Michelbach [CDU/CSU]: Schwacher Strohhalm!)


Falls Sie sich die Entwicklung der europäischen
Währung betrachten, rate ich Ihnen sehr dazu, die
außerordentlich niedrige Inflationsrate, die wir Gott sei
Dank immer noch haben, in die Bewertung mit einzube-
ziehen und sich im übrigen an der Gelassenheit der ex-
portorientierten Wirtschaft angesichts der Entwicklung
des Euro-Kurses im Verhältnis zu dem des Dollar zu
orientieren.

Ihre Äußerungen zur Arbeitslosigkeit sind, so glaube
ich, in wenigen Minuten dementiert. Denn die Arbeits-
losenstatistik vom Mai dieses Jahres, die man sich in
Ruhe anschauen muß, wird heute bekanntgegeben.

Ich will damit folgendes sagen – ohne auf weiteres
einzugehen –:


(Hans Michelbach [CDU/CSU]: Das ist auch besser!)


Wenn Sie als Mitglied einer Partei, die 16 Jahre lang
hier regiert hat, sagen, daß man die Menschen vor der
Wahl ein bißchen hinter die Fichte führen wolle, dann
ist das doch nichts anderes als die Spekulation darüber,
daß sich die Menschen an die von Ihnen 16 Jahre lang

Dr. Wolfgang Schäuble






(A) (C)



(B) (D)


geprägten Verhaltensweisen erinnern und sie auf die jet-
zige Koalition übertragen.


(Beifall bei der SPD)

Ich wollte Ihnen das nur kurz – denn ich habe anderes zu
tun, und Sie bekommen auch von anderen Antworten
auf Ihr Vorgehen – in einem gewissen Rückfall in alte
parlamentarische Sitten mit auf den Weg geben.


(Michael Glos [CDU/CSU]: Herr Scharping, ich habe gedacht, Sie hätten heute andere Sorgen! – Helmut Wieczorek [Duisburg] [SPD], zur CDU/CSU gewandt: Schuldenmacher! – Weitere Zurufe von der CDU/CSU)


– Hören Sie auf, von Wahlkampflügen zu sprechen. Sie
haben gesagt, daß Sie die Mehrwertsteuer und die Mine-
ralölsteuer nicht erhöhen werden. Sie haben sie erhöht.
Sie haben den Menschen stabiles Geld versprochen. Sie
haben uns einen Schuldenberg hinterlassen, wie das
noch nie zuvor eine Regierung getan hat. Sie haben ge-
sagt, Sie würden den Menschen mit einem Bündnis für
Arbeit helfen. Sie haben es zerstört.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Dazu könnte ich Ihnen noch viel sagen. Aber das wird ja
im Laufe der weiteren Debatte noch von anderen aufge-
griffen werden.


(Dr. Konstanze Wegner [SPD]: Heuchler und Scheinheilige!)


Ich möchte Ihnen nun etwas zur aktuellen Entwick-
lung im Kosovo sagen: Man kann seit dem 2. oder 3.
Juni eine gewisse Hoffnung darauf haben, daß die dorti-
gen Auseinandersetzungen bald beendet sind. Ich füge
hinzu: Es wird dann ein Krieg zu Ende gehen, den die
Bundesrepublik Jugoslawien und ihre verbrecherische
Führung gegen die Kosovo-Albaner geführt haben. Es
wird ein Krieg zu Ende gehen, der sich gegen menschli-
che Identität, menschliche Würde und menschliche
Rechte gerichtet hatte. Es wird ein Krieg zu Ende gehen,
den die jugoslawische Führung mit ihrem Militär gegen
europäische Werte und gegen europäische Zivilisation
geführt hat.

Es besteht kein Grund zur Freude – auch nicht mit
Blick auf den hoffentlich bald erreichten Abschluß die-
ser Auseinandersetzung. Es besteht aller Grund zu einer
weiterhin realistischen Betrachtung. Denn dies ist der
vierte Krieg auf dem Balkan. Diese Kriege haben
schrecklich vielen Menschen das Leben gekostet. Es gab
im Zusammenhang mit diesen Kriegen über 73 Resolu-
tionen des Weltsicherheitsrates. Lediglich eine ist be-
achtet worden. Es gab allein in Bosnien-Herzegowina 18
Waffenstillstände. Mancher dauerte weniger als fünf
Minuten, mancher weit weniger als einen ganzen Tag,
aber keiner länger als einen Tag.

Das heißt, daß man angesichts dieser Situation und
der Erfahrungen in jeder Hinsicht Festigkeit braucht:
hinsichtlich der politischen Bemühungen ebenso wie
hinsichtlich der militärischen Maßnahmen und auch hin-
sichtlich der humanitären Hilfe.

Die Bundesregierung hat heute beantragt, ein Mandat
gewissermaßen als Ergänzung und Ersatz für bestehende
Mandate zur Verfügung zu stellen, um dieser dreifachen
Strategie nicht nur zum Erfolg zu verhelfen, sondern
auch bei der Garantie dieses Erfolges, wenn er denn er-
reicht wird, mitzuwirken.

Ich will Sie darüber informieren, daß unabhängig von
den Beratungen der Außenminister der G 8 auch die
Militärs gestern nacht und auch heute wieder, wenn da-
für Zeit und Möglichkeit besteht, zusammensitzen, um
jenes militärtechnische Abkommen infolge des Peters-
berg-Dokumentes zum Abschluß zu bringen, und zwar
so, daß es praktische und sehr überprüfbare militärische
Regelungen gibt.

Dahinter steckt das vom Bundeskanzler angesproche-
ne Prinzip, das Inhalt des Ahtisaari-Tschernomyrdin-
Vorschlages ist, den Milosevic und das serbische Parla-
ment gebilligt hatten, daß nämlich alle serbischen Si-
cherheitskräfte und Streitkräfte vollständig in einem
überprüfbaren, kurzen Zeitraum abgezogen werden, und
zwar so, daß die Flüchtlinge und Vertriebenen mit dem
nötigen Vertrauen auf Sicherheit in ihre Heimat zurück-
kehren können. Das war unser Ziel, das bleibt unser
Ziel, und es wird auch in Zukunft die wirklich große
Aufgabe werden.

Die Geschlossenheit und auch die Entschlossenheit
des westlichen Bündnisses war eine Voraussetzung da-
für, daß es eine erfolgreiche Friedensregelung geben
kann, wobei ich hinzufüge: Wenn wir den Beschluß des
Weltsicherheitsrates, wenn wir das militärtechnische
Agreement, wenn wir den Abzug der Truppen, wenn wir
das Einrücken der internationalen Truppen haben, dann
sollten wir uns auch mit Blick auf die Erfahrungen in
Bosnien darüber klar sein, daß es dann – hoffentlich –
das Ende der Gewalt ist. Es ist noch lange nicht der
Frieden, den wir uns wünschen und der nur in dauer-
hafter Stabilität auf ebenso dauerhafter ökonomischer
und stabiler Grundlage – übrigens auch auf gegenseiti-
gem Respekt vor unterschiedlicher Abstammung, Kul-
tur, Sprache oder anderem – gewährleistet werden kann.

Die Bundesregierung tritt dafür ein – das ist gesagt
worden –, daß sich der Sicherheitsrat der Vereinten
Nationen unverzüglich mit diesen Fragen beschäftigt
und auch einen Beschluß faßt. Das heißt, daß man sich
rasch und umfassend hier zu Hause wie international auf
die Umsetzung einer Friedensvereinbarung vorbereiten
muß.

Ich will erläutern, warum aus unserer Sicht das Wort
vom raschen Vorbereiten mehr ist als eine gewisserma-
ßen innerbetriebliche Hektik. Es darf im Kosovo kein
Sicherheitsvakuum entstehen. Der Abzug der serbi-
schen, jugoslawischen Truppen, Paramilitärs und Mör-
derbanden muß nicht nur in einem engen Zeitplan und
überprüfbar vorgenommen werden, sondern er muß auch
strikt mit dem Einrücken der internationalen Friedenssi-
cherung koordiniert sein. Ansonsten besteht mit Blick
auf – man weiß es nicht so genau – Marodeure, Tschet-
niks und unkontrollierbare UCK-Gruppen und mit dem
Bedürfnis nach Rache und Vergeltung ein erhebliches
Risiko im Kosovo.

Bundesminister Rudolf Scharping






(B)



(A) (C)



(D)


Wir hoffen, daß wir bald – vielleicht sogar heute –
über die Substanz einer Resolution des Weltsicherheits-
rates Klarheit haben. Über den Zeitpunkt ihrer Verab-
schiedung kann man nichts sagen; denn die G 8, selbst
wenn sie großen Einfluß haben, werden nicht nur aus
politischen und diplomatischen Gründen den Eindruck
vermeiden, als wollten sie Punkt für Punkt, Buchstabe
für Buchstabe und Wort für Wort dem Weltsicherheits-
rat und seinen 15 Mitgliedern eine Resolution hinlegen,
die dort nur noch mit einem Nicken zu quittieren wäre.

Es besteht Grund zu der Vermutung, daß auch die
militärisch-technischen Vereinbarungen in einem engen
zeitlichen und politischen Zusammenhang mit dieser
Entwicklung auf der Ebene der Vereinten Nationen und
der G 8 gesehen werden. Das wird dann bedeuten – dar-
über wird die Bundesregierung morgen reden –, daß die
Ziffer 6 – Sie verzeihen mir, wenn ich diesen prakti-
schen Hinweis gebe – bezüglich der Befassung des
Weltsicherheitsrates möglicherweise verändert wird und
daß dies dann zu einer in dieser und nur in dieser Hin-
sicht veränderten Beschlußgrundlage gemacht wird. Die
Bundesregierung wird sich im Licht der Ergebnisse des
G-8-Treffens, wenn sie denn erreicht sind, darüber noch
verständigen. Im Kreise der Fraktionsvorsitzenden wur-
de ja auch eine entsprechende Verständigung gefunden.

Wichtig für die Rolle der Bundeswehr bei der Siche-
rung dieses hoffentlich bald eingeläuteten Friedenspro-
zesses ist, daß die Bundeswehr auch in dieser Frage den
Rückhalt der gesamten deutschen Bevölkerung und die
Zustimmung des Deutschen Bundestages und dessen
Rückhalt erfährt. Ich will Ihnen das erläutern. Am 26.
Mai ist der entsprechende Operationsplan vorbereitet
worden, bis in die letzten Tage wurde er weiterentwik-
kelt. Er sieht vor, daß 50 000 Soldaten zur Friedenssi-
cherung im Kosovo zur Verfügung stehen. Die Bundes-
regierung wie die NATO streben eine Beteiligung mög-
lichst vieler anderer Staaten an. Beispielsweise werden
wir mit einiger Sicherheit mit den Niederlanden, wahr-
scheinlich auch mit Österreich und anderen neutralen
Staaten zusammenarbeiten. Wir streben insbesondere an,
daß sich Rußland so früh und so umfangreich wie mög-
lich an dieser Friedenssicherung beteiligt.

Wenn Hindernisse dabei auftauchen, tauchen sie
nicht bei der NATO auf und beruhen nicht auf mangeln-
dem politischen Willen der westlichen Staaten. Wenn
man sich die Erfahrungen aus Bosnien vor Augen hält,
kann man sich unschwer vorstellen, daß im Zusammen-
hang mit der Verwirklichung des politischen Willens
einer Beteiligung Rußlands noch andere Probleme auf-
tauchen werden.

Ich habe schon vor längerer Zeit angeordnet, die
Obergrenzen der jetzt bestehenden Mandate auszuschöp-
fen. Ich will Ihnen kurz erläutern, warum sich im Antrag
der Bundesregierung die Zahl 8 500 findet. In dieses
Mandat werden die Kräfte überführt, die bei den NATO-
Luftoperationen, bei der Drohnenüberwachung und für
das Herausziehen der OSZE-Beobachter zur Verfügung
standen, sowie jene, die für die bisher gedachte militäri-
sche Umsetzung der Garantien eines jetzt nicht mehr zur
Debatte stehenden Rambouillet-Abkommens einge-
setzt werden sollten. Das bedeutet, daß diejenigen Kräf-

te, die in Bosnien und im Rahmen des humanitären
Mandates in Mazedonien und Albanien eingesetzt sind,
in dieser Zahl von 8 500 nicht enthalten sind.

Wir brauchen im Bereich der Luft- und Marineun-
terstützung deutlich mehr Kräfte für den Einsatz im
Kosovo – wir weisen das auch völlig offen aus –, und
zwar deshalb, weil das Thema Sicherheit wesentlich
ernster ist, als wir bei der Diskussion um ein Rambouil-
let-Abkommen vermutet hatten, und weil die humanitäre
Lage es erfordert. Zudem dürfen – jedenfalls am Anfang
– Fragen, die mit der Dokumentation und der Beweissi-
cherung von Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen
die Menschlichkeit zu tun haben, nicht außer acht gelas-
sen werden. Ich will ausdrücklich anbieten, in den Aus-
schüssen darüber im einzelnen und präzise mit Zahlen
zu informieren.

Ich kündige Ihnen hier gleichzeitig an: Die Tatsache,
daß mindestens 12 000 Soldaten der Bundeswehr über
lange Zeit auf dem Balkan engagiert sein werden, näm-
lich 8 500 im Kosovo im Rahmen des humanitären
Mandates, 1 000 in Mazedonien und Albanien, minde-
stens 2 500 in Bosnien und Herzegowina – mit hoffent-
lich bald abnehmender Tendenz –, wird Konsequenzen
für die Anpassung der Zahl der Krisenreaktionskräfte
haben. Denn in bestimmten Bereichen sind durch dieses
Engagement mittlerweile nicht nur Engpässe aufgewor-
fen, sondern drohen die Fähigkeiten der Bundeswehr
überfordert zu werden.

Ich sage das auch deshalb, weil nach meinem Emp-
finden die Angehörigen der Bundeswehr, die militäri-
sche Führung, der militärische Sachverstand ein
Höchstmaß an Anerkennung verdient haben – für die
Umsicht, die Klarheit, die Konsequenz, mit der solche
Einsätze im Interesse der Sicherheit der Soldaten bisher
vorbereitet und durchgeführt worden sind.


(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der F.D.P. sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Wir im Deutschen Bundestag, wir als Bundesrepublik
Deutschland und als Bürgerinnen und Bürger dieses
Landes sollten stolz sein auf eine Bundeswehr, die ih-
ren Auftrag nicht aus einem traditionellen Verständnis
eng gedachter militärischer Sicherheit heraus ausübt. In
Segrane, in Neprosteno und in anderen Flüchtlingslagern
kann man sehen, daß die Soldatinnen und Soldaten un-
glaublich engagiert sind. Nicht nur unter Einsatz ihrer
Zeit, sondern zum Teil auch unter Einsatz ihres selbst-
verdienten Geldes sorgen sie dafür, daß Kinder Spiel-
plätze oder Bolzplätze haben, daß sie in die Schule ge-
hen können, daß Mütter versorgt werden und vieles
mehr. Ich finde, das verdient ein Höchstmaß an Aner-
kennung und soll auch hier ausgesprochen werden.


(Beifall bei der SPD und der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Mir macht das Mut, weil die vor uns liegenden Auf-
gaben nicht nur groß, sondern zum Teil außerordentlich
gefährlich sind. Die Herstellung eines sicheren Umfel-
des, umfangreiche humanitäre Hilfsleistungen für Bin-

Bundesminister Rudolf Scharping






(A) (C)



(B) (D)


nenflüchtlinge und zurückkehrende Vertriebene – jeden-
falls anfangs –, die Vorbereitung der notwendigen zivi-
len und militärischen Zusammenarbeit und die Fortset-
zung der humanitären Hilfe außerhalb des Kosovo, das
macht den Umfang der Aufgabe deutlich, in einem
Landstrich, der rücksichtslos zerstört und weitgehend
entvölkert ist, in dem öffentliche Ordnung und Verwal-
tung, die medizinische Versorgung und anderes völlig
zusammengebrochen sind.

Wir müssen damit rechnen, daß wir allein im Kosovo
nicht nur 500 zerstörte Dörfer und Siedlungen vorfin-
den, sondern 550 000 Binnenflüchtlinge, deren Zustand
heute niemand genau kennt, von denen wir aber wissen,
daß sie unverzüglich versorgt werden müssen, ebenso
wie die zurückkehrenden Flüchtlinge und Vertriebenen,
die Nahrung, Kleidung, Medikamente und vieles andere
brauchen.

Das Land selbst muß von Minen und Sprengfallen ge-
räumt, die Sicherheit der eigenen Leute und die Sicher-
heit der zurückkehrenden Vertriebenen müssen gewähr-
leistet werden. Das heißt, wir haben es mit einer sehr
komplizierten Mischung aus Sicherheitsaufgaben, origi-
nären militärischen Aufgaben, humanitären Aufgaben
und Aufgaben der zivil-militärischen Zusammenarbeit
zu tun. Wenn wir in diesem Umfeld neue Gewalt ver-
hindern, die Demilitarisierung des Kosovo einschließ-
lich der Entwaffnung der UCK, die Überwachung von
Grenzen und anderes gewährleisten sollen, dann brau-
chen wir eine enge internationale Kooperation und ein
entsprechend ausgerüstetes und ausgebildetes Kontin-
gent. Davon kann man im Zusammenhang mit der Bun-
deswehr mit Gewißheit reden. Über die Einsatzdauer,
über den militärischen Beitrag der Bundesrepublik
Deutschland, über anderes wird im einzelnen zu reden
sein.

Ich will auf einen abschließenden Punkt zu sprechen
kommen. Meine Damen und Herren, wenn, was wir alle
hoffen, in dieser Woche die Voraussetzungen für eine
politische Lösung, für den Abzug des serbischen Mili-
tärs, für das Einrücken der internationalen Friedenstrup-
pen – das alles sind die Voraussetzungen für eine sichere
Rückkehr der über 900 000 Flüchtlinge und Vertriebe-
nen – geschaffen sind, dann steht der Bundeswehr nicht
nur der größte Auslandseinsatz, sondern auch der mit
den größten Risiken behaftete Auslandseinsatz ihrer Ge-
schichte bevor. Das macht deutlich, daß man mit großer
Sorgfalt und Klarheit entscheiden muß, was zu entschei-
den ist, nicht nur mit der nötigen Gründlichkeit hin-
sichtlich der Planung, sondern auch, was die Verant-
wortung selbst angeht, mit aller Konsequenz.

Danach beginnt die noch langwierigere, in meinen
Augen faszinierendere und schwierigere Aufgabe. Es ist
ausdrücklich zu begrüßen, daß die Bundesregierung die
langfristige Perspektive nie aus dem Auge verloren hat.
Das Stichwort ist etwas technokratisch. Es heißt Stabili-
tätspakt, meint aber eine langfristige Bemühung um die
Sicherheit, um die Stabilisierung des Balkans auf der
Grundlage der Erfahrungen, die wir in Europa bei seiner
Integration und bei seiner Friedenssicherung ebenso
gemacht haben wie beispielsweise in dem Helsinki-Pro-
zeß.

Ich will ausdrücklich insbesondere dem Bundes-
kanzler und dem Außenminister sagen: Nicht nur der
Versuch, die drei Maßnahmenbündel für ein gemeinsa-
mes Ziel, nämlich politische Bemühungen, militärische
Maßnahmen, humanitäre Hilfe, in einer Balance zu hal-
ten und das jeden Tag bei den Entscheidungen zu be-
achten, war wichtig. Wichtig war auch, die kurzfristigen,
mit Blick auf das Ende von Vertreibung, Mord und Ge-
walt orientierten Maßnahmen, einschließlich der militä-
rischen, immer in einer angemessenen Balance mit der
langfristigen Perspektive zu halten und zu wissen, daß
das Ende der Gewalt der Beginn, aber nicht die Ver-
wirklichung von Frieden ist.

Deshalb war es richtig, daß die Bundesregierung, daß
die Bundesrepublik Deutschland vielleicht mit einem
leisen Blick aus manchen skeptischen Augen, ob das
denn gelingen könnte, erfolgreich dazu beigetragen hat,
daß es bei allen Aktivitäten des Westens und der inter-
nationalen Staatengemeinschaft nie eine Verkürzung auf
militärische Maßnahmen gegeben hat.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Sie hat aber auch nie die Illusion verbreitet, man könne
angesichts der Erfahrungen mit Milosevic davon ausge-
hen, daß nur das Argument und nur der gute Wille zum
Erfolg führen würden. Es mußte beides zusammenge-
halten werden. Das ist mit großer Verantwortung und
Weitsicht getan worden.

Ich füge hinzu: Dabei haben viele mitgeholfen. Ich
sage das ausdrücklich auch an die Adresse der
CDU/CSU und F.D.P.: Es war für die Bundesregierung
gut, zu wissen, daß man sich auf die uneingeschränkte
Unterstützung der Koalition verlassen kann. Ich füge
durchaus mit Anerkennung hinzu: Es ist in solchen Si-
tuationen ganz wichtig – auch für die außenpolitische
Berechenbarkeit und Verläßlichkeit unseres Landes –,
daß man sich auf diese Art von Konsens verlassen kann.
Wir sollten das auch in Zukunft tun.

Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1404100500
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Wolfgang Gerhardt, Vorsitzender der
F.D.P.-Fraktion.


Dr. Wolfgang Gerhardt (FDP):
Rede ID: ID1404100600
Herr Präsident!
Meine Damen und Herren! In solchen sehr bedeutsamen
Fragen gibt es natürlich zum Teil Grundkonsens und
Gemeinsamkeiten, aber zum Teil auch andere Erwartun-
gen und Einschätzungen. Wenn die Bundesregierung die
Debatte ehrlich führen will, muß sie zugeben, daß das
Bild in den Medien vom Kölner Gipfel schon heute im
Kontrast zur rauhen Wirklichkeit der Ereignisse steht.
Der Kölner Gipfel hat ein anderes Bild gezeigt, als es
sich jetzt auf Grund der Verhandlungen im Zelt von
Kumanovo, die die alte Politik und Verzögerungstaktik
deutlich machen, darstellt.


(Dr. Wolfgang Schäuble [CDU/CSU]: So ist es!)


Bundesminister Rudolf Scharping






(B)



(A) (C)



(D)


Der Kölner Gipfel hat auch im Hinblick auf Ihre An-
kündigungen, Herr Bundeskanzler, ein Bild gezeigt, das
der Wirklichkeit nicht entspricht. Ich nenne in diesem
Zusammenhang den Beschäftigungspakt und den ma-
kroökonomischen Dialog zwischen Finanzpolitik,
Geldpolitik und Lohnpolitik. Dieser neue Policy-Mix
soll zu einem Beschäftigungsimpuls auf europäischer
Ebene führen. Herr Bundeskanzler, dieser Beschäfti-
gungsimpuls ist eine beschäftigungspolitische Maus. Sie
werden auf europäischer Ebene solche Luftnummern
wiederholen, wenn Sie nicht Ihre Hausaufgaben in der
Bundesrepublik Deutschland machen. Es handelt sich
um einen erkennbaren Verschiebebahnhof.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

Je länger und gewundener die Sätze werden und je

mehr Fremdworte beigemischt werden, desto deutlicher
wird, daß Sie eine Luftbuchung vornehmen. Ein runder
Tisch ersetzt keinen klaren Kopf. Wenn Sie in Deutsch-
land nicht die Flexibilität am Arbeitsmarkt herstellen,
die Steuern nicht senken und die sozialen Sicherungssy-
steme nicht reformieren, sondern sich nur in englischen
Zeitungen äußern, dann zerstören Sie hier Beschäftigung
und dürfen sich in Europa nicht für einen Beschäfti-
gungspakt einsetzen.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

Hier liegt der Grund für die Kontroverse: Die Oppo-

sition kann nicht akzeptieren, daß Sie, eingebettet in die
Kosovo-Problematik, im Rahmen eines großen Ver-
schiebebahnhofs beschäftigungspolitische Mißerfolge
von Deutschland nach Europa transportieren. Wir kön-
nen ferner nicht akzeptieren, daß Sie auf Pressekonfe-
renzen verkünden, daß Sie auf europäischer Ebene Im-
pulse setzen. Sie müssen die Impulse hinsichtlich der
Berechenbarkeit, die für die Wirtschaft in Deutschland
wichtig ist, in diesem Haus setzen und nicht durch ein
gemeinsames Interview mit Tony Blair für Zeitungen in
Großbritannien. Das ist Ihre Aufgabe.


(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Wir können heute die Kosovo-Debatte ohne große
Emotionen und Erregung führen. Aber einige Punkte
will ich dennoch ansprechen. Ich vermute, daß Sie sich
den Tag für Ihre Regierungserklärung anders vorgestellt
haben. Sie wollten wahrscheinlich hier erklären, es sei
alles in trockenen Tüchern, die G-8-Resolution liege vor,
die militärische Implementierung sei klar, der Sicher-
heitsrat werde zu einem bestimmten Zeitpunkt tagen. Sie
wollten wahrscheinlich den Bundestag bitten, nach einer
Unterbrechung für Ausschußsitzungen zu beschließen.


(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Tun Sie doch nicht so, als ob dies alles Wahlkampf wäre!)


– Es ist überhaupt kein Wahlkampfthema. Ich schildere
hier nur die Wirklichkeit, verbunden mit einem Dank an
die Verhandlungsführer Tschernomyrdin und Ahtisaari
und mit einem Dank an die deutschen Soldaten.

Wir befinden uns heute in einer Situation, in der eini-
ge Fragen noch nicht beantwortet wurden. Diese Fragen

müssen wir im Rahmen der Beratungen ansprechen. Das
gehört zur Arbeit des Parlaments und beeinträchtigt
nicht die Gemeinsamkeiten.


(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Wir können seit zwei Tagen beobachten, daß in dem
Zelt bei Kumanovo das alte Spiel von Milosevic wieder
beginnt: Interpretieren, Verschieben, Verzögern, Aus-
denken von Finessen, Hakenschlagen und Hinhalten.
Wir stellen gleichzeitig fest – wir wünschen alle, daß
dies behoben wird –, daß sich in den letzten Tagen Un-
sicherheiten auch in Rußland ergeben haben. Jelzin steht
zu seinem Wort und zeigt dadurch, daß er ein verläßli-
cher Partner ist. Gleichzeitig aber wird diese Haltung
durch die alte Vorstellung von einer bipolaren Welt
überwuchert, was zeigt, daß sich Rußland in seinem po-
litischen Denken immer noch nicht auf die neue Lage
eingestellt hat.

Herr Kollege Schäuble hat mit seiner Meinung recht
– ich wiederhole sie –: Der kurze und kühle Empfang
von Primakow war eine Fehlleistung deutscher Diplo-
matie.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

Man kann nicht sagen: Das war nur ein Ereignis. Nein,
das war eine Fehlleistung, ein falsches Signal. Zur Di-
plomatie gehören auch nahezu symbolhafte Handlungen,
viel Psychologie und nicht nur der abrupte Kommentar,
das reiche nicht aus.

Wir haben noch keinen Abschluß der G-8-Verhand-
lungen. Möglicherweise kommt man heute zu einem
Abschluß. Das heißt aber, daß die Ausschußberatungen
bedeutsam sind. Wenn man zu einem Abschluß kommt,
muß die Bundesregierung den Ausschüssen eine neue
Vorlage zuleiten. Denn die Vorlage, die wir jetzt haben,
enthält durchaus eine Zweiwegestrategie: Für den Fall,
daß es nicht zu einer Sicherheitsratsresolution kommt,
ist man zu einer Implementierung bei Zustimmung der
jugoslawischen Regierung und Beteiligung Rußlands be-
reit.

Herr Bundeskanzler, eine solche strategische Überle-
gung kann man anstellen. Ich will Ihnen aber auch nach
den Informationsgesprächen, die wir hatten, einen Ha-
ken klar benennen: Ich finde, daß der Deutsche Bun-
destag darauf achten sollte, daß deutsche Soldaten, die
ein Mandat haben, auf keinen Fall von einem Dritten
abhängig sind, der in einer solchen Situation das Sagen
hätte. Deshalb sollte der Bundestag einer Resolution des
Sicherheitsrates der Vereinten Nationen für den Ein-
satz deutscher Soldaten eindeutig die Priorität geben.


(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Ich sage das deshalb, weil wir auf eindeutige Mandatie-
rung Wert legen. Dieser Weg zum Sicherheitsrat kann
auch nicht nur Befassung sein, wie ich hier in Ausfüh-
rungen höre. Für mich ist für die Entsendung deutscher
Soldaten nicht nur eine Befassung, sondern eine Ent-
scheidung des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen

Dr. Wolfgang Gerhardt






(A) (C)



(B) (D)


erforderlich, das heißt eine Resolution, die die G-8-
Staaten vorbereiten sollten.


(Beifall bei der F.D.P.)

Deshalb sage ich gleich zu Beginn der Beratung:

Meines Erachtens kann es heute nicht zu einem ab-
schließenden Beschluß des Bundestages kommen.


(Dr. Helmut Lippelt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das will doch auch keiner!)


Die Abgeordneten, die mit der Regierung in großen
Zielen im Konsens stehen, müssen sich das Recht vor-
behalten, die Vorlage zu prüfen, in den Ausschußbera-
tungen nachzufragen und auch zu klären, ob es eine ein-
deutige Kommandostruktur beim Einsatz deutscher Sol-
daten gibt – ein ganz wesentlicher Sicherheitsaspekt in
der Verifizierung der Implementierung, von der im übri-
gen auch die Bundesregierung immer gesprochen hat.

Ich rede hier nicht über die großen Meinungsunter-
schiede hinsichtlich der Kombination von militärischem
Druck und politischer Problemlösung. Ich rede über die
Wirklichkeit der nächsten Tage, wenn es zu einer Man-
datierung durch den Deutschen Bundestag kommt. Für
die Fraktion der F.D.P. erkläre ich ganz unumwunden
und ganz klar: Wir halten es – wie es auch die Bundes-
regierung früher erklärt und beschlossen hat – für wich-
tig, daß wir zum Gewaltmonopol der Vereinten Na-
tionen zurückkommen, daß wir den Einsatz deutscher
Soldaten nicht von der Deutungshegemonie des Herrn
Milosevic in einem Dreierpaket, sondern ganz eindeutig
von einer Entscheidung der Vereinten Nationen abhän-
gig machen. Das ist dann der souveränste Einsatz der
Implementierung und von niemandem abhängig, dessen
Vertragsbrüche, dessen Hindernisse, dessen Wegdrük-
ken und dessen Finessen wir aus der Geschichte kennen.
Das sind wir den deutschen Soldaten schuldig. Darüber
reden wir in aller Klarheit.


(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Ich stimme Herrn Scharping zu: Eine Implementie-
rung mit Sicherheitsratsbeschluß wäre erst der Anfang.
Dann stehen wir erst vor der eigentlichen Aufgabe; wir
müssen uns darauf einstellen, daß es einige Jahre dauern
wird, sie zu erfüllen. Wir sind gerne bereit, uns darauf
einzustellen. Wir wissen, daß wir nur dann Stabilität für
die eigene Zukunft gewinnen, wenn auch andere Stabi-
lität gewinnen, wenn sie ökonomischen und demokrati-
schen Erfolg spüren, wenn sie dadurch Frieden aus-
strahlen und wenn die Politik aufhört, sich immer nur
ethnisch selbst zu vergewissern, wenn Internationalität
spürbar wird und vieles andere mehr.

Da das aber Jahre dauert, sage ich der Bundesregie-
rung mit aller Klarheit auch: Wir werden nicht akzeptie-
ren, daß Sie die deutsche Öffentlichkeit vor dem Wahl-
tag im unklaren lassen, welche Steuererhöhungspolitik
Sie zu betreiben beabsichtigen, und nach dem Wahltag
auf die Idee kommen, Steuererhöhungen an den Koso-
vo-Einsatz zu binden. Das sage ich ganz klar: Eine
Mandatierung deutscher Soldaten ohne eine Auskunft
der Bundesregierung zu den finanziellen Konsequenzen
und eine Auskunft nach dem Wahltag, man müsse stetig

die Mineralölsteuer erhöhen, gegebenenfalls noch die
Mehrwertsteuer, kommt für die Fraktion der F.D.P. nicht
in Frage.


(Beifall bei der F.D.P.)

Diesen Policy-Mix müssen Sie unterlassen.

Das heißt: Grundkonsens ja, aber hinters Licht führen
lassen wir uns nicht. Wir sind für ein klares Mandat, wir
tragen mit Ihnen gemeinsam die Verantwortung. Ich sa-
ge sogar: Die Opposition war in diesem Prozeß stabiler
als die Koalitionsparteien.


(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Deshalb ist die Bundesregierung aber auch verpflichtet,
der Opposition in den Beratungen dieser Woche Klarheit
über Kommandostruktur, Resolution, Timetable, Abläu-
fe und Mandat zu geben. Dann sind wir bereit zu ent-
scheiden; nur dann und nicht vorher. Es liegt jetzt an Ih-
nen, Klarheit in die Beratungen zu bringen.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1404100700
Nun spricht Staats-
minister Ludger Volmer.

D
Dr. Ludger Volmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1404100800
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Als die
Bundesrepublik die EU-Präsidentschaft übernahm, war
sie mit einer doppelten, schwierigen Aufgabe konfron-
tiert: Zunächst mußte sie die Erweiterung und Vertie-
fung der europäischen Strukturen voranbringen, gleich-
zeitig mußte sie sich an der Bewältigung der schwierig-
sten Krise beteiligen, die Europa nach dem Ende des
zweiten Weltkriegs erlebt hat.

Kurz vor Ende der Präsidentschaft können wir heute
schon das Fazit ziehen, daß die Bundesregierung diese
doppelte Aufgabe gelöst hat. Die EU ist erweiterungsfä-
hig geworden. Ihre politische Handlungsfähigkeit ist ge-
stärkt worden. Gleichzeitig hat Europa in den vergange-
nen Monaten unter schwierigsten Rahmenbedingungen
nachgewiesen, daß es in der Lage ist, geschlossen zu
handeln und Gestaltungskraft zu beweisen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Ich verstehe, daß die Opposition, die aus guten Grün-
den und alternativlos die Bundesregierung in der Koso-
vo-Politik unterstützt, nun, um eigenes Profil in der Au-
ßenpolitik nachzuweisen und zu demonstrieren, insbe-
sondere in der Europapolitik, in der Politik der Europäi-
schen Union, ein Haar in der Suppe sucht. Ich denke al-
lerdings, daß diese Kritik fehlgeht; denn die Bundesre-
gierung hat all das getan, was getan werden mußte, um
dem strategisch entscheidenden Ziel, der Osterweiterung
der Europäischen Union, das entsprechende institutio-
nelle Fundament zu geben.


(V o r s i t z : Vizepräsident Rudolf Seiters)


Dr. Wolfgang Gerhardt






(B)



(A) (C)



(D)


Die Bundesregierung ist davon überzeugt, daß die
Osterweiterung der Europäischen Union keine
Pflichtaufgabe ist, die aus vertraglichen Festlegungen
erwächst. Vielmehr muß es ein Hauptinteresse der deut-
schen Politik sein, alle Unsicherheiten, die nach dem
Zerfall der Sowjetunion theoretisch in dem großen
Raum der Transformation östlich von uns entstehen
könnten, dadurch aufzufangen, daß ein Export der euro-
päischen Strukturen vorgenommen wird, sozusagen ein
Stabilitätsexport.


(Dr. Helmut Haussmann [F.D.P.]: Nennen Sie mal einen Termin!)


Jeder Europapolitiker weiß, daß die Osterweiterung
nur gelingen kann, wenn vorher die Strukturen der jetzi-
gen Europäischen Union fundamental verändert werden.
Dazu hat die Bundesregierung einen ganz entscheiden-
den Beitrag geleistet.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


So haben wir es geschafft, bei der Agenda 2000 einige
wichtige Kapitel entscheidend weiterzuentwickeln. Das
sind Kapitel, von denen vorher angenommen wurde, daß
ihre Problematik möglicherweise überhaupt nicht lösbar
sei und wegen der Unlösbarkeit dieser Fragen der euro-
päische Erweiterungsprozeß sogar scheitern könnte. Es
gab gerade in der CSU Stimmen, die sagten: Angesichts
der Nichtmachbarkeit und angesichts der großen Pro-
bleme, die der Agenda-Prozeß mit sich bringt, verzich-
ten wir lieber auf die Osterweiterung, igeln uns in West-
europa ein und pflegen hier die Gemütlichkeit.


(Michael Glos [CDU/CSU]: So ein Quatsch!)

Sie, verehrte Kolleginnen und Kollegen von der Op-

position, kritisieren, daß die Finanzpolitik schwierig zu
managen sei. Das liegt doch wohl nicht zuletzt daran,
daß wir ein extrem schwieriges Erbe übernommen ha-
ben.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Erst in den letzten Wochen ist doch dadurch, daß der
Finanzminister der jetzigen Regierung eine offene Poli-
tik betreibt, deutlich geworden, daß wir mit einem
strukturellen Defizit von 30 Milliarden DM zu kämpfen
haben, das doch nicht wir angerichtet haben, sondern
das Sie uns hinterlassen haben.


(Zuruf von der SPD: So ist es!)

Wenn man einen solchen Schuldenberg angehäuft hat,
dann ist man nicht unbedingt berufen, finanzpolitische
Ratschläge zu geben.

Wenn man schon kritisiert, muß man zumindest die
eigenen Maßstäbe klarstellen. Da sagt Herr Schäuble auf
der einen Seite, man müsse mehr Geld in den europäi-
schen Erweiterungsprozeß investieren – dem stimme ich
zu –, und auf der anderen Seite, die Bundesregierung sei
zu kritisieren, weil sie nicht genügend für den bundes-
deutschen Haushalt einspare. Ich möchte wissen: Was
ist der Maßstab Ihrer Kritik? Wollen Sie mehr Geld für
Europa, oder wollen Sie mehr Geld für Deutschland? Es

gibt einzelne Vertreter in der Union, für die sich der Wi-
derspruch mittlerweile so weit zugespitzt hat, daß sie
sich nicht mehr für Europa und nicht mehr für Deutsch-
land, sondern für Bayern entscheiden. Das hat Herr
Stoiber gestern getan. Das ist gut für Europa, das ist gut
für Deutschland, das ist für Bayern allerdings eine frag-
würdige Entscheidung.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD – Michael Glos [CDU/CSU]: Sorgen Sie sich um etwas anderes! Wollen Sie die Wahlchancen von Herrn Ude ganz kaputtmachen?)


Wir haben es geschafft, daß mittelfristig die Ausga-
benstabilität im europäischen Rahmen beibehalten wird
und die Beitragslasten für den deutschen Haushalt
gleichzeitig sinken werden – selbstverständlich nicht so,
daß wir der deutschen Bevölkerung sagen könnten, un-
sere Europapolitik bestehe darin, auf Kosten der anderen
Europäer zu sparen, aber doch so, daß Deutschland nicht
mehr in der Situation ist, der Zahler für alle Reformpro-
jekte zu sein. Die Reformen, die wir im europäischen
Rahmen umgesetzt haben, sind im wesentlichen Struk-
turreformen, die helfen, Geld zu sparen.

Wir haben auch das auf den Weg gebracht, was in in-
stitutioneller Hinsicht sonst noch erreicht werden muß,
damit die nächsten EU-Beitritte bis zum Jahre 2002 –
Herr Haussmann, nun haben Sie Ihre Zahl – stattfinden
können. Wir haben die Verhandlungen in Gang gesetzt
über die Erweiterung der Kommission, die Anzahl der
Kommissare, die Stimmengewichtung im Rat und die
Möglichkeit, auch mit Mehrheitsentscheidungen zum
Ziel zu kommen. Darüber wird auf der nächsten Regie-
rungskonferenz verhandelt werden. Diese Weichenstel-
lungen haben wir vorgenommen; wir haben das auf den
Weg gebracht. Deshalb denke ich, daß wir die Ver-
pflichtungen, die uns aus dem europäischen Integra-
tions- und Erweiterungsprozeß erwachsen sind, mehr als
gut erfüllt haben.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Hinzu kommt, daß die Europäische Union mit dem
Stabilitätspakt für Südosteuropa eine Aufgabe ge-
schultert hat, deren Dimensionen sich erst abzuzeichnen
beginnen. Wir freuen uns darüber, daß der Stabili-
tätspakt für Südosteuropa auch als ein Element der
UNO-Politik in den Konfliktlösungsansatz bezüglich des
Kosovo aufgenommen worden ist. Die Völkergemein-
schaft und die europäischen Staaten holen damit etwas
nach, was sie eigentlich schon vor zehn Jahren, zu Be-
ginn der Jugoslawien-Krise, hätten machen müssen. Be-
reits damals – Mitglieder der grünen Fraktion im Bun-
destag haben dies seinerzeit mehrmals gefordert – hätte
es für alle Nachfolgestaaten des zerfallenen Jugoslawien
eine Einladung nach Europa geben müssen, so daß die
Völker dieser Staaten eine positive Entwicklungsper-
spektive gehabt hätten. Statt dessen wurde damals eine
Eindämmungspolitik betrieben. Europa und insbesonde-
re seine einzelnen Nationalstaaten wollten dieses Pro-
blem möglichst von sich wegdrücken, es einkapseln
in der Hoffnung, daß es sich von selbst löst. Das war ein

Staatsminister Dr. Ludger Volmer






(A) (C)



(B) (D)


Irrtum, der viele Menschenleben gekostet hat und der
enorm viel Geld kostet.

Nun wird mit zehn Jahren Verspätung – allerdings
nicht zu spät – das getan, was damals versäumt wurde:
Der Stabilitätspakt für Südosteuropa wird in Angriff ge-
nommen. Das ist eine Aufgabe, die die Europäische
Union in Zusammenarbeit mit der OSZE und mit den
Finanzinstitutionen IWF und Weltbank zu schultern hat
und die in ihren Dimensionen überhaupt nicht zu über-
schätzen ist. Angesichts der Tatsache, daß sich durch
diese Prozesse das europäische Gesicht und auch das
europäische Gewicht verändern werden, finde ich man-
che Kritik aus den Reihen der Opposition reichlich
kleinkariert.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Zuruf von der SPD: Und dumm!)


Im Stabilitätspakt für Südosteuropa kulminiert eine
Politik, mit der die Bundesregierung wie auch die ande-
ren westlichen Staaten versucht haben, dem Völkermord
im Kosovo ein Ende zu bereiten. Heute, nachdem die
NATO-Bombardierungen viel Kritik auf sich gezogen
haben, nachdem es viele zivile Opfer zu beklagen gibt,
stellt sich mancher die Frage, ob es nicht eine Alternati-
ve gegeben hätte. Eine Alternative gab es möglicherwei-
se vor zehn Jahren: die, die ich gerade skizziert habe.
Doch erinnern wir uns an die Diskussion im Herbst
letzten Jahres. Jeder wußte, daß die internationale Staa-
tengemeinschaft eingreifen muß, um dem beginnenden
Völkermord ein Ende zu bereiten. Jeder hätte einen Ver-
handlungsfrieden bevorzugt. Aber jeder hier im Hause
wußte auch, daß Milosevic nur unter militärischem
Druck zu verhandeln bereit war.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Daher wurde hier am 16. Oktober die grundlegende Ent-
scheidung getroffen.

So ist es nun einmal bei Ultimaten: Sie binden beide
Seiten. Nachdem Milosevic die Verabredungen mit Hol-
brooke gebrochen und schon damals den Verhandlungs-
prozeß torpediert hatte, standen wir wieder vor der Fra-
ge: Wollen wir nun grünes Licht für die Bombardierung
geben, oder gibt es noch eine Möglichkeit zu verhan-
deln? Dies war der Zeitpunkt, an dem die Bundesregie-
rung und insbesondere auch das grün-geführte Außen-
ministerium darauf gedrungen haben, in den Verhand-
lungsprozeß von Rambouillet einzutreten, um zu einer
friedlichen Lösung zu kommen. Sie alle wissen, wie die
Dinge weitergegangen sind.

Wir knüpfen große Hoffnungen an den Verhand-
lungsprozeß, bei dem es durch das Treffen von Ahtisaari
und Tschernomyrdin letzte Woche in Belgrad zu einem
Durchbruch gekommen ist. Wir als Bundesregierung er-
kennen die großen Verdienste an, die unsere Partner im
Zusammenhang mit der Konfliktlösung haben. Wir er-
kennen an, daß Ahtisaaris Verhandlungsgeschick dazu
geführt hat, daß die unterschiedlichen Optionen, die
auch auf der westlichen Seite und innerhalb der G 8
vorhanden waren, auf einen Punkt hin fokussiert wurden

und dieser so formuliert wurde, daß Belgrad einlenken
konnte. Wir erkennen die großen Leistungen an, die
Rußland erbracht hat. Wir wissen schließlich, mit wel-
chen Fragen sich Rußland gequält hat.

In diesem Zusammenhang möchte ich auf das Stich-
wort Primakow zurückkommen: Wer hätte nicht ge-
wollt, daß Primakow vor zwei, drei Monaten mit der Lö-
sung aus Belgrad nach Bonn gekommen wäre? Wenn
das Treffen mit Primakow in Bonn weniger herzlich
war, als sich dies mancher gewünscht hätte, dann liegt
das nicht daran, daß – wie behauptet – die Bundesregie-
rung unhöflich gewesen ist; es lag schlicht daran, daß
Herr Primakow mit leeren Händen kam. Niemand hat
mehr darunter gelitten als Primakow selber. Niemand
hat mehr darunter gelitten als zum Beispiel auch Jelzin.
Wer die Hintergründe kennt, der weiß, daß unter ande-
rem diese Ereignisse dazu geführt haben, daß es zum
politischen Wechsel in Moskau gekommen ist. Wir
gratulieren Präsident Jelzin dazu, daß er die Verve und
die Energie hatte, Tschernomyrdin als Beauftragten für
den Kosovo einzusetzen. Wir gratulieren Tscher-
nomyrdin genauso wie Ahtisaari zu den großartigen
Verhandlungserfolgen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Wir wollen auch den Dritten im Bunde nennen: unse-
ren amerikanischen Partner und Freund Strobe Talbott,
der für die Macht, die den größten militärischen Anteil
an der Bewältigung dieser Krise getragen hat, in die
Verhandlungen eingetreten ist. Die Amerikaner haben
einen großen Beitrag zur Lösung eines europäischen
Problems geleistet. Wir Europäer waren nicht in der La-
ge, dieses Problem im Zentrum unseres Kontinents al-
lein zu lösen. Wir waren auf die Vereinigten Staaten an-
gewiesen. Auch wenn man so manches Detail der
NATO-Politik kritisieren mag: Wir Europäer sind den
Amerikanern gegenüber zu Dank verpflichtet.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der SPD)


Wenn man aber deutlich macht, wer an der sich nun
abzeichnenden Krisenlösung Anteil hat, dann darf man
auch erwähnen, daß es insbesondere die Bundesregie-
rung und das grün-geführte Außenministerium waren,


(Zurufe von der F.D.P.: Oh!)

die es nach monatelangen Bemühungen – spätestens
nachdem deutlich wurde, daß die NATO-Bombardierun-
gen nicht bewirken würden, Milosevic schnell an den
Verhandlungstisch zurückzubekommen – geschafft ha-
ben, mit eigenen Vorschlägen den Verhandlungsstrang
zu stärken und Friedensvorschläge zu machen, die von
allen Großorganisationen, von der EU, von der NATO
und von der UNO, akzeptiert wurden und die den Ver-
handlungen nun zugrunde liegen.


(Jürgen Koppelin [F.D.P.]: Glauben Sie das selber?)


Die Europäer haben es geschafft, Fehler der Vergan-
genheit, als man nationale Interessen auf den Balkan
projizierte, auszubügeln und zu einer gemeinsamen

Staatsminister Dr. Ludger Volmer






(B)



(A) (C)



(D)


Haltung zu kommen. Europa hat damit den Weg für die
Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik geebnet, die
zuletzt Thema beim Europäischen Rat war.

Wenn beim Europäischen Rat eine Stärkung der Ge-
meinsamen Außen- und Sicherheitspolitik der Euro-
päer nicht nur ins Auge gefaßt wurde, sondern auch in-
stitutionell weiterentwickelt wurde, so wird damit darauf
reflektiert, daß die Europäer in einem Maße auf ameri-
kanische Unterstützung angewiesen sind, die wir selber
so nicht mehr wollen. Wir wissen, daß wir in der Ver-
antwortung stehen, europäische Probleme weitestgehend
selber zu lösen. Deshalb ist der Aufbau einer gemeinsa-
men europäischen Außen- und Sicherheitspolitik unab-
dingbar. Ich sage aber auch: Die GASP, die Gemeinsa-
me Außen- und Sicherheitspolitik, beginnt nicht mit der
Militärpolitik, sondern damit, daß zunächst gemeinsame
Interessen formuliert werden und daß man sich gemein-
sam an die Weiterentwicklung und die Stärkung der zi-
vilen Großorganisationen macht, insbesondere der Eu-
ropäischen Union. In diesem Zusammenhang kommt der
Osterweiterung der Europäischen Union ein entschei-
dender strategischer Stellenwert zu.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Es ist zu früh, endgültige Schlußfolgerungen aus dem
Kosovo-Konflikt zu ziehen; einige Dinge hierzu kann
man aber schon jetzt ansprechen.

Wie ich vorhin schon sagte, wird Europa trotz großer
Eigenanstrengung auch weiterhin ohne die USA nicht
auskommen können. Ich möchte betonen, daß wir ohne
die USA auch nicht auskommen wollen. Bei allem Be-
mühen, die europäischen Strukturen zu stärken, wollen
wir gleichzeitig die transatlantischen Beziehungen aus-
bauen und fundieren. Wir wollen den Konnex mit unse-
ren Partnern und Freunden jenseits des Atlantiks als
Säule unserer Außenpolitik aufrechterhalten.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der SPD)


Wir wissen gleichzeitig – das zeigen uns auch der
Kosovo-Konflikt und dessen Bewältigung –, daß Europa
ohne ein demokratisches, ohne ein sich entwickelndes
und ohne ein sich auf Westeuropa orientierendes Ruß-
land langfristig nicht gut existieren kann. Deshalb war es
eine der wesentlichsten Aufgaben der Diplomatie der
Bundesregierung, im Prozeß der Konfliktlösung im Ko-
sovo Rußland für die westliche Strategie zu gewinnen
und es in der G 8 an den Westen zu binden, um so zu ei-
ner Lösung zu kommen, die von der UNO und damit
von nahezu der gesamten Völkergemeinschaft legiti-
miert wird. Es war der Dreiklang zwischen den Partnern
jenseits des Atlantiks, in Westeuropa und Rußland,
durch den es gelungen ist, der Lösung dieser schlimm-
sten Krise auf dem europäischen Kontinent zumindest
einen Schritt näher zu kommen.

Wir warnen jedoch davor, in Euphorie auszubrechen,
wie wir auch am letzten Freitag davor gewarnt haben,
nachdem der politische Rahmen existent war, in dem der
konkrete Lösungsprozeß zu einem guten Ende hätte ge-
bracht werden können. Wir haben davor gewarnt, indem

wir darauf hingewiesen haben, daß es wiederum nur eine
Finte von Milosevic sein könnte. Nachdem die Gesprä-
che über das militärisch-technische Abkommen unter-
brochen wurden, wurde auch sofort die Frage gestellt,
ob dies eine der üblichen Finten war, die wir zur Genüge
kannten, oder ob es gute Chancen gab, trotz dieser Er-
schwernisse weiterzumachen.

Der Bundesaußenminister und die gesamte Bundes-
regierung waren wie auch die anderen europäischen
Partner, wie die Amerikaner und die Russen der Mei-
nung: Nun, wo völlig offensichtlich ist, daß in Belgrad
ein mutmaßlicher Schwerstverbrecher an der Macht ist
und das serbische Volk nur dann eine Chance auf einen
Wiederaufbau und auf die Teilnahme an einem Prozeß
der Annäherung an Europa hat, wenn es eine andere
politische Führung in Belgrad gibt, muß auch der letzte
Schritt vollzogen werden, um zu einem Ende des
Mordens zu kommen. Dazu muß eine Überwachungs-
mission für den Kosovo auf den Weg gebracht werden,
die in der Lage ist, die mittlerweile über 1 Million Ver-
triebenen sicher zurückzubringen. Dieser Verantwortung
hat sich die internationale Staatengemeinschaft gestellt
und hat alle Probleme, die auch untereinander bestan-
den, überwunden, um – vielleicht sogar schon heute – zu
einem Ergebnis zu kommen.

Nur glauben wir nicht, daß dann Anlaß zur Euphorie
besteht, wenn der angestrebte Beschluß des UNO-
Sicherheitsrates gefaßt wird. Die Aufgaben, die dann vor
uns liegen, sind mindestens genauso enorm: Die Dörfer
sind verwüstet, die Häuser sind verbrannt, die Felder
sind zerstört, das Vieh ist abgeschlachtet, die Infra-
struktur ist kaputt. Dies, Herr Gysi, ist nicht in erster Li-
nie eine Folge der Bombardierungen durch die NATO,
sondern der völkermörderischen Politik und der Mord-
brennerei, die Milosevic dort betrieben hat.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Ich kann verstehen, daß es viele kritische Bemerkun-
gen zur Politik der Bundesregierung gibt. Ich kann ver-
stehen, wenn gefragt wird, warum die Bombardierungen
durch die NATO so viele zivile Opfer gekostet haben.
Ich kann die Frage nach der völkerrechtlichen Legitima-
tion verstehen. Ich kann die Aussagen der ethischen Pa-
zifisten verstehen, für die unter keinen Umständen in ir-
gendeiner Situation Waffengewalt in Frage kommt.
Aber den Antrag, den Sie, Herr Gysi, heute hier vorge-
legt haben, kann ich nicht verstehen. Sie fordern nicht
nur, daß keine neuen deutschen Truppenkontingente in
die Region geschickt werden, sondern Sie fordern sogar,
daß die dort stationierten nun abgezogen werden.


(Beifall bei Abgeordneten der PDS – Michael Glos [CDU/CSU]: Lächerlich!)


Ich frage mich mittlerweile, welches Ziel Sie denn
eigentlich noch verfolgen. Es kann nur reiner Irrsinn
sein, wenn eine Partei in dem Moment, wo ein beider-
seitiger Waffenstillstand zum Greifen nahe ist, immer
noch den einseitigen fordert. Schön; im schlimmsten
Falle blamieren Sie sich damit. Ich kann aber absolut
nicht verstehen, warum sich die Bundesrepublik, die al-
les unternommen hat, um mit der bekannten Doppel-

Staatsminister Dr. Ludger Volmer






(A) (C)



(B) (D)


strategie den Völkermord zu stoppen, und die durch ihre
diplomatischen Initiativen alles unternommen hat, um
eine perspektivlose militärische Eskalation zu verhin-
dern, jetzt nicht auf der Basis eines UNO-Mandates dar-
an beteiligen soll, den Frieden zu sichern. Warum for-
dern Sie den Rückzug aller Truppen? Das ist mir völlig
unerklärlich. Ich kann mir auch nicht vorstellen, daß
damit überhaupt ein konstruktiver Gedanke verbunden
ist. Sie befördern damit nicht den Friedensprozeß, son-
dern sabotieren den Friedensprozeß in einem Moment,
wo er vor einem guten Ende steht.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Lassen Sie mich auf einen letzten Punkt zu sprechen
kommen. Der ganze Kosovo-Konflikt zeigt, daß in den
letzten Jahren vor allem im Bereich der Krisenpräven-
tion und der friedlichen Konfliktbeilegung ein Defizit
herrschte. Möglicherweise war die Diskussion darüber
bis zum Ende der 80er Jahre zu akademisch und hatte
deshalb noch keinen hinreichenden Einfluß auf die offi-
zielle Politik der Regierungen gehabt. Aber spätestens
der Kosovo-Konflikt muß doch jedem die Augen dafür
öffnen, daß wir eine effektive Politik zur Krisenpräven-
tion brauchen. Wir brauchen Frühwarnsysteme und vor
allen Dingen Handlungsansätze, die uns in die Lage ver-
setzen, auf Warnmeldungen effektiv zu reagieren.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


In diesen Zusammenhang der Krisenprävention ge-
hört eine gründliche Reform der UNO und des Sicher-
heitsrates sowie die Weiterentwicklung des Völkerrech-
tes. In diesen Zusammenhang gehört eine bestimmte
Ausgestaltung der Gemeinsamen Außen- und Sicher-
heitspolitik der Europäischen Union; sie muß ihre Auf-
gabe insbesondere in der Krisenprävention sehen. In die-
sem Bereich müssen aber auch in die deutsche Außen-
und Sicherheitspolitik neue Elemente eingeführt werden.

Wir haben großen Respekt vor dem, was die Soldaten
auf dem Balkan leisten. Aber wir haben auch großen
Respekt vor dem, was die Diplomaten geleistet haben
und leisten. Wir haben großen Respekt vor dem, was die
Verifikateure der OSZE leisten mußten, obwohl die
Voraussetzungen für ihre Arbeit alles andere als günstig
waren. Die Bundesregierung zieht daraus die Konse-
quenz, daß der gesamte Ansatz der Krisenprävention,
der Konfliktfrüherkennung und der frühen Handlungsfä-
higkeit gestärkt werden muß.

Wir im Auswärtigen Amt werden zu diesem Zweck
eine Reserve von professionell arbeitendem Personal
schaffen, das auf der Basis von Mandaten der OSZE
oder der UNO in Konfliktregionen geschickt werden
kann, und zwar zu einem so frühen Zeitpunkt, daß noch
auf zivile Art und Weise versucht werden kann, die Zu-
spitzung von Krisen zu bewaffneten Konflikten zu ver-
hindern. Eine solche Personalreserve bereitzustellen ist
eine der wichtigsten Konsequenzen, die wir aus dem
Kosovo-Konflikt ziehen müssen. Die Bundesregierung
wird hieran mit großem Nachdruck arbeiten.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1404100900
Ich gebe das Wort
für die PDS dem Abgeordneten Dr. Gregor Gysi.


Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1404101000
Herr Präsident! Meine Da-
men und Herren! Herr Gerhardt hat in einem Punkt
recht, nämlich daß der Bundeskanzler, als er sich für den
Termin für die heutige Debatte entschieden hat, darauf
gehofft hat, daß das Wesentliche der Verhandlungen
über den Friedensprozeß in Jugoslawien unter Dach und
Fach ist, so daß man von einem anderen Ausgangspunkt
als jetzt erstens über den Antrag hätte beraten können
und zweitens auch Wahlkampf für die Europawahlen
hätte machen können. Nun hat sich die Lage anders
entwickelt, weil sich die Verhandlungen als schwieriger
dargestellt haben, so daß vieles von dem, was heute ge-
sagt worden ist, im vagen geblieben ist. Dennoch hoffen
auch wir, daß es ein baldiges Ende des völkerrechtswid-
rigen Angriffskrieges ebenso wie ein Ende von Ver-
treibung, Mord und anderen Repressionen im Kosovo
geben wird. Das sind die Voraussetzungen, um dort zu
einem dauerhaften Frieden zu gelangen.


(Beifall bei der PDS)

Wenn Sie nach dem Sinn unseres Antrages fragen,

dann möchte ich darauf hinweisen, daß er zwei ver-
schiedene Aspekte beinhaltet. Das eine ist die sofortige
Beendigung der Bombardierungen. Darauf muß die
Bundesregierung im Rahmen der NATO entsprechend
hinwirken. Das andere betrifft die Beendigung der Be-
teiligung der Bundeswehr an den Kriegshandlungen der
NATO.

Für unsere Forderung nach Abzug der deutschen
Truppen aus Jugoslawien gibt es einen einfachen Grund:
Wir haben immer darauf hingewiesen, daß diejenigen,
die aktiv an dem völkerrechtswidrigen Angriffskrieg ge-
gen Jugoslawien beteiligt waren, hinterher nicht als
Friedensengel in den Kosovo zurückkehren sollen;
vielmehr sollen neutrale Staaten Truppen nach Jugosla-
wien entsenden, weil sie nicht durch einen vorherigen
aktiven Einsatz belastet sind.


(Beifall bei der PDS)

Insofern haben wir eine andere Vorstellung über die Zu-
sammensetzung des Kontingents, das nach Jugoslawien
geschickt werden soll. Unserer Meinung nach wäre die
Entsendung von Soldaten durch neutrale Staaten dem
Frieden dienlicher, weil die Vorbehalte gegen Staaten
wie Schweden, Finnland und andere viel geringer sind
als gegenüber den NATO-Staaten, die Jugoslawien über
Wochen bombardiert haben.

Wenn Sie von dem menschlichen Leid sprechen,
dann muß man das Leid der gesamten Zivilbevölkerung
in Jugoslawien in Betracht ziehen.


(Beifall bei der PDS)

Selbstverständlich sind die kosovo-albanischen Kinder,
die vertrieben worden sind, traumatisiert. Das sieht man
an ihren Zeichnungen. Aber ich sage Ihnen: Traumati-
siert sind auch die serbischen Kinder, die seit über 70
Tagen Nacht für Nacht in Luftschutzkellern zubringen
müssen. Darüber ist hier so gut wie noch nie gesprochen

Staatsminister Dr. Ludger Volmer






(B)



(A) (C)



(D)


worden. Genau deshalb unterscheiden wir bei der Hilfe
nicht.


(Beifall bei der PDS)

Ich finde es auch völlig falsch, schon jetzt anzukün-

digen, daß man der serbischen Bevölkerung erst dann
Hilfe zukommen läßt, wenn dort die Leute regieren, die
man sich wünscht. Ich finde das absurd. Es geht doch
nicht um einen Diktator oder einen Präsidenten, sondern
um Menschen, deren Infrastruktur völlig zerstört worden
ist und die dringend der Hilfe bedürfen.


(Beifall bei der PDS)

Herr Staatsminister, ich verstehe überhaupt nicht,

weshalb die NATO nach den Zugeständnissen Belgrads
– auch gegenüber dem Sicherheitsrat der Vereinten Na-
tionen – nicht wenigstens jetzt mit den Bombardierun-
gen aufhört. Sie können doch das tägliche und nächtli-
che Bombardement nicht als eine Art Alltagspflicht be-
handeln, der man sich auf gar keinen Fall entziehen darf,
bevor es nicht eine Unterschrift gibt.


(Beifall bei der PDS)

Es gab übrigens in jedem Krieg auch Nächte, in denen
nicht bombardiert worden ist. Das ist also überhaupt
nicht nachvollziehbar.

Wenn dann gesagt wird, man müsse weitermachen,
weil man Milosevic mißtraue oder weil der militärische
Druck nicht nachlassen dürfe: Militärischen Druck gäbe
es doch auch, wenn Sie jetzt aufhören würden zu bom-
bardieren. Die Soldaten, die Flugzeuge und die Raketen
sind doch noch alle da. Sie könnten – leider – theore-
tisch jeden Tag wieder anfangen. Das heißt, der militäri-
sche Druck bliebe doch.

Was hindert Sie denn eigentlich daran, einfach zu sa-
gen „Wir hören jetzt auf, das Ganze ist auf einem Weg,
zum Ende zu kommen, und wir werden uns nicht an
einer Verlängerung des Krieges durch tägliche Bombar-
dements beteiligen“? Auch letzte Nacht hat es wieder
zivile Opfer gegeben, zumindest wenn die Informatio-
nen stimmen, die wir heute dazu bekommen haben.


(Beifall bei Abgeordneten der PDS)

Ich sage Ihnen: Die ganzen Ziele dieses Krieges ha-

ben Sie allein schon durch die Art der Bombardements
in Frage gestellt. Wasserwerke, Düngemittelfabriken,
Elektrizitätswerke, Heizkraftwerke, das waren nie mili-
tärische Objekte, und die Bombardements richteten sich
auch nie gegen Milosevic, sondern trafen immer nur die
Zivilbevölkerung. Ich bin überhaupt sehr mißtrauisch,
gerade was die Angriffe gegen den Mann an der Spitze
betrifft. Denn war es im Golfkrieg nicht auch so, daß
immer gesagt wurde, der Krieg richte sich nur gegen
Saddam Hussein, aber nicht gegen die Zivilbevölke-
rung? Tatsache ist: Es gibt im Irak inzwischen 100 000
tote Kinder, aber Saddam Hussein sitzt immer noch si-
cher im Sattel. Das ist die Wahrheit, die sich nach Jah-
ren herausstellt.


(Beifall bei der PDS)

Natürlich ist das Ergebnis, das bei dem G-8-Gipfel

beschlossen worden ist, nicht identisch mit den Be-

schlüssen von Rambouillet, gerade im militärischen
Teil. Es gibt zwei gravierende Unterschiede. Damals
ging es nämlich um die Hoheit der NATO über ganz Ju-
goslawien, jetzt geht es „nur“ um den Kosovo. Damals
war von der UNO überhaupt keine Rede, während die
Hoheit heute bei der UNO liegen soll. Das sind schon
gravierende Unterschiede.

Auf der anderen Seite haben Sie vieles von Ihren
Vorstellungen durchgesetzt, was nach einem solchen
Bombardement auch zu erwarten war. Nur, wenn der
Bundeskanzler heute gesagt hat, wer nicht bombardiert
hätte, hätte die größere Schuld auf sich geladen, und
wenn er meint, daß die Politik der Bundesregierung ins-
gesamt richtig gewesen sei, dann sage ich Ihnen: Von
allen Fehlern, die die Bundesregierung bisher begangen
hat und in dieser Legislaturperiode in Zukunft wahr-
scheinlich noch begehen wird, war die Beteiligung an
dem völkerrechtswidrigen Angriffskrieg mit Sicher-
heit der größte mit den langfristigsten Auswirkungen für
Europa und für unser Land.


(Beifall bei der PDS)

Gerade Sie, Herr Volmer, aber auch Frau Müller,

Frau Beer und andere haben der Politik einen enorm
schlechten Dienst erwiesen. Sie haben, Herr Volmer,
hier heute über den 16. Oktober gesprochen. An diesem
16. Oktober haben Sie der Androhung der Bombardie-
rung nicht zugestimmt. Sie haben sich der Stimme ent-
halten, genau wie Frau Beer, Frau Müller und andere.
Die Begründung, die Sie damals dazu abgegeben haben,
lautete: Sie könnten der Androhung nicht zustimmen,
weil dahinter kein Mandat des Sicherheitsrates der Ver-
einten Nationen stünde; damit wäre es völkerrechtswid-
rig, und Sie könnten einer völkerrechtswidrigen Andro-
hung von Militärmaßnahmen aus Gewissensgründen
nicht zustimmen. Das war Ihre damalige Erklärung. Drei
Monate später, als die ersten Bomben fielen, hatte sich
– ich gehe nur von Ihrer Erklärung aus – an diesem
Sachverhalt nichts geändert. Es gab noch immer keinen
Sicherheitsratsbeschluß. Plötzlich haben Sie aber zuge-
stimmt. Da ging es nicht mehr um die Androhung, son-
dern um das Abwerfen der Bomben. Damit haben Sie
– ganz egal, welchen Standpunkt man einnimmt – der
Politik und der Demokratie deshalb einen so schlechten
Dienst erwiesen, weil Sie nun für die Bevölkerung der
lebende Beweis dafür sind, daß man Überzeugungen
nicht nach dem Gewissen ausrichtet, sondern nach dem
Amt, das man bekleidet.


(Beifall bei der PDS)

Denn der einzige Unterschied war, daß Sie inzwischen
Staatsminister und die anderen Angehörige einer Regie-
rungsfraktion waren.

Sie wissen doch genausogut wie ich: Wenn eine Re-
gierung aus CDU/CSU und F.D.P. diesen Krieg in ihrer
Verantwortung beschlossen hätte, wären wir beide
wahrscheinlich gemeinsam auf Kundgebungen aufge-
treten und hätten wilde Reden dagegen gehalten.


(Beifall bei der PDS – Zustimmung bei der CDU/CSU und der F.D.P. – Dr. Theodor Waigel [CDU/CSU]: Ausnahmsweise richtig!)


Dr. Gregor Gysi






(A) (C)



(B) (D)


Das ist die Wahrheit. Damit haben Sie Politik dauerhaft
beschädigt, weil wir uns alle von den Leuten fragen las-
sen müssen, ob denn auf uns Verlaß wäre, wenn wir ein
anderes Amt übernähmen, oder ob wir dann auch sofort
unsere Auffassung entsprechend ändern würden. Sie ha-
ben nicht nur sich geschadet, sondern Sie haben dem
Ansehen der Politik überhaupt geschadet. Sie hätten Ihre
Meinung nicht ändern dürfen, oder Sie hätten von vorn-
herein einen anderen Standpunkt einnehmen müssen.


(Beifall bei der PDS)

Die Folgen des Krieges werden nicht unerheblich

sein. Eine der schlimmsten Folgen ist meines Erachtens
ein Hochrüstungsprogramm. Wir werden das in Ruß-
land und in vielen anderen Staaten erleben. Diktatoren
ziehen doch nicht die Schlußfolgerung, plötzlich Demo-
kraten zu werden. Sie werden vielmehr überlegen, wie
sie militärisch möglichst unangreifbar werden.

Rußland ist deutlichst vorgeführt worden. Die Ge-
sten gegenüber Primakow waren diplomatisch natürlich
eine Katastrophe. Diejenigen, die dieses Verhalten hier
kritisiert haben, haben völlig recht: So geht man mit ei-
nem Ministerpräsidenten, den man für eine Politik ge-
winnen will, nicht um, selbst dann nicht, wenn die Er-
gebnisse mangelhaft sind.


(Beifall bei der PDS)

Das Problem ist, daß man Rußland deutlich gemacht hat,
daß es nur dann gleichwertig mitsprechen kann, wenn
es militärisch auch wieder gleichwertig ist. Das heißt:
Ganz egal, wer Präsident wird, ganz egal, wie die Duma
zusammengesetzt sein wird, wir werden ein Hoch-
rüstungsprogramm erleben. Das bedeutet immer die
Verelendung von Völkern; auch bei uns hat es übrigens
zu Sozial-, Kultur- und Bildungsabbau geführt.

Schon zwei Tage nach Beginn des Krieges hat der
Staatssekretär im Verteidigungsministerium gefordert,
wir bräuchten eigene Satelliten, nicht nur amerikanische.
Sie wollen die Westeuropäische Union jetzt aus- und
aufbauen. Das alles bedeutet mehr Rüstung, es bedeutet,
viel stärker auf das Militärische zu setzen.

Machen wir uns doch nichts vor: Die Amerikaner
wußten natürlich, daß diese Bombardierung auch die eu-
ropäische Integration um Jahre und Jahrzehnte zurück-
wirft und sie einen gleichwertigen europäischen Kon-
kurrenten auf Jahre und Jahrzehnte auf den Weltmärkten
nicht mehr zu fürchten haben. Wenn Sie mir das nicht
glauben, dann werfen Sie doch einen Blick auf das Ver-
hältnis von Euro und Dollar. Sie werden feststellen:
Der Euro geht in den Keller, der Dollar steigt. Alle An-
leger investieren in den Dollar.


(Beifall bei der PDS)

Deswegen behaupte ich: Alle sozialdemokratischen eu-
ropäischen Regierungen haben sich schlicht und ergrei-
fend über den Tisch ziehen lassen, weil sie das im Un-
terschied zu den Konservativen nicht mit berechnet und
berücksichtigt haben. Das ist die traurige Wahrheit.


(Beifall bei der PDS – Dr. Wolfgang Schäuble [CDU/CSU]: Ein schöner Koalitionspartner!)


Wenn Sie mit Politikern kleinerer Länder sprechen,
dann hören Sie plötzlich Argumente, auf die man vorher
gar nicht gekommen wäre. Zum Beispiel gibt es einen
Run auf die NATO-Mitgliedschaft, weil diese Länder
die Situation in der Türkei mit der Situation in Jugosla-
wien verglichen haben. Aus diesem Vergleich haben sie
die Schlußfolgerung gezogen: Wenn ich in der NATO
bin, dann kann ich mir jede Menschenrechtsverletzung
leisten. Wenn ich draußen bin, dann ist das gefährlich. –
Diese Logik haben Sie im Ergebnis dieses Krieges mit-
zuverantworten.


(Beifall bei der PDS)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1404101100
Herr Kollege Gysi,
ich möchte Sie bitten, jetzt zum Schluß zu kommen.


(Zuruf von der CDU/CSU: Die Redezeit ist beendet!)



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1404101200
Das war nur ein Mißver-
ständnis, so etwas kommt gelegentlich vor. – Ich möch-
te, was die Europapolitik der Bundesregierung betrifft,
noch auf folgende Dinge eingehen. Lassen Sie mich zu-
nächst etwas zum Beschäftigungspakt sagen, den der
Bundeskanzler heute hier so stolz verkündet hat. Ich er-
innere mich sehr gut an folgende Situation. Als Jospin
an die Macht kam, wollte er unbedingt einen Beschäfti-
gungspakt in Europa. Altbundeskanzler Kohl wehrte
sich zusammen mit Waigel tapfer dagegen und sagte,
Arbeitsmarktpolitik müsse man im Lande machen und
nicht in Europa. Deswegen blieb es bei völlig unver-
bindlichen Absichtserklärungen. Die SPD tobte damals
zusammen mit uns und mit den Grünen und sagte, in Eu-
ropa müsse konkrete Beschäftigungspolitik gemacht
werden. Nun haben wir einen sozialdemokratischen
Kanzler, und der sagt jetzt auf dem Gipfel: Bloß keine
konkrete europäische Beschäftigungspolitik, bitte nur
Absichtserklärungen. – So gesehen hätten wir uns den
Wechsel des Kanzlers wirklich schenken können. Der
Ansatz ist derselbe geblieben.


(Beifall bei der PDS)

Auf der einen Seite gibt es Dinge, die man vom Land

nicht nach Europa wegdelegieren darf, um sich nicht aus
der Verantwortung zu stehlen. Auf der anderen Seite
gibt es aber natürlich auch Dinge, die man europäisch
angehen muß: Wir werden in Europa keine Beschäfti-
gungspolitik ohne eine Steuerharmonisierung hinbe-
kommen. Wir werden nicht nur in unserem Land, son-
dern in ganz Europa über den Abbau von Überstunden
und über Arbeitszeitverkürzungen nachdenken müssen,
wenn wir Arbeit in der Gesellschaft gerechter verteilen
wollen. Wir werden über den sogenannten Non-Profit-
Sektor, also den öffentlich geförderten Beschäftigungs-
sektor, in unserem Lande, aber auch in ganz Europa
nachdenken müssen. Außerdem werden wir eine neue
Struktur für Lohnnebenkosten finden müssen. All das
gehört dazu.

Wenn ich dann die Sparpläne der Bundesregierung
höre, die vor der Wahl allerdings sehr unkonkret blei-
ben, dann wundere ich mich auch sehr. Alles, was hier

Dr. Gregor Gysi






(B)



(A) (C)



(D)


zitiert worden ist, hätte auch die alte Regierung sagen
können. Im Dezember haben Sie die Senkung des Ren-
tenniveaus ausgesetzt. Wir haben völlig zu Recht zuge-
stimmt, obwohl es nicht konsequent genug war. Wir
hätten gleich die Beseitigung dieser Senkung festschrei-
ben müssen; Sie wollten zunächst aber nur die Ausset-
zung. In den letzten Tagen lese ich in den Zeitungen, Ihr
Finanz- und Ihr Arbeitsminister wollten die Erhöhung
der Rente im nächsten Jahr um die Hälfte kappen. Das
soll danach so weitergehen. Dann hätten Sie die Sen-
kung des Rentenniveaus gleich in Kraft lassen können;
das ist doch für die Rentnerinnen und Rentner faktisch
dasselbe.


(Beifall bei der PDS)

Es ist nicht hinnehmbar – ich will das deutlich sa-

gen –: Wenn Sie nicht eine andere Verteilungspolitik
betreiben und den Reichtum begrenzen – dazu gehört
Mut –, werden Sie Armut niemals wirksam bekämpfen
können. Sie haben versprochen, die Vermögensteuer
einzuführen. Wo bleibt sie denn? Es gibt nicht einmal
einen entsprechenden Antrag seitens der Regierungs-
koalition und diesbezüglich auch keine Bemühungen in
Europa.

Ich möchte noch andere Versprechen nennen: Die
Ausgaben für die Bildungspolitik wollten Sie verdop-
peln. Jetzt sollen sie im nächsten Jahr eingeschränkt
werden, nachdem sie in diesem Jahr glücklicherweise
erhöht worden sind. Das alles, gerade was die europäi-
sche Ebene betrifft, enttäuscht bitter. Hier hätten wir uns
nicht nur einen Wechsel der Regierung, sondern auch
einen wirklichen Wechsel der Politik gewünscht. Der ist
leider ausgefallen.

Aber das Schlimmste von alledem ist und bleibt der
Krieg. Deshalb wiederhole ich meinen Appell und mei-
ne Bitte: Stellen Sie wenigstens heute nacht die Bom-
bardierung ein! Es gibt keinen Grund mehr, weiter zu
zerstören. Eines Tages muß alles wieder aufgebaut wer-
den. Menschen dürfen nicht länger unter diesem Krieg
leiden, egal welcher Nationalität sie sind.


(Anhaltender Beifall bei der PDS)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1404101300
Ich gebe das Wort
für die CDU/CSU-Fraktion dem Abgeordneten Michael
Glos.


Michael Glos (CSU):
Rede ID: ID1404101400
Herr Präsident! Meine
sehr verehrten Damen und Herren! Falls Sie, meine Da-
men und Herren von der Sozialdemokratie, es vergessen
haben sollten: Mein Vorredner ist Mitglied der Partei,
die in Mecklenburg-Vorpommern und in Sachsen-
Anhalt Ihr Koalitionspartner ist.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Sich für ihn zu schämen nutzt allein nichts. Man muß
daraus auch Konsequenzen ziehen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Ich bedauere, daß Herr Hombach gerade gegangen

ist. Ich wollte ihm nämlich etwas zum Stichwort „Rück-

tritt“ – allerdings nicht auf ihn bezogen – sagen. Ich
wollte ihm für den Bundeskanzler mit auf den Weg ge-
ben, daß es vollkommen unerträglich ist, daß hier ein
Staatsminister des Auswärtigen Amtes auftritt – egal ob
er für die Fraktion oder für die Bundesregierung spricht
– und sich in die russische Innenpolitik einmischt.


(Dr. Wolfgang Schäuble [CDU/CSU]: Unglaublich!)


In Anbetracht der schwierigen Situation war es ein be-
sonders dreistes Stück, von hier aus Herrn Jelzin zu
danken, daß er Herrn Tschernomyrdin geschickt hat.


(Beifall des Abg. Wolfgang Gehrcke [PDS])

Ich finde, wenn man es nicht kann, dann sollte man sol-
che Ämter nicht einnehmen. Das zeigt, was heraus-
kommt, wenn die Koalitionsarithmetik vor alles andere
gestellt wird.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Wir alle sind uns im Ziel einig: Wir möchten Frieden

im Kosovo. Wir wissen aber, daß dann, wenn man es
mit einem Gegner wie Milosevic zu tun hat, falsche Eu-
phorie unangebracht ist. Deswegen hat Wolfgang
Schäuble vorhin recht gehabt, als er noch einmal die
Bilder in Erinnerung gerufen hat, die am letzten Don-
nerstag vom europäischen Gipfeltreffen ausgegangen
sind, wo man sich umarmt hat, wo man gefeiert hat


(Joachim Poß [SPD]: Ist etwas dagegen zu sagen?)


und wo man Champagnerkorken hat knallen lassen, oh-
ne daß die Sache in trockenen Tüchern war. Dies ist eine
Art Aufforderung an den Diktator gewesen, neue Finten
auszuprobieren.


(Peter Dreßen [SPD]: Waren das denn keine guten Nachrichten?)


Deswegen werden wir über den Antrag zum Einsatz
deutscher Soldaten, der hier gestellt worden ist, sehr
sorgfältig beraten. Vor allen Dingen wollen wir genau
abklopfen, wie gefährlich dieser Einsatz für unsere Sol-
daten ist. Die Tatsache, daß man jetzt davon spricht, daß
eine UN-Sicherheitsratsresolution die Grundlage dafür
sein muß, ist etwas, was wir sehr begrüßen würden.

Aber wir müssen auch alles dafür tun, das Bündnis
NATO nicht zu schädigen. Wir haben zu allen Zeiten zu
diesem Bündnis gestanden. Aus diesen Gründen haben
wir – denn wir wollen auch in Zukunft Frieden und
Freiheit – die Bundesregierung auf ihrem Weg viel stär-
ker unterstützt, als sie aus den eigenen Reihen unter-
stützt worden ist. Rufen Sie sich doch einmal in Erinne-
rung, was geschehen wäre, wenn die Gefechtslage um-
gekehrt gewesen wäre!


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. – Dr. Theodor Waigel [CDU/CSU]: In Brand gesetzt hätten sie die!)


– Das ist richtig. Sie hätten nicht nur vieles in Brand ge-
setzt, sondern es wären auch viel mehr Farbbeutel ge-

Dr. Gregor Gysi






(A) (C)



(B) (D)


worfen worden als der eine bestellte oder nicht bestellte
auf Joschka Fischer,


(Dr. Eberhard Brecht [SPD]: Das nehmen Sie aber zurück!)


der, nachdem der Farbbeutelwerfer von seinen Par-
teifreunden zugelassen worden ist, anschließend Straf-
antrag gestellt hat.


(Zuruf von der SPD: Schämen Sie sich!)

Ich habe dafür viel Verständnis. Ich habe aber auch da-
mals schon für die Leute Verständnis gehabt, die Straf-
anzeige wegen der Gewalttätigkeiten der Leute gestellt
haben, die heute in den großen Limousinen sitzen.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1404101500
Herr Kollege Glos,
gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten
Lippelt?


Michael Glos (CSU):
Rede ID: ID1404101600
Ja.


Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1404101700
Bitte schön.


Dr. Helmut Lippelt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1404101800

Herr Glos, da der Farbbeutel nicht nur Farbe versprüht
hat, sondern auch, wie Sie überall in den Zeitungen le-
sen können, zu einer körperlichen Beschädigung geführt
hat, finden Sie dann nicht, daß diese letzte Unterstellung
vom bestellten Farbbeutelwerfer wirklich sehr ge-
schmacklos war?


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)



Michael Glos (CSU):
Rede ID: ID1404101900
Ich habe gesagt: Ich
weiß nicht, ob er bestellt war oder nicht. Ich beziehe
mich auf Presseberichte, in denen steht: Sicherheits-
kräfte wollten den Mann nicht hereinlassen, und die
Grünen hätten ausdrücklich darauf bestanden, daß er
hereinkommt nach dem Motto: So einen freundlichen
Demonstranten schließt man nicht aus.


(Dr. Helmut Lippelt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber aus anderen Gründen!)


Herr Bundeskanzler, Sie haben sich heute am Schluß
Ihrer Regierungserklärung bei den Abgeordneten des
Deutschen Bundestages bedankt, die Ihre Politik mitge-
tragen haben. Ich glaube, man hätte es noch ein bißchen
deutlicher ausdrücken müssen. Es wäre schon ange-
bracht gewesen, daß man sich hier ganz speziell bei
CDU, CSU und F.D.P. bedankt hätte. Vor allen Dingen
wäre es ein Stück angebracht gewesen, sich auch bei
Edmund Stoiber zu bedanken,


(Lachen bei Abgeordneten der SPD)

der dafür gesorgt hat, daß das Verhältnis mit Rußland,
das von Ihnen beschädigt worden ist,


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


in einer schwierigen Zeit emotional wieder auf eine an-
dere Basis gestellt worden ist, als auf die, auf der sich
Ihr eigener Staatsminister heute bewegt hat.

Außenminister Fischer hat erklärt, er könnte mit den
Beschlüssen seiner Partei und seiner Fraktion durchaus
leben. Ich erinnere daran, daß seine Partei anläßlich die-
ser Attacke, über die wir gerade geredet haben, die dort
am Rande stattgefunden hat, beschlossen hat, die Bom-
benangriffe sofort einzustellen. Wenn man das getan
hätte, wenn man also der Partei der Grünen gefolgt wä-
re, dann hätte man Milosevic nicht an den Verhand-
lungstisch gebracht. Dann hätten alle Verhandlungskün-
ste des Herrn Ahtisaari, des Herrn Tschernomyrdin und
des Herrn Talbott, für die ich mich selbstverständlich
bedanke, möglicherweise nichts genutzt.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Frie-
denssicherung erfordert es, daß wir, wenn wir NATO-
Soldaten und deutsche Soldaten einsetzen, alles tun, um
diesen gefährlichen Einsatz, der dann auf unsere Solda-
ten zukommt, mit entsprechender Ausrüstung abzusi-
chern. Wenn ausgerechnet in dieser Zeit der Verteidi-
gungshaushalt hart zurückgefahren werden soll, dann
ist das ein falsches Signal.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Deswegen müssen wir bei den Ausschußberatungen sehr
genau darauf achten, daß sich an der Frage des Geldes
nicht die Frage nach der Sicherheit unserer Soldaten ent-
scheidet. Wir werden auf diesen Punkt sehr sorgfältig zu
achten haben.

Es ist sicher noch etwas anzusprechen: Viele junge
Soldaten haben im Grunde in Unkenntnis unterschrie-
ben. Wenn man sich zwischen zehn und zwölf Monaten
entscheiden muß, dann ist es für viele junge Leute auch
eine Frage des Geldes, das man bekommt, und eine Fra-
ge der Planung: Was kann ich in zwei Monaten noch an-
fangen? Man bekommt für zwei Monate keine Arbeit,
daher sagt man, ich bleibe zwölf Monate. Man war sich
möglicherweise über die Gefährlichkeit des Einsatzes,
dem man dann zugestimmt hat, nicht in ausreichendem
Maße im klaren.

Herr Scharping hat sich heute in einem Teil seiner
Rede mit anderen Dingen befaßt, die weniger sein Res-
sort angehen. Er hätte die kurze Zeit ruhig nutzen kön-
nen, um sich vor allen Dingen mit seinem Ressort zu be-
fassen. Es geht darum, daß die Soldaten innerhalb von
vier Monaten ausgewechselt werden müssen. Wir hof-
fen, daß die Gefährlichkeit dann nicht mehr ganz so
hoch ist. Aber es bleibt ein gefährlicher Einsatz. Es stellt
sich die Frage: Sind denn genügend junge Leute auf die-
sen Einsatz sowohl innerlich als auch von ihrer Ausbil-
dung her vorbereitet? Auch diese Fragen werden noch
zu klären sein, bevor wir über einen Antrag abstimmen.

Ich komme nun zu dem von Herrn Ahtisaari so apo-
strophierten Schröder-Plan. In einem Interview im
„Heute-Journal“ hat er Sie genannt, Herr Schröder, und
hat gesagt: Ob es der Kanzler mag oder nicht, ich habe
den Aufbauplan schon nach Schröder benannt. Ich war
ein bißchen ärgerlich, daß die Leute ihn schon „Mar-
shallplan II“ nannten. Ich denke, wir sollten die Regie-

Michael Glos






(B)



(A) (C)



(D)


rung und die Person, die das entworfen hat, auch würdi-
gen.


(Zuruf von der SPD: Sehr gut!)

Vor dem Würdigen einer Leistung steht aber die Fra-

ge, wer wieviel dafür bezahlt. Ich kann mir gut vorstel-
len, daß viele unserer Partner den Plan gerne nach der
Nation benennen, die am meisten zahlt, wenn sie da-
durch billiger wegkommen. Jetzt ist die Frage: Ist dafür
ausreichend Vorsorge getroffen worden, steht dafür ge-
nügend Geld im Haushalt, und welche Vorsorge ist bei
der Haushaltsplanung der Europäischen Union getroffen
worden? Wir kommen noch darauf, wie wenig es Ihnen
gelungen ist, den deutschen Beitrag zu reduzieren. Ich
zitiere Herrn Struck, der heute nicht da ist – –


(Widerspruch bei der SPD – Dr. Peter Struck [SPD]: Hier bin ich!)


– Entschuldigung, Peter. Du hast gesagt, der Krieg im
Kosovo verdecke die großartigen innenpolitischen Lei-
stungen der Bundesregierung.


(Lachen bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Mit den „großartigen innenpolitischen Leistungen“ ist es
nicht ganz so weit her.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der F.D.P.)


Ihre Arbeit, Herr Bundeskanzler, in Sachen finanzieller
Konsolidierung und Durchsetzen deutscher Interessen
in der EU ist nicht einmal das Honorar von 630 DM im
Monat wert, auch nicht in der Form nach alter Besteue-
rung und Sozialversicherung. Insofern läßt sich die EU-
Präsidentschaft auch anhand Ihrer Regierungserklärung
bewerten. Vor dem SPD-Parteirat in Saarbrücken – zu
einer Zeit, in der ein Gerhard Schröder in Saarbrücken
noch hat machtvoll auftreten müssen, weil es damals
dort noch einen Rivalen gab – haben Sie gesagt: Wir
wollen runter mit dem Beitrag der Deutschen. Wir wer-
den uns darüber verständigen, daß jene 22 Milliarden
DM pro Jahr, die wir mehr zahlen, als wir bekommen,
nicht noch mehr werden.

Das Ergebnis kennen wir: Der deutsche Nettobeitrag
für Europa wird von 22 Milliarden DM im Jahr 1999 auf
27 Milliarden DM im Jahr 2006 ansteigen. Deutschland
trägt damit mehr als die Hälfte der Belastungen aller
Nettozahler.


(Zuruf von der SPD: Wer ist für die Ausgangslage verantwortlich?)


Wenn der deutsche Beitrag geringer wäre, würde es –
das Geld reicht ja hinten und vorne nicht – sicher auch
Herrn Eichel leichter fallen, sein Einsparziel zu errei-
chen. Jetzt stellt man sogar die bislang gesicherten Zah-
lungen an die Rentner in Frage. Ich will damit nur sa-
gen: Letztlich hängt alles mit allem zusammen. Geld
kann man immer nur einmal ausgeben, entweder für Eu-
ropa oder im deutschen Bundeshaushalt.


(Beifall bei der CDU/CSU – Peter Dreßen [SPD]: Das hätten Sie die letzten 16 Jahre dem Waigel sagen müssen!)


Sie haben davon gesprochen, daß auch in Europa
eiserne Haushaltsdisziplin herrschen müsse. Wörtlich
haben Sie damals gesagt, das heiße in der Brüsseler
Sprache „reale Ausgabenkonstanz“. Was ist das Ergeb-
nis Ihrer Präsidentschaft? Der EU-Haushalt wird von
1999 bis 2006 um mehr als 20 Prozent wachsen, und
zwar ohne Berücksichtigung der Inflationsrate.

Darüber hinaus haben Sie versprochen, in der euro-
päischen Agrarpolitik grundlegende Reformen durch-
zusetzen. Es sollte mehr Geld bei den Bauern ankom-
men. Für die deutschen Bauern sollten ergänzende na-
tionale Hilfen durchgesetzt werden. Ergebnis: Die deut-
sche Forderung nach Kofinanzierung haben Sie frühzei-
tig wieder aufgeben müssen.


(Dr. Wolfgang Schäuble [CDU/CSU]: Müssen hätte er gar nichts!)


Folge: Die deutschen Bauern müssen massive Einkom-
mensverluste hinnehmen.

Zur Bewertung dieser Präsidentschaft gehört vor allen
Dingen auch: Alle anderen Nationen haben im letzten
halben Jahr der deutschen Präsidentschaft ihre eigenen
Interessen abgetrotzt. Der britische Beitragsrabatt bleibt.
Die französische Landwirtschaft bleibt bei der Agrarre-
form weitgehend ungeschoren. Die finanziellen Hilfen
für Spanien und Portugal steigen. Der Kohäsionsfonds,
mit dem die Mitgliedstaaten für die Währungsunion fit-
gemacht worden sind, läuft für Euro-Länder weiter. Alle
haben ihre Ziele erreicht, nur die deutsche Präsident-
schaft steht mit leeren Händen da. Man kann feststellen:
Außer Spesen nichts gewesen!


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Der wirksamste Beitrag wäre allerdings gewesen,

wenn wir Deutschen bei uns im Land in nationaler Ver-
antwortung unsere Hausaufgaben gemacht hätten, zum
Beispiel einen Kurswechsel in der Finanz- und Steu-
erpolitik,


(Peter Dreßen [SPD]: Also war der alte Kurs doch falsch?)


nicht nur Umverteilung, sondern nachhaltiges Einsparen.
Nicht: linke Tasche, rechte Tasche, Energiesteuern rauf
und dafür ein bißchen Rentenbeitrag runter, sondern
strukturelle Reformen. Das ist das, was gebraucht und
gefordert wird. Davon wären richtige Signale ausgegan-
gen. Oder: Kein Signal für Flexibilität am Arbeitsmarkt.
Alle internationalen Institutionen fordern, daß die Euro-
päer, insbesondere die Deutschen, hier ihre Hausaufga-
ben machen. Das alles hat letztendlich Auswirkungen
auch auf den Euro-Dollar-Kurs.

Ich möchte jetzt einmal eine Zeitung zitieren, die
vollkommen unverdächtig ist, sehr stark auf seiten der
Union zu stehen. Es ist eine Hamburger Zeitung mit
Namen „Die Zeit“. Sie schreibt in ihrer letzten Ausgabe:

Schröder weiß nicht, was er will. Der deutsche
Kanzler mindert die Glaubwürdigkeit von ganz
Europa. Der Kölner EU-Gipfel steht im Zeichen
des schlappen Euro.

Michael Glos






(A) (C)



(B) (D)


Der schlappe Euro, meine sehr verehrten Damen und
Herren, läßt sich nicht hochreden mit einem Gerede von
europäischen Beschäftigungspakten oder was weiß ich.
Wir haben bereits genügend Laberveranstaltungen, wo
man zusammenkommt, redet und anschließend nicht
handelt. Wir brauchen nicht noch mehr Gesprächskreise,
sondern konkretes Handeln und konkrete Durchsetzung.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Es ist schon eine ernüchternde Bilanz einer Ratsprä-

sidentschaft, wenn die europäische Währung in dieser
Zeit um zirka 12 bis 12½ Prozent gegenüber dem Dollar
gefallen ist, aber auch gegenüber anderen wichtigen
Währungen um 7½ Prozent. Wir haben also nicht nur
eine Aufwertung des Dollar, sondern eine echte Ab-
wertung des Euro. Diese schlechte Bewertung des Euro
ist Ausdruck des mangelnden Vertrauens in die europäi-
sche Wirtschaft, rasch Anschluß an die Wirtschafts- und
Wachstumsdynamik zum Beispiel der USA zu gewin-
nen. Wolfgang Schäuble hat es vorhin schon gesagt: Wir
haben jetzt unter Ihrer Führung erreicht, daß wir das
Schlußlicht im Wachstum sind.

Das im europäischen Stabilitätspakt gegebene Ver-
sprechen solider Staatsfinanzen ist brüchig geworden.
Ich kritisiere vor allen Dingen, daß die Zustimmung zur
Aufweichung der Kriterien bei den Italienern hinter dem
Rücken auch des deutschen Parlaments erfolgt ist.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Es wurde kein Ausschuß davon unterrichtet. Das sind
alles Dinge mit gewaltigen Auswirkungen, Herr Bun-
deskanzler. Sie haben bei Ihrer Regierungserklärung im
November gesagt: „Wir wollen nicht, daß der Euro
deutsch spricht.“ Das heißt doch, in die deutsche Spra-
che übersetzt: Wir wollen nicht, daß der Euro stabil ist;
denn „deutsch sprechen“ bei einer Währung bedeutet:
stabile Währung, meine sehr verehrten Damen und Her-
ren.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Sie haben die Brisanz dieser Wechselkursverände-

rung nach wie vor nicht erkannt. Ich glaube, daß das
unterschätzt wird. Natürlich haben wir im Moment noch
niedrige Inflationsraten, aber das wird nicht lange so
bleiben, wenn die Importpreise weiter steigen. Das
schlägt dann letztendlich durch bis hin auf die Zinsent-
wicklung, die wir haben.


(Zuruf von der CDU/CSU: Es ist schon angekündigt!)


– Ja, Herr Welteke hat das bereits gesagt und angekün-
digt.

Ich nehme jetzt nur einmal als Vergleichsgröße das
Geldvermögen der Deutschen. Geld- und Lebensversi-
cherungsvermögen: 5000 Milliarden DM. Eine
12½prozentige Abwertung bedeutet zumindest im Ver-
hältnis zum Dollarraum derzeit als Momentaufnahme
einen Vermögensverlust von 625 Milliarden DM. Wenn
Sie einmal das Bruttosozialprodukt aller Euro-Länder
nehmen, dann beträgt die Summe 11 000 Milliarden
DM. Bei dem gleichen Prozentsatz sind wir als Europäer
in der Momentaufnahme im Außenverhältnis zum Dol-

larraum insgesamt um 1 375 Milliarden DM ärmer ge-
worden.

Nun wissen wir, daß das Momentaufnahmen sind.

(Lachen bei Abgeordneten der SPD)


– Sie können das gerne nachrechnen.
Wir müssen alles tun, damit die Situation nicht so

bleibt und dann negativ durchschlägt. Deshalb müssen
die Hausaufgaben im jeweiligen Land, aber auch in Eu-
ropa mit einer fähigen Kommission gemacht werden.
Mit Prodi ist ein vielversprechender Anfang gemacht
worden. Alle anderen Länder schicken sich an, ihre be-
sten Köpfe in diese Kommission zu entsenden. Bei uns
soll es aber nach dem Motto gehen: Wählst du meinen
Rau, wähle ich deine Frau.


(Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)


Das steckt doch letztendlich hinter dem Koppelge-
schäft mit Frau Schreyer. Aber auch hier gibt es noch
eine Art letzte Gelegenheit, die Notbremse zu ziehen,
damit es mit dem Euro-Verfall nicht so weitergeht.

Es gibt noch eine Sache, um die viele Menschen in
Deutschland die Europäer beneiden: Sie sind nicht mehr
allzu lange Ratspräsident. Aber wir Deutschen befürch-
ten, Sie noch eine Weile als Kanzler behalten zu müs-
sen.

Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. – Zurufe von der SPD: Das stimmt! – Gott sei Dank!)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1404102000
Ich gebe das Wort
dem Kollegen Gernot Erler, SPD-Fraktion.


Dr. h.c. Gernot Erler (SPD):
Rede ID: ID1404102100
Herr Präsident! Liebe Kolle-
ginnen und Kollegen! Am 3. und 4. Juni schien ein Alp-
traum zu Ende zu gehen. Der Schock kam dann aber
vorgestern nacht, als die Verhandlungen über militäri-
sche Einzelheiten zunächst gescheitert und vorüberge-
hend unterbrochen waren. Wir erkennen jetzt: Der Alp-
traum wird nicht wieder beginnen, aber sein Ende zögert
sich hinaus. Das erfordert von uns allen noch einmal
Geduld, Beharrlichkeit und Übersicht.

Herr Kollege Schäuble, ich finde, Sie haben sich
nicht in angemessener Weise mit der Freude und Er-
leichterung auseinandergesetzt, die uns alle am 3. und 4.
Juni erfaßt hat. Ich bekenne mich dazu, daß ich zu denen
gehöre, die erleichtert waren. Das war kein Jubel über
den Sieg, sondern Erleichterung über das Ende des
Krieges.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Diese Erleichterung hat keine negativen Auswirkungen
in Moskau gehabt. Dort hat man nämlich das gleiche ge-
fühlt.

Michael Glos






(B)



(A) (C)



(D)


Entscheidend ist doch, ob es die Bundesregierung
schafft, auf diese Schwierigkeiten mit einer Fortsetzung
des verantwortungsvollen Handelns zu reagieren. Die
letzten Stunden zeigen, daß sie das kann. Dies ist auch
nötig, denn bei den Verhandlungen über die militärisch-
technischen Fragen gibt es Schwierigkeiten: Milosevic
versucht erneut, aus den Verpflichtungen herauszu-
kommen, zu denen er und die beiden Parlamente in Ju-
goslawien die Zustimmung gegeben haben, indem er
jetzt – völlig vertragswidrig – verlangt, daß 15 000, ja
sogar 25 000 Soldaten im Kosovo bleiben sollen.

In diesem Zusammenhang will ich in bezug auf Herrn
Gysi sagen, der nach seinem Redebeitrag direkt den Ple-
narsaal verlassen hat: Er bleibt sich treu, indem er im-
mer noch nicht unterscheidet zwischen einer Feuerpau-
se, die den Krieg verlängert, und einer, die dazu beiträgt,
ihn zu beenden.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


In dieser Situation würde eine Feuerpause mißbraucht
werden. Diese Forderung nach einer Feuerpause würde
ebenso wie der Besuch von Herrn Gysi in Belgrad und
seine Reden im Bundestag schädlich instrumentalisiert
werden.


(Beifall bei der SPD)

Ich kann nur sagen, der Verbleib von jugoslawischen

Kräften in dieser Stärke im Kosovo ist nicht verhandel-
bar, weil dieser Verbleib bedeuten würde, daß kein
Flüchtling zurückkehrt. Die Frage ist: Warum hat die
serbische Seite diese neue Haltung eingenommen? Wir
führen dies auch auf eine veränderte Situation in Mos-
kau zurück, in der Milosevic sofort eine Chance gesehen
hat, eine scheinbare Uneinigkeit zwischen dem Westen
und Rußland zu nutzen. Dies zeigt uns noch einmal, wie
wichtig die russisch-westliche Gemeinsamkeit in die-
sem Prozeß ist, wie gefährlich eine Infragestellung die-
ser Gemeinsamkeit ist und wie fahrlässig die Bewertung
des Einsatzes von Tschernomyrdin im eigenen Land in
den letzten Tagen war.

Ich möchte hier aus dem Deutschen Bundestag einen
Appell an unsere Kollegen in der Staatsduma und im
Föderationsrat richten: Bitte erkennen Sie, daß sich
Wiktor Tschernomyrdin nicht nur um den Frieden im
Kosovo, sondern auch um das Ansehen Rußlands in der
Welt verdient gemacht hat!


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Stellen Sie diesen Beitrag nicht in Frage, sondern setzen
Sie den konstruktiven Weg fort! Zum Glück haben wir
bei den Verhandlungen auf dem Petersberg Anzeichen,
daß dies der Fall ist.

Herr Schäuble, Herr Gerhardt und Herr Glos – Sie
alle haben es angesprochen –: Die Bewertung der Akti-
vitäten Tschernomyrdins ist viel wichtiger als die Frage,
mit welcher Freundlichkeit Primakow seinerzeit in Bonn
empfangen worden ist.


(Beifall bei der SPD – Dr. Helmut Haussmann [F.D.P.]: Vorsicht!)


Der zweite Punkt bei den Militärgesprächen sind Fra-
gen des Zeitrahmens, der Gestaltung der Pufferzone.
Hier ist es gut, daß die NATO flexibel ist, die westliche
Seite flexibel verhandelt. Daran darf doch ein endgülti-
ges Ende des Krieges nicht scheitern.

Der entscheidende – dritte – Punkt ist aber die Rol-
lenverteilung zwischen NATO und Vereinten Natio-
nen. Wir wissen, Milosevic möchte gerne zu Hause sa-
gen können – und damit den Irrsinn begründen können,
gegen die stärkste Militärmacht der Welt einen Krieg
durchhalten zu wollen –, er habe erreicht, daß nicht die
NATO im Kosovo stehe, sondern daß dort ein UN-
Mandat gelte; er beruft sich damit auf Punkt 3 des Pe-
tersberger Friedensplans.

Diese Position zeigt, daß eine Lösung wahrscheinlich
nur möglich ist, wenn die Regelung der militärischen
Einzelheiten und der Weg zu einer Resolution des UN-
Sicherheitsrates eng miteinander verzahnt und synchro-
nisiert werden. Eine andere Möglichkeit gibt es nicht.
Wir haben gehört, daß es auf dem Petersberg Fort-
schritte gibt, daß die Chance besteht – in Köln laufen
jetzt wieder Verhandlungen –, daß bald eine Resolution
des UN-Sicherheitsrates auf dem Tisch liegt und es
heute oder noch in dieser Woche zu einem Beschluß des
UN-Sicherheitsrates kommt.

Meine Fraktion und, so denke ich, der ganze Bun-
destag begleiten diesen Prozeß mit großen Hoffnungen
und unterstützen ihn ohne jeden Vorbehalt.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der PDS)


Unser Wunschmodell ist natürlich, daß die Resolution
des UN-Sicherheitsrates und das Military Technical
Agreement parallel zustande kommen, dann die serbi-
schen Einheiten abziehen, dann die internationalen Ein-
heiten nachrücken, schon begleitet von den rückkehren-
den Flüchtlingen.

Der Antrag der Bundesregierung ist notwendig, um
sich auf diesen Ablauf einzustellen. Er zeigt aber auch,
daß Erfahrungen eingeflossen sind, daß einkalkuliert
wird, daß ein anderer, weniger überzeugender und weni-
ger gewünschter Ablauf möglich ist. Es ist gut und
wichtig, daß die Bundesregierung jetzt nicht auf frühere
Beschlüsse rekurriert, sondern einen neuen, konstituti-
ven Beschluß des Bundestags einholt. Das gibt uns die
Möglichkeit gründlicher Beratung auch der Frage der
Gefährlichkeit dieses Einsatzes.

Es ist gut und wichtig, daß die Bundesregierung auch
weiterhin eine namhafte Rolle in dem schwierigen Pro-
zeß übernehmen will, der jetzt im Kosovo beginnt. Wir
wissen aus Bosnien-Herzegowina: Wenn die spektakulä-
ren Dinge vorbei sind, werden die Scheinwerfer schnell
ausgeschaltet. Wir wollen auch dann noch dabei sein,
wenn der Alltag beginnt, wenn die Scheinwerfer nicht
mehr angeknipst sind. Diese Bereitschaft steht in
der Tradition der besonderen Anstrengungen der Bun-
desregierung in den letzten Wochen, die sie für eine
politische Lösung des Kosovo-Konflikts unternommen
hat.

Gernot Erler






(A) (C)



(B) (D)


Ich will noch einmal daran erinnern: Es war richtig,
daß die Bundesregierung mit dem Fischer-Plan einen
Prozeß eingeleitet hat, dem nachher alle beigetreten
sind, daß ein UN-Mandat angestrebt wird, daß Rußland
einbezogen wird, daß bei der Zusammensetzung der
Friedenstruppe eine flexible Haltung gezeigt wurde, daß
eine frühzeitige Feuerpause – nicht erst nach Erfüllung
aller Bedingungen – angestrebt wird. Das war die ent-
scheidende Weichenstellung im Friedensprozeß.

Es war richtig, daß die Bundesrepublik sich wie kein
anderes Land um die Flüchtlingsproblematik geküm-
mert hat. Es war gut, daß die Bundesrepublik die mei-
sten Angebote gemacht hat, Flüchtlinge aufzunehmen.
Es ist gut, daß bei uns die meisten Flüchtlinge leben.
Viele von uns waren in den letzten Tagen und Wochen
in Albanien und in Mazedonien und wissen, welche gro-
ßen Leistungen gerade auch die Bundeswehr bei dem
Aufbau der Vertriebenencamps erbracht hat. Es ist gut,
daß wir hier in der vorderen Reihe stehen.

Es war auch richtig, daß noch mitten im Krieg ein
Stabilitätspakt als ein Signal an die ganze geschädigte
Region auf den Weg gebracht worden ist. Er trägt eine
gute Handschrift.


(Beifall bei der SPD)

In diesem Kontext steht der Antrag der Bundesregie-

rung, mit einem erhöhten Einsatz von 8 500 Soldaten die
Hauptverantwortung in einem der Rückkehrsektoren zu
übernehmen. Das steht in der Linie der von mir ge-
nannten Initiativen. Wir brauchen dafür unbedingt ein
UN-Mandat und sind froh, daß die Fachminister gestern
in den Gesprächen mit den Fraktionen zugesichert ha-
ben, daß dann, wenn sich der Kontext der Verhandlun-
gen verändert, das auch sofort seine Widerspiegelung in
dem Antrag finden wird. Ich bin sehr hoffnungsvoll, daß
wir die endgültige Entscheidung über diesen Antrag be-
reits auf der Basis eines dann gegebenen UN-Mandats
treffen können. Eines steht fest: Ein Einsatz der Bun-
deswehr ohne eine Einigung mit der serbischen Seite
kommt überhaupt nicht in Frage, für keinen von uns.


(Beifall bei der SPD sowie des Abg. HansChristian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Liebe Kolleginnen und Kollegen, je näher der Frieden
rückt – das hat auch der Beitrag von Staatsminister
Volmer gezeigt –, desto stärker drängen Fragen nach
den notwendigen politischen Schlußfolgerungen in den
Vordergrund. Ereignisse wie der Kosovo-Krieg finden
zweimal statt: einmal in ihrer grellen Faktizität, dann
aber noch einmal in der Interpretation für das Gedächt-
nis und das politische Bewußtsein.

Für uns steht fest: Der Kosovo-Krieg kann kein Mo-
dell für eine künftige Lösung von Konflikten in einer
Weltordnung zivilisierter Staaten sein.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der PDS und des Abg. Jürgen Koppelin [F.D.P.])


Es gelingt jetzt offenbar, das unverzichtbare Ziel zu er-
reichen, daß die serbische Führung mit ihrem Vertrei-

bungskonzept nicht erfolgreich bleibt. Der zu zahlende
Preis aber – die politischen und die ökonomischen
Schäden und die Verluste vieler unschuldiger Leben –
ist zu hoch, ist nicht akzeptabel.

Deswegen kann nur eine Alternative vernünftig sein.
Wir müssen jetzt eine gründliche Analyse vornehmen:
Was war vorher an unserer Politik zu schwach? Wo hat
Prävention, wo hat vorausschauende Friedenspolitik
versagt? Warum sind wir in die Situation der Alternativ-
losigkeit des 24. März geraten? Welche politischen In-
strumente müssen wir stärken, damit uns dies nicht noch
einmal passiert?

So notwendig und richtig der Stabilitätspakt jetzt ist,
dem die Außenminister Europas in zwei Tagen konkrete
Gestalt geben sollen: Es wäre besser gewesen, er wäre
vorher als Mittel zur strukturellen Krisenprävention ge-
schlossen worden. Jetzt kommt er als Konzept der Scha-
densbegrenzung, des Wiederaufbaus und der mühsamen
Wiedererkämpfung von Stabilität. Das ist teurer als je-
des präventive Stabilitätskonzept.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der PDS und des Abg. Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Wir brauchen deswegen eine umfassende europäi-
sche Integrationsstrategie, und wir müssen unsere bis-
herigen Scheinsicherheiten bei dieser Strategie überden-
ken. Der Bundeskanzler hatte heute morgen recht, als er
sagte: Europa hat keine Zukunft, wenn es künftig das
Nebeneinander von Inseln der Stabilität auf der einen
Seite und Herden von sozialer Unsicherheit und politi-
scher Instabilität auf der anderen Seite geben wird. –
Das ist ohne Zukunft. Dann wird es so weitergehen, wie
es der ungarische Philosoph György Konrad vor einiger
Zeit in einem lesenswerten Beitrag, den er mit dem Titel
„An den Rändern Europas kichert der Wahnsinn“ über-
schrieben hat, geradezu seherisch formuliert hat. Wir
brauchen in der Tat komplexe Strategien gegen den
Wahnsinn, dessen wir gewahr geworden sind. Bei aller
Konzentration auf das Nahziel, ein endgültiges Ende des
Krieges im Verhandlungsprozeß zu erreichen, sollten
wir diese Gesichtspunkte auch heute schon erwägen und
bedenken.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der PDS)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1404102200
Das Wort für die
F.D.P.-Fraktion hat der Kollege Dr. Helmut Haussmann.


Prof. Dr. Helmut Haussmann (FDP):
Rede ID: ID1404102300
Herr Präsident!
Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Zunächst: Es sollte
keine Schande sein, wenn sich jemand nach über 20 Jah-
ren Engagement im nationalen Parlament um ein Man-
dat im Europaparlament bewirbt. Das sollte keine
Schande sein, das sollte auch keine Kritik hervorrufen.


(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Gernot Erler






(B)



(A) (C)



(D)


Es wäre vielleicht ganz gut, wenn mehr Kollegen mit
nationaler Erfahrung – ich habe mich acht Jahre lang auf
nationaler Ebene für Europa engagiert – versuchen wür-
den, ihre Erfahrungen und ihre Überzeugungen in Straß-
burg oder Brüssel einzubringen.


(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Ich jedenfalls habe damit überhaupt kein Problem.
Die Bilanz der deutschen Ratspräsidentschaft, die

in Kürze zu Ende geht – ich glaube, es ist die letzte Ge-
legenheit, sie hier zu analysieren –, ist zweigeteilt: Alles,
was durch Außendruck erzeugt wurde, hat – das war in
der europäischen Geschichte oft so – zu Fortschritten
geführt. Der Übergang des Aufgabenbereichs der WEU
in die Zuständigkeit der Europäischen Union ist ein
Fortschritt, den ich würdigen will. Die beiden Personal-
entscheidungen Prodi und Solana sind ebenfalls Fort-
schritte. Beides will ich nicht geringschätzen. Damit ist
Ihre positive Bilanz aber erschöpft, meine Damen und
Herren.


(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Es ist schade für Europa – nicht nur für unser Land –,
daß alle anderen Projekte, die so groß angekündigt wa-
ren und auf die unser Land als größtes Land im Zentrum
Europas angewiesen ist, negativ vollendet wurden. Ich
will einmal mit kleinen Dingen beginnen. Seit Jahr-
zehnten gibt es die Diskussion um eine europäische
Aktiengesellschaft – eine wichtige Gesellschaftsform
für Zusammenschlüsse in Europa.


(Joachim Poß [SPD]: Eben! Seit Jahrzehnten!)

Die deutsche Präsidentschaft hatte die Chance, diese
Diskussion abzuschließen. Das ist auch deshalb nicht
gelungen, weil man am Anfang ein so wichtiges Land
wie Spanien falsch behandelt hat. Am Schluß war es
dann Spanien, das die Europa AG verhindert hat.

Wir bräuchten eine europäische Energiebesteue-
rung und keinen nationalen Alleingang.


(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Was ist aus der europäischen Energiebesteuerung ge-
worden? Nichts! Mehr Steuergerechtigkeit: Kein ein-
ziger Punkt konnte im Benehmen mit unseren europäi-
schen Partnern zu Ende gebracht werden. Agenda 2000:
Wir hören jetzt, der Steigungswinkel der deutschen
Ausgaben werde nicht mehr so steil ansteigen wie bis-
her. Man kann es auch deutlich sagen: Es wird nach wie
vor teuer. Dabei stellt sich nicht nur die Frage, ob es für
uns teurer wird. Vielmehr hat das schlechte Ergebnis –
keine Agrarreform, keine Reform der Finanzinstitutio-
nen – drei große Nachteile.

Erstens. Wir sind für die Osterweiterung nicht gerü-
stet. Was von Herrn Volmer gesagt wurde, war einfach
falsch. Die Stimmung in Osteuropa ist negativ; die Ost-
europäer haben sich von ihrem Anwalt Deutschland viel
mehr erwartet,


(Beifall bei der F.D.P.)


und zwar zunächst einmal Reformen bei der Agenda
2000. Denn nur durch Reformen schaffen wir den
Finanzspielraum, um wichtige Länder wie Polen aufzu-
nehmen.

Zweitens. Wir sind mit dieser Art Agenda 2000 bei
den nächsten WTO-Verhandlungen nicht verhandlungs-
fähig. Wir werden uns wundern über das Verhältnis
von Europa und Amerika nach der Kosovokrise. Die
Europäer machen jetzt den Frieden; die Amerikaner ha-
ben vorher die militärische Last getragen. Das Klima der
Verhandlungen mit den Vereinigten Staaten von Ameri-
ka wird sich verhärten – zum Schaden unserer Außen-
wirtschaft und zum Schaden unserer Landwirte. Das
werden wir sehr schnell spüren.


(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Drittens. Die Agenda 2000 hätte auf den Balkan-
Wiederaufbauplan Rücksicht nehmen müssen. Jetzt ste-
hen die Finanzierung der Osterweiterung und der Stabi-
litätsplan für den Balkan im Wettbewerb. In der euro-
päischen wie auch in der deutschen Finanzierung gibt es
keinerlei Reserven. Komme die Regierung bitte nicht
mit einer sogenannten Friedenssteuer für den Balkan
oder für die Osterweiterung in Form einer Mehrwert-
steuererhöhung!


(Beifall bei der F.D.P. sowie des Abg. Michael Glos [CDU/CSU])


Dafür ist die Mehrwertsteuererhöhung nicht gedacht.
Was die Osterweiterung angeht, so ist nur eine

pünktliche Erweiterung um die ersten Reformstaaten ein
entscheidender Stabilitätsexport. Es geht doch nicht an,
daß die Reformpolitiker in Ungarn, Slowenien und
Polen sagen, sie hätten nach zehn Jahren der Transfor-
mationspolitik ihre Hausaufgaben gemacht und würden
im Jahre 2002 aufnahmefähig sein, die westeuropäische
Union ihnen dann aber antworten muß, sie habe ihre
Hausaufgaben nicht gemacht; deshalb komme das alles
auf die lange Bank. Die Bundesregierung hat es heute
erneut vermieden, einen konkreten Zeitpunkt anzugeben.
Herr Volmer, wenn das so ist, wie der Bundeskanzler
gesagt hat, nämlich daß die institutionellen Reformen
Ende 2000 abgeschlossen sind, was spricht denn dann
gegen einen Beitritt im Jahre 2002? Wissen Sie aus der
europäischen Geschichte denn nicht, wie wichtig Zeit-
daten für Fortschritte sind? Wir hätten heute noch nicht
den Binnenmarkt, wir hätten heute noch nicht die Euro-
päische Währungsunion, wenn wir nicht ehrgeizig und
unbeirrt an Zeitdaten festgehalten hätten. Diese Erfah-
rung haben wir bei der europäischen Integration ge-
macht.


(Beifall bei der F.D.P.)

Euro-Schwäche als Ergebnis – das hätte niemand

gedacht. Ich fühle mich da wirklich mißbraucht. Wir ha-
ben in Deutschland für eine Mehrheit für den Euro ge-
kämpft. Wir haben versprochen: Der Euro wird so stabil
sein wie die D-Mark. Wir haben uns gegen eine Mehr-
heit durchgesetzt. Wir hatten nach der Euro-Einführung
mit 1,18 Dollar zunächst eine Mehrheit für den Euro in
Deutschland. Inzwischen gibt es wieder eine Mehrheit

Dr. Helmut Haussmann






(A) (C)



(B) (D)


gegen den Euro. Die antieuropäischen Kräfte in Groß-
britannien und in der Schweiz sind gestärkt, weil eben-
diese Länder, die für die Europäische Union so wichtig
wären, den Eindruck haben, daß die Stabilität den sozia-
listischen Regierungen in Italien, Frankreich und
Deutschland nicht so wichtig ist.


(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Ich als Ökonom kann nur sagen: Aus einer Außen-
schwäche wird auf Dauer eine Innenschwäche.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

Der erste Punkt waren die Angriffe von Herrn La-

fontaine gegen die Unabhängigkeit der Europäischen
Zentralbank.


(Zustimmung bei der F.D.P.)

Der Wechselkurs des Euro sank in der Folge von 1,18
Dollar auf 1,08 Dollar.

Der zweite Punkt war – unter Zustimmung von Herrn
Eichel – die Erhöhung der Verschuldungsgrenze ent-
gegen den Vereinbarungen des Stabilitätspaktes. Davon
profitiert zunächst Italien. Deutschland wird der nächste
EU-Staat sein, der diese höhere Verschuldungsgrenze
ebenfalls in Anspruch nehmen muß; denn wir sind im
Moment mit das wachstumsschwächste Land in Europa.
Unter der alten Bundesregierung hatten wir noch eine
Wachstumserwartung von 2,8 Prozent. Im ersten Quartal
dieses Jahres sind wir bei 0,7 Prozent angekommen. Das
heißt: weniger Dynamik, weniger Steuereinnahmen, sai-
sonbereinigt mehr Arbeitslose, höhere Verschuldung.
Das schlägt sich im Euro-Kurs nieder. Es wäre falsch, zu
sagen, Ursache für den derzeitigen Euro-Kurs sei die
Stärke der Amerikaner. In der Weltwirtschaft gibt es
kein stark oder schwach. Da gibt es Länder, die ihre
Hausaufgaben machen, die dynamisch sind, die ein kla-
res Steuersystem haben, die Dienstleistungen schätzen,
die Flexibilität erlauben – ich verweise auf die Beratun-
gen zum 630-DM-Gesetz und zur Scheinselbständig-
keit –: Diese Länder haben eine starke Währung und
eine hohe Kaufkraft. Und dann gibt es Länder wie
Deutschland, das innerhalb von acht Monaten abgestürzt
ist.


(Jürgen Koppelin [F.D.P.]: Abgewirtschaftet!)

Wir sind das absolute Schlußlicht bei der Dynamik in
Europa. Das muß sich ändern. Dazu wird auch die
Wahlentscheidung beitragen.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

Ich möchte zum Schluß sagen: Der Beschäftigungs-

pakt ist eine riesige Luftnummer. Über 90 Beamte wer-
den sich versammeln. Zwei entscheidende Gruppen sind
gar nicht vorgesehen: einmal der Mittelstand und zum
zweiten das Europäische Parlament. Ein solcher Be-
schäftigungspakt bringt weder mehr Beschäftigung noch
mehr europäisches Bewußtsein. Insofern ist die Bilanz
der deutschen Ratspräsidentschaft, vom außenpoliti-
schen Bereich abgesehen, leider äußerst dürftig.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1404102400
Ich gebe das Wort
dem Kollegen Dr. Helmut Lippelt, Bündnis 90/Die Grü-
nen.


Dr. Helmut Lippelt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1404102500

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Trotz der
Kürze der mir zur Verfügung stehenden Zeit muß ich
noch einige Polemik loswerden. Herr Gysi ist nun leider
wieder nicht da. Ich hätte ihm sonst gern gesagt, daß er
völlig recht damit hat: Es soll nicht mehr gebombt wer-
den. Nur, warum bemerkt er nicht, daß in Serbien seit
drei Tagen, bis auf die letzte Nacht, ja wirklich nicht
mehr gebombt worden ist, daß aber die schweren serbi-
schen Waffen die Dörfer im Kosovo weiter beschossen
und daß sie auch bis nach Albanien hinein geschossen
haben. Militärische Implementierungsverhandlungen
sind Waffenstillstandsverhandlungen. Wir haben keinen
Waffenstillstand. Wir brauchen den Waffenstillstand.
Ich hoffe, er kommt bald. Aber das liegt an der serbi-
schen Seite. Ich habe mir gerade noch eine Nachricht
von heute über den Beschuß von Dörfern in Nordalbani-
en herausgezogen.

Zweiter Punkt: Herr Glos, Sie haben dem Kollegen
Volmer Einmischung in russische Politik vorgewor-
fen. Nichteinmischung sollte aber nicht so weit gehen,
daß sie zu Ignoranz wird.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der SPD)


Daß es in Rußland einen scharfen Kampf zweier Linien
gibt, daß die Duma die eine Linie sehr deutlich vertritt
und das Rückwirkungen auf die Implementierungsver-
handlungen hat, die zur Zeit in Mazedonien stattfinden,
muß man schon sehen.


(Zuruf des Abg. Dr. Wolfgang Schäuble [CDU/CSU])


– Nur, wenn man das selber diskutiert, darf man es nicht
einem anderen zum Vorwurf machen, der das gleiche
getan hat. Tschernomyrdin ist nicht der Vertreter Ruß-
lands, wie es durch die Duma repräsentiert wird. Er ist
in der Tat von Jelzin beauftragt – Herr Altbundeskanz-
ler, das ist Ihr Verdienst –, und wir brauchen ihn drin-
gend, obwohl in der Duma inzwischen eine Resolution
eingebracht wurde, ihn abzuberufen. Diese Zusammen-
hänge muß man sehen. Insofern darf man sich zum
Wechsel in der Person des Verhandlers schon eine Mei-
nung bilden.

Damit bin ich beim dritten Punkt: Herr Glos, wenn
man sich mit einer anderen Partei auseinandersetzt,
sollte man auch da nicht ignorant sein. Die Grünen ha-
ben über den Unterschied zwischen Unterbrechung
und Stopp der NATO-Bombardierungen gestritten.
Der Unterschied ist ziemlich groß. Mit letzterem arbeitet
man Milosevic in die Hände, mit ersterem – was wir be-
schlossen haben – ermöglicht man Verhandlungen,
schafft ein besseres Klima dafür.

Letzter Punkt: Man soll nicht danken, bevor die Ar-
beit von Erfolg gekrönt ist. Trotzdem zähle ich die In-
itiativen deutscher Außenpolitik auf. Ich erinnere an

Dr. Helmut Haussmann






(B)



(A) (C)



(D)


die Wiederaktivierung der Kontaktgruppe, an die – zwar
vergebliche – Suche nach einer politischen Lösung in
Rambouillet, ich erinnere an die Suche nach Lösungen
zum Stopp des Bombenkriegs, die gleich danach ein-
setzte, an den Entwurf des Friedensplans, ich erinnere an
die kreative Nutzung der G 8 als neuen Verhandlungs-
rahmen, an die G-8-Resolution im Rahmen der Außen-
ministerkonferenz, ich erinnere an die „Aufstockung“
der russischen Vermittlungen zu Verhandlungen von EU
und Rußland mit Milosevic – das war ein sehr wichtiger
diplomatischer Schub –; ich erwähne nur die Initiative
zum Stabilisierungspakt, die bei Ihnen die Angst ausge-
löst hat, daß es Sie bayerisches Geld kostet.

Ich möchte nun nicht die einzelnen Stationen der
Umsetzung ansprechen, aber ich möchte darauf hinwei-
sen, daß wir im letzten halben Jahr eine erstaunlich
kreative Phase deutscher Außenpolitik erlebt haben mit
dem Versuch etwas einzudämmen, wofür die Grundla-
gen schon vor der Zeit dieser Koalition gelegt waren.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Wir haben allen Grund, unserem Außenminister für
seine Verhandlungen die besten Wünsche mit auf den
Weg zu geben. Die grundsätzliche Frage, die eigentlich
vertieft behandelt werden müßte, besteht darin, daß die-
ser Prozeß im Rahmen der G 8 vorbereitet wird. Es geht
dort nicht nur darum, für den Kosovo gute Friedensbe-
dingungen zu schaffen. Der G-8-Gipfel hat noch weitere
Aufgaben.

Man braucht für den Bau Europas das Zusammen-
wirken von Europa und Rußland. Wenn auf der einen
Seite politisch geholfen wird, dann steht es uns auf der
anderen Seite sehr wohl an, im Rahmen der G 8 einen
Stabilisierungsplan, einen Restrukturierungsplan der
Altschulden zu entwickeln, der letztlich zu einem Mo-
ratorium führen muß. Das ist heute wenig angesprochen
worden.

Ich habe mir in der letzten Minute meiner Redezeit
erlaubt, der Regierung diesen Gedanken mit auf den
Weg zu geben.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1404102600
Das Wort hat der
Kollege Dr. Friedbert Pflüger, CDU/CSU-Fraktion.


Dr. Friedbert Pflüger (CDU):
Rede ID: ID1404102700
Herr Präsident!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Kollege
Lippelt hat eben völlig zu Recht einen Dank an die Di-
plomaten gerichtet. Ich bin für den Europaausschuß in
Albanien gewesen und habe vor Ort gesehen, was dort
geleistet worden ist. Ich möchte vor diesem Hintergrund
vor allen Dingen den Kräften der Bundeswehr, des
Technischen Hilfswerks und der humanitären Organisa-
tionen für ihre phantastische Arbeit vor Ort danken.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


In einem Flüchtlingslager in Albanien habe ich eine
kosovarische Frau Ende 40 kennengelernt. Diese Frau
hat von serbischen Soldaten erzählt, die sie von ihrem
Bauernhof vertrieben haben. Sie hatte einen Ehemann,
einen Sohn und zwei Töchter. Während der Vertreibung
fanden die serbischen Soldaten die Töchter attraktiv und
haben sie angefaßt. Der Bruder und der Ehemann haben
sich vor sie gestellt und versucht, die Töchter zu be-
schützen. Daraufhin wurden vor den Augen der Frau
beide kurzerhand mit dem Messer umgebracht und die
Töchter vergewaltigt. Diese Frau steht jetzt vor einem
und erzählt einem das. Sie hat Haus und Hof verloren,
den Ehemann verloren, den Sohn verloren; und die bei-
den Töchter sind, wenn sie noch leben, in irgendeinem
Verlies. Das ist die Realität. Das konnte man tausend-
fach im Kosovo erleben. Angesichts dieses Mordens und
Vertreibens können wir alle miteinander – bis auf Herrn
Gysi – feststellen: Das, was wir gemacht haben, war
richtig und notwendig.


(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der F.D.P.)


Diese Frau hat hinzugefügt, sie hoffe, daß die NATO
nicht auf halbem Wege stehenbleibe und der Westen die
Nerven behalte. Es war ja abzusehen, daß die Morde und
die Vertreibungen im Kosovo, die wir nicht im Fernse-
hen sehen konnten, weil es dort keine Kameras gibt, in
der innenpolitischen Auseinandersetzung oftmals gerin-
ger bewertet wurden als die Zivilopfer unter der serbi-
schen Bevölkerung, die es auch gegeben hat.


(Wolfgang Gehrcke [PDS]: Beides ist schlimm!)


– Beides ist schlimm, aber wir müssen auch Ursache
und Wirkung berücksichtigen, Herr Kollege. Wir müs-
sen doch einsehen und anerkennen, daß keine Alternati-
ve dazu bestand – darum ging es hier jetzt vor allen
Dingen –, militärisch einzugreifen.

An allererster Stelle beklage und hinterfrage ich bei
dem jetzigen Friedensschluß, daß der eigentlich Haupt-
verantwortliche für das Übel auf dem Balkan weiter re-
giert. Herr Milosevic bleibt an der Macht. Wir haben mit
ihm diesen Frieden geschlossen. Vielleicht ist das not-
wendig gewesen, weil wir keine andere Möglichkeit
hatten, aber ein wenig sollten wir dieses problematisie-
ren. Berthold Kohler schrieb jedenfalls am 4. Juni in der
„FAZ“:

Die Bekämpfung der Hauptursache für Völkermord
und Vertreibung auf dem Balkan wurde jedoch
abermals verschoben.

Wir müssen im Hinterkopf behalten, was wir hier ge-
macht haben. Ich jedenfalls halte fest, daß ich Herrn
Milosevic im Rahmen einer Wiederaufbauhilfe und
eines Stabilitätspaktes nicht gern deutsches Entwick-
lungsgeld für den Aufbau von Serbien geben möchte.
Vorher müssen die ihr Land demokratisieren.


(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der F.D.P.)


Wir haben in der letzten Woche erlebt, wie die ersten
Lorbeerkränze geflochten wurden. Es hat an einer Stelle

Dr. Helmut Lippelt






(A) (C)



(B) (D)


Friedenseuphorie gegeben, wo sie noch nicht angebracht
war; denn das Morden und das Vertreiben, von dem ich
eben berichtet habe, hat nicht zu einem einzigen Mo-
ment aufgehört. Ich bin gerne bereit, allen möglichen
Leuten, auch der Bundesregierung, zu gratulieren, wenn
die ersten Flüchtlinge sicher in der Heimat zurück sind,
aber keine Minute früher. Das Entscheidende ist näm-
lich, daß sie zurückkehren. Bisher gibt es nirgendwo ei-
ne Bereitschaft hierfür. Im Gegenteil, wir hören von al-
len Seiten: Macht jetzt in den nächsten Tagen den Frie-
den so sicher, daß wir auch wirklich sicher zurückkehren
können! Wenn ich mir anschaue, was es bei den Ver-
handlungen in den nächsten Tagen und Wochen noch
alles zu besprechen gibt, dann kann ich daraus nur ab-
leiten, daß wir weit davon entfernt sind, von Frieden re-
den zu können.

Erster Punkt: In der Hauptfrage gibt es keinen Kon-
sens. Selbst wenn wir einen UN-Sicherheitsratsbeschluß
bekommen, bleibt festzuhalten: Die Albaner wollen kein
Kosovo als Teil der Republik Jugoslawien, während
sich die NATO darauf festgelegt hat, daß das Kosovo
integraler Bestandteil Jugoslawiens bleibt. Das heißt, in
der entscheidenden Frage gibt es Unterschiede. Herr
Bukoshi – das ist der Chef der Exilregierung der Koso-
vo-Albaner – sagte diese Woche im „Focus“:

Eine Autonomie ist eine Beleidigung für die Alba-
ner, unter serbischer Oberhoheit ist das inakzepta-
bel.

Sie werden weiterkämpfen und nicht bereit sein, sich
von Serbien noch einmal kontrollieren zu lassen.


(Wolfgang Gehrcke [PDS]: Was heißt das?)

Zweiter Punkt: Nun sagen die Serben: Wir ziehen ab,

aber zunächst erst muß die UCK entwaffnet sein. Die
UCK-Leute sagen: Erst wenn alle bewaffneten serbi-
schen Formationen abgezogen sind, werden wir uns
entwaffnen lassen. Allein daraus werden wochenlange
diplomatische Streitigkeiten entstehen. Herr Milosevic
hat dadurch wieder die Chance, Zeit zu gewinnen. Es
wird sehr schwierig sein, das gleichzeitig zu organisie-
ren. Ich möchte nicht – diese Sorge habe ich; das müs-
sen wir hier klären, bevor wir zustimmen –, daß die
deutschen und alliierten Soldaten in Kriege und militäri-
sche Konfrontationen dieser beiden Seiten hineingezo-
gen werden. Wir müssen diese Möglichkeit zumindest
soweit wie möglich minimieren.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der F.D.P.)


Dritter Punkt. Es gibt völlig unterschiedliche Auffas-
sungen über die Kommandostrukturen. Die Russen
fordern, daß über alles die UNO die Oberhoheit haben
soll. Wir wollen, daß die UNO formal die NATO beauf-
tragt, damit dann die NATO Schutztruppen, die unter ih-
rem Kommando stehen, in den Kosovo entsenden kann.

Es gibt auch unterschiedliche Einschätzungen dar-
über, ob sich die Russen einem NATO-Kommando un-
terstellen oder ein eigenes Kommando haben wollen.
Wenn die Russen ein eigenes Kommando, vielleicht so-
gar eine eigene Schutzzone durchsetzen, in der sie die
maßgebende Kraft sind, dann wird in diese Zone jeden-

falls kein einziger Kosovo-Albaner zurückkehren. Das
würde de facto die Teilung des Kosovo und den Erfolg
der ethnischen Säuberung bedeuten. Bevor wir also
Friedensschalmeien erklingen lassen, sollten wir bis zum
letzten Moment besser ganz hart – mit kühlem Kopf und
ohne Euphorie – verhandeln.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der F.D.P.)


Vierter Punkt. Barton Haxhiu, einer der führenden
Intellektuellen in Albanien, sagt: Die Flüchtlinge werden
nicht zurückkommen, wenn sie serbische Grenz- und
Polizeiposten passieren müssen. Aber wir haben in dem
Papier, über das Herr Ahtisaari und Herr Tscher-
nomyrdin mit Belgrad verhandelt haben, festgelegt, daß
einer vereinbarten Zahl serbischer Offizieller zur Auf-
rechterhaltung einer Präsenz an den Grenzübergängen
die Rückkehr erlaubt wird. Wie viele von diesen Offizi-
ellen werden zurückkehren? Wie sieht das aus? Wollen
wir wirklich den Kosovo-Albanern zumuten, in ihr Land
wieder an den serbischen Patrouillen vorbei zurückzu-
kehren, die gerade ihr Land zerstört haben? Ich finde,
das ist eine äußerst schwierige Sache.


(Zuruf des Abg. Wolfgang Gehrcke [PDS])

– Herr Kollege, wir wollen ja, daß es anders wird. – Ich
hoffe sehr, daß die Bundesregierung, die EU und die
Vertreter der G-8-Staaten, die im Moment in Köln ta-
gen, bei ihren Bemühungen Erfolg haben werden. Im
Moment haben sie sich gerade wieder einmal vertagt
und ihre Sitzung unterbrochen. Ich möchte nur hinzufü-
gen: Wir dürfen doch die riesigen Probleme auf dem
Weg zum Frieden und auch die Probleme für unsere
Soldaten, die zum Beispiel auch in den Minenfeldern
bestehen, nicht geringschätzen. Wir haben eine große
Verantwortung für jeden einzelnen Soldaten, den wir in
diese Region schicken. Es haben sich einige Leute zu
früh gefreut und sich zu früh gegenseitig auf die Schul-
ter geschlagen. Das wird man hier im Deutschen Bun-
destag vor so wichtigen Entscheidungen noch anspre-
chen dürfen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Wir lernen aus all dem, so finde ich, daß wir die Er-

weiterung der Europäischen Union nicht langsamer,
sondern schneller vorantreiben müssen und daß das Ar-
gument der Kosten, das wir sehr lange von Ihnen gehört
haben, vor dem Hintergrund des Jugoslawien-Krieges ad
absurdum geführt worden ist.


(Dr. Helmut Haussmann [F.D.P.]: Sehr richtig!)


Ein Krieg kostet eben sehr viel mehr Geld. Deshalb ist
es sehr wichtig, die Stabilität der EU zu exportieren, be-
vor die Instabilität aus anderen Teilen Europas auf uns
zurückschlägt.

Ich freue mich, daß sich das offensichtlich herumge-
sprochen hat. Ich freue mich, daß wir jetzt einen Stabili-
tätspakt initiieren. Ich hoffe, daß es dabei eine sehr fai-
re Lastenteilung geben wird und daß die Bundesrepublik
Deutschland nicht der einzige Staat sein wird, der zahlen
muß, wenn die CNN-Kameras abgeschaltet werden und

Dr. Friedbert Pflüger






(B)



(A) (C)



(D)


die internationale Öffentlichkeit nicht mehr an den Fol-
gen dieses Krieges interessiert ist. Faire Lastenteilung
im Rahmen des Stabilitätspaktes ist ein ganz wichtiger
Punkt, der in den nächsten Wochen besprochen werden
muß.

Zuletzt möchte ich noch etwas zu unserer Gemein-
samen Außen- und Sicherheitspolitik sagen. Ich freue
mich, daß es in Umsetzung des Amsterdamer Vertrages,
den Helmut Kohl ausgehandelt hat, eine Gemeinsame
Außen- und Sicherheitspolitik geben wird. Ich freue
mich auch, daß mit Herrn Solana ein hochqualifizierter
Mann an der Spitze der GASP steht. Ich möchte nur vor
dem Unterton warnen, mit dem man anklingen läßt, daß
es gut sei, wenn die Europäer jetzt alleine über eine Ge-
meinsame Außen- und Sicherheitspolitik entscheiden
könnten; denn die Amerikaner seien ein bißchen zu sehr
für den Krieg. Die Unterscheidung, daß die Amerikaner
für den Krieg zuständig sind und die Europäer Frieden
machen, wofür sie sich feiern lassen, ist das Dümmste
und Gefährlichste, das wir machen können. Beide haben
den Krieg geführt. Beide sind auch dafür verantwortlich,
daß wir den Frieden geschaffen haben.

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1404102800
Das Wort hat der
Herr Staatsminister im Auswärtigen Amt, Günter Ver-
heugen.

G
Günter Verheugen (SPD):
Rede ID: ID1404102900
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! In der Debatte ist in einer vielleicht ein bißchen
verfrühten Bilanz der deutschen Ratspräsidentschaft eine
Reihe von Fragen aufgeworfen worden, auf die ich ein-
gehen möchte und die ich zu beantworten versuchen
will.

Wir können heute sagen, daß vier große Themen die-
se Präsidentschaft bestimmt haben, von denen eines
nicht vorhersehbar war, nämlich die Krisenbewältigung
nach innen und nach außen. Die anderen drei aber waren
die Aufgaben, die wir mit auf den Weg bekommen hat-
ten, nämlich der innere Reformprozeß der Europäischen
Union, die Erweiterung und auch die Vertiefung im Sin-
ne von mehr Gemeinsamkeit auf wichtigen Politikfel-
dern.

Was die Krisenbewältigung angeht, so will ich dar-
auf hinweisen, daß die Verbindung der Präsidentschaf-
ten – Europäische Union, G 7/G 8 und Westeuropäische
Union – etwas ist, was uns zwar zugefallen war, dessen
Ausnutzung, sinnvolle Anwendung und Verbindung al-
lerdings dazu geführt haben, daß wir in dieser Krisensi-
tuation in Europa eine wesentlich stärkere Geschlossen-
heit und Handlungsfähigkeit Europas herstellen konnten
als in allen anderen Krisen dieser Art zuvor. Das ist eine
Leistung, die, verglichen mit der Situation in der Bosni-
en-Krise, wo es nicht möglich war, zu gemeinsamen
europäischen Positionen zu kommen, und wo die Krise
nur durch das Eingreifen der USA beendet werden
konnte, einen beachtlichen qualitativen Unterschied

aufweist, der in meinen Augen ein Fortschritt für Europa
ist, den man nicht kleinreden sollte.


(Beifall bei der SPD)

Wir haben den politischen Prozeß, der uns dahin ge-
bracht hat, wo wir heute stehen – ich hoffe, daß wir alle
gemeinsam glauben, daß wir nur kurz vor dem endgülti-
gen Durchbruch stehen –, immer wieder neu in Gang
gesetzt, ihn mit immer neuen Initiativen gespeist, immer
neue Ideen eingebracht und ihn koordiniert.

Ein Beispiel ist der Stabilitätspakt, der die Frage be-
antwortet: Was kommt am Tag danach? Dieser Stabili-
tätspakt ist wahrscheinlich das größte Unternehmen, das
wir uns in Europa seit vielen Jahren vorgenommen ha-
ben. Es geht darum, eine ganze europäische Region,
Südosteuropa, an die Europäische Union so heranzufüh-
ren, daß die Ursachen für die Krisen und die Konflikte
ein für allemal beseitigt werden. Die richtige Konse-
quenz aus der Krise, die wir erlebt haben, ist doch die,
jetzt nicht irgend etwas zu machen, was kurzfristig die
Waffen schweigen läßt, sondern etwas zu machen, was
dafür sorgt, daß die Ursachen für die Konflikte auf lange
Sicht verschwinden. Hätten wir in Europa vor neun Jah-
ren, als die Krise in Jugoslawien anfing, die Fähigkeit
gehabt, einen solchen Stabilitätspakt zu entwickeln,
hätten wir den Mut und die Kraft gehabt, diesen Staaten
die europäische Perspektive zu eröffnen, dann wäre uns
in Europa in den letzten Jahren vielleicht – ich sage:
vielleicht – viel erspart geblieben.


(Beifall bei der SPD)

Ich möchte dem Kollegen Haussmann sehr deutlich

sagen: Es ist nicht richtig, daß die Finanzierung des Sta-
bilitätspakts in einem Wettbewerb mit der Finanzierung
der Osterweiterung stehen wird. Einer unserer wichtig-
sten Punkte – und den haben wir auch durchgesetzt –
war, daß die für die Erweiterung vorgesehenen Mittel in
der finanziellen Vorausschau ausschließlich für die Er-
weiterung verwendet werden können. Das sind 80 Milli-
arden Euro bis 2006. Davon stehen 58 Milliarden Euro
für die Erweiterung direkt ab 2002 zur Verfügung. Das
heißt, daß wir bereit und in der Lage sind, ab 2002 die
ersten neuen Mitglieder aufzunehmen. Wir hoffen sehr –
und wir tun, was wir können, um diesen Ländern dabei
zu helfen –, daß den Beitrittskandidaten dies auch gelin-
gen wird. Aber es ist heute nicht möglich, dies vorherzu-
sagen. Ich komme gleich noch hierauf zurück.

Zum Thema Krisenbewältigung noch eines: Es stand
auch noch nie eine Präsidentschaft vor der Situation, daß
unmittelbar vor einem wichtigen Gipfel die Kommission
zurückgetreten ist. Daß daraus keine wirklich tiefe in-
stitutionelle Krise der Europäischen Union wurde, ist
dem schnellen und entschlossenen Handeln des Bundes-
kanzlers zu verdanken, der in der Europäischen Union
innerhalb weniger Tage in einer Frage eine Überein-
stimmung herbeigeführt hat, zu deren Entscheidung
normalerweise Monate, manchmal sogar Jahre ge-
braucht wurden.


(Beifall bei der SPD)

Was den inneren Reformprozeß angeht, so muß ich

mich ein bißchen darüber wundern, daß Herr Schäuble

Dr. Friedbert Pflüger






(A) (C)



(B) (D)


heute zu Beginn der Debatte gesagt hat, es habe keine
Reformen gegeben. Ich kann vielleicht nicht von jedem
erwarten, daß er die vielen Einzelheiten der Agenda
2000 kennt. Es scheint bei der Opposition auch noch
nicht angekommen zu sein, daß die Agenda 2000 – in
Berlin politisch verabschiedet – inzwischen auch recht-
lich umgesetzt worden ist. Sie brauchen sich nur einmal
die von uns zusammen mit dem Europäischen Parlament
verhandelten und dann entschiedenen Verordnungen an-
zusehen, um zu erkennen, daß hier eine wirklich tief-
greifende Reform der europäischen Strukturpolitik er-
folgt. Wir haben Konzentration, wir haben mehr Effizi-
enz, wir haben mehr Transparenz bei der Mittelverwen-
dung – übrigens mit großen Vorteilen für uns selbst. Es
ist ohne jede Übertreibung die größte Reform im
Finanzbereich, den die Europäische Union jemals in
ihrer Geschichte vorgenommen hat.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Was die institutionellen Reformen angeht, standen
wir vor einer politischen Grundsatzfrage. Die Grund-
satzfrage war: Versucht man jetzt – nachdem eine Re-
gierungskonferenz gerade zu Ende gegangen und der
Vertrag, der daraus entstanden ist, vor wenigen Wochen
in Kraft getreten war –, alles das, was für Europa schön
und wünschenswert ist, in eine neue große Regierungs-
konferenz zu packen, die Jahre dauern würde und mit
dem Risiko des Scheiterns, behaftet ist? Man braucht
nur die Frage der Vollparlamentarisierung, die Frage der
demokratischen Kontrolle und die Frage der Finalität der
Europäischen Union anzusprechen. Jeder von Ihnen
weiß, daß es eine Reihe von Mitgliedstaaten gibt, die
heute nicht in der Lage sind, über diese Fragen über-
haupt zu reden. Deswegen haben wir das Kluge getan
und haben uns den Bereich herausgesucht, der jetzt be-
handelt werden muß, und die Reformen, die notwendig
sind, damit die Europäische Union nach der Erweiterung
handlungs- und funktionsfähig bleibt.

Unser Auftrag in Köln hieß, die Agenda, den Fahr-
plan und das Verfahren für diese institutionellen Refor-
men festzulegen. Das ist auf Punkt und Komma erfüllt
worden. Wir werden im nächsten Jahr eine Regierungs-
konferenz durchführen, die sich mit ungewöhnlich
schwierigen Fragen befassen muß, die auch den Bun-
destag intensiv beschäftigen müssen. Zu nennen sind
hier Größe und Zusammensetzung der Kommission,
Stimmengewichtung im Rat, Frage der Ausweitung der
Mehrheitsentscheidungen, Zusammenwirken der Insti-
tutionen bis hin zu der Frage, wie man Kommissare los
wird, die ihren Aufgaben erkennbar nicht gewachsen
sind.

Das alles ist auf den Weg gebracht und dazu noch et-
was, was wir seit vielen Jahren wollen: Eine Versamm-
lung – ich möchte es einen Konvent nennen –, die im
wesentlichen aus Vertretern des Europaparlaments und
der nationalen Parlamente bestehen wird, wird eine
Grundrechtscharta entwickeln. Auch dies soll bereits im
nächsten Jahr abgeschlossen werden. Das ist ein wichti-
ger Beitrag zu dem Erfordernis von Bürgernähe für die
Europäische Union.


(Beifall bei der SPD)


Was die Erweiterung angeht – in meinen Augen ist
dies die strategische Priorität Nummer eins –, so haben
wir eine völlig neue Lage. Bei all dem Schrecklichen,
was der Krieg im Kosovo mit sich gebracht hat, gibt es
eine Wirkung dieses Krieges, die langfristig positiv sein
kann. Die gesamteuropäische Perspektive des Integrati-
onsprozesses ist in den letzten Jahren niemals so deut-
lich gewesen wie jetzt. Auf einmal ist viel klarer als frü-
her, daß es bei Europa, so wichtig dies auch ist, nicht so
sehr um Quoten, um Subventionen und um Wettbe-
werbsregeln geht, sondern in erster Linie darum, daß aus
ganz Europa ein Raum der Demokratie, der Freiheit, des
Rechts und der Prosperität für die Menschen wird.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Die Erweiterungsdynamik hat ungeheuer zugenom-
men, und zwar in doppelter Hinsicht. Die Völker Euro-
pas suchen ihren Weg in die Europäische Union. Man
kann heute ohne Übertreibung sagen: alle Länder, wenn
ich einmal von der Schweiz, von Island und von Norwe-
gen absehe.


(Dr. Helmut Haussmann [F.D.P.]: Leider!)

Sie alle suchen ihren Weg in die Europäische Union.
Die Bereitschaft, das zu akzeptieren und ihnen diese
Perspektive zu eröffnen, ist ebenfalls vorhanden. Wir
erleben im Augenblick in einigen Hauptstädten Südost-
europas eine Art Schönheitswettbewerb darum, wer die
weitreichendsten Versprechungen macht. Ich bin ge-
spannt, was am Ende eingehalten wird.

Für uns als Deutsche ist in diesem Zusammenhang
eines wichtig: Angesichts dessen, daß wir jetzt in den
Erweiterungsprozeß eine neue Dynamik hineingebracht
haben und dieser dadurch eine ganz neue Perspektive
bekommen hat, müssen wir daran festhalten, daß die
Eintrittsbedingungen nicht variabel sind. Es kann keinen
politischen Rabatt auf die Beitrittsbedingungen geben.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Die richtige Antwort heißt vielmehr, daß wir jetzt ei-

ne Strategie entwickeln müssen, die es den Ländern, die
die Beitrittsbedingungen bei weitem noch nicht erfüllen,
erlaubt, an deren Erfüllung heranzukommen. Das wie-
derum ist ein wichtiger Teil des Stabilitätspaktes, bei
dem es ja auch um Menschenrechte, um Demokratie, um
Minderheitenschutz, um wirtschaftliche Entwicklung
und um regionale Zusammenarbeit geht. Das alles sind
Elemente der Heranführung an die Europäische Union.

Der Erweiterungsprozeß hat an Tempo und Qualität
enorm zugenommen. Es hat aber keinen Sinn, die Augen
vor der Tatsache zu verschließen, daß, obwohl wir jetzt
am Ende unserer Präsidentschaft schon fast die Hälfte
aller Verhandlungskapitel – insgesamt sind es 31, wie
Sie wissen – bearbeitet haben, die erkennbar schwierig-
sten Kapitel noch nicht abgehandelt sind und noch an-
stehen.

Darum ist es in meinen Augen unverantwortlich,
heute ein Beitrittsdatum festzulegen. Die Bundesregie-
rung hat sich mehrfach dazu geäußert. Ich wiederhole
das hier: Sobald erkennbar ist, wieviel Zeit der Ver-

Staatsminister Günter Verheugen






(B)



(A) (C)



(D)


handlungsprozeß wirklich noch in Anspruch nehmen
wird, sollten wir uns ein Beitrittsdatum setzen, und zwar
als Ansporn für die Beitrittskandidaten, aber auch als
Selbstverpflichtung für uns.

Ich muß jedoch darauf hinweisen, daß ein vorgezoge-
ner Beitritt aus politischen Gründen der Europaidee
nicht nützen, sondern schaden wird. Es wird uns nicht
helfen, wenn wir aus politischen Gründen Beitrittsdaten
festlegen, die sich später als falsch erweisen oder die da-
zu führen, daß die Probleme nicht gelöst sind und die
Menschen bei uns Angst zum Beispiel vor einem unfai-
ren Wettbewerb um Arbeitsplätze und Unternehmensan-
siedlungen haben.


(Beifall bei der SPD – Dr. Helmut Haussmann [F.D.P.]: Übergangsfristen!)


Wir werden – der Kollege Haussmann ruft mir das
gerade zu – am Ende möglicherweise mit Übergangsfri-
sten arbeiten müssen. Aber diese Entscheidung trifft
man dann, wenn es soweit ist. Das braucht man heute
noch nicht zu tun.

Mein letzter Punkt: Die Vertiefung der Union ist si-
cherlich ebenfalls dadurch befördert worden, daß im
Bewußtsein der Krise allen klargeworden ist, daß Euro-
pa eine angemessene Antwort auf den Zustand braucht,
daß mitten in Europa, das eigentlich durch Integration,
Zusammenwachsen und Partnerschaft gekennzeichnet
ist, die schrecklichen europäischen Krankheiten wieder-
auferstanden waren. Die Antwort heißt: Gemeinsame
Außen- und Sicherheitspolitik sowie Bildung einer Si-
cherheits- und Verteidigungsunion, die uns in die Lage
versetzen, Krisenreaktion, Krisenvorsorge und Kon-
fliktmanagement in Europa mit eigenen Mitteln und in
eigener Verantwortung zu betreiben – nicht etwa, um
unsere amerikanischen Verbündeten an den Rand zu
drängen; ich würde niemandem raten, das zu versuchen,
denn das würde kaum gelingen –, nicht etwa, um die
NATO zu schwächen oder überflüssig zu machen, son-
dern in sinnvoller Ergänzung dessen, was Aufgabe der
NATO und was Aufgabe unserer Partnerschaft mit den
Vereinigten Staaten von Amerika ist.

Die dazu getroffenen Entscheidungen, die Ernennung
Solanas zum Hohen Beauftragten für die Gemeinsame
Außen- und Sicherheitspolitik, die erste gemeinsame
Strategie als ein Pilotprojekt und schließlich die Einbe-
ziehung der WEU in die Europäische Union und damit
der Beginn des Aufbaus dieser Sicherheits- und Vertei-
digungsunion, sind das Ergebnis des Gipfels von Köln
gewesen.


(Dr. Helmut Haussmann [F.D.P.]: Leider!)

Schon dies allein rechtfertigt die Aussage, daß der

Kölner Gipfel in der Geschichte der Europäischen Union
einen besonderen, einen historischen Platz einnehmen
wird.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Insgesamt bestätigt die heutige Debatte das, was mir
ein Kollege aus einem anderen europäischen Land, mit
dem ich vor wenigen Tagen am Rande des Gipfels in

Köln sprach, sagte: Du wirst wahrscheinlich erleben,
daß alle in Europa die deutsche Präsidentschaft loben
werden, nur eure Opposition nicht.


(Dr. Helmut Haussmann [F.D.P.]: Sie lesen zuwenig!)


Wenn das so ist, kannst du zufrieden sein. Dann
kannst du sicher sein, daß ihr eine hervorragende Präsi-
dentschaft hingelegt habt.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1404103000
Ich gebe dem Kol-
legen Norbert Wieczorek, SPD-Fraktion, das Wort.


Dr. Norbert Wieczorek (SPD):
Rede ID: ID1404103100
Herr Präsident! Lie-
be Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte, nachdem der
Wahlkampf hier so manches Mal eine Rolle gespielt hat,
daran erinnern


(Dr. Helmut Haussmann [F.D.P.]: Wir leben in einer Demokratie!)


– Helmut, darum geht es doch gar nicht –, daß wir stolz
sein sollten, daß es durch die Europäische Union und die
Integration der Bundesrepublik gelungen ist, daß bei uns
Grenzen und ethnische Minderheiten nicht zu diesen
Katastrophen führen, wie wir sie gerade auf dem Balkan
erleben. Das sollten wir den Leuten sagen, wenn sie fra-
gen: Was ist denn die EU? Es geht hier nicht um Milch-
quoten und Bürokratie.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Ich finde es daher sehr gut, daß dieser Stabili-

tätspakt auf die Tagesordnung gekommen ist; denn nur
dadurch und durch Verhandlungen in dieser Region, die
noch nicht so weit entwickelt ist, kann die Perspektive
der Annäherung an die Europäische Union vermittelt
werden, und zwar auch im Hinblick auf die Friedens-
sicherung und den Wohlstand, den wir dadurch bekom-
men haben. Der Pakt ist insofern realistisch, weil er
nicht einfach die alten Instrumente übernimmt. Ich bin
sehr dafür und freue mich, daß vorgesehen ist, ange-
paßte Instrumente einzusetzen. Die Situation in Make-
donien ist eine andere als in Albanien oder im Kosovo,
in Serbien oder in Montenegro. Hier muß mit angepaß-
ten Instrumenten gearbeitet werden. Das halte ich für
einen ganz wichtigen Punkt.

Ich möchte an der Stelle zu etwas kommen, was si-
cher eine Rolle gespielt hat: die Agenda 2000. Im Ge-
gensatz zu dem, was einige Kollegen von der Opposition
gesagt haben, ist es in der Agenda 2000 gelungen, eine
Stabilisierung der Gesamtausgaben bei 1,13 Prozent des
Bruttoinlandsprodukts der EU für den Zeitraum bis 2006
festzulegen. Das ist die entscheidende Marge. – Wir
wissen alle noch nicht, wie hoch die Kosten für den Sta-
bilitätspakt sein werden, aber jeder wird wohl zustim-
men, daß dies billiger ist, als weiter Krieg zu führen, un-
abhängig von dem Horror des Krieges. Daß dies gelun-
gen ist, halte ich für eine ganz großartige Sache.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Staatsminister Günter Verheugen






(A) (C)



(B) (D)


Für die kleinen Beckmesser möchte ich noch darauf
verweisen, daß der deutsche Nettotransfer von 0,55 Pro-
zent unseres Bruttosozialproduktes auf 0,43 in 2006
sinkt. Allerdings waren wir für die letzten sechs Jahre
nicht verantwortlich; das war die heutige Opposition.
Ich möchte auch darauf verweisen, daß unser Anteil am
Nettotransfer von 60 auf 50 Prozent gesenkt wird.

Noch einen kleinen Hinweis, auch wenn Herr
Schäuble nicht mehr da ist: Diese Papiere sind uns alle
seit April bekannt. Sie sind dem Hause zugegangen. Es
ist heute morgen der Eindruck erweckt worden, das
Haus sei nicht informiert worden. Der Europaausschuß
ist darüber informiert worden. Ich nehme an, daß es
überall so läuft wie bei uns, daß so etwas weitergegeben
wird.

Ich möchte einen zweiten Punkt ansprechen, die Re-
gierungskonferenz. Was hat Köln gebracht? Ich glaube,
es ist sehr vernünftig und weise, sich auf den Kern des-
sen zu konzentrieren, was ansteht. Wenn ich dann aber
Rufe höre wie „warum habt ihr das in Köln nicht abge-
schlossen?“, dann darf ich daran erinnern, daß es beim
Amsterdamer Vertrag nach langen Verhandlungen nicht
gelungen ist, diese institutionellen Reformen festzu-
legen. Deswegen gibt es im Amsterdamer Vertrag das
Protokoll zu Art. J.7 des EU-Vertrages.

Gerade weil diese Bundesregierung einen anderen
Standpunkt einnimmt als die alte, in der Frage von mehr
Mehrheitsentscheidungen und damit auch mehr Rechten
für das Europäische Parlament, verbunden mit der Ab-
schaffung des Einstimmigkeitsprinzips an vielen Stellen
ist jetzt die Chance für Reformen gegeben. In Amster-
dam ist es unter anderem wegen dieser Probleme nicht
zu einem Ergebnis gekommen. Dem, der allerdings
meint, das sei jetzt so einfach zu verhandeln, wünsche
ich viel Vergnügen. Ich halte es für sehr ehrgeizig, dies
bis zum Herbst 2000 durchzusetzen. Unser Auftrag war
im übrigen nur festzulegen, was gemacht werden soll.
Ich möchte diejenigen, die hier so übermütig reden,
daran erinnern, was Sie in Ihrer eigenen Regierungszeit
beim Amsterdamer Vertrag nicht geschafft haben.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Ich möchte noch etwas zur Außenpolitik sagen. Die
gemeinsame Außenpolitik war erst intergouvernemen-
tal; jetzt ist sie in das Vertragswerk eingefügt worden.
Ich glaube, daß gerade die gegenwärtige Situation ge-
zeigt hat, daß es lohnenswert ist, diesen Ansatz weiter-
zuentwickeln. Es geht mir jetzt gar nicht um die schon
besprochenen institutionellen Vorgaben, zum Beispiel
daß Herr Solana, den ich sehr schätze, zum Vorsitzen-
den der GASP berufen wurde. Das Entscheidende, was
passiert ist, ist, daß es gerade die Kontinentaleuropäer
waren – das ist der Kern der EU –, die das Ergebnis er-
reicht haben, daß eine Verhandlungslösung statt einem
von anderen zum Teil diskutierten Bodenkrieg in Aus-
sicht steht. Das ist – das muß man feststellen – ein Er-
gebnis praktizierter gemeinsamer Außenpolitik. Ich hof-
fe, daß das in anderen Fällen so weitergeht.

Noch eine Bemerkung: Auch ich habe Erleichterung
empfunden, als Ahtisaari dieses Abkommen in Köln

vorgestellt hat. Die Kritik, das sei eine Vorzeigejubel-
feier gewesen, ist wirklich kleinkariert.


(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Christian Sterzing [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Ich begrüße, daß jetzt dieser Grundrechte-Konvent
einberufen wird. Natürlich beachtet die EU die Grund-
rechte; der EuGH wacht darüber. Aber trotzdem ist ein
solches Instrument vernünftig. Ich halte es auch für sehr
vernünftig, das nicht im Wege einer Regierungskonfe-
renz zu machen, sondern als Konvent unter Beteiligung
der Parlamente und außenstehender Gruppen. Das Er-
gebnis muß später in die Diskussion über den weiteren
Prozeß eingeführt werden.

Ich habe immer ein wenig Probleme damit, wenn in
der deutschen Debatte leichtfertig eine europäische Ver-
fassung gefordert wird. Es gibt unterschiedliche Verfas-
sungstraditionen, und bisher haben wir es immer ge-
schafft, Schritt für Schritt mehr Integration zu schaffen.
Ich warne davor, zu meinen, man könne heute ein sol-
ches Ziel als Endstadium definieren. Mir ist weitere In-
tegration lieber als ein solches Gebäude, das nur auf
dem Papier steht und möglicherweise dazu führt, daß
einige nicht mehr mitmachen. Diese Gefahr ist nämlich
konkret gegeben.


(V o r s i t z : Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms)


Ich möchte noch einen weiteren Punkt anführen, der
aus meiner Sicht zentral ist. Der Beschäftigungspakt ist
so behandelt worden, als sei das alles nichts. Ich muß
Sie daran erinnern, daß es jetzt drei Prozesse gibt, die
miteinander verbunden sind. Der erste ist der Luxem-
burger Prozeß. Sie haben uns vorgeworfen, diesbezüg-
lich hätten wir nichts gemacht – ein großer Irrtum. Zu-
nächst erinnere ich daran: Im Amsterdamer Vertrag ist
das jetzt aufgenommene Beschäftigungskapitel nur drin,
weil wir darauf bestanden haben und weil befreundete
sozialdemokratische Regierungen dafür waren, nicht
aber weil die alte Bundesregierung dafür war. Sie, Herr
Rexrodt, mußten das zum Schluß akzeptieren; daß Sie
dafür waren, kann man wahrlich nicht behaupten.

Wenn man sich den nationalen Aktionsplan, der die-
sem Gipfel ebenfalls vorgelegen hat, anschaut, stellt
man fest, daß er sehr viele positive Beispiele für kon-
krete Umsetzungen des Luxemburger Prozesses enthält.
Das deutlichste und für mich erfreulichste ist das Pro-
gramm für 100 000 Jugendliche, die länger als ein hal-
bes Jahr arbeitslos oder ohne Ausbildung sind.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Das ist die von dieser Regierung praktizierte Umsetzung
des Luxemburger Prozesses. Nehmen Sie das endlich
einmal zur Kenntnis!

Der zweite Teil ist der Cardiff-Prozeß, in dem es um
Strukturveränderungen geht. Damit Sie schön aufheulen
können, nenne ich das Reizwort: 630-Mark-Gesetz.
Was jetzt passiert, ist, den Wildwuchs, den Sie zugelas-
sen haben, zugunsten einer vernünftigen Flexibilisierung

Dr. Norbert Wieczorek






(B)



(A) (C)



(D)


der Arbeitszeit mit sozialer Absicherung zu beschnei-
den.


(Beifall bei der SPD – Widerspruch bei der F.D.P.)


– Sie werden sich noch wundern, wenn im Herbst regu-
läre Arbeitsverhältnisse entstanden sind, wo es vorher
nichtreguläre Beschäftigung gab. Mit diesem Instrument
wurde sehr viel Schindluder getrieben. Sie als F.D.P.
wollen auch nicht auf die Betriebe hören, die jetzt sagen:
Wir schaffen ordentliche Teilzeitarbeitsverhältnisse.


(Beifall bei der SPD)

Ihnen als F.D.P. ist es lieber, daß Sie den Leuten – auch
wenn sie ausgenutzt werden – sagen können: Ihr könnt
euer Geld auch dann behalten, ohne Steuern zu zahlen,
wenn ihr noch anderes verdient.

Hier geht es genau um Strukturveränderungen in
sinnvollem Maße. Daß Sie, Herr Rexrodt, dies nicht ge-
schafft haben, ist mir eh klar. Aber da hier Helmut
Haussmann sitzt, erinnere ich daran. Bereits Ende der
80er Jahre – schon damals waren wir im Finanzausschuß
soweit – war das mit dem Druck der Zeitungsverleger
genau das gleiche. Ihr ganzes Geschrei ist nämlich nicht
so neu.


(Ina Lenke [F.D.P.]: Da fragen wir einmal Schröder: Warum wurde den Zeitungsverlegern denn versprochen, daß sie ihre 630-MarkJobs behalten dürfen?)


– Unter den Bedingungen, die das Gesetz vorschreibt,
können sie sie sogar behalten, nur nicht zu ihren Bedin-
gungen: Wenn diese Leute ein Vollarbeitsverhältnis ha-
ben, können sie natürlich nicht daneben ein zweites ha-
ben, bei dem sie keine Steuern zu zahlen haben. Das
geht natürlich nicht.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Jürgen Koppelin [F.D.P.]: Machen Sie Außenpolitik, da können Sie nicht so viel schaden!)


Ich würde Ihnen empfehlen, sich einmal um die Realität
zu kümmern und nicht darum, womit Schindluder ge-
trieben werden kann.

Dies ist ganz konkret Teil des Cardiff-Prozesses. Das
müssen die berühmten Europäer von der F.D.P. be-
greifen. Es gibt in Europa außer Deutschland kein Land,
das sich bisher ein solches Instrument wie Ihre alte
630-Mark-Regelung geleistet hat.


(Beifall bei der SPD)

Aber jetzt will ich noch etwas zu dieser merkwürdi-

gen Diskussion über den Wechselkurs sagen. Erstens
warne ich sehr davor, zu behaupten, daß der Euro weich
ist. Ziel des Vertrages und der EZB ist die Preisstabilität
und die Geldwertstabilität des Euro. Die ist wohl ohne
Zweifel – zum Glück – gegeben.


(Dr. Helmut Haussmann [F.D.P.]: Noch!)

– Das wird sich möglicherweise anders entwickeln, aber
sie ist gegeben.

Es ist ausdrücklich im Vertrag festgelegt worden, daß
es kein Wechselkursziel geben soll, im Gegenteil. Da
waren wir sogar alle einer Meinung. In der vorher statt-
gefundenen Debatte gab es nämlich ein Land, das gerne
Wechselkursziele vorgeben wollte. Insofern kann von
Weichheit der Währung keine Rede sein. Was wir ha-
ben, ist eine Wechselkursschwäche gegenüber dem
Dollar. Das ist unbestritten.

Es gibt einen entscheidenden Punkt. Der entschei-
dende Punkt ist die Zinsdifferenz. Es gab ein bißchen
Verunsicherung wegen des Kosovo, ich würde sie aber
nicht so hoch bewerten.


(Michael Glos [CDU/CSU]: Wer hat denn niedrige Zinsen gefordert?)


– Entschuldigung, Michael Glos, es ist ganz hilfreich,
wenn man sich einmal die Grundkurse der Volkswirt-
schaftslehre hinsichtlich der Funktion der Zinssätze an-
schauen würde.

Der Punkt ist der, daß in Amerika der Realzins – der
Nominalzins sowieso – natürlich höher ist als bei uns.
Das hat aber damit etwas zu tun, daß das Wachstum hö-
her ist.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Ich muß Sie jetzt erinnern: Wie lange ist es denn her,
daß der Dollar unter 1,60 DM gehen wollte? Da gab es
auch schon Wachstum. Das müssen Sie sich doch ein-
mal angucken, Herr Merz. Schauen Sie sich doch einmal
die Wechselkursbewegungen an! Ich erinnere mich sehr
gut. Es hatte 1978 angefangen, als der Dollar plötzlich
bei 1,78 DM stand, dann waren wir bei 3,50 DM. Das ist
genau die Situation, die wir haben. Aber damit wieder
Ruhe einkehrt: Ich bin sehr dafür, daß man keine Wech-
selkurspolitik des „benign neglect“, also des freund-
lichen Wegsehens, betreibt, wie sie die Amerikaner lan-
ge betrieben haben – unter Herrn Rubin nicht mehr, bis
dahin häufiger –, weil es auf die Dauer keine Stabilität
gibt. Darin sind wir uns hoffentlich alle einig.


(Dr. Helmut Haussmann [F.D.P.]: Wehret den Anfängen!)


Wichtig ist, was Herr Eichel jetzt macht: die Konsolidie-
rung des Haushaltes, den Sie uns hinterlassen haben.
Das ist doch der Punkt.


(Beifall bei der SPD)

Man kann lange darüber streiten, ob es weise war,

Italien offiziell zu genehmigen, was sie sowieso schon
erreicht haben. Man kann auch fragen, ob es vernünftig
war, Italien im Frühjahr zu gestatten, eine Wachstums-
prognose zu nennen, die nicht realistisch war. Diese
Bundesregierung hat ihre zurückgenommen. Ich sehe
mit Freude gerade eine Pressemeldung, daß die Wirt-
schaft davon ausgeht, daß das Wachstum über 1,5 Pro-
zent liegt.


(Dr. Helmut Haussmann [F.D.P.]: Das ist doch dürftig genug!)


– Das ist dürftig genug. Aber woran hat es denn gele-
gen? Wer hat denn im vorigen Jahr gesagt, Asien hat
keine Auswirkungen? Das war doch die Bundesregie-

Dr. Norbert Wieczorek






(A) (C)



(B) (D)


rung, die Sie gestellt haben. Nehmen Sie das doch ein-
mal zur Kenntnis!


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Wer hat denn in Rußland die Geschichte nur so treiben
lassen? Wer war das denn – einschließlich Wahllkampf-
finanzierung für Herrn Jelzin? Darüber brauche ich jetzt
nicht weiter zu reden.

Entscheidend ist, daß wir die Konsolidierung bei uns
schaffen. Das hat sich diese Bundesregierung vorge-
nommen. Das zweite ist – das will ich auch sagen –:
Wenn Italien auf Grund der Wachstumsschwäche in der
Situation ist, das Haushaltsdefizit zu vergrößern, dann
ist das kein Durchbrechen der Maastricht-Kriterien. Das
ist ein großer Irrtum. Das ist ein Durchbrechen der Kri-
terien, die es in seinem eigenen Stabilitätsprogramm
vorgeschlagen hat. Das ist schon noch etwas anderes.


(Dr. Helmut Haussmann [F.D.P.]: Nicht nur!)

– Lieber Helmut Haussmann, nur das ist es. Es sind
nicht die Maastricht-Kriterien selber. Italien tut alles, um
hier mehr Konsolidierung zu schaffen. Ich bin da übri-
gens ganz sicher, denn gerade Herr Amato war es, der in
Italien überhaupt angefangen hat, Haushaltskonsolidie-
rung zu betreiben.

Mein lieber Freund, Helmut Haussmann, du darfst
dich erinnern. Bei einer Diskussion drüben im Wasser-
werk, als es um den Parlamentsvorbehalt ging, und die
kritischen Äußerungen der Bundesbank und des EWI
und nicht die Jubeläußerungen der Kommission in der
Frage der dauerhaften Haushaltskonsolidierung Italiens
anstanden, war der jetzt hier sitzende Vertreter der
F.D.P., Helmut Haussmann, der Ansicht, das dürften wir
alles nicht ernst nehmen und Italien müsse unbedingt
dabeisein. Als andere gesagt haben, hier liege ein
Schwachpunkt, waren die Töne ganz anders.


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1404103200
Herr
Kollege Wieczorek, ich bin sehr großzügig gewesen. Ich
bitte, zum Schluß zu kommen.


Dr. Norbert Wieczorek (SPD):
Rede ID: ID1404103300
Ich komme zum
Ende.

Deswegen muß ich hier in aller Deutlichkeit sagen:
Es ist nicht schön, was da passiert ist. Es sollte dazu füh-
ren, solide Programme vorzulegen. Realitäten darf und
kann man zur Kenntnis nehmen, aber es muß anschlie-
ßend gehandelt werden. Es ist unsere Sache, in der Bun-
desrepublik zu handeln. Wir werden in den nächsten
Wochen merken, was uns Hans Eichel hier vorlegt.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1404103400
Ich
schließe die Aussprache.

Die Fraktion der PDS hat beantragt, daß über ihren
Entschließungsantrag auf Drucksache 14/1120 jetzt ab-

gestimmt wird. – Ich höre keinen Widerspruch. Dann
verfahren wir so.

Ich bitte diejenigen, die dem Entschließungsantrag
zustimmen wollen, um ihr Handzeichen. – Gegenstim-
men? – Enthaltungen? – Dann ist der Antrag mit den
Stimmen der Koalitionsfraktionen und der CDU/CSU-
und F.D.P.-Fraktion gegen die Stimmen der PDS-
Fraktion abgelehnt.

Interfraktionell wird Überweisung des Antrags auf
Drucksache 14/1111 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist die
Überweisung so beschlossen.

Damit sind wir am Ende dieses Tagesordnungspunk-
tes.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 2 auf:
Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktion der F.D.P.
Haltung der Bundesregierung zu den Ankün-
digungen einer Mehrwertsteuererhöhung und
einer fortlaufenden Erhöhung der Mineral-
ölsteuer durch den Bundesfinanzminister

Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Rainer Brüderle von der F.D.P.-Fraktion. Bitte schön,
Herr Brüderle.


(Jürgen Koppelin [F.D.P.]: Wo ist denn der Finanzminister?)



Rainer Brüderle (FDP):
Rede ID: ID1404103500
Herr Präsident! Meine
Damen und Herren! In diese Aktuelle Stunde paßt die
heutige Meldung über die schon zitierte Erklärung des
Bundeskanzlers mit Tony Blair. In dieser Erklärung
zählt er auf, welche Maßnahmen er für erforderlich hält:
Steuerreform, Steuersenkungen, mehr Flexibilität, radi-
kale Modernisierung des öffentlichen Sektors, mehr
Spielraum und weniger Regulierung für die Unter-
nehmen, prosperierender Mittelstand und Reform der
Sozialversicherungssysteme. Aber genau das Gegenteil
von dem geschieht in Deutschland.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

Es ist bezeichnend: Grünrot hat vor der Wahl deutli-

che Steuersenkungen versprochen. Diese Versprechun-
gen erweisen sich jetzt als großer Wählerbetrug. Wir ha-
ben Mehrbelastungen: Erhöhung der Mineralölsteuer,
Einführung der Stromsteuer, Besteuerung geringfügig
Beschäftigter, Streichung steuerlicher Ausnahmetatbe-
stände. Das sind milliardenschwere Zusatzbelastungen
statt Entlastungen, also genau das Gegenteil von dem,
was versprochen wurde.


(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Klaus Wolfgang Müller [Kiel] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Quatsch!)


Grünrot hat mit großem Tamtam eine Kommission
für die Unternehmensteuerreform eingesetzt. Die Rück-

Dr. Norbert Wieczorek






(B)



(A) (C)



(D)


zugsgefechte folgten auf dem Fuß: Wenn schon Steuer-
senkungen, dann aufkommensneutral. – Das wird aber
nicht genügen. Wir brauchen vielmehr eine echte Netto-
entlastung. Die Vorschläge aus dem Regierungslager
sind ganz simpel: Die großen Konzerne, die leicht ab-
wandern können, will man entlasten, aber nicht den
Mittelstand; man will umverteilen. Es zeigt sich: Dies ist
ein Kanzler der Konzerne und der Bosse. Die Mittel-
standspartei sind wir.


(Beifall bei der F.D.P. – Lachen bei der SPD)

Grünrot streitet sich darum, wann welche Steuer um

wieviel erhöht wird. Es handelt sich um eine reine Ab-
kassierpolitik. Ich verstehe, daß es Ihnen wehtut, wenn
die Wahrheit ausgesprochen wird. Aber Sie können sich
nicht einfach über die Europawahl hinwegmogeln. Sie
sollten schon den Mut haben, Ihre Absichten offen dar-
zulegen.

Die Hilferufe aus dem Handwerk sind nicht überhör-
bar. Die Reduktion des Wachstums – die Prognosen des
letzten Jahres sind halbiert worden – ist die Konsequenz
aus Ihrer Politik. Die Euro-Schwäche ist eben auch ein
Ausdruck verfehlter deutscher Wirtschafts- und Finanz-
politik.


(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Gerade die Grünen muß man fragen: Was ist denn
von Ihren hochfliegenden Plänen zur Ökosteuer übrig-
geblieben? Reines Abkassieren über die Mineralölsteu-
er.


(Beifall bei der F.D.P.)

Herr Struck spricht von einer Erhöhung um 40 Pfennig,
Herr Müller von 15 Pfennig, und andere sprechen von
einer jährlichen Erhöhung um 6 Pfennig, auch Herr Ei-
chel möchte jedes Jahr erhöhen. Frau Fuchs hat – wie
die PDS – eine Luxussteuer vorgeschlagen; eine interes-
sante Parallele.


(Beifall bei Abgeordneten der PDS)

Die Grünen kommen ihrem Ziel von 5 DM immer nä-
her.


(Lachen beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

In diese Richtung geht es. Freuen Sie sich, in der Politik
wird Ihr Quatsch auch noch umgesetzt!


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

Was Sie zum Luxus machen, ist das Autofahren in
Deutschland. Sie strafen die Pendler, die vielen Arbeit-
nehmer, die darauf angewiesen sind, mit dem Auto zur
Arbeit zu fahren, damit gnadenlos ab.

Herr Eichel spricht jetzt davon, daß er kürzen und
sparen muß. Lesen Sie einmal den „Spiegel“ von ge-
stern! Als hessischer Ministerpräsident hat er allen Kür-
zungsüberlegungen energisch widersprochen. Jetzt er-
kennt er: Es geht nicht anders. Er wird quasi vom Aus-
gabensaulus zum Sparpaulus. Gut, wenn die Einsicht ir-
gendwie kommt. Das haben wir auch bei unserem frühe-
ren Koalitionspartner erfahren, der jetzt mit uns gemein-
sam gegen die Veränderung bei den 630-Mark-

Verträgen kämpft. In der letzten Periode wollten Blüm
und seine Freunde Ähnliches wie das machen, was
Grünrot jetzt auf den Weg gebracht hat.


(Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Was sind das denn für Töne?)


Aber es ist besser, wenn man dazulernt: Besser später
lernen, als überhaupt nicht lernen.

Als Vorwand für die Mehrwertsteuererhöhung wer-
den von Ihnen das Stopfen der Haushaltslöcher und all
die anderen Überlegungen benutzt.


(Klaus Wolfgang Müller [Kiel] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie wollen das!)


Jetzt ist Europa der neue Vorwand für die Steuererhö-
hung. Genau wie bei der Beschäftigungspolitik ver-
schieben Sie das, was Sie nicht hinkriegen, nach Europa.
Sie schaffen es hier nicht – Europa ist zuständig.

Herr Poß, das nächste Stichwort ist die Kosovo-Krise.
Nun wird sie zum Vorwand für die längst vorbereitete
Mehrwertsteuererhöhung, weil Ihnen nichts anderes
mehr einfällt. Da liegen Sie fundamental falsch. Wir
brauchen steuerliche Entlastung, nicht Mehrbelastung.
Mit dieser Politik werden Sie die Arbeitslosigkeit nicht
beseitigen, sondern noch mehr Schwäche des Euro, noch
mehr Verunsicherung, noch mehr Investitionsschwäche
auslösen. Das ist das Gegenteil von dem, was der Kanz-
ler im Ausland erklärt. Wenn er nur die Hälfte von dem,
was er in England ankündigt, machen würde, wäre es
schon ein deutlicher Fortschritt.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1404103600
Als
nächster Redner hat der Kollege Jörg-Otto Spiller von
der SPD-Fraktion das Wort.


(Jürgen Koppelin [F.D.P.]: Er erzählt uns jetzt, welche Steuer erhöht werden soll!)



Jörg-Otto Spiller (SPD):
Rede ID: ID1404103700
Herr Präsident! Meine sehr
verehrten Damen und Herren! Seit die F.D.P. im Bund
nicht mehr in der Verantwortung ist, interessiert sie sich
für öffentliche Finanzen.


(Widerspruch bei der F.D.P.)

Es wäre allerdings besser gewesen, Herr Kollege Rex-
rodt, Sie hätten das schon gemacht, als Sie Verantwor-
tung getragen haben.


(Dr. Günter Rexrodt [F.D.P.]: Das haben wir gemacht! – Dr. Helmut Haussmann [F.D.P.]: Immer gemacht!)


Ich will Ihnen einmal sagen, was das Ergebnis dieser
16 Jahre Koalition aus CDU/CSU und F.D.P. war.


(Dr. Helmut Haussmann [F.D.P.]: Schauen Sie doch einmal nach vorn!)


Sie haben, als Sie aus der Regierung ausgeschieden sind,

(Jürgen Koppelin [F.D.P.]: Welche Steuern wollen Sie jetzt erhöhen?)


Rainer Brüderle






(A) (C)



(B) (D)


eine Verschuldung des Bundes und der Nebenhaushalte,
die Sie fälschlicherweise als „Sondervermögen“ be-
zeichnet haben – in Wirklichkeit waren das Sonder-
schulden –, von 1 450 Milliarden DM hinterlassen.


(Zuruf von der CDU/CSU: Das ist doch falsch!)


Das ist eine astronomische Zahl. Jetzt sage ich einmal,
was sie bedeutet. Interessant ist, was laufend an Verzin-
sung geleistet werden muß: gut 80 Milliarden DM im
Jahr, das heißt pro Kopf der Bevölkerung 1 000 DM im
Jahr.


(Jürgen Koppelin [F.D.P.]: Welche Steuern heben Sie jetzt an?)


Egal, ob es sich um einen Säugling oder um einen Greis
handelt: 1 000 DM pro Jahr nur Zinsendienst für die
Schulden, die Sie hinterlassen haben! Für eine vierköp-
fige Familie mit einem Durchschnittseinkommen um die
4 000 DM pro Monat heißt das: ein Monatseinkommen
nur für die Zinsen auf die Schuld, die Sie hinterlassen
haben!


(Jürgen Koppelin [F.D.P.]: Welche Steuer wollen Sie erhöhen?)


Sie sollten ganz kleine Brötchen backen.

(Beifall bei der SPD)


Herr Kollege Brüderle, Ihnen bescheinige ich gerne,
daß Sie sich für die öffentlichen Finanzen des Bundes
bisher überhaupt noch nicht interessiert haben. Das
merkt man Ihnen auch an.


(Beifall bei der SPD)

Denn was Sie hier erzählt haben, hat mit dem, was tat-
sächlich beschlossen worden ist, eigentlich gar nichts zu
tun.


(Beifall bei der SPD)

Aber auch Sie werden das noch mitkriegen. Sie haben ja
auch Ihren Anspruch angemeldet, in die Führungsriege
der Bundespartei vorzustoßen. Ich glaube, wenn Sie
weiter so reden, wie Sie das soeben getan haben, werden
Sie es schaffen, daß die F.D.P. bundesweit ein so tüchti-
ges Ergebnis wie letzten Sonntag in Bremen erreichen
wird.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Dr. Helmut Haussmann [F.D.P.]: Wie geht es weiter?)


Sie haben im übrigen ein nahezu wortgleiches Begeh-
ren nach einer Aktuellen Stunde im Dezember des vori-
gen Jahres vorgebracht.


(Klaus Wolfgang Müller [Kiel] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: 3. Dezember! – Jürgen Koppelin [F.D.P.]: Welche Steuer wollen Sie erhöhen?)


Dabei ist genau das gleiche herausgekommen, nämlich
heiße Luft.

Eines sollten Sie sich inzwischen doch einmal hinter
die Ohren schreiben: Wenn man eine solche Verschul-

dungspolitik zu verantworten hat wie Sie, macht es
überhaupt keinen Sinn, laufend über neue Haushaltslö-
cher, über Entlastungen zu philosophieren oder zu
schwadronieren. Es kommt darauf an, daß man die öf-
fentlichen Finanzen wieder auf ein solides Fundament
zurückführt.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Dr. Helmut Haussmann [F.D.P.]: Wie denn?)


Das wird diese Koalition tun. Bundesfinanzminister Ei-
chel hat dabei unsere volle Unterstützung. Daß Sie sich
gern zurücklehnen, daß Sie schöne Sprüche machen – –


(Dr. Günter Rexrodt [F.D.P.]: Welche Steuer wollen Sie erhöhen?)


– Herr Rexrodt, Sie waren doch der Subventions-
minister. Sie haben immer von Liberalität gesprochen
und die marktwirtschaftliche Ordnung nie ernstgenom-
men. Sie haben immer nur Ihre Klientel bedient.


(Beifall bei der SPD)

Sie haben Ihre Klientel mit Sonderabschreibungen für
Verlustzuweisungsgesellschaften bedient. Das war Ihr
Geschäft. Seien Sie bitte ganz vorsichtig mit irgendwel-
chen schönen Sprüchen!


(Dr. Günter Rexrodt [F.D.P.]: Welche Steuererhöhung kommt jetzt?)


Sie haben im Laufe Ihrer Regierungszeit ein Dutzend
Steuern erhöht. Das werden wir nicht machen.


(Lachen bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Wir werden etwas tun, was Sie nie gemacht haben: Wir
werden kritisch an die Ausgaben des Bundes herange-
hen.


(Klaus Wolfgang Müller [Kiel] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das können die gar nicht!)


Sie haben nie eine ernsthafte Haushaltskonsolidierung
gewagt. Sie haben immer so getan, als wäre es Ihr Geld,
das Sie aufnehmen. Nein, es ist das Geld der Bürgerin-
nen und Bürger.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

So zu tun, als könnten Sie künftigen Generationen wei-
tere Schulden hinterlassen, ist unseriös.

Wir werden eine seriöse Politik machen. Wir werden
mit der kritischen Durchleuchtung der Ausgaben anfan-
gen. Wir schaffen eine solide, korrekte und gerechte Fi-
nanzierung der öffentlichen Aufgaben.

Ich danke Ihnen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1404103800
Als
nächste Rednerin hat das Wort die Kollegin Gerda Has-
selfeldt von der CDU/CSU-Fraktion.

Jörg-Otto Spiller






(B)



(A) (C)



(D)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1404103900
Herr Präsident!
Meine Damen und Herren! Herr Spiller, Sie hätten jetzt
die Gelegenheit gehabt, uns zu sagen, welche steuerpo-
litischen Vorschläge Sie in der Regierungskoalition tat-
sächlich haben. Sie haben nichts gesagt.


(Jürgen Koppelin [F.D.P.]: Null!)

Die Konzeptionslosigkeit in Sachen Steuerpolitik dieser
Bundesregierung und der Koalitionsfraktionen wird im-
mer deutlicher.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Die Vorschläge werden täglich nicht nur absurder,

sondern auch widersprüchlicher. Es wundert nicht, daß
die Bevölkerung immer mehr verunsichert wird. Aber
bei aller Widersprüchlichkeit – Mehrwertsteuererhöhung
ja oder nein, Mineralölsteuer in ein, zwei, drei oder
mehreren Stufen erhöhen, die Verwendung der Mittel im
Haushalt oder in der Sozialversicherung – sind Sie sich
in dieser Koalition über eines im klaren: Es muß mehr
Geld her. Es muß aber nicht mehr Geld her über die An-
kurbelung der Wirtschaft oder über sinnvolle Maßnah-
men zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit, sondern es
muß mehr Geld her von seiten der Bürger. Sie wollen es
direkt vom Bürger über Steuererhöhungen. So haben Sie
es bei den 630-Mark-Regelungen, bei der Scheinselb-
ständigkeit und bei der Ökosteuer gemacht, und so wol-
len Sie es auch mit der Mehrwertsteuer- und Mineral-
ölsteuererhöhung machen.

Meine Damen und Herren, Sie diskutieren doch nur
darüber, wie es die Bürger am wenigsten merken. Ich
will Ihnen das am Beispiel der Mineralölsteuer begrün-
den. Zuerst haben Sie gesagt, die zweite und dritte Stufe
der Ökosteuerreform kommt nur in Abstimmung mit der
Europäischen Union. Das ist mittlerweile vom Tisch;
jetzt planen Sie das im Alleingang. Es geht nur noch
darum, in wieviel Stufen Sie das machen. Der Kollege
Schulz hat vor wenigen Tagen – nachlesbar in einer
Agenturmeldung – den Vorschlag gemacht, die Mine-
ralölsteuer nicht wie geplant in zwei Stufen, sondern in
drei Stufen zu erhöhen, mit der Begründung, wichtig sei,
daß die Menschen nicht das Gefühl haben, daß man sie
abzockt. Es geht Ihnen doch nur darum, wie die Men-
schen am wenigsten merken, daß Sie sie abzocken.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. – Klaus Wolfgang Müller [Kiel] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Wir entlasten sie auch!)


Ich sage Ihnen: Egal, ob Sie die Steuer in einer Stufe, in
zwei oder in drei Stufen erhöhen, es bleibt die Tatsache,
daß Sie die Menschen mit dieser Mineralölsteuererhö-
hung abzocken;


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

es bleibt die Tatsache, daß Sie vor allem denen das Geld
nehmen, die es am dringendsten brauchen und die aufs
Auto angewiesen sind; es bleibt bei der Tatsache, daß
Sie vor allem denen mit mittleren und niedrigen Ein-
kommen das Geld nehmen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Nichts anderes ist es auch mit Ihren täglichen Äuße-

rungen zur Mehrwertsteuererhöhung. Sie suchen doch

nur noch nach einer Begründung! Zuerst war es die Fa-
milienbesteuerung nach dem Bundesverfassungsge-
richtsurteil, dann war es die Europäische Union, jetzt
muß die Situation im Kosovo herhalten. Ihre täglichen
Dementis glaubt Ihnen niemand mehr, weil Sie Ihre
Versprechen in diesen wenigen Monaten Ihrer Regie-
rungszeit schon zu oft nicht gehalten haben.


(Klaus Wolfgang Müller [Kiel] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Doch!)


Ein Beispiel: Sie haben bei der Verabschiedung des
Steuerentlastungsgesetzes gesagt, die Unternehmen wür-
den netto entlastet,


(Klaus Wolfgang Müller [Kiel] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Der Mittelstand!)


und zwar schon zum 1. Januar 2000. Auch davon sind
Sie schon abgerückt; mittlerweile haben Sie gesagt, es
könne keine Nettoentlastung geben und das alles werde
nicht zum 1. Januar 2000 kommen. Meine Damen und
Herren, Sie haben die Unternehmer verschaukelt; und
nun tun Sie das gleiche mit den Verbrauchern.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Es ist an der Zeit, daß Sie den Menschen die Wahr-

heit sagen, und zwar nicht erst nach der Wahl, sondern
schon vor der Wahl. Meines Erachtens besteht über-
haupt keine Begründung dafür, daß Sie die Sparvor-
schläge in Höhe von 30 Milliarden DM, die dem Fi-
nanzminister Eichel schon vorliegen, noch geheimhal-
ten. Sagen Sie es den Leuten doch jetzt! Wenn Sie das
schon alles haben, dann können Sie das auch sagen und
brauchen damit nicht hinter dem Berge zu halten.

Sie hätten all diese Probleme des Herumdokterns in
der Steuerpolitik nicht, wenn Sie – mit dem Ziel, die
Wirtschaft anzukurbeln – zu einer grundlegenden Steu-
er- und Abgabenreform, zu einer deutlichen Senkung
aller Steuersätze und zu einer Vereinfachung des Sy-
stems bereit gewesen wären.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Wenn Sie ein solchermaßen stimmiges Gesamtkonzept
vorlegen, dann sind wir auf Ihrer Seite.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1404104000
Als
nächster Redner hat der Kollege Klaus Müller von
Bündnis 90/Die Grünen das Wort.

Klaus Wolfgang Müller (Kiel) (BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN): Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolle-
ginnen und Kollegen! Zum dritten Mal in dieser Legis-
laturperiode, die noch gar nicht so alt ist – Kollege
Spiller hat schon den 3. Dezember erwähnt; ich füge
noch den 24. März hinzu –, herrscht heute verkehrte
Welt: Oppositionspolitiker versuchen, uns eine Mehr-
wertsteuererhöhung unterzujubeln. Damals beteiligte
sich auch Herr Gysi von der PDS; es war also der große
Klang der Oppositionspolitiker.


(Zuruf des Abg. Jürgen Koppelin [F.D.P.])







(A) (C)



(B) (D)


In Wirklichkeit, Herr Koppelin, pfeifen CDU und F.D.P.
im dunklen Wald, um von ihrem eigenen peinlichen
Versagen in der Steuerpolitik abzulenken.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Reden wir doch einmal über Sie und Ihre Steuerpoli-
tik! Hätten Sie in der letzten Legislaturperiode ein so-
ziales Steuerkonzept ohne die Mehrwertsteuerfußnote
vorgelegt, dann wären wir vielleicht schon weiter.


(Dr. Günter Rexrodt [F.D.P.]: Habt ihr doch blockiert!)


Oder nehmen Sie die vermeintlich neuen Bremer Be-
schlüsse der F.D.P. Sie wollen die Steuersätze senken.
Dafür haben wir volle Sympathie. Wer würde das nicht
gerne tun! Sie entlasten im oberen Einkommensbereich;
das können wir nachlesen. Wenn man aber einmal genau
schaut, was bei Ihnen steht, und wenn man einmal nach-
rechnet, was mit einem Einkommen von 20 001 DM
passiert, dann stellt man fest, daß Ihre Steuersätze stei-
gen. Hier sieht man ganz deutlich, was Ihre Politik ist:
die Steuern für Reiche senken und für Arme noch erhö-
hen. Ich finde, Sie sollten sich dafür schämen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Während sich die CDU/CSU zu Beginn der Legisla-
turperiode eher auf destruktive Kritik beschränkt hat,
sind wir inzwischen etwas weiter. Ich habe mit großem
Interesse die Thesen des Kollegen Merz gelesen.


(Friedrich Merz [CDU/CSU]: Wahrscheinlich haben Sie sie aber nicht verstanden!)


Bei vielen Punkten werden wir im Rahmen dieser Le-
gislaturperiode sicherlich noch miteinander reden kön-
nen. Das Interessante sind aber die Fußnoten. Wir haben
ja inzwischen gelernt, daß man bei CDU/CSU-
Steuerkonzepten auf die Fußnoten achten muß.


(Zuruf von der SPD: Nur auf die Fußnoten achten!)


Ich habe die 14 Fußnoten durchgelesen und feststellen
müssen, daß Herr Merz leider noch unseriöser als Herr
Waigel ist.


(Zuruf von der SPD: Ist das denn möglich?)

Herr Waigel hatte in der Fußnote wenigstens ehrlich er-
klärt, wo die Gegenfinanzierung steckt. Herr Merz
schreibt nur: „Durch die Verbreiterung der steuerlichen
Bemessungsgrundlage könnten Steuermehreinnahmen
von rund 50 Milliarden DM erzielt werden.“ – Könnten!
Das ist das Prinzip Hoffnung. Das ist fahrlässig und un-
seriös. Sie sagen den Leuten nicht, wer die Quittung
zahlen soll. Das finde ich ausgesprochen peinlich.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Friedrich Merz [CDU/ CSU]: Das ist doch nicht das Thema dieser Aktuellen Stunde!)


Scheinheilig ist die Forderung nach einer europa-
weiten CO2-Abgabe. Die alte Regierung hat 16 Jahrelang alles zur Verhinderung einer solchen Abgabe getan.

Frau Kollegin Hasselfeldt hat das gerade noch einmal
bestätigt: Sie wollen keine Ökologisierung des Steuer-
systems bei einer gleichzeitigen Entlastung des Fak-
tors Arbeit. Ich finde, hier sind wir in der Diskussion
schon wesentlich weiter. Mit einer Steuerpolitik für das
21. Jahrhundert – ich nehme an, so ist die Überschrift zu
verstehen – hat Ihre Politik an der Stelle leider nichts zu
tun.


(Joachim Poß [SPD]: Aber die Fraktion hat das ja nicht beschlossen!)


Lassen Sie mich bei der Gelegenheit noch etwas zur
Unternehmensteuerreform sagen. Wir haben eine
Kommission mit Fachkompetenz eingesetzt. Wir sind
aber nicht vorgegangen wie Ihre Regierung, die eben-
falls eine solche Kommission eingesetzt hat – Herr
Bareis war damals der Kommissionsvorsitzende –: Sie
haben die Kommissionsbeschlüsse gelesen und haben
festgestellt, daß Sie eine solche Reform nicht wollen,
weil sie Ihnen zu kompliziert ist; also ab in den Papier-
korb damit. Das war Ihr Vorgehen. Zwei Jahre später
haben Sie die Kommissionsbeschlüsse wieder hervorge-
zogen.

Rotgrün wird das anders machen. Rotgrün wird sich
an der Stelle Gründlichkeit vor Schnelligkeit leisten;
denn sonst kämen Sie wieder an und würden sagen: Ihr
habt alles viel zu schnell gemacht, ihr müßt nachbessern.
Das ist Ihre scheinheilige Doppelstrategie. Diese werden
Sie bei der Unternehmensteuerreform nicht anwenden
können. Die Reform wird gründlich beraten, sie wird
transparent gestaltet und sie wird zum 1. Januar 2001
mit niedrigeren Steuersätzen bei einer international ver-
gleichbaren Bemessungsgrundlage eingeführt. Auf die-
sem Kurs befinden wir uns im Einklang mit unseren eu-
ropäischen Nachbarn. Das ist der richtige Weg.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Lassen Sie mich, da Sie ja immer darüber diskutieren
wollen, auch etwas zum Thema Mehrwertsteuererhö-
hungen sagen. Der Bundeshaushalt hat einen Konsoli-
dierungsbedarf, der enorm ist. Der Grund dafür liegt
darin, daß Sie in der Vergangenheit durch Privatisie-
rungserlöse und Tilgungsstreckungen dazu beigetragen
haben, daß wir beim Haushalt ein echtes Chaos vorge-
funden haben. Dieses Chaos wollen wir beseitigen. Rot-
grün wird den Haushalt konsolidieren. Jede Steuererhö-
hungsdebatte, so oft die F.D.P. auch danach rufen mag,
ist kontraproduktiv.

Wenn wir schon über Mehrwertsteuer diskutieren,
könnten wir auch über das Bestimmungsland- und Ur-
sprungsprinzip oder über den Güterkanon des ermäßig-
ten Mehrwertsteuersatzes diskutieren – das wäre okay.
Nur, die Mehrwertsteuerdebatten, die Sie führen, sind
verkehrt; genauso ihre Polemik gegen eine Neuordnung
des Verhältnisses von indirekten Steuern zu direkten
Sozialabgaben. Ich erinnere mich, daß der Bundestag
dazu im vergangenen Jahr schon einmal etwas – sogar
mit großer Mehrheit – beschlossen hat. Ich glaube, das
war damals ein richtiger Schritt. Nach einer gelungenen
Ökosteuerreform und nach einer gelungenen Renten-
reform können Sie das noch einmal aufs Tapet bringen.
Dann sind wir gern bereit, auch darüber zu reden.

Klaus Wolfgang Müller (Kiel)







(B)



(A) (C)



(D)


Ich komme leider zum Schluß. Ich finde es bedauer-
lich, daß Ihnen in der Steuerdebatte nichts anderes ein-
fällt, als uns immer wieder mit Aktuellen Stunden zu
traktieren. Das ist ausgesprochen wenig. Ich finde, daß
Sie an der Stelle ein bißchen mehr bieten könnten. Das
wäre allein im Hinblick auf das Niveau dieser Debatte
erhellend.

Vielen Dank.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1404104100
Als
nächste Rednerin hat die Kollegin Heidemarie Ehlert
von der PDS-Fraktion das Wort.


Heidemarie Ehlert (PDS):
Rede ID: ID1404104200
Herr Präsident! Sehr ge-
ehrte Damen und Herren! Die Steuerreform der rotgrü-
nen Regierung hatte unter anderem die Entlastung der
Arbeitnehmerinnen und der Familien zum Ziel. Doch
mit dem Wechsel des Finanzministers wurde offensicht-
lich auch der Kurs der SPD gewechselt. Während sich
Herr Waigel in kreativer Buchführung übte, kreiert Herr
Eichel den Sozialabbau zum Stopfen von Haushaltslö-
chern. Die Meldungen überbieten sich täglich. Da ist
nun von Kürzungen der Arbeitslosenhilfe und des Ar-
beitslosengeldes die Rede. Dabei geht es nicht nur um
die Reduzierung der vom Bund gezahlten Beiträge zur
Kranken-, Renten- und Pflegeversicherung von Ar-
beitslosen, wodurch Arbeitslose später weniger Rente
bekommen – dies soll 4 Milliarden DM Einsparungen
bringen –, sondern auch um Streichung der Zuschläge
für Bezieher von Arbeitslosenunterstützung mit Kindern
zur Einsparung von weiteren 2,5 Milliarden DM.

Die Renten sollen 2000 und 2001 nur halb so stark
steigen, wie es nach dem Nettolohnanstieg eigentlich er-
forderlich ist, damit der Bund weitere 4 Milliarden DM
sparen kann. Ihnen kommt doch das Haushaltsdefizit
von 30 Milliarden DM gerade recht, um die Familien
den Familienlastenausgleich selbst finanzieren zu lassen.
Da aber die bereits genannten Maßnahmen noch immer
nicht zur Finanzierung der geplanten steuerlichen Entla-
stung vor allem von großen Unternehmen ausreichen,
fordert der Finanzminister jetzt eine Erhöhung der
Mehrwertsteuer und der Mineralölsteuer.


(Joachim Poß [SPD]: Wo hat er das denn gemacht?)


Ich halte im Gegensatz zu Herrn Loske eine regelmä-
ßige Anhebung der Mineralölsteuer ohne Maßnahmen
des ökologischen Umbaus, ohne verkehrsmittelunab-
hängige Entfernungspauschale und ohne Ausbau des
ÖPNV nicht für vernünftig und auch nicht für ökolo-
gisch.


(Beifall bei der PDS)

Mit der Forderung von Mehreinnahmen in Höhe von 11
bis 12 Milliarden DM wird nicht einmal mehr der An-
schein einer ökologischen Reform gewahrt. Einziges
Resultat wird sein, daß gerade den Arbeitnehmerinnen
und Arbeitnehmern, denen bereits bisher immer höhere

Mobilität abverlangt wurde und immer längere Arbeits-
wege zugemutet wurden, nun weitere Kosten auferlegt
werden, ohne ihnen überhaupt die Chance zur verstärk-
ten Nutzung des öffentlichen Personennahverkehrs zu
geben. Gerade für diese Menschen vermissen wir flan-
kierende Maßnahmen, wie den Ausbau eines bezahlten
öffentlichen Nahverkehrs.

Dafür kreieren Sie, Herr Minister Eichel, eine weitere
Doppelbelastung; denn neben der Mineralölsteuererhö-
hung fordern Sie auch noch eine Erhöhung der Mehr-
wertsteuer zur Finanzierung der geplanten Entlastung
der ertragsstarken Unternehmen. Da Ihnen der Mut zur
Verbreiterung der Bemessungsgrundlage und zum Ab-
bau von steuerlichen Vergünstigungen für Unternehmen
bzw. zur Wiedererhebung der Vermögensteuer fehlt,
sollen die Haushaltslöcher durch weitere Anhebungen
von Steuern gestopft werden.

Anstatt alle Bürger gleichmäßig ihrer wirtschaftlichen
Leistungsfähigkeit entsprechend steuerlich heranzuzie-
hen, wie es in § 3 der Abgabenordnung gefordert wird,
bezahlen Arbeitslose und Studierende, Sozialhilfebe-
rechtigte, Rentnerinnen und Rentner die Steuergeschen-
ke an Unternehmen. Statt über die Einführung einer
Schwerlastabgabe zur Verlagerung der Transporte von
der Straße auf die Schiene nachzudenken, denkt die SPD
über weitere Ausnahmen der Mineralölsteuer für das
Speditionsgewerbe nach.

Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts
zum Familienlastenausgleich nutzen Sie nicht nur für Ih-
re scheinheiligen Argumente, sondern auch als Mogel-
packung; denn eine Erhöhung der Verbrauchsteuern ist
zutiefst sozial ungerecht, da die Zeche der Endverbrau-
cher über die Preise zahlt. Es erhöhen sich aber nicht nur
die Preise für Luxusgüter, wie bei der von uns gefor-
derten Einführung einer Luxussteuer, sondern alle Prei-
se, auch die für Waren des täglichen Bedarfs, Kleidung,
Medikamente und so weiter. Menschen mit geringem
Einkommen sind davon besonders betroffen.

Hinzu kommt, daß eine Erhöhung der Verbrauchsteu-
ern dazu beiträgt, die Kaufkraft und das Wirtschafts-
wachstum zu schwächen. Sie leisten damit also keinen
Beitrag zu Wirtschaftswachstum und mehr Beschäfti-
gung. Phantasielos fordern Sie Ihre Kolleginnen und
Kollegen zu Einsparungen auf. Den größten Tribut muß
der Sozialbereich leisten. Sie belasten damit gerade die-
jenigen Menschen, die noch Herr Lafontaine entlasten
wollte, nämlich die Arbeitnehmerinnen und Arbeitneh-
mer sowie die Familien. Doch der neue Steuermann hat
den Kurs geändert. Das neue Ziel heißt Rotstift bei So-
zialleistungen und Erhöhung der Steuern.

Machen Sie Schluß mit der Privilegierung bzw. Dis-
kriminierung bestimmter Personengruppen. Sorgen Sie
für die Durchsetzung von Steuergerechtigkeit bei Ar-
beitnehmern und Unternehmern gleichermaßen, dann
können Sie nicht nur Ihre Haushaltslücke in Höhe von
30 Milliarden DM schließen, sondern auch mit unserer
Unterstützung rechnen. Steuererhöhungen werden wir
wie bisher nicht zustimmen.


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1404104300
Frau
Kollegin Ehlert, kommen Sie bitte zum Schluß.

Klaus Wolfgang Müller (Kiel)







(A) (C)



(B) (D)



Heidemarie Ehlert (PDS):
Rede ID: ID1404104400
Beenden Sie Ihren so-
zialpolitischen Kahlschlag. Sagen Sie den Bürgerinnen
und Bürgern endlich, was sie von Ihnen zu erwarten ha-
ben; das möglichst noch vor dem 30. Juni.


(Beifall bei der PDS – Dr. Günter Rexrodt [F.D.P.]: Folgen Sie den Beschlüssen des XX. Parteitages!)


– Herr Rexrodt, Sie waren auch schon einmal besser.


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1404104500
Als
nächster Redner hat nun der Parlamentarische Staatsse-
kretär beim Bundesfinanzminister, Karl Diller, das
Wort.

K
Karl Diller (SPD):
Rede ID: ID1404104600
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Da-
men und Herren! Gestatten Sie mir zunächst ein persön-
liches Wort an meinen rheinland-pfälzischen Kollegen,
den früheren Staatsminister Herrn Brüderle. Sehr ge-
ehrter Herr Brüderle, Ihre Partei ist von den bremischen
Wählerinnen und Wählern am vergangenen Sonntag
furchtbar zusammengestaucht worden.


(Klaus Wolfgang Müller [Kiel] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist richtig!)


Wenn „F.D.P.“ künftig nicht wieder für „fast drei Pro-
zent“ stehen soll, dann sollten Sie aufhören, ständig mit
Verdächtigungen zu arbeiten, und nicht immer wieder
die Mär von einer angeblich drohenden Mehrwert-
steuererhöhung ins Gespräch bringen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich sage
klipp und klar für die Bundesregierung: Wir wollen kei-
ne Mehrwertsteuererhöhung, denn wir stehen für eine
sozial gerechte, solide finanzierte und wirtschaftspoli-
tisch vernünftige Steuerpolitik, eine Politik, die mehr
Wachstum und Beschäftigung schafft.

Richtig dagegen ist, daß die alte Bundesregierung,
bestehend aus CDU/CSU und F.D.P., uns enorme Haus-
haltslöcher hinterlassen hat: 1996 eine verfassungswid-
rige Verschuldung, 1997 wurde – nur mit Zustimmung
des Bundestages – die Verfassungsgrenze überschritten,
1998 haben Sie mit einem hohen, 20 Milliarden DM
umfassenden Privatisierungsprogramm überhaupt die
Verschuldung unter die Verfassungsgrenze drücken
können.


(Klaus Wolfgang Müller [Kiel] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das weiß er doch nicht mehr!)


Am Ende von Helmut Kohl und Theo Waigel, von
Gerhardt und Kinkel müssen wir feststellen: Sie haben
die Schulden in 16 Jahren Regierungszeit vervierfacht.
Jede vierte Mark, die als Steuerzahlungen beim Bund
eingeht, ist im letzten Jahr für das Zahlen von Zinsen
draufgegangen. Wer eine solche Finanzwirtschaft hin-
terläßt, hat – so hat es das Bundesverfassungsgericht
festgestellt – den Bund in eine Haushaltsnotlage ge-

wirtschaftet. Das ist das Ergebnis von 16 Jahren Finanz-
politik unter Helmut Kohl.


(Beifall bei der SPD)

Das ist also der Grund für die Haushaltsnotlage des

Bundes. Wir werden die notwendige Konsolidierung nur
unter schmerzhaften Opfern vollziehen können. Ich bin
aber zuversichtlich, daß wir das schaffen, ohne die
Mehrwertsteuer zu erhöhen.

Wir setzen eine spürbare Senkung der Steuerlasten
für Arbeitnehmer, Familien und Unternehmer in die Tat
um. Die mit den Steuerreformen 1999, 2000 und 2002
verbundene Nettoentlastung umfaßt immerhin insgesamt
20 000 Millionen DM. Diese Entlastungspolitik wollen
wir mit dem Familienentlastungsgesetz und mit einer
Reform der Unternehmensbesteuerung fortsetzen. Wir
werden mit diesen Reformmaßnahmen, die wir am
30. Juni zusammen mit dem Haushalt vorstellen werden,
selbstverständlich im Rahmen haushaltspolitischer Ver-
antwortung bleiben und deshalb für eine solide Finanzie-
rung sorgen. Eine Erhöhung der Mehrwertsteuer kommt
aber auch in diesem Zusammenhang überhaupt nicht in
Frage.


(Friedrich Merz [CDU/CSU]: In welchem Zusammenhang denn?)


Zur Erinnerung und zum Kontrast: Während der Re-
gierungsverantwortung von CDU/CSU und F.D.P. ha-
ben diese drei Parteien wiederholt an der Mehrwertsteu-
erschraube gedreht: Juli 1983 von 13 auf 14 Prozent, Ja-
nuar 1993 von 14 auf 15 Prozent, April 1998 von 15 auf
16 Prozent. Hätten wir Ihre Steuerpläne nicht verhindern
können, hätten die Bürgerinnen und Bürger schon seit
dem letzten Jahr statt 16 Prozent 17 Prozent Mehrwert-
steuer zahlen müssen. Das ist die Wahrheit, Frau Hassel-
feldt, die Sie eingefordert haben.

Nun zum Thema Mineralölsteuer. Mineralölsteuer-
erhöhungen sind keine Erfindung der rotgrünen Koali-
tion.


(Klaus Wolfgang Müller [Kiel] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die hatte die CDU/CSU in den Haushalt eingestellt!)


CDU/CSU und F.D.P. haben in ihrer Regierungszeit von
diesem Instrument häufig und, Frau Hasselfeldt, dra-
stisch Gebrauch gemacht.

Die Zahlen, für die Sie verantwortlich sind, möchte
ich jetzt gerne auflisten, um sie mit unseren geplanten
Erhöhungen zu vergleichen: Von 1987 bis 1994 haben
Sie die Steuer für unverbleites Benzin von 46 Pfennig je
Liter um 52 Pfennig auf 98 Pfennig angehoben.


(Klaus Wolfgang Müller [Kiel] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Buh!)


CDU/CSU und F.D.P. haben damit den Steuerbetrag
mehr als verdoppelt.


(Klaus Wolfgang Müller [Kiel] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die Lohnnebenkosten wurden erhöht!)


Zwischen dem, was während der Zeit der CDU/CSU-
F.D.P.-Koalition auf diesem Gebiet geschah, und den






(B)



(A) (C)



(D)


Vorstellungen unserer Koalition gibt es jedoch deutliche
Unterschiede. Wir wollen den Betrag, der durch eine
Mineralölsteuererhöhung dem Bundeshaushalt zufließt,
den Bürgerinnen und Bürgern sowie den Unternehmern
durch Senkung der Rentenversicherungsbeiträge wieder
voll zurückgeben.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


In diesem Haushaltsjahr werden wir sogar mehr zurück-
geben, als durch diese Anhebung in den Haushalt hin-
einfließt. Der Grundgedanke einer ökologischen Steuer-
reform besteht darin, den Umweltverbrauch maßvoll zu
besteuern und das daraus erzielte Aufkommen zur Sen-
kung der Lohnnebenkosten zu nutzen.

Die alte Bundesregierung – auch Sie, Frau Hassel-
feldt, haben das mit Ihrer Stimme mitgetragen – hat die
Mineralölsteuer erhöht, um Haushaltslöcher zu stopfen.
Parallel dazu haben Sie auch noch die Lohnnebenkosten
kräftig angehoben. Bei Ihnen mußten die Bürger doppelt
zahlen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Sie ließen innerhalb weniger Jahre die Lohnnebenko-
sten von 34 Prozent auf 41 Prozent steigen. Wir wollen
eine Politik der kleinen stetigen Schritte betreiben, um
keinen zu überfordern. In der Zeit Ihrer Regierungsver-
antwortung gab es drastische Erhöhungen. Frau Hassel-
feldt, erinnern Sie sich nicht mehr daran, daß Sie im Jah-
re 1991 die Mineralölsteuer auf einen Schlag um
22 Pfennig je Liter – also nicht um 6 Pfennig – erhöht
haben?


(Nicolette Kressl [SPD]: Vergessen!)

Im Jahre 1994 haben Sie die Mineralölsteuer um
16 Pfennig erhöht. Auch das haben Sie, Frau Hassel-
feldt, mit Ihrer Stimme mitgetragen. Wie soll man diese
Erhöhungen gegenüber den Pendlerinnen und Pendlern
bezeichnen, die dafür damals keine Entlastungen be-
kommen haben, sondern noch zusätzlich höhere Lohn-
nebenkosten bezahlen mußten?


(Nicolette Kressl [SPD]: Vergessen!)

Deshalb kann man nur feststellen: Wenn die Autofah-

rer durch Mineralölsteuererhöhungen schockiert worden
sind, dann damals durch Frau Hasselfeldt.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Wir wollen Planungssicherheit. Deswegen wollen wir
die Mineralölsteuer in festgelegten kleinen und stetigen
Schritten erhöhen, so wie das andere Staaten schon vor
uns praktiziert haben, zum Beispiel Großbritannien. Ge-
stern hat die „Süddeutschen Zeitung“ berichtet, daß sich
das Schweizer Parlament für eine Lenkungsabgabe auf
nicht erneuerbare Energien entschieden hat, deren Ertrag
zur Senkung der Sozialversicherungsbeiträge dienen
soll. Die Schweiz ist auf dem gleichen Wege wie wir.
Nur Sie sind die ewig Gestrigen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1404104700
Als
nächster Redner hat das Wort der Kollege Friedrich
Merz von der CDU/CSU-Fraktion.


Friedrich Merz (CDU):
Rede ID: ID1404104800
Herr Präsident! Meine
Damen und Herren! Angriff ist die beste Verteidigung.
Das ist offensichtlich die Strategie, die sich die Koali-
tion für diese Aktuelle Stunde ausgesucht hat.


(Ludwig Stiegler [SPD]: Die Wahrheit ist immer unangenehm!)


Nachdem das für heute morgen geplante Festhochamt
mit Zelebration des Herrn Bundeskanzlers mehr zu einer
stillen Messe geworden ist, weil die Ereignisse nicht so
eingetreten sind, wie sie vorgesehen waren,


(Nicolette Kressl [SPD]: Herr Merz, sachlich wie immer!)


ist es gut, daß wir uns wieder etwas mehr mit der Innen-
politik beschäftigen.


(Albert Schmidt [Hitzhofen] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Jetzt kommt Ihr Hochamt!)


Es hätte keinen Anlaß für diese Aktuelle Stunde ge-
geben, wenn der Bundesfinanzminister das eingehalten
hätte, was er sich zu Beginn seiner Amtszeit selbst auf-
erlegt hat, nämlich zunächst einmal den Mund zu halten,
nachzudenken, Pläne zu machen und dann erst die Er-
gebnisse seiner Überlegungen im Parlament vorzutra-
gen. Eine solche Ankündigung war neu für diese Bun-
desregierung, aber deshalb nicht falsch, im Gegenteil: Es
wäre richtig gewesen. Aber er hat die sich selbst aufer-
legte Schweigepflicht durchbrochen, indem er am letz-
ten Sonntag ein Interview gegeben hat. Dieses Interview
ist der richtige und zutreffende Anlaß für diese Aktuelle
Stunde. Das einzige, was wir bisher von der Bundesre-
gierung wissen, ist, daß in Zukunft regelmäßig jedes
Jahr Steuererhöhungen anstehen. Das ist das einzig De-
finitive, das bisher auch unter dem neuen Bundesfi-
nanzminister feststeht.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Sie, Herr Diller, haben eben von kleinen Schritten ge-

sprochen. Das ist in der Tat die richtige Karikierung
dessen, was gegenwärtig unter dieser Bundesregierung
in Deutschland stattfindet. Das wirtschaftliche Wachs-
tum weist nur kleine, sehr kleine Schritte auf. Die Bun-
desregierung hat das Vertrauen internationaler Investo-
ren und auch der nationalen Volkswirtschaft völlig ver-
loren. Das können Sie an den Wachstumszahlen für das
erste Quartal 1999 ablesen, die gerade heute vorgelegt
worden sind. Herr Kollege Haussmann hat das eben in
anderem Zusammenhang schon erwähnt: Das Wachstum
im ersten Quartal des Jahres 1999 wird 0,7 Prozent be-
tragen.


(Dr. Helmut Haussmann [F.D.P.]: Schlußlicht!)


Seien Sie nicht ganz so vorlaut mit dem, was Sie zu
den letzten 16 Jahren hier sagen. Ich bin es langsam
wirklich leid.


(Lachen bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Nicolette Kressl [SPD]: Das kann ich mir vorstellen!)


Parl. Staatssekretär Karl Diller






(A) (C)



(B) (D)


– Wenn Sie ständig über die letzten 16 Jahre reden und
wenn man dieses Durcheinander in Ihrer Koalition be-
obachtet, dann erlaube ich mir einmal die Rückfrage:
Was haben Sie eigentlich in den letzten 16 Jahren ge-
macht?


(Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Gute Vorschläge!)


Sie haben alles mögliche gemacht, aber Vorbereitung
auf Regierungsarbeit ist bei Ihnen in den letzten 16 Jah-
ren nicht dabeigewesen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Zur Erinnerung: Das letzte dieser „schrecklichen“

16 Jahre unter der Führung von CDU/CSU und F.D.P.
wies ein wirtschaftliches Wachstum im Jahresdurch-
schnitt von 2,8 Prozent auf.


(Klaus Wolfgang Müller [Kiel] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: 4 Millionen Arbeitslose!)


Wir haben in diesem Jahr Erwartungen, die mittlerweile
unter 1,5 Prozent liegen. Es gibt Institute, bei denen sich
die Prognosen inzwischen nur noch bei 1 bis 1,2 Prozent
bewegen. Die Zahlen im ersten Quartal des Jahres 1999
zeigen – das hat mit den letzten 16 Jahren überhaupt
nichts zu tun, das sind ausschließlich Ihre Zahlen –: Das
Wachstum in der Bundesrepublik Deutschland bricht
zusammen.


(Joachim Poß [SPD]: Das ist eben nicht der Fall!)


Wenn Sie jetzt nicht in der Steuerpolitik einen Bau-
stein für eine Gesamtkonzeption der Wirtschaftspolitik
legen, die das Vertrauen in die dauerhafte Entwicklung
der Bundesrepublik Deutschland zurückgewinnt, dann
werden Sie die Probleme der Bundesrepublik Deutsch-
land, mit welcher Steuerpolitik auch immer, nicht lösen.
Das ist der entscheidende Punkt, vor dem wir heute ste-
hen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Jetzt kommt etwas, was man bei sinkendem Außen-

wert der eigenen Währung eigentlich nicht erwarten
sollte. Aber die zweite vom Statistischen Bundesamt ge-
rade heute bekanntgegebene Zahl lautet: Der Export der
Bundesrepublik Deutschland schwächt sich ab. Wir ha-
ben im ersten Quartal 1999 erstmalig seit 1993 – das
war nicht Ihre Regierungszeit, sondern unsere – rückläu-
fige Exportzahlen. Das können Sie nun wirklich nicht
mehr auf 16 Jahre der alten Regierung schieben. Das
sind ausschließlich die Ergebnisse Ihrer Politik, die Sie
allein zu verantworten haben.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Nun will ich einen ganz unverdächtigen Zeugen her-

anziehen. Schauen Sie einmal in die letzte Ausgabe ei-
ner der meistgelesenen Zeitschriften im englischsprachi-
gen Raum, nämlich in den „Economist“. Die Titelstory
der letzten Ausgabe des „Economist“ lautet: „Deutsch-
land, der kranke Mann im Euro-Raum“. Das ist der tat-
sächliche Befund, über den wir in Deutschland eigent-
lich reden müßten. Aber Sie eiern herum, weil Sie kein
Konzept haben, weil Sie nur über Steuererhöhungen re-

den und weil Sie keine Ahnung davon haben, wie man
in der Bundesrepublik Deutschland ein wirtschaftliches
Wachstum verstetigt und so steigert, daß auch das Ar-
beitsmarktproblem gelöst wird.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. – Joachim Poß [SPD]: Sie reden doch alles nur runter!)


Ich sage Ihnen, damit das ganz klar ist, zum Schluß:
Einen zeitlichen Ablauf, wie Sie ihn offensichtlich pla-
nen, werden wir nicht akzeptieren. Wir werden nicht
hinnehmen, daß Sie in den letzten zwei Sitzungstagen
des Deutschen Bundestages vor der Sommerpause am
Nachmittag über die Bundespressekonferenz zum besten
geben, was Sie in der Steuerpolitik machen wollen, und
wir dann anschließend alle gemeinsam fröhlich in die
Sommerpause gehen. Diese Arbeitsteilung – das sage
ich Ihnen, Herr Diller, damit Sie es gleich jetzt wissen –
machen wir nicht mit. Wenn Sie es nicht ermöglichen,
daß am 30. Juni, am 1. Juli oder am 2. Juli eine ausführ-
liche Parlamentsdebatte über das stattfindet, was Sie in
der Steuer- und Finanzpolitik in der Bundesrepublik
Deutschland für die Zukunft wirklich wollen, dann wer-
den wir Sie in der Woche darauf dazu zwingen.

Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. – Joachim Poß [SPD]: Dazu brauchen Sie uns gar nicht zu zwingen! Wir diskutieren gern!)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1404104900
Als
nächster Redner hat das Wort der Kollege Dr. Reinhard
Loske von Bündnis 90/Die Grünen.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Zunächst einmal, Herr Merz, zum „kranken Mann“ Eu-
ropas. Wenn wir uns einmal die Bilanz anschauen, die
vor wenigen Minuten über den Ticker gegangen ist – ich
weiß nicht, ob Sie das lesen –, dann kann man schon sa-
gen: Diese Regierung hat in Europa einen sehr wesentli-
chen Beitrag dazu geleistet, daß der Krieg im Kosovo
jetzt vorbei ist. Wir können froh darüber und dankbar
dafür sein. Ich glaube, daß das ein sehr wichtiger Punkt
ist.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Wir haben es hier keineswegs mit einem „kranken
Mann“ zu tun. Was der Kanzler und der Außenminister
hier geleistet haben, wird auch von anderen geschätzt,
nur nicht – das ist verständlich – von der Opposition.
Aber lassen Sie die Kirche im Dorf, und arbeiten Sie
nicht mit solchen unzulässigen Metaphern.

Jetzt zum Thema der Aktuellen Stunde. Die F.D.P.
kann es natürlich wieder einmal nicht lassen: Statt einen
sachlichen Beitrag zur Steuerdebatte und zur Sanierung
des Haushalts zu leisten, bekommen wir von ihr hier
nichts anderes vorgesetzt als plumpeste Polemik.


(Joachim Poß [SPD]: Primitiv! Regelrecht primitiv!)


Friedrich Merz






(B)



(A) (C)



(D)


Kein Wort zur Lösung der Haushaltsmisere, die Sie mit
zu verantworten haben,


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

kein Wort zur Finanzpolitik, nur Thekensprüche, kein
Wort zum Familienleistungsausgleich! Sie haben jahre-
lang nichts für die Familien getan.


(Friedrich Merz [CDU/CSU]: Das ist Unfug, was Sie da sagen!)


Dazu hätte ich mir von Ihnen wirklich ein klares Wort
erwartet. Statt dessen, wie gesagt, billigste Polemik.

Wenn man sich die F.D.P. einmal anschaut, muß man
feststellen: Sie sind auf dem Weg von einer reinen
Funktionspartei zu einer reinen Protestpartei. Wenn man
sich beispielsweise Ihre Plakate anschaut, sieht man nur
gelbe Karten, einen strahlenden Haussmann und, ich
hätte fast gesagt: Männerhintern. Was will uns die
F.D.P. damit sagen? Ist das das neue Niveau der Protest-
F.D.P.? Ich fände es schöner, wenn Sie versuchen wür-
den, hier inhaltliche Beiträge zu leisten, statt auf solch
plumpe Art und Weise zu polemisieren. Bei der Wahl in
Bremen hat es nicht zu 6 Prozent gereicht, sondern nur
zu Platz 6 hinter SPD, CDU, Grünen, PDS und DVU.
Wenn Sie so weitermachen, dann werden Sie auch bun-
desweit auf diesem Platz landen.

Ich will jetzt zum Thema Steuerpolitik und insbeson-
dere zu den Energiesteuern kommen. Meine Damen und
Herren von der F.D.P., Sie tun so – das war heute mor-
gen aus der Rede von Herrn Haussmann ganz klar er-
sichtlich –, als würden wir einen nationalen Alleingang
durchführen. Auch Frau Hasselfeldt hat diese Mär wie-
der kultiviert. Ich frage mich allen Ernstes: Lesen Sie
überhaupt Zeitung? Informieren Sie sich überhaupt? Ich
möchte gar nicht die Beispiele aus dem europäischen
Ausland, wie Dänemark, Holland, Schweden und Nor-
wegen, vorführen, die jeder kennt. Sie müssen nur in die
Zeitung schauen. In der „Süddeutschen Zeitung“ von
heute – das wurde bereits gesagt – kann man lesen: In
der Schweiz wurden die Weichen für die Ökosteuerre-
form gestellt. „Die Welt“ vom 20.5.: Paris plant Öko-
steuer. Außerdem sollten Sie den neuen Plan der Regie-
rung des Vereinigten Königreiches, vom Department of
Trade and Industry, lesen. Dort führt man eine ökologi-
sche Steuerreform ein, die genauso aussieht wie bei uns.
Es soll nämlich eine Steuer eingeführt werden, die zu
90 Prozent zur Senkung der Lohnnebenkosten und zu
10 Prozent zur Förderung erneuerbarer Energien ver-
wendet wird. Meine Güte, Sie können doch nicht so tun,
als würden wir auf einer Insel agieren! Es handelt sich
um ein europäisch abgestimmtes Konzept. Insofern ist
die Kritik von Herrn Haussmann völlig ohne Hand und
Fuß.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Wir liegen mit dieser Strategie im europäischen
Trend und im OECD-Trend. Ich will die Punkte noch
einmal wiederholen – mittlerweile ist es profan; man
muß das Ganze alle vierzehn Tage wiederholen, bis Sie
es kapieren. Der erste Gedanke: Weg von der Belastung
des Faktors Arbeit hin zur Belastung des Faktors Ener-

gie und Ressourcen. Der zweite Gedanke: Weg von der
sprunghaften Verteuerung von Energie hin zur Versteti-
gung, so daß sich Verbraucher und Unternehmen in ih-
ren Investitionen darauf einstellen können, wenn sie
Energie sparen wollen. Drittens lautet der Trend: Weg
von überwiegend direkten Steuern hin zu überwiegend
indirekten Steuern. – Meine Damen und Herren von der
F.D.P., das alles wissen Sie ganz genau. Insofern ist es
fast schon langweilig, immer wieder das gleiche Thema
herunterzuexerzieren.

Für uns Grüne ist die ökologische Steuerreform ein
wichtiges Instrument zur ökologischen und ökonomi-
schen Modernisierung des Staates. Wir haben klare
Leitorientierungen und klare ordnungspolitische Vor-
stellungen. Im Zentrum stehen die ökologische Len-
kungswirkung und die Entlastung des Faktors Arbeit.
Die Ökosteuer muß einen Beitrag zur Erreichung der
Klimaschutzziele leisten und muß zur strukturellen Ent-
lastung des Faktors Arbeit beitragen. Das ist unser Maß-
stab, das ist unsere Leitorientierung, und nicht das im-
mer gleiche Lamento der F.D.P., das uns wirklich nichts
Neues zu sagen hat.

Danke schön.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1404105000
Als
nächster Redner hat das Wort der Kollege Günter Rex-
rodt von der F.D.P.-Fraktion.


Dr. Günter Rexrodt (FDP):
Rede ID: ID1404105100
Herr Präsident! Meine
Damen und Herren! Herr Loske, zunächst einmal darf
ich Sie fragen, was der Inhalt und die politische Bot-
schaft Ihrer Rede war.


(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Sie wollen uns hier Ihre merkwürdige Ökosteuerreform
verkaufen. Über diese Reform sagt jeder Fachmann, daß
sie mit „Öko“ nichts zu tun hat und keine Lenkungswir-
kung entwickelt, weil die Unternehmen, die im ökologi-
schen Bereich wirklich etwas bewirken könnten, ausge-
nommen sind. Diese Steuer können Sie uns nicht ver-
kaufen. Das war alles, was Sie gesagt haben.

Wir haben diese Aktuelle Stunde mit Bezug auf einen
Kernsatz in Ihrem sogenannten europäischen Beschäf-
tigungspakt beantragt, der lautet: Europa braucht eine
Investitionsinitiative. Was treibt die Leute von Rotgrün
um, die umherlaufen und sagen: Wir brauchen eine
Mehrwertsteuererhöhung, und gleichzeitig müssen wir
bei der Mineralölsteuer stetig Schritt für Schritt draufle-
gen? Wie paßt das zusammen? Das ist doch hirnrissig!


(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Die Menschen in Deutschland wollen ein Signal da-
hin gehend haben, daß die Steuern gesenkt werden, und
nicht, daß die Steuern erhöht werden. Wenn dann von
Ihrer Seite vorgetragen wird, auch wir hätten Steuern er-
höht, haben Sie recht. Ich sage aber: Wir haben – mit

Dr. Reinhard Loske






(A) (C)



(B) (D)


Ihnen und allen in Deutschland zusammen – in den
letzten zehn Jahren eine wichtige Aufgabe zu meistern
gehabt. Sie hat unser aller Beitrag erfordert. Das hat sich
auch in der Steuerpolitik niederschlagen müssen. Wenn
aber jetzt, wo es um die Globalisierung geht und darum,
die Wachstumsschwäche, die Sie erzeugt haben, zu
überwinden, Mehrwertsteuererhöhungen angekündigt
werden und die Mineralölsteuer stetig und auf Dauer
und damit nicht planbar erhöht werden soll – das haben
einige Leute angesprochen –, so ist das Gift für die
Konjunktur, die Sie ohnehin schon in den Keller gefah-
ren haben.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

Kommen Sie nicht damit, das Ganze mit dem Koso-

vo-Konflikt zu bemänteln. Selbst wenn die Kosten des
Kosovo-Konfliktes in diesem Jahr auf 1,2 Milliarden
DM steigen, ist festzustellen: Die Erhöhung der Mehr-
wertsteuer bringt Einnahmen in Höhe von 15 Milliarden
DM pro Prozentpunkt. Wir lassen Ihnen eine Erhöhung
um 15 Milliarden DM wegen der Kosten von 1,2 Milli-
arden DM im Rahmen der Kosovo-Krise nicht durchge-
hen. Denn eine solche Erhöhung dient nichts anderem,
als Ihre Haushaltslöcher zu stopfen. Wenn Sie im Sozi-
al- und Steuerbereich eine anständige Politik betreiben
würden, dann würden auf der Einnahmeseite die Steuer-
quellen wieder so sprudeln, daß die Kosten von 1,2 Mil-
liarden DM überhaupt keine Rolle spielen würden.


(Michaele Hustedt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie haben ja vorgemacht, wie das geht!)


Sie machen aber nicht nur in den letzten Tagen mit
Ihren unverantwortlichen, für die Konjunktur Gift dar-
stellenden Äußerungen eine falsche Politik. Sie machen
schon seit Monaten, seit Anbeginn Ihrer Regierung eine
falsche Politik. Von daher hat der Kosovo-Konflikt – so
bitter das alles ist; ich unterstelle nicht, daß das in Ihrem
Interesse gewesen ist – über Ihre innenpolitische Schwä-
che, über Ihre Fehler, über Ihr Unvorbereitetsein und
über Ihr Chaos hinweggetäuscht bzw. dies verdeckt. Das
waren die Fakten der letzten Wochen. Sie haben von da-
her eine Entlastung erhalten.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU – Albert Schmidt [Hitzhofen] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Pfui! – Joachim Poß [SPD]: Und das sagt ein ehemaliger erfolgloser Minister wie Sie!)


Das, was Sie in der Sozialpolitik tun – ob das den
Renten- oder den Gesundheitsbereich bzw. die Rück-
nahme unserer Reformen betrifft –, ist nichts anderes,
als ein System zu konservieren, das sich in der alten
Bundesrepublik über Jahrzehnte bewährt hat, das aber
angesichts der demographischen Entwicklung und der
Globalisierung in dieser Form nicht mehr zu bewahren
ist. Ein Reparaturbetrieb, für den Sie Zeit schinden
wollen, indem Sie die Anpassung der Renten um ein
bzw. zwei Jahre verschieben, hilft Ihnen nicht über die
eigentliche Klippe. Sie haben vor dem Hintergrund Ihrer
Klientel keinen Mut, die Reform der Sozialsysteme an-
zupacken.


(Beifall bei der F.D.P.)


Wir haben dies angepackt. Sie haben das rückgängig
gemacht. Sie werden dort landen, wo wir aufgehört ha-
ben: eine Formel in das Rentensystem einzubauen, die
mehr oder weniger der unseren entspricht.


(Friedrich Merz [CDU/CSU]: Natürlich!)

Was die Steuern angeht, sollten Sie sich von Ihrem

Geisterkurs entfernen. Sie verunsichern die Unterneh-
men, Sie verunsichern die europäischen Partner, und Sie
schaden dem Investitionsstandort Deutschland. Der
schwächelnde Euro ist die Bewertung der Märkte für Ih-
re Politik der letzten Monate. Nichts anderes ist der Fall.


(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Deutschland hat, was die Entwicklung des Außenwertes
des Euro angeht, eine zentrale Bedeutung, das größte
Gewicht und die meiste Verantwortung.


(Joachim Poß [SPD]: Sie kennen doch die Begründung von Duisenberg!)


Der Außenwert ist schwach. Das ist das Ergebnis einer
total verfehlten Politik, die Sie im Steuer- und Sozialbe-
reich gemacht haben, und das Ergebnis der Ihnen kon-
zedierten Unfähigkeit, die Reformen in Deutschland in
die richtige Richtung zu treiben. Deshalb haben wir ei-
nen schwachen Euro.


(Joachim Poß [SPD]: Das sagt kein Fachmann!)


Deshalb appelliere ich an Sie: Ändern Sie Ihre Steuer-
politik und Ihre Sozialpolitik!


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1404105200
Herr
Rexrodt, kommen Sie bitte zum Schluß.


Dr. Günter Rexrodt (FDP):
Rede ID: ID1404105300
Ein letzter Gedanke
zur Mineralölsteuer.


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1404105400
Herr
Rexrodt, Sie haben schon eine Minute überzogen. Sie
müssen wirklich zum Schluß kommen.


Dr. Günter Rexrodt (FDP):
Rede ID: ID1404105500
Lassen Sie diese Art
der Steuererhöhung! Wenden Sie sich einer neuen Poli-
tik zu! Dann wird in Deutschland die Arbeitslosigkeit
zurückgehen. Darauf kommt es an.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1404105600
Als
nächster Redner hat das Wort der Kollege Wolfgang
Grotthaus, SPD-Fraktion.


Wolfgang Grotthaus (SPD):
Rede ID: ID1404105700
Herr Präsident! Meine
sehr geehrten Damen und Herren! Wenn man hier im
Plenum zum erstenmal spricht, dann versucht man, sich
auf solch eine Rede vorzubereiten. Man sucht nach der
Begründung der F.D.P. für die heutige Aktuelle Stunde,

Dr. Günter Rexrodt






(B)



(A) (C)



(D)


nämlich nach den Forderungen einer Mehrwertsteuer-
erhöhung, die angeblich von SPD-Seite bzw. vom zu-
ständigen Minister erhoben worden sind. Ich muß Ihnen
sagen – die F.D.P. ist ja fast nicht mehr da –:


(Zurufe von der F.D.P.: Doch, sie ist noch da!)

Ich habe dazu nichts gefunden. Deshalb wäre es gut,
wenn Sie tatsächlich einmal Roß und Reiter nennen, das
heißt sagen könnten, wer eine Mehrwertsteuererhöhung
gefordert hat. Ich habe nur gehört, daß die ehemalige
Bundesministerin Nolte innerhalb des Wahlkampfes
eine Mehrwertsteuererhöhung gefordert hat, wozu wir
damals schon erklärt haben: Mit uns wird eine solche
Mehrwertsteuererhöhung nicht durchgeführt werden.

Ich habe die Vermutung, daß hier ein Popanz aufge-
baut werden soll, um von einer – ich sage dies bewußt
so – erfolgreichen Politik und auch einer erfolgreichen
Steuerpolitik abzulenken.


(Lachen der CDU/CSU)

– Genau die Reaktion habe ich erwartet. Wir wissen, daß
Ihnen das nicht paßt, Herr Merz. Sie werden sich das
trotzdem anhören müssen.

Ich will auch noch einmal darauf aufmerksam ma-
chen, daß wir ohne Ihre Zustimmung eine Nettoentla-
stung von über 20 Milliarden DM für Arbeitnehmerin-
nen und Arbeitnehmer mit ihren Familien sowie für
kleinere Unternehmen durch das Steuerentlastungsge-
setz beschlossen haben.

Ich will auch daran erinnern, daß wir eine Kinder-
gelderhöhung – das hat mich als Neumitglied in diesem
Hohen Haus sehr betroffen gemacht – ohne Ihre Zu-
stimmung beschlossen haben. Keine 14 Tage später
kommt die Opposition aus den Büschen heraus und for-
dert zusätzliche Erhöhungen, ohne Gegenfinanzierungs-
vorschläge zu machen. Das macht dann betroffen. Wenn
man vorher in einem anderen Haus tätig war, fragt man
sich schon, wie glaubwürdig die Politik der CDU/CSU
und der F.D.P. in den letzten Jahren in diesem Haus ge-
wesen ist.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Ich sage Ihnen mit aller Deutlichkeit: Die Senkung
der Lohnnebenkosten, die Sie oft propagiert haben, ist
von Ihnen in keinster Weise angegangen worden. Ich
will nicht auf die 16 Jahre zurückgreifen, sondern nur
auf die letzten vier Jahre. Sie haben immer die Senkung
der Lohnnebenkosten gefordert, aber erreicht wurde gar
nichts. Wir haben in unserem Wahlprogramm und in un-
serem Koalitionspapier sehr deutlich gemacht, welchen
Weg wir gehen werden. Diesen Weg haben wir einge-
halten. Dieser Weg ist die ökologische Steuerreform, die
wir auch in den nächsten Jahren sukzessive voranbrin-
gen werden.

Wir werden ebenfalls – ich gehe davon aus, daß auch
das ohne Ihre Zustimmung geschehen wird – eine Ab-
kehr von dem unter Ihrer Regierung, der Regierung
Kohl, eingeschlagenen Weg in die immer höhere Staats-
verschuldung vornehmen, und zwar durch Einsparungen
im Bundeshaushalt und nicht durch Steuererhöhungen.

Daß Ihnen von der F.D.P. und auch von der CDU/CSU
das nicht passen wird, ist uns allen klar. Denn was haben
Sie als Erfolge in den letzten Jahren aufzuweisen? Das
sind höhere Steuern, höhere Sozialversicherungsbeiträge
und immer wieder höhere Schulden, auf die der Kollege
Spiller schon hingewiesen hat.

Meine Damen und Herren, auch das will ich hier be-
tonen: Dafür haben Sie letztendlich die Quittung be-
kommen. Der Wähler hat Ihnen das am 27. September
und nachfolgend honoriert. Sie werden dies am kom-
menden Sonntag an unseren Zuwächsen wieder fest-
stellen.

20 Milliarden DM Deckungslücke im Haushalt ma-
chen deutlich, wie Ihre Finanzpolitik in den letzten Jah-
ren aussah. Wir werden den Bürgerinnen und Bürgern,
wenn das Einsparpotential vom Finanzminister vorge-
legt wird, sehr deutlich machen müssen, weshalb wir
diesen Weg, der dann zu gehen ist, auch gehen werden.
Ich bin der festen Überzeugung, daß die Bürgerinnen
und Bürger diesen Weg mit uns gemeinsam gehen
werden.

Ich sage nochmals: Eine Mehrwertsteuererhöhung
steht nicht an – lassen Sie mich dies stellvertretend für
die SPD-Fraktion erklären –, auch wenn Sie sie herbei-
reden wollen. Wir werden darauf nicht hereinfallen.

Es ist richtig – das ist Fakt –: Wir wollen noch in die-
ser Legislaturperiode einen weiteren Schritt bei der
ökologischen Steuerreform machen. Dies ist nichts Neu-
es. Dies haben wir in unserer Koalitionsvereinbarung
gesagt. Das haben die Wählerinnen und Wähler auch
gewußt. Wir haben auch sehr deutlich gemacht, daß wir
den Energieverbrauch maßvoll und unter Sicherung der
Wettbewerbsfähigkeit unserer Unternehmen belasten
und dafür die Lohnnebenkosten senken wollen. Wir sind
der Auffassung – das zeigt sich auch deutlich bei Ge-
sprächen, die wir in den letzten Tagen mit Industriever-
tretern getätigt haben –, daß wir damit für die Ökologie
und die Ökonomie Gutes tun.


(Peter Rauen [CDU/CSU]: Sie reden doch Unfug!)


Ihre Reaktion zeigt mir sehr deutlich, daß Ihnen das
nicht gefällt. Alle Dinge, die wahr sind, gefallen denen
nicht, die mit der Wahrheit nicht leben können.


(Beifall bei der SPD)

Ihre Vorgehensweise ist mittlerweile auch draußen bei
den Bürgerinnen und Bürgern bekannt. Sie wollen die
Menschen verunsichern. Das wird Ihnen nicht gelingen.

Wir haben deutlich gesagt, was wir machen wollen.
Von diesem Weg werden wir uns nicht abbringen lassen.

Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der SPD – Peter Rauen [CDU/CSU]: Weiter so in die Arbeitslosigkeit! – Gegenruf des Abg. Wolfgang Grotthaus [SPD]: Den Zwischenruf hätten Sie gern früher machen können! Dann hätte ich noch ein paar Takte dazu gesagt!)


Wolfgang Grotthaus






(A) (C)



(B) (D)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1404105800
Herr
Kollege Grotthaus, ich gratuliere Ihnen zu Ihrer ersten
Rede vor dem Deutschen Bundestag.


(Beifall)

Als nächster Redner hat der Kollege Dietrich

Austermann von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.


Dietrich Austermann (CDU):
Rede ID: ID1404105900
Herr Präsident!
Meine Damen und Herren! Es gibt keinen Grund, die
Steuern zu erhöhen, aber viele Gründe, die Steuern zu
senken. Darauf ist deutlich hingewiesen worden. Kein
Grund, die Steuern zu erhöhen, ist insbesondere die
Haushaltslage und das, was diese Bundesregierung vor-
gefunden hat.

Ich muß ein paar Sätze zu den Unwahrheiten sagen,
die die Kollegen Diller und Spiller über die Haushalts-
situation 1998 verbreitet haben, um deutlich zu machen,
auf welcher Basis wir heute diskutieren. Zunächst muß
man feststellen: Die letzten fünf Haushalte des Bundes
sind mit einem praktisch konstanten Ausgabevolumen
abgehakt worden. Der erste Haushalt, den Sie und dieser
Finanzminister zu verantworten haben, verzeichnet bei
den Ausgaben eine Steigerung um 30 Milliarden DM.
Zuvor konstante Ausgaben, jetzt Steigerung um 30 Mil-
liarden DM! Jetzt sucht der Finanzminister 30 Milliar-
den DM, wahrscheinlich um – das ist doch ganz einfach
– die Löcher, die er in diesem Jahr zusammen mit seinen
rotgrünen Freunden verursacht hat, wieder auszuglei-
chen.

Also muß ich da ansetzen, wo das Ausgabegebaren in
die falsche Richtung gedrängt wurde. Dieser Bundes-
haushalt, der noch nicht einmal in Kraft getreten ist –
das Inkrafttreten wird wohl verschoben, damit man die
Investitionen bloß nicht tätigen muß –, ist von einem
Rekordwachstum gekennzeichnet, von einer Ausgaben-
steigerung von 6,3 Prozent. In dieser Situation davon zu
reden, wir hätten Ihnen marode Verhältnisse und ein
Loch von 20 Milliarden DM hinterlassen, ist natürlich
völlig falsch. Sie können das strukturelle Defizit nicht
beziffern. Sie wissen nicht, wie Sie auf die 20 Milliarden
DM gekommen sind. Und Sie können – das wissen Sie
genau – die Privatisierungserlöse des letzten Jahres in
dieses Jahr herübernehmen. Für Ihre Behauptung gibt es
also überhaupt keinen Grund.

Jetzt sage ich etwas zu dem Kollegen aus Oberhau-
sen, der gerade vor mir gesprochen hat.


(Susanne Kastner [SPD]: Er hat gut gesprochen!)


Er hat gesagt, in der SPD rede keiner von Steuererhö-
hungen. Da Sie ja nun aus Nordrhein-Westfalen kom-
men, müßten Sie wissen: Die ersten, die nach der Wahl
von Steuererhöhungen geredet haben, waren Steinbrück
und Clement. Beide müßten Ihnen bekannt sein. Daß
beide von Mehrwertsteuererhöhung gesprochen haben,
haben wir nicht erfunden. Zuletzt, am Sonntag, hat auch
Herr Eichel davon gesprochen und das „unter bestimm-
ten Voraussetzungen“ nicht ausschließen wollen. Auch
Herrn Diller habe ich heute nicht so verstanden, daß er
das grundsätzlich ausschließt. Er hat lediglich gesagt: In

diesem Zusammenhang wollen wir das nicht. Aber bis
zum 30. Juni kann sich natürlich der Zwang entwickeln,
diesen Schritt gehen zu müssen, auch wenn man es nicht
will. Manch einer tut ja etwas, was er gar nicht möchte,
weil er es muß. Diesen Eindruck habe ich hier; Sie reden
sich in einen solchen Bedarf hinein.

Auch die Grünen reden dauernd von Steuererhöhun-
gen. Herr Struck hat davon gesprochen, die Mineral-
ölsteuer um 40 Pfennig zu erhöhen. Herr Schmidt, las-
sen Sie mich einmal vorrechnen, was Ihre Transaktion
beispielsweise für die Rente bedeutet: Im letzten Jahr
hat der Bundeszuschuß zur Rentenversicherung
100 Milliarden DM betragen. In diesem Jahr werden es
auf Grund falscher Entscheidungen von Ihnen 120 Mil-
liarden DM sein. Wenn Sie jetzt die Mineralölsteuer um
40 Pfennig erhöhen – –


(Albert Schmidt [Hitzhofen] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Wollen wir doch gar nicht!)


– Natürlich, Sie haben die Mineralölsteuer erhöhen müs-
sen, um damit die Senkung der Rentenbeiträge, also der
Lohnnebenkosten, auszugleichen. Das heißt, Sie müssen
die Zuwendungen des Bundes an die Rentenkasse erhö-
hen. Die nämlich steigen im Gegenzug – auch wenn Sie
um 40 Pfennig erhöhen – auf 151 Milliarden DM. Und
Sie reden hier davon, man gehe mit den Staatsfinanzen
sparsam um!

Das kann man sich doch ausrechnen: Im letzten Jahr
100 Milliarden DM Bundeszuschuß für die Rente, das
nächste Mal – um die Senkung der Lohnnebenkosten
auszugleichen – 151 Milliarden DM! Und gleichzeitig
nehmen Sie den Rentnern noch das Geld aus der Tasche:
im nächsten Jahr 3,5 Milliarden DM, im übernächsten
Jahr 10,5 Milliarden DM. Sie haben den Anspruch ver-
loren, überhaupt von sozialer Gerechtigkeit reden zu
können. Mit Ihren Entscheidungen, die Sie in den letzten
acht Monaten getroffen haben – mit denen Sie doch ge-
rade die kleinen Leute treffen: Mineralölsteuererhöhung,
Ökosteuer usw. –, haben Sie den Anspruch verloren, von
sozialer Gerechtigkeit zu reden, die Sie mit Ihrer Politik
angeblich erhöhen wollten. Gleichzeitig reden Sie pau-
senlos von der Notwendigkeit, irgendeine Steuer zu er-
höhen, um im internationalen Wettbewerb mithalten zu
können. Sie müssen sich schon einigen auf das, was Sie
hier vortragen wollen.

Es heißt immer, die Steuern in Deutschland seien ja
gar nicht so hoch. Richtig ist, daß die Steuerquote in der
Zeit, in der wir an der Regierung waren, gesunken ist.
Richtig ist, daß sie in den ersten acht Monaten Ihrer Re-
gierung wieder gestiegen ist.

Tatsache ist also nach den ersten acht Monaten: Sie
machen offensichtlich eine Politik, die die Steuer-
lastquote in die Höhe treibt. Und was das Schlimme ist –
deswegen ist das Ganze ja für die Bürger so belastend
und besonders bemerkenswert –: Mit dieser falschen
Politik werden Investitionen gedrosselt. Es werden keine
zusätzlichen Arbeitsplätze geschaffen. Die Zahl der
Leute, die in Deutschland Arbeit haben, wird am Ende
des Jahres kleiner sein als zu Beginn des Jahres. Das ist
das eigentlich Fatale an Ihrer Politik.






(B)



(A) (C)



(D)


Deswegen müssen Sie heute, spätestens aber in der
nächsten Sitzungswoche – damit, wie der Kollege Merz
gesagt hat, wir vor der Sommerpause darüber diskutie-
ren können – ganz klar sagen, welche Absicht bezüglich
zusätzlicher Belastung von Bürgern und Industrie Sie
verfolgen. Das muß auf den Tisch, darüber muß disku-
tiert werden. Ich hoffe, es kommt dann möglichst bald
wieder vom Tisch. Dieses Land verträgt nämlich alles,
bloß keine zusätzlichen Steuererhöhungen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Den letzten Satz möchte ich sagen, damit sich nichts

Falsches in den Köpfen festsetzt. Wir haben angeblich
nichts für die Familien getan. Wir haben das Kindergeld
in den letzten drei Jahren vor dem Regierungswechsel
zweimal erhöht. Als wir die Regierung übernommen ha-
ben, betrug das Kindergeld für das erste Kind 50 DM,
als wir aufhörten, lag es bei 220 DM. Die Familienlei-
stungen im Jahre 1982 lagen bei 25 Milliarden DM, im
letzten Jahr bei 75 Milliarden DM. Sie können doch hier
nicht den Eindruck vermitteln, als hätten wir in den
letzten Jahren nicht eine ganz bewußt auf sozialen Aus-
gleich bezogene Politik betrieben. Darin wird uns keiner
überholen.

Politik, die von Sozialpolitik redet, aber unter dem
Strich den kleinen Leuten, den Rentnern, den Schwa-
chen, den Arbeitslosen, den Sozialhilfeempfängern das
Geld aus der Tasche zieht, das paßt hinten und vorne
nicht zusammen. Deswegen sage ich: Wir lehnen diese
investitionsfeindliche Politik der ständigen Steuererhö-
hungen ab.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1404106000
Als
nächste Rednerin hat die Kollegin Lydia Westrich von
der SPD das Wort.


(Joachim Poß [SPD]: Jetzt erzählt mal, was mit dem Kindergeld war! – Nicolette Kressl [SPD]: Die 220 DM sind von uns im Bundesrat erzwungen worden! Sind Sie so vergeßlich?)



Lydia Westrich (SPD):
Rede ID: ID1404106100
Herr Präsident! Liebe Kolle-
ginnen und Kollegen! Herr Austermann, so einfach kann
man die Verantwortung für 16 Jahre verfehlte Politik
nicht wegschieben. Das geht auch hier im Hohen Hause
nicht.

Zum Kindergeld. Sie waren nicht im Finanzausschuß,
Sie können nicht beurteilen, wie viele Kämpfe wir mit
Ihrem leider verstorbenen Kollegen Dr. Fell ausgefoch-
ten haben, damit eine gleichmäßige Erhöhung des Kin-
dergeldes überhaupt hat stattfinden können. Im übrigen
vergessen Sie das Urteil des Bundesverfassungsgerich-
tes, das Ihnen ja ins Stammbuch geschrieben hat, daß
Sie wieder einmal die Familien viel zu hoch belastet ha-
ben.


(Beifall bei der SPD)

Sie sind durch das Bundesverfassungsgericht gezwun-
gen worden, das Kindergeld anzuheben. Sie haben es bis

auf den letzten Moment hinausgeschoben und es erst zu
dem Zeitpunkt angehoben, den das Bundesverfassungs-
gericht als spätesten Termin vorgeschrieben hat. Deswe-
gen hat das Bundesverfassungsgericht jetzt gesagt, wenn
es dieses Jahr nicht passiert, dann wird es so geschehen,
wie wir es vorgeschrieben haben. Das haben Sie ver-
schuldet.

Sie täten als Opposition wirklich gut daran, wenn Sie
zum Beispiel den Rat des Präsidenten des Bundes der
Steuerzahler annehmen würden, der gesagt hat: Die Op-
position wäre jetzt gut beraten, wenn sie den Bundesfi-
nanzminister bei seinen Plänen nicht behindern würde.
Er spricht in seinen beschwörenden Warnungen von den
Folgen der zunehmenden Staatsverschuldung und be-
dauert, daß sie erst jetzt unter der rotgrünen Bundesre-
gierung als Bedrohung der öffentlichen Haushalte über-
haupt wahrgenommen wird.

Was haben Sie auf der rechten Seite immer gelästert,
wenn Ingrid Matthäus-Maier zum Beispiel die Zinslast
des Staates vorgerechnet hat. Sie haben nicht nur gelä-
stert, Sie haben mit dieser Schuldenpolitik einfach wei-
tergemacht. Die Steuererhöhungen waren zahlreich.
Herr Diller hat sie ja aufgezählt. Sie geschahen mit Ihrer
Zustimmung. Der Erfolg war gleich null bezüglich des
Schuldenstandes; ganz im Gegenteil.

In 16 Jahren haben Sie es geschafft, daß trotz deutlich
wachsendem Bruttosozialprodukt die Steuereinnahmen
stagniert haben, ja zurückgegangen sind. Sie haben es
weiterhin geschafft, daß viele Gewinne in Niedrigsteu-
ergebiete der ganzen Welt verlagert worden sind und
daß Arbeitnehmer bis an die Grenzen ihrer Belastbarkeit
geschröpft wurden.

Sie haben mit Ihrer Politik zugelassen, daß Steuer-
zahler mit komfortablen finanziellen Spielräumen ihre
Steuerschuld durch Verlustzuweisungen und Sonderab-
schreibungen mindern konnten.


(Joachim Poß [SPD]: Sehr wahr!)

Sie haben auch nichts gegen Schattenwirtschaft und
Steuerkriminalität unternommen. In diesem Zusammen-
hang denke ich an die Diskussion über § 30 a der Abga-
benordnung.

Wir haben schon in den ersten Monaten erste Maß-
nahmen probiert; sie wirken.


(Dr. Klaus W. Lippold [Offenbach] [CDU/CSU]: „Probiert“ ist richtig!)


– Ich muß Ihnen sagen, daß wir nicht in drei Monaten
die Auswirkungen einer über 16 Jahre verfehlten Politik
ändern können. Das ist zuviel der Ehre. Aber letztend-
lich werden wir es schaffen.


(Dr. Klaus W. Lippold [Offenbach] [CDU/CSU]: Sie haben schon viel Unvernünftiges geschaffen!)


– Es ist richtig, wir haben schon sehr viel Vernünftiges
geschaffen.

Wir haben im Wahlkampf soziale Gerechtigkeit ver-
sprochen. Die Steuergerechtigkeit gehört untrennbar da-
zu. Sie können sicher sein, daß wir unsere Versprechen

Dietrich Austermann






(A) (C)



(B) (D)


halten. Steuerpolitik unter einer rotgrünen Bundesregie-
rung heißt, keine Steuererhöhungen mehr für die Masse
der Steuerzahler, wie das bisher unter der alten Regie-
rung der Fall war. Deshalb sind Ihre Versuche, uns
Steuererhöhungen einzureden, völlig sinnlos.


(Zuruf von der CDU/CSU: Wer redet denn dauernd davon?)


Zu Ihrer Steuerpolitik gehörte – wie die Luft zum
Atmen –, irgendwelche Steuern zu erhöhen, wenn die
geringsten Probleme anstanden. Dieses Vorgehen kön-
nen Sie uns nicht unterschieben. Wir entdecken eine
neue Tugend – nein, eine alte Tugend neu –, die norma-
lerweise den konservativen Kräften zugeschrieben wird,
nämlich das Sparen. Ich empfehle Ihnen als Opposition,
ausnahmsweise den Rat des Präsidenten des Bundes der
Steuerzahler ernst zu nehmen. Behindern Sie die Arbeit
des Bundesfinanzministers in dieser Hinsicht nicht! Hel-
fen Sie lieber mit! Reden Sie mit den Handwerksmei-
stern!

Erst gestern sagte mir ein Dachdecker, daß seit Jahren
die Lohnnebenkosten das erste Mal gesunken sind. Die
Schuhfabriken in meinem Wahlkreis Pirmasens, die ei-
nen Lohnkostenanteil von mehr als 30 Prozent haben,
warten schon auf die nächste Senkung der Lohnneben-
kosten. Die Unternehmer sagen, daß wir damit konkur-
renzfähig bleiben. Wenn Sie nicht mit Verbandsfunktio-
nären, sondern mit den Menschen vor Ort reden – das ist
notwendig –, dann sehen Sie unsere Politik in einem
ganz anderen Licht.


(Peter Rauen [CDU/CSU]: Mit dem Dachdekkermeister reden Sie nicht!)


Die Menschen, die Sie belastet haben, haben jetzt
mehr Geld in den Lohntüten, Herr Rauen. Das soll na-
türlich so bleiben. Sie können noch so viele Aktuelle
Stunden beantragen: Wir schaffen eine soziale Steuerge-
rechtigkeit, wie sie im Buche steht.

Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1404106200
Als
nächster Redner hat der Kollege Klaus Lippold von der
CDU/CSU-Fraktion das Wort.


Dr. Klaus W. Lippold (CDU):
Rede ID: ID1404106300

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Her-
ren! Herr Diller, so einfach kann man es sich nicht ma-
chen, indem man von einer sozial gerechten Politik nur
spricht. Vor der Wahl haben Sie unsere Einführung einer
demographischen Komponente in die Rentenpolitik
verteufelt. Sie haben den Rentnern gesagt, daß damit das
Niveau unverschämt abgesenkt würde und daß wir sie
plündern würden. Jetzt auf einmal diskutieren Sie über
die demographische Komponente und die Aussetzung
der Anhebung der Renten. Das ist doch zynisch und eine
klassische Rentenlüge: vor der Wahl auf der Koalition
herumzuhauen und nach der Wahl Maßnahmen einzu-
leiten, die größere Auswirkungen haben als die, die wir

damals auf Grund unserer Verantwortung gegenüber der
jüngeren Generation durchführen mußten.

Herr Diller, Sie sprachen in diesem Zusammenhang
von „wirtschaftlich vernünftig“. Schauen Sie sich doch
einmal die Zahlen über die Investitionen aus anderen
Ländern am Standort Deutschland an! Mini-Euro-
Länder hängen uns hinsichtlich der Investitionszahlen
ab. Mit dem Ausgangspunkt unserer Reformen hatten
wir es in den letzten Jahren geschafft, diesen fatalen
Trend zu brechen und erstmals wieder steigende Aus-
landsinvestitionen in Deutschland herbeizuführen. Sie
haben den grandiosen Erfolg geerbt. Frau Kollegin, Sie
haben richtigerweise gesagt, daß Sie in drei Monaten
viel verändert haben. Sie haben nämlich den positiven
Trend umgekehrt. Jetzt geht es mit den Investitionen
nach unten, und die Schaffung zusätzlicher Arbeitsplätze
ist gefährdet.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Herr Kollege Grotthaus, Sie müssen noch lernen, sehr

aufmerksam zuzuhören. Herr Diller hat in seinen For-
mulierungen eine Mehrwertsteuererhöhung nicht ausge-
schlossen. Wer über Jahre hinweg seine Formulierungen
verfolgt, weiß ganz genau, was sie bedeuten. Er hat die
Erhöhung der Mehrwertsteuer definitiv nicht ausge-
schlossen. Das ist doch das Problem: Sie tasten sich
durch solche Diskussionen daran heran, um hinterher
sagen zu können, Sie hätten es machen müssen.

Man muß Ihre Steuerdiskussion einmal werten. Ich
tue das.

„Ich bin entgeistert über diese Diskussion.“ Das sage
nicht ich, das sagt Herr Clement. Da wird der Verzicht
auf die zweite Stufe der Ökosteuerreform gefordert. Das
sage nicht ich, das sagt Herr Clement. Und, Herr Diller,
gerade in bezug auf Investitionen am Standort Deutsch-
land: „Der nationale Alleingang überfordert energiein-
tensive Industrien“. Gemeint ist: in der Bundesrepublik
Deutschland. Auch das sage nicht ich, das sagt Herr
Clement. Ist der Mann eigentlich so völlig unfähig, oder
gehört er zur Opposition? Sie müssen doch langsam an-
fangen, sich ernsthaft Fragen zu stellen.

Dann heißt es: „nicht unentwegt Schnellschüsse!“ Ich
will Sie trösten: Das sagt nicht der Kollege Clement, das
sagt die Kollegin Simonis, ihres Zeichens Ministerpräsi-
dentin in Schleswig-Holstein.


(Zurufe von der CDU/CSU: Noch!)

– Noch.

Dann gibt es jemanden, der zu dem Ganzen sagt:
„Das ist völlig unvernünftig.“ Das ist der Ministerpräsi-
dent von Niedersachsen, Herr Glogowski.

Sie können uns doch jetzt nicht einreden, das sei – bei
Herrn Loske fiel dieses böse Wort – schlicht und ergrei-
fend Polemik. Es sind Sozialdemokraten, die das gesagt
haben, und sie haben recht. Im übrigen sagt es auch Ihr
Kollege Metzger so.

Sehen wir uns die Ökosteuerdiskussion an! Erst hieß
es: nur europäisch. Machen wir uns nichts vor: Dieses

Lydia Westrich






(B)



(A) (C)



(D)


Wort haben Sie längst gebrochen. Jetzt ist nichts mehr
mit „nur europäisch“.

Bedenken wir, was Sie im ersten Durchgang gemacht
haben! Sie haben regenerative Energien belastet. Das ist
doch wohl nicht ökologisch. Herr Loske; darüber sind
wir uns doch einig.

Ich meine, es ist durchaus kennzeichnend, daß in die-
ser Diskussion derjenige auf seiten der SPD-Fraktion,
der sich in Sachen Ökologie etwas auskennt, der Kollege
von Weizsäcker, nicht dabei ist, obgleich er in den Deut-
schen Bundestag kam, weil er gerade an dieser Stelle
ansetzen wollte. Aber ich kann es verstehen. Diese Form
von Unvernunft muß einem doch weh tun.

Herr Kollege Loske, Sie haben gesagt: „in stetigen,
kleinen Schritten.“ Da erinnere ich kurz an den Kollegen
Struck, der kein anderer ist als der Vorsitzende der so-
zialdemokratischen Fraktion. Wenn 40 Pfennig für Sie,
Herr Loske, stetige, kleine Schritte sind, dann verstehe
ich die Welt nicht mehr. Aber die Mineralölsteueranhe-
bung müssen Sie in der Koalition unter sich ausmachen.

Herr Poß, machen Sie sich doch nichts vor! Sie hat es
doch genauso geärgert, mit wieviel Unvernunft Ihr
Fraktionsvorsitzender in diese Diskussion gegangen ist.
Sie haben ihn doch aus den eigenen Reihen kräftig nie-
dergemacht.


(Joachim Poß [SPD]: Wir machen keinen nieder!)


– Sie brauchen gar nicht den Kopf zu schütteln. So ist
das.

Das heißt also: Sie kassieren ab. Ein Konzept ist nicht
zu erkennen.

Herr Kollege Loske, Sie waren selten so wortlos wie
heute. Sie haben gut drei Viertel Ihrer Redezeit auf den
Kosovo verwandt, auf Polemik, auf Fragen der Famili-
enpolitik und, und, und. Nur auf die ökologische Kom-
ponente ist der ökologische Sprecher der Grünen er-
staunlicherweise fast überhaupt nicht eingegangen.


(Dr. Reinhard Loske [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie müssen besser zuhören, Herr Lippold!)


– Nein, Sie wissen, ich höre Ihnen immer zu. – Vier,
fünf magere Sätze haben Sie darauf verwandt. Ich sage
ganz deutlich: Das ist zuwenig.

Das kann nicht anders sein, weil Sie selbst um die
Schwächen Ihres eigenen Konzepts wissen. Sie selbst
wissen, daß diese Diskussion schädlich ist, unter ökolo-
gischen Aspekten genauso wie für den Standort
Deutschland. Deshalb wäre es bestens, wenn diese un-
vernünftigen Pläne schnellstens vom Tisch kämen.

Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1404106400
Als
letzter Redner in dieser Aktuellen Stunde hat der Kolle-
ge Reinhard Schultz von der SPD-Fraktion das Wort.


Reinhard Schultz (SPD):
Rede ID: ID1404106500
Herr Präsi-
dent! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich glaube, wir
müssen uns darauf einstellen, daß bis zu den nächsten
Bundestagswahlen in einem gewissen Rhythmus –
zweimonatlich – ein Gespenst von Ihnen hervorgeholt
wird: die Erhöhung der Mehrwertsteuer.

Kein Mensch hat aus der SPD, aus der Regierung, aus
der Koalition, soweit es um den Bund geht, in den letz-
ten Wochen und Monaten dieses Wort überhaupt in den
Mund genommen. Daß Sie Diskussionsbeiträge vom
November letzten Jahres aus den Ländern zum Anlaß
nehmen, heute eine Aktuelle Stunde zu beantragen – Sie
zitierten Herrn Clement, der sich in einer völlig anderen
Situation geäußert hat –, zeigt, was eigentlich die Ab-
sicht ist: Mangels anderer denkbarer Wahlkampfaktivi-
täten nimmt die F.D.P., die Schwierigkeiten hat, noch
den einen oder anderen Bürger auf dem Marktplatz zu
treffen, hier eine kleine Ersatzhandlung vor, um alle an-
deren davon abzuhalten, sich erfolgreich auf die Euro-
pawahl einzustellen. Das ist der Sinn der Übung.

Ich sage es noch einmal und unterstreiche es aus-
drücklich: Im Mittelpunkt der Bemühungen um die
Konsolidierung der öffentlichen Haushalte wird ein
Sparprogramm stehen, das sozial gerecht und nachhaltig
ist und sicherstellt, daß wir nach einer überschaubaren
Zeit wieder Grund unter den Füßen haben werden. Für
diese Konsolidierung wird es keine zusätzliche Steuer-
einnahme geben.

Wir haben in der Wahl angekündigt und in den Ko-
alitionsvertrag aufgenommen: Wir wollen, festgemacht
am Leitparameter Energie, stetig die Belastung der
Umwelt verteuern. Das tun wir über die Ökosteuer.
Gleichzeitig wollen wir die Mehreinnahmen komplett
zur Entlastung des Faktors Arbeit zurückgeben. Dabei
bleibt es auch. Über die Ökosteuer wird es keinerlei
Haushaltsfinanzierung anderer Art oder weitere vorstell-
bare Aktivitäten geben. Statt dessen wird jede Mark, die
wir über die Ökosteuer einnehmen, in die Senkung der
Lohnnebenkosten gesteckt. Bei dieser Aussage bleibt es.


(Zuruf von der F.D.P.: Das ist doch Roßtäuscherei!)


Jetzt reden wir darüber – das ist offensichtlich –, in
welchen Schritten und mit welchem Tempo man das
macht. Das Ziel ist klar: Wir wollen die Lohnnebenko-
stensenkung um 2,4 Prozent in dieser Wahlperiode er-
reichen. Daraus errechnet die interessierte Presse, wie-
viel Volumen man auf die verschiedenen Energieträger
verlagern muß. So kommen bestimmte Größenordnun-
gen zustande, wie zum Beispiel auch die 40 Pfennig von
Herrn Struck.

Herr Struck hat nichts anderes gesagt als das, was ich
noch einmal klarstellen will. Wir werden in einem Ge-
setz alle weiteren Stufen der Ökosteuer festlegen. Ob es
zwei Stufen werden, wie es in der Koalitionsvereinba-
rung steht, oder drei, oder ob wir über das Jahr 2002
hinausgehen, was viele von uns für sinnvoll halten, wird
sich zeigen. All das mündet in ein Gesamtpaket, das die
Unternehmensteuer, den Familienlastenausgleich und
die Ökosteuer beinhaltet, so daß jeder Bürger sehen
kann, wo es mehr Be- und wo es mehr Entlastungen

Dr. Klaus W. Lippold (Offenbach)







(A) (C)



(B) (D)


gibt. Unterm Strich gesehen wird es mehr Entlastungen
geben.

Herr Brüderle hat gesagt, wir hätten einen Kanzler
der Bosse. Wenn die SPD mit Gerhard Schröder sowohl
den großen Versicherungsunternehmen als auch den
Energieversorgungsunternehmen – inzwischen ist der
Konsens hergestellt – 16 Milliarden DM, die sie an der
Steuer vorbeigeführt haben, aus den Rippen leiert, kann
man das nicht gerade als Streicheleinheit für die Groß-
konzerne bezeichnen.

Es war völlig richtig, daß wir das gemacht haben,
weil wir dieses Geld brauchen, um an anderer Stelle
wieder Gerechtigkeit herzustellen. Der Mittelstand ist
entlastet worden, und er wird auch in der Unternehmen-
steuerreform weiter entlastet werden.

Ich weiß auch nicht, warum Sie so hetzen. Wenn die
Unternehmensteuerreformkommission und alle Verbän-
de sagen, wir sollten lieber sorgfältig herangehen, als ir-
gendwelche Experimente zu machen, die später teilwei-
se wieder korrigiert werden müssen, weil man sich vor-
her nicht im einzelnen darüber im klaren war, wie wel-
che Änderung im Körperschaftsteuerrecht, im Einkom-
mensteuerrecht oder im Gewerbesteuerrecht tatsächlich
wirkt, dann sage ich, es ist besser, die Reform für die
rechtsformgebundenen Gesellschaften und die Perso-
nengesellschaften erst im Jahre 2001 umzusetzen, und
zwar richtig, ordentlich und überschaubar, nach einer

guten Vorbereitung durch Planspiele und mit einer deut-
lichen Entlastung der tatsächlichen Steuerbelastung
durch Änderung der Steuersätze, statt irgendwelche
Fummeleien vorzunehmen, die nur vorgaukeln, man
hätte damit wirtschaftspolitisch eine Glanztat vollbracht.

Wir werden sorgfältig arbeiten. Wir werden unser
Programm Schritt für Schritt abarbeiten, und daran wer-
den Sie uns nicht hindern, auch wenn wir uns darauf
einstellen müssen, alle zwei Monate zur Mehrwertsteuer
eine Aktuelle Stunde erleben zu dürfen. Das geht zwar
von unserer Lebenszeit ab, bringt uns aber nicht um.


(Zuruf von der SPD: Aber auch nicht weiter!)

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1404106600
Die
Aktuelle Stunde ist damit beendet. Wir sind am Schluß
unserer Tagesordnung.

Ich berufe die nächste ordentliche Sitzung des Deut-
schen Bundestages auf Mittwoch, den 16. Juni 1999,
12 Uhr ein.

Die Sitzung ist geschlossen.