Gesamtes Protokol
Guten Morgen, liebe
Kolleginnen und Kollegen! Die Sitzung ist eröffnet.
Die heutige Sitzung habe ich gemäß Art. 39 Abs. 3
des Grundgesetzes in Verbindung mit § 21 Abs. 2 der
Geschäftsordnung auf Verlangen des Bundeskanzlers
einberufen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 1a und b auf:
1.a) Abgabe einer Regierungserklärung des Bun-
deskanzlers
Ergebnisse des Europäischen Rates am 3. und
4. Juni 1999 in Köln und zum Stand der Frie-
densbemühungen im Kosovo-Konflikt
b) Beratung des Antrags der Bundesregierung
Deutsche Beteiligung an einer internationalen
Sicherheitspräsenz im Kosovo zur Gewährlei-
stung eines sicheren Umfeldes für die Flücht-
lingsrückkehr und zur militärischen Absiche-
rung einer Friedensregelung für das Kosovo
– Drucksache 14/1111 –
Belgrad muß jetzt einem detaillierten Abzugsplan für diejugoslawischen Sicherheitskräfte zustimmen. Ansonstenwerden die Flüchtlinge nicht in Sicherheit und ohneFurcht in ihre Heimat zurückkehren können. Erst wennein vollständiger Abzug begonnen hat, können die Luft-schläge der NATO gegen Jugoslawien ausgesetzt wer-den.Meine Damen und Herren, der EU-Beauftragte Ahti-saari, der russische Sonderbeauftragte Tschernomyrdinund der stellvertretende US-Außenminister Talbott ha-ben in der letzten Woche eine, wie wir alle hoffen, ent-scheidende Dynamik in Gang gebracht. Ihnen gebührtgrößter Dank für ihren Einsatz, ihre Beharrlichkeit undihr diplomatisches Geschick.
Ich bin sicher, daß ich diese Dankbarkeit auch im Na-men des Deutschen Bundestages und der gesamten Be-völkerung unseres Landes aussprechen darf. Respektgebührt vor allem aber auch Präsident Jelzin, ohne des-
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sen Vertrauen Viktor Tschernomyrdin seine Aufgabenicht hätte bewältigen können.
Die Arbeit von Ahtisaari und Tschernomyrdin zeigt:Frieden können wir in Europa nur schaffen und bewah-ren, wenn wir gemeinsam, das heißt mit Rußland mitden Vereinigten Staaten, agieren. Heute können wir mitFug und Recht sagen: Die Politik der Bundesregierungin der Kosovo-Krise hat sich als richtig erwiesen – mi-litärische Festigkeit einerseits, gleichzeitig aber die Ent-schlossenheit, eine breite internationale Plattform zuschaffen, von der aus die Zustimmung der BelgraderFührung zu einer politischen Lösung erreicht werdenkann und erreicht werden konnte.
Wir haben in den vergangenen Wochen nicht nur dieEinheit innerhalb der NATO bewahrt. Die deutsche Prä-sidentschaft hat diese Einheit auch in der EuropäischenUnion maßgeblich gestaltet und erhalten, also auch unterdenjenigen europäischen Staaten, die der NATO nichtangehören. Über die G 8 und die Beauftragung von Prä-sident Ahtisaari hat sie erreicht – das ist insbesondereein Verdienst des Bundesaußenministers –, daß sichRußland dem internationalen Konsens angeschlossenhat.
Europa hat unter deutscher Präsidentschaft in der Kosovo-Krise politische Führungskraft bewiesen.Der von Belgrad akzeptierte Friedensplan beinhaltetdie folgenden Elemente: ein sofortiges Ende der Gewaltund Unterdrückung im Kosovo; Abzug aller – ich be-tone: aller – jugoslawischen Sicherheitskräfte, das heißt:Militär, Sonderpolizei und paramilitärische Einheiten;Stationierung einer internationalen Friedenstruppe miteinem NATO-Kern und einer erheblichen Beteiligungrussischer Truppen und Truppen anderer Nicht-NATO-Staaten – alles unter dem Dach der Vereinten Nationen –;die Rückkehr aller Flüchtlinge und Vertriebenen in ihreHeimat unter Überwachung des UNHCR; Beginn einespolitischen Prozesses mit dem Ziel, eine substantielleAutonomie für das Kosovo im Rahmen der Souveränitätund der territorialen Integrität der Bundesrepublik Jugo-slawien zu erreichen.Die Meldungen und Entwicklungen seit dem Wo-chenende haben aber eines gezeigt: Schon die nächstenTage und Wochen werden eine kritische Phase auf demWeg zu einer tragfähigen, stabilen Situation im Kosovosein. Die internationalen Friedenstruppen müssen un-mittelbar hinter den abziehenden jugoslawischen Si-cherheitskräften in das Kosovo einrücken, um kein Si-cherheitsvakuum entstehen zu lassen. Der Einzug einerrobusten internationalen Friedenstruppe mit 50 000 Sol-daten wird schwierig sein und gewiß nicht ohne Risiko.Wir kennen noch nicht das volle Ausmaß der Zerstö-rungen. Es wird Gefahren durch Minen geben. Wider-stand durch unkontrollierte serbische Einheiten ist denk-bar. Sodann müssen sich die Kämpfer der UCK demo-bilisieren, und sie müssen ihre Waffen abgeben.
Auch wenn sie nicht auf den Widerstand der einen oderanderen Seite trifft, wird die Friedenstruppe bei ihremEinzug und ihrer Stationierung vor wirklich schwierigeHerausforderungen gestellt sein. Sodann muß die Rück-kehr von einer Million Flüchtlingen und Vertriebenenins Werk gesetzt werden. Die Menschen sollen noch vorEinbruch des Winters in ihre Städte, Dörfer und Häuserzurückkehren können.Dem UNHCR wird hierbei eine führende Rolle zu-kommen. Aber – wir haben es erfahren – er kann dieProbleme nicht alleine lösen. Wohnhäuser und lebens-wichtige Infrastruktur sind zerstört. Durch den Ausfallder landwirtschaftlichen Produktion mangelt es an Nah-rung. Hier werden eine Reihe von internationalen Orga-nisationen, vor allem aber die Soldaten der Friedens-truppen anpacken und helfen müssen.Meine Damen und Herren, die Bundeswehr hat sichin den vergangenen Wochen nicht nur an den militäri-schen NATO-Operationen im Rahmen unserer Bündnis-solidarität, sondern auch in vorbildlicher Weise an derHilfe für Hunderttausende von Flüchtlingen in Mazedo-nien und Albanien beteiligt. Sie hat sich hierdurch gro-ßen Respekt und den Dank bei den Menschen in der Re-gion, aber auch bei den vielen internationalen zivilenHelfern erworben. Dafür möchte ich den Soldaten derBundeswehr noch einmal herzlich danken und ihnenmeine und, so denke ich, unser aller Anerkennung aus-sprechen.
Die Bundeswehr wird ihre Tätigkeit im Dienst fürden Frieden im Kosovo gemäß den Beschlüssen diesesHohen Hauses fortsetzen. Sie soll ihre Erfahrung vonAnfang an in der internationalen Friedenstruppe nutzbarmachen und so für ein stabiles und sicheres Umfeld fürdie zurückkehrenden Flüchtlinge sorgen. Ich habe kei-nen Zweifel daran, daß die Bundeswehr bestens auf dieihr bevorstehenden Aufgaben vorbereitet ist.Die Bundesregierung hat gestern unter Bezugnahmeauf vorherige Beschlüsse und vorbehaltlich der Zustim-mung des Deutschen Bundestages die Teilnahme derBundeswehr an der Friedensmission im Kosovo be-schlossen. Ich bitte Sie, dem Beschlußvorschlag IhreUnterstützung zu geben, sobald die Voraussetzungenvorliegen und der Sicherheitsrat mit der Entsendung derFriedenstruppe befaßt ist. Ich hoffe sehr, daß dies inganz kurzer Zeit – noch heute oder spätestens morgen –der Fall sein wird.Zu Beginn der Luftschläge der NATO habe ich am24. März vom Berliner Gipfel aus erklärt, daß wir imKosovo gemeinsam mit allen Bündnispartnern diegrundlegenden Werte von Freiheit, von Demokratie undvon Menschenrechten verteidigen. Ich habe gesagt, daßwir nicht zulassen dürfen, daß diese Werte nur eineBundeskanzler Gerhard Schröder
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Flugstunde von uns entfernt buchstäblich mit Füßen ge-treten werden. Die Belgrader Führung habe ich aufge-fordert, die Kämpfe im Kosovo sofort zu beenden undsich für den Frieden zu entscheiden. Wir alle haben da-mals gehofft, daß sich die Vernunft in Belgrad schnelldurchsetzen würde. Wir sind in diesen Hoffnungen ent-täuscht worden. Statt dessen hat die Belgrader Führungdie Vertreibung und das Morden auf grausamste Weiseintensiviert. Die im Kosovo begangenen Verbrechenwerden nicht dadurch rückgängig gemacht, daß dieMenschen – hoffentlich bald – in ihre Heimat zurück-kehren. Die Kosovaren haben einen Anspruch auf Ge-rechtigkeit. Die Verantwortung für das Leid, das ihnenzugefügt wurde, muß festgestellt und strafrechtlich ge-ahndet werden.
Der Strafgerichtshof in Den Haag hat am 27. MaiAnklage gegen den jugoslawischen Präsidenten Milose-vic und gegen weitere Mitglieder der Belgrader Führungwegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit erhoben.Die Bundesregierung hat die Arbeit dieses Tribunals inder Vergangenheit vorbehaltlos unterstützt und wird esauch in Zukunft tun. Ohne Gerechtigkeit kann es keinedauerhafte Stabilisierung und keine wirkliche Demokra-tisierung in Jugoslawien geben.Lassen Sie mich an dieser Stelle aber auch ein Wortüber die Opfer und über das Leiden der serbischen Zi-vilbevölkerung sagen. Wir haben gemeinsam mit denNATO-Partnern von Anfang an klargestellt, daß sich dieMilitäraktionen nicht gegen das serbische Volk richtenund daß wir alles tun werden, Verluste unter der Zivil-bevölkerung zu vermeiden. Aber doch – gleichsam ohnedie Möglichkeit, dies zu verhindern – hat es unschuldigeOpfer gegeben. Ich bedaure dies zutiefst und bin mirbewußt, daß es für die Opfer und ihre Familienangehöri-gen keine zufriedenstellende Erklärung sein kann, wennich darauf hinweise, daß die Belgrader Führung die volleVerantwortung für die Konsequenzen der militärischenAuseinandersetzung zu tragen hat.Für mich gibt es keinen Zweifel, daß die NATO-Intervention im Kosovo zwingend notwendig war. Dabeiwill ich einräumen, daß die Verteidigung der Menschen-rechte von Regierenden Maßnahmen verlangt, durch dieder Handelnde auch Schuld auf sich lädt. Doch auch der,der nicht handelt, würde in dieser Situation Schuld aufsich laden. Ich bin sicher: Nicht gehandelt zu habenhätte zu noch größerer Schuld geführt, nämlich derSchuld unterlassener Hilfeleistung für bedrängte undgequälte Menschen.
Die Kosovo-Krise führt uns eindringlich vor Augen,daß Europa sein Engagement auf dem Balkan nicht aufdas Management periodisch immer wieder auftretenderKrisen beschränken kann und darf. Es kann in Südosteu-ropa kein Nebeneinander von Stabilitätsinseln und Kri-senherden geben. Wir müssen uns auf eine regionaleKonfliktprävention konzentrieren. Deshalb hat diedeutsche Präsidentschaft noch während des Fortgangsder Kosovo-Krise beschlossen, eine umfassende Hilfs-strategie für die Länder dieser Region auf den Weg zubringen. Am 10. Juni werden die Außenminister der Eu-ropäischen Union, der Staaten der Region, der USA,Rußlands und der Türkei sowie die EU-Kommission unddie wichtigsten internationalen Organisationen ein-schließlich der Finanzorganisationen in Köln zusam-mentreffen, um einen Stabilitätspakt für Südosteuro-pa zu verabschieden.Ziel dieses Stabilitätspaktes ist die Entwicklung einerPerspektive von Frieden, Wohlstand und damit Stabili-tät. Wir wollen gewaltsame Konflikte gar nicht erst zumAusbruch kommen lassen; wir wollen sie verhindern.Dazu müssen wir dauerhafte Voraussetzungen für De-mokratie, Marktwirtschaft, regionale Zusammenarbeitund gutnachbarliche Beziehungen schaffen sowie diebetreffenden Staaten nachhaltig, wenn auch Schritt fürSchritt, in Europa verankern.
Beim Kölner Gipfel haben wir beschlossen, daß dieEuropäische Union eine führende Rolle beim Stabili-tätspakt und beim wirtschaftlichen Wiederaufbau derRegion spielen soll. Der Europäische Rat hat auch seineBereitschaft erklärt, die Länder der Region enger an dieUnion heranzuführen, mit der Perspektive einer vollenIntegration in ihre Strukturen. Die Kommission hat hier-zu eine neue Form vertraglicher Beziehungen vorge-schlagen. In Köln hat die Union weiterhin beschlossen,beim Wiederaufbau und bei der Übergangsverwaltungim Kosovo eine zentrale Rolle zu übernehmen.Wir alle wissen, daß Jugoslawien eine Schlüsselrollefür die Stabilität auf dem Balkan zukommt. Das Landmuß so schnell als möglich ein voller, ein gleichberech-tigter Partner im Stabilitätspakt sein.
Aber – auch das gilt es hinzuzufügen – es ist kaumdenkbar, daß ein Jugoslawien mit seiner derzeitigenFührung ein vertrauenswürdiger Partner in der Regionund in Europa sein kann.
Der Präsident von Montenegro und der serbische Op-positionsführer Djindjic haben kürzlich zu Recht festge-stellt, daß nur ein demokratisches Jugoslawien Stabilitätauf dem Balkan auf Dauer gewährleisten kann.
Sie haben erklärt, daß die Kosovo-Krise die Chancebietet, mit internationaler Hilfe einen Neuanfang für Ju-goslawien zu schaffen. Ich hoffe, daß das Land und sei-ne Menschen diese Chance so schnell wie möglich er-Bundeskanzler Gerhard Schröder
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greifen. Europa jedenfalls ist zur Hilfe bei der Demo-kratisierung bereit.
Meine Damen und Herren, die Europäische Union hatbeim Gipfel in Berlin zu Beginn der NATO-Operationgroße Geschlossenheit bewiesen, und sie hat diese Ge-schlossenheit bis zum Europäischen Rat in Köln be-wahrt. Am Ende der deutschen Präsidentschaft in derEuropäischen Union blicken wir auf ein ungemein ar-beitsintensives Halbjahr zurück. Schon heute bestehtAnlaß, mit dem Ergebnis von Köln eine erste Bilanz derdeutschen Präsidentschaft zu ziehen.Wir haben die Präsidentschaft in einer für Europa unddie Europäische Union gewiß schwierigen Zeit über-nommen. Wir waren wie noch keine Präsidentschaft voruns mit einer Bündelung von Herausforderungen kon-frontiert: Agenda 2000, Rücktritt der Kommission,Krieg im Kosovo. Wir haben in diesem Halbjahr viel, jasehr viel erreicht.
Schon beim Sondertreffen des Europäischen Rates imMärz 1999 konnte die deutsche Präsidentschaft in zweiganz wichtigen Bereichen grundsätzliche und rich-tungsweisende Entscheidungen erreichen. In Berlin gabes – das hatte niemand erwartet – eine Einigung über dieAgenda 2000.
– Ich erinnere mich an Ihre aufgeregten Stellungnah-men, wir sollten den Gipfel in Berlin besser verschieben.Das haben Sie doch ständig erklärt. Erinnern Sie sichdessen nicht mehr?
– Es waren gar nicht Sie, Herr Schäuble. Es war Ihrehemaliger Kanzlerkandidat Stoiber, der immer von derVerschiebung geredet hat.
Und in Berlin hat sich der Europäische Rat auf mei-nen Vorschlag hin darauf verständigt, den früheren ita-lienischen Ministerpräsidenten Romano Prodi als neuenPräsidenten der Kommission vorzuschlagen.
Die überragende Zustimmung durch das EuropäischeParlament ist der beste Beweis dafür, daß Romano Prodieine gute Wahl ist.
Auch der Europäische Rat in Köln stand natürlich imZeichen der aktuellen Entwicklungen in der Kosovo-Krise. Dennoch hat dieser Europäische Rat – der erstenach Inkrafttreten des Amsterdamer Vertrags – erneutdie Handlungs- und Entscheidungsfähigkeit der Euro-päischen Union unter deutscher Präsidentschaft unterBeweis gestellt. Entscheidende und bedeutende europa-politische Vorhaben sind auf den Weg gebracht worden.Europa hat deutlich gemacht, daß es gewillt ist, die neu-en Möglichkeiten, die es mit dem Amsterdamer Vertraggewonnen hat, entschlossen zu nutzen. Bester Ausdruckhierfür ist, daß sich die Mitgliedstaaten der Europäi-schen Union rasch und in großem Einvernehmen auf denjetzigen NATO-Generalsekretär Solana als künftigenHohen Beauftragten für die Gemeinsame Außen-und Sicherheitspolitik der Europäischen Union ver-ständigt haben. Auch das war ein Vorschlag der Präsi-dentschaft.
Ich denke, einen besseren und profilierteren Kandi-daten hätten wir nicht finden können. Solana wird dereuropäischen Außen- und Sicherheitspolitik die Stimmeverleihen, die ihr bisher so sehr fehlte. Damit wird Eu-ropa international erheblich an Gewicht gewinnen.
Europa wird außenpolitisch mit einer Stimme sprechen,und es wird weltweit mehr als je zuvor Gehör finden.Vom Europäischen Rat in Köln gehen darüber hinauswichtige Impulse und Orientierungen für die Fortent-wicklung Europas aus. Wir haben in einigen wesentli-chen Bereichen Ergebnisse erzielt, die weit über diedeutsche Präsidentschaft hinausweisen und die für diekommenden Arbeiten in Europa eine Art Fahrplan bisEnde 2000 skizzieren:Erstens. Wir haben einen Europäischen Beschäfti-gungspakt beschlossen. Ziel ist, nationale Anstrengun-gen zur Schaffung von mehr Beschäftigung auf europäi-scher Ebene zu begleiten und zu unterstützen.
Flankierend dazu haben wir eine europäische Investiti-onsinitiative auf den Weg gebracht.Zweitens. Vor dem Hintergrund der Kosovo-Krisehaben wir in Köln einen Fahrplan für die Ausgestaltungeiner eigenständigen europäischen Sicherheits- undVerteidigungspolitik verabschiedet. Europa brauchtmehr denn je eigene Kapazitäten zum Krisenmanage-ment.
Dabei steht fest: Dies soll keine Alternative zurNATO sein. Dies wird das Atlantische Bündnis und daseuropäische Gewicht in der NATO stärken. Eine stärke-re Rolle Europas in der Sicherheits- und Verteidigungs-politik wird Europa wie auch der NATO nützen. Des-halb wollen wir die im Amsterdamer Vertrag formulier-ten Perspektiven möglichst bald im Rahmen der euro-Bundeskanzler Gerhard Schröder
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päischen Integration umsetzen. Bis Ende des Jahres2000 sollen unter französischer Präsidentschaft die dafürerforderlichen rechtsförmlichen Beschlüsse gefaßt wer-den.Drittens. Der Europäische Rat in Köln hat eine ge-meinsame Strategie für Rußland beschlossen. Von ihrgehen wichtige Signale aus: Zum einen ist sie Beweisdafür, daß sich Europa zu mehr außenpolitischer Ge-meinsamkeit zusammenfindet, und zum anderen dafür,daß es seine Politik gegenüber wichtigen Partnern bün-deln und koordinieren will. Daß sich die erste gemein-same Strategie der EU auf Rußland richtet, ist Beweisdafür, welch außerordentliches Gewicht wir Europäereiner engen und partnerschaftlichen Kooperation mitRußland auf ökonomischem – aber nicht nur auf öko-nomischem – Gebiet beimessen.
Wir Europäer wollen diese Partnerschaft ausbauen undRußland auf seinem Weg der Reformen und der Demo-kratisierung weiter mit aller Kraft unterstützen.Viertens. Ferner haben wir uns in Köln auf das weite-re Vorgehen bei der Lösung der seinerzeit in Amsterdamoffengebliebenen institutionellen Fragen verständigt.Anfang des Jahres 2000 wird eine Regierungskonferenzeinberufen werden, um auch auf diesem Felde die EUerweiterungsfähig zu machen. Europa steht zu seinenZusagen. Wir wollen die mittel- und osteuropäischenLänder sobald als möglich in die Europäische Unionaufnehmen. Dafür haben wir in Berlin mit der Verab-schiedung der Agenda 2000 wesentliche Grundlagengelegt.
Die letzten Hindernisse für die Erweiterung werden wirmit dem Abschluß der in Köln beschlossenen Regie-rungskonferenz zu den institutionellen Reformen bisEnde 2000 aus dem Weg geräumt haben.Die Bilanz der deutschen Präsidentschaft ist ein Be-weis für unser Engagement zugunsten der Erweiterungder Union. Das wird in den ost- und mitteleuropäischenStaaten durchaus so gesehen.
Wir haben damit den Weg für schnelle Fortschritte indiesem Prozeß frei gemacht. Jetzt sind in erster Linie dieBeitrittsländer selbst gefordert. Sie müssen ihre konse-quente Reformpolitik fortsetzen. Erfolge in diesem Be-reich werden letztlich über konkrete Beitrittstermineentscheiden. Die Fortschrittsberichte, die die Kommissi-on regelmäßig vorzulegen hat, und die Tatsache, daß sieüber den Stand der Verhandlungen zu berichten hat, sindein Beweis dafür.Fünftens. Schließlich haben wir in Köln ein weitereszukunftsweisendes Projekt angestoßen. Wir haben unsdarauf verständigt, daß unter der kommenden finnischenPräsidentschaft eine Art Konvent aus nationalen Parla-mentariern, Europaparlamentariern, Vertretern der Re-gierungen der Mitgliedstaaten und Vertretern der Kom-mission unter Beteiligung gesellschaftlicher Gruppeneinberufen wird, die eine Grundrechtscharta der Eu-ropäischen Union erarbeiten soll.
Dieses politische Grundsatzdokument wollen wir – sosehen es die Festlegungen vor – beim Europäischen Ratim Dezember 2000 unter französischer Präsidentschaftverabschieden. Europäische Grundrechte sind aber un-mittelbar Angelegenheit der europäischen Bürger. Wirwollen eben nicht nur einen Vertrag zwischen Regierun-gen, sondern eine intensive öffentliche Diskussion, inder die Europäer selbst über ihre Grundrechte befinden.Meine sehr verehrten Damen und Herren, lassen Siemich noch einen Punkt erwähnen, der mir am Herzenliegt und bei dem der deutsche Vorsitz in Köln leiderkeinen Erfolg erzielen konnte. Ich meine die Fortent-wicklung der Beziehungen zwischen der EuropäischenUnion und der Türkei. Es war mein Ziel, bei diesemEuropäischen Rat das Verhältnis der Europäischen Uni-on zur Türkei neu zu ordnen. Wir wollten einen klarenZeitplan für die Heranführung an die Union vereinbaren.Nachdem sich Ministerpräsident Ecevit mir gegenüberzu den Kopenhagener Kriterien und den Bestimmungendes Art. 6 des EU-Vertrages bekannt hat, sollte auch dieTürkei als Kandidat gleichberechtigt in den Beitrittspro-zeß einbezogen werden. Hierzu konnten wir in Kölntrotz der Unterstützung der meisten Mitgliedstaaten aufGrund der Bedenken einiger weniger Partner noch keineEinigung erzielen.Die Türkei – das bleibt aber festzustellen – ist für Eu-ropa und die Region ein ganz gewichtiger und damitwichtiger Partner.
Wir alle müssen darum ein Interesse daran haben, dieDemokraten in der Türkei zu stärken, sie für Europa, fürunsere Politik und unsere gemeinsamen Werte zu ge-winnen. Dazu wäre ein deutliches Signal in Köln derrichtige Weg gewesen. Daß dies nicht gelungen ist, be-daure ich, aber ich werde mich davon unbeeindrucktweiterhin um Fortschritte im Verhältnis zur Türkei, unddas heißt: um die Konkretisierung ihrer Beitrittsper-spektive bemühen.
Meine Damen und Herren, diese Tage werden für dieLösung der Kosovo-Krise entscheidend sein. Ich sagedas deshalb, weil vielleicht schon heute ein entscheiden-der Tag sein wird. Ich jedenfalls wünsche dem Außen-minister, der gleich erneut zu dem Treffen der G-8-Staaten fahren wird, dabei alles Glück dieser Welt.
Ich habe die Hoffnung, daß der Konflikt jetzt zu ei-nem Ende kommt. Er hat auch zu Spannungen in unserereigenen Gesellschaft geführt. Ich möchte niemandemmeinen Respekt versagen, der das Engagement derBundeskanzler Gerhard Schröder
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NATO aus ethischen Gründen und Überzeugungennicht mittragen konnte. In diesem Zusammenhangmöchte ich Ihnen, den Abgeordneten des DeutschenBundestages, und zwar allen, Dank sagen, daß Sie in Ih-rer überwältigenden Mehrheit die Kosovo-Politik derBundesregierung mitgetragen haben.Ich glaube, daß uns in den vergangenen Wochen beiallen auch kontroversen und oft emotional geführtenDiskussionen hier im Bundestag wie in der Bevölkerungein Grundkonsens verbunden hat, nämlich der, daßEuropa unteilbar ist. Seine Werte und seine demokrati-schen Errungenschaften dürfen – das hat uns verbunden– eben nicht an den Grenzen der Europäischen Unionhaltmachen, sondern beanspruchen universelle Geltung.
Ich erteile das Wort
dem Vorsitzenden der CDU/CSU-Fraktion, dem Kolle-
gen Wolfgang Schäuble.
Herr Präsi-dent! Meine sehr geehrten Damen und Herren! HerrBundeskanzler, den Grundkonsens, von dem Sie im Zu-sammenhang mit Europas Rolle, Auftrag und Verständ-nis und der Unteilbarkeit unseres Auftrags über dieGrenzen der Europäischen Union hinaus zuletzt gespro-chen haben, teilen wir in der Tat. Alle Menschen in un-serem Lande teilen die Hoffnung, daß das Morden unddie Vertreibung im Kosovo bald ein Ende finden. JederTag früher, an dem Morden und Vertreibung im Kosovobeendet werden, ist um so besser. Jeder Tag früher, andem militärische Maßnahmen der NATO unter Beteili-gung der Bundeswehr nicht mehr notwendig sein wer-den, ist um so besser.
Ich will noch einmal hervorheben, was wir schonwährend Ihrer Rede zum Ausdruck gebracht haben: Wirteilen den Dank an den finnischen StaatspräsidentenAhtisaari, an Herrn Tschernomyrdin und an Herrn Tal-bott für ihre Bemühungen, endlich ein Ende der Gewaltim Kosovo und im ehemaligen Jugoslawien herbeizu-führen.Die militärische Entschlossenheit der NATO hateinen entscheidenden Beitrag zur Annäherung an einepolitische Lösung geleistet. Die Debatte in diesem Hausund in unserer Bevölkerung war schwierig. Die Bundes-regierung hat sich in dieser Debatte im Rahmen unsererBeschlußfassung auf die Unterstützung der CDU/CSU,wie ich es Ihnen vorhergesagt habe, immer verlassenkönnen, teilweise mehr als auf die Unterstützung inIhren eigenen Reihen.
Weil der militärische Einsatz von NATO und Bun-deswehr unausweichlich geworden war, um eine politi-sche Lösung zu erreichen, will ich auch in dieser Stundenoch einmal den Soldaten der Bundeswehr und den Sol-daten der Streitkräfte aller Verbündeten unseren Dankfür ihren gefährlichen, mutigen und entschlossenenDienst aussprechen.
Es war immer klar: Wir brauchen eine politische Lö-sung. Wir haben immer auch gesagt: Die Vorstellungen,nach denen manches ein bißchen unklar war – auch siehat es da und dort im Bündnis gegeben; selbst innerhalbder Bundesregierung mußten sie gelegentlich dementiertwerden, weil der eine oder andere hohe Beamte viel-leicht nicht richtig verstanden worden ist oder etwasfalsch ausgedrückt hat –, daß man notfalls auch mitKampftruppen am Boden in Jugoslawien einmarschiertund nach Belgrad zieht, um, wenn es nicht anders geht,mit ausschließlich militärischen Mitteln ein Ende derAuseinandersetzung herbeizuführen, haben wir immerabgelehnt. Das haben wir stets klar gesagt. Es ist gut,daß inzwischen auch im Bündnis darüber Klarheitherrscht. Dieser Weg hat sich zu jedem Zeitpunkt alsnicht gangbar erwiesen. Das muß auch heute gesagtwerden; denn wir brauchen eine politische Lösung. Wirteilen die Wünsche, daß das Treffen der Außenministerder G-8-Staaten in Köln das Ergebnis des Kriegsendesin diesen Tagen bringt.Wenn eines bei Milosevic und der serbischen Füh-rung sicher ist, dann ist es, daß man ihr nicht trauenkann und sehr vorsichtig sein muß. Herr Bundeskanzler,mein Rat lautet, aus Erfahrung klug zu werden: DerJubel in Köln war zu früh und zu laut.
Wir hätten gerne eingestimmt, wenn die Grundlagen da-für gegeben wären.
Ich will Ihnen sagen, warum der Jubel falsch war.Verehrte Kolleginnen und Kollegen, wenn Sie einenMoment nachdenken, dann stellen Sie fest: Es liegt nochein schwerer, risikoreicher und gefährlicher Weg vorallen Dingen vor den Soldaten der Bundeswehr und alldenjenigen, die in den Kosovo gehen müssen. LassenSie uns einen Moment darüber nachdenken, was allesfalsch war.
Es war falsch, Herrn Primakow in Bonn so zu behan-deln, wie er behandelt worden ist.
Vielleicht hat es Herr Tschernomyrdin heute in Moskauleichter.Als ich den Jubel in Köln letzte Woche sah, habe icheinen Moment gedacht: Wie mag das auf unsere ameri-kanischen Freunde wirken? Man muß wirklich immerund immer wieder sagen: Wir haben die Amerikaner ge-rufen; die Amerikaner haben sich nicht auf den Balkangedrängt. Ein paar Jahre lang haben sie gesagt: Das sol-len die Europäer einmal selber machen. Die Europäerhaben es nicht gekonnt; vielmehr haben wir Europäerunsere amerikanischen Freunde gebeten. Es war sehrBundeskanzler Gerhard Schröder
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unklug, den Eindruck zu erwecken, den Krieg machtendie Amerikaner und den Frieden die Europäer. Gegen-über den Amerikanern war dies nicht nur rücksichtslos,sondern im Sinne unserer langfristigen Zukunftsinteres-sen auch falsch.
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, wenn Sie einenMoment über die Schwierigkeiten in der russischen In-nenpolitik nachdenken, die mit Händen zu greifen wa-ren, dann werden Sie das, was ich zu Primakow gesagthabe, vielleicht doch anders beurteilen. Vor allen Din-gen werden Sie sich fragen, ob das Ausmaß des Jubelsin Köln und der Kontrast zu dem Empfang von HerrnTschernomyrdin auf dem Flughafen in Moskau nichtwiederum die Lage in Moskau eher erschwert als er-leichtert hat.
Mir geht es darum, daß wir den Weg gemeinsam er-folgreich zu Ende gehen.
Weil das einige, wie es die Zwischenrufe zeigen, im-mer noch nicht begreifen wolle, will ich eine dritte Fra-ge stellen: Hat der Jubel in Köln nicht möglicherweisebei der serbischen Führung in Belgrad, bei Milosevicund anderen, den Eindruck erweckt, daß diejenigen, diejetzt so sichtbar Erleichterung zeigen, vorher furchtbarunsicher gewesen sein müssen,
und die Entscheidung erleichtert, es noch einmal zu ver-suchen und die Zugeständnisse, nachdem man sie müh-sam akzeptiert hat, gleich zu Anfang, noch ehe derRückzug begonnen hat, sofort wieder zurückzunehmen?Darüber mag man auch nachdenken.
Wir haben die Auseinandersetzung hierüber in diesenschwierigen Monaten bisher nicht sehr polemisch undkritisch geführt, aber es sind sehr viele atmosphärischeFehler gemacht worden. Dieser Bundestag, der heuteüber einen Antrag der Bundesregierung, dem er zu-stimmen muß, berät, steht vor einer der schwierigstenund weittragendsten Entscheidung, die er je zu treffenhatte. Die Dimension dieser Entscheidung ist so weitrei-chend wie die Entscheidung zur Beteiligung an denLuftangriffen, die wir im März zur Kenntnis nehmenmußten. Jedermann weiß – welche Absprachen auchimmer in den nächsten Tagen getroffen werden –, daß essich um einen ungeheuer schwierigen, gefahrvollen undrisikoreichen Auftrag handelt, der sich über Jahre er-streckt. Je besser es gelingt, die Lage in Belgrad oder inMoskau nicht weiter anzuheizen, indem man hier, auswelchen Gründen auch immer – und sei es nur, daß mannicht genügend darüber nachdenkt und ausreichend dasEnde bedenkt –, die Dinge provoziert, und die Lage ru-hig zu halten,
desto geringer ist das Risiko für die Soldaten der Bun-deswehr und der anderen Streitkräfte der Nationen, diediesen gefährlichen Dienst leisten müssen.
Der Antrag der Bundesregierung bedarf noch einerVeränderung, vermutlich einer Neufassung, denn dieBundesregierung sieht nach dem, was sie heute nachtden Fraktionen mitgeteilt hat, eine andere Rechtsgrund-lage für die Beschlußfassung durch den Bundestag vor,als sie im Antrag steht. Wir begrüßen es, daß die Bun-desregierung anstrebt, ein Mandat des Sicherheitsratesder Vereinten Nationen zur Grundlage zu haben, wasin dem vorliegenden Antrag so nicht enthalten ist. Wirwerden das ebenso gründlich prüfen, wie wir auch kei-nerlei Verzögerung bei den Beratungen hinnehmen.Auch das sage ich Ihnen noch einmal zu. Es ist natürlichrichtig, daß, wenn der Rückzug beginnt, möglichstschnell Streitkräfte in das Kosovo einrücken müssen, umdort eine Sicherheitspräsenz herzustellen. Deswegensind wir zu einer zügigen Beratung bereit, werden daranmitwirken und mithelfen.Genauso klar sage ich aber auch, damit es daran kei-nen Zweifel gibt: Die Verantwortung, die jedes Mitglieddieses Hauses bei der Zustimmung zu diesem Antrag aufsich nimmt, ist außergewöhnlich hoch. Täuschen Siesich, meine verehrten Kolleginnen und Kollegen von dersozialdemokratischen Fraktion, darüber nicht! Deswe-gen werden wir zügige Beratung mit gründlicher Prü-fung verbinden. Vielleicht, Herr Bundeskanzler, ist eseine ganz vernünftige Arbeitsteilung, die auch gemäßder Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts inder Notwendigkeit konstitutiver Zustimmung des Bun-destages angelegt ist, daß diejenigen, die von der ver-ständlichen, notwendigen und unvermeidlichen Hektikdieser sich jagenden Gespräche und Verhandlungen aufeuropäischer Ebene, im Rahmen der G 8, in der UNOoder wo auch immer betroffen sind, mit anderen Argu-menten austauschen und diese von denen prüfen lassenmüssen, die von dieser Hektik nicht betroffen sind undmit ein wenig mehr Atem und weniger Atemlosigkeitprüfen können, was wir unter welchen Voraussetzungenverantworten und den Soldaten der Bundeswehr zumu-ten können.
Es ist der gefährlichste Einsatz in der Geschichte derBundeswehr.Hierzu möchte ich eine weitere Bemerkung anfügen:Herr Bundeskanzler, Herr Bundesfinanzminister, Siewollen uns in den nächsten Wochen mit allen möglichenEntscheidungen zur Finanz- und Haushaltspolitiküberraschen. Da Herr Eichel angekündigt hat, er habepraktisch alles zusammen, wäre es mir lieber, wenn er esin dieser Woche sagen würde. Dann muß man nichtnach der Wahl am kommenden Sonntag feststellen:Hätte man es vor der Wahl gewußt, wäre vielleicht man-Dr. Wolfgang Schäuble
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ches anders gelaufen. Ein wenig Klarheit vor der Wahlwürde überhaupt nicht schaden.
– Wenn Sie zu tollen Ergebnissen gekommen wären,würden Sie es ganz bestimmt vor der Wahl sagen, sowie ich Sie kenne. Sie haben sich nie durch einen Man-gel an Zurückhaltung ausgezeichnet. Das kann man Ih-nen nicht vorwerfen.
In diesem Zusammenhang will ich darauf hinweisen,daß wir vor der Situation stehen, daß 10 000 Soldaten –wenn man alles zusammenrechnet, sind es über 10 000Soldaten – für einen langen Zeitraum im ehemaligen Ju-goslawien, vor allem im Kosovo, aber auch in BosnienDienst tun sollen. Das wird die Bundeswehr bis an dieGrenzen ihrer Belastbarkeit fordern. Wir alle verweisenhier darauf, daß im Kosovo nur Soldaten zum Einsatzkommen, die sich dafür auch freiwillig gemeldet haben.Jeder, der sich als Zeitsoldat verpflichtet hat, hat sichdamit freiwillig bereit erklärt, dort Dienst zu tun. DieserEinsatz wird eine ungeheure Belastung und Herausfor-derung für die Bundeswehr sein. Angesichts dieser Ver-hältnisse und der finanziellen Auswirkungen, die dieserEinsatz auf die Bundeswehr haben wird, halte ich es fürvöllig unvorstellbar, daß die Bundesregierung ihre Zu-sage, nicht in die mittelfristige Finanzplanung der Bun-deswehr einzugreifen, nicht einhalten wird. Das mußman auch in diesem Zusammenhang sagen. Etwas ande-res könnte man der Bundeswehr nicht zumuten.
Wenn Sie, Herr Kollege, erlauben, möchte ich einpaar Bemerkungen über die deutsche Präsidentschaftin der Europäischen Union machen. Ich möchte auchhier mit dem beginnen, worin wir übereinstimmen: Wirhaben schon im März darauf hingewiesen – ich wieder-hole das –: Die Entscheidung, Romano Prodi als künf-tigen Präsidenten der Europäischen Kommission zu be-nennen, ist gut. Daß das Europäische Parlament der Er-nennung von Romano Prodi mit übergroßer Mehrheitzugestimmt hat, hat die Richtigkeit dieser Entscheidungbestätigt. Auch die Entscheidung für Solana als künfti-gen Repräsentanten einer Gemeinsamen Außen- undSicherheitspolitik der Europäischen Union ist eine guteEntscheidung, die wir begrüßen und unterstützen. Auchdie Absprachen und die Ergebnisse von Köln bezüglichder Integration der Westeuropäischen Union in dieEuropäische Union und der Stärkung der Handlungsfä-higkeit sowie der verteidigungs- und sicherheitspoliti-schen Identität der Europäischen Union finden unsereZustimmung und unsere Unterstützung.
Darüber hinaus sind aber keine Ergebnisse währendder deutschen Präsidentschaft in der EuropäischenUnion erzielt worden.
Ich habe zuerst daran gedacht, von mageren Ergebnissenzu sprechen. Aber auch bei magerem Fleisch gibt esimmer noch Knochen. Hier gibt es noch nicht einmalKnochen, denn es sind keine Ergebnisse erzielt worden.Die Agenda 2000, die in Berlin verabschiedet wurde,ist gescheitert. Herr Bundeskanzler, es ist doch ganz ein-fach: Als Sie an einem Freitag morgen in Bonn nacheiner langen Nacht der Verhandlungen in Berlin ange-kommen sind, haben wir Verständnis dafür gehabt, daßSie uns nicht direkt sagen konnten, wie sich die Ergeb-nisse des Berliner Gipfels auf die Beitragslast der Bun-desrepublik Deutschland auswirken würden. Aber in-zwischen sind drei Monate vergangen. Trotzdem erklärtsich die Bundesregierung bis auf den heutigen Tag au-ßerstande, dem Hohen Hause mitzuteilen, ob Deutsch-land nach dem Berliner Gipfel nun mehr oder weniger indie EU zahlen muß.
Sie müssen doch inzwischen wissen, was Sie beschlos-sen haben. Ich weiß, warum Sie die Zahlen nicht vorle-gen. Wenn Sie das nämlich täten, dann würde deutlich,daß die Belastung durch den Berliner Gipfel für denHaushalt der Bundesrepublik Deutschland nicht gesun-ken, sondern gestiegen ist. Das ist die Wahrheit.
Ihr bisheriges Verhalten steht in einem merkwürdigenWiderspruch zu Ihren wirklich verantwortungslosenAnkündigungen im Januar. Sie haben damals gesagt, dieZeiten seien vorbei, in denen in Brüssel das Geld derdeutschen Steuerzahler verbraten werde, die Engländer,die Franzosen und die Spanier sollten jetzt endlich ein-mal mehr zahlen, damit wir in Deutschland weniger be-zahlen müssen. Nichts davon haben Sie erreicht. Siekonnten es auch gar nicht erreichen; denn wenn maneinstimmige Ergebnisse erzielen will, dann stellt manmit solchen Erklärungen von vornherein nur das eigeneScheitern sicher. Das haben Sie auch erreicht. Aber vondem, was Sie angekündigt hatten, haben Sie nichts er-reicht.
Die Agenda 2000 hat zu keiner grundlegenden Re-form der Agrar- und Strukturpolitik, zu keiner grundle-genden Reform der europäischen Finanzpolitik geführtund auch nicht die Europäische Union auf die Riesen-aufgabe der Osterweiterung mit den BeitrittsanwärternPolen, Tschechien und Ungarn in der ersten Reihe vor-bereitet. Diese Reformen werden angesichts der Not-wendigkeit, jetzt ein noch größeres Aufbauwerk auf demBalkan zu bewältigen, zu einem noch viel größeren De-Dr. Wolfgang Schäuble
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saster führen. In keiner Weise ist Europa durch den Ber-liner Gipfel auf die Riesenaufgabe eines Stabilitätspak-tes für den Balkan vorbereitet worden. Darin besteht dasScheitern Ihrer Arbeit.
Vor dem Kölner Gipfel haben Sie groß von Beschäf-tigungspakt und von Beschäftigungsprogrammen gere-det. Man konnte richtig Angst bekommen, das klangnach einer Drohung. Europäische Beschäftigungspro-gramme werden die Arbeitslosigkeit in Europa nichtverändern. Es wäre viel gescheiter, Europa würde dasmachen, was auf dem Luxemburger Gipfel mit dem Be-schäftigungskapitel im Amsterdamer Vertrag vereinbartworden ist, nämlich daß jedes Mitgliedsland seine natio-nale Wirtschafts-, Finanz-, Steuer-, Haushalts- und So-zialpolitik an dem Ziel ausrichtet, mehr Arbeitsplätze zuschaffen. Aber genau vor dieser Herausforderung ver-sagt Ihre Regierung kläglich.
Jetzt ist in Brüssel nichts herausgekommen außernoch so einer Art Bündnisrunde auf europäischer Ebene.Da Sie uns in diesen Tagen gezeigt haben, was Sie unter„Bündnis für Arbeit“ verstehen, will ich an dieser Stellemeine Warnung vorbringen. Sie haben jetzt ein kleines„Bündnis für Arbeit“ abgeschlossen. Wissen Sie, wasdas kleine „Bündnis für Arbeit“ hinsichtlich derSchlechtwettergeldregelung bedeutet? Es bedeutet, dieArbeitnehmer zahlen ein bißchen weniger, die Arbeitge-ber zahlen auch ein bißchen weniger, und die Gemein-schaft der sozialversicherungsbeitragspflichtigen Ar-beitnehmer und Arbeitgeber insgesamt zahlt ein bißchenmehr – ein Vertrag zu Lasten der Allgemeinheit.
Wenn das ein kleines „Bündnis für Arbeit“ ist, dannkann man bei der Vorstellung, was erst ein großes„Bündnis für Arbeit“ bringen würde, nur Alpträume be-kommen. Das brauchen wir auf europäischer Ebeneganz gewiß nicht.
Dann will ich Ihnen noch folgendes sagen: Ihre Poli-tik der Steuererhöhungen besteht ausschließlich darin,selbstgemachte Fehler teilweise zu korrigieren. Anfangdes Jahres haben Sie die Steuern für Wirtschaft undMittelstand erhöht und angekündigt, Sie würden sie inein, zwei Jahren korrigieren. Davon ist gar nicht mehrdie Rede. Jetzt wird nur noch gesagt, man hoffe, viel-leicht ohne Steuererhöhungen auszukommen.Außerdem herrscht bei Ihnen ein Durcheinander inder Gesundheitspolitik und in der Rentenpolitik. Unshaben Sie Vorwürfe gemacht, als wir in der Rentenver-sicherung einen demographischen Faktor eingeführt ha-ben, durch den das Wachstum der Renten weiterhin ge-sichert, aber verstetigt bzw. verlangsamt worden ist.Jetzt machen Sie Rentenpolitik nach Kassenlage: jedenTag eine neue Ankündigung, zwei Jahre Aussetzung derRentenanpassung oder Halbierung oder was auch im-mer. Renten nach Kassenlage, das ist nicht das, was wiruns bei der gesetzlichen Rentenversicherung vorgestellthaben.
Die Folge von alldem ist – wir reden von Beschäfti-gung in Europa, und die muß man zu Hause machen –:Das Wachstum in Deutschland im ersten Quartal 1999– gerade habe ich die Meldung auf den Tisch bekommen– beträgt noch 0,7 Prozent. Das heißt, nach dem OECD-Bericht sind wir in der Wachstumsentwicklung inzwi-schen unter den Schlußlichtern in Europa. Die Ursachedafür liegt nicht in Brasilien oder sonstwo, sondern inDeutschland, in Ihrer falschen Politik.
Deswegen geht die Arbeitslosigkeit, seit Sie Kanzlersind, saisonbereinigt nicht mehr zurück, während sie imvergangenen Jahr zurückgegangen ist.
Auch die wirtschaftliche Entwicklung und die Inve-stitionen gehen zurück.
– Aber liebe Kollegen, lassen Sie sich doch nicht ablen-ken, die wollen doch nur stören.Lassen Sie mich ganz ruhig sagen: Es zeigt doch dasgesunkene Vertrauen in die Nachhaltigkeit der wirt-schaftlichen und finanziellen Entwicklung in Europaunter der deutschen Präsidentschaft als Folge insbeson-dere der schlechten Entwicklung in Deutschland, daßder Wechselkurs zwischen Euro und Dollar von 1,18 zuBeginn Ihrer Amtszeit auf unter 1,03 am gestrigen Tagegesunken ist – ein Menetekel. So haben wir nicht ge-wettet, als wir den Euro eingeführt haben. Einen stabilenEuro, so stabil wie die D-Mark, haben wir alle miteinan-der versprochen. Jetzt machen Sie in Deutschland, demgrößten Teilnehmerland der Europäischen Währungs-union, eine Politik, die die Wachstumskräfte und dieStabilitätserwartungen schwächt. Das schafft an den Fi-nanzmärkten eine Vertrauenskrise bezüglich des Euro.
Wir hatten einen Stabilitätspakt verabredet – eingroßes Verdienst von Theo Waigel. Danach sollten sichalle dazu verpflichten, ihre Neuverschuldung auch nachErreichen der Kriterien 1999, 2000 und 2001 schrittwei-se stetig zu senken. Ausnahmen würden nur in äußerstenNotfällen von der Europäischen Union genehmigt wer-den. Die erste Ausnahme ist bereits genehmigt worden.Sie als Ratspräsident haben aber zugesichert, es würdeeine einmalige Ausnahme bleiben, in Zukunft gäbe eskeine weitere.
Dr. Wolfgang Schäuble
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Herr Bundeskanzler Schröder, jemandem, der ewigeTreue schwört, aber bei der ersten Versuchung diesernachgibt, um anschließend zu erklären, einmal sei kein-mal, dem glaubt man nicht. Deswegen zerstören Sie mitdieser Politik Vertrauen.
Ich lese in einer Agenturmeldung: Blair und Schröderrufen zu Kurswechsel auf. – Wenn Sie den Kurs IhrerPolitik korrigieren, dann kann ich Sie nur unterstützen.
Wechseln Sie endlich den chaotischen Kurs der Wirt-schafts-, Finanz-, Steuer- und Sozialpolitik der Bundes-regierung! Dazu brauchen Sie aber nicht Tony Blair; dasmüssen Sie nicht in Londoner Zeitungen verkünden, Siemüssen vielmehr hier in Deutschland handeln. Da sindSie schwach. Nur mit Aufrufen in der Presse sind Siestark.
Bemerkenswert ist – das muß man einmal sagen –:Der Aufruf soll sich vor allem an die sozialdemokrati-schen Regierungen in Europa richten. Dazu haben Sieallen Grund: Fordern Sie sich selber auf! In diesem Auf-ruf sprechen sich – hören Sie einmal zu! – Blair undSchröder für drastische Maßnahmen zur Sanierung deröffentlichen Finanzen aus. Außerdem fordern sie Re-formen des Sozialstaats, flexiblere Arbeitsmärkte undeine allgemein unternehmerfreundlichere Politik. – Mei-ne Damen und Herren: herzlichen Glückwunsch!
Ich will Ihnen noch einmal sagen: Von Ihren Medien-auftritten haben wir genügend gehabt. Ich schlage vor,daß Sie oder Ihr zuständiger Minister in dieser Woche –wir haben noch eine Bundestagssitzung – an dieses Pultgehen und sagen, was Sie vorhaben. Sie müssen vor denWahlen Klarheit schaffen, damit wir nicht nach derWahl sagen müssen: Sie haben die Leute vor der Wahlangelogen. Wir wollen bei den Renten, bei den Kürzun-gen und bei den Steuern keinen Wahlbetrug.
Die schrecklichen Erfahrungen im Kosovo lehren:Wir brauchen politisch, sicherheitspolitisch und wirt-schaftspolitisch ein starkes Europa. Aber ein starkes Eu-ropa geht nur nach dem Prinzip der Dezentralisierungund nicht dadurch, daß wir noch mehr Bürokratie nachBrüssel schieben. Ein starkes Europa wird nur gelingen,wenn jeder in Europa seiner Verantwortung nachkommt.Deswegen fängt ein starkes Europa, wenn man Europarichtig machen will, zu Hause an.
Darin versagt diese Regierung.
Für die SPD-Fraktion erteile ich das Wort Bundesminister RudolfScharping.Rudolf Scharping, Bundesminister der Verteidi-gung: Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Bevor ich zu den Fragen komme, die mit derEntwicklung im Kosovo zu tun haben, einige kurze Be-merkungen, die Sie sich, Herr Kollege Schäuble, einmalvor Augen führen sollten: Die Bundesregierung hat imletzten November nach eingehender Beratung entschie-den, daß in Deutschland insbesondere denjenigen jungenMenschen geholfen werden soll, die schlechtere Chan-cen hatten und keine ordentliche Ausbildung erreichenkonnten, und hat deswegen beschlossen, daß 100 000Plätze für berufsqualifizierende Maßnahmen zu fi-nanzieren seien.Wir hatten zunächst eine gewisse Sorge, daß die vor-gesehene Zahl von 100 000 Plätzen zu hoch sein könnte.Denn der öffentliche Eindruck war ja, daß die meistenJugendlichen eigentlich gar keinen Ausbildungsplatzhaben wollten und kein Interesse an ihrer Zukunft hät-ten. Das hat sich im öffentlichen Eindruck ebenso verfe-stigt, wie es sich in der Realität als falsch herausgestellthat: Ende April dieses Jahres befanden sich 117 000 Ju-gendliche in solchen berufsqualifizierenden Maßnah-men. Ich sage Ihnen in aller Deutlichkeit: Zu einer fairenBilanz, die nicht allein durch den kommenden Wahl-sonntag motiviert ist, gehört, daß wir in Deutschlandstolz auf unsere Jugend und auf die Tatsache sein kön-nen, daß jetzt 117 000 Jugendliche weniger arbeitslossind.
Falls Sie sich die Entwicklung der europäischenWährung betrachten, rate ich Ihnen sehr dazu, dieaußerordentlich niedrige Inflationsrate, die wir Gott seiDank immer noch haben, in die Bewertung mit einzube-ziehen und sich im übrigen an der Gelassenheit der ex-portorientierten Wirtschaft angesichts der Entwicklungdes Euro-Kurses im Verhältnis zu dem des Dollar zuorientieren.Ihre Äußerungen zur Arbeitslosigkeit sind, so glaubeich, in wenigen Minuten dementiert. Denn die Arbeits-losenstatistik vom Mai dieses Jahres, die man sich inRuhe anschauen muß, wird heute bekanntgegeben.Ich will damit folgendes sagen – ohne auf weitereseinzugehen –:
Wenn Sie als Mitglied einer Partei, die 16 Jahre langhier regiert hat, sagen, daß man die Menschen vor derWahl ein bißchen hinter die Fichte führen wolle, dannist das doch nichts anderes als die Spekulation darüber,daß sich die Menschen an die von Ihnen 16 Jahre langDr. Wolfgang Schäuble
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geprägten Verhaltensweisen erinnern und sie auf die jet-zige Koalition übertragen.
Ich wollte Ihnen das nur kurz – denn ich habe anderes zutun, und Sie bekommen auch von anderen Antwortenauf Ihr Vorgehen – in einem gewissen Rückfall in alteparlamentarische Sitten mit auf den Weg geben.
– Hören Sie auf, von Wahlkampflügen zu sprechen. Siehaben gesagt, daß Sie die Mehrwertsteuer und die Mine-ralölsteuer nicht erhöhen werden. Sie haben sie erhöht.Sie haben den Menschen stabiles Geld versprochen. Siehaben uns einen Schuldenberg hinterlassen, wie dasnoch nie zuvor eine Regierung getan hat. Sie haben ge-sagt, Sie würden den Menschen mit einem Bündnis fürArbeit helfen. Sie haben es zerstört.
Dazu könnte ich Ihnen noch viel sagen. Aber das wird jaim Laufe der weiteren Debatte noch von anderen aufge-griffen werden.
Ich möchte Ihnen nun etwas zur aktuellen Entwick-lung im Kosovo sagen: Man kann seit dem 2. oder 3.Juni eine gewisse Hoffnung darauf haben, daß die dorti-gen Auseinandersetzungen bald beendet sind. Ich fügehinzu: Es wird dann ein Krieg zu Ende gehen, den dieBundesrepublik Jugoslawien und ihre verbrecherischeFührung gegen die Kosovo-Albaner geführt haben. Eswird ein Krieg zu Ende gehen, der sich gegen menschli-che Identität, menschliche Würde und menschlicheRechte gerichtet hatte. Es wird ein Krieg zu Ende gehen,den die jugoslawische Führung mit ihrem Militär gegeneuropäische Werte und gegen europäische Zivilisationgeführt hat.Es besteht kein Grund zur Freude – auch nicht mitBlick auf den hoffentlich bald erreichten Abschluß die-ser Auseinandersetzung. Es besteht aller Grund zu einerweiterhin realistischen Betrachtung. Denn dies ist dervierte Krieg auf dem Balkan. Diese Kriege habenschrecklich vielen Menschen das Leben gekostet. Es gabim Zusammenhang mit diesen Kriegen über 73 Resolu-tionen des Weltsicherheitsrates. Lediglich eine ist be-achtet worden. Es gab allein in Bosnien-Herzegowina 18Waffenstillstände. Mancher dauerte weniger als fünfMinuten, mancher weit weniger als einen ganzen Tag,aber keiner länger als einen Tag.Das heißt, daß man angesichts dieser Situation undder Erfahrungen in jeder Hinsicht Festigkeit braucht:hinsichtlich der politischen Bemühungen ebenso wiehinsichtlich der militärischen Maßnahmen und auch hin-sichtlich der humanitären Hilfe.Die Bundesregierung hat heute beantragt, ein Mandatgewissermaßen als Ergänzung und Ersatz für bestehendeMandate zur Verfügung zu stellen, um dieser dreifachenStrategie nicht nur zum Erfolg zu verhelfen, sondernauch bei der Garantie dieses Erfolges, wenn er denn er-reicht wird, mitzuwirken.Ich will Sie darüber informieren, daß unabhängig vonden Beratungen der Außenminister der G 8 auch dieMilitärs gestern nacht und auch heute wieder, wenn da-für Zeit und Möglichkeit besteht, zusammensitzen, umjenes militärtechnische Abkommen infolge des Peters-berg-Dokumentes zum Abschluß zu bringen, und zwarso, daß es praktische und sehr überprüfbare militärischeRegelungen gibt.Dahinter steckt das vom Bundeskanzler angesproche-ne Prinzip, das Inhalt des Ahtisaari-Tschernomyrdin-Vorschlages ist, den Milosevic und das serbische Parla-ment gebilligt hatten, daß nämlich alle serbischen Si-cherheitskräfte und Streitkräfte vollständig in einemüberprüfbaren, kurzen Zeitraum abgezogen werden, undzwar so, daß die Flüchtlinge und Vertriebenen mit demnötigen Vertrauen auf Sicherheit in ihre Heimat zurück-kehren können. Das war unser Ziel, das bleibt unserZiel, und es wird auch in Zukunft die wirklich großeAufgabe werden.Die Geschlossenheit und auch die Entschlossenheitdes westlichen Bündnisses war eine Voraussetzung da-für, daß es eine erfolgreiche Friedensregelung gebenkann, wobei ich hinzufüge: Wenn wir den Beschluß desWeltsicherheitsrates, wenn wir das militärtechnischeAgreement, wenn wir den Abzug der Truppen, wenn wirdas Einrücken der internationalen Truppen haben, dannsollten wir uns auch mit Blick auf die Erfahrungen inBosnien darüber klar sein, daß es dann – hoffentlich –das Ende der Gewalt ist. Es ist noch lange nicht derFrieden, den wir uns wünschen und der nur in dauer-hafter Stabilität auf ebenso dauerhafter ökonomischerund stabiler Grundlage – übrigens auch auf gegenseiti-gem Respekt vor unterschiedlicher Abstammung, Kul-tur, Sprache oder anderem – gewährleistet werden kann.Die Bundesregierung tritt dafür ein – das ist gesagtworden –, daß sich der Sicherheitsrat der VereintenNationen unverzüglich mit diesen Fragen beschäftigtund auch einen Beschluß faßt. Das heißt, daß man sichrasch und umfassend hier zu Hause wie international aufdie Umsetzung einer Friedensvereinbarung vorbereitenmuß.Ich will erläutern, warum aus unserer Sicht das Wortvom raschen Vorbereiten mehr ist als eine gewisserma-ßen innerbetriebliche Hektik. Es darf im Kosovo keinSicherheitsvakuum entstehen. Der Abzug der serbi-schen, jugoslawischen Truppen, Paramilitärs und Mör-derbanden muß nicht nur in einem engen Zeitplan undüberprüfbar vorgenommen werden, sondern er muß auchstrikt mit dem Einrücken der internationalen Friedenssi-cherung koordiniert sein. Ansonsten besteht mit Blickauf – man weiß es nicht so genau – Marodeure, Tschet-niks und unkontrollierbare UCK-Gruppen und mit demBedürfnis nach Rache und Vergeltung ein erheblichesRisiko im Kosovo.Bundesminister Rudolf Scharping
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Wir hoffen, daß wir bald – vielleicht sogar heute –über die Substanz einer Resolution des Weltsicherheits-rates Klarheit haben. Über den Zeitpunkt ihrer Verab-schiedung kann man nichts sagen; denn die G 8, selbstwenn sie großen Einfluß haben, werden nicht nur auspolitischen und diplomatischen Gründen den Eindruckvermeiden, als wollten sie Punkt für Punkt, Buchstabefür Buchstabe und Wort für Wort dem Weltsicherheits-rat und seinen 15 Mitgliedern eine Resolution hinlegen,die dort nur noch mit einem Nicken zu quittieren wäre.Es besteht Grund zu der Vermutung, daß auch diemilitärisch-technischen Vereinbarungen in einem engenzeitlichen und politischen Zusammenhang mit dieserEntwicklung auf der Ebene der Vereinten Nationen undder G 8 gesehen werden. Das wird dann bedeuten – dar-über wird die Bundesregierung morgen reden –, daß dieZiffer 6 – Sie verzeihen mir, wenn ich diesen prakti-schen Hinweis gebe – bezüglich der Befassung desWeltsicherheitsrates möglicherweise verändert wird unddaß dies dann zu einer in dieser und nur in dieser Hin-sicht veränderten Beschlußgrundlage gemacht wird. DieBundesregierung wird sich im Licht der Ergebnisse desG-8-Treffens, wenn sie denn erreicht sind, darüber nochverständigen. Im Kreise der Fraktionsvorsitzenden wur-de ja auch eine entsprechende Verständigung gefunden.Wichtig für die Rolle der Bundeswehr bei der Siche-rung dieses hoffentlich bald eingeläuteten Friedenspro-zesses ist, daß die Bundeswehr auch in dieser Frage denRückhalt der gesamten deutschen Bevölkerung und dieZustimmung des Deutschen Bundestages und dessenRückhalt erfährt. Ich will Ihnen das erläutern. Am 26.Mai ist der entsprechende Operationsplan vorbereitetworden, bis in die letzten Tage wurde er weiterentwik-kelt. Er sieht vor, daß 50 000 Soldaten zur Friedenssi-cherung im Kosovo zur Verfügung stehen. Die Bundes-regierung wie die NATO streben eine Beteiligung mög-lichst vieler anderer Staaten an. Beispielsweise werdenwir mit einiger Sicherheit mit den Niederlanden, wahr-scheinlich auch mit Österreich und anderen neutralenStaaten zusammenarbeiten. Wir streben insbesondere an,daß sich Rußland so früh und so umfangreich wie mög-lich an dieser Friedenssicherung beteiligt.Wenn Hindernisse dabei auftauchen, tauchen sienicht bei der NATO auf und beruhen nicht auf mangeln-dem politischen Willen der westlichen Staaten. Wennman sich die Erfahrungen aus Bosnien vor Augen hält,kann man sich unschwer vorstellen, daß im Zusammen-hang mit der Verwirklichung des politischen Willenseiner Beteiligung Rußlands noch andere Probleme auf-tauchen werden.Ich habe schon vor längerer Zeit angeordnet, dieObergrenzen der jetzt bestehenden Mandate auszuschöp-fen. Ich will Ihnen kurz erläutern, warum sich im Antragder Bundesregierung die Zahl 8 500 findet. In diesesMandat werden die Kräfte überführt, die bei den NATO-Luftoperationen, bei der Drohnenüberwachung und fürdas Herausziehen der OSZE-Beobachter zur Verfügungstanden, sowie jene, die für die bisher gedachte militäri-sche Umsetzung der Garantien eines jetzt nicht mehr zurDebatte stehenden Rambouillet-Abkommens einge-setzt werden sollten. Das bedeutet, daß diejenigen Kräf-te, die in Bosnien und im Rahmen des humanitärenMandates in Mazedonien und Albanien eingesetzt sind,in dieser Zahl von 8 500 nicht enthalten sind.Wir brauchen im Bereich der Luft- und Marineun-terstützung deutlich mehr Kräfte für den Einsatz imKosovo – wir weisen das auch völlig offen aus –, undzwar deshalb, weil das Thema Sicherheit wesentlichernster ist, als wir bei der Diskussion um ein Rambouil-let-Abkommen vermutet hatten, und weil die humanitäreLage es erfordert. Zudem dürfen – jedenfalls am Anfang– Fragen, die mit der Dokumentation und der Beweissi-cherung von Kriegsverbrechen und Verbrechen gegendie Menschlichkeit zu tun haben, nicht außer acht gelas-sen werden. Ich will ausdrücklich anbieten, in den Aus-schüssen darüber im einzelnen und präzise mit Zahlenzu informieren.Ich kündige Ihnen hier gleichzeitig an: Die Tatsache,daß mindestens 12 000 Soldaten der Bundeswehr überlange Zeit auf dem Balkan engagiert sein werden, näm-lich 8 500 im Kosovo im Rahmen des humanitärenMandates, 1 000 in Mazedonien und Albanien, minde-stens 2 500 in Bosnien und Herzegowina – mit hoffent-lich bald abnehmender Tendenz –, wird Konsequenzenfür die Anpassung der Zahl der Krisenreaktionskräftehaben. Denn in bestimmten Bereichen sind durch diesesEngagement mittlerweile nicht nur Engpässe aufgewor-fen, sondern drohen die Fähigkeiten der Bundeswehrüberfordert zu werden.Ich sage das auch deshalb, weil nach meinem Emp-finden die Angehörigen der Bundeswehr, die militäri-sche Führung, der militärische Sachverstand einHöchstmaß an Anerkennung verdient haben – für dieUmsicht, die Klarheit, die Konsequenz, mit der solcheEinsätze im Interesse der Sicherheit der Soldaten bishervorbereitet und durchgeführt worden sind.
Wir im Deutschen Bundestag, wir als BundesrepublikDeutschland und als Bürgerinnen und Bürger diesesLandes sollten stolz sein auf eine Bundeswehr, die ih-ren Auftrag nicht aus einem traditionellen Verständniseng gedachter militärischer Sicherheit heraus ausübt. InSegrane, in Neprosteno und in anderen Flüchtlingslagernkann man sehen, daß die Soldatinnen und Soldaten un-glaublich engagiert sind. Nicht nur unter Einsatz ihrerZeit, sondern zum Teil auch unter Einsatz ihres selbst-verdienten Geldes sorgen sie dafür, daß Kinder Spiel-plätze oder Bolzplätze haben, daß sie in die Schule ge-hen können, daß Mütter versorgt werden und vielesmehr. Ich finde, das verdient ein Höchstmaß an Aner-kennung und soll auch hier ausgesprochen werden.
Mir macht das Mut, weil die vor uns liegenden Auf-gaben nicht nur groß, sondern zum Teil außerordentlichgefährlich sind. Die Herstellung eines sicheren Umfel-des, umfangreiche humanitäre Hilfsleistungen für Bin-Bundesminister Rudolf Scharping
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nenflüchtlinge und zurückkehrende Vertriebene – jeden-falls anfangs –, die Vorbereitung der notwendigen zivi-len und militärischen Zusammenarbeit und die Fortset-zung der humanitären Hilfe außerhalb des Kosovo, dasmacht den Umfang der Aufgabe deutlich, in einemLandstrich, der rücksichtslos zerstört und weitgehendentvölkert ist, in dem öffentliche Ordnung und Verwal-tung, die medizinische Versorgung und anderes völligzusammengebrochen sind.Wir müssen damit rechnen, daß wir allein im Kosovonicht nur 500 zerstörte Dörfer und Siedlungen vorfin-den, sondern 550 000 Binnenflüchtlinge, deren Zustandheute niemand genau kennt, von denen wir aber wissen,daß sie unverzüglich versorgt werden müssen, ebensowie die zurückkehrenden Flüchtlinge und Vertriebenen,die Nahrung, Kleidung, Medikamente und vieles anderebrauchen.Das Land selbst muß von Minen und Sprengfallen ge-räumt, die Sicherheit der eigenen Leute und die Sicher-heit der zurückkehrenden Vertriebenen müssen gewähr-leistet werden. Das heißt, wir haben es mit einer sehrkomplizierten Mischung aus Sicherheitsaufgaben, origi-nären militärischen Aufgaben, humanitären Aufgabenund Aufgaben der zivil-militärischen Zusammenarbeitzu tun. Wenn wir in diesem Umfeld neue Gewalt ver-hindern, die Demilitarisierung des Kosovo einschließ-lich der Entwaffnung der UCK, die Überwachung vonGrenzen und anderes gewährleisten sollen, dann brau-chen wir eine enge internationale Kooperation und einentsprechend ausgerüstetes und ausgebildetes Kontin-gent. Davon kann man im Zusammenhang mit der Bun-deswehr mit Gewißheit reden. Über die Einsatzdauer,über den militärischen Beitrag der BundesrepublikDeutschland, über anderes wird im einzelnen zu redensein.Ich will auf einen abschließenden Punkt zu sprechenkommen. Meine Damen und Herren, wenn, was wir allehoffen, in dieser Woche die Voraussetzungen für einepolitische Lösung, für den Abzug des serbischen Mili-tärs, für das Einrücken der internationalen Friedenstrup-pen – das alles sind die Voraussetzungen für eine sichereRückkehr der über 900 000 Flüchtlinge und Vertriebe-nen – geschaffen sind, dann steht der Bundeswehr nichtnur der größte Auslandseinsatz, sondern auch der mitden größten Risiken behaftete Auslandseinsatz ihrer Ge-schichte bevor. Das macht deutlich, daß man mit großerSorgfalt und Klarheit entscheiden muß, was zu entschei-den ist, nicht nur mit der nötigen Gründlichkeit hin-sichtlich der Planung, sondern auch, was die Verant-wortung selbst angeht, mit aller Konsequenz.Danach beginnt die noch langwierigere, in meinenAugen faszinierendere und schwierigere Aufgabe. Es istausdrücklich zu begrüßen, daß die Bundesregierung dielangfristige Perspektive nie aus dem Auge verloren hat.Das Stichwort ist etwas technokratisch. Es heißt Stabili-tätspakt, meint aber eine langfristige Bemühung um dieSicherheit, um die Stabilisierung des Balkans auf derGrundlage der Erfahrungen, die wir in Europa bei seinerIntegration und bei seiner Friedenssicherung ebensogemacht haben wie beispielsweise in dem Helsinki-Pro-zeß.Ich will ausdrücklich insbesondere dem Bundes-kanzler und dem Außenminister sagen: Nicht nur derVersuch, die drei Maßnahmenbündel für ein gemeinsa-mes Ziel, nämlich politische Bemühungen, militärischeMaßnahmen, humanitäre Hilfe, in einer Balance zu hal-ten und das jeden Tag bei den Entscheidungen zu be-achten, war wichtig. Wichtig war auch, die kurzfristigen,mit Blick auf das Ende von Vertreibung, Mord und Ge-walt orientierten Maßnahmen, einschließlich der militä-rischen, immer in einer angemessenen Balance mit derlangfristigen Perspektive zu halten und zu wissen, daßdas Ende der Gewalt der Beginn, aber nicht die Ver-wirklichung von Frieden ist.Deshalb war es richtig, daß die Bundesregierung, daßdie Bundesrepublik Deutschland vielleicht mit einemleisen Blick aus manchen skeptischen Augen, ob dasdenn gelingen könnte, erfolgreich dazu beigetragen hat,daß es bei allen Aktivitäten des Westens und der inter-nationalen Staatengemeinschaft nie eine Verkürzung aufmilitärische Maßnahmen gegeben hat.
Sie hat aber auch nie die Illusion verbreitet, man könneangesichts der Erfahrungen mit Milosevic davon ausge-hen, daß nur das Argument und nur der gute Wille zumErfolg führen würden. Es mußte beides zusammenge-halten werden. Das ist mit großer Verantwortung undWeitsicht getan worden.Ich füge hinzu: Dabei haben viele mitgeholfen. Ichsage das ausdrücklich auch an die Adresse derCDU/CSU und F.D.P.: Es war für die Bundesregierunggut, zu wissen, daß man sich auf die uneingeschränkteUnterstützung der Koalition verlassen kann. Ich fügedurchaus mit Anerkennung hinzu: Es ist in solchen Si-tuationen ganz wichtig – auch für die außenpolitischeBerechenbarkeit und Verläßlichkeit unseres Landes –,daß man sich auf diese Art von Konsens verlassen kann.Wir sollten das auch in Zukunft tun.Vielen Dank.
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Wolfgang Gerhardt, Vorsitzender der
F.D.P.-Fraktion.
Herr Präsident!Meine Damen und Herren! In solchen sehr bedeutsamenFragen gibt es natürlich zum Teil Grundkonsens undGemeinsamkeiten, aber zum Teil auch andere Erwartun-gen und Einschätzungen. Wenn die Bundesregierung dieDebatte ehrlich führen will, muß sie zugeben, daß dasBild in den Medien vom Kölner Gipfel schon heute imKontrast zur rauhen Wirklichkeit der Ereignisse steht.Der Kölner Gipfel hat ein anderes Bild gezeigt, als essich jetzt auf Grund der Verhandlungen im Zelt vonKumanovo, die die alte Politik und Verzögerungstaktikdeutlich machen, darstellt.
Bundesminister Rudolf Scharping
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3496 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 41. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 8. Juni 1999
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Der Kölner Gipfel hat auch im Hinblick auf Ihre An-kündigungen, Herr Bundeskanzler, ein Bild gezeigt, dasder Wirklichkeit nicht entspricht. Ich nenne in diesemZusammenhang den Beschäftigungspakt und den ma-kroökonomischen Dialog zwischen Finanzpolitik,Geldpolitik und Lohnpolitik. Dieser neue Policy-Mixsoll zu einem Beschäftigungsimpuls auf europäischerEbene führen. Herr Bundeskanzler, dieser Beschäfti-gungsimpuls ist eine beschäftigungspolitische Maus. Siewerden auf europäischer Ebene solche Luftnummernwiederholen, wenn Sie nicht Ihre Hausaufgaben in derBundesrepublik Deutschland machen. Es handelt sichum einen erkennbaren Verschiebebahnhof.
Je länger und gewundener die Sätze werden und jemehr Fremdworte beigemischt werden, desto deutlicherwird, daß Sie eine Luftbuchung vornehmen. Ein runderTisch ersetzt keinen klaren Kopf. Wenn Sie in Deutsch-land nicht die Flexibilität am Arbeitsmarkt herstellen,die Steuern nicht senken und die sozialen Sicherungssy-steme nicht reformieren, sondern sich nur in englischenZeitungen äußern, dann zerstören Sie hier Beschäftigungund dürfen sich in Europa nicht für einen Beschäfti-gungspakt einsetzen.
Hier liegt der Grund für die Kontroverse: Die Oppo-sition kann nicht akzeptieren, daß Sie, eingebettet in dieKosovo-Problematik, im Rahmen eines großen Ver-schiebebahnhofs beschäftigungspolitische Mißerfolgevon Deutschland nach Europa transportieren. Wir kön-nen ferner nicht akzeptieren, daß Sie auf Pressekonfe-renzen verkünden, daß Sie auf europäischer Ebene Im-pulse setzen. Sie müssen die Impulse hinsichtlich derBerechenbarkeit, die für die Wirtschaft in Deutschlandwichtig ist, in diesem Haus setzen und nicht durch eingemeinsames Interview mit Tony Blair für Zeitungen inGroßbritannien. Das ist Ihre Aufgabe.
Wir können heute die Kosovo-Debatte ohne großeEmotionen und Erregung führen. Aber einige Punktewill ich dennoch ansprechen. Ich vermute, daß Sie sichden Tag für Ihre Regierungserklärung anders vorgestellthaben. Sie wollten wahrscheinlich hier erklären, es seialles in trockenen Tüchern, die G-8-Resolution liege vor,die militärische Implementierung sei klar, der Sicher-heitsrat werde zu einem bestimmten Zeitpunkt tagen. Siewollten wahrscheinlich den Bundestag bitten, nach einerUnterbrechung für Ausschußsitzungen zu beschließen.
– Es ist überhaupt kein Wahlkampfthema. Ich schilderehier nur die Wirklichkeit, verbunden mit einem Dank andie Verhandlungsführer Tschernomyrdin und Ahtisaariund mit einem Dank an die deutschen Soldaten.Wir befinden uns heute in einer Situation, in der eini-ge Fragen noch nicht beantwortet wurden. Diese Fragenmüssen wir im Rahmen der Beratungen ansprechen. Dasgehört zur Arbeit des Parlaments und beeinträchtigtnicht die Gemeinsamkeiten.
Wir können seit zwei Tagen beobachten, daß in demZelt bei Kumanovo das alte Spiel von Milosevic wiederbeginnt: Interpretieren, Verschieben, Verzögern, Aus-denken von Finessen, Hakenschlagen und Hinhalten.Wir stellen gleichzeitig fest – wir wünschen alle, daßdies behoben wird –, daß sich in den letzten Tagen Un-sicherheiten auch in Rußland ergeben haben. Jelzin stehtzu seinem Wort und zeigt dadurch, daß er ein verläßli-cher Partner ist. Gleichzeitig aber wird diese Haltungdurch die alte Vorstellung von einer bipolaren Weltüberwuchert, was zeigt, daß sich Rußland in seinem po-litischen Denken immer noch nicht auf die neue Lageeingestellt hat.Herr Kollege Schäuble hat mit seiner Meinung recht– ich wiederhole sie –: Der kurze und kühle Empfangvon Primakow war eine Fehlleistung deutscher Diplo-matie.
Man kann nicht sagen: Das war nur ein Ereignis. Nein,das war eine Fehlleistung, ein falsches Signal. Zur Di-plomatie gehören auch nahezu symbolhafte Handlungen,viel Psychologie und nicht nur der abrupte Kommentar,das reiche nicht aus.Wir haben noch keinen Abschluß der G-8-Verhand-lungen. Möglicherweise kommt man heute zu einemAbschluß. Das heißt aber, daß die Ausschußberatungenbedeutsam sind. Wenn man zu einem Abschluß kommt,muß die Bundesregierung den Ausschüssen eine neueVorlage zuleiten. Denn die Vorlage, die wir jetzt haben,enthält durchaus eine Zweiwegestrategie: Für den Fall,daß es nicht zu einer Sicherheitsratsresolution kommt,ist man zu einer Implementierung bei Zustimmung derjugoslawischen Regierung und Beteiligung Rußlands be-reit.Herr Bundeskanzler, eine solche strategische Überle-gung kann man anstellen. Ich will Ihnen aber auch nachden Informationsgesprächen, die wir hatten, einen Ha-ken klar benennen: Ich finde, daß der Deutsche Bun-destag darauf achten sollte, daß deutsche Soldaten, dieein Mandat haben, auf keinen Fall von einem Drittenabhängig sind, der in einer solchen Situation das Sagenhätte. Deshalb sollte der Bundestag einer Resolution desSicherheitsrates der Vereinten Nationen für den Ein-satz deutscher Soldaten eindeutig die Priorität geben.
Ich sage das deshalb, weil wir auf eindeutige Mandatie-rung Wert legen. Dieser Weg zum Sicherheitsrat kannauch nicht nur Befassung sein, wie ich hier in Ausfüh-rungen höre. Für mich ist für die Entsendung deutscherSoldaten nicht nur eine Befassung, sondern eine Ent-scheidung des Sicherheitsrates der Vereinten NationenDr. Wolfgang Gerhardt
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erforderlich, das heißt eine Resolution, die die G-8-Staaten vorbereiten sollten.
Deshalb sage ich gleich zu Beginn der Beratung:Meines Erachtens kann es heute nicht zu einem ab-schließenden Beschluß des Bundestages kommen.
Die Abgeordneten, die mit der Regierung in großenZielen im Konsens stehen, müssen sich das Recht vor-behalten, die Vorlage zu prüfen, in den Ausschußbera-tungen nachzufragen und auch zu klären, ob es eine ein-deutige Kommandostruktur beim Einsatz deutscher Sol-daten gibt – ein ganz wesentlicher Sicherheitsaspekt inder Verifizierung der Implementierung, von der im übri-gen auch die Bundesregierung immer gesprochen hat.Ich rede hier nicht über die großen Meinungsunter-schiede hinsichtlich der Kombination von militärischemDruck und politischer Problemlösung. Ich rede über dieWirklichkeit der nächsten Tage, wenn es zu einer Man-datierung durch den Deutschen Bundestag kommt. Fürdie Fraktion der F.D.P. erkläre ich ganz unumwundenund ganz klar: Wir halten es – wie es auch die Bundes-regierung früher erklärt und beschlossen hat – für wich-tig, daß wir zum Gewaltmonopol der Vereinten Na-tionen zurückkommen, daß wir den Einsatz deutscherSoldaten nicht von der Deutungshegemonie des HerrnMilosevic in einem Dreierpaket, sondern ganz eindeutigvon einer Entscheidung der Vereinten Nationen abhän-gig machen. Das ist dann der souveränste Einsatz derImplementierung und von niemandem abhängig, dessenVertragsbrüche, dessen Hindernisse, dessen Wegdrük-ken und dessen Finessen wir aus der Geschichte kennen.Das sind wir den deutschen Soldaten schuldig. Darüberreden wir in aller Klarheit.
Ich stimme Herrn Scharping zu: Eine Implementie-rung mit Sicherheitsratsbeschluß wäre erst der Anfang.Dann stehen wir erst vor der eigentlichen Aufgabe; wirmüssen uns darauf einstellen, daß es einige Jahre dauernwird, sie zu erfüllen. Wir sind gerne bereit, uns daraufeinzustellen. Wir wissen, daß wir nur dann Stabilität fürdie eigene Zukunft gewinnen, wenn auch andere Stabi-lität gewinnen, wenn sie ökonomischen und demokrati-schen Erfolg spüren, wenn sie dadurch Frieden aus-strahlen und wenn die Politik aufhört, sich immer nurethnisch selbst zu vergewissern, wenn Internationalitätspürbar wird und vieles andere mehr.Da das aber Jahre dauert, sage ich der Bundesregie-rung mit aller Klarheit auch: Wir werden nicht akzeptie-ren, daß Sie die deutsche Öffentlichkeit vor dem Wahl-tag im unklaren lassen, welche SteuererhöhungspolitikSie zu betreiben beabsichtigen, und nach dem Wahltagauf die Idee kommen, Steuererhöhungen an den Koso-vo-Einsatz zu binden. Das sage ich ganz klar: EineMandatierung deutscher Soldaten ohne eine Auskunftder Bundesregierung zu den finanziellen Konsequenzenund eine Auskunft nach dem Wahltag, man müsse stetigdie Mineralölsteuer erhöhen, gegebenenfalls noch dieMehrwertsteuer, kommt für die Fraktion der F.D.P. nichtin Frage.
Diesen Policy-Mix müssen Sie unterlassen.Das heißt: Grundkonsens ja, aber hinters Licht führenlassen wir uns nicht. Wir sind für ein klares Mandat, wirtragen mit Ihnen gemeinsam die Verantwortung. Ich sa-ge sogar: Die Opposition war in diesem Prozeß stabilerals die Koalitionsparteien.
Deshalb ist die Bundesregierung aber auch verpflichtet,der Opposition in den Beratungen dieser Woche Klarheitüber Kommandostruktur, Resolution, Timetable, Abläu-fe und Mandat zu geben. Dann sind wir bereit zu ent-scheiden; nur dann und nicht vorher. Es liegt jetzt an Ih-nen, Klarheit in die Beratungen zu bringen.Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Nun spricht Staats-
minister Ludger Volmer.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Als dieBundesrepublik die EU-Präsidentschaft übernahm, warsie mit einer doppelten, schwierigen Aufgabe konfron-tiert: Zunächst mußte sie die Erweiterung und Vertie-fung der europäischen Strukturen voranbringen, gleich-zeitig mußte sie sich an der Bewältigung der schwierig-sten Krise beteiligen, die Europa nach dem Ende deszweiten Weltkriegs erlebt hat.Kurz vor Ende der Präsidentschaft können wir heuteschon das Fazit ziehen, daß die Bundesregierung diesedoppelte Aufgabe gelöst hat. Die EU ist erweiterungsfä-hig geworden. Ihre politische Handlungsfähigkeit ist ge-stärkt worden. Gleichzeitig hat Europa in den vergange-nen Monaten unter schwierigsten Rahmenbedingungennachgewiesen, daß es in der Lage ist, geschlossen zuhandeln und Gestaltungskraft zu beweisen.
Ich verstehe, daß die Opposition, die aus guten Grün-den und alternativlos die Bundesregierung in der Koso-vo-Politik unterstützt, nun, um eigenes Profil in der Au-ßenpolitik nachzuweisen und zu demonstrieren, insbe-sondere in der Europapolitik, in der Politik der Europäi-schen Union, ein Haar in der Suppe sucht. Ich denke al-lerdings, daß diese Kritik fehlgeht; denn die Bundesre-gierung hat all das getan, was getan werden mußte, umdem strategisch entscheidenden Ziel, der Osterweiterungder Europäischen Union, das entsprechende institutio-nelle Fundament zu geben.
Dr. Wolfgang Gerhardt
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Die Bundesregierung ist davon überzeugt, daß dieOsterweiterung der Europäischen Union keinePflichtaufgabe ist, die aus vertraglichen Festlegungenerwächst. Vielmehr muß es ein Hauptinteresse der deut-schen Politik sein, alle Unsicherheiten, die nach demZerfall der Sowjetunion theoretisch in dem großenRaum der Transformation östlich von uns entstehenkönnten, dadurch aufzufangen, daß ein Export der euro-päischen Strukturen vorgenommen wird, sozusagen einStabilitätsexport.
Jeder Europapolitiker weiß, daß die Osterweiterungnur gelingen kann, wenn vorher die Strukturen der jetzi-gen Europäischen Union fundamental verändert werden.Dazu hat die Bundesregierung einen ganz entscheiden-den Beitrag geleistet.
So haben wir es geschafft, bei der Agenda 2000 einigewichtige Kapitel entscheidend weiterzuentwickeln. Dassind Kapitel, von denen vorher angenommen wurde, daßihre Problematik möglicherweise überhaupt nicht lösbarsei und wegen der Unlösbarkeit dieser Fragen der euro-päische Erweiterungsprozeß sogar scheitern könnte. Esgab gerade in der CSU Stimmen, die sagten: Angesichtsder Nichtmachbarkeit und angesichts der großen Pro-bleme, die der Agenda-Prozeß mit sich bringt, verzich-ten wir lieber auf die Osterweiterung, igeln uns in West-europa ein und pflegen hier die Gemütlichkeit.
Sie, verehrte Kolleginnen und Kollegen von der Op-position, kritisieren, daß die Finanzpolitik schwierig zumanagen sei. Das liegt doch wohl nicht zuletzt daran,daß wir ein extrem schwieriges Erbe übernommen ha-ben.
Erst in den letzten Wochen ist doch dadurch, daß derFinanzminister der jetzigen Regierung eine offene Poli-tik betreibt, deutlich geworden, daß wir mit einemstrukturellen Defizit von 30 Milliarden DM zu kämpfenhaben, das doch nicht wir angerichtet haben, sonderndas Sie uns hinterlassen haben.
Wenn man einen solchen Schuldenberg angehäuft hat,dann ist man nicht unbedingt berufen, finanzpolitischeRatschläge zu geben.Wenn man schon kritisiert, muß man zumindest dieeigenen Maßstäbe klarstellen. Da sagt Herr Schäuble aufder einen Seite, man müsse mehr Geld in den europäi-schen Erweiterungsprozeß investieren – dem stimme ichzu –, und auf der anderen Seite, die Bundesregierung seizu kritisieren, weil sie nicht genügend für den bundes-deutschen Haushalt einspare. Ich möchte wissen: Wasist der Maßstab Ihrer Kritik? Wollen Sie mehr Geld fürEuropa, oder wollen Sie mehr Geld für Deutschland? Esgibt einzelne Vertreter in der Union, für die sich der Wi-derspruch mittlerweile so weit zugespitzt hat, daß siesich nicht mehr für Europa und nicht mehr für Deutsch-land, sondern für Bayern entscheiden. Das hat HerrStoiber gestern getan. Das ist gut für Europa, das ist gutfür Deutschland, das ist für Bayern allerdings eine frag-würdige Entscheidung.
Wir haben es geschafft, daß mittelfristig die Ausga-benstabilität im europäischen Rahmen beibehalten wirdund die Beitragslasten für den deutschen Haushaltgleichzeitig sinken werden – selbstverständlich nicht so,daß wir der deutschen Bevölkerung sagen könnten, un-sere Europapolitik bestehe darin, auf Kosten der anderenEuropäer zu sparen, aber doch so, daß Deutschland nichtmehr in der Situation ist, der Zahler für alle Reformpro-jekte zu sein. Die Reformen, die wir im europäischenRahmen umgesetzt haben, sind im wesentlichen Struk-turreformen, die helfen, Geld zu sparen.Wir haben auch das auf den Weg gebracht, was in in-stitutioneller Hinsicht sonst noch erreicht werden muß,damit die nächsten EU-Beitritte bis zum Jahre 2002 –Herr Haussmann, nun haben Sie Ihre Zahl – stattfindenkönnen. Wir haben die Verhandlungen in Gang gesetztüber die Erweiterung der Kommission, die Anzahl derKommissare, die Stimmengewichtung im Rat und dieMöglichkeit, auch mit Mehrheitsentscheidungen zumZiel zu kommen. Darüber wird auf der nächsten Regie-rungskonferenz verhandelt werden. Diese Weichenstel-lungen haben wir vorgenommen; wir haben das auf denWeg gebracht. Deshalb denke ich, daß wir die Ver-pflichtungen, die uns aus dem europäischen Integra-tions- und Erweiterungsprozeß erwachsen sind, mehr alsgut erfüllt haben.
Hinzu kommt, daß die Europäische Union mit demStabilitätspakt für Südosteuropa eine Aufgabe ge-schultert hat, deren Dimensionen sich erst abzuzeichnenbeginnen. Wir freuen uns darüber, daß der Stabili-tätspakt für Südosteuropa auch als ein Element derUNO-Politik in den Konfliktlösungsansatz bezüglich desKosovo aufgenommen worden ist. Die Völkergemein-schaft und die europäischen Staaten holen damit etwasnach, was sie eigentlich schon vor zehn Jahren, zu Be-ginn der Jugoslawien-Krise, hätten machen müssen. Be-reits damals – Mitglieder der grünen Fraktion im Bun-destag haben dies seinerzeit mehrmals gefordert – hättees für alle Nachfolgestaaten des zerfallenen Jugoslawieneine Einladung nach Europa geben müssen, so daß dieVölker dieser Staaten eine positive Entwicklungsper-spektive gehabt hätten. Statt dessen wurde damals eineEindämmungspolitik betrieben. Europa und insbesonde-re seine einzelnen Nationalstaaten wollten dieses Pro-blem möglichst von sich wegdrücken, es einkapselnin der Hoffnung, daß es sich von selbst löst. Das war einStaatsminister Dr. Ludger Volmer
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Irrtum, der viele Menschenleben gekostet hat und derenorm viel Geld kostet.Nun wird mit zehn Jahren Verspätung – allerdingsnicht zu spät – das getan, was damals versäumt wurde:Der Stabilitätspakt für Südosteuropa wird in Angriff ge-nommen. Das ist eine Aufgabe, die die EuropäischeUnion in Zusammenarbeit mit der OSZE und mit denFinanzinstitutionen IWF und Weltbank zu schultern hatund die in ihren Dimensionen überhaupt nicht zu über-schätzen ist. Angesichts der Tatsache, daß sich durchdiese Prozesse das europäische Gesicht und auch daseuropäische Gewicht verändern werden, finde ich man-che Kritik aus den Reihen der Opposition reichlichkleinkariert.
Im Stabilitätspakt für Südosteuropa kulminiert einePolitik, mit der die Bundesregierung wie auch die ande-ren westlichen Staaten versucht haben, dem Völkermordim Kosovo ein Ende zu bereiten. Heute, nachdem dieNATO-Bombardierungen viel Kritik auf sich gezogenhaben, nachdem es viele zivile Opfer zu beklagen gibt,stellt sich mancher die Frage, ob es nicht eine Alternati-ve gegeben hätte. Eine Alternative gab es möglicherwei-se vor zehn Jahren: die, die ich gerade skizziert habe.Doch erinnern wir uns an die Diskussion im Herbstletzten Jahres. Jeder wußte, daß die internationale Staa-tengemeinschaft eingreifen muß, um dem beginnendenVölkermord ein Ende zu bereiten. Jeder hätte einen Ver-handlungsfrieden bevorzugt. Aber jeder hier im Hausewußte auch, daß Milosevic nur unter militärischemDruck zu verhandeln bereit war.
Daher wurde hier am 16. Oktober die grundlegende Ent-scheidung getroffen.So ist es nun einmal bei Ultimaten: Sie binden beideSeiten. Nachdem Milosevic die Verabredungen mit Hol-brooke gebrochen und schon damals den Verhandlungs-prozeß torpediert hatte, standen wir wieder vor der Fra-ge: Wollen wir nun grünes Licht für die Bombardierunggeben, oder gibt es noch eine Möglichkeit zu verhan-deln? Dies war der Zeitpunkt, an dem die Bundesregie-rung und insbesondere auch das grün-geführte Außen-ministerium darauf gedrungen haben, in den Verhand-lungsprozeß von Rambouillet einzutreten, um zu einerfriedlichen Lösung zu kommen. Sie alle wissen, wie dieDinge weitergegangen sind.Wir knüpfen große Hoffnungen an den Verhand-lungsprozeß, bei dem es durch das Treffen von Ahtisaariund Tschernomyrdin letzte Woche in Belgrad zu einemDurchbruch gekommen ist. Wir als Bundesregierung er-kennen die großen Verdienste an, die unsere Partner imZusammenhang mit der Konfliktlösung haben. Wir er-kennen an, daß Ahtisaaris Verhandlungsgeschick dazugeführt hat, daß die unterschiedlichen Optionen, dieauch auf der westlichen Seite und innerhalb der G 8vorhanden waren, auf einen Punkt hin fokussiert wurdenund dieser so formuliert wurde, daß Belgrad einlenkenkonnte. Wir erkennen die großen Leistungen an, dieRußland erbracht hat. Wir wissen schließlich, mit wel-chen Fragen sich Rußland gequält hat.In diesem Zusammenhang möchte ich auf das Stich-wort Primakow zurückkommen: Wer hätte nicht ge-wollt, daß Primakow vor zwei, drei Monaten mit der Lö-sung aus Belgrad nach Bonn gekommen wäre? Wenndas Treffen mit Primakow in Bonn weniger herzlichwar, als sich dies mancher gewünscht hätte, dann liegtdas nicht daran, daß – wie behauptet – die Bundesregie-rung unhöflich gewesen ist; es lag schlicht daran, daßHerr Primakow mit leeren Händen kam. Niemand hatmehr darunter gelitten als Primakow selber. Niemandhat mehr darunter gelitten als zum Beispiel auch Jelzin.Wer die Hintergründe kennt, der weiß, daß unter ande-rem diese Ereignisse dazu geführt haben, daß es zumpolitischen Wechsel in Moskau gekommen ist. Wirgratulieren Präsident Jelzin dazu, daß er die Verve unddie Energie hatte, Tschernomyrdin als Beauftragten fürden Kosovo einzusetzen. Wir gratulieren Tscher-nomyrdin genauso wie Ahtisaari zu den großartigenVerhandlungserfolgen.
Wir wollen auch den Dritten im Bunde nennen: unse-ren amerikanischen Partner und Freund Strobe Talbott,der für die Macht, die den größten militärischen Anteilan der Bewältigung dieser Krise getragen hat, in dieVerhandlungen eingetreten ist. Die Amerikaner habeneinen großen Beitrag zur Lösung eines europäischenProblems geleistet. Wir Europäer waren nicht in der La-ge, dieses Problem im Zentrum unseres Kontinents al-lein zu lösen. Wir waren auf die Vereinigten Staaten an-gewiesen. Auch wenn man so manches Detail derNATO-Politik kritisieren mag: Wir Europäer sind denAmerikanern gegenüber zu Dank verpflichtet.
Wenn man aber deutlich macht, wer an der sich nunabzeichnenden Krisenlösung Anteil hat, dann darf manauch erwähnen, daß es insbesondere die Bundesregie-rung und das grün-geführte Außenministerium waren,
die es nach monatelangen Bemühungen – spätestensnachdem deutlich wurde, daß die NATO-Bombardierun-gen nicht bewirken würden, Milosevic schnell an denVerhandlungstisch zurückzubekommen – geschafft ha-ben, mit eigenen Vorschlägen den Verhandlungsstrangzu stärken und Friedensvorschläge zu machen, die vonallen Großorganisationen, von der EU, von der NATOund von der UNO, akzeptiert wurden und die den Ver-handlungen nun zugrunde liegen.
Die Europäer haben es geschafft, Fehler der Vergan-genheit, als man nationale Interessen auf den Balkanprojizierte, auszubügeln und zu einer gemeinsamenStaatsminister Dr. Ludger Volmer
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Haltung zu kommen. Europa hat damit den Weg für dieGemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik geebnet, diezuletzt Thema beim Europäischen Rat war.Wenn beim Europäischen Rat eine Stärkung der Ge-meinsamen Außen- und Sicherheitspolitik der Euro-päer nicht nur ins Auge gefaßt wurde, sondern auch in-stitutionell weiterentwickelt wurde, so wird damit daraufreflektiert, daß die Europäer in einem Maße auf ameri-kanische Unterstützung angewiesen sind, die wir selberso nicht mehr wollen. Wir wissen, daß wir in der Ver-antwortung stehen, europäische Probleme weitestgehendselber zu lösen. Deshalb ist der Aufbau einer gemeinsa-men europäischen Außen- und Sicherheitspolitik unab-dingbar. Ich sage aber auch: Die GASP, die Gemeinsa-me Außen- und Sicherheitspolitik, beginnt nicht mit derMilitärpolitik, sondern damit, daß zunächst gemeinsameInteressen formuliert werden und daß man sich gemein-sam an die Weiterentwicklung und die Stärkung der zi-vilen Großorganisationen macht, insbesondere der Eu-ropäischen Union. In diesem Zusammenhang kommt derOsterweiterung der Europäischen Union ein entschei-dender strategischer Stellenwert zu.
Es ist zu früh, endgültige Schlußfolgerungen aus demKosovo-Konflikt zu ziehen; einige Dinge hierzu kannman aber schon jetzt ansprechen.Wie ich vorhin schon sagte, wird Europa trotz großerEigenanstrengung auch weiterhin ohne die USA nichtauskommen können. Ich möchte betonen, daß wir ohnedie USA auch nicht auskommen wollen. Bei allem Be-mühen, die europäischen Strukturen zu stärken, wollenwir gleichzeitig die transatlantischen Beziehungen aus-bauen und fundieren. Wir wollen den Konnex mit unse-ren Partnern und Freunden jenseits des Atlantiks alsSäule unserer Außenpolitik aufrechterhalten.
Wir wissen gleichzeitig – das zeigen uns auch derKosovo-Konflikt und dessen Bewältigung –, daß Europaohne ein demokratisches, ohne ein sich entwickelndesund ohne ein sich auf Westeuropa orientierendes Ruß-land langfristig nicht gut existieren kann. Deshalb war eseine der wesentlichsten Aufgaben der Diplomatie derBundesregierung, im Prozeß der Konfliktlösung im Ko-sovo Rußland für die westliche Strategie zu gewinnenund es in der G 8 an den Westen zu binden, um so zu ei-ner Lösung zu kommen, die von der UNO und damitvon nahezu der gesamten Völkergemeinschaft legiti-miert wird. Es war der Dreiklang zwischen den Partnernjenseits des Atlantiks, in Westeuropa und Rußland,durch den es gelungen ist, der Lösung dieser schlimm-sten Krise auf dem europäischen Kontinent zumindesteinen Schritt näher zu kommen.Wir warnen jedoch davor, in Euphorie auszubrechen,wie wir auch am letzten Freitag davor gewarnt haben,nachdem der politische Rahmen existent war, in dem derkonkrete Lösungsprozeß zu einem guten Ende hätte ge-bracht werden können. Wir haben davor gewarnt, indemwir darauf hingewiesen haben, daß es wiederum nur eineFinte von Milosevic sein könnte. Nachdem die Gesprä-che über das militärisch-technische Abkommen unter-brochen wurden, wurde auch sofort die Frage gestellt,ob dies eine der üblichen Finten war, die wir zur Genügekannten, oder ob es gute Chancen gab, trotz dieser Er-schwernisse weiterzumachen.Der Bundesaußenminister und die gesamte Bundes-regierung waren wie auch die anderen europäischenPartner, wie die Amerikaner und die Russen der Mei-nung: Nun, wo völlig offensichtlich ist, daß in Belgradein mutmaßlicher Schwerstverbrecher an der Macht istund das serbische Volk nur dann eine Chance auf einenWiederaufbau und auf die Teilnahme an einem Prozeßder Annäherung an Europa hat, wenn es eine anderepolitische Führung in Belgrad gibt, muß auch der letzteSchritt vollzogen werden, um zu einem Ende desMordens zu kommen. Dazu muß eine Überwachungs-mission für den Kosovo auf den Weg gebracht werden,die in der Lage ist, die mittlerweile über 1 Million Ver-triebenen sicher zurückzubringen. Dieser Verantwortunghat sich die internationale Staatengemeinschaft gestelltund hat alle Probleme, die auch untereinander bestan-den, überwunden, um – vielleicht sogar schon heute – zueinem Ergebnis zu kommen.Nur glauben wir nicht, daß dann Anlaß zur Euphoriebesteht, wenn der angestrebte Beschluß des UNO-Sicherheitsrates gefaßt wird. Die Aufgaben, die dann voruns liegen, sind mindestens genauso enorm: Die Dörfersind verwüstet, die Häuser sind verbrannt, die Feldersind zerstört, das Vieh ist abgeschlachtet, die Infra-struktur ist kaputt. Dies, Herr Gysi, ist nicht in erster Li-nie eine Folge der Bombardierungen durch die NATO,sondern der völkermörderischen Politik und der Mord-brennerei, die Milosevic dort betrieben hat.
Ich kann verstehen, daß es viele kritische Bemerkun-gen zur Politik der Bundesregierung gibt. Ich kann ver-stehen, wenn gefragt wird, warum die Bombardierungendurch die NATO so viele zivile Opfer gekostet haben.Ich kann die Frage nach der völkerrechtlichen Legitima-tion verstehen. Ich kann die Aussagen der ethischen Pa-zifisten verstehen, für die unter keinen Umständen in ir-gendeiner Situation Waffengewalt in Frage kommt.Aber den Antrag, den Sie, Herr Gysi, heute hier vorge-legt haben, kann ich nicht verstehen. Sie fordern nichtnur, daß keine neuen deutschen Truppenkontingente indie Region geschickt werden, sondern Sie fordern sogar,daß die dort stationierten nun abgezogen werden.
Ich frage mich mittlerweile, welches Ziel Sie denneigentlich noch verfolgen. Es kann nur reiner Irrsinnsein, wenn eine Partei in dem Moment, wo ein beider-seitiger Waffenstillstand zum Greifen nahe ist, immernoch den einseitigen fordert. Schön; im schlimmstenFalle blamieren Sie sich damit. Ich kann aber absolutnicht verstehen, warum sich die Bundesrepublik, die al-les unternommen hat, um mit der bekannten Doppel-Staatsminister Dr. Ludger Volmer
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strategie den Völkermord zu stoppen, und die durch ihrediplomatischen Initiativen alles unternommen hat, umeine perspektivlose militärische Eskalation zu verhin-dern, jetzt nicht auf der Basis eines UNO-Mandates dar-an beteiligen soll, den Frieden zu sichern. Warum for-dern Sie den Rückzug aller Truppen? Das ist mir völligunerklärlich. Ich kann mir auch nicht vorstellen, daßdamit überhaupt ein konstruktiver Gedanke verbundenist. Sie befördern damit nicht den Friedensprozeß, son-dern sabotieren den Friedensprozeß in einem Moment,wo er vor einem guten Ende steht.
Lassen Sie mich auf einen letzten Punkt zu sprechenkommen. Der ganze Kosovo-Konflikt zeigt, daß in denletzten Jahren vor allem im Bereich der Krisenpräven-tion und der friedlichen Konfliktbeilegung ein Defizitherrschte. Möglicherweise war die Diskussion darüberbis zum Ende der 80er Jahre zu akademisch und hattedeshalb noch keinen hinreichenden Einfluß auf die offi-zielle Politik der Regierungen gehabt. Aber spätestensder Kosovo-Konflikt muß doch jedem die Augen dafüröffnen, daß wir eine effektive Politik zur Krisenpräven-tion brauchen. Wir brauchen Frühwarnsysteme und vorallen Dingen Handlungsansätze, die uns in die Lage ver-setzen, auf Warnmeldungen effektiv zu reagieren.
In diesen Zusammenhang der Krisenprävention ge-hört eine gründliche Reform der UNO und des Sicher-heitsrates sowie die Weiterentwicklung des Völkerrech-tes. In diesen Zusammenhang gehört eine bestimmteAusgestaltung der Gemeinsamen Außen- und Sicher-heitspolitik der Europäischen Union; sie muß ihre Auf-gabe insbesondere in der Krisenprävention sehen. In die-sem Bereich müssen aber auch in die deutsche Außen-und Sicherheitspolitik neue Elemente eingeführt werden.Wir haben großen Respekt vor dem, was die Soldatenauf dem Balkan leisten. Aber wir haben auch großenRespekt vor dem, was die Diplomaten geleistet habenund leisten. Wir haben großen Respekt vor dem, was dieVerifikateure der OSZE leisten mußten, obwohl dieVoraussetzungen für ihre Arbeit alles andere als günstigwaren. Die Bundesregierung zieht daraus die Konse-quenz, daß der gesamte Ansatz der Krisenprävention,der Konfliktfrüherkennung und der frühen Handlungsfä-higkeit gestärkt werden muß.Wir im Auswärtigen Amt werden zu diesem Zweckeine Reserve von professionell arbeitendem Personalschaffen, das auf der Basis von Mandaten der OSZEoder der UNO in Konfliktregionen geschickt werdenkann, und zwar zu einem so frühen Zeitpunkt, daß nochauf zivile Art und Weise versucht werden kann, die Zu-spitzung von Krisen zu bewaffneten Konflikten zu ver-hindern. Eine solche Personalreserve bereitzustellen isteine der wichtigsten Konsequenzen, die wir aus demKosovo-Konflikt ziehen müssen. Die Bundesregierungwird hieran mit großem Nachdruck arbeiten.
Ich gebe das Wort
für die PDS dem Abgeordneten Dr. Gregor Gysi.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Meine Da-men und Herren! Herr Gerhardt hat in einem Punktrecht, nämlich daß der Bundeskanzler, als er sich für denTermin für die heutige Debatte entschieden hat, daraufgehofft hat, daß das Wesentliche der Verhandlungenüber den Friedensprozeß in Jugoslawien unter Dach undFach ist, so daß man von einem anderen Ausgangspunktals jetzt erstens über den Antrag hätte beraten könnenund zweitens auch Wahlkampf für die Europawahlenhätte machen können. Nun hat sich die Lage andersentwickelt, weil sich die Verhandlungen als schwierigerdargestellt haben, so daß vieles von dem, was heute ge-sagt worden ist, im vagen geblieben ist. Dennoch hoffenauch wir, daß es ein baldiges Ende des völkerrechtswid-rigen Angriffskrieges ebenso wie ein Ende von Ver-treibung, Mord und anderen Repressionen im Kosovogeben wird. Das sind die Voraussetzungen, um dort zueinem dauerhaften Frieden zu gelangen.
Wenn Sie nach dem Sinn unseres Antrages fragen,dann möchte ich darauf hinweisen, daß er zwei ver-schiedene Aspekte beinhaltet. Das eine ist die sofortigeBeendigung der Bombardierungen. Darauf muß dieBundesregierung im Rahmen der NATO entsprechendhinwirken. Das andere betrifft die Beendigung der Be-teiligung der Bundeswehr an den Kriegshandlungen derNATO.Für unsere Forderung nach Abzug der deutschenTruppen aus Jugoslawien gibt es einen einfachen Grund:Wir haben immer darauf hingewiesen, daß diejenigen,die aktiv an dem völkerrechtswidrigen Angriffskrieg ge-gen Jugoslawien beteiligt waren, hinterher nicht alsFriedensengel in den Kosovo zurückkehren sollen;vielmehr sollen neutrale Staaten Truppen nach Jugosla-wien entsenden, weil sie nicht durch einen vorherigenaktiven Einsatz belastet sind.
Insofern haben wir eine andere Vorstellung über die Zu-sammensetzung des Kontingents, das nach Jugoslawiengeschickt werden soll. Unserer Meinung nach wäre dieEntsendung von Soldaten durch neutrale Staaten demFrieden dienlicher, weil die Vorbehalte gegen Staatenwie Schweden, Finnland und andere viel geringer sindals gegenüber den NATO-Staaten, die Jugoslawien überWochen bombardiert haben.Wenn Sie von dem menschlichen Leid sprechen,dann muß man das Leid der gesamten Zivilbevölkerungin Jugoslawien in Betracht ziehen.
Selbstverständlich sind die kosovo-albanischen Kinder,die vertrieben worden sind, traumatisiert. Das sieht manan ihren Zeichnungen. Aber ich sage Ihnen: Traumati-siert sind auch die serbischen Kinder, die seit über 70Tagen Nacht für Nacht in Luftschutzkellern zubringenmüssen. Darüber ist hier so gut wie noch nie gesprochenStaatsminister Dr. Ludger Volmer
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3502 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 41. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 8. Juni 1999
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worden. Genau deshalb unterscheiden wir bei der Hilfenicht.
Ich finde es auch völlig falsch, schon jetzt anzukün-digen, daß man der serbischen Bevölkerung erst dannHilfe zukommen läßt, wenn dort die Leute regieren, dieman sich wünscht. Ich finde das absurd. Es geht dochnicht um einen Diktator oder einen Präsidenten, sondernum Menschen, deren Infrastruktur völlig zerstört wordenist und die dringend der Hilfe bedürfen.
Herr Staatsminister, ich verstehe überhaupt nicht,weshalb die NATO nach den Zugeständnissen Belgrads– auch gegenüber dem Sicherheitsrat der Vereinten Na-tionen – nicht wenigstens jetzt mit den Bombardierun-gen aufhört. Sie können doch das tägliche und nächtli-che Bombardement nicht als eine Art Alltagspflicht be-handeln, der man sich auf gar keinen Fall entziehen darf,bevor es nicht eine Unterschrift gibt.
Es gab übrigens in jedem Krieg auch Nächte, in denennicht bombardiert worden ist. Das ist also überhauptnicht nachvollziehbar.Wenn dann gesagt wird, man müsse weitermachen,weil man Milosevic mißtraue oder weil der militärischeDruck nicht nachlassen dürfe: Militärischen Druck gäbees doch auch, wenn Sie jetzt aufhören würden zu bom-bardieren. Die Soldaten, die Flugzeuge und die Raketensind doch noch alle da. Sie könnten – leider – theore-tisch jeden Tag wieder anfangen. Das heißt, der militäri-sche Druck bliebe doch.Was hindert Sie denn eigentlich daran, einfach zu sa-gen „Wir hören jetzt auf, das Ganze ist auf einem Weg,zum Ende zu kommen, und wir werden uns nicht aneiner Verlängerung des Krieges durch tägliche Bombar-dements beteiligen“? Auch letzte Nacht hat es wiederzivile Opfer gegeben, zumindest wenn die Informatio-nen stimmen, die wir heute dazu bekommen haben.
Ich sage Ihnen: Die ganzen Ziele dieses Krieges ha-ben Sie allein schon durch die Art der Bombardementsin Frage gestellt. Wasserwerke, Düngemittelfabriken,Elektrizitätswerke, Heizkraftwerke, das waren nie mili-tärische Objekte, und die Bombardements richteten sichauch nie gegen Milosevic, sondern trafen immer nur dieZivilbevölkerung. Ich bin überhaupt sehr mißtrauisch,gerade was die Angriffe gegen den Mann an der Spitzebetrifft. Denn war es im Golfkrieg nicht auch so, daßimmer gesagt wurde, der Krieg richte sich nur gegenSaddam Hussein, aber nicht gegen die Zivilbevölke-rung? Tatsache ist: Es gibt im Irak inzwischen 100 000tote Kinder, aber Saddam Hussein sitzt immer noch si-cher im Sattel. Das ist die Wahrheit, die sich nach Jah-ren herausstellt.
Natürlich ist das Ergebnis, das bei dem G-8-Gipfelbeschlossen worden ist, nicht identisch mit den Be-schlüssen von Rambouillet, gerade im militärischenTeil. Es gibt zwei gravierende Unterschiede. Damalsging es nämlich um die Hoheit der NATO über ganz Ju-goslawien, jetzt geht es „nur“ um den Kosovo. Damalswar von der UNO überhaupt keine Rede, während dieHoheit heute bei der UNO liegen soll. Das sind schongravierende Unterschiede.Auf der anderen Seite haben Sie vieles von IhrenVorstellungen durchgesetzt, was nach einem solchenBombardement auch zu erwarten war. Nur, wenn derBundeskanzler heute gesagt hat, wer nicht bombardierthätte, hätte die größere Schuld auf sich geladen, undwenn er meint, daß die Politik der Bundesregierung ins-gesamt richtig gewesen sei, dann sage ich Ihnen: Vonallen Fehlern, die die Bundesregierung bisher begangenhat und in dieser Legislaturperiode in Zukunft wahr-scheinlich noch begehen wird, war die Beteiligung andem völkerrechtswidrigen Angriffskrieg mit Sicher-heit der größte mit den langfristigsten Auswirkungen fürEuropa und für unser Land.
Gerade Sie, Herr Volmer, aber auch Frau Müller,Frau Beer und andere haben der Politik einen enormschlechten Dienst erwiesen. Sie haben, Herr Volmer,hier heute über den 16. Oktober gesprochen. An diesem16. Oktober haben Sie der Androhung der Bombardie-rung nicht zugestimmt. Sie haben sich der Stimme ent-halten, genau wie Frau Beer, Frau Müller und andere.Die Begründung, die Sie damals dazu abgegeben haben,lautete: Sie könnten der Androhung nicht zustimmen,weil dahinter kein Mandat des Sicherheitsrates der Ver-einten Nationen stünde; damit wäre es völkerrechtswid-rig, und Sie könnten einer völkerrechtswidrigen Andro-hung von Militärmaßnahmen aus Gewissensgründennicht zustimmen. Das war Ihre damalige Erklärung. DreiMonate später, als die ersten Bomben fielen, hatte sich– ich gehe nur von Ihrer Erklärung aus – an diesemSachverhalt nichts geändert. Es gab noch immer keinenSicherheitsratsbeschluß. Plötzlich haben Sie aber zuge-stimmt. Da ging es nicht mehr um die Androhung, son-dern um das Abwerfen der Bomben. Damit haben Sie– ganz egal, welchen Standpunkt man einnimmt – derPolitik und der Demokratie deshalb einen so schlechtenDienst erwiesen, weil Sie nun für die Bevölkerung derlebende Beweis dafür sind, daß man Überzeugungennicht nach dem Gewissen ausrichtet, sondern nach demAmt, das man bekleidet.
Denn der einzige Unterschied war, daß Sie inzwischenStaatsminister und die anderen Angehörige einer Regie-rungsfraktion waren.Sie wissen doch genausogut wie ich: Wenn eine Re-gierung aus CDU/CSU und F.D.P. diesen Krieg in ihrerVerantwortung beschlossen hätte, wären wir beidewahrscheinlich gemeinsam auf Kundgebungen aufge-treten und hätten wilde Reden dagegen gehalten.
Dr. Gregor Gysi
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Das ist die Wahrheit. Damit haben Sie Politik dauerhaftbeschädigt, weil wir uns alle von den Leuten fragen las-sen müssen, ob denn auf uns Verlaß wäre, wenn wir einanderes Amt übernähmen, oder ob wir dann auch sofortunsere Auffassung entsprechend ändern würden. Sie ha-ben nicht nur sich geschadet, sondern Sie haben demAnsehen der Politik überhaupt geschadet. Sie hätten IhreMeinung nicht ändern dürfen, oder Sie hätten von vorn-herein einen anderen Standpunkt einnehmen müssen.
Die Folgen des Krieges werden nicht unerheblichsein. Eine der schlimmsten Folgen ist meines Erachtensein Hochrüstungsprogramm. Wir werden das in Ruß-land und in vielen anderen Staaten erleben. Diktatorenziehen doch nicht die Schlußfolgerung, plötzlich Demo-kraten zu werden. Sie werden vielmehr überlegen, wiesie militärisch möglichst unangreifbar werden.Rußland ist deutlichst vorgeführt worden. Die Ge-sten gegenüber Primakow waren diplomatisch natürlicheine Katastrophe. Diejenigen, die dieses Verhalten hierkritisiert haben, haben völlig recht: So geht man mit ei-nem Ministerpräsidenten, den man für eine Politik ge-winnen will, nicht um, selbst dann nicht, wenn die Er-gebnisse mangelhaft sind.
Das Problem ist, daß man Rußland deutlich gemacht hat,daß es nur dann gleichwertig mitsprechen kann, wennes militärisch auch wieder gleichwertig ist. Das heißt:Ganz egal, wer Präsident wird, ganz egal, wie die Dumazusammengesetzt sein wird, wir werden ein Hoch-rüstungsprogramm erleben. Das bedeutet immer dieVerelendung von Völkern; auch bei uns hat es übrigenszu Sozial-, Kultur- und Bildungsabbau geführt.Schon zwei Tage nach Beginn des Krieges hat derStaatssekretär im Verteidigungsministerium gefordert,wir bräuchten eigene Satelliten, nicht nur amerikanische.Sie wollen die Westeuropäische Union jetzt aus- undaufbauen. Das alles bedeutet mehr Rüstung, es bedeutet,viel stärker auf das Militärische zu setzen.Machen wir uns doch nichts vor: Die Amerikanerwußten natürlich, daß diese Bombardierung auch die eu-ropäische Integration um Jahre und Jahrzehnte zurück-wirft und sie einen gleichwertigen europäischen Kon-kurrenten auf Jahre und Jahrzehnte auf den Weltmärktennicht mehr zu fürchten haben. Wenn Sie mir das nichtglauben, dann werfen Sie doch einen Blick auf das Ver-hältnis von Euro und Dollar. Sie werden feststellen:Der Euro geht in den Keller, der Dollar steigt. Alle An-leger investieren in den Dollar.
Deswegen behaupte ich: Alle sozialdemokratischen eu-ropäischen Regierungen haben sich schlicht und ergrei-fend über den Tisch ziehen lassen, weil sie das im Un-terschied zu den Konservativen nicht mit berechnet undberücksichtigt haben. Das ist die traurige Wahrheit.
Wenn Sie mit Politikern kleinerer Länder sprechen,dann hören Sie plötzlich Argumente, auf die man vorhergar nicht gekommen wäre. Zum Beispiel gibt es einenRun auf die NATO-Mitgliedschaft, weil diese Länderdie Situation in der Türkei mit der Situation in Jugosla-wien verglichen haben. Aus diesem Vergleich haben siedie Schlußfolgerung gezogen: Wenn ich in der NATObin, dann kann ich mir jede Menschenrechtsverletzungleisten. Wenn ich draußen bin, dann ist das gefährlich. –Diese Logik haben Sie im Ergebnis dieses Krieges mit-zuverantworten.
Herr Kollege Gysi,
ich möchte Sie bitten, jetzt zum Schluß zu kommen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Das war nur ein Mißver-ständnis, so etwas kommt gelegentlich vor. – Ich möch-te, was die Europapolitik der Bundesregierung betrifft,noch auf folgende Dinge eingehen. Lassen Sie mich zu-nächst etwas zum Beschäftigungspakt sagen, den derBundeskanzler heute hier so stolz verkündet hat. Ich er-innere mich sehr gut an folgende Situation. Als Jospinan die Macht kam, wollte er unbedingt einen Beschäfti-gungspakt in Europa. Altbundeskanzler Kohl wehrtesich zusammen mit Waigel tapfer dagegen und sagte,Arbeitsmarktpolitik müsse man im Lande machen undnicht in Europa. Deswegen blieb es bei völlig unver-bindlichen Absichtserklärungen. Die SPD tobte damalszusammen mit uns und mit den Grünen und sagte, in Eu-ropa müsse konkrete Beschäftigungspolitik gemachtwerden. Nun haben wir einen sozialdemokratischenKanzler, und der sagt jetzt auf dem Gipfel: Bloß keinekonkrete europäische Beschäftigungspolitik, bitte nurAbsichtserklärungen. – So gesehen hätten wir uns denWechsel des Kanzlers wirklich schenken können. DerAnsatz ist derselbe geblieben.
Auf der einen Seite gibt es Dinge, die man vom Landnicht nach Europa wegdelegieren darf, um sich nicht ausder Verantwortung zu stehlen. Auf der anderen Seitegibt es aber natürlich auch Dinge, die man europäischangehen muß: Wir werden in Europa keine Beschäfti-gungspolitik ohne eine Steuerharmonisierung hinbe-kommen. Wir werden nicht nur in unserem Land, son-dern in ganz Europa über den Abbau von Überstundenund über Arbeitszeitverkürzungen nachdenken müssen,wenn wir Arbeit in der Gesellschaft gerechter verteilenwollen. Wir werden über den sogenannten Non-Profit-Sektor, also den öffentlich geförderten Beschäftigungs-sektor, in unserem Lande, aber auch in ganz Europanachdenken müssen. Außerdem werden wir eine neueStruktur für Lohnnebenkosten finden müssen. All dasgehört dazu.Wenn ich dann die Sparpläne der Bundesregierunghöre, die vor der Wahl allerdings sehr unkonkret blei-ben, dann wundere ich mich auch sehr. Alles, was hierDr. Gregor Gysi
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zitiert worden ist, hätte auch die alte Regierung sagenkönnen. Im Dezember haben Sie die Senkung des Ren-tenniveaus ausgesetzt. Wir haben völlig zu Recht zuge-stimmt, obwohl es nicht konsequent genug war. Wirhätten gleich die Beseitigung dieser Senkung festschrei-ben müssen; Sie wollten zunächst aber nur die Ausset-zung. In den letzten Tagen lese ich in den Zeitungen, IhrFinanz- und Ihr Arbeitsminister wollten die Erhöhungder Rente im nächsten Jahr um die Hälfte kappen. Dassoll danach so weitergehen. Dann hätten Sie die Sen-kung des Rentenniveaus gleich in Kraft lassen können;das ist doch für die Rentnerinnen und Rentner faktischdasselbe.
Es ist nicht hinnehmbar – ich will das deutlich sa-gen –: Wenn Sie nicht eine andere Verteilungspolitikbetreiben und den Reichtum begrenzen – dazu gehörtMut –, werden Sie Armut niemals wirksam bekämpfenkönnen. Sie haben versprochen, die Vermögensteuereinzuführen. Wo bleibt sie denn? Es gibt nicht einmaleinen entsprechenden Antrag seitens der Regierungs-koalition und diesbezüglich auch keine Bemühungen inEuropa.Ich möchte noch andere Versprechen nennen: DieAusgaben für die Bildungspolitik wollten Sie verdop-peln. Jetzt sollen sie im nächsten Jahr eingeschränktwerden, nachdem sie in diesem Jahr glücklicherweiseerhöht worden sind. Das alles, gerade was die europäi-sche Ebene betrifft, enttäuscht bitter. Hier hätten wir unsnicht nur einen Wechsel der Regierung, sondern aucheinen wirklichen Wechsel der Politik gewünscht. Der istleider ausgefallen.Aber das Schlimmste von alledem ist und bleibt derKrieg. Deshalb wiederhole ich meinen Appell und mei-ne Bitte: Stellen Sie wenigstens heute nacht die Bom-bardierung ein! Es gibt keinen Grund mehr, weiter zuzerstören. Eines Tages muß alles wieder aufgebaut wer-den. Menschen dürfen nicht länger unter diesem Kriegleiden, egal welcher Nationalität sie sind.
Ich gebe das Wort
für die CDU/CSU-Fraktion dem Abgeordneten Michael
Glos.
Herr Präsident! Meinesehr verehrten Damen und Herren! Falls Sie, meine Da-men und Herren von der Sozialdemokratie, es vergessenhaben sollten: Mein Vorredner ist Mitglied der Partei,die in Mecklenburg-Vorpommern und in Sachsen-Anhalt Ihr Koalitionspartner ist.
Sich für ihn zu schämen nutzt allein nichts. Man mußdaraus auch Konsequenzen ziehen.
Ich bedauere, daß Herr Hombach gerade gegangenist. Ich wollte ihm nämlich etwas zum Stichwort „Rück-tritt“ – allerdings nicht auf ihn bezogen – sagen. Ichwollte ihm für den Bundeskanzler mit auf den Weg ge-ben, daß es vollkommen unerträglich ist, daß hier einStaatsminister des Auswärtigen Amtes auftritt – egal ober für die Fraktion oder für die Bundesregierung spricht– und sich in die russische Innenpolitik einmischt.
In Anbetracht der schwierigen Situation war es ein be-sonders dreistes Stück, von hier aus Herrn Jelzin zudanken, daß er Herrn Tschernomyrdin geschickt hat.
Ich finde, wenn man es nicht kann, dann sollte man sol-che Ämter nicht einnehmen. Das zeigt, was heraus-kommt, wenn die Koalitionsarithmetik vor alles anderegestellt wird.
Wir alle sind uns im Ziel einig: Wir möchten Friedenim Kosovo. Wir wissen aber, daß dann, wenn man esmit einem Gegner wie Milosevic zu tun hat, falsche Eu-phorie unangebracht ist. Deswegen hat WolfgangSchäuble vorhin recht gehabt, als er noch einmal dieBilder in Erinnerung gerufen hat, die am letzten Don-nerstag vom europäischen Gipfeltreffen ausgegangensind, wo man sich umarmt hat, wo man gefeiert hat
und wo man Champagnerkorken hat knallen lassen, oh-ne daß die Sache in trockenen Tüchern war. Dies ist eineArt Aufforderung an den Diktator gewesen, neue Fintenauszuprobieren.
Deswegen werden wir über den Antrag zum Einsatzdeutscher Soldaten, der hier gestellt worden ist, sehrsorgfältig beraten. Vor allen Dingen wollen wir genauabklopfen, wie gefährlich dieser Einsatz für unsere Sol-daten ist. Die Tatsache, daß man jetzt davon spricht, daßeine UN-Sicherheitsratsresolution die Grundlage dafürsein muß, ist etwas, was wir sehr begrüßen würden.Aber wir müssen auch alles dafür tun, das BündnisNATO nicht zu schädigen. Wir haben zu allen Zeiten zudiesem Bündnis gestanden. Aus diesen Gründen habenwir – denn wir wollen auch in Zukunft Frieden undFreiheit – die Bundesregierung auf ihrem Weg viel stär-ker unterstützt, als sie aus den eigenen Reihen unter-stützt worden ist. Rufen Sie sich doch einmal in Erinne-rung, was geschehen wäre, wenn die Gefechtslage um-gekehrt gewesen wäre!
– Das ist richtig. Sie hätten nicht nur vieles in Brand ge-setzt, sondern es wären auch viel mehr Farbbeutel ge-Dr. Gregor Gysi
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worfen worden als der eine bestellte oder nicht bestellteauf Joschka Fischer,
der, nachdem der Farbbeutelwerfer von seinen Par-teifreunden zugelassen worden ist, anschließend Straf-antrag gestellt hat.
Ich habe dafür viel Verständnis. Ich habe aber auch da-mals schon für die Leute Verständnis gehabt, die Straf-anzeige wegen der Gewalttätigkeiten der Leute gestellthaben, die heute in den großen Limousinen sitzen.
Herr Kollege Glos,
gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten
Lippelt?
Ja.
Bitte schön.
Herr Glos, da der Farbbeutel nicht nur Farbe versprüht
hat, sondern auch, wie Sie überall in den Zeitungen le-
sen können, zu einer körperlichen Beschädigung geführt
hat, finden Sie dann nicht, daß diese letzte Unterstellung
vom bestellten Farbbeutelwerfer wirklich sehr ge-
schmacklos war?
Ich habe gesagt: Ichweiß nicht, ob er bestellt war oder nicht. Ich beziehemich auf Presseberichte, in denen steht: Sicherheits-kräfte wollten den Mann nicht hereinlassen, und dieGrünen hätten ausdrücklich darauf bestanden, daß erhereinkommt nach dem Motto: So einen freundlichenDemonstranten schließt man nicht aus.
Herr Bundeskanzler, Sie haben sich heute am SchlußIhrer Regierungserklärung bei den Abgeordneten desDeutschen Bundestages bedankt, die Ihre Politik mitge-tragen haben. Ich glaube, man hätte es noch ein bißchendeutlicher ausdrücken müssen. Es wäre schon ange-bracht gewesen, daß man sich hier ganz speziell beiCDU, CSU und F.D.P. bedankt hätte. Vor allen Dingenwäre es ein Stück angebracht gewesen, sich auch beiEdmund Stoiber zu bedanken,
der dafür gesorgt hat, daß das Verhältnis mit Rußland,das von Ihnen beschädigt worden ist,
in einer schwierigen Zeit emotional wieder auf eine an-dere Basis gestellt worden ist, als auf die, auf der sichIhr eigener Staatsminister heute bewegt hat.Außenminister Fischer hat erklärt, er könnte mit denBeschlüssen seiner Partei und seiner Fraktion durchausleben. Ich erinnere daran, daß seine Partei anläßlich die-ser Attacke, über die wir gerade geredet haben, die dortam Rande stattgefunden hat, beschlossen hat, die Bom-benangriffe sofort einzustellen. Wenn man das getanhätte, wenn man also der Partei der Grünen gefolgt wä-re, dann hätte man Milosevic nicht an den Verhand-lungstisch gebracht. Dann hätten alle Verhandlungskün-ste des Herrn Ahtisaari, des Herrn Tschernomyrdin unddes Herrn Talbott, für die ich mich selbstverständlichbedanke, möglicherweise nichts genutzt.Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Frie-denssicherung erfordert es, daß wir, wenn wir NATO-Soldaten und deutsche Soldaten einsetzen, alles tun, umdiesen gefährlichen Einsatz, der dann auf unsere Solda-ten zukommt, mit entsprechender Ausrüstung abzusi-chern. Wenn ausgerechnet in dieser Zeit der Verteidi-gungshaushalt hart zurückgefahren werden soll, dannist das ein falsches Signal.
Deswegen müssen wir bei den Ausschußberatungen sehrgenau darauf achten, daß sich an der Frage des Geldesnicht die Frage nach der Sicherheit unserer Soldaten ent-scheidet. Wir werden auf diesen Punkt sehr sorgfältig zuachten haben.Es ist sicher noch etwas anzusprechen: Viele jungeSoldaten haben im Grunde in Unkenntnis unterschrie-ben. Wenn man sich zwischen zehn und zwölf Monatenentscheiden muß, dann ist es für viele junge Leute aucheine Frage des Geldes, das man bekommt, und eine Fra-ge der Planung: Was kann ich in zwei Monaten noch an-fangen? Man bekommt für zwei Monate keine Arbeit,daher sagt man, ich bleibe zwölf Monate. Man war sichmöglicherweise über die Gefährlichkeit des Einsatzes,dem man dann zugestimmt hat, nicht in ausreichendemMaße im klaren.Herr Scharping hat sich heute in einem Teil seinerRede mit anderen Dingen befaßt, die weniger sein Res-sort angehen. Er hätte die kurze Zeit ruhig nutzen kön-nen, um sich vor allen Dingen mit seinem Ressort zu be-fassen. Es geht darum, daß die Soldaten innerhalb vonvier Monaten ausgewechselt werden müssen. Wir hof-fen, daß die Gefährlichkeit dann nicht mehr ganz sohoch ist. Aber es bleibt ein gefährlicher Einsatz. Es stelltsich die Frage: Sind denn genügend junge Leute auf die-sen Einsatz sowohl innerlich als auch von ihrer Ausbil-dung her vorbereitet? Auch diese Fragen werden nochzu klären sein, bevor wir über einen Antrag abstimmen.Ich komme nun zu dem von Herrn Ahtisaari so apo-strophierten Schröder-Plan. In einem Interview im„Heute-Journal“ hat er Sie genannt, Herr Schröder, undhat gesagt: Ob es der Kanzler mag oder nicht, ich habeden Aufbauplan schon nach Schröder benannt. Ich warein bißchen ärgerlich, daß die Leute ihn schon „Mar-shallplan II“ nannten. Ich denke, wir sollten die Regie-Michael Glos
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rung und die Person, die das entworfen hat, auch würdi-gen.
Vor dem Würdigen einer Leistung steht aber die Fra-ge, wer wieviel dafür bezahlt. Ich kann mir gut vorstel-len, daß viele unserer Partner den Plan gerne nach derNation benennen, die am meisten zahlt, wenn sie da-durch billiger wegkommen. Jetzt ist die Frage: Ist dafürausreichend Vorsorge getroffen worden, steht dafür ge-nügend Geld im Haushalt, und welche Vorsorge ist beider Haushaltsplanung der Europäischen Union getroffenworden? Wir kommen noch darauf, wie wenig es Ihnengelungen ist, den deutschen Beitrag zu reduzieren. Ichzitiere Herrn Struck, der heute nicht da ist – –
– Entschuldigung, Peter. Du hast gesagt, der Krieg imKosovo verdecke die großartigen innenpolitischen Lei-stungen der Bundesregierung.
Mit den „großartigen innenpolitischen Leistungen“ ist esnicht ganz so weit her.
Ihre Arbeit, Herr Bundeskanzler, in Sachen finanziellerKonsolidierung und Durchsetzen deutscher Interessenin der EU ist nicht einmal das Honorar von 630 DM imMonat wert, auch nicht in der Form nach alter Besteue-rung und Sozialversicherung. Insofern läßt sich die EU-Präsidentschaft auch anhand Ihrer Regierungserklärungbewerten. Vor dem SPD-Parteirat in Saarbrücken – zueiner Zeit, in der ein Gerhard Schröder in Saarbrückennoch hat machtvoll auftreten müssen, weil es damalsdort noch einen Rivalen gab – haben Sie gesagt: Wirwollen runter mit dem Beitrag der Deutschen. Wir wer-den uns darüber verständigen, daß jene 22 MilliardenDM pro Jahr, die wir mehr zahlen, als wir bekommen,nicht noch mehr werden.Das Ergebnis kennen wir: Der deutsche Nettobeitragfür Europa wird von 22 Milliarden DM im Jahr 1999 auf27 Milliarden DM im Jahr 2006 ansteigen. Deutschlandträgt damit mehr als die Hälfte der Belastungen allerNettozahler.
Wenn der deutsche Beitrag geringer wäre, würde es –das Geld reicht ja hinten und vorne nicht – sicher auchHerrn Eichel leichter fallen, sein Einsparziel zu errei-chen. Jetzt stellt man sogar die bislang gesicherten Zah-lungen an die Rentner in Frage. Ich will damit nur sa-gen: Letztlich hängt alles mit allem zusammen. Geldkann man immer nur einmal ausgeben, entweder für Eu-ropa oder im deutschen Bundeshaushalt.
Sie haben davon gesprochen, daß auch in Europaeiserne Haushaltsdisziplin herrschen müsse. Wörtlichhaben Sie damals gesagt, das heiße in der BrüsselerSprache „reale Ausgabenkonstanz“. Was ist das Ergeb-nis Ihrer Präsidentschaft? Der EU-Haushalt wird von1999 bis 2006 um mehr als 20 Prozent wachsen, undzwar ohne Berücksichtigung der Inflationsrate.Darüber hinaus haben Sie versprochen, in der euro-päischen Agrarpolitik grundlegende Reformen durch-zusetzen. Es sollte mehr Geld bei den Bauern ankom-men. Für die deutschen Bauern sollten ergänzende na-tionale Hilfen durchgesetzt werden. Ergebnis: Die deut-sche Forderung nach Kofinanzierung haben Sie frühzei-tig wieder aufgeben müssen.
Folge: Die deutschen Bauern müssen massive Einkom-mensverluste hinnehmen.Zur Bewertung dieser Präsidentschaft gehört vor allenDingen auch: Alle anderen Nationen haben im letztenhalben Jahr der deutschen Präsidentschaft ihre eigenenInteressen abgetrotzt. Der britische Beitragsrabatt bleibt.Die französische Landwirtschaft bleibt bei der Agrarre-form weitgehend ungeschoren. Die finanziellen Hilfenfür Spanien und Portugal steigen. Der Kohäsionsfonds,mit dem die Mitgliedstaaten für die Währungsunion fit-gemacht worden sind, läuft für Euro-Länder weiter. Allehaben ihre Ziele erreicht, nur die deutsche Präsident-schaft steht mit leeren Händen da. Man kann feststellen:Außer Spesen nichts gewesen!
Der wirksamste Beitrag wäre allerdings gewesen,wenn wir Deutschen bei uns im Land in nationaler Ver-antwortung unsere Hausaufgaben gemacht hätten, zumBeispiel einen Kurswechsel in der Finanz- und Steu-erpolitik,
nicht nur Umverteilung, sondern nachhaltiges Einsparen.Nicht: linke Tasche, rechte Tasche, Energiesteuern raufund dafür ein bißchen Rentenbeitrag runter, sondernstrukturelle Reformen. Das ist das, was gebraucht undgefordert wird. Davon wären richtige Signale ausgegan-gen. Oder: Kein Signal für Flexibilität am Arbeitsmarkt.Alle internationalen Institutionen fordern, daß die Euro-päer, insbesondere die Deutschen, hier ihre Hausaufga-ben machen. Das alles hat letztendlich Auswirkungenauch auf den Euro-Dollar-Kurs.Ich möchte jetzt einmal eine Zeitung zitieren, dievollkommen unverdächtig ist, sehr stark auf seiten derUnion zu stehen. Es ist eine Hamburger Zeitung mitNamen „Die Zeit“. Sie schreibt in ihrer letzten Ausgabe:Schröder weiß nicht, was er will. Der deutscheKanzler mindert die Glaubwürdigkeit von ganzEuropa. Der Kölner EU-Gipfel steht im Zeichendes schlappen Euro.Michael Glos
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Der schlappe Euro, meine sehr verehrten Damen undHerren, läßt sich nicht hochreden mit einem Gerede voneuropäischen Beschäftigungspakten oder was weiß ich.Wir haben bereits genügend Laberveranstaltungen, woman zusammenkommt, redet und anschließend nichthandelt. Wir brauchen nicht noch mehr Gesprächskreise,sondern konkretes Handeln und konkrete Durchsetzung.
Es ist schon eine ernüchternde Bilanz einer Ratsprä-sidentschaft, wenn die europäische Währung in dieserZeit um zirka 12 bis 12½ Prozent gegenüber dem Dollargefallen ist, aber auch gegenüber anderen wichtigenWährungen um 7½ Prozent. Wir haben also nicht nureine Aufwertung des Dollar, sondern eine echte Ab-wertung des Euro. Diese schlechte Bewertung des Euroist Ausdruck des mangelnden Vertrauens in die europäi-sche Wirtschaft, rasch Anschluß an die Wirtschafts- undWachstumsdynamik zum Beispiel der USA zu gewin-nen. Wolfgang Schäuble hat es vorhin schon gesagt: Wirhaben jetzt unter Ihrer Führung erreicht, daß wir dasSchlußlicht im Wachstum sind.Das im europäischen Stabilitätspakt gegebene Ver-sprechen solider Staatsfinanzen ist brüchig geworden.Ich kritisiere vor allen Dingen, daß die Zustimmung zurAufweichung der Kriterien bei den Italienern hinter demRücken auch des deutschen Parlaments erfolgt ist.
Es wurde kein Ausschuß davon unterrichtet. Das sindalles Dinge mit gewaltigen Auswirkungen, Herr Bun-deskanzler. Sie haben bei Ihrer Regierungserklärung imNovember gesagt: „Wir wollen nicht, daß der Eurodeutsch spricht.“ Das heißt doch, in die deutsche Spra-che übersetzt: Wir wollen nicht, daß der Euro stabil ist;denn „deutsch sprechen“ bei einer Währung bedeutet:stabile Währung, meine sehr verehrten Damen und Her-ren.
Sie haben die Brisanz dieser Wechselkursverände-rung nach wie vor nicht erkannt. Ich glaube, daß dasunterschätzt wird. Natürlich haben wir im Moment nochniedrige Inflationsraten, aber das wird nicht lange sobleiben, wenn die Importpreise weiter steigen. Dasschlägt dann letztendlich durch bis hin auf die Zinsent-wicklung, die wir haben.
– Ja, Herr Welteke hat das bereits gesagt und angekün-digt.Ich nehme jetzt nur einmal als Vergleichsgröße dasGeldvermögen der Deutschen. Geld- und Lebensversi-cherungsvermögen: 5000 Milliarden DM. Eine12½prozentige Abwertung bedeutet zumindest im Ver-hältnis zum Dollarraum derzeit als Momentaufnahmeeinen Vermögensverlust von 625 Milliarden DM. WennSie einmal das Bruttosozialprodukt aller Euro-Ländernehmen, dann beträgt die Summe 11 000 MilliardenDM. Bei dem gleichen Prozentsatz sind wir als Europäerin der Momentaufnahme im Außenverhältnis zum Dol-larraum insgesamt um 1 375 Milliarden DM ärmer ge-worden.Nun wissen wir, daß das Momentaufnahmen sind.
– Sie können das gerne nachrechnen.Wir müssen alles tun, damit die Situation nicht sobleibt und dann negativ durchschlägt. Deshalb müssendie Hausaufgaben im jeweiligen Land, aber auch in Eu-ropa mit einer fähigen Kommission gemacht werden.Mit Prodi ist ein vielversprechender Anfang gemachtworden. Alle anderen Länder schicken sich an, ihre be-sten Köpfe in diese Kommission zu entsenden. Bei unssoll es aber nach dem Motto gehen: Wählst du meinenRau, wähle ich deine Frau.
Das steckt doch letztendlich hinter dem Koppelge-schäft mit Frau Schreyer. Aber auch hier gibt es nocheine Art letzte Gelegenheit, die Notbremse zu ziehen,damit es mit dem Euro-Verfall nicht so weitergeht.Es gibt noch eine Sache, um die viele Menschen inDeutschland die Europäer beneiden: Sie sind nicht mehrallzu lange Ratspräsident. Aber wir Deutschen befürch-ten, Sie noch eine Weile als Kanzler behalten zu müs-sen.Vielen Dank.
Ich gebe das Wort
dem Kollegen Gernot Erler, SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolle-ginnen und Kollegen! Am 3. und 4. Juni schien ein Alp-traum zu Ende zu gehen. Der Schock kam dann abervorgestern nacht, als die Verhandlungen über militäri-sche Einzelheiten zunächst gescheitert und vorüberge-hend unterbrochen waren. Wir erkennen jetzt: Der Alp-traum wird nicht wieder beginnen, aber sein Ende zögertsich hinaus. Das erfordert von uns allen noch einmalGeduld, Beharrlichkeit und Übersicht.Herr Kollege Schäuble, ich finde, Sie haben sichnicht in angemessener Weise mit der Freude und Er-leichterung auseinandergesetzt, die uns alle am 3. und 4.Juni erfaßt hat. Ich bekenne mich dazu, daß ich zu denengehöre, die erleichtert waren. Das war kein Jubel überden Sieg, sondern Erleichterung über das Ende desKrieges.
Diese Erleichterung hat keine negativen Auswirkungenin Moskau gehabt. Dort hat man nämlich das gleiche ge-fühlt.Michael Glos
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3508 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 41. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 8. Juni 1999
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Entscheidend ist doch, ob es die Bundesregierungschafft, auf diese Schwierigkeiten mit einer Fortsetzungdes verantwortungsvollen Handelns zu reagieren. Dieletzten Stunden zeigen, daß sie das kann. Dies ist auchnötig, denn bei den Verhandlungen über die militärisch-technischen Fragen gibt es Schwierigkeiten: Milosevicversucht erneut, aus den Verpflichtungen herauszu-kommen, zu denen er und die beiden Parlamente in Ju-goslawien die Zustimmung gegeben haben, indem erjetzt – völlig vertragswidrig – verlangt, daß 15 000, jasogar 25 000 Soldaten im Kosovo bleiben sollen.In diesem Zusammenhang will ich in bezug auf HerrnGysi sagen, der nach seinem Redebeitrag direkt den Ple-narsaal verlassen hat: Er bleibt sich treu, indem er im-mer noch nicht unterscheidet zwischen einer Feuerpau-se, die den Krieg verlängert, und einer, die dazu beiträgt,ihn zu beenden.
In dieser Situation würde eine Feuerpause mißbrauchtwerden. Diese Forderung nach einer Feuerpause würdeebenso wie der Besuch von Herrn Gysi in Belgrad undseine Reden im Bundestag schädlich instrumentalisiertwerden.
Ich kann nur sagen, der Verbleib von jugoslawischenKräften in dieser Stärke im Kosovo ist nicht verhandel-bar, weil dieser Verbleib bedeuten würde, daß keinFlüchtling zurückkehrt. Die Frage ist: Warum hat dieserbische Seite diese neue Haltung eingenommen? Wirführen dies auch auf eine veränderte Situation in Mos-kau zurück, in der Milosevic sofort eine Chance gesehenhat, eine scheinbare Uneinigkeit zwischen dem Westenund Rußland zu nutzen. Dies zeigt uns noch einmal, wiewichtig die russisch-westliche Gemeinsamkeit in die-sem Prozeß ist, wie gefährlich eine Infragestellung die-ser Gemeinsamkeit ist und wie fahrlässig die Bewertungdes Einsatzes von Tschernomyrdin im eigenen Land inden letzten Tagen war.Ich möchte hier aus dem Deutschen Bundestag einenAppell an unsere Kollegen in der Staatsduma und imFöderationsrat richten: Bitte erkennen Sie, daß sichWiktor Tschernomyrdin nicht nur um den Frieden imKosovo, sondern auch um das Ansehen Rußlands in derWelt verdient gemacht hat!
Stellen Sie diesen Beitrag nicht in Frage, sondern setzenSie den konstruktiven Weg fort! Zum Glück haben wirbei den Verhandlungen auf dem Petersberg Anzeichen,daß dies der Fall ist.Herr Schäuble, Herr Gerhardt und Herr Glos – Siealle haben es angesprochen –: Die Bewertung der Akti-vitäten Tschernomyrdins ist viel wichtiger als die Frage,mit welcher Freundlichkeit Primakow seinerzeit in Bonnempfangen worden ist.
Der zweite Punkt bei den Militärgesprächen sind Fra-gen des Zeitrahmens, der Gestaltung der Pufferzone.Hier ist es gut, daß die NATO flexibel ist, die westlicheSeite flexibel verhandelt. Daran darf doch ein endgülti-ges Ende des Krieges nicht scheitern.Der entscheidende – dritte – Punkt ist aber die Rol-lenverteilung zwischen NATO und Vereinten Natio-nen. Wir wissen, Milosevic möchte gerne zu Hause sa-gen können – und damit den Irrsinn begründen können,gegen die stärkste Militärmacht der Welt einen Kriegdurchhalten zu wollen –, er habe erreicht, daß nicht dieNATO im Kosovo stehe, sondern daß dort ein UN-Mandat gelte; er beruft sich damit auf Punkt 3 des Pe-tersberger Friedensplans.Diese Position zeigt, daß eine Lösung wahrscheinlichnur möglich ist, wenn die Regelung der militärischenEinzelheiten und der Weg zu einer Resolution des UN-Sicherheitsrates eng miteinander verzahnt und synchro-nisiert werden. Eine andere Möglichkeit gibt es nicht.Wir haben gehört, daß es auf dem Petersberg Fort-schritte gibt, daß die Chance besteht – in Köln laufenjetzt wieder Verhandlungen –, daß bald eine Resolutiondes UN-Sicherheitsrates auf dem Tisch liegt und esheute oder noch in dieser Woche zu einem Beschluß desUN-Sicherheitsrates kommt.Meine Fraktion und, so denke ich, der ganze Bun-destag begleiten diesen Prozeß mit großen Hoffnungenund unterstützen ihn ohne jeden Vorbehalt.
Unser Wunschmodell ist natürlich, daß die Resolutiondes UN-Sicherheitsrates und das Military TechnicalAgreement parallel zustande kommen, dann die serbi-schen Einheiten abziehen, dann die internationalen Ein-heiten nachrücken, schon begleitet von den rückkehren-den Flüchtlingen.Der Antrag der Bundesregierung ist notwendig, umsich auf diesen Ablauf einzustellen. Er zeigt aber auch,daß Erfahrungen eingeflossen sind, daß einkalkuliertwird, daß ein anderer, weniger überzeugender und weni-ger gewünschter Ablauf möglich ist. Es ist gut undwichtig, daß die Bundesregierung jetzt nicht auf frühereBeschlüsse rekurriert, sondern einen neuen, konstituti-ven Beschluß des Bundestags einholt. Das gibt uns dieMöglichkeit gründlicher Beratung auch der Frage derGefährlichkeit dieses Einsatzes.Es ist gut und wichtig, daß die Bundesregierung auchweiterhin eine namhafte Rolle in dem schwierigen Pro-zeß übernehmen will, der jetzt im Kosovo beginnt. Wirwissen aus Bosnien-Herzegowina: Wenn die spektakulä-ren Dinge vorbei sind, werden die Scheinwerfer schnellausgeschaltet. Wir wollen auch dann noch dabei sein,wenn der Alltag beginnt, wenn die Scheinwerfer nichtmehr angeknipst sind. Diese Bereitschaft steht inder Tradition der besonderen Anstrengungen der Bun-desregierung in den letzten Wochen, die sie für einepolitische Lösung des Kosovo-Konflikts unternommenhat.Gernot Erler
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Ich will noch einmal daran erinnern: Es war richtig,daß die Bundesregierung mit dem Fischer-Plan einenProzeß eingeleitet hat, dem nachher alle beigetretensind, daß ein UN-Mandat angestrebt wird, daß Rußlandeinbezogen wird, daß bei der Zusammensetzung derFriedenstruppe eine flexible Haltung gezeigt wurde, daßeine frühzeitige Feuerpause – nicht erst nach Erfüllungaller Bedingungen – angestrebt wird. Das war die ent-scheidende Weichenstellung im Friedensprozeß.Es war richtig, daß die Bundesrepublik sich wie keinanderes Land um die Flüchtlingsproblematik geküm-mert hat. Es war gut, daß die Bundesrepublik die mei-sten Angebote gemacht hat, Flüchtlinge aufzunehmen.Es ist gut, daß bei uns die meisten Flüchtlinge leben.Viele von uns waren in den letzten Tagen und Wochenin Albanien und in Mazedonien und wissen, welche gro-ßen Leistungen gerade auch die Bundeswehr bei demAufbau der Vertriebenencamps erbracht hat. Es ist gut,daß wir hier in der vorderen Reihe stehen.Es war auch richtig, daß noch mitten im Krieg einStabilitätspakt als ein Signal an die ganze geschädigteRegion auf den Weg gebracht worden ist. Er trägt einegute Handschrift.
In diesem Kontext steht der Antrag der Bundesregie-rung, mit einem erhöhten Einsatz von 8 500 Soldaten dieHauptverantwortung in einem der Rückkehrsektoren zuübernehmen. Das steht in der Linie der von mir ge-nannten Initiativen. Wir brauchen dafür unbedingt einUN-Mandat und sind froh, daß die Fachminister gesternin den Gesprächen mit den Fraktionen zugesichert ha-ben, daß dann, wenn sich der Kontext der Verhandlun-gen verändert, das auch sofort seine Widerspiegelung indem Antrag finden wird. Ich bin sehr hoffnungsvoll, daßwir die endgültige Entscheidung über diesen Antrag be-reits auf der Basis eines dann gegebenen UN-Mandatstreffen können. Eines steht fest: Ein Einsatz der Bun-deswehr ohne eine Einigung mit der serbischen Seitekommt überhaupt nicht in Frage, für keinen von uns.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, je näher der Friedenrückt – das hat auch der Beitrag von StaatsministerVolmer gezeigt –, desto stärker drängen Fragen nachden notwendigen politischen Schlußfolgerungen in denVordergrund. Ereignisse wie der Kosovo-Krieg findenzweimal statt: einmal in ihrer grellen Faktizität, dannaber noch einmal in der Interpretation für das Gedächt-nis und das politische Bewußtsein.Für uns steht fest: Der Kosovo-Krieg kann kein Mo-dell für eine künftige Lösung von Konflikten in einerWeltordnung zivilisierter Staaten sein.
Es gelingt jetzt offenbar, das unverzichtbare Ziel zu er-reichen, daß die serbische Führung mit ihrem Vertrei-bungskonzept nicht erfolgreich bleibt. Der zu zahlendePreis aber – die politischen und die ökonomischenSchäden und die Verluste vieler unschuldiger Leben –ist zu hoch, ist nicht akzeptabel.Deswegen kann nur eine Alternative vernünftig sein.Wir müssen jetzt eine gründliche Analyse vornehmen:Was war vorher an unserer Politik zu schwach? Wo hatPrävention, wo hat vorausschauende Friedenspolitikversagt? Warum sind wir in die Situation der Alternativ-losigkeit des 24. März geraten? Welche politischen In-strumente müssen wir stärken, damit uns dies nicht nocheinmal passiert?So notwendig und richtig der Stabilitätspakt jetzt ist,dem die Außenminister Europas in zwei Tagen konkreteGestalt geben sollen: Es wäre besser gewesen, er wärevorher als Mittel zur strukturellen Krisenprävention ge-schlossen worden. Jetzt kommt er als Konzept der Scha-densbegrenzung, des Wiederaufbaus und der mühsamenWiedererkämpfung von Stabilität. Das ist teurer als je-des präventive Stabilitätskonzept.
Wir brauchen deswegen eine umfassende europäi-sche Integrationsstrategie, und wir müssen unsere bis-herigen Scheinsicherheiten bei dieser Strategie überden-ken. Der Bundeskanzler hatte heute morgen recht, als ersagte: Europa hat keine Zukunft, wenn es künftig dasNebeneinander von Inseln der Stabilität auf der einenSeite und Herden von sozialer Unsicherheit und politi-scher Instabilität auf der anderen Seite geben wird. –Das ist ohne Zukunft. Dann wird es so weitergehen, wiees der ungarische Philosoph György Konrad vor einigerZeit in einem lesenswerten Beitrag, den er mit dem Titel„An den Rändern Europas kichert der Wahnsinn“ über-schrieben hat, geradezu seherisch formuliert hat. Wirbrauchen in der Tat komplexe Strategien gegen denWahnsinn, dessen wir gewahr geworden sind. Bei allerKonzentration auf das Nahziel, ein endgültiges Ende desKrieges im Verhandlungsprozeß zu erreichen, solltenwir diese Gesichtspunkte auch heute schon erwägen undbedenken.Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Wort für die
F.D.P.-Fraktion hat der Kollege Dr. Helmut Haussmann.
Herr Präsident!Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Zunächst: Es solltekeine Schande sein, wenn sich jemand nach über 20 Jah-ren Engagement im nationalen Parlament um ein Man-dat im Europaparlament bewirbt. Das sollte keineSchande sein, das sollte auch keine Kritik hervorrufen.
Gernot Erler
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3510 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 41. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 8. Juni 1999
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Es wäre vielleicht ganz gut, wenn mehr Kollegen mitnationaler Erfahrung – ich habe mich acht Jahre lang aufnationaler Ebene für Europa engagiert – versuchen wür-den, ihre Erfahrungen und ihre Überzeugungen in Straß-burg oder Brüssel einzubringen.
Ich jedenfalls habe damit überhaupt kein Problem.Die Bilanz der deutschen Ratspräsidentschaft, diein Kürze zu Ende geht – ich glaube, es ist die letzte Ge-legenheit, sie hier zu analysieren –, ist zweigeteilt: Alles,was durch Außendruck erzeugt wurde, hat – das war inder europäischen Geschichte oft so – zu Fortschrittengeführt. Der Übergang des Aufgabenbereichs der WEUin die Zuständigkeit der Europäischen Union ist einFortschritt, den ich würdigen will. Die beiden Personal-entscheidungen Prodi und Solana sind ebenfalls Fort-schritte. Beides will ich nicht geringschätzen. Damit istIhre positive Bilanz aber erschöpft, meine Damen undHerren.
Es ist schade für Europa – nicht nur für unser Land –,daß alle anderen Projekte, die so groß angekündigt wa-ren und auf die unser Land als größtes Land im ZentrumEuropas angewiesen ist, negativ vollendet wurden. Ichwill einmal mit kleinen Dingen beginnen. Seit Jahr-zehnten gibt es die Diskussion um eine europäischeAktiengesellschaft – eine wichtige Gesellschaftsformfür Zusammenschlüsse in Europa.
Die deutsche Präsidentschaft hatte die Chance, dieseDiskussion abzuschließen. Das ist auch deshalb nichtgelungen, weil man am Anfang ein so wichtiges Landwie Spanien falsch behandelt hat. Am Schluß war esdann Spanien, das die Europa AG verhindert hat.Wir bräuchten eine europäische Energiebesteue-rung und keinen nationalen Alleingang.
Was ist aus der europäischen Energiebesteuerung ge-worden? Nichts! Mehr Steuergerechtigkeit: Kein ein-ziger Punkt konnte im Benehmen mit unseren europäi-schen Partnern zu Ende gebracht werden. Agenda 2000:Wir hören jetzt, der Steigungswinkel der deutschenAusgaben werde nicht mehr so steil ansteigen wie bis-her. Man kann es auch deutlich sagen: Es wird nach wievor teuer. Dabei stellt sich nicht nur die Frage, ob es füruns teurer wird. Vielmehr hat das schlechte Ergebnis –keine Agrarreform, keine Reform der Finanzinstitutio-nen – drei große Nachteile.Erstens. Wir sind für die Osterweiterung nicht gerü-stet. Was von Herrn Volmer gesagt wurde, war einfachfalsch. Die Stimmung in Osteuropa ist negativ; die Ost-europäer haben sich von ihrem Anwalt Deutschland vielmehr erwartet,
und zwar zunächst einmal Reformen bei der Agenda2000. Denn nur durch Reformen schaffen wir denFinanzspielraum, um wichtige Länder wie Polen aufzu-nehmen.Zweitens. Wir sind mit dieser Art Agenda 2000 beiden nächsten WTO-Verhandlungen nicht verhandlungs-fähig. Wir werden uns wundern über das Verhältnisvon Europa und Amerika nach der Kosovokrise. DieEuropäer machen jetzt den Frieden; die Amerikaner ha-ben vorher die militärische Last getragen. Das Klima derVerhandlungen mit den Vereinigten Staaten von Ameri-ka wird sich verhärten – zum Schaden unserer Außen-wirtschaft und zum Schaden unserer Landwirte. Daswerden wir sehr schnell spüren.
Drittens. Die Agenda 2000 hätte auf den Balkan-Wiederaufbauplan Rücksicht nehmen müssen. Jetzt ste-hen die Finanzierung der Osterweiterung und der Stabi-litätsplan für den Balkan im Wettbewerb. In der euro-päischen wie auch in der deutschen Finanzierung gibt eskeinerlei Reserven. Komme die Regierung bitte nichtmit einer sogenannten Friedenssteuer für den Balkanoder für die Osterweiterung in Form einer Mehrwert-steuererhöhung!
Dafür ist die Mehrwertsteuererhöhung nicht gedacht.Was die Osterweiterung angeht, so ist nur einepünktliche Erweiterung um die ersten Reformstaaten einentscheidender Stabilitätsexport. Es geht doch nicht an,daß die Reformpolitiker in Ungarn, Slowenien undPolen sagen, sie hätten nach zehn Jahren der Transfor-mationspolitik ihre Hausaufgaben gemacht und würdenim Jahre 2002 aufnahmefähig sein, die westeuropäischeUnion ihnen dann aber antworten muß, sie habe ihreHausaufgaben nicht gemacht; deshalb komme das allesauf die lange Bank. Die Bundesregierung hat es heuteerneut vermieden, einen konkreten Zeitpunkt anzugeben.Herr Volmer, wenn das so ist, wie der Bundeskanzlergesagt hat, nämlich daß die institutionellen ReformenEnde 2000 abgeschlossen sind, was spricht denn danngegen einen Beitritt im Jahre 2002? Wissen Sie aus dereuropäischen Geschichte denn nicht, wie wichtig Zeit-daten für Fortschritte sind? Wir hätten heute noch nichtden Binnenmarkt, wir hätten heute noch nicht die Euro-päische Währungsunion, wenn wir nicht ehrgeizig undunbeirrt an Zeitdaten festgehalten hätten. Diese Erfah-rung haben wir bei der europäischen Integration ge-macht.
Euro-Schwäche als Ergebnis – das hätte niemandgedacht. Ich fühle mich da wirklich mißbraucht. Wir ha-ben in Deutschland für eine Mehrheit für den Euro ge-kämpft. Wir haben versprochen: Der Euro wird so stabilsein wie die D-Mark. Wir haben uns gegen eine Mehr-heit durchgesetzt. Wir hatten nach der Euro-Einführungmit 1,18 Dollar zunächst eine Mehrheit für den Euro inDeutschland. Inzwischen gibt es wieder eine MehrheitDr. Helmut Haussmann
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 41. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 8. Juni 1999 3511
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gegen den Euro. Die antieuropäischen Kräfte in Groß-britannien und in der Schweiz sind gestärkt, weil eben-diese Länder, die für die Europäische Union so wichtigwären, den Eindruck haben, daß die Stabilität den sozia-listischen Regierungen in Italien, Frankreich undDeutschland nicht so wichtig ist.
Ich als Ökonom kann nur sagen: Aus einer Außen-schwäche wird auf Dauer eine Innenschwäche.
Der erste Punkt waren die Angriffe von Herrn La-fontaine gegen die Unabhängigkeit der EuropäischenZentralbank.
Der Wechselkurs des Euro sank in der Folge von 1,18Dollar auf 1,08 Dollar.Der zweite Punkt war – unter Zustimmung von HerrnEichel – die Erhöhung der Verschuldungsgrenze ent-gegen den Vereinbarungen des Stabilitätspaktes. Davonprofitiert zunächst Italien. Deutschland wird der nächsteEU-Staat sein, der diese höhere Verschuldungsgrenzeebenfalls in Anspruch nehmen muß; denn wir sind imMoment mit das wachstumsschwächste Land in Europa.Unter der alten Bundesregierung hatten wir noch eineWachstumserwartung von 2,8 Prozent. Im ersten Quartaldieses Jahres sind wir bei 0,7 Prozent angekommen. Dasheißt: weniger Dynamik, weniger Steuereinnahmen, sai-sonbereinigt mehr Arbeitslose, höhere Verschuldung.Das schlägt sich im Euro-Kurs nieder. Es wäre falsch, zusagen, Ursache für den derzeitigen Euro-Kurs sei dieStärke der Amerikaner. In der Weltwirtschaft gibt eskein stark oder schwach. Da gibt es Länder, die ihreHausaufgaben machen, die dynamisch sind, die ein kla-res Steuersystem haben, die Dienstleistungen schätzen,die Flexibilität erlauben – ich verweise auf die Beratun-gen zum 630-DM-Gesetz und zur Scheinselbständig-keit –: Diese Länder haben eine starke Währung undeine hohe Kaufkraft. Und dann gibt es Länder wieDeutschland, das innerhalb von acht Monaten abgestürztist.
Wir sind das absolute Schlußlicht bei der Dynamik inEuropa. Das muß sich ändern. Dazu wird auch dieWahlentscheidung beitragen.
Ich möchte zum Schluß sagen: Der Beschäftigungs-pakt ist eine riesige Luftnummer. Über 90 Beamte wer-den sich versammeln. Zwei entscheidende Gruppen sindgar nicht vorgesehen: einmal der Mittelstand und zumzweiten das Europäische Parlament. Ein solcher Be-schäftigungspakt bringt weder mehr Beschäftigung nochmehr europäisches Bewußtsein. Insofern ist die Bilanzder deutschen Ratspräsidentschaft, vom außenpoliti-schen Bereich abgesehen, leider äußerst dürftig.
Ich gebe das Wort
dem Kollegen Dr. Helmut Lippelt, Bündnis 90/Die Grü-
nen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Trotz derKürze der mir zur Verfügung stehenden Zeit muß ichnoch einige Polemik loswerden. Herr Gysi ist nun leiderwieder nicht da. Ich hätte ihm sonst gern gesagt, daß ervöllig recht damit hat: Es soll nicht mehr gebombt wer-den. Nur, warum bemerkt er nicht, daß in Serbien seitdrei Tagen, bis auf die letzte Nacht, ja wirklich nichtmehr gebombt worden ist, daß aber die schweren serbi-schen Waffen die Dörfer im Kosovo weiter beschossenund daß sie auch bis nach Albanien hinein geschossenhaben. Militärische Implementierungsverhandlungensind Waffenstillstandsverhandlungen. Wir haben keinenWaffenstillstand. Wir brauchen den Waffenstillstand.Ich hoffe, er kommt bald. Aber das liegt an der serbi-schen Seite. Ich habe mir gerade noch eine Nachrichtvon heute über den Beschuß von Dörfern in Nordalbani-en herausgezogen.Zweiter Punkt: Herr Glos, Sie haben dem KollegenVolmer Einmischung in russische Politik vorgewor-fen. Nichteinmischung sollte aber nicht so weit gehen,daß sie zu Ignoranz wird.
Daß es in Rußland einen scharfen Kampf zweier Liniengibt, daß die Duma die eine Linie sehr deutlich vertrittund das Rückwirkungen auf die Implementierungsver-handlungen hat, die zur Zeit in Mazedonien stattfinden,muß man schon sehen.
– Nur, wenn man das selber diskutiert, darf man es nichteinem anderen zum Vorwurf machen, der das gleichegetan hat. Tschernomyrdin ist nicht der Vertreter Ruß-lands, wie es durch die Duma repräsentiert wird. Er istin der Tat von Jelzin beauftragt – Herr Altbundeskanz-ler, das ist Ihr Verdienst –, und wir brauchen ihn drin-gend, obwohl in der Duma inzwischen eine Resolutioneingebracht wurde, ihn abzuberufen. Diese Zusammen-hänge muß man sehen. Insofern darf man sich zumWechsel in der Person des Verhandlers schon eine Mei-nung bilden.Damit bin ich beim dritten Punkt: Herr Glos, wennman sich mit einer anderen Partei auseinandersetzt,sollte man auch da nicht ignorant sein. Die Grünen ha-ben über den Unterschied zwischen Unterbrechungund Stopp der NATO-Bombardierungen gestritten.Der Unterschied ist ziemlich groß. Mit letzterem arbeitetman Milosevic in die Hände, mit ersterem – was wir be-schlossen haben – ermöglicht man Verhandlungen,schafft ein besseres Klima dafür.Letzter Punkt: Man soll nicht danken, bevor die Ar-beit von Erfolg gekrönt ist. Trotzdem zähle ich die In-itiativen deutscher Außenpolitik auf. Ich erinnere anDr. Helmut Haussmann
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die Wiederaktivierung der Kontaktgruppe, an die – zwarvergebliche – Suche nach einer politischen Lösung inRambouillet, ich erinnere an die Suche nach Lösungenzum Stopp des Bombenkriegs, die gleich danach ein-setzte, an den Entwurf des Friedensplans, ich erinnere andie kreative Nutzung der G 8 als neuen Verhandlungs-rahmen, an die G-8-Resolution im Rahmen der Außen-ministerkonferenz, ich erinnere an die „Aufstockung“der russischen Vermittlungen zu Verhandlungen von EUund Rußland mit Milosevic – das war ein sehr wichtigerdiplomatischer Schub –; ich erwähne nur die Initiativezum Stabilisierungspakt, die bei Ihnen die Angst ausge-löst hat, daß es Sie bayerisches Geld kostet.Ich möchte nun nicht die einzelnen Stationen derUmsetzung ansprechen, aber ich möchte darauf hinwei-sen, daß wir im letzten halben Jahr eine erstaunlichkreative Phase deutscher Außenpolitik erlebt haben mitdem Versuch etwas einzudämmen, wofür die Grundla-gen schon vor der Zeit dieser Koalition gelegt waren.
Wir haben allen Grund, unserem Außenminister fürseine Verhandlungen die besten Wünsche mit auf denWeg zu geben. Die grundsätzliche Frage, die eigentlichvertieft behandelt werden müßte, besteht darin, daß die-ser Prozeß im Rahmen der G 8 vorbereitet wird. Es gehtdort nicht nur darum, für den Kosovo gute Friedensbe-dingungen zu schaffen. Der G-8-Gipfel hat noch weitereAufgaben.Man braucht für den Bau Europas das Zusammen-wirken von Europa und Rußland. Wenn auf der einenSeite politisch geholfen wird, dann steht es uns auf deranderen Seite sehr wohl an, im Rahmen der G 8 einenStabilisierungsplan, einen Restrukturierungsplan derAltschulden zu entwickeln, der letztlich zu einem Mo-ratorium führen muß. Das ist heute wenig angesprochenworden.Ich habe mir in der letzten Minute meiner Redezeiterlaubt, der Regierung diesen Gedanken mit auf denWeg zu geben.
Das Wort hat der
Kollege Dr. Friedbert Pflüger, CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident!Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der KollegeLippelt hat eben völlig zu Recht einen Dank an die Di-plomaten gerichtet. Ich bin für den Europaausschuß inAlbanien gewesen und habe vor Ort gesehen, was dortgeleistet worden ist. Ich möchte vor diesem Hintergrundvor allen Dingen den Kräften der Bundeswehr, desTechnischen Hilfswerks und der humanitären Organisa-tionen für ihre phantastische Arbeit vor Ort danken.
In einem Flüchtlingslager in Albanien habe ich einekosovarische Frau Ende 40 kennengelernt. Diese Frauhat von serbischen Soldaten erzählt, die sie von ihremBauernhof vertrieben haben. Sie hatte einen Ehemann,einen Sohn und zwei Töchter. Während der Vertreibungfanden die serbischen Soldaten die Töchter attraktiv undhaben sie angefaßt. Der Bruder und der Ehemann habensich vor sie gestellt und versucht, die Töchter zu be-schützen. Daraufhin wurden vor den Augen der Fraubeide kurzerhand mit dem Messer umgebracht und dieTöchter vergewaltigt. Diese Frau steht jetzt vor einemund erzählt einem das. Sie hat Haus und Hof verloren,den Ehemann verloren, den Sohn verloren; und die bei-den Töchter sind, wenn sie noch leben, in irgendeinemVerlies. Das ist die Realität. Das konnte man tausend-fach im Kosovo erleben. Angesichts dieses Mordens undVertreibens können wir alle miteinander – bis auf HerrnGysi – feststellen: Das, was wir gemacht haben, warrichtig und notwendig.
Diese Frau hat hinzugefügt, sie hoffe, daß die NATOnicht auf halbem Wege stehenbleibe und der Westen dieNerven behalte. Es war ja abzusehen, daß die Morde unddie Vertreibungen im Kosovo, die wir nicht im Fernse-hen sehen konnten, weil es dort keine Kameras gibt, inder innenpolitischen Auseinandersetzung oftmals gerin-ger bewertet wurden als die Zivilopfer unter der serbi-schen Bevölkerung, die es auch gegeben hat.
– Beides ist schlimm, aber wir müssen auch Ursacheund Wirkung berücksichtigen, Herr Kollege. Wir müs-sen doch einsehen und anerkennen, daß keine Alternati-ve dazu bestand – darum ging es hier jetzt vor allenDingen –, militärisch einzugreifen.An allererster Stelle beklage und hinterfrage ich beidem jetzigen Friedensschluß, daß der eigentlich Haupt-verantwortliche für das Übel auf dem Balkan weiter re-giert. Herr Milosevic bleibt an der Macht. Wir haben mitihm diesen Frieden geschlossen. Vielleicht ist das not-wendig gewesen, weil wir keine andere Möglichkeithatten, aber ein wenig sollten wir dieses problematisie-ren. Berthold Kohler schrieb jedenfalls am 4. Juni in der„FAZ“:Die Bekämpfung der Hauptursache für Völkermordund Vertreibung auf dem Balkan wurde jedochabermals verschoben.Wir müssen im Hinterkopf behalten, was wir hier ge-macht haben. Ich jedenfalls halte fest, daß ich HerrnMilosevic im Rahmen einer Wiederaufbauhilfe undeines Stabilitätspaktes nicht gern deutsches Entwick-lungsgeld für den Aufbau von Serbien geben möchte.Vorher müssen die ihr Land demokratisieren.
Wir haben in der letzten Woche erlebt, wie die erstenLorbeerkränze geflochten wurden. Es hat an einer StelleDr. Helmut Lippelt
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Friedenseuphorie gegeben, wo sie noch nicht angebrachtwar; denn das Morden und das Vertreiben, von dem icheben berichtet habe, hat nicht zu einem einzigen Mo-ment aufgehört. Ich bin gerne bereit, allen möglichenLeuten, auch der Bundesregierung, zu gratulieren, wenndie ersten Flüchtlinge sicher in der Heimat zurück sind,aber keine Minute früher. Das Entscheidende ist näm-lich, daß sie zurückkehren. Bisher gibt es nirgendwo ei-ne Bereitschaft hierfür. Im Gegenteil, wir hören von al-len Seiten: Macht jetzt in den nächsten Tagen den Frie-den so sicher, daß wir auch wirklich sicher zurückkehrenkönnen! Wenn ich mir anschaue, was es bei den Ver-handlungen in den nächsten Tagen und Wochen nochalles zu besprechen gibt, dann kann ich daraus nur ab-leiten, daß wir weit davon entfernt sind, von Frieden re-den zu können.Erster Punkt: In der Hauptfrage gibt es keinen Kon-sens. Selbst wenn wir einen UN-Sicherheitsratsbeschlußbekommen, bleibt festzuhalten: Die Albaner wollen keinKosovo als Teil der Republik Jugoslawien, währendsich die NATO darauf festgelegt hat, daß das Kosovointegraler Bestandteil Jugoslawiens bleibt. Das heißt, inder entscheidenden Frage gibt es Unterschiede. HerrBukoshi – das ist der Chef der Exilregierung der Koso-vo-Albaner – sagte diese Woche im „Focus“:Eine Autonomie ist eine Beleidigung für die Alba-ner, unter serbischer Oberhoheit ist das inakzepta-bel.Sie werden weiterkämpfen und nicht bereit sein, sichvon Serbien noch einmal kontrollieren zu lassen.
Zweiter Punkt: Nun sagen die Serben: Wir ziehen ab,aber zunächst erst muß die UCK entwaffnet sein. DieUCK-Leute sagen: Erst wenn alle bewaffneten serbi-schen Formationen abgezogen sind, werden wir unsentwaffnen lassen. Allein daraus werden wochenlangediplomatische Streitigkeiten entstehen. Herr Milosevichat dadurch wieder die Chance, Zeit zu gewinnen. Eswird sehr schwierig sein, das gleichzeitig zu organisie-ren. Ich möchte nicht – diese Sorge habe ich; das müs-sen wir hier klären, bevor wir zustimmen –, daß diedeutschen und alliierten Soldaten in Kriege und militäri-sche Konfrontationen dieser beiden Seiten hineingezo-gen werden. Wir müssen diese Möglichkeit zumindestsoweit wie möglich minimieren.
Dritter Punkt. Es gibt völlig unterschiedliche Auffas-sungen über die Kommandostrukturen. Die Russenfordern, daß über alles die UNO die Oberhoheit habensoll. Wir wollen, daß die UNO formal die NATO beauf-tragt, damit dann die NATO Schutztruppen, die unter ih-rem Kommando stehen, in den Kosovo entsenden kann.Es gibt auch unterschiedliche Einschätzungen dar-über, ob sich die Russen einem NATO-Kommando un-terstellen oder ein eigenes Kommando haben wollen.Wenn die Russen ein eigenes Kommando, vielleicht so-gar eine eigene Schutzzone durchsetzen, in der sie diemaßgebende Kraft sind, dann wird in diese Zone jeden-falls kein einziger Kosovo-Albaner zurückkehren. Daswürde de facto die Teilung des Kosovo und den Erfolgder ethnischen Säuberung bedeuten. Bevor wir alsoFriedensschalmeien erklingen lassen, sollten wir bis zumletzten Moment besser ganz hart – mit kühlem Kopf undohne Euphorie – verhandeln.
Vierter Punkt. Barton Haxhiu, einer der führendenIntellektuellen in Albanien, sagt: Die Flüchtlinge werdennicht zurückkommen, wenn sie serbische Grenz- undPolizeiposten passieren müssen. Aber wir haben in demPapier, über das Herr Ahtisaari und Herr Tscher-nomyrdin mit Belgrad verhandelt haben, festgelegt, daßeiner vereinbarten Zahl serbischer Offizieller zur Auf-rechterhaltung einer Präsenz an den Grenzübergängendie Rückkehr erlaubt wird. Wie viele von diesen Offizi-ellen werden zurückkehren? Wie sieht das aus? Wollenwir wirklich den Kosovo-Albanern zumuten, in ihr Landwieder an den serbischen Patrouillen vorbei zurückzu-kehren, die gerade ihr Land zerstört haben? Ich finde,das ist eine äußerst schwierige Sache.
– Herr Kollege, wir wollen ja, daß es anders wird. – Ichhoffe sehr, daß die Bundesregierung, die EU und dieVertreter der G-8-Staaten, die im Moment in Köln ta-gen, bei ihren Bemühungen Erfolg haben werden. ImMoment haben sie sich gerade wieder einmal vertagtund ihre Sitzung unterbrochen. Ich möchte nur hinzufü-gen: Wir dürfen doch die riesigen Probleme auf demWeg zum Frieden und auch die Probleme für unsereSoldaten, die zum Beispiel auch in den Minenfeldernbestehen, nicht geringschätzen. Wir haben eine großeVerantwortung für jeden einzelnen Soldaten, den wir indiese Region schicken. Es haben sich einige Leute zufrüh gefreut und sich zu früh gegenseitig auf die Schul-ter geschlagen. Das wird man hier im Deutschen Bun-destag vor so wichtigen Entscheidungen noch anspre-chen dürfen.
Wir lernen aus all dem, so finde ich, daß wir die Er-weiterung der Europäischen Union nicht langsamer,sondern schneller vorantreiben müssen und daß das Ar-gument der Kosten, das wir sehr lange von Ihnen gehörthaben, vor dem Hintergrund des Jugoslawien-Krieges adabsurdum geführt worden ist.
Ein Krieg kostet eben sehr viel mehr Geld. Deshalb istes sehr wichtig, die Stabilität der EU zu exportieren, be-vor die Instabilität aus anderen Teilen Europas auf unszurückschlägt.Ich freue mich, daß sich das offensichtlich herumge-sprochen hat. Ich freue mich, daß wir jetzt einen Stabili-tätspakt initiieren. Ich hoffe, daß es dabei eine sehr fai-re Lastenteilung geben wird und daß die BundesrepublikDeutschland nicht der einzige Staat sein wird, der zahlenmuß, wenn die CNN-Kameras abgeschaltet werden undDr. Friedbert Pflüger
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3514 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 41. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 8. Juni 1999
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die internationale Öffentlichkeit nicht mehr an den Fol-gen dieses Krieges interessiert ist. Faire Lastenteilungim Rahmen des Stabilitätspaktes ist ein ganz wichtigerPunkt, der in den nächsten Wochen besprochen werdenmuß.Zuletzt möchte ich noch etwas zu unserer Gemein-samen Außen- und Sicherheitspolitik sagen. Ich freuemich, daß es in Umsetzung des Amsterdamer Vertrages,den Helmut Kohl ausgehandelt hat, eine GemeinsameAußen- und Sicherheitspolitik geben wird. Ich freuemich auch, daß mit Herrn Solana ein hochqualifizierterMann an der Spitze der GASP steht. Ich möchte nur vordem Unterton warnen, mit dem man anklingen läßt, daßes gut sei, wenn die Europäer jetzt alleine über eine Ge-meinsame Außen- und Sicherheitspolitik entscheidenkönnten; denn die Amerikaner seien ein bißchen zu sehrfür den Krieg. Die Unterscheidung, daß die Amerikanerfür den Krieg zuständig sind und die Europäer Friedenmachen, wofür sie sich feiern lassen, ist das Dümmsteund Gefährlichste, das wir machen können. Beide habenden Krieg geführt. Beide sind auch dafür verantwortlich,daß wir den Frieden geschaffen haben.Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Wort hat der
Herr Staatsminister im Auswärtigen Amt, Günter Ver-
heugen.
G
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undHerren! In der Debatte ist in einer vielleicht ein bißchenverfrühten Bilanz der deutschen Ratspräsidentschaft eineReihe von Fragen aufgeworfen worden, auf die ich ein-gehen möchte und die ich zu beantworten versuchenwill.Wir können heute sagen, daß vier große Themen die-se Präsidentschaft bestimmt haben, von denen einesnicht vorhersehbar war, nämlich die Krisenbewältigungnach innen und nach außen. Die anderen drei aber warendie Aufgaben, die wir mit auf den Weg bekommen hat-ten, nämlich der innere Reformprozeß der EuropäischenUnion, die Erweiterung und auch die Vertiefung im Sin-ne von mehr Gemeinsamkeit auf wichtigen Politikfel-dern.Was die Krisenbewältigung angeht, so will ich dar-auf hinweisen, daß die Verbindung der Präsidentschaf-ten – Europäische Union, G 7/G 8 und WesteuropäischeUnion – etwas ist, was uns zwar zugefallen war, dessenAusnutzung, sinnvolle Anwendung und Verbindung al-lerdings dazu geführt haben, daß wir in dieser Krisensi-tuation in Europa eine wesentlich stärkere Geschlossen-heit und Handlungsfähigkeit Europas herstellen konntenals in allen anderen Krisen dieser Art zuvor. Das ist eineLeistung, die, verglichen mit der Situation in der Bosni-en-Krise, wo es nicht möglich war, zu gemeinsameneuropäischen Positionen zu kommen, und wo die Krisenur durch das Eingreifen der USA beendet werdenkonnte, einen beachtlichen qualitativen Unterschiedaufweist, der in meinen Augen ein Fortschritt für Europaist, den man nicht kleinreden sollte.
Wir haben den politischen Prozeß, der uns dahin ge-bracht hat, wo wir heute stehen – ich hoffe, daß wir allegemeinsam glauben, daß wir nur kurz vor dem endgülti-gen Durchbruch stehen –, immer wieder neu in Ganggesetzt, ihn mit immer neuen Initiativen gespeist, immerneue Ideen eingebracht und ihn koordiniert.Ein Beispiel ist der Stabilitätspakt, der die Frage be-antwortet: Was kommt am Tag danach? Dieser Stabili-tätspakt ist wahrscheinlich das größte Unternehmen, daswir uns in Europa seit vielen Jahren vorgenommen ha-ben. Es geht darum, eine ganze europäische Region,Südosteuropa, an die Europäische Union so heranzufüh-ren, daß die Ursachen für die Krisen und die Konflikteein für allemal beseitigt werden. Die richtige Konse-quenz aus der Krise, die wir erlebt haben, ist doch die,jetzt nicht irgend etwas zu machen, was kurzfristig dieWaffen schweigen läßt, sondern etwas zu machen, wasdafür sorgt, daß die Ursachen für die Konflikte auf langeSicht verschwinden. Hätten wir in Europa vor neun Jah-ren, als die Krise in Jugoslawien anfing, die Fähigkeitgehabt, einen solchen Stabilitätspakt zu entwickeln,hätten wir den Mut und die Kraft gehabt, diesen Staatendie europäische Perspektive zu eröffnen, dann wäre unsin Europa in den letzten Jahren vielleicht – ich sage:vielleicht – viel erspart geblieben.
Ich möchte dem Kollegen Haussmann sehr deutlichsagen: Es ist nicht richtig, daß die Finanzierung des Sta-bilitätspakts in einem Wettbewerb mit der Finanzierungder Osterweiterung stehen wird. Einer unserer wichtig-sten Punkte – und den haben wir auch durchgesetzt –war, daß die für die Erweiterung vorgesehenen Mittel inder finanziellen Vorausschau ausschließlich für die Er-weiterung verwendet werden können. Das sind 80 Milli-arden Euro bis 2006. Davon stehen 58 Milliarden Eurofür die Erweiterung direkt ab 2002 zur Verfügung. Dasheißt, daß wir bereit und in der Lage sind, ab 2002 dieersten neuen Mitglieder aufzunehmen. Wir hoffen sehr –und wir tun, was wir können, um diesen Ländern dabeizu helfen –, daß den Beitrittskandidaten dies auch gelin-gen wird. Aber es ist heute nicht möglich, dies vorherzu-sagen. Ich komme gleich noch hierauf zurück.Zum Thema Krisenbewältigung noch eines: Es standauch noch nie eine Präsidentschaft vor der Situation, daßunmittelbar vor einem wichtigen Gipfel die Kommissionzurückgetreten ist. Daß daraus keine wirklich tiefe in-stitutionelle Krise der Europäischen Union wurde, istdem schnellen und entschlossenen Handeln des Bundes-kanzlers zu verdanken, der in der Europäischen Unioninnerhalb weniger Tage in einer Frage eine Überein-stimmung herbeigeführt hat, zu deren Entscheidungnormalerweise Monate, manchmal sogar Jahre ge-braucht wurden.
Was den inneren Reformprozeß angeht, so muß ichmich ein bißchen darüber wundern, daß Herr SchäubleDr. Friedbert Pflüger
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 41. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 8. Juni 1999 3515
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heute zu Beginn der Debatte gesagt hat, es habe keineReformen gegeben. Ich kann vielleicht nicht von jedemerwarten, daß er die vielen Einzelheiten der Agenda2000 kennt. Es scheint bei der Opposition auch nochnicht angekommen zu sein, daß die Agenda 2000 – inBerlin politisch verabschiedet – inzwischen auch recht-lich umgesetzt worden ist. Sie brauchen sich nur einmaldie von uns zusammen mit dem Europäischen Parlamentverhandelten und dann entschiedenen Verordnungen an-zusehen, um zu erkennen, daß hier eine wirklich tief-greifende Reform der europäischen Strukturpolitik er-folgt. Wir haben Konzentration, wir haben mehr Effizi-enz, wir haben mehr Transparenz bei der Mittelverwen-dung – übrigens mit großen Vorteilen für uns selbst. Esist ohne jede Übertreibung die größte Reform imFinanzbereich, den die Europäische Union jemals inihrer Geschichte vorgenommen hat.
Was die institutionellen Reformen angeht, standenwir vor einer politischen Grundsatzfrage. Die Grund-satzfrage war: Versucht man jetzt – nachdem eine Re-gierungskonferenz gerade zu Ende gegangen und derVertrag, der daraus entstanden ist, vor wenigen Wochenin Kraft getreten war –, alles das, was für Europa schönund wünschenswert ist, in eine neue große Regierungs-konferenz zu packen, die Jahre dauern würde und mitdem Risiko des Scheiterns, behaftet ist? Man brauchtnur die Frage der Vollparlamentarisierung, die Frage derdemokratischen Kontrolle und die Frage der Finalität derEuropäischen Union anzusprechen. Jeder von Ihnenweiß, daß es eine Reihe von Mitgliedstaaten gibt, dieheute nicht in der Lage sind, über diese Fragen über-haupt zu reden. Deswegen haben wir das Kluge getanund haben uns den Bereich herausgesucht, der jetzt be-handelt werden muß, und die Reformen, die notwendigsind, damit die Europäische Union nach der Erweiterunghandlungs- und funktionsfähig bleibt.Unser Auftrag in Köln hieß, die Agenda, den Fahr-plan und das Verfahren für diese institutionellen Refor-men festzulegen. Das ist auf Punkt und Komma erfülltworden. Wir werden im nächsten Jahr eine Regierungs-konferenz durchführen, die sich mit ungewöhnlichschwierigen Fragen befassen muß, die auch den Bun-destag intensiv beschäftigen müssen. Zu nennen sindhier Größe und Zusammensetzung der Kommission,Stimmengewichtung im Rat, Frage der Ausweitung derMehrheitsentscheidungen, Zusammenwirken der Insti-tutionen bis hin zu der Frage, wie man Kommissare loswird, die ihren Aufgaben erkennbar nicht gewachsensind.Das alles ist auf den Weg gebracht und dazu noch et-was, was wir seit vielen Jahren wollen: Eine Versamm-lung – ich möchte es einen Konvent nennen –, die imwesentlichen aus Vertretern des Europaparlaments undder nationalen Parlamente bestehen wird, wird eineGrundrechtscharta entwickeln. Auch dies soll bereits imnächsten Jahr abgeschlossen werden. Das ist ein wichti-ger Beitrag zu dem Erfordernis von Bürgernähe für dieEuropäische Union.
Was die Erweiterung angeht – in meinen Augen istdies die strategische Priorität Nummer eins –, so habenwir eine völlig neue Lage. Bei all dem Schrecklichen,was der Krieg im Kosovo mit sich gebracht hat, gibt eseine Wirkung dieses Krieges, die langfristig positiv seinkann. Die gesamteuropäische Perspektive des Integrati-onsprozesses ist in den letzten Jahren niemals so deut-lich gewesen wie jetzt. Auf einmal ist viel klarer als frü-her, daß es bei Europa, so wichtig dies auch ist, nicht sosehr um Quoten, um Subventionen und um Wettbe-werbsregeln geht, sondern in erster Linie darum, daß ausganz Europa ein Raum der Demokratie, der Freiheit, desRechts und der Prosperität für die Menschen wird.
Die Erweiterungsdynamik hat ungeheuer zugenom-men, und zwar in doppelter Hinsicht. Die Völker Euro-pas suchen ihren Weg in die Europäische Union. Mankann heute ohne Übertreibung sagen: alle Länder, wennich einmal von der Schweiz, von Island und von Norwe-gen absehe.
Sie alle suchen ihren Weg in die Europäische Union.Die Bereitschaft, das zu akzeptieren und ihnen diesePerspektive zu eröffnen, ist ebenfalls vorhanden. Wirerleben im Augenblick in einigen Hauptstädten Südost-europas eine Art Schönheitswettbewerb darum, wer dieweitreichendsten Versprechungen macht. Ich bin ge-spannt, was am Ende eingehalten wird.Für uns als Deutsche ist in diesem Zusammenhangeines wichtig: Angesichts dessen, daß wir jetzt in denErweiterungsprozeß eine neue Dynamik hineingebrachthaben und dieser dadurch eine ganz neue Perspektivebekommen hat, müssen wir daran festhalten, daß dieEintrittsbedingungen nicht variabel sind. Es kann keinenpolitischen Rabatt auf die Beitrittsbedingungen geben.
Die richtige Antwort heißt vielmehr, daß wir jetzt ei-ne Strategie entwickeln müssen, die es den Ländern, diedie Beitrittsbedingungen bei weitem noch nicht erfüllen,erlaubt, an deren Erfüllung heranzukommen. Das wie-derum ist ein wichtiger Teil des Stabilitätspaktes, beidem es ja auch um Menschenrechte, um Demokratie, umMinderheitenschutz, um wirtschaftliche Entwicklungund um regionale Zusammenarbeit geht. Das alles sindElemente der Heranführung an die Europäische Union.Der Erweiterungsprozeß hat an Tempo und Qualitätenorm zugenommen. Es hat aber keinen Sinn, die Augenvor der Tatsache zu verschließen, daß, obwohl wir jetztam Ende unserer Präsidentschaft schon fast die Hälftealler Verhandlungskapitel – insgesamt sind es 31, wieSie wissen – bearbeitet haben, die erkennbar schwierig-sten Kapitel noch nicht abgehandelt sind und noch an-stehen.Darum ist es in meinen Augen unverantwortlich,heute ein Beitrittsdatum festzulegen. Die Bundesregie-rung hat sich mehrfach dazu geäußert. Ich wiederholedas hier: Sobald erkennbar ist, wieviel Zeit der Ver-Staatsminister Günter Verheugen
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handlungsprozeß wirklich noch in Anspruch nehmenwird, sollten wir uns ein Beitrittsdatum setzen, und zwarals Ansporn für die Beitrittskandidaten, aber auch alsSelbstverpflichtung für uns.Ich muß jedoch darauf hinweisen, daß ein vorgezoge-ner Beitritt aus politischen Gründen der Europaideenicht nützen, sondern schaden wird. Es wird uns nichthelfen, wenn wir aus politischen Gründen Beitrittsdatenfestlegen, die sich später als falsch erweisen oder die da-zu führen, daß die Probleme nicht gelöst sind und dieMenschen bei uns Angst zum Beispiel vor einem unfai-ren Wettbewerb um Arbeitsplätze und Unternehmensan-siedlungen haben.
Wir werden – der Kollege Haussmann ruft mir dasgerade zu – am Ende möglicherweise mit Übergangsfri-sten arbeiten müssen. Aber diese Entscheidung trifftman dann, wenn es soweit ist. Das braucht man heutenoch nicht zu tun.Mein letzter Punkt: Die Vertiefung der Union ist si-cherlich ebenfalls dadurch befördert worden, daß imBewußtsein der Krise allen klargeworden ist, daß Euro-pa eine angemessene Antwort auf den Zustand braucht,daß mitten in Europa, das eigentlich durch Integration,Zusammenwachsen und Partnerschaft gekennzeichnetist, die schrecklichen europäischen Krankheiten wieder-auferstanden waren. Die Antwort heißt: GemeinsameAußen- und Sicherheitspolitik sowie Bildung einer Si-cherheits- und Verteidigungsunion, die uns in die Lageversetzen, Krisenreaktion, Krisenvorsorge und Kon-fliktmanagement in Europa mit eigenen Mitteln und ineigener Verantwortung zu betreiben – nicht etwa, umunsere amerikanischen Verbündeten an den Rand zudrängen; ich würde niemandem raten, das zu versuchen,denn das würde kaum gelingen –, nicht etwa, um dieNATO zu schwächen oder überflüssig zu machen, son-dern in sinnvoller Ergänzung dessen, was Aufgabe derNATO und was Aufgabe unserer Partnerschaft mit denVereinigten Staaten von Amerika ist.Die dazu getroffenen Entscheidungen, die ErnennungSolanas zum Hohen Beauftragten für die GemeinsameAußen- und Sicherheitspolitik, die erste gemeinsameStrategie als ein Pilotprojekt und schließlich die Einbe-ziehung der WEU in die Europäische Union und damitder Beginn des Aufbaus dieser Sicherheits- und Vertei-digungsunion, sind das Ergebnis des Gipfels von Kölngewesen.
Schon dies allein rechtfertigt die Aussage, daß derKölner Gipfel in der Geschichte der Europäischen Unioneinen besonderen, einen historischen Platz einnehmenwird.
Insgesamt bestätigt die heutige Debatte das, was mirein Kollege aus einem anderen europäischen Land, mitdem ich vor wenigen Tagen am Rande des Gipfels inKöln sprach, sagte: Du wirst wahrscheinlich erleben,daß alle in Europa die deutsche Präsidentschaft lobenwerden, nur eure Opposition nicht.
Wenn das so ist, kannst du zufrieden sein. Dannkannst du sicher sein, daß ihr eine hervorragende Präsi-dentschaft hingelegt habt.
Ich gebe dem Kol-
legen Norbert Wieczorek, SPD-Fraktion, das Wort.
Herr Präsident! Lie-be Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte, nachdem derWahlkampf hier so manches Mal eine Rolle gespielt hat,daran erinnern
– Helmut, darum geht es doch gar nicht –, daß wir stolzsein sollten, daß es durch die Europäische Union und dieIntegration der Bundesrepublik gelungen ist, daß bei unsGrenzen und ethnische Minderheiten nicht zu diesenKatastrophen führen, wie wir sie gerade auf dem Balkanerleben. Das sollten wir den Leuten sagen, wenn sie fra-gen: Was ist denn die EU? Es geht hier nicht um Milch-quoten und Bürokratie.
Ich finde es daher sehr gut, daß dieser Stabili-tätspakt auf die Tagesordnung gekommen ist; denn nurdadurch und durch Verhandlungen in dieser Region, dienoch nicht so weit entwickelt ist, kann die Perspektiveder Annäherung an die Europäische Union vermitteltwerden, und zwar auch im Hinblick auf die Friedens-sicherung und den Wohlstand, den wir dadurch bekom-men haben. Der Pakt ist insofern realistisch, weil ernicht einfach die alten Instrumente übernimmt. Ich binsehr dafür und freue mich, daß vorgesehen ist, ange-paßte Instrumente einzusetzen. Die Situation in Make-donien ist eine andere als in Albanien oder im Kosovo,in Serbien oder in Montenegro. Hier muß mit angepaß-ten Instrumenten gearbeitet werden. Das halte ich füreinen ganz wichtigen Punkt.Ich möchte an der Stelle zu etwas kommen, was si-cher eine Rolle gespielt hat: die Agenda 2000. Im Ge-gensatz zu dem, was einige Kollegen von der Oppositiongesagt haben, ist es in der Agenda 2000 gelungen, eineStabilisierung der Gesamtausgaben bei 1,13 Prozent desBruttoinlandsprodukts der EU für den Zeitraum bis 2006festzulegen. Das ist die entscheidende Marge. – Wirwissen alle noch nicht, wie hoch die Kosten für den Sta-bilitätspakt sein werden, aber jeder wird wohl zustim-men, daß dies billiger ist, als weiter Krieg zu führen, un-abhängig von dem Horror des Krieges. Daß dies gelun-gen ist, halte ich für eine ganz großartige Sache.
Staatsminister Günter Verheugen
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Für die kleinen Beckmesser möchte ich noch daraufverweisen, daß der deutsche Nettotransfer von 0,55 Pro-zent unseres Bruttosozialproduktes auf 0,43 in 2006sinkt. Allerdings waren wir für die letzten sechs Jahrenicht verantwortlich; das war die heutige Opposition.Ich möchte auch darauf verweisen, daß unser Anteil amNettotransfer von 60 auf 50 Prozent gesenkt wird.Noch einen kleinen Hinweis, auch wenn HerrSchäuble nicht mehr da ist: Diese Papiere sind uns alleseit April bekannt. Sie sind dem Hause zugegangen. Esist heute morgen der Eindruck erweckt worden, dasHaus sei nicht informiert worden. Der Europaausschußist darüber informiert worden. Ich nehme an, daß esüberall so läuft wie bei uns, daß so etwas weitergegebenwird.Ich möchte einen zweiten Punkt ansprechen, die Re-gierungskonferenz. Was hat Köln gebracht? Ich glaube,es ist sehr vernünftig und weise, sich auf den Kern des-sen zu konzentrieren, was ansteht. Wenn ich dann aberRufe höre wie „warum habt ihr das in Köln nicht abge-schlossen?“, dann darf ich daran erinnern, daß es beimAmsterdamer Vertrag nach langen Verhandlungen nichtgelungen ist, diese institutionellen Reformen festzu-legen. Deswegen gibt es im Amsterdamer Vertrag dasProtokoll zu Art. J.7 des EU-Vertrages.Gerade weil diese Bundesregierung einen anderenStandpunkt einnimmt als die alte, in der Frage von mehrMehrheitsentscheidungen und damit auch mehr Rechtenfür das Europäische Parlament, verbunden mit der Ab-schaffung des Einstimmigkeitsprinzips an vielen Stellenist jetzt die Chance für Reformen gegeben. In Amster-dam ist es unter anderem wegen dieser Probleme nichtzu einem Ergebnis gekommen. Dem, der allerdingsmeint, das sei jetzt so einfach zu verhandeln, wünscheich viel Vergnügen. Ich halte es für sehr ehrgeizig, diesbis zum Herbst 2000 durchzusetzen. Unser Auftrag warim übrigen nur festzulegen, was gemacht werden soll.Ich möchte diejenigen, die hier so übermütig reden,daran erinnern, was Sie in Ihrer eigenen Regierungszeitbeim Amsterdamer Vertrag nicht geschafft haben.
Ich möchte noch etwas zur Außenpolitik sagen. Diegemeinsame Außenpolitik war erst intergouvernemen-tal; jetzt ist sie in das Vertragswerk eingefügt worden.Ich glaube, daß gerade die gegenwärtige Situation ge-zeigt hat, daß es lohnenswert ist, diesen Ansatz weiter-zuentwickeln. Es geht mir jetzt gar nicht um die schonbesprochenen institutionellen Vorgaben, zum Beispieldaß Herr Solana, den ich sehr schätze, zum Vorsitzen-den der GASP berufen wurde. Das Entscheidende, waspassiert ist, ist, daß es gerade die Kontinentaleuropäerwaren – das ist der Kern der EU –, die das Ergebnis er-reicht haben, daß eine Verhandlungslösung statt einemvon anderen zum Teil diskutierten Bodenkrieg in Aus-sicht steht. Das ist – das muß man feststellen – ein Er-gebnis praktizierter gemeinsamer Außenpolitik. Ich hof-fe, daß das in anderen Fällen so weitergeht.Noch eine Bemerkung: Auch ich habe Erleichterungempfunden, als Ahtisaari dieses Abkommen in Kölnvorgestellt hat. Die Kritik, das sei eine Vorzeigejubel-feier gewesen, ist wirklich kleinkariert.
Ich begrüße, daß jetzt dieser Grundrechte-Konventeinberufen wird. Natürlich beachtet die EU die Grund-rechte; der EuGH wacht darüber. Aber trotzdem ist einsolches Instrument vernünftig. Ich halte es auch für sehrvernünftig, das nicht im Wege einer Regierungskonfe-renz zu machen, sondern als Konvent unter Beteiligungder Parlamente und außenstehender Gruppen. Das Er-gebnis muß später in die Diskussion über den weiterenProzeß eingeführt werden.Ich habe immer ein wenig Probleme damit, wenn inder deutschen Debatte leichtfertig eine europäische Ver-fassung gefordert wird. Es gibt unterschiedliche Verfas-sungstraditionen, und bisher haben wir es immer ge-schafft, Schritt für Schritt mehr Integration zu schaffen.Ich warne davor, zu meinen, man könne heute ein sol-ches Ziel als Endstadium definieren. Mir ist weitere In-tegration lieber als ein solches Gebäude, das nur aufdem Papier steht und möglicherweise dazu führt, daßeinige nicht mehr mitmachen. Diese Gefahr ist nämlichkonkret gegeben.
Ich möchte noch einen weiteren Punkt anführen, deraus meiner Sicht zentral ist. Der Beschäftigungspakt istso behandelt worden, als sei das alles nichts. Ich mußSie daran erinnern, daß es jetzt drei Prozesse gibt, diemiteinander verbunden sind. Der erste ist der Luxem-burger Prozeß. Sie haben uns vorgeworfen, diesbezüg-lich hätten wir nichts gemacht – ein großer Irrtum. Zu-nächst erinnere ich daran: Im Amsterdamer Vertrag istdas jetzt aufgenommene Beschäftigungskapitel nur drin,weil wir darauf bestanden haben und weil befreundetesozialdemokratische Regierungen dafür waren, nichtaber weil die alte Bundesregierung dafür war. Sie, HerrRexrodt, mußten das zum Schluß akzeptieren; daß Siedafür waren, kann man wahrlich nicht behaupten.Wenn man sich den nationalen Aktionsplan, der die-sem Gipfel ebenfalls vorgelegen hat, anschaut, stelltman fest, daß er sehr viele positive Beispiele für kon-krete Umsetzungen des Luxemburger Prozesses enthält.Das deutlichste und für mich erfreulichste ist das Pro-gramm für 100 000 Jugendliche, die länger als ein hal-bes Jahr arbeitslos oder ohne Ausbildung sind.
Das ist die von dieser Regierung praktizierte Umsetzungdes Luxemburger Prozesses. Nehmen Sie das endlicheinmal zur Kenntnis!Der zweite Teil ist der Cardiff-Prozeß, in dem es umStrukturveränderungen geht. Damit Sie schön aufheulenkönnen, nenne ich das Reizwort: 630-Mark-Gesetz.Was jetzt passiert, ist, den Wildwuchs, den Sie zugelas-sen haben, zugunsten einer vernünftigen FlexibilisierungDr. Norbert Wieczorek
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der Arbeitszeit mit sozialer Absicherung zu beschnei-den.
– Sie werden sich noch wundern, wenn im Herbst regu-läre Arbeitsverhältnisse entstanden sind, wo es vorhernichtreguläre Beschäftigung gab. Mit diesem Instrumentwurde sehr viel Schindluder getrieben. Sie als F.D.P.wollen auch nicht auf die Betriebe hören, die jetzt sagen:Wir schaffen ordentliche Teilzeitarbeitsverhältnisse.
Ihnen als F.D.P. ist es lieber, daß Sie den Leuten – auchwenn sie ausgenutzt werden – sagen können: Ihr könnteuer Geld auch dann behalten, ohne Steuern zu zahlen,wenn ihr noch anderes verdient.Hier geht es genau um Strukturveränderungen insinnvollem Maße. Daß Sie, Herr Rexrodt, dies nicht ge-schafft haben, ist mir eh klar. Aber da hier HelmutHaussmann sitzt, erinnere ich daran. Bereits Ende der80er Jahre – schon damals waren wir im Finanzausschußsoweit – war das mit dem Druck der Zeitungsverlegergenau das gleiche. Ihr ganzes Geschrei ist nämlich nichtso neu.
– Unter den Bedingungen, die das Gesetz vorschreibt,können sie sie sogar behalten, nur nicht zu ihren Bedin-gungen: Wenn diese Leute ein Vollarbeitsverhältnis ha-ben, können sie natürlich nicht daneben ein zweites ha-ben, bei dem sie keine Steuern zu zahlen haben. Dasgeht natürlich nicht.
Ich würde Ihnen empfehlen, sich einmal um die Realitätzu kümmern und nicht darum, womit Schindluder ge-trieben werden kann.Dies ist ganz konkret Teil des Cardiff-Prozesses. Dasmüssen die berühmten Europäer von der F.D.P. be-greifen. Es gibt in Europa außer Deutschland kein Land,das sich bisher ein solches Instrument wie Ihre alte630-Mark-Regelung geleistet hat.
Aber jetzt will ich noch etwas zu dieser merkwürdi-gen Diskussion über den Wechselkurs sagen. Erstenswarne ich sehr davor, zu behaupten, daß der Euro weichist. Ziel des Vertrages und der EZB ist die Preisstabilitätund die Geldwertstabilität des Euro. Die ist wohl ohneZweifel – zum Glück – gegeben.
– Das wird sich möglicherweise anders entwickeln, abersie ist gegeben.Es ist ausdrücklich im Vertrag festgelegt worden, daßes kein Wechselkursziel geben soll, im Gegenteil. Dawaren wir sogar alle einer Meinung. In der vorher statt-gefundenen Debatte gab es nämlich ein Land, das gerneWechselkursziele vorgeben wollte. Insofern kann vonWeichheit der Währung keine Rede sein. Was wir ha-ben, ist eine Wechselkursschwäche gegenüber demDollar. Das ist unbestritten.Es gibt einen entscheidenden Punkt. Der entschei-dende Punkt ist die Zinsdifferenz. Es gab ein bißchenVerunsicherung wegen des Kosovo, ich würde sie abernicht so hoch bewerten.
– Entschuldigung, Michael Glos, es ist ganz hilfreich,wenn man sich einmal die Grundkurse der Volkswirt-schaftslehre hinsichtlich der Funktion der Zinssätze an-schauen würde.Der Punkt ist der, daß in Amerika der Realzins – derNominalzins sowieso – natürlich höher ist als bei uns.Das hat aber damit etwas zu tun, daß das Wachstum hö-her ist.
Ich muß Sie jetzt erinnern: Wie lange ist es denn her,daß der Dollar unter 1,60 DM gehen wollte? Da gab esauch schon Wachstum. Das müssen Sie sich doch ein-mal angucken, Herr Merz. Schauen Sie sich doch einmaldie Wechselkursbewegungen an! Ich erinnere mich sehrgut. Es hatte 1978 angefangen, als der Dollar plötzlichbei 1,78 DM stand, dann waren wir bei 3,50 DM. Das istgenau die Situation, die wir haben. Aber damit wiederRuhe einkehrt: Ich bin sehr dafür, daß man keine Wech-selkurspolitik des „benign neglect“, also des freund-lichen Wegsehens, betreibt, wie sie die Amerikaner lan-ge betrieben haben – unter Herrn Rubin nicht mehr, bisdahin häufiger –, weil es auf die Dauer keine Stabilitätgibt. Darin sind wir uns hoffentlich alle einig.
Wichtig ist, was Herr Eichel jetzt macht: die Konsolidie-rung des Haushaltes, den Sie uns hinterlassen haben.Das ist doch der Punkt.
Man kann lange darüber streiten, ob es weise war,Italien offiziell zu genehmigen, was sie sowieso schonerreicht haben. Man kann auch fragen, ob es vernünftigwar, Italien im Frühjahr zu gestatten, eine Wachstums-prognose zu nennen, die nicht realistisch war. DieseBundesregierung hat ihre zurückgenommen. Ich sehemit Freude gerade eine Pressemeldung, daß die Wirt-schaft davon ausgeht, daß das Wachstum über 1,5 Pro-zent liegt.
– Das ist dürftig genug. Aber woran hat es denn gele-gen? Wer hat denn im vorigen Jahr gesagt, Asien hatkeine Auswirkungen? Das war doch die Bundesregie-Dr. Norbert Wieczorek
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rung, die Sie gestellt haben. Nehmen Sie das doch ein-mal zur Kenntnis!
Wer hat denn in Rußland die Geschichte nur so treibenlassen? Wer war das denn – einschließlich Wahllkampf-finanzierung für Herrn Jelzin? Darüber brauche ich jetztnicht weiter zu reden.Entscheidend ist, daß wir die Konsolidierung bei unsschaffen. Das hat sich diese Bundesregierung vorge-nommen. Das zweite ist – das will ich auch sagen –:Wenn Italien auf Grund der Wachstumsschwäche in derSituation ist, das Haushaltsdefizit zu vergrößern, dannist das kein Durchbrechen der Maastricht-Kriterien. Dasist ein großer Irrtum. Das ist ein Durchbrechen der Kri-terien, die es in seinem eigenen Stabilitätsprogrammvorgeschlagen hat. Das ist schon noch etwas anderes.
– Lieber Helmut Haussmann, nur das ist es. Es sindnicht die Maastricht-Kriterien selber. Italien tut alles, umhier mehr Konsolidierung zu schaffen. Ich bin da übri-gens ganz sicher, denn gerade Herr Amato war es, der inItalien überhaupt angefangen hat, Haushaltskonsolidie-rung zu betreiben.Mein lieber Freund, Helmut Haussmann, du darfstdich erinnern. Bei einer Diskussion drüben im Wasser-werk, als es um den Parlamentsvorbehalt ging, und diekritischen Äußerungen der Bundesbank und des EWIund nicht die Jubeläußerungen der Kommission in derFrage der dauerhaften Haushaltskonsolidierung Italiensanstanden, war der jetzt hier sitzende Vertreter derF.D.P., Helmut Haussmann, der Ansicht, das dürften wiralles nicht ernst nehmen und Italien müsse unbedingtdabeisein. Als andere gesagt haben, hier liege einSchwachpunkt, waren die Töne ganz anders.
Herr
Kollege Wieczorek, ich bin sehr großzügig gewesen. Ich
bitte, zum Schluß zu kommen.
Ich komme zum
Ende.
Deswegen muß ich hier in aller Deutlichkeit sagen:
Es ist nicht schön, was da passiert ist. Es sollte dazu füh-
ren, solide Programme vorzulegen. Realitäten darf und
kann man zur Kenntnis nehmen, aber es muß anschlie-
ßend gehandelt werden. Es ist unsere Sache, in der Bun-
desrepublik zu handeln. Wir werden in den nächsten
Wochen merken, was uns Hans Eichel hier vorlegt.
Ich
schließe die Aussprache.
Die Fraktion der PDS hat beantragt, daß über ihren
Entschließungsantrag auf Drucksache 14/1120 jetzt ab-
gestimmt wird. – Ich höre keinen Widerspruch. Dann
verfahren wir so.
Ich bitte diejenigen, die dem Entschließungsantrag
zustimmen wollen, um ihr Handzeichen. – Gegenstim-
men? – Enthaltungen? – Dann ist der Antrag mit den
Stimmen der Koalitionsfraktionen und der CDU/CSU-
und F.D.P.-Fraktion gegen die Stimmen der PDS-
Fraktion abgelehnt.
Interfraktionell wird Überweisung des Antrags auf
Drucksache 14/1111 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist die
Überweisung so beschlossen.
Damit sind wir am Ende dieses Tagesordnungspunk-
tes.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 2 auf:
Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktion der F.D.P.
Haltung der Bundesregierung zu den Ankün-
digungen einer Mehrwertsteuererhöhung und
einer fortlaufenden Erhöhung der Mineral-
ölsteuer durch den Bundesfinanzminister
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Rainer Brüderle von der F.D.P.-Fraktion. Bitte schön,
Herr Brüderle.
Herr Präsident! MeineDamen und Herren! In diese Aktuelle Stunde paßt dieheutige Meldung über die schon zitierte Erklärung desBundeskanzlers mit Tony Blair. In dieser Erklärungzählt er auf, welche Maßnahmen er für erforderlich hält:Steuerreform, Steuersenkungen, mehr Flexibilität, radi-kale Modernisierung des öffentlichen Sektors, mehrSpielraum und weniger Regulierung für die Unter-nehmen, prosperierender Mittelstand und Reform derSozialversicherungssysteme. Aber genau das Gegenteilvon dem geschieht in Deutschland.
Es ist bezeichnend: Grünrot hat vor der Wahl deutli-che Steuersenkungen versprochen. Diese Versprechun-gen erweisen sich jetzt als großer Wählerbetrug. Wir ha-ben Mehrbelastungen: Erhöhung der Mineralölsteuer,Einführung der Stromsteuer, Besteuerung geringfügigBeschäftigter, Streichung steuerlicher Ausnahmetatbe-stände. Das sind milliardenschwere Zusatzbelastungenstatt Entlastungen, also genau das Gegenteil von dem,was versprochen wurde.
Grünrot hat mit großem Tamtam eine Kommissionfür die Unternehmensteuerreform eingesetzt. Die Rück-Dr. Norbert Wieczorek
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zugsgefechte folgten auf dem Fuß: Wenn schon Steuer-senkungen, dann aufkommensneutral. – Das wird abernicht genügen. Wir brauchen vielmehr eine echte Netto-entlastung. Die Vorschläge aus dem Regierungslagersind ganz simpel: Die großen Konzerne, die leicht ab-wandern können, will man entlasten, aber nicht denMittelstand; man will umverteilen. Es zeigt sich: Dies istein Kanzler der Konzerne und der Bosse. Die Mittel-standspartei sind wir.
Grünrot streitet sich darum, wann welche Steuer umwieviel erhöht wird. Es handelt sich um eine reine Ab-kassierpolitik. Ich verstehe, daß es Ihnen wehtut, wenndie Wahrheit ausgesprochen wird. Aber Sie können sichnicht einfach über die Europawahl hinwegmogeln. Siesollten schon den Mut haben, Ihre Absichten offen dar-zulegen.Die Hilferufe aus dem Handwerk sind nicht überhör-bar. Die Reduktion des Wachstums – die Prognosen desletzten Jahres sind halbiert worden – ist die Konsequenzaus Ihrer Politik. Die Euro-Schwäche ist eben auch einAusdruck verfehlter deutscher Wirtschafts- und Finanz-politik.
Gerade die Grünen muß man fragen: Was ist dennvon Ihren hochfliegenden Plänen zur Ökosteuer übrig-geblieben? Reines Abkassieren über die Mineralölsteu-er.
Herr Struck spricht von einer Erhöhung um 40 Pfennig,Herr Müller von 15 Pfennig, und andere sprechen voneiner jährlichen Erhöhung um 6 Pfennig, auch Herr Ei-chel möchte jedes Jahr erhöhen. Frau Fuchs hat – wiedie PDS – eine Luxussteuer vorgeschlagen; eine interes-sante Parallele.
Die Grünen kommen ihrem Ziel von 5 DM immer nä-her.
In diese Richtung geht es. Freuen Sie sich, in der Politikwird Ihr Quatsch auch noch umgesetzt!
Was Sie zum Luxus machen, ist das Autofahren inDeutschland. Sie strafen die Pendler, die vielen Arbeit-nehmer, die darauf angewiesen sind, mit dem Auto zurArbeit zu fahren, damit gnadenlos ab.Herr Eichel spricht jetzt davon, daß er kürzen undsparen muß. Lesen Sie einmal den „Spiegel“ von ge-stern! Als hessischer Ministerpräsident hat er allen Kür-zungsüberlegungen energisch widersprochen. Jetzt er-kennt er: Es geht nicht anders. Er wird quasi vom Aus-gabensaulus zum Sparpaulus. Gut, wenn die Einsicht ir-gendwie kommt. Das haben wir auch bei unserem frühe-ren Koalitionspartner erfahren, der jetzt mit uns gemein-sam gegen die Veränderung bei den 630-Mark-Verträgen kämpft. In der letzten Periode wollten Blümund seine Freunde Ähnliches wie das machen, wasGrünrot jetzt auf den Weg gebracht hat.
Aber es ist besser, wenn man dazulernt: Besser späterlernen, als überhaupt nicht lernen.Als Vorwand für die Mehrwertsteuererhöhung wer-den von Ihnen das Stopfen der Haushaltslöcher und alldie anderen Überlegungen benutzt.
Jetzt ist Europa der neue Vorwand für die Steuererhö-hung. Genau wie bei der Beschäftigungspolitik ver-schieben Sie das, was Sie nicht hinkriegen, nach Europa.Sie schaffen es hier nicht – Europa ist zuständig.Herr Poß, das nächste Stichwort ist die Kosovo-Krise.Nun wird sie zum Vorwand für die längst vorbereiteteMehrwertsteuererhöhung, weil Ihnen nichts anderesmehr einfällt. Da liegen Sie fundamental falsch. Wirbrauchen steuerliche Entlastung, nicht Mehrbelastung.Mit dieser Politik werden Sie die Arbeitslosigkeit nichtbeseitigen, sondern noch mehr Schwäche des Euro, nochmehr Verunsicherung, noch mehr Investitionsschwächeauslösen. Das ist das Gegenteil von dem, was der Kanz-ler im Ausland erklärt. Wenn er nur die Hälfte von dem,was er in England ankündigt, machen würde, wäre esschon ein deutlicher Fortschritt.
Als
nächster Redner hat der Kollege Jörg-Otto Spiller von
der SPD-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Meine sehrverehrten Damen und Herren! Seit die F.D.P. im Bundnicht mehr in der Verantwortung ist, interessiert sie sichfür öffentliche Finanzen.
Es wäre allerdings besser gewesen, Herr Kollege Rex-rodt, Sie hätten das schon gemacht, als Sie Verantwor-tung getragen haben.
Ich will Ihnen einmal sagen, was das Ergebnis dieser16 Jahre Koalition aus CDU/CSU und F.D.P. war.
Sie haben, als Sie aus der Regierung ausgeschieden sind,
Rainer Brüderle
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 41. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 8. Juni 1999 3521
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eine Verschuldung des Bundes und der Nebenhaushalte,die Sie fälschlicherweise als „Sondervermögen“ be-zeichnet haben – in Wirklichkeit waren das Sonder-schulden –, von 1 450 Milliarden DM hinterlassen.
Das ist eine astronomische Zahl. Jetzt sage ich einmal,was sie bedeutet. Interessant ist, was laufend an Verzin-sung geleistet werden muß: gut 80 Milliarden DM imJahr, das heißt pro Kopf der Bevölkerung 1 000 DM imJahr.
Egal, ob es sich um einen Säugling oder um einen Greishandelt: 1 000 DM pro Jahr nur Zinsendienst für dieSchulden, die Sie hinterlassen haben! Für eine vierköp-fige Familie mit einem Durchschnittseinkommen um die4 000 DM pro Monat heißt das: ein Monatseinkommennur für die Zinsen auf die Schuld, die Sie hinterlassenhaben!
Sie sollten ganz kleine Brötchen backen.
Herr Kollege Brüderle, Ihnen bescheinige ich gerne,daß Sie sich für die öffentlichen Finanzen des Bundesbisher überhaupt noch nicht interessiert haben. Dasmerkt man Ihnen auch an.
Denn was Sie hier erzählt haben, hat mit dem, was tat-sächlich beschlossen worden ist, eigentlich gar nichts zutun.
Aber auch Sie werden das noch mitkriegen. Sie haben jaauch Ihren Anspruch angemeldet, in die Führungsriegeder Bundespartei vorzustoßen. Ich glaube, wenn Sieweiter so reden, wie Sie das soeben getan haben, werdenSie es schaffen, daß die F.D.P. bundesweit ein so tüchti-ges Ergebnis wie letzten Sonntag in Bremen erreichenwird.
Sie haben im übrigen ein nahezu wortgleiches Begeh-ren nach einer Aktuellen Stunde im Dezember des vori-gen Jahres vorgebracht.
Dabei ist genau das gleiche herausgekommen, nämlichheiße Luft.Eines sollten Sie sich inzwischen doch einmal hinterdie Ohren schreiben: Wenn man eine solche Verschul-dungspolitik zu verantworten hat wie Sie, macht esüberhaupt keinen Sinn, laufend über neue Haushaltslö-cher, über Entlastungen zu philosophieren oder zuschwadronieren. Es kommt darauf an, daß man die öf-fentlichen Finanzen wieder auf ein solides Fundamentzurückführt.
Das wird diese Koalition tun. Bundesfinanzminister Ei-chel hat dabei unsere volle Unterstützung. Daß Sie sichgern zurücklehnen, daß Sie schöne Sprüche machen – –
– Herr Rexrodt, Sie waren doch der Subventions-minister. Sie haben immer von Liberalität gesprochenund die marktwirtschaftliche Ordnung nie ernstgenom-men. Sie haben immer nur Ihre Klientel bedient.
Sie haben Ihre Klientel mit Sonderabschreibungen fürVerlustzuweisungsgesellschaften bedient. Das war IhrGeschäft. Seien Sie bitte ganz vorsichtig mit irgendwel-chen schönen Sprüchen!
Sie haben im Laufe Ihrer Regierungszeit ein DutzendSteuern erhöht. Das werden wir nicht machen.
Wir werden etwas tun, was Sie nie gemacht haben: Wirwerden kritisch an die Ausgaben des Bundes herange-hen.
Sie haben nie eine ernsthafte Haushaltskonsolidierunggewagt. Sie haben immer so getan, als wäre es Ihr Geld,das Sie aufnehmen. Nein, es ist das Geld der Bürgerin-nen und Bürger.
So zu tun, als könnten Sie künftigen Generationen wei-tere Schulden hinterlassen, ist unseriös.Wir werden eine seriöse Politik machen. Wir werdenmit der kritischen Durchleuchtung der Ausgaben anfan-gen. Wir schaffen eine solide, korrekte und gerechte Fi-nanzierung der öffentlichen Aufgaben.Ich danke Ihnen.
Alsnächste Rednerin hat das Wort die Kollegin Gerda Has-selfeldt von der CDU/CSU-Fraktion.Jörg-Otto Spiller
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Herr Präsident!
Meine Damen und Herren! Herr Spiller, Sie hätten jetzt
die Gelegenheit gehabt, uns zu sagen, welche steuerpo-
litischen Vorschläge Sie in der Regierungskoalition tat-
sächlich haben. Sie haben nichts gesagt.
Die Konzeptionslosigkeit in Sachen Steuerpolitik dieser
Bundesregierung und der Koalitionsfraktionen wird im-
mer deutlicher.
Die Vorschläge werden täglich nicht nur absurder,
sondern auch widersprüchlicher. Es wundert nicht, daß
die Bevölkerung immer mehr verunsichert wird. Aber
bei aller Widersprüchlichkeit – Mehrwertsteuererhöhung
ja oder nein, Mineralölsteuer in ein, zwei, drei oder
mehreren Stufen erhöhen, die Verwendung der Mittel im
Haushalt oder in der Sozialversicherung – sind Sie sich
in dieser Koalition über eines im klaren: Es muß mehr
Geld her. Es muß aber nicht mehr Geld her über die An-
kurbelung der Wirtschaft oder über sinnvolle Maßnah-
men zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit, sondern es
muß mehr Geld her von seiten der Bürger. Sie wollen es
direkt vom Bürger über Steuererhöhungen. So haben Sie
es bei den 630-Mark-Regelungen, bei der Scheinselb-
ständigkeit und bei der Ökosteuer gemacht, und so wol-
len Sie es auch mit der Mehrwertsteuer- und Mineral-
ölsteuererhöhung machen.
Meine Damen und Herren, Sie diskutieren doch nur
darüber, wie es die Bürger am wenigsten merken. Ich
will Ihnen das am Beispiel der Mineralölsteuer begrün-
den. Zuerst haben Sie gesagt, die zweite und dritte Stufe
der Ökosteuerreform kommt nur in Abstimmung mit der
Europäischen Union. Das ist mittlerweile vom Tisch;
jetzt planen Sie das im Alleingang. Es geht nur noch
darum, in wieviel Stufen Sie das machen. Der Kollege
Schulz hat vor wenigen Tagen – nachlesbar in einer
Agenturmeldung – den Vorschlag gemacht, die Mine-
ralölsteuer nicht wie geplant in zwei Stufen, sondern in
drei Stufen zu erhöhen, mit der Begründung, wichtig sei,
daß die Menschen nicht das Gefühl haben, daß man sie
abzockt. Es geht Ihnen doch nur darum, wie die Men-
schen am wenigsten merken, daß Sie sie abzocken.
Ich sage Ihnen: Egal, ob Sie die Steuer in einer Stufe, in
zwei oder in drei Stufen erhöhen, es bleibt die Tatsache,
daß Sie die Menschen mit dieser Mineralölsteuererhö-
hung abzocken;
es bleibt die Tatsache, daß Sie vor allem denen das Geld
nehmen, die es am dringendsten brauchen und die aufs
Auto angewiesen sind; es bleibt bei der Tatsache, daß
Sie vor allem denen mit mittleren und niedrigen Ein-
kommen das Geld nehmen.
Nichts anderes ist es auch mit Ihren täglichen Äuße-
rungen zur Mehrwertsteuererhöhung. Sie suchen doch
nur noch nach einer Begründung! Zuerst war es die Fa-
milienbesteuerung nach dem Bundesverfassungsge-
richtsurteil, dann war es die Europäische Union, jetzt
muß die Situation im Kosovo herhalten. Ihre täglichen
Dementis glaubt Ihnen niemand mehr, weil Sie Ihre
Versprechen in diesen wenigen Monaten Ihrer Regie-
rungszeit schon zu oft nicht gehalten haben.
Ein Beispiel: Sie haben bei der Verabschiedung des
Steuerentlastungsgesetzes gesagt, die Unternehmen wür-
den netto entlastet,
und zwar schon zum 1. Januar 2000. Auch davon sind
Sie schon abgerückt; mittlerweile haben Sie gesagt, es
könne keine Nettoentlastung geben und das alles werde
nicht zum 1. Januar 2000 kommen. Meine Damen und
Herren, Sie haben die Unternehmer verschaukelt; und
nun tun Sie das gleiche mit den Verbrauchern.
Es ist an der Zeit, daß Sie den Menschen die Wahr-
heit sagen, und zwar nicht erst nach der Wahl, sondern
schon vor der Wahl. Meines Erachtens besteht über-
haupt keine Begründung dafür, daß Sie die Sparvor-
schläge in Höhe von 30 Milliarden DM, die dem Fi-
nanzminister Eichel schon vorliegen, noch geheimhal-
ten. Sagen Sie es den Leuten doch jetzt! Wenn Sie das
schon alles haben, dann können Sie das auch sagen und
brauchen damit nicht hinter dem Berge zu halten.
Sie hätten all diese Probleme des Herumdokterns in
der Steuerpolitik nicht, wenn Sie – mit dem Ziel, die
Wirtschaft anzukurbeln – zu einer grundlegenden Steu-
er- und Abgabenreform, zu einer deutlichen Senkung
aller Steuersätze und zu einer Vereinfachung des Sy-
stems bereit gewesen wären.
Wenn Sie ein solchermaßen stimmiges Gesamtkonzept
vorlegen, dann sind wir auf Ihrer Seite.
Alsnächster Redner hat der Kollege Klaus Müller vonBündnis 90/Die Grünen das Wort.Klaus Wolfgang Müller (BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN): Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolle-ginnen und Kollegen! Zum dritten Mal in dieser Legis-laturperiode, die noch gar nicht so alt ist – KollegeSpiller hat schon den 3. Dezember erwähnt; ich fügenoch den 24. März hinzu –, herrscht heute verkehrteWelt: Oppositionspolitiker versuchen, uns eine Mehr-wertsteuererhöhung unterzujubeln. Damals beteiligtesich auch Herr Gysi von der PDS; es war also der großeKlang der Oppositionspolitiker.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 41. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 8. Juni 1999 3523
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In Wirklichkeit, Herr Koppelin, pfeifen CDU und F.D.P.im dunklen Wald, um von ihrem eigenen peinlichenVersagen in der Steuerpolitik abzulenken.
Reden wir doch einmal über Sie und Ihre Steuerpoli-tik! Hätten Sie in der letzten Legislaturperiode ein so-ziales Steuerkonzept ohne die Mehrwertsteuerfußnotevorgelegt, dann wären wir vielleicht schon weiter.
Oder nehmen Sie die vermeintlich neuen Bremer Be-schlüsse der F.D.P. Sie wollen die Steuersätze senken.Dafür haben wir volle Sympathie. Wer würde das nichtgerne tun! Sie entlasten im oberen Einkommensbereich;das können wir nachlesen. Wenn man aber einmal genauschaut, was bei Ihnen steht, und wenn man einmal nach-rechnet, was mit einem Einkommen von 20 001 DMpassiert, dann stellt man fest, daß Ihre Steuersätze stei-gen. Hier sieht man ganz deutlich, was Ihre Politik ist:die Steuern für Reiche senken und für Arme noch erhö-hen. Ich finde, Sie sollten sich dafür schämen.
Während sich die CDU/CSU zu Beginn der Legisla-turperiode eher auf destruktive Kritik beschränkt hat,sind wir inzwischen etwas weiter. Ich habe mit großemInteresse die Thesen des Kollegen Merz gelesen.
Bei vielen Punkten werden wir im Rahmen dieser Le-gislaturperiode sicherlich noch miteinander reden kön-nen. Das Interessante sind aber die Fußnoten. Wir habenja inzwischen gelernt, daß man bei CDU/CSU-Steuerkonzepten auf die Fußnoten achten muß.
Ich habe die 14 Fußnoten durchgelesen und feststellenmüssen, daß Herr Merz leider noch unseriöser als HerrWaigel ist.
Herr Waigel hatte in der Fußnote wenigstens ehrlich er-klärt, wo die Gegenfinanzierung steckt. Herr Merzschreibt nur: „Durch die Verbreiterung der steuerlichenBemessungsgrundlage könnten Steuermehreinnahmenvon rund 50 Milliarden DM erzielt werden.“ – Könnten!Das ist das Prinzip Hoffnung. Das ist fahrlässig und un-seriös. Sie sagen den Leuten nicht, wer die Quittungzahlen soll. Das finde ich ausgesprochen peinlich.
Scheinheilig ist die Forderung nach einer europa-weiten CO2-Abgabe. Die alte Regierung hat 16 Jahrelang alles zur Verhinderung einer solchen Abgabe getan.Frau Kollegin Hasselfeldt hat das gerade noch einmalbestätigt: Sie wollen keine Ökologisierung des Steuer-systems bei einer gleichzeitigen Entlastung des Fak-tors Arbeit. Ich finde, hier sind wir in der Diskussionschon wesentlich weiter. Mit einer Steuerpolitik für das21. Jahrhundert – ich nehme an, so ist die Überschrift zuverstehen – hat Ihre Politik an der Stelle leider nichts zutun.
Lassen Sie mich bei der Gelegenheit noch etwas zurUnternehmensteuerreform sagen. Wir haben eineKommission mit Fachkompetenz eingesetzt. Wir sindaber nicht vorgegangen wie Ihre Regierung, die eben-falls eine solche Kommission eingesetzt hat – HerrBareis war damals der Kommissionsvorsitzende –: Siehaben die Kommissionsbeschlüsse gelesen und habenfestgestellt, daß Sie eine solche Reform nicht wollen,weil sie Ihnen zu kompliziert ist; also ab in den Papier-korb damit. Das war Ihr Vorgehen. Zwei Jahre späterhaben Sie die Kommissionsbeschlüsse wieder hervorge-zogen.Rotgrün wird das anders machen. Rotgrün wird sichan der Stelle Gründlichkeit vor Schnelligkeit leisten;denn sonst kämen Sie wieder an und würden sagen: Ihrhabt alles viel zu schnell gemacht, ihr müßt nachbessern.Das ist Ihre scheinheilige Doppelstrategie. Diese werdenSie bei der Unternehmensteuerreform nicht anwendenkönnen. Die Reform wird gründlich beraten, sie wirdtransparent gestaltet und sie wird zum 1. Januar 2001mit niedrigeren Steuersätzen bei einer international ver-gleichbaren Bemessungsgrundlage eingeführt. Auf die-sem Kurs befinden wir uns im Einklang mit unseren eu-ropäischen Nachbarn. Das ist der richtige Weg.
Lassen Sie mich, da Sie ja immer darüber diskutierenwollen, auch etwas zum Thema Mehrwertsteuererhö-hungen sagen. Der Bundeshaushalt hat einen Konsoli-dierungsbedarf, der enorm ist. Der Grund dafür liegtdarin, daß Sie in der Vergangenheit durch Privatisie-rungserlöse und Tilgungsstreckungen dazu beigetragenhaben, daß wir beim Haushalt ein echtes Chaos vorge-funden haben. Dieses Chaos wollen wir beseitigen. Rot-grün wird den Haushalt konsolidieren. Jede Steuererhö-hungsdebatte, so oft die F.D.P. auch danach rufen mag,ist kontraproduktiv.Wenn wir schon über Mehrwertsteuer diskutieren,könnten wir auch über das Bestimmungsland- und Ur-sprungsprinzip oder über den Güterkanon des ermäßig-ten Mehrwertsteuersatzes diskutieren – das wäre okay.Nur, die Mehrwertsteuerdebatten, die Sie führen, sindverkehrt; genauso ihre Polemik gegen eine Neuordnungdes Verhältnisses von indirekten Steuern zu direktenSozialabgaben. Ich erinnere mich, daß der Bundestagdazu im vergangenen Jahr schon einmal etwas – sogarmit großer Mehrheit – beschlossen hat. Ich glaube, daswar damals ein richtiger Schritt. Nach einer gelungenenÖkosteuerreform und nach einer gelungenen Renten-reform können Sie das noch einmal aufs Tapet bringen.Dann sind wir gern bereit, auch darüber zu reden.Klaus Wolfgang Müller
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3524 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 41. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 8. Juni 1999
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Ich komme leider zum Schluß. Ich finde es bedauer-lich, daß Ihnen in der Steuerdebatte nichts anderes ein-fällt, als uns immer wieder mit Aktuellen Stunden zutraktieren. Das ist ausgesprochen wenig. Ich finde, daßSie an der Stelle ein bißchen mehr bieten könnten. Daswäre allein im Hinblick auf das Niveau dieser Debatteerhellend.Vielen Dank.
Als
nächste Rednerin hat die Kollegin Heidemarie Ehlert
von der PDS-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Sehr ge-
ehrte Damen und Herren! Die Steuerreform der rotgrü-
nen Regierung hatte unter anderem die Entlastung der
Arbeitnehmerinnen und der Familien zum Ziel. Doch
mit dem Wechsel des Finanzministers wurde offensicht-
lich auch der Kurs der SPD gewechselt. Während sich
Herr Waigel in kreativer Buchführung übte, kreiert Herr
Eichel den Sozialabbau zum Stopfen von Haushaltslö-
chern. Die Meldungen überbieten sich täglich. Da ist
nun von Kürzungen der Arbeitslosenhilfe und des Ar-
beitslosengeldes die Rede. Dabei geht es nicht nur um
die Reduzierung der vom Bund gezahlten Beiträge zur
Kranken-, Renten- und Pflegeversicherung von Ar-
beitslosen, wodurch Arbeitslose später weniger Rente
bekommen – dies soll 4 Milliarden DM Einsparungen
bringen –, sondern auch um Streichung der Zuschläge
für Bezieher von Arbeitslosenunterstützung mit Kindern
zur Einsparung von weiteren 2,5 Milliarden DM.
Die Renten sollen 2000 und 2001 nur halb so stark
steigen, wie es nach dem Nettolohnanstieg eigentlich er-
forderlich ist, damit der Bund weitere 4 Milliarden DM
sparen kann. Ihnen kommt doch das Haushaltsdefizit
von 30 Milliarden DM gerade recht, um die Familien
den Familienlastenausgleich selbst finanzieren zu lassen.
Da aber die bereits genannten Maßnahmen noch immer
nicht zur Finanzierung der geplanten steuerlichen Entla-
stung vor allem von großen Unternehmen ausreichen,
fordert der Finanzminister jetzt eine Erhöhung der
Mehrwertsteuer und der Mineralölsteuer.
Ich halte im Gegensatz zu Herrn Loske eine regelmä-
ßige Anhebung der Mineralölsteuer ohne Maßnahmen
des ökologischen Umbaus, ohne verkehrsmittelunab-
hängige Entfernungspauschale und ohne Ausbau des
ÖPNV nicht für vernünftig und auch nicht für ökolo-
gisch.
Mit der Forderung von Mehreinnahmen in Höhe von 11
bis 12 Milliarden DM wird nicht einmal mehr der An-
schein einer ökologischen Reform gewahrt. Einziges
Resultat wird sein, daß gerade den Arbeitnehmerinnen
und Arbeitnehmern, denen bereits bisher immer höhere
Mobilität abverlangt wurde und immer längere Arbeits-
wege zugemutet wurden, nun weitere Kosten auferlegt
werden, ohne ihnen überhaupt die Chance zur verstärk-
ten Nutzung des öffentlichen Personennahverkehrs zu
geben. Gerade für diese Menschen vermissen wir flan-
kierende Maßnahmen, wie den Ausbau eines bezahlten
öffentlichen Nahverkehrs.
Dafür kreieren Sie, Herr Minister Eichel, eine weitere
Doppelbelastung; denn neben der Mineralölsteuererhö-
hung fordern Sie auch noch eine Erhöhung der Mehr-
wertsteuer zur Finanzierung der geplanten Entlastung
der ertragsstarken Unternehmen. Da Ihnen der Mut zur
Verbreiterung der Bemessungsgrundlage und zum Ab-
bau von steuerlichen Vergünstigungen für Unternehmen
bzw. zur Wiedererhebung der Vermögensteuer fehlt,
sollen die Haushaltslöcher durch weitere Anhebungen
von Steuern gestopft werden.
Anstatt alle Bürger gleichmäßig ihrer wirtschaftlichen
Leistungsfähigkeit entsprechend steuerlich heranzuzie-
hen, wie es in § 3 der Abgabenordnung gefordert wird,
bezahlen Arbeitslose und Studierende, Sozialhilfebe-
rechtigte, Rentnerinnen und Rentner die Steuergeschen-
ke an Unternehmen. Statt über die Einführung einer
Schwerlastabgabe zur Verlagerung der Transporte von
der Straße auf die Schiene nachzudenken, denkt die SPD
über weitere Ausnahmen der Mineralölsteuer für das
Speditionsgewerbe nach.
Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts
zum Familienlastenausgleich nutzen Sie nicht nur für Ih-
re scheinheiligen Argumente, sondern auch als Mogel-
packung; denn eine Erhöhung der Verbrauchsteuern ist
zutiefst sozial ungerecht, da die Zeche der Endverbrau-
cher über die Preise zahlt. Es erhöhen sich aber nicht nur
die Preise für Luxusgüter, wie bei der von uns gefor-
derten Einführung einer Luxussteuer, sondern alle Prei-
se, auch die für Waren des täglichen Bedarfs, Kleidung,
Medikamente und so weiter. Menschen mit geringem
Einkommen sind davon besonders betroffen.
Hinzu kommt, daß eine Erhöhung der Verbrauchsteu-
ern dazu beiträgt, die Kaufkraft und das Wirtschafts-
wachstum zu schwächen. Sie leisten damit also keinen
Beitrag zu Wirtschaftswachstum und mehr Beschäfti-
gung. Phantasielos fordern Sie Ihre Kolleginnen und
Kollegen zu Einsparungen auf. Den größten Tribut muß
der Sozialbereich leisten. Sie belasten damit gerade die-
jenigen Menschen, die noch Herr Lafontaine entlasten
wollte, nämlich die Arbeitnehmerinnen und Arbeitneh-
mer sowie die Familien. Doch der neue Steuermann hat
den Kurs geändert. Das neue Ziel heißt Rotstift bei So-
zialleistungen und Erhöhung der Steuern.
Machen Sie Schluß mit der Privilegierung bzw. Dis-
kriminierung bestimmter Personengruppen. Sorgen Sie
für die Durchsetzung von Steuergerechtigkeit bei Ar-
beitnehmern und Unternehmern gleichermaßen, dann
können Sie nicht nur Ihre Haushaltslücke in Höhe von
30 Milliarden DM schließen, sondern auch mit unserer
Unterstützung rechnen. Steuererhöhungen werden wir
wie bisher nicht zustimmen.
FrauKollegin Ehlert, kommen Sie bitte zum Schluß.Klaus Wolfgang Müller
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 41. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 8. Juni 1999 3525
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Beenden Sie Ihren so-
zialpolitischen Kahlschlag. Sagen Sie den Bürgerinnen
und Bürgern endlich, was sie von Ihnen zu erwarten ha-
ben; das möglichst noch vor dem 30. Juni.
– Herr Rexrodt, Sie waren auch schon einmal besser.
Als
nächster Redner hat nun der Parlamentarische Staatsse-
kretär beim Bundesfinanzminister, Karl Diller, das
Wort.
K
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Da-men und Herren! Gestatten Sie mir zunächst ein persön-liches Wort an meinen rheinland-pfälzischen Kollegen,den früheren Staatsminister Herrn Brüderle. Sehr ge-ehrter Herr Brüderle, Ihre Partei ist von den bremischenWählerinnen und Wählern am vergangenen Sonntagfurchtbar zusammengestaucht worden.
Wenn „F.D.P.“ künftig nicht wieder für „fast drei Pro-zent“ stehen soll, dann sollten Sie aufhören, ständig mitVerdächtigungen zu arbeiten, und nicht immer wiederdie Mär von einer angeblich drohenden Mehrwert-steuererhöhung ins Gespräch bringen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich sageklipp und klar für die Bundesregierung: Wir wollen kei-ne Mehrwertsteuererhöhung, denn wir stehen für einesozial gerechte, solide finanzierte und wirtschaftspoli-tisch vernünftige Steuerpolitik, eine Politik, die mehrWachstum und Beschäftigung schafft.Richtig dagegen ist, daß die alte Bundesregierung,bestehend aus CDU/CSU und F.D.P., uns enorme Haus-haltslöcher hinterlassen hat: 1996 eine verfassungswid-rige Verschuldung, 1997 wurde – nur mit Zustimmungdes Bundestages – die Verfassungsgrenze überschritten,1998 haben Sie mit einem hohen, 20 Milliarden DMumfassenden Privatisierungsprogramm überhaupt dieVerschuldung unter die Verfassungsgrenze drückenkönnen.
Am Ende von Helmut Kohl und Theo Waigel, vonGerhardt und Kinkel müssen wir feststellen: Sie habendie Schulden in 16 Jahren Regierungszeit vervierfacht.Jede vierte Mark, die als Steuerzahlungen beim Bundeingeht, ist im letzten Jahr für das Zahlen von Zinsendraufgegangen. Wer eine solche Finanzwirtschaft hin-terläßt, hat – so hat es das Bundesverfassungsgerichtfestgestellt – den Bund in eine Haushaltsnotlage ge-wirtschaftet. Das ist das Ergebnis von 16 Jahren Finanz-politik unter Helmut Kohl.
Das ist also der Grund für die Haushaltsnotlage desBundes. Wir werden die notwendige Konsolidierung nurunter schmerzhaften Opfern vollziehen können. Ich binaber zuversichtlich, daß wir das schaffen, ohne dieMehrwertsteuer zu erhöhen.Wir setzen eine spürbare Senkung der Steuerlastenfür Arbeitnehmer, Familien und Unternehmer in die Tatum. Die mit den Steuerreformen 1999, 2000 und 2002verbundene Nettoentlastung umfaßt immerhin insgesamt20 000 Millionen DM. Diese Entlastungspolitik wollenwir mit dem Familienentlastungsgesetz und mit einerReform der Unternehmensbesteuerung fortsetzen. Wirwerden mit diesen Reformmaßnahmen, die wir am30. Juni zusammen mit dem Haushalt vorstellen werden,selbstverständlich im Rahmen haushaltspolitischer Ver-antwortung bleiben und deshalb für eine solide Finanzie-rung sorgen. Eine Erhöhung der Mehrwertsteuer kommtaber auch in diesem Zusammenhang überhaupt nicht inFrage.
Zur Erinnerung und zum Kontrast: Während der Re-gierungsverantwortung von CDU/CSU und F.D.P. ha-ben diese drei Parteien wiederholt an der Mehrwertsteu-erschraube gedreht: Juli 1983 von 13 auf 14 Prozent, Ja-nuar 1993 von 14 auf 15 Prozent, April 1998 von 15 auf16 Prozent. Hätten wir Ihre Steuerpläne nicht verhindernkönnen, hätten die Bürgerinnen und Bürger schon seitdem letzten Jahr statt 16 Prozent 17 Prozent Mehrwert-steuer zahlen müssen. Das ist die Wahrheit, Frau Hassel-feldt, die Sie eingefordert haben.Nun zum Thema Mineralölsteuer. Mineralölsteuer-erhöhungen sind keine Erfindung der rotgrünen Koali-tion.
CDU/CSU und F.D.P. haben in ihrer Regierungszeit vondiesem Instrument häufig und, Frau Hasselfeldt, dra-stisch Gebrauch gemacht.Die Zahlen, für die Sie verantwortlich sind, möchteich jetzt gerne auflisten, um sie mit unseren geplantenErhöhungen zu vergleichen: Von 1987 bis 1994 habenSie die Steuer für unverbleites Benzin von 46 Pfennig jeLiter um 52 Pfennig auf 98 Pfennig angehoben.
CDU/CSU und F.D.P. haben damit den Steuerbetragmehr als verdoppelt.
Zwischen dem, was während der Zeit der CDU/CSU-F.D.P.-Koalition auf diesem Gebiet geschah, und den
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Vorstellungen unserer Koalition gibt es jedoch deutlicheUnterschiede. Wir wollen den Betrag, der durch eineMineralölsteuererhöhung dem Bundeshaushalt zufließt,den Bürgerinnen und Bürgern sowie den Unternehmerndurch Senkung der Rentenversicherungsbeiträge wiedervoll zurückgeben.
In diesem Haushaltsjahr werden wir sogar mehr zurück-geben, als durch diese Anhebung in den Haushalt hin-einfließt. Der Grundgedanke einer ökologischen Steuer-reform besteht darin, den Umweltverbrauch maßvoll zubesteuern und das daraus erzielte Aufkommen zur Sen-kung der Lohnnebenkosten zu nutzen.Die alte Bundesregierung – auch Sie, Frau Hassel-feldt, haben das mit Ihrer Stimme mitgetragen – hat dieMineralölsteuer erhöht, um Haushaltslöcher zu stopfen.Parallel dazu haben Sie auch noch die Lohnnebenkostenkräftig angehoben. Bei Ihnen mußten die Bürger doppeltzahlen.
Sie ließen innerhalb weniger Jahre die Lohnnebenko-sten von 34 Prozent auf 41 Prozent steigen. Wir wolleneine Politik der kleinen stetigen Schritte betreiben, umkeinen zu überfordern. In der Zeit Ihrer Regierungsver-antwortung gab es drastische Erhöhungen. Frau Hassel-feldt, erinnern Sie sich nicht mehr daran, daß Sie im Jah-re 1991 die Mineralölsteuer auf einen Schlag um22 Pfennig je Liter – also nicht um 6 Pfennig – erhöhthaben?
Im Jahre 1994 haben Sie die Mineralölsteuer um16 Pfennig erhöht. Auch das haben Sie, Frau Hassel-feldt, mit Ihrer Stimme mitgetragen. Wie soll man dieseErhöhungen gegenüber den Pendlerinnen und Pendlernbezeichnen, die dafür damals keine Entlastungen be-kommen haben, sondern noch zusätzlich höhere Lohn-nebenkosten bezahlen mußten?
Deshalb kann man nur feststellen: Wenn die Autofah-rer durch Mineralölsteuererhöhungen schockiert wordensind, dann damals durch Frau Hasselfeldt.
Wir wollen Planungssicherheit. Deswegen wollen wirdie Mineralölsteuer in festgelegten kleinen und stetigenSchritten erhöhen, so wie das andere Staaten schon voruns praktiziert haben, zum Beispiel Großbritannien. Ge-stern hat die „Süddeutschen Zeitung“ berichtet, daß sichdas Schweizer Parlament für eine Lenkungsabgabe aufnicht erneuerbare Energien entschieden hat, deren Ertragzur Senkung der Sozialversicherungsbeiträge dienensoll. Die Schweiz ist auf dem gleichen Wege wie wir.Nur Sie sind die ewig Gestrigen.
Als
nächster Redner hat das Wort der Kollege Friedrich
Merz von der CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! MeineDamen und Herren! Angriff ist die beste Verteidigung.Das ist offensichtlich die Strategie, die sich die Koali-tion für diese Aktuelle Stunde ausgesucht hat.
Nachdem das für heute morgen geplante Festhochamtmit Zelebration des Herrn Bundeskanzlers mehr zu einerstillen Messe geworden ist, weil die Ereignisse nicht soeingetreten sind, wie sie vorgesehen waren,
ist es gut, daß wir uns wieder etwas mehr mit der Innen-politik beschäftigen.
Es hätte keinen Anlaß für diese Aktuelle Stunde ge-geben, wenn der Bundesfinanzminister das eingehaltenhätte, was er sich zu Beginn seiner Amtszeit selbst auf-erlegt hat, nämlich zunächst einmal den Mund zu halten,nachzudenken, Pläne zu machen und dann erst die Er-gebnisse seiner Überlegungen im Parlament vorzutra-gen. Eine solche Ankündigung war neu für diese Bun-desregierung, aber deshalb nicht falsch, im Gegenteil: Eswäre richtig gewesen. Aber er hat die sich selbst aufer-legte Schweigepflicht durchbrochen, indem er am letz-ten Sonntag ein Interview gegeben hat. Dieses Interviewist der richtige und zutreffende Anlaß für diese AktuelleStunde. Das einzige, was wir bisher von der Bundesre-gierung wissen, ist, daß in Zukunft regelmäßig jedesJahr Steuererhöhungen anstehen. Das ist das einzig De-finitive, das bisher auch unter dem neuen Bundesfi-nanzminister feststeht.
Sie, Herr Diller, haben eben von kleinen Schritten ge-sprochen. Das ist in der Tat die richtige Karikierungdessen, was gegenwärtig unter dieser Bundesregierungin Deutschland stattfindet. Das wirtschaftliche Wachs-tum weist nur kleine, sehr kleine Schritte auf. Die Bun-desregierung hat das Vertrauen internationaler Investo-ren und auch der nationalen Volkswirtschaft völlig ver-loren. Das können Sie an den Wachstumszahlen für daserste Quartal 1999 ablesen, die gerade heute vorgelegtworden sind. Herr Kollege Haussmann hat das eben inanderem Zusammenhang schon erwähnt: Das Wachstumim ersten Quartal des Jahres 1999 wird 0,7 Prozent be-tragen.
Seien Sie nicht ganz so vorlaut mit dem, was Sie zuden letzten 16 Jahren hier sagen. Ich bin es langsamwirklich leid.
Parl. Staatssekretär Karl Diller
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 41. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 8. Juni 1999 3527
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(D)
– Wenn Sie ständig über die letzten 16 Jahre reden undwenn man dieses Durcheinander in Ihrer Koalition be-obachtet, dann erlaube ich mir einmal die Rückfrage:Was haben Sie eigentlich in den letzten 16 Jahren ge-macht?
Sie haben alles mögliche gemacht, aber Vorbereitungauf Regierungsarbeit ist bei Ihnen in den letzten 16 Jah-ren nicht dabeigewesen.
Zur Erinnerung: Das letzte dieser „schrecklichen“16 Jahre unter der Führung von CDU/CSU und F.D.P.wies ein wirtschaftliches Wachstum im Jahresdurch-schnitt von 2,8 Prozent auf.
Wir haben in diesem Jahr Erwartungen, die mittlerweileunter 1,5 Prozent liegen. Es gibt Institute, bei denen sichdie Prognosen inzwischen nur noch bei 1 bis 1,2 Prozentbewegen. Die Zahlen im ersten Quartal des Jahres 1999zeigen – das hat mit den letzten 16 Jahren überhauptnichts zu tun, das sind ausschließlich Ihre Zahlen –: DasWachstum in der Bundesrepublik Deutschland brichtzusammen.
Wenn Sie jetzt nicht in der Steuerpolitik einen Bau-stein für eine Gesamtkonzeption der Wirtschaftspolitiklegen, die das Vertrauen in die dauerhafte Entwicklungder Bundesrepublik Deutschland zurückgewinnt, dannwerden Sie die Probleme der Bundesrepublik Deutsch-land, mit welcher Steuerpolitik auch immer, nicht lösen.Das ist der entscheidende Punkt, vor dem wir heute ste-hen.
Jetzt kommt etwas, was man bei sinkendem Außen-wert der eigenen Währung eigentlich nicht erwartensollte. Aber die zweite vom Statistischen Bundesamt ge-rade heute bekanntgegebene Zahl lautet: Der Export derBundesrepublik Deutschland schwächt sich ab. Wir ha-ben im ersten Quartal 1999 erstmalig seit 1993 – daswar nicht Ihre Regierungszeit, sondern unsere – rückläu-fige Exportzahlen. Das können Sie nun wirklich nichtmehr auf 16 Jahre der alten Regierung schieben. Dassind ausschließlich die Ergebnisse Ihrer Politik, die Sieallein zu verantworten haben.
Nun will ich einen ganz unverdächtigen Zeugen her-anziehen. Schauen Sie einmal in die letzte Ausgabe ei-ner der meistgelesenen Zeitschriften im englischsprachi-gen Raum, nämlich in den „Economist“. Die Titelstoryder letzten Ausgabe des „Economist“ lautet: „Deutsch-land, der kranke Mann im Euro-Raum“. Das ist der tat-sächliche Befund, über den wir in Deutschland eigent-lich reden müßten. Aber Sie eiern herum, weil Sie keinKonzept haben, weil Sie nur über Steuererhöhungen re-den und weil Sie keine Ahnung davon haben, wie manin der Bundesrepublik Deutschland ein wirtschaftlichesWachstum verstetigt und so steigert, daß auch das Ar-beitsmarktproblem gelöst wird.
Ich sage Ihnen, damit das ganz klar ist, zum Schluß:Einen zeitlichen Ablauf, wie Sie ihn offensichtlich pla-nen, werden wir nicht akzeptieren. Wir werden nichthinnehmen, daß Sie in den letzten zwei Sitzungstagendes Deutschen Bundestages vor der Sommerpause amNachmittag über die Bundespressekonferenz zum bestengeben, was Sie in der Steuerpolitik machen wollen, undwir dann anschließend alle gemeinsam fröhlich in dieSommerpause gehen. Diese Arbeitsteilung – das sageich Ihnen, Herr Diller, damit Sie es gleich jetzt wissen –machen wir nicht mit. Wenn Sie es nicht ermöglichen,daß am 30. Juni, am 1. Juli oder am 2. Juli eine ausführ-liche Parlamentsdebatte über das stattfindet, was Sie inder Steuer- und Finanzpolitik in der BundesrepublikDeutschland für die Zukunft wirklich wollen, dann wer-den wir Sie in der Woche darauf dazu zwingen.Vielen Dank.
Alsnächster Redner hat das Wort der Kollege Dr. ReinhardLoske von Bündnis 90/Die Grünen.
Zunächst einmal, Herr Merz, zum „kranken Mann“ Eu-ropas. Wenn wir uns einmal die Bilanz anschauen, dievor wenigen Minuten über den Ticker gegangen ist – ichweiß nicht, ob Sie das lesen –, dann kann man schon sa-gen: Diese Regierung hat in Europa einen sehr wesentli-chen Beitrag dazu geleistet, daß der Krieg im Kosovojetzt vorbei ist. Wir können froh darüber und dankbardafür sein. Ich glaube, daß das ein sehr wichtiger Punktist.
Wir haben es hier keineswegs mit einem „krankenMann“ zu tun. Was der Kanzler und der Außenministerhier geleistet haben, wird auch von anderen geschätzt,nur nicht – das ist verständlich – von der Opposition.Aber lassen Sie die Kirche im Dorf, und arbeiten Sienicht mit solchen unzulässigen Metaphern.Jetzt zum Thema der Aktuellen Stunde. Die F.D.P.kann es natürlich wieder einmal nicht lassen: Statt einensachlichen Beitrag zur Steuerdebatte und zur Sanierungdes Haushalts zu leisten, bekommen wir von ihr hiernichts anderes vorgesetzt als plumpeste Polemik.
Friedrich Merz
Metadaten/Kopzeile:
3528 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 41. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 8. Juni 1999
(C)
Kein Wort zur Lösung der Haushaltsmisere, die Sie mitzu verantworten haben,
kein Wort zur Finanzpolitik, nur Thekensprüche, keinWort zum Familienleistungsausgleich! Sie haben jahre-lang nichts für die Familien getan.
Dazu hätte ich mir von Ihnen wirklich ein klares Worterwartet. Statt dessen, wie gesagt, billigste Polemik.Wenn man sich die F.D.P. einmal anschaut, muß manfeststellen: Sie sind auf dem Weg von einer reinenFunktionspartei zu einer reinen Protestpartei. Wenn mansich beispielsweise Ihre Plakate anschaut, sieht man nurgelbe Karten, einen strahlenden Haussmann und, ichhätte fast gesagt: Männerhintern. Was will uns dieF.D.P. damit sagen? Ist das das neue Niveau der Protest-F.D.P.? Ich fände es schöner, wenn Sie versuchen wür-den, hier inhaltliche Beiträge zu leisten, statt auf solchplumpe Art und Weise zu polemisieren. Bei der Wahl inBremen hat es nicht zu 6 Prozent gereicht, sondern nurzu Platz 6 hinter SPD, CDU, Grünen, PDS und DVU.Wenn Sie so weitermachen, dann werden Sie auch bun-desweit auf diesem Platz landen.Ich will jetzt zum Thema Steuerpolitik und insbeson-dere zu den Energiesteuern kommen. Meine Damen undHerren von der F.D.P., Sie tun so – das war heute mor-gen aus der Rede von Herrn Haussmann ganz klar er-sichtlich –, als würden wir einen nationalen Alleingangdurchführen. Auch Frau Hasselfeldt hat diese Mär wie-der kultiviert. Ich frage mich allen Ernstes: Lesen Sieüberhaupt Zeitung? Informieren Sie sich überhaupt? Ichmöchte gar nicht die Beispiele aus dem europäischenAusland, wie Dänemark, Holland, Schweden und Nor-wegen, vorführen, die jeder kennt. Sie müssen nur in dieZeitung schauen. In der „Süddeutschen Zeitung“ vonheute – das wurde bereits gesagt – kann man lesen: Inder Schweiz wurden die Weichen für die Ökosteuerre-form gestellt. „Die Welt“ vom 20.5.: Paris plant Öko-steuer. Außerdem sollten Sie den neuen Plan der Regie-rung des Vereinigten Königreiches, vom Department ofTrade and Industry, lesen. Dort führt man eine ökologi-sche Steuerreform ein, die genauso aussieht wie bei uns.Es soll nämlich eine Steuer eingeführt werden, die zu90 Prozent zur Senkung der Lohnnebenkosten und zu10 Prozent zur Förderung erneuerbarer Energien ver-wendet wird. Meine Güte, Sie können doch nicht so tun,als würden wir auf einer Insel agieren! Es handelt sichum ein europäisch abgestimmtes Konzept. Insofern istdie Kritik von Herrn Haussmann völlig ohne Hand undFuß.
Wir liegen mit dieser Strategie im europäischenTrend und im OECD-Trend. Ich will die Punkte nocheinmal wiederholen – mittlerweile ist es profan; manmuß das Ganze alle vierzehn Tage wiederholen, bis Siees kapieren. Der erste Gedanke: Weg von der Belastungdes Faktors Arbeit hin zur Belastung des Faktors Ener-gie und Ressourcen. Der zweite Gedanke: Weg von dersprunghaften Verteuerung von Energie hin zur Versteti-gung, so daß sich Verbraucher und Unternehmen in ih-ren Investitionen darauf einstellen können, wenn sieEnergie sparen wollen. Drittens lautet der Trend: Wegvon überwiegend direkten Steuern hin zu überwiegendindirekten Steuern. – Meine Damen und Herren von derF.D.P., das alles wissen Sie ganz genau. Insofern ist esfast schon langweilig, immer wieder das gleiche Themaherunterzuexerzieren.Für uns Grüne ist die ökologische Steuerreform einwichtiges Instrument zur ökologischen und ökonomi-schen Modernisierung des Staates. Wir haben klareLeitorientierungen und klare ordnungspolitische Vor-stellungen. Im Zentrum stehen die ökologische Len-kungswirkung und die Entlastung des Faktors Arbeit.Die Ökosteuer muß einen Beitrag zur Erreichung derKlimaschutzziele leisten und muß zur strukturellen Ent-lastung des Faktors Arbeit beitragen. Das ist unser Maß-stab, das ist unsere Leitorientierung, und nicht das im-mer gleiche Lamento der F.D.P., das uns wirklich nichtsNeues zu sagen hat.Danke schön.
Als
nächster Redner hat das Wort der Kollege Günter Rex-
rodt von der F.D.P.-Fraktion.
Herr Präsident! MeineDamen und Herren! Herr Loske, zunächst einmal darfich Sie fragen, was der Inhalt und die politische Bot-schaft Ihrer Rede war.
Sie wollen uns hier Ihre merkwürdige Ökosteuerreformverkaufen. Über diese Reform sagt jeder Fachmann, daßsie mit „Öko“ nichts zu tun hat und keine Lenkungswir-kung entwickelt, weil die Unternehmen, die im ökologi-schen Bereich wirklich etwas bewirken könnten, ausge-nommen sind. Diese Steuer können Sie uns nicht ver-kaufen. Das war alles, was Sie gesagt haben.Wir haben diese Aktuelle Stunde mit Bezug auf einenKernsatz in Ihrem sogenannten europäischen Beschäf-tigungspakt beantragt, der lautet: Europa braucht eineInvestitionsinitiative. Was treibt die Leute von Rotgrünum, die umherlaufen und sagen: Wir brauchen eineMehrwertsteuererhöhung, und gleichzeitig müssen wirbei der Mineralölsteuer stetig Schritt für Schritt draufle-gen? Wie paßt das zusammen? Das ist doch hirnrissig!
Die Menschen in Deutschland wollen ein Signal da-hin gehend haben, daß die Steuern gesenkt werden, undnicht, daß die Steuern erhöht werden. Wenn dann vonIhrer Seite vorgetragen wird, auch wir hätten Steuern er-höht, haben Sie recht. Ich sage aber: Wir haben – mitDr. Reinhard Loske
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Ihnen und allen in Deutschland zusammen – in denletzten zehn Jahren eine wichtige Aufgabe zu meisterngehabt. Sie hat unser aller Beitrag erfordert. Das hat sichauch in der Steuerpolitik niederschlagen müssen. Wennaber jetzt, wo es um die Globalisierung geht und darum,die Wachstumsschwäche, die Sie erzeugt haben, zuüberwinden, Mehrwertsteuererhöhungen angekündigtwerden und die Mineralölsteuer stetig und auf Dauerund damit nicht planbar erhöht werden soll – das habeneinige Leute angesprochen –, so ist das Gift für dieKonjunktur, die Sie ohnehin schon in den Keller gefah-ren haben.
Kommen Sie nicht damit, das Ganze mit dem Koso-vo-Konflikt zu bemänteln. Selbst wenn die Kosten desKosovo-Konfliktes in diesem Jahr auf 1,2 MilliardenDM steigen, ist festzustellen: Die Erhöhung der Mehr-wertsteuer bringt Einnahmen in Höhe von 15 MilliardenDM pro Prozentpunkt. Wir lassen Ihnen eine Erhöhungum 15 Milliarden DM wegen der Kosten von 1,2 Milli-arden DM im Rahmen der Kosovo-Krise nicht durchge-hen. Denn eine solche Erhöhung dient nichts anderem,als Ihre Haushaltslöcher zu stopfen. Wenn Sie im Sozi-al- und Steuerbereich eine anständige Politik betreibenwürden, dann würden auf der Einnahmeseite die Steuer-quellen wieder so sprudeln, daß die Kosten von 1,2 Mil-liarden DM überhaupt keine Rolle spielen würden.
Sie machen aber nicht nur in den letzten Tagen mitIhren unverantwortlichen, für die Konjunktur Gift dar-stellenden Äußerungen eine falsche Politik. Sie machenschon seit Monaten, seit Anbeginn Ihrer Regierung einefalsche Politik. Von daher hat der Kosovo-Konflikt – sobitter das alles ist; ich unterstelle nicht, daß das in IhremInteresse gewesen ist – über Ihre innenpolitische Schwä-che, über Ihre Fehler, über Ihr Unvorbereitetsein undüber Ihr Chaos hinweggetäuscht bzw. dies verdeckt. Daswaren die Fakten der letzten Wochen. Sie haben von da-her eine Entlastung erhalten.
Das, was Sie in der Sozialpolitik tun – ob das denRenten- oder den Gesundheitsbereich bzw. die Rück-nahme unserer Reformen betrifft –, ist nichts anderes,als ein System zu konservieren, das sich in der altenBundesrepublik über Jahrzehnte bewährt hat, das aberangesichts der demographischen Entwicklung und derGlobalisierung in dieser Form nicht mehr zu bewahrenist. Ein Reparaturbetrieb, für den Sie Zeit schindenwollen, indem Sie die Anpassung der Renten um einbzw. zwei Jahre verschieben, hilft Ihnen nicht über dieeigentliche Klippe. Sie haben vor dem Hintergrund IhrerKlientel keinen Mut, die Reform der Sozialsysteme an-zupacken.
Wir haben dies angepackt. Sie haben das rückgängiggemacht. Sie werden dort landen, wo wir aufgehört ha-ben: eine Formel in das Rentensystem einzubauen, diemehr oder weniger der unseren entspricht.
Was die Steuern angeht, sollten Sie sich von IhremGeisterkurs entfernen. Sie verunsichern die Unterneh-men, Sie verunsichern die europäischen Partner, und Sieschaden dem Investitionsstandort Deutschland. Derschwächelnde Euro ist die Bewertung der Märkte für Ih-re Politik der letzten Monate. Nichts anderes ist der Fall.
Deutschland hat, was die Entwicklung des Außenwertesdes Euro angeht, eine zentrale Bedeutung, das größteGewicht und die meiste Verantwortung.
Der Außenwert ist schwach. Das ist das Ergebnis einertotal verfehlten Politik, die Sie im Steuer- und Sozialbe-reich gemacht haben, und das Ergebnis der Ihnen kon-zedierten Unfähigkeit, die Reformen in Deutschland indie richtige Richtung zu treiben. Deshalb haben wir ei-nen schwachen Euro.
Deshalb appelliere ich an Sie: Ändern Sie Ihre Steuer-politik und Ihre Sozialpolitik!
Herr
Rexrodt, kommen Sie bitte zum Schluß.
Ein letzter Gedanke
zur Mineralölsteuer.
Herr
Rexrodt, Sie haben schon eine Minute überzogen. Sie
müssen wirklich zum Schluß kommen.
Lassen Sie diese Art
der Steuererhöhung! Wenden Sie sich einer neuen Poli-
tik zu! Dann wird in Deutschland die Arbeitslosigkeit
zurückgehen. Darauf kommt es an.
Als
nächster Redner hat das Wort der Kollege Wolfgang
Grotthaus, SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meinesehr geehrten Damen und Herren! Wenn man hier imPlenum zum erstenmal spricht, dann versucht man, sichauf solch eine Rede vorzubereiten. Man sucht nach derBegründung der F.D.P. für die heutige Aktuelle Stunde,Dr. Günter Rexrodt
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nämlich nach den Forderungen einer Mehrwertsteuer-erhöhung, die angeblich von SPD-Seite bzw. vom zu-ständigen Minister erhoben worden sind. Ich muß Ihnensagen – die F.D.P. ist ja fast nicht mehr da –:
Ich habe dazu nichts gefunden. Deshalb wäre es gut,wenn Sie tatsächlich einmal Roß und Reiter nennen, dasheißt sagen könnten, wer eine Mehrwertsteuererhöhunggefordert hat. Ich habe nur gehört, daß die ehemaligeBundesministerin Nolte innerhalb des Wahlkampfeseine Mehrwertsteuererhöhung gefordert hat, wozu wirdamals schon erklärt haben: Mit uns wird eine solcheMehrwertsteuererhöhung nicht durchgeführt werden.Ich habe die Vermutung, daß hier ein Popanz aufge-baut werden soll, um von einer – ich sage dies bewußtso – erfolgreichen Politik und auch einer erfolgreichenSteuerpolitik abzulenken.
– Genau die Reaktion habe ich erwartet. Wir wissen, daßIhnen das nicht paßt, Herr Merz. Sie werden sich dastrotzdem anhören müssen.Ich will auch noch einmal darauf aufmerksam ma-chen, daß wir ohne Ihre Zustimmung eine Nettoentla-stung von über 20 Milliarden DM für Arbeitnehmerin-nen und Arbeitnehmer mit ihren Familien sowie fürkleinere Unternehmen durch das Steuerentlastungsge-setz beschlossen haben.Ich will auch daran erinnern, daß wir eine Kinder-gelderhöhung – das hat mich als Neumitglied in diesemHohen Haus sehr betroffen gemacht – ohne Ihre Zu-stimmung beschlossen haben. Keine 14 Tage späterkommt die Opposition aus den Büschen heraus und for-dert zusätzliche Erhöhungen, ohne Gegenfinanzierungs-vorschläge zu machen. Das macht dann betroffen. Wennman vorher in einem anderen Haus tätig war, fragt mansich schon, wie glaubwürdig die Politik der CDU/CSUund der F.D.P. in den letzten Jahren in diesem Haus ge-wesen ist.
Ich sage Ihnen mit aller Deutlichkeit: Die Senkungder Lohnnebenkosten, die Sie oft propagiert haben, istvon Ihnen in keinster Weise angegangen worden. Ichwill nicht auf die 16 Jahre zurückgreifen, sondern nurauf die letzten vier Jahre. Sie haben immer die Senkungder Lohnnebenkosten gefordert, aber erreicht wurde garnichts. Wir haben in unserem Wahlprogramm und in un-serem Koalitionspapier sehr deutlich gemacht, welchenWeg wir gehen werden. Diesen Weg haben wir einge-halten. Dieser Weg ist die ökologische Steuerreform, diewir auch in den nächsten Jahren sukzessive voranbrin-gen werden.Wir werden ebenfalls – ich gehe davon aus, daß auchdas ohne Ihre Zustimmung geschehen wird – eine Ab-kehr von dem unter Ihrer Regierung, der RegierungKohl, eingeschlagenen Weg in die immer höhere Staats-verschuldung vornehmen, und zwar durch Einsparungenim Bundeshaushalt und nicht durch Steuererhöhungen.Daß Ihnen von der F.D.P. und auch von der CDU/CSUdas nicht passen wird, ist uns allen klar. Denn was habenSie als Erfolge in den letzten Jahren aufzuweisen? Dassind höhere Steuern, höhere Sozialversicherungsbeiträgeund immer wieder höhere Schulden, auf die der KollegeSpiller schon hingewiesen hat.Meine Damen und Herren, auch das will ich hier be-tonen: Dafür haben Sie letztendlich die Quittung be-kommen. Der Wähler hat Ihnen das am 27. Septemberund nachfolgend honoriert. Sie werden dies am kom-menden Sonntag an unseren Zuwächsen wieder fest-stellen.20 Milliarden DM Deckungslücke im Haushalt ma-chen deutlich, wie Ihre Finanzpolitik in den letzten Jah-ren aussah. Wir werden den Bürgerinnen und Bürgern,wenn das Einsparpotential vom Finanzminister vorge-legt wird, sehr deutlich machen müssen, weshalb wirdiesen Weg, der dann zu gehen ist, auch gehen werden.Ich bin der festen Überzeugung, daß die Bürgerinnenund Bürger diesen Weg mit uns gemeinsam gehenwerden.Ich sage nochmals: Eine Mehrwertsteuererhöhungsteht nicht an – lassen Sie mich dies stellvertretend fürdie SPD-Fraktion erklären –, auch wenn Sie sie herbei-reden wollen. Wir werden darauf nicht hereinfallen.Es ist richtig – das ist Fakt –: Wir wollen noch in die-ser Legislaturperiode einen weiteren Schritt bei derökologischen Steuerreform machen. Dies ist nichts Neu-es. Dies haben wir in unserer Koalitionsvereinbarunggesagt. Das haben die Wählerinnen und Wähler auchgewußt. Wir haben auch sehr deutlich gemacht, daß wirden Energieverbrauch maßvoll und unter Sicherung derWettbewerbsfähigkeit unserer Unternehmen belastenund dafür die Lohnnebenkosten senken wollen. Wir sindder Auffassung – das zeigt sich auch deutlich bei Ge-sprächen, die wir in den letzten Tagen mit Industriever-tretern getätigt haben –, daß wir damit für die Ökologieund die Ökonomie Gutes tun.
Ihre Reaktion zeigt mir sehr deutlich, daß Ihnen dasnicht gefällt. Alle Dinge, die wahr sind, gefallen denennicht, die mit der Wahrheit nicht leben können.
Ihre Vorgehensweise ist mittlerweile auch draußen beiden Bürgerinnen und Bürgern bekannt. Sie wollen dieMenschen verunsichern. Das wird Ihnen nicht gelingen.Wir haben deutlich gesagt, was wir machen wollen.Von diesem Weg werden wir uns nicht abbringen lassen.Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Wolfgang Grotthaus
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Herr
Kollege Grotthaus, ich gratuliere Ihnen zu Ihrer ersten
Rede vor dem Deutschen Bundestag.
Als nächster Redner hat der Kollege Dietrich
Austermann von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Herr Präsident!Meine Damen und Herren! Es gibt keinen Grund, dieSteuern zu erhöhen, aber viele Gründe, die Steuern zusenken. Darauf ist deutlich hingewiesen worden. KeinGrund, die Steuern zu erhöhen, ist insbesondere dieHaushaltslage und das, was diese Bundesregierung vor-gefunden hat.Ich muß ein paar Sätze zu den Unwahrheiten sagen,die die Kollegen Diller und Spiller über die Haushalts-situation 1998 verbreitet haben, um deutlich zu machen,auf welcher Basis wir heute diskutieren. Zunächst mußman feststellen: Die letzten fünf Haushalte des Bundessind mit einem praktisch konstanten Ausgabevolumenabgehakt worden. Der erste Haushalt, den Sie und dieserFinanzminister zu verantworten haben, verzeichnet beiden Ausgaben eine Steigerung um 30 Milliarden DM.Zuvor konstante Ausgaben, jetzt Steigerung um 30 Mil-liarden DM! Jetzt sucht der Finanzminister 30 Milliar-den DM, wahrscheinlich um – das ist doch ganz einfach– die Löcher, die er in diesem Jahr zusammen mit seinenrotgrünen Freunden verursacht hat, wieder auszuglei-chen.Also muß ich da ansetzen, wo das Ausgabegebaren indie falsche Richtung gedrängt wurde. Dieser Bundes-haushalt, der noch nicht einmal in Kraft getreten ist –das Inkrafttreten wird wohl verschoben, damit man dieInvestitionen bloß nicht tätigen muß –, ist von einemRekordwachstum gekennzeichnet, von einer Ausgaben-steigerung von 6,3 Prozent. In dieser Situation davon zureden, wir hätten Ihnen marode Verhältnisse und einLoch von 20 Milliarden DM hinterlassen, ist natürlichvöllig falsch. Sie können das strukturelle Defizit nichtbeziffern. Sie wissen nicht, wie Sie auf die 20 MilliardenDM gekommen sind. Und Sie können – das wissen Siegenau – die Privatisierungserlöse des letzten Jahres indieses Jahr herübernehmen. Für Ihre Behauptung gibt esalso überhaupt keinen Grund.Jetzt sage ich etwas zu dem Kollegen aus Oberhau-sen, der gerade vor mir gesprochen hat.
Er hat gesagt, in der SPD rede keiner von Steuererhö-hungen. Da Sie ja nun aus Nordrhein-Westfalen kom-men, müßten Sie wissen: Die ersten, die nach der Wahlvon Steuererhöhungen geredet haben, waren Steinbrückund Clement. Beide müßten Ihnen bekannt sein. Daßbeide von Mehrwertsteuererhöhung gesprochen haben,haben wir nicht erfunden. Zuletzt, am Sonntag, hat auchHerr Eichel davon gesprochen und das „unter bestimm-ten Voraussetzungen“ nicht ausschließen wollen. AuchHerrn Diller habe ich heute nicht so verstanden, daß erdas grundsätzlich ausschließt. Er hat lediglich gesagt: Indiesem Zusammenhang wollen wir das nicht. Aber biszum 30. Juni kann sich natürlich der Zwang entwickeln,diesen Schritt gehen zu müssen, auch wenn man es nichtwill. Manch einer tut ja etwas, was er gar nicht möchte,weil er es muß. Diesen Eindruck habe ich hier; Sie redensich in einen solchen Bedarf hinein.Auch die Grünen reden dauernd von Steuererhöhun-gen. Herr Struck hat davon gesprochen, die Mineral-ölsteuer um 40 Pfennig zu erhöhen. Herr Schmidt, las-sen Sie mich einmal vorrechnen, was Ihre Transaktionbeispielsweise für die Rente bedeutet: Im letzten Jahrhat der Bundeszuschuß zur Rentenversicherung100 Milliarden DM betragen. In diesem Jahr werden esauf Grund falscher Entscheidungen von Ihnen 120 Mil-liarden DM sein. Wenn Sie jetzt die Mineralölsteuer um40 Pfennig erhöhen – –
– Natürlich, Sie haben die Mineralölsteuer erhöhen müs-sen, um damit die Senkung der Rentenbeiträge, also derLohnnebenkosten, auszugleichen. Das heißt, Sie müssendie Zuwendungen des Bundes an die Rentenkasse erhö-hen. Die nämlich steigen im Gegenzug – auch wenn Sieum 40 Pfennig erhöhen – auf 151 Milliarden DM. UndSie reden hier davon, man gehe mit den Staatsfinanzensparsam um!Das kann man sich doch ausrechnen: Im letzten Jahr100 Milliarden DM Bundeszuschuß für die Rente, dasnächste Mal – um die Senkung der Lohnnebenkostenauszugleichen – 151 Milliarden DM! Und gleichzeitignehmen Sie den Rentnern noch das Geld aus der Tasche:im nächsten Jahr 3,5 Milliarden DM, im übernächstenJahr 10,5 Milliarden DM. Sie haben den Anspruch ver-loren, überhaupt von sozialer Gerechtigkeit reden zukönnen. Mit Ihren Entscheidungen, die Sie in den letztenacht Monaten getroffen haben – mit denen Sie doch ge-rade die kleinen Leute treffen: Mineralölsteuererhöhung,Ökosteuer usw. –, haben Sie den Anspruch verloren, vonsozialer Gerechtigkeit zu reden, die Sie mit Ihrer Politikangeblich erhöhen wollten. Gleichzeitig reden Sie pau-senlos von der Notwendigkeit, irgendeine Steuer zu er-höhen, um im internationalen Wettbewerb mithalten zukönnen. Sie müssen sich schon einigen auf das, was Siehier vortragen wollen.Es heißt immer, die Steuern in Deutschland seien jagar nicht so hoch. Richtig ist, daß die Steuerquote in derZeit, in der wir an der Regierung waren, gesunken ist.Richtig ist, daß sie in den ersten acht Monaten Ihrer Re-gierung wieder gestiegen ist.Tatsache ist also nach den ersten acht Monaten: Siemachen offensichtlich eine Politik, die die Steuer-lastquote in die Höhe treibt. Und was das Schlimme ist –deswegen ist das Ganze ja für die Bürger so belastendund besonders bemerkenswert –: Mit dieser falschenPolitik werden Investitionen gedrosselt. Es werden keinezusätzlichen Arbeitsplätze geschaffen. Die Zahl derLeute, die in Deutschland Arbeit haben, wird am Endedes Jahres kleiner sein als zu Beginn des Jahres. Das istdas eigentlich Fatale an Ihrer Politik.
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Deswegen müssen Sie heute, spätestens aber in dernächsten Sitzungswoche – damit, wie der Kollege Merzgesagt hat, wir vor der Sommerpause darüber diskutie-ren können – ganz klar sagen, welche Absicht bezüglichzusätzlicher Belastung von Bürgern und Industrie Sieverfolgen. Das muß auf den Tisch, darüber muß disku-tiert werden. Ich hoffe, es kommt dann möglichst baldwieder vom Tisch. Dieses Land verträgt nämlich alles,bloß keine zusätzlichen Steuererhöhungen.
Den letzten Satz möchte ich sagen, damit sich nichtsFalsches in den Köpfen festsetzt. Wir haben angeblichnichts für die Familien getan. Wir haben das Kindergeldin den letzten drei Jahren vor dem Regierungswechselzweimal erhöht. Als wir die Regierung übernommen ha-ben, betrug das Kindergeld für das erste Kind 50 DM,als wir aufhörten, lag es bei 220 DM. Die Familienlei-stungen im Jahre 1982 lagen bei 25 Milliarden DM, imletzten Jahr bei 75 Milliarden DM. Sie können doch hiernicht den Eindruck vermitteln, als hätten wir in denletzten Jahren nicht eine ganz bewußt auf sozialen Aus-gleich bezogene Politik betrieben. Darin wird uns keinerüberholen.Politik, die von Sozialpolitik redet, aber unter demStrich den kleinen Leuten, den Rentnern, den Schwa-chen, den Arbeitslosen, den Sozialhilfeempfängern dasGeld aus der Tasche zieht, das paßt hinten und vornenicht zusammen. Deswegen sage ich: Wir lehnen dieseinvestitionsfeindliche Politik der ständigen Steuererhö-hungen ab.
Als
nächste Rednerin hat die Kollegin Lydia Westrich von
der SPD das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolle-ginnen und Kollegen! Herr Austermann, so einfach kannman die Verantwortung für 16 Jahre verfehlte Politiknicht wegschieben. Das geht auch hier im Hohen Hausenicht.Zum Kindergeld. Sie waren nicht im Finanzausschuß,Sie können nicht beurteilen, wie viele Kämpfe wir mitIhrem leider verstorbenen Kollegen Dr. Fell ausgefoch-ten haben, damit eine gleichmäßige Erhöhung des Kin-dergeldes überhaupt hat stattfinden können. Im übrigenvergessen Sie das Urteil des Bundesverfassungsgerich-tes, das Ihnen ja ins Stammbuch geschrieben hat, daßSie wieder einmal die Familien viel zu hoch belastet ha-ben.
Sie sind durch das Bundesverfassungsgericht gezwun-gen worden, das Kindergeld anzuheben. Sie haben es bisauf den letzten Moment hinausgeschoben und es erst zudem Zeitpunkt angehoben, den das Bundesverfassungs-gericht als spätesten Termin vorgeschrieben hat. Deswe-gen hat das Bundesverfassungsgericht jetzt gesagt, wennes dieses Jahr nicht passiert, dann wird es so geschehen,wie wir es vorgeschrieben haben. Das haben Sie ver-schuldet.Sie täten als Opposition wirklich gut daran, wenn Siezum Beispiel den Rat des Präsidenten des Bundes derSteuerzahler annehmen würden, der gesagt hat: Die Op-position wäre jetzt gut beraten, wenn sie den Bundesfi-nanzminister bei seinen Plänen nicht behindern würde.Er spricht in seinen beschwörenden Warnungen von denFolgen der zunehmenden Staatsverschuldung und be-dauert, daß sie erst jetzt unter der rotgrünen Bundesre-gierung als Bedrohung der öffentlichen Haushalte über-haupt wahrgenommen wird.Was haben Sie auf der rechten Seite immer gelästert,wenn Ingrid Matthäus-Maier zum Beispiel die Zinslastdes Staates vorgerechnet hat. Sie haben nicht nur gelä-stert, Sie haben mit dieser Schuldenpolitik einfach wei-tergemacht. Die Steuererhöhungen waren zahlreich.Herr Diller hat sie ja aufgezählt. Sie geschahen mit IhrerZustimmung. Der Erfolg war gleich null bezüglich desSchuldenstandes; ganz im Gegenteil.In 16 Jahren haben Sie es geschafft, daß trotz deutlichwachsendem Bruttosozialprodukt die Steuereinnahmenstagniert haben, ja zurückgegangen sind. Sie haben esweiterhin geschafft, daß viele Gewinne in Niedrigsteu-ergebiete der ganzen Welt verlagert worden sind unddaß Arbeitnehmer bis an die Grenzen ihrer Belastbarkeitgeschröpft wurden.Sie haben mit Ihrer Politik zugelassen, daß Steuer-zahler mit komfortablen finanziellen Spielräumen ihreSteuerschuld durch Verlustzuweisungen und Sonderab-schreibungen mindern konnten.
Sie haben auch nichts gegen Schattenwirtschaft undSteuerkriminalität unternommen. In diesem Zusammen-hang denke ich an die Diskussion über § 30 a der Abga-benordnung.Wir haben schon in den ersten Monaten erste Maß-nahmen probiert; sie wirken.
– Ich muß Ihnen sagen, daß wir nicht in drei Monatendie Auswirkungen einer über 16 Jahre verfehlten Politikändern können. Das ist zuviel der Ehre. Aber letztend-lich werden wir es schaffen.
– Es ist richtig, wir haben schon sehr viel Vernünftigesgeschaffen.Wir haben im Wahlkampf soziale Gerechtigkeit ver-sprochen. Die Steuergerechtigkeit gehört untrennbar da-zu. Sie können sicher sein, daß wir unsere VersprechenDietrich Austermann
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 41. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 8. Juni 1999 3533
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halten. Steuerpolitik unter einer rotgrünen Bundesregie-rung heißt, keine Steuererhöhungen mehr für die Masseder Steuerzahler, wie das bisher unter der alten Regie-rung der Fall war. Deshalb sind Ihre Versuche, unsSteuererhöhungen einzureden, völlig sinnlos.
Zu Ihrer Steuerpolitik gehörte – wie die Luft zumAtmen –, irgendwelche Steuern zu erhöhen, wenn diegeringsten Probleme anstanden. Dieses Vorgehen kön-nen Sie uns nicht unterschieben. Wir entdecken eineneue Tugend – nein, eine alte Tugend neu –, die norma-lerweise den konservativen Kräften zugeschrieben wird,nämlich das Sparen. Ich empfehle Ihnen als Opposition,ausnahmsweise den Rat des Präsidenten des Bundes derSteuerzahler ernst zu nehmen. Behindern Sie die Arbeitdes Bundesfinanzministers in dieser Hinsicht nicht! Hel-fen Sie lieber mit! Reden Sie mit den Handwerksmei-stern!Erst gestern sagte mir ein Dachdecker, daß seit Jahrendie Lohnnebenkosten das erste Mal gesunken sind. DieSchuhfabriken in meinem Wahlkreis Pirmasens, die ei-nen Lohnkostenanteil von mehr als 30 Prozent haben,warten schon auf die nächste Senkung der Lohnneben-kosten. Die Unternehmer sagen, daß wir damit konkur-renzfähig bleiben. Wenn Sie nicht mit Verbandsfunktio-nären, sondern mit den Menschen vor Ort reden – das istnotwendig –, dann sehen Sie unsere Politik in einemganz anderen Licht.
Die Menschen, die Sie belastet haben, haben jetztmehr Geld in den Lohntüten, Herr Rauen. Das soll na-türlich so bleiben. Sie können noch so viele AktuelleStunden beantragen: Wir schaffen eine soziale Steuerge-rechtigkeit, wie sie im Buche steht.Vielen Dank.
Als
nächster Redner hat der Kollege Klaus Lippold von der
CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Her-ren! Herr Diller, so einfach kann man es sich nicht ma-chen, indem man von einer sozial gerechten Politik nurspricht. Vor der Wahl haben Sie unsere Einführung einerdemographischen Komponente in die Rentenpolitikverteufelt. Sie haben den Rentnern gesagt, daß damit dasNiveau unverschämt abgesenkt würde und daß wir sieplündern würden. Jetzt auf einmal diskutieren Sie überdie demographische Komponente und die Aussetzungder Anhebung der Renten. Das ist doch zynisch und eineklassische Rentenlüge: vor der Wahl auf der Koalitionherumzuhauen und nach der Wahl Maßnahmen einzu-leiten, die größere Auswirkungen haben als die, die wirdamals auf Grund unserer Verantwortung gegenüber derjüngeren Generation durchführen mußten.Herr Diller, Sie sprachen in diesem Zusammenhangvon „wirtschaftlich vernünftig“. Schauen Sie sich docheinmal die Zahlen über die Investitionen aus anderenLändern am Standort Deutschland an! Mini-Euro-Länder hängen uns hinsichtlich der Investitionszahlenab. Mit dem Ausgangspunkt unserer Reformen hattenwir es in den letzten Jahren geschafft, diesen fatalenTrend zu brechen und erstmals wieder steigende Aus-landsinvestitionen in Deutschland herbeizuführen. Siehaben den grandiosen Erfolg geerbt. Frau Kollegin, Siehaben richtigerweise gesagt, daß Sie in drei Monatenviel verändert haben. Sie haben nämlich den positivenTrend umgekehrt. Jetzt geht es mit den Investitionennach unten, und die Schaffung zusätzlicher Arbeitsplätzeist gefährdet.
Herr Kollege Grotthaus, Sie müssen noch lernen, sehraufmerksam zuzuhören. Herr Diller hat in seinen For-mulierungen eine Mehrwertsteuererhöhung nicht ausge-schlossen. Wer über Jahre hinweg seine Formulierungenverfolgt, weiß ganz genau, was sie bedeuten. Er hat dieErhöhung der Mehrwertsteuer definitiv nicht ausge-schlossen. Das ist doch das Problem: Sie tasten sichdurch solche Diskussionen daran heran, um hinterhersagen zu können, Sie hätten es machen müssen.Man muß Ihre Steuerdiskussion einmal werten. Ichtue das.„Ich bin entgeistert über diese Diskussion.“ Das sagenicht ich, das sagt Herr Clement. Da wird der Verzichtauf die zweite Stufe der Ökosteuerreform gefordert. Dassage nicht ich, das sagt Herr Clement. Und, Herr Diller,gerade in bezug auf Investitionen am Standort Deutsch-land: „Der nationale Alleingang überfordert energiein-tensive Industrien“. Gemeint ist: in der BundesrepublikDeutschland. Auch das sage nicht ich, das sagt HerrClement. Ist der Mann eigentlich so völlig unfähig, odergehört er zur Opposition? Sie müssen doch langsam an-fangen, sich ernsthaft Fragen zu stellen.Dann heißt es: „nicht unentwegt Schnellschüsse!“ Ichwill Sie trösten: Das sagt nicht der Kollege Clement, dassagt die Kollegin Simonis, ihres Zeichens Ministerpräsi-dentin in Schleswig-Holstein.
– Noch.Dann gibt es jemanden, der zu dem Ganzen sagt:„Das ist völlig unvernünftig.“ Das ist der Ministerpräsi-dent von Niedersachsen, Herr Glogowski.Sie können uns doch jetzt nicht einreden, das sei – beiHerrn Loske fiel dieses böse Wort – schlicht und ergrei-fend Polemik. Es sind Sozialdemokraten, die das gesagthaben, und sie haben recht. Im übrigen sagt es auch IhrKollege Metzger so.Sehen wir uns die Ökosteuerdiskussion an! Erst hießes: nur europäisch. Machen wir uns nichts vor: DiesesLydia Westrich
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Wort haben Sie längst gebrochen. Jetzt ist nichts mehrmit „nur europäisch“.Bedenken wir, was Sie im ersten Durchgang gemachthaben! Sie haben regenerative Energien belastet. Das istdoch wohl nicht ökologisch. Herr Loske; darüber sindwir uns doch einig.Ich meine, es ist durchaus kennzeichnend, daß in die-ser Diskussion derjenige auf seiten der SPD-Fraktion,der sich in Sachen Ökologie etwas auskennt, der Kollegevon Weizsäcker, nicht dabei ist, obgleich er in den Deut-schen Bundestag kam, weil er gerade an dieser Stelleansetzen wollte. Aber ich kann es verstehen. Diese Formvon Unvernunft muß einem doch weh tun.Herr Kollege Loske, Sie haben gesagt: „in stetigen,kleinen Schritten.“ Da erinnere ich kurz an den KollegenStruck, der kein anderer ist als der Vorsitzende der so-zialdemokratischen Fraktion. Wenn 40 Pfennig für Sie,Herr Loske, stetige, kleine Schritte sind, dann versteheich die Welt nicht mehr. Aber die Mineralölsteueranhe-bung müssen Sie in der Koalition unter sich ausmachen.Herr Poß, machen Sie sich doch nichts vor! Sie hat esdoch genauso geärgert, mit wieviel Unvernunft IhrFraktionsvorsitzender in diese Diskussion gegangen ist.Sie haben ihn doch aus den eigenen Reihen kräftig nie-dergemacht.
– Sie brauchen gar nicht den Kopf zu schütteln. So istdas.Das heißt also: Sie kassieren ab. Ein Konzept ist nichtzu erkennen.Herr Kollege Loske, Sie waren selten so wortlos wieheute. Sie haben gut drei Viertel Ihrer Redezeit auf denKosovo verwandt, auf Polemik, auf Fragen der Famili-enpolitik und, und, und. Nur auf die ökologische Kom-ponente ist der ökologische Sprecher der Grünen er-staunlicherweise fast überhaupt nicht eingegangen.
– Nein, Sie wissen, ich höre Ihnen immer zu. – Vier,fünf magere Sätze haben Sie darauf verwandt. Ich sageganz deutlich: Das ist zuwenig.Das kann nicht anders sein, weil Sie selbst um dieSchwächen Ihres eigenen Konzepts wissen. Sie selbstwissen, daß diese Diskussion schädlich ist, unter ökolo-gischen Aspekten genauso wie für den StandortDeutschland. Deshalb wäre es bestens, wenn diese un-vernünftigen Pläne schnellstens vom Tisch kämen.Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Als
letzter Redner in dieser Aktuellen Stunde hat der Kolle-
ge Reinhard Schultz von der SPD-Fraktion das Wort.
Herr Präsi-dent! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich glaube, wirmüssen uns darauf einstellen, daß bis zu den nächstenBundestagswahlen in einem gewissen Rhythmus –zweimonatlich – ein Gespenst von Ihnen hervorgeholtwird: die Erhöhung der Mehrwertsteuer.Kein Mensch hat aus der SPD, aus der Regierung, ausder Koalition, soweit es um den Bund geht, in den letz-ten Wochen und Monaten dieses Wort überhaupt in denMund genommen. Daß Sie Diskussionsbeiträge vomNovember letzten Jahres aus den Ländern zum Anlaßnehmen, heute eine Aktuelle Stunde zu beantragen – Siezitierten Herrn Clement, der sich in einer völlig anderenSituation geäußert hat –, zeigt, was eigentlich die Ab-sicht ist: Mangels anderer denkbarer Wahlkampfaktivi-täten nimmt die F.D.P., die Schwierigkeiten hat, nochden einen oder anderen Bürger auf dem Marktplatz zutreffen, hier eine kleine Ersatzhandlung vor, um alle an-deren davon abzuhalten, sich erfolgreich auf die Euro-pawahl einzustellen. Das ist der Sinn der Übung.Ich sage es noch einmal und unterstreiche es aus-drücklich: Im Mittelpunkt der Bemühungen um dieKonsolidierung der öffentlichen Haushalte wird einSparprogramm stehen, das sozial gerecht und nachhaltigist und sicherstellt, daß wir nach einer überschaubarenZeit wieder Grund unter den Füßen haben werden. Fürdiese Konsolidierung wird es keine zusätzliche Steuer-einnahme geben.Wir haben in der Wahl angekündigt und in den Ko-alitionsvertrag aufgenommen: Wir wollen, festgemachtam Leitparameter Energie, stetig die Belastung derUmwelt verteuern. Das tun wir über die Ökosteuer.Gleichzeitig wollen wir die Mehreinnahmen komplettzur Entlastung des Faktors Arbeit zurückgeben. Dabeibleibt es auch. Über die Ökosteuer wird es keinerleiHaushaltsfinanzierung anderer Art oder weitere vorstell-bare Aktivitäten geben. Statt dessen wird jede Mark, diewir über die Ökosteuer einnehmen, in die Senkung derLohnnebenkosten gesteckt. Bei dieser Aussage bleibt es.
Jetzt reden wir darüber – das ist offensichtlich –, inwelchen Schritten und mit welchem Tempo man dasmacht. Das Ziel ist klar: Wir wollen die Lohnnebenko-stensenkung um 2,4 Prozent in dieser Wahlperiode er-reichen. Daraus errechnet die interessierte Presse, wie-viel Volumen man auf die verschiedenen Energieträgerverlagern muß. So kommen bestimmte Größenordnun-gen zustande, wie zum Beispiel auch die 40 Pfennig vonHerrn Struck.Herr Struck hat nichts anderes gesagt als das, was ichnoch einmal klarstellen will. Wir werden in einem Ge-setz alle weiteren Stufen der Ökosteuer festlegen. Ob eszwei Stufen werden, wie es in der Koalitionsvereinba-rung steht, oder drei, oder ob wir über das Jahr 2002hinausgehen, was viele von uns für sinnvoll halten, wirdsich zeigen. All das mündet in ein Gesamtpaket, das dieUnternehmensteuer, den Familienlastenausgleich unddie Ökosteuer beinhaltet, so daß jeder Bürger sehenkann, wo es mehr Be- und wo es mehr EntlastungenDr. Klaus W. Lippold
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 41. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 8. Juni 1999 3535
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gibt. Unterm Strich gesehen wird es mehr Entlastungengeben.Herr Brüderle hat gesagt, wir hätten einen Kanzlerder Bosse. Wenn die SPD mit Gerhard Schröder sowohlden großen Versicherungsunternehmen als auch denEnergieversorgungsunternehmen – inzwischen ist derKonsens hergestellt – 16 Milliarden DM, die sie an derSteuer vorbeigeführt haben, aus den Rippen leiert, kannman das nicht gerade als Streicheleinheit für die Groß-konzerne bezeichnen.Es war völlig richtig, daß wir das gemacht haben,weil wir dieses Geld brauchen, um an anderer Stellewieder Gerechtigkeit herzustellen. Der Mittelstand istentlastet worden, und er wird auch in der Unternehmen-steuerreform weiter entlastet werden.Ich weiß auch nicht, warum Sie so hetzen. Wenn dieUnternehmensteuerreformkommission und alle Verbän-de sagen, wir sollten lieber sorgfältig herangehen, als ir-gendwelche Experimente zu machen, die später teilwei-se wieder korrigiert werden müssen, weil man sich vor-her nicht im einzelnen darüber im klaren war, wie wel-che Änderung im Körperschaftsteuerrecht, im Einkom-mensteuerrecht oder im Gewerbesteuerrecht tatsächlichwirkt, dann sage ich, es ist besser, die Reform für dierechtsformgebundenen Gesellschaften und die Perso-nengesellschaften erst im Jahre 2001 umzusetzen, undzwar richtig, ordentlich und überschaubar, nach einerguten Vorbereitung durch Planspiele und mit einer deut-lichen Entlastung der tatsächlichen Steuerbelastungdurch Änderung der Steuersätze, statt irgendwelcheFummeleien vorzunehmen, die nur vorgaukeln, manhätte damit wirtschaftspolitisch eine Glanztat vollbracht.Wir werden sorgfältig arbeiten. Wir werden unserProgramm Schritt für Schritt abarbeiten, und daran wer-den Sie uns nicht hindern, auch wenn wir uns daraufeinstellen müssen, alle zwei Monate zur Mehrwertsteuereine Aktuelle Stunde erleben zu dürfen. Das geht zwarvon unserer Lebenszeit ab, bringt uns aber nicht um.
Vielen Dank.
Die
Aktuelle Stunde ist damit beendet. Wir sind am Schluß
unserer Tagesordnung.
Ich berufe die nächste ordentliche Sitzung des Deut-
schen Bundestages auf Mittwoch, den 16. Juni 1999,
12 Uhr ein.
Die Sitzung ist geschlossen.