Gesamtes Protokol
Die Sitzung ist eröffnet.
Ich darf Sie bitten, sich zu erheben.
Am vergangenen Samstag ist in Stanford im US-Bundesstaat Connecticut der ehemalige Hohe Kommissar der US-Regierung in Deutschland, John Jay McCloy, kurz vor Vollendung seines 94. Lebensjahres verstorben. McCloy war einer der drei Repräsentanten der westlichen Alliierten, die die Bundesrepublik Deutschland mit aus der Taufe gehoben haben. Als Hoher Kommissar von 1949 bis 1952 hatte er einen entscheidenden Einfluß auf die Entwicklung der Bundesrepublik Deutschland, ihre Stellung in Europa und ihr Verhältnis zu den Vereinigten Staaten.
Wir haben McCloy viel zu verdanken. Er hat sich als einer der ersten für den Wiederaufbau, die Eingliederung des Bundesrepublik in das westliche Bündnis und zusammen mit Jean Monnet für erste Schritte zu einer europäischen Integration eingesetzt.
Nicht nur als Hoher Kommissar, sondern auch in seinen späteren Funktionen in der amerikanischen Wirtschaft und als Berater mehrerer amerikanischer Präsidenten lag ihm die Freundschaft und das Werben und Wirken für eine enge und dauerhafte Verbindung zwischen dem amerikanischen und deutschen Volk besonders am Herzen. Als einer der ersten, der sich nach dem Zweiten Weltkrieg dafür eingesetzt hat, daß aus Feinden und Besiegten Freunde und Bündnispartner wurden, warb er unermüdlich für den Gedanken einer Wiedervereinigung in Freiheit und für die Werte der Demokratie, die uns und die amerikanische Nation verbinden.
Mit John McCloy verliert unser Land, verliert das geteilte Berlin einen aufrichtigen Freund, dem wir sehr viel zu verdanken haben. Wir gedenken seiner in Trauer und Dankbarkeit. Der Deutsche Bundestag wird ihm ein ehrendes Andenken bewahren.
Ich komme zu den amtlichen Mitteilungen, wobei der erste Punkt gar nicht amtlich ist. Kollege Dr. Ahrens feierte am 13. März seinen 65. Geburtstag, und Kollege Bayha feierte am 15. März seinen 60. Geburtstag. Ich spreche nachträglich beiden Kollegen die besten Wünsche in unser aller Namen aus.
Nun zum Amtlichen. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung soll die verbundene Tagesordnung erweitert werden. Die Punkte sind in der Ihnen vorliegenden Zusatzpunktliste aufgeführt:
1. Aktuelle Stunde: Haltung der Bundesregierung zur beabsichtigten Schließung der Akademie der Wissenschaften in Berlin
2. Unterrichtung durch den Wehrbeauftragten: Jahresbericht 1988
— Drucksache 11/3998 —
3. Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau zu dem Antrag der Abgeordneten Frau Oesterle-Schwerin, Frau Teubner und der Fraktion DIE GRÜNEN: Verkaufsstopp für Wohnungen aus dem Besitz des Bundes
— Drucksachen 11/2570, 11/4147 —
4. Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau zu dem Antrag der Abgeordneten Frau Oesterle-Schwerin und der Fraktion DIE GRÜNEN: Verkaufsstopp für die bundeseigene „Elefantensiedlung" in Neu-Ulm
— Drucksachen 11/2571, 11/4148 —
5. Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau zu dem Antrag der Abgeordneten Frau Oesterle-Schwerin, Frau Teubner und der Fraktion DIE GRÜNEN: Verkaufsstopp für Wohnungen des bundeseigenen Salzgitter-Konzerns
— Drucksachen 11/2569, 11/4149 —
6. Beratung des Antrags der Abgeordneten Frau Oesterle-Schwerin, Frau Teubner und der Fraktion DIE GRÜNEN: Ökologische und soziale Offensive gegen Wohnungsnot — Drucksache 11/4181 —
7. Beratung des Antrags der Fraktion der SPD: Verschiebung der Überführung der Wohnungsgemeinnützigkeit in den allgemeinen Wohnungsmarkt und der Aufhebung der Steuervergünstigungen für gemeinnützige Wohnungsunternehmen um drei Jahre
— Drucksache 11/4203 —
Rede von: Unbekanntinfo_outline
— Sammelübersicht 106 zu Petitionen —— Drucksache 11/4206 —
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9836 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 134. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. März 1989
Präsidentin Dr. Süssmuth9. Beratung der Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses zu dem Antrag des Bundesministers der Finanzen: Einwilligung in die Veräußerung bundeseigener Grundstücke in Bonn gemäß § 64 Abs. 2 der Bundeshaushaltsordnung— Drucksachen 11/4003, 11/4156 —10. Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU, SPD und FDP: Deutschlandpolitik und Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa
— Drucksache 11/4209 —11. Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU, SPD, FDP und der Fraktion DIE GRÜNEN: Menschenrechtsverletzungen in der Tschechoslowakei— Drucksache 11/4208 —12. Aktuelle Stunde: Politische Reaktion auf den Hungerstreik von Gefangenen aus der „Rote-Armee-Fraktion" und anderenZugleich soll — soweit erforderlich — von der Frist für den Beginn der Beratung abgewichen werden.Darüber hinaus ist interfraktionell vereinbart worden, den Tagesordnungspunkt 14 abzusetzen, über Punkt 15 sofort ohne Debatte abzustimmen und Punkt 20 im vereinfachten Verfahren zu überweisen.Sie sind mit den soeben genannten Ergänzungen bzw. Änderungen der Tagesordnung einverstanden? — Ich sehe keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.Ich rufe die Tagesordnungspunkte 3 und 20 sowie den Zusatztagesordnungspunkt 2 auf:3. Überweisungen im vereinfachten Verfahrena) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Dritten Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über die Lohnstatistik— Drucksache 11/4118 —Überweisungsvorschlag des Ältestenrates:Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Innenausschußb) Beratung des Antrags des Bundesministers der Finanzen Einwilligung in die Veräußerung eines bundeseigenen Grundstücks in München-Bogenhausen, Möhlstraße 3, gemäß § 64 Abs. 2 BHO— Drucksache 11/4067 —Überweisungsvorschlag des Ältestenrates: Haushaltsausschuß20. Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung verwaltungsverfahrensrechtlicher Vorschriften— Drucksache 11/3920 —Überweisungsvorschlag des Ältestenrates: Innenausschuß
RechtsausschußAusschuß für Arbeit und Sozialordnung HaushaltsausschußZP 2 Unterrichtung durch den WehrbeauftragtenJahresbericht 1988— Drucksache 11/3998 —Überweisungsvorschlag: VerteidigungsausschußMeine Damen und Herren, es handelt sich um Überweisungen im vereinfachten Verfahren ohne Debatte. Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen auf den Drucksachen 11/3920, 11/3998 und 11/4118 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? — Das ist nicht der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.Wir kommen zu Tagesordnungspunkt 3 b. Es handelt sich um den Antrag des Bundesministers der Finanzen auf Einwilligung in die Veräußerung eines bundeseigenen Grundstücks in München-Bogenhausen, Drucksache 11/4067 . Der Ältestenrat schlägt vor, den Antrag an den Haushaltsausschuß zu überweisen. Sind Sie damit einverstanden? — Dann ist es so beschlossen.Ich rufe den Punkt 4 der Tagesordnung sowie die Zusatzpunkte 3 bis 7 zur Tagesordnung auf:4. a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Aufhebung von Rechtsvorschriften über die Abtretung von Beamtenbezügen zum Heimstättenbau— Drucksache 11/3256 —Überweisungsvorschlag des Ältestenrates:Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau
Innenausschußb) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über den Abbau der Fehlsubventionierung im Wohnungswesen
— Drucksache 11/4085 —Überweisungsvorschlag des Ältestenrates:Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebauc) Beratung des Antrags der Fraktion der SPD Sofortprogramm für eine aktive Wohnungspolitik— Drucksache 11/4083 —Überweisungsvorschlag des Ältestenrates:Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau
RechtsausschußHaushaltsausschußd) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau zu dem Antrag der Abgeordneten Müntefering, Reschke, Conradi, Erler, Gerster (Worms), Großmann, Menzel, Oesinghaus, Scherrer, Weiermann, Wartenberg (Berlin), Dr. Vogel und der Fraktion der SPDFörderung des Städtebaus— Drucksachen 11/344, 11/1443 —Berichterstatter:Abgeordnete Dörflinger Münteferinge) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft zu dem Antrag der Abgeord-
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 134. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. März 1989 9837
Präsidentin Dr. Süssmuthneten Frau Teubner, Frau Oesterle-Schwerin und der Fraktion DIE GRÜNENMaßnahmen zur Einpassung der Einzelhandelsnutzung in das übergeordnete Gesamtsystem der städtischen Entwicklung— Drucksachen 11/1645, 11/3693 —Berichterstatterin: Abgeordnete Frau Dr. MartinyZP 3 Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau zu dem Antrag der Abgeordneten Frau Oesterle-Schwerin, Frau Teubner und der Fraktion DIE GRÜNENVerkaufsstopp für Wohnungen aus dem Besitz des Bundes— Drucksachen 11/2570, 11/4147 —Berichterstatter:Abgeordnete Pesch MünteferingZP 4 Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau zu dem Antrag der Abgeordneten Frau Oesterle-Schwerin und der Fraktion DIE GRÜNENVerkaufsstopp für die bundeseigene „Elefantensiedlung" in Neu-Ulm— Drucksachen 11/2571, 11/4148 —Berichterstatter:Abgeordnete Pesch MünteferingZP 5 Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau zu dem Antrag der Abgeordneten Frau Oesterle-Schwerin, Frau Teubner und der Fraktion DIE GRÜNENVerkaufsstopp für Wohnungen des bundeseigenen Salzgitter-Konzerns— Drucksachen 11/2569, 11/4149 —Berichterstatter:Abgeordnete Pesch MünteferingZP 6 Beratung des Antrags der Abgeordneten Frau Oesterle-Schwerin, Frau Teubner und der Fraktion DIE GRÜNENÖkologische und soziale Offensive gegen Wohnungsnot— Drucksache 11/4181 —Überweisungsvorschlag:Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau
Ausschuß für Arbeit und SozialordnungAusschuß für Jugend, Familie, Frauen und GesundheitZP 7 Beratung des Antrags der Fraktion der SPDVerschiebung der Überführung der Wohnungsgemeinnützigkeit in den allgemeinenWohnungsmarkt und der Aufhebung der Steuervergünstigungen für gemeinnützige Wohnungsunternehmen um drei Jahre— Drucksache 11/4203 —Überweisungsvorschlag:Finanzausschuß
Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und StädtebauMeine Damen und Herren, nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die gemeinsame Beratung dieser Tagesordnungspunkte zwei Stunden vorgesehen. — Auch hierzu sehe ich keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Kansy.
Frau Präsidentin, man sagte mir eben, Morgenstunde hätte Gold im Munde.
Wollen wir mal sehen.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Während wir noch vor nicht allzu langer Zeit Berichte über Wohnungsleerstände in Fachkreisen, aber auch in der Öffentlichkeit diskutierten, besteht heute breites Einvernehmen darüber, daß in der Wohnungsbaupolitik von Bund, Ländern und Gemeinden dringender Handlungsbedarf besteht — dringend deswegen, weil die Wohnung nicht nur ein sehr teures Wirtschaftsgut ist, das letztlich nur mit vielen privaten Milliarden finanzierbar ist, was die politische Linke in diesem Lande, Herr Roth, meistens vergißt, sondern eben auch die Voraussetzung für ein menschenwürdiges Leben.
Gestern sagte jemand in der Anhörung: die dritte Haut des Menschen.Verantwortliche Politik muß aber beides zusammenführen. Wir müssen jedem ein angemessenes Dach über dem Kopf zur Verfügung stellen und müssen durch kluge Politik all die Kräfte mobilisieren, die dazu beitragen können. Die öffentliche Hand allein kann es nicht und der Bund allein schon gar nicht. Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion bedauert deswegen außerordentlich, daß bereits im Vorbereich dieser Debatte die Opposition, statt eine realistische Bestandsaufnahme als Voraussetzung für staatliches Handeln des Bundes zu machen, in Polemik gegen die Bundesregierung argumentiert und Vorschläge macht, die sich schon beim ersten Nachfassen als heiße Luft entpuppen.
So ist es im Interesse der wirklich Betroffenen unverantwortlich, wenn von einer allgemeinen Wohnungsnot in der Bundesrepublik Deutschland gesprochen wird. Die große Mehrheit unserer Bevölkerung ist im Vergleich zu anderen Ländern und auch im Vergleich zu anderen Zeiten deutscher Geschichte nicht nur gut, sondern teilweise hervorragend mit Wohnraum ausgestattet. Dennoch und vielleicht deswegen
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9838 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 134. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. März 1989
Dr.-Ing. Kansybleibt die Frage: Wie kommt es dann zu den nicht geleugneten Problemen, daß bestimmte Gruppen zur Zeit Schwierigkeiten haben, eine Wohnung zu finden?Meine Damen und Herren, weil die Wohnung auch ein sehr teures und langfristig wirkendes Investitionsgut ist — das ist nun einmal so — , haben wir seit Ende des Wiederaufbaus immer Wellenbewegungen zwischen etwas zu viel gebauten Wohnungen — dann redet alles über sogenannte Wohnungshalden — und zu wenig gebauten Wohnungen gehabt — dann sprechen viele vorschnell von Wohnungsnot. Zur Zeit sind wir in einem Wellental, in dem zu wenig Wohnungen gebaut wurden und nach wie vor gebaut werden. An uns ist es, zunächst einmal zu fragen: Woran lag das, woran liegt das?, bevor wir Lösungsrezepte geben.Die Wohnungshalden, von denen ich eben sprach, schreckten private Investoren ab, Geld in den Wohnungsbau zu stecken. Die Stabilitätspolitik der Bundesregierung und daraus resultierende niedrige Inflations- und Mietsteigerungsraten in den letzten Jahren ließen im übrigen ein Argument wegfallen, das in der Vergangenheit neben der Höhe der Abschreibung eine große Rolle gespielt hat. Ich sage es einmal hart, wie es ist: Entschuldung durch Inflation und Renditeverbesserung durch inflationäre Mieterhöhung.Aber, meine Kolleginnen und Kollegen, auch der Staat, dem gesicherte Planungsgrundlagen durch die insbesondere von Teilen der Opposition verzögerte Volks- und Wohnungsstättenzählung über lange Jahre verweigert wurde, hat sich durch viele leerstehende Wohnungen beeindrucken lassen. So kamen die Bundesländer 1984 nach Bonn und verlangten einvernehmlich, der Bund möge sich aus dem sozialen Wohnungsbau zurückziehen. Die Restaufgaben, so behauptete man damals, könnten die Länder und Gemeinden gut selber vor Ort übernehmen.
— Richtig, Herr Kollege Dr. Möller. Ich erinnere mich, da Sie das Bundesland Nordrhein-Westfalen erwähnen, daß der dortige Wohnungsbauminister Zöpel laut darüber nachdachte, ob man nicht durch Rückbau, sprich: Abriß von Wohnungen, die Wohnqualität verbessern müsse. Das alles liegt nur wenige Jahre zurück, und jetzt reden wir wieder von angeblicher Wohnungsnot und von tatsächlichen Problemen in Teilbereichen des Wohnungsmarktes.
Herr Kollege Müntefering, wir alle zusammen, zumindest die Wohnungs- und Städtebaupolitiker des Bundestages, haben damals auch gesagt, daß wir als eine zentrale Aufgabe in der Wohnungs- und Städtebaupolitik künftig die Stadterneuerung betrachten. In Bund und Ländern — ich stehe dazu — sind damals Mittel umgeschichtet worden, um vom Wohnungsbau zur Stadterneuerung zu kommen.Aber diesen reduzierten Bauleistungen steht eine gestiegene Nachfrage und insbesondere auch eine unvorhersehbare Nachfrage gegenüber: Durch reelle Einkommensteigerungen der großen Mehrheit derBevölkerung sind deren Wohnansprüche und die beanspruchten Wohnflächen wesentlich gestiegen. Die geburtenstarken Jahrgänge der 60er Jahre drängen nicht nur wie bisher auf den Markt, sondern mit verändertem Wohnverhalten, früher, und zwar in einen Wohnungsmarkt, wo die Großelterngeneration, viel älter werdend als früher, oft allein in diesen Wohnungen verbleibt.Natürlich — keiner redet darum herum — , Hunderttausende von Aussiedlern sind im letzten Jahr gekommen, strömen auch in diesem Jahr in sehr kurzer Zeit auf den Wohnungsmarkt und belasten ihn als Nachfrager.Aber ich warne dringend davor, die erklärbare momentane Mangelsituation als Versagen unseres Wohnungsbausystems hinzustellen und vorschnell falsche Schlußfolgerungen zu ziehen.
— Herr Müntefering, die Soziale Marktwirtschaft hat sich auch im Wohnungsbau als erfolgreich erwiesen und eine viel bessere Wohnungsversorgung gebracht als in vergleichbaren Ländern in Ost und West, die entweder nur auf Staat oder nur auf Markt gesetzt haben.Aber, wenn Sie das meinen, will ich Ihnen das gerne zugestehen: Ein Ja zur Sozialen Marktwirtschaft bedeutet natürlich, daß ein staatliches Eingreifen dann erforderlich ist, wenn es in Situationen wie dieser der Markt alleine nicht hergibt. Das ist unser Verständnis von der Sozialen Marktwirtschaft.
Was ist unser Weg? — Erstens: Wir müssen schnell entscheiden und haben schnell entschieden. Zweitens: Die Entscheidungen müssen schnell wirksam werden. Drittens: Aus begrenzten Mitteln müssen möglichst viele Wohnungen entstehen. Viertens: Bund, Länder und Gemeinden müssen sich gemeinsam den Herausforderungen stellen. Fünftens: Vorübergehende besondere Anstrengungen im Wohnungsbau dürfen die bleibende Aufgabe der Wohnumweltverbesserung, insbesondere der Stadt- und Dorferneuerung, nicht gefährden.Zu eins, schnelle Entscheidung: Wir haben hier das letzte Mal am 23. Februar 1989, vor wenigen Wochen, debattiert, und ich habe an dieser Stelle angekündigt, daß wir in kurzer Zeit die Grundsatzentscheidungen fällen, und sie sind gefallen. Wir setzen sowohl auf eine stärkere Mobilisierung vorhandenen privaten Kapitals als auch auf die Verstärkung der staatlichen Direktförderung aller staatlichen Ebenen. Dazu kommt in Gemeinden mit besonders hohem Mietniveau eine Verbesserung des Wohngelds.Die Bundesmittel für Direktförderung werden 1990 gegenüber den derzeitigen Ansätzen im Finanzplan von zusammen 675 Millionen DM auf 1,25 Milliarden DM erhöht und damit fast verdoppelt.
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 134. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. März 1989 9839
Dr.-Ing. KansyEin separates Spätaussiedlerprogramm entfällt,
da die auch durch die Spätaussiedler verschärfte Wohnungssituation, Herr Conradi, nicht nur die Spätaussiedler, sondern auch andere Gruppen der Bevölkerung trifft.
Wir halten es deswegen für angemessen, die erhöhten staatlichen Leistungen für alle betroffenen Gruppen zur Verfügung zu stellen.
Um für private Investoren den Anreiz zu erhöhen, Mietwohungen zu bauen, werden steuerliche Verbesserungen vorgenommen. Die Abschreibungsdauer wird von 50 auf 40 Jahre gesenkt, die Anfangsabschreibung von 5 auf 7 % erhöht. Ohne diese Mobilisierung privaten Kapitals, das bereits heute zu über 90 % zur Finanzierung des Wohnungsbaus beiträgt, wird es keine wesentliche Steigerung der Wohnbauleistung geben.
Unser Maßnahmenbündel, in Wohnungen ausgedrückt: Nachdem wir 1988 mit rund 200 000 Neubauwohnungen eindeutig zu wenig gebaut haben, streben wir für 1990 und später 300 000 neue Wohnungen an.
Diese Erhöhung um 100 000 Wohnungen pro Jahr erscheint mir übrigens auch aus anderer Sicht als eine Grenze, die vernünftig ist. Wir dürfen nicht übersehen, daß wir, wenn wir sozusagen mit einem Stoß jetzt in den reduzierten, abgespeckten Wohnungsbau bzw. insgesamt in den Bauwirtschaftsmarkt gehen, nicht erreichen wollen, daß wir die Baukonjunktur überhitzen und dann mit den mehr zu Verfügung gestellten Geldern nicht wesentlich mehr Wohnungen, sondern höhere Preise bekommen — mit dem Ergebnis, daß keiner etwas davon hat.Um unsere Entscheidung schnell wirksam werden zu lassen, können wir weder die Rechtskraft des Bundeshaushalts 1990 noch die Gesetzgebung zur Änderung des Steuerrechts abwarten, um den Neubau dieser Wohnungen anzuschieben. Die Koalitionsfraktionen werden deswegen sicherstellen, daß Länder und Gemeinden Mittel für 1990 schon vorher objektweise festlegen können, damit schnell Bauentscheidungen getroffen werden und die steuerlichen Erleichterungen ab Februar 1989 rückwirkend gelten, um keinen Attentismus zu bekommen
und vor allem die Schnellsten nicht zu bestrafen.
Mit diesem Programm haben wir auch sichergestellt, daß mit begrenzten Mitteln möglichst viele Wohnungen gefördert werden. Dazu gibt es ja abenteuerliche Forderungen von Ihnen, Herr Müntefering.
Die einen Sozialdemokraten sagen, der Bund müsse mindestens 100 000 Sozialwohnungen im Jahr fördern. Dann kommen andere Sozialdemokraten und sagen: Pro Wohnung müssen wir aber 100 000 DM staatliche Hilfe geben. Nur, das Multiplizieren überlassen Sie uns.
Das bedeutet 10 Milliarden DM pro Jahr allein für diesen Zweck. Es sind dieselben Sozialdemokraten — da sitzt der Herr Roth — , die dann in Haushaltsdebatten dieser Koaliton vorwerfen, der Abbau der Neuverschuldung gehe zu langsam. Das ist ein Beispiel für sozialdemokratische Glaubwürdigkeit in der Politik.
Wir werden darauf drängen, daß bei der Verwaltungsvereinbarung mit den Ländern der neue Förderweg der Vereinbarten Förderung verstärkt genutzt wird. Ihre Behauptung schon im vorigen Jahr, das werde dazu führen, daß die Mittel nicht angenommen werden, hat sich als falsch erwiesen.Apropos Länder: Zusätzliche Hilfen des Bundes zum Wohnungsbau bedeuten für uns nicht, daß wir die Länder aus ihrer Verantwortung entlassen. Sie haben noch vor kurzem die Kompetenzen für sich beansprucht. Wir danken deswegen z. B. dem niedersächsischen Ministerpräsidenten Ernst Albrecht
und dem baden-württembergischen Ministerpräsidenten Späth — ich hätte gern auch Herrn Rau gedankt, wenn er nicht seine Wohnungsbaumittel reduziert hätte —,
die angekündigt haben, ihre Verantwortung mit eigenen Mitteln wahrzunehmen und uns in den Bemühungen zu unterstützen, möglichst schnell zusätzliche Wohnungen zu bekommen.Einen einzigen Satz zu den Kommunen. Wir können und werden sie nicht im Stich lassen. Aber wir erinnern auch sie daran, daß im 2. Wohnungsbaugesetz steht, daß Bund, Länder u n d Gemeinden für die Lösung dieser Probleme verantwortlich sind. Übrigens stellen sich viele Gemeinden bereits heute dieser Aufgabe.Aber ein weiteres Beispiel für sozialdemokratische und grüne Doppelzüngigkeit: Im Stadtrat von Köln stellt die CDU einen Antrag, ein Wohnungsbauprogramm der Kommune der Stadt Köln zu machen, um die Bemühungen des Bundes zu unterstützen. Ergebnis: SPD und GRÜNE lehnen ab. Begründung: Es sei zu wenig Geld in der Kasse. Dann Beschluß: Bonn solle doch das Geld aufbringen.Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen der SPD und der GRÜNEN wenn Sie Ihre Verantwortung nicht wahrnehmen, wo Sie vor Ort diese Verantwortung tragen, und nur nach Dritten schreien, haben Sie jede Berechtigung verloren, uns hier anzuklagen,
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9840 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 134. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. März 1989
Dr.-Ing. Kansyobwohl wir im Rahmen einer beengten Haushaltssituation erhebliche Mehraufwendungen für den Wohnungsbau machen.Meine Damen und Herren, wir haben uns der Herausforderung gestellt. Wir hoffen auf Ihre Unterstützung. Wir erwarten die Unterstützung der Länder und Gemeinden. Und wir erwarten vor allen Dingen privates Kapital, das Sie allerdings nicht damit bekommen werden, daß Sie Ihre Folterinstrumente der Mietrechtsverschärfung wieder hervorholen, sondern nur damit, daß Sie diesen Menschen Mut machen zu investieren. Dann werden wir es gemeinsam schaffen.Vielen Dank.
Das Wort hat der Abgeordnete Müntefering.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir stehen vor einer Weichenstellung in der Wohnungspolitik. Die Sozialdemokraten haben seit drei Jahren gegen den totalen Rückzug des Bundes aus der Förderung des sozialen Mietwohnungsbaus protestiert. Wir haben gegen die drastische Kürzung der Bundesmittel für den Eigenheimbau gestimmt. Wir haben für die Sicherung der Mietpreis- und Belegungsbindung im Bestand gestimmt. Wir haben gegen die Aufhebung der Wohnungsgemeinnützigkeit gekämpft.Die Wohnungsprobleme, mit denen wir es heute zu tun haben, sind nicht vom Himmel gefallen; die waren abzusehen. Die Sozialdemokraten haben mit ihrem Antrag „Sofortprogramm für eine aktive Wohnungspolitik" dafür gesorgt, daß das Thema heute auf die Tagesordnung des Deutschen Bundestages gekommen ist, heute hier diskutiert wird. Wenn wir das nicht gemacht hätten, wären Sie immer noch am Schlafen, immer noch am Überlegen, am Planen und irgendwo am Diskutieren.
Bauminister Schneider und die CDU/CSU/FDP haben das Problem geleugnet. Sie haben den sozialen Wohnungsbau für tot erklärt. Sie haben die Notfälle ignoriert. Sie haben die Hilferufe der Kommunen nicht ernst genommen. Wohnungspolitik ist und bleibt aber primär Sozialpolitik. CDU/CSU und FDP machen eine unsoziale Politik.
Es kümmert sie nicht, daß rund 1 Million Haushalte in unserem Lande keine Wohnung haben oder nur notdürftig untergebracht sind, unter unzumutbaren Standards hausen müssen.Zu Weihnachten 1988, vor wenigen Wochen, sagte der Bundesbauminister: Die Wohnungsversorgung in unserem Lande ist nicht gut, sie ist nicht sehr gut, sie ist ausgezeichnet.
Das galt bis zum 29. Januar. An dem Tage haben die Menschen in Berlin Ihnen gezeigt, was sie unter anderem von Ihrer Wohnungspolitik halten.
Am 12. März, am letzten Sonntag, nun das Votum der Wählerinnen und Wähler in Hessen, speziell in Frankfurt. 13 % Minus für Herrn Wallmann und die CDU. Aber statt nun aus Berlin die richtigen Lehren zu ziehen und zu plakatieren: Wohnungen müssen gebaut werden, Mieterverdrängung muß gestoppt werden, Arbeitslosigkeit muß bekämpft werden, hat die Wallmann-CDU auf ihre Plakate Sprüche gedruckt, die Sie noch vor vier Wochen wütend als Diffamierung zurückgewiesen hätten, wenn Herr Hildebrandt oder Herr Staeck sie Ihnen unterstellt hätten.
Die Satire ist in diesem Lande mal wieder von der Wirklichkeit überholt worden. Ich gebe zu: Wenn Staeck solche Plakate gemacht hätte, hätte er niemals wie die CDU Rot auf Weiß gedruckt, er hätte dafür eine dunklere Farbe genommen.Volker Hauff hat den Menschen in Frankfurt ganz unspektakulär versprochen, die Wohnungs- und Städtebaupolitik, das Recht auf Wohnen und den Schutz gegen Mieterverdrängung zum Gegenstand seiner Politik zu machen.
Er hat dafür das Vertrauen der Menschen gewonnen und er hat nun den Auftrag, diese Politik zu gestalten.Bei allem, was der 12. März den demokratischen Parteien als Fragen aufgegeben hat: Die deutliche Mehrheit der Wählerinnen und Wähler hat sich für die sachliche, für die sachbezogene, z. B. für die Wohnungspolitik entschieden. Das macht Mut, und das zeigt, daß die Sozialdemokraten mit dem Programm für eine aktive Wohnungspolitik richtig liegen und daß dieses Programm unverzichtbar ist.
Das SPD-Programm ist ein Sofortprogramm. Seine zentralen Maßnahmen müssen 1989 zu wirken beginnen. Wer jetzt erst noch einmal auf das Jahr 1990 verschiebt, der verschenkt ein Jahr. Aber 1990 ist das Bauen nicht billiger, und die öffentlichen Haushalte werden 1990, nach der sogenannten Steuerreform, auch nicht besser dastehen. Und ein Jahr ist für jemanden der in Containern oder in Baracken wohnt, eine verdammt lange Zeit.
Das problem wird größer. Das Ifo hat gerade gestern deutlich gemacht, daß wir den Tiefstand des Neubaus von Wohnungen erreicht haben, daß das Problem größer und nicht kleiner wird.Wir sind seit Jahren davon ausgegangen, daß die Zahl der Haushalte bis Mitte der 90er Jahre um 800 000 anwächst. Heute wissen wir: Es werden mehr Haushalte sein. In jedem Jahr kommen 100 000/ 150 000 neue Haushalte dazu, und der Minister stellt
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 134. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. März 1989 9841
Münteferingsich bis zum 29. Januar hin und sagt: Alles ausgezeichnet, alles in Butter.
Auf was, Herr Dr. Schneider, warten Sie eigentlich noch?
Statt sich mit besonderem Engagement und mit roten Wangen um den Petersberg zu kümmern, hätten Sie sich einmal in den Städten umgucken und prüfen sollen,
wie, in welchen Situationen die Menschen da eigentlich wohnen. Das hätte Ihnen in Ihrer Funktion als Bauminister besser angestanden.
Das SPD-Programm hat eine mittelfristige Perspektive; es ist auf vier bis fünf Jahre angelegt. Die Kommunen und die Branche brauchen jetzt Planungssicherheit für einen mittelfristigen Zeitraum.
Bauen ist keine Sache von Tagen,
bauen dauert ein bis drei Jahre.
Kurzatmige Überhitzung und zeitlich unbegrenzte Programme wären gleicherweise kontraproduktiv. Also muß das Programm mittelfristig angelegt sein, erkennbar mit Sicherheiten für die ausgestattet, die bauen wollen.
Das SPD-Programm enthält fünf Forderungen. Die erste ist: höchste Priorität für den sozialen Wohnungsbau. Der Bund — das ist unsere Forderung — stellt in diesem Jahr und in den folgenden Jahren im Rahmen der Mischfinanzierung
jeweils 2,5 Milliarden DM für den sozialen Wohnungsbau für die Länder bereit; davon 2 Milliarden DM für den Mietwohnungsbau, davon ungefähr 500 Millionen DM für den Eigenheimbau, den Sie ja auch laufend reduziert haben. Sie haben sich ja nicht nur aus dem Mietwohnungsbau völlig zurückgezogen, sondern Sie haben in diesem Jahr 1989 — während wir darüber reden, wie sich die Dinge dramatisieren — auch die Mittel des Bundes für den Eigenheimbau noch einmal um 150 Millionen DM reduziert.
Sie stocken überhaupt nicht auf, auch im nächsten Jahr nicht. Sie haben die Mittel für den Eigenheimbau im Bereich des sozialen Wohnungsbaus in diesem Jahr um 150 Millionen DM weiter reduziert und tun so, als ob die 200 Millionen DM, über die da jetzt gesprochen wird, der große Befreiungsschlag seien.
Sorgen Sie dafür, daß erst einmal das repariert wird, was in diesem Jahr unsinnigerweise noch einmal gestrichen worden ist!Gegen die unbelehrbaren Ideologen der Koalition, die sich vorzugsweise Ordnungspolitiker nennen, stelle ich für die Sozialdemokraten hier noch einmal fest: Nur der öffentlich geförderte, der über Jahrzehnte bewährte Wohnungsbau macht es möglich, Wohnungen dort zu fördern, wo sie wirklich gebraucht werden.
Und nur der soziale Wohnungsbau garantiert, daß die Wohnungen auf Dauer Haushalten der unteren Einkommensgruppen zur Verfügung stehen, denen also, die am Markt sonst keine Chance haben.
Die Union versucht jetzt, allerlei Zwittermodelle anzubieten und als sozialen Wohnungsbau zu verkaufen. Aber Etikettenschwindel macht den Inhalt der Flasche nicht genießbarer.
Zweiter Punkt des SPD-Programms: In einer konzertierten Sonderaktion müssen alle Chancen ausgelotet und genutzt werden, im Bestand Wohnungen zu schaffen und effizienter zu nutzen: Dachausbau, Um-und Ausbau bisher anders genutzter Gebäude, Finanzhilfen beim Umzug, wenn große Wohnungen freiwillig gegen deutlich kleinere getauscht werden. So löst sich zwar nicht das Mengenproblem — die Illusion haben wir nicht — , aber es stehen einige 10 000 neue Wohnungen zur Verfügung, die schneller und billiger hergestellt werden können als Neubauten. Für jede so gewonnene Wohnung muß übrigens auch kein Bauplatz gesucht werden, ein Problem, das mindestens an einigen Stellen eine ökologische und zeitliche Dimension hat, über die wir in dieser Debatte bisher wenig gesprochen haben.Dritter Punkt im SPD-Programm: Anreize für den sogenannten freifinanzierten Wohnungsbau.
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9842 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 134. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. März 1989
Müntefering— Das heißt „sogenannt", Herr Kollege Gattermann,
weil freifinanziert bedeutet, daß sich der Staat zwar nicht direkt, aber in hohem Maße indirekt, z. B. durch Steuermindereinnahmen, an all dem beteiligt, was da stattfindet. Wenn Sie ehrlich wären, würden auch beim freifinanzierten Wohnungsbau große Schilder stehen, auf denen dann zu lesen ist: Hier baut die Bundesrepublik Deutschland. Das wäre ehrlich.
Wir haben nichts gegen freifinanzierten Wohnungsbau. Der Mietwohnungsbau beginnt, sich wieder zu rentieren. Die Neubaukurve steigt, aber sie steigt zu langsam.Angesichts der Dimension des Problems ist auch der nicht öffentlich geförderte, der frei finanzierte Wohnungsbau unverzichtbar. Auch die Sozialdemokraten sind dafür, daß zeitlich begrenzt zusätzliche Anreize gegeben werden, wenn die Wohnungen vorzugsweise für untere und mittlere Einkommensgruppen zur Verfügung gestellt werden. Wir sind dafür, daß begleitend zum sozialen Wohnungsbau der frei finanzierte Wohnungsbau zusätzlich angeregt wird. Wir sind nicht dafür, das Schwergewicht auf dieses Feld zu legen, weil Wohnungsbau in diesem Bereich sozial nie so gezielt stattfinden kann, wie es der soziale Wohnungsbau möglich macht.
Um das finanzpolitische Risiko, das bei einem Rechtsanspruch entsteht, zu vermeiden und um die Mittel möglichst zielgenau einzusetzen, sind zinsgünstige Darlehen oder Zinssubventionen auch im frei finanzierten Wohnungsbau sinnvoller als weitgehende Abschreibungsverbesserungen.Vierter Punkt des SPD-Programms: Wohngeld muß von Zeit zu Zeit der Einkommensentwicklung angepaßt werden, allerdings nicht linear. Wir treten für eine Strukturnovelle zum Wohngeld ein. Die Verbesserungen müssen vor allem den untersten Einkommensgruppen zugute kommen, denen, die einen besonders hohen Anteil ihres verfügbaren Einkommens für Wohnkosten ausgeben müssen.Fünfter Punkt des SPD-Programmes: Mieterschutz. Die Ignoranz der Koalition in diesem Bereich ist beängstigend. Herr Kansy hat das ja eben auch noch einmal mit einem Nebensatz deutlich gemacht. Klar ist doch: Bei Wohnungsknappheit und bei Wohnungsnot steigen die Mietpreise beschleunigt. Diese Entwicklung ist seit Jahren da. Die Mietpreise steigen doppelt so schnell wie die allgemeinen Lebenshaltungskosten. Bei Wohnungsknappheit und bei Wohnungsnot werden darüber hinaus durch Umwandlung von Mietwohnungen in Eigentumswohnungen Mieter in verstärktem Maße aus ihren Wohnungen verdrängt.Wer das tatenlos geschehen läßt, produziert die Sozialfälle, für die wir dann in den nächsten Jahren wieder zusätzliche Sozialwohnungen bauen müssen, und ignoriert die Not der Menschen, die von solchen Vorgängen betroffen sind. Die SPD fordert deshalb Maßnahmen, mit denen die Belegungsstruktur im Bestand stabilisiert wird: Begrenzung der Mietsteigerungsmargen — nicht mehr 30 % in drei Jahren, wie es jetzt möglich ist —; das Recht der Kommunen, in Bedarfsschwerpunkten Umwandlungen zeitweise zu bremsen oder zu stoppen; langfristige Sicherung von Belegungsbindungen.Die Behauptung, solche Bestandssicherungspolitik verhindere Neubau, ist falsch. Keiner unserer Vorschläge zielt auf den Neubau. Alle zielen darauf, sicherzustellen, daß diejenigen, die im Bestand wohnen und sozial darauf angewiesen sind, dort wohnen bleiben können. Sie müssen geschützt werden gegen Verdrängung und anderes, was in der gegenwärtigen Situation der Wohnungsknappheit und der Wohnungsnot am Markt passiert.Die 90er Jahre werden die Wohnungs- und Städtebaupolitik herausfordern. Weitere gravierende Weichenstellungen in der Wohnungspolitik werden erforderlich sein. Wir werden unsere Vorstellungen rechtzeitig vorlegen. Hier und heute geht es darum, das weitere Anwachsen der Wohnungsnot zu verhindern und sie in den nächsten Jahren Schritt für Schritt abzubauen. Alle Elemente des SPD-Antrages haben dieses Ziel. Keines dieser Elemente ist entbehrlich, wenn denn in den nächsten Jahren Erfolge erzielt werden sollen.Das Programm der Bundesregierung und der Koalition, das es seit dem letzten Sonntag gibt und das in vielfachen Sondersitzungen bei Tag und bei Nacht zusammengeschneidert und zusammengestoltenbergt wurde, kennen wir bisher nur aus der Presse.
Es ist offensichtlich ein Notprogramm. Es ist allerdings kein Notprogramm, mit dem die Wohnungsnot bekämpft wird. Es ist ein Dokument der Ratlosigkeit und der Not dieser Regierung.Am Sonntag nach Hessen, Herr Bauminister, stand diese Bundesregierung vor dem Abgrund. Mit diesem Notprogramm hat sie einen kräftigen Schritt nach vor getan.Vielen Dank.
Das Wort hat der Abgeordnete Gattermann.
Verehrte Frau Präsidentin! Meine Kolleginnen und Kollegen! Lieber Herr Müntefering, es wäre jetzt natürlich sehr reizvoll, sich mit Ihren Ausführungen mit einigen demagogischen und polemischen Äußerungen auseinanderzusetzen.
Aber ich will die Zeit nutzen, um unsere Antworten hinsichtlich dessen zu geben und zu erläutern, was wir für die Wohnungspolitik für erforderlich halten. Sie haben das mit dem Wort Weichenstellung ange-
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 134. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. März 1989 9843
Gattermannmahnt, für die Sie demnächst Vorschläge machen wollen.Öffentliche wohnungspolitische Debatten hierzulande sind stets durch hektische Überzeichnungen gekennzeichnet, die die Gefahr heraufbeschwören, daß Politik und Investoren das gebotene Augenmaß bei ihren Entscheidungen vermissen lassen könnten.
Ich erinnere an die Wohnungshaldendiskussion im Betongoldzeitalter Anfang der 70er Jahre, ich erinnere an die Wohnungsnotdiskussion in den Jahren 1980/81 — Stichwort „Hausbesetzungen" —, ich erinnere an die Wohnungshaldendiskussion 1984/85, und jetzt haben wir nach so kurzer Zeit wieder eine große neue Wohnungsnotdebatte. Ich hätte hierbei historisch noch weiter zurückgreifen können, aber das Ablaufmuster wäre immer das gleiche geblieben.Aktuell überschlagen sich die Forderungen von Verbänden, Oberbürgermeistern, Ministerpräsidenten nach teilweise riesigen Wohnungsbauprogrammen.
Ich frage mich, wie diese Herren ihre Forderungen eigentlich in die Kapazität unserer Bauwirtschaft, in die Bedingungen der Kreditwirtschaft einbetten wollen. Wie das eigentlich aufgehen soll und vor allen Dingen wie man das Zeug Ende der 90er Jahre vermieten soll, ist mir schleierhaft.Ein bißchen mehr Nüchternheit wäre wirklich allenthalben anzuraten. Ich sage: Erfreulicherweise hat die Koalition mit ihren gestrigen wohnungspolitischen Beschlüssen Kurs gehalten, und sie hat Augenmaß bewiesen.
Seit 1968 haben sich der Wohnungsbestand hierzulande um 6,6 Millionen Einheiten vermehrt und die Wohnfläche um 50 % vermehrt, und gleichzeitig hat sich die Einwohnerzahl trotz Aussiedlern um 400 000 reduziert.
— Ich komme gleich darauf zu sprechen, Herr Müntefering.Aus einer Quadratmeterversorgung pro Kopf von rund 25 Quadratmetern 1968 wurde ein fast internationaler Spitzenplatz mit 35 Quadratmetern im Jahre 1988.
Aber — nun komme ich zu Ihnen — es gibt Probleme und es gibt Handlungsbedarf, weil das Zusammentreffen etlicher Faktoren zu teilweise gravierenden Versorgungsproblemen in Einzelbereichen geführt hat.
— Reden Sie doch nicht so einen Unsinn!
— An diesen Überlegungen, verehrter Herr Kollege, haben wir schon lange vor den Berliner Wahlen gearbeitet.
Verschiedene Faktoren kommen zusammen — ich sagte es — : Verbesserte Realeinkommen führen zu vermehrter Wohnflächennachfrage, die geburtenstarken Jahrgänge drängen auf den Markt, die Zahl der Einfamilienhaushalte nimmt erheblich zu — was mich bevölkerungspolitisch und gesellschaftspolitisch ziemlich besorgt macht, nebenbei bemerkt; aber das ist ein anderes Problem, über das wir heute nicht diskutieren —, und vor allem stieg die Zahl der Aus- und Übersiedler aus Ostblockstaaten und aus der DDR in einem von niemandem zu erwartenden Maße, und sie alle suchen eine Wohnung. Im vergangenen Jahr waren es mehr als 200 000, in diesem Jahr werden es noch mehr sein, und, soweit absehbar, wird es in den Folgejahren auch nicht anders sein. Gleichzeitig ist die Zahl der fertiggestellten Wohnungen drastisch zurückgegangen; im letzten Jahr waren es nur noch wenig mehr als 200 000. Diese Faktoren zusammen produzieren Handlungsbedarf. Insofern sind wir uns einig.
Bei diesen Ausgangsdaten ist es als erstes notwendig, dafür zu sorgen, daß das Marktangebot ganz allgemein vermehrt wird, weil nämlich — berühmtes Stichwort: Sickereffekt — auch etwas teurere Wohnungen, die zusätzlich auf den Markt kommen, nach gewissen Durchlaufstationen das Angebot an preiswerterem Wohnraum vermehren.
— Verehrte Frau Kollegin, auf Ihr Werturteil verzichte ich gern.
Meine Damen und Herren, das erste ist also, das Angebot allgemein zu vermehren. Dazu werden wir die Abschreibungsbedingungen verbessern. Herr Kollege Kansy hat die Einzelheiten hierzu soeben vorgetragen. Ich lege Wert auf die Feststellung: Dies ist keine befristete Subvention, sondern eine dauerhafte Veränderung der Rahmenbedingungen. Dies ist die Anpassung der Abschreibungszeiträume an veränderte betriebswirtschaftliche Mittelumschlagzeiten. Ich lege Wert darauf, daß das ganz deutlich ist, weil nämlich — Sie haben es angesprochen — die Investoren nun wirklich verläßliche Daten brauchen. Daß die Produktionsziffern in den letzten Jahren so drastisch zurückgegangen sind, hat auch etwas mit politischer
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9844 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 134. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. März 1989
GattermannVerunsicherung und administrativer Behinderung zu tun. Auch das ist zu sehen.
Deshalb mache ich die weitere Feststellung — weil solche Debatten, nehme ich an, ja auch einen Informationswert haben sollen — , daß diese steuerlich veränderten und verbesserten neuen Rahmenbedingungen für jede Wohnung gelten, für die der Bauantrag nach dem 28. Februar 1989 gestellt wurde, und für jede Wohnung, die als Neubauwohnung nach dem 28. Februar 1989 ersterworben wurde, so daß niemand in diesem Lande irgendeine Veranlassung hätte, auf Grund unserer wohnungspolitischen Diskussion mit seinen Investitionsentscheidungen zurückhaltend zu sein.
Meine Damen und Herren, zweitens wollen wir in einer äußersten haushalts- und finanzpolitischen Anstrengung die Mittel für den solzialen Mietwohnungsbau im Jahre 1990 aufstocken.
— Entschuldigung, in der mittelfristigen Finanzplanung stehen 300 Millionen DM für den sozialen Wohnungsbau — Eigentumsmaßnahmen — zur Verfügung.
Diese Mittel werden auf 1,25 Milliarden DM aufgestockt. Dies sind die Aufstockungsbeträge für den sozialen Mietwohnungsbau. Wenn Sie das mit dem Etatansatz in Ihrem Antrag vergleichen, stellen Sie fest: Das ist exakt die Hälfte dessen, was Sie dort fordern. Aber, meine Damen und Herren, wir werden dieses Geld zu nahezu 100% auf den dritten Förderweg konzentrieren. Wir erreichen dadurch eine Steigerung der Produktionszahlen, der Finanzierungsmöglichkeiten von Wohnungen, die mindestens genauso hoch ist wie beim Etatansatz, den Sie bei Ihrer Finanzierungsmethode fordern, für den ersten Förderweg. Auf diese Weise können nach den ersten Erfahrungswerten aus dem Programm dieses Jahres rund 70 000 Sozialwohnungen finanziert werden.
Meine Damen und Herren, wie geht es weiter? Das ist die zentrale Frage, denn das Problem wird auch mit Ablauf des Jahres 1990 noch nicht gelöst sein. Deshalb werden wir die Zeit nutzen: Ab 1991 muß die Zuständigkeit für die Restwohnungsversorgung bei den Gemeinden liegen. Sie wissen, wir setzen auf den Markt, wir setzen auf die individuelle Hilfe für den, der überfordert ist; aber wir sind natürlich nicht so blauäugig, um nicht zu wissen, daß es bestimmte Restgrößen gibt, die anderweitig versorgt werden müssen. Wir möchten, daß die Zuständigkeit hierfür explizit bei den Gemeinden liegt;
denn sie haben sozusagen Hautkontakt mit den Wohnungssuchenden, sie haben die besten Steuerungsmittel und -möglichkeiten über Bauleitplanung undüber die administrative Handhabung von Baugenehmigungsverfahren, aber sie verfügen nicht über das notwendige Geld.
— Genau das wollen wir.Wir wollen die gesetzlichen Voraussetzungen dafür schaffen, daß es ab dem Jahre 1991 bei den Ländern Treuhandvermögen gibt, ähnlich wie beim Bergarbeiterwohnungsbau.
— Entschuldigung, das ist die Anschlußregelung für das, was wir zum Jahre 1990 machen.Wir werden diese Treuhandvermögen in ausreichendem Umfang aus den Rückflüssen aus dem sozialen Wohnungsbau und aus der Fehlbelegungsabgabe speisen, die wir ja gerade jetzt auf Grund des Bundesverfassungsgerichtsurteils flächendeckend ausdehnen müssen. Wir wissen, lieber Herr Müntefering, daß dies den Bundesfinanzminister auch in den Jahren 1991, 1992 und 1993 Geld kosten wird; denn nicht nur diese Mittelrückflüsse, von denen ich gerade gesprochen habe, werden ja zu 100 % gebraucht, sondern es werden noch darüber hinaus Mittel gebraucht, um die Verpflichtungsermächtigungen früherer Jahre abzuarbeiten. Es wird den Einsatz von Bundesmitteln erfordern. Wir möchten aber dieses verdammte Schwarze-Peter-Spiel zwischen den verschiedenen staatlichen Ebenen — die Forderungen von allen Seiten gehen letztlich zu Lasten der Wohnungssuchenden — beenden. Wir möchten klare Verantwortlichkeiten haben. Bund und Land müssen die Mittel für die Gemeinden zur Verfügung stellen,
damit sie diese Aufgabe punktgenau vor Ort erfüllen können. Das ist das Konzept. Das werden wir umsetzen.
Herr Abgeordneter Gattermann, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Müntefering?
Bitte, Herr Kollege.
Herr Gattermann, muß ich Ihre Ausführung so verstehen, daß die ohnehin sehr geringen Mittel für den sozialen Wohnungsbau, die in Ihrem Notprogramm vorhanden sind, nur für 1990 gelten und daß für 1991, 1992 und 1993 überhaupt noch nichts entschieden ist?
Herr Kollege Müntefering, ich habe gerade das genaue Gegenteil gesagt. Sie werden entsprechende Haushaltsmittel — jedenfalls wenn es nach der FDP geht und wenn die schwierigen gesetzestechnischen Umsetzungsprozesse realisierbar sind — unter diesem Haushaltstitel nicht mehr finden. Aber Sie werden dort trotzdem höhere Mittel finden, was die Kassenwirksamkeit betrifft, weil die Verpflichtungsermächtigungen der Vergangenheit finanziert werden müssen, weil die Mittel aus den 1,1 Milliarden DM Rückflüssen aus dem sozialen Wohnungsbau in vergleichbaren Größenordnungen, wie im
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GattermannHaushaltsplan 1990 veranschlagt, vom Bund für die Treuhandvermögen zur Verfügung gestellt werden müssen.Meine sehr verehrten Damen und Herren, von der SPD, Sie fordern dann noch 1 Milliarden DM für die Städtebauförderung. Auch hier machen wir eine außerordentliche Kraftanstrengung und stellen 660 Millionen DM zur Verfügung. Übrigens muß man bei der Verwendung der Städtebauförderungsmittel sehr sorgfältig darauf achten, daß damit nicht preiswerter Wohnraum vernichtet wird. Es gibt sonst eine kontraproduktive Wirkung der Städtebauförderung und der Wohnungsbauförderung.
Darum muß man sorgfältig darauf achten. Wir führen eine sechste Wohngeldstufe für alle die Gemeinden ein, in denen das Mietniveau um 25 % oder mehr über den Höchstgrenzen liegt. Natürlich werden wir, was das allgemeine Wohngeld betrifft, Herr Kollege, den Entwicklungsprozeß ganz sorgfältig im Auge behalten. 1991 oder 1992 wird es spätestens soweit sein, daß man an eine allgemeine Erhöhung denken muß. Aber bei jeder Wohngelderhöhung bitte ich sehr sorgfältig darauf zu achten, daß wir nicht mit den Obergrenzen überhaupt erst Mieterhöhungsspielräume eröffnen. Da muß man ganz sorgfältig aufpassen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, lassen Sie mich resümieren: Das, was wir jetzt auf der Grundlage unserer qualitativ und quantitativ guten Wohnungsversorgung zur Lösung akuter Teilbereichsprobleme getan haben,
sorgt dafür, daß nun wirklich für Hektik und für Panik in der wohnungspolitischen Debatte kein Raum mehr sein sollte. Ich verstehe ja, daß man dann, wenn die Stimmungslage so ist, wie sie im Augenblick ist — optimale wirtschaftliche Rahmenbedingungen in diesem Lande, keinerlei Furcht vor außenpolitischer Bedrohung, und trotzdem sind die Regierenden in einem Tief — , versucht, die Emotionen weiter hochzuziehen und diese Geschichte am Kochen zu halten.
Das halte ich, verehrter Herr Kollege, ich sage das ganz deutlich, für nicht sehr verantwortlich gegenüber unserem Volk.
— Das hat doch kein Mensch gesagt. Für mein Gefühl ist — das habe ich im Sport gelernt — Nachtreten unfair.Herzlichen Dank.
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Oesterle-Schwerin.
Kolleginnen und Kollegen! Liebe Frau Süssmuth! Wir haben uns in letzter Zeit immer wieder mit der Frage beschäftigt, ob Wohnungsnot rechtsradikales Wahlverhalten begünstigt. Walter Momper sagt ja: Jede neue Wohnung ist eine Stimme weniger für die Republikaner. — Ich meine, daß man das ganz so platt nicht sagen kann.
Wohnungsnot kann allerdings dann zu rechtsradikalem Wahlverhalten führen, wenn einerseits behauptet wird, es gebe sie gar nicht und andererseits falsche Buhmänner benannt werden, die für die Wohnungsnot dann verantwortlich gemacht werden, wenn diese allgemein sichtbar wird.Das funktioniert so: Die Bundesregierung macht eine Politik, die die Wohnungsknappheit und den Konkurrenzkampf auf dem Wohnungsmarkt vergrößert und schließlich zu großer Wohnungsnot führt. Gleichzeitig behaupten der Bundesminister und seine Staatssekretäre, daß es eigentlich gar keine Wohnungsnot gibt, daß die Wohnungsversorgung in der Bundesrepublik so gut ist wie nie zuvor.
Menschen, denen es dennoch schlechtgeht und die dennoch in miesen Wohnungen leben, müssen bei dieser Art von Jubelpropaganda doch das Gefühl bekommen, sie seien an ihrer Misere selber schuld. Da niemand so etwas gerne lange auf sich sitzen läßt, wird die Bereitschaft gefördert, Sündenböcke und Buhmänner zu suchen. Diese werden dann von den Herren Zimmermann und Späth in Gestalt der Ausländerin und des Flüchtlings geboten. Auf diese Art wird dann allerdings durch Wohnungsnot rechtsradikales Wahlverhalten gefördert.In Wirklichkeit sind die Leute, die in Wohnungsnot sind, natürlich nicht selber schuld an ihrer Lage, ebensowenig wie die Wohnungsnot ganz plötzlich und wie eine Naturkatastrophe über die Bundesrepublik herabgekommen ist. Vielmehr liegen die Ursachen für die heutige Situation in politischen Entscheidungen, die von Anfang an den Kapitalinteressen der großen Baugesellschaften und der privaten Eigentumsförderung den absoluten Vorrang vor den Interessen der Mieterinnen und Mieter gegeben hat.
Diese Politik wurde von allen bisherigen Bundesregierungen betrieben.Ich will hier drei der gravierendsten kapitalfreundlichen und deswegen mieter- und mieterinnenfeindlichen falschen Entscheidungen nennen.Es war falsch, die Mietpreis- und Belegungsbindungen im sozialen Wohnungsbau lediglich auf 30 Jahre festzulegen, anstatt sie als Dauerbindungen zu konzipieren. Das hat zur Folge, daß diese Bindungen heute nach und nach auslaufen und die Wohnungen für die Wohnberechtigten im sozialen Wohnungsbau verlorengehen. Auf diese Weise sind bis heute schon eine Million Wohnungen verlorengegangen. Es wird damit gerechnet, daß bis 1995 weitere 2 Millionen Wohnungen verlorengehen. Die Wohnungen, die aus der Bindung fallen, werden modernisiert; sie kön-
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9846 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 134. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. März 1989
Frau Oesterle-Schwerinnen dann „frei" verkauft oder teuer vermietet werden.Der zweite gravierende Fehler wurde 1975 von der SPD/FDP-Koalition gemacht. Die steuerliche Eigentumsförderung, die Abschreibung nach § 7 b, durch die ursprünglich nur der Neubau von Eigenheimen gefördert werden sollte, wurde auf den Kauf von Altbauwohnungen erweitert. Das hat zu einem ungeheuren Umwandlungsboom in den Städten und Großstädtenden geführt. Preisgünstige Altbauwohnungen wurden massenhaft verkauft und in teure Eigentumswohnungen umgewandelt. Heute werden in jedem Jahr 100 000 Mietwohnungen in Eigentumswohnungen umgewandelt und verkauft.Die dritte politische Maßnahme, die zu der heutigen Wohnungsnot geführt hat, war keine politische Dummheit, sondern eine beabsichtigte Böswilligkeit der heutigen Regierung. Das war 1986, als der Beschluß gefaßt wurde, den sozialen Wohnungsbau überhaupt nicht mehr zu fördern. Seitdem wird der soziale Wohnungsbau von der Bundesregierung boykottiert.
Die heutige Wohnungsnot ist eine eindeutige Folge dieser politischen Entscheidungen. Wenn sie nicht rückgängig gemacht werden, wird die Wohnungsnot nicht nur nicht behoben; sie wird vielmehr von Jahr zu Jahr schlimmer werden.
— Die Volkszählung hat keine einzige Wohnung geschaffen, Herr Kansy.
Deswegen stellen die GRÜNEN heute folgende Forderungen auf :Erstens. Die Preis- und Belegungsbindungen für vorhandene soziale Mietwohungen müssen verlängert werden. Dafür gibt es Möglichkeiten.
In Zukunft dürfen allerdings nur noch Wohnungen gefördert werden, die einer Dauerbindung unterliegen.Zweitens. Soziale Mietwohnungen dürfen weder verkauft noch abgerissen werden. Das muß verboten werden. Gerade jetzt wurden in Heilbronn ca. 150 soziale Mietwohnungen abgerissen — leider mit den Stimmen der dortigen SPD-Gemeinderatsfraktion.
— Ja, Sie haben natürlich auch zugestimmt. Alleine hätte es die SPD nicht geschafft.Für uns gilt: Einmal öffentlich gefördert — dauerhaft sozial gebunden.Drittens. Die Wohnungsgemeinnützigkeit bleibt erhalten und wird tiefgreifend reformiert. Wir stimmen dem Antrag zu, den die SPD heute in dieser Sache einbringt.Viertens. Mittlerweile hat ja auch die SPD erkannt, daß die Umwandlung von gebrauchten Mietwohnungen in Eigentumswohnungen gestoppt werden muß.Sie müssen aber, um glaubwürdig zu bleiben, liebe Kolleginnen und Kollegen, auch sagen, wie sie das machen wollen. Man kann nicht einerseits dafür sein, daß der Kauf von Altbauwohnungen gefördert wird, und andererseits sagen: Die Umwandlung muß gestoppt werden. Sie müssen sich entscheiden: Entweder Sie tun etwas gegen den Umwandlungsboom, oder Sie behalten die steuerliche Eigentumsförderung für die Umwandlung bei. Einen Tod müssen Sie sterben.
Wir sagen ganz deutlich: Wir sind für die Abschaffung der steuerlichen Eigentumsförderung, zumindest beim Erwerb von Altbauwohnungen.
— Es war Ihr Fehler, liebe Kolleginnen von der SPD, und Sie müssen dazu stehen.Fünftens. Es werden 500 000 neue soziale Mietwohnungen gebaut. Über die ökologischen Grundsätze, die diesem Bau zugrunde gelegt werden müssen, wird meine Kollegin Teubner hier etwas sagen.Auf jeden Fall dürfen öffentliche Förderungsmittel nur noch an Kommunen, an gemeinnützige Wohnungsunternehmen, die unter kommunaler Regie stehen, oder an solche Wohnungsunternehmen vergeben werden, die sich dauerhaft der Sozialbindung verpflichten.Die neuen Wohnungen bleiben dauerhaft als Mietwohnungen erhalten und dürfen nicht verkauft werden. Die neuen sozialen Mietwohnungen müssen vorrangig an die Bezieherinnen und Bezieher niedriger Einkommen vergeben werden. Es darf aber keine Gruppe bei der Vergabe bevorzugt werden, auch nicht Aussiedlerinnen und Aussiedler.Herr Kansy bezeichnet unseren wohnungspolitischen Forderungskatalog als Folterinstrument zur Vergraulung von Investoren.
Es ist natürlich Geschmackssache, ob man die Folter und das Recht auf menschengerechtes Wohnen in einen Zusammenhang bringen will. Das ist Ihre Sache. Aber ich will Ihnen folgendes sagen: Wenn Sie weiterhin und gerade jetzt Ihre Wählerinnen und Wähler vergraulen — sie gehen ja nicht alle nach rechts —, dann ist das ein Hoffnungsschimmer für den sozialen Wohnungsbau.
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 134. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. März 1989 9847
Das Wort hat der Bundesminister für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau, Herr Dr. Schneider.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren!
— Herr Kollege Müntefering, Sie versuchen hier mit einer wirklich heuchlerischen und schamlosen Polemik und mit demagogischen Ausfällen, die die Tatsachen verfälschen, die Ursachen leugnen und eigenes Fehlverhalten verharmlosen, politischen Stimmung zu machen. Zitieren Sie doch Ihre eigenen Parteigenossen, was die noch vor wenigen Jahren zu diesen Themen gesagt haben!
Als ich alle Hände voll zu tun hatte, um den Augiasstall der Neuen Heimat auszumisten, sind Sie mir in den Rücken gefallen. Damals hat man mich für Leerstände verantwortlich gemacht — auch Sozialdemokraten. Damals hat man von mir Abbruchprämien verlangt. Damals hat man den Vorschlag gemacht, die leerstehenden Hochhäuser in die Luft zu sprengen.
Damals haben Sie falsche Vorschläge gemacht, und heute drehen Sie es um.
So billig können Sie es nicht machen. Ihre Argumente sind dünn und schwach.
Ich darf Sie daran erinnern, daß man noch vor wenigen Jahren in Hamburg — wer regiert denn dort? — die Belegungsbindung für die Großsiedlungen aufgehoben hat. Dort hat man die Mieten gesenkt, um überhaupt noch Mieter für die leerstehenden Wohnungen zu finden. Und dann haben Sie verlangt, ich solle auftreten und sagen: Wir müssen in Hamburg mehr bauen. Das wäre dann eine Wohnungspolitik à la Neue Heimat, eine Katastrophenpolitik, gekennzeichnet von einer abgrundtiefen Verirrtheit und Schamlosigkeit.
Sie können ruhig polemisieren. Ich darf Sie auch daran erinnern, was Sie vor wenigen Jahren gesagt haben. Sie können Ihr schlechtes Gewissen durchaus kaschieren, aber Sie können nicht hier im Bundestag auftreten und derart hemmungslos, schamlos die Wahrheit verfälschen.
In meiner Amtszeit haben wir die geringste Mietsteigerung gehabt, die es je gegeben hat: 1,8 %. In meiner Amtszeit haben wir die höchste steuerliche Förderung von Eigentumsmaßnahmen zu verzeichnen. Nach den gestrigen Beschlüssen haben wir die höchste steuerliche Entlastung für den Mietwohnungsbau zu verzeichnen. In die gleiche Zeit fallen die höchsten Steigerungen des Wohngeldes.
In dieser Zeit haben wir die Mittel für den Städtebau verdreifacht bzw. verfünffacht. Dies alles haben Sie doch nicht geschaffen. In dieser Zeit haben wir die beste wohnungswirtschaftliche Bilanz, die es je gegeben hat.
Die Wohnungszählung im Rahmen der Volkszählung hat ergeben, daß der Umfang der Wohnfläche um 50 To gesteigert wurde. Wenn Sie sagen, ich hätte bis zum 29. Januar hier falsche Zahlen genannt, ich hätte die Sache verharmlost, dann sage ich Ihnen: Ich habe am 19. Januar 1988 — wohlgemerkt: 1988; das war also über ein Jahr vor den Wahlen, die Sie immer zitieren — auf einem Kongreß in München wörtlich erklärt:
Die Wohnungsmarktreserven sind verbraucht. Für steigende Nachfrage müssen neue Wohnungen gebaut werden. Ich hoffe, daß es nicht erst wieder in größerem Umfange zu Angebotsengpässen kommt, bevor die Investitionen im Wohnungsbau spürbar steigen.
Dies habe ich zu einem Zeitpunkt gesagt, in dem ich keine Ahnung hatte, daß der Aussiedlerstrom in dieser Höhe auf uns zukommt.
Herr Bundesminister, gestatten Sie jetzt eine Zwischenfrage des Abgeordneten Müntefering?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Nein, danke. Ich habe zuwenig Redezeit.
Es wird Ihnen nicht auf die Redezeit angerechnet.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Nein.
Dies konnte ich ebensowenig wissen wie Sie. Hier kann ich mich bereits auf das römische Recht berufen. Schon bei Ulpian ist zu lesen: Nemo tenetur divinare, niemand ist verpflichtet, ein Hellseher zu sein. Aber vielleicht besitzen Sie diese göttliche Gabe.
— Ja, das sind Schwarzseher, sehr gut.Ich darf Ihnen sagen: Unsere wohnungspolitische Bilanz, unsere wohnungswirtschaftliche Bilanz ist klar. Es ist keine Verharmlosung — Herr Müntefering, dagegen werde ich mich entschieden verwahren; ich
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9848 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 134. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. März 1989
Bundesminister Dr. Schneiderwerde Ihnen einmal entgegenhalten, was Sie gesagt haben; da sehen Sie sehr blaß und schwach aus;
gucken Sie wirklich einmal in den Spiegel — , wenn ich Ihnen sage — das darf ich doch — , was die amtliche Wohnungszählung und Volkszählung ergeben hat.
— Genau um die kümmern wir uns.
Wir hatten in der allgemeinen Fortschreibung Ansätze, die bei 300 Millionen DM lagen. Wir haben gestern einen Ansatz in Höhe von 1,25 Milliarden DM beschlossen. Das heißt: Wir vervierfachen unsere Anstrengungen für den Personenkreis, dem auch meine, dem unsere Sorgen gelten. Das sollten Sie doch sagen. Schüren Sie doch nicht auf billige Art und Weise Angst.
Heute hält der frühere Ministerialdirektor im Bundesbauministerium, der Herr Ulrich Pfeiffer, in der „Zeit" — ich empfehle Ihnen, den Artikel nachzulesen— ein einziges Plädoyer für die Richtigkeit meiner Wohnungspolitik.
— Nein. — Der Mann schreibt u. a.:Die Vergangenheit hat gelehrt, daß der Markt in der Lage ist, innerhalb von zwei bis drei Jahren zusätzliches Kapital zu mobilisieren. Auch kaufkräftige Nachfrage ist verfügbar. Worum es jetzt geht, sind deutliche Signale und deutliche Anreize, die den weithin sichtbaren Attentismus überwinden und Investoren, die noch abwarten, möglichst rasch zum Handeln zu bewegen. Genau so haben wir reagiert, aber bevor der Herr Ulrich Pfeiffer uns diesen Rat gegeben hat. Ich stimme mit ihm aber überein, weil er im Gegensatz zu Ihnen von der Sache etwas versteht.
Herr Bundesminister, gestatten Sie jetzt eine Zwischenfrage?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Bitte sehr.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Minister, könnte es sein, daß Sie Ihre Anstrengungen auf diesem Gebiet verdoppeln müssen, weil insbesondere die SPD-regierten Länder ihren Verpflichtungen im Wohnungsbau in den vergangenen Jahren nicht nachgekommen sind und ihre Mittel ständig abgebaut haben?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege, ich kann Ihnen bestätigen, daß die Bundesländer von 1982 bis 1988 ihre eigenen Mittel von etwa 7,8 Milliarden auf etwa 3,2 Milliarden abgesenkt haben und daß wir den größten Abbau im Lande Nordrhein-Westfalen haben. Ja, wo sind wir denn eigentlich?
Herr Bundesminister, gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Bitte, Herr Kollege Müntefering.
Herr Minister, wie erklärt es sich, daß Sie vor Weihnachten öffentlich erklärt haben: „Die Wohnungsversorgung in unserem Lande ist nicht gut, sie ist nicht sehr gut, sie ist ausgezeichnet", ohne auf das von Ihnen inzwischen, nach dem 29. Januar, zugegebene Manko bei rund einer Million Haushalte einzugehen, die entweder keine Wohnung haben oder nur notdürftig untergebracht sind oder in Standards leben, die nicht zumutbar sind?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege Müntefering, ich bedanke mich für diese Frage, weil sie mir noch einmal Gelegenheit gibt, vor dem Deutschen Bundestag in aller Öffentlichkeit folgendes zu erklären. Ich habe auf die Frage eines Journalisten bei einer Pressekonferenz — ich glaube, es war am 1. Dezember — geantwortet: Nach diesem statistischen Bild ist es in der Tat so, daß es noch niemals quantitativ und qualitativ eine so gute Wohnungsversorgung im Bundesdurchschnitt, also im pauschalen statistischen Blick, gegeben hat;
denn noch niemals entfielen auf einen Bewohner— ich habe nicht nur von den Deutschen gesprochen, sondern von allen, die in unserem Lande wohnen— 35 m2, noch niemals gab es so viel Wohnraum. Das habe ich gesagt, und wer eine statistische Wahrheit, durch die Volks- und Wohnungszählung ermittelt, wiedergibt, der ist kein Verharmloser!
Ich habe aber sofort hinzugefügt — und das verschweigen Sie —, daß wir bei 5 % erhebliche Schwierigkeiten haben. Das habe ich nicht erst am 1. Dezember, sondern längst vorher gesagt.
Dafür wurde ich angegriffen. Lesen Sie es doch im „Handelsblatt" nach; da ist eine Karikatur erschienen, wo ich oben aus dem Fenster herausschaue, und unten ist ein gespenstisches Tier, das die Steuergelder herausschmeißt, zu sehen. Da werde ich angegriffen, weil ich gesagt habe, wir müßten jährlich mindestens 300 000 Wohnungen bauen. Das war im Jahr 1984;
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 134. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. März 1989 9849
Bundesminister Dr. Schneiderdamals habe ich das gesagt. Wo sind denn Ihre unterstützenden Worte gewesen, Herr Müntefering?
Da haben Sie doch geschwiegen! Da haben Sie falsche Prophezeiungen gemacht! Da haben Sie einen sozialistischen Bastard in Marsch gesetzt! Wären Sie mir gefolgt, hätten wir dieses Problem heute nicht.Wer hat denn beispielsweise die Wohnungszählung verhindert? Wer ist denn — wenn ich die GRÜNEN so anschaue — schuld daran, daß wir die Wohnungs- und Volkszählung zu spät durchgeführt haben?
Gestatten Sie eine Zwischenfrage der Abgeordneten Unruh?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Gnädige Frau, Sie dürfen sich setzen, und Sie dürfen sich schämen für das, was Sie in der Sache mit verursacht haben.
Ich muß Ihnen wirklich sagen, wofür ich hier verantwortlich gemacht werde:
Ich sollte ein statistisches Zahlenbild haben, das ich nicht gehabt habe, weil wir jahrelang keine Volks- und Wohnungszählung hatten. Ich habe mich dafür immer eingesetzt, und jetzt werde ich für das Fehlverhalten anderer politisch in die Verantwortung genommen.
Meine Damen und Herren, wenn wir von diesen Dingen sprechen, muß man darauf hinweisen, daß wir als Bundesregierung — das ist ebenfalls ein Beschluß der Koalition von gestern — die Förderung der Stadt- und Dorferneuerung fortsetzen werden. Wir haben diese Förderung in unserer Zeit verdreifacht, und wir wissen — Herr Kollege Müntefering, das wissen Sie auch — , daß wir im Rahmen der Sanierungsmaßnahmen gerade in den Stadtzentren auch zusätzliche Maßnahmen im sozialen Wohnungsbau, gerade im Mietwohnungsbau, fördern können. Auch das schlägt noch zu Buche.Im übrigen darf ich sagen: Das Programm ist so angelegt, daß wir innerhalb der nächsten drei Jahre, wenn Bund, Länder und Gemeinden, die ja gleichermaßen verpflichtet sind, im Wohnungsbau mitzuhelfen, das ihrige tun, eine Million zusätzlicher Wohnungen bauen. So ist es. Nach dem Gesetz — das haben die Sozialdemokraten während ihrer Regierungszeit ja nicht geändert — wäre der Bund nur verpflichtet, 150 Millionen DM für Baudarlehen zu geben. Wir geben aber nicht 150 Millionen DM für Baudarlehen, wir geben 1,25 Milliarden DM.
Hinzu geben wir die steuerlichen Abschreibungen, die wiederum eine Wohnungsbauförderung in Höhe von etwa 1 Milliarde DM bedeuten.Also: Wir haben zur richtigen Zeit das Richtige getan, in der richtigen Weise und in der richtigen Dosierung.
Denn Sie müssen wissen, daß eine weitere Steigerung der Wohnungsbauleistungen im Zusammenhang mit der gesamtwirtschaftlichen Lage und der allgemeinen bauwirtschaftlichen Lage zu Überhitzungen führen könnte. Wir wollen auch die Zinsen nicht steigern, denn ein 1 % höherer Zins bedeutet bekanntlich etwa 8 % Steigerung der Baukosten.Dies alles ist in Lot und Maß. Ich bin gerne bereit, mit jedem in diesem Hause, mit jeder Kollegin und jedem Kollegen, sachlich zu diskutieren. Aber es kann doch nicht angehen, daß man in einer völlig überbordenden, ausfransenden, ungehemmten Polemik die Wahrheiten auf den Kopf stellt.Ich kann mich, wenn ich wollte, auf genügend Sozialdemokraten berufen, die in der Vergangenheit genau das für richtig gehalten haben, was sie heute beklagen.
Wenn Sie sagen, wir hätten seit 1986 den sozialen Mietwohnungsbau nicht mehr gefördert,
so darf ich Ihnen sagen: Das stimmt natürlich nicht.
Der Bund ist nicht die Bewilligungsbehörde.
Der Bund teilt die Mittel den Ländern zu, und die Länder hätten die Bundesmittel zur Entlastung ihrer eigenen Eigentumsmaßnahmen ruhig voll nehmen können und hätten die Ländermittel ausschließlich dem sozialen Mietwohnungsbau zur Verfügung stellen können.
Das ist doch die Tatsache. Warum ist denn dieser Vorschlag im Haushaltsausschuß gemacht worden? Wo war denn der schreiende Aufstand der Sozialdemokraten im Haushaltsausschuß? Das war doch damals, als man in Hamburg die Belegungsbindung für die Großsiedlungen aufgegeben hat, als der Skandal Neue Heimat zum Himmel gestunken hat. Genau in dieser Situation ist das geschenen.
Lesen Sie einmal in den Protokollen nach, was der Untersuchungsausschuß Neue Heimat zutage gefördert hat, was man damals zu dieser Problematik gesagt hat!
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9850 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 134. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. März 1989
Herr Bundesminister, gestatten Sie erneut eine Zwischenfrage des Abgeordneten Müntefering?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ja, bitte sehr. Wenn es der Wahrheit dient, gerne.
Herr Minister, die SPD-Bundestagsfraktion hat seit 1986 in jedem Jahr während der Haushaltsberatungen an dieser Stelle beantragt, daß Mittel für den sozialen Mietwohnungsbau in Höhe von 500 Millionen DM in den Bundeshaushalt eingesetzt werden. Wie können Sie uns unterstellen, daß wir uns nicht gegen Ihre Rückführung des sozialen Mietwohnungsbaus auf Null gewehrt haben?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Es geht um die Bindung. Es geht nicht um die Höhe, sondern es ging um den Erläuterungsvermerk beim Einzelplan 25, daß die Fördermittel des Bundes ausschließlich für Eigentumsmaßnahmen verwendet werden sollen. Aber es sind ja Maßnahmen für den sozialen Wohnungsbau. Sie haben auch beklagt, daß die Eigentumsförderungsleistungen zurückgegangen seien. Die Länder hatten ja die Freiheit, ihre Mittel ganz und gar und ausschließlich für den Mietwohnungsbau bereitzustellen, und sie hatten die Möglichkeit, die Fördermittel aus der Bundeskasse für ihre Eigentumsmaßnahmen selbst einzusetzen.
Ich darf Ihnen abschließend sagen, daß der Zusammenhang zwischen Städtebau und Wohnungsbau oft nicht genug gesehen wird. Die Fördermittel dazu werden unsere Bauleistungen erheblich steigern. Im übrigen, noch bevor wir diese steuerlichen Anreize gegeben haben, haben wir im letzten Quartal des Jahres 1988 eine Steigerung beim Mietwohnungsbau um über 30 % erreicht. Wenn die Gemeinden und Länder jetzt ihre Pflicht erfüllen, werden wir damit in jeder Hinsicht fertig werden.
Ich erwarte nur, daß auch die sozialdemokratisch geführten Länder und die sozialdemokratisch geführten Rathäuser auf dieses Angebot des Bundes eingehen werden. Ich bin gern bereit, auf den Vorschlag einzugehen und diese Maßnahme mit den Kollegen aus den Bundesländern zu besprechen.Ich bin ganz sicher: Der private Investor wird zurückkommen, und zwar deshalb, weil die Ergebnisse unserer Wirtschafts-, Haushalts- und Finanzpolitik ihm entsprechende Möglichkeiten eröffnen. Wie Sie wissen, haben wir ein Volksvermögen von über 5 Billionen DM. Das Geldvermögen beträgt mehr als 2,7 Billionen DM. Es ist also genügend Kapital vorhanden. Wenn wir faire Angebote machen — das tun wir — , dann werden wir auch den privaten Investor erhalten.Was wir nicht brauchen können, das sind sozialistische Rezepte, die die Anleger vom Wohnungsmarkt abhalten werden. Ich biete Ihnen die konzertierte Aktion an. Ihre Vorschläge werden im Bauministerium und sicherlich auch bei meinen Kollegen im zuständigen Ausschuß nicht einfach vom Tisch gefegt. Wir werden über jeden Vorschlag sorgfältig nachdenken. Wir werden jeden Vorschlag in unsere Beratungen mit einbeziehen. Wir werden ihn prüfen und dann darüber befinden, ob es gemeinsame Aktionen geben kann.
— Beim Bauminister dürfen Sie annehmen, daß es so geschehen wird.
— Warum? Weil ich einen noch besseren Abteilungsleiter erhalten habe.
In der gegenwärtigen Verknappungsphase wird ein Grundsatzproblem sichtbar: Der Wohnungsmangel trifft nur einen kleinen Teil der Bevölkerung.
Ich habe immer gesagt — ich wiederhole es noch einmal — : Wohnungspolitik muß immer Sozialpolitik sein,
Wohnungspolitik muß immer Familienpolitik sein,
Wohnungspolitik muß immer sozial akzentuiert sein. Deswegen auch unser Programm. Wohnungspolitik muß marktwirtschaftlich angelegt sein. Sie muß aber sozial sensibel bleiben, sie braucht eine soziale Flanke. Die marktwirtschaftliche Anregung ist der steuerrechtliche Teil, die soziale Flanke ist die wesentliche Erhöhung der Leistungen für den sozialen Wohnungsbau und für die Sonderstufe im Wohngeld.Herr Pfeiffer schreibt:Die durchschnittlichen Wohnflächen pro Person sind auf etwa 35 Quadratmeter gestiegen. Eine große Mehrheit spürt weder Angebotsengpässe noch Verknappung.Das gilt für 95 %. Ich bin angetreten und habe hier im Interesse der 5 % gesprochen, die unter Wohnungsmangel oder Wohnungsnot leiden. Diesen zu helfen ist meine Pflicht, ist Ihre Pflicht, ist unser aller Pflicht.
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 134. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. März 1989 9851
Ich erteile das Wort zur direkten Erwiderung nach § 30 der Geschäftsordnung der Abgeordneten Unruh.
Frau Präsidentin! Werte Volksvertreter und Volksvertreterinnen! Ich stelle fest, daß der Herr Minister weit über das Maß hinaus meine Frage abgewiesen hat.
Ich stelle fest: Als ich fragen wollte, ob erst durch die Volkszählung bekanntgeworden ist, daß wir eine Wohnungsnot haben — das war meine Frage
— ich wollte ihn fragen, aber er hat meine Frage ja nicht angenommen — , er hat gesagt: Setzen Sie sich! Sie sollten sich schämen für das, was Sie in der Sache mit verursacht haben.
In der Sache habe ich überhaupt nichts mit verursacht. Die Sache ist die, daß scheinbar erst durch die Volkszählung die Wohnungsnot sichtbar geworden ist.
Ich weiß, daß die Wohnungsnot immer dagewesen ist. Bitte, nehmen Sie das zur Kenntnis.
Das Wort hat der Abgeordnete Conradi.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe Kollegin Frau Unruh, nehmen Sie das mit dem Minister nicht so schwer. Seine aufgeregte Rede hat gezeigt, daß diese Koalition angezählt ist. Sie ist wirklich angezählt — um in der sportlichen Sprache zu bleiben, die Sie, Herr Gattermann, eingeführt haben. 1 war Berlin, 2 war Hessen, 3 wird die Europawahl sein. Wir sagen: „Weiter so! " 4 und 5 die Kommunalwahlen, 6 Niedersachsen, 7 Nordrhein-Westfalen, 8 das Saarland, und das 9 und Aus kommt, so hoffen wir, im Dezember 1990.
— Herr Bohl, wir verhöhnen Sie nicht. Ich habe selbst Wahlen verloren. Ich kenne die Bitterkeit am Morgen nach einer verlorenen Wahl. Aber wir freuen uns natürlich jetzt über unsere guten Wahlergebnisse, wie Sie sich damals über Ihre Ergebnisse gefreut haben. Wir sagen Ihnen ein herzliches „Weiter so", was die nächsten Wahlen anbetrifft.
Sie kriegen jetzt die Quittung für Ihr wohnungspolitisches Versagen
mit erdrutschartigen Verlusten in den großen Städten. Das ist der Charme der Demokratie. Herr Bauminister, wir wollen keine Schuldzuweisungen machen und hin und her schieben und rechnen. Unter Ihnen ist der Neubau von Wohnungen in sechs Jahren von 400 000 auf jetzt unter 200 000 Neubauwohnungen praktisch halbiert worden. Das haben die Wähler begriffen.
Sie haben mit dem Rückzug des Staates aus der Wohnungspolitik, mit der Amputation des sozialen Mietrechts, mit der Zerschlagung der Gemeinnützigkeit im Wohnungsbau die Engpässe auf den Wohnungsmärkten erst produziert. Dort stehen die Menschen mit geringem Einkommen in einer schrecklichen Konkurrenz untereinander,
dort konkurrieren auch die Einheimischen und die Ausländer miteinander. Dann haben Sie ein eigenes Wohnungsbauprogramm für Aussiedler in die Welt gesetzt und damit den Sozialneid zwischen Einheimischen und Aussiedlern geschürt.
Das haben Sie heute Gott sei Dank zurückgenommen. Und dann haben einige von Ihnen in Hessen versucht, Einheimische und Ausländer gegeneinander aufzuhetzen. Daß dieses Bubenstück danebengegangen ist, daß Sie in dem braunen Dreck, auf den einige gesetzt haben, selbst ausgerutscht sind, ist das wichtigste Ergebnis dieser hessischen Wahl.
Nun kriegt auch die FDP ihre Quittung. Sie sind die eigentlichen Drahtzieher dieser egoistischen Wohnungspolitik. Herr Lambsdorff, der sich als „Abgeordneter mit privatwirtschaftlichen Interessen" bezeichnet, hat nach der Berlinwahl seinen Parteifreunden vorgeworfen, sie hätten sich zu oft am Sektglas festgehalten. Das mag so sein. Das kommt auch in Bonn vor. Aber deswegen wird man nicht abgewählt. Abgewählt wurde die FDP in Hessen wegen einer Steuer-und Wohnungspolitik für Champagnertrinker. Aber die Zahl der Leute, die jeden Tag zum zweiten Frühstück Champagner trinken, ist nicht einmal in Frankfurt so groß, daß es zu den 5 % reicht, die Sie gerne hätten.
— Ich glaube den Zahlen. In Frankfurt und Berlin waren es nicht so viele, die mit dieser Champagnerpolitik einverstanden waren.
Conradi
Welche Konsequenzen zieht die Koalition aus den Wahlergebnissen? Bis jetzt glänzt die Koalition — —
— Was Frankfurt anbetrifft, freuen Sie sich nicht zu früh: So schnell werden Sie mich hier nicht los.
Was nun, Herr Schneider: Welche Konsequenzen zieht die Koalition aus den Wahlergebnissen? Vor allem machen Sie Ankündigungen, Versprechungen. Der Bundesmeister in heißer Luft ist wieder einmal Lothar Späth. Der Totengräber des sozialen Mietwohnungsbaus will sich heute zum Retter der Wohnungspolitik aufschwingen. Ich finde es einigermaßen dreist, wenn die baden-württembergische Landesregierung die Bundesregierung auffordert, sie solle auf die Sozialbindungen bei neuen Wohnungen nicht verzichten. Ausgerechnet Lothar Späth, der 1981 mit der schwarzen Bundesratsmehrheit durchgedrückt hat, daß Hunderttausende von Sozialmietwohnungen vorzeitig aus der Sozialbindung herausfallen, kommt jetzt
und spielt den großen Retter.
— Aber gerne, Herr Gattermann.
Herr Kollege Conradi, da wir gerade von den Vorgängen von 1981 sprechen: Stimmen Sie mir zu, daß der Gesetzentwurf, der die vorzeitige Entlassung von Sozialmietwohnungen ermöglichte — den genauen Titel weiß ich jetzt nicht — , den Lothar Späth im Bundesrat mit durchgebracht hat, ein Gesetzesantrag des Landes Nordrhein-Westfalen gewesen ist?
Aber in dieses Gesetz ist im Vermittlungsausschuß in einer Nachtaktion ein völlig anderes Gesetz hineingeschrieben worden. Ich habe damals hier im Bundestag gesagt: Ich beteilige mich nicht an der Abstimmung, weil meine Rechte, als Abgeordneter in zweiter Lesung Anträge zu stellen, beschnitten wurden. Ich bin heute noch der Meinung, das war ein schlimmes Gesetzgebungsverfahren. In einem Nachtkompromiß zwischen Lothar Späth und dem damaligen Bauminister wurde festgelegt, daß bei vorzeitiger Zurückzahlung der Darlehen die Bindungen erlöschen. Das war Späths Politik. Es ist reichlich dreist, heute von der Bundesregierung zu fordern, sie solle Sozialbindungen einführen, wenn man selbst alles getan hat, daß Sozialbindungen vorzeitig erlöschen.
— Herr Kollege Dr. Möller.
Herr Kollege Conradi, worauf führen Sie es zurück, daß das Land Nordrhein-Westfalen, in dem wir uns hier befinden, gerade in den letzten fünf Jahren die Mittel für den sozialen Mietwohnungsbau nicht um ein Drittel, sondern auf ein Drittel reduziert hat?
Das hängt mit der Frage, über die wir jetzt gesprochen haben, nämlich mit der vorzeitigen Entlassung aus den Bindungen, nicht zusammen.
Sie wissen genau, welche finanziellen Probleme die Bundesländer haben — auch im Zusammenhang mit Ihrer Steuerreform — , welche Strukturfragen Nordrhein-Westfalen zu bewältigen hat.
Nachdem Sie den sozialen Mietwohnungsbau seit zwei Jahren auf Null gefahren haben, dürfen Sie sich doch nicht über ein Bundesland aufregen, das ihn reduziert hat. Sie haben doch für den sozialen Mietwohnungsbau keine müde Mark mehr aufgewendet; das war Ihre Politik. Da werfen Sie Nordrhein-Westfalen vor, daß es den sozialen Mietwohnungsbau nicht mehr so viel fördert wie früher. — Das ist ein Argument!
Sie kündigen jetzt ein nebulöses Notprogramm an. Wir werden genau aufpassen, was da kommt.Für uns, Herr Schneider, heißt „sozial" Konzentration auf die Städte mit den leergefegten Wohnungsmärkten in Absprache mit den Ländern, also keine Gießkannenprogramme quer über das Land.Für uns heißt „sozial" Konzentration auf die Menschen, die am Wohnungsmarkt nicht zum Zuge kommen, weil sie nicht genug Geld haben oder weil sie als alleinerziehende Mütter, als Ausländer oder als Familien mit Kindern nicht zum Zuge kommen.
Für uns heißt „sozial" nicht auf zehn Jahre beschränkte Bindungen, sondern langfristige, dauerhafte soziale Bindungen dieser Wohnungen etwa über die gemeinnützigen Wohnungsunternehmen, deren Gemeinnützigkeit Sie abschaffen wollen.
— Das ist noch nicht der Fall; das fängt am 1. Januar 1990 an. Sie wollen, daß dort nur noch das Gewinnprinzip gilt, aber Sie werden es noch bedauern, diesen wichtigen Zweig der deutschen Wohnungswirtschaft, der mehr dem Interesse der Gemeinschaft diente als dem Gewinnprinzip, zerschlagen zu haben.Wir denken nicht an den sozialen Mietwohnungsbau der Vergangenheit; er hatte manche Mängel. Aber wir haben konkrete Vorstellungen, wie ein sozial und regional gezielter Sozialmietwohnungsbau aussehen könnte.
Dann kommen Sie und sagen, dazu sei kein Geld mehr da. Es ist klar: Das Geld haben Sie in Ihrer Steuerreform verfrühstückt.
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 134. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. März 1989 9853
Conradi— Natürlich, das Geld haben Sie mit der Steuerreform für Ihre Champagnerfreunde verfrühstückt; aber das ist nicht unser Bier.
Herr Abgeordneter Conradi, gestatten Sie noch eine Zwischenfrage des Abgeordneten Gattermann?
Frau Präsidentin, ich tue das gerne, wenn Sie mir das nicht anrechnen.
Herr Kollege Conradi, würden Sie mir im Interesse der gemeinnützigen Wohnungswirtschaft bestätigen, daß diese öffentlich übereinstimmend erklärt haben, daß sie ihre Geschäftspolitik ungeachtet des wegfallenden Steuerprivilegs nicht ändern wollen, und würden Sie mir bestätigen, daß ein ganz wesentlicher, nahezu der größte gemeinnützige Wohnungskonzern sich vorher schon selber in die Luft gesprengt hat?
Über das letztere sind wir ja nicht im Streit, und darüber habe ich hier früher Deutliches gesagt, auch über den früheren Geschäftsführer der Neuen Heimat, Lothar Späth, der heute wohnungspolitische Vorschläge macht. Ich finde das so, als würde man für die Gründung eines Mädchenpensionats Vorschläge von Hugh Hefner einholen. — Soviel zur Neuen Heimat und zu Lothar Späth.Ich will Ihnen gerne die andere Frage beantworten, Herr Gattermann: Wir haben hier in der letzten Debatte darüber gesprochen, daß die Unternehmen der Gemeinnützigkeit, deren Gewinne gesetzlich auf 4 beschränkt waren, jetzt auf Grundsätze der Wirtschaftlichkeit festgelegt werden, und zwar durch die kommunalen Rechnungshöfe, durch die jeweilige Aufsicht. Das heißt, die Kommunalunternehmen müssen nach wirtschaftlichen Prinzipien arbeiten, sie müssen die Mieten erhöhen.
Alles, was Sie hier sagen, ist weißer Dampf. In Wirklichkeit haben Sie diese Unternehmen aus den Verpflichtungen entlassen, gemeinnützig zu arbeiten. Sie werden jetzt so arbeiten wie andere Kapitalunternehmen auch.
— Nein, Herr Gattermann. Ich war da sehr großzügig. Jetzt möchte ich doch fortfahren.
— Mit der Zulassung von Zwischenfragen bin ich normalerweise nicht geizig.
Über 20 Milliarden DM, Herr Kollege Gattermann, gehen jährlich in die Steuersubvention für den Wohnungsbau. Über 20 Milliarden DM! 80 % davon gehen an das obere Drittel der Einkommensbezieher. Wenn Sie wollten, könnten Sie da spielend einige Milliarden freimachen, indem Sie Auswüchse beschneiden, indem Sie Verlustzuweisungen, Werbungskosten begrenzen. Da ist viel, viel Geld, mit dem man etwas Vernünftiges machen kann.Aber Sie wollen jetzt wieder die verbesserte steuerliche Abschreibung. Die kostet einen Haufen Geld. Die steuerliche Förderung ist völlig ungezielt. Was Sie hier machen, ist so, wie wenn man mit einem Schrotgewehr in den Nebel ballert. Da trifft man doch nichts. Irgendwo werden Wohnungen gebaut. Aber ob es da ist, wo die Wohnungen fehlen, bleibt offen. Sozial ist die steuerliche Förderung auch nicht treffsicher; denn da kommen Mieten von 10 DM und mehr pro Quadratmeter heraus,
und das hilft den Leuten gar nichts, die jetzt eine Wohnung suchen.Kommen Sie uns bloß nicht mit dem Sickereffekt! Das haben Sie uns jahrelang erzählt: Wenn eine teure Wohnung für 15 DM/qm gebaut wird, zieht einer aus einer billigeren Wohnung aus, und das geht so runter und sickert so durch,
und am Schluß zieht ein Asylbewerber von einem nassen Keller in einen trockenen Keller. Dieser Sickereffekt ist wirklich ein Ladenhüter. Wir haben es Ihnen hier oft genug vorgerechnet. Es ist diese Pferde/Spatzen-Politik.
— Mit den Krümeln: Wenn Sie die Pferde vorne füttern, kommt hinten auch etwas für die Spatzen heraus. Nur, Herr Schneider, das ist nicht sehr ökonomisch. Wenn man die Spatzen wirklich füttern will, soll man den Hafer den Spatzen direkt geben und nicht auf dem Umweg über das Pferd.
Sie wollen jetzt mit Ihrem Verzweiflungsprogramm die Gäule des freiwirtschaftlichen Wohnungsbaus wieder zum Saufen bringen, nachdem Sie ihnen jahrelang eingeredet haben, Wohnungsbau sei nicht mehr notwendig, nachdem Sie jahrelang mit falschen Prognosen gearbeitet haben.
— Sie haben die Verknappung heruntergeredet; Sie haben die Mietsteigerungen bagatellisiert; Sie haben jahrelang die falschen Signale gegeben. Und jetzt hoffen Sie, daß die privaten Anleger wieder mit ihrem Geld in den Wohnungsbau reingehen.Was wissen Sie eigentlich über die derzeitigen Renditen im Mietwohnungsbau? Was wissen Sie denn über die Struktur von Investoren und Käufern? Was wissen Sie über Ausmaß und Art der Investitionen im Bestand? Sie wissen nichts.Die letzten qualifizierten Untersuchungen — der Instrumenten-Bericht — sind noch aus unserer Zeit. Seither wird Wohnungspolitik mit Parolen gemacht,
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9854 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 134. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. März 1989
Conradimit der Ideologie vom Markt, der das alles in Ordnung bringe, mit Privatisierungspülverchen und Steuertabletten wird herumgepfuscht. Kein Wunder, daß der Wohnungsbau krank ist.Ich vermute, Herr Schneider — wir sollten das einmal untersuchen — , die Anleger werden immer noch eher in den Wohnungsbestand gehen, weil sie dort eine höhere Rendite bekommen. Die steuerlichen Abschreibungsmöglichkeiten sind dort besser.Wenn Sie ernsthaft Kapital in den Neubau lenken wollten — da wären wir ja dabei —, müssen Sie das flankieren und die Investitionen in den Beständen gezielt abbremsen; dann müssen Sie dafür sorgen, daß das Zweckentfremdungsverbot verschärft wird; dann müssen Sie die Umwandlung von Mietwohnungen in Eigentumswohnungen erschweren; dann müssen Sie die preiswerten Bestände sichern.
Dann würde daraus eine Politik.Sie werden mit dem, was Sie jetzt machen, viele Mitnehmereffekte produzieren. Die 30 000 oder 40 000 freifinanzierten Mietwohnungen des vorigen Jahres werden Sie mit Ihrem Programm nicht verdoppeln.Zu allen anderen offenen Fragen kommt auch die Baulandfrage. Sie werden es noch bedauern, daß Sie im Baugesetzbuch die Möglichkeiten der Gemeinden beschnitten haben. Sie werden es noch bedauern, daß Sie dem Vorrang der Innenentwicklung im Baugesetzbuch nicht den entsprechenden Raum gegeben haben.Wer statt, wie im vorigen Jahr, kaum 200 000 Wohnungen im nächsten Jahr 300 000 oder 350 000 Wohnungen bauen will, muß doch sagen, auf welchen Flächen das geschehen soll. Wollen wir denn weiter die Landschaft zubetonieren? Wollen wir diesen flächenfressenden und umweltschädlichen Autoverkehr weiter in der bisherigen Art programmieren? Soll der Siedlungsbrei der Großstädte, der Ballungsräume unkontrolliert wachsen? Oder wollen wir die ökologisch vernünftige Lebensform Stadt fördern: mit maßvoll verdichtetem Mietwohnungsbau in hoher Qualität, mit sparsamem Flächen- und Energieverbrauch? Auch dazu fällt Ihnen nichts ein.Was wir hier erleben, ist das hilflose Herumwursteln einer Koalition, die nicht mehr regierungsfähig ist. Das hat der gestrige Tag gezeigt. Es geht nicht mehr darum, wie man miteinander umgeht, sondern nur noch darum, wie man miteinander untergeht. So war die Formulierung des Bundeskanzlers gestern abend in den Nachrichten.
— Ja gut. Aber ein Versprecher sagt immer auch, woran jemand im Unterbewußtsein denkt.
— Das war der berühmte Freudsche Versprecher.Wir haben Ihnen vor wenigen Wochen Zusammenarbeit in der Wohnungspolitik angeboten, Herr Schneider. In einem Punkt sind Sie uns entgegengekommen: Sie wollen dieses Aussiedlerwohnungsprogramm offenbar auf alle ausdehnen, die eine Wohnung suchen. Das heißt, mit dem Aussiedlerprogramm ist es vorbei. Das ist ein wichtiger Schritt.
— Frau Rönsch, ich habe in der Fragestunde drei oder vier Fragen dazu gestellt. Die Bundesregierung ist dabei geblieben. Erzählen Sie doch nicht die Unwahrheit! Sie haben erst gestern Ihr Programm geändert. Sie machen jetzt kein Aussiedlerprogramm mehr. Und ich lobe das; ich weiß gar nicht, warum Sie dazwischenrufen.
— Entschuldigung, es blinkt hier schon. Ich will noch meine Schlußsätze sagen.
Wenn Sie bereit wären, mit uns zu prüfen, ob die Abschaffung der Wohnungsgemeinnützigkeit nicht doch ein Fehler war, wären wir dabei. Uns geht es nicht ums Rechthaben, nicht um den Streit.
— Nein, uns geht es darum, daß die Menschen, die keine Wohnung finden, zu einer Wohnung kommen, die sie brauchen. Wenn Sie das wollen, müssen wir ernsthaft darüber reden.
Was Sie uns hier vorlegen, ist weiße Salbe.
Das sind Spritzen aus der Wahlkampfapotheke. Das ist ein verzweifeltes Umsichschlagen einer Koalition, die nicht mehr regierungsfähig ist.
Die Zustimmung von uns können Sie dafür nicht erwarten.
Das Wort hat der Abgeordnete Grünbeck.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wenn man die Angriffe von Herrn Conradi gegen unsere Partei und deren Vorsitzenden in dieser Geschmacklosigkeit und Permanenz hinnehmen muß,
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 134. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. März 1989 9855
Grünbeckkann ich Ihnen nur eines antworten: Zum Wohnungsbau braucht man Ziegel und Mörtel. Mit Schmutz kann man keine Wohnungen bauen.
Ein Beispiel dafür, wie weit Sie von der Realität weg sind: Ich empfehle Ihnen, die heutige „Süddeutsche Zeitung" zu lesen.
In München regiert ein SPD-Oberbürgermeister, der über seinen Stadtbaumeister hat erklären lassen, daß der Dachausbau nicht in dieser Weise möglich sei, weil ein Lift gebaut, ein Stellplatz bereitgestellt werden müßten. — In München kann man deshalb keine 40 000 Dachgeschosse ausbauen, weil er seine Baubürokratie nicht im Griff hat.
Das wäre dringend notwendig. Sie finden doch gerade in Ihrer Baulandphilosophie meine Zustimmung. Wir müssen die Dachgeschosse aus ökologischen Gründen ausbauen, damit wir nicht weitere Grünflächen zubauen müssen. Aber Sie zäumen das Pferd verkehrt auf.
Ich darf noch eines sagen: In diesem Programm ist etwas enthalten, was für München enorm wichtig ist. Wir beschließen die Wohngeldverbesserungen. Wenn wir das nun schon machen, sollten Sie in Ihren polemischen Debattenbeiträgen doch endlich einmal feststellen, daß das Ihr eigenes Begehren war. Warum senden Sie dauernd nur negative Signale? Ich kann es Ihnen sagen — ich wiederhole mich allerdings vom letzten Mal — :
Sie setzen auf den Pfad der Verunsicherung unserer Bevölkerung und wollen aus dem Sumpf der Verunsicherung politisches Kapital schlagen.
Ich sage Ihnen: Das wird, auf die Dauer gesehen, nicht gutgehen. Ich bitte Sie: Lassen Sie Ihre giftige Polemik und auch Ihre geschmacklosen persönlichen Angriffe weg, und stützen Sie sich auf traditionelle Argumentation!
Ein letztes Wort zur Wohnungsgemeinnützigkeit: Ich hatte gestern ein Gespräch mit Unternehmern aus der gemeinnützigen Wohnungswirtschaft. Die begrüßen unsere Initiative ausdrücklich, durch die sie ihrer gemeinnützigen Aufgabe gerecht werden können, durch die sie auch ohne das Instrument der Wohnungsgemeinnützigkeit durch Steuerbefreiung aktiv werden und gemeinsam mit den Kommunen Wohnraum ohne Bindungsfristen anmieten, ankaufen oder selbst erstellen können. Dadurch können sie die wichtige Frage der Problemgruppen mit lösen. Das ist eine soziale Aufgabe der gemeinnützigen Wohnungsgesellschaften. Der stellen sie sich zu meiner großen Freude auch. Deshalb sage ich nach wie vor ja zurWohnungsgemeinnützigkeit, ja zu unserer Abschaffung der Steuerbefreiung und weg von den strengen Bindungsfristen, damit die kreativen Kräfte in der Wohnungsgemeinnützigkeit mehr Entfaltungs- und Gestaltungsmöglichkeiten haben. Sie werden staunen, was dabei herauskommt. Sie, die SPD und die GRÜNEN, fordere ich auf, heute in einem Jahr hier Bilanz Ihrer Berliner Wohnungspolitik zu ziehen. Auf diese Bilanz bin ich neugierig.
Vielen Dank.
Das Wort hat die Frau Abgeordnete Teubner.
Frau Präsidentin! Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer! Herr Minister Schneider, Sie haben zwar Ulrich Pfeiffer aus der heutigen Ausgabe der „Zeit" zitiert, aber versäumt, den Schlußsatz vorzulesen. Ich gestatte mir, den hier noch nachzureichen. Der Artikel schließt:Ihre Sorgen— die Sorgen der Wohnungsbaupolitik, und das müssen auch Ihre Sorgen sein —sollten nur noch den unteren Einkommensschichten gelten, die Mittel- und Oberschichten müßten daran gewöhnt werden, für die eigenen Bedürfnisse selbst zu sorgen.
Das zu den sozialen Notwendigkeiten in dieser fabelhaften Marktwirtschaft.
Es gibt, wenn wir viele Wohnungen schaffen wollen — und das ist ja unbestritten, daß wir das wollen —, wenn wir Wohnungen dort schaffen wollen, wo sie gebraucht werden — das ist vor allen Dingen in den Städten und in den Ballungsgebieten —, einen unbestreitbaren Konflikt, einen Konflikt, dem wir auch nicht ausweichen wollen, über den wir reden müssen und für den wir Lösungen finden müssen.Wir brauchen Wohnungen, aber wir wollen keine Betonbaukästen. Wir brauchen Wohnungen, aber wir brauchen auch Flächen und Räume, die unverbaut sind und bleiben — und das selbstverständlich auch und gerade dort, wo viele Menschen leben. Denn Leben und Wohnen heißt ja nicht nur, sich tagsüber in Bürozellen, dann in Konsumpalästen, abends in Fernseh- und Schlafgehäusen aufzuhalten und zwischen diesen hin und her bewegt zu werden, meist in vierrädrigen Blechkisten, sondern Leben muß ja auch und vor allem heißen, sich in der Wohnung, in der Straße, im Stadtteil buchstäblich wohlzufühlen. Und das heißt eben auch, nicht krank gemacht zu werden von der Umgebung, in der man den Alltag bewältigen muß. Zu einem solchen Leben gehören eben auch Freiflä-
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9856 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 134. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. März 1989
Frau Teubnerchen: Spielplätze, Sportplätze, Grünanlagen, Gärten und Parks in der Stadt, und das ist der Konflikt.Und wenn unter dem Stichwort „Innenentwicklung" noch die letzte Baulücke zugeklotzt und der gegenüberliegende Park für die notwendigen Stellplätze zubetoniert wird, dann haben zwar einige Familien eine Wohnung, und in den teuren Stadtrandlagen gibt es weiter die unverbaute Aussicht. Aber das Klima in den Städten wird dadurch auf keinen Fall besser, sondern auf die Dauer unerträglich — und das in doppelter Hinsicht: buchstäblich und auch im übertragenen Sinne.Und: Die hervorragenden Konzepte für ökologisches Bauen, die es ja gibt, die auch schon umgesetzt werden — und ökologisches Bauen heißt gesundes Bauen, umweltverträgliches, menschenfreundliches Bauen — , würden weiterhin für diejenigen reserviert, die sich das jetzt schon leisten können. Heute liegt das Schwergewicht ökologischen Bauens immer noch eindeutig bei den Neubauten am Siedlungsrand, mitten in der Landschaft und bei den freistehenden Einfamilienhäusern. Solche Häuser, am Siedlungsrand, in der Landschaft — mögen sie noch so viele Kollektoren auf dem Dach und Krötenteiche im Garten haben — , sind ökologisch und sozial fragwürdig.
Wenn sich die ökologische Förderphilosophie des Herrn Schneider in solchen Renommierprojekten erschöpft und gleichzeitig im Wohnungsbau für die Normalverbraucher die alten Fehler wiederholt werden — Neubau im Schnellverfahren, ohne Rücksicht darauf, wie krank eine Wohnung einen Menschen machen kann, seelisch und körperlich — , dann ist das eine verfehlte Politik.
Sicher ist es bequemer, die drängenden Wohnungsprobleme jetzt durch schnell aufgelegte und vor allem billige Neubauprogramme zu lösen. Die heutigen antisozialen und antiökologischen Wohn- und Siedlungsstrukturen würden dadurch jedoch verfestigt und ihre Nachteile verschärft. Das hat, wie ich den Äußerungen des Herrn Conradi entnehme, die SPD inzwischen auch gemerkt. In Ihrem Antrag haben Sie das noch nicht berücksichtigt.Wir setzen solchen kurzsichtigen Lösungen ein Programm mit dem Leitbild geringstmöglicher Umweltbelastung durch Bauvorhaben entgegen. Dazu gehört selbstverständlich der Vorrang der Innenentwicklung, aber einer ökologisch sensiblen Innenentwicklung. Das heißt eben, daß die Wohnungen, die im Rahmen unseres hier vorgelegten Programms gefördert werden, nicht nur bestimmte soziale, sondern auch eine Reihe ökologischer Mindestanforderungen erfüllen. Das heißt auch, daß in den Gemeinden endlich einmal Bilanzen erstellt werden müssen: über die Flächen, die zur Verfügung stehen, über die Parkplätze, die man ja zum Teil nicht braucht, über die Baulücken und über die wiederverwendbaren Brachflächen. Es müssen Bilanzen erstellt werden, die einmal aufzählen, wieviel ungenutzte Bürogebäude es gibt, wieviel ungenutzte Gewerberäume es gibt, wieviel um- und ausbaufähige Gebäude es in den Gemarkungen der Gemeinden überhaupt gibt.
Nur auf einer solchen Grundlage können Wohnungsprogramme auch ökologisch verantwortbar sein.Herr Kansy, ich möchte Ihnen zum Schluß noch einmal sagen: Wenn Sie in diesem Zusammenhang von „staatlichen Folterinstrumenten" reden, dann ist das, denke ich, nicht Ihre Sache. Ich finde das mehr als unanständig. Sie wissen offenbar nicht, was Folter ist. Ich fordere Sie auf, diese Begriffe in diesem Zusammenhang endlich nicht mehr zu verwenden.
Das Wort hat der Abgeordnete Dörflinger.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Da sich Wohnungspolitiker gewöhnlich unmittelbar mit den Sorgen unserer Mitbürgerinnen und Mitbürger beschäftigen, verzichten sie normalerweise auf überflüssige Polemik. Sie widmen sich den Sorgen der Menschen, sie widmen sich der Sache, verzichten auf verbale Rundschläge. Gäste aus Polen, die vor wenigen Tagen bei uns waren, haben das gesehen.Alle Fraktionen waren sich weitgehend in der Analyse einig. Sie waren sich weitgehend einig beim Erforschen der Ursachen für die gegenwärtigen Engpässe. Sogar die SPD hat einräumen müssen, daß die Steigerung der Realeinkommen in den letzten Jahren zu gestiegenen Ansprüchen an Wohnungen geführt hat.
Wir waren uns auch einig — völlig unpolemisch — bei der Darstellung unserer unterschiedlichen Positionen zur Lösung der Probleme. Nur, heute ist das völlig anders.Lieber Herr Kollege Conradi, wenn Sie von der „Champagnergesellschaft" reden
— nein, Sie — als der angeblichen Vision dieser Koalition, muß ich Ihnen natürlich sagen, daß der Rausch an Polemik auch zur eigenen Besoffenheit führen kann.
Es hat doch gar keinen Sinn, sich hier hinzustellen und pauschal von Wohnungsnot zu reden. Es hat auch nichts mit seriösem Umgang miteinander zu tun, wenn man sich hier hinstellt und sagt: Das haben wir schon immer gewußt. Ich werde Ihnen nachher nachweisen, wo Sie nichts gewußt haben. Es hat auch keinen Sinn, der Bevölkerung klarmachen zu wollen, alles Heil komme vom Staat und speziell vom Bund. Heute stimmen Sie das Lied „Seid umschlungen, Mil-
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 134. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. März 1989 9857
Dörflingerliarden" an, und eine Debatte später werfen Sie uns vor, wir seien die obersten Schuldenmacher.
Das geht doch nicht zusammen. Das ist oppositionelles Ritual, das zutiefst unseriös ist.Das ist nicht überzeugend, weil die Bevölkerung natürlich genau weiß, daß wir es heute mit anderen Problemstellungen als vor zwei Jahren zu tun haben, weil die Bevölkerung weiß, daß ohne Markt und private Investitionen überhaupt nichts funktioniert.Wie können Sie sich hier hinstellen, Herr Kollege Conradi, und gegen den Anreiz privater Bautätigkeit polemisieren, wenn Sie in Ihrem eigenen Antrag genau derartige Maßnahmen fordern? Das geht doch nicht übereinander.
Die erste Aufgabe, die uns aufgegeben ist, besteht darin — das ist die Aufgabe der öffentlichen Hand —, für Rahmenbedingungen verläßlicher Art zu sorgen. Genau da haben Sie ja in der Vergangenheit versagt.
Wer könnte denn übersehen, daß zwischen dem Rückgang der Neubautätigkeit und schlechten Rahmenbedingungen, die Sie hinterlassen haben, ein Stück Zusammenhang besteht?
— Herr Kollege Jahn, wenn Sie es gern hören, kann ich es auch sagen. Sie haben es aber selber in den Mund genommen, und es trifft auch zu.
Ich wiederhole: Außer den Rezepten von gestern fällt Ihnen überhaupt nichts ein. Sie sind nicht in der Lage, auf einen differenzierter gewordenen Markt entsprechend zu reagieren.Das gilt auch für den Antrag der SPD — jetzt sind wir beim Aktuellen —, die Aufhebung der Steuervergünstigung für gemeinnützige Wohnungsunternehmen um drei Jahre auszusetzen, womit Sie sich dem Gesetzentwurf des Landes Schleswig-Holstein anschließen. Ich räume ein, wir haben uns mit dieser Frage im Zusammenhang mit der Steuerreform auch schwergetan. Aber jetzt, nachdem die Voraussetzungen klar sind, nachdem die gemeinnützige Wohnungswirtschaft diesen Schritt in der überwiegenden Mehrheit akzeptiert, nachdem sie sich auf die neue Situation einstellt und neue Wohnungsbauaktivitäten entfaltet, wäre es doch genau das Gegenteil dessen, was notwendig ist, wenn wir jetzt zu Attentismus kämen, zu Zweifeln an der Verläßlichkeit der Politik und zu einem Durcheinander.Ein Stück weit beleidigen Sie die gemeinnützigen Wohnungsunternehmen selber, wenn Sie ihnen unterstellen, daß der Wegfall des Steuerprivilegs mit dem Wegfall des sozialen Auftrags einhergehe.
Ich selber war einmal ehrenamtliches Aufsichtsratsmitglied einer kleinen gemeinnützigen Baugenossenschaft. Ich bin zutiefst davon überzeugt, daß dieser soziale Auftrag auch in Zukunft gelten wird und daß er vielleicht noch stärker zur Geltung kommen kann, als es in der Vergangenheit der Fall war.Meine Damen und Herren, wir brauchen schnell Wohnungen, wir brauchen mehr Wohnungen.
Wir brauchen Wohnungen für diejenigen, die sich schwertun, sich am Markt zu versorgen; da sind wir uns einig. Diesem Ziel dient unser Maßnahmenpaket.Zu einer dynamischen und weitsichtigen Wohnungspolitik gehört auch — das wissen wir — die Stadt- und Dorferneuerung. Für uns war und ist die Stadt- und Dorferneuerung ein Eckpfeiler unserer Städtebaupolitik, wegen der strukturpolitischen Bedeutung der Städtebauförderung, wegen der immensen Anstoßwirkung auf private Investionstätigkeit, wegen der Verstetigung der Baunachfrage. Die Bauwirtschaft stellt immer wieder derartige Forderungen. In der Zeit des Rückgangs der Neubautätigkeit war die Stadt- und Dorferneuerung einer der stabilen Pfeiler der Baukonjunktur überhaupt, übrigens zusammen mit dem Wirtschaftsbau, gegen den Sie immer polemisiert haben.
Aber wir sind nicht nur bei den erhöhten Mitteln geblieben, wir haben auch neue Impulse gesetzt: durch die Konzentration von Stadt- und Dorferneuerung auf den Innenbereich, durch die Aufnahme neuer Problemstellungen und neuer Fördertatbestände, durch starke Expansion der Stadt- und Dorferneuerung in den ländlichen Raum. 57 % aller Maßnahmen werden im ländlichen Raum abgewickelt, und 1989 stehen zusammen mit den Mitteln, die Gemeinden und Länder zur Verfügung stellen, insgesamt 2 Milliarden DM für Stadt- und Dorferneuerung zur Verfügung.Damit bin ich beim Geld, und damit bin ich natürlich auch bei der Forderung im SPD-Antrag, die Städtebaumittel auf jährlich 1 Milliarde DM zu erhöhen.
— „Wie gehabt", ich nehme den Zwischenruf auf. Wer solche Forderungen stellt, muß sich daran erinnern lassen, Herr Kollege Jahn — das ist jetzt Erblast —, in welch jämmerlichem Zustand wir die Stadt- und Dorferneuerung im Jahr 1982 angetroffen haben. Sie müssen sich das anhören.
1982, auf einem Tiefpunkt der konjunkturellen Entwicklung, bei einem explosionsartigen Anstieg der Arbeitslosigkeit hat diese Regierung die Stadterneuerungsmittel auf 220 Millionen DM zurückgeführt.
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9858 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 134. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. März 1989
DörflingerWir haben sie im gleichen Jahr noch auf 340 Millionen DM erhöht.
Wir haben ein Drei-Jahres-Programm, dotiert mit jährlich einer Milliarde DM, durchgeführt.
Obwohl die Kompetenzen zwischen Bund und Ländern bis dato noch nicht geklärt sind, haben wir die Städtebauförderung um 660 Millionen DM weitergeführt. Jetzt hat die Bundesregierung erklärt, sie führe die Städtebauförderung über das Jahr 1990 hinaus mit 660 Millionen DM weiter.
Das ist Realität, und das andere ist Polemik.
Unsere Fraktion begrüßt die Entscheidung der Bundesregierung, weil sie eine wesentliche Hilfe für die Gemeinden und für die Städte ist. Dann — das wollen wir einmal sehen — gibt es auch noch den Strukturhilfefonds des Bundes, dessen Mittel ausdrücklich für Maßnahmen der Stadt- und Dorferneuerung eingesetzt werden sollen. Das ist eine zusätzliche Hilfe, ein zusätzlicher Impuls für die Stadt- und Dorferneuerung. Ich sage: Die Länder sind jetzt am Zuge; sie mögen mit den Mitteln des Bundes etwas tun, was sich strukturpolitisch und auch wirtschaftlich sinnvoll auswirkt.Herr Kollege Conradi, daß Sie Lothar Späth in einem anderen Zusammenhang kritisch unter die Lupe genommen haben, gibt mir Gelegenheit, zu sagen: Ich wünschte mir in allen Bundesländern flankierende Maßnahmen der Stadt- und Dorferneuerung von der Qualität Baden-Württembergs.
Ihr vielgepriesener Bruder Johannes möge sich an den Vorgaben des Landesvaters Lothar orientieren! Da wäre er gut beraten.
Meine Damen und Herren, ich möchte zum Schluß noch einige Bemerkungen machen. Wir haben ja ein ganzes Paket von politischen Problemen, die wir in dieser Debatte zum Antrag der GRÜNEN aufzuarbeiten haben, was das Einpassen der Einzelhandelsnutzung in eine gesunde städtebauliche Struktur angeht.Ich nehme dieses Thema deswegen auf, weil auch wir als Union dieses Problem sehen — abgesehen davon, daß wir die Instrumente, die die GRÜNEN vorschlagen, für untauglich halten — und daß uns Konzentrationen und mögliche Verdrängung gewachsener Handelsstrukturen aus den Innenstädten Probleme bereiten. Nur darf ich darauf hinweisen, daß die GRÜNEN natürlich wieder einmal wie so oft offene Türen eingerannt haben, daß wir mit dem Baugesetzbuch, mit der Novellierung der Baunutzungsverordnung und dem, was uns im Bereich der Baunutzungsverordnung noch ins Haus steht, genau diese Probleme baurechtlich und planungsrechtlich aufgearbeitet haben und noch weiter aufarbeiten. Es ist sicher eine über den Baubereich hinausgehende politische Aufgabe, die wir auch mit der Verfeinerung des wirtschaftspolitischen Instrumentariums aufzunehmen haben.
— Liebe Kollegin Frau Teubner, wenn Sie den Beratungen des Ausschusses mit voller Konzentration immer folgten, dann könnten Sie ohne weiteres feststellen, daß wir mitten dabei sind, diese Probleme vertieft zu lösen. Es kann natürlich sein, daß Sie nach dem Motto „Augen zu — schlecht ist die CDU!" derartige Dinge nicht erkennen.Meine Damen und Herren, ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit und für Ihre Zwischenrufe. Die Zwischenrufe haben mich darin bestärkt, daß die Union abseits jeglicher oberflächlicher Polemik
wohnungsbaupolitisch auf dem richtigen Weg ist, im Bereich der Stadt- und der Dorferneuerung das Richtige tut und deswegen auf vordergründige Ratschläge der Opposition glücklicherweise nicht angewiesen ist.Ich bedanke mich.
Das Wort hat der Abgeordnete Menzel.
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Dörflinger, wir beklagen Ihre Schuldenmacherei deswegen,
— hören Sie sich das doch erst einmal an; was sind Sie dünnhäutig geworden! —,
weil Sie sich durch eine unsinnige und unsoziale Steuerreform in die Situation gebracht haben, für notwendige Ausgaben kein Geld mehr zu haben, und deshalb Schulden machen.
Noch eine zweite Vorbemerkung: Sie reden heute immer von Vorschlägen und Beschlüssen der Bundesregierung oder von sonstwas. Ich habe meine Unterlagen durchgesehen: Sie waren noch nicht einmal in der Lage, heute zu dieser wichtigen Beratung Ihre Vorschläge schriftlich vorzulegen. Das sage ich für das Protokoll, weil auch das ja eine Frage der politischen Kultur ist, von der Sie so gerne reden.
Bei der überragenden Bedeutung der Wohnung als Lebensmittelpunkt des menschlichen Daseins gebietet die Sozialstaatsverpflichtung des Grundgesetzes, den vertragstreuen Mieter vor willkürlichen Kündigungen zu schützen. Sie gebietet Bund, Ländern und Kommunen, durch politische Maßnahmen sicherzustellen, daß jeder eine familiengerechte Wohnung hat. Ich glaube, darauf können wir uns alle verständigen. Nur, gegen diese Verpflichtung hat die Bundesregie-
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 134. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. März 1989 9859
Menzelrung durch ihre Politik in eklatanter Weise verstoßen. Sie hat den Mieterschutz verwässert, sie hat durch ihren Rückzug aus der Förderung des sozialen Mietwohnungsbaus und durch ihre Wohnungspolitik insgesamt dazu beigetragen, daß von einem ausgeglichen Wohnungsmarkt, wie er 1982 bei ihrer Regierungsübernahme bestand, heute fast in keiner Region mehr gesprochen werden kann, ja — das mögen Sie nicht wahrhaben — , daß in den meisten Regionen Wohnungsnot herrscht.Meine Damen und Herren von der CDU, Herr Minister, Sie stehen heute vor dem Scherbenhaufen Ihrer Politik. Sie haben ein gutes Erbe, das Sie übernommen haben, in ganz kurzer Zeit verwirtschaftet.
Die Quittung dafür haben Ihnen die Wähler bei den Oberbürgermeisterwahlen in Süddeutschland, bei den Wahlen in Berlin, bei den Wahlen letzten Sonntag in Hessen und besonders in Frankfurt gegeben.Ihre Politik, Herr Minister, der Markt werde es schon richten und Härten würden durch Wohngeld ausgeglichen, ist gescheitert. Kehren Sie um, bevor die Wohnungsnot in unserem Lande noch größer wird! Mit Wohngeld wird keine einzige Wohnung gebaut. Wohnungen, und zwar preiswerte Wohnungen, benötigen wir, um gerade die Einkommenschwachen mit angemessenem Wohnraum zu versorgen.Es müssen doch auch bei Ihnen die Alarmglocken schrillen, wenn von dem sozialen Mietwohnungsbestand, der zirka 4 Millionen Wohnungen umfaßt, in den letzten Jahren 1,3 Millionen herausgewachsen sind oder durch Ablösung vor dem Auslaufen der Bindung stehen. Das muß Folgen haben. Das hat Folgen für die Mietentwicklung und für die Mietbelastung gerade der unteren Einkommenschichten, der sozial Schwachen, für die wir ja alle verpflichtet sind und die in diesen Wohnungen wohnen.
Sie, meine Damen und Herren von den Regierungsparteien, mögen sich ja damit trösten, daß die durchschnittliche Mietbelastung bei 18 bis 19 % des Einkommens der Mieter liegt. Diese Zahl schönt aber gerade die Belastung der unteren Einkommenschichten; denn von diesen wissen wir, daß ihre Mietbelastung bei 30 bis 35 % liegt. Hier gilt es, dringend Abhilfe zu schaffen.Abhilfe, Herr Minister, schafft man nicht durch Ankündigungen. Ankündigungen und Versprechungen von Ihnen haben die Mieter draußen im Lande oft genug gehört. Nur ist dadurch keine einzige Wohnung gebaut worden. Lächerliche 26 000 Mietwohnungen wurden 1987 in der ganzen Bundesrepublik öffentlich gefördert. Anfang der 80er Jahre — Herr Kansy, zu Ihrer Erinnerung — , als wir regierten, waren es noch 101 000. Die Mieten haben sich während Ihrer Regierungszeit zum Preistreiber Nummer eins entwickelt.
— Na, ich werde es Ihnen gleich beweisen, und wennSie das Gegenteil beweisen können, bitte, dann fordere ich Sie auf, das nachzutragen. Die Mieten stiegen in den letzten Jahren weitaus stärker, als die allgemeinen Preise. 1986, Herr Kansy, betrug die Steigerungsrate bei den Mieten das Zehnfache und 1987 das Neunfache der allgemeinen Steigerungsrate.
Das sind keine Zahlen aus Propagandaschriften der SPD, sondern aus Unterlagen des Wohnungsbauministeriums.Es bedarf auf weiten Gebieten Ihrer Politik — auch im Wohnungsbau — einer dringenden Umkehr. Die notwendige Kurskorrektur ist durch die Verwirklichung unseres Sofortprogramms zu erreichen, durch eine angemessene Förderung des sozialen Mietwohnungsbaus. Hier sind sich doch alle Fachleute einig, daß in den nächsten Jahren gerade zur Versorgung der unteren Einkommenschichten zirka 50 000 Wohnungen gefördert werden müssen. Wenn der Wohnungsnot begegnet werden soll, ist für ausreichenden Wohnraum zu sorgen.Wir wissen, daß die Probleme, die vor uns liegen, nicht allein durch sozialen Wohnungsbau gefördert werden können, sondern daß auch das private Kapital für den Wohnungsbau engagiert werden muß. Darüber gibt es keine Meinungsverschiedenheiten. Das wird man nur — auch darüber gibt es keine Meinungsverschiedenheiten — durch entsprechende steuerliche Maßnahmen erreichen können. Wir brauchen aber — und das unterscheidet uns von Ihnen — öffentlich geförderten und frei finanzierten Mietwohnungsbau nebeneinander,
wenn wir die große Aufgabe, die sich uns stellt, bewältigen wollen.Es ist falsch, Herr Minister, zu glauben, daß durch ein Sonderprogramm Wohnungsversorgung für Ausländer, wie Sie es initiieren und das Bundeskabinett es beschlossen hat, das Problem lösen zu können.
— Frau Kollegin Rönsch, ich gehe einmal davon aus, daß Sie unterstellen, daß der Herr Minister weiß, was aus seinem Haus herausgegeben wird, und daß Sie wissen, was die Regierung beschlossen hat.Pressemitteilungen des Bundeswohnungsbauministeriums: Bundeskabinett beschließt Sonderprogramm — Wohnungsversorgung der Aussiedler über 1,125 Milliarden DM. — Ich weiß gar nicht, warum Sie das heute nicht wahrhaben wollen. Damals haben Sie gehofft, damit im trüben fischen zu können; das ist voll danebengegangen. Es ist falsch, zu glauben, daß durch ein solches Programm das Wohnungsproblem gelöst werden kann. Wohnungen müssen für Einheimische und Aussiedler gleichermaßen geschaffen werden. Wenigstens hier scheinen Sie ja, wie Ihre neuen Vorschläge zeigen, etwas dazugelernt zu haben.
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9860 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 134. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. März 1989
MenzelIhre Vorschläge reichen aber nicht aus. Sie sind halbherzig und wohl mehr im Finanzministerium als im Wohnungsbauministerium geschrieben worden. Sie haben einseitig auf Wohngeld als wohnungspolitisches Instrument gesetzt. Diese Politik ist falsch. Das entbindet Sie aber nicht von der Verpflichtung, das Wohngeld so anzuheben, daß es gerade auch den unteren Einkommensschichten möglich ist, familiengerechte Wohnungen zu bewohnen.Die Entwicklung der Miete seit der letzten Wohngeldanhebung macht eine spürbare Wohngeldanpassung notwendig, und zwar für alle Wohngeldempfänger, nicht nur für die in München. Ich bin geradezu auf das gespannt, was der Kollege Grünbeck bei den Beratungen im Ausschuß sagen wird. Er hat ja damals die sechste Stufe von Herzen als raumpolitisch verfehlt abgelehnt. Aber ich vermute, er wird sich genauso verhalten wie die anderen FDP-Mitglieder; er wird zu diesem Zeitpunkt im Ausschuß fehlen.Bayern, das Land aus dem Sie kommen, Herr Minister, fordert eine Lex München. Diese Forderung wollen Sie ja jetzt erfüllen, weil dort die Wohnungslage am katastrophalsten ist. Dazu beigetragen hat — das schreiben Ihnen doch auch Ihre bayerischen Freunde ins Stammbuch —, daß der Förderungsbetrag, den das Land Bayern 1987 vom Bund für den ersten und zweiten Förderungsweg erhalten hat, lächerliche 52 Millionen DM betrug. 1982 — zu Ihrer Erinnerung — waren es noch 259 Millionen DM. Die Zahlen sind ja in allen Ländern die gleichen. Das ist Ihre Politik. Wahrlich, da ist es nicht verwunderlich, wenn Ihre Politik auch in München zu einer wohnungspolitischen Katastrophe führt.Dazu kommt noch, daß auch in München durch den Wegfall der Gemeinnützigkeit die Mieten weiter steigen werden. Denn von den ca. 1 Million Wohnungen, für die durch Ihre Entscheidung, die Gemeinnützigkeit zu beseitigen, die gemeinnützige Kostenmiete entfällt, befinden sich 1 000 in München. Das wird die Mietsteigerung noch weiter beschleunigen. Da werden auch Ihre Beschönigungen nichts helfen.Das hat Ihnen ja auch Ihr Landsmann, Herr Minister, der Senator Hunger, ins Stammbuch geschrieben, wenn er zur Abschaffung der Gemeinnützigkeit sagt:Die schrittweise Nutzung von Mieterhöhungsspielräumen aus ganzen Bündeln unterschiedlicher menschlicher und wirtschaftlicher Motive wird den Wohnungsmarkt zu Lasten der eher einkommensschwachen Mitbürger verändern.Nicht Steuerbefreiung von Flugbenzin, nicht Steuergeschenke für die Bezieher hoher Einkommen, sondern der Bau von familiengerechten Wohnungen zu tragbaren Bedingungen und die Erhöhung des Wohngeldes für alle Wohngeldempfänger sind das Gebot der Stunde.Die Tatsache, daß Ihnen die Wähler scharenweise weglaufen, muß Ihnen doch zu denken geben. Das ist die Quittung für Ihre verfehlte Wohnungs- und Mietenpolitik. Ihre Vorschläge zeigen, daß Sie noch nicht sehr viel dazugelernt haben.Mit unserem Sofortprogramm wird den Wohnungssuchenden, den Aussiedlern und den Einheimischengleichermaßen, geholfen. Mit unserem Programm wird familiengerechtes Wohnen wieder möglich gemacht.Ich darf mich herzlich bedanken.
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Rönsch.
Herr Präsident! Liebe Kollegen! Liebe Kolleginnen! Es war eigentlich selbstverständlich, daß sich die Sozialdemokraten bei der ersten sich bietenden Gelegenheit in eine Wahlanalyse nach der hessischen Kommunalwahl versteigen. Nur, Herr Kollege Conradi, die Analyse, die Sie hier vorgetragen haben, trifft so wohl nicht zu. Sie haben durchaus zugestanden, daß es nicht an einem SPD-Programm und an der SPD-Politik gelegen haben kann, wenn Wähler ihre Stimme nicht mehr der CDU gegeben haben; denn ein SPD-Programm konnte ich nicht erkennen. Nur: Ihre Analyse stimmt so nicht.Ich bin sicher, daß der Wähler bei guten sozialen, wirtschaftlichen, sicherheitspolitischen Rahmenbedingungen ohne Zukunftsangst dazu neigt, eher einmal zu experimentieren, und sich dann vielleicht nach links oder nach rechts orientiert und dort seine Stimme gibt.
Die Gemeinschaft der Demokraten und der Parteien in der Mitte sollte sich darin verstehen, sich darüber Gedanken zu machen, wie man diese Wähler wieder zurückgewinnen kann.
Herr Kollege Conradi, Sie haben meine Zwischenfrage vorhin nicht zugelassen. Ich möchte die Frage deshalb hier stellen und auf den Kollegen Menzel zurückkommen, der das Aussiedlerprogramm, das so genannt wurde, ausschließlich auf Aussiedler bezieht. Das trifft ja nun so nicht zu. Sie sind ja alle mit im Ausschuß.Herr Kollege Menzel, bei der letzten Wohnungsdebatte haben wir hier schon darüber gesprochen: Dieses Programm hat genauso für Bundesbürger, die schon die ganze Zeit hier gewohnt haben, zugetroffen. Sie wissen es doch auch: Diese Bürger hätten auch schon eine Wohnung beziehen bzw. hätten Eigentum bilden können, wenn sie eine Wohnung im sozialen Wohnungsbau freigemacht hätten.Wir hatten bei der letzten Wohnungsbaudebatte einen neuen Wohnungspolitiker, der jetzt nach Frankfurt abgedriftet ist. Er hat Statistiken vorgelesen, hat sie aber nicht richtig ausgewertet und hat natürlich die Stadt Frankfurt als Beispiel genommen. Nur: Für ihn war es ein schlechtes Beispiel, weil die kommunale Politik in Frankfurt beispielhaft für die ganze Bundesrepublik gewesen ist; denn dort wurden Quadratmetermieten von der Kommune bis zu 12 DM gefördert.
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Frau Rönsch
Ich hätte mir in meiner sozialdemokratisch geführten Stadt gewünscht, daß auch dort dann ein gleiches Programm aufgelegt worden wäre. Wir haben dort noch Baugelände aus der Zeit der Neuen Heimat, voll erschlossen, aber die Kommune hat auf diesem Baugelände effektiv nichts getan, weil sie Wohnungen aufkaufen mußte.
Ich meine, das ist keine richtige Politik von Kommunen. Wir müssen an der Stelle jetzt nach unserem neuen Programm die Kommunen auffordern, auch in der Zukunft Bauland bereitzustellen, damit wir mit unserem neuen Programm auch bauen können.
Herr Kollege Müntefering, Sie haben sich hier als Prophet hingestellt und gesagt: Die Sozialdemokraten haben diese große Wohnungsnot ja schon ewig vorhergesehen.
Zu Zeiten des Skandals der Neuen Heimat habe ich in dieser Richtung von Ihnen überhaupt nichts gehört.
Wie alt ist diese Prophetie denn? Ich würde Ihnen empfehlen, doch einmal in Protokollen von vor einem Jahr nachzulesen. Diese Protokolle sagen nämlich aus, daß Sie und ich und andere Kollegen aus dem Raumordnungsausschuß, daß wir uns um just diese Zeit in Hamburg und in Köln Großsiedlungen angesehen haben, die kurz vor dem Kollaps standen und wo Wohnungsleerstände in ungeheurem Ausmaß vorhanden waren.
Am 24. Februar 1988 haben wir uns in HamburgSteilshoop — das ist in den Protokollen nachzulesen — anhören müssen, daß dort die Belegungsbindungen aufgehoben worden sind, damit man endlich diese Wohnungen unter die Leute bringt, und daß die Mieten gesenkt worden sind, damit man endlich Mieter für diese Wohnungen findet.
Frau Kollegin Rönsch, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Müntefering.
Selbstverständlich, aber ich möchte den Gedanken noch zu Ende reden.
Das war, Herr Kollege Conradi, am 24. Februar 1988.
Ihre Prophetie, ewig schon die Wohnungsnot vorhergesagt zu haben, kann so lange nicht her sein.
Bitte schön.
Ich bin nicht für die Ewigkeit hier, ich habe von drei Jahren gesprochen. Meine Frage aber ist: Wollen Sie denn bestreiten, daß wir Sozialdemokraten 1986 dagegen protestiert haben, daß die Bundesregierung die Förderung des sozialen
Mietwohnungsbaus auf null gebracht hat, und daß wir seitdem jedes Jahr in der Haushaltsdebatte beantragt haben, Mittel für den sozialen Mietwohnungsbau zur Verfügung zu stellen, damit die Probleme, die sich andeuteten, auch gelöst werden konnten?
Herr Kollege Müntefering, ich bestreite nicht, daß die Sozialdemokraten immer schon eine glückliche Hand dafür hatten, ausgabenwirksame Forderungen zu stellen.Ich komme auch gleich noch zum Kollegen Menzel. Der Haushalter Roth ist ja nicht mehr da. Es wäre einmal interessant, von ihm zu hören, wie bei einer Haushaltssituation, wie wir sie 1982 vorgefunden haben, all die Forderungen, die Sie jetzt wieder aufbringen, finanziert werden sollten.
— Man darf doch wohl noch darüber sprechen, daß wir 1982 eine für das Jahr 1983 prognostizierte Nettoneuverschuldung von 59 Milliarden DM vorgefunden haben.
— Ja, aber bitte schön: Wir hatten damals eine Inflationsrate von 5,9 %. Das sind doch andere Zahlen, als man sie hier jetzt vorfindet.Wir haben uns seinerzeit Gedanken darüber gemacht, was wir mit den leerstehenden Wohnungen machen sollten. Der Wohnungsbauminister von Nordrhein-Westfalen, Herr Zöpel,
und mit ihm der Bundesbauminister sind zu der Erkenntnis gelangt, daß große Wohnungsleerstände bestehen und daß wir eine scheußliche Stadtarchitektur haben, die zum großen Teil durch die Neue Heimat verursacht wurde, und daß wir etwas tun müssen, um diese Wohnungsleerstände zu beseitigen und um eine neue Stadtarchitektur zu gestalten. Bei dem erwähnten Besuch in Köln hat ein Kollege des Herrn Zöpel auf die Frage der Abgeordneten Rönsch seinerzeit geantwortet, daß solche Siedlungen abgerissen werden müßten; das sei die Meinung des nordrhein-westfälischen Wohnungsbauministers.
Das war am 2. März 1988, also vor genau einem Jahr.
Ich gestehe Ihnen ein, meine sehr verehrten Herren und Damen, daß wir in der Zwischenzeit eine andere Situation haben. Wir haben im vergangenen Jahr eine Ausreisewelle von deutschstämmigen Aussiedlern in Höhe von 250 000 Personen gehabt. Darauf haben wir reagiert. Wir haben ein Programm aufgelegt, das für diese Aussiedler, aber auch für die deutsche Wohnbevölkerung gegriffen hat.Ich gestehe Ihnen auch ein, daß wir auch für die jungen Leute etwas tun müssen, die — sie sind 18 Jahre oder älter — zu Hause ausziehen und beim
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9862 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 134. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. März 1989
Frau Rönsch
Wohnungsamt eine Wohnung nachfragen. Wir reagieren.Wir tun auch etwas für die Senioren. Wir haben ja gestern eine Anhörung zum Thema „Wohnen im Alter" durchgeführt, und wir haben aus diesem Anlaß von diesen Problemen gehört. Wir tun auch etwas für die Senioren, die Wohnungen nachfragen.
Wir haben gestern — deshalb haben Sie ja einen etwas unglücklichen Zeitpunkt gewählt — unser Wohnungsbauprogramm beraten, und wir haben es heute vorgestellt. Ich meine, daß man mit diesem Wohnungsprogramm ausgezeichnet leben kann.Ihr Sofortprogramm, das in diesem Frühjahr ausgedacht und dann hier vorgelegt wurde, wird nicht das richtige Instrument sein, um den Mietern, die jetzt auf dem Markt stehen, sofort zu helfen.Man muß allerdings auch anerkennen, daß wir im nächsten Jahr mit Sicherheit nicht mehr die Probleme haben werden, wie wir sie jetzt teilweise, punktuell in verschiedenen Regionen haben; denn die Baurate ist zweistellig. Ich muß sagen: Ich bin ausgesprochen glücklich, daß wir mit Sicherheit schon im nächsten Jahr eine etwas bessere Versorgung in den Regionen vorfinden werden, die jetzt schon mit Wohnungssuchenden überhäuft sind. Ich bin auch sicher, daß unser Programm, das wir jetzt aufgelegt haben, für die Mieter und Mieterinnen auch in Zukunft richtungweisend sein wird, so daß wir uns diese häufigen Wohnungsdebatten, wie wir sie nur zu Zeiten der Neuen Heimat geführt haben, in Zukunft werden ersparen können.
Meine Damen und Herren, ich schließe die Aussprache.Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen auf den Drucksachen 11/3256, 11/4083, 11/4085 und 11/4181 an die in der Tagesordnung ausgewiesenen Ausschüsse zu überweisen.Der Antrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 11/4203 soll — anders als in der Tagesordnung aufgeführt — an den Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau zur federführenden Beratung und an den Finanzausschuß und den Haushaltsausschuß zur Mitberatung überwiesen werden. Sind Sie mit diesen Überweisungen einverstanden? — Ich sehe dazu keinen Widerspruch. Sie sind dann also so beschlossen.Jetzt kommen wir zu Tagesordnungspunkt 4 d, und zwar zur Abstimmung über die Beschlußempfehlung des Ausschusses für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau auf der Drucksache 11/1443. Der Ausschuß empfiehlt, den Antrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 11/344 abzulehnen. Es geht um die Förderung des Städtebaus. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? —
— Soll ich hier feststellen, daß die CDU/CSU zusammen mit den GRÜNEN gestimmt hat? War es ein Irrtum? Oder?
— Also, ich stelle fest, daß diese Beschlußempfehlung mit der Mehrheit der Koalitionsfraktionen und der Fraktion DIE GRÜNEN angenommen worden ist.Wir stimmen jetzt über die Beschlußempfehlung des Ausschusses für Wirtschaft auf Drucksache 11/3693 ab. Der Ausschuß empfiehlt, den Antrag der Fraktion DIE GRÜNEN auf Drucksache 11/1645 abzulehnen. Es geht um Maßnahmen zur Einpassung der Einzelhandelsnutzung in das übergeordnete Gesamtsystem der städtischen Entwicklung. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Dann ist diese Beschlußempfehlung mit der Mehrheit der Koalitionsfraktionen und der SPD gegen die Stimmen der GRÜNEN angenommen.Jetzt kommt die Abstimmung zu Zusatztagesordnungspunkt 3, und zwar über die Beschlußempfehlung des Ausschusses für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau auf Drucksache 11/4147. Der Ausschuß empfiehlt, den Antrag der Fraktion DIE GRÜNEN auf Drucksache 11/2570 — es geht um den Verkaufsstopp für Wohnungen aus dem Besitz des Bundes — abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? — Wer stimmt dagegen? — Die Beschlußempfehlung ist mit derselben Mehrheit angenommen.Wir stimmen jetzt zu Zusatzpunkt 4 der Tagesordnung über die Beschlußempfehlung des Ausschusses für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau auf Drucksache 11/4148 — betreffend den Verkaufsstopp für die bundeseigene „Elefantensiedlung" in Neu-Ulm — ab. Der Ausschuß empfiehlt, den Antrag der Fraktion DIE GRÜNEN auf Drucksache 11/2571 abzulehnen. Wer stimmt für die Beschlußempfehlung? — Wer stimmt dagegen? —
Enthaltungen? — Die Beschlußempfehlung ist mit der Mehrheit der Koalitionsfraktionen angenommen.Wir kommen zu Zusatztagesordnungspunkt 5. Abzustimmen ist über die Beschlußempfehlung des Ausschusses für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau auf Drucksache 11/4149. Der Ausschuß empfiehlt, den Antrag der Fraktion DIE GRÜNEN auf Drucksache 11/2569 abzulehnen. Hier geht es um den Verkaufsstopp für Wohnungen des bundeseigenen Salzgitter-Konzerns. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Diese Beschlußempfehlung ist mit der gleichen Mehrheit angenommen worden.Nun rufe ich Punkt 5 der Tagesordnung auf:a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 134. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. März 1989 9863
Vizepräsident WestphalVerbesserung und Vereinfachung der Vereinsbesteuerung
— Drucksache 11/4176 —Überweisungsvorschlag: Finanzausschuß
InnenausschußSportausschußAusschuß für Wirtschaft Haushaltsausschuß gem. § 96 GOAusschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebaub) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Verbesserung des Gemeinnützigkeitsrechts— Drucksache 11/390 —Überweisungsvorschlag des Ältestenrates:Finanzausschuß
Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forstenc) Erste Beratung des von den Abgeordneten Büchler , Dr. Apel, Dr. Spöri, Börnsen (Ritterhude), Dr. Hauchler, Huonker, Kastning, Frau Matthäus-Maier, Dr. Mertens (Bottrop), Oesinghaus, Poß, Reschke, Westphal, Dr. Wieczorek, Frau Adler, Amling, Andres, Antretter, Frau Becker-Inglau, Bernrath, Frau Blunck, Brück, Büchner (Speyer), Frau Bulmahn, Conradi, Daubertshäuser, Dreßler, Egert, Ewen, Fischer (Homburg), Frau Fuchs (Verl), Gansel, Gilges, Frau Dr. Götte, Grunenberg, Dr. Haack, Frau Hämmerle, Frau Dr. Hartenstein, Heimann, Heistermann, Heyenn, Hiller (Lübeck), Dr. Holtz, Horn, Ibrügger, Jaunich, Dr. Jens, Jung (Düsseldorf), Jungmann, Kirschner, Kißlinger, Dr. Klejdzinski, Kolbow, Koltzsch, Koschnick, Kretkowski, Kuhlwein, Lambinus, Leidinger, Leonhart, Lohmann (Witten), Lutz, Frau Dr. Martiny, Menzel, Dr. Mitzscherling, Müller (Pleisweiler), Müller (Schweinfurt), Müntefering, Nehm, Dr. Niese, Oostergetelo, Dr. Penner, Peter (Kassel), Pfuhl, Porzner, Reimann, Reuschenbach, Reuter, Rixe, Dr. Scheer, Schmidt (München), Schmidt (Salzgitter), Dr. Schmude, Dr. Schöfberger, Schreiner, Schröer (Mülheim), Seidenthal, Frau Seuster, Sieler (Amberg), Sielaff, Dr. Soell, Stahl (Kempen), Steiner, Frau Steinhauer, Stiegler, Stobbe, Frau Terborg, Frau Dr. Timm, Urbaniak, Vahlberg, Verheugen, Voigt (Frankfurt), von der Wiesche, Walther, Wartenberg (Berlin), Weiermann, Frau Weiler, Weisskirchen (Wiesloch), Dr. Wernitz, Würtz, Zumkley, Dr. Vogel und der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Verbesserung des Gemeinnützigkeitsrechts— Drucksache 11/1334 —Überweisungsvorschlag des Ältestenrates:Finanzausschuß
Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und ForstenMeine Damen und Herren, nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die gemeinsame Beratung dieser Vorlagen 90 Minuten vorgesehen. — Es erhebt sich kein Widerspruch. Dann ist so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache. Das Wort zur Einbringung hat der Parlamentarische Staatssekretär im Bundesministerium der Finanzen, Dr. Häfele.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Bundesregierung legt heute den Gesetzentwurf zur Verbesserung und Vereinfachung der Vereinsbesteuerung, das Vereinsförderungsgesetz, vor. Mit diesem Gesetzentwurf werden großzügige Lösungen in schwierigen Fragen angeboten, bei denen ein mehrfaches Spannungsverhältnis besteht.Zum einen wollen sich unsere Vereine natürlich wirtschaftlich betätigen, um die Mittel für ihren gemeinnützigen Zweck möglichst aufzustocken und zu verwenden. Auf der anderen Seite stehen sie damit natürlich im Wettbewerb mit mittelständischen Betrieben, die möglichst unter gleichen Bedingungen am Markt auftreten möchten.Ein anderes Spannungsverhältnis: Zum einen wollen die Vereine möglichst viele Spenden erhalten — deswegen auch steuerliche Spendenabzugsfähigkeit — , wiederum um ihre gemeinnützigen Zwecke zu fördern. Auf der anderen Seite muß das natürlich zu anderen Abzugsmöglichkeiten in Vergleich gesetzt werden, die das Steuerrecht gewährleistet, etwa zu Unterhaltszahlungen, etwa auch zum Kinderfreibetrag.Warum ist der Gesetzentwurf, den die Bundesregierung hier vorlegt, großzügig angelegt? Die Bundesregierung will damit das verdienstvolle Wirken unserer Vereine und der in ihnen ehrenamtlich tätigen Bürger anerkennen.
Dieses gemeinnützige Wirken ist auch gesellschafts- und staatspolitisch erwünscht. Dies gilt für die rein selbstlosen, karitativen Vereine sowieso, aber darüber hinaus auch für die anderen Vereine, die gemeinnützig sind; denn sie üben einen Dienst an der und für die Gemeinschaft aus. Die Vereine haben eine gemeinschaftsbildende Kraft. Denken wir allein an die Jugendbetreuung! Was hier in den Vereinen teilweise geleistet wird, könnte kein Staat ersetzen.
Wenn die Vereine diese Aufgaben nicht erfüllen würden, würde der Ruf nach dem Staat und nach noch mehr staatlichen Ausgaben um so lauter.
Deshalb dieser großzügige Gesetzentwurf. Er bietet vor allem eine durchgreifende Verwaltungsvereinfachung für die Vereine selbst. Rund 90 % aller unserer Vereine werden von der Körperschaftsteuer und von der Gewerbesteuer praktisch nicht mehr erfaßt werden.
Es gibt aber auch eine Vereinfachung für die ehrenamtlichen Kräfte, die damit eine Erleichterung in ih-
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Parl. Staatssekretär Dr. Häfelerem Geschäft haben, etwa für die Kassierer, die es künftig viel leichter haben werden.
Die wichtigsten Verbesserungen, die wir bieten, sind folgende.Erstens. Eine Besteuerungsgrenze von 60 000 DM für die Summe aller wirtschaftlichen Geschäftsbetriebe wird eingeführt. Das ist eine durchgreifende und großzügige Verwaltungsvereinfachung. In der Regel rund 90 %, ich sagte es schon, der Vereine werden mit der Gewerbesteuer und der Körperschaftsteuer nichts mehr zu tun haben. Auch die schwierigen Aufteilungen bei den verschiedenen Tätigkeiten eines Vereins werden nicht mehr zu erfolgen haben.Zweitens. Dies ist vor allem für größere Vereine, die teilweise meinen, sie hätten keinen Nutzen. Aber das trifft nicht zu. Auch sie haben einen Nutzen. Die Verrechnungsmöglichkeiten zwischen Gewinnen und Verlusten aus verschiedenen wirtschaftlichen Geschäftsbetrieben ist eine weitere wichtige Vereinfachung.Drittens gibt es darüber hinaus noch um 50 % erhöhte Freibeträge sowohl bei der Körperschaftsteuer als auch bei der Gewerbesteuer.Viertens haben wir eine Zweckbetriebsgrenze von ebenfalls 60 000 DM im Jahr für sportliche Veranstaltungen, — auch eine Vereinfachung für weitaus die meisten Vereine.Fünftens wird auch die bisherige Überschußgrenze für kulturelle Veranstaltungen beseitigt, — auch eine Vereinfachung.Außerdem wird die Zweckbetriebseigenschaft geselliger Veranstaltungen abgeschafft.Schließlich soll das dem Wettbewerbsgedanken durchaus Rechnung tragen, weil insoweit eine wirtschaftliche Betätigung vorliegt. Dann wird noch ein Angebot an die kleinen Vereine, die unter der Grenze von 60 000 DM sind, gemacht, die Vorsteuer wahlweise zu pauschalieren.Das sind alles in allem doch sehr durchgreifende und wirksame Vereinfachungsmaßnahmen. Vor allem für die Vereine und ihre ehrenamtlichen Vereinsvorstände besteht künftig nicht mehr die Notwendigkeit, da und dort umständliche und zweifelhafte Gestaltungen vorzunehmen, also etwa Entlohnung von ehrenamtlicher Tätigkeit mit anschließender Rückspende, mit allen Verrenkungen und Zwielichtigkeiten, die damit oft verknüpft sind; das wird künftig nicht mehr notwendig sein.Weil der Gesetzentwurf großzügig ist, haben wir allerdings die Bitte, daß bei der wirtschaftlichen Betätigung nicht mehr draufgesattelt werden darf. Es gibt im Bundesrat einen Antrag in diese Richtung. Wir können nicht großzügig pauschalieren — was wir tun — und dann noch einige wirtschaftliche Betätigungen gleichsam außen vorlassen, praktisch addieren. Das würde zu weit gehen. Denn wir müssen immer an den Wettbewerb denken, den die Vereine mit mittelständischen Betrieben haben.Der Gesetzentwurf nimmt auch eine gewisse Ausweitung der Gemeinnützigkeit vor. Aber damit von vornherein klar ist: Es kann sich hierbei nur um vergleichbare neue Tätigkeiten handeln, die mit bisher schon als gemeinnützig anerkannten Tätigkeiten wirklich zu vergleichen sind. Denn in der Vergangenheit hatten wir ja die Nichtstimmigkeiten, die uns immer Kummer machten. Auf der einen Seite war z. B. Pferdezucht anerkannt, Kleintierzucht nicht; Schach war anerkannt, Skat nicht. Das kann nicht befriedigen. Der Entwurf folgt Anträgen, die zweimal im Bundesrat gestellt wurden und die auch die SPD-Opposition gestellt hat, und zwar am 25. November 1987, nämlich daß auch die Pflanzen- und Kleintierzuchtvereine unter die Gemeinnützigkeit fallen. Hierüber besteht Übereinstimmung im Bundesrat und zwischen allen Fraktionen dieses Hauses. Nur muß man sich darüber im klaren sein, daß damit vergleichbare Tätigkeiten natürlich ebenfalls so behandelt werden müssen. Dabei spielt es keine Rolle, ob das ausdrücklich im Gesetz oder nur in der Begründung steht, weil die Aufzählung im Gesetz nur beispielhaft ist und damit alle vergleichbaren Tätigkeiten eben gleichbehandelt werden müssen.Es muß aber klar bleiben: Nicht jeder fällt darunter. Es bleibt die Vorschrift der Abgabenordnung bestehen, daß die Allgemeinheit gefördert werden muß. Diese Vorschrift der Abgabenordnung gilt auch künftig. Reine Geselligkeitsvereine können natürlich nicht als gemeinnützig anerkannt werden.Es hat auch eine kritische Diskussion zum Spendenabzug gegeben. Das kann man gut verstehen, weil darin ein Problem steckt. Es wird auf die Mißbrauchsmöglichkeiten hingewiesen; die Sorge ist vorhanden. Nur eines muß klar sein: Die jetzt beschränkt neu zugelassenen gemeinnützigen Vereine müssen auch beim Spendenabzug mit den bisherigen gleichbehandelt werden. Man kann hier nicht zweierlei Maß anwenden. Wir können nicht sagen: Weil sie jetzt zufällig in der Vergangenheit schon anerkannt waren, behalten sie den Spendenabzug, und die neuen bekommen es nicht. Was vergleichbar ist, muß gleichbehandelt werden.Wir setzen das Vertrauen in die ehrenamtlichen Kräfte der Vereine, daß sie alles tun, um nicht Mißbrauchsmöglicheiten zu schaffen und hier Mißbräuche einreißen zu lassen, die den guten Zweck dieses Vereinsförderungsgesetzes ins Gegenteil verkehren würden. Auf jeden Fall ist eine durchgreifende Reform des Spendenrechts mit diesem Gesetzentwurf nicht beabsichtigt. Das schaffen wir in diesem Rahmen auch nicht.Wir dürfen diesen Gesetzentwurf nicht mit anderen Wünschen überfrachten. Teilweise hat der Bundesrat einige Ausweitungen beschlossen. Das sollten wir nicht machen. Wir sollten uns auf den Hauptsinn des Gesetzes konzentrieren: Vereinfachung für weitaus die meisten Vereine und Beseitigung von Unstimmigkeiten.Ich wäre dem Hohen Hause dankbar, wenn die Beratungen so zügig vor der Sommerpause zu Ende geführt werden könnten, daß wir die Bestimmungen noch vor der Sommerpause im Gesetzblatt veröffentlichen können, um — wie es die Bundesregierung seit
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Parl. Staatssekretär Dr. HäfeleJahren gesagt hat — zeitgleich mit der Steuerreform 1990 diese Steuervereinfachung zu haben.
Das Wort hat der Abgeordnete Opel.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das von der Bundesregierung vorgelegte Gesetz zur Verbesserung und Vereinfachung der Vereinsbesteuerung soll das Gemeinnützigkeitsrecht verbessern und vereinfachen. Diese Zielsetzung wird von uns ausdrücklich begrüßt.
Es ist sicherlich so, Herr Staatssekretär Dr. Häfele, daß das Gemeinnützigkeitsrecht äußerst komplex ist. Ein Indiz dafür ist allein der Umfang des Gutachtens der Sachverständigenkommission zur Prüfung des Gemeinnützigkeits- und Spendenrechts vom 24. März letzten Jahres, das weit über 500 Seiten umfaßt. Bei dieser schwierigen Materie ist es nicht verwunderlich, daß Maßnahmen, die der Vereinfachung und der besseren Handhabbarkeit dienen sollen, zugleich neue Probleme aufwerfen. Wir haben darüber jüngst in der Presse einiges an beispielhaften Darstellungen lesen können; und ich bin noch nicht einmal sicher, ob diese Darstellungen alle Extrembeispiele beinhalten.Für uns ist eines klar: daß der Gesetzentwurf auf jeden Fall eine Ausweitung des Gemeinnützigkeitsrechts bietet, nicht aber in jedem Fall eine Verbesserung und Vereinfachung.Unsere größte Sorge gilt der Tatsache, daß allein durch die Ausdehnung des Gemeinnützigkeitsbegriffs Steuerausfälle von über 100 Millionen DM pro Jahr vorprogrammiert sein sollen. Ich bezweifle, ob sich der Finanzminister bei seiner Schätzung der Mindereinnahmen besonders wohl fühlte.Eines möchte ich allerdings trotz aller Bedenken und Kritik als unsere Grundhaltung deutlich zum Ausdruck bringen: Wir Sozialdemokraten haben uns stets eindeutig für eine verstärkte Förderung gemeinnütziger Tätigkeiten und Aktivitäten eingesetzt. Das wird auch so bleiben.Dafür möchten wir auch ganz bewußt das finanzpolitische Instrumentarium einsetzen.
— Nein, Herr Kollege, das ist, wie Sie wissen, nicht der Fall.
Das führt natürlich zu steuerlichen Folgen; das ist klar. Insoweit stimme ich Ihnen zu. Allerdings bewegen sich hier Steuererleichterungen, die im wesentlichen vom Bund getragen werden müssen, möglicherweise in gewissem Maße gegenläufig zu Zuschüssen von Gemeinden, Ländern und Kreisen.Vor allem geht es uns dabei um die angemessene Förderung unserer jungen Sportlerinnen und Athleten. Uns geht es auch um die Förderung kultureller, wissenschaftlicher und anderer ideeller Tätigkeiten. Daneben ist die Öffnung der Förderung für die dem Sport nahestehenden Tätigkeiten und für sinnvolle Freizeitbetätigungen sowie ähnliche Zwecke grundsätzlich nicht abwegig. Wir unterstützen auch eine an praktischen Überlegungen orientierte Lösung. Wir wollen insbesondere auch den gesellschaftlichen Wert des ehrenamtlichen Elements in unseren Vereinen sichtbar anerkennen.
Darüber hinaus begrüßen wir die erweiterte Gleichbehandlung vergleichbarer Vereinszwecke — das haben Sie bereits dargestellt — , so z. B. die Gleichbehandlung von Kleingärtnern und Pflanzenzüchtern. Das liegt offenbar sehr nahe beieinander.Dadurch entstehen natürlich besondere Differenzierungsprobleme und selbstverständlich auch neue Abgrenzungsschwierigkeiten. Für uns ist jedoch entscheidend, daß sich für unsere gesellschaftlich engagierten Bürger die steuerliche Behandlung ihres Sportvereins oder ihres Züchtervereins oder auch ihres Briefmarkensammelvereins als eine ganz wichtige, sie persönlich unmittelbar betreffende Frage darstellt.Vor dem Hintergrund unserer eigenen weitgehenden Forderungen — da stimme ich Ihnen zu, Herr Kollege — und unserer grundsätzlichen Bereitschaft, eine Verbesserung und Vereinfachung des Vereinsförderungsgesetzes mitzutragen, möchte ich jedoch auf folgendes hinweisen.Für uns alle hier im Hohen Hause muß klar sein, daß wir damit eine erweiterte Subventionsverpflichtung der öffentlichen Hand eingehen. Für uns muß klar sein, daß wir den gemeinnützigen Vereinen erlauben, ihre Gewinne aus wirtschaftlichen Betätigungen bis zu einer gewissen Obergrenze nicht mehr zu versteuern. Damit erfolgt zweifelsohne eine gewisse Verquickung von ideeller und wirtschaftlicher Vereinsaktivität.
Das führt mich zu der Befürchtung, daß es, wenn wir nicht aufpassen — das wird noch die Arbeit in den Ausschüssen sein — , dazu kommen kann, daß die kommerziellen Aktivitäten im Vereinsbereich immer mehr Platz greifen. Das dürfte nicht zwangsläufig der Absicht entsprechen, unser Gemeinnützigkeitsrecht zu verbessern.Bezeichnend ist für mich auch, Herr Staatssekretär Dr. Häfele, daß Sie einmal zwischen altruistisch-gemeinnützigen und sonstigen gemeinnützigen Vereinen sachgemäß unterschieden haben. Erstere sind Vereine, in denen die Arbeit für öffentliche Aufgaben insbesondere durch ehrenamtliche Kräfte geleistet wird. Während die genannte Sachverständigenkommission primär diese altruistisch-gemeinnützigen Vereine fördern wollte, möchte jetzt die Bundesregierung auch alle anderen gemeinnützigen Vereine mit den gleichen Steuervorteilen und Besteuerungsvorteilen ausstatten. Wir Sozialdemokraten tragen diese großzügige Regelung im Grundsatz mit, und zwar deswegen, weil sie insbesondere unseren Sportverei-
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Opelnen zugute kommt und außerordentlich wichtige gesellschaftliche Aufgaben in unserem Land fördert.Wir entwickeln uns — das entspricht durchaus sozialdemokratischer Sicht des Menschen — in Richtung auf eine ausgedehnte Freizeitgesellschaft. Deshalb ist es nur folgerichtig, wenn sinnvolle Freizeitbeschäftigungen auch steuerlich bevorzugt behandelt werden. Allerdings kann die steuerliche Förderung nicht so weit gehen, daß sie mehr ist als eine steuerliche Entlastung mit Anerkennungscharakter.Ich möchte nun zu einigen Problembereichen Stellung nehmen, die uns in den Ausschußberatungen sicherlich noch gemeinsam intensiv beschäftigen werden.Erstens. Wir müssen feststellen, daß es durchaus konkurrierende Förderungsziele gibt. Zum Beispiel ist die Förderung von Motorsportvereinen oder Sportfliegervereinigungen durchaus in Konkurrenz zu unseren Umweltzielen zu sehen. Es ist deshalb nicht unproblematisch, solche Sportarten zu fördern, obwohl dies heute, wie wir alle wissen, gängige Praxis ist.Zweitens. Die Erleichterungen für wirtschaftliche Betätigungen können, wie ich schon andeutete, zu Mißbräuchen führen. Grundsätzlich sollen wirtschaftliche Geschäftsbetriebe auch künftig steuerpflichtig bleiben. Der Gesetzentwurf der Bundesregierung führt eine faktische Besteuerungsgrenze für sich wirtschaftlich betätigende Vereine von 60 000 DM pro Jahr ein. Damit, so führt die Bundesregierung an — Sie haben es genannt, Herr Staatssekretär — , würden rund 90 % der Vereine von der Besteuerung ausgenommen. Ich befürchte auch hier Mißbrauchsmöglichkeiten, da man „kleine Vereine" auch konstruieren könnte und somit durch Aufteilung oder Gründung kleinerer Vereine der Besteuerungspflicht entgehen könnte.Drittens. Für die Umsatzsteuer soll jeweils das Vorjahresergebnis der Umsätze maßgeblich sein. Das kann dazu führen, daß bei wirtschaftlicher Betätigung eines Vereins auch dann keine Umsatzsteuer erhoben wird, wenn der aktuelle Umsatz im laufenden Jahr die 60 000 DM-Grenze deutlich überschreitet. Man muß hier aufpassen, daß nicht ein Zwei-Jahres-Rhythmus in Gang gesetzt wird, der einer Springprozession gleicht. Meine Damen und Herren, wenn wir Wege für finanzielle Erleichterungen für unsere Bürger schaffen, dürfen wir uns nicht wundern, wenn unsere Bürger diese Wege auch annehmen. Das haben sie in der Vergangenheit immer getan. Das ist völlig legitim. Wir müssen — das ist unsere Verpflichtung — , in den Ausschüssen darauf achten, daß solche Wege nicht in einer Weise eröffnet werden, daß sie zu sehr ein Angebot zu Mißbräuchen sind.Viertens. Eine weitere Mißbrauchsmöglichkeit berührt die Umwidmung von Vereinsbeiträgen in steuerabzugsfähige Spenden. So könnte ich mir vorstellen, daß in Zukunft Vereine, die sich derzeit noch durch hohe Mitgliedsbeiträge auszeichnen, in Zukunft eher auf die Spendenbereitschaft ihrer Mitglieder setzen und damit ihre Mitgliedsbeiträge zu Lasten des Fiskus reduzieren.Fünftens. Es besteht weiterhin die Gefahr der Disparität zwischen den steuerlich geförderten Freibeträgen. Sie haben darauf hingewiesen, daß steuersystematisch — darauf möchte ich im Augenblick nicht eingehen, obwohl dieses gerade bei der Union zu sehr heftigen Diskussionen führt — die Grenze des Kinderfreibetrages sicherlich ein Problem ist, das man in die Gesamtbetrachtungen einbeziehen muß. Hierzu gehört sicherlich auch der Grundfreibetrag, der das Existenzminimum steuerfrei stellen soll. In den steuerlichen Bevorzugungen müssen wir eine Parität zwischen den einzelnen steuerlichen Behandlungen von förderungswürdigen bzw. anzuerkennenden Tätigkeiten sicherstellen.Sechstens. Ein anderes Problem berührt die steuerliche Berücksichtigung geldwerter Leistungen. Darauf möchte ich besonders eingehen. Es ist schwer einzusehen, wieso nur materielle bzw. finanzielle Spenden steuerlich Berücksichtigung finden. Es wäre durchaus zu überlegen, ob die tätige Hilfeleistung — beispielsweise beim Deutschen Roten Kreuz — mit einer fiktiv anzurechnenden Vergütung meinetwegen mit einem Stundenbetrag bis zu einem Maximalbetrag pro Jahr steuerabzugsfähig sein sollte.
Diese wirklich gemeinnützige Tätigkeit würde, da schon kein Entgelt gezahlt wird, wenigstens vom Staat als solche anerkannt und gleichwertig in den Kreis der staatlich mit Steuersubvention geförderten Tätigkeiten aufgenommen. Über die Praxis, wie man das tun sollte, Herr Kollege — ich möchte den Zwischenruf aufnehmen — , sollten wir uns im Ausschuß unterhalten. Aber wir sollten dieses Problem anerkennen und aufnehmen; denn genau diejenigen, die kein Geld bekommen, sollten aus meiner Sicht besonders gefördert werden.
— Es mag durchaus sein, daß hier finanzielle Leistungen erzielt werden können, Herr Dr. Faltlhauser; das möchte ich überhaupt nicht in Abrede stellen. Nur, wir haben das ja schon, und das wird steuerlich gefördert, während die geldwerten Leistungen eben nicht gefördert werden. Darin erblicke ich eine Disparität.Siebtens. Letztlich besteht die Besorgnis, daß ein gewisser Wettlauf auf Spendenbescheinigungen einsetzen könnte. Diese Konkurrenzsituation könnte dazu führen, daß bei einem im Prinzip feststehenden Spendenaufkommen sich einige gemeinnützige Vereine oder Vereinigungen gegenseitig Teile des Kuchens abjagen wollen. Dies aber würde dem Gedanken der Gemeinnützigkeit und des sozialen Engagements diametral widersprechen.Lassen Sie mich zusammenfassen: Der Gesetzentwurf entspricht unseren Intentionen; die angeführten Probleme müssen aber noch intensiv aufgearbeitet werden. Dazu hat uns auch der Bundesrat einige bemerkenswerte Fingerzeige gegeben, und diese müssen wir in Zukunft aufgreifen. Ich bin der Überzeugung, daß wir uns nochmals mit dem Gutachten der unabhängigen Sachverständigenkommission intensiv beschäftigen müssen.
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OpelIch möchte noch ein Wort zur angeblichen Vereinfachung bei kleinen wirtschaftlichen Geschäftsbetrieben sagen. Wenn der Umsatz in die Nähe von 60 000 DM pro Jahr kommt, müssen auch diese Vereine eine Rechnungslegung vornehmen, weil sonst niemand entscheiden kann, ob es über 60 000 oder unter 60 000 DM sind.Hier empfehle ich, über einen gleitenden Übergang zu diskutieren, damit dort keine Schärfe hineinkommt, die letztlich keine Erleichterung für unsere Vereine bedeutet.Ich gebe darüber hinaus zu überlegen, ob in den Gesetzentwurf nicht die lange erwartete Neuregelung des Spendenrechts zumindest ansatzweise dadurch aufgenommen werden sollte, daß Spenden für eindeutig gemeinnützige, z. B. karitative Zwecke, mindestens bis zu einem Sockelbetrag, z. B. 2 500 DM für Ledige und 5 000 DM für Ehepaare, steuerlich Berücksichtigung finden können.Herr Kollege Dr. Häfele, große Sorgen habe ich allerdings wegen Ihres Zeitplanes. Es hat sich gezeigt, daß die Union alleine wegen Ihres Wahlversprechens zum Kindergeld im Augenblick ganz große Probleme hat. Ich hoffe sehr, daß die Koalitionsfraktionen die Kraft haben, die derzeitige tiefe Krise wenigstens dahin gehend zu überwinden, daß sie diese überfällige Reform mit uns so schnell wie möglich durchziehen.Vielen Dank.
Das Wort hat der Abgeordnete Spilker.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir behandeln heute früh ein Thema, das gerade die Damen und Herren, die weiter vorne sitzen, seit vielen, vielen Jahren begleitet, ein Thema, das da oder dort übertrieben betrachtet, aber auch gern verniedlicht wird. Selbst im Bundesrat konnte man bei den Debatten heraushören: Wir wollen einen Weg finden, ich will nicht sagen: in dieser Kleinigkeit, aber in dieser nicht so großen Politik.Wir wollen uns tatsächlich bemühen, endlich einen gangbaren Weg zu finden,
den wir in den letzten Jahren leider nicht finden konnten. Alle haben sich hier bemüht, vorwärts zu kommen; darüber gibt es keinen Zweifel.Aber, meine sehr geehrten Damen und Herren von der Opposition, ich erinnere mich noch an den 19. Juli vorigen Jahres, als in Ihrem Pressedienst — es war von Ihnen, Herr Büchner — die Überschrift erschien: Bundesregierung will die gemeinnützigen Vereine steuerlich belasten. Von Entlastung, vom Helfen oder Unterstützen war keine Rede.
Das war natürlich wenig sportlich, lieber Herr Büchner. Wir kennen einander zu gut.
Das war nicht sehr fair, würde ich sagen.
Das war Demagogie und nichts anderes.
Das war zu einem Zeitpunkt, als wir wußten, was sich entwickelt. Das war zu einem Zeitpunkt, als wir wußten, daß wir den Bann — wenn ich so sagen darf — gebrochen hatten. Dies sollte eine kleine Einstimmungsbemerkung sein, nach der wir uns nun wieder zu konstruktiver Arbeit zusammenfinden sollten.Bei den gemeinnützigen Vereinen konzentrierten wir uns damals sehr auf die Sportvereine. Aber reden wir einmal allgemein von den Vereinen, von den Menschen, die darin tätig sind, von den Helfern, von den Übungsleitern.Ehrlich gesagt: Wenn ich an die zurückliegenden Jahre denke, an mehr als 65 000 Vereine, an über 20 Millionen Vereinsmitglieder, dann frage auch ich mich: Hat das nicht alles in dieser etwa 150jährigen Vereinsgeschichte viel zu lang gedauert?Klar sind wir uns alle über eines: In dieser Gesellschaftsstruktur haben die Vereine, gleich, wo sie sind, im Norden, im Süden, im Westen oder im Osten, eine herausragende Bedeutung.
Das ist unbestritten.
Die Frage ist nur, ob der Partner, ob die öffentlichen Hände sich immer richtig verhalten haben. Die Gemeinden, die Kommunen haben sich vorbildlich verhalten, über viele, viele Jahrzehnte. Sonst gäbe es nämlich diese Vereine gar nicht.Im übrigen, wenn wir etwas nachdenken und uns ein bißchen auf unsere Geschichte besinnen, haben wir festzustellen: Auch wir, die politischen Parteien, meine lieben Kollegen, haben ihren Ursprung in diesen Vereinen: damals bei der Abspaltung von den Idealvereinen. Das sollte nur eine kleine Nebenbemerkung sein. Auch damals spielte das ehrenamtliche Engagement eine Rolle, nur auf einem anderen Gebiet. Ich möchte aber daran erinnern dürfen.
Da es jetzt endlich gelungen ist, einen gangbaren Weg zu finden oder einen Vorschlag zu machen — ich bin sehr dankbar, daß die Bundesregierung gerade diesen Entwurf vorgelegt hat — , möchte ich an etwas erinnern. Sie beklagen ja immer diese Verzögerung. Es trifft zu: Ich selber habe an dieser Stelle diese Sachverständigenkommission sehr spontan beantragt. Wenn ich daran zurückdenke — es hat da eine sehr dramatische, eine geradezu tragische Entwicklung gegeben, über die ich hier nicht sprechen muß, weil sie jeder kennt — , halte ich es immer noch für richtig, daß diese Sachverständigenkommission eingesetzt wurde. Sie hat eine Fülle von Anregungen, von Änderungsvorschlägen erarbeitet.
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SpilkerMeine Damen und Herren, es ist unsere Sache, was wir politisch daraus machen. Es war doch immer die Aufgabe von Sachverständigen, Entscheidungen vorzubereiten.
Ich habe das jedenfalls so gelernt und praktiziert.Nun sind wir um manches klüger geworden. Wir wissen z. B., daß das Gemeinnützigkeitsrecht für einen normalen Menschen völlig unüberschaubar ist. Das ist wohl Realität. Wenn ich daran denke, was auf steuerlichem Gebiet in den Vereinen los war, kann ich nur eines sagen: Die ehrenamtlich Tätigen sind nicht dafür da, Steuererklärungen abzugeben. Die haben andere Aufgaben. Die sollen dem Vereinszweck dienen und keine Verwaltungsarbeit machen. Das, meine ich, geht jetzt dem Ende entgegen, wenn wir uns bis 60 000 DM Einnahmen im Rahmen der Gemeinnützigkeit vom Finanzamt bis auf die Umsatzsteuer verabschieden können. Das ist der große Wurf in diesem Regierungsentwurf. Es ist ganz gleich, welche Grenze von beiden, im wirtschaftlichen oder im sportlichen Bereich, wir nehmen. Es ist das A und O dieser Reform.Lieber Herr Opel, jetzt dürfen wir doch nicht Angst vor unsere eigenen Courage haben oder bekommen.
Seit Jahren rennen sowohl Sie wie wir herum, um Hilfen für die Vereine zu finden. Jetzt sind wir soweit. Und jetzt haben wir Angst vor Mißbrauch. Fangen wir doch erst einmal an. Diskutieren wir doch mal in unseren Ausschüssen.
Kommen wir doch erst einmal weiter in unserer Arbeit in diesem Parlament.Auch wir wissen, daß es zu diesem Entwurf von der gemeinnützigen Seite her einiges an Gegenwind in den letzten Wochen und Monaten gegeben hat. Da müssen wir politische Lösungen erarbeiten. Damit müssen wir fertig werden und eine Entscheidung treffen. Die steht uns noch bevor.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Penner?
Lieber Herr Penner, ich stehe Ihnen natürlich zur Verfügung.
Herr Kollege Spilker, sind nicht auch Sie der Auffassung, daß der jetzt vorgesehene weitere Rahmen der Gemeinnützigkeit für Vereine sich auch schädlich für Sportvereine auswirken kann, weil damit auch die finanzielle Decke der öffentlichen Hände betroffen ist?
Lieber Herr Penner, ich höre von der nichtsportlichen Seite exakt das gleiche. Da sind nur die Worte ausgetauscht. Es gibt hier — der Staatssekretär hat das eben zum Ausdruck gebracht oder zum Ausdruck bringen wollen — Spannungsfelder innerhalb der Gemeinnützigkeit und auch zwischen der Gemeinnützigkeit und dem Wettbewerb. Darüber kann es für mich überhaupt keinen Zweifel geben. Und so könnten wir diese Fragen, die Sie jetzt stellen, immer erweitern und könnten sie trotzdem letztlich nicht beantworten. Wir brauchen einfach Erfahrungen auf dem Gebiet.
— Lieber Herr Penner, uns verbindet ja mehr als der Sport.Im übrigen darf ich an etwas erinnern: Sie sind ein studierter Mensch. Es ist doch auch nicht so, daß der Sport die alleinige Domäne der Vereine wäre. Das wäre ein Irrtum. Es gibt auch eine andere Seite im Vereinsleben. Ganz egal, ob es die Kultur ist, das Singen oder Wandern, ob Wissenschaft oder ob es, wenn Sie wollen, die freiwillige Feuerwehr ist. Da habe ich ganz andere Ansichten, obwohl ich, wie Sie wissen, mit Ihnen nicht nur durch die Kniebeugen verbunden bin. Ich leite bekanntlich einen großen Sportverband mit mehr als einer halben Million Menschen. Das ist ein armer Verband, habe ich Ihnen einmal gesagt. Da fließt das Geld nicht. Das ist kein Hochleistungssport. Das ist kein „Fernseh-Sport". Das ist ganz einfacher Breitensport, Gymnastik, und damit Freizeitsport. Das ist das, was Menschen in ihren Vereinen wollen, zusammensein in einer Art von Vertrautheit und Gemeinsamkeit, die nach meiner Ansicht durch nichts in diesem Staat zu ersetzen ist.
— Das habe ich natürlich nicht gesagt,
weil ich ja keine Propaganda mache. Aber, Herr Penner, selbst das würde ich tun, weil ich jede Chance wahrnehme, um für diese Menschen etwas zu machen.
Gehen Sie doch mal abends in diese Hallen. Das brauche ich Ihnen eigentlich nicht zu sagen, aber ich sage es uns allen noch einmal, weil das ehrenamtliche Element immer noch zu kurz kommt. Wir reden darüber, aber wir siedeln es nicht richtig an. Was will ich damit sagen? Glauben Sie im Ernst, daß ein Staat — gleich, in welcher Erscheinungsform — Erfolg haben könnte, wenn er sich anmaßen wollte, diese soziale Struktur, die die Vereine geschaffen haben, nachzuvollziehen? Er wäre hoffnungslos überfordert!
Von dieser Seite her sehe ich den vorgelegten Gesetzentwurf. Wenn wir das bejahen, was ich eben ge-
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Spilkersagt habe, dann müssen wir den Vereinen helfen. Dann dürfen wir doch nicht weiter hinderlich sein, nein, wir müssen helfen und unterstützen. Wenn wir das tun, machen wir, meine ich, alle gemeinsam eine gute Politik.
Das Wort hat der Abgeordnete Hüser.
Ja, ich bin auch im Verein. — Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Entwurf, der hier vorgelegt wird, ist nach unserer Ansicht nicht so selbstverständlich und einleuchtend, wie die Bundesregierung, Herr Häfele, dies vorhin dargestellt hat. Ich glaube, dieses Gesetz ist in den Medien nicht zu Unrecht kommentiert, teilweise ironisch und bissig, und auch kritisiert worden. Deswegen will ich die Einbringung hier jetzt dazu nutzen, auf einige Punkte hinzuweisen, die noch einer sehr eingehenden Untersuchung im Ausschuß bedürfen und die auch in der Anhörung, die nach der Osterpause geplant ist, noch ganz besonders vertieft werden müssen.Als durchaus sinnvoll und auch positiv dürfte der Vorschlag zu bewerten sein, die Freibeträge für die nebenwirtschaftliche Tätigkeit der Vereine deutlich anzuheben, weil dies eben nicht nur zu einer Verwaltungsersparnis und auch -vereinfachung bei den Vereinen führt, sondern den Vereinen auch eine gewisse finanzielle Grundausstattung für eine Tätigkeit ermöglicht, die entweder selbstlos oder zumindest im Interesse vieler Menschen ist. Insoweit, denke ich, folgt die Bundesregierung auch einem Vorschlag der von ihr mit der Erstellung eines Gutachtens beauftragten Kommission.Bemerkenswert ist allerdings, daß dies nahezu die einzige Position war, die die Bundesregierung aus diesem Kommissions-Bericht aufgenommen hat. Hier stellt sich dann die Frage: Was sollte dieses Gutachten eigentlich bezwecken, das ja — Herr Opel hat's erwähnt — doch weit mehr als 500 Seiten umfaßt, wenn nicht mehr aus diesem Gutachten herauszuholen war als nur diese eine von mir soeben erwähnte Tatsache?Der auffälligste Unterschied zeigt sich in der Frage, welche Vereine in den Genuß der vollen Gemeinnützigkeit kommen sollen. Die Kommission hatte vorgeschlagen, alle Freizeitbetätigungen, also vor allem auch den Sport als den hier größten Bereich, zwar von Steuern zu befreien, sie aber nicht bzw. nicht mehr als gemeinnützig und spendenbegünstigt zu behandeln. Nur wenn diese sogenannten Idealkörperschaften, wie die Kommission sie dann nennen will, ausschließlich selbstlos tätig sind, soll ihnen auch die Spendenbegünstigung zugestanden werden. Geselligkeit, Freizeitbeschäftigung und Sport wollte die Kommission hier ausdrücklich ausgenommen wissen. Sie fordert daher auch, daß die selbstlosen Gemeinwohlzwecke enumerativ, also aufzählend, und abschließend aufgelistet werden müßten, um Unklarheiten zu beseitigen. „Gemeinnützigkeit setzt Selbstlosigkeit voraus", so hat die Kommission formuliert.Die Bundesregierung will dagegen fast alle Vereine ausnahmslos spendenbegünstigt ausstatten. Jeder geschickte Bürger wird dann seine Ausgaben für Hobbies und Urlaub — falls er sich das Vereinswesen eben zunutze macht — künftig von der Steuer absetzen können.
Ob eine derartige Fürsorge des Staates für die individuelle Freizeitgestaltung des einzelnen angemessen und auch vertretbar ist, bedarf meiner Meinung nach noch einer sehr sorgfältigen Prüfung.
Nicht umsonst steht gerade diese Idee im Mittelpunkt der Kritik. Die anerkannten karitativen Verbände und Vereine fürchten — ich meine, nicht zu Unrecht —, daß die Spendenströme dann eher in Richtung auf die Befriedigung persönlicher Freizeitunterhaltung fließen. Und Politiker — Herr Häfele, Sie selber haben das früher auch getan — haben darauf hingewiesen, daß es hier eine große Diskrepanz zwischen der
— das werden wir ja sehen — steuerlichen Abzugsfähigkeit z. B. bei den Kinderfreibeträgen und der steuerlichen Abzugsfähigkeit hier in diesem Vereinsbereich gibt. Ich denke, das müßte noch einmal sehr intensiv diskutiert und geprüft werden. Grundsätzlich muß hier auch die Höhe der steuerlichen Vergünstigung einer gründlichen Prüfung unterzogen werden.Das gilt auch für die Regelung — die bisher schon Gültigkeit hat —, wonach eben die Abzugsfähigkeit und der Einsparungsbetrag bei dem einzelnen mit wachsendem Einkommen steigen. Unsere Vorstellung in diesem Punkt geht eher in die Richtung, wie wir sie auch schon bei der Abzugsfähigkeit von Beiträgen und Spenden an politische Parteien eingebracht haben: daß eine Höchstgrenze eingesetzt wird, um hier zumindest eine annähernde Gleichbehandlung für alle zu gewährleisten. Sicherlich kann man auch darüber diskutieren — ich glaube, Herr Opel hat das auch schon erwähnt —, ob z. B. mildtätige und selbstlos handelnde Vereine einen höheren Abzugsbetrag kriegen könnten.Allerdings wäre hiermit ein Grundproblem aller steuerlichen Regelungen nicht gelöst: daß rund ein Drittel der Bevölkerung, nämlich alle diejenigen, die nicht steuerpflichtig sind, keinerlei Vergünstigungen des Staates erhalten. Gerade dieses Problem zu lösen ist, denke ich, eine vorrangige Aufgabe.Darüber hinaus stellt sich ohnehin die Frage, ob es eigentlich richtig und verantwortbar ist, Vereinsförderung in diesem Maße zu leisten — das soll jetzt ja auch noch ausgeweitet werden — , während auf der anderen Seite öffentliche Leistungen für kulturelle, sportliche, auch jungendpflegerische Belange von der kommunalen bis hin zur Bundesebene eher abgebaut werden. Hier ist zu befürchten, daß sich der Staat mehr
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Hüserund mehr der direkten Verantwortung entzieht. Dringend notwendig ist neben den steuerlichen Erleichterungen zunächst auch eine direkte finanzielle Förderung der angesprochenen Bereiche, wobei unstrittig sein dürfte, daß der Staat natürlich nicht das Vereinsleben übernehmen kann. Das wäre nicht sinnvoll.Ein weiterer Punkt, der der kritischen Überprüfung bedarf, ist die Behandlung von Stiftungen, die in diesem Gesetzentwurf nur am Rande erwähnt worden sind und daher auch kaum Beachtung gefunden haben. Aus der knappen Begründung ist überhaupt nicht ersichtlich, welche nachprüfbare Grundlage denn hier für die Bundesregierung eine Rolle gespielt hat, daß Stiftungen nun ein Drittel statt ein Viertel ihres Einkommens für den angemessenen Unterhalt des Stifters bzw. seiner Angehörigen aufwenden dürfen, ohne ihre Steuervergünstigung zu verlieren. Ich möchte nicht ausschließen, daß das in Einzelfällen durchaus berechtigt ist. Allerdings glaube ich, daß noch Zahlen, Daten oder andere Belege für diese Vermutung in die Diskussionen im Ausschuß eingebracht werden müssen. Der Vorschlag der Kommission, die das auch aufgegriffen hat, wäre günstiger, nämlich eine begründete Einzelfallregelung vorzunehmen.Die von der Kommission vorgeschlagene und auch vom Bundesrat in seiner Stellungnahme aufgegriffene Vertrauensschutzregelung für gutgläubige Spender ist grundsätzlich zu begrüßen.
Wir müssen allerdings auf jeden Fall sicherstellen, daß eine derartige Regelung keinen rückwirkenden Charakter bekommt und auch nicht von Gerichten entsprechend ausgelegt oder gebraucht werden kann. Sogar in der „FAZ" stand schon, daß dieser Vorschlag auch dazu dienen könnte, den Gerichten in den laufenden Parteispendenverfahren die Möglichkeit zu eröffnen, Spendern eine solche Gutgläubigkeit im nachhinein zuzugestehen und unter Hinweis auf den Vertrauensschutz das Verfahren einzustellen oder zu einem Freispruch zu kommen.
— Das können wir ja regeln.Ein zunächst nebensächlich klingender, aber dennoch bedeutsamer Punkt ist der Vorschlag, daß Aufwendungen für Vereine steuerlich nur dann absetzbar sein sollen, wenn der Spender durch Vertrag oder Festschreibung in der Satzung einen Erstattungsanspruch für seine Leistungen hat. Hier ist das Problem, daß sich diesen Erstattungsanspruch nur reiche Vereine leisten können. Ärmere Vereine können diesen Erstattungsanspruch gar nicht erst in ihre Satzung schreiben. Hier könnte auch eine Ungleichbehandlung auftreten. Das müßte auch noch geändert werden.Ich möchte noch auf einen grundlegenden Mangel eingehen, der meines Erachtens den Regierungsentwurf kennzeichnet. Die Unübersichtlichkeit im Vereinsrecht wird mit diesem Entwurf in keiner Weise abgebaut.
So werden z. B. die Vorschläge der Gutachterkommission zur Abschaffung des sogenannten Durchlaufverfahrens — wonach vielfach die Kommunen an Stelle der Vereine die Spendenquittungen ausstellen müssen — , zur Einführung eines eindeutigen Verfahrens zur Anerkennung der Gemeinnützigkeit und auch zur Vereinheitlichung der Rechtsbestimmungen nicht aufgegriffen. Immerhin finden sich steuerliche Vorschriften — ganz abgesehen von den Vorschriften im Umsatzsteuer-, Gewerbesteuer-, Körperschaftsteuer-, Vermögensteuergesetz und was es noch alles gibt — im Einkommensteuergesetz, in der Einkommensteuer-Durchführungsverordnung und auch in den Einkommensteuerrichtlinien. Das zusammenzufassen, damit das einigermaßen nachvollziehbar ist für diejenigen, die sich auf alle diese Gesetze bzw. Verordnungen beziehen müssen, wäre die Hauptaufgabe eines Gesetzes.Die Fraktion der GRÜNEN hat dieses Problem schon in der 10. Wahlperiode aufgegriffen. Es ist sehr hilfreich, unseren Entwurf und die Begründung dazu zur Vorbereitung der Diskussionen in den Ausschüssen noch einmal nachzulesen. Das ist die Drucksache 10/5799, für diejenigen, die es interessiert.Unverzichtbar ist ein abschließender Katalog der anerkannten gemeinnützigen Zwecke, denn nur so kann unterbunden werden, daß es aus teilweise politischen, auch ideologischen Gründen zur Diskriminierung subjektiv unliebsamer Vereine kommt. In der Vergangenheit hat sich in der Praxis gezeigt, daß Vereine, die sich für Friedens- oder Umweltzwecke einsetzen, nicht anerkannt worden sind, und das gilt ebenso für Gruppen und Menschen, die sich für die Belange von Minderheiten, wie Schwule, Lesben, jugendliche Arbeitslose oder Flüchtlinge, einsetzen wollten. Diese sind dann also nicht anerkannt worden. Dieses Problem läßt sich nur durch einen abschließenden Katalog regeln.Ein letzter Punkt — ich muß zum Schluß kommen — : Ich glaube, die Bundesregierung hat in der Begründung geschrieben, daß das Gesetzesvorhaben sehr eilbedürftig sei. Der Begründung ist nicht zu entnehmen, warum es besonders eilbedürftig ist.
Ich glaube, die Kommission ist 1984 eingerichtet worden, und wenn man bedenkt, daß davon fast nichts übernommen worden ist, bezweifle ich etwas die Notwendigkeit der jetzigen Hektik. Ich habe die Befürchtung — viele Menschen sind in Vereinen organisiert — , daß jetzt im Galoppverfahren hier einfach nur etwas Gutes getan werden soll, und darunter leidet dann wieder eine intensive und konstruktive Beratung, woraus dann Fehler entstehen, wie das auch bei der Steuerreform der Fall war. Deswegen sollten wir uns wegen der verständlichen Probleme, die die CDU derzeit hat, nicht davon abhalten lassen, diesen Gesetzentwurf wirklich ausführlich zu beraten, und wir sollten versuchen, die Einwände, die bei der Anhörung mit Sicherheit noch kommen werden, hier einzuarbeiten.Danke schön.
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 134. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. März 1989 9871
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Rind.
Herr Präsident! Sehr verehrte Damen und Herren! Vor ziemlich genau einem Jahr haben wir hier in diesem Hause eine Aktuelle Stunde auf Antrag der SPD-Fraktion gehabt, und dabei hat die SPD nach der Haltung der Bundesregierung und der Koalitionsfraktionen zu den Vorschlägen der Sachverständigenkommission gefragt. Seinerzeit haben für die FDP-Fraktion der Fraktionsvorsitzende Mischnick und ich erklärt, daß wir an der Gemeinnützigkeit für den Sport festhalten und in der Koalition einen Gesetzentwurf vorbereiten werden, der der jugend-, sozial- und gesundheitspolitischen Bedeutung unserer Sportvereine gerecht werden wird. Damals hat der Kollege Dr. Mertens für die SPD-Fraktion gemeint, jetzt müßten wir Farbe bekennen, ob wir die gemeinnützigen Vereine weiterhin steuerlich begünstigen wollen, ob wir zu einer Vereinfachung der steuerlichen Regelungen im Interesse der Vereine bereit sind, oder ob wir Steuervergünstigungen einschränken wollen.Meine Damen und Herren von der Opposition, wir hatten schon damals die Absicht, Farbe zu bekennen, wir haben jetzt Farbe bekannt, und ich freue mich, daß Sie sich im wesentlichen kleinlicher Meckereien in dieser Debatte bisher enthalten haben und bereit sind, konstruktiv an diesem Gesetzesvorhaben mitzuwirken.
Bei den parlamentarischen Beratungen ist gerade bei diesem Gesetzesvorhaben besonders viel Fingerspitzengefühl erforderlich. Wir wollen auf der einen Seite eine Entbürokratisierung bei den Vereinen, wir wollen sie von zuviel Verwaltungsaufwand befreien. Auf der anderen Seite müssen und werden wir aber scharf auf die Einhaltung wettbewerbs- und ordnungspolitischer Spielregeln im Interesse von Einzelhandel, Gastronomie und dem sonstigen Gewerbe achten müssen.Dies will ich an den Einzelheiten des Regierungsentwurfs, zumindest an einigen Punkten, deutlich machen. Dem Gesetzentwurf liegt eine grundsätzliche Vereinbarung innerhalb der Koalitionsfraktionen zugrunde, bei der wir Freien Demokraten unseren konstruktiven Beitrag bereits vorab geleistet haben. Wir haben dabei der Beibehaltung der Gemeinnützigkeit für die Sportvereine zugestimmt. Wir haben dabei aber nicht verkannt und verkennen dies auch heute nicht, daß die Sachverständigenkommission nicht so unrecht hatte, als sie einen Teil der Arbeit der Sportvereine dem Freizeitbereich zuordnete. Zweifellos gibt es in Sportvereinen auch ein Leistungsangebot, das man tatsächlich der Freizeitgestaltung zuordnen kann und das nicht unbedingt mit dem Prädikat der Gemeinnützigkeit ausgezeichnet werden müßte.Ebenso unstrittig ist aber auch, daß erhebliche Aktivitäten der Sportvereine jugend-, gesellschafts- und gesundheitspolitisch erwünscht sind und das Prädikat „gemeinnützig" nicht nur verdienen, sondern auch erhalten müssen.
Diesen Aspekt hat meines Erachtens das Sachverständigengutachten vernachlässigt. Deswegen kommen wir, Herr Kollege Hüser, in dieser grundsätzlichen Betrachtung zu einem anderen Ergebnis als die Sachverständigenkommission.
— Ja, ich komme gerade auf das, was Sie als „Zwischenschritte" bezeichnen.Eine Trennung der Aktivitäten der Sportvereine in gemeinnützig und nichtgemeinnützig ist in der Praxis nicht durchführbar. Lassen Sie sich das von einem Praktiker sagen. Wenn wir daran gehen wollten, hier in Teile, die gemeinnützig und die nichtgemeinnützig sind, zu trennen — von der Zielsetzung her hätte auch ich dies gerne — , dann bekämen wir einen Wust von Verwaltungsvorschriften, Klagen, Gerichtsverfahren, Auseinandersetzungen und Unsicherheiten in die Sportvereine. Das geht nicht!
Die Entscheidung über die Gemeinnützigkeit des Sports war auf der politischen Ebene zu fällen. Wir Freien Demokraten haben dabei ein so starkes Übergewicht des gemeinnützigen Teils der Arbeit von Sportvereinen gesehen, daß wir aus Überzeugung dem Votum des Gutachtens eben nicht gefolgt sind.Ich habe gesagt, Behutsamkeit und Fingerspitzengefühl seien insbesondere nötig, wenn wir uns im Gesetzgebungsverfahren mit den, ich nenne sie einmal: sonstigen Idealvereinen befassen. Ich spreche hier nicht von der Kleintier- und der Pflanzenzucht und der Brauchtumspflege einschließlich des Karnevals, obwohl es natürlich auch beim Karneval gewisse Unterschiede gibt. Da ist nicht alles Brauchtumspflege; da ist mitunter auch sehr viel einbezogen, das mit Brauchtum nichts zu tun hat.
— Die Feuerwehr kann auf vielfältige Art und Weise löschen. Im Karneval aber wird auch sehr viel Kommerz gepflegt — nennen wir es doch beim Namen — und wird sehr viel getan, was mit dem ursprünglichen Brauchtum einer Region, einer Gegend nichts mehr zu tun hat.
Aber auch die SPD hat sich ja für die Aufnahme der Kleintier- und der Pflanzenzuchtvereine ausgesprochen und ist dem Anliegen gegenüber, Brauchtumspflege aufzunehmen, wohlwollend eingestellt; das haben wir ja erst heute wieder gehört.Es sollte aber eines unstrittig sein: Wir müssen dafür sorgen, daß Jugendsekten, Fanklubs und reine Geselligkeitsvereine draußen vor bleiben. Dies wird nicht ganz so einfach sein. Ich will an einem Beispiel auf die Gefahren des Mißbrauchs hinweisen. Es darf z. B. nicht möglich sein, daß sich ein Verein zur Förderung der Völkerverständigung unter dem Signum „gemeinnützig" etabliert und daß dann die Vereinsmit-
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9872 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 134. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. März 1989
Rindglieder ins Ausland reisen, einige gesellschaftliche oder wie auch immer gestaltete Kontakte durchführen und ihre Reisekosten steuerlich absetzen. Das ist ein Beispiel dafür, was für Gefahren hier in diesem Gesetzesvorhaben liegen, die vermieden werden müssen.Wir müssen aufpassen, daß wir nicht die Phantasie anregen und am Ende einen Wildwuchs von gemeinnützigen oder sogenannten gemeinnützigen Idealvereinen erhalten, durch den fast jedes private Hobby steuerlich abzugsfähig wird.
In diesem Zusammenhang ist die Anregung des Bundesrates, eine Gruppe von sonstigen gemeinnützigen Idealvereinen mit enger rechtlicher Begrenzung und mit Einschränkungen beim Spendenabzug zu versehen, durchaus hilfreich. Wir sollten bei den Ausschußberatungen über diesen Vorschlag des Bundesrates nachdenken. Wir helfen damit den kleinen ideell tätigen Vereinen und können damit Mißbrauchsmöglichkeiten ausschließen. Das ist eine Anregung, die wir verfolgen sollten.
Das Vereinsförderungsgesetz — darüber wurde heute noch nicht gesprochen; aber ich halte das für notwendig, weil ich annehme, daß dieses Thema auch von den Rednern der anderen Fraktionen noch kommt — tastet die Übungsleiterpauschale nicht an, sie wird aber auch nicht erhöht. Hier muß ich einmal sagen, daß entgegen landläufiger Auffassung die Übungsleiterpauschale nach der klaren Gesetzesdefinition ein Betrag ist, bis zu dem Aufwendungsentschädigungen für nebenberufliche Tätigkeiten als Übungsleiter steuerfrei bleiben. Es handelt sich also nicht darum, Honorare, Vergütungen, Löhne oder was auch immer steuerfrei zu gewähren. Der Gesetzgeber hat unterstellt, daß der Übungsleiter Aufwendungen hat, die im Regelfall 2 400 DM erreichen. Er wollte ihm lediglich bis zu dieser Höhe aus Verwaltungsvereinfachungsgründen die Nachweispflicht ersparen. Dies ist die gesetzliche Grundlage. Da ist meiner Meinung nach auch kein Raum für eine Erhöhung dieser Pauschale.
— Ich habe dies schon in der vorangegangenen Debatte zu der von Ihnen beantragten Aktuellen Stunde seinerzeit erklärt. Es mag einzelne Aussagen gegeben haben, daß wir uns darum bemühen werden, aber es hat nie eine präzise Zusage gegeben. Zumindest seit dem vergangenen Jahr ist dieses auch ganz deutlich immer wieder von uns betont worden.Aber ich will noch darauf aufmerksam machen, daß höhere nachgewiesene Ausgaben, die die Vereine erstatten, steuerfrei erstattet werden können, die Übungsleiterpauschale hier also kein Hindernis ist.
Wenn Vereine für Kurse und Ausbildung ihren Übungsleitern mehr geben, können sie auch höhere Beträge steuerfrei erstatten. Man kann nicht einerseits von ehrenamtlichem Engagement sprechen, und dann andererseits auf dem Umweg über die Aufwandsentschädigung steuerfreie Nebenverdienste begründen wollen. Ich sage das einmal in aller Deutlichkeit.Im Gesetzgebungsverfahren sollte aber in diesem Zusammenhang die nach meiner Auffassung berechtigte Forderung anderer, z. B. karitativer Organisationen, ebenfalls geprüft werden, ohne daß diese ohne Nachweis ihren ehrenamtlichen Mitarbeitern eine steuerfreie Aufwandsentschädigung im selben Umfang gewähren können — nicht müssen, aber können. Dieses Anliegen der karitativen Organisationen sollten wir hier ernst nehmen; denn ich vermag auch keinen sehr großen Unterschied zwischen dem ehrenamtlich nebenberuflichen Übungsleiter im Sportverein und dem ehrenamtlich tätigen Mitarbeiter einer karitativen Organisation bei der Aktion „Essen auf Rädern" oder sonstwo zu erkennen.
Abschließend kann ich mir zu dem leidigen Thema der Erhöhung der Übungsleiterpauschale — gerade auch auf Ihre Zwischenrufe hin — die Bemerkung nicht verkneifen, daß die SPD bis zum berühmten Jahr 1982 entsprechende Anträge der CDU/CSU-Opposition jeweils abgelehnt hat. Da kamen laufend Anträge.
— Wir waren ja an beiden Regierungen beteiligt, Herr Kollege Poß, wie Sie wissen, und daher wissen Sie auch, wie unsere Haltung gewesen ist. Sie ist immer konstant gewesen.Nun aber zu dem, was Kollege Spilker als das A und O — ich würde es als das Herzstück der Reform hier im Vereinsförderungsgesetz bezeichnen — sieht; das ist die Vereinfachung beim Verwaltungsaufwand unserer Sportvereine. Zunächst muß ich Ihnen ganz ehrlich sagen, daß ich froh bin, daß die Vorstellungen Baden-Württembergs über eine pauschale Abgeltung von Umsatz-, Gewerbe- und Körperschaftsteuer vom Tisch sind; denn wir Freien Demokraten hätten dabei nicht mitmachen können. Wir hätten dies nicht gegenüber denen, die ihren Lebensunterhalt aus ihrer Tätigkeit in Handel und Gastronomie bestreiten müssen, verantworten können. Erfreut bin ich, daß die Sportvereine und die Sportbünde mittlerweile, seitdem dieser Gesetzentwurf am Markte ist, anerkennen, daß wir hier eine gewaltige Leistung für ihre vielen Vereine erbringen.Ich weiß als Steuerberater — und ich bin auch in der praktischen Beratung von Sportvereinen tätig — um die Abgrenzungsprobleme der Kassierer und Vorstände, um die Zuordnung zu den wirtschaftlichen Geschäftsbetrieben, den Zweckbetrieben, den ideellen Bereichen und um alles, was wir hier auch an Grauzonen haben. Ich bin froh, daß wir hier dieses Herzstück auf eine sinnvolle vernünftige Weise in diesem Gesetzentwurf geregelt haben. Die Vereinskas-
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 134. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. März 1989 9873
Rindsierer werden in Zukunft ihre Einnahmen und Ausgaben wie immer ordnungsgemäß aufzeichnen müssen — dies ergibt sich schon aus dem Vereinsrecht und selbstverständlich auch aus dem Umsatzsteuerrecht — und dann einmal im Jahr eine Umsatzsteuererklärung abgeben, bei der sie die Vorsteuerpauschale mit 7 % absetzen können. Einfacher konnten wir es nicht machen. Aber so einfach wollten wir es machen. Dies ist erfreulicherweise gelungen.Nun muß ich als Praktiker wiederum sagen — wenn Wettbewerbsgründe gegen die 60 000-DM-Grenze erhoben werden, mit dem Argument, die Grenze sei zu hoch — , daß die Praxis im Verein ja heute so aussieht, daß bis zu dieser Umsatzgrenze in aller Regel die Vereine auch bisher keine Steuern bezahlen, und zwar deswegen — ich will es noch einmal ganz kurz schildern, dieses Verfahren ist ja bekannt — weil hier, wenn die Grenze von bisher 5 000 DM bei den Gewinnen überschritten wird, dann die Mitarbeiter aus dem Verein beim Vereinsfest mit einem Aushilfslohn entlohnt werden, der pauschal mit 10 To versteuert wird. Das Vereinsmitglied spendet es wieder zurück. Auf diese Weise wird der Gewinn unter die Grenze gedrückt, mit dem witzigen Ergebnis, daß der Staat 10 % Lohnsteuer bekommt, und dann hinnimmt, daß zum individuellen höheren Steuersatz derselbe Betrag als Spende abgesetzt wird. Dies ist aus Sicht des Fiskus wirklich ein Schildbürgerstreich.Das ist die Praxis. Wir wollen keine Verbesserung und keine Verschlechterung gegenüber der bisherigen Besteuerung der Vereinsgastronomie und den sonstigen Aktivitäten erreichen. Aber wir erkennen an, daß diese Grenze von 60 000 DM auch wirklich eine zutreffende Grenze ist. Dies zeigt die Tatsache, daß 90 % der Vereine darunter fallen. Steuerlich rechnet sich hier für den Fiskus nichts. Auch aus wettbewerbspolitischer Sicht ist diese Grenze nach meiner Auffassung akzeptabel.Für die größeren Vereine — das wurde schon erwähnt — sind die Anhebung des Freibetrags bei der Körperschaftsteuer von 5 000 auf 7 500 DM und die Erhöhung der Freigrenze von ebenfalls bisher 5 000 auf jetzt 7 500 DM eine sinnvolle Maßnahme; diese Anpassung an gestiegene Freibeträge auch im Bereich der Einkommensteuer ist gerechtfertigt. Aber wir sind der Meinung, daß aus Wettbewerbsgründen diese Vereine wie bisher ihren steuerlichen Verpflichtungen nachkommen müssen. Ich sage Ihnen auch aus der Erfahrung in der Praxis, daß die Vereine in aller Regel so organisiert sind, daß sie ohne allzu große Schwierigkeiten mit dem Verwaltungsaufwand fertig werden können. Dieser Verwaltungsaufwand muß ihnen unter ordnungspolitischen Gesichtspunkten zugemutet werden. Ich glaube, sie können auch gut damit leben.Unser Motto bei diesem Gesetzentwurf ist und wird bei der weiteren Beratung sein: einerseits weitestgehende Wettbewerbsneutralität herzustellen und andererseits ehrenamtliche Tätigkeit in gemeinnützigen Vereinen nicht mit komplizierten steuerrechtlichen Vorschriften zu vermiesen. Wir Freien Demokraten stehen zu diesem Ziel und werden unter diesem Gesichtspunkt die Beratungen aufnehmen.Vielen Dank.
Das Wort hat der Abgeordnete Büchner .
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In der Endphase der Regierung Kohl
beraten wir heute in erster Lesung ein Gesetz, das längst überfällig ist. Es ist allerhöchste Zeit, daß sich die Bundesregierung um die Vereine kümmert.
Steuerliche Erleichterungen und Verwaltungsvereinfachungen sind dringend erforderlich. Trotz vieler Versprechungen und Ankündigungen des Bundeskanzlers und einzelner Bundesminister, aber auch von Mitgliedern der Koalitionsfraktionen ist in den achtziger Jahren nichts geschehen. Durch dieses Verhalten der Bundesregierung ist viel Vertrauen verspielt worden.
Der fairen Partnerschaft zwischen Sport und Staat, die wir Sozialdemokraten für sehr wichtig halten, ist erheblicher Schaden zugefügt worden. Dabei hat Sie die SPD immer wieder gedrängt, die Bedingungen für das Wirken der dem Gemeinwohl dienenden Vereine zu verbessern.
Unseren Aufforderungen sind Bundesregierung und Koalitionsparteien nicht nachgekommen. Unsere Anfragen sind abschlägig oder ausweichend beantwortet worden.
Unsere Anträge, die wir hier im Bundestag gestellt haben, sind abgelehnt worden.
Noch im November 1986 hätten Sie die Chance gehabt, auf der Grundlage unseres Antrages Verbesserungen der steuerlichen Rahmenbedingungen und eine Entbürokratisierung des ehrenamtlichen Vereinswesens zu verwirklichen.
Doch Sie haben diesen Antrag niedergestimmt. Schon längst könnten die Vereine von Steuern entlastet und von vielen Verwaltungsvorschriften befreit sein, wenn Sie bisher nicht dagegen gewesen wären.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Tillmann?
Bitte schön, Herr Kollege Tillmann.
Herr Kollege Büchner, würden Sie mir zustimmen, wenn ich behaupte, daß die von Ihnen eben apostrophierten Vorschläge Ihrer Fraktion bei weitem nicht die Qualität hatten, die dieses Vereinsförderungsgesetz jetzt aufweist?
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9874 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 134. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. März 1989
Da irren Sie sich, Herr Kollege Tillmann. Die haben wesentliche Elemente dessen enthalten, was Sie hier jetzt vorlegen. Aber sie haben die Abgrenzungsschwierigkeiten, die wir jetzt haben und über die viele Kollegen schon gesprochen haben, nicht beinhaltet. Sie waren viel klarer und für den Sport eindeutig nützlich.
Im übrigen, Herr Kollege, hat die SPD-Bundestagsfraktion nie Zweifel an ihrer Bereitschaft aufkommen lassen, insbesondere im Interesse der Sportvereine einen interfraktionellen Konsens anzustreben.Auch unseren erneuten Antrag, der Ihnen ja schon seit April 1987 vorliegt, haben Sie immer wieder verschleppt. Statt Kooperation, so wie es auch der Deutsche Sportbund erwartet, haben die Koalitionsfraktionen eine zügige Beratung und eine positive Beschlußfassung bisher verweigert.
Auch angesichts des zweifelhaften Gutachtens zur Überprüfung des Gemeinnützigkeitsrechts wäre dies möglich gewesen. Dabei hätte die jetzige Regierung sehr gut auf der Vorarbeit der SPD-geführten Regierungen der 70er Jahre aufbauen können. Dort sind nämlich die Grundlagen gelegt worden. Vieles von dem hat heute noch Gültigkeit, ist allerdings dringend notwendig fortzuschreiben.Wir Sozialdemokraten bekräftigen unseren Grundsatz, daß die sportliche, kulturelle, soziale und gesellige Tätigkeit der gemeinnützigen Sportvereine dauerhaft von steuerlichen Abgaben befreit werden muß. Dies ist bisher nicht geschehen.Da hat es auch wenig geholfen, Herr Staatssekretär Dr. Häfele, wenn Sie öffentlich empfohlen haben, die Finanzämter sollten sich bei der steuerlichen Prüfung von Sportvereinen zurückhalten. Dieser Aufforderung sind nämlich viele nicht gefolgt. Im Gegenteil: Es hat in den letzten Jahren sogar vermehrt Prüfungen von Sportvereinen gegeben. Einem kleinen Sportverein in meinem Wahlkreis ist z. B. innerhalb von zehn Jahren jetzt die sechste Prüfung angekündigt worden. Ich bin sicher, viele Kolleginnen und Kollegen können hier Ähnliches aus ihren Wahlkreisen berichten.Die Bürger fragen sich mit Recht, ob Finanzämter keine anderen Sorgen haben, als die Abgabe von selbstgebackenem Kuchen, von Kaffee und Tee akribisch nachzuprüfen. Oft steht der Aufwand in keinem Verhältnis zu den Prüfungsergebnissen. Diese Art von „staatlicher Fürsorge" muß doch demotivierend auf die Bereitschaft wirken, in den Sportvereinen, in den Jugendabteilungen ehrenamtliche Funktionen zu übernehmen.
Trotz dieser schwierigen Situation, die die Bundesregierung und die Koalitionsfraktionen zu verantworten haben,
haben viele ehrenamtliche Mitarbeiter nicht resigniert. Das verdient unseren Dank und unsere Anerkennung ebenso wie das beharrliche Drängen der Sportorganisationen.
Bei dem bisherigen Verhalten der Bundesregierung und der Koalitionsparteien können Zweifel entstehen, ob jetzt aus Einsicht gehandelt wird oder ob im Blick auf Wahltermine eilig ein Gesetzentwurf durch das Parlament gepeitscht werden soll,
ein Gesetzentwurf, meine Damen und Herren, die Sie jetzt so erregt sind, der eigentlich eine Beratung ohne Zeitzwang erforderlich gemacht hätte.Der Bundesrat hatte ja nur wenige Tage zur Beratung, und der Bundestag und seine Ausschüsse sollen die Behandlung dieses Gesetzes noch vor der Sommerpause abschließen. Dabei hat sich jetzt schon herausgestellt, daß durch die dringend erforderlichen Maßnahmen zugunsten des gemeinnützigen Sports nun eine Kettenreaktion ausgelöst wurde.Der vorliegende Gesetzentwurf beinhaltet den Versuch, Abgrenzung und Ausweitung des gemeinnützigen Wirkens zugleich zu bewältigen. Das ist ein schwieriges Unterfangen, wie schon die Bemerkungen des Bundesrates zeigen.Ich will hier keineswegs eine Bewertung der rund 250 000 Vereine der Bundesrepublik vornehmen. Wir meinen, den Bürgerinnen und Bürgern muß es selbst überlassen bleiben, wo sie sich engagieren und in welchem Rahmen sie ihre Freizeit gestalten wollen. Den staatlichen Organen allerdings obliegt es, sinnvolle und nützliche Freizeitgestaltung zu fördern.Überheblichkeit auf der einen oder Geringschätzung auf der anderen Seite sind unpassend, wenn es um die Bedeutung des Vereinslebens geht. Vor diesem Hintergrund ist es aber auch zu rechtfertigen, die besondere Bedeutung des Sports in unserer Gesellschaft zu betonen. Ich halte es nicht für altmodisch, meine Damen und Herren, darauf hinzuweisen, daß die Sportvereine für mehr als 20 Millionen Kinder, Jugendliche und Erwachsene eine soziale Heimstatt sind. Ohne sie wäre das gesellschaftliche Leben in den Städten und Gemeinden sehr viel ärmer.Was die Sportvereine in den jugendpädagogischen, gesundheitsfördernden, kulturellen und sozialen Bereichen für alle Altersgruppen leisten, ist leider nicht überall anerkannt. Allzuoft stoßen die engagierten Mitglieder der Vereine und der Verbände auf kleinmütige Vorurteile, wo großzügige Unterstützung im Interesse des Gemeinwohls angebracht wäre.Rufen wir uns doch in Erinnerung, was Sportvereine für unsere Gesellschaft leisten, sei es Kinder- oder Jugendsport, seien es Angebote an die Familien, sei es Breiten- oder Freizeitsport, sei es Betreuung und Ausbildung im Leistungssport, sei es aktive Lebenshilfe für unsere Älteren, sei es Ermutigung und Betreuung von Behinderten, seien es Unterstützungsprogramme in der Rehabilitation oder seien es auch Unterstützungsprogramme in der Resozialisierung. Das Wirken
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 134. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. März 1989 9875
Büchner
der Sportvereine geht weit über reine Freizeitgestaltung hinaus.In einer Zeit, in der von Unbelehrbaren und Uneinsichtigen Ausländerfeindlichkeit erzeugt und geschürt wird, sollte mit Nachdruck daran erinnert werden, daß sich z. B. die Sportvereine und Jugendabteilungen tagtäglich um das friedliche Zusammenleben mit unseren ausländischen Mitbürgerinnen und Mitbürgern verdient machen. Der europäische Binnenmarkt ist im Sport längst Wirklichkeit geworden. Dabei ist es einfach zu wenig, meine Damen und Herren, die Verdienste der Sportvereine nur zu loben, wie es Kanzler und Minister in Festreden tun.
Die Vereine haben Anspruch auf konkrete Förderung. Deshalb wird die SPD bei den anstehenden Ausschußberatungen darauf achten, daß es zu Beschlüssen kommt, die in erster Linie den 65 000 Sportvereinen wirkliche Fortschritte und Erleichterungen bringen. Steuervereinfachungen und Entbürokratisierung bedeuten in der Praxis — da gebe ich Ihnen recht, Herr Kollege Rind —, daß sich der ehrenamtliche Kassierer im Normalfall nicht mehr mit dem Finanzamt herumzuschlagen hat.Aber dieser Gesetzentwurf enthält noch zahlreiche Unklarheiten und Abgrenzungsprobleme. Die Regierung wird z. B. klar sagen müssen, was die Bestimmungen des § 67 a der Abgabenordnung, die im Gesetzentwurf sehr vage umschrieben sind, konkret bedeuten. Sie wird sich ferner dazu äußern müssen, wie sie die berechtigten Sorgen der größeren Sportvereine, die über zahlreiche Abteilungen verfügen, beurteilt und wie sie den Forderungen aus diesem Bereich Rechnung tragen will.Auf die Mitarbeit der SPD-Bundestagsfraktion können Bundesregierung und Koalitionsparteien zählen. Schließlich haben wir jahrelang immer wieder gedrängt. Die Versprechungen, die Sie, meine Damen und Herren von der CDU/CSU, gemacht haben, feiern in diesen Tagen ihr zehnjähriges Jubiläum.Aber wir versichern Sie nicht nur unserer Mitarbeit, sondern wir machen Ihnen jetzt noch ein zusätzliches Angebot. Hören Sie jetzt einmal gut zu. Wir schlagen Ihnen vor, die Bundesregierung in einer gemeinsamen Entschließung aller Fraktionen des Bundestages aufzufordern, zeitgleich mit dem Inkrafttreten dieses Gesetzes die Übungsleiterpauschale auf 3 600 DM zu erhöhen. Wir alle haben dies versprochen. Wir sollten zu unserem Wort stehen. Die Absetzbewegungen, die in letzter Zeit — z. B. von dem Parlamentarischen Staatssekretär beim Bundesminister des Innern, Dr. Waffenschmidt, und jetzt auch von dem Herrn Kollegen Rind — , gemacht werden, werden wir nicht hinnehmen. Diese Pauschale, die wir für die fachkundige Betreuung der Sportvereine und Jugendgruppen für wichtig halten, wurde 1979 vom damaligen Bundesfinanzminister Matthöfer von 1 200 DM auf 2 400 DM erhöht. Seitdem ist nichts mehr geschehen.Zum Beispiel der Kollege Mischnick, der leider erkrankt ist und dem ich von hier aus baldige Genesung wünsche,
hat anläßlich des Kongresses „Sport 2000" des Deutschen Sportbundes im November 1987 in Berlin nicht nur eine Erhöhung — Herr Kollege Rind, hören Sie zu —, sondern auch eine Ausweitung dieser Pauschale auf andere gemeinnützige Gruppen angekündigt. Ich bitte Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP, sehr nachdrücklich, auf den auf der Flucht befindlichen Koalitionspartner CDU/CSU und auf die Bundesregierung einzuwirken, dieser Erhöhung zuzustimmen. Dadurch würde ein zusätzlicher Anreiz für die Mitarbeit in den Sportvereinen geschaffen. Aber auch die Qualität des Sportangebots könnte gerade im Hinblick auf manche Konkurrenz außerhalb von Vereinen noch verbessert werden.Wir machen diesen Vorschlag zu dieser gemeinsamen Initiative, und wir werden im Interesse des gemeinnützigen Sports aktiv an der Ausgestaltung und Beratung des vorliegenden Gesetzesvorhabens mitwirken. Es liegt jetzt an den Koalitionsfraktionen und an der Bundesregierung, die Voraussetzungen dafür zu schaffen, daß die Beratungen zügig geführt werden und mit einer breiten parlamentarischen Mehrheit — das wünschen wir uns — zum Abschluß gebracht werden.Vielen Dank.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Grünewald.
Herr Präsident! Werte Kollegen! Die Bundesregierung hat einmal mehr ihr Wort gehalten und hat mit dem hier und heute eingebrachten Entwurf sichergestellt, daß wir das Vereinsförderungsgesetz — ich betone ausdrücklich: Förderungsgesetz — zeitgleich mit dem Inkrafttreten des Steuerreformgesetzes in Kraft treten lassen können. Nach den im wesentlichen einvernehmlichen Erklärungen und insbesondere nach dem konstruktiven Beitrag des Kollegen Opel
bin ich auch sehr sicher, daß wir das tun können, und ich bedauere sehr, Herr Kollege Büchner, daß Sie gerade so polemische Ausflüge unternommen haben.Der Gesetzentwurf hat eine lange und auch sehr strittige Vorgeschichte, und es ist ganz unschwer vorauszusagen, daß — das zeigen ja auch die Einlassungen hier und heute — die schwierigen Abgrenzungs- und Auslegungsprobleme betreffend Steuergerechtigkeit, Wettbewerbsneutralität, steuerliche Gestaltungsmöglichkeiten und Mißbrauch uns auch im weiteren Verfahren begleiten werden und daß wir uns damit insbesondere in der gestern vom Finanzausschuß beschlossenen Anhörung der Verbände auseinandersetzen werden. Dabei besteht ja doch wohl Einvernehmen darüber, daß das geltende Gemeinnützigkeitsrecht einschließlich des Spendenrechts — Herr
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9876 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 134. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. März 1989
Dr. GrünewaldHüser hat zu Recht darauf hingewiesen, wie sehr es in Verwaltungsvorschriften, Gesetzesvorschriften und andere Rechtsvorschriften zersplittert ist — heute nicht mehr stimmig ist.Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion läßt sich bei ihren Reformbestrebungen von folgenden Grundstücksüberlegungen leiten.Erstens. Alle Körperschaften, die gemeinnützigen, mildtätigen oder kirchlichen Zwecken dienen, also auch und insbesondere unsere Sport- und Kulturvereine, bedürfen jetzt und in der Zukunft einer gesicherten materiellen Basis. Mit dieser Zielvorgabe wollen wir vor allem die uneigennützige Opferbereitschaft so vieler Männer und Frauen, die jahraus, jahrein in selbstloser Weise Verantwortung tragen und sich in tätiger Nächstenliebe üben, würdigen und ein ganz klein wenig abzugelten versuchen.
Denn wir wissen allzu gut, daß unser demokratisches Gemeinwesen ohne die Bereitschaft vieler Bürger, der Gemeinschaft mit frohem Herzen und mit ganzer Kraft zu dienen, also ohne freiheitliches, freiwilliges und ehrenamtliches Engagement, ganz einfach auf Dauer nicht lebensfähig ist. Ist es doch gerade dieses ehrenamtliche Engagement, das uns Freiheitsräume schafft und bewahrt und das uns Unabhängigkeit gewährleistet.Jeder Verlust an Freiwilligkeit und Ehrenamtlichkeit bedeutet ganz zwangsläufig ein Mehr an Hauptamtlichkeit und ein Mehr an öffentlichen Lasten.
Er läßt die Bürokratie noch weiter ins Kraut schießen, und, noch schlimmer, er verengt unsere Freiheitsräume ebenso wie unsere individuellen Gestaltungsmöglichkeiten.
Freiwilligkeit und Ehrenamtlichkeit haben mit dem fortschreitenden Wohlstand leider in der öffentlichen Meinung ohnehin schon an Stellenwert eingebüßt. Unser Bestreben ist es, mit diesem Gesetz diesem bedauerlichen Trend entgegenzuwirken.Zweitens. Die Koalitionsfraktionen streben mit diesem Gesetz darüber hinaus eine nachhaltige Vereinfachung der Vereinsbesteuerung an. Das geltende Gemeinnützigkeitsrecht und in gleicher Weise das geltende Spendenrecht sind unübersichtlich, höchst kompliziert, in Teilbereichen sogar verfassungsrechtlich bedenklich, kurzum, selbst für einen Steuerfachmann nur mit erheblichem Prüfungs- und Nachforschungsaufwand korrekt anwendbar. Solch gravierende Mängel führen zu Rechtsunsicherheit, Verdruß, unnötigen Querelen und in Extremfällen, wie wir wissen, zu vereinsrechtlichen oder sogar zu strafrechtlichen Konsequenzen für die Betroffenen.
Das verdienstvolle und hilfreiche Gutachten der Kommission zur Prüfung des Gemeinnützigkeits- und Spendenrechts — ein Gutachten, aus dem wir übrigens vieles übernommen haben; das sollte man auch einmal sehen — hat über viele Seiten diese problematischen Anwendungseinzelheiten dargelegt und so nachdrücklich die zwingende Notwendigkeit einer spürbaren Vereinfachung belegt. Nicht nur die Vertreter der Finanzverwaltung, der Finanzgerichte und der steuerberatenden Berufe, sondern insbesondere und zuvörderst unsere ehrenamtlich tätigen Vorstände in den gemeinnützigen Körperschaften haben — da stimme ich mit Ihnen überein, Herr Büchner — einen Anspruch auf diese Vereinfachung; denn es kann doch nicht richtig sein, daß sie einen ganz überwiegenden Teil ihrer Arbeitskraft für diese schwierigen Probleme einsetzen, was natürlich der Bereitschaft zum ehrenamtlichen Engagement zutiefst abträglich ist.
Der von der Bundesregierung eingebrachte Entwurf trägt dem Petitum nach Rechtsklarheit und Steuervereinfachung Rechnung. Die schwierigen Abgrenzungsprobleme und Ungereimtheiten des geltenden Rechts werden behoben. Durch die Einführung einer umsatzbezogenen Gewichtigkeitsgrenze und einer sogenannten Zweckbetriebsgrenze von jeweils 60 000 DM sowie durch die Umwandlung und Erhöhung der Freigrenzen bei der Körperschaft- und Gewerbesteuer zu Freibeträgen von einheitlich jeweils 7 500 DM und nicht zuletzt durch die Zulassung einer pauschalierten Umsatzvorsteuer ist sichergestellt — es wurde schon wiederholt gesagt — , daß zukünftig rund 90 % unserer gemeinnützigen Vereine mit dem Finanzamt überhaupt nichts mehr zu tun haben werden.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Büchner?
Aber bitte sehr.
Herr Kollege, wenn Sie diesen hohen Prozentsatz nennen — wir würden begrüßen, daß das so Wirklichkeit würde —: Können Sie uns dann bitte sagen, wieviel Prozent der Sportvereine nach den bisherigen Regelungen von Abgaben befreit waren?
Im wesentlichen waren sie auch in der Vergangenheit von Abgaben befreit, nur mit dem von mir gerade kritisierten unglaublichen, dem Ehrenamt schädlichen Verwaltungsaufwand. Da liegt doch das Problem, und das ist doch der Sinn dieses Gesetzes.
Natürlich werden auch die großen Vereine ihre Vorteile daraus haben, und das sollen sie auch. Sie werden sie insbesondere durch die Verrechnungsmöglichkeiten zwischen Gewinnen und Verlusten aus wirtschaftlichen Betrieben haben. Den übrigen gemeinnützigen Körperschaften, den GmbHs, den Stiftungen, das versteht sich von selbst, kommen diese Vorteile auch natürlich in gleicher Weise zugute.Drittens. Die Unionsfraktionen möchten mit diesem Gesetz allerdings auch — das klang an, und da besteht wohl auch viel Einvernehmen, wenn ich die
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 134. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. März 1989 9877
Dr. Grünewaldsachliche Auflistung der Kritikpunkte des Kollegen Opel noch einmal in Erinnerung rufe, ohne sie zu wiederholen — einer uferlosen Ausdehnung des Gemeinnützigkeits- und Spendenrechts entgegenwirken und einer mißbräuchlichen Ausnutzung von Steuervorteilen vorbeugen. Denn auch wir wissen ganz genau — Herr Penner hat es ja eben zwischengefragt; er ist gerade schon wieder nicht da —, daß der Spendenfreudigkeit und der Spendenfähigkeit unserer Mitbürger natürliche Grenzen gesetzt sind und daß man Spendenaufkommen nur einmal verteilen kann.
Die Bitte des Bundesrats, den Rahmen für den Spendenabzug nicht auszuweiten, sondern eher einzuschränken, nehmen wir deshalb sehr ernst; dies um so mehr, als die Gedanken der Sachverständigen in die gleiche Richtung zielen. Die Sachverständigen nämlich — denen an dieser Stelle auch einmal ausdrücklich für ihre Arbeit gedankt sei —
sind mit Sicht auf die Steuerfreiheit zwar für einen weiteren Begriff der Gemeinnützigkeit, sie möchten aber den Spendenabzug auf einen engeren — wie wir meinen: zu engen — Kreis eingegrenzt sehen. Wir werden also noch gemeinsam überlegen müssen — ich hoffe, in den nächsten Wochen —, wie wir verhindern können, daß die Ausweitung des Gemeinnützigkeitsbegriffs gewissermaßen automatisch auch zu einer Ausweitung des Spendenabzugsrechts führt.
Ich darf noch einfügen: Wir müssen das auch deshalb tun — auch das wurde hier schon wiederholt angesprochen — , weil z. B. die karitativen Verbände, insbesondere auch das Rote Kreuz besorgt sind, daß sie sonst hinterher unter Umständen Ausfälle für ihre verdienstvolle Tätigkeit haben könnten, die nun unmittelbar der Nächstenliebe so nahe stehen und dienen.Die Unionsfraktionen — viertens — sehen die Grenzen der steuerlichen Vergünstigungen für die Vereine dort, wo der Wettbewerb — auch das klang schon an — empfindlich gestört wird. Mit ihren wirtschaftlichen Geschäftsbetrieben stehen die gemeinnützigen Körperschaften im Wettbewerb zu den gewerblichen Unternehmen. Das betrifft vor allem Gaststätten und Einzelhandelsbetriebe sowie andere Wirtschaftsunternehmen. Die von der Bundesregierung vorgeschlagene Gewichtigkeitsgrenze, also die Besteuerungsgrenze von 60 000 DM, erscheint uns vorbehaltlich neuerer Erkenntnisse in der Verbandsanhörung am 19. April sehr sachgerecht zu sein, um solche Wettbewerbsverzerrungen auszuräumen.Herr Präsident! Meine lieben Kollegen! Ich schließe mit der Hoffnung, daß es uns gelingen möge, diesem für unser blühendes Vereinsleben so wichtigen Gesetz den letzten Schliff zu geben. Lassen Sie uns bitte die noch offenen Fragen gemeinsam und ohne politische Polemik, wie sie da eben leider aufkam, behandeln, und lassen Sie uns auch Dinge vermeiden, die ja auch schon kritisiert wurden, wie vor Jahresfrist, daß SPD-Kollegen durch eine Vielzahl von Briefen an dieVereine Unsicherheit und Unruhe in unsere Vereine hineintragen! Dies haben unsere Vereine nicht verdient.
Bemühen wir uns über Parteigrenzen hinweg in den nächsten Wochen harmonisch um eine vernünftige Lösung,
und unterlassen wir es, aus diesem Gesetz einzelne parteipolitische kurzfristige Erfolge herauszuschlagen!
Meine Damen und Herren, ich schließe die Aussprache.
— Ich kann nur denjenigen aufrufen, der mir hier gemeldet worden ist.
Bitte schön, Herr Abgeordneter Tillmann. Tut mir leid, hier lag keine Meldung vor.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich bedanke mich für Ihre Großzügigkeit. Aber ich war davon ausgegangen, daß ich als Redner gemeldet worden sei.
Man denke sich einmal die freien Vereine aus unserer Gesellschaft weg, man stelle sich vor, daß alle diese verschiedenartigen Tätigkeiten der Vereine nur im Rahmen staatlicher Einrichtungen ausgeübt werden könnten. Wieviel ärmer und kälter wäre das Leben in unserer Gesellschaft! Das freie Vereinsleben gehört zu einem freien Staat wie das Grün zum Baum.
— Das hat er, nämlich unser Bundespräsident, liebe Frau Kollegin. Aber diese richtigen und guten Sätze unseres Staatsoberhaupts bleiben natürlich nur leere Worte, sie bleiben eine reine Sonntagsrede, wenn der Staat daraus nicht die Konsequenzen zieht, indem er die Vereine und die in ihnen mit viel Idealismus tätigen Ehrenamtlichen nicht nur nicht behindert, sondern unterstützt und fördert, insbesondere durch die Schaffung entsprechender staatlicher Rahmenbedingungen.Meine Damen und Herren, lieber Sportfreund Büchner, dies taten und tun diese Bundesregierung und diese Regierungskoalition gestern und heute. In seiner Regierungserklärung 1987 hat Bundeskanzler Kohl dazu gesagt: „Wir wollen das ehrenamtliche Engagement stärken. Deshalb werden wir bestehende
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TillmannDiskriminierungen ehrenamtlich Tätiger beseitigen. "
Dieses Versprechen wie viele andere auch halten wir mit diesem Vereinfachungsgesetz ein. Mein Kollege Grünewald hat schon darauf hingewiesen.
Mit diesem Gesetz sind auch die Forderungen des Acht-Punkte-Steuerprogramms des Deutschen Sportbunds von 1983 bis auf einen Punkt — ich komme gleich noch kurz darauf zu sprechen — voll erfüllt.Nur am Rande sei erwähnt — Sie haben es eben angesprochen, lieber Sportfreund Büchner — , daß damit auch der bekannte Antrag der CDU/CSU-Fraktion von 1979 als erledigt gelten kann. Wir brauchten uns allerdings über diesen Antrag überhaupt nicht mehr zu unterhalten, wenn die damalige Regierung von SPD und FDP diesen unseren Antrag zwischen 1979 und 1982 positiv beschieden hätte. Deswegen ist jede Polemik im Hinblick auf den Ablauf der Zeit, die Sie hier vorgetragen haben, unberechtigt.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Büchner?
Bitte schön.
Herr Kollege Tillmann, lieber Sportfreund Tillmann, wenn Sie ebenso wie ich der Meinung sind, daß dieser Gesetzentwurf für den Sport sehr wichtig ist: Sind Sie dann nicht auch mit mir erstaunt, daß von dem für den Sport verantwortlichen Ministerium, dem Bundesministerium des Innern, hier überhaupt niemand anwesend ist?
Ich stelle das fest und lobe das Ministerium deswegen nicht. Ich möchte aber darauf aufmerksam machen, daß auch Kollegen aus Ihrer Fraktion, die im Sportausschuß sind, heute morgen nicht anwesend sind.Meine Damen und Herren, dieses Gesetz ist für unsere Vereine in Sport, Kultur und anderen Bereichen ein großer Erfolg und ein einmaliger Durchbruch.
Sein Schwerpunkt liegt — das ist hier schon mehrfach angesprochen worden; ich will dies nicht noch einmal wiederholen — in der Vereinfachung. Für 90 % aller unserer Vereine in allen Bereichen wird in Zukunft das Wort Finanzamt zu einem Fremdwort werden. Sie werden keinen Steuerberater mehr haben müssen.Für die Großvereine, für den Rest der Vereine, für vielleicht 10 % der Vereine, wird durch die Neugestaltung des § 67 a Abgabenordnung eine wesentliche Hilfe und Erleichterung geschaffen.
Ich komme auch auf den Punkt zu sprechen, daß hier die Ausweitung der Gemeinnützigkeit auf bisher nicht geförderte Tätigkeiten durchgesetzt wird. Wir werden im Gesetzgebungsverfahren — Herr Kollege Grünewald hat das angesprochen — auf eine sachgerechte und vorsichtige Abgrenzung zu achten haben. Ich bin aber im Gegensatz zu einem Wochenmagazin und auch im Gegensatz zu der hier geäußerten Befürchtung des Kollegen von den GRÜNEN der Auffassung, daß diese Abgrenzung zu schaffen ist. Uns kommt es darauf an, daß die für unsere Gesellschaft notwendige und nützliche Aktivität in den gemeinnützigen Vereinen gefördert wird und daß wir den dafür erforderlichen Idealismus belohnen.
Wir wollen nicht private Hobbys privilegieren. Das ist, so glaube ich, auch zwischen den Fraktionen völlig eindeutig.Ungeregelt bleibt — ich komme auf das zurück, was ich eben gesagt habe und was Sie auch beanstandet haben — die Anhebung des sogenannten Übungsleiterfreibetrags
oder der Übungsleiterpauschale von heute 2 400 DM. — Ich nehme zu Ihrem Angebot Stellung und sage Ihnen dazu, Herr Kollege Büchner: Es gibt dafür, daß diese Anhebung jetzt nicht erfolgt, sehr gute Gründe. Herr Kollege Rind hat darauf schon im einzelnen hingewiesen. Die Steuervereinfachung bei dieser Pauschalierung kommt nämlich nur einem ganz kleinen Kreis von Ehrenamtlichen zugute, nämlich den im pädagogischen Bereich in unseren Vereinen Tätigen.
— Das bestreitet ja niemand. — Es gibt aber eine breite Palette von gesellschaftlich bedeutsamer ehrenamtlicher Arbeit, für die der Aufwendungsersatz bisher nicht so praktisch und unbürokratisch geregelt ist. Das gilt z. B. für die Leistungen in sozialen Diensten.
Der Kollege Rind hat das schon angesprochen.Es ist also nur konsequent — das ist die Antwort auf Ihre Frage — und es ist gerecht, zunächst diese Ungleichbehandlung zu beseitigen — das muß auch sehr bald geschehen — , ehe einseitig eine Gruppe zusätzlich begünstigt wird.Meine Damen und Herren, die vom Deutschen Sportbund vorgeschlagenen Nachbesserungen, die vom Bundesrat zum Teil übernommen wurden, werden wir sorgfältig prüfen und, wo sinnvoll, übernehmen.
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Tillmann— Ich begrüße es, daß wir dabei wohl zu einer konstruktiven Zusammenarbeit in diesem Hause kommen. Aber im übrigen sollten Sie, Herr Kollege Büchner, nach den unfairen Attacken der Vergangenheit— auch das ist schon angesprochen worden — in dieser Sache jetzt die kleinkarierte Nörgelei einstellen
und mit polemischer Vergangenheitsbewältigung aufhören. Das nimmt Ihnen draußen im Lande niemand mehr ab.
Wir stellen auch fest, daß Sie kritisieren — ich bin gleich fertig, Herr Präsident — , daß die Beratungen angeblich unter enormem Zeitdruck stattfinden. Davon kann ich überhaupt nichts sehen. Wollen Sie nun das Gesetz zum 1. Januar 1990,
oder wollen Sie es nicht? Lieber Herr Büchner, machen Sie es lieber wie Ihr Kollege Schmidt aus Salzgitter. Er hat kürzlich vor seinem Kreissportbund dieses Gesetz ganz besonders gelobt und herausgestrichen.
Dieses Gesetz hat das auch verdient. Wir machen hier eine hervorragende Gesetzgebung, wie wir das in der Koalition insgesamt überhaupt zu tun gewohnt sind.Vielen Dank.
Meine Damen und Herren, ich schließe die Aussprache.Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen auf den Drucksachen 11/390, 11/1334 und 11/4176 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Weiter soll der Entwurf des Vereinsförderungsgesetzes zusätzlich an den Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau zur Mitberatung überwiesen werden. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? — Das ist nicht der Fall. Die Überweisungen sind so beschlossen.Meine Damen und Herren, wir brauchen uns noch gegenseitig für eine Reihe von Vorlagen, die ohne Aussprache zu behandeln sind. Wir kommen jetzt zu diesen Tagesordnungspunkten. Es gibt Abstimmungen dabei.Wir kommen zunächst zu Punkt 7 der Tagesordnung:Beratung der Beschlußempfehlung des Rechtsausschusses
Übersicht 10 über die dem Deutschen Bundestag zugeleiteten Streitsachen vor dem Bundesverfassungsgericht— Drucksache 11/3867 —Wer stimmt für die Beschlußempfehlung auf Drucksache 11/3867? — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Dann ist die Beschlußempfehlung einstimmig angenommen.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 8 sowie den Zusatztagesordnungspunkt 8 auf:8. a) Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses
Sammelübersicht 101 zu Petitionen— Drucksache 11/4135 —b) Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses
Sammelübersicht 102 zu Petitionen— Drucksache 11/4136 —ZP8 Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses
Sammelübersicht 106 zu Petitionen— Drucksache 11/4206 —Wir stimmen über die Beschlußempfehlungen des Petitionsausschusses zu den Sammelübersichten 101, 102 und 106 ab. Wer stimmt für die Beschlußempfehlungen auf den Drucksachen 11/4135, 11/4136 und 11/4206? Ich bitte um das Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Bei Enthaltungen der Fraktion DIE GRÜNEN sind die Beschlußempfehlungen angenommen.Ich rufe den Zusatztagesordnungspunkt 9 auf:ZP9 Beratung der Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses zu dem Antrag des Bundesministers der FinanzenEinwilligung in die Veräußerung bundeseigener Grundstücke in Bonn gemäß § 64 Abs. 2 der Bundeshaushaltsordnung— Drucksachen 11/4003, 11/4156 —Berichterstatter:Abgeordnete Dr. Struck Roth
ZywietzFrau VennegertsWir stimmen über die Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses auf Drucksache 11/4156 ab. Wer für die Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses stimmt, den bitte ich um das Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Bei einigen Enthaltungen ist die Beschlußempfehlung angenommen.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 9 auf:9. a) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft zurAufhebbaren Einhundertundsechsten Verordnung zur Änderung der Einfuhrliste —
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9880 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 134. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. März 1989
Vizepräsident WestphalAnlage zum Außenwirtschaftsgesetz— Drucksachen 11/3809, 11/4065 —Berichterstatter: Abgeordneter Dr. Sprungb) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft zurAufhebbaren Einundsechzigsten Verordnung zur Änderung der Ausfuhrliste — Anlage AL zur Außenwirtschaftsverordnung— Drucksachen 11/3912, 11/4066 —Berichterstatter:Abgeordneter Müller
Wir stimmen jetzt über die Beschlußempfehlungen des Ausschusses für Wirtschaft auf den Drucksachen 11/4065 und 11/4066 ab. Wer für diese Beschlußempfehlungen stimmt, den bitte ich um das Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Die Beschlußempfehlungen sind einstimmig angenommen.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 10 auf:a) Beratung der Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses zu der Unterrichtung durch die BundesregierungÜberplanmäßige Ausgabe bei Kapitel 05 02 Titel 686 12— Humanitäre Hilfsmaßnahmen im Ausland außerhalb der Entwicklungshilfe— Drucksachen 11/3804, 11/4076 —Berichterstatter:Abgeordnete Dr. Rose HoppeEstersFrau Vennegertsb) Beratung der Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses zu der Unterrichtung durch die BundesregierungÜberplanmäßige Ausgabe bei Kapitel 15 02 Titelgruppe 07 — Kindergeld— Drucksachen 11/3709, 11/4077 —Berichterstatter: Abgeordnete Kalb Frau ConradZywietzFrau Vennegertsc) Beratung der Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses zu der Unterrichtung durch die BundesregierungÜberplanmäßige Ausgabe bei Kapitel 10 04 Titel 682 04— Von den EG nicht übernommene Marktordnungsausgaben — Hj. 1988— Drucksachen 11/3796, 11/4078 —Berichterstatter: Abgeordnete Roth
DillerFrau Vennegertsd) Beratung der Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses zu der Unterrichtung durch die BundesregierungÜberplanmäßige Ausgabe im Haushaltsjahr 1988 bei Kapitel 10 02 Titel 656 53 — Landabgaberente— Drucksachen 11/3733, 11/4079 —Berichterstatter:Abgeordnete Roth DillerFrau Vennegertse) Beratung der Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses zu der Unterrichtung durch die BundesregierungÜberplanmäßige Ausgaben bei Kapitel 11 12 Titel 681 01 — Arbeitslosenhilfe— Drucksachen 11/3734, 11/4080 —Berichterstatter:Abgeordnete Sieler StrubeZywietzFrau VennegertsWir stimmen jetzt über die Beschlußempfehlungen des Haushaltsausschusses zu überplanmäßigen Ausgaben auf den Drucksachen 11/4076 bis 11/4080 ab. Können wir darüber gemeinsam abstimmen? — Ich sehe keinen Widerspruch. Wer für diese Beschlußempfehlungen stimmt, den bitte ich um das Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Dann sind die Beschlußempfehlungen einstimmig angenommen.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 15 auf:Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Carstensen , Eigen und Genossen und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Bredehorn, Richter, Wolfgramm (Göttingen) und der Fraktion der FDP eingebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur Änderung des Seefischereigesetzes— Drucksache 11/3596 —Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten
— Drucksache 11/4089 —Berichterstatter: Abgeordneter Bredehorn
Wir kommen zur Einzelberatung und Abstimmung über den von der Fraktion der CDU/CSU und der Fraktion der FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Seefischereigesetzes auf Drucksache 11/3596.Ich rufe Art. 1 bis 3, Einleitung und Überschrift, mit der vom Ausschuß empfohlenen Änderung auf. Wer den aufgerufenen Vorschriften zuzustimmen
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 134. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. März 1989 9881
Vizepräsident Westphalwünscht, den bitte ich um das Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Bei Enthaltung der Fraktion DIE GRÜNEN sind die aufgerufenen Vorschriften angenommen.Wir treten in die dritte Beratungein und kommen zur Schlußabstimmung. Wer dem Gesetzentwurf als Ganzen zuzustimmen wünscht, den bitte ich, sich vom Platz zu erheben. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Der Gesetzentwurf ist bei Stimmenthaltung der Fraktion DIE GRÜNEN angenommen worden.Wir treten nun in die Mittagspause ein. Die Sitzung wird um 14 Uhr mit Tagesordnungspunkt 6, der Beratung der Rentenanpassung 1989, fortgesetzt.Ich unterbreche die Sitzung.
Ich eröffne die unterbrochene Sitzung.
Zunächst habe ich dem Haus etwas bekanntzugeben. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung soll die Tagesordnung erweitert werden, und zwar um den Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und der FDP auf Drucksache 11/4223 betreffend gemeinsames Hochschulsonderprogramm von Bund und Ländern zur Erweiterung der Ausbildungskapazität in besonders belasteten Studiengängen. Dieser Antrag soll in verbundener Debatte mit dem Tagesordnungspunkt 16, der sich mit der Hochschulpolitik beschäftigt, behandelt werden.
Darüber hinaus ist interfraktionell vereinbart worden, die unter Punkt 19 für Freitag vorgesehene Beratung des Gesetzentwurfs zur Änderung des Börsengesetzes vorzuziehen und diesen Punkt bereits heute nach der Beratung des Zusatzpunkts 10 — Deutschlandpolitik und KSZE — aufzurufen.
Ich mache darauf aufmerksam, daß wir in der Zeitplanung etwa eine halbe Stunde zurückliegen.
Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 6 auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Anpassung der Renten der gesetzlichen Rentenversicherung und der Geldleistungen der gesetzlichen Unfallversicherung im Jahre 1989
— Drucksache 11/4027 —
a) Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung
— Drucksache 11/4221 —Berichterstatter: Abgeordneter Heinrich
b) Bericht des Haushaltsausschusses gemäß § 96 der Geschäftsordnung
— Drucksache 11/4222 —
Berichterstatter:
Abgeordnete Sieler Strube
Zywietz
Frau Vennegerts
Der Ältestenrat schlägt Ihnen eine Debattenzeit von 30 Minuten vor. — Das Haus ist damit einverstanden, wie ich sehe. Ich darf das als beschlossen feststellen.
Ich eröffne die Aussprache und rufe als ersten den Abgeordneten Müller auf. Herr Abgeordneter, Sie haben das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der erzielte Konsens in der Rentenfrage ist ein großer Erfolg und macht deutlich, daß CDU/CSU, FDP und SPD der Rentenpolitik einen hohen Stellenwert geben und zur Zusammenarbeit fähig sind. Das stärkt, so denke ich, unser parlamentarisches System. Der Konsens ist eine gute Grundlage für weitere Beratungen. Ich erwähne die gute und harmonische Zusammenarbeit in dieser Frage im Ausschuß und danke allen Mitgliedern für die faire und sachliche Mitarbeit bei der Beratung des vorliegenden Rentenanpassungsgesetzes.Der wohlverdiente Alterslohn wird pünktlich bezahlt, und die Rentner werden durch die jährliche Anpassung an der Wohlstandsentwicklung in sozialpolitisch sachgerechter Weise beteiligt.Vor allem begrüße ich, daß demnächst durch die Rentenversicherung neue familienpolitische Akzente gesetzt werden.
Bei dem gefundenen Kompromiß haben sowohl die Regierungsparteien als auch die Opposition Abstriche von den eigenen Vorstellungen machen müssen.Ich sehe in der Anerkennung von weiteren Kindererziehungszeiten das Kernstück der Reform, auch wenn die Zahl der Jahre, die für Geburten anerkannt werden, erst ab 1992 von 1 auf 3 erhöht wird. Ich hätte gern weitergehende Lösungen gesehen. Aber das war ja nicht durchsetzbar.Ich bedaure jedoch, daß jetzt der Versuch gemacht wird, eigene Position zu Lasten des anderen in der Öffentlichkeit herauszustellen. Herr Kollege Heyenn, ich sage das ausdrücklich an die Adresse der SPD. Ich halte es nicht für gut, wenn jetzt die unumgänglichen Einsparungen bei der Rentenreform von Ihrer Seite aus der CDU in die Schuhe geschoben werden und Sie selber sich mit den Verbesserungen profilieren. Ich denke, beide Seiten sollten jetzt nicht der Versuchung erliegen, aus wahltaktischen Gründen die eigenen Erfolge bei den Verhandlungen hochzurechnen.Viele Bürger sind durch die Ungereimtheiten des Fremdrentengesetzes verunsichert, wissen aber nicht immer genau, um was es geht. Die Ungewißheit über das Fremdrentengesetz ist erschreckend groß. Sie muß aus der Welt. Es darf nicht übersehen werden, daß mit dem deutsch-polnischen Sozialversicherungsabkommen die Ansprüche der ehemaligen polnischen Zwangsarbeiter, die in der NS-Zeit gegen ihren Willen hier bei uns einige Jahre gearbeitet haben, abgegolten sind. Dies gilt ebenso für die Deutschen, die auf
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Müller
Dauer in Polen bleiben werden. Trotzdem dürfen Aussiedler aus Polen nicht bessergestellt werden als Rentenbezieher, die hier viele Jahre Beiträge gezahlt haben. Ich begrüße, daß Bundesarbeitsminister Blüm eine Überprüfung und Anpassung des Fremdrentengesetzes vorbereitet.Hervorzuheben ist auch, daß die Spätaussiedler unsere Rentenkassen, jedenfalls auf Dauer, nicht belasten, sondern sie eher entlasten. 80 % der Spätaussiedler, die im Jahre 1988 zu uns gekommen sind, waren unter 45 Jahre alt. Sie verbessern also unsere demographische Struktur. Das wirkt sich auf die Rentenkassen langfristig positiv aus.Seit längerem ist vereinbart, daß auch die Rentner Beiträge zur Krankenversicherung zahlen. Diese Beiträge steigen ab 1. Juli 1989 um 0,6 %, so daß die Renten effektiv um 2,4 % steigen. Gegenüber dem Entwurf, der noch von höheren Krankenversicherungsbeiträgen ausging, ist das eine Verbesserung und somit ein Vorteil für die Rentner.Meine Fraktion sieht in der jetzt erzielten Beitragsstabilität der gesetzlichen Krankenversicherung einen ersten Erfolg der Gesundheitsreform; denn ohne das Gesundheits-Reformgesetz wären die Beiträge mit Sicherheit weitaus stärker gestiegen. Solidarität ist keine Einbahnstraße. Es entspricht dem Gebot richtig verstandener Solidarität, daß die Rentner wie die Aktiven ihre Krankenversicherungsbeiträge mittragen.In den letzten 30 Jahren hat sich die Zahl der Renten fast verdoppelt. Sie beträgt heute rund 13,5 Millionen und steigt auf Grund der verbesserten Lebenserwartung weiter an. Die durchschnittliche Rentenbezugsdauer ist seit 1957 um fünf Jahre gestiegen.Alle müssen aber nunmehr an den steigenden Lasten beteiligt sein. Ich begrüße daher, daß es gleichgewichtete adäquate Regelungen auch in der Beamtenversorgung geben wird.
Die Verabschiedung der Rentenreform mit der gesetzlichen Regelung soll mit der Änderung der Beamtenversorgung in einem engen zeitlichen Zusammenhang erfolgen.Ich freue mich, daß meine Fraktion gestern beschlossen hat, die Anrechnungsfreibeträge nach § 55 des Beamtenversorgungsgesetzes ab 1. Januar 1990 von 20 % auf 40 % zu verbessern.
Damit kommen wir einem berechtigten Anliegen vieler Beamter nach.
Herr Abgeordneter Müller , der Abgeordnete Heyenn wollte gerne eine Frage stellen.
Bitte, wenn Sie mir das nicht anrechnen.
Ich werde Ihnen das selbstverständlich nicht anrechnen.
Bitte sehr.
Herr Kollege Müller, Sie haben eben betont, daß es gut sei, daß wir gemeinsam zu einem Kompromiß gefunden hätten und daß die Beamtenversorgung adäquat einbezogen würde. Teilen Sie meine Auffassung, daß die Veränderung der Anrechnung der Renten bei Pensionären nur ein Angebot an die Sozialdemokraten im Zusammenhang mit den laufenden Gesprächen zur Anpassung der Beamtenversorgung darstellen kann und daß wir gemeinsam darüber befinden müssen?
Sie haben das bereits gestern im Ausschuß zu Protokoll gegeben. Ich gehe davon aus, daß auch über diese Frage mit Ihnen geredet wird. Ich würde mich freuen, wenn es dann zu einer gemeinsamen Aktion kommen könnte.
Vor allem die kleinen Beamten, die sich bisher ungerecht behandelt fühlten, profitieren von dieser Regelung. Hier ist auch ein Stück Vertrauensschutz einzubringen.
Herr Abgeordneter Müller, der Abgeordnete Heyenn möchte noch eine Zwischenfrage stellen.
Aber bevor er das tut, erlaube ich mir auf Grund des gerade stattgefundenen Dialogs die Kollegen mit aller Zurückhaltung darauf aufmerksam zu machen, daß wir die Rentenanpassung des Jahres 1989 beraten und nicht das Rentenstrukturgesetz, das später gültig wird. Wenn der Abgeordnete Heyenn dies bei seiner Zwischenfrage berücksichtigte, würde er dem Präsidenten das Geschäft wesentlich erleichtern.
Bitte schön, Herr Abgeordneter
Herr Präsident, ich berücksichtige das gern, muß aber betonen, daß die Entwicklung 1989 natürlich eine entscheidende Einwirkung darauf haben wird, was 1992 passiert.
Ich möchte den Kollegen Müller fragen, ob er meine Auffassung teilt, daß wir uns, wenn auch im einfachen und mittleren Dienst eine partielle Überversorgung zu verzeichnen ist, für die Zukunft bemühen sollten, mit dieser Anrechnung bei der Versorgung in unterschiedlichen Systemen Schluß zu machen, um für die Zukunft in Form einer umgekehrten Nachversicherung dafür zu sorgen, daß am Lebensabend die Versorgung oder die Rente aus einer Hand gezahlt wird.
Nein, ich glaube, das kann ich so nicht bestätigen. Ich bin dafür, daß wir weiter ein gegliedertes System haben,
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Ich möchte, meine Damen und Herren, deutlich machen, daß meine Fraktion dem Entwurf eines Gesetzes über die Anpassung der Renten der gesetzlichen Rentenversicherung und der Geldleistungen der gesetzlichen Unfallversicherung zum 1. Juli 1989 in der vorliegenden Form uneingeschränkt zustimmt.
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Steinhauer.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Herren und Damen! Innerhalb von drei Sitzungswochen diskutieren wir nun zum dritten Male über die Renten. Heute geht es um die Anpassung der Renten in der gesetzlichen Rentenversicherung und der Geldleistungen der gesetzlichen Unfallversicherung zum 1. Juli 1989.Wie in den vergangenen Jahren stimmen wir der Rentenerhöhung um netto 2,4 % zu, obwohl dies den Preisanstieg nicht ganz ausgleicht.
Die letztjährigen Beratungen waren vom Sozialabbau und der völlig ungesicherten Finanzlage der Rentenversicherung gekennzeichnet. Anders als in den letzten Jahren können wir jedoch heute feststellen, daß sich die diesjährige Beratung über die Rentenanpassung von den früheren Beratungen unterscheidet.Durch das Einbringen des Reformgesetzes zur gesetzlichen Rentenversicherung wird eine langfristige Sicherung der Renten eingeleitet. Dieser Rentenversicherungskompromiß zeigt in vielen Teilen die Handschrift der SPD. Wir wissen, daß wir damit eine Verantwortung übernommen haben, und wir sind bereit, diese auch zu tragen. So verstehen wir übrigens konstruktive Opposition,
wie wir sie ja auch schon bei der großen Rentenreform 1957 praktiziert haben.Man sollte an dieser Stelle auch noch einmal in Erinnerung rufen, daß die Dynamisierung der Renten nach dem 57er-Gesetz auf einen Antrag der SPD-Fraktion zurückgeht. In der ersten Lesung hat die damalige Regierungspartei, vertreten durch ihren CDU-Sprecher, die Dynamisierung an dieser Stelle noch abgelehnt.Wir hätten es uns viel leichter machen können, wenn wir die Auffassung vertreten hätten: Die Rücklagen in der Rentenversicherung sind nach der Wende abgebaut worden, nun soll die Koalition die finanziellen Probleme als Suppe ohne Fettaugen selbst auslöffeln. Die Verantwortung gegenüber den Rentnern und Beitragszahlern hat uns veranlaßt, die Rentenreform mitzutragen, um Sicherheit bis in das nächste Jahrtausend zu erhalten. Leicht ist uns das nicht gefallen. Sie konnten aber den Diskussionen der letzten Wochen entnehmen: Wir stehen verantwortungsvoll zu dem Ausgehandelten. Ich möchte den Dialog von vorhin nicht fortsetzen. Wir möchten nicht, daß Sie jetzt meinen, Sie könnten hier noch ein paar Rosinen verteilen
und uns in die Verantwortung mit hineinnehmen, wenn es darum geht, daß wir allen ein ausgeglichenes Opfer zumuten müssen.
Wir stehen im Interesse der Betroffenen und auch im Interesse des Sozialstaates zu dem Kompromiß.Daß die Koalition nicht in der Lage ist, eine ausgewogene Sozialpolitik zu verwirklichen, führt sie uns zur Zeit ja ganz aktuell vor. Die Kritik, die wir insgesamt am sozialpolitischen Kurs der Bundesregierung üben, nämlich an dem Sozialabbau und der unausgewogenen Sozialpolitik, bleibt bei uns nach wie vor voll erhalten. Wir zeigen mit der Zustimmung zum Kompromiß, daß es uns nicht um parteitaktische Vorteile geht, sondern um eine verläßliche, auf breiter Basis verabschiedete Rentenreform.
So etwas sollte man nämlich nicht mit 51 %, mit Brachialgewalt durchziehen.Wir betreiben Opposition nicht als Obstruktion, sondern wir gestalten aus der Opposition mit. Der Wähler und die Wählerin werden erkennen, daß die Kraft der Bundesregierung nicht ausreicht, eine sozial ausgewogene, tragfähige Rentenreform auf den Weg zu bringen.
Sie braucht dazu vielmehr die Hilfe der SPD.
Auch zukünftig werden die Rentner an der Entwicklung der Arbeitseinkommen teilnehmen. Jedoch gibt es einen automatischen Regelmechanismus mit dem Bundesanteil, so daß nicht von Fall zu Fall über Finanzierungsprobleme entschieden werden muß, wie das in der Vergangenheit, als viel laboriert wurde, der Fall war. Sie haben ja Krankenversicherungsbeiträge abgezogen. Das war Laborieren und hat nichts zur finanziellen Sicherung beigetragen. Durch diese
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Frau Steinhauergrundsätzliche Weichenstellung sind wir meines Erachtens auf dem Weg zu einer Entwicklung des Systems der Rentenversicherung, die sich zukünftig als richtig erweisen wird.Bedauerlich ist, daß eine zusätzliche Finanzierung über die Wertschöpfung nicht erreicht wurde.
Ich betone auch heute noch einmal, daß wir das u. a. weiter als Thema verfolgen werden.Ich will auch nicht in Vergessenheit geraten lassen, daß die Rentenversicherungsbeiträge für Arbeitslosengeld- und Arbeitslosenhilfeempfänger nicht auf den alten Stand erhöht werden konnten. Aber durch unsere Standhaftigkeit in dieser Frage konnte im Wege des Kompromisses eine Verbesserung erreicht werden. Übrigens: Manche Finanzierungsprobleme wären nicht entstanden, wenn Sie eine bessere oder überhaupt eine Arbeitsmarktpolitik betrieben hätten.Wichtig ist auch die Weiterführung der Renten nach Mindesteinkommen. Das bringt insbesondere den Frauen neben der erreichten Anerkennung von Kindererziehungszeiten Vorteile. Im ersten Referentenentwurf waren ja erhebliche Nachteile zu Lasten der Frauen enthalten.Die Einführung der Grundsicherung bleibt nach wie vor unser Ziel z. B. bei Erwerbsunfähigkeit, Arbeitslosigkeit und im Alter. Das ist also keine reine Frage der Rentenversicherung.Lassen Sie mich sagen, daß uns die Neuregelung der Altersgrenzen sehr schmerzt. Wir haben jedoch durch den Kompromiß erreicht, daß bei den Altersgrenzen nicht schon 1995 eine beabsichtigte Erhöhung wirksam wird. Vielmehr wird diese Erhöhung der Altersgrenzen erst im nächsten Jahrhundert in Angriff genommen.
Darüber muß man in den 90er Jahren noch einmal reden. Darüber kann noch nicht das letzte Wort gefallen sein.Die vorzeitige Berentung ist für uns im übrigen eine Frage des Arbeitsmarktes, aber auch — das wird meines Erachtens viel zuwenig behandelt — eine Frage der Humanisierung der Arbeitswelt.Meiner Meinung nach gibt es noch einen wichtigen Punkt, der dringend geregelt werden muß. Das ist die Frage der Erwerbs- und Berufsunfähigkeit. In den 90er Jahren muß das Thema jedenfalls angesprochen und einer besseren Regelung zugeführt werden. Es kann ja nicht angehen, daß Arbeitnehmer, wenn sie um die 50 und in der Gesundheit eingeschränkt sind, nach den gesetzlichen Bestimmungen weder eine Berufs- noch eine Erwerbsunfähigkeitsrente bekommen, andererseits aber auch keinen Arbeitsplatz erhalten, der entsprechend ihrer Leistungsfähigkeit noch auszufüllen wäre.Auch die Beseitigung der Versicherungsfreiheit bei geringfügiger Beschäftigung wird von uns unabhängig von der Rentenreform konsequent weiter verfolgt werden.Die Frage des Bundeszuschusses ist ein weiterer kritischer Punkt. Ich persönlich muß sagen, ich hätte mir auch lieber einen höheren Bundesanteil als Ausgangslage für die zukünftige Entwicklung gewünscht. Ich sage bewußt Bundesanteil; denn es handelt sich um eine Verpflichtung des Bundes für Fremdleistungen der Rentenversicherung und nicht um eine Wohltat, wie man einen Zuschuß unter Umständen auslegen könnte.
— Das Fremdrentengesetz kann man auch von der anderen Seite sehen. Herr Kolb, ich würde Ihnen gern einmal Fälle zeigen, die tragisch sind, wo Aussiedler hier keine Rente bekommen. Im übrigen will ich Ihnen auch sagen — es ist eben schon gesagt worden —, daß wir auch sehr viele versicherte Ausländer haben, die in der Vergangenheit zur Stabilität in der Rentenversicherung ganz erheblich beigetragen haben, als sie nämlich keine Leistungen gefordert haben.
Der Bund kann sich seiner Verpflichtung zur Aufbringung dieser Mittel für die Rentenversicherung nicht entziehen.Durch unseren Einfluß beim Gesetzentwurf zur Rentenreform konnte erreicht werden, daß der Bundesanteil um 2,3 Milliarden DM heraufgesetzt wird. Hinzu kommt dann noch der ersparte Bundesanteil für die Kinererziehungszeiten.Alles in allem meinen wir: Man kann Kritik an dem Kompromiß üben, aber bei einem Kompromiß kann man nicht alles erreichen. Wir meinen, daß wir durch unsere Mitwirkung an dem Rentenreformgesetzentwurf einen wichtigen Schritt in die richtige Richtung getan haben, damit die Rentenversicherung in Zukunft besser abgesichert ist und damit es vor allen Dingen, je nach finanzieller Begehrlichkeit — das sage ich auch — oder Arbeitsmarktlage, nicht mehr Eingriffe in die Finanzen der Rentenversicherung geben kann und damit nicht schließlich einige sogar das ganze Rentensystem in Frage stellen.Wie von der SPD immer vertreten — das kommt in dem heutigen Anpassungsgesetz auch zum Ausdruck — , sollen die Rentner nach wie vor an der Entwicklung der verfügbaren Arbeitseinkommen teilhaben und damit eine Lebensstandardsicherung erhalten. Rentenerhöhung, Beitragssatz und Bundesanteil sind grundsätzlich im neuen Gesetzentwurf gesetzlich vorgeschrieben, die Anpassung wird jeweils durch Rechtsverordnung vorgenommen. In einigen Jahren werden wir also Beratungen wie heute nicht mehr haben. Die jährlichen Unsicherheiten und Unwägbarkeiten bleiben zukünftig ausgeschlossen. Ich meine, das ist auch ein wichtiger Punkt für die zukünftige Entwicklung.Ich danke Ihnen fürs Zuhören.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Heinrich.
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 134. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. März 1989 9885
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Verehrte Frau Kollegin Steinhauer, ich habe zwar großes Verständnis dafür, daß Sie natürlich versuchen, möglichst viel herüberzuziehen, aber die 2,3 Milliarden DM hatten wir vorher schon abgesprochen; das können Sie sich nun wirklich nicht auf Ihre Fahnen schreiben.
— Da haben wir angefangen, und wir sind bei 2,3 Milliarden DM gelandet.
Dann sind Sie in den Dialog eingestiegen. Das wissen wir ganz sicher.
Meine Damen und Herren, für die große Mehrzahl unserer älteren Mitbürger ist die gesetzliche Rentenversicherung die maßgebliche Basis ihrer Sicherung im Alter. Damit die Renten zum 1. Juli 1989 angehoben werden können, haben wir, unabhängig von all den vielen wichtigen Themen, die uns im Ausschuß beschäftigen, diesem Gesetz Priorität eingeräumt. Mit diesem Gesetz werden die Renten um 2,4 % ansteigen, so daß sie, für das ganze Jahr 1989 gesehen, um 2,7 % höher liegen, Frau Kollegin Steinhauer, und somit auch der entsprechende Kaufkraftschwund ausgeglichen ist.
Damit wird dem Grundsatz gleichgewichtiger Entwicklung der verfügbaren Arbeitnehmereinkommen und der Renten Rechnung getragen.
In diesem Zusammenhang möchte ich auch daran erinnern, daß das Nettorentenniveau bei 45 Versicherungsjahren 1957 bei ca. 66,7 % lag, jedoch heute etwa bei 72,0 % liegt.
Die Anerkennung von Kindererziehungszeiten für die sogenannten Trümmerfrauen bringt zusätzlich Leistungen zwischen 64 und 81 DM. Positiv wirken sich auch die Kindererziehungszeiten auf die Versicherungsrenten von Frauen aus. Verehrte Kollegin Steinhauer, in diesem Zusammenhang darf ich doch ganz entschieden den Vorwurf des Sozialabbaus, den Sie vorhin erhoben haben, zurückweisen. Die Zahlen sprechen eine andere Sprache.
Wir sind weiterhin der Auffassung, daß die bisherige Berücksichtigung — ich kann leider nicht umhin, dies hier noch einmal vorzutragen, weil das mir und meiner Partei sehr, sehr wichtig ist — der Kindererziehungszeiten nur bis zu einer Höhe von 75 % des Durchschnittsentgelts bei Berufstätigkeit oder freiwilligen Beiträgen in der Rentenreform geändert werden sollte; denn nur dann wird der generative Beitrag, der durch die Kindererziehung geleistet wird, künftig angemessen bewertet.
Wir halten es für problematisch, daß diejenigen, die zur Aufrechterhaltung ihrer Versicherungsansprüche freiwillige Beiträge gezahlt haben, oder die, die z. B. als Alleinerziehende voll arbeiten mußten, bei den Kindererziehungszeiten oftmals leer ausgehen.
— Steter Tropfen höhlt den Stein, Frau Kollegin.
Der Rentenanpassungsbericht macht deutlich, daß für die Reform dieses Alterssicherungssystems Handlungsbedarf besteht. Wir haben dazu, so meine ich, in der letzten Woche ein Konzept vorgelegt, das einerseits die auf uns zukommenden Schwierigkeiten berücksichtigt, andererseits aber auch dem Gedanken ausreichender Sicherung im Alter angemessen Rechnung trägt.
Entscheidend für die künftige Entwicklung der Rentenversicherung sind aber nicht allein demographische Risiken, sondern in erheblichem Umfang auch die Entwicklung von Wachstum, Beschäftigung und Produktivität; denn nur das, was zuvor erwirtschaftet worden ist, kann auch verteilt werden. Das darf in den anstehenden Tarifverhandlungen in diesem, aber auch im nächsten Jahr nicht vergessen werden.
Dauernde Arbeitszeitverkürzungen erschweren nicht nur die Wettbewerbsposition der deutschen Wirtschaft und gefährden somit die Beschäftigung, sondern gehen auch an den Rentnern vorbei; denn Arbeitszeitverkürzungen führen vielfach zu verminderten Lohnsteigerungen, die wiederum die Grundlage für Rentenanpassungen bilden.
Herr Abgeordneter Heinrich, es wird um eine Zwischenfrage gebeten. Sie haben aber nur noch ein paar Sekunden Redezeit im Rahmen Ihres Fünf-Minuten-Beitrages. Ich stelle es Ihnen aber frei, die Zwischenfrage zuzulassen, und rechne sie auch nicht auf die Zeit an.
Ja, bitte sehr.
Herr Abgeordneter, sind Sie nicht auch der Meinung, daß man die Behauptung, daß Arbeitszeitverkürzungen die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Volkswirtschaft beeinträchtigen, nicht aufrechterhalten kann, wenn man betrachtet, daß nach 1984, nachdem also die IG Metall und dann auch andere Gewerkschaften, insbesondere die IG Druck und Papier, immerhin erhebliche Arbeitszeitverkürzungen durchgesetzt hatten, der größte Exportboom in der gesamten Nachkriegszeit in der Bundesrepublik zustande kam?
Ja, in der Tat. Es ist ja doch so: Wenn wir von Wettbewerbsfähigkeit reden, dann müssen wir doch einmal Bilanz ziehen: Wie sieht es in Europa, wie sieht es in der Welt aus? Hier haben wir in
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9886 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 134. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. März 1989
Heinrichder Tat eine hervorragende Bilanz vorzulegen. Wir arbeiten am wenigsten, nach Arbeitsstunden gerechnet, in der ganzen Welt; wir haben die meiste Freizeit.
Ich meine, dies darf nicht überzogen werden.Meine sehr verehrten Damen und Herren, zusammenfassend ist festzustellen, daß mit der heute zu beschließenden Rentenanpassung die Rentnerinnen und Rentner an der wirtschaftlichen Entwicklung innerhalb der Bundesrepublik Deutschland angemessen teilnehmen.Ich bedanke mich.
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Unruh.
Herr Präsident! Werte Volksvertreter und Volksvertreterinnen! Wir GRÜNEN erklären, daß wir diesen Gesetzentwurf so natürlich nicht mittragen. Warum? Weil er mit 2,4 % den Kaufkraftverlust für Rentner und Rentnerinnen überhaupt nicht ausgleicht. Wir werden uns aber der Stimme enthalten und werden draußen unsere Flugblätter verteilen.
Natürlich muß das auch die SPD berühren; anders geht es ja gar nicht. Die SPD hat gestern bei ihrem Rentenkongreß die Stimme des Volkes gehört, die Stimme der Betriebsräte, der Personalräte usw., die ja alle diesen Deal, den Sie zu Lasten der Rentner und Rentnerinnen mit kleinen Renten aus der Arbeiter- und Angestelltenversicherung machen, mißachten und sogar ihre eigene Bundestagsfraktion sehr gerügt haben. Ich möchte sagen: mit Recht.
— Ich habe dies auf dem Tisch liegen, z. B. von den Altkollegen aus der Industriegewerkschaft Druck und Papier aus Frankfurt, von der IG Metall aus Hannover, von Opel aus Rodgau usw. Gott sei Dank läuft da der Aufstand. Wir werden dafür sorgen, daß der Aufstand auch nicht zum Ersticken kommt. Eine Harmonisierung hat doch überhaupt nicht stattgefunden. Ich habe gern zur Kenntnis genommen, daß es jetzt bei § 55 des Beamtengesetzes eine Erhöhung von 20 auf 40 % gegeben hat. Da geht es auf einmal mit einer erhöhten Harmonisierung. Zur gleichen Zeit sagt der Vorsitzende Vogel — das muß man sich einmal vorstellen — , diesmal jedoch gebe es nichts mehr zu verteilen, sondern nur eine Minuskorrektur für die Arbeiter- und Angestelltenversicherung. — Ja, verehrte Freunde der SPD, damit müssen Sie natürlich fertigwerden, wie Sie jetzt den neuen Deal — 20 auf 40 % —nach draußen verkaufen.
Es wird noch ein Überraschungsosterei kommen. Die Wahlkämpfe haben Sie doch sehr nervös gemacht. Gleich bei der KOV werden wir ja noch solch eine Überraschungsmitteilung aus der Nachtsitzung der CDU hören.
— Ach, Herr Minister, natürlich ist alles gut. Nur, eigentlich müßten Sie sich ja schämen. Sie werden ja nur in den Zugzwang der verlorenen Wahlkämpfe gesetzt, sonst geschieht doch nichts.
Sie sind auch sonst gar nicht in der Lage, an das Wohl der kleinen Leute zu denken. Herr Minister, das wissen Sie doch besser als ich: Über 70 % der Rentner aus der Arbeiter- und Angestelltenversicherung liegen bei 45 anrechenbaren Versicherungsjahren unter 1 640 DM. Das ist die Beamtenmindestpension ohne eigene Einzahlung nach 35 Jahren in diesem Staat. Tun Sie doch nicht so, Herr Minister, als wenn Sie das nicht alles gewußt hätten! Der Rentner und die Rentnerin draußen, die wissen es, und die verpassen Ihnen den Denkzettel. Sie werden auch der SPD einen Denkzettel verpassen. Ich hoffe immer noch, daß diese SPD-Opposition in diesem Staate erhalten bleibt. Wir leben doch hier verdammt noch mal 1989 nicht in einer Diktatur, die Sie jetzt hier letztlich im Deal betreiben.
Sie wollen den Generationenhaß züchten, Sie wollen unseren Kindern und Kindeskindern weismachen, daß die Fremdentnahmen zum guten Schluß noch über die Rechten herkommen. Wissen Sie, was Ihre Fremdentnahmen sind? Sie haben über 500 Milliarden DM fremd aus den Kassen der Beitragszahler der Arbeiter- und Angestelltenversicherung entnommen. Das wissen Sie auch seit 1959, und Sie machen dennoch unsere eigenen Söhne und Töchter verrückt, daß sie den Gürtel enger schnallen sollen, weil Vater, Mutter, Oma und Opa eine Rente haben müssen. Schämen Sie sich doch!
Zur gleichen Zeit sagen Sie unseren Söhnen und Töchtern: Zahlt ihr mal schön privat ein! Ihr müßt zwar heute bei 6 100 DM über 1 000 DM im Monat bezahlen, aber im Jahre 2030 langt das nicht mehr. Meinen Sie wirklich, Sie hätten in dieser demokratischen Gesellschaft — wir haben Gott sei Dank unsere Söhne und Töchter demokratisch großgezogen — die Chance, daß sich unsere eigenen Söhne und Töchter so für dumm verkaufen lassen? Die Rechnung bezahlen sie, und das tut mir leid. Es tut mir um diese Demokratie, um diesen Staat leid. Und wer trägt die Verantwortung? Ich hoffe, die C-Parteien allein und nicht noch die Sozialdemokraten dazu.
Das Wort hat der Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung, Norbert Blüm.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren!
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 134. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. März 1989 9887
Bundesminister Dr. BlümVielleicht nur ein paar Bemerkungen noch einmal zu dem Thema Konsens. Ich finde es nicht gut, daß, wenn ein Kompromiß gefunden ist, wenn ein Konsens gefunden ist, jede Seite jetzt probiert, für sich die Verdienste zu reklamieren und der anderen Seite die negativen Seiten zuzuschreiben. Ganz abseits vom Rentenkonsens — das macht man nicht.
Das ist ungefähr so, als wenn Vater und Mutter sich streiten würden, wer das größere Verdienst hat, daß das Kind so prächtig gedeiht. Wenn wir einen Konsens gefunden haben, dann laßt uns diesen zusammen vertreten; wir haben ihn ja auch zusammen erarbeitet. Es nimmt dem Rentenkonsens etwas von seiner moralischen Bedeutung — diese hat er nämlich — , daß wir über die Schatten von Parteigrenzen springen können, daß wir im Interesse der alten Mitbürger zusammenarbeiten, und von seiner Glaubwürdigkeit, wenn anschließend jeder sagt: Die anderen waren die Schlimmen, und wir waren die Guten.
Laßt uns wegen des Gewichtes über die Rentenentscheidung hinaus den Konsens in allen seinen Teilen gemeinsam vertreten!Nun noch, Kollegin Steinhauer, zu dem altbekannten, gebetsmühlenhaft vorgetragenen Wort vom Sozialabbau.
Also, die Rentenversicherung stabilisiert zu habenund sie vor dem Zusammenbruch gerettet zu haben,
das kann doch wohl nicht Sozialabbau sein. Liebe Kollegin Steinhauer, wenn Ihre Partei in der Regierung geblieben wäre, hätten Sie doch mit Ihrer Rentenpolitik gar nicht fortfahren können; auch Sie hätten doch ändern müssen. Hätten Sie nicht geändert und wären Sie einfach auf Ihrem Pfad fortgeschritten,
wäre die Rentenversicherung zusammengebrochen; sie wäre zahlungsunfähig geworden. Daß wir die Renten vor dem Zusammenbruch bewahrt haben, das halte ich nicht für Sozialabbau, sondern für ein soziales Verdienst.
Im übrigen haben wir nicht nur gespart. Wir sparen ja auch nicht, weil uns Sparen Freude macht — da wüßte auch ich Schöneres — , sondern wir sparen, um diesen Sozialstaat überlebensfähig zu machen. Aber wir haben ja nicht nur gespart. Wir haben die Reform der Hinterbliebenenrente durchgeführt, die bei Ihnen sieben Jahre auf der Warteliste stand. Das war ein Verfassungsauftrag.Wir haben Kindererziehungszeiten — ich muß mich leider wiederholen — zum erstenmal in das Rentenrecht eingeführt. 1990 werden über 6 Millionen Mütter durch die Regelung über Kindererziehungszeiten begünstigt sein, die ohne dieses Gesetz keine Kindererziehungszeiten hätten in Anspruch nehmen können.
Wenn Sie vom Sozialabbau sprechen: Wissen Sie, was das bis 1990 gekostet hat? 10 Milliarden DM! Wenn ich höre, wir hätten nichts für die Familie getan: in der Rentenversicherung allein 10 Milliarden DM für Kindererziehung. Sie können das bedauern. Das sind 10 Milliarden DM mehr als zu Ihrer Zeit. Denn von Ihren Parteitagsbeschlüssen und von Ihren Resolutionen hat sich keine Mutter auch nur ein trockenes Brötchen kaufen können. Das sind Beschlüsse ohne Wert, weil ohne Konsequenz.
— Es dreht sich nicht darum, wer wann wo an der Regierung ist. Wir haben die Rentenversicherung stabilisiert, und wir machen sie fähig, auch die Herausforderungen der Zukunft zu beantworten.Es gibt in diesem Jahr eine Rentenanpassung um 2,4 %. Mit der Rentenerhöhung aus dem ersten halben Jahr dieses Jahres ist das eine jahresdurchschnittliche Rentenerhöhung von 2,7 %. Insgesamt wird die Kaufkraft der Renten in diesem Jahr rund 7 To über dem Stand von 1985 liegen. Das sind der Ausdruck und das Ergebnis einer soliden Wirtschafts-, Finanz- und Sozialpolitik.Im Rückblick, liebe, verehrte Frau Unruh, — —
— Höflich sind wir immer; das wissen Sie doch. Unsere Beziehungen werden durch Ihre Aggressionen in keiner Weise gefährdet.
— Doch, ich habe schon oft gemerkt, der Standpunkt von Frau Unruh wechselt mit dem Standort. Hier oben ist sie viel liebloser und bösartiger. Wenn wir uns da unten treffen, ist sie die Liebe in Person; das will ich hier doch einmal sagen.
Die Renten sind seit 1957 um das 6,5fache gestiegen, mehr als die Nettolöhne.
— Ich sage das ja auch ohne Vorwurf; ich will es nur darstellen. Ich nenne das noch nicht einmal als Verdienst nur einer Partei.Die Renten liegen heute nach Abzug von Preissteigerungen um das 2,3fache höher als 1957. Daran haben viele mitgewirkt, nicht nur eine Seite. Deshalb bleibt unsere Rentenversicherung auch die gemeinsame Aufgabe aller Fraktionen in diesem Hause.
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9888 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 134. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. März 1989
Meine Damen und Herren, wir kommen nun zur Abstimmung. Ich rufe die Art. 1 bis 4, Einleitung und Überschrift mit den vom Ausschuß empfohlenen Änderungen auf. Wer diesen aufgerufenen Vorschriften zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Bei Enthaltung der Fraktion DIE GRÜNEN sind diese Vorschriften angenommen.
Wir treten nunmehr in die
dritte Beratung
ein und kommen zur Schlußabstimmung. Wer dem Gesetzentwurf insgesamt zuzustimmen wünscht, den bitte ich, sich zu erheben. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Bei Enthaltungen der GRÜNEN-Fraktion ist der Gesetzentwurf angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 11 auf:
— Drucksachen 11/4178, 11/4210 —
Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Ausschuß für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit Haushaltsausschuß mitberatend und gem. § 96 GO
Auch hier schlägt Ihnen der Ältestenrat eine Debattenzeit von 30 Minuten vor. Ich nehme an, daß Sie damit einverstanden sind. — Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Debatte. Das Wort hat der Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung.
Es kommt keine Überraschung, sondern es kommt die gute Nachricht, daß auch die Leistungen der Kriegsopferversorgung in diesem Jahr um 2,4
angepaßt werden.
— Das ist keine Überraschung, das habe ich ausdrücklich gesagt.
Die gute Nachricht besteht aber auch darin: Da die Anpassung der Renten und damit auch der Kriegsopferleistungen an die Entwicklung der Krankenversicherungsbeiträge angebunden ist, ist die Anpassung in diesem Jahr höher, als wir es selber geschätzt haben. Warum? Weil die Krankenversicherungsbeiträge im Unterschied zu vielen Jahren vorher nicht steigen. Und warum ist das wieder der Fall? Weil die Gesundheitsreform schneller wirkt, als wir glauben.
Das mag für Sie überraschend sein. Es ist selbst für mich eine Überraschung; denn wir hatten geschätzt, daß wir mit einem durchschnittlichen Beitrag von 13,4 % in diesem Jahr arbeiten müssen. Der Beitrag beträgt nicht 13,4 %. Dank der Gesundheitsreform beträgt er 12,9 %. Die ersten, die daran partizipieren, sind die Rentner. Das ist ein wichtiger Fortschritt.
— Der Kollege Reimann will das sicherlich durch eine Frage unterstreichen.
Die der Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung bereit ist zu beantworten. Bitte schön, Herr Abgeordneter Reimann.
Es ist recht angenehm, Herr Minister, wie Sie sich heute darstellen. Es ist eine totale Überraschung,
ich finde es aber trotzdem gut.
Was glauben Sie, was die Rentner mehr belastet: die von Ihnen in Szene gesetzte Gesundheitsreform, die die Selbstbeteiligung der Rentner bei den entsprechenden Regelungen beinhaltet, oder eine eventuell geringfügige Anhebung der Krankenversicherungsbeiträge ohne Selbstbeteiligung?
Mit Sicherheit sind die Vorteile der Gesundheitsreform bei vielen Rentnern ganz unbekannt. Deshalb geben Sie mir mit Ihrer Frage Gelegenheit, darauf hinzuweisen, daß die 6 Milliarden DM, die wir für Schwerpflegebedürftige zur Verfügung stellen, zu einem großen Teil gerade den alten Mitbürgern zugute kommen, die von dieser Pflege zum erstenmal mit Hilfe der Krankenversicherung profitieren.
Der Abgeordnete Reimann bittet um eine weitere Zwischenfrage.
Ich wäre dann allerdings dankbar, wenn wir das bei den Fünfminutenbeiträgen einschränken würden.
Herr Minister, ist das nicht eine falsche Interpretation, wenn Sie sagen, Sie stellen 6 Milliarden DM für Pflegeversicherung zur Verfügung, wenn Sie diese 6 Milliarden DM den Versicherten abgenommen haben, die im Rahmen ihrer Krankheit selbst zuzahlen? Das ist doch keine Leistung von Ihnen. Es ist doch eine Leistung der Versicherten, wo 14,5 Milliarden DM eingespart werden, um 6 Milliarden DM für Pflegeversicherung auszugeben.
Herr Reimann, diese Frage würden Sie zu Recht stellen, wenn die 14 Milliarden DM von den Versicherten erbracht würden. Der größere Teil wird aber von den Leistungsanbietern erbracht. In unserer Rechnung ist dies der weit überwiegende Anteil. Sonst wäre ja auch der Protest der Anbieter gar nicht zu verstehen, der Protest der Ärzte, Zahnärzte, Apotheker, Masseure, Taxifahrer. Weit über die Hälfte des Sparvolumens wird von den Anbietern erbracht, der kleinere Teil von den Versicherten.
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 134. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. März 1989 9889
Bundesminister Dr. BlümIch füge hinzu: Die Krankenversicherung ist auch nicht dafür zuständig, alle Gesundheitswünsche zu erfüllen. Das würden ja alle die mitbezahlen, die sich treu und brav zur Arbeit schleppen.Wir haben aber jetzt keine Gesundheitsreformdiskussion, obwohl ich die gerne führen würde. Deshalb schließe ich dieses Kapitel, indem ich sage
— wollen Sie jetzt über Kriegsopfer oder über die Gesundheitsreform reden? — : Die Gesundheitsreform macht sich bereits positiv bemerkbar für Rentner und Kriegsopfer.Die zweite gute Nachricht: Wir halten unser Wort. Nachdem schon zu Beginn dieses Jahres die ersten Leistungsverbesserungen, strukturelle Verbesserungen in der Kriegsopferversorgung in Kraft getreten sind, hat sich die Koalition in dieser Woche geeinigt— ganz im Sinne unserer Ankündigung, auch der Regierungserklärung von Helmut Kohl — : Wir werden in dieser Legislaturperiode strukturelle Verbesserungen durchführen. Wir haben dafür ein Volumen von 100 Millionen DM zur Verfügung gestellt. Wir werden jetzt auch mit den Verbänden besprechen, wie wir diese 100 Millionen DM denjenigen zugute kommen lassen können, die derer am meisten bedürfen.Mein Vorschlag ist, in erster Linie an die Frauen der Schwerkriegsbeschädigten zu denken, ganz besonders an diejenigen, die ihren Mann ein Leben lang gepflegt haben; denn das Schicksal der Schwerbeschädigten ändert sich ja auch dadurch, daß jetzt die Generation, die im Krieg ihr Opfer erbracht hat, ins Alter kommt. Zu den Kriegsbeschädigungen kommen jetzt noch Altersbeschwerden hinzu. Wir sollten ganz besonders an die Frauen denken, die ihren Schwerbeschädigten Mann ein Leben lang liebevoll gepflegt haben und denen die Pflege jetzt über ihre Kräfte geht, weil sie zu alt werden, um ihren Mann zu pflegen. Es kommt jetzt darauf an, daß sie Unterstützung erhalten und daß ihnen auch noch zu einem Teil die Pflegezulage zugute kommt.Der letzte Punkt, Herr Präsident, betrifft die Regelung der Arbeitslosenhilfe. Ich will wegen der Kürze der Zeit nur feststellen: Die Regelung, die wir dazu bieten, bringt überhaupt nichts Neues. Sie sichert eine jahrelang geltende Verwaltungspraxis — die auch in der Zeit der sozialliberalen Regierung ganz unbestritten war —, so daß sie auch in der Zukunft fortgesetzt werden kann. Weil die Sozialgerichte festgestellt haben, daß für diese Praxis keine oder eine zweifelhafte rechtliche Grundlage besteht, sichern wir eine über Jahre hinweg unbestrittene Verwaltungspraxis. Ich wiederhole mich: Das ist gar nichts Neues. Wir sichern auch in Zukunft die Geltung dieser Praxis. Es handelt sich um nicht mehr und nicht weniger.Meine Damen und Herren, die Anpassung der Kriegsopferversorgung kommt. Ich benutzte nochmals die Gelegenheit, anzukündigen, daß wir — wie versprochen — strukturelle Verbesserungen
in der Kriegsopferversorgung noch in dieser Legislaturperiode durchführen.
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Weiler.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! „Damit das Mögliche entsteht, muß immer wieder das Unmögliche versucht werden." Diese Worte von Hermann Hesse treffen unsere Bemühungen leider nur zu gut. Es scheint fast unmöglich zu sein, diese Regierung dazu zu bringen, ihre Versprechungen endlich zu erfüllen. Es erfordert mindestens eine Regierungskrise wie zur Zeit.Ich möchte noch einmal in Ihr Gedächtnis zurückrufen: Bereits am 18. März versprach der Bundeskanzler strukturelle Leistungsverbesserungen in der Kriegsopferversorgung.
— 1987, richtig. — Herr Minister Blüm wiederholt diese Forderung ebenfalls ständig, zuletzt in den neuesten Verlautbarungen des Ministeriums. Der Minister beschwört in rührender Weise ein gemeinsames Vorgehen zum Wohl der Kriegsopfer, denn er hält strukturelle Verbesserungen für notwendig, ja, für dringend notwendig, wie er es auch gerade gesagt hat.Nur scheint es der Regierung dringender zu sein, sich für den kommenden Bundestagswahlkampf ein Bonbon aufzuheben. Die Tatsache, daß Sie in dieser Woche eine bestimmte Summe beschlossen haben, mit der Sie strukturelle Verbesserungen finanzieren wollen, ist, glaube ich, mehr das Ergebnis der Wahlen in Berlin, in Hessen, der massiven Verluste in Frankfurt und auch in Fulda.
Mit dem achtzehnten Anpassungsgesetz sollen die Kriegsopferrenten voraussichtlich um 2,34 % erhöht und damit den Renten aus der Arbeiterrentenversicherung angepaßt werden.Anpassung — nicht etwa Verbesserung — ist auch im weiteren Motto dieses Gesetzentwurfs. Mit Art. 2 paßt er sich der Politik der Verschlechterung der Arbeitslosenhilfe an, und mit Art. 3 paßt er sich dem geflickschusterten Gesundheits-Reformgesetz an. Meine Damen und Herren, hier beginnen die ersten Korrekturen am GRG, die wir schon in der Debatte im Dezember letzten Jahres vorhergesehen haben. Wir Sozialdemokraten fordern mit allem Nachdruck strukturelle Leistungsverbesserungen für die Kriegsopfer, und zwar jetzt. Verschieben Sie es jetzt nicht schon wieder um ein Jahr!
Wir fordern die Anhebung der Abgeltungsquote beim Berufsschadens- und Schadensausgleich auf 50 %, die Anhebung der Elternrente mindestens auf die Höhe der Leistungen nach dem Bundessozialhilfegesetz, die Verbesserung der Invaliditäts- und Alterssicherung von Witwen und Geschädigten. Diese und auch andere Verbesserungen müssen so bald wie möglich wirksam werden, damit sie den betroffenen Personenkreis überhaupt noch erreichen. Zur Verdeutlichung: Laut Statistik gab es im Januar 1988 ca. 1 470 000 Versorgungsberechtigte. Im Januar dieses
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9890 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 134. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. März 1989
Frau WeilerJahres waren es nur noch 1 406 000, also knapp 70 000 Versorgungsberechtigte weniger.Meine Damen und Herren von der Regierung, wir stehen mit unseren Forderungen nach sofortiger Veränderung nicht allein. Die Empfehlungen der Ausschüsse des Bundesrates decken sich mit unseren Vorstellungen. Die Forderungen sind im Bundesrat zum größten Teil auch deshalb angenommen worden, weil auch die CDU-regierten Länder die Notwendigkeit sofortiger struktureller Verbesserungen eingesehen haben.Ich komme nun zur Finanzierung. Sie haben ja schon häufiger angekündigt — und es wurde in der Presse darüber diskutiert —, daß Sie Kassensturz machen wollen. Wir haben Ihre Beschlüsse von dieser Woche ja auch gelesen. Es bleibt wirklich nur zu hoffen, daß noch ausreichend Geld für die Kriegsopfer da sein wird; denn Ihr Nachholbedarf ist sehr groß. Sozialer Wohnungsbau, Familienlastenausgleich, Erziehungsgeld, BAföG, Arbeitsmarktinitiativen, in all diesen Bereichen haben Sie in den letzten Jahren geschludert, und das wissen Sie auch.
— Bei den Arbeitsmarktinitiativen werden Sie ja jetzt zum Teil unser Programm auflegen.
All dies haben Sie unzureichend gemacht, und die Quittung haben Sie ja auch bekommen.
Die Schlagzeilen von heute morgen zeigen allerdings, auf welch wackligem Boden Ihre Koalitionsbeschlüsse stehen.
Nun zu Art. 2 des Gesetzentwurfes, der eine Veränderung der Vorschriften über die Arbeitslosenhilfe beinhaltet. Ich zitiere aus der Empfehlung der Bundesratsausschüsse:Der Gesetzentwurf verbindet die eilbedürftige Anpassung der Leistungen nach dem Bundesversorgungsgesetz mit einer Änderung von Vorschriften über die Arbeitslosenhilfe. Der Bundesrat hält diese Koppelung für sachlich nicht geboten.Ich gehe in meiner Einschätzung weiter: Diese Koppelung, diese Verknüpfung ist sachlich völlig absurd, verfehlt, ja, geradezu unsinnig. Die Regierung will damit den Deutschen Bundestag erneut zeitlich unter Druck setzen. Was sie damit erreichen will, liegt auf der Hand. Nicht einmal drei Monate nach Inkrafttreten der massiven Verschlechterungen durch die 9. Novelle des Arbeitsförderungsgesetzes werden jetzt die Arbeitslosenhilfeempfänger zur Kasse gebeten.
Damit dies möglichst schnell und unbemerkt von den Medien passiert, verbindet die Regierung diese Maßnahme mit dem eilbedürftigen KOV-Anpassungsgesetz.Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir dürfen uns dieses Verfahren nicht gefallen lassen. Was hier schlicht und irreführend „Änderung der Vorschriften über die Arbeitslosenhilfe" genannt wird, soll die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts aushebeln. Das BSG hatte am 5. September 1988 mit mehreren Urteilen die Praxis der Arbeitsämter für rechtswidrig erklärt, sogenannte fiktive Unterhaltsansprüche bei der Arbeitslosenhilfe anzurechnen. Übersetzt heißt das: Sind die Eltern von Arbeitslosen in der Lage, Unterhalt zu leisten, sind sie dazu aber nicht bereit, so müssen sich die Arbeitslosen dennoch Unterhalt anrechnen lassen. Die Arbeitsämter waren in der Vergangenheit davon ausgegangen, daß ein solcher Unterhaltsanspruch grundsätzlich besteht, wenn die Eltern über ausreichende Mittel verfügen. Damit wurden aber die Arbeitslosenhilfeempfänger willkürlich in diejenigen, die unterhaltsfähige Angehörige haben, und diejenigen, bei denen das nicht der Fall ist, unterteilt. Diejenigen mit unterhaltsfähigen Angehörigen mußten sich den strengen Zumutbarkeitsregeln des bürgerlichen Rechts unterwerfen, d. h. sie mußten sich zur Aufnahme jeder Erwerbsarbeit zwingen lassen. Die anderen unterlagen der Schutzfunktion der vernünftigen Zumutbarkeitsanordnung im Rahmen des Arbeitsförderungsgesetzes.Wer nun jede Arbeit annehmen muß, verliert sehr schnell seine erworbenen Qualifikationen und ist außerdem im ursprünglich erlernten Beruf dann kaum noch vermittelbar. Das bedeutet Abdrängen in Hilfstätigkeiten, Verstärkung des Dequalifikationsprozesses, und dies bei gleichzeitigem Gejammer der Industrie über den Fachkräftemangel.In der Bundesratsstellungnahme der Länder Bremen und Schleswig-Holstein heißt es zu diesen unterschiedlichen Kriterien zutreffend:Ist die Zumutbarkeitsanordnung noch Ausdruck der Interessenabwägung zwischen den Interessen der Arbeitslosen und der Gesamtheit der Beitragszahler, tritt im Rahmen des bürgerlichen Rechts allein die wirtschaftliche Eigenverantwortung des einzelnen in den Vordergrund. Die durch die Gesetzesänderung Betroffenen verlieren insofern an sozialstaatlichem Schutz im Gegensatz zu Arbeitslosen ohne leistungsfähige Angehörige.Die Differenzierung ist in der Tat willkürlich und verfassungsrechtlich ganz erheblich bedenklich, weil gegen den Gleichheitsgrundsatz des Art. 3 Abs. 1 des Grundgesetzes verstoßen wird.Die Bundesregierung setzt mit der Verschlechterung der Arbeitslosenhilfe die alte Politik des Verschiebebahnhofs fort. Der Bund spart jährlich eine halbe Milliarde DM, die Arbeitslosen und ganz besonders die Städte und Gemeinden werden zur Kasse gebeten. Durch die Anrechnung fiktiver Unterhaltsansprüche wird die Gewährung von Arbeitslosenhilfe entweder ganz ausgeschlossen oder auf ein niedriges Niveau herabgedrückt mit der Folge, daß in zahlreichen Fällen Sozialhilfe gewährt werden muß. Eine
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 134. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. März 1989 9891
Frau Weilersachliche Begründung, so schreibt z. B. auch der Deutsche Landkreistag, für diese Lastenverschiebung ist nicht gegeben. Ich kündige schon heute an, daß die SPD eine Anhörung des zuständigen Fachausschusses verlangen wird, um dieses erneute Beispiel von Sozialabbau einer breiten Öffentlichkeit deutlich zu machen.Zum Schluß nun zu Art. 3 des Gesetzes. Hier soll ein Fehler korrigiert werden, der im Zusammenhang mit dem GRG eingetreten war. Ich will es kurz machen. Wir wissen inzwischen von vielen Fehlern. Wir erwarten eigentlich, daß die Regierung die nächsten Korrekturen an ihrem sogenannten Gesundheits-Reformgesetz möglichst bald in die Ausschußberatungen einbringen wird. Schließlich können Sie nicht alle Ihre Fehler über die GKV und die Selbstverwaltung korrigieren lassen.
Dieser Gesetzentwurf — das betrifft alle drei Artikel — hätte von vornherein anders, solider und besser durchdacht vorgelegt werden müssen.
Das Wort hat der Abgeordnete Julius Louven.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Das 18. Anpassungsgesetz in der Kriegsopferversorgung bringt unseren 1,4 Millionen Betroffenen eine Besserstellung zum 1. Juli von 2,4 %. Sie sehen, der Anpassungsverbund funktioniert; die Renten steigen im Gleichklang mit den Renten in der gesetzlichen Rentenversicherung. Während der Gesetzentwurf noch eine Anpassung von 2,34 % vorsah, dürfte die Steigerungsrate jedoch bei 2,4 To liegen. Dies ist, ob sie es nun wahrhaben wollen oder nicht, auch ein Erfolg der Gesundheitsreform, von der Rentner und Kriegsopfer gleichermaßen profitieren.Unsere Kriegsopfer haben damit im vierten Jahr in Folge real mehr. Von 1976 bis 1983, Frau Kollegin Weiler, sah dies für unsere Kriegsopfer wesentlich anders aus.
Mir fiel auf, Frau Weiler, daß Sie heute nicht die Höhe der Steigerungsrate kritisiert haben, sondern daß Sie sich heute sogar darauf versteiften, die solide Finanzierung der Erhöhung in Frage zu stellen, ich muß dies entschieden zurückweisen. Die Finanzierung ist absolut gesichert.
Dieser Gesetzentwurf zeigt allerdings auch zwei ungewöhnliche Dinge. Erstens sieht er keine strukturellen Verbesserungen für die Kriegsopfer vor,
und zweitens erfolgt eine Klarstellung der Rechtslage zur Berücksichtigung von Unterhaltsansprüchen nach dem AFG. Lassen Sie mich zu diesen beiden Punkten folgendes anmerken. Wir hatten für die zweite Hälfteder nun laufenden Legislaturperiode strukturelle Verbesserungen in der Kriegsopferversorgung, wie sie von den Verbänden, aber auch jetzt wieder vom Bundesrat gefordert werden, in Aussicht gestellt.
Wir sind besonders stolz darauf, heute eine solche im Umfang von 100 Millionen DM zusagen zu können.
Sie sehen, wir haben unser Versprechen gehalten. Gewiß lassen sich nicht alle Wünsche und Forderungen der Kriegsopferverbände mit 100 Millionen DM finanzieren. Ich denke jedoch, daß in den wichtigsten Bereichen, bei der Förderung häuslicher Pflege, beim Berufsschadens- und Schadensausgleich wie bei der Alterszulage zur Grundrente, entscheidende Verbesserungen möglich sind. Wir finden es sehr gut, daß Ihr Haus, Herr Minister, nunmehr mit den Kriegsopferverbänden darüber spricht, wie hier die Prioritäten gesetzt werden sollen. Dies ist auch der Grund dafür, meine Damen und Herren, warum wir die strukturellen Verbesserungen nicht in diesem Gesetz beschließen, sondern in einem eigens dazu einzubringenden Gesetz.Da die Strukturverbesserungen ohnehin erst zum 1. Januar des nächsten Jahres in Kraft treten — im Gegensatz zur Rentenanpassung, die ja am 1. Juli in Kraft treten soll und muß — bleibt uns sicherlich genügend Zeit, die Beratungen mit den Verbänden abzuwarten. Für unsere Beratungen im Ausschuß ist dann allerdings unabdingbar, Herr Minister, daß bis dahin der vom Ausschuß geforderte Bericht, wie bei einer Erhöhung der Abgeltungsquote beim Berufsschadens- und Schadensausgleich Überversorgung vermieden werden kann, vorliegt.
— Er hat sich doch bei Ihnen entschuldigt. Ich habe schon hingeschaut und denke, daß der Staatssekretär entsprechend notiert, was ich hier an die Adresse des Herrn Ministers sage.
— Ich weiß gar nicht, weshalb Sie da lachen.Ich darf heute feststellen, daß die Bundesregierung und die Koalitionsfraktionen Wort gehalten haben. Die Zusage des Bundeskanzlers in der Regierungserklärung vom 18. März 1987, Frau Weiler, die ja beinhaltete, daß in der zweiten Hälfte strukturelle Verbesserungen vorgenommen werden, ist eingehalten.
Der ohnehin hohe Standard der deutschen Kriegsopferversorgung wird damit nach den zusätzlich 26 Millionen DM des Vorjahres noch einmal merklich verbessert. Diese Entscheidung zeigt, daß wir unsere Kriegsopfer, denen wir uns besonders verpflichtet fühlen, nicht vergessen haben.
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9892 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 134. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. März 1989
LouvenAuf die Änderung der Vorschriften über die Arbeitslosenhilfe möchte ich noch kurz eingehen. Auch wir sehen, daß dieser Punkt in diesem Gesetz ein wenig systemfremd ist. Wir anerkennen auf der anderen Seite allerdings auch, daß die Hereinnahme dieses Punktes die beste und günstigste Möglichkeit ist, der Forderung der Rechtsprechung nachzukommen.
Hier erfolgt eine Klarstellung dergestalt, daß die familienrechtliche Unterhaltssicherung Vorrang vor der aus Steuermitteln finanzierten Arbeitslosenhilfe hat, Wir sehen diese Regelung als eine Vorschaltregelung, die bis Ende 1992 befristet ist. Wir fordern die Bundesregierung auf, bis dahin die Gesamtproblematik umfassend zu prüfen, insbesondere auch zu prüfen, ob die jetzigen Regelungen alle noch zeitgemäß sind.Bund, Länder und Gemeinden werden durch diese Klarstellung weder be- noch entlastet, weil lediglich die bisher schon von den Arbeitsämtern jahrelang geübte Praxis eine klare Rechtsgrundlage erhält. Mit dem Aushebeln eines BSG-Urteils, Frau Weiler, hat dies nichts zu tun.
Im übrigen darf ich auch darauf hinweisen, daß der Bundesrat dieser Regelung zugestimmt hat.
Wir halten diese Änderungen für unbedingt erforderlich, um möglichen Mehrausgaben entgegenzuwirken.Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir stimmen der Überweisung in die Ausschüsse selbstverständlich zu und bitten um eine zügige Beratung, damit die Kriegsopfer pünktlich zum 1. Juli ihre höheren Versorgungsleistungen bekommen können.
Nun hat die Abgeordnete Frau Unruh das Wort.
Herr Präsident! Werte Volksvertreter und Volksvertreterinnen! Ich freue mich, daß Sie selbst einsehen, daß der Gesetzentwurf auf Drucksache 11/4178 ein systemfremdes Element beinhaltet. Was hat Kriegsopferversorgung mit Arbeitslosenhilfe zu tun? Darüber habe ich lange nachgegrübelt. Ich bin dann wie meine Kollegin von der SPD auf die Idee gekommen, daß Sie etwas vertuschen wollten und möglichst in einem Paketchen wieder — —
— Man muß ja erst einmal entdecken, was bei Ihnen in dem Paketchen steckt, um dann zu erkennen, welch ausgefranste Ideen Sie letztlich haben.
Daß die Kriegsopferversorgung heute noch Thema ist, dafür muß sich jeder schämen. Heute nacht haben
Sie entdeckt: 100 Millionen DM können wir noch locker machen. Ich habe mir gerade auf meinem Platz überlegt: Wo kriegen die die 100 Millionen DM her? Natürlich über die Arbeitslosen, die man jetzt mit einer Vorschaltregelung entfinanzieren will, was immerhin 500 Millionen DM ausmacht.
Überhaupt so zu denken! Da weiß ich nicht, wo Ihr sozial verpflichteter Rechtsstaat eigentlich anfängt. Daß wir den Kriegsopfern 100 Millionen DM wünschen, ist doch klar. Aber Sie gehen hin und unterlaufen in einem sozial verpflichteten Rechtsstaat, letztlich von einem Bundessozialgericht anerkannt, das Arbeitsförderungsgesetz. Das betrifft Menschen unter uns, die das Recht auf Arbeit haben und keine andere Möglichkeit haben, als für sich oder ihre Familie ihre bezahlte Arbeitskraft zur Verfügung zu stellen, damit sie als anständige Menschen unter uns leben können.
Diese Menschen hat das Arbeitsförderungsgesetz geschützt. Und was machen Sie? Der Minister ist jetzt leider weg. Es hört sich immer gut an, wenn er von „lieber Frau Unruh" spricht und fragt, warum ich hier aggressiv bin. Was ist das für ein christlicher Minister, der es wagt, eine Familiensippenhaftung ersten Grades anfangen zu lassen, z. B. bei der Rentnerin-Mutter oder beim Rentner-Vater mit 1 400 DM Rente? Warum sollen die mit einer niedrigen Rente ihre 40-, 45jährigen arbeitslosen Töchter oder Söhne unterhalten? Können Sie überhaupt ermessen, was das bedeutet: a) für die Familie und b) für Mutter, Vater oder für Tochter, Sohn? Sie mit Ihrem „C" wagen es, immer von Familie zu sprechen, und sind mit dieser neuen Vorschaltregelung dabei, Familiensinn zu zerstören. Sie haben noch nicht einmal die Schutzgrenze erhöht. Wenn Sie hingegangen wären und gesagt hätten: Ab 8 000 DM soll die Familie blechen, auch nach dem Arbeitsförderungsgesetz — gut. Nein: Bei 1 400 DM bei Alleinstehenden und bei 1 800 DM im Monat bei einem Ehepaar fängt es an. Man muß den Menschen draußen klarmachen, wie Sie in Ihrer Aggressivität rangehen, „christliche Familienpolitik" zu betreiben
und dann so etwas in einem Paket vermischen. Die Arbeitslosenhilfeempfänger leben sowieso schon in einem Wahnsinnsstreß. Sie haben die meisten Krankheitsfälle. Sie überlegen sowieso schon: Bringen wir uns um, oder bringen wir uns nicht um, weil wir in dieser Gesellschaft wertlos sind? Wenn ein Vater, der 3 000 DM nach Hause gebracht hat, in die Arbeitslosenhilfe rutscht, kriegt er nur 55 % von diesen 3 000 DM, und alles, was die Ehefrau über 600 DM verdient, wird angerechnet.
Frau Abgeordnete, — —
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 134. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. März 1989 9893
Nein, nein. Das ist auch so ein C-Politiker. Den nehme ich im Moment nicht ernst. Was will er mich denn eigentlich fragen!
Gehen Sie mit Ihrem Gewissen in sich, und prangern Sie Ihren christlichen Minister an.
Fragen Sie ihn, wie er so etwas überhaupt in unseren sozial verpflichteten Rechtsstaat hineintragen kann! Da lobe ich mir die GRÜNEN. Die sagen, daß die, die die Grenze der Arbeitslosenhilfe erreicht haben, die bereit sind, bei uns zu arbeiten, damit sie existieren können, einen existenzsichernden Ausgleich über das Arbeitsförderungsgesetz erhalten müssen. Ich fordere die Gewerkschaften genauso auf, bei den Tarifverhandlungen endlich einmal an ihre arbeitslosen Kollegen zu denken.
Und Ihnen wünsche ich gute Besserung.
Nun hat der Abgeordnete Heinrich das Wort.
Herr Präsident! Meine Kolleginnen und Kollegen! Im Gegensatz zur Kollegin Unruh bin ich der Meinung, daß heute kein schlechter Tag für die Rentner, für die Kriegsopfer sowie für die Opfer von Gewalttaten ist. Vorhin hatten wir die gesetzlichen Renten angepaßt, jetzt erfolgt Vergleichbares mit den Renten der Kriegs- und Wehrdienstopfer. Beide Male gilt, daß die Renten so steigen können, wie die verfügbaren Einkommen der Arbeitnehmer steigen. Dieser Steigerungssatz ist der Erfolg einer soliden Wirtschafts- und Finanzpolitik.
Ich darf deshalb feststellen: Die Kriegsopfer sind mit plus 2,7 % in diesem Jahr Teilhaber an unseren allgemeinen positiven Entwicklungen.Ich verweise mit großer Genugtuung auch darauf, daß es uns gestern gelungen ist, unser auch von den Kriegsopferverbänden anerkannt gutes und schon sehr weit ausgebautes System um weitere entscheidende strukturelle Verbesserungen im Wert von 100 Millionen DM anzureichern. Frau Kollegin Weiler, zu Ihrer Beruhigung: Das wird nicht verschoben, sondern das wird in diesem Jahr diskutiert und noch in diesem Jahr verabschiedet.
— Das werden wir erleben.
— Nach der Verabschiedung.
— Wenn Ihre Zwischenrufe etwas geistreicher wären, wären sie auch geistreich zu beantworten, Herr Kollege. — Denn familienpolitische Leistungen erstrekken sich nicht ausschließlich auf junge Familien. Ich ordne diese zusätzlichen Verbesserungen in eine Familienpolitik ein, die alle Altersgruppen einschließt und in diesem Fall ganz besonders Frauen und Männer davon profitieren läßt, die sich um unser Land ganz besonders verdient gemacht haben.Wir werden in den nächsten Wochen in Gesprächen mit den Verbänden sehr sorgfältig prüfen, wie wir— nicht mit der Gießkanne, sondern sehr differenziert — denjenigen helfen können, die bisher schlechter weggekommen sind.Der vorliegende Gesetzentwurf enthält darüber hinaus eine nicht unwichtige AFG-Regelung. Auf Grund der Urteile des Bundessozialgerichts muß der Gesetzgeber darüber entscheiden, wie sogenannte fiktive Unterhaltsansprüche künftig behandelt werden sollen. Dabei geht es um schwerwiegende Fragen der Zumutbarkeit einer Arbeitsaufnahme nach dem Arbeitsförderungsrecht bzw. nach dem Bürgerlichen Unterhaltsrecht. Da eine Lösung im Wege der richterlichen Rechtsfortbildung nach Auffassung des Bundessozialgerichts nicht möglich ist, ist hier der Gesetzgeber aufgefordert; so einfach ist das.Es scheint viel dafür zu sprechen, daß dieses Problem dadurch zu lösen ist, daß die Regelungen über die Zumutbarkeit einer Arbeitsaufnahme nach dem AFG denen des Bürgerlichen Unterhaltsrechts angeglichen werden.So verlockend dieser Gedanke auf den ersten Blick sein mag, er wirft jedoch auch Probleme auf. Frau Unruh, Sie haben nicht ganz unrecht, nur ist Ihre Art und Weise, wie Sie hier vortragen, für uns etwas unverständlich. Denn es ist in der Tat problematisch— darauf haben wir schon seit langem hingewiesen —, wenn die 80jährige Großmutter für ihren arbeitslos gewordenen 58jährigen Sohn zur Arbeitslosenhilfe herangezogen werden soll.
— Ich problematisiere das ja.
Andererseits ist es auch nicht zu verantworten, in den Fällen, in denen keine Bedürftigkeit vorliegt, unbegrenzt — wie manche es wollen — Arbeitslosenhilfe zu zahlen. Dies gilt um so mehr, als die EG-Kommission das Territorialitätsprinzip im Bereich der Arbeitslosenunterstützung in Frage stellen will. Konsequenz einer solchen Maßnahme wäre der unbegrenzte Leistungsexport von Arbeitslosenhilfe in anderen Mitgliedstaaten. Letztlich würden wir die Arbeitslosigkeit in der gesamten EG finanzieren müssen. Dies ist wohl nicht akzeptabel.
Gerade weil wir die Schwierigkeiten sehen, Herr Kollege Kolb, kurzfristig eine allen Aspekten gerecht werdende Lösung zu finden, sieht der Gesetzentwurf eine Befristung vor. Damit wird Zeit gewonnen, eine
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9894 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 134. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. März 1989
Heinrichbefriedigendere, auch unter systematischen Aspekten haltbare Regelung zu finden.Herzlichen Dank.
Meine Damen und Herren, ich schließe die Aussprache. Der Ältestenrat schlägt Ihnen vor, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf den Drucksachen 11/4178 und 11/4210 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. — Widerspruch erhebt sich nicht. Weitere Vorschläge werden nicht gemacht. — Dann darf ich dies als beschlossen feststellen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 12 auf:
12. a) Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten Frau Dr. Vollmer, Frau Nickels und der Fraktion DIE GRÜNEN
Zehn Jahre danach — offene Fragen und politische Lehren aus dem „Deutschen Herbst"
hier: Tatsächliche Bedrohung des demokratischen Rechtsstaates im Jahre 1977
sowie: Abbau demokratischer Errungenschaften
— Drucksachen 11/1533, 11/3324 —
b) Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten Frau Dr. Vollmer, Frau Nickels und der Fraktion DIE GRÜNEN
Zehn Jahre danach — offene Fragen und politische Lehren aus dem „Deutschen Herbst"
hier: Verpaßte Chancen und heutige Möglichkeiten einer friedlichen Lösung und Deeskalation
— Drucksachen 11/1534, 11/3325 —
Hierzu liegen uns Entschließungsanträge der Fraktion DIE GRÜNEN sowie der Fraktion der SPD auf den Drucksachen 11/4202 und 11/4219 vor.
Im Ältestenrat ist vereinbart worden, daß jede Fraktion einen Diskussionsbeitrag bis zu 10 Minuten machen darf. Das Haus ist damit einverstanden? — Das ist der Fall.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Abgeordnete Frau Dr. Vollmer.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Als wir uns an die Arbeit dieser Großen Anfrage machten, hatten wir eine etwas verrückte Hoffnung: die Hoffnung, daß eine Debatte über unsere Fragen vielleicht befreiend sein könnte. Es geht nämlich um die traumatischste Situation in derGeschichte der Bundesrepublik, die dazu angetan war, diese Republik unwiderruflich zu ändern. Sie hat sie verändert. Nach dem „Deutschen Herbst", nach der Jagd auf die Terroristen, war nichts mehr wie vorher.In diesem Land ist viel verdrängt worden. Wir waren auch nicht in der Lage, alles Verdrängte ans Tageslicht zu holen. Wir hätten es nicht ertragen. Wir sind ja nicht Herkules. Aber vielleicht könnte es ein Stück Befreiung sein, eine Chance auch für alle Beteiligten, wenigstens dieses Stück Geschichte, das wir alle erlebt haben, das zu begreifen wir nicht zu alt und zu schwach sind, möglichst ehrlich zu diskutieren. Deswegen haben wir ehrliche Fragen gestellt, mit dem Versuch, genaue Antworten zu bekommen.Die Antworten hat die Bundesregierung nicht gegeben. Ihre Antworten sind dumpf, verschleiernd, die Frager diffamierend — und von abgrundtiefer Selbstgefälligkeit.
Ebenso erschreckend betonmäßig ist der Entschließungsantrag der SPD: Nichts gelernt — das ist seine Botschaft, sozusagen eine Unbotschaft, eine Nullreaktion. So kommen wir also nicht weiter. Trotzdem: Die Fragen bleiben ja im Raum stehen; vielleicht findet sie da jemand.Die erste Frage: Warum eigentlich diese Härte?Selbst nach der Darstellung der Bundesregierung umfaßte die „Rote Armee Fraktion" in den Jahren 1973 bis 1977 nicht mehr als 20 Personen, die meisten zwischen 20 und 30 Jahren alt, sehr jung, viele Frauen darunter und wenig lebenserfahren. Gegen diese 20 Personen haben der Große und der Kleine Krisenstab mit vielen gestandenen Männern mit der gesamten polizeilichen und sicherheitsdienstlichen Intelligenz einen unermeßlichen Apparat mobilisiert: Aufrüstung und Militarisierung der Polizei, Ausbau der Überwachungen, Straßenpatrouillen, riesige Datenbanken im Bundeskriminalamt. Es wurden wesentliche demokratische Grundrechte außer Kraft gesetzt. Die Waffengleichheit der Verteidigung wurde unmöglich gemacht. Zigtausende von Telefonen wurden überwacht.
Kommt Ihnen das nicht irrsinnig vor, irgendwie unerklärlich unangemessen?
— Ich komme noch darauf. —Ich habe immer versucht, in die Köpfe der damals Verantwortlichen hineinzukriechen, um zu begreifen, was da eigentlich abgelaufen ist. Die Wahrheit ist nämlich: Die Existenz dieser Bundesrepublik war nie bedroht. Und trotzdem weiß ich heute: Sie haben sich damals bedroht gefühlt, als ginge es nicht nur um Leib und Leben von jedem von Ihnen, sondern als ginge es um die Grundfesten dieses Staates, als gälte es, Tausende von roten Horden, eine Bande von Bestien zu zähmen. War diese Demokratie wirklich so unerwachsen, daß sie nicht einmal in der Lage war, sich ein
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 134. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. März 1989 9895
Frau Dr. Vollmerrealistisches Bild von der tatsächlichen Bedrohung zu verschaffen?Dabei leugne ich nicht: Es war in dieser eher verschlafenen, in dieser wohlanständigen Republik etwas Ungeheures an Rebellion und Auflehnung, was in der „Roten Armee Fraktion" Ihnen entgegentrat. Es rüttelte tatsächlich an dem Kern des Selbstbewußtseins der Repräsentanten dieses Staates. Und: Terror ist und war nicht nur ein Wort. Terror macht abgrundtief Angst. Es waren nicht nur unsichere und überforderte Polizisten, die den Finger am Abzug hatten — große Teile der Bevölkerung schossen im Geiste mit und forderten eine eiserne Regierung.
Aber warum mußte die diese Urängste dermaßen willig bedienen?Von beiden Seiten wurden alte Rechnungen aufgemacht. Die ganze Studentenbewegung war getragen von dem hochfahrenden Gestus einer Generation, die es nicht ertrug, Kinder von Tätern und Mitläufern zu sein — bis sie in der RAF das freibombte, was wir immer unter der Schale der Wohlanständigkeit vermutet hatten: autoritäre Repression, faschistoide Strukturen, die Bereitschaft zur Vernichtung aller Rebellischen und Andersdenkenden.Der Staat hat tatsächlich reagiert, wie wir ihn immer vermutet hatten: unerbittlich, vernichtend. Von besonderer Tragik war dabei, daß die Akteure dieses Staates Vertreter der Parteien waren, die einmal „mehr Demokratie wagen" wollten. Die Kränkung, daß wir ihnen dies nicht so einfach abnahmen, hat die Härte zu einem grausamen Generationenkrieg gemacht. Die RAF bot dabei die Legitimation, auch Rache für die Kränkung der 68er Jahre zu nehmen.Frage zwei: Warum reagierte die Öffentlichkeit damals mit solcher Fassungslosigkeit?Im „Deutschen Herbst" gab es niemanden mehr, der die offensichtlich wahnhafte Überzeichnung der tatsächlichen Gefahr, die im Krisenstab herrschte, noch durch Eingreifen, Kritik und demokratische Kontrolle korrigiert hätte — niemanden. Das Parlament ließ sich mißbrauchen für durchgepeitschte Gesetzesvorhaben. Kein einziger Abgeordneter hat versucht, die Gefangenen in der Kontaktsperre zu besuchen. Die Presse hat freiwillig eine Nachrichtensperre akzeptiert. Weil es in diesen sieben Wochen Kontaktsperre niemanden mehr gab, der kontrollierte, was mit den Gefangenen geschah, konnte mit ihnen tatsächlich alles geschehen.Wo waren die Liberalen,
die Demokraten, die Intellektuellen, die Pfarrer, die Künstler? Wo mischte sich die Linke in die Debatte ein? Alles war gelähmt, entsetzt. Die berühmte demokratische Öffentlichkeit existierte nicht mehr. Es gab niemanden, der dem Krisenstab eine andere Vorgehensweise abgetrotzt hätte. Solche Zustände darf es nie wieder geben.
Es ist hochgefährlich, wenn sich das gesamte öffentliche Leben sieben Wochen lang aus der Lösung eines Konfliktes abmeldet, zu der die verbarrikadierten Bastionen des Staates auf der einen und der Rote Armee Fraktion auf der anderen Seite offensichtlich nicht mehr in der Lage waren. Wenigstens die Lehre sollten wir ziehen: Zu einer solchen Verabschiedung aus der politischen Mitverantwortung selbst für das, was ohne unseren Willen geschieht, darf es nie wieder kommen.Frage drei: Was geschah wirklich in jener Nacht in Stammheim?Irgendwann werden wir darüber mehr wissen. Es gibt eine Gesprächsnotiz eines Beamten des Bundeskanzleramtes, der seinen Eindruck von einem Gespräch mit Andreas Baader schildert. Er erlebte ihn innerlich erregt, nervös, depressiv, um Jahre gealtert. Es gab diesen letzten Versuch von Andreas Baader, ein Angebot zu machen, sozusagen einen Dialog aus dem Hades mit jenen zu beginnen, die im Krisenstab saßen. Er erklärte, sie hätten Fehler gemacht. Er erklärte, sie würden eine Bedrohung von Zivilisten — wie bei der Entführung der Lufthansa-Maschine — zutiefst ablehnen. Er bot an, sie würden bei ihrer Freilassung nicht mehr in die Bundesrepublik zurückkehren und auch nicht von außerhalb die Bundesrepublik mit Gewalt bedrohen. Warum eigentlich konnte niemand die in diesem Gespräch deutlich spürbare Depression, niemand den Wunsch nach einer Lösung hören?Es ist nicht glaubhaft, daß die Zellen der Gefangenen in Stammheim nicht abgehört wurden. Wo sind die Tonbänder? Wo sind die Antworten auf das Dialogangebot? Gab es wirklich niemanden, der sich um das Leben der Gefangenen Sorge machte wie um das Leben von Hanns Martin Schleyer?Frage vier: Woher kam diese immer wieder feststellbare Unfähigkeit, nach einer politischen Lösung dieses gewalttätigen Konfliktes zu suchen?Es hatte ja in früherer Zeit Versuche gegeben, den Artikel von Heinrich Böll, der gesagt hatte: Irgend jemand muß der lebenden Ulrike Meinhof einen Ausweg anbieten, bevor man ihn der toten nicht mehr anbieten kann. — Es hatte viele öffentliche Proteste gegen die Isolation im „toten Trakt" in Köln-Ossendorf gegeben, und es gab Anzeichen genug, daß solche Haftbedingungen Menschen bis in den Kern zerstören.Woher kam diese ungeheure Energie, gerade für diese Gefangenen einen humanen Strafvollzug auszusetzen? Was mußte da denn eigentlich bekämpft und vernichtet werden? War dieser Staat wirklich so schwach, daß er bei den ersten ernsthaften Belastungsproben Grundrechte außer Kraft setzen mußte, die er sich mühsam aus den Lehren aus der faschistischen Vergangenheit erobert hatte?Frage fünf: Was soll man anfangen mit dieser bodenlosen Trauer über den Tod so vieler Menschen?Wer über Geschichte sprechen will, muß aufhören über die Toten zu sprechen. Er muß mit den Toten sprechen. Mit Ulrike Meinhof, Gudrun Ensslin, Andreas Baader, Jan-Carl Raspe ist in diesem Haus, glaube ich, nie gesprochen worden — und wohl auch
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9896 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 134. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. März 1989
Frau Dr. Vollmernicht mit Hanns Martin Schleyer, Siegfried Buback, Jürgen Ponto und den Polizisten Marcisz, Brändle, Pieler, Ulmer. Es war ja ein Krieg; da wurde nicht gesprochen. Es war ein Krieg, der mitten in Friedenszeiten stattfand. Ein Konflikt, über den man hätte sprechen können, wurde zu einem Krieg gemacht. Alles, was wir versuchen, ist die Vermeidung solcher Kriegsinszenierungen. Mit all unseren Anfragen, mit der Dialog-Initiative versuchen wir verzweifelt, zwischen den Polen — zwischen denen die Blitze zucken und die Kriege ausgerufen werden — ein Feld zu besetzen, das das Kriegführen endlich unmöglich macht.Das geht aber nur, wenn sich beide Seiten verändern, wenn man ihnen in den Arm fällt. Es ist ja wieder sehr dicht daran, daß Tote sozusagen auf der Tagesordnung stehen — als hätten wir nichts gelernt, als müßte es so sein. Vielleicht hat ja einer von denen, die jetzt noch reden werden, den Mut, einmal seinerseits den Platz hinter der Barrikade zu räumen und mit auf jenen Platz zu treten, der ohne eigene Veränderung nicht erreichbar ist: im Zwischenfeld zwischen den Kampfparteien.Zum Schluß will ich aber auch ehrlich sagen, was ich denke: So groß ist meine Hoffnung nicht mehr, daß sich diese klassische Methode des „Härte bis zum letzten", des „Wir lassen uns niemals erpressen", des „Alles oder nichts" wirklich auflöst. Man springt eben nicht in einer Generation aus der Logik der Polarisierung und des erbitterten „Kampfs bis zum Endsieg" einfach so heraus.Aber bitten möchte ich die SPD-Abgeordneten, ihrem Antrag — im schönsten Originalton „Krisenstab Oktober 1977" — nicht zuzustimmen. Dieser Antrag ist wirklich out of time.
Das Wort hat der Abgeordnete Gerster.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die begrenzte Zeit läßt nur wenig Gelegenheit, auf sehr schwierige Vorgänge unserer Gesellschaft in den 70er Jahren einzugehen. Deswegen gestatte ich mir, dies ausnahmsweise in wenigen Stichworten — wenn Sie so wollen: nur bruchstückartig — zu tun.Erstens. Die schwerwiegenden Terroranschläge und die Serie von Morden des Jahres 1977 sind für die CDU/CSU-Bundestagsfraktion noch nicht vergessen. Dies gebietet schon der Respekt vor den Opfern und ihren Hinterbliebenen, in der Regel Witwen und Kinder.Zweitens. Es bleibt eine Daueraufgabe und unsere Pflicht, die damaligen Vorgänge aufzuarbeiten und politische Lehren aus den Erfahrungen von damals zu ziehen. In diesem einzigen Punkt, Frau Vollmer, können wir Ihren Anfragen zustimmen.Drittens. Wir wehren uns aber mit allem Nachdruck gegen den Versuch der Fraktion DIE GRÜNEN, nicht die Terroristen von damals, sondern die Gesellschaft, den Staat und seine Repräsentanten als die eigentlich Schuldigen für Mord und weitere Verbrechen auszumachen. Dies, Frau Vollmer, ist eine grobe Geschichtsfälschung, mit der versucht wird, die Untaten von Terroristen nachträglich zu rechtfertigen. Ich frage Sie: Könnte diese Ihre Einlassung nicht noch heute Verblendete veranlassen weiterzumachen, statt sich aus dem Irrsinn, eine andere Gesellschaft herbei-bomben zu wollen, endlich herauszulösen?
Bedenken Sie, was Sie mit dieser Geschichtsfälschung anrichten!Viertens. Die Terroristen hatten kein Recht, Menschen „hinzurichten" , wie sie ihre Morde nannten, und sie hatten auch keinerlei Anlaß. Wenn sie politische Änderungen durchsetzen wollten, gab ihnen unsere freiheitliche, demokratische Ordnung mehr als jede andere Staatsverfassung Gelegenheit, für ihre Ideen zu werben und um Mehrheiten zu kämpfen.
Zur Demokratie und ihren Spielregeln gehört allerdings auch, Mehrheitsentscheidungen zu akzeptieren. Wer dies ablehnt und sein eigenes Wollen zum absoluten Maßstab aller Dinge macht, setzt sich über den Willen der Mehrheit hinweg und wird zum Diktator.Fünftens. Die GRÜNEN verbreiten bewußt die Unwahrheit, wenn sie in ihren Anfragen behaupten, der damalige Bundeskanzler Schmidt, die SPD/FDP-Bundesregierung und andere staatliche Instanzen hätten geltende Gesetze und die Verfassung gebrochen sowie rechtsstaatliche Prinzipien außer Kraft gesetzt. In keiner anderen Staatsform wird staatliches Handeln besser kontrolliert und wirksamer korrigiert als in einer Demokratie — auch in unserer Demokratie — , die ja gerade von den Terroristen angegriffen wurde.
Ich fordere DIE GRÜNEN auf, diese unglaublichen Vorwürfe gegen die damalige Regierung zurückzunehmen oder eben ganz konkret vor den unabhängigen Gerichten und vor dem Bundesverfassungsgericht zu klagen. Daß sie das nicht tun, beweist auch die Haltlosigkeit ihrer Vorwürfe.Sechstens. Eine ganz andere Frage ist die, ob damals in Einzelfragen möglicherweise überreagiert, ob Fehler in Einzelfragen auch durch staatliche Stellen gemacht wurden. Wer wollte das generell ausschließen? Wo Menschen handeln, werden auch Fehler gemacht. Nur, meine Damen, meine Herren von den GRÜNEN, bleibt geschichtliche Wahrheit: Derartige Reaktionen waren die Folge von Mord und Terror und eben nicht die Ursache. Es bleibt ebenso richtig: Politische Fehlentscheidungen müssen durch Parlamente und Gerichte korrigiert werden. Sie rechtfertigen in keinem Fall Mord und Totschlag durch selbsternannte Richter und Henker.
Siebtens. Für das damalige öffentliche Klima gilt: Die Republik war gerade 20 Jahre alt, als die erste Generation der Terroristen begann, als sich wiederum Leute dazu aufschwangen, in selbstherrlicher Weise
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Gerster
zu bestimmen, welches Leben lebenswert und welches nicht lebenswert sei. Ein gebranntes Kind scheut das Feuer. So verstanden vor allem die Überlebenden des Nazi-Terrors, daß die Bürger und mit ihnen die Politiker natürlich besonders empfindlich reagierten. Sollte unsere deutsche Demokratie ebenso der Erpressung und dem Terror, wenn auch nur in Einzelfällen, nachgeben wie etwa die Weimarer Republik?Es mußte damals und es muß heute gelten: In dieser Demokratie kann die Macht nur vom Volke ausgehen, und zwar durch die gewählten Volksvertreter. Politische Ziele dürfen nicht durch Terror herbeigebombt und herbeigemordet werden. Wer das versucht oder solche Versuche unterstützt, kann sich nicht auf die Gestaltungsmöglichkeiten unserer Demokratie berufen.Achtens. Dennoch muß ebenfalls bedacht werden: Der demokratische Rechtsstaat war und ist weder rachsüchtig noch unerbittlich. Strafe muß sein; denn Sühne von Schuld ist auch Verwirklichung der Verantwortung des Menschen für sein Tun, die ihm nicht genommen werden darf.Diese Strafe muß gerecht sein. Terroristische Mörder sind ebenso kriminell wie Mörder, die sich nicht mit politischen Motiven rechtfertigen wollen. Daher durfte es keinen Sonderrabatt bei der Schuldbewertung geben. Auch der Strafvollzug durfte und darf Terroristen der RAF nicht privilegieren. Er darf allenfalls aus Gründen der Sicherheit Besonderheiten aufweisen, eben mit Rücksicht auf die Sicherheit. Es ist und bleibt daher eine böswillige Legende, daß Terroristen in Isolation gefoltert wurden. Daß sie den derzeit laufenden Hungerstreik bestens absprechen, belegt im übrigen die Unwahrheit derartiger Behauptungen.Neuntens. Es sollte alles versucht werden, den in Haft Lebenden und ihren Verbündeten draußen den Weg in die Gesellschaft zurück zu ermöglichen, ja, sogar zu erleichtern. Diese Haltung haben bisher alle Regierungen und auch die im Bundestag vertretenen Parteien eingenommen. Es ist daher abwegig, wenn DIE GRÜNEN mit ihrer Anfrage den Eindruck erwekken, der Staat habe Chancen zur Beendigung des Terrors nicht genutzt.Dabei müssen aber neben den humanitären Erwägungen u. a. auch folgende Prinzipien gelten. Erstens: Wer als Inhaftierter eine öffentliche Lobby besitzt, darf deshalb nicht besser als andere behandelt werden. Gerechtigkeit darf nicht nach Lautstärke bemessen werden. Zweitens: Der Staat darf sich auch heute nicht erpressen lassen. Er darf nicht einmal den Eindruck entstehen lassen, daß er sich dadurch beeindrucken und dadurch sein Handeln etwa fremdbestimmen läßt.Zehntens. Daher appelliere ich an die Hungerstreikenden: Hören Sie endlich mit diesem Wahnsinn auf!
Erkennen Sie, daß der Staat nur im Rahmen der für alle geltenden Gesetze handeln darf. Erkennen Sie, daß es auch für Sie wenigstens zwei Möglichkeiten gibt: Lassen Sie sich nicht aufhetzen! Lernen Sie diedemokratischen Regeln, damit die Demokratie Sie auffangen kann! Stoppen Sie Ihren sinnlosen Selbstmord! Kehren Sie um!Auch gefangene Mitglieder der Terrorismusszene sollen im Rahmen des Möglichen, und zwar des gesetzlich Möglichen, jede Hilfe bekommen, damit sie aus der selbstgewählten Isolation in die Gesellschaft zurückkehren können. Dies setzt aber den Verzicht auf Erpressungsversuche voraus. Je weniger die Gefangenen der Versuchung unterliegen, den Staat erpressen zu wollen, und je weniger sie auf öffentlichkeitswirksamen sogenannten Verhandlungen bestehen, die der Staat nicht führen könnte, um so eher kann ihnen geholfen werden.Sehen Sie, meine Damen, meine Herren, das war immer die Haltung des Staates: auf den zuzukommen, der in Not ist, auch wenn diese Not selbstverschuldet ist. Es ist eine Mär, daß es nicht die Bereitschaft vieler Politiker, auch in diesem Hause, gäbe, etwa mit inhaftierten Gefangenen, auch der RAF, zu reden. Auch ich wäre dazu bereit, allerdings nicht mit Öffentlichkeitsrummel und nicht im Sinne von Verhandlungen etwa über Gesetzmäßigkeiten, die in den Gesetzen festgeschrieben sind, was immer wieder überprüft und auch von den Parlamenten kontrolliert wird.Lassen Sie mich abschließend sagen, um auch hier allen Legenden vorzubeugen: Der, der gefehlt hat, kann und wird immer Mitglied dieser Gesellschaft sein. Niemand, auch niemand von der Roten-ArmeeFraktion, ist ausgeschlossen, soweit er sich nicht selbst ausschließt.Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. Nöbel.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Nichts spricht dagegen aufzuarbeiten. Das will die SPD-Fraktion im Bundestag, und längst hat sie damit begonnen, und das gilt auch für die Gesamtpartei, darf ich sagen.Dabei ist für uns unumstritten: Terrorismus konnte, kann und wird niemals Bestandteil oder gar Ziel unserer demokratischen Auffassung sein, zumal dieser aus der Arbeiterbewegung entstanden ist. Das Verständnis der übergroßen Mehrheit der Bevölkerung ist damit identisch.
Es ging damals um Entscheidungen, die unstreitig von der objektiv sicheren Erkenntnis ausgingen, daß mit weiteren Anschlägen zu rechnen sei. Wer abzuwägen hatte, sah sich totaler Unberechenbarkeit gegenüber. Wie war das nach der Freipressung im Zusammenhang mit der Lorenz-Entführung? Verena Becker kam aus dem Südjemen in die Bundesrepublik zurück, wurde am 3. Mai 1977 nach einem längeren Feuergefecht nach Wildwestmanier, das sich durch die ganze Stadt Singen hinzog, zusammen mit Günther Sonnenberg, der die Mordwaffe vom Fall Buback mit sich trug, festgenommen. Der Mord an Buback war am 7. April 1977. Wer vom deutschen Herbst re-
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Dr. Nöbeldet, meine Damen und Herren, darf das deutsche Frühjahr nicht unterschlagen.
Gabriele Kröcher-Tiedemann — das steht alles mit der Lorenz-Entführung und der Freipressung im Zusammenhang — , der Teilnahme am Überfall auf die OPEC-Konferenz in Wien mit zwei Menschenopfern verdächtigt, lieferte sich ein Feuergefecht mit Schweizer Grenzbeamten am 20. Dezember 1977.Rolf Heissler, der dritte, war später an einer Schießerei in Kerkrade am 1. November 1978 beteiligt. Ingrid Siepmann blieb aktiv im Nahen Osten. Das sind nur einige der Fakten, die man nicht wegdiskutieren kann. Die Regierung hat gehandelt und der Bundestag auch, und das war auch unsere Aufgabe.
Haben wir, frage ich, überreagiert, hysterisch gehandelt? Dem Urteil der Geschichte sollten wir die Antwort überlassen; ich kann das Urteil nicht fällen.Unfehlbarkeitsanspruch in Begründungen ist meine Sache nicht. Die Terroristen machten sich den Unfehlbarkeitsanspruch zu eigen. Was ist daraus geworden? Wir wissen es alle: Aus Begründungen wurden Bomben. Dafür kann es heute keine Ausreden geben. Das hieße: Thema verfehlt. Es ist ja erstaunlich, wie vergeßlich die schnellebigen Menschen sind. Die brutalen und gewalttätigen Anschläge der Terroristen der ersten und zweiten Generation haben in allen gesellschaftlichen Kräften unseres Landes Entsetzen und Abscheu hervorgerufen.Im April 1988 hat die Deutsche Bischofskonferenz in einer Dokumentation auf bemerkenswerte Weise Stellung bezogen. Sie sagt:Wem jedes Mittel recht ist, um seine Ziele zu erreichen, der schreckt vor der Gewalt nicht zurück, und alles wird ihm zum Mittel, in letzter Konsequenz auch er selbst und sein Leben. Was mit dem Pathos des Einsatzes für mehr Menschlichkeit begonnen hat, endet in einer Selbstzersetzung der Menschlichkeit.
In dieser Situation sah sich die Regierung der sozialliberalen Koalition genötigt, zu überprüfen, ob das rechtliche und polizeiliche Instrumentarium ausreicht, um dieser neuen, unbekannten, aber gleichzeitig auch unheimlichen Bedrohung zu begegnen.Der Deutsche Bundestag hat die Bundesregierung in ihren Zielen und Vorhaben unterstützt und deshalb im März 1975 in einem Entschließungsantrag klar und unmißverständlich beschlossen:Der Terrorismus ist ein Angriff auf unseren freiheitlichen, sozialen und demokratischen Rechtsstaat. Diesen Angriff wehren wir mit allen rechtsstaatlichen Mitteln ab.Meine Damen und Herren, darum geht es letztlich auch in der heutigen Diskussion. Die sich ständig wiederholenden Terroranschläge, die große Zahl getöteter oder verletzter Menschen haben dazu geführt, daß der Deutsche Bundestag immer wieder darüber nachdachte, ob das rechtliche und das polizeiliche Instrumentarium ausreicht. Gesetzesänderungen, Verschärfungen der Rechtslage wurden vorgeschlagen, geprüft, verworfen oder beschlossen.Es sollte, meine Damen und Herren, an dieser Stelle daran erinnert werden, daß am 16. Februar 1978 der Deutsche Bundestag mit 245 Stimmen gegen 244 Stimmen in einer Kampfabstimmung ein Gesetzespaket zur Bekämpfung des Terrorismus verabschiedet hat. Nur mit einer einzigen Stimme Mehrheit wurden die damals von der Opposition zusätzlich geforderten weitergehenden rechtlichen Einschränkungen im Deutschen Bundestag abgelehnt.
Das ist wichtig zu wissen; man weiß es heute nicht mehr, man muß es aber wissen.Zusammengenommen hat die sozialliberale Koalition mehr als 42 Gesetzesverschärfungen der CDU/ CSU-Opposition verworfen. Die SPD hat sich durch die zerstörerische und geballte Irrationalität des Terrorismus nicht in Überreaktionen des Gesetzgebers hineinzwingen lassen.
Wir haben in gelassener, abwägender Vernunft das beschlossen, was angesichts der damaligen Situation unverzichtbar erschien.
Nicht alles davon hat im Laufe der Jahre, Frau Vollmer, einer kritischen Überprüfung standhalten können. Ich denke in diesem Zusammenhang an den § 88 a des Strafgesetzbuches, der selbst die verfassungsfeindliche Befürwortung von Straftaten unter Strafe stellte und später wieder aufgehoben wurde.
Die Zeitumstände, gerade weil wir sie doch alle erlebten, Frau Vollmer, die uns doch noch heute mit gepanzerten Fahrzeugen und Sicherheitsvorkehrungen einholen, die nicht gerade Freude aufkommen lassen, sind durch übereinstimmende Urteile vollkommen bestimmt, die sagen: Ja, es ist bedrohlich. Das kann doch keiner wegdiskutieren.Sicherheitsverwahrung, komplette Überwachung von Anwälten, diesem Schwachsinn zu begegnen haben wir damals unsere ganze Kraft gewidmet, und wir haben sie auch ganz gebraucht; das war schwer.
Wer jetzt das Gegenteil behauptet, wird der Sache nicht gerecht. Lesen Sie die Zeitungen nach, falls Sie die öffentliche Meinung vergessen haben! Der Tenor war: Größte Staatskrise seit dem Krieg; so hieß es, durchweg.
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Dr. NöbelZum Stichwort Kontaktsperre. Nach der SchleyerEntführung und aus den Erfahrungen, daß Aktionen aus den Gefängnissen heraus gesteuert wurden,
war die Kontaktsperre mehr als zwei Wochen ohne Gesetz praktiziert worden. Niemand, kein einziger in Bonn forderte, die Kontakte wieder zuzulassen. Die gesetzliche Regelung war überfällig. Es ist absurd, die damalige Situation heute zu verkennen.Gustav Heinemann schrieb Ulrike Meinhof. Dazu Hans-Jochen Vogel am 16. Oktober 1987 in der „Zeit" , er habe Heinemann geraten:Ja, wenn Sie das Gefühl haben, daß es helfen könnte, dann tun Sie es. Ich weiß noch, wie anschließend viele über ihn hergefallen sind, weil er diesen Brief mit einer ganz persönlichen Anrede geschrieben hat. Auf der anderen Seite erfuhr er durch Ulrike Meinhof eine brüske Abweisung.Und jetzt, meine Damen und Herren, kommt Richard von Weizsäcker ins Gerede, als ob sich nichts verändert hätte.Jürgen Schmude sagt:Gnadenentscheidungen sind nicht mit den üblichen rechtlichen oder politischen Maßstäben überprüfbar. Aber sie können einleuchten, sie können ermutigende Signale setzen. Das ist hier der Fall.Ich füge hinzu: Der Bundespräsident hat Gnade vor Recht gestellt; Recht ohne Gnade ist Mittelalter. Daß wir uns auch noch, verehrte Frau Vollmer, hinter dem Rücken, wie Sie uns vorwerfen, des Bundespräsidenten versteckten, ist ein ganz ungeheuerlicher Vorwurf.
Vielleicht hätte ein rechtzeitiger Gnadenerweis bei Gudrun Ensslin, Andreas Baader und Thorwald Proll das Abgleiten der drei Brandstifter in die Terrorszene verhindert, vielleicht — vielleicht auch nicht. Ich weiß es nicht. Sie tun so, als ob Sie es wüßten. Aber ich sage Ihnen, das ist Spekulation, und spekulieren ist das Gegenteil von hilfreich.Jochen Vogel sagt im zitierten „Zeit"-Interview:Wir würden bei der Wiederholung eines solchen Falles wohl mit größerer Gelassenheit zu Werke gehen. Für uns war das damals völlig neu. Das Ausmaß der Gefahr war kaum abzuschätzen. Am Schluß standen über 80 Menschenleben auf dem Spiel.Dann drückt er seine Bewunderung für den Mann aus, der im Herbst 1977 die Hauptverantwortung getragen hat, für Helmut Schmidt. Die Einschätzung im nachhinein führt uns nicht weiter. Ratschläge zur Besonnenheit wurden erteilt, so von den Niederländern, die nachher, als sie selber die Probleme hatten, nie die Besonnenheit hier erreicht haben, die nicht zuletzt mit Hilfe der SPD-Bundestagsfraktion gehalten wurde.Verstehen Sie mich richtig: Ausgerechnet meine Fraktion hat sich objektiv nichts zu Schulden kommen lassen.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Hirsch.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist offenbar üblich geworden, daß wir uns gegenseitig die Anträge auf den Tisch knallen. Den Antrag der GRÜNEN habe ich erst heute früh gesehen und den der Sozialdemokraten zu Beginn der Debatte.Zu dem Antrag der GRÜNEN: Das geht so nicht. Der Antrag enthält kein Wort zu den Verbrechen, die begangen wurden, kein Wort zu den schlimmen Erfahrungen, die wir mit einem Informationsnetz einer Handvoll pflichtvergessener Verteidiger gemacht haben, kein Wort zu den Revisionen von Gesetzen, zum Kontaktsperregesetz und bezüglich der Mehrfachverteidiger, die im Laufe der Jahre nach 1977 gemacht wurden und richtigerweise durchgeführt worden sind.Wir wollen die Gleichbehandlung der terroristischen Täter im Strafvollzug, aber nicht ihre Privilegierung.Zu dem Antrag der Sozialdemokraten. Wir können dem bis auf Ziffer 4 zustimmen. Der ausdrückliche Hinweis auf § 129 a StGB läßt sich in dieser Form nicht halten, ohne daß das wirklich ausführlich besprochen und beraten wird. Wenn Sie sich zu einer getrennten Abstimmung bereitfinden, würden wir den Ziffern 1 bis 3 zustimmen.Die beiden Großen Anfragen der Fraktion DIE GRÜNEN enthalten 131 Fragen. Sie sind zwar erst nach einem Jahr, aber knapp und emotionslos beantwortet worden. Liest man beides, dann kann man irgendeinen Ertrag dieser Übung nicht feststellen. Man kann ihn auch nicht erzielen, wenn beide aneinander vorbeireden, vorbeifragen und vorbeiantworten.Die Fragesteller sprechen von einem bewaffneten Kommando der Roten Armee Fraktion und meinen eine Gruppe brutaler Mörder, die sich selbst und ihre Tat mit solchen militärischen Bezeichnungen verkleiden, als hätte es sich um eine Art völkerrechtlicher Kriegführung und nicht um schlichte Verbrechen gehandelt.Da wird von dem Fragesteller schlicht behauptet, die Verfassung sei permanent verletzt und rechtsstaatliche Prinzipien seien außer Kraft gesetzt worden. Dieser unfreundlichen Einleitung entspricht natürlich die Antwort. Ich zitiere:Die o. a. Sachdarstellung und Problemsicht ist unzutreffend. Schwerwiegende Terroranschläge und die Serie von Morden des Jahres 1977 erforderten ein konsequentes staatliches Handeln und unter Beachtung der rechtstaatlichen Prinzipien die Ausschöpfung der zur Verfügung stehenden Mittel.Sehr wahr! Aber das wissen wir alles. Wir kennen dieFormeln beider Seiten, die seit Jahren gebetsmühlen-
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Dr. Hirschartig wiederholt werden und in denen man die Wirklichkeit nur sehr verfremdet wiedererkennen kann. Da ist nichts zu spüren von der tiefen Erregung, die nach mehreren Morden die gesamte Bevölkerung ergriffen hatte, nicht nur die Spitzen des Staates. Die Morde waren nicht Kampfansagen, wie es in der Anfrage heißt, an die Regierenden dieses Staates, sondern es waren Kampfansagen an die gesamte Gesellschaft und an die Verfassung, in der sich diese Gesellschaft befand.Die in diesem Hause vertretenen Parteien, die Bundesregierung und die Landesregierungen rückten zusammen, ohne daß die Opposition der Regierung die Verantwortung abnahm. Es ist nichts mehr zu spüren von der Last der Entscheidungen, die eben nicht leichtherzig getroffen wurden.Ich denke in diesem Zusammenhang mit großer Hochachtung an die Selbstdisziplin insbesondere des damaligen Bundeskanzlers Helmut Schmidt, aber auch mancher anderer Politiker und Beamter. Das waren eben nicht kalte Techniker der Machtausübung, sondern Menschen, die eine quälende Verantwortung empfanden und entscheiden sollten, was man nicht entscheiden kann, was nämlich das Leben eines Menschen wiegt gegen die Bewahrung des Rechtes, gegen die Verhinderung zukünftiger Verbrechen und gegen die Bewahrung der Autorität des Staates.Wieso ist das Parlament entmachtet worden? Es gab mehr als eine Entscheidung, die mit Rücksicht auf die Verfassung unterblieb. Es gab Entscheidungen, bei denen die Exekutive der Versuchung widerstand, sie ohne das Parlament zu treffen. Das gilt gerade für die Kontaktsperre, bei der der damalige nordrhein-westfälische Justizminister Dr. Posser, seinerzeit sehr zu meinem Ärger, auf einer gesetzlichen Regelung, also auf einer parlamentarischen Entscheidung, bestand.Ich wehre mich auch gegen die Bezeichnung „deutscher Herbst" . Wenn es Ihnen nicht um den Herbst geht, was verbinden Sie hier mit dem Wort „deutsch"? Es war kein deutscher Herbst, es war kalter Mord.
Es war Verachtung der Opfer, von denen die Terroristen sagten, sie hätten ihre Existenz beendet. Es war Anmaßung, mit der sich die Terroristen ungefragt, ungerufen und aus eigener Erleuchtung zu Richtern über Gut und Böse aufwarfen.
Wir haben den Terrorismus immer als einen Angriff auf die innere Freiheit und auf die Liberalität unseres Staates verstanden, weil am Ende terroristischer Taten nicht mehr Freiheit, sondern mehr Repression steht. In einem Staat, der als schwach erscheint, folgt der Ruf nach dem starken Mann. Die starken Männer haben es an sich, sich zu melden, bevor sie gerufen werden.In einer Gemeinschaft, die sich in ihren Grundwerten als bedroht empfindet, geht der Sinn für Proportionen verloren. Es ist die alte Taktik der vorrevolutionären russischen Anarchisten, sich eben den Staat herbeizubomben, den sie dann wegen seiner Überreaktionen als Herrschafts- und Gewaltmaschine diskreditieren und mit Erfolg angreifen können.Wer nach der Ursache des Terrorismus fragt, wird zum Sympathisanten gestempelt. Das ist eine bittere Erfahrung, die Heinrich Böll und viele andere machen mußten. Und doch liegt der Schlüssel zur Überwindung des Terrorismus nicht in polizeilichen Mitteln, sondern in der unbequemen Frage, warum Menschen das tun, was die politische und soziale Ursache der Gewalt ist,
warum sich Menschen dem Staat und der Rechtsordnung entziehen und sich selbst isolieren. Diese Frage richtet sich nicht nur an denjenigen, der private Gewalt ausübt, sondern natürlich auch an denjenigen, der die öffentliche Gewalt besitzt und der sich die unangenehme Frage stellen muß, wie er in den Augen der anderen aussieht.Astrid Proll schreibt darüber im Oktober 1987, es sei um die Suche, die Selbstanmaßung einer ganzen Generation gegangen. Ich zitiere:Es ging ja auch um einen Aufstand gegen die Mittelmäßigkeit des Alltags, gegen die Scheinheiligkeit der Nachkriegskultur, das politische Schweigen der Eltern, die Restauration in Deutschland. Niemand sollte so einfach behaupten, das Bedürfnis nach bedingungsloser Konsequenz, nach einer Haltung ohne Kompromiß, nach einer Existenz ohne Anpassung sei ihm völlig fremd.Es sei — so sagt sie — nicht nur um eine theoretische Revolutionsvorstellung gegangen, sondern auch um ein besonderes Lebensgefühl; man wollte ernstgenommen werden, die Welt verändern.Dieser Motivation ist nicht mit der Antwort auf die Frage zu begegnen, ob man Gewalt als Mittel der politischen Auseinandersetzung ablehnt oder nicht. Vielmehr hängt die tatsächliche Gewalteskalation eben davon ab, ob die Antwort auf sozialen und politischen Protest von dem stärkeren Partner nur als Konflikt über Regel- und Rechtsverletzungen verstanden wird. Je perfekter ausschließlich die Sanktionen organisiert werden, um so mehr büßen sie ihre Fähigkeit ein, zur Konfliktschlichtung beizutragen, und um so mehr tragen sie zur Anfachung des Konfliktes bei.Der Abbau der inneren Liberalität macht den Staat nicht stärker, unsere Gesellschaft nicht stabiler und den Terrorismus nicht schwächer. Die Sicherheit eines Staates beruht eben nicht in erster Linie auf seinen Machtmitteln und auf seinen Kontrollmechanismen, sondern auf der Zustimmung der Bürger, auf ihrer Mitarbeit,
und auf der Integration derjenigen, die beginnen, sich abzuwenden.Als der damalige Bundesinnenminister Baum ein politisches Gespräch mit dem noch einsitzenden früheren Terroristen Mahler führte, wurde er angegriffen und geschmäht, es sei unter der Würde eines Bundes-
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Dr. Hirschinnenministers und er untergrabe die Autorität des Staates. In Wirklichkeit hat er für die Autorität des Staates durch dieses Gespräch mehr getan als die eifrigen Erfinder immer neuer Gesetze.
Er hat eben in Wirklichkeit nicht nur mit Herrn Mahler, sondern mit seinem Umfeld gesprochen, also mit den Menschen, die an der Offenheit unseres politischen Systems zweifeln und die im Begriff waren, sich aus unserer Gemeinschaft zu verabschieden. Das gilt übrigens auch für die Briefe der Brüder von Braunmühl, die ja nicht nur an die Täter gerichtet sind, sondern letztlich an uns alle.Wir halten es für eine Illusion, zu glauben, daß nur der Politiker, die Regierung, das Parlament die Verantwortung dafür tragen, daß die Offenheit, die Reformfähigkeit, die Diskussionsbereitschaft und — ich sage auch — die notwendige Gelassenheit unserer Gesellschaft erhalten bleiben. Das ist keine Aufgabe, die man delegieren kann und für die sozusagen nur ein Teil unserer Gesellschaft zuständig ist.Ich zitiere noch einmal Baum:Nur eine geistig-politische Auseinandersetzung kann den Terrorismus von seinen Grundlagen her überwinden. Während die Bekämpfung des Terrorismus mit polizeilichen Mitteln Aufgabe des Staates bleibt, ist die geistig-politische Auseinandersetzung mit dem Terrorismus eine Aufgabe aller gesellschaftlichen Kräfte und jedes einzelnen Bürgers.
Herr Abgeordneter Dr. Hirsch, sind Sie bereit, eine Zwischenfrage der Abgeordneten Frau Dr. Vollmer zu beantworten?
Ich würde gerne den letzten Gedanken noch zu Ende sprechen dürfen.
Bitte sehr.
An dieser schlichten Erkenntnis hat sich bis heute nichts geändert. Festigkeit und Bereitschaft zu Gesprächen, Bewahrung der inneren Freiheit und Offenheit der Gesellschaft, Bereitschaft zur Selbstkritik, dem einsichtigen Täter eine Hoffnung, daß es letzten Endes auch für ihn einen Weg zurück geben kann — das ist schwer genug, aber es ist die einzige Antwort, die wir geben können.
Bitte sehr, Frau Dr. Vollmer.
Herr Kollege Hirsch, da es um eine geistige Auseinandersetzung mit dem Terrorismus geht: Würden Sie mir helfen, in Ihrer Rede einen einzigen Satz von Selbstkritik zu finden?
Frau Vollmer, ich würde Sie bitten, diese Rede einmal in Ruhe zu lesen.
Dann merken Sie, daß ich, der ich damals selber an den Entscheidungen beteiligt war, einen weiten Weg zurückgelegt habe.
Meine Damen und Herren, ich bedaure, daß ich in dieser niveauvollen Debatte dem Abgeordneten Wüppesahl nach unserer Geschäftsordnung — er hat sich zur Geschäftsordnung gemeldet — das Wort erteilen muß.
Ich mache darauf aufmerksam, Herr Abgeordneter Wüppesahl, daß Sie, wenn Sie eine Abänderung der Redezeit gewünscht hätten, dies zu Beginn der Debatte hätten beantragen können, als ich das Haus habe bestätigen lassen, daß jede Fraktion zehn Minuten bekommt. Ich bedaure auch, daß Sie das Angebot des Präsidenten, eine fünfminütige Redezeit in Anspruch zu nehmen, nicht angenommen haben.
Herr Abgeordneter, Sie haben das Wort.
Die Verteidigung kommt bereits, bevor der Präsident überhaupt ungefähr wußte, was ich jetzt vortragen werde.Auch ich bedaure in der Tat, daß ich zu dem einzigen Tagesordnungspunkt, zu dem ich mich in dieser Woche zu Wort melde, jetzt wieder einen Geschäftsordnungsbeitrag leisten muß, der wahrscheinlich genauso viel Redezeit in Anspruch nehmen wird wie die von mir gewünschte Möglichkeit, zur Sachdebatte reden zu können, nämlich zehn Minuten.
— Nein, Christa, es geht einfach nicht, daß an entscheidenden Stellen, wo gerade die Waffengleichheit mit vier Rednern der Gegenseite und einem Redner für die Position, die ihr vertretet und die auch ich vertrete, für völlig ungewichtig gehalten wird und inhaltliche Positionen wieder mit dem Instrumentarium der Geschäftsordnung zeitlich zurückgedrängt werden sollen.Ich hatte also den Antrag gestellt, zehn Minuten reden zu können, und wurde beschieden, nur fünf Minuten reden zu dürfen.Meine Damen und Herren, Sie wissen, wie problematisch der Umgang Ihrerseits mit meinen verbrieften Rechten im Parlament ist, wie offenkundig es wohl auch sein wird, daß verschiedene der von Ihnen vertretenen Positionen in Kürze durch einen Spruch aus Karlsruhe erheblich revidiert werden.Sie wissen auch, wie sensibel dieses Thema ist. Wenn ich mich als Innenpolitiker — ich hatte einen Platz im Innenausschuß, im Rechtsausschuß und im Gemeinsamen Ausschuß, wie den meisten bekannt ist — zu einer solchen Fragestellung, wirklich nur zu diesem einzigen Tagesordnungspunkt in dieser ganzen Sitzungswoche, zu Wort melde und zehn Minuten Redezeit beantrage, finde ich es beschämend, daß mir
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Wüppesahlnur fünf Minuten zur Verfügung gestellt werden sollen.Sie wissen auch, daß ein ungeschriebenes parlamentarisches Recht, nämlich der Minderheitenschutz, auf diesem Weg erneut mit Füßen getreten wird. Es gibt auch unter dem geschlossenen Gesichtspunkt „innerhalb einer solchen sogenannten großen Runde viermal zehn Minuten für jede Fraktion — wenn die Regierung möchte, ebenfalls zehn Minuten — ", sehr viel mehr Argumente dafür, daß man mir zehn Minuten Redezeit zur Sache einräumt, als daß man von diesem Zehn-Minuten-Kontingent noch einmal Abstriche vornimmt.
— Ganz genau, Herr Kleinert. Deswegen wäre es auch sinnvoll, mir einen Redebeitrag von zehn Minuten zur Sachdebatte zu ermöglichen.Ich habe — auch in der letzten Stellungnahme für das Organstreitverfahren in Karlsruhe — eine Fülle von Beispielen angeführt, bei denen sehr deutlich wird, wie mit meinem Rederecht verfahren wird, wie bereits zugesagte Redekontingente im Laufe der Debatte wieder reduziert werden.
— Christa Nickels, ich nehme meine Rechte in Anspruch, und zwar nicht nur nach der Geschäftsordnung, sondern auch nach dem Grundgesetz. Die Peinlichkeit, daß wir in einer solchen Debatte jedenfalls mich erst einmal fünf Minuten zur Geschäftsordnung hören, ist vom Präsidium zu verantworten. In diesen fünf Minuten hätte ich jetzt zusätzlich zur Sache reden können. Ich hätte nicht eine Minute mehr für das Gesamtparlament in Anspruch genommen, als es mein Wunsch gewesen ist. Das wird jetzt auf diese Weise natürlich wiederum kompensiert.Meine Damen und Herren, ein Zehn-Minuten-Beitrag zur Sache angesichts einer solchen Fragestellung, zu der Redner vor mir in der Sachdebatte bereits ausgeführt haben — z. B. Herr Gerster von der CDU/ CSU — , zehn Minuten seien angesichts eines solchen Themas viel zu wenig, und sie müßten sich von daher darauf beschränken, bruchstückhafte Gedanken vorzutragen, ist zu kurz. Das, was die Kollegen gesagt haben, drückt ebenfalls aus, daß ein Zehn-MinutenBeitrag auch für meine Person noch viel zu kurz und nicht zu lang bemessen wäre.
Die fünf Minuten Redezeit, die mir für meinen Beitrag zur Geschäftsordnung zur Verfügung standen, laufen jetzt ab. Ich vergegenwärtige Ihnen nochmals den Antragsgegenstand: Ich möchte jetzt zehn Minuten zur Sache sprechen können und bitte um Zustimmung.
Das Wort zur Geschäftsordnung hat die Abgeordnete Frau Weyel.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich möchte es sehr kurz machen. Ich denke, wenn man eine solche Redezeit zu einem solchen Punkt vereinbart hat, dann sollte jemand, der Einwände hat, das entweder am Anfang sagen, oder er sollte sich dann an die fünf Minuten halten, die der Präsident ihm zur Verfügung gestellt hat. Ich halte das für durchaus gerecht auch im Verhältnis zu den anderen Fraktionen.
Ich bitte also, den Geschäftsordnungsantrag von Herrn Wüppesahl abzulehnen.
Meine Damen und Herren, ich lasse über den Geschäftsordnungsantrag des Abgeordneten Wüppesahl abstimmen. Wer für den Antrag ist, dem Abgeordneten Wüppesahl eine Redezeit von zehn Minuten zu gewähren, den bitte ich um das Handzeichen. —
Wer stimmt dagegen? — Dann ist dieser Antrag abgelehnt worden.
— Entschuldigung. Jawohl, ich gebe Ihnen noch die Gelegenheit, Ihre Enthaltung zu dokumentieren.
— Danke schön, Verzeihung.
Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär Dr. Waffenschmidt.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die damals getroffenen Entscheidungen der Bundesregierungen unter Helmut Schmidt erfolgten unter Abwägung aller Umstände und in Übereinstimmung mit den im Deutschen Bundestag vertretenen Parteien. Sie berücksichtigten den hohen Rang, den unsere Verfassung der Bewahrung menschlichen Lebens und der körperlichen Unversehrtheit einräumt. Ich sage ausdrücklich: Die besonnene und entschlossene Reaktion des Krisenstabes und der Bundesregierung hat die volle Anerkennung der tragenden gesellschaftlichen Kräfte und der breiten Bevölkerung gefunden. Sie hat allen rechtlichen Prüfungen standgehalten.Frau Vollmer, Ihre Vorwürfe gegen die Bundesregierung — gegen die damalige wie gegen die heutige — weise ich darum mit Entschiedenheit zurück. Ihre Darlegungen sind in meinen Augen leider eine ganz unverantwortliche Verharmlosung des Terrors, der uns durch jene Kräfte leider entgegengekommen ist. Wir sollten dieser Verharmlosung nicht das Wort reden.Die Serie brutaler Mordanschläge der RAF rissen leider nicht ab. Ihre das Leben unschuldiger Menschen verachtende Strategie hat diese Gruppe — zuletzt bei dem versuchten Mordanschlag auf Staatssekretär Dr. Tietmeyer Ende September vergangenen
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Parl. Staatssekretär Dr. WaffenschmidtJahres — offenbart, bei dem gemäß eigener Bezichtigung „zuerst gezielt der Fahrer ausgeschaltet werden sollte " .Die RAF hat zugleich eine gemeinsame Offensive mit den Roten Brigaden propagiert. Wenn auch die erfolgreiche Arbeit der Sicherheitsbehörden weitere Anschläge bisher verhindert hat, so steht auf Grund der Äußerungen der RAF-Kommandoebene wie auch ihres Umfeldes doch fest, daß sie, wie sie es nennen, ihren „bewaffneten Kampf" fortzusetzen beabsichtigt. Hierfür sprechen nicht zuletzt auch Erklärungen der am zehnten kollektiven Hungerstreik teilnehmenden inhaftierten RAF-Mitglieder.Meine Damen und Herren, 44 terroristische Täter beteiligen sich am Hungerstreik. Dabei sind: 41 Verurteilungen und Anklageerhebungen wie folgt: 15 wegen Mordes, 7 wegen Geiselnahme, 7 wegen erpresserischen Menschenraubs, 2 wegen gefährlicher Körperverletzung, 6 wegen räuberischer Erpressung, 15 wegen Brand- und Sprengstoffdelikten, und ich könnte fortfahren. Die Gefahr des Terrorismus ist auch heute — wir müssen das mit großem Bedauern feststellen — nicht gebannt. Das sind Realitäten, und hieran muß sich die Bekämpfung des Terrorismus orientieren. Das gilt heute ebenso wie 1977.Die von den GRÜNEN auch in dieser Großen Anfrage teils offen, teils verdeckt erhobenen pauschalen Vorwürfe, die damalige Bundesregierung, die Bundesregierung Helmut Schmidt, habe auf die Ereignisse 1977 überzogen reagiert und habe in der Folgezeit Chancen zur Überwindung des Terrorismus nicht genutzt, sind meines Erachtens von einer eklatanten Verkennung des Problems des Terrorismus gekennzeichnet, und sie erschweren die Problemlösung.Sicherlich sind wir alle zu der hier von den Vorrednern immer wieder angesprochenen geistigen Auseinandersetzung aufgerufen, und wir sind aufgerufen, auch zu sehen, wo Menschen, die in diesem freiheitlichen demokratischen Rechtsstaat handeln, Fehler machen. Aber das darf niemals dazu führen, daß irgendwo Gewalt Rechtfertigung findet. Wir müssen uns gegen Gewalt in diesem Staat und gegen diesen Staat ganz klar und eindeutig wenden.
Meine Damen und Herren, 1977 haben Vertreter von CDU und CSU, von SPD und FDP, Verantwortliche von Bund und Ländern an den Sitzungen des großen Krisenstabes gemeinsam mit dem damaligen Bundeskanzler teilgenommen, und zwar unter dem Druck einer furchtbaren terroristischen Erpressung, die Menschenleben kostete und den Staat insgesamt zum Ziel hatte. Das wollen wir doch nicht vergessen. Sie rangen um die richtige Entscheidung, menschlich und für das Wohl des Staates insgesamt. Sie haben gerungen, und es gibt keine, aber auch wirklich keinerlei Anhaltspunkte dafür, daß ein nachgiebiges Verhalten der Bundesregierung uns vor dem Terrorismus der Folgezeit verschont hätte. Die Erfahrungen der Vergangenheit sowie das Verhalten der Täter und der Freigepreßten nach der Lorenz-Entführung im Frühjahr 1975 beweisen vielmehr leider das Gegenteil.Die verstärkten Anstrengungen der Regierungen und der Gesetzgeber zur Bekämpfung des Terrorismus nach 1977 waren danach folgerichtig. Dies gilt gleichermaßen für den Ausbau der Sicherheitsbehörden, für die Fortentwicklung des gesetzlichen Instrumentariums, für die Verstärkung der operativen Maßnahmen wie für die Intensivierung der internationalen Zusammenarbeit.Aber, meine Damen und Herren, es gab und gibt auch Angebote an umkehrbereite Terroristen. Beispiele sind die Begnadigungen ehemaliger RAF-Terroristen. Defizitär ist nicht die Dialogbereitschaft des Staates, sondern die der Terroristen.Die Angebote der Bundesregierungen, gerade auch die Angebote dieser Bundesregierung, richten sich auch an die noch in Freiheit befindlichen Angehörigen der terroristischen Szene. Auch die jetzt beschlossene Kronzeugenregelung stellt schließlich ein Angebot an diese Szene dar. Wer sich aus ihr löst und diese Bereitschaft durch Aussagen gegenüber den Sicherheitsbehörden untermauert, kann Straffreiheit erlangen.
Alle Angebote des Staates müssen sich im Rahmen der gegebenen rechtsstaatlichen Ordnung halten. Sie dürfen von den Terroristen nicht dazu mißbraucht werden, ihren gewalttätigen Kampf fortzusetzen. Dies ist namentlich auch bei Reaktionen des Staates auf den aktuellen zehnten kollektiven Hungerstreik inhaftierter terroristischer Gewalttäter zu beachten.Meine Damen und Herren, ich sage es noch einmal: Wir alle sind aufgerufen, das geistige und politische Ringen um die Festigung unserer freiheitlichen demokratischen Ordnung, die uns allen soviel wert sein sollte, ständig und jeden Tag zu betreiben. Aber das muß uns auch immer zu der Erkenntnis führen, daß Terror durch nichts, durch gar nichts gerechtfertigt ist. Deshalb soll auch von der heutigen Debatte eine klare Stellungnahme zum Terrorismus ausgehen.In unserem freiheitlichen demokratischen Rechtsstaat ist jede Form von Terrorismus mit aller Entschiedenheit zu bekämpfen. Sie war es damals, 1977, sie ist es heute; sie war es unter der Regierung Helmut Schmidt und mit den Möglichkeiten, die er damals gesehen hat, sie ist es heute unter der Bundesregierung Helmut Kohl und mit den Möglichkeiten, die wir sehen, und ich denke, mit breiter Übereinstimmung mit den Bürgern in unserem Land und mit breiter Übereinstimmung auch in diesem Hause. Wir tun dies, damit die Bürger auch morgen in unserem Land in Freiheit leben können. Freiheit, die ein großes Geschenk für uns alle ist, Freiheit, die für alle Bürgerinnen und Bürger, die in diesem Lande verantwortlich leben wollen, ein Angebot ist. Wir sollten hier und heute ein deutliches politisches Signal setzen: Was damals gegen den Terrorismus und für die freiheitliche Ordnung geschah, war für die Bürger, wie auch das, was heute geschieht, um Terror abzuwenden und Freiheit zu sichern.Ich danke Ihnen.
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9904 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 134. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. März 1989
Meine Damen und Herren, weitere Wortmeldungen liegen nicht vor.
— Herr Abgeordneter Duve, Sie wollen eine Erklärung zur Abstimmung nach § 31 der Geschäftsordnung abgeben? — Bitte sehr.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich möchte einige kurze Bemerkungen zu meinem Abstimmungsverhalten machen, daß es meiner Grundhaltung widerspricht, mich nämlich bei beiden Anträgen zu enthalten. Ich will das begründen.
Ich war in den 70er Jahren und in dem Jahr, von dem wir heute sprechen, nicht Mitglied des Parlaments, sondern ein sehr engagierter Journalist und Autor außerhalb des Parlaments. Heinrich Böll, Klaus Staeck und ich haben versucht, in die Stimmungslage dessen, Kollege Hirsch, was man doch zu Recht als den „Deutschen Herbst" — nach dem „Deutschen Frühling" — bezeichnen mußte, ein bißchen Nachdenklichkeit hineinzubringen. Wir haben seinerzeit versucht, im Ausland, vor allem in Frankreich, Nachdenklichkeit in die Art der Diskussion — ich erinnere an Jean Genet und andere französische Autoren, ich erinnere an Sartre — hineinzubringen. Ich möchte gern, daß wir alle das Bemühen um Nachdenklichkeit, das Frau Vollmer als Motiv doch immer wieder erkennen läßt, auch akzeptieren.
Ich denke, daß die Demokratie — das zeigen ja die historischen Diskussionen in Ungarn, in der Tschechoslowakei und überall — keine gute Chance hat, wenn es nicht immer — auch bei uns — ein selbstkritisches Gleichgewicht zwischen Erinnerung und Versöhnung gibt. Das ist das Urgleichgewicht in der Geschichte der Demokratie. Selbst ein argentinischer Präsident mußte damit umgehen. An dem wahrlich nicht so dramatischen Beispiel der 70er Jahre sind auch wir aufgerufen, dieses Gleichgewicht zwischen Erinnerung und Versöhnung zu üben.
Ich muß sagen, das, Antje Vollmer, kam in der Heftigkeit des Angriffs auf die Sozialdemokratie des Jahres 1977 nicht zum Ausdruck. Ich weiß genau und habe damals viele Diskussionen mit Abgeordneten geführt, das war ein ganz schwerer und ganz um Verständnis und Verständigung ringender Prozeß. Das waren nicht einfach irgendwelche Betonleute, von denen die Rede war.
Nein, ich denke, daß wir — alles zusammen — in der Folgezeit die Aufgabe zur Erinnerung und Versöhnung gut bestanden haben. Es hat eben um den „Deutschen Herbst" , um die Liste gegen angeblich mitschuldige Intellektuelle, die ein heute amtierender Generalsekretär seinerzeit verbreiten ließ, eine vernünftige Debatte gegeben. Vielleicht ist diese vernünftige Debatte auch einer der Gründe, warum ich jetzt im Parlament bin.
Ich weiß, daß es innerhalb meiner Fraktion, innerhalb meiner Partei und ihren Gliederungen seinerzeit eine intensive Diskussion gegeben hat, eine sehr ernste Diskussion. Ich weiß, daß es auch jetzt eine Diskussion über die Fragen gibt, die wir zur Zeit diskutieren müssen.
Ich habe in der letzten Zeit mit dem lebenslänglich inhaftierten Jürgen Boock Gespräche im Gefängnis geführt. Ich möchte sagen, daß die Frage der eigenen Erinnerung und der Fähigkeit, sich selbst schuldig zu fühlen und damit zu leben, jedenfalls in diesen Gesprächen in großer Eindringlichkeit zum Ausdruck kam.
Ich möchte mich aus diesen Gründen, mich tief in dem Problem empfindend, bei beiden Anträgen enthalten.
Ich danke für die Aufmerksamkeit.
Meine Damen und Herren, obwohl ich die Aussprache geschlossen habe, behauptet Herr Abgeordneter Wüppesahl, er habe sich rechtzeitig gemeldet. Es lag mir nicht vor. Es seien ihm auch fünf Minuten zugestanden worden, obwohl er die fünf Minuten abgelehnt hat. Er meinte, die Ablehnung habe sich nur auf die zehn Minuten bezogen, die fünf Minuten seien aufrechterhalten.
Herr Abgeordneter Wüppesahl, bitte sehr! Sie sollen keinesfalls in Ihrem Recht, als Einzelabgeordneter hier sprechen zu können, beschnitten werden.
Ich bedanke mich, Herr Präsident.Im Jahre 1977 saßen im großen und kleinen Krisenstab eigentlich Politiker zusammen. Tatsächlich haben sie sich so verhalten wie Polizeibeamte oder — besser gesagt — wie Generalfeldmarschälle, wie Generalfeldmarschälle, die allerdings keinerlei Verhältnis zu der tatsächlich bestehenden Bedrohung in der Bundesrepublik Deutschland im Jahre 1977 im Vergleich zu den von ihnen eingesetzten Mitteln sowohl rechtspolitischer Art als auch in bezug auf die zur Verfügung stehenden Institutionen — Polizeien, Geheimdienste und anderes mehr — aufgewiesen haben.Weshalb, meine Damen und Herren, gerieren Sie sich hier mit sehr wohlklingenden Worten — diese Kritik geht von mir an die Fraktionen der SPD, der CDU/CSU und der FDP —,
wenn gleichzeitig von Ihnen auch heute auf die offengebliebenen Fragen aus der Großen Anfrage keine plausiblen Antworten erfolgen? Ich will dazu nur einige wenige Beispiele anführen.Weshalb verweigert die Bundesregierung — die SPD wäre sicherlich dazu auch in der Lage auf Grund der relativ großen Zahl von Personen aus ihren Reihen, die damals in verantwortlicher Position gewesen
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 134. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. März 1989 9905
Wüppesahlsind — die Informationen über Abläufe in Stammheim und auch in anderen Gremien?Weshalb wird nicht zugestanden, daß die zweite und dritte Generation als Protest gegen die unmenschliche Behandlung der ersten Generation, wesentlich im Strafvollzug, entstanden ist?Weshalb versuchen Sie nicht — statt dessen hören wir phrasenhafte Darlegungen — , den massiven Rechts- und Demokratieabbau, der unter Ihrer Verantwortung stattgefunden hat, heute selbstkritisch aufzuarbeiten und endlich auch zu korrigieren?Weshalb nehmen Sie keine Stellung zu dem massiven Polizei- und Geheimdienstausbau, der seit diesem Herbst 1977 erfolgt ist?Die Maßnahmen, die Sie damals getroffen haben, waren in der Tat nicht bloß legaler Art. Selbst Sprecher aus Ihren Reihen haben dies indirekt konzediert. Wenn z. B. Ausführungen gemacht wurden, daß nach 14tägiger gesetzloser Anwendung der Kontaktsperre endlich das Gesetz her mußte, ist dies nur eines von vielen, vielen Beispielen, die diese Behauptung untermauern. Sie haben nicht bloß legale, sondern auch illegale Methoden angewandt, die jeder Rechtsstaatlichkeit Hohn sprechen.
Sie haben sogar massive Rechtsverletzungen begangen. Ich denke nur an die Inanspruchnahme des § 34des Strafgesetzbuchs, des rechtfertigenden Notstands— eine in der Tat völlig aberwitzige Konstruktion.Ich zitiere zu diesem Bereich ausnahmsweise den damaligen Bundeskanzler Helmut Schmidt. Er sagte, er könne „nachträglich den deutschen Juristen nur danken, daß sie das alles nicht verfassungsrechtlich untersucht haben". Zitatende.
— Herr Penner, Sie haben auch keine Antworten darauf gegeben,
daß eine bis heute unbekannte Anzahl von Bürgerinnen und Bürgern abgehört wurde. Diesen Bürgerinnen und Bürgern wurde bis heute nicht mitgeteilt, daß sie abgehört worden sind. Das ist eine wirklich hohnsprechende Art und Weise in Ihrem Vorgehen gegenüber den Rechtsprinzipien, die wir haben, und auch gegenüber der geltenden Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts.
Sie haben darüber hinaus Verteidigerbeschränkungen erlassen, die nicht nur Waffenungleichheit produziert haben, sondern auch massive Schlechterstellungen von Angeklagten, Beschuldigten und Verdächtigten im Strafverfahrensrecht.
Ich behaupte: Wir sind heute, nachdem wesentliche, 1977 und kurz danach erfolgte Maßnahmen nicht zurückgenommen worden sind, weiter von einem souveränen Staat entfernt als vor zwölf Jahren. Damals gab es die Entschuldigung — Sie mögen es als Rechtfertigung bezeichnen — , daß man in einer sehr aufgewallenen Situation unter Handlungsdruck stand. Diese Situation ist längst passé, seit vielen Jahren. Sie haben bis heute nicht die Chance genutzt, die damals ergriffenen Maßnahmen zurückzudrehen.Die vermeintliche Handlungsfähigkeit des Staates stand bei Ihnen höher im Kurs als der Schutz von einzelnen Leben, auch das Leben von Hanns-Martin Schleyer.Ich zitiere dazu die Ausgabe „Terrorismus Informationsdienst Hintergrund" vom März dieses Jahres. Dort steht:Mögliche Aktionen von Kommandos werden die Sicherheit der Republik ernsthaft nicht bedrohen können.Das gilt 1989 genauso wie 1977. Sie haben sich aber 1977 so verhalten und verhalten sich auch heute noch so, auf Grund der von Ihnen betriebenen Rechts- und Kriminalpolitik im Bereich des Terrorismus, als wenn es eine solche ernsthafte Bedrohung der Bundesrepublik Deutschland gäbe.
Herr Abgeordneter Wüppesahl, Ihre Redezeit ist abgelaufen.
Bedauerlicherweise muß ich zum Schluß kommen, mit dem abschließenden Zitat — —
— Ja, es tut weh, Herr Vogel. Auch Sie standen in Verantwortung.
Herr Abgeordneter Wüppesahl, Ihre Redezeit ist abgelaufen.
Ich mache den letzten Satz, Herr Stücklen.
Zitat: Es ist möglich, den Terror — —
Mißbrauchen Sie bitte die Geschäftsordnung nicht.
Es ist wirklich unerträglich, wie mit meinen Rederechten umgegangen wird.
Meine Damen und Herren, ich bin sehr dafür, daß wir eine dem Anlaß angemessene generelle Regelung im Ältestenrat besprechen.Wir kommen jetzt zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion der GRÜNEN auf Drucksache 11/4202 . Es ist Einzelabstimmung beantragt.
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9906 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 134. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. März 1989
Vizepräsident StücklenIch rufe die Ziffer 1 auf. Wer dafür ist, den bitte ich um ein Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Bei drei Enthaltungen ist diese Ziffer mit großer Mehrheit abgelehnt.Ich rufe die Ziffer 2 auf. Wer dafür ist, den bitte ich um ein Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Bei einer Enthaltung ist auch diese Ziffer mit großer Mehrheit abgelehnt.Ich rufe die Ziffer 3 auf. Wer dafür ist, den bitte ich um ein Handzeichen. — Gegenprobe! — Auch diese Ziffer ist mit großer Mehrheit abgelehnt.Wir stimmen jetzt über den Entschließungsantrag der SPD — —
— Über das Ganze brauche ich nicht abstimmen zu lassen, weil jede einzelne Ziffer abgelehnt worden ist. Es ist also nichts mehr drauf.Wir stimmen jetzt über den Entschließungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 11/4219 ab. Auch hier ist Einzelabstimmung beantragt.Ich rufe die Ziffer 1 auf. Wer dafür ist, den bitte ich um ein Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Bei drei Enthaltungen ist diese Ziffer mit großer Mehrheit angenommen.Ich rufe die Ziffer 2 auf. Wer dafür ist, den bitte ich um ein Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Bei zwei Enthaltungen ist diese Ziffer mit großer Mehrheit angenommen.Ich rufe die Ziffer 3 auf. Wer dafür ist, den bitte ich um ein Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Bei zwei Enthaltungen ist auch diese Ziffer mit großer Mehrheit angenommen.Ich rufe die Ziffer 4 auf. Wer dafür ist, den bitte ich um ein Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Bei vier Enthaltungen ist diese Ziffer 4 mit großer Mehrheit abgelehnt.Meine Damen und Herren, ich rufe den Zusatztagesordnungspunkt 10 auf:Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/ CSU, SPD und FDPDeutschlandpolitik und Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa
— Drucksache 11/4209 —Nach der interfraktionellen Vereinbarung sind für die Beratung 90 Minuten vorgesehen. Ist das Haus damit einverstanden? — Ich sehe keinen Widerspruch. Es ist also so beschlossen.
— Zur Geschäftsordnung? — Wenn Sie sich ein bißchen früher meldeten, Herr Bohl, wäre ich dankbar.
Herr Präsident, wir möchten beantragen, daß wir nach der Beendigung dieses Tagesordnungspunktes die Sitzung für eine Stunde für eine Fraktionssitzung der CDU/CSU unterbrechen.
Also, die Fraktion der CDU/CSU beantragt eine Unterbrechung der Sitzung für eine Stunde nach Abschluß des Zusatztagesordnungspunktes 10. Es ist eine Gepflogenheit des Hauses, daß, wenn eine Fraktion eine Unterbrechung der Sitzung beantragt, dem stattgegeben wird. Gibt es eine gegenteilige Meinung? — Das ist nicht der Fall. Nach Abschluß dieses Zusatztagesordnungspunktes werden wir die Sitzung für eine Stunde unterbrechen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Herr Abgeordnete Lintner.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Lassen Sie mich zu Beginn dieser Debatte eine Feststellung treffen: Die Bundesregierung hat durch ein umsichtiges und geduldiges Verhandeln schon viel für die Deutschen in der DDR tun können: Besuche und Kontakte gehen heute in die Millionen, Zigtausende von Jugendlichen lernen jedes Jahr die DDR kennen, es herrscht ein reger Kulturverkehr usw. Das dürfen wir bei aller berechtigten Kritik an den Zuständen in der DDR nicht vergessen. Heute geht es hier aber leider um Dinge, die immer noch nicht in Ordnung sind.Vor einigen Wochen hatten wir alle die Hoffnung, die DDR-Führung könnte sich endlich wie eine seriöse Staatsführung verhalten, nämlich eingegangene Vereinbarungen auch erfüllen. Meine Damen und Herren, wir sind leider wieder einmal enttäuscht worden.Man muß sich heute deshalb zwangsläufig fragen: Was haben Verträge mit der DDR über menschenrechtliche Tatbestände eigentlich für einen Sinn, wenn die SED-Führung sowieso nicht daran denkt, sich daran zu halten?Wir alle, vor allem die Bundesregierung, haben viel Geduld und Mühen in den Versuch investiert, Erich Honecker und seine Führungsriege davon zu überzeugen, daß man auf diese Art und Weise nicht miteinander umgehen kann.Leider hat sich das Regime bis heute aber als unbelehrbar gezeigt, und schon deshalb, glaube ich, sind deutlichere Signale des Unwillens und des Protests nötig, als sie von bloßen Worten ausgehen.Es war deshalb unbedingt richtig, daß die Bundesminister Haussmann und Schneider sowie andere Politiker aus den Reihen der Koalitionsparteien ihre Reisen in die DDR abgesagt haben.Was in einer solchen Situation notwendigerweise gesagt werden muß, kann — wie auch bisher schon üblich — auf der gewöhnlichen Schiene über die Ständigen Vertretungen gesagt werden; für besondere Gesten des guten Willens ist jetzt einfach nicht die Zeit.Diese Art des Protests wäre freilich noch viel wirksamer, so meine ich, wenn sich alle Parteien in der Bundesrepublik daran beteiligen würden. Leider muß ich feststellen, daß es hohe SPD-Vertreter wie Johannes Rau immer noch vorziehen, der DDR-Führung ohne Rücksicht auf deren Verhalten ihre Aufwartung zu machen, verschämt gerechtfertigt mit dem scheinheiligen Pseudoargument, man wolle den Protest
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Lintnerhöchstpersönlich anbringen. Dann genügen zehn Sekunden Verbalprotest, um das Gewissen zu beruhigen, und dann pflegt man stundenlang einen, wie es immer heißt: positiven Gedankenaustausch. Honekker nimmt solche Formen des Protests, meine Damen und Herren von der Opposition, nicht ernst. Das zeigt sich z. B. daran, daß sich am Schießbefehl bis heute natürlich überhaupt nichts geändert hat.Die Lage in der DDR wird zunehmend brisant und ernst: Während sich das kommunistische Umfeld der DDR um Reformen und mehr Rechte für die Bürger bemüht, versteht sich die DDR-Führung zusammen mit Rumänien offensichtlich als letzte Bastion kommunistischer Orthodoxie. Die Tatsache, daß die DDR jetzt wieder eine Broschüre mit einem gefälschten Text der KSZE-Beschlüsse von Wien verbreitet, läßt leider befürchten, daß sie diesen negativen Kurs beibehalten will.So gerät die DDR ganz zwangsläufig in die Isolierung. Sie kann heute — im Gegensatz zu früher — auch nicht mehr damit rechnen, von anderen Beistand zu erhalten, wenn es vor der Weltöffentlichkeit um Symbole der Unterdrückung und der Menschenverachtung — wie die Mauer und den Schießbefehl — geht. Verbale Bekenntnisse auf der internationalen Ebene bei Konferenzen, vor der UNO usw. nützen der DDR auch nicht mehr, denn die anderen Staaten lassen sich nicht endlos täuschen. Die DDR riskiert so, auch international zum Außenseiter zu werden. Mit diesem Verhalten macht sie sich auch für die so heftig begehrten hochrangigen Staatsbesuche aus dem Westen allmählich besuchsunfähig. Die DDR-Führung sollte deshalb schleunigst zu vertragstreuem Verhalten zurückkommen.Dabei ist das vor kurzem auch von der DDR unterzeichnete Schlußdokument des Wiener KSZE-Folgetreffens für uns in zweierlei Hinsicht von Bedeutung: Zum einen ganz generell, weil Menschen- und Bürgerrechte natürlich jedem Menschen, so auch jedem Deutschen, zustehen. Zum anderen, weil auch wir nicht die Entvölkerung der DDR wollen, sondern uns in allererster Linie Lebensverhältnisse in der DDR wünschen, die es den Deutschen drüben ermöglichen, in der Heimat zu bleiben. Dazu aber sind Freiheitsräume, Vielfalt und Toleranz nötig, und dazu müssen das konstruktive Interesse und das Engagement der Menschen erst noch gewonnen werden.Weil heute die Atmosphäre durch „ungerechtfertigte Privilegien, Bespitzelung und Denunziation" — um die Worte einer Leipziger Menschenrechtsgruppe zu gebrauchen — vergiftet ist und Kreativität und eigene Ideen nicht umgesetzt werden können, wollen Hunderttausende die DDR verlassen, um in der Bundesrepublik neu anzufangen. An der Starrheit und der Sturheit der SED-Riege verzweifeln diese Menschen. Deswegen haben sie schon die Hoffnung aufgegeben, in der DDR könnten sich die Dinge demnächst noch zum Guten wenden. Sie sehen für sich und ihre Kinder in der DDR keine Perspektive mehr, und die SED tut leider alles, um sie in dieser Überzeugung zu bestärken.Es verwundert auch nicht, daß es dann zu Verzweiflungstaten kommt. Wer nichts mehr zu verlieren hat, den schrecken auch Stasi und Polizei und Parteijustiz nicht mehr ab. Der DDR-Führung sollte es zu denken geben, daß Demonstranten vorgestern in Leipzig Transparente mit der Aufschrift „ ... lebenslänglich DDR" hochgehalten haben.Die Verwirklichung der Beschlüsse von Wien wäre etwas, was in der DDR die Verhältnisse zum Besseren wenden und ein Klima schaffen könnte, das zum Bleiben ermuntert
und das geeignet wäre, aus dem „real existierenden Sozialismus" einen „lebbaren Sozialismus" zu machen, um mit Stefan Heym zu sprechen.Uns im freien Teil Deutschlands kommt bis zur Verwirklichung der KSZE-Beschlüsse auch in der DDR ganz zwangsläufig die Rolle des Mahners zu. Wir müssen alles tun, um diesen auch für den inneren Frieden der DDR so wichtigen Schritt zu fördern. Deshalb muß notfalls auch das förmliche Informations-und Konsultationsverfahren des KSZE-Prozesses über den Stand der Verwirklichung der KSZE-Beschlüsse in der DDR eingeleitet werden. Erstmals wird dazu in Paris vom 30. Mai bis zum 22. Juni dieses Jahres Gelegenheit sein. Ich fordere schon heute die Bundesregierung auf, diese Möglichkeit zu nutzen.Ich hoffe, meine Damen und Herren, die DDR begreift das Konstruktive an unserer Kritik. Und ich hoffe, daß sie an der Tatsache, daß eine gemeinsame Initiative der CDU/CSU, der SPD und der FDP heute zustande gekommen ist, erkennt, wie ernst uns der Wille ist, nicht zu ruhen, bis in der DDR andere, menschlichere Verhältnisse erreicht sind.Ich danke Ihnen.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Büchler.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Anlaß unserer heutigen Debatte sind schlimme Vorkommnisse in der DDR. Wir alle hatten nach den Maßstäben, die Wien gesetzt hat, die Hoffnung, daß Schüsse auf Flüchtlinge aufhören, daß Verhaftungen von Ausreisewilligen ebenfalls nicht mehr stattfinden und daß Übergriffe gegen Journalisten nicht mehr vorkommen würden. Dies alles sollte der Vergangenheit angehören. Es ist nicht so.Der gemeinsame Antrag „Deutschlandpolitik und KSZE", den wir zusammen mit der CDU/CSU und der FDP heute vorlegen, ist ein vernünftiger Antrag.Wir verhalten uns nicht rechthaberisch — ich möchte das betonen —, hier geht es, parteiübergreifend, um spezielle Fragen der Menschenrechte. Da sind wir und sollten wir in der Beurteilung einig sein. Die Scheingefechte und Anschuldigungen in diesen Fragen müßten eigentlich aufhören. Deswegen haben wir diesen Antrag — mit leichten Veränderungen — von Anfang an unterstützt, dessen zentraler Gedanke ist, daß die Menschen in beiden deutschen Staaten davon ausgehen, daß eine systemöffnende Zusammenarbeit, d. h. eine Politik des Dialogs, auch in Deutschland zu ganz konkreten Ergebnissen führt.
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9908 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 134. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. März 1989
Büchler
Wir gehen davon aus, daß diese Politik vor allem zu einer Verbesserung bei den Menschenrechten führt, zu mehr Grundfreiheiten in der DDR und natürlich nicht zuletzt zu einer Erleichterung von menschlichen Kontakten im geteilten Deutschland.Wir sehen in diesem gemeinsamen Antrag auch ein wichtiges politisches Signal an die DDR. Sie muß begreifen, daß die Fraktionen des Deutschen Bundestages in diesen Fragen an einem Strang ziehen, unabhängig davon, welche unterschiedlichen Meinungen über Konzepte und Einzelfragen im innerdeutschen Bereich bestehen.Nun hat es in den vergangenen Wochen nicht wenige unschöne Meldungen aus der DDR gegeben. Es gibt Hinweise auf eine bürokratische Handhabung der neuen Reiseverordnung. Gerüchte wollen von Behinderungen und Schikanen gegenüber DDR-Bürgern wissen, die Übersiedlungsanträge stellen. Und schließlich ist zweimal an der Mauer in Berlin geschossen worden — mit einem Todesfall. Die SPD hat sich zu diesen menschenverachtenden Vorgängen jeweils unmißverständlich geäußert und klargemacht, daß wir von der DDR-Führung die Umsetzung der Beschlüsse der KSZE von Wien in die praktische Politik erwarten. Das haben wir auch deshalb stets getan, weil die KSZE ein Kind unserer Entspannungspolitik war und ist, die im übrigen — wir erinnern uns noch an die großen Debatten aus diesen Jahren — von der Union damals heftigst bekämpft worden ist.Auch jetzt laviert die Bundesregierung wieder etwas, wie wir wissen. Sie war zunächst von all den Vorkommnissen nicht informiert. Dann hat sie dem Wirtschaftsminister den Besuch sozusagen untersagt. Und jetzt geht es Schritt für Schritt. Eine Absage folgt der anderen, von jeder Seite.Es erscheint uns aber gerade in der jetzigen Situation notwendig, alle Gesprächskanäle — und das ist der große Unterschied, Herr Lintner — mit der DDR bis hin zu den höchsten Ebenen zu nutzen, um jede Einflußmöglichkeit auf die DDR auszunutzen, damit keine Verhärtungen eintreten.
Der Gesprächsfaden darf nie abreißen. Sonst besteht die Gefahr, daß sich die DDR noch mehr als bisher isoliert.
Daran können auch wir langfristig politisch nicht interessiert sein. Das kann nicht zum Nutzen der Deutschlandpolitik sein.
Die Debatte über alle Probleme muß innerhalb der DDR und zwischen den beiden deutschen Staaten öffentlich und für jeden nachvollziehbar geführt werden. Das ist, glaube ich, das Wichtigste in der zukünftigen Deutschlandpolitik. Absagen ist keine Politik — ich möchte es noch einmal betonen. Herr Haussmann muß dann später fahren, und erst muß er einlösen, was er im Fernsehen angekündigt hat. Dies wird ein schwieriger Prozeß werden.
: Über innerdeutschen Handel reden?)
— Ich gebe Ihnen recht, Frau Hensel, das ist natürlich auch eine Frage. Nur, wirtschaftlicher Druck wird auch nichts nützen; denn die Geschäfte laufen ja, wie wir den Zeitungen entnehmen, sehr gut. Also, dies ist nicht die Frage, das alles hat schon einmal stattgefunden. Allein der Dialog mit der DDR, mit der Staatsführung drüben, mit der SED bringt uns weiter, alles andere führt zu nichts.
Von zentraler Bedeutung ist vielmehr, daß mehr Freizügigkeit verwirklicht wird. Die betrifft den Reiseverkehr, aber auch die Übersiedlung. Vor dem Hintergrund des Dokuments von Wien kann die DDR noch weniger als bisher begründen, daß sie gerade in diesen Bereichen hinter den internationalen Standards zurückbleibt.Wenn die neue Reise- und Übersiedlungsverordnung den Bestimmungen der KSZE nicht entspricht, müssen eben Änderungen vorgenommen werden. Das ist keine Einmischung in innere Angelegenheiten. Denn in den KSZE-Bestimmungen ist ja extra gefordert, daß jeder Teilnehmerstaat dem anderen Teilnehmerstaat sagen kann, was er nicht richtig findet. Das ist auch das wirklich Dynamische an diesem Prozeß, der mit der KSZE in Helsinki eingeleitet worden ist.Schüsse an der Grenze sind mit der KSZE selbstverständlich nicht vereinbar. Es muß von der DDR jetzt ein klares Signal gesetzt werden, daß der Schießbefehl endgültig in die Ablage „Kalter Krieg" verschwindet, wo er selbstverständlich hingehört. Wer frei reisen kann, wie die Schlußakte der KSZE es fordert, der flüchtet auch nicht. Die DDR muß sich überlegen, ob sie die Signale gegenüber ihrer Bevölkerung nicht wirklich auf diesem Gebiet setzt.Auch das politische Strafrecht der DDR steht nicht im Einklang mit der KSZE. Es muß durchforstet und den KSZE-Bestimmungen angeglichen werden.Die KSZE sieht auch mehr Rechtssicherheit im Verhältnis zwischen Staat und Bürger vor. Hier will die DDR noch im Sommer eine Verfahrensänderung bei Widersprüchen gegen Verwaltungsakte einführen. Das könnte ein erster Schritt sein, den wir begrüßen. Wir erwarten, daß es nicht bei kosmetischen Korrekturen bleibt.Was muß noch geschehen? Auf unserer Seite — auch das muß ich sagen — bedarf es einer langfristigen Perspektive in der deutsch-deutschen Politik und in den deutsch-deutschen Beziehungen. Woran es nach wie vor mangelt, ist ein schlüssiges Gesamtkonzept dieser Bundesregierung. Aber das fehlt ja nun überall. Deswegen brauchen Sie heute auch eine Sitzungsunterbrechung; das ist schon klar. Das Dilemma ist bei dieser Bundesregierung durchgängig.Wenn Ihr Generalsekretär ein umfangreiches Papier über die Menschenrechtslage in der DDR vorlegt, ist das kein Ersatz für ein Konzept in der Deutschlandpolitik. Es war eine Fleißarbeit, kurz vor der Frankfur-
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Büchler
ter Wahl bzw. der Hessenwahl insgesamt. Darauf war es ja abgestellt, und das ist das eigentlich Verwerfliche an diesem Vorhaben.
Aber es enthält maximale Forderungen, die wohl erst im Verlauf eines längeren Reformprozesses in der DDR erreichbar sind.
Insofern hat Generalsekretär Geißler wieder einmal den zweiten vor dem ersten Schritt getan.Langfristige Perspektiven brauchen vor allem die Menschen in der DDR. Es bedarf einer Politik, die von der SED auf die Menschen zugeschnitten ist, die frei von Repressionen ist. Perspektiven sind nur da möglich, wo Reformbereitschaft besteht. Es bedarf einer Öffnung der DDR nach innen und außen in wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Bereichen.Die Menschenrechte müssen schrittweise gewährleistet werden. Nur so kommen wir mit der Verwirklichung des Selbstbestimmungsrechts weiter, auch in der DDR. Das Ziel der Deutschlandpolitik ist es, daß die Menschen in der DDR eines Tages frei wählen und bestimmen können, was sie wollen.Ich mache hier noch einmal klar: Es kann uns nicht darum gehen, die DDR zu destabilisieren — da sind wir uns doch einig —, genauso wenig aber darum, die SED zu stabilisieren. Der Reformprozeß muß auch diese Partei ergreifen.Ein wichtiges Instrument zur Stärkung der Reformkräfte in der DDR ist für uns auch das Dialogpapier zwischen SPD und SED. Darin wird festgestellt, daß die Gesellschaftssysteme nichts Statisches sind. — Das ist, glaube ich, eine wichtige Sache, die in der Politik allgemein vorgegeben sein muß. — Sie stehen immer wieder vor neuen Aufgaben, die sie nur mit Flexibilität und Reformen bewältigen können. Eine offene Diskussion darüber ist also hilfreich.Natürlich muß der Systemwettbewerb weitergehen. Das ist doch keine Frage. An Hand der Erfolge und Mißerfolge, der Vorzüge und Nachteile müssen die Systeme untereinander verglichen werden. Darüber muß auch offen diskutiert werden. Wir Sozialdemokraten drängen auf die Umsetzung dieses Papiers. Es muß auch möglich sein, daß zu jedem System öffentlich, auf öffentlichen Foren kritisch Stellung genommen wird. Die Bürger müssen erfahren, was wir in der Politik zu kritisieren haben.In diesem Zusammenhang gibt es für uns Sozialdemokraten noch einen unerledigten Punkt, den wir nicht den Historikern überlassen werden, der natürlich auch andere Demokraten betrifft. Es geht um die Verfolgung von Demokraten in der DDR, insbesondere nach der Zwangsvereinigung von KPD und SPD zur SED. Im Dialogpapier wird auf den bitteren Streit hingewiesen, den Kommunisten und Sozialdemokraten seit Jahrzehnten über die Verwirklichung von Demokratie und Menschenrechten austragen. Ich appelliere an die SED, ein Signal gegenüber den zu Unrecht verfolgten Demokraten zu setzen. Viele von ihnen leiden noch heute unter den Folgen dessen, was ihnen angetan wurde. Sie erwarten auch auf Grund der KSZE-Schlußakte und auf Grund des Dialogpapiers ein entsprechendes Zeichen.Die DDR wird auch gegenüber ihrer eigenen Zeitgeschichte nicht an Glasnost vorbeikommen. Sie muß vor allem hinsichtlich ihrer eigenen Entstehungsgeschichte ehrlicher werden. Das ist, glaube ich, ein wichtiger Punkt für die zukünftige Diskussion.
In der Phase militärischer und politischer Entspannug zwischen Ost und West, die wir als die zweite Phase der Entspannungs- und Deutschlandpolitik bezeichnen, darf es nicht zu einer Verschlechterung des deutsch-deutschen Verhältnisses kommen. Stillstand bedeutet Rückschritt. Beide Seiten müssen dialogfähig bleiben, und die Kooperation muß weiter ausgebaut werden.Die zentrale Forderung der Menschen an die beiden deutschen Staaten, an ihre Regierungen lautet — machen wir uns da nichts vor — : Fortschritte im beiderseitigen Verhältnis müssen für den einzelnen erkennbar und nachvollziehbar sein.Wenn wir mit dem vorliegenden Antrag die DDR auffordern, die im abschließenden Dokument des Wiener KSZE-Folgetreffens festgehaltenen Verpflichtungen umzusetzen, müssen wir aber auch über den Tag hinaus denken. Wir müssen alle Teile des KSZE-Prozesses einfügen, auch das, was wir zu bringen haben. Das bezieht sich vor allem auf Korb I und II. Auch das wäre heute eigentlich einer Diskussion wert; denn es geht nicht nur gegen die DDR. Vielmehr müssen wir auch die Punkte der Zusammenarbeit herausfinden. Darum geht es mit Sicherheit auch.Es geht darum, daß der Reformprozeß auch in der DDR einsetzt, daß der Entspannungsprozeß zwischen Ost und West nicht durch die DDR gestört wird. Die SED kann sich eigentlich nur selbst aus der Verantwortung drängen und die Akzeptanz gegenüber ihrer eigenen Bevölkerung selbst verspielen. Sie muß den Reformprozeß vollziehen — das hat sie unterschrieben —, damit sie in ihrer eigenen Bevölkerung glaubwürdig wird.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Hoppe.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir debattieren über das Schlußdokument des KSZE-Folgetreffens, das am 19. Januar 1989 in Wien verabschiedet wurde. Wir werten und gewichten heute die Auswirkungen auf die deutsch-deutschen Beziehungen.Wenn wir gemeinsam feststellen, daß das Ergebnis außerordentlich erfolgreich und zukunftsweisend ist, dann darf man doch wahrlich sagen, daß das Jahr 1989 gut angefangen hat. Schließlich hat das Wiener Dokument den Weg für Verhandlungen über konventionelle Abrüstung frei gemacht. Es umfaßt vor allem eine Reihe von Verbesserungen im Bereich der Menschenrechte.
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9910 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 134. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. März 1989
HoppeAls ich dazu 1975, als in Helsinki die Grundlage für eine Kooperation zwischen Ost und West nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges geschaffen wurde, im Plenum des Deutschen Bundestages für meine Fraktion zu reden hatte, gab es diese Übereinstimmung, die wir heute Gott sei Dank verzeichnen können, leider noch nicht. Vielmehr gab es damals starke Vorbehalte bei der Opposition. Aber schon damals habe ich auf die Bindungswirkungen aus übernommenen Pflichten hingewiesen und gleichzeitig betont, daß die Prinzipien und erklärten Absichten noch der Konkretisierung bedürfen.Hingewiesen habe ich 1975 auch auf die Tatsache, daß sich in den Verhandlungen die Zusammenarbeit mit unseren Partnern in der Europäischen Gemeinschaft bewährt hat und daß uns die Unterstützung bei der Lösung der deutschen Probleme zugute kommen wird. Nach dem beharrlichen „Bohren dicker Bretter" und bei verbesserten Rahmenbedingungen im Ost-West-Verhältnis, die sich in den Abrüstungsvereinbarungen zwischen Washington und Moskau manifestieren, konnte 14 Jahre später Hans-Dietrich Genscher jetzt in Wien für die Bundesregierung erklären:Der erfolgreiche Abschluß des KSZE-Treffens ist ein Sieg für alle Menschen überall in Europa. Er schafft mehr Freiheit und mehr Achtung der Menschenrechte, mehr Frieden und mehr Sicherheit, mehr Zusammenarbeit und mehr Austausch auf unserem Kontinent.Der KSZE-Prozeß ist in der Tat ein wichtiges Instrument für die Herstellung einer europäischen Friedensordnung, die die legitimen Sicherheitsinteressen aller europäischen Länder berücksichtigt. Die Schlußakte von Helsinki bekräftigt den Gewaltverzicht und die territoriale Integrität aller Staaten in Europa und verbindet sie mit dem Gedanken des friedlichen Wandels und dem Selbstbestimmungsrecht der Völker. Der Prozeß bietet deshalb jetzt auch eine Perspektive für die Erfüllung des Auftrags, den uns die Präambel des Grundgesetzes mit auf den Weg gegeben hat.
Der Weg dahin kann nur über die Herstellung einer europäischen Friedensordnung führen. Hans-Dietrich Genscher hat es in seiner Rede anläßlich der Schaffermahlzeit am 10. Februar 1989 so formuliert:Was Europäer von Europäern trennt, trennt auch Deutsche von Deutschen. Was Europäer mit Europäern wieder zusammenführt, führt auch Deutsche mit Deutschen zusammen.Die Elemente der europäischen Friedensordnung und der nationalen Einheit dürfen dabei nicht gegeneinander ins Feld geführt werden; es darf auch keine künstliche Rangordnung konstruiert werden.Meine Damen und Herren, die Menschen in der DDR erwarten jetzt eine konkrete Verbesserung ihrer Situation, vor allem im Bereich der Grundfreiheiten und hier insbesondere bei der Erleichterung der menschlichen Kontakte. Es war DDR-Außenminister Fischer, der auf der feierlichen Schlußveranstaltung in Wien ausdrücklich begrüßt hat, „daß sich die Regierungen der Teilnehmerstaaten im Abschlußdokument dazu bekennen, für die Verwirklichung der Menschenrechte in der Gesamtheit der politischen, zivilen, sozialen, ökonomischen und kulturellen Rechte zu wirken".
Nun sind in den deutsch-deutschen Beziehungen in den vergangenen Jahren zweifellos Fortschritte zu verzeichnen. So ist die positive Entwicklung im deutsch-deutschen Reiseverkehr zu begrüßen, die dem gegenseitigen Verständnis und dem Zusammengehörigkeitsgefühl dient. Erfreulich ist die steigende Zahl der Städtepartnerschaften. Positive Ergebnisse sind besonders im Kulturaustausch zu verzeichnen, und zu begrüßen ist die angestrebte Aufnahme der Verhandlungen über die Sanierung der Elbe und über andere konkrete Umweltprojekte.Aber dieser positiven Entwicklung steht eine bedrückende Situation der Menschen in der DDR gegenüber. Welche Abschottungsmentalität dort tatsächlich herrscht, wird schlagartig deutlich durch die Ablösung des stellvertretenden DDR-Kultusministers Höpke, der es „gewagt" hat, die Protestadresse für den tschechoslowakischen Bürgerrechtler Havel mit zu unterschreiben.Menschenrechte und Bürgerfreiheiten werden in der DDR permanent in Frage gestellt und verletzt. Die DDR-Unterschrift in Wien war noch nicht trocken, als erneut auf Deutsche an der Grenze geschossen wurde. Trotz Helsinki, trotz Wien, trotz ihrer Unterschrift unter die internationalen Pakte der Menschenrechte schießt die DDR weiter auf Menschen, die lediglich von ihrem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch machen wollen.
Meine Damen und Herren, gerade vor diesem Hintergrund ist die Forderung der SPD nach der Auflösung der Erfassungsstelle Salzgitter grotesk.
Die DDR kann aber nicht fortfahren, sich im Lichte internationaler Konferenzen zu sonnen und zu Hause die eingegangenen Verpflichtungen mit Füßen zu treten.
Dies wird der Staatsratsvorsitzende auch zu spüren bekommen, wenn er seinen anvisierten Auftritt vor der UN-Vollversammlung im September dieses Jahres absolvieren sollte. Wie bei seinem Staatsbesuch in Madrid wird er sich auch dort herbe Kritik zur Mauer und zum Schußwaffengebrauch gefallen lassen müssen.Denn wie sieht die bittere Wirklichkeit aus? Am 5. Februar 1989 wird ein Deutscher bei dem Versuch, die DDR zu verlassen, erschossen. Angesprochen auf diesen Todesfall, erklärt Herr Honecker am 23. und am 24. Februar gegenüber Ministerpräsident Späth und Bürgermeister Voscherau: „Es gibt keinen Schießbefehl. " Die Herren Späth und Voscherau seien Fehlinformationen westlicher Medien aufgesessen.Am 14. Februar wird ein Flüchtling, der durch die Spree geschwommen und bereits am Ufer des britischen Sektors angelangt war, mit brutaler Gewalt von
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HoppeDDR-Grenzsoldaten zurückgerissen. Am 8. März kommt ein Mann bei einem Fluchtversuch mit einem Ballon in Berlin ums Leben. Am 10. März wird unter dem Kugelhagel von DDR-Grenzsoldaten ein Fluchtversuch von drei Deutschen in Berlin verhindert, einer wird verletzt. Am 11. März erklärt Herr Honecker gegenüber Ministerpräsident Rau, der ihn auf diesen Vorfall in Leipzig angesprochen hat: „Es gibt keinen Schießbefehl. " Zu dem Fluchtversuch mit dem Ballon meint Herr Honecker, Selbstmord könne man nicht verhindern.Meine Damen und Herren, keiner, der es mit den Menschenrechten ernst meint, darf diesen Zynismus hinnehmen.
Diese schwerwiegenden Vorkommnisse zerstören die Atmosphäre der Entspannung und der friedlichen Nachbarschaft. Deshalb begrüße ich ausdrücklich die Entscheidung der Minister Haussmann und Schneider, ihre Besuche in der DDR abzusagen. Die DDR muß wissen, daß eine fortgesetzte Verletzung von Menschenrechten die Entwicklung gutnachbarlicher Beziehungen unmöglich macht.Denjenigen, die die Entscheidung der Minister Haussmann und Schneider kritisieren, ist zu sagen, daß wir die Verwirklichung der Menschenrechte bei der DDR nicht durchsetzen werden, wenn wir uns auf bloße Rhetorik beschränken. Mit einer solchen Politik lassen wir die Menschen im Stich, denen wir mit unserem Eintreten für die Menschenrechte helfen wollen.
Hier gilt das Wort Herbert Wehners:Solange die Bundesregierung auf deutschem Boden die einzige Regierung ist, die frei, rechtmäßig und demokratisch gewählt ist, kann sie sich der Pflicht nicht entziehen, auch für die Deutschen zu sprechen, die ihren eigenen Willen nicht frei geltend machen können.Dabei geht es nicht um die Bevormundung unserer Landsleute, sondern darum, Deutschlandpolitik als Ausdruck der gesamtdeutschen Verantwortung zu verstehen.Meine Damen und Herren, Menschenrechtsverletzungen in der DDR berühren nicht nur uns Deutsche; sie sind Sache aller, die sich dem Frieden, der Gerechtigkeit und der Menschenwürde verpflichtet fühlen. Es geht hier wahrlich nicht um „querelles allemandes", sondern die KSZE-Teilnehmerstaaten müssen die DDR beim Wort nehmen.Solange die DDR entgegen dem Schlußdokument von Wien weiter auf Menschen schießt, das Recht auf Freizügigkeit und Ausreise als Ausnahme betrachtet, wie in der Reiseverordnung vom November geschehen, an Kontaktverboten festhält, Ausreisewillige diskriminiert, Altlasten wie den Mindestumtausch für Rentner nicht beseitigt, Journalisten bei der Arbeit behindert und die Informations- und Meinungsfreiheit unterdrückt, sind die 34 KSZE-Teilnehmerstaaten verpflichtet, diesem Verhalten, das das friedliche Zusammenleben der Menschen in Europa stört, mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln entgegenzutreten.Meine Damen und Herren, ich möchte in diesem Zusammenhang aus einem Brief zitieren, den ich kürzlich erhielt.Im Jahr 1985 durfte ich mit meiner Frau in die Bundesrepublik übersiedeln. Im September 1988 wurde mein Vater 60 Jahre alt. Meine Eltern beantragten ein Einreisevisum. Es wurde abgelehnt, obwohl ein ärztliches Schreiben beilag, das bestätigte, daß mein Vater lebensgefährlich erkrankt ist. Mein Vater starb am 9. Februar 1989. Die Einreise zur Beerdigung wurde ebenfalls verweigert.
Wir wissen ja, daß dies ein Schreiben von vielen ist, die uns täglich erreichen. Die DDR aber kann die Unruhe und Unzufriedenheit, die dann auch wieder verstärkte Ausreiseanträge produziert, nur aus der Welt schaffen, wenn sie sich für die Nöte und Wünsche der Bürger öffnet. Die Verantwortlichen in Ostberlin sind aufgerufen, den Menschen in der DDR die Einsicht zu vermitteln, daß es sich lohnt, sich in ihrer Heimat zu engagieren.
An den KSZE-Prozeß knüpfen die Menschen in Europa — besonders in den beiden Staaten in Deutschland — große Erwartungen. Diese Hoffnungen dürfen wir nicht enttäuschen.
Das Wort hat Frau Abgeordnete Hensel.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist schon sehr interessant, wie sich hier die Große Koalition in der Deutschlandpolitik vorstellt.
— Ja. Gleichzeitig aber streichen alle Redner ihre Differenzen in ihren deutschlandpolitischen Vorstellungen heraus. Es fällt ihnen offenbar sehr schwer, Gemeinsamkeiten in ihrem Antrag zu begründen.
Ich begrüße ausdrücklich, das heute hier erstmals eigentlich der Zusammenhang von Deutschlandpolitik und KSZE Gegenstand der Plenardebatte im Bundestag ist.Im Gegensatz zum vorliegenden Antrag von CDU/ CSU, FDP und SPD meinen DIE GRÜNEN jedoch nicht, daß es ausreicht, den Zusammenhang von KSZE und Deutschlandpolitik auf die Frage der Verwirklichung der KSZE-Dokumente zu den Menschenrechten durch die DDR zu beschränken. Aus diesem Grunde bedaure ich sehr — und das möchte ich an dieser Stelle sagen — , daß von keiner Partei in diesem Bundestag der Versuch unternommen wurde, die GRÜNEN in eine Debatte um einen gemeinsamen Antrag einzubeziehen.
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9912 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 134. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. März 1989
Frau HenselDies war und bleibt schlechter politischer Stil. Nichts in Europa ist politisch gegenwärtig so spannend wie die deutsche Frage. Unausgesprochen führt sie insgeheim das politische Ruder westlicher und östlicher Regierungen. Entgegen mancher Verlautbarungen sind sich Ost und West einig, daß es eine Fortentwicklung, Entspannung und Kooperation zwischen beiden Teilen Europas nur auf der Basis zweier deutscher Staaten geben kann. Ein wiedervereinigter deutscher Nationalstaat wäre nicht nur das Ende des europäischen Integrations- und Annäherungsprozesses, sondern er würde auch das Ende der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa bedeuten.Betrachten wir uns einmal Frankreich, das im Zuge der osteuropäischen und sowjetischen Reformprozesse nun auch die Ostpolitik für sich selbst entdeckt hat. Wenn Frankreich die bilateralen Kooperationsstrukturen mit der Bundesrepublik verstärkt, dann hat das auch etwas mit der Angst Frankreichs vor einem mitteleuropäischen Deutschland zu tun.
Wenn die Sowjetunion in den letzten Monaten durch offizielle Vertreter wiederholt erklären läßt, sie betrachte die feste Einbindung der Bundesrepublik in das westliche Bündnis als stabilisierendes Element einer gesamteuropäischen Entwicklung, dann bedeutet sie damit nicht nur eine Absage an die Hoffnung der deutsch-nationalen Kräfte in der CDU/CSU, die hoffen, die Sowjetunion könne vielleicht doch noch die deutsche Karte spielen, sondern sie begreift damit, daß nur ein Weststaat Bundesrepublik ihrem Projekt eines gemeinsamen europäischen Hauses bekömmlich ist.Wenn den antragstellenden Fraktionen wirklich an einem europaverträglichen Verhältnis von Deutschlandpolitik und KSZE gelegen ist, dann werden sie sich den daraus erwachsenden Konsequenzen stellen müssen.Meine Damen und Herren, wer das politische Ziel einer neuen europäischen Friedensordnung bejaht und wer will, daß im KSZE-Prozeß schließlich mit völkerrechtlichem Mandat ein ziviles und friedensfähiges Europa ohne Militärbündnisse ausgehandelt wird, der wird nicht umhin kommen, ein deutsch-deutsches Verhandlungspaket zu schnüren und zum Bestandteil des KSZE-Prozesses zu machen. Wiederholt habe ich hier im Bundestag die Eckpfeiler einer solchen deutsch-deutschen KSZE-Initiative aufgezeigt. Ich werde sie ganz kurz noch einmal darstellen.Die Bundesregierung soll sich bereit erklären, auf die Wiedervereinigung zu verzichten. Sie soll die DDR und Ost-Berlin als Hauptstadt der DDR völkerrechtlich anerkennen.
— Jedesmal haben wir die gleiche Differenz. Die DDR wiederum müßte ihre Bereitschaft erklären, West-Berlin als Bestandteil der Bundesrepublik anzuerkennen, Reisefreizügigkeit und Begegnungsfreiheit herzustellen und zu garantieren, ebenso eine feste organisatorische Perspektive für den Abriß der Berliner Mauer herzustellen und mit einem ersten und sofortigen Schritt einer Entmilitarisierung der deutsch-deutschen Grenze zu beginnen.Dieser Vorschlag versucht nicht nur, Deutschlandpolitik und KSZE in ein europaförderliches Verhältnis zu setzen, sondern begreift auch die Verantwortung der Bundesrepublik für die politische Starrheit und die Bunkermentalität in der SED-Führung. Meine Damen und Herren, Sie können doch wohl nicht ernsthaft glauben, daß die Zeit des Kalten Krieges mit einer Politik der Stärke und der aggressiven Destabilisierungsversuche gegenüber der DDR durch fast alle vorherigen Bundesregierungen ohne nachhaltige Folgen für das politische Verhalten der SED-Führung geblieben ist.Wenn der Bundeskanzler vor nicht allzu langer Zeit von seiner Obhutspflicht für alle Deutschen gesprochen hat, wenn die Erfassungsstelle in Salzgitter immer noch nach bundesdeutschem Recht Straftaten in der DDR registriert,
um die Täter am Tage X zu verurteilen, wenn in vielerlei Hinsicht der Staat DDR anders behandelt wird als alle anderen Staaten, was meinen Sie, wie stark wird das Vertrauen der DDR-Führung in eine faire Nachbarschaft mit der Bundesrepublik wachsen?Für jeden liegt doch auf der Hand, daß die Reformrisiken für die DDR auf Grund der historischen Voraussetzungen und der geographischen Lage weit höher sind als die für die anderen sozialistischen Staaten. Ohne den Verzicht der Bundesrepublik auf die Wiedervereinigung und ohne die völkerrechtliche Anerkennung der DDR ist das Einfordern von demokratischen Reformen in der DDR gerade durch die Bundestagsparteien, die ja seit 1949 die Deutschlandpolitik gestaltet haben, unglaubwürdig und doppeldeutig.Aus diesem Grunde ist auch der vorliegende Antrag der übrigen drei Fraktionen politisch ohne Bedeutung, weil er real nichts bewegen wird, auch wenn die Bundesregierung seinen Empfehlungen folgen sollte.Um nicht mißverstanden zu werden: Wir GRÜNEN haben uns immer konsequent für die Menschenrechte eingesetzt und unterstützen gerade den KSZE-Prozeß und die Umsetzung des Wiener Folgetreffens. Gerade die jünsten Entwicklungen in der DDR enthalten wieder eklatante Verstöße gegen die Menschenrechte und gegen die entsprechenden Vereinbarungen des KSZE-Prozesses.
Für keinen demokratisch eingestellten Menschen sind die Schüsse an der Mauer, die Toten und Verletzten hinnehmbar oder gar zu rechtfertigen. Wir verurteilen dies nicht nur; wir verabscheuen dies. Die Unterdrückung und soziale Stigmatisierung Andersdenkender, die zunehmende Reglementierung und Beschneidung der Evangelischen Kirche in der DDR mit ihrem gesellschaftspolitischen Engagement und das
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 134. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. März 1989 9913
Frau Henselrepressive Vorgehen der Staatsorgane gegenüber Basisgruppen und ihren Mitgliedern sind Indikatoren für einen zunehmenden menschenrechtsfeindlichen Kurs der SED.Auch die auf eine politische Krise zulaufende Ausreiseproblematik verweist auf ein gesellschaftliches Klima der Unzufriedenheit und der Trostlosigkeit. Kollektive Normierung, Mängelverwaltung und Verantwortungslosigkeit in der Wirtschaft, Entmündigung von Staats wegen und von der SED verordnet, Lüge und Schönfärberei über die Alltagswirklichkeit in der DDR werden von den Menschen in der DDR immer weniger als Preis für sichere Arbeitsplätze und soziale Sicherheit akzeptiert. Auch die DDR-Führung wird erkennen müssen, daß das Ausspielen sozialer Sicherheit gegen individuelle Freiheitsrechte nicht mehr lange durchzuhalten ist. Die Verantwortung für die wachsende Zahl von Ausreiseantragstellern und -stellerinnen liegt ausschließlich bei der SED und ist Ausdruck eines Mangels an Demokratie.Angesichts solcher Realitäten haben sich die GRÜNEN immer mit dem Anliegen pazifistischer, ökologischer und Menschenrechtsgruppen in der DDR solidarisiert. Wir haben auch gegenüber der SED immer darauf bestanden, Kontakte zu anderen politischen und gesellschaftlichen Kräften in der DDR zu unterhalten — manchmal mit dem Ergebnis eines zeitweiligen Einreiseverbotes für Politiker und Politikerinnen der GRÜNEN.Insofern haben die GRÜNEN keine Schwierigkeiten mit den Forderungen des Abschlußdokuments des Wiener KSZE-Folgetreffens, die die Umsetzung und Einhaltung der Menschenrechte und insbesondere die Gewährleistung umfassender menschlicher Kontakte festschreiben. Selbstverständlich müssen alle KSZE-Staaten, und gerade die DDR, veranlaßt werden, ihren diesbezüglichen Verpflichtungen nachzukommen.Zum vorliegenden Antrag möchte ich den Antragstellern gerne folgendes sagen: Wenn Sie demokratische Reformprozesse in der DDR wirklich wollen, dann müssen Sie, meine Damen und Herren von den anderen Fraktionen, Ihren Beitrag dazu auch leisten. Sie stehen da in der historischen Pflicht. Glauben Sie ernsthaft, daß die DDR-Führung ihr politisches und soziales System von unten nach oben umkrempeln wird unter dem Damoklesschwert nationalstaatlicher Zielsetzung und staatspolitischem Alleinvertretungsanspruch der Bundesrepublik? Das glauben Sie doch wohl nicht ernsthaft.Nicht nur die EG-Integration, der KSZE-Prozeß, auch die politischen Entwicklungsoptionen der deutsch-deutschen Beziehungen stellen Sie künftig vor wichtige Entscheidungen. Wenn Sie perspektivisch Reisefreizügigkeit und Begegnungsfreiheit für die DDR-Bürger und -Bürgerinnen wirklich wollen, dann entrümpeln Sie bitte Ihre nationale Mottenkiste.
Wenn es Ihnen wirklich um Menschenrechte geht,warum lösen Sie dann nicht die Erfassungsstelle inSalzgitter auf und folgen unserem Vorschlag, ein unabhängiges Menschenrechtsinstitut zu gründen?
Wir GRÜNEN würden es begrüßen, wenn es in nicht allzuferner Zeit Mehrheiten in diesem Bundestag gäbe, die als Ziel deutsch-deutscher Beziehungen die von mir dargelegten Zusammenhänge realisieren würden und könnten. Ihre Verwirklichung würde Automatismen nicht enthalten, sie würde auch nicht frei sein von komplizierten Entwicklungen, aber es ist die alleinige Möglichkeit, eine freie menschliche Begegnung und den europäischen Frieden zu vereinbaren.Ich danke Ihnen.
Ich erteile das Wort der Bundesministerin für innerdeutsche Beziehungen, Frau Wilms.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der vorliegende Entschließungsentwurf zeigt, daß es in einem wichtigen Bereich der deutschen Frage große Übereinstimmung unter Demokraten gibt. Ich begrüße dies sehr. Dies wird man, so denke ich, innerhalb und außerhalb der Bundesrepublik Deutschland aufmerksam zur Kenntnis nehmen. Vor allem aber gibt diese Übereinstimmung den Menschen in der DDR die Gewißheit, daß wir über ihre Probleme nicht zur Tagesordnung übergehen.
Ein zentrales Verhandlungsziel bei der Wiener KSZE-Folgekonferenz war es, der Würde des Menschen zu mehr Achtung zu verhelfen. Der große Erfolg der Wiener Verhandlungen besteht vor allem in der einvernehmlichen Feststellung, daß die individuellen Menschenrechte gegenüber den wirtschaftlichen und sozialen Menschenrechten nicht nachrangig sind, wie es von den östlichen Staaten zuvor immer wieder behauptet worden war. Man darf schon sagen, daß sich in Wien die westlichen Vorstellungen von den individuellen Menschenrechten durchgesetzt haben.Das Wiener Schlußdokument ist Berufungsgrundlage dafür, Freiheit für alle diejenigen Deutschen einzufordern, deren Freiheitsrechte noch immer in großem Maße eingeschränkt werden. Dieses Postulat gilt daher auch für diejenigen Menschen, die als deutsche Minderheiten in den Staaten Ost- und Südosteuropas leben. Sie müssen beispielsweise das Recht haben, zu uns kommen zu dürfen. Aber ihnen müßten und sollten auch die Rechte und Freiheiten gewährt werden, die ihnen ein menschenwürdiges Leben in ihrer jetzigen Heimat ermöglichen. Wir halten es nicht für natürlich, daß Bedrängte zur Ausreise als letztem Mittel greifen müssen.Für die Deutschen in der DDR enthält das Wiener Schlußdokument wegweisende und konkrete Bestimmungen, die deutlich machen, daß die tatsächliche Menschenrechtslage in der DDR hinter dem KSZE-Stand zurückbleibt. Darauf aufmerksam zu machen
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9914 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 134. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. März 1989
Bundesministerin Frau Dr. Wilmsbedeutet keine Einmischung in die inneren Angelegenheiten der DDR. Dies ist im Wiener Abschlußdokument, dem die DDR-Führung ja zugestimmt hat, ausdrücklich klargestellt worden. Die DDR-Regierung wird daher deutliche Veränderungen vornehmen müssen, wenn sie im KSZE-Prozeß vor der eigenen Bevölkerung wie vor der internationalen Offentlichkeit bestehen will.
Dies gilt auch für DDR-Gesetze, Verordnungen und die daraus resultierende Praxis, die mit dem KSZE-Standard in Übereinstimmung zu bringen sind.Ganz besonders ist für die DDR hinsichtlich des Grundrechts auf Freizügigkeit Veränderung gefordert. Ich halte es für eine überaus positive Entwicklung, daß die Regierung der DDR seit 1986 in größerem Umfange als je zuvor Besuchsreisen gerade auch jüngerer Menschen zugelassen hat. Dadurch wie auch durch vermehrte Begegnungsmöglichkeiten — z. B. im Rahmen von Städtepartnerschaften und im Rahmen des Kulturaustauschs — wird den Menschen und dem Zusammenhalt der Nation gedient.Ich hoffe und wünsche sehr, daß sich diese positive Entwicklung fortsetzt, so wie es zuletzt im Abschlußdokument anläßlich des Besuchs von Generalsekretär Honecker in Bonn 1987 gemeinsam festgelegt wurde.Nicht verhehlen möchte ich dagegen unsere Besorgnisse hinsichtlich der neuen Reiseverordnung, die zu Jahresbeginn in Kraft getreten ist. Diese Verordnung wird den Ergebnissen von Wien insoweit nicht gerecht, als sie eine Fülle von Kann-Bestimmungen enthält, dem einzelnen Bürger keinen einklagbaren Rechtsanspruch einräumt und nur einem eng begrenzten Personenkreis eingegrenzte Möglichkeiten von Westreisen in Aussicht stellt.Die absolute Zahl der Besuchsreisen in die Bundesrepublik Deutschland und nach West-Berlin scheint zwar seit Jahresbeginn in etwa der Vorjahreszahl zu entsprechen. Die derzeitige Praxis nach der neuen Reiseverordnung zeigt jedoch restriktive Veränderungen hinsichtlich der Besuchsgründe und hinsichtlich der Zusammensetzung des Kreises der Reiseberechtigten. Es widerspricht auch dem Wiener Dokument, daß Menschen, die die DDR ohne offizielle Erlaubnis verlassen haben, von ihren in der DDR wohnenden Angehörigen nicht besucht werden dürfen. Die bislang offensichtlich engherzige Anwendung der gesamten Reiseverordnung hat, wie wir ja alle wissen, in der DDR zu menschlichen Härten und zu großer Verbitterung bei den Betroffenen geführt. Wir konnten uns dieser Tage auf Grund der Fernsehaufnahmen aus Leipzig davon überzeugen.Ich frage auch: Warum müssen Bewohner der DDR, die einen Ausreiseantrag gestellt haben, mit ihren Familien immer wieder Nachteile erleiden? Wann endlich wird die DDR-Regierung das Wiener Schlußdokument ungekürzt und korrekt veröffentlichen und es allgemein zugänglich machen? Darauf warteten und warten die Menschen in der DDR bislang vergebens.Ich erinnere auch heute erneut daran, daß der Zwangsumtausch, die nicht gerade besucherfreundlichen Zoll- und Devisenvorschriften und andere Probleme weder den im Grundlagenvertrag angestrebten gutnachbarlichen Beziehungen dienen noch mit dem Wiener Schlußdokument vereinbar sind. Sie passen ebensowenig in die politische Landschaft Europas wie die immer wieder vorkommende Behinderung der journalistischen Arbeit unserer Korrespondenten in der DDR, gegen die die Bundesregierung immer wieder protestiert.Aber, meine Damen und Herren, was uns am schmerzlichsten bedrückt, ist die Tatsache, daß immer wieder Menschen an der Mauer sterben müssen.
Formale Diskussionen über die angebliche Nichtexistenz eines Schießbefehls gehen an den tragischen Ereignissen an der innerdeutschen Grenze und an der Berliner Mauer völlig vorbei. So lange, wie ein Mensch, der lediglich von seinem Menschenrecht auf Freizügigkeit Gebrauch machen will, drüben als Verbrecher gilt, sind solche formaljuristischen Diskussionen völlig abwegig.
Angesichts der jüngsten Vorfälle an der Mauer halte ich die Reiseabsagen meiner Kabinettskollegen Haussmann und Schneider für angemessen und richtig. Sie unterstreichen, daß die weitere positive Entwicklung der innerdeutschen Beziehungen, die wir unverändert wollen, nur in einem günstigen Klima gedeihen kann. Grundsätze dürfen wir aber nicht verwischen, wenn wir glaubwürdig bleiben wollen. Und zu diesen Grundsätzen gehört, daß wir gar nicht erst den Verdacht aufkommen lassen dürfen, wir wollten über Rechtsbruch und Gewalt einfach zur Tagesordnung übergehen. Auch hier ist die Gemeinsamkeit aller demokratischen Parteien gefordert.Meine Damen und Herren, wir, die Bundesregierung, sind an einer weiteren Verbesserung und an einem stärkeren Ausbau der Beziehungen zur DDR interessiert. Dies setzt aber voraus, daß die DDR politische Rahmenbedingungen schafft, die dem Geist der Wiener Schlußdokumente entsprechen, der Dokumente, die die Deutschen beiderseits der innerdeutschen Grenze mit so großen Hoffnungen erfüllen. Die Menschen in Deutschland verstehen nicht, daß man sich auf internationalen Konferenzen wie in Wien zur Freizügigkeit verpflichtet, daß aber der Versuch, von diesem Menschenrecht auch Gebrauch zu machen, für Deutsche aus der DDR zur Lebensgefahr wird. Spätestens seit Wien ist klar: Die praktische Verwirklichung der Menschenrechte ist der Maßstab, an dem die weitere Entwicklung im geteilten Deutschland und in Gesamteuropa zu messen ist.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Schmude.
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Das „Neue Deutschland" , das Zentralorgan der führenden Partei in der DDR, beschäftigt sich immer wieder in ausführlichen Beiträ-
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Dr. Schmudegen kritisch mit den Verhältnissen in der Bundesrepublik. Neuerdings bezieht es sich bei seinen Vorwürfen auch auf das KSZE-Schlußdokument von Wien. Ich begrüße das sehr, nicht weil mir Tadel Freude macht, sondern weil damit auch von seiten der DDR deutlich gemacht wird, daß die für die Menschenrechte erheblichen Zustände in dem einen deutschen Staat die Menschen in dem anderen durchaus etwas angehen.Natürlich nehmen wir Sozialdemokraten das Recht zur grenzübergreifenden Diskussion und Kritik auch nach dem Dialogpapier „Der Streit der Ideologien und die gemeinsame Sicherheit" , das Beauftragte der SPD und der SED 1987 vereinbart haben, in Anspruch. Es heißt dort:Kritik, auch in scharfer Form, darf nicht als eine „Einmischung in die inneren Angelegenheiten" der anderen Seite zurückgewiesen werden.Generalsekretär Honecker hat noch am 12. März Ministerpräsident Rau versichert, die SED bekenne sich zu dem gemeinsamen Papier mit der SPD.
Wo bleibt aber der in dem Papier vorgesehene Dialog zwischen allen gesellschaftlichen Organisationen, Institutionen, Kräften und Personen auf beiden Seiten, wo bleibt die umfassende Information mit Verbreitung von Zeitungen und anderen Druckwerken, wo bleibt die Offenheit für Besuch und Gegenbesuch, für die Teilnahme an Seminaren usw. über die Systemgrenzen hinweg?Was da in dem Papier steht, ist richtig und wertvoll. Nicht richtig ist die Praxis der DDR, die z. B. noch Anfang dieses Monats allen zu einem Seminar der Friedrich-Ebert-Stiftung in Bonn eingeladenen Gästen aus der DDR die Reiseerlaubnis verweigert hat. Wer so handelt, kommt mit Bekenntnissen zu dem Papier nicht davon; er trifft bei jeder Gelegenheit auf unsere Forderung, mit dem Inhalt des Textes auch in der Praxis ernst zu machen.
In Wien hat die DDR die uneingeschränkte Achtung des Rechts auf Ausreise versprochen. Sie erfüllt dieses Versprechen nicht. So deutlich wir erkennen, daß die letzten Zahlen der erlaubten Ausreisen verhältnismäßig hoch sind und daß es bei völliger Ausreisefreiheit Schwierigkeiten für die Versorgung der Bevölkerung in der DDR geben kann, so wenig können wir die DDR-Regierung aus ihrer Verantwortung für dieses Dilemma entlassen. Schon gar nicht ist es akzeptabel, wenn Antragsteller, wie kürzlich wieder geschehen, schon vor der Ständigen Vertretung der Bundesrepublik in Ost-Berlin abgefangen und wegen des bloßen Vorhabens der Erläuterung ihrer Ausreisebemühungen nach einem regelrechten Gummiparagraphen hart bestraft werden.Gerne, meine Damen und Herren, raten wir unseren Freunden in der DDR zu Geduld und Mäßigung, damit die weitere Entwicklung zu besseren Verhältnissen einen geregelten Gang ohne Brüche und Rückschläge nimmt. Aber dabei können wir nicht verschweigen, daß schon ein kleiner Bruchteil der den DDR-Bürgern zugemuteten Bevormundungen und Ungerechtigkeiten genügen würde, um bei uns das Temperament auch des Ruhigsten zum Bersten zu bringen.Einen Schießbefehl, sagt man uns, gebe es nicht. Entscheidend ist aber, daß gleichwohl geschossen wird.
In der Verurteilung dieser Praxis sind wir uns in der Bundesrepublik einig; in der Meinung über angemessene Reaktionen nicht. Für weit angemessener und hilfreicher als die Besuchsabsagen zweier Bundesminister halte ich das Vorgehen des Ministerpräsidenten Rau, der sogleich sein Gespräch mit Herrn Honekker genutzt hat, um den Vorgang kritisch anzusprechen.
— Jeder hat es gewußt, Herr Sauer; Sie wissen, daß es jeder wußte. —
Die Möglichkeit zum direkten Gespräch, zu Vorhaltungen und Gegenvorstellungen — da geht es, Frau Wilms, eben nicht darum, daß man über den Rechtsbruch hinweggeht, sondern um das Gegenteil — ist eine Chance, die wir früher nicht hatten. Sie intensiv zu nutzen dient den Menschenrechten und der Menschlichkeit weit mehr als der Abbruch von Kontakten und die Schimpferei aus der Distanz. Dabei hat, wie vor einigen Tagen selbst Präsident Bush betonte, auch das vertrauliche Wort zugunsten der Menschenrechte großen Wert. Wenn trotzdem der Generalsekretär der nordrhein-westfälischen CDU gegen Johannes Rau den längst abgedroschenen Vorwurf der Leisetreterei wiederholt, bedarf das eigentlich keiner Zurückweisung; es erledigt sich von selbst.
Gleiches gilt für den Versuch des CDU-Generalsekretärs Geißler, sich in der Schlußphase des hessischen Kommunalwahlkampfes an Hand einer oberflächlichen Dokumentation über Menschenrechtsverletzungen in der DDR mit schrillen Anklagen zu Gehör zu bringen und gleichzeitig die SPD mit Vorwürfen einzudecken. Der Vergleich des Grenzregimes mit dem Mordbefehl Khomeinis mag kurzfristig für Aufsehen sorgen, überzeugen kann man mit einem solchen maßlosen Angriff und Fehlgriff niemanden. Nicht einmal die eigenen Parteifreunde, bei denen Herr Geißler noch die Scharte der „Grenzen von 19XY" auszuwetzen hat, dürften davon beeindruckt sein.Die SPD hat längst gelernt, Herrn Geißlers Vorwürfe und Verdächtigungen mit Gleichmut hinzunehmen. Wir bleiben bei unserem Zweifel daran — ich betone das auch hier —, daß es noch irgendeinen Sinn macht, mit dem juristischen Instrument der Zentralen Erfassungsstelle in Salzgitter auf die DDR einwirken zu wollen. Diese Stelle ist wahrlich — ich komme auf den Sprachgebrauch unseres Antrags zurück — ein klassisches „Relikt aus der Konfliktphase", mit dem
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9916 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 134. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. März 1989
Dr. Schmudesich ungeachtet der hohen Zahlen von eingeleiteten Verfahren tatsächlich nichts ausrichten läßt.
Wer uns demgegenüber die Abschreckungswirkung einreden will, mag aus den erfaßten Zahlen selbst erkennen — hören Sie doch noch eine halbe Minute zu! —, wie wenig diese Abschreckungswirkung wert ist.
Wie sollte es auch anders sein? Auf die große Abrechnung nach der Wiedervereinigung wird sich ja wohl niemand einstellen. Daß wir einzelne Besucher hier strafrechtlich verfolgen, während deren Auftraggeber wohlgelittene Gäste unseres Staates und anderer Institutionen sind, ist ebenfalls unvorstellbar.
Nachdem wir inzwischen wohl alle begriffen haben, daß man die Lage im geteilten Deutschland nicht mit den Verfahrensinstrumenten eines amtsgerichtlichen Prozesses verbessern kann, sollten wir schließlich auch einsehen, daß uns der Staatsanwalt im deutschdeutschen Verhältnis ebenfalls nicht weiterbringt.
Politisch sind die bisherigen Verbesserungen gelungen, politisch muß gegen die menschenrechtswidrige Praxis angegangen werden. — Zynisch ist manches, was Sie hier an Doppelspiel machen, Herr Lintner. Das will ich Ihnen kurz erwidern.
Ich sage: Gegen die menschenrechtswidrige Praxis muß politisch angegangen werden. An die dabei notwendige öffentliche Bewertung und Verurteilung von Menschenrechtsverletzungen in der DDR braucht man Sozialdemokraten wahrlich nicht zu erinnern. Wir haben zwar niemals zu den Scharfmachern gehört, aber wir haben allezeit eine klare Sprache geführt.
Im Zusammenhang mit der Praxis an der Grenze ist aber auch eine kritische Frage an unsere eigene Bundesregierung zu stellen: Ist eigentlich für amtliche Stellen in der Bundesrepublik eine Informationspolitik unverzichtbar, mit der fast täglich sehr konkrete Funk- und Presseberichte über gelungene Fluchten aus der DDR gespeist werden? Sie können wie Erfolgsmeldungen wirken und über die Gefährlichkeit solcher Vorhaben täuschen. Was diese Gefährlichkeit anlangt, so sollten wir auch an die Grenztruppen denken, deren örtlich zuständigen Kommandeuren durch unsere Medien mitgeteilt wird, daß bei ihnen gerade wieder jemand durchgekommen ist. Die Reaktionen kann sich doch jeder vorstellen. Deshalb muß die Bundesregierung endlich dafür sorgen, daß diese schädliche Öffentlichkeitsarbeit aufhört.
— Es kommt doch von Stellen der Bundesregierung und von Stellen der Landesregierungen, was in den Zeitungen steht. Sie sind doch die Mitbeteiligten. Tun Sie doch nicht so, als ginge das anders.
Das Wiener Dokument vom 15. Januar 1989 enthält das Versprechen freier Betätigungsmöglichkeiten für Journalisten. 1972 haben wir als Bundesrepublik diesen Freiraum für unsere Journalisten in dem bekannten Briefwechsel mit der DDR vereinbart. Wir können es nicht hinnehmen, daß Organe der DDR sich immer wieder über diese Vereinbarungen hinwegsetzen.Schon die durch besondere Verordnung erfolgte Einengung der normalen Betätigungsmöglichkeiten für Journalisten spricht journalistischer Freiheit Hohn. Wenn dann aber Journalisten verboten wird, bei der Berichterstattung über eine Synode Kameras und anderes technisches Gerät zu benutzen, wenn sie von Sicherheitskräften angerempelt und geschlagen werden, handelt es sich um eklatante Verstöße gegen die getroffene Vereinbarung.
Kein offizieller Gesprächspartner aus der DDR hat das bisher im offenen Gespräch bestreiten können. Aber sie machen einfach weiter. Dann dürfen sie sich freilich auch nicht wundern, wenn ihre Zuverlässigkeit als Vertragspartner in Zweifel gezogen wird. Das dadurch geschürte Mißtrauen kann letztlich lästiger werden als die unbehinderte Berichterstattung, die bei freien Journalisten — so ist das nun einmal — für die Regierenden nirgends bequem ist.Schließlich: Im Wiener Dokument wird die wohlwollende Behandlung von Gesuchen auf Reisen ins Ausland für alle ohne Unterschied versprochen. Zur abschließenden Beurteilung der neuen Reiseverordnung der DDR ist es — das sage ich anders, als es hier vorher gesagt wurde — vielleicht noch etwas zu früh, zumal ja für die Zukunft — zuletzt durch Honecker gegenüber Rau — eine großzügige Auslegung angesagt ist.
Aber: Die bisherigen Enttäuschungen von Menschen, die ihre nicht blutsverwandten Angehörigen nun nicht mehr besuchen dürfen, müssen ernst genommen werden. Und dabei darf es nicht bleiben.Natürlich stellt sich in diesem Zusammenhang immer wieder die grundsätzliche Frage, weshalb man eigentlich Verwandtschaft im Westen braucht, um reisen zu dürfen. Warum dürfen sich Freunde nicht besuchen, obwohl Freundschaft doch oft sehr viel engere Beziehungen als Verwandtschaft mit sich bringt;
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 134. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. März 1989 9917
Dr. Schmudedenn, so sagte schon Tucholsky, Verwandte kann man sich nun einmal nicht aussuchen.
Warum reicht es nicht einfach, daß jemand ein zuverlässiger Bürger oder eine zuverlässige Bürgerin ist, der oder die ihre Pflichten ordentlich erfüllt, um auch das Recht zu Besuchsreisen in den Westen zu haben? Die ausschließliche Privilegierung von Verwandtschaftsbeziehungen mag als Anfang gut gemeint gewesen sein; inzwischen ist sie ein Ärgernis und ein Unrecht und außerdem ein Verstoß gegen das Wiener Schlußdokument.Wir Sozialdemokraten werden uns stets um verdichtete Beziehungen, weiterführende Verhandlungen und möglichst umfassende Gespräche mit der DDR bemühen. Offene Sprache und energisches Drängen auf die Beseitigung von Mißständen bleiben dabei für uns weiterhin selbstverständlich.Danke.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Sauer .
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! In Vertretung zweier Bundestagsausschüsse und des NATO-Parlaments hatte ich mehrmals Gelegenheit, Gespräche mit Botschaftern aus Ost und West bei der KSZE in Wien und auch in Bern zu führen. Auch mehrfache Gespräche mit den DDR-Botschaftern Peter Steglich und Professor Werner Hänisch waren erfolgreich; ich denke insbesondere an den Schüleraustausch und an die Städtepartnerschaften. Wir alle haben das Abschlußdokument von Wien begrüßt. Um so mehr sind wir über die Vorkommnisse in Ost-Berlin und auch in der DDR enttäuscht.
Der gemeinsame Antrag von CDU/CSU, SPD und FDP ist sicherlich ein Schritt in die richtige Richtung. Ich begrüße auch Ihre aktuelle Forderung, Frau Kollegin Hensel, in bezug auf die Entmilitarisierung der Grenze und auf Aufhebung des Schießbefehls. Aber Ihre anderen Gedankengänge lehnen wir ab. Wir wollen im Gegensatz zu den GRÜNEN die Wiedervereinigung in Freiheit. Ich bin sicher, daß die Mehrheit in unserem geteilten Volk das auch wünscht.
Die SED-Führung und die Führer der Pseudoparteien in Mitteldeutschland werden nach altem Strickmuster jedoch in wenigen Minuten diese heutige Debatte mit dem Hinweis verurteilen, wir würden uns erstens in die inneren Angelegenheiten der DDR einmischen und zweitens lediglich „vorgebliche" Menschenrechtsverletzungen in die Öffentlichkeit zerren.
— Die kann man wohl deutlich herauslesen.
Diese beiden Argumente weise ich schon jetzt namens der CDU/CSU-Bundestagsfraktion zurück.
Zum ersten Argument. Ich verweise darauf, daß sich die DDR und alle Teilnehmerstaaten der KSZE verpflichtet haben, ihre Gesetze und Verordnungen, ihre Praxis und ihre Politik mit den völkerrechtlichen Verpflichtungen und mit den Bestimmungen der KSZE-Dokumente in Einklang zu bringen. Das bedeutet, daß die Achtung der Menschenrechte und der Grundfreiheiten jetzt prinzipiell nicht mehr rein innere Angelegenheit des jeweiligen Staates ist. Darum wird zum Gegenstand des zukünftigen KSZE-Dialogs auch gehören, ob diese Gesetze, Verordnungen, ob die Praxis und die Politik den menschenrechtlichen Bestimmungen der KSZE-Dokumente entsprechen oder nicht.
Zum zweiten Argument. Wer die verzweifelten Rufe und die Notschreie vor der Nikolai-Kirche in der Einkaufsstraße in Leipzig am Fernsehen mitgehört und das Vorgehen der Stasis beobachtet hat, kann nicht mehr ernsthaft behaupten, wie es gegenüber Heiner Geißler der Journalist Dieter Hornung in „Stimme der DDR" zynisch formuliert hat, es handele sich doch nur um „vorgebliche" Menschenrechtsverletzungen in der neuen CDU-Dokumentation. — Das war soeben ein eigenartiges Zusammenspiel zwischen dem Hofberichterstatter Honeckers und Ihnen, Herr Schmude.
Um die SED an die von ihr eingegangenen Verpflichtungen zu erinnern, ist diese Debatte trotzdem hilfreich. Auch das Europäische Parlament in Straßburg wird beim Honecker-Besuch diese DDR-Menschenrechtsverletzungen zur Sprache bringen.
Herr Abgeordneter Sauer, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Schmude?
Wenn mir die Zeit nicht angerechnet wird, bitte schön.
Bitte schön.
Könnten Sie vielleicht einmal, da mir der Sprachgebrauch sehr bekannt vorkommt, erläutern, was Sie damit meinen, wenn Sie sagen, es handele sich um ein eigenartiges Zusammenspiel zwischen einem DDR-Journalisten und mir?
Sie haben die Dokumentation der CDU in der gleichen Tonart beurteilt wie dieser Hofberichterstatter aus der DDR.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie noch eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Schmude?
Bitte schön, Herr Schmude.
Ist Ihnen denn nicht auf gefallen, daß ich zu der Dokumentation nur gesagt habe,
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9918 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 134. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. März 1989
Dr. Schmudesie sei oberflächlich, und meinen Sie nicht, daß Sie, wenn Sie hineingucken und die paar Zeitungszitate finden, zu der gleichen Auffassung kommen?
Nein. Ich halte die Dokumentation für sehr gut, denn sie wird gerade in der Öffentlichkeit den Gegensatz zwischen den Vereinbarungen in Wien und der jetzigen Praxis drüben zeigen.
Die DDR-Führung wird doch nicht davon ausgehen können, daß die von Herrn Honecker selbst, aber auch von ihrem Verteidigungsminister Keßler ständig verbreitete Lüge draußen angenommen würde, es gäbe keinen Schießbefehl.
Die Zentrale Erfassungsstelle in Salzgitter hat allein im vergangenen Jahr insgesamt 29mal den Gebrauch der Schußwaffe und darüber hinaus 1 232 Gewaltakte registriert.
Als Abgeordneter aus Salzgitter will ich, genauso wie es dankenswerterweise der Kollege Hoppe in dieser Debatte getan hat — wenn Sie schon darauf eingehen, Frau Hensel und Herr Schmude —, das Verhalten von SPD und GRÜNEN zu dieser Erfassungsstelle einmal beleuchten. Denn diese Stelle arbeitet von hier aus, Frau Hensel, zugunsten der Menschen in Ost-Berlin und in Mitteldeutschland, und sie ist damit ein Bestandteil der Deutschlandpolitik.
Ich gehe davon aus, daß wir uns in der Auffassung einig sind, daß ohne Menschenrechte eine wirkliche und echte Entspannungspolitik nicht möglich ist.
— Nun unterbrechen Sie mich doch nicht ständig, meine Damen und Herren von den GRÜNEN; ich will meine Gedanken auch einmal zu Ende führen.
Norbert Blüm formulierte vor einigen Tagen: Menschenrechte sind unabhängig von Staaten und Systemen; sie gelten in Südafrika, in Chile, im Iran und in der DDR.
Was macht die Zentrale Erfassungsstelle? — Sie erfaßt und dokumentiert lediglich, wo, von wem und wann Menschenrechte nach den Normen der KSZE-Dokumente verletzt werden, nicht mehr und nicht weniger, Frau Hensel. Allein die Existenz dieser Stelle nimmt in positver Weise drüben Einfluß auf das Rechtsbewußtsein und verhindert dort Unrechtstaten.
— Ich will es Ihnen beweisen: Soeben freigekaufte Juristen haben uns das geschildert. Fahren Sie einmal selber in die Zentrale Erfassungsstelle nach Salzgitter, und nehmen Sie Einblick in die Briefe der soeben freigekauften Rechtsanwälte Gräf und Lange. Dann werden Sie feststellen — Sie können die Beweise dort
lesen — , dann werden Sie hören, wie die Häftlinge in den Zellen „Salzgitter" schreien, um sich von den Machenschaften des dortigen Wachpersonals zu schützen.
Die Stelle ist seinerzeit von allen hier im Hause begrüßt worden. Ich frage mich, warum die SPD, und zwar alle SPD-geführten Bundesländer, sich aus der finanziellen Verantwortung zurückziehen. Diese Erfassungsstelle in Salzgitter kostet den Steuerzahler
— hören Sie gut zu! — rund 250 000 DM im Jahr. Das dürfte das Jahreseinkommen eines mittelprächtigen Fußballspielers in unserer Bundesliga sein.
— Herr Lafontaine könnte sicherlich seinen Koch noch weiter bezahlen; denn sein Beitrag aus dem Saarland für diese Menschenrechtsstelle macht nicht einmal das halbe Monatsgehalt seines Hofkochs hier in Bonn aus.
— Genau, es geht Ihnen nicht um finanzielle Gründe, sondern um politische Gründe. Dann sage ich Ihnen beiden ganz deutlich: SPD und GRÜNE kapitulieren vor den sogenannten Geraer Forderungen der Kommunisten aus Ost-Berlin.
Meine Damen und Herren von den GRÜNEN, wer hier heute die Einhaltung der von Herrn Honecker eingegangenen Verpflichtungen in Wien mit uns gemeinsam anmahnt und auch die Menschenrechtsverletzungen mit Recht verurteilt, es aber ablehnt, diese Fakten überhaupt zu dokumentieren, der muß sich doch fragen lassen, ob er im Grunde genommen nicht eine doppelbödige politische Moral vertritt und in der Vertretung von Menschenrechten überhaupt noch glaubwürdig ist.
Nein, meine Damen und Herren, Herr Honecker soll nicht nur bei einem Sektempfang die Menschenrechtsverletzungen gegenüber westdeutschen Besuchern bedauern, sondern er soll die NVA anweisen, an der Grenze nicht mehr zu schießen. Er soll den Befehl erteilen, den Stasi mit den Spitzeln aufzulösen, und auch die Order geben, die Parteistaatsanwälte und die Parteirichter oder auch die schlagenden Wärter im „Gelben Elend" in Bautzen zur Rechenschaft zu ziehen.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Nein. — Herr Honecker sollte sehr aufmerksam beobachten, was sich
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 134. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. März 1989 9919
Sauer
derzeit dankenswerterweise insbesondere in Ungarn und hoffentlich auch in Polen verbessert. Er sollte zur Kenntnis nehmen, was der sowjetische Außenminister Schewardnadse an den Internationalen Gerichtshof in Den Haag geschrieben hat — Zitat —:Mit Rücksicht auf die Bedeutung der weiteren Entwicklung der internationalen Zusammenarbeit im humanitären Bereich wird es ratsam sein, diesen Prozeß auf dem Felde der Menschenrechte zu beginnen.Namens der CDU/CSU-Fraktion appelliere ich an Herrn Honecker, in diesem Fall den Rat seines Außenministers aus Moskau anzunehmen und danach zu handeln.
Herr Staatsminister Schäfer, Sie sind als letzter Redner eingetragen. Ich vermute, daß es dabei bleibt.
— Es kommen noch vier Minuten.
— Herr Abgeordneter Hiller, vier Minuten, damit auch die Reihenfolge wieder stimmt. Bitte sehr!
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir haben einen gemeinsamen Antrag vorliegen. Ich bedaure es eigentlich, daß zum Schluß der Debatte hier in Ihrer Rede von Gemeinsamkeit eigentlich nichts zu spüren ist.
Sie haben den Fehler gemacht — hier muß ich Sie diesmal einschließen, Herr Kollege Hoppe — , daß Sie heute über ganz andere Dinge als die gesprochen haben, die in dem Antrag bezeichnet sind.
Ich weise alle Unterstellungen von Ihnen zurück, daß Sozialdemokraten vor der SED kapitulierten.
So etwas hat es noch nie gegeben. Sie können noch so oft davon reden: Das wird es nicht geben, daß die Sozialdemokratie vor solchen Kräften kapituliert. Ich bedaure, daß das Niveau dieser Debatte so gesunken ist.
Zur Erfassungsstelle sage ich Ihnen eines: Sie übersehen immer, daß es sich hier um ein deutsch-deutsches Relikt handelt.
Im Grund genommen müßten Sie bei Ihrer Logik ein Instrument auf anderer Ebene — multilateral — schaffen, um diese deutsch-deutsche Besonderheit abzuschaffen. Es ist in der Vergangenheit wirklich nicht gelungen, durch die Erfassungsstelle etwas Humanitäres zu bewirken. Humanität und Finanzfragen haben für Sozialdemokraten nichts miteinander zu tun. Auch das sage ich Ihnen deutlich. Es geht nicht um die
Finanzen, sondern darum, daß diese Erfassungsstelle politisch überhaupt nichts bewirkt hat und auch in der Zukunft nichts bewirken wird.
Herr Abgeordneter Hiller, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Ja, gern.
Herr Abgeordneter Lintner.
Herr Kollege Hiller, sind Sie bereit, mir zuzugestehen, daß wir Beweise haben, daß die Existenz dieser Stelle sehr wohl sozusagen besänftigend auf diejenigen einwirkt,
die z. B. die Aufsicht in DDR-Gefängnissen haben, und daß auch nachgewiesen ist, daß die Existenz dieser Stelle schon dazu geführt hat, daß z. B. nicht zielgenau an der Grenze geschossen worden ist?
Herr Kollege Lintner, ich glaube, solche Beweise kann es nicht geben. Ich würde es für besser halten, wenn Sie eine Stelle hätten, um Kollegen wie den Herrn Kollegen Sauer in solchen Debatten besser zu beäugen.
Ich sage Ihnen noch eines, Herr Kollege Sauer. Sie haben einen Denkfehler gemacht. Sie sprechen hier vom Pult aus quasi zu Herrn Honecker und kritisieren, daß Politiker anderer Couleur die Gelegenheit nutzen, mit SED-Funktionären zu sprechen.
Wenn wir erst einmal so weit sind, daß wir von Podium zu Podium miteinander reden, dann sind wir genau bei dem Stand der Politik, bei dem Sie 1969 ohne Gesprächsbereitschaft in der Deutschlandpolitik gewesen sind.
Genau das müssen alle in diesem Hause letztlich verhindern.
Gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage des Abgeordnete Sauer?
Ja, bitte sehr. Vizepräsident Stücklen: Bitte.
Herr Kollege, würden Sie mir recht geben, daß die Gespräche zwischen unserer Ständigen Vertretung, also Herrn Bertele, und der DDR-Staatsführung bisher überhaupt nicht abgebrochen sind und der Vertreter der Bundesregierung dies selber auch in Ost-Berlin gesagt hat?
Ich weiß nur — insofern beantworte ich das — , daß in Leipzig, wo ich in den letzten Tagen gewesen bin, sehr viele DDR-Bürger besorgt darüber waren, daß immer mehr Gesprächskontakte zwischen der Bundesrepublik und der DDR ab-
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9920 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 134. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. März 1989
Hiller
reißen, und daß selbst in Wirtschaftskreisen auf der Messe selber wenig Verständnis für die Absage von Herrn Haussmann aufgebracht wurde. Das ist mein Eindruck.
Ich füge eines hinzu. Wenn wir den Dialog auf den politischen Ebenen wollen, dann ist das die eine Seite der Medaille. Die andere Seite der Medaille ist allerdings, daß wir Politiker die verdammte Pflicht haben, diesen Dialog auch mit den Bürgern in der DDR zu führen. Genau das ist in der Vergangenheit geschehen. Genau diesen Weg werden wir im Sinn unseres Papiers zwischen SED und SPD weiter beschreiten.Wir appellieren an die Bundesregierung und auch an die CDU/CSU, daß das, was in dem gemeinsamen Papier festgelegt worden ist, auch von ihren Vertretern den Regierungsvertretern und Parteivertretern in der DDR im Gespräch gesagt wird, ohne daß es notwendig ist, dafür ein Podium im Deutschen Bundestag zum Dialog bereitzustellen.Vielen Dank.
Ich erteile das Wort dem Herrn Staatsminister im Auswärtigen Amt, Schäfer.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Mit dem Wiener Ergebnis sieht sich die Bundesregierung in ihrem langjährigen Einsatz für den KSZE-Prozeß bestätigt, der übrigens keineswegs nur ein Dokument über die Beziehungen zwischen der Bundesrepublik und der DDR ist, sondern weiter gespannt ist. Darüber ist hier im Deutschen Bundestag bis zur Stunde noch nicht debattiert worden.Das abschließende Dokument von Wien geht in seiner Qualität und Quantität weit über die Schlußakte von Helsinki und das Madrider Dokument hinaus.
Es bedeutet einen großen Schritt vorwärts bei der Entwicklung des KSZE-Prozesses und damit der WestOst-Beziehungen in der ganzen Breite der für uns im Mittelpunkt stehenden Fragen, insbesondere in der menschlichen Dimension. Prozeß heißt schrittweiser Wandel, der das Trennende in Europa geringer werden läßt. Von der Konfrontation über eine bloße Koexistenz stellen wir heute die Weichen zu systemöffnender Kooperation und gemeinsamer Zukunftsverantwortung.Dieser Prozeß verläuft nicht geradlinig. Dabei müssen wir zur Kenntnis nehmen, daß die Umsetzung der Wiener Beschlüsse von Land zu Land verschieden ist und daß es auch Rückschläge gibt. Die Dynamik des eingeleiteten KSZE-Prozesses ist aber nicht aufzuhalten. Wer glaubt, sich dieser Entwicklung verschließen oder sie gar bremsen zu können, der verliert sein Gewicht, wenn die Weichen für neue Entwicklungen in Europa gestellt werden.Kein anderes Volk in Europa hat ein größeres Interesse an der Festigung des Friedens, an der menschlichen Dimension der Entspannung und an Schritten zur Überwindung der Teilung als die Deutschen, die auf beiden Seiten der Schnittlinie des Systems leben und dadurch besonders belastet sind.Die Bundesrepublik Deutschland und die DDR haben deshalb ein besonderes Interesse daran und eine besondere Verantwortung dafür, daß die Vitalität der KSZE erhalten bleibt und Fortschritte in allen Körben gemacht werden. Es liegt im wohlverstandenen Interesse aller Deutschen, daß in den für die Menschen besonders zentralen humanitären Fragen, bei Menschenrechten und menschlichen Kontakten also, konkrete Verbesserungen erreicht werden. Der KSZE-Prozeß hat mit dafür gesorgt, daß dies jetzt zum Anliegen aller 35 Teilnehmerstaaten geworden ist.Das Wiener abschließende Dokument gibt uns die Möglichkeit, einen großen Schritt vorwärts zu tun. Seine neuen Texte zum Schutz der Menschen- und Freiheitsrechte bringen substantielle Verbesserungen insbesondere bei Glaubens- und Gewissensfreiheit, dem Minderheitenschutz und der Freizügigkeit. Erstmals wird die Ausreisefreiheit als Menschenrecht ausdrücklich in einem KSZE-Dokument bekräftigt.
Von zentraler Bedeutung ist der Satz, daß dieses Recht die Regel, die Beschränkung dagegen die Ausnahme sein muß. Auch die Vereinbarungen über menschliche Kontakte erweitern die Berufungsgrundlagen für humanitäre Anliegen der Familienzusammenführung, für Besuchsreisen und Eheschließung beträchtlich und fassen sie konkreter. Auch hier steht an der Spitze als Grundsatz das Recht auf Ausreise und Rückkehr.Die beiden deutschen Staaten sind sich in der Erinnerung an den 1. September 1939 einig in der Verantwortung, daß von deutschem Boden nie wieder Krieg ausgehen soll. Die begonnenen Verhandlungen über konventionelle Streitkräfte in ganz Europa und über weitere vertrauens- und sicherheitsbildende Maßnahmen eröffnen eine neue Phase für unsere Bemühungen um mehr Sicherheit in Europa. Die Aussichten für substantielle Ergebnisse sind besser denn je.Das Wiener Ergebnis wäre ohne die Reformpolitik der Sowjetunion und anderer sozialistischer Staaten nicht möglich gewesen.Wichtig ist jetzt die Umsetzung des Wiener Ergebnisses in die Praxis. Für die DDR wollen wir — das hat Herr Hoppe schon gesagt — Außenminister Fischer beim Wort nehmen, der bei der Wiener Schlußveranstaltung versichert hat, daß die DDR ein verläßlicher Partner für alle ist und bleiben wird. In der Tat erwarten die anderen KSZE-Teilnehmerstaaten, daß Wortlaut und Geist der Wiener Vereinbarungen auch von der DDR respektiert werden.
Das beginnt — und darauf ist hingewiesen worden — mit der korrekten und umfassenden Veröffentlichung des Wiener Dokumentes selbst. Keiner der anderen Teilnehmerstaaten hat Verständnis dafür, daß die DDR den vereinbarten Text des Schlußdokuments der KSZE-Konferenz bisher nicht vollständig und umfassend veröffentlicht bzw. allgemein zugäng-
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Staatsminister Schäferlich gemacht hat, wie es in Wien ausdrücklich vereinbart wurde.
Ein solches Verhalten wäre ohne Beispiel in der Geschichte der KSZE. Es würde von den anderen Teilnehmerstaaten nicht hingenommen.Aber auch bei den anderen Verpflichtungen bleibt noch eine weite Lücke zwischen den vereinbarten Texten und ihrer Verwirklichung zu schließen. Das gilt vor allem für die zentrale Frage der Ausreisefreiheit. Bundesminister Genscher hat bei der Eröffnung der KSZE-Verhandlungen sehr nachdrücklich darauf hingewiesen. Wenige Wochen nach Verabschiedung des Wiener Dokuments klaffen Realität und übernommene Verpflichtungen vielfach noch weit auseinander — selbst dann, wenn es um elementare Rechte wie um das Recht der freien Meinungsäußerung oder um das Recht auf Freizügigkeit geht.Wenn Deutsche aus der DDR an der Grenze noch immer getötet oder verletzt werden, so führt das — darüber waren sich in ihren Reden hier heute alle einig — zwangsläufig zu einer Belastung der innerdeutschen Beziehungen, wie sie sich in den Absagen der Reisen hoher politischer Repräsentanten — übrigens von beiden Seiten — bereits niedergeschlagen hat. Es ist aber auch eine Belastung für den KSZE-Prozeß, über die niemand einfach zur Tagesordnung übergehen kann.Noch immer setzen jedes Jahr Hunderte von DDR-Bewohnern bei riskanten Fluchtunternehmen ihr Leben aufs Spiel. Einen Grund sehen wir darin, daß statt des Rechts auf Freizügigkeit, auch nach der neuen DDR-Verordnung vom 30. November 1988, Reisen nur in eng umgrenzten Fällen — gleichsam als eine Art besonderer Huld — zugestanden werden. Die Verordnung ist mit dem Wiener Dokument unvereinbar, ebenso unvereinbar wie die zahlreichen Diskriminierungen, denen Ausreisebewerber unterworfen werden, wie der Zwangsumtausch bei Reisen in die DDR
und die Behinderung der Arbeit westlicher Korrespondenten.
Ohne Verwirklichung der Menschenrechte gibt es keinen wirklichen Frieden.
Dieser Satz gilt in besonderem Maße für die Lage im geteilten Deutschland. Wir gehen von der Zusage aus, die Außenminister Fischer in Wien gegeben hat: die Wiener Vereinbarungen mit Leben zu erfüllen.Wirkliche Entspannung und fortschreitende Zusammenarbeit, wie wir sie in den vergangenen Jahren — und das leugnet hier ja auch niemand — zwischen den beiden deutschen Staaten in vielem durchaus erreicht haben, verlangen Fortschritte in allen Bereichen. Diese Einsicht hat sich in anderen sozialistischen Staaten bereits breite Bahn gebrochen.Die besondere Verantwortung der beiden deutschen Staaten in der und für die KSZE kann nicht selektiv wahrgenommen werden. Sie verlangt Umsetzung und Erfüllung in allen Körben, vor allem aber in der menschlichen Dimension. Dies sind wir den Menschen in Deutschland schuldig.
Meine Damen und Herren, ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der Fraktionen der CDU/CSU, SPD und FDP auf Drucksache 11/4209. Wer stimmt dafür? — Gegenprobe! — Keine Gegenstimmen. Enthaltungen? — Enthaltungen aus der Fraktion DIE GRÜNEN. Damit ist der Antrag angenommen.
Meine Damen und Herren, entsprechend einem Antrag der CDU/CSU-Fraktion unterbreche ich die Sitzung. Die Sitzung wird um 19 Uhr fortgesetzt.
Meine Damen und Herren, wir fahren in den Beratungen fort.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 19 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Börsengesetzes
— Drucksache 11/4177 —
Überweisungsvorschlag: Finanzausschuß
Rechtsausschuß
Ausschuß für Wirtschaft
Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat ist für die Beratung eine Stunde vorgesehen. Kein Widerspruch? — Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Herr Parlamentarische Staatssekretär Dr. Häfele.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Börsen leisten einen wichtigen Beitrag für die Stärke eines Finanzplatzes. Deswegen soll durch eine Verbesserung des Börsengesetzes erreicht werden, daß der Finanzplatz Deutschland im Wettbewerb mit ausländischen Finanzplätzen zusätzlich gestärkt wird.Bei uns in der Bundesrepublik Deutschland wird die volkswirtschaftliche Bedeutung von Börsen gern etwas unterschätzt. Das ist nicht in allen Ländern so: vor allem nicht in den angelsächsischen Ländern, in denen diese Bedeutung klar erkannt wird. Deutschland ist ein begehrtes Anlageland, wobei die wichtigsten Gesichtspunkte natürlich die Stabilitätspolitik und die Freizügigkeit des Kapitalverkehrs sind. Aber auch der Zustand und die Dynamik von Börsen sind für einen Finanzplatz von erheblicher Bedeutung.Die vorgeschlagenen Änderungen des Börsengesetzes sollen einige Verbesserungen bringen. Das ist nicht die große Börsenreform oder Börsenstrukturreform — in Deutschland redet man ja immer von „Struktur", „Börsenreform" genügt auch — , sondern
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Parl. Staatssekretär Dr. Häfelees sind konkrete Verbesserungen, die rasch machbar sind und die aber auch rasch vorgenommen werden sollten, um uns im internationalen Wettbewerb auf diesem Felde weiter voranzubringen. Im einzelnen werden im wesentlichen folgende Verbesserungen vorgeschlagen:Erstens. Die Einführung einer Terminbörse, wie es sie in anderen Ländern teilweise schon gibt.Zweitens. Ausländische Wertpapiere sollen einen besseren Zugang zu unseren Börsen erhalten. Dabei erfüllen wir auch eine Europäische Richtlinie.Drittens. Die Makleraufsicht soll verbessert werden, um das Vertrauen in die Börsen zu stabilisieren. Wie wichtig Vertrauen ist, haben wir in den Finanzwirren nach dem Oktober 1987 gesehen. Dieses Vertrauen soll auch durch diese Maßnahme gestärkt werden.Schließlich viertens. Es sollen Computerbörsen eingeführt werden. Die persönliche Anwesenheit ist also nicht mehr notwendig, sondern die modernen technischen Mittel sollen auch in den Dienst der Börsen gestellt werden.Es gibt darüber hinaus weitere Anregungen. Auch der Bundesrat hat bei der Einbringung des Gesetzentwurfs zusätzliche Anregungen gegeben. Wir prüfen diese natürlich. Aber es spricht doch nach einer ersten Überprüfung mehr gegen die meisten Anregungen als dafür, zumindest wegen der Eile der Zeit. Denn alle sind übereinstimmend der Meinung — auch der Bundesrat — , daß diese Verbesserung des Börsengesetzes jetzt rasch verwirklicht werden soll, daß sie möglichst noch in diesem Sommer in das Gesetzblatt kommen soll und daß die weitergehenden Anregungen in Ruhe weiterverfolgt werden sollen. Wir sind uns darüber im klaren, daß wir eine umfassendere Börsenverbesserung und Börsengesetzverbesserung in den nächsten Jahren herbeiführen müssen.Wenn wir diesen Gesetzentwurf in den nächsten Monaten rasch beschließen, dann kann es ein Beitrag dafür sein, daß die deutschen Börsen noch dynamischer werden und daß eine breitere Vermögensstreuung erleichtert wird.
Auch das ist eine Funktion der Börsen.Ich wäre dem Hohen Haus dankbar, wenn wir dieses Gesetz in den nächsten Wochen und Monaten im Deutschen Bundestag rasch verwirklichen könnten.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Wieczorek.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der Entwurf des Börsengesetzes, den wir hier heute beraten, sollte ja wohl ursprünglich — Herr Häfele, das haben Sie mir eben auch bestätigt — unter dem Stichwort Reform laufen. Nun haben wir ja Erfahrungen damit, daß dieser Regierung die Reformen nicht so recht gelingen. Deswegen haben wir es jetzt eine Nummer kleiner, und es wird schon eine neue Börsengesetznovelle angekündigt.
— Ja, vielleicht ist sie auch im ersten Moment nicht gut und später ebenfalls nicht; auch das soll vorkommen, häufiger, als man denkt.Es bleibt also abzuwarten, ob diese dann die eigentlichen Probleme der Unterentwicklung des deutschen Börsenwesens aufgreift. Hier und heute bleibt zu prüfen, ob denn der Anspruch von Herrn Stoltenberg erfüllt wird, den ich hier zitieren möchte:Mit der Novellierung des Börsengesetzes wollen wir einen wesentlichen Beitrag zur Stärkung des Finanzplatzes Deutschland leisten. Die Bedeutung des Vorhabens wird deutlich, wenn wir das zunehmende Gewicht nationaler und grenzüberschreitender Finanztransaktionen für die Entwicklung moderner Volkswirtschaften in Rechnung stellen.Die Zielsetzung verblüfft; denn Aufgabe des Finanzwesens und der Börse als Dienstleistungsbereich ist es doch wohl, die Realwirtschaft zu unterstützen. Es kann nicht das Ziel sein, Finanztransaktionen um ihrer selbst willen zu fördern. Gerade wer mit dem Finanzwesen vertraut ist, sollte selbstkritisch genug sein, zu fragen, ob der modische Trend, die Finanzsphäre immer mehr von der Realsphäre zu lösen, tatsächlich den volkswirtschaftlichen Wohlstand fördert. Die Überbetonung des Finanzsektors in Großbritannien und in den USA zu Lasten der realen Investitionen im produktiven Sektor und in der Infrastruktur sollte nachdenklich stimmen.Es ist auch zu fragen, ob denn die relative Stärke der japanischen und der bundesdeutschen Wirtschaft nicht gerade darauf beruht, daß zumindest bisher der realwirtschaftliche Sektor nicht zum Wurmfortsatz finanzwirtschaftlicher Interessen geworden ist. Mit anderen Worten: Nicht mehr Wettbewerbsfähigkeit der Börsen an sich kann das entscheidende Kriterium sein, sondern die Frage, inwieweit die Wettbewerbsfähigkeit der Volkswirtschaft durch die Börsenfunktion gestärkt wird. Daraufhin ist dieser Gesetzentwurf zu prüfen.Der zentrale Punkt ist ohne Zweifel die Einführung des Terminmarktes mit den Instrumenten Optionen und Futures. Es ist sicher wenig befriedigend, daß ein Teil dieser Transaktionen im DM-Bereich heute außerhalb der Bundesrepublik getätigt wird. Zu fragen ist aber: In welchen Bereichen des Terminmarktes gibt es ein echtes gesamtwirtschaftliches Interesse?Die Funktion von Terminmärkten besteht darin, Preisschwankungen durch das Zusammenbringen von Käufern und Verkäufern auf Termin für die jeweiligen zugrunde liegenden Geschäfte gegen eine Prämie auszugleichen. Dies geschieht einmal in den Zinsmärkten mit den sogenannten Zinsinstrumenten. Bei den sehr starken Zinsschwankungen, die sich auf Grund neuer Kommunikationsstrukturen, aber auch auf Grund der Internationalisierung der Geld- und
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 134. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. März 1989
Dr. WieczorekKapitalmärkte ergeben haben, gibt es ein verständliches Interesse daran, für Kalkulationen von Geschäften eine gewisse Stabilität zu erreichen, auch wenn dadurch die Gesamtfinanzierungskosten insgesamt steigen.Diese Steigerung gilt übrigens auch und erst recht unter volkswirtschaftlichen Gesichtspunkten; denn die Finanzierungskosten der realwirtschaftlichen Vorgänge werden durch diese zusätzlichen Preiselemente aus der Finanzierung angehoben.Da die Welt so ist, wie sie ist, wäre es aber blauäugig, diesen Bedarf zu verkennen. Ebenso blauäugig wäre es, zu verkennen, daß die Möglichkeit, Finanzierungskosten kalkulierbar zu machen, mit Sepkulationsspielräumen erkauft wird.Das Gleiche gilt für die Sicherung von Währungsrisiken. Auch hier gibt es einen genuinen Bedarf, realwirtschaftliche Transaktionen über die Absicherung zumindest des kurzfristigen Währungsrisikos kalkulierbar zu machen. Der Bedarf nach hierfür geeigneten Termininstrumenten hängt ursächlich mit dem System floatender Wechselkurse zusammen.Ich verkneife mir jedoch an dieser Stelle, die Grundsatzdiskussion über die Zweckmäßigkeit floatender Kurse zu führen. Vielleicht kommen wir irgendwann einmal ein bißchen weiter, wenn das EMS noch etwas fortentwickelt wird. Ich warte ja immer noch auf die Vorschläge dieser Regierung.Das Kriterium für die Einführung von Termininstrumenten in diesen beiden Bereichen ist nicht die Wünschbarkeit, sondern die Frage, ob sie geeignet sind, die genannten Risiken für den Entscheidungsprozeß der Unternehmen tatsächlich stabiler zu machen.Bei allen L'art-pour-l'art-Spielereien, die sich in diesen Märkten eingebürgert haben, muß per saldo doch wohl festgestellt werden, daß ähnlich wie bei den schon lange eingeführten Warenterminmärkten diese Möglichkeit eröffnet wird. Dies hat sicher — und hier liegt eine weitere Parallelität zu den Warenterminmärkten — auch damit zu tun, daß in beiden Bereichen — also dem Zinsbereich und dem Währungsbereich — eine Verankerung der abgeleiteten Instrumente in den Kassamärkten dadurch gegeben ist, daß grundsätzlich die zugrunde liegende Ware, die Devisen oder standardisierten Bonds, lieferbar sind.Anders ist die Situation auf dem Aktienmarkt. Sofern es sich um Optionen und Termingeschäfte für reale Aktien handelt, ist die Vergleichbarkeit gegeben. Es besteht jedoch der volkswirtschaftliche Unterschied, daß Aktien nicht Gegenstand der Finanzierung von Handelstransaktionen sind.Völlig losgelöst sind jedoch alle die Instrumente, die auf dem künstlichen Gut „Aktienindex" beruhen. Hier handelt es sich tatsächlich nur noch um einen Wettbetrieb — nicht um einen Wirtschaftsbetrieb —, der jeden realwirtschaftlichen Bezug vermissen läßt, der allerdings geeignet ist, die Aktienmärkte selbst und damit den langfristigen Finanzierungssektor, der etwa für die Eigenkapitalfinanzierung wichtig ist, in Unruhe zu versetzen.Das Argument, es sei nötig für institutionelle Anleger über die Aktienindexinstrumente eine Möglichkeit der Sicherung des Wertes ihres Portfolios zu eröffnen, hat den historischen Test am 19. und 20. Oktober 1987 nicht bestanden. Das Instrument hat nicht nur kläglich versagt, sondern schwere volkswirtschaftliche Störungen hervorgerufen, die zwar zunächst durch eine beispiellose Geldschöpfung zur Liquiditätssicherung an den US-Märkten durch die amerikanische Federal Reserve Bank übertüncht wurden; jedoch hat diese Liquiditätsspritze mit den Grundstein für die zu beobachtende verstärkte Inflationstendenz in den USA und die daraus folgenden Zinssteigerungen gelegt.Ein weiteres Beispiel für die Störungen aus dem Indexhandel hat sich — von der deutschen Öffentlichkeit übrigens wenig bemerkt — am 13. und 14. April des vorigen Jahres ergeben, als sich nämlich durch eine technische Änderung in dem Standard-andPoor-Index für 500 führende Werte am 13. April am folgenden Tag, dem 14. April, massive Kursverluste und -schwankungen in den Kassamärkten ergaben.Aus diesen Gründen möchte ich hier eindeutig feststellen, daß wir der Einrichtung eines Index-Marktes ablehnend gegenüberstehen.Es ist übrigens auch kein Zufall, daß dieser Markt, wo er existiert, intern auch von früher begeisterten Anhängern kritisch bewertet wird und daß das Volumen zum Teil um über 40 % seit dem Oktober 1987 zurückgegangen ist.Es finden sich auch wenig Vertreter der sogenannten institutionellen Anleger, die in privaten Gesprächen Interesse an diesen Märkten zeigen. Geradezu verräterisch ist es denn auch, wenn die deutschen Propagandisten des Indexhandels jetzt auch die Forderung erheben, man möge Gesetzesänderungen vornehmen, die die aus bitteren Erfahrungen resultierenden und zum Schutz z. B. der Versicherungsnehmer eingeführten Anlagevorschriften und Auflagen wieder aufheben sollen.Zweifel sind auch angebracht, ob auf der schmalen Basis des deutschen Aktienhandels ein solches Instrument überhaupt funktioniert, gibt es doch nur wenige Aktien, die tatsächlich Publikumscharakter haben.Anzumerken bleibt außerdem, daß ein erheblicher Teil dieses Aktienhandels außerhalb der Börse, im außerbörslichen Handel oder gar durch den Selbsteintritt der Banken, vollzogen wird. Damit die Größenordnungen hier klar sind: Die Schätzung lautet, daß 50 % des Aktienhandels in der Bundesrepublik außerhalb der Börse getätigt werden. Gerade hierdurch werden zusätzliche Spekualtions- und Manipulationsmöglichkeiten herausgefordert, die das Störpotential für die Kassamärkte noch weiter erhöhen.In diesem Zusammenhang möchte ich auf einen weiteren Punkt des Gesetzesentwurfes eingehen, nämlich auf die Regelung der Börsenzeiten. Auch in den akzeptablen Bereichen des Terminhandels ist das sehr weitgehende Auseinanderfallen der Börsenzeiten an den Präsenzbörsen und den computerisierten Terminbörsen nicht akzeptabel, da hierdurch die große Gefahr besteht, daß die Präsenzbörse um so
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Dr. Wieczorekmehr ein Anhängsel der Terminbörse wird. Der umgekehrte Zusammenhang wäre jedoch der sinnvollere.Die Computerbörse an sich kann Sinn machen. Das vorgesehene Mischsystem wirft jedoch mehr Probleme auf, als wünschbar ist. Dies gilt erst recht, wenn man die vorgesehene Neuregelung der Börsenaufsicht betrachtet. Sie bezieht sich ja nicht nur auf die Makler, sondern sie hat ja Auswirkungen auf das gesamte System. Denn dies ist — wie ich es bewerte — der Situation kaum angemessen. Entweder entscheidet man sich für eine Börsenaufsicht nach dem Beispiel der SEC oder für eine Selbstregulierung, die dann allerdings anderer Korsettstangen bedarf als die bisher vorgesehenen Regelungen. Es muß ja nicht so weit gehen wie die Bürokratie der englischen Selbstaufsicht, aber es ist sicherlich unbefriedigend, was jetzt an spärlichen Resten von der öffentlich-rechtlichen Börsenaufsicht übrigbleibt.Bei der Dominanz, die der Gesetzentwurf und die vorgesehenen Pläne zur Errichtung der Terminbörse den Banken zuweisen, ist es nicht eine Frage von bösem oder gutem Willen, sondern eine Frage der notwendigen Kontrolle, die Börsenaufsicht selbständig und unabhängig von den das Börsengeschäft bestimmenden Geschäftsinteressen zu machen.Angesprochen werden muß in diesem Zusammenhang auch die regionale Struktur der Börsen in der Bundesrepublik. Hierzu hat sich der Bundesrat ausführlich geäußert. Aus meiner Sicht läßt der Gesetzentwurf völlig offen, was denn die Rolle der Regionalbörsen sein sollte. Ich kann z. B. nicht erkennen, wie sie etwa in ihrer Funktion, Regionalwerte zu fördern, durch diesen Gesetzentwurf gestärkt werden.Damit komme ich zu dem, was in diesem Gesetzentwurf fehlt, was aber zur Stärkung der Funktionsfähigkeit der deutschen Börsen u. a. notwendig wäre. Die deutsche Börse leidet z. B. darunter, daß, wie schon erwähnt, viele Geschäfte gar nicht über sie abgewikkelt werden und sich dieses Volumen — 50 % bei Aktien; die Schätzung für Renten lautet 80 % — in den wichtigen Marktinformationen Kurs und Gesamtumsatz eines Papiers nicht niederschlägt.Ein zweiter Punkt ist die Dominanz des Börsenwesens durch die Universalbanken, deren Kreditgeschäftsinteressen notwendigerweise — das ist gar kein böser Wille — zum Teil in Konflikt mit den Interessen der Wertpapierkunden und des eigenen Wertpapiergeschäfts liegen. Eine echte Börsenreform müßte sich daher der Frage annehmen, inwieweit Wertpapierfirmen stärkere Chancen im Markt finden, oder zumindest, inwieweit der Wertpapierzweig der Universalbanken stärker von den sonstigen Bankgeschäften getrennt werden könnte.Ein nicht unwesentlicher Punkt ist hierbei mit Sicherheit auch die Beteiligung von Banken an Nicht-Banken, die unter wettbewerbsrechtlichen, machtpolitischen, aber auch unter den hier anzusprechenden Börsengesichtspunkten zu kritisieren ist.Ein weiterer wesentlicher Punkt ist die Regelung des Problems des Insiderhandels. Hier besteht im Ausland, aber zunehmend auch bei deutschen Wertpapierkunden erheblicher Zweifel an der Wirksamkeit der immer wieder so vehement verteidigten Selbstverpflichtungsregelung in der Bundesrepublik. Der jetzt gerichtsanhängige Fall Klöckner ist ein schlagendes Beispiel für diesen Punkt, allerdings nicht nur für diesen, sondern auch für den soeben angesprochenen Punkt der Beteiligung von Banken an Nicht-Banken und der Vermischung von Geschäftsinteressen auf dem Wertpapiersektor mit den Geschäftsinteressen auf dem Kreditsektor.Auf all diese Punkte bleibt der vorliegende Gesetzentwurf eine Antwort schuldig. Bei dem Zustand, in dem sich diese Regierung befindet — wir haben ja heute mit der mehrfachen Verschiebung dieser Debatte darunter gelitten — , besteht wohl auch wenig Hoffnung, daß die angekündigte weitere Novelle hier durchgreifende Reformen schaffen wird. Per saldo wird dieser Entwurf den obengenannten Intentionen von Herrn Stoltenberg wohl kaum gerecht. Es wird unsere Aufgabe in den Ausschußberatungen sein, auch in den akzeptablen Teilen der neuen Terminbörse weitere Sicherungen einzubauen. Dazu wird auch eine bessere Regelung des Anlegerschutzes zählen müssen, denn die jetzt vorgesehene Freizeichnungsregelung durch Vorlage eines „Aufklärungsblattes" an die Privatkunden dürfte wohl kaum genügen.Ich danke Ihnen.
Das Wort hat Herr Abgeordneter Dr. Fell.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir von der CDU/CSU-Fraktion begrüßen dieses Vorhaben uneingeschränkt. Wir haben das schon durch unseren finanzpolitischen Sprecher, Herrn Glos, am 28. Juli gemeinsam mit dem finanzpolitischen Sprecher der FDP, Herrn Dr. Solms, getan. Wir haben schon damals auf Grund der Informationen und der Erkenntnisse, die wir beim Besuch der angelsächsischen Börsen in London, Toronto, Chicago und New York gewonnen haben, gesagt: Wir brauchen dies. Wir brauchen dies für die Stärkung der Funktionsfähigkeit des Finanzplatzes Deutschland, und wir brauchen dies, um im internationalen Konzert — letztlich auch gegenüber Tokio — mithalten zu können und zu verhindern, daß sich die großen Kapitaltransaktionen außerhalb der Börsenmärkte der Bundesrepublik abspielen und wir damit von wesentlichen Vorgängen und Geschäftsvorfällen ausgeschlossen werden.Wir als CDU/CSU-Fraktion sagen auch ja zu den fünf wesentlichen Elementen, die Herr Staatssekretär Dr. Häfele eben aufgeführt hat, zunächst zur Einführung der Terminbörse und zur Sicherung der Position der Kurs- und Freimakler; über die Details kann man sicherlich noch reden, speziell was die Aufsichtsfrage anlangt. Weiter sagen wir ja zu der Möglichkeit, ausländische Papiere bei uns zu notieren, damit nicht nur auf dem umgekehrten Wege gearbeitet wird, nämlich daß deutsche Titel an der Londoner Börse oder anderswo gehandelt werden können, während hier bei uns an den Börsen ein Zugang zu ausländischen Titeln nicht besteht. In diesem Zusammenhang sagen wir ja zu dem vereinfachten Zulassungsverfahren für
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Dr. Fellsolche ausländischen Papiere, damit sich das Börsengeschehen möglichst unbehindert abspielen kann. Schließlich sagen wir erst recht ja zur Möglichkeit der Computerbörse; denn das ist das technische Instrument, mit dem nunmehr weltweit operiert wird und operiert werden können muß. Wenn wir uns schon auf die 24-Stunden-Börse zubewegen — und das ergibt sich auch aus den Zeitdifferenzen rund um den Globus — , dann ist dieses Instrument am besten geeignet, zu verhindern, daß auf Grund der auseinanderfallenden Öffnungszeiten der Börsen zusätzliche nachteilige Spekulationsgeschäfte möglich sind.Wir werden bei der Beratung sicherlich die Frage genauer beleuchten müssen — und wollen das — , ob der Börsenbegriff im Gesetz eindeutig genug definiert ist. Wir werden sicherlich genauer hinschauen, wie das Nebeneinander von Präsenzbörse heutiger Prägung und künftiger Computerbörse geregelt werden muß. Aber wir sagen ausdrücklich ja zu dem, was mit der Börsennotierung und dem Börsenhandel von neuen Finanzinstrumenten möglich gemacht wird. Wir brauchen bei uns genauso die Möglichkeit, in Futures und anderen Instrumenten zu handeln, wie sie in anderen Teilen der Welt besteht.Herr Kollege Wieczorek, ich glaube, wir sollten gerade begrüßen, daß der § 58 in seiner vorgeschlagenen Formulierung flexibel und offen genug für unterschiedliche Gestaltungsmöglichkeiten ist; denn wir führen damit auch die Praktiker, diejenigen, die mit diesen Instrumenten umzugehen haben, in die Verantwortung hinein, uns aufzuzeigen, welchen Weg man gehen kann und gehen will.Daß wir bei diesem Teil der Börsenrechtsreform nicht d a s große Reformwerk für die Strukturreform vorgelegt haben, hat nie jemand verschwiegen. Daß Sie deswegen sagen: „Ich weiß nicht, ist das eigentlich eine Reform?", überrascht mich; denn wir waren uns — auch bei der Börseninformationsreise — darin einig, daß wir diesen Teil so schnell wie möglich brauchen. Wir brauchen ihn deshalb so schnell wie möglich, weil die Terminbörse für den freien Kapitalverkehr im EG-Binnenmarkt einfach mit eine ganz wesentliche Voraussetzung dafür ist, daß das Ganze funktionieren kann.Die Fragen der Insider-Regelung und die Frage, wie das mit den Interessen der Kreditbanken usw. aussieht, sind Fragen, die wir getrost auf die große Strukturreform vertagen können. Dazu müssen wir uns auch Zeit nehmen; das hat nie jemand bestritten.Daß wir im übrigen für diese Terminbörse einen Bedarf haben, weil wir bei den floatenden Währungskursen nun einmal darauf angewiesen sind, Risikoabgrenzungen vornehmen zu können, die bis jetzt gefehlt haben, kann doch ernsthaft niemand bestreiten. Wenn wir schon die Weltwährungsorganisation so haben, wie sie ist, müssen wir auch die Instrumente zur Verfügung stellen, die den von floatenden Kursen, von Wechselkursrisiken Betroffenen die Möglichkeit geben, sich dagegen abzusichern.
Das, was Sie, bezogen auf den Crash im Oktober 1987, zu den Indexgeschäften beipielsweise in New York gesagt haben, ist — auf den Index bezogen — natürlich richtig. Der Rückgang der Indexgeschäfte signalisiert ja auch, daß der Markt darauf reagiert. Das andere Problem aber, das in New York bestanden hat — das wissen Sie —, war die Frage der verzögerten Abwicklung und daß sich aus der verzögerten Abwicklung getätigter Geschäfte Risiken zusätzlich aufgebaut haben. Wir in der Bundesrepublik haben kürzere Abwicklungsfristen; dieses Problem taucht bei uns nicht auf.Mir ist ein anderer Punkt wesentlich, und auf den möchte ich noch etwas genauer eingehen. Sie haben gesagt, der Verbraucher-, der Benutzerschutz steht zur Debatte. Man könnte ja sagen: Wir führen die Terminbörse ein, und jeder kann sich beteiligen, ohne zu wissen, welche Risiken er eingeht, und er wird dann plötzlich finanziell „gefangengenommen". Wir haben im neuen § 53 Abs. 2 des Börsengesetzes die Regelung, daß neben den Kaufleuten, die schon immer termingeschäftsfähig waren, künftig jemand kraft Information termingeschäftsfähig wird, wenn ihm — notwendige — Aufklärung über die Risiken des Geschäfts und dem, was sich dabei zusätzlich ergeben kann, gegeben wird. Ich will die Punkte hier nicht vorlesen; wir kennen sie alle aus dem Gesetzestext. Wesentlich erscheint mir aber, daß dann, wenn die rechtzeitige und richtige Information nicht nachgewiesen werden kann, dies zu Lasten des termingeschäftsfähigen Partners geht. Mit dieser Beweislastverteilung ist genau sichergestellt, daß da auch keine krummen Touren gedreht werden können.Insgesamt, meine Damen und Herren, sage ich für die CDU/CSU-Fraktion noch einmal: Wir begrüßen das, denn damit schaffen wir den internationalen Anschluß, den wir für uns brauchen. Wir schaffen grenzüberschreitende Geschäftsmöglichkeiten, ohne daß es dabei Gültigkeitsprobleme gibt. Ich füge offen hinzu, daß uns die zweite Aufgabe noch bleibt, nämlich die Börsenumsatzsteuer und die Gesellschaftsteuer. Wenn wir mehr private Anleger an die Börse holen wollen, dann müssen wir auch mit dem Blick auf die mit dem Geschäft verbundenen Kosten darüber nachdenken, wie wir das machen.Wir sagen ja zu diesem Gesetzentwurf. Wir sichern zu, unsererseits an einer schnellen Beratung und Verabschiedung mitzuwirken, damit das Ganze rechtzeitig vor der Jahreswende, rechtzeitig vor dem, was uns aus dem freien Kapitalverkehr im EG-Markt bevorsteht, dafür als Handhabe, als Instrument verfügbar ist.Vielen Dank.
Das Wort hat Frau Abgeordnete Frieß.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe Freundinnen und Freunde! Die Banken und Versicherungen wollen sich wieder eine neue Spielwiese erschließen: die Terminbörse. Interessant ist dabei, daß die Planung der deutschen Terminbörse schon abgeschlossen ist und die Bundestagsabgeordneten diese im nachhinein abzusegnen haben. Deutlich wird dies daran, daß bereits im Sommer 1988 eine umfangreiche Broschüre mit dem Titel
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9926 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 134. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. März 1989
Frau Frieß„Die deutsche Terminbörse im Überblick" verschickt wurde. Von einer Änderung des Börsengesetzes bzw. der Zustimmung des Landes Hessen ist darin keine Rede. Anscheinend betrachten die Herren Banker diese Zustimmung als eine Selbstverständlichkeit.
— Weniger. —
Nebenbei sei hier auch noch auf die personelle Verfilzung hingewiesen. Der so neutral erscheinende Aufsichtsratsvorsitzende der Terminbörse, Dr. Rolf Breuer, sitzt gleichzeitig auch im Aufsichtsrat der Deutschen Bank.
— Im Vorstand.
Im Dezember 1989 soll also diese deutsche Terminbörse eröffnet werden, und heute steht die gesetzliche Absicherung zur Debatte. Unserer Meinung nach wäre hier erst einmal einiges zu klären. Die Finanzrisiken dieser Terminbörse sind in dem Gesetz überhaupt nicht ersichtlich, ja, überhaupt nicht erwähnt. Interessant ist das, weil hier ein Gesetz mit einem Eiltempo und einer Lockerheit durchgezogen werden soll, ohne daß die Finanzrisiken beachtet werden.
Weiter stellt sich die Frage, ob die Terminbörse nicht sowieso ein interner Klüngel ist, in dem eine Handvoll Banker ihre eigenen Wertpapiere und die Wertpapiere von ihnen nahestehenden Unternehmen handeln. Das ist besonders spannend, da ja allen bekannt ist, daß diese Banker schon jetzt den Löwenanteil an Wertpapieren bei sich deponieren.
Des weiteren würden wir auch gern wissen, warum die Terminbörse als GmbH und nicht als öffentlich-rechtliche Einrichtung geplant ist; denn wenn hier Milliarden von Risiken verscherbelt werden, macht es uns äußerst mißtrauisch, daß dies in der Rechtsform eines Mittelstandsbetriebs passiert.Auch die Regelung einer Börsenaufsicht ist nicht von Interesse. Der Gesetzentwurf erwähnt wohl die Notwendigkeit des Ausbaus der Börsenaufsicht, plant dafür aber überhaupt keine Gelder ein. Wohl wird die Aufsicht dem Land Hessen zugeschrieben, doch der zuständige Minister gibt diese wieder in die Hände der Banker zurück — nach dem Motto „Vertrauen bringt Vertrauen" . Die sogenannte Börsenaufsicht wird somit vollends ad absurdum geführt.
Nebenbei sei auch noch auf die „so repräsentative" Besetzung der Organe der Terminbörse verwiesen. Alle Ausschüsse, deren Besetzung bisher bekannt ist— der Lenkungsausschuß, die Geschäftsführung derTerminbörse GmbH etc. —, sind ausschließlich mit Männern besetzt. Auch eine Vertretung der Verbraucherinneninteressen ist nicht vorgesehen.
Und zum Schluß noch ein weiterer wichtiger Aspekt: Bekanntlich können — gerade im Kapitalismus — Geldangelegenheiten nur funktionieren, wenn Öffentlichkeit gewährleistet ist. Die Öffentlichkeit wird über diese Terminbörse so gut wie gar nicht informiert. Lediglich eine kleine Fachöffentlichkeit von „Insidern" unterhält sich über Spezialfragen
— können Sie bitte ein bißchen ruhiger sein? — , von denen die meisten Menschen nichts verstehen sollen.
— Frau Präsidentin, könnten Sie bitte für Ruhe sorgen?
Die Börse soll angeblich einer „breiten Öffentlichkeit" nahegebracht werden. Davon ist hier nichts zu merken. Ich denke, das ist auch nicht im Interesse von Banken und Bundesregierung.Zum Schluß noch ein Zitat: Die kapitalistische Gesellschaft produziert — so Karl Marx —
„eine neue Finanzaristokratie, eine neue Sorte Parasiten in Gestalt von Projektemachern, Gründern und postnominellen Direktoren, ein ganzes System des Schwindels und Betrugs mit Bezug auf Gründungen, Aktienausgabe und Aktienhandel. "
Das Wort hat der Abgeordnete Gattermann.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es soll gelegentlich in Wahlkämpfen usw. Schwierigkeiten für Politiker geben, wenn sie dabei ertappt werden, daß sie zitieren, ohne Zitate kenntlich gemacht zu haben. Das ist dann Diebstahl geistigen Eigentums oder so etwas Ähnliches.Deshalb fühle ich mich verpflichtet, Ihnen mitzuteilen, daß ich hier für die FDP-Fraktion den Redetext meines Kollegen Dr. Solms vortrage.
Ich halte dies deswegen für notwendig, weil dieser Redetext bereits im Pressedienst meiner Fraktion unter seinem Namen herausgegeben worden ist. Sonst hätte ich es vielleicht fahrlässig in Kauf genommen, die klugen Ausführungen hier auf meine Fahne zu nehmen.
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 134. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. März 1989 9927
Gattermann— Er hatte ja immerhin einen gleichgesinnten Freund, der die eigenen ökonomischen Probleme lösen half, wenn ich recht informiert bin.Meine Damen und Herren, die Weiterentwicklung des Finanzplatzes Bundesrepublik Deutschland ist ein in der Fachwelt gegenwärtig heiß diskutiertes Thema.
Denn wir stehen kurz vor der Verwirklichung des gemeinsamen Binnenmarktes in Europa ohne nationale Grenzen. — Zitat Ende.Herr Kollege Wieczorek, ich teile Ihre Besorgnis über das immer intensivere Auseinanderdriften der Finanzmärkte und der Realmärkte. Wenn die gesamte Weltdienstleistungs- und -warenproduktion mit dem Finanzumsatz von etwa drei Wochen eines Jahres zu finanzieren ist, dann ist das schon eine Grenze, wo man aufpassen muß, daß das Ganze nicht zum Gambling wird.
Insofern werden wir die Dinge im Ausschuß sorgfältig beraten.
Zitat Fortsetzung: Meist wird in den Zeitungen und Magazinen gemahnt, wir müßten sehr schnell handeln, wenn nicht der bundesdeutsche Finanzplatz hinterherhinken solle. Er müsse den Stellenwert erhalten, der dem Gewicht der deutschen Wirtschaft auf den Weltmärkten und der internationalen Bedeutung der D-Mark entspreche. Der Wettbewerbsdruck werde ohnehin zusätzlich verschärft durch die zunehmende Internationalisierung und Computerisierung des weltweiten Finanzgeschehens.Andere Länder rüsten schon — das ist in der Tat richtig — , um für die erhöhten Anforderungen gewappnet zu sein. Fast alle wichtigen Finanzzentren haben verstärkte Anstrengungen unternommen, ihre Wettbewerbspositionen auszubauen, z. B. London, Paris, Amsterdam, Zürich. Aber nicht nur international, sondern auch national gibt es einen Wettbewerb der Handelssysteme, insbesondere zwischen Börsen-und Interbankenhandel. Auch auf diesem Gebiet können die Börsen auf Dauer nur bestehen, wenn sie ein entsprechendes Leistungsangebot haben.Die Bundesrepublik war bisher in ihren Vorbereitungen etwas zögerlich. Das liegt sicher auch am föderalen Aufbau unseres Landes. Die Bundesrepublik hat jedoch gute Voraussetzungen. Sie hat eine stabile Währung, sie hat freiheitliche Kapitalmärkte, offene Grenzen für Waren, Dienstleistungen und Kapital und die D-Mark als eine begehrte Anlage- und fast offizielle Reservewährung.Meine Damen und Herren, dennoch besteht Einigkeit darüber, daß die deutschen Bank- und Börsenstrukturen weiterentwickelt werden müssen, ohne Bewährtes in Frage zu stellen. Auch der Gesetzgeber ist gefordert, die Attraktivität des Finanzplatzes Deutschland zu sichern. Wichtigste Maßnahme der heute zu beratenden Börsengesetznovelle ist die Einführung einer Termin- und Optionsbörse. Bislang fehlen an den deutschen Börsen ausreichende Möglichkeiten für die Absicherung von Währungs-, Kursund Zinsrisiken im Zeitablauf. Ein Börsenplatz braucht ein hochentwickeltes Instrumentarium für Termingeschäfte.Einer spürbaren Ausweitung der Börsentermingeschäfte stehen die Vorschriften des BGB über den Differenz- und Termineinwand im Wege. Durch eine Novellierung der Börsenordnung soll auch Privaten die uneingeschränkte Geschäftsfähigkeit für Börsentermingeschäfte eingeräumt werden, wenn sie — hier haben Sie offensichtlich Bedenken, Herr Kollege Wieczorek — über die Risiken derartiger Geschäfte eingehend aufgeklärt wurden. Das entspricht einer modernen Konzeption des Verbraucherschutzes und stellt einen vernünftigen Kompromiß zwischen den börsenrechtlichen Erfordernissen und dem notwendigen Anlegerschutz dar. Im Hinblick auf den Anlegerschutz kommt den Börsenteilnehmern allerdings eine besondere Verantwortung zu.Weitere Inhalte der vorliegenden Novelle sind die Anpassung des Börsenbegriffs, keine Erweiterung der Staatsaufsicht zu Lasten der Selbstverwaltung der Börsen und die verbesserte Aufsicht über die Makler. Wir werden diese Vorschläge sehr sorgfältig und eingehend beraten.Es muß im einzelnen geprüft werden, welchen Forderungen des Bundesrates man Rechnung tragen kann. Dem Bundesrat geht es letztlich darum, die regionalen Börsen zu stärken. Das ist aus der Sicht der betroffenen Länder verständlich. Man muß dabei aber bedenken, daß die meisten ausländischen Anleger nur den Finanzplatz Deutschland sehen, und das ist nicht Hannover, nicht Bremen, nicht Berlin oder einer der einzelnen Börsenplätze, sondern das ist das Finanzgeschehen in der gesamten Republik zusammengenommen.
Wir können die Augen nicht davor verschließen, daß für die überwiegende Zahl der Ausländer der Finanzplatz Bundesrepublik Deutschland identisch ist mit dem Finanzplatz Frankfurt; ich hoffe, das bleibt auch so nach dem 12. März.
Aus meiner Sicht ist es daher kurzsichtig, den Finanzplatz Frankfurt klein halten zu wollen. — Wie wäre das auch möglich, da er nicht klein ist? Man müßte ihn dann stutzen — Entschuldigung, das war kein Zitat; ich sage das, damit der Kollege Solms nicht in einen falschen Verdacht gerät. — Meine Damen und Herren, das kann sich nur negativ für die Bundesrepublik insgesamt auswirken.Das vom Bundesrat geforderte Heimatbörsenprinzip ist zwar entschärft, da es nicht als Zwang formuliert ist, jedoch bleibt es auch in dieser milden Form eine Bevorzugung der Heimatbörse. Im Zeichen einer Europäisierung und Globalisierung der Finanzmärkte stellt es eine etwas provinzielle Abschottung dar. Zudem kommt es zu kaum verständlichen Wettbewerbsverzerrungen, da die Unternehmen, welche in den
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9928 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 134. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. März 1989
Gattermanndrei Bundesländern ansässig sind, die keine regionale Börse haben, frei wählen können.Die Initiative des Bundesrates zur Abschaffung der Börsenumsatzsteuer und der Gesellschaftsteuer begrüße ich für meine Fraktion ausdrücklich.
Der Vorschlag des Bundesrates, diese Regelung zum 1. Januar 1993 in Kraft treten zu lassen, scheint einen vernünftigen Kompromiß darzustellen. Sie wissen, der Bundesfinanzminister glaubt aus gewichtigen Gründen, einstweilen auf die Einnahmen aus diesen beiden Steuern nicht verzichten zu können.
Mit Verwirklichung des europäischen Binnenmarktes muß aber dieses ärgste Hindernis für den Börsenplatz Bundesrepublik Deutschland fallen. Es wird schon heute von vielen Spöttern als „Subvention für den britischen Haushalt" — er hat es, wie wir wissen, angesichts seiner Haushaltsüberschüsse nicht nötig — bezeichnet.Wenn wir schon dabei sind, mit der Börsennovelle den Finanzplatz zu stärken, dann sollte man auch nicht den § 795 BGB vergessen. Die Genehmigungspflicht für die Ausgabe von Inhaberschuldverschreibungen nach § 795 BGB ist ein Kapitalmarkthemmnis. Sie hat zur Wirkung, daß bereits mittelständische Unternehmen auf den flexibleren Euromarkt ausweichen, um Anleihen aufzulegen und auf diese Weise ihren Kapitalbedarf zu decken. Deshalb ist es höchste Zeit, den § 795 BGB ersatzlos abzuschaffen. Für den Qualitätsstandard und den Anlegerschutz ist damit keine Einbuße verbunden. Wir empfehlen der Bundesregierung sehr, dies nicht mit anderen Dingen zu befrachten, die die Durchsetzung der Reform erschweren oder sie auf den Sankt-Nimmerleins-Tag verschieben.Die Voraussetzungen für die Schaffung der deutschen Terminbörse müssen möglichst rasch auf den Weg gebracht werden. Die deutsche Termin- und Opitionsbörse ist höchst eilbedürftig, wenn wir auf internationalen Finanzmärkten mithalten und nicht endgültig Geschäfte an das Ausland verlieren wollen. Ein Geschäft, das einmal abgewandert ist, kann man nur sehr schwer in die Bundesrepublik zurückholen.Sollte es bei der Verabschiedung der Börsengesetznovelle Schwierigkeiten im Rahmen unserer Beratungen geben, plädiert der Kollege Solms dafür — ich schließe mich ihm an — , die deutsche Terminbörse vom Gesamtentwurf abzukoppeln und vorab zu verwirklichen. Die weiteren regelungsbedürftigen Punkte, vor allem die gesetzliche Anpassung für computergestützte Börsensysteme, eine verbesserte Aufsicht über die Makler und die Zulassung der Notierung in ausländischer Währung, sollten dann in einem weiterem Schritt verwirklicht werden.Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich danke Ihnen.
Meine Damen und Herren, ich schließe die Aussprache.
Der Ältestenrat schlägt vor, den Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Änderung des Börsengesetzes auf Drucksache 11/4177 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Erhebt sich dagegen Widerspruch? — Das ist nicht der Fall. Dann ist das so beschlossen.
Ich rufe den Zusatztagesordnungspunkt 11 auf:
Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/ CSU, SPD, FDP und der Fraktion DIE GRÜNEN
Menschenrechtsverletzungen in der Tschechoslowakei
— Drucksache 11/4208 —
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Beratung 30 Minuten vorgesehen. — Das Haus ist damit einverstanden.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Abgeordnete Lowack.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Verurteilung von Vaclav Havel und anderen, die Gegenstand dieser Entschließung ist, ist unmenschlich. Sie geht von einer Bewertung der Geschichte und der Bedeutung der Grundrechte aus, die wir alle schon überwunden glaubten. Die Einmütigkeit des Deutschen Bundestags, wie sie in der gemeinsamen Entschließung zum Ausdruck kommt, sollte für die Regierung der CSSR ein deutliches und unübersehbares Signal sein.Um zu ermessen, welche Motive Vaclav Havel und andere veranlaßten, des 20. Todestages von Jan Pa-lach zu gedenken und auf dem Wenzelsplatz Blumen niederzulegen, muß man sich noch einmal die Vorgeschichte in Erinnerung rufen.Im Sommer 1968 hatten sowjetische Truppen in der CSSR „interveniert", wie es so schön hieß, d. h., sie hatten das Land überfallen und brutal die aufkeimende Reformbewegung des Prager Frühlings unterdrückt. Kurz darauf bildete sich an der Philosophischen Fakultät der Universität Prag unter strenger Geheimhaltung eine kleine Gruppe von Studenten, die nicht passiv bleiben, sich nicht unterwerfen, sondern im geeigneten Augenblick ein Fanal setzen wollte.Ein Mitglied dieser Gruppe war Jan Palach. Am 16. Januar 1969 übergoß er sich unter der zum Nationalmuseum führenden Treppe auf dem Wenzelsplatz mit Benzin und zündete sich an. Dann rannte er brennend über die Straße. Ein Passant ergriff ihn, löschte das Feuer mit seinem Mantel und holte einen Rettungswagen, der den Studenten mit schwersten Verbrennungen ins Krankenhaus brachte.Die ersten Worte Jan Palachs nach seiner Einlief e-rung ins Krankenhaus waren: „Ich bin kein Selbstmörder. " Seine Haut war zu 90 % verbrannt, er hatte entsetzliche Schmerzen und keinerlei Überlebenschance. Seine Freunde im Studentenheim in Prag fanden in seinem Zimmer Notizen und Texte, die offenbar an verschiedene Adressen versandt worden waren. Palach hatte sich demnach angezündet, um die
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LowackRegierung zum Handeln gegen die sowjetischen Unterdrücker zu zwingen. Falls die von ihm genannten Forderungen nicht binnen weniger Tage erfüllt würden, sollten andere junge Menschen seine Tat wiederholen. Zwei Sätze, die er Stunden vor seinem Tod sagte, lassen seine Motive erkennen: „Es kommt im menschlichen Leben der Augenblick, in dem man einfach etwas tun muß." Und: „Gegen das Böse muß man etwas unternehmen; man muß dagegen mit allen Mitteln kämpfen."Noch deutlicher ergeben sich seine Motive aus einem Brief, den er vor seiner Tat an Freunde im tschechoslowakischen Schriftstellerverband versandt hatte:In Anbetracht dessen, daß sich unsere Völker am Rande der totalen Hoffnungslosigkeit befinden, haben wir beschlossen, unseren Protest zu erheben und das Volk dieses Landes wachzurütteln. Unsere Gruppe besteht aus Freiwilligen, die bereit sind, sich für unsere Sache verbrennen zu lassen. Ich hatte die Ehre, die Eins auszulosen, und so erhielt ich das Recht, die ersten Briefe zu schreiben und als erste Fackel anzutreten.So naiv diese Worte für viele gewesen sein mögen, ich frage: Wie tief muß die Demütigung gewesen sein, die den tschechoslowakischen Jugendlichen damals in den Jahren 1968 und 1969 durch die sowjetische Okkupation zugefügt wurde, daß sie bereit waren, sich auf derart spektakuläre und grauenvolle Weise das eigene Leben zu nehmen?Die Einzelheiten über den Tod Jan Palachs wurden in Prag erst nach und nach bekannt. Die Bevölkerung war von den Vorgängen tief berührt. Es gab eine Welle des Mitgefühls und der Zustimmung für Jan Palach. Er wurde eine Art Volksheld.Bezeichnend ist, daß der Staatssicherheitsdienst noch mehrere Jahre lang einen Kampf gegen den toten Jan Palach führte — und heute offensichtlich verstärkt führt. Die Besucher seines Grabes in Prag wurden kontrolliert, viele von ihnen anschließend verhört. Vor dem 5. Jahrestag der sowjetischen Okkupation wurde der Zugang zum Grab verbarrikadiert und der Friedhof mit Polizeiwagen versperrt. Im Oktober 1973 früh gruben dann Staatssicherheitsdienstleute die sterblichen Überreste Jan Palachs aus und verbrannten sie im nahen Krematorium. Sein Grab wurde neu überdeckt.Am 25. Februar 1969, sechs Wochen nach Palachs Tod, starb auf dem Wenzelsplatz denselben schrecklichen Tod der erst 18 Jahre alte Schüler Jan Zajic. Am nächsten Tag wurde sein Tagebuch gefunden, in dem er seine Tat begründet hatte. Er schrieb:Ein Toter war nicht genug, um schlafende Menschen aufzuwecken. Deshalb muß auch ich sterben.Ich frage: Wie groß muß die Unterdrückung damals in Prag gewesen sein, daß sich Jugendliche zu solchem Handeln verstehen konnten?Wenn tschechoslowakische Behörden die Erinnerung an diese Vorgänge jetzt unterdrücken, beweisen sie, daß sie aus der Geschichte nichts gelernt haben. Wir wissen wenig über den Ermessensspielraum, den das Stadtgebietsgericht im Fall Vaclav Havel und der anderen Verurteilten hatte; insoweit wäre eine Urteilsschelte vielleicht zu vordergründig. Entscheidend sind die in der Verantwortung des kommunistischen Systems erlassenen Gesetze, die vorschreiben, daß jemand verurteilt wird, der zur Erinnerung an den Selbstmord eines jungen tschechischen Patrioten Blumen niederlegen möchte und zur Duldung eines friedlichen Pietätsaktes oder auch eines Protestes auffordert.Geradezu abenteuerlich ist jedenfalls die offizielle Begründung der CSSR zu den Verurteilungen. So heißt es in der Presseerklärung der tschechoslowakischen Botschaft in Bonn vom 28. Februar dieses Jahres wörtlich — ich zitiere — :Wie die Anklage anführt, trat Havel am 9. Januar in der Sendung von Free Europe mit der Mitteilung auf, daß er einen anonymen Brief erhalten habe, der als Standpunkt einer Studentengruppe geschrieben war, die sich mit der Tätigkeit der sog. Charta 77 identifiziert. Als Beweis der Unterstützung wollte sich angeblich einer der Schreiber am 15. Januar verbrennen. Vaclav Havel forderte zwar über Free Europe den Briefverfasser auf, von seiner beabsichtigten Tat abzusehen, aber er wandte sich zugleich an die Organe der Staatsmacht, sich „vernünftig" zu verhalten und nicht den „Pietätsakt" der Demonstration durch Polizeimacht zunichte zu machen.Ich frage: Merkt die CSSR-Regierung nicht, wie lächerlich dieser Vorwurf ist und wie sehr sie damit auch den Nationalstolz ihrer Bevölkerung in Frage stellt? Sollte Havel vorgeworfen werden, andere davon abzuhalten, sich zu verbrennen, oder wie sollen wir das verstehen?Hier äußert sich eine Mentalität, die nicht nur konträr zu der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa und ihren neuesten, von der Regierung der CSSR akzeptierten Ergebnissen steht. Hier zeigen sich stalinistischer Geist, Selbstzweck, ein Weg in einen Irrgarten — den nur noch wenige für das Paradies halten mögen.Ich weiß, welcher Vorwurf uns gemacht werden wird, wenn wir dies heute im Deutschen Bundestag erörtern: daß wir uns in die „inneren Angelegenheiten der CSSR einmischen" würden. Aber die Berufung auf Menschenrechte kennt keine Grenzen. Sie ist internationales Recht geworden, mehr noch, sie verbindet zunehmend unsere Völker.Wenn das CSSR-Regime den Wunsch der Bevölkerung nach Meinungsfreiheit, nach geistiger Freiheit nicht begreift, wenn es Märtyrer schafft, trägt es die Verantwortung dafür, daß sehr schnell auch eine explosive Entwicklung eintreten kann. Es befremdet uns um so mehr, in einer weiteren offiziellen Presseerklärung zu den anderen in der Entscheidung angeführten Fällen lesen zu müssen, daß allein die Tatsache, daß man verkehrsbehindernd demonstriert habe, ein besonders schweres kriminelles Unrecht sein soll.Schlimmer noch: Am 14. Februar dieses Jahres beriet und billigte das Präsidium der Föderativen Versammlung der CSSR neue, härtere Gesetzesmaßnah-
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Lowackmen, wie es hieß, „zum Schutz der öffentlichen Ordnung". Hier heißt es wörtlich:Bei der Annahme dieses Rechtsaktes im Sinne des Verfassungsgesetzes für die tschechoslowakische Föderation wurde die Unerläßlichkeit dieser Gesetzesmaßnahmen für eine positive gesellschaftliche Entwicklung in der Tschechoslowakei und für die Schaffung von Bedingungen für eine schöpferische, ruhige Arbeit der Bürger bei der konkreten Durchsetzung der Politik der Kommunistischen Partei der Tschechoslowakei und der Nationalen Front im tagtäglichen Leben hervorgehoben.Meine sehr verehrten Damen und Herren, wer hier von „ruhig" spricht, meint Friedhofsruhe. Wer hier von „Unerläßlichkeit" spricht, denkt an die Erhaltung totalitärer Macht. Wer von „positiver gesellschaftlicher Entwicklung" spricht, meint Unterdrückung.Es ist erfreulich, daß die deutsch-tschechoslowakische Parlamentariergruppe auf diese Verschärfung in angemessener Weise reagiert hat. Es gilt heute klarzumachen, daß diese gegen die eigene Bevölkerung und die langfristigen Interessen der Tschechoslowakei gerichteten Maßnahmen eine Einbeziehung der CSSR in eine größere europäische Gemeinschaft, die auch eine geistige Gemeinschaft sein muß, verhindern.Danke schön.
Das Wort hat der Abgeordnete Duve.
Frau Präsident! Meine Damen und Herren! Hier im Saal, oben auf der Empore — ich glaube, sie verlassen uns gerade — , ist eine Gruppe aus Kalinin. Ich finde es sehr bedeutsam, daß sie unsere Diskussion — jedenfalls einen Teil davon — hier heute mitbekommen hat.
Ich möchte anfangen mit einem Zitat:
Immer noch hoffe ich, daß die Staatsmacht endlich aufhört, sich wie das häßliche Mädchen im Märchen zu verhalten, das den Spiegel zerschlägt in der Meinung, der Spiegel sei schuld an seinem Aussehen.Das ist einer der letzten Sätze von Vaclav Havel in seiner kurzen Verteidigungsrede. Am 21. Februar ist er ja dann von der Richterin verurteilt worden: viele andere, die dabei waren, ebenfalls. Ist das also das Gespenst Stalins gegen den Geist Gorbatschows in Prag? Ich denke, ein Stück davon ist es das. Aber es es ist wohl doch noch mehr, was wir diskutieren sollen.Es ist ja eine merkwürdige Art, in der sich unser unmittelbarer Nachbar, der Staat Tschechoslowakei, Land im Zentrum Mitteleuropas, aus dem öffentlichen Bewußtsein der Bundesrepublik entfernt hat. Es gab immer wieder Proteste der Charta '77, auch immer wieder unsere Solidaritätsbekundungen mit der Opposition. Aber mir scheint, in Wahrheit gibt es bis heute eine Art Vorhang aus Blei zwischen uns und dem Prag des Nachfrühlings — seit mehr als 20 Jahren. Wir nehmen es weniger wahr als viele Dinge in anderen Ländern.Wir glaubten, daß sich die Mehrheit der Tschechoslowaken — gelähmt — mit der blutigen Verwandlung ihres Traums in das Trauma abgefunden hätten, und so sind wir auch mit der CSSR umgegangen. Wir pflegen interessante kulturelle und wirtschaftliche Beziehungen, die Prager Filmkultur arbeitet eng mit der unsrigen zusammen. Die von vielen so empfundene unerträgliche Leichtigkeit der Koexistenz war erträglich geworden.Wenn wir in der DDR auf das Doppel-G warten, Glasnost und Generationenwechsel, dann warten wir auch in Prag eigentich immer noch auf Godot. Es passiert scheinbar nichts.Peter Glotz, der hier heute eigentlich hätte sprechen sollen, aber im Ausland ist, hat vor einigen Tagen in der „Zeit" sehr nachdenklich und einprägsam auf die Lage Prags im „Glasnost-wind of change" aufmerksam gemacht. Nirgends sind die Widersprüche, die der Reformprozeß Gorbatschows ausgelöst hatte, so intensiv wie in Prag; das ist seine These.Die Tschechoslowakei— so schreibt er —steht nach wie vor unter dem Schock von 1968. Die Führung weiß, daß „ein bißchen Demokratie" genausowenig zu haben ist wie das berühmte „bißchen Schwangerschaft". Ihre Erfahrung ist: Je größer die Zugeständnisse an die Opposition, desto größer die Forderungen. Also blockt sie ab; ... der Kommunistischen Partei der Tschechoslowakei geht es um eine— so Glotz — Existenzfrage: Sie oder wir.Das ist ein falscher Kurs — wir wissen es — , aber wir sollten uns bemühen, ihn zu analysieren.Prag hat das abschließende Dokument des Wiener KSZE-Folgetreffens unterzeichnet, am 15. Januar 1989, und hat sich damit zu folgendem Grundsatz völkerrechtsverbindlich bekannt: Sie, die CSSR, wird— wie alle anderen Unterzeichnerstaaten des Wiener KSZE-Folgeabkommens —sicherstellen, daß keine Person, die diese Rechte— die Menschenrechte —für sich in Anspruch nimmt bzw. die Absicht äußert oder versucht, dies zu tun, ... davon in irgendeiner Weise benachteiligt wird.Ende des Zitats aus dem Dokument. Genau einen Tag später, am 16. Januar, versuchte eine Reihe von Mitgliedern der Charta '77 zum Andenken an Jan Palach Blumen — Herr Lowack hat es soeben sehr deutlich und ausführlich geschildert — auf dem Wenzelsplatz niederzulegen.Die Bundesregierung hat bereits in ihrer Demarche— mit dem Hinweis auf das Dokument, das am Vortag in Wien unterzeichnet worden war — bei der Regierung in Prag interveniert. Wir müssen, meine ich,
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Duvediese Instrumente jetzt auch wirklich wirksam werden lassen,
völlig unabhängig vom Termin der Unterzeichnung.Die Kommunisten in der Prager Führung, scheint mir, wissen nicht, was sie wollen, und sie wissen nicht, wohin sie wollen. Was sie jetzt betreiben, ist ohne Aussicht und ohne Zukunft. Gefesselt von den eigenen geschichtlichen Ängsten und der eigenen Mitschuld an 1968, sind sie unfähig zur Reform. Dabei muß es bei Prag wahrlich keine empfohlene oder gar befohlene Reform sein. Der Geist Prags aus dem Jahr 1968 ist heute stärker auf dem Lenin- als auf dem Wenzelsplatz zu spüren. Aber wie stolz könnten Tschechen und Slowaken auf die Führungsrolle sein, die sie vor 20 Jahren beim tragischen Gang des Reformkommunismus gespielt hatten!Sie könnten stolz sein auf ihren Dubcek, der in Bologna geehrt wurde und dort eine so menschliche und große Rede gehalten hat, in der er die Geschichte der CSSR u. a. mit der Formulierung beschrieb: „Wir haben um des europäischen Humanismus willen gelitten. "Aber die Prager Führung bleibt von der eigenen Geschichte gefesselt. Es sind weiterhin viele Leute von 1968 an der Macht, die auf Befehl Moskaus die blutige Wende mit inszeniert hatten, die Dubcek verbannten und Tausende aus dem Land trieben. Mitverantwortlich für das tiefe Trauma der modernen Tschechoslowakei, beharren sie stur und gefährlich auf ihrem Führungsanspruch.Wo also politisch das Tor für Reformen und für Freiheit im Geiste des tschechisch-slowakischen Humanismus weit offen steht, ist es psychologisch für die Prager Führung mit Ketten und Siegeln verriegelt. Die Siegel zeigen die Wunden von 1968. Die jüngste Zeitgeschichte wird zur politischen Fessel für die Gegenwart. Über Stalins Verbrechen in den 30er und 50er Jahren, über Budapest 1956 ist vielleicht psychologisch leichter zu diskutieren als über die unmittelbare Vergangenheit, an der man selber mitschuldig war.Vaclav Havel schreibt über eine kurze Begegnung mit Gorbatschow bei dessen Besuch in Prag vor einigen Jahren, als er abends mit seinem Hund auf die Straße gegangen war, um zu sehen, wie die Menschen Gorbatschow begrüßen — Zitat —:Es ging um etwas Gefährlicheres: Diese Menschen begrüßen einen Mann, von dem sie annehmen, er bringe ihnen die Freiheit.Mir— Havel —war traurig zumute, und mir fiel auf, wie unbelehrbar dieses Volk ist: Wie häufig hat es all seine Hoffnung auf irgendeine äußere Kraft gerichtet, von der es sich versprach, sie werde an seiner Statt seine Probleme lösen, wie häufig ist es bitter enttäuscht worden und gezwungen gewesen, zuzugeben, daß ihm niemand helfen wird, solange es sich nicht selbst hilft. Und wieder derselbe Fehler! Wieder diese Illusion! Sie scheinen— diese Menschen da draußen —tatsächlich zu denken, Gorbatschow sei gekommen, um sie von Husak zu befreien.Gorbatschow, der Mann, der in Prag eine der schlimmsten Regierungen gelobt hat, die dieses Land in seiner modernen Geschichte je hatte, geht ein Stückchen von mir entfernt vorbei, winkt, lächelt freundlich — und mir scheint auf einmal, er winke mir zu und lächele mich an. Und ich winke zurück. Eine Sache ist es nämlich, seinen Gruß zu erwidern, und eine andere, sich aus seiner eigenen Verantwortlichkeit herauszulügen, indem man sie auf ihn schiebt.Ich denke, das ist eine bewegende kleine Szene, die der jetzt inhaftierte Vaclav Havel beschreibt.Prag braucht die öffentliche Debatte über 1968, so wie Ungarn heute öffentlich über 1956 diskutiert, wie in Moskau und Leningrad über Stalin und Breschnew geredet wird. Wir können ihnen dabei nicht direkt helfen. Aber wir müssen wacher werden für das, was in der CSSR geschieht; denn es ist immer auch ein Teil von uns.Gestern vor 50 Jahren ist die tschechoslowakische Republik, deren Schicksal in München besiegelt worden war, endgültig zerstört worden. Die Lage in Prag ist also mit unserer Geschichte verhaftet. Wir sind auch immer ein kleines Stück mit verhaftet.Zu unserem menschenrechtlichen Engagement für die Verhafteten gehört immer und unabtrennbar unsere eigene, uns betreffende geschichtliche Wachheit. Wir Deutschen haben uns, wenn es um das Schicksal der Tschechen und Slowaken ging, oft mit Hilfe des Stalinismus über unsere eigenen Fragen hinweggemogelt. Zu diesen eigenen Fragen gehören natürlich Henlein ebenso wie die Vertreibung der Sudetendeutschen.
Reform in Prag, bürgerliche Freiheiten und Menschenrechte zwischen Brünn und Hoher Tatra — das ist kein Themenimport aus Moskau, das ist ein Thema Mitteleuropas, das ist auch unser Thema.In seiner Rede vor Gericht hat Vaclav Havel auch noch nachdrücklich den friedlichen Charakter seiner Proteste betont:... die dauerhafte Mißachtung friedlicher Äußerungen der öffentlichen Meinung kann am Ende nur immer deutlichere und nachdrücklichere Proteste der Gesellschaft hervorrufen.Vor 20 Jahren sind sowjetische Truppen in Prag einmarschiert, vor 50 Jahren waren es deutsche Truppen. Heute müssen wir einen gemeinsamen und klugen Weg finden, um bei der friedlichen Umgestaltung mitzuhelfen, und dafür braucht es in einer Stadt wie Prag — älteste Universität — nicht unbedingt ein Lehnwort aus Moskau für die Umgestaltung, die in Prag notwendig ist. Wo immer die Rückkehr zur Demokratie ansteht, geht es um das innere Gleichgewicht zwischen Versöhnung und Erinnerung auch in der Zukunft in Prag.
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9932 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 134. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. März 1989
DuveNirgendwo kann die Demokratie ohne dieses Gleichgewicht aufgebaut werden. Das ist der Grund, Herr Lowack, warum wir gestern im Auswärtigen Ausschuß gebeten hatten, alle Veranstaltungen zum Gedenken an den Kriegsausbruch 1939 — in diesen Zusammenhang gehört auch der Überfall auf die Tschechoslowakei — in diesem Geiste auszurichten, mit Passagen aus der Rede Richard von Weizsäckers vom 8. Mai 1985. Ich bedaure sehr, daß die Abgeordneten der CDU/CSU im Ausschuß dieser Formulierung nicht zugestimmt hatten, aber ich denke, auch unser künftiges Verhältnis zu CSSR und unser Umgang mit den beiden große Tragödien, die dieses Volk in diesem Jahrhundert erlebt hat, einmal vom Westen und einmal vom Osten, sollten in diesem Geist diskutiert und behandelt werden.Ich danke für die Aufmerksamkeit.
Das Wort hat Herr Abgeordneter Dr. Hoyer.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich danke Ihnen, Herr Kollege Duve, zunächst für den historischen Zusammenhang, den Sie hier hergestellt haben, der uns bei der Bewertung all dessen, was wir im Hinblick auf die CSSR sagen, natürlich immer im Hinterkopf sein muß.Dennoch sind klare Worte auch in diesem Bewußtsein möglich und notwendig; denn die Urteile von Prag machen uns betroffen, sie erfüllen uns mit Empörung, Trauer und auch mit Zorn. Es ist gerade für Liberale schwer erträglich, zu sehen, daß Menschen die Freiheit verlieren, und das, weil sie nicht mehr, aber auch nicht weniger tun als das, was für jeden von uns selbstverständlich ist: die eigene Meinung zu sagen. Denn natürlich ist es eine Meinungsäußerung und eine menschliche Geste, wenn Vaclav Havel und andere durch Niederlegen eines Blumenstraußes auf dem Wenzelsplatz an Jan Palach erinnern wollen und an die Trauer darüber, wie 1968 der zugegebenermaßen nach den Maßstäben kalter Machtrationalität naive Versuch unterbunden wurde, dem Sozialismus ein menschliches Antlitz zu verleihen, wie Vaclav Havel es ausgedrückt hat.Kurz danach schreibt in demselben Manuskript, aus dem ich eben zitiert habe, nämlich „Anatomie einer Zurückhaltung" — ich glaube, auch Sie hatten es im Kopf, als Sie die Gorbatschow-Begegnung referierten — , dieser tschechoslowakische Schriftsteller, dessen Würde und persönliche Integrität in Prag übrigens gegenwärtig mit miesen Pressemitteilungen niederzumachen versucht wird — ich zitiere, Frau Präsidentin — :In unserem mitteleuropäischen Milieu verbindet sich in gewisser extremer Weise immer das Ernsteste mit dem Komischsten. Das gerade ist die Dimension der Distanz, des Überblicks und des Selbstverlachens, die den hiesigen Themen und Taten erst die richtige erschütternde Ernsthaftigkeit verleiht. Ist nicht Franz Kafka, einer der ernstesten und tragischsten Autoren dieses Jahrhunderts, zugleich Humorist? Ich glaube, wer überseine Romane nicht lacht, der versteht sie nicht. Sind nicht der tschechische Hasek oder der österreichische Musil Meister der tragischen Ironie und der ironischen Tragik? Ist nicht Vaculiks böhmisches Traumbuch . . ., um einen Gegenwartsautor und Dissidenten zu nennen, bedrückend in seinem Humor und fröhlich in seiner Hoffnungslosigkeit?Und Havel fährt fort:Das Dissidentenleben in der Tschechoslowakei ist wahrlich nicht besonders fröhlich, um so weniger der Aufenthalt in tschechoslowakischen Gefängnissen. Daß wir über diese Dinge so häufig scherzen, steht nicht im Widerspruch zu dieser Ernsthaftigkeit, sondern ist im Gegenteil ihre unausweichliche Konsequenz. Vielleicht wäre es nicht einmal auszuhalten, wenn man nicht zugleich sähe, wie absurd und also komisch das alles ist.Soweit Vaclav Havel.Komisch kann ich das, was in der CSSR zur Zeit stattfindet, überhaupt nicht mehr finden, nicht nur, weil mich die Unrechtsurteile von Prag verbittern, sondern auch, weil ich fürchte, daß die Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der CSSR davon nicht unbelastet bleiben können. Das tut weh.Gerade wir Liberalen, allen voran mein Fraktionsvorsitzender Wolfgang Mischnick und Außenminister Genscher, haben uns auch zu Zeiten, zu denen der Dialog mit dem Osten sehr schwierig war, immer wieder darum bemüht, im Gespräch zu bleiben, verbliebene Spielräume zu nutzen und dazu beizutragen, neue zu schaffen. Dies war erfolgreich, und dies darf nicht zerstört werden; aber es muß notwendigerweise wohl leiden.Das wirft uns zurück, und das gerade in einer Zeit, wo wir ganz konkret gut vorankommen, über Grenzen von Militärblöcken hinweg. Dabei denke ich nicht nur an die Papiere von Helsinki und von Wien, auf die sich zu recht viele Bürger der CSSR und auch der DDR zur Zeit berufen. Unsere Fähigkeit zum Dialog hat mittlerweile doch auch ganz konkrete Fortschritte ermöglicht im Hinblick auf den Abrüstungsdialog, im Hinblick auf ein so dringend erforderliches Umweltabkommen in Mitteleuropa, im Hinblick auf unseren gemeinsamen Fluß, die Elbe, im Hinblick auf eine Intensivierung des Kulturaustausches und hoffentlich demnächst sogar die Errichtung von Kulturinstituten im jeweils anderen Land.Ich appelliere an die Regierung der CSSR, diese erfolgversprechende Kooperation nicht durch Verletzungen elementarer Menschenrechte zu gefährden.
Es darf nicht sein, was Vaclav Havel in seiner „Anatomie einer Zurückhaltung" vom Ausgangspunkt der Dissidentenhaltung im real existierenden Sozialismus sagt — ich zitiere —:Ist doch der Dissident vom Wesen der Sache herein wenig Don Quichote: Er schreibt seine kritischen Analysen und fordert Freiheiten und
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 134. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. März 1989 9933
Dr. HoyerRechte ganz allein — nur mit seiner Feder in der Hand — angesichts der gigantischen Macht des Staates und seiner Polizei; er schreibt, ruft, schreit, fordert, beruft sich auf das Gesetz — und dabei weiß er, daß er dafür früher oder später eingesperrt wird ... Wenn er etwas anbietet, dann nur seine Haut. Und die bietet er nur an, weil er kein anderes Mittel hat, die Wahrheit zu bekräftigen, hinter der er steht. Er artikuliert in seinem Handeln nur seine Würde als Bürger, ohne Rücksicht darauf, was er dafür erntet.Meine Damen und Herren, die Logik des Wiener Abschlußdokumentes besteht darin, das Zusammenleben der Völker auf unserem kleinen Kontinent nicht zuletzt dadurch so viel leichter und sinnvoller zu machen, daß der einzelne Bürger nicht, um es noch einmal in Havels Sprache auszudrücken, „bedrückend in seinem Humor und fröhlich in seiner Hoffnungslosigkeit" sein muß.Meine Damen und Herren, der gemeinsame Antrag — ich bin dankbar, daß wir uns gemeinsam zu diesem Antrag entschlossen haben — findet die volle Unterstützung der FDP. Ich freue mich, daß er zugleich ein Anliegen zum Ausdruck bringt, das heute das Europäische Parlament in der gleichen Angelegenheit zum Ausdruck gebracht hat.Ich danke Ihnen.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Lippelt.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Lassen Sie mich mit zwei chronologischen Reihen zum Leben Vaclav Havels beginnen: 1968 New Yorker Theaterpreis, 1969 Österreichischer Nationalpreis für europäische Literatur, 1970 wieder New Yorker Theaterpreis, 1979 Ehrenmitgliedschaft im schwedischen PEN-Club, 1979 Mitglied des französischen PEN-Clubs, 1980 Ehrenmitglied der Hamburger Akademie der Künste, 1981 Pariser Theaterpreis, 1982 Jan-Palach-Preis, 1982 Ehrendoktorat der Universität Toronto, 1984 der Universität Toulouse, 1986 Erasmus-Preis, 1989 Mitglied im Schweizer PEN-Club und im österreichischen PEN-Club.Und dann die andere Reihe des Bürgers Havel, der sich auch anders als nur literarisch engagierte, weil er das für seine natürlichen Menschen- und Bürgerpflichten hält: 1977 126 Tage Haft, 1978 45 Tage Haft, 1979 bis 1983 1 351 Tage, 1985 4 Tage, 1988 6 Tage, 1989 bis heute 60 Tage. Insgesamt bis heute: 1 592 Tage in Haft.Da die letzte Verurteilung, die vom 21. Februar dieses Jahres, zu 9 Monaten verschärfte Haft ist, stehen ihm noch rund 250 Tage in diesem Jahr bevor. Die Berufungsverhandlung, meine Damen und Herren, findet am kommenden Dienstag statt.Die Geschichte der diesmaligen Verhaftung und Verurteilung hat er in seinem Schlußwort — das hier schon zitiert worden ist — selber so geschildert:Eine Sache gestehe ich ein. Am Montag, dem16. 1., wollte ich ursprünglich den Wenzels-Platz,unmittelbar nachdem am Denkmal des Heiligen Wenzel Blumen zum Gedenken an Jan Palach niedergelegt wurden, verlassen. Schließlich blieb ich jedoch über eine Stunde dort, vor allem deshalb, weil ich meinen eigenen Augen nicht traute. Es geschah nämlich etwas, was mir nicht einmal im Traum eingefallen wäre: Ein völlig überflüssiges Eingreifen der Sicherheitskräfte gegen jene, die in aller Stille und ohne jegliches Aufsehen Blumen am Denkmal niederlegen wollten, machte aus den gänzlich unbeteiligten Passanten eine protestierende Menge.Havel, im Januar 1977 einer der ersten Sprecher der Charta '77, ist nicht der einzige.In derselben Februarwoche wurden Ota Veverka, Jana Petrova und andere verurteilt. In der vorigen Woche wurden der Dichter Ivan Jirous wegen Aufwiegelung zu 16 Monaten verschärfter Haft und Frantisec Tichy zu 6 Monaten verurteilt. „Aufwiegelung", das bedeutet: Sie hatten Flugblätter verteilt, auf denen die Verantwortung der tschechoslowakischen Behörden für den Tod des politischen Häftlings Pavel Wonka im Gefängnis eingeklagt wurden. Jirous mußte seit 1974 bereits 7 Jahre in den tschechoslowakischen Gefängnissen aus politischen Gründen verbringen.Heute beginnt der Prozeß gegen Hana Marvanova und Thomas Dvorak, Sprecher des Unabhängigen Friedensvereins, zwei Leute Anfang der Zwanzig, die nicht etwa die Abschaffung des tschechoslowakischen Militärs, auch noch nicht einmal das Recht auf Kriegsdienstverweigerung, sondern nur menschenwürdige Verhältnisse im Militär fordern.Dies ist eine düstere Bilanz. Trotz anderslautender Beteuerungen der tschechoslowakischen Führung — Perestroika auch in der Tschechoslowakei — wird in der Praxis jede selbständige Regung der Bürgerrechtsbewegung, der unabhängigen Friedens- und Ökologiegruppen aufs Schärfste bekämpft. Um es mit den Worten eines Polizisten zu einem der kurzfristig Verhafteten im November letzten Jahres zu sagen: Auch wir müssen dringend Perestroika machen, aber wir wollen sie ohne euch machen. Perestroika also gegen das Volk, denn es könnte sein, daß dieses dabei auch Glasnost verlangen würde.Havel beschreibt in seinem „Versuch in der Wahrheit zu leben" das Gewebe der Heuchelei und Lüge: Die Macht der Bürokratie wird Macht des Volkes genannt, im Namen der Arbeiterklasse wird die Arbeiterklasse versklavt, die Demütigung des Menschen wird für seine Befreiung ausgegeben.„In der Wahrheit zu leben" , bedeutet den täglichen Kampf für die Menschenrechte, für eigene und für die der Mitmenschen, ob in der Tschechoslowakei oder auch hier, ob in Chile und Südafrika; überall da, wo Lüge Bestandteil der Machtausübung ist.Für die Tschechoslowakei zeigt sich gerade in den letzten Monaten, daß die Menschen nicht länger in der Lüge leben wollen. So haben — und das ist ein Novum — 3 270 tschechoslowakische Intellektuelle, Theater- und Filmleute, Schriftsteller und Wissenschaftler — darunter viele, die bis jetzt schwiegen —
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9934 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 134. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. März 1989
Dr. Lippelt
einen Protestbrief gegen die jetzige Verfolgung geschrieben.Zunehmend solidarisieren sich mit den Verfolgten in der Tschechoslowakei nicht nur viele hier, sondern auch viele in Polen, in Ungarn, in der DDR und in der Sowjetunion, darunter Jewtuschenko und Bulat Okudshawa, Juri Afanassjew und Natan Ejdelman, der Philosoph Juri Karjakin und der Regisseur Juri Lubimow.Wir fordern hier die tschechoslowakische Regierung auf, den Weg zu einem menschenwürdigeren gemeinsamen Haus Europa endlich zu beschreiten, demokratische Rechte und Freiheiten zu entwickeln, die KSZE-Vereinbarungen einzuhalten und alle politischen Gefangenen freizulassen.
Das Wort hat der Staatsminister Schäfer.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es ist bedauerlich, daß wir uns heute im Deutschen Bundestag, nur wenige Wochen nach der Verabschiedung des abschließenden Dokuments durch die 35 Teilnehmerstaaten der Wiener KSZE-Folgekonferenz, mit der Menschenrechtslage in der Tschechoslowakei beschäftigen müssen.Während in einigen Ländern Mittel- und Osteuropas ein durchgreifender Reformprozeß in Gang gekommen ist, mit der erfreulichen Zielsetzung, von mehr Pluralismus, Demokratie und Freiheitsrechten für die Menschen und damit das KSZE-Schlußdokument in die Tat umgesetzt wird, macht es uns betroffen, daß andere Länder wie die DDR, die Tschechoslowakei und Rumänien nicht nur zögern, diesem Beipiel zu folgen, sondern elementare Bürger- und Menschenrechte weiterhin ihren Bürgern vorenthalten.Immer wieder werden tschechoslowakische Bürger wegen ihrer politischen oder religiösen Überzeugung mit Zwangsmaßnahmen bedroht, inhaftiert und gesellschaftlich und wirtschaftlich diskriminiert. Bürgerrechtsbewegungen wie die „Charta 77" und deren Mitglieder werden verfolgt. Festnahmen und Verurteilungen sowie Beschränkungen der Reisefreiheit aus politischen Gründen gehören leider immer noch zum politischen Alltag.Ein bedauerliches Beispiel solcher Repressionsmaßnahmen, Herr Lippelt — ich schließe an das an, was Sie gesagt haben — , war im Januar auch die Weigerung der tschechoslowakischen Behörden, dem früheren Außenminister und Mitbegründer der „Charta 77" Jiri Hajek die vorübergehende Ausreise in die Bundesrepublik Deutschland zu gestatten, und damit die Verhinderung einer Reise, die es ihm ermöglicht hätte, einer persönlichen Einladung des Bundespräsidenten zur Teilnahme an einem Mittagessen mit Willy Brandt Folge zu leisten.Die Bundesregierung hat wegen dieses Vorgangs am 30. Januar dieses Jahres im tschechoslowakischen Außenministerium demarchiert und sich auf das in der Schlußakte von Helsinki und anderen KSZE-Dokumenten niedergelegte Recht auf Freiheit der Ausreise aus dem eigenen Land nach dem im Wiener Abschließenden Dokument vorgesehenen Verfahren berufen.Auch die Lage der Kirchen in der Tschechoslowakei ist nach wie vor unbefriedigend.
Die von der Verfassung gewährleistete Religionsfreiheit wird in der Praxis erheblichen Beschränkungen unterworfen. Die Behörden erschweren die Religionsausübung und die Arbeit der Kirchen durch repressive Maßnahmen gegenüber Priestern und berufliche und soziale Diskriminierung von Gläubigen.
Derzeit sind zehn von dreizehn Bistümern der katholischen Kirche in der CSSR ohne bischöfliche Leitung. Viele Gemeinden sind wegen Priestermangels verwaist.Eine Petition, in welcher mehr religiöse Freiheit und die Trennung von Staat und Kirche gefordert wurde, ist im vergangenen Jahr von mehr als 600 000 Gläubigen unterzeichnet worden. Die Führung reagierte mit Härte. Einer der Mitinitiatoren der Petition, der Priester Augustin Navratil, wurde zum wiederholten Mal in eine psychiatrische Anstalt eingewiesen. Die Bundesregierung hat sich mit ihren Partnern in der Europäischen Gemeinschaft für die Freilassung eingesetzt. Vor wenigen Wochen wurde er Pressemeldungen zufolge aus psychiatrischem Gewahrsam entlassen.Die Reaktionen der Behörden auf die Demonstrationen auf dem Prager Wenzelsplatz zum Gedenken an Jan Palach am 15. Januar und an den Folgetagen haben den Mangel an Respekt vor den Menschenrechten in der CSSR schlagartig ins Bewußtsein der Weltöffentlichkeit gerückt. In einer seit der gewaltsamen Unterdrückung des Prager Frühlings nicht erlebten Intensität haben die Menschen in der CSSR, allen voran die Jugend und die Intellektuellen, ihrer Unzufriedenheit mit der politischen und gesellschaftlichen Stagnation, der Einschränkung der Bürgerrechte und der schlechten Wirtschaftslage des Landes Ausdruck verliehen. Sie taten dies in friedlicher Ausübung ihres Rechts auf Versammlungs- und Demonstrationsfreiheit.Die Sicherheitsorgane haben mit Repression reagiert. Die einschlägigen Strafbestimmungen wurden verschärft. Die Kundgebungen auf dem Wenzelsplatz wurden von bewaffneten Sicherheitskräften gewaltsam unterdrückt; mehrere hundert Demonstranten wurden festgenommen, viele von ihnen, darunter Vaclav Havel, unter Anklage gestellt und verurteilt.Die Bundesregierung hat nach Bekanntwerden der Urteile gegen Havel und die übrigen Bürgerrechtler unverzüglich und mit der gebotenen Deutlichkeit reagiert. Sie hat gegenüber der tschechoslowakischen Seite ihre Betroffenheit zum Ausdruck gebracht, die Einhaltung der KSZE-Bestimmungen angemahnt und einen Appell zur Aufhebung der Urteile ausgesprochen.
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Staatsminister SchäferIm übrigen sind solche Appelle nicht ohne Sinn. Ich habe selbst auf Grund meiner schon am Tage danach ausgesprochenen scharfen Verurteilungen anonyme Briefe in Druckbuchstaben aus der Tschechoslowakei bekommen, in denen man mir gesagt hat: Gott sei Dank, daß das hier gesagt wird; es hilft uns.Ich glaube, wir sollten trotz der späten Stunde und der vorgezogenen Diskussion über die Börsensteuer und in der wie üblich spät stattfindenden außenpolitischen Debatte in diesem Hause, die ja morgen und am Sonntag in der Presse keinen Niederschlag mehr findet, meine Damen und Herren,
auch einmal zum Ausdruck bringen, vielleicht auch in Richtung auf den Ältestenrat und die Fraktionen,
daß sie der Außenpolitik gelegentlich etwas früher Raum geben sollten, und nicht im letzten Augenblick, wenn ich mir erlauben darf, das zu sagen.
— Herr Bötsch, ich habe Sie gar nicht angreifen wollen. Aber wir sind so oft hier zu später Stunde zur Außenpolitik versammelt, daß ich das doch einmal sagen wollte.
— Danke schön.Die Bundesregierung sieht in der Initiative des Deutschen Bundestages den berechtigten Ausdruck der tiefen Sorge über Menschenrechtsverletzungen in der CSSR. In dieser Stunde gelten unsere Gedanken und gilt unser Respekt Vaclav Havel und all den Menschen in der CSSR, die mutig und offen ihre Bürgerrechte geltend machen und dabei Verhaftung, Verfolgung und Verurteilung in Kauf nehmen.Auch die Europäische Gemeinschaft hat jetzt gemeinsam in Prag demarchiert.Meine Damen und Herren, zum Schluß betone ich ganz ausdrücklich: Die Bundesregierung ist sehr daran interessiert, die deutsch-tschechoslowakischen Beziehungen zu einem guten nachbarschaftlichen Verhältnis zu entwickeln. Gerade weil wir diesen Weg im Interesse beider Staaten und zum Wohle ganz Europas fortsetzen wollen, können wir, wenn es um die Verletzung von Menschenrechten geht, nicht schweigen. Als Nachbarn und als Partner im KSZE-Prozeß appellieren wir deshalb in dieser Stunde an die politisch Verantwortlichen in der CSSR, die menschenrechtlichen Verpflichtungen des KSZE-Prozesses einzuhalten und sich in ihrer Politik gegenüber Bürgern, die ihre Grundrechte wahrnehmen, vom Geiste des KSZE-Prozesses und den in seinen Dokumenten niedergelegten menschenrechtlichen Grundsätzen leiten zu lassen.
Ein erster Schritt hierzu sollte die Revision der Urteile gegen Vaclav Havel und die übrigen Bürgerrechtler und ihre unverzügliche Freilassung sein.Vielen Dank.
Meine Damen und Herren, ich schließe die Aussprache.Wir kommen zur Abstimmung über den interfraktionellen Antrag auf Drucksache 11/4208. Wer diesem Antrag zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Dieser Antrag ist einstimmig angenommen.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 13 auf:Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses
zu dem Antrag der Abgeordneten Graf von Waldburg-Zeil, Dr. Hornhues, Dr. Pinger, Frau Geiger, Feilcke, Hedrich, Höffkes, Dr. Kronenberg, Dr. Kunz , Frau Männle, Frau Fischer, Dr. Pohlmeier, Schreiber, Schwarz, Dr. Stercken, Graf Huyn, Vogel (Ennepetal) und Genossen und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Hoppe, Frau Dr. Hamm-Brücher, Dr. Feldmann, Irmer, Dr.-Ing. Laermann, Dr. Hirsch, Ronneburger, Dr. Hoyer, Nolting, Beckmann, Frau Seiler-Albring, Bredehorn, Lüder, Dr. Hitschler, Frau Folz-Steinacker, Dr. Solms, Timm, Frau Walz, Zywietz, Wolfgramm (Göttingen) und der Fraktion der FDPDie besondere Verantwortung der Bundesrepublik Deutschland für Namibia und alle seine Bürgerzu dem Antrag der Abgeordneten Toetemeyer, Verheugen, Dr. Ehmke , Bahr, Bindig, Brück, Duve, Gansel, Dr. Glotz, Dr. Hauchler, Dr. Holtz, Koschnick, Luuk, Dr. Niehuis, Dr. Osswald, Renger, Schanz, Dr. Scheer, Schluckebier, Dr. Soell, Stobbe, Dr. Timm, Voigt (Frankfurt), Wieczorek-Zeul, Wischnewski, Würtz, Dr. Vogel und der Fraktion der SPDUnabhängigkeit für Namibiazu dem Antrag der Fraktion DIE GRÜNENNeue Namibia-Initiative der Bundesregierung— Drucksachen 11/3934, 11/3996, 11/1845, 11/4205 —Berichterstatter:Abgeordnete Prof. Dr. Hornhues ToetemeyerFrau Dr. Hamm-BrücherDr. Lippelt
Hierzu liegt ein Änderungsantrag der Fraktion DIE GRÜNEN auf Drucksache 11/4233 vor.Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat sind für die Beratung 30 Minuten vorgesehen. — Kein Widerspruch. Es ist so beschlossen.
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9936 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 134. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. März 1989
Vizepräsidentin RengerIch eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Abgeordnete Toetemeyer.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Als wir das letztemal, vor drei Wochen, hier über das gleiche Thema diskutierten, waren viele Entwicklungen noch nicht so klar wie heute.Inzwischen ist es weitergegangen. Am 1. März hat die UNO-Vollversammlung 416,2 Millionen Dollar zur Finanzierung der UNCTAD bereitgestellt und— was nicht unwichtig ist — am gleichen Tag beschlossen, daß — ich zitiere — „Die SWAPO nicht mehr die einzige und wirkliche Vertreterin des namibischen Volkes ist". Das ist eine Korrektur eines alten Beschlusses, den ich für nicht unwesentlich für die weitere Entwicklung halte. Das hat auch den Wegfall der Subventionen für die SWAPO zur Folge. Damit hier kein Mißverständnis entsteht: Die SWAPO hat dies übrigens selbst vorgeschlagen. Von daher gibt es gar keine Veranlassung zur Legendenbildung. Am 1. März ist die Interimsregierung, die nicht legitimierte Regierung Namibias, zurückgetreten.Nun, verehrte Kolleginnen und Kollegen, geht es um die Realisierung der UNO-Resolution 435. Ich möchte zu einigen Punkten Stellung nehmen und stelle ein paar wichtige Sätze aus dieser UNO-Resolution 435 an den Anfang. Hier heißt es zur Wahl— ich zitiere —:Voting will be by secret ballot with provisions for those who cannot read or write. Full freedom of speech, assembly, movement and press shall be guaranteed.Also: volle Freiheit der Presse.Um dies sicherzustellen, fordert die UNO-Resolution vom Generaladministrator — ich zitiere — :To repeal all remaining discriminatory or restrictive laws, regulations or administrative measures which might abridge or inhibit that objective.
— Wenn Sie einverstanden sind, Herr Kollege, will ich das Herrn Wörner weitergeben. Ich möchte hier aber aus gutem Grund, Herr Kollege Bötsch — ich unterstelle, Sie haben es verstanden —,
die UNO-Resolution im Wortlaut zitieren.
— Leider nicht, Herr Kollege, zur Zeit ist es noch Afrikaans. Ich komme darauf zurück.Meine Damen und Herren, unter dem zitierten Gesichtspunkt möchte ich zu einigen Dingen Stellung nehmen. Zunächst einmal zur Presse. Hier wird ja die volle Freiheit der Presse angesprochen. Die Presse in Namibia unterlag in den letzten zwanzig Jahren einer schlimmeren Pressezensur als die in der Südafrikanischen Republik.
Ich will nur drei Gesetze zitieren. Es gibt zunächst einmal den Defence Act von 1983, in dem „die Verbreitung von Unruhe und Angst" unter Strafe gestellt wurde. Ich zitiere zweitens den Protection of Information Act, der folgendes verbietet: „Veröffentlichung von Informationen, die sich auf Verteidigung oder" — hören Sie gut zu! — „jede andere Gelegenheit bezieht. " Schließlich lassen Sie mich den Police Act zitieren, der folgendes verbietet: „Veröffentlichung falscher Informationen über polizeiliche Aktivitäten. "Wenn Sie sich das Spektrum der namibischen Presse ansehen, dann passen viele Zeitungen da hinein. Sie hatten nie Schwierigkeiten. Dazu gehört der „Südwester" , dazu gehört der „Republikein" , dazu gehört die „Windhuker Allgemeine Zeitung", jene Zeitung, die die Todesanzeigen von Rudolf Hess veröffentlicht hat; dazu gehört der „Windhuk Advertiser" . Dazu gehören aber auf der anderen Seite — als einsamer Rufer in der Wüste — die „Namibia-Zeitung" und „The Namibian". Gerade gegen „The Namibian", ein wirklich wichtiges Organ in Namibia, sind die repressivsten Methoden angewandt worden: Zerstörung der Redaktion, Zahlung einer Kaution von 20 000 Rand bei der Registrierung, Anschläge auf Journalisten, Anschläge auf das Leben von Journalistinnen.Wenn in der UNO-Resolution 435 volle Freiheit für die Presse gefordert wird, dann ist hier ein wichtiger Ansatzpunkt, dies zu verfolgen.Zum Rundfunk. Die sogenannte South-West-African Broadcasting Corporation ist bis heute ein reines Propagandainstrument der Regierung. Es gibt im Norden Namibias, bei den Ovambos, eine schöne Bezeichnung für „Lüge". Die Ovambos im Norden sagen heute, wenn sie „Lüge" meinen: „Du redest wie die Mittelwelle. "
Meine Damen und Herren, vom Fernsehen will ich nicht sprechen, denn das Fernsehen ist sowieso nur im Besitz derjenigen, die für ein Festhalten an den gegenwärtigen Verhältnissen sind. Herr Staatsminister, ich halte es für eine ganz wichtige Aufgabe unserer Beobachtermission in Windhuk, auf die Freiheit der Presse, auf die Freiheit der Information nach allen Richtungen zu achten und dies zu beobachten.
— Nach allen Richtungen. Damit bin ich vollkommen einverstanden.Ein zweites Problem, das ich gerne ansprechen möchte, ist das Probelm der zurückkehrenden Flüchtlinge. Wie viele es auch sein mögen — ich verzichte hier ganz bewußt auf Zahlen, weil sie sehr umstritten sind — , sie bedürfen der Hilfe zur Integration. Die UNO stellt ausschließlich Mittel für die Repatriierung, d. h. für die Rückführung nach Namibia, zur Verfügung. Alles, was darüber hinausgeht, muß finanziert werden. Der namibische Kirchenrat steht bereit, diese humanitäre Aufgabe zu übernehmen. Er hat aber noch kein Mandat, und er hat noch kein Geld. Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, wir sollten das, was
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Toetemeyerwir heute gemeinsam beschließen, dann auch in die Tat umsetzen.Ich nenne ein weiteres wichtiges Problem: Der Rückzug der südafrikanischen Truppen — er vollzieht sich in drei Stufen; 13. Mai: Rückführung bis auf 12 000 Mann; 4. Juni: Reduzierung auf 8 000 Mann; bis zum 25. Juni : Rückführung auf 1 500 Mann — bedeutet, daß 40 000 Ovambos, die heute Mitglieder dieser Armee sind, arbeitslos werden. Wir haben im Norden Namibias zur Zeit eine Arbeitslosigkeit von über 50 %. Das heißt, es wird folgendes eintreten: Diese 40 000 ehemaligen schwarzen Soldaten werden auf Windhuk zuströmen, weil sie auf dem Lande keine Arbeit finden. Das wird ein großes Problem für die heute schon überbürdete Katatura-Siedlung bedeuten.Nächster Punkt: Entwicklungspolitik. Meine Damen und Herren, ich sage hier noch einmal sehr deutlich: Das, was wir hier heute beschließen, bedeutet, daß wir damit nicht bis zum nächsten Jahre warten dürfen, sondern daß wir jetzt damit beginnen, d. h. daß wir die Wege beschreiten, die dafür geeignet sind, also über die NROs. Aber ich sage auch, und zwar aus den Erfahrungen der letzten 14 Tage: Unkoordinierte Hilfe kann nur schaden. Ich würde sehr darum bitten, daß bei der Beobachter-Mission in Windhuk eine Clearing-Stelle eingerichtet wird, die die Maßnahmen koordiniert, damit auch ein sinnvoller Beitrag geleistet wird.
Ich halte das für eine ganz wichtige Sache.
Schließlich zur kulturellen Zusammenarbeit: Es gibt, wie die Fachleute wissen, inzwischen eine „Namibisch-Deutsche Stiftung für kulturelle Zusammenarbeit" . Sie bereitet Deutschkurse vor, d. h. den Erwerb des Zertifikats für Deutsch, das in anderen Teilen der Welt bei den Goethe-Instituten erworben werden kann. Es gibt — und das beantwortet Ihren Zwischenruf von eben, Herr Kollege Feilcke — eine klare Aussage des für Erziehungsfragen zuständigen Sekretärs der SWAPO, der verbindlich erklärt hat, daß an die Stelle des Afrikaans in Zukunft neben Englisch als zweite Sprache Deutsch treten soll. Wenn das so ist — und ich zweifle nicht an dieser Aussage —, sollten wir dies unterstützen und sollten auch die genannte Stiftung finanziell in den Stand setzen, jetzt schon mit der Arbeit zu beginnen.Meine Damen und Herren, ich freue mich, daß wir hier heute zu einer einheitlichen Beschlußfassung kommen. So gut manche Anregungen im Antrag der GRÜNEN sind, ich glaube, daß es heute bei der Kürze der Zeit nicht mehr möglich ist, dazu eine Meinung herbeizuführen. Dies ist der einzige Grund, aus dem wir, um die Gemeinsamkeit nicht zu gefährden, bei dem Beschluß des Auswärtigen Ausschusses bleiben. Einigkeit in dieser wichtigen Frage „Namibia" ist — ich habe das von Anfang an betont — wichtig.Schließen möchte ich, indem ich alle bitte, daß wir weiter gepflegt miteinander umgehen, damit wir nicht, wie der Bundeskanzler es gestern sagte, in dieser Frage gepflegt miteinander untergehen.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Hornhues.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich begrüße nachdrücklich, daß es gelungen ist, für die Beschlußempfehlung, die der Auswärtige Ausschuß dem Bundestag heute abend zur Beschlußfassung vorlegt, eine doch recht breite Mehrheit zu finden. Es wäre nicht schade gewesen, wenn sie noch breiter gewesen wäre, aber was jetzt nicht geht, kann ja vielleicht irgendwann noch kommen; Einsicht sollte man nie ausschließen.Meine sehr geehrten Damen und Herren, wir machen mit dieser Beschlußempfehlung unser Interesse an einem friedlichen Wandel zu einem unabhängigen Namibia deutlich, indem wir die Bundesregierung in ihrem Bemühen unterstützen, die Vereinten Nationen wiederum zu unterstützen; indem wir die Bundesregierung auffordern, im Übergangsprozeß den Erhalt der wirtschaftlichen Grundlagen Namibias nicht aus den Augen zu verlieren;
indem wir die südafrikanische Regierung an ihre Verpflichtungen gegenüber Namibia erinnern; indem wir die Bundesregierung zum vertrauensbildenden fortgesetzten Dialog mit allen politischen und gesellschaftlichen Kräften ermuntern und uns selbst zu gleichem verpflichten; indem wir uns verpflichten, gegenüber allen für freiheitliche, rechtsstaatliche, demokratische Verhältnisse in Namibia einzutreten und auf die Einhaltung der diesbezüglichen Vereinbarung von 1982 zu drängen — und wenn wir uns selber dazu verpflichten, erwarten wir von der Bundesregierung natürlich, daß sie gleiches tut —; indem wir die Bundesregierung auffordern, in Absprache mit den wichtigsten Kräften Namibias die Aufnahme umfassender entwicklungspolitischer Zusammenarbeit vorzubereiten, da unserer Auffassung nach Namibia ein besonderer Schwerpunkt deutscher entwicklungspolitischer Zusammenarbeit werden soll,
und indem wir die Deutschsprachigen in Namibia ermuntern, sich konstruktiv für die Gestaltung des Übergangsprozesses und des bald unabhängigen Namibia einzusetzen. Im Rahmen der kulturellen Zusammenarbeit wollen wir Namibia unterstützen, mit ihm zusammenarbeiten und uns dabei auch für die berechtigten Interessen der Deutschsprachigen im Lande einsetzen.
Wir begrüßen, daß die Bundesregierung inzwischen in einer Reihe von Punkten, die in aller Knappheit noch einmal angesprochen seien, bereits aktiv geworden ist, daß Gespräche geführt und Gespräche fortgesetzt werden in dem Sinne, wie ich es gerade ange-
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Dr. Hornhuesdeutet habe. Denn ich glaube, die Phase bis zur Unabhängigkeit beinhaltet noch eine Fülle von Schwierigkeiten, und wer meint, da könne man doch nicht helfen und unterstützend tätig sein, der irrt.
Ich denke, für viele Seiten in Namibia ist diese Assistenz, wenn Sie so wollen, nicht ein Aufdrängen, sondern es gibt die dringende Bitte an uns alle, dort zu helfen, damit es möglichst gut geht.Gestatten Sie mir eine persönliche Bemerkung. Bei all dem, was ich begrüße, unterstütze, zu dem ich auffordere und wiederum begrüße, daß Aufforderungen schon Folge geleistet wird, muß ich doch ganz persönlich für mich — ich möchte niemanden dafür in Anspruch nehmen — sagen, daß ich es bedauere, daß bei der Friedenstruppe für Namibia Soldaten der Bundeswehr nicht mit dabei sind.
Ich hätte mir gewünscht, daß sich unsere besondere Verantwortung im Rahmen einer Friedenstruppe, die gerade den Friedensnobelpreis verliehen bekommen hat, für den friedlichen Wandel in Namibia hätte niederschlagen können.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich möchte wie in der Debatte vor drei Wochen die Aufforderung und Bitte an Kirchen, gesellschaftliche Gruppen und Stiftungen, die in einer großen Zahl persönliche Kontakte zu Namibia haben, erneuern, wiederum gemeinsam daran mitzuwirken, daß dieser Übergang friedlich geschieht, daß man denen entschieden entgegentritt, die seltsame Parolen ins Land streuen, damit der Übergang zu einem demokratischen Namibia gelingen möge.Ich will nicht schließen, ohne der Hoffnung Ausdruck zu geben, daß die Entwicklung, die nunmehr in Namibia Platz greift, nicht nur für Namibia selber eine gute Zukunft mit sich bringt, sondern auch Fortsetzung in der Lösung der Konflikte in der Region, ob in Angola oder Mosambik, erfährt, daß auch Südafrika sieht, daß es Wege des Miteinanders gibt, zu einer Lösung zu kommen. Ich hoffe, daß sich der gerade in den letzten Tagen gefaßte Beschluß der Nederduitse Gereformeerde Kerk, der NGK, in Südafrika, der Hauptideologieträgerin der Apartheid, sie sei der Auffassung, Apartheid sei Sünde, und sie schäme sich für das, was sie an ideologischer Unterstützung für Apartheid in der Vergangenheit getan habe, im Lande weiter ausbreitet und mit dem vorhersehbaren Wandel in Südafrika der Weg zu dem, was wir dort immer fordern und unterstützen sollten, freier und offener wird, nämlich daß die Menschen im Lande und jeder Vertreter in Gesprächen endlich eine gemeinsame friedliche Lösung auch für Südafrika finden.Ich möchte schließen, meine sehr geehrten Damen und Herren, mit guten Wünschen an all die Leute und die Menschen in Namibia, die — viele mit Angst und Besorgnis auf allen Seiten — in den nächsten Wochen in eine Zukunft gehen. Ich möchte Ihnen im Namen meiner Kolleginnen und Kollegen im wörtlichsten Sinne alles Gute und vor allen Dingen eine gute Zukunft wünschen.Herzlichen Dank.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Lippelt.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Entwicklung in Namibia wird von uns allen mit großen Hoffnungen und mit allerdings etwas unterschiedlichen Sorgen verfolgt. Der großen Hoffnung wegen hätten wir es sehr begrüßt, wenn es zu einem gemeinsamen Antrag aller Fraktionen gekommen wäre. Ich denke, wir GRÜNEN haben uns auch kompromißbereit gezeigt, indem wir uns auf einen in der ursprünglichen Konzeption zwischen CDU, SPD und FDP entworfenen Antrag bezogen haben. Wir haben lediglich auf für uns allerdings nicht unwesentlichen Präzisierungen bestanden — und es waren nur sehr wenige —, um Mißverständnisse und Fehlinterpretationen zugunsten des bisherigen Besatzungsregimes zu verhindern. Wir müssen nun feststellen und bedauern, daß die Sorgen, mit denen Sie und wir diesen Prozeß begleiten, eben doch unterschiedlicher Art sind und daß Interpretationsmöglichkeiten dann wohl auch, ich sage vorsichtshalber: aus Zeitgründen doch erwünscht sind. Warum sonst hätte die Zustimmung zu unseren Präzisierungen verweigert werden können?Uns war im Punkt 2 Ihres gemeinsamen Antrags wichtig, die bisherige Besetzung Namibias so zu nennen, wie sie war, nämlich völkerrechtswidrig.
— Ja, das waren die vier Punkte. — Uns war wichtig, zum selben Punkt festzustellen, daß sich die südafrikanische Regierung nicht ihren durch die bisherige Besetzung entstandenen finanziellen Verpflichtungen — wir hätten gern hinzugesetzt „gegenüber der Bevölkerung" — entziehen darf, denn wir bewerten die Verpflichtungen, die sie gegenüber Lehrern und Krankenhauspersonal hat, und die Verpflichtungen, die sie gegenüber nun zu entlassenden Soldaten hat, unterschiedlich. Aus einem auswärtigen Lande weiter finanzierte Söldner — vor dieser Möglichkeit am Horizont graut uns, und die wollen wir nicht.Nochmals festzustellen, daß die Besetzung völkerrechtswidrig war, macht auch deshalb Sinn, weil die südafrikanische Republik ja bisher noch keineswegs erklärt hat, daß sie die von ihr verursachte Außenverschuldung Namibias übernimmt.Die Höhe dieser Außenverschuldung hat auch noch eine andere Seite: Sie hat damit zu tun, daß es dem völkerrechtswidrigen Regime aus eigenen, südafrikanischen Gründen, z. B. der Atomkumpanei mit der Bundesrepublik, nur recht war, wenn sich auch bundesdeutsche Banken und Firmen massiv an der widerrechtlichen Ausbeutung namibischer Ressourcen beteiligt haben. Deshalb erweitern wir nun auch in unse-
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Dr. Lippelt
rem Änderungsantrag unsere Aufforderung um genau diesen Punkt: Unsere Bundesregierung hat Sorge dafür zu tragen, daß alle bundesdeutschen Banken und Unternehmen, die sich entgegen dem Dekret Nr. 1 des UN-Rats für Namibia an der widerrechtlichen Ausbeutung namibischer Ressourcen beteiligt haben, hierfür eine angemessene Entschädigung an die künftig unabhängige Regierung Namibias leisten.Es kann doch nicht so sein, daß wir unsere Augen vor der Außenverschuldung und der Frage, wie sie denn zustande gekommen ist, verschließen, uns statt dessen optimistisch geben und für die Zukunft versprechen, Namibia zu einem besonderen Schwerpunkt deutscher Entwicklungszusammenarbeit zu machen, dazu noch laut Text der drei Fraktionen „unter Nutzung bisheriger Erfahrungen".Manch einer könnte ja meinen, die Ausbeutung etwa der ,,Rossing-Mine" sei auch ein wesentlicher Beitrag zur Entwicklung des Landes gewesen. Wir hatten an dieser Stelle vorgeschlagen, doch zumindest zu sagen „unter Vermeidung bisheriger entwicklungspolitischer Fehler".Schließlich noch Punkt 8 Ihres Antrags: Wir unterstreichen den ersten Satz. Die Aufforderung an die deutschsprachigen Namibier, den Unabhängigkeitsprozeß konstruktiv mitzutragen, ist richtig. Ob allerdings in einem Moment, wo die ökonomischen und sozialen Fundamente des unabhängigen Namibias gelegt werden müssen, wo das Problem der Außenschuld noch so wenig gelöst ist wie das der zurückkehrenden Flüchtlinge, unsere Hauptsorge die Interessen der privilegierten deutschsprachigen Minderheiten sein sollten, das möchten wir denn doch bezweifeln.
— Der Satz in dieser Wendung, aber der Komplex mit allem, was dann folgte, stammt von Ihnen. Das war ein freundliches Entgegenkommen, daß Sie diese Formulierung aufgenommen haben.Nur in dem Maße, in dem das namibische Gemeinwohl gefördert wird, werden auch die Interessen der Minderheit gewahrt bleiben.Abschließend und damit hier kein Mißverständnis aufkommt: Viele Passagen des Mehrheitsantrags tragen wir mit. Unser Änderungsantrag macht das auch deutlich. Wir werden uns auch an der gemeinsamen Delegation zur Beobachtung der weiteren Entwicklung und der Wahlen gern beteiligen. Möge es so sein, daß die gemeinsamen Hoffnungen sich erfüllen und die unterschiedlichen Sorgen hinfällig werden. Dann mag der nächste Antrag ja auch statt eines Antrags dreier Fraktionen ein Antrag des ganzen Hauses sein.
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Dr. Hamm-Brücher.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Gestatten Sie mir eine Vorbemerkung: Wenn man die Debatte vom 24. Februar zu diesem Themenkomplex Namibia noch einmal nachliest — ich habe sie noch einmal nachgelesen; sie war ja teilweise recht kontrovers — und wenn man heute hier einen gemeinsamen Antrag vorlegen kann und auch der Herr Kollege Lippelt weitgehend mit diesem Antrag übereinstimmt, dann kann man eigentlich nur feststellen, wie gut es ist, daß wir in den Ausschußberatungen vernünftige Leute haben, denen es gelingt, zu einem übereinstimmenden Votum zu kommen, das mir in dieser Frage besonders am Herzen lag.Ich möchte mich ganz herzlich bei meinen Kollegen Berichterstattern dafür bedanken, daß wir so schön aufeinander zugeredet haben und es auch fast geschafft hätten.Ich habe vor elf Jahren die Geburtswehen der Resolution 435 miterlebt. Wir waren damals nämlich im Sicherheitsrat und Mitglied der westlichen Kontaktgruppe. Wenn ich die lange, oft leidensvolle Geschichte dieser Resolution an mir vorüberziehen lasse, dann ist es mir ein Anliegen, bei dieser Gelegenheit den Herren — nur solche waren es; hoffentlich werden demnächst auch Frauen dabei sein — im Auswärtigen Amt zu danken, die geduldig und oft am Rande des Scheiterns über elf Jahre so eine Resolution begleitet und sie nun zu einem sehr hoffnungsvollen Ende gebracht haben. Ich möchte Sie, Herr Staatsminister Schäfer, bitten, das den Mitarbeitern des Amtes zu übermitteln, natürlich auch unserem Minister, der oft der einzige in dieser Runde war, der immer wieder gesagt hat: Trotzdem müssen wir die Resolution 435 zum Erfolg bringen; es gibt keinen anderen Weg.
Da ich das miterlebt habe, war mir dieser Dank ein Bedürfnis.Ich möchte noch drei kurze Bemerkungen anschließen.Trotz aller Genugtuung — das kam hier zum Ausdruck — müssen wir uns ganz bewußt sein, daß wir bis zu dem Tag der verfassungsgebenden Versammlung und der Wahlen noch viele schwierige Hürden hinter uns bringen müssen und daß es darauf ankommt — ich glaube, unsere vielen Kontakte, die wir in Namibia haben, können uns dazu befähigen — , daß alle weißen Bürger Namibias im Lande bleiben und nicht weggehen. Dazu müssen wir sie immer wieder ermutigen und auffordern. Ich weiß, wie schwierig das häufig ist. Der Prozeß der Vertrauensbildung, der zarte Ansätze zeigt, muß gefördert werden.
Wir müssen widerstehen und widersprechen, wenn schreckliche Gerüchte von dort auftauchen, wenn immer noch Widerstand gegen den Vollzug, die Durchführung der Resolution 435 laut wird. Wir müssen auf vernünftige Weise dazu beitragen, daß es hier zu einem demokratischen Prozeß kommt und wir am Ende ein demokratisches Namibia aus der Taufe heben können.
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Frau Dr. Hamm-BrücherBitte keine Gewalttaten in diesem Land, in dem so viel Blut unnötig vergossen wurde.Dazu gehört, liebe Kolleginnen und Kollegen — wir haben das im Ausschuß nochmals gehört —, daß auch der Versöhnungsprozeß in Angola Fortschritte machen muß. Dazu gehört auch, daß Waffenlieferungen nach Angola, von welchem afrikanischen Land auch immer, aufhören, daß keine illegalen Waffenexporte, wie auch immer und wo auch immer, hinkommen.
Dazu gehört, daß wir die Entwicklungshilfe, die dieses Land benötigt — wir haben die Fakten gehört: Verschuldung, Defizite, Kulturbedürfnis — , auf den Weg bringen. Ich hoffe sehr, daß das heute das letzte Mal gewesen sein wird, daß wir hier über Namibia debattieren.
— Da sind Sie skeptisch, gut. Aber nach elf Jahren möchte ich einen Moment das Gefühl haben: Im Augenblick können wir uns wieder anderen Problemen zuwenden.Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Wort hat der Staatsminister Schäfer.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Vielen Dank, Frau Hamm-Brücher, daß Sie hier sowohl den Mitarbeitern des Auswärtigen Amtes und selbstverständlich einem der Gründerväter der Resolution 435, dem Bundesaußenminister Genscher, aber vor allem auch den Fraktionen des Hauses gedankt haben. Ich kann mich dem für die Bundesregierung nur anschließen.Nach dem Nachkarten am 24. Februar zu dem, was in den Jahren der Debatten über Namibia vorher passiert war,
sind wir heute in der Lage, einen Antrag zu verabschieden,
der deutlich macht, daß wir uns jetzt der Zukunft zuwenden.Meine Damen und Herren, nachdem die Generalversammlung am 1. März die Finanzierungsresolution für UNTAG verabschiedet hat, sind alle rechtlichen Voraussetzungen erfüllt, um am 1. April mit der Anwendung der Resolution 435 und des hierauf gestützten westlichen Lösungsplans zu beginnen. Wir stellen das mit großer Befriedigung fest.Die Bundesregierung steht zu ihrer Zusage, den Unabhängigkeitsprozeß Namibias mit allen Kräften zu unterstützen. Inzwischen ist der gesamte auf die Bundesrepublik Deutschland entfallende Pflichtbeitrag für UNTAG den Vereinten Nationen zur Verfügung gestellt worden. Die aus freiwilligen Leistungen finanzierten Kraftfahrzeuge für UNTAG werden in wenigen Tagen in Namibia eintreffen und den Vereinten Nationen übergeben. Die ersten Kfz-Techniker werden in wenigen Wochen ausreisen.Wir halten unser Angebot an die Vereinten Nationen aufrecht, uns an der Wahlbeobachtergruppe zu beteiligen. Gestern wurde im Auswärtigen Ausschuß auch darüber gesprochen, eventuell eine Gruppe aus dem Deutschen Bundestag dorthin zu entsenden.
Die diplomatische Beobachtermission der Bundesrepublik Deutschland in Namibia hat ihre Arbeit am 6. März 1989 aufgenommen. Ich bin Ihnen dankbar, Herr Kollege Toetemeyer, für den Hinweis, daß eine Clearingstelle dort für die vielerlei Projekte, die es zum Teil schon gibt oder die in Ansätzen vorhanden sind, vielleicht eingerichtet werden sollte. Ich werde das morgen im Amt gerne vertreten.Wir hoffen, daß die Beobachtergruppe, die diesen Unabhängigkeitsprozeß beobachten wird, uns fortlaufend auch über die innere Entwicklung, den Fortgang der Bemühungen, diesen Wahlprozeß fair und frei zu gestalten, informiert. Ich glaube, daß alles getan wird, daß die uneingeschränkte Verwirklichung der Sicherheitsresolution und des gesamten Lösungsplanes für Namibia von uns allen, aber auch von anderen Staaten, zum guten Schluß gebracht wird.Meine Damen und Herren, die Bundesregierung hat inzwischen den Dialog mit den politischen Kräften Namibias, den sie seit langem pflegt, fortgesetzt. Sie beabsichtigt, in Kürze Repräsentanten wichtiger namibischer Parteien zu Gesprächen nach Bonn einzuladen.Der Besuch von SWAPO-Präsident Nujoma vom 2. bis 5. März in Bonn war ein erster Schritt in einer Reihe von Begegnungen. Dieser Besuch diente dazu, die Haltung der SWAPO zu der Zukunft Namibias aus erster Hand zu erfahren und ihr unsere Überzeugung zu vermitteln, daß eine demokratische und pluralistische Verfassungsordnung die beste Voraussetzung für ein friedliches und prosperierendes Namibia ohne Rassenschranken ist.SWAPO-Präsident Nujoma hat unmißverständlich versichert, daß die SWAPO alle Elemente des Lösungsplans akzeptiert, sie einhalten wird und die Zukunft Namibias auf demokratischer Grundlage gestalten will. Die SWAPO sei zur Zusammenarbeit mit anderen Parteien nach den Wahlen zur verfassungsgebenden Versammlung bereit, und die SWAPO dränge auch darauf, daß die Weißen in Namibia bleiben.Es ist sehr wichtig, daß alle Fraktionen des Bundestages im Rahmen des Besuchprogramms von SWAPO-Präsident Nujoma die Gelegenheit wahrnahmen, mit ihm und seiner Delegation den politischen Meinungsaustausch zu pflegen.Der Bundesregierung geht es bei ihren Gesprächen mit den unterschiedlichen politischen Richtungen in Namibia auch darum, einen Beitrag zum internen Dialog in Namibia über die trennenden politischen und ethnischen Gräben hinweg zu leisten.Wir haben auch dazu beigetragen, den längst überfälligen Dialog zwischen Südafrika und der SWAPO in Gang zu bringen. Ich bin sehr froh, daß der südafrikanische Botschafter, der sich heute offiziell zu einem
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Staatsminister SchäferAbschiedsbesuch bei mir befunden hat — er geht als Sonderbotschafter Südafrikas nach Namibia — , uns gedankt hat, daß dieses Gespräch in Bonn zustande kam und daß — wir hoffen es — weitere Gespräche in Gang kommen werden. Sie können dem entnehmen, daß er mit dem Verlauf des Gesprächs zufrieden war.Die Bundesregierung wird sich auch in Zukunft bemühen, diesen Dialog zu fördern. Auch in Südafrika sollen die Menschen erkennen, daß die Gegner von gestern zu Gesprächs- und Vertragspartnern von heute werden können.Kontakte zwischen den Parteien Namibias, aber auch zwischen Südafrika und der SWAPO sind wichtig, um Versuchen einer Störung des Unabhängigkeitsprozesses entgegenzuwirken und, meine ich, um schon im Vorgriff auf die Unabhängigkeit Namibias das Verhältnis zueinander zu regeln; denn man muß ja miteinander leben, wenn man unabhängig ist. Man befindet sich zum Teil — Herr Kollege Hornhues, Sie wissen das — in einer gewissen Abhängigkeit, auch was die Wirtschaftslage in Namibia betrifft.Meine Damen und Herren, es ist nicht völlig auszuschließen, daß es Störungen geben wird. Die Bundesregierung appelliert an alle am Unabhängigkeitsprozeß beteiligten Kräfte, von Gewaltaktionen und anderen Störungen dieses Prozesses Abstand zu nehmen.In den Beratungen im Auswärtigen Ausschuß und im Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit über die zu Namibia vorgelegten Anträge der Fraktionen wurde die Bundesregierung aufgefordert, sich auf eine breite und intensive Zusammenarbeit mit dem unabhängigen Namibia vorzubereiten. Ich begrüße dies ausdrücklich. Die Vorbereitungen innerhalb der Bundesregierung für diese Zusammenarbeit sind angelaufen. In Abstimmung mit dem Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit, dem Bundesminister für Finanzen und dem Bundeskanzleramt wird gegenwärtig unter Federführung des Auswärtigen Amtes eine Konzeption für diese Zusammenarbeit ausgearbeitet. Diese Konzeption für eine umfassende Zusammenarbeit mit dem unabhängigen Namibia soll der Bedeutung entsprechen, die alle Fraktionen in diesem Haus unseren Beziehungen zu Namibia beimessen. Zur Verwirklichung dieser Konzeption wird die Bundesregierung die Unterstützung und den Rat des Deutschen Bundestages brauchen.Vielen Dank.
Nach dieser Debatte kommen wir zur Abstimmung, und zwar zunächst über den Änderungsantrag der Fraktion DIE GRÜNEN auf Drucksache 11/4233. Er ist soeben verteilt worden. Wer stimmt diesem Änderungsantrag zu? — Wer stimmt dagegen? -- Enthaltungen? — Dieser Antrag ist mit den Stimmen der SPD, der CDU/CSU und der FDP abgelehnt worden.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlußempfehlung des Auswärtigen Ausschusses auf Drucksache 11/4205. Wer dieser Beschlußempfehlung zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Diese Beschlußempfehlung ist bei Enthaltung der Fraktion DIE GRÜNEN angenommen worden.
Ich rufe auf den Tagesordnungspunkt 16: Beratung des Antrags der Fraktion der SPD
Gemeinsames Programm von Bund und Ländern zur Fortsetzung der Öffnungspolitik an den Hochschulen
— Drucksache 11/4141 —Überweisungsvorschlag des Ältestenrates:
Ausschuß für Bildung und Wissenschaft Ausschuß für Forschung und Technologie Haushaltsausschuß
und den heute nachmittag auf die Tagesordnung gesetzten Zusatzpunkt:
Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/ CSU und der FDP
Gemeinsames Hochschulsonderprogramm von Bund und Ländern zur Erweiterung der Ausbildungskapazität in besonders belasteten Studiengängen
— Drucksache 11/4223 —
Interfraktionell ist eine Debattenzeit von 45 Minuten vereinbart worden. Erhebt sich dagegen Widerspruch? — Das ist offensichtlich nicht der Fall. Ich darf das als beschlossen feststellen und die Aussprache eröffnen. Das Wort hat der Abgeordnete Kuhlwein.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir Sozialdemokraten sind in den letzten Tagen häufig gefragt worden, warum wir diese Initiative im Parlament zum Sonderprogramm von Bund und Ländern zur Fortsetzung der Öffnungspolitik eingebracht haben. Da wurde gesagt, spätestens durch die Vereinbarung zwischen Bund und Ländern vorn 10. März und die darauf folgenden Beschlüsse der Bund-Länder-Kommission für Bildungsplanung und Forschungsförderung sei das Thema doch abgehakt. Das ist vordergründig sicher richtig. Aber es gibt genügend Hintergründe, die eine Beratung dieses Programms im Parlament rechtfertigen und erforderlich machen:Erstens. Der Deutsche Bundestag hat das Recht und die Pflicht, sich mit einem Programm zu beschäftigen, das nach der Gemeinschaftsaufgabe nach Art. 91 b Grundgesetz finanziert wird. Schließlich soll das Parlament die Mittel dafür zur Verfügung stellen.Zweitens. Wenn schon der erforderliche Nachtragshaushalt noch nicht in Sicht ist, muß der Bundestag wenigstens jetzt Gelegenheit haben, zu der Vereinbarung Stellung zu nehmen.Drittens. Stellungnahme zu dem Programm heißt auch eine inhaltliche Beschäftigung mit seinen Zielen und der Verteilung der Mittel auf die vielen Brennpunkte im Hochschulbereich.Viertens. Inhaltliche Stellungnahme heißt auch die Einordnung des Sonderprogramms in ein notwendi-
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Kuhlweinges mittelfristiges Konzept zum Ausbau und Umbau der Hochschullandschaft.
Ich will nicht verhehlen, daß dem Bundesbildungsminister ein Schritt nach vorn gelungen ist.
Das war zwar ein sehr mühsamer Prozeß, bei dem wir ihm Erfolg gewünscht und ihn auch nach Kräften unterstützt haben, nicht zuletzt durch unseren Antrag bei der zweiten Lesung des Haushalts im vorigen November. Aber ich gestehe, daß wir lange Zeit nicht an einen Erfolg geglaubt haben.
Herr Möllemann, Sie sind dennoch nicht der einzige, der in Bonn Hilfen für die Bildungspolitik der Länder lockergemacht hat. Das ist in den 70er Jahren schon Helmut Rohde gelungen, als er 650 Millionen DM für den Ausbau der Berufsschulen durchgesetzt hat.
Bei allem Lob muß aber auch festgehalten werden, daß dieser Schritt nach vorn eben nur ein Schritt ist. Herr Möllemann hat selber von einem Einstieg gesprochen, nach dem noch mehr kommen müsse. Die Westdeutsche Rektorenkonferenz hat dies vor dem Ausschuß für Bildung und Wissenschaft bestätigt und die Kosten für ein wirklich wirksames Sofortprogramm von Bund und Ländern auf mehr als 500 Millionen DM pro Jahr beziffert. Sie hat dabei dieselben Fächer genannt, die jetzt in der Vereinbarung enthalten sind. Das Sonderprogramm mit dem Volumen von 300 Millionen DM jährlich ist zwar mehr als ein Tropfen auf den heißen Stein. Es ist aber noch lange nicht der erforderliche warme Regen. Wir haben deshalb in unserem Antrag die Höhe der Summe für die Folgejahre ab 1990 nach oben offengelassen.Was den Inhalt des Programms angeht, hätten wir gern einige Akzente verschoben. Wir teilen das Ziel, daß der Numerus clausus in Betriebswirtschaftslehre so schnell wie möglich wieder abgeschafft werden muß. Und wir hoffen, daß die Umsetzung des Programms so schnell geschieht, daß sich in der Zentralstelle für die Vergabe von Studienplätzen schon im Sommer für das Wintersemester eine neue Lage ergibt und neu entschieden werden kann. Das wird allerdings auch davon abhängen, wie schnell Sie, Herr Möllemann, den angekündigten Nachtragshaushalt durchs Parlament bringen. Die Länder erwarten drei Viertel der Jahresrate des Bundes bereits zum 1. Juli.
Wir erinnern noch an frühere Ankündigungen von Ihnen, daß das schon zu Beginn dieses Jahres hätte geschehen sollen.
Wir halten auch den übrigen Kanon der besonders hilfebedürftigen Fächer für richtig. Wir hätten uns allerdings gewünscht, daß auch Geistes-, Sozial- und Kulturwissenschaften bei besonderer Belastung unddort, wo sie besonders belastet sind, ausdrücklich als förderungsfähig genannt worden wären.Wir kennen gemeinsam — und darüber haben wir uns auch schon im Ausschuß unterhalten — die Not an den Fachhochschulen. Weil sich dort die Schere zwischen den Zahlen der Studierenden und des Lehrpersonals besonders dramatisch geöffnet hat, wäre es notwendig gewesen, sie aus dem Programm überproportional zu bedenken. Wir hätten auch gern einen besonderen Akzent bei der Frauenförderung gesehen. Wenn aus dem Programm vor allem Nachwuchswissenschaftler bzw. -wissenschaftlerinnen gefördert werden sollen, dann wäre dies eine gute Gelegenheit gewesen, die katastrophale Benachteiligung von Frauen an der Hochschule wenigstens ein bißchen zu korrigieren.
Wir sind uns im klaren, daß dies bei Fächern wie Informatik oder Elektronik heute noch auf objektive Schwierigkeiten stößt. Aber mindestens in der Betriebswirtschaftslehre hätte man in Übereinstimmung mit dem Hochschulrahmengesetz Empfehlungen zur Frauenförderung vorgeben können.Wir bedauern auch, daß Mittel aus dem Programm nicht für Studentenwerke zur Verfügung gestellt werden können. Wir wissen, daß ein Teil der Probleme studentischen Lebens an den Hochschulen auch mit unzureichenden Mensen, mit zu wenig Beratungskapazitäten und mit katastrophalen Wohnbedingungen zu tun hat. Was den letzten Punkt angeht, sollte der Bund mit den Ländern über die Neuauflage eines Wohnraumprogramms von Bund und Ländern für Studenten sprechen.Und nicht zuletzt die Frage der Mitbestimmung: Der Bundesbildungsminister hätte ein deutliches Signal für mehr Demokratie an den Hochschulen an die Studentinnen und Studenten geben können, wenn er im Zusammenhang mit dem Sonderprogramm und der Vergabe der Mittel die Erprobung neuer Mitbestimmungsmöglichkeiten eröffnet hätte. Herr Möllemann, Sie haben im Januar hier in der Aktuellen Stunde unter dem Beifall auch der linken Seite neue Erkenntnisse zur Frage der Mitbestimmung referiert. Wir warten noch immer auf Ihre Schlußfolgerungen für veränderte Paritäten in einer Novelle zum Hochschulrahmengesetz.
Meine Damen und Herren, das Sonderprogramm kann nicht das letzte Wort bleiben. Diese Einschätzung teilen Sie, Herr Möllemann, mit vielen Bildungspolitikern. Sie müssen dann allerdings auch sagen, wie Sie dies mit Ihrer Finanzpolitik in Einklang bringen wollen, die den höheren Einkommensgruppen Steuergeschenke macht und gleichzeitig die Länder finanzpolitisch stranguliert und damit auch die bildungspolitischen Handlungsmöglichkeiten blockiert.Wir wissen, daß auch in einer langfristigen Perspektive über das Jahr 2000 hinaus mehr als eine Million junge Menschen in der Bundesrepublik studieren werden. Wir haben bis heute etwa 790 000 Studienplätze ausgebaut. Das inzwischen längst überholte
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KuhlweinAusbauziel liegt immer noch bei 850 000. Der Kultusminister von Rheinland-Pfalz hat kürzlich gesagt, dieses Ausbauziel sei „mit Blick auf das Wahlverhalten der jungen Leute" — er hat nicht die Präferenzen für die Parteien gemeint, sonst sähen Sie ganz schlecht aus, Herr Bötsch, sondern die Entscheidung berufliche Ausbildung im Betrieb oder Hochschulstudium — „und mit Blick auf den langfristigen Bedarf nicht länger zu verantworten". Die Bundesregierung sollte in der Bund-Länder-Kommission für Bildungsplanung dafür sorgen, daß diese neuen Erkenntnisse auch in eine neue Planung einmünden. Das betrifft dann nicht nur — das gebe ich zu — den vom Bund mitverantworteten Hochschulbau, sondern auch die Personalentwicklungsplanung der Länder.Der Bund muß dann allerdings auch mit den Ländern vorher klar Schiff machen: Vorfinanzierungen im Hochschulbau in der Höhe von Hunderten von Millionen DM zu Lasten der Länder darf es in Zukunft nicht mehr geben.Und der Zusammenhang zwischen den langen Studienzeiten und den bis heute immer noch unzulänglichen BAföG-Regelungen ist ja auch in diesem Haus heute unbestritten. Den großen Fortschritt, den Sie jetzt machen wollen, werden wir uns sehr genau daraufhin ansehen, ob er wirklich die Veränderungen und die zusätzlich erforderliche soziale Absicherung von vielen Studentinnen und Studenten bringt, die es ihnen ermöglicht, statt Werkarbeit zu machen, lieber schnell zu studieren. Wir werden uns das, wie gesagt, sehr genau ansehen. Mein erster Eindruck ist, daß das eher ein finanzpolitisches Nullsummenspiel wird.
Ich freue mich übrigens, daß die hohen Studentenzahlen diesmal nicht zu einem lauten Klagelied über ein angeblich wachsendes „akademisches Proletariat" geführt haben. Ich finde die Feststellung von Herrn Minister Gölter wichtig, daß es eine nennenswerte Akademiker-Arbeitslosigkeit in der Bundesrepublik Deutschland bisher nicht gegeben habe und daß sie angesichts der wachsenden Nachfrage nach qualifizierten Arbeitskräften auch im nächsten Jahrzehnt nicht zu befürchten sei.Dies, meine Damen und Herren, ist ein Stück neuer bildungspolitischer Konsens. Wir sollten uns deshalb auch abgewöhnen, von einer „Überlast" zu reden. Wir sollten uns als Gesellschaft vielmehr glücklich schätzen, daß wir eine engagierte, kritische und lernfreudige junge Generation haben, die die Hochschule und die Gesellschaft nach ihren eigenen Vorstellungen mitgestalten will. Wir als Politiker haben die Aufgabe, die Rahmenbedingungen dafür zu schaffen.Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
Das Wort hat der Abgeordnete Graf von Waldburg-Zeil.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Lieber Herr Kuhlwein, das Wort vom Konsens greife ich gerne auf. Es hat mich gefreut, zu lesen, daß wir erstmals tatsächlich nicht über Überlastquoten diskutieren. In Ihrem Antrag steht vielmehr: „Öffnungspolitik an den Hochschulen" , und in unserem Antrag steht: „Erweiterung der Ausbildungskapazität in besonders belasteten Studiengängen".Wir sind, glaube ich, heute — anders als in den 60er Jahren, in denen man gemeint hat, Ströme bildungsplanerisch lenken zu müssen, und sich die Bildungsmaschinerie mit Hebeln vorgestellt hat, dergestalt, daß man am Ende der Grundschule, nach der Orientierungsphase und nach der mittleren Reife immer wieder umlenkt,
um zu sehen, wo die Ströme nun letzten Endes ankommen — allgemein zu einer anderen Auffassung gekommen, nämlich zu der, daß sich die jungen Leute entschließen, das zu tun, wozu sie Lust haben, und wir von der Politik her dann sehen müssen, daß wir eben auch die Einrichtungen zur Verfügung stellen, die nun in besonderem Maße angenommen werden.
Herr Kuhlwein, Sie haben schon gesagt, daß Ihr Antrag im Grunde genommen bereits obsolet geworden ist,
weil der Herr Minister offensichtlich schneller „zugeschlagen" hat, als wir Ihren Antrag diskutieren konnten.
In Ihrem Antrag, Herr Kuhlwein, steht ja sehr schön drin: „Die Verteilung der Mittel erfolgt über die BundLänder-Kommission für Bildungsplanung ..." Wenn ich recht informiert bin, hat sie diese mittlerweile verteilt.
— Sicher nicht.
Aber, lieber Herr Kuhlwein: Da wir schon von einem Erfolg des Herrn Bundesbildungsministers gesprochen haben,
drängt es mich geradezu, zu sagen: Ein zweiter Erfolg muß heute ebenfalls gefeiert werden. Was das BAföG betrifft — wir haben uns oft und lange darüber unterhalten — , so gehört es zur sozialen Absicherung dieser großen Studentenzahl,
die wir an unseren Hochschulen mittlerweile haben. Wenn ich daran denke, wie ängstlich wir alle gewesen sind, ob das, was im Bericht des BAföG-Beirates gestanden hat, auch übergebracht werden kann, und
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9944 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 134. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. März 1989
Graf von Waldburg-Zeilwir jetzt sehen, was tatsächlich übergekommen ist, dann kann man, glaube ich, doch ganz ohne Neid sagen: Dies ist ein großer Erfolg. Herr Minister, ich möchte Sie zu diesem Erfolg ausdrücklich beglückwünschen.
Da ist zunächst einmal die Schließung des „Mittelstandsloches".
Sie sind bereit, eine Zwischenfrage zu beantworten, Herr Abgeordneter? — Dann bitte schön.
Graf Waldburg, würden Sie es als großen Erfolg bezeichnen, wenn man die wirklich sehr nachdrücklich begründeten Empfehlungen des BAföG-Beirats in einzelne Stücke zerbröselt? Denn soviel ich weiß, enthält der Vorschlag, der vom Bildungsminister jetzt übernommen wird, wesentliche Elemente der Empfehlungen nicht.
Nein, Frau Kollegin, Sie sind nicht auf dem laufenden. Es ist anders. Alles, was der BAföG-Beirat vorgeschlagen hat, ist mit einer Ausnahme, die er selbst nicht ganz ernstgenommen hat, übernommen worden. Er hat nämlich gesagt, die ganze Schülerförderung solle wieder hereingenommen werden. Gleichzeitig hat er aber gesagt: Wir wissen eh, daß das nicht geht. Dann ist empfohlen worden, welche Schüler in die Förderung genommen werden sollen. Das ist der einzige Punkt, der nicht übernommen worden ist.Aber, Herr Minister — ich weiß gar nicht, ob man es so laut sagen darf — , Sie sind in zwei Punkten sozusagen noch darüber hinaus gegangen. Der BAföG-Beirat hat nämlich noch einige Streichungen beantragt, die jetzt nicht vorgenommen werden. Der eine Streichungsvorschlag betraf die Zweitstudien. Beide Vorschläge des Beirates werden jetzt jedenfalls nicht realisiert. Der Minister geht also noch über die Vorschläge des BAföG-Beirats hinaus.Um es noch einmal kurz zu sagen: Es handelt sich um die Schließung des Mittelstandslochs. Das ist eine ganz entscheidende Frage deshalb gewesen, weil es hier anders als in anderen Bereichen ist. Es geht nicht demjenigen am dreckigsten, der das wenigste Geld hat. Vielmehr war derjenige, der das wenigste Geld gehabt hat, in der Förderung am besten dran.
Wenn das Einkommen aber eine gewisse Schwelle überschritten hatte, begann das Elend, daß man diese Leistung im Grunde aus versteuertem Einkommen erbringen mußte. Die Schließung des Mittelstandslochs erfolgt jetzt, indem der relative Freibetrag von 25 % auf 50 % aufgestockt wird und noch einmal eine Kinder-Komponente von 5 % hinzukommt.Das zweite ist die Studienabschlußförderung. Wir haben bei vielen Debatten unseren Willen zum Ausdruck gebracht, daß die Studenten ihr Studium so schnell wie möglich absolvieren. Aber die Studenten können manchmal nichts dafür, wenn sie das in der Regelzeit nicht schaffen, weil es bei einer hohen Präsenz von Studenten z. B einfach nicht möglich ist, immer die Laborplätze zur Verfügung zu stellen. So kann es dazu kommen, daß ein Student im Grunde genommen ganz ohne Schuld seine Studienzeit nicht einhält.Durch die Studienabschlußförderung, die jetzt auf drei Jahre begrenzt gewährt werden soll — sie wird deshalb begrenzt gewährt, weil wir die Studienzeit verkürzen wollen — , können zukünftig zwei Semester weiter gefördert werden. Das bewerte ich ebenfalls als einen wichtigen sozialen Absicherungsfaktor für die Studenten, was dann auch den überlasteten Hochschulen helfen soll.Hinzu kommen der Krankenversicherungsbeitrag — in Anhörungen von den Studenten auch vielfach gefordert — , beim Schüler-BAföG die Einbeziehung der Fachoberschule 2, die Berufsaufbauschule, die Berufsfachschulen mit dem berufsqualifizierenden Abschluß.Dann gibt es noch einen weiteren Punkt, auf dessen Verwirklichung wir alle überhaupt nicht mehr zu hoffen gewagt haben. Es geht um die Frage, wie das Verhältnis zwischen Zuschuß und Darlehen aussehen soll. Ich mache aus meinem Herzen keine Mördergrube, wenn ich verrate, daß ich ursprünglich dagegen gewesen bin, vom Darlehensgedanken wieder abzugehen. Die Grundlage meines Gedankens war: Wenn es einem Arbeitnehmer zuzumuten ist, ein Darlehen aufzunehmen, das er nach dem Arbeitsförderungsgesetz zurückzahlen muß, sollte das im Grunde auch einem Studenten zugemutet werden.Aber, Herr Minister, Sie haben mich mit einem allerdings genialen Gedankengang überlistet.
Sie haben nämlich gesagt, in dem jetzt gegebenen Darlehen — das klingt ja so, als ob die armen Studenten das Darlehen zurückzahlten — ist natürlich ein versteckter Zuschuß enthalten, und zwar ein ziemlich hoher; denn wenn man 125 DM über viele Jahre zurückzahlt und die Zinsen zuschießt, zahlt man in Wirklichkeit einen verlorenen Zuschuß, wovon der Student aber gar nichts merkt.
Die Idee ist nun: Wenn schneller zurückgezahlt wird, nämlich statt mit 125 DM mit 200 DM, wird statt des verdeckten Zuschusses der Zuschuß wieder offengelegt. Nun gibt es wieder 50 Zuschuß und 50 % Darlehen. Ich kann sagen: Ich bin voll damit einverstanden, daß das auf diese Art und Weise geregelt wird.
Als einziges wäre zu beanstanden, daß die Leistungen, die erbracht werden, keiner Gegenrechnung unterliegen, was eigentlich der Fall sein müßte. Aber ich muß sagen: Im Zeichen enger Staatsfinanzen kann man es im Grunde nur begrüßen, wenn in verantwortungsvoller Weise Schwerpunkte zugunsten der Betroffenen so gesetzt werden, daß sie sozial wirken.
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 134. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. März 1989 9945
Graf von Waldburg-ZeilIch möchte das ganz deutlich machen am strikten Festhalten an der elternabhängigen Förderung. Früher war es so, daß auch Kinder aus Millionärsfamilien dann, wenn die Eltern ihrer Unterhaltspflicht Genüge getan hatten, indem die Tochter z. B. eine Krankenschwesterausbildung gemacht hatte und die Eltern damit ihrer Ausbildungspflicht Genüge getan hatten, in vollem Umfang nach dem BAföG gefördert werden konnten. Daß der Beirat vorgeschlagen hat, dies zu streichen, finde ich nur gerecht, vor allem nachdem die mittleren Einkommen jetzt hineingekommen sind. Wenn jemand jetzt noch herausfällt, kommt er aus einer Familie mit hohem Einkommen, und die kann das im Grunde genommen auch wirklich selbst leisten.Meine sehr verehrten Damen und Herren, verzeihen Sie, daß ich mich etwas länger beim BAföG aufgehalten habe,
aber ich glaube, daß es ganz dringend notwendig ist, sich auch der sozialen Absicherung zuzuwenden, wenn man über die Entlastung der Hochschulen spricht.Nun hätte ich noch gern einiges über Fachhochschulen gesagt, aber ich glaube, meine Zeit geht zu Ende.Ich darf vielleicht damit schließen: Lieber Herr Kollege Kuhlwein, Sie sind der Vorsitzende der Enquete-Kommission „Bildung 2000". Uns hat ziemlich am Anfang bei einem Gutachtergespräch jemand gesagt: Das mit der Zukunft ist eigentlich schwierig; so leicht prognostizierbar, wie wir das immer gedacht haben, ist sie eben doch nicht. Wenn ich noch einmal auf die Eingangsworte zurückkommen darf, dann ist es genau das, glaube ich, worauf wir hinauskommen: Wir wollen gar nicht die Zukunft so genau prognostizieren, sondern wir wollen das, was wir vorfinden, positiv bewerten und danach handeln.Herzlichen Dank.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Wetzel.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zum Hochschulsonderprogramm liegen uns zwei bemerkenswerte Anträge vor: ein Begrüßungsantrag der Regierungsparteien und ein etwas modifizierter Begrüßungsantrag der SPD zu demselben Vorgang. Wir sollen also in dieser trauten, wieder einmal abendlichen Runde, entscheiden, in welcher Form wir das am vergangenen Freitag beschlossene Hochschulsonderprogramm begrüßen wollen.
Gestatten Sie, meine Damen und Herren, daß wir GRÜNEN die Aufgabe dieses Parlaments etwas anders sehen. Diese Aufgabe besteht zunächst einmal darin, zu prüfen, ob und inwieweit das Hochschulsonderprogramm eine hinreichende Antwort ist auf die aktuellen und vorhersehbaren Probleme und Notlagen der Hochschulen. Daß dieses Hochschulsonderprogramm eine hinreichende Antwort sei, wird von niemandem ernsthaft behauptet. Von Herrn Möllemann über die Hochschulpolitiker der Union bis hin zur SPD-Fraktion herrscht die Auffassung vor: ein erster Schritt in die richtige Richtung. Daß das Sonderprogramm ein erster Schritt ist, mag ja sein, aber ist es ein hinreichender erster Schritt?
Vor vier Wochen konnten wir eine erbauliche Pressemitteilung der SPD-Fraktion lesen, in der Sie, meine Damen und Herren zur Linken, zusätzlich zum jetzigen Sonderprogramm ein „Dringlichkeitsprogramm" forderten: In fünf Jahren sollten jährlich etwa 2 000 Stellen, also insgesamt rund 10 000 Stellen, an den Hochschulen neu eingerichtet werden. Dieses zusätzliche Dringlichkeitsprogramm hätte einen jährlichen Betrag von 140 Millionen DM gekostet. Diese Presseerklärung wurde dann von Ihnen nahestehenden Tageszeitungen auf Seite 1 und 2 breitgetreten.
Heute, meine Damen und Herren von der SPD, präsentieren Sie uns einen müden Begrüßungsantrag.
Warum lassen Sie Ihr „Dringlichkeitsprogramm" wie eine heiße Kartoffel fallen, als hätte es dieses nie gegeben?
Herr Abgeordneter Wetzel, dies veranlaßt den Abgeordneten Kuhlwein, um eine Zwischenfrage zu bitten.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich hatte mir vorgenommen, Zwischenfragen heute abend im Gegensatz zu meiner Gewohnheit nicht zu beantworten, weil ich diese Debatte für lächerlich halte; aber bei Ihnen, Herr Kuhlwein, kann ich mich an diesen Vorsatz nicht halten.
Ich erleichtere Ihnen das, indem ich Ihnen die Zeit nicht anrechne.
Herr Kollege Wetzel, können Sie sich vorstellen, daß ein Abstimmungsprozeß über ein langfristig angelegtes, kostenaufwendiges Hochschulprogramm in einer großen Partei mit vielen Verantwortlichkeiten in den Ländern einige Zeit erfordert und daß es in der Zeit seit Januar noch nicht möglich war, diesen Prozeß zum Abschluß zu bringen? Würden Sie zugestehen, daß Sie künftig mindestens in einem Land nach der Finanzierbarkeit von Anträgen möglicherweise zunächst einmal fragen und darüber verhandeln müssen, bevor Sie finanzwirksame Forderungen hier im Deutschen Bundestag erheben?
Herr Abgeordneter, ich bin großzügig genug, ich rechne es Ihnen nicht an.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Abgeordneter Kuhlwein, ich freue mich darauf, daß in einer möglichst großen Zahl künftiger Fälle seitens der GRÜNEN Abstimmungsbedarf mit Ihren Landesregierungen besteht. Darauf freue ich mich.Zum zweiten. Sie sagen, ein derartiges Abstimmungsverfahren brauche Zeit; auch da kann ich Ihnen zustimmen. Ich würde es aber für einen Ausdruck seriöser Politik halten, erst dieses Abstimmungsverfahren durchzuführen, dann vor die Presse zu treten
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9946 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 134. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. März 1989
Wetzelund nicht, wie es die SPD getan hat, vor die Presse zu treten und heute zu widerrufen.
— Sie haben dieses Programm fallenlassen; Sie haben heute einen völlig anderen Antrag gestellt. Ich denke, wir hätten über dieses Dringlichkeitsprogramm — das wäre unser Interesse gewesen — hier in diesem Saal sehr ernsthaft debattieren können, vor allem deshalb, weil es in seinen Grundzügen eine Kopie des Antrags der GRÜNEN ist, den wir schon vor Monaten zur Diskussion und zur Abstimmung gestellt haben.
Sie erinnern sich doch: Wir forderten ein Bund-Länder-Programm, in dem Bundesmittel vorgesehen waren, sehr wohl begründet und detailliert, die binnen drei Jahren zur Einrichtung von 9 000 Stellen gereicht hätten.
— Wissen Sie, Frau Kollegin, Parlamentarismus nach der formellen Seite zu betreiben ist eine andere Sache als nach der inhaltlichen. Wir haben uns bemüht, inhaltlich auf die Hochschulmisere einzugehen.
— Dazu gehört auch politische Macht. Ich hoffe, wir werden sie bald haben.
Meine Damen und Herren, nur wer die Größenordnung der aktuellen und voraussehbaren Hochschulprobleme ungeschminkt zur Sprache bringt, verdient es, ernstgenommen zu werden. Sie wissen, den Hochschulen fehlt aktuell wissenschaftliches Personal für die Betreuung von über 600 000 Studenten. Es fehlen ungefähr 40 000 bis 50 000 Stellen für wissenschaftliches Personal. Das jetzt verabschiedete Sonderprogramm befriedigt nur einen Bruchteil des wirklichen Bedarfs und dies nur in wenigen Fächern.Meine Damen und Herren von der SPD, Sie haben Ihr Programm fallengelassen, weil Sie von seiten der SPD-Landesregierungen gesteckt bekamen, daß die Länder keine weiteren Mittel aufbringen wollen. Damit es nicht auffällt, wie sehr auch die sozialdemokratisch regierten Länder vor der Hochschulmisere kapitulieren, haben Sie dieses Programm unter den Tisch fallen lassen.Meine Damen und Herren, weil für heute — das sage ich kurz und bündig — keine ernsthafte Diskussion angesetzt wurde, weil es nur über die Abstimmung alternativer Begrüßungsrituale geht, weil Sie hochschulpolitisch heute auf Große Koalition machen, werden Sie sich nicht wundern, daß wir GRÜNEN diese Debatte für eine Farce halten. Ich darf mich daher für heute abend auf das allerfreundlichste von Ihnen verabschieden.
Das Wort hat der Abgeordnete Friedrich Neuhausen.
Herr Präsident! Meine verehrten Kollegen! Also ich begrüße gerne, sage ich dem Kollegen Wetzel, und komme auch zum Thema zurück.Vier Feststellungen:Erstens. Als sich vor einigen Monaten die schwierige Lage an den Universitäten und Fachhochschulen in bestimmten Studienfächern deutlicher als bisher sichtbar abzeichnete, hat der Bundesbildungsminister unverzüglich, meine Damen und Herren,
eine Initiative zur Erleichterung dieser Situation durch ein Sonderprogramm eingeleitet.Zweitens. Durch die Vereinbarung des Bundeskanzlers — man kann das nicht oft genug im Zusammenhang bringen — mit den Ländern ist das durch Jürgen Möllemann initiierte „Gemeinsame Hochschulsonderprogramm von Bund und Ländern zur Erweiterung der Ausbildungskapazität in besonders belasteten Studiengängen" auf die notwendige breite Grundlage gestellt worden.
Drittens. Der Bundesfinanzminister hat, was den Haushalt 1989, d. h. die auf seiten des Bundes in diesem Jahr benötigten Mittel angeht, die Einbringung eines entsprechenden Nachtragshaushaltes angekündigt.Viertens. Es ist schon gesagt worden, gehört aber dazu: Die Bund-Länder-Kommission hat in dieser Woche den Verteilungsschlüssel für die dann für 1989 zur Verfügung stehenden Mittel des Bundes hinsichtlich der auf die einzelnen Länder entfallenden Anteile festgelegt.Meine Damen und Herren, insgesamt kann gesagt werden: Hier ist beispielhaft initiativ, zügig und gleichzeitig auf der Grundlage sorgfältiger Abstimmungen, also durch und durch seriös gehandelt worden.
Deswegen, meine Damen und Herren, legen die Koalitionsfraktionen heute einen Antrag in der Erwartung vor, daß der Deutsche Bundestag dann durch seine Zustimmung den Stellenwert der vereinbarten Maßnahmen noch einmal deutlich hervorhebt und das Ziel betont, Zulassungsbeschränkungen zu verhindern oder baldmöglichst wieder aufzuheben. Ich glaube, das ist als allgemeiner Konsens festzustellen gewesen.Meine Damen und Herren, in der Öffentlichkeit, in den Ländern, bei Verbänden und Institutionen, jüngst auch noch einmal im Gespräch zwischen der Westdeutschen Rektorenkonferenz und dem DGB, ist das Programm so verstanden worden, wie es gemeint war:
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NeuhausenAls eine — die quantitativen und zeitlichen Rahmenbedingungen realistisch berücksichtigende — Sonder- und Sofortmaßnahme, die ganz ausdrücklich, Herr Kollege Wetzel, nicht den Anspruch erheben kann und soll, sämtliche Probleme der Hochschulen zu lösen, aber trotzdem auch in dieser Hinsicht und im Blick auf weitere, notwendige Schritte ein deutliches Signal setzt.Meine Damen und Herren, Graf von Waldburg-Zeil hat mir die Schau gestohlen, aber ich füge noch hinzu: Von seiten der Koalition sind gerade in diesen Tagen, was die Ausbildungsförderung betrifft, wichtige weitere Verbesserungen eingeleitet worden. Wir befinden uns auf einer breiten Verbesserungsstraße, die wir zügig weiter beschreiten wollen.
Aber was hat, meine Damen und Herren, die Opposition getan? Herr Kuhlwein hat mich auch etwas aus dem Konzept gebracht. Ich wollte nämlich eigentlich sagen: Bisher war es Ihr Bestreben, das, was andere vorbereitet, ausgedacht, verhandelt und durchgesetzt haben, mindestens in Presseerklärungen, als eigenes Produkt auszugeben, was mich immer an den sogenannten Demokrit des 20. Jahrhunderts, Theodor Blieshaimer, erinnert, der einmal gesagt hat:Was schiert mich das Urheberrecht, wenn ich den Rahm abschöpfen will.Heute höre ich nun von Herrn Wetzel, daß Sie auch bei den GRÜNEN in einem ähnlichen Verdacht stehen. Ich will das hier weiter nicht vertiefen, aber zu Ihrem Antrag muß ich sagen, daß er in der Hauptsache Punkte enthält, die, trotz dem, was Sie gesagt haben, ohnehin schon vereinbart oder so gedacht sind. Er reichert diese Punkte außerdem mit Vorschlägen an — Sie haben ein Beispiel genannt — , deren breite Diskussion, etwa zu neuen Gremien, sich verzögernd auf die praktische Umsetzung des Programms in seiner Anlaufphase auswirken müßte. Wenn nämlich, wie zu lesen ist, bereits so viele Anträge von Hochschulen in einer Höhe vorliegen, daß schon von einer Überzeichnung des Programms — jedenfalls jetzt — gesprochen wird, dann ist dieses „Draufsatteln" für das, was not tut, in meinen Augen doch sehr kontraproduktiv.Nein, meine Damen und Herren und lieber Herr Kuhlwein, ich weiß, Sie werden dem Appell nicht folgen. Ich hätte Sie sonst gebeten, Ihren Antrag zurückzuziehen und mit uns in die Begrüßung und in den Dank an alle Verantwortlichen, vor allen Dingen aber an den Bundesbildungsminister für das einzustimmen, was wirklich geschieht und was nicht nur Signal ist, sondern eine sehr konkrete Hilfe.
Damit Sie der eben genannten Aufforderung nachfolgen können, schlägt Ihnen der Ältestenrat vor, dem Antrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 11/4141 — —
— Oh, Entschuldigung. Herr Abgeordneter Kastning, ich bitte um Nachsicht, Sie haben das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich hatte mich bei unserer parlamentarischen Geschäftsführerin nach dem einschlägigen Paragraphen der Geschäftsordnung erkundigt, auf den ich mich hätte berufen können, um die Rede zu Protokoll zu geben. Das hat nicht geklappt, also rede ich.Ich möchte nur Ihnen, Herr Kollege Wetzel, eben noch sagen: Wenn jemand wie Sie sich hier hinstellt und die ganze Debatte als eine Farce bezeichnet und als lächerlich und sich dann höflich verabschiedet, dann sollte er auch die Kraft und den Mut aufbringen, das in die Tat umzusetzen und dieses Haus verlassen.
Vielleicht haben Sie dann für den Rest des Abends auch noch Gelegenheit, einmal — entschuldigen Sie bitte — über Ihre Rolle als Ausschußvorsitzender nachzudenken. Das wäre für uns Bildungspolitiker manchmal ganz nützlich. Das war frech, aber ich mußte das hier einmal loswerden, wenn Sie sich hier so hinstellen, wie Sie es eben getan haben.
Nun noch einmal zu der Bund-Länder-Vereinbarung: Herr Minister, vielleicht hätten wir die Vereinbarung schon ein bißchen früher haben können, wenn Sie nicht — wie ich glaube — die ganze Sache überflüssigerweise mit Dingen belastet hätten, anfangs jedenfalls, die mit der Sache gar nichts zu tun hatten, und wenn Sie, statt die Länder andauernd über deren Verantwortung und finanzielle Verpflichtung öffentlich zu belehren, sich rechtzeitig auf den Hosenboden gesetzt und den finanziellen Bundesanteil gesichert hätten. Dieser ist zwar nicht in Frage gestellt; aber ich will einmal daran erinnern, daß hier am 23. November vorigen Jahres der Herr Minister einen Nachtragshaushalt für den Beginn dieses Jahres angekündigt hat, der nach seinen Worten zum nächsten Semester, sprich: Sommersemester 1989, greifen soll. Dann springt hier spontan der Bundesfinanzminister auf, korrigiert und stellt fest, das Gespräch über ein Gemeinschaftsprogramm — ich zitiere — innerhalb der Bundesregierung sei eigentlich noch nicht abgeschlossen. Es war ein heiterer Abend, wenn ich mich recht erinnere.Am 22. Februar, Herr Möllemann, haben Sie auf meine Frage, ob die Finanzierung rechtzeitig sichergestellt sei, so daß das Programm zu diesem Sommersemester greifen werde, mit einem klaren Ja geantwortet. Dieses Ja war aber offenkundig — ich will nicht sagen: bewußt — eine Irreführung von Parlament und Öffentlichkeit. Weder liegt dem Parlament heute ein Nachtragshaushalt vor noch dürfte die erste Mittelzuweisung an die Länder so erfolgen können, daß damit bereits Maßnahmen für das Sommersemester finanziert werden können.Ich werde den Verdacht nicht los, Herr Möllemann, daß Sie mit Ihrem Nachtragshaushalt und mit Ihrer Wirksamkeitsankündigung ein Opfer des koalitionsinternen Gerangels um den Kassensturz, um den Familienlastenausgleich, und auch ein Opfer der gestern
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Kastningwohl erneut deutlich gewordenen Regierungsunfähigkeit dieser Koalition geworden sind.
— Ich habe nichts abgeschrieben, Herr Bötsch, wie Sie das machen. Ihr Gedächtnis ist sehr kurz.
— Das weiß ich, Herr Bötsch. Das erleben wir oft genug.
— Ah ja, Frau Pack, manchmal könnten Sie ruhig auf andere hören; das würde Ihnen gut tun.Hätten Sie im November vorigen Jahres dem Antrag der SPD auf Einstellung der erforderlichen Haushaltsmittel für dieses Jahr zugestimmt, dann wäre uns dieses ganze Theater im Parlament und auch Ihnen, Herr Minister, erspart geblieben.
Sie haben es gewünscht. Aber es ist traurig, daß andere nicht mitgezogen haben.Herr Präsident, wenn „Theater" nicht parlamentswürdig ist, sage ich: Dieser tragikomische Akt wäre uns erspart geblieben.Meine Damen und Herren, ich gehe davon aus, daß viele Länder nicht so ohne weiteres in Vorleistung treten können, bis die Bundesmittel fließen. Denn sie werden ohnehin wohl auch den größten Anteil der Überlastbewältigung tragen müssen.Lassen Sie mich abschließend aus aktuellem Anlaß noch ein Wort zum Bildungsetat des Bundes sagen. Sie haben in der Pressekonferenz am Montag, Herr Minister, gesagt, wir hätten den Bildungsetat 1989 begrüßt. Das stimmt, ist aber dennoch nur die halbe Wahrheit. Wir haben Ihnen vor einem halben Jahr auch unwiderlegt klargemacht, daß dieser Etat die seit 1983 von der Koalition systematisch durchgeführte Abholzung auch nicht annähernd wieder aufforsten kann.Ihre Ankündigung von Montag, der Bildungsetat benötige künftig — so wörtlich — zweistellige Zuwachsraten, klingt da schon besser und hat mich sehr erfreut. Nach den Erfahrungen mit der nicht zeitgerechten Haushaltsabsicherung des Hochschulsonderprogramms sind wir allerdings sehr gespannt darauf, was Ihr Wort innerhalb dieser Regierung im Herbst noch wert ist. Unsere Unterstützung im Kampf um das Geld haben Sie.Ich möchte aber abschließend auch noch sagen: Wir sind gespannt darauf, was das Wort des Herrn rheinland-pfälzischen Kultusminister Gölter wert ist, der wohl vor kurzem gesagt hat, die Bildungsetats bedürften einer doppelt so hohen Steigerungsrate. Wir werden Sie und auch andere hier im Herbst beim Haushalt beim Wort nehmen.
Das Wort hat der Bundesminister für Bildung und Wissenschaft.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich danke allen, die so freundlich waren, dieses Sonderprogramm positiv zu kommentieren. Ich bin froh darüber, daß wir es zustande gebracht haben.
Ich finde im übrigen die Debatte darüber ansonsten ein bißchen nachhinkend; denn alle wesentlichen Punkte haben wir auch hier schon zeitgerecht erörtert.
Es ist „in trockenen Tüchern" wie man so schön sagt, und zwar durch die Sitzung der Bund-Länder-Kommission gerade in dieser Woche. Frau Kollegin Brunn hat die Ergebnisse der Sitzung dieser Kommission, die einvernehmlich sind, dargestellt.
Herr Kollege Kuhlwein, bedeutet denn Ihr Antrag, daß Sie die sozialdemokratisch geführten Landesregierungen auffordern wollen, daß Ganze wieder in Frage zu stellen? Wir haben uns mit den SPD-Landesregierungen geeinigt. Ich habe keine Lust, daß Sie sich hier hinstellen und Verbesserungsvorschläge machen, während die Sozialdemokraten der Kommission zustimmen. Entweder sind sie eine Partei, die in Bund und Ländern eine gemeinsame Position vertritt, oder sie sind das nicht. Es macht aber doch keinen Sinn, daß wir uns abmühen, zwischen Bund und Ländern zu einem Konsens zu kommen, Ihre Leute dort zustimmen und Sie hier so tun, als wollten Sie wirklich noch etwas ändern. Das ist nicht in Ordnung! Deswegen sage ich das so deutlich.
Sind Sie bereit, Herr Bundesminister, eine Zwischenfrage des Abgeordneten Kuhlwein zuzulassen?
Stets und ständig, vor allen Dingen mit Blick auf die Uhr.
Herr Minister Möllemann, darf ich Sie darauf aufmerksam machen, daß wir hier im Parlament über ein Programm diskutieren, das die Bundesregierung mit den Ländern beschlossen hat, das sie aber auch nur dann finanzieren kann, wenn wir es hier im Parlament diskutiert und beschlossen haben, und daß es deswegen vielleicht etwas klüger gewesen wäre, nicht nur auf Aufforderung von uns im Ausschuß mal einen Zwischenbericht zu geben, sondern frühzeitig im Parlament zu erklären, was denn der Bund für die Gestaltung dieses Programms vorhat, weil in der Grauzone der Bund-Länder-Kommission sonst eine parlamentarisch verantwortliche Mitarbeit nicht mehr möglich ist?
Von einer Grauzone kann ich in diesem Zusammenhang nur dann sprechen, wenn ich vermuten muß, daß Ihre Parteigenossen aus den Bundes-
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Bundesminister Möllemannländern Sie nicht über das, was sie mit uns dort verhandeln, informieren. Soll ich das unterstellen?
— Nein, es kann doch wohl nicht so sein, daß ich mit sozialdemokratischen Regierungsmitgliedern aus den Bundesländern rede und daß Sie hier so tun, als ob Sie informiert werden müßten. Wenn sie Sie nicht informieren, ist es wichtig für mich, dies zu wissen.
— Das ist wohl wahr.
Ich wollte nur sagen, verehrter Herr Kuhlwein: Ich habe darüber informiert, auch im Ausschuß.
— Ja, seien Sie da einmal sehr gelassen. Das habe ich schon des öfteren gehört. Hinterher haben sich manche, die das vorzeitig verkündet haben, sehr gewundert.Sie haben hier dargestellt, Sie hätten Zweifel daran, daß es zum Nachtragshaushalt kommen wird. Ich habe noch im Ohr, wie Sie das seinerzeit behauptet haben. Sie haben auch das Zwei-Milliarden-Programm bezweifelt. Das Programm ist mittlerweile fest vereinbart, der Nachtragshaushalt wird vorgelegt. Es wird auch zu den im Programm festgelegten Daten gezahlt werden. Auch das steht in der Vereinbarung,
die mit den Landesregierungen getroffen worden ist, in denen Sie zum Teil die absolute Mehrheit haben.Der zweite Punkt. Ich habe den Appell von Herrn Kastning gehört — ich unterstütze ihn — , man möge der Empfehlung von Herrn Gölter folgen. Ich finde diesen Appell sehr gut, weil die Bundesländer, wenn sie ihm folgen, tatsächlich ihrer originären Verantwortung für die Grundausstattung der Hochschulen mit Lehrpersonal und Lehr- und Lernmitteln gerecht würden. Da liegt deren originäre Verantwortung.Ich bin sehr zufrieden, Herr Kastning, daß sich die Mittel pro Student im Hinblick auf die Ausstattung der Hochschulen mit Lehr- und Lernmitteln zwischen 1980 und 1987 in folgenden drei Ländern wie folgt entwickelt haben: in Bremen minus 52 %, in Nordrhein-Westfalen minus 45 % und im Saarland minus 42 %. Da haben Sie guten Grund, auf Ihre Freunde einzuwirken, daß sie nicht nur aufhören abzusenken, sondern doppelt so stark wie die Haushalte steigern. In der Tat, sorgen Sie einmal dafür. Das ist schon in Ordnung. Ich hoffe, das geschieht; denn sonst wären die Anstrengungen auf unserer Ebene hier völlig vergeblich. Sie wissen doch genau, welche Zuständigkeiten wir haben und welche nicht.Dritter Punkt. Ich danke sehr herzlich den beiden Kollegen der Koalitionsfraktionen für die Beurteilung und Bewertung der getroffenen Vereinbarung zum Thema „Reform des Ausbildungsförderungsgesetzes". Ich will ganz offen gestehen, daß ich selbst nicht sicher war, ob wir die Empfehlungen des Beirats so weitgehend würden umsetzen können.
— Ich weiß nicht, Herr Wetzel, wie Sie so gemeinhin Hauhaltsrechnungen anstellen.
— Nein, wenn Sie meine Haushaltsrechnungen sehen, können Sie beim besten Willen nicht behaupten, Sie kosteten nichts. Da wir die Empfehlungen des Beirats bis auf einen Punkt vollständig umsetzen und sogar in zwei Punkten darüber hinausgehen, können Sie davon ausgehen, daß dies Maßnahmen sind, die die tatsächliche Lage der Studierenden und ihrer Eltern verbessern.Es gibt einen Punkt, in dem wir den Empfehlungen allerdings bewußt nicht folgen: Wir haben uns gegen eine allgemeine Wiedereinführung des SchülerBAföG ausgesprochen. Hier ist unsere ordnungspolitische Vorstellung, daß es generell — außer in Fällen besonderer sozialer Schwierigkeiten — Aufgabe der Eltern ist, für ihre Kinder in der Schulzeit aufzukommen. Das ist unsere Überzeugung.
Herr Bundesminister, sind Sie, bevor Sie Ihre Rede beenden, bereit, dem Abgeordneten Kastning eine Antwort auf eine Zwischenfrage zu geben, die er zu stellen wünscht?
Ja, gern.
Bitte sehr.
Auch wenn das, wie es im Rahmen der Darstellungen des Herrn Kollegen Graf von Waldburg-Zeil vorhin anklang, schon fix und fertig ist, unterstelle ich — erstens —, daß es ja wohl ein Gesetz dazu geben muß, und daß es — zweitens — dennoch Beratungsbedarf gibt, und frage Sie, Herr Minister, deshalb: Wann gedenken Sie bzw. wann gedenkt die Bundesregierung, dem Parlament einen entsprechenden Gesetzentwurf vorzulegen?
Ich will diesen Gesetzentwurf dem Kabinett im ersten Halbjahr vorlegen. Es gibt ein Prozedere, das es ermöglicht, den Gesetzentwurf so zügig zu beraten, daß er zum 1. Juli nächsten Jahres in Kraft treten kann.
Präzise das ist das Datum — das weiß der Herr Kuhlwein auch sehr genau — , das ich hier von Anfang an genannt habe, weil zu diesem Zeitpunkt auch die nach dem Gesetz vorgesehene generelle Anpassung erfolgt. Frau Traupe, Sie werden beim besten Willen
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9950 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 134. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. März 1989
Bundesminister Möllemannin der Vergangenheit kein Beispiel finden, daß man Gesetzesnovellen zu demselben Gesetz innerhalb eines Jahres zu zwei verschiedenen Stichdaten vorgenommen hätte. Das wäre auch nicht vernünftig. 1. Juli 1990 ist das Datum, das wir vereinbart haben, und dabei bleibt es auch.
Ich will — da wir doch immer so offen miteinander reden — ganz offen sagen: Das ist auch ein unheimlich gutes Datum. Es gefällt mir sehr gut, und zwar aus vielfältigen Gründen.Der letzte Punkt, den ich hier nennen will — damit komme ich zum Ende —, ist: Die Bundesregierung wird sich — das haben Sie ja jetzt auch positiv bewertet — weiterhin für eine vernünftige Politik im Bereich von Bildung und Wissenschaft einsetzen. Auch der Haushalt des nächsten Jahres wird das belegen.Vielen Dank.
Meine Damen und Herren, dann will ich den Versuch fortsetzen, den ich soeben etwas frühzeitig begonnen habe, nämlich Sie zu veranlassen, die Anträge der Fraktion der SPD auf Drucksache 11/4141 und der Fraktionen der CDU/ CSU und der FDP auf Drucksache 11/4223 an die Ausschüsse zu überweisen. Die Vorschläge sind aus der Tagesordnung ersichtlich. Ich nehme an, das Haus ist damit einverstanden. — Dann darf ich dies als beschlossen feststellen.
Ich rufe Punkt 17 der Tagesordnung auf:
Erste Beratung des von den Abgeordneten Frau Krieger, Frau Beck-Oberdorf, Frau Beer, Frau Brahms-Rock, Frau Eid, Frau Hensel, Frau Hillerich, Frau Kelly, Frau Nickels, Frau Oesterle-Schwerin, Frau Olms, Frau Rust, Frau Schilling, Frau Schmidt-Bott, Frau Schoppe, Frau Teubner, Frau Trenz, Frau Unruh, Frau Vennegerts, Frau Dr. Vollmer, Frau Wilms-Kegel, Frau Wollny und der Fraktion DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Sicherung der Entscheidungsfreiheit von Frauen im Schwangerschaftskonflikt
— Drucksache 11/2422 —
Überweisungsvorschlag des Ältestenrates:
Rechtsausschuß
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuß für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit
Der Ältestenrat empfiehlt Ihnen eine Beratungszeit von 40 Minuten, von 10 Minuten pro Fraktion. Ich hoffe, das Haus ist damit einverstanden. Ich mache darauf aufmerksam, daß es sich um eine Höchstredezeit handelt. — Ich darf das als beschlossen feststellen.
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Krieger.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir debattieren hier heute über eine Forderung, für die seit Beginn dieses Jahrhunderts Millionen Frauen und Männer immer wieder auf die Straße gegangen sind, eine Forderung, an der sich zuBeginn der 70er Jahre die neue Frauenbewegung ent- zündete, und eine Forderung, die in der Weimarer Zeit genauso akutell war wie heute: Der § 218 muß endlich ersatzlos gestrichen werden.
Endlich sollen sich Frauen wirklich frei fürs Kinderkriegen entscheiden können, und dazu ist nun einmal Voraussetzung, daß sie sich auch dagegen entscheiden können. Solange Frauen ihrer biologischen Gebährfähigkeit quasi schicksalhaft ausgeliefert sind, solange Mutterschaft durch den Druck der Verhältnisse zustande kommt, so lange sind Frauen in dieser Gesellschaft Opfer und nicht selbstbestimmte Subjekte. Die Streichung des § 218 ist eine Grundfrage der Frauenemanzipation.Nach der halbherzigen Reform von 1976 haben viele Frauen gedacht, daß sich mit dem § 218 leben lasse. Zwar ist der Hürdenlauf belastend, zwar sind Zwangsberatung und die Unterwerfung unter die Entscheidung eines Arztes demütigend, zwar sind viele Frauen zur Reise ins Nachbarland gezwungen, aber immerhin bedeutet die Indikationsregelung, daß es die Möglichkeit zur legalen Abtreibung gibt und daß die hunderttausendfachen Verletzungen und Verstümmelungen und die tödlichen Folgen illegaler Abtreibung endlich ein Ende hatten. So manche Frau dachte also, sich mit der neuen Rechtslage abfinden zu können. Jetzt wissen wir: Das war ein Irrtum. Hunderte von Frauen, die in Memmingen mit unsäglichen Methoden erniedrigt und sanktioniert wurden, und Dr. Theissen, dessen Existenz gerade systematisch vernichtet wird, weil er die Selbstverständlichkeit begangen hat, die Entscheidungen der Frauen zu respektieren,
sie sind der lebende Beweis dafür, daß dieser § 218 nicht im mindesten liberal ist. Im Gegenteil, er ist die Grundlage dafür, daß die Memminger Prozesse stattfinden können.Wer glaubt, sich damit herausreden zu können, daß Memmingen ein Einzelfall und daß in Bayern sowieso alles anders sei, hat sich getäuscht; denn Memmingen findet im kleinen längst in der ganzen Republik statt. In Celle wurde eine 16jährige gegen ihren Willen dazu verurteilt, eine Schwangerschaft auszutragen. Der Richter befand, daß das Mädchen, daß im Heim aufgewachsen ist, schließlich in ein Mutter-und-KindHeim überwechseln könnte.
In Köln hat ein Vormundschaftsrichter einem Ehemann die Vormundschaft über die Leibesfrucht seiner Frau übertragen, damit er per einstweiliger Verfügung einen legalen Schwangerschaftsabbruch verhindern könne. In Nürnberg wurden Ärzte und Ärztinnen verurteilt, weil sie zur Indikationsstellung nicht die den Richtern genehme Zeit gebraucht haben. In Rheinland-Pfalz finden auffälligerweise an mehreren Orten parallel Ermittlungsverfahren statt, bei denen Frauen mit ähnlichen Fragen wie in Memmingen traktiert werden.
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 134. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. März 1989 9951
Frau KriegerEs ist immer wieder der § 218, der all dies möglich macht. Dieser Paragraph ist ein höchst flexibles Instrument, das je nach politischer Wetterlage mal lokker und mal restriktiv gehandhabt werden kann, das Frauen mal an der langen Leine läßt und mal an die Kandare nimmt. Und weil es zur Zeit zu viele türkische und zu wenige deutsche Babys gibt, ist im Augenblick die Kandare angesagt, und niemand kann sich mehr damit herausreden, er habe dies alles nicht gewollt. Solange Abtreibung strafrechtlich verboten ist, können Frauen, die abgetrieben haben, verfolgt, gedemütigt und kriminalisiert werden. Deshalb lassen wir uns nicht mehr mit reformierten Varianten des strafrechtlichen Verbots abspeisen, sondern dieser Paragraph muß weg.
Als die GRÜNEN diese Forderung der Frauenbewegung aufgegriffen haben, standen sie zunächst noch relativ allein da. Inzwischen hat sich die Situation verändert. Zahlreiche wichtige Gewerkschaften wie die IG Metall, die DruPa und die HBV fordern die Abschaffung des Abtreibungsverbots, und auch unter den SPD-Frauen hat die Zahl derer, die diese Forderung unterstützen, in den letzten Monaten und Jahren erheblich zugenommen. Die Selbstbezichtigungs- und Anzeigenaktionen in „Stern" , „taz" und anderen Zeitschriften machen deutlich, daß der gesellschaftliche Widerstand gegen den § 218 wächst. Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, werden sich entscheiden müssen, ob Sie sich der Bewegung anschließen wollen oder ob Sie bei der Belobigung des Kriminalisierungsparagraphen verharren wollen. Wir GRÜNEN haben uns jedenfalls eindeutig entschieden, nämlich für das Recht der Frauen, selbst zu entscheiden.An das Lügenmärchen von den Abtreibungen im neunten Monat, die bei einer Streichung des § 218 angeblich gemacht würden, glauben inzwischen doch wohl selbst seine Protagonisten und Protagonistinnen nicht mehr. Alle wissenschaftlichen Untersuchungen beweisen das glatte Gegenteil. Je liberaler das Strafrecht, je aufgeklärter die Bevölkerung, desto weniger wird abgetrieben, und desto früher wird abgetrieben. Tatsache ist, daß in der Bundesrepublik mit ihrem restriktiven Strafrecht viel häufiger und viel später abgetrieben wird als z. B. in Holland.Wer erzählt, Abtreibungen ließen sich völlig vermeiden, lügt sich selbst in die Tasche; denn ungewollte Schwangerschaften wird es immer geben, solange es Sexualität zwischen Frauen und Männern gibt, und die wollen Sie hoffentlich nicht auch noch verbieten.Es läßt sich aber die Anzahl ungewollter Schwangerschaften verringern, und genau darauf kommt es an. Das geht nur durch ein Höchstmaß an Aufklärung und durch die problemlose Zugänglichkeit von Verhütungsmitteln, die einfach anzuwenden sind, die die Lust nicht beeinträchtigen und die nicht zu teuer sind. Wer ungewollte Schwangerschaften vermeiden helfen will, der sollte gutes Aufklärungsmaterial vorlegen, statt es wie Geißler zu vernichten, und der sollte Verhütungsmittel durch die Krankenkassen finanzieren lassen. Wer gegen Abtreibung ist, sollte diesenWeg einschlagen, statt salbungsvolle Reden zu schwingen und Frauen unter Druck zu setzen.Die Obermoralisten sind uns sowieso zutiefst suspekt. Wir konnten ja kürzlich wieder feststellen, daß ein Richter in Memmingen Abtreibung nur bei anderen Frauen verwerflich findet, bei seiner eigenen Freundin dagegen darauf drängt. Diese Doppelmoral ist uns wohlbekannt, und ich gehe jede Wette ein, daß sich unter den ach so christlichen Politikern in diesem Hohen Hause so mancher befindet, der ganz genauso doppelbödig agiert.Wer Abtreibung Tötung oder sogar Mord nennt, der oder die sollte sich einmal klarmachen, welche Konsequenzen diese Auffassung hat. Das ist eine gedankliche Trennung der Frau von ihrer Leibesfrucht, die es in der Realität überhaupt nicht gibt. Ein Embryo ist für mich keine eigenständige Person, sondern existiert als Teil der Frau, genährt von ihrem Fleisch und Blut. Wer diese Einheit gedanklich auseinanderreißt — was übrigens, historisch gesehen, ein relativ neues Phänomen ist, das vor allem auf Grund der technologischen Möglichkeiten des Ultraschalls und der Amniozentese erst zustande kommt — , schafft damit die ideologische Grundlage dafür, daß diese Einheit auch in der Realität auseinandergerissen wird, und zwar mittels Reagenzglasbefruchtung, Embryonenforschung und künstlicher Gebärmütter. Ein solcher Blick auf den schwangeren Bauch einer Frau macht die Frau zur Hülle oder zum „embryonalen Umfeld", wie es die Reproduktionstechnologen ja so schön offen formulieren, und ist deshalb frauenfeindlich. Ein solcher Blick reißt den lebendigen Zusammenhang von sexueller Lust, Schwangerschaft und körperlicher Integrität der Frau auseinander und ist deshalb lebensfeindlich.Nichts ist lebensfeindlicher als die Doppelmoral des § 218, der mit seiner eugenischen Indikation problemlos die Abtreibung eines behinderten Embryos zuläßt und damit knallhart zwischen wertem und unwertem Leben unterscheidet. Nichts ist verlogener als die gängige Praxis in der Bundesrepublik, wonach ausländische Frauen mühelos die Indikation zum Schwangerschaftsabbruch erlangen, weil ihr Nachwuchs nämlich eh nicht erwünscht ist, während deutsche Frauen durch Zwangsberatung zum Austragen überredet werden sollen. Nichts ist grausamer als der gegenwärtige Zustand, in dem bei geistig behinderten Frauen ohne ihr Einverständnis Sterilisationen und Abtreibungen durchgeführt werden — geleugnet und geduldet von der Bundesregierung, die für diese Praxis auch noch die rechtlichen Voraussetzungen schaffen will. Das Recht auf Abtreibung und das Recht auf Kinder hängen untrennbar zusammen. In dieser Republik gibt es beides nicht wirklich. Wir wollen das Recht, uns gegen Kinder entscheiden zu können, ohne dafür gesellschaftlich diskriminiert oder sanktioniert zu werden, und wir wollen das Recht, uns für Kinder entscheiden zu können, ohne dafür mit ökonomischer Abhängigkeit und Doppel- und Dreifachbelastung zahlen zu müssen. Wir fordern das Recht auf Kinder vor allen Dingen für Ausländerinnen, für die sogenannten asozialen Frauen, für die geistig behinderten Frauen, also für alle diejenigen, deren Nachwuchs aus
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9952 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 134. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. März 1989
Frau Kriegerbevölkerungspolitischen Motiven in dieser Gesellschaft nicht erwünscht ist.Das Selbstbestimmungsrecht von Frauen ist unteilbar. Der Kampf gegen den § 218 ist ein Kampf um Menschenrechte für Frauen.
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Verhülsdonk.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die GRÜNEN wollen also, daß die strafrechtlichen Vorschriften über den Schwangerschaftsabbruch ersatzlos gestrichen werden. Der § 218 soll abgeschafft werden. Das bedeutet konkret: Bis in späte Phasen der Schwangerschaft wird es in das Ermessen der Frau allein gestellt, ob sie ihr Kind abtreiben läßt. Es wird ihr lediglich empfohlen, den Abbruch aus medizinischen Gründen so früh wie möglich durchführen zu lassen. Der Grund für diesen Antrag? Frauen sollen endlich frei sein, alte Symbole männlicher Herrschaft sollen fallen, denn, so steht es in der Begründung, der „Schwangerschaftsabbruch war und ist Gegenstand von Herrschaftsinteressen", „die Bestrafung von Abtreibung" ist „daher Ausdruck von Entmündigung und Demütigung" der Frau. Das also ist die Perspektive der GRÜNEN bei dieser so überaus schwierigen Problematik, die so viele Menschen in unserem Land umtreibt.Dieser Gesetzentwurf ist nichts anders als eine Aufforderung zum Verfassungsbruch, und das wissen Sie ganz genau. Unsere Verfassung läßt es nämlich nicht zu, einen Schwangerschaftskonflikt ausschließlich als eine Frage des Selbstbestimmungsrechts der Frau zu sehen.
In dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 25. Februar 1975 wurde vielmehr dem Rechtsanspruch des ungeborenen Kindes auf Leben grundsätzlich Vorrang vor dem Selbstbestimmungsrecht der Frau eingeräumt. Mit dieser Begründung hat das Verfassungsgericht die sogenannte Fristenlösung verworfen, die es der Mutter während der ersten drei Schwangerschaftsmonate freigestellt hatte, über den Abbruch nach eigenem Ermessen zu entscheiden, wenn sie sich — das war damals auch noch Vorschrift — vorher einer Beratung unterzogen hat. Aber auch Beratung soll nach Ihrem Antrag nur noch auf Wunsch geschehen.Der heute geltende Strafrechtsparagraph 218, der nur in eng eingegrenzten Konfliktfällen eine straffreie Abtreibung zuläßt, geht auf die Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts zurück. Über diesen Tatbestand können auch Sie, meine Damen und Herren von den GRÜNEN, sich nicht hinwegsetzen.Ich gehe davon aus, daß Ihnen bei der Vorlage dieses Gesetzentwurfs sehr wohl bewußt war, daß sie für ein solches Gesetz im Deutschen Bundestag keine Mehrheit finden können. Es muß also andere Gründe dafür geben, daß Sie diesen Gesetzentwurf eingebracht haben. Wer die öffentlichen Selbstbezichtigungskampagnen der letzten Wochen mitverfolgt hat, an denen sich auch führende Vertreterinnen der GRÜNEN, Sie z. B., Frau Krieger, beteiligt haben, merken recht schnell, um was es Ihnen geht: Sie wollen Stimmung machen, Bewußtsein verändern, die Frauen aufwiegeln, ihnen suggerieren, es gehe nur um eine Emanzipationsfrage. Da stört es Sie nicht, wenn unsere Gesellschaft noch weiter auseinandergetrieben wird. Sie wollen polarisieren und provozieren.Auch ich weiß natürlich, daß strafrechtliche Sanktionen für den Schutz des ungeborenen Lebens nur begrenzte Wirkungen haben. Auch ich weiß, daß viele Menschen falsche Vorstellungen vom geltenden Strafrecht haben und daß es bei anderen auch an der Akzeptanz dieses Strafrechts fehlt. Auch ich weiß, daß das werdende Leben nicht durch Strafandrohung gegen den Willen der Mutter geschützt werden kann.Ich weiß aber auch um die bewußtseinsbildende Wirkung des Strafrechts, das ja nur — wie könnte es anders sein? — die Ultima ratio, das letzte Mittel des Staates zur Verteidigung unserer Rechtsordnung ist.
Darauf soll der Staat nach Ihrer Meinung nun verzichten, und das in einer Frage, in der es um den Schutz ungeborenen menschlichen Lebens geht. Das fordert Ihre Partei, die im Umweltschutz, im Tierschutz und ganz besonders bei der Fortpflanzungsmedizin genau den entgegengesetzten Weg geht. In diesen Fragen können Sie gar nicht genug kriegen von strafrechtlichen Sanktionen. Da werden diese zum Maßstab staatlichen Handelns schlechthin erklärt. Den Embryo im Reagenzglas wollen Sie strafrechtlich geschützt haben, für das werdende Kind im Mutterleib soll das aber nicht gelten.
Meine Damen und Herren, es ist dieser Widerspruch, der mich und viele andere doch sehr betroffen macht. Ich gehöre weiß Gott zu denen, die die Reduzierung der Abtreibungsdiskussion auf die rein strafrechtlichen Ansätze immer für falsch gehalten hat, weil sie den Menschen in ihren Konflikten nicht gerecht wird. Wir haben uns ja nicht umsonst für die Verbesserung der Schwangerschaftskonfliktberatung durch ein bundeseinheitlich geltendes Schwangerenberatungsgesetz eingesetzt, und wir werden dies auch weiter tun. Wir wollen damit erreichen, daß die Hilfen für die betroffenen Frauen in Notlagen in den Vordergrund gerückt werden.Wir wissen, daß es zumeist nicht nur um wirtschaftliche Probleme geht. Aber da, wo sie bestehen, haben wir entsprechende Hilfen bereitgestellt. Diese Konflikte stellen fast immer einen Komplex von psychischen und materiellen Nöten dar. Häufiger, als viele annehmen wollen, sind Beziehungskonflikte involviert. Langsam spricht sich herum, daß die Frauen sehr oft von ihren Partnern, Freunden, Ehemännern alleingelassen werden, ja zur Abtreibung gedrängt werden. '
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VerhülsdonkMich hat die einseitige Diskussion, die allein den Frauen die Schuld an den Abtreibungen zuschiebt, schon lange geärgert.
Frauen in solchen Not- und Konfliktlagen sind auf Hilfe und Unterstützung angewiesen. Da kann eine qualifizierte Beraterin, die sich ohne Zeitdruck der Schwangeren zuwendet, einen wichtigen Beitrag leisten.In diesen Entscheidungsprozeß sollten, wenn es die Frau selbst will, auch die Väter, die Partner mit einbezogen werden. Wir sollten alle Möglichkeiten nutzen, den Vätern ihre Verantwortung bewußt zu machen.
Unser Ziel kann nicht sein, um des radikal feministischen Anspruchs willen die schwangeren Frauen allein ihren Konflikten zu überlassen und es den Vätern noch leichter zu machen als heute, sich aus ihrer Verantwortung für das werdende Leben davonzustehlen.Sie, die GRÜNEN, machen hier die Freigabe der Abtreibung zum Symbol für einen Sieg der Frauen über die jahrhundertelange Abhängigkeit von den Männern. Ich halte dem entgegen, daß dieses genau im Gegenteil für viele Frauen in neue Abhängigkeiten führen würde. Wie war das doch mit der Verbreitung chemischer Verhütungsmittel? Erst als Symbol für die sexuelle Befreiung der Frau gefeiert, hat gerade die autonome Frauenbewegung, also weitgehend Ihre Klientel, in den vergangenen Jahren die neuen Abhängigkeiten hervorgehoben und problematisiert, die aus der daraus resultierenden einseitigen Verantwortung der Frau für die Verhütung entstanden sind. Sie sollten darüber einmal nachdenken.Meine Damen und Herren, Freiheit ohne Verantwortung ist nur eine Scheinfreiheit. Das gilt auch und gerade für die sexuelle Begegnung zweier Menschen und die daraus entstehenden Folgen. Diese Botschaft sollten auch wir Politiker immer wieder an die Menschen richten.In nahezu allen Politikfeldern machen Sie einen rigoristisch-moralischen Anspruch für sich geltend, vor allem wenn es um Lebensfragen geht. Ständig rufen Sie den Staat in die Verantwortung, daß er die Bürger durch immer neue Auflagen und gesetzliche Regelungen zwinge, mit Leben und Umwelt verantwortlich umzugehen. Das soll beim Embryonenschutz und bei der Ablehnung der pränatalen Diagnostik gelten. In der Abtreibungsfrage scheren Sie sich aber dann den Teufel um Grundsätze und Wertfragen. Hier soll den Frauen suggeriert werden, es gehe ausschließlich um ihre sexuelle Selbstbestimmung, um ihre Befreiung aus jahrhundertelanger Bevormundung.Damit das ganz klar ist: Auch mich bedrückt die Art und Weise, wie die Frauen als Zeuginnen im Memminger Prozeß behandelt worden sind. Das ist sicherlich kein Beitrag zu einer Bewußtseinsbildung zugunsten des ungeborenen Lebens.
Aber noch viel schlimmer ist, was Feministinnen, GRÜNE und einzelne Medien anrichten. Das ist einfach verantwortungslos und hilft denen, denen Sie vorgeben, helfen zu wollen, überhaupt nichts.Wir von der CDU werden diesen Weg nicht mitgehen. Wir werden uns weiter für einen Bewußtseinswandel zugunsten des ungeborenen Lebens einsetzen. Gesetze allein schaffen diesen Wandel nicht. Menschen müssen sie mit Sinn erfüllen, müssen verständlich machen, was sie bewirken sollen. Polarisierung und Demagogie, wie Sie sie betreiben, sind unverantwortlich. Die Union wirbt dafür, daß schwangeren Frauen in Not geholfen wird, wo immer Hilfe möglich ist. Das ist nicht nur eine politische Aufgabe. Diese Aufgabe geht, wie ich meine, alle Bürger an.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. de With.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Titel des Gesetzentwurfes der GRÜNEN täuscht. „Entwurf eines Gesetzes zur Sicherung der Entscheidungsfreiheit im Schwangerschaftskonflikt" , so heißt es. Es handelt sich nicht um ein Gesetz zur Beratungsverbesserung oder Gewährung von Erleichterungen im Schwangerschaftsfall. Die Vorlage streicht in Wahrheit — hier ist es gesagt worden — jede bisherige Strafbarkeit der Abtreibung ersatzlos, bezeichnet als schwere Körperverletzung den Abbruch gegen den Willen einer Frau und gewährt — nicht zu vergessen — für jeden Abbruch durch Ärzte die Leistung der Krankenkassen.Mittelpunkt der Begründung der GRÜNEN sind die Sätze:Während einer Schwangerschaft bilden Mutter und Embryo eine untrennbare Einheit. Deshalb kann der Embryo nicht als eigenes Rechtssubjekt angesehen werden.Dahinter kann wohl nur der Grundgedanke stecken, daß werdendes Leben grundsätzlich allein im Verfügungsrecht der Frau steht. Ich spreche nicht von der Verfügungsgewalt.Das widerspricht der Position der SPD deutlich, wie wir uns auch immer gegen den Slogan gewandt haben: Mein Bauch gehört mir. Das widerspricht der Auffassung der SPD, gleichgültig, zu welcher Form der Strafrechtsregelung sich der einzelne Abgeordnete in freier Abstimmung 1974 hier im Bundestag bekannt hat. Beim Einbringen der Fristenregelung habe ich 1973 in diesem Haus u. a. ausgeführt:1. Werdendes Leben ist grundsätzlich geborenem gleichzuachten; das ist wesentlich und wichtig.2. Wegen des untrennbaren Zusammenhangs des werdenden Lebens mit dem der Mutter ist es jedoch gerechtfertigt und notwendig, die Verantwortung der Mutter mehr als bisher einzubeziehen und deshalb den strafrechtlichen Schutz für das werdende Leben anders zu gestalten als für das geborene.
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Dr. de With3. Die Rate der kriminellen Aborte ist zu senken und auf die Dauer die Rate der Aborte überhaupt.4. Es sollte die Möglichkeit einer ärztlichen Beratung geschaffen werden, die die Schwangere auch anzunehmen bereit ist.Wir haben dazu eine ganze Reihe von begleitenden Maßnahmen eingeführt, z. B. die Krankenkassenleistung für rechtmäßige Schwangerschaftsabbrüche. Das war damals seit Bestehen des Strafgesetzbuches, so meine ich, der erste wirklich gelungene Versuch zur Reform des Abtreibungsparagraphen.Das Bundesverfassungsgericht entschied 1975, daß die Fristenregelung dem Grundgesetz widerspreche, wie ich noch immer meine, zu Unrecht. SPD und FDP haben daraufhin in Respektierung dieser Entscheidung die sogenannte Vierer-Indikationenregelung eingeführt. Sie gilt noch heute. Wir meinen, daß sich diese Vorschriften im Grunde bewährt haben. Die Anwendung ist freilich leider sehr unterschiedlich und zum Teil sehr zu bedauern. Wir meinen aber auch, daß nicht immer und immer wieder — von wem und wo auch immer — der Versuch unternommen werden sollte, sie zu ändern. Daß wir jede Verbesserung der begleitenden Maßnahmen umfassend unterstützen, steht außer Frage. Daß seit dieser Reform Besserungen eingetreten sind, steht — trotz manch gegenteiliger Behauptungen — ebenso außer Frage. Gab es vor der Reform Jahr für Jahr im Schnitt 100 tote Frauen infolge eines verbotenen Eingriffs, gibt es derartige Fälle heute praktisch nicht mehr. War damals die Rede von einer Abbruchrate von jährlich 250 000 bis 260 000 Fällen — die Bischöfe schätzten die Zahl höher ein —, liegen heute die Schätzungen vergleichsweise niedriger.
— Damit wir uns nicht falsch verstehen, Herr Jäger: Genau kann sicher niemand den Unterschied feststellen. Die Tendenz weist aber deutlich eher nach unten als nach oben, so auch die Zahlen — darauf darf ich verweisen — der bei den Krankenkassen registrierten Fälle von Anträgen auf Leistungen der Jahre 1985, 1986 und 1987; ich habe sie mir gestern vom Ministerium geben lassen. Für 1988 haben wir noch keine Zahlen. Sie gingen von 91 884 über 90 387 auf 87 386 zurück. Diese Abwärtskurve ist, meine ich, eindeutig.Gleichwohl — das muß eingeräumt werden — gibt es zu viele Abbrüche und zuviel Verzweiflung und stummes Leiden.Die Frauen meiner Fraktion haben deshalb am 21. Juni 1988 mit gutem Grund ein Sofortprogramm für schwangere Frauen, Mütter und Familien mit dem Vorschlag für einen 22-Punkte-Katalog im Bundestag eingebracht. Ich wünschte, wir kämen damit weiter voran, ehe wir immer wieder mit Fragen nach den Strafnormen beschäftigt werden. Den Grundsatz unseres Konzeptes können sicher alle hier im Raum unterschreiben: Hilfe statt Strafe.
Für die Union besteht gleichwohl kein Anlaß, sich bei dem Antrag der GRÜNEN selbstgerecht im Sessel zurückzulehnen; denn Teile von ihr haben mindestens im selben Ausmaß zur Verunsicherung beigetragen, freilich mit anderen Vorschlägen und Maßnahmen.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Wenn mir die Zeit nicht angerechnet wird.
Ja. — Herr Abgeordneter Jäger, Sie haben das Wort.
Herr Kollege de With, wenn Sie hier von „Hilfe statt Strafe " sprechen, wie würden Sie dann meine Frage beantworten, wie es damit zu vereinbaren ist, daß Ihre Fraktion sämtliche Mittel, die von der Koalition in den Haushalten der letzten Jahre für die Stiftung Mutter und Kind bewilligt worden sind, konsequent abgelehnt hat und daß auch in den SPD-regierten Bundesländern in dieser Richtung nichts passiert?
Das kann ich Ihnen genau sagen: Dieses Gesetz eröffnet erstens keinen Anspruch, so daß in vielen Fällen nicht wirklich geholfen werden kann. Zweitens sind die Mittel so gering, daß in dem einen Land schon nach der Hälfte des Jahres die Kasse leer ist, in dem anderen Land noch eher, so daß das ein totaler und voller Fehlschlag ist.
Wir haben statt dessen alternativ vorgeschlagen, erstens so viele Mittel zu geben, daß sie ausreichen, und daß zweitens ein Anspruch gewährt wird; das haben Sie versäumt.
Meine Damen und Herren, es wird immer und immer wieder versucht, die Kassenleistung beim Abbruch im Falle einer Notlagenindikation zu beseitigen, um damit letztlich die Notlagenindikation selber aushebeln zu können. Wer das tut, privilegiert die Reichen und läßt es zu, daß die Armen und Ungeschickten den Weg zu den Engelmacherinnen suchen. Da wird immer wieder der Versuch unternommen, dogmatisch das Vorliegen einer gesetzlichen Indikation aus dem Bereich der Rechtmäßigkeit auszugliedern, um so letztlich die Kassenleistung einschränken zu können, weil die Kasse nur bei rechtmäßigen Abbrüchen zahlt. Da wird bei der sogenannten Gesundheitsreform die Vorschrift über die erwähnte Kassenleistung nicht in das neue Gesetz übernommen. Da wird versucht, die Beratungseinrichtung „pro familia" an einen Dauerpranger zu stellen. Da wird hartnäckig an einem sogenannten Beratungsgesetz herumgebastelt, das die Schwangere nur kopfscheu machen kann.Und da gibt es schließlich den Abtreibungsprozeß in Memmingen. „Memmingen ist ein bedrückender Zustand", hat am 18. September letzten Jahres Frau
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Dr. de WithSüssmuth gesagt, damals Ministerin und, wie wir wissen, heute Präsidentin dieses Hauses.
Ich sage: Mutig und zutreffend hat sie es gesagt. Damals lief das Verfahren gerade oder eigentlich schon 20 Tage. Dieser bedrückende Zustand hält nunmehr seit mehr als einem halben Jahr an. Er hat sich nicht abgeschwächt. Der bedrückende Zustand hat sich verschärft.Wir wissen seit einer Woche, daß in jener Strafkammer ein Richter wegen Besorgnis der Befangenheit abgelehnt werden mußte, nach einem halben Jahr abgelehnt werden mußte, weil die von ihm geschwängerte Freundin einen Abbruch vornehmen ließ und er dabei — nach Zeitungsberichten — „mehr gesprochen habe" als seine damalige Freundin. Die „Süddeutsche Zeitung" schreibt hierzu:Die scharfen Fragen aber, die der befangene Richter gestellt hat, sind nicht mehr rückholbar. Die Hartnäckigkeit und Verbissenheit des abgelehnten Richters haben den Prozeß schon gestempelt. Der Memminger Prozeß wird auch deshalb als Lehrbeispiel für Fehler im Strafprozeß in die neuere Strafrechtsgeschichte eingehen.Noch bedrückender und spektakulärer aber ist, daß die Staatsanwaltschaft den Befangenheitsantrag der Verteidigung abgelehnt und diesen dazu noch als „Stimmungsmache" bezeichnet hat.
Diesen Staatsanwalt muß sich die bayerische Staatsministerin der Justiz zurechnen lassen. Ihr steht nach § 147 des Gerichtsverfassungsgesetzes in ihrem Land „das Recht der Aufsicht und der Leitung ... hinsichtlich aller staatsanwaltschaftlichen Beamten ... " zu. Natürlich ist es guter Brauch, daß sich der Minister auch bei aufsehenerregenden Prozessen im allgemeinen nur berichten läßt. Und natürlich kann er nicht für jedes Wort des ihm unterstellten Staatsanwaltes geradestehen. Aber wenn ein Minister nicht schon vorher dafür gesorgt hat, daß nur ein wirklich sensibler Ankläger dort agiert, wo Intimstes zur Sprache kommt und deswegen feinfühlige Reaktionen geboten sind, sollte er wenigstens hinterher klarmachen, daß ein derartiges Verhalten von ihm nicht gebilligt wird und nicht gebilligt werden kann
— schon um Weiterungen zuvorzukommen.Unsere seinerzeitige Kollegin Frau Funcke von der FDP, heute die Ausländerbeauftragte der Bundesregierung, hat 1974 angesichts der unterschiedlichen Auffassungen der Abgeordneten zur Art der Reform und der unüberwindlichen Schwierigkeit, das allein Richtige zu finden, sinngemäß erklärt, niemand werde den Saal ohne Schuld verlassen.Wir sind von unterschiedlichem Herkommen und unterschiedlichen Auffassungen. Und es gibt kaum einen verletzlicheren Bereich als den der Regelung und Beurteilung eines Schwangerschaftsabbruchs. Die es angeht, sollten sich deshalb bewußt sein, daß Schuld menschlichem Urteil unterliegt und Fehlurteile menschlich sind: der Gerichteten und der Richtenden.Vielen Dank.
Das Wort hat der Abgeordnete Funke.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich habe mit großer Verwunderung den Gesetzentwurf der GRÜNEN zur Sicherung der Entscheidungsfreiheit von Frauen im Schwangerschaftskonflikt zur Kenntnis genommen. Es handelt sich um einen Vorschlag, der sicherlich nicht der Rechtssicherheit dient und nur zur weiteren Verunsicherung der Bevölkerung, insbesondere der Frauen, führt, und das in einem wirklich ausgesprochen sensiblen Rechtsgebiet. Herr Dr. de With hat ja in seinem Beitrag soeben sehr deutlich gemacht, wie sensibel dieses Rechtsgebiet ist und wie vorsichtig man gerade mit diesen Rechtsvorschriften umzugehen hat.Wir sollten uns auch einmal an die geschichtliche Entwicklung dieses § 218 erinnern. Denn die Rechtsgeschichte zum Schwangerschaftsabbruch war zu allen Zeiten wechselhaft und unterlag in besonderem Ausmaß dem Einfluß gesellschaftlicher, religiöser und sozialer Strömungen. Im Lauf des 19. Jahrhunderts wurde der Schwangerschaftsabbruch in die Strafgesetzbücher übernommen. In Deutschland wurden 1851 und 1871 die ersten Gesetze erlassen, die jeglichen Schwangerschaftsabbruch unter hohe Strafen stellten. 1926 führte eine Gesetzesänderung zur Verminderung der Strafandrohung. Eine strenge medizinische Indikation für den Schwangerschaftsabbruch wurde vom Reichsgericht anerkannt.Die Frage des Schwangerschaftsabbruchs und seiner rechtlichen Behandlung war während der Hitler-Diktatur praktizierte Rassenpolitik. Ein Schwangerschaftsabbruch wurde unter Todesstrafe gestellt, wenn der Lebenskraft des deutschen Volkes Schaden zugefügt wurde.1962 wurde dann ein neues Strafgesetzbuch vorgelegt, in dem eine Herabsetzung des Strafmaßes festgelegt wurde. 1972 sind im Sonderausschuß für die Strafrechtsreform drei Anträge zur Disposition gestellt worden: Die ersten beiden Anträge enthielten einen Lösungsvorschlag auf der Basis von Indikationen, und der dritte Antrag sah die sogenannte Fristenlösung vor. Diese haben wir dann 1974 mit einer sehr knappen Mehrheit hier im Bundestag verabschiedet. Sie wurde durch das Urteil des Bundesverfassungsgerichts im Jahre 1975 für verfassungswidrig erklärt.Auf der Basis des Urteils des Bundesverfassungsgerichts, mit dem wir uns auch im Zuge der Diskussion über das Beratungsgesetz sehr intensiv auseinandersetzen, haben dann die Parteien im Deutschen Bundestag einen Gesetzentwurf eingebracht, der die Indikationslösung gemäß § 218 StGB vorsah. Dieser wurde am 21. Juni 1976 Gesetz.Damit wurde dem Auftrag des Bundesverfassungsgerichts Rechnung getragen: Der Schutz des ungeborenen Lebens und der Schutz der Frau sind Rechtsgüter, die es zu bewahren gilt. Geschulte Ärzte und Ärz-
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Funketinnen befinden heute über die individuelle Konfliktlage der Frau und ihrer Familie. Bei Vorliegen der sozialen Notlagenindikation nimmt der Staat die Strafandrohung des Strafgesetzbuches zurück. Es wird der gesetzliche und tarifvertragliche Kündigungs- und Krankenversicherungsschutz gewährt. Der Schwangerschaftsabbruch wird von der Krankenkasse bezahlt.Wir Liberalen wollen die Rechtssicherheit und den Rechtsschutz für die Frauen, der durch die Existenz des § 218 StGB gewährt ist. Deshalb sehen wir in dem vorliegenden Antrag auch das Bestreben der GRÜNEN, durch die Aufhebung bestehender strafrechtlicher Normen eine weitere Verunsicherung herbeizuführen. Doch eine Akzeptanz bestehender Gesetze und das Bewußtsein, daß Schwangerschaftsabbruch eine Straftat ist, sind — auch für den Rechtsfrieden in der Gesellschaft — wichtig. Die Sicherung der Entscheidungsfreiheit von Frauen im Schwangerschaftskonflikt erreichen wir nicht, wenn wir bestehende bewährte strafrechtliche Vorschriften aufkündigen. Entscheidungsfreiheit für Frauen erhalten wir, wenn sie auf einer sicheren, kalkulierbaren Rechtsgrundlage ihre Entscheidung fällen. Eine Entkriminalisierung führt ausschließlich zu einem Entzug des notwendigen Schutzes des ungeborenen Lebens, dem ich mich als Liberaler ganz besonders verpflichtet fühle.Der vorliegende Gesetzentwurf ist somit ein Angriff auf die derzeitige Praxis des Schwangerschaftsabbruchs. Ich warne — und damit auch die FDP — ausdrücklich davor, durch weitere Diskussionen um den § 218 StGB Entwicklungen in Gang zu bringen und Emotionen aufzukochen, die schwer zu steuern sind und allen, besonders aber den betroffenen Frauen, nur Schaden zufügen können.Auch die Achtung vor der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts sollte uns dazu führen, nicht ständig Urteile des Bundesverfassungsgerichts in Frage zu stellen.
Das Bundesverfassungsgericht hat eindeutig Abstand genommen von Lösungsvorschlägen, wie sie jetzt von den GRÜNEN vorgetragen werden.Die 1976 gefundene gesetzliche Grundlage auf der Basis des Urteils des Bundesverfassungsgerichts hat sich trotz vielseitiger Kritik, die im übrigen auch von den Konservativen gekommen ist, durchaus bewährt. Wir wollen an diesen bewährten Regelungen nichts ändern. Wer den § 218 — von welcher Seite auch immer — in Frage stellt, gefährdet nicht nur den Rechtsfrieden, sondern auch den gesellschaftlichen Konsens in der schwierigen Frage der Entscheidungsfreiheit von Frauen und des Schutzes des ungeborenen Lebens.Danke schön.
Das Wort hat der Bundesminister der Justiz.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Würden wir dem Vorschlag der Fraktion DIE GRÜNEN folgen, würde das ungeborene Leben jeglichen staatlichen Schutzes beraubt. Mit der Wertordnung unseres Grundgesetzes ist dies nicht vereinbar.
Zu den Grundlagen unseres Staates und unserer Gesellschaft gehören die Unantastbarkeit der Würde des Menschen und das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit.
Diese unabdingbaren Grundrechte, die unsere Verfassung garantiert, stehen jedem Menschen nicht erst mit seiner Geburt zu, sondern schon vor seiner Geburt; denn auch das ungeborene Leben ist bereits menschliches Leben.
Hiervon ausgehend hat das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil vom 25. Februar 1975 ausgeführt:
1) Das sich im Mutterleib entwickelnde Leben steht als selbständiges Rechtsgut unter dem Schutz der Verfassung.2) Der Staat hat die Pflicht, sich schützend und fördernd vor das ungeborene Leben zu stellen und es auch gegenüber der Mutter zu schützen.
— Ich meine, daß bestimmte Zwischenbemerkungen und Zwischenrufe darauf hindeuten, daß bestimmte Grundlagen unserer Rechtsexistenz in diesem Lande auch nicht annähernd begriffen worden sind und hier ein großes Maß an Nachhilfeunterricht notwendig wäre, um das zarte Pflänzlein des Wissens auch nur ein bißchen, auch nur im Keim zu züchten. Aber ich habe allmählich Zweifel, ob dies bei Ihnen gelingen könnte.3) Der Gesetzgeber hat zwar bei der Entscheidung darüber, wie er seiner Schutzpflicht nachkommt, einen Gestaltungsspielraum. Er muß jedoch die Mißbilligung von Schwangerschaftsabbrüchen ohne Vorliegen einer anerkannten Indikation deutlich zum Ausdruck bringen; daher darf die Mißbilligung nicht rein formal sein.4) Als letztes Mittel muß auch das Strafrecht — so das Bundesverfassungsgericht —eingesetzt werden, wenn dies für einen effektiven Lebensschutz erforderlich ist.
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Bundesminister EngelhardDer Gesetzgeber hat diese Leitlinien bei der Neufassung der Strafvorschriften über den Schwangerschaftsabbruch beachtet.
Er hat damit gleichzeitig „dokumentiert", daß andere als strafrechtliche Mittel allein — wohlgemerkt: allein — einen wirksamen Schutz des ungeborenen Lebens nicht gewährleisten können.
Dies gilt uneingeschränkt auch heute.
Die ersatzlose Aufhebung der Strafvorschriften über den Schwangerschaftsabbruch stünde daher im Widerspruch zur Verfassung. Der Staat würde seiner Pflicht zum Schutz des ungeborenen Lebens nicht mehr gerecht werden.
Käme der Gesetzgeber dem Ansinnen der GRÜNEN nach, so wäre das Rechtsbewußtsein der Bürger damit erschüttert. Das ungeborene Leben würde als wertlos hingestellt
und als nicht mehr schutzwürdig angesehen und behandelt. Dieser Auffassung widersprechen breiteste Bevölkerungskreise in diesem Land. Dieser Auffassung, wie sie von Ihnen vorgetragen wird, widersprechen alle Befürworter des geltenden Rechts — alle, auch die Befürworter aller vier Indikationen, also auch der Notlagenindikation. Ich meine, gerade auch die Frauen — nicht mehr betroffene, aber auch betroffene — werden sich aus guten Gründen hüten, die Abgeordneten der GRÜNEN zu ihren Sprecherinnen zu erwählen.Die schreckliche Konsequenz einer Aufhebung der §§ 218 ff. des Strafgesetzbuches wäre, daß das Leben erst mit dem Beginn der Geburt strafrechtlich geschützt wäre, nämlich durch die Strafvorschriften über Mord, Totschlag oder Kindestötung. Lebensfähige, gesunde ungeborene Kinder dürften — um nur einmal den nicht auszuschließenden Extremfall herauszuschälen — noch kurz vor ihrer Geburt im Mutterleib zerstückelt werden, ohne daß eine solche Tat bestraft werden könnte.
Ein derartiger Verzicht auf jeglichen Schutz menschlichen Lebens ist eine für mich und für die gesamte Bundesregierung nicht diskussionsfähige Vorlage.
Der Vorschlag ist mit aller Entschiedenheit abzulehnen. Ich meine, er wirft ein bezeichnendes Licht auf die Haltung der GRÜNEN, die sich sonst bei jeder Gelegenheit als die moralische Instanz in unserem Lande aufspielen und vorgeben, den Menschen wie-der in den Mittelpunkt aller Überlegungen gerückt zu haben.
Zu diesen hehren Ansprüchen steht die Mißachtung des werdenden menschlichen Lebens, wie sie in dem vorliegenden Entwurf zum Ausdruck kommt, in einem ganz erschreckenden Widerspruch.
Entsprechend unserer Geschäftsordnung erteile ich der Abgeordneten Frau Saibold das Wort.
Meine Damen und Herren! Auch wenn es mir nach der Debatte im Moment sehr schwerfällt, muß ich doch eine Erklärung abgeben, weil ich den von meiner Fraktion eingebrachten Gesetzentwurf auf Drucksache 11/2422 nicht mittrage. Die Drucksache trägt den Zusatz „(neu)" schon deswegen, weil ich meinen Namen streichen ließ, der ursprünglich darauf stand. Aber ich gehöre ja noch zur Fraktion.
Ich kann es nicht mit meinem Gewissen vereinbaren, die Streichung des § 218 zu fordern, obwohl ich diesen Paragraphen nicht als Schutz des werdenden Lebens betrachte. Aber noch immer werden in unserer Gesellschaft Werte durch das Strafrecht gesetzt. Ich sehe leider noch keinen anderen Ersatz dafür.
Ich befürchte ein Überspringen einer weiteren Grenzmarke in unseren Köpfen oder auch in unseren Herzen, wenn diese Forderung erfüllt wird. Für mich ist Leben und damit eben auch das sogenannte werdende Leben — entweder ist es Leben oder ist es keines — das höchste Gut und auch von höchstem Wert. Mein politisches Engagement entstammt aus der Sorge um unsere Lebensgrundlagen. Ich bin erschüttert, welchen Wert oder besser: welche Wertschätzung alles Lebendige in dieser unserer Gesellschaft eigentlich besitzt. Ich denke nur an die Gentechnik oder an den Umgang mit der Natur. Ich kann und will nicht dazu beitragen, daß sich diese Einstellung eventuell noch weiter verbreitet.
Ich will allerdings nicht verschweigen, daß mein Konflikt darin besteht, daß es heute leider viele Lebenssituationen gibt, in denen Frauen keinen anderen Ausweg erkennen können als die Abtreibung. Diese Frauen müssen dann allerdings auch die Möglichkeit haben, das ohne Schikane tun zu können oder es nicht unter gesundheitlich bedenklichen Umständen tun zu müssen. Doch wenn sich diese sehr oft beklagte Ausweglosigkeit der Frauen ändern soll — dafür will ich arbeiten — , dann bedarf es sehr, sehr vieler anderer gesellschaftlicher und politischer Maßnahmen.
Dieser Gesetzentwurf ist für mich ein Signal in die verkehrte Richtung. Deswegen kann ich seiner Überweisung auch nicht zustimmen.
Meine Damen und Herren, der Ältestenrat schlägt Ihnen vor, den Gesetzentwurf der Fraktion DIE GRÜNEN auf Drucksache 11/2422 an die in der Tagesordnung aufgeführ-
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Vizepräsident Cronenbergten Ausschüsse zu überweisen. Wer stimmt diesem Vorschlag zu? — Wer stimmt dagegen? — Wer enthält sich? — Bei unterschiedlichem Abstimmungsverhalten innerhalb der Fraktionen ist die Überweisung damit angenommen.Wir sind am Schluß unserer heutigen Tagesordnung.Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, den 17. März 1989, 9 Uhr ein.Die Sitzung ist geschlossen.