Gesamtes Protokol
Die Sitzung ist eröffnet.
Meine Damen und Herren, ich rufe den Zusatzpunkt 11 auf:
a) Zweite und Dritte Beratung des von der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Verlängerung des Vorruhestandsgesetzes
— Drucksache 11/1808 —
aa) Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung
Berichterstatter:
Abgeordnete Schemken
Schreiner
Heinrich
Hoss
— Drucksachen 11/3583, 11/3603 —
bb) Bericht des Haushaltsausschusses gemäß § 96 der Geschäftsordnung
— Drucksache 11/3626 —
Berichterstatter: Abgeordnete Strube
Zywietz
Frau Rust
Sieler
b) Zweite und Dritte Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Arbeitsförderungsgesetzes und zur Förderung eines gleitenden Übergangs älterer Arbeitnehmer in den Ruhestand
— Drucksache 11/2990 —
aa) Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung
Berichterstatter:
Abgeordnete Schemken
Schreiner
Heinrich
Hoss
— Drucksachen 11/3583, 11/3603 —
bb) Bericht des Haushaltsausschusses gemäß § 96 der Geschäftsordnung — Drucksache 11/3627 —
Berichterstatter:
Abgeordnete Sieler Strube
Zywietz
Frau Rust
Zu dem Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/ CSU und FDP liegen Änderungsanträge der Fraktion der SPD und der Abgeordneten Frau Unruh sowie ein Entschließungsantrag der Fraktion DIE GRÜNEN auf den Drucksachen 11/3589 bis 11/3591, 11/3601 und 11/3619 vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Beratung drei Stunden vorgesehen. — Das Haus ist damit einverstanden. So beschlossen. Daran wollen wir uns auch halten.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Herr Abgeordnete Schemken.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die 9. Novelle des Arbeitsförderungsgesetzes wird einen weiteren Beitrag zur Stabilisierung und Verstetigung der Arbeitsmarktpolitik bringen. Die Zahl der Erwerbstätigen hat von August bis Oktober um weitere 150 000 zugenommen. Sie liegt um über 170 000 über dem Stand des Vorjahres.
Die Aufwärtsentwicklung hat mittlerweile auch das verarbeitende Gewerbe erfaßt. Dies ist sehr erfreulich. Das verarbeitende Gewerbe profitiert offensichtlich auch von der Belebung der Investitionsnachfrage.
Die Zahl der Arbeitslosen ist erneut gesunken. Sie lag Ende Oktober bei 2,074 Millionen; das sind 26 000 oder 1 % weniger Arbeitslose als im Monat davor. Gegenüber Oktober 1987 ging die Arbeitslosigkeit um 18 400 zurück.
Nun kommt etwas ganz Entscheidendes, das wir uns einmal in Erinnerung rufen sollten: Seit der Regie-
8246 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 114. Sitzung. Bonn, Freitag, den 2. Dezember 1988
Schemken
rungsübernahme im Oktober 1982 sind über 900 000 neue Arbeitsplätze geschaffen worden.
— Das ist eine hochinteressante Betrachtung, Herr Dreßler. Diese fast 1 Million neue Arbeitsplätze ist genau die Zahl, die uns als Mehrarbeitslosigkeit vorhergesagt wurde. Vom DGB und den einschlägigen Instituten — dies wurde von der SPD unkritisch übernommen — wurde eine Arbeitslosigkeit von weit über 3 Millionen, ja bis 3,5 Millionen, prophezeit. Wir liegen aber um 1 Million darunter.
Natürlich ist das Problem der Arbeitslosigkeit auch für uns nach wie vor eine große Herausforderung. Auffällig am Arbeitsmarkt ist, daß Jüngere schneller vermittelt werden können. Die Chancen der Jugendlichen nehmen deutlich zu. Die Arbeitslosigkeit nimmt in diesem Bereich spürbar ab, allerdings — das geben wir zu — zu Lasten der älteren Arbeitslosen. Arbeitslose über 50 Jahre sind im Schnitt zehn Monate und länger arbeitslos. Ihre Vermittlungschancen sind weniger gut. Dies ist auch bei den Behinderten der Fall.
Wir möchten von hier aus einen Appell an die öffentliche Hand und auch an die Länderregierungen richten, mit gutem Beispiel voranzugehen.
Den Behinderten sollte eine Chance gegeben werden. Es wäre ein bedauerlicher Vorgang, wenn wir die Behinderten auf die Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen verwiesen, wenn wir ihnen damit perspektivlos nur kurzfristige Chancen einräumten. Die Behinderten müssen an- und aufgenommen werden;
ihnen stehen Arbeitsplätze zu. Dies ist eine Schwerpunktaufgabe, zugleich auch eine Herausforderung für die Gesellschaft, für die Wirtschaft, für die Kirchen. Wir brauchen jetzt Phantasie und Kreativität. Die Probleme der 90er Jahre werden völlig andere sein, als es noch in den 70er und 80er Jahren der Fall war.
Wir teilen deshalb auch die Sorgen der beiden Kirchen, wenn es um die Langzeitarbeitslosigkeit geht.
— Ja, mit einem veränderten Blick auch auf das Materielle kann Kreativität oft Wunder wirken.
Die Ausgaben der Bundesanstalt für Arbeit
sind eindeutig in den entscheidenden Bereichen der aktiven Arbeitsmarktpolitik von 6,9 Milliarden DM im Jahre 1982 unter der SPD auf über 15 Milliarden DM in diesem Jahr angestiegen. Das ist mehr als eine Verdoppelung. Ich meine, hiermit ist mittlerweile sicherlich eine Obergrenze erreicht, die sich nicht mehr steigern läßt.
Diese Leistungen sind von dem Arbeitslosengeld flankiert. Hier können und dürfen wir auch feststellen, daß wir gerade für die Langzeitarbeitslosigkeit im Laufe dieses Jahres mehr erreicht haben; denn in den 18,5 Milliarden DM für die Ausgaben an Arbeitslosengeld sind 2,4 Milliarden DM enthalten für das, was wir gerade für ältere Arbeitnehmer und ihre entsprechende soziale Sicherung ausgeben.
In den Ausgaben für Qualifizierung und berufliche Bildung hat die Bundesanstalt mittlerweile einen Grad der Leistungshöhe erreicht, der nun wirklich nicht mehr gesteigert werden kann, es sei denn, die Bundesanstalt sollte künftig der alleinige Reparaturbetrieb für Bildungsdefizite sein. Das kann ja wohl nicht angehen. Es wäre auch nicht systemgerecht und würde die Finanzierungsmöglichkeiten einer Solidargemeinschaft völlig überfordern, es sei denn, wir wären bereit, die Beitragssätze weiter in die Höhe zu treiben. Da muß ich Ihnen ehrlich sagen, konnte sich auch bei der Anhörung niemand für diesen Schritt entscheiden.
Das habe ich bei all den Sorgen, die uns vorgetragen wurden, vermißt, ein ehrliches Wort auch zu den Beiträgen.
Der Bund tritt im kommenden Jahr mit über 4 Milliarden DM zur Deckung des Defizits mit ein. Wir begrüßen dies ausdrücklich — das sage ich noch einmal mit Nachdruck — , da hiermit insbesondere auch die Forderungen auf Hilfe bei der Eingliederung der deutschen Aussiedler in den Erwerbsprozeß mitfinanziert wird. Um diesem Anliegen der Aussiedler — und das ist vielleicht auch noch eine ausdrückliche Bitte — stärkeren Nachdruck zu verleihen, wäre es sinnvoll, wenn die Ausgaben für diesen Teil in besonderer Weise ausgewiesen würden.
Wenn wir von Solidargemeinschaft sprechen, kann sicher der, der in Arbeit ist, auch einen Anteil an seiner Weiterbildung leisten; dies zugunsten des Arbeitslosen; dem ist eine solche Eigenleistung nicht möglich, auch nicht zumutbar. Auch diese Erkenntnis sollte bei der Bewertung der Aufgaben der Bundesanstalt für Arbeit zugunsten der Arbeitslosen, insbesondere der Langzeitarbeitslosen, zukünftig eine Rolle spielen. Deshalb ist mit der Konsolidierung der Finanzsituation der Bundesanstalt für Arbeit eine stärkere Konzentration der Mittel auf Zielgruppen in der aktiven Arbeitsmarktpolitik dringend geboten.
Die Wirtschaft und die Tarifparteien werden in Zukunft mehr Verantwortung für die Beschäftigten in der beruflichen Weiterbildung übernehmen müssen. Dies ist wichtig. Wir können nicht nur in Maschinen investieren, wir müssen auch in Bildung investieren. Es ist sehr wesentlich, daß hier die betriebliche Orientierung in der Qualifizierung eine Rolle spielt.
Die Fort- und Weiterbildung muß betriebliche Nähe erfahren. Sie muß sich an der Realität der Technik ausrichten, und sie muß sich an der Wirklichkeit der Arbeitswelt orientieren. Die Bundesanstalt wird
Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 114. Sitzung. Bonn, Freitag, den 2. Dezember 1988 8247
Schemken
sich deshalb zukünftig stärker auf Gruppen konzentrieren müssen, die in ihrer Betroffenheit insbesondere auf unsere Solidarität rechnen dürfen. Das sind die Arbeitslosen, die unmittelbar von Arbeitslosigkeit Bedrohten, die Ungelernten.
Damit wird das sogenannte Windhundverfahren ausgeschlossen, wenn wir mit § 45 AFG den Interessen dieser Arbeitnehmer auch in der Mittelverteilung zu gleichen Bedingungen über das ganze Jahr Rechnung tragen. Windhundverfahren möchten wir nämlich nicht einführen bzw. verhindern. Wer zuerst kommt, darf nicht zuerst mahlen, und die letzten dürfen auch nicht von den sogenannten Hunden gebissen werden.
Die Ausgaben — auch das muß ich noch einmal ausdrücklich der SPD sagen — für die allgemeinen Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen sind von 870 Millionen DM in Ihrer Regierungszeit inzwischen auf 3,3 Milliarden DM im Jahr 1988 gestiegen.
Bei diesem Titel ist eine Konsolidierung dringend geboten. Das muß nicht dazu führen, daß wichtige und dringliche Projekte aufgegeben werden. Wer sagt das? Durch eine angemessene Eigenbeteiligung
kann bei einer strengeren Bewertung der Maßnahmen für die Betroffenen eine größere Chance eröffnet werden.
— Ja: Mehr Kreativität! Wir haben ja das Gespräch mit der EKD und den Vertretern der Bischofskonferenz geführt. Das war ja der Punkt, zu dem man uns fragte: Wo könnt ihr einmal ein Pilotprogramm auflegen, das Langzeitarbeitslosen eine Perspektive, einen Weg eröffnet? Wir müssen an solche Modellvorhaben herangehen. Aber das kann man nicht mit der Gießkanne über das Land bewältigen. Da muß man dort ansetzen, wo es notwendig ist. Dorthin sollen die Mittel fließen. Im übrigen stehen wir auch da zu einer Förderung von 100 %.
Wenn schon Solidargemeinschaft, dann darf es nicht so sein, daß sich gerade die Kommunen um diesen Eigenanteil drücken.
— Das habe ich erwartet. — Nachweislich profitieren die Kommunen stark vom Wirtschaftsboom im Hinblick auf die Gewerbesteuer.
Schauen Sie sich die Haushalte an!
Die Kommunen profitieren vom Anstieg der Einkommensteuer. Da gibt es eindeutig enorme Zuwächse.
Es wäre traurig, wenn sich die Kommunen um die wichtige Frage der Arbeitslosigkeit und der Qualifizierung von Jugendlichen drücken
und hier 100 % fordern würden.
Im übrigen: Ich verstehe Sie nicht.
Ich habe jahrelang als Bürgermeister für Arbeitsstellen nach AB kämpfen müssen. Das hat die ÖTV jeweils abgelehnt. Ich muß im nachhinein sagen: Sie hatte sogar recht. Denn da, wo eine originäre Aufgabe der Kommunen wahrgenommen wird oder wahrgenommen werden soll, da sollte die Kommune diese Stelle einrichten und bezahlen und nicht auf Kosten der Solidargemeinschaft städtische Haushalte sanieren.
Das ist nicht systemgerecht.
Die Strukturfördermaßnahmen oder der Ausgleich zwischen den leistungsstarken und den leistungsschwachen Ländern sollten bewirken — ich bin stolz darauf und froh darüber —, daß das Land NordrheinWestfalen 3/4 Milliarden DM zehn Jahre lang zusätzlich bekommt. Ich kann mir vorstellen: Bei Strukturschwäche sollte man diese 3/4 Milliarden DM in meinem Land für eine aktive Arbeitsmarktpolitik einsetzen. Denn sie führt von der Strukturschwäche weg. Die entscheidende Frage ist, wieweit man bereit ist, solche Maßnahmen in entsprechende Umweltschutzmaßnahmen, Kanalbaumaßnahmen, städtische Maßnahmen überzuleiten, die Vollzeitarbeitsplätze bringen. Nicht aber sollte man zu dem Hilfsinstrument der AB-Maßnahmen greifen, das für den einzelnen Arbeitslosen auf Sicht perspektivenlos ist.
Denn mit einem Jahr kann ich dem Jugendlichen keine Perspektive eröffnen.
Im Gegenteil! Wenn es ein Behinderter ist, dann ist das noch mehr ein Schlag ins Gesicht.
Dort, wo die Arbeitslosigkeit sehr hoch ist, wird
— das wissen Sie sehr wohl — weiterhin die Leistungsgewährung über die Regelförderungssätze hinaus möglich sein. Bei der Senkung des Einarbeitungszuschusses von 70 auf 50 % gehen wir davon aus, daß bei weiterer Entspannung des Arbeitsmarktes auch hier eine vertretbare Einsparung möglich ist.
Behinderte sind von dieser Maßnahme nicht betroffen — das sage ich noch einmal ausdrücklich — , da das Förderinstrument des Schwerbehindertengesetzes unverändert bleibt.
Gleichzeitig muß deutlich gemacht werden, daß die Ergänzung des § 49 AFG hinsichtlich der Bewertung
— das ist ein ganz wichtiger Punkt im Gesetz —, vor allem für Frauen, die wegen der Kindererziehungszeiten längere Zeit nicht erwerbstätig waren, zu einer besonderen Berücksichtigung bei der Gewährung dieser Förderung führt. Wir halten das für ganz wich-
8248 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 114. Sitzung. Bonn, Freitag, den 2. Dezember 1988
Schemken
tig. Denn wenn wir Familie und Kindererziehung wollen, müssen wir bereit sein, den Frauen an dieser Schwelle des Übergangs in die berufliche Welt eine Chance zu eröffnen.
Dies eröffnen wir jetzt mit dieser Betonung im Gesetz ausdrücklich.
Mit dem Gesetz zur Förderung eines gleitenden Übergangs älterer Arbeitnehmer in den Ruhestand bekommen wir eine Altersteilzeitregelung, die Vorteile gegenüber dem bisherigen Vorruhestandsgesetz in folgenden Punkten bringt:
Erstens. Kein abrupter Übergang von der Arbeit in den Ruhestand.
Zweitens. Der Wechsel der Lebenssituation kann damit humaner gestaltet werden.
Drittens. Wertvolle Erfahrungen, gerade älterer Arbeitnehmer, im Wirtschafts- und Erwerbsprozeß bleiben dem Betrieb länger erhalten. Dies ist besonders für mittelständische Betriebe wichtig. Denn Erfahrung ist dort zum überwiegenden Teil unverzichtbar.
Weiter: Die freiwerdende Arbeitsstelle kann mit Teilzeitarbeitskräften, aber möglicherweise auch
— über die Bündelung von mehreren Altersteilzeitregelungen — mit voll arbeitenden Kräften besetzt werden. Hiermit wird dem Produktionsprozeß am Arbeitsmarkt, aber insbesondere dem Aspekt des humanen Übergangs in den Ruhestand Schritt für Schritt Rechnung getragen.
Wir möchten mit dieser Fortschreibung
des AFG, mit den Finanzmitteln, die verfügbar sind
— dies, das darf ich noch einmal ausdrücklich feststellen, auf hohem Niveau —, sicherstellen, daß wir uns den Herausforderungen des Arbeitsmarktes der 90er Jahre stellen können. Dies tun wir, indem wir den Schwerpunkt auf die Qualifizierung insbesondere von Arbeitslosen, von Ungelernten legen. Dies tun wir weiter, indem wir den Frauen, die nach Kindererziehungszeiten in das Erwerbsleben zurückkehren wollen, eine besondere Chance eröffnen. Damit bauen wir auch den hohen Anteil der Frauenarbeitslosigkeit an den 2 Millionen — das sind mehr als 1,1 Millionen arbeitslose Frauen — ab.
Davon sind wir überzeugt. Wie sollte es sonst geschehen, wenn nicht über die Qualifizierung der Frauen für den richtigen Arbeitsplatz?
Dies tun wir.
Wir wollen mit der Altersteilzeitregelung erreichen, daß wir den Übergang von der Arbeit in den dritten Lebensabschnitt oder in den Ruhestand humaner gestalten.
Ich glaube, dieses Gesetz sieht seine Herausforderung
deshalb sicherlich darin, daß wir mit Blick auf morgen
— und da laden wir eigentlich alle ein: die Wirtschaft, die Gewerkschaften —
— ja, wir laden alle ein —, daran mitwirken, daß diese Schwerpunkte auch verwirklicht werden.
Schönen Dank.
Das Wort hat der Abgeordnete Schreiner.
Frau Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zum Abgeordneten Schemken ein Wort: Sie gehören zu der Spezies von Abgeordneten, die ein merkwürdiges Doppelleben führen.
Die Organisation, der Sie angehören, die Christdemokratische Arbeitnehmerschaft, hat in den vergangenen Wochen und Monaten mehrfach an die Bundesregierung appelliert, diesen Gesetzentwurf, die 9. Novelle, zurückzuziehen, weil er zu verheerenden Konsequenzen bei den Arbeitslosen führt. Sie als Vertreter und Mitglied der CDA stellen sich hierhin
und verteidigen den Gesetzentwurf. Man tritt Ihnen ständig in den Hintern, und Sie dürfen öffentlich dazu singen.
Das ist in der Tat ein eigenartiges Verständnis.
Wenn es um diese 9. Novelle geht, darf ich daran erinnern, daß von den 27 Sachverständigen bei der Anhörung im Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung, Herr Bundesminister, nicht ein einziger die 9. Novelle verteidigt hat — von 27 nicht einer! Es gab nicht ein einziges Argument in dieser Anhörung für die 9. Novelle.
Das Problem, das sich mir stellt, ist: Warum machen wir, wenn alle Sachverständigen in einer Anhörung des Deutschen Bundestages den Gesetzentwurf ablehnen und die Bundesregierung an diesem Gesetzentwurf dennoch nahezu unverändert festhält, Sachverständigenanhörungen? Was soll das dann noch, wenn gegen den erklärten Sachverstand der Gutachter
Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 114. Sitzung. Bonn, Freitag, den 2. Dezember 1988 8249
Schreiner
ohne Rücksicht auf Verluste blind durchmarschiert wird? Warum leisten wir uns dann noch Sachverständigenanhörungen?
Ich denke, daß diese Sachverständigenanhörung deshalb besonders beispielhaft war, weil es nicht um billige Lobbypolitik ging.
Es ging darum, die Sachverständigen zu befragen, wie wir die Arbeitsmarktinstrumente gegen Arbeitslosigkeit am sinnvollsten einsetzen können. Ich denke, daß Politikverdrossenheit auch damit zu tun hat, daß — wie in diesem Beispiel — die Fähigkeit zur Selbstkorrektur völlig verlorengegangen ist, gegen erklärte Argumente völlig verlorengegangen ist.
— Zum Geldargument komme ich gleich.
Die Folgen der 9. Novelle in den Kernbereichen sind: massiver Verlust von Qualifizierungsmaßnahmen in einer Zeit, in der Qualifizierung nötiger denn je ist; Abbau von mindestens 30 000 AB-Maßnahmen nach Schätzungen der Bundesanstalt für Arbeit. Die Bundesregierung hat noch am Montag dieser Woche die Zahlen der Bundesanstalt für Arbeit im Ausschuß angezweifelt. Die Bundesregierung ist bis heute nicht in der Lage, deutlich zu machen, was denn nun ihrer Ansicht nach die Folgen der 9. Novelle sind. Die Bundesregierung hat am Montag im Ausschuß erklärt, bei der Bundesanstalt für Arbeit habe sich inzwischen eine Arbeitsgruppe konstituiert, mit dem Auftrag, über die Folgen insbesondere im Bereich der Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen nachzudenken. Das ist eine Bankrotterklärung dieser Bundesregierung.
Es ist skandalös, daß die Regierung nicht in der Lage ist, über die Folgewirkungen einigermaßen seriös Auskunft zu geben.
Ich will Ihnen — es geht ja um die Folgen — aus dem evangelischen Bereich und aus dem katholischen Bereich eine Stimme aus dem Chor der vielen zitieren. Die bischöfliche Pressestelle Trier hat in ihrem Informationsdienst vom 24. November 1988 folgendes erklärt:
„Aus" für 150 ABM-Mitarbeiter bei der Caritas im Bistum Trier und für weitere 120 Jugendliche in Ausbildungsgängen und Arbeitslosenprojekten: Wenn das neue Arbeitsförderungsgesetz .. . ab 1. Januar 1989 in Kraft treten sollte, kann die Caritas ihren dann sprunghaft gestiegenen Anteil an den Personalkosten von Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen in Projekten für Arbeitslose nicht mehr bezahlen. „Die Finanzierungslücke würde zwei Millionen DM betragen. Das können wir aus Eigenmitteln nicht finanzieren." ... Die Gesetzesnovelle trifft nach Ansicht der Caritas besonders hart diejenigen, die durch Arbeitslosigkeit
und unzureichende Qualifikation ohnehin verminderte Chancen haben. Gespart werden solle dabei vor allem zu Lasten Jugendlicher und junger Erwachsener.
— Das ist eine Stimme. Sie mögen ja sagen, daß der Bischof von Trier keine Ahnung hat. Das kann ja Ihre Meinung sein. Sie sollten in der Tat einmal ein bißchen über das C in Ihrer Plakette nachdenken, wenn Sie jetzt auch noch die Bischöfe angreifen.
Ich will Ihnen eine zweite Stimme aus dem Bereich der evangelischen Kirche zitieren. Die EKD bewertet die 9. Novelle des Arbeitsförderungsgesetzes wie folgt:
Es ist schwer zu verstehen, daß in einer Zeit wirtschaftlicher Prosperität und einer über Erwarten guten Haushaltslage an einer so empfindlichen Stelle und in einer solchen Größenordnung Kürzungen vorgenommen werden sollen.
Ich will Ihnen ein letztes Zitat nicht ersparen. Es stammt vom Kirchlichen Dienst in der Arbeitswelt, der meines Erachtens den Nagel auf den Kopf trifft. Ebenfalls zur 9. Novelle des AFG, die hier zur Beratung ansteht, heißt es dort, daß
... die Maßnahmen
— der Bundesregierung in der 9. Novelle —
darauf ausgerichtet sind, Arbeitslosigkeit als Dauerzustand zu akzeptieren, die Last der Arbeitslosigkeit auf die Betroffenen selbst zu verlagern und dem Arbeitsmarkt „entferntere" Personengruppen überwiegend oder endgültig aus dem Leistungsanspruch und der dauerhaften Integration in den Arbeitsmarkt auszugliedern und somit eine beliebig verfügbare Manövriermasse für die Deregulierungs- und Flexibilisierungsstrategie der Bundesregierung zur Hand zu haben.
Das ist präzise der Punkt: Sie benutzen schamlos die Arbeitslosen, um Ihre reaktionäre Deregulierungspolitik im Bereich der Wirtschafts- und Sozialpolitik durchzusetzen.
Meine Damen und Herren, vom Kollegen Schemken ist auf das Defizit der Bundesanstalt für Arbeit hingewiesen worden. Es ist darauf hingewiesen worden, daß der Bund im Jahre 1989 mit 4 Milliarden DM Bundeszuschuß eintritt. Das ist nur die halbe Wahrheit. Die andere Hälfte der Wahrheit ist, daß das Defizit bei der Bundesanstalt für Arbeit im wesentlichen darauf zurückzuführen ist, daß originäre Bundesaufgaben in den Verantwortungsbereich der Bundesanstalt für Arbeit abgeschoben worden sind
8250 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 114. Sitzung. Bonn, Freitag, den 2. Dezember 1988
Schreiner
und damit die Beitragszahler für Aufgaben haftbar gemacht werden, die originäre Aufgaben des Bundes sind. Ich nenne Ihnen ein Beipiel. Allein die Hilfe für Aussiedler, die auch wir wollen, die auch wir unterstützen, kostet die Bundesanstalt für Arbeit in 1989 über 1,5 Milliarden DM.
Das heißt, der Zuschuß des Bundes ist überhaupt nichts anderes als der Versuch, auf die Bundesanstalt abgeschobene Bundesaufgaben teilweise zu kompensieren.
— Das ist die andere Seite der Wahrheit.
Wenn man sich die Konsequenzen dieser 9. Novelle anguckt, dann erkennt man als eine der wirklich absurden Folgen die Tatsachen, daß die öffentliche Hand so gut wie nichts einspart. Es geschieht nichts anderes als eine Verlagerung von der aktiven Arbeitsmarktpolitik zur passiven Verwaltung von Arbeitslosigkeit.
Der Bund hat sich bislang an der Finanzierung der Arbeitsmarktpolitik so gut wie nicht beteiligt. Die Finanzmittel für die arbeitsmarktpolitischen Instrumente des AFG, vor allen Dingen Arbeitsbeschaffungs- und Qualifizierungsmaßnahmen, werden ausschließlich von den Beitragszahlern der Bundesanstalt für Arbeit aufgebracht. Der Ausbau der Arbeitsmarktinstrumente seit 1982 ist die einzige, aber keineswegs hinreichende Antwort auf die hohe Massenarbeitslosigkeit. Ohne die aktive Arbeitsmarktpolitik der Bundesanstalt beliefe sich die Zahl der registrierten Arbeitslosen heute vermutlich in Richtung 3 Millionen.
Der entscheidende Punkt ist, daß die Neunte Novelle nicht zu nennenswerten Einsparungen an öffentlichen Mitteln führt. Wenn der Präsident der Bundesanstalt für Arbeit recht hat, daß Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen beispielsweise eine Selbstfinanzierungsquote von 97 % haben, dann ist das Abmeiern, das Abschneiden von Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen, ohne eine praktikable Alternative zu bieten, geradezu abenteuerlich. Wenn diejenigen, die heute noch in Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen drin sitzen, durch die Neunte Novelle aus ihnen rausgeschmissen werden, tauchen sie im Regelfall morgen als Lohnersatzleistungsempfänger auf, oder sie tauchen bei der Sozialhilfe auf. Präsident Franke hat, unterstützt von entsprechenden Gutachten des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung in Nürnberg, glaubhaft nachgewiesen, daß die Beträge, die für eine aktive Arbeitsmarktpolitik öffentlich aufzubringen sind, nahezu identisch mit den Beträgen sind, die für die passive Verwaltung von Arbeitslosigkeit aufzubringen sind.
Es ist geradezu abenteuerlich, absurd, daß die gleichen Gelder, die an der einen Ecke eingespart werden, aus anderen öffentlichen Kassen wieder aufgebracht werden müssen.
Dabei sind nicht die humanen und sozialen Folgekosten berücksichtigt. Ich will an den Vertreter der Caritas erinnern, der in der Anhörung des Ausschusses darauf hingewiesen hat, daß höhere Arbeitslosigkeit nicht selten zu Alkoholabhängigkeit, Drogenmißbrauch, Kriminalität, zerrütteten Familienverhältnissen, entwicklungsgestörten Kindern führt. Das sind die Humankosten. Die nehmen Sie billigend in Kauf.
Diese humanen Kosten haben auch soziale Folgekosten;
denn da muß ja repariert werden. Und damit schließt sich der Teufelskreis.
Der massive Verlust von Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen verstärkt im übrigen gesellschaftliche Spaltungstendenzen. Die Anzahl der Langzeitarbeitslosen wächst ständig und umfaßt gegenwärtig ca. 750 000 Personen. Diese Arbeitslosen sind wegen besonderer Merkmale — Alter, Behinderung, schwere Qualifizierungsdefizite oder aber individuelle Beeinträchtigungen auf Grund der Arbeitslosigkeit — kaum noch ohne besondere Hilfestellung in den Arbeitsmarkt zu integrieren. Anläßlich der Anhörung des Ausshcußes für Arbeit und Sozialordnung zur neunten Novelle des Arbeitsförderungsgesetzes formulierte der Sprecher der EKD, Herr Winkler, das Problem so — Zitat — :
Die Langsameren, die Schwerintegrierbaren oder jedenfalls diejenigen, die an der Grenze zum Behindertenstatus stehen, fanden in der agrarischen Gesellschaft immer Unterkunft. In der hochtechnisierten und spezialisierten Wirtschaft mit Arbeitsplätzen, die sehr teuer sind und auch Verantwortung und eine gute Ausbildung verlangen, kann man diese Personengruppe nur um so schwerer unterbringen.
Das ist genau der Punkt. Sie spalten unsere Gesellschaft entlang derjenigen, die nicht in die olympiareifen Belegschaften hineinpassen. Sie grenzen immer mehr diejenigen aus, die, aus welchen Gründen auch immer, benachteiligt sind.
Ich sage Ihnen: Unsere Gesellschaft besteht nicht nur aus Siegertypen,
sie besteht nicht nur aus Gewinnern, sie besteht nicht nur aus Menschen, die ihre Ellenbogen hart einsetzen können. Unsere Gesellschaft besteht auch aus Menschen, die an und in dieser Gesellschaft mitwirken wollen. Und die grenzen Sie in zunehmendem Maße aus. Die Neunte Novelle zum Arbeitsförderungsgesetz ist dazu ein Beitrag; denn wir wissen, daß die
Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 114. Sitzung. Bonn, Freitag, den 2. Dezember 1988 8251
Schreiner
Hälfte der Plätze in Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen an Langzeitarbeitslose geht.
Im übrigen sind die Langzeitarbeitslosen — ich habe darauf hingewiesen — teilweise Ältere, teilweise Behinderte. Ich will Ihren Bundeskanzler zitieren.
Helmut Kohl hat am 7. November in einem Gespräch mit der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung" folgendes formuliert:
Mich bedrücken vor allem die Gruppen, über die niemand redet,
z. B. die über 50jährigen Arbeitslosen, die wegen eines absurden Jungseinskults an den Rand der Gesellschaft geschoben werden.
Originalton Bundeskanzler! Ihn bedrücken die älteren Arbeitslosen. Bei den Langzeitarbeitslosen ist ein erheblicher Teil älterer Arbeitsloser. Wollen Sie Ihren Bundeskanzler hier vorführen? Wollen Sie ihn als Lügner entlarven? Wollen Sie ihn als Demagogen entlarven?
Der Bundeskanzler erklärte vor vierzehn Tagen, ihn bedrücke das Schicksal der älteren Arbeitslosen, und Sie verschärfen hier mit der Neunten Novelle genau das gleiche Problem.
Wen wollen Sie eigentlich vorführen? Lügt der Bundeskanzler? Wollen Sie das unterstützen?
Meine Damen und Herren, die katholische Soziallehre hat zum Kern — ich zitiere aus dem HerderLexikon —:
Die katholische Soziallehre will eine Gesellschaft, welche die Menschen je nach dem Beitrag, den sie zum Wohle des Ganzen liefern, zusammenfaßt und ihnen so ermöglicht, ihrer Verantwortung für das Ganze zu genügen.
Ja, entsprechend dem, was die Menschen leisten können! Was Sie machen, ist das Gegenteil. Sie grenzen immer stärker aus. Sie drängen immer mehr Menschen an den Rand der Gesellschaft und über die Grenzen der Arbeitsgesellschaft hinaus, neben der Verschärfung der Langzeitarbeitslosigkeit, die im übrigen im glatten Widerspruch zu der gemeinsamen Erklärung aller Fraktionen steht. Ich zitiere aus der gemeinsamen Erklärung aller Fraktionen im Anschluß an die Anhörung zur Langzeitarbeitslosigkeit anläßlich der EKD-Denkschrift im Deutschen Bundestag. Da haben alle Fraktionen folgendes erklärt:
In Übereinstimmung mit den Obleuten aller Fraktionen
— Erklärung des Vorsitzenden des Ausschusses —
ist als Ergebnis der Anhörung festzuhalten, daß alle Parteien sich fest vorgenommen haben, an der Erschließung von Beschäftigungsmöglichkeiten für Langzeitarbeitslose mitzuwirken. Der Vorschlag der evangelischen Kirche, gezielte Hilfen für Langzeitarbeitslose zu organisieren, wurde von allen Sachverständigen und allen Vertretern der Politik unterstützt. Der EKD ist für die Initiative zu danken. Die Sachverständigen, allen voran die Vertreter der EKD — an der Spitze Bischof Wilkens — haben dafür gesorgt, daß die Anhörung auf außerordentlich hohem Niveau durchgeführt werden konnte.
Was Sie jetzt machen, ist der Bruch Ihres eigenen Wortes.
Sie haben den Langzeitarbeitslosen mit der gemeinsamen Erklärung Hoffnung gegeben. Die Bundesregierung läßt die christdemokratischen Parlamentarier im Regen stehen. Sie brechen Ihr Wort. Sie verschärfen die Langzeitarbeitslosigkeit durch die Neunte Novelle und haben im Ausschuß erklärt, sie wollten etwas dagegen tun. Sie tun nichts. Sie verschärfen umgekehrt die Situation. Was ist von Ihnen dann noch zu halten?
Es ist wirklich schamlos. Die Initiative der EKD ist vor einem Jahr, im Dezember vergangenen Jahres, ins Parlament gebracht worden. Bis heute hat sich nichts getan. Sie haben Erklärungen abgegeben. Sie haben versucht, Hoffnung zu wecken. Aber in der Praxis machen Sie das genaue Gegenteil. Es ist schamlos, was Sie machen.
Da fällt einem ja ein, daß bei der Debatte zum Gesundheitsreformgesetz der Bundesminister hier Sankt Martin für sich in Anspruch nahm. Wenn Sankt Martin Sie sehen würde, würde er vor Schreck vom Pferd stürzen. Er käme gar nicht mehr dazu, seinen Mantel zu teilen.
Eine zweite Folge der Neunten Novelle ist die dramatische Verschärfung in den Regionen mit eh schon hoher Arbeitslosigkeit. Wie sollen denn die Kommunen im Ruhrgebiet, an der Küste, im Saarland oder anderenorts, die angesichts der hohen Kosten der Arbeitslosigkeit ausbluten, das noch ausgleichen, was durch die Neunte Novelle zum Arbeitsförderungsgesetz verlorengeht? In Kommunen mit hoher Arbeitslosigkeit wächst der Anteil der Sozialhilfekosten stündlich an. Diese Kommunen sind gar nicht mehr in der Lage, ausreichend zu investieren, weil sie von den Sozialhilfekosten eingeschnürt werden. Sie verschärfen auch hier die Probleme. Je weniger die Kommu-
8252 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 114. Sitzung. Bonn, Freitag, den 2. Dezember 1988
Schreiner
nen investieren können, um so stärker wächst umgekehrt die Arbeitslosigkeit. Damit schließt sich der Teufelskreis.
Herr Blüm, Sie sind drauf und dran, den Sozialstaat zu einem Sozialhilfestaat verkommen und verrotten zu lassen.
Der Einbruch von AB-Maßnahmen führt überdies dazu, daß auch Dienstleistungen, insbesondere im sozialen Bereich, zurückgenommen werden müssen. Beispielhaft seien genannt: Arbeitslosenberatung, Sozialhilfeberatung, Aids-Beratung, ambulante Versorgung von Behinderten, Nachhilfeschulen auf Stadtteilebene, Umweltprojekte, Frauenprojekte, StadtteilKulturzentren, Schuldnerberatung usw. Strukturen, die im sozialen Interesse der Menschen aufgebaut worden sind, werden zerschlagen werden müssen, weil den Einrichtungen das Geld fehlt, weil den Kommunen das Geld fehlt, weil den Wohlfahrtsverbänden das Geld fehlt. Mit brutaler Faust zerschlagen Sie im Interesse von denen, die am Rand dieser Gesellschaft stehen, gewachsene und aufgebaute Strukturen.
Ähnliches gilt für die Qualifizierungsproblematik. Gerade angesichts des rapiden Wandels in der Arbeitswelt, hervorgerufen durch neue Techniken, wäre Qualifizierung nötiger denn je. In der gleichen Zeit legen Sie die Hand an die Qualifizierungsinstrumente, wandeln Sie Rechtsansprüche in reine Ermessensansprüche um, vertrösten Sie die Betroffenen.
Ich will Ihnen sagen, daß es wohl keinen Sinn macht, gewissermaßen in letzter Minute an die Koalitionsfraktionen zu appellieren, von diesem Gesetz Abstand zu nehmen. Ich weiß, daß dies illusorisch ist. Aber vielleicht macht es einen Sinn, an Sie zu appellieren, in den nächsten Wochen — die Zeit bietet sich an — einmal in Ruhe darüber nachzudenken, was Sie ohne Not anrichten, und einmal in Ruhe darüber nachzudenken, inwieweit es wirklich mit dem christlichen Menschenbild vereinbar ist,
daß Sie Zehntausende von Menschen auf Grund dieser Novelle zusätzlich in Arbeitslosigkeit bringen, zusätzlich in existentielle Nöte bringen, im Dezember einmal darüber nachdenken, ob das wirklich noch mit dem Anspruch einer Partei vereinbar ist, eine christliche Partei sein zu wollen.
Ich denke, es ist nicht vereinbar. Sie sollten die Zeit nutzen. Wenn Sie zu dem Ergebnis kommen, es sei vereinbar, dann sollten Sie konsequenterweise das „C" aus Ihrem Parteischild entfernen.
Schönen Dank.
Das Wort hat Herr Abgeordneter Dr. Thomae.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Sehr geehrter Herr Schreiner, ich hätte mir schon gewünscht, daß Sie bei Ihrer Rede einmal die wirtschaftlichen Daten der Bundesrepublik Deutschland in den letzten Tagen analysiert hätten. Dann hätten Sie erkannt, daß wir auf Grund der guten wirtschaftlichen Entwicklung diesem Thema Arbeitsförderungsgesetz viel näherkommen und hier vernünftige Lösungen herbeiführen.
Notwendige Korrekturen sind sinnvoll. Wir wissen alle, daß wir weniger Arbeitslose, aber mehr Beitragszahler haben wollen. Wir wissen auch, daß Arbeitsplätze nicht par ordre du mufti verordnet werden können. Arbeitsplätze müssen im harten Wettbewerb erkämpft werden. Deshalb war und ist die Entscheidung der Koalition gegen eine Anhebung der Beiträge zur Arbeitslosenversicherung ein richtiges Signal,
denn zu hohe Steuern, zu hohe Sozialabgaben sind Gift für unseren Wettbewerb und Gift für mehr Beschäftigung.
Wer nur, Herr Schreiner, auf die Globalzahlen der Arbeitslosigkeit und auf die Arbeitslosenquote starrt, der übersieht, daß sich hinter diesen Zahlen Bewegungen, nämlich Abgänge und Zugänge, verbergen. Er vergißt oft auch den Zuwachs von Arbeitsplätzen um 870 000 innerhalb von sechs Jahren, und er verdrängt, daß allein die Zahl der Erwerbstätigen im September um 168 000 höher lag als im Vorjahr. Meine Damen und Herren, das ist aktive Arbeitsmarktpolitik.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Buschfort?
Bitte schön.
Darf ich Sie fragen: Ist Ihnen eigentlich bekannt, daß Sie trotz des Arbeitsplatzzuwachses jetzt erst wieder das Niveau von 1982 erreicht haben?
Herr Buschfort, Sie wissen selber, daß in der Zwischenzeit eine erhebliche Zahl neuer Arbeitsplätze geschaffen wurde, und zwar vor allen Dingen durch die Rückkehr von Frauen, die verstärkt auf den Arbeitsmarkt gedrängt sind.
Erinnern Sie sich bitte auch daran, daß es uns gelungen ist, der Arbeitslosigkeit junger Menschen sehr stark entgegenzuwirken. Hier hat sich das duale Ausbildungssystem vor allen Dingen bewährt. Auszubildende werden heute in vielen Bereichen schon wieder gesucht.
Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 114. Sitzung. Bonn, Freitag, den 2. Dezember 1988 8253
Dr. Thomae
Die Ursachen für das Defizit bei der Bundesanstalt für Arbeit sind uns teilweise bekannt. Die FDP-Politiker haben immer eine enge Verzahnung zwischen Steuer-, Haushalts-, Wirtschafts- und Sozialpolitik gesucht. Wir haben auch bestimmte Maßnahmen und die daraus resultierenden Konsequenzen nicht immer für gutgeheißen. Wir sind dabei also zweiter Sieger geblieben.
Lassen Sie mich nur ein Beispiel nennen. Die Staffelung und Verlängerung der Dauer des Bezugs von Arbeitslosengeld nach dem Alter kosten 2,8 Milliarden DM pro anno. Schon damals haben wir auf diese Konsequenzen aufmerksam gemacht. Sachdienlicher und gerechter ist es unseres Erachtens, nicht das Alter, sondern die Dauer der Beitragszahlung zum Maßstab zu nehmen. Ich begrüße es daher, daß nunmehr ernsthafte Anstrengungen unternommen werden, dieses Anliegen zu realisieren. Eine Kommission wird in der nächsten Zeit prüfen, ob und wie individuelle Beitragskonten eingerichtet werden. Wenn aber mancherorts der Eindruck erweckt wird, der Bund trage nichts zum Abbau der Arbeitslosigkeit bei, nunmehr breche die aktive Arbeitsmarktpolitik weg, so ist dies schlicht falsch. Im Bundeshaushalt betragen die Leistungen nach dem Arbeitsförderungsgesetz ca. 13 Milliarden DM. Der Haushalt der Bundesanstalt für Arbeit beläuft sich auf 40 Milliarden DM.
Gegenüber 1982 haben sich die Leistungen der aktiven Arbeitsmarktpolitik von knapp 7 Milliarden DM auf 15 Milliarden DM 1988 erhöht.
Auch 1989 werden wir trotz notwendiger Einsparungen ungefähr doppelt so viel ausgeben wie 1982.
Auch die berufliche Qualifikation wird weiterhin mit 5 Milliarden DM finanziert.
Natürlich kenne ich die Klagen der Bildungsträger und der Betroffenen. Ich halte es allerdings für vertretbar, daß die begrenzten finanziellen Mittel in erster Linie denen zugute kommen, die arbeitslos, von Arbeitslosigkeit bedroht oder unqualifiziert sind, zumal der Anteil der Arbeitslosen an Qualifizierungsmaßnahmen 1988 um 8 % rückläufig war.
Mit der Umwandlung des Rechtsanspruchs auf Sachkostenerstattung in eine Kann-Leistung räumen wir der Selbstverwaltung nun endlich mehr Selbstentscheidung ein.
Ich gehe davon aus, daß die Selbstverwaltung den richtigen Weg finden wird und daß sie auch Qualifikationen, sogenannte Aufstiegsqualifikationen, weiter finanzieren wird. Dennoch dürfen wir die Arbeitgeber, die Betriebe, die Verwaltungen und deren Verbände aufrufen, die Anstrengungen zur beruflichen Qualifikation innerbetrieblich weiter zu erhöhen.
Meine Damen und Herren, einer der Sachverständigen hat bei der Anhörung darauf hingewiesen, daß vom Arbeitsamt immer noch Ausbildungen in Berufen gefördert werden, die, so hat er sich ausgedrückt, absolut keine Zukunftschancen, absolut keine Perspektiven haben. Gerade die Regelung des § 36 des Arbeitsförderungsgesetzes muß in Zukunft stärker eingehalten werden. Immerhin bezogen nach einer Erhebung des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung zwei Jahre nach Abschluß von Weiterbildungsmaßnahmen 19 % der Teilnehmer wieder Arbeitslosengeld und Arbeitslosenhilfe. Diese Quote sehen wir weiterhin als verbesserungswürdig an.
Natürlich kenne ich die Schwierigkeiten, über die hier oder an einem Schreibtisch der Arbeitsverwaltung entschieden werden muß, wenn es darum geht, welche Ausbildungen in welchen Berufen zu fördern sind. Aber es wäre sicherlich des Schweißes der Edlen wert, verstärkte Anstrengungen zu unternehmen, verstärkte Kontakte in den Betrieben zu suchen, denn Fehlinvestitionen kosten nicht nur Geld, sondern auch Lebenschancen. Wir hoffen, daß uns der Bundesrechnungshof weiterhin wertvolle Tips geben wird.
Ich will nicht verhehlen, daß die Sozialpolitiker der FDP — aber leider vergeblich — nach Wegen gesucht haben, wie die Einsparungen bei den Eingliederungsbeihilfen durch andere geeignete Maßnahmen ersetzt werden können. Dies war zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht möglich.
Zwei Punkte möchte ich aber klar hervorheben.
Erstens. Schwerbehinderte werden nicht betroffen; denn das Förderungsinstrumentarium des Schwerbehindertengesetzes bleibt unberührt.
Zweitens. Die Eingliederungsmaßnahmen für Aussiedler müssen in Zukunft unbedingt differenzierter erfolgen. Es sollten zum einen nach den Herkunftsländern und zum anderen nach den unterschiedlichen Berufen differenziert Sprachkurse und weitere Eingliederungsmaßnahmen angeboten werden.
Ein weiterer wesentlicher Punkt der heutigen Debatte sind die sogenannten Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen.
Zur Klarstellung: Im Oktober 1988 waren ca. 117 000 Arbeitslose in Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen. Im Durchschnitt der ersten zehn Monate, so die Bundesanstalt liegt die Zahl der in ABM Beschäftigten über dem Ergebnis des entsprechenden Vorjahreszeitraums. Die Ausgaben für ABM, meine Damen und Herren von der Opposition, sind von 870 Millionen DM 1982 auf rund 3 Milliarden DM 1988 gestiegen. Diese 3 Milliarden DM werden weitgehend beibehalten werden.
Von seiten des Handwerks werden die AB-Maßnahmen kritisiert. Kirchen und Wohlfahrtsverbände äußern sich anders. Die jetzige Regelung versucht, einen Mittelweg zu finden.
8254 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 114. Sitzung. Bonn, Freitag, den 2. Dezember 1988
Dr. Thomae
Schon nach geltendem Recht gilt, wie Sie wissen, eine grundsätzliche Orientierung auf 80 %. Diese Bestimmung wurde in der Praxis weitgehend nicht eingehalten.
Bemerkenswert ist besonders, daß wir feststellen müssen, daß gerade in Nordrhein-Westfalen, einem der SPD-geführten Länder, 73 % der geförderten Fälle zu 100 % gefördert wurden.
In anderen Ländern, z. B. in Schleswig-Holstein und in Hamburg, lag diese Quote bei 24,6 %. Wir müssen doch fragen: Ist hier teilweise nicht ein Mißbrauch erfolgt, oder lag es an der verfehlten Strukturpolitik?
Die vorgesehene Begrenzung einer hundertprozentigen Förderung ist vor dem Hintergrund des Mißbrauchs zu sehen.
Da sich diese Deckelung auf alle bundesweit geförderten Fälle bezieht, bedeutet dies zugleich, daß in den problematischen Arbeitamtsbezirken in Zukunft der Anteil der 100%igen Förderungen deutlich höher ausfallen wird. Mit anderen Worten: Diese Koalition konzentriert die begrenzten Mittel auf die Arbeitsamtbezirke, wo es die höchsten Arbeitslosenquoten gibt.
Die von der SPD geforderte zeitliche Verlängerung von ABM auf 5 Jahre ist weder finanzierbar noch für die FDP ordnungspolitisch haltbar.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Wenn wir dies machen würden, würde dies bedeuten, daß wir einen zweiten Arbeitsmarkt in der Bundesrepublik Deutschland hätten.
Wir wollen nicht den ersten Arbeitsmarkt aushöhlen.
Alles in allem: Der Gesetzentwurf versucht, die schwierige Gratwanderung zwischen notwendiger Einsparung und aktiver Arbeitsmarktpolitik darzustellen und einen vernünftigen Mittelweg zu finden.
Dennoch, meine Damen und Herren: Die benachteiligten Jugendlichen müssen wir weiter unterstützen.
Dazu fordere ich aber auch die SPD, die Gewerkschaften und die Arbeitgeber auf. Haben Sie endlich den Mut, Öffnungsklauseln in Tarifverträgen einzubauen.
Haben Sie endlich den Mut, Einstiegstarife zu schaffen, und seien Sie bereit, gerade für diese Jugendlichen flexible Arbeitszeiten und Mobilität zu fördern.
Dafür wird sich die FDP einsetzen.
Herr Kollege, Sie hatten vorhin signalisiert, daß Sie die Zwischenfrage zulassen?
Sofort.
Geben Sie uns dann ein Zeichen?
Ich wollte diesen Abschnitt zu Ende bringen. Das werden Sie mir doch gestatten.
Geben Sie mir ein Zeichen, wenn Herr Schreiner seine Zwischenfrage stellen kann.
Bitte.
Da Sie von einer Konzentration der Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen auf die strukturschwächeren Räume gesprochen haben, wollte ich Sie fragen, ob es nicht jetzt schon so ist, daß der Hauptteil der Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen — zu Recht — in die sogenannten notleidenden Regionen geht — als Nothelfer —, in Teile der Ruhrgebietsstädte, und ob es einen besonderen Sinn macht, daß der Bundesarbeitsminister als nordrhein-westfälischer CDU-Landesvorsitzender genau bei diesen Städten angesetzt und der Verlust von AB-Maßnahmen diese Städte in besonderem Maße trifft?
Herr Schreiner, wenn Sie sich einmal die Landesarbeitsamtsbezirke der Bundesrepublik Deutschland anschauen und die Zahlen der Arbeitslosen vergleichen, werden Sie eindeutig feststellen, daß die hundertprozentige Förderung von den einzelnen Landesarbeitsämtern sehr unterschiedlich gehandhabt wird. Ich sagte Ihnen schon: 73 % der gesamten hundertprozentigen ABM-Förderung fließen nach Nordrhein-Westfalen.
— Schauen Sie doch in der Statistik nach, dann werden Sie das feststellen.
— Entschuldigung, 73 % der AB-Maßnahmen fließen nach Nordrhein-Westfalen und werden hundertprozentig gefördert.
Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 114. Sitzung. Bonn, Freitag, den 2. Dezember 1988 8255
Dr. Thomae
Ich darf abschließend ankündigen, daß Herr Grünbeck nachher zum Vorruhestand sprechen wird.
Vielen Dank.
Das Wort hat Frau Abgeordnete Beck-Oberdorf.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Kaum ein Ministerium scheint in dieser Legislaturperiode so fleißig zu sein wie das Arbeits- und Sozialministerium.
Norbert Blüm baut den Sozialstaat um. Und so gibt es immer mehr Menschen, die diese Art von Umbau das Fürchten lehrt.
Beispiel Nummer eins war die Gesundheitsrefom. Beispiel Nummer zwei wird die Rentenreform sein. Mit Beispiel Nummer drei haben wir es heute zu tun: der Neunten Novelle zum Arbeitsförderungsgesetz.
Bei seinem Umbau geht Norbert Blüm davon aus, daß unser Sozialsystem für vieles Geld habe, für manches zuviel, wie er sagt. Also wird gestrichen wie jetzt mit der vorliegenden Novelle.
Der Zusammenhang zwischen der jüngst verabschiedenten Steuerreform und den geplanten Einsparungen bei der Bundesanstalt für Arbeit liegt auf der Hand. Beim Zuschußbedarf der Bundesanstalt muß das wieder herausgeholt werden, was durch die Steuerreform dem Staate fehlt.
Daß diese Steuerreform nicht den kleinen Leuten dient, ist wohl inzwischen hinlänglich bekannt.
Wohlgemerkt: Die Achte Novelle zum Arbeitsförderungsgesetz hatten wir erst im vergangenen Jahr. Damals baute Norbert Blüm so um, daß typische Aufgaben des Bundes auf die beitragsfinanzierte Kasse der Bundesanstalt verlagert wurden. Die zwangsläufig dort entstehenden Finanzlöcher werden jetzt durch Einsparungen bei den Leistungen für die Versicherten ausgeglichen.
Ich möchte nur auf zwei wesentliche Bereiche dieser Gesetzesnovelle eingehen: Die Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen und Fortbildung und Umschulung. Die Zahlen sind bekannt. Noch zu Zeiten der sozialliberalen Koalition gab es nur 30 000 AB-Maßnahmen. Sie sind jetzt auf etwa 120 000 gesteigert worden.
Man könnte fast meinen, endlich habe sich wenigstens in Ansätzen die Vernunft durchgesetzt, wenn mittels Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen Erwerbstätigkeit statt Arbeitslosigkeit finanziert wird. Doch nunmehr wird der Höchstfördersatz der AB-Maßnahmen in der Regel auf 75 % gesenkt. Daran ändert auch nichts das Pflästerchen der 90 %-Finanzierung in Krisengebieten oder die volle Ausfinanzierung von 15 der bewilligten Maßnahmen. Diese Regelung der Erhöhung des Eigenanteils wird das Aus für viele AB-Maßnahmen bedeuten.
Ich will nicht das Hohelied auf die Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen singen. Dazu ist der Zeitraum der Förderung mit einem Jahr viel zu kurz; denn er bedeutet, daß gerade schwer Vermittelbare oder Langzeitarbeitslose nur für einen begrenzten Zeitraum quasi aus der Arbeitslosigkeit herausgeschleudert werden, ohne daß sie wirklich die Chance zu neuen und dauerhaften Lebensplanungen bekämen. Dennoch waren die AB-Maßnahmen für viele Entmutigte und Zukunftslose ein Silberstreif am Horizont. Um diese Maßnahmen herum entwickelte sich eine Vielzahl von sozial-, kultur- und umweltpolitisch engagierten Projekten: Arbeitslosenzentren, Gesundheitsberatungsstellen, ambulante Pflegeeinrichtungen, AIDS-Hilfen, Ausländerprojekte, Frauentherapiezentren, Kulturinitiativen und vieles andere mehr. Meine Damen und Herren, gerade für diese Projekte ist es vollkommen unmöglich, den von Ihnen im Gesetz vorgesehenen Eigenanteil aufzubringen. Das dürfte Ihnen einleuchten. Die Arbeiterwohlfahrt geht davon aus, daß durch die vorgesehenen Einschnitte allein im sozialen und kulturellen Bereich etwa 35 000 bis 40 000 Arbeitsplätze wegfallen werden.
Nun werden Sie natürlich vorschlagen — hier wird schon das Stichwort genannt — , die Kommunen und Länder sollten doch den Fehlbedarf ergänzen. Aber es sind ja gerade die von überdurchschnittlicher Arbeitslosigkeit gekennzeichneten Kommunen und Bundesländer, die durch erhöhte Arbeitslosenraten steigende Armutskosten, z. B. die Sozialhilfe, zu finanzieren haben und deshalb finanziell auf dem letzten Loch pfeifen.
— Gucken Sie sich einmal den Finanzhaushalt von Bremen an. In Niedersachsen ist es ja nicht anders. Gehen Sie doch einmal ins Emsland. Das hat gar nicht so sehr viel mit Parteipolitik in den Kommunen zu tun.
Die milden Gaben des regionalen Strukturfonds, die Herr Stoltenberg jetzt über neun Bundesländer ausgeschüttet hat, statt die Albrecht-Initiative anzunehmen, wie von seiner Partei vorgeschlagen worden war, werden jetzt in manchen Gebieten von den Streichungen der Neunten Novelle zum Arbeitsförderungsgesetz wieder voll aufgefressen. Lassen Sie mich das vorrechnen.
— Das, was ich jetzt gesagt habe, gilt ganz genau auch für Bremen. — Die Mittel aus dem regionalen Strukturfonds müssen, wenn kompensiert werden soll, voll für den Ausgleich der Streichungen der Neunten No-
8256 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 114. Sitzung. Bonn, Freitag, den 2. Dezember 1988
Frau Beck-Oberdorf
velle zum Arbeitsförderungsgesetz eingesetzt werden.
„Der Mangel auf dem Arbeitsmarkt heißt Phantasie." — „Wir wollen einen Arbeitsmarkt mit mehr Freiheit, mehr Selbstbestimmung. " — Diese so wunderbar klingenden Sätze von Ihnen, Herr Blüm, sagen Sie doch bitte einmal an die Adresse der Träger von Projekten, die Phantasie aufgebracht haben, die ihren Laden aber jetzt dichtmachen müssen, weil sie nicht mehr so unterstützt werden, wie es nötig ist.
Ihr Freiheitsbegriff ist bösartig, denn Sie nennen den Abbau von Regelungen, die gerade Schutz für die am Rand Stehenden bedeutet, „Freiheit" . In diesem Land leben 600 000 Menschen, die länger als ein Jahr arbeitslos gewesen sind, und 300 000, die länger als zwei Jahre arbeitslos gewesen sind.
Das Problem ist gerade der Prozeß der Verfestigung der Erwerbslosigkeit, und dann reden Sie von „Freiheit" und „Phantasie", von „Selbstbestimmung" und vom „Ausbau individueller Möglichkeiten" !
Noch einmal: Es kann nicht darum gehen, das aus vielen Gründen prekäre Instrument ABM zu idealisieren. Es ist nicht mehr als eine arbeitsmarktpolitische Notlösung. Aber diese Notlösung noch weiter zu dezimieren, ohne beschäftigungspolitische Alternativen bereitzustellen, ist unverantwortlich gegenüber den Erwerbslosen und den Gebietskörperschaften mit hoher Arbeitslosigkeit.
Das gleiche gilt für die Einschnitte im Fortbildungs- und Umschulungsbereich. Die Umwandlung des Rechtsanspruchs auf Fortbildung und Umschulung in eine Ermessensleistung muß vor dem Hintergrund der Situation der Bundesanstalt für Arbeit zu einem deutlichen Rückgang der Qualifizierungsmaßnahmen führen. Die Chancen von Erwerbslosen, insbesondere die von Frauen, Jugendlichen und Langzeitarbeitslosen, wieder auf dem Arbeitsmarkt Fuß zu fassen, werden so weiter eingeschränkt. 80 % der Teilnehmerinnen und Teilnehmer von Umschulungsmaßnahmen haben nach Aussage der Bundesanstalt für Arbeit nach Abschluß der Maßnahmen einen Arbeitsplatz gefunden.
Wie war das noch mit dem Herzensanliegen des Kollegen Schemken, der den Frauen, den Müttern den Weg zurück ins Erwerbsleben öffnen wollte? Daraus wird mit dieser Novelle nichts, Herr Schemken. Da ist der Kollege Kolb schon sehr viel näher an der Sache, wenn er schlichtweg die Statistiken bereinigen will: Diejenigen, die drei Jahre und länger arbeitslos sind, fliegen einfach aus der Statistik heraus, fertig, basta!
— Das sind Vorschläge, die Herr Kolb in der Presse gemacht hat. Wir lesen ja auch noch Zeitung.
Ihrer Phantasie, die sich immer als eine Phantasie der Ausgrenzung entpuppt, Herr Blüm, wäre die Phantasie der Gestaltung von Erwerbsmöglichkeiten entgegenzusetzen. Das wäre Arbeitsmarktpolitik.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage, Frau Kollegin?
Ja, bitte, Herr Kolb.
Frau Kollegin, würden Sie zur Kenntnis nehmen, daß ich damals sagte, daß diejenigen, die drei Jahre keine Leistungen bezogen haben, nicht mehr in der Nürnberger Statistik geführt werden sollen, aber nicht diejenigen, die drei Jahre arbeitslos sind?
Herr Kolb, es gibt einen hohen Prozentsatz von Arbeitslosen, die ohne ihr Verschulden keine Leistungen von der Bundesanstalt für Arbeit bekommen
— jawohl — , und die wollen Sie herausstreichen. Das ist eine ganz zynische Politik.
Ansätze müßten in folgende Richtung gehen: Die finanzielle Ausstattung der aktiven Arbeitsmarktpolitik müßte erheblich verbessert werden.
Die bisher getrennten Instrumente der Arbeitsbeschaffung einerseits und der Fortbildung und Umschulung andererseits müßten zu einer Maßnahme gebündelt werden, die Arbeit und Ausbildung kombiniert.
Der Kreis der anspruchsberechtigten Personen wäre um Frauen nach Phasen der Erwerbsunterbrechung, Jugendliche, die über eine abgeschlossene Berufsausbildung verfügen und länger als sechs Monate erwerbslos gemeldet sind, und Langzeitarbeitslose zu erweitern.
Der Höchstfördersatz wäre auf 100 % anzuheben, um Projekten, Beschäftigungs- und Ausbildungsinitiativen, Wohlfahrtsverbänden und Kommunen die Inanspruchnahme zu erleichtern, statt sie, wie bisher, zu erschweren.
Die Förderungsdauer wäre auf vier Jahre zu verlängern, um Erwerbslosen eine überschaubare und kontinuierliche Lebensplanung zu ermöglichen.
Die Instrumente der Wirtschaftsförderung und der Arbeitsmarktpolitik wären stärker aufeinander zu beziehen und auf das Ziel des ökologischen Umbaus und
Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 114. Sitzung. Bonn, Freitag, den 2. Dezember 1988 8257
Frau Beck-Oberdorf
der Reduzierung von Massenerwerbslosigkeit auszurichten.
Meine Damen und Herren, das Wort hat Frau Abgeordnete Hasselfeldt.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ausgangspunkt unserer Überlegungen zu dieser Gesetzesänderung war die Finanzsituation der Bundesanstalt für Arbeit.
Mit dieser Novelle stellen wir die Arbeitslosenversicherung wieder auf solide Beine.
Wenn wir uns nach den Defiziten der Bundesanstalt fragen, dann, Herr Kollege Schreiner, müssen wir das schon richtig analysieren: Es stimmt eben nicht, daß der größte Teil des Defizits durch die achte Novelle entstanden ist. Der Umfang der achten Novelle hat weniger als eine Milliarde ausgemacht. Dieses Defizit ist im wesentlichen auf die Verlängerung des Anspruchs auf Arbeitslosengeld — 2,8 Milliarden DM — und auf die enorme Ausweitung des arbeitsmarktpolitischen Instrumentariums zurückzuführen.
Gestatten Sie schon eine Zwischenfrage des Abgeordneten Schreiner?
Momentan noch nicht; ich möchte zunächst fortfahren.
Diese Ausgaben der Bundesanstalt für Arbeit haben ein Ausmaß erreicht, das bei einem Nichttätigwerden unvermeidbare Beitragserhöhungen zur Folge hätte. Eine solche Entscheidung wäre angesichts der ohnehin zu hohen Lohnnebenkosten eindeutig die falsche Entscheidung gewesen.
Wenn nun von der SPD der volle Ausgleich des Defizits durch den Bundeshaushalt gefordert wird — wie Sie es in Ihrer Regierungszeit in den letzten paar Jahren jährlich gemacht haben —, dann lassen Sie mich einmal auch die Dimensionen zurechtrükken: Wir wissen natürlich um die zusätzlichen Ausgaben, die die Bundesanstalt z. B. wegen der beruflichen Eingliederung der Aussiedler hat.
Genau deshalb wird der Bund im nächsten Jahr 4 Milliarden DM an die Bundesanstalt zahlen — während wir uns hier über eine Größenordnung von 1,26 Milliarden DM unterhalten.
Diese Strategie, nämlich einerseits auf Beitragserhöhungen zu verzichten, andererseits mit einem hohen Bundeszuschuß und mit der Konzentration der arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen auf die wirksamen arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen das Defizit
zu beseitigen, trägt auch den Ursachen des Defizits Rechnung.
Nun müssen wir uns in dieser Diskussion natürlich auch über den Arbeitsmarkt unterhalten. Die Arbeitslosigkeit ist in unserem Lande unbestreitbar hoch. Dahinter verbergen sich schwere Schicksale. Aber, meine Damen und Herren, unbestritten ist, daß während unserer Regierungszeit die Zahl der Beschäftigten kontinuierlich, Jahr für Jahr, um Hunderttausende zugenommen hat. Unbestritten ist ferner, daß während Ihrer Regierungszeit genau das Gegenteil der Fall war.
Es muß uns doch alle nachdenklich machen, wenn in vielen Branchen und in nicht wenigen Regionen Betriebe händeringend nach Arbeitskräften suchen.
Es wäre der Sache sicher dienlicher, wenn wir uns eher eine umfassende und eine unvoreingenommene Auseinandersetzung mit der Situation des Arbeitsmarktes vornähmen, als ständig undifferenziert über die 2 Millionen Arbeitslosen zu lamentieren.
Wir halten mit dieser Novelle an den bewährten arbeitsmarktpolitischen Instrumentarien fest. Deshalb halten wir auch an den beruflichen Qualifizierungsmaßnahmen fest. Mit den Qualifizierungsmaßnahmen, d. h. mit der Offensive seit 1985, ist eine Welle der Bildungsbereitschaft ausgelöst worden, die auch zu Rekordteilnehmerzahlen geführt hat.
Diese Entwicklung ist natürlich grundsätzlich zu begrüßen; sie stößt aber, wenn sie wie zur Zeit fast ausschließlich auf Kosten der Bundesanstalt geht, allmählich an finanzielle Grenzen.
Auf Grund der Analysen und der Reden meiner Vorredner der Opposition zum Rechtsanspruch und zur Änderung im Bereich Fortbildung und Umschulung, kann ich mich des Eindrucks nicht erwehren, daß Sie das Gesetz entweder nicht gelesen oder nicht verstanden haben, meine Damen und Herren. Es geht hier nicht um eine Änderung und um eine Beschneidung der Leistungen, die an die Arbeitslosen gehen, im Gegenteil: Die Entscheidung, daß wir vom Rechtsanspruch auf eine Ermessensleistung übergehen, hat seine Ursache darin, daß der Anteil der Arbeitslosen an den Qualifizierungsmaßnahmen in den vergangenen Monaten und Jahren kontinuierlich zurückgegangen ist, weil ein immer größerer Teil der Haushaltsmittel für Fortbildung und Umschulung verwandt wurde, also für Maßnahmen, auf die ein Rechtsanspruch bestand, und weil dann für Auftragsmaßnahmen, nämlich für die Maßnahmen, die dann für die Arbeitslosen gemacht worden wären, kein Geld mehr da war. Das kann doch nicht im Sinne der Arbeitslosenversicherung sein.
Gestatten Sie jetzt eine Zwischenfrage des Abgeordneten Schreiner?
8258 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 114. Sitzung. Bonn, Freitag, den 2. Dezember 1988
Bitte schön.
Frau Kollegin Hasselfeldt, ist Ihnen bekannt, daß die Bundesregierung auf Befragen im Ausschuß eingeräumt hat, daß durch diese Änderung, d. h. durch die Umwandlung des Rechtsanspruchs in eine Ermessensleistung, in erheblichem Maße auch Arbeitslose betroffen sein werden?
Frau Hasselfeldt: : Nein, das kann nicht der Fall sein, weil der Rechtsanspruch die Arbeitslosen kaum tangiert. Das ist im AFG eindeutig so geregelt. Diese Änderung des Rechtsanspruchs in eine Ermessensleistung betrifft in erster Linie die Meister und die Techniker, also diejenigen, die im Beruf stehen und anschließend eine Qualifizierung machen.
Es ist mir deshalb auch wichtig, in diesem Punkt deutlich darauf hinzuweisen: Mit der Ausübung dieses Ermessens muß sichergestellt sein, daß auch die nicht vorrangig zu fördernden Arbeitnehmer, nämlich eben gerade die Meister- und Technikeraspiranten, das ganze Jahr über kontinuierlich zu den gleichen Bedingungen gefördert werden, wenn auch auf einem niedrigerem Niveau als bisher. Es ist nicht in unserem Sinne, wenn dieser Personenkreis auf eine Kostenerstattung verzichten müßte, weil dann kein Geld mehr da wäre.
Nun beklagt die Opposition die Kürzung um 300 Millionen DM in diesem Bereich. Ist Ihnen eigentlich die Größenordnung der Ausgaben im Bereich Umschulung und Fortbildung während Ihrer Regierungszeit noch im Gedächtnis? Ich helfe Ihnen gerne nach. Während 1982, also in Ihrer Regierungszeit, für Fortbildung und Umschulung 3 Milliarden DM ausgegeben wurden, waren es im vergangenen Jahr 5,6 Milliarden DM.
Das bedeutet eine Steigerung um 2,3 Milliarden DM.
Die Arbeitsmarktsituation, meine Damen und Herren, war damals nicht sehr viel anders als heute, und heute entdecken Sie auf einmal den hohen arbeitsmarktpolitischen Stellenwert von Qualifizierungsmaßnahmen,
wenn wir bei dieser Größenordnung und bei den ausufernden Ausgaben in diesem Fall nur 300 Millionen DM zurücknehmen müssen. Ihre Glaubwürdigkeit fällt wirklich zusammen wir ein Kartenhaus.
Dann versuchen Sie laufend, uns „Sozialabbau" vorzuwerfen und dies vor allem den Arbeitnehmern einzureden.
Das veranlaßt mich schon, eines klarzustellen: Bei den Lohnersatzleistungen, beim Unterhaltsgeld, bei dem, was die Arbeitnehmer bekommen, bleibt es bei den bisherigen Regelungen. Die vorgesehene Änderung betrifft ausschließlich die Erstattung der Kosten für den Lehrgang. Dies wird zur Folge haben, daß sich so mancher Träger natürlich über die Kalkulation seiner Maßnahmen künftig etwas mehr Gedanken machen muß. Die Gelder der Beitragszahler, meine Damen und Herren, sind für die beschäftigungsorientierte Qualifizierung der Arbeitnehmer da; sie sind nicht da zur Konsolidierung überall aus dem Boden geschossener Bildungsträger.
Ich möchte auch etwas über die Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen sagen. Sie sind ein nach wie vor wirksames Arbeitsmarktinstrument. Wir werden deshalb auch sie in hohem Maße fortführen. Aber nach dem Gesetz müssen die Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen immer auch im öffentlichen Interesse liegen. Deshalb ist grundsätzlich auch ein angemessener Eigenanteil der Träger zu erwarten.
Dies kann nicht nur Sache der Beitragszahler sein. Sicher, es gibt auch Träger — wir wissen das — , die keinen Eigenanteil leisten können und trotzdem schwer vermittelbare Arbeitslose in schwierigen Arbeitsamtsbezirken unterbringen. Deshalb wollen wir auch die Tür nicht ganz zumachen. Wir werden es weiterhin bei der hundertprozentigen Förderung belassen, aber wir werden sie auf 15 % der Fälle begrenzen.
— Frau Beck-Oberdorf, machen Sie sich doch einmal klar — das wurde vorhin bereits einmal angesprochen — , warum in den einzelnen Landesarbeitsamtsbezirken der Anteil der Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen, der mit 100 % gefördert wird, einmal bei 60 oder 70 % liegt, zum anderen bei nahezu 0 %. Dieser große Unterschied ist nicht damit zu rechtfertigen, daß die Finanzaustattung der Träger unterschiedlich ist. Es ist auch nicht damit zu rechtfertigen, daß die Umstände des jeweiligen Arbeitsmarktsbereichs unterschiedlich sind. Es liegt auch ein wenig an der Verantwortung der Selbstverwaltung in den einzelnen Arbeitsämtern.
Wir von der CSU gehen davon aus, daß mit der Begrenzung der zu 100 % geförderten Fälle auf einen Anteil von 15 % die Kluft zwischen den einzelnen Landesarbeitsämtern — auf der einen Seite 70 %, auf der anderen Seite fast 0 % — deutlich kleiner wird.
Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 114. Sitzung. Bonn, Freitag, den 2. Dezember 1988 8259
Frau Hasselfeldt
Ein wesentliches Ergebnis der Beratungen in den Koalitionsfraktionen betraf die ursprünglich im Gesetzentwurf vorgesehene Kürzung der Bezugsdauer von Arbeitslosengeld für Jugendliche. Eine solche Kürzung wird es nicht geben. Obwohl wir während unserer Regierungszeit dazu beigetragen haben, daß die Jugendarbeitslosigkeit zurückgeht und auch die durchschnittliche Dauer der Arbeitslosigkeit bei den Jugendlichen geringer geworden ist und dieser Personenkreis weniger Beiträge bezahlt, wollen wir den Jugendlichen denselben sozialen Schutz bieten wie allen anderen auch. Wir haben im besonderen die Situation in den strukturschwachen Gebieten mit berücksichtigt, in denen die Eingliederung der Jugendlichen immer noch etwas schwieriger ist als in den anderen Gebieten.
Diese Novelle zum Arbeitsförderungsgesetz steht unter der Zielsetzung, die Ausgaben der Bundesanstalt zu begrenzen. Sie steht unter der Zielsetzung, die Beitragsmittel zielgerichtet, effektiv einzusetzen. Sie steht unter der Zielsetzung, Mitnahmeeffekte zu vermeiden, und sie steht unter der Zielsetzung, die Ausgaben den arbeitsmarktpolitischen Bedingungen und Notwendigkeiten anzupassen.
Im Hinblick auf den zuletzt angesprochenen Gesichtspunkt werden wir die Berufsausbildungsbeihilfe auf die Fälle beschränken, in denen die Ausbildung nicht am Wohnort der Eltern stattfindet. Es kann nicht Aufgabe der Solidargemeinschaft sein, bei der so guten Ausbildungsstellensituation in unserem Land niedrige Tarifabschlüsse bei Ausbildungsvergütungen durch eine entsprechend höhere Berufsausbildungsbeihilfe auszugleichen.
In den Äußerungen der SPD zu diesem Gesetz ist nichts anderes als die alte Masche zu erkennen. Sie fordern immer mehr und mehr, ohne zu fragen, ob das sinnvoll ist und woher das Geld dafür kommt. Wenn Sie danach fragen, dann ist Ihre Antwort: vom Staat. So auch hier. Das Defizit soll vom Staat getragen werden. Die absehbaren zusätzlichen Ausgaben bei Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen, bei Fortbildung und Umschulung sollen vom Staat bezahlt werden. Die Eigenverantwortung des einzelnen kennen Sie nicht. Gleichzeitig wird von dem Herrn Kollegen Schreiner — jetzt sehe ich ihn leider nicht mehr — die katholische Soziallehre zitiert. Es hat mich übrigens sehr gefreut, daß gerade aus seinem Munde — da kommt er ja wieder — so häufig die Katholische Kirche, auch die Evangelische Kirche und dann auch noch die katholische Soziallehre zitiert werden. Dort steht auch an wichtiger Stelle — Zitat — :
Von vornherein ist festzuhalten, im Bereich der Wirtschaft kommt der Vorrang der Privatinitiative des einzelnen zu.
Weiter heißt es:
Wie dasjenige, was der Einzelmensch aus eigener Initiative und mit seinen eigenen Kräften leisten kann, ihm nicht entzogen und der Gesellschaftstätigkeit zugewiesen werden darf, so verstößt es gegen die Gerechtigkeit, das, was die kleineren und untergeordneten Gemeinwesen leisten und
zum guten Ende führen können, für die weitere und übergeordnete Gemeinschaft in Anspruch zu nehmen.
Dies, meine Damen und Herren, ist ein eindeutiges Bekenntnis zur Eigenverantwortung des einzelnen, ein Bekenntnis zur Subsidiarität in einem Sozialstaat.
Wir werden weltweit um die Leistungen unseres Sozialstaates beneidet.
Wir machen diesen Sozialstaat kaputt, wenn wir diese tragende Säule, nämlich die Eigenverantwortung und die Subsidiarität, nicht beachten.
Mit dieser Gesetzesnovelle wird das erreicht, was notwendig ist. Sie konsolidiert die Ausgaben der Bundesanstalt und stärkt die Eigenverantwortung aller am Arbeitsmarkt Beteiligten. Deshalb werden wir auch dieser Novelle zustimmen.
Ich danke Ihnen.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Heyenn.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich glaube, hier wird an den Tatsachen vorbeigeredet. Ich meine, hier werden Christdemokraten in hohem Maße unglaubwürdig. Es wird nur noch abkassiert: In der letzten Woche 14 Milliarden, heute vormittag 1,8 Milliarden, in zwei Stunden bei der Künstlersozialversicherung einige Millionen! Ich frage mich: Was hat das mit dem Auftrag eines Bundesministers für Arbeit und Sozialordnung zu tun, dessen Aufgabe es ist, diesen Sozialstaat auszubauen und zu gestalten?
Ich glaube, dieser Bundesarbeitsminister würde besser als Inkassobeamter bezeichnet, dann könnte man ihm sagen, er hat seine Aufgabe erfüllt.
Sie ersparen es mir nicht, Frau Hasselfeldt, weil Sie Stellungnahmen der Kirche zitiert haben, auch noch einmal auf die Stellungnahme der Evangelischen Kirche in Deutschland zur Änderung des Arbeitsförderungsgesetzes einzugehen. Da schreibt die Evangelische Kirche:
Es war ein Hoffnungsschimmer, ein Hoffnungszeichen, das viele im Lande mit Dankbarkeit aufgenommen haben, daß im Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung in diesem Sommer übereinstimmend gesagt wurde: Wir wollen alle, alle Parteien, an der Erschließung von Beschäftigungsmöglichkeiten für Langzeitarbeitslose mitwirken.
Zur Neunten Novelle zum AFG sagt die Evangelische Kirche in Deutschland dann:
8260 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 114. Sitzung. Bonn, Freitag, den 2. Dezember 1988
Heyenn
Auf dem Hintergrund dieser Diskussion im Juni sieht die Evangelische Kirche maßgebliche Teile des hier vorliegenden Entwurfs mit Ratlosigkeit und Irritation.
Wenn Sie betonen, weniger Geld führe zu mehr Kreativität, dann möchte ich erneut die Evangelische Kirche in Deutschland zitieren, die sagt:
Ist es richtig, in einer so schwierigen Situation hoher Arbeitslosigkeit, hoher Langzeitarbeitslosigkeit den Haushalt der Bundesanstalt gleichsam in sich zu sanieren? Weist nicht das Problem über diesen Haushalt hinaus? Muß nicht die gesamte Gesellschaft und mit ihr der Staatshaushalt verstärkt eintreten?
Wir können dieser Forderung der Evangelischen Kirche in Deutschland nur zustimmen.
Aber die EKD fragt weiter:
Müssen wir uns, gesamtgesellschaftlich gesehen, wirklich mit dem begnügen, was wir für die Hilfe für Arbeitslose eingesetzt haben? Müssen wir nicht anstatt weniger mehr für sie tun, mehr vor allen Dingen für die besonders sensiblen Bereiche, für die Langzeitarbeitslosen, für die Schwervermittelbaren, für die jugendlichen Arbeitslosen?
Die Evangelische Kirche in Deutschland hat hier eine sehr überlegte Stellungnahme abgegeben. Sie sieht sich von den Handlungen dieser Regierung irritiert.
Wir können nur sagen: Die Meinungsäußerungen im Juni, etwas für Langzeitarbeitslose gemeinsam tun zu wollen, und die 9. Novelle zum Arbeitslosenförderungsgesetz stehen sich unvereinbar gegenüber. Was Sie reden und was Sie tun, das klafft so weit auseinander, daß Sie, Herr Bundesarbeitsminister, inzwischen unglaubwürdig geworden sind.
Sie beschränken sich auf die bloße Verwaltung der Arbeitslosigkeit.
Aber ich möchte ein paar Worte zum Vorruhestand sagen. Sie haben versucht, die Vorruhestandsregelung vor wenigen Jahren als Kampfinstrument gegen die Verkürzung der Wochenarbeitszeit einzusetzen. Damit sind Sie gescheitert. Nun lassen Sie den Vorruhestand einfach wegfallen. Sie haben auch in der ersten Lesung der 9. AFG-Novelle gesagt:
Vorruhestand habe ich immer als eine vorübergehende Maßnahme angesehen, als eine außergewöhnliche Antwort auf außergewöhnliche Zeiten.
Ein Zitat von Norbert Blüm.
Aber nun frage ich Sie: Was hat sich denn geändert gegenüber dem Zeitpunkt der Einführung des Vorruhestands? Nichts! Die Arbeitslosenzahlen sind gestiegen. Wie begründen Sie dann den Wegfall?
— Seien Sie doch nicht so aufgeregt!
Zu den neuen Arbeitsplätzen will ich Ihnen etwas sagen. Hier ist uns vorgeworfen worden, während unserer Regierungszeit habe die Zahl der Beschäftigten abgenommen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
1969 gab es 21,752 Millionen beschäftigte Arbeitnehmer, 1981: 22,869 Millionen, 1987: 22,707 Millionen. Sie haben nach sechs Jahren des Rückgangs gerade in etwa wieder den Stand der Jahre 1981, 1982 erreicht.
— Das kann ich gern tun. Es sind 300 000 weniger.
— Das sind keine falschen Wahrheiten.
Herr Kollege Heyenn, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Kolb?
Da ich weiß, daß Sie mir das nicht auf die Zeit anrechnen: Gern.
Nein, keinesfalls.
Herr Kollege Heyenn, ist Ihnen bekannt, daß wir damals die Vorruhestandsregelung deswegen einführten, weil wir sagten: Junge Menschen in Arbeit und Altere in Rente; daß aber, was die Bundesanstalt für Arbeit nachgewiesen hat, am 1. Oktober 110 000 Lehrstellen nicht besetzt waren, weil es nicht mehr die jungen Menschen gibt, so daß diese damalige Begründung für den Vorruhestand heute entfällt?
Herr Kollege Kolb, ist Ihnen bekannt, daß wir nach wie vor Hunderttausende junger Arbeitsloser in dieser Republik haben und daß das, was Sie mich hier fragen, eine sehr vordergründige Behauptung ist?
Schauen Sie in die Statistiken, die Ihnen vorliegen. Der Vorruhestand hat 150 000 neu besetzte Stellen gebracht, davon zwischen 70 000 und 100 000 Arbeitslose, die wieder in Beschäftigung gekommen sind. Die Wirkung des Vorruhestands wäre besser gewesen, wenn unsere Forderungen zur besseren Ausgestaltung des Vorruhestands ins Gesetz gekommen wären.
Was Sie jetzt machen, ist reine Augenwischerei, ist Täuschung der Bevölkerung. Denn die vorgesehene Altersteilzeitregelung, über die man ja reden könnte
— aber nicht als Ersatz des Vorruhestandes, sondern nur als Ergänzung des Vorruhestandes — , bringt als Ersatz des Vorruhestandes nichts.
Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 114. Sitzung. Bonn, Freitag, den 2. Dezember 1988 8261
Heyenn
Denn wie wollen Sie eigentlich jemandem zumuten, nur noch halbtags zu arbeiten und dann eine Altersteilzeitzahlung zu bekommen, die sich auf der Höhe des Arbeitslosengeldes bewegt?
Weder die Gewerkschaften noch die Arbeitgeberverbände sagen, daß es hierzu eine reale Chance für die dafür erforderlichen Tarifverträge gibt.
Fazit also nach unserer Anhörung — der Kollege Schreiner hat darauf hingewiesen — : Niemand gibt dieser Teilzeitregelung, dieser Altersteilzeit irgendeine Chance. Bloße Augenwischerei,
genauso schlecht wie die übrigen Regelungen dieser 9. Novelle.
Lassen Sie mich auf eine kleine Besonderheit in dieser 9. Novelle hinweisen, weil Sie immer die Beteiligung der Unternehmer an Maßnahmen der Fortbildung und der Umschulung fordern.
Da hat sich in den Häfen Norddeutschlands die Situation der Hafenarbeiter durch den Einsatz von Containern unheimlich verändert. Noch vor 20 Jahren war die Tätigkeit der ständig unständig beschäftigten Hafenarbeiter das Schleppen von Kisten. Heute müssen sie hochtechnisierte Kräne bedienen. Aber es gibt keinen Ausbildungsberuf im Hafen. Deswegen haben die Hafenbetriebe in Bremen und in Hamburg Schulen gebildet, um ungelernte Kräfte zu Hafenfacharbeitern auszubilden — mehr als 100 in jedem Jahr. Durch den Wegfall des § 44 AFG verhindern Sie jetzt, nein, beenden Sie die Möglichkeit dieser Ausbildung, die auch von den Unternehmern getragen wurden. Sie sagen immer, man müsse qualifizieren. Hier hat die Hafenwirtschaft in Bremen und Hamburg etwas zur Qualifizierung beigetragen, aber Sie schaffen die Regelung über Mangelberufe im Arbeitsförderungsgesetz ab. Wie können Sie den Betroffenen das überhaupt erklären?
Meine Damen und Herren, mit der 9. Novelle werden viele leistungsgeminderte, schwer vermittelbare Arbeitslose ihre Einstellungschancen verlieren. Mit der 9. Novelle wird die Qualifizierungsdefensive verschärft;
von einer Qualifizierungsoffensive kann man schon lange nicht mehr reden.
Mit der 9. Novelle wird der Sozialhilfeaufwand der Kommunen noch weiter steigen. Bei der 9. Novelle steckt der Teufel nicht nur im Detail, sondern der Teufel zieht sich wie ein roter Faden durch das ganze Gesetz. Was Sie treiben, Massenarbeitslosigkeit mit diesem Gesetz weiter auszubauen,
ist in der heutigen Situation, nein, ist generell ein einziger unvertretbarer Skandal.
Das Wort hat der Bundesminister für Arbeit und Soziales, Herr Dr. Blüm.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich will mit einer Meldung beginnen, die in der Gefahr steht, unter Datenschutz zu fallen, weil sie zuwenig bekannt ist.
Die Volkszählung hat offenbart, daß wir eine Million mehr Beschäftigte haben,
als wir selber geschätzt haben. Die Volkszählung
— nachgezählt, nicht geschätzt — hat bestätigt, daß wir mit 27 Millionen Erwerbstätigen den höchsten Beschäftigungsstand seit Bestehen der Bundesrepublik Deutschland haben.
Wir können mit Befriedigung sagen, daß auch die Sozialpolitik in den zurückliegenden sechs Jahren einen Beitrag dazu geleistet hat, daß mehr Beschäftigung in unserem Land entstanden ist. Sozialpolitik basiert auf Solidarität, richtig. Aber Solidarität muß mit Solidität verbunden werden. Eine Solidarität ohne Solidität bestraft diejenigen, denen man helfen will. Wenn ich das auf den Punkt bringen soll: Die Logik der Argumentation von Herrn Schreiner, Frau BeckOberdorf und Herrn Heyenn heißt: alle Arbeitslose in Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen,
alles rein damit, noch mehr Geld für Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen. Diese Logik bedeutete, zwei Millionen Arbeitslose in Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen zu stecken.
— Es tut mir leid, wenn ich die Konsequenz Ihrer Argumentation so darstellen muß.
— Nein, Herr Schreiner, ich erzählen Ihnen jetzt, was die Konsequenz aus Ihrer Argumentation ist. Hören Sie mir ruhig zu.
Es hört sich ja alles schön an, aber das bedeutete:
Wenn wir für 100 000 Arbeitsbeschaffungsmaßnah-
8262 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 114. Sitzung. Bonn, Freitag, den 2. Dezember 1988
Bundesminister Dr. Blüm
men 3 Milliarden DM ausgeben, dann würden wir für 2 Millionen Arbeitslose, wenn ich richtig gerechnet habe, 60 Milliarden DM ausgeben müssen. Dann müßten die Beiträge um 7,5 % steigen. Im gleichen Maße würde die Zahl der Arbeitslosen steigen.
Ihre Sozialpolitik ist nichts anderes als ein Teufelskreis höherer Lohnnebenkosten und höherer Arbeitslosigkeit.
Es fällt Ihnen nichts anderes ein, als mehr Geld auszugeben. Wenn das die Lösung wäre, würde ich es ja mitmachen. Aber Sie bestätigen, daß Sie nichts anderes im Kopf haben, als mehr Geld auszugeben.
Das hilft den Arbeitslosen nicht.
— Frau Präsidentin, das ist hier sehr anstrengend. Es ist gegen die Humanisierung des Parlamentslebens, daß ich immer so — —
Herr Bundesminister, das ist eine sehr temperamentvolle Debatte. Das ist mir klar.
Wenn Sie mir bitte helfen könnten!
Ich bitte wirklich darum, den Herrn Bundesminister ausführlich zu Wort kommen zu lassen, damit der nächste Redner darauf eingehen kann. Sonst hört er gar nicht alles.
Bitte schön, Herr Bundesminister, fahren Sie fort.
— Meine Damen und Herren, Sie müssen denjenigen, der hier spricht, wenigstens zu Wort kommen lassen.
— Ich bitte Sie, Herr Kollege Schreiner, haben Sie etwas mehr Geduld.
Auch die Hörer draußen und dort oben auf der Zuschauertribüne möchten hören, was für Argumente der Herr Bundesminister hat, und Sie können dann hier Ihre Gegenargumente bringen.
Haben Sie gehört? Meine verehrte Kollegin Fuchs hat gesagt: Das wollen sie gar nicht. Sie wollen
also durch Geschrei verhindern, daß mir die Öffentlichkeit zuhört. Das ist ein besonderer Beitrag zum Demokratieverständnis der Opposition.
Sie sind immer so erschreckt, wenn ich direkt antworte.
— Frau Präsidentin, könnten Sie mir nicht einmal eine Geräuschpegelprämie auszahlen?
Also ganz ruhig weiter: Der Bund wird seinen Beitrag dazu leisten, das voraussichtliche Defizit 1989 in der Bundesanstalt abzudecken.
Das Defizit wird unter anderem dadurch entstehen, daß wir mehr als je zuvor für die Arbeitsmarktpolitik machen. Würden wir nur so viel für die Arbeitsmarktpolitik machen, wie Sie gemacht haben, würde das Defizit nie entstehen.
Der Bund beteiligt sich an der Deckung des Defizits, indem er 4 Milliarden DM zur Verfügung stellt.
4 Milliarden DM mehr zahlt der Bund. Ich denke, ich höre nicht richtig: Herr Schreiner sagt, wir würden uns zurückziehen.
Wir zahlen also 4 Milliarden DM, und er sagt, wir würden uns aus dem Arbeitsmarkt zurückziehen. Herr Schreiner, sind Sie eigentlich ein Geisterfahrer?
Ich wiederhole : Wir zahlen von den 5,9 Milliarden DM Defizit 4 Milliarden DM. Und Herr Schreiner sagt, wir würden uns aus dem Arbeitsmarkt zurückziehen!
Im übrigen haben Sie bei dem Defizit, das 1982 entstanden ist, nicht um 1,8 Milliarden DM gekürzt, sondern um 3,6 Milliarden DM. Weil wir gerade bei Zahlen sind,
will ich die Zahlen komplett vortragen. — Herr Schreiner, hören Sie mich in Ruhe an. Ich habe Sie auch in Ruhe angehört. Wenn Sie am Schluß dieser Zahlenkolonne noch Fragen haben, stehe ich Ihnen zur Verfügung. Aber erst kommt die Zahlenkolonne.
Deutscher Bundestag — 1 i. Wahlperiode — 114. Sitzung. Bonn, Freitag, den 2. Dezember 1988 8263
Bundesminister Dr. Blüm
Herr Schreiner sagt — man ist ja ganz beeindruckt —: Streichen Sie ihr C aus dem Parteinamen,
und zwar wegen dieses Gesetzes. — Hören Sie mal zu: 1982 hat die SPD für Ausbildung — —
— Frau Unruh, ich kann es Ihnen nicht ersparen. Mit Zahlen muß die Wahrheit befördert werden. Mit Worten kommt man nicht dagegen an.
Für Ausbildung unter der SPD: 428 Millionen DM,
1988: rund 1,2 Milliarden DM.
Meine Damen und Herren, das ist, wenn ich richtig gerechnet habe, eine Steigerung auf fast 300 %. Berufliche Bildung: unter der SPD 1982 3,7 Milliarden DM; wir geben 7,2 Milliarden DM aus.
Berufliche Rehabilitation: unter der SPD 1982 1,9 Milliarden DM; wir geben 2,8 Milliarden DM aus. Förderung der Arbeitsaufnahme: 264 Millionen DM unter der SPD, wir geben in diesem Jahr 575 Millionen DM aus. Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen: unter der SPD 869 Millionen DM, wir — —
— Wir, die Bundesregierung, die Sie so anklagen.
— Sie klagen doch dauernd uns an. Da werde ich doch wohl die Zahlen nennen können, die wir durch unser Gesetz ermöglichten. Oder haben Sie bisher die Bundesanstalt angegriffen?
Komisch, ich soll verantwortlich sein für Kürzungen, und wenn ich die tatsächlichen Zahlen nenne, ist es wieder die Bundesanstalt. Sie wechseln die Argumente, wie Sie sie gerade brauchen.
Aber ich will von den Zahlen nicht abkommen. Ganz langsam die Zahlen: Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen — noch einmal — : unter der SPD 869 Millionen DM, bei uns 3,3 Milliarden DM.
Lohnkostenzuschüsse für ältere Arbeitnehmer: unter der SPD 94 Millionen DM, bei uns 335 Millionen DM. Meine Damen und Herren, wenn ich jetzt einen Strich darunterziehe und zusammenzähle, sind in SPD-Zeiten 6,9 Milliarden DM für Arbeitsmarktpolitik ausgegeben worden, bei uns 14,8 Milliarden DM.
Deshalb, Herr Schreiner: Ich streiche bei Ausgaben in Höhe von 14 Milliarden DM das „C" erst aus unserem Parteinamen, wenn Sie angesichts von 7 Milliarden DM das „S" aus Ihrem Parteinamen gestrichen haben.
7 Milliarden DM! Wir machen das Doppelte. Und da kommt Herr Schreiner hierher und macht derartige Ausführungen. Da fällt mir nicht der Heilige Martin ein, da fällt mir — wenn wir schon bei der Bibel sind — der Pharisäer ein.
Wir geben 14 Milliarden DM aus, und er kommt durch den Saal geritten, auf ganz hohem Roß, gibt moralische Noten und nimmt den Bischof zur Hilfe. Daß er nicht noch den lieben Gott zur Hilfe gerufen hat! Wir machen das Doppelte von dem, was Sie gemacht haben, und der Junge wird nicht rot. Der müßte doch rot werden bei den Zahlen, wenn er nicht schon rot wäre.
Herr Bundesminister, gestatten Sie eine Frage?
Nein. Ich beantworte erst Fragen, wenn ich die ganze Latte der Zahlen vorgetragen habe. Die Taktik der SPD ist nämlich: Wenn es peinlich wird, immer pausenlos Zwischenfragen stellen, damit man die schöne Kolonne nicht vortragen kann. Und ich möchte der deutschen Öffentlichkeit schon mal vorführen, wie die richtigen Verhältnisse sind.
Die Zerhackertechnik kenne ich. Die Zahlen wirken nur, wenn man sie hintereinanderreiht.
— Wenn Sie noch ein paarmal rufen, lese ich sie noch einmal vor.
Seit dem Regierungswechsel hat die Koalition neue Ausgaben in Höhe von 7 Milliarden DM beschlossen und die Leistungen der Bundesanstalt um 2 Milliarden DM gekürzt. Es stimmt, wir haben Leistungen der Bundesanstalt gekürzt. Aber wir haben neue Leistungen in Höhe von 7 Milliarden DM angeboten. Nach meiner Rechnung ergibt das einen strukturellen Ausgabenzuwachs von 5 Milliarden DM.
Beeinflußt wird die Finanzlage der Bundesanstalt sicher auch durch neue Aufgaben, beispielsweise durch den Zuzug von Aussiedlern, der so nicht vorhersehbar war, der aber unsere Solidarität einfordert, die Solidarität für unsere Landsleute. Im Jahre 1989 werden die Mehrkosten hierfür nach unserer Schätzung 1,5 Milliarden DM betragen.
Nun noch zu den einzelnen Posten: Die von der Bundesregierung gemeinsam mit den Spitzenverbän-
8264 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 114. Sitzung. Bonn, Freitag, den 2. Dezember 1988
Bundesminister Dr. Blüm
den und der Bundesanstalt für Arbeit angestoßene Qualifizierungsoffensive war erfolgreich.
Sie führte zu zweistelligen Wachstumsraten: 1986 beispielsweise 29 % Steigerung, im folgenden Jahr 12,5 %. Auch hier wieder der Vergleich zwischen Sozialdemokratischer Partei und dieser Koalition: 1982 war für 265 000 Arbeitnehmer Geld für berufliche Bildungsmaßnahmen zur Verfügung gestellt worden. In diesem Jahr werden 600 000 Teilnehmer gefördert. Zwei Drittel der Teilnehmer haben spätestens ein Vierteljahr nach Abschluß der Bildungsmaßnahme wieder Arbeit gefunden.
Aber trotz dieses Erfolges muß man selbstkritisch bleiben. Ich glaube, es ist jetzt eine Phase gekommen, in der wir auf diesem hohen Niveau konsolidieren müssen, um sozusagen die qualitative Verbesserung dieser Maßnahmen durchzusetzen. Es muß uns und Ihnen doch auch zu denken geben — Frau Hasselfeldt hat bereits darauf hingewiesen: Daß der Anteil der Arbeitslosen an den Geförderten zurückgeht, das ist doch nicht im Sinne dieser Maßnahmen. In Zahlen: Ende September 1986 lag dieser Anteil bei 66 %, im gleichen Zeitraum dieses Jahres jedoch nur noch bei 58 %.
Was folgere ich daraus? Ich folgere daraus, daß sich Betriebe zurückziehen und ihre Aufgabe der Bundesanstalt für Arbeit übergeben. Aber dafür ist die Bundesanstalt für Arbeit nicht zuständig. Sie soll in erster Linie dafür sorgen, daß die, die keine Arbeit haben, durch Qualifizierung wieder Arbeit finden. Wenn Qualifizierungsbedürfnisse für Beschäftigte vorhanden sind, dann müssen sie in erster Linie im Betrieb befriedigt werden.
Insofern geht es hier nicht einfach um eine Sparmaßnahme, sondern darum, einen Riegel vor Fehlentwicklungen zu schieben, eine Tür zuzumachen, weil nicht erwünscht ist, daß man hindurchgeht. Ich bleibe dabei: Ich erinnere auch aus Anlaß dieser Beratung die Betriebe daran, daß Qualifizierung der Arbeitnehmer so wichtig ist wie Investitionen, daß moderne Wirtschaft intelligente Arbeitnehmer braucht und intelligente Arbeitnehmer im Betrieb weitergebildet werden müssen. Der großen Leistung des deutschen Handwerks und der deutschen Wirtschaft in der Lehrlingsausbildung muß jetzt eine ebenso vergleichbare Leistung bei der Weiterbildung hinzugefügt werden;
denn Bildung hört nicht am Ende des Jugendalters auf.
Bildung brauchen auch die älteren Arbeitnehmer.
— Bildung brauchen auch die Abgeordneten, alle Abgeordneten. Alle müssen in jedem Beruf weitergebildet werden.
Bleiben wir dabei, daß das am besten im Betrieb geschieht. Das ist doch das Erfolgsgeheimnis des dualen Systems. Viele Lehrlinge sind doch vom Schicksal der Studenten dadurch befreit geblieben, daß sie nicht so lange fern vom Ernstfall des Lebens ausgebildet wurden. Sie wurden im Betrieb, im Ernstfall des Lebens ausgebildet. Das ist auch das Erfolgsgeheimnis für die berufliche Weiterbildung: vor Ort, in der Praxis, den Dreher auf die neue Maschine vorzubereiten, nicht in großen universitären Lehrgängen, sondern im Betrieb, damit er auch noch als älterer Arbeitnehmer auf der Höhe der Zeit bleibt.
Herr Bundesminister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Heyenn?
Bitte.
Herr Heyenn, bitte sehr.
Nein, ich muß erst noch einen Satz zur „gehobenen Stammtischphilosophie" sagen. Wir reden hier über wirklich praktische Sachen. Bei Ihnen beginnt offenbar das Gehobene erst bei Karl Marx. Wir formulieren aus den Bedürfnissen des Betriebes.
Herr Bundesarbeitsminister, nachdem Sie jetzt mit Ihren Zahlenkolonnen am Ende sind, danke ich für die Möglichkeit, hier eine Frage zu stellen. Sie haben uns beredt erklärt, um welche Summen die Ansätze der Bundesanstalt für Arbeit z. B. bei AB-Maßnahmen, z. B. bei Umschulung und Förderung in Ihrer Regierungszeit gestiegen sind.
Halten Sie es nicht für unredlich, dabei zu verschweigen, daß die Regierung, die bis Herbst 1982 die Verantwortung getragen hat, Jahr um Jahr Milliardenbeträge in Zukunftsinvestitionsprogramme hineingesteckt hat,
und darum auf dem Arbeitsmarkt bei diesen Arbeitsmarktprogrammen, die Sie schildern, nicht so intensiv tätig werden mußte? Halten Sie das nicht für unredlich, denn Sie haben während Ihrer Regierungszeit seit 1982
für diese Bereiche keinen Pfennig mehr zur Verfügung gestellt.
Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 114. Sitzung. Bonn, Freitag, den 2. Dezember 1988 8265
Darf ich darauf aufmerksam machen, daß diese Zukunftsinvestitionen zu der steilsten Steigerung der Arbeitslosigkeit in der Geschichte der Bundesrepublik geführt haben?
Unser Zukunftsprogramm waren Zinssenkungen. Das ist ein Zukunftsprogramm ohne Formulare. Wir halten mehr von unternehmerischer Initiative als von bürokratischer Verwaltung.
Ich danke Ihnen für diese Frage. — Frau Unruh, bitte schön.
Bitte sehr.
Herr Minister, ich möchte auch so stark glauben wie Sie, und deshalb frage ich Sie: Warum haben alle Sachverständigen die 9. Novelle nicht für gut befunden?
Da müssen Sie erstens die Sachverständigen fragen. Zweitens überrascht es mich überhaupt nicht, daß diejenigen, die Lehrgänge anbieten, mehr Geld haben wollen. Wenn die Sachverständigen in erster Linie mehr Geld haben wollen, dann, finde ich, geht mein Sachverstand etwas weiter, denn mein Sachverstand sagt mir, daß die Beschäftigungschancen nicht nur mit Geld zu erhöhen sind, sondern mit mehr Phantasie, mit mehr Initiative, mit gewerkschaftlichen Beiträgen. Wir können mit dem, was wir machen, lediglich flankierend tätig sein und wollen auch nicht mehr.
— Nein, Herr Kirschner, ich habe heute keine Fragestunde, sondern ich habe heute vorzutragen, was das Ziel der 9. Novelle ist.
Ich will schon sagen: Wenn der Anteil der Arbeitslosen an den Qualifizierungsmaßnahmen gesunken ist, dann muß ich auch darauf hinweisen, daß der Hauptgrund bei den freien Trägern liegt. Wir sind immer für die Kombination von Maßnahmen der Bundesanstalt und der freien Träger, aber im Zuge einer Rückfrage, auch an die kirchlichen Träger, müssen sie daran erinnert werden, daß öffentliche Bildungsmaßnahmen in erster Linie für diejenigen gedacht sind, die keine Arbeit mehr haben.
Was die Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen anlangt, so will sie niemand abstellen. Nur gibt es für die Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen auch Grenzen. Denn wenn das das allgemeine Mittel wäre, bräuchte man es immer nur weiter zu steigern. Aber was ist das eigentlich für eine gespaltene Diskussion? Bei der ÖTV muß ich mich wegen der Steigerung von Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen beschimpfen lassen, weil sie sagt, diese Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen würden auf dem regulären Arbeitsmarkt Arbeitsplätze vernichten, und hier im Parlament werde ich von der Opposition attackiert, weil wir Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen nicht weiter steigern.
Im übrigen halte ich es für ganz sinnvoll, daß die Träger auch etwas zuzahlen müssen. Offensichtlich ist es doch so, daß die Lehrgangskosten höchst unterschiedlich sind, auch von Träger zu Träger.
Also kann doch in diesem Bereich auch ein Markt entstehen. Der Markt geht nie zu Lasten der Qualität.
Da entsteht dann ein bißchen mehr Wettbewerb. Wenn die Mark, die von Arbeitnehmern sauer verdient wurde, zweimal umgedreht wird, bevor sie einmal ausgegeben wird, kann das der Qualität nur nutzen.
Ein Umsteuern ist aus folgendem Grund notwendig. Bisher war im Gesetz vorgeschrieben, daß der durchschittliche Beitrag, die durchschnittliche Unterstützung, 80 % betragen soll. Nur haben sich immer weniger Träger danach gerichtet. Das war ein Muster ohne Wert. Da muß der Gesetzgeber nachhelfen. Wenn die Selbstverwaltung diese Orientierung offenbar nicht mehr für verbindlich hält, dann muß man das durch Gesetz nachholen.
In einigen Landesarbeitsamtsbezirken hat man sich offenbar auf die hundertprozentige Förderung eingestellt. Auch das ist hier schon gesagt worden. In Nordrhein-Westfalen waren es 73 % mit hundertprozentiger Förderung, in Niedersachsen waren es 63 %, und bevor Sie das Argument bringen, daß das strukturschwache Länder seien, nenne ich das strukturschwache Land Schleswig-Holstein mit großen Problemen, wo es 24 % sind. Also kann es doch nicht allein regional begründet werden, sondern hier brauchen wir bessere, verläßlichere Ansatzpunkte, und deshalb setzt der Gesetzgeber fest, wann 100 % gewährt werden können, und er setzt auch die Grenzen dieser Förderung. Ich sehe als Ziel eine solidarische und solide Finanzierung. Auch das Arbeitsamt muß vor Mitnahmeeffekten geschützt werden.
Im übrigen können auch die Länder ihren Beitrag leisten, ganz in Übereinstimmung mit dem, was die Kirchen im Ausschuß für Arbeit vorgeschlagen haben. Das richtet sich doch nicht nur an den Bund; denn warum sollte der Bund allein zuständig sein? Wir zahlen z. B. für Nordrhein-Westfalen an Strukturhilfen in einem Jahr — jetzt neu — 750 Millionen DM. Davon sollen die mal ein bißchen an die Kommunen weitergeben, denn dafür sind die Strukturhilfen nämlich gedacht.
Nordrhein-Westfalen erhält von dem Kuchen der Strukturhilfen 30,6 %, obwohl sein Bevölkerungsanteil nur 27,3 % beträgt.
Den öffentlichen Trägern muß ich auch sagen, daß in erster Linie sie selber ordentliche Arbeitsplätze schaffen sollen, daß die Arbeitsbeschaffungsmaßnah-
8266 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 114. Sitzung. Bonn, Freitag, den 2. Dezember 1988
Bundesminister Dr. Blüm
men kein Ersatz für ihre Planstellen sind. 60 % der Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen sind Maßnahmen im öffentlichen Dienst. Da kann ich nur sagen: So hatten wir und so haben wir nicht gewettet.
Nun noch zum Schluß: Frau Beck-Oberdorf sagt, die Phantasie, die wir hätten, sei nur die Phantasie der Ausgrenzung.
Wie bezeichnen Sie denn unser Angebot Altersteilzeit? Ist das Ausgrenzung, oder ist das ein Angebot zu neuen Arbeitsformen?
— Lieber Kollege Heyenn, sehen Sie einmal nach, was Sie damals bei Einführung des Vorruhestandes von diesem Pult aus vorgetragen haben. Ich dachte heute morgen, Sie würden die alte Platte wieder laufen lassen. Es war alles das, was Sie damals gesagt haben; Sie haben nur das Wort „Vorruhestand" gegen „Altersteilzeit" ausgetauscht. Damals haben Sie gesagt: Keine Chance, kein Tarifpartner wird dieses Vorruhestandsgesetz nutzen. —
Heute sagen Sie dasselbe. Die Wirklichkeit hat Sie beim Vorruhestand widerlegt, sie wird Sie auch bei der Altersteilzeit widerlegen.
Sie haben gesagt: Bloße Augenwischwerei. — Zwei Jahre später haben Sie trauernd an diesem Pult gestanden und das bedauert, was Sie zwei Jahre vorher zu Augenwischerei erklärt haben.
Insofern bleiben wir bei unserem Angebot. Ich denke in der Tat, es hat pfadfinderische Bedeutung, und es soll auch Bahnen ebnen für eine Arbeitszeitpolitik, die nicht alles über einen Kamm schert, für eine Arbeitszeitpolitik, die den unterschiedlichen Bedürfnissen der Menschen gerecht wird. Ich bin ganz sicher, viele ältere Mitbürger wollen länger arbeiten, aber sie wollen nicht mehr so viel arbeiten.
Das ist kein Widerspruch. Also: Länger im Lebensalter, aber nicht mehr mit dem Arbeitszeitquantum, das ein Jüngerer erfüllt; sachter Übergang in den Ruhestand. Ein sachter Übergang entspricht doch auch den Lebensbedürfnissen.
Lassen wir uns — da ermahne ich auch uns von der Koalition — weder durch Geschrei der Opposition noch von Ideologen lenken. Orientieren wir unsere Politik an den Bedürfnissen der Menschen! Das halte ich für den besten Ratgeber für die Politik. In diesem Sinne ist die Altersteilzeit ein neuer Weg, der den Wünschen vieler älterer Mitbürger entspricht. Wir werden diesem Weg hier im Arbeitsförderungsgesetz, dann aber auch bei der Rentenreform, eine entsprechende rentenrechtliche Regelung hinzufügen müssen, nämlich daß man auch nicht mehr vor die Wahl gestellt wird: ganz in den Ruhestand oder ganz ins
Erwerbsleben, sondern daß man teils-teils arbeiten kann.
Ich weiß, daß Sie, daß die Sozialisten für eine Politik des „teils-teils" nie ein Gespür entwickelt haben. Sie haben immer nur die kollektiven Einheitslösungen. Dem setzen wir auch am Arbeitsmarkt eine Politik der Differenzierung entgegen, eine Politik, die den unterschiedlichen Wünschen unterschiedlicher Menschen gerecht wird.
Das Wort hat Frau Abgeordnete Steinhauer.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Herren und Damen! Herr Minister, Sie mögen ja wortgewaltig sein. Das täuscht aber nicht darüber hinweg, daß Sie mit dieser Novelle eine Systemänderung weiterbetreiben, die ihresgleichen sucht.
Sie verschweigen hier, was wirklich dahintersteckt. Mich erinnern Ihre Ausführungen an ein Wort, das der Ministerpräsident von Schleswig-Holstein kürzlich gesagt hat. Er sagte: Wer die Menschen für dumm verkauft, will verbergen, was er tut. — Und das haben wir eben erlebt.
Was ändern Sie mit dem § 44 des Arbeitsförderungsgesetzes? Es ist ganz klar, daß Sie hier absolut zurückschrauben. Ich komme gleich noch darauf, daß Sie hier die Zielsetzung überhaupt in Frage stellen. Sie haben verschwiegen, daß die Bundesregierung bis 1982 durch das ZIP-Programm 1 Million Arbeitsplätze erhalten oder geschaffen hat. Auch wenn hier Zurufe dagegen kamen, ist festzustellen, daß dadurch Infrastruktur geschaffen wurde. Das wurde nicht aus dem Haushalt der Bundesanstalt für Arbeit finanziert.
Sie haben verschwiegen, daß damals die Zahl der unversorgten Schulabgänger wesentlich geringer war, daß die Nöte der Schulabgänger erst in den letzten Jahren entstanden sind, daß es dringend notwendig war, in Sachen Ausbildung etwas zu tun. Sie haben damals ja nicht mitgemacht, als wir Ausbildung als öffentliche Aufgabe herausstellen wollten.
Wir wollten nicht, daß das duale System zerstört wurde; wir wollten aber, daß die Parasiten, die nicht ausbilden, mit zur Kasse gebeten werden. Das haben Sie seinerzeit verhindert.
Sie haben hier verschwiegen, daß das Land Nordrhein-Westfalen in den letzten Jahren jedes Jahr eine
Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 114. Sitzung. Bonn, Freitag, den 2. Dezember 1988 8267
Frau Steinhauer
halbe Milliarde DM für Berufsausbildung zur Verfügung gestellt hat — was gar nicht seine Aufgabe war — , um angesichts der Not der Jugendlichen Abhilfe zu schaffen. Das scheint mir wichtig zu sein, anstatt hier Sprüche zu klopfen.
Mir scheint aber auch wichtig zu sein, daß man sich an die Zielsetzung des Arbeitsförderungsgesetzes erinnert — wie sagt man doch: im Zweifel genügt ein Blick ins Gesetz —, das damals mit breiter Mehrheit verabschiedet wurde und das alte Gesetz abgelöst hat, das Gesetz von 1927, das vorrangig ein Versicherungsgesetz war.
Das Gesetz von 1969 liest sich — es ist ganz gut, das einmal in Erinnerung zu rufen — heute noch gut. Es heißt im § 1: Ziel ist es, einen hohen Beschäftigungsstand zu erzielen und aufrechtzuerhalten, die Beschäftigungsstruktur ständig zu verbessern und damit das Wachstum der Wirtschaft zu fördern.
Die arbeitsmarktpolitische Zielsetzung ist im § 2 festgelegt: Weder Arbeitslosigkeit und unterwertige Beschäftigung noch ein Mangel an Arbeitskräften sollen eintreten oder fortdauern, die berufliche Beweglichkeit der Erwerbstätigen — nicht nur der Arbeitslosen — ist zu sichern und zu verbessern, nachteilige Folgen, die sich für die Erwerbstätigen aus der technischen Entwicklung oder aus wirtschaftlichen Strukturwandlungen ergeben, sind zu vermeiden oder auszugleichen usw. usf.
In § 3 ist festgelegt, daß das alles im Rahmen der Wirtschaftspolitik der Bundesregierung geschehen soll. Das ist dann der Punkt, wo man feststellen muß: Der Rahmen stimmt nicht. Man kann ja nicht verfehlte Wirtschafts- und Finanzpolitik mit den Mitteln aus der Bundesanstalt für Arbeit ausgleichen. — Auch da liegt ein Punkt.
Die jetzigen Änderungen des Arbeitsförderungsgesetzes haben das auf keinen Fall verbessert, sondern verschlechtert.
Ich kann Ihnen nur einige Beispiele dafür nennen, wie dies kontinuierlich weitergeht. Man ist gespannt, wie das in den nächsten Jahren dann mit der zu erwartenden 10. Novelle — wir haben das ja soeben schon gehört — weitergeht. Sie haben das Übergangsgeld gekürzt. Die Leistungsempfänger sind bei der Beitragsbemessung für die Rentenversicherung schlechtergestellt worden. Die Sperrzeitenregelung wurde verschärft. Mit der 8. Novelle haben Sie lupenreine Bundesaufgaben der Bundesanstalt für Arbeit übertragen.
Mit der 9. Novelle, mit dem Abbau von Instrumenten und Leistungen, wollen Sie einen vorläufigen Schlußpunkt setzen. Hier stellt sich die Frage: Was wollen Sie eigentlich mit der 10. Novelle noch weiter an Sozialabbau vornehmen?
Die 9. Novelle ist dazu angetan, aktive Arbeitsmarktpolitik überhaupt zu verhindern. Es bleibt hier die bloße Verwaltung der Arbeitslosigkeit. Die Abschaffung des Rechtsanspruchs auf Sachkostenerstattung bei Qualifizierungsmaßnahmen wird verheerende Folgen haben. Das hat die Anhörung im Ausschuß — wir haben das soeben schon gehört — mehrfach deutlich gemacht. Die Gewerkschaften nennen das einen Einschnitt in arbeitsmarktpolitische Dinge, der unvertretbar ist; damit werde Kontinuität überhaupt verhindert. Der Willkür wird hier Tür und Tor geöffnet.
Selbst die Arbeitgeber haben festgestellt, daß hier ein hoher Preis abverlangt wird. Daß bildungswillige Arbeitnehmer beim Vorliegen von gesetzlichen Voraussetzungen jetzt keinen Rechtsanspruch mehr haben, das halten sie für bedenklich. Das wird sogar in der letzten Ausgabe der Zeitschrift „Der Arbeitgeber" noch einmal bestätigt.
Man spricht landauf, landab vom Arbeitskräftemangel — ich will gar nicht bestreiten, daß hier Defizite vorhanden sind — , und im gleichen Augenblick bauen Sie massenweise Bildungsmaßnahmen ab. Bildungswillige werden dann noch durch unzumutbare Bedingungen abgeschreckt. Diese falsche Politik, meine Herren und Damen, wird sich bitter, bitter rächen: sofort für die Betroffenen und später für die Gesellschaft. Das, was wir heute versäumen, wird sich morgen bitter rächen, und wir müssen das teuer reparieren.
Für die 9. Novelle gibt es keine inhaltlich überzeugenden Argumente, es sei denn, daß Sie nur die finanziellen Gesichtspunkte herausstellen wollen. Man kann ja sehen: Der Finanzminister hat Regie geführt, weil nicht begriffen wird, daß Finanzpolitik Gestaltungsaufgabe sein muß. Kurzsichtig die Kasse zu hüten reicht für eine aktive Arbeitsmarktpolitik nicht aus. Ich unterstreiche noch einmal: Bildungsaufwand, der heute unterbleibt, wird sich später nur teuer nachholen lassen. Das gilt insbesondere vor dem Hintergrund des bevorstehenden europäischen Binnenmarktes. Alle Beteiligten wissen und sagen doch immer, daß nicht weniger Bildungsaufwand notwendig ist, sondern mehr, um unseren Standort Bundesrepublik weiterhin attraktiv zu halten.
Der teilweise Entzug der ergänzenden Berufsausbildungsmaßnahmen — das will ich an dieser Stelle ganz besonders herausstreichen — trifft insbesondere wieder die Mädchen und belastet Familien mit geringem Einkommen unerträglich. Was hören wir doch alle für schöne familienpolitische Sonntagsreden von der Bundesregierung und von den Koalitionsfraktionen, und wenn es dann aktuell um konkrete Dinge geht, sieht es ganz anders aus. Die jungen Menschen werden aus dem Elternhaus vertrieben, auch wenn es finanziell noch so eng ist oder die Leistung entfällt.
Haben Sie eigentlich die Folgen bedacht? Ich hoffe, daß das nicht der Fall ist. Ich wage das jedenfalls zu bezweifeln.
Nur noch eins: Sozialpolitisch absolut unverständlich sind auch die befürchteten Verschlechterungen der Förderung der beruflichen Eingliederung der be-
8268 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 114. Sitzung. Bonn, Freitag, den 2. Dezember 1988
Frau Steinhauer
nachteiligten und lernschwachen Jugendlichen. Schon in diesem Jahr ist es ja nur durch Druck der Politik und der Selbstverwaltung gelungen, die angelaufenen Maßnahmen überhaupt weiterzuführen oder neue anlaufen zu lassen. Nun erhalten Sonderschulrektoren schon Schreiben, in denen angekündigt wird, daß die bewährten Lehrgänge — hier sind Internatslehrgänge unbedingt notwendig, damit diese lernschwachen und behinderten Schüler einmal aus dem häuslichen Milieu herauskommen — durch Lehrgänge an Sonderschulen abgelöst werden sollen, und zwar aus rein fiskalischen Gründen. Hauptsache billig. Eine wahrhaft soziale Politik! Und später klagt man dann über die mangelnde Arbeitswilligkeit der Jugendlichen.
Gerade diese Jugendlichen benötigen nach wie vor unsere Hilfe. Sie haben sonst keine Möglichkeit, sich überhaupt in der Arbeitswelt zu bewähren, und zwar auch dann, wenn sich der Ausbildungsstellenmarkt entspannt.
Die Höchstförderung für Einarbeitungszuschüsse wird gekürzt, d. h. leistungsbeeinträchtigte Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sowie Langzeitarbeitslose werden von diesem Gesetz in besonderem Maße betroffen sein. Das gleiche gilt für die Eingliederungsbeihilfe. Die Herabsetzung dieser Zuschüsse trifft insbesondere — auch wenn Sie das anders sehen; das ist nämlich auch nur eine Kann-Leistung, die Sie einräumen — die Frauen. Der Willkür sind durch die Kann-Leistung, bei der es um Ermessen geht, Tür und Tor geöffnet.
All diese Einschränkungen sind nicht nur bildungs-, arbeitsmarkt- und strukturpolitisch verfehlt, sondern auch aus sozialen Gründen unvertretbar. Ich erinnere erneut an die arbeitsmarktpolitische Zielsetzung des Arbeitsförderungsgesetzes. Sinn und Zweck soll es sein, Arbeitslose, deren Unterbringung unter den üblichen Bedingungen des Arbeitsmarktes erschwert ist, beruflich einzugliedern. Gegen diese Zielsetzung verstoßen Sie mit der Änderung des Arbeitsförderungsgesetzes ganz eklatant. Tendenz in der Arbeitsförderung ist offensichtlich auf der ganzen Linie: Sparen und Rechtsunsicherheit, und das bei über 2 Millionen Arbeitslosen.
Die Arbeitsförderungsgesetznovelle wird von allen gesellschaftlichen Gruppen, von den Sozialverbänden über die Kirchen und Gewerkschaften bis zu den Arbeitgebern, abgelehnt. Die SPD schließt sich dieser Bewertung mit Nachdruck an.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Grünbeck.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich habe das Vergnügen, zur Vorruhestandsregelung zu reden, aber ich möchte mir als Zuhörer dieser Debatte doch noch ein kurzes Wort zum Thema berufliche Bildung erlauben. Als Unternehmer, der seit 40 Jahren ausbildet und
auch jetzt 53 Auszubildende in seinem Unternehmen beschäftigt,
kann ich Ihnen nur eines sagen: ich habe bei Ihnen manchmal das Gefühl — Herr Minister Blüm, ich bin Ihnen außerordentlich dankbar für Ihre Ausführungen zur betriebsnahen Ausbildung — , daß Sie von der Schulbank auf die Gewerkschaftsbank und dann auf die Hochschulbank und dann auf die Funktionärsbank und dann auf die Parlamentsbank gekommen sind, daß Sie aber die Tuchfühlung zur Drehbank nicht mehr haben.
Die Hoffnung auf die Bank für Gemeinwirtschaft wird auch jeden Tag geringer. Sie sollten sich im Grunde genommen mehr mit uns über die berufliche Bildung in der Praxis unterhalten, und diesen Pfad der Tugend sollten wir auch nicht verlassen.
Meine Damen und Herren, die Freien Demokraten waren schon immer der Auffassung, daß die beste Sozialpolitik eine Politik der sozialen Gerechtigkeit ist. Wir finden uns in dem vorliegenden Gesetzentwurf zur Teilvorruhestandsregelung wieder. Es gibt keinen Monopolanspruch auf die soziale Gerechtigkeit. Die soziale Gerechtigkeit ist ein Auftrag für uns alle.
Die allgemeine Skepsis gegen den Vorruhestand war immer schon groß. Bei mir persönlich ist sie sehr ausgeprägt; ich gebe das zu.
Ich werde diesem Gesetz aber dennoch zustimmen.
Lassen Sie mich meine zustimmende Haltung begründen. Meine Damen und Herren, die Ergebnisse aller Vorruhestandsregelungen — einschließlich derer der Bundeswehr — sind eigentlich eher umstritten. Ich habe schon einmal formuliert, daß sie eher einer Synthese zwischen Hoffen und Irren als einer sicheren Prognose entsprechen. Aber die jetzige Regelung ist eine ganz wesentliche Verbesserung gegenüber der früheren Regelung, weil sie gerade für die mittelständische Wirtschaft, obwohl dort große Bedenken bestehen, eine Chance bietet, die Arbeitslosen einzustellen und Ersatz für bewährte Mitarbeiter zu schaffen. Ob das gelingt, steht auf einem ganz anderen Blatt.
Es wäre wirklich nicht ehrlich, wenn wir nicht einmal darauf hinweisen würden, meine Damen und Herren, welche Schwierigkeiten heute in vielen Regionen der Bundesrepublik bestehen, um überhaupt Facharbeiter oder gar qualifizierte Aushilfskräfte oder Hilfskräfte zu gewinnen. Wir haben einen beinahe leergefegten Arbeitsmarkt in Bayern. Gehen Sie einmal nach Südbayern und begeben Sie sich in die Rolle, in der ich mich im Augenblick befinde, und suchen Sie einmal 100 Arbeitskräfte! Dann würden
Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 114. Sitzung. Bonn, Freitag, den 2. Dezember 1988 8269
Grünbeck
Sie eine ganz andere Sprache sprechen, als Sie es hier heute getan haben.
Wir haben aber festzustellen, daß dieses Gesetz eine Brücke ist, eine Brücke hin zu mehr Flexibilität, zu mehr Humanität, zu mehr sozialer Partnerschaft zwischen Unternehmer und Mitarbeiter, denn die jetzige Teilvorruhestandsregelung ist eine freiwillige Regelung zwischen beiden Seiten. Ob sie dann über die Tarifverträge oder über betriebliche Vereinbarungen oder aber über Einzelvereinbarungen umgesetzt wird, ist gleich; es bleibt eine freiwillige Lösung für beide Seiten.
Und es ist eine Chance zum Abbau von Mißbrauch. Wenn Sie heute glauben, daß wir den Mißbrauch im Sozialbereich verschweigen sollten, dann tun Sie weder den Arbeitslosen noch den Beschäftigten, auch nicht den Arbeitgebern auch nur den geringsten Gefallen.
Manches Gesetz wird natürlich immer wieder mit gekonnter Schlauheit umgangen.
— Lieber Herr Kollege Schreiner, bei aller Wertschätzung nehme ich Ihren Zuruf natürlich auf. Mein Problem besteht immer darin, daß ich eigentlich seit 40 Jahren immer damit beschäftigt bin, Leute einzustellen und mich dauernd von Leuten kritisieren lassen muß, die eigentlich noch nie Leute eingestellt haben, aber alles besser wissen als wir, die wir im Arbeitsprozeß stecken.
Die Regelung, nach der jetzt 58jährige Arbeitslose kündigen und die Schutzbestimmungen in Anspruch nehmen können und anschließend möglicherweise in den grauen Arbeitsmarkt gehen, kann ich mit einer vernünftigen Betriebsvereinbarung oder mit einer Einzelvereinbarung umgehen. Ich habe damit ein flexibles und humanes Instrument. Das kann ich ja sehr gut regeln.
Ich begrüße es, daß die Lösung befristet ist. Wir werden bis zum Auslaufen der neuen Regelung sicher dazu kommen, neue Regelungen zu schaffen, die hier mehr Flexibilität ermöglichen.
Es gibt zwei Möglichkeiten — lassen Sie mich das abschließend sagen — : Das Gesetz ist gut; dann haben wir mehr Mobilität und mehr Humanität im Übergang vom Arbeitsleben in den Ruhestand. Die zweite Möglichkeit ist, daß dieses Gesetz von den Tarifparteien, den Arbeitgebern und den Arbeitnehmern, nicht angenommen wird; dann wird die Bundesanstalt für Arbeit keine neuen Ausgaben haben, die Arbeitnehmer und die Arbeitgeber haben keine Lasten zu tragen, und dann ist es ebenfalls ein gutes Gesetz.
In diesem Sinne stimmen wir diesem Gesetz zu.
Das Wort hat Frau Abgeordnete Hillerich.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich möchte die 9. AFG-Novelle aus bildungspolitischer Sicht beleuchten und kann Ihnen die Quintessenz schon jetzt mitteilen: Es ist eine bildungspolitische Bankrotterklärung dieser Bundesregierung.
Das gilt nicht nur für das Bundesarbeitsministerium, sondern das gilt auch für das Bundesbildungsministerium bzw. für das Zusammen- oder eher Gegeneinanderwirken dieser beiden Ministerien. Nicht umsonst lautete der noch recht zurückhaltende Kommentar aus dem BMBW zu dieser Novelle: in den sauren Apfel beißen. Nicht umsonst ist das Bundesbildungsministerium heute nicht anwesend.
Sie erinnern sich an die Vorgeschichte: Schon mit der vor einem Jahr verabschiedeten 8. AFG-Novelle wurde der Stopp der Qualifizierungsoffensive eingeleitet, indem der Haushalt der Bundesanstalt, wie schon erwähnt mit Bundesaufgaben in Höhe von 1 Milliarde DM belastet wurde und zugleich knapp 800 Millionen DM weniger als im Vorjahr für berufliche Bildungsmaßnahmen eingestellt wurden. Die immense Verschuldung des Bundeshaushalts wurde dadurch zwar nur minimal erleichtert, um so härter traf das aber im Frühjahr dieses Jahres die Jugendlichen, die den Hauptschulabschluß nachholen wollten und feststellen mußten, daß dafür keine Lehrgänge mehr angeboten werden.
Der Zwang, die Ausgaben für Bildungsmaßnahmen auf den von der Bundesregierung gesetzten Haushaltsrahmen zu begrenzen — das ist eine politische Entscheidung und keine Sachgesetzlichkeit — , führte zum Sparerlaß der Bundesanstalt im Februar. Dessen Folge waren drastische Streichungen und Kürzungen im Angebot der von den Arbeitsämtern finanzierten Bildungsmaßnahmen. Sie erinnern sich an die vielfältigen Proteste, an die Debatten hier. Das führte schließlich zum Gnadenbrot eines Zuschusses von 210 Millionen DM aus umgeschichteten Mitteln der Bundesanstalt, um die schlimmsten Einbrüche für dieses Jahr notdürftig zu überdecken. Mit dem Gerede von „Konsolidierung auf hohem Niveau" sollte dieser bildungspolitische Skandal verschleiert werden.
Tatsächlich aber hat schon in diesem Jahr der Abbau der mit den Möglichkeiten der Qualifizierungsoffensive sich gerade entwickelnden Infrastruktur aufeinander abgestimmten Fördermöglichkeiten schon begonnen.
Inzwischen ist bekannt, daß von Januar bis September dieses Jahres 24 000 Menschen weniger — das sind 5,7 % weniger als im Vorjahr — in berufliche Bildungsmaßnahmen eingetreten sind.
Das wirkte sich z. B. folgendermaßen aus: Die aufeinander abgestimmten Ausbildungs- und Förderprogramme in der Jugendberufshilfe werden durch den Wegfall von Schulabschlußlehrgängen ruiniert.
Qualifizierungsinitiativen, die zusammen mit den Arbeitsämtern für vor der Entlassung stehende Be-
8270 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 114. Sitzung. Bonn, Freitag, den 2. Dezember 1988
Frau Hillerich
schäftigte in Krisenbranchen entwickelt wurden, um deren Arbeitslosigkeit durch berufliche Qualifizierung für neue oder andere Arbeitsplätze in der Region aufzufangen, werden zerstört.
Der massive Rückgang von Auftragsmaßnahmen der Arbeitsämter führt das vom Bundesinstitut für Berufsbildung und von der Bundesanstalt entwickelte Konzept zur Sicherung und Festlegung der Qualität von Auftragsmaßnahmen ad absurdum. Dieser Rückgang von Auftragsmaßnahmen trifft außerdem die eigentliche Zielgruppe der Qualifizierungsoffensive: Arbeitslose und Ungelernte. Ihr Anteil an den Teilnehmerzahlen war in diesem Jahr deutlich rückläufig.
Obwohl die meisten Lehrkräfte in beruflichen Fördermaßnahmen lediglich in Zeitverträgen beschäftigt sind und viele von ihnen jedes Jahr die Zitterpartie durchmachen, ob sie weiter beschäftigt werden, ermöglichte ihnen das stetige Angebot von Fördermaßnahmen dennoch ansatzweise, diese Kontinuität auch pädagogisch und konzeptionell zu nutzen. Dieses Engagement wird durch Streichung von Bildungsmaßnahmen mit der Folge von Entlassung und durch die wachsende Unsicherheit der noch verbleibenden im Hinblick auf das künftig eingeschränkte Angebot zerstört.
Aber noch konnten die Antragsteller und Antragstellerinnen in diesem Jahr ihren Rechtsanspruch auf berufliche Förderung geltend machen. Zwar sollten auch hier alle Sparmöglichkeiten durch die Anordnung einer äußerst restriktiven Genehmigungspraxis und durch den sogenannten Einvernehmenserlaß der Bundesanstalt ausgeschöpft werden, wodurch Kurse freier Träger nur noch nach erzieltem Preiseinvernehmen finanziert wurden und der Trend zu Billigangeboten in Gang gesetzt wurde. Aber trotz dieser qualitätsmäßigen und sozialen Schieflage wurde der Förderanspruch weiter genutzt. Deswegen mußte er jetzt zu Einsparzwecken in eine Ermessensleistung umgewandelt werden. Der damit bezweckte Rückgang beruflicher Fördermaßnahmen rechnet sich gesamtfiskalisch nicht. Das ist hier schon vorgestellt worden. Daß dies arbeitsmarktpolitisch äußerst kontraproduktiv ist, ist durch die hohen Vermittlungszahlen ebenfalls schon vielfältig belegt. Aber eigentlich erfassen diese kühlen Berechnungen in bezug auf Kosten und Ermittlungen nicht die eigentliche Problematik, die die Menschen trifft.
Das Abschaffen eines Rechtsanspruchs auf berufliche Förderung durch Bildungs- und Qualifizierungsmaßnahmen ist bildungspolitisch deswegen katastrophal, weil damit die im Bereich der beruflichen Weiterbildung bisher einzige Möglichkeit beseitigt wird, aus eigener Initiative und selbstbestimmt die durch Arbeitslosigkeit erlittene Dequalifizierung auszugleichen, sich für neue berufliche Anforderungen zu qualifizieren, sich auf einen Wiedereinstieg in berufliche Tätigkeit angemessen vorzubereiten, wie dies der Wunsch vieler Frauen ist — deren Beteiligung an den beruflichen Fördermaßnahmen war übrigens in den letzten drei Jahren kontinuierlich ansteigend — , oder auch einfach sich beruflich weiterzuentwickeln, und dies, wenn man einen Rechtsanspruch hat, ohne von der Willkür des Rotstifts der Arbeitsverwaltung oder
vom personalpolitisch kalkulierten Plazet eines Arbeitgebers abhängig zu sein.
Aus der starken Inanspruchnahme der mit der Qualifizierungsoffensive eröffneten beruflichen Bildungsmöglichkeiten wird auch ein gestiegener Bildungsbedarf in dieser Gesellschaft deutlich, dessen Realisierung jetzt erst einmal ersatzlos heruntergefahren wird. Eigentlich müßten doch daraus ganz andere bildungspolitische Konsequenzen gezogen werden, die weit über den Auftrag der Bundesanstalt hinausgehen. Zum Beispiel müßte ein Rechtsanspruch für das Nachholen von Schulabschlüssen, zumindest des Hauptschulabschlusses, bundesweit verankert werden. Zum Beispiel müßte die gesicherte Beschäftigung von Lehrkräften für berufliche Weiterbildung mit den Möglichkeiten eigener beruflicher Weiterbildung abgesichert werden. Bund und Länder müßten gemeinsam die Infrastruktur im Bereich der Weiterbildung als öffentliche Aufgabe weiterentwickeln, um ein regional ausgewogenes Angebot sicherzustellen.
Sie alle wissen, daß das Gegenteil der Fall ist.
Zum Abschluß noch die letzte Gemeinheit, die die Auszubildenden betrifft. Die Beschränkung der Berufsausbildungsbeihilfe auf diejenigen Auszubildenden, die nicht bei ihren Eltern wohnen können, führt zu einer eklatanten Benachteiligung insbesondere von jungen Frauen. Denn diese befinden sich mehrheitlich in den niedrig bezahlten Ausbildungsverhältnissen.
Sie werden dazu getrieben, entweder auf Ausbildung zu verzichten oder aber ihren Ausbildungsplatz außerhalb des Wohnortes ihrer Eltern zu suchen. Das ist wohl die neueste zynische Variante, Auszubildende in die Mobilität zu zwingen.
Ich danke Ihnen.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Louven.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Minister Blüm und die Sprecher der Koalition haben unsere aktive Arbeitsförderung an Hand von Zahlen schon überzeugend dargestellt. Insbesondere haben sie dargestellt, wie diese Regierung die berufliche Weiterbildung ausgebaut hat.
Ich möchte darauf nicht weiter eingehen, sondern mich noch einmal mit den Bereichen Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen und Fortbildung und Umschulung beschäftigen.
Wir haben, meine Damen und Herren von der Opposition — dies kann nicht geleugnet werden —, zu diesem Gesetzentwurf Kritik erfahren, wobei es jedoch nicht stimmt, Herr Schreiner, daß wir nur kritisiert worden sind, wie Sie es hier gesagt haben. Sie zitieren an kritischen Äußerungen nur das, was Ihnen
Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 114. Sitzung. Bonn, Freitag, den 2. Dezember 1988 8271
Louven
paßt. Zu den kritischen Äußerungen beispielsweise des Bundesrechnungshofes und zu der kritischen Stellungnahme des Bundes der Steuerzahler haben Sie nichts gesagt.
Wenn hier erklärt worden ist, auch das Handwerk habe uns kritisiert, so muß man darauf hinweisen dürfen, was die Stellungnahme des Handwerks denn beinhaltete: einmal in der Tat Kritik an der Umwandlung von einer Muß- in eine Kann-Leistung bei F und U, auf der anderen Seite aber auch die massive Forderung, Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen erheblich zu reduzieren.
Daß es für Politiker kein Lustgewinn ist, wenn sie Kürzungen vornehmen müssen, sehen wir heute so wie Sie während Ihrer Regierungszeit. Bezüglich des AFG haben Sie ja auch spezielle Erfahrungen aus den Jahren 1981 und 1982, in denen Sie erheblich kürzen mußten. Bei uns nennen Sie dies nun soziale Demontage, Systemveränderung und was wir hier alles wieder haben hören müssen.
Sie haben doch verdrängt, Herr Schreiner, was Sie in den Jahren von 1980 bis 1982 in diesem Bereich getan haben.
Nun haben Sie heute gesagt, wir sollten einmal — dazu eignete sich dieser Monat Dezember besonders gut — darüber nachdenken, ob wir den Buchstaben C in unserem Parteinamen nicht streichen müßten. Nun, Herr Schreiner, ich will Ihnen zusätzlich zu den Zahlen, die Ihnen der Herr Minister genannt hat, nur noch eine Zahl nennen. Im AFG 1981 haben Sie Minderausgaben in Höhe von 3,6 Milliarden DM beschlossen und eine Beitragserhöhung, die sich mit 2,8 Milliarden DM für die Aktiven auswirkte.
Ich finde, bei dieser Zahl sollten Sie in diesem Monat Dezember noch einmal darüber nachdenken, ob die Polemik, mit der Sie hier argumentieren, so noch zu halten ist.
Die Bundesanstalt für Arbeit hat im nächsten Jahr ein erhebliches Defizit. Von daher besteht die Notwendigkeit und die Pflicht zu handeln. Die Bundesanstalt hat dieses Defizit insbesondere, weil wir in den vergangenen Jahren Leistungen vor allem für ältere Arbeitslose und Langzeitarbeitslose verbessert haben, aber natürlich auch deshalb, weil wir zusätzliche Leistungen auf die Bundesanstalt übertragen haben. Wer uns heute ob der Kürzungen kritisiert, muß sich allerdings die Frage stellen lassen, ob er denn lieber Beitragserhöhungen, die kontraproduktiv sind, in Kauf nehmen würde oder ob er bereit ist, die besonderen Leistungen für Langzeitarbeitslose wieder abzubauen.
Wir konnten diese Leistungsverbesserungen vornehmen, obwohl Sie in den Jahren von 1980 bis 1982 in der Bundesanstalt ein Defizit von 17 Milliarden DM abdecken mußten. Wir hatten schon wieder Überschüsse, die wir zu Leistungsverbesserungen genutzt haben.
Wir haben uns, meine Damen und Herren, entschieden, den Beitragszahlern höhere Abgaben zu ersparen. Ich meine, was wir in diesem Gesetzentwurf vorhaben, sei zu verantworten. Es kann doch nicht richtig sein, daß die Bundesanstalt im Bereich der Qualifizierung in den letzten Jahren erhebliche Etatüberschreitungen hatte, die auch zustande kamen, weil man Bildungsangebote wie saures Bier offerierte, obwohl diese nicht nachgefragt wurden.
Es darf auch nicht sein, daß die Förderung beruflicher Fortbildungsmaßnahmen zu einem System verkommt, das das Überleben von Institutionen zu garantieren hat, die berufsfördernde Maßnahmen um ihrer selbst willen betreiben, aber nicht die Flexibilität haben, die Maßnahmen am Bedarf zu orientieren.
Es kann auch nicht richtig sein, daß wir im Bereich der Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen eine Durchschnittsförderung von 86 % haben, obwohl das Gesetz eigentlich nur Zuschüsse zwischen 60 und 80 % vorsieht.
Wenn hier eingewandt wird, wir würden durch Zuschußkürzungen in großem Umfang ABM-Stellen gefährden, so kann ich dem nicht folgen. Auch in Zukunft können arme Träger für Maßnahmen in Problembereichen bis zu 100 % gefördert werden.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Kirschner?
Bitte. Vizepräsident Stücklen: Bitte sehr.
Wenn Sie die aus Ihrer Sicht teilweise nicht qualifiziert genug durchgeführten Maßnahmen beklagen, was tun Sie in diesem Gesetz konkret, um genau das zu verhindern, was Sie hier beklagen, daß also entsprechende Standards gesichert sind? Können Sie mir das einmal sagen?
Zukünftig, Herr Kollege Kirschner, hat die Bundesanstalt diese Arbeit zu überprüfen, sehr kritisch zu hinterfragen und eventuell auch Zuschüsse zu verweigern.
— Bisher hatten sie nicht die Möglichkeit dazu, weil die Pflicht bestand, diese Institutionen zu fördern.
Wir müssen, meine Damen und Herren, auf einem höheren Eigenanteil der Träger bestehen. Ich bin ganz sicher, daß die meisten ihn auch zahlen werden. Kann es denn richtig sein, daß Kommunen zu 100 % geförderte ABM-Stellen bekommen und anschließend in der Lage sind, die Betreffenden in Arbeitsverhältnisse zu übernehmen, aber nicht in der Lage sind, einen höheren Eigenanteil zu zahlen?
Ich gebe zu, daß die Kommunen in Nordrhein-Westfalen in einer schwierigen Lage sind. Sie sind es aber
8272 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 114. Sitzung. Bonn, Freitag, den 2. Dezember 1988
Louven
dadurch, daß das bankrotte Land Nordrhein-Westfalen den Kommunen seit Jahren Beträge vorenthält, auf die sie eigentlich Anspruch hätten.
Meine Damen und Herren, auch die ÖTV und der ZdH warnen, den Bereich ABM weiter auszubauen. Statt zu polemisieren, wie es in dieser Woche Sozialminister Heinemann von Nordrhein-Westfalen tat, sollten sich im Bereich ABM auch die Länder angesprochen fühlen, dies um so mehr, als sie es ja sind, die uns einen hohen Prozentsatz von Hauptschülern ins Berufsleben entlassen, die nicht einmal einen Hauptschulabschluß haben.
— Struktur- und Arbeitsmarktpolitik, Herr Dreßler, geht auch die Länder an. Schließlich bekommen sie vom Bund jetzt zehn Jahre lang jährlich 2,45 Milliarden DM, die mittelbar zur Förderung der Beschäftigung dienen sollen.
Mit dem Bereich F und U, meine Damen und Herren, müssen wir uns — das geht heute nicht, weil die Zielsetzung des Gesetzes Sparen ist — einmal intensiv und, wie ich meine, auch leidenschaftslos im Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung auseinandersetzen. Im Gesetz steht, daß hier diejenigen gefördert werden, die arbeitslos, von Arbeitslosigkeit bedroht beziehungsweise unterqualifiziert sind. Wie kann die Arbeitsverwaltung beispielsweise sicherstellen, daß diese Kriterien Beachtung finden? Allein der Begriff „von Arbeitslosigkeit bedroht" läßt Manipulation zu. Diese Regelung — so der Bundesrechnungshof — kann dazu führen, daß Antragsteller sichere Arbeitsplätze aufgeben. Sosehr ich es begrüße, daß es gelungen ist, die Förderung von Teilnehmern an Meisterkursen des Handwerks und ähnlichen Teilnehmern über das ganze Jahr sicherzustellen, stelle ich als Handwerksmeister, der seine beiden Meisterprüfungen vollständig aus der eigenen Tasche bezahlt hat,
doch auch die Frage, ob für das Gros der Teilnehmer zutrifft, was das Gesetz vorschreibt. Ich will nicht rütteln am kleinen Unterhaltsgeld und am Zuschuß bei auswärtiger Unterbringung bei Weiterbildung. Die Kritik des Handwerks, die so weit geht, uns vorzuwerfen, mit der Neuregelung im Bereich F und U würde man Existenzgründungen und damit das Entstehen neuer Arbeitsplätze erschweren, ist genauso überzogen, wie hier einen Zusammenhang mit einem Fragenkatalog zu sehen, der zur Abschaffung oder Aufweichung des Großen Befähigungsnachweises führt.
Wir müssen generell über die Aufstiegsförderung reden. Ich sage heute nicht: Fort damit! Nein, wir müssen uns im Ausschuß von der Bundesanstalt für Arbeit, die ja diese Förderung auf Grund von hausinternen Anordnungen vornimmt, einmal lückenlos vorlegen lassen, was alles in diesem Bereich gefördert wird,
und dann nüchtern analysieren, was notwendig ist, um Arbeitslosigkeit abzubauen.
Im Bereich der beruflichen Ausbildung müssen die Unternehmen und die Tarifvertragsparteien ihrer Verantwortung nachkommen. Ich meine, Herr Andres, wenn Sie hier eine 10. AFG-Novelle ansprechen: wir müssen doch in der Lage sein, unser AFG ständig den Notwendigkeiten anzupassen.
Herr Andres, wir müssen uns stärker auf die konzentrieren, die keinen Arbeitgeber haben, der ihnen eine qualifizierte Weiterbildung ermöglichen kann. Stärker als bislang müssen wir die Mittel der Bundesanstalt den arbeitsmarktpolitischen Problemgruppen zuführen.
Ich wünsche mir, meine Damen und Herren, daß wir vor Verabschiedung weiterer Gesetze in diesem Bereich dazu kommen, unser AFG nüchtern zu analysieren. Wir müssen dieses Gesetz effektiver gestalten. Für Überflüssiges und Mißbrauch sind die Mittel der Beitragszahler nicht gedacht und, denke ich, auch zu schade. Die notwendigen Einsparungen bei der Bundesanstalt für Arbeit im Rahmen der 9. AFG-Novelle sind so gesetzt worden, daß die produktiven Maßnahmen der Arbeitsförderung auf hohem Niveau weiterlaufen können. Diese Tatsache können Sie mit noch so viel Polemik nicht aus der Welt schaffen.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Hasenfratz.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In den vergangenen Wochen ist mir klar geworden, daß Herr Blüm nicht bei den Pfadfindern gewesen sein kann. Sonst würde er nicht ständig nach dem Motto handeln: Jede Woche eine Untat.
Letzte Woche war es die Gesundheitsreform, gestern war es die Betriebsverfassung,
heute ist es die 9. AFG-Novelle. Und so wollen Sie weitermachen.
Sie haben es immerhin geschafft, als Hauptverantwortlicher des sozialen Abbruchunternehmens sich die letzten Sympathien im Land zu verscherzen, sofern überhaupt welche vorhanden waren.
Wir Sozialdemokraten stellen fest — und nicht nur die Sozialdemokraten; das haben auch alle Sachverständigen bestätigt — : Diese 9. AFG-Novelle wird bewußt zusätzlich Arbeitslosigkeit provozieren.
Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 114. Sitzung. Bonn, Freitag, den 2. Dezember 1988 8273
Hasenfratz
Meine Damen und Herren von der Regierungskoalition, Sie betreiben mit Ihrer Politik eine endgültige Abkehr von den Ansätzen einer aktiven Arbeitsmarktpolitik. Wie Sie mit den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern umgehen, ist erschreckend. Wenn Sie jetzt weiter kürzen, werden Sie immer mehr Menschen in Armut und Hoffnungslosigkeit treiben.
Wir Sozialdemokraten ignorieren — im Gegensatz zu Ihnen — nicht, daß die Zahl der Sozialhilfeempfänger immer weiter steigt. In meinem Wahlkreis in Bochum zum Beispiel leben heute schon 30 000 Menschen von der Sozialhilfe. Bei Fortsetzung Ihrer Politik werden es schon im nächsten Jahr einige tausend mehr sein. Jeder 10. Einwohner der Stadt darf sich dann auf den Weg ins Sozialamt machen. Und Sie fördern dies mit Ihren sogenannten Reformen.
So gefährden Sie beispielsweise das Förderinstrument der Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen. Nach Schätzungen der Bundesanstalt für Arbeit könnten es demnächst allein 30 000 AB-Plätze weniger sein. Andere Schätzungen signalisieren sogar eine Zunahme der Arbeitslosigkeit um 50 000 durch die Kürzungen bei den Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen. Daran ändert sich im übrigen auch nichts, wenn Sie die hunderprozentige Förderung der Personalkosten von 10 To auf 15 % anheben. Mit dieser ach so großzügigen Änderung zeigen Sie wieder einmal deutlich, wie hoch Sie öffentliche Anhörungen einschätzen.
Sie schaffen es, kaltlächelnd alle Warnungen von kompetenten Institutionen wie den Wohlfahrtsverbänden, den Kirchen und auch den Kommunen in den Wind zu schlagen.
Die regionalen Arbeitsmarktentwicklungen laufen seit 1983 immer mehr auseinander. Im ifo-Schnelldienst Nr. 17/88 ist zu lesen:
Ab 1983 zeigen sich gegenläufige regionale Entwicklungstendenzen. In den altindustrialisierten Regionen erweist sich die hohe Arbeitslosigkeit als besonders problematisch. Fast 40 der Arbeitslosen sind Dauerarbeitslose.
Um es deutlich zu machen: Dies sind 800 000 Menschen ohne Hoffnung!
Die Länder Nordrhein-Westfalen, Saarland, Niedersachsen und die Stadtstaaten Hamburg und Bremen sind besonders benachteiligt. Das weist eine Studie des IAB detailliert aus. Durch die Altlasten wird vom IAB eine weitere Verschlechterung in diesen Regionen erwartet. Die Kürzung der ABM-Förderung wird gerade hier drastisch verschärft.
Wir Sozialdemokraten haben die Koalition, ganz besonders die CDU/CSU-Fraktion, wiederholt aufgefordert, bei der Verteilung der Strukturfondsmittel endlich parteipolitische Interessen zurückzustellen.
Sie haben sich auch in diesem Punkt wiederum als nicht lernfähig gezeigt.
Jedem von uns muß doch klar sein — dafür braucht man kein Experte zu sein — : Die Inhaber vieler ABM-Stellen werden bald wieder als passive Bezieher von
Leistungen in den Statistiken der Arbeitsämter auftauchen. Das heißt, mit der Verabschiedung dieser Änderung des AFG geht es um die Verwaltung statt um die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit.
Besondere Probleme wird es in Nordrhein-Westfalen geben. Sozialminister Heinemann hat deutlich gemacht: Die Absenkung der ABM-Förderung bringt kommunale und freigemeinnützige Träger, bringt Beschäftigungsprojekte in sozialen Diensten, im Umwelt- und Naturschutz in allergrößte Bedrängnis. Ich frage Sie: Wie sollen denn die freigemeinnützigen Träger 75 Millionen DM an Zuschüssen ersetzen?
Auch die 100-Prozent-Personalkostenförderung bei Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen ist keine Vollförderung. Schon jetzt muß ein ABM-Träger einen eigenen Kostenanteil von ca. 8 000 DM je geförderten Arbeitnehmer selbst tragen; denn die Sach-, Verwaltungs- und Betreuungskosten werden nicht ersetzt. Eine Erhöhung des Eigenkostenanteils ist von den finanzschwachen Kommunen, von den Wohlfahrtsverbänden und den Selbsthilfegruppen nicht aufzubringen. Zahlreiche Beschäftigungsprojekte für Langzeitarbeitslose bzw. für Arbeitslose mit gesundheitlichen und psychischen Beeinträchtigungen müssen zwangsläufig kaputtgehen.
Die Kürzung bei ABM ist zudem arbeitsmarktpolitisch absolut widersinnig.
Darauf haben nicht nur die Gewerkschaften beim Anhörungsverfahren ausdrücklich hingewiesen. Während vor allem in benachteiligten Regionen notwendige Hilfen für besonders Benachteiligte eingeschränkt werden, tritt eine finanzielle Entlastung der Bundesanstalt für Arbeit kaum ein, da sie künftig an Stelle der gekürzten ABM-Mittel mehr Geld für die Arbeitslosenunterstützung ausgeben muß. Die vorgesehene Kürzung der Fördersätze führt dazu, daß die Förderung gerade in Regionen mit hoher Arbeitslosigkeit zurückgefahren wird. Ist das politisch gewollt? Ich meine: Ja!
Auch die Bundesanstalt für Arbeit hat bestätigt: Die ABM-Kürzung wird sich vor allem in Arbeitsamtsbezirken mit besonders hoher Arbeitslosigkeit ungünstig auf das Niveau der ABM-Beschäftigten auswirken. Mit Sicherheit sei davon auszugehen, daß die Zahl der Beschäftigten in strukturschwachen Gebieten, in denen eine ABM-Beschäftigung die einzige Alternative zur Arbeitslosigkeit ist, deutlich abnehmen wird. Auch Sie von den Koalitionsfraktionen haben das doch gehört. Warum machen Sie es trotzdem?
Das Kommissariat der Deutschen Bischöfe hat erklärt:
Auf Grund der Kürzungsmaßnahmen werden sich die gemeinnützigen, kirchlichen und die verbandlichen Träger zurückziehen müssen. Strukturen von Beschäftigung, Beratung und Betreuung, die von den Trägern mühsam aufgebaut wurden, drohen kurzfristig zusammenzubrechen.
8274 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 114. Sitzung. Bonn, Freitag, den 2. Dezember 1988
Hasenfratz
Es ist auch damit zu rechnen, daß Ausbildungskräfte bei den Trägern entlassen werden.
Die Evangelische Kirche in Deutschland hat gesagt:
Es ist schwer zu verstehen, daß in einer Zeit wirtschaftlichen Aufschwungs
— das sind ja immer Ihre Worte —
und einer über Erwarten guten Haushaltslage an einer so empfindlichen Stelle und in einer solchen Größenordnung Kürzungen vorgenommen werden sollen.
Der Umgang mit unseren arbeitslosen Mitmenschen ist auch ein Prüfstein unserer sozialen Gesinnung.
Aber offenbar interessieren Sie nicht einmal die Hilferufe der katholischen und der evangelischen Kirche.
Ja, wo bleibt denn da Ihr christliches Gewissen? Von Ihrem sozialen Gewissen möchte ich erst gar nicht sprechen.
Ich stelle fest: Sie von der Koalition haben von dem Kürzungsvolumen nicht eine Mark zurückgenommen.
— Für diese hilfreichen Zwischenrufe, Herr Feilcke, bin ich immer sehr dankbar. —
Meine Damen und Herren, ich möchte Ihnen ein konkretes Beispiel aus meinem Wahlkreis nennen und Ihnen damit verdeutlichen, was Sie mit Ihrer Novelle anrichten. Da gibt es eine Initiative zur Förderung ausländischer Kinder, die für ihre vorbildliche Arbeit von allen Seiten Lob bekommt. Bei einer Kürzung der ABM, wie Sie sie planen, müßte diese Initiative jährlich rund 120 000 DM selbst aufbringen.
Ich frage Sie: Von was bitte? Die Initiative ist heute schon auf Spenden angewiesen. Sie schaffen es jedenfalls mit Ihrer Novelle, das Ende dieser erfolgreichen Sozialarbeit in Aussicht zu stellen.
Die Geschäftsführerin des Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverbandes in Bochum spricht vom Prinzip Hoffnungslosigkeit. Ich kann mich ihr nur anschließen.
Herr Minister Blüm, Ihre gezielt gegen NordrheinWestfalen gerichteten Kürzungen
werden wir nicht in Vergessenheit geraten lassen. Dafür werden wir sorgen!
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Scharrenbroich.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Eben waren einige Sozialdemokraten nicht bereit, dem Bundesarbeitsminister zuzuhören.
Die Frau Kollegin Fuchs war wenigstens so ehrlich und ist deswegen, um das auch zu dokumentieren, hinausgegangen. Aber Herr Kollege Hasenfratz, bei Ihnen habe ich den Eindruck, Sie sind zwar hier geblieben, aber Sie haben trotzdem nicht zugehört oder wollten jedenfalls nicht zur Kenntnis nehmen, was die Wirklichkeit ist. Sonst hätten Sie diese Rede eben nicht halten können.
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen
— ich meinte die von meiner Fraktion, wenn Sie gestatten — , es ist selbstverständlich, daß Sparmaßnahmen keine Jubelchöre wecken. Es ist auch richtig, daß die Opposition auf jeden Fall versucht, sie zu kritisieren. Aber um in der Öffentlichkeit glaubwürdig zu bleiben, muß sie das im richtigen Verhältnis tun. Sie muß erkennen und nach wie vor zugeben — ich wiederhole das — , daß wir für die Arbeitsförderungsmaßnahmen auch 1989 das Doppelte von dem ausgeben, was die sozialliberale Koalition 1982 ausgegeben hat,
daß wir die Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen nach wie vor vervierfachen. Ich will gar nicht leugnen, daß es für einige Einzelfälle durchaus Schwierigkeiten geben wird, wenn dies nicht kompensiert wird. Aber es kann kompensiert werden. Natürlich können die Länder den Selbsthilfegruppen und den Selbsthilfeinstitutionen helfen, indem denen ein Zuschuß gezahlt wird.
Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 114. Sitzung. Bonn, Freitag, den 2. Dezember 1988 8275
Scharrenbroich
Natürlich können die katholische wie die evangelischen Kirchen ihren Werken,
dem Diakonischen Werk und der Caritas, helfen und einen Zuschuß zahlen,
so daß beide Institute die gleichen Maßnahmen durchführen können.
Wir haben diese Diskussion schon öfter gehabt, auch beim Thema Kirchensteuer. Da reagieren die Kirchen genauso wie jeder andere Subventionsempfänger
und wollen nicht, daß aus ihrer Kasse etwas zugezahlt werden soll. Das muß ich hier deutlich kritisieren. Sie sollten ihrer Caritas auch sagen, daß mit den Mitteln, die die Bundesanstalt für Arbeit oder die Bundesregierung zur Verfügung stellt, schon sehr viel Gutes getan und den Menschen geholfen werden konnte. Das wird verleugnet.
Es geht auch bei der Kirche allzusehr um Kasse, und das bedaure ich sehr.
Herr Abgeordneter Scharrenbroich, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Schreiner?
Ja, bitte schön, Herr Kollege Schreiner.
Herr Kollege Scharrenbroich, ich gehe nach wie vor davon aus, daß Sie Mitglied der CDU-Fraktion sind, und wollte Sie deshalb fragen, ob es abgesehen von der Kritik der Kirchen, die Sie soeben zu geißeln versucht haben, zutrifft, daß auch Ihre eigene Organisation, die Christlich-Demokratische Arbeitnehmerschaft, die zentralen Bestandteile der 9. Novelle, die hier zur Verhandlung steht, entschieden abgelehnt und die Bundesregierung mehrfach aufgefordert hat, diese Novelle zurückzuziehen?
Trifft diese Kritik zu, oder beabsichtigen Sie, aus der CDA auszutreten?
Lieber Herr Kollege Schreiner, ich bedanke mich ausdrücklich für diese Frage. Das gibt mir nämlich Gelegenheit, darzustellen, daß die CDA die ursprüngliche Fassung der 9. Novelle sehr kritisiert hat, weil dort — erstens — vorgesehen war, die Zeiten des Arbeitslosengeldbezugs für junge Arbeitslose zu kürzen. Das ist nicht mehr der Fall.
Zweitens war für uns ein sehr wichtiger Punkt, daß wir gesagt haben: Die Deckelung, die ursprünglich für die 100-%-Förderung vorgesehen war, ist so auch nicht akzeptabel. Die haben wir angehoben.
Das sind zwei ganz wesentliche Korrekturen, die vorgenommen worden sind.
Ich danke Ihnen, daß ich die Möglichkeit hatte, das noch einmal zu würdigen.
— Nein. Ich glaube, jetzt ist alles geklärt. Danke schön.
Ich darf zu den Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen noch einen Punkt sagen. Früher hatte ich in Diskussionen immer die Klage vor allen Dingen von den der ÖTV angehörenden Personalräten aus dem Kommunalbereich:
Durch Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen werden normale Arbeitsplätze wegkonkurriert. Ich darf mitteilen, daß, seitdem diese 9. Novelle hier in der Beratung ist, wir diese Kritik plötzlich nicht mehr hören. Das ist sehr erstaunlich. Denn nach wie vor besteht dieses Problem, zumindest in den Kommunen in NordrheinWestfalen, wo immer noch ein sehr großer Teil auch der 100-%-Förderung eingeht.
Meine Damen und Herren, ich wollte eigentlich zu dem besonders positiven Teil der 9. Novelle sprechen.
— Ja, das gibt es. Leider hat die Sozialdemokratie das bis jetzt nicht erkannt.
Aber vielleicht könnten wir jetzt versuchen, in Form einer Debatte hier einen Dialog zu führen. Gleich spricht noch Herr Kollege Reimann. Ich bitte Sie von der Sozialdemokratie inständig: Machen Sie doch nicht wieder den gleichen Fehler wie damals beim Vorruhestandsgesetz. Sie haben damals ein Vorruhestandsgesetz abgelehnt, das danach von den Arbeitnehmern angenommen worden ist.
— Aber hierzu haben Sie nicht einmal eine Alternative. Vielen Dank für den Zuruf, Kollege von der Wiesche. Wenn Sie damals das Vorruhestandsgesetz abgelehnt haben, weil Sie eine bessere Alternative hatten, sollten Sie jetzt die Altersteilzeitregelung anneh-
8276 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 114. Sitzung. Bonn, Freitag, den 2. Dezember 1988
Scharrenbroich
men, weil Sie dazu überhaupt keine Alternative haben.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Andres?
Nein, dem Kollegen Andres gestatte ich keine Zwischenfragen.
— Sie haben ausreichend mit der bisherigen Ablehnung der Altersteilzeit und mit der früheren Ablehnung des Vorruhestandes dargelegt, daß Sie dieses Vorruhestandsgesetz nur aus rein propagandistischen Gründen eingebracht haben. Wenn es Ihnen ernst gewesen wäre, hätten Sie dieses Gesetz zu einer Zeit eingebracht, als Gewerkschaften, die Tarifverträge zum Vorruhestand abschließen wollten, ein solches Gesetz gebraucht hätten. Sie haben diesen Gesetzentwurf doch erst eingebracht, als auch dieser Zug in der Tarifpolitik abgefahren war — ein weiterer Beleg dafür, daß die Einbringung dieses Gesetzentwurfs reine Propaganda war.
Aber lassen Sie mich noch einmal ernsthaft die Vorteile des Altersteilzeitgesetzes diskutieren.
Dieses Altersteilzeitgesetz — da stimme ich dem Kollegen Grünbeck zu — hat in der Tat einige Vorteile gegenüber dem Vorruhestandsgesetz — das kann man nicht leugnen — , weil es nämlich gerade für die Humanisierung des Arbeitslebens wichtige Vorteile bringt.
— Mein lieber Herr Kollege Andres, das ist kein Quatsch.
Herr Abgeordneter, ich bitte solche Zwischenrufe zu unterlassen.
Weil ich aber schon unterbrochen habe: Herr Abgeordneter Schreiner, ich erteile Ihnen einen Ordnungsruf für den Zwischenruf
„Heuchler vom Dienst".
Ist das zur Kenntnis genommen?
Ich darf versuchen, Ihnen das noch einmal darzulegen: Ältere Arbeitnehmer — es geht in dem Fall um die 58jährigen — sind leider durch die harte Arbeitswelt oft gesundheitlich angeschlagen. Und für sie ist es wichtig, daß sie nur noch die Hälfte der Arbeitszeit in die Betriebe gehen müssen. Es ist auch ein Beitrag zur Humanisierung
des Arbeitslebens. Das hat auch das Vorruhestandsgesetz nicht gebracht. Auch danach stürzte der Arbeitnehmer von heute auf morgen von der 40-Stunden-Arbeit auf die Null-Stunden-Arbeit. Das war für viele eine brutale Sache. Mir haben die Kollegen gesagt: Vorruhestand ist eine feine Sache, aber nur die ersten sechs Wochen. Macht dieses Altersteilzeitgesetz, damit wir diese andere Möglichkeit bekommen.
Das ist ein Beitrag zur Humanisierung des Arbeitslebens.
Ich habe die Befürchtung: IG Metall und SPD sind etwas im Klammergriff der Unweglichkeit. Bewegt euch doch mal!
Fragt doch: Was ist eigentlich das Anliegen der Arbeitnehmer? Gestattet es ihnen doch, langsam aus der Arbeitswelt herauszugleiten. Gestattet es ihnen doch, daß sie, statt in EU-Rente gehen zu müssen, z. B. noch mit einem 70 %igen Nettolohn weiterarbeiten können, ihre Rentenbeiträge weiter zahlen können, damit ihre Rente später höher ist.
Warum wollt ihr denn den Arbeitnehmern diese Möglichkeit nehmen?
Ich bitte die SPD, wirklich noch einmal darüber nachzudenken. Auch wenn sie als Opposition die Gesamtnovelle ablehnt, meine ich, daß es doch richtig wäre, wenn sie wenigstens diesem Artikel, diesem Altersteilzeitgesetz, zustimmte — weil es für die Arbeitnehmer wichtig ist. Dieses wird, glaube ich, stärker angenommen werden, als es einige Gewerkschaften ursprünglich meinten.
Übrigens: Die Gewerkschaften haben ihre kritischen Kommentare zu einer Zeit gegeben, als die Verbesserungen, die wir jetzt herbeigeführt haben, noch nicht beschlossen waren, noch nicht in Rede waren. Wir haben jetzt diesen Zuschuß steuerfrei gestellt, auch die Sozialversicherungsbeiträge. Insofern ist eine andere Lage da. Damals sah es so aus, als würde es einen Nettolohn von 64 % geben.
— Herr Kollege Andres, das ist nicht pharisäerisch. Das ist eine Frage des Rechnens.
Es ist eine Frage, daß man bereit ist, den Arbeitnehmern nicht die Möglichkeit zu nehmen, auch diese Form der Humanisierung ihres Arbeitslebens wahrzunehmen.
Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 114. Sitzung. Bonn, Freitag, den 2. Dezember 1988 8277
Scharrenbroich
Ich halte es für eine traurige Stunde der deutschen Sozialdemokratie, daß man den Arbeitnehmern diese Möglichkeit nicht geben will.
Bevor ich das Wort dem Herrn Abgeordneten Reimann gebe, möchte ich bitten, daß dem Herrn Abgeordneten Reimann bei seinen Ausführungen nicht ebensoviel Unaufmerksamkeit durch Zwischenrufe entgegengebracht wird, wie das eben der Fall war.
Herzlichen Dank, Herr Präsident.
Meine Damen! Meine Herren! Da die Bundesregierung alle ihre Gesetzesvorhaben und damit auch ihren beispiellosen Sozialabbau durchzieht, besteht für uns Sozialdemokraten kein Anlaß zu glauben, daß wir sie heute zu einer Kehrtwendung bewegen könnten. Trotzdem versuche ich, Ihnen ins Gewissen zu reden, die Neunte Novelle abzulehnen und ausnahmsweise mal gegen Ihre Regierung zu stimmen.
Die Achte Novelle des AFG war schon nicht von sozialer Verantwortung geprägt, aber die anstehende Neunte Novelle bedeutet noch schärfere Einschnitte in die Leistungen der Bundesanstalt. Die Belastungen der Betroffenen werden noch einmal auf die Spitze getrieben. Wir haben heute mehrfach gehört: Viele fliegen ganz aus den ABM-Leistungen heraus, ganz zu schweigen von den Beschäftigten, die diese Maßnahmen durchführen. Dies hatte bisher niemand für möglich gehalten. 1,26 Milliarden DM sollen bei den Betroffenen erneut abkassiert werden. Ich sage hier in aller Kritik: Das paßt nahtlos in die politische — wie ich meine — , in die unchristliche Politik dieser Regierung. So, wie Sie hier bei den Betroffenen abkassieren, werden Sie ab 1. Januar 1989 durch das schlimme Machwerk namens Gesundheits-Reformgesetz bei den Kranken abkassieren. Die Benachteiligten in unserer Gesellschaft sind es mal wieder, die die Zeche für dieses Regierungsversagen bezahlen müssen.
Bei der Neunten Novelle sind jetzt die Arbeitslosen mit einer AB-Maßnahme die Opfer. Es sind die jugendlichen Arbeitslosen, die in die Berufsvorbereitungsmaßnahmen gegangen sind. Dieses Gesetzesvorhaben zeigt erneut, daß es die Bundesregierung anscheinend aufgegeben hat, ihren Aufgaben und ihren Pflichten gegenüber den arbeitslosen Menschen, nachzukommen. Die Bundesregierung versäumt ihre gesamtgesellschaftliche Aufgabe, Lösungsansätze gegen die Massenarbeitslosigkeit zu erarbeiten. Statt dessen, Herr Arbeitsminister, erleben wir, daß die Leistungen, die Sie in die Zuständigkeit der Bundesanstalt für Arbeit verlagern, über die Bundesregierung für Sie ausgelagert werden.
Ich bringe dafür ein Beispiel. Es war abzusehen, daß es bei den 270 Millionen DM, die die Bundesregierung mit der Achten Novelle des AFG der Bundesanstalt für Arbeit für die Sprachförderung von Aussiedlern aufgebrummt hat, nicht bleiben würde. Die Bundesanstalt für Arbeit rechnet derzeit mit 1,5 Milliarden DM, die in ihrem nächsten Haushalt durch den Zustrom deutschstämmiger Aussiedler angesetzt werden müssen, und die den Haushalt belasten. Statt hier zu sagen, die Bundesregierung übernimmt die gesamtgesellschaftlichen Kosten, nehmen Sie 1,26 Milliarden DM von den Leistungen, die Arbeitslosen — besonders den jugendlichen Arbeitslosen — und anderen Berechtigten zustehen. Die Arbeitslosen in AB-Maßnahmen bezahlen im Grunde genommen die Sprachförderung, die eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe der Bundesregierung sein müßte.
— Herr Scharrenbroich, Sie landen sogar einen weiteren Coup, und die CDA macht das auch alles mit.
Die 9. Novelle wird auch nicht ohne Auswirkungen für die Gemeinden bleiben. Die Gemeinden müssen einmal mehr für diese Regierungspolitik zahlen. Ich kann Ihnen von meiner Stadt berichten, daß sie allein die Kosten für die Hilfe zur Arbeit um 50 % erhöhen muß. Rechnen Sie das einmal auf Bundesebene hoch!
Was die Situation Jugendlicher betrifft, so kann ich Ihnen — jetzt bitte ich Sie um besondere Aufmerksamkeit, meine Herren der Regierungskoalition — die Einschätzung der Katholischen Landesarbeitsgemeinschaft für Jugend-Sozialarbeit Rheinland-Pfalz/ Saarland einmal anbieten. Hier wird also zu den Einsparungen im Bereich der Berufsausbildungsbeihilfen im Rahmen von Berufsvorbereitungslehrgängen gesagt — Zitat — :
Wer mit diesem Personenkreis umgeht, der weiß, wie schwierig diese jungen Leute, die meist ohne entsprechende schulische Vorbildung sind, für eine kontinuierliche Arbeit zu gewinnen sind.
Ich frage Sie hier, ich appelliere an Ihr Gewissen: Haben Sie diesen Teil unserer Gesellschaft eigentlich schon aufgegeben?
Diese jungen Menschen können nur in die Sozialhilfe abrutschen, womit sie zwar die Kassen der Bundesanstalt entlasten, aber die Kassen der Gemeinden belasten.
Dazu die Katholische Landesarbeitsgemeinschaft weiter — Zitat — :
Bisher waren wir davon ausgegangen, daß die Sozialhilfe nur eine vorübergehende Hilfe zur Sicherung des Lebensunterhaltes sein sollte und daß alle Maßnahmen und Möglichkeiten vorher ausgeschöpft werden sollen von denen, die politische Verantwortung tragen.
Das sind Sie, meine Damen und Herren. Ein weiteres Zitat:
Bei den Jugendlichen und jungen Erwachsenen entsteht das Gefühl, ausgegrenzt zu sein und um eine eigene Zukunftsperspektive betrogen zu werden. Als Mitgliederversammlung der Katholi-
8278 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 114. Sitzung. Bonn, Freitag, den 2. Dezember 1988
Reimann
schen Jugend-Sozialarbeit möchten wir Sie bitten,
— Sie bitten, Sie —
durch ihre Stimmen die Möglichkeit der neuen Beratung der 9. Novelle zu schaffen, damit diese schlimmen Folgen nicht eintreten.
Das war ein Zitat.
Statt diese Probleme zu lösen, beschäftigt sich die Bundesregierung seit Jahren mit der Verschiebung von Geldern vom Bund nach Nürnberg und der Kürzung von Leistungen der Bundesanstalt auf dem Rükken der Gemeinden. Angesichts der unvermindert hohen Arbeitslosigkeit sollte auch einmal Schluß sein mit dem Geschwätz, wie wir es auch heute wieder gehört haben, von den angeblichen Glanzleistungen der Bundesregierung im Bereich der Arbeitsförderung. Die Steigerung der AB-Maßnahmen von 29 000 im Jahre 1982 auf 117 000 im Jahre 1988 ist keine Glanzleistung, wie Sie es immer wieder darstellen, sondern sie ist ein Bankrott für diese Gesellschaft.
Beseitigen Sie die Arbeitslosigkeit, dann können Sie diese Zahlen sowieso in die Schublade stecken!
Jetzt sage ich Ihnen noch etwas. Selbst die Landesminister aus Ihren eigenen Reihen haben bereits der 8. Novelle des AFG nur unter größten Bedenken zugestimmt. Die rheinland-pfälzische Sozialministerin Frau Hansen appellierte bereits im Juni dieses Jahres an den Bundesarbeitsminister, die Qualifizierungsoffensive auf dem Arbeitsmarkt nicht unter den Vorzeichen des Haushaltsdefizits der Bundesanstalt für Arbeit zu stopfen. Zitat:
Es wäre sicher niemandem zu vermitteln, wenn die finanziellen Lastenverschiebungen zuungunsten der Bundesanstalt gerade zu Lasten der besonders auf dem Arbeitsamt Benachteiligten gingen.
Das war eine Ministerin Ihrer Partei.
Aber solche Einwände beeindrucken die Bundesregierung schon lange nicht mehr. Sie ist in den sechs Jahren Ihrer Regierung mit der Arbeitslosigkeit nicht fertiggeworden. Im Gegenteil, sie entläßt immer mehr Menschen in die Hoffnungslosigkeit. Die Langzeitarbeitslosen, meist ältere Menschen, haben längst schon die Hoffnung auf einen Arbeitsplatz aufgegeben. Sie warten nur noch auf ihre Rente, und das ist eine wahrhaft tolle Perspektive in einem Land, in dem der vielgepriesene Wirtschaftsaufschwung zu den beliebten politischen Tagesthemen hier gehört.
Die jüngeren Menschen treten in einen Teufelskreis ein, der heißt: Arbeitslosigkeit, AB-Maßnahme, 9. Novelle, wieder Arbeitslosigkeit. Nein, meine Damen und Herren der Regierungsmehrheit: Wie schon die 8. Novelle des AFG ihrem Anspruch, einem maßgeblichen Beitrag zum Abbau der Arbeitslosigkeit zu leisten, nicht gerecht geworden ist, so wird auch die 9. Novelle dieser Initiative nicht folgen, die durch Qualifizierungen für den Arbeitsmarkt Arbeitslosigkeit abbauen sollte. Was hilft es — das frage ich jetzt das gesamte Parlament — , wenn das Arbeitsamt z. B. Industriekaufleute ausbildet, die die Industrie nicht braucht, weil jeder Betrieb seine eigenen Leute ausbildet? Hier bildet das Arbeitsamt aus, ohne daß sich für die Betroffenen eine Chance am Arbeitsmarkt ergibt. Wenn wir das ändern wollen, müssen wir in unseren jeweiligen Arbeitsamtsbereichen erst einmal die Übersicht über die notwendigen Arbeitskräfte bei Industrie und Handwerk erhalten. Deshalb plädiere ich heute auf Grund der Erfahrungen aus meiner Abgeordnetentätigkeit erneut dafür, eine Meldepflicht für offene Stellen einzuführen. Diese Meldepflicht halte ich nicht für sozialistisches Teufelswerk, sondern für eine sinnvolle Abstimmung zwischen Arbeitgebern und Arbeitsamt zugunsten der Arbeitslosen. Nur wenn wir wissen, wo und welcher Qualifizierungsbedarf besteht, hat es einen Sinn, notwendige Gelder für Qualifizierung auszugeben. Die Vernunft gebietet es, Angebot und Bedarf auf dem Arbeitsmarkt miteinander abzustimmen. Die Chance sollten wir bald ergreifen, wenn wir den betroffenen Arbeitnehmern helfen wollen.
Jetzt sage ich etwas Persönliches noch im Anschluß an meine Rede. Kolleginnen und Kollegen, ich hatte persönlich immer Horror davor, hier einmal reden zu müssen, wenn eine namentliche Abstimmung kurz bevorsteht. Ich habe das heute erlebt und überlebt. Trotzdem sage ich jetzt: Stimmen Sie diesem Gesetzentwurf nicht zu! Lehnen Sie die 9. Novelle ab.
Meine Damen und Herren! Wir stehen kurz vor einer namentlichen Abstimmung. Dieser provisorische Plenarsaal erlaubt es nicht, daß alle Abgeordneten, die zur Abstimmung kommen, unmittelbar Platz nehmen können. Dennoch meine ich, daß es möglich ist, gerade in den hinteren Reihen die freien Plätze einzunehmen, damit wir die Debatte ordnungsgemäß abschließen können.
Das Wort hat Frau Abgeordnete Unruh, die letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt.
Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Volksvertreter und Volksvertreterinnen! Liebe zukünftige Rentner und Rentnerinnen, die jetzt bei 58 Jahren sind! Ich muß schon sagen, diese Altersteilzeitregelung hört sich ja vom Menschlichen her gut an, nur was dann in der Rententüte ist, ist etwas ganz anderes. Deshalb habe ich heute noch einmal einen eigenen Antrag eingebracht. Ich meine, daß, wenn es solche Arbeitsplätze schon geben würde, Herr Grünbeck, dann auch Sie als geschäftsführender Gesellschafter einer Firma bitte solche Teilzeitarbeitsplätze schaffen! Die gibt es nämlich überhaupt noch nicht.
Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 114. Sitzung. Bonn, Freitag, den 2. Dezember 1988 8279
Frau Unruh
Aber wenn es sie geben würde, dann ist dies alles bitte so zu gestalten — dazu haben Sie gleich die Möglichkeit, indem Sie meinem Antrag zustimmen —, daß dann zumindest kein Rentenverlust von 10 % oder 15 % stattfindet. Das kostet nicht viel, aber es ist dann menschlich abgesichert, in die Rente zu gehen. Dies ist für die betroffenen Menschen sehr, sehr wichtig. Denken Sie daran, daß es den Beamten nie passieren könnte! Denken Sie daran, daß gerade Sie 45-, 50jährige Offiziere in den Ruhestand geschickt haben, und dafür werden Milliarden ausgegeben!
Meine Bitte an Sie: Ein humaner Übergang in die Rente darf keinen Rentenverlust bedeuten. Ich appelliere an die SPD — die GRÜNEN ziehen sowieso mit — , an die CDU, an die CSU und an die FDP: Stimmen Sie bitte meinem Antrag zu, daß es keinen Rentenverlust gibt! Herr Dreßler, wenn wir schon einen solchen Mist am Halse haben, dann sollten wir wenigstens unsere zukünftigen Rentner und Rentnerinnen vor Verlust von 10 % oder 15 % Rente schützen. Die Durchschnittsrente, meine Damen und Herren in diesem Hause, liegt nach 45 angerechneten Versicherungsjahren — haben Sie gut zugehört? — bei 1 622 DM. Da kann man sich keinen Verlust von 10 oder 15 % leisten.
Herr Minister, wirken Sie auf diese Damen und Herren ein — ich sage ja nicht mehr „Banausen" — , daß sie meinem Antrag zustimmen.
Danke schön.
Meine Damen und Herren, ich schließe die Aussprache. Nun bitte ich um Aufmerksamkeit, es folgen außerordentlich gewichtige und auch komplizierte Abstimmungen.
Wir kommen zunächst zur Einzelberatung und Abstimmung über den Gesetzentwurf der Fraktion der SPD zur Verlängerung des Vorruhestandsgesetzes.
Ich rufe die §§ 1 bis 3, die Einleitung und Überschrift auf. Wer den aufgerufenen Vorschriften zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Bei Enthaltungen der Fraktion DIE GRÜNEN ist dieser Entwurf mit Mehrheit abgelehnt. Damit unterbleibt nach § 83 Abs. 3 unserer Geschäftsordnung eine weitere Behandlung.
Wir kommen jetzt zur Einzelberatung und Abstimmung über den Gesetzentwurf der Fraktion der CDU/ CSU und FDP zur Änderung des Arbeitsförderungsgesetzes und zur Förderung eines gleitenden Übergangs älterer Arbeitnehmer in den Ruhestand in der Ausschußfassung. Hierzu ist die Kanzlermehrheit erforderlich.
Ich rufe den Art. 1 auf. Hierzu liegen auf den Drucksachen 11/3589 bis 11/3591 Änderungsanträge der Fraktion der SPD vor.
Wer für den Änderungsantrag auf Drucksache 11/3589 stimmt, den bitte ich um ein Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Keine Enthaltungen. Mit Mehrheit ist dieser Änderungsantrag abgelehnt.
Wer für den Änderungsantrag auf Drucksache 11/3590 — Streichung des Art. 1 Nr. 5 — stimmt, den bitte ich um ein Handzeichen. — Wer ist dagegen? — Enthaltungen? — Keine Enthaltungen. Dieser Änderungsantrag ist mit Mehrheit abgelehnt.
Wer stimmt für den Änderungsantrag auf Drucksache 11/3591, Streichung des Art. 1 Nr. 13? — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Dieser Änderungsantrag ist mit dem gleichen Stimmenverhältnis wie vorhin abgelehnt.
Wer Art. 1 in der Ausschußfassung zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Keine Enthaltungen. Mit Mehrheit ist dieser Art. 1 angenommen.
Ich rufe Art. 2 auf. Hierzu liegt auf Drucksache 11/3619 ein Änderungsantrag der Abgeordneten Frau Unruh vor. Wer stimmt für diesen Änderungsantrag? — Wer ist dagegen? — Enthaltungen? — Keine Enthaltungen. Dieser Änderungsantrag ist mit großer Mehrheit abgelehnt.
Wer Art. 2 in der Ausschußfassung zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Keine Enthaltungen. Mit Mehrheit ist dieser Art. 2 angenommen.
Ich rufe die Art. 3 bis 9, Einleitung und Überschrift in der Ausschußfassung auf. Wer den aufgerufenen Vorschriften zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Keine Enthaltungen. Diese Artikel sind mit Mehrheit angenommen.
Meine Damen und Herren, bevor wir in die dritte Beratung eintreten, hat das Wort zur Geschäftsordnung nach § 31 Herr Abgeordneter Hinsken.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich möchte folgende Erklärung abgeben. Gegen den Teilvorruhestand habe ich größte Bedenken. Ich weiß, daß sie auch von einigen Kollegen meiner Fraktion geteilt werden. Ich befürchte, daß trotz der vorgesehenen staatlichen Förderung viele Betriebe Belastungsrisiken eingehen, die dann entstehen, wenn ein durch Altersteilzeit frei gewordener Arbeitsplatz nicht wieder besetzt werden kann, was die Voraussetzung für die Förderung durch die Bundesanstalt für Arbeit ist. Darüber hinaus sind Mißbräuche und Mitnahmeeffekte nicht ausgeschlossen.
Die wenig effektive und Ende 1988 auslaufende Vorruhestandsregelung, gegen die ich bei der Verabschiedung am 29. März 1984 schon stärkste Bedenken anmeldete, sollte nicht wieder durch die Hintertür in Form einer Ersatzlösung weitergeführt werden. Es ist zudem ein Anachronismus, wenn weiterhin die Lebensarbeitszeit verkürzt wird, im Hinblick auf die langfristige Sicherung der Renten jedoch — wie auch der Diskussionsentwurf des Bundesministers für Arbeit und Sozialordnung zeigt — eher das Gegenteil erforderlich ist.
Aus der Sicht der mittelständischen Wirtschaft wird die Altersteilzeit im wesentlichen durch die Großwirtschaft zur Verjüngung des Personals benutzt werden. Die mittelständische Wirtschaft und ihre Arbeitnehmer werden das durch ihre Beiträge finanzieren.
8280 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 114. Sitzung. Bonn, Freitag, den 2. Dezember 1988
Hinsken
Da der Teilvorruhestand nur ein Teil des Artikelgesetzes ist, ich aber die zwingende Notwendigkeit sehe, Änderungen im Arbeitsförderungsgesetz vorzunehmen, habe ich meine Zustimmung zu Art. 2 des Gesetzes verweigert. Dem Gesetz als Ganzes werde ich in der Schlußabstimmung aber zustimmen.
Wir treten in die
dritte Beratung
ein. Nach Art. 87 Abs. 3 Satz 2 des Grundgesetzes bedarf das Gesetz zu seiner Annahme der Mehrheit der Mitglieder des Bundestages. Das sind 249 Stimmen.
Die Fraktionen der CDU/CSU und FDP verlangen zur Schlußabstimmung gemäß § 52 unserer Geschäftsordnung namentliche Abstimmung. Ich mache darauf aufmerksam, daß noch eine zweite namentliche Abstimmung folgt.
Ich eröffne die namentliche Abstimmung. —
Meine Damen und Herren, ist noch ein Abgeordneter im Saal, der an der Abstimmung teilzunehmen wünscht und das noch nicht getan hat? — Darf ich noch einmal fragen, auch nach draußen hin: Gibt es Kollegen, die noch an der Abstimmung teilzunehmen wünschen? — Das ist offensichtlich nicht der Fall. Dann schließe ich die Abstimmung und bitte, mit der Auszählung zu beginnen.*)
Meine Damen und Herren, ich darf Sie bitten, Platz zu nehmen. Ich glaube, wir können fortfahren. — Sie wissen, daß wir eigentlich die Schlußabstimmung und ihr Ergebnis abzuwarten haben. Es gibt aber noch eine namentliche Abstimmung, die sich daran anschließt. Kann ich mit Ihrem Einverständnis rechnen, daß wir jetzt die zweite namentliche Abstimmung vornehmen? — Gut, ich gehe davon aus.
Dann stimmen wir jetzt über den Entschließungsantrag der Fraktion DIE GRÜNEN auf Drucksache 11/3601 ab. Es geht um die Aufstockung der Bundeshilfe zum Haushalt der Bundesanstalt für Arbeit. Die Fraktion DIE GRÜNEN hat namentliche Abstimmung verlangt. Ich eröffne diese namentliche Abstimmung.
Ich teile Ihnen hierbei mit, daß etwa gegen 13 Uhr zu einem anderen Tagesordnungspunkt, der die Künstlersozialversicherung betrifft, noch eine strittige Abstimmung stattfindet. Es handelt sich aber nicht um eine namentliche Abstimmung.
Gibt es noch Kollegen, die an der Abstimmung teilzunehmen wünschen und es bis jetzt noch nicht getan haben? — Kann ich abschließen? — Ich schließe die Abstimmung und bitte, mit der Auszählung zu beginnen.
Meine Damen und Herren, ich bitte Platz zu nehmen, wir fahren in unseren Beratungen fort. Ich gebe nachher die Ergebnisse unserer Abstimmungen bekannt. **)
*) Ergebnis Seite 8283C
**) Ergebnis Seite 8285 B
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 19 auf:
a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Künstlersozialversicherungsgesetzes
— Drucksache 11/2964 —
Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung
— Drucksachen 11/3609, 11/3629 —
Berichterstatter: Abgeordnete Frau Weiler
b) Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung
zu dem Entschließungsantrag der Abgeordneten Frau Vollmer, Frau Unruh und der Fraktion DIE GRÜNEN
zur 3. Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur finanziellen Sicherung der Künstlersozialversicherung
zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Bericht der Bundesregierung über die mit dem Künstlersozialversicherungsgesetz gewonnenen praktischen Erfahrungen
— Drucksachen 11/1174, 11/2979, 11/3609, 11/3629 —
Berichterstatter: Abgeordnete Frau Weiler
Die Berichterstatterin Frau Weiler wünscht zunächst einen korrigierenden Satz zu sagen, bevor wir dann in die Beratungen eintreten.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Als Berichterstatterin möchte ich die Beschlußempfehlung in einem Punkt korrigieren: Die Ziffer 3 der Beschlußempfehlung kann wegfallen, da der Inhalt bereits in Ziffer 1 durch die Neufassung berücksichtigt ist.
Danke schön, Frau Weiler. — Der Gesetzentwurf der Bundesregierung steht jetzt zur Beratung. Es liegt ein Änderungsantrag der Fraktion DIE GRÜNEN auf Drucksache 11/3620 vor.
Nach einer Vereinbarung des Ältestenrates sind für die Beratung 30 Minuten vorgesehen. — Dazu sehe ich keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Dr. Becker ist der erste Redner.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir treten heute in die Schlußberatung einer gründlichen Novellierung des Künstlersozialversicherungsgesetzes ein.
Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 114. Sitzung. Bonn, Freitag, den 2. Dezember 1988 8281
Dr. Becker
Das Gesetz trat 1981 in Kraft und erlebt nun schon die zweite Novellierung. Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion hatte dies schon zu Anfang befürchtet. Viele der von uns prognostizierten Mängel traten ein und müssen nun repariert werden. Wir hatten 1980 einen eigenen Entwurf vorgelegt, der damals abgelehnt wurde. Heute beteiligen wir uns an der Reparatur und hoffen, daß das System jetzt funktionsfähig wird.
Nach der Erhöhung des Bundeszuschusses von 17 auf 25 % und der Aufgabenübertragung auf die Landesversicherungsanstalt Oldenburg/Bremen im vergangenen Jahr werden mit dem neuen Beitragssatzverfahren über verbindliche Monatsbeiträge bei geschätztem voraussichtlichem Jahresarbeitseinkommen weitere bürokratische Verwaltungsabläufe vereinfacht und bisherige finanzielle Nachteile durch Unterdeckung vermieden.
Wir halten auch bei der immer wieder genannten lückenhaften Erfassungsmöglichkeit bei einer Reihe von Kunstverwertern als Abgabepflichtige die Einführung einer ausgewogenen Generalklausel für erforderlich. Wir begrüßen, daß endlich mit der bereichsspezifischen Lösung bei der Erhebung der Künstlersozialabgabe begonnen wird, und danken vor allem den Abgabepflichtigen aus dem Bereich Wort, daß sie die sie belastenden Nachteile der bisherigen nicht sachgerechten einheitlichen Abgabesätze mitgetragen haben.
Die Ausschußanhörung hat uns veranlaßt, weitere Maßnahmen in Erwägung zu ziehen.
Zu den Ausschußanhörungen, meine Damen und Herren, will ich allgemein einige Anmerkungen machen, die wir im Parlament überdenken sollten. Seit einiger Zeit führen wir im Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung gelegentlich ein anderes Anhörungsverfahren durch, das auf unsere früheren Kollegen Haimo George und Eugen Glombig zurückgeht. Dieses Verfahren sieht bei einer begrenzten, aber gezielten Sachverständigenanzahl bei jedem Befragten ein Zeitkontingent vor, das auch durch Nachfragen zu den Antworten der Sachverständigen ausgenutzt werden kann. Es erweist sich, daß dieses Verfahren bisher jedenfalls günstiger zu bewerten ist. Dies hat sich auch auf die Auswertungsergebnisse bei den Anhörungen positiver als bisher ausgewirkt.
So haben wir uns in den Anhörungen überzeugen lassen, daß die ursprünglich geplante Verkürzung der Berufsanfängerfrist von fünf auf drei Jahre Härten bringen wird, und belassen es daher bei der bisherigen Regelung von fünf Jahren.
Allerdings halten wir weiter an dem Mindestbeitrag fest, auf den nicht verzichtet werden kann. Eine Versicherung ohne angemessene finanzielle Beteiligung der Versicherten ist mit dem Versicherungsprinzip nicht vereinbar. Ein Monatsbeitrag von 35 DM erscheint uns auch zumutbar, da er deutlich niedriger als der Beitrag der Studenten zu ihrer Krankenversicherung, der bei derzeit 64 DM liegt, ist.
Bei der Überlegung, beim Ruhen des Versicherungsschutzes in der Krankenversicherung bei Nichtzahlung die Säumniszeit auszudehnen, haben wir festgestellt, daß de facto bei der Zweimonatsregelung bereits ein Zeitraum von drei Monaten durch die zusätzlichen Mahnungs- und Rückantwortverfahren abläuft. Eine Verlängerung schafft mehr Bürokratie, erhöht die Kosten und den Vollstreckungsaufwand. Die vorgesehene Regelung scheint auch sozial tragbar, da im Härtefall die Stundung beantragt werden kann und Ratenzahlungen mit Wiederaufleben des Versicherungsschutzes möglich sind.
Wir haben uns auch mit der schwierigen Situation der Bühnenverlage befaßt. Das von den Betroffenen vorgeschlagene Härteklauselmodell zur Künstlersozialversicherungsabgabe wurde geprüft. Eine solche Regelung hätte aber rechtliche und finanzielle Auswirkungen, da sich auch andere auf eine solche Regelung beziehen würden. Wir fanden bisher keine geeignete Lösungsmöglichkeit. Ich will aber den Betroffenen von hier aus sagen, daß weiter nach einer deutlichen Verbesserung für ihre schwierige Situation gesucht wird.
Weiter haben wir die Forderung einiger Sachverständiger auf Krankengeldzahlung vom ersten Tag an geprüft. Dabei mußten wir feststellen, daß dies zu einer Erhöhung des Beitragssatzes um 0,5 Prozentpunkte und zu einer weiteren, jedoch nicht tragbaren Belastung führen würde. Daher müssen wird dies ablehnen.
Meine Damen und Herren, aus Zeitgründen kann ich nicht auf die weiteren Stabilisierungen in der Künstlersozialversicherung eingehen. Wir erwarten, daß durch die umfassenden Novellierungen die soziale Sicherung der Künstler weiter verbessert wird und daß das gesamte System jetzt erfolgreich arbeiten kann.
Vielen Dank.
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Weiler.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Heute morgen in der Debatte wurde von der Regierungskoalition der Satz geprägt: Weniger Geld führt zu mehr Kreativität. Ich finde, dies ist auch ein weiteres Motto, das über diesem Gesetz stehen kann. Neben dem Sozialabbau beim Gesundheits-Reformgesetz und neben dem Sozialabbau der Neunten Novelle zum AFG heute morgen ist jetzt ein weiterer Personenkreis an der Reihe. Es ist ein kleiner Personenkreis; aber ich denke, er ist zumindest ebenso schutzbedürftig.
Heute soll die Novellierung eines Gesetzes verabschiedet werden, das wie so viele in den letzten Wochen ausschließlich dazu dient, die Kassen von Herrn Stoltenberg zu sanieren. Nach Auffassung der SPD besteht ein unabweisbarer Reformbedarf. Nach der von uns geforderten Anhörung haben Sie zwar nun einige Kleinigkeiten geändert; aber in der Grundtendenz ist es eine Gesetzesnovellierung geworden, die einerseits eine Abkassierung der Betroffenen und andererseits eine Verwaltungsvereinfachung bedeutet, die die spezielle Situation der Künstler in keiner Weise berücksichtigt. Auch dieses Gesetz ist — ich schaue auf die Debatte in der letzten Woche zurück — ein Opfer der sogenannten Gesundheitsreform geworden; denn wegen des Gesundheits-Reformgeset-
8282 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 114. Sitzung. Bonn, Freitag, den 2. Dezember 1988
Frau Weiler
zes haben wir im Ausschuß nicht die entsprechende Zeit gehabt, um über notwendige und vernünftige Reformschritte im Detail beraten zu können.
Zum Beispiel fand der Ausschuß nicht die Zeit, sich mit dem interessanten Vorschlag des Schriftstellerverbands auseinanderzusetzen, der die Chance eröffnen könnte, das Verwaltungsverfahren zu vereinfachen und gleichzeitig den sozialen Schutz der selbständigen Künstler auszubauen.
Wir begrüßen, daß Sie immerhin bereit waren, die geplante Dreijahresfrist, in der Berufsanfänger und Berufsanfängerinnen unabhängig von der Höhe des Jahreseinkommens versichert sind, zu revidieren. Es bleibt also bei der bereits jetzt bestehenden Fünfjahresfrist.
In der Anhörung ist folgendes deutlich geworden. Die allgemeine ökonomische Situation selbständiger Künstler hat sich in den letzten Jahren verschlechtert. Großspektakel wie die Musicals „Cats" oder „Starlight Express" vermitteln nur ein Zerrbild der realen Situation der Künstler in der Bundesrepublik. Da gibt es gerade im schriftstellerischen Bereich viele Neuanfänger, die jahrelang um Anerkennung ihrer künstlerischen Leistungen ringen müssen und in dieser Zeit sozusagen von der Hand in den Mund leben.
Da gibt es Künstler, die nach Zeiten einer Schaffenspause ihre künstlerische Tätigkeit wieder aufnehmen, jedoch nicht mehr unter die Berufsanfängerregelung fallen. Ich denke hier insbesondere an Frauen, die nach der Familienphase wieder in den Beruf zurückkehren wollen. Sie erwerben weder in der Zeit, die sie für die Familienbetreuung aufwenden, eigene Rentenansprüche, noch sind sie nach dem Wiedereinstieg in den Beruf in das soziale Sicherungssystem einbezogen; denn auf sie trifft die Versicherungspflicht nicht zu.
So wird auch an Hand der Künstlersozialversicherung wieder deutlich, daß es für Frauen viele Stolpersteine auf dem Weg zur beruflichen Anerkennung gibt.
Auf der Verwerterseite sind die Probleme der 45 Theaterverlage deutlich geworden, die durch den hohen Honoraranteil am Umsatz überdurchschnittlich durch die Künstlersozialabgabe belastet werden. In diesem Punkt hat uns die CDU signalisiert, daß sie bereit wäre, darüber zu diskutieren, wie wir diesen Theaterverlagen helfen können. Nur: Ich befürchte, Herr Dr. Becker, das kann Ende nächsten Jahres schon zu spät sein.
Um unsere Position noch einmal zu verdeutlichen: Verwaltungsvereinfachung — ja, Stärkung der Finanzlage — ja, dies jedoch nur unter Beibehaltung des Hauptziels, nämlich der Stärkung des sozialen Schutzes der selbständigen Künstler.
Dieses Hauptziel wird der vorliegende Entwurf auch nach den kleinen Änderungen nicht gerecht. Unsere wichtigsten Kritikpunkte sind: Die Umstellung auf das neue Beitragsverfahren ist eine unausgewogene Maßnahme der Verfahrensvereinfachung, die zur Untersicherung der Künstler im Alter führt.
Im Vorgriff auf unsere Beschlüsse hier hat — eigentlich unter Mißachtung des Gesetzgebungsverfahrens — die Landesversicherungsanstalt Oldenburg-Bremen bereits ab 18. November den Versicherten geschrieben, sie mögen doch schon jetzt nach dem eventuell zu verabschiedenden Gesetz verfahren und ihre Beiträge entsprechend melden. So etwas Ähnliches hatten wir auch beim Arbeitsförderungsgesetz schon einmal.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Künstler werden in unzulässiger Weise den Freiberuflern gleichgestellt, indem sie bei dem vorgezogenen Krankengeldanspruch allein für den höheren Beitrag aufkommen müssen. Der besondere Schutz der Berufsanfänger wird abgebaut, indem sie Mindestbeiträge zahlen müsen.
Im Ausschuß haben wir mehrere Änderungsvorschläge gemacht. Ich möchte aber in diesem Zusammenhang auf die Vorschläge der anderen Fraktionen eingehen, und zwar zunächst einmal auf diejenigen der GRÜNEN. Wir haben Verständnis für Ihre Änderungsanträge und sind mit der Zielsetzung einverstanden. Wir sind aber der Meinung, daß die Formulierung, die Sie benutzt haben, nicht das gewünschte Ergebnis bringt. Darum werden wir die ersten drei Anträge ablehnen, und dem letzten Antrag bezüglich der Bühnenverlage werden wir zustimmen.
— Ja.
Wir haben darüber hinaus eine sehr interessante Stellungnahme von zwei mitberatenden Ausschüssen, die ich Ihnen nicht verheimlichen möchte. Da die meisten Kolleginnen und Kollegen die Berichte nicht so ausführlich lesen, wie es vielleicht wünschenswert wäre, möchte ich diese Stellungnahmen doch einmal zitieren.
Die uns sympathischste Stellungnahme hat der mitberatende Ausschuß für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit beschlossen. Er hat nämlich mit Stimmenmehrheit klipp und klar beschlossen, den Gesetzentwurf abzulehnen.
Der Innenausschuß — ebenfalls beratend — hat einstimmig — mit den Stimmen der CDU/CSU und der FDP —
und dem federführenden Ausschuß eine Reihe von Punkten auf den Weg gegeben, die wir berücksichtigen müssen, und zwar war das eine ziemlich harsche Kritik. Wir sind der Meinung, daß sich diese Kritikpunkte im Prinzip mit unseren decken. Ich empfehle wirklich allen, sich diese Punkte noch einmal genau anzusehen.
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, wir möchten gerne, daß der Beitragsverzug nicht zum Ruhen von Leistungsansprüchen führen darf. Eine solche Maßnahme ist nach unserer Meinung nicht mit dem Prinzip der Versicherungspflicht vereinbar. Die Reaktion auf bestehende Außenstände kann nur in einer verstärkten Prüfung und Eintreibung bestehen; mit
Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 114. Sitzung. Bonn, Freitag, den 2. Dezember 1988 8283
Frau Weiler
dieser — das war ja in der Anhörung zu hören — liegt es im argen. Es gibt Millionen von Außenständen. Die längst fällige personelle Aufstockung der KünstlerSozialkasse ist auch mit den drei Personen mehr nicht ausreichend. Das wissen auch Sie.
— Aber für die Betriebsprüfung sind es nur drei. Die Betriebsprüfung ist eben das besonders Wichtige, was sich sogar, wie Sie wissen, selbst trägt.
Durch die Festsetzung einer Höchstgrenze für die Bemessungsgrundlage der Künstlersozialabgabe wird dem Problem der Theaterverlage nach unserer Meinung Rechnung getragen. Darum haben wir den Antrag gestellt. Sie haben das leider nicht angenommen.
Zur Stärkung der Finanzlage der Versicherung ist eine unabdingbare Voraussetzung, konsequent das Verwertungskonzept durchzuführen. Das bedeutet, daß jeder Unternehmer — auch die öffentliche Hand — Künstlersozialabgabe zahlen muß, auch wenn er nur gelegentlich künstlerische Leistungen verwertet. Wir denken hier insbesondere an Aufträge wie „Kunst am Bau" und ähnliches. Ich weiß, daß auch Sie darüber nachdenken. Wie eben schon gesagt: wieder ein Opfer des GRG, daß wir nicht die Zeit hatten, im Detail zu beraten.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich habe hier noch einmal einen Teil unserer generellen Kritik vorgetragen. Ich bin der Meinung — wie sicherlich auch Sie —, daß wir im nächsten Jahr einmal ausführlich Verbesserungsvorschläge prüfen müssen, auch die der Verbände, die des Verbandes der Schriftsteller. Ich hoffe, daß Sie dann nicht dem Votum des Finanzministers folgen, sondern dem Votum des Innenausschusses, des mitberatenden Ausschusses für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit und daß sich dann der Sozialausschuß, der Ausschuß, der eigentlich für die soziale Sicherung der Künstler verantwortlich ist, nicht hinter dem Innenausschuß und dem Ausschuß für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit verstecken muß.
Meine Damen und Herren, ich gebe Ihnen zunächst einmal die von den Schriftführern ermittelten Ergebnisse unserer namentlichen Abstimmungen bekannt.
Da liegt zuerst vor das Ergebnis der Schlußabstimmung über den Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU und der FDP zur Änderung des Arbeitsförderungsgesetzes und zur Förderung eines gleitenden Übergangs älterer Arbeitnehmer in den Ruhestand — Drucksachen 11/2990, 11/3583 und 11/3603. Von den voll stimmberechtigten Mitgliedern des Hauses haben 442 ihre Stimme abgegeben. Keine davon war ungültig. Mit Ja haben 259 gestimmt.
Mit Nein haben 183 gestimmt. Es hat keine Enthaltungen gegeben.
Von den 19 Berliner Abgeordneten, die ihre Stimme abgegeben haben, war keine ungültig. Mit Ja haben 13 Abgeordnete gestimmt, mit Nein sechs. Es hat keine Enthaltung gegeben.
Gemäß § 48 Abs. 3 unserer Geschäftsordnung stelle ich fest, daß die erforderliche Mehrheit der voll stimmberechtigten Abgeordneten dem Gesetz zugestimmt hat: 259. 249 wäre diese notwendige Kanzlermehrheit gewesen.
Endgültiges Ergebnis
Abgegebene Stimmen 438 und 19 Berliner Abgeordnete; davon
ja: 258 und 13 Berliner Abgeordnete
nein: 180 und 6 Berliner Abgeordnete
Ja
CDU/CSU
Dr. Abelein Austermann
Bauer
Bayha
Dr. Becker Dr. Biedenkopf
Dr. Blank Dr. Blens Dr. Blüm
Böhm Börnsen (Bönstrup)
Dr. Bötsch Bohl
Bohlsen Borchert Breuer
Bühler Carstens (Emstek) Carstensen (Nordstrand) Clemens
Dr. Czaja Daweke
Frau Dempwolf
Deres
Dörflinger Dr. Dollinger
Doss
Dr. Dregger
Echternach
Ehrbar
Eigen
Engelsberger
Eylmann
Dr. Faltlhauser
Dr. Fell Frau Fischer
Fischer Francke (Hamburg)
Dr. Friedmann
Dr. Friedrich
Fuchtel
Funk
Ganz
Frau Geiger
Geis
Dr. Geißler
Dr. von Geldern Gerstein
Gerster
Glos
Dr. Göhner
Dr. Götz Gröbl
Dr. Grünewald
Günther
Dr. Häfele
Harries
Frau Hasselfeldt
Haungs
Hauser
Hauser
Hedrich
Freiherr Heereman von Zuydtwyck
Frau Dr. Hellwig
Helmrich Dr. Hennig
Herkenrath
Hinrichs Hinsken Höffkes Höpfinger
Hörster
Dr. Hoffacker
Frau Hoffmann
Dr. Hornhues
Frau Hürland-Büning
Dr. Hüsch
Graf Huyn
Jäger
Dr. Jahn
Dr. Jobst
Jung
Jung
Kalb
Dr.-Ing. Kansy
Dr. Kappes
Frau Karwatzki
Kiechle
Klein
Dr. Köhler Kossendey
Kraus
Kreile
Krey
Kroll-Schlüter
Dr, Kronenberg
Dr. Kunz
Lamers
Dr. Lammert
Dr. Langner
Lattmann
Dr. Laufs Lenzer
Frau Limbach
Link
Link
Linsmeier
Lintner
Dr. Lippold Louven
Lowack Maaß
Frau Männle
8284 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 114. Sitzung. Bonn, Freitag, den 2. Dezember 1988
Vizepräsident Westphal
Magin Marschewski
Dr. Meyer zu Bentrup Michels
Dr. Möller
Dr. Müller
Müller
Müller
Nelle
Neumann Niegel
Dr. Olderog
Oswald Frau Pack
Pesch Pfeffermann
Pfeifer
Dr. Pinger
Dr. Pohlmeier
Dr. Probst
Rauen Rawe
Reddemann
Regenspurger
Repnik
Dr. Riedl
Dr. Riesenhuber
Frau Rönsch Frau Roitzsch (Quickborn) Dr. Rose
Rossmanith
Roth
Rühe
Dr. Rüttgers
Sauer
Sauer
Sauter
Dr. Schäuble Scharrenbroich
Schartz
Schemken
Scheu Schmidbauer
Schmitz
von Schmude
Dr. Schneider Freiherr von Schorlemer Schreiber
Dr. Schroeder Schulhoff
Dr. Schulte
Schwarz
Dr. Schwarz-Schilling
Dr. Schwörer
Seehofer
Seesing Seiters Spilker Spranger
Dr. Sprung
Dr. Stark
Dr. Stavenhagen
Dr. Stercken
Dr. Stoltenberg
Strube Stücklen
Frau Dr. Süssmuth
Susset Tillmann
Dr. Todenhöfer
Dr. Uelhoff
Uldall
Dr. Unland
Frau Verhülsdonk
Vogel
Vogt
Dr. Voigt
Dr. Vondran
Dr. Voss
Dr. Waffenschmidt
Dr. Waigel
Graf von Waldburg-Zeil Dr. Warnke
Dr. Warrikoff
Dr. von Wartenberg Weirich
Weiß Werner (Ulm)
Frau Will-Feld
Frau Dr. Wilms
Wilz
Wimmer
Windelen
Frau Dr. Wisniewski Wissmann
Dr. Wittmann
Würzbach Dr. Wulff Zeitlmann Zierer
Dr. Zimmermann
Zink
Berliner Abgeordnete
Frau Berger Buschbom
Feilcke
Kalisch
Kittelmann Lummer
Dr. Mahlo Dr. Neuling Dr. Pfennig Schulze
Straßmeir
FDP
Frau Dr. Adam-Schwaetzer Dr. Bangemann
Baum
Beckmann Bredehorn Eimer
Engelhard
Dr. Feldmann
Frau Folz-Steinacker Funke
Gallus
Gattermann Gries
Grünbeck Grüner
Frau Dr. Hamm-Brücher Dr. Haussmann
Heinrich Dr. Hirsch
Dr. Hitschler Dr. Hoyer Irmer
Kohn
Dr.-Ing. Laermann
Dr. Graf Lambsdorff Mischnick Möllemann Neuhausen
Nolting
Paintner
Richter
Rind
Ronneburger
Schäfer
Frau Dr. Segall
Frau Seiler-Albring
Dr. Solms Dr. Thomae Timm
Dr. Weng Wolfgramm (Göttingen) Frau Würfel
Zywietz
Berliner Abgeordnete
Hoppe Lüder
Nein
SPD
Amling
Andres
Antretter Bachmaier Bahr
Becker
Frau Becker-Inglau Bernrath
Bindig
Frau Blunck
Dr. Böhme Börnsen (Ritterhude) Brandt
Büchler
Dr. von Bülow
Frau Bulmahn
Buschfort Catenhusen
Frau Conrad
Conradi
Frau Dr. Däubler-Gmelin Daubertshäuser
Diller
Dreßler
Duve
Dr. Ehmke
Dr. Ehrenberg
Dr. Emmerlich
Erler
Esters
Ewen
Frau Faße
Fischer
Frau Fuchs
Frau Fuchs
Frau Ganseforth
Gansel
Dr. Gautier
Gilges
Frau Dr. Götte Großmann Grunenberg
Dr. Haack Haack
Frau Hämmerle
Frau Dr. Hartenstein Hasenfratz
Dr. Hauchler Heistermann
Heyenn
Hiller
Dr. Holtz Horn
Huonker
Jahn
Jaunich Dr. Jens
Jung Kastning
Kiehm
Kirschner Kißlinger Dr. Klejdzinski
Kolbow
Koltzsch Kretkowski
Kuhlwein
Lambinus
Lennartz
Leonhart
Lohmann
Lutz
Frau Matthäus-Maier Menzel
Dr. Mertens Meyer
Müller Müller (Pleisweiler) Müntefering
Nagel
Nehm
Frau Dr. Niehuis
Dr. Niese
Niggemeier Dr. Nöbel
Frau Odendahl Oesinghaus Opel
Dr. Osswald Paterna
Pauli
Dr. Penner Peter Pfuhl
Porzner
Purps
Reimann
Reschke
Reuter
Rixe
Roth
Schäfer Schanz
Schluckebier
Frau Schmidt Dr. Schmude
Schreiner
Schröer Schütz
Seidenthal Frau Seuster Sielaff
Sieler
Singer
Frau Dr. Skarpelis-Sperk Dr. Soell
Frau Dr. Sonntag-Wolgast Dr. Sperling
Stahl
Steiner
Frau Steinhauer
Stiegler
Dr. Struck Frau Terborg Frau Dr. Timm Frau Traupe Urbaniak
Vahlberg
Voigt
Vosen
Waltemathe Walther
Frau Dr. Wegner Weiermann
Frau Weiler Dr. Wernitz Westphal
Dr. Wieczorek Wieczorek Frau Wieczorek-Zeul Wiefelspütz
von der Wiesche Wimmer Wischnewski
Dr. de With Wittich
Zander
Zumkley
Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 114. Sitzung. Bonn, Freitag, den 2. Dezember 1988 8285
Vizepräsident Westphal Berliner Abgeordnete
Heimann
Dr. Mitzscherling Stobbe
Wartenberg
DIE GRÜNEN
Frau Beck-Oberdorf Brauer
Dr. Briefs
Dr. Daniels Ebermann
Frau Flinner Frau Garbe Frau Hillerich Hüser
Kleinert
Dr. Knabe
Frau Krieger
Dr. Lippelt Frau Nickels
Frau Oesterle-Schwerin Frau Rust
Frau Saibold Frau Schilling Schily
Frau Schmidt-Bott Frau Schoppe Stratmann
Frau Teubner Frau Unruh
Frau Vennegerts Frau Dr. Vollmer Volmer
Weiss Wetzel
Frau Wilms-Kegel Frau Wollny
Berliner Abgeordnete
Frau Olms Sellin
Fraktionslos Wüppesahl
Das Gesetz ist also angenommen.
Dann teile ich Ihnen das von den Schriftführern ermittelte Ergebnis der namentlichen Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion DIE GRÜNEN auf Drucksache 11/3601 mit. Abgegebene Stimmen: 442. Davon keine ungültig. Mit Ja haben 33 Abgeordnete gestimmt, mit Nein 419. Es hat keine Enthaltung gegeben.
Endgültiges Ergebnis
Abgegebene Stimmen 449; davon
ja: 33
nein: 416
Ja
DIE GRÜNEN
Frau Beck-Oberdorf Brauer
Dr. Briefs
Dr. Daniels Ebermann
Frau Flinner Frau Garbe Frau Hillerich
Hüser
Kleinert
Dr. Knabe Frau Krieger
Dr. Lippelt Frau Nickels
Frau Oesterle-Schwerin Frau Olms
Frau Rust Frau Saibold Frau Schilling
Schily
Frau Schmidt-Bott
Frau Schoppe
Sellin
Stratmann Frau Teubner
Frau Unruh
Frau Vennegerts Frau Dr. Vollmer Weiss Wetzel
Frau Wilms-Kegel Frau Wollny
Fraktionslos Wüppesahl
Nein
CDU/CSU
Dr. Abelein Austermann
Bauer
Bayha
Dr. Becker Frau Berger (Berlin) Dr. Biedenkopf
Dr. Blank
Dr. Blüm
Böhm Dr. Bötsch
Bohl
Bohlsen
Borchert Breuer
Bühler Buschbom Carstens (Emstek)
Carstensen Clemens
Dr. Czaja Daweke
Frau Dempwolf
Deres
Dörflinger
Dr. Dollinger
Doss
Dr. Dregger
Echternach
Ehrbar
Eigen
Engelsberger
Eylmann
Dr. Faltlhauser
Feilcke
Dr. Fell Frau Fischer
Fischer Francke (Hamburg)
Dr. Friedmann
Dr. Friedrich
Fuchtel
Funk
Ganz
Frau Geiger
Geis
Dr. Geißler
Dr. von Geldern Gerstein
Gerster
Glos
Dr. Göhner
Dr. Götz Gröbl
Dr. Grünewald
Günther Dr. Häfele Harries
Frau Hasselfeldt Haungs
Hauser Hauser (Krefeld) Hedrich
Freiherr Heereman von
Zuydtwyck
Frau Dr. Hellwig Helmrich
Dr. Hennig
Herkenrath
Hinrichs Hinsken Höffkes Höpfinger Hörster Dr. Hoffacker
Dr. Hornhues
Frau Hürland-Büning Graf Huyn
Dr. Hüsch Jäger
Dr. Jahn
Dr. Jobst
Jung
Jung
Kalb
Kalisch
Dr.-Ing. Kansy
Dr. Kappes
Frau Karwatzki
Kiechle Kittelmann
Klein
Dr. Köhler Kolb
Kossendey
Kraus
Dr. Kreile
Krey
Kroll-Schlüter Dr. Kronenberg
Dr. Kunz
Lamers
Dr. Lammert Dr. Langner Lattmann
Dr. Laufs
Lenzer
Frau Limbach Link Link (Frankfurt) Linsmeier
Lintner
Dr. Lippold Louven
Lowack
Lummer
Maaß
Frau Männle Magin
Dr. Mahlo
Marschewski
Dr. Meyer zu Bentrup
Michels
Dr. Möller
Dr. Müller
Müller Müller (Wesseling)
Nelle
Dr. Neuling Neumann
Niegel
Dr. Olderog Oswald
Frau Pack
Pesch
Pfeffermann Pfeifer
Dr. Pfennig
Dr. Pinger
Dr. Pohlmeier Dr. Probst
Rauen
Rawe
Reddemann Regenspurger Repnik
Dr. Riedl
Dr. Riesenhuber
Frau Rönsch Frau Roitzsch (Quickborn)
Dr. Rose
Rossmanith
Roth Rühe
Dr. Rüttgers Sauer Sauer (Stuttgart) Sauter (Epfendorf)
Dr. Schäuble Scharrenbroich Schartz Schemken
Scheu
Schmidbauer Schmitz
von Schmude
Dr. Schneider Freiherr von Schorlemer Schreiber
Dr. Schroeder Schulhoff
Schulze
Dr. Schwarz-Schilling
Dr. Schwörer Seehofer
Seesing
Seiters
8286 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 114. Sitzung. Bonn, Freitag, den 2. Dezember 1988
Vizepräsident Westphal
Spilker
Spranger
Dr. Sprung
Dr. Stark
Dr. Stavenhagen
Dr. Stercken Dr. Stoltenberg
Straßmeir Strube
Stücklen
Frau Dr. Süssmuth
Susset
Tillmann
Dr. Todenhöfer
Dr. Uelhoff Uldall
Dr. Unland
Frau Verhülsdonk
Vogel
Vogt
Dr. Voigt
Dr. Vondran Dr. Voss
Dr. Waffenschmidt
Dr. Waigel
Graf von Waldburg-Zeil Dr. Warnke
Dr. Warrikoff
Dr. von Wartenberg Weirich
Weiß Werner (Ulm)
Frau Will-Feld
Frau Dr. Wilms
Wilz
Wimmer Windelen
Frau Dr. Wisniewski Wissmann
Dr. Wittmann
Würzbach Dr. Wulff Zeitlmann Zierer
Dr. Zimmermann
Zink
SPD
Amling
Andres
Antretter
Bachmaier
Bahr
Becker
Frau Becker-Inglau Bernrath
Bindig
Frau Blunck
Dr. Böhme Börnsen (Ritterhude) Brandt
Büchler Dr. von Bülow Frau Bulmahn Buschfort
Catenhusen
Frau Conrad Conradi
Frau Dr. Däubler-Gmelin Daubertshäuser
Diller
Dreßler
Duve
Dr. Ehmke
Dr. Ehrenberg Dr. Emmerlich Erler
Esters
Ewen
Frau Faße Fischer
Frau Fuchs
Frau Fuchs
Frau Ganseforth
Gansel
Dr. Gautier Gilges
Dr. Glotz
Frau Dr. Götte
Großmann Grunenberg
Dr. Haack Haack
Frau Hämmerle
Frau Dr. Hartenstein Hasenfratz
Dr. Hauchler
Heimann Heistermann
Heyenn Dr. Holtz Horn
Huonker
Jahn
Jaunich Dr. Jens
Jung Kastning
Kiehm
Kirschner Kißlinger Dr. Klejdzinski
Kolbow Kuhlwein Lambinus Lennartz Leonhart Lohmann
Lutz
Frau Matthäus-Maier Menzel
Dr. Mertens Meyer
Dr. Mitzscherling
Müller Müller (Pleisweiler) Müntefering
Nagel
Nehm
Frau Dr. Niehuis
Dr. Niese Niggemeier
Dr. Nöbel Oesinghaus
Opel
Dr. Osswald
Paterna Pauli
Dr. Penner
Peter
Pfuhl
Porzner Purps
Reimann Reschke Reuter
Rixe
Roth
Schäfer Schanz
Schluckebier
Frau Schmidt Dr. Schmude
Schreiner
Schröer Schütz
Seidenthal
Frau Seuster
Sielaff
Sieler
Singer
Frau Dr. Skarpelis-Sperk Dr. Soell
Frau Dr. Sonntag-Wolgast Dr. Sperling
Stahl Steiner
Frau Steinhauer
Stiegler
Stobbe
Dr. Struck
Frau Terborg Frau Dr. Timm Frau Traupe Urbaniak
Vahlberg
Voigt
Vosen
Waltemathe Walther
Wartenberg
Frau Dr. Wegner Weiermann
Frau Weiler Dr. Wernitz Westphal
Dr. Wieczorek Wieczorek
Frau Wieczorek-Zeul Wiefelspütz
von der Wiesche
Wimmer Wischnewski
Dr. de With Wittich
Zander
Zumkley
FDP
Frau Dr. Adam-Schwaetzer Baum
Beckmann
Bredehorn Eimer Engelhard
Dr. Feldmann
Frau Folz-Steinacker Funke
Gallus
Gattermann Gries
Grünbeck
Grüner
Frau Dr. Hamm-Brücher Dr. Haussmann
Heinrich
Dr. Hirsch Dr. Hitschler Hoppe
Dr. Hoyer
Irmer
Kleinert
Kohn
Dr.-Ing. Laermann
Dr. Graf Lambsdorff Lüder
Mischnick Möllemann Neuhausen Nolting
Paintner
Richter
Rind
Ronneburger Schäfer
Frau Dr. Segall
Frau Seiler-Albring
Dr. Solms
Dr. Thomae Timm
Dr. Weng Wolfgramm (Göttingen) Frau Würfel
Zywietz
Der Antrag ist abgelehnt.
Wir können in unseren Beratungen fortfahren. Das Wort hat der Abgeordnete Heinrich.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Änderung des Künstlersozialversicherungsgesetzes ist — ich sage vorsichtig: — voraussichtlich das zweitletzte Gesetz in unserem A- und S-Bereich, das wir in diesem Jahr verabschieden.
— Wir haben in der nachsten Woche noch das FELEG vor uns.
Ich glaube, am Freitagnachmittag ist es mir gestattet, zu sagen: Wir haben in unserem Ausschuß ein übergroßes Pensum an Beratungen, Anhörungen und Beschlußfassungen absolviert.
Bei weitem nicht alle Gesetze wurden in so breiter Übereinstimmung beraten, wie es beim Künstlersozialversicherungsgesetz der Fall war. Natürlich habe ich heute morgen Ihre Kritik nicht überhört, Frau Kollegin Weiler.
Der Grund ist sicher auch darin zu suchen, daß das Gesetz relativ neu ist und sich noch kaum verbohrte Ideologien bilden konnten.
Alle Parteien waren bemüht — zugegeben: mit unterschiedlichem Erfolg —, unter Berücksichtigung der
Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 114. Sitzung. Bonn, Freitag, den 2. Dezember 1988 8287
Heinrich
Interessen der Künstler Schwachstellen zu verbessern, ohne die wichtigen Grundsätze einer Sozialversicherung zu verlassen.
In diesem Zusammenhang bekenne ich, daß wir mit unseren Vorstellungen bei der befreienden Lebensversicherung nicht zum Zug gekommen sind. Die Bemühungen im Bereich der Bühnenverlage sind nicht erfolgreich gewesen, weil hier rechtssystematische Bedenken bestanden haben.
Ich meine aber, es ist uns gelungen, die Verwaltungsabläufe wesentlich zu vereinfachen, indem wir das Beitragsverfahren der allgemeinen Sozialversicherung mit Monatsbeiträgen, das auf einem geschätzten Jahreseinkommen als Bemessungsgrundlage basiert, eingeführt haben. Dieses Verfahren kann jedoch eine Unterversicherung nicht ausschließen, Frau Kollegin Weiler; das geben wir zu.
Gerade dieses Problem habe ich in meinen früheren Reden zur Künstlersozialversicherung immer aufgegriffen. Nach unserer Meinung kann es keine Sozialversicherung ohne eigene Beiträge geben. Deshalb halten wir an den Mindestbeiträgen fest. Das gilt auch für Berufsanfänger. Die Höhe der Beiträge von 35 DM ist auch für Berufsanfänger vertretbar.
Nicht vertretbar war für uns allerdings die Verkürzung der Frist für diese Gruppe von fünf auf drei Jahre. Da waren wir ja alle der gleichen Meinung. Auch die Sachverständigenanhörung hat uns in diesem Punkt Recht gegeben. Nach ihrer Meinung hat sich die Situation der Berufsanfänger nicht verbessert.
Mit Genugtuung kann ich feststellen, daß jetzt der erste Schritt zu bereichsspezifischen Beitragssätzen realisiert wurde. Damit wird verhindert, daß in unzumutbarer Weise ein Bereich für den anderen zahlen muß.
Nun möchte ich noch etwas zu Ihnen sagen, Frau Weiler. Für die SPD haben Sie einer nach meiner Meinung etwas sehr aufgeblähten Verwaltung das Wort geredet. Ich kann dem nicht folgen. Genausowenig nehme ich den Vorwurf an, den Sie soeben wieder erhoben haben, die noch bestehenden Probleme würden auf dem Rücken der Künstler ausgetragen.
Ich meine, schon die Tatsache, daß sich die Zahl der Versicherten seit dem Inkrafttreten des Gesetzes von 12 600 auf 31 700 erhöht hat, spricht dafür, daß das Gesetz von dem Personenkreis, für den es gemacht wurde, angenommen worden ist.
Gegen Ihre These spricht auch die Tatsache, daß wir eine Generalklausel eingeführt haben, die künftig jeden Unternehmer, der Aufträge an selbständige Künstler oder Publizisten erteilt, veranlagt. Voraussetzung dafür ist, daß nicht nur gelegentlich Aufträge erteilt werden und deren Werke oder Leistungen zur Einnahmeerzielung genutzt werden. Daß diese neue Regelung nicht voll auf die Gegenliebe der Kommunen und anderer stößt, ist verständlich, dafür habe ich
Verständnis. Diese Regelung ist aber auch aus rechtlichen Gründen notwendig.
Ich meine: Alles in allem ist diese Novelle des Künstlersozialversicherungsgesetzes ein gelungenes Werk, das den Vermarktern mehr Gerechtigkeit zuteil werden läßt und den Künstlern die soziale Sicherheit erhält.
Ich bedanke mich.
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Unruh.
Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Volksvertreter und Volksvertreterinnen! Unter dem berüchtigten parlamentarischen Zeitdruck soll nun auch noch in diesem Jahr das Künstlersozialversicherungsgesetz verabschiedet werden. In der Zusammensetzung von sozialer und kulturpolitischer Zielsetzung ist es ein besonders kompliziertes Gesetzeswerk. Denn hier wurde versucht, Verwaltungsvereinfachung, soziale Gerechtigkeit und die Besonderheit künstlerischer Produktionsweise auf einen Nenner zu bringen, was zugegebenermaßen sehr schwierig ist.
Es hat daher mehrere Anhörungen mit Betroffenen und Sachverständigen gegeben, die letzte am 23. November dieses Jahres. Dabei ist deutlich geworden, daß die Frustration der Künstler und Kulturschaffenden erheblich ist. Denn es sieht so aus, als wären alle kulturellen Argumente auf taube Ohren gestoßen und als hätte allein der Verwaltungszweck als das eigentliche Ziel des hier vorliegenden Gesetzentwurfs zu gelten.
Das Problem liegt hierbei meines Erachtens nicht nur in dem fehlenden Verständnis der Politikbeamten für die Situation der Künstler, sondern es liegt auch im Status der Künstler und Künstlerinnen selbst. Diese sind nämlich keine „echten" Arbeitnehmer, was Zeit- und Einkommensfaktor anlangt. Unregelmäßige Arbeitszeit, ungeregeltes Einkommen und häufiger Wechsel zwischen selbständiger und unselbständiger Tätigkeit — oh Gott, was für ein Greuel für jede Versicherungsmentalität!
Jedoch selbst unter dem Diktat der „leeren Kassen" unterstellen wir der Bundesregierung, daß sie das Künstlersozialversicherungsgesetz nicht gegen, sondern für die sozial- und einkommensschwachen Künstler gemacht hat und daß ihr ferner bewußt ist, daß sich die öffentliche Hand mit dem gesetzlich geregelten Bundeszuschuß zur Künstlersozialversicherung aus der Abgabepflicht der Vermarkter leider herausgemogelt hat.
So gilt es also abschließend, einen Kompromiß zu finden, der die allergrößten sozial- und kulturpolitischen Fehler revidiert. Wir haben uns daher in unserem Änderungsantrag bewußt nur auf die kulturpolitische Dimension bezogen.
Ich möchte hier besonders auf die Situation der Bühnenverlage hinweisen, die mit der geplanten KS-
8288 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 114. Sitzung. Bonn, Freitag, den 2. Dezember 1988
Frau Unruh
Abgabe in ihrer Existenz bedroht sind. Diese Verlage arbeiten in der Art von Agenturen mit lebenden Autoren, die ein Honorar zwischen 75 und 90 % des Umsatzes erhalten. Im Gegensatz dazu betragen die Tantiemen, die für Werke gestorbener Autoren zu zahlen sind, ca. 15 bis 30 %. Nach dem Künstlersozialversicherungsgesetz hat ein Bühnenverleger die KS-Abgabe nicht von seiner Verlagsprovision, 10 bis 25 %, sondern von den Autorenhonoraren zu zahlen, wodurch die paradoxe Situation entsteht: Je autorenfreundlicher ein Verleger arbeitet, desto mehr wird er zur Abgabe gebeten. Dabei ist die Sparte „Wort" mit dem Abgabesatz von 4,4 % ohnehin zu hoch angesetzt. Ohne Lastenausgleich hätte er ja lediglich 2,8 % betragen. Die Buchverlage können daher das Defizit der Bühnenverlage nicht auffangen. Diese müssen entweder Konkurs anmelden oder können mit einer Härteregelung rechnen.
Mit dem von uns vorgeschlagenen, an § 26 anzufügenden Abs. 7 wären die schlimmsten kulturpolitischen Folgen für diese Branche — es sind ungefähr 45 Bühnenverlage, die von dieser Regelung betroffen sind — abgewendet. Wir schlagen folgende Fassung vor:
Beträgt das dem Künstler/Publizisten vom Abgabepflichtigen gezahlte Entgelt mehr als vierundsiebzig vom Hundert der aus der Verwertung seines Werkes erzielten Erlöse, beträgt der Vomhundertsatz der Künstlersozialabgabe 1 % .
Ich bedaure sehr, daß das bei Ihnen, Herr Dr. Bekker, immer so gehandhabt wird: wir hätten es nicht gewußt; oder: die Zeit ist nicht reif dazu. Die ca. 45 Bühnenverlage, die in Konkurs gehen werden, werden uns wieder eines Besseren belehren. Das glaube ich Ihnen gern. Aber dann sind sie kaputt.
Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär im Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung, Herr Höpfinger.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich möchte mich zunächst mit einem Wort an die Frau Kollegin Weiler wenden.
Was die Annahme der Künstlersozialversicherung betrifft, so hat der Kollege Heinrich schon darauf hingewiesen, daß eine enorme Zahl von Künstlern im Laufe der Jahre dieses Gesetz angenommen haben.
Zunächst waren es 12 600. In der letzten Ausschußsitzung hat uns Herr Zweigle sehr deutlich gesagt, jetzt seien es weit über 36 000. Es gibt also keinen Zweifel, daß dieses Gesetz angenommen wurde.
Was den Bundeszuschuß betrifft, Frau Kollegin — Sie haben ihn in Ihrer Rede kritisiert — , so darf ich darauf hinweisen: Der Bundeszuschuß betrug zunächst 17 % der Ausgaben. Er ist jetzt auf 25 % angestiegen.
Im Haushalt 1989 sind dafür 44 Millionen DM eingestellt. Wenn Sie jetzt sagen, das sei auch gut, dann lassen wir das doch gelten. Dann würde aber die Kritik, die Sie vorhin am Bundesfinanzminister geübt haben, mehr oder weniger ins Leere laufen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, der heute zur Verabschiedung anstehende Gesetzentwurf ist unerläßlich, um eine dauerhafte Konsolidierung der Künstlersozialversicherung zu erreichen. Die Schwierigkeiten bei der Durchführung des Künstlersozialversicherungsgesetzes haben in den vergangenen Jahren mehrfach auch den Deutschen Bundestag beschäftigt. Die Bundesregierung hat die notwendigen Konsequenzen gezogen. Strukturelle Mängel des Gesetzes werden beseitigt, Lücken bei der Künstlersozialabgabe geschlossen und nach einer Phase des Übergangs differenzierte Sätze für die Künstlersozialabgabe festgesetzt. Die Bundesregierung ist fest entschlossen, für die selbständigen Künstler und Publizisten weiterhin die notwendigen sozialen Rahmenbedingungen zu gewährleisten, die eine freie und ungestörte Entfaltung von Kunst und Kultur erleichtern. Die sozialen Errungenschaften der Künstlersozialversicherung werden nicht geschmälert. Sie werden im Gegenteil gefestigt.
Die wesentlichen Neuerungen. Der Entwurf sieht ein neues Melde- und Beitragsverfahren vor. Das Verfahren führt zu leistungsgerechten Beiträgen und vermindert den bisherigen Verwaltungsaufwand. Weitere wichtige Regelungen enthalten Maßnahmen gegen hartnäckige Zahlungsschuldner in der Krankenversicherung sowie die Einführung von Mindestbeiträgen für Berufsanfänger. Beide Regelungen sind Ausdruck des Versicherungsprinzips und zur finanziellen Konsolidierung dringend erforderlich. Keine Versicherung kann auf die Dauer ohne Beitragszahlungen der Versicherten leben. Das gehört zur Versicherung dazu. Wer mit zwei Monatsbeiträgen zur Krankenversicherung im Rückstand ist und auch nach einer besonderen Mahnung — es ist erwähnenswert, darauf muß hingewiesen werden — nicht zahlt, verliert seinen Versicherungsschutz. Infolge der Dauer des Verwaltungsverfahrens tritt das Ruhen der Leistungen faktisch erst bei einem Rückstand von drei Monatsbeiträgen ein.
Ich darf hier auch noch darauf hinweisen: In Härtefällen kann Beitragsstundung beantragt und von der Künstlersozialkasse bewilligt werden. Wer also zahlen will, aber nicht kann, dem ist auch hier eine soziale Rücksichtnahme gegeben. Die ist gesichert.
Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 114. Sitzung. Bonn, Freitag, den 2. Dezember 1988 8289
Parl. Staatssekretär Höpfinger
Die vorgesehene Verkürzung der Frist von fünf auf drei Jahre, in der Berufsanfänger auch bei fehlendem oder geringem Einkommen versichert sind, ist von den Sachverständigen im Ausschuß abgelehnt worden. Wir haben bei der Anhörung gerade von einem Sachverständigen die Kritik gehört: Hat denn die Anhörung überhaupt einen Sinn? Ich möchte, gerade auch weil wir sehr oft Leute zu Anhörungen einladen, sagen: Ja, Anhörungen haben ihren Sinn. Und gerade hier erleben wir, daß durch die Anhörung eine Änderung erfolgt ist.
Auch die Bundesregierung verschließt sich den Argumenten, die bei der Anhörung und im Ausschuß genannt wurden, nicht. Allerdings möchte ich darauf hinweisen, daß der Hauptgrund für diese Regelung die angespannte Finanzlage der Künstlersozialkasse war.
Wenn nunmehr auf Grund eines Antrages aller Fraktionen an der bisherigen Fünfjahresfrist festgehalten werden soll, ist die dadurch entstehende Mehrbelastung nur bei solidarischem Zusammenwirken aller Beteiligten zu verkraften.
Noch zwei kurze Bemerkungen zur Künstlersozialabgabe.
Erstens. Die Bundesregierung hat bereits im letzten Jahr ihren Willen bekräftigt, die bereichsspezifischen Lösungen durchzuführen. Ab 1989 wird für die Bereiche Wort, bildende Kunst, Musik und darstellende Kunst jeweils ein eigener Vomhundertsatz der Künstlersozialabgabe eingeführt. Um wirtschaftlich untragbare Belastungen zu vermeiden, muß allerdings auch ein Lastenausgleich stattfinden. Ein Solidarausgleich ist gerechtfertigt, weil die einzelnen Bereiche vielfältig miteinander verzahnt sind. Der Übergang auf das neue Verfahren soll in mehreren Schritten erfolgen, um Härten zu vermeiden.
Die zweite Bemerkung. Der abgabepflichtige Personenkreis muß erweitert werden, wie auch vorhin schon einige Redner hervorgehoben haben. Wer für Zwecke seines Unternehmens nicht nur gelegentlich Aufträge an Künstler erteilt, um ihre Werke für sein Unternehmen zu nutzen und damit Einnahmen zu erzielen, ist Vermarkter. Deshalb soll er einen Beitrag zu ihrer sozialen Sicherung leisten. Selbstverständlich unterfallen auch öffentlich-rechtliche Unternehmen dieser Regelung. Versuchen, der Heranziehung zur Künstlersozialabgabe durch Einschaltung ausländischer Zwischenhändler zu entgehen, wird künftig begegnet.
Meine Damen und Herren, ich möchte mich bei den Mitgliedern des federführenden Ausschusses und bei den Mitgliedern der mitberatenden Ausschüsse für die intensive Mitarbeit und die zügige Beratung der Gesetzesvorlage bedanken.
Mit diesem Gesetz werden die Konsolidierung und die Fortentwicklung der Künstlersozialversicherung ermöglicht. Ich bitte Sie daher um Ihre Zustimmung.
Danke schön.
Meine Damen und Herren, ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Einzelberatung und Abstimmung über den Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Änderung des Künstlersozialversicherungsgesetzes.
Der Ausschuß empfiehlt, nach Kenntnisnahme der Unterrichtung durch die Bundesregierung den Gesetzentwurf in der Ausschußfassung anzunehmen.
Ich rufe Art. 1 auf. Hierzu liegt auf Drucksache 11/3620 ein Änderungsantrag der Fraktion DIE GRÜNEN vor. Wer stimmt für diesen Änderungsantrag? — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Dann ist dieser Änderungsantrag mit der Mehrheit der Koalitionsfraktionen abgelehnt worden.
Wer Art. 1 in der Ausschußfassung zuzustimmen wünscht, den bitte ich jetzt um das Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Mit der Mehrheit der Koalitionsfraktionen bei Gegenstimmen der SPD und Enthaltung der Fraktion DIE GRÜNEN angenommen.
Ich rufe Art. 2 bis 5, Einleitung und Überschrift in der Ausschußfassung auf.
Wer den aufgerufenen Vorschriften zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Dann sind diese Vorschriften mit der Mehrheit der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der SPD und bei Enthaltung der Fraktion DIE GRÜNEN angenommen.
Wir treten in die
dritte Beratung
ein und kommen zur Schlußabstimmung.
Wer dem Gesetzentwurf zuzustimmen wünscht, den bitte ich, sich zu erheben. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Der Gesetzentwurf ist mit der gleichen wie eben festgestellten Mehrheit angenommen worden.
Der Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung empfiehlt weiter auf Drucksache 11/3609 unter Nr. 2, den Antrag der Fraktion DIE GRÜNEN auf Drucksache 11/74 abzulehnen.
Wer für die Beschlußempfehlung stimmt, den bitte ich um das Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Dann ist diese Beschlußempfehlung mit der Mehrheit der Koalitionsfraktionen angenommen worden.
Ich rufe nun Tagesordnungspunkt 20 auf: a) Beratung des Antrags der SPD
Eingliederung der Aussiedler und Aussiedlerinnen aus Staaten Ost- und Südosteuropas sowie der Übersiedler und Übersiedlerinnen aus der DDR in die Bundesrepublik Deutschland
— Drucksache 11/3178 —
Überweisungsvorschlag des Ältestenrates:
Innenausschuß
Auswärtiger Ausschuß
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuß für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit
8290 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 114. Sitzung. Bonn, Freitag, den 2. Dezember 1988
Vizepräsident Westphal
Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau Ausschuß für innerdeutsche Beziehungen
Ausschuß für Bildung und Wissenschaft
Haushaltsausschuß
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Gerster , Dr. Laufs, Lintner, Dr. Czaja, Dr. Blank, Dr. Blens, Clemens, Fellner, Dr. Hüsch, Kalisch, Dr. Kappes, Krey, Neumann (Bremen), Dr. Olderog, Regenspurger, Weiß (Kaiserslautern), Zeitlmann, Dörflinger, Geis, Dr.-Ing. Kansy, Magin, Dr. Mahlo, Dr. Möller, Oswald, Pesch, Frau Rönsch (Wiesbaden), Ruf und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Lüder, Dr. Hirsch, Richter, Beckmann, Bredehorn, Engelhard, Dr. Feldmann, Funke, Gries, Grüner, Grünbeck, Dr. Hitschler, Hoppe, Irmer, Kleinert (Hannover), Mischnick, Neuhausen, Nolting, Rind, Ronneburger, Frau Seiler-Albring, Frau Folz-Steinacker, Timm, Frau Würfel, Wolfgramm (Göttingen) und der Fraktion der FDP
Aufnahme und Eingliederung der Aussiedler — Drucksache 11/3465 —
Überweisungsvorschlag des Ältestenrates:
Innenausschuß
Auswärtiger Ausschuß
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuß für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau Ausschuß für innerdeutsche Beziehungen
Ausschuß für Bildung und Wissenschaft
Haushaltsausschuß
Meine Damen und Herren, nach einer Vereinbarung im Ältestenrat sind für die gemeinsame Beratung dieses Tagesordnungspunktes 90 Minuten vorgesehen. — Ich sehe keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Abgeordnete Penner.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist nicht zu leugnen: Wir haben Schwierigkeiten im Umgang mit Fremden und auch mit Aussiedlern, mit denen, die entweder schon da sind oder die noch zu uns kommen werden und sollen. Trotz der breiten politischen Bereitschaft quer durch die Parteien, für die Aussiedler einzutreten, ist doch Distanz zu den Neuankommenden geblieben, und Willkommensadressen sind — wenn überhaupt — spärlich gesät. Die Probleme sind nicht dadurch einfacher geworden, daß Vergleiche angestellt wurden und noch werden, beispielsweise zwischen der Lage der Flüchtlinge in der Nachkriegszeit und der Lage der Aussiedler. Die Probleme von Aussiedlern, Asylanten, Sinti und Roma werden dann noch hinzuaddiert und zu einem unappetitlichen Brei vermengt. Kein Zweifel, die Stimmung für fremde Menschen ist bei uns nicht gut. Ängste, aber auch noch weniger löbliche Eigenschaften sind da im Spiel.
Dabei weisen es die Zahlen aus: Es leben lediglich 80 000 anerkannte Asylbewerber in der Bundesrepublik und insgesamt 750 000 Flüchtlinge nebst ihren Familienangehörigen. Bei einer Gesamtbevölkerungszahl von über 61 Millionen dürfte deren Integration auch dann keine Rolle spielen, wenn man die
übrigen 3,4 Millionen Ausländer hinzurechnet, die sich teilweise mit ihren Angehörigen bei uns aufhalten.
Sie haben als Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ihren Beitrag zu unserem Wohlstand geleistet, und sie werden ihn noch leisten.
Sie sollen übrigens nach dem Willen der Mehrheit in Bonn und entgegen dem gemeinschaftlichen Willen der Europapolitiker und der Bonner Opposition weiterhin von jeglicher politischer Mitwirkung ausgeschlossen bleiben.
Selbst gegen das kommunale Wahlrecht für EG-Ausländer wehrt sich die Regierungsmehrheit mit Händen und Füßen.
Herr Präsident, meine Damen und Herren, vor diesem Hintergrund wirkt das Engagement der CDU/ CSU für Aussiedler, die zunächst — wie auch andere — Fremde sind, wenig stimmig und reizt zum Widerspruch. Man wird den Eindruck nicht los, daß die Menschen, die nach Art. 116 des Grundgesetzes entweder die deutsche Staatsangehörigkeit haben oder sie erwerben können, gewissermaßen wegen ihrer deutschen Nationalität als Sperre zur Rechtfertigung einer zunehmend auf Abwehr bedachten Ausländerpolitik herhalten müssen.
Nichts ist da zu spüren von dem Grundsatz, der besonders Christen verpflichtet, Menschen ungeachtet ihrer Unterschiedlichkeit zu helfen, wo immer es nötig ist. Hilfe und auch Zuwendung verdienen sie alle, wenn sie zum Teil aus anderen Kulturkreisen und in bitterer Not zu uns kommen und auf Teilnahme angewiesen sind. Die Bedrängnis — die höchstpersönlichen Schwierigkeiten und Schicksale — eint diese Menschen. Sie sind auch nicht durch unterschiedliche Staatsangehörigkeiten auseinanderzudividieren. So gesehen, hat die Berufung auf deutsche Staatsangehörigkeit zugunsten der einen eher uns selbst diskreditierenden Charakter zu Lasten der anderen und treibt auseinander, wo Zusammenführen geboten wäre.
Die CDU/CSU wirbt für Aussiedler, indem sie darauf verweist, daß „sie mithelfen, den Rückgang der Deutschen zu verhindern". So hat es jedenfalls der Kollege Fellner Anfang dieser Woche getan. Menschen als Verfügungsmasse gegen schwindendes Deutschtum, ist das verantwortbar? Da muß man schon Verständnis für diejenigen haben, die die alleinige Berufung auf die Nationalitätenfrage, es seien doch Deutsche, um die es bei Aussiedlern ginge, als
Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 114. Sitzung. Bonn, Freitag, den 2. Dezember 1988 8291
Dr. Penner
Vehikel gegen Humanität für Nicht-Deutsche deuten.
Da fällt einem das manchmal schmähliche Verhalten gegenüber Asylbewerbern, Sinti und Roma und anderen Ausländern ein.
Diese Kritik wird nicht dadurch entkräftet — sie wird eher stichhaltiger, Frau Kollegin — , daß man die nervöse und unsachliche Reaktion der Bundesregierung, aber auch anderer nicht unmaßgeblicher Unionspolitiker auf die Rechtsausführungen des früheren Präsidenten des Bundesverfassungsgerichtes Benda zur Nationalitätenfrage bei Aussiedlern bedenkt.
Dabei ist die Rechtslage ziemlich eindeutig: Die Aussiedler sind zu einem Teil Deutsche und damit auch im Besitz des verfassungsmäßigen Rechts der Freizügigkeit, wozu auch das Recht des Zuzugs gehört. Andere, die sogenannten Volksdeutschen im Sinne des Grundgesetzes, sind ihnen rechtlich gleichgestellt. Auch ihnen steht das verfassungsmäßig verbriefte Recht auf Zuzug zu. Einer anderen Gruppe von Menschen sichert das Bundesvertriebenengesetz Rechte zu, die nach der Verfassung nicht geboten sind, was aber nichts über unsere Verpflichtung zur Aufnahme auch dieser Menschen besagen soll.
Es soll nicht verschwiegen werden, daß die für ein Eingliederungsverfahren beizubringenden Tatsachen bisweilen geisterhafte Züge tragen. Bis hin zum kleinsten Heimatverein werden diesbezügliche Auskunftsstellen bemüht.
Herr Präsident, meine Damen und Herren, zurück zur politischen Seite des Problems.
Erstens. Die Sozialdemokraten halten an der auch von Ihnen besonders in den 70er Jahren getragenen Politik fest, daß die Aussiedler zu uns kommen können, und zwar unabhängig von der Qualität der rechtlichen Absicherung.
Anders ausgedrückt: Der Staat kommt gerade bei dieser Frage um eine gewisse Generosität des Handelns nicht herum.
Zweitens. Ebenso unmißverständlich ist unsere Forderung, daß die finanzielle Seite der notwendigen Eingliederung dieser Menschen hauptsächlich Sache des Bundes bleibt.
Drittens. Wir fordern die Bundesregierung auf, bessere Vorsorge auch für diejenigen zu treffen, die noch zu uns kommen, auch deswegen, um die Spannungen mit den schon hier lebenden Menschen möglichst geringzuhalten.
Viertens. Es darf nicht der Eindruck entstehen, daß andere benachteiligte Gruppen vergleichsweise zu kurz kommen. Deshalb darf sich beispielsweise der
Bedarf beim Wohnungsbau nicht allein oder auch nur hauptsächlich nach dem Bedarf der Bevölkerungsgruppe der Aussiedler errechnen.
Und letztlich: Die mit der Überbetonung der Nationalitätenfrage gelegentlich verbundene, ja vielleicht sogar gewollte Loslösung von der Mitverantwortung für andere humanitäre Fragen auf dieser Welt lehnen wir ab. Konkret: Wir können uns aus der Verpflichtung auch für einen deutschen Beitrag zur Lösung der Weltflüchtlingsfrage nicht ausklinken.
Schönen Dank für die Geduld.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Gerster.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Bei Aussiedlern und Ausländern geht es um menschliche Schicksale. Dennoch sollte man deren Probleme und die Probleme mit ihnen nicht durcheinanderwerfen, vermengen und vermanschen, und — das sage ich nach allen Seiten — man sollte beide Gruppen auch nicht gegeneinander ausspielen. Wir sprechen heute über Aussiedler, Herr Penner, und nicht über Ausländer. Ich frage mich, warum Sozialdemokraten eigentlich nicht in der Lage sind, über dieses schwierige Problem unabhängig von anderen Fragen zu reden, warum aus jeder Aussiedlerdebatte bei Ihnen in der Regel eine Ausländerdebatte wird. Ich finde das nicht angemessen und nicht richtig.
Erstens. In der Aussiedlerpolitik muß die Devise lauten: Weniger zerreden, mehr handeln. Vor 36 Jahren, am 1. April 1952, knapp drei Jahre nach Inkrafttreten des Grundgesetzes, lebten 8,1 Millionen Vertriebene im Geltungsbereich des Grundgesetzes. Das waren 16,8 % der Gesamtbevölkerung. Beim damaligen Spitzenreiter Schleswig-Holstein machte der Anteil der Vertriebenen sogar 31 % der Gesamtbevölkerung aus. Heute, am 2. Dezember 1988, 39 Jahre nach Inkrafttreten des Grundgesetzes, machen uns rund 330 000 deutsche Aussiedler die in den letzten drei Jahren zu uns kamen, Sorgen. Das sind 0,5 % der Gesamtbevölkerung. Damals strömten Millionen Vertriebene in ein zerstörtes, gerade mühsam aufzubauendes armes Land hinein. Heute kommen deutsche Aussiedler in ein aufgebautes, stabiles und reiches Land. Damals packten die Menschen, auch Politiker, an, heute klagen die Menschen, auch Politiker, über die Last der Aussiedler. Damals klaglos, heute ratlos, damals arm, heute reich, damals hilfsbereit, heute egoistisch — wir sollten uns eigentlich schämen, zumindest im Vergleich zur Aufbaugeneration der 50er Jahre. Wir sollten weniger reden und mehr handeln, weniger zerreden und mehr durch Taten überzeugen.
8292 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 114. Sitzung. Bonn, Freitag, den 2. Dezember 1988
Gerster
Zweitens. Aussiedler sind Deutsche wie Sie und ich. Die Aussiedler, die heute aus Ost- und Südosteuropa zu uns kommen, sind Deutsche; das zeigt ein kurzer Blick in das Grundgesetz, das insofern auch nicht interpretierbar ist.
Art. 116 Abs. 1 des Grundgesetzes bestimmt eindeutig, wer Deutscher ist. Art. 116 Abs. 2 bestimmt ebenso eindeutig, wer als früherer Deutscher oder als Abkömmling eines Deutschen auf Antrag wieder einzubürgern ist und dann nicht als ausgebürgert gilt. In Verbindung mit Art. 116 des Grundgesetzes bestimmt Art. 11 Abs. 1 des Grundgesetzes knapp und klar, daß alle Deutschen im ganzen Bundesgebiet Freizügigkeit genießen.
Die CDU/CSU wirbt keine Aussiedler an oder irgenwo ab. Wer aber als Deutscher herkommt, hat die gleichen Rechte wie alle anderen Deutschen auch; nicht mehr, aber auch nicht weniger muß Geltung haben.
Ich frage mich, ob es wirklich einen Politiker gibt, der Deutsche an den Grenzen zu Deutschland abweisen will. Er soll dann bitte hier ans Pult treten und erklären, wie er dies machen will. Tut dies niemand — was ich hoffe— , finde ich, sollten wir all den Schwätzern, die von Deutschtümelei,
von Kontingentierung usw. reden, eine eindeutige, klare und endgültige Absage erteilen.
Drittens. Deutsche im Osten mußten oft und lange und schlimmer leiden als wir. Dieser Tage erreichte mich ein Brief von Deutschen, die aus der Sowjetunion zu uns ausgesiedelt sind und zu Recht schreiben — ich möchte hier mit Genehmigung des Herrn Präsidenten etwas im Zusammenhang zitieren— :
In letzter Zeit ist es kaum zu ertragen, was alles gegen uns verlautet wird und wie man uns nennt: „Deutschstämmige", „Deutschrussen" , „Russen", „Ausländer" . Alle Welt liest Zeitungen, hört Radio, Fernseher. Wir schämen uns für die Einheimischen, denn auch wir sind Deutsche und keine anderen. In der „Hannoverschen Allgemeinen Zeitung" , Ausgabe vom 16. Juni 1988: Die Städte ächzten unter der Flut der Aussiedler aus der Sowjetunion. Der Gifhorner Stadtdirektor, Gert Hoffmann, läßt seinen Gefühlen freien Lauf und sagt: Es muß sich endlich bis Kasachstan herumsprechen, daß bei uns kein Platz ist.
Ich zitiere weiter:
Unfaßbar ist auch, was sich Oskar Lafontaine sowie andere Politiker erlauben:
Es sei zu fragen, ob einem Farbigen aus Afrika, der wesentlich stärker bedroht sei, nicht Vorrang vor einem Aussiedler gegeben werden müßte.
— Hören Sie doch erst einmal zu. Nehmen Sie zur Kenntnis, daß ich hier Deutsche aus der Sowjetunion zitiere, die das aus gutem Grund schreiben. Bitte, hören Sie weiter zu.
— Ich frage mich: Warum die Aufgeregtheit?
— In diesem Land darf jeder seine Meinung schreiben und verkünden, und auch jeder Abgeordnete darf Meinungen von anderen hier verlesen, ohne daß Sie ständig proletenhaft dazwischenschreien.
Herr Abgeordneter!
Ich zitiere zuerst den Brief zu Ende, Herr Präsident. Erst wird das Zitat dieser Menschen zu Ende gebracht.
Hat sich von diesen Herren einer mal Mühe gemacht und mit einem Heimkehrer aus der Sowjetunion gesprochen, um zu hören, was er alles durchmachen mußte, weil er Deutscher ist?
Die „Schuld" besteht darin, Deutscher zu sein, als die Sowjetunion am 22. Juni 1941 von Deutschland angegriffen wurde, und sie hatten uns jahrelang in den Händen, machten mit uns, was sie wollten. Nun sollen also diese Menschen, die das meiste von allen Völkern zu leiden hatten, kein Recht haben, unter ihrem Volk zu leben? Sind es nicht diese Menschen, die unter die Mühlsteine geraten waren während des Zweiten Weltkrieges und jahrelang darunter zu leiden hatten?
Ich zitiere weiter aus diesem Brief:
Tausende von ihnen sind in Sibirien und ganz Rußland verhungert, erfroren oder wurden in den Jahren des Massenmordes erschossen wegen ihrer Volkszugehörigkeit. Unsere Schicksale waren: Hunger, Not, Elend, Verschleppung, Internierung und Gefängnisse. Alles dies Jahre und Generationen lang. 10 bis 28 Jahre bemühte man sich um die Ausreise, und nun werden wir hier nicht akzeptiert, unerwünscht?
Wir sind zwar in der Sowjetunion geboren, aber Deutsche geblieben, und mit Schwierigkeiten das Deutschtum bewahrt, besser wie manch einer hier. Kommen in letzter Zeit mehr
Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 114. Sitzung. Bonn, Freitag, den 2. Dezember 1988 8293
Gerster
Deutsche aus der Sowjetunion mit weniger Deutschkenntnissen, so ist das nicht ihre Schuld, sondern die Schuld des Zweiten Weltkrieges.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Penner?
Wenn sie auf meine Redezeit nicht angerechnet wird, ja.
Dies fällt mir sehr schwer.
Herr Kollege Gerster, Sie wissen wie ich, daß der Wohnungsbau ein zentrales Problem bei unserem Thema ist. Können Sie uns Auskunft darüber geben, warum kein Vertreter des Wohnungsbauministeriums bei dieser Debatte dabei ist?
Doch.
— Gut, ich finde es gut, daß Sie die Frage zurückziehen; um so weniger Zeit muß angerechnet werden.
Ich frage mich, meine Damen, meine Herren, warum eigentlich Aufregung entsteht, wenn ich Menschen, die über Jahre im Kommunismus verfolgt worden sind, hier zu Wort kommen lasse, während Sie von der Sozialdemokratischen Partei sich sonst — was Sie ja auszeichnet — über Menschenrechtsverletzungen in Chile, Südamerika, in aller Welt mehr aufregen als über das Schicksal dieser Deutschen aus der Sowjetunion. Das frage ich mich wirklich.
Meine Damen, meine Herren, die CDU/CSU-Fraktion hat die Probleme der Aussiedler vor allen anderen erkannt. Wir haben bereits am 27. April in einer Anhörung die Probleme erörtert. Übrigens, damals war kein Mensch an dem Thema besonders interessiert. Ein einziger Journalist hat in einer Tageszeitung berichtet.
Die Bundesregierung nahm die Forderungen der Fraktion, die wir im Juli aufgestellt hatten, auf.
Sie hat gehandelt.
Lassen Sie mich, um das Wehklagen von Ländern und Gemeinden — wo es im übrigen auch viele gute Ansätze gibt, um den Aussiedlern zu helfen — deutlich zu machen, hier ein Beispiel nennen.
Die Bundesregierung hat mit ihrem Programm sichergestellt, daß sowohl für Um- und Ausbaumaßnahmen wie für Neubauwohnungen 50 000 DM pro Wohnung bereitgestellt werden. Ich habe mich bei Architekten kundig gemacht. Sie sagten mir: Ohne den Grundstückspreis könnte man eine Wohnung heute für einen Quadratmeterpreis von 1 500 DM bis 1 800 DM bauen. Wenn ein Bürger etwa sechs Wohnungen à 100 qm für Aussiedler bauen würde, würde das 900 000 DM kosten. Er hätte à fonds perdu einen Startzuschuß von 300 000 DM.
Ich fordere Länder und Gemeinden auf, weniger zu klagen, sondern bauwillige Bürger erstens besser über diese Möglichkeiten zu informieren, zweitens Bürger und Bauherren zu ermuntern, statt durch Klagen abzuschrecken, und drittens dann neue Forderungen zu stellen, wenn das aufgelegte Bauprogramm durchgesetzt ist. Dabei erkläre ich für die CDU/CSU-Fraktion verbindlich, wenn der Bedarf weiter anhält, wenn die 30 000 Wohnungen nicht ausreichen, werden wir weitere Mittel zur Verfügung stellen. Handeln statt reden ist die Devise.
Ich habe mir in Vorbereitung dieser Aussprache einmal die Bundestagsprotokolle von 1950 bis 1953 über die Beratung der damaligen Vertriebenengesetze angeguckt. Auch damals gab es Streit zwischen Bund und Ländern über Verteilungsquoten. Auch damals gab es Ärger. Nur, eins hat diese Generation ausgezeichnet: Es hat niemand in Frage gestellt, daß Deutsche, die aus dem Osten zu uns kommen, hier aufgenommen werden können. Wir sollten uns an diesen Menschen in schlechterer Zeit wirklich ein Beispiel nehmen. Wir sollten den Aussiedlern deutlich machen, daß sie bei uns willkommen sind, daß sie das Recht haben, hierherzukommen und dort heimisch zu werden, wo sie zu Hause sind.
Ich fordere die anderen Fraktionen auf, sich bei denjenigen einzugliedern, die zugunsten der Aussiedler handeln, und sich bei denen auszuklinken,
die bisher mehr klagen und mit diesen Klagen davon ablenken, daß sie selbst nicht bereit sind, genügend zu tun.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Olms.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die beiden vorliegenden Anträge haben die wachsenden sozialen und materiellen Probleme in den Kommunen und Gemeinden dieses Landes zum Hintergrund, die diesen starken Zuzug von Aussiedlern nicht oder nur sehr schwer bewältigen können. Während es die Regierungsparteien angesichts dieser Probleme bei reiner Ideologie und vagen Absichtserklärungen bewenden lassen,
fordert die SPD eine stärkere finanzielle Beteiligung des Bundes an den Wiedereingliederungshilfen im Bereich der beruflichen Bildung, im Erwerbsbereich, bei der Sprachförderung und im Wohnbereich, weil die Kommunen hoffnungslos überlastet sind.
Die Bundesregierung gibt sich mit ihrem Sonderprogramm zur Eingliederung der Aussiedler vom August dieses Jahres zufrieden. An anderer Stelle hat meine Kollegin Jutta Oesterle-Schwerin bereits darauf hingewiesen, daß das Wohnungsbauproblem nicht erst seit dem verstärkten Zuzug von Aussiedlern
8294 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 114. Sitzung. Bonn, Freitag, den 2. Dezember 1988
Frau Olms
besteht. Daher fordern wir mindestens ein Fünfjahresprogramm von Bund und Ländern zur Schaffung von 500 000 Wohnungen im sozialen Wohnungsbau.
Ein solches Programm würde 40 Milliarden DM kosten, die aber ohne weiteres lockerzumachen wären.
Nicht nur die Aussiedler, die nicht nur die Wohnungssuchenden hier, auch die bei uns lebenden Flüchtlinge haben Anspruch auf eigenen Wohnraum; denn seit Jahren — lange vor den heutigen Problemen der Unterbringung von Aussiedlern — müssen viele Flüchtlinge in menschenunwürdigen Sammelunterkünften leben. Diese Sammelunterkünfte gehören aufgelöst.
In dankenswerter Offenheit begründen die Regierungsparteien in ihrem Antrag, warum uns die Aussiedler so willkommen sind. Nicht nur weil sie als Deutsche unter Deutschen bei uns leben sollen — wie Sie in Ihrer penetranten Deutschtümelei behaupten —, nein, Aussiedler sollen uns einen wirtschaftlichen Aufschwung bescheren; denn sie sind zu 90 % jung und im arbeitsfähigen Alter. In Ihren Augen sind Aussiedler gut ausgebildet, hoch motiviert, leistungsbereit. Sie sichern unsere Rente von morgen. Und wenn sie dann auch noch die CDU/CSU wählen, hätten Sie Ihren „ideellen Gesamtaussiedler" .
Mit Ihrer überbordenden Deutschtümelei verkennen Sie vollkommen die Situation der zu uns gekommenen Aussiedler. Sie provozieren damit — so paradox es klingen mag — ausländerfeindliche Stimmung.
Gerade die jungen Aussiedler, die in Osteuropa geboren und aufgewachsen sind, sind kulturell und sozial von den Verhältnissen in ihren dortigen Ländern geprägt. Nur die Vorfahren weisen sie als deutschstämmig aus. Diese jungen Menschen werden erst dann zu Deutschen, wenn sie die hiesige Grenze überschreiten.
Die meisten jungen Aussiedler kommen nicht zu uns, weil sie als Deutsche unter Deutschen leben wollen, sondern sie kommen größtenteils hierher, weil sie sich hier bessere Lebensbedingungen erhoffen als in ihren Heimatländern.
Das ist auch gut so. Die hiesige Sprache, die Kultur und die sozialen Verhältnisse sind ihnen fremd. Ihre Identität ist zunächst eben nicht deutsch, sondern z. B. polnisch.
Die jungen Aussiedler selbst fühlen sich bei uns zuallererst als Ausländer. Sie versuchen bei uns unter großen Schwierigkeiten und Anstrengungen, mit den hiesigen Verhältnissen klarzukommen. Das ist weiß Gott schwer. Ein junger polnischer Aussiedler unterscheidet sich in dieser Hinsicht nicht von einem jungen Polen, der hier um politisches Asyl nachsucht. Der Unterschied besteht allein darin, daß der Aussiedler dank seines deutschen Ahnenpasses sozial und rechtlich sofort bessergestellt ist als sein polnischer Freund, der über Jahre in völlig ungesicherten Verhältnissen leben muß und der auch damit rechnen muß, daß er abgeschoben werden kann.
Vor dem Hintergrund des Überfalls des nationalsozialistischen Regimes auf Polen, der 6 Millionen Polen das Leben kostete, ist es makaber, wenn polnische Flüchtlinge bei uns Asyl suchen und damit zumeist keinen Erfolg haben, während diejenigen, die ihre sogenannte deutsche Abstammung nachweisen können, bei uns willkommen sind.
Noch makaberer und finsterer wird es, wenn man weiß, daß auch polnische Juden, wenn sie hier herkommen, sich zum Deutschtum bekennen müssen, wie jüngst in der „Zeit" dokumentiert worden ist.
Die Regierungsparteien unterstellen in ihrem Antrag, daß etwa die polnischen Aussiedler deshalb zu uns kommen, weil sie in ihrer Heimat ihre angebliche nationale Identität nicht bewahren können. Meine Damen und Herren, wie sollen junge polnische Bürger, die sich in nichts — außer vielleicht in ihrer deutschen Abstammung — von ihren deutschen Landsleuten unterscheiden, diese spezifische Verfolgung nachweisen? Das Bundesverwaltungsgericht unterstellt einfach einen Vertreibungsdruck gegenüber deutschstämmigen Minderheiten in osteuropäischen Ländern. Es sind die gleichen Richter, die das Asylbegehren eines gefolterten türkischen Asylbewerbers mit der Begründung ablehnen, daß Folter allein nicht als Fall einer politischen Verfolgung anzusehen ist. Ihre doppelzüngige Politik — hier Aussiedlerfreundlichkeit und Ausländerfeindlichkeit dort — schadet beiden Gruppen, die bei uns eine Zuflucht oder eine Bleibe suchen.
Nach einer Umfrage des ZDF-Politbarometers finden es nur 56 % der Befragten gut, daß Aussiedler bei uns aufgenommen werden. 73 % der Befragten finden es gut, wenn politisch Verfolgte hier das Asylrecht wahrnehmen können. Für eine begrenzte Aufnahme von Flüchtlingen sprachen sich 55 %, für eine begrenzte Aufnahme von Aussiedlern gar 61 % der Befragten aus. Welche Schlüsse ziehen wir daraus?
Erstens. Wir ziehen daraus den Schluß, daß bei den Befragten kein Unterschied zwischen Aussiedlern und Flüchtlingen gemacht wird. Beide sind für die Mehrheit der Befragten Fremde, die einen mit deutschem Blut und die anderen ohne deutsches Blut.
Zweitens. Wir ziehen daraus den Schluß, daß politisch verfolgte Flüchtlinge sogar noch eher aufgenommen werden sollen als die Aussiedler. Es sprachen sich mehr Menschen für eine Zuzugsbegrenzung bei Aussiedlern als bei Flüchtlingen aus.
Die Zahlen sagen drittens, daß Ihre deutschtümelnde Propaganda nicht in dem Maß verfangen hat, wie Sie sich das vielleicht wünschen. Mit Ihrem übersteigerten Nationalismus haben Sie der bestehenden Ausländerfeindlichkeit eine weitere Variante hinzugefügt. Im rechten politischen Spektrum und an den deutschen Stammtischen gibt es jetzt nicht nur die sogenannten Scheinasylanten, sondern auch die so-
Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 114, Sitzung. Bonn, Freitag, den 2 Dezember 1988 8295
Frau Olms
genannten Scheindeutschen, die mit ganz ähnlicher Feindseligkeit bei uns empfangen werden.
Wie gesagt, diese Probleme haben Sie selbst erst mit Ihren Hurra-Chören auf die Aussiedler und mit Ihrem Hau-ab-Gepolter gegenüber Ausländern geschaffen.
Und die jungen Aussiedler selbst? Der Preis für die zumeist jungen Menschen, die zu uns kommen, ist ein erhöhter Anpassungsdruck, dem sie durch Ihre Politik ausgesetzt sind. Im Unterschied zu den Flüchtlingen müssen sie von Anfang an ihrer so genannten Deutschstämmigkeit Rechnung tragen — sie müssen am besten noch deutscher sein als die Deutschen —, um mit der neuen, für sie fremden Situation bei uns klarzukommen.
Ein abschließendes Wort zum Antrag der SPD. Sie warnen in Ihrem Antrag davor, Aussiedler gegen Asylsuchende auszuspielen. Die bloße Formel des Ausspielens verkommt bei Ihnen dann aber zu einer leeren Worthülle. Wenn Sie auch noch für eine erhebliche Verbesserung der sozialen und wirtschaftlichen Situation der bei uns lebenden Flüchtlinge eintreten würden, dann wäre das gut.
— Ja, ich habe mich auch gewundert. Das ist eine andere Argumentation. —
Wenn Sie das nicht tun, dann befürworten auch Sie ein Zweiklassensystem von Flüchtlingen, denn Sie unterscheiden zwischen denen mit und denen ohne Gütesiegel „Deutschstämmigkeit". Aber eines muß ja klar sein: Wir brauchen überhaupt keine Klassifizierung von Menschen nach ihrer Herkunft. Wir brauchen keine Sondergesetze und -rechte, sondern wir brauchen gleiche Rechte und Lebensbedingungen für alle.
Das Wort hat der Abgeordnete Lüder.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Noch vor einem Jahr wäre eine solche Debatte hier in diesem Hause weder möglich noch notwendig gewesen. Wir alle hatten uns daran gewöhnt, daß die Zahlen der Aussiedler, die aus den osteuropäischen Ländern und dort aus den deutschen Siedlungsgebieten zu uns kamen, sich in überschaubaren Größenordnungen hielten. Wir hatten uns daran gewöhnt, die zu uns Kommenden hier freundlich zu begrüßen. Ein Problem mit der Integration, ein Problem mit der Wohnungsbeschaffung, ein Problem mit der Arbeitsbeschaffung, ein Problem mit dem Erlernen oder Wiedererlernen unserer Sprache gab es nicht. Die Zuwanderung der kleinen Zahl gab allen, ohne besondere Probleme aufzuwerfen, Gelegenheit, humanitäres Engagement zu demonstrieren.
Erst als im Frühjahr dieses Jahres — der Kollege Gerster hat daran erinnert — die Zahlen anwuchsen, als die Aufnahmekapazitäten überfordert wurden, als
die eingerichteten Sprachkurse nicht mehr reichten, als die vielen ehrenamtlichen Helfer die Grenze ihrer nahezu grenzenlosen Einsatzbereitschaft erreichten, entstand das, was „Aussiedlerproblematik" heißt.
Mit Dankbarkeit haben wir Freien Demokraten zur Kenntnis genommen, daß die Bundesregierung insbesondere durch den Einsatz des Bundeskanzlers unmittelbar nach der Sommerpause — eigentlich noch in der Sommerpause — das Kabinett dazu brachte, ein Sonderprogramm für Aussiedler zu beschließen.
Die Verwaltung legte Tempo vor. Die meisten Verwaltungen beherzigten das Tempo auch. Ich will aber nicht verhehlen, daß die langsamere Gangart beim Wohnungsbauprogramm meine Zustimmung nicht finden kann.
Als dann im Herbst dieses Jahres die politischen Diskussionen um die sogenannte Aussiedlerfrage geführt wurden, zeigte sich, daß eine Bundestagsdebatte notwendig wurde. Die Grundlagen dazu liefert der von den Koalitionsfraktionen eingebrachte Antrag. Es ist notwendig, daß sich das deutsche Parlament in einer umfassenden Resolution detailliert zur Aussiedlerthematik äußert.
Wir müssen und wollen allen denen eine deutliche Absage erteilen, die mit der Vermengung von Aussiedlerfragen, Ausländerthemen und Asylproblematik eine Fremdendiskussion führen wollen, die die eine Gruppe der Hilfsbedürftigen, z. B. die wirklich Verfolgten unter den Asylbewerbern, gegen die Aussiedler zu wägen suchen und dabei zugleich Ressentiments gegen die Ausländer in Kauf nehmen.
Dieser Stil politischer Auseinandersetzung wird von uns entschieden und mit Nachdruck kritisiert. In gleicher Weise kritisieren wir aber auch den Versuch, über Begriffe wie Deutschtümelei eine Nationalismusdiskussion in unser Land zu tragen.
Politik für Aussiedler ist keine Frage des Nationalismus. Hier sind nicht politische Grundwerte des letzten Jahrhunderts gefragt — auch Frau Olms wird das vielleicht noch lernen —,
hier steht nicht Deutschlandpolitik zur Debatte, vielmehr geht es hier einzig und allein um Menschen. Ich füge hinzu: Hier geht es auch um unser Verhältnis zur Kultur.
Wen es verwundert, daß ich unser Verhältnis zur Kultur hier so besonders herausstelle, den möchte ich an folgendes erinnern: Jeder Mensch braucht eine kulturelle Identität, kulturelle Bezugspunkte. Jeder Mensch ist eingebunden in die Geschichte seines Volkes, seiner Nation, seiner Sprache, seiner Kultur, und niemand kann sich daraus lösen.
Wenn sich einige dessen nicht bewußt sind, so liegt das nicht daran, daß diese Aussage falsch wäre, sondern allein daran, daß die Bequemlichkeit beim Nach-
8296 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 114. Sitzung. Bonn, Freitag, den 2. Dezember 1988
Lüder
denken immer auch mit der Gefahr des Verlustes kultureller Werte verbunden ist.
Meine Damen und Herren, ich habe in hohem Maße Respekt vor den Aussiedlern, die ihre kulturelle Identität im Engagement für unser Land, unsere Sprache und unsere Kultur suchen. Es geht um Menschenrechte, es geht nicht um nationale Vorurteile.
Die Ziele unserer Politik für Aussiedler sind gleichberechtigt und gleichermaßen auf die deutschen Volks- und Staatsangehörigen in den Aussiedlungsgebieten bezogen, die dort bleiben wollen, wie auf die Aussiedler, die zu uns kommen.
Wir haben in dem Koalitionsantrag bewußt und mit Nachdruck verankert, daß wir nicht eine Politik betreiben oder betreiben wollen, die mancher mit Abwerbung mißinterpretieren könnte.
Nein, unsere Politik ist — wir sind dankbar, daß das Auswärtige Amt in der konkreten Realisierung auch stets darauf hinwirkt — , die Verhältnisse in den Aussiedlungsgebieten so zu prägen, zu gestalten, daß die Deutschen auch dort bleiben können und dort ein Leben in Wahrung der Menschenrechte führen können.
Wir wollen auch, daß die Deutschen in den Siedlungsgebieten ihre kulturelle Identität wahren können.
So, wie wir in der Ausländerpolitik hier bei uns begrüßen, daß Ausländer, die seit langem bei uns leben und auch noch lange bei uns leben wollen, ihre nationale und kulturelle Identität nicht aufzugeben brauchen und trotzdem integriert werden dürfen, so wollen wir dies auch für die Menschen, die seit langem, zum Teil seit Generationen, in Aussiedlungsgebieten leben. Wir wollen, daß auch sie in den Siedlungsgebieten integriert bleiben können und trotzdem ihre kulturelle Identität und ihre Menschenrechte wahren können. Deswegen sage ich: Hier geht es nicht um nationale Fragen; hier geht es um Menschenrechte.
Genauso geht es aber um Menschenrechte, wenn wir den Entschluß derer respektieren und zu respektieren haben, die zu uns kommen wollen. Hier darf kein Oberbürgermeister irgendeiner deutschen Stadt hinterfragen, ob dieser Entschluß gerechtfertigt ist oder nicht.
Hier darf kein Politiker irgendeiner Partei hinterfragen, ob diesem Menschen Freizügigkeit zusteht oder ob er den Zuteilungsbürokratien der deutschen Behörden ausgeliefert werden soll. Nein, jeder Aussiedler, der zu uns kommen will — und nur an seinen Willen und an seinen Entschluß ist dieses Recht gebunden — , hat einen Anspruch auf die volle Wahrnehmung seiner Grundrechte.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Vosen? —
Herr Kollege Lüder, würden Sie akzeptieren,
daß ein Bürgermeister oder Oberbürgermeister — ich bin einer — fragen darf, wie denn den Kommunen optimal geholfen werden kann, und meinen Sie nicht, daß es zur Zeit noch so ist, daß außer in bezug auf den Wohnungsbau die Kommunen im großen und ganzen mit dem Problem auch finanziell und materiell allein gelassen werden?
Diese Frage möchte ich als Bürgermeister und als Mitglied des Deutschen Bundestages hier stellen. Ich könnte es erläutern. Es sind Millionenausgaben erforderlich, vor denen die Kommunen zur Zeit alleine stehen.
Herr Kollege, zu den zwei Fragen, die Sie gestellt haben, gebe ich zwei Antworten. Das eine ist: Die Kommunen werden nicht alleingelassen.
Wer das Aussiedlerprogramm gelesen hat und wer die Etatdebatten hier verfolgt hat, der hat gesehen, was wir erhöht haben und was wir an zusätzlichen Ausgaben bewilligt haben.
— Aber Sie können doch dann nicht sagen, daß sie alleingelassen seien, wenn wir hier Anstrengungen unternommen haben.
Zum zweiten werden wir später in den Ausschüssen den Antrag beraten und auf die Frage, wie wir miteinander die Lasten, die im finanziellen Bereich selbstverständlich entstehen, untereinander aufteilen, noch detaillierter eingehen müssen.
Zur zweiten Frage nach den Oberbürgermeistern: Kein Oberbürgermeister hat das Recht, das Grundrecht auf Freizügigkeit dadurch einzuschränken, daß er hinterfragt, ob man nicht die Aussiedler irgendwo zuteilen darf.
Wer dies tut, der macht einen zu schmalen Einstieg in das Denken, um das einmal hannoversch auszudrükken.
Meine Damen und Herren, ich möchte aber noch eines hinzufügen: Wir lassen uns auch durch einen früheren Verfassungsgerichtspräsidenten nicht darin irre machen, daß unser Weg der einzig human akzeptable ist. Wenn wir dies sagen, dürfen wir aber auch den in der letzten Zeit zunehmend verbreiteten Disput, wie wir ihn eben auch geführt haben, um Finanzierung, Kosten, Kostenverteilung, Kompetenzen, Planstellen und anderes bitte nicht auf den Rücken
Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 114. Sitzung. Bonn, Freitag, den 2. Dezember 1988 8297
Lüder
der Aussiedler austragen. Das müssen wir zwischen unseren staatlichen Gremien machen, das müssen wir auch in den Ausschußberatungen erörtern, aber nicht zu Lasten und auf dem Rücken der Aussiedler.
Meine Damen und Herren, wir werden in den Ausschußberatungen die einzelnen Problemfelder unserer Staats- und Kommunalpolitik, in denen es klemmt, detailliert aufgreifen müssen, wenn die Forderung nach schneller und unbürokratischer Hilfe für Aussiedler umgesetzt werden soll. Wir brauchen mehr Wohnraum durch das Sonderprogramm der Bundesregierung.
Ich bin auch dankbar für die Äußerung des Kollegen Gerster, daß wir nämlich überprüfen müssen, ob wir, wenn die Zahlen und die Bedürfnisse größer werden, noch mehr tun müssen.
Aber es muß gelten, daß neben dem Neubau auch eine Förderung des Ausbaus und der Modernisierung von Wohnraum stattfindet und daß keine zusätzliche Subventionierung der großen Wohnungsbauunternehmer auf dem Umweg über die Aussiedlerpolitik erfolgt. Wir wollen auch die Prüfung der Frage steuerlicher Vergünstigungen als Anreize für private Bauherren nach wie vor offenhalten und erwarten dazu immer noch eine Stellungnahme der Bundesregierung, die seit September angekündigt war.
Wir wollen, daß die Länder und vor allem die Kommunen an den Aufgaben beteiligt werden, die diese eigenverantwortlich und besser als der Bund lösen können. Das heißt aber nicht, daß die Alleinfinanzierung bei Kommunen oder Ländern liegen darf. Hier muß man zu einem gerechten Weg kommen.
Meine Damen und Herren, wir brauchen wohl auch ein Überdenken der Praxis der Sprachkurse der Bundesanstalt für Arbeit. Mehr Flexibilität und mehr Individualität im Angebot scheinen mir hier notwendig zu sein.
Wir können nicht nur mit dem leben, was als quantitative Fortschreibung bisheriger Programme gesagt und geschrieben worden ist. Hier ist neues Nachdenken und mehr erforderlich.
Das gesamte Thema wird uns noch lange beschäftigen. Die Aussiedlerthematik bleibt noch eine längere Zeit auf der Tagesordnung. Wir müssen uns aber auch bei der kleinsten Bürokratieproblematik bewußt bleiben, daß Aussiedlerpolitik Menschenrechtspolitik ist, und die Menschenrechtspolitik gilt umfassend.
Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär im Bundesministerium des Innern, Herr Waffenschmidt.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Eine grundsätzliche Bemerkung vorweg. Die Aussiedler sind Deutsche. Für sie haben wir eine besondere Verantwortung. Ich denke, wir sollten uns eigentlich alle über eines klar werden — das sollten wir wenigstens anstreben; das will ich nach manchem, was hier ausgesprochen wurde, sagen — : Es ist das natürlichste Recht in jedem Volk der Welt, daß man sich in besonderer Weise für die Menschen aus dem eigenen Volk verantwortlich weiß.
Ich glaube, das schmälert überhaupt nicht die Notwendigkeit des Einsatzes für andere Menschen, die hilfsbedürftig sind.
Wir sollten uns einmal ein paar Sekunden lang vorstellen, wie die Abgeordneten im französischen Parlament, im englischen Parlament oder in einem anderen Land, das mit uns zusammenarbeitet, diese Aufgabenstellung, die wir hier diskutieren, sehen würden. Für sie wäre es ohne Zweifel die Hauptaufgabe, ohne eine Sekunde weiter darüber nachzudenken, den Kollegen, den Menschen, den Zugehörigen aus dem eigenen Volk zu helfen. Ich finde, das ist die besondere Verantwortung, die man aus gemeinsamer Geschichte, aus gemeinsamer Tradition, aus gemeinsamer kultureller Tradition hat.
Herr Staatssekretär, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Sielaff?
Bitte schön, gern.
Bitte schön, Herr Sielaff.
Herr Staatssekretär, würden Sie aber auch sagen, daß es notwendig ist, daß wir gerade aus unserer deutschen Geschichte heraus und wegen der Rolle, die die deutschen Minderheiten in Osteuropa gespielt haben, sehr sensibel an dieses Thema herangehen müssen und nicht den Eindruck erwecken dürfen, als hätten wir die Obhutsplficht für alle, die innenpolitisch Schwierigkeiten haben?
Ich kann dem grundsätzlich ganz deutlich zustimmen. Ich will gleich anfügen, wie es Kollege Gerster und Kollege Lüder schon gesagt haben: Wir betreiben keine Volkstumspolitik. Wir rufen nicht dazu auf: Verlaßt eure heutigen Wohnsitze und kommt zu uns!
Wenn aber viele Deutsche aus vielerlei Gründen diese Entscheidung getroffen haben, ist es auf Grund der Verfassung und auf Grund der Gesetze Pflicht — ich denke, es ist auch unsere moralische Verpflichtung — , diesen Menschen mit allen Möglichkeiten, die wir haben, zu helfen.
Damit ist die Grundsatzfrage angesprochen. Ich wende mich nun den aktuellen Aufgaben zu, die von der Bundesregierung angegangen wurden und die wir weiterhin angehen wollen. Die Bundesregierung hat das Sonderprogramm beschlossen. Ich möchte auch gerade dem Kollegen Vosen als Bürgermeister sagen: Es lohnt sich, Herr Kollege Vosen, im Sonderprogramm zu lesen, was alles für die Menschen geschieht, die gerade in den Kommunen Aufnahme fin-
8298 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 114. Sitzung. Bonn, Freitag, den 2. Dezember 1988
Parl. Staatssekretär Dr. Waffenschmidt
den. Es werden Hunderte von Millionen für die Sprachförderung und damit auch für den Unterhalt der Menschen, die beispielsweise auch in Düren, Ihrer Stadt, leben, ausgegeben. Sie werden nicht in die Sozialhilfe geschickt, sondern auf Bundesebene werden wahrscheinlich im nächsten Jahr sogar rund 1 Milliarde DM zur Verfügung gestellt.
— Ich führe das erst einmal aus, Herr Präsident. Ich möchte jetzt keine Zwischenfrage zulassen.
Ich möchte hier ganz deutlich die Frage des Wohnungsbaus ansprechen, weil die Unterbringung eine ganz entscheidende Aufgabe für Bund, Länder und Kommunen ist. In erster Linie sind hier Länder und Kommunen zuständig. Eines müssen wir klar feststellen, damit wir vor aller Öffentlichkeit die Orientierungspunkte herausstellen. Die Bundesregierung hat zusammen mit dem Sonderprogramm bereits einen Bewilligungsrahmen von 1,1 Milliarden DM für den Wohnungsbau bereitgestellt.
— Weil Sie noch nichts gesehen haben, will ich Ihnen jetzt einmal sagen, wie Sie als Sozialdemokraten prima helfen können, daß Sie es bald sehen.
Seit Wochen hat der Bundesbauminister Oscar Schneider den Ländern die Verwaltungsvereinbarung angeboten, die die Grundlage ist, damit die Mittel fließen können. Bis heute haben gerade auch sozialdemokratische Länder noch nicht zugestimmt. Dadurch konnte das noch nicht laufen. Wenn Sie also helfen wollen, gehen Sie zum Beispiel zu Ihren Parteikollegen nach Hamburg, die noch heute das Unterschreiben der Vereinbarung aufhalten. Also nicht hier sagen: „Es läuft nicht schnell genug" und bei Ihrer Verantwortlichkeit in den Ländern das Abschließen und Laufen der Vereinbarung behindern. Das paßt nicht zusammen. Sie haben die konkrete Aufgabe, hier den Abfluß der Mittel zu gewährleisten.
— Meine Damen und Herren, jetzt will ich Ihnen noch etwas sagen. Hören Sie mal zu. Hier werden viele Geisterschlachten geschlagen. Ich kenne die Dinge als Kommunalpolitiker sehr gut.
Ich habe mich als Bundesbeauftragter dafür eingesetzt, daß wir am 12. Oktober dieses Jahres — hören Sie mal gut zu — im Kabinett beschlossen haben: Ab heute kann in jeder Stadt und jeder Gemeinde Deutschlands zu Lasten der Bundeshilfen bereits gebaut werden. Das war die generelle Genehmigung zum vorzeitigen Baubeginn. Weil es sich offenbar noch nicht herumgesprochen hat, sage ich es heute hier noch einmal. Das weiß jeder Kommunalpolitiker, daß das wichtig ist, daß, wenn er anfängt, die Mittel nicht verlorengehen. Das ist also ganz deutlich und klar herausgestellt worden.
Nun haben wir auch noch ein weiteres gesagt, weil die vorläufige Unterbringung so wichtig ist. Wir haben uns als Kabinett bereitgefunden zu sagen: Ihr Länder und Kommunen könnt auch Sozialwohnungen bauen und diese im Wege der Dichtbesetzung, wie
das die Fachleute nennen, auch für die einstweilige Unterbringung in Anspruch nehmen. Und dann haben wir noch das Programm der Kreditanstalt für Wiederaufbau bereitgestellt und in größerem Umfang mietfrei auch Bundesliegenschaften angeboten. Also der Bund hat mit einer Fülle von Maßnahmen hier den Ländern Angebote gemacht. Ich bin sehr dankbar für das, was auch der Kollege Gerster hier gesagt hat. Das entspricht genau dem, was der Bundeskanzler festgelegt hat: Wenn der Zustrom weiter anhält, werden wir 1989 schon in den ersten Monaten darüber im Kabinett beraten, wie das Programm für den Wohnungsbau noch weiter aufgestockt werden kann.
Aber jetzt muß man doch einmal sagen: 1,1 Milliarden stehen doch schon zur Verfügung. Da laßt uns doch weiß Gott mal anfangen zu bauen und die 1,1 Milliarden schon mal verbauen, dann wird das weitere Geld auch kommen, meine Damen und Herren.
Dann möchte ich den nächsten Punkt anschneiden, das ist die Sprachförderung, weil mir das sehr wichtig ist. Wir haben die Sprachförderungsmittel erheblich erhöht, aber, meine lieben Freunde, meine Damen und Herren, ich will uns mal allen hier ins Gedächtnis rufen, daß wir eine Aufgabe haben, den Einsatz für die Eingliederung am Arbeitsplatz, für die Eingliederung in der Sprachförderung auch sehr flexibel und beweglich vorzunehmen. Darum haben wir mit dem Präsidenten der Bundesanstalt für Arbeit das Programm „Lerne und arbeite" auf den Weg gebracht.
— Ja, wenn Sie noch sagen „Ora et labora" habe ich nichts dagegen. „Bete und arbeite" gehört nach meiner Auffassung ganz gut auch in den Bereich mit hinein.
Also, meine Damen und Herren, was ich gerne möchte, ist dies — und ich spreche hier auch einen Appell aus — , daß alle Verantwortlichen vor Ort das aufnehmen. Wenn Aussiedler kommen und einen Arbeitsplatz finden, halte ich es nicht für gut, daß man sagt: Auch wenn du einen Arbeitsplatz hast, du mußt auf Gedeih und Verderb auf jeden Fall in die Sprachschule, egal, ob du schon was kannst oder mittelprächtig viel oder gar nichts kannst. Man muß hier mit Phantasie arbeiten. Ich rufe die Arbeitsämter und die Verantwortlichen in der Wirtschaft und auch die Sozialbetreuer auf, doch alles zu tun, daß wir berufsbegleitend diese Sprachförderung anbieten und damit den Menschen zu einer alsbaldigen Eingliederung auch schon in die Arbeitswelt helfen. Das halte ich aus vielen Gründen für ganz, ganz wichtig. Dabei sollten wir alle helfen.
Meine Damen und Herren, jetzt will ich an dieser Stelle auch ein ganz herzliches Wort des Dankes dem deutschen Handwerk sagen, der deutschen Bauwirtschaft, dem Hotel- und Gaststättengewerbe, die in den letzten Wochen Zehntausende von Arbeitsplätzen angeboten und gesagt haben: Wir wollen zum Teil sogar noch Unterbringungsmöglichkeiten bereitstellen. Nun sollte doch kein Hindernis bestehen, und man sollte über Informationsbörsen, die wir vorgeschlagen haben, das auch bekanntmachen, damit die
Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 114. Sitzung. Bonn, Freitag, den 2. Dezember 1988 8299
Parl. Staatssekretär Dr. Waffenschmidt
Aussiedler, die zu uns kommen, auch diese Angebote unbürokratisch und schnell wahrnehmen können. Dann ist viel geholfen, meine Damen und Herren.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Herr Staatssekretär, Sie sprachen davon, daß sich die Sozialarbeiter und die Betreuter doch bemühen sollten, diesen Menschen zu helfen. Ich frage Sie: Auf wie viele hundert Aussiedler, glauben Sie, müßte ein solcher Betreuer — Sozialarbeiter, Sozialtherapeut — kommen, und wer bezahlt die? Und ich frage Sie weiter: Wer bezahlt denn bei der Unterbringung in Übergangsheimen die Differenz zwischen den Zuschüssen und den Realisierungskosten der Bauprojekte?
Herr Kollege, ich lade Sie noch einmal ein, das Sonderprogramm zu lesen. Denn in dem Sonderprogramm steht zum Beispiel eine beachtliche Position. Sie wird vom Bundesfamilienministerium verwaltet. Da werden erhebliche Millionenbeträge über die Caritas, die Arbeiterwohlfahrt, die Diakonischen Werke bereitgestellt, damit man solche Betreuer anstellen kann.
— Ich sage Ihnen ganz deutlich: Das ist in erster Linie für die sozialen Verbände. Ich gehe davon aus, daß es auch bei Ihnen in Düren Caritas, Innere Mission und Arbeiterwohlfahrt gibt.
Ich sage hier ein ganz herzliches Wort des Dankes. Diese Verbände waren bei mir. Die Caritas hat gesagt: Wir haben unsere Mitarbeiter in dem Bereich verdoppelt. Das Diakonische Werk tut Ähnliches. Das Rote Kreuz tut eine Menge. Und es gibt viele andere mehr. Also die machen das, und die Mittel dafür stehen zur Verfügung.
Lassen Sie mich einen letzten Gedanken aussprechen. Wir haben bewußt Wert darauf gelegt, die Wohnungsbaumittel, die wir von der Bundesebene aus bereitstellen, als zusätzliche Mittel bereitzustellen. Ich bin dem Kollegen Gerster sehr dankbar, daß er auch diesen Punkt aufgegriffen hat. Es ist ganz wichtig: Wenn die junge Familie, die schon lange auf Wohnungsbaumittel wartet, zum Wohnungsbauförderungsamt kommt, dann soll sie nicht hören: Du mußt noch zurückstehen, weil erst für die Aussiedler gebaut wird. Vielmehr geben wir vom Bund aus die Mittel zusätzlich. Ich kann alle Länder nur auffordern, diese Mittel ebenfalls zusätzlich zur Verfügung zu stellen, damit hier nicht eine falsche Konkurrenzsituation entsteht.
Zusammenfassend darf ich Ihnen auch auf Grund vieler Verhandlungen, die ich in den letzten Wochen geführt habe, sagen: Wir als Bundesregierung werden das Notwendige tun, das hier ja auch von den Sprechern der Koalitionsparteien unterstützt wird. Ich hoffe, wir können auch die anderen gewinnen. Und
nach dem Gespräch mit den Landesbeauftragten möchte ich Ihnen sagen: Auch in den Ländern und Kommunen, bei den Kirchen und den sozialen Verbänden geschieht eine Menge.
Ich meine, wir sind durchaus in der Lage, eine große Gemeinschaftsleistung gemeinsam zu vollbringen. Dazu lade ich heute alle herzlich ein.
Vielen Dank.
Die Abgeordnete Frau Hämmerle ist die nächste, die das Wort bekommt.
— Bitte; es steht Ihnen frei. Herr Sielaff ist der nächste Redner. Bei mir steht es umgekehrt. Aber ich richte mich gern nach Ihnen, wann immer es möglich ist.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Hennig, dafür, daß Sie jetzt nervös werden, habe ich Verständnis. Denn Sie machen eine einseitige, verfehlte Politik allein für den BDV. Bevor überhaupt jemand hier etwas gesagt hat, kommen Ihre wirklich nicht allzu intelligenten Zwischenrufe.
— Ich habe genau zugehört und auch zugeschaut.
Uns muß deutlich sein, daß die Politik für Deutsche oder Deutschstämmige in Ost- oder Südosteuropa von zwei Säulen getragen werden muß.
Die eine Säule ist — darüber haben wir heute einiges gehört — , das Einleben hier zu erleichtern. Dabei darf die Bundesregierung, Herr Waffenschmidt, die Probleme nicht den Verantwortlichen am Ort überlassen. Da ist noch eine Menge Arbeit notwendig. Ich vermute, da sind wir uns im Grunde einig. Meine Kollegin Hämmerle wird dazu nachher einiges sagen.
Die zweite Säule dieser Politik muß das Bleiben in den Ländern Ost- und Südosteuropas ermöglichen und stabilisieren helfen. Diese Säule, Herr Czaja, ist bisher vernachlässigt worden.
Vielleicht sind wir uns darin einig. Ich denke daran, wie Ihr Verband vor fünf, sechs Jahren noch geredet hat.
— Jetzt kommen die Fakten. — Denn dazu gehören eine differenzierte Politik, eine differenzierte Betrachtung der Situation der Deutschen und Deutschstämmigen
8300 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 114. Sitzung. Bonn, Freitag, den 2. Dezember 1988
Sielaff
und auch die Wahrnehmung von positiven Veränderungen und Entwicklungen in Ost- und Südosteuropa. Dazu sind Sie, Herr Czaja, leider nicht in der Lage.
Wer das Bleiben als gleichbedeutende Säule sieht, weiß — und das muß uns auch gegenwärtig sein —, daß jede Aussiedlung Famlien in der Regel nicht nur zusammenführt, sondern Familien auch neu auseinanderreißt.
Wenn wir verantwortliche Politik für diese Menschen betreiben wollen, müssen wir ein realistisches Bild der Situation in der Bundesrepublik Deutschland vermitteln, und dazu gehört eben nicht nur unsere Schokoladenseite hier. Denn sonst droht die Gefahr, daß diese Menschen hier bei uns später isoliert statt integriert werden. Dazu könnte man einige Beispiele anführen.
Presseartikel mit den Überschriften „Endlich zu Hause und doch wieder fremd" oder „Fremde, die nie Heimat wird" oder „Die polnischen Aussiedler fühlen sich bei uns nicht zu Hause" sind ja nicht aus den Fingern einiger Journalisten gesogen, sondern geben die Realität wieder.
Die Enttäuschung in der Bundesrepublik Deutschland ist um so größer, je weniger die Menschen das wirklichkeitsgetreue Bild unseres Landes kennen. — Enttäuschung heißt ja auch: das Ende einer Täuschung, Herr Czaja.
Lassen wir die Menschen im Stich, die als Deutsche in ihrer Heimat, in Ost- und Südosteuropa bleiben wollen, dann, glaube ich, vernachlässigen wir diese zweite Säule der Aussiedlerpolitik.
Je mehr aussiedeln — auch das müssen wir wissen —, um so schwerer wird es denen, die bleiben wollen, das Deutschsein zu ermöglichen, denen zu helfen.
Ich habe eine große Anzahl von Briefen, in denen diese Sorge dramatisch geschildert wird. Ich möchte nur einen Brief von einer Deutschen aus Rumänien zitieren.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie, bevor Sie den zitieren — —
Nein, ich möchte im Zusammenhang bleiben.
Bitte schön, das ist Ihre Entscheidung.
Ich glaube, das ist auch im Interesse des Präsidiums.
Das will ich gerne zugeben.
Ich zitiere:
Wenn man jetzt die Auswanderung irgendwie stoppen könnte, würde das Deutschtum noch gerettet werden. Viele rein deutsche Dörfer sind definitiv verloren. Aber es gibt noch Dörfer, wo sich das Deutschtum erhalten hat und wo noch eine gewisse Gemeinschaft existiert. Dort könnte sich eine neue Gemeinschaft wieder formieren. Aber wir erleben die letzten Stunden unseres Volkes. Für mich
— so die Schreiberin, die Deutsche aus Rumänien —
ist dies sehr deprimierend. Ich weiß nicht, ob Deutschland hier bei uns die richtige Politik führt und nicht mit allen Mitteln die Auflösung unserer Gemeinschaft ... unterstützt.
Weiter heißt es in diesem Brief:
Deutschland müßte froh sein, daß es hier sein altes Kulturvolk besitzt ... Das Ganze hat mit einer Familienzusammenführung begonnen und hat sich zu einer Auswanderung entwickelt; und all dies innerhalb so ganz kurzer Zeit . . .
Ich bin der Meinung,
— so die Schreiberin —
die Bundesrepublik sollte uns mehr helfen, als mit allen legalen und illegalen Mitteln zur Auswanderung anzutreiben. Das Deutschtum in Mitteleuropa müßte erhalten bleiben.
Herr Waffenschmidt, ich habe Ihre Aussage gehört
— ich hoffe, daß es herüberkommt, auch hier aus der rechten Ecke dieses Hauses —,
daß Sie nicht wollen, daß sie alle herkommen. Und wenn wir über die Probleme der Aussiedlung diskutieren, dann müssen auch diese Stimmen ernst genommen werden.
Möglichkeiten, um das Bleiben zu stärken, sollten in unserer Politik intensiver und nachhaltiger bedacht werden. Das Reisen von hier nach dort und umgekehrt muß bewußt unterstützt und ausgeweitet werden; Schulpartnerschaften sollten auf- und ausgebaut werden. Dafür notwendige Mittel müssen bereitgestellt werden.
Meine Damen und Herren, bundesdeutsche Schulreisen führen wohl nach Moskau, Leningrad und Kiew, nicht aber nach Alma Ata, Zelinograd und Frunse, in die Zentren der Deutschen in der Sowjetunion. Hier müssen bewußt Akzente gesetzt und die Möglichkeiten auch genutzt werden.
Wir müssen uns fragen, wie wir der deutschen Literatur, wie wir Büchern und Zeitschriften, geschrieben von Deutschen, die in der Sowjetunion, in Rumänien oder Ungarn leben, auch hier bei uns zu größerer Verbreitung verhelfen können. Die Auflagen könnten dort erhöht werden, wenn es in der Bundesrepublik einen größeren Abnehmerkreis gäbe. Wir könnten
Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 114. Sitzung. Bonn, Freitag, den 2. Dezember 1988 8301
Sielaff
auch die technischen Probleme, z. B. Beschaffung der notwendigen Druckmaterialien, lösen helfen, indem wir mit den amtlichen Stellen verhandeln und eventuelle Finanzhilfen ermöglichen.
Warum, so frage ich, bemühen wir uns nicht, z. B. in Alma Ata herausgegebene deutschsprachige kasachische oder kirgisische Märchenbücher in unseren Bibliotheken einem breiten bundesdeutschen Interessentenkreis zur Verfügung zu stellen?
Wieso, so frage ich, liegen in der Bundesrepublik nirgendwo deutsche Zeitungen aus Ost- und Südosteuropa aus, während das üble Blatt „Der Schlesier" in allen Heimatstuben ausliegt? Ist es ein Mangel an Phantasie, oder ist dies politische Absicht, weil bei uns nicht das verzerrte Bild über die Situation der Deutschen in jenen Ländern gestört werden soll?
Wir könnten in unseren Büchereien und Bibliotheken Geschichtsbücher anbieten, die die Geschichte der Deutschen in den ost- und südosteuropäischen Ländern vermitteln, aufgeschrieben von dort lebenden Historikern deutscher Abstammung. Wir könnten damit auch den interessierten Menschen bei uns in der Bundesrepublik Deutschland Zugang zu diesen Quellen verschaffen und auf der anderen Seite den Fortbestand solcher Veröffentlichungen sichern. Statt dessen werden wenig hilfreiche sogenannte historische Werke aus einer bestimmten Richtung des BdV hier gefördert und die anderen vernachlässigt.
Fast wie bestellt, Herr Jäger, hatte ich gestern in der Post einen Brief mit folgendem Inhalt: In Rumänien erscheint ein kleiner Band — ich habe ihn hier in der Hand — in einem deutschsprachigen Verlag. Es ist eine Biographie über einen der führenden Köpfe der Banater Arbeiterbewegung. Würden nur 500 Exemplare von uns gekauft, dann würde diese Bestellung eine neue Auflage in einer Höhe sichern, die auch zu einer Weiterverbreitung innerhalb der Deutschstämmigen in Rumänien führen würde. Herr Hennig und Herr Waffenschmidt, vielleicht sind Sie bereit, hier zu helfen.
Ich könnte viele andere Beispiele nennen, wo man dort wirklich helfen könnte und wo eine Unterstützung hilfreich wäre.
Herr Gester, das sind konkrete Möglichkeiten, Deutschen in Rumänien und in anderen Ländern, die dort bleiben wollen, zu helfen
und ihre Kultur dort zu erhalten.
— Da hilft, Herr Czaja, Ihr Zwischenrufen und Schreien überhaupt nichts.
Wäre nicht ein Teil der im Haushaltsplan ausgewiesenen 17 Millionen DM zur Pflege der ostdeutschen Kultur sinnvoll auch in solchen Bereichen eingesetzt?
— Herr Gerster, daß Sie nicht sachlich bleiben können und hier so engstirnig sind, wissen wir. Sie reden ja nur mit Scheuklappen und haben keine Ahnung,
was die Deutschen in Kasachstan, in Kirgisien oder sonstwo wollen. Sie waren noch nie da. Informieren Sie sich doch! Kommen Sie bei einer Reise einmal mit und unterhalten sich mit diesen Leuten.
Zur Situation der Deutschen in der Sowjetunion gehört dann — das sage ich genauso deutlich — auch die Diskussion über eine autonome Republik oder ersatzweise die Bildung von nationalen Einheiten in bestimmten Regionen oder von kommunalen Einheiten.
Lassen Sie mich eines abschließend sagen. Im Antrag der Koalition heißt es:
Kein Deutscher in diesen Gebieten wird aufgefordert, in die Bundesrepublik Deutschland zu kommen.
Ich habe es gehört, Herr Waffenschmidt; Sie haben es wiederholt. Ich meine, das ist eine gute Aussage. Wir sollten das aber auch durch konkrete Taten deutlich machen.
Im Koalitionsantrag steht aber auch die These:
Bei den Aussiedlern handelt es sich in der großen Mehrzahl um gut ausgebildete jüngere Menschen. 1987 waren rund 90 % aller Aussiedler Jugendliche oder Erwachsene im arbeitsfähigen Alter
Solche Aussagen können in Ost- und Südosteuropa den Eindruck erwecken, daß die Bundesregierung diese Menschen zur Konsolidierung ihres eigenen brüchigen Systems der sozialen Sicherung braucht. Das sollten wir vermeiden. Hier sollten wir deutlich widersprechen.
Ich komme zum Schluß. Alle unsere Hilfe darf nicht dazu führen, andere Nationalitäten zu benachteiligen, sondern es geht darum, ein Defizit aus der Vergangenheit auszugleichen. Hier sind wir uns einig. Niemand will denen Hilfe verweigern, die zu uns kommen. Es darf aber nicht der Eindruck entstehen, daß andere unterstützungswürdige Gruppen bei uns über die Aussiedlerpolitik in Vergessenheit geraten. Denn
8302 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 114. Sitzung. Bonn, Freitag, den 2. Dezember 1988
Sielaff
das würde letztlich auch zu Lasten der Aussiedler gehen, meine Damen und Herren.
— Herr Gerster, auf Ihre Bewertung lege ich keinen Wert.
Das Wort hat der Abgeordnete Schulze.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich möchte zunächst einmal sagen, daß ich diese Thematik, die wir heute hier behandeln, als am allerwenigsten für eine parteipolitisch und polemisch geführte Auseinandersetzung geeignet halte. Das richtet sich insbesondere an die SPD.
— Ich befasse mich jetzt nicht mit Zwischenrufen, sondern mit Ihrer Rede, und die ist für die Menschen, denen wir helfen wollen, nicht sehr hilfreich gewesen.
Meine Damen und Herren, die beiden Anträge, die wir heute in erster Lesung beraten, zeigen Übereinstimmung zumindest in dem Bestreben, möglichst effektive und schnelle Hilfen bei der Integration unserer deutschen Landsleute in unsere Gesellschaft zu erzielen. Besonders bei dieser deutschen Problematik sollten sich alle Parteien weiterhin darum bemühen, mit möglichst weitgehender Gemeinsamkeit nicht nur Programme zu entwickeln, die gute Voraussetzungen für eine erfolgreiche Eingliederung garantieren, sondern vielmehr auch unseren Mitbürgern klarzumachen, daß jene Deutschen, die als Deutsche zu uns kommen, einen moralischen Anspruch darauf haben, bei uns zu leben, und dabei unsere ganze Unterstützung verdienen, so, wie es von uns und von der Bundesregierung auch praktiziert wird.
Schon im Oktober 1986 hat der Deutsche Bundestag mit den Stimmen aller Parteien festgestellt, daß die Aufnahme und Eingliederung von Übersiedlern aus der DDR Gelegenheit gibt, die Gemeinsamkeit und Solidarität der Deutschen zu beweisen. Meine Damen und Herren, ich halte die zum Teil aus parteipolitischen Gründen unsachlich geführte Diskussion, leider, wie wir hier heute feststellen müssen, teilweise auch in diesem Hause, aber auch in Landesparlamenten und in Medien,
die Diskussion über die Aussiedler, die Übersiedler und die ausländischen Staatsbürger, die Sie mit einbeziehen, die hilfesuchend in unser Land kommen, nicht nur für die Betroffenen, gelinde gesagt, nicht für sonderlich hilfreich. Bislang hat sie nur den wenigen, aber immer noch zu vielen Menschen hier genutzt, die aus egoistischen und politisch durchschaubaren
Gründen jeglichen Zuzug anderer Menschen in unseren Staat verhindern möchten.
Meine Damen und Herren, bei allen möglichen Gelegenheiten wiederholen wir, sicher zu Recht, daß wir ein Staat mit großem kulturellem Erbe sind, und zählen auf, wer alles an großen Denkern und Philosophen ein Deutscher ist. Wir sind stolz darauf. Doch darin kann sich — in dieser Richtung ist auch vom Kollegen Lüder schon etwas gesagt worden — Kultur nicht erschöpfen. Kultur ist die Summe moralischer und ethischer Erfahrungen und Werte, die Maßstab und Raster für unser Handeln besonders im Umgang mit unseren Mitmenschen sein sollten. Unter diesem Gesichtspunkt muß es für uns die vorrangigste Aufgabe sein, zu überlegen, wie man all diesen Deutschen, die zu uns kommen, möglichst schnell und erfolgreich helfen kann.
Es genügt sicher auch nicht, daß wir wissen, daß eine große Anzahl von Aussiedlern unverschuldet Schwierigkeiten mit der deutschen Sprache hat und daß wir deshalb Sprachkurse einrichten und fördern müssen. Auch dazu ist hier schon etwas gesagt worden.
Wir müssen vor allen Dingen auch unsere Bundesregierung, die verdienstvoll in diesem Bereich tätig ist, weiterhin darin unterstützen — dies wird in beiden Anträgen und wiederholt auch von der Bundesregierung betont — , in möglichst eindringlicher Weise bei unseren ost- und südosteuropäischen Nachbarstaaten darauf hinzuwirken, daß die Lebensbedingungen und kulturellen Entfaltungsmöglichkeiten der in den Aussiedlungsgebieten lebenden Deutschen qualitativ so verbessert werden, daß sie ihre Identität auch künftig wahren können.
Meine Damen und Herren, nicht nur für die deutschen Minderheiten in Ost- und Südosteuropa, sondern selbstverständlich auch für unsere Landsleute in Mitteldeutschland muß die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen als Grundlage für ihr künftiges Leben und für den Umgang mit anderen Völkern Europas anerkannt werden. Wenn Deutsche nach diesen Grundsätzen leben können, insbesondere in den Ostblockländern, und in dem erforderlichen Umfang auch als Minderheit respektiert werden, dann gibt es für uns keinen Grund, diese Landsleute aufzufordern, zu uns zu kommen.
Meine Damen und Herren, andererseits ist es auch das erklärte Ziel der CDU/CSU, denjenigen, die aus ihrem persönlichen Empfinden oder wegen unzuträglicher Freiheitseinschränkung und staatlicher Drangsalierung ein Verbleiben in diesen Ländern nicht ertragen können oder auch nur nicht mehr wünschen, so weit und so effektiv wie möglich dabei zu helfen, zu uns zu kommen. Das gilt für alle Aussiedler, genauso wie für alle Übersiedler aus dem Gebiet der DDR und dem östlichen Teil Berlins, die Sie in Ihrem Antrag ja im übrigen auch mit ansprechen.
In diesem Zusammenhang, meine Damen und Herren, möchte ich einige Bemerkungen zur Situation der Übersiedler und Übersiedlerinnen aus der DDR und dem östlichen Teil meiner Heimatstadt Berlin machen: Der Deutsche Bundestag hat in seiner Sitzung am 16. Oktober 1986 die Bundesregierung in einer
Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 114. Sitzung. Bonn, Freitag, den 2. Dezember 1988 8303
Schulze
gemeinsamen Erklärung aufgefordert — hier zitiere ich aus der Drucksache 10/5657 II 3.:
Die Eingliederungshilfen für Aussiedler ... aus den Aussiedlungsgebieten und für Deutsche aus der DDR und Berlin sind so zu harmonisieren, daß Nachteile für die Deutschen aus der DDR in Zukunft vermieden werden. Die Hilfen sollten entsprechend angeglichen werden.
Bis heute bestehen dort noch, ich möchte sagen, einige wenige, aber möglicherweise für die Betroffenen gravierende Unterschiede. Diese sollten bei der Beratung in den zuständigen Ausschüssen besprochen und nach Möglichkeiten einer Angleichung gesucht werden. Damit würden wir, meine ich, einen wichtigen Beitrag zur Gleichbehandlung aller Deutschen, die zu uns kommen, leisten und Diskussionen um Unterschiede verhindern.
Von allen Maßnahmen, die wir für unsere Landsleute verabschieden und planen können, halte ich eine möglichst schnelle Arbeitsaufnahme für die erfolgversprechendste; denn mit dem Tag der Arbeitsaufnahme beginnt der Prozeß der Integration des einzelnen. Nicht alleine mit der Einweisung einer Familie in eine von Staat, Land oder Gemeinde zur Verfügung gestellte Wohnung beginnt die Integration, auch nicht mit dem Erlernen der deutschen Sprache. Diese Maßnahmen sind für mich nur Voraussetzungen für eine Integration in unsere Gesellschaft. Der Arbeitsplatz, meine Damen und Herren, gibt dem einzelnen Aus- oder Übersiedler tatsächlich am ehesten die Chance, im persönlichen Kennenlernen und im alltäglichen Umgehen mit seinen Mitmenschen deren Lebens- und Denkweisen zu lernen. Deshalb müssen wir hier ganz besondere Anstrengungen unternehmen.
Ich verkenne nicht — auch das will ich deutlich sagen — , daß wir mit der Verwirklichung unserer Ziele einige Probleme haben. Wir werden uns alle Mühe geben, bestehende Defizite z. B. in der kurzfristigen Bereitstellung von Wohnungen so schnell wie möglich abzubauen. Ich habe mit Interesse davon gehört, daß der Bundesbeauftragte für Aussiedlerfragen, Dr. Waffenschmidt, kürzlich in Berlin die Anregung gegeben hat, nicht unbedingt benötigte Bundesgrundstücke für solche Bauten, und seien sie zunächst einmal auch in behelfsmäßiger Form, zur Verfügung zu stellen.
Wünschenswert, meine Damen und Herren, wäre es auch, wenn diejenigen Hilfsorganisationen, die mit ihrer verdienstvollen Arbeit wesentlich zur Integration unserer Landsleute beitragen, noch mehr materielle Unterstützung von Bund, Ländern und Gemeinden, aber auch von unseren Bürgern erhielten, damit sie in unbürokratischer Weise den Menschen, denen wir helfen wollen, Beratung zuteil werden lassen können und damit also auch die Voraussetzungen für die Integration schaffen.
Herr Abgeordneter, Ihre Zeit ist überschritten.
Ja, meine Damen und Herren, dann möchte ich die Gelegenheit gerne nur noch dazu benutzen, das zu tun, was Herr Dr. Waffenschmidt bereits gemacht hat, nämlich all denjenigen zu danken, die sich in verdienstvoller Weise — sei es aus der Wirtschaft, sei es aber auch aus den Verbänden heraus — dafür einsetzen, daß den Menschen, die als Deutsche zu uns Deutschen kommen, so schnell wie möglich Hilfe gewährt werden kann. Nichts braucht der Mensch mehr als den Menschen selbst. Dies sollten wir berücksichtigen, wenn wir uns mit der Frage der Eingliederung von Aussiedlern und Übersiedlern befassen.
Schönen Dank.
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Hämmerle.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist erfreulich, aber es ist auch höchste Zeit, daß die Eingliederung der Aussiedler und Übersiedler heute im Plenum des Deutschen Bundestages diskutiert wird. Durch den Zuzug von bisher in diesem Jahr bereits 180 000 Menschen hat diese Problematik — das bestreitet niemand — weiter zugenommen, und es ist nicht zu verkennen, daß die Diskussionen trotz vieler Bemühungen von unterschiedlichster Seite sehr kontrovers geführt werden. Dies liegt, so meine ich, nicht an der Tatsache, daß Aussiedler überhaupt da sind, sondern an der Tatsache des enormen Anstiegs dieser Zahlen, die vor allem die Kommunen vor sehr große Probleme stellen.
Von 1976 bis 1986 gab es einen jährlichen Zustrom von ca. 50 000 bis 80 000 Aussiedlern, und — meine Damen und Herren, seien wir doch einmal ehrlich — damals war das überhaupt kein Thema, denn diese Menschen konnten problemlos integriert werden. Wenn es aber heute schon 180 000 sind, so muß man sehen, daß dieses Problem einfach nicht mehr zu umgehen ist und daß es allerhöchste Zeit geworden ist, daß wir hier in diesem Hohen Hause darüber reden. Vor allem auf Grund der liberalisierten Genehmigungspraxis in der UdSSR und der Volksrepublik Polen ist damit zu rechnen, daß diese Zahlen noch weiterhin ansteigen werden. Ich glaube, dieses Problem wird uns noch eine ganze Weile begleiten.
Natürlich stellt die Integration dieser Menschen die Bundesrepublik vor zahlreiche soziale, wirtschaftliche und auch kulturelle Probleme. Doch es kann für uns kein Zweifel daran bestehen, daß eine moderne und leistungsfähige Gesellschaft wie die unsere diese Aufgaben bewältigen kann.
Das muß möglich sein, ohne daß wir unsere moralischen und verfassungsrechtlichen Pflichten gegenüber politisch verfolgten Ausländerinnen und Ausländern verletzen.
8304 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 114. Sitzung. Bonn, Freitag, den 2. Dezember 1988
Frau Hämmerle
Deshalb ist es unbegründet — und wir sollten eigentlich darin einig sein, daß wir davon Abstand nehmen —, daß wir diese beiden Menschengruppen, die sich beide in einer Ausnahmesituation ihrer persönlichen Lebensverhältnisse befinden, gegeneinander ausspielen.
Allerdings, so glauben wir, muß der gesetzliche und administrative Rahmen durch die Bundesregierung deutlicher gesetzt werden, und es müssen sich vor allen Dingen im finanziellen Bereich die Anstrengungen des Bundes dieser Situation vermehrt anpassen. Unsere Forderungen an die Bundesregierung zur Eingliederung der Betroffenen — ich möchte das einmal mit aller Deutlichkeit sagen — sind Starthilfen,
und sie stellen keine einseitige Bevorzugung von Aussiedlern und Übersiedlern dar. Unsere Forderungen verstärken einerseits die bereits bestehenden Regelungen, z. B. den Garantiefonds und die soziale Sicherung, verlangen aber andererseits neue Regelungen zur Erleichterung der persönlichen Lebenssituation der betroffenen Menschen und zur Verbesserung der immer mehr beengten Lage einiger Länder und zahlreicher Kommunen.
Hier ist das dringendste Problem — das wissen wir alle — die Wohnraumversorgung. Die Lage ist mancherorts derartig dramatisch — Herr Staatssekretär, das wissen Sie —, daß die Menschen bereits in Containern und anderen, ich möchte einmal sagen, dem menschlichen Leben nicht gerade angepaßten Unterkünften eingepfercht sind. Ich glaube, Herr Staatssekretär, wir müssen uns, abgesehen vom Wohnungsbauprogramm, verstärkt Gedanken über die Bewältigung dieser Situation machen. Deswegen fordern wir, daß die Versorgung mit Übergangswohnraum nicht weiterhin nur eine Aufgabe der Länder ist, sondern daß sich der Bund hier verstärkt an den Kosten beteiligt.
Es ist natürlich klar, daß hier zwischen dem Bund und den Ländern noch ein Streitpunkt besteht; darüber sollten wir auch gar nicht hinwegreden. Aber ich bin wirklich zuversichtlich, daß in den Gesprächen zwischen den Ländern und der Bundesregierung Lösungen gefunden werden, weil sie nämlich gefunden werden müssen. Die Situation macht Lösungen unumgänglich.
Zur Gesamtsituation bei der Wohnraumversorgung ist zu sagen — das ist nun, auch für die Öffentlichkeit, ganz wesentlich — , daß der schnell steigende Bedarf an Wohnraum nicht dadurch zustande gekommen ist, daß nun diese vielen Aussiedler und Übersiedler zu uns gekommen sind, sondern dadurch, daß sich die Bundesregierung aus der Förderung des sozialen Wohnungsbaues 1985 bedauerlicherweise ausgeklinkt und dies den Ländern überlassen hat.
Wenn wir nun für alle Zugangsberechtigten im sozialen Wohnungsbau — nicht nur für die Aussiedler und Übersiedler — Wohnraum brauchen dann ist unsere Forderung: Es muß ein Wohnungsbauprogramm geschaffen werden, nicht nur für Aussiedler und Übersiedler, sondern für alle Zugangsberechtigten, die ich hier jetzt nicht im einzelnen aufzählen muß.
Da, Herr Staatssekretär Waffenschmidt, sieht es im Moment für uns doch so aus, daß die 750 Millionen DM, die Sie im Sonderprogramm eingeplant haben, nicht ausreichen; wir werden uns im Ausschuß darüber unterhalten müssen. Auf Grund einer Schätzung der Bundesländer sagen wir: Wir müssen eine Förderung von 1,1 Milliarden DM jährlich auf jeden Fall einplanen, um dieser Situation gerecht zu werden, wobei ich glaube, daß diese Summe noch ansteigen wird.
Zur Integration gehört aber nicht nur eine menschenwürdige Wohnung, sondern auch die Beherrschung der Sprache und die Ausübung eines Berufs. Deshalb sind zwei unserer Forderungen so formuliert: die Erweiterung der Sprachkurse von zehn auf zwölf Monate und die Verlängerung der Förderungsdauer für die Berufsausbildung von 36 auf 48 Monate. Beides, meine Damen und Herren — der Herr Kollege Czaja weiß das ganz genau — , sind keine sozialdemokratischen Erfindungen, sondern die Forderungen der Ministerpräsidenten der Länder, die sie einstimmig bereits 1985 vorgetragen haben.
Bei der Sprachförderung ist z. B. zu sagen, daß sie im Augenblick von der Bundesanstalt für Arbeit geleistet wird. Meine Damen und Herren, wir wissen sehr wohl, daß eine Forderung nach Erweiterung daher auch die Bundesanstalt für Arbeit belastet. Wir sagen in unserem Antrag: Die Bundesanstalt muß so schnell wie möglich finanziell und personell in die Lage versetzt werden, diese Aufgaben zu bewältigen,
auf die sie gar nicht eingestellt ist und auch gar nicht eingestellt sein kann. Dies ist überhaupt kein Vorwurf an die dort Beschäftigten und Verantwortlichen.
Weitere Vorschläge der SPD-Fraktion möchte ich hier nur noch stichpunktartig anführen. Es geht uns vor allen Dingen auch um die Kinderbetreuung und um die Sicherung bei Arbeitslosigkeit. Ich danke Ihnen sehr, Herr Kollege Schulze, daß Sie die Eingliederung der Übersiedler aus der DDR angesprochen haben. Dies ist im Papier der Koalition nicht deutlich ausgedrückt. Ich bin zuversichtlich, daß wir in den Beratungen im Innenausschuß einzelne Punkte sachlich und sachgerecht miteinander diskutieren können.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich zum Schluß aber eines deutlich sagen: Es wird uns allen miteinander — egal, zu welcher Partei wir gehören — nicht erspart bleiben, auch kritische Diskussionen zu
Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 114. Sitzung. Bonn, Freitag, den 2. Dezember 1988 8305
Frau Hämmerle
führen und Unpopuläres anzusprechen. Ich denke aber, daß für politische Parteien, die auf humanitären, ethischen, christlichen und sozialen Grundsätzen aufbauen, dieses Thema ebenso wie die Flüchtlingsproblematik eine Verpflichtung sein muß. Die SPD erkennt diese Verpflichtung. Wir sind bereit, weiter daran zu arbeiten.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Wittmann.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Frau Kollegin Hämmerle, ich bin Ihnen dankbar, daß Sie die Debatte beruhigt haben. Das liegt nicht nur an Ihrem Charme, sondern auch an Ihren Ausführungen, die sehr sachlich waren. Ich möchte mich dafür herzlich bedanken.
Ich glaube, wir sollten uns daran erinnern, daß nach den Flüchtlingsströmen der 40er und 50er Jahre zwei Jahrzehnte lang oder noch länger keine Deutschen aus den Vertreibungsgebieten mehr zu uns kamen, weil sie, obwohl sie zu uns kommen wollten, obwohl sie dort als Deutsche nicht mehr leben konnten, nicht reisen durften. Man kann spekulieren, worauf es zurückzuführen ist, daß jetzt verschiedene Ostblockstaaten die Ausreise ermöglichen.
Tatsache ist jedenfalls, daß man — das zeigt auch die Diskussion hier in diesem Hause — die Wirklichkeit des berechtigten Wunsches dieser Menschen, als Deutsche wieder unter Deutschen leben zu können, nicht gesehen hat.
Ich möchte jetzt keine Umfrage bei allen Fraktionen und bei den auf der Regierungsbank Anwesenden — soweit vorhanden — darüber anstellen, wer nicht eine ganze Liste von Familienzusammenführungswünschen und Ausreisewünschen mitnahm, wenn er in die Ostblockstaaten oder, sagen wir einmal: in die Staaten des kommunistischen Bereichs fuhr, wo noch Deutsche lebten. Das ist jetzt — wenn Sie so wollen — sozusagen der Nachholbedarf, der auf uns zukommt.
Tatsache ist aber, daß es — das sollten wir nicht verschweigen und nicht verdrängen — bei vielen Menschen immer noch den Wunsch gibt, wieder unter Deutschen leben zu können, auch wenn sie vielleicht nicht mehr so gut Deutsch sprechen wie einige andere oder wie wir. Tatsache ist, daß dies dort nicht möglich ist, weil ein Assimilierungsdruck und eine vielfache Benachteiligung wegen der deutschen Volkszugehörigkeit bestehen.
— Natürlich, Herr Sielaff. Seien Sie doch ehrlich. Fahren Sie einmal nach Rumänien.
— Ich werde noch etwas zu Rumänien sagen.
— Ich handele die Gebiete jetzt ab:
Nehmen wir einmal die Sowjetunion. Es ist erfreulich, daß Herr Falin angekündigt hat, man wolle überlegen, ob man wieder ein autonomes Gebiet für die Deutschen schaffe — okay, einverstanden. Die Deutschen wurden 1941 dafür verantwortlich gemacht, daß der Hitlerkrieg ausbrach. Ihre Bemerkung über die Rolle der Minderheiten in diesen Staaten hätten Sie sich, Herr Sielaff, lieber gespart.
Es gab sehr viele deutsche Minderheiten, die dafür eingetreten sind, daß Hitler nicht kommt. Es haben viele Deutsche z. B. in der sowjetischen Armee kämpfen müssen.
— Dann haben Sie es mißverständlich ausgedrückt:
— Auch ich bin der Meinung, daß die Minderheiten in Osteuropa für Hitler nur Verbrauchs- und Mißbrauchsmasse waren. Das möchte ich hier einmal ganz deutlich sagen.
Kommen wir zurück zur Sowjetunion. Meine Damen und Herren. Die Deutschen wurden verschleppt; jetzt kann es besser werden. Ich begrüße es ausdrücklich, daß jetzt die Deutsche Welle seit gestern wieder ungestört senden kann, ein Ergebnis auch der Reise des deutschen Bundeskanzlers, für das wir danken.
Er hat auch die Lage der Deutschen als erster Bundeskanzler — ich muß das einmal sagen — gegenüber Gorbatschow ganz hart und offen an Hand von Listen angesprochen.
Aber wie ist die Lage der Deutschen z. B. in Rumänien? Bis vor kurzer Zeit konnten sie noch in geschlossenen Siedlungsgebieten und Dörfern leben, hatten ihre Schulen, ihre Lehrer und ihre Pfarrer und alles. Sie konnten also eine Gemeinschaft, eine Kulturgemeinschaft, bilden. Dann hat man die Pfarrer und die Lehrer weggeekelt.
Da waren sie plötzlich — ich sage es einmal so — nicht mehr in ihrer Kultur geborgen. Jetzt beginnt man, ihre Dörfer niederzureißen — das werden Sie ja wohl nicht leugnen — , so daß sie auch ihre räumliche Heimat nicht mehr haben.
8306 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 114. Sitzung. Bonn, Freitag, den 2. Dezember 1988
Dr. Wittmann
In der Tschechoslowakei leben noch 100 000 Deutsche. Sie dürfen sich nicht zum Volkstum bekennen,
obwohl dies in der Verfassung von 1967 garantiert ist. Und kommen Sie mir, wenn Sie anderer Meinung sind, bloß nicht mit den Leuten, die nur Aushängeschilder des kommunistischen Regimes sind!
Anders ist die Situation für die 220 000 Deutschen in Ungarn. Das können wir dankbar anerkennen. Ich danke der Bundesregierung, daß sie dem ungarischen Staat hilft, die kulturelle Identität der Deutschen zu wahren. Das erkennen wir an.
Ich möchte folgendes unterstreichen: Es ist weder die Politik der Bundesregierung noch die Politik der CDU/CSU-Fraktion, die Menschen zu animieren, zu uns zu kommen. Wir nehmen sie nur auf, wenn sie es als Deutsche in ihren Heimatgebieten gar nicht mehr aushalten können.
Dann müssen wir ihnen bei uns eine Heimat schaffen.
In der KSZE-Schlußakte, in den Menschenrechtspakten ist auf Minderheiten- und Volksgruppenrechte nur schemenhaft hingewiesen. Wenn gewährleistet ist, daß auch die Deutschen eine Kulturautonomie, eine Sprachautonomie haben, daß sie ihre Interessen vertreten und ihre Religion auch in deutscher Sprache ausüben können — was z. B. im polnischen Machtbereich nicht der Fall ist —, dann besteht weniger Anlaß, sich zu überlegen, die angestammte Heimat zu verlassen. Das ist, glaube ich, eine Aufgabe unserer Außenpolitik. Aber wir Parlamentarier können dabei unterstützend, ermunternd und fordernd mitwirken.
Vielen Dank.
Ich schließe die Aussprache.
Der Ältestenrat schlägt vor, die Vorlagen an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Sind Sie damit einverstanden? — Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe Zusatzpunkt 12 der Tagesordnung auf:
Aktuelle Stunde
Haltung der Bundesregierung zu den Beschlüssen des EG-Umweltministerrates vom 24./25. November 1988
Die Fraktion der SPD hat gemäß unserer Geschäftsordnung diese Aktuelle Stunde verlangt.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Abgeordnete Schäfer .
Herr Präsident! Meine verehrten Damen und Herren! Vorab: Herr Töpfer, es
ist eine grobe Mißachtung des Parlaments, daß Sie vor dieser Aktuellen Stunde heute morgen zum gleichen Thema eine Pressekonferenz durchgeführt haben.
Zur Sache selbst: Wieder einmal ist der Bundesumweltminister von einem europäischen Ministerrat mit leeren Taschen zurückgekehrt. Die im dritten Anlauf beschlossenen Werte für Kleinwagen können nur „als miserabel und umweltpolitisch frevelhaft bezeichnet werden" .
Dieser Feststellung der Arbeitsgemeinschaft der Verbraucher habe ich nichts hinzuzufügen.
Durch den faulen Kompromiß, den die Bundesregierung erst möglich gemacht hat, wird der gegenwärtige Stand der Luftverschmutzung durch den Automobilverkehr praktisch bis zum Jahre 2000 festgeschrieben. Sie, Herr Minister, bringen das Kunststück fertig, einerseits diesem laschen Kompromiß zuzustimmen und andererseits diesen Kompromiß um so heftiger zu kritisieren, je weiter Sie sich von Brüssel entfernen.
In der deutschen Öffentlichkeit präsentieren Sie sich, Herr Töpfer, in Ihrer Lieblingsrolle: der des Vorreiters der internationalen Umweltpolitik.
In internationalen Verhandlungen dagegen stimmen Sie jedem faulen Kompromiß zu. Sie reden national anders, als Sie international handeln, Herr Töpfer.
Sie sind leider nicht bereit, die vorhandenen rechtlichen Möglichkeiten zur Durchsetzung hoher Umweltschutzanforderungen in der Europäischen Gemeinschaft wahrzunehmen. Die Einheitliche Europäische Akte fordert — von uns allen als großer Fortschritt gepriesen —, im Umweltbereich von einem hohen Schutzniveau auszugehen. Das Gemeinschaftsrecht der EG enthält den Grundsatz des bestmöglichen Umweltschutzes. Eine Abgasregelung, die weit hinter dem zurückbleibt, was seit mindestens 15 Jahren Stand der Technik ist, entspricht diesem Grundsatz nicht.
Natürlich würde die obligatorische Einführung der US-Grenzwerte in der Bundesrepublik ein rechtliches Risiko in sich bergen. Aber wir brauchen einen Umweltminister, Herr Töpfer, der auch einmal bereit ist, für die Weiterentwicklung des Umweltschutzes ein Risiko auf sich zu nehmen. Bei einem solchen Schritt hätten Sie die Unterstützung nahezu der gesamten deutschen Öffentlichkeit. Engagierte Umweltschützer, die Sozialdemokratische Partei, der Bundesrat und die Ministerpräsidentenkonferenz haben die obligatorische Einführung der US-Grenzwerte gefordert. Warum, Herr Töpfer, nutzen Sie diesen Rückenwind nicht?
Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 114. Sitzung. Bonn, Freitag, den 2. Dezember 1988 8307
Schäfer
Besonders enttäuschend ist, daß Herr Töpfer nicht einmal bereit war, sich ähnlich wie die Niederlande zumindest für eine steuerliche Förderung von Dreiwegekatalysatoren einzusetzen.
Aber auch hier lehnt sich der Vorreiter bequem in den Sessel zurück und läßt die Niederlande nach dem Motto „Hannemann, geh Du voran" vor den Europäischen Gerichtshof ziehen.
Wir Sozialdemokraten sagen ja zur europoäischen Einigung. Wir sagen ja zum europäischen Binnenmarkt. Aber wir wollen, daß die Europäische Gemeinschaft nicht nur eine Wirtschaft- und Sozialgemeinschaft, sondern auch eine Umweltgemeinschaft wird. Herr Töpfer, wie wollen Sie eigentlich die Bürger im nächsten Jahr zur Teilnahme an den Wahlen zum Europäischen Parlament bewegen, wenn Sie sich gleichzeitig über die Beschlüsse dieses Parlaments hinwegsetzen? Wie sollen sich die Bürger, Herr Töpfer, für Europa begeistern können, wenn sie den Eindruck gewinnen, ja, gewinnen müssen, daß die europäische Umweltpolitik weniger von dem in demokratischen Wahlen gewählten Europäischen Parlament als von einzelnen Automobilkonzernen bestimmt wird?
Heute beginnt in Rhodos die Gipfelkonferenz, die auch eine Erklärung zur Umweltpolitik verabschieden soll. In dem Entwurf für die Erklärung heißt es, die EG solle künftig weltweit eine führende Rolle im Umweltschutz spielen. Das klingt wie ein Hohn, wenn gleichzeitig beschlossen wird, daß die Europäer mit ihren Einigungsbemühungen weit hinter dem zurückbleiben, was in Japan und den USA seit Jahren als Stand der Technik eingeführt ist.
Herr Minister, Sonntagsreden über europäischen Umweltschutz haben wir von Ihnen genug gehört. Statt auf Rhodos Harmonie zu demonstrieren, sollten die Regierungschefs versuchen, die bestehenden Konflikte in der europäischen Umweltpolitik anzugehen. Der Bundeskanzler sollte den faulen Kompromiß der Kleinwagenregelung aufkündigen. Für Rhodos gilt in diesen Tagen: Hic Rhodus, hic salta.
Das Wort hat der Bundesminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich freue mich sehr über diese Aktuelle Stunde. Sie gibt mir Gelegenheit, sehr deutlich zu machen, daß die Bundesregierung wichtige umweltpolitische Fortschritte in Europa ermöglicht hat, ja, sie geradezu initiiert hat, auch wenn aus unserer nationalen Sicht diese Fortschritte noch nicht hinreichend sind. Dies hat auch der Bundesumweltminister nach Brüssel genauso gesagt.
Denn was, so frage ich nach, hätte die Opposition in diesem Hause gesagt, wenn ich diesen Kompromiß auch unter unserem Gesichtspunkt als gut bezeichnet hätte? Nein, es ist ein europäischer Kompromiß, der bei uns weiter geht.
— Ich komme darauf zurück.
Meine Damen und Herren, die Erfolge der Luftreinhaltepolitik der Bundesregierung bei stationären Anlagen, also bei Kraftwerken und industriellen Anlagen, sind zwischenzeitlich völlig unstrittig. Nachdem sie am Anfang genauso kritisiert wurden, ist auch heute die Opposition — zumindest die SPD — der Überzeugung, daß das, was auf diesem Gebiet mit der Großfeuerungsanlagen-Verordnung und der TA Luft geschaffen wurde, außerordentlich erfolgreich war.
Meine Damen und Herren, ich bin ganz sicher: Dieser Lernprozeß wird sich auch bei den mobilen Quellen, bei den Autos, einstellen.
Ebenso unstrittig ist natürlich, Herr Abgeordneter Schäfer, daß wir bei den mobilen Quellen, also bei Pkw und Lkw, weiter vorankommen müssen. Es ist ganz unstrittig, daß wir durch die steigende Zahl der Pkw nicht die Zielsetzung der Verminderung der Stickoxide erreicht haben, die wir erreichen wollten, und zwar einfach deswegen, weil die wirtschaftliche Entwicklung in der Bundesrepublik Deutschland so positiv verlief und unsere Bürger mehr Autos gekauft haben, als das prognostiziert wurde.
Meine Damen und Herren, ich fange ja nicht 15 Jahre vorher an, indem ich einmal nachvollziehe, was erreicht wurde, sondern ich fange 1982 an, d. h. an dem Punkt, an dem Herr Kollege Baum sehr erfolgreich eine Minderung der Emissionswerte um 20 % in der damaligen sozialliberalen Koalition durchgesetzt hat. Herr Abgeordneter Schäfer, das bedeutete damals den Summenwert von NOX und HC in der Spannbreite von 19 g bis 28 g.
Dies ist nicht 15 Jahre her, sondern das ist sechs Jahre her.
1985 — das ist die zweite Etappe — hat der Herr Kollege Zimmermann in Luxemburg einen Kompromiß erstritten. Er hat damit überhaupt erst den Weg zum Dreiwegekatalysator ermöglicht.
Ich nenne die Werte: Damals hatten wir eine Spannbreite von 19 g bis 28 g. Drei Jahre später — ich darf
8308 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 114. Sitzung. Bonn, Freitag, den 2. Dezember 1988
Bundesminister Dr. Töpfer
deutlich sagen: sicherlich unter völlig anderen Erkenntnissen, auch was die Wertung von Stickoxiden angeht — hatten wir ein Wertbündel von 6,5 g bis 15 g.
Jetzt, wiederum drei Jahre später ist der Kompromiß von Brüssel erreicht worden, der eine Reduzierung von 6,5 g — das ist schon der Dreiwegekatalysator — bis 8 g — das ist noch einmal eine Halbierung — sowie die Festschreibung auf 5 g bis 1991 vorsieht.
Nun frage ich wirklich zurück: Angesichts der Tatsache, Herr Abgeordneter Lennartz, daß das kleine Auto unter 1,4 Liter in Europa über 60 % der zugelassenen Autos ausmacht, in der Bundesrepublik Deutschland aber rund 30 % ausmacht, muß doch die Priorität für den Bundesumweltminister darin bestehen, eine europäische Regelung zu schaffen, und er darf doch nicht, weil er seine Idealziele nicht durchsetzt, vom Verhandlungstisch weggehen und sagen: Um so schlimmer für die europäische Regelung. Das war die Entscheidungssituation.
Herr Abgeordneter Lennartz, ich möchte Ihren Zwischenruf von eben aufgreifen: Wäre ich Ihrer Forderung gefolgt: Kompromiß nicht mitmachen, dann bedeutete das, daß wir gegenwärtig europaweit nicht einen Grenzwert von 8 g für die kleinen Autos hätten, sondern einen von 15 g,
und daß selbst nach der Aussage der Europäischen Kommission 340 000 t Stickoxide mehr da wären. Dies, meine Damen und Herren, ist der Zusammenhang.
Daß die Politik der Bundesregierung auch in der Vergangenheit nicht falsch war, zeigt alleine die Tatsache, daß in der Bundesrepublik Deutschland gegenwärtig etwa zwei Millionen Autos mit geregeltem Dreiwegekatalysator vorhanden sind, daß etwa 50 %) der neuzugelassenen Wagen mit Ottomotor einen Dreiwegekatalysator haben und daß wir damit mehr Autos mit geregeltem Katalysator alleine bei uns in der Bundesrepublik haben als das gesamte übrige Europa, EG plus EFTA, zusammen.
Meine Damen und Herren, dies ist der Punkt für einen Kompromiß, und diesen Kompromiß habe ich mitgetragen.
Es kommt die Forderung: Steuerlich sollten wir vorgehen wie die Niederlande. Ich will Ihnen einmal eins sagen, Herr Abgeordneter Schäfer: Wenn ich so vorgehe wie die Niederlande, bekommen wir den Kompromiß nicht; denn wir brauchen eine qualifizierte Mehrheit für den Kompromiß.
— Wenn wir nicht zugestimmt hätten, hätte es den Kompromiß nicht gegeben, weil Griechenland, Dänemark und die Niederlande nicht mitstimmen und wir dann darüber entscheiden, ob es die qualifzierte Mehrheit gibt oder nicht.
Das heißt, ich war in einer etwas anderen Situation als der Kollege aus den Niederlanden. Ich hätte es mir sehr viel leichter gemacht, nach dem Motto zu verfahren: Dem Kompromiß nicht zustimmen, aber sicher sein, daß der Kompromiß kommt. Ich stand in der Situation: Wenn ich nicht mitstimme, kommt der Kompromiß nicht; und wir waren in der Präsidentschaft dieses Rates. Das ist die Position. Wenn Sie das mit heranziehen, liegt das wohl etwas anders.
Deswegen wirft man mir an anderer Stelle eher vor,
daß ich zusammen mit den Niederlanden mit gemeinsamen Karten gespielt hätte, und zwar derart, daß wir den Kompromiß zur Mehrheit bringen, die Niederlande eine steuerliche Förderung einführen, darüber dann ein Urteil des EuGH erfolgt und wir ebenfalls die Möglichkeit zur finanziellen Förderung bekommen.
Ihnen ist entgangen, Herr Abgeordneter Schäfer, daß ich in Brüssel die Chance genutzt habe, den schon im Juni erforderlichen Kompromiß nachzubessern und die Möglichkeit zu schaffen, über ein positives Urteil des EuGH auch wirklich die finanzielle Förderung zu erreichen.
Das ist, wie ich meine, nicht die bestmögliche Konzeption, aber sie ist eine, die in Europa den Bereich Auto voranbringt.
Ich erwarte, daß wir national Zusätzliches machen — lassen Sie mich das ganz deutlich sagen —, daß wir bei dem riesigen Altwagenbestand verstärkt nachrüsten müssen. Lassen Sie mich deutlich machen, daß ich auch erwarte, daß der umweltbewußte Autokunde verstärkt die vorhandenen Angebote eines Dreiwegekatalysators aufgreift. Lassen Sie mich auch darauf aufmerksam machen, daß Benutzervorteile für das Auto mit Dreiwegekatalysator für mich eine wichtige Maßnahme sind. Nebenbei: Dafür werden wir vor dem Europäischen Gerichtshof verklagt, weil wir eine Smogverordnung haben, wie sie ist, und weil wir dieses Instrumentarium weiterführen werden.
Ich gehe davon aus, daß der nationale Alleingang auch die Möglichkeit bringt, dieses mit Blick auf die deutschen Automobilproduzenten alleine zu tun.
Insgesamt ist das also ein Vorgang, von dem ich weiß, daß er europapolitisch das Beste, was möglich war, darstellt, daß er uns aber nicht daraus entläßt, aus eigenen Kräften alles zu tun, um in der Bundesrepublik Deutschland schneller und nachhaltiger bei den Pkw wie bei den Lkw voranzukommen.
Ich danke Ihnen sehr herzlich.
Das Wort hat der Abgeordnete Brauer.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Was ist los mit dieser Bundesregierung und ihrer Umweltpolitik? Da fährt ein Minister nach Brüssel, weiß, daß sämtliche Fraktionen des Bundestages für die Einführung der US-Werte bei Kleinwa-
Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 114. Sitzung. Bonn, Freitag, den 2. Dezember 1988 8309
Brauer
gen sind, weiß, daß alle Fraktionen notfalls den nationalen Alleingang zur Erreichung dieses Ziels unterstützen werden, weiß, daß die deutsche Automobilindustrie ihren technologischen Vorsprung bei der Katalysatorentechnik ausspielen möchte, weiß, daß das Europaparlament im September voll hinter der Einführung der strengeren US-Grenzwerte gestanden hat — ja, meine Damen und Herren, welche Unterstützung will Minister Töpfer denn noch haben? —,
und kommt dann mit einem so beschämenden Ergebnis zurück.
Lediglich ab 1992 sollen neue Kleinwagen den laschen EG-Grenzwert einhalten, der nach völlig unrealistischen Testbedingungen ermittelt wird und, wie der Umweltminister selber weiß, untauglich für die Begrenzung des NOx-Ausstoßes ist.
Herr Töpfer, die Euronorm bringt doch nichts; das wissen wir ja; es ist doch kein Hochgeschwindigkeitszyklus drin. Herr Töpfer, Sie haben doch sogar selber die Testbedingungen durch einen Hochgeschwindigkeitsbereich dem tatsächlichen Fahrverhalten anpassen wollen; das wissen Sie ja selber.
Umweltpolitisch katastrophal ist jedoch, daß die Bundesregierung die Länder Dänemark, Griechenland und die Niederlande mit ihren weitergehenden Forderungen im Stich gelassen hat und deren Verhandlungsposition dadurch noch geschwächt hat.
Ja, mehr noch: Als größter Automobilproduzent in der EG hätte die Bundesregierung ihre Macht ausspielen können. Kleinlaut will die Bundesregierung abwarten, ob die Niederlande in ihrem nationalen Alleingang vor dem Europäischen Gerichtshof aus Gründen des Umweltschutzes erfolgreich sind. Na ja, vielleicht werde man dann auch noch was unternehmen, so Ihre Presseerklärung.
Meine Damen und Herren, das Verhalten der Bundesregierung bei den Beschlüssen zum abgasarmen Auto ist beschämend, mickrig, wirklich ganz mickrig. Wie so oft bei Mißerfolgen wird die Schuld auf die anderen geschoben, mit der bequemen Ausrede: Wir würden ja gerne, aber die anderen lassen uns nicht.
Wehklagen kann Politik nicht ersetzen, Herr Töpfer. Diese Anpassung nach unten in der EG-Umweltpolitik wirkt, wie wir an diesem Beispiel sehen, wie eine Negativkonkurrenz.
Unsere grüne Position ist, daß man sich dem entziehen kann, wenn zukünftig EG-Richtlinien den Charakter von Mindestnormen haben, die zum Schutze der Umwelt von den jeweiligen Regierungen auch überschritten werden können. Gerade die Möglichkeit, nationale Handelshemmnisse zum Schutze der Umwelt zu erlassen, muß ausgiebig und konsequent genutzt werden. Dies löst Impulse für bessere Umweltstandards aus. Nur so kann die Negativkonkurrenz in eine Positivkonkurrenz umgewandelt werden.
Meine Damen und Herren, das Scheitern der Bundesregierung bei den Kleinwagen ist symptomatisch für das Scheitern der Abgaspolitik im gesamten Verkehrsbereich. Vier kurze Beispiele:
Erstens. Der gesamte Stickoxidausstoß sollte nach der Vorstellung der Bundesregierung bis 1988 um 25 % zurückgehen. Tatsächlich nahm er bis 1988 um 12 % zu.
Zweitens. Im Lkw-Bereich sollten laut Bundesregierung schon seit dem 1. Januar 1986 jährlich 100 000 Tonnen Stickoxide eingespart werden. Tatsächlich nehmen sie aber kontinuierlich um 100 000 Tonnen zu und werden bis zum Jahr 2 000 um 60 % ansteigen, weil z. B. der Lkw-Bestand zunimmt und ab 1992 der Warenaustausch dramatisch ansteigen wird.
Drittens. Gestern war in der Presse zu lesen daß trotz Drängens der französischen Regierung die Einführung einer einheitlichen Geschwindigkeitsbegrenzung auf den Autobahnen in der EG gescheitert ist. Da es sich die Bundesrepublik als einziges Land immer noch leistet, die freie Fahrt der Raser zu unterstützen,
unterminiert sie einerseits ihre Forderungen nach Verringerung der Stickoxide und ist andererseits mitverantwortlich für die drastisch steigenden Verkehrstoten, wie heute im „Kölner Stadtanzeiger" zu lesen war.
Viertens. Im Juli 1983 kündigte das Kabinett die Katalysatorenpflicht für alle Neuwagen ab 1. Januar 1986 an. Das war Herr Zimmermann. Wie so oft zeigt sich daran, daß mit solchen Ankündigungen und Prognosen, die in gar keiner Weise eingelöst werden können, Politik gemacht wird.
Mehr noch: Die optimistischen Prognosen mußten, bevor sie überhaupt eingetreten sein konnten, gleichzeitig als Beweis für den Erfolg der Bonner Umweltpolitik herhalten. Das, Herr Töpfer, nennt man gemeinhin Gesundbeterei.
Das Wort hat der Abgeordnete Baum.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Gesundbeterei war das natürlich nicht, sondern Herr Töpfer hat nach seiner Rückkehr aus Brüssel diese Beschlüsse realistisch bewertet. Sie sind auch aus der Sicht meiner Partei in keiner Weise zufriedenstellend.
Daß Frankreich seinen Widerstand gegen die Abgasgrenzwerte aufgegeben hat, ist ein Fortschritt. Damit werden in ca. vier bis fünf Jahren neue EG-weite Standards eingeführt.
Aber daß erst ab Herbst 1992 für neue Fahrzeuge und erst ab Herbst 1993 für alle neu zugelassenen Autos Werte gelten sollen, die schon heute ohne Dreiwegekatalysator eingehalten werden können, das ist es, was uns an diesem Kompromiß negativ berührt. Das ist unzureichend.
Allerdings stellt sich die Frage: Was ist denn in Europa zu erreichen? Wir müssen uns in der Tat ein-
8310 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 114. Sitzung. Bonn, Freitag, den 2. Dezember 1988
Baum
mal die Frage stellen: Wie können wir denn dazu beitragen, daß sich die Europäische Gemeinschaft zu einer Umweltgemeinschaft entwickelt? Wir wollen Präsident Delors ernst nehmen, der dieser Tage gesagt hat: Das wird ein Schwerpunkt der Amtszeit der neuen Kommission werden. Die Bundesregierung wird nachdrücklich dafür eintreten müssen, daß der Binnenmarkt dazu genutzt wird, den Umweltschutz zu verstärken, nicht ihn abzubauen.
Die Folgen des Binnenmarkts müssen aufgearbeitet werden, und zwar jetzt schon, vorsorglich.
Wir müssen diese Umweltfragen, meine Kollegen, zum Gegenstand allerhöchster Beschlußfassung machen.
Ich meine, daß es jetzt an der Zeit ist, bestimmte unerledigte Dinge so zu bündeln, daß die Bundesregierung sie auf Regierungsebene, auf Spitzenebene bringt und mit den anderen Politiken der Gemeinschaft in einen Zusammenhang bringt, damit die anderen Mitgliedstaaten merken, daß es uns hier ernst ist.
Wir sind der Meinung, daß der Dreiwegekatalysator auf Dauer das einzig Mögliche ist, auch für die kleinen Fahrzeuge. Wir müssen alles tun, um das einzuführen. Wir möchten die Grenzwerte für Dieselpartikel herabsetzen. Wir sehen im übrigen eine Doppelstrategie der Niederländer: Beim Personenkraftwagen sind sie ganz vorn, und beim Lastkraftwagen zögern sie. Wir möchten, daß die Bundesregierung eine drastische Herabsetzung der Abgasgrenzwerte bei Lkw fordert. Die europäischen Testverfahren müssen erweitert werden, wie wir das in einem gemeinsamen Antrag niedergelegt haben.
Ich unterstütze, was der Minister hier zu nationalen Maßnahmen gesagt hat. Ich bin nachdrücklich der Meinung, daß der Spielraum für nationale Maßnahmen ausgeschöpft werden muß. Hier sind zusätzliche ökonomische Anreize für mich eine zentrale Forderung. Die Steuervergünstigungen für Kleinwagen sind aus unserer Sicht so fortzuschreiben, daß nach dem Herbst 1990 neue Fahrzeuge mit einem Dreiwegekatalysator begünstigt werden. Die jetzige Begünstigung läuft aus. Dann müßten wir in der Lage sein, Fahrzeuge nach den US-Grenzwerten zu begünstigen, sonst nichts. Das muß meines Erachtens schon relativ früh ins Auge gefaßt werden. Die Gemeinschaft muß wissen, woran sie mit uns ist.
Wir fordern verstärkte Geschwindigkeitskontrollen bei Lkw. Die Höchstgeschwindigkeiten auf Autobahnen, die in anderen europäischen Staaten zulässig sind, bringen zur NOX-Reduzierung so gut wie gar nichts. Machen Sie der Bevölkerung bitte nichts vor. Wir fordern zusätzliche Anreize für die Verlagerung des Güterverkehrs auf die Schiene. Wir möchten, daß Benutzervorteile für umweltfreundliche Autos eingeführt werden. Da gab es Vorschläge aus dem süddeutschen Raum, die mir durchaus gefallen haben. Benutzervorteile für den, der sich umweltfreundlich verhält, halte ich für eine wichtige Maßnahme, um national für das umweltfreundliche Auto zu werben. Wir appellieren an die Automobilhersteller und -importeure. Ich habe mit Interesse zur Kenntnis genommen, Herr Töpfer, daß Sie sagen, es könnte eine Situation eintreten, daß wir den nationalen Herstellern hier etwas auferlegen, wenn sie es nicht freiwillig tun, was wir europäisch nicht durchgebracht haben.
In diesem Sinne, meine Damen und Herren, unterstützen wir den Bundesinnenminister.
Die Koalitionsfraktionen haben dieser Tage eine Entschließung vorgelegt, die unsere Position markiert. Der Kern dieser Entschließung ist — ich wiederhole das noch einmal —, daß wir alles tun, um die Akzeptanz des umweltfreundlichen Autos hier in der Bundesrepublik zu verstärken, und zweitens alles tun, damit die Europäische Gemeinschaft sich stärker auf eine Umweltgemeinschaft hin entwickelt. Der jetzige Zustand, die jetzige Bewußtseinslage in großen europäischen Ländern — auch in dem wichtigen Nachbarland Frankreich — ist unzureichend. Das müssen wir ändern,
allerdings nicht, indem wir unsere eigene Regierung beschimpfen, sondern indem wir dort für unseren Standpunkt werben.
Das Wort hat der Abgeordnete Lennartz.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist nicht nur ein umweltpolitischer Skandal, wenn die Umweltminister der Europäischen Gemeinschaft sich zusammensetzen und beschließen, Frankreich und Großbritannien die Einleitung von Dünnsäure in die Nordsee über Pipelines bis weit in die 90er Jahre, Herr Minister Töpfer, zu genehmigen. Wir werden erleben, daß diese küstennahen Einleitungen für die Nordsee tödlichere Folgen haben werden als die Verklappung per Schiff auf hoher See.
Dieser Ausnahmebeschluß, Herr Töpfer, der ja für alle zwölf Mitgliedstaaten gilt, ist auch ein wettbewerbspolitischer Skandal. Die chemische Industrie in der Bundesrepublik Deutschland hat spätestens nach dem Drängen der Umweltverbände und auch des Landes Nordrhein-Westfalen Verfahren entwickelt, die auch die Reststoffe aus der Farbenproduktion wieder in den Produktionskreislauf eingliedern und deren Einleitung in Gewässer überflüssig machen. Auch dies war Thema des Gipfels.
Diese Verfahren, Herr Töpfer, sind technisch machbar und ökonomisch vertretbar. In Duisburg wird zur Zeit von deutschen Anlagenbauern eine Recyclinganlage für 175 Millionen DM errichtet, mit der wir im Jahre 1989 auf Einleitungen durch Pipelines oder Verklappung auf See ohne weiteres verzichten können.
Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 114. Sitzung. Bonn, Freitag, den 2. Dezember 1988 8311
Lennartz
Die britischen und französischen Konkurrenzfirmen werden sich freuen über diesen weiteren Wettbewerbsvorteil, den Sie, Herr Minister, ihnen gebracht haben, der deutsche Umweltminister! Denn eine Tonne Dünnsäure ins Meer zu kippen kostet nur 10 Pfennig. Eine Tonne aufzubereiten und wiederzuverwerten kostet 50 DM. Britische und französische Farbenhersteller werden also bis 1993 viel Geld verdienen, ohne zu investieren. Der Dumme ist der deutsche Umweltmichel; gelackmeiert ist die deutsche Farbenindustrie, und dies mit Ihrer Hilfe, Herr Umweltminister!
Nicht den Stand der Technik zu fordern schadet der gesamten europäischen Wirtschaft, meine Damen und Herren,
weil technisches Wissen verkümmert und notwendige Investitionen unterbleiben. Herr Töpfer, das haben Sie bei Ihren umweltpolitischen Entscheidungen nicht bedacht. Insbesondere der deutsche Umweltminister hat hingenommen, daß deutschen Unternehmen schwere Wettbewerbsnachteile entstehen, weil andere noch jahrelang unbekümmert unsere Meere vergiften dürfen, ohne sich um bekannte Recyclingverfahren kümmern zu müssen.
Die Minister haben sich auf eine Umweltschutzerklärung für das heutige Gipfeltreffen geeinigt, nach der die EG künftig weltweit eine führende Rolle im Umweltschutz übernehmen soll. Davon, meine Damen und Herren, Herr Minister, ist die EG noch meilenweit entfernt. Wer sich nicht dazu durchringen kann, wenigstens bis zur Jahrtausendwende eine 15 Jahre alte Abgasreinigungstechnik für Kraftfahrzeuge, nämlich den Kat nach US-Grenzwerten, einzuführen, der kann doch nicht allen Ernstes eine — ich zitiere — „weltweite" Führungsrolle vor den USA und vor Japan reklamieren.
Wer es nicht schafft oder nicht schaffen will, die gefährlichen FCKW aus der Produktion und Anwendung zu verbannen, obwohl alternative Verfahren und Produkte längst bekannt sind und in den USA seit den 70er Jahren angewendet werden, kann doch nicht allen Ernstes von sich behaupten — und hier zitiere ich wieder — „dringend nach Lösungen für Globalfragen wie die Zerstörung der Ozonschicht und den Temperaturanstieg in der Erdatmosphäre" zu suchen.
Wer in den nächsten zehn Jahren nur die Hälfte der FCKW-Produktion reduziert — Montrealer Abkommen! — versündigt sich an unseren natürlichen Lebensgrundlagen. Und wer dazu noch erklärt, es gehe ihm um globale Lösungen, ist nicht mehr als ein Scharlatan, Herr Töpfer!
Welcher europäische Umweltminister kann denn noch seinem brasilianischen Kollegen in die Augen sehen? Wie wollen Sie Ihrem brasilianischen Kollegen
noch in die Augen schauen, Herr Töpfer, wenn Sie den Stopp der Brandrodung fordern, bei der Misere, die Sie zeigen?
Werden so globale Lösungen angestrebt, Herr Töpfer? Entschuldigen Sie bitte, Sie müssen an Ihren Worten messen lassen, was Sie an Taten verabsäumen.
So ist das. Kräftige Worte in Zeitungen und in jeder Pressekonferenz — aber nachher kommen keine Taten. Kräftige Worte gebrauchen Sie genug.
Sie verstecken sich, wie mein Kollege Schäfer soeben ausgeführt hat, hinter den kleinen, aber mutigen Niederlanden, die versuchen, auf der europäischen Ebene zumindest bei der Steuerfrage etwas herauszuholen. Vorreiter, Herr Töpfer, verstecken sich nicht. Vorreiter gehen voran.
Ich habe Sie Ende August für die SPD-Bundesstagsfraktion aufgefordert, im Vorfeld des Umweltministerrates zusammen mit Griechenland, Dänemark und den Niederlanden eine Sperrminorität zu organisieren und so eine ernstzunehmende Willenserklärung zur Luftreinhaltung abzugeben.
Statt dessen haben Sie wiederum einem faulen Kompromiß zugestimmt:
Kleinwagen dürfen doppelt soviel Schadstoffe ausstoßen wie in den USA, der Schweiz, Österreich und Schweden.
Das ist eine schöne Führungsrolle, die die EG da spielt. Mit diesen Beschlüssen ist die EG weltweit führend im Zurückbleiben hinter technischen und ökonomischen Chancen für den Umweltschutz.
Sie, Herr Minister Töpfer,
spielen dort eine Bärenführerrolle. Vizepräsident Westphal: Herr Abgeordneter!
Wissen Sie: Es war einmal am Umwelthimmel ein Komet. Aber mittlerweile ist nur noch eine Sternschnuppe von diesem Umweltminister zu sehen, der kräftig redet, aber nicht handelt.
Herr Abgeordneter, Ihre Zeit ist abgelaufen.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Schmidbauer.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen
8312 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 114. Sitzung. Bonn, Freitag, den 2. Dezember 1988
Schmidbauer
und Kollegen! Herr Kollege Lennartz, es mag zwar unterhaltsam sein und auch einen gewissen Unterhaltungswert haben, bei einer Aktuellen Stunde hierher zu kommen und den Minister anzugreifen. Nur würde ich mir dann wünschen, daß Sie sich an der Sache orientieren
und nicht umgekehrt wie Ihr erster Redner, der ja den Gewaltmarsch und den Alleingang im Hinblick auf die Situation gefordert hat, argumentieren,
ohne dabei zu erwähnen, welches der eigentliche Beschluß in Brüssel war, von dem Sie hier geredet haben. Im übrigen haben Sie so geredet, daß man Sie von der Sache her nicht ernst nehmen kann, sondern dies als üble Polemik abqualifizieren muß.
Ich sage Ihnen die Gründe dafür.
Erstens haben Sie den Beschluß nicht richtig zitiert. Sie kennen ihn offensichtlich nicht.
Zweitens gehen Sie davon aus, daß, wenn dieser Minister das nicht erreicht hätte, alle anderen zu irgendeinem Zeitpunkt freiwillig bereit gewesen wären, das zu tun, was Sie fordern.
Sie hätten lange Zeit gehabt, Herr Kollege Lennartz, auf diesem Weg voranzuschreiten.
Im übrigen ist die Entscheidung, die in Brüssel getroffen wurde, auch was die anderen Partner anlangt, dadurch abgesichert, daß in einer begrenzten Frist diese Länder die technischen Möglichkeiten vorgeben müssen, wie sie das Problem der Dünnsäureeinleitung klären.
Alles in allem: Miserabel, miserabel und wenig an der Sache orientiert.
Ich komme zum Thema „schadstoffarmes Auto" zurück. Es lohnt sich wirklich nicht, Herr Kollege Lennartz, eine solche Auseinandersetzung zu führen. Machen Sie sich sachkundig, ehe Sie diesen Minister in dieser Art und Weise angreifen! Es zeigt, daß Sie wenig von der Sache verstehen. Es zeigt, daß es Ihnen nur darum geht, diesen Minister anzugreifen und in eine bestimmte Ecke zu stellen. Das hat der Minister bei den Ergebnissen, die er in Brüssel erzielt hat, nicht verdient. Wir unterstützen diesen Minister in seinem Vorgehen, auch was das Vorgehen in Europa anlangt.
Wir haben — das sage ich den Kollegen von der SPD — trotz massiver Widerstände von allen Seiten — übrigens waren auch Sie überhaupt nicht hilfreich — , beginnend im Sommer 1983, das schadstoffarme Auto europaweit auf den Weg gebracht.
Dies erreichten wir gleichfalls mit der flächendekkenden Benzinversorgung, wo Sie uns hier noch lange
zweifelnd angestarrt haben. Inzwischen zeigt sich sehr deutlich: Wir haben ein flächendeckendes Netz an Tankstellen mit bleifreiem Benzin.
— Meine Kollegen von der SPD, Sie hätten es ja anpacken können, Sie selber hätten diese Ideen haben können.
Dann wären wir heute weiter und bräuchten Ihnen
das von diesem Tisch aus nicht auch noch zu erklären.
— Ich denke, daß die Situation, die vorliegt, das Zahlenmaterial Initiativen, weitere Initiativen erfordert.
Wir haben — das sage ich für die CDU/CSU-Fraktion — der stufenweisen, aber dafür EG-weiten Einführung des schadstoffarmen Autos zugestimmt,
weil wir überzeugt waren, daß nur gemeinsam beschlossene und durchgeführte EG-Regelungen zu einer besseren Emissionsbilanz führen. Auf einzelne Länder beschränkte — wenn auch strengere — Grenzwertfestlegungen können nicht das gleiche Ergebnis haben, sondern es gilt: Gemeinsam weniger ist besser als alleine mehr. Deshalb hat aber eine Verschärfung der Grenzwerte auf EG-Ebene für uns auch weiterhin unbedingte Priorität.
Mit dem Abgaskompromiß von Brüssel können wir nicht zufrieden sein. Wir sind alle nicht zufrieden: Der Herr Minister hat dies erklärt, ich kann's Ihnen auch noch einmal sagen. Wir sind nicht zufrieden, weil er einen kleinen Schritt darstellt. Und es liegt im nationalen Interesse eines jeden europäischen Staates, daß der Stand der Technik übernommen wird. Nur, mit dem Beklagen allein, daß es nicht ausreicht, erreichen wir natürlich nicht, daß wir in Europa vorankommen. Dies erreichen wir nur durch weitere Gespräche mit unseren Partnern, durch zähe Verhandlungen in Brüssel, um uns hier einen weiteren kleinen Schritt voranzubringen, und dies ist erreicht worden.
Grundsätzlich sei hier bemerkt, daß sich angesichts des bevorstehenden Binnenmarktes 1992 auch das Bewußtsein unserer Nachbarn im Bereich des Umweltschutzes ändern muß. Es kann nicht angehen, nur die Vorteile eines offenen Binnenmarktes in Anspruch zu nehmen, aber die Umweltschutzinvestitionen allein der deutschen Industrie und den deutschen Verbrauchern zu überlassen. Nirgendwo wird sich der Wille zu einem vereinten Europa, zu einem Europa des Friedens und des Fortschritts besser manifestieren als in der gemeinsamen Anstrengung für eine saubere Umwelt. Wirtschaftliche Prosperität kann es in Zukunft nicht mehr auf Kosten unserer Umwelt geben. Es ist unsere Pflicht, unseren Nachbarn und EG-Partnern dies bei jeder Gelegenheit nahezubringen und als Grundlage bei Verhandlungen vorauszusetzen.
Wir jedenfalls bedanken uns bei Minister Töpfer
Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 114. Sitzung. Bonn, Freitag, den 2. Dezember 1988 8313
Schmidbauer
für sein intensives Engagement, den Umweltschutz in Europa wesentlich voranzubringen. Dies hat er mit seinen Verhandlungen auch erreicht.
Ich danke Ihnen.
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Dr. Hartenstein.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Von den Ministerratsbeschlüssen des 24. November entspricht nicht ein einziger den umweltpolitischen Erfordernissen
und ebensowenig dem Stande der Technik. Herr Minister, das ist ein Faktum, das Sie schwer werden widerlegen können. Es ist übrigens auch ein Faktum, lieber Kollege Schmidbauer, daß wir in der Umweltpolitik keinen Millimeter weiterkommen, wenn wir hier zum hundertsten Male die Schlachten der Vergangenheit schlagen.
Die EG sitzt im „Umwelt-Bummelzug". Das ist der sarkastische Kommentar der „Frankfurter Allgemeinen" zum 24. November.
Wenn dieser Bummelzug nicht endlich Fahrt gewinne, mache sich — so wörtlich — „Europa bei seinen Bürgern lächerlich".
In der Tat! Das gilt ganz besonders für den Kleinwagen-Kompromiß. Mit feierlichem Tremolo verkündet nichtsdestotrotz der Regierungssprecher, die Einigung der Minister über Abgasgrenzwerte für Wagen bis 1,4 Liter sei — ich zitiere — „ein wichtiger gemeinsamer Fortschritt für Europas Umwelt".
Er vergißt aber, zu sagen, lieber Kollege Göhner, daß dieser sogenannte Fortschritt erst ab Oktober 1992 wirksam wird — und dann nur noch für neue Modelle, noch nicht einmal für Neuwagen. Noch fünf Jahre lang dürfen alle neuen Kleinwagen ohne jede Abgasentgiftung zugelassen werden. Luftverpestung ist also weiterhin erlaubt — trotz Waldsterben, trotz PseudoKrupp-Husten, trotz Ozon-Smog.
Warum eigentlich, Herr Minister, stellt sich die Bundesrepublik schamhaft in die Ecke und läßt die Niederländer allein vor dem Europäischen Gerichtshof? Warum kämpft sie nicht mit Dänemark, mit Holland, mit Griechenland
für eine rasche, machbare Abgasentgiftung?
Eine Protokollnotiz des deutschen Umweltministers,
die besagt, die Bundesrepublik werde, wenn Holland
beim Europäischen Gerichtshof obsiege, über steuerliche Anreize für umweltfreundliche Kleinwagen nachdenken,
ist doch wohl etwas zu wenig.
Der Abgaskompromiß ist schwächlich, kleinmütig und umweltschädlich. Mittlerweile sieht sich der Stuttgarter Regierungspräsident angesichts der hohen Luftbelastung zu Notmaßnahmen gezwungen. Er will Fahrverbote für Nicht-Kat-Autos aussprechen. Er will die Meute der Lastkraftwagen bei Smoggefahr nicht mehr in die Stadt lassen. Und er verlangt eine flächendeckende Ausweisung von Tempo-30-Zonen. Das ist vernünftig. Oberbürgermeister Rommel, Ihr Parteifreund, erklärt, man könne von den Städten nicht verlangen, daß sie „die Sünden der EG abzubüßen" hätten. Er fordert, daß der geregelte Dreiwegekatalysator nach der US-Norm in der Bundesrepublik zur Pflicht gemacht wird und daß endlich strenge Abgasnormen für Lastwagen festgelegt werden. Wir fordern das genauso.
Meine Damen und Herren, Reden und Handeln passen bei Ihnen einfach nicht zusammen. 1985 prophezeite Herr Zimmermann den Siegeszug des umweltfreundlichen Autos. 1988 sind gerade 1,8 Millionen
von den 29 Millionen bundesdeutschen Pkw mit Dreiwegekatalysatoren ausgestattet — Ihr Pressepapier von heute morgen, Herr Minister.
Derselbe Minister Zimmermann hat einen Rückgang der Stickoxide um 48 % bis 1990 prophezeit. Realität ist eine jährliche Zunahme von 2 %.
Wir werden dieses Jahr einen Rekordausstoß von über drei Millionen Tonnen haben.
Mit der Verwirklichung des EG-Binnenmarktes wird eine Verdoppelung des Schwerlastverkehrs erwartet, eine nicht gerade erbaulich stimmende Zukunftsperspektive.
Bis heute schweigt sich übrigens der Minister über die umweltpolitischen Folgen aus. Es wäre interessant zu erfahren, Herr Minister Töpfer, ob der Umweltminister eigentlich gehört wurde,
bevor der Verkehrsminister die schrankenlose Liberalisierung des Transportwesens gutgeheißen hat.
Wenn die Europäische Gemeinschaft wirklich eine Umweltgemeinschaft werden soll — und das muß
8314 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 114. Sitzung. Bonn, Freitag, den 2. Dezember 1988
Frau Dr. Hartenstein
sie — , dann muß dazu beispielsweise ein leistungsfähiges europäisches Schienennetz geschaffen werden, das den Gütertransport aufnimmt,
statt einer ökologisch und ökonomisch unsinnigen Ausweitung des Straßengüterverkehrs.
Die SPD hat einen Antrag vorgelegt. Das ist Ihnen bekannt. Wir fordern neben der obligatorischen Einführung der US-Normen auch die Einführung eines Tempolimits, wie es alle anderen EG-Staaten längst haben. Wir brauchen ein Umrüstprogramm für Altfahrzeuge, und wir brauchen ein striktes Abgasreduzierungskonzept für Lkw und für Busse. Der Kat müsse moralische Norm werden,
sagen CDU-Politiker. Das sind wohlfeile Ausreden für politische Untätigkeit.
Nein, er muß politische Norm werden.
Wenn sich der EG-Bummelzug nicht schneller bewegt, dann brauchen wir eine nationale Regelung, Herr Gröbl. Das ist sehr ernst gemeint, auch wenn Sie lächeln.
Dänemark hat vor dem Europäischen Gerichtshof ein wichtiges Grundsatzurteil pro Umwelt erreicht. Der Gerichtshof sagt, es sei grundsätzlich zulässig, den freien Warenverkehr in der EG zu beschränken, wenn und soweit dies zum Schutz der Umwelt erforderlich ist. Die Bundesregierung tut sich auf ihre angebliche Vorreiterrolle im Umweltschutz soviel zugute. Manchmal drängt sich aber der Eindruck auf, als ob wir eher im Bremserhäuschen säßen. Es ist an Ihnen, den Gegenbeweis zu liefern.
Danke schön.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Göhner.
Herr Präsident! Liebe Kollegen! Die Entwicklung der Europäischen Gemeinschaft zu einer wirklichen Umweltgemeinschaft wird von uns regelmäßig beklagt, wenn Kompromisse geschlossen werden: weil uns die nicht weit genug reichen und nicht schnell genug kommen. Das liegt daran, daß wir in der EG die Vorreiterrolle und eine Pilotfunktion haben.
Unsere Positionen sind weiter gesteckt als das, was in
der EG von anderen Staaten geteilt wird. Nun müssen
wir darüber nachdenken, was wir gemeinsam dazu
tun können, um die anderen EG-Länder zum stärkeren Mitmachen zu bewegen.
Jetzt darf ich eines doch noch in Erinnerung rufen. Nach dem Umweltministerrat Ende Juni haben wir alle gesagt: Dieser Kompromiß in Sachen Kleinwagen ist nur ein erster Schritt. Aber wir haben wenige Tage vor dem 28. Juni dieses Jahres im Umweltausschuß des Bundestages sehr wohl alle gemeinsam die Gefahr gesehen, daß überhaupt nichts zustande käme,
wohlwissend, daß 60 % des Pkw-Bestandes außerhalb der Bundesrepublik in Europa Kleinwagen sind. Wenn es wirklich gescheitert wäre, wäre also nichts zustande gekommen.
Dann gab es den Kompromiß vom 28. Juni. Und wir waren entsetzt — das darf man nicht vergessen —, daß Frankreich kurze Zeit später erklärte, das mache man nun doch nicht mit.
Wir sahen uns der Gefahr ausgesetzt, daß sich in Sachen Kleinwagen bis 1,41 überhaupt nichts in der Europäischen Gemeinschaft tun würde. Das war die Ausgangslage.
Dann kamen zwei hilfreiche Umstände, wie ich denke, zum einen das Urteil des Europäischen Gerichtshofes in Sachen Abfall.
— Von Dänemark erstritten.
— Doch, es hat etwas damit zu tun, weil es nämlich die Frage aufgeworfen hat, ob nicht doch nationale steuerliche Präferenzen zulässig sind. Das hat gerade dazu geführt, daß wir nicht nur den Kompromiß vom Juni wiederherstellen konnten, sondern in zwei Punkten eine wesentliche Verbesserung haben.
Deshalb ist der Kompromiß noch nicht gut, aber besser als das, was im Juni vereinbart war und damals von Frankreich doch noch zu verhindern versucht worden ist,
nämlich die Vereinbarung, daß wir, wenn sich durch die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs die nationale steuerliche Förderung als zulässig erweist, daß alle machen können. Ich verstehe die Erklärungen von Herrn Minister Töpfer so, daß wir dann, wenn
Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 114. Sitzung. Bonn, Freitag, den 2. Dezember 1988 8315
Dr. Göhner
der Europäische Gerichtshof dies bestätigt, dies unverzüglich für alle Neuwagen auch machen werden.
Die zweite Ergänzung gegenüber dem Juni-Kompromiß, die Ihnen offenbar entgangen ist, besteht darin, daß ausdrücklich als Bestandteil der Richtlinie vereinbart worden ist, 1991 auf der Basis von 5 mg NOX neu über die dritte Grenzwertstufe zu entscheiden. Auch das ist ein wichtiger Punkt. Prompt haben die Franzosen zu Protokoll gegeben, daß man das nicht schon als eine Zustimmung interpretieren solle.
Aber ich denke, wenn wir über Kompromisse und Entwicklungen in der Europäischen Gemeinschaft reden, müssen wir auch darauf achten, daß diese jetzigen Positionen nicht festgeschrieben werden.
Und nur mit einer zweiten Entwicklung können wir weiterkommen.
— Mag sein. Dann hören Sie gut zu, weil wir, wie ich denke, gemeinsam darüber nachdenken müssen. Auch Sie sollten da mal mehr Phantasie entfalten.
Was können wir eigentlich tun, um den jetzt verbliebenen nationalen Spielraum zur Durchsetzung umweltfreundlicher Autos auszuschöpfen? Da bin ich der Meinung, daß wir ihn noch nicht ausgeschöpft haben. Das betrifft erstens die alten Fahrzeuge, wo es um die Nachrüstung mit einem ungeregelten Katalysator geht. 700 000 haben wir. Das ist zu wenig. Ich bin hier klar der Meinung: Die Bundesregierung sollte einen direkten Zuschuß von 250 bis 500 DM — über den Betrag muß man reden — für diese Nachrüstung gewähren; denn die 700 000 sind nicht genug. Wenn wir eine solche direkte Förderung nicht machen, fürchte ich, daß sich nicht genug bewegt.
Die alte steuerliche Präferenz, die wir hatten, war viel zu kompliziert, als daß sie eine wirkliche Anreizwirkung über diesen Bereich hinaus hätte haben können.
Ich muß sagen, daß ich sie selbst kaum verstanden habe. Jedenfalls konnte ich sie den Bürgern nur erläutern, wenn ich eine schriftliche Unterlage dabei hatte.
Das würde durch einen direkten Zuschuß wesentlich erleichtert werden. Deshalb möchte ich die Bundesregierung auffordern, doch den nationalen Spielraum in dieser Frage — es ist rechtlich umstritten, ob das bei Altfahrzeugen geht — auszuschöpfen. Ich denke, man sollte diesen Weg riskieren.
Sobald der Europäische Gerichtshof hinsichtlich der holländischen Maßnahmen entschieden hat, erwarte ich — im positiven Fall — , daß wir hier eine entsprechende steuerliche Präferenz einführen. Ich denke, Herr Schäfer, das werden dann auch Sie unterstützen.
Drittens müssen wir alle Benutzervorteile ausschöpfen. Herr Töpfer hat dies eben bereits deutlich gemacht.
Jetzt darf ich auf noch einen Punkt zurückkommen: Wenn Sie das so mit Vokabeln belegen, wie Sie das hier getan haben,
dann muß ich Ihnen sagen: Es ist ja schon gut, daß Sie wenigstens Herrn Hauff nicht mehr hier haben. Sie haben zu Recht darauf hingewiesen, seit 15 Jahren sei das Stand der Technik. Ich will Ihnen das nicht immer auftischen. Aber wenn Sie hier so argumentieren, müssen Sie es doch noch einmal hören. Sie werfen Herrn Töpfer vor, daß er nicht genug Mut zum Risiko habe. Wenn Sie gar nichts fordern, wie das Herr Hauff damals 1982 als Verkehrsminister gemacht hat — das war immerhin, nach Ihrer Rechnung, wenn ich das jetzt richtig rekapituliere, neun Jahre nach Schaffung dieses Standes der Technik — , indem er erklärt hat, daß man das Katalysatorkonzept nicht wolle, weil der Benzinverbrauch zu hoch sei, kann ich nur sagen: Es ist gut, daß Sie wenigstens Herrn Hauff hier aus dem Verkehr ziehen.
Herr Abgeordneter, Ihre Redezeit ist zu Ende.
Wenn Sie an diese 15 Jahre erinnern, ist es Ihre Zeit.
Danke sehr.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Knabe.
Herr Präsident! Meine Herren! Liebe Freundinnen und Freunde! Der Bundesumweltminister ist heute viel gelobt und viel gescholten worden. Lassen Sie mich versuchen, die letzten Debatten in zwei Minuten zu bewerten:
Die CDU sagt: Der Bundesumweltminister ist hervorragend, der Bundesumweltminister ist hervorragend, der Bundesumweltminister ist hervorragend.
Der Bundeskanzler sagt: Mein Umweltminister ist hervorragend, mein Umweltminister ist hervorragend, mein Umweltminister ist hervorragend.
Herr Töpfer denkt: Der Bundesumweltminister ist hervorragend, der Bundesumweltminister ist hervorragend, der Bundesumweltminister ist hervorragend.
Doch die geschundenen Böden und Wälder stöhnen: Der Bundesumweltminister ist — — . Der Rest war nicht zu verstehen.
Die vergifteten Flüsse und Meere rauschen: Der Bundesumweltminister ist — — . Der Rest war nicht zu verstehen.
8316 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 114. Sitzung. Bonn, Freitag, den 2. Dezember 1988
Dr. Knabe
Die schadstoffbelasteten Wolken und Winde klagen: Der Bundesumweltminister ist — — . Der Rest war nicht zu verstehen.
Aber die CDU sagt: Unser Umweltminister ist hervorragend, unser Umweltminister ist hervorragend, unser Umweltminister ist hervorragen d.
Ich merke, daß Sie das nicht mehr lange ertragen. Die Menschen wollen das nicht mehr ertragen. Die Natur kann das nicht länger ertragen.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Friedrich.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau Kollegin Hartenstein, auch ich habe in meinem Manuskript diese Bezeichnung aus der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung". Ich wollte sie mir auch zu eigen machen und mache sie mir zu eigen: EG als Bummelzug. Es ist wirklich keine Werbung für die EG als Umweltgemeinschaft, was momentan passiert. Wir sind uns da einig. Trotzdem glaube ich, daß man zur EG nicht so Stellung nehmen kann, wie das hier Ihr Fraktionskollege Schäfer gemacht hat.
Herr Kollege Schäfer, Sie haben so ein herzhaftes Bekenntnis zur EG in Ihrer Rede abgegeben. Ich glaube, da kann man nicht nur die Rosinen bejubeln, sondern man muß zumindest einige Mängel nicht immer begrüßen — das tun wir auch im Umweltbereich nicht — , aber einiges auch ertragen.
Vor allem, Herr Kollege Schäfer, muß man erkennen, daß EG immer bedeutet: Harmonisierung der Regeln, d. h. Anpassung. Wir Deutschen können doch nicht so arrogant sein, daß wir glauben, daß sich alle immer nur uns anpassen werden. Sie können nicht so tun, als ob alles Positive in der EG kommt, weil Sie für die EG sind, und für alles Negative hier jeweils irgendein deutscher Minister verantwortlich ist. So kann man, glaube ich, mit der EG nicht umgehen.
Sie haben zu unserem früheren Bundesinnenminister gesagt: ein angeblicher Ankündigungsminister. Ich möchte hier nur kurz daran erinnern, daß es dieser Minister war, der trotz heftigster Widerstände in der EG überhaupt den Weg zum schadstoffarmen Kraftfahrzeug mit allen noch bestehenden Mängeln geöffnet hat. Ein Kollege meiner Fraktion hat schon aufgezeigt — das kann ich hier weglassen — , wie die Vorgeschichte ist, was ursprünglich einmal in der EG-Kommission 1984 angestrebt wurde. Wir haben sehr viele Fortschritte, aber auch einige — da sind wir uns eigentlich einig — umweltpolitisch unbefriedigende Befunde.
Der unbestritten beste Stand der Abgasminderungstechnik ist bei weitem noch nicht bei allen Fahrzeugklassen durchgesetzt, und der Ausstoß an Stickstoffoxiden nimmt immer noch zu, obwohl wir dort, wo wir glauben, daß wir eindeutig frei handeln können, nämlich im Anlagenbereich, für sehr starke Reduktionen gesorgt haben. Trotzdem laufen wir Gefahr, daß wir internationale Verpflichtungen, die wir mit anderen Ländern eingegangen sind, nämlich wenigstens bis zum Jahre 1998 um 30 % zu reduzieren, mit der momentanen Rechtslage vielleicht nicht einhalten.
Wir müssen — das gebe ich offen zu — wirklich gemeinsam darüber nachdenken, was wir auf europäischer Ebene und auf nationaler Ebene zusätzlich tun können.
Ich will hier den Bereich EG-Ebene weglassen und nur zum nationalen Bereich kommen.
An zwei Punkten kommen Sie nicht darum herum — Sie können eine andere Meinung haben — , wenigstens offen darüber zu diskutieren und diese Probleme nicht zu verdrängen. Erstens. Der Kollege Lennartz hat aufgezeigt, ein nationaler Alleingang bedeutet oft einen Wettbewerbsnachteil. Wir müssen uns manchmal, nicht immer, überlegen, wie viele Arbeitsplätze uns ein nationaler Alleingang in diesem oder jenem Bereich des Umweltschutzes wert ist. Zum zweiten müssen wir — auch ich blicke da noch nicht ganz durch — letzten Endes über die rechtlichen Grenzen reden.
Ich möchte hier nur einen Punkt, Herr Präsident, zum Schluß noch ansprechen. Der Kollege Baum hat von den Benutzervorteilen gesprochen, die wir Kraftfahrzeugen mit der modernsten Technik einräumen sollten. Da bin ich voll seiner Meinung. Ich möchte einen Vorschlag in Erinnerung rufen, der nicht von mir persönlich kommt, der darauf hinausläuft, so einen Benutzervorteil zu schaffen. Ich meine den Vorschlag der Einführung eines gespaltenen Tempolimits. Ich verspreche mir da persönlich gar nicht eine Schadstoffreduzierung in großem Stil, aber wenn wir diese Fahrzeuge mit unbefriedigender Technik mit einem optisch klar erkennbaren Stempel versehen, dann wäre das aus der Sicht vieler Mitbürgerinnen und Mitbürger, die für freie Fahrt auf den Straßen sind, ein Makel, dem sie entgehen möchten.
Das wäre für sie vielleicht ein Anlaß, doch freiwillig auf das Katalysatorfahrzeug umzusteigen.
Vielen Dank.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Antretter.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich verstehe die Welt nicht mehr: Hier rügt der Bundesumweltminister die EG-Beschlüsse, in der „Stuttgarter Zeitung", in der „Welt" kritisiert er den Umweltbeschluß, und Sie kritisieren uns, weil wir un-
Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 114. Sitzung. Bonn, Freitag, den 2. Dezember 1988 8317
Antretter
sererseits die Umweltbeschlüsse kritisieren. Ich verstehe die Welt nicht mehr!
— Halten Sie einen Moment die Luft an, ich will gerade etwas Freundliches zu Ihnen sagen, Herr Kollege Friedrich. Ich möchte mich bei Ihnen bedanken, weil Sie der erste aus dieser Union und dieser Koalition waren, der einmal sagt: An einem Tempolimit — sei es auch ein gespaltenes — führt kein Weg vorbei.
Herr Minister, ich hätte es wirklich begrüßt, wenn in dieser umfangreichen Pressemitteilung heute oder irgendwann in den letzten Tagen von Ihnen auch einmal ein positives Wort zum Tempolimit gesagt worden wäre.
Haben Sie bitte endlich den Mut, diesem Kabinett, das offenbar die Automobillobby so fürchtet wie der Teufel das Weihwasser, einmal zu sagen, daß ein Tempolimit für uns etwas Erwägenswertes ist, weil wir das Vertrauen der Europäer erst dann bekommen und ein Erfolg in Brüssel mit den anderen möglich sein wird.
— Natürlich, Herr Kollege Baum, wir haben uns jahrelang damit befaßt: Eine Begrenzung auf 130 km/h bringt noch keinen nennenswerten Erfolg bei Stickoxiden. Aber Sie wissen auch, Tempo 100 ist das zweitbeste Mittel nach dem Katalysator, die Stickoxide drastisch zu reduzieren.
Deshalb habe ich Ihren Vorschlag im Prinzip begrüßt, weil er ein erster Schritt zum Katalysator hin wäre.
Ich glaube, Hubert Weinzierl, der Vorsitzende des BUND, hat recht, wenn er sagt: Vor dem Hintergrund des Ergebnisses, das Sie aus Brüssel mitgebracht haben, werden Sie es künftig Schwerhaben, mit der Aussage Glauben zu finden, daß die deutsche Umweltpolitik immer nur durch Europa gebremst wird. Für mich ist eines sicher: Die Beschlüsse wirken ebenso demotivierend im Blick auf die Europawahl, wie sie sich schädlich auf die Umwelt auswirken.
Denn weder aus der Sicht des deutschen Umweltschutzes noch im Sinne einer vernünftigen EuropaPolitik und — um bei meinem Thema zu bleiben — schon gar nicht im Interesse einer verantwortlichen Verkehrspolitik wurde mit diesem Kompromiß von Brüssel ein Fortschritt erreicht.
Herr Minister, alles, was Sie vorher vorgerechnet haben, ändert doch nichts daran, daß Sie mit einem Kompromiß von der Ratssitzung zurückgekehrt sind,
der auf lange Zeit verhindern wird, daß die Stickoxidemissionen des Pkw-Verkehrs wirksam und schnell reduziert werden und dies angesichts des dramatischen Waldschadensberichts, den wir vorliegen haben, und angesichts der Tatsache, daß wir auf eine Klimakatastrophe zugehen.
Sie haben die Frage nicht beantwortet, Herr Minister, die von meinen Kolleginnen und Kollegen aufgeworfen wurde, warum Sie sich nicht an die Seite der Niederländer, der Dänen und der Griechen gestellt haben, die sich für strenge Grenzwerte eingesetzt und deshalb den Kompromiß abgelehnt haben.
Ich stelle vielmehr fest: Es ist nichts übriggeblieben von Ihren Ankündigungen, z. B. in Baden-Württemberg notfalls einen nationalen Alleingang zu riskieren.
— In Baden-Württemberg. Laut „Frankfurter Rundschau", laut „Welt",
laut „Stuttgarter Zeitung". — Die Wirklichkeit ist doch, daß sich wieder einmal die Lobby bestimmter europäischer Automobilhersteller durchgesetzt hat
— ich sage: europäischer — und daß Sie eineinhalb Jahrzehnte nach der verbindlichen Einführung der strengen US-Grenzwerte einer Regelung zugestimmt haben, die weit hinter dem Stand der Technik zurückbleibt, und daß nicht einmal annähernd Werte realisiert werden, die für die französische und italienische Technik problemlos und kurzfristig erreichbar sind.
Meine Damen und Herren, in dieser Stunde wird in Baden-Baden der diesjährige Bundeskongreß der Europa-Union Deutschland eröffnet. Da werden auch die Politiker der Union wieder davon sprechen, daß wir mehr Kompetenzen für das Europäische Parlament brauchten, daß unsere gemeinsame große Sorge für die Europawahlen im Juni des nächsten Jahres eine schlechte Wahlbeteiligung sei und daß wir alles zu tun und nichts zu unterlassen hätten, was das Vertrauen und die Hoffnung der Bürgerinnen und Bürger in Europa stärke. Ja, meine Damen und Herren, wo soll dieses Vertrauen denn herkommen, wenn Sie selbst mit die Zeichen gegen das Europaparlament setzen, indem Sie seine Beschlüsse ignorieren, etwa den, der in Anlehnung an das kurzfristig technisch und wirtschaftlich Mögliche sehr viel niedrigere Grenzwerte gefordert hatte, als Sie sie jetzt mitbeschlossen haben. Woher soll denn der Glaube kommen, daß Sie es mit Europa und der Umwelt ernst meinen, wenn Sie so armselige Werte und lange Übergangsfristen garantieren, daß der Schadstoffausstoß in den nächsten zehn Jahren auf der heutigen Höhe verbleiben wird?
Ich glaube, Sie sollten aufhören — ich komme zum Schluß, Herr Präsident — , das richte ich an die ganze Bundesregierung, von der Stärkung des Parlaments zu reden, wenn Sie selbst seine Beschlüsse mißachten. Sie sollten auch Ihren Kollegen und Kolleginnen im Rat sagen, daß sie mit diesen Kungeleien aufhören sollen, denn wer es mit der Kompetenz und der Macht
8318 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 114. Sitzung. Bonn, Freitag, den 2. Dezember 1988
Antretter
des Europäischen Parlaments ernst meint, der muß schon heute darauf achten, daß er dessen Willen respektiert.
Vielen Dank.
Die Kollegen kommen immer so lange zum Schluß.
Herr Dr. Lippold ist der nächste Redner.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau Hartenstein hat zitiert: „Europa macht sich lächerlich". Damit sind wir beim Stichwort Auseinandersetzung mit der Opposition,
nicht mit den GRÜNEN, weil deren Argumente zwar nicht zutreffend, aber in sich schlüssig sind. Die Argumente der SPD sind noch nicht einmal in sich schlüssig.
Fangen wir mit Herrn Schäfer an, der hier den Stand der Technik zitiert, von 15 Jahren Entwicklung beim Automobil spricht und dann fragt: Warum sind wir nicht weiter? — Herr Schäfer, 88 minus 15 ist 73 — wer war denn da in der Regierung? Da konnte es ja damals keinen nationalen Alleingang in Europa geben, weil Sie selbst in Deutschland noch nicht an den Katalysator gedacht haben. Die Japaner haben ihn eingeführt, die Amerikaner haben ihn eingeführt. Sie haben dagesessen, zugeschaut, nicht gehandelt, nichts getan. Das ist die Wahrheit. Versagt hat Herr Hauff, den Sie jetzt nach Frankfurt geschickt haben, damit er hier nicht mehr auffällt, aber da wird er auch nichts werden.
Also ausgerechnet Sie, die Sie 15 Jahre die Zeichen der Zeit verkannt haben, glauben sich heute hierhinstellen zu können. Sie haben weder national noch international die entsprechenden Vorstöße unternommen. Das muß hier ganz deutlich gesagt werden.
Damit sind wir bei Herrn Lennartz, damit die Lebhaftigkeit der Diskussion bleibt. Herr Lennartz stellt sich hier hin und sagt, nachdem vorher schon das Wort vom nationalen Alleingang gefallen war: Wie bemitleidenswert ist doch die chemische Industrie und welche Wettbewerbsnachteile hat sie, weil wir die Verklappung stoppen und die anderen nicht? — Herr Lennartz, das ist — ich sage es deutlich — Heuchelei.
Im Ausschuß und im Parlament haben Sie noch vor wenigen Wochen gesagt: Warum erst Ende 1989? Warum nicht sofort? Jetzt stellen Sie sich hier hin, weinen und sagen: Das bringt für die Industrie ja Nachteile, wenn die anderen erst jetzt daran denken, zu stoppen, während wir es sofort gemacht haben. Herr Lennartz, das ist Täuschung des Wählers. Herr Lennartz, das ist ganz klar das Versagen Ihrer Rolle als Opposition.
Halten wir eines fest: Nachdem Sie gerade die Nachteile beklagt haben, die eine nationale Vorreiterrolle mit sich bringen, kommt als nächstes der Herr Antretter und sagt: Also, wir müssen doch in einem weiteren Bereich sofort Vorreiter sein, ohne Rücksicht auf Wettbewerbsnachteile u. a.
Ich halte folgendes fest: Nur drei Redner innerhalb von 15 Minuten; der erste sagt ja, der zweite nein, und der dritte sagt wieder ja. Meine Damen und Herren, daß man Sie als Opposition nicht ernst nehmen kann, läßt sich doch an den Stichworten dieser einen Diskussion in aller Kürze zeigen.
Jetzt noch eines, Herr Antretter, zur Frage der Lobby, wer denn was verhindert hat. Ich erinnere mich daran, daß es unter Bezugnahme auf die Nichtpolitik von Hauff
ja auch seinerzeit eine sogenannte Baiersbronner Vereinbarung zwischen Ihnen, Ihrem Kanzler und der Wirtschaft im Automobilbereich gab, über zehn Jahre lang nichts zu verändern. Auf welcher Seite hat die Lobby denn mit Erfolg gearbeitet? Wir haben in harten Gesprächen durchgesetzt — ich weiß noch, wie Innenminister Zimmermann damals mit der deutschen Automobilindustrie gerungen hat —, daß das läuft, als gesagt wurde: Hier kommt die nationale Katastrophe. Sie haben nichts, gar nichts gemacht.
Ich halte folgendes fest: Die Opposition hat nicht nur keine konstruktiven Beiträge zu dem, was zukünftig als Perspektive von Umweltpolitik in Deutschland und in Europa gemacht werden sollte, ganz im Gegenteil: Sie sind sich noch nicht einmal schlüssig darüber, was Sie denken wollen, wie Sie es denken wollen und wie Sie es zum Ausdruck bringen. Innerhalb von 15 Minuten drei Widersprüche, von Schäfer, Lennartz, Antretter, das ist Rekord. Das macht Ihnen so schnell wirklich keiner nach.
Danke.
Ich muß mich bei Ihnen bedanken, weil Sie der erste Redner dieser Aktuellen Stunde sind, der die Zeit eingehalten hat.
Jetzt kommt noch einer, der das auch tun will, Herr Schmidbauer.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Ich denke, daß der Kollege Lippold soeben klargemacht hat, daß die Opposition noch einige Zeit des Nachdenkens braucht. Ich möchte dazu beitragen, daß Sie dies tun können und ein etwas längeres Wochenende haben. Ich will deshalb unseren Antrag hier nicht noch einmal darstellen. Ich denke, daß wir ihn in den Deutschen Bundestag schriftlich einbringen werden und möchte deshalb die Redezeit nicht ausnutzen.
Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 114. Sitzung. Bonn, Freitag, den 2. Dezember 1988 8319
Schmidbauer
Ich darf mich bedanken, wünsche Ihnen ein gutes Wochenende und hoffe, daß wir uns in der nächsten Woche gesund wiedersehen.
Herzlichen Dank.
Meine Damen und Herren, damit ist die Aktuelle Stunde beendet. Wir sind am
Schluß unserer Tagesordnung. Auch ich wünsche Ihnen ein gutes Wochenende.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Mittwoch, den 7. Dezember 1988, 13 Uhr ein.
Die Sitzung ist geschlossen.