Rede von
Gerlinde
Hämmerle
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(SPD)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist erfreulich, aber es ist auch höchste Zeit, daß die Eingliederung der Aussiedler und Übersiedler heute im Plenum des Deutschen Bundestages diskutiert wird. Durch den Zuzug von bisher in diesem Jahr bereits 180 000 Menschen hat diese Problematik — das bestreitet niemand — weiter zugenommen, und es ist nicht zu verkennen, daß die Diskussionen trotz vieler Bemühungen von unterschiedlichster Seite sehr kontrovers geführt werden. Dies liegt, so meine ich, nicht an der Tatsache, daß Aussiedler überhaupt da sind, sondern an der Tatsache des enormen Anstiegs dieser Zahlen, die vor allem die Kommunen vor sehr große Probleme stellen.
Von 1976 bis 1986 gab es einen jährlichen Zustrom von ca. 50 000 bis 80 000 Aussiedlern, und — meine Damen und Herren, seien wir doch einmal ehrlich — damals war das überhaupt kein Thema, denn diese Menschen konnten problemlos integriert werden. Wenn es aber heute schon 180 000 sind, so muß man sehen, daß dieses Problem einfach nicht mehr zu umgehen ist und daß es allerhöchste Zeit geworden ist, daß wir hier in diesem Hohen Hause darüber reden. Vor allem auf Grund der liberalisierten Genehmigungspraxis in der UdSSR und der Volksrepublik Polen ist damit zu rechnen, daß diese Zahlen noch weiterhin ansteigen werden. Ich glaube, dieses Problem wird uns noch eine ganze Weile begleiten.
Natürlich stellt die Integration dieser Menschen die Bundesrepublik vor zahlreiche soziale, wirtschaftliche und auch kulturelle Probleme. Doch es kann für uns kein Zweifel daran bestehen, daß eine moderne und leistungsfähige Gesellschaft wie die unsere diese Aufgaben bewältigen kann.
Das muß möglich sein, ohne daß wir unsere moralischen und verfassungsrechtlichen Pflichten gegenüber politisch verfolgten Ausländerinnen und Ausländern verletzen.
8304 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 114. Sitzung. Bonn, Freitag, den 2. Dezember 1988
Frau Hämmerle
Deshalb ist es unbegründet — und wir sollten eigentlich darin einig sein, daß wir davon Abstand nehmen —, daß wir diese beiden Menschengruppen, die sich beide in einer Ausnahmesituation ihrer persönlichen Lebensverhältnisse befinden, gegeneinander ausspielen.
Allerdings, so glauben wir, muß der gesetzliche und administrative Rahmen durch die Bundesregierung deutlicher gesetzt werden, und es müssen sich vor allen Dingen im finanziellen Bereich die Anstrengungen des Bundes dieser Situation vermehrt anpassen. Unsere Forderungen an die Bundesregierung zur Eingliederung der Betroffenen — ich möchte das einmal mit aller Deutlichkeit sagen — sind Starthilfen,
und sie stellen keine einseitige Bevorzugung von Aussiedlern und Übersiedlern dar. Unsere Forderungen verstärken einerseits die bereits bestehenden Regelungen, z. B. den Garantiefonds und die soziale Sicherung, verlangen aber andererseits neue Regelungen zur Erleichterung der persönlichen Lebenssituation der betroffenen Menschen und zur Verbesserung der immer mehr beengten Lage einiger Länder und zahlreicher Kommunen.
Hier ist das dringendste Problem — das wissen wir alle — die Wohnraumversorgung. Die Lage ist mancherorts derartig dramatisch — Herr Staatssekretär, das wissen Sie —, daß die Menschen bereits in Containern und anderen, ich möchte einmal sagen, dem menschlichen Leben nicht gerade angepaßten Unterkünften eingepfercht sind. Ich glaube, Herr Staatssekretär, wir müssen uns, abgesehen vom Wohnungsbauprogramm, verstärkt Gedanken über die Bewältigung dieser Situation machen. Deswegen fordern wir, daß die Versorgung mit Übergangswohnraum nicht weiterhin nur eine Aufgabe der Länder ist, sondern daß sich der Bund hier verstärkt an den Kosten beteiligt.
Es ist natürlich klar, daß hier zwischen dem Bund und den Ländern noch ein Streitpunkt besteht; darüber sollten wir auch gar nicht hinwegreden. Aber ich bin wirklich zuversichtlich, daß in den Gesprächen zwischen den Ländern und der Bundesregierung Lösungen gefunden werden, weil sie nämlich gefunden werden müssen. Die Situation macht Lösungen unumgänglich.
Zur Gesamtsituation bei der Wohnraumversorgung ist zu sagen — das ist nun, auch für die Öffentlichkeit, ganz wesentlich — , daß der schnell steigende Bedarf an Wohnraum nicht dadurch zustande gekommen ist, daß nun diese vielen Aussiedler und Übersiedler zu uns gekommen sind, sondern dadurch, daß sich die Bundesregierung aus der Förderung des sozialen Wohnungsbaues 1985 bedauerlicherweise ausgeklinkt und dies den Ländern überlassen hat.
Wenn wir nun für alle Zugangsberechtigten im sozialen Wohnungsbau — nicht nur für die Aussiedler und Übersiedler — Wohnraum brauchen dann ist unsere Forderung: Es muß ein Wohnungsbauprogramm geschaffen werden, nicht nur für Aussiedler und Übersiedler, sondern für alle Zugangsberechtigten, die ich hier jetzt nicht im einzelnen aufzählen muß.
Da, Herr Staatssekretär Waffenschmidt, sieht es im Moment für uns doch so aus, daß die 750 Millionen DM, die Sie im Sonderprogramm eingeplant haben, nicht ausreichen; wir werden uns im Ausschuß darüber unterhalten müssen. Auf Grund einer Schätzung der Bundesländer sagen wir: Wir müssen eine Förderung von 1,1 Milliarden DM jährlich auf jeden Fall einplanen, um dieser Situation gerecht zu werden, wobei ich glaube, daß diese Summe noch ansteigen wird.
Zur Integration gehört aber nicht nur eine menschenwürdige Wohnung, sondern auch die Beherrschung der Sprache und die Ausübung eines Berufs. Deshalb sind zwei unserer Forderungen so formuliert: die Erweiterung der Sprachkurse von zehn auf zwölf Monate und die Verlängerung der Förderungsdauer für die Berufsausbildung von 36 auf 48 Monate. Beides, meine Damen und Herren — der Herr Kollege Czaja weiß das ganz genau — , sind keine sozialdemokratischen Erfindungen, sondern die Forderungen der Ministerpräsidenten der Länder, die sie einstimmig bereits 1985 vorgetragen haben.
Bei der Sprachförderung ist z. B. zu sagen, daß sie im Augenblick von der Bundesanstalt für Arbeit geleistet wird. Meine Damen und Herren, wir wissen sehr wohl, daß eine Forderung nach Erweiterung daher auch die Bundesanstalt für Arbeit belastet. Wir sagen in unserem Antrag: Die Bundesanstalt muß so schnell wie möglich finanziell und personell in die Lage versetzt werden, diese Aufgaben zu bewältigen,
auf die sie gar nicht eingestellt ist und auch gar nicht eingestellt sein kann. Dies ist überhaupt kein Vorwurf an die dort Beschäftigten und Verantwortlichen.
Weitere Vorschläge der SPD-Fraktion möchte ich hier nur noch stichpunktartig anführen. Es geht uns vor allen Dingen auch um die Kinderbetreuung und um die Sicherung bei Arbeitslosigkeit. Ich danke Ihnen sehr, Herr Kollege Schulze, daß Sie die Eingliederung der Übersiedler aus der DDR angesprochen haben. Dies ist im Papier der Koalition nicht deutlich ausgedrückt. Ich bin zuversichtlich, daß wir in den Beratungen im Innenausschuß einzelne Punkte sachlich und sachgerecht miteinander diskutieren können.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich zum Schluß aber eines deutlich sagen: Es wird uns allen miteinander — egal, zu welcher Partei wir gehören — nicht erspart bleiben, auch kritische Diskussionen zu
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Frau Hämmerle
führen und Unpopuläres anzusprechen. Ich denke aber, daß für politische Parteien, die auf humanitären, ethischen, christlichen und sozialen Grundsätzen aufbauen, dieses Thema ebenso wie die Flüchtlingsproblematik eine Verpflichtung sein muß. Die SPD erkennt diese Verpflichtung. Wir sind bereit, weiter daran zu arbeiten.