Rede von
Wolfgang
Lüder
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(FDP)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (FDP)
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Noch vor einem Jahr wäre eine solche Debatte hier in diesem Hause weder möglich noch notwendig gewesen. Wir alle hatten uns daran gewöhnt, daß die Zahlen der Aussiedler, die aus den osteuropäischen Ländern und dort aus den deutschen Siedlungsgebieten zu uns kamen, sich in überschaubaren Größenordnungen hielten. Wir hatten uns daran gewöhnt, die zu uns Kommenden hier freundlich zu begrüßen. Ein Problem mit der Integration, ein Problem mit der Wohnungsbeschaffung, ein Problem mit der Arbeitsbeschaffung, ein Problem mit dem Erlernen oder Wiedererlernen unserer Sprache gab es nicht. Die Zuwanderung der kleinen Zahl gab allen, ohne besondere Probleme aufzuwerfen, Gelegenheit, humanitäres Engagement zu demonstrieren.
Erst als im Frühjahr dieses Jahres — der Kollege Gerster hat daran erinnert — die Zahlen anwuchsen, als die Aufnahmekapazitäten überfordert wurden, als
die eingerichteten Sprachkurse nicht mehr reichten, als die vielen ehrenamtlichen Helfer die Grenze ihrer nahezu grenzenlosen Einsatzbereitschaft erreichten, entstand das, was „Aussiedlerproblematik" heißt.
Mit Dankbarkeit haben wir Freien Demokraten zur Kenntnis genommen, daß die Bundesregierung insbesondere durch den Einsatz des Bundeskanzlers unmittelbar nach der Sommerpause — eigentlich noch in der Sommerpause — das Kabinett dazu brachte, ein Sonderprogramm für Aussiedler zu beschließen.
Die Verwaltung legte Tempo vor. Die meisten Verwaltungen beherzigten das Tempo auch. Ich will aber nicht verhehlen, daß die langsamere Gangart beim Wohnungsbauprogramm meine Zustimmung nicht finden kann.
Als dann im Herbst dieses Jahres die politischen Diskussionen um die sogenannte Aussiedlerfrage geführt wurden, zeigte sich, daß eine Bundestagsdebatte notwendig wurde. Die Grundlagen dazu liefert der von den Koalitionsfraktionen eingebrachte Antrag. Es ist notwendig, daß sich das deutsche Parlament in einer umfassenden Resolution detailliert zur Aussiedlerthematik äußert.
Wir müssen und wollen allen denen eine deutliche Absage erteilen, die mit der Vermengung von Aussiedlerfragen, Ausländerthemen und Asylproblematik eine Fremdendiskussion führen wollen, die die eine Gruppe der Hilfsbedürftigen, z. B. die wirklich Verfolgten unter den Asylbewerbern, gegen die Aussiedler zu wägen suchen und dabei zugleich Ressentiments gegen die Ausländer in Kauf nehmen.
Dieser Stil politischer Auseinandersetzung wird von uns entschieden und mit Nachdruck kritisiert. In gleicher Weise kritisieren wir aber auch den Versuch, über Begriffe wie Deutschtümelei eine Nationalismusdiskussion in unser Land zu tragen.
Politik für Aussiedler ist keine Frage des Nationalismus. Hier sind nicht politische Grundwerte des letzten Jahrhunderts gefragt — auch Frau Olms wird das vielleicht noch lernen —,
hier steht nicht Deutschlandpolitik zur Debatte, vielmehr geht es hier einzig und allein um Menschen. Ich füge hinzu: Hier geht es auch um unser Verhältnis zur Kultur.
Wen es verwundert, daß ich unser Verhältnis zur Kultur hier so besonders herausstelle, den möchte ich an folgendes erinnern: Jeder Mensch braucht eine kulturelle Identität, kulturelle Bezugspunkte. Jeder Mensch ist eingebunden in die Geschichte seines Volkes, seiner Nation, seiner Sprache, seiner Kultur, und niemand kann sich daraus lösen.
Wenn sich einige dessen nicht bewußt sind, so liegt das nicht daran, daß diese Aussage falsch wäre, sondern allein daran, daß die Bequemlichkeit beim Nach-
8296 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 114. Sitzung. Bonn, Freitag, den 2. Dezember 1988
Lüder
denken immer auch mit der Gefahr des Verlustes kultureller Werte verbunden ist.
Meine Damen und Herren, ich habe in hohem Maße Respekt vor den Aussiedlern, die ihre kulturelle Identität im Engagement für unser Land, unsere Sprache und unsere Kultur suchen. Es geht um Menschenrechte, es geht nicht um nationale Vorurteile.
Die Ziele unserer Politik für Aussiedler sind gleichberechtigt und gleichermaßen auf die deutschen Volks- und Staatsangehörigen in den Aussiedlungsgebieten bezogen, die dort bleiben wollen, wie auf die Aussiedler, die zu uns kommen.
Wir haben in dem Koalitionsantrag bewußt und mit Nachdruck verankert, daß wir nicht eine Politik betreiben oder betreiben wollen, die mancher mit Abwerbung mißinterpretieren könnte.
Nein, unsere Politik ist — wir sind dankbar, daß das Auswärtige Amt in der konkreten Realisierung auch stets darauf hinwirkt — , die Verhältnisse in den Aussiedlungsgebieten so zu prägen, zu gestalten, daß die Deutschen auch dort bleiben können und dort ein Leben in Wahrung der Menschenrechte führen können.
Wir wollen auch, daß die Deutschen in den Siedlungsgebieten ihre kulturelle Identität wahren können.
So, wie wir in der Ausländerpolitik hier bei uns begrüßen, daß Ausländer, die seit langem bei uns leben und auch noch lange bei uns leben wollen, ihre nationale und kulturelle Identität nicht aufzugeben brauchen und trotzdem integriert werden dürfen, so wollen wir dies auch für die Menschen, die seit langem, zum Teil seit Generationen, in Aussiedlungsgebieten leben. Wir wollen, daß auch sie in den Siedlungsgebieten integriert bleiben können und trotzdem ihre kulturelle Identität und ihre Menschenrechte wahren können. Deswegen sage ich: Hier geht es nicht um nationale Fragen; hier geht es um Menschenrechte.
Genauso geht es aber um Menschenrechte, wenn wir den Entschluß derer respektieren und zu respektieren haben, die zu uns kommen wollen. Hier darf kein Oberbürgermeister irgendeiner deutschen Stadt hinterfragen, ob dieser Entschluß gerechtfertigt ist oder nicht.
Hier darf kein Politiker irgendeiner Partei hinterfragen, ob diesem Menschen Freizügigkeit zusteht oder ob er den Zuteilungsbürokratien der deutschen Behörden ausgeliefert werden soll. Nein, jeder Aussiedler, der zu uns kommen will — und nur an seinen Willen und an seinen Entschluß ist dieses Recht gebunden — , hat einen Anspruch auf die volle Wahrnehmung seiner Grundrechte.