Rede von
Manfred
Reimann
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(SPD)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)
Herzlichen Dank, Herr Präsident.
Meine Damen! Meine Herren! Da die Bundesregierung alle ihre Gesetzesvorhaben und damit auch ihren beispiellosen Sozialabbau durchzieht, besteht für uns Sozialdemokraten kein Anlaß zu glauben, daß wir sie heute zu einer Kehrtwendung bewegen könnten. Trotzdem versuche ich, Ihnen ins Gewissen zu reden, die Neunte Novelle abzulehnen und ausnahmsweise mal gegen Ihre Regierung zu stimmen.
Die Achte Novelle des AFG war schon nicht von sozialer Verantwortung geprägt, aber die anstehende Neunte Novelle bedeutet noch schärfere Einschnitte in die Leistungen der Bundesanstalt. Die Belastungen der Betroffenen werden noch einmal auf die Spitze getrieben. Wir haben heute mehrfach gehört: Viele fliegen ganz aus den ABM-Leistungen heraus, ganz zu schweigen von den Beschäftigten, die diese Maßnahmen durchführen. Dies hatte bisher niemand für möglich gehalten. 1,26 Milliarden DM sollen bei den Betroffenen erneut abkassiert werden. Ich sage hier in aller Kritik: Das paßt nahtlos in die politische — wie ich meine — , in die unchristliche Politik dieser Regierung. So, wie Sie hier bei den Betroffenen abkassieren, werden Sie ab 1. Januar 1989 durch das schlimme Machwerk namens Gesundheits-Reformgesetz bei den Kranken abkassieren. Die Benachteiligten in unserer Gesellschaft sind es mal wieder, die die Zeche für dieses Regierungsversagen bezahlen müssen.
Bei der Neunten Novelle sind jetzt die Arbeitslosen mit einer AB-Maßnahme die Opfer. Es sind die jugendlichen Arbeitslosen, die in die Berufsvorbereitungsmaßnahmen gegangen sind. Dieses Gesetzesvorhaben zeigt erneut, daß es die Bundesregierung anscheinend aufgegeben hat, ihren Aufgaben und ihren Pflichten gegenüber den arbeitslosen Menschen, nachzukommen. Die Bundesregierung versäumt ihre gesamtgesellschaftliche Aufgabe, Lösungsansätze gegen die Massenarbeitslosigkeit zu erarbeiten. Statt dessen, Herr Arbeitsminister, erleben wir, daß die Leistungen, die Sie in die Zuständigkeit der Bundesanstalt für Arbeit verlagern, über die Bundesregierung für Sie ausgelagert werden.
Ich bringe dafür ein Beispiel. Es war abzusehen, daß es bei den 270 Millionen DM, die die Bundesregierung mit der Achten Novelle des AFG der Bundesanstalt für Arbeit für die Sprachförderung von Aussiedlern aufgebrummt hat, nicht bleiben würde. Die Bundesanstalt für Arbeit rechnet derzeit mit 1,5 Milliarden DM, die in ihrem nächsten Haushalt durch den Zustrom deutschstämmiger Aussiedler angesetzt werden müssen, und die den Haushalt belasten. Statt hier zu sagen, die Bundesregierung übernimmt die gesamtgesellschaftlichen Kosten, nehmen Sie 1,26 Milliarden DM von den Leistungen, die Arbeitslosen — besonders den jugendlichen Arbeitslosen — und anderen Berechtigten zustehen. Die Arbeitslosen in AB-Maßnahmen bezahlen im Grunde genommen die Sprachförderung, die eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe der Bundesregierung sein müßte.
— Herr Scharrenbroich, Sie landen sogar einen weiteren Coup, und die CDA macht das auch alles mit.
Die 9. Novelle wird auch nicht ohne Auswirkungen für die Gemeinden bleiben. Die Gemeinden müssen einmal mehr für diese Regierungspolitik zahlen. Ich kann Ihnen von meiner Stadt berichten, daß sie allein die Kosten für die Hilfe zur Arbeit um 50 % erhöhen muß. Rechnen Sie das einmal auf Bundesebene hoch!
Was die Situation Jugendlicher betrifft, so kann ich Ihnen — jetzt bitte ich Sie um besondere Aufmerksamkeit, meine Herren der Regierungskoalition — die Einschätzung der Katholischen Landesarbeitsgemeinschaft für Jugend-Sozialarbeit Rheinland-Pfalz/ Saarland einmal anbieten. Hier wird also zu den Einsparungen im Bereich der Berufsausbildungsbeihilfen im Rahmen von Berufsvorbereitungslehrgängen gesagt — Zitat — :
Wer mit diesem Personenkreis umgeht, der weiß, wie schwierig diese jungen Leute, die meist ohne entsprechende schulische Vorbildung sind, für eine kontinuierliche Arbeit zu gewinnen sind.
Ich frage Sie hier, ich appelliere an Ihr Gewissen: Haben Sie diesen Teil unserer Gesellschaft eigentlich schon aufgegeben?
Diese jungen Menschen können nur in die Sozialhilfe abrutschen, womit sie zwar die Kassen der Bundesanstalt entlasten, aber die Kassen der Gemeinden belasten.
Dazu die Katholische Landesarbeitsgemeinschaft weiter — Zitat — :
Bisher waren wir davon ausgegangen, daß die Sozialhilfe nur eine vorübergehende Hilfe zur Sicherung des Lebensunterhaltes sein sollte und daß alle Maßnahmen und Möglichkeiten vorher ausgeschöpft werden sollen von denen, die politische Verantwortung tragen.
Das sind Sie, meine Damen und Herren. Ein weiteres Zitat:
Bei den Jugendlichen und jungen Erwachsenen entsteht das Gefühl, ausgegrenzt zu sein und um eine eigene Zukunftsperspektive betrogen zu werden. Als Mitgliederversammlung der Katholi-
8278 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 114. Sitzung. Bonn, Freitag, den 2. Dezember 1988
Reimann
schen Jugend-Sozialarbeit möchten wir Sie bitten,
— Sie bitten, Sie —
durch ihre Stimmen die Möglichkeit der neuen Beratung der 9. Novelle zu schaffen, damit diese schlimmen Folgen nicht eintreten.
Das war ein Zitat.
Statt diese Probleme zu lösen, beschäftigt sich die Bundesregierung seit Jahren mit der Verschiebung von Geldern vom Bund nach Nürnberg und der Kürzung von Leistungen der Bundesanstalt auf dem Rükken der Gemeinden. Angesichts der unvermindert hohen Arbeitslosigkeit sollte auch einmal Schluß sein mit dem Geschwätz, wie wir es auch heute wieder gehört haben, von den angeblichen Glanzleistungen der Bundesregierung im Bereich der Arbeitsförderung. Die Steigerung der AB-Maßnahmen von 29 000 im Jahre 1982 auf 117 000 im Jahre 1988 ist keine Glanzleistung, wie Sie es immer wieder darstellen, sondern sie ist ein Bankrott für diese Gesellschaft.
Beseitigen Sie die Arbeitslosigkeit, dann können Sie diese Zahlen sowieso in die Schublade stecken!
Jetzt sage ich Ihnen noch etwas. Selbst die Landesminister aus Ihren eigenen Reihen haben bereits der 8. Novelle des AFG nur unter größten Bedenken zugestimmt. Die rheinland-pfälzische Sozialministerin Frau Hansen appellierte bereits im Juni dieses Jahres an den Bundesarbeitsminister, die Qualifizierungsoffensive auf dem Arbeitsmarkt nicht unter den Vorzeichen des Haushaltsdefizits der Bundesanstalt für Arbeit zu stopfen. Zitat:
Es wäre sicher niemandem zu vermitteln, wenn die finanziellen Lastenverschiebungen zuungunsten der Bundesanstalt gerade zu Lasten der besonders auf dem Arbeitsamt Benachteiligten gingen.
Das war eine Ministerin Ihrer Partei.
Aber solche Einwände beeindrucken die Bundesregierung schon lange nicht mehr. Sie ist in den sechs Jahren Ihrer Regierung mit der Arbeitslosigkeit nicht fertiggeworden. Im Gegenteil, sie entläßt immer mehr Menschen in die Hoffnungslosigkeit. Die Langzeitarbeitslosen, meist ältere Menschen, haben längst schon die Hoffnung auf einen Arbeitsplatz aufgegeben. Sie warten nur noch auf ihre Rente, und das ist eine wahrhaft tolle Perspektive in einem Land, in dem der vielgepriesene Wirtschaftsaufschwung zu den beliebten politischen Tagesthemen hier gehört.
Die jüngeren Menschen treten in einen Teufelskreis ein, der heißt: Arbeitslosigkeit, AB-Maßnahme, 9. Novelle, wieder Arbeitslosigkeit. Nein, meine Damen und Herren der Regierungsmehrheit: Wie schon die 8. Novelle des AFG ihrem Anspruch, einem maßgeblichen Beitrag zum Abbau der Arbeitslosigkeit zu leisten, nicht gerecht geworden ist, so wird auch die 9. Novelle dieser Initiative nicht folgen, die durch Qualifizierungen für den Arbeitsmarkt Arbeitslosigkeit abbauen sollte. Was hilft es — das frage ich jetzt das gesamte Parlament — , wenn das Arbeitsamt z. B. Industriekaufleute ausbildet, die die Industrie nicht braucht, weil jeder Betrieb seine eigenen Leute ausbildet? Hier bildet das Arbeitsamt aus, ohne daß sich für die Betroffenen eine Chance am Arbeitsmarkt ergibt. Wenn wir das ändern wollen, müssen wir in unseren jeweiligen Arbeitsamtsbereichen erst einmal die Übersicht über die notwendigen Arbeitskräfte bei Industrie und Handwerk erhalten. Deshalb plädiere ich heute auf Grund der Erfahrungen aus meiner Abgeordnetentätigkeit erneut dafür, eine Meldepflicht für offene Stellen einzuführen. Diese Meldepflicht halte ich nicht für sozialistisches Teufelswerk, sondern für eine sinnvolle Abstimmung zwischen Arbeitgebern und Arbeitsamt zugunsten der Arbeitslosen. Nur wenn wir wissen, wo und welcher Qualifizierungsbedarf besteht, hat es einen Sinn, notwendige Gelder für Qualifizierung auszugeben. Die Vernunft gebietet es, Angebot und Bedarf auf dem Arbeitsmarkt miteinander abzustimmen. Die Chance sollten wir bald ergreifen, wenn wir den betroffenen Arbeitnehmern helfen wollen.
Jetzt sage ich etwas Persönliches noch im Anschluß an meine Rede. Kolleginnen und Kollegen, ich hatte persönlich immer Horror davor, hier einmal reden zu müssen, wenn eine namentliche Abstimmung kurz bevorsteht. Ich habe das heute erlebt und überlebt. Trotzdem sage ich jetzt: Stimmen Sie diesem Gesetzentwurf nicht zu! Lehnen Sie die 9. Novelle ab.