Frau Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zum Abgeordneten Schemken ein Wort: Sie gehören zu der Spezies von Abgeordneten, die ein merkwürdiges Doppelleben führen.
Die Organisation, der Sie angehören, die Christdemokratische Arbeitnehmerschaft, hat in den vergangenen Wochen und Monaten mehrfach an die Bundesregierung appelliert, diesen Gesetzentwurf, die 9. Novelle, zurückzuziehen, weil er zu verheerenden Konsequenzen bei den Arbeitslosen führt. Sie als Vertreter und Mitglied der CDA stellen sich hierhin
und verteidigen den Gesetzentwurf. Man tritt Ihnen ständig in den Hintern, und Sie dürfen öffentlich dazu singen.
Das ist in der Tat ein eigenartiges Verständnis.
Wenn es um diese 9. Novelle geht, darf ich daran erinnern, daß von den 27 Sachverständigen bei der Anhörung im Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung, Herr Bundesminister, nicht ein einziger die 9. Novelle verteidigt hat — von 27 nicht einer! Es gab nicht ein einziges Argument in dieser Anhörung für die 9. Novelle.
Das Problem, das sich mir stellt, ist: Warum machen wir, wenn alle Sachverständigen in einer Anhörung des Deutschen Bundestages den Gesetzentwurf ablehnen und die Bundesregierung an diesem Gesetzentwurf dennoch nahezu unverändert festhält, Sachverständigenanhörungen? Was soll das dann noch, wenn gegen den erklärten Sachverstand der Gutachter
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ohne Rücksicht auf Verluste blind durchmarschiert wird? Warum leisten wir uns dann noch Sachverständigenanhörungen?
Ich denke, daß diese Sachverständigenanhörung deshalb besonders beispielhaft war, weil es nicht um billige Lobbypolitik ging.
Es ging darum, die Sachverständigen zu befragen, wie wir die Arbeitsmarktinstrumente gegen Arbeitslosigkeit am sinnvollsten einsetzen können. Ich denke, daß Politikverdrossenheit auch damit zu tun hat, daß — wie in diesem Beispiel — die Fähigkeit zur Selbstkorrektur völlig verlorengegangen ist, gegen erklärte Argumente völlig verlorengegangen ist.
— Zum Geldargument komme ich gleich.
Die Folgen der 9. Novelle in den Kernbereichen sind: massiver Verlust von Qualifizierungsmaßnahmen in einer Zeit, in der Qualifizierung nötiger denn je ist; Abbau von mindestens 30 000 AB-Maßnahmen nach Schätzungen der Bundesanstalt für Arbeit. Die Bundesregierung hat noch am Montag dieser Woche die Zahlen der Bundesanstalt für Arbeit im Ausschuß angezweifelt. Die Bundesregierung ist bis heute nicht in der Lage, deutlich zu machen, was denn nun ihrer Ansicht nach die Folgen der 9. Novelle sind. Die Bundesregierung hat am Montag im Ausschuß erklärt, bei der Bundesanstalt für Arbeit habe sich inzwischen eine Arbeitsgruppe konstituiert, mit dem Auftrag, über die Folgen insbesondere im Bereich der Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen nachzudenken. Das ist eine Bankrotterklärung dieser Bundesregierung.
Es ist skandalös, daß die Regierung nicht in der Lage ist, über die Folgewirkungen einigermaßen seriös Auskunft zu geben.
Ich will Ihnen — es geht ja um die Folgen — aus dem evangelischen Bereich und aus dem katholischen Bereich eine Stimme aus dem Chor der vielen zitieren. Die bischöfliche Pressestelle Trier hat in ihrem Informationsdienst vom 24. November 1988 folgendes erklärt:
„Aus" für 150 ABM-Mitarbeiter bei der Caritas im Bistum Trier und für weitere 120 Jugendliche in Ausbildungsgängen und Arbeitslosenprojekten: Wenn das neue Arbeitsförderungsgesetz .. . ab 1. Januar 1989 in Kraft treten sollte, kann die Caritas ihren dann sprunghaft gestiegenen Anteil an den Personalkosten von Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen in Projekten für Arbeitslose nicht mehr bezahlen. „Die Finanzierungslücke würde zwei Millionen DM betragen. Das können wir aus Eigenmitteln nicht finanzieren." ... Die Gesetzesnovelle trifft nach Ansicht der Caritas besonders hart diejenigen, die durch Arbeitslosigkeit
und unzureichende Qualifikation ohnehin verminderte Chancen haben. Gespart werden solle dabei vor allem zu Lasten Jugendlicher und junger Erwachsener.
— Das ist eine Stimme. Sie mögen ja sagen, daß der Bischof von Trier keine Ahnung hat. Das kann ja Ihre Meinung sein. Sie sollten in der Tat einmal ein bißchen über das C in Ihrer Plakette nachdenken, wenn Sie jetzt auch noch die Bischöfe angreifen.
Ich will Ihnen eine zweite Stimme aus dem Bereich der evangelischen Kirche zitieren. Die EKD bewertet die 9. Novelle des Arbeitsförderungsgesetzes wie folgt:
Es ist schwer zu verstehen, daß in einer Zeit wirtschaftlicher Prosperität und einer über Erwarten guten Haushaltslage an einer so empfindlichen Stelle und in einer solchen Größenordnung Kürzungen vorgenommen werden sollen.
Ich will Ihnen ein letztes Zitat nicht ersparen. Es stammt vom Kirchlichen Dienst in der Arbeitswelt, der meines Erachtens den Nagel auf den Kopf trifft. Ebenfalls zur 9. Novelle des AFG, die hier zur Beratung ansteht, heißt es dort, daß
... die Maßnahmen
— der Bundesregierung in der 9. Novelle —
darauf ausgerichtet sind, Arbeitslosigkeit als Dauerzustand zu akzeptieren, die Last der Arbeitslosigkeit auf die Betroffenen selbst zu verlagern und dem Arbeitsmarkt „entferntere" Personengruppen überwiegend oder endgültig aus dem Leistungsanspruch und der dauerhaften Integration in den Arbeitsmarkt auszugliedern und somit eine beliebig verfügbare Manövriermasse für die Deregulierungs- und Flexibilisierungsstrategie der Bundesregierung zur Hand zu haben.
Das ist präzise der Punkt: Sie benutzen schamlos die Arbeitslosen, um Ihre reaktionäre Deregulierungspolitik im Bereich der Wirtschafts- und Sozialpolitik durchzusetzen.
Meine Damen und Herren, vom Kollegen Schemken ist auf das Defizit der Bundesanstalt für Arbeit hingewiesen worden. Es ist darauf hingewiesen worden, daß der Bund im Jahre 1989 mit 4 Milliarden DM Bundeszuschuß eintritt. Das ist nur die halbe Wahrheit. Die andere Hälfte der Wahrheit ist, daß das Defizit bei der Bundesanstalt für Arbeit im wesentlichen darauf zurückzuführen ist, daß originäre Bundesaufgaben in den Verantwortungsbereich der Bundesanstalt für Arbeit abgeschoben worden sind
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und damit die Beitragszahler für Aufgaben haftbar gemacht werden, die originäre Aufgaben des Bundes sind. Ich nenne Ihnen ein Beipiel. Allein die Hilfe für Aussiedler, die auch wir wollen, die auch wir unterstützen, kostet die Bundesanstalt für Arbeit in 1989 über 1,5 Milliarden DM.
Das heißt, der Zuschuß des Bundes ist überhaupt nichts anderes als der Versuch, auf die Bundesanstalt abgeschobene Bundesaufgaben teilweise zu kompensieren.
— Das ist die andere Seite der Wahrheit.
Wenn man sich die Konsequenzen dieser 9. Novelle anguckt, dann erkennt man als eine der wirklich absurden Folgen die Tatsachen, daß die öffentliche Hand so gut wie nichts einspart. Es geschieht nichts anderes als eine Verlagerung von der aktiven Arbeitsmarktpolitik zur passiven Verwaltung von Arbeitslosigkeit.
Der Bund hat sich bislang an der Finanzierung der Arbeitsmarktpolitik so gut wie nicht beteiligt. Die Finanzmittel für die arbeitsmarktpolitischen Instrumente des AFG, vor allen Dingen Arbeitsbeschaffungs- und Qualifizierungsmaßnahmen, werden ausschließlich von den Beitragszahlern der Bundesanstalt für Arbeit aufgebracht. Der Ausbau der Arbeitsmarktinstrumente seit 1982 ist die einzige, aber keineswegs hinreichende Antwort auf die hohe Massenarbeitslosigkeit. Ohne die aktive Arbeitsmarktpolitik der Bundesanstalt beliefe sich die Zahl der registrierten Arbeitslosen heute vermutlich in Richtung 3 Millionen.
Der entscheidende Punkt ist, daß die Neunte Novelle nicht zu nennenswerten Einsparungen an öffentlichen Mitteln führt. Wenn der Präsident der Bundesanstalt für Arbeit recht hat, daß Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen beispielsweise eine Selbstfinanzierungsquote von 97 % haben, dann ist das Abmeiern, das Abschneiden von Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen, ohne eine praktikable Alternative zu bieten, geradezu abenteuerlich. Wenn diejenigen, die heute noch in Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen drin sitzen, durch die Neunte Novelle aus ihnen rausgeschmissen werden, tauchen sie im Regelfall morgen als Lohnersatzleistungsempfänger auf, oder sie tauchen bei der Sozialhilfe auf. Präsident Franke hat, unterstützt von entsprechenden Gutachten des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung in Nürnberg, glaubhaft nachgewiesen, daß die Beträge, die für eine aktive Arbeitsmarktpolitik öffentlich aufzubringen sind, nahezu identisch mit den Beträgen sind, die für die passive Verwaltung von Arbeitslosigkeit aufzubringen sind.
Es ist geradezu abenteuerlich, absurd, daß die gleichen Gelder, die an der einen Ecke eingespart werden, aus anderen öffentlichen Kassen wieder aufgebracht werden müssen.
Dabei sind nicht die humanen und sozialen Folgekosten berücksichtigt. Ich will an den Vertreter der Caritas erinnern, der in der Anhörung des Ausschusses darauf hingewiesen hat, daß höhere Arbeitslosigkeit nicht selten zu Alkoholabhängigkeit, Drogenmißbrauch, Kriminalität, zerrütteten Familienverhältnissen, entwicklungsgestörten Kindern führt. Das sind die Humankosten. Die nehmen Sie billigend in Kauf.
Diese humanen Kosten haben auch soziale Folgekosten;
denn da muß ja repariert werden. Und damit schließt sich der Teufelskreis.
Der massive Verlust von Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen verstärkt im übrigen gesellschaftliche Spaltungstendenzen. Die Anzahl der Langzeitarbeitslosen wächst ständig und umfaßt gegenwärtig ca. 750 000 Personen. Diese Arbeitslosen sind wegen besonderer Merkmale — Alter, Behinderung, schwere Qualifizierungsdefizite oder aber individuelle Beeinträchtigungen auf Grund der Arbeitslosigkeit — kaum noch ohne besondere Hilfestellung in den Arbeitsmarkt zu integrieren. Anläßlich der Anhörung des Ausshcußes für Arbeit und Sozialordnung zur neunten Novelle des Arbeitsförderungsgesetzes formulierte der Sprecher der EKD, Herr Winkler, das Problem so — Zitat — :
Die Langsameren, die Schwerintegrierbaren oder jedenfalls diejenigen, die an der Grenze zum Behindertenstatus stehen, fanden in der agrarischen Gesellschaft immer Unterkunft. In der hochtechnisierten und spezialisierten Wirtschaft mit Arbeitsplätzen, die sehr teuer sind und auch Verantwortung und eine gute Ausbildung verlangen, kann man diese Personengruppe nur um so schwerer unterbringen.
Das ist genau der Punkt. Sie spalten unsere Gesellschaft entlang derjenigen, die nicht in die olympiareifen Belegschaften hineinpassen. Sie grenzen immer mehr diejenigen aus, die, aus welchen Gründen auch immer, benachteiligt sind.
Ich sage Ihnen: Unsere Gesellschaft besteht nicht nur aus Siegertypen,
sie besteht nicht nur aus Gewinnern, sie besteht nicht nur aus Menschen, die ihre Ellenbogen hart einsetzen können. Unsere Gesellschaft besteht auch aus Menschen, die an und in dieser Gesellschaft mitwirken wollen. Und die grenzen Sie in zunehmendem Maße aus. Die Neunte Novelle zum Arbeitsförderungsgesetz ist dazu ein Beitrag; denn wir wissen, daß die
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Hälfte der Plätze in Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen an Langzeitarbeitslose geht.
Im übrigen sind die Langzeitarbeitslosen — ich habe darauf hingewiesen — teilweise Ältere, teilweise Behinderte. Ich will Ihren Bundeskanzler zitieren.
Helmut Kohl hat am 7. November in einem Gespräch mit der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung" folgendes formuliert:
Mich bedrücken vor allem die Gruppen, über die niemand redet,
z. B. die über 50jährigen Arbeitslosen, die wegen eines absurden Jungseinskults an den Rand der Gesellschaft geschoben werden.
Originalton Bundeskanzler! Ihn bedrücken die älteren Arbeitslosen. Bei den Langzeitarbeitslosen ist ein erheblicher Teil älterer Arbeitsloser. Wollen Sie Ihren Bundeskanzler hier vorführen? Wollen Sie ihn als Lügner entlarven? Wollen Sie ihn als Demagogen entlarven?
Der Bundeskanzler erklärte vor vierzehn Tagen, ihn bedrücke das Schicksal der älteren Arbeitslosen, und Sie verschärfen hier mit der Neunten Novelle genau das gleiche Problem.
Wen wollen Sie eigentlich vorführen? Lügt der Bundeskanzler? Wollen Sie das unterstützen?
Meine Damen und Herren, die katholische Soziallehre hat zum Kern — ich zitiere aus dem HerderLexikon —:
Die katholische Soziallehre will eine Gesellschaft, welche die Menschen je nach dem Beitrag, den sie zum Wohle des Ganzen liefern, zusammenfaßt und ihnen so ermöglicht, ihrer Verantwortung für das Ganze zu genügen.
Ja, entsprechend dem, was die Menschen leisten können! Was Sie machen, ist das Gegenteil. Sie grenzen immer stärker aus. Sie drängen immer mehr Menschen an den Rand der Gesellschaft und über die Grenzen der Arbeitsgesellschaft hinaus, neben der Verschärfung der Langzeitarbeitslosigkeit, die im übrigen im glatten Widerspruch zu der gemeinsamen Erklärung aller Fraktionen steht. Ich zitiere aus der gemeinsamen Erklärung aller Fraktionen im Anschluß an die Anhörung zur Langzeitarbeitslosigkeit anläßlich der EKD-Denkschrift im Deutschen Bundestag. Da haben alle Fraktionen folgendes erklärt:
In Übereinstimmung mit den Obleuten aller Fraktionen
— Erklärung des Vorsitzenden des Ausschusses —
ist als Ergebnis der Anhörung festzuhalten, daß alle Parteien sich fest vorgenommen haben, an der Erschließung von Beschäftigungsmöglichkeiten für Langzeitarbeitslose mitzuwirken. Der Vorschlag der evangelischen Kirche, gezielte Hilfen für Langzeitarbeitslose zu organisieren, wurde von allen Sachverständigen und allen Vertretern der Politik unterstützt. Der EKD ist für die Initiative zu danken. Die Sachverständigen, allen voran die Vertreter der EKD — an der Spitze Bischof Wilkens — haben dafür gesorgt, daß die Anhörung auf außerordentlich hohem Niveau durchgeführt werden konnte.
Was Sie jetzt machen, ist der Bruch Ihres eigenen Wortes.
Sie haben den Langzeitarbeitslosen mit der gemeinsamen Erklärung Hoffnung gegeben. Die Bundesregierung läßt die christdemokratischen Parlamentarier im Regen stehen. Sie brechen Ihr Wort. Sie verschärfen die Langzeitarbeitslosigkeit durch die Neunte Novelle und haben im Ausschuß erklärt, sie wollten etwas dagegen tun. Sie tun nichts. Sie verschärfen umgekehrt die Situation. Was ist von Ihnen dann noch zu halten?
Es ist wirklich schamlos. Die Initiative der EKD ist vor einem Jahr, im Dezember vergangenen Jahres, ins Parlament gebracht worden. Bis heute hat sich nichts getan. Sie haben Erklärungen abgegeben. Sie haben versucht, Hoffnung zu wecken. Aber in der Praxis machen Sie das genaue Gegenteil. Es ist schamlos, was Sie machen.
Da fällt einem ja ein, daß bei der Debatte zum Gesundheitsreformgesetz der Bundesminister hier Sankt Martin für sich in Anspruch nahm. Wenn Sankt Martin Sie sehen würde, würde er vor Schreck vom Pferd stürzen. Er käme gar nicht mehr dazu, seinen Mantel zu teilen.
Eine zweite Folge der Neunten Novelle ist die dramatische Verschärfung in den Regionen mit eh schon hoher Arbeitslosigkeit. Wie sollen denn die Kommunen im Ruhrgebiet, an der Küste, im Saarland oder anderenorts, die angesichts der hohen Kosten der Arbeitslosigkeit ausbluten, das noch ausgleichen, was durch die Neunte Novelle zum Arbeitsförderungsgesetz verlorengeht? In Kommunen mit hoher Arbeitslosigkeit wächst der Anteil der Sozialhilfekosten stündlich an. Diese Kommunen sind gar nicht mehr in der Lage, ausreichend zu investieren, weil sie von den Sozialhilfekosten eingeschnürt werden. Sie verschärfen auch hier die Probleme. Je weniger die Kommu-
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nen investieren können, um so stärker wächst umgekehrt die Arbeitslosigkeit. Damit schließt sich der Teufelskreis.
Herr Blüm, Sie sind drauf und dran, den Sozialstaat zu einem Sozialhilfestaat verkommen und verrotten zu lassen.
Der Einbruch von AB-Maßnahmen führt überdies dazu, daß auch Dienstleistungen, insbesondere im sozialen Bereich, zurückgenommen werden müssen. Beispielhaft seien genannt: Arbeitslosenberatung, Sozialhilfeberatung, Aids-Beratung, ambulante Versorgung von Behinderten, Nachhilfeschulen auf Stadtteilebene, Umweltprojekte, Frauenprojekte, StadtteilKulturzentren, Schuldnerberatung usw. Strukturen, die im sozialen Interesse der Menschen aufgebaut worden sind, werden zerschlagen werden müssen, weil den Einrichtungen das Geld fehlt, weil den Kommunen das Geld fehlt, weil den Wohlfahrtsverbänden das Geld fehlt. Mit brutaler Faust zerschlagen Sie im Interesse von denen, die am Rand dieser Gesellschaft stehen, gewachsene und aufgebaute Strukturen.
Ähnliches gilt für die Qualifizierungsproblematik. Gerade angesichts des rapiden Wandels in der Arbeitswelt, hervorgerufen durch neue Techniken, wäre Qualifizierung nötiger denn je. In der gleichen Zeit legen Sie die Hand an die Qualifizierungsinstrumente, wandeln Sie Rechtsansprüche in reine Ermessensansprüche um, vertrösten Sie die Betroffenen.
Ich will Ihnen sagen, daß es wohl keinen Sinn macht, gewissermaßen in letzter Minute an die Koalitionsfraktionen zu appellieren, von diesem Gesetz Abstand zu nehmen. Ich weiß, daß dies illusorisch ist. Aber vielleicht macht es einen Sinn, an Sie zu appellieren, in den nächsten Wochen — die Zeit bietet sich an — einmal in Ruhe darüber nachzudenken, was Sie ohne Not anrichten, und einmal in Ruhe darüber nachzudenken, inwieweit es wirklich mit dem christlichen Menschenbild vereinbar ist,
daß Sie Zehntausende von Menschen auf Grund dieser Novelle zusätzlich in Arbeitslosigkeit bringen, zusätzlich in existentielle Nöte bringen, im Dezember einmal darüber nachdenken, ob das wirklich noch mit dem Anspruch einer Partei vereinbar ist, eine christliche Partei sein zu wollen.
Ich denke, es ist nicht vereinbar. Sie sollten die Zeit nutzen. Wenn Sie zu dem Ergebnis kommen, es sei vereinbar, dann sollten Sie konsequenterweise das „C" aus Ihrem Parteischild entfernen.
Schönen Dank.