Rede von
Ellen
Olms
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (GRÜNE)
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die beiden vorliegenden Anträge haben die wachsenden sozialen und materiellen Probleme in den Kommunen und Gemeinden dieses Landes zum Hintergrund, die diesen starken Zuzug von Aussiedlern nicht oder nur sehr schwer bewältigen können. Während es die Regierungsparteien angesichts dieser Probleme bei reiner Ideologie und vagen Absichtserklärungen bewenden lassen,
fordert die SPD eine stärkere finanzielle Beteiligung des Bundes an den Wiedereingliederungshilfen im Bereich der beruflichen Bildung, im Erwerbsbereich, bei der Sprachförderung und im Wohnbereich, weil die Kommunen hoffnungslos überlastet sind.
Die Bundesregierung gibt sich mit ihrem Sonderprogramm zur Eingliederung der Aussiedler vom August dieses Jahres zufrieden. An anderer Stelle hat meine Kollegin Jutta Oesterle-Schwerin bereits darauf hingewiesen, daß das Wohnungsbauproblem nicht erst seit dem verstärkten Zuzug von Aussiedlern
8294 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 114. Sitzung. Bonn, Freitag, den 2. Dezember 1988
Frau Olms
besteht. Daher fordern wir mindestens ein Fünfjahresprogramm von Bund und Ländern zur Schaffung von 500 000 Wohnungen im sozialen Wohnungsbau.
Ein solches Programm würde 40 Milliarden DM kosten, die aber ohne weiteres lockerzumachen wären.
Nicht nur die Aussiedler, die nicht nur die Wohnungssuchenden hier, auch die bei uns lebenden Flüchtlinge haben Anspruch auf eigenen Wohnraum; denn seit Jahren — lange vor den heutigen Problemen der Unterbringung von Aussiedlern — müssen viele Flüchtlinge in menschenunwürdigen Sammelunterkünften leben. Diese Sammelunterkünfte gehören aufgelöst.
In dankenswerter Offenheit begründen die Regierungsparteien in ihrem Antrag, warum uns die Aussiedler so willkommen sind. Nicht nur weil sie als Deutsche unter Deutschen bei uns leben sollen — wie Sie in Ihrer penetranten Deutschtümelei behaupten —, nein, Aussiedler sollen uns einen wirtschaftlichen Aufschwung bescheren; denn sie sind zu 90 % jung und im arbeitsfähigen Alter. In Ihren Augen sind Aussiedler gut ausgebildet, hoch motiviert, leistungsbereit. Sie sichern unsere Rente von morgen. Und wenn sie dann auch noch die CDU/CSU wählen, hätten Sie Ihren „ideellen Gesamtaussiedler" .
Mit Ihrer überbordenden Deutschtümelei verkennen Sie vollkommen die Situation der zu uns gekommenen Aussiedler. Sie provozieren damit — so paradox es klingen mag — ausländerfeindliche Stimmung.
Gerade die jungen Aussiedler, die in Osteuropa geboren und aufgewachsen sind, sind kulturell und sozial von den Verhältnissen in ihren dortigen Ländern geprägt. Nur die Vorfahren weisen sie als deutschstämmig aus. Diese jungen Menschen werden erst dann zu Deutschen, wenn sie die hiesige Grenze überschreiten.
Die meisten jungen Aussiedler kommen nicht zu uns, weil sie als Deutsche unter Deutschen leben wollen, sondern sie kommen größtenteils hierher, weil sie sich hier bessere Lebensbedingungen erhoffen als in ihren Heimatländern.
Das ist auch gut so. Die hiesige Sprache, die Kultur und die sozialen Verhältnisse sind ihnen fremd. Ihre Identität ist zunächst eben nicht deutsch, sondern z. B. polnisch.
Die jungen Aussiedler selbst fühlen sich bei uns zuallererst als Ausländer. Sie versuchen bei uns unter großen Schwierigkeiten und Anstrengungen, mit den hiesigen Verhältnissen klarzukommen. Das ist weiß Gott schwer. Ein junger polnischer Aussiedler unterscheidet sich in dieser Hinsicht nicht von einem jungen Polen, der hier um politisches Asyl nachsucht. Der Unterschied besteht allein darin, daß der Aussiedler dank seines deutschen Ahnenpasses sozial und rechtlich sofort bessergestellt ist als sein polnischer Freund, der über Jahre in völlig ungesicherten Verhältnissen leben muß und der auch damit rechnen muß, daß er abgeschoben werden kann.
Vor dem Hintergrund des Überfalls des nationalsozialistischen Regimes auf Polen, der 6 Millionen Polen das Leben kostete, ist es makaber, wenn polnische Flüchtlinge bei uns Asyl suchen und damit zumeist keinen Erfolg haben, während diejenigen, die ihre sogenannte deutsche Abstammung nachweisen können, bei uns willkommen sind.
Noch makaberer und finsterer wird es, wenn man weiß, daß auch polnische Juden, wenn sie hier herkommen, sich zum Deutschtum bekennen müssen, wie jüngst in der „Zeit" dokumentiert worden ist.
Die Regierungsparteien unterstellen in ihrem Antrag, daß etwa die polnischen Aussiedler deshalb zu uns kommen, weil sie in ihrer Heimat ihre angebliche nationale Identität nicht bewahren können. Meine Damen und Herren, wie sollen junge polnische Bürger, die sich in nichts — außer vielleicht in ihrer deutschen Abstammung — von ihren deutschen Landsleuten unterscheiden, diese spezifische Verfolgung nachweisen? Das Bundesverwaltungsgericht unterstellt einfach einen Vertreibungsdruck gegenüber deutschstämmigen Minderheiten in osteuropäischen Ländern. Es sind die gleichen Richter, die das Asylbegehren eines gefolterten türkischen Asylbewerbers mit der Begründung ablehnen, daß Folter allein nicht als Fall einer politischen Verfolgung anzusehen ist. Ihre doppelzüngige Politik — hier Aussiedlerfreundlichkeit und Ausländerfeindlichkeit dort — schadet beiden Gruppen, die bei uns eine Zuflucht oder eine Bleibe suchen.
Nach einer Umfrage des ZDF-Politbarometers finden es nur 56 % der Befragten gut, daß Aussiedler bei uns aufgenommen werden. 73 % der Befragten finden es gut, wenn politisch Verfolgte hier das Asylrecht wahrnehmen können. Für eine begrenzte Aufnahme von Flüchtlingen sprachen sich 55 %, für eine begrenzte Aufnahme von Aussiedlern gar 61 % der Befragten aus. Welche Schlüsse ziehen wir daraus?
Erstens. Wir ziehen daraus den Schluß, daß bei den Befragten kein Unterschied zwischen Aussiedlern und Flüchtlingen gemacht wird. Beide sind für die Mehrheit der Befragten Fremde, die einen mit deutschem Blut und die anderen ohne deutsches Blut.
Zweitens. Wir ziehen daraus den Schluß, daß politisch verfolgte Flüchtlinge sogar noch eher aufgenommen werden sollen als die Aussiedler. Es sprachen sich mehr Menschen für eine Zuzugsbegrenzung bei Aussiedlern als bei Flüchtlingen aus.
Die Zahlen sagen drittens, daß Ihre deutschtümelnde Propaganda nicht in dem Maß verfangen hat, wie Sie sich das vielleicht wünschen. Mit Ihrem übersteigerten Nationalismus haben Sie der bestehenden Ausländerfeindlichkeit eine weitere Variante hinzugefügt. Im rechten politischen Spektrum und an den deutschen Stammtischen gibt es jetzt nicht nur die sogenannten Scheinasylanten, sondern auch die so-
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Frau Olms
genannten Scheindeutschen, die mit ganz ähnlicher Feindseligkeit bei uns empfangen werden.
Wie gesagt, diese Probleme haben Sie selbst erst mit Ihren Hurra-Chören auf die Aussiedler und mit Ihrem Hau-ab-Gepolter gegenüber Ausländern geschaffen.
Und die jungen Aussiedler selbst? Der Preis für die zumeist jungen Menschen, die zu uns kommen, ist ein erhöhter Anpassungsdruck, dem sie durch Ihre Politik ausgesetzt sind. Im Unterschied zu den Flüchtlingen müssen sie von Anfang an ihrer so genannten Deutschstämmigkeit Rechnung tragen — sie müssen am besten noch deutscher sein als die Deutschen —, um mit der neuen, für sie fremden Situation bei uns klarzukommen.
Ein abschließendes Wort zum Antrag der SPD. Sie warnen in Ihrem Antrag davor, Aussiedler gegen Asylsuchende auszuspielen. Die bloße Formel des Ausspielens verkommt bei Ihnen dann aber zu einer leeren Worthülle. Wenn Sie auch noch für eine erhebliche Verbesserung der sozialen und wirtschaftlichen Situation der bei uns lebenden Flüchtlinge eintreten würden, dann wäre das gut.
— Ja, ich habe mich auch gewundert. Das ist eine andere Argumentation. —
Wenn Sie das nicht tun, dann befürworten auch Sie ein Zweiklassensystem von Flüchtlingen, denn Sie unterscheiden zwischen denen mit und denen ohne Gütesiegel „Deutschstämmigkeit". Aber eines muß ja klar sein: Wir brauchen überhaupt keine Klassifizierung von Menschen nach ihrer Herkunft. Wir brauchen keine Sondergesetze und -rechte, sondern wir brauchen gleiche Rechte und Lebensbedingungen für alle.