Rede von
Marieluise
Beck-Oberdorf
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Kaum ein Ministerium scheint in dieser Legislaturperiode so fleißig zu sein wie das Arbeits- und Sozialministerium.
Norbert Blüm baut den Sozialstaat um. Und so gibt es immer mehr Menschen, die diese Art von Umbau das Fürchten lehrt.
Beispiel Nummer eins war die Gesundheitsrefom. Beispiel Nummer zwei wird die Rentenreform sein. Mit Beispiel Nummer drei haben wir es heute zu tun: der Neunten Novelle zum Arbeitsförderungsgesetz.
Bei seinem Umbau geht Norbert Blüm davon aus, daß unser Sozialsystem für vieles Geld habe, für manches zuviel, wie er sagt. Also wird gestrichen wie jetzt mit der vorliegenden Novelle.
Der Zusammenhang zwischen der jüngst verabschiedenten Steuerreform und den geplanten Einsparungen bei der Bundesanstalt für Arbeit liegt auf der Hand. Beim Zuschußbedarf der Bundesanstalt muß das wieder herausgeholt werden, was durch die Steuerreform dem Staate fehlt.
Daß diese Steuerreform nicht den kleinen Leuten dient, ist wohl inzwischen hinlänglich bekannt.
Wohlgemerkt: Die Achte Novelle zum Arbeitsförderungsgesetz hatten wir erst im vergangenen Jahr. Damals baute Norbert Blüm so um, daß typische Aufgaben des Bundes auf die beitragsfinanzierte Kasse der Bundesanstalt verlagert wurden. Die zwangsläufig dort entstehenden Finanzlöcher werden jetzt durch Einsparungen bei den Leistungen für die Versicherten ausgeglichen.
Ich möchte nur auf zwei wesentliche Bereiche dieser Gesetzesnovelle eingehen: Die Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen und Fortbildung und Umschulung. Die Zahlen sind bekannt. Noch zu Zeiten der sozialliberalen Koalition gab es nur 30 000 AB-Maßnahmen. Sie sind jetzt auf etwa 120 000 gesteigert worden.
Man könnte fast meinen, endlich habe sich wenigstens in Ansätzen die Vernunft durchgesetzt, wenn mittels Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen Erwerbstätigkeit statt Arbeitslosigkeit finanziert wird. Doch nunmehr wird der Höchstfördersatz der AB-Maßnahmen in der Regel auf 75 % gesenkt. Daran ändert auch nichts das Pflästerchen der 90 %-Finanzierung in Krisengebieten oder die volle Ausfinanzierung von 15 der bewilligten Maßnahmen. Diese Regelung der Erhöhung des Eigenanteils wird das Aus für viele AB-Maßnahmen bedeuten.
Ich will nicht das Hohelied auf die Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen singen. Dazu ist der Zeitraum der Förderung mit einem Jahr viel zu kurz; denn er bedeutet, daß gerade schwer Vermittelbare oder Langzeitarbeitslose nur für einen begrenzten Zeitraum quasi aus der Arbeitslosigkeit herausgeschleudert werden, ohne daß sie wirklich die Chance zu neuen und dauerhaften Lebensplanungen bekämen. Dennoch waren die AB-Maßnahmen für viele Entmutigte und Zukunftslose ein Silberstreif am Horizont. Um diese Maßnahmen herum entwickelte sich eine Vielzahl von sozial-, kultur- und umweltpolitisch engagierten Projekten: Arbeitslosenzentren, Gesundheitsberatungsstellen, ambulante Pflegeeinrichtungen, AIDS-Hilfen, Ausländerprojekte, Frauentherapiezentren, Kulturinitiativen und vieles andere mehr. Meine Damen und Herren, gerade für diese Projekte ist es vollkommen unmöglich, den von Ihnen im Gesetz vorgesehenen Eigenanteil aufzubringen. Das dürfte Ihnen einleuchten. Die Arbeiterwohlfahrt geht davon aus, daß durch die vorgesehenen Einschnitte allein im sozialen und kulturellen Bereich etwa 35 000 bis 40 000 Arbeitsplätze wegfallen werden.
Nun werden Sie natürlich vorschlagen — hier wird schon das Stichwort genannt — , die Kommunen und Länder sollten doch den Fehlbedarf ergänzen. Aber es sind ja gerade die von überdurchschnittlicher Arbeitslosigkeit gekennzeichneten Kommunen und Bundesländer, die durch erhöhte Arbeitslosenraten steigende Armutskosten, z. B. die Sozialhilfe, zu finanzieren haben und deshalb finanziell auf dem letzten Loch pfeifen.
— Gucken Sie sich einmal den Finanzhaushalt von Bremen an. In Niedersachsen ist es ja nicht anders. Gehen Sie doch einmal ins Emsland. Das hat gar nicht so sehr viel mit Parteipolitik in den Kommunen zu tun.
Die milden Gaben des regionalen Strukturfonds, die Herr Stoltenberg jetzt über neun Bundesländer ausgeschüttet hat, statt die Albrecht-Initiative anzunehmen, wie von seiner Partei vorgeschlagen worden war, werden jetzt in manchen Gebieten von den Streichungen der Neunten Novelle zum Arbeitsförderungsgesetz wieder voll aufgefressen. Lassen Sie mich das vorrechnen.
— Das, was ich jetzt gesagt habe, gilt ganz genau auch für Bremen. — Die Mittel aus dem regionalen Strukturfonds müssen, wenn kompensiert werden soll, voll für den Ausgleich der Streichungen der Neunten No-
8256 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 114. Sitzung. Bonn, Freitag, den 2. Dezember 1988
Frau Beck-Oberdorf
velle zum Arbeitsförderungsgesetz eingesetzt werden.
„Der Mangel auf dem Arbeitsmarkt heißt Phantasie." — „Wir wollen einen Arbeitsmarkt mit mehr Freiheit, mehr Selbstbestimmung. " — Diese so wunderbar klingenden Sätze von Ihnen, Herr Blüm, sagen Sie doch bitte einmal an die Adresse der Träger von Projekten, die Phantasie aufgebracht haben, die ihren Laden aber jetzt dichtmachen müssen, weil sie nicht mehr so unterstützt werden, wie es nötig ist.
Ihr Freiheitsbegriff ist bösartig, denn Sie nennen den Abbau von Regelungen, die gerade Schutz für die am Rand Stehenden bedeutet, „Freiheit" . In diesem Land leben 600 000 Menschen, die länger als ein Jahr arbeitslos gewesen sind, und 300 000, die länger als zwei Jahre arbeitslos gewesen sind.
Das Problem ist gerade der Prozeß der Verfestigung der Erwerbslosigkeit, und dann reden Sie von „Freiheit" und „Phantasie", von „Selbstbestimmung" und vom „Ausbau individueller Möglichkeiten" !
Noch einmal: Es kann nicht darum gehen, das aus vielen Gründen prekäre Instrument ABM zu idealisieren. Es ist nicht mehr als eine arbeitsmarktpolitische Notlösung. Aber diese Notlösung noch weiter zu dezimieren, ohne beschäftigungspolitische Alternativen bereitzustellen, ist unverantwortlich gegenüber den Erwerbslosen und den Gebietskörperschaften mit hoher Arbeitslosigkeit.
Das gleiche gilt für die Einschnitte im Fortbildungs- und Umschulungsbereich. Die Umwandlung des Rechtsanspruchs auf Fortbildung und Umschulung in eine Ermessensleistung muß vor dem Hintergrund der Situation der Bundesanstalt für Arbeit zu einem deutlichen Rückgang der Qualifizierungsmaßnahmen führen. Die Chancen von Erwerbslosen, insbesondere die von Frauen, Jugendlichen und Langzeitarbeitslosen, wieder auf dem Arbeitsmarkt Fuß zu fassen, werden so weiter eingeschränkt. 80 % der Teilnehmerinnen und Teilnehmer von Umschulungsmaßnahmen haben nach Aussage der Bundesanstalt für Arbeit nach Abschluß der Maßnahmen einen Arbeitsplatz gefunden.
Wie war das noch mit dem Herzensanliegen des Kollegen Schemken, der den Frauen, den Müttern den Weg zurück ins Erwerbsleben öffnen wollte? Daraus wird mit dieser Novelle nichts, Herr Schemken. Da ist der Kollege Kolb schon sehr viel näher an der Sache, wenn er schlichtweg die Statistiken bereinigen will: Diejenigen, die drei Jahre und länger arbeitslos sind, fliegen einfach aus der Statistik heraus, fertig, basta!
— Das sind Vorschläge, die Herr Kolb in der Presse gemacht hat. Wir lesen ja auch noch Zeitung.
Ihrer Phantasie, die sich immer als eine Phantasie der Ausgrenzung entpuppt, Herr Blüm, wäre die Phantasie der Gestaltung von Erwerbsmöglichkeiten entgegenzusetzen. Das wäre Arbeitsmarktpolitik.