Rede von
Dr.
Johannes
Gerster
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(CDU/CSU)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CDU)
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Bei Aussiedlern und Ausländern geht es um menschliche Schicksale. Dennoch sollte man deren Probleme und die Probleme mit ihnen nicht durcheinanderwerfen, vermengen und vermanschen, und — das sage ich nach allen Seiten — man sollte beide Gruppen auch nicht gegeneinander ausspielen. Wir sprechen heute über Aussiedler, Herr Penner, und nicht über Ausländer. Ich frage mich, warum Sozialdemokraten eigentlich nicht in der Lage sind, über dieses schwierige Problem unabhängig von anderen Fragen zu reden, warum aus jeder Aussiedlerdebatte bei Ihnen in der Regel eine Ausländerdebatte wird. Ich finde das nicht angemessen und nicht richtig.
Erstens. In der Aussiedlerpolitik muß die Devise lauten: Weniger zerreden, mehr handeln. Vor 36 Jahren, am 1. April 1952, knapp drei Jahre nach Inkrafttreten des Grundgesetzes, lebten 8,1 Millionen Vertriebene im Geltungsbereich des Grundgesetzes. Das waren 16,8 % der Gesamtbevölkerung. Beim damaligen Spitzenreiter Schleswig-Holstein machte der Anteil der Vertriebenen sogar 31 % der Gesamtbevölkerung aus. Heute, am 2. Dezember 1988, 39 Jahre nach Inkrafttreten des Grundgesetzes, machen uns rund 330 000 deutsche Aussiedler die in den letzten drei Jahren zu uns kamen, Sorgen. Das sind 0,5 % der Gesamtbevölkerung. Damals strömten Millionen Vertriebene in ein zerstörtes, gerade mühsam aufzubauendes armes Land hinein. Heute kommen deutsche Aussiedler in ein aufgebautes, stabiles und reiches Land. Damals packten die Menschen, auch Politiker, an, heute klagen die Menschen, auch Politiker, über die Last der Aussiedler. Damals klaglos, heute ratlos, damals arm, heute reich, damals hilfsbereit, heute egoistisch — wir sollten uns eigentlich schämen, zumindest im Vergleich zur Aufbaugeneration der 50er Jahre. Wir sollten weniger reden und mehr handeln, weniger zerreden und mehr durch Taten überzeugen.
8292 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 114. Sitzung. Bonn, Freitag, den 2. Dezember 1988
Gerster
Zweitens. Aussiedler sind Deutsche wie Sie und ich. Die Aussiedler, die heute aus Ost- und Südosteuropa zu uns kommen, sind Deutsche; das zeigt ein kurzer Blick in das Grundgesetz, das insofern auch nicht interpretierbar ist.
Art. 116 Abs. 1 des Grundgesetzes bestimmt eindeutig, wer Deutscher ist. Art. 116 Abs. 2 bestimmt ebenso eindeutig, wer als früherer Deutscher oder als Abkömmling eines Deutschen auf Antrag wieder einzubürgern ist und dann nicht als ausgebürgert gilt. In Verbindung mit Art. 116 des Grundgesetzes bestimmt Art. 11 Abs. 1 des Grundgesetzes knapp und klar, daß alle Deutschen im ganzen Bundesgebiet Freizügigkeit genießen.
Die CDU/CSU wirbt keine Aussiedler an oder irgenwo ab. Wer aber als Deutscher herkommt, hat die gleichen Rechte wie alle anderen Deutschen auch; nicht mehr, aber auch nicht weniger muß Geltung haben.
Ich frage mich, ob es wirklich einen Politiker gibt, der Deutsche an den Grenzen zu Deutschland abweisen will. Er soll dann bitte hier ans Pult treten und erklären, wie er dies machen will. Tut dies niemand — was ich hoffe— , finde ich, sollten wir all den Schwätzern, die von Deutschtümelei,
von Kontingentierung usw. reden, eine eindeutige, klare und endgültige Absage erteilen.
Drittens. Deutsche im Osten mußten oft und lange und schlimmer leiden als wir. Dieser Tage erreichte mich ein Brief von Deutschen, die aus der Sowjetunion zu uns ausgesiedelt sind und zu Recht schreiben — ich möchte hier mit Genehmigung des Herrn Präsidenten etwas im Zusammenhang zitieren— :
In letzter Zeit ist es kaum zu ertragen, was alles gegen uns verlautet wird und wie man uns nennt: „Deutschstämmige", „Deutschrussen" , „Russen", „Ausländer" . Alle Welt liest Zeitungen, hört Radio, Fernseher. Wir schämen uns für die Einheimischen, denn auch wir sind Deutsche und keine anderen. In der „Hannoverschen Allgemeinen Zeitung" , Ausgabe vom 16. Juni 1988: Die Städte ächzten unter der Flut der Aussiedler aus der Sowjetunion. Der Gifhorner Stadtdirektor, Gert Hoffmann, läßt seinen Gefühlen freien Lauf und sagt: Es muß sich endlich bis Kasachstan herumsprechen, daß bei uns kein Platz ist.
Ich zitiere weiter:
Unfaßbar ist auch, was sich Oskar Lafontaine sowie andere Politiker erlauben:
Es sei zu fragen, ob einem Farbigen aus Afrika, der wesentlich stärker bedroht sei, nicht Vorrang vor einem Aussiedler gegeben werden müßte.
— Hören Sie doch erst einmal zu. Nehmen Sie zur Kenntnis, daß ich hier Deutsche aus der Sowjetunion zitiere, die das aus gutem Grund schreiben. Bitte, hören Sie weiter zu.
— Ich frage mich: Warum die Aufgeregtheit?
— In diesem Land darf jeder seine Meinung schreiben und verkünden, und auch jeder Abgeordnete darf Meinungen von anderen hier verlesen, ohne daß Sie ständig proletenhaft dazwischenschreien.