Rede von
Waltraud
Steinhauer
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(SPD)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Herren und Damen! Herr Minister, Sie mögen ja wortgewaltig sein. Das täuscht aber nicht darüber hinweg, daß Sie mit dieser Novelle eine Systemänderung weiterbetreiben, die ihresgleichen sucht.
Sie verschweigen hier, was wirklich dahintersteckt. Mich erinnern Ihre Ausführungen an ein Wort, das der Ministerpräsident von Schleswig-Holstein kürzlich gesagt hat. Er sagte: Wer die Menschen für dumm verkauft, will verbergen, was er tut. — Und das haben wir eben erlebt.
Was ändern Sie mit dem § 44 des Arbeitsförderungsgesetzes? Es ist ganz klar, daß Sie hier absolut zurückschrauben. Ich komme gleich noch darauf, daß Sie hier die Zielsetzung überhaupt in Frage stellen. Sie haben verschwiegen, daß die Bundesregierung bis 1982 durch das ZIP-Programm 1 Million Arbeitsplätze erhalten oder geschaffen hat. Auch wenn hier Zurufe dagegen kamen, ist festzustellen, daß dadurch Infrastruktur geschaffen wurde. Das wurde nicht aus dem Haushalt der Bundesanstalt für Arbeit finanziert.
Sie haben verschwiegen, daß damals die Zahl der unversorgten Schulabgänger wesentlich geringer war, daß die Nöte der Schulabgänger erst in den letzten Jahren entstanden sind, daß es dringend notwendig war, in Sachen Ausbildung etwas zu tun. Sie haben damals ja nicht mitgemacht, als wir Ausbildung als öffentliche Aufgabe herausstellen wollten.
Wir wollten nicht, daß das duale System zerstört wurde; wir wollten aber, daß die Parasiten, die nicht ausbilden, mit zur Kasse gebeten werden. Das haben Sie seinerzeit verhindert.
Sie haben hier verschwiegen, daß das Land Nordrhein-Westfalen in den letzten Jahren jedes Jahr eine
Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 114. Sitzung. Bonn, Freitag, den 2. Dezember 1988 8267
Frau Steinhauer
halbe Milliarde DM für Berufsausbildung zur Verfügung gestellt hat — was gar nicht seine Aufgabe war — , um angesichts der Not der Jugendlichen Abhilfe zu schaffen. Das scheint mir wichtig zu sein, anstatt hier Sprüche zu klopfen.
Mir scheint aber auch wichtig zu sein, daß man sich an die Zielsetzung des Arbeitsförderungsgesetzes erinnert — wie sagt man doch: im Zweifel genügt ein Blick ins Gesetz —, das damals mit breiter Mehrheit verabschiedet wurde und das alte Gesetz abgelöst hat, das Gesetz von 1927, das vorrangig ein Versicherungsgesetz war.
Das Gesetz von 1969 liest sich — es ist ganz gut, das einmal in Erinnerung zu rufen — heute noch gut. Es heißt im § 1: Ziel ist es, einen hohen Beschäftigungsstand zu erzielen und aufrechtzuerhalten, die Beschäftigungsstruktur ständig zu verbessern und damit das Wachstum der Wirtschaft zu fördern.
Die arbeitsmarktpolitische Zielsetzung ist im § 2 festgelegt: Weder Arbeitslosigkeit und unterwertige Beschäftigung noch ein Mangel an Arbeitskräften sollen eintreten oder fortdauern, die berufliche Beweglichkeit der Erwerbstätigen — nicht nur der Arbeitslosen — ist zu sichern und zu verbessern, nachteilige Folgen, die sich für die Erwerbstätigen aus der technischen Entwicklung oder aus wirtschaftlichen Strukturwandlungen ergeben, sind zu vermeiden oder auszugleichen usw. usf.
In § 3 ist festgelegt, daß das alles im Rahmen der Wirtschaftspolitik der Bundesregierung geschehen soll. Das ist dann der Punkt, wo man feststellen muß: Der Rahmen stimmt nicht. Man kann ja nicht verfehlte Wirtschafts- und Finanzpolitik mit den Mitteln aus der Bundesanstalt für Arbeit ausgleichen. — Auch da liegt ein Punkt.
Die jetzigen Änderungen des Arbeitsförderungsgesetzes haben das auf keinen Fall verbessert, sondern verschlechtert.
Ich kann Ihnen nur einige Beispiele dafür nennen, wie dies kontinuierlich weitergeht. Man ist gespannt, wie das in den nächsten Jahren dann mit der zu erwartenden 10. Novelle — wir haben das ja soeben schon gehört — weitergeht. Sie haben das Übergangsgeld gekürzt. Die Leistungsempfänger sind bei der Beitragsbemessung für die Rentenversicherung schlechtergestellt worden. Die Sperrzeitenregelung wurde verschärft. Mit der 8. Novelle haben Sie lupenreine Bundesaufgaben der Bundesanstalt für Arbeit übertragen.
Mit der 9. Novelle, mit dem Abbau von Instrumenten und Leistungen, wollen Sie einen vorläufigen Schlußpunkt setzen. Hier stellt sich die Frage: Was wollen Sie eigentlich mit der 10. Novelle noch weiter an Sozialabbau vornehmen?
Die 9. Novelle ist dazu angetan, aktive Arbeitsmarktpolitik überhaupt zu verhindern. Es bleibt hier die bloße Verwaltung der Arbeitslosigkeit. Die Abschaffung des Rechtsanspruchs auf Sachkostenerstattung bei Qualifizierungsmaßnahmen wird verheerende Folgen haben. Das hat die Anhörung im Ausschuß — wir haben das soeben schon gehört — mehrfach deutlich gemacht. Die Gewerkschaften nennen das einen Einschnitt in arbeitsmarktpolitische Dinge, der unvertretbar ist; damit werde Kontinuität überhaupt verhindert. Der Willkür wird hier Tür und Tor geöffnet.
Selbst die Arbeitgeber haben festgestellt, daß hier ein hoher Preis abverlangt wird. Daß bildungswillige Arbeitnehmer beim Vorliegen von gesetzlichen Voraussetzungen jetzt keinen Rechtsanspruch mehr haben, das halten sie für bedenklich. Das wird sogar in der letzten Ausgabe der Zeitschrift „Der Arbeitgeber" noch einmal bestätigt.
Man spricht landauf, landab vom Arbeitskräftemangel — ich will gar nicht bestreiten, daß hier Defizite vorhanden sind — , und im gleichen Augenblick bauen Sie massenweise Bildungsmaßnahmen ab. Bildungswillige werden dann noch durch unzumutbare Bedingungen abgeschreckt. Diese falsche Politik, meine Herren und Damen, wird sich bitter, bitter rächen: sofort für die Betroffenen und später für die Gesellschaft. Das, was wir heute versäumen, wird sich morgen bitter rächen, und wir müssen das teuer reparieren.
Für die 9. Novelle gibt es keine inhaltlich überzeugenden Argumente, es sei denn, daß Sie nur die finanziellen Gesichtspunkte herausstellen wollen. Man kann ja sehen: Der Finanzminister hat Regie geführt, weil nicht begriffen wird, daß Finanzpolitik Gestaltungsaufgabe sein muß. Kurzsichtig die Kasse zu hüten reicht für eine aktive Arbeitsmarktpolitik nicht aus. Ich unterstreiche noch einmal: Bildungsaufwand, der heute unterbleibt, wird sich später nur teuer nachholen lassen. Das gilt insbesondere vor dem Hintergrund des bevorstehenden europäischen Binnenmarktes. Alle Beteiligten wissen und sagen doch immer, daß nicht weniger Bildungsaufwand notwendig ist, sondern mehr, um unseren Standort Bundesrepublik weiterhin attraktiv zu halten.
Der teilweise Entzug der ergänzenden Berufsausbildungsmaßnahmen — das will ich an dieser Stelle ganz besonders herausstreichen — trifft insbesondere wieder die Mädchen und belastet Familien mit geringem Einkommen unerträglich. Was hören wir doch alle für schöne familienpolitische Sonntagsreden von der Bundesregierung und von den Koalitionsfraktionen, und wenn es dann aktuell um konkrete Dinge geht, sieht es ganz anders aus. Die jungen Menschen werden aus dem Elternhaus vertrieben, auch wenn es finanziell noch so eng ist oder die Leistung entfällt.
Haben Sie eigentlich die Folgen bedacht? Ich hoffe, daß das nicht der Fall ist. Ich wage das jedenfalls zu bezweifeln.
Nur noch eins: Sozialpolitisch absolut unverständlich sind auch die befürchteten Verschlechterungen der Förderung der beruflichen Eingliederung der be-
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nachteiligten und lernschwachen Jugendlichen. Schon in diesem Jahr ist es ja nur durch Druck der Politik und der Selbstverwaltung gelungen, die angelaufenen Maßnahmen überhaupt weiterzuführen oder neue anlaufen zu lassen. Nun erhalten Sonderschulrektoren schon Schreiben, in denen angekündigt wird, daß die bewährten Lehrgänge — hier sind Internatslehrgänge unbedingt notwendig, damit diese lernschwachen und behinderten Schüler einmal aus dem häuslichen Milieu herauskommen — durch Lehrgänge an Sonderschulen abgelöst werden sollen, und zwar aus rein fiskalischen Gründen. Hauptsache billig. Eine wahrhaft soziale Politik! Und später klagt man dann über die mangelnde Arbeitswilligkeit der Jugendlichen.
Gerade diese Jugendlichen benötigen nach wie vor unsere Hilfe. Sie haben sonst keine Möglichkeit, sich überhaupt in der Arbeitswelt zu bewähren, und zwar auch dann, wenn sich der Ausbildungsstellenmarkt entspannt.
Die Höchstförderung für Einarbeitungszuschüsse wird gekürzt, d. h. leistungsbeeinträchtigte Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sowie Langzeitarbeitslose werden von diesem Gesetz in besonderem Maße betroffen sein. Das gleiche gilt für die Eingliederungsbeihilfe. Die Herabsetzung dieser Zuschüsse trifft insbesondere — auch wenn Sie das anders sehen; das ist nämlich auch nur eine Kann-Leistung, die Sie einräumen — die Frauen. Der Willkür sind durch die Kann-Leistung, bei der es um Ermessen geht, Tür und Tor geöffnet.
All diese Einschränkungen sind nicht nur bildungs-, arbeitsmarkt- und strukturpolitisch verfehlt, sondern auch aus sozialen Gründen unvertretbar. Ich erinnere erneut an die arbeitsmarktpolitische Zielsetzung des Arbeitsförderungsgesetzes. Sinn und Zweck soll es sein, Arbeitslose, deren Unterbringung unter den üblichen Bedingungen des Arbeitsmarktes erschwert ist, beruflich einzugliedern. Gegen diese Zielsetzung verstoßen Sie mit der Änderung des Arbeitsförderungsgesetzes ganz eklatant. Tendenz in der Arbeitsförderung ist offensichtlich auf der ganzen Linie: Sparen und Rechtsunsicherheit, und das bei über 2 Millionen Arbeitslosen.
Die Arbeitsförderungsgesetznovelle wird von allen gesellschaftlichen Gruppen, von den Sozialverbänden über die Kirchen und Gewerkschaften bis zu den Arbeitgebern, abgelehnt. Die SPD schließt sich dieser Bewertung mit Nachdruck an.