Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die 9. Novelle des Arbeitsförderungsgesetzes wird einen weiteren Beitrag zur Stabilisierung und Verstetigung der Arbeitsmarktpolitik bringen. Die Zahl der Erwerbstätigen hat von August bis Oktober um weitere 150 000 zugenommen. Sie liegt um über 170 000 über dem Stand des Vorjahres.
Die Aufwärtsentwicklung hat mittlerweile auch das verarbeitende Gewerbe erfaßt. Dies ist sehr erfreulich. Das verarbeitende Gewerbe profitiert offensichtlich auch von der Belebung der Investitionsnachfrage.
Die Zahl der Arbeitslosen ist erneut gesunken. Sie lag Ende Oktober bei 2,074 Millionen; das sind 26 000 oder 1 % weniger Arbeitslose als im Monat davor. Gegenüber Oktober 1987 ging die Arbeitslosigkeit um 18 400 zurück.
Nun kommt etwas ganz Entscheidendes, das wir uns einmal in Erinnerung rufen sollten: Seit der Regie-
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rungsübernahme im Oktober 1982 sind über 900 000 neue Arbeitsplätze geschaffen worden.
— Das ist eine hochinteressante Betrachtung, Herr Dreßler. Diese fast 1 Million neue Arbeitsplätze ist genau die Zahl, die uns als Mehrarbeitslosigkeit vorhergesagt wurde. Vom DGB und den einschlägigen Instituten — dies wurde von der SPD unkritisch übernommen — wurde eine Arbeitslosigkeit von weit über 3 Millionen, ja bis 3,5 Millionen, prophezeit. Wir liegen aber um 1 Million darunter.
Natürlich ist das Problem der Arbeitslosigkeit auch für uns nach wie vor eine große Herausforderung. Auffällig am Arbeitsmarkt ist, daß Jüngere schneller vermittelt werden können. Die Chancen der Jugendlichen nehmen deutlich zu. Die Arbeitslosigkeit nimmt in diesem Bereich spürbar ab, allerdings — das geben wir zu — zu Lasten der älteren Arbeitslosen. Arbeitslose über 50 Jahre sind im Schnitt zehn Monate und länger arbeitslos. Ihre Vermittlungschancen sind weniger gut. Dies ist auch bei den Behinderten der Fall.
Wir möchten von hier aus einen Appell an die öffentliche Hand und auch an die Länderregierungen richten, mit gutem Beispiel voranzugehen.
Den Behinderten sollte eine Chance gegeben werden. Es wäre ein bedauerlicher Vorgang, wenn wir die Behinderten auf die Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen verwiesen, wenn wir ihnen damit perspektivlos nur kurzfristige Chancen einräumten. Die Behinderten müssen an- und aufgenommen werden;
ihnen stehen Arbeitsplätze zu. Dies ist eine Schwerpunktaufgabe, zugleich auch eine Herausforderung für die Gesellschaft, für die Wirtschaft, für die Kirchen. Wir brauchen jetzt Phantasie und Kreativität. Die Probleme der 90er Jahre werden völlig andere sein, als es noch in den 70er und 80er Jahren der Fall war.
Wir teilen deshalb auch die Sorgen der beiden Kirchen, wenn es um die Langzeitarbeitslosigkeit geht.
— Ja, mit einem veränderten Blick auch auf das Materielle kann Kreativität oft Wunder wirken.
Die Ausgaben der Bundesanstalt für Arbeit
sind eindeutig in den entscheidenden Bereichen der aktiven Arbeitsmarktpolitik von 6,9 Milliarden DM im Jahre 1982 unter der SPD auf über 15 Milliarden DM in diesem Jahr angestiegen. Das ist mehr als eine Verdoppelung. Ich meine, hiermit ist mittlerweile sicherlich eine Obergrenze erreicht, die sich nicht mehr steigern läßt.
Diese Leistungen sind von dem Arbeitslosengeld flankiert. Hier können und dürfen wir auch feststellen, daß wir gerade für die Langzeitarbeitslosigkeit im Laufe dieses Jahres mehr erreicht haben; denn in den 18,5 Milliarden DM für die Ausgaben an Arbeitslosengeld sind 2,4 Milliarden DM enthalten für das, was wir gerade für ältere Arbeitnehmer und ihre entsprechende soziale Sicherung ausgeben.
In den Ausgaben für Qualifizierung und berufliche Bildung hat die Bundesanstalt mittlerweile einen Grad der Leistungshöhe erreicht, der nun wirklich nicht mehr gesteigert werden kann, es sei denn, die Bundesanstalt sollte künftig der alleinige Reparaturbetrieb für Bildungsdefizite sein. Das kann ja wohl nicht angehen. Es wäre auch nicht systemgerecht und würde die Finanzierungsmöglichkeiten einer Solidargemeinschaft völlig überfordern, es sei denn, wir wären bereit, die Beitragssätze weiter in die Höhe zu treiben. Da muß ich Ihnen ehrlich sagen, konnte sich auch bei der Anhörung niemand für diesen Schritt entscheiden.
Das habe ich bei all den Sorgen, die uns vorgetragen wurden, vermißt, ein ehrliches Wort auch zu den Beiträgen.
Der Bund tritt im kommenden Jahr mit über 4 Milliarden DM zur Deckung des Defizits mit ein. Wir begrüßen dies ausdrücklich — das sage ich noch einmal mit Nachdruck — , da hiermit insbesondere auch die Forderungen auf Hilfe bei der Eingliederung der deutschen Aussiedler in den Erwerbsprozeß mitfinanziert wird. Um diesem Anliegen der Aussiedler — und das ist vielleicht auch noch eine ausdrückliche Bitte — stärkeren Nachdruck zu verleihen, wäre es sinnvoll, wenn die Ausgaben für diesen Teil in besonderer Weise ausgewiesen würden.
Wenn wir von Solidargemeinschaft sprechen, kann sicher der, der in Arbeit ist, auch einen Anteil an seiner Weiterbildung leisten; dies zugunsten des Arbeitslosen; dem ist eine solche Eigenleistung nicht möglich, auch nicht zumutbar. Auch diese Erkenntnis sollte bei der Bewertung der Aufgaben der Bundesanstalt für Arbeit zugunsten der Arbeitslosen, insbesondere der Langzeitarbeitslosen, zukünftig eine Rolle spielen. Deshalb ist mit der Konsolidierung der Finanzsituation der Bundesanstalt für Arbeit eine stärkere Konzentration der Mittel auf Zielgruppen in der aktiven Arbeitsmarktpolitik dringend geboten.
Die Wirtschaft und die Tarifparteien werden in Zukunft mehr Verantwortung für die Beschäftigten in der beruflichen Weiterbildung übernehmen müssen. Dies ist wichtig. Wir können nicht nur in Maschinen investieren, wir müssen auch in Bildung investieren. Es ist sehr wesentlich, daß hier die betriebliche Orientierung in der Qualifizierung eine Rolle spielt.
Die Fort- und Weiterbildung muß betriebliche Nähe erfahren. Sie muß sich an der Realität der Technik ausrichten, und sie muß sich an der Wirklichkeit der Arbeitswelt orientieren. Die Bundesanstalt wird
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sich deshalb zukünftig stärker auf Gruppen konzentrieren müssen, die in ihrer Betroffenheit insbesondere auf unsere Solidarität rechnen dürfen. Das sind die Arbeitslosen, die unmittelbar von Arbeitslosigkeit Bedrohten, die Ungelernten.
Damit wird das sogenannte Windhundverfahren ausgeschlossen, wenn wir mit § 45 AFG den Interessen dieser Arbeitnehmer auch in der Mittelverteilung zu gleichen Bedingungen über das ganze Jahr Rechnung tragen. Windhundverfahren möchten wir nämlich nicht einführen bzw. verhindern. Wer zuerst kommt, darf nicht zuerst mahlen, und die letzten dürfen auch nicht von den sogenannten Hunden gebissen werden.
Die Ausgaben — auch das muß ich noch einmal ausdrücklich der SPD sagen — für die allgemeinen Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen sind von 870 Millionen DM in Ihrer Regierungszeit inzwischen auf 3,3 Milliarden DM im Jahr 1988 gestiegen.
Bei diesem Titel ist eine Konsolidierung dringend geboten. Das muß nicht dazu führen, daß wichtige und dringliche Projekte aufgegeben werden. Wer sagt das? Durch eine angemessene Eigenbeteiligung
kann bei einer strengeren Bewertung der Maßnahmen für die Betroffenen eine größere Chance eröffnet werden.
— Ja: Mehr Kreativität! Wir haben ja das Gespräch mit der EKD und den Vertretern der Bischofskonferenz geführt. Das war ja der Punkt, zu dem man uns fragte: Wo könnt ihr einmal ein Pilotprogramm auflegen, das Langzeitarbeitslosen eine Perspektive, einen Weg eröffnet? Wir müssen an solche Modellvorhaben herangehen. Aber das kann man nicht mit der Gießkanne über das Land bewältigen. Da muß man dort ansetzen, wo es notwendig ist. Dorthin sollen die Mittel fließen. Im übrigen stehen wir auch da zu einer Förderung von 100 %.
Wenn schon Solidargemeinschaft, dann darf es nicht so sein, daß sich gerade die Kommunen um diesen Eigenanteil drücken.
— Das habe ich erwartet. — Nachweislich profitieren die Kommunen stark vom Wirtschaftsboom im Hinblick auf die Gewerbesteuer.
Schauen Sie sich die Haushalte an!
Die Kommunen profitieren vom Anstieg der Einkommensteuer. Da gibt es eindeutig enorme Zuwächse.
Es wäre traurig, wenn sich die Kommunen um die wichtige Frage der Arbeitslosigkeit und der Qualifizierung von Jugendlichen drücken
und hier 100 % fordern würden.
Im übrigen: Ich verstehe Sie nicht.
Ich habe jahrelang als Bürgermeister für Arbeitsstellen nach AB kämpfen müssen. Das hat die ÖTV jeweils abgelehnt. Ich muß im nachhinein sagen: Sie hatte sogar recht. Denn da, wo eine originäre Aufgabe der Kommunen wahrgenommen wird oder wahrgenommen werden soll, da sollte die Kommune diese Stelle einrichten und bezahlen und nicht auf Kosten der Solidargemeinschaft städtische Haushalte sanieren.
Das ist nicht systemgerecht.
Die Strukturfördermaßnahmen oder der Ausgleich zwischen den leistungsstarken und den leistungsschwachen Ländern sollten bewirken — ich bin stolz darauf und froh darüber —, daß das Land NordrheinWestfalen 3/4 Milliarden DM zehn Jahre lang zusätzlich bekommt. Ich kann mir vorstellen: Bei Strukturschwäche sollte man diese 3/4 Milliarden DM in meinem Land für eine aktive Arbeitsmarktpolitik einsetzen. Denn sie führt von der Strukturschwäche weg. Die entscheidende Frage ist, wieweit man bereit ist, solche Maßnahmen in entsprechende Umweltschutzmaßnahmen, Kanalbaumaßnahmen, städtische Maßnahmen überzuleiten, die Vollzeitarbeitsplätze bringen. Nicht aber sollte man zu dem Hilfsinstrument der AB-Maßnahmen greifen, das für den einzelnen Arbeitslosen auf Sicht perspektivenlos ist.
Denn mit einem Jahr kann ich dem Jugendlichen keine Perspektive eröffnen.
Im Gegenteil! Wenn es ein Behinderter ist, dann ist das noch mehr ein Schlag ins Gesicht.
Dort, wo die Arbeitslosigkeit sehr hoch ist, wird
— das wissen Sie sehr wohl — weiterhin die Leistungsgewährung über die Regelförderungssätze hinaus möglich sein. Bei der Senkung des Einarbeitungszuschusses von 70 auf 50 % gehen wir davon aus, daß bei weiterer Entspannung des Arbeitsmarktes auch hier eine vertretbare Einsparung möglich ist.
Behinderte sind von dieser Maßnahme nicht betroffen — das sage ich noch einmal ausdrücklich — , da das Förderinstrument des Schwerbehindertengesetzes unverändert bleibt.
Gleichzeitig muß deutlich gemacht werden, daß die Ergänzung des § 49 AFG hinsichtlich der Bewertung
— das ist ein ganz wichtiger Punkt im Gesetz —, vor allem für Frauen, die wegen der Kindererziehungszeiten längere Zeit nicht erwerbstätig waren, zu einer besonderen Berücksichtigung bei der Gewährung dieser Förderung führt. Wir halten das für ganz wich-
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tig. Denn wenn wir Familie und Kindererziehung wollen, müssen wir bereit sein, den Frauen an dieser Schwelle des Übergangs in die berufliche Welt eine Chance zu eröffnen.
Dies eröffnen wir jetzt mit dieser Betonung im Gesetz ausdrücklich.
Mit dem Gesetz zur Förderung eines gleitenden Übergangs älterer Arbeitnehmer in den Ruhestand bekommen wir eine Altersteilzeitregelung, die Vorteile gegenüber dem bisherigen Vorruhestandsgesetz in folgenden Punkten bringt:
Erstens. Kein abrupter Übergang von der Arbeit in den Ruhestand.
Zweitens. Der Wechsel der Lebenssituation kann damit humaner gestaltet werden.
Drittens. Wertvolle Erfahrungen, gerade älterer Arbeitnehmer, im Wirtschafts- und Erwerbsprozeß bleiben dem Betrieb länger erhalten. Dies ist besonders für mittelständische Betriebe wichtig. Denn Erfahrung ist dort zum überwiegenden Teil unverzichtbar.
Weiter: Die freiwerdende Arbeitsstelle kann mit Teilzeitarbeitskräften, aber möglicherweise auch
— über die Bündelung von mehreren Altersteilzeitregelungen — mit voll arbeitenden Kräften besetzt werden. Hiermit wird dem Produktionsprozeß am Arbeitsmarkt, aber insbesondere dem Aspekt des humanen Übergangs in den Ruhestand Schritt für Schritt Rechnung getragen.
Wir möchten mit dieser Fortschreibung
des AFG, mit den Finanzmitteln, die verfügbar sind
— dies, das darf ich noch einmal ausdrücklich feststellen, auf hohem Niveau —, sicherstellen, daß wir uns den Herausforderungen des Arbeitsmarktes der 90er Jahre stellen können. Dies tun wir, indem wir den Schwerpunkt auf die Qualifizierung insbesondere von Arbeitslosen, von Ungelernten legen. Dies tun wir weiter, indem wir den Frauen, die nach Kindererziehungszeiten in das Erwerbsleben zurückkehren wollen, eine besondere Chance eröffnen. Damit bauen wir auch den hohen Anteil der Frauenarbeitslosigkeit an den 2 Millionen — das sind mehr als 1,1 Millionen arbeitslose Frauen — ab.
Davon sind wir überzeugt. Wie sollte es sonst geschehen, wenn nicht über die Qualifizierung der Frauen für den richtigen Arbeitsplatz?
Dies tun wir.
Wir wollen mit der Altersteilzeitregelung erreichen, daß wir den Übergang von der Arbeit in den dritten Lebensabschnitt oder in den Ruhestand humaner gestalten.
Ich glaube, dieses Gesetz sieht seine Herausforderung
deshalb sicherlich darin, daß wir mit Blick auf morgen
— und da laden wir eigentlich alle ein: die Wirtschaft, die Gewerkschaften —
— ja, wir laden alle ein —, daran mitwirken, daß diese Schwerpunkte auch verwirklicht werden.
Schönen Dank.