Gesamtes Protokol
Die Sitzung ist eröffnet.
Meine Damen und Herren, am 9. Februar verstarb nach schwerer Krankheit der sowjetische Staats- und Parteichef Juri Andropow. Er war erst im November 1982 zum Generalsekretär des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei und im Juni 1983 als Vorsitzender des Präsidiums des Obersten Sowjet auch zum Staatsoberhaupt der Sowjetunion gewählt worden.
Während seiner kurzen Amtszeit bekannte sich Andropow in der Innen- und Außenpolitik zur Kontinuität des Kurses seines Vorgängers Breschnew, dessen enger Vertrauter er war.
Im Namen des Deutschen Bundestages habe ich zum Tode von Juri Andropow dem Präsidium und den Mitgliedern des Unionsrates und des Nationalitätenrates des Obersten Sowjet sowie dem Volke der Sowjetunion Beileid und Anteilnahme ausgesprochen.
Meine Damen und Herren, Sie haben sich zu Ehren des Verstorbenen von Ihren Plätzen erhoben. Ich danke Ihnen.
Meine Damen und Herren, ich habe einige Mitteilungen zu machen: Für den aus der Parlamentarischen Versammlung des Europarates ausscheidenden Abgeordneten Dr. Vogel schlägt die Fraktion der SPD als Nachfolger den Abgeordneten Dr. Klejdzinski vor. Sind Sie damit einverstanden? — Widerspruch erhebt sich nicht. Damit ist der Abgeordnete Dr. Klejdzinski als stellvertretendes Mitglied der Parlamentarischen Versammlung des Europarates gewählt.
Mit Schreiben vom 9. Februar 1984 hat der Abgeordnete Bastian mitgeteilt, daß er mit Ablauf desselben Tages aus der Fraktion DIE GRÜNEN ausscheide und dem Deutschen Bundestag ab 10. Februar 1984 als fraktionsloser Abgeordneter angehöre.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung soll die verbundene Tagesordnung um die Zusatzpunkte Beratung des Antrags der Fraktion der SPD, betreffend Gremium zur Genehmigung der Wirtschaftspläne der Nachrichtendienste, und Beratung des Antrags der Fraktion DIE GRÜNEN, ebenfalls betreffend Gremium zur Genehmigung der Wirtschaftspläne der Nachrichtendienste, erweitert werden.
Diese Zusatzpunkte sollen zusammen mit dem Tagesordnungspunkt 2 aufgerufen werden. Sind Sie damit einverstanden? — Ich höre keinen Widerspruch; dann ist so beschlossen.
Ich rufe Punkt 2 der Tagesordnung
Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU und FDP
Gremium zur Genehmigung der Wirtschaftspläne der Nachrichtendienste
— Drucksache 10/988 — und die soeben verlesenen Zusatzpunkte auf:
1. Beratung des Antrags der Fraktion der SPD Gremium zur Genehmigung der Wirtschaftspläne der Nachrichtendienste
— Drucksache 10/1024 —2. Beratung des Antrags der Fraktion DIE GRÜNEN
Gremium zur Genehmigung der Wirtschaftspläne der Nachrichtendienste
— Drucksache 10/1028 —
Für die Aussprache ist eine Runde verabredet. — Ich sehe und höre keinen Widerspruch; dann ist so beschlossen.
Wird zur Begründung das Wort gewünscht? — Zur Begründung hat der Herr Abgeordnete Roth das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Das Haushaltsgesetz 1984 sieht in § 4 Abs. 9 vor, daß die Wirtschaftspläne der Nachrichtendienste durch ein besonderes Gremium geprüft werden. Die Mitglieder dieses Gremiums werden in entsprechender Anwendung der einschlägigen Bestimmungen des Gesetzes über die parlamentarische Kontrolle nachrichtendienstlicher Tätigkeit des Bundes, des sogenannten PKK-Gesetzes, gewählt. Der Errichtung dieses besonderen Gremiums dient unser Antrag auf Drucksache 10/988.Zwischen den parlamentarischen Kontrollrechten einerseits und den legitimen Interessen der Re-
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3928 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 56. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Februar 1984
Roth
gierung an der Wahrung der Funktionsfähigkeit der Nachrichtendienste andererseits besteht ein Spannungsverhältnis. Für den Bereich der parlamentarischen Kontrolle der fachlichen Tätigkeit der Dienste ist dieses Spannungsverhältnis im PKK-Gesetz durch die Errichtung der Parlamentarischen Kontrollkommission in vernünftiger Weise gelöst worden.
Das Haus erzielt mit diesem Verfahren seit fünf Jahren beste Ergebnisse, und hieran haben wir jetzt bei der Regelung der haushaltsmäßigen Kontrolle der Nachrichtendienste im Haushaltsgesetz 1984 angeknüpft.Wir wollen, daß das Parlament sein Budgetbewilligungsrecht auch in diesen sicherheitspolitisch sensiblen Bereichen ausübt, die Regierung sich also auch dort ihr Finanzgebaren im Detail und nicht nur global genehmigen lassen muß. Diese Prüfung im Detail kann aber ohne Beeinträchtigung der Funktionsfähigkeit der Dienste nicht im Plenum eines 37köpfigen Parlamentsausschusses oder gar in aller Öffentlichkeit vor dem Plenum des Deutschen Bundestages, sondern nur in einem kleineren Gremium erfolgen. Das ist unstreitig und war früher schon so gehandhabt worden, allerdings ohne klare gesetzliche Grundlage, die erst jetzt im Haushaltsgesetz geschaffen worden ist.Das neue Prüfungsgremium steht damit auf einem rechtlich gesicherten Fundament; es beruht auf einem Gesetz und wird vom Parlament als Ganzem und nicht nur durch Beschluß des Haushaltsausschusses eingesetzt. Seine Aufgaben und Befugnisse sind gesetzlich festgelegt. Zuständig wird dieses Gremium nur noch für die Genehmigung der Wirtschaftspläne der drei Nachrichtendienste sowie der Außenstelle des Bundesamts für Zivilschutz sein. Die Zahl der Haushaltsstellen, deren Prüfung dem Gremium vorbehalten ist, ist also gegenüber früher erheblich reduziert worden. Die Hälfte der bisher als „Geheim" geltenden Positionen ist für die Vorbereitung der Berichterstatter und für die Haushaltsberatung geöffnet, das Budgetrecht des Parlaments insoweit wesentlich verstärkt worden.Die Mitglieder des Gremiums sollen vom Parlament als Ganzem bestimmt werden. Zur Wahl erforderlich sind die Stimmen der Mehrheit der Mitglieder des Deutschen Bundestages; denn die sensible Materie macht es notwendig, daß jedes Gremiumsmitglied, das ja stellvertretend für die Gesamtheit des Bundestages handeln soll, auch das ausdrückliche Vertrauen der Mehrheit seiner Kollegen hat.Mit dieser Lösung, meine verehrten Damen und Herren, sind die Rechte des Parlaments voll gewahrt. Gleichzeitig ist dem Interesse der Bundesregierung an der Wahrung der Funktionsfähigkeit der Dienste Rechnung getragen, dies vor allem durch die Begrenzung der Anzahl der Mitglieder dieses Gremiums auf maximal fünf Abgeordnete.Gewahrt sind bei dieser Mitgliederzahl von maximal fünf Abgeordneten auch die Rechte der parlamentarischen Minderheit. Die Zahl ist so gewählt, daß keine Oppositionsfraktion von vornherein ohne Chancen ist, einen Vertreter in dieses Gremium zu entsenden. Aber auch wenn nicht beide derzeitigen Oppositionsfraktionen bei der Wahl der Mitglieder zum Zuge kommen sollten, bleibt diese Regelung dennoch verfassungskonform; denn Schutz der Minderheit bedeutet nur das Verbot des Ausschlusses der Opposition schlechthin, er bedeutet aber kein Gebot, jede parlamentarische Gruppierung ganz unabhängig von ihrer Stärke an jedem Gremium dieses Hauses zu beteiligen.Meine Damen und Herren, die Anträge der SPD-Fraktion und der GRÜNEN-Fraktion, nach denen jede Fraktion jeweils einen Vertreter in dieses Gremium entsenden soll, würden zwangsläufig dazu führen, daß eine Pattsituation zwischen den beiden Koalitionsvertretern und den beiden Oppositionsvertretern entstünde. Das Gremium würde damit nicht der Mehrheitsstruktur des Parlaments entsprechen, und seine Entscheidungsfähigkeit wäre nicht gewährleistet. Diese Regelung würde also zu einer Beeinträchtigung der Rechte der Mehrheit dieses Hauses führen.Meine Damen und Herren, wir sind nicht bereit, diesen Weg mitzugehen.
Ich bitte Sie deshalb, dem Antrag auf Drucksache 10/988 zuzustimmen und die beiden Anträge auf Drucksache 10/1024 sowie 10/1028 abzulehnen.Herzlichen Dank.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Walther.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Roth, Sie haben in der Begründung zu Ihrem Antrag manches gesagt, was so selbstverständlich ist, daß ich es nicht kommentieren muß. Aber auf der anderen Seite haben Sie übersehen, daß der Sachverhalt, mit dem wir uns in dieser Abstimmung zu befassen haben, Fragen aufwirft, die weit über den eigentlichen Anlaß hinausgehen. Die Fragen lauten nämlich: Wie gehen politische Mehrheiten mit politischen Minderheiten um?
Darf eine parlamentarische Mehrheit eine politische Minderheit aus ihren parlamentarischen Rechten und Verantwortungen hinausdrängen? Wieviel Demokratie will sich unser demokratischer Staat nach über 35 Jahren seines Bestehens leisten? Wie liberal ist eine kleine Partei, die sich daran beteiligt, eine andere kleine Partei in der Ausübung ihrer parlamentarischen Rechte und Verantwortungen zu behindern?
Und ganz pragmatisch: Darf man eine politischeGruppierung schon deshalb ausgrenzen, weil deren
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 56. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Februar 1984 3929
WaltherFragen unbequem sind und weil ihr Verhalten anders ist und vielleicht ärgerlicher als das anderer?
Was können andere Parteien tun — frage ich auch ganz pragmatisch —, um denen in der grünen Fraktion den Rücken zu stärken, die einen realpolitischen Weg zu gehen bereit sind?Meine Damen und Herren, anläßlich der zweiten Lesung zum Haushaltsgesetz 1984 habe ich für meine Fraktion zu dem damals von der Mehrheit beschlossenen § 4 Abs. 9 des Haushaltsgesetzes folgendes ausführen dürfen — ich rufe dies heute in Erinnerung —:Wir Sozialdemokraten lehnen die vorgesehene Regelung aber auch deshalb ab, weil wir aus unserer eigenen Geschichte leidvoll wissen, wohin es führen kann, wenn politische Minderheiten ausgegrenzt werden, und wir wehren uns dagegen, wer immer es auch sein mag, daß politische Minderheiten von der Mehrheit ausgegrenzt werden. Dies kann der erste Schritt auf dem Wege zu weniger Demokratie sein, und deshalb wehren wir uns dagegen.
Ich habe dies damals gesagt. Wir haben zwar heute nicht mehr über den § 4 Abs. 9 des Gesetzes zu beraten und zu beschließen, das, was ich heute für meine Fraktion vorzutragen habe, bewegt sich jedoch auf der gleichen Linie, die ich damals für unsere Ablehnung als Argumentation vortragen durfte.Befürworter der neuen Vorschrift — und Sie, Herr Kollege Roth, haben zu denen gehört —, die eine Abweichung von der langjährig geübten Praxis darstellt, daß sich ein Unterausschuß des Haushaltsausschusses mit der Prüfung der geheimen Wirtschaftspläne befaßt, wollen die Neuregelung damit rechtfertigen, daß sie die parlamentarischen Kontrollrechte verbessern wollen. Deshalb kommt es heute mit dem Antrag der Koalitionsfraktionen über Größe und Zusammensetzung dieses Gremiums zum Schwur. Der eigentliche Zweck der Vorschrift, der schon von ihren mißglückten und mehrfach zurückgenommenen Vorläufern abzulesen war, wird sichtbar. Es geht darum, um es im Klartext zu sagen, eine der vier Fraktionen dieses Hauses von einem bestimmten Bereich der Haushaltskontrolle auszuschließen und ihr die vollständige Prüfung vorzuenthalten.Dies bedeutet in der Praxis, daß damit die parlamentarischen Kontrollrechte, Herr Kollege Roth, nicht verbessert, sondern eingeschränkt werden. Der Minderheitenschutz des § 55 Abs. 3 der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages, der jeder Fraktion das Recht gibt, in einem Unterausschuß vertreten zu sein, soll durch eine vorrangige Gesetzesregelung ausgehebelt werden. Damit wird der Vertrauensschutz, durch den die Geschäftsordnung unabhängig von wechselnden politischen Konstellationen ein Mindestmaß an parlamentarischer Kontrolle gewährleisten soll, schlicht ausgehebelt. Der von uns vorgelegte Antrag stellt dagegen eindeutig klar, daß wir eine Regelung wollen, die die Haushaltskontrolle mit jenen Einschränkungen, die sich aus der Natur der Sache ergeben, allen Fraktionen dieses Hohen Hauses nicht nur zubilligt, sondern sie als einen tragenden Verfassungsgrundsatz festschreiben will.Ich bin mir im klaren, wenn Sie mit Ihrer Mehrheit Ihren Antrag durchsetzen, daß das Bundesverfassungsgericht das letzte Wort sprechen muß. Wir halten ein Verfahren, das eine Fraktion des Deutschen Bundestages von der Haushaltskontrolle ausschließt, für verfassungswidrig.Das von Ihnen vorgeschlagene Verfahren, welches darauf hinausläuft, die Fraktion der GRÜNEN von einem Teil der Haushaltskontrolle auszuschließen, wird von Ihnen ganz offenbar damit begründet, daß Sie Mitgliedern dieser Fraktion nicht zutrauen, die notwendige Geheimhaltungspflicht einzuhalten. Ich erlaube mir deshalb, daran zu erinnern, daß der Herr Bundestagspräsident selbst anläßlich der Konstituierung der Ausschüsse den Weg gewiesen hat, wie angesichts des Hinzutretens einer vierten Fraktion die Verschwiegenheitspflicht gegenüber geheimhaltungsbedürftigen Vorgängen durchgesetzt wird, nicht durch Vorenthalten solcher Informationen, sondern durch strafrechtliche Ahndung, wenn die Geheimhaltungspflicht verletzt wird. Diesen Hinweis des Herrn Bundestagspräsidenten hat meine Fraktion von Anfang an mitgetragen. Sie sieht auch heute absolut keinen Anlaß, sich zu korrigieren. Die Koalition allerdings schlägt das entgegengesetzte Verfahren vor.Ich halte dagegen, daß alle Abgeordneten des Deutschen Bundestages dieselbe einheitliche Legitimation und dieselbe Verantwortung durch die freie Entscheidung der Bürger erhalten haben. Durch unseren eigenen Antrag stellen wir klar, daß wir uns an einer Einteilung der Mitglieder des Deutschen Bundestages in richtige und falsche Volksvertreter nicht beteiligen.
Juristisch bewegen Sie sich mit Ihrem Antrag auf dünnem Eis. Schon in der G-10-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes ist ausgeführt, daß „eine Fraktion oder Koalition, die das gesamte Gremium einseitig besetzen und auf die einseitige Besetzung der Kommission hinwirken würde, im Zweifel mißbräuchlich verfahren würde".Dies bedeutet, daß die Kontrolle der Regierung von Verfassung wegen dem gesamten Parlament obliegt, ganz besonders aber der Opposition, die entsprechend der Aufgabenverteilung die Kontrolle stärker als die Regierungsmehrheit ausüben muß.Ich bekräftige auch die Feststellung meines Kollegen Gerhard Jahn bei den im Prinzip ähnlichen Auseinandersetzungen um die Zahl und Wahl der Mitglieder der Parlamentarischen Kontrollkommission. Er hat damals gesagt: „Nur dann, wenn die Mehrheit des Deutschen Bundestages die besondere Verantwortung der Minderheit für eine wirksame, überzeugende und glaubwürdige Kontrolle3930 Deutscher Bundestag — l0. Wahlperiode — 56. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Februar 1984Waltherachtet, trägt die Mehrheit ihrer Verantwortung dafür Rechnung, daß das Parlament seine Aufgabe als Gesamtheit wahrnehmen kann."Erst recht muß diese Aussage für jenes Kontrollrecht gelten, das das älteste des Parlamentes überhaupt ist und in dem die Wurzeln des Parlamentarismus liegen, nämlich für die Haushaltskontrolle.
Um die Vollständigkeit der Haushaltskontrolle hat es in der Geschichte einen heftigen und lang andauernden Kampf gegeben. Noch in der Weimarer Republik war sie gerade auch im Hinblick auf die Geheimdienste unvollkommen. Es ist eine Leistung und ein Ausweis unserer Demokratie, sie durchgesetzt zu haben, und zwar für das gesamte Parlament.
Verglichen mit der G-10-Entscheidung hat das Bundesverfassungsgericht deshalb in seinem Beschluß vom 15. Dezember 1983 den Minderheitenschutz noch deutlicher formuliert und die von den Antragstellern, nämlich dem Kollegen Kleinert und der Fraktion die GRÜNEN, geltend gemachten Belange als „gewichtig" bezeichnet. In der parlamentarischen Demokratie müsse gewährleistet sein, „daß grundsätzlich sowohl jede Fraktion, insbesondere die Opposition, als auch die einzelnen Abgeordneten ihre Vorstellungen über die Verwendungsmöglichkeiten der Haushaltsmittel darlegen und dadurch die Entscheidung über den Haushalt beeinflussen können".Dies scheint mir ein sehr deutlicher Hinweis darauf zu sein, daß das Gericht in dem von der Koalition gesehenen Zielkonflikt nicht dem Geheimschutz, sondern der parlamentarischen Kontrolle den Vorrang einräumt.
Unbeschadet der endgültigen Entscheidung unseres Bundesverfassungsgerichtes kann bereits jetzt festgestellt werden, daß die Mehrheit zumindest bereit ist, Parlaments- und Haushaltsrecht in einem bedenklichen Maß zu strapazieren und dabei Glaubwürdigkeitsverluste für das Parlament insgesamt hinzunehmen.Welchen Eindruck muß es eigentlich bereiten, ausgerechnet in einem Zeitpunkt, in dem die Öffentlichkeit mit Unglauben kaum zu beschreibende Methoden eines Geheimdienstes bestaunt, die parlamentarische Kontrolle zuerst zu verzögern und dann im Ergebnis zum Nachteil einer Parlamentsminderheit zu verkürzen?
Lassen Sie mich noch eine sehr persönliche Bemerkung anschließen. Ich habe die Kollegen Kleinert und Verheyen von der Fraktion die GRÜNEN in der Arbeit des Haushaltsausschusses kennengelernt und haben zu ihnen das uneingeschränkte Vertrauen, daß sie sich streng an die notwendigen Geheimhaltungsvorschriften halten würden.
Wir Sozialdemokraten appellieren deshalb noch einmal an die Parlamentsmehrheit, das Gremium in einer sehr empfindlichen Zeit so auszugestalten, daß niemand das Gefühl haben kann, es werde manipuliert. Folgen Sie unserem Antrag, der den Minderheitenschutz streng gewährleistet, indem sich das Gremium ähnlich wie der frühere Unterausschuß des Haushaltsausschusses aus vier Abgeordneten aus vier Fraktionen zusammensetzt. Dies wäre der rechtlich sauberste Weg.Zum Schluß: In meiner Fraktion hat es eine ausführliche Diskussion darüber gegeben, ob sich unsere Bundestagsfraktion gleichwohl an dem Wahlvorgang morgen dann beteiligen sollte, wenn die Mehrheit die Annahme des Antrages der Koalitionsfraktionen beschließt. Sie werden nach dem, was ich bisher ausgeführt habe, verstehen, daß es bei uns große Zweifel gegeben hat, ob wir uns an einem Verfahren beteiligen sollten, das wir als nicht mit der Verfassung in Einklang befindlich ansehen. Andererseits war abzuwägen, ob wir uns durch unser Verhalten selbst aus der parlamentarischen Kontrolle der Geheimdienste, soweit es sich um die Haushaltskontrolle handelt, abmelden sollten. Wir haben uns letztlich dafür entschieden, daß sich bei aller juristischen Bedenklichkeit des Verfahrens eine große Oppositionspartei der Haushaltskontrolle in einem derartig sensiblen Bereich nicht entziehen sollte. Wir werden deshalb für die Wahl morgen früh unsere eigenen Vorschläge unterbreiten, sagen aber ganz eindeutig, daß dies nicht als eine nachträgliche Zustimmung für den möglicherweise zu erwartenden Mehrheitsbeschluß anzusehen ist.
Unser Protest gegen das von der Koalition angestrebte Verfahren bleibt in vollem Umfang aufrechterhalten. Wegen der grundsätzlichen Bedeutung der Angelegenheit beantragt meine Fraktion namentliche Abstimmung.Vielen Dank.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Kleinert.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Heute morgen beginnt der letzte Akt eines politischen Lehrstücks, an dem beispielhaft deutlich wird, wie es um das Demokratieverständnis der Regierungsparteien in diesem Bundestag bestellt ist.
Im Mittelpunkt dieses Lehrstücks steht der von langer Hand vorbereitete, über viele Monate mit andauernder Energie auf verschiedensten Wegen betriebene Versuch einer Regierungsmehrheit, eine unbequeme oppositionelle Minderheit in diesem Haus von tragenden parlamentarischen Kontroll-
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rechten auszuschließen. Das ist der Kern des Problems, über das wir heute reden,
und nicht — Herr Roth, tun Sie nicht so scheinheilig — die Frage: Auf welche Weise kann die Arbeitsfähigkeit eines solchen Gremiums gesichert werden? Das ist doch scheinheilig und — ich möchte mir diese Bemerkung ausdrücklich erlauben — heuchlerisch, Herr Kollege Roth.
Morgen soll dann der letzte Akt mit der Wahl jenes Gremiums, über dessen Einrichtung wir hier reden, seinen vorläufigen Abschluß finden. Dann soll der Vorhang für dieses Stück fallen, das deutlicher noch als viele andere, die in diesem Hohen Hause gespielt werden, verrät, wie ernst es die Regierungskoalition tatsächlich mit substantiellen Grundlagen jener Vefassung meint, die sie ansonsten so gerne im Munde führt.
Aber ich will der Reihe nach vorgehen. Beginnen wir einmal mit dem ersten Akt dieses Stückes, genauer gesagt, mit dem Vorspiel.Das Vorspiel war die Bundestagswahl vom 6. März, die Stimmabgabe jener mehr als zwei Millionen Wähler, die uns GRÜNE in den Bundestag gebracht haben.
Mit diesem Einzug in den Bundestag hätte uns nach geltender Rechtslage das Recht zugestanden, in allen Ausschüssen und Unterausschüssen dieses Parlaments vertreten zu sein. Dies hätte auch die Beteiligung der GRÜNEN an jenem Gremium eingeschlossen, das bis zum Jahre 1983 Jahr für Jahr das Finanzgebaren der Geheimdienste untersucht hat, nämlich die Beteiligung am dafür zuständigen Unterausschuß des Haushaltsausschusses. Diese Beteiligung hätten Sie uns nicht verwehren können; denn die Geschäftsordnung des Bundestages schreibt zwingend vor:In einem Unterausschuß muß jede Fraktion, die im Ausschuß vertreten ist, auf ihr Verlangen mindestens mit einem Mitglied vertreten sein.Das ist die Rechtslage.
Das aber sollte nicht sein. Diese Beteiligung durfte nicht sein. So meinten es jedenfalls die Herren im Bundeskanzleramt, im Justiz-, im Finanz- und in anderen Ministerien. Und so haben sie ihre Juristen darauf angesetzt, Regelungen und Verfahrenstricks ausfindig zu machen, durch die wir herausgehalten werden und doch wenigstens der Anschein von Legalität gewahrt bleiben sollte. Im Spätsommer 1983 waren sie dann erstmals fündig geworden, Ihre Rechtsgelehrten aus den Hinterzimmern der Ministerien.
Doch der Vorschlag, den Sie dann auf den Tisch brachten, verstieß so offensichtlich gegen Recht und Gesetz, daß selbst die Regierungskoalition es nicht wagte, ihn aufrechtzuerhalten. Immerhin hatten Sie sich damals die rechtliche Absurdität ausgedacht, die Etatansätze der Geheimdienste für 1984 auf der Grundlage eines Gesetzes beraten zu wollen, das nicht nur rechtswidrg gewesen wäre, sondern das es zum Zeitpunkt dieser Beratung noch gar nicht geben konnte, weil es nämlich noch gar nicht in Kraft getreten sein konnte. Gleichzeitig hatten Sie der Öffentlichkeit weiszumachen versucht, bei der ganzen Angelegenheit gehe es nicht um Geheimdienste, nein, es gehe eigentlich nur um Regelungen für den Fortfall der Essenszuschüsse.
Wir haben diesen Vorgang damals öffentlich gemacht, und auch ein Teil der Presse hat damals Ihre verfassungsrechtlichen Manipulationsversuche
deutlich gemacht. Weil das so ist und nur weil das damals das Licht der Öffentlichkeit erreicht hat, haben Sie sich gezwungen gesehen, diesen ersten Vorstoß zurückzunehmen.
Doch das Scheitern dieses ersten Vorstoßes hat Sie nicht davon abgehalten, neue Anläufe zu nehmen. Wenn schon keine Möglichkeiten in Sicht waren, die GRÜNEN aus den Beratungen über die Geheimdienstetats für 1984 herauszuhalten, dann mußten eben diese Beratungen erst einmal ganz ausfallen. Das war Ihre Logik. Ausschluß der GRÜNEN, das blieb für Sie die Ultima ratio in dieser Frage. Und das bestimmte Ihren Umgang mit Recht und Gesetz in dieser Angelegenheit.Und so kamen dann im Herbst weitere Vorschläge auf den Tisch. Sie unterschieden sich in einzelnen Punkten. Sie hatten aber alle eines gemeinsam: Um unsere Beteiligung zu verhindern, sollten die parlamentarische Kontrolle und Beratung der Geheimdienstetats im Verfahren der Haushaltsaufstellung für 1984 zunächst einmal völlig wegfallen. Der Bundestag sollte gewissermaßen blind Haushaltsansätze verabschieden, deren Zustandekommen kein einziger Parlamentarier hier eigentlich beurteilen konnte.
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Erst im Jahr 1984 — heute sind wir so weit — sollte nachträglich die Überprüfung dieser Ansätze einem Gremium übertragen werden, über das wir heute reden. Die blinde Zustimmung hier im Bundestag und die nachträgliche Genehmigung sind ein in der Parlamentsgeschichte der Bundesrepublik in dieser Form einmaliger Vorgang.
Trotz unserer Versuche, dieses Verfahren zu verhindern, hat der Bundestag durch Mehrheitsbeschluß schließlich diesen Weg eingeschlagen. Durch diesen Mehrheitsbeschluß haben CDU/CSU und FDP selbst dafür gesorgt, daß dieser Bundestag das wichtigste Parlamentsrecht, das Budgetbewilligungsrecht, allenfalls unvollständig wahrnehmen konnte — und das allein, um uns GRÜNEN keinen Einblick ins Finanzgebahren der Geheimdienste geben zu müssen.
Daß dabei gegen tragende verfassungsrechtliche Prinzipien — ich erinnere hier nur an die Art. 110 und 111 des Grundgesetzes — verstoßen wurde, ist Ihnen dabei gleichgültig geblieben.Was nun heute und morgen vorgesehen ist, hat nicht einmal den Anschein, daß diesem Vorgang, der letztlich darauf zielt, eine „Lex GRÜNE" zu schaffen, eine nachträgliche demokratische Legitimation gegeben werden könnte. Denn das, was Sie mit Ihren Anträgen hier vorhaben, läuft im Endeffekt darauf hinaus, ein Kontrollorgan für das Finanzgebahren der Geheimdienste zu bilden, dessen Zusammensetzung völlig ins Belieben der Mehrheitsfraktionen des Bundestages gestellt werden soll. Im Klartext läuft Ihr Vorschlag darauf hinaus, daß letzten Endes die Regierung selber über die parlamentarische Kontrolle entscheiden kann. Sie entscheidet mit der Mehrheit der sie tragenden Fraktionen selber darüber, ob die Opposition an dieser Kontrolle beteiligt wird. Sie entscheiden darüber, welche Fraktion hier kontrollieren darf und welche Fraktion das nicht darf. Das aber ist eine verfassungsrechtliche und verfassungspolitische Absurdität.
Wenn der vorliegende Antrag der Fraktionen von CDU/CSU und FDP eine Mehrheit findet, bedeutet das, daß die parlamentarische Opposition von einem wesentlichen Teil der Kontrolle der Regierung ausgeschlossen werden kann. Das aber wäre der Anfang vom Ende der parlamentarischen Kontrollfunktion insgesamt und eine Verabschiedung von tragenden Prinzipien der parlamentarischen Demokratie.Daran würde sich dadurch nichts ändern, wenn die Mehrheitsfraktionen hier gewissermaßen in einem Akt der Großmut bereit sein sollten, Vertreter der SPD mitzuwählen; denn solange es von dieser Großmut abhängt, ob eine Opposition an der parlamentarischen Kontrolle beteiligt wird, kann von echter Kontrolle der Regierung nicht mehr die Rede sein.
Fast ein Jahr haben sich Ministerialbeamte, Staatssekretäre, Juristen, Parlamentsausschüsse und auch das Plenum mit dieser Frage der Kontrolle der Etatansätze für die Geheimdienste befassen müssen. Meine Damen und Herren, das alles geschah nur, um erreichen zu können, daß durch eine „Lex GRÜNE" uns der Zugang zu diesem Kontrollorgan verwehrt werden kann. Da stellt sich doch folgende Frage. Wenn man sich den ganzen Aufwand, die Vielzahl von Peinlichkeiten, die Sie sich in diesem Zusammenhang geleistet haben, ansieht — wie groß müssen Ihre Befürchtungen sein, wir könnten dort irgend etwas herausbekommen, das Sie im Dunkel der Verschwiegenheit halten zu müssen glauben, wenn Sie einen solchen Aufwand betreiben und mit einer solchen Entschlossenheit den Ausschluß der GRÜNEN auch unter Mißachtung verfassungsrechtlicher Prinzipien mit allen Mitteln durchzusetzen versuchen.
Wenn dieser Aufwand auch nur in irgendeinem Verhältnis zu dem stehen soll, was ein grüner Parlamentarier in einem solchen Gremium über die Nachrichtendienste erfahren kann, dann müssen das schon äußerst dubiose Machenschaften sein, die bei den Nachrichtendiensten so vor sich gehen und die nicht an grüne Ohren dringen dürfen.
Wer in den letzten Wochen verfolgt hat, was bei diesen so geheimhaltungsbedürftigen Stellen alles getrieben wird, kann allerdings fast geneigt sein, meine Damen und Herren, Ihre Ängste ein wenig zu verstehen. Denn was da in der Affäre Ihres Herrn Verteidigungsministers an Dilettantismus, an Schlamperei, an Wichtigtuerei und Intrigantentum beim MAD vom Untersuchungsausschuß des Bundestages so nach und nach ans Licht gezerrt werden mußte — sogar wir hätten das nicht für möglich gehalten.
Da plaudern ein paar subalterne Beamte im lokkeren Ton über einen General, schieben sich zu, was sie für Schlüpfrigkeiten halten. Da sieht ein ehrgeiziger Regierungsdirektor plötzlich für sich die Chance, ganz groß herauszukommen, und schon wird daraus ein Aktenvorgang. Da äußert ein Dienstvorgesetzter Bedenken gegen die eingeleitete Ermittlungstätigkeit, das aber stört die Ermittler nicht sonderlich.
— Das gehört alles zur Tagesordnung, Herr Kittelmann.
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 56. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Februar 1984 3933
Kleinert
Ein bißchen kleiner Dienstweg, und dann wird eben eigenhändig ermittelt, wenn auch außerhalb des Gesetzes.Ein, zwei Fotos noch, hinzu ein paar wenig exakte Angaben zur Identität des Fotografierten, und schon steht die Zwangspensionierung des stellvertretenden NATO-Oberbefehlshabers auf der Tagesordnung und kommt eine Lawine ins Rollen, die Herrn Kießling in Verruf und den Homosexuellen eine neue Welle von Achtung und Diskriminierung bringt. Die Bundesregierung hat diesen ganzen Prozeß so sehr im Griff, daß es der Herr Wörner — und ich zitiere hier den „Spiegel" — inzwischen politisch auf Null gebracht hat.
Wer Einblick nehmen kann in das, was an Ermittlungsakten des MAD im Fall Kießling vorliegt, j a wer nur die Zeitungen liest, der muß sich doch fragen, was noch alles möglich ist in jenen Ämtern, deren Finanzgebaren Sie unserer Fraktion gegenüber verschlossen halten wollen,
und der muß sich doch die Frage stellen: Was treibt der Verfassungsschutz eigentlich mit jenen 178 Millionen DM, die ihm im Haushaltsplan 1984 blind bewilligt worden sind?
Werden damit auch Ermittlungen finanziert, bei denen die vage Vermutung, jemand könnte in einer Wohngemeinschaft gewohnt, an einer Demonstration teilgenommen haben, schließlich mit seiner Entlassung aus dem öffentlichen Dienst enden könnte? Wozu braucht der Verfassungsschutz 1984 einen Etatansatz, der um mehr als 20 % über dem Ist-Ergebnis von 1982 liegt
und dessen Steigerungsrate gegenüber 1983 viermal so hoch ist wie der Anstieg der Gesamtausgaben im Bundeshaushalt?
Wie hoch ist eigentlich der Anteil der Mittel, die Sie zur Ausschnüffelung der GRÜNEN ausgeben?
Meine Damen und Herren, selten ist die Notwendigkeit einer wirksamen Kontrolle der Nachrichtendienste so deutlich geworden wie in den letzten Wochen, und selten hat sich die Notwendigkeit einer solchen Kontrolle durch eine Opposition, die nicht das Interesse hat, alles zu vertuschen, was irgendwie zu vertuschen ist, deutlicher herausgestellt als in diesen Wochen.
Die Wahl, die Sie für morgen vorgesehen haben, wird vermutlich nicht mehr als eine Farce sein.
Herr Abgeordneter, ich bitte Sie wirklich, zum Schluß zu kommen.
Das ist der letzte Satz.
Die Tatsache, daß wir uns daran beteiligen, hat nur den einen Grund: Wir wollen noch einmal deutlich machen, daß es dem verfassungsmäßigen Anspruch und dem Auftrag der Opposition entspricht, an der parlamentarischen Kontrolle der Exekutive mitzuwirken, und daß es nicht Angelegenheit der Regierungsmehrheit sein kann, auszuwählen, welche Oppositionsfraktion sie dabei akzeptiert und welche nicht.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Weng.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Kollege Walther, es ist unter dem Niveau einer staatstragenden Fraktion und — ich sage das ausdrücklich — unter Ihrem persönlichen Niveau, von hier aus mit Unterstellungen Politik zu machen.
Ich meine, daß auch bei kontroverser Auffassung Sachlichkeit angebracht ist.
— Um dieser Sachlichkeit willen, Herr Kollege Schily, lasse ich von den GRÜNEN sowieso schon keine Zwischenfrage zu.
Ich stelle fest, daß die Fraktion der Freien Demokratischen Partei bereits bei der Aussprache zum Haushaltsgesetz 1984 ausgeführt hat, § 4 Abs. 9 des Haushaltsgesetzes beinhalte eine demokratische Aufwertung der Bestellung und Einrichtung der haushaltsmäßigen Kontrolle der Geheimdienste.
Herr Abgeordneter, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Diederich?
Selbstverständlich.
Herr Abgeordneter Diederich.
Herr Kollege, Sie haben eben von einer staatstragenden Fraktion gesprochen. Würden Sie vielleicht einmal den Begriff staatstragend erläutern und sagen, welche Fraktionen hier nicht staatstragend sind?
Herr Kollege Diederich, ich bin gerne breit, Ihnen den Begriff aus meiner Sicht bei Gelegenheit zu erläutern. Das hat aber mit dem
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3934 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 56. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Februar 1984
Dr. WengTagesordnungspunkt, über den wir im Moment sprechen, nichts zu tun.
Deswegen fahre ich in meinen Ausführungen fort.
War es seither üblich, daß die Mitglieder der Kontrollkommission vom Haushaltsausschuß aus der Mitte des Ausschusses selbst gewählt wurden, so entspricht das jetzt vorgeschlagene Verfahren einer Wahl durch das Plenum des Deutschen Bundestages der gestiegenen Bedeutung parlamentarischer Kontrolle. Gerade die uns in letzter Zeit bekanntgewordenen Pannen beim Militärischen Abschirmdienst machen doch deutlich, daß eine noch effizientere Kontrolle der Dienste durch das Parlament erforderlich ist.Die neue Vorschrift sieht nun ausdrücklich vor, daß der Deutsche Bundestag die Wahl des Kontrollgremiums zukünftig selbst vornimmt. Damit wird, wenn die Einrichtung des Gremiums gemäß dem Antrag der Koalition heute beschlossen wird, die Wahl am morgigen Freitag erstmals in der Öffentlichkeit durchgeführt.Nach unserer derzeit geltenden Geschäftsordnung erfolgt die Besetzung eines solchen Gremiums nach dem Verfahren Schepers. Die Verteilung der Sitze nach diesem Verfahren ergibt
— Herr Fischer, wenn Sie zuhören würden, würden Sie sicherlich mitbekommen, daß meine Ausführungen genau der Geschäftsordnung entsprechen — bei einer Zahl von fünf Mitgliedern in einem solchen Gremium, daß — entsprechend den Zahlenverhältnissen des Parlaments — rechnerisch der CDU die Entsendung von drei, der SPD die Entsendung von 2 Mitgliedern zusteht.
Meine Damen und Herren, das Bundesverfassungsgericht hat in seiner Entscheidung über den Antrag der GRÜNEN auf einstweilige Anordnung in dieser Angelegenheit festgehalten, daß dem parlamentarischen Kontrollgremium nicht lediglich Mitglieder der die Regierung tragenden Fraktionen angehören sollen. Der Deutsche Bundestag wird morgen deshalb aufgefordert sein, diesen Verfassungsgrundsatz zu berücksichtigen. Für Behauptungen allerdings, meine Damen und Herren, die hier vorgelegte Regelung sei nicht verfassungskonform, gibt es nach Auffassung meiner Fraktion keine Anhaltspunkte.
— Herr Kollege Schily, über Verfassungsmäßigkeit entscheidet im Zweifelsfall das Verfassungsgericht. —
Meine Damen und Herren, natürlich wären auch andere Regelungen vorstellbar. Eine Möglichkeit wäre es z. B. gewesen, das Kontrollgremium zahlenmäßig so zu erweitern, daß bei der Verteilung der Sitze nach dem System Schepers mit Sicherheit alle Fraktionen vertreten gewesen wären.
Rein rechnerisch aber müßte dafür die Zahl der Mitglieder dieses Gremiums auf elf erhöht werden. Meine Damen und Herren, Veröffentlichungen bestimmter Presseorgane machen immer wieder deutlich, daß die Vertraulichkeit von Beratungen spätestens dann nicht mehr gewährleistet ist, wenn die Informationsquellen nicht mehr genau eingrenzbar sind.
Und hier geht es — dies müssen wir, glaube ich, besonders im Auge haben — um einen besonders sicherheitsempfindlichen, sensiblen Bereich.
Deshalb hält meine Fraktion eine solche Ausweitung des Kontrollgremiums für nicht vertretbar.
Meine Damen und Herren, die Fraktion der Freien Demokratischen Partei stimmt der Einsetzung eines Gremiums zur Genehmigung der Wirtschaftspläne der Nachrichtendienste gemäß Beschlußvorschlag der Fraktionen von CDU/CSU und FDP bei gleichzeitiger Ablehnung der ebenfalls hier vorliegenden Anträge der Fraktionen der SPD und der GRÜNEN aus den genannten Gründen zu.Ich danke Ihnen.
Meine Damen und Herren, mir liegen weitere Wortmeldungen nicht vor. Ich gehe also davon aus, daß der Debattenbeitrag des Kollegen Roth sowohl die Begründung als auch die Aussprache abdeckt. — Dann schließe ich die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung.Ich lasse zunächst über den Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und der FDP auf Drucksache 10/988 abstimmen. Hierzu ist von der Fraktion DIE GRÜNEN und von der Fraktion der Sozialdemokratischen Partei gemäß § 52 unserer Geschäftsordnung namentliche Abstimmung beantragt worden; dies ist ausreichend unterstützt.
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 56. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Februar 1984 3935
Präsident Dr. BarzelIch eröffne die namentliche Abstimmung. —Ich darf fragen, ob alle Abgeordneten Gelegenheit hatten, sich an der Abstimmung zu beteiligen. — Das ist nicht der Fall. Wir müssen wegen der gleichzeitig tagenden Ausschüsse etwas warten.Meine Damen und Herren, haben jetzt alle Mitglieder Gelegenheit gehabt, sich an der namentlichen Abstimmung zu beteiligen? — Ich sehe keinen Widerspruch. Dann schließe ich die Abstimmung und bitte mit der Auszählung zu beginnen. —Meine Damen und Herren, ich bitte Platz zu nehmen. Ich gebe das Ergebnis der namentlichen Abstimmung über den Antrag auf Drucksache 10/988 bekannt. — Ich möchte es gerne bekanntgeben; es ist aber die Übung, daß die Damen und Herren Abgeordneten sitzen, wenn dies geschieht.An der Abstimmung haben sich 481 Mitglieder des Hauses beteiligt. Ungültige Stimmen: keine. Mit Ja haben 271, mit Nein 210 Abgeordnete gestimmt. Enthaltungen: keine.Endgültiges ErgebnisAbgegebene Stimmen 481; davonja: 271nein: 210JaCDU/CSUDr. AlthammerFrau Augustin Austermann BayhaDr. Becker BergerFrau Berger BiehleDr. Blank Dr. Blens Dr. Blüm Dr. Bötsch BohlBohlsenBorchertBoroffkaBraunBreuerBrollBrunnerBühler
Dr. BuglBuschbom Carstens
Carstensen ClemensConrad Dr. CzajaDr. Daniels DawekeDeresDörflinger DolataDr. DollingerDossDr. Dregger EchternachEhrbar EigenEngelsbergerErhard
Eylmann
Dr. Faltlhauser FeilckeFellnerFrau Fischer Fischer Francke (Hamburg) FrankeDr. Friedmann Ganz Frau GeigerDr. GeißlerDr. von GeldernDr. GeorgeGerlach GersteinGerster GlosDr. GöhnerDr. Götz Günther Dr. HäfeleHanz HaungsHauser Hauser (Krefeld) HedrichFreiherr Heeremanvon Zuydtwyck Frau Dr. HellwigHelmrich Dr. Hennig Herkenrath HinskenHöffkesHöpfingerDr. HoffackerFrau Hoffmann Dr. HornhuesHornungFrau HürlandDr. Hüsch Dr. Hupka Graf Huyn Jäger
JagodaDr. Jahn
Dr. JenningerDr. JobstJung
KalischDr.-Ing. KansyFrau KarwatzkiKellerKiechleKittelmannKlein
Dr. Köhler Dr. Köhler (Wolfsburg) Dr. KohlKolbKrausKreyKroll-SchlüterFrau Krohne-Appuhn Dr. KronenbergDr. Kunz LamersDr. LammertLandréDr. Langner Lattmann Dr. Laufs LenzerLink Linsmeier LintnerDr. Lippold LöherLohmann LouvenMaaßFrau MännleMaginMarschewskiDr. MarxDr. Mertes MetzDr. Meyer zu Bentrup MichelsDr. Mikat Dr. Miltner MilzDr. Möller Dr. MüllerMüller Müller (Wadern)Müller NelleFrau Dr. Neumeister NiegelDr.-Ing. OldenstädtDr. Olderog PeschPetersen Pfeffermann PfeiferDr. Pinger Pohlmann Dr. PohlmeierDr. Probst RaweReddemann Regenspurger RepnikDr. Riedl
Dr. RiesenhuberRode Frau Rönsch Frau Roitzsch
Dr. Rose
Rossmanith Roth RüheRufSauer
Sauer
SaurinSauter Sauter (Ichenhausen)Dr. Schäuble Schartz SchemkenScheuSchlottmann SchmidbauerSchmitz von Schmude Schneider
Dr. Schneider Freiherr von Schorlemer SchreiberDr. Schroeder Schröder (Lüneburg) SchulhoffDr. Schulte
Schulze (Berlin) Schwarz
Dr. Schwarz-Schilling Dr. Schwörer SeehoferSeesingSeitersDr. FreiherrSpies von Büllesheim SprangerDr. SprungGraf StauffenbergDr. StavenhagenDr. Stercken Stockhausen Dr. Stoltenberg StraßmeirStrubeStücklenStutzerSussetTillmannUldallDr. UnlandFrau VerhülsdonkVogel
Vogt
Dr. Voigt
Dr. VossDr. WaffenschmidtDr. WaigelGraf von Waldburg-Zeil Dr. WarnkeDr. WarrikoffDr. von Wartenberg WeirichWeißWernerFrau Will-Feld Frau Dr. Wilms WilzWimmer WindelenFrau Dr. Wisniewski Wissmann
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3936 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 56. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Februar 1984
Präsident Dr. BarzelDr. WittmannDr. WörnerWürzbachDr. WulffZiererDr. Zimmermann ZinkFDPFrau Dr. AdamSchwaetzerBaum BeckmannBredehornCronenberg Eimer (Fürth)EngelhardDr. FeldmannGallus GattermannGenscherGrünbeckGrünerFrau Dr. Hamm-Brücher Dr. HaussmannDr. HirschHoffie HoppeKleinert KohnDr.-Ing. LaermannDr. Graf Lambsdorff MischnickNeuhausenPaintnerRonneburgerDr. RumpfSchäfer
Frau Seiler-AlbringDr. SolmsDr. WengWolfgramm Wurbsfraktionslos HandlosNeinSPDAmling AntretterDr. ApelBachmaierBahr BambergBecker BerschkeitBindig Brandt Brück BuckpeschBüchler
Büchner
Dr. von BülowBuschfortCatenhusenCollet ConradiCurdtFrau Dr. CzempielFrau Dr. Däubler-Gmelin DaubertshäuserDelormeDr. Diederich DreßlerDuveEgertDr. Ehmke
Dr. EhrenbergDr. EmmerlichEstersEwenFiebigFischer Fischer (Osthofen) Franke (Hannover)Frau Fuchs
Frau Fuchs
GanselGerstl
GilgesGlombig Dr. Glotz Gobrecht GrunenbergDr. Haack HaarHaase
HaehserFrau Dr. HartensteinDr. HauchlerHauckDr. Hauff Heimann HeistermannHerterich HettlingHiller Hoffmann (Saarbrücken) Dr. HoltzHornFrau HuberIbrüggerImmer Jahn (Marburg)JansenJaunich Dr. JensJung Junghans Jungmann KastningKiehmKirschner Kisslinger Klein
Dr. KlejdzinskiKloseKolbow KretkowskiDr. Kübler Kühbacher Kuhlwein Lambinus Lennartz Leonhart LöfflerLohmann
LutzFrau LuukFrau Dr. Martiny-Glotz Frau Matthäus-Maier MatthöferMeininghausMenzelDr. Mertens Müller (Düsseldorf) Müller (Schweinfurt)Dr. Müller-Emmert MünteferingNagelNehmDr. NöbelFrau OdendahlOffergeld OostergeteloPaterna PauliDr. Penner Peter
PfuhlPolkehn Porzner PoßPurpsRapp
Rappe ReimannFrau RengerReschke ReuschenbachReuterRohde
RothSanderSchäfer SchanzDr. Scheer Schlaga Schlatter SchluckebierFrau Schmedt
Dr. Schmidt Schmidt (Hamburg) Schmidt (München)Frau Schmidt Schmidt (Wattenscheid) Schmitt (Wiesbaden)Dr. SchmudeSchreinerSchröder Schröer (Mülheim) Schulte (Unna)Dr. Schwenk SielaffSielerFrau SimonisDr. Soell Dr. SperlingDr. SpöriStahl
Dr. Steger SteinerFrau SteinhauerStiegler Stockleben Dr. Struck Frau TerborgTietjenFrau Dr. Timm Toetemeyer Frau Traupe UrbaniakVahlbergVerheugen Dr. VogelVogelsangVoigt
VosenWaltemathe WaltherWartenberg WeinhoferWeisskirchen Dr. WernitzWestphalFrau Weyel Wieczorek Wiefelvon der Wiesche Wimmer
Dr. de With Wolfram
WürtzZanderZeitlerFrau ZuttDIE GRÜNENFrau Dr. BardFrau Beck-Oberdorf Burgmann DrabiniokDr. Ehmke Fischer (Frankfurt)Frau Gottwald HossDr. Jannsen Kleinert KrizsanReentsFrau Reetz Sauermilch SchilySchneider
Frau Schoppe Schwenninger StratmannVerheyen Vogt (Kaiserslautern) Frau Dr. VollmerDamit ist dieser Antrag angenommen.Meine Damen und Herren, ich gehe davon aus, daß sich eine Abstimmung über die Anträge der Fraktion der SPD und der Fraktion DIE GRÜNEN damit erledigt hat. Damit ist dieser Tagesordnungspunkt abgeschlossen.Ich rufe Punkt 3 der Tagesordnung auf:a) Beratung des Jahresgutachtens 1983/84 des Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung— Drucksache 10/669 —Überweisung des Ältestenrates:Ausschuß für Wirtschaft InnenausschußFinanzausschuß
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 56. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Februar 1984 3937
Präsident Dr. BarzelHaushaltsausschußAusschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Ausschuß für Arbeit und SozialordnungAusschuß für Jugend, Familie und Gesundheit Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebaub) Beratung des Jahreswirtschaftsberichts 1984 der Bundesregierung— Drucksache 10/952 —Überweisungsvorschlag des Ältestenrates: Ausschuß für Wirtschaft FinanzausschußHaushaltsausschußAusschuß für Arbeit und Sozialordnung Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeitc) Beratung des Antrags der Abgeordneten Wissmann, Hauser , Kraus, Doss, Dr. Lippold, Dr. Lammert, Lattmann, Dr. Schwörer, Müller (Wadern), Dr. Freiherr Spies von Büllesheim, Dr. Unland, Niegel, Gerstein, Pfeffermann, Lenzer, Seesing, Günther, Krey, Dr. Bugl, Dr. Hoffacker, Eigen, Dr. Möller, Dr. Müller, Kroll-Schlüter, Tillmann, Weiß, Haungs, Hinsken, Frau Krone-Appuhn, Frau Geiger, Frau Will-Feld, Frau Verhülsdonk, Wilz, Bohl, Dr. Olderog, Sauter (Ichenhausen), Berger, Dr. Götz, Dr. Hornhues, Pohlmann, Magin, Dr. Schroeder (Freiburg), Hedrich, Uldall, Jung (Lörrach), Dr. Stavenhagen, Dr. Friedmann, Dr. Laufs, Schwarz, Sauer (Stuttgart), Dr. Kunz (Weiden), Linsmeier und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Dr. Solms, Dr. Haussmann, Gattermann, Grünbeck, Hoffie, Wurbs, Dr. Weng, Dr.-Ing. Laermann, Dr. Feldmann und der Fraktion der FDPFörderung der Bildung von Risikokapital— Drucksache 10/918 —Überweisungsvorschlag des Ältestenrates: Ausschuß für Wirtschaft FinanzausschußAusschuß für Arbeit und Sozialordnung Ausschuß für Forschung und TechnologieDie Vereinbarung im Ältestenrat sieht vor, daß wir die Punkte 3 a) bis c) gemeinsam beraten und uns auf 61/2 Stunden für die Aussprache verständigen. — Ich sehe und höre keinen Widerspruch; dann ist so beschlossen.Das Wort hat der Bundesminister für Wirtschaft.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! 1983 war ein Jahr des wirtschaftlichen Neubeginns. 1984 wird ein Jahr der wirtschaftlichen Expansion sein.
Der Jahreswirtschaftsbericht 1984 zeigt den Weg dafür, den Weg der Wiedergewinnung von Vertrauen und Zuversicht in die Leistungsfähigkeit unserer Wirtschaft, in unsere technologischen Fähigkeiten und in unsere Wettbewerbskraft. Der Jahreswirtschaftsbericht 1984 ist ein Dokument der wiedererlangten finanzpolitischen Solidität und der Neubesinnung auf die Werte der sozialen Marktwirtschaft.Meine Damen und Herren, der wirtschaftliche Neubeginn war kraftvoll, und er war fundiert. Bereits Mitte 1983 konnte der tiefe Wachstumseinbruch des Jahres 1982 aufgeholt werden. Die Kapazitäten sind heute merklich besser ausgelastet, die Preise sind stabiler geworden, und die Leistungsbilanz ist im Überschuß.Dabei sehen wie durchaus, daß noch nicht alle Regionen oder Branchen gleichermaßen von der wirtschaftlichen Belebung profitieren. Aber der Aufschwung gewinnt an Breite, er gewinnt an Intensität.
— Auf den Zwischenruf hatte ich an dieser Stelle selbstverständlich gewartet; vielen Dank. Sogar am Arbeitsmarkt, einem typischen Spätindikator, zeichnet sich eine Besserung ab, wenn man, was man tun muß, von den winterlichen Witterungsbedingungen absieht. Die Kurzarbeit beträgt nur noch zwei Fünftel des Niveaus vor einem Jahr. Die Zahl der Arbeitslosen ist in den letzten fünf Monaten saisonbereinigt um 130 000 gesunken.Der Sachverständigenrat, dem ich auch von dieser Stelle aus für seine hervorragende Arbeit danke, weist völlig zu Recht darauf hin, daß die Wende zum Besseren deutlicher geworden ist, als von fast allen erwartet worden war, und er betont, daß dies trotz eines zunächst enttäuschenden Ergebnisses im Exportgeschäft erreicht werden konnte.Dies alles war nicht etwa ein Geschenk des Himmels für diese Bundesregierung. Es ist auch nicht das Ergebnis von Untätigkeit, wie das die Opposition so gerne behauptet. Allerdings ist es auch nicht das Ergebnis eines unsystematischen Aktionismus, sondern es ist vor allem die Folge der wirtschaftspolitischen Neuorientierung.
In der Ziffer 3 des Jahreswirtschaftsberichtes ist das alles nachzulesen.Wiedergewonnenes Vertrauen und neue Perspektiven haben auch dazu beigetragen, daß die konjunkturellen Anstöße der Investitionszulage und des Dringlichkeitsprogramms vom Herbst 1982 von der Wirtschaft positiv aufgenommen wurden. Auch wenn viele die Investitionszulage kritisieren: Ich bekenne mich doch zu ihr, und zwar nicht nur, weil wir sie im Bundesministerium für Wirtschaft erfunden haben. Wir haben dazu immer gesagt, daß der Samen auf einen gut bereiteten Acker gesät sein muß, wenn er aufgehen soll. Den Acker gut zu bestellen, das war im Gespann mit den Sozialdemokraten nicht mehr möglich.
Meine Damen und Herren, inzwischen erhalten die binnenwirtschaftlichen Auftriebskräfte auch durch eine steigende Auslandsnachfrage Unterstützung. Wir haben seit längerer Zeit wieder einen selbsttragenden Aufschwung. So lautet auch das Urteil des Präsidenten der Deutschen Bundesbank, Herrn Pöhl, und seines Vizepräsidenten Dr. Schle-
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3938 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 56. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Februar 1984
Bundesminister Dr. Graf Lambsdorffsinger. In der Presse war Anfang dieses Monats zu lesen — ich zitiere —:Der von Kritikern vorausgesagte Schiffbruch nach dem krisenverschärfenden Sparkurs ist ebensowenig eingetroffen wie die gefürchtete Spitzenarbeitslosigkeit von 3 Millionen und mehr in diesem Winter. Die fürs erste gebändigte Inflation wirkt sozial entspannend und stärkt die reale Massenkaufkraft. Investitions- und mehr noch Verbrauchsklima sind so gut wie seit Jahren nicht.Das war nicht die Wiedergabe einer amtlichen Verlautbarung der Regierung; es war ein Kommentar der „Frankfurter Rundschau".
Auch der SPD-Fraktionsvorsitzende hat uns für diesen Winter 3 Millionen Arbeitslose vorausgesagt.
Herr Steinkühler prophezeite uns sogar 4 Millionen Arbeitslose, und der Vorsitzende des Deutschen Gewerkschaftsbundes, Herr Breit, rechnet in diesen Tagen in prophetischer Weitsicht mit 4 bis 5 Millionen Arbeitslosen bis zum Ende dieses Jahrzehnts.Herr Kollege Vogel, Sie haben sich mit Ihrer Vorhersage als fehlsamer Unglücksrabe erwiesen.
Sie sind aber keineswegs allein. Um Sie herum sitztein ganzer Rabenchor.
— Herr Kollege Wolfram, das einzige, was ich bei dem Vergleich selber mit einem Fragezeichen versehen habe, war in der Tat die Kleidungsfarbe.Aber zum Inhalt dieser fabelhaften Vorhersagen. Der Herr Kollege Ehmke nannte es am 30. Dezember 1982 angesichts der drastischen Weltwirtschaftskrise geradezu grotesk, wenn der Bundeswirtschaftsminister für 1983 eine Konjunkturbelebung voraussage.
Herr Roth sagte, es sei schon ein Vorgang seltener Dreistigkeit und ein Zeichen arroganter Verachtung der Bürger, wenn Graf Lambsdorff dem Deutschen Bundestag den Jahreswirtschaftsbericht 1983 vorlege, von den Experten aus Unternehmen, Gewerkschaften, Forschungsinstituten und selbst Fachleute aus dem eigenen Hause sagten, daß seine Zahlen geschönt und nicht ernst zu nehmen seien. Noch einmal Herr Dr. Apel:Von einer konjunkturellen Wende kann nicht die Rede sein. Der Alltag hat Sie eingeholt. Nun werden Sie nicht mehr Aufschwünge herbeireden können.— So am 7. September 1983 hier im Deutschen Bundestag.Und schließlich — da wir auf der Bundesratsbank einen Kollegen aus Nordrhein-Westfalen begrüßen— der nordrhein-westfälische Arbeits- und Sozialminister — —
— Nein, das ist nicht er, das ist der Kollege Wirtschaftsminister, der Herr Jochimsen, das weiß ich sehr wohl auseinanderzuhalten.Der nordrhein-westfälische Arbeits- und Sozialminister, Professor Farthmann, sagte:Alles, was zur Zeit über Konjunktur geredet wird, was an optimistischen Prognosen abgesondert wird, findet nach meiner Einschätzung— so Herr Farthmann —ausschließlich in den Zeitungen und den Politikerreden statt. In der Wirklichkeit merkt man davon überhaupt nichts.Das, meine Damen und Herren, war in der Tat ein ganzer Chor von Unglücksraben.
Aber da ich gerade einen Debattenteilnehmer aus Nordrhein-Westfalen begrüßt habe: Der nordrheinwestfälische Ministerpräsident hat vor drei Tagen in einem Rundfunkinterview gesagt:Der Begriff „Wende" ist vor eineinhalb Jahren benutzt worden, um aus einer Koalition auszusteigen und dafür Sachgründe nur vorzuschieben.Wenn man die Sache so sieht, werden wir noch einen langen Weg miteinander gehen müssen, bis Sie einsehen, daß Sachgründe gegeben waren und daß dringend bei uns etwas geändert werden mußte.
Bei Ihnen, meine Damen und Herren, hat lediglich der Irrglaube Platz, daß nur mehr Staat auch mehr Nachfrage, Produktion und Beschäftigung schafft. Sie haben vergessen, Faktoren wie Vertrauen, Glaubwürdigkeit, Stetigkeit und marktwirtschaftliche Flexibilität in Ihren makro-ökonomischen Prognosecomputer eingeben zu lassen. Wachstum ist keine staatliche Veranstaltung, sondern es ist das Produkt der Anstrengungen aller. Das Volkseinkommen und die gesamtwirtschaftliche Produktivität sind Ergebnisgrößen, und sie sind keinesfalls vorgegeben. Deshalb ist eine Wirtschaftspolitik, die für private Initiative, für Investitionen und Innovationen einen geeigneten Rahmen schaffen will, die einzige erfolgversprechende Antwort auf unsere mittelfristigen Beschäftigungsprobleme.
Meine Damen und Herren, wir gehen im Jahreswirtschaftsbericht für 1984 von einem Wachstum von 2,5% aus. Dies ist bewußt eine vorsichtige Schätzung. Wir halten eine günstigere Entwicklung für möglich, ja für wahrscheinlich. 1984 wird voraussichtlich das Jahr sein, in dem nach vier Jahren gestiegener Arbeitslosigkeit auch im Jahresdurch-
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 56. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Februar 1984 3939
Bundesminister Dr. Graf Lambsdorffschnitt erstmals die Zahl der Arbeitslosen wieder unter der des Vorjahres liegen wird.Trotzdem bleibt die Arbeitslosigkeit die große Herausforderung für uns. Denn wir wissen, welche Probleme Arbeitslosigkeit gerade auch bei jungen Menschen mit sich bringen kann: Sorge um den Lebensunterhalt für die Familie, soziale Isolation, Beeinträchtigung des Selbstwertgefühls, persönliche Unsicherheit bis hin zu Angst, den Anschluß im Beruf zu verlieren, für die heranwachsende Generation womöglich sogar Perspektivlosigkeit.Deshalb steht für uns die nachhaltige Verbesserung der Beschäftigungssituation im Mittelpunkt unserer wirtschaftspolitischen Bemühungen. Unsere besondere Sorge gilt dabei den Ausbildungsplätzen. Ich möchte hier nochmals der deutschen Wirtschaft meinen ausdrücklichen Dank für die enormen Anstrengungen im vergangenen Jahr aussprechen.
Zwar konnte nicht für alle Jugendlichen ein Ausbildungsplatz gefunden werden. Aber die Schaffung von 46 000 zusätzlichen Ausbildungsplätzen statt der versprochenen 30 000, das ist schon der besonderen Anerkennung wert.
Mit diesem Lob möchte ich aber zugleich den Appell erneuern, in den Anstrengungen auch in diesem Jahr nicht nachzulassen. Sie wissen, daß wir den Schülerberg noch nicht hinter uns haben. Deshalb meine dringende Bitte an die Wirtschaft, noch mehr zu tun, damit im Jahre 1984 jeder Jugendliche eine Lehrstelle, wenn er sie will, bekommt.Meine Damen und Herren, jeder weiß, daß wir die Beschäftigungsprobleme unserer Wirtschaft nicht über Nacht lösen können. Das Ergebnis langjähriger Fehlentwicklungen kann nur längerfristig behoben werden. Dies haben wir von Anfang an gesagt. Immer wieder behauptet die Opposition, die Regierung habe die schnelle Beseitigung der Arbeitslosigkeit versprochen. Diese Behauptung ist unwahr. Ich habe im Bundestagswahlkampf landauf, landab gesagt, es wäre ein großer Erfolg, wenn wir im Laufe des Jahres 1983 erreichten, den stetig steigenden Trend zu mehr Arbeitslosigkeit zum Stillstand zu bringen. Dieser Erfolg ist eingetreten, die Umkehr ist gelungen. Damit ist die berechtigte Sorge vieler, auch ihr Arbeitsplatz könne noch verlorengehen, gemildert. Warnen, meine Damen und Herren, muß ich vor der sich zur Ideologie verfestigenden Vorstellung der Opposition, mit MilliardenBeschäftigungsprogrammen die Probleme lösen zu wollen. Eine dauerhafte Wachstumsdynamik läßt sich mit solchen Programmen nicht herbeiführen. Sie binden erfahrungsgemäß erhebliche Finanzierungsmittel, vergrößern wieder die öffentlichen Defizite oder die Abgabenlast, schaffen neue Probleme auf den Kapitalmärkten und verzögern die strukturelle Anpassung, auf die es jetzt so ankommt, ohne nachhaltige Wachstums- und Beschäftigungseffekte zu erzielen.Die wirtschaftlichen Ergebnisse des Jahres 1983 haben das SPD-Gerede von der konjunkturtötenden Überkonsolidierung Lügen gestraft.
Sie zeigen, daß sich die Belebung nicht auf staatliche Ausgabenprogramme, sondern auf finanzpolitische Solidität und auf einen klaren marktwirtschaftlichen Kurs gründet. Vor allem das so gewonnene Vertrauensklima hat neue Nachfrage geschaffen. Die Bundesregierung sieht sich durch den Erfolg bestärkt, den eingeschlagenen Kurs mit Nachdruck fortzusetzen und so auf dem Wege zu einer durchgreifenden Verbesserung der Beschäftigungslage voranzukommen.Die Antworten, die wir auf die ökonomischen und sozialen Herausforderungen geben, finden in der Welt mehr und mehr Anerkennung. Ich habe in der vergangenen Woche in Paris an einem zweitägigen Erfahrungsaustausch mit Wirtschafts- und Finanzministern aus allen OECD-Ländern über die längerfristigen wirtschaftspolitischen Erfordernisse teilgenommen. Von ganz wenigen Ausnahmen abgesehen, sahen alle die Notwendigkeit, den Staatssektor, seine Ausgaben und die öffentliche Verschuldung einzuschränken, die Flexibilität und Effizienz der Märkte zu erhöhen und die internationalen wirtschaftlichen Rahmenbedingungen zu verbessern, um so Voraussetzungen für eine neue Wachstumsdynamik der Weltwirtschaft zu schaffen.Ich schätze dieses hohe Maß von Übereinstimmung nicht gering ein. Denn die größten Risiken für den Aufschwung liegen derzeit im Bereich der Weltwirtschaft. Da ist zunächst das Zinsproblem. Vor allem das Defizit im amerikanischen Bundeshaushalt, das im letzten Haushaltsjahr knapp 200 Milliarden US-Dollar betragen hat und im laufenden Jahr nicht sehr viel geringer ausfallen dürfte, hält die Zinsen nicht nur in den USA, sondern weltweit hoch.In der europäischen Öffentlichkeit wird allerdings zu sehr der Eindruck erweckt, als seien unsere Zinsprobleme allein eine Frage der amerikanischen Haushaltspolitik. In der Zinsfrage hat Europa auch eigene Möglichkeiten. Sie bestehen in einer konsequenten, marktwirtschaftlich ausgerichteten Stabilisierungspolitik sowie in der konsequenten Rückführung der Haushaltsdefizite. Eine solche Strategie ist die Grundlage dafür, daß die langfristigen Zinsen heute in der Bundesrepublik um mehr als 3,5% unter den amerikanischen liegen. Deshalb dürfen auf unserer Seite des Atlantiks die Anstrengungen, den internationalen Zinszusammenhang zu lockern, nicht nachlassen.Fatal wäre es allerdings, eine Abkoppelung der Zinsen durch Besteuerung von Kapitalexporten oder Kapitalverkehrskontrollen versuchen zu wollen, wie es von Herrn Ehrenberg oder jetzt auch von Herrn Apel gefordert wird. Ich sehe vor allem bei Herrn Apel mit Erstaunen, welche Kehrtwendung er gegenüber früheren Positionen vornimmt.Ich habe solche Forderungen in Paris von keinem unserer europäischen Partner vernommen, auch nicht von denen, die mehr Praxis und Erfahrung
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3940 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 56. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Februar 1984
Bundesminister Dr. Graf Lambsdorffmit dieser Variante der Zwangsverwaltungswirtschaft haben, also von denen, die wissen, wovon sie reden.Sollen etwa auch die Kapitalexporte in die unter großen Verschuldungsproblemen leidenden Entwicklungsländer besteuert werden? Glaubt wirklich jemand, daß man mit einer neuen Kontinentalsperre à la Napoleon bei dem heute erreichten Stand der finanziellen Integration in der Welt leben kann? Wie sollte denn eine lückenlose Kontrolle des Kapitalexportes bei dem großen Umfang des Welthandels bewerkstelligt werden? Oder wollen Sie auch den Warenaustausch kontrollieren?
Unabhängig von diesen Fragen setzen solche Ideen ein Zeichen der Schwäche. Das Vertrauen in die D-Mark würde untergraben und das Gegenteil von dem erreicht, was die Opposition anvisiert: ein neuerlicher Druck auf den D-Mark-Kurs, dem dann nur mit höheren Zinsen erfolgreich begegnet werden könnte. Von solchen Schnapsideen lassen sich zum Glück auch die Devisen- und Geldmärkte nicht mehr beeindrucken.Umgekehrt wird doch ein Schuh daraus: Unsere Politik der Solidität und der marktwirtschaftlichen Dynamik zeigt Früchte und bildet Gegengewichte gegen den Sog des Kapitals in die Vereinigten Staaten, gegen die Erosion unseres Wechselkurses, für eine größere Zinsdifferenz gegenüber den USA.Leider hat auch Altbundeskanzler Helmut Schmidt kürzlich gemeint, in zwei Jahren brauchen wir Kapitalverkehrskontrollen.Es hat in der SPD einen gegeben, der seine Genossen immer wieder einmal zur Ordnung gerufen hat, nämlich Karl Schiller. Ich glaube, er ist wieder gefordert, um seine ehemaligen Studenten an ihre Lektionen zu erinnern.
Meine Damen und Herren, das zweite Risiko, das die Weltwirtschaft nach wie vor belastet, ist die hohe Verschuldung zahlreicher Entwicklungsländer. Durch erfolgreiches Krisenmanagement ist es bisher zwar gelungen, die schlimmsten Folgen der extrem hohen Verschuldung vieler Entwicklungsländer zu verhindern. Jetzt geht es aber darum, einerseits die Finanzierungsseite mittelfristig zu konsolidieren, andererseits der internationalen Strukturanpassung in den Schuldnerländern zum Erfolg zu verhelfen. Dieser Prozeß ist eingeleitet, aber noch keineswegs beendet. Er erfordert ein hohes Maß an Disziplin. Das wissen alle Beteiligten.Unabdingbar ist vor allem, daß die Entwicklungsländer im Zuge des weltweiten Aufschwungs die Chance erhalten, die notwendigen Exporterlöse zu erzielen, um ihre Anpassung voranzubringen. Der beste Beitrag der Industrieländer und insbesondere auch der Europäer besteht hierfür neben einem dauerhaften Wachstum in einer größeren Öffnung ihrer Märkte für Produkte der Entwicklungsländer. Gerade die Europäische Gemeinschaft und die Vereinigten Staaten befinden sich hier nicht im Stande der Unschuld.Damit bin ich beim dritten Stichwort, der Gefährdung des weltwirtschaftlichen Erholungsprozesses durch den um sich greifenden Protektionismus. Er hat vor allem angesichts der weltwirtschaftlichen Schwierigkeiten in den vergangenen Jahren zugenommen, wenn auch dank gemeinsamer Anstrengungen nicht so stark, wie dies verschiedentlich befürchtet worden war. Zugleich sind die Methoden subtiler geworden in dem Bemühen, nicht offenkundig gegen internationale Vereinbarungen, etwa das GATT, zu verstoßen.Eine beträchtliche Gefahr für die internationalen Wirtschaftsbeziehungen sehe ich dabei in den Strategien dessen, was man neuerdings „industrial targeting" oder wie sonst noch nennt. Japan hat es vorexerziert, anscheinend mit großem Erfolg. Ich schätze die Gefahr vor allem deshalb so groß ein, weil von diesen Konzepten auf so viele, auch bei uns, eine große Faszination ausgeht. Die japanische Strategie zur Bewältigung der weltwirtschaftlichen Herausforderungen ist eine auf Marktlücken und Marktschwächen konsequent abgestellte Exportpolitik. Auf der Basis sehr dynamischer und effizienter Unternehmen und mit massiver Unterstützung durch den Staat werden gezielt Technologieforschung und Markterkundung betrieben und kurzfristig großdimensionierte Kapazitäten aufgebaut, mit denen dann oft geballt neue Auslandsmärkte erschlossen werden.Was aber übersehen wird, ist — erstens —, daß es hier Risse gibt in dem sonst so glänzenden Japanbild. Japan muß heute erhebliche Anstrengungen unternehmen, um Überkapazitäten, die durch diese Politik entstanden sind, kurzfristig abzubauen. Das Ganze ist, so zeigt sich, mit erheblichen Risiken für den japanischen Haushalt und die japanische Produktionsstruktur verbunden.Übersehen wird aber vor allem — zweitens —, daß sich derartige Strategien zu einem erheblichen außenwirtschaftlichen Konfliktpotential auswachsen können,
nämlich dann, wenn auch andere Staaten oder Wirtschaftsblöcke sich solche Strategien zu eigen machen.Prinzipiell betrachtet, meine Damen und Herren, stehen wir hier vor der Alternative, den Weltmarkt entweder als Aktionsfeld individueller Unternehmen aufzufassen oder als Schauplatz der Wirtschaftskonkurrenz von Staaten. Was aus einzelstaatlicher Sicht durchaus zweckmäßig sein kann, erweist sich für das offene, weltweite Handels- und Transfersystem als ein Sprengsatz mit eingebautem Zeitzünder. Bei der OECD-Ministerkonferenz bestand bei den meisten Teilnehmern Übereinstimmung, daß eine Strategie des internationalen Wettbewerbs von Unternehmen durch Verbesserung der allgemeinen Angebotsbedingungen der bessere Weg ist. Denn er ist nicht auf Konflikt,- sondern auf sinnvolle internationale Arbeitsteilung im Rahmen einer fairen Wettbewerbsordnung angelegt.
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 56. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Februar 1984 3941
Bundesminister Dr. Graf LambsdorffDeshalb begrüßen und unterstützen wir die Liberalisierungsinitiative, das sogenannte roll back, des OECD-Generalsekretärs und des GATT-Generaldirektors als ersten Schritt zur Verbesserung der Grundlagen des Welthandels. An sie soll sich dann nach unserer Auffassung nahtlos eine zweite Phase anschließen, die auf eine umfassende Liberalisierung des Welthandels einschließlich der Dienstleistungen und des Handels mit hochtechnologischen Gütern zielt. Die USA und Japan haben dafür eine neue GATT-Verhandlungsrunde vorgeschlagen. Die Bundesregierung unterstützt dieses Vorhaben.Das Programm dieser Bundesregierung heißt „Soziale Marktwirtschaft". Es steht im Widerspruch zum Glauben an staatliche Machbarkeit, der jetzt — ich befürchte: endgültig — von weiten Teilen der sozialdemokratischen Partei Besitz ergriffen hat. Der marktwirtschaftliche Geist, das Vertrauen auf die Eigenverantwortung als unverzichtbare Grundlage der Lösung sozialer Probleme, die Anerkennung von Leistung, die Funktion monetärer Anreize, all dies war einem Karl Schiller, war Helmut Schmidt nicht fremd. Seit dem Münchener Parteitag vom Frühjahr 1982 hat die SPD den marktwirtschaftlichen Kurs verlassen, und die Fortsetzung wird auf dem SPD-Bundesparteitag in Essen stattfinden.
Für mich steht schon heute fest, daß dort die Gruselliste sozialistischer Marterwerkzeuge noch verlängert wird.
Indiz dafür — ich will Ihnen das gern vortragen, meine Herren—: Die bisher nicht gerade dem linken Parteiflügel zugerechnete Arbeitsgemeinschaft für Arbeitnehmerfragen und, weniger überraschend, die Jusos haben sich nicht gescheut, Verstaatlichung und Vergesellschaftung der Stahlindustrie, der Schlüsselindustrien und — was immer das sein mag — marktbeherrschender Unternehmen zu fordern. Der Parteivorsitzende Willy Brandt hat in einem seltenen Moment wirtschaftspolitischer Einsicht
die Verstaatlichungsidee für die Stahlindustrie widersprochen — aus verständlichen Gründen; dort macht man nämlich zur Zeit Verluste. Wo bleibt aber seine Absage an die viel weiter gehenden Pläne zur Verstaatlichung auch gesunder Unternehmen?Die Arbeitsgemeinschaft für Arbeitnehmerfragen und die Jusos sind die beiden größten Arbeitsgemeinschaften der SPD, und ihr Gewicht auf den Parteitagen wird entsprechend sein. Ich kann nur den Schluß ziehen, daß heute große Teile der Sozialdemokratischen Partei ein gebrochenes Verhältnis zum privaten Eigentum haben.
Herr Bundesminister, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Stratmann?
Bitte sehr.
Herr Abgeordneter Stratmann.
Herr Minister, wenn Sie hier sogenannte sozialistische Marterinstrumente attackieren, wie stehen Sie denn zu der Form von Marterinstrumenten, die darin bestehen, daß regierungstragende Parteien abhängig sind von Finanzspritzen mächtiger privater Unternehmen?
Glauben Sie nicht, daß das ebenfalls ein privatkapitalistisches Marterwerkzeug aller erster Güte darstellt?
Herr Kollege Stratmann, Sie tun genau alles das, was man ja auch in der Öffentlichkeit inzwischen manchen Gremien kritisch anmerkt: Sie nehmen die Ergebnisse von Untersuchungen vorweg und behaupten schon zu Beginn der Veranstaltung, daß das herauskommen muß, womit Sie als Ihre Vorstellung hineingegangen sind. Das wird wohl nicht so sein.
Aber wenn Herr Ehmke mir zuruft, das seien alles übertriebene Vorstellungen, diese Vergesellschaftungsideen seien nicht so wichtig zu nehmen, möchte ich gern klare und deutliche Auskünfte — Herr Apel hat sich davon distanziert; ich will das durchaus anmerken — sozialdemokratischer Gremien hören. Sie können nicht so tun, als sei die Diskussion von AfA und Jusos gerade so ein Diskussionszirkel im Hinterzimmer des Gasthofs Zum roten Ochsen gewesen; das sind ganz wichtige Gremien Ihrer Partei.
Herr Bundesminister, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Dr. Ehrenberg?
Immer.
Herr Abgeordneter Dr. Ehrenberg.
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3942 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 56. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Februar 1984
Herr Bundeswirtschaftsminister, können Sie sich erstens vorstellen, daß dieser Antrag aus der tiefen Verzweiflung der Stahlarbeiter über Ihre Untätigkeit in der Politik zurückgeht,
und können Sie zweitens die Güte haben,
den wirtschaftspolitischen Entwurf für unseren Parteitag der Kommission Wirtschafts- und Finanzpolitik, besonders das, was dort über Marktwirtschaft steht, zu lesen — das ist der Entwurf eines Gremiums des Parteivorstands der SPD —?
Was die erste Frage anlangt, Herr Kollege Ehrenberg: Ich verstehe durchaus die Besorgnis insonderheit in der Stahlindustrie, aber auch in anderen Krisenbranchen. Aber ich denke schon, daß es in einer großen Partei und in einer wirtschaftspolitisch verantwortlich geführten Diskussion notwendig ist, klarzumachen — was ja Ihr Parteivorsitzender in diesem Punkt auch getan hat —, daß mit Eigentümerwechsel überhaupt nichts zu bessern ist.Zweitens. Ich habe sehr wohl zur Kenntnis genommen, daß Sie bei der Verabschiedung des Entwurfs Ihres Programms, der ja unter Ihrer Federführung zustande gekommen ist, gesagt haben: Den müssen wir wirklich so fassen und so ausgestalten, daß der Lambsdorff nicht wieder mit der Gruselliste kommt. — Aber das Kleid, das Sie da drübergehängt haben, ist so löcherig, daß die Gruselliste eben doch an allen Ecken und Enden hervorscheint.
Meine Damen und Herren, der Parteivorsitzende der SPD versucht heute, das politische Terrain, das in der Mitte verlorengegangen ist, bei den GRÜNEN wieder einzufangen. Damit begibt er sich in das Abenteuer einer Politik, die mit den gefährlichen Sicherheitsvorstellungen und den ebenso romantischen wie unreflektierten wirtschaftspolitischen Vorstellungen der GRÜNEN Kompromisse schließen muß.
Die wirtschaftspolitischen Vorstellungen der GRÜNEN sind nicht nur unrealistisch, sie sind auch widersprüchlich und absurd, und sie sind auch unehrlich.
Sie wissen selber, meine Damen und Herren vonder Fraktion DIE GRÜNEN, daß Ihre Vorstellungenfür ein Industrieland wie die Bundesrepublik denZusammenbruch der öffentlichen Haushalte und der sozialen Sicherungssysteme bringen und die Massenarbeitslosigkeit noch weit erhöhen würden. Das nenne ich eine unehrliche Politik.
— Ich sage Ihnen ja, daß das noch zu einer weiteren Erhöhung der Arbeitslosigkeit führen würde.Ich kann mir im übrigen nicht versagen — ich bin leider erst relativ spät darauf gekommen —, dem Deutschen Bundestag eine Verhaltensweise von Ihnen vorzutragen, die deutlich macht, wie Sie die Leute im Lande verschaukelt haben und verschaukeln wollen. Ich meine in der sicherheitspolitischen Auseinandersetzung die Benutzung des Spruches, der j a von Ihnen immer wieder im Munde geführt worden ist „Stell dir vor, es wäre Krieg, und keiner geht hin". Damit haben Sie die Ergänzung suggeriert: Dann findet der Krieg eben nicht statt. Das wollten Sie suggerieren.Aber dies ist genau nicht die Folgerung, die Bert Brecht, wenn Sie sich einmal das Gedicht in Gänze ansehen, zieht. Das volle Zitat lautet nämlich:Stell dir vor, es kommt Krieg, und keiner geht hin. Dann kommt der Krieg zu euch. Wer zu Hause bleibt, wenn der Kampf beginnt und läßt andere kämpfen für seine Sache, der muß sich vorsehen. Denn wer den Kampf nicht geteilt hat, der wird teilen die Niederlage. Nicht einmal Kampf vermeidet, wer den Kampf vermeiden will. Denn es wird kämpfen für die Sache des Feindes, wer für seine eigene Sache nicht gekämpft hat.Das ist das ganze Zitat. Das nenne ich verlogene Argumentation, es nicht so zu bringen.
Für literarische Feinschmecker füge ich hinzu: zitiert nach Suhrkamp. In der fünfbändigen Ausgabe des Gesamtwerks von Bert Brecht, veröffentlicht in der DDR, erscheint dies nicht.
Meine Damen und Herren, diese Politik der GRÜNEN würde Not und Elend für alle bedeuten. Und darauf, Herr Ehmke, will sich die SPD einlassen? In Hessen scheut sich Herr Börner nicht, seine geschäftsführende Regierung über ein ganzes Jahr ohne parlamentarisch legitimierten Haushalt zu führen und sich auf die Duldung durch die GRÜNEN zu stützen.Und die GRÜNEN selbst?
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 56. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Februar 1984 3943
Bundesminister Dr. Graf LambsdorffDie werden wohl demnächst in der Ehrenloge an der Eröffnung der Startbahn West teilnehmen.
Das Ehrenspalier dorthin, meine Damen und Herren, werden ihnen Herr Börner und die hessischen Sozialdemokraten bilden, mit Dachlatten!
Was wir in den letzten Tagen über die Auseinandersetzung, vor allem über die Form der Auseinandersetzung bei der Fraktion DIE GRÜNEN gelesen haben, hat mich veranlaßt, noch einmal das Protokoll über die Debatte zur Regierungserklärung nachzulesen, in der Sie, Frau Beck-Oberdorf, uns verkündet haben: „Tragende Elemente unserer Politik sind Gewaltfreiheit, Toleranz und Sanftheit."
Ich frage mich bei dem, was Sie da im Stil eines Western der abendlichen Spätfernsehzeit aufführen, nur, ob Sie eigentlich Italo-Western oder Americo-Western spielen. Der Unterschied besteht darin, daß beim ersten von hinten, beim zweiten von vorn geschossen wird.
Herr Bundesminister, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Jannsen?
Nein, danke schön.Der Jahreswirtschaftsbericht ist über das Jahr hinaus in seiner programmatischen Ausrichtung der ordnungspolitische Maßstab, an dem sich konkrete wirtschaftspolitische Vorschläge messen lassen müssen. Darin ist niedergelegt, was für Bundesregierung und Koalition ein marktwirtschaftlicher Kurs bedeutet, und darin ist abgreifbar, welche Lösungen wir nicht für marktwirtschaftlich halten.Marktwirtschaftliche Politik bedeutet, daß die Trennungslinie zwischen Staatsverantwortung und Privatbereich klar gezogen wird, und zwar mehr zugunsten der privaten Wirtschaft,
damit sich unternehmerische Aktivität wieder entfalten kann — ohne Furcht vor Verstaatlichung und ohne Furcht vor Eingriffen und unfairem Wettbewerb des Staates. Wenn diese Trennungslinie für den Verantwortungsbereich von Staat und Privaten nicht deutlich genug oder falsch gezogen ist, dann verliert das marktwirtschaftliche System an Substanz und an Wirksamkeit. Unternehmerische Phantasie ist allemal ein besseres Orientierungsinstrument für Unternehmensentscheidungen, als politische und administrative Vorgaben es je sein könnten.Das marktwirtschaftliche Konzept hat sich heute vor allem in der Strukturpolitik zu bewähren. Sie darf — da gebe ich Ihnen, Herr Jens, recht — den Wettbewerb zwischen den Unternehmen nicht verringern. Sie hat ihn vielmehr effektiver zu gestalten. Ich sehe auch in den übrigen von Ihnen kürzlich niedergeschriebenen Punkten kaum größere Differenzen zu den strukturpolitischen Vorstellungen der Bundesregierung. Ihren Vorwurf, Herr Jens, das Wirtschaftsministerium praktiziere heute weitgehend eine Politik der Strukturerhaltung, verstehe ich deshalb nicht. Aber ich warte mit Ihnen ab, welcher Ihrer Kollegen nachher die Debatte mit neuen Dirigismen und neuen Subventionsforderungen bereichert. Mit Ihren Vorstellungen, Herr Jens — da bin ich gänzlich sicher —, läßt Ihre Mannschaft Sie ohne Ballberührung von rechtsaußen ins Abseits laufen.
Strukturpolitik muß auf mehr Flexibilität und Mobilität von Arbeit und Kapital und auf den Abbau verkrusteter Strukturen zielen. Sie ist vor allem gerichtet auf die Eindämmung und mittelfristige Rückführung der Steuer- und Abgabenbelastung, auf die stufenweise Verminderung und den Abbau von Subventionen und steuerlichen Vergünstigungen, auf die Überprüfung staatlicher Regelungen, die wesentliche Hindernisse für mehr Risikokapital zur Finanzierung von innovativen unternehmerischen Aktivitäten bilden, auf die Übertragung solcher staatlicher Aktivitäten auf Private, die von diesen ohne Beeinträchtigung der hoheitlichen Belange ebenso wirksam oder wirksamer übernommen werden können, auf den Abbau von Vorschriften, die größerer Flexibilität am Arbeitsmarkt und der Beschäftigung in den Unternehmen entgegenstehen, und auf den Ausbau einer produktivitätsfördernden Infrastruktur.Eine Trennungslinie zwischen Markt und Staat gilt es auch in der Forschungs- und Technologiepolitik zu ziehen. Die technische Leistungsfähigkeit der deutschen Wirtschaft ist in den vergangenen Jahren in einer Weise heruntergeredet worden, die weit überzogen ist. Das hat auch im Ausland zu Fehleinschätzungen der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit in der Bundesrepublik geführt. Es könnte auf Dauer dem Ansehen unserer Produkte schaden.Es gibt einzelne Bereiche moderner Technologie, in denen unsere Industrie nicht zur Weltspitze zählt. Aber das ist auch Ausdruck zunehmender weltweiter Arbeitsteilung, und das kann sich, wie viele Beispiele belegen, sehr schnell ändern. Damit die deutsche Wirtschaft im internationalen Wettbewerb auf Dauer bestehen kann und wir nicht zur technologischen Provinz herabsinken, bleibt die ständige Modernisierung unserer Wirtschaft unverzichtbar. Aber ich bin nicht der Meinung, daß wir durch eine selektive staatliche Forschungs- und Technologiepolitik massiven Einfluß darauf nehmen sollten, was und wo Unternehmen forschen und wie sie am Markt agieren sollen.Die Arbeitsplätze der Zukunft fördern zu wollen ist eine faszinierende Formel. Doch die angeblichen Zukunftsarbeitsplätze von heute können Arbeitsplätze auf Krücken von morgen sein. Gerade die kleinen und mittleren Unternehmen verdienen dabei Beachtung; denn in ihnen steckt ein besonde-
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3944 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 56. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Februar 1984
Bundesminister Dr. Graf Lambsdorffres Kreativitätspotential. Gründungshilfen und Existenzförderung, Abschreibungserleichterungen oder indirekte allgemeine Hilfen zur Förderung der Forschung sowie die Stärkung der Risikokapitalbildung — ich begrüße den heute vorgelegten Antrag sehr — sind deshalb sinnvoller als direkte Projektförderungen, mit denen dieser Unternehmenskreis kaum zu erreichen ist.
Zu welchen Problemen und zu welchen Wettbewerbsverzerrungen gezielte Forschungsförderung — auch für kleine und mittlere Unternehmen — führen kann, wenn man die Grenze überschreitet, die gesetzt ist, macht der heutige Bericht im „Handelsblatt" über die Schwierigkeiten zwischen Schwenninger Unternehmern und der baden-württembergischen Landesregierung schlagartig deutlich. Dort beschweren sich elf Unternehmer darüber, daß eine Firma gezielt gefördert und der Wettbewerb damit verzerrt wird. Sie fordern, daß damit jetzt Schluß sein müsse. Falls dies nicht geschehe, wollen sie ebenfalls an die Krippe.
Meine Damen und Herren, die Bundesregierung hat mit den bisher beschlossenen Steuererleichterungen die erste und zweite Stufe ihrer steuerpolitischen Konzeption realisiert. Wirtschaftspolitisch hat jetzt als dritte Stufe unserer Steuerpolitik eine leistungsbezogene Tarifreform der Einkommensteuer große Bedeutung für Wachstum, für Beschäftigung und für die Einkommenspolitik. Leistung muß sich wieder lohnen, wenn es bergauf gehen soll. Durch Abmilderung der Progression muß der Anreiz für zusätzliche wirtschaftliche Aktivität verstärkt werden; sie käme auch der Nachfrageentwicklung zugute. Die Übernahme von mehr Investitionsrisiken gilt es ebenso zu ermöglichen wie die Voraussetzung zur Bildung von Eigenkapital zu erleichtern. Auch der Abwanderung in die Schattenwirtschaft muß entgegengewirkt werden. Nicht zuletzt hat die Steuerreform tarifpolitische Bedeutung, weil sie dem Arbeitnehmer mehr in der Tasche läßt.Im Rahmen der Tarifreform wird die Bundesregierung — so steht es im Jahreswirtschaftsbericht, so stand es in der Regierungserklärung, und so werden wir es auch halten — das Steuerrecht familienfreundlicher gestalten.Die Bundesregierung wird die Eckwerte der Tarifreform noch im Mai festlegen. Wir streben an, den Gesetzentwurf dem Parlament um die Jahreswende vorzulegen. Das beabsichtigte Volumen wird sich auf 25 Milliarden DM belaufen. Der endgültige Termin für das Inkrafttreten der Tarifreform hängt von weiteren Fortschritten bei der Konsolidierung ab. Zwischenergebnisse auf dem Wege zur Konsolidierung sind erfreulich. Ich glaube deshalb nach wie vor, daß die Steuerreform wenigstens in Teilen zum 1. Januar 1986 in Kraft treten könnte.Erlauben Sie mir hier auch eine persönliche Bemerkung: Ich habe mich nicht für die Wende eingesetzt, damit wir am Ende der ersten Legislaturperiode dieser Regierung mit einer größeren Steuerlast dastehen, als die sozialliberale Koalition sie sich jemals erlaubt hat.
— Also, verehrter Herr Roth, da müssen wir die Schulden, die die alte Koalition sich erlaubt hat, natürlich auch noch ein bißchen ins Spiel bringen.
— Ja, ja, natürlich war ich damals Wirtschaftsminister. Aber weil es nicht so weitergehen sollte, haben wir dann mit dem Unternehmen auch Schluß gemacht; das war die Begründung. —
Meine Damen und Herren, die Bundesregierung hat beachtliche Erfolge in der Haushaltskonsolidierung vorzuweisen. Dies ist vor allem durch eine enge Begrenzung des Ausgabenanstiegs erreicht worden; da sind wir beim Thema Schulden. Er lag bei allen Gebietskörperschaften deutlich unter dem Anstieg des nominalen Sozialprodukts und war damit nicht nur für die Haushaltskonsolidierung, sondern auch für die mindestens ebenso wichtige Aufgabe der Rückführung des viel zu hohen Staatsanteils von großer Bedeutung. Wir sehen in einer Kombination aus Konsolidierung und beschäftigungsorientierter Haushaltsumstrukturierung — man nennt das auch qualitative Konsolidierung — den erfolgversprechendsten finanzpolitischen Weg zu mehr Wachstum. Im Einklang mit dem Urteil des Sachverständigenrates, der derzeit keinen konjunktur-, wohl aber einen großen wachstumspolitischen Handlungsbedarf sieht, will die Bundesregierung deshalb alles Mögliche tun, um innerhalb des geplanten Ausgabenrahmens den Anteil produktivitäts- und beschäftigungsfördernder investiver Ausgaben zu erhöhen.Das, was mir gegenwärtig vor allem Sorge macht, ist die Begehrlichkeit, die durch den schnellen Konsolidierungsfortschritt schon wieder unübersehbar geweckt worden ist. Diese Bundesregierung hat sich eindeutig und bindend auf ein Konzept für eine auf Dauer solide, vertrauenschaffende und dem privaten Sektor mehr Spielraum und Verantwortlichkeit zuweisende langfristige Finanzpolitik festgelegt.
Die Chance für mehr Markt, Wachstum und Beschäftigung, die darin liegt, lassen wir uns nicht durch kurzsichtige Ansprüche gefährden. Ich werde den Bundesfinanzminister immer unterstützen, wenn — von wo auch immer — versucht wird, dieses klare Konzept durch Rückfälle in eine Gefälligkeitspolitik von vorgestern zu unterminieren.
Der Aufschwung ist kein Erfolg, den diese Bundesregierung für sich allein beansprucht. Wir haben Grund, allen im Lande für ihre Anstrengungen zu danken, den Arbeitnehmern in den Betrieben, denDeutscher Bundestag — l0. Wahlperiode — 56. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Februar 1984 3945Bundesminister Dr. Graf LambsdorffUnternehmen, den freien Berufen, dem Handwerk und vielen anderen Bürgern.Die Bundesregierung sieht durchaus auch den Beitrag der Tarifpartner, denn die Wende zum Besseren auf dem Arbeitsmarkt ist nicht ohne eine maßvolle Lohnpolitik erklärbar.
Niemand von uns glaubt, die Beschäftigung hinge ausschließlich und monokausal von der Lohnentwicklung ab; aber ebensowenig läßt sich ein Zusammenhang zwischen Lohnhöhe und Beschäftigung leugnen. Ein eindrucksvolles Beispiel dafür findet sich im Vergleich der Lohnentwicklung und der Beschäftigung in den USA und der Bundesrepublik. In den USA waren die Reallöhne in der Industrie 1982 etwa ebenso hoch wie 1970, sind also im Ergebnis nicht gestiegen. In der gleichen Zeit konnte die Zahl der Beschäftigten in den USA um fast ein Drittel, das sind knapp 25 Millionen Personen, erhöht werden. Diese Steigerung entspricht fast der Gesamtzahl der Erwerbstätigen in der Bundesrepublik Deutschland.
Bei uns sind die Reallöhne in diesem Zeitraum um ziemlich genau ein Drittel gestiegen, die Zahl der Erwerbstätigen ist jedoch um zirka 1,2 Millionen zurückgegangen. Man sollte sich nun hüten — ich will das ausdrücklich hinzufügen —, aus diesen Zahlen vorschnell Schlüsse zu ziehen. Man kann nicht einfach aus einer solchen isolierten Gegenüberstellung ökonomische Schlußfolgerungen ableiten, weil die Bedingungen in beiden Ländern zu unterschiedlich sind. Ich nenne diese Zahlen auch nicht, um einer Senkung der Reallöhne bei uns das Wort zu reden. Im Gegenteil: der neue Wachstumsprozeß macht Reallohnsteigerungen wieder möglich und auch nötig. Aber dieser Reallohnanstieg sollte eine Weile unterhalb des Produktivitätszuwachses bleiben, damit die Markterlöse der Unternehmen wieder in größerem Umfang auch für die Finanzierung von Investitionen, d. h. für die Schaffung von Arbeitsplätzen, verwendet werden können.
Für diesen Zusammenhang sind die genannten Zahlen zumindest ein Indiz.Die Beschäftigungszunahme, die dann möglich würde, wird um so größer sein, je flexibler die Lohnstruktur nach regionalen, sektoralen, vor allem aber nach qualitativen und auch unternehmensindividuellen Merkmalen gestaltet wird. Und sie wird um so größer sein, je langsamer sich die Lohnkosten im Verhältnis zu den Kapitalkosten erhöhen. Gerade dieser letzte Aspekt macht deutlich, was ich immer wieder auch im Zusammenhang mit einer größeren Flexibilisierung des Arbeitsmarktes gesagt habe: Wachstum ist nicht alles. Wir müssen auch in der Struktur zu besseren, die Beschäftigung fördernden Verhältnissen kommen.Die Gewerkschaften haben in den letzten Jahren lohnpolitische Vernunft gezeigt. Ihr Verhalten beginnt sich auszuzahlen. Ich bedauere es deshalb sehr, daß jetzt mit den Forderungen nach der 35- Stunden-Woche bei vollem Lohnausgleich die unbestreitbaren Erfolge einer vernünftig geführten Einkommenspolitik aufs Spiel gesetzt zu werden drohen.
Und ich bedauere, daß sich die Opposition hier mit falschen Argumenten auf die Seite derjenigen schlägt, die diesen Weg begehen wollen. Ich kann Ihnen, Herr Vogel — er ist nicht da —, und Ihren Kollegen von der Opposition nur empfehlen, auf den Rat von Professor Krupp zu hören, der Ihr Wirtschaftsminister hätte werden sollen, wenn es nach Ihnen gegangen wäre.
Er und seine Mitarbeiter haben in dem kürzlich vorgelegten Strukturbericht des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung, Berlin, die Feststellung getroffen, daß — ich zitiere wörtlich — „eine Abnahme der Zahl der Arbeitsplätze überwiegend in den Branchen stattfand, in denen die Steigerung der Arbeitsplatzproduktivität unterdurchschnittlich war". Er selbst sieht auf Grund dieses klaren Befundes nicht bestätigt, daß das Freisetzungstempo von der technischen Entwicklung verstärkt wird.Schon immer ist ein Teil des Produktivitätsfortschrittes für mehr Freizeit, ein anderer für mehr materiellen Wohlstand verwandt worden. Das soll und das wird auch in Zukunft so bleiben. Daß eine Verwendung für mehr Einkommen Arbeitslosigkeit, für mehr Freizeit jedoch Beschäftigung bringen soll, das halte ich Schlichtweg für falsch.
Letztlich müssen die autonomen Tarifpartner selbst über die Verteilung des Produktivitätsfortschrittes entscheiden. Sie müssen sich bei ihrer Entscheidung jedoch auch die weiteren Konsequenzen von Arbeitszeitverkürzungen sehr genau ansehen. Keine oder sehr geringe Lohnsteigerungen bedeuten z. B. auch geringere Beiträge zur Sozialversicherung und damit niedrigere Renten später für die Arbeitnehmer von heute, damit niedrigere Renten für die Rentner im nächsten Jahr und neue Liquiditätsprobleme. Schließlich würde die Lösung der Zukunftsprobleme der Sozialversicherung nochmals erheblich erschwert.Ich sehe einer Tarifauseinandersetzung, die letztlich in der Wirtschaft für Arbeitnehmer und für Unternehmen großen Schaden anrichtet, mit Sorge entgegen. Ich finde es besonders schlimm, daß es nach den Erklärungen führender IG-Metall-Vertreter nicht mehr um den Inhalt von Tarifverträgen zu gehen scheint. Wenn Herr Steinkühler wieder und wieder sagt, es gehe um Sein oder Nichtsein der IG Metall, um die Existenz der Gewerkschaften schlechthin, dann wird nicht mehr um Verbesserungen für Arbeitnehmer gestritten, sondern um das Organisationsinteresse der größten Einzelgewerk-
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3946 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 56. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Februar 1984
Bundesminister Dr. Graf Lambsdorffschaft der Welt, und das auf dem Rücken von Arbeitnehmern, insbesondere aber von Arbeitslosen.
Es ist höchste Zeit, daß die Tarifpartner jetzt aufeinander zugehen. Die Kampfansagen, die wir überall hören, sind der falsche Weg; schon die Drohungen mit Streiks sind ein Investitionshemmnis.
— Herr Ehmke, wer hat damit angefangen?
— Wir haben, Herr Kollege Apel, um das ganz klar zu sagen — —
Herr Bundesminister für Wirtschaft, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Ehmke?
Bitte.
Kollege Lambsdorff, würden Sie es nicht verstehen, daß Gewerkschaftler, die Ihnen zuhören, es eigenartig finden, daß eine Regierung, die unter Bruch ihrer Neutralität in derart massiver Weise in die Tarifauseinandersetzungen eingegriffen hat, jetzt meint, den Gewerkschaften, die als Tarifpartner zuständig sind, derartige Vorwürfe machen zu können?
Herr Ehmke, ich bedanke mich für diese Frage.
Erstens komme ich zu Ihrem Zwischenruf: Ihr habt ja angefangen. Die erste Äußerung, daß es hier nicht um Tarifvertragsinhalte, sondern um die Existenzfrage und das Organisationsinteresse der Gewerkschaften geht, kam von Herrn Janssen, Vorstandsmitglied der IG Metall, auf der bekannten Tagung in Sprockhövel. Das war der Anfang, die Diskussion auf ein völlig anderes Gleis zu bringen.
Zweitens. Weil wir die Tarifautonomie wahren und sie für einen integralen Bestandteil einer marktwirtschaftlichen Ordnung halten, werden wir uns nicht in Fragen einmischen, ob es 2,3 oder 2,5% mehr oder weniger geben soll. Ich habe da auch meine eigenen Erfahrungen gemacht, und man soll seine Fehler nicht wiederholen. Aber eines werden wir tun: Wenn es um eine fundamentale Weichenstellung geht, die die Wirtschaftspolitik, die Besserung der konjunkturellen Verhältnisse, der Beschäftigungslage zu zerschlagen droht, mindestens schwer zu beeinträchtigen droht, werden wir unserer politischen Verantwortung gerecht werden, werden wir unseren Mund aufmachen und nicht den Kopf für fehlerhafte Entscheidungen der Tarifpartner hinhalten, um uns dann anschließend sagen zu lassen: Ihr hättet uns ja warner können, dann hätten wir es uns vielleicht anders überlegt.
Herr Bundesminister, erlauben Sie eine weitere Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Ehmke?
Selbstverständlich.
Kollege Lambsdorff, wenn Sie das als so fundamentale Frage sehen, die weit über den Tarifvertrag hinausgeht, weiß ich nicht, wie Sie Herrn Steinkühler das Recht bestreiten wollen, hier auch seinerseits eine solche fundamentale Frage zu sehen.
Sie wissen ganz genau, daß Sie die Ebenen hier miteinander verschieben,
und zwar in der bekannten Argumentationsweise, die wir von Ihnen schon so oft gehört haben, Herr Kollege Ehmke.
Meine Damen und Herren, die Kampfansagen, die wir überall hören, sind der falsche Weg. Schon die Drohungen mit Streiks sind ein Investitionshemmnis. Ich wiederhole: Schon die Drohung mit Streiks sind ein Investitionshemmnis.
— Nein, im Gegenteil, Herr Apel. Wir sind dafür, daß wir starke Gewerkschaften unter verantwortungsbewußter Führung haben. Daß diese Forderung nach der 35-Stunden-Woche, eine Verminderung um fünf Stunden, bei vollem Lohnausgleich nicht durchgesetzt werden kann, für die jetzt an den Straßenrändern demonstriert wird, weiß ja jeder von Ihnen, und das wissen wohl auch die Gewerkschaftsvorsitzenden.
Wir sind für starke, verantwortungsbewußte Gewerkschaften. Wir können uns glücklich schätzen, daß wir die bei uns im Lande im wesentlichen gehabt haben. Diese Qualifizierung, die ich unseren Gewerkschaften, und zwar DGB und DAG, aus voller Überzeugung zuteil werden lasse, erfordert eine Ausnahme: Ich halte die IG Druck und Papier für eine marxistische Kaderorganisation, in der inzwischen entschieden worden ist, daß zwölf Vorstandsfiguren ohne Urabstimmung darüber entscheiden können, ob gestreikt wird, ob Sie und wir morgens noch eine Zeitung lesen dürfen oder nicht.
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 56. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Februar 1984 3947
Bundesminister Dr. Graf LambsdorffMeine Damen und Herren, es geht jetzt um mehr Flexibilität am Arbeitsmarkt. Das gilt auch für Arbeitszeitverkürzungen. Ich sage ausdrücklich: Dies gilt auch für Arbeitszeitverkürzungen, und zwar in allen ihren Erscheinungsformen. Mein Appell richtet sich auch an die Einsicht der Arbeitgeberseite. Wir müssen vom Schema F und von Tabuerklärungen, die zu nichts führen, wegkommen. Man kann im Wege des Kompromisses Lösungen finden, die mehr betriebliche Arbeitszeitflexibilität bringen. Es muß doch nicht einzig und allein die 35-StundenWoche bei vollem Lohnausgleich sein. Da gibt es doch die Möglichkeiten der Vorruhestandsregelung. Da gibt es doch vernünftige Möglichkeiten der Wochenarbeitszeitverkürzung. Man muß doch einmal über den Zaun schauen, etwa auf den Bereich der Chemie, nach Fulda oder woandershin. Dort wurden nicht Arbeitszeitverkürzungen querbeet vereinbart. Es wurden individuelle Lösungen gefunden, die verkraftbar sind. Das ist der Weg, den wir gehen müssen.Die Bundesregierung beteiligt sich an den Initiativen zur Auflockerung am Arbeitsmarkt dadurch, daß sie unsinnige ausbildungs- und beschäftigungshemmende Vorschriften abbaut. Herr Kollege Blüm hat diesbezüglich eine neue Initiative gestartet, die ich sehr begrüße. Über die darin enthaltenen Überlegungen zur Einschränkung von Überstunden müssen wir allerdings noch einmal reden. Es ist sinnvoll, den Unternehmen bessere Möglichkeiten an die Hand zu geben, um sie auf diese Weise zum Abbau extensiver Überstunden, die keinem Menschen gefallen, zu bewegen. Das wird z. B. durch erleichterte Bedingungen für den Abschluß befristeter Arbeitsverträge geschehen, wie Herr Blüm es vorgeschlagen hat. Im übrigen gehört auch diese Frage der Regelung von Überstunden in die Verantwortung der Tarifpartner.Meine Damen und Herren, wir haben im Jahreswirtschaftsbericht dargelegt, wie notwendig eine marktwirtschaftliche Politik ist, wenn wir mit mehr Investitionen die Leistungs- und Wettbewerbsfähigkeit unserer Wirtschaft stärken wollen und wenn wir die Wachstumsschwäche und die hohe Arbeitslosigkeit beseitigen wollen. Dies hat nichts, aber auch gar nichts mit Unternehmerfreundlichkeit oder spezieller Interessenpolitik zu tun. Es entspringt ausschließlich unserer gesellschaftspolitischen Verantwortung und der Erkenntnis, daß dieses System das freiheitlichste und effizienteste ist, um mit unseren Problemen fertig zu werden. Ich füge gerade bei der Frage nach den Möglichkeiten der Gewerkschaften folgendes hinzu, Herr Ehmke: Es gibt keine Wirtschaftsordnung, in der Gewerkschaften so viele Möglichkeiten, Rechte und Freiheiten haben, wie eine marktwirtschaftliche Ordnung.
Der wirtschaftspolitische Kurs der Bundesregierung wird von einer breiten Mehrheit in unserem Lande getragen. Je mehr wir Fortschritte machen, desto größer wird die Unterstützung, desto leichter wird es sein, Angriffe auf diese Politik abzuwehren. 1983 war das Jahr der wirtschaftlichen Wende.Schon jetzt befindet sich unsere Wirtschaft wieder auf einem klaren Wachstumspfad. Sie hat sich von Pessimismus und Resignation befreit. Optimismus greift um sich. Die Prinzipien einer freiheitlichen Wirtschaftsordnung werden mehr und mehr bejaht. Wir können mit Zuversicht in die Zukunft sehen. Der Kurs stimmt.Ich bedanke mich.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Roth.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Als ich den Ausführungen von Graf Lambsdorff zuhörte, ist mir aufgefallen: Er hat in der Tat bei seinen langen Auseinandersetzungen mit dem Staatsanwalt inzwischen gelernt, wie man Ablenkungsmanöver organisiert und darstellt.
Er hat — wenn ich an die lange Passage über die GRÜNEN oder beispielsweise an die langen Passagen über Teilorganisationen der SPD denke — eine Rede gehalten,
die mit der Wirklichkeit und mit seiner Aufgabenstellung wenig zu tun hat.Lassen Sie mich, bezogen auf die GRÜNEN, eines sagen:
In allen ihren Irrungen und Wirrungen sind mir die GRÜNEN in ihrem Auftreten in der Öffentlichkeit und im Bundestag lieber als Leute, die sich mit offenen Händen bei der Großwirtschaft angedient haben.
Meine Damen und Herren, ich will mich von diesen Ablenkungsmanövern nicht dazu bewegen lassen, auf Seitenthemen auszuweichen. Nur eine Ausnahme will ich machen:
Sie haben eine Gewerkschaft, die 149 000 Mitglieder hat,
nämlich die IG Druck und Papier, als marxistische Kaderorganisation bezeichnet.
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3948 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 56. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Februar 1984
RothDie sozialdemokratische Bundestagsfraktion weist diese unglaubliche Diffamierung einer Gewerkschaft, die demokratisch strukturiert ist
und demokratisch aufgebaut ist,
hier in aller Form zurück.
Meine Damen und Herren, in der Satzung jener Gewerkschaft — das müßten die gewerkschaftlich organisierten Kollegen aus der CDU/CSU-Fraktion doch wohl wissen; ich sehe Herrn Müller — steht, daß jede tarifpolitische Entscheidung, die beispielsweise zu Streik führt, mit einem Quorum von drei Vierteln durch eine geheime Abstimmung der Mitglieder genehmigt werden muß.
— Von drei Vierteln! Das steht dort in der Satzung! Wenn Sie von der FDP zwischenrufen, das stünde da nicht drin, muß ich sagen: Das ist typisch für Ihren Unwillen, die gewerkschaftliche Realität überhaupt wahrzunehmen.Es wird im übrigen heute noch ein Mitglied der IG Druck und Papier hier reden. Er kann Ihnen dann die Satzungsbestimmungen im Detail erläutern.
Ich jedenfalls möchte für die Gesamtfraktion sagen: Das sollten Sie, Graf Lambsdorff, noch in dieser Debatte zurücknehmen.
Meine Damen und Herren, für uns ist der Jahreswirtschaftsbericht der Regierung Kohl keine Grundlage, um wirtschaftliche Probleme ernsthaft zu diskutieren.
Er ist ein Propagandapapier, das das bedrückendste Problem, nämlich die Massenarbeitslosigkeit, systematisch verharmlost und verdrängt.
Wir haben die höchste Arbeitslosigkeit seit Gründung der Bundesrepublik.
Im Januar 1984 waren es 2,54 Millionen. Im Februar werden es. so teilt die Bundesanstalt mit, sogar noch mehr sein. Immer mehr Menschen sind jetzt auf Dauer arbeitslos. Immer mehr junge Menschen sehen überhaupt keine Chance mehr am Arbeitsmarkt. 50 und mehr Bewerbungsschreiben sind für Berufsanfänger nicht mehr die Ausnahme, sondern sind, meine Damen und Herren, die Regel geworden. Immer mehr Menschen verlieren auch ihren Anspruch auf Arbeitslosengeld, und es gibt sogar viele, die inzwischen keine Arbeitslosenhilfe mehr bekommen.
Es gibt sehr viel Bitterkeit und sehr viel Selbstzweifel, gerade bei jungen Arbeitslosen.Meines Erachtens ist es — wenn es auch positiv zu werten ist — nur ein geringer Trost, daß in Selbsthilfegruppen der Arbeitslosen unter tatkräftiger Hilfe der Kirche wenigstens etwas für sie organisiert wird, aber die unerträglichen menschlichen Probleme der Massenarbeitslosigkeit bleiben.Da das so ist, frage ich mich, warum Sie von der CDU/CSU akzeptieren und hinnehmen, daß der Bundeswirtschaftsminister in seinem Text des Jahreswirtschaftsberichts so routinemäßig, so sichtlich ohne jedes Engagement, so schnodderig und im Grunde eiskalt über die Massenarbeitslosigkeit hinweggeht.
In diesem Jahreswirtschaftsbericht, meine Damen und Herren, sind tatsächlich nur 15 Zeilen von 24 Seiten der Massenarbeitslosigkeit gewidmet. 15 Zeilen!
Dort wird dann nur mitgeteilt, wenn man bei den Rechenkunststücken saisonbereinigt vorgehen würde, wären im Januar 1984 nicht mehr, sondern weniger arbeitslos.Meine Damen und Herren, die Menschen in diesem Land, insbesondere die Arbeitslosen haben keine Rechenkunststücke verdient, sondern das Ernstnehmen des Problems. Das geschieht in diesem Jahreswirtschaftsbericht nicht.
Offensichtlich ist dieser Jahreswirtschaftsbericht nur daran orientiert, noch einmal Ihre Wende zu rechtfertigen. Dabei ist doch wahr: Während der gesamten 70er Jahre war die Arbeitslosigkeit in der Bundesrepublik Deutschland weit niedriger als in allen anderen großen Industriestaaten des Westens.
Sie war etwa halb so hoch wie der Durchschnitt der übrigen OECD-Länder. In diesem Januar 1984 liegt diese Bundesrepublik Deutschland exakt auf dem schlechten Niveau der OECD insgesamt.
Am Ende unserer Regierungszeit hatten wir etwa 5 % Arbeitslose, in der OECD waren es im Schnitt 8,5 %. Heute ist die Bundesrepublik Deutschland leider auf den Schnitt der OECD abgerutscht. Wenn Sie eine ganz neue Zahl brauchen, die heute von der
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 56. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Februar 1984 3949
RothEG veröffentlicht wird, hören Sie zu. Hier im Text der EG heißt es:Die Arbeitslosigkeit hat sich im Januar in allen EG-Staaten mit Ausnahme Belgiens gegenüber dem Vormonat erhöht.An der Spitze dieser Statistik steht Dänemark mit 9,3 % mehr Arbeitslosigkeit. An zweiter Stelle — an zweitschlechtester Stelle — steht die Bundesrepublik Deutschland mit zusätzlich 8,1 %.
Über diese Tendenzen am Arbeitsmarkt steht im Jahreswirtschaftsbericht kein Wort!Seit 1980/81 wurde die Lage am Arbeitsmarkt relativ zu den anderen Ländern schlechter, weil Sie, Graf Lambsdorff, seit dieser Zeit eine aktive Beschäftigungspolitik blockiert haben. Seit damals wuchert die Arbeitslosigkeit aus. Jetzt haben wir einen Arbeitslosigkeitssockel von mehr als 2 Millionen Menschen.In Ihrem Jahreswirtschaftsbericht schreiben Sie nun:... ein zügiger Abbau der Arbeitslosigkeit kann nur über dauerhaft günstigere Wachstumsbedingungen erreicht werden.
Sie kommen also auf Rezepte zurück die Sie seit langem predigen: Wachstum, Wachstum und nichts als zusätzliches Wachstum.
Dabei, so scheint mir, haben Sie inzwischen einen Teil Ihres eigenen Wissens zurückgenommen, bzw. Sie verstecken es. Ich zitiere einige Worte von Ihnen aus dem Jahre 1977:... aber uns hüten sollten, falsche Erwartungen zu wecken. Mit dem Stichwort „Aufschwung" könnte ein Erwartungshorizont verbunden sein, der an dem ausgerichtet ist, was wir in den 60er Jahren nach der Erholung von Rezessionen gewohnt waren ..., was sich aber wahrscheinlich so nicht mehr vollziehen wird, weil der weltwirtschaftliche Gesamtrahmen nicht mehr der gleiche ist.Graf Lambsdorff, diesem Satz kann ich zustimmen. Ihrem Wachstumsoptimismus des Jahreswirtschaftsberichts kann ich nicht zustimmen. Ich halte ihn für illusorisch. Sie — Graf Lambsdorff, hören Sie zu — haben das im März 1977 zu einem Zeitpunkt gesagt, als die Wachstumsrate des Jahres zuvor — nämlich des Jahres 1976 — 5,6 % betrug. Sie haben heute mehrfach vom Aufschwung und von einem Durchstarten in eine neue Wachstumsphase gesprochen, zu einem Zeitpunkt, als die Vorjahreszahl 1,2 %, d. h. ein Fünftel, war.Meine Damen und Herren, wo bleibt da die Glaubwürdigkeit dieser Bundesregierung bzw. Ihres Wirtschaftsministers? Sie haben im Oktober 1982 die Regierung übernommen. Was haben Sie inzwischen tatsächlich getan, um Massenarbeitslosigkeit einzudämmen? Wenn etwas geschah, ist es weitgehend auf Faktoren aus der früheren Phase zurückzuführen. Erstens: Sie profitierten von einem Konjunktureffekt, der von Amerika ausging. Zweitens: Sie profitierten 1983 von der Gemeinschaftsinitiative, insbesondere der Investitionszulage, die beschlossen war. Sie profitierten drittens von einem starken US-Dollar und einer schwachen D-Mark; dadurch blähte sich kurzfristig der Export auf. Viertens: Sie profitierten schließlich von einer außerordentlich gemäßigten, zurückhaltenden Lohnpolitik der Gewerkschaften, die es hingenommen haben, daß der investierbare Fonds gestiegen ist. Ich frage mich, warum Sie heute dann als Hauptgegner die Gewerkschaften abgemalt haben.
Ich möchte aber gerecht sein.
Es gab einen Beitrag aus dieser Bundesregierung zu mehr Beschäftigung. Ich sehe den Minister nicht, aber ich will ausdrücklich unterstützen, daß Herr Wohnungsbauminister Schneider mit seinem Programm des Schuldzinsenabzugs auf der einen Seite und der Bausparzwischenfinanzierung auf der anderen Seite sowie den 50 000 zusätzlichen Wohnungen auf der dritten Ebene erheblich im bauwirtschaftlichen Bereich für Nachfrage und für Stabilisierung gesorgt hat. Ich halte diese Politik an der Stelle für richtig, bedaure, daß der Jahreswirtschaftsbericht keinerlei Auskunft gibt, was eigentlich geschieht, wenn dieses Programm vom Wohnungsbauminister Schneider im Verlauf des Jahres 1984 ausläuft. Die Verbände der Bauindustrie unterstützen ausdrücklich unsere Forderung nach einer Anschlußfinanzierung für diesen Sektor. Das heißt, ich glaube, daß jetzt gerade auf diesem Sektor Ihre sture Konsolidierungspolitik zusätzlich Opfer am Arbeitsmarkt bringen wird.Meine Damen und Herren, Sie wollten mit der Konsolidierungspolitik in der Bundesrepublik Deutschland eine Zinssenkung erreichen. Wir sehen inzwischen, daß das Gegenteil erreicht wurde. Seit März 1983, seit Sie das den Wählern versprochen haben, sind die Zinsen noch einmal um einen Prozentpunkt gestiegen. Die Konsolidierung hat nicht einmal den Zinsabstand zu den USA vergrößert. Das heißt, die Opfer, die Arbeitslose, Rentner, BAföG-Empfänger, berufstätige Mütter, Schwerbehinderte und viele andere zu tragen hatten und die Sie so begründet haben, daß man die Zinsen dann herunterbrächte, diese Opfer waren offenkundig insoweit völlig umsonst. Die Zinsen sind seit dem März eher noch gestiegen, und zwar insbesondere deshalb, weil Sie den Effekt aus den USA völlig vernachlässigt haben. Man kann es auch einfach so sagen, durch Ihre Entscheidung haben Sie die Superdefizite von Präsident Reagan mitfinanziert. Das heißt, unsere Kürzungen haben mitfinanziert, was er dort für Rüstung mehr ausgibt. Das ist die Realität.
Der wirtschaftliche Kurs dieser Bundesregierung ist unklar, er ist kurzatmig und er ist voller Widersprüche. Sie lassen die Dinge treiben, anstatt kräf-
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3950 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 56. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Februar 1984
Rothtig zuzupacken, damit endlich wirklich eine Wende zum Besseren eintritt. Sie handeln wirtschaftspolitisch nach der Maxime: Wer wenig tut, kann auch kaum Fehler machen.Das Urteil ist nicht nur von uns so formuliert worden. Ich zitiere nur eine Stimme, Volker Wörl in der Süddeutschen Zeitung am 11. Februar 1984:Seit Monaten mit der Abwehr peinlicher Affären beschäftigt, wobei der Wörner-Skandal nur wegen seiner noch größeren Widerwärtigkeit die Flick-Misere in den Hintergrund gedrängt hat, erkennt man bei der Bundesregierung derzeit weder Kraft noch Autorität für eine zielstrebige Wirtschaftspolitik.So die Süddeutsche Zeitung. Und Herr Wörl, der j a nun nicht gerade ein Feind der FDP beziehungsweise der Koalition ist, fährt dann fort:Sosehr man in der Wirtschaft noch vor Jahresfrist einen Wechsel in Bonn für notwendig hielt, so häufig äußert man sich jetzt enttäuscht und irritiert.Urteil der Süddeutschen Zeitung!
Der Hintergrund dieser Enttäuschung ist auch ganz klar. Ich will das in acht Punkten zusammenfassen.Erstens. Sie hat keinerlei Strategie zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit.
Zweitens. Sie hat kein Rezept und keine Antwort für eine Wirtschaftspolitik mit niedrigeren Wachstumsraten der Volkswirtschaft, die nun endgültig gegenüber den 50er und 60er Jahren eingetreten sind.
Drittens. Sie hat kein Lösungskonzept für Stahl, für die Werften, für die alten Industrieregionen Küste, Ruhr, Saarland. Sie hat keine Politik gegen die Krise und vor allem keine Politik für die Erneuerung der Strukturen unserer Volkswirtschaft.Viertens. Ich erinnere mich an die Polemik in den Fragen der Renten- und Sozialfinanzierung. Sie haben bisher nicht einmal den Anflug einer Antwort zur Sanierung, zur langfristigen Festigung der Sozialversicherungssysteme, der Arbeitslosenversicherung und der Rentenversicherung entwickelt. Sie haben keinen Vorschlag, wie das konjunkturfest gemacht werden kann.
Fünftens. Sie habe keine Antwort — es war bezeichnend, was heute über Japan gesagt wurde — auf die industrie- und forschungspolitischen Herausforderungen durch Amerika und Japan, die ja nicht nur die Bundesrepublik, sondern Europa insgesamt treffen.
Mir kommt — da sollten Sie von der CDU/CSU zuhören — der offen ausgesprochene und ausgebrochene Streit zwischen Graf Lambsdorff und Ministerpräsident Späth über Forschungs- und Technologiepolitik angesichts des Vorpreschens der USA und der Japaner auf vielen technologischen Feldern gespenstisch vor.
Viele von Ihnen wissen auch, daß das Nachteile für die Volkswirtschaft in sich trägt.
Sechstens. Die Bundesregierung hat keine Antwort auf die Zinsklemme, in die die ganze europäische Industrie durch die unverantwortliche Haushaltspolitik der US-Regierung geraten ist.Siebtens. Die Bundesregierung hat kein Rezept, um die Investitionstätigkeit des Staates, insbesondere der Gemeinden, zu stärken.Achtens. Die Bundesregierung hat keine Antwort auf die Frage, wie der wirtschaftspolitische Grundkonsens und der soziale Frieden in diesem Lande wiederhergestellt und für die ganzen 80er Jahre gesichert werden kann.Die Bundesregierung ist unter dem Einfluß — die heutige Rede war natürlich ein weiterer Beitrag dazu — des Bundeswirtschaftsministers immer mehr unfähig zum Gespräch mit den organisierten Arbeitnehmern geworden. Sie wird auch — auch da ist heute wieder vieles deutlich geworden — von Woche zu Woche gesprächsunwilliger.Es gehörte j a immer — das war nicht nur während der Kanzlerschaft von Helmut Schmidt so, sondern auch früher — zu der Aufgabe einer Bundesregierung, insbesondere des Wirtschaftsministers, ein Klima herzustellen, daß Konfrontationen, die logischerweise aus unterschiedlichen Interessen kommen, abgebaut werden und daß man sich am runden Tisch fand. Ich muß sagen: Es waren damals ja die großen Fraktionen dieses Hauses, die in den 60er Jahren die Idee der Konzertierten Aktion entwickelt haben. Wir müssen uns erinnern, daß der Wirtschaftsminister mit seinem Nein zur paritätischen Mitbestimmung diese Entfremdung eingeleitet hat. Wir sehen jetzt am Beginn einer Tarifauseinandersetzung die völlige Unfähigkeit der gesamten Bundesregierung, zu mäßigen, an den runden Tisch zu kommen und die Sache ins Lot zu bringen.
Ich bin der Meinung, daß Sie allen Grund haben, den Gewerkschaften in diesem Jahr und in den Jahren davor dankbar zu sein für ihre Bereitschaft,
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RothVorleistungen zu bringen und Beschäftigungsmöglichkeiten zu eröffnen.
Statt daß Sie das aufnehmen, verweigern Sie die aktive Beschäftigungspolitik und mobilisieren gegen die Arbeitnehmer und ihre Gewerkschaften. Dies gilt nun gerade in der Frage, die in diesem Jahr wirtschaftspolitisch am kompliziertesten ist, nämlich in der Frage der Arbeitszeitverkürzung. Allmählich wird doch gerade dieses Feld völlig beherrscht von billiger Polemik und, wie ich meine, sinnwidriger Konfrontation.
Herr Abgeordneter Roth, gestatten Sie eine Zwischenfrage von Frau Abgeordneter Beck-Oberdorf? — Bitte sehr.
Herr Roth, meinen Sie, daß die Gewerkschaften sehr erbaut darüber sind, daß Sie hier die Regierung quasi dazu auffordern, mäßigend in den jetzigen Streit um die Arbeitszeitverkürzung einzugreifen?
Wissen Sie, Frau Beck-Oberdorf, so sehr wir uns schätzen mögen — —
— Bitte schön, ich darf doch meiner Gegenkandidatin aus meinem Wahlkreis meinen Respekt versichern. Oder darf ich das nicht?
Ihre Frage geht in die Irre. Wir haben in diesem Jahr die Gefahr, daß eine Konfrontation entsteht — und eine Streik- und Aussperrungssituation —, die die gesamte Volkswirtschaft schädigen kann und die Nachteile im sozialen Bereich für breite Schichten der Bevölkerung hervorrufen kann, die meines Erachtens unerträglich sind. Hier hat die Bundesregierung in der Tat die Aufgabe, beide soziale Gruppen an einen Tisch zu bringen und zur Mäßigung im sozialen Klima beizutragen, d. h. sie hat nicht einseitig, sondern vermittlungsfähig zu sein. Das ist die Aufgabe der Bundesregierung.
Ich glaube, alle Gewerkschaftsführer wären froh, wenn diese Bundesregierung bereit wäre, diesen mäßigenden Einfluß auf den sozialen Konflikt auszuüben, und wenn sie bereit wäre, die Menschen, die Arbeitnehmer, die Gewerkschaften zu einem sozialen Kompromiß zu führen.
Herr Abgeordneter Roth, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Stratmann? — Bitte sehr.
Herr Roth, ich stimme Ihnen in der Einschätzung der Regierungspolitik gegenüber den Gewerkschaften zu, ziehe allerdings andere Konsequenzen und möchte Sie deswegen fragen: Halten Sie es angesichts der Regierungspolitik nicht für notwendig, die Gewerkschaftskräfte darin zu unterstützen, Gegenmachtposition und Widerstandsposition aufzubauen, anstatt immer, wie Sie das bisher und auch gerade wieder getan haben, die Gewerkschaften auf Sozialpartnerschaft und konzertierte Aktion hin orientieren zu wollen?
Meine Damen und Herren, lieber Herr Stratmann, es ist meine feste Überzeugung, daß moderne Industriegesellschaften nicht im Rahmen eines sich verschärfenden sozialen Konflikts im Interesse der Arbeitnehmer geführt werden können. Deshalb halte ich die Idee der Sozialpartnerschaft, die vor allem in Österreich weit entwickelt worden ist, für eine historisch positive Entwicklung der Arbeiterbewegung und würde es nachdrücklich unterstützen, daß wir in der Bundesrepublik Deutschland bei Wahrung der paritätischen Mitbestimmung und der Tarifautonomie endlich wieder zum runden Tisch zurückkämen.
Ich bin der Meinung, das paßt auch genau in diese Zeit und braucht gar nicht in Konflikt zu stehen mit einer klaren Auffassung zur Arbeitszeitverkürzung. Diese Auffassung habe ich.Warum die Arbeitszeitverkürzung in diesem Jahr notwendig ist, ergibt sich aus dem Auseinanderlaufen zwischen Produktivitätswachstum und Wirtschaftswachstum. Im Jahre 1983 hatten wir ein Sozialproduktwachstum von real 1,2 %. Wir hatten eine Leistungssteigerung pro Arbeitnehmerstunde, eine Produktivitätssteigerung von 3,1 %. Das heißt, die Schere zwischen dem, was mehr verkauft und nachgefragt wird, und dem, was mehr geleistet wird, ist weiter aufgegangen. Für mich lautet die Alternative deshalb nicht: Arbeitszeitverkürzung ja oder nein. In Wahrheit lautet doch die Alternative: entweder eine Zwangsarbeitszeitverkürzung von immer mehr Menschen auf null Wochenstunden oder die freie, geordnete, tarifvertraglich geregelte Arbeitszeitverkürzung auf allen Ebenen. Deshalb ist die Forderung der Gewerkschaften in Richtung auf die 35-Stunden-Woche richtig. Sie wird von uns voll unterstützt. Wir werden in der Kampfsituation, falls das verweigert wird, an der Seite der Gewerkschaften stehen. Aber ich sage weiterhin: Die Bundesregierung muß vermittlungsfähig sein und darf nicht im Boot einer der beiden Tarifpartner sitzen.
— Ich möchte den Gedanken zur Arbeitszeitverkürzung abschließen.Eine freie und demokratische Gesellschaft verlangt freie Tarifverträge zur Verkürzung der Arbeitszeit, und sie verlangt keine Zwangs-Arbeitszeitverkürzung von immer mehr Menschen auf null Stunden. Bisher wurden mehr Arbeitsplätze wegrationalisiert, als durch mehr und neue Produktion hinzukamen. Und zwar geht das schon seit längerem so. Von Konjunkturzyklus zu Konjunkturzyklus ist die durchschnittliche Arbeitslosigkeit in der Bundesrepublik gestiegen. Im 6. Zyklus — zwi-
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3952 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 56. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Februar 1984
Rothschen 1969 und 1974 — lag die Arbeitslosigkeit bei etwa 250 000. Im 7. Zyklus — in der zweiten Hälfte der 70er Jahre — hatten wir durchschnittlich eine Million Arbeitslose. Im jetzt laufenden 8. Konjunkturzyklus werden wir wahrscheinlich im Durchschnitt 2,5 Millionen Menschen als Arbeitslose haben. Das ist doch ein Trend. Das ist doch nicht ein Konjunkturphänomen.
Lassen Sie sich doch nicht durch den Jahreswirtschaftsbericht einreden, daß mit einer konjunkturellen Erholung über zwei, drei Jahre hin dieser Trend gebrochen wäre.
Ich glaube, auf diesen Trend müßten Sie in Ihrer Auseinandersetzung mit praktischen Fragen eingehen. Dann würden Sie auch zu einer anderen Fragestellung und Antwort bei der Arbeitszeitverkürzung kommen.Schon Ludwig Erhard hat da bei Ihnen mehr gewußt und öffentlich gesagt, als Sie es heute tun. Er wußte: Wenn im Trend die Produktivität schneller als das reale Sozialprodukt wächst, wenn das also auseinandergeht, dann muß man mit Arbeitszeitverkürzung für einen Ausgleich sorgen. Allein 1983 wuchs die Volkswirtschaft, wie ich erwähnt habe, nur um 1,2 % und die Produktivität um 3,1 %. Da ist doch eine Schere aufgegangen.
Deshalb ist meines Erachtens die Forderung der Gewerkschaften nach Arbeitszeitverkürzung vernünftig. Wenn ich bedenke, daß sich die jährlichen Raten der Arbeitszeitverkürzung in den 80er Jahren halbiert haben, finde ich fast: Die Forderung kommt eher zu spät als zu früh.Sie, Herr Bundeskanzler — er ist im Moment nicht da —, machen sich am weiteren Auswuchern der Arbeitslosigkeit in den 80er Jahren schuldig,
wenn Sie wie bisher die Verkürzung der Arbeitszeit verteufeln. Erhard hat schon 1975 — daran muß man die jetzige Regierung erinnern —
vorausgesagt — er hat sich da um etwa zehn Jahre geirrt —, daß die Arbeitszeit 1975 auf 35 Stunden zurückgehen werde. Heute nun, 1984, zehn Jahre später, belegen Sie die Forderung der Gewerkschaften nach Einführung der 35-Stunden-Woche mit den Worten „dumm", „absurd" und „töricht".
Töricht ist es, einem naiven Wachstumsglauben nachzuhängen, wie es die Regierung tut. Und ich finde, absurd ist es, zu behaupten, Arbeitszeitverkürzung habe keinen positiven Arbeitsmarkteffekt. Schließlich ist es dumm, wenn Sie als Regierung, als Staatsorgan einseitig Partei nehmen. Selbst wenn Sie als Partei, als politische Bewegung andere Auffassungen haben, müssen Sie, meine Damen und Herren von der Koalition, Ihrer Kanzler klarmachen, daß er eine Funktion zwischen den Konfliktpartnern hat.Zu dem, was Sie als Alternative - Lebensarbeitszeitverkürzung nach dem Blüm-Modell — anbieten: In diesen Tagen hat eine Arbeitsgruppe der Technischen Universität Berlin errechnet, daß der positive Arbeitsmarkteffekt 15 000 pro Jahr sei. Verkaufen Sie doch nicht Ihr Vorruhestands-Modell, das 15 000 Arbeitsplätze pro Jahr umfaßt, als Maßnahme gegen die Massenarbeitslosigkeit.
Ich bin auf der anderen Seite trotzdem froh, wenn auch nur etwas geschieht. Aber verkaufen Sie es doch nicht als Maßnahme gegen die Arbeitslosigkeit von 2,5 Millionen!
Das zweite wichtige Feld, auf dem sich diese Bundesregierung völlig versagt, ist das Feld der vorausschauenden Strukturpolitik. Das geschah ja auch heute wieder. Dabei wird die Grundorientierung der Bundesregierung immer eigenartiger und grotesker. Übrigens zeigt sich das nirgends so deutlich wie bei dem konzeptionslosen Verhalten bei Arbed-Saarstahl. Nachdem bei der „garantiert letzten" vor zwei Monaten durchgeführten Rettungsaktion versucht worden war, den Arbeitnehmern durch Pressionen den Schwarzen Peter zuzuschieben, muß jetzt bei der neuen Krise der Dollarkurs herhalten. Für 1984 waren 100 Millionen DM staatliche Mittel bereitgestellt. Jetzt braucht man schon im Februar 85 Millionen DM, um zu überleben. Jetzt ist wieder alles offen, weil niemand garantiert und niemand garantieren kann, daß die restlichen 15 Millionen DM überhaupt reichen.Sicher, auch diesmal gibt es Gründe und werden Gründe angegeben, z. B. der Dollarhochkurs. Aber jetzt wird offenbar wieder nachsubventioniert. Inzwischen sind ohne jedes tragfähige Zukunftskonzept bei Arbed mehr als 1 Milliarde DM vergeben worden. Ein Ende dieser Subventionierung ist nicht abzusehen. Das heißt, die Verweigerung eines Stahlkonzepts insgesamt und eines Konzepts für Arbed hat zu einer unhaltbaren Situation geführt, in der sogar der duldsame Herr Zeyer dem Bundeskanzler gegenüber in der letzten Woche mit seinem Rücktritt gedroht hat.Ende 1983 hatte Arbed Luxemburg den Regierungen in Bonn und Saarbrücken angeboten, sie könnten für 1 DM 76 % der Anteile von Saarstahl übernehmen. Dieses Angebot wird nun seit Monaten wie eine heiße Kartoffel von dem einen zum anderen weitergegeben. Weder Bonn noch Saarbrücken sagt, was aus diesem Angebot eigentlich werden soll.Die Unsicherheit für die Arbeitnehmer verschlechtert die Lage täglich. Aber nicht nur für die Arbeitnehmer verschlechtert sich die Lage; auch das Unternehmen ist auf Grund der Unsicherheit bei Lieferanten und bei Abnehmern mehr als geschädigt. Das heißt, durch Ihr Nichthandeln, durch Ihr Nichtentscheiden schädigen Sie das Unterneh-
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Rothmen selbst. Es entstehen Mehrkosten und Verluste. Diese Verluste sind teilweise Verluste mangels Entscheidung in Bonn. An Dilettantismus sind die betroffenen Regierungen in Bonn und Saarbrücken wirklich nicht mehr zu überbieten.Die Schutzbehauptung der Bundesregierung, man sei schließlich kein Stahlproduzent, man könne also eine Beteiligung nicht annehmen, stimmt j a ohnehin nicht, weil Salzgitter weitgehend dem Bund gehört. Diese Behauptung ist schon deshalb Unfug geworden, weil Arbed Saarstahl in allen seinen unternehmerischen Risiken inzwischen — wirtschaftlich gesehen — dem Bund gehört. Der Bund ist de facto durch die Verlustübernahme und durch die Verlustgarantien seit einigen Jahren Eigentümer.Ich will nicht kritisieren, daß wir die Arbeitsplätze dort gesichert haben. Aber ich will kritisieren, daß eine endgültige Entscheidung versagt wird und daß die Arbeitnehmer in der Luft hängen. Das ist der Punkt.
Nun sagen Sie, Sie seien gegen eine Verstaatlichung. Sie greifen die AFA an, weil sie einen Beschluß gefaßt hat, der in diese Richtung will. Meine Damen und Herren, ich brauche hier nicht den Vorsitzenden der SPD zu zitieren, um unsere Position klarzumachen; da gibt es eine einheitliche Meinung in den Führungsgremien der sozialdemokratischen Partei. Aber ich möchte Sie an das erinnern, was Sie seit einigen Jahren im Falle Arbed Saarstahl betreiben. Was betreiben Sie denn anderes als eine ständige Sozialisierung der Verluste in diesem Sektor und bei diesem Unternehmen?
Das ist doch Verstaatlichung nach dem Prinzip des Feuerwehrstaats: Wo es brennt, wird mit dem guten Geld des Steuerzahlers der Brand gelöscht, und die Ruinen bleiben stehen. In den Ruinen wird ein bißchen herumgebastelt, aber eine Entscheidung darüber, wer wirtschaftlich verantwortlich ist, wird nicht getroffen.Es ist doch so, daß Arbed Saarstahl zur Zeit ein herrenloses Kind ist. Das sagen die Arbeitnehmer. Arbed in Luxemburg hat klar erklärt, daß sie keine Verantwortung mehr übernehmen, sie lassen das Unternehmen notfalls in die Pleite sausen. Und Sie von der CDU/CSU schauen von Ihren Sitzen aus geduldig zu, wie der Bundesminister für Wirtschaft eine Region ruiniert, in der ein Ministerpräsident aus Ihrer Partei ums Überleben kämpft!Wenn Sie sich schon nicht für die Arbeitnehmer an der Saar interessieren wollen, was ich aus diesem Verhalten schließen muß, dann muß ich Ihnen doch die Frage stellen: Können Sie sich nicht wenigstens für Ihre Kolleginnen und Kollegen aus Ihrer Partei an der Saar interessieren?
— Ich bin der Meinung, daß im Stahlbereich ein Konzept mit der Zusammenfassung der öffentlichen Verantwortung notwendig ist, und habe das an dieser Stelle oftmals gesagt.
Sie können doch im Saarland nicht einen Ruin der Arbed Saarstahl zulassen, der bei dieser Methode unausweichlich ist. Dazu gibt es eine klare Aussage der SPD.
Lassen Sie mich in acht Punkten unsere Antworten auf die Krise, auf die Herausforderung am Arbeitsmarkt und in der Strukturkrise in den 80er Jahren zusammenfassen.Erstens. Der Abstand zwischen der Leistungsfähigkeit unserer Wirtschaft und den Absatzmöglichkeiten ihrer Güter und Dienstleistungen muß durch eine forcierte Strategie der Arbeitszeitverkürzung beseitigt werden, damit die Massenarbeitslosigkeit nicht weiter ausufert. Wir treten für eine freie, tarifvertraglich geordnete Arbeitszeitverkürzung ein, sei es die Wochenarbeitszeit, sei es die Jahresarbeitszeit oder die Lebensarbeitszeit. Das müssen primär die Tarifpartner entscheiden.Zweitens. Wir warnen vor Sehnsüchten nach Wachstumsraten wie in den 50er und 60er Jahren. Wir wollen aber ein vernünftiges qualitatives Wachstum fördern. Es ist Aufgabe des Staates, mitzuhelfen, neue qualitative Wachstumsfelder zu erschließen.Eines dieser Felder — und vielleicht das wichtigste — ist der Umweltschutz. Hier ist der Staat gefordert. Den Umweltschutz gibt es nicht primär, schon gar nicht allein über den Markt. Da der einzelne Bürger, auch wenn er es wollte, Umweltverbesserungen nicht isoliert kaufen kann, ist der Staat gefordert. Der Staat muß das Bedürfnis der Bürger nach Umweltschutz in Nachfrage nach Umweltschutz umsetzen. Dabei kann er Arbeit schaffen.Wir wollen auf die Anwendung des Verursacherprinzips im Umweltschutz nicht verzichten. Vor allem in der Zukunft soll gelten: Wer Umwelt verschmutzt, muß zahlen, muß dafür aufkommen. Allerdings kommt es jetzt darauf an, mit einer gewaltigen Anstrengung, die ich durchaus mit der Anstrengung beim Wiederaufbau und beim Wohnungsbau nach dem Zweiten Weltkrieg vergleichen will, die alten Lasten von unserer Umwelt zu nehmen.Wir wollen, daß mit einem Sondervermögen „Arbeit und Umwelt" während eines zehn- bis fünfzehnjährigen Sanierungszeitraumes jedes Jahr Umweltinvestitionen in Höhe von mehr als 10 Milliarden DM mit dem Ziel in Gang gesetzt werden, das Waldsterben zu beenden, die Gewässer zu reinigen, den Lärm zu verringern, unsere Trinkwasserversorgung zu verbessern und vor allem Vorsorge zu treffen und die Böden zu entgiften. Mit einer sol-
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Rothchen qualitativen Wachstumsinitiative könnten jedes Jahr 400 000 Arbeitsplätze gesichert werden.Wir brauchen eine solche Initiative aber nicht nur deshalb, weil wir die Altschäden in unserem Lande beseitigen müssen. Heute ist die Bundesrepublik in der Umwelttechnologie auf manchen Gebieten bereits führend, auch im Energiesparen. Es kommt jetzt gerade als Antwort auf Japan und andere darauf an, diesen Vorsprung auszubauen und sich auch insoweit Arbeits- und Absatzmöglichkeiten auf den Weltmärkten zu sichern. Mit unserem Sondervermögen „Arbeit und Umwelt" wird kein Konjunkturprogramm vorgeschlagen. Es geht nicht um ein kurzfristiges Programm, sondern es geht um ein mittelfristiges qualitatives Wachstumsprogramm, das ein neues Feld breit erschließt.Wir müssen aber vor allem zeigen — unterschätzen Sie diesen Aspekt nicht —, daß diese Industriegesellschaft mit ihren technischen Fähigkeiten und ihren finanziellen Möglichkeiten die Umweltprobleme tatsächlich meistert. Wir flüchten nicht wie andere aus der Industriegesellschaft, sondern wir meinen, wir sollten die technischen Fähigkeiten dieser Industriegesellschaft nutzen, um ihre alten Lasten zu beseitigen.Drittens. Wir plädieren für eine konjunkturell angemessene Haushaltspolitik, die den konjunkturellen Erholungsprozeß stützt und stabilisiert. Die Ausgaben des Staates sollten nach unserer Überzeugung im gleichen Tempo wachsen wie nominell das Bruttosozialprodukt.Allerdings: Wir treten für eine Umstrukturierung der Ausgaben ein. Wir glauben, wir müssen weg von konsumtiven Verwendungsweisen und hin zu investiven, insbesondere im genannten Umweltsektor. Meine Damen und Herren, Sie haben jahrelang — ich sehe Herrn Häfele und andere in diesem Raum — gegen die Haushaltsstruktur polemisiert und beklagt, wir hätten zuviel konsumtive und zuwenig investive Ausgaben des Bundes. Wie rechtfertigen Sie eigentlich, daß die Investitionen der öffentlichen Hände im Jahre 1983 um 6,7 % zurückgegangen sind?
Wie rechtfertigen Sie da Ihre früheren Reden?Viertens. Wir lehnen die industriepolitische Abstinenz dieser Bundesregierung ab. Wir brauchen ein industriepolitisches Gesamtkonzept, das hilft, die Krisenbranchen unserer Wirtschaft national umzustrukturieren, das den sozialen Wandel fördert und unsere Wettbewerbsfähigkeit international sichert.
Dabei reicht es nicht, daß der Staat finanzielle Hilfen in Aussicht stellt,
wenn etwas schiefgegangen ist, obgleich das auch notwendig ist. Vielmehr muß der Staat bereit sein, im Zusammenspiel mit der privaten Wirtschaft Umstrukturierungsprozesse zu beschleunigen und sozial abzufedern. Meine Damen und Herren, Sie,Graf Lambsdorff, tun genau das Gegenteil: Sie versprechen den Stahlunternehmen 3 Milliarden DM, ohne überhaupt ein Konzept für die Stahlindustrie zu haben.Wir brauchen aber auch eine Industriepolitik, die auf Schlüsseltechnologien der Zukunft setzt. Meine Damen und Herren, das Ablehnen einer Mitverantwortung des Staates auf diesem Feld führt Sie doch nicht weiter. Ein Land, das 30 % seiner wirtschaftlichen Leistungen exportiert, ist darauf angewiesen, die Förderung von Spitzentechnologien auch dann zu beschleunigen, wenn der Markt allein diesen Beschleunigungsprozeß nicht trägt. Kein anderes Land leistet sich den Luxus, der sich in der Rede des Grafen Lambsdorff andeutet. Z. B. die USA versuchen, ihre Spitzentechnologien über die Militärforschung in Gang zu setzen und in der Auseinandersetzung mit Japan zu verstärken; wir lehnen diesen Weg ab. Die Japaner machen es über ihr Industrieministerium. Wir halten das Wirtschaftsministerium und das Forschungsministerium in der Bundesrepublik Deutschland hinsichtlich der Förderung der Spitzentechnologien für verantwortlich, für genauso verantwortlich wie Siemens oder andere große Unternehmen. Hier muß es ein Zusammenspiel zwischen Staat und Wirtschaft geben, nicht aber eine Abtrennung und bloße Hoffnung auf die Zukunft.Meine Damen und Herren, merken Sie bei Ihren Industriebesuchen im In- und Ausland nicht — Herr Waigel und andere machen das ja —, daß wir in einzelnen Sektoren wie etwa Mikroelektronik, Bio- und Gentechnologie bereits zurückliegen?
Merken Sie nicht, daß wir in den Sektoren, in denen wir Weltstandard haben — ich nenne hier Nachrichtentechnik, Bürotechnik, Materialforschung, Meß- und Regeltechnik —, durch die Abstinenz der Bundesregierung an Position verlieren?
— Meine Damen und Herren, wenn Sie hier jetzt so dazwischenrufen, dann lassen Sie uns hier doch eine Einigung vornehmen: daß die beiden großen Fraktionen in diesem Hause bei der aktiven Forschungs- und Technologiepolitik und der Verwirklichung eines Gesamtkonzepts — national und für Europa — in der Industriepolitik zusammenarbeiten und gegen dieses blutleere Gerede, der Markt wird das allein richten, antreten. Das ist doch die Möglichkeit, die Sie haben, wenn Sie sich so erregen.
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Roth— Frau Kollegin Beck-Oberdorf hat mit dem Stichwort „Späth" durchaus recht.
Es ist doch nun wirklich eigenartig, meine Damen und Herren, daß Ministerpräsident Späth mit seinen vielfältigen, kleinen Aktivitäten genau das Gegenteil dessen tut, was der Wirtschaftsminister macht, und daß die sich in dieser Frage schon öffentlich prügeln; Sie lesen das ja jeden Tag in der Zeitung.
Fünftens. Die Stärkung der Investitionskraft der Unternehmen durch Verbesserung ihrer Eigenkapitalausstattung ist auch für uns notwendig; vor allem die mittleren und kleinen Unternehmen müssen hier gestärkt werden. Aber ich bin der Überzeugung: Diese Stärke erreichen wir nur, wenn wir Fehllenkung von Kapital vermeiden, verhindern und blockieren, wie Abschreibungsmodelle, Bauherrenmodelle und vieles andere, was durch die Hochzinspolitik entstanden ist. Wenn man nur ein Viertel der Geldvermögen in der Bundesrepublik Deutschland in eine investive Verwendung, in Verwendung als Eigenkapital umlenken könnte, würde sich der Eigenkapitalanteil in der deutschen Volkswirtschaft von 20 % auf 50 % erhöhen. Ich glaube, hier müssen wir durch die Versperrung von Kapitalfehllenkung aktiv werden.
Herr Abgeordneter Roth, wir haben Redezeitvereinbarungen. Ich bitte Sie, doch zum Ende zu kommen.
Ich komme zum Ende.
Sechstens. Wir brauchen eine neue Stufe der Integration und der Zusammenarbeit innerhalb Europas.
Als Sie, Graf Lambsdorff, im Oktober 1977 Ihr Amt antraten, hatten wir 911 000 Arbeitslose. Nach sechs Jahren Ihrer Amtstätigkeit, im Januar 1984, haben wir 2,54 Millionen Arbeitslose. Sie reden jetzt mit „Wende" und „Kursänderung" hin und her. Das Urteil, das wir uns gebildet haben, ist klar: Mit dieser Steigerung der Massenarbeitslosigkeit um 1,6 Millionen sind Sie der erfolgloseste Wirtschaftsminister der Bundesrepublik Deutschland geworden. Das ist schon schlimm. Was noch schlimmer ist, ist die schnoddrige Art und Weise, mit der Sie mit der Arbeitslosigkeit in der Bundesrepublik umgehen. Die Wahrheit aber ist — das wurde heute in Ihrer Rede ganz deutlich —: Diese Bundesregierung hat unter Ihrem Einfluß vor der Massenarbeitslosigkeit resigniert. Sie richten sich auf Dauerarbeitslosigkeit von immer mehr Menschen — jetzt bereits 2,5 Millionen Menschen — ein
und versuchen, die Menschen mit vagen Hoffnungen zu vertrösten.
Das lassen sich die Bürger dieses Landes nicht mehr lange gefallen.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. Dregger.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Nach dem melodramatischen Gemälde des Kollegen Roth möchte ich doch einmal ganz schlicht feststellen: Der Aufschwung ist da.
Er ist da, Herr Kollege Roth. Pessimismus und Schwarzmalerei, wie sie von der Opposition gepflegt wurden, sind widerlegt. Alle Konjunkturdaten weisen nach oben, auch auf dem Arbeitsmarkt.
Das ist nicht nur die Einschätzung im Jahreswirtschaftsbericht der Bundesregierung, zum gleichen Schluß kommen der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, die fünf führenden Wirtschaftsforschungsinstitute, die Deutsche Bundesbank, die EG-Kommission und die OECD. Auch das wirtschaftswissenschaftliche Institut des DGB stellte bereits in seinem September-Konjunkturbericht fest, daß der Aufschwung läuft. Allein die SPD und einige Funktionäre in den Führungsetagen einiger Gewerkschaften wollen das nicht wahrhaben.Am 1. Oktober 1982, zum Zeitpunkt des Regierungswechsels, sah alles völlig anders aus. Die SPD-geführte Bundesregierung hatte eine Lage hinterlassen, in der erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland alle Ziele des Stabilitäts- und Wachstumsgesetzes gleichzeitig und schwerwiegend verletzt waren.
Das Bruttosozialprodukt, die Summe aller produzierten Güter und Dienstleistungen, schrumpfte, nachdem Jahre der Stagnation vorausgegangen waren. Die Teuerungsrate für die Lebenshaltung der privaten Haushalte lag über 5 %. Die deutsche Leistungsbilanz war schon im dritten Jahr im Defizit, mit einem Rekordminus von 28,5 Milliarden DM im Jahre 1980. Die Zahl der Arbeitslosen hatte sich in der Ara Brandt und Schmidt trotz, vielleicht auch wegen regierungsamtlicher Beschäftigungsgarantien und staatlicher Beschäftigungsprogramme verzehnfacht, von rund 200 000 auf rund 2 Millionen. Firmenzusammenbrüche und Entlassungen zeigten am 1. Oktober 1982 unverändert steigende Tendenz. Alles, was das Stabilitäts- und Wachstumsgesetz
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3956 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 56. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Februar 1984
Dr. Dreggerfordert, war verlorengegangen; es gab weder Wachstum noch Geldwertstabilität, noch außenwirtschaftliches Gleichgewicht, noch Vollbeschäftigung.Heute, noch nicht einmal eineinhalb Jahre nach dem Regierungswechsel, sind drei der vier wirtschafts- und sozialpolitischen Ziele des Stabilitäts- und Wachstumsgesetzes zurückgewonnen; beim vierten ist die Wende zum Besseren eingeleitet.Im einzelnen: Erstens. Das Wachstum hat auf breiter Front eingesetzt. Für das vierte Quartal 1983 waren bisher 2,5 % angenommen worden, inzwischen hat das Berliner Institut ein reales Wachstum von sogar 3,2 % festgestellt.Zweitens. Die Preissteigerungsrate ist drastisch gesunken, bei den Verbraucherpreisen im Jahresdurchschnitt auf 3 %, das ist beinahe eine Halbierung. Jeder Prozentpunkt Preissteigerung weniger bedeutet ein Kaufkraftplus von 8,5 Milliarden DM für die Verbraucher, wovon besonders die Bezieher niedriger Einkommen profitieren. Bei den gewerblichen Erzeugerpreisen wurde der Anstieg sogar auf weniger als die Hälfte reduziert, im Novembervergleich von 3,6 % im Vorjahr auf 1,5 % 1983. Auch die zweite Forderung des Stabilitäts- und Wachstumsgesetzes ist erfüllt: Wir haben wieder Geldwertstabilität.Drittens. Die Leistungsbilanz ist nicht nur ausgeglichen, sie weist 1983 einen Überschuß von mehr als 8 Milliarden DM aus. Im Außenhandel wurde mit 42 Milliarden DM Überschuß sogar das zweitbeste Ergebnis der Nachkriegszeit erzielt. Auch das dritte Ziel ist erreicht: Das Minus in der Leistungsbilanz ist beseitigt.Viertens. Es entspricht der wirtschaftlichen Logik und der Erfahrung, das das vierte Ziel zeitlich als letztes erreicht werden wird; aber auch hier ist die Wende eingetreten. Erstmals seit 31/2 Jahren gingen die Arbeitslosenzahlen saisonbereinigt zurück, in den letzten fünf Monaten um nicht weniger als 130 000. 130 000 Arbeitslose weniger!
Diese Erfolge, meine Damen und Herren, sind uns nicht in den Schoß gefallen. Die Auftriebstendenzen der Weltwirtschaft haben nicht überall den Aufschwung eingeleitet, auch bei wichtigen EG-Partnern, wie Frankreich und Italien, nicht. „Leider" kann man nur sagen, denn irgendwie sitzen wir ja alle in einem Boot. Angesichts dieser erfreulichen Ausgangslage und des Fortwirkens der wirtschafts- und finanzpolitischen Entscheidungen der Regierung Kohl aus den ersten 15 Monaten ihrer Amtszeit sind die Erwartungen des Jahreswirtschaftsberichts für 1984 eher vorsichtig als übertrieben.
Nicht wenige vermuten, daß in diesem Jahr noch mehr erreicht werden wird. So hält der Präsident des Sparkassen- und Giroverbandes, Geiger, eine Zunahme des Bruttosozialprodukts um 3,5 % für möglich. Das wird das Tempo des seit fünf Monatenanhaltenden Rückgangs der Arbeitslosigkeit weiter verstärken.Herr Präsident, meine Damen und Herren, die hoffnungsvollen Erwartungen der Öffentlichkeit und nahezu aller Sachverständigen werden allerdings nur eintreffen, wenn keine schweren Fehler gemacht werden. Das gilt für die Tarifpolitik der Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände ebenso wie für die Haushalts- und Finanzpolitik der Regierungen und Parlamente. Beide, die Tarifpartner auf der einen und die Regierungen und Parlamente auf der anderen Seite, tragen dieselbe Verantwortung. Als dritter Partner kommt die regierungsunabhängige Bundesbank hinzu. Mit dieser Aufteilung der Macht und der Verantwortung zwischen Regierung, Bundesbank und Tarifpartnern ist die Bundesrepublik Deutschland in der Nachkriegszeit gut gefahren. Teilung der Macht bedeutet Teilung der Verantwortung. Sie setzt bei den Beteiligten Bereitschaft zur Zusammenarbeit und Orientierung am Gemeinwohl voraus. Regierung und Bundesbank beurteilen die wirtschaftspolitischen Erfordernisse des kommenden Jahres nahezu übereinstimmend.Im Widerspruch dazu sehen einige, aber nicht unwichtige Gewerkschaften in der Verkürzung der Wochenarbeitszeit auf 35 Stunden bei vollem Lohnausgleich den Königsweg zur Vollbeschäftigung. Das widerspricht der wirtschaftlichen Logik ebenso wie den internationalen Erfahrungen. Eine gravierende Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohnausgleich im nationalen Alleingang beeinträchtigt unsere Wettbewerbsfähigkeit.Allein von der Wettbewerbsfähigkeit hängt aber das Arbeitsvolumen unserer Wirtschaft ab. Es sind die Käufer, die den Wettbewerb entscheiden, niemand sonst. Sie richten sich nach Qualität und Preis. Wer unterbeschäftigt ist, muß sein Angebot verbessern. Er muß in der Qualität besser oder im Preis billiger werden, am besten beides. Wer bei Massenarbeitslosigkeit teurer wird, ohne das durch Innovationen und Qualitätssteigerungen mehr als auszugleichen, fällt im Wettbewerb zurück und bleibt auf der Strecke.
Was die wirtschaftliche Logik ergibt, bestätigt die internationale Erfahrung. Nicht die Industrienationen sind heute vollbeschäftigt, die am kürzesten arbeiten, sondern diejenigen, die am längsten arbeiten, nämlich Japan und die Schweiz. Es ist ausschließlich der Vorsprung dieser Länder in der internationalen Wettbewerbsfähigkeit, der ihnen auch heute Vollbeschäftigung ermöglicht. Das ergibt übrigens eine Untersuchung des European Management Forum, das wie in den Vorjahren, auch jetzt wieder 284 Wirtschaftsindikatoren, einige andere Indikatoren und die Einschätzung von über 1 000 Unternehmen ausgewertet hat. Danach stehen die Schweiz und Japan, die die längste Arbeitszeit aller Industrienationen haben, in der Wettbewerbsfähigkeit eindeutig an der Spitze. Ich beziehe mich auf den Bericht der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung" vom 7. Januar 1984.
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 56. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Februar 1984 3957
Dr. DreggerMeine Damen und Herren, in den nächsten Wochen und Monaten werden die Weichen in Deutschland neu gestellt. Es wäre tragisch, wenn die falsche Philosophie, die Philosophie der Resignation, die Philosophie der Verteilung des Mangels an Arbeit, sich durchsetzen würde, statt der Philosophie der Steigerung der Leistungs- und Wettbewerbsfähigkeit.
Ich appelliere an die Gewerkschaften im Interesse ihrer Mitglieder und aller Arbeitnehmer, den Gedanken an eine generelle Verkürzung der Wochenarbeitszeit bei Lohnausgleich auf einen Zeitpunkt zu verschieben, zu dem wir unsere Problembranchen wie Stahl und Werften saniert, in den Zukunftstechnologien wie Mikroelektronik und Kommunikationstechnik die Amerikaner und Japaner eingeholt haben und diese bereit sind, in Arbeitszeit und Arbeitskosten mit uns in etwa gleichzuziehen.Meine Damen und Herren, eine Wirtschaft, die so international verflochten ist wie die deutsche und die auf wichtigen Teilgebieten in den 70er Jahren leider ihre Spitzenstellung verloren hat, kann sich nationale Alleingänge zu Lasten ihrer Wettbewerbsfähigkeit einfach nicht leisten.
Möglich bleiben andere Wege, z. B. spezielle Arbeitszeitregelungen. Der Herr Bundeswirtschaftsminister hat liebenswürdigerweise auf das Beispiel der Gummiwerke Fulda hingewiesen, in denen in der Tat für einen Teil der Belegschaft eine Regelung getroffen worden ist, die den Bedürfnissen dieses Unternehmens ebenso gerecht wird wie den Interessen der davon betroffenen Arbeitnehmer. Es bleibt die Förderung von Teilzeitarbeit, es bleibt auch der Weg der Verkürzung der Lebensarbeitszeit; die Vorruhestandsregelung soll diesen Weg ebnen. Auch diese Form der Arbeitszeitverkürzung erhöht die Wettbewerbsfähigkeit nicht, aber sie führt zu einer Kostenbelastung, die geringer ist, die bei begrenzten Lohnsteigerungen — welche dann eben möglich bleiben, was für die Arbeitnehmer doch sehr wichtig ist — tragbar ist und die uns nicht aus dem internationalen Wettbewerb heraussprengt.Gestern hat es ja eine Anhörung zu diesem Thema gegeben. Ich möchte dazu nur eine Berner-kung machen: Auch nach dem Regierungsentwurf steht es den Tarifpartnern frei, eine bessere Regelung zu treffen, z. B. alle 58jährigen in den Tarifvertrag einzubeziehen. Die Frage ist nur, ob die dadurch entstehenden Kosten von den Arbeitgebern zu zahlen sind oder vom Steuerzahler im wesentlichen mitgezahlt werden sollen. Aber man darf, glaube ich, die Fragestellungen nicht verschieben. Es ist doch sicherlich ungewöhnlich, daß wir bei diesen Tarifverträgen die Leistungen zum ersten Male aus Steuermitteln mitfinanzieren.Meine Damen und Herren, ebenso wichtig wie die Vernunft der Tarifpartner wird die Vernunft derRegierungen und Parlamente in der Haushalts- und Finanzpolitik sein. Wir müssen unseren Konsolidierungskurs fortsetzen. Wir haben sicherlich Außergewöhnliches erreicht, aber wir sind noch lange nicht am Ziel.Erreicht haben wir, daß die neuen Schulden die Investitionen nicht mehr übersteigen, wie es jahrelang in verfassungswidriger Weise der Fall war. Unser Ziel aber muß es sein, den jährlichen Schuldenzuwachs, der für 1983 ca. 55 Milliarden DM auszumachen drohte und den wir auf 31,5 Milliarden DM zurückgefahren haben — mein Kompliment, Herr Bundesfinanzminister Gerhard Stoltenberg! —,
bis zum Jahre 1987 deutlich unter 20 Milliarden DM zu drücken.Meine Damen und Herren, das ist notwendig, um den Kapitalmarkt für die Wirtschaft freizumachen und um für den Staat ein Stück finanzielle Handlungsfähigkeit zurückzugewinnen, die doch, Herr Kollege Roth, unter der Verantwortung der von Ihnen gestellten Finanzminister verlorengegangen ist.
Meine Damen und Herren, wenn in diesem Zusammenhang mehr oder weniger gedankenlos von „Schuldenabbau" geredet wird, entspricht das nicht der Wirklichkeit. Wir haben ja noch keine einzige Mark Schulden abgebaut. Verringert haben wir nur das Tempo des Schuldenzuwachses.
Der Schuldenberg wächst also weiter, wenn auch weniger schnell. Das zeigt sich an der Zinslast, die weiter zunimmt.
1983 waren es 27 Milliarden DM allein an Zinsen, die wir für die von Ihnen gemachten Schulden zahlen mußten,
und in diesem Jahr werden es — da der Schuldenberg immer noch wächst, wenn auch nicht mehr so schnell — schon 29 Milliarden DM sein.
Was das Wachsen der Zinslast volkswirtschaftlich und finanzpolitisch bedeutet, hat die Bundesbank in ihrem Januar-Bericht 1984 beschrieben. Sie weist darauf hin, daß wachsende Zinsen in erster Linie die öffentlichen Investitionen verringern. Die Bundesbank schreibt — ich zitiere:Insoweit führen die höheren staatlichen Kreditaufnahmen zu niedrigeren Investitionen.Ich fordere den DGB auf, diese Aussage der regierungsunabhängigen Bundesbank zur Kenntnis zu nehmen und gegebenenfalls mit ihr darüber zu diskutieren. Das vom DGB geforderte 50-Milliarden-
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Dr. DreggerInvestitionsprogramm — gewissermaßen als Zugabe zur 35-Stunden-Woche — steht j a zu dieser Aussage der Deutschen Bundesbank in eklatantem Gegensatz.Meine Damen und Herren, in unserer aufgeklärten demokratischen Gesellschaft ist niemand davon befreit, seine Forderungen intellektuell redlich und einleuchtend zu begründen. Wer in seiner Argumentation wichtige Faktoren unterschlägt, verliert seine Glaubwürdigkeit. In der DGB-Rechnung fehlen die Faktoren Kosten und Schulden, obwohl gerade sie zu den entscheidenden Ursachen der Arbeitslosigkeit gehören. Steigende Schulden, machen den Staat handlungsunfähig, auch im Kampf gegen die Arbeitslosigkeit. Steigende Kosten machen Arbeitsplätze unrentabel. Wer zu hohe Schulden macht und zu hohe Kosten verursacht, erhöht die Arbeitslosigkeit und vermindert sie nicht.
Das ist übrigens nicht nur die Auffassung nahezu aller Sachverständigen, sondern auch die Auffassung der überwältigenden Mehrheit unserer Mitbürger in Deutschland, meine Damen und Herren.
So dumm sind die Leute doch gar nicht, wie sich das einige vorstellen. Ich meine, auch der Deutsche Gewerkschaftsbund kann an diesen Tatsachen nicht vorübergehen.Staatliche Ausgabendisziplin brauchen wir aber auch, um die dringend notwendige Entlastung der Lohn- und Einkommenzahler und einen verbesserten Familienlastenausgleich möglich zu machen. Diese Reform wird mit Steuerausfällen bzw. mit Mehrausgaben von mindestens 25 Milliarden DM verbunden sein. Die Tarifkorrektur bei der Lohn-und Einkommensteuer ist kein Geschenk an die Steuerzahler. Sie baut heimliche Steuererhöhungen ab, die nie beschlossen worden sind, sondern sich aus der Kombination von Geldentwertung und Steuerprogression ergeben haben. Wie unerträglich die Grenzbelastung bei der Lohn- und Einkommensteuer geworden ist, zeigt die soeben veröffentlichte Studie des Münchener Ifo-Instituts für Wirtschaftsforschung. Es ist daher kein Wunder, daß die Tarifkorrektur allgemein als notwendig anerkannt wird.Anderes gilt leider für den Familienlastenausgleich. Er wird von manchen als Marotte belächelt oder gar als leistungsfeindliche Subvention bekämpft. Ich kann diese Auffassung nur als unglaublich kurzsichtig bezeichnen. Meine Damen und Herren, ein drastischer Geburtenrückgang hat auch wirtschafts- und finanzpolitisch katastrophale Folgen,
nur nicht sofort, sondern erst in einigen Jahren und Jahrzehnten.Er führt zu einer Altersstruktur, die unser ganzes Sozialsystem funktionsunfähig macht. Professor Wolfram Engels — gewiß kein Bevölkerungs- oder Familienpolitiker, sondern ein renommierter Wirtschaftswissenschaftler — spricht in „Welt am Sonntag" vom 12. Februar 1984 vom drohenden Zusammenbruch unseres gesamten Versorgungssystems. Er schreibt — ich zitiere ihn wörtlich:Kinder sind — anders als früher — wirtschaftlich nur eine Last. Sie ist nicht gering: Ein berufstätiges Ehepaar fällt ungefähr auf ein Drittel seines Lebensstandards zurück, wenn es Kinder haben will und die Frau im Hause bleibt.Das setzt sich bis ins Rentenalter fort. Die Familie, die durch ihre Kinder zum Erhalt des Generationenvertrags beigetragen hat, erhält weniger Rente als das kinderlose Paar.Auch wer nur ökonomische Argumente gelten läßt, muß, wenn er seine Sicht nicht auf die Gegenwart verengt, zu dem Schluß kommen, daß es dringend notwendig ist, Rahmenbedingungen zu schaffen, die die Bereitschaft zum Kind fördern.Ich möchte allerdings hinzufügen: Die Bundesrepublik Deutschland ist, jedenfalls nach meinem Selbstverständnis, nicht nur ein Wirtschafts- und Sozialverein; sie ist der Kernstaat der deutschen Nation. Wir Abgeordneten haben nicht nur das Wohlbefinden unseres Volkes bis zum nächsten Wahltermin im Auge zu haben, wir haben seine Zukunft zu sichern, und das heißt doch zumindest auch, seinen Bestand.Der Wille zum Kind, insbesondere zu mehreren Kindern ist nie frei gewesen von wirtschaftlichen Erwägungen, von Ausnahmen abgesehen. Früher waren Kinder die einzig mögliche Versicherung gegen Alter und Krankheit, und so ist es heute noch in der Dritten Welt. Deswegen werden dort auch so viele Kinder geboren. Heute haben bei uns die Kinder diese Funktion für ihre Eltern verloren. Die frühere Aufgabe der Kinder ist heute kollektiviert und wird von der Sozialversicherung und vom Staat wahrgenommen.Daß Staat und Sozialversicherung zusammenbrechen, wenn es am notwendigen Nachwuchs mangelt, motiviert die Eltern nicht. Zu dieser Motivation in wirtschaftlicher Hinsicht muß daher der Staat beitragen, nicht in der Weise, daß er Kinder prämiert, aber doch, indem er Lasten und Leistungen für die Allgemeinheit durch Kinder einander annähert und die skandalösen Ungerechtigkeiten, denen sich heute Familien mit mehreren Kindern ausgesetzt sehen, zumindest verringert, die Lage also verbessert.
Eine zweite Entwicklung hat die erste verschärft. Früher suchten Frauen ganz selbstverständlich in Ehe und Familie ihren Lebenssinn. Heute haben sie eine Alternative im Beruf.
Die Entscheidung für Familie und Kinder kostet sie eigenes Einkommen und eine eigene Alterssicherung. Eine Entschädigung, die dem Verzicht auf den außerhäuslichen Beruf entspräche, gibt es auch in Ansätzen nicht. Auf diesen geradezu revolutionären gesellschaftlichen Wandel haben sich bei uns weder das Steuer- noch das Rentenrecht eingerichtet. Die
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Dr. Dreggersich daraus ergebende Reformaufgabe stellt sich uns. Es ist nicht nur eine soziale, es ist zugleich eine nationale und eine moralische Aufgabe. Alle geschichtlichen Beispiele zeigen: Der einzelne kann ohne Kinder leben, Gesellschaften aber, die das Gleichgewicht der Generationen verlieren, denen es an der Aktivität und Lebensfreude junger Menschen fehlt, sind morbide und gehen zugrunde, noch ehe sie ausgestorben sind.
Wir Christlichen Demokraten und Christlich-Sozialen sind nicht bereit, diese Situation tatenlos hinzunehmen. Wenn es unser Recht und unsere Pflicht ist, die Rahmenbedingungen für den wirtschaftlichen Aufschwung zu verbessern, dann gilt das erst recht für die Rahmenbedingungen, die den Bestand der Nation sichern.
Es ist gewiß nicht einfach, meine Damen und Herren, die Tarifkorrektur der Lohn- und Einkommensteuer, die in ihren positiven Wirkungen mehr gegenwartsbezogen ist, und die Korrektur der Rahmenbedingungen für Kinder, Mütter und Familien, die in ihren positiven Wirkungen mehr zukunftsbezogen ist, auf einen Nenner zu bringen. Diese Aufgabe verlangt die Führungskraft der Bundesregierung und die Entschlossenheit der Koalition. Wir sind bereit, dazu unseren Beitrag zu leisten. Wir wollen die Aufgabe der Tarifkorrektur — wie dringend notwendig sie ist, habe ich zuvor beschrieben — gewiß nicht vernachlässigen. Wir treten aber mit Entschiedenheit dafür ein, der Zukunftssicherung durch Kinder, Mütter und Familien den hohen Rang zuzuerkennen, der ihr gebührt.
Die Wirtschaft der Bundesrepublik Deutschland muß sich auf dem Weltmarkt behaupten, wie kaum eine zweite Volkswirtschaft. Bei uns ist etwa jeder dritte Arbeitsplatz vom Export abhängig — fast jeder dritte! In Japan ist es nur jeder sechste und in den USA nicht einmal jeder zehnte.Herausgefordert werden wir nicht nur von den anderen Industrienationen, sondern mehr und mehr auch von den Schwellen- und Entwicklungsländern. Dort werden zunehmend zu geringeren Preisen solche Produkte hergestellt, bei denen wir einmal führend auf dem Weltmarkt vertreten waren. Als exportorientierte Industrienation haben wir in Zukunft nur dann eine Chance, wenn wir die Veränderung der internationalen Arbeitsteilung akzeptieren. Wir können gar nicht anders. Das heißt, wir müssen uns stärker auf technologische Spitzenprodukte konzentrieren.Unsere Wettbewerbsfähigkeit beruht ja nicht auf billigen Arbeitskräften — Gott sei Dank — und reichlichen Rohstoff- und Energiequellen. Sie verlangt vielmehr, daß wir Erzeugnisse modernster Technologie in höchster Qualität, gefertigt in rationellsten Produktionsanlagen, pünktlich liefern und mit einem ausgezeichneten Service versehen.Die Behauptung, die neuen Technologien zerstörten bei uns Arbeitsplätze, trifft im Einzelfall zu. So war es immer. Gesamtwirtschaftlich ist das Gegenteil richtig: Auch Roboter, computergesteuerte Maschinen, Fertigungsautomaten, elektronisch gesteuerte Produktionsstraßen müssen von Menschen konstruiert, produziert, installiert und anschließend gewartet und repariert werden. Das kommt uns allerdings nur dann zugute, wenn wir die neuen Techniken hierzulande entwickeln und nicht in immer größerem Umfang aus den USA, Japan und anderen Ländern importieren müssen.Der Forschungs- und Technologiepolitik kommt in der gegenwärtigen Lage eine ganz besondere Bedeutung zu. Es gilt, wissenschaftliche Forschungsergebnisse rasch in neue Fertigungsverfahren, Produkte und Dienstleistungen umzusetzen. Hierzu ist es notwendig, Herr Kollege Roth, die in den 70er Jahren aus ideologischen Gründen gepflegten unsinnigen Berührungsängste zwischen Universitäten und Wirtschaft schnellstens auszuräumen.
Besondere Aufmerksamkeit verdienen die kleineren und mittleren Unternehmen bei der Anwendung der neuen Forschungsergebnisse — für sie natürlich eine schwierigere Aufgabe als für ein Großunternehmen. Wir begrüßen daher die Absicht der Bundesregierung, das Personalkostenzuschußprogramm fortzusetzen.Ebenso große Bedeutung messen wir der Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses zu. Die Wissenschaftlergeneration der 90er Jahre und des Anfangs des nächsten Jahrtausends, von der unsere technische und wirtschaftliche Zukunft weitgehend abhängt, muß den Entfaltungsspielraum bekommen, den sie benötigt, um Höchstleistungen zu erbringen.
Außer technischen Höchstleistungen brauchen wir für unsere wirtschaftliche Zukunft mehr haftendes Kapital. Der heute zur Beratung stehende Antrag der Koalitionsfraktionen, betreffend Förderung der Bildung von Risikokapital, hat diese Frage zum Gegenstand.In der Zeit von 1969 bis 1982 ist die Eigenkapitalquote unserer Unternehmen nach Berechnungen der Deutschen Bundesbank von 28 % auf 18,5% gesunken. Zum Vergleich: In den USA beispielsweise beträgt die Eigenkapitalquote beinahe 60 %; selbst in Großbritannien liegt sie noch bei ca. 50 %. Die Eigenkapitallücke unserer Unternehmen macht sie krisenempfindlicher, macht sie zinsempfindlicher und erschwert ihnen die Umstellung auf neue Produkte und Verfahren. Das ist um so schwerwiegender, als der Umstellungs- und Erneuerungsbedarf auf Grund der Investitionslücke der 70er Jahre groß ist.In der Vergangenheit bestand Strukturpolitik zu sehr in der Konservierung nicht mehr wettbewerbsfähiger Wirtschaftsbereiche. Mit immer höheren Subventionen wurden Unternehmen ohne Zukunft künstlich am Leben erhalten, wurden Arbeitsplätze auf Zeit „gerettet", wurde Kapital fehlgeleitet. Wenn die Arbeitskosten im Schiffsbau pro Stunde in Kiel
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Dr. Dreggerrund 70 DM, in Korea dagegen 25 DM betragen, dann kann das durch Subventionen nicht ausgeglichen werden, sondern allenfalls durch Spezialisierung und Innovation.In der Stahlindustrie ist es der Subventionswettbewerb unserer EG-Partner, der zu marktwidrigen Verhältnissen geführt hat, zu Lasten unserer Stahlunternehmen, die technisch auf einem hervorragenden Stand sind. Nach Ablauf der jetzigen Regelung 1985 muß damit Schluß sein. Aber auch dann wird sich zeigen, daß die Kapazitäten überhöht sind, auch bei uns. Es hat keinen Sinn, Kapazitäten am Leben zu erhalten, die nicht mehr benötigt werden.Auch in der Agrarpolitik der EG muß sich die Produktion am Bedarf orientieren. Es ist der Sinn der Garantiepreise, unsere bäuerliche Agrarstruktur zu erhalten, nicht aber, Agrarfabriken zu subventionieren. Unsere amerikanischen Handelspartner müssen das begreifen, auch wenn das ihre Futtermittelexporte in die EG vermindert. Bodenqualität, Klima und Agrarstruktur Europas unterscheiden sich so eklatant von den Verhältnissen in Nordamerika, daß ohne den Schutz des EG-Agrarmarkts Europa die eigene Ernährungsgrundlage verlieren würde. Daß das nicht in Frage kommen kann, sollte jedem klar sein.
Im Bergbau haben wir uns entschlossen, bestimmte Förderkapazitäten zu erhalten, aus der Erwägung heraus
— Herr Wolfram, hören Sie einmal zu; vielleicht stimmen Sie mir sogar zu —, man dürfe sich wie in der menschlichen Ernährung so auch in der Energieversorgung vom Ausland nicht völlig abhängig machen. Das ist sicherlich richtig.
Um so mehr sollten wir uns darum bemühen, in der Kohletechnologie — z. B. Kohlevergasung und Kohleverflüssigung — Fortschritte zu machen.
Das ist zwar kostspielig, aber es wird einen Schub von technologischen Impulsen für viele Zulieferbereiche bringen. Moderne Kohletechnologie wird — das ist die Meinung vieler Experten — Anfang der 90er Jahre in der Welt gefragt sein.
Aber für alle Wirtschaftsbereiche gilt folgendes. Ein neuer Arbeitsplatz kostet rund 100 000 DM. Eine solche Investition muß sich lohnen. Wenn die Rechnung nicht aufgeht, wird das Geld nicht in Produktivvermögen, sondern in Geldvermögen angelegt. Wir brauchen aber nicht mehr Rentiers, sondern mehr Unternehmer, die neue, rentable Arbeitsplätze schaffen. Deshalb sollten wir deutlich ja sagen, Herr Roth, zum Ertrag in der Wirtschaft und ihn nicht als Profit verteufeln.
Die letzten Jahre haben doch deutlich gezeigt: Nur ertragsstarke Firmen sind gute Arbeitgeber. Dort, wo rote Zahlen geschrieben werden, wackeln die Arbeitsplätze. Nur ertragsstarke Unternehmen können neue Wagnisse eingehen, forschen und entwickeln, neue Produkte auf den Markt bringen, investieren und neue Leute einstellen.Das von uns verabschiedete Gesetz über Vermögensbildung und Arbeitnehmerhand ist ein Markstein, den zu setzen die Sozialdemokraten in ihrer 13jährigen Regierungszeit nicht imstande gewesen sind.
Die Aufstockung der Arbeitnehmerzulage auf 936 DM wird nur für die Anlage in Kapitalbeteiligungen gewährt. Erste Informationen über das seit dem 1. Januar 1984 geltende Gesetz lassen vermuten, daß es ein großer Erfolg werden wird. Die bei verschiedenen Investmentgesellschaften vorliegenden Anträge sprechen dafür.Drittens. Außer dem technischen Fortschritt und mehr haftendem Kapital brauchen wir weniger enge und weniger starre Grenzen im Rechts- und Verwaltungsbereich. Die Bundesregierung hat gestern erste Beschlüsse zur Entbürokratisierung gefaßt. Es ist erfreulich, daß alle Minister den Auftrag haben, in ihren Ressorts nach Wegen zu suchen, diese Aufgabe mit Erfolg zu lösen. Es handelt sich ja um eine riesige Aufgabe. Sie kann nur gelöst werden, wenn radikal umgedacht wird.Es ist nicht die Aufgabe des Gesetz- und Verordnungsgebers, alles bis ins letzte zu regeln. Die Bürger brauchen Entfaltungsspielraum, sonst stagniert das Leben. Die Verwaltung braucht Ermessensspielraum; sonst können im öffentlichen Bereich weder praktische Vernunft noch Einzelfallgerechtigkeit zum Zug kommen. Es lassen sich nicht alle Fälle vorausdenken und in Normen einfassen, die dann im Weg der Subsumtion zu einer vernünftigen Entscheidung führen können. Entfaltungsspielraum für den Bürger und Ermessensspielraum für die Verwaltung also!Entbürokratisierung heißt daher in nicht geringem Maß: entnormieren und, wenn es nach mir ginge, auch entjustifizieren. Ich fordere die Bundesregierung auf, bei ihren Vorschlägen nicht ängstlich zu sein. Bremsen können wir immer noch. Wäre das Vorschriftennetz schon in den 50er und 60er Jahren so eng wie jetzt gewesen: das Wirtschaftswunder hätte in Deutschland nie stattgefunden.
Von der Opposition werden zu diesen drängenden Fragen Rezepte angeboten, die schon im 19. Jahrhundert überholt waren.
Von den Forderungen der Arbeitsgemeinschaft derSPD für Arbeitnehmerfragen war schon die Rede:Vergesellschaftung von Schlüsselindustrien und
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Dr. Dreggervon Unternehmen mit marktbeherrschender Stellung. Die Stahlindustrie soll — danach jedenfalls — in Gemeineigentum überführt werden — was immer das sein mag; wahrscheinlich eine Subventionsgarantie auf Dauer auf Kosten der Allgemeinheit.Herr Ehrenberg — und wohl nicht er allein, sondern auch andere — fordert Kapitalverkehrskontrollen,
wirklich das Letzte, was die Bundesrepublik Deutschland als eine der größten Handelsnationen der Erde gebrauchen kann. Was Beschränkungen im Devisenverkehr bedeuten, Herr Kollege Roth, kann jederzeit in unserem europäischen Nachbarland Frankreich studiert werden.
Natürlich fordert die SPD auch die 35-StundenWoche mit Lohnausgleich. Daß Sie sich damit in Widerspruch zur Einsicht der meisten Arbeitnehmer wie nahezu aller Sachverständiger setzen, scheint Sie nicht zu stören. Der Präsident der Bundesbank, Herr Dr. Pöhl, hat die Vorstellung, mit großen Arbeitszeitverkürzungen die Arbeitslosigkeit bekämpfen zu können, als „provinziell" bezeichnet, provinziell, weil sie, so Pöhl, unsere Abhängigkeit vom internationalen Wettbewerb übersieht.
Herr Abgeordneter Dr. Dregger, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Dr. Ehrenberg?
Ja. Vizepräsident Stücklen: Bitte sehr.
Herr Kollege Dregger, würden Sie bitte zur Kenntnis nehmen, daß ich nicht Kapitalverkehrskontrollen gefordert habe, sondern gebeten habe, für den Fall, daß es nicht gelingt, die amerikanische Regierung zu einer besseren Zinspolitik zu bewegen, eine gemeinschaftliche Belastung von Kapitalexporten — ich betone: gemeinschaftliche Belastung, d. h. europäische Belastung — in Erwägung zu ziehen? Ich hoffe, Sie akzeptieren den Unterschied.
Herr Kollege Ehrenberg, das würde die Sache nicht verbessern, sondern eher noch verschlimmern.
Im übrigen nehmen Sie bitte zur Kenntnis, daß der Zinsunterschied zwischen Amerika und uns 3,5 % beträgt, d. h. daß das Zinsniveau bei uns nahezu 40 % niedriger liegt als in den USA. Das zeigt, daß eine marktwirtschaftliche Politik, wie wir sie betreiben, diese Kapitalverkehrskontrollen oder -auflagen auf jeden Fall überflüssig macht und es unserer Wirtschaft erlaubt, ihre Rolle als zweitgrößte oder größte Welthandelsnation aufrechtzuerhalten.
Gestatten Sie noch eine Ergänzungsfrage? — Bitte.
Haben Sie bei Ihrer Erwiderung bedacht, daß wir 10 Milliarden DM Kapital mehr exportiert haben, als wir selber ausländische Anlagen hier haben?
Sie müssen sich einmal überlegen, woran das liegen könnte.
In der Tat war der Kapitalexport im vergangenen Jahr hoch, so daß wir zwar einen Überschuß in der Handelsbilanz hatten, aber ein Minus in der Zahlungsbilanz.
— Herr Roth, natürlich gibt es Kapital, das abgezogen wird,
wenn man den Eindruck hat, daß man in Amerika höhere Zinsen bekommen kann als hier. Aber entscheidend ist doch nicht ein Jahresergebnis, sondern entscheidend ist die Grundtendenz. Die Tatsache, daß wir den zweitgrößten Exportüberschuß der Nachkriegszeit gehabt haben und daß wir in der Leistungsbilanz nicht mehr im Minus stehen, zeigt, daß wir auf den internationalen Märkten, auf den Finanzmärkten eine Position zurückerobert haben, die alle Ihre Gedanken zumindest als überflüssig erscheinen läßt, lieber Herr Kollege Ehrenberg, um sie nicht schlimmer zu qualifizieren.
Meine Damen und Herren, auch wir machen — das möchte ich einräumen — natürlich nicht alles richtig. Aber wir haben die richtige Philosophie.
— Es ist in der Wirtschaftspolitik ganz wichtig, von welcher Philosophie man ausgeht. Sie haben nämlich keine; das ist das Schlimme!
Sie schwanken zwischen Sozialismus und Marktwirtschaft. Beides läßt sich nicht auf einen gemeinsamen Nenner bringen, meine Damen und Herren.
Unsere Philosophie ist die der Sozialen Marktwirtschaft — die größte konzeptionelle Errungenschaft der Nachkriegszeit, nicht nur in unserem Lande. Mit dieser Philosophie haben wir Deutschland aus den Trümmern des Zweiten Weltkriegs sehr bald an die Spitze der Weltrangliste geführt.
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3962 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 56. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Februar 1984
Dr. DreggerErst als in den 70er Jahren die Prinzipien der Marktwirtschaft vernachlässigt wurden, erlitten wir mehr und mehr Schiffbruch. Überall dort, wo die Politik sich klüger dünkte als der Markt, haben wir heute die größten Probleme.
— Wir sind noch nicht anderthalb Jahre in der Regierung. Wir haben in dieser Zeit Ungeheures erreicht.
Wir wollen so schnell wie möglich überall, wo es geht, zur Marktwirtschaft zurückkehren.
Der große amerikanische Präsident Abraham Lincoln hat zwar nicht die Prinzipien der Sozialen Marktwirtschaft konzipiert, aber er hat bereits vor über 100 Jahren einige Grundwahrheiten ausgesprochen, die auch heute noch gültig sind. Ich möchte sie hier zitieren. Er sagte:Man kann keinen Wohlstand schaffen, wenn man die Wirtschaft entmutigt. Man kann dem Lohnempfänger nicht helfen, wenn man auf den einschlägt, der die Löhne zahlt. Man kann nicht das Gemeinschaftsgefühl der Menschen fördern, indem man Klassenhaß sät. Man bekommt Schwierigkeiten, wenn man mehr ausgibt, als man verdient.— Merken Sie sich das mal sehr gut, Herr Ehrenberg! Das war bei Ihnen doch der Fall. —
Man kann keinen Charakter und keinen Mut fördern, wenn man den Menschen die Initiative nimmt. Man kann den Menschen nicht wirklich auf Dauer helfen, wenn man das für sie zu tun versucht, was sie viel besser selbst für sich tun können.Wenn wir, meine Damen und Herren, diese Grundwahrheiten und die Prinzipien der Sozialen Marktwirtschaft beachten, werden wir die Probleme, die Sie uns hinterlassen haben und die uns jetzt bedrängen, nicht weniger erfolgreich lösen als die viel schwereren Probleme, vor denen wir in der ersten Nachkriegszeit standen.
Wir, Regierung und Koalition, sind entschlossen, den Weg fortzusetzen, den wir am 1. Oktober 1982 mit so großem Erfolg begonnen haben. Unser Volk hat Anlaß, mit Optimismus der Zukunft entgegenzugehen.
Das Wort hat der Herr Minister für Wirtschaft, Mittelstand und Verkehr des Landes Nordrhein-Westfalen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Den Grundwahrheiten des Abraham Lincoln kann ich uneingeschränkt zustimmen. Es handelt sich aber, wenn man von der Wirtschaftspolitik des Jahres 1984 spricht, nicht um philosophische Fragen, sondern ganz handfest um Fragen der Politik, der Interessen und der Abwägung zwischen diesen Interessen.
Die Debatte über den Jahreswirtschaftsbericht hat traditionsgemäß einen hohen Stellenwert. Zu Recht; denn mit dem Jahreswirtschaftsbericht stellt die Bundesregierung schließlich die wirtschaftspolitischen Weichen für das nächste Jahr. Mit der öffentlichen Darlegung und Diskussion soll der Wirtschaft schlechthin ein nationaler Orientierungsrahmen für den Entscheidungsprozeß an die Hand gegeben werden. Gerade in Zeiten weltwirtschaftlicher Verflechtungen sind die Unternehmen mehr denn je auf diese Orientierungshilfe angewiesen. Um so schlimmer ist es, daß die Bundesregierung diese Hilfestellung in diesem Jahr erstmals praktisch verweigert.
Ich möchte einige jener Defizite ansprechen, die sich mit dem Stichwort der industriepolitischen und der beschäftigungspolitischen Verweigerung nur unzureichend kennzeichnen lassen; denn auch das Verweigern politischer Entscheidungen ist Politik, zeigt seine Wirkungen, unterstützt aktuelle Entwicklungen und führt dazu, die schleichende und für den Arbeitsmarkt auf die Dauer katastrophale Entindustrialisierung unserer Republik fortzusetzen. Wirtschaftspolitik, Herr Bundeswirtschaftsminister, kann man eben nicht durch Aussitzen ersetzen.
Hier bekommt das Aussitzen eine neue gestaltende und damit geradezu aktivistische Qualität; eine rhetorische Dimension, die wir ja heute morgen wieder einmal erlebt haben.
Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Wissmann?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich möchte erst in meinen Gedanken etwas weiter fortgeschritten sein. Sonst würde ich allzu leicht in meinem Konzept gestört werden. Herr Kollege Wissmann, ich gehe nachher, wenn ich zu den Einzelheiten komme, gerne auf jede einzelne Frage ein.
Ein solches Aussitzen verschließt sich der für einen verantwortlichen Entscheidungsprozeß gebotenen ökonomischen Rationalität und wirkt sich nicht zum Vorteil für die Entwicklung unseres Landes aus. Ich gehe davon aus, daß zumindest der Bundesminister für Wirtschaft das weiß. Da er dagegen nichts unternimmt, muß ich die aktuellen Entwick-
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 56. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Februar 1984 3963
Minister Dr. Jochimsen
Lungen für die nicht ausdrücklich ausgesprochenen Absichten nehmen.Gott sei Dank haben wir seit dem zweiten Halbjahr 1983 eine positive konjunkturelle Entwicklung zu verzeichnen. Wir begrüßen das; lassen sich die schwerwiegenden Aufgaben des notwendigen strukturellen Wandels doch um so leichter lösen, je besser das wirtschaftliche Umfeld ist. Aber wie sieht dieses Umfeld wirklich aus? Ist es wirklich so stabil, wie die Bundesregierung das mit ihrem konjunkturpolitischen Optimismus unterstellt? Immerhin verzichtet sie ja darauf, diesen Aufwärtstrend mit konjunkturellen, strukturellen und beschäftigungspolitischen Maßnahmen begleitend abzustützen.Ich gebe Ihnen recht: Das beste Beschäftigungsprogramm ist ein blühender Wirtschaftskreislauf, nach Möglichkeit mit eindrucksvollen Wachstumsraten. Es wäre in der Tat schön, könnten wir wirklich nach den mageren Jahren der Weltwirtschaft und dem damit verbundenen dramatischen Anstieg der Arbeitslosigkeit — weltweit — auf die Wiederkehr von sieben fetten Jahren hoffen, in denen das Sozialprodukt beständig um real mindestens 21/2 % wachsen müßte, um ab 1990 endlich wieder eine befriedigende Beschäftigungslage zu erreichen. Genau darauf laufen ja die Annahmen der Bundesregierung im Jahreswirtschaftsbericht hinaus.Ganz abgesehen davon, daß es auch im biblischen Ägypten eines Entscheidungsträgers bedurfte: Das unterstellt sichere Zyklen im Wirtschaftsablauf, die angesichts der weiterhin labilen Wirtschaftslage weder angenommen noch verantwortet werden können.
Die beschäftigungspolitische Dimension — Vollbeschäftigung erst wieder 1990; die Debatte über die Arbeitszeitverkürzung hier heute morgen hat j a ergeben, daß Sie dies in Kauf nehmen wollen — kommt noch verschärfend hinzu.Träger der konjunkturellen Belebung des letzten Jahres, meine Damen und Herren, waren — neben der Investitionszulage der Regierung Schmidt und dem — man muß es sagen — keynesianischen Nachfrageprogramm der USA — im wesentlichen zwei Binnenfaktoren: Einer davon ist die Ersatzbeschaffung langlebiger Konsumgüter, beispielsweise im Fahrzeugbereich. Angesichts seit Jahren gesunkener Realeinkommen wurden Autos länger gefahren, so lange gar, bis die Ersatzbeschaffung unumgänglich wurde. Finanziert haben die Bürger dies im wesentlichen durch den Zugriff aufs Sparbuch oder durch Kreditaufnahme — ein Vorgang, der nicht dauernd laufen kann.
Im Investitionsverhalten konstatieren wir das zaghafte Nachholen eines um Jahre verschleppten Modernisierungsprozesses.
Hier könnte ich mir sehr wohl eine sinnvolle Unterstützung durch den Bund vorstellen. Wenn wir dieModernisierung unserer Wirtschaft nicht wirklich beschleunigen und ausweiten, dann steht mittelfristig in der Tat die Wettbewerbsfähigkeit unserer Unternehmen auf dem Weltmarkt auf dem Spiel. Da wurde doch, meine Damen und Herren von der Regierungskoalition, im Poker um bessere Rahmenbedingungen zwischen Wirtschaft und Regierung schon viel zuviel Zeit vergeudet: erst im Warten auf den Regierungswechsel im Herbst 1982, dann im Warten auf die Bundestagswahl, dann im Warten auf die wirtschaftliche Wende im Herbst vorigen Jahres und jetzt erneut im Warten auf das Abschließen des Entscheidungsprozesses über die Steuermaßnahmen, die Sie treffen wollen, dies pikanterweise mit einer steigenden Steuerabgabequote im Jahre 1983, wie die Veröffentlichungen der letzten Tage ausgewiesen haben.
Das Gewinnen der Zukunft gelingt doch nicht allein mit den wenigen High-Tech-Unternehmen der sogenannten Zukunftstechnologien, die zweifellos dazugehören, auch wenn sie sich scheinbar trefflich eignen, beschäftigungspolitische Zukunftsvisionen in die Landschaft zu werfen. Die Bundesrepublik Deutschland — und das ist ihre Chance — verfügt über eine breite, international gefragte Angebotspalette, der sie ihre bisherige weltwirtschaftliche Spitzenstellung verdankt. Nur: damit wir diese Position bewahren, müssen wir auch unsere Produktpalette und unsere Produktionsverfahren weiter modernisieren. Wir müssen die neuen Technologien in der ganzen Breite und Tiefe unserer großartigen Industriestruktur einführen.Dazu muß der Staat aber Flankierung geben, dazu gehören auch staatliche Hilfen. Ich möchte Ihnen hier an zwei aktuellen Beispielen zeigen, wo die Bundesregierung bei der Verbesserung der Rahmenbedingungen, gerade für die kleinen und mittleren Unternehmen, die erforderlichen Entscheidungen nicht trifft.Wir alle wissen, daß mittelständische Unternehmen eine Pilotfunktion im Aufspüren von Innovationen und damit von Märkten von morgen haben. Aber wie sollen sie denn diese Aufgabe erfüllen, wenn sie in wichtigen Technologiebereichen bei einer derartigen Betätigung um ihre Existenz fürchten müssen? So ist das nämlich, wenn z. B. dynamische, technologieorientierte Unternehmen moderne Telefontechniken anbieten oder wenn sie die moderne Informationsverarbeitungstechnik mit der Elektrotechnik verbinden wollen, etwa um das LastManagement im Elektrizitätswerk zu verbessern. In diesen wichtigen Technologiebereichen haben wir nur zugeteilte Märkte. Wir brauchen aber den Wettbewerb im eigenen Land, um auf den Weltmärkten verkaufbare Produkte vorweisen zu können. Außerdem brauchen wir den Wettbewerb, damit die Leistungsfähigkeit dieser volkswirtschaftlich unverzichtbaren Infrastruktursysteme möglichst groß ist. Denn von dieser Leistungsfähigkeit hängt die Leistungsfähigkeit unserer hocharbeitsteiligen Volkswirtschaft insgesamt entscheidend ab.
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3964 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 56. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Februar 1984
Minister Dr. Jochimsen
Meine Damen und Herren, die ordnungspolitischen Rahmenbedingungen dafür, wieweit der Suchprozeß des Marktes dabei gehen kann und soll, setzt aber die Bundesregierung — und nur die Bundesregierung. Gewiß stellen Telefon- und Stromnetz natürliche Monopolstrukturen dar, so daß nur ein eingeschränkter Wettbewerb möglich ist. Aber es wäre doch weit mehr Wettbewerb möglich, als er jetzt besteht. Deswegen halte ich es geradezu für irreführend, wenn die Bundesregierung permanent auf die Suchfunktion des Marktes verweist, obwohl sie doch genau wissen muß, daß ihre eigene Untätigkeit die eigentliche Innovationschance auf diesem wichtigen Technologiebereich nicht bietet.
Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Wissmann? — Bitte.
Herr Minister, Sie tragen hier mit Nachdruck Ihre Meinungen als nordrheinwestfälischer Wirtschaftsminister vor. Da wird doch viele Mitglieder des Hauses und auch Bürger, die uns zugehören, die Frage interessieren, wie es eigentlich kommt, daß — neben den historischen und strukturellen Ursachen, die wir alle kennen — unter der Verantwortung auch Ihrer Regierung eine Entwicklung eingetreten ist, die Nordrhein-Westfalen immer mehr vom Wachstumsprozeß im Bundesgebiet abhängt, während gleichzeitig — nach Aussagen beispielsweise der „Süddeutschen Zeitung"
— die beiden süddeutschen Bundesländer Baden-Württemberg und Bayern an Wachstumsdynamik immer mehr zunehmen — die „Süddeutsche Zeitung" spricht von einem Nord-Süd-Gefälle, das immer drastischer wird. Glauben Sie nicht, daß Sie sich, wenn Sie der Bundesregierung Vorhaltungen machen, auch die Frage stellen müssen, welchen Beitrag Sie selbst zu diesem Nord-Süd-Gefälle geleistet haben?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Aber selbstverständlich, Herr Kollege Wissmann, kann ich Ihnen dazu eine Antwort geben, und selbstverständlich kann man das in dieser Debatte auch erörtern. Aber wir reden über den Jahreswirtschaftsbericht der Bundesregierung und über das, was hier an Politik aufgeschrieben ist.
Und das betrifft die Zukunft. Ich will Ihnen sagen: Ganz ohne Zweifel hat die Bundesrepublik auf der Grundlage eines rasant steigenden D-Mark-Kurses gegenüber dem Dollar und einer Fehleinschätzung nach dem ersten Ölpreisschock, was das Stichwort Renaissance der Kohle und was die fehlende Mengenanpassung beim Stahl angeht, gedacht, sie hätte eine garantierte Exportchance, auch in weiten Bereichen der Investitionsgüterindustrie, die dann aber in Gefolge des steigenden Dollar-Kurses in den 70er Jahren verlorengegangen ist. Hier gibt es— das gebe ich offen zu — eine Menge Dinge, die auch von uns nicht richtig eingeschätzt wordensind. Aber wir sind ja dabei, dies zu verändern. Ich erläutere Ihnen hierzu unsere Politik.
— Nein, ich kann nicht hinnehmen, Herr Gerstein, daß man sagt, viel zu spät. Wir sind darauf angewiesen, daß wir als Land, als Herzstück dieser Republik, durch die Bundesregierung unterstützt werden
und daß wir dazu — darüber wollte ich sprechen — die entscheidende Unterstützung in industriepolitischer, technologiepolitischer Hinsicht bekommen, ganz abgesehen von der Frage, wo Schlüsselindustrien angesiedelt werden und wie dies alles von der Bundesregierung betrieben wird.
Dazu gehören z. B. das Stichwort Kohleveredelungsanlagen und viele andere Stichworte mehr.Ich möchte aber in meiner Auseinandersetzung hier auf die grundsätzliche, dahinterliegende — ich will einmal das Wort von Herrn Dregger aufgreifen— philosophische Seite eingehen. Denn ich bin darüber irritiert, muß ich sagen, daß die Bundesregierung unter Bezug auf die Soziale Marktwirtschaft— die wir übereinstimmend bejahen — jetzt praktisch den Rückzug des Staates aus der aktiven Wirtschaftspolitik jenseits bestimmter Rahmenbedingungen, die auch Sie für nötig halten, propagiert und daß dabei die Frage der vorausschauenden Strukturpolitik und die Fragen der Industriepolitik ganz entschieden zu kurz kommen.Ich habe eben schon gesagt, ich möchte darauf jetzt im Rahmen der konjunkturpolitischen Einschätzung noch einen Moment eingehen, weil das für die strukturpolitische Entwicklung von ausschlaggebender Bedeutung ist. Wir haben festzuhalten, daß gegenwärtig in der Bundesregierung der Streit darüber tobt, welche Technologiepolitik nun das Gütesiegel der Marktwirtschaft bekommen kann und welche es bekommen darf. Wir sind dringend daran interessiert, daß dieser Streit endlich aufgelöst wird. Denn es kann doch nicht wahr sein, daß die Förderung der kleinen und mittleren Unternehmen — über ein Thema habe ich hierzu eben schon gesprochen — allein durch indirekte Forschungsförderung zustande kommen kann, wie sie immer wieder von Ihrer Seite vorgeschlagen wird, während auf der anderen Seite Ministerpräsident Späth — ich stimme ihm insoweit in Teilen durchaus zu — mit großem Nachdruck einer aktiven Handlungsstrategie des Staates das Wort redet. Dieser Streit ist kein akademischer Streit, sondern er ist eine ganz wichtige Auseinandersetzung darüber, wie wir eigentlich die industriepolitische Zukunft unseres Landes sehen und flankierend begleiten.Daß die „Frankfurter Allgemeine Zeitung" nicht müde wird, das jeden Tag als Irrweg auszumachen, macht eigentlich eher deutlich, wie wichtig es ist, daß die Bundesregierung hier endlich eine Orientierung gibt. Ich habe bei Graf Lambsdorff nichts anderes herausgehört, als daß es nicht eine Aufgabe
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 56. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Februar 1984 3965
Minister Dr. Jochimsen
des Staates ist, hier in irgendeiner Weise beizutragen. Statt dessen wird das Gerede von Eliteuniversitäten in die Welt gesetzt, die hier gewissermaßen auf privater Basis die Antwort auf solche Fragen geben können sollen.Was die konjunkturpolitische Entwicklung angeht, meine Damen und Herren, bin ich in tiefer Sorge darüber, daß wir nicht davon ausgehen können — der Jahreswirtschaftsbericht schweigt sich darüber aus —, daß die weltwirtschaftliche Nachfrage stabil weiter nach oben gehen wird. Denn in den Vereinigten Staaten selber hat jetzt schon das Federal Reserve System eindeutig angekündigt, daß es seine Politik darauf einrichten wird, daß das Defizit nicht in dieser Größenordnung wird bleiben können. Dieses Defizit in der Leistungsbilanz der Amerikaner, dieses Defizit im Budget Amerikas hat die Weltwirtschaft in den letzten Monaten weithin, so komisch es klingt, stabilisiert. Hätten wir dieses nicht gehabt, wären im weltwirtschaftlichen Kreislauf ganz wesentliche Dinge ausgefallen. Deshalb, Herr Bundeswirtschaftsminister, kann ich Ihnen zwar zustimmen, daß wir dafür sorgen sollten, daß die Zinsen gesenkt werden — das wäre die Beseitigung einer wichtigen Investitionsbremse —, aber auf der anderen Seite kann ich nicht der Meinung folgen, daß die Aufgaben schon gelöst werden, wenn man eine Lokomotive durch eine Nicht-Politik ablöst. Ich halte das europapolitisch für eine ganz zentrale Aufgabe. So kann man etwa bei dem 45 %igen Anstieg bei den Warenexporten in die USA, den die Bundesrepublik im letzten Jahr gehabt hat, nicht von einer Stabilität auf Dauer, zumindest nicht für den Rest der 80er Jahre, ausgehen. Ich mahne hier an — im Jahreswirtschaftsbericht findet sich dazu leider kein Wort —, daß hier die Bundesregierung gefordert ist, im europäischen Konzert für einen Beschäftigungs- und Solidarpakt in Europa einzutreten, nicht indem man hier Amerika zu ersetzen versucht, aber indem man über die Abstinenz der Konjunkturpolitik hinaus die Weichen dafür stellt, daß die Verschuldungsprobleme der Dritten Welt, daß die Fragen, die mit der Liberalisierung des Welthandels zu tun haben — ich stimme Ihnen da zu, was die GATT-Runde angeht —, in der Tat nur dann nach vorn aufgelöst werden können, wenn auch auf der Nachfrageseite bestimmte stabilisierende Faktoren da sind.
Mehr oder weniger Markt bzw. mehr oder weniger Staat im Sinne einer Rückbesinnung allein auf marktwirtschaftliche Prinzipien stellt also eine unzulässige Verkürzung dessen dar, was der Staat hier leisten kann und was er leisten muß. Dies wird in Nordrhein-Westfalen besonders deutlich. Lassen Sie mich deshalb noch ein Wort zu seinen Problemen hier sagen und dankbar begrüßen, daß der Bundeskanzler dem Land die Zusammenarbeit auch bei der Lösung der Kohle- und Stahlprobleme angeboten hat. Hier ist dringender Handlungsbedarf allemal vorhanden. Zwar sind wir bei den öffentlichen Hilfen an die Stahlindustrie in der Vorbereitung ein Stück weitergekommen, doch von einer zukunftsweisenden gemeinsamen Stahlpolitik kann nicht die Rede sein. Es kann doch nicht einfach darum gehen, die Stahlindustrie insgesamt für unzweifelhaft erlittene Unbill — ich meine die Subventionspraxis der anderen — zu entschädigen. Zweck der öffentlichen Hilfe muß doch die dauerhafte Absicherung der verbleibenden Arbeitsplätze, die grundlegende Modernisierung unserer Stahlindustrie für die 90er Jahre sein. Geringere Mengen, aber höhere Qualität muß hier die Devise sein, und die Konkurrenz hat da in den letzten Jahren nicht geschlafen.Ich befürchte übrigens, daß die Bundesregierung versucht sein könnte, sich aus ihrer sektoralpolitischen Verantwortung herauszustehlen, wenn die Entscheidungen über die Hilfen gefallen sind. Das kann nicht — das hat der Kollege Roth mit Bezug auf ARBED deutlich gemacht — der Fall sei. Ich kann auch die Verweigerung des Bundes bei der Verbürgung von Modernisierungskrediten durch die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl, die sie zu ausgesprochen günstigen Konditionen anbietet, überhaupt nicht nachvollziehen.
Hier zahlen alle Stahlunternehmen über die Montan-Umlage die Kosten für die Beschaffung dieser Kapitalmarktmittel mit. Alle europäischen Stahlunternehmen nehmen sie in Anspruch, nur die deutschen bekommen sie nicht, denn die Bundesregierung verweigert die dazu notwendigen Flankierungen.Ähnlich ist die Situation bei der Kohle. Da wird im Jahreswirtschaftsbericht das Ergebnis der letzten Kohlerunde dargestellt und mit keiner Silbe auf die vor uns liegenden schwierigen Probleme der Perspektivsicherung für die Kohle eingegangen.
Die Kohlerunde war, was die soziale Begleitung des beschlossenen Kapazitätsabbaus betrifft — Herr Kollege Dregger, ich stimme Ihnen darin zu —, durchaus ein Erfolg. Ich bin froh, daß dies zustande gekommen ist.
Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Graf Lambsdorff? — Bitte sehr.
Herr Minister Jochimsen, darf ich Sie, nachdem Sie ja einige kritische Anmerkungen gemacht haben und ich bei früherer Gelegenheit schlechte Erfahrungen gemacht habe — aber nicht mit Ihnen —, fragen, ob Sie die Absicht und die Freundlichkeit haben, dieser Debatte bis zum Ende beizuwohnen, oder ob Sie die Absicht haben, zu verschwinden.
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Ja, ich werde anwesend sein.
Graf Lambsdorff, ich bedanke mich. Es ist mir einmal in einer Aktuellen Stunde, als ich dachte, sie sei schon zu Ende gewesen, passiert, daß ich den Schluß der Debatte nicht erlebt habe. Ich werde hier heute nachmittag aber selbstverständlich da-
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3966 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 56. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Februar 1984
Minister Dr. Jochimsen
sein und mich auch noch einmal zu Wort melden, wenn das erforderlich sein sollte.
Ich möchte zur Situation im Bereich der Kohle folgendes ausführen. Über den 1988 auslaufenden Hüttenvertrag ist noch mit keiner Silbe gesprochen worden. Im Gegenteil! Graf Lambsdorff, Sie haben in der Kohlerunde gesagt: Über den Hüttenvertrag können wir jetzt nicht reden. — Inzwischen haben die Stahlunternehmen und die Bergbauunternehmen die Kündigungsfrist für den Hüttenvertrag im Handumdrehen — das ist der Öffentlichkeit gar nicht bekannt — um ein Jahr verkürzt. Das kann man einmal machen. Ein solcher Vertagungstrick kann aber nicht dauerhaft sein. Die Verhandlungen mit der Stahlindustrie über die Zukunft dieses Vertragswerkes, das ja einen ganz wichtigen Absatzbereich, zentral auch für die Stahlindustrie, sicherstellt, müssen jetzt aufgenommen werden, denn noch ist die Stahlindustrie in ihrer vollen Eigentümerverantwortung, z. B. für die Ruhrkohle. Oder wollen Sie, Herr Bundeswirtschaftsminister, erst den Eigentümerwechsel vom Stahl weg vollzogen wissen, um dann unter Verweis auf die eigentümlichen Wege der Marktwirtschaft die plötzliche Verantwortungsfreiheit des Stahls gegenüber der Kohle registrieren zu müssen? Dann wären Verhandlungen über die Verlängerung des Hüttenvertrages als eines vollen Bedarfsdeckungsvertrages ja bereits präjudiziert. Der Bund muß seine Verantwortung hier jetzt wahrnehmen. Sonst programmieren wir jetzt, hier und heute den nächsten großen Kapazitätseinschnitt und Beschäftigungseinbruch im deutschen Steinkohlenbergbau.
Wenn Sie dies wollen, so sollten Sie dies jetzt und hier offen sagen. Es wäre unverantwortlich — lassen Sie mich das als meine Meinung beifügen —, wenn wir jetzt in diesen Jahren den dritten Ölpreisschock programmieren. Wenn die Weltwirtschaft in der Tat, wie wir alle hoffen, wieder in voller Blüte stehen wird, wird beim Ölpreis ja erneut zugeschlagen werden, weil wir nicht genügend Konsequenzen aus den zwei Ölpreisschocks, die wir gehabt haben, gezogen haben. Insofern stellt sich in der Tat die Frage, ob wir jetzt die nationale Versorgungssicherheit so leichthin beiseiteschieben können.Das gilt auch im Hinblick auf die Wiedergewinnung des Wärmemarktes für die Kohle. Die Bundesregierung hat die Unterstützung für industrielle Wärmeerzeugungsanlagen ja verweigert.
Dasselbe gilt auch für die notwendige Umrüstung der Großfeuerungsanlagen. Sie lassen es zu, daß wir eine schwierige Diskussion im Lande über die Frage der Richtwerte und die Änderung der Großfeuerungsanlagen-Verordnung führen. Wir halten es für notwendig, an der GroßfeuerungsanlagenVerordnung festzuhalten, aber ihre Umsetzung zu beschleunigen. Wir möchten damit einen Investitions-, einen Innovations- und einen Beschäftigungsstoß auslösen. Nordrhein-Westfalen hat die Herstellerfirmen, die dazu notwendig sind. Wir können hier in der Tat auf breiter Front Arbeitsplätze absichern. Wenn der Prozeß der Entscheidungen der Unternehmen weiterhin durch die von Süddeutschland aus gesteuerte Diskussion offengehalten wird, ist in der Tat zu befürchten, daß die Kohlekraftwerke nicht mehr umgerüstet werden. Das wäre dann eine Antibergbaupolitik. Die Frage ist, ob das unter dem Deckmantel des Umweltschutzes gewollt ist.Ich könnte noch ein Wort zur Bundesbahn sagen. Auch dazu steht im Jahreswirtschaftsbericht nichts, obwohl das Bundesbahnkonzept ja eines der wichtigsten Elemente für die Standortentscheidungen unserer zukünftigen Industriestruktur ist.Meine Damen und Herren, lassen Sie mich ein Resümee ziehen: Wir müssen den Strukturwandel aktiv begleiten, und wir müssen ihn so gestalten, daß wir den bruchartigen Verlust ganzer Industriezweige verhindern. Dazu gehört eine breite Modernisierung; dazu gehört, daß wir im Umweltbereich die Schlüsseltechnologien, die wir haben, anwenden, sie umsetzen und den entsprechenden Innovationsstoß austragen.Im internationalen Bereich müssen wir, so habe ich gesagt, einen wirtschaftlichen Konsens zumindest dahin gehend verabreden, daß festgelegt wird, wie Europa dem absehbaren weltwirtschaftlichen Kurswechsel der USA — ob er vor den Wahlen oder nach ihnen stattfindet, kann man heute noch nicht abschätzen; wahrscheinlich nach den Wahlen in den USA, aber dann mit Sicherheit — standhalten will. Dies kann nur gemeinsam mit den anderen erreicht werden, gerade auf Grund unserer engen Verflechtung mit den USA und auf Grund unserer zentralen weltwirtschaftlichen Rolle.Die Industrieländer drohen in ihren Binnenmärkten zudem den entscheidenden Stabilitätsfaktor zu verlieren. Auch hierzu habe ich in den Darlegungen jede Aussage vermißt. Wir haben ja über die Albrecht-Thesen und über andere Papiere lange debattiert, auch über die Frage, wie sich das Lohnkostenniveau eigentlich entwickelt und ob es nicht abgesenkt werden müßte. Ich will hier deutlich sagen: Die weltweite Technisierung der Produktion, die mit der Mikroelektronik j a auch erheblich preiswerter geworden ist, birgt die Gefahr einer breiten Lohnnivellierung nach unten und damit des Verlustes eines wesentlichen langfristigen Stabilitätsfaktors für unsere Volkswirtschaft in sich.
Die hohe Arbeitslosigkeit — das ist ja die Sorge vieler Menschen in diesem Lande — eröffnet ja auch die Versuchung, daß man dies einmal ausprobiert, daß man — gewissermaßen wie auf dem Trampolin — einmal versucht, den Handlungsspielraum auszuweiten. Deshalb die große Sorge um den sozialen Frieden, um die Stabilität der Gewerkschaften und um die Lösung dieser Probleme in einem breiten sozialen Konsens.Meine Damen und Herren, hier gilt es auch im internationalen Rahmen gegenzusteuern, denn auch die Stabilisierung unserer bisherigen Außenhandelsmärkte in der Dritten Welt werden wir nur
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Minister Dr. Jochimsen
dann erreichen können, wenn wir selber genug Nachfrage entfalten können. Im eigenen Interesse können wir uns aus der Verantwortung für die Verschuldungsprobleme der Dritten Welt ebensowenig herausnehmen wie — das sage ich auch — aus der Verantwortung für die Erhaltung des OPEC- Marktes auf einem stabilen Niveau.Meine Damen und Herren, worum es also geht, ist, daß der Bund auf wichtigen Feldern der Industrie- und Strukturpolitik und der internationalen Konjunkturpolitik aktiv handelt. Er kann dabei auf die volle Unterstützung des Landes NordrheinWestfalen rechnen. Dazu bedarf es aber nicht immer wieder neuer Absichtserklärungen, sondern dazu müssen endlich die notwendigen Entscheidungen hier in Bonn vorbereitet und getroffen werden. — Danke sehr:
Meine Damen und Herren, wir treten in die Mittagspause ein. Die Sitzung wird um 14 Uhr mit der Fragestunde fortgesetzt.
Ich unterbreche die Sitzung.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir fahren mit Punkt 1 der Tagesordnung fort:
Fragestunde
— Drucksache 10/1017 —
Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundesministers für Verkehr auf.
Frage 76 des Abgeordneten Ehrbar ist vom Fragesteller zurückgezogen.
Frage 77 des Abgeordneten Stiegler sowie die Fragen 78 und 79 des Abgeordneten Hinsken werden auf Wunsch der Fragesteller schriftlich beantwortet. Die Antworten werden als Anlage abgedruckt.
Damit ist dieser Bereich beendet.
Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundeskanzlers und des Bundeskanzleramtes auf. Zur Beantwortung steht Herr Staatssekretär Boenisch zur Verfügung.
Ich rufe Frage 4 der Frau Abgeordneten Dr. Timm auf:
Trifft es zu, daß das geschäftsführende Vorstandsmitglied der Deutschland-Stiftung e. V., die laut Bundesgerichtshof und Oberlandesgericht München als „von Alt- und Neufaschisten durchsetzt" bezeichnet werden darf, und Herausgeber des von der Deutschland-Stiftung finanzierten DeutschlandMagazins, Kurt Ziesel, Bundeskanzler Kohl auf seiner IsraelReise begleitet hat?
Bitte sehr, Herr Staatssekretär.
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Mit Genehmigung der Frau Abgeordneten möchte ich die beiden Fragen im Zusammenhang beantworten, also auch die Frage 5:
Nach welchem Verfahren ist Herr Ziesel ausgewählt worden, und wer trug die Kosten dieser Reise?
Der Herausgeber des Deutschland-Magazins, Kurt Ziesel, gehörte zu den ca. 90 Journalisten, die anläßlich des offiziellen Besuches des Bundeskanzlers nach Israel reisten. Er hatte sich wie alle anderen an dieser Reise interessierten Journalisten beim Bundespresseamt sowie bei den mit der Durchführung eines Journalisten-Gruppenfluges beauftragten Reisebüros angemeldet.
Die Teilnahme von Journalisten an derartigen Gruppenflügen unterliegt keinerlei Beschränkungen. Meistens werden bei Reisen des Bundeskanzlers Journalisten auf freien Plätzen in der Kanzlermaschine mitgenommen. Im Fall der Israelreise wurden zwölf verfügbare Plätze auf die verschiedenen Medien aufgeteilt. Es handelte sich um sechs Vertreter des Fernsehens und um sechs Journalisten der anderen Medien. Unter ihnen befand sich Herr Ziesel ursprünglich nicht. Er hatte nämlich für den Gruppenflug gebucht, der billiger als ein Flug in der Bundeswehrmaschine ist. Herr Ziesel bat dann wegen Terminschwierigkeiten kurzfristig um Mitnahme in der einen Tag später fliegenden Kanzlermaschine. Dies ließ sich überhaupt nur bewerkstelligen, weil eine Journalistin abgesagt hatte — eine Dame von der FAZ, die früher fliegen wollte. Es erklärt sich aber auch daher, daß Herr Ziesel ohnehin bei der ursprünglich im August vorgesehenen Israelreise durch Losentscheid — vorgenommen in Gegenwart eines Bonner Journalisten — zum Kreis derjenigen gehörte, die für den Mitflug auf der Kanzlermaschine ermittelt worden waren.
Herr Ziesel war nicht Mitglied der aus Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens bestehenden Sonderdelegation. Alle Journalisten, auch diejenigen, die in der Maschine des Bundeskanzlers mitgeflogen sind, mußten ihre Flug- und Reisekosten selber tragen, wie das immer üblich ist.
Zusatzfrage, Frau Abgeordnete Dr. Timm.
Herr Staatssekretär, können Sie damit abschließend bestätigen, daß es keine persönliche Gästeliste des Bundeskanzlers gab, auf der Herr Ziesel mit eingeschrieben war?
Boenisch, Staatssekretär: Frau Abgeordnete, mir ist von einer solchen Gästeliste nichts bekannt, auch nicht, daß Herr Ziesel darauf gewesen ist. Ich habe eine solche Gästeliste auch nicht gesehen.
Eine weitere Zusatzfrage, Frau Abgeordnete.
Darf ich dann weiter fragen: Herr Staatssekretär, war der Bundesregierung denn bekannt, daß auf höchstrichterlichen Entscheid hin die Deutschland-Stiftung e. V. als von Alt- und Neofaschisten durchsetzt und als ein nationalistisches Unternehmen mit demokratischem Deckmantel bezeichnet werden darf?Boenisch, Staatssekretär: Bei der Reise von Journalisten spielt nie das Institut, die Institution, die
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3968 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 56. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Februar 1984
Staatssekretär BoenischZeitung oder das Gremium, für die sie arbeiten, irgendeine Rolle.
Keine weiteren Zusatzfragen.
Doch. Ich habe zwei Fragen gestellt.
Einen Moment mal, ich habe aber nur die erste Frage aufgerufen.
Nein, der Herr Staatssekretär hat mit meiner Zustimmung beide beantwortet. Er hat darum gebeten.
Wie habe ich denn das übersehen können?
Das haben Sie vielleicht überhört.
Ich bitte sehr um Entschuldigung. Dann haben Sie zwei weitere Fragen.
Wenn es so ist, daß das alles keine Rolle spielt, bezeichnet es denn die Bundesregierung als Heuchelei, wenn Bürger und Bürgerinnen die Tatsache, daß der Herr Ziesel in engster Begleitung des Herrn Bundeskanzlers bei dieser Mission, einer seiner heikelsten Missionen, dabei war, als Taktlosigkeit, Instinktlosigkeit oder auch als politisch folgenschwere Peinlichkeit bezeichnen?
Boenisch, Staatssekretär: Frau Abgeordnete, es tut mir leid. Ich muß Sie in einem Punkt berichtigen. Ich habe in meiner Antwort zu Ihrer Frage bereits klargemacht, daß der Herr Ziesel nicht zu den Gästen des Bundeskanzlers gehörte, sondern er gehörte zu den Journalisten. Es ist nicht Sache der Bundesregierung und kann und darf nicht Sache der Bundesregierung sein, auch nicht Sache des Bundeskanzlers, hier irgendeine Art von Zensur auszuüben, auch nicht, was die Vergangenheit der dort mitgenommenen Journalisten angeht.
Dritte Zusatzfrage.
Es tut mir leid. Zu dieser Frage muß ich noch einmal insistieren, Herr Staatssekretär.
Boenisch, Staatssekretär: Bitte schön.
Ist die Bundesregierung dann wenigstens bereit, zur Kenntnis zu nehmen, daß es Bürger und Bürgerinnen gibt, die diesen Vorgang als folgenschweres Politikum bezeichnen, weil durch diesen Vorgang und durch andere Vorgänge während der Israel-Reise des Herrn Bundeskanzlers vieles zunichte gemacht wurde, was gerade zum Beispiel auch die deutsche und die israelische Arbeiterbewegung in langen Jahren, in 30 Jahren an Bemühungen, an Brückenschlagen über tiefe, tiefe Gräben versucht haben?
Boenisch, Staatssekretär: Frau Abgeordnete, Sie wissen sicher, daß ich jeden Versuch, der in diesen Jahren angestellt worden ist, ganz gleich, von wem, und ganz gleich, von welcher Partei, begrüße und daß ich auch die besonderen Verdienste, die dabei die SPD hat, durchaus anerkenne. Das tut auch jeder in der Bundesregierung. Gleichwohl bleibt es dabei, daß wir nicht in der Vergangenheit von Journalisten herumforschen dürfen und können, wenn es um solche Reisen geht, ganz gleich, wohin sie gehen.
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Lutz.
Herr Staatssekretär, ich würdige durchaus, daß die Bundesregierung keine Zensur ausübt und sich Würdigungen persönlicher Art verkneift. Aber würden Sie ausschließen wollen, daß der Bundeskanzler bei solchen Reisen zu besonderem politischen Takt verpflichtet ist, und würden Sie meinen, daß diese Verpflichtung durch seine Reisebekanntschaft etwas geschädigt wurde ?
Boenisch, Staatssekretär: Der Bundeskanzler hat ja keine Reisebekanntschaft mit den Journalisten, die ihn begleiten. Es besteht kein Bekanntschaftsverhältnis, auch kein weitergehendes Freundschaftsverhältnis zwischen Journalisten, die den Bundeskanzler begleiten, sondern deren Aufgabe ist es ja, den Bundeskanzler kritisch zu begleiten. Also ich kann beim besten Willen hier nichts sehen. Ich glaube auch, daß Sie in Ihrer Fraktion hier einfach einem Irrtum erlegen sind, weil Sie geglaubt haben, daß Ziesel ein Gast des Bundeskanzlers war. Dies ist aber nicht der Fall.
Haben Sie noch eine Zusatzfrage? — Dann Herr Abgeordneter Urbaniak.
Herr Staatssekretär, wenn Auswahlkriterien keine Rolle spielen und da auch nicht nachgeforscht wird, würde es denn möglich sein, daß bei einem weiteren Besuch des Herrn Bundeskanzlers in Israel sich in seiner Maschine auch ein Vertreter der „Nationalzeitung" finden würde?
Boenisch, Staatssekretär: Ich habe noch gar keinen Vertreter der Nationalzeitung gesehen, der versucht hat, sich bei uns zu akkreditieren. Es wäre sicherlich eine sehr, sehr schwierige Frage. Man kann da nur hoffen, daß, wenn gelost wird, wir nicht ein solches Lospech haben, daß dann ausgerechnet das Los auf einen Vertreter der „Nationalzeitung" fällt.
Zusatzfrage, Abgeordneter Krizsan.
Herr Staatssekretär, bei den Folgen dieser Mitnahme, die die Kollegin geschildert hat, würde mich doch einmal interessieren: Wie war denn die Reaktion der israelischen Presse auf den Besuch des Herrn Ziesel dort?
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 56. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Februar 1984 3969
Boenisch, Staatssekretär: Mir sind die Reaktionen der israelischen Presse auf den Fall Ziesel im einzelnen nicht bekannt. Ich weiß nur, daß die Sache auch im israelischen Rundfunk behandelt worden ist.
— Bitte?
Parlamentarisch „Hört! Hört!".
Boenisch, Staatssekretär: Ach so, parlamentarisch „Hört! Hört!". — Ich weiß nur, daß die Sache im Rundfunk behandelt worden ist, und ich nehme an, daß sie kritisch behandelt worden ist.
Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Stiegler.
Herr Staatssekretär, Sie haben soeben auf eine Zusatzfrage erklärt, Sie hätten keine solche persönliche Gästeliste gesehen. Können Sie denn nachforschen, ob es vielleicht doch eine solche gab, wiewohl Sie sie nicht gesehen haben?
Boenisch, Staatssekretär: Nein, es kann ja keine Gästeliste in dem gefragten Sinne gegeben haben. Natürlich hat es eine Gästeliste gegeben, aber aus den von mir geschilderten Gründen keine, in der Herr Ziesel als Gast des Bundeskanzlers aufgeführt worden sein kann.
Haben Sie noch eine Zusatzfrage? — Dann Herr Abgeordneter Sperling zu einer Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, wenn Sie Gäste einladen und denen Flaschen kredenzen, dann wählen Sie die Flaschen, von denen die Gäste trinken sollen, doch vorher aus. Wieso konnte Herr Ziesel — im übertragenen Sinne — zu denjenigen gehören, die in der Begleitung des Herrn Bundeskanzlers den Israelis als Gäste angeboten wurden?
Boenisch, Staatssekretär: Erst einmal habe ich das mit den Gästen ja schon klargestellt. Zum zweiten habe ich genau und bis ins einzelne gehend geschildert, wie es dazu gekommen ist. Wenn Sie so wollen ist es ja ein Zufall gewesen, denn wenn die eine Dame nicht abgesagt hätte, dann wäre er überhaupt nicht nachgerückt, hätte nicht nachrücken können, auch nicht trotz der von ihm erbetenen Mitnahme wegen Terminschwierigkeiten. Hier ist doch wirklich ein zufälliger Vorgang zum Politikum hochgespielt worden.
Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Weisskirchen.
Herr Staatssekretär, wenn ich Sie soeben richtig verstanden habe, dann scheint es nicht zu Ihren Aufgaben zu gehören, die ausländische Presse genau daraufhin zu verfolgen, was für Schwierigkeiten bei dem Besuch eines Bundeskanzlers auftreten.
Boenisch, Staatssekretär: Ich habe nichts davon gesagt, daß das nicht zu meinen Aufgaben gehört. Es gehört sicherlich zu den Aufgaben des Presseamtes, das zu verfolgen. Dort ist es auch geschehen. Aber ich konnte hier keine ins einzelne eingehende Auskunft darüber geben, was in den israelischen Zeitungen stand.
Zweite Zusatzfrage, Abgeordneter Sperling.
Herr Staatssekretär, nachdem Sie es vorhin für möglich gehalten haben, daß auch ein Vertreter der „Nationalzeitung" per Zufall hätte mitfahren können, würde ich doch gern wissen, ob Sie es nicht als Ihre Aufgabe betrachten, solche peinlichen Zufälle durch entsprechende Fütterung des Lotteriesystems auszuschließen.
Boenisch, Staatssekretär: Ich habe nicht gesagt, daß ich es für möglich halte, daß ein Vertreter der „Nationalzeitung" mitkommt, sondern ich habe gesagt, daß ein solcher Mann bei uns überhaupt noch nicht um eine Akkreditierung nachgesucht hat. Ich habe weiter gesagt, ich hoffte, daß wir dann nicht ein solches Lospech haben, daß so etwas zutrifft. Ich kann nicht auf der einen Seite erklären, daß wir, was die Vergangenheit der Journalisten angeht, gegen jede Zensur oder gegen jede dahin gehende Kontrolle sind, und Ihnen dann nachträglich irgendwelche Losmanipulationen versprechen. Das ist unmöglich. Ich kann nur das wiederholen, was ich gesagt habe.
Zusatzfrage, Abgeordneter Dr. Scheer.
Herr Staatssekretär, kann ich Ihren Aussagen, die den Eindruck erwecken, daß Ihnen diese ganze Angelegenheit auch peinlich ist, entnehmen, daß sie etwa im Gegensatz zu den Aussagen des Herrn Bundeskanzlers stehen, der es für nötig hielt, hier im Plenum des Bundestages in gewissem Sinne ein Ehrenwort für Herrn Ziesel zu sprechen?
Boenisch, Staatssekretär: Mir ist nur peinlich, daß die ganze Geschichte so hochgespielt worden ist. Ich glaube, das tut uns allen nicht gut.
Was die Äußerungen des Bundeskanzlers angeht: Ich kann sie sehr gut verstehen. Auch ich bin, was die Vergangenheit vor 1945 angeht, ziemlich allergisch. Aber bei mir wäre bei Nennung des Namens auch nicht automatisch die Klappe gefallen. Ich hätte auch nicht sofort an alle Dinge gedacht, die mit der Vergangenheit von vor 35 Jahren zu tun gehabt haben.
Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Becker.
Herr Staatssekretär, kann ich Ihren bisherigen Ausführungen entnehmen, daß Sie, wenn der Bundeskanzler mit einer Delegation ins Ausland reist, keine Möglichkeiten hätten, einen Journalisten auszuschließen, der von
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Becker
vornherein Gewähr dafür bieten würde, daß diese Reise in ihrem politischen Ziel doch sehr gefährdet wäre?Boenisch, Staatssekretär: Nein. Es wäre nur dann die andere Möglichkeit gegeben — wie andere Abgeordnete angedeutet haben —, daß wir das Auswahlverfahren ändern. Aber wenn wir bei dem Auswahlverfahren bleiben, daß wir sagen: „Die wenigen Plätze, die wir zur Verfügung haben, verlosen wir!", dann müssen wir auch den fahren lassen, auf den das Los gefallen ist.
Zweite Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, ist es dann wirklich so, daß Sie auf Grund dieses Verfahrens einen politischen Mißerfolg einer solchen Reise von vornherein in Kauf nehmen würden?
Boenisch, Staatssekretär: Ich glaube nicht, daß dieser Fall wirklich dazu beigetragen hat, daß es ein politischer Mißerfolg werden könnte oder sollte. Ich habe schon einmal gesagt, daß hier der nach meiner Meinung schädliche Versuch unternommen worden ist, einen solchen Fall unzulässig hochzuspielen.
Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Stiegler.
Herr Staatssekretär, würden Sie denn wirklich allen Ernstes auf einer Reise nach Israel einen Vertreter eines rechtsradikalen Blattes wie der „Nationalzeitung" für das Losverfahren überhaupt zulassen?
Boenisch, Staatssekretär: Ich habe j a gesagt, daß sich diese Frage nicht stellt, weil noch nie einer um die Akkreditierung nachgesucht hat.
Zusatzfrage, Frau Abgeordnete Dr. Martiny-Glotz.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Staatssekretär, wenn die einzige Geschichte, die Ihnen peinlich ist, diejenige ist, weil das hier so hochgespielt worden ist, könnten Sie dann bitte noch einmal für jeden verständlich die Gründe sagen, warum wir es alle so normal hätten finden müssen, daß Herr Ziesel mitfährt?
Boenisch, Staatssekretär: Weil es ja ein normaler Vorgang war. Wenn sich ein Journalist anmeldet, muß er mitgenommen werden. Es steht uns nicht zu, es kann wirklich nicht Aufgabe des Bundespresseamtes sein, politische Vergangenheitsforschung zu betreiben.
Eine Zusatzfrage, Herr Weisskirchen.
Herr Staatssekretär, da Sie soeben davon geredet haben, daß es ein Interesse daran gibt, die Sache hochzuspielen, was würden Sie denn bitte schön dann für Bewertungskriterien heranziehen, weil es sich doch gerade bei Herrn Ziesel um jemanden handelt, der zu seiner eigenen Vergangenheit offensichtlich heute noch keinen klaren Trennstrich gezogen hat?
Boenisch, Staatssekretär: Herr Abgeordneter, nach 35 Jahren Demokratie würde ich nicht nur die Kriterien heranziehen, die ihn in der Vergangenheit belasten, sondern auch das, was er in den 35 Jahren getan hat.
Wenn neben in Ihrer Fraktion umstrittenen Ansichten dès Herrn Ziesel darunter auch das bekannte Buch fällt, über das auch hier im Bundestag gesprochen worden ist, und wenn dieser Mann versucht hat, auf seine Weise seinen Beitrag für die Demokratie zu leisten, dann würde ich bei ihm wie bei jedem anderen auch diese Jahre werten und nicht nur die Zeit davor.
Letzte Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Krizsan.
Herr Staatssekretär, Sie sprachen vorhin von Zensur und von dem Losverfahren. Meinen Sie nicht, daß bei den schwierigen Beziehungen zwischen der BRD und Israel besonderes Feingefühl nötig gewesen wäre und nicht der Rückgriff auf so ein Losverfahren?
Boenisch, Staatssekretär: Ich bin durchaus der Meinung, daß Feingefühl hier nötig ist. Aber ich habe ja geschildert, daß es durchaus nicht nur wegen des Losverfahrens dazu gekommen ist, sondern auch weil der Mann Terminschwierigkeiten gehabt hat.
Dieser Geschäftsbereich ist beendet. — Danke.
Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundesministers für Arbeit und Sozialordnung auf. Zur Beantwortung steht der Herr Parlamentarische Staatssekretär Vogt zur Verfügung.
Die Fragen 16 und 17 der Frau Abgeordneten Steinhauer sowie die Fragen 18 und 19 des Herrn Abgeordneten Dreßler werden schriftlich beantwortet. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
Ich rufe die Frage 20 des Herrn Abgeordneten Kirschner auf:
Wie viele Verleiher im Sinne des Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes gibt es derzeit in der Bundesrepublik Deutschland, und wie viele Arbeitnehmer beschäftigen sie?
Bitte schön, Herr Staatssekretär.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Präsidentin, mit Zustimmung des Fragestellers möchte ich die Fragen 20 und 21 gern zusammen beantworten.
Einverstanden?
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 56. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Februar 1984 3971
Vizepräsident Frau RengerIch rufe die Frage 21 des Abgeordneten Kirschner auf:Wie lange ist derzeit die durchschnittliche Dauer der Arbeitnehmerüberlassung an einzelne Entleiher, und in welchen Wirtschaftszweigen werden besonders viele Leiharbeitnehmer beschäftigt?Bitte.Vogt, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Kirschner, am 31. Dezember 1983 — neuere Zahlen liegen nicht vor — gab es in der Bundesrepublik Deutschland einschließlich Berlin 1 194 Inhaber einer Verleihererlaubnis der Bundesanstalt für Arbeit sowie 410 rechtlich unselbständige Zweigniederlassungen von Erlaubnisinhabern.Die Verleiher haben nach § 8 des Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes Meldungen über ihre Leiharbeitnehmer für das zweite Kalenderhalbjahr bis zum 1. März des folgenden Jahres abzugeben. Daher beziehen sich die jüngsten Zahlen der beschäftigten Leiharbeitnehmer auf den 30. Juni 1983. Zu diesem Zeitpunkt wurden 25 702 Leiharbeitnehmer, und zwar 17 582 Männer und 8 120 Frauen, beschäftigt. Die durchschnittliche Dauer der Arbeitnehmerüberlassung an einzelne Entleiher wird statistisch nicht erfaßt. Das Arbeitnehmerüberlassungsgesetz begrenzt aber die Höchstdauer der Überlassung desselben Leiharbeitnehmers an denselben Entleiher auf drei Monate.Die Schwerpunkte der Arbeitnehmerüberlassung liegen bei Männern in den Berufsbereichen der Schlosser, Mechaniker und zugeordneten Berufe — dort sind 4 494 Leiharbeitnehmer beschäftigt —, der Hilfsarbeiter ohne nähere Tätigkeitsangaben —2 534 Leiharbeitnehmer — und der Elektriker —1 859 Leiharbeitnehmer —. Bei den Frauen lag der eindeutige Schwerpunkt bei den Organisations-, Verwaltungs- und Büroberufen; dort hatten wir 5 338 Leiharbeitnehmerinnen. In allen Berufsbereichen lag damit der Anteil der Leiharbeitnehmer an der Gesamtzahl der Beschäftigten unter 0,2 %.
Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Kirschner.
Herr Staatssekretär, trifft es zu, daß im Bereich der Europäischen Gemeinschaft seit längerem auf eine Einschränkung der Arbeitnehmerüberlassung hingewirkt wird, und wie vereinbart sich dies mit den Vorstellungen der Bundesregierung, die Arbeitnehmerüberlassung zeitlich auszudehnen?
Vogt, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Kirschner, es ist Ihnen wahrscheinlich bekannt, daß 1957 in einer Novelle zum Arbeitslosenvermittlungs- und Arbeitslosenversicherungsgesetz die Leiharbeit der Arbeitsvermittlung gleichgestellt worden ist. Die entsprechende Initiative hatte damals eine CDU/ CSU-Regierung ergriffen. Diese Bestimmung ist 1967 vom Bundesverfassungsgericht als verfassungswidrig aufgehoben worden. Deshalb sah sich die Bundesregierung unter Bundeskanzler Willy Brandt und Vizekanzler Scheel veranlaßt, 1971 hier das Arbeitnehmerüberlassungsgesetz einzubringen, das 1972 von diesem Bundestag einstimmig verabschiedet worden ist. Das heißt, ein generelles Verbot der Leiharbeit würde gegen das Verfassungsgerichtsurteil verstoßen. Sie wissen, daß ein Teilverbot der Leiharbeit für das Baugewerbe besteht. Aber dagegen läuft vor dem Bundesverfassungsgericht eine Klage; und wir sind, glaube ich, gut beraten, wenn wir abwarten, wie das Bundesverfassungsgericht sich hier einläßt.
Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Kirschner.
Herr Staatssekretär Vogt, können Sie sagen, welche Erfahrungen bisher mit dem generellen Verbot der Leiharbeit auch bei den Baubetrieben vorliegen?
Vogt, Parl. Staatssekretär: Nein, das kann ich nicht sagen. Ich kann nur etwas negativ abwehren. Die Vermutung, daß in dem Bereich hinter dem Schild des Verbots der Leiharbeit die illegale Beschäftigung zugenommen habe, stimmt nicht. Im übrigen bekämpfen wir gerade im Baubereich die illegale Beschäftigung. Wir kommen später in der Fragestunde bei verschiedenen Fragen auf diesen Sachverhalt zurück.
Weitere Zusatzfrage, bitte.
Herr Staatssekretär, stimmen Sie mit mir überein, daß eine Ausdehnung der Leiharbeit, wie sie von der Bundesregierung vorgesehen ist, dazu führt, daß die Arbeitgeber immer mehr aus ihrer Verpflichtung zu einer rechtzeitigen und umfassenden Personalplanung und Personalpolitik entlassen werden und damit die Rechte des Betriebsrats nach dem Betriebsverfassungsgesetz unterlaufen werden?Vogt, Parl. Staatssekretär: Ich darf zunächst einmal darauf hinweisen, Herr Kollege Kirschner, daß wir vor der Frage stehen — das ist ja der Anlaß für das Gesetz zur Förderung der Beschäftigung; die Arbeitnehmerüberlassung wird dort ein Element sein, wie ich glaube —, eine verbesserte Auftragslage schneller in eine höhere Beschäftigungslage umzusetzen. Sie wissen, daß der Arbeitsmarkt ein Spätindikator ist. Ein wirtschaftlicher Abschwung macht sich sehr spät auf dem Arbeitsmarkt bemerkbar, eine verbesserte Auftragslage ebenso.Ich glaube, es ist unser aller Aufgabe, eine verbesserte Auftragslage, eine verbesserte Wirtschaftslage sich schneller in einen höheren Beschäftigungsstand umsetzen zu lassen. Ich verstehe unter „Solidarität" nicht, daß diejenigen, die ein Arbeitsverhältnis haben, sich bei einer verbesserten Auftragslage besser einrichten und sich keine Gedanken darüber machen, wie die Zutrittschance für diejenigen, die kein Arbeitsverhältnis haben, verbessert werden kann. Das, was wir in Fortentwicklung des Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes überlegen, dient genau dem Zweck, die Beschäftigungschance derjenigen zu verbessern, die heute noch draußen vor der Tür stehen.
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3972 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 56. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Februar 1984
Parl. Staatssekretär VogtIm übrigen sichert j a das Arbeitnehmerüberlassungsgesetz die Rechte, die sich aus dem Betriebsverfassungsgesetz ergeben. Die Verleihbetriebe sind dem Betriebsverfassungsgesetz unterworfen. Der Leiharbeitnehmer hat j a in dem Betrieb, in dem er arbeitet, bestimmte Rechte, die sich aus dem Betriebsverfassungsgesetz ergeben. Er hat also das Recht der Teilnahme an der Betriebsversammlung, er hat das Recht, bestimmte Beschwerden zu erheben, so daß er also auch betriebsverfassungsrechtlich auf Grund des Gesetzes von 1972 entsprechend gesichert ist.
Herr Parlamentarischer Staatssekretär, ich bewundere immer die fantastische Sachkenntnis. Aber wir wollen es nicht zu lang ausweiten.
Vogt, Parl. Staatssekretär: Aber die Fragen sind so interessant.
Ich verstehe Sie vollkommen. Ich wollte das nur sagen, damit es zukünftig vielleicht doch ein bißchen kürzer wird. Das gilt für die Damen und Herren, die jetzt Fragen stellen. Es kommen noch eine Reihe von Fragen. Ich bitte, bei den Zusatzfragen darauf Rücksicht zu nehmen.
Herr Abgeordneter Kirschner, Sie haben noch eine vierte Frage.
Herr Staatssekretär Vogt, ist denn die Bundesregierung der Auffassung, daß durch die vorgesehene Verlängerung des Verleihzeitraums von drei auf sechs Monate die Zahl der Arbeitsplätze erhöht wird? Oder wird hier nicht statt dessen dieser moderne Menschenhandel — etwas anderes ist ja die Arbeitnehmerüberlassung nicht — noch mehr institutionalisiert?
Vogt, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Kirschner, ich muß Sie noch einmal darauf hinweisen, daß sich der Gesetzgeber auf Grund des Urteils des Bundesverfassungsgerichts von 1967 veranlaßt gesehen hat, das Arbeitnehmerüberlassungsgesetz zu verabschieden. Es ist einstimmig verabschiedet worden. Ich würde mich dagegen aussprechen, dieses Gesetz so zu charakterisieren, wie Sie es getan haben.
Im übrigen beantworte ich Ihre Frage mit Ja. Jetzt ist durch die Begrenzung der Überlassungsdauer auf drei Monate die Nutzung der Arbeitnehmerüberlassung bei längeren Krankheitsvertretungen, allen Mutterschaftsvertretungen und in vielen Fällen vorübergehender Zusatzaufträge erschwert oder sogar unmöglich. Nach einer Verlängerung kann auch in diesen Fällen die Arbeitnehmerüberlassung genutzt und damit etwa auf Überstunden verzichtet werden.
Zusatzfrage, Frau Abgeordnete Zutt.
Herr Staatssekretär, ich habe nur eine Frage. Habe ich Sie richtig verstanden, daß
Sie auf die Frage 20 des Abgeordneten Kirschner, die ja dahin lautet, wieviel Verleiher es im Sinne des Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes in der Bundesrepublik gibt, als letzten Erhebungstag den 31. Dezember 1981 genannt haben?
Vogt, Parl. Staatssekretär: Nein, Frau Kollegin. Ich habe den 31. Dezember 1983 auf die Frage genannt: Wie viele Verleiher gibt es? Dazu liegen die Zahlen vom 31. Dezember 1983 vor. Bei der Antwort auf die Frage, wie viele Leiharbeitnehmer es gebe, muß ich mich auf die Daten vom 30. Juni 1983 beziehen. Die nächsten Zahlen werden wir vorlegen können in dem fünften Bericht über die Anwendung des Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes. Dieser Bericht muß bis zum 30. Juni dieses Jahres dem Bundestag vorgelegt werden.
Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Peter.
Herr Staatssekretär, stimmen Sie mir zu, daß sich die von Ihnen genannten Zahlen erheblich ändern würden, wenn Werkverträge in das Arbeitnehmerüberlassungsgesetz einbezogen wären und dadurch Scheinwerkverträge als Umgehungssachverhalt für Leiharbeit feststellbar wären?
Vogt, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Peter, es spricht etwas für die Vermutung, die Sie ausgesprochen haben. Aber es bedarf hier noch einer genaueren Untersuchung der Sachverhalte.
Eine zweite Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, wenn dem so ist, stimmen Sie mir zu, daß ein Regelungsbedarf in dieser Richtung im Arbeitnehmerüberlassungsgesetz besteht?
Vogt, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Peter, Sie haben meine einschränkende Bejahung Ihrer Vermutung zur Kenntnis genommen. Ich möchte auf so unsicheren Grundlagen, auf denen wir uns derzeit noch bewegen, nicht sagen, daß es hier einen Handlungsbedarf gibt.
Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Stiegler.
Herr Staatssekretär, treffen Berichte zu, wonach man in Ihrem Haus an die Einführung einer Arbeits- oder Baustellenkarte als Alternative zum Verbot der Leiharbeit im Baugewerbe denkt, und stimmen Sie mir zu, daß durch diese Vorschläge, die in Ihrem Haus diskutiert werden, die Prozeßlage bei dem jetzt anhängigen Prozeß in Karlsruhe erheblich erschwert wird?Vogt, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, im Interesse Ihrer fragenden Kollegen bitte ich, Ihre Zusatzfrage dann zu stellen, wenn die entsprechende Frage eines Fragestellers aufgerufen wird; denn zu diesem Komplex gibt es in dieser Fragestunde noch Fragen. Ich möchte jetzt nicht Fragen beantworten, die dann später noch einmal zu beantworten sind.
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 56. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Februar 1984 3973
Herzlichen Dank für Ihre Anregung, Herr Staatssekretär.
Eine Zusatzfrage der Frau Abgeordneten Schmidt .
Herr Staatssekretär, die Rechte der verliehenen Arbeitnehmer sind im aufzunehmenden Betrieb nach dem Betriebsverfassungsgesetz eingeschränkt; ebenso die Rechte bezüglich der Arbeitnehmer im Betriebsrat des aufzunehmenden Betriebes. Beabsichtigen Sie deshalb, bei Ausweitung der Möglichkeit der Leiharbeit das Betriebsverfassungsgesetz in diesen Punkten zu ändern?
Vogt, Parl. Staatssekretär: Frau Kollegin, der Leiharbeitnehmer hat auf der Grundlage des Betriebsverfassungsgesetzes mehr Rechte als ein normaler Arbeitnehmer; denn er hat die vollen Rechte des Arbeitnehmers im Verleihbetrieb und zusätzliche Rechte im Entleiherbetrieb, so daß bis jetzt kein Grund besteht, die Mitbestimmungs- und Mitwirkungsrechte des Leiharbeitnehmers auszuweiten, weder im Verleihunternehmen noch im Entleihunternehmen.
Eine zweite Zusatzfrage, bitte.
Herr Staatssekretär, würden Sie bitte auch noch meine Frage bezüglich der Betriebsräte des aufnehmenden Betriebes beantworten? Ich denke hier vor allen Dingen an den Bereich der Personalplanung und ähnliche Bereiche. Hinsichtlich dieser Bereiche sind die Rechte des Betriebsrates eingeschränkt.
Vogt, Parl. Staatssekretär: Aber, Frau Kollegin, der Betriebsrat in dem aufnehmenden Betrieb hat wie bei jeder Neueinstellung ein Mitwirkungsrecht, wenn Einstellungen vorgenommen werden, so wie das im Betriebsverfassungsgesetz eben für den Normalfall festgelegt ist.
Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Urbaniak.
Herr Staatssekretär, wenn Sie sagen, der Leiharbeitnehmer habe in einem Betrieb, der dem Betriebsverfassungsgesetz unterliegt, mehr Rechte als der normale Arbeitnehmer, frage ich Sie: Können Sie mir ganz konkret sagen, wie sich diese bessere Rechtsposition für den Leiharbeitnehmer eigentlich darstellt, wie das praktisch aussieht?
Vogt, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Urbaniak, der Leiharbeitnehmer hat in zwei Betrieben Mitwirkungsrechte, so wie sie im Gesetz vorgesehen sind; von daher hat er mehr Möglichkeiten. Diese Möglichkeiten, die er hat, sind so, daß kein Bedürfnis besteht, die Mitwirkungsrechte und Mitspracherechte des Leiharbeitnehmers auszuweiten.
Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Urbaniak.
Herr Staatssekretär, mir kommt es darauf an, daß Sie bitte beantworten, worin denn das bessere Recht des Leiharbeitnehmers gegenüber dem „Normalarbeitnehmer" konkret besteht. In der Beantwortung meiner ersten Frage haben Sie dazu nichts gesagt. Vielleicht können Sie die Chance jetzt noch wahrnehmen.
Vogt, Parl. Staatssekretär: Also, Herr Kollege Urbaniak, ich gehe davon aus, daß Sie die Möglichkeiten, die der einzelne Arbeitnehmer nach dem Betriebsverfassungsgesetz hat, kennen. Wenn das nicht der Fall sein sollte, was ich nicht annehme, bin ich gern bereit, Ihnen ein Exemplar des Betriebsverfassungsgesetzes zur Verfügung zu stellen. — Im übrigen habe ich darauf hingewiesen, welche Rechte der Leiharbeitnehmer im Verleihbetrieb hat.
Weitere Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Stiegler.
Herr Staatssekretär, würden Sie einmal eine sozialwissenschaftliche Untersuchung in Auftrag geben lassen, die die Unterschiede zwischen der von Ihnen aufgezeigten theoretischen, abstrakten Möglichkeit der Besserstellung der Leiharbeitnehmer und der Wirklichkeit in den Betrieben herausarbeitet?
Vogt, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, wir haben sicherlich ausreichend Gelegenheit, den Punkt miteinander zu diskutieren — auch unter Zuhilfenahme von Sachverständigen —, wenn wir am 30. Juni dieses Jahres dem Haus den 5. Bericht vorgelegt haben werden. Im übrigen hätten Sie sicherlich auch schon Gelegenheit gehabt, diese Fragen früher, nämlich beim ersten, zweiten, dritten und vierten Bericht, zu erörtern.
Frau Abgeordnete Däubler-Gmelin.
Herr Staatssekretär, ich darf zunächst zum Ausdruck bringen, daß Ihre Antwort mich in Anbetracht der vielen Untersuchungen, die es zu diesem Problem bereits gibt, etwas verblüfft. Da ja sicherlich auch nach Ihrer Auffassung nicht die Rede davon sein kann, daß sich ein Leiharbeitnehmer in zwei Betriebsräte, nämlich den des Verleihers und den des aufnehmenden Betriebes, wählen lassen kann, darf ich die Frage anschließen: Wären Sie nicht doch so freundlich, ein einziges Recht nach dem Betriebsverfassungsgesetz zu nennen, wonach der entliehene Arbeitnehmer mehr Rechte als ein festangestellter Arbeitnehmer hat?Vogt, Parl. Staatssekretär: Der Leiharbeitnehmer hat, um Ihnen zwei Beispiele zu nennen, in dem Entleihunternehmen Beschwerderechte und Mitwirkungsrechte bei der Gestaltung des Arbeitsplatzes. Er ist also dem Betrieb nicht sozusagen ohne Möglichkeiten anheimgegeben, sondern er hat neben der Möglichkeit, auch den Betriebsrat des Ent-
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3974 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 56. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Februar 1984
Pari. Staatssekretär Vogtleihunternehmens für seine Interessenlage einzusetzen, eigene Rechte in diesem Verleihunternehmen. Diese Rechte sind, wie gesagt, offenbar so ausgebaut, daß kein Wunsch, keine Forderung besteht, die Rechte des Leiharbeitnehmers im Entleihunternehmen auszuweiten.
Zweite Zusatzfrage, Frau Dr. Däubler-Gmelin.
Vielen Dank, Frau Präsident. — Herr Staatssekretär, ich darf noch einmal betonen, warum mir das relativ wichtig ist: Bei Ihrer Regierung muß man ja, wenn Sie von Doppelrechten sprechen, aufpassen, daß das nicht die erste Stufe eines Einschnitts bedeutet; deswegen weise ich noch einmal auf meine Frage hin.
Ich meine, das, was Sie jetzt ausgeführt haben, betrifft jeweils nur die tatsächliche Situation in dem jeweiligen Betrieb, aber niemals beide Betriebe, also niemals zugleich den Entleiher und den aufnehmenden Betrieb.
Darf ich Sie nochmals bitten, mit ein Recht zu nennen, das der Leiharbeitnehmer in doppelter Weise gleichzeitig wahrnehmen kann, oder aber zu sagen, daß Sie sich das noch einmal überlegen und uns vielleicht schriftlich Auskunft geben?
Vielleicht kann man das schriftlich machen.
Vogt, Parl. Staatssekretär: Nein, Frau Präsidentin, das ist nicht notwendig. Wenn die Frau Kollegin meine Antworten vorurteilslos zur Kenntnis genommen hätte, dann hätte sie erfahren, daß der Leiharbeitnehmer in dem Verleihunternehmen die vollen Rechte nach dem Betriebsverfassungsgesetz und im Entleihunternehmen wiederum Rechte hat, die zum Teil mit den Rechten identisch sind, die er im Verleihunternehmen hat. Er hat an zwei Orten, in zwei Betrieben Rechte nach dem Betriebsverfassungsgesetz.
Ich lasse zu diesem Komplex noch Herrn Reimann zu. Er hat sich rechtzeitig gemeldet. Dann müssen wir zu den nächsten Fragen übergehen, denn sonst wäre es gegenüber den anderen Abgeordneten ungerecht.
Bitte, Herr Abgeordneter Reimann.
Danke schön, Frau Präsidentin.
Zwei Fragen bitte. Herr Staatssekretär, würden Sie mir zustimmen, daß nach Ihrer Version der Leiharbeitnehmer dann, wenn er ein Beschwernis bei beiden Betriebsräten — im leihenden wie verleihenden Betrieb — vorbringt, sich beide Betriebsräte für ihn einsetzen und seine Probleme lösen?
Vogt, Parl. Staatssekretär: Dies ist durchaus möglich, nämlich wenn er eine Beschwerde gegen den Arbeitgeber des Verleihunternehmens und gleichzeitig gegen den Arbeitgeber des Entleihunternehmens hat. Das ist völlig richtig, Herr Kollege.
Zweite, letzte Zusatzfrage.
Würden Sie im umgekehrten Fall zustimmen, Herr Staatssekretär, daß dann — da die verleihenden Firmen selten einen Betriebsrat haben — in dem Fall, in dem kein Betriebsrat vorhanden ist und die Rechte im verleihenden Betrieb ihn nicht betreffen, er gar keine Vertretung hat?
Vogt, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, es ist natürlich richtig, daß es Betriebe geben kann — Entleihbetriebe wie Verleihbetriebe —, in denen die Arbeitnehmer die Möglichkeiten des Betriebsverfassungsgesetzes, einen Betriebsrat zu bilden, nicht genutzt haben. Aber das gibt es generell. Das ist kein besonderes Problem des Arbeitnehmerbereichs, der hier in der Fragestunde angesprochen wird.
Danke schön. — Herr Stahl, ich hoffe, Sie können bei den kommenden Fragen Ihre Zusatzfragen stellen.
Ich rufe die Frage 22 des Herrn Abgeordneten Peter auf:
Wie ist die Aussage des Bundesministeriums für Arbeit und Sozialordnung in der am 30. Januar 1984 vorgelegten Diskussionsgrundlage für ein Vorhaben ,,Förderung der Beschäftigung" zu verstehen, dab vermehrt Leiharbeitnehmer beschäftigt werden sollen, damit sie die Chance eines vollwertigen Dauerarbeitsplatzes beim Verleiher behalten?
Vogt, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Peter, wenn Sie einverstanden sind, möchte ich Ihre Fragen 22 und 23 gemeinsam beantworten.
Dann rufe ich auch die Frage 23 des Abgeordneten Peter auf.Aus welchen Gründen und für welche Fälle sieht die Bundesregierung eine Notwendigkeit, die bisher auf drei Monate begrenzte Höchstdauer bei der Überlassung von Leiharbeitnehmern zu erweitern?Vogt, Parl. Staatssekretär: Ich darf eingangs noch einmal darauf hinweisen, daß Sie zu einem Komplex fragen, der einen Teilausschnitt einer Gesetzesüberlegung wiedergibt, nämlich der Überlegung über ein Gesetz zur Förderung der Beschäftigung. Ich habe gesagt, daß wir alle Instrumente nutzen müssen, um eine verbesserte Wirtschaftslage in einen höheren Beschäftigungsstand sich niederschlagen zu lassen. Dazu gehört auch die Frage, inwieweit das Arbeitnehmerüberlassungsgesetz ausgestaltet werden kann.Die Verleiher mit einer Erlaubnis der Bundesanstalt für Arbeit haben den bei ihnen beschäftigten Leiharbeitnehmern grundsätzlich vollwertige Dauerarbeitsplätze anzubieten; das sichert das Arbeitnehmerüberlassungsgesetz. Der Verleiher hat alle Arbeitgeberpflichten nach dem Arbeits- und Sozialversicherungsrecht zu erfüllen. Er darf die Dauer des Arbeitsverhältnisses mit dem Leiharbeitnehmer nicht auf die Zeit der erstmaligen Entlassung an einen Entleiher beschränken. Der Verleiher darf
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 56. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Februar 1984 3975
Parl. Staatssekretär Vogtaußerdem mit dem Leiharbeitnehmer keinen befristeten Arbeitsvertrag abschließen, es sei denn, daß sich für die Befristung aus der Person des Leiharbeitnehmers ein sachlicher Grund ergibt, etwa weil der Leiharbeitnehmer als Student oder Schüler nur eine Ferienarbeit sucht. Sogar die Möglichkeit nach § 622 Abs. 4 des Bürgerlichen Gesetzbuches, bei Aushilfstätigkeiten kürzere Kündigungsfristen zu vereinbaren, ist dem Verleiher durch das Arbeitnehmerüberlassungsgesetz ausdrücklich verwehrt. Daher bietet auch das Arbeitsverhältnis zu einem legalen Verleiher, der vor der Erteilung der Erlaubnis von der Bundesanstalt für Arbeit überprüft wird und während seiner Tätigkeit ständigen Kontrollen unterliegt, für einen Arbeitslosen eine Möglichkeit, die Arbeitslosigkeit zu überwinden.In vielen Fällen wird die geltende Dreimonatsfrist den Bedürfnissen nicht gerecht. Leiharbeitnehmer werden meist zur Deckung unerwarteten und vorrübergehenden Arbeitskräftebedarfs beschäftigt. Bei vorübergehenden Zusatzaufträgen, noch nicht gesicherter günstigerer Entwicklung der Auftragslage, vor allem aber bei Krankheits- und Mutterschaftsvertretungen reicht die Höchstdauer von drei Monaten nicht aus. Deshalb erscheint es sinnvoll, die jetzige Höchstdauer von drei Monaten zu erweitern. Damit würde im übrigen auch einer Forderung der Enquetekommission „Frau und Gesellschaft" in dem Bericht an den Deutschen Bundestag vom 29. August 1980, Bundestagsdrucksache 8/4461, Seite 14, entsprochen.
Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Peter.
Herr Staatssekretär, wenn es so ist, daß die jetzige Frist von drei Monaten bei bestimmten Sachverhalten nicht angemessen erscheint: Wäre dann nicht eine Zweckbindung einer allgemeinen Verlängerung der Frist auf sechs Monate vorzuziehen?
Vogt, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, wir überlegen, die generelle Frist von drei Monaten auf sechs Monate zu erweitern, und wir überlegen, die Frist für den Fall der Mutterschaftsvertretung auf acht Monate auszuweiten.
Eine zweite Zusatzfrage, bitte.
Herr Staatssekretär, wie wird sich nach Ihrer Meinung die Personalplanung des entleihenden Unternehmens bei einer allgemeinen Verlängerung der Frist für Leiharbeit verändern?
Vogt, Parl. Staatssekretär: Ich werde bei der Beantwortung der Frage Ihres Kollegen von der Wiesche noch einmal auf diesen Gesichtspunkt eingehen. Ich kann aber jetzt schon sagen, daß nach unseren Überlegungen und den bisherigen Erfahrungen mit dem Arbeitnehmerüberlassungsgesetz diese Arbeitnehmerüberlassung nicht dazu führt, daß Dauerarbeitsverhältnisse aufgelöst werden.
Eine dritte Zusatzfrage.
Sind Sie der Meinung, daß sich die Verlängerung der Verleihfristen auf das Vermittlungsmonopol der Bundesanstalt für Arbeit auswirkt?
Vogt, Parl. Staatssekretär: Nein. Ich habe vorhin auf den Werdegang des Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes hingewiesen. Damit die Arbeitnehmerüberlassung nicht an die Stelle der Arbeitsvermittlung tritt, enthält das Arbeitnehmerüberlassungsgesetz das Verbot der Deckungsgleichheit, d. h. ein Leiharbeitnehmer muß von dem Verleiher an mindestens zwei Firmen ausgeliehen worden sein. Wenn dieser Leiharbeitnehmer nur an eine Firma verliehen würde, würde das Verbot der Arbeitsvermittlung über den Weg der Arbeitnehmerüberlassung umgangen. Das Gesetz sieht die entsprechenden Bestimmungen vor, um der Gefahr vorzubeugen, die Sie in Ihrer Frage angesprochen haben.
Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Kirschner.
Herr Staatssekretär, wie viele zusätzliche Arbeitsplätze erwartet die Bundesregierung von einer Verdoppelung des Verleihzeitraumes?
Vogt, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Kirschner, wir bewegen uns nicht gern auf dem Feld von Prognosen, sondern eher auf dem Feld von Erfahrungen. Ich kann nur sagen, daß wir alle Möglichkeiten der Chance für höhere Beschäftigung ausnutzen müssen. Selbst wenn durch das Arbeitnehmerüberlassungsgesetz nur 50 000 oder 100 000 Arbeitsplätze mehr geschaffen würden, das Beschäftigungsniveau in dieser Größenordnung ansteigen würde, so hätte sich das gelohnt; denn jeder Arbeitslose ist einer zuviel.
Eine zweite Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Kirschner.
Herr Staatssekretär, da Sie die Zahl von 50 000 bis 100 000 genannt haben, frage ich Sie, worauf sich Ihre Hoffnung gründet, daß sich die Zahl der Beschäftigten um diese Zahl erhöhen wird.Vogt, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Kirschner, ich habe keine Prognose abgegeben, sondern gesagt: Wenn sich die Ausweitung des Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes so auswirken würde, hätte sich die Anstrengung gelohnt. Ich will nur darauf hinweisen, daß in einer früheren Phase etwa 50 000 Arbeitnehmer auf Grund des Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes beschäftigt gewesen sind. Am 30. Juni des Vorjahres waren es auf Grund einer veränderten Arbeitsmarktsituation weniger. Ich kann mir gut vorstellen, daß der frühere Höchststand durch die Verlängerung der Fristen auf sechs bzw. in einem Fall auf acht Monate nicht nur erreicht, sondern auch überschritten wird.
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3976 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 56. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Februar 1984
Eine vierte Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Peter, des Fragestellers.
Herr Staatssekretär, können Sie mir den Widerspruch Ihrer Aussage auflösen, daß sich die Beschäftigungslage bei den entleihenden Firmen nicht verändern wird, daß Sie aber bei den verleihenden Firmen einen Arbeitsplatzzuwachs von bis zu 100 000 erwarten?
Vogt, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Peter, diesen Widerspruch habe ich nicht ausgesprochen, sondern Sie haben ihn sozusagen jetzt in Ihrer Frage konstruiert. Ich habe in meiner Antwort gesagt, daß durch die Ausweitung der Fristen die Möglichkeiten bei Entleihfirmen vergrößert werden, auf Leiharbeitnehmer zurückzugreifen.
Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Lutz.
Herr Staatssekretär, fürchten Sie nicht, daß Sie sich auf sehr spekulativem Feld bewegen, wenn Sie von einer Ausweitung der Arbeitnehmerüberlassung positive beschäftigungspolitische Wirkungen erwarten, weil j a gleichzeitig die entleihenden Unternehmen — das steht j a wohl außer Zweifel — nicht mehr gehalten sind, größere Personalreserven für Spitzenbelastungen vorzuhalten?
Vogt, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Lutz, ich werde auf diesen Gesichtspunkt in der Antwort auf die nächste Frage, die Ihr Kollege von der Wiesche gestellt hat, eingehen. Ich sage aber noch einmal: Die Befürchtung, die Sie hier aussprechen, teilen wir nicht. Herr Kollege, im übrigen gilt es in Anbetracht der Probleme, die wir auf dem Arbeitsmarkt haben — das sind keine Probleme, die nach September 1982 entstanden sind —, im Interesse der Arbeitslosen nicht nur die konventionellen Schritte weiterhin zu tun, sondern auch unkonventionelle Maßnahmen einzuleiten. Ich meine, durch jede Maßnahme, durch die die Zahl der Arbeitslosen auch nur um einen vermindert wird, haben wir etwas erreicht.
Herr Kollege Lutz, Sie haben noch eine Zusatzfrage. Bitte schön.
Herr Staatssekretär, unterstellen wir einmal, es würden 50 000 neue Arbeitnehmer von Verleihunternehmen verliehen werden. Wieso wird dadurch mehr Arbeit geschaffen; wo und an welcher Stelle werden diese Arbeitnehmer eingesetzt?
Vogt, Parl. Staatssekretär: Ich habe vorhin schon gesagt, wo die Leiharbeitnehmer vor allem eingesetzt sind. Ich habe darauf hingewiesen, daß nach bisheriger Erkenntnis Leiharbeitsverhältnisse nicht Dauerarbeitsplätze ersetzen.
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Stahl.
Herr Staatssekretär, Sie begründeten vorhin auch die Ausweitung der Verleihzeit im besonderen mit dem Mutterschaftsurlaub. Können Sie dem Hohen Hause einmal darstellen, wie groß auf Grund der Zahlen, die Sie hier mit Blick auf die Firmen genannt haben, die Zahl der Personen mit solchen Verträgen, bezogen auf Ersatz für Mutterschaftsurlaub, überhaupt ist, die dafür in Frage kommen?
Vogt, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Stahl, wenn ich Sie richtig verstanden habe, fragen Sie zuerst einmal nach dem Potential von Leiharbeitsverhältnissen wegen Mutterschaftsurlaubsvertretung. Darauf müßte ich Ihnen schriftlich antworten. Ich weiß jetzt nicht aus der Hand, wieviel Mutterschaftsurlaubsfälle als Potential für Leiharbeitsverhältnisse in Frage kommen. Im Blick auf die Vergangenheit läßt sich darüber nichts sagen, weil die Arbeitnehmerüberlassung als Instrument im Falle der Mutterschaftsurlaubsvertretung bisher noch nicht in Frage gekommen ist.
Eine zweite Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Stahl.
Herr Staatssekretär, ich habe Sie vorhin in der Antwort auf die Frage eines Kollegen aber doch dahin gehend richtig verstanden, daß Sie im besonderen den Mutterschaftsurlaub als einen Grund dafür aufgeführt haben, die Leiharbeitszeit zu verlängern. Deshalb müßten Sie eigentlich, wenn Sie dies vor dem Bundestag so begründen, hier im Hause im Zusammenhang mit meiner Frage doch zumindest an einigen Punkten mit Fakten darstellen können, daß das, was Sie als Regierung vorhaben, tatsächlich begründbar ist.
Vogt, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Stahl, die Mutterschaftsurlaubsvertretung ist begründbar. Ich habe die Begründung hier dargelegt. Ich kann Ihnen jetzt nur keine Zahl in bezug auf das Potential nennen. Sie können die Antwort aber sicherlich schriftlich nachgereicht bekommen, wenn Ihnen viel an der Beantwortung auch dieser Frage liegt.
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Dreßler.
Herr Staatssekretär, darf ich Sie zunächst einmal fragen, ob Ihnen der Sachverhalt bekannt ist, daß auf einem Firmengelände unter dem Dach eines Unternehmers bis zu fünf Betriebe existieren, die betriebsverfassungsrechtlich miteinander nicht verknüpft sind.
Vogt, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, das hat mit dem Fragebereich, nämlich den Rechten des Leiharbeitnehmers, auch unter betriebsverfassungsrechtlichen Gesichtspunkten, nichts zu tun.
Eine Zusatzfrage, bitte.
Da Sie die Antwort darauf verweigert haben, unterstelle ich, daß Sie es wissen; es ist nämlich so. Weil das so ist — das ist meine zweite Frage an Sie —, dürfte es Ihnen doch bekannt sein, daß solche Firmen nach bisheriger Praxis solche
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 56. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Februar 1984 3977
DreßlerArbeitsverträge für drei Monate abschließen und die betreffenden Arbeitnehmer danach im gleichen Büro, am selben Arbeitsplatz durch eine auf diesem Firmengelände unter der Herrschaft des gleichen Unternehmers obwaltende andere Firma weitere drei Monate beschäftigen; dies geschieht fünfmal hintereinander, und dann wird wieder von vorne angefangen, weil die Fristen dann unterbrochen worden sind. Können Sie sich dann, wenn nun eine Erweiterung auf sechs Monate erfolgen soll, vorstellen, daß ganze Dutzende von Arbeitnehmern durch ein solches Verfahren außerhalb der jetzt überlichen arbeitsvertraglichen Regelung von bestimmten Unternehmen beschäftigt werden?
Vogt, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Dreßler, ich wäre Ihnen sehr dankbar, wenn Sie hier nicht einen denkbaren Fall schildern, sondern einen konkreten Fall angeben würden, damit wir dieser Frage und diesem Problemfall nachgehen können. Ich weigere mich, hier auf hypothetische Fragen zu antworten. Gäbe es so etwas, müßten wir und müßte auch die Bundesanstalt für Arbeit, die ja über die Einhaltung des Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes wacht, eingreifen. Wir würden diesem Fall schon nachgehen. Aber bitte nennen Sie Roß und Reiter, damit dies auch wirklich geschehen kann.
Herr Abgeordneter Penner, bitte.
Herr Staatssekretär, ist es denn aber nicht so, daß sich jede Bundesregierung bei einem Gesetzentwurf, den sie den zuständigen Gremien zuleitet, auch über mögliche Auswirkungen solcher Gesetzesvorhaben schlüssig sein muß, und würden Sie unter diesen Umständen Ihre Antwort, die ja hypothetische Gedankengänge ablehnt, noch aufrechterhalten können?
Vogt, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Penner, ich muß Sie noch einmal darauf hinweisen, daß sich j a die Fragen nicht auf einen Gesetzentwurf der Bundesregierung beziehen, sondern auf Überlegungen, die der Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung öffentlich angestellt hat.
— Es ist natürlich das gute Recht der Abgeordneten, dann danach zu fragen. Sie werden noch früher, als der Gesetzentwurf vorliegt, das Potential erfahren können, das etwa durch die Ausweitung der Frist von 3 auf 8 Monate für diesen von mir speziell genannten Fall in Frage kommt.
Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Urbaniak.
Herr Staatssekretär, können Sie mir sagen, ob es denn nur bei Überlegungen des sehr verehrten Herrn Bundesarbeitsministers bleibt oder ob tatsächlich mit einem Gesetzentwurf zu rechnen ist? Ihre Darlegungen sind hier sehr unkorrekt.
Vogt, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Urbaniak, ich glaube, Sie kennen den Charme und das Durchsetzungvermögen dieses Bundesministers für Arbeit und Sozialordnung. Sie werden sich im zuständigen Ausschuß in absehbarer Zeit mit diesem Gesetz befassen können.
Würden Sie freundlicherweise solche Bewertungen unterlassen, Herr Kollege!
Bitte, Sie haben noch eine Zusatzfrage.
Muß man bei diesem Charme und der Durchsetzungskraft des Herrn Ministers davon ausgehen, daß die Arbeitnehmerrechte weiter demontiert werden?
Vogt, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Urbaniak, das ist genau das, was ich eigentlich aus Ihrem Munde nicht gern hören würde.
Denn, Herr Kollege Urbaniak, es geht tatsächlich darum, daß uns ja nicht nur die Aufgabe gestellt ist, denjenigen Arbeitnehmer sozial und arbeitsrechtlich abzusichern, der einen Arbeitsplatz hat. Dessen arbeitsrechtliche Absicherung wird durch das Gesetzgebungsvorhaben, das ich mit diesen Überlegungen dargestellt habe, überhaupt nicht tangiert. Es ist uns vielmehr auch die Aufgabe gestellt, zu klären, wie wir auch unserer Solidarität denjenigen Arbeitnehmern gegenüber Ausdruck verleihen, die heute draußen vor der Tür stehen und für die wir die Chance des Eintritts in das Erwerbsleben verbessern müssen.
Ich rufe Frage 24 des Abgeordneten von der Wiesche auf:
Wie bewertet die Bundesregierung die insbesondere von Gewerkschaften geäußerte Einschätzung, daß eine Ausdehnung der Höchstdauer der Arbeitnehmerüberlassung Dauerarbeitsplätze vernichtet, statt neue zu schaffen?
Kann ich auch gleich Frage 25 aufrufen?
Vogt, Parl. Staatssekretär: Nein, es sind unterschiedliche Sachverhalte.
Gut, dann zu Frage 24 Herr Staatssekretär, bitte.Vogt, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege von der Wiesche, die Bundesregierung teilt nicht die Befürchtung, eine Verlängerung der jetzt auf drei Monate beschränkten Dauer der Überlassung eines Leiharbeitnehmers an denselben Entleiher könnte Dauerarbeitsplätze vernichten.Die Arbeitnehmerüberlassung hat die Aufgabe, vorübergehenden Arbeitskräftebedarf zu decken. Der Leiharbeitnehmer tritt nicht in ein Arbeitsverhältnis zu dem Entleiher; er steht jedoch in einem Dauerarbeitsverhältnis zum Verleiher und ist dadurch wie jeder Arbeitnehmner sozial gesichert.Die Verlängerung der Überlassungsdauer soll beim Verleiher zusätzliche Dauerarbeitsplätze schaffen. Eine Gefahr für Dauerarbeitsplätze beim
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3978 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 56. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Februar 1984
Parl. Staatssekretär VogtEntleiher besteht nicht, weil nach den Vorstellungen der Bundesregierung die Überlassungsdauer des Leiharbeitnehmers zwar verlängert werden, aber begrenzt bleiben soll.Wegen der Gewinnzuschläge des Verleihers ist das Entleihen von Arbeitskräften überdies nur zur Deckung vorübergehenden Arbeitskräftebedarfs wirtschaftlich sinnvoll. Ein Arbeitgeber, der einen Dauerarbeitsplatz mit wechselnden Leiharbeitnehmern besetzt, würde wirtschaftlich unvernünftig handeln.
Zusatzfrage, Herr Abgeordneter von der Wiesche.
Herr Staatssekretär, sind Sie denn nicht der Auffassung, daß die Bundesregierung mehr Initiativkraft darauf verwenden müßte, beim Leiher mehr Dauerarbeitsplätze einzurichten, anstatt nun den Verleihern die Möglichkeit zu geben, manchmal rechtlich nicht sehr gut abgesicherte Arbeitsplätze zu schaffen?
Vogt, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, es ist Aufgabe und auch die Absicht dieser Bundesregierung, dafür zu sorgen, daß wir in diesem Lande wieder mehr zu mehr Vollarbeitsplätzen, zu normalen Arbeitsplätzen im Gewerbe, in der Industrie, im Handwerk und im Handel kommen. Sie haben sicherlich heute vormittag die Debatte über den Jahreswirtschaftsbericht verfolgt. Sie wissen, daß wir in dieser Wirtschaft wieder einen vernünftigen Wachstumspfad erreicht haben und daß dies — wenn auch bisher nur geringfügig — auf dem Arbeitsmarkt zur Geltung kommt. Von daher stellt sich die Bundesregierung dieser Aufgabe, die Sie geschildert haben, erfolgreich. Aber das enthebt uns nicht, auch noch andere Wege zu gehen. Der Weg, der hier angesprochen ist, ist ein Weg, durch den sich auch eine verbesserte Auftragslage in einem höheren Beschäftigungsstand niederschlagen wird.
Eine zweite Zusatzfrage, Herr Abgeordneter von der Wiesche.
Herr Staatssekretär Vogt, liegen denn der Bundesregierung Erkenntnisse darüber vor, daß durch die Ausdehnung der zulässigen Leiharbeit auch nur ein einziger zusätzlicher Arbeitsplatz geschaffen worden ist?
Vogt, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, dadurch, daß wir die Möglichkeiten für den Einsatz von Leiharbeitnehmern erweitern, werden wir auch hier eine positive Wirkung auf den Arbeitsmarkt haben, natürlich vor allem in den Bereichen, wo in den Entleihunternehmen ein vorübergehender Arbeitskräftebedarf gedeckt werden muß.
Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Peter.
Herr Staatssekretär, schließen Sie eine Wirkung dieses beabsichtigten Gesetzes dahin gehend aus, daß durch die Verlängerung der Fristen bei den Unternehmen die Stammbelegschaft reduziert und durch befristete Beschäftigung von Leiharbeitnehmern ersetzt wird?
Vogt, Parl. Staatssekretär: Ja, das schließe ich aus, weil der Leiharbeitnehmer für den Entleiher teurer ist als der bei ihm ständig beschäftigte Arbeitnehmer. Es ist für einen Unternehmer wirtschaftlich unvernünftig, einen Dauerarbeitsplatz mit wechselnden Leiharbeitnehmern zu besetzen. Im Normalfall gehe ich davon aus, daß die deutschen Unternehmer spitz rechnen können.
Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Lutz.
Herr Staatssekretär, wenn die Bundesregierung der Auffassung ist, sie müsse die Dauer der Arbeitnehmerüberlassung verlängern, hat sie bestimmt präzise Zahlen darüber, für wie lange die Arbeitnehmer derzeit im Durchschnitt verliehen werden?
Vogt, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, ich muß Sie darauf aufmerksam machen, daß ich diese Frage in der Antwort auf die erste Frage Ihres Kollegen Kirschner beantwortet habe. Es liegen der Bundesregierung darüber keine Daten vor. Das wird nicht erhoben. Es ist nicht feststellbar. Deshalb kann ich Ihre Frage nicht beantworten. Auch eine Nachfrage bei den Tarifpartnern hat uns darüber keine Erkenntnisse gebracht. Im übrigen ist das kein neuer Zustand, sondern es ist ein Zustand, der seit Geltung des Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes — seit 1972 — gegeben ist.
Zusatzfrage der Abgeordneten Schmidt .
Herr Staatssekretär, ich hätte gerne noch einmal eine Erklärung dafür, wieso es für Arbeitgeber teurer ist, Leiharbeitnehmer zu beschäftigen, obwohl meines Wissens diese Leiharbeitnehmer doch sämtliche Sozialleistungen des aufnehmenden Betriebes im Regelfall nicht bekommen — Weihnachtsgratifikationen, Urlaubsgeld und was immer es da gibt —, und ebenso im Regelfall die Verleihfirma solche Sozialleistungen nicht zahlt, da es sich hierbei um Arbeitnehmer auf Abruf handelt.
Vogt, Parl. Staatssekretär: Frau Kollegin, ich darf Ihnen die beiden Sätze noch einmal verlesen, die ich hier schon in der Antwort auf die Frage des Kollegen von der Wiesche verlesen habe und die unsere Überlegungen und unsere Erkenntnis wiedergeben: Wegen der Gewinnzuschläge der Verleiher ist das Entleihen von Arbeitskräften nur zur Deckung vorübergehenden Arbeitskräftebedarfs wirtschaftlich sinnvoll. Ein Arbeitgeber, der einen Dauerarbeitsplatz mit wechselnden Leiharbeitnehmern besetzt, würde wirtschaftlich unvernünftig handeln.
Zu einer Zusatzfrage der Abgeordnete Stahl.
Herr Staatssekretär, ich habe noch eine Zusatzfrage bezüglich der Mitwir-
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 56. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Februar 1984 3979
Stahl
kungs- und Mitbestimmungsrechte der Leiharbeitnehmer nach dem Betriebsverfassungsgesetz, das Sie hier angesprochen haben. Können Sie mal die Frage beantworten, wie groß eigentlich die Verleihfirmen insgesamt von der Kopfzahl der Belegschaft her sind und in wieviel Firmen — Sie haben ja hier einige Zahlen genannt — ein Betriebsrat tatsächlich tätig ist, um die Rechte nach dem Betriebsverfassungsgesetz wahrzunehmen und die Belegschaft zu vertreten?
Mit der Frage hängt es nicht zusammen, Herr Staatssekretär. Sie müssen die Frage nicht unbedingt beantworten.
Vogt, Parl. Staatssekretär: Die Frage hätte vor einer halben Stunde gestellt werden können; da besteht ein sachlicher Zusammenhang. Aber, Herr Kollege Stahl, Sie wissen, das Betriebsverfassungsgesetz gibt den Arbeitnehmern die Möglichkeit, einen Betriebsrat zu wählen. Das Betriebsverfassungsgesetz verpflichtet nicht dazu. Wir haben 1972, glaube ich, gemeinsam den Versuch unternommen, Elemente in das Betriebsverfassungsgesetz einzubauen, damit es stärker zur Nutzung kommt. Dort, wo die Arbeitnehmer das Gesetz nicht nutzen, ist dies bedauerlich. Aber das kann durch die Bundesregierung nicht vertreten werden.
Im übrigen könnte ich Ihnen nachher nach dem Stand des 30. Juni 1983 einige Zahlen geben — ich will sie jetzt nicht verlesen —, aus denen hervorgeht, wieviel Leiharbeitnehmer bei den einzelnen Verleihern sind. Die Zahlen liegen vor. Sie werden in den Bericht über die Nutzung dieses Gesetzes jährlich veröffentlicht.
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Kirschner. Es gibt nur eine Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, habe ich Sie richtig verstanden, daß die Bundesregierung keine genauen Daten darüber hat, wie lang die durchschnittliche Verleihdauer ist? Und wenn dies zutrifft, können Sie mir dann begründen, warum die Bundesregierung die Verleihdauer verdoppeln beziehungsweise sogar auf acht Monate ausdehnen möchte?
Vogt, Parl. Staatssekretär: Das wäre wiederum eine Frage im Zusammenhang mit der Frage des Kollegen Peter gewesen. Wie ich bereits auf Ihre erste Frage ausgeführt habe, liegen Zahlen zur Überlassungsdauer nicht vor, sondern nur zu den beendeten Arbeitsverhältnissen zwischen Verleihern und Leiharbeitnehmern. Davon hatten im ersten Halbjahr 1983 4 727 unter einer Woche gedauert, 17 312 dauerten von einer Woche bis unter drei Monaten und 6 470 dauerten drei Monate und länger. Dies vermittelt Anhaltspunkte, aber kann natürlich Ihre Frage nicht konkret beantworten, weil es darüber keine Erhebungen gibt, das Arbeitnehmerüberlassungsgesetz auch keine Erhebungen vorsieht.
Ich bitte, bei der nächsten Frage auf die Frage 24 einzugehen. Es handelt sich um die Frage der Dauerarbeitsplätze. — Bitte, Frau Kollegin Dr. Martiny-Glotz.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich wollte dazu noch fragen. An sich bin ich keine Arbeitsmarktspezialistin, sondern warte auf die Beantwortung der Fragen 40 und 41. Aber das Problem beginnt mich zunehmend zu faszinieren. Vielleicht verstehe ich nicht alles ganz richtig. Herr Staatssekretär, spielen wir mal folgende beiden Fälle durch. Jemand ist schwanger.
Verehrte Frau Kollegin, wir sind in der Fragestunde, Sie können keinen Diskussionsbeitrag leisten.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Nehmen wir an eine Schwangerschaft bei einer Frau oder einen komplizierten Beinbruch bei einem Mann. Beide versehen eine wichtige Tätigkeit, die sie gerne wieder wahrnehmen möchten. Wie begründen Sie, daß hier ein Dauerarbeitsplatz neu geschaffen wird, wenn diese beiden Leute nach Ablauf ihrer Erkrankung wieder an ihren Arbeitsplatz zurückkehren?
Vogt, Parl. Staatssekretär: Frau Kollegin, ich habe nicht behauptet — das unterstellen Sie jetzt wieder —, daß bei dem Entleihunternehmen Dauerarbeitsplätze geschaffen werden, sondern bei den Verleihunternehmen, die ihrerseits den vorübergehenden Arbeitsanfall bei den Entleihunternehmen, der sonst nicht gedeckt werden kann, abdecken.
Zusatzfrage, Frau Abgeordnete Fuchs.
Herr Staatssekretär, sind Sie, nachdem wir nicht genau wissen, ob durch Ihre Maßnahme neue Arbeitsplätze geschaffen werden können, und nachdem wir nicht so recht wissen, welche finanziellen Auswirkungen sie hat, nicht der Meinung, daß Charme und Überzeugungskraft des Ministers durch sachbezogene Vorbereitung, bevor Sie diese Gedankengänge in Gesetzesform bringen, ergänzt werden sollten?
Vogt, Parl. Staatssekretär: Frau Kollegin Fuchs, Sie behaupten, die vorgesehene Maßnahme bringe arbeitspolitisch nichts. Das ist eine Behauptung, die Sie aufstellen. Ich habe die gegenteilige Behauptung aufgestellt. Nur: Sie werden nicht in der Lage sein — das kann auch sonst niemand in diesem Saal —, sofort den arbeitsmarktpolitischen Effekt eines Instruments, das man neu einführt, zu prognostizieren. Ich glaube, diese Fähigkeit hatte weder die alte Regierung noch nehmen wir diese Fähigkeit für uns in Anspruch.
Ich rufe die Frage 25 des Abgeordneten von der Wiesche auf:Wie groß ist nach Schätzung der Bundesregierung die Zahl der illegalen Beschäftigungsverhältnisse in der Bundesrepublik Deutschland, und welche Maßnahmen hält die Bundesregierung für notwendig, um die illegale Beschäftigung stärker zu bekämpfen?
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3980 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 56. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Februar 1984
Vogt, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege von der Wiesche, die Bundesregierung hat wiederholt darauf hingewiesen, daß eine Schätzung der Zahl illegal tätiger Arbeitnehmer nicht möglich ist, denn es liegt im Wesen der Illegalität, daß sie sich einer statistischen Erfassung entzieht. Illegale Beschäftigung schadet in erheblichem Maße der solidarischen Sozialversicherung und der Gemeinschaft aller Bürger.Zur Eindämmung dieser Mißstände auf dem Arbeitsmarkt sind daher folgende Maßnahmen ergriffen worden:Erstens. Die Bundesanstalt für Arbeit hat im Rahmen ihrer Aufgaben zur Wahrung der Ordnung auf dem Arbeitsmarkt ihre Bemühungen um die Bekämpfung illegaler Beschäftigung erheblich verstärkt. Sie richtete in 25 Stützpunktarbeitsämtern Bearbeitungsstellen zur Bekämpfung der illegalen Beschäftigung ein. Es deutet alles darauf hin, daß diese Neuorganisation erfolgreich arbeitet.Zweitens. Um die Koordinierung der unterschiedlichen für die Bekämpfung illegaler Beschäftigung zuständigen Behörden zu verbessern, wurde beim Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung eine länderübergreifende Arbeitsgruppe gebildet. Sie arbeitet konkrete Anregungen für eine Intensivierung der ortsnahen Bekämpfung der illegalen Beschäftigung aus.Drittens. Die Aufklärung über die erheblichen schädlichen Auswirkungen illegaler Beschäftigung und die Sensibilisierung der Öffentlichkeit im Hinblick auf den Unrechtsgehalt dieser Handlungsweisen ist das Ziel gezielter Öffentlichkeitsaktionen: Herausgabe einer Broschüre des Bundesministers für Arbeit und Sozialordnung „Illegale Beschäftigung und Schwarzarbeit dürfen nicht sein", Beteiligung des Bundesministers für Arbeit und Sozialordnung an der Öffentlichkeitsaktion der Bundesanstalt für Arbeit „Aktionsgemeinschaft für ehrliche Arbeitsplätze". Darüber hinaus wird zur Zeit die Einführung einer Ausweiskarte für Arbeitnehmer im Baugewerbe erwogen.Im übrigen wird die Bundesregierung über weitere Einzelheiten, Auswirkungen und Erfahrungen bei der Bekämpfung illegaler Beschäftigung entsprechend der Entschließung des Deutschen Bundestages vom 12. November 1981 zum 30. Juni 1984 berichten.
Zusatzfrage, Abgeordneter von der Wiesche.
Herr Staatssekretär Vogt, wäre eine Ausweitung der Arbeitnehmerüberlassung nach der Auffassung der Bundesregierung noch verfassungsgemäß, nachdem bereits das von Ihnen schon zitierte Urteil des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahre 1967 ausdrücklich feststellt, daß das Vermittlungsmonopol der Bundesanstalt für Arbeit im Sozialstaatsangebot der Verfassung begründet sei und auf keinen Fall ausgehöhlt werden dürfe?
Vogt, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege von der Wiesche, ich begreife Ihre Frage deshalb nicht ganz, weil wir uns jetzt bei der illegalen Beschäftigung aufhalten und der Fragenkreis Arbeitnehmerüberlassung abgehandelt worden ist. Ich komme gern darauf zurück, aber ich glaube, es liegt nicht im Interesse der Verhandlungsführung.
Nein, es liegt ganz sicher nicht im Interesse der Verhandlungsführung. Herr Kollege, wir sprachen jetzt von den Maßnahmen gegen illegale Beschäftigung. Wollen Sie dazu noch eine Zusatzfrage stellen?
Herr Staatssekretär, sind Sie der Auffassung, daß die Maßnahmen, die Sie in gebündelter Form vorgetragen haben, den Sachzwängen gerecht werden, oder meinen Sie nicht auch, daß die ganze Frage dadurch noch verzwickter wird?
Vogt, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, wir haben auch im zuständigen Ausschuß die Gelegenheit, den Bericht zu diskutieren, der ja bis zum 30. Juni, wie ich gesagt habe, vorgelegt werden muß. Ich kann nur wiederholen: Die 25 Stützpunktarbeitsämter mit etwa 250 zusätzlich Beschäftigten, die sich diesem Problem stellen, scheinen erfolgreich zu arbeiten. Wenn es aber einen weiteren Handlungsbedarf gibt, werden wir dem sicherlich nicht aus dem Wege gehen. Ich habe schon darauf hingewiesen, daß wir zur Bekämpfung der illegalen Beschäftigung im Baubereich eine Ausweiskarte vorsehen. Im übrigen werden wir zusätzliche Maßnahmen zur Bekämpfung der illegalen Beschäftigung im Zusammenhang mit diesem Gesetz zur Förderung der Beschäftigung ergreifen. Das ist ein Element dieses Gesetzes.
Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Keller.
Herr Staatssekretär, Sie haben soeben die Ausweiskarte im Baugewerbe als ein mögliches Mittel gegen die illegale Leiharbeit angesprochen. Ist vorgesehen, eine ähnliche Ausweiskarte auch in anderen Branchen einzuführen?
Vogt, Parl. Staatssekretär: Nein, dies ist nicht vorgesehen. Es scheint bisher auch keine Anhaltspunkte für die Notwendigkeit zu geben, an die Einführung einer solchen Ausweiskarte über das Baugewerbe hinaus zu denken.
Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Kirschner.
Herr Staatssekretär, wenn die Bundesregierung selber das Problem der illegalen Beschäftigung als nicht quantifizierbar ansieht, aber sehr wohl weiß, daß dieses Problem vorhanden ist, können Sie mir einmal sagen, welche Maßnahmen die Bundesregierung über die von Ihnen genannte mit den 25 Arbeitsämtern hinaus noch ergriffen hat, um verschärft die illegale Beschäftigung bekämpfen zu können? Ist es möglich, eine Zahl zu nennen, um wieviel die Zahl der Planstellen bei den einzelnen Ländern erhöht wurde?
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 56. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Februar 1984 3981
Vogt, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Kirschner, ich kann Ihnen nicht die Frage beantworten, in welchem Umfang bei den Ländern neue, zusätzliche Planstellen geschaffen worden sind, um die illegale Beschäftigung zu bekämpfen. Ich weiß nur, daß die 25 Stützpunktarbeitsämter, die im Laufe des Jahres 1983 eingerichtet worden sind, effektiv zu arbeiten scheinen. Wir werden über die Erfahrungen, wie ich gesagt habe, noch konkreter sprechen können, wenn der Bericht erstattet ist. Im übrigen wäre ich dankbar, wenn wir zumindest in der Frage übereinstimmen könnten, daß die illegale Beschäftigung schon von der Logik her nicht quantifiziert werden kann, sondern daß wir hier immer mit gegriffenen Zahlen, die mehr oder minder realistisch sind, arbeiten müssen.
Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Peter.
Herr Staatssekretär, wissen Sie, wie Firmen mit Hilfe von Scheinwerkverträgen das Gesetz gegen illegale Beschäftigung umgehen können?
Vogt, Parl. Staatssekretär: Auch dies ist wieder eine Frage, die auf einen Tatbestand zielt, der sich so der Quantifizierbarkeit entzieht. Deshalb werden wir nur die Regelungen und die Maßnahmen zur Bekämpfung der illegalen Beschäftigung ausbauen. Ich habe darauf hingewiesen, daß wir einen weiteren Schritt tun werden und beabsichtigen, Verstöße gegen das Gesetz zur Förderung der Beschäftigung in einem stärkeren Maße aus dem Rahmen des Ordnungswidrigkeitenrechts in den Rahmen von Strafvorschriften zu überführen.
Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Lutz.
Herr Staatssekretär, Sie sprachen davon, daß Sie diese Ausweiskarte nur auf das Baugewerbe beschränken wollen. Heißt das, daß Sie die illegalen Beschäftigungsverhältnisse in anderen Branchen für vernachlässigenswert halten?
Vogt, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, dies heißt das nicht. Sie können auch aus meinen bisherigen Antworten nicht einen gegenteiligen Schluß ziehen. Denn ich habe ja Maßnahmen genannt, die in der Vorbereitung, in der Überlegung sind, die nicht auf den Bereich des Baugewerbes gesondert abzielen, sondern die den Gesamtbereich der deutschen Wirtschaft angehen.
Danke sehr.
Die Fragen 26 und 27 der Abgeordneten Frau Fuchs , die Fragen 28 und 29 der Abgeordneten Frau Schmidt (Nürnberg), die Fragen 30 und 31 des Abgeordneten Weinhofer sowie die Fragen 32 und 33 des Abgeordneten Glombig werden schriftlich beantwortet. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
Ich rufe die Frage 34 des Herrn Abgeordneten Urbaniak auf:
Auf welche Urteile stützt sich der Bundesarbeitsminister in seiner Erklärung vom 30. Januar 1984, dab schon heute nach der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts gesundheitliche Teilarbeitsfähigkeit festgestellt werden kann?
Vogt, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Urbaniak, das Bundesarbeitsgericht hat in drei Urteilen vom 2. Februar 1973, vom 25. Oktober 1973 und vom 25. Juni 1981 die Möglichkeit einer Teilarbeitsfähigkeit anerkannt. In dem Urteil vom 2. Februar 1973 — ich möchte nur dieses jetzt hier nennen — hat es dabei ausgeführt, einem Arbeitnehmer, der wegen Krankheit objektiv seine vertragliche Arbeitspflicht nicht mehr voll, aber immerhin teilweise erfüllen könne, sei zuzumuten, mögliche Teilarbeit zu leisten. Dies gelte vorbehaltlich eines sich aus den besonderen Umständen des Einzelfalls ergebenden Ablehnungsrechts des Arbeitgebers jedenfalls dann, wenn die medizinisch mögliche Teilarbeitsleistung im Rahmen der geschuldeten Vertragspflichten liege.
Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Urbaniak.
Herr Staatssekretär, stimmen Sie mit mir darin überein, daß die generelle Möglichkeit, Arbeitnehmer für teilarbeitsfähig zu erklären, den Druck auf erkrankte Arbeitnehmer verstärken wird, frühzeitiger, als medizinisch vertretbar, an ihren Arbeitsplatz zurückzukehren?
Vogt, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Urbaniak, die Befürchtung, die Sie hier ausgesprochen haben, wird auf keinen Fall eintreten. Denn ein Arbeitnehmer, der auf Grund von Erkrankung auch nicht zu einer Teilarbeitsleistung fähig ist, kann nicht gezwungen werden und wird nicht gezwungen, Teilzeitarbeit zu leisten. Nein; es geht ja genau um etwas anderes. Es liegt nämlich im Interesse der Arbeitnehmer, wegen Krankheit ihrem Arbeitsplatz nicht mehr als nötig entfremdet zu werden. Mit der erwogenen Regelung könnte auch dem medizinischen Anliegen Rechnung getragen werden, langfristig Erkrankte schrittweise wieder in den Betrieb einzugliedern. Eine solche Regelung könnte es den Betroffenen erleichtern, sich am Arbeitsplatz nach längerer Krankheit wieder einzugewöhnen. Sie würde damit dem Ziel einer erfolgreichen Rehabilitation dienen.
Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Urbaniak.
Herr Staatssekretär, besteht die Absicht, dem Betriebsrat ein Mitwirkungs- und Mitbestimmungsrecht bei der Beschäftigung von teilarbeitsfähigen Arbeitnehmern einzuräumen?Vogt, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Urbaniak, dies ist vor allem erst einmal eine medizinische Frage. Darauf werde ich in meiner Antwort auf Ihre nächste Frage eingehen. Es ist nach den bisherigen Überlegungen nicht beabsichtigt, in diesem Bereich den Betriebsrat in Entscheidungen einzubeziehen.
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3982 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 56. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Februar 1984
Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Lutz.
Herr Staatssekretär, das alles läuft ja auch unter der Überschrift „Förderung der Beschäftigung". Nun interessiert mich wirklich sehr, welche positiven beschäftigungspolitischen Wirkungen Sie von diesem Schritt erwarten.
Vogt, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Lutz, ich habe darauf hingewiesen, daß es ja im Interesse des Arbeitnehmers liegt, daß er wegen Krankheit seinem Arbeitsplatz nicht über allzu lange Zeit entfremdet wird, was seine Wiedereingliederungschance verschlechtert. Deshalb dient die Regelung, die wir im Auge haben, der frühzeitigen Wiedereingliederung und auch der Rehabilitation.
Ich rufe die Frage 35 des Abgeordneten Urbaniak auf:
Wie will die Bundesregierung sicherstellen, daß der Arzt bei der Feststellung einer Teilarbeitsfähigkeit die betrieblichen Umstände im Beschäftigungsbetrieb des Erkrankten berücksichtigt?
Bitte sehr, Herr Staatssekretär.
Vogt, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Urbaniak, die Praktikabilität einer möglichen gesetzlichen Regelung der Teilarbeitsfähigkeit hängt entscheidend von der Beurteilung der Teilarbeitsunfähigkeit durch den behandelnden Arzt ab. Die medizinischen Gesichtspunkte sind deswegen vorab mit Vertretern der ärztlichen Berufsorganisationen — Bundesärztekammer, Hartmannbund, Verband der Niedergelassenen Ärzte, Berufsverband der Praktischen Ärzte und Ärzte für Allgemeinmedizin, Kassenärztliche Bundesvereinigung, Verband Deutscher Betriebsärzte und Werksärzte, Bundesverband der Vertrauens- und Rentenversicherungsärzte — im Bundesarbeitsministerium beraten worden. Dabei erklärten mit einer Ausnahme — nämlich des Verbands der Niedergelassenen Ärzte — die Vertreter aller dieser Ärzteverbände zu einer gesetzlichen Regelung der Teilarbeitsunfähigkeit ihre grundsätzliche Zustimmung. Ohne Ausnahme waren die Vertreter dieser Organisationen der Auffassung, daß sich die aus der mangelnden Kenntnis des konkreten Arbeitsplatzes herrührenden Schwierigkeiten einer Teilarbeitsfähigschreibung verringern ließen, wenn ein Kontakt zwischen behandelndem Arzt, Betriebsarzt und Arbeitgeber möglich und zulässig sei. Wenn der behandelnde Arzt über den Arbeitgeber oder den Betriebsrat Näheres über den bisherigen Arbeitsplatz des Patienten und über die Möglichkeiten des Betriebs oder des Unternehmens, den teilarbeitsfähigen Patienten zu beschäftigen, in Erfahrung bringen könne, wäre eine gesetzliche Regelung dieser Art praktikabel zu gestalten.
Die Bundesregierung hat sich noch nicht mit der Frage befaßt, ob und in welcher Weise die Teilarbeitsunfähigkeit gesetzlich geregelt werden soll. Es wird erwogen, dies vorzuschlagen. Deshalb sind die Gespräche mit den Ärzteverbänden geführt worden.
Dabei wird aber dafür Sorge zu tragen sein, daß die ärztliche Schweigepflicht gegenüber dem Arbeitgeber gewahrt bleibt, der behandelnde Arzt also seine medizinische Krankheitsdiagnose nicht dem Arbeitgeber mitteilen darf. Das steht im Einklang damit, daß die ärztliche Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung oder Teilarbeitsfähigkeitsbescheinigung für den Arbeitgeber schon nach geltendem Recht keine Angaben über die medizinische Diagnose enthält.
Im übrigen kann auch das Vorliegen einer Vollarbeitsunfähigkeit nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts nur im Verhältnis zu den vom Arbeitnehmer übernommenen Verpflichtungen beurteilt werden.
Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Urbaniak, bitte sehr.
Herr Staatssekretär, in welchem Umfang wird die vorgesehene Regelung der Teilarbeitsfähigkeit zur Einsparung bei der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall führen?
Vogt, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Urbaniak, dies läßt sich nur auf Grund von Annahmen sagen, wie viele Arbeitnehmer in der Zukunft von dieser Möglichkeit Gebrauch machen werden. Wir sind in der Vorbereitung dieses Artikels des Gesetzes zur Förderung der Beschäftigung nicht in einem Stadium, daß ich Ihnen schon heute darauf eine Antwort geben könnte.
Zweite Zusatzfrage, bitte.
Herr Staatssekretär, können Sie mir bestätigen, daß wir heute den niedrigsten Krankenstand überhaupt seit 1955 in der gewerblichen Wirtschaft haben?
Vogt, Parl. Staatssekretär: Ich kann natürlich bestätigen, Herr Kollege Urbaniak, daß wir heute einen sehr niedrigen Krankenstand haben. Nur: Das hat nichts mit dem zu tun, was wir mit Hilfe dieses Artikels in dem Gesetz zur Förderung der Beschäftigung erreichen wollen, nämlich den Gedanken der Rehabilitation zu stärken.
Ich rufe die Frage 36 der Abgeordneten Frau Dr. Däubler-Gmelin auf:
In welchem Maße nimmt die Zahl der ungeschützten Beschäftigungsverhältnisse zu, wie entwickeln sich die Zahl und ihr Anteil im Verhältnis zu den sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnissen?
Bitte, Herr Staatssekretär.
Vogt, Parl. Staatssekretär: Frau Kollegin, wenn Sie einverstanden sind, möchte ich Ihre Fragen 36 und 37 gemeinsam beantworten.
Ich bin einverstanden.
Dann rufe ich auch die Frage 37 der Abgeordneten Frau Dr. Däubler-Gmelin auf:
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Vizepräsident Frau RengerPlant die Bunderegierung aus dem verfassungsrechtlichen Gebot der Sozialverantwortlichkeit, diese ungeschützten Arbeitsverhältnisse im Interesse der Betroffenen und ihrer Arbeitsbedingungen gesetzlich abzusichern, und wenn ja, wie?Vogt, Parl. Staatssekretär: Ich gehe davon aus, daß Sie unter der von Ihnen verwendeten Bezeichnung „ungeschützte Beschäftigungsverhältnisse" solche verstehen, die nicht der Sozialversicherungspflicht unterliegen; denn unter den Schutz des Arbeitsrechts fällt die unselbständige Beschäftigung als Arbeitnehmer immer. Dies gilt auch für Sonderformen der Beschäftigung wie kurzfristige Arbeit oder Teilzeitarbeit. Insoweit gibt es also keine sogenannten ungeschützten Beschäftigungsverhältnisse.Eine gesicherte Aussage über die Entwicklung der Zahl der Beschäftigungsverhältnisse, die unter der Geringfügigkeitsgrenze im Sozialversicherungsrecht liegen, läßt sich mangels statistischer Unterlagen nicht machen. Die Zahl kann lediglich in grober Annäherung geschätzt werden.Auf der Grundlage von Mikrozensusergebnissen des Statistischen Bundesamts vom April 1982 über die von den Erwerbstätigen normalerweise geleistete Wochenarbeitszeit in Verbindung mit Daten der Lohnstatistik dürfte die Anzahl der entsprechend Beschäftigten zwischen 500 000 und 750 000 liegen. Gemessen an allen sozialversicherungspflichtig Beschäftigten sind das knapp 3 v. H.Dabei ist zu berücksichtigen, daß die Geringfügigkeit nicht nur durch die Entgeltsgrenze von 300 DM, sondern auch durch die Grenze von 15 Stunden bestimmt wird.Es besteht jedoch die Vermutung, daß ein Teil der Beschäftigten mehrere derartige Beschäftigungsverhälnisse eingeht, so daß die Zahl der Beschäftigungsverhältnisse mit Verdiensten unterhalb der Geringfügigkeitsgrenze höher liegen dürfte. Eine Aussage über die Entwicklung dieser Beschäftigung läßt sich wegen der Unsicherheit der Schätzungen nicht treffen. Eine uns vorliegende Studie zeigt allerdings, daß die Anzahl der Beschäftigungen bis zu 15 Stunden auch über einen längeren Zeitraum relativ konstant geblieben ist.Die Bundesregierung ist bestrebt, den für Teilzeitarbeitnehmer bestehenden arbeitsrechtlichen Schutz zu verbessern. So wird beispielsweise erwogen, durch eine ausdrückliche Vorschrift eine Benachteiligung von Teilzeitarbeitnehmern gegenüber den Vollzeitarbeitnehmern im Arbeitsverhältnis grundsätzlich auszuschließen. Weitere Überlegungen gehen dahin, bei Arbeit auf Abruf dem Arbeitnehmer gegenüber dem Arbeitgeber einen Anspruch auf eine gewisse Vergütung für die Zeit zu geben, in der sich der Arbeitnehmer bereit halten muß, um auf Abruf des Arbeitgebers Arbeit zu leisten.Schließlich wird für Fälle der Arbeitsplatzteilung eine Regelung erwogen, wonach die Verpflichtung der Arbeitnehmer zur gegenseitigen Vertretung beschränkt und für die Arbeitgeberseite die Kündigung eines an der Arbeitsplatzteilung beteiligten Arbeitnehmers wegen des Ausscheidens des anderen Arbeitnehmers ausgeschlossen wird. Diese Überlegungen sind jedoch noch nicht abgeschlossen.
Frau Kollegin, ich bitte Sie, sich mit zwei kurzen Zusatzfragen zu bescheiden; denn eigentlich ist die Zeit der Fragestunde schon abgelaufen.
Frau Präsidentin, das werde ich gerne tun. Aber ich werde die Fragen dann noch einmal einbringen, weil die Probleme im Zusammenhang mit dem angesprochenen Sachverhalt einfach zu groß sind.
Erste Frage: Herr Staatssekretär, sind Sie bereit, die vorhandenen Untersuchungen, die Schätzungen beinhalten, die bis zum Vierfachen höher liegen als die von Ihnen genannten Zahlen, binnen kürzerer Frist auswerten zu lassen und dem Haus darüber Bericht zu erstatten?
Vogt, Parl. Staatssekretär: Das sage ich Ihnen zu, Frau Kollegin.
Zweite Frage: Wären Sie bitte bereit, im Rahmen dieser Untersuchung die Veränderung der Zunahme in den vergangenen Jahren erheblich feiner zu prüfen und dann dem Hause auch entsprechend zu berichten?
Vogt, Parl. Staatssekretär: Frau Kollegin, wir versuchen, möglichst exakte Zahlen anzugeben, auch hinsichtlich der Entwicklung. Aber wir sind in diesem Bereich weitgehend auf Schätzungen angewiesen, so daß Ihnen die exakten Zahlen mangels ausreichend qualifizierten Materials nicht gegeben werden können.
Danke schön, Frau Kollegin, für Ihr Verständnis.
Herzlichen Dank, Herr Staatssekretär, für diese umfangreiche Beantwortung der Fragen.
Die nicht aufgerufenen Fragen werden, soweit sie nicht vom Fragesteller zurückgezogen worden sind *), schriftlich beantwortet. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
Meine Damen und Herren, wir kommen jetzt wieder zur Beratung des Tagesordnungspunktes 3 a bis c. In der wiedereröffneten Debatte hat das Wort Herr Abgeordneter Haussmann.
Verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich sehe den neuen wirtschaftspolitischen Star der Sozialdemokraten noch nicht hier. Herr Jochimsen wollte j a weiterhin an der Debatte teilnehmen.
Ich begrüße, daß ein neues Gesicht zu sehen ist. Wir haben Herrn Dohnanyi in dieser Funktion vor*) Zurückgezogen wurden die Fragen 85 und 86 des Abgeordneten Dr. de With und die Fragen 95 und 96 des Abgeordneten Dr. Scheer.
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3984 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 56. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Februar 1984
Dr. Haussmannkurzem — leider nur kurz — erlebt. Er hat sich in Hamburg in eine heftige Hundesteuerdebatte verstrickt und steht deshalb momentan für Bonner Auftritte nicht zur Verfügung.
Diese Debatte über den Jahreswirtschaftsbericht bietet die Chance, nach einem Jahr neuer Regierung
eine kurze Bilanz zu ziehen. Aus Sicht der FDP sieht sie wie folgt aus: a) Aus ersten wirtschaftlichen Anfangserfolgen, die von Ihnen immer als kein dauerhafter Anstieg der Konjunktur verspottet wurden, werden zunehmend Dauererfolge. Das ist keine Regierungspropaganda, sondern einhellige Meinung des wirtschaftspolitischen Sachverstandes der Bundesrepublik.b) Eine wirklich stocksolide — dieses Mal paßt das Wort; Sie haben sich ja früher einmal mit dem Wort geschmückt — Haushaltspolitik des von mir sehr verehrten Bundesfinanzministers sorgt für Vertrauen, sorgt für Gewinne der D-Mark und zeugt von einem sehr, sehr energischen Angehen eines großen Problemes gerade auch für ältere Leute und für Sparer. Sie hatten nämlich den Eindruck, daß wir mit den Finanzen in Bonn nicht mehr ordentlich umgehen.Damit einher geht — c) —: Die Stabilitätspolitik ist erfolgreicher denn je; das wird heute gerne vergessen. Wir liegen mit der Schweiz gleichauf.d) Die Außenhandelsbilanz verbessert sich zunehmend.e) Die saisonbereinigte Arbeitslosenzahl — leider sehr spät und mit Verzögerung; darauf hat j a Herr Dregger zu Recht hingewiesen — sank in den letzten fünf Monaten um 130 000. Das ist nach meiner Auffassung das Positivste unserer erst einjährigen Bilanz.Meine Damen und Herren — da möchte ich Herrn Roth doch ansprechen —: Unsere Philosophie ist tatsächlich: zuerst neue Arbeitsplätze durch Wirtschaftswachstum und nicht Umverteilung eines Mangels.
Dieses Wachstum, meine Damen und Herren, findet unter anderen ökologischen Bedingungen statt als vor zehn Jahren; das sollte man hier sagen. Das ist ein ökologisch verpflichtetes Wirtschaftswachstum. Vor zwei Jahren hatten wir einen Produktionsrückgang von 1,2 Prozentpunkten. Wir haben heute im Jahreswirtschaftsbericht die sehr vorsichtige Annahme von 2,5 % Wirtschaftswachstum. Ein in diesen Dingen auch sehr vorsichtiger Mann wie der Sparkassenpräsident Geiger schätzt unser Wirtschaftswachstum auf 3,5% ein. Das heißt, wir haben in den letzten zwei Jahren eine Wachstumsdynamik von gut 4,5% real erzeugt, meine Damen undHerren. Das hätte vor anderthalb Ihren niemand für möglich gehalten.Dieser Trendbruch eines immer schwächeren Wachstums ist das eigentlich Entscheidende. Dies ist unsere Antwort, Herr Roth, auf die wichtigste innenpolitische Herausforderung, nämlich die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit. Immer noch gilt: Arbeitslosigkeit wird am wirksamsten durch mehr wirtschaftliche Dynamik, durch mehr Wachstum,
durch arbeitsplatzschaffendes Wachstum und nicht durch Umverteilung eines Mangels bekämpft.Im übrigen: Auch diese Erfolge dieser neuen Regierung von CDU/CSU und FDP finden zunehmend internationale Beachtung; Graf Lambsdorff hat darauf hingewiesen. Insofern, Frau Präsidentin, wären wir Ihnen sehr dankbar, wenn das Präsidium mit der Gewährung von Auslandsreisen für die Opposition wirklich etwas großzügiger umgehen würde; denn im Ausland kann man bereits hören — in Japan, in den EG-Staaten —, daß diese deutsche Wirtschaftspolitik sehr positiv bewertet wird.
Hieraus resultiert für die Opposition auch die Notwendigkeit, die Hauptrichtung der Propaganda zu ändern. Das große Krisengemälde, das sogenannte Kaputtsparen zählt heute nicht mehr; das wird nicht mehr ernst genommen. Insofern, meine Damen und Herren von den Sozialdemokraten, war ja auch interessant, daß es zwischen Herrn Roth und Herrn Professor Jochimsen in der wirtschaftsphilosophischen Betrachtung durchaus einen großen Unterschied gab: Herr Roth war noch beim alten Krisengemälde, während sich Herr Jochimsen durchaus darauf einließ, zu sagen, daß die Gesamtrichtung ja nicht falsch sei, daß man aber eben mit mehr Staat und weniger Markt etwas tun müsse. Das sollte zunächst natürlich geordnet werden, damit die Regierungsparteien bei Ihnen eine relativ klare Linie erkennen können. Ich nehme an, mein baden-württembergischer Freund Roth nimmt mir das nicht übel, aber seine wirtschaftspolitische Darstellung, die Argumentation, daß die Sparmaßnahmen im sozialen Bereich in der Bundesrepublik Deutschland direkt zur Finanzierung des Rüstungsdefizits in den USA führen würden, habe ich bisher nur von den GRÜNEN, und zwar im letzten Bundestagswahlkampf, gehört. In dieser Form hat ein Sozialdemokrat es bisher hier nicht vorgetragen.
Meine Damen und Herren, der Jahreswirtschaftsbericht 1984 liegt auf einem nunmehr wieder sehr, sehr klaren marktwirtschaftlichen Kurs. Diese ordnungspolitische Ausrichtung wird von allen Mitgliedern der FDP-Fraktion voll unterstützt. Unsere Linie ist mehr Markt, weniger Staat. Ich möchte dies auch als Fraktionssprecher feststellen. In dieser sehr klaren ordnungspolitischen Ausrichtung gibt es mit unserem Bonner Koalitionspartner keinerlei
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 56. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Februar 1984 3985
Dr. Haussmann.Probleme. Dies ist wichtig, weil das Akzeptanz und Vertrauen schafft. Die Wirtschaft weiß, woran sie mit dieser neuen Regierung ist. Wir lassen uns dabei auch nicht von wahlkämpfenden Ministerpräsidenten aus einzelnen Bundesländern stören. Das gehört da zum Geschäft, aber wir haben in Bonn keinerlei Dissens. Die Ziele und Grundlagen marktwirtschaftlicher Wirtschaftspolitik sind nicht umstritten. Es gibt in bestimmten Einzelfragen bei den Wegen und Instrumenten einen an sich ganz natürlichen Wettbewerb um die besseren Lösungen. Aber das ist der Unterschied zu der alten Koalition, in der wir leider — das muß ich als FDP-Wirtschaftssprecher sagen — am Schluß mit den Sozialdemokraten weder bei den Zielen noch bei den Grundlagen marktwirtschaftlicher Politik eine Verständigungsbasis hatten.Es hat sich auch heute morgen gezeigt, daß die Sozialdemokraten ohne Helmut Schmidt und Lahnstein in ihrer wirtschaftspolitischen Ausrichtung sich immer weiter von einer liberalen Marktwirtschaftspolitik entfernen. Mehr Belastungen für die Wirtschaft, klug verschlüsselte Abgaben und Steuern, indirekte Lenkungsmaßnahmen und damit mehr Bürokratie bewirken nach unserer Auffassung eher weniger Arbeitsplätze.
— Ich lebe noch von eigenen Einfällen. Herr Kollege, ich kann es Ihnen hier zeigen.Ich will hinzufügen: Nur noch Karl Schiller läßt ab und zu matt grüßen und zeugt von der besseren marktwirtschaftlichen Vergangenheit Ihrer Partei.Die Neubesinnung auch im Jahreswirtschaftsbericht auf mehr Marktwirtschaft und weniger Staat ist klar. Der Vorwurf der Untätigkeit verfängt nicht. Die nächsten Schritte sind bereits angekündigt. Entbürokratisierung, weitere Privatisierung, ein Gesetzentwurf zur Gewährung von Risikokapital, Flexibilisierung der Arbeitszeiten sind unsere Vorschläge.Ich stelle es in Baden-Württemberg immer wieder fest, wenn ich mit Sozialdemokraten das Vergnügen habe, auf Podiumsdiskussionen vertreten zu sein: Es wird immer schwieriger, den Handwerksmeister oder den Einzelhändler davon zu überzeugen, daß sie bei einer 35-Stunden-Woche mit vollem Lohnausgleich zusätzliche Arbeitsplätze schaffen können. Sie fürchten nämlich um die Existenz ihres Geschäfts.
Deshalb stimmt diese Grundphilosophie nicht.
Lassen Sie mich zum Schluß — ich will es nicht übertreiben, wir haben lange Reden schon heute morgen gehört — unsere Konzeption in sechs Punkten zusammenfassen.Erstens. Die FDP möchte, daß die Konsolidierung des Bundeshaushalts fortgesetzt wird. Wir konzentrieren uns auf eine Steuerreform. Wir wissen, daß dabei zwei Elemente eine Rolle spielen müssen. Für uns steht die Tarifsenkung im Vordergrund, aber wir wissen auch, daß sie eine zusätzliche familienpolitische Komponente enthalten muß. Allerdings — und davor möchte ich warnen —: Auch eine deutliche Tarifreform für leistungsorientierte Familienmitglieder ist keine familienfeindliche Politik.
Wir sollten uns in dieser Koalition auch davor hüten, uns in die eigentlichen leistungsorientierten Tarifsenker und die eigentlichen sozialen Familienpolitiker auseinanderdividieren zu lassen. Das würde ich für eine sehr große Gefahr halten.Zweitens. Wir sind sehr dafür, daß die Arbeitszeit liberalisiert wird. Allerdings müssen diese Maßnahmen, um die Wettbewerbsfähigkeit zu erhalten, freiwillig, später auch rücknehmbar und ökonomisch insgesamt kostenneutral sein. Wir bleiben bei der Ablehnung der kollektiven Einführung der 35-Stunden-Woche bei vollem Lohnausgleich. Wir sind verpflichtet, dazu unsere Meinung zu sagen. Graf Lambsdorff hat völlig zu Recht gesagt, hier gehe es nicht um ein, zwei Punkte bei einer Lohnerhöhung, sondern hier gehe es um eine grundsätzlich andere Ausrichtung der zukünftigen Kosten- und Wettbewerbsstruktur unserer Wirtschaft. Die FDP denkt an eine Arbeitszeit nach Maß. Wir sind der Meinung, daß arbeits-, sozial- und tarifrechtliche Regelungen getroffen werden müssen, die den jeweiligen unterschiedlichen beschäftigungspolitischen Gegebenheiten einer Branche, einer Region, aber auch der Betriebsgröße Rechnung tragen. Diese Arbeitszeit nach Maß schafft mehr Arbeit, aber sie ist das Gegenteil einer Dampfwalze, die für den Kleinbetrieb, für die gute Branche und für die schlechte Branche einheitlich die Wochenarbeitszeitverkürzung fordert.Drittens. Der Subventionsbereich muß härter als bisher angepackt werden. Eine zunehmend verbesserte Konjunktur schafft mehr Möglichkeiten des Subventionsabbaus. Subventionsabbau ist in einer konjunkturschwachen Zeit sehr schwierig. Wir schlagen vor, daß Subventionen zeitlich begrenzt, degressiv gestaffelt werden müssen. Wenn es nach uns ginge, müßten sie einer ständigen Begründungspflicht durch diejenigen, die eine Subvention begehren, unterworfen werden.
Viertens. Wir brauchen mehr Risikokapital. Herr Solms wird getrennt darauf eingehen. Ich begrüße sehr, daß ich mit unserem verehrten Kollegen Wissmann eine parlamentarische Initiative ausarbeiten konnte. Wir brauchen dabei keine neuen Subventionen, Herr Bundesfinanzminister, sondern wir möchten nur die Funktion des Kapitalmarktes durch den Abbau bestehender Hemmnisse wiederherstellen.Fünftens. Wir müssen den Weg zu einer noch stärkeren marktwirtschaftlichen Forschungsförderung fortsetzen. Wir sind hier im Gegensatz zu der Sozialdemokratischen Partei, aber auch zu bestimmten Vorstellungen, die in einzelnen Bundesländern im Moment vielleicht aus Wahlkampfgründen so im Vordergrund stehen. Das heißt für uns: Die beste Forschungsförderung ist eine deutliche
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3986 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 56. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Februar 1984
Dr. HaussmannVerbesserung der Rahmenbedingungen, weil Forschung und Entwicklung zunächst nicht Sache des Staates, sondern zunächst Sache der Unternehmen selbst sind. Dies muß durch eine bessere Eigenkapitalbildung finanziert werden.Sechstens. Entscheidend für die Beschäftigungssituation in der Bundesrepublik Deutschland wird es sein — das hat bisher leider keine Rolle gespielt —, ob es uns gelingt, der zunehmenden protektionistischen Tendenzen nicht nur in der EG, sondern auch in den Vereinigten Staaten von Amerika Herr zu werden. Im Moment liegen dem amerikanischen Repräsentantenhaus und Kongreß nicht weniger als 90 Gesetzesvorschläge vor, die gerade für die deutsche Maschinenbau- und Automobilindustrie sehr gravierende Einschränkungen hätten. Wir sollten, glaube ich, alle, auch wenn die Sozialdemokraten in manchen Punkten anderer Meinung sind, Graf Lambsdorff bei seinem morgen beginnenden Besuch in den Vereinigten Staaten von Amerika den Rücken stärken. Es wird sehr wichtig sein, daß wir in diesem Bereich nach wie vor eine eigene, sehr vorbildliche handelspolitische Haltung haben und daß Graf Lambsdorff in seinen Gesprächen mit seinen amerikanischen Kollegen dafür sorgen kann, daß es bei dieser liberalen Handelspolitik bleibt.Diese sechs Punkte sind unsere Vorschläge. Wir stellen sie zur Diskussion. Wir möchten mit diesen sechs Punkten dafür sorgen, daß es mittelfristig und nachhaltig zu einem Abbau von Arbeitslosigkeit kommt. Wir sind dafür, daß alle anderen innenpolitischen Maßnahmen diesem Ziel der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit untergeordnet werden.Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Burgmann.
Meine Damen und Herren! Liebe Freundinnen und Freunde! Der vom Bundesminister für Wirtschaft vorgelegte Bericht zur Wirtschaft 1984 wurde hier in diesem Hause wie in verschiedensten Presseerklärungen, von den Regierungsparteien, von der Regierung bejubelt. Wie wir gerade von Herrn Haussmann erfahren haben, wird er inzwischen auch weltweit bejubelt. Ich bedaure, daß wir nicht in diesen Jubel einstimmen können, auch wenn wir hier nicht wegdiskutieren wollen, daß 2,5% Wachstum in diesem Jahr wahrscheinlich Realität sind. Uns scheint es aber zuviel, daraus zu schließen: Der Aufschwung ist da.Ich habe den Jahreswirtschaftsbericht 1984 sehr aufmerksam gelesen. Wenn weitere in dieser Art folgen, ist es wahrscheinlich der letzte, den ich gelesen habe; denn ich finde, er ist eigentlich eine ziemliche Zumutung. Neben einigen ganz wenigen Daten, die in diesem Jahreswirtschaftsbericht zu finden sind, enthält er auf vielen Seiten im wesentlichen Ideologien. Sie würden zweifellos ganz gut in das Wahlprogramm von CDU oder FDP passen. Als Arbeit eines Bundeswirtschaftsministeriums und eines Bundeswirtschaftsministers ist das, wie ichfinde, aber eine ziemlich schwache Leistung.Die Kernaussage dieses Wirtschaftsberichtes lautet: Wir sind wieder auf dem Wachstumspfad; die Voraussetzung dafür ist die freie oder soziale Marktwirtschaft. Wörtlich heißt es — ich zitiere —:In einer marktwirtschaftlichen Ordnung lösen sich aller Erfahrung nach die alltäglichen Interessenkonflikte harmonischer als über kollektive oder bürokratische Lenkung.Es lösen sich also alle Probleme sozusagen von selbst. Darauf scheint Herr Lambsdorff nun schon länger zu warten.Dabei wird total verkannt oder wegdiskutiert, daß die Probleme, die wir heute haben, eigentlich das Ergebnis dieser Marktwirtschaft sind. Es geht nur darum, daß die Regierung ihre Argumentationslinie weiter in der Richtung aufbauen kann: Die Unternehmereinkünfte müssen weiter kräftig steigen, damit diese Marktwirtschaft funktioniert. Dazu ist ja nun auch einiges beigetragen worden. Diese Einkünfte haben mit einer Steigerung um rund 12 % im Jahre 1983 ein beträchtliches Ausmaß erreicht. Man will das Arbeitslosenproblem teilweise auch dadurch lösen, daß man die Ausländer hinausekelt. Sodann steht natürlich vor allem der sogenannte Abbau beschäftigungshemmender oder ausbildungshemmender Vorschriften an. Das, was als Jugendarbeitsschutz, als Frauenarbeitsschutz, als Arbeitsschutz generell, als Behindertenschutz einmal Schritt für Schritt an Sozialleistungen erkämpft worden ist, wird hier weggewischt. Man verlangt von dem einzelnen Arbeitnehmer mehr Mobilität. Am liebsten hätte man bei dieser Politik von CDU und FDP wohl wieder den Tagelöhner, der nach dem Bedarf der Unternehmen an jedem Ort und zu jeder Tageszeit eingestellt oder entlassen werden kann.
— Genau in diese Richtung geht es, Herr Stoltenberg. Das ist die primitive Argumentation Ihrer Erklärung.
Als weiterer Wachstumsmotor kommen noch die neuen Technologien hinzu, die vollkommen unkritisch in den Raum gestellt werden. Es wird nicht gesagt, welche neuen Technologien gefördert werden und was sie nützen bzw. wo sie schaden. Roboter, Computer, Gentechnologie — all das sind die Wachstumsbranchen, die uns die internationale Wettbewerbsfähigkeit gewährleisten sollen.
Die Zielsetzung ist — auch das ist heute wieder gesagt worden —: Deutschland muß wieder Spitze werden. Man fühlt sich in diesem Bundestag dann manchmal wie bei Rosenthal. Der Kampf um die
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 56. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Februar 1984 3987
BurgmannWeltmärkte muß mit aller Kraft geführt werden, natürlich auch mit dem Ziel, die anderen von diesen Weltmärkten zu verdrängen. Darunter leiden insbesondere die Länder der Dritten Welt.
Die Bundesregierung lehnt in diesem Wirtschaftsbericht auch ausdrücklich die Entschuldung und Schuldenerleichterungen für die Dritte Welt ab. Daran haben Sie, Herr Stoltenberg, maßgeblich mitgearbeitet. Sie sehen dabei zu, daß die letzten Rohstoffe dieser Länder ausgebeutet werden, die letzten Wälder am Amazonas und sonstwo abgeholzt werden und kostbare Nahrungsmittel dann als Futtermittel in die Industriestaaten verkauft werden. Das heißt, Sie akzeptieren in diesem Zusammenhang, daß Millionen Menschen verhungern, nur damit diese Länder ihre Zinsen und Schulden tilgen können.
— Ja, das ist eine Unverschämtheit. Ich sehe das auch so.
In diesem Jahreswirtschaftsbericht steht ausdrücklich: Der Markt muß das Aktionsfeld der Unternehmer bleiben; ich füge hinzu: und wenn Millionen Menschen daran zugrunde gehen und die Erde verwüstet wird.
Das ist die Konsequenz dieser Politik, die konsequente Ideologie der freien Marktwirtschaft, wie sie in diesem Jahreswirtschaftsbericht und von dieser Regierung gepredigt wird. Es ist ein ganz brutaler Wirtschaftsimperialismus, der hier vertreten wird und der in sich natürlich auch die Notwendigkeit trägt, sich mit Rüstung, mit Nachrüstung und vor allem mit einer Eingreiftruppe noch die letzten Ölfelder, die letzten Märkte mit Gewalt zu holen und zu erkämpfen. Von daher ist die Kriegspolitik dieser Regierung eins mit der Wirtschaftspolitik, mit dem Wirtschaftsimperialismus dieser Regierung.
Schauen wir uns den Aufschwung aber einmal genauer an. Wir haben — das ist hier heute schon gesagt worden — mit 2,54 Millionen Arbeitslosen unter dieser Regierung den höchsten Stand, den die Bundesrepublik je erreicht hat, und wir werden auf Jahre hinaus einen Sockel von weit über 2 Millionen haben.Das, was sich nun als Wachstum abzeichnet, ist ganz zweifelsohne auch nicht der Erfolg dieser Regierungspolitik.
Die meisten Maßnahmen werden j a überhaupt erst in diesem Jahr — im Rahmen des Haushalts 1984 — wirksam werden. Es ist im wesentlichen die Gesamtentwicklung, insbesondere aber der Sog der Politik der USA, der übrigens — im Gegensatzzu Ihrer Haushaltskonsolidierungsargumentation, Herr Stoltenberg — sicher nicht auf der Konsolidierung des US-Haushalts beruht, sondern genau auf der gegenteiligen Politik.
Auch und vor allem der günstige Dollarkurs ist natürlich für diesen Aufschwung mit maßgeblich, und das ist an Zahlen nachzuweisen, die das Bundesministerium für Wirtschaft selber herausgegeben hat, Zahlen für die Zeit von Oktober 1982 bis Dezember 1983.
In dieser Zeit steigt im verarbeitenden Gewerbe die Grundstoffproduktion im Export um 21 %, im Inland bloß um 12,6 %; bei den Investitionsgütern steigt der Export um 10,3 %, während der Absatz im Inland um 4,9 % sinkt; die Verbrauchsgüter — —
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Einen Augenblick bitte! — Bei den Verbrauchsgütern gibt es eine leichte Zunahme. Insgesamt steigt der Export im verarbeitenden Gewerbe um 12,8 %, während der Absatz im Inland bloß um 2,2 % ansteigt.
Gestatten Sie jetzt eine Zwischenfrage des Abgeordneten Dr. Stoltenberg?
Ja.
Herr Kollege Burgmann, stimmen Sie mir darin zu, daß zum erstenmal, seit die GRÜNEN dem Parlament angehören, ein Abgeordneter der GRÜNEN die Vereinigten Staaten von Amerika gelobt hat, aber ausgerechnet da, wo sie Tadel verdienen, nämlich bei ihrer Defizitpolitik?
Nein, Herr Stoltenberg, ich stimme Ihnen nicht zu. Sie haben das wieder in Ihrem Sinne herumgedreht. Ich habe nicht die USA gelobt, sondern nur festgestellt, daß das, was wir heute an Wachstum haben, im Zusammenhang mit dieser US-Politik steht. Ich wollte gerade mit der Bemerkung fortfahren, daß wir das in dem Augenblick sehr bitter bezahlen müssen, in dem der Dollarkurs wieder sinkt, und in dem Moment, in dem die USA — wahrscheinlich nach der Wahl ihres neuen Präsidenten — in die Phase der Haushaltskonsolidierung und der Bereinigung ihrer Außenhandelsbilanz eintreten.Genau deshalb steht eben — und da sollten Sie auch noch zuhören, Herr Stoltenberg — dieser Aufschwung, den Sie hier so hochjubeln, auf sehr wakkeligen Beinen, übrigens auch im Inland, wo ja nachweislich in wesentlichen Branchen schon wieder ganz erhebliche Schwierigkeiten auftreten. Der Motor Wohnungsbau ist nach der „Wirtschaftswo-
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Burgmannche" bereits wieder über den Gipfel, und auf Grund der leerstehenden Wohnungen und der hohen Zinsen wird bereits ab Mitte 1984 wieder mit einem Rückgang gerechnet.Auch den Rückgang der Sparquote und die Verschuldungsbereitschaft kann man doch wohl nicht als ein positives Signal werten. Wenn wir wissen, daß die Bevölkerung in der Bundesrepublik, daß die privaten Haushalte insgesamt mit 150 Milliarden DM, also mit 10 % des Bruttosozialprodukts, verschuldet sind, ist das wohl auch das Ergebnis dieser Regierungspolitik, die zu einer massiven Verarmung in breiten Kreisen — beispielsweise bei den Arbeitslosen und Sozialhilfeempfängern, bei den Kinderreichen und den Rentnern — führt.Wenn es gar im Bereich der Dritten Welt auf Grund der Politik der Nichtentschuldung, die diese Bundesregierung vertritt, zu einem Finanzkrach kommt, wird das wahrscheinlich einen Bankenkrach auslösen, der nach dem Domino-Effekt auch auf uns überschwappt und hier wahrscheinlich ganz verheerende Auswirkungen haben wird.Wir müssen also hier fragen: Ist das, was wir mit diesen 2,5 oder 3 % erleben, wirklich ein Aufschwung, oder ist es nur ein ganz kurzes Aufflakkern?In dieser Position können wir dem Jahreswirtschaftsbericht nicht folgen, und ich muß darüber hinaus feststellen, daß der Bericht auch zu ganz wesentlichen Dingen, die sich in der Wirtschaft ereignen oder von der Regierung geplant sind, nicht Stellung nimmt, z. B. zu der Frage: Was soll denn nun mit den 100 000 Arbeitsplätzen geschehen, die Herr Dollinger bei der Bundesbahn vernichten will? Wo sollen neue Arbeitsplätze geschaffen werden, wenn in den Stahlstandorten bis zu 30 000 Arbeitsplätze vernichtet werden, wenn im Steinkohlebergbau, wenn im Werftenbereich Arbeitsplätze verlorengehen? Woher sollen die neuen Arbeitsplätze kommen?Es ist auch zu fragen: Wo soll das an Arbeitsplätzen geschaffen werden, was durch Computer und Roboter vernichtet wird? Dieser Jahreswirtschaftsbericht fragt überhaupt nicht danach, was wächst.
Eine der Wachstumsbranchen, die effektiv da ist und die hätte benannt werden müssen, ist doch die Computerindustrie. Der EDV-Umsatz hat sich von 3,5 Milliarden DM im Jahre 1975 auf 9,4 Milliarden DM 1983 gesteigert. Richtig ist, daß hierdurch 20 000 neue Arbeitsplätze geschaffen wurden. Richtig ist aber auch, daß bis zu 30 % aller Büroarbeitsplätze durch diese EDV-Anlagen vernichtet werden.
Die andere Wachstumsbranche, die heute schon angesprochen worden ist, ist die Roboterindustrie, die in den letzten Jahren 30 bis 40 % Wachstum jährlich hatte. Sie wird nach Schätzungen bis 1990 effektiv ca. 30 000 neue Arbeitsplätze schaffen, aber 180 000 Arbeitsplätze vernichten.Das ist das Ergebnis dieser von der Regierung geförderten Technologien, dieses undifferenzierten Wachstums, das dort gefordert wird.Diese Beispiele zeigen nur den Trend, der für unsere Wirtschaft insgesamt eigentümlich ist. Nach dem Ergebnis des Ifo-Investitionstests sind 1983 53 % der Investitionen in der Industrie in Rationalisierung geflossen, 25 % in Ersatzbeschaffung und nur 22 % in Erweiterungsinvestitionen. Das heißt, die Mittel, die den Unternehmern hier zur Verfügung gestellt werden — insbesondere auch durch Senkung der Vermögensteuer —, fließen zum größten Teil in Rationalisierung und werden damit in ganz erheblichem Maße Arbeitsplätze vernichten und zur Erhöhung der Arbeitslosigkeit beitragen.Ein Jahreswirtschaftsbericht, der nur von Wachstum und Aufschwung jubelt, der nicht differenziert, der wichtige Fakten verschweigt, ist pure Propaganda. Er soll die Menschen täuschen und führt auch zu gefährlicher Selbsttäuschung und Fehlschlüssen in der Regierung und den Regierungsparteien.Kein Wunder, daß dieser Bericht auch andere wichtige Faktoren und Fakten verschweigt, so z. B. die Kosten der Arbeitslosigkeit. Diese 55 Milliarden DM 1983
gehören doch in den Jahreswirtschaftsbericht. Was hätte man damit alles machen können. Das sind doch Wirtschaftsfaktoren.Er verschweigt so z. B. die Kosten der Berufskrankheiten und -unfälle. Allein durch den Zuwachs an Erwerbsunfähigkeit kommen jährlich 30 bis 35 Milliarden DM Kosten auf unsere Volkswirtschaft zu. Der Anteil der Erwerbsunfähigkeit im Bereich der Rentenversicherung stieg von 1976 bis 1982 von 41 auf 51,3 %.
Eine ganz andere Zahl: Wachstum des Autoverkehrs. Auch das ist eine Wachstumsbranche, die von dieser Bundesregierung bejubelt wird. 14 000 Tote im Jahr zählen im wirtschaftlichen Bereich sowieso nicht, aber nach einer Schweizer Studie kommen allein 40 % aller Lungenkrebsfälle vom Autoverkehr. 20 000 Straßenbäume fallen ihm jedes Jahr in der Bundesrepublik zum Opfer. Etwa 2 Millionen Autowracks und 38 Milliarden DM Unfallkosten sind wohl auch in diesem Bruttosozialprodukt enthalten. Darüber hinaus gibt es 100 000 t Stickoxide, die sich natürlich im Waldsterben auswirken.Damit sind wir in einem Bereich, in dem wir die größten Zuwachsraten im Jahre 1983 zu verzeichnen hatten. Von zehn auf 35 % sind die Flächen, auf denen der Wald stirbt, in einem Jahr angewachsen. Folgekosten allein im Wald direkt: 1,7 Milliarden DM pro Jahr. Hunderttausende Arbeitsplätze sind hier gefährdet. Das Umweltbundesamt rechnet allein mit 4 Milliarden DM Schaden durch Luftverschmutzung jedes Jahr.
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 56. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Februar 1984 3989
BurgmannWenn Herr Schneider sein Wohnungsbauprogramm in der Weise mit der entsprechenden Versiegelung und Betonierung unseres Bodens fortführt — 15 % des Bodens sind bereits betoniert und asphaltiert —, wenn noch 10 % dazukommen, wird sich der Wasserabfluß in der Bundesrepublik ungefähr verdoppeln.
Die Mülldeponien werden Sanierungskosten für unsere Wirtschaft bedeuten, Gerolsheim zirka 10 bis 30 Millionen DM. Bei Hamburg-Georgswerder spricht man von 40 Milliarden DM, die die Abtragung kosten soll. Rund tausend solcher gefährdeter Deponien gibt es in der Bundesrepublik. Man könnte das beliebig fortsetzen.Das sind Fakten und Zahlen, die in diesem Wirtschaftsbericht nicht zu finden sind. Das sind eben nicht nur menschliche Probleme, nicht nur soziale und ökologische Probleme, sondern das sind Fakten und Kosten von ganz herausragender Bedeutung für unsere Wirtschaft, erstens, weil sie zum größten Teil von der Wirtschaft verursacht sind, zweitens, weil die Wirtschaft die Kosten, die hier entstehen, wieder erwirtschaften muß, weil die Menschen das erarbeiten müssen. Das müßte drittens, wenn diese Faktoren in diesem Jahreswirtschaftsbericht aufgeführt worden wären, dazu führen, daß entsprechende Konsequenzen daraus gezogen würden.
Aber das ist eben nicht der Fall.
Ein Wirtschaftsbericht, der nicht die sozialen und ökologischen Entwicklungen und Kosten berücksichtigt und in den richtigen Zusammenhang bringt, geht an der Diskussion und Entwicklung der letzten 15 Jahre vorbei und wird weiter zu einer falschen Politik führen, die Not und Zerstörung vorantreibt, statt sie zu beseitigen.Die Herausforderungen unserer Zeit in der hochindustrialisierten Bundesrepublik für eine neue Wirtschaftspolitik, sind ganz anders, als in diesem Wirtschaftsbericht festgelegt ist. Es geht nicht um Wirtschaftswachstum oder um Haushaltskonsolidierung oder um Unternehmergewinne. Es geht um eine Wirtschaftspolitik, in der ohne Wachstum durch sinnvolle Produktion nützliche Dinge hergestellt werden und Umwelt und Mensch geschützt werden, mit dem Ergebnis, daß die sozialen Kosten und die Umweltkosten so verringert werden, daß wir selbst bei sinkendem Bruttosozialprodukt wirtschaftliche und menschliche Gewinne erzielen können.
Ein Schritt in diese Richtung wäre zweifellos eine bessere Arbeitsverteilung, eine bessere Anpassung der Arbeitszeit an den menschlichen Bedarf. Wir meinen, da ist das Bemühen um die 35-StundenWoche ein Schritt in die richtige Richtung, den wir unterstützen werden. Wir finden es ziemlich infam, wenn sich die Regierung sowie die CDU/CSU und FDP durch eine bedingungslose Verteufelung der 35-Stunden-Woche wieder als Unternehmerpartei beweisen.
Der Jahreswirtschaftsbericht schreckt vor Falschdarstellungen im Unternehmerstil nicht zurück. Ich zitiere: „Der Produktionszuwachs kann jeweils nur einmal verteilt werden." Meine Damen und Herren, selbst wenn Herr Lambsdorff so blind und so taub gegenüber der Arbeitnehmerseite ist, ihm kann doch nicht entgangen sein, daß die Gewerkschaften, speziell die IG Metall, in diesem Jahr nicht mehr Lohn fordern, sondern eine Verteilung des Produktionszuwachses durch Arbeitszeitverkürzung, also genau das Gegenteil von dem, was da unterstellt wird. Ich finde, das ist ein mutiger Schritt. Ich finde es sehr beschämend, wie Herr Lambsdorff hier die IG Druck und Papier — und ich gebrauche jetzt in etwa seine Worte — mit einem Griff in die kapitalistische Gruselkiste zu diffamieren versucht hat. Das müssen wir schärfstens zurückweisen.Die Gewerkschaften fordern von den Arbeitern, daß sie auf mehr Lohn verzichten, zugunsten der Arbeitslosen auf die Straße gehen und streiken, damit sie eine bessere Chance auf neue Arbeitsplätze haben. Das finde ich einen außerordentlich solidarischen Akt, den wir unterstützen und nicht verteufeln sollten. Wenn dann eine Bundesregierung argumentiert, wie es hier Herr Lambsdorff getan hat, müßte das eigentlich einen Proteststurm auslösen.Eine neutrale Bundesregierung müßte versuchen, hier auch neutrale Zahlen vorzulegen, beispielsweise, wieviel neue Arbeitsplätze die 35-Stunden-Woche wirklich bringt. Ist die Zahl 1 Million Arbeitsplätze effektiv richtig? Man müßte der Argumentation der Unternehmer, daß dies 16 bis 20 % mehr koste, entgegenstellen, daß es sich wahrscheinlich nur um eine Kostenerhöhung von 2 bis 3 %, maximal 4 % handelt und daß dies dann weitgehend durch die Einsparung in der Arbeitslosenversicherung und durch die Steuergewinne aufgefangen werden würde. Eine Bundesregierung, die neutral wäre, müßte sich hier entsprechend sachlich verhalten.
Die GRÜNEN sehen, daß die Regierung die Politik der Umverteilung zugunsten der Unternehmer auch hinsichtlich der Arbeitszeit und des Produktivitätszuwachses weitertreibt. Dabei gewinnt der Kampf der Gewerkschaften um die 35-Stunden-Woche eine zunehmende und historische Bedeutung. Es geht nicht mehr nur um Arbeitszeitverkürzung, um mehr Freizeit und weniger Arbeitslose, sondern es geht auch um die Frage, ob die Menschen in den Betrieben, ob die Gewerkschaften die Kraft haben, die Umverteilung zugunsten der Unternehmer aufzuhalten oder sogar umzukehren.
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3990 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 56. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Februar 1984
BurgmannDa sind wir alle gefordert. Ich meine, da ist auch die Ökologie- und Friedensbewegung gefordert, die in ihrem Kampf immer die Unterstützung durch die Gewerkschaften gefordert hat. Ich möchte heute die Friedens- und Ökologiebewegung aufrufen, auch die Gewerkschaften in ihrem Kampf um die 35-Stunden-Woche und gegen eine Unternehmergesellschaft solidarisch zu unterstützen. Auch das ist ein Beitrag zum Frieden und zur Ökologie in diesem Lande. Arbeitszeitverkürzung ist also ein Mittel zur besseren Verteilung von Arbeit ohne Wachstum.Die GRÜNEN werden aus diesem Grunde am 9. und 10. März hier im Hause ein Arbeitsforum durchführen. Wir werden mit den Betroffenen aus den Betrieben, mit Arbeitsloseninitiativen, mit Gewerkschaften und mit Wissenschaftlern vor allem über begleitende Maßnahmen zur 35-Stunden-Woche diskutieren. Wir werden erstens über Verbesserungen der Arbeitszeitordnung in Richtung auf weniger Überstunden, über Freizeitausgleich statt Überstundenvergütung und über mehr Möglichkeiten der Arbeitnehmer, Freizeit zu beanspruchen — aber nach ihrem Bedarf und nicht nach dem Bedarf der Unternehmer —, reden. Wir werden zweitens über Erleichterungen bei der Steuer und bei der Sozialversicherung zur Ermöglichung der Reallohnsicherung bei Einführung der 35-Stunden-Woche und drittens über Verbesserungen der Mitbestimmung in den Betrieben bei Investitionen im Sinne von mehr Arbeitsschutz, Arbeitsplatzsicherung und Umweltschutz sprechen.Die 35-Stunden-Woche ist also ein Schritt nach vorn in Richtung auf mehr Arbeitsplätze ohne Wachstum, auf Entlastung von der Lohnarbeit, auf mehr Zeit für Haushalt, Familie und Kultur und vor allem auch für Politik, wovor vielleicht manche in diesem Hause Angst haben.
Deshalb wäre es eigentlich auch eine Aufgabe der Regierung, in dieser Richtung unterstützend einzugreifen.Aber Arbeitszeitverkürzung ist natürlich kein Allheilmittel. Wir sehen hier eine Möglichkeit, die auch aufgegriffen werden sollte, aber nach unserer Auffassung sind ganz andere wichtige Aufgaben in der Wirtschaft bei weitem nicht erfüllt. Wenn das Wirtschaftsministerium die von der Wirtschaft verursachten Kosten im sozialen und im ökologischen Bereich in dem Bericht aufgeführt hätte, dann wäre man zwangsläufig darauf gekommen, daß man hier ganz andere Maßnahmen ergreifen muß. Man hätte erkannt, daß es nicht darum geht, mehr zu produzieren, sondern daß es darum geht, anders und anderes zu produzieren. Die GRÜNEN haben im Haushalt 1984 einige Vorschläge dazu gemacht, sie haben aber auch aufgezeigt, wie dafür Geld aus dem Haushalt bereitgestellt werden könnte. Ich will das hier nicht mehr im einzelnen aufführen, sondern ich will in dem Zusammenhang nur kurz deutlich machen, daß es auch hier nicht darum gehen kann, eine neue Umweltindustrie aufzubauen. Man sollte im Umweltbereich kein grenzenloses Wachstum erwarten. Man sollte nicht eine neue Umweltindustriepolitik ins Leben rufen, wie ich das bei der SPD teilweise sehe.Wichtige Bestandteile der Diskussion über diese neu anstehenden Aufgaben sind der Arbeitsplatzeffekt und die Möglichkeiten zur Strukturverbesserung. Ich möchte das nur an dem Beispiel der alternativen Energieversorgung deutlich machen. Nach einer US-Studie, dem Bericht Nr. 95/1090 vom 26. April 1978, können beim Einsatz der gleichen Mittel für alternative Energieversorgung statt für Atomenergie bis zu viermal mehr Arbeitsplätze geschaffen werden, und es kann bis zu dreimal mehr Energie gewonnen werden. Das ist jedem deutlich, der ein bißchen von Technologie versteht.
— Es ist sehr gut, daß ich das bin, denn deshalb habe ich nämlich ein wenig Durchblick.
Daraus resultieren einfachere Technologien, ein geringeres Risiko, weniger Sicherheitsauflagen, kurze oder gar keine Genehmigungsverfahren. Das sind entscheidende Möglichkeiten, auch zur Verbesserung der Strukturen. Atomenergie muß auf Grund ihrer Kosten, ihrer Probleme zwangsläufig zentralistisch angewendet werden. Es gibt in der Bundesrepublik nur noch einen Konzern, der Atomkraftwerke baut. Eine umweltgerechte Energieversorgung, Sonnenkollektoren, Biogasanlagen, Wärmedämmung, Wärmerückgewinnung — das kann eben von Kleinbetrieben erzeugt werden, die Sie sonst angeblich immer so fördern wollen. Das kann vom Handwerk installiert werden. Das ist ein Beitrag für das Handwerk. Das kann von Einzelpersonen gekauft und auch angewendet werden.Hier ist eine breite regionale Streuung möglich. Das können Sie in der Oberpfalz, in der Rhön, im Wendland, im Saarland, überall anwenden, überall produzieren und neue Arbeitsplätze schaffen und damit auch eine entscheidende regionale Strukturverbesserung einleiten und eine echte Förderung der kleinen und mittleren Betriebe.Hier sehen wir vor allem auch die Möglichkeit, neue Aufgaben für die Arbeitslosen zu schaffen, für die sich sonst überhaupt keine Perspektiven mehr bieten, wieder in den Arbeitsprozeß zurückzukommen. Für diese Menschen gibt es hier Aufgaben, die man ihnen durch entsprechende Unterstützung anbieten könnte. Alternative Produktion für Betriebe, wo Menschen verzweifelt versuchen, mit Besetzung Widerstand zu leisten, um ihren Betrieb zu erhalten — hier könnte man ihnen ein Feld anbieten, wo sie ihre Arbeitsplätze erhalten können und ihre Produktion weiterführen könnten.
Ich empfinde es als sehr positiv, daß dieser Teil der Alternativwirtschaft, der Schattenwirtschaft
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 56. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Februar 1984 3991
Burgmannwächst. Ich habe keine Angst vor der Schwarzarbeit, ich habe mehr Angst vor den Schwarzen.
— Ziehen Sie sich lieber den Schuh an.Dieser Bereich müßte gestützt werden, nicht nur, weil hier eine andere Produktion entsteht, sondern vor allem weil auch hier Modelle für andere Produktionsweisen entstehen, für eine menschlichere Arbeitswelt — diskutieren Sie einmal mit diesen Leuten, die da arbeiten —
und vor allem für eine selbstverwaltete Produktion.Wenn in diesem Jahreswirtschaftsbericht von Entfaltungsspielraum die Rede ist, dann möchten wir das sehr befürworten, aber nur dann, wenn dieser Entfaltungsspielraum nicht nur für die Unternehmer, sondern vor allem auch für die Arbeitnehmer, für die Menschen in den Betrieben gilt. Deshalb treten wir für selbstverwaltete Produktion in den Betrieben ein.
Dieses Wachstum der Alternativwirtschaft kann dann effektiv zu mehr und menschlicheren Arbeitsplätzen führen,
zu Arbeit dort, wo Menschen leben, zu Arbeit, die nicht Umwelt zerstört, sondern erhält, zu Arbeit, die nicht Folgekosten verursacht, sondern einspart, zu Arbeit, die uns unabhängiger von den Rohstoffimporten macht und damit auch unabhängiger vom Export. Dann brauchen wir nämlich nicht die zweitgrößte Exportmacht der Welt zu sein.
Das ist nämlich der Vorteil.Diese Technologien, die Sie in die Dritte Welt geliefert haben, die mit der Entwicklungshilfe unterstützt wurden, haben im wesentlichen zu der Verschuldung in der Dritten Welt geführt und heute zum Hunger und Elend und dazu, daß diese Länder die Zinsen nicht mehr aufbringen können.Die Technologien, die ich hier angeführt habe, diese billigen, einfachen Technologien, die Sonnenenergie, die dort in größtem Maße vorhanden ist, genau das sind die Technologien, die auch einen entscheidenden Beitrag leisten können, eine eigenständige Entwicklung in der Dritten Welt einzuleiten und diese Länder bald in die Lage versetzen, diese Produkte selber zu erstellen und selbständig zu werden und nicht abhängig von den Brosamen der Industrienationen.Von all dem ist im Jahreswirtschaftsbericht 1984 keine Spur. Diese Wirtschaftspolitik hat kein Ziel außer Wachstum und Unternehmergewinne, keine qualitative und differenzierte Bewertung. Keine herausragenden Probleme unserer Zeit sind erfaßt.In der Sprache des Herrn Bundeskanzlers möchten wir zu Herrn Lambsdorff sagen: Sie haben Ihre Hausaufgaben nicht gelöst, Herr Lambsdorff.
Wir können auch darum Herrn Kohl nur empfehlen, Sie nach Hause zu schicken.Außerdem möchte ich Herrn Kohl noch daran erinnern: Wir wollen keine Atomraketen in diesem Lande.
Das Wort hat der Herr Bundesminister der Finanzen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich möchte zur bisherigen Debatte sagen: Wirtschaftspolitik, Arbeitsmarktpolitik, Finanzpolitik in unserem demokratischen Bundesstaat können sich nur in enger Zusammenarbeit von Bund und Ländern— Herr Professor Jochimsen ist zur Zeit leider nicht da — und bei allen Spannungen und Gegensätzen, die es natürlich gibt, im Zusammenwirken der großen autonomen und sozialen Gruppen vollziehen. Ich möchte deshalb gern an dieser Stelle einige der Vorwürfe von Herrn Minister Jochimsen— ich nehme an, er wird Gelegenheit haben, es nachzulesen —
kritisch untersuchen.Die Behauptung, die Bundesregierung verweigere im Jahreswirtschaftsbericht 1984 zum ersten Mal konkrete Orientierungshilfen, ist abwegig. Ich habe mich wirklich gefragt, welches Dokument Herr Professor Jochimsen gelesen hat oder hat lesen lassen — das gibt es manchmal auch —, als er dies hier vortrug;
ob es vielleicht der Orientierungsrahmen '85 war, ein neuer Entwurf der Grundwertekommission oder der letzte Landesplanungsbericht der Landesregierung Nordrhein-Westfalen.
Der vom Kabinett beschlossene und vorgelegte Text des Jahreswirtschaftsberichts kann durch einen solchen Vorwurf überhaupt nicht getroffen werden.Mir sind auch bemerkenswerte Widersprüche aufgefallen. Zunächst haben wir von ihm wie auch von dem Kollegen Roth das bewegte Klagen über
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3992 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 56. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Februar 1984
Bundesminister Dr. Stoltenbergdas angebliche Fehlen von Industriepolitik vernommen. Dann hat Herr Jochimsen aber doch einen Dank für die Hilfezusage des Bundeskanzlers für die Stahlindustrie, vor allem an Rhein und Ruhr, ausgesprochen. Damit dies nicht zu sympathisch erscheint, hat er das halb zurückgenommen, indem er vorsorglich eine Klage über den angeblich drohenden Rückzug des Bundes aus dieser Förderung folgen ließ.Ich glaube, es ist richtig, kurz etwas über Regionalpolitik zu sagen, wie wir sie verstehen. Regionalpolitik erfolgt auf der Grundlage der in der Verfassung verankerten Aufgaben von Bund und Ländern, vor allem auf dem wichtigen Instrument der Gemeinschaftsaufgaben. Regionalpolitik wollen wir auf der Konzeption sozialer Marktwirtschaft, aber vor allem auch der Berechenbarkeit und der Verläßlichkeit der Gesamtrichtung der Politik vollziehen. Regionalpolitik und, soweit erforderlich, sektorale Politik können nicht ein wahlloser Interventionismus sein, weil damit die Gerechtigkeit gegen andere auf der Strecke bleibt.
Es ist ja sehr erstaunlich, wenn Herr Kollege Roth und Herr Kollege Professor Jochimsen
uns hier trotzdem Versäumnisse in der Regionalpolitik vorwerfen. Wir haben nach dem Regierungswechsel die Bundesmittel für die großen Gemeinschaftsaufgaben, die der Regionalpolitik dienen, nachhaltig und dauerhaft erhöht, nachdem unsere sozialdemokratischen Vorgänger sie massiv zusammengestrichen hatten. Wir haben die Bundesmittel für die Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen nachhaltig erhöht, gegenüber dem Jahr 1982 verdoppelt. Und da wir das hier schon mehrmals ausgetauscht haben, ist es, offen gesagt, enttäuschend, wenn solche wichtigen Entwicklungen auch im Interesse der wirtschaftsschwächeren Regionen der Bundesrepublik Deutschland einfach nicht zur Kenntnis genommen werden
und statt dessen die alten polemischen Formeln seit dem Herbst 1982 nur wiederholt werden.Und deswegen ist es auch eine Leerformel, wenn der Kollege Roth hier behauptet hat, daß wir nichts weiter betrieben, als einem blinden Wachstumsglauben zu frönen, ohne die regionalen oder sektoralen und vor allem die sozialen, die menschlichen Probleme zu sehen. Wachstum mit einem strengeren ökologischen Ordnungsrahmen ist, wie mir scheint, das Erfordernis unserer Zeit. Ich will mir versagen, sehr geehrter Herr Burgmann, auf Ihre Ausführungen einzugehen. Ich habe Mühe, dabei höflich und ruhig zu bleiben — ich muß das in aller Offenheit sagen —, wenn ich das näher tun würde.
— Nein, nein. Ich will es mit Blick auf die Zeit nicht tun. Ich will mich der Sache zuwenden.Ich will das, was so kritisch und polemisch angesprochen wurde, einmal unter dem Vorzeichen der Stahlindustrie behandeln. Wir haben in unendlich schwierigen Verhandlungen Ende vergangenen Jahres eine Situation erreicht, in der es ein abgestimmtes Umstrukturierungskonzept für jedes deutsche Stahlunternehmen gibt. Es gibt wirksamere Formen der Kooperation. Leider war es nicht möglich, wünschenswerte Fusionen zu erreichen. Aber in einer privatwirtschaftlichen und mitbestimmten Form der Unternehmensorganisation können und wollen wir diese Frage nicht in der letzten Verantwortung des Staates entscheiden.
Man kann nicht beides haben: Freiheit und Mitbestimmung in den Betrieben und den Appell an den Staat, das, was die Unternehmen an Entscheidungen nicht leisten, als Ersatzhandlung vorzunehmen. Sie wissen genausogut wie ich, daß dies ein fundamentaler Widerspruch ist.Aber dies ist ein bedeutender Fortschritt gegenüber der Situation der deutschen Stahlindustrie zur Zeit der sozialdemokratischen Regierungsführung. Wir haben in schwierigsten Verhandlungen auch einige Fortschritte im europäischen Stahlmarkt erreicht. Wirksame begrenzte Hilfen sind notwendig, aber auch das Ende des Subventionswettlaufs in der Europäischen Gemeinschaft, der in den vergangenen Jahren unseren Betrieben und Arbeitsplätzen nur zum Nachteil gereichte. Beides ist notwendig.
Herr Bundesminister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Dr. Jens?
Bevor ich gern eine Zwischenfrage beantworte, Herr Kollege, will ich wegen der massiven Polemik sagen, daß diese Entwicklung der letzten 15 Monate maßgeblich unter der Federführung des Bundeswirtschaftsministers, des Kollegen Graf Lambsdorff, durchgeführt wurde und daß es zweifellos ein Verdienst ist, daß wir durch seine Initiativen diese Ergebnisse erreicht haben.
Bitte sehr.
Herr Abgeordneter Dr. Jens zu einer Zwischenfrage.
Herr Bundesminister, stimmen Sie Ihrem Kollegen Köhler und auch mir zu, wenn wir feststellen, daß es auf dem Stahlmarkt Wettbewerb im herkömmlichen und im funktionsfähigen Sinn überhaupt nicht mehr gibt und insofern sehr wohl der Staat aufgerufen ist, hier etwas zu unternehmen?
Es gibt in diesem Bereich Wettbewerb sicher unter sehr eingeschränkten Bedingungen. Ich würde nicht sagten, daß der Wettbewerb vollkommen ausgeschaltet ist; denn die bei einem eingeschränkten Reglement der Europäischen Gemeinschaft den-
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 56. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Februar 1984 3993
Bundesminister Dr. Stoltenbergnoch recht unterschiedliche Situation der einzelnen Stahlunternehmen in der Bundesrepublik Deutschland zeigt, daß auch unter diesen restriktiven und im Prinzip nicht wünschenswerten Bedingungen sich sehr wohl unternehmerische Entscheidungen oder unternehmerisches Fehlverhalten auf die Situation der einzelnen Betriebe und ihre Arbeitsplätze wesentlich auswirken können.
Im übrigen, Herr Kollege Roth, möchte ich zu der einen Bemerkung, die Sie gemacht haben, folgendes sagen. Wir haben zu keinem Zeitpunkt daran gedacht, Anteile von Arbed Saarstahl zu übernehmen. Das wäre gegen unsere Grundüberzeugungen. Aber wir haben den Rahmen für weitere Hilfe in langen Verhandlungen mit dem Saarland festgelegt. Wir werden ihn ausschöpfen, allerdings auch einhalten. Im übrigen ist es sicher notwendig, dieser hart bedrängten Region auch unter den Gesichtspunkten der Regionalpolitik mit den möglichen Instrumenten besonders zu helfen.Herr Kollege Roth hat gemeint, angeblich fehlten Konzepte gegen die Arbeitslosigkeit, wir betrieben eine Politik gegen sozial Schwache. Ich kann das nur noch als abgenutzte bekannte Leerformel bezeichnen. Ich möchte deutlich machen, wie sehr dies an den Tatsachen und der Politik der Bundesregierung vorbeigeht.Tatsache ist, daß eine glaubwürdige Politik der Konsolidierung, die fortgesetzt werden muß, das Vertrauen in die Deutsche Mark gestärkt hat.
— Aber ich bitte Sie, das ist keine Leerformel, weil ich jetzt zum zweiten Satz komme und deutlich mache, was damit gemeint ist.
Das heißt, sehr geehrter Herr Kollege, wenn Sie das noch nicht zur Kenntnis genommen haben, daß sich seit Anfang dieses Jahres der Wert der Deutschen Mark gegenüber den wichtigsten internationalen Währungen, nämlich dem Dollar, dem Yen und dem Schweizer Franken, um 4 bis 6 % erhöht hat. Wenn ich Ihnen das sage, ist schon deutlich, was gemeint ist. Dann können Sie nicht mehr von „Leerformeln" reden.
Das sind Tatsachen von allergrößter Bedeutung, und zwar nicht nur für Währungsfachleute, sondern für die Bürger unseres Landes, meine Damen und Herren.
Herr Bundesminister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Ehrenberg?
Zu einem späteren Zeitpunkt.
Dieses wachsende Vertrauen in die Deutsche Mark ist eine der entscheidenden Ursachen für den starken Rückgang der Teuerungsrate: von 5 1/2% im Jahresvergleich vor 18 Monaten auf jetzt 3 %. Das ist keine Leerformel, sehr geehrter Herr Kollege, sondern eine entscheidende Frage für die Verbraucher und vor allem für die sozial Schwachen, von denen Sie soviel reden, aber deren wirkliche Interessen Sie überhaupt noch nicht begriffen haben.
Diese jüngste Bewegung zugunsten der Deutschen Mark — seit Januar — steht nach der Überzeugung vieler unabhängiger Fachleute durchaus in einem Zusammenhang mit der eindrucksvollen Haushaltsbilanz des Jahres 1983, mit den Entscheidungen der Koalition über die Haushaltspolitik 1984, mit der wachsenden Überzeugung, daß diese Regierungskoalition gewillt ist, die Politik weiterzuführen. Dieses Vertrauen dürfen wir alle im Interesse der Bürger der Bundesrepublik Deutschland nicht in Frage stellen.Wir haben in den letzten Monaten zweifellos eine Sorge gehabt: daß unter einem bestimmten Aspekt die Preisstabilität wieder in Frage gestellt werden könnte. Der zeitweise weit überhöhte Wert des Dollars — noch Anfang dieses Jahres bei über 2,80 DM, heute etwa bei 2,65 DM — hat zu einem relativ starken Wachstum der Importpreise beigetragen: um fast 6% in fünf Monaten. Auch deshalb ist es wichtig, daß wir mit unserer Politik alles tun, um diese begonnene Trendwende zur Stärkung der Deutschen Mark nachhaltig zu unterstützen, gegen mögliche widrige Einflüsse — die es geben kann —, soweit wir es können, abzuschirmen, damit Preisstabilität, damit wirtschaftliche Stabilität im Interesse der Bürger und — ich sage es noch einmal — vor allem der sozial Schwachen erreicht, gehalten und gefestigt werden können. Denn von der Antwort auf die Frage, ob die Teuerungsrate in diesem Jahr bei 3 % bleibt oder wieder in Richtung 5% geht und wie die Werte im kommenden Jahr sind, hängt in Wahrheit der Lebensstandard der breiten Schichten der Bevölkerung viel stärker ab als von unendlich vielen Anträgen, die im Deutschen Bundestag eingebracht werden, wo wir darüber streiten, ob wir irgendwo 500 Millionen DM oder 1 Milliarde DM mehr oder weniger an Staatsleistung geben oder geben können.
Wir dürfen uns als Parlamentarier bei den Haushaltsleistungen und beim Ausschöpfen der Spielräume für finanzwirksame Gesetze — diese Spielräume werden auf Jahre sehr eng sein — ja auch nicht in dem überschätzen, was wir bewegen können. Entscheidend ist, daß die erreichten Fortschritte auf dem Gebiet der Preisstabilität, der Bekämpfung der Inflation weitergeführt werden. Hier besteht ein sehr unmittelbarer Zusammenhang mit den abstrakten Problemen der Währungspolitik und den immer soviel zitierten sozialen Belangen.Es ist schon beachtlich, wichtig, daß nach manchen Schwankungen im letzten Jahr mit dieser Entwicklung der letzten Wochen auch ein erneuter leichter Zinsrückgang — eigentlich gegen die Er-
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3994 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 56. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Februar 1984
Bundesminister Dr. Stoltenbergwartungen — verbunden ist. Wir hoffen — wir können es nicht mit Sicherheit sagen — —
— Ich spreche von den letzten Wochen. Ich bin gern bereit, Ihnen die Zahlen vorzulesen, Herr Kollege Apel.
— Ich sage: Wir hoffen. Das ist eine vorsichtige Formulierung.
— Nein, wir haben begründete Hoffnungen, und Sie hoffen nur. Das ist ein gewisser Unterschied.Wir hoffen, daß sich dieser Prozeß stabilisiert und fortsetzt. Jedenfalls müssen wir das uns Mögliche tun. Die Tatsache, daß wir im Verhältnis zu den Vereinigten Staaten von Amerika bei einer stärker werdenden D-Mark mittlerweile eine Situation haben, in der sich der Abstand bei den Realzinsen von 3,5% — ich glaube, die Zahl ist heute morgen noch genannt worden — jetzt in Richtung auf 4% bewegt, ist schon ein eindrucksvolles Beispiel für das Vertrauen in die Grundlagen unserer Wirtschafts- und Finanzpolitik in der Bundesrepublik.
Herr Kollege Apel, die Risiken sind klar. Sie liegen vor allem in der amerikanischen Situation, in dem Spannungsverhältnis zwischen Haushaltsdefizit und Geldpolitik dort. Hier wird es in der Analyse zwischen uns keine Meinungsverschiedenheiten geben. Darüber hinaus gibt es auch einige internationale politische Risiken. Nehmen Sie diesen sinnlosen und gefährlichen Krieg im Nahen Osten zwischen dem Iran und dem Irak, und machen wir uns klar, was er für diese Region und bei einer schlimmen Entwicklung auch für uns bedeuten könnte. Dies alles ist uns wohl bewußt, wenn wir über diese Dinge reden.Die Konsolidierung geht weiter. Diese Politik ist für private Investitionen richtig und wichtig. Im Gegensatz zu Ihren Prophezeihungen des letzten Jahres nehmen sie sichtbar zu. Das Vertrauen, das wir mit unseren Entscheidungen in die Sparer, in die Bürger, in die Unternehmer gesetzt haben, spiegelt sich im Vertrauen, in wachsenden privaten Investitionen wider, und das ist ein Schlüssel für die Arbeitsmarktpolitik.
Der Schlüssel sind nicht zwar wichtige, aber völlig periphere Einzelprobleme, etwa die Frage, ob wir im Bereich alternativer Energien durch Förderungsmaßnahmen noch einige Arbeitsplätze schaffen können. Sie können nicht das Spezialproblem zum Lösungsansatz machen, sehr geehrter Herr Kollege. Dann werden Sie die Ziele völlig verfehlen. Diese Politik ist richtig, nicht das 14., auf Pump finanzierte sozialdemokratische Konjunkturprogramm, meine Damen und Herren.Die Konsolidierung geht, wie gesagt, weiter. Ich sage das auch im Hinblick auf neue Ansprüche an den Bundeshaushalt. Wir bekommen sie, zum Teil mit einer gewissen Zwangsläufigkeit. Wir werden uns darauf einzustellen haben, daß die Europäische Gemeinschaft in Verbindung mit der Erweiterung und den mehr als fünf Jahre verschleppten Strukturproblemen, die jetzt gelöst werden müssen, in der zweiten Hälfte der 80er Jahre einen höheren Beitrag fordern wird: 4 Milliarden DM, vielleicht etwas mehr; man kann das nicht ausschließen. Das steht übrigens, Herr Kollege Apel, nicht im Widerspruch zu meiner Feststellung vom 7. September 1983. Sie haben das Manuskript Ihrer noch folgenden Rede dankenswerterweise schon verteilen lassen. Ich will Ihnen nicht vorgreifen, ich will Ihnen nicht zuviel wegnehmen, aber zu zwei Punkten kann ich deswegen schon etwas sagen.
— Herr Kollege Apel, ich habe das schon einmal festgestellt: Die leistungsfähigste Institution der sozialdemokratischen Bundestagsfraktion ist gegenwärtig Ihre Pressestelle; das muß ich ausdrücklich sagen.
Ich sag' das auch gerne, weil der Leiter der Pressestelle einige Jahre im Bundesministerium der Finanzen auch verdienstvoll für meine Amtsvorgänger gearbeitet hat. Da sind Sie leistungsfähig — ich beziehe das auf die Technik, nicht immer auf den Inhalt; das wäre ein Mißverständnis.
Also: Wenn ich damals, im September 1983, gesagt habe, die EG müsse noch einige Jahre mit den jetzigen Mitteln auskommen, dann ist das mit der Prognose vereinbar, daß wir uns in Verbindung mit der Erweiterung der Gemeinschaft in der zweiten Hälfte der 80er Jahre in der Tat darauf einzustellen haben, daß wir hinsichtlich der Eigenmittel einen höheren Beitrag werden leisten müssen. Aber die Lösung auch dieser Frage bleibt für die Europäische Gemeinschaft gebunden an die Verwirklichung aller Punkte, die der Europäische Rat in Stuttgart beschlossen hat. Sie hängt davon ab, daß alle zehn Mitgliedstaaten nun endlich auch bereit sind, die notwendigen Entscheidungen für eine Kostenbegrenzung und eine fairere Lastenverteilung zu treffen. Man kann das eine nicht ohne das andere haben. Man kann in der Europäischen Gemeinschaft realistischerweise nicht einen Kurs verfolgen, der die Probleme der Gemeinschaft zu Lasten einzelner Länder oder einzelner Berufsstände, hier insbesondere der Landwirtschaft, eines Mitgliedstaates lösen will. Alle müssen ihren Beitrag leisten, wenn eine Entscheidung über die Eigenmittel erfolgen soll.
Auf dieser Grundlage werden wir im Frühjahr Entscheidungen zur Senkung der Lohn- und Ein-
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 56. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Februar 1984 3995
Bundesminister Dr. Stoltenbergkommensteuer mit einer kräftigen familienpolitischen Komponente treffen; ich unterstreiche das, was der Kollege Graf Lambsdorff gesagt hat. Darüber hat es — auch dieser Frage werden Sie sich widmen, Herr Kollege Apel; es überrascht mich nicht — viele Spekulationen gegeben, sicher genährt von einigen besonders meinungsfreudigen Politikern auch innerhalb der Koalitionsparteien. Aber jeder hat bis Anfang dieser Woche doch auf eigene Rechnung gesprochen; das will ich hier auch klarstellen.
— Nun, das ist ja auch möglich. Es verbindet uns, Herr Kollege Porzner, immer noch, das Grundverständnis in unseren großen Parteien, daß eine offene Diskussion im Vorfeld wichtiger Entscheidungen möglich ist. Der Unterschied ist nur, daß wir dann auch bemüht sind, Entscheidungen zu treffen, während das Prinzip der unendlichen, unbegrenzten öffentlichen Diskussion bei Ihnen zunehmend das Erscheinungsbild der Sozialdemokratischen Partei prägt.
Aber im ersten Punkt sind wir uns einig.
— Es bewegt Sie, Herr Roth, so außerordentlich, was ich hier sage. — Eine offene Diskussion im Vorfeld wichtiger Entscheidungen hat auch seinen Wert. Die Entscheidungen freilich werden auf Grund konkreter Berechnungen und Vorschläge und Alternativen erfolgen, an den insbesondere das nach der Geschäftsordnung der Bundesregierung zuständige Bundesministerium der Finanzen seit zwei bis drei Monaten intensiv arbeitet. Und weil wir so intensiv arbeiten, bin ich, was die öffentliche Diskussion anbetrifft — das gebe ich zu —, gegenüber einigen meinungsfreudigen Politikern und Verbandsvertretern noch etwas im Rückstand. Das wird sich mit der Zeit aber egalisieren, wie ich hier versichern möchte.Ich will an dieser Stelle nur noch einige Anmerkungen über Ausgangsdaten und Ziele machen. Wir haben uns im Gespräch der führenden Koalitionspolitiker beim Bundeskanzler, wie Sie gelesen haben, darauf verständigt, daß für diese große und bedeutende Maßnahme eine Obergrenze von etwa 25 Milliarden DM vorzusehen ist. Wir müssen hier nicht nur die Belange des Bundes diskutieren, sondern auch die Belange der Bundesländer beachten.
— Ja, das ist richtig, die Länder auch als Treuhänder der Gemeinden; ich akzeptiere Ihren Zwischenruf. — Eine größere Zahl von Bundesländern — unionsgeführte und sozialdemokratisch geführte — haben gegenüber dem Bund vergleichbare Schwierigkeiten, zunächst die Konsolidierungsaufgabe zu meistern. Einige andere befinden sich — das ist ihrVerdienst — in einer wesentlich besseren Verfassung. Aber die Bemessung des Rahmens und des Zeitplans, über den wir diskutieren und entscheiden werden, einschließlich der Frage gewisser begrenzter Ausgleichsmaßnahmen, ist auch im Hinblick auf die Situation der Bundesländer insgesamt und vor allem der schwächeren mit zu sehen.Ich bin der Meinung, daß wir, obwohl es hier Kontroversen in diesem Hohen Haus geben wird — das ist klar —, dennoch in ein konstruktives Gespräch zwischen Bund und allen Ländern eintreten sollten. Ich werde deshalb, bevor ich meine Vorschläge mache, auch mit den sozialdemokratischen Finanzministern darüber ausführlich sprechen, auch im Hinblick auf den Sachverstand, der insbesondere bei den Finanzministern aller Länder und ihren Verwaltungen gegeben ist, und im Hinblick auf die Tatsache, daß die Länderfinanzminister die Verantwortung für die Steuerverwaltung haben, also die politische Verantwortung für die Realisierung einer so eingreifenden Steuergesetzgebung bei den Bundesländern liegt.Aus dieser Sicht ist ein teilweiser Ausgleich nötig. Darüber wird viel spekuliert. Es gibt aber keine Vorentscheidungen und keine Vorfestlegungen, wie er erfolgen wird. Wir werden auf Grund von alternativen Berechnungen und Modellen diskutieren und dann entscheiden. Aber damit es kein Mißverständnis gibt: Im Ergebnis wird der größere Teil des genannten Betrages zur Entlastung der Bürger, d. h. der berufstätigen Menschen, verwandt werden. Einer der sozialdemokratischen Kollegen hatte gesagt, das müsse dann für die Arbeitnehmer sein. Das muß aber für alle berufstätigen Menschen sein, für den Arbeiter, den Angestellten, den Beamten, den Handwerker, den Kaufmann, den Selbständigen. Diejenigen, die auf Grund ihrer beruflichen Tätigkeit die Leistungsträger unserer Gesellschaft sind, die soziale Leistungen für andere erwirtschaften, sind jetzt dran, wenn eine nachhaltige Steuerentlastung möglich ist.
Wir brauchen das für eine nachhaltige Anerkennung der beruflichen Leistung, auch der Bereitschaft zu mehr Leistung. Wir dürfen die Diskussion — mich erfüllt das mit Sorge —, sei es in der Alternative Vorruhestand, die wir in den Rahmenbedingungen als Angebot empfehlen, sei es in der Alternative der Verkürzung der Wochenarbeitszeit, nun auch nicht so führen, als ob es darum ginge, daß wir die Anreize für immer weniger Arbeit in unserer Gesellschaft und Volkswirtschaft verstärken, als ob es geradezu eine Tugend und soziale Leistung sei, immer weniger zu arbeiten. Es kann sachliche Gründe geben, zu differenzieren. Ich denke hier an ältere Menschen. Das ist einer der Gründe, warum ich die Vorruhestandsregelung nicht nur pflichtgemäß, sondern aus Überzeugung als Angebot vertrete. Es kann Gründe geben, hier Schritte zu tun; aber die Grundvorstellung, daß wir unsere Zukunftsprobleme lösen, die wirtschaftlichen Probleme, die Arbeitsmarktprobleme, die sozialen Probleme, indem wir uns linear ständig auf weniger Arbeit einstellen, ist doch ein Irrweg für die Bundesrepu-
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3996 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 56. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Februar 1984
Bundesminister Dr. Stoltenbergblik Deutschland, ein Irrdenken, meine Damen und Herren.
Herr Bundesminister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Stratmann?
Bitte, Herr Stratmann.
Herr Minister, es ist oft wiederholte Aussage Ihrer Bundesregierung — ich erinnere mich an Formulierungen von Herrn Lambsdorff —, daß selbst ein Wachstum von 2 bis 3 % mittelfristig, also bis Ende des Jahrzehnts, allein nicht in der Lage sei, die hohe Arbeitslosigkeit nennenswert abzubauen. Wenn also die von Ihnen befürwortete Wachstumsstrategie nicht der entscheidende Hebel zum Abbau der Massenarbeitslosigkeit sein kann und nach Ihren jetzigen Ausführungen ebenfalls eine Strategie drastischer Arbeitszeitverkürzung nicht der geeignete Hebel sein kann, frage ich Sie nach dem Instrumentarium, das noch übrigbleibt.
Ich glaube, daß diese Frage auf einem Mißverständnis beruht. Ich unterstreiche, daß anhaltendes Wirtschaftswachstum mit einem strengeren ökologischen Ordnungsrahmen die Voraussetzung Nr. 1 dafür ist, daß wir eine Chance haben, die Arbeitsmarktprobleme zu lösen; aber es spricht einiges dafür, daß das nicht ausreichen wird, wobei dieses Reden in reinen Wachtumsraten oder in Produktivitätsfortschritten
auch deshalb nicht ausreicht, Herr Kollege Roth, weil natürlich andere Faktoren hinzukommen müssen, z. B. die Entwicklung der Kosten. Das ist ein ganz entscheidender Punkt.
Das liegt genauso in der Hand der Regierungen, der Parlamente wie in der Hand der Tarifpartner und der sozialen Gruppen. Aber es ist ganz klar, daß wir weitere Schritte gehen müssen.
— Ich habe doch gesagt und erinnere Sie daran, daß ich für den Entwurf der Vorruhestandsregelung bin.
Ich bin dafür, ich begrüße es, daß ein Mitglied Ihrer Fraktion, Herr Ehrenberg, der Kollege Rappe als Vorsitzender der IG Chemie, einen nach meiner Meinung richtigen Tarifvertrag abgeschlossen hat, indem er gesagt hat: Arbeitszeitverkürzung ja, aber für die Älteren. Es ist gut zu begründen, daß, auch um Spielräume auf dem Arbeitsmarkt zu eröffnen, ein 58jähriger und von mir aus auch ein 54jähriger weniger arbeiten; aber es ist doch nicht zu begründen, daß aus arbeitsmarktpolitischen und sozialen
Gründen und auch im Hinblick auf die Dienstleistungsverantwortung, die etwa der öffentliche Dienst für die Bürger hat, linear der 25jährige nur noch 38 oder 35 Stunden arbeiten soll, wenn es der 59jährige tut. Man muß auch einmal nach der sozialethischen Begründung solcher Dinge fragen.
Herr Bundesminister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Dreßler?
Nein, ich möchte jetzt zum Abschluß kommen. Ich bitte um Entschuldigung, ich bin immer noch bei der anderen Frage und möchte dann zum Abschluß kommen.Dazu kommen ja weitere Initiativen, Initiativen des Bundesrates: Beurlaubungsmöglichkeiten im öffentlichen Dienst, bessere Rahmenbedingungen für Teilzeitarbeit; die entsprechenden Vorschläge der Bundesregierung, Teilzeitarbeit über den öffentlichen Dienst hinaus. Diese Beispiele machen klar, daß wir Wachstum für eine zentrale Voraussetzung halten, um auf dem Arbeitsmarkt voranzukommen, daß wir aber nicht einäugig sind oder in diesem Zusammenhang nur einen Weg gehen wollen.
— Aber Teilzeitarbeit mit Konsequenzen für das Einkommen und nach freiwilliger Wahl; das ist ein entscheidender Unterschied gegenüber den Forderungen, mit denen wir uns auseinandersetzen.Meine Damen und Herren, es geht uns — ich will das noch einmal im Zusammenhang abschließend sagen —, wenn wir diese große bedeutende Gesetzgebung vorbereiten und verwirklichen wollen, um nachhaltige Anerkennung der beruflichen Leistung, und deswegen muß die Verringerung einer überhöhten Grenzbelastung ein zentraler Punkt bei der Diskussion über den Tarif sein. Das muß aber natürlich auch bei den kleinen Selbständigen so sein, um eine weitere Verbesserung der Rahmenbedingungen für private Investitionen und Existenzerweiterungen zu schaffen, und es geht uns — mein Freund Alfred Dregger hat heute morgen darüber gesprochen — um eine besondere Berücksichtigung der Familien und ihrer sozialen Leistung.Diese Finanzentscheidung — auch das, was den Bundeshaushalt betrifft — werden wir im Gesamtzusammenhang treffen. Das wird im Mai und abschließend im Juni sein, und ich bin davon überzeugt, daß wir gemeinsame Ergebnisse erzielen werden, auch wenn es eine gewisse Zeit der offenen Diskussion mit unterschiedlichen Argumenten zu Einzelfragen auch .in der Koalition geben wird, wenn die Vorschläge des Bundesfinanzministers auf dem Tisch liegen. Ich bin überzeugt, daß wir auch dieses zweite Jahr gestaltender Finanzpolitik der Koalition mit einem guten Ergebnis abschlie-
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 56. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Februar 1984 3997
Bundesminister Dr. Stoltenbergßen können, ebenso wie wir es Ende Dezember im ersten Jahr getan haben.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. Apel.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Herr Kollege Dr. Stoltenberg, Sie haben dem Kollegen Dr. Ehrenberg eine Zwischenfrage nicht erlaubt, wahrscheinlich weil Sie ziemlich sicher waren, daß dies nicht gut für Sie ausgehen würde.
Sie haben gesagt, wir sollten endlich mit der unrichtigen Behauptung aufhören, Sie hätten Haushaltskonsolidierung zu Lasten der sozial Schwächeren betrieben. Herr Kollege Dr. Stoltenberg, es hat doch keinen Zweck, daß wir in diesem Plenum so argumentieren. Sie haben BAföG bei den Schülern ersatzlos gestrichen. Sie haben BAföG bei den Studenten völlig auf Darlehen umgestellt. Sie haben die Rentensteigerung für 1984 auf ein Niveau gebracht, das real ein Minus bedeutet. Sie haben das Mutterschaftsgeld gekürzt. Herr Kollege Dr. Dregger, es war schon einigermaßen erstaunlich, von Ihnen heute morgen ein Plädoyer für die Familie zu hören, von Ihnen als dem Vorsitzenden der größten Koalitionsfraktion, die das Mutterschaftsgeld gekürzt hat.
Herr Kollege Dr. Stoltenberg, Sie haben augenscheinlich vergessen, daß die Beiträge zur Sozialversicherung in zwölf Monaten dreimal angehoben worden sind. Herr Kollege Dr. Stoltenberg, Sie haben augenscheinlich übersehen, daß Sie die Mehrwertsteuer angehoben und dafür die Vermögensteuer gesenkt haben.
Das können wir doch nicht verdrängen. Das sind doch keine Leerformeln, Herr Kollege Dr. Stoltenberg. So haben Sie den Haushalt konsolidiert. Wenn Ihnen mein Kollege Roth dies vorhält, so sagt er damit gar nichts Böses, sondern ausschließlich die Wahrheit.
Nun bin ich natürlich sehr froh, daß Sie unsere Pressestelle loben. Ich bin auch sehr zufrieden darüber, daß Graf Lambsdorff und Sie meine Rede vorher gesehen haben. Da das aber nun der Fall war, bin ich eigentlich doch ziemlich enttäuscht, daß Sie nicht gleich auf die kritischen Punkte meiner Einlassungen so eingegangen sind, daß ein Dialog hätte entstehen können. Der Abend ist aber noch lang. Was nicht ist, kann ja noch werden.
Herr Kollege Dr. Stoltenberg, damit bin ich eigentlich beim Thema, beim Jahreswirtschaftsbericht und den finanzpolitischen Aussagen darin. Wir stellen dort, wo konkrete Aussagen über die zukünftige Finanzpolitik der Bundesregierung gefordert sind, Fehlanzeige fest. Was aber sehr viel schlimmer ist: Dieser Jahreswirtschaftsbericht beschränkt sich in der Finanzpolitik auf allgemeine Programmsätze, die zudem deutlich machen, wie groß die Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit in der Politik der Bundesregierung ist. Herr Kollege Dr. Stoltenberg, das will ich auch beweisen. Es wäre gut gewesen, wenn Sie dies gleich von sich aus angesprochen hätten, denn Sie hatten ja schon vor einer Stunde meinen Text.Eine erste Feststellung: Im Jahreswirtschaftsbericht wird — so steht es dort wörtlich — eine qualitative Verbesserung der Struktur der Staatsausgaben gefordert und angekündigt. Aber wie ist es denn nun wirklich'? Nach den uns vorliegenden Informationen wird die Investitionsquote bei den Bundesausgaben 1983 einen neuen Tiefstand erreicht haben. Herr Kollege Dr. Stoltenberg, Sie können nicht bestreiten, daß von 1984 bis 1987 in Ihrer mittelfristigen Finanzplanung ein stetiger Rückgang der Investitionsquote verzeichnet steht. Ich will die Zahlen gleich mitliefern, damit Sie nicht wieder sagen, ich hätte gemogelt. Im aktuellen Bundeshaushalt für 1984 ist eine Investitionsquote von 13,7 % ausgewiesen. Für die folgenden Jahre werden aber folgende Quoten verzeichnet: 1985: 13,2 %, 1986: 12,9 %, 1987: 12,5 %. Das ist ein deutlicher Abfall. Sie sagen, Sie wollten eine qualitative Verbesserung der Ausgabenstruktur erreichen. Tatsache ist: Die konsumtiven Ausgaben steigen.Ich greife ein weiteres Postulat des Jahreswirtschaftsberichts auf. Der Jahreswirtschaftsbericht erklärt — ich zitiere —, „Steuer- und Abgabenerhöhungen würden die Entfaltung der Wachstumskräfte behindern". Richtig! Nur sieht es in der Realität ganz anders aus. Da zitiere ich zur Abgabenbelastung den Sachverständigenrat, der j a in dieser Debatte auch eine Rolle spielt:Die durchschnittliche Belastung des Einkommens mit Steuern und Sozialbeiträgen ist auch im Jahre 1983 weiter gestiegen.Der Sachverständigenrat fährt fort:In keinem Jahr zuvor war die Abgabenbelastung damit so hoch wie in diesem Jahr, .. . auch im kommenden Jahr wird die durchschnittliche Abgabenbelastung weiter ansteigen.Das „Handelsblatt" schreibt gestern:Die Bonner Wende brachte einen neuen Rekord der Abgabenbelastung.
Erneut, Herr Kollege Stoltenberg,
haben Anspruch und Wirklichkeit nichts miteinander zu tun.Ich komme zu einem weiteren Punkt. Die Bundesregierung sagt im Jahreswirtschaftsbericht, man wolle eine — ich zitiere — „leistungsfreundliche Besteuerung". Herr Kollege Dr. Stoltenberg,
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3998 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 56. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Februar 1984
Dr. Apelwas ist denn eigentlich an der massiven Senkung der Vermögensteuer leistungsfreundlich? Viel schlimmer sieht es ja bei den Arbeitnehmern aus — ich denke, wir beide sind uns darüber einig, daß die Arbeitnehmereinkommen Leistungseinkommen sind —: Die werden doch immer stärker mit Steuern und Abgaben belastet.Das Institut Finanzen und Steuern sagt uns in diesen Tagen, daß die durchschnittliche Steuer- und Abgabenbelastung des Arbeitnehmers 1986 um 10 % höher liegen wird als 1981 und daß dem ledigen Arbeitnehmer von 100 DM Gehaltserhöhung lediglich 33 DM bleiben.Das Ifo-Institut in München sagt am 16. Februar folgendes: Der Staat griff 1983 den Arbeitnehmern so tief in die Tasche wie noch nie. „Mit bisher nicht gekannter Härte" kassierten der Fiskus und die steuerrechtlich angekoppelte Kirchensteuer und die Sozialversicherung nach dem Motto ab „Der Batzen dem Staat, der Heller dem Arbeitnehmer".
— Nun lenken Sie doch nicht immer von Ihren eigenen Aussagen ab! Ich zitiere hier den Jahreswirtschaftsbericht und stelle dem Jahreswirtschaftsbericht mit seinen hehren Postulaten Ihre Politik gegenüber.
Da können Sie doch nicht ununterbrochen über „Erblast" reden! Was soll denn das? Dann schreiben Sie doch in den Jahreswirtschaftsbericht hinein, wir wollen den Arbeitnehmer schröpfen, schröpfen, schröpfen. Dann stimmen wir Ihnen zu, weil Sie es tatsächlich tun!
Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich zitiere weiter das Ifo-Institut: Von den 1983 zusätzlich verdienten 9,4 Milliarden DM verblieb den deutschen Arbeitnehmern netto mit 400 Millionen DM „kaum ein roter Heller".Nun werden Sie sagen, dies ist eine Berechnung, die so nicht stimmt. Dem will ich dann auch gerne zustimmen,
aber Sie können nicht bestreiten, daß in der Tat die Aussage stimmt, daß die Arbeitnehmer auf Grund Ihrer Politik — Mehrwertsteuererhöhungen, dreimal Abgabenerhöhungen, dafür Vermögensteuersenkung — steuerpolitisch in einem Würgegriff sind.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Dr. Stoltenberg?
Ja, gerne.
Bitte schön, Herr Dr. Stoltenberg.
Herr Kollege Dr. Apel, darf ich Sie daran erinnern, daß die Abgabenerhöhungen, deren Wirkung für 1983 Sie beklagen, mit Ausnahme einer Veränderung von 0,1 % bei der Arbeitslosenversicherung alle noch auf Initiativen der früheren Bundesregierung zurückgehen, deren Mitglied Sie waren?
Herr Kollege Stoltenberg, darf ich Sie daran erinnern, daß Sie erstens eine Abgabenerhöhung beträchtlich vorgezogen haben
und daß Sie zweitens die Mehrwertsteuererhöhung — anders als wir — nicht für konjunkturelle Zwecke eingesetzt haben, sondern zur Vermögensteuersenkung,
und darf ich Sie drittens daran erinnern, daß Sie in Jahren der Opposition Postulate der Finanzpolitik aufgestellt haben, die Sie anschließend mit dem Argument „Erblast" schmählich über Bord geworfen haben.
Meine Damen und Herren, angesichts dieser Situation muß es ja nicht verwundern, daß die Debatte über die Tarifreform, über die Senkung der Lohn- und Einkommensteuer, soviel Fahrt aufgenommen hat.Nun erwarten wir, daß die Bundesregierung Farbe bekennt. Wir alle haben gedacht, daß das Koalitionsgespräch am letzten Dienstag nunmehr Klarheit gebracht hat. Das Bundespresse- und -informationsamt schickt uns ja stets alle Kommentare zu. Der Kommentator des Senders Freies Berlin hat sicherlich den Nagel auf den Kopf getroffen, als er gesagt hat
Sie werden das durchaus verstehen, nehme ich an —: Es geht drunter und drüber in der Koalition bei der Diskussion in der Steuerfrage. Ich kann dem nur zustimmen.Das „Handelsblatt" hat das ganze sehr viel amüsanter dargestellt. In dem Kommentar von gestern schreibt Herr Mundorf zum Thema „Steuerreform":Der Chefkoch Helmut Kohl pflegt die großen Menus, die er den Bürgern beschert, offensichtlich nach folgender Methode zuzubereiten: Er läßt sämtliche Unter-, Hilfs- und Hobbyköche der Koalition an den Herd. Dort dürfen sie dann ihr Süpplein nach eigenem Geschmack kochen. Wenn es dann in allen Töpfen brodelt und gärt, dann erscheint der Chef, macht ein Spitzengespräch, kippt die vielen Töpfchen in einen großen Topf, rührt sorgsam um, würzt
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 56. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Februar 1984 3999
Dr. Apelnoch etwas nach, und fertig ist der Hauptgang. Wohl bekomm's!
Im übrigen fällt mir bei dieser Darstellung auf, daß der Fraktionsvorsitzende Dr. Dregger noch am Montag in Ihren Gremien gesagt hat — ich zitiere wörtlich —:Die Tarifreform erfordert die Führungskraft des Kanzlers.Dem ist nichts hinzuzufügen.Aber, Herr Kollege Dr. Stoltenberg, Sie werden nicht bestreiten können, daß diese Runde, die Sie dort hatten, keinerlei Klarheit geschaffen hat. Graf Lambsdorff hat heute morgen erneut deutlich darauf hingewiesen, daß er dabei bleibt, daß die Steuerreform zum 1. Januar 1986 wenigstens in Teilen in Kraft treten soll.
Die Finanzpolitiker der CDU/CSU reden vom 1. Januar 1987, andere vom 1. Januar 1988. Soll nun — das ist meine nächste Frage — die Steuerreform in einem Block oder in zwei Blöcken in Kraft treten, und wenn sie in zwei Blöcken in Kraft treten soll: Welcher Teil wird vorgezogen?
Soll es nach dem Rezept der CDU/CSU-Finanzpolitiker gehen — erst die Familienpolitik und dann der Rest —, oder soll es nach den Vorstellungen des Wirtschaftsministers gehen: erst die Tarifreform — wegen der Leistungsanreize — und dann die Familienkomponente?Was ist aus dem Familiensplitting geworden, Herr Kollege Dr. Stoltenberg, das zweimal in Regierungserklärungen — ich betone: in Regierungserklärungen — hier in diesem Hause als der feste Wille dieser Koalition dargestellt worden ist?Wie ist es mit den Kinderfreibeträgen, Herr Kollege Dr. Stoltenberg, die die CDU/CSU-regierten Bundesländer fordern?Wie ist es mit dem Kindergeld? Sie haben sicherlich gelesen, was Ihr Kollege Späth Ihnen heute morgen dazu gesagt hat. Er hat in der FAZ gesagt, er halte es auch für möglich, daß der Familienlastenausgleich ein Flop wird. Er würde sich den Mund dann nicht verbieten lassen, wenn es insbesondere darum ginge, diejenigen, die entlastet werden sollen — nämlich die Familien — zu belasten durch entsprechende Steuer- und Abgabenerhöhungen.
Herr Kollege Dr. Stoltenberg, Sie haben hier über die Steuerreform gesprochen. Wie ist es denn nun mit der Mehrwertsteuererhöhung? Das ist doch augenscheinlich Ihr Favorit zur Finanzierung wenigstens eines Teils der Tarifreform. Wie stellen Sie sich denn dazu, Herr Kollege Stoltenberg, daß inzwischen auch die Sozialausschüsse in der CDU und die Mittelstandsvereinigung gesagt haben: „Mehrwertsteuererhöhung auf keinen Fall!"?Wird statt dessen die Mineralölsteuer massiv erhöht? Ich denke, wenn Sie die Größenordnungen erreichen wollen, die notwendig sind, um das zu finanzieren, was Sie sich vornehmen, müssen Sie 14 Pf Mineralölsteuererhöhung durchsetzen. Sie werden dabei auf unseren erbitterten. Widerstand stoßen. Das sage ich Ihnen bereits heute.
Sollen — das ist eine weitere Frage — zur Finanzierung der Steuersenkungen auch Steuervorteile von Arbeitnehmern abgebaut werden? Herr Gattermann hält dieses für möglich, j a vielleicht sogar für nötig. Er nickt. Herr Dr. Häfele hält dieses dann für Etikettenschwindel und lehnt es ab. Auch das wäre bei Gelegenheit zu klären.Wir Sozialdemokraten stellen fest: Bisher gibt es auf all diese Fragen in der Koalition keine Antwort.
Die Koalition kündigt lediglich ein Volumen von 25 Milliarden DM für die Tarifreform an und gleichzeitig — Herr Kollege Dr. Stoltenberg, auch Sie — massive Steuererhöhungen bei den Verbrauchsteuern. Wo bleibt denn da eigentlich die auch von Ihnen angesprochene Entlastung der kleinen und mittleren Einkommen? Ich sage Ihnen: Wenn es so wird, wie Sie es wollen, dann wird die Steuerreform für die kleinen und mittleren Einkommen zu einer Mogelpackung werden, indem Sie etwas aus der einen Tasche herausziehen und in die andere Tasche stecken.
Lassen Sie mich Ihnen die Position der Sozialdemokraten zur Tarifreform deutlich darstellen. Schwerpunkt der Entlastung muß bei den Familien mit Kindern und bei den Steuerzahlern mit kleinem und mittlerem Einkommen liegen. Wir können nicht akzeptieren, daß die Arbeitnehmer ihre Entlastung aus eigener Tasche bezahlen. Wir lehnen deshalb eine Erhöhung der Mehrwertsteuer oder der Mineralölsteuer als Hauptfinanzierungsinstrument ab.
Wir lehnen auch den Abbau solcher steuerlichen Regelungen ab, die vorwiegend den Arbeitnehmern zugute kommen. Die Ausweitung der unsozialen Kinderfreibeträge und die Einführung eines verteilungspolitisch skandalösen Familiensplittings ist für uns unannehmbar.
Der beste Weg zur Förderung der Familien mit Kindern, Herr Dr. Stoltenberg, ist eine Erhöhung desKindergeldes. Denn jedes Kind, Herr Kollege4000 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 56. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23_ Februar 1984Dr. ApelDr. Stoltenberg, muß dem Staat gleich viel wert sein.
Im übrigen stehe ich nicht an, zu sagen, daß Einkommensobergrenzen vernünftig sein können. Dann muß ich ansetzen bei dem, was Herr Kollege Dregger gesagt hat. Er hat von skandalösen Ungerechtigkeiten in der Besteuerung von Familien und Ehepaaren ohne Kinder gesprochen. Das ist richtig. Aber ich sage Ihnen: Wenn Sie Ihren Weg gehen, sei es den Weg des Familiensplittings, sei es den Weg der Kinderfreibeträge, dann werden Sie skandalöse Ungerechtigkeiten bei Kindern aus Familien mit normalem Einkommen und Kindern aus sehr wohlhabenden Familien schaffen. Dann fällt dieses voll auf Sie zurück. Das hat dann mit christlicher und christdemokratischer Familienpolitik beileibe nichts zu tun.
Die Entlastung der Steuerzahler sollte in erster Linie durch eine deutliche Erhöhung des Grundfreibetrages sowie eine Minderung der Progression im unteren Bereich der Progressionszone, bei Jahreseinkommen für Verheiratete von 35 000 bis 70 000 DM, erfolgen. Im übrigen, Herr Kollege Stoltenberg, wer die Finanzierung des größeren Teils der Tarifreform durch Abbau von Steuersubventionen will, der kann doch anfangen. Warum wollen Sie eigentlich bis 1987 oder 1988 damit warten? Sie könnten jetzt einen wesentlichen Teil der Steuersubventionen abbauen und damit in der Tat eine erste Stufe des Familienlastenausgleichs finanzieren.
In einem Punkte möchte ich Sie ausdrücklich ermuntern, bei Ihrer Position zu bleiben, nämlich mit uns zusammen eine Tarifreform abzulehnen oder auch nicht vorzuschlagen, die dauerhaft neue große Löcher in die Haushalte von Bund, Ländern und Gemeinden reißt und sie auf diese Art und Weise finanzpolitisch handlungsunfähig macht. Ich finde es gut — und wir werden Sie beim Wort nehmen —, daß Sie hier festgestellt haben, Sie würden sicherstellen, daß Belastungen nicht vom Bund auf die anderen Gebietskörperschaften, auf die Gemeinden und auf die Länder verschoben werden.
Sie werden mir allerdings nicht übelnehmen, wenn ich einige Zweifel bei diesem Versprechen anmelde. Denn bei der Vermögensteuersenkung und bei der Senkung der Gewerbesteuer haben Sie eben nicht voll ausgeglichen, sondern in der Tat Belastungen auf Länder und Gemeinden verschoben, und, Herr Kollege Stoltenberg, das, was Sie als Ausgleich angeboten haben, den einen Punkt Mehrwertsteuer, zeitlich begrenzt.Ich bin ganz froh darüber, daß Sie selbst über die Probleme der EG-Finanzierung gesprochen haben. Sie haben dabei augenscheinlich übersehen, daß Sie schon in diesem Jahre mit großer Wahrscheinlichkeit mit 2 bis 3 Milliarden DM zusätzlich zur Kasse gebeten werden.
— Herr Kollege Dr. Stoltenberg, dann muß ich zurückfragen, wie Sie — mit „Sie" meine ich die zehn Finanzminister der EG-Länder — mit der Tatsache fertig werden wollen, daß der Haushalt der Gemeinschaft nach Aussagen der EG-Kommission im September/Oktober im Bereich Agrarpolitik finanziell ausgefegt sein wird, wie Sie dann eigentlich die Monate überbrücken wollen, in denen eine weitere, hemmungslose Ausgabenexplosion in der EG stattfindet.
Sie gestatten eine Zwischenfrage des Abgeordneten Dr. Stoltenberg? — Bitte schön!
Herr Kollege Apel, darf ich Sie auf die Rede verweisen, die der Präsident der EG-Kommission, Herr Thorn, vor wenigen Tagen vor dem Europa-Parlament gehalten hat und in der er eine Teilantwort gegeben hat, indem er u. a. gesagt hat: Dann muß die EG wirklich einmal _das harte Sparprogramm selbst beschließen, was sie bisher nicht getan hat, vielleicht auch leider manches bei den nicht obligatorischen Ausgaben einsparen, um ihre obligatorischen Verpflichtungen zu erfüllen. Ich sage das deshalb, Herr Kollege Apel, weil ich davor warnen möchte, daß hier ein Betrag von 2 bis 3 Milliarden DM an Zusatzleistungen in diesem Jahr unwidersprochen bleibt.
Herr Kollege Stoltenberg, wir werden Sie darauf festnageln. Nur muß ich Sie daran erinnern, daß Ihnen diese Aussage überhaupt nicht weiterhilft. Die Agrarpolitik ist auf Grund der Garantiepreise, der Interventionsmechanismen so angelegt, daß gezahlt wird, es sei denn, Sie hätten den Mut, die Agrarpolitik dramatisch zu verändern. Nur, diesen Mut spüre ich weder bei der Bundesregierung noch bei irgendeinem anderen Mitgliedsland. Aber bitte schön, wir werden darauf am Ende des Jahres zurückkommen.Und Umschichtungen, Herr Kollege Dr. Stoltenberg? Machen wir uns doch nichts vor! Zwei Drittel der EG-Ausgaben mit 30 % Zuwachsrate Jahr für Jahr sind Agrarausgaben. Wie wollen Sie denn da eigentlich umschichten? Wollen Sie bei der Europäischen Gemeinschaft Personal entlassen? Sie wissen doch selber, wie es dort aussieht. Machen Sie sich doch bitte schön keine Illusionen!
Ich bin aber zufrieden mit einer Feststellung, die Sie getroffen haben, nämlich mit der Feststellung, daß Sie bei der Aussage bleiben, die auch in meinem Redemanuskript steht. Ich meine Ihre Aussage am 7. September vorigen Jahres hier im Deutschen Bundestag: „Die Europäische Gemeinschaft muß auch in den kommenden Jahren mit den jetzigen Finanzgrundlagen auskommen." Herr Kollege Dr. Stoltenberg, Sie werden verstehen, daß wir einigermaßen skeptisch sind; denn im Jahreswirt-
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Dr. Apelschaftsbericht stehen zum Thema „EG-Finanzierung" Formulierungen, die von erhabener Allgemeinheit sind und die in der Tat den Kommuniqués der erfolglosen Gipfeltreffen von Stuttgart und Athen entnommen sein könnten.Halten wir hier fest, meine sehr geehrten Damen und Herren: Der Bundesfinanzminister bleibt bei der Position — und dafür haftet er dann im Deutschen Bundestag, daß es dabei bleibt —,
daß an der 1-%-Mehrwertsteuer-Begrenzung festzuhalten ist, daß wir von dieser Position erst abgehen können, wenn die EG-Agrarpolitik reformiert ist
und wenn die Erweiterung der EG durch Spanien und Portugal vollzogen werden kann. Ich halte fest, daß sich der Bundesminister der Finanzen und die sozialdemokratische Bundestagsfraktion darin einig sind. An dieser Feststellung, meine Damen und Herren, werden wir Sie und werden wir auch Ihre Verhandlungsposition in Brüssel sowie Ihr Verhalten messen.
Lassen Sie mich zu einem letzten Bereich kommen, der interessanterweise in den Ausführungen von Herrn Dr. Stoltenberg überhaupt keine Rolle gespielt hat; ich meine die Entscheidung des Bundesfinanzhofs zur sogenannten Zwangsanleihe.
Der Finanzhof hat am letzten Freitag entschieden, daß die Zwangsanleihe weiter abgeführt werden muß.
Aber, Herr Kollege Dr. Stoltenberg, gleichzeitig hatder Finanzhof erhebliche Bedenken gegen die Verfassungsmäßigkeit dieser Zwangsanleihe geäußert.
— Ja. Er hat seine Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit dieser Zwangsanleihe mit besonderem Nachdruck formuliert. Wenn ich die entsprechenden Passagen richtig verstehe, Herr Kollege Dr. Stoltenberg — wir sind beide keine Juristen —, dann ist für mich zweifelsfrei, daß das Bundesverfassungsgericht die Zwangsanleihe, diesen Homunkulus, dieses Monster, verbieten muß.
Deswegen frage ich Sie, Herr Kollege Dr. Stoltenberg: Wie konnten Sie eigentlich diesen Spruch begrüßen? Sie sind es doch gewesen, der hier im Deutschen Bundestag immer wieder die Überzeugung geäußert hat und dies augenscheinlich auch heute noch tut, daß die Zwangsanleihe verfassungsgemäß sei.
— Ja, Sie nicken. Ich nehme auch das zur Kenntnis. Auch darauf werden wir zurückkommen.Wir sagen Ihnen: Sie, Herr Kollege Dr. Stoltenberg, tragen die Verantwortung dafür, daß hier im Deutschen Bundestag mit Ihrer Mehrheit leichtfertig ein Gesetz verabschiedet worden ist, gegen das von Anfang an von vielen Verfassungsrechtlern, insbesondere aber von der sozialdemokratischen Bundestagsfraktion massive verfassungsrechtliche Bedenken vorgetragen worden sind.
Wir fragen uns wirklich, warum Sie nicht jetzt die Gelegenheit wahrnehmen, zur Vernunft zurückzukehren. Warum wollen Sie nicht endlich dieses zweifelhafte Instrument der Zwangsanleihe beerdigen?
Warum wollen Sie nicht endlich sicherstellen, daß der Schaden, der durch diese Zwangsanleihe bereits angerichtet worden ist, begrenzt wird, daß die Unsicherheiten bei den Bürgern beseitigt werden, daß aber endlich auch nicht nur verfassungsrechtlich sauber
Steuerpolitik und Steuereintreibung betrieben wird, sondern auch sozial gerecht? Warum weigern Sie sich, den Weg zu einer echten Ergänzungsabgabe zu gehen, die alle diese Kriterien erfüllt und im übrigen eine Dauerfinanzierung auch für Wohnungsbau und andere Konjunkturanstöße liefert? Warum weigern Sie sich eigentlich?
Wollen Sie sehenden Auges in eine verfassungsgerichtliche Niederlage hineingehen, die doch Ihrem Ansehen nur schaden kann?
Es ist an der Zeit, Herr Kollege Stoltenberg, Klarheit zu schaffen. Das verlangt auch unsere labile Wirtschaftslage. Wir brauchen in der Steuer- und Finanzpolitik Entscheidungen und Führungswille. Die schönen Worte und die schönen Postulate im Jahreswirtschaftsbericht, die mit der Realität leider wenig zu tun haben, können das nicht ersetzen.Schönen Dank.
Das Wort hat der Abgeordnete Handlos.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich möchte mich an dieser Stelle nicht an der Schwarzweißmalerei beteiligen, die heute hier zum Teil geschehen ist. Ich darf davon die Rede des CDU/CSU-Fraktionsvorsitzenden Dr. Dregger ausnehmen. Er hat heute sehr konstruktiv und auch sehr kritisch zu verschiedenen Punkten Stellung genommen.
— Man muß auch einmal sagen, wenn etwas Positives geschieht. Hier gehen die Redner der Opposition herauf, sagen, alles was die Abgeordneten der
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4002 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 56. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Februar 1984
HandlosRegierungsparteien sagen, sei großer Unfug, und anschließend wird es umgekehrt gemacht. Ich finde, der Dialog in diesem Parlament sollte viel stärker zum Durchbruch kommen. Deswegen möchte ich mich persönlich und für die Republikaner nicht mehr an dieser Schwarzweißmalerei beteiligen, sondern durchaus auch sagen, wenn etwas positiv ist. — Dies nur zur Einleitung, meine Damen und Herren.Ich möchte im Rahmen meiner kurzen Redezeit einiges feststellen. Ich darf zuerst einmal die Frage stellen: Was hat sich denn seit der Beratung des Jahreswirtschaftsberichts 1983 und dem Weltwirtschaftsgipfel in Williamsburg eigentlich geändert? Einige wirtschaftliche Faktoren haben sich national freundlicher entwickelt als erwartet. Dies soll hier positiv vermerkt werden. Nur, die gravierenden internationalen Probleme sind geblieben. Sie werden leider auch nach dem Weltwirtschaftsgipfel in London bleiben, obwohl die Bundesregierung in ihrem Jahreswirtschaftsbericht 1984 feststellt, daß sie sich bei diesem neuen Weltwirtschaftsgipfel intensiv für eine internationale Abstimmung der nationalen Wirtschafts- und Finanzpolitik einsetzen wird.International sind und bleiben folgende Probleme auf der Tagesordnung. Da ist einmal die Belastung der deutschen und europäischen Wirtschaft durch die amerikanische Schuldenpolitik, die aus europäischer Sicht nur noch als katastrophal bezeichnet werden kann. Defizite im US-Haushalt 1983 und 1984 von jeweils 500 Milliarden DM, die wahrscheinlich auch 1985 wieder anfallen, können kein Beitrag zur Erholung der Weltwirtschaft sein.Darüber hinaus lauern im Hintergrund — auch das wurde heute festgestellt — die Gefahren einer immer stärker werdenden Verschuldung der Entwicklungsländer. Die dauernden Umschuldungsverhandlungen mit der Gefahr, daß eines Tages die amerikanischen und europäischen Banken einen Teil ihrer Kredite in Lateinamerika, Afrika und den Ostblockstaaten abschreiben müssen, sind ein ernst zu nehmendes weltwirtschaftliches Problem geworden. Die Bundesregierung sollte hier, soweit dies überhaupt möglich ist, im Rahmen der gesetzlichen Bestimmungen im Interesse des deutschen Sparers und Steuerzahlers agieren, um später nicht reagieren zu müssen.Der dritte entscheidende Negativpunkt internationaler Art ist der ständig stärker werdende Protektionismus in aller Welt, mit dem man kurzsichtig nationale Probleme lösen will. — So viel zum internationalen Bereich.Sieht man von diesen internationalen Problemen ab, so ist national festzustellen, daß die Konjunkturdaten zwar wesentlich besser geworden sind, daß der beginnende Aufschwung jedoch nach wie vor durch konjunkturelle und strukturelle Maßnahmen gestützt werden müßte. Statt dessen wird — das muß hier festgestellt werden — Leistung in diesem Land nach wie vor bestraft. Über die Reform der Einkommen- und Lohnsteuer wurde heute bereits gesprochen. Nach dem Ifo-Institut sind 1983 von den zusätzlich verdienten 9,4 Milliarden DM dem deutschen Arbeiter netto 400 Millionen DM geblieben. Dies ist der beste Beweis dafür, daß es so nicht weitergehen kann. 6 Milliarden DM gingen von dem oben genannten Betrag für die Lohn- und die Kirchensteuer sowie die Zwangsanleihe weg, und 3 Milliarden DM verschlangen zusätzlich die Sozialabgaben. Das schöne Lied „Ein Heller und ein Batzen" kann man nur so interpretieren, daß der Batzen dem Staat gehört und nur der Heller dem einzelnen Arbeitnehmer. Und das muß sich in dieser Republik ändern.
Die Bestrafung der Leistung verstärkt sich 1984 z. B. erneut durch die Einbeziehung von Urlaubsgeld und Weihnachtsgeld in die Sozialversicherung. Wenn man schon für dieses Jahr wieder einen sehr hohen Bundesbankgewinn zur Abgleichung des Bundeshaushalts verwendet, obwohl dies in früheren Jahren heftigst kritisiert wurde, sollte man den Leistungswillen des deutschen Arbeitnehmers 1984 nicht noch stärker strapazieren.Ein zweiter entscheidender Punkt, auf den der Jahreswirtschaftsbericht 1984 keine befriedigende Antwort gibt, ist der Abbau der Arbeitslosigkeit. Ich darf mich hier einem besonderen Detail widmen, das in der Diskussion noch nicht entscheidend gewürdigt wurde. Es geht dabei um die Rationalisierung bzw. Automatisierung und um den Einsatz von Robotern in den nächsten Jahren in der Bundesrepublik Deutschland. Im Jahreswirtschaftsbericht heißt es dazu wörtlich:Auf Grund des Kostendrucks, der in den letzten Jahren auf der Wirtschaft lastete, standen bisher Rationalisierungsinvestitionen im Vordergrund. Ohne Rationalisierung wäre jedoch die Arbeitslosigkeit noch höher ausgefallen.Ein solcher Satz kann richtig sein. Er kann aber genauso gut falsch sein. Da gerade in den nächsten drei Jahren, meine verehrten Kolleginnen und Kollegen, durch den Einsatz von Robotern zur Rationalisierung und Automatisierung über 200 000 Arbeitsplätze zusätzlich verlorengehen, ist zu befürchten, daß zusammen mit anderen Faktoren die Arbeitslosigkeit nicht nachhaltig abgebaut werden kann und daß zusätzlich die Renten erneut unter Druck geraten, da Roboter bekanntlich keine Sozialversicherungsbeiträge leisten; auch dies darf hier einmal festgestellt werden.Wir Republikaner sind nicht technologiefeindlich. Wir sagen ja zu einer Automatisierung, um international z. B. gegenüber den Vereinigten Staaten und Japan konkurrenzfähig zu bleiben. Wir weisen jedoch zugleich auf die langfristigen Risiken dieser Entwicklung für die Arbeitsplätze und die Renten hin.In diesem Zusammenhang nur ein Wort zu den Zinsverbilligungsprogrammen. Wir sind der Auffassung, daß Zinsverbilligungsprogramme und Umschuldungsprogramme für Handel, Handwerk und Mittelstand eines von vielen geeigneten Mitteln wäre, um das Problem der Arbeitslosigkeit einzugrenzen, vor allem für die vom Strukturwandel besonders hart getroffenen Regionen. Die bisherigen regionalen Förderungsprogramme als Hilfe zur
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HandlosSelbsthilfe müssen bleiben. Die vorhandenen Fördermittel müssen jedoch flexibler als bisher in Arbeitsmarktregionen und nicht in Schwerpunktorten eingesetzt werden. Außerdem ist es wünschenswert, daß die Hilfen im Wohnungsbau weitergeführt werden, die im letzten Jahr gewährt wurden, die aber nunmehr auslaufen, so daß ich befürchte, daß es zu einem erneuten Einbruch in der Bauindustrie kommt.Ein Abbau der Arbeitslosigkeit, meine Damen und Herren, läßt sich aber nicht durch die generelle Einführung der 35-Stunden-Woche erreichen — auch das muß einmal klipp und klar erneut festgestellt werden —, sondern höchstens durch eine Liberalisierung der Arbeitszeit, wo immer dies möglich ist.
De facto haben wir in der Bundesrepublik Deutschland bereits die 35-Stunden-Woche, wenn mann die produktive Arbeitszeit zugrunde legt.
In diesem Zusammenhang muß folgendes festgestellt werden: Von 2 080 möglichen Arbeitsstunden im Jahr müssen in der Bundesrepublik Deutschland eine größere Anzahl praktisch abgeschrieben werden, nämlich für den bezahlten Urlaub, für die Feiertage, die bezahlt werden, für Betriebsversammlungen, für Betriebsausflüge, für die Weiterbildung und alle derartigen Maßnahmen, die hier mit einbezogen werden müssen. Insofern haben wir von der produktiven Arbeitszeit her gesehen längst die 35-Stunden-Woche erreicht. Nur die produktive Arbeitszeit ist entscheidend, sonst nichts. Auch das muß gesagt werden.
— Jawohl.
Der Kollege Apel sprach vorhin vom Kindergeld. Erlauben Sie mir, in diesem Zusammenhang folgende Frage zu stellen: Warum muß eigentlich bei uns in der Republik jeder für das erste Kind Kindergeld bekommen, egal, ob er im Monat 1 000 DM, oder 10 000 DM oder 100 000 DM verdient? Warum kann man nicht eine Einkommensbegrenzung einführen und sagen: Diejenige Familie, die meinetwegen brutto 5 000 DM und mehr verdient, bekommt für das erste Kind keine 50 DM Kindergeld? Eine solche Regelung müßte doch möglich sein, um auf diese Art und Weise ebenfalls einen Einspareffekt zu erzielen.Die Bundesregierung sieht laut Jahreswirtschaftsbericht einen Handlungsschwerpunkt 1984 sowohl in einer soliden Haushaltspolitik und einer leistungs- bzw. investitionsfördernden Steuerpolitik als auch in einem Abbau bürokratischer Hemmnisse. Im Jahreswirtschaftsbericht heißt es im Hinblick auf die europäischen Bürokraten in Brüssel wörtlich:Besondere Aufmerksamkeit ist nach Auffassung der Bundesregierung der Rechtsetzung durch die Europäische Gemeinschaft zu widmen. Eine frühzeitige Prüfung der Rechtsetzungsvorhaben auf Notwendigkeit und überflüssigen Perfektionismus sowie auf seine Auswirkungen im Inland ist geboten.Dazu kann ich im Namen der Republikaner nur sagen: Die Botschaft hör' ich wohl, allein mir fehlt der Glaube.In diesem Zusammenhang ein Vergleich im Hinblick auf die zahlreichen, zum Teil überflüssigen EG-Verordnungen. So hat, meine lieben Kolleginnen und Kollegen, das Vaterunser 56 Worte, die Zehn Gebote haben 397 Worte, aber eine Verordnung der EG-Kommission über den Import von Karamellen hat 26 911 Worte.
Wenn die EG es so weitertreibt, meine lieben Kollegen, haben wir eines Tages noch eine EG-Marktordnung für Weihnachtsbäume, Bismarckheringe und Gartenzwerge. Auch das muß hier einmal gerade vor dem Europawahlkampf festgestellt werden.Da meine Redezeit zu Ende ist, bleibt nur noch die Frage an den Bundesfinanzminister und an den Bundeswirtschaftsminister, ob man wirklich bereit ist, bis zu 4 Milliarden DM zusätzlich in die EG hineinzupumpen, wie man hört. Es kommt auf den Zeitpunkt an, wann man das tut. Es stellt sich wirklich die Frage, ob es nicht notwendig ist, diese Dinge in Brüssel noch einmal verstärkt zu Gehör zu bringen.
Herr Abgeordneter, ich muß Sie darauf hinweisen, daß die Menge der Worte, die Sie gesprochen haben, jedenfalls von der Zeit her ihre Begrenzung jetzt hat.
Ihr Kollege Stücklen sagte mir, ich hätte bis zu 15 Minuten.
Die sind vorüber. Handlos : Ich höre sofort auf.
Insgesamt gesehen besteht die Gefahr, daß der langsam abzeichnende Aufschwung dann wieder zusammenbricht, wenn sich — damit komme auch wirklich zum Schluß — das Verhalten der amerikanischen Wirtschafts- und Finanzpolitik nicht grundsätzlich ändert, wenn wirklich die Einführung der 35-Stunden-Woche kommen sollte und wenn darüber hinaus die Bundesregierung nach wie vor Leistung bestraft. Wenn dann Wirtschaft und Staat mit einer sich verfestigenden Arbeitslosenzahl von über 2 Millionen Personen in die nächste Abschwungphase eintreten müssen, kann dies für die weitere Entwicklung unseres Staates sehr gefährlich werden.
Herzlichen Dank.
Das Wort hat nun der Herr Abgeordnete Hauser .
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4004 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 56. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Februar 1984
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das Gutachten der Sachverständigen sagt klipp und klar: Die wirtschaftliche Lage hat sich merklich gebessert. Im Anstieg der Produktion spiegelt sich nicht mehr nur das zufällige Zusammentreffen positiver Einflüsse. Dann heißt es beim Sachverständigenrat und im Jahreswirtschaftsbericht kurz und bündig weiter: „Konjunkturpolitischer Handlungsbedarf besteht zur Zeit nicht."Heute, 16 Monate nach Ablösung der SPD-geführten Bundesregierung, ist eine lebensgefährliche Krise gemeistert. Es geht wieder aufwärts.
— Wir sind ja dankbar, daß Sie vor 16 Monaten abgetreten sind. Machen Sie sich nur keine Hoffnungen.
— Mindestens 16 Jahre, natürlich. Das ist auch besser so.Für uns stellt sich die Frage: Wie können wir diese positive Entwicklung stabilisieren, und was muß geschehen, um auf Dauer die Arbeitslosigkeit zu beseitigen? An erster Stelle gilt es, die Unternehmerlücke zu schließen, also den Fehlbestand an Unternehmen auszugleichen, der sich durch die verheerende Konkurswelle des vergangenen Jahrzehnts ergeben hat. Die Bereitschaft zur Selbständigkeit ist in unserem Lande vorhanden. Das Eigenkapitalhilfeprogramm der Bundesregierung fördert solche Neugründungen.Nachdem wir dieses Programm sofort nach der Regierungsübernahme entscheidend verbessert haben, ist die Zahl der geförderten Unternehmensgründungen von 3016 auf 7557 gestiegen; das ist das Zweieinhalbfache. Das zeigt: Die verbesserten Konditionen machen sich bezahlt. Diese Mittel zahlen sich volkswirtschaftlich aus. Die damit geförderten Neugründungen bringen neue Ideen, Produkte und Produktionsverfahren, erschließen neue Märkte, beleben den Wettbewerb und sichern ein vielfältiges Angebot an Waren und Dienstleistungen. Und was in dem Zusammenhang vor allen Dingen wichtig ist: Sie schaffen neue Arbeitsplätze,
im Durchschnitt fünf bei jeder Neugründung, Herr Kollege.In der CDU/CSU wird zur Zeit die Frage geprüft, ob durch ein Angebot zum Sparen von Existenzgründungskapital dieser positive Trend weiter verstärkt werden kann. Dabei sage ich sehr deutlich: Diese Möglichkeit soll das Eigenkapitalhilfeprogramm der Bundesregierung nicht ersetzen, sondern ergänzen.
Wir wissen uns in dieser Frage mit dem Herrn Bundeskanzler einig, der nicht nur in seiner Regierungserklärung, sondern auch bei vielen anderen Gelegenheiten die Notwendigkeit der Gründung neuer selbständiger Existenzen hervorgehoben hat.Aber sinnvoll ist das nur, wenn weitere flankierende Maßnahmen das Risiko der Selbständigkeit kalkulierbar machen. Das trifft nicht nur für Neugründungen zu, sondern es gilt auch, den vorhandenen Unternehmensbestand in seiner Substanz zu sichern.In diesem Zusammenhang sind in die politische Diskussion im Laufe der letzten Monate verstärkt Begriffe wie „Mittelstandkomponente" und „mittelstandsgerechte Maßnahmen" eingebracht worden. Ich bedaure, daß sie manchmal — ich möchte fast glauben, auch sehr bewußt — mißverstanden und fehlinterpretiert worden sind.
Ich möchte es einmal ganz deutlich sagen: Wenn wir davon sprechen, dann denken wir nicht an die Errichtung eines Naturschutzparks, sondern dann wollen wir Chancengleichheit für die kleinen und mittleren Unternehmen gegenüber den großen.
Die vorhandenen Verwerfungen und Ungleichbehandlungen zwischen Groß-, Mittel- und Kleinbetrieben berühren die Grundlagen unserer Wirtschaftsordnung.Ich nenne als einige Beispiele nur die rasante Progression in der Einkommensteuer mit dem dadurch verursachten Mittelstandsbauch. Ich nenne die Forschungsförderung, wo in den letzten zehn Jahren fast 9 Milliarden DM an zehn Zuwendungsempfänger verteilt wurden. Ich nenne den Subventionsbereich, bei dem wir leider feststellen müssen, daß gesunde Klein- und Mittelbetriebe fußkranke Großbetriebe mitfinanzieren müssen.Einen besonderen Schwerpunkt bei der Benachteiligung kleiner und mittlerer Betriebe stellt die Wettbewerbsverzerrung dar. Im Handel kennen wir das Problem der marktstrategisch geplanten UnterEinkaufspreis-Verkäufe, mit der nicht nur Kunden angelockt, sondern kleine benachbarte Geschäfte ausgeschaltet werden sollen.Diese Beispiele, meine Damen und Herren, zeigen, daß es in unserer Volkswirtschaft starke Wettbewerbsverzerrungen zu Lasten von Klein- und Mittelunternehmen gibt, und dies ist der Grund für die Forderung an die Wirtschaftspolitik nach Beachtung mittelständischer Belange. Man darf also nicht Ursache und Wirkung miteinander verwechseln.Bliebe diese aus der Ungleichbehandlung herrührende Bedrohung unbeantwortet, wäre die Vermachtung unserer Wirtschaft durch Zerstörung zahlloser mittelständischer Existenzen unabwendbar. Die Aufgabe der Wirtschaftspolitik in den nächsten Jahren ist es, die den Mittelstand bedrohenden Wettbewerbsverzerrungen zu beseitigen und keine neuen entstehen zu lassen.
Diese Übergangsphase wird in die übergeordneteZielsetzung der Ordnungspolitik einmünden müs-
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Hauser
sen, daß kein Marktteilnehmer wegen seiner Größe bevorzugt oder benachteiligt werden kann;
denn Chancengleichheit auf dem Markt ist die Voraussetzung dafür, daß Leistung wieder voll zum Zuge kommen kann; sie ist auch die Voraussetzung dafür, daß sich die Strukturveränderungen reibungsloser und schmerzloser vollziehen.Gestatten Sie mir in dem Zusammenhang noch ein paar Bemerkungen zur Wettbewerbsgesetzgebung. Die seit 1970 aus unterschiedlichen Ursachen entstandenen Wettbewerbsverzerrungen sind ein großes Problem. Wir stehen hier erst am Anfang einer Diskussion; das hat auch der Jahreswirtschaftsbericht in seiner Aussage deutlich bestätigt. Das zeigt aber auch die schwierige Diskussion in der Wirtschaft um die Fortschreibung der sogenannten „Gemeinsamen Erklärung".Speziell im Lebensmitteleinzelhandel tobt seit vielen Jahren ein harter Verdrängungswettbewerb. Hier haben sich zwei Entwicklungslinien zu einer für viele mittlere und kleine Einzelhändler unheilvollen Wirkung miteinander verknüpft: auf der einen Seite ein tiefgreifender Strukturwandel in Richtung große Einkaufsflächen, Randlagen und umsatzstarke Warengruppen, und andererseits der Kampf um Marktanteile bei stark gebremstem Wachstum. Starke Unternehmen haben bestimmte Verdrängungs- und Vernichtungsstrategien entwikkelt, wozu auch die Strategie der methodischen Unter-Preis-Verkäufe gehört. Ich möchte ausdrücklich klarstellen, weil es darüber auch andere Meldungen gibt, daß wir nicht zu den Verfechtern eines gesetzlichen Verbots des Unter-Einstandspreis-Verkaufes gehören.
Weder die CDU/CSU-Fraktion — ich sage das sehr ausdrücklich, Herr Kollege Cronenberg, damit hier keine Irritationen aufkommen —,
noch die Mittelstandsvereinigung der CDU/CSU denken an eine solche Regelung.Für viel problematischer halten wir dagegen die sogenannte Rabattspreizung, das heißt, das ungewöhnlich breite Auseinanderklaffen der Rabatte je nach Mengenabgabe zwischen zwei bis über 20 %. Die Fortschreibung der Gemeinsamen Erklärung der Wirtschaft versucht, auch diesem Problem beizukommen. Ob es gelingt, werden wir sehen. Heute möchte ich hierzu feststellen: In Abwägung aller rechtlichen und ordnungspolitischen Schwierigkeiten dieser komplizierten Frage werden wir in der nächsten Zeit entscheiden müssen, ob eine Initiative notwendig ist oder nicht. Viel wird davon abhängen, ob die Gemeinsame Erklärung zustande kommt.Meine Damen und Herren, so stehen noch viele Aufgaben und Risiken vor uns, die unseren vollen Einsatz und unser ganzes Geschick herausfordern. Hierzu gehören die Strukturkrisen bei Kohle, Stahl und Werften, die Schuldnerländer, die Finanzprobleme der EG, und ein besonderes Augenmerk wird auch die Preisentwicklung erfordern. Auch hier lauern Risiken. Schon seit Monaten ziehen die DM- Preise der Importgüter stark an. Die Verteuerung der Importe bildet eine erhebliche Kostenmehrbelastung. Dies alles hängt mit dem Dollarkurs zusammen.Besonders positiv ist, daß die Wirtschaft wieder investiert. Die gestiegene Rentabilität und bessere Erwartungen ziehen neue Investitionen nach sich, wobei es auch darum geht, die Produktionsverfahren auf den neuesten technischen Stand zu bringen.Der Wohlstand unseres Landes und auch die Leistungsfähigkeit unserer sozialen Sicherungssysteme hängen von der Leistungsfähigkeit unserer Wirtschaft als Ganzem ab. Die zurückliegenden Monate haben dies eindeutig unter Beweis gestellt. Die CDU/CSU-Fraktion unterstützt die Politik der Bundesregierung bei der Verwirklichung der Sozialen Marktwirtschaft und beim Zurückdrängen überflüssigen Staatseinflusses.
Mehr Freiheit für die schöpferischen Kräfte unserer Bürger wird der gesamten Volkswirtschaft zugute kommen. Freie Bahn dem Tüchtigen und dem Leistungsbereiten, das ist die Devise unserer Politik und ist auch die beste Garantie für neue Arbeitsplätze.Vielen Dank.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Ehrenberg.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Dieser Jahreswirtschaftsbericht 1984, der mir schon als ein bemerkenswertes Dokument vorkam, als ich ihn gelesen habe,
ist nach den Ausführungen von Graf Lambsdorff und Minister Stoltenberg für mich noch bemerkenswerter geworden.
Ich bin mir jetzt ganz sicher: Er wird einmal in der Geschichte der Wirtschafts- und Sozialpolitik dieser Regierung einen ganz besonders zu beachtenden Platz haben, nur keinen ehrenvollen.
— Nein, das haben wir in der Tat nicht getan.
Keine sozialliberale Regierung hat jemals einenJahreswirtschaftsbericht vorgelegt, in dem für daslaufende Jahr mehr als 2 Millionen Arbeitslose als
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4006 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 56. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Februar 1984
Dr. EhrenbergZielprojektion der Bundesregierung festgeschrieben worden sind.
— Sie sollten nun wirklich in der Debatte des Jahreswirtschaftsberichts den Unterschied zwischen Prognose und Projektion kennen. Wenn nicht, wird Ihnen Herr Schlecht sicher Nachhilfeunterricht in der Frage, was Prognose und was Projektion ist, geben.
Hier geht es um die Zielprojektion dieser Bundesregierung, die 17 Monate im Amt ist und zum zweitenmal einen Jahreswirtschaftsbericht mit dem Ziel ihrer Politik von mehr als 2 Millionen Arbeitslosen vorlegt.
— Verängstigt werden können die Rentner nur von Ihrer Politik und von den Fakten, nicht von dem, was ich sage.
— Um den Zwischenruf aufzunehmen: Die Rentner haben seit zwei Jahren gespürt, daß sie in jedem Jahr meiner Politik einen realen Zuwachs und in jedem Jahr mit Herrn Blüm ein reales Minus hatten. Das wird bei der Politik, die Herr Blüm macht, noch lange so bleiben.
— Aber natürlich, die große Erblast sitzt doch dort. Herr Lambsdorff ist doch der Erblastträger.
Herr Abgeordneter Dr. Ehrenberg, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Francke?
Nein, ich habe so viele Fragen an Herrn Lambsdorff, daß ich nicht noch zusätzliche Fragen hier beantworten kann.
Wenn Sie den Mut hätten, zuzuhören, statt ständig zwischenzurufen,
bekäme Herr Lambsdorff noch die Chance, auf diese Fragen zu antworten.
Das hätte ich gerne, daß Herr Lambsdorff vor diesem Haus und vor der Öffentlichtkeit die Fragen beantwortet.
— Vielleicht lassen Sie mich doch meine Fragen an den hier zuständigen Ressortminister stellen, so viel Höflichkeit sollte es in diesem Hause eigentlich noch geben.
— Sie werden nie vernünftige, anständige Parlamentarier, wenn Sie sich weiter so benehmen. Sie hindern hier den zuständigen Ressortminister daran, auf Fragen einzugehen, die ich ihm stellen will.
Ich würde den Kollegen Lambsdorff nämlich gern fragen, warum es im Jahreswirtschaftsbericht eine Tabelle der internationalen Preisentwicklung und nicht eine Tabelle der internationalen Arbeitslosenentwicklung gibt. Liegt das daran, Kollege Lambsdorff, daß sich seit 1981 die Zahl der Arbeitslosen in der Bundesrepublik verdoppelt hat, während sie in anderen Nationen nur langsam gestiegen oder sogar stabil geblieben ist?
— Herr Kollege, hören Sie zu und prüfen Sie nach! Bis einschließlich 1981 hat die Bundesrepublik Deutschland im Vergleich der sieben am Weltwirtschaftsgipfel beteiligten Nationen den ehrenvollen zweitletzten Platz belegt; nur Japan war besser. Von 1981 bis 1983 hat die Bundesrepublik nach Italien den höchsten Anstieg.
— Von 1981 bis 1983 ist der höchste Anstieg, und im Sommer 1981 hat Graf Lambsdorff die Wende vorbereitet, die 1982 vollzogen wurde, weil er sich ab 1981 konsequent jeder aktiven Beschäftigungspolitik widersetzt hat.
Ich muß Sie weiter fragen, Kollege Lambsdorff, ob Ihr Gedächtnis durch die Wendepolitik so gelitten hat, daß Sie in den Jahreswirtschaftsbericht schreiben, nachdem Sie vorher 2,1 bis 2,2 Millionen Arbeitslose als Zielprojektion festgelegt haben:Konjunkturpolitischer Handlungsbedarf besteht zur Zeit nicht. Vor allem wären staatliche Ausgabenprogramme nicht geeignet, die gegenwärtigen Beschäftigungsprobleme dauerhaft zu mindern.Das sagt der Sachverständigenrat, aber Sie übernehmen diese Äußerung voll. Also kann ich Sie auch damit identifizieren. Ist eigentlich die Übernahme dieser Aussage mit Ihrem Auftrag nach dem
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Dr. EhrenbergStabilitäts- und Wachstumsgesetz vereinbar, für hohen Beschäftigungsstand zu sorgen?
Ist Ihr Gedächtnis so kurz, daß Sie nicht mehr wissen, daß durch das 16-Milliarden-Investitionsprogramm von 1977 ein solcher Anstoß der wirtschaftlichen Entwicklung gegeben worden ist, daß allein in den Jahren 1978 bis 1980 726 000 Arbeitnehmer neue Arbeitsplätze besetzen konnten? Wie können Sie bei diesem Tatbestand diese Aussage unterstreichen, wenn Sie nicht ideologisch etwas anderes wollen?
Weil das so ist, gestatten Sie mir, nur noch stichwortartig hier deutlich zu machen, daß es keineswegs so sein muß. Es gibt genügend Operationsfelder staatlicher Politik, wenn der politische Wille vorhanden ist, sie anzuwenden. Da Ihnen selber nichts eingefallen ist oder einfallen will — Ihnen würde etwas einfallen, Sie glauben nur, es ist politisch besser, das nicht zu tun, nicht ökonomisch besser —, nenne ich ein paar Punkte aus dem zur Zeit diskutierten wirtschaftspolitischen Konzept für den SPD-Parteitag.Erstens. Die gegenwärtige Beschäftigungslage mit 2,5 Millionen Arbeitslosen, die vergeblich einen Arbeitsplatz suchen, und unausgelasteten Kapazitäten und einem großen Rückstand an modernen Umweltschutztechnologien bietet doch die Verknüpfung von Umwelt- und Beschäftigungspolitik geradezu an. Warum gehen Sie nicht dazu über, endlich statt Übergangsfristen und zwar Verschärfung der Vorschriften, aber mit neuen Ausnahmetatbeständen einen dicken Schub an Umweltprojekten — ähnlich wie 1977 das Rhein-Bodensee-Programm — für die Jade, für die Weser, für die Elbe, für die Nordsee und für die Ostseeküste in Gang zu setzen?
Wolfgang Roth hat bereits auf das Sondervermögen „Arbeit und Umwelt" hingewiesen. Das wäre ein sehr geeignetes Instrument, um mit der Übernahme der Zinslasten für die ersten Jahre Investitionsvolumina zwischen 15 und 25 Milliarden DM zur Verbesserung von Luft und Wasser und zu einer deutlichen Verbesserung der Beschäftigungslage zu bewegen und um gleichzeitig die Hauptübel unserer Zeit, Arbeitslosigkeit und Umweltgefährdung, wirksam und nachhaltig zu bekämpfen. Da helfen nicht marktwirtschaftliche Beschwörungsformeln. Es muß vielmehr konkret etwas getan werden.
Zweitens. Die Sozialpolitik und die Finanzpolitik der Haushalte 1983 und 1984 hat die Finanzen der Gemeinden in eine doppelte Zangenbewegung genommen. Die Gewerbesteuer und die Arbeitslosigkeit mindern die Einnahmen der Gemeinden, und die Kürzungen des Herrn Blüm beim Arbeitslosengeld, bei der Arbeitslosenhilfe und beim Krankengeld — jemand möge Herrn Stoltenberg doch bitte ausrichten, daß das keine Leerformeln, sondern konkrete Kürzungen der Leistungen sind — erhöhen sprunghaft den Sozialhilfebedarf der Gemeinden und verringern dort — zumindest im Ruhrgebiet und in Norddeutschland, wo die Finanzausstattung sehr knapp ist — die Ersatz- und Sanierungsinvestitionen der Kommunen, von Neuinvestitionen gar nicht zu reden.
— Ich bin sehr gut informiert. Verlassen Sie sich darauf. Fragen Sie einmal Herrn Samtlebe.
— In Stuttgart haben sie sich verbessert — darin stimme ich Ihnen sofort zu —, im Ruhrgebiet aber nicht.
— An der Regierung liegt es. Ganz recht, die Regierung hat seinerzeit Bosch und Daimler-Benz geschaffen, aber das war eine ganz andere Regierung. Natürlich war es nicht die Regierung, sondern tüchtige Unternehmer haben das getan.
— Ganz selbstverständlich. Die Gründung erfolgte durch die Unternehmer, und die Automobile haben die Arbeitnehmer produziert. Ich wünschte, Sie wüßten bei Fragen der Mitbestimmung und der Arbeitszeitverkürzung soviel über Arbeitnehmer zu sagen wie jetzt bei diesem Zwischenruf.
Drittens. Herr Lambsdorff, die Strukturpolitik wird mit dafür sorgen müssen, neue Tätigkeitsfelder zu erschließen. Das wird im Dienstleistungssektor nur mit günstigeren Angeboten gehen. Diese werden Sie nur erreichen, wenn zwei Dinge passieren. Erstens muß bei den Sozialabgaben von der Lohn- und Gehaltssumme als Bemessungsgrundlage abgegangen und zur Wertschöpfung als Bemessungsgrundlage übergegangen werden, um die arbeitsintensiven Betriebe zu entlasten und die kapitalintensiven zu belasten. Zweitens muß endlich mit der Begünstigung des reinvestierten und der Belastung des entnommenen Gewinns ernst gemacht werden, um zu bewirken, daß die Investitionen hier getätigt werden und nicht die Finanzanlagen in Manhattan gestärkt werden.
Viertens. Aller Polemik zum Trotz: Die Beschäftigungslage wird sich nur verbessern, wenn Arbeitszeitverkürzungen auf breiter Front von der Regierung unterstützt werden und sie nicht aktiv dem entgegenarbeitet, was in diesem Bereich von den Gewerkschaften mit Recht gefordert wird. Das bißchen an Vorruhestandsregelung, das Herr Blüm vorgelegt hat, kann unter diesen Konditionen keine Gewerkschaft ernst nehmen.
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Dr. EhrenbergKeiner dieser Punkte findet sich in dem Jahreswirtschaftsbericht. Es findet sich darin nichts Konkretes außer marktwirtschaftlichen Beschwörungsformeln. Das heißt, wir werden selbst dann noch, wenn alle positiven Wachstumsannahmen zutreffen, mindestens die nächsten vier bis fünf Jahre bei dem Bevölkerungszuwachs dem Produktivitätsanstieg und einem Wachstum von höchstens 2 bis 3 % bei einem Arbeitslosensockel von mehr als zwei Millionen verbleiben. Die Sozialdemokraten sind gemeinsam mit den Gewerkschaften nicht bereit, den von Ihnen eingeleiteten Gewöhnungsprozeß an hohe Arbeitslosigkeit mitzumachen.
Der Gewöhnungsprozeß ist mit zwei Jahreswirtschaftsberichten, die dies dokumentieren, eingeleitet.
Lassen Sie mich zum Schluß sagen: Wer zwei Millionen Arbeitslose als Zielprojektion nicht nur hinnimmt, sondern festschreibt — und zwar zum zweitenmal —,
trägt dazu bei,
den Charakter dieser Republik gründlicher zu verändern, als alle sogenannten Systemveränderer das jemals könnten.
Meine Damen und Herren, schauen Sie in die Verfassung! Die Verfassung schreibt uns vor, ein sozialer Rechtsstaat zu sein.
Die Verfassung schreibt uns das vor! Das Sozialstaatsprinzip schließt es aus, auf lange Sicht damit zu leben, daß jeder zehnte Arbeitnehmer vergeblich einen Arbeitsplatz sucht. Bei uns war es die Hälfte. Bei Ihnen hat sich die Arbeitslosigkeit verdoppelt!
Diese ganze heutige Debatte gibt keine Antwort auf die Frage, wie dieses Problem zu lösen wäre.
Bitte denken Sie darüber nach,
ob Sie eine andere Republik wollen, und dann ändern Sie den Kurs Ihrer Politik!
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. Solms.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich wollte ja eigentlich nicht auf die allgemeine Wirtschaftspolitik eingehen, sondern mich nur zum Thema „Risikokapital" äußern, aber, Herr Ehrenberg, ich darf doch einmal in Erinnerung rufen — das ist ja in diesem Hause allseits bekannt —: Arbeitslosigkeit ist ein Spätindikator. Wenn wir heute Arbeitslosigkeit haben und sie in den letzten Jahren in hohem Maße gehabt haben, muß folglich die Ursache dieser Arbeitslosigkeit einige Jahre vorher geschaffen worden sein.
Das ist Ende der 70er Jahre gewesen. An diesen Ursachen haben Sie mit Ihren Anteilen — Ihre Verantwortung — zu tragen.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, die Wirtschaft befindet sich — das ist öfter ausgeführt worden — in einem schwierigen Anpassungsprozeß. Nur wenn es gelingt, den Strukturwandel schneller, flexibler und tiefgreifender zu bewältigen, als unsere Konkurrenten im Ausland es tun, werden wir unseren Wohlstand halten können; nur dann besteht die Aussicht, die Arbeitsmarktprobleme nachhaltig in den Griff zu bekommen. Die Arbeitslosigkeit durch Umverteilung der Arbeitsplätze beseitigen zu wollen, wäre eine Illusion.Kleine und mittlere Unternehmen sind besonders geeignet, bei diesem Anpassungsprozeß die Vorreiterrolle zu spielen. Gerade sie zeichnen sich durch Innovationskraft, Kreativität und Flexibilität aus. Viele bahnbrechende Entwicklungen sind durch kleine dynamische Unternehmen ausgelöst und auf den Märkten durchgesetzt worden.Zur Beherrschung des Strukturwandels gehört die Fähigkeit, Risiken eingehen zu können. Risiken kann man aber nur dann übernehmen, wenn man ausreichendes haftendes Kapital einsetzen kann; andernfalls wird man schon beim ersten Rückschlag in Existenznot geraten.
Die jeweils mehr als 15 000 Konkursfälle in den letzten beiden Jahren mit über 20 Milliarden DM Forderungsausfällen liefern einen plastischen Anschauungsunterricht. Gerade die mittelständischen Unternehmen leiden aber unter einem deutlichen Eigenkapitalmangel. Die Bundesbank hat dies nachgewiesen. In der Bundesrepublik ist genügend anlagesuchendes Kapital vorhanden. Es fließt jedoch überwiegend in die Anlageformen, die nicht der Risikokapitalbildung, den Investitionen und damit der Schaffung von Arbeitsplätzen dienen. Hier ist der Staat zu ordnungspolitisch richtigen Weichenstellungen aufgerufen.Dem dient der Antrag der Koalitionsfraktionen. Ziel des Antrages ist es, die Bildung von Risikokapital, die Fähigkeit und Bereitschaft, solches Kapital zur Verfügung zu stellen, auf allen Ebenen zu
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Dr. Solmsfördern. Es muß ausdrücklich hervorgehoben werden, daß wir mit diesem Antrag keine neuen Subventionstöpfe öffnen wollen. Wir wollen nicht etwa der Abschreibungsbranche ein neues Betätigungsfeld geben. Ich betone: Die Abschreibungsbranche, deren Markt durch die Einschränkung des Bauherrenmodells schon fühlbar trockengelegt worden ist, soll nicht wieder neues Futter erhalten.In einer Marktwirtschaft fließt das Kapital in die erfolgversprechendsten Anlageformen. Das heißt, daß der Kapitalgeber nur dann bereit sein wird, das Kapital zur Verfügung zu stellen, wenn es eine dem Risiko entsprechende Rendite erwirtschaftet. Genau daran hat es aber in den letzten Jahren gemangelt. Die Ertragskraft der Unternehmen ist durch eine zu hohe Kostenbelastung geschwächt worden. Die öffentliche Hand hat zur Finanzierung ihrer Defizite die Zinsen in die Höhe getrieben und die Kapitalmärkte geplündert. Die Arbeitskosten wurden insbesondere durch die Lohnnebenkosten in die Höhe getrieben. Aber — was paradox und einmalig in dieser Situation ist — ausgerechnet die Anlagen, die alleine zur Modernisierung der Wirtschaft, zur Schaffung von Arbeitsplätzen geeignet sind, unterliegen einer kumulierten Steuerbelastung von unvergleichlicher Höhe, kumuliert durch Einkommensteuer, Körperschaftsteuer, Gewerbesteuer, Vermögensteuer, Gesellschaftsteuer und andere Abgaben. Die Erträge der gewerblichen Investitionen werden also im Durchschnitt einer Steuerbelastung von 70% unterworfen. In den Verlustjahren geht es sogar in die Substanz. Damit sind die Erträge aus gewerblichen Investitionen erheblich stärker mit Steuern belastet als die Erträge aus anderen Anlagen. Genau das Umgekehrte wäre aber richtig, wenn wir mehr Investitionen auslösen wollen.Kein Wunder ist es dann, daß die Investitionsneigung stagniert, daß Kapital einseitig in die Geldvermögensbildung, in Abschreibungsmodelle oder ins Ausland fließt. Deshalb ist Grundvoraussetzung die nachhaltige Verbesserung der Ertragskraft unserer Wirtschaft.
Meine Damen und Herren, wir brauchen beides: Wir brauchen höhere Erträge der Unternehmen, und wir brauchen einen funktionsfähigen Risikokapitalmarkt. Wir müssen für bessere Erträge sorgen und kapitalmarkt- und steuerpolitische Maßnahmen ergreifen, durch die anlagewilliges Kapital zu anlagesuchenden Projekten fließt. Die hier bestehenden Hemmnisse müssen beseitigt werden. Darum geht es in dem Antrag.Adressat der Maßnahmen sind zwei Gruppen von Unternehmen: Erstens Gesellschaften, die bereits einen nachhaltigen Erfolg vorweisen können und gewisse Größenordnungen erreicht haben. Für sie muß der Weg zur Börse, dem eigentlichen Markt für Risikokapital eröffnet werden. Die Aktiengesellschaft ist die geeignete Rechtsform, wenn es darum geht, haftende Mittel auf dem Kapitalmarkt zu beschaffen. Die Scheu mancher Unternehmer vor der Aktiengesellschaft — insbesondere wegen der Publizitäts- und Mitbestimmungsvorschriften — muß abgebaut werden. Auch die Banken müssen sich mehr als in den vergangenen Jahren dieser Aufgabe stellen, in denen sie das sträflich vernachlässigt haben.Die FDP-Fraktion bittet die Bundesregierung zu prüfen, ob der von der Börsensachverständigenkommission vorgeschlagene Weg der Schaffung eines Parallelmarkts sinnvoll ist oder ob die von der FDP favorisierte Reorganisation des geregelten Freiverkehrs zweckmäßiger erscheint. Für diese Auffassung haben sich im übrigen auch die Börsenvorstände in Frankfurt und Stuttgart erklärt.Die FDP will die Schwächen des geregelten Freiverkehrs — das sind seine fehlende börsenrechtliche Verankerung, seine nicht bundeseinheitliche Ausgestaltung, seine mangelnde Publizität und das Fehlen eines täglichen Einheitskurses — beseitigen. Dies scheint uns verwaltungsmäßig einfacher, als einen zusätzlichen vierten Parallelmarkt einzuführen.Die Kosten für die Überwachung der Geschäftsführung — z. B. Aufsichtsratskosten — sollten in Zukunft vollständig als Betriebsausgaben anerkannt werden.Auf der steuerlichen Seite sollte zudem die Gesellschaftsteuer abgeschafft werden, weil sie natürlich genau gegen die Eigenkapitalbildung wirkt. Über die Börsenumsatzsteuer müßte man in diesem Zusammenhang diskutieren.
Zweitens: Neben den bereits börsenfähigen Gesellschaften geht es um die erleichterte Kapitalbeschaffung von Neugründungen und von kleinen Unternehmen, die auf Grund ihrer Entwicklung und Größe noch nicht geeignet erscheinen, den Weg an die Börse zu gehen. Für sie sollen die Kapitalbeteiligungsgesellschaften die Mittlerfunktion zwischen Anleger und Unternehmer übernehmen. Diese Beteiligungsgesellschaften sollen nicht nur Kapital vermitteln, sondern auch eine Beratungsfunktion ausüben. Diese Beratungstätigkeit sollte in die Förderrichtlinien der Bundesregierung aufgenommen werden.Für die Kapitalbeteiligungsgesellschaften sollten auch die Möglichkeiten verbessert werden, sich von Beteiligungen zu lösen und in neue einzutreten. Veräußerungsgewinne, die dabei entstehen, sollten nicht zur Besteuerung führen, sondern im vollen Umfang zur Reinvestition führen, wie ich im übrigen glaube — im Zusammenhang mit dem § 6 b Einkommensteuergesetz —, daß jede Reinvestition zu 100 % im Inland volkswirtschaftlich förderungswürdiger ist als eine Besteuerung zu 60%, und mit den restlichen 40 % kann der Unternehmer dann machen, was er will.
Meine Damen und Herren, ich will nicht in die weiteren Einzelheiten gehen, da die Zeit begrenzt ist. Ich möchte zum Abschluß sagen: Wenn wir es erreichen, daß in der Bundesrepublik wieder der Pioniergeist entsteht, den wir nach dem Kriege gehabt haben, wenn wir eine Gründungswelle erzeu-
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Dr. Solmsgen können, dann wird es uns nicht bange sein um den Strukturwandel in den nächsten Jahren, und dann wird es uns nicht bange sein, daß die Wirtschaft der Bundesrepublik wieder die Spitzenstellung erreichen kann, die sie gehabt hat.Danke schön.
Das Wort hat der Abgeordnete Stratmann.
Liebe Bürgerinnen und Bürger!
Herr Lambsdorff ist heute morgen in seiner Rede kurz auf die vermeintlichen Defizite grüner Wirtschaftspolitik eingegangen, und, Herr Lambsdorff, ich möchte meine zehn Minuten nutzen, um Ihnen ein weiteres Element grüner Wirtschaftspolitik nahezubringen, und anknüpfen an das hohe Lied des freien Welthandels, das Sie heute morgen angestimmt haben.
Die Doktrin des freien Welthandels deckt zu, daß sich dahinter in mehrfacher Hinsicht eine aggressive Wirtschaftsstrategie verbirgt, aggressiv gegenüber den westlichen Industriestaaten. Zu erkennen ist dies darin, daß die Exportoffensiven gerade des BRD-Stahlkapitals und auch des europäischen Stahlkapitals zu dem zunehmenden und sich zuspitzenden Stahlstreit mit den USA geführt haben. Zunächst Selbstbeschränkungsabkommen im Massenstahl, dann protektionistische Maßnahmen der USA bei Edelstahl und jetzt ab 1. März Gegenreaktion der EG.
Wo dieses Spiel hinführen wird, vermag heute niemand zu sagen. Sich zuspitzende Handelskonflikte, sogar Handelskriege zeigen sich in mehreren wirtschaftlichen Sektoren.
Aggressiv ist diese Wirtschaftsstrategie ebenfalls gegenüber Dritte-Welt-Ländern und Schwellenländern. Die von allen Fraktionen — außer uns — geforderten Exportoffensiven treiben geradezu die Dritte-Welt- und Schwellenländer in eine fremdbestimmte internationale Arbeitsteilung.
Herr Lambsdorff, Sie haben heute morgen geradezu einen schnellen Wechsel internationaler Arbeitsteilung gefordert.
— Hören Sie doch erst einmal zu, bevor Sie Stellung nehmen. — Die Folge ist Export von hochtechnologischen und entsprechend teuren Produkten in die Dritte Welt, Import von großenteils im Preis verfallenden Rohstoffen, ein Beitrag, nicht der alleinige, aber ein wesentlicher Beitrag zu der hohen Verschuldungssituation von Dritte-Welt-Staaten, die ihrerseits wieder auf die eigene Volkswirtschaft in der Bundesrepublik rückwirkt. Am Beispiel Brasilien heißt das unter anderem Export von Atomkraftwerken, durch Hermes-Bürgschaften abgesichert, heißt das IWF-Auflagen an Brasilien, erhöhte Exporte, um die Verschuldungssituation des eigenen Landes abzutragen. Das führt dazu, daß Brasilien seinerseits in Stahlexporte auf den US-Markt ausweicht, was im Dreieck Brasilien-USA-EG den Stahlstreit weiter zuspitzt.
Aggressiv ist diese Wirtschaftsstrategie zuletzt auch gegenüber dem Inland. Der sogenannte freie Weltmarkt muß dazu herhalten, die offensive Einführung neuer Technologien zu begründen. Darin sind sich die SPD als auch die Koalitionsfraktionen einig —,
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Cronenberg?
— eine Sekunde, Herr Cronenberg —, mit allen verheerenden Folgen dieser neuen Technologien für die Arbeitsbedingungen im Inland und für die Arbeitsmarktsituation im Inland.Schließlich ist diese Exportstrategie und Weltmarktstrategie aggressiv gegenüber den Arbeitsmarktbedingungen im Inland, wird sie doch immer als Legitimation auch für die unmenschlichen Arbeitsbedingungen angeführt. Ich erinnere für den Stahlbereich nur an das Conti-Schichtsystem, an Nacht- und Wochenendschichten.Herr Cronenberg, wenn Ihre Frage noch wichtig ist, gern.
Unsere Konsequenz daraus heißt: Wir wollen Schluß machen mit der Verherrlichung des Weltmarktes und der Fixierung auf Exportorientierung und fordern statt dessen eine stärkere Binnenorientierung unserer Wirtschaft. Was das heißt, Herr Lambsdorff, möchte ich Ihnen ansatzweise an zwei Beispielen verdeutlichen. Wir werden das in den nächsten Monaten auch im Parlament für die einzelnen volkswirtschaftlich strategischen Sektoren ausarbeiten. Am Beispiel der Energiepolitik ganz kurz: Zirka ein Viertel aller Importe sind Energieimporte, insbesondere von Öl und Gas. Arbeitsplatzschaffende Investitionen zur Energieeinsparung und Aufbau einer dezentralen Energiestruktur führen zu drastischen Einsparungen bei den Importen und werden gleichzeitig durch diese Einsparungen finanzierbar. Damit werden wir von Importen unabhängiger und tun gleichzeitig etwas für die Binnenorientierung sowie für den Binnenarbeitsmarkt.Zweites Beispiel! Durch den konsequenten Aufbau einer Recycling-Wirtschaft werden wir unabhängiger von der Einfuhr von Rohstoffen, die ca. 7 % des gesamten Importvolumens ausmachen. In bezug auf das Beispiel der Stahlindustrie, an dem
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Stratmannich das verdeutlichen möchte, heißt dies, daß sich durch die Förderung davon Stahlerzeugungstechnologien mit erhöhtem Schrotteinsatz auch die Einfuhr von Eisenerz stark reduzieren läßt.
Eine stärkere Binnenorientierung der Wirtschaftspolitik würde im binnenpolitischen Bereich und vor allem im sozialpolitischen Bereich auch neue Handlungsmöglichkeiten eröffnen. Ich möchte das an Hand der Frage verdeutlichen, wie mit den unbestreitbaren Überkapazitäten im Stahlbereich umgegangen werden kann.Bei den etablierten Parteien und auch beim BRD- Stahlkapital besteht Einigkeit darüber, daß die Überkapazitäten, einhergehend mit einem massiven Beschäftigungsabbau, abgebaut werden müssen. Wir geben zu bedenken, ob nicht folgender Weg, mit den Überkapazitäten umzugehen, wesentlich sinnvoller wäre. Es ist heute selbst im Hochofenbereich technisch möglich, auf Nachtschichten und Wochenendschichten zu verzichten und im Zweischichtsystem zu fahren. Das wird heute sogar schon im Rahmen von Kurzarbeit praktiziert. Wenn man die Nachtschichten und Wochenendschichten abbauen und die Belegschaft der ausfallenden Schichten nicht in die Arbeitslosigkeit treiben will, braucht man zusätzliche Produktionsanlagen, die zur Verfügung stehen, wenn man die vorhandenen technischen Überkapazitäten nicht abbaut, sondern nach einem geregelten Plan nutzt.Wir sind uns darüber im klaren, daß eine solche Strategie, die nach einem europäischen Plan koordiniert sein könnte und müßte, einer außenwirtschaftlichen Absicherung bedarf, weil sie nämlich in erheblichem Maße kostenwirksam ist und damit auch die internationale Konkurrenzfähigkeit mindert. Wir halten die außenwirtschaftliche Absicherung eines solchen sozialen Fortschritts — Abbau der Nachtarbeit — für sinnvoll und im Rahmen einer koordinierten europäischen Politik auch für möglich. Ich möchte hier allerdings sagen, daß wir protektionistische Maßnahmen, wie sie von der EG, von Japan, von den USA bei der zunehmenden Zahl von Handelskonflikten forciert eingesetzt werden, ablehnen, weil sie dazu dienen, Exportoffensiven abzustützen und die dominierende Rolle des BRD- Exportkapitals — Sie wissen, daß die BRD auf dem Weltmarkt in bezug auf den Export eine Spitzenstellung innehat — abzusichern.
Zur Erreichung des Zieles der Vorherrschaft lehnen wir protektionistische Maßnahmen ab.Um binnenpolitische und binnenwirtschaftliche Handlungsmöglichkeiten zu eröffnen, fordern wir allerdings eine außenwirtschaftliche Absicherung und halten sie — Beispiel Stahl — im Rahmen einer europäischen Politik auch für möglich.Danke schön.
Das Wort hat der Abgeordnete Wissmann.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Kollege Kittelmann wird nachher zu den außenwirtschaftlichen Fragen, die soeben angesprochen worden sind, Stellung nehmen. Ich möchte mich in Anbetracht der Zeitknappheit vor allem auf den Antrag der Koalitionsfraktionen zur Förderung der Bildung von Risikokapital konzentrieren.Der Bundeswirtschaftsminister hat heute morgen mit Recht von den Exporterfolgen gesprochen, die wir im letzten Jahr zu verzeichnen hatten und die wir im Jahre 1984 wohl zu gewärtigen haben. Die reale Zuwachsrate, die Experten dort erwarten, liegt bei etwa 5%. Ich glaube aber, daß die erfreuliche Nachricht einer Ergänzung bedarf, der Ergänzung nämlich, daß wir Gefahr laufen, mittel- und langfristig unsere internationale Wettbewerbsposition dann einzubüßen, wenn wir nicht in einigen Spitzentechnologien den Anschluß, den wir zu verlieren drohen, wiedergewinnen. Es gibt hierfür zwei Zahlenbeispiele, die ich nennen möchte, um auf die Gefahr aufmerksam zu machen:Zwischen 1970 und 1980 ist der Weltmarktanteil der Bundesrepublik Deutschland bei Produkten mit Elektronikhauptfunktionen jährlich um 1,5 zurückgegangen, während gleichzeitig die Japaner um 2% und die südostasiatischen Schwellenländer ihren Weltmarktanteil um 15% gesteigert haben. Das ist übrigens, Herr Kollege Stratmann, ein Beispiel dafür, daß bei einer entsprechenden Anstrengung gerade auch die Schwellenländer eine Chance haben, den Anschluß zu gewinnen, und daß es nicht so sein muß, wie Sie es in einigen Ländern mit Recht festgestellt haben. In anderen ist das eben nicht der Fall.
Das zweite. Wir haben bei der Mikroelektronik inzwischen eine Situation, wo zwei Nationen, die USA und Japan, den Markt für die Fertigung mikroelektronischer Bauelemente zu über 90 % beherrschen. Mit anderen Worten: Eine der entscheidenden wirtschaftspolitischen Herausforderungen dieser Zeit besteht darin, die Voraussetzungen dafür zu schaffen, daß wir dort, wo wir führend sind, die führende Stellung behalten und dort, wo wir ins Hintertreffen zu geraten drohen, den Anschluß wiedergewinnen.Diesem Ziel dient der Antrag der Koalitionsfraktionen; denn wir wissen, daß die Gefahr groß ist. Wenn junge, schnell wachsende technologieintensive Unternehmen in Deutschland nicht die entsprechenden Rahmenbedingungen für ihre Entwicklung vorfinden, dann wird es anderswo, vielleicht in Kalifornien oder auch in Schottland, eine solche Entwicklung geben, aber nicht in Deutschland.Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie mich ein Beispiel aus den letzten Tagen nennen, um Ihnen zu zeigen, wie es in Zukunft nicht mehr sein darf, ein Beispiel aus der Praxis. Da gibt es einen
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4012 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 56. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Februar 1984
Wissmannjungen Elektronikingenieur, der Mitte der 70er Jahre Meßgeräte für Elektronik entwickelt hat, der dafür das entsprechende Risikokapital sucht. Er geht zur Bank, er geht zur Sparkasse, er geht zur nächsten Bank. Er gerät in einen Rundlauf. Alle sagen nur eines: Wo sind die Sicherheiten? Dann geht er zur entsprechenden Landeskreditbank, da er keine Sicherheiten hat und da er kein Vermögen anzubieten hat, sondern nur eine gute Idee. Bei der Landeskreditbank bekommt er die Antwort: Wenn die Privatbanken und die Sparkassen nicht mitmachen, können auch wir keine Möglichkeiten zur Verfügung stellen. Dann entsinnt er sich dessen, was er über Amerika weiß. Er geht nach Kalifornien und hat sage und schreibe in anderthalb Wochen anderthalb Millionen US-Dollar Risikokapital für die Entwicklung eines eigenen Unternehmens zur Verfügung. Um die Geschichte auch in Blick auf die Sozialdemokraten und die GRÜNEN und ihre Thesen zu verschiedenen Arbeitsmarkttheorien hier in den Bezug zu nehmen:
Die Erfolgsstory, lieber Herr Kollege Fischer, endet damit, daß der Mann am Ende der Entwicklung in seinem neuen Unternehmen 250 Arbeitsplätze geschaffen hat, aber in Kalifornien und nicht in Deutschland. Das muß geändert werden, wenn wir hier in Deutschland Arbeitsmarktprobleme bewältigen wollen.
— Herr Kollege Stratmann, Sie werden verstehen, daß ich in Anbetracht der zehn Minuten Zeit, die ich habe, keine Zwischenfragen beantworten kann.Ich will mit dem Beispiel nur sagen: Die Konzentration in der deutschen Politik
richtet sich viel zu sehr auf die Frage, wie wir Arbeitszeit gerecht verteilen können, und viel zu wenig auf die Frage, wie wir neue Arbeitsplätze schaffen können.
Ich glaube, darauf muß sich stärker als bisher unsere geistige und unsere praktische Anstrengung richten.Deswegen haben wir Vorschläge gemacht. Der Kollege Dr. Solms sprach von unseren steuerlichen Vorschlägen: Abbau der Gesellschaftsteuer, weitere steuerliche Initiativen, um Rahmenbedingungen für Risikokapital zu schaffen. Wir haben in dem Antrag von den besseren Voraussetzungen für kleine und mittlere Unternehmen für den Zugang zum Börsenmarkt gesprochen, in den beiden Formen, die wir angeboten haben. Wir haben von der dringenden Notwendigkeit gesprochen, die Tore zwischen Universität und beruflicher Praxis durchlässiger zu gestalten, damit wir eher als bisher die Ideen, die an Universitäten entwickelt werden, in die betriebliche Praxis umsetzen können. Ich kann nur sagen: Was in Berlin mit dem Innovations- und Gründerzentrum gemacht wird, was in Baden-Württemberg mit dem, was man mit Technologiefabrik umschreiben kann, gemacht wird, ist nichts anderes als der Versuch, unseren Nachteil in der Frage der Umsetzung moderner Entwicklungen in die betriebliche Praxis auszugleichen. Und deswegen kann ich nur sagen: Ich begrüße, auch namens der Unions-Fraktion, die entsprechenden Anstrengungen des baden-württembergischen Ministerpräsidenten. Wir begrüßen die Anstrengungen des Bundesforschungsministers für technologieorientierte Unternehmensgründungen,
weil wir glauben, daß darin Rahmenbedingungen für bessere Voraussetzungen in der Zukunft geschaffen werden.Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lassen Sie mich aus diesen Überlegungen noch zu einem Punkt kommen, von dem ich glaube, daß er in der Debatte bisher nicht genug berücksichtigt wurde. Alle Untersuchungen über die wirtschaftliche Entwicklung in der Bundesrepublik weisen darauf hin, daß wir es mit einem wachsenden Nord-Süd-Gefälle in der Bundesrepublik zu tun haben.
Es würde mich sehr interessieren, was der — inzwischen ja wieder anwesende — Wirtschaftsminister von Nordrhein-Westfalen zu den Ursachen dieser Entwicklung zu sagen hat. Ich will hier wenige Zahlen nennen, die wichtig sind.
Baden-Württemberg und Bayern sind die beiden Länder mit der höchsten Wachstumsdynamik. Mit 2,4 bzw. 2,9 % durchschnittlichen jährlichen Wachstums des realen Bruttosozialprodukts liegen sie seit 1970 deutlich über dem Bundesdurchschnitt von 2,2 %. Die Arbeitslosenquote, die im Bundesdurchschnitt im Dezember 1983 9,5 % erreichte,
lag in Baden-Württemberg deutlich günstiger,
nämlich bei 6 %. Das ist ein Zeichen dafür, daß dort die Wirkungen aus dem Wachstumsprozeß auch auf dem Arbeitsmarkt deutlich werden.Und ein drittes.
— Herr Kollege Roth, was ich in der wirtschaftspolitischen Diskussion bedauere
— und das können Sie auch mit Lautstärke nicht überdecken —,
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Wissmannist, daß wir, sobald solche Problemstellungen angesprochen werden, sofort in eine engstirnige parteipolitische Betrachtung eintreten, statt uns mal die Frage zu stellen,
was denn eigentlich die sachlichen Voraussetzungen für eine solche Entwicklung sind und was neben den historischen und strukturellen Ursachen, die wir j a gar nicht übersehen, vielleicht auch an politischen Bedingungen geändert werden muß, um ähnliche Erfolge wie in Baden-Württemberg und Bayern beim Strukturwandel auch anderswo im Bundesgebiet zu erreichen.
Das ist doch die politische Aufgabe, der wir uns stellen müssen.
Herr Kollege Roth, wenn die „Süddeutsche Zeitung", die nicht im Verdacht steht, den Landesregierungen von Baden-Württemberg und Bayern oder der Bundesregierung Loblieder singen zu wollen, vor wenigen Wochen in einem halbseitigen Aufsatz die Probleme des wachsenden Auseinanderklaffens zwischen dem Norden und dem Süden der Bundesrepublik beschreibt und an das Parlament und alle wirtschaftlich und politisch Verantwortlichen die Forderung richtet, dieses Thema aufzuarbeiten, dann sollten wir doch nicht in kleinlichen Betrachtungen schon beim ersten Versuch, dieses Thema anzusprechen, parteipolitische Münze zahlen,
sondern dann sollten wir uns alle als Parlament anstrengen und überlegen, welchen Beitrag wir leisten können, um den Strukturwandel mehr als bisher zu begünstigen, um manche Dauersubvention in alten Industrien mehr als bisher in Frage zu stellen und dafür die Rahmenbedingungen für die neuen Industrien günstiger als bisher zu gestalten. Das ist doch die Aufgabe, vor der wir stehen.
Ich komme zum Schluß. Der Finanzminister Dr. Stoltenberg hat u. a. die Möglichkeiten geschaffen, die Voraussetzungen dafür sind, daß wir mit dem neuen Forschungsminister endlich im Bereich technologieorientierter Unternehmensgründungen die Zielsetzungen verwirklichen können, die in Ihrem Parteiprogramm zwar seit langem stehen, die aber Ihr Forschungsminister nie hat verwirklichen können.
Es ist doch eine Tragik gewesen, daß 90% der Forschungsmittel des Bundes unter Ihrer Regierung in die deutschen Großunternehmen gegangen sind, aber nur 10% in kleine und mittlere Betriebe.
Darin liegt doch ein Teil des Problems, über das wir reden. Und dieses Thema: die Überwindung des Nord-Süd-Gefälles in einer langfristigen wirtschaftspolitischen Strategie, wird die CDU/CSU- Fraktion genauso entschieden angehen wie die von den Koalitionsfraktionen gemeinsam vorgetragene Konzeption zum Thema Risikokapital. In diesen Zukunftsthemen und nicht in dem Herleiern von Parteiprogrammen liegt ein Teil der Herausforderung, vor der wir stehen.Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit.
Das Wort hat der Abgeordnete Kraus.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! So erfreulich die Aussagen des Jahreswirtschaftsberichts hinsichtlich der gelungenen Korrektur der Fehler der Vergangenheit und so erfreulich die Berichte über die anlaufende Konjunktur sind, so gibt es doch auch einige Schwachstellen und Risiken. Ich darf nur zwei Probleme herausgreifen, nämlich zum einen die Frage der Arbeitszeitverkürzung als arbeitsmarktpolitisches Instrument und zum anderen die Situation der Bauwirtschaft, deren Konjunktur ein sehr widersprüchliches Bild bietet.Natürlich ist klar, daß sich die verschiedenen Bereiche einer Volkswirtschaft nie in völligem Gleichschritt miteinander bewegen können. Die Bauwirtschaft ist in diesem Konjunkturzyklus im Gegensatz zu früher nicht Vorreiter, sondern Nachzügler der Konjunktur. Dabei ist immerhin zu beachten, daß in diesem Wirtschaftszweig 16% des Bruttosozialprodukts erarbeitet werden.Die konjunkturelle Lage in dieser Branche stellt sich zum Jahreswechsel sehr differenziert dar. Sie zeigt einen mehrfach gespaltenen Verlauf. Es gibt auch hier ein Süd-Nord-Gefälle, und es gibt eine völlig unterschiedlich verlaufende Entwicklung sowohl im Hoch- und Tiefbau als auch im Bereich des privaten Bauens und der öffentlichen Investitionen. Einer positiven Entwicklung im Wirtschafts- und Wohnungsbau steht eine unbefriedigende Entwicklung beim öffentlichen Bau gegenüber. Die Produktion beim Wohnungsbau stieg von Januar bis November des Jahres 1983 um 2,5%. Beim Wirtschaftsbau sank sie trotz guter Auftragseingänge um 1,9%. Beim öffentlichen Bau, der dritten Säule der deutschen Bautätigkeit, betrug die Reduzierung in diesem Zeitraum 9%.Ob bei der Produktion im öffentlichen Bau eine leichte reale Zunahme im Bereich des Möglichen liegt, wie die Bundesregierung nicht ausschließt, ist zweifelhaft. Im Gegenteil — das möchte ich hier auch sagen —: Der Bund hat im Jahre 1983 nach vorläufigen Rechnungsergebnissen fast 760 Millionen DM weniger für Baumaßnahmen ausgegeben, als im Haushaltsansatz 1983 geplant war. Die Kommunen haben in den ersten drei Quartalen rund 12 % weniger für Baumaßnahmen ausgegeben als im entsprechenden Vorjahreszeitraum, die Länder immerhin noch fast 5%. Es ist deshalb dringend
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Krauserforderlich, daß in diesem Sektor einiges geschieht, daß wir nicht in den Fehler verfallen, sozusagen allein unter dem Gesichtspunkt des Sparens die Zukunftsinvestitionen zu stark zu beschneiden.Der Jahreswirtschaftsbericht nennt als eine zentrale Aufgabe der nächsten Jahre die Beseitigung der Arbeitslosigkeit. Hier wurde heute vormittag von Herrn Roth gesagt, der Wirtschaftsbericht würde dieses Problem zu sehr vernachlässigen. Ich glaube, daß man das wirklich nicht sagen kann.Überhaupt waren die Ausführungen des Herrn Roth von einer gewissen Widersprüchlichkeit gekennzeichnet. Auf der einen Seite sagt er, die Arbeitslosenzahlen seien jetzt die allerhöchsten, was sicher, in absoluten Zahlen gemessen, stimmt. Auf der anderen Seite stellt er aber auch dar, daß diese Arbeitslosenzahlen die Folge eines langjährigen Trends seien, der sozusagen unabwendbar sei, der es einfach nicht mehr zulassen wird, daß genügend Wirtschaftswachstum vorhanden ist, um dieses Problem auf die herkömmliche Art und Weise zu lösen. Man fragt sich, welche dieser Aussagen die richige ist.Es ist ein anderes Problem angeschnitten worden, auf das ich kurz eingehen möchte, nämlich die Frage des Stahls. Herr Roth hat dieses Problem mit der Forderung nach mehr Mitbestimmung verbunden. Ich frage mich, ob die Mitbestimmung gerade in diesem Bereich, in dem sie ja voll verwirklicht ist, tatsächlich das gebracht hat, was sie zu bringen versprochen hat, nämlich innerhalb der Betriebe über den Weg der überbetrieblichen Mitbestimmung auch dafür zu sorgen, daß eine vorausschauende Unternehmenspolitik betrieben wird; eine Unternehmenspolitik, die auch die Arbeitsplätze sichert. An dem gemessen, was in diesen Bereichen an Arbeitsplätzen gesichert wurde, muß man an der Sinnhaftigkeit derartiger Regelungen überhaupt zweifeln.Lassen Sie mich noch näher auf die Idee der 35- Stunden-Woche eingehen. Die Vertreter dieser Idee, die Arbeitszeitverkürzung als ein arbeitsmarktpolitisches Instrument einzusetzen, gehen davon aus, daß in der Bundesrepublik in weitesten Bereichen eine Bedarfssättigung gegeben ist, daß es also schlicht nicht mehr Arbeit gibt. Aber schon die Bedarfssituation im öffentlichen Bausektor ist einer der Beweise für die Unhaltbarkeit dieser Behauptung, es sei nicht genügend Arbeit vorhanden und deshalb müsse die vorhandene Arbeit auf mehr Arbeitnehmer, also auch auf die, die jetzt arbeitslos seien, verteilt werden. Es ist genügend zu tun, allerdings ist die nachgefragte Arbeit zu teuer geworden. Damit meine ich nicht etwa die ausgezahlten Nettolöhne, sondern die Arbeitskosten insgesamt.Wenn man bedenkt, daß ein Facharbeiter heute netto für die Stunde 10 DM bekommt, der Unternehmer aber mindestens 35 bis 40 DM berechnen muß, wird das klar. Von daher wird auch verständlich, daß die Schattenwirtschaft bei uns immer mehr blüht. Wenn also die Nachfrage da ist, aber wegen zu hoher Preise nicht befriedigt werden kann, also Arbeit deshalb nicht nachgefragt wird, weil sie zu teuer ist, muß logischerweise alles, was die Arbeit verteuert, weitere Arbeitsplätze vernichten.Dabei ist es natürlich völlig uninteressant, ob die Einführung der 35-Stunden-Woche bei vollem Lohnausgleich 14, 16 oder 20 % in einzelnen Branchen an zusätzlichen Kosten ausmacht. Die negativen Auswirkungen einer solchen Regelung wären jedenfalls sowieso katastrophal.Mir liegt am Herzen, auf eines noch besonders hinzuweisen: auf die voraussichtlich unsozialen Auswirkungen einer derart breitgefächerten und sozusagen raumgreifenden Arbeitszeitverkürzung. Ich denke hier z. B. an die sozialen Einrichtungen. Sicher haben wir in fast allen diesen Einrichtungen durchaus noch Bedarf an zusätzlichem Personal. Denken Sie an die Krankenhäuser, Altenheime und dergleichen, die heute schon nicht mehr optimal bedient werden können, weil gerade die Personalkosten ausufern. Was wird da erst geschehen, wenn die 35-Stunden-Woche eingeführt und noch mehr Arbeitszeit zusammengestrichen wird!
Ist es denn verantwortlich, gerade den älteren Menschen, den Leuten, die diese Bundesrepublik aufgebaut haben, für ihre Tätigkeit damit zu danken, daß wir ihnen im Alter dieses bißchen Lebensstandard noch kaputtmachen?
Für diese Entwicklung gibt es konkrete Beispiele. Ich denke hier an Beispiele in München. Da gibt es einige große Einrichtungen der Arbeiterwohlfahrt, eine sehr verdienstvolle Sache. Aber was geschieht dort? Dort müssen jetzt schon Leute entlassen werden, weil man es finanziell einfach nicht mehr schafft, mit den Kosten zurechtzukommen. Jedermann kann sich vorstellen, daß das in absehbarer Zeit noch sehr viel schlimmer wird, wenn eine solche Regelung wirklich Platz griffe.Ich bin überhaupt der Meinung — leider habe ich zuwenig Zeit —, daß die Glaubwürdigkeit der Forderungen von SPD und Gewerkschaften unter einem ganz entscheidenden Mangel leiden, nämlich an der Einsicht, in ihrem Bereich, dort, wo sie als Arbeitgeber auftreten, diese Regelung einmal probeweise einführen zu sollen. Das gilt auch für die Länder, in denen die SPD die Regierung stellt. Man hört, daß der nordrhein-westfälische Kultusminister der GEW zwar eine Arbeitszeitverkürzung angeboten hat, aber ohne Lohnausgleich. Was war die Reaktion darauf? Die Leute, die immer sagen, Solidarität müsse geübt werden, haben natürlich sofort auf diese Solidaritätsausübung verzichtet, d. h. in dem Augenblick, wo wirklich etwas gefordert wird. Was ist das für eine Solidarität, die darin besteht, daß man weniger arbeitet, dasselbe Geld dafür bekommt und sich selber gegenüber noch moralisch groß fühlen kann, welch großartiger Charakter man ist, auch anderen Arbeitsplätze zu überlassen?
Ähnlich verhält es sich doch in Sachen co op. Auch dort wird so etwas überhaupt nicht ausprobiert. Ich habe auch nicht gehört, daß etwa die SPD-
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KrausFraktion ihre Idee mit der 35-Stunden-Woche in ihrem eigenen Bereich — da gibt es auch eine Menge Angestellte — verwirklichen wollte.
Das ist vielleicht ein weiterführender Vorschlag, der auch einmal bedacht werden sollte.
Ein letzter Punkt noch ganz kurz: Eine Frage kommt in diesem Zusammenhang für meine Begriffe wirklich zu kurz, und zwar die Frage der Zumutbarkeitsarbeitslosigkeit im weitesten Sinne des Wortes. Wir stehen davor, ohne daß wir etwas tun, und sehen, daß immer mehr bestens ausgebildete Leute in die Situation kommen, in ihrem Beruf, in dem sie ausgebildet sind, keinen vernünftigen, mit Perspektiven versehenen Arbeitsplatz mehr bekommen zu können. Wir tun auf diesem Sektor zuwenig. Ich bin der Meinung, daß dadurch am meisten getan werden könnte — wenn wir das schaffen würden, wäre es gut —, daß mehr Markt in den Arbeitsmarkt gebracht wird, d. h. daß Lohnfindungen erzielt werden, die branchenspezifisch, berufsbezogen sind. Der Arbeitsplatz, auf dem nicht so viele Leute bereit sind zu arbeiten, muß halt besser bezahlt werden als jener, auf den sehr viele drängen. Ich glaube, mit der jetzigen Form der Lohnabschlüsse, bei der sich die Tarifabschlüsse jeweils nach dem ersten Tarifabschluß im Jahre richten und alle mehr oder weniger Abschlüsse in gleicher Höhe vereinbaren, man diesem Problem nicht gerecht wird. Wir müssen zu einer stärkeren Differenzierung, zu mehr Anreizen kommen, auch Tätigkeiten zu übernehmen, die heute nicht so gern ausgeübt werden.Ich bedanke mich.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. Jens.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich wundere mich immer wieder, wie vor allem Politiker der Regierungskoalition hier oben ans Pult schlüpfen,
ihre Rolle spielen und dann jeden Versuch um Objektivität vermissen lassen.
Es ist doch völlig absurd, der Landesregierung in Nordrhein-Westfalen etwa eine Mitschuld an der Stahlkrise, eine Mitschuld an der Kohlekrise in die Schuhe zu schieben.
Wenn jemand an diesen Krisen Schuld hat, dann istes doch zweifellos die Bundesregierung. Die istdoch dafür verantwortlich, diese Probleme in Angriff zu nehmen und sie einer Lösung näherzubringen.
Wenn ein Land wirklich miserabel dasteht, Herr Kollege Wissmann, mit der höchsten Arbeitslosigkeit seit Jahren, dann ist es in der Tat Niedersachsen, und dort ist ein CDU-Ministerpräsident, Herr Albrecht, vorhanden.
— Als Flächenstaat ist das sehr wohl richtig!Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir sind heute beim Jahreswirtschaftsbericht, und wie dieser ausweist, können wir 1984 mit einem Anstieg des Bruttosozialprodukts um rund 2,5 % rechnen. Ich vermute sogar, daß dieser Zuwachs eher bei 3 % als bei 2,5 % liegen wird. Kein Boom, aber in „Bümchen". Damit haben wir zweieinhalb Jahre nach dem Tief von 1981/82 ganz exakt wieder einen konjunkturellen Kulminationspunkt erreicht. Entscheidend ist die Frage, meine Damen und Herren von der Regierungskoalition, ob es Ihnen gelingt, wieder einen hohen Beschäftigungsstand zu erreichen. Erforderlich und möglich wäre es, die Arbeitslosenzahl in drei Jahren auf unter eine Million zu drükken. Aber mit der regierungsamtlichen Politik, wie sie im Jahreswirtschaftsbericht zum Ausdruck gebracht wurde, ist dieses Ziel mit Sicherheit nicht zu erreichen.
Ich möchte zum Abschluß der Debatte mit einigen wenigen Worten die wesentlichen Eckpunkte der sozialdemokratischen Wirtschaftskonzeption skizzieren.
Im Konjunkturbericht der „Süddeutschen Zeitung", die uns Sozialdemokraten nun wirklich nicht nahesteht,
wurde in der vorigen Woche zur regierungsamtlichen Wirtschaftspolitik folgendes gesagt: „Wo ist ein Sanierungskonzept für Stahl? Wo bleibt eine schlüssige Strategie zum Abbau der Arbeitslosigkeit, die sich nicht in Abwehrreaktionen erschöpft? Wo eine Industrie- und Forschungspolitik, die Akzente für neue Techniken setzt?" Aus dem Jahreswirtschaftsbericht erhalten wir zu diesen Fragen bedauerlicherweise, Herr Minister, keine Antwort.Zunächst zur Stahlpolitik dieser Bundesregierung. Zwar wird im Bericht an verschiedenen Stellen viel vom Abbau von Subventionen und steuerlichen Vergünstigungen gesprochen, „um den Kräften des Marktes wieder Raum zu geben", wie es so schön heißt. Tatsache ist, daß in diesem Jahr die
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Dr. JensSubventionen in der Summe erneut gestiegen sind. Das liegt vor allem am Stahl; das ist auch richtig. In Brüssel wollte sich der Kanzler, so hat er lautstark proklamiert, „mit seiner ganzen Autorität und Kraft gegen den Subventionsunsinn einsetzen", doch bis heute leider ohne Erfolg. Für die deutsche Stahlindustrie hat der Kanzler gar im Alleingang das Angebot der Bundesregierung für einen Zusammenschluß von Thyssen und Krupp von 300 auf 500 Millionen erhöht. Welcher kleine Unternehmer glaubt angesichts dieser Fakten noch den schönen Worten von Marktkräften und Subventionsabbau?
Was die Regierung völlig übersieht, ist die Tatsache, daß es in der Bundesrepublik Märkte gibt — das wollte ich vorhin mit meiner Zwischenfrage schon einmal deutlich machen —, die nicht funktionsfähig sind. Funktionsunfähige Märkte dürfen aber nicht sich selbst überlassen werden. Dies ist auch die Auffassung der Monopolkommission, die nun wirklich marktwirtschaftlich strukturiert ist. Um z. B. den Stahlmarkt wieder funktionsfähig zu machen, müßten leistungsfähige Unternehmenseinheiten geschaffen werden, und zwar mit staatlicher Hilfe und mit staatlicher Einflußnahme. Hier ist die Regierung gefordert. Die SPD wird auch in Zukunft nicht locker lassen, die Bundesregierung an ihre gesamtwirtschaftliche Verantwortung für die Weiterentwicklung der Stahlindustrie zu erinnern, wo immer sie dies nur kann.Aber die marktwirtschaftliche Konzeption droht leider in den Händen dieser Regierung zu einer Ideologie zu werden; einer Ideologie, die jedwedem Verzicht auf staatliche Wirtschaftspolitik unterstellt. Aber das ist nicht die Position der Sozialdemokraten, das ist auch nicht die Position der Sozialen Marktwirtschaft.Ein Wort zur Arbeitslosigkeit. Die Arbeitslosigkeit ist im Laufe des Jahres 1983 nochmals um 425 000 auf insgesamt 2,26 Millionen gestiegen. Durch die Lücke zwischen der von den Arbeitskräften und der verfügbaren Kapazität der möglichen und tatsächlichen Produktion ist es 1983 — nach Untersuchungen des Institus für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung — zu einem Wachstumsverlust von rund 125 Milliarden DM gekommen. Die Arbeitslosigkeit allein hat — einschließlich Steuer- und Beitragsmindereinnahmen — unmittelbare Kosten in Höhe von 55 Milliarden DM ausgelöst.
Richtig ist zweifellos, daß mit dem zu erwartenden Wirtschaftswachstum das Problem der Arbeitslosigkeit nicht zu lösen ist; mit Arbeitszeitverkürzungen — das füge ich ehrlich hinzu — selbstverständlich auch nicht. Konjunkturpolitisch wäre deshalb erforderlich erstens keine übertriebene Konsolidierungspolitik. Herr Strauß hat völlig Recht, wenn er meint, es habe keinen Sinn, einem sterbenden Volk gesunde Finanzen zu hinterlassen. Es hat, meine Damen und Herren, auch keinen Sinn, einemVolk ohne Arbeit zu sagen, die öffentlichen Finanzen sind gesund.
Zweitens muß der viel zu hohe Zins dringend herabgesetzt werden. Die extreme Konsolidierungspolitik hat leider bisher noch keine sichtbare Zinssenkung erbracht.
Die Behauptung der Deutschen Bundesbank, daß der Zins keinen Einfluß auf die Investitionstätigkeit habe, widerspricht doch allen wissenschaftlichen Erkenntnissen.
Zu den strukturellen Maßnahmen.Erstens. Auch wir, Herr Kollege Wissmann, sind für die Verbesserung der Kapitalausstattung der Unternehmen, insbesondere für die Verbesserung der Risikokapitalfinanzierung.
Wir haben vor kurzem ein ausführliches Anhörverfahren zu dem Thema gemacht. Ich hätte Ihnen anraten mögen, so etwas vorher auch einmal zu machen, bevor Sie Ihren Antrag formulierten. Aber Sie waren eifrig bemüht, ein bißchen schneller als die Sozialdemokraten in die Presse zu kommen.
Aber das zahlt sich auf Dauer nicht aus, Herr Kollege Wissmann. Nach Ansicht der Sachverständigen nämlich, die alle von Risikokapital ein bißchen mehr verstehen, gibt es davon in der Bundesrepublik durchaus genug.
Ich füge hinzu: Die Versicherungen und die Banken könnten auf diesem Felde aus meiner Sicht durchaus etwas mehr tun. Worauf es jedoch ankommt, ist, die steuerliche Fehlleitung der Kapitalströme in unproduktive Bereiche zu stoppen. Sie müssen durch Abschaffung konkurrierender Kapitalanlagen, wie z. B. des Bauherrenmodells oder der Abschreibungsgesellschaften, in den Unternehmenssektor umgeleitet werden. Das ist die entscheidende Frage. Ich hoffe sehr, daß auch Sie dafür plädieren, daß das Bauherrenmodell endlich beseitigt wird.Zweitens. Im strukturellen Bereich müssen Arbeitszeitverkürzungen stattfinden. Einen anderen Weg gibt es überhaupt nicht. Sie sind unumgänglich. Aber die Bundesregierung setzt in ihrer Prognose für 1984 voraus, daß es nicht zu Arbeitskämpfen kommt. Dabei hat sie aber bereits kräftig gegen Arbeitszeitverkürzungen in der Öffentlichkeit Front gemacht. Ihre harte Haltung zur Arbeitszeitverkürzung läßt leider befürchten, daß die Arbeitgeber bei den Tarifvertragsverhandlungen nicht kompromißbereit sind. Ich vermute, die Regierung hat ihre Chance verspielt, den sozialen Konsens in un-
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Dr. Jensserem Lande zu erhalten und zu einem Interessenausgleich in dieser wichtigen Frage zu kommen.Drittens. Unumgänglich ist eine zukunftsorientierte — ich füge hinzu: marktwirtschaftlich ausgerichtete — Industriestrukturpolitik. Karl Schiller hatte für die Sozialdemokraten den Satz geprägt:
Die dreifache Kombination von Marktwirtschaft, monetärer und fiskalischer Globalsteuerung und Wohlfahrtspolitik hat sich als diejenige Lösung erwiesen, die sich auf der Höhe der Zeit befindet.
Er hat noch hinzugefügt: „Dynamische Marktwirtschaft und Sozialstaat bedingen einander gegenseitig." Heute wird der Sozialstaat leider an allen Ekken und Kanten demoliert und demontiert, weil die Regierung nichts tut, um zukunftsweisende Maßnahmen zu ergreifen.
Dabei wäre das die Möglichkeit, um unsere Probleme in den Griff zu bekommen. Wir müssen versuchen, zukunftsweisende Schritte einzuleiten.
Das, was wir zusätzlich zum Schillerschen Dreigespann brauchen, ist eben eine zukunftsorientierte Industriepolitik. Leider sind Wirtschafts- und Forschungsministerium über das Vorgehen in dieser Frage zerstritten. Die These des Wirtschaftsministers, nur sogenannte marktferne Forschung und Entwicklung zu unterstützen, ist in unserer Zeit unhaltbar. Wir müssen dafür sorgen, daß das knappe Geld des Staates
möglichst in Produkte und Produktionsverfahren fließt, die auf dem Markt bald eine Chance haben. Jene Investitionen, die sich noch nicht privatwirtschaftlich rechnen, müssen wir mit öffentlichen Hilfen vorziehen, damit heute und nicht erst morgen investiert wird.
Ich komme zum Schluß. Meine Damen und Herren, eine Marktwirtschaft, die es wirklich nicht fertig bringt, die Arbeitslosigkeit zu beseitigen,
verdient das Beiwort „sozial" aus meiner Sicht nicht. Der Abbau sozialer Errungenschaften,
der Aufbau alter Hierarchien, einseitige Einkommensverteilung zugunsten der Reichen und Appelleà la Erhard — dies ist kein zukunftsorientierter Weg.
Werte, die in den 50er und 60er Jahren die Menschen auf Grund ihrer damaligen Erfahrung in ihrem Handeln beflügelt haben, lassen sich heute nicht durch alte Politik für Menschen mit ganz anderen Erfahrungen wieder einführen. Auf längere Sicht gibt es niemals ein Zurück, wie es diese Regierung offenbar gern möchte; auf längere Sicht hat nur eine gesamtwirtschaftlich orientierte, pragmatische Politik eine Chance, die versucht, die Konfrontation durch Kooperation zu ersetzen.Schönen Dank.
Das Wort hat der Abgeordnete Gerstein.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Jens, ich muß Ihnen ein Kompliment machen. Sie haben gewisse Fortschritte gemacht. In der letzten Debatte zum Jahreswirtschaftsbericht haben Sie noch behauptet, die Bundesregierung wolle die Arbeitslosigkeit. Sie haben heute etwas vernünftiger darüber gesprochen. Dafür haben Sie allerdings eine Reihe von Vorschlägen gemacht, die auf Investitionslenkung hinauslaufen und die wir nicht teilen können.Meine Damen und Herren, der Wirtschaftsminister des Landes Nordrhein-Westfalen ist auch heute nachmittag wieder da; das freut mich. Allerdings hat er heute morgen eine Reihe von Bemerkungen gemacht, die ich, die wir nicht gut fanden. Vor allen Dingen erscheint es uns verwunderlich, aus dem Munde gerade eines nordrhein-westfälischen Wirtschaftsministers Vorwürfe gegen die Bundesregierung im Hinblick auf technologische Verweigerung zu hören.
War es denn nicht gerade das Land NordrheinWestfalen, in dem die Regierung Rau jahrelang dem technologischen Fortschritt Widerstand geleistet hat? Jetzt hat es natürlich die Folgen zu tragen. Ich zitiere in diesem Zusammenhang einen Pressekommentar von gestern aus dem „Kölner StadtAnzeiger" — „Bericht aus Düsseldorf" —, in dem es heißt — und das ist die richtige Darstellung —:Die technologische Entwicklung hat den Düsseldorfer Regierungschef Johannes Rau eingeholt ... Durch langes Zögern ist Rau in die Bredouille geraten. Jetzt tritt er die Flucht nach vorn an und versucht, sich an die Spitze einer Bewegung in der SPD zu stellen, die ja sagt zu einer Entwicklung, die ohnehin nicht aufzuhalten ist.Es wurde höchste Zeit. Insofern kann man diese Änderung begrüßen. An den Folgen der langen Verzögerung wird das Land Nordrhein-Westfalen aber noch lange zu tragen haben.
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4018 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 56. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Februar 1984
GersteinMeine Damen und Herren, ich möchte einige Anmerkungen zum Jahreswirtschaftsbericht 1984 in seinem energiepolitischen Teil machen. Die Bundesregierung hat bestätigt, daß sie an ihrer Energiepolitik festhalten wird. Die Schwerpunkte dieser Energiepolitik sind Energieeinsparung, rationelle Energieverwendung, Nutzung der heimischen Energiequellen, Verminderung der Ölabhängigkeit und Diversifizierung des Energieangebotes. Ich bin der Meinung, die bestehenden Rahmenbedingungen in der Bundesrepublik entsprechen dieser Zielsetzung. Sie gewährleisten eine sichere, einigermaßen preiswerte und zunehmend umweltfreundliche Energieversorgung. Wir begrüßen diese Politik der Bundesregierung.
Die Erfolge dieser Politik zeigen sich in beachtlichen Fortschritten bei der Energieeinsparung in den letzten Jahren. Sie wurde vor allem von den privaten Verbrauchern getragen, die eben auf hohe Energiepreise richtig reagiert haben. Auch international wird diese Politik anerkannt. Der Anteil des Mineralöls am gesamten Verbrauch von Primärenergie ist 1983 auf 43 % zurückgegangen. Die Rohölabhängigkeit der Bundesrepublik von der OPEC hat sich vor allem dank Nordseeöl von 96 auf 60 verringert. Das ist natürlich immer noch zuviel Abhängigkeit, insbesondere wenn wir an die Auseinandersetzungen zwischen dem Iran und Irak in diesen Tagen denken.Mit der Kohlepolitik ist ein wichtiger Teilbereich der Energiepolitik angesprochen worden. Wir alle stimmen darin überein, daß hier besondere Rahmenbedingungen und staatliche Hilfen erforderlich sind. Darüber gibt es auch im allgemeinen eine große Übereinstimmung. Hier — Herr Jochimsen, das läßt sich doch nicht leugnen — wird tatsächlich auch Industriepolitik betrieben. In der Haushaltsdebatte im Dezember hat aber der Abgeordnete Wolfram, wie es so seine Art ist, hier eine etwas seltsame, weniger energiepolitische, ich würde meinen, eher energiepolemische Rede gehalten und fälschlicherweise behauptet, die Bundesregierung habe sich von der bisherigen Kohlepolitik abgewandt und eine Wende zuungunsten der Kohle vollzogen. Der Jahreswirtschaftsbericht — diesen muß man eben sorgfältig lesen — sagt demgegenüber:Die Bundesregierung wird an ihrer bisherigen Kohlepolitik festhalten.Weiter heißt es, „daß der 15-Jahresvertrag zur Verstromung der deutschen Kohle verwirklicht wird". Wir unterstreichen das.Vor allem die aktuellen Daten vom Energiemarkt beweisen aber auch: Die Bundesregierung betreibt eine Politik zugunsten der Sicherung des deutschen Steinkohlenbergbaus. Die pessimistischen Vorhersagen über Zechenstillegungen und Massenentlassungen im Bergbau haben sich eben nicht bewahrheitet. 1983 waren nach dem starken Einbruch Absatz und Förderung im Steinkohlenbergbau erstmals wieder fast ausgeglichen.
Der Absatz im Kraftwerksbereich ist planmäßig um 3,2 Millionen t auf immerhin 39,6 Millionen t Steinkohle angestiegen. Auch der Export außerhalb der Europäischen Gemeinschaft ist um 1 Million t gestiegen. Zusammengefaßt: Die rasante Aufhaldung, die vor dem Regierungswechsel in zweieinhalb Jahren über 14 Millionen t betragen hat, wurde gestoppt. Ich meine, der Umschlag von Haldenaufbau auf Haldenabbau ist auch ein Stück erfreulicher Wende für die Kohlenreviere.
Um noch einige Zahlen hinzuzuliefern: Der Anteil der deutschen Steinkohle am Primärenergieverbrauch der Bundesrepublik ist 1983 gestiegen, während der Mineralölverbrauch in der gleichen Zeit gefallen ist.Die Bundesregierung hat im vollen Einverständnis mit allen Beteiligten — außer Herrn Wolfram natürlich —, mit den Ländern, den Unternehmen, den Gewerkschaften, die bedrohliche Lage des Steinkohlenbergbaus, die durch den Rückgang der Stahlerzeugung entstanden war, konsolidiert. Wir sollten allen Beteiligten, die hier sehr viel Verständnis gezeigt haben, insbesondere aber dem Wirtschaftsminister, sehr dankbar dafür sein, daß dies gelungen ist.Meine Damen und Herren, in diesem Zusammenhang noch ein Wort zu den kohlepolitischen Vorschlägen des Gutachtens des Sachverständigenrats, das wir j a auch hier behandeln. Die Bundesregierung hat im Jahreswirtschaftsbericht erfreulicherweise erklärt, daß sie sich diese Vorschläge des Rates nicht zu eigen macht. Eigentlich hätte ich es begrüßt, wenn auch die Opposition diese Einstellung der Bundesregierung, die gegenüber dem Sachverständigenrat ja gar nicht selbstverständlich und einfach ist, einmal unterstrichen und uns in der gemeinsamen Kohlepolitik für Saar und Ruhr geholfen hätte.Ich wiederhole noch einmal: Die Kohlepolitik der Bundesregierung weist der deutschen Kohle auch langfristig einen entscheidenden Beitrag an der deutschen Energieversorgung zu. Dabei wird es in völliger Übereinstimmung mit den Koalitionsfraktionen auch bleiben.Es gibt aber andere, neue Schwierigkeiten, die ich jetzt nur ganz kurz anschneiden kann. Ich meine damit die gestiegenen Anforderungen an den Umweltschutz. Auch Herr Jochimsen hat darauf schon hingewiesen; er hat allerdings nicht sehr deutlich gemacht, daß natürlich nicht nur das Land BadenWürttemberg, sondern auch das Land NordrheinWestfalen Verschärfungen der Umweltschutzbestimmungen fordert, die natürlich gewisse Schwierigkeiten für die Kohlekraftwerke und die weiteren Investitionsentscheidungen der Elektrizitätsversorgungsunternehmen mit sich bringen werden. Aber ich darf hier noch einmal betonen: Es ist heute unbestritten, die Durchsetzung einer umweltfreundlicheren Kohleumwandlung ist die einzig mögliche Politik, die der Kohle ihren hohen Rang als
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 56. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Februar 1984 4019
Gersteineiner sicheren heimischen Energiequelle auch weiter gewährleistet.
Politik, Energiewirtschaft, Verbraucher und Wissenschaft sind in diesem Zusammenhang auf eine sehr sachliche, verantwortungsvolle Zusammenarbeit angewiesen.Lassen Sie mich zum Schluß zusammenfassen: Angesichts wieder erreichten Wirtschaftswachstums müssen wir weiterhin eine Energiepolitik betreiben, die Einsparung und rationelle Verwendung zum Ziel hat. Ein kostengünstiges Energieangebot muß gewährleistet sein. Die Wettbewerbsfähigkeit unserer Wirtschaft hängt nicht unwesentlich vorn Energiepreisniveau ab. Alle zur Verfügung stehenden Energieträger müssen zur Sicherung der Energieversorgung beitragen.Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion begrüßt die im Jahreswirtschaftsbericht von der Bundesregierung dargelegten Schwerpunkte der Energiepolitik.
Das Wort hat der Abgeordnete Kittelmann.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Sie merken, wir von der CDU/ CSU praktizieren jetzt schon eine geballte Arbeitsteilung, ohne daß allerdings damit zu rechnen ist, daß unsere Wochenarbeitszeit dadurch kürzer wird.Gestatten Sie mir, einige wenige Worte zu außenwirtschaftlichen Problemen zu sagen. Da ich hier nur einige Worte sagen werde, darf ich Ihnen schon jetzt versprechen, daß wir gerade diese Problematik in Zukunft häufiger im Deutschen Bundestag zur Sprache bringen werden.Herr Minister Lambsdorff, ich habe mich darüber gefreut, daß Sie im Rahmen Ihrer Ausführungen gerade den außenwirtschaftlichen Problemen einen breiten Rahmen gegeben haben, denn gerade die Lösung dieser wichtigen Probleme ist wesentlich für alle anderen Fragen, über die heute auch sehr ausführlich gesprochen worden ist.Gestatten Sie, daß ich nur folgende wichtige Komponenten nenne. Die CDU/CSU ist der Meinung, daß wir den ungestörten internationalen Wettbewerb mit dem Verzicht auf jede Art von Protektionismus fördern müssen. Wir müssen helfen, den Abbau von Ungleichgewichten im Handelsbereich zwischen der EG, den USA und Japan herbeizuführen. Ich nenne den dritten wichtigen Komplex: Wir müssen die Beziehungen zu den Staaten der Dritten Welt ausbauen und fördern und dabei wirksame Hilfeleistungen geben.Meine Damen und Herren, es ist erfreulich, daß viele Wirtschaftsforschungsinstitute — davon ist heute schon gesprochen worden — und auch die OECD gerade für die Wirtschaft der Bundesrepublik bessere Konjunkturaussichten prognostiziert haben. Der Export der Bundesrepublik Deutschland muß — wir wissen es — die Konjunkturlokomotive spielen. Die Deutsche Bundesbank stellt dazu allerdings einschränkend fest, daß die außenwirtschaftliche Lage durchaus noch nicht so stabil ist, wie es scheint, weil die bessere Wettbewerbsfähigkeit deutscher Exporte entweder durch Änderung des Wechselkurses oder durch verstärkten Anstieg der Kosten und Preise im Inland wieder verlorengehen könnte. Was ich damit alles anspreche, hat heute in der Debatte schon eine Rolle gespielt. Wir dürfen also auf dem Gebiet der Erhaltung der Wettbewerbsfähigkeit unserer Wirtschaft absolut keine Fehler machen.Herausgreifend aus dem Gesamtbild der gegenwärtigen außenwirtschaftlichen Probleme möchte ich mich kardinal mit einem Aspekt befassen, nämlich mit dem zunehmenden Protektionismus als Hauptgefahr für die angestrebte Liberalisierung des Welthandels.Es ist an sich interessant, Herr Stratmann, daß ich mit Ihnen in der Ablehnung des Protektionismus voll übereinstimme. Bei Ihren Ausführungen habe ich immer nachgedacht, was eine mögliche Folge ist, wenn Sie mit der Ablehnung und all dem, was Sie auch noch gesagt haben, kommen. Rohstoffe wollen Sie nicht mehr so einführen wie bisher. Davon lebt die Dritte Welt. Unsere Bürger wollen Sie auf die grüne Wiese jagen. Dort stehen sie in Konkurrenz zu den Kühen, die dort bereits sind.
Sie haben im Prinzip in Ihren Ausführungen alternativ beinahe nichts gebracht, was mit der Lösungder außenwirtschaftlichen Probleme verbunden ist.Die Bundesregierung weiß uns auf ihrer Seite bei der Bekämpfung jeder Art von offenem oder verdecktem Protektionismus. In diesem Zusammenhang werden wir alle Bemühungen unterstützen, die dazu dienen, eine neue GATT-Runde spätestens — hoffentlich — im Jahre 1985 zustande zu bringen. Es ist höchste Zeit, diejenigen liberalen Anstöße zu geben, die nötig sind, um der Liberalisierung des Welthandels die nötige und ungehemmte Fahrt zu geben. Einschlägige Hemmnisse abzubauen bzw. gar nicht erst aufkommen zu lassen, ist schon deshalb wichtig, weil jeder Protektionismus auf der anderen Seite einen neuen Protektionismus erzeugt, und auf diese Art bisher durch protektionistische Maßnahmen niemand im gesamtwirtschaftlichen Rahmen glücklich geworden ist.
Ich stimme, Herr Bundeswirtschaftsminister, auch Ihren drei Phasen zu, die Sie in Ihren einleitenden Worten aufgeführt haben. Es wäre gut, wenn wir die GATT-Runde möglichst unmittelbar nach den Wahlen in den USA zustande bringen könnten. Allerdings reicht guter Wille alleine nicht aus. Es wäre sehr gut, wenn Europa über verbale Kraftakte hinaus tatkräftig reale, liberale Impulse für freien Wettbewerb und freien Handel geben würde.Gerade diese generelle Forderung sollte uns veranlassen, im nationalen Rahmen darüber nachzudenken, wie auch wir beispielhaft sein können. Ich
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Kittelmannnenne hier nur das Gebiet des Normenwesens, das Gebiet des Dienstleistungsgewerbes oder die heute schon häufiger angesprochenen Subventionen. Wenn es wahr ist, daß künstliche Subventionen Strukturwandel verhindern, daß damit langfristig die Arbeitsplätze, die man schützen will, gerade dadurch erst verlorengehen — wer zweifelt daran, daß es so ist —, sollten wir in dieser Frage den Mut zu unpopulären Maßnahmen haben.Ich darf trotz der Kürze der Zeit ein Beispiel nennen, das uns in letzter Zeit besonders gereizt hat. Die UNESCO hatte die Idee, mit einer Novelle im Hinblick auf den freien Austausch von Büchern und anderen Druckerzeugnissen, die schon etwa 1976 gefaßt worden ist, über die UNO an die Länder heranzutreten. Die Bundesregierung hat jetzt dem Bundestag ein Gesetzesvorhaben in dieser Frage vorgelegt. Parallel dazu gibt es eine EG-Gesetzesnovelle. Das, was die UNESCO will — den freien, ungehinderten Austausch von geistiger Literatur —, macht man auf der anderen Ebene durch eine EG-Novelle mit Zustimmung der Bundesregierung dadurch lächerlich, daß man in Zukunft die Einfuhr von Büchern mit 25 DM pro Buch innerhalb der EG und 50 DM im Austausch außerhalb der EG verzollen will. Darüber, was dieses alles an protektionistischen Maßnahmen mit sich bringen würde, hat keiner nachgedacht. Ich freue mich sehr darüber, daß die Vertreter des Finanzministeriums, als wir darüber in den Ausschüssen sprachen — wie mir schien — über die Folgen selbst erschreckt waren und alles tun werden, um zu versuchen, daß diese Maßnahme nicht wirksam wird.
Meine Damen und Herren, im internationalen Feld spricht man immer häufiger von der Zunahme der Grauzone im Bereich bilateraler Schutzvorschriften. Die davon ausgehenden Gefahren sind ja wohl das, was im Moment uns allen Sorge macht. Ziel einer neuen GATT-Runde muß sein, die Möglichkeit zu eröffnen, daß hier auch Kontrollinstanzen und Instanzen schiedsgerichtlicher Art eingeführt werden, um auch in diesem Bereich der immer diffiziler werdenden Methoden des Protektionismus Herr zu werden.Ich glaube, wenn wir insgesamt die Probleme vor uns sehen, dann können wir ohne Übertreibung sagen, daß jede Art von Gipfel sich immer intensiver mit Problemen des Protektionismus befaßt, die beschwörenden Formeln der Spitzenpolitiker in dieser Frage immer stärker werden, daß man aber schon froh ist, wenn man das Tempo des Protektionismus bremst und davon ausgehen kann, so wie es Minister Lambsdorff vorhin gesagt hat, daß die Zunahme nicht mehr so stark ist. Ich glaube, die Zeit der Überwindung der wirtschaftlichen Rezession ist die beste, um auf diesem Gebiet Erfolg zu haben, und wir möchten die Bundesregierung ausdrücklich ermuntern, so liberal wie möglich im eigenen Lande zu sein und dazu soviel Anstöße zu geben, um im EG- und internationalen Rahmen unserer Wirtschaft letztlich dabei zu helfen.Schönen Dank.
Das Wort hat der Herr Bundesminister für Wirtschaft.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Ich möchte mich zum Schluß dieser Debatte für manchen durchaus hilfreichen und anregenden Debattenbeitrag bedanken. Ich möchte mich mit einigen, die ich nicht so positiv bewerte, noch etwas auseinandersetzen. Herr Stratmann von der Fraktion die GRÜNEN ist nicht mehr hier. Er hat den Versuch unternommen, wie er gesagt hat, mir die wesentlichen Elemente der Wirtschaftspolitik der GRÜNEN nahezubringen. Ich wollte ihm gern bestätigen: es ist ihm nicht gelungen.Meine Damen und Herren, Erhard Eppler hat 1980 einmal geschrieben: „Es ist schlimm, wenn eine Partei regierungsunfähig zu werden droht, noch schlimmer, wenn die Gefahr besteht, daß die politische Substanz schließlich weder zum Regieren noch zum Opponieren reicht; man kann auch oppositionsunfähig werden." Auf dem Gebiete der Wirtschaftspolitik, meine Damen und Herren, ist das, was wir heute von der sozialdemokratischen Fraktion gehört haben, ein Beweis, daß eine solche These jedenfalls in die Nähe des Zutreffenden, in die Nähe der Wahrheit führen kann. Insonderheit, Herr Kollege Roth, was Sie heute ausgeführt haben, war so mager, wie der Beifall Ihrer Fraktion zu Ihren Ausführungen mager war. Ich verstehe ja, daß Sie sich früher gesperrt haben, als wir noch miteinander regiert haben, lernwillig zu sein. Aber daß Sie an Hand der Ergebnisse, die inzwischen vorliegen, sich auch weigern, lernfähig zu sein, oder beweisen, daß Sie nicht lernfähig sind, das ist dann doch eine enttäuschende Feststellung.
Sie genieren sich überhaupt nicht, Herr Roth, genau dieselben Äußerungen, die Sie zum Jahreswirtschaftsbericht 1983 losgelassen haben und mit denen Sie voll danebengehauen haben, hier für 1984 — trotz der eingetretenen Ergebnisse — schlicht zu wiederholen. So, meine Damen und Herren, kann eine fruchtbare wirtschaftspolitische Diskussion wohl kaum aussehen.Ich bin heute morgen hier hergegangen und habe mir zur Vorbereitung den Leitartikel von Herrn Barbier in der Süddeutschen Zeitung, mit dem er einen Vorblick auf die Debatte getan hat, durchgelesen. Er hat uns da schon vorangekündigt — und die Konstellation, die sich heute ergeben hat, hat bewiesen, er hatte recht —, daß es eine brisante, eine hochaktuelle, eine erregende Debatte angesichts der Problemlage wohl nicht werden könne. Das liegt übrigens nicht ganz daran, wie mein Kollege Haussmann gemeint hat, daß es die Sozialdemokratische Partei heute ohne Helmut Schmidt und ohne Manfred Lahnstein gebe. Ohne Manfred Lahnstein jedenfalls, wenn ich mir Ihre Bewegung hin zum privaten Rundfunk ansehe, vernünftiger- und erfreulicherweise gibt es die Sozialdemokratische Partei nicht. Im Gegenteil, da machen sich heilsame Einflüsse bemerkbar. Mich würde ja nur interessieren, meine Damen und Herren — er ist nicht da —,
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 56. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Februar 1984 4021
Bundesminister Dr. Graf Lambsdorffwas der emsigste Kämpfer gegen den Privatfunk und gegen privates Fernsehen, Ihr Neugenosse Günter Verheugen, eigentlich von dieser Wende, die er da mitmachen muß, hält.
Natürlich, meine Damen und Herren, haben Sie sich aus diesem Anlaß und in dieser Situation des Sukkurs aus Nordrhein-Westfalen versichert. Und ich begrüße es, daß der Kollege Jochimsen die Freundlichkeit gehabt hat, nun wirklich bis zum Abend hier auszuharren. Ich unterstelle Ihnen, Herr Jochimsen, Sie hätten das ohnehin und nicht nur wegen meiner Zwischenfrage getan.Nun, Sukkurs: Aus Nordrhein-Westfalen, wirtschaftspolitisch, sind nicht die allerstärksten Bataillone, denn Nordrhein-Westfalen kommt — ein bißchen bildlich gesprochen — hinten und vorne nicht mehr so recht hoch, aus welchen Gründen auch immer. Aber wenn man sich die Haushaltslage und die wirtschaftspolitische Situation ansieht, dann kommt man zu betrüblichen Feststellungen, die nicht alle der derzeitigen Regierung angelastet werden können. Das liegt auch an der Struktur des Landes. Ein Teil hat aber schon damit zu tun, daß dort seit 16 Jahren die Sozialdemokraten den Ministerpräsidenten stellen.
Herr Jochimsen klagt bewegt über den Mangel an Industrieansiedlungen, auch an Industrieansiedlungsinitiativen des Bundes. Eine Regierung, die ausgerechnet in einer solchen Situation — Industrieansiedlungen braucht sie — hingeht und den Bildungsurlaub beschließt, darf sich allerdings nicht wundern, daß Industrieansiedlung anderswo und nicht dort stattfindet, wo in dieser Zeit und in dieser Lage zusätzliche Kosten produziert werden.Sie haben das ja nur getan, Herr Jochimsen — ich glaube, nicht allzu guten Gewissens —, weil Sie ein Wahlversprechen Ihres Ministerpräsidenten gegenüber dem Landesbezirk Nordrhein-Westfalen des Deutschen Gewerkschaftsbundes einzulösen hatten, der es eingeklagt hat. Das kommt davon, wenn man Politik — jedenfalls teilweise — im Stil eines Sonntagsschullehrers betreibt.Ich möchte nun ganz kurz zu einigen Einzelheiten Stellung nehmen, was Sie, Herr Jochimsen, vorgetragen haben. Erstens: EG-Modernisierungskredite und Bürgschaften dafür! Ihnen ist ebenso wie uns bekannt, daß im selben Augenblick, in dem wir bereit wären, EG-Kredite durch Bund oder Länder, vor allem aber durch den Bund, zu verbürgen, sämtliche Banken, die Stahlkredite vergeben, bei uns auf der Matte stünden und ebenfalls öffentliche Bürgschaften verlangten. Darüber habe ich gestern abend noch mit der Kommission diskutiert. Das ist für uns kein Weg.Zweitens: Bürgschaften des Bundes generell bei der Lösung der Stahlprobleme! Herr Jens hat über die beklagenswerte Zunahme von Subventionen bei der Stahlpolitik gesprochen. Vielleicht wenden Sie sich an Ihre Kollegen, die ich hier einmal scherzhafterweise „Hochofenreisende" genannt habe, z. B. Herrn Urbaniak, z. B. Herrn Wieczorek, und fragen sie, was sie denn davon halten, ob wir denn nun eigentlich mehr tun sollten oder nicht. Aber das Geschäft mit Bürgschaften weiter zu betreiben, Herr Jochimsen, nach den Erfahrungen, die wir bei Arbed Saarstahl, mit der Last der Bürgschaften für das begünstigte Unternehmen gesammelt haben, dies hat der Bundesfinanzminister mit vollem Recht abgelehnt. Wir sind nicht bereit — das wissen Sie —, von diesem Standpunkt abzugehen.Hier sind von Herrn Gerstein schon einige Worte zum Thema „Perspektivsicherung der Kohle" gesagt worden. Noch einmal: Wir halten am „Jahrhundertvertrag" fest. Ich kritisiere, daß der baden-württembergische Ministerpräsident den „Jahrhundertvertrag" zur Diskussion stellt, und ich kritisiere auch seine Absicht, Strom aus dem Ausland zu importieren. Das kann nicht im Sinne deutscher Energiepolitik liegen.
Wir sind für die Fortsetzung der Kokskohlenbeihilfe. Wir erhalten auch die übrigen Kohlehilfen. Wir sichern die heimische Steinkohle gegenüber Importkohle, und wir lehnen eine grundsätzliche Änderung der Kohlepolitik ab. Das wissen Sie. Die Kohle-Runde war erfolgreich. Das einzige, was Sie gestört hat, ist die Tatsache, daß die IG Bergbau und Energie Ihnen keinen Vorwand geliefert hat, uns deswegen zu kritisieren, weil sie nämlich zugestimmt hat und zufrieden war.Nur, Herr Jochimsen, wenn Sie unsere Kohlepolitik kritisieren, dann lassen Sie sich bitte sagen, daß die Art und Weise, wie Sie das Battelle-Gutachten behandelt haben, diese Geheimhaltungspolitik, zur Verunsicherung der energiepolitischen Debatte und zum Schaden für die Kohle erheblich beigetragen hat.
Legen Sie die Fakten auf den Tisch, informieren Sie die Öffentlichkeit, auch wenn es nachteilige Ergebnisse sind! Ich teile ja nicht die Einschätzung, zu der das Battelle-Institut gekommen ist. Ich bin nach wie vor der Meinung, daß die Kohle im Mittellast- und Spitzenlastbereich eingesetzt werden kann. Aber das, was Sie machen, nämlich daß Sie die Ergebnisse in Schubladen einschließen und nicht herausrücken, ist nicht im Sinne einer vernünftigen und sinnvollen Energiepolitik.Was die Großfeuerungsanlagen-Verordnung betrifft, so sind wir mitten in der Debatte darüber, ob sie verschärft werden soll. Ich mache aus meinen Bedenken dagegen insofern keinen Hehl, als ich gegen kurzfristige Änderungen von Meßwerten und Auflagen bin; denn dann kann sich die Wirtschaft nicht darauf einstellen. Aber teilen Sie uns bitte mit, was nun gilt, die Stellungnahme von Herrn Farthmann oder die Stellungnahme von Ihnen, und sagen Sie klar und deutlich, nicht so versteckt, wie es heute in Ihren Ausführungen der Fall war, was
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Bundesminister Dr. Graf LambsdorffSie denn von Änderungs- und Verschärfungsvorschlägen sowie von weiteren Auflagen halten. Hier muß Klarheit geschaffen werden, auch und gerade durch das Kohleland Nordrhein-Westfalen. Man darf nicht auf der einen Seite eine bestimmte Kohlepolitik fordern und sich auf der anderen Seite „halblang" durch den Wald schleichen wollen.Herr Ehrenberg hat mir Fragen gestellt. Die habe ich zu beantworten.Das Angebot — das möchte ich der CDU sagen —, Herr Schlecht werde Ihnen Nachhilfeunterricht erteilen, können Sie annehmen. Herr Ehrenberg hat seine Erfahrungen. Herr Schlecht hat ihm vor 14 Tagen, als er das mit der Besteuerung von Kapitalimporten losgelassen hat, Nachhilfeunterricht erteilt. Er gibt Ihnen einen profunden Ratschlag.
Nun Ihre Fragen, Herr Ehrenberg.Erstens. Wir haben eine Tabelle der Preise aufgenommen, weil die Preisentwicklung in unseren europäischen Nachbarländern Einfluß und Auswirkungen hat auf die Preisbildung bei uns wegen der handelspolitischen Verflechtung. Das gilt nicht für Arbeitsmarktzahlen.Zweitens. Natürlich ist es richtig, wenn Sie sagen — ich kann es jetzt nicht im einzelnen kontrollieren —, daß der betrübliche Anstieg der Arbeitslosenzahlen bei uns sichtbar und zu registrieren ist. Aber wir sehen auch, daß jetzt die Kurve abknickt und daß wir wieder einen Abstieg verzeichnen.Ich unterstreiche noch einmal, wie der Sachverständigenrat gesagt hat — auch wenn es Sie stört —: Konjunkturpolitischer Handlungsbedarf besteht nicht; wachstumspolitischer Handlungsbedarf besteht, um Arbeitsplätze zu schaffen. Natürlich wollen wir, wie es das Stabilitäts- und Wachstumsgesetz vorschreibt, für einen hohen Beschäftigungsstand sorgen. Die Frage ist doch nur, wie wir das tun. Darin sind wir unterschiedlicher Meinung.Sie haben das 76 er Programm erwähnt. Immerhin war das damals beschlossen, im Vorfeld oder im Nachklang des Wirtschaftsgipfels hier in Bonn.
Das Programm führte zu einem hohen Defizit. Hier liegt doch unser Problem. Wir sind doch nicht dagegen, daß wir solch sinnvolle, schöne und gute Sachen betreiben, wie Sie sie vorgeschlagen haben. Das Problem ist die Finanzierung. Sie können nicht konsolidieren und gleichzeitig alles das tun und alles das bezahlen, was Sie für wünschenswert halten und was kein vernünftiger Mensch für nicht wünschenswert halten würde.In einem Punkte, Herr Ehrenberg, möchte ich mich mit Deutlichkeit äußern, weil ich das nicht in Ordnung finde. Sie haben mir unterstellt, ich wollte bestimmte Dinge, weil sie politisch besser seien, nicht, weil sie ökonomisch besser seien. Ich glaube, wir kennen uns lange und gut genug, daß Sie von mir wissen, daß meine ökonomischen Einsichten, wenn ich sie für notwendig halte, von mir auch vertreten werden, wenn sie politisch nicht überall in den Kram passen. Wenn Sie uns unterstellen, wir unterzögen uns gerne einem Prozeß der Gewöhnung an hohe Arbeitslosigkeit, so ist das einfach nicht wahr. Das wissen Sie. Wir sollten aufhören, uns so etwas zu unterstellen.
Ich bin mit Ihnen einer Meinung, Herr Ehrenberg, daß ein dauerhafter Stand von zwei Millionen und mehr Arbeitslosen diese Republik ändern kann. Daß ich das schon vor einiger Zeit so gesehen habe, würde ich Ihnen gerne vorlesen:Die Konsequenz eines Festklammerns an heute nicht mehr finanzierbare Leistungen des Staates bedeutet nur die weitere Verschärfung der Wachstums- und Beschäftigungsprobleme sowie eine Eskalation in den Umverteilungsstaat, der Leistung und Eigenvorsorge zunehmend bestraft und das Anspruchsdenken weiter fordert und an dessen Ende die Krise des politischen Systems steht.Das waren die Schlußsätze meines Memorandums vom 9. September 1982 an Helmut Schmidt. Weil das nicht mehr ging, mußten wir die Politik ändern. Wir werden sie weiter ändern. Wir werden sie erfolgreich fortsetzen.
Das Wort hat der Minister für Wirtschaft des Landes Nordrhein-Westfalen.Minister Dr. Jochimsen Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich möchte aus der Debatte zwei Beiträge besonders herausgreifen. Zunächst das, was der Kollege Gerstein ausgeführt hat in Fortsetzung des alten Vorwurfs der Bremsklötze, die Nordrhein-Westfalen gegen so wichtige Investitionsschübe errichtet hat wie die Verkabelung der Republik mit Kupferkoaxialkabel. Ich kann nur bestätigen, daß wir an dieser Ablehnung festhalten.
— Nein, ich will das gleich noch einmal ausführen. Darf ich das eben tun?Sie sagen, wir hätten technologischen Fortschritten gegenüber Widerstand geleistet. Ich will hier unterstreichen, daß wir nur sozial verträglichen, human akzeptierbaren technischen Fortschritt haben möchten und daß wir hier eine Gestaltungsaufgabe sehen, die sich im Bereich des privaten Fernsehens als ein Problem zwischen Bundespost und Ländern darstellt. Darüber tagt gegenwärtig die Ministerpräsidentenkonferenz. Ich hoffe, daß dort ein vernünftiger Kompromiß zustande kommt.Das andere, viel wichtigere Thema, Herr Kollege Gerstein, ist das der Geschäftskommunikation. Dazu haben Sie nichts gesagt. Sie interessiert nur
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Minister Dr. Jochimsen
die Frage, ob Otto Normalverbraucher 30 Programme oder 20 oder 15 empfangen kann,
während die Frage, was die neuen Technologien für Geschäftskommunikationsmöglichkeiten auf der Grundlage der intensivierten Nutzung der vorhandenen Infrastruktur eröffnen, hier ganz kritisch zu stellen ist.Glasfaser sollte dort angewendet werden, wo sie sinnvoll ist. Das geschieht im BIGFON. Ich füge an: Es gibt heute die Möglichkeit, das bestehende Telefonnetz durch Digitalisierung sehr viel stärker, als es bisher der Fall gewesen ist, auszuschöpfen, in dem dann alle Dienste, die die Post anbietet, einschließlich der Rundfunksendungen, übertragen werden können.
Warum nutzen wir nicht dies? Ich frage mich, ob es wirklich sinnvoll ist, daß wir Milliarden in Kupferkoaxialtechnologie verbuddeln, von der wir wissen, daß sie in Kürze überholt sein wird, weil der technische Fortschritt im Bereich der Glasfaser so schnell vorangeht.
— Ja; das weiß ich, daß der Bundespostminister dazu anderer Auffassung ist
und er sich als die eigentliche Hemmschwelle erweist. Denn er investiert das Geld in eine falsche Richtung.
— Ja. Es gibt ja auch große Bemühungen, einen Anschlußzwang mit mieterhöhenden Wirkungen zu organisieren. Ich halte das für ganz gefährlich. Ich möchte also den Vorwurf hier genau umkehren.Ich habe vorhin gesagt: Ich meine, daß der Endgerätemarkt beim Telefon liberalisiert werden soll. Und ich meine, daß die kleinen und mittleren Unternehmen — und ich zähle dazu auch das jetzt erwachsen und groß gewordene Unternehmen Nixdorf in Nordrhein-Westfalen, den größten Computerhersteller der Bundesrepublik — hier stärkeren Zugang haben sollten. Das wird alles noch viel zu sehr reglementiert. Da frage ich mich: Wie hat sich hier die Wende eigentlich niedergeschlagen? Nicht anders als in der Wiederholung der alten Formeln, die Sie wie Gebetsmühlen vor sich hertragen: daß jetzt verkabelt werden muß und daß mit diesen Milliardenbeträgen — ich sage: — unproduktiver Investitionen volkswirtschaftliches Kapital verschleudert wird.Nordrhein-Westfalen hat mit dem btx-Versuch von 1979 bis 1983 in Düsseldorf-Neuss ja überhaupt erst die Voraussetzungen dafür mitgeschaffen, daß btx heute bundesweit eingeführt werden kann. Und ich fordere die Bundespost auf, jetzt auch im Bereich Dortmund, wo wir j a einen weiteren Versuch starten, mit Glasfaser und der Digitalisierung des Telefonnetzes dazu beizutragen und nicht die alten Blockademechanismen aufzubauen: Wer nicht Kupferkoaxialkabel nimmt, der ist nicht fortschrittlich genug.
Ich bin dankbar, Graf Lambsdorff, daß Sie auf meinen Beitrag eingegangen sind. ich will ein paar Bemerkungen dazu machen. Ich bin hier nicht zum Sukkurs aus Nordrhein-Westfalen gekommen; sondern ich bin hierher aus der Sorge des Landes Nordrhein-Westfalen gekommen, daß die Leitfunktion, die die Bundespolitik nach der Verfassung in der Gesamtwirtschaft hat, nicht ausgeübt wird. Das ist meine Sorge. Das ist mein Vorwurf der Verweigerung.
Ich meine jedes Wort, das ich hier gesagt habe, außerordentlich ernst. Sie können sich nicht einfach daraus herausbegeben und weder zu den konjunkturpolitischen Verweigerungen noch zu den Struktur- und beschäftigungspolitischen Verweigerungen hier Stellung nehmen — einmal ganz abgesehen davon, daß Sie zum Hüttenvertrag kein Wort gesagt haben. Sie haben von Kokskohlenbeihilfe im Augenblick gesprochen. Die steht in der Tat nicht außer Zweifel. Denn da sind ja Bund und Land bis 1988, Gott sei es geklagt, daran gebunden, daß wir immer ein Drittel zahlen müssen und Sie zwei Drittel zahlen.
— Ja; das möchte ich natürlich gern.
Wir müssen hier erreichen, daß Klarheit über die Kohleperspektive erzielt wird. Herr Kollege Gerstein, ich unterstreiche das, was Sie sagen: Die Haltung der Bundesregierung hebt sich in der Kohlepolitik wohltuend vom Sachverständigengutachten ab, das dazu illusionäre Vorschläge macht. Aber ich sage gleichzeitig, daß mir auch das, was die Regierung sagt, nicht ausreicht.Ein letztes Wort zu der Frage der Bürgschaften. Ich habe kein Vergnügen daran, irgend jemandem eine Bürgschaft zu gewähren. Das ist eine Notmaßnahme. Aber wenn Sie in der Bundesregierung die öffentlichen Hilfen an die Stahlindustrie im Zurufbetrieb vor einem Jahr fest- und ausgesetzt haben, ohne daß die Konzepte schon auf dem Tisch lagen, und die Stahlunternehmen sich dann, was die Sozialpläne und die Teilabschreibung angeht, entsprechend bedienen und sogar noch unsittliche Forderungen stellen, daß man noch mehr tun soll — ich sage mal: jetzt unterschiedlich danach, wie die wirtschaftliche Stärke ist —, dann stelle ich mir besorgt die Frage, ob denn die angemeldeten Investitionen überhaupt durchgezogen werden. Ich habe übrigens nur von den Modernisierungsinvestitionen gesprochen. Ich habe nur davon gesprochen, wie Investitionen, die sich wirtschaftlich rechnen, auch abgesi-
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Minister Dr. Jochimsen
chert werden können, wenn die Banken nicht mehr bereit sind, Kredite ohne eine Sicherung zu geben.Da habe ich beklagt, daß die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl — sie hat ja auf dem Kapitalmarkt immer noch das Triple-A — die Kredite zu besonders günstigen Zinsen ohne Kosten an die Stahlunternehmen weiterreicht, was unseren Stahlunternehmen aber nicht zur Verfügung steht. Das heißt, die private deutsche Stahlindustrie zahlt für jeden Kredit automatisch mindestens 1,5 Prozentpunkte mehr, als das in den anderen Ländern der Europäischen Gemeinschaft der Fall ist. Die dortigen Firmen können die notwendigen staatlichen Garantien selbstverständlich bekommen. Das finanzieren unsere deutschen Stahlunternehmen dann auch noch mit. Das ist das Widersinnige an der ganzen Angelegenheit.
— Herzlichen Dank. Ich spreche hier auf einen Debattenbeitrag und habe mich bemüht, ein paar Anmerkungen zu machen.Ich will ein letztes Wort zum Umweltschutz sagen. Ich bin in der Tat der Auffassung, Graf Lambsdorff, daß es nötig ist, daß wir den Innovationsprozeß gerade im Zusammenhang mit den Stickoxiden beschleunigt durchführen. Dazu haben wir das Waldpfenniggesetz vorgeschlagen, das jetzt um so dringlicher wird.Vielen Dank.
Das Wort hat der Herr Bundesminister für Wirtschaft.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren!
— Mit Redaktionsschluß, Herr Kollege Vogel, hat das alles gar nichts zu tun.
— Das kann vielleicht später betrieben werden. Vielleicht sollten wir hier zum Schluß kommen. Wenn ich folgendes schnell sagen darf, will ich das gern tun, mit Ihrer gütigen und gnädigen Erlaubnis.
— Danke.
— Nicht arrogant. Herr Vogel, wollen wir uns in dem Punkte messen? Wollen wir es einmal versuchen?
Herr Jochimsen, ich will nur zwei Sätze sagen. Die EGKS-Kredite stehen unseren Stahlunternehmen zur Verfügung, unseren Kohleunternehmen auch. Es ist auch richtig, daß sie zur Verfügung stehen; sie werden j a zum Teil aus unseren Umlagen finanziert.
Die Behauptung, es würden 1,5 % Zinsen mehr bezahlt, weil unsere Unternehmen die Kredite woanders holen müßten, da wir keine Bürgschaft gäben, ist nicht richtig. Ich habe noch gestern mit der Kommission über die Frage verhandelt, ob sie Tilgungsstreckungsdarlehen, zusätzliche Darlehen gibt. Ich habe noch einmal gesagt: Nur in unserem Land gibt es das Institut der Grundschuld und des Grundpfandrechts. Das unterscheidet die Besicherung der an deutsche Unternehmen gegebenen Kredite von der in anderen Ländern.
Wir haben uns bisher geweigert, das aufzulockern und aufzuweichen, weil von demselben Augenblick an die Kommission dann in allen Fällen Bürgschaften verlangen würde und wir gar nicht verhindern könnten, daß auch die deutschen Banken kommen und sagen: Wenn die Kommissionskredite gesichert werden durch öffentliche Bürgschaften, dann möchten wir das auch!
— Die Kommission hat es bisher so gehandhabt, und die Kommission wird es mit Ausnahme von einigen kritischen Fällen auch so fortsetzen. Wir sind nicht bereit, nachzugeben, weil wir einen Damm einreißen würden, der dann nicht nur dem Unternehmen fehlte, um das es gerade geht. Das würde die gesamten Stahlunternehmen und in Verfolg auch die Kohleunternehmen treffen.
Ich bitte herzlich, daß die Landesregierung von Nordrhein-Westfalen diesen grundsätzlichen Standpunkt unterstützt, und zwar im Interesse der in diesem Land ansässigen Unternehmen. Der größte Teil der Unternehmen, die hier in Frage kommen, sitzt in Ihrem Land.
Vielen Dank.
Meine Damen und Herren, weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die Aussprache. Der Ältestenrat schlägt die Überweisung der Vorlagen zu den Tagesordnungspunkten 3 a bis 3 c auf den Drucksachen 10/669, 10/952 und 10/918 an die Ausschüsse vor. Die Überweisungsvorschläge des Ältestenrats ersehen Sie aus der Tagesordnung.Sind Sie mit den Überweisungsvorschlägen einverstanden? — Ich sehe keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
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Vizepräsident WurbsIch rufe Punkt 4 der Tagesordnung auf:Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines ... Gesetzes zur Änderung dienstrechtlicher Vorschriften— Drucksache 10/930 —Überweisungsvorschlag des Ältestenrates:Innenausschuß
VerteidigungsausschußAusschuß für Jugend, Familie und Gesundheit Ausschuß für Bildung und Wissenschaft Haushaltsausschuß mitberatend und gemäß § 96 GOInterfraktionell wurde für die Aussprache eine Kurzdebatte vereinbart. Sind Sie damit einverstanden? — Ich sehe keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.Wird das Wort zur Begründung gewünscht? — Das Wort zur Begründung hat der Herr Minister des Innern des Landes Baden-Württemberg.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der vom Bundesrat am 28. Oktober 1983 beschlossene Entwurf eines Gesetzes zur Änderung dienstrechtlicher Vorschriften sieht erstens eine Erweiterung der Teilzeitbeschäftigung von Beamten aus arbeitsmarktpolitischen Gründen, zweitens die Verlängerung der Beurlaubung aus familiären Gründen und drittens die Neueinführung einer Beurlaubung aus arbeitsmarktpolitischen Gründen vor. Damit möchte der Entwurf einen Beitrag zur Lösung eines Problems leisten, das alle, die in Bund und Ländern Verantwortung tragen, schwer bedrückt: die derzeit bestehende hohe Arbeitslosigkeit.Diese wird voraussichtlich auch in den kommenden Jahren anhalten, wenn sich auch nach den jüngsten Zahlen der Bundesanstalt für Arbeit im Rahmen der konjunkturellen Belebung der letzten Monate erste Anzeichen für eine Trendumkehr ergeben haben. Diesem drängenden Problem muß nach unserer Auffassung — darin wissen wir uns mit der Bundesregierung einig — in erster Linie mit weiteren Maßnahmen zur Intensivierung des wirtschaftlichen Wachstums begegnet werden.Damit allein ist jedoch die schwierige Situation am Arbeitsmarkt nicht zu bewältigen. Die dafür erforderlichen realen Wachstumsraten werden auch bei günstiger Entwicklung kaum erreicht werden. Notwendig sind deshalb zusätzliche flankierende Maßnahmen zur Entlastung des Arbeitsmarktes, insbesondere durch Modelle zur Arbeitszeitverkürzung.Die Regierungschefs der Länder waren sich bei ihren Beratungen während der Jahreskonferenz im Oktober 1983 in Stuttgart darüber einig, daß auch dienstrechtliche Regelungen zur Verbesserung der Arbeitsplatzsituation beitragen können. Die von Baden-Württemberg angeregte Initiative zur Änderung dienstrechtlicher Vorschriften ist deshalb vom Bundesrat mit großer Mehrheit beschlossen worden.Der vorliegende Gesetzentwurf orientiert sich vor allem an drei Prinzipien, nämlich an den Gesichtspunkten der Freiwilligkeit, der Kostenneutralität und der Reversibilität.Wir sind der Auffassung, daß vor jeder Zwangsmaßnahme die Förderung der solidarischen Bereitschaft der in Arbeit stehenden Bediensteten zu einem freiwilligen Teilverzicht auf Arbeit absolute Priorität haben muß. Damit wird — das möchte ich ganz besonders unterstreichen — eine Gegenposition zu den Vorstellungen bezogen, die das alleinige Heil in einer generellen Verkürzung der Arbeitszeit suchen.
Zum zweiten zwingt uns die überaus angespannte Lage der öffentlichen Haushalte dazu, darauf zu achten, daß die vorgeschlagenen Regelungen weitestgehend der Forderung nach Kostenneutralität entsprechen. Größere Haushaltsmehrbelastungen, wie sie durch schlichte Vermehrung der Stellen im öffentlichen Dienst eintreten, wären nicht vertretbar. Sie würden die intensiven Bemühungen von Bund und Ländern zur Konsolidierung ihrer Haushalte und zur Absenkung der Personalkostenanteile zunichte machen. Aus diesem Grunde sieht der Gesetzentwurf des Bundesrates auch die Einführung eines angemessenen Versorgungsabschlages vor. Nach diesem Vorschlag bleibt Beamten mit langer Dienstzeit die Möglichkeit erhalten, trotz gewisser Zeiten der Freistellung noch den Höchstruhegehaltssatz zu erreichen. Um dennoch die angestrebte Kostenneutralität zu erzielen, sollen künftig alle Formen der Freistellung — auch die bisher insoweit privilegierten Arten — in die Abschlagsregelung einbezogen werden. Wir hoffen, daß der Appell zur Solidarität trotz gewisser finanzieller Einbußen an Versorgung bei den Bediensteten Gehör finden wird. Auch im Interesse gesamtgesellschaftlicher Akzeptanz sind wir geradezu gezwungen, Lösungen zu vermeiden, bei denen der freiwillige Arbeitsverzicht durch ungerechtfertigte finanzielle Vorteile erkauft wird.Der dritte Leitgedanke, der dem Gesetzentwurf des Bundesrates zugrunde liegt, ist das Prinzip der Reversibilität. Die heute prognostizierte Entwicklung unserer Bevölkerung bis zum Jahre 2000 zwingt dazu, nicht Lösungen auf Dauer vorzusehen. Erforderlich sind Maßnahmen, die der hoffentlich vorübergehenden Notsituation entgegenwirken, bei einer Veränderung der Arbeitsmarktsituation aber wieder aufgehoben werden können. Deshalb sind die vorgeschlagenen Maßnahmen zur teilweisen oder völligen Freistellung aus arbeitsmarktpolitischen Gründen an das Vorliegen einer Notsituation am Arbeitsmarkt geknüpft und bis zum Anfang der 90er Jahre befristet. Gleichzeitig wird damit den Anforderungen Rechnung getragen, die der Grundsatz der Hauptberuflichkeit und das Lebenszeitprinzip im Interesse der Funktionsfähigkeit des Berufsbeamtentums an gesetzliche Regelungen auf diesem Gebiet stellt.Auf dieser Grundlage sieht der Ihnen vorliegende Gesetzentwurf des Bundesrates vor, den Ländern die Möglichkeit zu eröffnen, die Teilzeitbeschäftigung für Beamte aus arbeitsmarktpolitischen Gründen zu erweitern, und zwar indem auf das bis-
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Minister Dr. Eyrich
herige Erfordernis, daß für eine ausschließlich oder in der Regel im öffentlichen Dienst auszuübende Berufstätigkeit ausgebildete Bewerber vorhanden sein müssen, verzichtet wird und indem die bisherige Höchstdauer von acht Jahren auf zehn Jahre heraufgesetzt wird. Zusätzlich soll allen Beamten, die mindestens 20 Jahre vollzeitbeschäftigt gewesen sind und die das 55. Lebensjahr vollendet haben, bis zum Eintritt in den Ruhestand sowie allen übrigen Beamten bis zur Dauer von sechs Jahren die Möglichkeit einer Beurlaubung eröffnet werden. Für Richter werden entsprechende Regelungen vorgeschlagen. Außerdem wird die Höchstdauer einer Beurlaubung aus familienpolitischen Gründen von bisher sechs Jahren auf neun Jahre ausgedehnt. Auf Grund der Ausgestaltung der Bestimmungen als Ermächtigungsnorm bleibt es den Ländern überlassen, wie weit sie die neueröffneten Lösungen in Landesrecht umsetzen wollen.Daß der vorgeschlagene Versorgungsabschlag nunmehr alle Formen von Teilzeitbeschäftigung, Ermäßigung der Arbeitszeit und Beurlaubung — mit Ausnahme der Beurlaubung aus dienstlichem Interesse oder bei öffentlichen Belangen — erfaßt, entspricht dem Grundsatz der Gleichbehandlung. Hinzu kommt, daß der Gesetzentwurf sein Ziel verfehlen würde, würde man die familienpolitisch bedingten Freistellungen von der Abschlagsregelung ausklammern. Um Kostenneutralität zu erreichen, müßte in diesem Fall der arbeitsmarktpolitische Bereich mit Versorgungsabschlägen in einer Höhe belegt werden, die jeden Antragsteller abschrecken würde.Die Bundesregierung hat zu dem Entwurf des Bundesrates im wesentlichen positiv Stellung genommen. Die Länder begrüßen diese konstruktive Haltung der Bundesregierung und ihren Vorschlag, die Bundesbeamten — und bei der sogenannten „Altersbeurlaubung" auch die Bundesrichter und Berufssoldaten — einzubeziehen. Damit wird die Einheitlichkeit des Dienstrechtes gewahrt und gleichzeitig ein breiterer Anwendungsbereich für die Entlastungsmaßnahmen erschlossen. Wir sind uns darüber im klaren, daß der Effekt der Vorschläge angesichts des Anteils des öffentlichen Dienstes an der Gesamtzahl der Erwerbstätigen nur begrenzt sein kann. Aber in diesen schwierigen Zeiten ist jeder Beitrag zur Verbesserung der Chancen der jungen Generation willkommen.Auf dem Hintergrund dieser schwierigen Situation möchte ich an diejenigen, die sich nunmehr mit diesem Gesetzentwurf befassen müssen, appellieren, daß die gebotenen Änderungen des Bundesrechts so rasch wie möglich verabschiedet werden, damit die Länder sie unverzüglich in Landesrecht umsetzen können. Wir würden es begrüßen, wenn die neuen Regelungen schon für die Einstellungstermine im kommenden Herbst zur Verfügung stünden. Um die unverzügliche Umsetzung der bundesrechtlichen Entscheidungen im Land sicherzustellen, hat beispielsweise die Landesregierung von Baden-Württemberg bereits das Innenministerium beauftragt, die Arbeiten zur Änderung des Landesbeamtengesetzes aufzunehmen. Ich möchte sie bitten, diese Bemühungen durch eine beschleunigte Behandlung unserer Vorlage zu unterstützen.
Das Wort hat der Abgeordnete Kiehm.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Mit diesem Gesetzentwurf wird ein weiterer Versuch gemacht, die Arbeitszeitverkürzung im öffentlichen Dienst zu regeln. Wir begrüßen diese Entwicklung und werden an der Ausgestaltung auch konstruktiv mitarbeiten, um eine optimale Wirkung zu erzielen.In dieser ersten Lesung will ich mich auf einige Bemerkungen beschränken, die diesen Gesetzentwurf in einen größeren Zusammenhang stellen.Nach der genannten Zielsetzung sollen die Wirkungen vor allen Dingen im Lehrerbereich liegen. Wir sind der Meinung, daß aber auch für den Bund nicht nur die rechtlichen, sondern auch die tatsächlichen Voraussetzungen geschaffen werden müssen, um Teilzeitarbeit und Beurlaubung für die Bundesbediensteten effektiv zu machen. Auf den Hinweis in der Stellungnahme der Bundesregierung auf die zu wahrende Funktionsfähigkeit des öffentlichen Dienstes darf man aber nicht so reagieren, daß unkritisch an gewohnten Abläufen festgehalten wird und damit die Verwirklichungsmöglichkeiten für Teilzeitarbeit eingeschränkt werden. Wir erwarten, daß die Regierung in ihren Verwaltungen und Betrieben gerade wegen des Angebotscharakters dieses Gesetzes flexible Arbeitsformen anbietet.Wir hoffen auch darauf, daß die aufgeschlossene Haltung, die wir der zeitlichen Befristung der Regelung entgegenbringen, zu vernünftigen Staffelungsvorschlägen führt. Wir sind auch durchaus bereit, über die ergänzenden Vorschläge der Regierung zu diskutieren.Wir sehen allerdings das Problem, daß die Teilzeitbeschäftigung wieder in eine Vollzeitbeschäftigung überführt werden muß. Wir sehen natürlich auch die Konsequenzen, die sich daraus für eine Stellenplanpolitik ergeben. Wir müssen aber von der Regierung erwarten, daß sie ihre Position darlegt und erklärt, wie sie die vorgeschlagene Regelung mit den — wie sie es nennt — elementaren Strukturprinzipien des Berufsbeamtentums in Einklang bringen will, die auf Hauptberuflichkeit, Vollalimentation und Lebenszeitprinzip abstellt.Es ist die Frage, ob der Kompromiß, der hier zwischen dem Grundsatz und einer praktikablen Regelung gefunden ist, für die Bundesregierung nun auch ein erster Schritt ist, um die Elastizität in der öffentlichen Verwaltung zu erreichen.Ein Drittes. Das in diesem Gesetz angesprochene Verbot entgeltlicher Nebentätigkeit sehen wir in diesem Falle im Zusammenhang mit dem von uns vorgelegten Gesetzentwurf zu einer generellen Einschränkung der Nebentätigkeit. Wir hoffen auf die
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KiehmBereitschaft der Koalition, an unserem Entwurf konstruktiv mitzuarbeiten.Viertens. Teilzeitarbeit und Beurlaubung werden als unmittelbare Wirkung eine Reduzierung des Personalaufwandes zur Folge haben. Diese fiskalische Wirkung darf aber nicht vorrangiges Ziel des Gesetzes sein. Gerade im Hinblick auf die große Zahl der Arbeitsuchenden im Lehrerbereich müssen die nach diesem Gesetz freiwerdenden Mittel eingesetzt werden, um zusätzlich Lehrer zu beschäftigen. Wir beabsichtigen auch, das in einer Entschließung dem Hause vorzulegen. Wir hoffen, daß die Koalitionsfraktionen in dieser Frage mit uns übereinstimmen.Die Arbeitsmarktlage — so heißt es — erfordere besondere Maßnahmen für die Regelung, die in dem Gesetzentwurf angesprochen ist. Wenn wir nun aber einmal davon ausgehen, daß der mißratene Versuch einer Vorruhestandsregelung in der Tat keine Entlastung auf dem Arbeitsmarkt bringt, bleibt die Frage an die Regierung, ob sie beabsichtigt, in Ergänzung der vorliegenden gesetzlichen Lösung weitere Maßnahmen zu ergreifen. Wir erwarten in diesem Zusammenhang einen Bericht des Bundesinnenministers etwa zu den Fragen, ob die Bundesregierung beabsichtigt, die Antragsaltersgrenze für Beamte des Bundes mit der Altersgrenze für Beamte der Länder beim 62. Lebensjahr zu harmonisieren. Sieht die Bundesregierung eine Möglichkeit, darüber hinaus die allgemeine Antragsaltersgrenze für Beamte abzusenken? Welche Möglichkeiten sieht die Bundesregierung, Mehrarbeit und Schichtdienst im öffentlichen Dienst einzuschränken? Beabsichtigt die Bundesregierung, besondere Altersgrenzen für Schichtdienstleistende einzuführen? Wie beurteilt die Bundesregierung die Möglichkeit der Einführung der 35-Stunden-Woche im öffentlichen Dienst? Wird, meine Herren von der Koalition, die Bundesregierung den Gewerkschaften des öffentlichen Dienstes ein Verhandlungsangebot über eine Vorruhestandsregelung unterbreiten, oder bleibt sie bei ihrem Nein?Wir werden mit den Forderungen nach einem arbeitsmarktpolitischen Beitrag die Arbeitslosigkeit in wesentlichen Fragen sicherlich nicht bekämpfen können. Wir sind aber der Meinung, daß der Staat zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit entsprechend seiner Verantwortung auch die Möglichkeiten energisch einsetzen sollte, die ihm als Arbeitgeber zur Verfügung stehen.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Hirsch.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich möchte mich zunächst bei dem Kollegen Broll dafür bedanken, daß er die Liebenswürdigkeit besessen hat, mir die Gelegenheit zu geben, die normale „Choreographie" zu durchbrechen.
— Ich bin ja, wie Sie sehen, hier heute nicht vermummt. Ich bin eigentlich selten vermummt, außer Karneval nie. Sich nur zum Karneval zu vermummen, ist ein Brauch, der sich verbreiten sollte.Ich werde mich auf wenige Bemerkungen beschränken und auch der Versuchung widerstehen, der der Kollege Kiehm erlegen ist, nämlich ein ganzes Füllhorn berufspolitischer Wünsche hier darzustellen. Eines hat mich amüsiert: Ihre Bemerkung über die von uns gemeinsam beabsichtigte Regelung betreffend die Grenzen der Nebentätigkeit. Man erlebt es j a selten, daß ein Vaterschaftsstreit ausbricht, ehe das Kind geboren ist, und noch dazu nicht in der üblichen Form, daß die Väter es ablehnen, es gewesen zu sein, sondern sich dessen rühmen. Sie wissen, daß der Unterschied zwischen den Vorstellungen ausschließlich in der Arbeitsmarktklausel besteht und daß ansonsten weitgehende Deckungsgleichheit vorhanden ist.In der Tat - das muß man sagen — hat die Situation auf dem Arbeitsmarkt im Beamtenrecht manches in Bewegung gebracht, was bis dahin schwer beweglich erschien: Einschränkung der Nebentätigkeit, Abbau von vergütungsfähiger Mehrarbeit oder, wie hier nun vorgesehen oder überlegt, Ausdehnung der Regelungen betreffend Teilzeitarbeit und Sonderurlaub.Ich denke, es ist unverändert richtig, was schon vor Jahren zu entsprechenden Überlegungen des Innenministers Maihofer geäußert worden ist, daß nämlich solche Pläne in einem Spannungsverhältnis zu den Grundsätzen des Berufsbeamtentums stehen. Ich nenne hier nur beispielhaft den Grundsatz der Hauptberuflichkeit, der Vollalimentation und das Lebenszeitprinzip. Das hat j a in den Beratungen des Bundesrates eine wesentliche Rolle gespielt. Dieses Spannungsverhältnis wird deutlich, wenn man insbesondere an die vorgesehenen Möglichkeiten eines unbesoldeten Urlaubs von sechs Jahren, an — nach mindestens 20 Jahren im öffentlichen Dienst — Urlaub nach Vollendung des 55. Lebensjahres bis zum Eintritt in den Ruhestand sowie an die Ausdehnung — das haben Sie ausgeführt — des Urlaubs aus familienpolitischen Gründen auf neun Jahre denkt. Man kann alle denkbaren Möglichkeiten miteinander kombinieren. Fachleute haben dabei festgestellt, daß die Kombinationsmöglichkeiten von Teilzeitarbeit und Urlaub bei entsprechend günstiger Fallgestaltung zu einer Gesamtzeit von 25 Jahren führen können. Da wird das Lebensarbeitszeitprinzip natürlich etwas brüchig. Da die Möglichkeit der Bewilligung bis zum 31. Dezember 1992 vorgesehen ist, reicht die Kombination von Teilzeitarbeit und Urlaub erheblich über das Jahr 2000 hinaus. Man muß in der Tat sorgfältig prüfen, ob über einen so langen Zeitraum hin tatsächlich die Möglichkeit eingeführt werden muß, Wirkungen auf dem Arbeitsmarkt mit diesen Mitteln herbeizuführen. Das wird personalwirtschaftliche Probleme machen.Auch haben wir etwas Zweifel daran, ob die Privilegierung der Richter, die ja im Gegensatz zu allen anderen Beamten nach Ihrem Vorschlag einen
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Dr. HirschRechtsanspruch bekommen sollen, tatsächlich geboten und angemessen ist.Es ist sicherlich richtig, daß ein Abschlag bei der Versorgungsregelung erfolgen muß, der der Herabsetzung der Arbeitsleistung entspricht. Gegen den Berechnungsmodus ist im Grundsatz gar nichts einzuwenden. Ein Problem liegt darin, daß über das bisherige Recht hinaus auch die familienpolitisch bedingten Freistellungen in Zukunft in den Abschlag einbezogen werden sollen. Die Darstellung des Bundesrates, daß sonst eine kostenneutrale Regelung nicht erreichbar sei, muß in der Tat im Gesetzgebungsgang näher dargestellt und begründet werden. Wir denken, daß dieses Gesetz bei näherem Hinsehen etwas mehr Probleme aufwirft, als man zunächst vermutet. Wir stehen ihm im Grundsatz positiv gegenüber, wenn wir auch den Eindruck haben, daß es in Teilen etwas zu opulent geraten ist.Wir stimmen der Grundüberlegung vorbehaltlos zu, daß der öffentliche Dienst die Möglichkeiten ausschöpfen sollte, zur Verbesserung der Verhältnisse am Arbeitsmarkt beizutragen. Wir stimmen auch der Überlegung zu, daß die hergebrachten Grundsätze des Berufsbeamtentums diesem vorrangigen Ziel nicht prinzipiell im Wege stehen dürfen.
Wir müssen aber davon überzeugt werden, daß der vorgeschlagene Weg nicht nur dem Grunde, sondern auch dem Umfang nach notwendig und geeignet ist, einen Beitrag in dem gewünschten Sinne zu leisten. Unsere Fraktion wird daher der Überweisung an die Ausschüsse zustimmen.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Hoss.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zu dem vorliegenden Gesetzentwurf zur Änderung dienstrechtlicher Vorschriften möchte ich einige Bemerkungen machen, die zur Basis haben, daß die GRÜNEN eine kritische Stellung gegenüber dem Berufsbeamtentum einnehmen, daß sie das Berufsbeamtentum wegen der Privilegien in Frage stellen, die sich im Laufe der Jahrzehnte
— Jahrhunderte — in diesem Bereich entwickelt haben. Wenn wir von Privilegien sprechen, wissen wir sehr wohl, daß zwischen den Privilegien in den einzelnen Bereichen des Beamtentums ein Unterschied zu machen ist.
— Wenn Sie sich jetzt aufregen, möchte ich Ihnen folgendes sagen. Ich habe vorher einmal in der Statistik des Bundestages nachgesehen und festgestellt, daß 43 % der Mitglieder des Bundestages Beamte sind.
— Bei den GRÜNEN sind es zehn.
— Es sind zehn Leute.
— Aber mit dem Unterschied, daß sie sich nicht aufregen, wenn wir über Privilegien sprechen, während Sie sich dann aufregen.Wir wissen sehr wohl, daß man einen Unterschied zwischen dem gehobenen Dienst, dem mittleren Dienst und dem unteren Dienst machen muß, weil wir ja wissen, daß ein Post- oder Bahnschaffner nicht so schnell mit einem Ministerialen oder mit einem Beamten im oberen Verwaltungsdienst zu verwechseln ist. Trotzdem glauben wir, daß wir darüber sprechen müssen, daß für den Beamtenbereich— wie in dem vorliegenden Gesetzentwurf — Forderungen erhoben werden, die wir positiv einschätzen, während die Bundesregierung zur gleichen Zeit für den Bereich der Arbeiter und Angestellten, für den privatwirtschaftlichen Sektor, den gewerblichen Sektor das, was sie für die Beamten vorschlägt, nicht will. Ich glaube, daß auch das hier problematisiert gehört. Es geht nicht an, die Reihe der Privilegien für die Beamtenschaft zu erweitern, während die Situation der Arbeiter und Angestellten im gewerblichen Bereich so bleibt, wie sie gegenwärtig ist.Ich glaube, daß es gut ist, einmal einen Blick auf die traditionelle Rolle der Beamtenschaft in Deutschland zu werfen, die hier — und auch anderswo, in anderen Ländern — Basis, Korsett und Stütze im Staatsgefüge sein soll und ist und die somit, mit Privilegien ausgestattet, den Interessen der Obrigkeit oder den tonangebenden Schichten zu dienen hat.Welche Rolle die Beamten in einem Staatsgefüge spielen sollen, ist mir extrem aufgefallen, als bei den Auseinandersetzungen um Solidarnosc in Polen herauskam, daß ein einfacher Polizeibeamter in Warschau das Doppelte dessen verdient, was ein Facharbeiter verdient. Ich glaube, damit ist ganz treffend dargestellt, welche Rolle die Beamten als Stützen der Gesellschaft, als Stützen der Obrigkeit zu spielen haben. Bei uns ist das zwar sehr viel differenzierter, im Grunde jedoch ist die Situation in Ost und West in dieser Hinsicht gleich, wenn auch bei uns mit dem Unterschied, daß die Privilegien, mit denen die Beamten hier ausgestattet sind, bei ihnen immerhin nicht das Bedürfnis geweckt haben — oder sie verspürten nicht das Bedürfnis —, für ihre Forderungen zu streiken, weil sie nämlich im wesentlichen immer das bekommen haben, was sie vorgetragen haben.Ich möchte jetzt nicht näher auf die Privilegien bezüglich der Altersversorgung zu sprechen kommen. Die Altersversorgung der Beamten orientiert sich am zuletzt bezogenen Einkommen, während das bei den Arbeitern und Angestellten nicht so ist. Bei den Beamten gibt es — kurz bevor man die Altersgrenze erreicht hat — keine Abgruppierungen. Ich denke auch an die Unkündbarkeit der Beamten, während im Bereich der Arbeiter und Ange-
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Hossstellten 2,5 Millionen Arbeitslose zu verzeichnen sind. Sie brauchen auch keine Beiträge zur Arbeitslosenversicherung zu zahlen, womit die Frage aufgeworfen wäre, ob nicht dieser Teil der Gesellschaft — zumindest was den mittleren und höheren Dienst anbelangt — zur Finanzierung der Arbeitslosigkeit mit herangezogen werden sollte. Es gibt auch Vergünstigungen bei der Krankenversicherung, es gibt Vergünstigungen familienpolitischer Art; die Beamten sind auch hinsichtlich der Wohnungssituation bevorzugt.Der vorliegende Gesetzentwurf konzentriert sich auf die Frage der Beurlaubung vom Dienst, ohne Dienstbezüge zu erhalten, und auf eine Verbesserung der Teilzeitbeschäftigung, z. B. wenn Bedarf wegen der Kindererziehung besteht.Uns geht es bei den kommenden Beratungen in den Ausschüssen um drei Punkte. Wir werden diese Punkte in die Ausschußarbeit einbringen.Erstens. Wir werden darauf achten, ob die Bundesregierung bereit ist, das, was sie für die Beamten vorschlägt, auch für den Bereich der privaten Wirtschaft vorzuschlagen und voranzutreiben. Da wäre einmal freiwillig gewünschte Teilzeit- oder Halbtagsarbeit für Männer im industriellen Bereich, im gewerblichen Bereich zu nennen, was fast unmöglich ist. Wir wissen, daß bei den jetzigen Verhandlungen und Vorstellungen über die Veränderung der Arbeitszeitordnung solche Dinge nur in sehr ungenügendem Maße vorgetragen werden bzw. Berücksichtigung finden. Wir werden die Dinge in die Richtung vorantreiben, daß das, was für die Beamten ermöglicht wird, auch im gewerblichen Bereich durchgesetzt wird.Zweitens: die unbezahlte Freistellung von der Arbeit für Bildungszwecke, für Zwecke gesellschaftlicher Art, erwünschte oder gewünschte Tätigkeiten. Das ist durchaus keine Forderung, die für den gewerblichen Bereich so weit weg liegt. Wir wissen, daß unsere Kollegen ungeheure Schwierigkeiten haben, eine freiwillige längere Beurlaubung bei Garantie des Arbeitsplatzes zu erreichen. Wir wissen, daß die Kollegen Schwierigkeiten haben, zwei Tage unbezahlten Urlaub zu erhalten, wenn sie als Betriebsräte — wie das in der Firma, aus der ich komme, vor einiger Zeit geschehen ist — unbezahlt an einer industriesoziologischen Tagung teilnehmen wollen; es ist ihnen verwehrt worden. Einigen ausländischen Kollegen, die etwa in die Türkei fahren wollen, wird ein Reiseurlaub verwehrt; die Reisezeit wird dann von ihrem tatsächlichen Urlaub abgezogen. In dieser Hinsicht herrscht ein Regime, das aufgelockert gehört. Sie machen sich dafür stark, daß eine zusätzliche Privilegierung der Beamten festgeschrieben wird. Ich habe demgegenüber ein anderes Interesse: Wenn Sie das schon tun, dann sollten Sie bei den Verhandlungen über die Arbeitszeitordnung dafür sorgen, daß diese Dinge auch für die Arbeiter und Angestellten des gewerblichen und industriellen Sektors umgesetzt werden.
Drittens geht es darum, die Chancengleichheit in der Beamtenschaft zu sichern, denn es ist klar, daß die Freistellung vom Dienst zur Kindererziehung für einen Beamten des gehobenen Dienstes eine leichtere Angelegenheit ist als für einen Postschaffner oder einen Bahnschaffner. Bei den Verhandlungen im Ausschuß sollte man an eine materielle Absicherung der Beamten denken, die im unteren Bereich angesiedelt ist.Viertens. Wenn Sie dieses Gesetz als marktpolitisches Instrument betrachten, dann möchte ich sagen, daß da unbedingt hineingehört, daß die Neueinstellung von Arbeitnehmern vorzusehen ist.Außerdem müssen Sie, wenn Sie weiterhin marktpolitische Instrumente einsetzen wollen, auch daran denken, die Arbeitszeit insgesamt und auch wöchentlich zu kürzen.Danke.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Broll.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Auch die CDU/CSU- Fraktion begrüßt diesen Gesetzentwurf des Bundesrates und teilt die Begründung, die Minister Eyrich hier vorgetragen hat. Wir haben uns intern auch schon vorgenommen, den Gesetzentwurf möglichst noch Anfang April in die Sitzung des Innenausschusses zu bringen und dort möglicherweise zu Ende zu beraten. Wir sind ja, Herr Dr. Eyrich, seit Sie nicht mehr dem Hause angehören, sicher schwächer, aber im Prinzip nicht schlechter geworden. Ich hoffe also, wir werden das so schaffen.
Wenn wir bedenken, daß wir bei angedeuteter großer Einmütigkeit in den Grundsätzen dieses Antrags vielleicht sogar noch um die Osterzeit herum fertig werden, dann ist auch der vorauseilende Gehorsam, mit dem Sie bereits jetzt — das vorausnehmend, was wir vielleicht beschließen — in Ihrem Hause vorbereiten, durchaus gerechtfertigt.Wir sind uns sicher, meine sehr verehrten Damen und Herren, daß wir mit der Erweiterung der Beurlaubungs- und der Teilzeitmöglichkeiten bei den Beamten — nur um die geht es heute, weil das nur bei ihnen durch Gesetz geregelt wird — sicher keine Wunderwaffe gegen Arbeitslosigkeit — etwa gar gegen Arbeitslosigkeit von Lehrern — haben.Genau das, worauf schon hingewiesen ist, bestätige auch ich: Urlaub und Teilzeit heißt, entweder überhaupt kein Einkommen in der Zeit oder nur den Teil des Einkommens zu erhalten, der einem auf Grund der verminderten Arbeitsleistung zusteht. Das kann sich in der Regel nur derjenige leisten, der persönlich finanziell gesichert ist, entweder auf Grund der Ersparnisse aus dem Arbeitseinkommen — das ist bei Beamten in der Regel nicht möglich — oder auf Grund der Tatsache, daß ein Ehepartner für ihn einsteht. Mit anderen Worten: Häufig werden es die Frauen sein, die von dieser
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BrollMöglichkeit der Erweiterung vor allen Dingen Gebrauch machen werden. Sie drängen sicher auch deswegen.
— Es gibt natürlich Möglichkeiten, jeden Restunterschied zwischen Mann und Frau noch wegzuzüchten, so daß am Ende auch die Männer in die gleichen Pflichten kommen könnten wie die Frauen. Noch sind wir nicht so weit. Im Augenblick nehme ich an, daß bei grundsätzlicher Gleichbehandlung von Mann und Frau in Wirklichkeit dennoch die Frauen gerade hinsichtlich der familienbedingten Teilzeit- und Beurlaubungsmöglichkeiten mehr Ansprüche stellen werden als die Männer.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, jeder einzelne Platz, der in dieser Lage freigemacht werden kann, ist uns willkommen. Das ist gerade der Vorschlag, daß für Beamte, die 55 Jahre alt sind und 20 Jahre im Dienst gewesen sind, bis zum Pensionsalter voll Urlaub gegeben werden kann, sicher interessant. Ich kenne z. B. sehr viele Lehrerinnen
— Mütter erwachsener Kinder —, die jetzt gerade, nachdem die alten Fristen ablaufen, in den Staatsdienst zurückkehren müßten, es aber eigentlich nicht wollen, teilweise, weil sie sagen: Lieber gebe ich den Platz meinem Kind, meinem inzwischen ausgebildeten Sohn oder meiner ausgebildeten Tochter.Noch eines, was Herr Kollege Hirsch angesprochen hat, muß auch ich erwähnen. Es ist natürlich ein Grenzfall, wenn wir Beamten, die mit voller Hingabe in ihrem Dienst dem Staate dienen sollen, so häufig und so lange vom Dienst fernzubleiben erlauben, wie es in diesen Gesetzen vorgesehen ist. Wir können natürlich zynisch sagen: Wir haben früher schon damit angefangen. Der Grad ist jetzt nicht wesentlich größer, und ist der Ruf erst ruiniert, lebt es sich gänzlich ungeniert. Praktisch ist es aber so, daß die Lage, sowohl was die Familie und die familienbedingte Komponente betrifft, als auch erst recht, was die Arbeitsmarktlage betrifft, solche für den Augenblick gedachten und sicherlich auf Dauer nicht mehr durchzuführenden Regelungen erfordert. Wenn wir bedenken, daß gerade Mütter mit Kindern, denen wir jetzt noch mehr Urlaubsmöglichkeiten bieten als bisher, Pflichten unterliegen und sie erfüllen, die zwar nicht Pflichten des Dienstes sind, aber doch Pflichten, die der Staat und die Gesellschaft sehr hoch schätzen müssen, so ist das Ziel des Gesetzes durchaus zu vertreten.Es ist gut, Herr Minister Eyrich, daß gerade Sie als Vertreter eines Landes, aus dem auch sehr viele Vorschläge zum Beamtenrecht und zur Sparpolitik kommen, darauf hingewiesen haben, daß manche Vorschläge nicht gehen. Es geht z. B. nicht der Gedanke, daß man bei fälschlicherweise sogenannten Doppelverdienern einen Partner aus dem Staatsdienst entfernen müsse; ein undenkbarer, rechtlich und praktisch unmöglicher Vorschlag. Er würde auch die Ehen schädigen und diejenigen, die ohne Eheschließung zusammenleben, begünstigen. Es geht auch nicht der Gedanke, allen Lehrern eine Stunde an Pflicht, aber auch einen entsprechenden Teil an Gehalt abzuziehen. So weit dürfen Treu und Glauben im Dienstverhältnis, im Treueverhältnis des Beamten nicht verletzt werden. Und Solidarität zwischen denen, die in einem Beruf stehen, und denen, die noch nicht darin stehen, zu postulieren ist zumindest eine gewagte Sache.Lassen Sie mich zum Schluß, meine sehr verehrten Damen und Herren, darauf hinweisen, daß mir die Lektüre des Gesetzes selbst besonderes Vergnügen gemacht hat. Sie können z. B. folgenden Satz in Art. 6 lesen:Bei Teilzeitbeschäftigung, Ermäßigung der Arbeitszeit oder Beurlaubung wird der sich ohne diese Freistellungen vom Dienst nach Halbsatz 1 ergebende Ruhegehaltssatz vor Anwendung des Höchstsatzes in dem Verhältnis vermindert, in dem die tatsächliche ruhegehaltsfähige Dienstzeit zu der ruhegehaltsfähigen Dienstzeit steht, die ohne diese Freistellungen erreicht worden wäre, wobei ein Rest auf zwei Stellen nach dem nach oben abgerundet wird, jedoch nicht unter fünfunddreißig und nicht über fünfundsiebzig ...Und so weiter. Herr Minister Eyrich, ich selbst habe das nicht verstanden. Ich habe einen Juristen gefragt. Er erklärte sich außerstande, zu deuten, was da wohl gemeint sei. Ich ahne natürlich, hier wird etwas abgezogen. Aber was eigentlich gemeint ist, konnte mir auch ein Mathematiker nicht erklären. Das sei nicht mal Mengenlehre, meinte er. Ich habe den Verdacht, Herr Minister Eyrich, daß in Ihrem Ministerium ein Beamter diese Formulierung gefunden hat, der nur darauf harrt, einen ausführlichen Kommentar zu diesem Thema zu schreiben,
um auf diesem Weg Nebentätigkeit ausüben zu können, die wir ihm in Zukunft zwar nicht grundsätzlich verbieten, aber doch in der Tendenz beschneiden wollen.Kurzum, meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, wir werden diesen Gesetzentwurf im Ausschuß hinreichend gründlich, hinreichend schnell beraten. Wir werden Vorschläge, die ja seit langen Jahren ventiliert werden, etwa den Vorschlag, bei Bundesbeamten das Antragsalter von 63 auf 62 Jahre herunterzusetzen, aufgreifen. Wir werden überlegen, ob bei der Beurlaubung aus Familiengründen vielleicht auch die Zahl der Kinder berücksichtigt werden könnte, zumindest wenn sie drei oder vier übersteigt. Wir werden sicher den Vorschlag aufgreifen, die Möglichkeit zu Beurlaubung und Teilzeit aus arbeitsmarktpolitischen Gründen auch im Bundesbeamtengesetz unterzubringen. Insofern stelle ich fest, daß wir in weiten Partien übereinstimmen, und ich bin ganz optimi-
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Brollstisch, daß wir dieses Gesetz zum Nutzen derer, die davon profitieren sollen, bald beschließen werden.
Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die Aussprache.
Den Überweisungsvorschlag des Ältestenrats haben Sie auf der Tagesordnung vorliegen. Ist das Haus mit den vorgeschlagenen Überweisungen einverstanden? — Das Haus ist damit einverstanden. Dann ist das so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 5 und 6 auf:
5. Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Achten Gesetzes zur Änderung des Bundesausbildungsförderungsgesetzes
— Drucksache 10/964 —
Überweisungsvorschlag des Ältestenrates:
Ausschuß für Bildung und Wissenschaft Ausschuß für Jugend, Familie und Gesundheit Haushaltsausschuß gemäß § 96 GO
6. Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Anpassung des Rechts der Arbeitsförderung und der gesetzlichen Rentenversicherung an die Einführung von Vorruhestandsleistungen
— Drucksache 10/965 —
Überweisungsvorschlag des Ältestenrates:
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Ausschuß für Wirtschaft
Ausschuß für Jugend, Familie und Gesundheit Haushaltsausschuß mitberatend und gemäß § 96 GO
Das Wort wird nicht erbeten. Der Ältestenrat schlägt die Überweisung der Gesetzentwürfe auf den Drucksachen 10/964 und 10/965 an die entsprechenden Ausschüsse vor, wie Sie ebenfalls aus der Vorlage entnehmen können. — Das Haus ist mit der Überweisung einverstanden; dann ist das so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 7 auf:
7. Zweite Beratung und Schlußabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur dem Internationalen Kaffee-Übereinkommen von 1983 und zur Verlängerung des Internationalen Kaffee-Übereinkommens von 1976
— Drucksache 10/462 —
Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft
— Drucksache 10/935 —
Berichterstatter: Abgeordneter Kittelmann
Der Berichterstatter wünscht nicht das Wort.
Der Ältestenrat hat eine Aussprache von zehn Minuten für jede Fraktion vereinbart. — Das Haus ist damit einverstanden.
— War das ein Widerspruch?
— Ja, einverstanden. Ich nehme an, doppelt einverstanden.
Ich eröffne die Aussprache; sie findet nämlich statt. — Das Wort hat der Abgeordnete Schwenninger.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Um es gleich vorweg zu sagen: Die Fraktion der GRÜNEN wird der Verlängerung des Internationalen Kaffee-Übereinkommens vom Jahre 1976 und dem neuen Übereinkommen von 1983 zustimmen.
Wir begrüßen es jedoch, daß heute eine Debatte dazu stattfindet, und haben sie auch mit initiiert. Immerhin dreht es sich beim Kaffee um das Volksgetränk Nummer eins in der Bundesrepublik,
und es dreht sich hierbei um ein wenig Genuß im Alltag für viele Menschen — für Sie sicherlich auch.
Es geht aber auch um gute Geschäfte. Der Wert des jährlich umgesetzten Kaffees beträgt mehr als 10 Milliarden Dollar, womit Kaffee nach Erdöl der zweitwichtigste Rohstoff ist.Doch für viele Menschen in der Dritten Welt geht es um weitaus mehr, nämlich um ihre Existenz. Für viele Erzeugerländer, wie z. B. Äthiopien, Uganda, Kolumbien, El Salvador und Nicaragua, ist Kaffee von entscheidender wirtschaftlicher Bedeutung, da er das mit Abstand wichtigste Exportprodukt darstellt. Sie sind auf Gedeih und Verderb auf den Kaffeepreis auf dem Weltmarkt angewiesen, einen Preis, der sich auf einem Niveau wie vor dem Krieg bewegt.Nur eine Minderheit der Millionen von Menschen, die weltweit mit der Produktion, der Verarbeitung, dem Transport und der Vermarktung des Kaffees beschäftigt sind, sind die Gewinner bei diesem Geschäft. Nur ein Drittel des Verkaufspreises bleibt im Schnitt in den Produzentenländern, und im Vergleich zu den Kosten für Importe bleiben diese Erlöse immer mehr zurück.Außerdem sind es in der Regel einige wenige Familien — Großgrundbesitzer kolonialen Ursprungs zumeist —, die den Kaffeeanbau beherrschen. Wenn Sie im Flugzeug sitzen, kriegen Sie immer
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Schwenningerein entsprechendes Bild mit einem schönen Text, auf dem Sie das sehen können.
Darüber hinaus schneidet sich der Staat in diesen Ländern ein großes Stück von diesem Kuchen ab, und den Staat beherrschen meist ebenfalls Angehörige der Oberschicht. Verdienen können aber vor allem die Spekulanten an den Kaffeebörsen in London, in New York und natürlich die Kaffeekonzerne.Das Internationale Kaffee-Übereinkommen stellt einen Versuch dar, wenigstens die heftigsten Preisschwankungen auszugleichen. Verhindern kann es — wie andere Rohstoff-Übereinkommen auch — die weitere Verelendung der Dritten Welt nicht, allenfalls verstetigen. Insofern können die GRÜNEN das Kaffee-Übereinkommen nur als kurzfristige Notlösung unterstützen.Zu einer grundsätzlichen Verbesserung der Lage der Dritten Welt wäre eine autozentrierte Entwicklung erforderlich. Das heißt, der Entwicklungsschwerpunkt müßte auf einer Agrarreform liegen, damit verbundenen handwerklich-industriellen Aktivitäten, einer Diversifizierung der Exportsektoren und vor allem der Entwicklung des Binnenmarktes, verbunden mit einer regionalen Zusammenarbeit statt einer Exportorientierung.Ein Land aber, das eine solche Entwicklungsstrategie zum Wohle der Bevölkerung verfolgen will, wird von denjenigen, die zur Zeit an Ausbeutung, Unterdrückung und Exportabhängigkeit verdienen, rigoros bekämpft. Ein Land jedoch, das die Voraussetzungen für eine solche Ausbeutung schafft und aufrechterhält, wird von ihnen unterstützt.Am Beispiel Mittelamerikas läßt sich das sehr deutlich darstellen. In Nicaragua stürzte die Diktatur Somozas durch einen Volksaufstand. Die neue Regierung der Sandinisten versucht, eine autozentrierte Entwicklungspolitik zum Wohle der armen Bevölkerung zu betreiben. Vorerst ist sie jedoch noch auf den Export von Kaffee angewiesen. Doch die ICO, die Internationale Kaffee-Organisation, kürzt die Ausfuhrquoten für Kaffee im Rahmen des Kaffee-Übereinkommens immer mehr zusammen, z. B. von 1,45 % im Kaffeejahr 1980/81 auf 1,28 % im Jahre 1983/84. Dadurch kann ein erheblicher Teil der Kaffee-Ernte Nicaraguas nicht im Rahmen der ICO-Quote vermarktet werden, und das geschieht mit Zustimmung der Bundesregierung. Demgegenüber versuchen viele Dritte-Welt-Gruppen in der Bundesrepublik, durch den Verkauf von Nicaragua-Kaffee die Hoffnungen der Menschen in Nicaragua zu unterstützen. Deswegen steht darauf auch: „Den neuen Aufbau stärken."Auf der anderen Seite beteiligen sich deutsche Kaffeekonzerne und staatliche Stellen über den Kaffeehandel an der Finanzierung der Mörderregimes in El Salvador.
— Richtig. — Besonders erwähnenswert ist dieBernhard Rothfos KG in Hamburg. Sie ist beteiligtan der Erntevorfinanzierung in El Salvador über die Firma Ibero. Sie importiert die Hälfe der Kaffee-Ernte El Salvadors mit einer Ausnahmegenehmigung der ICO sofort nach Hamburg, wodurch die 14 Kaffeefamilien versuchen, sie vor dem Zugriff der Guerilla in Sicherheit zu bringen. Sie sorgt zusammen mit der senatseigenen Hamburger Hafen- und Lagergesellschaft für die Lagerung des Kaffees, dazu noch zum Sondertarif. Sie ist in der Deutsch-Südamerikanischen Bank engagiert, die bereits zum Zeitpunkt der Einlagerung etwa 60 % des Kaffeepreises im voraus bezahlt. Schließlich sorgt sie für die Röstung und Vermarktung des Kaffees. Ein wahrhaft blutiges Geschäft angesichts der 30 000 Menschen, die seit 1979 durch Militär und Todesschwadronen ermordet wurden! Kaffee kann also sehr politisch sein.Verschiedene Gruppen aus der Friedensbewegung und der Dritte-Welt-Bewegung
drückten durch eine Blockade des Hamburger Freihafens am 18. Oktober letzten Jahres ihren Protest gegen den Salvador-Deal aus. Auch Boykottaktionen gegen El-Salvador-Kaffee wurden schon früher durchgeführt.Die GRÜNEN fordern die Bundesregierung angesichts dieser Tatsachen erstens auf, die Mitwirkung des bundesdeutschen Vertreters in der ICO, der vorhin erwähnten Kaffeeorganisation, einer parlamentarischen Kontrolle zugänglich zu machen, indem z. B. in regelmäßigen Abständen oder bei wichtigen Entscheidungen dem Parlament ein Bericht vorgelegt wird.Die GRÜNEN fordern die Bundesregierung zweitens auf, bei ihrer Mitarbeit in der ICO nicht zu einer reinen Interessensvertretung der deutschen Kaffeeindustrie zu werden, sondern entwicklungspolitische Ziele, vor allem eine autozentrierte Entwicklung zum Wohle der armen Bevölkerung in den Vordergrund zu stellen.Drittens fordern wir von der Bundesregierung, die Spekulation mit Rohstoffen zu unterbinden und dazu außenpolitische Initiativen zu ergreifen.Viertens fordern wir von der Bundesregierung, nicht die Einfuhr von verarbeitetem Kaffee durch hohe Zölle zu erschweren. Wir weisen auf den Art. 46 des Kaffeeabkommens hin.Fünftens. Wir wiederholen die dringende Forderung, nicht durch eine Sonderbehandlung die Unterstützung des Mörderregimes und der Oligarchie in El Salvador zu fördern.Auch an die Bevölkerung appellieren wir, ihren Kaffee mit wachem Verstand zu trinken. James Howell schrieb 1660:Es ist erwiesen, daß der Kaffee die Völker nüchtern macht. Während Handwerker und Kaufmannsgehilfen früher Ale, Bier und Wein als Morgentrunk genossen, sich dadurch einen dumpfen Kopf holten und zu ernsthaften Geschäften unfähig wurden, haben sie sich jetzt
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Schwenningeran dieses wachhaltende bürgerliche Getränk gewöhnt.Zitiert nach der, Kaffeebroschüre der GEPA.Für dich wäre es auch gut gewesen, du hättest es vorhin getrunken.
Hoffentlich führt dieser wache Verstand bei immer mehr Menschen dazu, solidarisch mit den Menschen in der Dritten Welt für eine gerechte Entwicklung einzutreten. Das fängt z. B. auch schon beim Kaffee an. Manche lachen darüber.Hoffentlich dient der Kaffee auch bei der Bundesregierung nicht dazu, Gemütlichkeit herzustellen, sondern dazu, sich auch mit diesen Argumenten auseinanderzusetzen.Im übrigen sehne ich mich nach einem Bundeskanzler, der nicht mit litergroßen Weingläsern der Bevölkerung zuprostet — leider ist er nicht da —, sondern bewußt täglich seinen Nicaragua-Kaffee aus dem Dritte-Welt-Laden trinkt — als unterstützende kleine Maßnahme dieses hoffnungsvollen eigenen Weges eines Volkes der Dritten Welt.Danke schön.
Man glaubt gar nicht, was alles mit dem Kaffee zusammenhängt.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Kittelmann, der da so fröhlich lacht.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich möchte den Streit, was nun das Volksgetränk Nr. 1 in Deutschland ist, hier nicht vertiefen. Ich bin aber sicher, daß Sie aus Bayern eine andere Antwort erhalten.
Es geht also nicht um die Menge, sondern darum, was das Lieblingsgetränk ist. Kaffee — das haben wir ja eben gemerkt — ist sehr häufig auch ein Gewöhnungsgetränk und führt auch zu uferlosen Betrachtungen über politische Themen, an denen lediglich eines bewundernswert ist: wie die GRÜNEN in der Lage sind, egal, welches Thema sie anfassen, immer zum gleichen Ursprung zurückzukehren. Für diese dialektische Meisterleistung zurückhaltenden Beifall.
Das Kaffeeabkommen ist das bislang umfassendste Marktregulierungsabkommen
und wohl auch das einzige funktionierende. Die
CDU/CSU möchte bei ihrer Zustimmung ausdrücklich ankündigen, daß wir uns bei der Frage von Rohstoffabkommen, die wir demnächst im Deutschen Bundestag diskutieren werden, zurückhalten und die ordnungspolitische Debatte nicht vertiefen wollen. Man muß nur eines sagen — und dies ist Ihnen im wesentlichen wohl bei Ihrer tiefen Betrachtung des Kaffeetrinkens entgangen —, daß es beim Kaffee einen gespaltenen Markt gibt. Dieser gespaltene Markt ist vor allem deshalb bemerkenswert, weil sich die sozialistischen und die arabischen Länder an diesem Kaffeeabkommen nicht beteiligen. Warum wohl nicht? Um den Ländern der Dritten Welt zu helfen? Nein — denn diese wollen ja gerade diese Kaffeeabkommen —, sondern weil sie im wesentlichen auf diese Art und Weise versuchen, sich erhebliche Preisvorteile zu holen — zu Lasten der Länder der Dritten Welt. Wenn Sie auch dies hier etwas gegeißelt hätten, wären Sie im globalen Zusammenhang etwas fairer gewesen.
Wir, die CDU/CSU, akzeptieren und glauben auch, daß es richtig ist, daß die Bundesregierung eine weitere Mitgliedschaft in dem Übereinkommen für unabweisbar hält. Ich verweise zur weiteren sachlichen Ausführung auf den Bericht, den ich als Berichterstatter hier gegeben habe, und mache ihn zum Inhalt meiner Ausführungen. — Ich danke Ihnen.
Das Wort hat der Abgeordnete Klose.
Frau Präsident! Meine Damen und Herren! Auch ich will nur wenige Bemerkungen machen.Zunächst zu der Behauptung, daß das Internationale Kaffee-Übereinkommen funktioniert. Realistischerweise muß man wohl sagen, es funktioniert teilweise.
Das Ziel, die Preise zu stabilisieren, jedenfalls große Preisschwankungen zu vermeiden und einen Ausgleich zwischen Angebot und Nachfrage herzustellen, ist nur teilweise erreicht worden. Der Grund dafür liegt, wenn ich es richtig sehe, darin, daß es Mitte der 70er Jahre einmal außerordentlich gute Preise für Kaffee gegeben hat
und daß damals diejenigen, die über die Produktion in den Kaffeeländern zu entscheiden hatten, entschieden haben — falsch; aber sie haben es halt gemacht —, weitere erhebliche Flächen für den Kaffeeanbau aufzuschließen, so daß es heute, nachdem die Pflanzen herangereift sind, ein erhebliches Überangebot an Kaffee gibt. Das drückt natürlich auf den Preis, erfordert Preisinterventionen zugunsten der Länder der Dritten Welt und führt zu Marktregulierung durch Exportquoten. Diese Marktregulierung durch Exportquoten funktioniert nur deshalb unvollkommen, weil es — darauf ist hingewiesen worden — in der Tat einen zweiten Markt für Kaffee gibt, weil der Kaffee, der über die Exportquoten hinaus produziert wird, in den Län-
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4034 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 56. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Februar 1984
Klosedern des Ostblocks und im arabischen Raum abgesetzt wird, und zwar zu Preisen, die zu 50 oder noch mehr Prozent unter den festgelegten Preisen liegen, was — muß ich sagen — ein Ärgernis ist; denn ich vermag nicht recht einzusehen, warum wir über die Preisfestlegung die billigen Kaffeeimporte der Länder des Ostens quasi subventionieren. Das ist ein Punkt, auf den man jedenfalls hinweisen muß.Ordungspolitisch wird das Kaffee-Abkommen unterschiedlich beurteilt, je nachdem welche Positionen man zu Fragen der Marktwirtschaft einnimmt. Aus der Sicht der Entwicklungsländer ist es zur Stabilisierung von Exporterlösen wohl unverzichtbar. Ganz sinnvoll finde ich es, daß sich in dem Abkommen die Länder, die Kaffee produzieren, verpflichten, ihre wirtschaftliche Grundlage durch Industrialisierung und Diversifizierung der Agrarproduktion zu erweitern. Ob es praktisch wird, wird sich zeigen.Zu den Quoten und besonders zu Kaffee aus Nicaragua und El Salvador — das war wohl das eigentliche Anliegen dieser Debatte hier —: Es ist halt so, daß sich bei dem Überangebot von Kaffee die kaffeeproduzierenden Länder um Quoten streiten. Ich fürchte, daß die abnehmenden Länder auf die Verteilung der Quoten relativ wenig Einfluß haben. So sehr man sich das gelegentlich wünschen mag — er ist faktisch außerordentlich gering. Die Länder müssen sich irgendwann einigen. Jeder versucht, das zu Lasten des anderen zu machen. Wenn die Quoten festgelegt sind, stehen sie jedenfalls nicht zu unserer Disposition.Zweite Bemerkung zu diesem Thema: Herr Kollege Schwenninger, es stimmt, daß der Handel mit Kaffee aus El Salvador eine gewisse Bevorzugung erfährt. Die Ernten werden in sogenannte Konsignationslager gebracht und von dort verteilt. Sie werden jeweils von deutschen Banken in der Größenordnung von 60 bis 80 % vorfinanziert.Der Punkt, der Ihnen allerdings entgangen ist, ist folgender: Dies gilt auch für Kaffee aus Nicaragua. Für beide Länder, für Nicaragua und El Salvador, gibt es diese bevorzugte Behandlung. In diesem Punkt müssen Sie Ihre Ansichten korrigieren.
— Das habe ich, da ich noch über alte Verbindungen in gute Behörden hinein verfüge, dieser Tage recherchiert. Sie können davon ausgehen: Es ist so.Dann möchte ich etwas zu der Behauptung sagen, daß es ganz neu eine Zurückhaltung bei dem Kauf von Kaffee aus Nicaragua gebe. Dies habe ich im einzelnen natürlich nicht vollziehen können, weil ich auf Auskünfte angewiesen war. Mir wird von Kennern der Branche gesagt, daß die Quote, einmal zugeteilt, quasi die Wirkung einer Absatzgarantie habe und daß es überhaupt keine Zurückhaltung —jedenfalls bei deutschen Importeuren — gebe. Schlichte Begründung: Der Kaffee aus Nicaragua sei besonders gut und in der Bundesrepublik besonders gut absetzbar. — Ich kann das nicht nachprüfen. Ich sage es hier nur einmal, weil ich finde: Ehe man eine bestimmte Schlußfolgerung zieht, müßte man solchen Erkenntnissen jedenfalls nachgehen.Ich müßte eigentlich etwas zu der Hamburger Firma Rothfos sagen. Aber ich finde das eigentlich bedenklich, überhaupt die Kritik an dieser Firma, denn sie selber kann hier im Parlament nicht Stellung nehmen. Sie ist j a massiv attackiert worden. Ich habe, um ehrlich zu sein, nicht die Lust, hier als Sprecher für eine Hamburger Firma aufzutreten; verstehen Sie.Soweit ich mich allerdings erkundigt habe, ist folgendes richtig. Die Firma importiert sowohl aus Nicaragua in großem Umfang als auch aus El Salvador, und zwar zu den absolut gleichen Bedingungen. Ein Kaffeeimportabkommen zwischen der Firma und der HHLA gibt es nicht. Ein entsprechender Antrag der GAL im Hamburger Parlament vom Herbst vergangenen Jahres, diese Zusammenarbeit zwischen Rothfos und der HHLA aufzukündigen, ist von der GAL nach gründlichem Recherchieren kurz vor der Debatte zurückgezogen worden, weil es falsch ist. Ich bitte deshalb darum, daß auch diese Information etwas zur Milderung der Ansichten beitragen könnte.Im übrigen verstehe ich, daß man bei Kaffeeimporten aus El Salvador wegen der Beurteilung der dortigen innenpolitischen Situation eine bestimmte Meinung haben kann. Ich habe Sympathie für die Motive, die den Kollegen Schwenninger bewegen. Aber ich muß sagen: Ich sehe nicht, wem es nützen könnte, wenn Kaffee aus El Salvador nicht mehr hierher importiert werden könnte. Den Regierenden dort schadet es mit Sicherheit nicht. Unter solchen Maßnahmen haben die Regierenden noch nie gelitten. Noch nie! Und die Finanzierung der Armee in El Salvador — das ist ja auch ein Punkt der Kritik — erfolgt, soweit ich das weiß, aus ganz anderen Quellen. Die Kassen, die da zur Verfügung stehen, werden aus ganz anderen Quellen gefüllt, z. B. aus Quellen in den Vereinigten Staaten, was ich außerordentlich bedaure. Ich bezweifle, daß sie mit den privaten Gewinnen der Kaffeegroßgrundbesitzer in El Salvador gefüllt werden, weil die in der Regel sehr darum bemüht sind, ihre finanziellen Ressourcen ins Trockene zu bringen, d. h. entweder in die Vereinigten Staaten oder in sichere Regionen im Bereich der Alpen.Ganz allgemein muß ich sagen: Es war immer meine Meinung, daß wirtschaftliche Boykottmaßnahmen — einmal unterstellt, sie wären möglich; sie müßten ja umfassend sein — zur Lösung politischer Probleme untauglich sind. Das haben wir häufig erlebt, und wir erleben es immer wieder. Ich sehe eigentlich nicht ein, warum wir denselben Fehler immer noch einmal machen müssen. Die Absicht, die hinter der Forderung steht — den Handel einzuschränken —, mag ehrenwert sein, obwohl mir manchmal die Auswahl von Ländern, gegen die Boykottmaßnahmen gefordert werden, etwas willkürlich erscheint. Die Wirkung von Boykottmaßnahmen ist jedenfalls häufig null oder sogar kontraproduktiv.
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 56. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Februar 1984 4035
KloseIm übrigen: Würde bei weltweitem Güteraustausch jeweils auf die politischen Strukturen der ex- oder importierenden Länder Rücksicht genommen werden, bräche der Welthandel, fürchte ich, sehr schnell zusammen. Dazu kann ich nicht raten.Nach alledem: Das Kaffeeabkommen ist eine zu vertretende, aus der Sicht der Entwicklungsländer vernünftige Maßnahme. Ob wir bei weiteren. Abkommen ähnlich urteilen, muß sich zeigen.Vielen Dank.
Das Wort hat Herr Abgeordneter Dr. Rumpf.
Frau Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Es muß schon sehr schlimm sein, wenn der Herr Kollege Klose durch Fakten ein Weltbild erschüttert. Ich will versuchen, Herr Schwenninger, noch einige Fakten hinzuzufügen.
Die größten Kaffeetrinker auf der Welt sind die Deutschen. Pro Kopf und Nase werden 180 Liter getrunken. An zweiter Stelle kommt das Bier. Wir tragen also bestimmt dazu bei, daß diese Länder ihre Exporte garantiert bekommen.
— Ich trinke beides! Erst an dritter Stelle — leider
— kommt der Wein, auch der aus dem Weinland, aus dem ich komme.
Nach Auffassung der FDP müssen handels- und wirtschaftspolitische Bedenken gegen die dirigistischen Aspekte des Übereinkommens hinter der außen- und entwicklungspolitisch positiven Bewertung dieses Abkommens zurücktreten. Im Vergleich zu anderen Rohstoffübereinkommen hat das Kaffeeübereinkommen insbesondere die festgesetzten Preisstabilisierungsziele erreicht.
Herr Kittelmann hat schon auf den gespaltenen Markt hingewiesen. Man könnte sagen: Die Ostblockstaaten und einige andere kaufen auf dem Markt billigen Kaffee auf dem Rücken dieser armen Menschen, die den Kaffee anbauen.
Die Kaffeewirtschaft in den Verbraucherländern, insbesondere auch in der Bundesrepublik, steht dem Abkommen zwar grundsätzlich positiv gegenüber, führt jedoch Klage gegen die erwähnten Mißstände bei der Durchführung des Übereinkommens. Diese Mängel können erst in einem längeren Zeitraum überwunden werden, wenn die durch die Preishaussezeiten, nämlich 1976 bis 1980, induzierte Überproduktion allmählich wieder abgebaut ist.
Nun, Herr Schwenninger, zu einigen Nachteilen, die Sie herausgestellt haben. Monokulturen gingen auf Kosten der Eigenversorgung der Entwicklungsländer mit Nahrungsmitteln, es gebe ökologische Nachteile bei Kaffee- und Kakaoplantagen — oder so ähnlich —, und die Verarmung der Länder sei vorprogrammiert. Es würden nur wenige Personen profitieren.
Die Aussage, daß die landwirtschaftliche Nutzfläche der Dritten Welt zu einem großen Teil für Agrarexportgüter verwendet wird, ist so auch nicht richtig. Exportkulturen wie Kaffee, Kakao und ähnliches machen im Durchschnitt nur 5% der gesamten landwirtschaftlichen Nutzfläche aus. Anders sieht es allerdings aus, wenn man Viehweideflächen miteinbezieht. Aber die stehen j a hier nicht zur Debatte.
Das zweite: Kaffee- und Kakaoplantagen sind zweifellos schlechter als der vorher vorhanden gewesene Urwald, und eine neue Ausweitung in den Urwald hinein soll j a gerade durch ein solches Abkommen verhindert werden, indem den Ländern entsprechende Quoten zugeteilt werden. Eine Ausdehnung wird eher dadurch provoziert, daß Ostblockstaaten einen schwarzen Kaffeemarkt haben. Im Vergleich zu Acker-, Weide- und Brachland sind standortangepaßte und gut unterhaltene Dauerkulturen eher als wertvoll für den Schutz des Bodens vor Wind- und Wassererosion zu beurteilen.
Zum letzten: In den betroffenen Ländern stellt die Agrarproduktion die volkswirtschaftlich wichtigste Devisenquelle dar; das ist nun mal so. Auch Herr Klose hat eindrucksvoll darauf hingewiesen. Diese konzentrieren sich nicht nur auf einzelne Personen, weil in den meisten Ländern der Export verstaatlicht ist.
Nun haben die GRÜNEN ja einschlägige Erfahrungen gesammelt, indem sie auf den Kaffeeplantagen in Nicaragua geholfen haben. Die Nicaraguaner waren natürlich froh, als die wieder abgezogen waren; denn die haben sich nicht mal in Reih und Glied aufgestellt. Im großen und ganzen meine ich: das, was Sie heute hier vorgetragen haben, würde ich eher als das Lesen im Kaffeesatz bezeichnen, wenn es nicht gar kalter Kaffee war.
Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Schlußabstimmung.Ich rufe das Gesetz mit seinen Artikeln 1 bis 3, Einleitung und Überschrift auf. Wer diesem Gesetz im Ganzen zuzustimmen wünscht, den bitte ich, sich vom Platz zu erheben. —
Die Gegenprobe! — Enthaltungen? — Das Gesetz ist einstimmig angenommen.Ich rufe auf den Tagespunkt 8Zweite Beratung und Schlußabstimmung desvon der Bundesregierung eingebrachten Ent-
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4036 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 56. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Februar 1984
Vizepräsident Frau Rengerwurfs eines Gesetzes zu dem Internationalen Kakao-Übereinkommen von 1980— Drucksache 10/265 —a) Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten
— Drucksache 10/999 —Berichterstatter: Abgeordneter Oostergetelob) Bericht des Haushaltsausschusses gemäß § 96 der Geschäftsordnung— Drucksache 10/1036 —Berichterstatter:Abgeordnete Schmitz Frau ZuttVerheyen
Hierzu wird das Wort nicht erbeten. Die Aussprache wird nicht gewünscht. Wir kommen zur Schlußabstimmung.Ich rufe das Gesetz mit seinen Artikeln 1 bis 4, Einleitung und Überschrift auf. Wer diesem Gesetz im Ganzen zuzustimmen wünscht, den bitte ich, sich vom Platz zu erheben. — Die Gegenprobe! — Enthaltungen? — Das Gesetz ist bei einigen Enthaltungen angenommen.Wir kommen zu Tagesordnungspunkt 9a) Beratung der Sammelübersicht 23 des Petitionsausschusses über Anträge zu Petitionen mit Statistik über die beim Deutschen Bundestag in der Zeit vom 29. März bis 31. Dezember 1983 eingegangenen Petitionen— Drucksache 10/975 —b) Beratung der Sammelübersicht 24 des Petitionsausschusses über Anträge zu Petitionen— Drucksache 10/989 —Auch hier wird das Wort nicht gewünscht. Wir haben über die Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses abzustimmen, die in den Sammelübersichten 23 bis 24 enthaltenen Anträge anzunehmen. Wer dem zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. — Die Gegenprobe! — Enthaltungen? — Die Beschlußempfehlung ist bei einigen Enthaltungen angenommen.Ich rufe Tagesordnungspunkt 10 auf:Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten zu der Unterrichtung durch die BundesregierungVorschlag einer Verordnung des Rates zur Änderung der Verordnung (EWG) Nr. 1723/81 hinsichtlich der Möglichkeit, Beihilfen für die Verwendung von Butter zur Herstellung bestimmter Lebensmittel zu gewährenVorschlag einer Verordnung des Rates zur Änderung der Verordnung (EWG) Nr. 1411/71 hinsichtlich des Fettgehalts der TrinkmilchVorschlag einer Verordnung des Rates zur Festsetzung allgemeiner Regeln für die Gewährung von Beihilfen für zu Futterzwecken bestimmte eingedickte MilchVorschlag einer Verordnung des Rates zur Änderung der Verordnung (EWG) Nr. 1269/79 hinsichtlich der Bedingungen für den Absatz von für den Direktverbrauch bestimmter Butter zu ermäßigten Preisen— Drucksachen 10/595 Nr. 8, 10/977 —Berichterstatterin: Abgeordnete Frau BlunckDas Wort wird nicht gewünscht.Wer der Beschlußempfehlung des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten auf Drucksache 10/977 zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Bei einigen Gegenstimmen ist diese Beschlußempfehlung angenommen.Meine Damen und Herren, wir sind am Schluß unserer heutigen Tagesordnung angelangt. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, den 24. Februar 1984, 8.00 Uhr ein.Die Sitzung ist geschlossen.