Gesamtes Protokol
Die Sitzung ist eröffnet. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung soll die heutige Tagesordnung um die Erste Beratung des Entwurfs eines Sechsten Gesetzes zur Änderung des Bundeswahlgesetzes — Drucksache 9/2034 — erweitert werden. Ich gehe davon aus, daß mit der Aufsetzung dieses Tagesordnungspunktes gleichzeitig von der Frist für den Beginn der Beratungen abgewichen wird. Ist das Haus damit einverstanden? — Ich sehe und höre keinen Widerspruch. Es ist so beschlossen.
Wir fahren fort in der
Aussprache über die Erklärung der Bundesregierung.
Das Wort hat der Herr Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung. Bitte, Herr Minister, Sie haben das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es gibt viele interessante Fragen, aber es gibt nur ein drängendes Problem, und das ist die Arbeitslosigkeit. Das A und O unserer Wirtschafts-, Finanz- und Sozialpolitik ist der Kampf gegen die Arbeitslosigkeit.
Alles, was diesem Zweck nicht nützt, muß jetzt zurückgestellt werden. Jeder, der etwas anderes will, ist jetzt nicht an der Reihe. Arbeitslosigkeit ist Leid, menschliches Leid, und wirtschaftlicher Verlust. Ohne Arbeit gibt es keine solziale Sicherheit. Die Rente wird von den Beiträgen der Arbeitenden bezahlt: Je mehr Arbeitslose, um so weniger Beitragszahler, je weniger Beitragszahler, um so weniger Geld in der Rentenkasse.
Wenn 2 Millionen Mitbürger, die jetzt arbeitslos sind, Arbeit hätten, dann würden sich in der Rentenkasse 5 Milliarden DM mehr befinden. Dann brauchten wir all das nicht, was jetzt sehr schmerzhaft ist. All das wäre nicht nötig, gäbe es nicht hohe Arbeitslosigkeit.
2 Millionen Arbeitslose kosten die Allgemeinheit 50
bis 60 Milliarden DM. Das Sozialprodukt vermin-
dert sich um 100 Milliarden DM. Allein die Bundesanstalt für Arbeit muß 1982 25 Milliarden DM an Arbeitslosengeld und Arbeitslosenhilfe zahlen. Was könnten wir alles für die Familien, für die Behinderten, für die Kriegsopfer machen, müßten wir das Geld nicht für die Arbeitslosen ausgeben!
Politik für die Vollbeschäftigung ist Politik für die Schwachen, Politik für die Rentner. Diese Regierung macht Politik für die Schwachen, für die Rentner, für diejenigen, die zu kurz gekommen sind.
Anke Fuchs hat gestern eine beachtliche Liste von Vorhaben hier vorgetragen, die nicht in der Regierungserklärung stehen. Ich will den ganzen Katalog nicht wiederholen: Humanisierung, Arbeitsschutz, Mitbestimmung. Ich frage Sie nur alle: Was haben die Arbeitslosen von Humanisierung? Sie haben keine Arbeit, also auch keine humanisierte Arbeit.
Dem Arbeitslosen nützt auch die Mitbestimmung nichts, denn er hat keine Arbeit, und da gibt es auch nichts mitzubestimmen.
Ich bin ja für Arbeitsschutz, Mitbestimmung und Humanisierung. Aber zunächst einmal müssen die Menschen Arbeit haben, damit ihre Arbeit überhaupt human werden kann.
Ganz besonders bei der Rede von Horst Ehmke habe ich das Strickmuster gemerkt, nach dem hier gearbeitet wird. Die SPD ist auf dem Weg zurück ins 19. Jahrhundert: Arme gegen Reiche.
Herr Bundesminister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Löffler?
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7418 Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 123. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. Oktober 1982
Können wir uns darauf verständigen, daß ich zunächst einmal vortrage? Sie wissen nämlich noch gar nicht, was ich alles sagen will. Dann können wir darauf zurückkommen.
Wahlkampf wird als Klassenkampf vorbereitet. Das Motto heißt also: Vorwärts, Genossen, es geht zurück! Zurück ins 19. Jahrhundert!
Ich frage mich in der Tat: Woher nehmen Sie eigentlich den Mut?
— Woher nehmen Sie, Herr Ehmke und alle Ihre Genossen den Mut, sich als eine Partei der Arbeitnehmer vorzustellen?
Meine Damen und Herren von der SPD, wären Sie als eine Partei, die angeblich die Armen schützt, noch länger in der Regierung geblieben, so wäre die Zahl der Armen noch größer geworden,
denn die Arbeitslosen sind die Ärmsten. Nie gab es in einem September, solange in unserem Land Arbeitslose gezählt werden, mehr Arbeitslose als in dem September, der der letzte Monat Ihrer Regierung war. Das war Ihr Rekord.
Den zweiten Platz nimmt ein September ein, der lange zurückliegt: September 1950. Wir hatten damals harte Nachkriegsjahre. Im September 1950 war die Arbeitslosenzahl um rund 300 000 geringer.
Ich frage Sie noch einmal: Woher nehmen Sie den Mut, sich als Arbeitnehmerpartei vorzustellen? Nie gab es eine Regierung, die die Arbeitnehmer mehr geschröpft hat als die Regierung unter Ihrer Führung!
— Wieso protestieren Sie dagegen? Das hat der ehemalige Bundeskanzler Helmut Schmidt am 22. Juni in Ihrer Fraktion vorgetragen. Es ist nicht berichtet worden, daß Sie gegen die Zahlen protestiert hätten. Soll ich es noch einmal in Ihr Gedächtnis zurückrufen? Ich mache es nur auszugsweise — der Wortlaut ist viel länger —:
Die Grenzbelastung des Arbeitnehmers, d. h. die letzten 10 DM, die er bei einer Lohn- und Gehaltserhöhung bekommt, sind heute belastet mit 49 % im Durchschnitt. Sie stand heute vor zwölf Jahren bei weniger als 34 %.
Und jetzt hören Sie zu:
Wir haben also den Arbeitnehmer immer wieder zur Kasse gebeten.
Originalton Helmut Schmidt!
Er wiederholt es sogar noch. Er fährt fort: „Wir haben allerdings nicht alles beim Arbeitnehmer holen können, sondern wir haben bei sinkender Konjunktur ..."
— Ich bitte doch, diese Worte hier mit der gleichen Ehrfurcht entgegenzunehmen wie damals in der Fraktion; Sie haben doch auch damals nicht geschrien.
Herr Bundesminister, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Ich bin noch immer nicht bei dem Teil, bei dem wir die „Fragestunde" beginnen können.
Lassen Sie mich das Zitat zu Ende bringen: „... einen Teil unserer Mehrausgaben finanziert durch Kreditaufnahmen ..."Die Finanzierung geschah also nicht nur durch die Arbeitnehmer, sondern auch durch Kreditaufnahmen. Kurz: Arbeitergroschen und Pump, das sind die Quellen des sozialdemokratischen Fortschritts.
— Lassen Sie mich erst noch meine dritte Frage stellen. Vielleicht erübrigt sich dann Ihre Zwischenfrage.Woher nehmen Sie den Mut, sich hier als Zukunftspartei vorzustellen? 300 Milliarden DM Schulden hat allein der Bund. Die Zukunft heißt, daß die Kinder noch die Erbschaft abzahlen dürfen, die Sie hinterlassen. Das ist die traurigste Erbschaft aller Bundesregierungen.
Allein der Zinsendienst beträgt 23 Milliarden DM. Sie haben das Holz verheizt, mit dem unsere Kinder kochen sollen; Sie haben mit Ihrer Schuldenpolitik ihre Zukunft verraten.
Ich verstehe auch gar nicht, weshalb Sie uns jetzt für die Arbeitslosigkeit und für das, was notwendig ist, beschimpfen. Sie können doch nicht die Reparaturwerkstatt für den Unfall verantwortlich machen!
Vielleicht wäre es auch gut, Sie würden Ihre Einwände etwas sortieren.
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Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 123. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. Oktober 1982 7419
Bundesminister Dr. BlümIch hörte nach unseren Koalitionsvereinbarungen Herrn Lahnstein am 27. September vor der Pressekonferenz:Hätte man nur gewollt, dann wäre nach dem, was wir heute hören, auch mit den Sozialdemokraten eine Einigung möglich gewesen.Am 27. September, ein paar Tage später, erklärt Herr Lahnstein — zusammen mit Herrn Westphal —, wir hätten mit diesen Koalitionsvereinbarungen die Ellenbogen-Gesellschaft proklamiert. — Ja, was denn jetzt? Nach den Gesetzen der Logik hieße das, Sie hätten sich mit der FDP über Ellenbogen-Gesellschaft einigen können.
Sie könne doch nicht beide Einwände vortragen.Meine Damen und Herren, „Ellenbogen-Gesellschaft", das halte ich für eine Verharmlosung der Arbeitslosen-Gesellschaft. Die Arbeitslosen-Gesellschaft, die Sie hinterlassen, ist die Dampfhammer-Gesellschaft. Sie zerstört Hoffnungen, löst den menschlichen Zusammenhalt auf, drängt die Menschen aus einer Gesellschaft, in der sie gebraucht werden. Das ist die härteste Gesellschaft, die wir kennen. Und die hinterlassen Sie uns.
Meine Damen und Herren, wir stehen in der Tat vor einem arbeitsmarktpolitischen Dammbruch. Es geht nicht um Detailfragen, es geht um eine Konzentration auf das Wichtigste. Und ich glaube, wir stehen auch vor der Beweisprobe, ob eine freie Gesellschaft aus Einsicht frühzeitig zur Umstellung fähig ist oder ob die Umstellung zu spät und dann unter Zwang als Umbruch erfolgen muß. Wir stehen vor der Nagelprobe, ob Soziale Marktwirtschaft nur eine Ordnung für die Sonnenseiten der Konjunktur ist oder ob sie auch die Krise meistern kann. Ich habe die Soziale Marktwirtschaft immer als mehr verstanden als nur als Wohlstandswirtschaft. Und ich bin sicher, daß wir, an die Einsicht und Verantwortung unserer Mitbürger appellierend, die Umkehr ohne Zwang schaffen werden.
Wir legen eine Atempause ein. Ich sehe diese Atempause mit drei Zielen verbunden.Erstens. Sie gibt uns eine Chance, aus der Hektik einer sich ständig ändernden Gesetzgebung auszusteigen und erst einmal Übersicht im Tumult der Vorschläge zu gewinnen. Um ein Wort meines verehrten Kollegen Schmidt aufzunehmen, der einmal von der Flickschusterei gesprochen hat: Ich halte eine Atempause für besser als Flickschusterei.
Atempause ist Besinnungspause.Zweitens ist diese Atempause auch ein Zeitgewinn, mit dem wir Kraft schöpfen, Schulden abzubauen, Geld überhaupt erst wieder anzusammeln und uns — wie im privaten Leben, so auch in der Politik, auch in der Sozialpolitik — vor Erschöpfungzu bewahren. Die Atempause ist eine Erholungspause.
Drittens. Sie ist eine Einübung in eine Gesellschaft, die Fortschritt nicht allein von Wohlstandsmehrung abhängig macht, die vielmehr Erreichtes zu erhalten sucht. Ich finde, bereits das ist der Anstrengung wert.
Ich weiß, daß es schmerzlich ist,
daß wir die Anpassung der Renten, Kriegsopfer-, Unfallrenten, Lastenausgleichsrenten, der landwirtschaftlichen Altershilfe, um ein halbes Jahr verschieben. Wir reduzieren die Renten nicht, wir verschieben die Anpassung um ein halbes Jahr. Das ist schmerzlich.
Aber ich bin sicher: Auch die Rentner wissen, daß es besser ist, ihre Rente ist sicher, als daß ein bankrotter Staat keinen Bundeszuschuß mehr zahlen kann.
Die Rentner wissen längst, daß ein Staat, der in der Währungsreform landet, ihnen nicht hilft.
— Ich kann Ihrem Andrang kaum widerstehen. Bitte schön.
Herr Bundesminister, Sie lassen also eine Zwischenfrage zu. Herr Löffler, bitte, Sie haben das Wort zu der Zwischenfrage.
Sehr geehrter Herr Bundesminister, da Sie uns mehrfach gefragt haben, woher wir den Mut nähmen, darf ich die Frage an Sie zurückgeben: Woher nehmen Sie den Mut, das Problem der Arbeitslosigkeit, das Sie als so drängend und so wichtig dargestellt haben, hier nur in Polemik abzuhandeln und damit alle sachliche Zusammenarbeit in diesem Hause zu zerstören?
Es ist das Ziel meiner Rede, durch Argumentation zur Selbsterkenntnis der SPD beizutragen.
Noch eine Zusatzfrage.
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7420 Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 123. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. Oktober 1982
Wollen wir uns auf eine spätere Zusatzfrage einigen.
Zur „Wende" vielleicht noch folgender Punkt. Frau Fuchs hat gestern hier gesagt, wir hätten eine Rente nach Kassenlage vorgeführt.
— Tut es weh? Die Wahrheit tut immer weh.
Sie hat gesagt, wir hätten eine solche Rente vorgeschlagen, die wir früher bei der anderen Regierung immer bekämpft hätten. Diese Aussage enthält zwei Wahrheiten: Erstens. Die frühere Regierung hat eine Rentenpolitik nach Kassenlage betrieben. Das war das Eingeständnis. Zweitens. Wir können leider Gottes keine Rentenpolitik ohne Rücksicht darauf betreiben, da uns diese Regierung leere Kassen hinterlassen hat. Das geht nun einmal nicht anders: Auch diese Regierung lebt nur von dem, was vorhanden ist. Zum Unterschied von anderen versprechen wir nicht mehr, als wir halten können.
Meine Damen und Herren, ich hoffe, daß diese Atempause auch ein Zeichen für diejenigen setzt, die wir durch Gesetzgebung weder erreichen können noch erreichen wollen. Wir hoffen, daß diese Atempause auch eine Beweislast für alle ist, Maß zu nehmen an dem Opfer, das die Witwe mit 800 DM Monatsrente erbringen muß.
Wir werden am 1. Juli nächsten Jahres zu prüfen haben, wer sich der Solidarität entzogen hat, wer sich als Egoist entlarvt hat. Wir brauchen eine Druckwelle des Gemeinsinns, um die Wende herbeizuführen.
Ich halte es für ein hoffnungsvolles Zeichen, daß in der Ärzteschaft die Bereitschaft wächst, auch ihre Honorarerhöhungsforderungen auf den 1. Juli zu verschieben.
Ich bedanke mich dafür. Das ist eine bessere Werbung für die Ärzteschaft als viele Kundgebungen und Broschüren.
Ich finde: Je mehr mitmachen, desto schwerer haben es diejenigen, die sich der „Aktion Solidarität" verweigern.
Mein Appell richtet sich auch an die Unternehmer, ihre vorgesehenen Preisanhebungen ebenfalls auf den 1. Juli zu verschieben.
— Lachen Sie doch noch nicht so früh! Es wäre unerträglich, die Preise davonlaufen zu sehen, während die Rentnerin Opfer bringt.
Nehmen wir einmal an, 3 Millionen Arbeitslose stünden auf der Straße. Es kommen die geburtenstarken Jahrgänge. Wenn nichts geschieht, wird es so sein. Was machen wir dann? Soll dann das Ritual der alten Auseinandersetzungen fortgeführt werden: Die Arbeitgeber beschimpfen die Gewerkschaften, die Gewerkschaften beschimpfen die Arbeitgeber, die Regierung beschimpft die Opposition und die Opposition beschimpft die Regierung?
Ich fürchte, die Arbeitslosen werden für diesen Streit dann kein Verständnis haben. Sie werden fragen, was wir gemeinsam getan haben, um die Arbeitslosigkeit zu beseitigen.
Ungewöhnliche Zeiten verlangen außergewöhnliche Schritte. Dem Mangel an Arbeitsplätzen darf jetzt nicht noch ein Mangel an Mut und Phantasie hinzugefügt werden.
Meine Damen und Herren, es wird für Sie keine Überraschung sein, daß mich die Reaktion der Gewerkschaften enttäuscht hat. Zunächst will ich klarstellen, obwohl es da vielleicht gar nicht vieler Worte bedarf: Ein Eingriff in die Tarifautonomie kann das nicht sein, wenn Vorschläge gemacht werden. Tarifautonomie heißt doch nicht Diskussionsverbot. Sonst wäre die Tarifautonomie das letzte Tabu in einer aufgeklärten Gesellschaft!
Die Tarifpartner sollen und müssen autonom entscheiden. Dieses Recht werde ich gegen jedermann verteidigen. Aber das, was sie vorhaben, was sie planen, was sie machen wollen, wird doch wohl noch diskutiert werden dürfen. Wir sind doch nicht in einer geschlossenen Gesellschaft! Alles kann diskutiert werden.
Die Kritik der Gewerkschaften am Gesetzgeber habe ich nie als eine Beschädigung des Parlamentarismus empfunden, obwohl auch der Gesetzgeber, das Parlament, autonom ist.
Herr Bundesminister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Roth?
Bitte schön.
Herr Bundesminister Blüm, da Sie sich in Ihrem Amte von den Gewerkschaften keinen Rat mehr geben lassen,
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Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 123. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. Oktober 1982 7421
Rothfrage ich Sie: Lassen Sie sich nicht vom BDI-Präsidenten Rodenstock sagen, daß eine Lohnpause im nächsten Jahr mehr und nicht weniger Arbeitslosigkeit schaffen würde?
Herr Roth, ich muß Sie leider enttäuschen. Ich lasse mir von Gewerkschaften nicht nur Ratschläge geben, ich orientiere mich sogar an gewerkschaftlichen Vorbildern. Es gab nämlich schon einmal eine Lohnpause, 1967 unter Otto Brenner, einem sehr verdienstvollen, großen Gewerkschaftsführer.
Das, was amerikanische Gewerkschaften können — die sind doch auch nicht schlechter als die deutschen —, werden doch wohl auch die deutschen Gewerkschaften können.
— Ich lese Ihnen gerne einmal die Beispiele vor. Die amerikanische Automobilarbeitergewerkschaft hat mit Ford und General Motors einen Tarifvertrag abgeschlossen: Verzicht auf Lohnerhöhung — nicht um ein halbes Jahr Verschiebung — für 30 Monate. Ich wiederhole, Herr Roth: für 30 Monate.
Auf den Zusatzurlaub von neun Tagen, der schon vereinbart war, haben sie verzichtet. Sie haben sich einverstanden erklärt, den Einstellungslohn um 15% zu senken.
Natürlich nicht für ein „Vergelt's Gott", natürlich nicht für nichts, sondern sie haben etwas herausgeholt: Verzicht auf Betriebsstillegungen, Arbeitsplatzgarantien für die älteren Arbeitnehmer, Gewinnbeteiligung in dem Fall, daß das Unternehmen höhere Gewinne macht. Mit der American Motor Company haben die Gewerkschaften den Verzicht auf Anpassung des Lohnes an die Inflationsrate vereinbart und dafür erreicht — —
— Sie werden doch wohl nicht sagen, die amerikanischen Gewerkschaften seien dummer als Sie. Sie können ja sagen, Norbert Blüm sei ein Arbeiterverräter. Ich warne Sie davor, alle Gewerkschafter zu Arbeiterverrätern zu erklären, die anderer Meinung sind als Sie. Ich warne Sie davor.
Herr Bundesminister, gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage?
Ich möchte auch den Damen und Herren der SPD einmal den ganzen Katalog dessen vorführen, was möglich ist. Dann sollten wir in Ruhe abwarten, wie die Arbeitnehmer an den Werkbänken und Schreibtischen über Ihre Politik und über meine denken.
Wenn Sie wollen, kann ich eine ganze Liste von Gewerkschaften aufmachen, die zu solcher Tarifpolitik fähig waren. Übrigens verweise ich noch einmal auf das große Beispiel von Otto Brenner, den ich nur mit großem Respekt nennen kann.
Niemand verlangt von den Gewerkschaften, für nichts einen Verzicht zu leisten. Ausbildungs- und Arbeitsplätze wären eine Gegenleistung, Verzicht auf den Tabu-Katalog, Preisstabilität. Ich kenne die Frage: Wie erreichen Sie dies? Nun, der Sachverständigenrat hat schon vor Jahren vorgeschlagen, Tarifverträge mit Nachverhandlungsklauseln abzuschließen, um den Gewerkschaften nicht zuzumuten, die Katze im Sack zu kaufen, von den Ereignissen überrollt zu werden.Es ist nur notwendig, neue Wege zu beschreiten. Ich habe etwas dagegen, wenn in der Theorie immer über neue Wege geschrieben und gestritten wird. Aber wehe, jemand wagt es, einmal neue Wege in der Praxis einzuschlagen: Schon fallen alle über ihn her. Ich fürchte nur, die alten Wege führen in die Sackgasse. Wir brauchen neue Wege, um aus der Arbeitslosigkeit herauszukommen.
Ich bin auch ganz gelassen, was die öffentliche Diskussion anbelangt. Die Arbeiter an den Werkbänken, an den Schreibtischen haben längst begriffen, daß die Lohnerhöhung relativ wenig über ihren Lebensstandard aussagt. Was nützt eine Lohnerhöhung von 6 %, wenn anschließend die Preise um 5 % steigen, die Steuer mehr als vorher abkassiert? Und was dann von der Lohnerhöhung noch nicht aufgezehrt ist, das geht für die hohen Arbeitslosenversicherungsbeiträge drauf. Die Arbeiter haben längst kapiert, daß die nominalen Lohnabschlüsse relativ wenig über die realen Verhältnisse aussagen.Ich bin ebenso gelassen und sicher wie die Abstimmung ausgeht, wenn die Arbeitnehmer bei der AEG an der Brunnenstraße in Berlin die Wahl hätten, ihren Arbeitsplatz zu sichern und dafür vorübergehend auf Lohnerhöhungen zu verzichten oder ihren Arbeitsplatz zu verlieren. Da brauche ich kein Meinungsbefragungsinstitut. Das kann ich Ihnen sagen: Die Mehrheit wäre auf unserer Seite, die überwiegende Mehrheit.
— Lassen Sie mich den Zusammenhang herstellen. Bei Funktionären mag das anders aussehen. Natürlich braucht die Gesellschaft Funktionäre. Aber ich gebe den guten Ratschlag, daß auch die Funktionäre sich nicht das Monopol anmaßen, sie wüßten immer alles, was die Arbeiter denken und wollen. Vor diesem Hochmut warne ich. Hochmut kommt bekanntlich vor den Fall.Im übrigen: Ich bin auch nicht der Arbeitsminister der Funktionäre; ich bin der Arbeitsminister der Arbeitnehmer, der Unternehmer, all derer, die
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7422 Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 123. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. Oktober 1982
Bundesminister Dr. Blüm1 arbeiten und der Behinderten, der Arbeitslosen; deren Arbeitsminister bin ich in erster Linie.
Damit kein Mißverständnis aufkommt: Ich habe hier keine Funktionärsbeschimpfung vorgenommen. Man darf nie mit Kollektivurteilen arbeiten.
— Ich weiß auch nicht, was es hier „Alaaf" zu schreien gibt, wenn ich Ihnen ein Zitat von Karl Haunschild vorlese, einem bedeutenden Gewerkschaftsführer, dem Vorsitzenden der IG Chemie. Er sagt:Ich glaube aber, daß mehr und mehr gescheite Arbeitnehmer — und ich halte die Mehrzahl der Arbeitnehmer für gescheit —, wenn man mit ihnen vernünftig diskutiert, zu verstehen beginnen, daß die Bäume der Lebensstandardsteigerung nicht mehr in den Himmel wachsen.Es hat sich längst herumgesprochen, und es hat gar keinen Sinn, die Wahrheit zu verheimlichen.Warum wir dies alles brauchen? Wir brauchen Geld für Arbeitsplätze, und zwar für moderne Arbeitsplätze, damit wir konkurrenzfähig bleiben. Die 15 000 Unternehmen, die in diesem Jahr zugemacht haben, haben nicht zugemacht, weil die Unternehmer alle versagt hätten — da kann ich nur sagen: 1969 waren es nur 3 800 Unternehmen, die zugemacht haben — sondern die haben zum überwiegenden Teil zugemacht, weil entweder die Kosten) zu hoch waren oder weil sie auf dem Weltmarkt nicht konkurrenzfähig waren, weil sie nicht die modernste Technologie hatten, um auch auf dem Weltmarkt bestehen zu können. Dafür brauchen wir Geld. Dafür müssen auch die Zinsen gesenkt werden, damit Arbeitsplätze geschaffen werden. Je moderner, um so teurer sind die Arbeitsplätze. Und je moderner, um so sicherer sind sie auch für die Zukunft.
Herr Bundesminister, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Gestatten Sie mir, daß ich die Nennung derjenigen, die zu dieser Frage Stellung genommen haben, ohne Ihre Unterbrechung zu Ende bringe.Gestern ist die EKD-Denkschrift „Solidargemeinschaft von Arbeitenden und Arbeitslosen" veröffentlicht worden, eine bedeutsame Denkschrift. Ich bitte Sie alle, sich mit etwas mehr Gelassenheit anzuhören, was die Kirchen den Gewerkschaften und Arbeitgebern sagen. Von den Arbeitgebern verlangt die Studie, Entlassungen als allerletzte Konsequenz zu behandeln und bei der Preisgestaltung Zurückhaltung zu üben. Ich nenne das Atempause. Von den Gewerkschaften fordert die Evangelische Kirche Deutschlands — ich zitiere —, „bei den Tarifauseinandersetzungen sich nicht auf Einkommenszuwachs zu fixieren, sondern die Arbeitslosigkeitsproblematik entscheidend mit einzubeziehen".
Ich nenne das Atempause.Die Polemik schreckt mich nicht, die gerade aus sozialdemokratischer Ecke mir entgegengebracht wurde. Ich komme nicht auf dem hohen Roß daher. Ich gehe zu Fuß, aber nicht unbewaffnet. Merken Sie sich das!
Da lese ich im Sozialdemokratischen Pressedienst:
— Das ist ein Kompliment. Ich bedanke mich sehr für das Kompliment. — Ich darf den Kollegen Rappe zitieren. Er sagt:Ich bedaure, daß gleich zu Beginn der Bundesarbeitsminister Hoffnungen zerstört, die man in ihn gesetzt hat. Nach seinen Ankündigungen tiefer sozialer Einschnitte und seinem Appell zugunsten einer Lohnpause gibt es nun keine Vertretung von Arbeitnehmern im Kabinett Kohl mehr.Ich frage Sie: Wer entscheidet eigentlich, wer Arbeitnehmer vertritt? Haben wir neue Päpste in diesem Parlament, die entscheiden, wer Arbeitnehmerinteressen vertritt?
— Herr Kollege Westphal, lassen Sie mich diese Antwort zu Ende bringen.Ich möchte den Kollegen Rappe bitten, darauf zu achten: Wer im Glashaus sitzt, der soll nicht mit Steinen werfen. Wer hat denn am 9. September 1982 um 8. 18 Uhr im Saarländischen Rundfunk die Frage: Sie meinen also, man müßte zu einer nettobezogenen Rente kommen? beantwortet mit — ich zitiere —:Ja, wir müssen zu einer nettolohnbezogenen Rente kommen.Das war nicht Blüm , das war Rappe (SPD).
Meine Damen und Herren, Sie erregen sich darüber, daß die Investitionsanleihe zu gering sei. Ich kann nur sagen: Sie haben immer nur geredet. Diese Anleihe ist mehr als das, was Sie zustande gebracht haben. Sie haben nämlich nichts zustande gebracht. Wenig ist immer noch mehr als nichts.
Bei allen sozialen Kürzungsmaßnahmen, die Sie vorgesehen haben, gab es an keiner Stelle Einkommensgrenzen. Sie haben die Höher- und Besserverdienenden bei den Kürzungen im Sozialbereich völlig ungeschoren gelassen. Sie sind mit der Heckenschere vorwärtsmarschiert.
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Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 123. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. Oktober 1982 7423
Bundesminister Dr. BlümWir lassen, obwohl uns das schwerfällt, auch im sozialen Bereich Unterschiede, wem mehr Opfer zugemutet werden können und wem weniger.Da Sie, meine Damen und Herren, jetzt, zu Beginn unserer Legislaturperiode das Wort Mitbestimmung erwähnen: Wo waren Sie eigentlich, als Franz Josef Strauß — die CDU/CSU die Montanmitbestimmung sichern wollte? Da mußte man Sie doch auf dem Meeresboden suchen. Da waren doch alle Gewerkschaftler verschwunden.
Lassen Sie mich die gesamte Liste zu Ende bringen. Eine Partei, die mit den Grünen poussiert, läßt die Arbeiter im Stich. So ist das nun einmal.
Herr Kollege Roth hat gestern gesagt, wir hätten die neue soziale Frage vergessen, und er hat dagegen polemisiert. Nein, Sie haben die alte soziale Frage wieder zum Leben erweckt. Wir müssen erst wieder die alten sozialen Fragen beantworten — Arbeit für jedermann —, bevor wir zu dem kommen, was eigentlich der Stil und die Aufgabe unserer Politik sind. Wir haben für Arbeit zu sorgen; denn um eine Sozialpolitik gestalten zu können, müssen wir davon ausgehen, daß jedermann Arbeit hat.
Meine Damen und Herren, ich bin für jede Diskussion, auch für jeden Streit zu haben. Das ist der Reiz der Demokratie. Wir werden sicherlich noch viel zu streiten haben. Aber, meine Damen und Herren, es wäre gut, wenn es uns in allem Streit, auch in aller harten Auseinandersetzung gelingen würde, einen Konsens über die Grundlage unserer Sozialpolitik herzustellen. Herr Kollege Glombig hat vor wenigen Wochen aufgerufen zu einer neuen Anstrengung, den Konsens herzustellen. Ich habe ihm damals aus der Sicht eines Mitglieds der Oppositionspartei zugestimmt. Inzwischen haben unsere Rollen gewechselt. Ich bleibe bei der Bereitschaft,
bei allem Streit zu versuchen, gemeinsame Grundlagen festzuhalten; denn die Sozialpolitik braucht Sicherheit und Beständigkeit. Sie kann nicht bei jedem Regierungswechsel wieder bei Null beginnen.Ich möchte für meinen Teil als Beitrag unsererseits den Vorschlag zur Diskussion stellen, ob wir uns nicht auf den Weg machen sollten, die soziale Sicherheit, soweit es geht, zu entstaatlichen. Das heißt nicht, sie zu privatisieren, sondern sie der solidarischen Selbsthilfe zu übergeben. Gliederung und Überschaubarkeit schaffen überhaupt erst Spielräume für Selbstverwaltung. Ich finde, der Sozialpolitik kann nichts Besseres passieren, als daß sie von der Hektik eines Gesetzgebers abgehängt wird, der ständig Veränderungen bringt.
Wir müssen — Herr Westphal hat es kritisiert, Herr Apel hat es kritisiert — aus Betroffenen Beteiligte machen. Ich verstehe gar nicht, wie dieser Satz der Kritik würdig sein kann. Das ist die ganze Philosophie der Mitbestimmung, aus Betroffenen Beteiligte zu machen. Das ist die Philosophie der Selbstverwaltung. Wer gegen diesen Satz polemisiert, polemisiert gegen Mitbestimmung und Selbstverwaltung.
Ich glaube nicht an die Allmacht und die Allwissenheit des Staates. Unser Zutrauen zur Lebensklugheit der Betroffenen ist größer als das Zutrauen zur Weisheit des Staates. Wir schätzen die Erfahrungen aus der Praxis mehr als die Kenntnisse der großen Apparate. Sozialpolitik sollte lebensnah sein. Wir wollen eine Sozialpolitik ohne Vormundschaft, eine Sozialpolitik, die den aufrechten Gang ermöglicht, eine Sozialpolitik, die vom Gängelband des Staates abgeschnitten wird.Heute ist es ja so: Der Staat beschließt Gesetze und die Sozialversicherung bezahlt sie. Das ist die bequemste Arbeitsteilung. Wir wollen, daß Kompetenz und Konsequenz wieder vereint werden,
daß diejenigen, die die Kompetenz haben, auch die Konsequenzen tragen müssen.
Deshalb werden wir die Trennlinien zwischen staatlichen Aufgaben und Aufgaben der Sozialversicherung schärfer ziehen. Wenn der Staat, der Gesetzgeber, aus Zweckmäßigkeitsgründen der Sozialversicherung Aufgaben überträgt, muß er das Geld mitliefern; oder er muß, wenn er das Geld nicht hat, darauf verzichten, diese Aufgaben abzugeben.
Wir wollen die Beziehungen zwischen Staat und Sozialversicherung und zwischen den Sozialversicherungen auf verläßliche Kriterien gründen, auf verläßliche Kriterien, die gegen Manipulation geschützt sind. Deshalb ändern wir die Bemessungsgrundlage in der Arbeitslosenversicherung, für die Berechnung der Rentenversicherungsbeiträge; Sie sollen sich an der Höhe des Arbeitslosengeldes orientieren. Es ist nicht eine Bemessungsgrundlage, die von Rechenkünstlern erfunden wurde, sondern eine Bemessungsgrundlage, die in der Sache gerechtfertigt ist. Wir wollen die Lohnersatzfunktion in allen Sozialversicherungsbereichen als den Orientierungsmaßstab nehmen, nach dem Leistungen an andere Versicherungen bemessen werden.Wir wollen das gegliederte System aufrechterhalten und wollen im gegliederten System einen Wettbewerb der Sparsamkeit, einen Wettbewerb der Ideen initiieren. Dazu ist es notwendig, daß sparsame Haushaltsführung auch honoriert wird. Ein überdimensionierter Finanzausgleich zwischen verschiedenen Kassen nimmt der Selbstverwaltung den Spaß am Sparen;
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7424 Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 123. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. Oktober 1982
Bundesminister Dr. Blümdenn sollte sie gespart haben, ist der Finanzklau nicht weit, nimmt das Geld und trägt es zu einer anderen Kasse. Wir wollen ein gegliedertes System der Selbstverwaltung und Selbstverantwortung.Wir werden in der Sozialpolitik das Prinzip „Leistungsgerechtigkeit" stärken. Wo immer es Spielräume für das Prinzip „Leistung für Gegenleistung" gibt, werden wir diese Spielräume erweitern.
Das ist in der Rentenversicherung so, und es wird auch beim Arbeitslosengeld so sein, weil ich denke, dies ist nicht nur ein Unterschied in Mark und Pfennig, sondern dies ist ein Unterschied in Sachen Selbstachtung der Empfänger von Sozialleistungen. Denn es macht einen großen Unterschied aus, ob die Sozialleistungen als staatliches Geschenk oder als Gegenleistung für eigene Leistung angesehen werden.
Auch deshalb werden wir diesem Leistungsgedanken Rechnung tragen und werden die Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes nach der Dauer der Beitragsleistung bemessen. Auch hier gilt das Prinzip: Wer mehr geleistet, also länger gezahlt hat, kann auch länger Arbeitslosengeld beziehen.Lassen Sie mich noch ein paar Worte zum Thema „Mißbrauch", das j a sehr aktuell ist,
sagen. Ich warne uns alle davor, mit Kollektivurteilen zu arbeiten. Unser Volk ist kein Volk von Kriminellen, kein Volk derjenigen, die Mißbrauch üben. Mißbrauch ist die Ausnahme. Dennoch muß der Mißbrauch bekämpft werden, denn in Zeiten knapper Kassen ist er doppelt herausfordernd. Mißbrauch der Sozialversicherung ist Diebstahl an den Kollegen.
Wir wollen den Mißbrauch treffsicher bekämpfen, aber nicht alle über einen Kamm scheren. Deshalb scheint uns der Vertrauensarzt die beste Institution zu sein, wenn es darum geht, Mißbrauch in der Krankenversicherung zu bekämpfen.Unser Mißbrauchsverdacht richtet sich gegen jedermann. Alle sind Menschen, und überall gibt es die Ausnahme des Mißbrauchs. Deshalb werden wir auch Ärzte, die Gefälligkeitsatteste ausstellen, mit Bußgeldern belegen.
Auch hier arbeiten wir nicht mit Kollektivurteilen,
weil auch wir wissen, daß dies die Ausnahme ist.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich das Thema „Mißbrauch" ausweiten. Ich halte Aussteiger für Ausbeuter. Aussteiger, die sich die Philosophie zurechtlegen, sie seien Selbstversorger, müssensich die Frage der Arbeiter gefallen lassen: Und wer soll die Rentner mitversorgen,
wer soll die Behinderten mitversorgen?
Wenn jeder nur noch für sich selbst sorgt, gibt es keine Mitmenschlichkeit, gibt es keine Solidarität, gibt es keine Hilfe für die Schwachen. Wenn diese Aussteigerphilosophie noch mit der Sicherheit vorgetragen werden kann, daß im Notfall der Rettungswagen der Sozialhilfe bereitsteht, erweist sie sich als doppelt und dreifach egoistisch, selbst wenn sie mit hohem sozialen Pathos vorgetragen wird.Ein weiterer Punkt unserer Sozialpolitik wird die Differenzierung sein. Ich glaube, für Uniformierung besteht weder Nachfrage noch Nachschub. Wir werden die Arbeitszeitordnung so gestalten, daß mehr Wahlmöglichkeiten für den einzelnen enthalten sind. Wir können den technischen Fortschritt auch zur Individualisierung von Arbeitszeiten nutzen. Wenn einer nur vier Stunden arbeiten will, warum zwingen wir den zu einem Acht-Stunden-Arbeitstag? Wenn einer mit 60 in die Rente gehen will, warum nicht? Er muß nur bereit sein, dieses frühzeitige Ausscheiden nicht der Rentenversicherung zu übertragen; denn sonst würde der 65jährige Arbeiter dem 60jährigen Rentner die Rente bezahlen.
Wir werden die Politik der Eigentumsbildung verstärken, weil wir darin Eigenverantwortung sehen, auch ein Instrument der Machtverteilung, und weil wir glauben, wenn wir an Investitionen interessiert sind — und wir sind interessiert —, dann dürfen nicht nur die investieren, die bisher immer investiert haben, sondern auch diejenigen, die es bisher nicht konnten. Insofern ist die Vermögensbildung in Arbeitnehmerhand auch ein Akt der Balance zu dem, was wir als Investitionsanleihe anbieten.Meine Damen und Herren, soziale Verantwortung, wie wir sie verstehen, kann keine Gesellschaft ertragen, in der alles von den anderen geleistet wird. Schuld und Versagen zu eliminieren ist kein menschlicher Fortschritt, Fehler dürfen nicht belohnt werden, sonst lohnt sich Anstrengung nicht mehr. Anstrengung und Leistung dürfen allerdings nicht auf den Erwerb, auf die herkömmliche Arbeit beschränkt werden. Was die Mutter zur Erziehung leistet, ist eine ebenso hohe Arbeitsleistung wie jede andere. Deshalb werden wir, wenn wir eine Rentenreform durchführen, sie nur dann mit dem Wort Reform belegen können, wenn wir auch die Erziehungszeiten berücksichtigen.
Wir versprechen nichts; wo kein Geld ist, können wir keine weiteren Schritte unternehmen. Ich warne vor einer Politik des Etikettenschwindels. Reform ist nur Reform, wenn in der Tat das Unrecht gegenüber jenen Mitbürgerinnen beseitigt wird, die Kinder erzogen haben, deshalb nicht erwerbstätig werden konnten und im Alter häufig in
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Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 123. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. Oktober 1982 7425
Bundesminister Dr. Blümdie Sozialhilfe abrutschen. Das ist ungerecht, und das werden wir beseitigen müssen.
Ich will meinen Dank an all diejenigen richten, die ehrenamtlich den Sozialstaat stützen. Was wäre der Sozialstaat ohne die „Amateure"?! Der heilige Martinus hatte nicht erst Verteilungstheorie studiert, bevor er seinen Mantel teilte.
Er war ein Amateur der Nächstenliebe. Wir brauchen mehr Amateure. Ich bedanke mich bei all den freiwilligen Helfern.
— Ich weiß, Sie haben es immer gerne in Kolonnen, beamtet und auf Planstellen. So sind wir eigentlich nicht.
Ich bedanke mich bei allen in den Behindertenverbänden, beim Roten Kreuz, bei der Freiwilligen Feuerwehr usw. Ich denke, es ist schon Zeit, auch in der herkömmlichen Sozialpolitik über die Leistungen derjenigen zu reden, die in der Reichsversicherungsordnung nicht auftauchen und dennoch für unseren Sozialstaat wichtig sind.
Wir werden noch mehr Zeit und Gelegenheit haben, dieses Thema zu vertiefen.Lassen Sie mich schließen. Ich sehe für die Entscheidung der Wähler in der Wahl, die uns bevorsteht, die Möglichkeit zu unterscheiden, nicht in der dritten Stelle hinter dem Komma, sondern zwischen zwei Wegen: Eine Politik der Geschenke oder der Opfer. Es ist neu, daß wir ohne Geschenkversprechungen in den Wahlkampf gehen. Wir sind die erste Regierung, die in einen Wahlkampf geht und dem Wähler Opfer zumutet. Ich bin sicher, die Wähler sind so aufgeklärt, daß sie wissen, daß Versprechungen, denen keine Leistungen folgen, blauer Dunst sind, und von blauem Dunst halten sie so wenig wie von der roten Fahne.
Erst die Wahrheit wird uns handlungsfähig machen. Wir haben nicht nur Geld eingesammelt, sondern die Türen für eine sozialpolitische Perspektive aufgestoßen. Die Krise ist kein Naturschicksal, die Krise ist gemacht. Deshalb können wir ihr auch ein Ende machen, wenn alle mitmachen.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Glombig.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich weiß nicht, ob es Ihnen so geht wie mir.
Ich bin maßlos enttäuscht,
maßlos enttäuscht darüber, daß Herr Blüm eine Chance versäumt hat,
die er heute hier bekommen hat. Ich habe mir schon mehrmals die Frage gestellt, wie eigentlich der neue Bundeskanzler auf die Idee kommen konnte, Herrn Blüm zum Arbeitsminister zu machen.
— Ich fand das gar keine gute Idee.
— Herr Blüm entlarvt sich jeden Tag selber neu.
Er stolpert über jede Fernsehkamera, er redet in jede Fernsehkamera das hinein, was ihm gerade einfällt, und das ist nicht das Beste.
Dies ist keine Sozialpolitik, dies ist schon mehr eine Krankheit.
— Zur Sache sollte an sich Herr Blüm sprechen. Ich spreche gleich zur Sache, im Gegensatz zu Herrn Blüm; Sie werden das erleben. Ich wollte nur zum Ausdruck bringen, daß Herr Blüm zur Sache eigentlich noch nie etwas beigetragen hat,
weder in der Zeit, als er Mitglied des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung war, noch bei einer sonstigen Gelegenheit.Meine Damen und Herren, ein Mann wie Herr Blüm
— meinetwegen auch ein Kerl, wenn Sie das für besonders geschmackvoll halten; ich habe nichts dagegen einzuwenden —, stellt uns die Frage, ob wir die Partei der Arbeitnehmer wären! Ich frage: Wer denn sonst in diesem Lande ist die Partei der Arbeitnehmer?
Die Partei, die Herr Blüm vertritt
— seien Sie doch nicht so aufgeregt —, ist nun ganzgewiß nicht die Partei der Arbeitnehmer in diesem
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7426 Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 123. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. Oktober 1982
GlombigLande. Ich finde, Herr Blüm hat nun wirklich kein Recht, diese Frage an uns zu richten,
nachdem er hier gesprochen hat wie der Präsident der Bundesvereinigung der Arbeitgeberverbände.
Herr Abgeordneter Glombig, darf ich Sie unterbrechen. Ich bitte um Entschuldigung. — Ich darf meinen Hinweis von gestern wiederholen, daß Zwischenrufe selbstverständlich zur parlamentarischen Auseinandersetzung gehören. Wenn aber die Zwischenrufe zu häufig sind, müssen sie als störend empfunden werden, und — was der große Nachteil ist — der Redner kann beim besten Willen nicht auf die Zwischenrufe eingehen. Es sollte aber doch eigentlich der Sinn der Zwischenrufe sein, daß der Redner darauf reagiert, wenn er will. Ich bitte Sie alle, sich vielleicht nach dieser alten Spielregel zu richten.
Herr Präsident, ich danke Ihnen. Ich werde natürlich nicht auf alle Zwischenrufe eingehen, weil sich das wirklich nicht lohnt.
Ich wollte nur sagen, daß Herr Blüm besonders in der letzten Zeit, aber solange ich ihn kenne, eigentlich immer mit dem Scharm des Außenseiters — so möchte ich das einmal bezeichnen; er ist ja der Erfinder der neuen Mütterlichkeit, beliebt bei den Medien — aufgetreten ist, aber nie etwas zur Sache gesagt hat. Ich finde, nachdem er Arbeitsminister ist, müßte er doch eigentlich mal etwas sagen zu dem Koalitionspapier und zu der Erklärung der Bundesregierung und des Bundeskanzlers. Dies allerdings habe ich hier heute vermißt.
Dies war nun in der Tat so ein Mittelding zwischen Büttenrede und Demagogie.
Herr Abgeordneter Glombig, ich bitte also, hier im parlamentarischen Sprachgebrauch zu bleiben.
Also, ich weiß nicht. Herr Präsident, wenn Sie sagen, dies wäre nicht parlamentarisch, dann nehme ich das zur Kenntnis. Aber wissen Sie,
das, was ich hier an Pausenvorschlägen höre von Herrn Blüm —, dafür hatte ich schon ein Wort auf den Lippen. Ich werde es mir versagen.
Aber der Hinweis auf das „Pausenmännchen" desKollegen Ehmke von vorgestern ist das mindeste,was wir in diesem Zusammenhang dem Herrn Blüm hier als Prädikat ausstellen können.
Wenn Herr Blüm uns Pausen anempfiehlt und auch hier von Erholungspausen spricht, meine ich, ihm müßte nun vor allem eine Erholungspause im Sinne einer Denkpause von seinem Bundeskanzler verordnet werden. Dies fehlt ihm nämlich. Ich glaube, wir sollten ihm die Möglichkeit geben, einmal nachzudenken.
— Ach, wissen Sie, mein Konzept kommt noch. Haben Sie mal gar keine Eile.Ich wollte mich erst einmal mit dem auseinandersetzen, was Herr Blüm hier zu den Gewerkschaften gesagt hat. Er hat Herrn Hauenschild zitiert. In demselben Interview hat dieser Herr Hauenschild auch Herrn Blüm getadelt. Ich will Ihnen das einmal zu Gehör bringen, weil ich meine, daß nur dann ein vollständiger Überblick über das Interview gegeben ist.Frage: Glauben Sie, daß man die Arbeitnehmer gewinnen könnte, daß man bei ihnen Verständnis für die Forderung finden könnte, wie sie jetzt vom neuen Arbeitsminister Blüm gekommen ist, man soll die Lohnerhöhung im nächsten Jahr um sechs Monate verschieben? — Herr Hauenschild: Ich begreife nicht, wie Norbert Blüm auf diese Idee gekommen ist. Wenn er versucht, sich damit zu profilieren — und das ist ja ein solcher Versuch —, dann hätte es ihm besser angestanden, die Arbeitgeber aufzufordern, einmal ihre Tabu-Kataloge für zwei oder drei Jahre zu vergessen und in bestimmten Bereichen mit uns pragmatische und vernünftige Lösungen zu finden. Außerdem ist so etwas strategisch auch ganz unklug. Wir haben einmal eine Zeit gehabt, da gab es so etwas wie Lohnleitlinien, die regelmäßig von den Arbeitnehmern so verstanden wurden, daß der gewerkschaftliche Tariferfolg erst begann oberhalb dieser Lohnleitlinien. Wenn er wirklich bewirkt haben wollte, daß die Gewerkschaften eine zurückhaltende Tarifrunde im nächsten Jahr machen, dann hat er damit ganz sicher einen Rohrkrepierer ins Rohr geschoben.Ich finde, daß zu der Forderung von Herrn Blüm nun auch die Gewerkschaften hier an dieser Stelle zu Wort kommen sollten.Meine Damen und Herren, Herr Blüm hat am 22. Februar 1976 — dies ist in der Tat lange her; aber daran sollten wir ihn auch heute noch messen — im Saarländischen Rundfunk gesagt: Gewerkschaften, die sich von einer Regierung so beschlagnahmen lassen, so ins Schlepptau nehmen lassen, verraten Arbeitnehmerinteressen. Heute fordert er die Gewerkschaften auf, ein halbes Jahr auf Lohnforderungen zu verzichten. Was ist das anderes, meine Damen und Herren, als die Aufforderung an die Gewerkschaften, sich von der Regierung ins
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Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 123. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. Oktober 1982 7427
GlombigSchlepptau nehmen zu lassen und die Arbeitnehmerinteressen zu verraten?
— Ich zitiere Herrn Blüm in dem Zusammenhang.
In seiner sogenannten Bestandsaufnahme hat Bundeskanzler Kohl die sozialpolitische Landschaft der Bundesrepublik mit düsteren Farben gemalt. Herr Blüm hat das hier wiederholt und versucht zu unterstreichen. Das ist aus der Interessenlage des Bundeskanzlers und aus der Interessenlage von Herrn Blüm durchaus verständlich. Sie wollen die objektiven Schwierigkeiten, die bestehen und die von uns gar nicht bestritten werden, mit denen wir es zu tun hatten und mit denen Sie es zu tun haben werden, vorsorglich der SPD als ihr Versagen in die Schuhe schieben,
um sich später für eigenes Versagen entschuldigen zu können. Dies ist der Sinn. Der Herr Bundeskanzler und auch Herr Blüm müßten nur allzugut wissen, daß die Regierung der neuen Koalition ohne jede Planung, ohne gründliche Analyse, ohne solide Rechnungen und ohne klare Entscheidungen an die Arbeit gegangen ist und geht.
— Herr Blüm sitzt gar nicht mehr auf der Bank; oder doch noch?
— Ja, gut.Meine Damen und Herren, Ihre Regierung ist doch schon jetzt ratlos.
Daß sie ratlos ist, hat doch die Rede von Herrn Blüm ganz deutlich gezeigt.
Es zeigt sich doch schon, wenn ich das einmal so nennen darf, an den Nachverschlimmerungen in den letzten 14 Tagen beim Kindergeld, beim Beitrag zur Krankenversicherung der Rentner — ich komme darauf noch —, daß Ihre Ratlosigkeit wirklich sehr groß ist.
— Ja, ja, das habe ich mir gedacht. Aber dies hat mit der Erbschaft nur sehr, sehr bedingt etwas zu tun.
Diese Regierung, Herr Kollege, braucht, wie Ihr Arbeitsminister Blüm es ausgedrückt hat, eine Atempause, noch bevor sie an den Start geht — sie ist uns hier von Ihnen verordnet worden —, d. h. eine Atempause, bevor es überhaupt richtig losgeht — von Seiten dieser Regierung.
— Weil der Mißerfolg Ihrer Sozialpolitik vorprogrammiert ist, suchen Sie schon jetzt den Ausweg in der Schuldzuweisung an die Sozialdemokraten.
Dies ist ja nun ganz deutlich geworden. Aber weder die Bestandsaufnahme noch die Schuldzuweisung, die Sie versucht haben, ist richtig.
In Ihrem neuen Amte, Herr Blüm, werden Sie wohl auch häufig ins Ausland kommen. Da werden auch Sie erkennen, daß wir es mit einer internationalen Wirtschaftskrise zu tun haben, die an Schwere nur noch von der großen Depression Anfang der dreißiger Jahre übertroffen wird und die natürlich ihre Auswirkungen auf die soziale Sicherheit und ihre Systeme nicht nur in diesem Lande, sondern in allen Ländern der westlichen Welt, in allen Industrieländern haben muß.
Tatsache ist, daß kein vergleichbares Industrieland diese Krise so gut gemeistert hat — das ist hier schon des öfteren gesagt worden; ich unterstreiche das noch einmal — wie die Bundesrepublik.
Nirgendwo ist es besser gelungen, vor allem die sozialen Sicherungssysteme, von denen hier die Rede ist, durch schwierige Zeiten hindurchzusteuern. Die neue Koalition übernimmt — dies sage ich im vollen Bewußtsein dessen, was ich sage — die Verantwortung in einem Zeitpunkt, zu dem das soziale Netz in allen seinen Teilen voll funktionsfähig ist.
In der Vergangenheit waren Einschränkungen notwendig. Aber nirgendwo ist die Substanz angetastet worden. Dies wird nun mit Ihrer Regierung grundsätzlich anders.
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7428 Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 123. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. Oktober 1982
Glombig— Ja, Sie haben das Koalitionspapier wohl noch gar nicht gelesen und sich sicherlich auch die Regierungserklärung des Bundeskanzlers nicht genau angehört; sonst würden Sie doch nicht dauernd fragen: Was? —
Also, ich werde versuchen, Ihnen das zu beweisen.
Diese Feststellung, die ich hier soeben getroffen habe, meine Damen und Herren, darf in der Schlußbilanz der sozialdemokratischen Regierungsverantwortung ebensowenig fehlen wie in der Eröffnungsbilanz der neuen Koalition oder der neuen Regierung. Wenn der Herr Bundeskanzler und Herr Blüm und Ihre Koalition die Substanz des Sozialstaats antasten wollen — und das wollen Sie —, dann ist das Ihre Entscheidung, die Sie selbst verantworten müssen und die Sie nun nicht der Sozialdemokratie zuschieben können.
— Dies ist eine Behauptung, die Sie bis heute nicht bewiesen haben.
— Ich komme auf die 2 Millionen Arbeitslosen und auch darauf zu sprechen, wie viele zusätzliche Arbeitslose durch Ihre Maßnahmen produziert werden.
— Gewiß kann Sozialpolitik heute nicht mehr, Herr Kollege Kiechle, wie ehedem, wie zu Beginn der 60er Jahre, betrieben werden. Dies haben wir längst begriffen; da brauchen wir von Ihnen gar keinen Nachhilfeunterricht. Natürlich ist es notwendig, die soziale Sicherung an veränderte ökonomische Rahmenbedingungen anzupassen. Immer wieder haben wir das gesagt. Wenn jetzt aber die gesamte sozialpolitische Entwicklung der Jahre seit 1969 — darum geht es hier eigentlich — als Fehlentwicklung dargestellt wird, die uns angelastet werden soll, mit der die CDU/CSU, aber auch die FDP nicht das geringste zu tun haben wollen, dann ist das eine Irreführung; und die versuchen Sie.
Wir werden jedenfalls nicht zulassen, daß Sie Ihre zukünftige Sozialpolitik auf einer solchen Lebenslüge — hoffentlich ist dieser Ausdruck nicht unparlamentarisch — aufbauen.Seit 1969 hat es keine sozialpolitische Leistungsverbesserung gegeben, der Sie nicht zugestimmt haben. Ich meine hier nicht nur die CDU/CSU, sondern auch die FDP. In den ersten Jahren der sozialliberalen Koalition gab es kaum ein Leistungsverbesserungsgesetz, zu dem Sie als damalige CDU/CSU-Opposition im Bundestag und im Bundesrat nicht ausgabenwirksame Zusatzanträge in Millionen- und Milliardenhöhe gestellt haben.Zum Beispiel gab es zum Rentenreformgesetz 1972 die Forderung nach der Möglichkeit der Inanspruchnahme einer Rente im Rahmen der flexiblen Altersgrenze neben vollem Arbeitsverdienst, und heute wollen Sie versicherungmathematische Abschläge bei Inanspruchnahme des flexiblen Altersruhegeldes. Das ist der Unterschied, das ist die Wandlung in Ihrer Auffassung zu den sozialpolitischen Problemen.
Die Kosten Ihrer Forderung hätten, wenn wir sie erfüllt hätten, bis zum Jahre 1986 zirka 10,6 Milliarden DM betragen. Sie haben das zuerst durchgesetzt, und dann haben wir das mit dem Vierten Rentenversicherungsänderungsgesetz wieder zurückgenommen. Sonst hätten wir diese Mehrkosten im Bereich der sozialen Sicherung gehabt.Damals im Jahre 1972 haben Sie die Vorziehung der Rentenanpassung um ein halbes Jahr gefordert, und heute fordern Sie, daß die Rentenanpassung ein halbes Jahr hinausgeschoben wird. Bis 1986 wären Kosten von zirka 84 Milliarden DM entstanden. Von uns ist das mit dem Einundzwanzigsten Rentenanpassungsgesetz 1978 zurückgenommen worden. Die Kosten, die bis dahin entstanden sind, betragen immerhin 28 Milliarden DM. Dies ist nur eine Kostprobe der Dinge, die Sie zusätzlich gefordert haben und die das alles noch finanziell aufgeplustert haben.In den Jahren seit 1975 gab es keine Anstrengung der SPD in der sozialliberalen Koalition, die sozialen Sicherungssysteme zu konsolidieren, der Sie nicht widersprochen haben, ohne irgendwelche seriösen und konrekten Alternativen vorzuweisen. Das gab es nicht in einem Falle, auch nicht durch Herrn Blüm. Seit 1969 gab es keine notwendige Staatsverschuldung, die groß genug war, um Sie von Ihren ständigen Forderungen nach Steuerentlastung, insbsondere für die Besserverdienenden, abzubringen, hier allerdings vortrefflich assistiert von unserem ehemaligen FDP-Koalitionspartner.In all den Jahren, in denen die Sozialdemokraten die Sozialpolitik maßgeblich gestaltet haben, gab es keine Zahlen, keine Prognosen über die zukünftige Einnahmen- und Ausgabenentwicklung, die nicht immer auch Ihnen als damalige Opposition zugänglich gewesen wären. Sie kannten das Sozialbudget, die Finanzpläne, die Rentenanpassungsberichte, die Sachverständigengutachten, die Bevölkerungsprognosen, die Rechnungen der Versicherungsträger und die Arbeiten der Forschungsinstitute.
Es ist unseriös, meine Damen und Herren, nachträglich den Eindruck zu erwecken, als hätten Siesich erst durch einen Kassensturz bei der Regie-
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Glombigrungsübernahme ein Urteil über die wahre Lage bilden können.
Tatsache ist also, daß nicht nur unser ehemaliger FDP-Koalitionspartner, sondern auch die Union in ihrer Zeit als Opposition für die Sozialpolitik Mitverantwortung getragen haben und natürlich weiter tragen müssen. Wären wir Ihrer Oppositionspolitik gefolgt, dann wären die Sozialausgaben heute wesentlich höher, die Einnahmen der öffentlichen Haushalte wesentlich geringer und ihre Defizite um ein Vielfaches größer.Heute stellen sich die Union, aber auch die FDP, jedenfalls Teile der FDP, auf den Standpunkt, daß der Ausbau des Sozialstaats zu weit getrieben worden sei, daß dadurch die Selbstverantwortung geschwächt und die Antriebskräfte der Wirtschaft gebremst worden seien. Jetzt soll ein grundsätzlicher Kurswechsel vorgenommen werden. Damit kündigen CDU/CSU und FDP — das ist unsere Befürchtung; einer unserer Redner hat das bereits gestern zum Ausdruck gebracht — den sozialstaatlichen Konsens auf, und zwar den sozialstaatlichen Konsens, der die Bundestagsparteien seit 1949 verbunden und die sozialpolitische Entwicklung der Bundesrepublik und den sozialen Frieden in diesem Land überhaupt erst ermöglicht hat.Jetzt stufen Sie den Ausbau des Sozialstaats, der sich in den vergangenen Jahrzehnten vollzogen hat, einfach als Fehlentwicklung ein. Damit bestätigen Sie die Vermutung, daß Sie künftig die Umverteilung von unten nach oben — das ist j a Ihr besonderes Anliegen — zum Hauptinstrument Ihrer Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik machen wollen. Sie wollen das Anspruchsdenken der Großen fördern — wenn ich das einmal so ausdrücken darf — und gleichzeitig den Kleinen Anspruchslosigkeit verordnen. Sie wollen den Mächtigen und Reichen Ellbogenfreiheit verschaffen und die breite Mehrheit des Volkes darauf vertrösten, daß irgendwann und irgendwie auch einmal etwas für sie von dem Segen abfällt.Das ist jedenfalls der Eindruck, den die Lektüre des Koalitionsvertrages zwischen CDU/CSU und FDP vermittelt. Das Koalitionspapier kann nur als Einstieg in die Verwirklichung des Lambsdorff-Papiers gewertet werden. Die Regierungserklärung und die zahlreichen flotten Sprüche von Herrn Blüm, die er auch hier heute wieder von sich gegeben hat und mit denen der neue Arbeitsminister vor allem auch in den letzten Tagen versucht hat, Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, haben diesen Eindruck immer wieder bestätigt.Beim Hin- und Herwälzen des Koalitionsvertrags oder aber der Regierungserklärung ist keine andere Linie zu erkennen als die Bereitschaft zur rücksichtslosen Kürzung im sozialen Netz und die völlige Gleichgültigkeit gegenüber den Anforderungen sozialer Gerechtigkeit. Es ist kein anderes Ziel erkennbar, als der Wunsch, sozial Schwache zu belasten und die Reichen zu schonen oder gar noch zusätzlich zu bedienen. Daran ändern auch die gegenteiligen Beteuerungen von Herrn Stoltenberg und Herrn Blüm nichts.Nun muß man sich vor Augen halten, meine Damen und Herren, was die neuen Beschlüsse z. B. für die Rentner bedeuten werden. Die Rentenanpassung wird auf den 1. Juli verschoben. Das allein führt auf Dauer zu einer erheblichen Senkung des Rentenniveaus. Der Krankenversicherungsbeitrag soll, wie wir vorgestern zu unserem Erstaunen aus der Regierungserklärung erfahren haben, ab 1. Juli 1983 auf 3 % und ein Jahr später auf 5 % festgelegt werden.
— Ich glaube, es lohnt sich schon, hier zuzuhören, weil dies die Auswirkungen sind, mit denen wir es zu tun haben.Also statt 1 °A) ab 1. Januar 1983 wird es unter dieser Regierung am 1. Juli 1983 3 %
— 3 % — und dann im kommenden Jahr 5 % Krankenversicherungsbeitrag geben. Dies steht in der Regierungserklärung. Und das ist das, was für die Rentner angekündigt ist.
Das heißt also: 3 % im nächsten Jahr und 5 % bereits im darauffolgenden Jahr. Das ist die Veränderung, die in der Regierungserklärung steht und die ich nachzulesen bitte.Die effektive Rentenerhöhung wird dann unter Berücksichtigung der Terminverschiebung nominell nicht einmal 2 % betragen. Das wird dann weniger sein als die voraussichtliche Steigerung der Nettolöhne und auf jeden Fall zu einem spürbaren Kaufkraftverlust führen.Nach den großen Worten, die Herr Blüm hier von sich gegeben hat, finde ich, ist das besonders interessant. Er hat behauptet, die Verarmung dieses Volkes, die Verarmung der Arbeitnehmer und der Rentner wäre vor allem auf die Politik der sozialliberalen Koalition — damit meint er natürlich auch die FDP, aber vor allem die Sozialdemokraten — zurückzuführen. Ich möchte wissen, wo diese Verarmung festzustellen ist.
Aber sie wird auf Grund dieser Sozialpolitik der neuen Koalition kommen. Die geplanten versicherungsmathematischen Abschläge, meine Damen und Herren, von denen Herr Blüm hier gesprochen hat, führen dazu, daß die Rente — ich sage das mal so — zum Luxusgut für Besserverdienende wird, weil jedes Jahr früheren Rentenbezugs zu einer 5 %igen Rentenkürzung — Herr Lambsdorff hat gestern sogar von einer 7 %igen Rentenkürzung gesprochen — führen muß, ganz abgesehen davon, daß der Rente dann eine geringere Zahl von Versicherungsjahren zugrunde liegt und es sich von da-
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7430 Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 123. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. Oktober 1982
Glombigher um eine doppelt wirkende Maßnahme handeln wird.Bei Rentenbezug mit Erreichen des 60. Lebensjahres, was allgemein vorgesehen ist, ergibt das dann 25 % Rentenkürzung, wenn der Bezugspunkt für die versicherungsmathematischen Abschläge beim 65. Lebensjahr angesetzt wird. Die angekündigte Herabsetzung der Altersgrenze ist, so sage ich, ein unseriöses Lockangebot; denn für diejenigen Versicherten, die heute bereits vor dem 65. Lebensjahr ihre Rente beziehen können, bedeuten die Abschläge eine massive Kürzung ihrer Altersversorgung.Die weitere Kürzung der Rentenversicherungsbeiträge, die von der Bundesanstalt für Arbeit übernommen werden — statt 70 % vom Brutto werden 68 % vom Netto des letzten Arbeitseinkommens zugrunde gelegt —, führt dazu, daß die späteren Rentenansprüche von Arbeitslosen in unvertretbarer Weise geschmälert werden. Sie werden unweigerlich gezwungen sein, auch die Ausfallzeiten in der Rentenversicherung für Arbeitslosigkeit sowie andere beitragslose Zeiten entsprechend niedriger zu bewerten und die Tabellenwerte herabzusetzen, wenngleich dieses Problem in der Regierungserklärung und in dem Koalitionspapier überhaupt nicht angesprochen worden ist.Weist also die Biographie eines Versicherten fünf beitragslose Jahre auf, so kann die Rentenkürzung schließlich 80 bis 100 DM im Monat ausmachen, zusätzlich zu den bereits genannten Verschlechterungen.Durch die zusätzliche Kürzung der Rentenversicherungsbeiträge der Bundesanstalt für Arbeit und des Bundeszuschusses entziehen Sie der Rentenversicherung Einnahmen in der Größenordnung von jährlich über 3 Milliarden DM. Davon war ich, jedenfalls bisher, ausgegangen.
Aber ich habe inzwischen festgestellt, daß wir auf Grund der Entwicklung der Arbeitslosigkeit bei der Herabsetzung der Bemessungsgrundlage für die Beiträge zur Rentenversicherung damit rechnen müssen, daß der Fehlbetrag auf Grund Ihrer Maßnahmen sehr schnell bei über 5 Milliarden DM liegen wird. Ich habe den Eindruck, daß Sie die Absicht haben, hier den Ausgleich über die Kürzung des Beitrags der Rentenversicherung an die Krankenversicherung für die Rentner herbeizuführen und dies durch die unsoziale Kostenbeteiligung auszugleichen, obwohl Sie sonst ja wohl bereits eine Überkonsolidierung in der gesetzlichen Krankenversicherung festzustellen hätten.Außerdem werden viele Rentner von den Kürzungen beim Wohngeld betroffen. Darüber hinaus werden gerade die einkommensschwachen Haushalte die von Ihnen beabsichtigte Demontage des sozialen Mietrechts besonders spüren.Wenn ein Rentner nach all dem schließlich durch die Summe von Rentenkürzungen, versicherungsmathematischen Abschlägen, verringerten Anpassungen, Mieterhöhungen und Wohngeldkürzungen die Sozialhilfe in Anspruch nehmen muß, dann wird er von den wahrhaft skandalösen Kürzungen der Sozialhilfe betroffen, die Sie angekündigt haben.
Bei einer voraussichtlichen Steigerung der Lebenshaltungskosten um 5 %, zu denen noch die Auswirkungen der beabsichtigten Mehrwertsteuererhöhung hinzukommen werden, wollen Sie die Regelsätze — dies ist hier schon wiederholt angesprochen worden, aber ich möchte es noch einmal besonders unterstreichen — nur noch um 2 % erhöhen. Außerdem wollen Sie den Anpassungstermin auch hier um ein halbes Jahr verschieben. Schließlich wollen Sie auch noch den Warenkorb verschlechtern, welcher der Berechnung des Sozialhilferegelsatzes zugrunde liegt.Dies ist eine besondere Art, die Neue Soziale Frage, die von Herrn Geißler kreiert worden ist, zu beantworten, und zwar ironischerweise jetzt in seiner neuen Eigenschaft als Bundesminister für Jugend, Familie und Gesundheit.
— Wir haben gestern gehört, daß er zwar ehrenamtlicher Generalsekretär ist, aber aus Steuermitteln finanziert wird.
— So ist es doch.Dies ist die angebliche Politik der sozialen Ausgewogenheit der neuen Koalition mit ihren verheerenden Auswirkungen auch für die Binnennachfrage und für die Verteilungsgerechtigkeit.Gerade die angekündigte Sozialpolitik der neuen Regierung zeigt, woher der Wind weht, meine Damen und Herren. Wir Sozialdemokraten sehen darin einen zentralen Angriff auf das Sozialstaatsprinzip.
Wenn Sie es mit dem Sozialstaatsprinzip ernst meinen und die Sozialhilfe eine Lebenshaltung ermöglichen soll, die der Würde des Menschen entspricht — und das sollte sie ja eigentlich —, dann kann diese Würde des Menschen nicht je nach Konjunktur- und Kassenlage herunterdefiniert werden, so, wie Sie das hier nicht nur mit diesem Ansatz, sondern auch mit Ihren Bemühungen zur Änderung des Bundessozialhilfegesetzes im Zusammenhang mit dem Zweiten Haushaltsstrukturgesetz im vorigen Jahr getan haben.
Genau dies tun Sie, obwohl Sie, Herr Bundeskanzler, in Ihrer Regierungserklärung es als das Ziel Ihrer Sozialpolitik bezeichnet haben, die sozialen Leistungen auf die wirklich Hilfsbedürftigen zu konzentrieren. Dies war doch eine Ihrer zentralen Aussagen in der Regierungserklärung: Sie wollten
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Glombigdie Hilfe auf die wirklich Hilfsbedürftigen konzentrieren.
Was hier geschehen soll, ist ein Skandal für eine Partei, die sich so gern auf die Tradition der christlichen Soziallehre beruft und die, wie gesagt, vor wenigen Jahren die Neue Soziale Frage erfunden hat.Man muß sich wohl die Frage stellen: Wie ernst ist es Ihnen, Herr Bundeskanzler, mit diesen Ankündigungen, die Sozialleistungen auf die wirklich Hilfsbedürftigen zu konzentrieren, wenn Sie das Schüler-BAföG für die Familien mit geringem und mittlerem Einkommen praktisch streichen, die Leistungen für die berufliche Rehabilitation der Behinderten kürzen und bei denjenigen, die häufig wiederkehrend vom Schicksal der Arbeitslosigkeit betroffen sind, die Arbeitslosengeldansprüche vermindern?Wie verträgt es sich mit der sozialen Symmetrie — das ist die weitere Frage —, wenn Sie zwar die unsoziale gesundheitspolitisch widersinnige und finanzpolitisch völlig überflüssige Selbstbeteiligung bei Krankenhausbehandlung und den Kuren — der wir ja bereits am 10. September 1982 eine klare Absage erteilt haben — gesetzlich einführen wollen, die Ärzte, die Zahnärzte und die pharmazeutische Industrie — das ist von diesem Platze aus heute vormittag erneut durch Herrn Blüm geschehen — aber doch im Grunde genommen vollkommen unberührt lassen wollen?
Das ist doch eine Tatsache; denn Sie wollen sich mit unverbindlichen Maßhalteappellen begnügen, haben jedoch nicht vor — das geht eindeutig aus der Regierungserklärung und auch dem Koalitionspapier hervor —, das gesetzlich zu regeln. Doch nur auf diese Art und Weise könnten Sie entscheidend zur Kostendämpfung beitragen.
Mit ihren Sozialleistungskürzungen wird die neue Koalitionsregierung die Beschäftigungssituation nicht verbessern, auch wenn das von dem Vizekanzler immer behauptet wird. Er behauptet ja stets, daß all das, was zur Wende führen mußte und geführt hat, einzig und allein dem Ziel dient, die Beschäftigung in unserem Lande wieder zu stabilisieren, die Arbeitsplätze zu sichern bzw. neue Arbeitsplätze zu schaffen. Ich sage, daß alles das, was an Plänen entwickelt worden ist, weder die Beschäftigungssituation verbessern noch einen Beitrag zur Konsolidierung des sozialen Sicherungssystems leisten wird.Die geplanten Kürzungen werden nach unserer Auffassung vielmehr dazu führen, daß sich die Kaufkraft breiter Bevölkerungsschichten verringert und damit die volkswirtschaftliche Endnachfrage im Konsum erst einmal um 16 Milliarden DM zurückgeht.
Damit gefährdet die konservativ-liberale Bundesregierung weitere 200 000 Arbeitsplätze.
— Das bin ich nicht. Es ist doch klar nachzurechnen, daß Ihre Maßnahmen zu weiteren Freisetzungen von Arbeitskräften im Umfange von mindestens 200 000 führen werden.
— Ich weiß nicht: Haben wir eigentlich eine freie Marktwirtschaft, auf die Sie so stolz sind, oder ist die Bundesregierung für die wirtschaftliche Entwicklung in diesem Lande und der Welt allein verantwortlich? Sind dafür nicht auch die Landesregierungen und die Wirtschaft verantwortlich?
Aber die rufen nach der Verantwortung des Staats eben nur im Zusammenhang mit Pleiten, aber nicht dann, wenn es z. B. darum geht, auch junge Menschen in dem Umfange einzustellen und auszubilden, wie das notwendig wäre.
Diese konservativ-liberale Bundesregierung provoziert mit ihrer Politik zusätzlich Steuer- und Beitragsausfälle sowie höhere Ausgaben für Arbeitslose von insgesamt über 4 Milliarden DM, davon allein 2,8 Milliarden DM bei der Bundesanstalt für Arbeit, die ja nun auch noch zusätzlich neben den Lücken gedeckt werden müssen, die Sie durch Ihre Maßnahmen z. B. in der gesetzlichen Rentenversicherung in Milliardenhöhe aufreißen. Wir stehen also vor dem Einstieg in einen verhängnisvollen Wettlauf zwischen Sozialstaatsabbau und immer neuen Haushaltslücken, und zwar in einer ganz anderen Qualität, die wir noch niemals erlebt haben. Vor einer solchen Weichenstellung können wir Sozialdemokraten nicht genug warnen.Die Regierungserklärung von Herrn Bundeskanzler Kohl erschöpft sich in ihrem sozialpolitischen Teil nahezu vollständig in der Ankündigung von Kürzungen für das Haushaltsjahr 1983. Darüber hinaus enthält sie außer schwammigen Allgemeinplätzen so gut wie keine klaren mittel- und längerfristigen Perspektiven für die Sozialpolitik. Diese Perspektiven hat uns auch Herr Blüm nicht deutlich gemacht.Es wird j a gesagt, dies sei eine Übergangsregierung, die nur bis zum März regieren wolle, die eigentlich nur deswegen gebildet worden sei, um den Bundeshaushalt 1983 vorzulegen und zu verabschieden. Als wenn die alte Koalition einen solchen
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GlombigBundeshaushalt für 1983 nicht hätte vorlegen und verabschieden können!
Auch das ist ein Märchen. So war es ja beileibe nicht.Aber wenn Sie am 6. März gewählt werden wollen, können Sie sich am 6. März doch nicht nur damit vor die Wähler stellen, daß Sie sagen: Wir haben den Haushalt verabschiedet. Sie müßten ihnen doch auch Perspektiven für die Zeit nach dieser Wahl am 6. März 1983 darlegen.
Haben Sie solche Perspektiven gehört? Haben Sie solche Perspektiven lesen können? Ich auf keinen Fall.Das wenige, was Sie an künftigen Entwicklungen oder Entwicklungslinien verdeutlicht haben, mehr noch aber das, was Sie schweigend übergangen haben, bestätigt unsere Vermutung, daß die neue Koalition ihre Sozialpolitik vorwiegend an den Interessen der ohnehin Besserverdienenden oder Bessergestellten orientieren wird, sich einseitig von buchhalterischem Kürzungsdenken leiten lassen wird, drängende soziale Probleme sträflich vernachlässigt und auf viele wichtige Fragen überhaupt keine Antwort hat.Zur Arbeitsmarktpolitik vermissen wir jede konkrete Aussage.
Ich hoffe, daß das im Laufe des Vormittags noch klar werden wird. Der sogenannte Abbau ausbildungshemmender Vorschriften, womit Sie die Verschlechterung des Jugendarbeitsschutzgesetzes und des Schwerbehindertengesetzes meinen, ist der einzige Beitrag. In Wirklichkeit ist dies aber kein Beitrag zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit der Jugendlichen und der Schwerbehinderten.
Zum Problem der Arbeitszeitverkürzung schweigen Sie sich aus. Ich wiederhole: Die Themen Mitbestimmung, Arbeitsschutz, Arbeitsrecht und Kündigungsschutz und der ganze gesellschaftspolitisch zentrale Bereich der Humanisierung des Arbeitslebens scheinen für die neue Koalition überhaupt nicht zu existieren. Sie haben offenbar keinerlei Vorstellung, meine Damen und Herren von der CDU/CSU oder auch von der FDP, welche Maßnahmen ergriffen werden müssen, um unsere Alterssicherung — und zwar nicht nur die gesetzliche Rentenversicherung, sondern auch die anderen Sicherungssysteme, z. B. die Beamtenversorgung — angesichts des wachsenden Anteils älterer Mitbürger in unserer Bevölkerung finanziell zu sichern.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Dies kommt. Im Laufe der Woche hat Herr Blüm gesagt: Dies kommt nicht. Heute wiederum sagt er: Dies kommt. Er weiß bloß nicht, wann, weil die Finanzierung ungeklärt sei. Dies kann ich alles verstehen. Aber ich finde, man hätte erwarten können, daß im Rahmen der Regierungserklärung hierzu etwas konkretere Aussagen gemacht werden.
Denn schließlich haben nicht wir die Regierungserklärung vorgelegt, sondern diese neue Koalition.
— Na Gott, das überlaß mir mal, würde ich sagen.Ich wollte zum Schluß zum Ausdruck bringen — geben Sie mir die Möglichkeit dazu —: Wenn Sie sich den Aufgaben stellen, von denen ich soeben gesprochen habe, werden Sie auf eine parlamentarische Opposition treffen, die die Bewältigung von Sachproblemen wichtiger nimmt als kurzfristige wahltaktische Vorteile.
Dies ist bei uns schon immer so gewesen — im Gegensatz zu Ihnen.
Wir unsererseits werden, anders als Sie es lange Zeit in der Opposition getan haben, uns nicht mit Polemik begnügen. Die Rede von Herrn Blüm war nur aus Polemik zusammengesetzt.
Sie hat nicht einen Funken neuer Erkenntnisse gebracht.
Wir werden unsere eigenen Vorstellungen in parlamentarische Initiativen umsetzen.Wenn Sie aber mit Ihrer Politik so fortfahren, wie Sie sie jetzt begonnen haben, nämlich mit einer Mischung aus eiskalter Kürzungspolitik
und einem scheinheiligen Gerede von Geborgenheit, Mitmenschlichkeit, Subsidiarität, menschlichen Werten und sonstigen abgegriffenen Floskeln, wie wir sie in der Regierungserklärung des Bundeskanzlers gelesen haben, dann werden Sie mit unserem heftigen Widerstand rechnen müssen.
Wir werden dafür sorgen, daß Ihnen diese Art von Sozialpolitik von den Wählern nicht abgenommen wird. Ich erkläre heute im Namen der sozialdemokratischen Bundestagsfraktion, daß unsere Sozialpolitik kontinuierlich fortgesetzt wird. Dies bezieht sich auch auf die vorliegenden Gesetzentwürfe der
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Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 123. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. Oktober 1982 7433
GlombigKoalition — bis auf die beiden Punkte, von denen ich bereits am 10. September gesprochen habe. Mit uns wird es keine Kostenbeteiligung in der gesetzlichen Krankenversicherung geben,
weil diese Kostenbeteiligung einseitig die Kranken belastet, die auf die besondere Solidarität der Versichertengemeinschaft angewiesen sind,
und weil dies eine Wende in der Sozialpolitik bedeuten würde. Dies ist der Anfang. Diesem Anfang wollen wir wehren; denn dies hat mit Konsolidierung weder in der Krankenversicherung noch im Bundeshaushalt jemals etwas zu tun gehabt und hat auch bei Ihnen damit nichts zu tun. Deswegen werden wir es ablehnen.
Meine Damen und Herren, wir werden versuchen, dafür zu sorgen, daß das Schicksal der Arbeitslosigkeit nicht zu einer einseitigen Belastung wiederum der Betroffenen — der Arbeitslosen selbst — wird, indem vor allem die Langzeitarbeitslosen und die häufig Arbeitslosen die Auswirkungen auf ihre Rente allein zu tragen haben.
Deswegen werden wir alles daransetzen, daß diese Auswirkungen für die Arbeitslosen begrenzt werden.Meine Damen und Herren, ich habe Kritik geäußert. Ich hoffe, daß sie sich zumindest im Stil von der Kritik des Herrn Blüm abhob. Daran lag mir. Im Zusammenhang mit der Sozialpolitik kann viel billige Polemik entwickelt werden. Bei dieser Gelegenheit möchte ich an dieser Stelle neben der Kritik, die ich gegenüber CDU/CSU und FDP geäußert habe, den Kollegen von der FDP herzlich danken, mit denen meine Fraktion und ich jahrelang vertrauensvoll, freundschaftlich und kollegial zusammengearbeitet haben, nämlich Hansheinrich Schmidt , Friedrich Hölscher, aber auch Julius Cronenberg — trotz mancher, auch grundlegender Unterschiede der Meinungen. Ich kann Ihnen versichern, daß sich das, was sich zu diesem Teil, aber auch zu anderen Teilen der neuen Koalition an Menschlichem angebahnt hat — mit Ihrer Hilfe — auch aus unserer Rolle als Opposition fortsetzen wird. Dies hoffe ich jedenfalls.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Kroll-Schlüter.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Hochverehrter Herr Kollege Glombig, Sie wissen, daß ich Sie schätze, und Sie wissen, daß auch meine Fraktion Ihre Arbeit und Ihr soziales Engagement würdigt. Wir dürfen aber verlangen, daß Sie mit den Zahlen richtig umgehen und hier keine Unterstellungen vortragen, für die es keine Belege gibt. Es war niemals die CDU/CSU, die aus wahltaktischen Gründen die Wähler vor einer Wahl so hinters Lichtgeführt hat wie der vorige Bundeskanzler Helmut Schmidt die Rentner vor der Wahl 1976.
Es hat nie einen CDU-Bundeskanzler gegeben, der vor einer Wahl die Bürger so hinters Licht geführt hat wie Bundeskanzler Helmut Schmidt vor der Wahl 1980, als er darauf hinwies, die Staatsverschuldung sei nur ein Problemchen, und als sich dann herausstellte, welch abgrundtiefe Verschuldung dieser Staat den Bürgern aufgebürdet hat.
— Mit korrekten Zahlen möchte ich sagen, Herr Kollege Glombig, daß der Krankenversicherungsbeitrag für Rentner ab Mitte nächsten Jahres nicht 2 %, sondern 1% beträgt. Sagen Sie ehrlich: Ist es wirklich dem einzelnen Rentner in dieser Situation nicht zuzumuten, von seiner bruttolohnbezogenen Rente — wie jeder andere auch — einen angemessenen, sozial verträglichen Krankenversicherungsbeitrag zu zahlen? Wir meinen, wir können ihm das— auch aus Gründen der Redlichkeit, der Ehrlichkeit — zumuten.
Meine Damen und Herren, unser ganzes Bemühen gilt dem Kampf gegen die Arbeitslosigkeit. Diese Koalition der Mitte wird diesen Kampf mit Vehemenz und auch mit Erfolg durchstehen, besonders deshalb, weil es auch ein Kampf gegen die Jugendarbeitslosigkeit ist. Denn es ist ein verdammtes Gefühl für junge Menschen, nicht gebraucht zu werden, ein Gefühl, das entsteht, weil sie keinen Arbeits- oder Ausbildungsplatz haben.
Es ist ein verdammtes Gefühl für junge Menschen, vor sich eine verbaute Zukunft zu sehen.
Das ist kein Thema für Wahlkämpfe, sondern ein Thema gemeinsamer Anstrengungen des ganzen Parlaments. Wer hier Polemik macht, hat noch gar nicht begriffen, was die jungen Menschen draußen sagen.Wenn der Herr Kollege Ehmke hier wäre, würde ich ihm sagen, was mir nach seiner Rede eine 17jährige Schülerin gesagt hat, eine Schülerin, die den Grünen zugeneigt ist. Nach der Rede des Kollegen Ehmke hat sie mir gesagt:
Wenn das das Gesicht der SPD ist, wende ich mich davon ab,
denn das hat die Union, die ich auch kritisiere, nicht verdient;
schließlich haben die regiert, ihr müßt jetzt einschweres Erbe übernehmen, und ihr könnt erwar-
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7434 Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 123. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. Oktober 1932
Kroll-Schlüterten, daß dabei die SPD der neuen Regierung einen Teil Unterstützung nicht versagt.
Herr Abgeordneter Kroll-Schlüter, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Herr Kollege Glombig, ich bitte um Nachsicht. Ich habe nur 15 Minuten. Ich habe hier schon Reden nur mit Fragen und Antworten bestritten.
Ich möchte heute wirklich im Zusammenhang darstellen.
Ich bitte Sie herzlich um Nachsicht.
Eine so hohe Staatsverschuldung, wie sie uns die frühere Regierung hinterlassen hat, gleicht doch einer Enteignung junger Menschen. Was sollen diese jungen Menschen morgen oder übermorgen eigentlich noch machen? Sollen sie eigentlich nur Steuern, Abgaben und Zinsen zahlen und Schulden abtragen? Die Menschen von morgen wollen doch auch noch gestalten, sie wollen doch auch noch etwas ausgeben und ihre Vorstellungen verwirklichen können!
Wenn seit Christi Geburt in jeder Sekunde Schulden von 1 DM gemacht worden wären, wäre nicht so viel zusammengekommen, wie Sie in einem einzigen Jahr zusammengebastelt haben.
Es wäre wirklich angebracht, wenn Sie in dieser Stunde bescheidener wären.
Sie sollten wirklich bescheidener werden!
Gehen Sie doch erst einmal in sich und fragen Sie sich, welche Konsequenzen Sie aus diesen 13 Jahren parlamentarisch, politisch, sozialpolitisch wirklich ziehen wollen.
Wir antworten: Wir wollen nicht so viel Staat, nicht so viel direkten politischen Einfluß. Wir wollen einen bescheidenen Staat, der den Bürgern wieder mehr zutraut, damit diese dem Staat wieder mehr vertrauen.
Wir wollen nicht so viel direkten politischen Einfluß, sondern wollen den Bürgern mehr zutrauen und wollen sie auch mehr herausfordern.
Die Frau Kollegin Fuchs gestern und der Herr Kollege Glombig heute haben uns vorgeworfen, wir
würden den Jugendarbeitsschutz reduzieren, würden den Schutz für junge Menschen wegnehmen. Sie haben dafür kein Beispiel gebracht. Wir wollen den Jugendschutz nicht reduzieren. Was uns von Ihnen unterscheidet, ist dies: Wir wollen die jungen Menschen, die Eltern und die Handwerksbetriebe nicht ständig bevormunden. Das wollen wir nicht.
Was für einen Sinn soll es eigentlich haben, wenn junge Menschen morgens um 4 Uhr heraus müssen und mit dem Auto Hunderte von Kilometern fahren müssen, um irgendwo drei Schulstunden zu absolvieren, und dann wieder zurückfahren, es andererseits aber auf einmal nicht mehr sein darf, wenn einer eine Stunde früher in eine Bäckerei soll, weil es betriebsverträglich und nützlich ist?
Das soll auf einmal nicht mehr sein dürfen?
Der Kollege Norbert Blüm hat gesagt: Wir wollen eine Generalklausel. Im Rahmen dieser Generalklausel, die auch eine Schutzklausel ist, sollen sich die Eltern, die Handwerker, die Lehrlinge usw. selbst bewegen. Sie sollen bestimmen, was für die Kinder, für die Ausbildung und für die Betriebe nützlich ist. Wer sagt denn, daß ein Gesetz oder der Staat das besser kann? Wir trauen uns das nicht zu, weil wir den Eltern und den Lehrlingen etwas zutrauen.
Frau Kollegin Fuchs, Sie haben dann vom Zivildienst gesprochen. Nun waren Sie 13 Jahre im Amt — Sie, Frau Fuchs, und Ihre Vorgängerinnen. 13 Jahre lang haben Sie den Menschen gesagt, es sei unerträglich, daß das Gewissen geprüft werde. Diese Doppelzüngigkeit muß einmal aufhören. Das Gewissen wird nicht geprüft, und wir wollen auch nicht das Gewissen prüfen.
Wenn Sie das gesagt haben, haben Sie das Gesetz falsch verstanden. Wir wollen, daß die Gründe für die Gewissensentscheidung geprüft werden.
Wer 13 Jahre lang im Amt war und es nicht fertiggebracht hat, ein neues Gesetz vorzulegen, der hat schlicht und einfach versagt.
Herr Abgeordneter Kroll-Schlüter, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Frau Abgeordneten Fuchs?
Herr Kollege Glombig, Ladies first. Einmal, bitte schön.
Herr Abgeordneter, sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, daß wir dafür lei-
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Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 123. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. Oktober 1982 7435
Frau Fuchsder die Zustimmung des Bundesrates brauchen und er sie uns immer verweigert hat?
Frau Kollegin Fuchs, Sie brauchen die Zustimmung des Bundesrates, aber wenn man ihn braucht, ist es nützlich, dem Bundesrat einen konkreten Entwurf zur Verbesserung des Anerkennungsverfahrens für Zivildienstleistende vorzulegen.
Wenn Sie die Zustimmung des Bundesrates brauchen und machen sich noch nicht einmal die Mühe, mit dem Bundesrat darüber Gespräche zu führen, dann haben Sie doppelt versagt.
Wir versprechen Ihnen, wir brauchen nicht so lange, wir werden das sofort energisch und dynamisch angehen.
Einen Augenblick, Herr Abgeordneter Kroll-Schlüter.
Herr Abgeordneter Stahl, dieses ist unparlamentarisch. Ich bitte, das zu unterlassen.
Herr Kollege Glombig hat davon gesprochen, daß das soziale Netz durch uns gefährdet sei. Verehrte Kolleginnen und Kollegen, nichts kann das soziale Netz stärker gefährden als eine hohe Staatsverschuldung. Eine solide Finanzpolitik trägt dazu bei, das soziale Netz stabil und sicher zu machen. Wir sind mit unserer Politik ein Garant für soziale Finanzpolitik und für eine solide Sozialpolitik, die finanziell abgesichert ist.
Dann hat der Kollege Glombig von der Eigenbeteiligung im Gesundheitswesen gesprochen. Wir möchten mehr Direktbeteiligung nicht einführen, um die Haushaltslöcher zu stopfen, sondern wir möchten Direktbeteiligung einführen, um die Verantwortung des einzelnen zu stärken
und um die Sozialversicherungsbeiträge, die Krankenversicherungsbeiträge zu stabilisieren und auf Dauer zu reduzieren. Das ist der tiefe Sinn von Selbstbeteiligung.
— Selbst wenn es eine Systemänderung wäre, ein besseres System ist immer im Interesse der Bürger. Wir halten uns nicht an Systemen fest, sondern wir tun das, was dem Bürger angemessen ist und ihm zugute kommt.
Ein Wort zur Familienpolitik. SPD-Familienpolitik, das war ein Jugendhilferechtsentwurf, der eine Schwächung der familiären Gemeinschaft zugunsten der individuellen Betonung der Ansprüche einzelner aus der Familie bedeutet hätte. Das wäre eine Bevormundung der Familie gewesen. Ich darf noch einmal darauf hinweisen, wir waren bereit zu einer Reform, wir waren aber nicht bereit zu einer Reform, die jährlich eine Milliarde Mark und 13 000 neue Stellen gekostet hätte. Dazu waren wir nicht bereit. Sie können uns doch nicht immer vorwerfen, wir hätten mehr Ansprüche gestellt, obwohl Sie ganz genau wissen, daß wir sogar vor Wahlen bereit waren, ein populäres Gesetz zu verhindern. Wir haben heftige Prügel von den Jugendverbänden bezogen, auch von den Kirchen, und haben uns trotzdem im Interesse der Sache hingestellt; denn es nützt nichts, auf der einen Seite eine Millarde für junge Menschen auszugeben und sie auf der anderen Seite für die Zukunft so hoch mit Staatsschulden zu belasten.
Die Familienpolitik der SPD, das war auch der zweite Familienbericht. Da wurde bedauert, daß die Familie, daß die Eltern, Amateure seien. Norbert Blüm hat es ja gesagt: Wir brauchen mehr Amateure.
Wissen Sie, Frau Kollegin Fuchs, Sie haben am Ende Ihrer Regierungszeit gesagt, dieses Land sei kinderfeindlich. Ich will Ihnen etwas sagen: Das war eine Beleidigung für Millionen von Müttern. Diese sind nicht kinderfeindlich.
Ihre Politik war kinderfeindlich. Lassen Sie den Familien mehr Freiraum, mehr Gestaltungsmöglichkeiten! Entlasten wir sie von so unsinnigen Gesetzen!
Haben wir mehr Respekt vor dem Leben, auch vor dem ungeborenen Leben! Haben wir mehr Respekt vor der Tätigkeit der Mutter!Ich will es hier noch einmal sagen: Wir haben 1980 unsere familienpolitischen Versprechungen unter einen finanziellen Vorbehalt gestellt. Wir sind der festen Überzeugung, daß auch die Tätigkeit im Haushalt Rentenansprüche begründen soll. Das geht nicht heute, das geht nicht morgen. Das heißt aber nicht, daß wir von diesem Ziel ablassen. Wir wollen, daß hier Gerechtigkeit einkehrt. Wir werden auch alsbald zu konkreten Schritten fähig sein. Die wichtigste Voraussetzung aber ist, daß die Finanzlage konsolidiert wird.Wissen Sie, die ganze Welt ruft nach Versöhnung. Die Familie ist eine Quelle der Versöhnung. Deswegen wollen wir sie fördern. Die ganze Welt ruft nach Frieden und Solidarität. Die Familie ist eine Quelle
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7436 Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 123. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. Oktober 1982
Kroll-Schlüterdes Friedens und der Solidarität. Deswegen wollen wir sie fördern.Sie fragen: Was ist aber mit dem Kindergeld? — Sie haben das Kindergeld mit der Rasenmähermethode gekürzt. Wir fragen, ob es jemandem, der 62 000 DM im Jahr verdient, nicht zumutbar ist, daß er für das zweite und dritte Kind etwas weniger Kindergeld bekommt. Wir meinen, das ist in dieser Lage zumutbar.
Wir sind offen und ehrlich genug, ihm das in dieser miserablen finanziellen Situation auch zuzumuten.
Herr Abgeordneter Kroll-Schlüter, gestatten Sie noch eine Zwischenfrage?
Herr Präsident, ich möchte keine weitere Zwischenfrage zulassen.
Wir möchten den Kinderfreibetrag, weil er einfach, klar, unbürokratisch und wirksam ist.
Wir möchten das Ehegattensplitting in ein Familiensplitting umwandeln, d. h. je größer die Familie, um so öfter wird das zu versteuernde Einkommen geteilt. Das ist einfach, gerecht und zukunftweisend.
Wir möchten auf diese Art und Weise eine solide, einfache
und wirksame Familienpolitik betreiben, die auch dem Geist der Regierungserklärung entspricht.
— Dieser Geist der Regierungserklärung ist der Geist des Zutrauens in die Bürger. Sie haben immer geglaubt, der Staat müsse die Familie bevormunden, die Gesellschaft, der Staat stünden vor der Familie. Die Familien in unserem Lande waren vor dem Staat da. Sie brauchen sich vor dem Staat nicht zu rechtfertigen,
sondern der Staat muß sich vor den Familien rechtfertigen. Unsere Politik kann sich als eine familienfreundliche Politik vor den Familien rechtfertigen, weil diese Politik eine familienfreundliche, herausfordernde, solidarische Perspektive hat. — Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Lutz.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich habe um das Wort gebeten, um einen unglaublichen Vorgang ins Bewußtsein des Parlamentes zu rücken. Der Herr Bundesarbeitsminister, für seine flotten Sprüche wohl bekannt, hat — das stelle ich fest — sehr sorgfältig formuliert, nämlich im gedruckten Manuskript. Nachdem er seinen unpassenden Vergleich gebracht hatte, daß die AEG-Arbeitnehmer in der Brunnenstraße, wenn sie die Wahl hätten zwischen Verlust des Arbeitsplatzes oder vorübergehendem Lohnverzicht, den Lohnverzicht wählen würden, fuhr er wörtlich fort:
Bei den Funktionären mag das anders aussehen; aber es ist eine besondere Form von Hochmut, wenn die Funktionäre glauben, sie hätten das Monopol, zu wissen, was die Arbeitnehmer wollen. Ich bin nicht der Arbeitsminister der Funktionäre, ich bin der Arbeitsminister der Arbeitnehmer.
— Ehe Sie klatschen, schauen Sie sich einmal die Ahnenliste Ihrer eigenen Arbeitsminister an! Herr Blüm, Sie sind der erste Arbeitsminister der Bundesrepublik Deutschland, der seine Arbeit mit einer Kampfansage an die Gewerkschaftsfunktionäre beginnt.
Herr Minister, ich fand Ihre Rede im höchsten Maße unpassend, weil ich meine, daß ein Arbeitsminister, den die Vorstellung peinigt, daß wir in Bälde — —
— Herr Geißler, schreien Sie doch nicht, machen Sie doch einmal was anderes! Schreiben Sie doch wieder einmal ein Buch, oder machen Sie etwas Nützliches. Vielleicht arbeiten Sie auch einmal. Das kann j a auch sein.
Aber lassen Sie mich jetzt meine zwölf Minuten reden.
Herr Abgeordneter Lutz, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Bei zwölf Minuten wirklich nicht, Herr Präsident.
Ein Arbeitsminister, den die Vorstellung peinigt, daß wir in Bälde 3 Millionen Arbeitslose hätten, muß hier ans Pult treten und sagen, wie er sich diesem befürchteten Verhängnis entgegenstemmen will.
Er hat die Maßnahmen des Staates hier zu erklären, ihren beschäftigungspolitischen Charakter undihre beschäftigungspolitischen Wirkungen zu ver-
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Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 123. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. Oktober 1982 7437
Lutzdeutlichen. Er hat zu sagen, wann was läuft und welches mutmaßliche Ergebnis daraus resultiert.
Er hat, wenn es ihm ernst darum ist, an die Gebietskörperschaften den Aufruf zu einer großen gemeinsamen beschäftigungspolitischen Anstrengung zu tätigen.
Er hat die Tarifpartner zum Konsens zu führen. Er hat, meine Damen und Herren, die Gemeinsamkeit in der Bewältigung dieser Frage auch mit der Opposition in diesem Hause zu suchen.
Die Rede Blüms war keine Rede, die Konsens vermittelt; es war eine Rede, die neue, höchst überflüssige Gräben aufreißt. Herr Arbeitsminister, Sie werden uns noch brauchen. Wenn Sie so fortfahren und wenn Sie das in Politik umsetzen, was Sie hier leichtfertig reden, werden Sie in der Stunde Ihres Scheiterns sehr, sehr allein stehen. Aber das wird dann nicht nur ein Problem Blüms sein, sondern wir alle werden das mit ständig steigenden Arbeitslosenzahlen zu bezahlen haben.
Übrigens, in einem einzigen Gedanken — —
— Ich bin hier öfter am Pult gestanden und habe nie das Problem der Arbeitslosigkeit verniedlicht. Ich habe nie das Problem der Arbeitslosigkeit der CDU angelastet und werde das auch nie tun. Ich laste Ihnen eine Politik des Nichtstuns an, die Sie zum Programm erheben.
Übrigens, in einem einzigen Gedanken stimme ich mit dem Bundesarbeitsminister überein: Sie haben unfreiwillig bestätigt, daß nicht der Sozialstaat zu teuer geworden ist, sondern daß die ständig steigende Arbeitslosigkeit ein lebensgefährlicher Luxus unseres Gemeinwesens ist, den wir uns nicht länger leisten können.
Das ist so. Dem stimmen wir zu. Nur vermissen wir die Konsequenzen aus dieser als richtig erkannten Situation.Sie haben einen leidenschaftlichen Appell zum Kampf gegen Arbeitslosigkeit hier an dieses Haus gerichtet, auch an die Öffentlichkeit. Auch wir empfinden den leidenschaftlichen Wunsch, etwas zu tun. Aber die Atempause, Herr Minister, ist weißGott kein Mittel, der Arbeitslosigkeit Herr zu werden.
Mein Kollege Rohde hat hier im Saal gemeint — das fand ich sehr richtig —: Wenn man jemandem den Hals zudrückt, dann hat man ihm auch eine Atempause verschafft.
So schaut sie aus, Ihre Atempause: eine Atempause zu Lasten des Lebensstandards der Arbeitslosen, zu Lasten des Lebensstandards der Rentner, zu Lasten des Lebensstandards der Arbeiterfamilien, die ihre Kinder auf weiterführende Schulen schicken, eine Atempause zu Lasten der sozial Schwachen und der Jungen in unserem Lande.
Und Sie glauben, damit der Beschäftigungslosigkeit Herr werden zu können.Wir stehen, wenn ich das wirtschaftlich richtig sehe, vor einer sehr schwierigen Situation, in der wir sehr achtgeben müssen, daß die Binnenkonjunktur nicht zusammenbricht. Die Politik, die Sie hier so wortreich vertreten haben — d. h., Sie haben im Grunde nichts vertreten, sondern Sie haben hier ein paar Allgemeinheiten gesagt —, die Nichtpolitik, die Sie hier dargestellt haben, wird mit Sicherheit dazu führen, daß die Masseneinkommen weiter geschmälert werden, daß der Binnenmarkt zusammenkracht, daß wir das alles mit höheren Arbeitslosenzahlen zu bezahlen haben und daß der Selbstlauf in die Krise beschleunigt wird. Herr Blüm, ich halte es angesichts einer solchen Perspektive für verhängnisvoll, mit welcher Leichtfertigkeit Sie Ihr neues Amt antreten.
Sie haben hier ein beredtes Wort gegen den Mißbrauch von Sozialleistungen gesagt. Sie wissen, daß das Parlament in vielen, vielen gesetzgeberischen Schritten versucht hat, Mißbrauch immer dann, wenn er sich gezeigt hat, zurückzuschneiden. Aber, bitte, Mißbrauchsbekämpfung darf nicht in Bestrafungsaktionen gegen die Sozialleistungsempfänger ausarten.
Der Herr Bundesarbeitsminister hat gesagt, er sehe den Mißbrauch ja nicht nur bei den Leistungsempfängern, sondern auch bei den Anbietern. Dann hat die Regierungserklärung — Herr Kohl, der Herr Bundeskanzler, hat das getreulich vorgelesen — uns verheißen, daß die Ärzte, die Gefälligkeitsatteste verschreiben, künftig mit einem Bußgeld belegt werden. Herr Blüm, da lachen die Hühner auf den Stangen und müssen tierärztlich behandelt werden, damit sie nicht tot umfallen. Wie wollen Sie das denn machen? Wie soll denn das Gesetz ausschauen, mit dem Sie dieses Bußgeld erzwingen wollen?
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7438 Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 123. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. Oktober 1982
Herr Abgeordneter Lutz, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Cronenberg?
Herr Kollege Cronenberg, es tut mir leid. Ich habe wirklich nur 12 Minuten
und möchte dieses Haus nicht überstrapazieren. Die Herren da vor mir sind sowieso schon so unruhig. —
Sie haben, Herr Arbeitsminister, über die Wahlmöglichkeiten gesprochen, die Sie mit der Arbeitszeitordnung künftig eröffnen wollen. Ich bin einmal sehr gespannt, wie das ausschaut, ob sich dahinter nicht verbirgt, daß Sie jenen sehr subtilen Ausbeutungsprozeß der kapazitätsorientierten Teilzeitarbeitsverhältnisse in den Kaufhäusern damit rechtlich fixieren wollen.
Ich vermute das; wir werden's noch erleben.
Sie haben, Herr Minister, die Frühverrentung, also die Möglichkeit, bei versicherungsmathematischem Abschlag früher in Rente gehen zu können, als eine geeignete arbeitszeitverkürzende Maßnahme genannt. In der Tat, es wäre schön, wenn wir Möglichkeiten eröffnen würden, die Rente früher in Anspruch zu nehmen. Aber mit versicherungsmathematischem Abschlag geht's nicht. Dann wird die Rente so niedrig, daß sich niemand das leisten kann. Und das wollen Sie hoffentlich nicht: daß wir den Arbeitnehmer mit einer um bis zu 400 DM gekürzten Rente über dieses Institut zwangsweise ins Rentenalter hinausdrücken. Das kann wohl nicht die Antwort sein. Die Antwort muß sein, daß sowohl der Staat als auch die Tarifvertragsparteien alle Möglichkeiten der Arbeitszeitverkürzung nutzen müssen. Sonst geht nämlich die inhumanste Form der Arbeitszeitverkürzung dramatisch weiter, die darin besteht, daß die Arbeitszeit für eine wachsende Zahl von Menschen auf Null reduziert wird, daß die Arbeitslosenzahlen ständig steigen.
Herr Arbeitsminister, an Ihrem Kampf gegen Arbeitslosigkeit — nicht an Ihrem schönen Wortgeklingel — werden Sie gemessen werden. An der Bewältigung und Nichtbewältigung dieser Frage wird sich nicht nur das Schicksal dieser Regierung, sondern das Schicksal der Republik entscheiden, wenn es uns nicht gelingt, hier gemeinsam den verhängnisvollen strukturellen Problemen zu steuern,
wie sie sich hier darbieten. Das bedarf einer sehr ernsten, einer sehr ehrlichen, einer alle Fraktionen dieses Hauses, alle Gruppen dieser Gesellschaft umfassenden Politik. Dazu einen Beitrag zu leisten, wäre die Aufgabe dieses Arbeitsministers. Aber wer sich 13 Jahre lang außerhalb der Verantwortungsrealitäten bewegt hat, im Wort, immer nur im Wort
und noch einmal im Wort, ist zur Verantwortung leider noch nicht fähig. — Ich danke Ihnen.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Cronenberg.
Frau Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Lieber Eugen Glombig, zunächst einmal bin ich sehr froh über die letzten Sätze Ihrer Ausführungen; denn ich brauche damit den für diese Passage vorbereiteten Redetext nicht zu ändern. Ich will ihn so vortragen, wie ich ihn mir aufgeschrieben hatte,
obwohl ich meistens, wie bekannt ist, meine Reden nicht aufschreibe. Bevor ich auf Einzelheiten und Bewertungen der sozialpolitischen Vorschläge und Absichten der neuen Regierung eingehe, möchte ich einige Vorbemerkungen machen.Hansheinrich Schmidt , Friedrich Hölscher und ich haben in der alten Koalition manche sachliche Auseinandersetzung mit Minister Ehrenberg, mit Minister Westphal, mit Eugen Glombig, mit Hermann Rappe und vielen anderen ehrenwerten Kollegen, auch mit Egon Lutz, gehabt. Kritische Bemerkungen, kritische Bewertungen, nicht nur in nächtelangen Koalitionsgesprächen und Koalitionsverhandlungen, deren ich mich gern erinnere, sondern auch hier im Plenum, waren für uns selbstverständlich. Wir haben kein Blatt vor den Mund genommen, wir haben Gegensätze nicht geleugnet, wir haben in kritischer Solidarität zur Regierung unsere Pflicht und Arbeit getan. Wir haben auch gewußt und wissen es heute noch, daß dies unseren sozialdemokratischen Kollegen verdammt schwergefallen ist. Um so leichter fällt es mir hier heute, mich im Namen meiner Kollegen auch von dieser Stelle für den guten Willen und das Bemühen um Kompromisse zu bedanken.
Für mich ist das eine Selbstverständlichkeit. Ich tue dies gern und ehrlichen Herzens. Die unterschiedlichen Auffassungen und die Gemeinsamkeiten werden bleiben. Ich hoffe — nach den Worten von Eugen Glombig bin ich davon überzeugt —, daß mindestens bei den Sozialpolitikern die zwischenmenschlichen Beziehungen nicht zerstört werden. Dafür bin ich dankbar.
Kritische Solidarität und Loyalität werden wir auch der neuen Koalition gegenüber aufbringen. Wir werden in kritischer Solidarität und Loyalität Sozialpolitik betreiben. Dabei gehen wir ohne Illusionen und in Kenntnis, Herr Minister Blüm, der unterschiedlichen Ausgangspositionen an die Arbeit. Wir erwarten von dem Minister Norbert Blüm und seinen Staatssekretären dieselbe Bereitschaft zu einer konstruktiven Zusammenarbeit, wie dies in der Vergangenheit der Fall gewesen ist.
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Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 123. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. Oktober 1982 7439
CronenbergWir gehen gemeinsam davon aus, daß sich Sozialleistungen nicht losgelöst von der Wirtschaftspolitik und der Haushaltslage entwickeln können.
— Wir gehen gemeinsam davon aus, Herr Kollege Dregger, und wir haben hier nicht nur die Kontinuität in der Verhaltensweise, sondern auch die Kontinuität in der Sache zu vertreten, und zwar aus tiefer Überzeugung.Umgekehrt darf ich aber auch darauf hinweisen, daß die konzeptionell notwendige Sozialpolitik nicht durch fiskalische Überlegungen verhindert werden darf. Unsere Erfahrungen in der Vergangenheit — ich beklage dies gemeinsam mit den Sozialpolitikern der SPD — waren nicht immer die besten.Die neue Regierung tritt unter starkem Zeitdruck an. Mit Rücksicht auf die bereits eingeleiteten Vorarbeiten für die schon in Angriff genommenen Gesetze werden aber die sozialpolitischen Begleitgesetze in einem vertretbaren zeitlichen Rahmen abgewickelt werden. Die vereinbarten Korrekturen dieser Gesetze können bei gutem Willen aller Beteiligten also rechtzeitig in das laufende Gesetzgebungsverfahren eingebracht werden. Diese Arbeit, lieber Kollege Lutz, lieber Kollege Glombig, wird um so leichter sein, je weniger die Sozialdemokraten ihre teilweise bitteren Erkenntnisse von gestern nicht vergessen.Nach meiner Auffassung muß die Weichenstellung aus der Beschäftigungskrise noch in diesem Jahr erfolgen. Sie muß Vorrang vor allen anderen politischen Überlegungen haben. Wer die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit zur Aufgabe Nummer eins erklärt und es damit ernst meint, kann keinen anderen Weg gehen als den Weg, den wir eingeschlagen haben.Die notwendige Weichenstellung konnten wir in der alten Koalition nicht mehr vornehmen.
Wer die letzten Koalitionsverhandlungen vor der Sommerpause miterlebt hat, weiß das. Ein entscheidender Grund für das Scheitern waren nun einmal die unterschiedlichen Konzepte der Sozialdemokraten und der Freien Demokraten, auch und gerade in der Beschäftigungspolitik. Das ist die schlichte Wahrheit.
Alles andere gehört zum Bereich der Taktik.
Leider war diese Taktik höchst erfolgreich. Mein Kompliment! Der frühere Bundeskanzler hat seinen Regierungssprecher Becker rechtzeitig entlassen; denn mit Kurt Becker hätten solche taktischen Erfolge, unfair begründet, sicher nicht erreicht werden können.
Aber wie beim Sport sollte man auch in der politischen Taktik ein guter Verlierer sein.
Das schließt nicht aus, Sachgründe und taktisch vorgeschobene Gründe für das Ende der alten Koalition hier beim Namen zu nennen.Sachgrund ist: grundsätzlicher Konflikt in der Beschäftigungspolitik. Dieser Konflikt führte zu einer monatelangen Agonie in der alten Koalition. Nachträglich könnte man fast sagen: Diese Agonie hätte im Interesse des Landes früher beendet werden müssen. Nach meiner festen Einschätzung hatte dazu keine der beiden Seiten, weder die Sozialdemokraten noch wir, die Kraft. Auch darauf ist die weitere Verschlechterung der Wirtschafts- und Finanzlage zurückzuführen. Unsere Mitverantwortung — jedenfalls was meine Person betrifft — leugne ich hier nicht.
Aber auch Sozialdemokraten vergeben sich nach meiner Auffassung nichts, wenn sie einräumen: Nicht Machenschaften, nicht Taktieren, nicht Kabalen, nicht Verrat haben die alte Koalition beendet, sondern Dissens in der Sache.
Akzeptieren Sie, meine Damen und Herren, das Zerrüttungsprinzip!
Herr Kollege Glombig hat — dafür bin ich dankbar — mindestens in dem Teil, den wir gemeinsam verabschiedet haben — bis auf die zwei bekannten Tatsachen — an den Beschlüssen festgehalten, aber auch seine übrige Position für zukünftige Möglichkeiten klargemacht. Auch ich darf in diesem Zusammenhang den in dieser Debatte schon so oft zitierten Herrn Bölling in Anspruch nehmen. Er schreibt zu diesem Thema:Dann wird darüber geredet, welche Möglichkeiten es gibt, den Haushalt 1983 gemeinsam mit den Freidemokraten zu verabreden, wenn neue und ungünstige Wirtschaftsdaten vorliegen. Dabei ist uns allen klar, daß ein Fehlbetrag natürlich nicht allein mit zusätzlicher Nettokreditaufnahme ausgeglichen werden kann.Es wird sehr bald klar, daß weitere Einsparungen im Haushalt von Heinz Westphal vielleicht noch von den sozialdemokratischen Ministern vertreten werden würden. Die Fraktion wird sich weiteren Einschnitten ins soziale Netz widersetzen, selbst dann, wenn der Kanzler erneut eine Ergänzungsabgabe verlangt, von derem betriebswirtschaftlichen Sinn er bis jetzt nicht überzeugt ist, die er aber aus Gründen gerechter Lastenverteilung für notwendig hält.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Dr. Soell?
Aber selbstverständlich. — Ich bin mit der Zeit allerdings sehr knapp und bitte um
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7440 Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 123. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. Oktober 1982
CronenbergVerständnis, daß ich dann keine weiteren Zwischenfragen mehr zulasse.
Herr Kollege Cronenberg, sind Sie, wenn Sie Herrn Bölling hier als authentisch zitieren, bereit, zuzugeben, daß er in den Passagen, in denen er über den Wortbruch geschrieben hat, ebenso authentisch ist?
Hochverehrter Herr Kollege, zunächst einmal kann ich diesen Bereich ebenso wie den Bereich des Wortbruches klar und deutlich überblicken. In diesem Bereich hat er recht. Im Bereich des Wortbruchs hat er zutiefst unrecht. Ich halte das für einen diffamierenden, unverschämten Vorwurf.
... SPD-Bundesgeschäftsführer Glotz
— so schreibt Herr Bölling —hat eben auch recht, wenn er der Runde vor Augen stellt, daß die Fraktion zu weiteren Opfern nicht bereit sein wird .Der frühere Bundeskanzler, die Kollegen Ehmke und Apel haben diesen Konflikt in ihren Beiträgen völlig ausgespart. Dies ist wohl nur erklärlich, weil die wahren Gründe nicht in die äußerst geschickt inszenierte Verleumdungskampagne passen.
Helmut Schmidt hat vielmehr die weitere Zusammenarbeit mit der FDP wegen der anstehenden Haushaltsberatung für unzumutbar erklärt. Er hat gleichsam von Amts wegen verordnet, die FDP wolle diese Beratung nur noch zum Schein führen. Der von mir nach wie vor hochgeschätzte Bundeskanzler a. D. Schmidt möge bitte zur Kenntnis nehmen: Glauben Sie denn allen Ernstes, wir hätten 1981 Scheinverhandlungen geführt, wir hätten im Sommer 1982 Scheinverhandlungen geführt? Herr Kollege Brandt, Sie haben mit am gemeinsamen Tisch gesessen: Ich habe keine Scheinverhandlungen geführt. Und ich hätte sie im Herbst 1982 auch nicht geführt. Ich habe mir die allergrößte Mühe gegeben.
Wo nimmt man eigentlich das Recht her, uns so zu diffamieren?Helmut Schmidt hat die Unterstellung zum Haushalt durch eine weitere Unterstellung ergänzt. Er hat behauptet, die Vorschläge von Graf Lambsdorff zur Überwindung der Arbeitslosigkeit seien eine Abwendung vom demokratischen Sozialstaat im Sinne unseres Grundgesetzes.
Das ist im Klartext der Vorwurf des Verfassungsbruchs. Dieser Vorwurf bedarf der klaren und eindeutigen Zurückweisung.
Die vielen Vorschläge von Graf Lambsdorff zur Anpassung des Sozialleistungsniveaus an die verschlechterten gesamtwirtschaftlichen Bedingungen liegen auf der Linie der Politik der alten Koalition, zum Teil waren sie bereits konkret vereinbart.
Das gilt z. B. für die Beteiligung der Rentner an den Kosten ihrer Krankenversicherung bis zur Höhe des Arbeitnehmeranteils, für eine Berücksichtigung des steigenden Rentneranteils bei der Rentenberechnung, für einen Abbau von Leistungsmißbrauch bei Erwerbs- und Berufsunfähigkeitsrenten, für die restriktive Anerkennung im Schwerbehindertenbereich. Die Forderungen von Graf Lambsdorff, die Bundeszuschüsse zur Rentenversicherung nicht einzuschränken — ich befürchte, wir müssen daran auch jetzt festhalten —, müssen doch einmal ausdrücklich erwähnt werden. Seine Forderung, die Kosten in der Krankenversicherung verstärkt — verstärkt, Egon Lutz — bei den Leistungserbringern zu dämpfen, hätte sogar die freudige Zustimmung der SPD verdient. Entsprechendes gilt für seine Ausführungen im Bereich der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall. Graf Lambsdorff hat in seinem Papier darauf verzichtet, die zwischen uns so strittigen Karenztage in die Diskussion einzuführen, nicht weil er der Meinung gewesen wäre, daß sie nicht richtig seien — ich wie er sind nach wie vor der Auffassung: sie sind richtig —, sondern nur, um den Konsens zu ermöglichen.
Meine Damen und Herren, liebe Kollegen von der SPD-Fraktion, die Anpassung des Sozialleistungsniveaus ist keine neue Aufgabe. Sie und wir hatten uns dieser Aufgabe seit 1974 zu stellen. Dazu erinnere ich an das Haushaltsstrukturgesetz 1975 — mit fühlbaren Einschnitten bei der Arbeitsförderung —, an die Rentengesetze von 1977 und 1978, an die Kostendämpfung in der Krankenversicherung, an die „Operation '82" und an den gemeinsam bewältigten Teil der „Operation '83", bei dem die FDP ganz offensichtlich nicht nur zum Schein verhandelt hat.Bleiben die Überlegungen von Graf Lambsdorff zum Arbeitslosengeld und zur Ausbildungsförderung. Auch darüber haben wir immerhin ehrlich und fair verhandelt.Egon Lutz hat eben die Frage gestellt, ob denn die Instrumente, die Leistungserbringer im Gesundheitswesen zur Mäßigung und zum Kostenbewußtsein zu veranlassen, richtig seien. Stellen wir doch gemeinsam und als gemeinsamen Erfolg fest, daß unsere Instrumente, auf einen freiwilligen Verzicht hinzuwirken, mindestens in unserer gemeinsamen Vergangenheit funktioniert haben. Hoffen wir gemeinsam, daß die gleichen Instrumente mit dem
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Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 123. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. Oktober 1982 7441
Cronenberggleichen Ziel und Zweck im Interesse der Sache auch in Zukunft funktionieren werden.
Es ist das gute Recht — ich nehme das wirklich nicht übel —, daß bei verschiedenen Positionen wie in der Vergangenheit uns hier von den Kollegen der SPD ein klares Nein entgegenschallt. Ich habe vor diesem Nein Respekt und verstehe es auch.Es ist aber nicht in Ordnung, wegen dieser Teilvorschläge jede Diskussion über das Gesamtkonzept des Grafen Lambsdorff von vornherein abzulehnen. Erst recht ist es unredlich, das Gesamtkonzept, vom früheren Bundeskanzler erbeten und ausdrücklich als Angebot zur Diskussion verstanden, als verfassungswidrig zu denunzieren.
Mit Verbitterung habe ich einen Teil dieser Debatte verfolgt. Wenn mich jemand vor vier Wochen — nein, vor einigen Tagen — gefragt hätte, ob ich es für möglich hielte, daß Horst Ehmke hier eine solche Rede hält,
hätte ich dies mit Überzeugung verneint.
Es war eine Rede, die allein dem Ziel diente, eine demokratische Partei und ihren Vorsitzenden, mit dem er jahrelang zusammengearbeitet hat, schlicht und einfach fertigzumachen.
Ich hätte dies nicht für möglich gehalten. Offensichtlich waren die Einschätzungen und Erwartungen von Graf Lambsdorff zutreffender, denn er hat dies ja vermutet, als mein Vertrauen in menschliche und demokratische Anständigkeit.
Ehrenmänner, Herr Professor Ehmke, würden sich wenigstens für ein solches Verhalten entschuldigen. Darum bitte ich Sie.
— Sie haben uns doch alle des Wortbruchs bezichtigt.
Genauso sollte sich meines Erachtens die von mir verehrte Kollegin Ingrid Matthäus verhalten. Ich bitte sie mit aller Eindringlichkeit darum. Wolfgang Mischnick, der Justizminister Hans Engelhard, meine Wenigkeit und die überwiegende Mehrheit der Fraktion haben nach bestem Wissen und Gewissen gehandelt. Es ist mir unverständlich, wie man uns des Wortbruchs bezichtigen kann.Wolfgang Mischnick hat dies in seiner denkwürdigen Rede am 1. Oktober hier überzeugend klargestellt. Wir haben uns nie und nimmer bedingungslos in irgendwelche Abhängigkeiten begeben, und wir werden das auch in Zukunft sicher nicht tun.
Die Koalition war am Ende. Wie man weiß, gab und gibt es in der FDP- und in der SPD-Fraktion kaum jemanden, der die Fortsetzung dieser Koalition für die Zeit nach 1984 für möglich gehalten hat. Hätten wir eine Minderheitsregierung gefördert, hätten wir die Agonie im Lande gefördert. Wir hätten uns meiner festen Überzeugung nach schuldig gemacht.
Liebe Ingrid Matthäus, fragen Sie sich doch einmal, ob Sie dies wirklich alles uns und Ihrer eigenen Fraktion gegenüber verantworten können.
Dieser Allein-recht-haben-Standpunkt ist doch eine unverantwortliche Position. Respektieren Sie doch unseren Standpunkt, wie wir Ihren Standpunkt respektieren!
Lassen Sie mich Sie auch bitten, vielleicht ein wenig mehr die Ergebnisse Ihrer eigenen Basis — im Kreisverband, im Bezirksverband und im Landesverband — zu respektieren.
Die Grundzüge unserer Sofortmaßnahmen zur Überwindung der Wirtschaftskrise sind klar. Wir wollen die Wachstumskräfte stärken durch eine deutliche Umstrukturierung der öffentlichen Haushalte von den konsumtiven zu den investiven Ausgaben, durch einen weiteren Abbau der strukturellen Defizite — ich betone: der strukturellen, nicht der konjunkturellen Defizite — der öffentlichen Haushalte. Das heißt: Anpassung der sozialen Sicherungssysteme an die veränderten Wachstumsmöglichkeiten, Eindämmung des Sozialkonsums, Stärkung der Eigenverantwortung, Wiedergewinnung des Vertrauens von Unternehmern und Arbeitnehmern mit längerfristigen Konzepten in der Haushalts-, in der Sozial- und in der Wirtschaftspolitik, ergänzende Maßnahmen zur Förderung der privaten Investitionen, insbesondere im mittelständischen Bereich, wo das besonders erforderlich ist.Die Wiedergewinnung des Vertrauens ist eine entscheidende Voraussetzung für das Gelingen unseres Programms. Dazu gehört, daß wir Freien Demokraten unsere Meinungsverschiedenheiten über den Kurs bald zum Abschluß bringen. Dazu gehört auch, daß Störmanöver aus München künftig unterbleiben und auch in München der Erfolgszwang absoluten Vorrang vor persönlichen und parteipolitischen Sonderinteressen erhält.
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7442 Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 123. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. Oktober 1982
CronenbergDazu gehört auch, daß die Sozialdemokraten zumindest auf dem Gebiet der Beschäftigungspolitik wieder zur Sachdiskussion zurückfinden.Ich weiß, daß dabei die soziale Ausgewogenheit eine Kernfrage ist. Ich stehe dazu. Ich habe auch Verständnis dafür, daß wir dieses Ziel kurzfristig nicht erreichen können. Ich verweise auf das — mit Rücksicht auf das rote Licht muß es jetzt schnell gehen —, was der Sachverständigenrat in dem Zusammenhang gesagt hat. Investitionen fördern heißt Geld ausgeben, das in der ersten Runde — erste unterstrichen — vor allem den besser Verdienenden zugute kommt. Die soziale Rechtfertigung sieht der Sachverständigenrat darin, daß sich die Vorteilswirkungen ausbreiten, daß die höhere Produktion zu mehr Beschäftigung, zu mehr Einkommen der Arbeitnehmer führt. Schließlich spricht sich der Rat — wie wir in diesem Zusammenhang auch — für eine aktive Vermögenspolitik aus, für die wir um Unterstützung bitten.Ich lege daher für meine Fraktion
großen Wert darauf, daß die in der Regierungserklärung angekündigten vermögenspolitischen Initiativen konsequent durchgeführt werden. Ich hoffe, daß es möglich ist, sich in Zukunft über diese Dinge gerade mit den von mir sehr geschätzten Kollegen aus der sozialdemokratischen Fraktion offen, fair und erfolgreich auseinanderzusetzen. Hierfür im voraus meinen herzlichen Dank.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Brandt.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Aussprache dieser drei Tage hat meinen politischen Freunden und mir noch einmal gezeigt: Der Sturz des Bundeskanzlers Helmut Schmidt lag nicht im Interesse unseres Staates
und vor allem nicht im Interesse
der breiten Schichten unseres Volkes.
Die Debatte zur Regierungserklärung hat die Sorge nicht behoben, sondern verstärkt, daß die nächste Entwicklung durch weniger Ausgewogenheit und weniger Gerechtigkeit gekennzeichnet sein wird.
Ich komme darauf zurück und will zunächst festhalten, was sich hier zum Thema der Neuwahlen zugetragen oder besser: nicht zugetragen hat. Gezeigthat sich nämlich, daß die neue Regierung, Herr Bundeskanzler, ihre Bringschuld nicht erfüllt hat.
Am 17. September 1982 hatte Helmut Schmidt von dieser Stelle aus Neuwahlen vorgeschlagen. Er hatte den Weg dahin aufgezeigt und begründet, weshalb die Wähler neu zu Wort kommen müßten, wenn der Wählerauftrag vom Herbst 1980 auf den Kopf gestellt werden sollte.
Nun lassen Sie mich bei der Gelegenheit, Herr Bundesaußenminister, etwas zu einem Teil Ihrer Rede vom vorgestrigen Tag sagen. Der Bundesaußenminister hat — sicher nicht wider besseres Wissen, sondern weil ihm der Sachverhalt nicht geläufig war — behauptet, die SPD habe Ende 1966 beim Auseinanderbrechen der Regierung Erhard/ Mende keine Neuwahl gefordert.Das entspricht nicht der Wahrheit. In der hier am 8. November 1966 durchgeführten Debatte über den Antrag der SPD-Fraktion, den Bundeskanzler Erhard zu ersuchen, gemäß Art. 68 des Grundgesetzes im Bundestag die Vertrauensfrage zu stellen, ging der damals amtierende Fraktionsvorsitzende Herbert Wehner — denn unser unvergessener Fritz Erler war todkrank — auch auf den Vorwurf der anderen Parteien ein, die SPD wolle auf diese Weise zur Auflösung des Bundestages und zu Neuwahlen kommen. Er sagte:Wieso wird von unserem Begehren nach Neuwahl, von unserer Ansicht, daß Neuwahl des Bundestages die sauberste, die anständigste Art sei, diese Krise zu überwinden, wieso wird davon im Tone des Vorwurfs gesprochen? Das Vorrecht der Demokratie ist es doch — im Gegensatz zu totalitären und autoritären Staaten oder Gebilden —, frei wählen zu können.Herr Bundesaußenminister, so war es also. Es war natürlich auch so, daß damals der Kollege Barzel, der jetzt auf der Regierungsbank sitzt, Herr von Kühlmann-Stumm für die Freien Demokraten und der praktisch schon abgesetzte damalige Bundeskanzler Erhard dem, was Herr Wehner vorgetragen hatte, widersprochen haben.Eine Verfälschung der historischen Wahrheit, wenn auch ohne böse Absicht vorgenommen, wollte ich auch in dieser Frage nicht durchgehen lassen.
Wie ist nun die Lage? Nach dem Vorschlag von Bundeskanzler Schmidt am 17. September hat Herr Kohl Neuwahlen für die Zeit nach dem Regierungswechsel zugesagt. Herr Strauß — mit dem ich bekanntlich nicht immer einer Meinung bin — hat Neuwahlen noch in diesem Jahr für richtig gehalten. Die Herren Kohl und Genscher haben den 6. März 1983 als Termin in die Koalitionsvereinbarung geschrieben. Sie haben betont, daß sich dies, wie es selbstverständlich ist, im Rahmen der Verfassung halten werde.Nun wäre es doch ganz gewiß fällig gewesen, dem Bundestag und den betroffenen Bürgerinnen und
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Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 123. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. Oktober 1982 7443
BrandtBürgern klar zu sagen, wie es zu Neuwahlen bekommen soll.
Bundeskanzler Kohl hat diese Klarheit nicht geschaffen. Er hat keinen Vorschlag gemacht, sondern nur zu Gesprächen eingeladen. Wir hätten gern gehört, worüber gesprochen werden soll.
Im übrigen: Schönen Dank für die Einladung, Herr Bundeskanzler. Ich würde gar nichts dagegen haben, wenn Sie bei solcher Gelegenheit einen guten Tropfen Pfälzer Weins anbieten würden.
Aber das ändert doch alles nichts am Kern der Sache. Wir wollen Wahlen. Und wir werden sorgfältig und zügig prüfen, was Sie uns vorgeschlagen haben, wenn Sie uns etwas vorzuschlagen haben.
Doch ich muß darauf aufmerksam machen, daß der amtierende Bundeskanzler am Mittwoch einen Hinweis darauf gegeben hat, daß in diesem Zusammenhang vielleicht über eine Verfassungsänderung zu sprechen wäre. Wir würden selbst dazu, Herr Bundeskanzler, aufmerksame, aufmerksam kritische Gesprächspartner sein. Aber eines müssen Sie sich schon heute sagen lassen: Erst haben Sie in Aussicht gestellt, Sie wollten im Rahmen der bestehenden verfassungsmäßigen Bestimmungen wählen lassen,
jetzt haben Sie am Mittwoch angedeutet, daß Sie erst die Verfassung ergänzen, also ändern wollen, wenn das der Sinn des Hinweises auf die Enquete-Kommission gewesen ist.
Ich habe nicht überhört, was dazu gestern aus den Reihen der Freien Demokraten — ich weiß nicht, ob für die Fraktion — von einem wichtigen Mitglied der Freien Demokratischen Partei gesagt worden ist.
Jedenfalls die Art, in der Sie, Herr Bundeskanzler, das Thema Neuwahlen zu Beginn der Arbeit Ihrer Übergangsregierung vor sich hergeschoben haben, ist in hohem Maße unbefriedigend.
Aber es ist ja auch klargeworden — daran ändert das, was Sie, lieber Herr Cronenberg, soeben gesagt haben, nichts —, wie sehr dieser Übergangsregierung die Schwäche anhaftet, die sich aus dem Verhalten der FDP-Führung und aus dem desolaten Zustand ergeben hat, in den die FDP-Führung ihre Partei geführt hat.
Dieser desolate Zustand schwächt die neue Regierung und verlängert die Krise in Bonn.
Ich war tief erschrocken über das Bild, das Sie, Herr Bundesaußenminister, hier am Mittwoch geboten haben — zur Person und zur Sache. Sie haben mir leid getan.
Aber Ihre Darlegungen haben mich nicht überzeugen können, auch wenn sie nur als ein Plädoyer für mildernde Umstände gemeint gewesen sein sollten.
Der forsche Entlastungsversuch des Grafen Lambsdorff gestern früh hat die Sache nicht besser gemacht.
Herr Bundesminister Genscher, wir haben im Laufe der Jahre manches vertrauensvolle Gespräch miteinander geführt, bis in den Sommer dieses Jahres. Wir waren natürlich nicht immer einer Meinung, wir haben einander vielleicht auch einmal enttäuscht — Sie jedenfalls mich. Aber Schwamm drüber!
Aber Sie können nicht guten Gewissens sagen, Herr Bundesminister, der Vorsitzende der deutschen Sozialdemokraten, von dem Sie wissen, daß er 1963 die schwierigen Dinge in Berlin gemeinsam mit den Freien Demokraten in die Hand genommen hat, von dem Sie wissen, daß er 1966 nicht von allen unterstützt wurde, als er die sozialliberale Koalition angeboten und mit unterstützt hat, habe sich nicht immer wieder bemüht, Schwierigkeiten in der Koalition beiseiteräumen zu helfen.
Nun füge ich gleich hinzu: Was hier und anderswo über den Münchner Parteitag der SPD und — was in eine ganz andere Schublade gehört —über törichte, aber manchmal auch verfälschte Äußerungen einzelner Sozialdemokraten vorgebracht worden ist, sind — selbst bei sehr wohlwollender Betrachtung — Schutzbehauptungen; bei kritischer Prüfung sind es Irreführungen der öffentlichen Meinung.
Es gibt, Herr Bundeswirtschaftsminister und andere Kollegen, die sich hierauf bezogen haben, keinen Gegensatz zwischen dem wirtschaftspolitischem Beschluß unseres Münchner Parteitages und dem Beschluß, den sich unser Parteivorstand am Montag zu eigen gemacht hat. Es handelt sich vielmehr um eine Konkretisierung und natürlich — so ist das bei uns — auch um das Ergebnis des Diskussionsprozesses, der durch den Münchener Beschluß in Gang gesetzt wurde und in Gang gesetzt werden sollte. Ob es Ihnen Spaß macht oder nicht: Wir werden auch sonst — ich hoffe, umfassend — in der Lage sein, die Erfahrungen der vergangenen 13 oder 16 Jahre aufzuarbeiten, wo es sein muß, auch selbstkritisch aufzuarbeiten.
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7444 Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 123. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. Oktober 1982
BrandtSie haben hier Feindbilder aufgebaut.
Einige von Ihnen erinnern mich dabei an Zeiten,
in denen man Sozialdemokraten vom Tisch der Demokratie wegdrücken wollte.
Kaum einer der Unionsredner — wobei ich jetzt die Bundesminister Genscher und Lambsdorff einschließe — hat von der SPD, die es — mit ihren Stärken und Schwächen — gibt, gesprochen.
Man hat von einer SPD geredet, von der man gern hätte, daß sie so wäre,
damit man seine taktischen Kalküle aufgehen lassen kann.
Meine Damen und Herren, mit Legendenbildungen, Herr Bundesminister Genscher, wird man Ihre Partei nicht über den Berg bringen. Auf Legendenbildungen, Herr Bundeskanzler, wird man keine gedeihliche Regierungsarbeit gründen können.
Sie haben keinen guten Start gehabt; dies war kein überzeugender Neubeginn.
Der kann j a auch nicht gelingen, wenn man sich der Verantwortung nicht hinreichend stellt.
Wer Helmut Schmidt gestürzt hat, obwohl er versprochen hatte, ihn zu stützen, sollte der Öffentlichkeit nicht einreden wollen, ausgerechnet die Sozialdemokraten hätten ihren Bundeskanzler im Stich gelassen.
Aus dieser Verdrehung kann auch durch serienhafte Wiederholung keine Wahrheit werden.
Herr Bundeskanzler, Sie haben Ihre Regierung als Regierung der Mitte — ich komme Ihnen entgegen und sage: der rechten Mitte — vorgestellt. Ich habe vor 14 Tagen von dieser Stelle aus von unserem Bemühen gesprochen, in einer sich wandelnden Gesellschaft und bei nicht gleichbleibender Bewußtseinslage der Menschen immer wieder der neuen Mitte nachzuspüren. Ich habe von der Verankerung in der Mitte der sozialen Solidarität gesprochen. Ich will das heute nicht weiterführen, sonst könnten die Mitbürger uns noch für Leute halten, die Politik mit Gesäßgeographie verwechseln,
als handelte es sich darum, daß die breiten Hintern der einen von den noch breiteren Hintern der anderen weggedrückt würden.
Nein, der Begriff „Mitte" kann vernünftigerweise nur dies bedeuten: sich um jenen Punkt zu bemühen, an dem der einzelne für sich und, wenn es geht, mit seinen Freunden das Für und Wider der Argumente zur Entscheidung bringt. Mitte ist insoweit weder Stand- noch Sitzort, sondern Fähigkeit zum Ausgleich.
In diesem Sinne der Mitte zugehörig ist, wer für sich — und wenn er es kann, mit anderen — Entscheidungen so abwägt, daß er sich, so gut es geht, von Vorurteilen freimacht und die Prämissen der Entscheidungsfindung nicht unter den Verdacht des Vorurteils stellt.Herr Bundeskanzler, der eigentliche Neubeginn kann allerdings erst kommen, wenn die Wähler ihren Auftrag neu formulieren und, wie ich hoffe und wofür wir streiten, dafür sorgen, daß die Sozialdemokraten als stärkste Fraktion in diesen Bundestag zurückkehren.
Meine Kollegen aus der Fraktion haben während dieser Debatte gezeigt, daß wir nicht nur die uns neu aufgetragenen Pflichten annehmen, sondern daß wir uns auf unsere Weise bemühen, und zwar sehr ernsthaft, uns den Herausforderungen dieses Jahrzehnts entschlossen zu stellen.
— Ja, glauben Sie, es gäbe nur eine Weise, verehrter Zwischenrufer?
Das ist ja das Totalitätsdenken, von dem wir wegkommen müssen.
Hier kann doch der eine und der andere nur ringen, um dem, was wahr ist und richtig für unser Volk, so nahe wie möglich zu kommen. Ich habe doch nicht gesagt, daß ich die Wahrheit gepachtet habe.
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Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 123. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. Oktober 1982 7445
BrandtAber ich widerspreche, wenn Sie so tun, als hätten Sie sie gepachtet.
Meine Freunde haben hier deutlich gemacht — ich will es nachdrücklich unterstreichen —: Wir stellen uns der neuen Aufgabe, übrigens auch als die demokratische Unruhe, die unser Volk braucht. Ich will das nachdrücklich unterstreichen, was hier gesagt worden ist, worum es uns geht. Es geht darum, erstens Arbeitsplätze zu schaffen und den sozialen Frieden zu sichern,
zweitens den liberalen Rechtsstaat zu verteidigen und, wo es notwendig ist, auszubauen,
drittens den Frieden in Europa und in der Welt sicherer zu machen. Dies ist der Kern der zwölf Punkte, die Helmut Schmidt hier am 1. Oktober vorgetragen hat, denen wir ausdrücklich zugestimmt haben und die sich in das einfügen, was die SPD als Ergebnis ihrer Meinungsbildung beschlossen hat und was hier vorgestern und gestern und auch noch heute früh vielfach verdreht und verfälscht oder sogar verteufelt worden ist.
Ob es anderen paßt oder nicht: Die Sozialdemokratie wird sich als eine große politische Kraft erweisen — erneut —, die sich den neuen Herausforderungen aufgeschlossen und kraftvoll stellt und die sich nicht mit dem Rückgriff auf alte Rezepte der jetzt gestellten Verantwortung entzieht.Die auf bekannte Weise — ich will darauf nicht noch einmal eingehen — zustande gekommene Übergangsregierung hat hier nicht glaubhaft machen können, daß sie die Zeichen der Zeit hinreichend verstanden hätte.
Dabei bezweifle ich keinen Augenblick, daß es dem Bundeskanzler, daß es Ihnen, Helmut Kohl, ernst ist mit dem, was Sie aus Ihrer Sicht zur geistig-politischen und zur politisch-moralischen Orientierung vorgetragen haben. Darin steht manches, was ich als Sozialdemokrat nicht überhören kann und worauf wir gern bei allem, was uns trennt, zurückkommen werden — übrigens auch gerade mit zur Bestimmung des schwierigen Verhältnisses zwischen Individuum, Staat und Gesellschaft und zur rechten Zuordnung von Solidarität und Subsidiarität. Doch ich muß offen sagen, die eher konturlosen Sinnsprüche von einem „Staat mit menschlichem Antlitz" und vom „seelischen Wohlergehen unseres Volkes" helfen jetzt wenig weiter.
Diese Sinnsprüche, Herr Bundeskanzler, ersetzen jedenfalls keine Antwort auf ganz reale Herausforderungen.
Und nun füge ich, bewußt zugespitzt, hinzu: Was Sie, die neue Koalition, hier in Gang setzen: Ihr Strickmuster, Herr Bundesminister Blüm — wenn Sie die Güte hätten, mir zuzuhören —, vernachlässigt auf entscheidenden Gebieten das Gebot der Solidarität.
Vorsicht ist ohnehin immer dann geboten, wenn es die Mächtigen und die Reichen oder die sind, die sich zu ihrem Sprecher machen lassen,
die an die Schwächeren und Ärmeren appellieren, Wir-Gefühle zu entwickeln
und sich im Interesse des Gesamtwohls zurückzuhalten, d. h. in diesem einseitigen, ja pervertierten Sinne solidarisch zu sein.
Wenn die kleinen Leute ihren Anspruch auf Teilhabe am allgemeinen Wohl geltend machen, dann darf man das eben nicht — wie es auch heute früh so schrecklich durchklang — als Ausfluß einer totalen Anspruchsmentalität denunzieren wollen.
Man darf, Herr Bundeskanzler und an die Adresse welchen Ministers das auch gerichtet sein mag, den Leistungswillen der materiell Starken nicht im umgekehrten Verhältnis zur Höhe ihres Einkommens in Anspruch nehmen wollen.
Es ist nicht solidarisch, wenn man den kleinen Leuten dauerhafte Lasten aufbrummt und die Reichen mit kleinen Verzichten davonkommen läßt, deren Gegenwert sie außerdem noch bald zurückbekommen sollen.
Es ist eben nicht solidarisch, wenn man bei der Mitbestimmung und bei der Humanisierung der Arbeitswelt dem Stillstand oder gar dem Abbau das Wort redet.
Denn eine solche Haltung könnte die Rückkehr zum Herr-im-Hause-Standpunkt bedeuten.
Im übrigen, meine Kollegen von der Union und die, die es aus der FDP angeht — es sind ja nur einige, die dies aus der FDP angeht —: Es heißt falsch Zeugnis reden, wenn man unserem Volk einreden will, die Regierung der sozialliberalen Koalition habe die Bundesrepublik in eine Insel des
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7446 Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 123. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. Oktober 1982
BrandtElends inmitten eines Meeres von Wohlstand verwandelt.
Jeder sollte wissen, daß das nicht stimmt. Dann soll man es auch nicht so sagen und das Volk verdummen.
— Ich weiß, das tut Ihnen weh. Ich kann es Ihnen nicht ersparen.
Es ist falsch Zeugnis, wenn man bestreiten will, daß die materielle, soziale und rechtliche Stellung der deutschen Arbeitnehmer, natürlich wesentlich mit Hilfe ihrer Gewerkschaften, entscheidend gestärkt worden ist, seit die Sozialdemokraten vor 16 Jahren in Bonn Regierungsverantwortung übernommen haben.
Niemand wird uns daran hindern können, den deutschen Arbeitnehmern und allen anderen, die es angeht, jeden Tag von jetzt ab bis zum 6. März die Tatsachen über die wirklichen Zusammenhänge darzulegen.
Ich bitte meine Freunde überall in der Bundesrepublik, sich jetzt hinreichend auf diesen Wahlkampf, der ins Haus steht, vorzubereiten.
Wir werden den Arbeitnehmern und allen anderen, die es angeht, auch darlegen, was hier gegen wen durchgesetzt werden mußte,
leider also wohl auch in Zukunft durchgesetzt werden muß,
und auch darüber, daß denjenigen, die den solidarischen Gedanken verhöhnen, nicht viel mehr einfällt, als daß sie von anderen fordern, den Gürtel enger zu schnallen.
Seit 1966, seit Sozialdemokraten in Bonn Regierungsverantwortung tragen, zunächst mit den Christdemokraten, seit 1969 mit den Freien Demokraten, ist für die Arbeitnehmer eine Menge er-reicht worden. Das können Sie hier auch nicht wegzaubern.
1965 betrug der durchschnittliche Nettojahresverdienst eines Arbeitnehmers 7 731 DM.
1980 waren es 21 177 DM. Nach Abzug der Preissteigerungen bleibt eine reale Zunahme der Kaufkraft des Lohnes von 51% in 15 Jahren.
Zweitens. Es gibt seit dieser Zeit den Anspruch auf arbeitsrechtliche Lohnfortzahlung für kranke Arbeitnehmer. Dabei soll es auch bleiben.
Drittens. Die Renten haben sich in dieser Zeitspanne nominal um 143 % erhöht. Die reale Kaufkraft der Renten stieg im Schnitt um 50 %.
Viertens. Neue Mitbestimmungs- und Mitwirkungsrechte sind zumal durch das Betriebsverfassungsgesetz von 1972 eingeführt worden.
Die Rechte des Betriebsrats wurden wesentlich erweitert, die Jugendvertretung ausgebaut, eine starke Stellung der Gewerkschaften verankert. Das war richtig, und das muß so bleiben.
Fünftens. 1969 haben 47,8% der Haushalte eine Urlaubsreise von fünf und mehr Tagen unternommen. In diesem Jahr sind es 70,3 %.Sechstens — ich kann keinen vollständigen Katalog aufmachen. Arbeitslosengeld und Kurzarbeitergeld wurden auf 68%, Arbeitslosenhilfe auf 58 % erhöht. Der Mutterschaftsurlaub wurde erweitert. Wir sind stolz, daß dies möglich gewesen ist.Meine Damen und Herren, auch wenn dies nur eine Übergangsregierung ist, — —
— Ich komme gleich darauf. Warten Sie einen Augenblick.
Wir werden bei allen Vorbehalten und Gegensätzen der neuen Regierung helfen, wo wir meinen, daß ihre Maßnahmen hilfreich sein können, um die Beschäftigungsprobleme weniger drückend zu machen. Andernfalls werden wir unsere alternativen Vorstellungen erarbeiten, an denen sich die Regierung messen kann. Wir werden unsere Gemeinwohlpflichten dort wahrnehmen, wo uns der Wähler
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Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 123. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. Oktober 1982 7447
Brandtund wo uns die Regeln der parlamentarischen Demokratie hinstellen.
Natürlich ist es zutreffend, daß nicht die Wirtschaftskrise von der sozialen Sicherheit kommt, sondern daß sich die Probleme der sozialen Sicherheit und ihrer Finanzierung aus der Krise ergeben, aus der Arbeitslosigkeit,
von der Sie so tun, als sei sie ein deutsches Phänomen, vom Grafen Lambsdorff und anderen produziert.
Ich beschreibe unsere Haltung für die nächsten Monate. Wir werden nicht die Fehler nachmachen, die uns die CDU/CSU in ihrer Opposition der letzten über 13 Jahre vorgemacht hat. Dies geht aber nur, wenn die bis zur Hetze gesteigerte Desinformation zur Erblast aufhört,
die ja nur die Funktion hat,
Schwierigkeiten auf das selbstgemachte Feindbild lenken zu können
und Volksverdummung — ich wiederhole das Wort: Volksverdummung —
in dem Sinne zu betreiben, als habe die Regierung Schmidt/Genscher die Arbeitslosigkeit produziert. Sie wissen, daß das nicht wahr ist.
Soweit sich, meine Damen und Herren, das Wort von der Erblast auf die Staatsfinanzen bezieht, ist jede Kritik seitens der neuen Koalition nur dann glaubwürdig und nur insofern glaubwürdig und mehr als der Aufbau von Feindbildern, als es zugleich selbstkritisch ist. Meine Kollegen Zurufer von vor ein paar Minuten, hat die bisherige Opposition nicht 13 Jahre lang höhere Ausgaben gefordert,
dem Staat Einnahmen verweigert und die Kreditfinanzierung verteufelt?
Diese Verweigerung der Rolle einer großen Opposition war nicht gut. Wir werden das nicht nachmachen. Aber wir wollen es uns auf den Oppositionsbänken natürlich auch nicht zu bequem machen;denn wir gedenken, mit Hilfe unserer Mitbürger dort nicht allzulange sitzen zu bleiben.
Ich habe soeben schon anklingen lassen, meine Damen und Herren: Rezepte aus der Zeit des Wiederaufbaus können die gegenwärtigen Schwierigkeiten nicht beheben. Auch Beschwörungen dessen, was mit dem Namen und der Leistung von Professor Ludwig Erhard verbunden bleibt, können uns jetzt nicht helfen. Unser Land ist mehr als jedes andere in die weltwirtschaftlichen Zusammenhänge eingebettet.
Das werden auch diejenigen noch lernen und zugeben müssen, die heute so tun, als lebten sie allein auf der Welt und könnten allein alles besser machen.
Wer das besser machen will, was durch nationale Anstrengung besser gemacht werden kann, der darf jetzt nicht eine deflationistische Haushaltspolitik zur Schrumpfung der Nachfrage machen.
Denn dies würde mit Sicherheit nicht zur Belebung der Investitionstätigkeit führen. Wir brauchen neben privaten Investitionen auch eine nachdrückliche Förderung öffentlicher Investitionen. Wir brauchen — differenziert und ausgerichtet am Produktivitätsfortschritt — auch weitere Verkürzungen der Arbeitszeit. Wir brauchen auch eine organische Beteiligung der Arbeitnehmer am Zuwachs des Produktivvermögens. Meine Damen und Herren, Anstrengungen der öffentlichen Hände müssen dazu beitragen, daß ein langfristiger, qualitativer Wachstumsbeitrag geleistet wird. Damit meinen wir Ausgaben für berufliche Qualifikation,
Ausgaben für Wissenschaft, Forschung und Technologie, für Innovationsförderung und für das Einsparen von Energie.Der Schutz der natürlichen Umwelt bedarf natürlich internationaler Anstrengungen und Verträge, wenn man allein an die Flüsse denkt. Aber man muß ja auch an die sauren Regen denken, mit denen wir anderen und andere uns etwas zufügen. Aber wir brauchen jetzt ganz gewiß auch eine neue nationale umweltpolitische Offensive.
Wer weiß, wie es in vielen unserer Städte heute um das Trinkwasser bestellt ist, wer weiß, daß unsere Wälder sterben — es gibt ein altes deutsches Wort: Wo der Wald stirbt, stirbt das Volk —,
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7448 Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 123. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. Oktober 1982
Brandtder kann nicht überhören, was von uns erwartet wird, um Ökonomie und Ökologie in ein neues Gleichgewicht zu bringen.
Dieses Thema beschäftigt in diesem Augenblick Hunderttausende von Arbeitnehmerfamilien. Man dient überhaupt keinem vernünftigen Zweck, wenn man hier Väter und Söhne gegeneinander ausspielen will.
Sie haben heute, Herr Bundesarbeitsminister, nicht wie ein Gewerkschafter gesprochen.
Sie lassen sich durch den Beifall und das Schulterklopfen derer tragen, die für den Facharbeiter und für die Arbeitnehmer überhaupt noch nie viel übriggehabt haben.
Sie werden sich vielleicht noch einmal darüber schämen, Herr Bundesarbeitsminister, daß Sie eine falsche Front errichten helfen, und zwar eine Front gegen die Rechte und gegen die Interessen der deutschen Arbeitnehmer.
Sie haben von Konsens gesprochen, Herr Bundesarbeitsminister, und in Wirklichkeit haben Sie eine Kampfansage hinausposaunt.
Ich kann das nur tief bedauern.Herr Blüm sprach, und zwar herablassend uns Sozialdemokraten gegenüber, vom Rückfall in das 19. Jahrhundert.
Ich will auf diese und andere rhetorische Anrempeleien nicht weiter eingehen. Aber eines vergessen wir keinen Augenblick, und in Wirklichkeit wissen Sie das, meine Kollegen von der Union, von der FDP wie wir: Über die ganze westliche Industriewelt zieht sich eine wirtschaftliche Krise, die mehr mit den Sorgen der Vergangenheit als mit Hoffnungen für die Zukunft zu tun hat. Der Arbeitsminister macht daraus auf kleinliche demagogische Weise einen innenpolitischen Streit.
In Wirklichkeit, Herr Arbeitsminister, haben wiruns mit dem größten sozialökonomischen Debakelseit dem Zweiten Weltkrieg zu befassen. Was derArbeitsminister in seiner Formulierungssucht vergessen hat, will ich nachtragen.
In der OECD sieht die Lage so aus, daß man im vor uns stehenden Winter, nicht mit 30, sondern eher mit 35 Millionen Arbeitslosen rechnen muß.
In der Europäischen Gemeinschaft sieht die Lage so aus, daß man eher mit 15 als mit 12 Millionen Arbeitslosen rechnen muß.
Für die Bundesrepublik sage ich angesichts dessen, was diese Regierung geboten hat,
und bei Beurteilung Ihrer Politik voraus:
Diese Politik wird von der Krise der Beschäftigung und von der sozialen Krise anderer konservativ regierter Staaten eingeholt werden.
Was Sie auf jener Regierungsbank jetzt wollen, das haben andere Industrieländer versucht und sind schon damit gescheitert,
nämlich die Masseneinkommen, die Löhne, die Gehälter und Sozialleistungen aus ideologischen Gründen oder einer bestimmten ökonomischen Theorie zuliebe erst einmal herunterzudrücken, die hohen Einkommen nicht wirklich heranzuziehen und damit Entsolidarisierung im extremen Maße zu betreiben.Eines ist unübersehbar:
Die Konservativen haben anderswo tiefe gesellschaftspolitische Eingriffe vorgenommen
— hier will man es offensichtlich nachmachen —, Eingriffe, die zwar als Sparen deklariert werden, aber in Wahrheit nichts anderes als Umverteilung von unten nach oben bedeuten.
Die Politik der Konservativen, das Niveau sozialer Leistungen zu senken, die Löhne und Gehälter nach unten zu lenken, Sozialstaatlichkeit anzugreifen und auszuhebeln, hohe Einkommen zu begünstigen, hat sich anderswo als eine Politik nicht der Lösung, sondern noch zunehmender Sorgen erwiesen. Dies ist die Politik der Krise, nicht des Auswegs aus der Krise.
Das kann man vernünftigerweise nicht mitmachen.
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Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 123. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. Oktober 1982 7449
BrandtMeine Damen und Herren, der Münchener Parteitag und unser Beschluß vom Montag zur Wirtschaftspolitik machen — da ich von Umwelt sprach — im übrigen ganz deutlich, was man tun kann, um auch durch aktive Umweltpolitik Arbeitsplätze nicht zu vernichten, sondern neue Arbeitsplätze zu schaffen. Das ist eine Aufgabe, die uns keine grüne Partei abnehmen kann. Das ist eine Aufgabe, die wir in die Hand nehmen müssen.
Zur Innenpolitik hat Bundeskanzler Schmidt am 1. Oktober im zwölften seiner hier vorgetragenen Punkte folgendes gesagt, was mein rheinhessischer Freund und Kollege Hugo Brandt gestern aufgenommen hat:Eine menschliche Gesellschaft bedarf der inneren Liberalität. Über die Qualität unserer Demokratie entscheidet zuallererst der Respekt vor der Freiheit und der Würde des anderen, d. h. das Maß an innerer Liberalität, die wir tatsächlich üben und bewahren.Das, Herr Bundeskanzler Kohl, ist der Kernpunkt deutscher Staatsraison — um auf diesen Punkt Ihrer Regierungserklärung zurückzukommen.
Sie haben diesen Kernpunkt an einer ganz anderen Stelle festmachen wollen. Diese andere Stelle, nämlich das Bündnis, ist für uns ganz gewiß wichtig. Doch bevor wir im Bündnis wirken können und unsere Interessen vertreten können, geht es um den eigenen Staat, die eigene Verfassung, die eigenen Werte und die eigene Zukunft.
Im übrigen, Herr Bundeskanzler, wie wollen Sie eigentlich die in Ihrer Regierungserklärung bemühte Staatsraison mit der Pflicht, für die deutsche Einheit zu wirken, auf einen Nenner bringen?
Auch dies muß gesagt werden: Liberalität zeigt sich für die Sozialdemokraten nie allein in noch so wichtigen formalen Garantien, die dem Bürger gewährt werden. Liberalität heißt auch, daß die sozialen Chancen der Teilhabe nicht durch Herkunft oder durch die Zugehörigkeit zu bestimmten Gruppen beschnitten werden.Deshalb war das so wichtig, was Björn Engholm hier gestern über die Bildungschancen gesagt hat.
Es ist heuchlerisch, wenn man den Facharbeiter lobt und es für selbstverständlich hält, daß die eigenen Kinder von vornherein auf die höhere Schule kommen.
Ich weiß, wovon ich spreche. Ich weiß, wie schwer ich es in Lübeck als Arbeiterjunge gehabt habe, aufs Johanneum gehen zu können.Nun hat sich im Laufe der Zeit, in der wir Verantwortung getragen und sozialliberale Bildungspolitik gemacht haben, die Zahl der Arbeiterkinder, die aufdie hohe und höhere Schule gehen, verdoppelt. Das ist doch nicht schlecht. Davon könne wir doch nicht abgehen.
Dieses Stück mühsam erkämpfte Gerechtigkeit und soziale Gleichstellung darf doch nicht zerstört werden.Herr Bundeskanzler, ich habe da noch eine große Lücke entdeckt. Wir haben 1969 gesagt, wir wollten die notwendigen Konsequenzen ziehen, um den Frauen mehr als bisher zu helfen, ihre gleichberechtigte Rolle in Familie, Politik und Gesellschaft zu spielen. Und einiges haben wir doch gemeinsam mit den Freien Demokraten zustande gebracht:
wo es um das Nichtehelichenrecht, um die Kinder und die Mütter ging; wo es um Partnerschaft ging; auch das schwierige Bemühen um die sozial gesicherte Altersrente der geschiedenen Frauen. Wir haben den § 218 StGB reformiert und diese Strafrechtsänderung haben wir mit sozial ergänzenden Maßnahmen verbunden. Die Kollegin Marie Schlei — sie kann jetzt nicht dabei sein — hat sich hierum zusammen mit anderen sehr bemüht. Das war sehr verdienstvoll.
Es war eine Koalition aus Sozialdemokraten und Freien Demokraten, die das uralte Versprechen auf Gleichberechtigung jedenfalls in Teilen eingelöst hat. Daran möchten wir anknüpfen, und da werden wir auf der Hut bleiben.
Im übrigen, Herr Bundeskanzler Kohl, wünschen wir Ihnen — ich jedenfalls für mich — für die Übergangskanzlerschaft Glück, weil wir uns allen, den Deutschen hüben wie drüben, Glück wünschen und Glück wünschen lassen.
Das gilt auch für Europa und für unsere Partner in aller Welt.Aber ich sage Ihnen, Herr Bundeskanzler — Sie wissen es eigentlich; sonst werden Sie es neu lernen —: Es gibt kein Glück auf Kosten anderer,
schon gar nicht auf Kosten der Mehrheit der Arbeitnehmer, der kleinen Leute und besonders der jungen Menschen.
Ich erinnere Sie noch einmal an Ihr deplaciertes Mahnwort von der anderen Republik. Ich sage Ihnen: Diese Demokratie und diese Republik werden nicht bestehen, wenn sie nicht täglich im Bündnis
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7450 Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 123. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. Oktober 1982
Brandtmit den Arbeitnehmern und mit der Jugend riskiert werden.
Dieses Bündnis muß bestehen, weiterentwickelt werden, als ein kritisches Bündnis, weiß Gott, eines, in dem wir klare Positionen zu beziehen haben, nüchtern, selbstbewußt, diszipliniert, prinzipienfest,
doch zugleich offen. Und das wiederhole ich: Verriegeln Sie die Türen dieser offenen Gesellschaft nicht! Es gibt keine Demokratie, an deren Türen steht: „Geschlossene Gesellschaft"
oder womöglich noch: „Zutritt für Andersdenkende untersagt", „Zutritt für Aufbegehrende verboten".
Das geht jetzt auch direkt an Ihre Adresse, Herr Bundeskanzler, es geht an die des sonst so diensteifrigen und aufmüpfigen Herrn Geißler, es geht an die des Herrn Zimmermann und vor allem an die Adresse des Chefs der apokalyptischen Reiter aus München:
Wir werden, wo es um uns geht, die Türen unserer Gesellschaft beharrlich öffnen, die andere zu schließen versuchen. Und wir werden verhindern, daß unsere Menschen, gerade auch die jungen, nicht von neuem an demokratischer Atemnot leiden müssen. Ich bleibe bei meinem Wort — das geht nicht immer gleich gut —, daß man Demokratie, auch mehr Demokratie, wagen muß.
Wer nicht mehr Demokratie will, Tag um Tag, der begibt sich in Gefahr, daß weniger Demokratie herrschen wird.
Zum Schluß: Ich bleibe bei dem Rat, den ich meinen Freunden gegeben habe, nicht vorzeitig oder gar überflüssigerweise in einen Streit mit dem amtierenden Bundeskanzler oder Außenminister über Außen- und Sicherheitspolitik einzutreten. Es fehlt ganz gewiß nicht an Themenbereichen, die umstritten sind, wo das ganz eindeutig ist, und deren Inhalte in lebhafter Auseinandersetzung durchgefochten werden müssen. Die Überschriften und die allgemeinen Texte — wenn ich die Außenpolitik nehme —, die wir bisher kennen, fordern jedenfalls unseren Widerspruch im großen und ganzen nicht heraus. Es wäre im übrigen kein Nachteil, sondern ein Vorteil, wenn die Zusage der Kontinuität, also des Weitermachens dessen, was sich bewährt hat, damit auch des Runterschluckens dessen, was man früher über Ausverkauf und Verrat gesagt hat,
eine praktische Bestätignung erführe.
An unserer Bereitschaft, auch heute und morgen nationale Mitverantwortung zu tragen, wird es nicht fehlen. Wir werden Sie im übrigen an Ihren Taten messen. Und wo wir es der Sache wegen, also noch einmal: wo wir es in unserem Verständnis der Interessen unseres Volkes wegen, für geboten halten, da werden wir widersprechen, wo erforderlich, laut, jedenfalls vernehmlich.Meine Damen und Herren, zu drei Punkten noch je ein Satz oder zwei:Erstens. Was Bundeskanzler Kohl zum Begriff der Sicherheitspartnerschaft gesagt hat, das bedeutet soviel wie „schwarzer Neger" oder „weißer Schimmel";
denn es ist doch selbstverständlich, Herr Bundeskanzler, daß sich die westliche Allianz als eine sicherheitspolitische Partnerschaft versteht. Das ist doch selbstverständlich. Und es bleibt richtig, daß die Bundeswehr dazu ihren, den wichtigen Beitrag unseres Staates und Volkes leistet. Aber es geht doch darum — und dazu war kein Wort drin und nicht der Anflug eines Gedankens —, was aus dem Verhältnis zwischen Ost und West in der Welt wird,
wie wir unserer Verankerung im Westen das unermüdliche Bemühen um den Abbau von Spannungen hinzufügen und was aus dem wahnsinnigen Rüstungswettlauf wird,
der zunehmend nicht nur den Frieden bedroht, sondern auch die Menschheit ärmer macht.
Gerade heute früh wurde bekannt, daß Herr Weidenbaum, der als ökonomischer Berater von Präsident Reagan zurückgetreten ist, seinem Präsidenten gesagt hat: Selbst ein wirtschaftlicher Staat wie die Vereinigten Staaten von Amerika hält das mit diesen überhöhten Militärausgaben nicht durch. Und das ist wahr!
Was aus dem wahnsinnigen Rüstungswettlauf wird, bedroht j a nicht nur den Frieden; das macht auch die Lage zwischen Nord und Süd immer schwieriger.Aber noch etwas zu dem anderen. Helmut Schmidt hat im siebten seiner zwölf Punkte von dieser Stelle aus formuliert:Zur Politik der vereinbarten schrittweisen Abrüstung, des vereinbarten Gleichgewichts auf niedriger Ebene, gibt es keine vernünftige friedenspolitische Alternative. Denn weder der Westen noch der Osten kann allein seinen Frieden garantieren. Sicherer Friede bedarf der Sicherheitspartnerschaft beider Seiten, der Partnerschaft zum Frieden.
Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode —.123. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. Oktober 1982 7451BrandtDazu wird man noch Stellung nehmen müssen.Eine zweite Bemerkung. Herr Bundeskanzler, mit Glasperlenspielen einer fiktiven europäischen Verfassung ist keinem der aktuellen tatsächlichen Probleme beizukommen. Es geht doch heute — wer sich in europäischen Dingen auskennt, weiß das — um sehr viel handfestere, unmittelbar vor uns liegende Probleme der Europäischen Gemeinschaft. Es wäre nicht schlecht, Herr Bundeskanzler, die immer noch interessierten und in jedem Fall betroffenen Bürger voll ins Vertrauen zu ziehen und ihnen zu sagen, worum es morgen und übermorgen in Brüssel und in Straßburg und anderswo gehen wird.Das wachsende Bedürfnis vor allem vieler jüngerer Menschen nach einem eigenständigen Lebensentwurf für Europa — nicht nur ganz allgemein für den Westen, sondern für dieses unser Europa — kontrastiert doch in bedrückender Weise mit dem kläglichen Bild, das die Institutionen der Europäischen Gemeinschaft heute bieten.
Ich vermute, daß diejenigen auf dem richtigen Weg sind, die einen neuen inhaltlichen, qualitativen Integrationsansatz suchen. Dieser neue Integrationsansatz muß über die wirtschaftliche Verflechtung hinausreichen.
Doch wird da nichts passieren, wenn die Wirtschaftsgemeinschaft verkümmert oder gar zusammenbricht.Ich bin also für eine aktive, wenngleich nicht allzu illusionsbereite Europapolitik, Herr Bundeskanzler.Ich bleibe drittens der Meinung, daß es sich bei dem Ausgleich zwischen Nord und Süd, zwischen satten und hungernden Völkern — um die Hungernden aus der Dritten Welt in den Vordergrund zu schieben —, auch um eine der zentralen Aufgaben der Friedenssicherung in unserer Zeit handelt.
Dieser Ausgleich kann in den Jahren, die vor uns liegen, zumal dann, wenn Ressourcen, die sonst für die Rüstung verschwendet werden, umgelenkt werden können, zu einem Teil umgelenkt werden können, zugleich zu einem Hebel werden, um der Weltwirtschaft positive Impulse zu vermitteln.Wir müssen uns im übrigen davor hüten, die Entwicklung in der Dritten Welt allein an der Meßlatte unserer eigenen Zivilisation zu bewerten. Man muß ganz schön beschränkt sein, sage ich an die Adresse einiger Kollegen in der Union, um Befreiungsbewegungen in kolonialen und halbkolonialen Ländern einfach als „Terrororganisationen" einzustufen.
Ich fasse zusammen: Die Rechtskoalition hat mit ihrer Regierung keine Mehrheit im Volk.
Eine Mehrheit im Volk will soziale Gerechtigkeit und aktive Beschäftigungspolitik.
Eine Mehrheit im Volk will Verteidigung und Ausbau der demokratischen Freiheiten.
Eine Mehrheit im Volk will aktive und selbstbewußte deutsche Friedenspolitik.
Ich füge hinzu, meine Damen und Herren: In entscheidenden Momenten der deutschen Geschichte hat sich tragisch ausgeprägt, daß die sozial und liberal motivierten Kräfte, daß junge und alte Reformer nicht zu gemeinsamem Handeln zusammenfanden. Lernen wir aus der Geschichte, wenn wir können. Dies ist keine Zeit, in der sich diejenigen in unserem Volk, die das Bestehende sichern und nach vorn wollen, Zersplitterung leisten können,
sondern dies ist eine Zeit, zu der ich sage: Gemeinsam gilt es, vom sicheren politisch-geistigen,
nämlich sozialen und freiheitlichen Grund den Aufbruch nach vorn zu wagen. — Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Wort hat der Abgeordnete Mischnick.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Kollege Dregger, ich hatte schon Gelegenheit, Ihnen persönlich alle guten Wünsche für Ihre Arbeit zu übermitteln. In den ersten Gesprächen ist uns klar geworden, welche schwierige Aufgabe Sie und ich zu erfüllen haben. Ich weiß dabei, daß diese Aufgabe gerade von uns Freien Demokraten in der nächsten Zeit sehr viel Einsicht, Engagement, Überzeugungskraft und auch gegenseitige Loyalität fordert. Ich werde mich darum bemühen in der Art, wie ich meine Aufgabe immer gesehen habe: eine übernommene Pflicht, eine übernommene Partnerschaft loyal zu erfüllen. Sie können sicher sein: Ich setze alles daran, daß die Freie Demokratische Partei, diese Fraktion bei dieser Arbeit ihre Pflicht erfüllt.
In den letzten Tagen ist erneut eine Kampagne gegen den Vorsitzenden der Freien Demokratischen Partei in einer Weise betrieben worden — hier mehrfach —,
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7452 Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 123. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. Oktober 1982
Mischnickdie mich an die Kampagne gegen den Parteivorsitzenden der Sozialdemokraten in vergangenen Jahren erinnerte. Ich habe damals kein Verständnis dafür gehabt, wie der Parteivorsitzende der Sozialdemokraten angegriffen worden ist und wie versucht wurde, ihn zu demontieren. Ich hatte gehofft, Sie hätten heute Verständnis dafür, daß das umgekehrt auch nicht die anständigste Art des politischen Umgangs miteinander ist.
Es ist auf die innere Liberalität Bezug genommen worden, die der frühere Bundeskanzler zum Ausdruck gebracht hat. Zur inneren Liberalität gehört auch, daß ich in der Sache hart bin, aber nicht anfange, unmenschlich zu werden. Das kann ich nicht ertragen.
Das macht mir sehr deutlich, daß der Hinweis auf die Heimstatt für Liberale, die sie jetzt nicht mehr hätten oder verlieren könnten, doch nicht ganz so umfassend sein kann, wie das dargestellt worden ist.Es ist schon auf die Erfahrungen des letzten Wahlkampfes in Bayern eingegangen worden. Dabei spielten die Auseinandersetzungen in Weiden eine Rolle. Ich denke an München und Nürnberg. Ich muß offen sagen: Ich war sehr betroffen darüber, in welcher Form versucht worden ist, Veranstaltungen organisiert zu stören. In Nürnberg hat sich mein Parteifreund Hürner auf einer Versammlung — er hatte vorher in dieser Versammlung offen gesagt, daß er mit der Entscheidung in Bonn nicht einverstanden sei — nach meiner Rede und einer Diskussion mit den Zuhörern — ich habe mich trotz der Störversuche nicht gescheut, eine halbe Stunde lang Fragen zu beantworten — hingestellt und gesagt, er schäme sich für seine Vaterstadt, daß in ihr, in der er sich selbst für das Demonstrationsrecht anderer, denen man es habe entziehen wollen, eingesetzt habe, mit Trillerpfeifen und allen möglichen Dingen versucht werde, einer demokratischen Partei die Möglichkeit zu nehmen, sich verständlich zu machen.
Dagegen müssen wir uns gemeinsam wehren, daß nicht Zustände, wie sie in der Weimarer Republik waren und mit zur Radikalisierung geführt haben, eintreten können.
Ich scheue mich vor keiner sachlichen Auseinandersetzung. Ich habe sie geführt. Nur, bitte überlegen Sie sich wirklich in aller Ruhe, ob es richtig ist, wenn 300, 400 Leute — das würde ich, wenn es bei einer andern Seite passiert, genauso beurteilen — —
— Ich sage es ja nach jeder Seite, Herr KollegeBrandt. Ich habe es leider in dieser Form in denletzten Wochen erlebt. Und es kann doch nicht sosein, daß die, die die Plaketten „SPD" haben, die alle irgendwo geklaut haben. Die müssen sie doch vorher irgendwie bekommen haben.
Dies sage ich nicht, weil man sich etwa nicht sachlich auseinandersetzen soll. Im Gegenteil, ich halte das für notwendig.Ich verstehe auch, daß Emotionen wach geworden sind. Aber ich habe etwas dagegen, daß Emotionen, wenn sie vorhanden sind, noch systematisch geschürt werden.
Da muß man doch erwarten, daß von denen, die 20, 30 Jahre Mitverantwortung tragen, viel getan wird, um diese Emotionen bremsen zu helfen.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage der Frau Abgeordneten Schmidt?
Bitte schön.
Herr Kollege Mischnick, darf ich Ihren bisherigen Redebeitrag so verstehen, daß Sie Nürnberger Sozialdemokraten vorwerfen, hier systematisch Emotionen geschürt zu haben?
Ich werfe vor, daß in Nürnberg — und meine Parteifreunde, die ja Ihre Kollegen, Ihre Genossen kennen, haben dies j a, wie ich gesagt habe, durch den Kollegen Hürner vor aller Öffentlichkeit gesagt — versucht wurde, mit Trillerpfeifen und allem, was zu tönen möglich ist, die ganze Kundgebung kaputtzumachen. Ich habe so viel Nerven, eine Stunde durchzustehen wie vorgesehen, und mich nicht davon abbringen zu lassen.
Nur, bitte stellen Sie sich das vor: Wenn dies der Stil für den nächsten Bundestagswahlkampf wird, dann haben wir doch denjenigen recht gegeben, die gesagt haben, daß wir hier nicht fähig seien, sachlich zu diskutieren, sondern nur noch fähig seien, uns mit Emotionen aufzuheizen. Das ist meine Sorge.
Sie gestatten noch eine Zwischenfrage? — Bitte, Frau Schmidt.
Herr Kollege Mischnick, um dann nicht noch einmal persönliche Erklärungen hier abgeben zu müssen: Ich verwahre mich ganz entschieden gegen den Vorwurf — —
Nein, nein! Moment, Moment! Meine liebe Frau Kollegin, Sie wissen, daß das nicht geht. Bitte.
Entschuldigung. Ich darf es anders formulieren.
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Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 123. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. Oktober 1982 7453
Bitte.
Herr Kollege Mischnick, nehmen Sie bitte zur Kenntnis, — —
— Würden Sie bitte zur Kenntnis nehmen — jetzt ist ein Fragezeichen hintendran —, daß keine führenden Sozialdemokraten der Nürnberger SPD hier systematisch gegen Sie mit Trillerpfeifen und ähnlichem vorgegangen sind?
Frau Kollegin, Sie wissen, daß das nicht geht, was Sie eben gemacht haben. Aber wenn der Herr Kollege Mischnick darauf antworten will, bitte.
Ich habe die Frage so verstanden, ob ich bereit bin, zur Kenntnis zu nehmen. Ich bin bereit, zur Kenntnis zu nehmen,
daß keine führenden Persönlichkeiten der SPD dies organisiert oder vorbereitet haben. Das habe ich auch nicht behauptet. Ich habe mich nur dagegen gewehrt, daß dies möglich war und daß man sich nicht dagegen wendet. Das ist das, was ich für sinnvoll halte. Ich könnte mir vorstellen, daß dann, wenn bei einer solchen Gelegenheit ein Teil überschäumt — dafür habe ich ja Verständnis —, führende Kollegen von Ihnen, wenn sie dabei sind, zur Beruhigung beitragen und es nicht einfach laufenlassen. Wenn das geschehen ist, freue ich mich, daß es geschehen ist. Gewirkt hat es nicht. Ich hoffe, in der Zukunft klappt es. Ich jammere doch nicht darüber. Ich sehe doch nur die Gefahr für uns alle, die darin steckt. Das ist doch keine parteipolitische Frage.
Lassen Sie mich nun ein paar Punkte aus der Debatte von Mittwoch bis heute herausgreifen und zu ihnen Stellung nehmen, bevor ich auf das eingehe, was Herr Kollege Brandt hier gesagt hat. Es hat dabei — ich kann nicht alles aufgreifen — in den Beiträgen des Kollegen Apel — ich weiß nicht, ob es auch Kollege Ehmke war — z. B. die Frage eine Rolle gespielt, was denn nun aus dem Recht der Kriegsdienstverweigerung wird. Das wurde mit dem Hinweis versehen, wir würden hier unsere Grundsätze verraten. Sie können ganz beruhigt sein: Wir sind schon mitten in Gesprächen zwischen den beiden neuen Partnern, um hier Lösungen zur Abschaffung der Gewissensprüfung zu suchen und eine vernünftige Regelung für die Ersatzdienstzeit zu finden, damit wir auch diese Frage, soweit es irgend machbar ist, noch in den nächsten drei Monaten über die Bühne bringen.
Wir strengen uns an; ich hoffe, Sie wirken dabei wie früher mit.Zweiter Punkt. Sie haben von der Rechtspolitik gesprochen. Herr Minister Schnoor hat mich mehrfach angesprochen. Ich muß ehrlich sagen: AlsNichtjurist war ich fast gerührt, daß mir so viel rechtspolitische Aufmerksamkeit gewidmet wurde.Ich habe seine Rede allerdings noch einmal nachgelesen, weil mir bei manchen Punkten das Wort „dunkel war der Rede Sinn" in den Sinn kam. Beim Nachprüfen habe ich dann festgestellt, daß hier bezweifelt wurde — das war auch beim Kollegen Brandt so —, daß wir Freien Demokraten nicht auch Punkte gehabt hätten, hinsichtlich derer wir gemeinsam nicht zu einem Ergebnis gekommen sind. Ich will hier nicht alles aufzählen, ich darf nur daran erinnern, wie die Koalitionsverhandlungen 1980 gerade im rechts- und innenpolitischen Bereich äußerste Schwierigkeiten bereiteten, weil in vielen Punkten nur intern Absichtserklärungen zustande gebracht worden waren, die nicht in die Regierungserklärung hineinkommen sollten.Hinsichtlich des Kontaktsperregesetzes, nach dem ein Verteidiger ausgeschlossen werden kann, wenn ihm Verbindungen zu Terroristen usw. nachgesagt werden oder wenn möglicherweise Verbindungen bestehen und kein Pflichtverteidiger bestellt werden kann, sind wir dabei, mit dem neuen Koalitionspartner zu prüfen, ob es uns in diesen drei Monaten gelingen kann, die Möglichkeit des Angeklagten, dann einen Pflichtverteidiger zu bekommen, ins Gesetz einzubauen, wie es das Verfassungsgericht in seinem Urteil j a deutlich gemacht hat.
Meine Damen und Herren, das zeigt doch, daß hier die Bereitschaft besteht, Probleme, die für uns sehr gewichtig sind, die uns aber hinsichtlich Ihres Beratungszeitraums nicht über Wochen und Jahre aufhalten, noch einer Lösung zuzuführen. Ich habe nicht gesagt, daß wir es schaffen; aber der gute Wille — dies habe ich festgestellt — ist vorhanden. Ich wäre froh, wenn man hier dann auch zu einer gemeinsamen Entscheidung käme.Manchmal habe ich in diesem Zusammenhang natürlich auch das Gefühl, daß Krokodilstränen über die Gefahren für die liberale Partei vergossen wurden. Aber dazu will ich in einem anderen Zusammenhang noch ein paar Bemerkungen machen.Ich möchte hier aufgreifen, was in der Debatte nicht so deutlich geworden ist, was aber deutlicher in Stellungnahmen von außen zum Ausdruck kam: die Sorge nämlich, in der Deutschland-Politik könne eine Abkehr von unseren bisherigen Grundsätzen erfolgen. Ich bin sehr froh darüber, daß sowohl der Bundesminister Barzel wie auch das, was in der Regierungserklärung steht, deutlich gemacht haben, daß wir hier in der Kontinuität bleiben. Die Kritik, die aus der DDR kommt, ist in meinen Augen voreilig, ungerechtfertigt. Man soll einmal abwarten.Dabei füge ich natürlich hinzu: Es war j a im ganzen Haus immer unbestritten, daß es von unserer Seite beim Abschluß der Verträge Vorbehalte gegeben hat, wenn ich an den „Brief zur deutschen Einheit" denke. Daß dies nicht aus der Welt ist — weder in der alten noch in der neuen Koalition —,
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Mischnickist eine Selbstverständlichkeit. Wir sollten uns aber auch keinen Illusionen hingeben, nun stehe etwa die Zeit vor der Tür, in der die Präambel des Grundgesetzes verwirklicht werden könne. Nur: Wir werden auf keinen Fall vergessen, was in der Präambel des Grundgesetzes steht. Es wird eben auch eine Grundlage der weiteren Politik — wie das auch bisher der Fall war — sein.
Meine Damen und Herren, ich nenne einen weiteren Punkt, der in der Debatte eine Rolle gespielt hat und bei dem mit schiefen Fronten gefochten worden ist. Ich darf das herausgreifen, was über das Kindergeld und darüber, was da nun an neuen Zumutungen vorhanden sei, gesagt worden ist. Das spielt ja auch eine Rolle bei der Frage: Was wäre denn in der alten Koalition noch machbar gewesen oder was wäre nicht machbar gewesen?Ich erinnere mich noch sehr genau, daß wir dabei sehr konkrete Vorschläge gemacht haben. Es war mein Parteivorsitzender, der Einkommensgrenzen beim Kindergeld vorgeschlagen hatte. Die Besteuerung des Kindergeldes war von mir in die Diskussion gebracht worden. Man hat sich darauf nicht verständigt.Ich weiß auch noch, daß in einer Gesprächsrunde Modelle von Frau Fuchs dazu vorgelegt wurden, und dann haben die Kollegen von der SPD gesagt: Halt, wenn das Ganze unter dem Strich nicht einmal eine Mark mehr einbringt, sondern wenn nur eine Umverteilung stattfindet, hat das Ganze keinen Sinn. — Damit will ich deutlich machen: Es ist doch nicht so, daß diese Fragen nicht bis ins letzte nach allen Seiten hin- und hergewälzt worden wären. Aber manche von Ihnen, der SPD, meinten, man könne hier nicht einsparen, sondern müsse nur umverteilen, und dies entsprach nicht dem Sinn der notwendigen Operation.Wenn man schon Tagebücher veröffentlicht, dann sollte in diesen Tagebüchern mehr Sachgehalt enthalten sein über das, was Voraussetzung für Entscheidung oder Nichtentscheidung war. Dann hätten sie mehr Glaubwürdigkeitswert als dieses Drehbuch, mit dem hinterher anderen etwas in die Schuhe geschoben werden soll, was man zuletzt — damit kein Irrtum entsteht, füge ich hinzu: von der anderen Seite, nicht von unserer Seite — doch so gewollt hat.
Bei der Kindergelddiskussion möchte ich allerdings hinzufügen: Für uns Freie Demokraten wird — langfristig gesehen; das kann man nicht in drei Monaten machen — eine wichtige Veränderung darin bestehen, daß bei der Gesamtdiskussion — Familiensplitting statt Splitting, Einkommensgrenzen beim Kindergeld oder Versteuerung des Kindergeldes mit einem steuerfreien Betrag von etwa 50 DM pro Kind — die Frage des Kinderfreibetrages, des Kinderbetreuungsbetrages, eingebaut und die Finanzamtslösung hinzugenommen werden muß, denn wenn Sie das alles zusammen sehen, kann das, wenn es uns gelingt, hier eine gemeinsame Lösung zu finden, insoweit auch ein großerWurf zur Entbürokratisierung werden. Denn ich kann heute noch nicht verstehen, daß das Arbeitsamt für das Kindergeld zuständig sein muß.
Diese Lösung, die wir anstreben, kann man aber, so fürchte ich, eben nicht in drei Monaten verwirklichen, weil sie auch für das Steuerrecht so viele Veränderungen mit sich bringt, daß sie langfristig überlegt werden muß.Aber das alles sind Dinge, die, ganz nebenbei gesagt, für mich nicht neu sind, die in vielen Gesprächen — —
— Ja, das weiß ich, aber verständigt auf diese Lösung haben wir uns nicht. Ich komme noch zu einer Bemerkung in dieser Richtung.Von dem, was zur Sozialpolitik gesagt worden ist, möchte ich an dieser Stelle noch eines aufgreifen. Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich weiß, wie schwer den Kollegen von den Unionsparteien der Abschied von dem fällt, was die automatische Rentendynamik in der Formel von 1957 bedeutet. Nicht minder schwer war das in den Diskussionen mit den Kollegen von der SPD. Wir sind da in einer etwas günstigeren Position, weil wir von Anfang an gesagt haben, welche Gefahren in dieser Formel liegen. Es hat sich — ich füge hinzu, nicht Gott sei Dank, sondern leider — bewahrheitet, daß dieser Grundgedanke auf Dauer nicht durchzuhalten ist.Nun werden die verschiedensten Änderungsmodelle diskutiert. Wir glauben, daß wir auf dem Wege, den zu gehen wir uns vorgenommen haben, den Schritt — oder, wenn ich es für mehrere Jahre sehe, die Schritte — in die richtige Richtung tun.Ich verstehe aber nicht, wie z. B. bezüglich der freiwilligen vorgezogenen Altersgrenze von dem Kollegen Glombig, der von diesen Dingen sehr viel versteht, eine so falsche Darstellung — aber vielleicht hat er sich nur geirrt — gegeben werden konnte. Er hat nämlich zum Ausdruck gebracht, die Herabsetzung auf 60 Jahre würde Verzichte um 5 oder 7 % Rente bringen, und hat hinzugefügt: Außerdem sind es dann noch weniger Versicherungsjahre. — Entschuldigung, wenn ich die Rente um 5 % bis 7 % herabsetze, ist natürlich einbezogen, daß weniger Versicherungsjahre zugrunde liegen. Deshalb sind es ja Abschläge von — das müssen wir noch ausrechnen — 5 bis 7 %.Außerdem hat kein Mensch von uns gesagt, daß wir dies als Zwang einführen wollten.
Es ist doch freiwillig! Jeder soll doch selber entscheiden können! Hier kommt die Eigenverantwortung zum Ausdruck. Niemand wird gezwungen.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Westphal? — Bitte.
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Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 123. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. Oktober 1982 7455
Herr Kollege Mischnick, wenn Sie das Thema der versicherungsmathematischen Abschläge bei der Rente hier so behandeln, frage ich Sie: Glauben Sie wirklich, daß bei der heutigen Arbeitnehmerdurchschnittsrente von 1 205 DM, die bei jemandem, der freiwillig statt mit 65 mit 60 Jahren ausscheidet, um 5 mal 5 % gekürzt wird, so daß ein Abschlag von 25% in Kauf genommen werden muß, was, wie meine Mitarbeiter ausgerechnet hatten, bezogen auf diese 1 205 DM, 250 DM Rente weniger pro Monat bedeutet, sich der Betreffende für das Ausscheiden mit 60 Jahren entscheiden kann, oder ist es nicht vielmehr so, daß die Art, wie Sie das machen wollen, neue, zusätzliche Altersarbeitslosigkeit produzieren wird?
Lieber Kollege Westphal, ich bin ganz anderer Meinung. Schon der Gebrauch des Wortes „Kürzung" erweckt doch den falschen Eindruck, als würde jemand, der zu einem bestimmten Zeitpunkt etwas hat, dieses gekürzt bekommen. Das ist doch nicht richtig.
Richtig ist doch etwas anderes. Er wird, wenn er diese Absicht hat, natürlich an die zuständige Rentenversicherungsanstalt vorher, ein Jahr, zwei Jahre, die Frage richten: Was kriege ich denn, wenn ich mit 60 in Rente gehe? Und er wird vielleicht hinzufügen, jedenfalls würde ich das tun: Wieviel würde es nach dem derzeitigen Stand mit 62, 63, 64 sein? Wenn er dann feststellt, die Rentenleistung, die er bekommt, in Verbindung damit, daß er sich möglicherweise Eigentum in Form eines Hauses
oder einer Wohnung geschaffen hat,
reicht ihm aus, dann wird er die Entscheidung treffen. Der andere, der sagt: „Nein, es reicht mir nicht aus", wird diese Entscheidung nicht treffen. Dies bedeutet doch nicht, daß ich den einen besser oder den anderen schlechter stelle, es bedeutet nur, daß ich die individuelle Chance gebe, das, was ich mit meinen eigenen Versicherungsbeiträgen aufgebaut habe, zu dem Zeitpunkt in Anspruch zu nehmen, zu dem ich glaube, das tun zu sollen, ohne die Versichertengemeinschaft zusätzlich zu belasten. Nur darum geht es.
Herr Abgeordneter Mischnick, gestatten Sie noch eine Zwischenfrage des Abgeordneten Westphal?
Bitte, noch eine Frage.
Nur, Frau Präsidentin, ich muß meine Fraktion bitten, meine Redezeit zu verlängern.
Ich wollte durch meine Frage nur eine Bestätigung von Ihnen haben. Herr Mischnick, glauben Sie nicht, daß Sie mir mit dem, was Sie eben gesagt haben, wirklich voll bestätigen, der Bezieher einer kleinen Rente, der aus geringen Einkünften in einem langen Arbeitsleben nur eine kleine Rente entwickeln konnte, kann sich dann die flexible Altersgrenze leider nicht leisten? Dieses, glauben Sie mir, haben Sie mir eben bestätigt.
Lieber Kollege Westphal, ich denke gar nicht daran, das zu bestreiten. Ich habe ja auch nicht gesagt, daß die Herabsetzung der Altersgrenze auf das 60. Lebensjahr als eine sozialpolitische Maßnahme, als eine Hilfsmaßnahme für diejenigen zu betrachten sei, die eine geringe Rente zu erwarten haben. Ich habe nur gesagt, daß hier mehr Möglichkeit der eigenen Gestaltung, daß individuelle Entscheidungsfähigkeit gegeben wird und daß es auch diesem Grunde auch eine Möglichkeit ist — ich schätze sie nicht sehr hoch ein —, daß mancher früher in Rente geht und dafür einen Arbeitsplatz freimacht, den ein anderer besetzen kann. Dies ist die Überlegung, sonst gar nichts.
Herr Kollege Mischnick, gestatten Sie noch eine Zwischenfrage des Herrn Kollegen Glombig?
Kollege Glombig, selbstverständlich.
Bitte.
Herr Kollege Mischnick, weil Sie mich zitiert haben, darf ich Ihnen die Frage stellen: Sie wissen doch, daß es für bestimmte Personenkreise die flexible Altersgrenze mit der Möglichkeit, mit 60 Jahren in Rente zu gehen, zur Zeit schon gibt, und zwar ohne versicherungsmathematischen Abschlag und ohne die Einbrüche in Rentenansprüche, wie sie hier vom Kollegen Westphal dargestellt worden sind, und daß diese Regelung dazu geführt hat,
daß Arbeitnehmer aus diesem Grunde vorzeitig ausscheiden konnten, um jüngeren Arbeitnehmern Platz zu machen?
Glauben Sie nicht, daß dieses jetzt dadurch eher gebremst als gefördert wird, und glauben Sie nicht ferner, daß es, wenn Sie versicherungsmathematische Abschläge fordern, die Flucht in die vorzeitige Erwerbsunfähgikeit geben wird, die bedeutend teurer würde als das, was hier vorgesehen ist?
Nein, Herr Kollege Glombig, ich glaube das nicht. Außerdem hat niemand davon gesprochen, daß die bisher vorhandenen Möglichkeiten dabei abgeschafft werden sollen. Darüber hinaus steht fest, daß bei den bisherigen Möglichkeiten auch ein Abschlag eingerechnet wird, allerdings nicht der versicherungsmathematische. Man hat einen niedrigeren Abschlag gewählt, weil man überzeugt war, für diese besonderen Personengruppen sei das möglich. Nur, die Idee, daß ich generell auf 60 Jahre ohne versicherungsmathematischen Ab-
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Mischnickschlag herabgehen kann, ist nicht finanzierbar, und da muß man auch den Mut haben, das zuzugeben, daß das nicht geht. Das weiß doch jeder Mensch.
Meine Damen und Herren, noch eine kurze Bemerkung zu den grundsätzlichen Fragen, die hier zur Sozialpolitik gestellt worden sind. Da ist gesagt worden, es gebe keine Perspektiven. Das ist falsch. Es ist falsch, weil ja in der Regierungserklärung und in dem, was der Kollege Blüm gesagt hat, sichtbar wurde, daß wir wie bei dem Beispiel, das ich nannte, auch in der Frage Bundeszuschuß für die Rentenversicherung langfristige Überlegungen anstellen wollen, daß das, was die Rentenversicherung für den Staat leisten muß, auch abgegolten wird durch entsprechende Beträge des Staates an die Rentenversicherung. Das ist eine langfristige Überlegung, die hier sinnvollerweise mit eingebaut worden ist. Es ist auch alles andere eingebaut worden, wie wir glauben, langfristig nicht nur über den Krankenversicherungsbeitrag der Rentner — ich habe j a die Eingangsbemerkungen dazu gemacht — mit der Sicherung unserer Rentenversicherung auf Dauer weiterzukommen.Es ist hier die Arbeitslosenversicherung angesprochen worden. Auch das wird sich wahrscheinlich nicht in den drei Monaten durchsetzen lassen. Hier müssen Überlegungen angestellt werden, wie man die Dauer der Beitragszahlung zu einem etwas größeren Gewicht bringen kann, als es heute der Fall ist. Ich vermag einfach nicht einzusehen, daß der, der knapp drei Jahre Beiträge gezahlt hat, dann für die gleiche Zeit Anspruch auf Arbeitslosengeld haben soll wie jemand, der 25 oder 30 Jahre gezahlt hat. Man muß Überlegungen anstellen, wie man dies verbessern und entzerren kann. Auch das gehört zur langfristigen Perspektive.Lassen Sie mich noch eine Bemerkung zu der Frage der Kostenbeteiligung machen, Herr Kollege Glombig. Wissen Sie, Ihr kategorisches „Nein, mit uns ist keine Kostenbeteiligung zu machen" ist doch die klassische Bestätigung für die Sorge, die wir Freien Demokraten hatten, daß gemeinsame Beschlüsse nicht mehr über die Bühne gebracht werden konnten.
Das ist doch die klassische Bestätigung dafür. Ich nehme das ja nicht übel, ich wehre mich nur dagegen, wenn Sie dann immer so tun, als habe es in diesen Bereichen nicht den Abmarsch von den gemeinsamen Vereinbarungen gegeben.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich jetzt zu dem kommen, was der Kollege Brandt hier gesagt hat. Herr Kollege Brandt hat davon gesprochen, die Sorgen seien nicht behoben; er befürchte für die Zukunft weniger Gerechtigkeit.
— Entschuldigung, ich war schon wieder eine Etage weiter. Aber wenn Sie, Herr Kollege Glombig, unbedingt wollen, bin ich großzügig.
Eine Zwischenfrage des Herrn Kollegen Glombig.
Sie müssen bedenken, es dauert bei mir etwas länger. — Ich wollte Sie fragen, ob es nicht so gewesen ist, daß wir, obwohl uns die Kostenbeteiligung zu übernehmen aus grundsätzlichen Erwägungen außerordentlich schwergefallen ist, gesagt haben: Im Interesse dieser Koalition werden wir die 5 DM Kostenbeteiligung tragen. Ich würde jetzt fast sagen: Leider haben wir das gesagt. Aber nachdem die Geschäftsgrundlage für diese Koalition entfallen ist, wäre es doch unsinnig, wenn wir uns gegen unsere Überzeugung jetzt weiterhin für die Kostenbeteiligung einsetzten.
Ich nehme das zur Kenntnis. Das zeigt mir aber, daß die Einsicht in die Notwendigkeiten, von denen wir ja gesprochen haben, für die Zukunft
— ich habe doch nicht geleugnet, daß Sie kompromißbereit waren — genau in diesem Bereich auch weitere Entscheidungen treffen zu müssen, nicht vorhanden war.
— Ich nehme Ihnen doch nicht übel, daß Sie diesen Standpunkt vertreten. Den können Sie politisch doch auch vertreten. Nur muß man dann auch bereit sein zu sagen, daß während des ganzen Sommers, bei jeder Gelegenheit — ich kann mich ganz besonders an den Arbeitsminister Clauss erinnern — diese gemeinsamen Entscheidungen in Frage gestellt wurden, ja daß sogar angedroht wurde, dies über den Bundesrat wieder rückgängig zu machen. Deshalb hat es doch keinen Zweck, daß man versucht, dies alles wegzuwischen.Aber es tut mir leid, ich bin nicht mehr bereit, auf diesem Gebiet jetzt noch eine längere Diskussion zu führen. Ich habe, wie das immer meine Art ist, zur Verfügung gestanden. Nur, wenn ich das Gefühl habe, es soll ausgenützt werden, mache ich mal Schluß damit. Ich bitte um Verständnis dafür.
Ich komme zu dem, was der Kollege Brandt gesagt hat. Er befürchtet weniger Gerechtigkeit. Gut, das ist ein Punkt, den die Opposition mit Aufmerksamkeit verfolgen wird. Sie können aber sicher sein, daß wir uns bemühen werden, die Gerechtigkeit als einen entscheidenden Punkt unserer gesamten Entscheidungen gerade als Liberale immer in den Vordergrund zu stellen. Ich habe manchmal das Gefühl, daß über das, was gerecht ist, der Streit sehr, sehr detailliert ausbricht und manche unter Gerechtigkeit Gleichheit verstehen. Dies verstehe ich nicht. Unter Gerechtigkeit verstehe ich die gerechte Beurteilung der Situation und die Entscheidung daraus. Gerechtigkeit kann nie eine Gleichmacherei sein.
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Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 123. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. Oktober 1982 7457
MischnickHerr Kollege Brandt, Sie haben von den Neuwahlen gesprochen und dabei darauf hingewiesen, daß der Kollege Hirsch hier deutlich gemacht hat, daß es in der FDP-Bundestagsfraktion bei der Diskussion über die Frage, ob eine Verfassungsänderung sinnvoll ist, Bedenken gibt. Ich habe mich nicht gescheut, meine Bedenken zu der ganzen Geschichte schon am 9. September hier zu sagen. Es gilt nach wie vor, daß, wenn es hier zu einer Mehrheitsentscheidung kommt, diese Mehrheitsentscheidung getragen wird. Ich füge allerdings hinzu: Persönlich würde ich jede Lösung lieber sehen, die nicht zu einer Verfassungsänderung führt,
weil ich auf Dauer die Flucht in Neuwahlen nicht als den Ausweg aus kritischen Situationen sehen möchte, wie das in Weimar war.
Das muß man ganz klar sehen. Ich habe das Gesprächsangebot des Bundeskanzlers ja so verstanden, daß man über diese Dinge in Ruhe miteinander sprechen soll und abwägen soll, welche Gesichtspunkte hier als vorrangig und welche als nachrangig betrachtet werden müssen.Herr Kollege Brandt, Sie haben darauf hingewiesen, der Kollege Genscher habe davon gesprochen, Sie hätten 1966 keine Neuwahlen verlangt. Richtig ist, daß 1966, bevor die Entscheidung über die Bildung der Großen Koalition gefallen war, die SPD Neuwahlen verlangt hat. Richtig ist aber genauso, daß, nachdem die Große Koalition gebildet war, nicht nach drei oder sechs Monaten Neuwahlen waren, sondern bis zum Ende der Legislaturperiode regiert wurde. Das ist doch auch richtig.
Insofern haben wir doch einen entscheidenden Unterschied, als sich diese Regierung bereit erklärt hat, sich schon innerhalb von fünf oder sechs Monaten Neuwahlen zu stellen. Deshalb ist der Vergleich, den wir gebracht haben, nach wie vor richtig. Wenn Sie es durchgesetzt hätten, dann würde ich sagen, daß sich die Situationen gleichen. Da Sie es nicht durchgesetzt haben oder nicht durchsetzen wollten, weil j a damals noch ganz andere Überlegungen über das Wahlrecht eine Rolle spielten, dann bringen Sie heute bitte nicht den Vorwurf, daß das, war wir als Weg beschritten haben, etwa nicht ein anderer und insoweit dem Wunsch aus der Wählerschaft schneller entgegenkommender Weg ist als es damals bei der Großen Koalition war.
— Das ist gar keine Geschichtsverfälschung; das ist eine Tatsachenfeststellung. Wenn Sie das alles einmal nachsehen, werden Sie nämlich feststellen, daß die Frage der Neuwahlen eben nicht nach Bildung der Großen Koalition ein Gegenstand der Vereinbarung war. Jetzt ist sie Gegenstand der Vereinbarung. Diese Tatsachen festzustellen kann doch nicht zu soviel Aufregung führen. Es ist doch einfach ein Faktum. Ich weiß natürlich, daß damit die Propaganda,
daß nicht gleich Neuwahlen waren, etwas in Frage gestellt wird. Da es eine Propaganda war, wäre es ganz gut, wenn Sie das ein bißchen zur Seite schieben würden.
— Wieviel das in meiner Fraktion sind, überlassen Sie bitte mir festzustellen. Ich bin durchaus in der Lage, unterschiedliche Meinungen festzustellen. Über eines habe ich allerdings noch nie zu klagen gehabt: daß meine Kollegen in aller Offenheit ihre Meinung sagen. Manchmal ist das nicht sehr förderlich für die Partei. Deshalb bin ich in der Lage, das richtig einzuschätzen. Da brauchen Sie gar keine Sorge zu haben.
Meine Damen und Herren, hier ist von Herrn Kollegen Brandt davon gesprochen worden, daß kein Unterschied bestehe zwischen München und den jetzigen Beschlüssen des Parteivorstandes. So war doch Ihre Formulierung, wenn ich Sie richtig aufgenommen habe? Ich glaube nicht, daß hier der Versuch gemacht wurde, einen entscheidenden Unterschied darzustellen. Nur zeigt dies doch, daß das richtig war, was wir gesagt haben. Sie haben in München Entscheidungen getroffen. Jede Partei hat das Recht, auf ihrem Parteitag die Entscheidungen zu treffen, die sie für richtig hält.
Dies habe ich nie bezweifelt. Nur kamen Sie selbst dann in die schwierige Situation, daß der Druck, diese Beschlüsse in der Regierung umzusetzen, immer stärker wurde, daß aber die Möglichkeit, das in dieser Zusammenarbeit durchzusetzen, nicht vorhanden war.
Daraus wurde dann der Widerstand gegen Entscheidungen, die anders lauteten als die Münchner Beschlüsse, immer größer.
Dieser Tatbestand hat letztendlich zu dem Ergebnis geführt, das wir heute haben.
— Wenn Sie dies ableugnen, dann versuchen Sie doch, all das wegzuwischen, was in den letzten Monaten darüber diskutiert worden ist. Ich könnte hier eine Stunde lang vorlesen, was seit April bis zum 1. Oktober über diese Entwicklung, über diese Diskussionen in der SPD an Kommentaren geschrieben worden ist und wie viele Kollegen aus Ihrer Fraktion, aus Ihrer Partei dazu draußen Stellung genommen haben. Das können Sie doch nicht alles wegwischen. Es hat doch gar keinen Zweck, so zu tun, als gäbe es das nicht.7458 Deutscher Bundestag — 9 Wahlperiode — 123. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. Oktober 1982MischnickDas zeigt aber auch, daß da bei Ihnen — Herr Kollege Genscher, der Bundesaußenminister, hat es hier gesagt — die Frage der Identität eine Rolle spielte. Ich weiß sehr genau, daß die Frage der Identität in diesen schwierigen Entscheidungen jetzt auch bei uns eine Rolle spielt. Deshalb kann ich das nachfühlen. Aber dies nun völlig beiseite schieben zu wollen, ist doch nicht richtig.Es ist davon gesprochen worden, daß es manche gebe, die Feindbilder aufbauen und, wenn ich das richtig mitgeschrieben habe, die SPD vom Tisch der Demokratie wegwischen wollen. Habe ich das so richtig verstanden, Herr Kollege Brandt? — Bitte, nehmen Sie wirklich zur Kenntnis: Bei uns — ich bin sicher: auch bei den Kollegen der Union — denkt niemand daran, die SPD vom Tisch wegwischen zu wollen.
Eine solche Überlegung ist doch völlig falsch.Richtig ist, daß wir genau wissen, daß die Sozialdemokratische Partei für diesen Staat in den Jahren des Aufbaus von entscheidender Bedeutung war, ganz gleich, ob in der Opposition oder in der Regierung. Das wird auch in Zukunft unsere Überzeugung sein. Eine andere Frage ist, zu welchem Zeitpunkt und in welcher Form Möglichkeiten der Zusammenarbeit bestehen. Ich wäre sehr froh gewesen, wenn die Reden der Kollegen Ehmke und Apel nicht zusätzliche Gräben aufgerissen hätten, die nicht nur in diesem Hause, sondern auch draußen im Lande, in den Städten, Gemeinden und Kreisen nachwirken und Zusammenarbeit damit schwieriger machen, als es von der Sache her unbedingt notwendig ist.
In der gesamten Diskussion ist natürlich immer wieder von Legendenbildung usw. gesprochen worden. Apropos Legendenbildung: Dieses berühmte Tagebuch des Herrn Bölling ist ja eine hervorragende Möglichkeit, nachzulesen — bei allen Mängeln, die da drin enthalten sind —, wo wirklich an einer Legende gestrickt worden ist. Doch ich hoffe, daß diese Diskussion mit dem heutigen Tag beendet wird.
— Ja, Entschuldigung, ich habe doch nicht damit angefangen. Ich versuche doch am Schluß nur, das, was hier als Legende immer wieder gesagt worden ist, noch einmal aufzunehmen und dagegen etwas zu sagen. Das wird doch wohl noch möglich sein.Da ist davon gesprochen worden, daß man nicht falsch Zeugnis reden soll; völlig richtig. Ich wäre dankbar, wenn sich alle in der SPD daran halten würden, nicht falsch Zeugnis — weder gegen meinen Parteivorsitzenden noch gegen die Freie Demokratische Partei — zu reden.
In diesem Zusammenhang hatten Sie davon gesprochen, man solle nicht davon reden, daß wir eine Insel des Elends seien. Davon hat kein Mensch von uns gesprochen. Kein Mensch kommt auf diedumme Idee, zu sagen, wir seien eine Insel des Elends. Warum sollten wir das? Herr Kollege Ehmke, Sie haben davon gesprochen, wir stünden an der dritten Stelle in der Skala der Länder, also kurz hinter Japan und der Schweiz, wenn ich das richtig sehe.
Sie haben völlig recht. Nur, da dies so ist, wollen wir eben vermeiden, daß wir auf die fünfte oder zehnte Stelle herunterrutschen, sondern da bleiben. Darum geht es, um nichts anderes.
Ich habe gern gehört, Herr Kollege Brandt, daß Sie gesagt haben, Sie, die Sozialdemokraten, wollten ihre Pflicht in der Opposition wahrnehmen. Sie können sicher sein, daß wir uns, soweit das in diesen fünf, sechs Monaten überhaupt noch eine Rolle spielt, gegenüber der jetzigen Opposition hinsichtlich der Möglichkeiten dieses Hauses und dessen, was dazu gehört, genauso verhalten werden, wie wir das in der Vergangenheit für richtig gehalten haben. Ich möchte darum bitten, daß die von Ihnen bekundete Bereitschaft, dort etwas mitzutragen, wo Sie davon überzeugt seien, daß etwas mitgetragen werden könne, vielleicht schon — ich habe einen Punkt gehört, wo Sie diese Möglichkeit nicht sehen, nämlich bei der Kostenbeteiligung bei Krankenhausaufenthalten, wofür ich Verständnis habe — bei den Entscheidungen der nächsten Wochen deutlich wird.Die Formulierung betreffend die Staatsräson, Herr Bundeskanzler, hat mir in der Form, wie Sie sie gefunden haben, auch nicht ganz gefallen. Dies muß ich in aller Offenheit sagen. In den Punkten, die dazu aufgeführt sind, stimme ich mit Ihnen völlig überein. Diese Punkte sind unsere Staatsräson. Ich hätte nur die umgekehrte Schlußfolgerung daraus gezogen: Weil diese Punkte unsere Staatsräson sind, ist auch die Einbindung in das Bündnis eine Selbstverständlichkeit.
Dies heißt für uns, daß wir die Grundsätze, die darin enthalten sind, voll unterstützen und ihnen voll folgen werden.Meine Damen und Herren, lassen Sie mich kurz vor der Abschlußbemerkung noch einen Satz zu dem bitteren Begriff „Wortbruch" sagen. Wenn man jemandem zu einer gemeinsamen Handlung oder Haltung, zu einer Vereinbarung ein Wort gegeben hat und man bekommt dann dieses Wort zurück, weil es beendet ist, kann das in meinen Augen kein Wortbruch sein.
— Entschuldigung, auf diesen Zwischenruf habe ich natürlich gewartet: Wortbruch gegenüber dem Wähler. Hier ist manchmal so getan worden, als wäre nicht die Freie Demokratische Partei 1980 zur Wahl angetreten. Die Freie Demokratische Partei ist mit ihrem Wahlprogramm angetreten.
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Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 123. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. Oktober 1982 7459
Mischnick— Glauben Sie im Ernst, daß ich nicht darauf eingehe? Sie müßten mich nun langsam kennen. — Sie ist mit einer Wahlaussage angetreten. Dies ist unzweifelhaft. Allerdings sollten sich alle, die jetzt so tun, als hätte die Freie Demokratische Partei ausschließlich, zum größeren Teil oder zu einem gewichtigen Teil, Stimmen wegen der Aussage „Fortsetzung der Regierung Schmidt/Genscher" bekommen, was ich gar nicht bezweifle — es gibt Untersuchungen darüber —, einmal überlegen, warum diese Wähler, wenn sie unbedingt den Kanzler Schmidt wollten, damals nicht die SPD, sondern die FDP gewählt haben.
Sie haben das wahrscheinlich getan, weil sie einen Auftrag der FDP in dieser Regierung auch gegenüber der SPD sahen. Dies dürfen Sie nicht ganz verkennen,
daß es eine ganze Menge Wähler waren, die uns gewählt haben, weil sie auf keinen Fall Strauß wollten. Das wissen wir genausogut. Es geht aber doch ein bißchen an den Tatsachen vorbei, jetzt so zu tun, als hätte nicht die Freie Demokratische Partei zur Wahl gestanden.
Ich füge noch ein Weiteres hinzu: Wenn nun die Voraussetzungen für diese Aussage nicht mehr gegeben sind — ich habe nie gesagt, daß es eine einseitige Schuldzuweisung gibt, daß nicht auf beiden Seiten Fehler gemacht worden sind —, dann kann ich das nicht als Wortbruch und als Verrat bezeichnen. Ich wäre froh, wenn dies mit der jetzigen Debatte endlich zu Ende wäre, denn dies vergiftet das demokratische Zusammenleben in diesem Land und hilft uns allen gemeinsam nicht weiter.
Herr Abgeordneter, Kollege Oostergetelo möchte Ihnen eine Zwischenfrage stellen. Sind Sie damit einverstanden?
Bitte schön.
Sehr geschätzter Herr Kollege Mischnick, sind Sie bereit, es hinzunehmen, wenn ich feststelle, daß Ihre Äußerungen zu den Problemen, was jetzt zum Regierungswechsel geführt habe, am Ende alles nur Versuche der Rechtfertigung sind? Würde es nicht unserer Demokratie, Ihrer Partei und unserem Land gut anstehen, wenn Sie den Mut hätten, offen zu sagen, daß Gräben der Glaubwürdigkeit von Ihrem Vorsitzenden aufgerissen worden sind?
Herr Kollege, ich hatte mich bemüht, Verständnis dafür zu wecken, daß wir insgesamt auf diesem Weg gemeinsam nicht weiterkommen können. Ich bedaure, daß mir das nicht gelungen ist.
Ich muß hier sagen: Mich haben eine ganze Menge Anrufe und Briefe erreicht, die sich gegen uns alle — ich schließe mich völlig ein — mit dem
Vorwurf wandten, die Art der Auseinandersetzung hier stoße gerade viele junge Menschen ab. Deshalb meine herzliche Bitte, das, was Sie in die Frage hineingelegt haben, zu überprüfen und aus Ihrem eigenen Vokabular für die Zukunft völlig herauszunehmen. Das wäre für die Gesamtglaubwürdigkeit besser.
Ich habe mich nie gescheut, über Sachfragen, über kritische Fragen auch in aller Offenheit zu sprechen, draußen wie hier. Es wird niemanden geben, der behaupten kann, ich sagte hier etwas anderes, als ich draußen sage, daß ich in der Fraktion etwas anderes sage, als ich im Plenum des Bundestages sage. Ich werde meine Offenheit in der Auseinandersetzung immer bewahren. Aber dies hat nur Sinn, wenn es auch bei anderen auf Offenheit stößt und man nicht versucht, die Offenheit zu mißbrauchen.
Eine letzte Bemerkung, meine sehr verehrten Damen und Herren. Ich habe zu Anfang gesagt, wie schwer die Aufgabe ist, die vor uns liegt. Wie Sie wissen, gibt es Kolleginnen und Kollegen meiner Fraktion, die diesen Weg nicht glauben mitgehen zu können, die sich schwertun, diesen Weg mitzugehen.
Ich weiß, daß es darüber auch bei den Wählern unterschiedliche Meinungen gibt. Ich weiß aber auch eines: Es setzt sich immer mehr die Erkenntnis durch, daß auf Dauer nicht die polemische Auseinandersetzung, sondern die Bereitschaft zum Handeln die Überhand gewinnen wird.
Wir werden unsere Pflicht tun. Die Freie Demokratische Partei und ihre Fraktion werden in diesem Hause ihre Pflicht tun.
Das Wort hat der Herr Bundeskanzler.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir stehen am Ende einer dreitägigen Debatte über die Regierungserklärung der neuen Bundesregierung. Es waren drei Tage, die naturgemäß nach den politischen Ereignissen der letzten Wochen aufwühlende Reden und Stunden enthielten.Ich habe mich bemüht, in diesen drei Tagen zuzuhören. Ich habe mich bemüht, auch die Anregungen und die konstruktive Kritik, die gekommen ist, in mich und in unsere Arbeit aufzunehmen.So will ich hier als erstes ein Wort des Dankes an jene Kollegen von allen Seiten des Hauses sagen, die kritische Anregungen mit auf den Weg gegeben haben.
Eine Regierung, die von sich selber sagt und in Anspruch nimmt, eine Regierung, eine Koalition der Mitte begründen zu wollen, muß die Fähigkeit haben, Kritik zu ertragen, zuzuhören und hinzuzulernen.
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7460 Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 123. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. Oktober 1982
Bundeskanzler Dr. KohlDas zweite, was ich sagen möchte, vor allem an die Adresse der beiden Vorsitzenden der Koalitionsfraktionen von FDP und CDU/CSU, der Kollegen Mischnick und Dregger, ist ein Wort des Dankes — auch für meine Kollegen in der Regierung — für die Unterstützung, für die wohlwollend kritische Wegbegleitung, die sie uns zugesagt haben.Ich war in meinem politischen Leben, wie Sie wissen, in einer Reihe von parlamentarischen Funktionen tätig. Ich war viele Jahre Vorsitzender einer Regierungsfraktion in einem deutschen Landtag. Ich saß dann als Regierungschef eines Bundeslandes auf der Regierungsbank. Ich hatte die Ehre und die Freude — manches Mal war es auch eine etwas geringere Freude —, sechs Jahre hindurch die Opposition im Deutschen Bundestag führen zu dürfen. Ich kann mir also die Gefühle und Empfindungen auf allen Seiten des Hauses aus eigener Erfahrung gut vorstellen. Um so höher bewerte ich das freundschaftliche Wort der Unterstützung und der Wegweisung durch die Vorsitzenden der beiden Koalitionsfraktionen. Gehen Sie bitte davon aus, daß die von mir geführte Bundesregierung weiß, was Koalition heißt: daß man dem anderen nicht zumuten darf, was man nicht selbst zugemutet haben möchte. Zusammenarbeit zwischen Koalitionsfraktionen, Regierungsfraktionen, und Regierung heißt, daß ein partnerschaftliches Verhältnis und kein Verhältnis irgendeiner Abhängigkeit von der einen oder der anderen Seite gegeben ist.
Sie können sich darauf verlassen, daß diese Bundesregierung Ihren Rat und Ihre Mitarbeit sucht.Das dritte, was ich sagen möchte, ist ein Wort — ich möchte es ganz persönlich sagen — an den Kollegen Brandt, den Kollegen auch in der gemeinsamen Eigenschaft als Parteivorsitzender. Herr Kollege Brandt, zum Thema Neuwahlen will ich nur noch einmal wiederholen, was ich hier gesagt habe: Es bleibt beim 6. März 1983.
Ich habe Sie eingeladen — und ich habe es dankbar empfunden, daß Sie, wenn ich Ihre Formulierung richtig verstehe, diese Einladung angenommen haben —, gemeinsam mit den anderen Fraktions- und Parteivorsitzenden Gespräche über dieses Thema aufzunehmen. Herr Brandt, Sie haben moniert —wir wollen jetzt vor dem Forum der deutschen Öffentlichkeit ganz offen miteinander reden —, daß ich nicht in allen Einzelheiten Vorschläge gemacht habe. Ich habe das bewußt nicht gemacht, obwohl ich es tun könnte und tun kann; denn ich will Gespräche. Gespräche aber setzen voraus, daß ich nicht zu Beginn dieser Gespräche das Prestige der Regierung einbringe und Ihnen dann im Guten oder im Bösen — wir wollen es abwarten — vielleicht die Gelegenheit gebe, leichter ja oder leichter nein zu sagen. Sinn von Gesprächen ist, daß man miteinander redet. Ich habe Sie dazu eingeladen.
Wenn ich Ihre Plakate und Ihre öffentlichen Äußerungen richtig interpretiere, kann es gar keinenZweifel geben, daß es im Deutschen Bundestag nur eine einzige starke Willenserklärung gibt: Wir wollen diese Wahlen haben. — Und wir werden sie haben!
Herr Kollege Brandt, ich karte auch nicht nach; denn alles das, was Sie an Verfassungsempfehlungen und-überlegungen hier mit in die Debatte einbrachten, hätte mein geschätzter Amtsvorgänger von dieser Stelle aus praktizieren können.
Bundeskanzler Helmut Schmidt, Herr Kollege Brandt, hatte es in der Hand, Neuwahlen in Gang zu setzen. Er war nicht bereit, im Rahmen der gegebenen Verfassungslage das Thema Neuwahlen anzugehen, sondern er war dazu nur auf dem Wege über Absprachen neben der Verfassung her bereit.
Ein weiterer Punkt: Herr Kollege Brandt, ich verstehe, daß Ihnen das Wort „Bundesregierung" in unserem Zusammenhang schwer über die Lippen geht. Ich habe auch nichts dagegen, wenn Sie von einer „Übergangsregierung" sprechen.
— Ich habe auch nichts dagegen, wenn Sie hier den Kollegen Strauß zitieren. Das ist in diesem Zusammenhang wirklich ganz und gar in Ordnung, wenn Sie das tun. Vor Ihnen steht aber kein Übergangskanzler, Herr Kollege Brandt. Das müssen Sie zur Kenntnis nehmen.
Weil ich gesagt habe, daß ich diese Neuwahlen will, will ich auch noch einmal sagen, warum — von allem anderen abgesehen —: Ich, die Koalitionsfraktionen und die von mir geführte Regierung wollen diese Neuwahlen, weil wir den Vertrauenserweis unserer Mitbürger suchen. Wir wollen eine Vertrauensabstimmung. Herr Kollege Brandt, gibt es eigentlich in der parlamentarischen Geschichte der deutschen oder irgendeiner anderen Demokratie einen legitimeren, einen faireren, einen ehrlicheren Vorschlag einer Regierung als den, in einer ganz gewiß schwierigen Lage vor das Volk hinzutreten, dem Volk Opfer zuzumuten, und zu sagen: Jetzt wollen wir dennoch wählen — weil wir die Wahrheit zur Wahl stellen wollen?
Ich sage das nicht nur an Ihre Adresse, ich sage das an die Adresse so vieler gutwilliger Mitbürger, auch Wähler aus dem Lager der Union und der FDP, ja, auch meine eigenen politischen Freunde, bis in die-ses Haus, in die Bundestagsfraktion, oder in die Parteiführung der Union hinein: Wir haben gar keinen Grund zum Kleinmut. Herr Brandt, Sie haben recht: Es ist zuviel taktiert worden. Hier wird eben nicht taktiert.
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Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 123. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. Oktober 1982 7461
Bundeskanzler Dr. KohlHier steht eine Regierung vor Ihnen, hier steht ein deutscher Bundeskanzler vor Ihnen, der den Leuten nicht sagt,es sei alles gut, es werde nur noch besser, sondern der den Leuten die Wahrheit sagt, der die Lösungsmöglichkeiten vor sie hinstellt, der sagt: Wir müssen Opfer bringen, und dennoch bitte ich bei dieser nächsten Wahl um euer Vertrauen.
Wir werden nicht vor die Wähler treten und, wie Sie es 1976 und 1980 getan haben, die Probleme verniedlichen. Wir werden sie auch nicht dramatisieren. Beides bringt uns nichts. Wir werden versuchen, die Wahrheit zu sagen, die Wahrheit über die wirkliche Lage in der Welt und in der Bundesrepublik Deutschland.
Herr Brandt, Sie haben dann — das ist doch völlig in Ordnung — die Hoffnung ausgesprochen, daß Sie sich dann nach der Wahl als die stärkste Fraktion hier wiederfinden. Nun, Herr Kollege Brandt, das Prinzip Hoffnung ist ein wichtiges Prinzip. Die Geschichte der parlamentarischen Demokratie hat Ihnen allerdings gezeigt, daß Ihnen persönlich — nicht Ihrem Nachfolger— nur ein einziges Mal dieser Vorteil der parlamentarischen Entscheidung zukam. Lassen Sie uns doch jetzt ohne Streit — Streit gibt es im Wahlkampf genug— in diese Wahl gehen.
Lassen Sie uns doch gemeinsam an den Wähler appellieren. Der Wähler wird über die Mehrheit entscheiden.
Herr Kollege Brandt, ich sehe dieser Entscheidung mit großer Ruhe entgegen.
Ich bin damals im Jahre 1976 — in einer schwierigen Lage der Union —, nicht von Bonn aus, angetreten und habe es mir zugetraut. Ich habe mit 48,6 % ein Ergebnis erreicht, daß das zweithöchste Ergebnis in der deutschen Parlamentsgeschichte ist. Ich traue mir ein noch besseres Ergebnis von diesem Platz aus zu. Das nur, damit wir ganz klar sehen, wie wir an das Thema herangehen.
Aber, Herr Kollege Brandt, in diesem Punkt habenSie — wohl aber andere in der SPD haben es getan— mich nie unterschätzt. Das, die richtige Einschätzung, verbindet uns.
Herr Kollege Brandt, wir werden natürlich den Bürgern auch sagen, was sich in diesen Jahren im Lande ereignet hat.
Herr Kollege Brandt, wir werden davon sprechen, welche Erblast wir von Ihnen übernommen haben. Wir werden den Bürgern sagen, was zu tun ist, um die Krise des Landes zu meistern. Wir werden das in einer nüchternen Weise sagen.Wenn ich Sie recht verstanden habe — das klang ja so ein bißchen wie die Ankündigung eines außerordentlichen Wahlparteitages der SPD, was da beiIhnen durchklang —, haben Sie davon gesprochen, daß Sie das jeden Tag sagen werden. Sie können das jede Stunde sagen. Wenn nur ein Quentchen Wahrheit in dem mit enthalten ist, was Sie zu sagen haben, werden Sie jede Stunde über die letzten 13 Jahre zu reden haben. Die Leute erwarten Rechenschaft von Ihnen, Herr Brandt. Sie haben in diesen 13 Jahren regiert. Sie haben versagt. Das muß deutlich werden.
Herr Kollege Brandt, auch dazu ein offenes Wort: Ich habe großen Respekt vor der Tradition der deutschen Sozialdemokratie. Manchmal habe ich sogar das Gefühl, daß ich Geschichte und Tradition Ihrer Partei besser kenne und mehr respektiere als einige in Ihren eigenen Führungsgremien.
Wenn Sie aber so selbstverständlich von der Mehrheit im Volke reden und dann sozusagen synonym die Arbeitnehmer hinzunehmen: Das deutsche Volk, die Bürger der Bundesrepublik Deutschland— das sind viele einzelne, das sind viele Gruppen. Die Arbeitnehmerschaft ist ganz gewiß eine ganz entscheidende Gruppe. Es wäre ein Akt politischer Torheit, das nicht zu wissen. Aber wir wissen es j a, denn so — mit den Stimmen der Arbeitnehmer — wurden wir j a zur Mehrheitspartei.
Aber, Herr Kollege Brandt, wer von den Arbeitnehmern redet, muß, wenn er das Ganze im Blick hat, genauso von den Unternehmern, von den Beamten, von den Angestellten, von den Leuten aus dem Mittelstand, von den Bauern, von den Jungen, von den Alten, von den Schülern und Studenten reden. Wir wollen nicht — Blüm hat richtig davon gesprochen— zur Klassengesellschaft des 19. Jahrhunderts zurück. Wir wollen nicht, Herr Kollege Brandt, daß die geballte Faust des Genossen, sondern die ausgestreckte Hand des Partners Symbol für unsere Zeit und für die Zukunft ist.
Da wir gerade bei den Arbeitnehmern sind: Was das politische Votum der Arbeitnehmerschaft in der Zukunft anlangt, so bin ich ganz sicher, daß diese Arbeitnehmerschaft auf Grund der immer größer werdenden Einsicht nicht bereit sein wird, Ihren Weg zu grünen fernen Höhen mitzugehen.
Wer diesem Weg zu einer Jeinsager-Bewegung folgen wird — denken Sie nur an die Energievorsorge, um nur ein Beispiel für viele zu nennen —, wird unter der Arbeitnehmerschaft gewiß nicht den ersten Zuspruch finden.Ein Letztes zu Ihren Ausführungen, Herr Kollege Brandt. Bitte — ich will es freundlich, zurückhaltend sagen — verschonen Sie uns damit, im Zusammenhang mit den notwendigen Sparopfern so zu tun — wenn Sie z. B. über Schüler und BAföG reden —, als kämen die Abgeordneten, die auf Grund schlechter finanzieller Verhältnisse eigene
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7462 Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 123. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. Oktober 1982
Bundeskanzler Dr. Kohl1 Kenntnis, persönliche Lebenserfahrung haben, allein aus dem Lager der SPD. Herr Kollege Brandt, mir muß niemand sagen, was ein Arbeiter, ein Arbeitnehmer denkt. Ich habe diese Erfahrungen auf meinem eigenen Lebensweg gemacht, und ich bin stolz darauf. Ich habe als Werkstudent mindestens soviel gelernt wie auf der Universität. Ich brauche — ich nehme an, das gilt für die meisten der hier sitzenden Kollegen von CDU/CSU und FDP — daher von Ihnen keinen Nachhilfeunterricht.
Herr Kollege Brandt, damit es ganz klar ist — als Bundeskanzler mag es mir erlaubt sein, diesen Einschub in meiner Eigenschaft als Parteivorsitzender zu machen —: Die Union ist nicht die politische Vertretung des Jet-Set oder des Demi-Jet-Set in der Bundesrepublik.
Aber noch ein Wort an die Kollegen der SPD insgesamt. Viele Ihrer Beiträge — wie ich ausdrücklich einräumen will: nicht alle — in dieser Debatte waren von einer unübersehbaren Verbitterung geprägt. Ich sage das ohne Häme: Das ist verständlich. Die sozialdemokratische Fraktion braucht natürlich Zeit — wir wissen das nur zu gut aus eigener Erfahrung —, sich in die Rolle der Opposition hineinzufinden.
— Ich sage das ganz offen auf Grund eigener Erfahrung; nehmen Sie mir das dann doch bitte so ab. — Opposition erfordert eben mehr, als nur eine verhinderte Regierungspartei zu sein.
Opposition erfordert eigenen Stil und eigene Formen, erfordert Maß und auch Würde. Zu den Aufgaben der Opposition gehört beispielsweise, daß man fähig ist zuzuhören und nicht von vornherein dagegen ist, bevor der andere überhaupt ausgesprochen hat.
Ein wichtiger demokratischer Auftrag der Opposition ist eben auch Kontrolle und Kritik. Der, der durch das Vertrauen der Mehrheit zum Regieren berufen ist, muß diese Kritik selbstverständlich ertragen können, auch eine herbe Kritik. Wir sind da gar nicht zimperlich; wir waren es j a auch während unserer Oppositionszeit nicht. Es wäre ja unfair, wenn wir uns jetzt anders verhalten wollten. Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen — ich spreche Sie so an —, wenn Sie aber Kritik durch Zorn ersetzen, dann ist das keine gute Kritik. Wenn etwa in diesen Tagen gegen einzelne Mitglieder dieses Hauses förmlich eine Vernichtungsstrategie geführt wird, wenn Kollegen, die sich um das Vaterland verdient gemacht haben, persönlich herabgesetzt werden, dann ist das etwas, was für mich im Wörterbuch eines Demokraten keinen Platz hat.
Ich habe nur die Möglichkeit, Herr Kollege Ehmke und Herr Kollege Apel, Sie zu bitten — ichtue das auch in meinem Amte —, noch einmal das nachzulesen, was Sie gesagt haben, vielleicht in einer Stunde des Zorns, vielleicht in einer Stunde — ich sage auch das nicht abwertend —, in der ganz andere Überlegungen — Überlegungen fraktionsinterner Art — eine Rolle spielten. Die deutsche Öffentlichkeit hat diese Reden aber gehört. Sie haben über Mitglieder dieses Hauses — nicht nur über einen einzigen, sondern über mehrere —, die über viele Jahre ihre Pflicht getan haben, Äußerungen getan, die Sie nicht aufrechterhalten können. Ich selbst habe von diesem Platz in diesen letzten Jahren natürlich auch die eine oder andere Äußerung getan, von der ich nicht erst beim Nachlesen, sondern schon beim Gang auf meinen Platz bemerkt habe, daß ich sie besser nicht getan hätte. Ich kann Ihnen nur raten, um des Stils und der Würde der Opposition willen solche Reden in Zukunft nicht zu halten. Denn Haß ist ein schlechter Ratgeber.
Haß ist im privaten Leben ein schlechter Ratgeber,und Haß ist in der Politik ein miserabler Ratgeber.
Wir haben genug Gelegenheit, uns hart und kritisch auseinanderzusetzen: über die wirtschaftliche Lage, über die unterschiedliche Betrachtung der Wege, die zum Ziel führen, über die Fragen, die mit der Entwicklung des Mittelstands und der mittleren Unternehmungen zusammenhängen. Heute war wieder von den 15 000 Konkursen die Rede. Heute war wieder von den über 2,5 Millionen Arbeitslosen die Rede. Das sind doch die wirklichen Probleme, die die Bürger draußen interessieren, die uns jetzt zuschauen. Die Bürger interessiert doch nicht die Tatsache, wie sich der eine oder der andere zu Lasten des Ganzen pofiliert.
In einer sehr schwierigen Stunde übernimmt diese Koalition der Mitte die Regierungsverantwortung, um die wirtschaftliche Talfahrt zu bremsen und dafür Sorge zu tragen, daß daraus kein Absturz wird. Aber — damit auch das klar wird — wir übernehmen nicht die Verantwortung für Ihre Politik, die entscheidend dazu beigetragen hat, daß das Land in diese Lage geraten ist.
Wir bekennen uns zu unserer Pflicht, vor Wahlen den Bürgern offen und ehrlich zu sagen, was jetzt geschehen muß — auch dort, wo dies Opfer bedeutet; wir nennen diese Opfer auch beim Namen. Wir werden über das hinaus, was in der Regierungserklärung steht — die ja, wenn sie ehrlich sein soll, notwendigerweise ein Programm für nur ein paar Monate sein kann — selbstverständlich aus den großen Traditionen unserer Politik und unseres Landes leben.Herr Kollege Brandt, was soll's eigentlich, wenn wir hier in der Debatte aus Ihrem und anderer
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Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 123. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. Oktober 1982 7463
Bundeskanzler Dr. KohlMund hören, es gehe darum — ich habe das Zitat aufgegriffen —, daß womöglich die Gefahr besteht, daß an den Rand der demokratischen Entwicklung, des demokratischen Spektrums — ich sage es mit meinen Worten — gerückt wird, wenn Sie davon reden, mehr Demokratie müsse gewagt werden? Das war doch jenes Wort der Hybris zu Beginn Ihrer Amtszeit 1969, das das Ende Ihrer Amtszeit schon beinhaltet hat.
Wir alle wollen doch mehr Demokratie wagen. Es kann doch keine Rede davon sein, daß die drei großen tragenden Persönlichkeiten, die für die Gründergeneration der Bundesrepublik Deutschland stehen — Theodor Heuss, Kurt Schumacher und Konrad Adenauer — sich etwa in ihrer demokratischen Gesinnung gegenseitig übertreffen wollten. Das waren eigenständige politische Persönlichkeiten, die, aus ihrer politischen Heimat kommend, das Land entscheidend mitgeprägt haben. Hören wir doch damit auf, uns gegenseitig zu bestreiten, daß wir mehr oder weniger für den Frieden oder mehr oder weniger für liberale Geisteshaltung des Bürgers im Land seien.
Ich habe in diesen ganzen Jahren meiner Zugehörigkeit zu diesem Haus nie davon gesprochen. Ich war viele Jahre Ministerpräsident eines deutschen Bundeslandes. Herr Kollege Brandt, sprechen Sie doch einmal mit Ihren Kollegen in Rheinland-Pfalz.) Es ist doch absurd, einem Mann wie mir etwa die Gesinnung der Liberalität in Dingen des Staates absprechen zu wollen. Das ist doch Propaganda und nichts als Propaganda.
Wir wollen in dieser Koalition der Mitte in diesem schweren Winter, der uns bevorsteht, unsere ganze Kraft dafür einsetzen, daß die wirtschaftliche Talfahrt gestoppt wird, daß die Arbeitslosigkeit abgebaut wird, daß neue Arbeitsplätze geschaffen werden und vor allem daß junge Leute Ausbildungsplätze bekommen. Herr Kollege Brandt, wir wollen uns mit ganzer Kraft dafür einsetzen und mit ganzer Kraft dafür arbeiten, daß wir unseren Beitrag in der uns geschenkten Zeit leisten, den Frieden in Freiheit zu sichern: für unser Volk, für Europa und weltweit.Wir wollen Freundschaft und Partnerschaft in Europa und damit das atlantische Bündnis neu beleben. Ich sage es noch einmal: Wir suchen die Verständigung in Zusammenarbeit mit unseren Nachbarn im Osten.Ich sage auch in dieser Stunde an die Adresse der DDR — ich nehme das Wort des Kollegen Mischnick auf —: Wir suchen das Gespräch und nicht die Polemik, weil wir Lösungen für die Menschen in unserem geteilten Vaterland wollen. — Ich wiederhole es immer wieder: Das ist verabredet, und was verabredet ist, gilt. — Das ist unsere Politik.
Mit einem Wort, meine Damen und Herren: Wir als Koalition der Mitte wollen in unserem Volk eine neue Gemeinsamkeit begründen. — Herr Ehmke, wenn Sie das als „erhabene Sprüche" bezeichnen, dann fällt das auf Sie zurück. Für mich ist das nicht irgendein Spruch, für mich ist der Wunsch nach Gemeinsamkeit eine entscheidende Voraussetzung für privates Glück und für das Glück unseres ganzen Landes.
Wir wollen in dieser neuen Phase in der Geschichte unserer Bundesrepublik Deutschland eine Gesellschaft mit einem menschlichen Gesicht. Zum menschlichen Gesicht gehört für mich, daß wir — wie immer wir politisch denken und auch handeln mögen — zunächst nicht dazu aufgerufen sind, neue Gräben aufzureißen, sondern Gräben zuzuschütten, aufeinander zuzugehen. Das ist es, was wir in diesem Augenblick brauchen, wenn wir Frieden nach draußen stiften wollen. Man kann dem Frieden in der Welt nicht dienen, wenn man nicht bereit ist, dem Frieden im eigenen Land zu dienen.
Wer in diesen Zeiten „Ellenbogenmentalität" oder „-gesellschaft" beschwört, der verfällt doch in den klassenkämpferischen Radikalismus eines untergegangenen Jahrhunderts. Wer die Straße mobilisieren will, wer die Niedergeschlagenheit, die Enttäuschung, die Hoffnungslosigkeit von Arbeitslosen mobilisieren will, der mag vielleicht für den Tag Nutzen für seine parteipolitischen Ziele ziehen; dem Lande, dem Vaterland, dient er nicht.Er sollte sich an die Zeit von Weimar erinnern. Für mich als Vertreter der Generation, die die Nazizeit noch als Schüler erlebt hat und dann in der Freiheit unserer Bundesrepublik Deutschland aufgewachsen ist, ist ein entscheidendes Erlebnis, daß wir aus vollem Herzen gesagt haben und sagen: Bonn ist nicht Weimar! Bonn wird nicht Weimar! — Das ist ein entscheidender Satz unserer Politik.
Mit einem Wort: Wir, die Koalition der Mitte, wollen die Gemeinsamkeit mit unseren Freunden und Verbündeten stärken. Wir wollen eine neue Gemeinsamkeit mit Völkern begründen. Wir wollen für den Frieden arbeiten, für die Menschenrechte kämpfen — überall in der Welt, aber auch mitten in unserem deutschen Vaterland. Wir wollen unseren Beitrag leisten, um Hunger und Not überwinden zu helfen. Wir wollen es tun in einem Werk des Friedens, das den Deutschen im letzten Drittel dieses Jahrhunderts gut ansteht. Meine Bitte ist: Lassen Sie uns gemeinsam ans Werk gehen.
Ich erteile dem Abgeordneten Brandt das Wort.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Verehrter Herr Bundeskanzler, Sie haben einen Satz gesagt, der meiner Meinung nach so nicht stehenbleiben kann. Sie haben gesagt — ich fürchte, das Protokoll wird es ausweisen —, Sie
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7464 Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 123. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. Oktober 1982
Brandtwürden die Wahrheit zur Wahl stellen. Sie haben einige Sätze später gesagt, bei uns anderen sei kein Quentchen Wahrheit.Herr Bundeskanzler Kohl, dieser Staat, diese Bundesrepublik Deutschland basiert auf Pluralität. In diesem Hause ringen Christdemokraten, Freie Demokraten und Sozialdemokraten miteinander. Auch der Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland verfügt nicht über die ganze Wahrheit.
Deshalb täten Sie gut daran, diesen Anspruch auf Überheblichkeit zurückzunehmen.
Ich erteile dem Abgeordneten Hölscher das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich weiß, es mag für viele eine Zumutung sein,
daß ich jetzt noch das Wort ergreife, nachdem die Debatte eigentlich schon ihren Abschluß gefunden hat, aber die Geschäftslage ließ es für mich nicht zu, in der sozialpolitischen Runde das Wort zu nehmen. — Herr Mischnick, wenn Sie mir vielleicht für zehn Sekunden Ihr Ohr leihen: Das, was ich zu sagen habe, sage ich in vollem Respekt vor meinem Fraktionsvorsitzenden und in der gebotenen Loyalität.Meine Damen und Herren, ich habe das Wort hier als ein Sozialpolitiker genommen, für den es — ich gebe es ehrlich zu — nicht leicht ist, von einer sozialliberalen Sozialpolitik der letzten Jahre — für mich waren es zehn —, die insgesamt — auch im Ausbau unseres Sozialsystems — große Erfolge zu verzeichnen hatte, Abschied zu nehmen.
Was mich im Sozialbereich — auch an der heutigen Debatte — bedrückt hat, ist zweierlei: daß zum einen dieses Parlament offensichtlich in die Gefahr gerät, nicht mehr mit der gebotenen Differenziertheit zu argumentieren, sondern in der Form verbaler Rundumschläge das zu zerstören, was gerade unter Sozialpolitikern aller Fraktionen unbestritten sein sollte.
Lassen Sie mich deshalb hier sagen: Weder hört der Sozialstaat mit der Berufung des neuen Arbeitsministers Blüm auf, noch ist die sozialliberale Koalition für die Arbeitslosigkeit verantwortlich.
Zum anderen habe ich als Sozialpolitiker der FDP gerade in dieser Woche — nach der Vorlage der sozialpolitischen Sanierungsbeschlüsse der neuen Regierung — eine Erfahrung gemacht: Wir haben nicht nur dieselben Probleme zu lösen, sondern versuchen auch mit den gleichen unzulänglichen Mitteln, dies zu bewerkstelligen,
angefangen bei den Zahlen, die nicht stimmen, die nachgebessert und auf jeden Fall nach unten zurechtgerückt werden müssen, bis zu den parlamentarischen Verfahren der Umsetzung. Dies ist für mich das Unbefriedigenste überhaupt: Hinsichtlich dessen, was von mir als Sozialpolitiker verlangt wird, hat sich unter der neuen Regierung nichts geändert. Das waren wir schon von der alten Regierung gewohnt: daß eben Sozialpolitiker zu Reparaturschlossern degradiert werden und daß sie an der Konstruktion des ganzen Gebäudes nicht beteiligt werden.
Aber, meine Damen und Herren, das Wort ergriffen habe ich eigentlich aus einem ganz anderen Grunde. Ich habe in den letzten zwei Tagen von Sprechern der CDU/CSU, aber auch von Sprechern meiner eigenen Fraktion zu oft gehört, die sozialliberale Koalition sei auch wegen unüberbrückbarer Gegensätze in der Sozialpolitik, auch wegen des Fehlens von Gemeinsamkeiten in der Sozialpolitik gescheitert. Dem möchte ich hier ausdrücklich widersprechen!
Ich habe gelernt — und zwar nicht aus dem „Spiegel", sondern einfach aus den Eindrücken, die man hier in den letzten Monaten vermittelt bekam —, daß es wohl so war, daß sich am Ende dieser Koalition die Führung in einem vereisten Bunker befand.
Ich weiß nicht, wer zuerst die Heizung abgestellt hat und wer zuerst das Licht ausgeschaltet hat. Das interessiert mich auch nicht! Nur ist das, was dort offenbar geschehen ist, etwas ganz anderes als die loyale Zusammenarbeit, als die Bereitschaft zur Einigung, die auf der Ebene der Sozialpolitiker von SPD und FDP bis zur letzten Stunde vorhanden war.
Ich frage mich deshalb — und viele fragen sich —, ob nicht in der Zeit, in der wir uns mit dem Zusammenbruch der sozialliberalen Koalition und mit dem konstruktiven Mißtrauensvotum beschäftigt haben, d. h. in den letzten Wochen, Glombig, Lutz, Dreßler und Egert einerseits, Schmidt , Cronenberg und Hölscher andererseits den Nachtragshaushalt im Sozialbereich eben auch noch unter Dach und Fach bekommen hätten, wenn man uns nur gelassen hätte.
Aber das spielt ja jetzt wohl keine Rolle mehr, denn wir liegen ja mit der Verschuldung deutlich unter 40 Milliarden DM. Aber fragen wir uns alle als Parlamentarier — ich habe mich immer so ver-
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Hölscherstanden, daß ich in erster Linie Parlamentarier bin und nur in zweiter Linie die Hilfe der Regierung, die meine Fraktion jeweils zu tragen hat —: Wie steht es eigentlich mit unserem Selbstbewußtsein als Parlamentarier, wenn es bei dem, was an sich das vornehmste Recht des Parlaments ist, dem Haushaltsrecht, bei der Lösung der Aufgabe, einen Haushalt in Ordnung zu bringen, der Neubildung einer Regierung bedarf? Dies kann ich mit meinem Selbstverständnis als Parlamentarier so ohne weiteres nicht akzeptieren. Ich frage mich auch im Nachhinein: Was wäre wohl zwischen uns, verehrte Kollegen von der SPD, gerade beim notwendigen Umbau des Sozialsystems noch möglich gewesen, wenn meine Parteiführung Ihnen das zugestanden hätte, was sie dem neuen Koalitionspartner zugestanden hat?
Ich denke an die Erhöhung der Mehrwertsteuer ohne Rückgabe über eine Einkommensteuerreform, ich denke an die Zwangsanleihe — jemand hat das spöttisch als „christianisierte Ergänzungsabgabe" bezeichnet. Jedenfalls ist es eine Sozialkomponente, die ansetzt bei Besserverdienenden. Ich denke auch an die beschlossene wesentlich höhere Nettokreditaufnahme, zugegeben bei anderen Rahmenbedingungen, die sich, auch in den letzten Wochen, verschlechtert haben.Insofern möchte ich mich vor die Kollegen der SPD stellen, insbesondere den Kollegen Glombig, wenn gesagt wird: „Hier waren keine Gemeinsamkeiten; die SPD war nicht bereit, den notwendigen Umbau des Sozialsystems mitzuvollziehen." Ich zitiere Eugen Glombig aus den „Informationen der sozialdemokratischen Bundestagsfraktion" vom 16. August 1982:Die Krise der Wirtschaft und der Wirtschaftspolitik belastet nicht nur das soziale Netz, sondern sie stellt auch die Lernfähigkeit beider Partner auf die Probe. Sozialdemokraten müssen lernen, daß die Zeit des weiteren Ausbaus der sozialen Sicherung im Sinne expandierender Leistungen vorbei ist und daß von dem, was unter wirtschaftlich günstigeren Bedingungen sozialpolitisch wünschenswert war, Abstriche gemacht werden müssen.Soweit Eugen Glombig. Er hat damit dokumentiert, daß doch die Bereitschaft vorhanden war, unter geänderten Rahmenbedingungen auch seitens der SPD das Notwendige zu tun.Ich muß leider aber auch, weil es hier zu oft zu globalen Schuldzuweisungen kam, den Herrn Minister Barzel zitieren, der ausgerechnet in der Einbringungsrede zum konstruktiven Mißtrauensvotum, also auch für meine Fraktion, erklärte:Nicht die, welche den Karren aus dem Dreck ziehen müssen, sind schuld, sondern die, die ihn so weit in den Schlamm gefahren haben.Das vergleiche ich dann mit dem Verhalten derdamaligen Opposition im Sozialausschuß, die —das stelle ich ohne Wertung fest - uns bis etwa vorzwei Jahren ständig mit Anträgen konfrontiert hat, die zu Mehrausgaben geführt hätten, den Karren also noch tiefer in den Dreck gezogen hätten.
Ich erinnere mich auch an die Verabschiedung der Änderungen im Bereich des Arbeitsförderungsgesetzes 1981/82, wo wir die Umschulung auf das notwendige Maß konzentriert haben, nämlich auf die, die arbeitslos werden oder arbeitslos geworden sind. Dieses Gesetz haben Sie von der CDU/CSU abgelehnt, weil es Ihnen zu weit ging, und es wurde eine der schlimmsten Reden gehalten, die ich je im Bundestag gehört habe, die Rede des jetzigen Ministers Geißler am 4. März 1982 hier von diesem Platz aus in Richtung der SPD-Fraktion:Das wissen wir. Sie setzen sich mit Ihren sozialpolitischen Zielen, mit Ihrem sozialpolitischen Gewissen in dieser Koalition nicht mehr durch.— Das war an die SPD gerichtet. —Ihr sozialpolitisches Gewissen opfern sie doch auf dem Altar der Bundesregierung. Das ist doch die Situation, in der wir uns befinden. Sie lassen sich den Willen der Freien Demokraten in dieser Frage aufzwingen, also von einer Partei, von der niemand so recht weiß, nach welchen Grundsätzen sie gerade handelt.Herr Minister Geißler ist nicht mehr da. Ich möchte ihn dennoch von diesem Platz aus fragen, auf welchem Altar er jetzt sein soziales Gewissen geopfert hat.
Ich hoffe, daß es solche Reden im Deutschen Bundestag nicht mehr geben wird, weil sie das Klima vergiften und die Tür zuschlagen vor der notwendigen Zusammenarbeit zwischen den Fraktionen.Wie wird die Zukunft aussehen? Ich muß für meine Person hier erklären: Ich bin bereit, mich in meinem eigenen Selbstverständnis als Sozialpolitiker an der Bewältigung der weiß Gott nicht kleinen Probleme in der Beschäftigungspolitik und der Sozialpolitik zu beteiligen, dort mitzuarbeiten. Ich muß aber auch sagen, daß ich innere Vorbehalte habe. Frau Hamm-Brücher und Gerhart Baum haben dies am 1. Oktober deutlich gemacht, Frau Ingrid Matthäus-Maier gestern abend noch. Ich habe dem nichts hinzuzufügen.Ich hoffe nur, daß die neue Regierung ein parlamentarisches Beratungsverfahren findet, das nicht die Fehler der alten Regierung wiederholt oder gar noch verschlimmert. Damit meine ich einen ausgiebigen Beratungszeitraum für die Gesetze, ich meine aber auch den Inhalt der Gesetze. Hier muß noch manches überprüft werden.Die Sozialkomponente ist noch nicht ausreichend. Unter „Sozialkomponente" verstehe ich nicht allein Zwangsanleihe, sondern ich verstehe darunter — und da stimme ich Norbert Blüm zu — auch die soziale Symmetrie: daß andere Gruppen der Bevöl-
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Hölscherkerung, denen Einschnitte eher zuzumuten sind, verbindlich zu Opfern angehalten werden und sich nicht durch Absichtserklärungen alles letzten Endes doch nur wieder in Nebel auflöst.
Ich meine z. B. eine Verschiebung der Besoldungserhöhung de facto und de jure um ein halbes Jahr. Ich meine aber auch ein Offenhalten der Frage, ob die Zwangsanleihe der richtige Weg ist, ob man nicht vielleicht besser doch zu einer auch ordnungspolitisch sauberen Ergänzungsabgabe kommen könnte.
Ich denke auch daran — das wäre Aufgabe der Finanzpolitiker —, im Steuerrecht dafür zu sorgen, daß nicht ein Zahnarzt mit einem sehr hohen Einkommen durch Anwendung des Steuerrechts sein zu versteuerndes Einkommen auf Null herunterschraubt.
Auch das gehört zur sozialen Symmetrie.Meine Damen und Herren, auch wenn dies einigen meiner Freunde sicher wehtut — ich will niemanden verletzen, kein Öl in wessen Feuer auch immer schütten —, stelle ich fest: Die alte Regierung ist nicht so sehr an fehlenden Gemeinsamkeiten gescheitert, auch wenn es Opposition gegen den eigenen Kanzler aus den Reihen der SPD gab, sie ist vor allem nicht an fehlenden Gemeinsamkeiten in der Sozialpolitik gescheitert, sondern sie ist gescheitert an verlorenen Landtagswahlen und — als Folge davon — am unklaren Koalitionskurs.Die neue Regierung wird im Parlament scheitern, wenn sie die Fehler der alten Regierung wiederholt und versuchen sollte, im Parlament ihre Entscheidungen im Alleingang durchzusetzen, und bei der Tragweite der sozialen Einschnitte die Notwendigkeit der sozialen Ausgewogenheit mißachtet.Aber — und das ist mein letzter Satz — die neue Regierung wird vor allen Dingen vor dem deutschen Volk scheitern, wenn sie sich nicht das verschafft, was ihr fehlt und was das Wichtigste in einer Demokratie ist: die politische Legitimation durch den Wähler. — Vielen Dank.
Ich gebe dem Abgeordneten Vohrer das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen! Meine Herren! Lassen Sie mich zuerst ein kritisches Wort über die Struktur dieser dreitägigen Debatte sagen. Ich hätte es angemessen gefunden, wenn die Parlamentarier, und zwar mit kurzen Beiträgen, in stärkerem Maße in die Debatte einbezogen worden wären, statt daß Mammutreden gehalten werden, die die Kluft zwischen denen, die hieram Pult erscheinen, und denen, die zuzuhören haben, immer mehr vergrößern.
Ich finde das nicht gut. Im übrigen haben Regisseure das Ende der Debatte für 13 Uhr angekündigt. Ich finde, das Selbstverständnis der Parlamentarier sollte eigentlich dahin gehen, zu zeigen, daß das, was in dem letzten Monat seit dem 17. September in diesem Parlament und in Bonn alles passiert ist, nicht schlicht in ein organisatorisches Korsett zu zwingen ist, sondern daß die Leute, die hiervon bewegt sind, dies auch ausdrücken können sollten.
So bitte ich meinen Beitrag zu verstehen.
Ich möchte mich auf einen Bereich konzentrieren, der zu kurz kam. Die Außenpolitik, die in der Regierungserklärung ein wichtiger Beitrag war, wurde überhaupt nicht angesprochen. Der Teil, den ich in meiner Arbeit als Politiker zu vertreten habe, die Dritte-Welt-Politik, kam nicht zur Sprache. Ich fand es schon wenig, was in der Regierungserklärung darüber stand. Da sind 29 Zeilen vermerkt. Deshalb möchte ich meine Ausführungen gliedern in zwei Teile, nämlich in Aussagen über das, was gesagt wurde und was vereinbart wurde, und Aussagen darüber, was noch geregelt werden muß.In der Regierungserklärung wird unter der Rubrik „Kontinuität" deutlich gemacht, daß Entwicklungspolitik Friedenspolitik ist. Betont wird Partnerschaft mit der Dritten Welt, echte Blockfreiheit. Ich frage mich übrigens, ob es auch eine unechte gibt, wenn die echte so betont wird. Und es wird noch einmal der Grundsatz hervorgehoben, daß die Nord-Süd-Probleme nicht mit Ost-West-Konflikten vermischt werden sollen. — So weit, so gut. Ich glaube, das ist bislang schon Konsens aller dreier Parteien gewesen.Aber dann kommt der neue Abschnitt, in dem die strategischen Interessen des Westens in stärkerem Maße mit der Entwicklungspolitik in Zusammenhang gebracht werden. Da, finde ich, müssen wir sehr hellhörig sein. Natürlich gab es auch unter der sozialliberalen Regierung Entscheidungen, die nicht nur entwicklungspolitisch orientiert waren. Ich denke an die Haushaltsansätze für die Türkei, für Ägypten oder für Zimbabwe; darin liegt sicherlich auch ein geostrategisches Element. Wir müssen hier aber wirklich aufpassen, daß die Prioritäten nicht verschoben werden. Ich sehe, wie das Politvorbild USA völlig andere Politik macht als wir in diesem Hause bislang gemacht haben. Ich sehe, wie die programmatische Situation der CDU aussieht, wo nämlich bislang das Programm von 1980 noch gilt und wo unter anderem steht: „Besondere Bedeutung bei der Vergabe unserer Entwicklungshilfe haben Länder, die im Hinblick auf den Ost-West-Konflikt für den Westen eine besondere strategische und wirtschaftliche Bedeutung haben." Das wäre eine andere Politik als die, die wir bislang durchgeführt haben.
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Dr. VohrerDeshalb möchte ich an dieser Stelle — und das gehört zur Debatte über die Regierungserklärung — auf solche Gefahren aufmerksam machen.Wenn auf der anderen Seite jetzt die starke Betonung des privaten Sektors in der Regierungserklärung zu lesen ist, dann haben wir als Liberale dafür sicherlich viel Sympathie. Aber die private Entwicklungspolitik darf die bisherige Konzeption der öffentlichen Entwicklungspolitik nicht ersetzen.
Bislang waren die Schwerpunkte der öffentlichen Entwicklungspolitik in den ärmsten Ländern Grundbedürfnisse, Infrastruktur, ländlicher Raum. Private Investitionen gehen ganz woanders hin. Sie gehen in die Schwellenländer. Sie gehen in die Industrie. Sie gehen in die städtischen Ballungszentren. Insofern kann ich jenes Konzept nur als Ergänzung der bisherigen Politik, nicht aber als deren Ersatz akzeptieren.
— Beides. Sehen Sie, Herr Hüsch, beides steht drin. Es steht drin „ergänzen", und es steht drin: „Sie müssen Motor sein." Und Motor können sie nicht sein, sonst ist das eine andere Politik, Herr Hüsch.
Das ist es ja, worauf ich aufmerksam machen möchte.Was nicht gesagt ist und in der Regierungserklärung fehlt, sind auch Feststellungen über die Schwerpunkte der öffentlichen Entwicklungspolitik. Das, was bislang im Konzept der Bundesregierung oder auch in den 14 Punkten des Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit zusammengefaßt und Konsens aller drei Fraktionen war, wäre es schon wert, in der Regierungserklärung noch einmal betont zu werden,
nämlich daß der Schwerpunkt unserer Hilfe bei den ärmsten Ländern liegt, in denen es gilt, die Grundbedürfnisse zu befriedigen und die Nahrungsmittelproduktion und Energieversorgung sicherzustellen.Wenn wir schon beim Stichwort Energie sind, Herr Bundesminister, dann möchte ich doch auf eines hinweisen: Das, was in Ihrem Hause mit dem In-den-Ruhestand-Versetzen des Abteilungsleiters Grawe geschah, halte ich für völlig unerträglich. Wenn die Lösung von Energieproblemen ernst genommen wird und dies sicherlich auch weiterhin ein Schwerpunkt sein soll, dann kann man nicht einen Ministerialdirektor in den Ruhestand versetzen, der erstens ein Experte auf dem Gebiet ist und zweitens jahrelang in einem CDU-Ministerium in Baden-Württemberg in dem Bereich ganz loyal gearbeitet hat.
Es geht nicht an, einen solchen Mann jetzt zu opfern, weil irgendwelche Beamte wohl versorgt werden müssen. Das ist für mich unerträglich. Auf der einen Seite die Ministergehälter um 5 % zu kürzen und den Eindruck einer Sparregierung zu machen, auf der anderen Seite aber solche Entlassungen vorzunehmen, das ist ein Widerspruch, der hier auch einmal zur Sprache kommen muß. Ich bin der festen Überzeugung: Wenn die Minister mit 10% der Kosten belastet würden, die solche unsinnigen Entlassungen mit sich bringen, dann würden solche Taten zukünftig unterbleiben.
Herr Bundesminister, die Gefahr, daß das Konzept der Entwicklungspolitik von heute auf morgen verändert wird, sehe ich nicht als allzugroß an. Denn wir alle wissen, daß sich die Verpflichtungsermächtigungen in der „Pipeline" derzeit auf 27 Milliarden DM belaufen. Insofern wird in den nächsten Jahren zuerst das bisherige Konzept abzuwickeln sein. Das sollte Sie vielleicht beflügeln, nicht überhastet eine andere Politik zu machen. Aber ich halte es für wichtig, daß Sie als Minister dafür kämpfen, daß der Einzelplan 23 auch zukünftig mit hoher Priorität gesehen wird.
Auch hierzu steht nichts in der Regierungserklärung. Jenen wichtigen Betrag in der Größenordnung von 7 Milliarden DM, auf den sich die bisherige sozialliberale Regierung verpflichtet hat, mit doppelter Steigerungsrate — verglichen mit dem Gesamthaushalt — einen Schwerpunkt zu setzen, jene Kontinuität hätte ich in der Regierungserklärung sehr gern wiedergefunden.
Selbst bei gegebener Kassenlage müßte das Minimum sein, daß es bei den Haushaltsansätzen kein Zurück gibt, daß sich der Minister hier wirklich engagiert, daß im Bereich der Entwicklungshilfe nicht gespart wird, weil die Dritte Welt keine Lobby hat.
Was meiner Ansicht nach ferner fehlt, ist eine Aussage zur neuen Weltwirtschaftsordnung. Es ist in der Regierungserklärung zwar die Absage an den Protektionismus enthalten, aber bislang haben Sie das gesamte Konzept zum gemeinsamen Fonds, zu den Rohstoffabkommen als weltweiten Dirigismus verteufelt. Ich würde es für richtig halten, wenn von Ihnen in absehbarer Zeit, wenn das in der Debatte heute schon nicht geschehen kann, eine Erklärung im Deutschen Bundestag abgegeben würde, die deutlich macht, daß Sie auch hier Kontinuität der bisherigen Politik sehen und daß wir über eine Stabilisierung der Rohstoffpreise der Dritten Welt helfen. Ich halte dies für einen zentra-
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Dr. Vohrerlen Ansatz; die bisherige Politik müßte hier fortgesetzt werden.
Sorgen Sie mit für die Kontinuität der Entwicklungspoltik! Erhalten Sie den Konsens, den wir in den letzten zwei Jahren erarbeitet haben! Denn nur eine gemeinsame Linie und das Heraushalten der Entwicklungspolitik aus der innenpolitischen Polemik können der Sache dienen. — Herzlichen Dank.
Meine Damen und Herren, zwei Abgeordnete haben das Wort zu einer Erklärung zur Aussprache nach § 30 der Geschäftsordnung erbeten. Ich weise aus gegebenem Anlaß darauf hin, daß mit einer Erklärung zur Aussprache nur Äußerungen, die sich in der Aussprache auf die eigene Person bezogen haben, zurückgewiesen oder eigene Ausführungen richtig gestellt werden dürfen.
Ich erteile das Wort zu einer Erklärung nach § 30 dem Abgeordneten Jung.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Herr Dr. Apel — er ist leider nicht mehr hier — hat in seiner Rede im Verlaufe dieser Debatte am Mittwoch meine persönliche Glaubwürdigkeit in Frage gestellt. Herr Dr. Apel hat geglaubt, einen solch schwerwiegenden Vorwurf erheben zu müssen, weil angeblich der neue Traditionserlaß suspendiert worden sei. Herr Dr. Apel hat sich noch nicht einmal die Mühe gemacht, sich nach den Fakten zu erkundigen.
Das ist bezeichnend für die verantwortungslose Art und Weise, in der aus der SPD seit dem 17. September Vernichtungspropaganda gegen die Liberalen betrieben wird.
Tatsache ist: Der Traditionserlaß ist nicht suspendiert.
Er wird zur Zeit überprüft, wie übrigens auch der Emcke-Vorschlag zur Neuordnung des Rüstungsbereichs, den ich zusätzlich zu meinem Aufgabenbereich als Parlamentarischer Staatssekretär vom bisherigen beamteten und der SPD zugehörigen Staatssekretär voll übernommen habe.
— Ich werde Ihnen gleich weiter antworten, Herr Kollege Gansel.
Dadurch erübrigt sich ein Controller, weil die Kontrolle von der Leitung des Hauses durchgeführt wird, weil es — Tornado hat dies überdeutlich gemacht — undelegierbare Pflicht der Leitung des Bundesministeriums der Verteidigung ist. Tatsache ist also — —
Herr Abgeordneter Jung, ich darf Sie noch einmal auf die sehr strengen Bestimmungen des § 30 hinweisen, und ich bitte Sie, sich daran zu halten.
Herr Präsident, ich habe die Seite 7267 des Protokolls hier mit bei mir, wo Herr Dr. Apel auf alle diese Punkte eingegangen ist.
Tatsache ist, daß der Traditionserlaß überprüft wird, und bei dieser Überprüfung, Herr Gansel, werde ich Wort für Wort bei jener Presseerklärung vom 20. September 1982 bleiben, und zwar in Übereinstimmung mit Bundesminister Wörner. Ich will Ihnen die Presseerklärung hier zitieren.
Herr Abgeordneter, ich muß Sie zusätzlich darauf aufmerksam machen, daß § 30 vorsieht, daß eine solche Erklärung nicht über fünf Minuten dauern darf.
Herr Präsident, wenn ich ständig unterbrochen werde, kann ich die fünf Minuten natürlich nicht einhalten. Ich wäre sonst in drei Minuten fertig.
Herr Abgeordneter, Sie sind deswegen unterbrochen worden, weil der zutreffende Eindruck besteht, daß Sie sich nicht an die Bestimmungen des § 30 hinsichtlich der Form Ihrer Erklärung halten.
Ich bitte, zum Schluß zu kommen.
Herr Präsident, ich bitte, nach § 30 der Geschäftsordnung meine Erklärung zu Ende bringen zu dürfen, die sich auf die in der 121. Sitzung — Seite 7267 des Protokolls — von Herrn Dr. Apel erhobenen Vorwürfe bezieht.
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Jung
Tatsache ist, daß der Traditionserlaß zur Zeit überprüft wird.
Ich erinnere an meine Erklärung vom 20. September, die Wort für Wort und Satz für Satz bestehenbleibt. Ich will sie nun, um Zeit zu sparen, nicht vorlesen; aber Sie haben ja selbst die Gelegenheit, die fdk vom 20. September zu lesen. Ich habe dort die Neufassung der Richtlinien als einen wichtigen Beitrag zur politischen Bildung der Streitkräfte gewürdigt, und ich bleibe dabei. Dies, meine Damen und Herren — bitte richten Sie das Herrn Dr. Apel aus —, ist meine Glaubwürdigkeit.Ich darf von Herrn Dr. Apel wohl auch erwarten, daß er vor dem Hintergrund der gegebenen Tatsachen und Informationen seinen Vorwurf in gebührender Form zurücknimmt.
Herr Abgeordneter Jung, ich habe nicht mehr die Möglichkeit, Sie weiter sprechen zu lassen. Die Geschäftsordnung sieht zwingend vor, daß eine solche Erklärung nicht über fünf Minuten ausgedehnt werden darf. Sie haben den zeitlichen Rahmen überschritten. Ich darf Sie bitten, Ihre Ausführungen hiermit zu beenden.
Herr Präsident, trotz der ständigen Zurufe des Herrn Gansel will ich versuchen — —
Herr Abgeordneter, Sie haben nicht mehr das Wort. Ich bitte Sie, das Podium zu räumen.
Herr Präsident, — —
Herr Abgeordneter, es gibt keine Diskussion über die Entscheidung des Präsidenten. Ich bitte Sie, sich an Ihren Platz zubegeben.
Das Wort zu einer Erklärung nach § 30 unserer Geschäftsordnung erteile ich dem Abgeordneten Erhard .
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Abgeordnete Professor Dr. Ehmke hat mir am Schluß der gestrigen Debatte vorgeworfen, ich hätte bewußt die Unwahrheit gesagt. Ich stelle fest:
Erstens. Herr Ehmke hat laut von ihm selbst kontrolliertem und abgezeichnetem Protokoll am 13. Oktober 1982 von dieser Stelle aus gesagt: „Herr Dr. Zimmermann" ist „im Jahre 1960 vom Landgericht München wegen fahrlässigen Falscheids zu einer Gefängnisstrafe verurteilt worden." Damit hat er das falsche und vom Bundesgerichtshof aufgehobene Urteil zitiert. Das habe ich behauptet.
Zweitens. Herr Ehmke hat danach auch aus der Begründung eines freisprechenden Urteils, und zwar aus der darin enthaltenen Kostenentscheidung, aus dem Jahre 1961 zitiert. Das habe ich nicht beanstandet, obwohl nach heutigem Recht eine solche Kostenentscheidung und Begründung nicht mehr zulässig ist. Das weiß auch Herr Ehmke. Er wollte den Eindruck erwecken, der Vorwurf der Falschaussage bestehe fort.
Drittens. Die Erklärungen des Herrn Abgeordneten Ehmke sind offenkundig nur abgegeben worden, um ein Mitglied des Bundestages — auch mich — und der Bundesregierung öffentlich herabzusetzen. Diese Absicht folgt zwingend aus seiner Erklärung, es sei einmalig — ich zitiere wörtlich —, „daß ein Mann mit einer solchen Vorgeschichte Mitglied des Bundeskabinetts wird".
Viertens. Solche Äußerungen werden nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs als unerlaubte Handlungen bezeichnet, ganz gleich, wie die strafrechtlichen Bewertungen im Einzelfall aussehen mögen.
Zu einer Erklärung nach § 30 der Geschäftsordnung erteile ich dem Abgeordneten Dr. Ehmke das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In der gestrigen Debatte hat mir Herr Kollege Erhard Verleumdung vorgeworfen, weil ich, wie er wörtlich gesagt hat, aus einem unrechtlichen Urteil zitiert hätte, das aufgehoben worden sei.Erstens habe ich bereits gestern in einer Erklärung festgestellt, daß das Urteil eines unabhängigen deutschen Gerichts nicht darum unrechtlich ist, weil es Ihnen politisch nicht paßt.
Ich habe gestern zweitens festgestellt, daß das Urteil vom 26. April 1961, aus dem ich zitiert habe, nicht aufgehoben worden, sondern vielmehr rechtskräftig geworden ist.
Ich habe drittens festgestellt, daß ich den Kollegen Erhard, bevor er hier seine unwahre Behauptung aufgestellt hat, persönlich darauf aufmerksam gemacht habe, daß ich nicht aus einem aufgehobenen Urteil zitiert habe. Ich habe gestern daher gesagt: „Der Vorwurf der Verleumdung fällt auf Sie selbst zurück."Ich stelle zusätzlich fest, Herr Kollege Erhard: Die Erklärung, die Sie heute abgegeben haben, ist ein halber Rückzieher. Ich sage Ihnen: Es wäre bes-
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7470 Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 123. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. Oktober 1982
Dr. Ehmkeser, Sie würden sich bei mir wegen des Vorwurfs der Verleumdung entschuldigen.
Zu einer kurzen Erklärung gebe ich Herrn Bundesminister Warnke das Wort. Ich habe ihn darauf hingewiesen, daß durch seine Wortmeldung die Debatte neu eröffnet werden könnte.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und meine Herren! Mit Aufmerksamkeit und mit Sympathie habe ich die Ausführungen des Kollegen Vohrer verfolgt, der die Entwicklungspolitik am Schluß der Debatte noch einmal angesprochen hat. Ich möchte mich meinerseits an die Vereinbarung halten, die zwischen allen Seiten des Hauses getroffen worden ist, heute die Entwicklungspolitik nicht zu diskutieren.
Herr Kollege Vohrer, ich biete Ihnen an, auf Ihre Ausführungen bei einer Gelegenheit zurückzukommen, die auch dem Gewicht der Entwicklungspolitik gerecht wird, nämlich bei der Haushaltsaussprache in diesem Hause.
Und wir werden bei dieser Gelegenheit, wie es Helmut Kohl in der Regierungserklärung getan hat, von jenem Bestand an Gemeinsamkeiten ausgehen, der in der gemeinsamen Entschließung dieses Hauses vom 5. März festgelegt worden ist. — Ich danke Ihnen.
Meine Damen und Herren, weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die Aussprache.
Ich rufe die Punkte 3, 4 und den Zusatzpunkt der Tagesordnung auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Dritten Gesetzes zur Änderung des Güterkraftverkehrsgesetzes
— Drucksache 9/1909 —
Überweisungsvorschlag des Ältestenrates: Ausschuß für Verkehr
Ausschuß für Wirtschaft
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über die Ausübung der Zahnheilkunde
— Drucksache 9/1987 —
Überweisungsvorschlag des Ältestenrates:
Ausschuß für Jugend, Familie und Gesundheit
Ausschuß für Wirtschaft
Ausschuß für Bildung und Wissenschaft
Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU, SPD und FDP eingebrachten Entwurfs eines Sechsten Gesetzes zur Änderung des Bundeswahlgesetzes
— Drucksache 9/2034 —
Überweisungsvorschlag des Ältestenrates: Innenausschuß
Ich frage, ob das Wort gewünscht wird. — Dies ist nicht der Fall.
Der Ältestenrat schlägt Überweisung der Gesetzentwürfe auf den Drucksachen 9/1909, 9/1987 und 9/2034 an die Ausschüsse vor. Die Überweisungsvorschläge des Ältestenrates ersehen Sie aus der Tagesordnung.
Ist das Haus mit diesen Überweisungsvorschlägen einverstanden? — Es erhebt sich kein Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich rufe Punkt 5 der Tagesordnung auf:
Beratung der Sammelübersicht 44 des Petitionsausschusses über Anträge zu Petitionen
— Drucksache 9/1995 —
Das Wort wird nicht gewünscht. — Wir kommen zur Abstimmung.
Wer der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses, die in der Sammelübersicht 44 enthaltenen Anträge anzunehmen, zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. — Die Gegenprobe! — Enthaltungen? — Die Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses ist damit einstimmig angenommen.
Ich rufe Punkt 6 der Tagesordnung auf:
Beratung der Übersicht 10 des Rechtsausschusses über die dem Deutschen Bundestag zugeleiteten Streitsachen vor dem Bundesverfassungsgericht
— Drucksache 9/2005 —
Das Wort wird nicht gewünscht. — Wir kommen zur Abstimmung.
Der Rechtsausschuß empfiehlt auf Drucksache 9/2005, von einer Äußerung oder einem Verfahrensbeitritt zu den in der genannten Drucksache aufgeführten Streitsachen vor dem Bundesverfassungsgericht abzusehen. Ist das Haus damit einverstanden? — Es erhebt sich kein Widerspruch. Dann ist dies so beschlossen.
Meine Damen und Herren, wir sind am Ende unserer heutigen Tagesordnung. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Mittwoch, den 27. Oktober 1982, 13 Uhr ein.
Die Sitzung ist geschlossen.