Wollen wir uns auf eine spätere Zusatzfrage einigen.
Zur „Wende" vielleicht noch folgender Punkt. Frau Fuchs hat gestern hier gesagt, wir hätten eine Rente nach Kassenlage vorgeführt.
— Tut es weh? Die Wahrheit tut immer weh.
Sie hat gesagt, wir hätten eine solche Rente vorgeschlagen, die wir früher bei der anderen Regierung immer bekämpft hätten. Diese Aussage enthält zwei Wahrheiten: Erstens. Die frühere Regierung hat eine Rentenpolitik nach Kassenlage betrieben. Das war das Eingeständnis. Zweitens. Wir können leider Gottes keine Rentenpolitik ohne Rücksicht darauf betreiben, da uns diese Regierung leere Kassen hinterlassen hat. Das geht nun einmal nicht anders: Auch diese Regierung lebt nur von dem, was vorhanden ist. Zum Unterschied von anderen versprechen wir nicht mehr, als wir halten können.
Meine Damen und Herren, ich hoffe, daß diese Atempause auch ein Zeichen für diejenigen setzt, die wir durch Gesetzgebung weder erreichen können noch erreichen wollen. Wir hoffen, daß diese Atempause auch eine Beweislast für alle ist, Maß zu nehmen an dem Opfer, das die Witwe mit 800 DM Monatsrente erbringen muß.
Wir werden am 1. Juli nächsten Jahres zu prüfen haben, wer sich der Solidarität entzogen hat, wer sich als Egoist entlarvt hat. Wir brauchen eine Druckwelle des Gemeinsinns, um die Wende herbeizuführen.
Ich halte es für ein hoffnungsvolles Zeichen, daß in der Ärzteschaft die Bereitschaft wächst, auch ihre Honorarerhöhungsforderungen auf den 1. Juli zu verschieben.
Ich bedanke mich dafür. Das ist eine bessere Werbung für die Ärzteschaft als viele Kundgebungen und Broschüren.
Ich finde: Je mehr mitmachen, desto schwerer haben es diejenigen, die sich der „Aktion Solidarität" verweigern.
Mein Appell richtet sich auch an die Unternehmer, ihre vorgesehenen Preisanhebungen ebenfalls auf den 1. Juli zu verschieben.
— Lachen Sie doch noch nicht so früh! Es wäre unerträglich, die Preise davonlaufen zu sehen, während die Rentnerin Opfer bringt.
Nehmen wir einmal an, 3 Millionen Arbeitslose stünden auf der Straße. Es kommen die geburtenstarken Jahrgänge. Wenn nichts geschieht, wird es so sein. Was machen wir dann? Soll dann das Ritual der alten Auseinandersetzungen fortgeführt werden: Die Arbeitgeber beschimpfen die Gewerkschaften, die Gewerkschaften beschimpfen die Arbeitgeber, die Regierung beschimpft die Opposition und die Opposition beschimpft die Regierung?
Ich fürchte, die Arbeitslosen werden für diesen Streit dann kein Verständnis haben. Sie werden fragen, was wir gemeinsam getan haben, um die Arbeitslosigkeit zu beseitigen.
Ungewöhnliche Zeiten verlangen außergewöhnliche Schritte. Dem Mangel an Arbeitsplätzen darf jetzt nicht noch ein Mangel an Mut und Phantasie hinzugefügt werden.
Meine Damen und Herren, es wird für Sie keine Überraschung sein, daß mich die Reaktion der Gewerkschaften enttäuscht hat. Zunächst will ich klarstellen, obwohl es da vielleicht gar nicht vieler Worte bedarf: Ein Eingriff in die Tarifautonomie kann das nicht sein, wenn Vorschläge gemacht werden. Tarifautonomie heißt doch nicht Diskussionsverbot. Sonst wäre die Tarifautonomie das letzte Tabu in einer aufgeklärten Gesellschaft!
Die Tarifpartner sollen und müssen autonom entscheiden. Dieses Recht werde ich gegen jedermann verteidigen. Aber das, was sie vorhaben, was sie planen, was sie machen wollen, wird doch wohl noch diskutiert werden dürfen. Wir sind doch nicht in einer geschlossenen Gesellschaft! Alles kann diskutiert werden.
Die Kritik der Gewerkschaften am Gesetzgeber habe ich nie als eine Beschädigung des Parlamentarismus empfunden, obwohl auch der Gesetzgeber, das Parlament, autonom ist.