Gesamtes Protokol
Die Sitzung ist eröffnet.
Meine Damen und Herren! Vor Eintritt in die Tagesordnung
gedenken wir erneut eines viel zu früh verstorbenen Kollegen. Wir gedenken unseres Kollegen Wilhelm Naegel. Die Nachricht von seinem plötzlichen und unerwarteten Tode hat uns tief bewegt. Um die Mittagsstunde des 24. Mai ist er im Alter von 52 Jahren nach einem Herzinfarkt gestorben.
Wilhelm Naegel aus Hannover-Kirchrode wurde am 3. August 1904 in Fritzlar geboren. Nach dem Studium an den Handelshochschulen in Berlin und Königsberg, an der Universität Köln und der Technischen Hochschule in Braunschweig war er als Diplomhandelslehrer tätig. Seit über 25 Jahren wirkte er in der Firma Brenninkmeyer und gehörte zuletzt deren Hauptgeschäftsleitung an. Auf Grund seiner beruflichen Fähigkeiten und seines ausgezeichneten Könnens wurde er zu zahlreichen Ämtern berufen. Er war Mitbegründer und Ehrenpräsident des Einzelhandelsverbandes Niedersachsen und bis Oktober 1953 Vizepräsident der Hauptgemeinschaft Deutscher Einzelhandel sowie Ehrenmitglied des Präsidiums des Bundesverbandes des Deutschen Textileinzelhandels. Seine Tätigkeit galt auch der Industrie- und Handelskammer Hannover, deren Vizepräsident er war, und sie galt dem Deutschen Industrie- und Handelstag, dessen
Handelsausschuß er als Vorsitzender leitete. Der Bund Deutscher Katholischer Unternehmer zählte Herrn Naegel zu seinen Vorstandsmitgliedern.
Wilhelm Naegel war Mitbegründer der ChristlichDemokratischen Union in Hannover und in der britischen Zone und später Mitglied des Landesvorstandes der CDU Niedersachsen. Bis Juli 1947 gehörte er dem Niedersächsischen Landtag und als stellvertretendes Mitglied schon dem Zonenbeirat für die britische Zone an. 1947 wurde er Abgeordneter des Wirtschaftsrats für das Vereinigte Wirtschaftsgebiet.
Unser Kollege Naegel war bereits Mitglied des 1. Bundestages. Er übernahm im Januar 1953 den Vorsitz des Ausschusses für Wirtschaftspolitik in diesem Hause. Seine Verdienste richtig zu würdigen vermag nur der, der um die Arbeitslast und Verantwortung aller dieser Verpflichtungen, die unser Kollege Naegel auf sich genommen hatte, etwas weiß.
Herr Naegel hinterläßt Frau und fünf Kinder, und wir sprechen seiner Gemahlin und seinen Kindern unsere tief empfundene Anteilnahme aus. Ich spreche dieselbe Anteilnahme der CDU/CSU-Fraktion aus, der Wilhelm Naegel in unserem Hause angehört hat.
Meine Damen und Herren, es ist nicht üblich, in solchen Zusammenhängen Worte der Mahnung zu sagen; aber wenn ein Mann — ich kann nur sagen: wieder einer — in der kräftigsten Mitte der Mannesjahre plötzlich von uns geht, dann ist das für uns eine Mahnung, in unserem Tun, in unserer starken Inanspruchnahme auf alles das Rücksicht zu nehmen, was der Verlängerung unserer Arbeitskraft und der Verlängerung unseres Lebens nach Gottes Willen dienlich ist. Ich meine, daß wir uns in diesem Hause darin einig sein sollten, daß alles, was dafür geschehen kann, auch in diesem Hause noch mehr als seither geschieht und geschehen muß.
Sie haben sich zu Ehren des heimgegangenen Kollegen erhoben; ich danke Ihnen.
Meine Damen und Herren, ich schlage Ihnen vor, die Ihnen vorliegende Tagesordnung durch die Aufnahme des folgenden Punktes: Große Anfrage der Abgeordneten Mellies, Dr. Reif, Feller und Genossen betreffend Verfassungsklage wegen des Reichskonkordats — Drucksache 2258 — zu ergänzen und diesen Punkt als Punkt 2 auf die heutige Tagesordnung zu setzen. Ich darf hinzufügen, daß bis gestern abend spät in diesem Hause Bemühungen angestellt worden sind, um — ausschließlich aus Gründen des Taktes im Hinblick auf den hohen Feiertag in dieser Woche — einen anderen Termin als den heutigen Tag für die Behandlung dieser Großen Anfrage zu finden. Ich danke für die Würdigung und Unterstützung dieser Bemühungen Kollegen aus allen Fraktionen. Vor allem aber möchte ich der die Große Anfrage stellenden Fraktion dafür danken, daß sie diese Bemühungen nachhaltig unterstützt hat. Es ist mir nicht möglich gewesen, dem Hause schließlich einen besseren Termin vorzuschlagen, insbesondere mit Rücksicht darauf, daß am Freitagvormittag eine — wovon ich mich überzeugt habe — lange verabredete Sitzung zahlreicher Ausschüsse dieses Hauses stattfinden muß. Ich mache Ihnen deshalb, wie gesagt, den Vorschlag, die heutige Tagesordnung um diesen Punkt zu ergänzen. — Ich höre keinen Widerspruch; es ist so beschlossen.
Ich habe ferner folgende Mitteilungen zu machen:
1. Der Abgeordnete Dr. Reinhold Maier hat gemäß § 51 Abs. 1 Ziffer 3 des Wahlgesetzes zum 2. Deutschen Bundestag seine Verzichterklärung vor dem Präsidenten des Bundestages am 8. Mai 1956 unterzeichnet, nach der er sein Bundestagsmandat zum 15. Mai 1956 niedergelegt hat. Der Vorstand des Deutschen Bundestages hat gemäß § 52 des Wahlgesetzes die Wirksamkeit der Niederlegung des Mandats zum 15. Mai 1956 beschlußmäßig anerkannt. Als sein Nachfolger ist der Abgeordnete Herr Weber in den Bundestag eingetreten. Ich darf fragen, ob Herr Weber anwesend ist. - Ich heiße Herrn Weber hier in unserer Mitte herzlich willkommen.
2. Als Nachfolger des früheren Abgeordneten Schmidt-Wittmack ist der Abgeordnete Albrecht in den Bundestag eingetreten. Ich frage, ob Herr Albrecht hier im Hause anwesend ist. - Ich heiße auch Herrn Albrecht hier in diesem Hause herzlich willkommen.
Ich wünsche beiden Herren Gottes Segen für ihre Arbeit im Deutschen Bundestag.
Glückwünsche darf ich aussprechen dem Herrn Abgeordneten Dr. Brönner, der am 12. Mai seinen 72. Geburtstag gefeiert hat.
Ebenso herzliche Glückwünsche darf ich Frau Albrecht aussprechen, die am 27. Mai Geburtstag gefeiert hat.
Der Antrag der Abgeordneten Stiller, Dr. Dollinger, Dr. Baron Manteuffel-Szoege und Genossen betreffend Bau einer Entlastungs- und Umgehungsstraße für die Bundesstraße 8 bei Nürnberg - Drucksache 2117 - und der Antrag der Abgeordneten Sabel, Frau Dr. Probst, Knapp und Genossen betreffend Bau der Autobahn Hersfeld-Fulda-Würzburg - Drucksache 2123 - sind durch Beschluß des Deutschen Bundestages in seiner 133. Sitzung dem Ausschuß für Verkehrswesen - federführend - und dem Haushaltsausschuß zur Mitberatung überwiesen worden. Da es sich zunächst um noch in der Planung begriffene Bauvorhaben handelt, für die die Mittel, wenn überhaupt, frühestens im Bundeshaushaltsplan 1957 bereitgestellt werden, hat der Haushaltsausschuß auf die Beratung und seine Beschlußfassung zu den vorliegenden Anträgen verzichtet. Ich unterstelle, daß das Haus damit einverstanden ist, daß der Haushaltsausschuß mit diesen Vorlagen nicht mehr befaßt wird. - Ich höre keinen Widerspruch.
Die übrigen amtlichen Mitteilungen werden ohne Verlesung in den Stenographischen Bericht aufgenommen:
Der Bundesrat hat in seiner Sitzung am 18. Mai 1956 den nachstehenden Gesetzen zugestimmt bzw. einen Antrag gemäß Art. 77 Abs. 2 des Grundgesetzes nicht gestellt:
Gesetz betreffend das deutschisländische Protokoll vom 19. Dezember 1950 über den Schutz von Urheberrechten und gewerblichen Schutzrechten,
Erstes Gesetz zur Aufhebung des Besatzungsrechts, Zweites Gesetz zur Aufhebung des Besatzungsrechts,, Viehzählungsgesetz,
Gesetz betreffend das Übereinkommen Nr. 29 der Internationalen Arbeitsorganisation vom 28. Juni 1930 über Zwangs- oder Pflichtarbeit,
Fünftes Gesetz zur Änderung und Ergänzung des Bundesversorgungsgesetzes,
Zweites Gesetz über den Bundesgrenzschutz,
Gesetz zur Angleichung der Dienstbezüge von Vollzugsbeamten des Bundesgrenzschutzes an die Besoldung der Freiwilligen in den Streitkräften .
Der Bundesrat hat weiterhin in seiner Sitzung am 18. Mai 1956 zum Zweiten Wohnungsbaugesetz verlangt, daß der Vermittlungsausschuß einberufen wird. Die Gründe hierzu sind in der Drucksache 2392 niedergelegt.
Die Bundesregierung hat am 11. Mai 1956 zum Gesetz über die vorläufige Fortgeltung der Inanspruchnahme von Gegenständen für Zwecke der ausländischen Streitkräfte und ihrer Mitglieder, dem der Bundesrat in seiner Sitzung am 19. April 1956 seine Zustimmung verweigert hatte, die Einberufung des Vermittlungsausschusses verlangt. Die Gründe hierzu sind in Drucksache 2386 niedergelegt.
Der Herr Staatssekretär des Auswärtigen Amts hat unter dem 18. Mai 1956 die Kleine Anfrage 242 der Fraktion der SPD betreffend Bombardierung des Großen Knechtsandes und des neuen Bombenziels B bei Sahlenburg beantwortet. Sein Schreiben wird als Drucksache 2395 vervielfältigt.
Der Herr Bundesminister der Finanzen hat unter dem 24. Mai 1956 die Kleine Anfrage 244 der Fraktion der SPD betreffend Vergabe öffentlicher Aufträge beantwortet. Sein Schreiben wird als Drucksache 2404 vervielfältigt.
Der Herr Bundesminister des Innern hat unter dem 28. Mai 1956 die Kleine Anfrage 246 der Fraktion der DP betreffend Grenzzeichen an den Übergangsstellen vom Ausland ins Bundesgebiet beantwortet. Sein Schreiben wird als Drucksache 2405 vervielfältigt.
Der Herr Bundesminister der Finanzen hat unter dem 9. Mai 1956 die Kleine Anfrage 247 der Abgeordneten Kühltau, Huth, Schmücker und Genossen betreffend Lastenausgleichsgesetz beantwortet. Sein Schreiben wird als Drucksache 2385 vervielfältigt.
Der Herr Bundesminister der Finanzen hat unter dem 23. Mai 1956 die Kleine Anfrage 249 der Abgeordneten Krammig, Dr. Dollinger, Schlick, Schmücker und Genossen betreffend Anwendung von § 8 Abs. 3 des Mineralölsteuergesetzes beantwortet. Sein Schreiben wird als Drucksache 2394 vervielfältigt. (J
Der Herr Bundesminister für Verkehr hat unter dem 18. Mai 1956 die Kleine Anfrage 250 der Fraktion der FDP betreffend Einhalten der deutschen Straßenverkehrsvorschriften durch Kraftfahrzeuge der amerikanischen Streitkräfte beantwortet. Sein Schreiben wird als Drucksache 2391 vervielfältigt.
Der Herr Bundesminister für Verkehr hat unter dem 23. Mai 1956 die Kleine Anfrage 252 der Abgeordneten Richarts und Genossen betreffend Unfälle an der Autobahnstrecke ElzerBerg (2375) beantwortet. Sein Schreiben wird als Drucksache 2403 vervielfältigt.
Der Herr Bundesminister des Innern hat unter dem 20. April 1956 auf Grund der Entschließung des Deutschen Bundestages in seiner 91. Sitzung über die Gewährung von Zuschüssen zur Gemeinschaftsverpflegung berichtet. Sein Schreiben ist als Drucksache 2384 vervielfältigt.
Der Herr Bundesminister für Arbeit hat unter dem 12. Mai 1956 auf Grund des Beschlusses des Deutschen Bundestages in seiner 91. Sitzung über die Sozialabkommen der Brüsseler Vertragsstaaten berichtet. Sein Schreiben ist als Drucksache 2390 vervielfältigt.
Der Herr Bundesminister für Wirtschaft hat unter dem 16. Mai 1956 auf Grund des Beschlusses des Deutschen Bundestages in seiner 50. Sitzung über die vollzogene Unterzeichnung des deutsch-amerikanischen Filmabkommens am 26. April 1956 berichtet. Sein Schreiben ist als Drucksache 2393 vervielfältigt.
Damit kommen wir zur Tagesordnung. Ich rufe den Punkt 1 auf:
Große Anfrage der Fraktionen der CDU/ CSU, SPD, FDP, GB/BHE, DP, DA betreffend Entwicklung in der Sowjetzone und Möglichkeiten engerer Verbindungen zwischen den beiden Teilen Deutschlands .
Ich frage, wer zur Begründung der Anfrage das Wort wünscht. - Das Wort hat der Abgeordnete Willy Brandt .
Brandt (SPD), Anfragender: Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Beratungen im Ausschuß für Gesamtdeutsche und Berliner Fragen haben zum Entwurf dieser Großen Anfrage geführt, die dann von sämtlichen Fraktionen dieses Hauses eingebracht worden ist und die uns die Möglichkeit bieten soll, die Auffassung der Bundesregierung zu hören und unsere eigene Meinung zur Entwicklung in der Sowjetzone und zu den Möglichkeiten engerer Verbindungen zwischen den beiden Teilen Deutschlands zu sagen. Ich verweise zunächst auf das, was in der Großen Anfrage selbst zur Begründung bereits enthalten ist, nämlich daß wir alle miteinander die heute zur Erörterung stehenden Fragen gestellt haben aus der Sorge um die betroffenen Menschen, die den Bundestag in allen seinen Bemühungen um eine Erleichterung der Verhältnisse in der sowjetisch besetzten Zone geleitet hat. Ich verweise auch darauf, daß sich die Fraktionen zum ersten Teil dieser Großen Anfrage auf eine Konferenz der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands beziehen, die Ende März in Ostberlin stattgefunden hat und auf der Spitzenfunktionäre der sowjetzonalen Verwaltung Rechtsverletzungen zugegeben und für bestimmte Gebiete eine Überprüfung der bisherigen polizeistaatlichen Maßnahmen in Aussicht gestellt haben.
Diese Erklärungen müssen, wie wir alle wissen, auf dem Hintergrund dessen gesehen und gewertet werden, was in der Sowjetunion und im sowjetischen Machtbereich vor sich geht. Hier kann es sich gewiß nicht darum handeln, die Ergebnisse des XX. Parteitages der Kommunistischen Partei der Sowjetunion, seine Vorgeschichte, seine Auswirkungen zu deuten. Die Meinungen darüber würden vermutlich auch ziemlich weit auseinandergehen.
Unabhängig jedoch von der Wertung dieser Vorgänge haben uns alle in den letzten Monaten und Wochen Nachrichten erreicht, die auf unser menschliches und auf unser politisches Interesse stießen. Aus der Sowjetunion selbst kamen Meldungen darüber, daß Opfer der Stalinschen Willkür aus den Zwangsarbeitslagern entlassen würden, daß die Vollmachten der Geheimpolizei beschnitten würden oder bereits beschnitten seien, daß die Prozeßordnung revidiert werden solle und daß Verhaftete nicht mehr bloß auf Grund erpreßter Geständnisse verurteilt werden sollten. Aus Polen ist berichtet worden, daß politische Häftlinge freigelassen und daß statt dessen Beamte des staatlichen Sicherheitsdienstes festgesetzt worden seien. Aus Bulgarien, aus Ungarn, aus der Tschechoslowakei haben wir erfahren, daß in gewissen Fällen politische Gefangene amnestiert worden sind und daß Urteile in früheren Prozessen desavouiert worden sind. Und wir haben zur Kenntnis genommen, meine Damen und Herren, daß auch in der sowjetisch besetzten Zone Deutschlands in diesen letzten Wochen und Monaten davon gesprochen worden ist, die Gesetzlichkeit sei in gewissen Fällen verletzt worden, und in Zukunft sollten die Rechte der Bürger besser gewahrt werden.
Grotewohl hat gestern in einer Rede gesagt, es seien „Maßnahmen zur Auflockerung des Strafgesetzbuchs" in Angriff genommen. Er hat auch gesagt, in beiden Teilen Deutschlands erwarte die Bevölkerung, daß sich in Deutschland eine „Politik der Entspannung" durchsetze. Nun, Spitzenfunktionäre des sowjetzonalen Regimes haben bei verschiedenen Gelegenheiten den Eindruck zu erwecken versucht, als ob ihnen neben einer Hinwendung zu rechtsstaatlichen Gesichtspunkten an einer Erleichterung der innerdeutschen Beziehungen und an einer Normalisierung der Lage in Berlin gelegen sei. Eben diese Themen haben wir in der Großen Anfrage, über die heute gesprochen werden soll, aufgeworfen.
Es darf jedoch festgestellt werden, und ich finde, es m u ß festgestellt werden, daß wir von den sowjetzonalen Stellen bisher zwar viele mehr oder weniger schöne Worte gehört, aber noch wenig entsprechende T a t en gesehen haben. Nach allem, was hinter uns liegt, sind es jedoch allein Taten und Tatsachen, die zu überzeugen vermögen. In der sowjetisch besetzten Zone Deutschlands hat sich, was das Leben der Menschen betrifft, bisher so gut wie nichts geändert.
Auf dem Gebiet des innerdeutschen Verkehrs hat sich in diesen letzten Monaten so gut wie nichts verändert.
Was die Freilassung von Gefangenen angeht, so ist einiges angekündigt worden. Die tatsächlichen Freilassungen scheinen sich bisher im wesentlichen auf die etwa 700 Fälle zu beschränken, in denen das Eingreifen auf sowjetische Instanzen zurückzuführen war und in denen es auch sowjetische Stellen gewesen waren, die die ursprüngliche Verurteilung direkt oder indirekt bewirkt hatten.
Ich stelle also zweierlei fest. Erstens: Es besteht auf den Gebieten, die hier heute zur Erörterung stehen, in der sowjetisch besetzten Zone Deutschlands ein peinliches Mißverhältnis zwischen Worten und Taten. Zweitens: Die sowjetisch besetzte Zone Deutschlands hinkt nach, auch wenn man so bescheiden ist, ihr Verhalten nur zu vergleichen mit den Meldungen aus der Sowjetunion und aus gewissen osteuropäischen Staaten, insbesondere Polen.
Dieser zweite Punkt verdient vielleicht noch eine zusätzliche Bemerkung. Die sowjetzonalen Stellen sind, wie alle, die die Dinge verfolgen, wissen, eifrig bemüht, die Entstalinisierung im sowjetischen Machtbereich zu bagatellisieren oder gar — was die Meldungen darüber angeht — zu unterschlagen. Die Machthaber im sowjetisch besetzten Teil Deutschlands versuchen sich sogar mit der dreisten Behauptung herauszureden, daß sie sich nicht zu korrigieren brauchten, denn sie hätten sich strenger als die übrigen Ostblockstaaten in den hinter uns liegenden Jahren an die Formen der Gesetzlichkeit gehalten.
Das bedeutet natürlich nichts anderes — darüber sollte man sich an zuständiger Stelle im klaren sein —, als daß Pankow objektiv weiterhin alles tut, um die angekündigten Wandlungen der sowjetischen Politik im deutschen Bereich unglaubwürdig erscheinen zu lassen.
Die deutsche und die ausländische Öffentlichkeit mag eine kurze Antwort auf die Frage erwarten, was der eigentliche Sinn, die eigentliche Motivierung dieser Interpellation ist. Ich darf dazu folgendes sagen. Einmal kam es uns, den Kollegen aus allen Fraktionen dieses Hauses, die über die Dinge vorbereitend gesprochen haben, auf eine I öffentliche Bestandsaufnahme der Lage in der
Zone und der innerdeutschen Beziehungen an. Wir und die durch uns vertretenen Menschen möchten ganz einfach wissen, was ist. Wir möchten uns und andere vor Fehleinschätzungen und auch vor der Annahme bewahren, es habe sich bereits etwas Grundlegendes verändert. Zugleich aber möchten wir möglichst vorurteilsfrei prüfen, ob sich Möglichkeiten für die eine oder andere Veränderung abzeichnen. Dabei leitet uns gewiß die Hoffnung, daß sich die Lage für unsere Menschen und die innerdeutschen Beziehungen zum Besseren verändern mögen; denn wir fühlen uns, wie wir es häufig gesagt haben, dem ganzen Volk und dem ganzen Deutschland verpflichtet. Wir sollten nicht darauf verzichten, uns von jetzt ab laufend über die Lage in der Zone und über die innerdeutschen Beziehungen und Entwicklungen berichten zu lassen und uns unsere Meinung darüber zu bilden.
Zum anderen kann unsere Rolle — auch das war eine gemeinsame Überzeugung derer, die hier vorbereitend miteinander gesprochen haben — nicht die von passiv Abwartenden sein. Bei dem, womit wir uns heute befassen, handelt es sich nicht um die Weltpolitik; hier handelt es sich auch nicht um die Erörterung der außenpolitischen Voraussetzungen für die Lösung der deutschen Frage. Aber hier handelt es sich darum, ob wir in einem bescheideneren Rahmen Einfluß nehmen können und wie wir Einfluß nehmen wollen, um ein Höchstmaß an Beziehungen zwischen den Menschen in den beiden Teilen Deutschlands zu sichern oder wieder zu erreichen.
Niemand sage, daß wir auf die Entwicklung im anderen Teil Deutschlands ohne Einfluß seien. Es hat sich schon in der Vergangenheit, obgleich die Fronten viel mehr erstarrt waren, als sie es heute sind, gezeigt, daß Landsleute vor dem Tode bewahrt werden konnten, weil wir unsere Meinung gesagt haben und weil die öffentliche Meinung reagiert hat. Pankow und seine Hintermänner sind nicht so taub, wie sie sich gelegentlich stellen. Pankow ist gar nicht unempfindlich, wenn wir es zwingen, Farbe zu bekennen.
Drüben diskutiert gerade in dieser Lage die Bevölkerung, drüben diskutieren heute bis zu einem gewissen Grade auch die Angehörigen der SED. Und wir verdienten alle miteinander geprügelt zu werden, wenn wir nicht prüften, ob und wie wir solche Entwicklungen fördern könnten, die geeignet wären, den Landsleuten das Leben zu erleichtern und der Wiedervereinigung vom innerdeutschen Rahmen her den Weg zu ebnen.
Wenn es noch, meine Damen und Herren, eines Beweises bedurft hätte, daß unser Wort auch gegenüber den Machthabern auf der anderen Seite der willkürlichen Zonengrenze einiges Gewicht hat, so ist dieser Beweis gestern erbracht worden. Die Volkskammer war einberufen worden, und Herr Grotewohl mußte sich des längeren mit der Tatsache auseinandersetzen, daß wir heute über diese Große Anfrage beraten. Dort wurde zwar betont, eigentlich habe es einer solchen Interpellation nicht bedurft, einige unserer Fragen seien provokatorisch oder irreführend, aber dann fiel immerhin das Wort von den „ernsthaften Bemühungen".
Jawohl, das wollen wir vor dem eigenen Volk und vor der Welt klarwerden lassen, daß wir ernsthaft bemüht und von einem festen Willen geleitet
sind, wenn es sich darum handelt, soviel an uns liegt, das Leben im willkürlich gespaltenen Deutschland zu erleichtern und eines Tages — hoffentlich bald — sinnvoll wieder zusammenzufügen, was sinnlos auseinandergerissen worden ist.
Die entscheidende Frage eins lautet dahin, ob der Bundesregierung Tatsachen bekanntgeworden sind, die auf eine Hinwendung zu allgemein rechtsstaatlichen Prinzipien in der Sowjetzone schließen lassen könnten.
Wir fragen dann im ersten Abschnitt auch danach, ob der Regierung Unterlagen dafür vorliegen, daß die angekündigten neuen Methoden auf dem Gebiet des Arbeitsrechts zu tatsächlichen Veränderungen geführt haben, und ob es zutrifft, daß durch die Bildung von Produktionsgenossenschaften der Druck auf das Handwerk verschärft worden ist.
Wir fragen ferner, wieviel Prozesse wegen sogenannter Abwerbung in den letzten Monaten in der Zone stattgefunden haben und ob solche Verfahren noch andauern.
Mit der letzten Frage, meine Damen und Herren, richten wir das Scheinwerferlicht nochmals auf den empörenden Zustand, daß Deutsche bis in diese Tage zu Zuchthausstrafen verurteilt werden, weil sie die Absicht haben, ihren Arbeitsplatz von einem Teil Deutschlands in den anderen zu verlegen, oder beispielsweise auch nur deswegen, weil sie während eines Besuchs in der Zone von Arbeitsmöglichkeiten sprechen; sie werden dann wegen Boykotthetze abgeurteilt.
Die Entwicklung des sowjetzonalen Arbeitsrechts und Arbeitsstrafrechts — und das ist das Arbeitsrecht in der Zone weitgehend — verdient unsere besondere Aufmerksamkeit. Was sich dort dieser Tage unter der Parole der „vollen Ausnutzung des Arbeitstags" als neuer Parole zur Antreiberei abspielt und was sich in Gestalt der neu geschaffenen Kontrollposten der FDJ in den Betrieben abspielt, das ist einfach ein Skandal. Es muß auch zu denken geben, wenn das Organ des FDGB-Vorstandes schreibt, daß die „Arbeitsdisziplin nichtallein durch Überzeugungsarbeit erreicht werden könnte, sondern mit Hilfe einer besseren Anwendung der demokratischen Arbeitsgesetze" sichergestellt werden müsse.
In diesen Tagen haben viele von uns Briefe aus der Zone erhalten, aber auch hier aus dem deutschen Westen, Briefe, in denen viele Einzelheiten aufgeworfen werden, mit denen wir uns heute nicht befassen können, kleine Fragen, wie man häufig sagt, aber Fragen, die unsere volle Aufmerksamkeit verdienen. Da schildert der eine, daß es immer noch abgelehnt werde, das Evakuierten-gut armer Leute, auch bei kleinen Dingen ohne großen materiellen Wert, in den Westen herüberkommen zu lassen. Ein anderer berichtet, wie der legale Umzug der nächsten Angehörigen behindert wird, wenn es sich um die Wiederzusammenführung der Familien von politischen Flüchtlingen handelt. Wir werden all diese Einzelfragen weiter aufmerksam und vielleicht noch aufmerksamer als bisher prüfen müssen.
Das Kernstück dieses Teils der Großen Anfrage stellen jedoch die Fragen dar, die sich auf das Schicksal der politischen Gefangenen beziehen. Wir fragen, wieviel politische Gefangene nach Kenntnis der Bundesregierung in den letzten Monaten freigelassen worden sind. Wir fragen, wie groß die Zahl der aus politischen Gründen in der Zone noch immer Verurteilten bzw. Verhafteten ist, in welchen Gefängnissen und Zuchthäusern sie sich befinden, auf Grund welcher Bestimmungen sie verurteilt worden sind, wie groß noch jetzt die Zahl der Gefangenen ist, die der Zonenverwaltung durch die sowjetischen Besatzungsbehörden zur Verurteilung bzw. zum Vollzug der durch Militärtribunale verhängten Strafen übergeben wurden, und ob sich noch Verurteilte des 17. Juni 1953 in den Strafanstalten der Zone befinden.
Nicht ohne Grund, meine Damen und Herren, haben wir die Opfer des 17. Juni hierbei besonders erwähnt, handelte es sich doch um die Opfer einer Erhebung, einer Erhebung von Arbeitern 1m wesentlichen, gegen die stalinistischen Herrschaftsmethoden in der Zone. Wir hätten vielleicht auch fragen sollen, wieviel junge Menschen noch heute wegen sogenannter antistalinistischer Äußerungen in den Strafanstalten der Zone sitzen,
Landsleute, die doch nun nach allem, was wir inzwischen gehört haben, deswegen sitzen, weil sie Ulbricht um einiges voraus waren,
wenn es sich darum handelte, Stalin und den Stalinismus zu durchschauen.
Wir hoffen, daß die Regierung in ihrer Antwort in der Lage sein wird, uns eine umfassende Übersicht zum Problem der politischen Gefangenen zu geben. Aber wir würden sie nicht angreifen können, wenn sie nicht über alle Einzelheiten verfügte; denn bekanntlich ist es mit einigen Schwierigkeiten verbunden, sich umfassende Informationen über ein solches Gebiet zu sichern.
Außerdem kann man zu unterschiedlichen Beurteilungen über die Gesamtzahl der politischen Gefangenen schon deswegen sehr leicht kommen, weil man den Begriff des politischen Gefangenen unterschiedlich beurteilen kann, weil die Grenze beispielsweise zu den Wirtschaftsstraftatbeständen nicht ganz leicht abzustecken ist. Immerhin möchte ich hier auf drei Gesichtspunkte hinweisen.
Grotewohl hat gestern gesagt, es handle sich bei den Strafgefangenen in der Zone nicht um Leute, die wegen ihrer politischen Überzeugung verurteilt worden seien, sondern um solche, die Hetze, Wühlarbeit, Spionage und Sabotage getrieben hätten. Aber vorher hatte er von Entlassungen gesprochen und davon, daß man sich noch in der weiteren Überprüfung befinde. Ein anderer Zonenfunktionär, Herr Nuschke, hatte am Pfingstsonntag von Entlassungen gesprochen und hinzugefügt, daß — wie er sagte und wie wir hoffen — noch viele, viele folgen werden und daß es dazu gewisser Beratungen bedürfe. Und dann hat Herr Girnus vom sowjetzonalen Ausschuß für deutsche Einheit angekündigt, daß alle wegen politischer Vergehen gefällten Urteile — es müssen dann wohl doch solche Urteile gefällt worden sein — in der Sowjetzone nachgeprüft werden sollten. Die Behauptung, es gebe keine politischen Gefangenen in der Zone — eine Behauptung, die wir in den letzten Wochen zwischendurch immer wieder gehört haben —, kann einfach nicht aufrechterhalten werden.
Zum andern: Herr Melsheimer, noch Generalstaatsanwalt der Sowjetzone, hat kürzlich angekündigt, daß der berüchtigte Art. 6 der Sowjetzonenverfassung geändert werden soll, jener Artikel, der ja dazu gedient hat, mit den dehnbaren Begriffen der Friedensgefährdung und der Boykotthetze Tausende von Menschen in die Zuchthäuser und Gefängnisse zu bringen. Da drängt sich doch nun unwillkürlich die Frage auf, ob die nach diesen Kautschukbestimmungen willkürlich Verurteilten weiter sitzen sollen, während das Pankower Justizkollegium seelenruhig — anscheinend seelenruhig — über neue Formulierungen berät.
Als besonders empörend will uns auch der Tatbestand erscheinen, daß heute in der Zone aus ein und derselben Gruppe von Verhafteten die ursprünglich von der sowjetischen Besatzungsmacht als die leichteren Fälle betrachteten weiterhin sitzen, während die seinerzeit von der sowjetischen Besatzungsmacht als besonders ernste Fälle Betrachteten inzwischen auf Grund der Amnestie auf freiem Fuße sind. Hier kann es sich doch wahrscheinlich nur darum handeln, daß die sowjetische Regierung nicht hinreichend und nicht richtig darüber informiert ist, was sich auf diesem sie unmittelbar betreffenden Gebiet in der Zone abspielt; darum habe ich es noch einmal aufgegriffen.
Wir waren uns bei unseren Vorberatungen darüber einig, daß konkrete Unterlagen zum Gefangenenkomplex noch wichtiger sind als Gesamtziffern und daß alle mit diesen Dingen befaßten Stellen so sorgfältig wie möglich an der Prüfung des vorhandenen und des noch zu erlangenden Materials arbeiten sollten. Es sollte aber, von allen großen Ziffern abgesehen, allen Beteiligten klarwerden, daß es uns in diesem Deutschen Bundestag um jeden einzelnen Menschen geht,
daß wir uns durch jeden einzelnen Akt der willkürlichen Verhaftung getroffen und herausgefordert fühlen und daß wir es — auch das sei allen in Frage Kommenden gesagt — jenseits aller großen oder kleinen Politik für unsere einfache menschliche Pflicht halten, uns für diese Landsleute einzusetzen, die für uns eine Last mittragen.
Aber, meine Damen und Herren, wenn ich von der menschlichen Verpflichtung gesprochen habe, dann muß ich und darf ich ein Wort hinzufügen über das, was mit den Häftlingen geschieht, solange noch keine umfassende Haftentlassung stattgefunden hat. Darauf bezieht sich eine unserer Fragen:
Unter welchen Bedingungen leben diese Gefangenen? Seit wann dürfen ihnen keine Pakete mehr geschickt werden?
Gewiß, wir haben in den letzten Wochen einige Meldungen darüber erhalten, daß sich die Lage der Gefangenen hier und da etwas verbessert habe. Aber dem stehen doch erschütternde Berichte, erschütternde Briefe gegenüber, die wir in allen Teilen dieses Hauses bis in die letzten Tage erhalten, erschütternd vor allem, soweit sie den Gesund-
heitszustand der Menschen in den Haftanstalten betreffen, insbesondere seitdem im vorigen Herbst die Paketsperre verhängt wurde.
Ich habe hier vor mir den Brief einer Frau aus der Zone, der dieser Tage eingegangen ist, und ich darf mit Erlaubnis des Herrn Präsidenten ein paar Sätze daraus verlesen. Diese Frau schreibt:
Nun bitte ich Sie — und ich bitte im Namen wohl aller Frauen und Angehörigen —: weisen Sie doch immer wieder darauf hin, daß wenigstens die so dringend benötigten Pakete von sechs Pfund monatlich geschickt werden dürfen! Jeder, der Besuche zur Sprechzeit im Zuchthaus macht, wird bekümmert auf der Rückfahrt die immer wiederkehrenden Worte im Ohr haben: „Hunger, Hunger, Hunger!",
die immer zwischen den Redewendungen in
der Unterhaltung eingeflochten werden. Die
Wachbeamten dürfen das natürlich nicht hören.
Dann sagt diese Frau, und das geht uns alle an:
Sie wissen es bestimmt nicht, wenn man bei
jeder Mahlzeit an den Angehörigen denken
muß, wie wenig, viel zuwenig er jetzt nur hat.
Und dann stellt sie die Frage, die an das Gewissen des ganzen Hauses und des Volkes rühren muß, die Frage nämlich: Warum muß die Ostzone den Krieg bezahlen?
Wir haben Berichte von Stellen, die die Dinge verantwortlich prüfen, über den Gesundheitszustand und insbesondere darüber, daß sich die Zahl der Tbc-Erkrankungen seit dem Wegfall der Pakete katastrophal erhöht hat, daß man in manchen Haftanstalten damit rechnet, daß 40 % aller Inhaftierten an offener Tbc leiden, und daß die Untersuchungen der SBZ-Entlassungen im Lager Friedland bestätigt haben, daß der Gesundheitszustand ganz allgemein zu den allergrößten Besorgnissen Anlaß gibt. Hier muß etwas geschehen, und hier muß rasch etwas geschehen.
Die vielzitierte Hinwendung zur Gesetzlichkeit müßte auch mit einer Rückkehr zur Strafprozeßordnung verbunden sein, in der es heißt, daß sich der Beschuldigte in jeder Lage des Verfahrens des Beistands eines Verteidigers bedienen kann und daß zu Verteidigern die bei einem deutschen Gericht zugelassenen Rechtsanwälte gewählt werden können. Bis zum März 1948 galt das auch noch in der Zone, und bis zum Juni 1953 konnten noch Anwälte aus Westberlin in großer Zahl auch im Osten tätig sein. Dann hat man unter Mißachtung der auf Viermächtebasis erteilten Anwaltszulassungen auch diesen Anwälten in Berlin das Wirken im ganzen Gebiet ihrer Stadt unmöglich gemacht. Heute muß eine der Forderungen lauten, daß auch den deutschen Rechtsanwälten wieder gestattet sein muß, als Verteidiger vor Strafgerichten in der Zone aufzutreten. Mindestens aber — als Übergang — muß den Berliner Anwälten, soweit sie eine Zulassung aus der Zeit vor 1949 besitzen, die Möglichkeit eingeräumt werden, vor Ostberliner Gerichten Verteidigungen zu führen.
Noch ein Wort zur Frage der innerdeutschen Beziehungen; das ist der Teil II unserer Großen Anfrage. Auch hier handelt es sich zunächst um die öffentliche Bestandsaufnahme. Darum fragen wir unter Ziffer 11, was in den letzten Monaten geschehen ist, einmal seitens der Bundesrepublik, zum andern seitens der Verwaltung der Zone, um den Verkehr zwischen den beiden Teilen Deutschlands zu erleichtern. Wir verweisen auf die wiederholten Bemühungen des Bundestages, insbesondere auf unsern Beschluß vom 26. Mai vorigen Jahres. Ich nehme an, daß es heute wie früher unser gemeinsames Bestreben ist, wo immer möglich von uns aus aufzulockern, möglichst wenig Kontrollen zu haben, möglichst viel zu tun, um zur Freiheit des Verkehrs von Menschen, Waren und kulturellen Gütern zu gelangen.
Wir fragen in diesem Teil danach, ob es wahr ist, daß die Zonenbehörden die Genehmigung zu Besuchen von Verwandten in der Bundesrepublik weiter eingeschränkt haben und welche weiteren Schritte unsere Regierung empfiehlt, um die innerdeutschen Beziehungen zu fördern, welche Schritte insbesondere erfolgen könnten, um den geistigen und kulturellen Zusammenhalt zwischen den beiden Teilen Deutschlands zu pflegen, und welche Vereinbarungen der vier Kontrollmächte untereinander oder mit deren Einverständnis zwischen deutschen Verwaltungsstellen geeignet wären, die innerdeutschen Verbindungen und damit die Wiedervereinigung Deutschlands zu erleichtern.
Ich darf sagen, worum es uns ging und gehen soll: es geht einfach um die Existenz als Nation. Über die gesamtdeutsche Zukunft entscheidet nicht allein das, was mit den und zwischen den beteiligten Mächten ausgehandelt wird und ausgehandelt werden muß, sondern entscheidend ist auch, ob es gelingt, ein Höchstmaß an Beziehungen zwischen den Menschen in diesem Volk aufrechtzuerhalten. Uns geht es nicht um das viel zitierte „brüderliche Gespräch" mit irgendwelchen Zonengewaltigen, sondern um das vielfältige Gespräch mit der Bevölkerung, jenes innerdeutsche umfassende Gespräch, das die willkürlichen Grenzen aufweichen soll. Es geht — so haben wir es bei unseren Vorberatungen aufgefaßt — nicht um die Anerkennung einer demokratischen Legitimität dort, wo sie nicht anerkannt werden kann. Es geht nicht und kann auch nicht gehen um die völkerrechtliche Anerkennung eines zweiten Deutschland. Aber die Frage steht, was geschehen kann und soll, um unter Beachtung dieser Vorbehalte zu einem Ausbau bisheriger Regelungen und zu neuen Regelungen oder Abkommen zu gelangen, die dem bezeichneten Zweck dienen können. Es geht darum, daß die andere Seite auch auf diesem Gebiet Farbe bekennen soll. Die Anstrengungen auf diesem Gebiet — es handelt sich um die Demarkationslinie mitten durch unser eigenes Land — müssen doch wohl angesichts der Meldungen aus Ungarn, die besagen, daß zwischen Ungarn und Österreich die bisherige Stacheldrahtabsperrung abgeschafft werden soll, besonders energisch sein. Wir sind uns gewiß darüber im klaren, daß es sich hier nicht nur um eine Aufgabe des Staates, sondern auch um eine Aufgabe der vielen einzelnen in unserem Volk handelt und daß durch die Anstrengungen der vielen einzelnen unendlich viel dazu beigetragen werden kann, die Anstrengungen des Staates zu unterstützen, zu unterbauen.
Uns erreichen gerade auch zu dieser Frage
Briefe, die wir nicht unbeachtet beiseite legen
dürfen. Hier ein langer Brief aus der Zone, in I dem es heißt, daß es auf die starken Herzen ankomme, um die Zonengrenzen zu beseitigen. Der
Mann schreibt, er denke nicht an politische Briefe, sondern an die Bekenntnisse von Mensch zu Mensch, und er sagt, daß die Bekundungen der Gemeinsamkeit sich nicht im zum Dank verpflichtenden Eßpaket verlieren dürften. Solche Hilfe könne manchmal auch sehr wichtig sein, aber viel wichtiger sei die wirkliche, die persönliche Anteilnahme des einzelnen am Schicksal seines Bruders.
Schließlich, meine Damen und Herren, befaßt sich der dritte Teil dieser Großen Anfrage mit der Lage in Berlin. Es sind diesmal nicht akute Schwierigkeiten in Berlin, die uns dazu veranlassen, die Lage in Berlin mit in diese Debatte einzubeziehen. Die Dinge in Berlin gehen gut voran; wir befinden uns nicht in einer akuten Bedrängnis, obgleich es nützlich ist, immer mal wieder auch gegen die Auffassung anzugehen, das bedeute eine Normalisierung der Dinge in Berlin. Es ist gewiß keine Normalisierung, solange zusätzlich zur Spaltung Deutschlands ein zweiter Schnitt mitten durch die deutsche Hauptstadt geht. Die andere Seite könnte — dazu bedürfte es keines großen Palavers — gerade in Berlin zeigen, ob sie guten Willens ist. In Berlin gibt es eine Vielzahl praktischer, technischer Fragen, die für das Leben der Menschen von großer Bedeutung sind und in denen man dadurch eine Besserung erreichen kann, daß man verwaltungsmäßig einfach auf den Knopf drückt, buchstäblich auf den Knopf drückt. Wir fragen auch hier, einfach um klarzustellen, was ist, wie die Regierung die erwähnten Erklärungen der anderen Seite über eine Normalisierung in Berlin beurteilt und welche Möglichkeiten sie für eine Erleichterung des Verkehrs von und nach Berlin sieht, auf welchen Gebieten nach Kenntnis der Bundesregierung technische Kontakte zwischen den beiden Teilen der deutschen Hauptstadt unverzüglich wiederhergestellt werden könnten, wenn es die östliche Verwaltung zuließe, und wie die Regierung die serienmäßige Verhängung von Geldstrafen gegen solche Bewohner des Ostsektors beurteilt, die in Westberlin arbeiten oder deren Kinder Westberliner Schulen besuchen. Wir fragen, ob es noch in der letzten Zeit vorgekommen ist, daß sich Angehörige von Ostberliner Betrieben oder Verwaltungen schriftlich verpflichten mußten — im Zeichen der angeblichen Bemühungen um eine „Normalisierung" der Lage! —, Westberliner Boden nicht mehr zu betreten.
Wir fragen, wieviel Fälle von Menschenraub aus Westberlin nach Kenntnis der Bundesregierung in der letzten Zeit vorgekommen sind, nachdem dieser empörende Vorgang des Menschenraubs immer wieder im Mittelpunkt des öffentlichen Interesses stand. Uns allen sind Fälle wie die des Dr. Walter Linse, Fälle wie die von Alfred Weiland, von Karl Fricke und Robert Bialek noch in guter Erinnerung, und sie werden in besonderem Maße mit im Mittelpunkt solcher Erörterungen bleiben müssen.
Wir fragen auch noch einmal nach all den vielen Tausend Kleingärtnern und Siedlern, denen die Nutzung ihrer Grundstücke in den Zonenrandgebieten genommen worden ist.
Wir fragen, ob Westberliner noch immer daran gehindert werden, die Friedhöfe in der Umgebung der Stadt zu besuchen.
Schließlich fragen wir — das ist die Frage 23; sie berührt den Status von Berlin —, wie die Bundesregierung das Mißverhältnis zwischen den Rechten und Pflichten, die die Vier Mächte für Berlin übernommen haben, und der Tatsache beurteilt, daß im Ostsektor bewaffnete sogenannte „Kampfgruppen" und Formationen der sowjetzonalen Streitkräfte aufmarschieren.
Gestatten Sie eine Schlußbemerkung! Ich bin fest davon überzeugt — und ich hoffe, wir sind es alle —, daß diejenigen nicht recht haben, die meinen, daß ein Sich-Befassen mit den heute hier zu erörternden Fragen ein Sich-ablenken-Lassen von den Fragen der großen Wiedervereinigungspolitik oder ein Sich-Abgeben mit kleinen Geschäften bedeute. Nein, es handelt sich um etwas anderes: es handelt sich darum, auch auf dieser Ebene alles uns Mögliche zu tun, um den Bestand als Volk zu wahren und um dadurch der Wiedervereinigung den Weg mit ebnen zu helfen.
Wir wissen gut genug, daß das nicht identisch ist mit dem sozusagen weltpolitischen Problem der Wiedervereinigung. Das steht hier insoweit auch nicht zur Debatte. Aber es schadet meiner Überzeugung nach nichts, wenn auch das Ausland zur Kenntnis nimmt — auch im Zusammenhang mit Erörterungen dieser Art —, wie wenig wir uns mit dem Zustand der willkürlichen Spaltung abfinden,
daß wir auch in Perioden zwischen den Konferenzen, auch in Situationen, die eine Lösung der deutschen Frage angeblich noch nicht ermöglichen oder tatsächlich nicht ermöglichen, immer wieder bohren, uns immer wieder fragen und uns und andere vor dem verhängnisvollen Mißverständnis und dem tragischen Irrtum bewahren, daß wir uns abgefunden hätten.
Wir haben uns nicht abgefunden, wir w er d en uns nicht abfinden und wir werden alles tun, um auf dieser Ebene und auf anderen immer wieder neue Anstrengungen zu machen, um den Weg zum ganzen Deutschland zu bereiten.
Ich hoffe — ich glaube, das auch im Namen der Kollegen aus allen Fraktionen sagen zu dürfen —, daß uns in zweieinhalb Wochen der 17. Juni, der Tag der deutschen Einheit, allen miteinander erneut die Möglichkeit gibt, in sinnvoller Weise und mit dem Blick nach vorn gerichtet den Willen unseres Volkes sichtbar werden zu lassen. Nichts wird uns dabei, auch wenn wir uns mit den vielen kleinen Fragen befassen — das läßt sich so leicht sagen, „kleine Fragen"; da steckt das Schicksal von Menschen darin —, nichts wird uns, auch wenn wir uns mit den kleinen Fragen der innerdeutschen Beziehungen befassen, von unserem Rechtsanspruch auf die deutsche Einheit ablenken können. Wir erinnern daran besonders nachdrücklich — und wir werden es auch in anderem Zusammenhang noch tun — in einer Zeit, in der in Moskau wieder von dem, wie es heißt, „Leninschen Grundsatz der Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten anderer Völker" die Rede ist und, wie es in diesen Erklärungen heißt, insoweit Stalinsche Methoden abgelöst werden sollen.
Dazu ist zu sagen, daß der Grundsatz der Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten eines
anderen Volkes für Deutschland und in Deutschland die Preisgabe des Regimes Ulbricht-Grotewohl-Melsheimer-Benjamin bedeuten müßte; denn dieses Zonenregime ist durch seine Existenz und durch seine Aktivität die denkbar brutalste Intervention in die inneren Angelegenheiten unseres Volkes.
Dem Selbstbestimmungsrecht als einem Grundrecht im Zusammenleben der Völker werden wir weiter Bahn zu brechen versuchen, auch dadurch, daß wir uns um die Verbindungen zwischen den Menschen in den beiden Teilen Deutschlands bemühen und indem wir die Übereinstimmung dieses unseres Strebens mit dem wohlverstandenen Interesse derer in der Welt immer wieder klarwerden lassen, denen es nicht nur um fromme Sprüche zu tun ist, sondern denen es mit uns zu tun ist um die Ordnung in Europa und um den Frieden in der Welt.
Sie haben die Begründung der Großen Anfrage gehört. Das Wort zur Beantwortung hat der Herr Bundesminister für gesamtdeutsche Fragen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Bundesregierung begrüßt die Anfrage aller Fraktionen des Deutschen Bundestages, die Kollege Brandt eben begründet hat, über die jüngste Entwicklung in der Sowjetzone und die Möglichkeit engerer Verbindungen zwischen der Bundesrepublik, der deutschen Hauptstadt Berlin und Mitteldeutschland; denn damit wird die zentrale Aufgabe aller deutschen Politik, die Wiedervereinigung in Freiheit, in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit gerückt.
Die Bundesregierung verfolgt mit Sorgfalt die neuere Entwicklung in der sowjetischen Besatzungszone Deutschlands. Sie sucht ständig nach Möglichkeiten zu engerer Verbindung zwischen der Bevölkerung der getrennten Teile Deutschlands. Sie versucht zu ermitteln, ob — insbesondere entsprechend den Erklärungen von Spitzenfunktionären auf der 3. Parteikonferenz der SED im März dieses Jahres in Ost-Berlin — konkrete Anhaltspunkte dafür vorhanden sind, daß erstens in der Sowjetzone eine Hinwendung zu allgemein rechtsstaatlichen Prinzipien stattfindet, zweitens dort Erleichterungen im Verkehr der Menschen zwischen den beiden Deutschlands durchgeführt werden, drittens eine Normalisierung der Lage in der deutschen Hauptstadt Berlin erfolgt.
Zu den einzelnen Fragen der Großen Anfrage nimmt die Bundesregierung wie folgt Stellung.
Zu Frage 1:
Sind der Bundesregierung Tatsachen bekanntgeworden, die auf eine Hinwendung zu allgemeinen rechtsstaatlichen Prinzipien in der Sowjetzone schließen lassen könnten?
Auf der 3. Parteikonferenz der SED im März 1956 ist sowohl von Ulbricht als auch von Grotewohl die Einhaltung der sogenannten demokratischen Gesetzlichkeit gefordert und auf ernsthafte Fehler in der Justiz hingewiesen worden. Die inzwischen verstrichene Zeit ist noch zu kurz, als daß sich die
Bundesregierung abschließend äußern könnte, ob die Beschlüsse dieser Parteikonferenz der SED wirklich zu einer Hinwendung zu rechtsstaatlichen Prinzipien führen werden, zumal zu beachten ist, daß die Schlüsselfigur des unerbittlichen Stalinismus auf deutschem Boden, nämlich Ulbricht, nach wie vor die Geschicke der Zone in der Hand hält. Es ist zudem nicht zu übersehen, daß die Beschlüsse zur demokratischen Gesetzlichkeit auf der Parteikonferenz nur Wiederholungen dessen darstellen, was bereits im Rahmen des sogenannten Neuen Kurses und erneut nach dem Volksaufstand des 17. Juni 1953 versprochen worden war. Was insbesondere der Generalstaatsanwalt Melsheimer auf der 3. Parteikonferenz und am 10. Mai 1956 auf einer Arbeitstagung von Richtern und Staatsanwälten äußerte, ist zu einem wesentlichen Teil beinahe wörtlich das gleiche, was er bereits vor drei Jahren erklärt hatte. Melsheimer erklärte in der sowjetzonalen Zeitschrift „Neue Justiz" vom 20. September 1953 folgendes:
Sorgfältigste Prüfung des Sachverhalts, eingehende Beschäftigung auch mit der Person des Beschuldigten sind oberste Pflicht des Staatsanwalts, bevor er anklagt oder gar richterlichen Haftbefehl erwirkt. Gesetzlichkeit und Schutz der Rechte der Bürger erfordern auch, daß Schluß gemacht wird mit der Verzögerung bei der Entlassung aus der Straf- und Untersuchungshaft. ... Aus den in der Vergangenheit gemachten Fehlern zu lernen und auf Grund der so gewonnenen Erkenntnisse den neuen Kurs kühn, verantwortungsbewußt und unbeirrt zu gehen, das lehrt uns die Entschließung der 15. Tagung des Zentralkomitees der SED.
Das war vor drei Jahren. Aber es änderte sich nichts. Auf der 3. Parteikonferenz 1956 erklärte der gleiche Dr. Melsheimer:
Was die Verhaftungen und vorläufigen Festnahmen angeht — Genosse Grotewohl hat mit Recht hier eine Reihe unberechtigter Verhaftungen gerügt —, so muß sich in immer stärkerem Maße das Prinzip durchsetzen, erst zu ermitteln und auf Grund des Ermittlungsergebnisses und nur bei exakter Feststellung der gesetzlichen Voraussetzungen eine Verhaftung vorzunehmen.
Also 1956 stellt der Generalstaatsanwalt nach allem, was er 1953 über die obersten Pflichten eines Staatsanwalts gesagt hatte, fest: das Prinzip müsse sich durchsetzen, erst zu ermitteln und dann zu bestrafen.
Von bestimmten Grundsätzen der Rechtsstaatlichkeit war also schon 1953 einmal die Rede. Heute, 1956, ist erneut davon die Rede. Damals geschah nichts. Wie, so frage ich, könnten wir uns heute darauf verlassen, wenn die Worte aus dem gleichen Munde kommen wie damals! Zudem bestätigte Melsheimer damals wie heute die Unterordnung der Justiz unter die Politik. 1953 sagte Melsheimer:
Wir haben uns formal an die Gesetze gehalten und unterschiedslos, insbesondere ohne genügende Würdigung der Persönlichkeit des Beschuldigten, angeklagt, ohne zu beachten, daß wir als Staatsanwälte in einem Staat der Werktätigen dazu berufen sind, den Standpunkt der Arbeiterklasse durchzusetzen, und unser juristisches Denken sich nicht loslösen
kann von dem obersten Gebot, für diesen Staat, für die Arbeiterklasse streng parteiisch zu denken.
Am 10. Mai 1956 sagte er:
Es liegt auf der Hand, daß wir heute angesichts der politischen Entwicklung in der Welt vor neuen Aufgaben stehen, die es notwendig machen, zu anderen Maßstäben auch in der Strafjustiz zu kommen, als sie etwa in den Jahren 1946 oder 1952 den damaligen Bedingungen entsprechend angelegt werden mußten. Gewisse Entscheidungen insbesondere in dem Strafmaß hingen auf das engste mit der auf dem XX. Parteitag der KPSU als falsch erkannten Theorie Stalins von der absoluten Verschärfung des Klassenkampfes beim erfolgreichen Aufbau des Sozialismus und seiner Vollendung zusammen.
Auch der Justizminister Hilde Benjamin hat sich damals wie heute ganz im gleichen Sinne geäußert. Sie führte nach der „Neuen Justiz" vom 20. April 1956 zu den von Grotewohl auf der Parteikonferenz erhobenen Vorwürfen u. a. aus:
Wir, die wir auf dem Gebiete des Rechtes arbeiten, stehen vor der unausweichlichen Forderung, unsere gesamte Arbeit daraufhin zu überprüfen, ob wir unsere sozialistische Gesetzlichkeitmit dem Ernst und der Parteilichkeit wahren, wie es der Aufbau des Sozialismus erfordert.
Sie hat also erneut eine parteiliche Justiz gefordert und greift die unparteilich ergangenen Entscheidungen gerade deshalb an, weil sie die „sozialistische demokratische Gesetzlichkeit" verletzten. Dabei muß man hier „sozialistisch" selbstverständlich gleich „kommunistisch" setzen. Das ist mit den primitivsten Erfordernissen eines Rechtsstaates nach unser aller Überzeugung unvereinbar.
Die Bundesregierung kann angesichts dessen, was trotz der offiziellen Worte vom Jahre 1953 an Unrecht in der Zone geschehen ist, und der jetzigen Wiederholung der Worte von 1953 leider nicht der Überzeugung sein, daß sich bereits ein Weg zur Rechtsstaatlichkeit abzeichnet. Dem stehen zudem auch Personen wie Ulbricht, Benjamin und Melsheimer entgegen.
Zu Frage 2:
Wieviel politische Gefangene sind nach Kenntnis der Bundesregierung in den letzten Monaten freigelassen worden?
Nach Unterlagen der Bundesregierung sind Häftlinge, die in sowjetzonalen Zuchthäusern einsaßen, aber von sowjetischen Militärtribunalen verurteilt worden sind, in folgendem Umfang entlassen worden: Im Januar 1954 6143, April bis Juni 1954 1200, im Dezember 1955 etwa 2000, im Januar 1956 140, im April 1956 220. Insgesamt sind das etwa 9703 SMT-Häftlinge, d. h. Häftlinge, die von sowjetischen Militärtribunalen verurteilt waren.
Im Rahmen des Waldheim-Komplexes — d. h. von der sowjetischen Besatzungsmacht Verhaftete, aber auf deren Weisung von sowjetzonalen Gerichten Verurteilte — sind entlassen worden: im Oktober 1952 rund 1590 Häftlinge, im Juni 1954 850, zu Silvester 1955 500 Häftlinge. Insgesamt beträgt die Zahl der entlassenen Waldheim-Häftlinge danach etwa 2940. Ende April dieses Jahres wurden weitere 698 Gefangene entlassen. Bei ihnen handelt es sich um Männer und Frauen, die von sowjetischen Militärtribunalen oder von sowjetzonalen Gerichten zu langjährigen Zuchthausstrafen verurteilt worden waren. Ende April 1956 sind darüber hinaus weitere 87 Häftlinge zur Entlassung gekommen. Nach Kenntnis der Bundesregierung sind somit nach Januar 1954 bis heute insgesamt 13 428 Häftlinge entlassen worden, davon seit Dezember 1955 1285.
Auf Grund von allgemeinen Amnestien haben Entlassungen von Häftlingen, die durch sowjetzonale Gerichte verurteilt worden sind, in den letzten Jahren nicht stattgefunden. Von diesen politischen Gefangenen, die meistens nach der Kontrollratsdirektive 38 und später auch nach dem vom Kollegen Brandt vorhin schon erwähnten berüchtigten Art. 6 der sowjetzonalen Verfassung verurteilt wurden, sind lediglich einzelne auf Grund individueller Gnadenerweise und im Wege der bedingten Strafaussetzung nach Verbüßung von in der Regel mindestens der Hälfte der Strafe entlassen worden.
Zu Frage 3:
Wie groß ist die Zahl der aus politischen Gründen in der Sowjetzone noch immer Verurteilten bzw. Verhafteten? In welchen Gefängnissen und Zuchthäusern befinden sie sich?
Die Bundesregierung ist, soweit dies bei den Verhältnissen in der Zone überhaupt möglich ist, über die Zahl der aus politischen Gründen noch immer Verurteilten bzw. Verhafteten im allgemeinen unterrichtet. Sie ist im Besitz von beinahe vollständigen Namensunterlagen. Jede bekanntwerdende oder bekundete Entlassung eines Häftlings wird vermerkt. Dabei muß berücksichtigt werden, daß Namen von Entlassenen zum Teil erst später Bekanntwerden, vor allem wenn sie in der Zone bleiben.
Nach dem Stand von Anfang Mai 1956 ergibt sich — mit der erwähnten Einschränkung — noch immer eine Zahl von rund 18 900 politischen Häftlingen.
Das, meine Damen und Herren, ist eine einfach erschütternde Zahl von Menschen.
Diese politischen Häftlinge befinden sich in den Strafvollzugsanstalten Bautzen, Berlin I und II, Brandenburg-Görden, Bützow-Dreibergen, Coswig, Cottbus, Döbeln, Dresden, Erfurt, Gotha, Gräfentonna, Halle, Hohenleuben, Luckau, Magdeburg, Neustrelitz, Plauen, Rostock, Sudenburg, Torgau, Untermaßfeld, Waldheim, Zwickau und den dazugehörenden Außenlagern.
Zur Vervollständigung des Bildes muß aber noch hinzugefügt werden: Seit dem 8. Mai 1945 sind insgesamt über 70 000 in sowjetzonalen Lagern und Haftanstalten Verstorbene ermittelt worden,
darunter über 1000 Jugendliche unter 18 Jahren.
Weiter ergeben die Namensunterlagen rund 23 500 Vermißte und rund 24 000 Verschollene. Bei
den Vermißten handelt es sich um Verhaftete, bei denen seit der Verhaftung jeder Hinweis auf ihren weiteren Verbleib fehlt.
Die Verschollenen sind solche Inhaftierte, die sich nach der Festnahme in der Zeit bis zum 31. Dezember 1949 noch einmal aus einer Haftanstalt meldeten oder als in einer Haftanstalt befindlich von Gewährsleuten bekundet worden sind.
Zur Frage 4:
Unter welchen Bedingungen leben diese Gefangenen? Seit wann dürfen ihnen keine Pakete mehr geschickt werden?
Die politischen Gefangenen leben oft sogar noch unter schlechteren Bedingungen als kriminelle.
Als Verpflegung gibt es morgens allgemein Wassersuppe aus Graupen. Haferflocken oder Gerstenmehl. Mittags wird Eintopf aus Trockengemüse und durchweg minderwertigen Kartoffeln ausgegeben. Fleisch gibt es nur selten. Die Abendverpflegung besteht aus Brot, 30 g Zucker, 30 g Marmelade, 30 g Margarine. Arbeitende Gefangene erhalten jeden zweiten Tag eine Scheibe Wurst. Es mangelt an Eiweiß, Fett und Vitaminen. Entlassene Häftlinge erklären, daß die Verpflegung im allgemeinen mengenmäßig ausreichend, jedoch qualitativ völlig unzulänglich ist. Sie weisen immer wieder darauf hin, daß Pakete mit konzentrierten Lebensmitteln für die Gefangenen das Rückgrat der Erhaltung ihres Gesundheitszustandes und überhaupt ihres Lebens bildeten.
Seit dem 1. November 1955 dürfen die politischen Häftlinge keine Pakete mehr empfangen. Nur in einzelnen Fällen werden heute noch Pakete ausgehändigt, so z. B. bei der Haftkrankenanstalt KleinMeusdorf. Die Gefangenen dürfen statt der Pakete Geldbeträge erhalten, deren Höhe unterschiedlich ist, je nachdem, ob der Inhaftierte arbeitet oder nicht. Die zugelassenen Summen differieren zwischen 10 und 30 DM Ost im Monat. Mit diesen Beträgen können in den HO-Stellen der Haftanstalten etwas Lebensmittel wie Marmelade, Kunsthonig oder Margarine gekauft werden, daneben in beschränktem Umfang Zigaretten, die gemeinsam unter Aufsicht — die Gefangenen sind dabei meist stehend angetreten — geraucht werden dürfen. Aber diese Geldunterstützung stellt keinen angemessen Ersatz für das ausgefallene 6-Pfund-Paket dar. Als Ersatz für die Pakete müßte jeder Gefangene entsprechend den HO-Preisen mindestens 80 bis 100 DM Ost im Monat erhalten. Aber diese Summe kann die Großzahl der Angehörigen der Zone kaum aufbringen. Den in der Bundesrepublik wohnenden Angehörigen verweigern die zuständigen sowjetzonalen Behörden die Überweisung. Es besteht ernste Gefahr, daß sich der Gesundheitszustand aller politischen Gefangenen durch den Ausfall der Pakete wesentlich verschlechtert.
Die Krankenversorgung wird fast ausschließlich durch Ärzte wahrgenommen, die selbst inhaftiert sind. Die Versorgung mit Medikamenten hat sich in den letzten Jahren etwas gebessert. Dabei ist der Gesundheitszustand der entlassenen Häftlinge insgesamt schlechter als jener der Heimkehrer aus der Sowjetunion.
Das Deutsche Rote Kreuz in der Bundesrepublik hat sich bei dem sowjetzonalen Roten Kreuz für eine angemessene Regelung der Unterstützung der Gefangenen durch Pakete oder durch Zusendung von Geldmitteln eingesetzt. Die Angehörigen warten seit Monaten darauf, daß eine solche Regelung in Kraft gesetzt wird bzw. daß die Paketsperre und die Geldsperre wieder aufgehoben werden, solange man die Menschen noch gefangenhält.
Der weitaus größte Teil der Gefangenen befindet sich im Arbeitseinsatz in Zweigstellen volkseigener Betriebe innerhalb der Haftanstalten.
Jeder Häftling kann monatlich einen Brief von zwanzig Zeilen an einen Empfänger richten, von dem er im gleichen Zeitraum wiederum nur einen Antwortbrief von zwanzig Zeilen erhalten darf. Die in der Zone lebenden Angehörigen können den Häftling einmal im Vierteljahr für 30 Minuten in Gegenwart von Haftpersonal besuchen. Sprecherlaubnis für in der Bundesrepublik oder in West-Berlin lebende Angehörige erteilen die Ostberliner Zentralbehörden in Ausnahmefällen. Nicht unerwähnt soll bleiben, daß sich in letzter Zeit, was die Sprecherlaubnis angeht, gewisse Erleichterungen ergeben haben.
Zu Frage 5:
Auf Grund welcher Bestimmungen sind diese Gefangenen verurteilt worden?
Der überwiegende Teil der von Gerichten der Zone verurteilten politischen Gefangenen ist auf Grund der Kontrollratsdirektive 38 wegen angeblicher Erfindung und Verbreitung friedensgefährdender, tendenziöser Gerüchte und seit Inkrafttreten der sowjetzonalen Verfassung zugleich auf Grund des vorhin schon erwähnten Art. 6 dieser Verfassung — Boykotthetze, Kriegshetze, Agententätigkeit, Verächtlichmachung staatlicher Einrichtungen und Organisationen und ähnliches — verurteilt worden.
Im übrigen sind zur Anwendung gelangt das Gesetz zum Schutz des Friedens vom 15. Dezember 1950, das Gesetz zum Schutz des Volkseigentums und anderen gesellschaftlichen Eigentums vom 2. Oktober 1952 und der Befehl 160 der SMAD. Auch der größte Teil der Verurteilungen wegen sogenannten Wirtschaftsverbrechens muß als Verstoß gegen rechtsstaatliche Grundsätze angesehen werden. Hier sind besonders zu nennen die Wirtschaftsstrafverordnung vom 28. September 1948, das Gesetz zum Schutz des innerdeutschen Handels vom 21. April 1950, das Gesetz zur Regelung des innerdeutschen Zahlungsverkehrs vom 15. Dezember 1950 und die Anordnung über die Ein- und Ausfuhr von Zahlungsmitteln der sowjetischen Besatzungszone Deutschlands und ausländischen Zahlungsmitteln aus und nach den westlichen Besatzungszonen Deutschlands und dem Ausland vom 30. März 1949.
Die zur Strafverbüßung in der Zone befindlichen SMT-Häftlinge sind überwiegend abgeurteilt nach Art. 58 Ziffer 6 — Spionage —, Ziffer 10 — antisowjetische Propaganda — und Ziffer 11 — illegale Gruppenbildung — des Strafgesetzbuchs der UdSSR.
Die geringe Zahl der wegen angeblicher Straftaten, die im Zusammenhang mit den Kriegsereignissen stehen, jetzt noch festgehaltenen SMT-Häftlinge verbüßt fast ausschließlich Strafen nach Art. 58 Ziffer 2 des Strafgesetzbuchs der UdSSR
und nach dem Kontrollratsgesetz Nr. 10 — Begehung von Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit —.
Die Waldheim-Verurteilten wurden auf Grund des SMAD-Befehls 201, der Kontrollratsdirektive 38 und teilweise auf Grund des Kontrollratsgesetzes Nr. 10 verurteilt.
Nun zu Frage 6:
Wie groß ist jetzt noch die Zahl der Gefangenen, die der Sowjetzonenverwaltung durch die sowjetischen Besatzungsbehörden zur Verurteilung bzw. zum Strafvollzug der durch Militärtribunale verhängten Strafen übergeben wurden?
Nach der Entlassung von weiteren 500 WaldheimHäftlingen im Dezember 1955 betrug die Zahl der Zurückgehaltenen dieser Gruppe noch etwa 150. Im April 1956 wurden 698 Häftlinge entlassen, die zum Teil durch sowjetische Militärtribunale verurteilt, zum Teil aber Waldheim-Häftlinge waren. Die Ermittlungen, wieviel Häftlinge zu dem einen oder zu dem anderen Teil gehören, sind noch nicht abgeschlossen. Es ist möglich, daß die im Dezember 1955 noch zurückgehaltenen restlichen 150 Waldheim-Häftlinge sich unter den im April 1956 entlassenen 698 Häftlingen befinden.
Die Zahl der Häftlinge, die von sowjetischen Militärtribunalen verhängte Strafen verbüßen, beträgt daher gegenwärtig noch ungefähr 1200.
Zu Frage 7:
Befinden sich noch Verurteilte des 17. Juni 1953 in den Strafanstalten der sowjetisch besetzten Zone?
Von den der Bundesregierung bekanntgewordenen etwa 800 zu Freiheitsstrafen Verurteilten des 17. Juni 1953 befinden sich noch etwa 600 in Haft.
Die etwa 200 Entlassenen haben einzeln — meist mit bedingter Strafaussetzung — ihre Freiheit wiedererlangt. Es ist selbstverständlich, daß das deutsche Volk, daß die Weltöffentlichkeit die Entwicklung in der Zone nicht zuletzt auch am Schicksal dieser Männer und Frauen beurteilen und messen.
Zu Frage 8:
Liegen der Bundesregierung Unterlagen dafür vor, daß die angekündigten neuen Methoden auf dem Gebiete des Arbeitsrechts zu tatsächlichen Veränderungen geführt haben?
Meine Damen und Herren, der Bundesregierung liegen noch keine Unterlagen dafür vor, daß auf dem Gebiet des Arbeitsrechts in letzter Zeit Veränderungen eingetreten sind. Zwar ist seit längerer Zeit ein neuen Arbeitsgesetz angekündigt worden. Dieses soll jedoch im wesentlichen nur eine Zusammenfassung der jetzt geltenden Bestimmungen bringen. Bemerkungen einzelner Funktionäre, z. B. daß Bezahlung von Ausschußware nicht mehr den gesellschaftlichen Erfordernissen entspricht, lassen erkennen, daß wahrscheinlich weitere Bestimmungen zuungunsten der Arbeiterschaft geändert werden dürften. Auch wurde auf der Dritten Parteikonferenz wie auch in der Presse besonders auf die Bedeutung der Arbeitsdisziplin hingewiesen. Da der Steigerung der Produktion durch Automatisierung und Rationalisierung insbesondere auch infolge Materialschwierigkeiten gewisse Grenzen gesetzt sind, zeichnet sich in solchen Hinweisen die Tendenz eines weiteren verschärften Druckes auf den Arbeiter ab.
Zu Frage 9:
Trifft es zu, daß seit Anfang dieses Jahres durch die Bildung von „Produktionsgenossenschaften" der Druck auf das Handwerk verschärft worden ist?
Durch die Bildung von Produktionsgenossenschaften ist nicht erst seit Anfang dieses Jahres, sondern bereits nach Erlaß der „Verordnung über Produktionsgenossenschaften des Handwerks" vom 18. August 1955 ein verschärfter Druck auf den selbständigen Handwerker ausgeübt worden. Als Mittel hierzu dienen:
1. Die Zwangseintreibung von Steuerrückständen. Durch sogenannte „Tiefenprüfungen" des Finanzamtes werden bei den selbständigen Handwerkern angebliche Steuerrückstände errechnet, deren sofortige Streichung für den Fall zugesagt wird, daß der Handwerker seine Selbständigkeit aufgibt und einer Produktionsgenossenschaft beitritt.
2. Die Materialkontingentierung. Die Produktionsgenossenschaften werden bevorzugt mit Material beliefert. Nur sie erhalten öffentliche Aufträge.
Auch diese Bestimmungen schränken die Selbständigkeit der Handwerker ständig weiter ein.
Zu Frage 10:
Wieviel Prozesse wegen sogenannter Abwerbung haben in den letzten Monaten in der Sowjetzone stattgefunden? Dauern solche Verfahren noch an?
Nach zuverlässigen Unterlagen sind von Juli 1955 bis Ende April 1956 55 Sowjetzonenbewohner in 40 Strafverfahren wegen sogenannter Abwerbung zu insgesamt 265 Jahren Zuchthaus verurteilt worden,
also durchschnittlich zu je fast fünf Jahren. Zwei Todesurteile wurden nach dem Protest der gesamten freien Welt und insbesondere unseres Volkes in lebenslängliche Zuchthausstrafen umgewandelt. Außerdem wurde noch ein weiterer Häftling zu lebenslänglichem Zuchthaus verurteilt.
Aus Urteilsbegründungen ergibt sich, daß Artikel 6 der sowjetzonalen Verfassung nunmehr auch dazu benutzt wird, Menschen zu bestrafen, die einem Dritten lediglich mitteilen, daß die Arbeitsbedingungen in der Bundesrepublik in irgendeinem Gewerbe günstiger sind. Das gilt dann als „Abwerbung", als „Hetze gegen demokratische Einrichtungen", als „Boykotthetze".
Als eine der Hauptaufgaben wurde noch im Mai dieses Jahres die „Unschädlichmachung jener volksfeindlichen Elemente gefordert, die versuchen, Arbeitskräfte abzuwerben".
Es ist also nicht damit zu rechnen, daß die Strafverfolgung wegen sogenannter Abwerbung eingestellt wird. Wir stehen hier vor einem neuen und besonders krassen Verstoß gegen jedes rechtsstaatliche Denken. Der Gebrauch des natürlichen Rechtes auf Freizügigkeit und Wahl des Arbeitsplatzes im eigenen Land wird als Verbrechen geahndet.
Zu Frage 11:
Was ist in den letzten Monaten
a) seitens der Bundesrepublik,
b) seitens der Verwaltung der Sowjetzone geschehen, um den Verkehr der Menschen zwischen den beiden Teilen Deutschlands zu erleichtern?
Seit Abschaffung des Interzonenpasses werden von den Behörden der Bundesrepublik keinerlei Reiseausweise für das Überschreiten der Sowjetzonengrenze verlangt, es genügt vielmehr, daß sich der Reisende durch einen Personalausweis als Deutscher ausweisen kann.
Im Eisenbahnverkehr hat sich die Deutsche Bundesbahn bemüht, zu Ostern dieses Jahres Entlastungszüge im Interzonenverkehr — die bereits in den Winterfahrplan 1955/56 aufgenommen waren — zu fahren. Diese Bemühungen führten nach langen Verhandlungen jedoch nur teilweise zum Erfolg. Infolgedessen konnte ein Teil der Züge im Bundesgebiet nur bis zur Sowjetzonengrenze verkehren. Für den Pfingstverkehr erreichte es die Bundesbahn, daß die notwendigen Entlastungszüge gefahren wurden.
Ob die neuerdings von der sowjetzonalen Reichsbahn gezeigte Bereitschaft, von Fall zu Fall Sonderzüge aus besonderen Anlässen einzulegen, anhalten wird, bleibt abzuwarten.
Auf die erneuten Vorschläge der Bundesbahn, zwischen Berlin und dem Bundesgebiet Schnelltriebwagenverbindungen einzurichten, ist die sowjetzonale Reichsbahn bisher leider nicht eingegangen. Auch konnte bisher trotz aller Bemühungen um eine Verkürzung der Reisezeiten nicht erreicht werden, daß die Kontrolle der Reisenden und ihres Gepäcks von den sowjetzonalen Grenzstellen während der Fahrt vorgenommen wird, wie es auf westdeutscher Seite geschieht. Infolgedessen entsteht ein zusätzlicher Stillstand der Züge von durchschnittlich einer Stunde.
Die Deutsche Bundesbahn läßt auf den Übergangsbahnhöfen Arbeiten durchführen, die der besseren Abwicklung des Interzonenverkehrs dienen sollen. In der Hauptsache handelt es sich um Befestigung, Verlängerung und Überdachung der Bahnsteige sowie Einrichtung oder Ausbau von Wartehallen.
Schließlich hat die Bundesregierung den Reiseverkehr dadurch weiter gefördert, daß einem großen Teil der Besucher aus der Zone auf Kosten des Bundes freie Rückfahrt gewährt wird.
Zu Frage 12:
Trifft es zu, daß die Behörden der sowjetisch besetzten Zone die Genehmigung zu Besuchen von Verwandten in der Bundesrepublik weiter eingeschränkt haben?
Übereinstimmende Berichte aus verschiedenen Bezirken der Zone lassen erkennen, daß die behördlichen Anweisungen für die Erteilung der Erlaubnis zur Ausreise in das Bundesgebiet sowohl schriftlich wie auch in Dienstbesprechungen erheblich eingeengt worden sind. Nach wie vor müssen Sowjetzonenbewohner, die in das Bundesgebiet reisen wollen. ihren Personalausweis gegen eine Personalbescheinigung eintauschen. Ohne Zustimmung des Bürgermeisters, der vorher den Hausvertrauensmann zu hören hat, darf dem Antrag nicht entsprochen werden. Die Entscheidung trifft die Kreispolizeibehörde, d. h. praktisch der Staatssicherheitsdienst.
Im allgemeinen gilt die Personalbescheinigung für vier bis sechs Wochen. In letzter Zeit müssen die Antragsteller meistens ausdrücklich versichern, daß sie Verwandte in der Bundesrepublik besuchen wollen. Dabei müssen Alter und frühere Wohnsitze der zu Besuchenden angegeben werden. Anträge zum Besuch von Freunden oder Bekannten werden in den meisten Fällen abgelehnt. In manchen Fällen wird auch eine polizeilich beglaubigte Bescheinigung über den Wohnsitz des westdeutschen Gastgebers verlangt. Im übrigen scheinen den Verwaltungsbezirken Höchstzahlen für Ausreisegenehmigungen vorgeschrieben zu sein. An manchen Orten, in manchen Bezirken und Kreisen werden nur 10 bis 15 % der Ausreiseanträge genehmigt. Eine Begründung für die Ablehnung wird in den meisten Fällen nicht gegeben.
Häufig wird dem Antragsteller anheimgegeben, den Antrag später zu wiederholen. Oft wird auch Überlastung der Verkehrsmittel vorgeschützt.
Folgende Personengruppen sind besonderen Erschwerungen ausgesetzt:
Eltern, deren Söhne oder Töchter seit 1953 in das Bundesgebiet geflohen sind; ihre Anträge werden mit der Begründung abgelehnt, die Familie könne am besten durch Rückkehr der „Republikflüchtlinge" wiedervereinigt werden;
Antragsteller, von denen nahe Verwandte seit 1953 in das Bundesgebiet übergesiedelt sind;
Eheleute, wenn sie die Reise gemeinsam unternehmen wollen;
männliche Personen zwischen 18 und 30 Jahren, in Einzelfällen bis zu 35 Jahren;
Angehörige von Spezialberufen; vielfach bedarf es bei ihnen sogar einer Sondergenehmigung durch ein sowjetzonales Ministerium;
Studenten, denen mitunter entgegengehalten wird, die Ferien seien nicht für Besuche, sondern zum Lernen bestimmt;
Jugendliche unter 18 Jahren, denen neuerdings häufiger die Ausreisegenehmigung versagt wird, wenn sie die Reise nicht in Begleitung von Erziehungsberechtigten unternehmen;
Angehörige der öffentlichen Verwaltung oder der Verwaltungen volkseigener Betriebe, insbesondere Techniker. In diesen Fällen muß der Verwaltungsleiter bescheinigen, daß der Antragsteller ein gesinnungstreuer Bürger der DDR ist und wieder in die Zone zurückkehren wird. Da der Dienststellenleiter befürchten muß, daß ihm für den Fall, daß der Antragsteller nicht von der Reise zurückkehrt, Unannehmlichkeiten entstehen werden, wird er die Zustimmung nur selten geben.
Was die Bewohner der Bundesrepublik angeht, so wird für sie zur Einreise in die Zone nach wie vor eine besondere Aufenthaltsgenehmigung gefordert. Sie muß von dem Sowjetzonenbewohner, der besucht werden soll, beim Bürgermeister bean-
tragt werden. Immer stärker zeigt sich dabei die Tendenz, diesen Reiseverkehr einzuschränken. Einreisegenehmigungen sollen vorzugsweise Mitgliedern von sogenannten Delegationen, nicht aber Einzelreisenden erteilt werden. Es handelt sich natürlich dabei um das Bestreben, den Reiseverkehr in der Zone politisch zu kanalisieren.
Zu Frage 13.
Welche Schritte empfiehlt die Bundesregierung, um die innerdeutschen Beziehungen zu fördern?
Die Bundesregierung bezieht sich bei Beantwortung dieser Frage auf den einstimmigen Beschluß des Deutschen Bundestages vom 26. Mai 1955 und den dazu von mir erstatteten Bericht vom 12. November 1955, Drucksache 1856. Sie ist bestrebt, über die vorhandenen Kontaktstellen die Probleme technischer Art, die durch die Errichtung der Zonengrenze entstanden sind, zu regeln. Von den zahlreichen Vorschlägen zur Förderung der innerdeutschen Beziehungen seien hier die wichtigsten aufgeführt.
1. Abschaffung aller Sonderausweise, die die Sowjetzonenverwaltung im Personenverkehr noch verlangt,
d. h. der Personalbescheinigungen, der Aufenthaltsgenehmigungen und der Passierscheine für Westberliner.
2. Wiedereröffnung sämtlicher Grenzübergänge, die seit der Errichtung der Zonengrenze im Jahre 1945 gesperrt sind.
» Es muß daran erinnert werden, daß damals 42 Eisenbahnstrecken und 157 Landstraßen, darunter 4 Autobahnen und 34 Reichs- bzw. Bundesstraßen, unterbrochen wurden, dazu Tausende von Gemeindewegen.
3. Aufhebung der Sperrzone. Der sowjetzonale Ministerrat hat am 3. Mai 1956 eine Verordnung erlassen, die angeblich der Erleichterung der Verhältnisse im Zonengrenzgebiet dienen soll. Danach bleiben aber der 10-m-Kontrollstreifen, der 500-m-Schutzstreifen und die 5-km-Sperrzone bestehen. Alle Bewohner der Sperrzone müssen sich nach wie vor besonders registrieren lassen. Sie müssen im Besitz besonderer Ausweise sein. Die scharfen Bestimmungen für die Einreise in die Sperrzone und den Schutzstreifen, wofür ein besonderer Passierschein notwendig ist, behalten weiterhin Gültigkeit.
Auch ist wie bisher jedermann verpflichtet, Personen, die sich widerrechtlich in der Sperrzone aufhalten, sofort den zuständigen Grenzpolizeistellen zu melden. Eine Erleichterung des Verkehrs im Zonengrenzgebiet bringt die neue Verordnung somit nicht.
Den großen Schäden, die im Zonengrenzgebiet, insbesondere auch an der Grenze zwischen Westberlin und der Zone durch die völlige Unterbindung des sogenannten kleinen Grenzverkehrs seit 1952 laufend entstehen, könnten die Behörden der Zone dadurch vorbeugen, daß sie den Grundstücksbesitzern den freien Zutritt zu ihrem Grund und Boden und allen Arbeitnehmern die Erreichung ihrer Arbeitsstätte wieder gestatteten.
Als weitere Vorschläge sind zu nennen:
4. Erleichterung und Beschleunigung der unbedingt notwendigen Kontrollen durch die sowjetzonalen Grenzorgane sowie Angleichung dieser Kontrollen an das von den Behörden der Bundesrepublik angewandte Verfahren.
5. Erweiterung des Interzonenhandels.
6. Wiederherstellung und Verbesserung der Verkehrswege, Wiederaufbau von Eisenbahnstrecken und endlich Wiedereinbau der zweiten Gleise auf den Hauptstrecken; Förderung des Straßenverkehrs durch Wiederherstellung der noch zerstörten Brükken im Zuge wichtiger Durchgangsstraßen; gemeinsame Planung des Straßenbaues, um ein einheitliches deutsches Verkehrsnetz wieder zu erzielen; Zulassung neuer Kraftfahrlinien; Befreiung des Verkehrs mit Personenwagen von besonderen Erlaubnissen oder von besonderen Eintragungen in Reisepapiere usw.
7. Verhandlungen zwischen den Eisenbahnverwaltungen über die Vermehrung der Zahl der Reise- und der Güterzüge.
8. Technische Verbesserungen im Fernsprech-, Fernschreib- und Telegrammverkehr, Abschaffung der Zensur im Postverkehr.
9. Beseitigung der sowjetzonalen Bestimmungen über die Einschränkung des Paket- und Päckchenverkehrs, um den Versand von Liebesgaben und damit die Beziehungen von Mensch zu Mensch zu fördern.
Viele dieser Vorschläge könnten durch einseitigen Verwaltungsakt der sowjetzonalen Dienststellen verwirklicht werden.
Soweit Verhandlungen erforderlich sein sollten, wären sie von den beiderseitigen fachlich oder örtlich zuständigen Dienststellen zu führen.
Zu Frage 14:
Welche Schritte könnten insbesondere erfolgen, um den geistigen und kulturellen Zusammenhalt zwischen den beiden Teilen Deutschlands zu pflegen?
Meine Damen und Herren, die Wahrung des geistigen und kulturellen Zusammenhaltes ist Anliegen und Aufgabe aller Deutschen diesseits und jenseits der Zonengrenze.
Bund und Länder sind in dem Umfang, der ihnen durch Grundgesetz und Landesverfassungen zugewiesen ist, zu ihrem Teil stets darum bemüht gewesen, die geistige und kulturelle Verbundenheit zwischen den getrennten Teilen Deutschlands trotz aller Hindernisse zu erhalten. Bund und Länder handeln dabei gemäß den Richtlinien, wie sie in der Entschließung der Kultusministerkonferenz vom 4. März 1955 in Berlin zum Ausdruck kamen. Es heißt darin:
Die Kultusminister der Länder der Bundesrepublik ... bekunden den Willen, alle Möglichkeiten kultureller Verbindung mit der Bevölkerung der sowjetischen Besatzungszone fruchtbar zu machen. Dagegen sind sie nicht bereit, mit solchen Stellen in Verbindung zu treten, die die Kultur in den Dienst ihrer politischen Absichten zwingen.
In diesem Geiste sollen insbesondere die Beteiligung an wissenschaftlichen Kongressen, die Übernahme von Gastvorlesungen, die Beschickung von Kunstausstellungen, die Veranstaltung von Gastspielen und Studienreisen behandelt werden.
Auch soll den Besuchern aus der sowjetischen Besatzungszone — sofern sie nicht politische Sendlinge sind — Gelegenheit geboten werden, am kulturellen Leben Westdeutschlands in voller Freiheit teilzunehmen.
Gegen die dirigierten Aktionen des Ostens ist jeder einzelne Deutsche aufgerufen, in persönlicher Verantwortung seine Entscheidung so zu treffen, daß jede bewußte oder fahrlässige Unterstützung des Regimes in der sowjetischen Besatzungszone vermieden und die Schärfe der Auseinandersetzungen zwischen Kultur und Unfreiheit nicht verwischt wird.
Die Kultusministerkonferenz erkennt an, daß bei Anwendung dieser Grundsätze Berlin in seinem Kampf um Selbstbehauptung durch solidarisches Handeln zu unterstützen ist.
Im Sinne dieser Entschließung haben Bund und Länder stets an der Festigung der geistigen und kulturellen Bande gearbeitet. Auf gemeinsamen Kongressen, Tagungen und sonstigen gemeinsamen Veranstaltungen haben sich die Bewohner der Bundesrepublik mit der Bevölkerung der Zone immer wieder zu den Grundlagen der deutschen Kultur bekannt.
Die menschliche Begegnung auf Kongressen, Tagungen, Festspielen und sonstigen Veranstaltungen wird auch weiterhin gepflegt und unterstützt werden.
Leider — leider, meine Damen und Herren! — unterliegt jedoch der Kontakt zu den Bewohnern der Zone in vielfacher Hinsicht willkürlichen Beschränkungen. Das gilt insbesondere auch für den Besuch von Wissenschaftlern und Künstlern in der Zone. Wissenschaftler und Künstler unterliegen ja den gleichen Beschränkungen wie alle übrigen Reisenden.
Insbesondere wird auch Journalisten in fast allen Fällen die Einreise in die Zone verweigert. In der Bundesrepublik herrscht keinerlei Beschränkung, auch nicht für Journalisten aus der Zone. Die Bundesregierung setzt sich für freie, ungehinderte Berichterstattung in ganz Deutschland ein.
Nichts wäre natürlicher als der freie Austausch von Zeitungen und Zeitschriften in ganz Deutschland. Wesentliche Voraussetzung dafür ist aber die Abschaffung des einseitigen Monopols der Postzeitungsliste in der Zone. Der freie Vertrieb und der freie Bezug aller Druckerzeugnisse muß für die Bevölkerung der Zone gewährleistet sein. Es ist selbstverständlich, daß die Bundesrepublik dem freien Austausch von Zeitungen und Zeitschriften keine Hindernisse in den Weg legen wird, wenn die Gegenseitigkeit gewährleistet und die Pressefreiheit wiederhergestellt wird.
Selbst der Bezug wissenschaftlicher Zeitungen und Zeitschriften unterliegt in der Zone heute noch einschränkenden Kontrollen.
Wissenschaftliche Zeitungen und Zeitschriften aus der Zone können demgegenüber in der Bundesrepublik ungehindert bezogen werden.
Der freie Bezug von Büchern ist im Rahmen des Interzonenhandels geregelt. Darüber hinaus sollte jedermann, der in der Bundesrepublik nur immer in der Lage dazu ist, seinen Verwandten, seinen Freunden und Bekannten ab und zu ein gutes Buch schicken. Dabei ist allerdings von politischer Literatur abzusehen.
Was den Rundfunk angeht, so wird in der Bundesrepublik der Empfang keines Senders der Zone gestört. Dagegen wächst die Zahl der großen und kleinen Störsender in Mitteldeutschland ständig.
Die Bundesregierung fordert im Interesse des freien geistigen Austausches die Beseitigung aller Behinderungen des freien Rundfunkempfangs.
Es ist von besonderer Bedeutung, daß vor allem für unsere Jugend die geistige und kulturelle Einheit Deutschlands erlebte Wirklichkeit bleibt. Deshalb begrüßt und fördert die Bundesregierung alle Bestrebungen, die der Jugend die Möglichkeit geben, sich gegenseitig kennenzulernen und Land und Leute diesseits und jenseits der Zonengrenze zu erleben.
Das gleiche gilt für die sportlichen Begegnungen, die dem gleichen Ziele dienen.
Das starke Echo, das alle kulturellen Bemühungen aus dem freien Teil Deutschlands bei der Bevölkerung der Zone finden, ermutigt zu weiteren Schritten, an denen sich alle kulturellen Einrichtungen des Bundes und der Länder, alle Universitäten, Rundfunkanstalten, geistes- und naturwissenschaftlichen Institute, Vereinigungen und Gesellschaften, unsere Theater und Orchester nach Möglichkeit beteiligen sollten.
Nun zu Frage 15:
Welche Vereinbarungen der Vier Kontrollmächte, die nach allen bekannten Verträgen die Verantwortung für ganz Deutschland behalten haben, untereinander oder mit deren Einverständnis zwischen deutschen Verwaltungsstellen wären geeignet, die innerdeutschen Verbindungen und damit die Wiedervereinigung Deutschlands zu erleichtern?
Vereinbarungen der Vier Mächte, die die innerdeutschen Verbindungen erleichtern sollen und die damit auch der Wiedervereinigung förderlich sein können, sind insbesondere bei Beendigung der Blockade von Berlin im Jahre 1949 zustande gekommen. Damals haben sich die Vier Mächte untereinander verpflichtet, im innerdeutschen Güterund Personenverkehr ein normales Funktionieren aller Verbindungswege für die deutsche Bevölkerung zu gewährleisten. Die Regierung der UdSSR hat zwar im vorigen Jahr die sogenannte Deutsche Demokratische Republik mit der Bewachung und Kontrolle der Verbindungswege zwischen der Bundesrepublik und Berlin beauftragt; ihre Verpflichtungen aus dem erwähnten Abkommen sind aber dadurch nicht berührt worden. Die Westmächte haben in verschiedenen Noten an die Sowjetunion darauf hingewiesen, daß diese auch weiterhin an die Verpflichtungen gebunden bleibt, die sie gegenüber den drei Westmächten in bezug auf Deutschland eingegangen ist. Dem hat die Sowjetunion nicht widersprochen.
Wenn Schwierigkeiten hinsichtlich der Durchführung des erwähnten Viermächteabkommens von
1949 aufgetreten sind, so ist dafür das Regime der Sowjetzone verantwortlich. Sie haben die zu einem reibungslosen Verkehr erforderlichen und weitgehend bestehenden Kontakte ihres technischen Charakters zu entkleiden versucht und sind bemüht, sie zu politisieren und sie von der Ebene unterer oder mittlerer Verwaltungsorgane auf Regierungsebene zu übertragen. Sie wollen die Bundesregierung zwingen, Schritte zu unternehmen, die sie dann als Anerkennung der Sowjetzonenregierung auslegen würden.
In den Vereinbarungen von 1949 ist vorgesehen, daß die Vier Mächte deutsche Sachverständige heranziehen können. Besprechungen zwischen Sachverständigen, d. h. Kontakte auf technischem Gebiet sind seit langem vorhanden. Die Bundesregierung ist an ihnen interessiert und wird sich dafür einsetzen, daß sie weitergeführt und intensiviert werden, soweit sie im Interesse der deutschen Bevölkerung diesseits und jenseits der Zonengrenze liegen. Die Bundesregierung muß aber nach wie vor Kontakte auf Regierungsebene ablehnen, weil sie in dem Regime der Sowjetzone keinen legitimen Vertreter der dortigen deutschen Bevölkerung erblicken kann.
Zu dem III. Abschnitt der Großen Anfrage erklärt die Bundesregierung nach eingehender Fühlungnahme und Beratung mit dem Senat des Landes Berlin das folgende:
Zu Frage 16:
Wie beurteilt die Bundesregierung die erwähnten Erklärungen, und welche Möglichkeiten
sieht sie für eine Erleichterung des Verkehrs
von und nach Berlin?
Die Bundesregierung vermag in den Erklärungen von sowjetzonalen Spitzenfunktionären keine Anzeichen wirklicher Entspannung in Berlin zu sehen, da ihnen bisher auf keinem Gebiet praktische Maßnahmen zur Normalisierung gefolgt sind.
Insbesondere kann von Erleichterungen im Personenverkehr zwischen Westberlin und der Sowjetzone nicht gesprochen werden. Westberliner dürfen nach wie vor das Gebiet der Sowjetzone nur betreten, wenn sie im Besitz eines Passierscheines sind, der persönlich bei einer der vier Ausgabestellen im Sowjetsektor beantragt werden muß. Passierscheine werden nur selten, praktisch nur bei Todesfällen und wichtigen, hauptsächlich familiären Anlässen erteilt. Selbst in solchen Fällen werden sie noch häufig verweigert.
Westberlin verlangt dagegen für den Personenverkehr in die Zone und in umgekehrter Richtung keinerlei Genehmigung; es findet auch keine Kontrolle der Personalpapiere an der Grenze statt. Lediglich für den Waren- und Geldverkehr bestehen allgemeingültige Vorschriften.
Bewohner der Zone bedürfen für eine Reise nach Berlin in der Regel keiner besonderen sowjetzonalen Genehmigung. Da innerhalb Berlins an der Sektorengrenze der Personenverkehr weder von der Ostberliner noch von der Westberliner Verwaltung kontrolliert wird, können Bewohner der Zone im allgemeinen auch Westberlin ungehindert besuchen. Lediglich für die Einreise mit Kraftwagen ist ein besonderer Ausweis erforderlich.
Stark behindert wird dieser Verkehr jedoch durch die regelmäßige, oft willkürlich gehandhabte Personen- und Gepäckkontrolle an der Zonengrenze und in den Verkehrsmitteln auf der Fahrt nach Berlin. Wer dabei auf die Frage nach den Reisegründen, der Art seines Gepäcks, den mitgeführten DM-Ost-Beträgen usw. keine befriedigende Erklärung abgeben kann, wird an der Weiterreise gehindert. Die letzte, plötzlich im ganzen Gebiet der Zone durchgeführte Behinderung des Reiseverkehrs nach Berlin war zur Zeit der „Grünen Woche" Anfang Februar 1956 zu verzeichnen. Auch auf der S-Bahn durften damals die Bewohner der Randgebiete um Berlin nur dann nach Westberlin weiterfahren, wenn sie berufliche Gründe nachzuweisen vermochten. Andere Reisende dagegen wurden aus den Zügen herausgeholt oder schon an den Fahrkartenschaltern abgewiesen. Nach Beendigung der „Grünen Woche" fielen diese Beschränkungen ebenso plötzlich wieder fort.
Die Bundesregierung hält es in Übereinstimmung mit dem Senat des Landes Berlin für durchaus möglich, daß die Verwaltungen in Ostberlin und der Zone durch Verwaltungsanordnungen erheblich zur Erleichterung des Verkehrs zwischen den beiden Stadtteilen und zwischen Westberlin und der Zone beitragen können. Vor allem könnte die Aufhebung des Passierscheinzwangs für Westberliner und die ausschließliche Beschränkung der Kontrollen auf den Waren- und Zahlungsmittelverkehr auf Grund klarer, allgemeingültiger und öffentlich bekanntgemachter Vorschriften den Verkehr wesentlich erleichtern. Es bleibt zu hoffen, daß diese Möglichkeiten bald genutzt werden.
Zu Frage 17:
Welche technischen Kontakte zwischen den beiden Teilen Berlins bestehen noch und welche — z. B. Straßenbahn, Telefon — könnten nach Kenntnis der Bundesregierung unverzüglich wiederhergestellt werden, wenn es die östliche Verwaltung zuließe?
Die zwischen den beiden Teilen Berlins bestehenden technischen Kontakte sind leider nicht zahlreich. Es handelt sich dabei in der Hauptsache um den durchgehenden Verkehr der Untergrundbahn, die trotz getrennter Verwaltungen technisch einheitlich betrieben wird, der S-Bahn, die in ganz Berlin unter sowjetischer Verwaltung steht, um sehr geringfügige technische Kontakte bezüglich der Entwässerungsanlagen und der Wasserversorgung, um den Post- und Paketaustausch und den Telegrammverkehr sowie um einen beschränkten Amtshilfeverkehr auf polizeilichem Gebiet und in der Rechtspflege.
Die Bundesregierung ist der Ansicht, daß sich bei gutem Willen der Ostberliner Stadtverwaltung diese Kontakte wesentlich erweitern ließen. Als besonders dringlich seien hier kurz folgende Möglichkeiten genannt: Wiederherstellung eines einheitlichen Fernsprechverkehrs, die Einrichtung durchgehender Straßenbahnlinien — wie sie bis Ende 1952 bestanden haben — sowie der notwendigen Omnibuslinien, ungehinderter Verkehr auf den Berliner Wasserstraßen, freie Wahl des Arbeitsplatzes für Ostberliner in Westberlin und umgekehrt, ferner ungehinderte Möglichkeit für Ostberliner, die vom Westberliner Senat die Zuzugsgenehmigung erhalten haben, ihr Umzugsgut mitzunehmen. Weiter ist zu denken an die Brandbekämpfung durch den gemeinsamen Einsatz der
Feuerwehren, an eine engere Zusammenarbeit von Gesundheits- und Veterinärverwaltungen, an das Amtsvormundschaftswesen und die Regelung von Unterhaltsansprüchen und -zahlungen. Die Aufzählung der vielen sonstigen notwendigen und möglichen Verbindungen würde hier zu weit führen.
Zu Frage 18:
Wie beurteilt die Bundesregierung die serienmäßige Verhängung von Geldstrafen gegen Bewohner des Ostsektors, die in Westberlin arbeiten oder deren Kinder Westberliner Schulen besuchen?
Die Gesamtzahl der Bewohner Ostberlins und der Zone, die in Westberlin arbeiten und bestimmungsgemäß einen Teil ihres Arbeitsentgelts bei der Westberliner Lohnausgleichskasse in D-Mark umtauschen, betrug Ende 1955 etwa 37 000 und hat bis Ende April 1956 um etwa 3000 oder um rund 8 % abgenommen. Neben anderen Gründen wird dies auf den verstärkten Druck zurückzuführen sein, dem in der letzten Zeit die in Westberlin arbeitenden Ostberliner und Sowjetzonenbewohner ausgesetzt waren. Bewohnern der Randgebiete wurde mit der Zwangsaussiedlung in abgelegene Gegenden der Zone gedroht.
Nach wie vor werden Erziehungsberechtigte in Ostberlin, die ihre Kinder Westberliner Schulen besuchen lassen, mit Geldstrafen belegt.
Die Strafverfügungen setzen Strafen zwischen 90 und 500 DM fest.
Alle diese Bestrafungen und Drohungen, die in den letzten Monaten noch zugenommen haben, stehen im Gegensatz zu den von sowjetzonalen Spitzenfunktionären abgegebenen Erklärungen, mit denen der Eindruck erweckt werden soll, als ob eine Normalisierung der Lage Berlins angestrebt würde. Die Bundesregierung ist der Auffassung, daß derartige Bestrafungen und Drohungen mit rechtsstaatlichen Grundsatzen nicht zu vereinbaren sind.
Zu Frage 19:
Sind noch in der letzten Zeit Fälle vorgekommen, in denen sich Angehörige Ostberliner Betriebe oder Verwaltungen schriftlich verpflichten mußten, Westberliner Boden nicht zu betreten?
In letzter Zeit werden, wie es scheint, Angehörige von Ostberliner Betrieben oder Verwaltungen nicht mehr schriftlich verpflichtet, Westberliner Boden nicht zu betreten. Nach wie vor besteht aber für Funktionäre der Parteien und Massenorganisationen, für höhere Angestellte der öffentlichen Verwaltung und der volkseigenen Betriebe, für die Bediensteten der Justiz und der Polizei sowie für die Angehörigen der sogenannten Nationalen Volksarmee das Verbot, sich nach Westberlin zu begeben. Wer zuwiderhandelt, wird wegen sogenannten undemokratischen Verhaltens mit der Entfernung aus dem Dienst bestraft.
Zu Frage 20:
Wie viele Fälle von Menschenraub aus BerlinWest sind nach Kenntnis der Bundesregierung in der letzten Zeit vorgekommen?
Der Polizeipräsident in Berlin hat für die Zeit vom 1. Januar bis 8. Mai 1956 drei Gewaltentführungen und vier Fälle versuchten Menschenraubes festgestellt.
Zu Frage 21:
Wie hoch ist die Zahl der Westberliner Siedler und Kleingärtner, denen seit Verhängung der Sperrmaßnahmen im Jahre 1952 die Nutzung ihrer Grundstücke in den Randgebieten der Sowjetzone verwehrt wird?
Die Zahl der in Berlin-West wohnenden Siedler und Kleingärtner, denen im Jahre 1952 die Nutzung ihrer Grundstücke in den Randgebieten der Stadt versagt wurde, beträgt nach Auskunft des Senats von Berlin rund 40 000. Selbst den Besitzern von Grundstücken, die unmittelbar an der Stadtgrenze liegen, wird die Bewirtschaftung ihres Grund und Bodens, ja, sogar dessen bloßer Besuch nicht gestattet.
In diesem Zusammenhang sollen aber auch die zahlreichen Westberliner nicht vergessen werden, die nur deshalb, weil sie ihre Wohnung in Westberlin hatten, von einem Tag zum anderen ihren in Ostberlin gelegenen Handwerksbetrieb, ihr Einzelhandelsgeschäft oder ihr sonstiges Unternehmen aufgeben mußten.
Zu Frage 22:
Werden die Westberliner noch immer daran gehindert, die in den Randgebieten der Stadt gelegenen Friedhöfe zu besuchen?
Der Besuch der Friedhöfe in den Berliner Randgebieten — das sind vor allem die Friedhöfe von Ahrensfelde, Glienicke, Staaken und Stahnsdorf — ist nur mit Passierschein möglich. Dieser wird aber seit längerer Zeit nur noch zu den Totengedenktagen und zu den großen kirchlichen Feiertagen, darüber hinaus nur zur Teilnahme an Beerdigungen, ausgegeben. Allerdings wurden in diesem Jahr zu Pfingsten alle Passierscheinanträge abgelehnt.
Zu Frage 23:
Wie beurteilt die Bundesregierung das Mißverhältnis zwischen den Rechten und Pflichten, die die Vier Mächte für Berlin übernommen haben, und der Tatsache, daß im Ostsektor bewaffnete „Kampfgruppen" und Formationen der sowjetzonalen Streitkräfte aufmarschieren?
Die Bundesregierung beobachtet die Tatsache, daß im Ostsektor Berlins bewaffnete Kampfgruppen und Formationen der sowjetzonalen Streitkräfte aufmarschieren, mit wachsender Besorgnis. Sie hat es deshalb begrüßt, daß die Vertreter der drei Westmächte in verschiedenen Noten den für diese Fragen zuständigen Vertreter der Sowjetunion darauf hingewiesen haben, daß die demonstrativen und provokatorischen Aufmärsche von „Kampfgruppen" und militärischen Formationen im Sowjetsektor notwendigerweise zu einer Beunruhigung der Bevölkerung führen und die Spannungen in Berlin erhöhen müssen.
Die Bundesregierung hat es ebenso begrüßt, daß die Vertreter der drei Westmächte die Sowjetunion auf ihre Verpflichtung hingewiesen haben, die Sicherheit und das Wohlergehen der Bevölkerung
in ihren Sektoren gegen alle Angriffe, woher sie auch kommen mögen, zu schützen.
Wie bekannt, ist in Berlin der Zivilbevölkerung das Tragen von Waffen durch eine Reihe von Gesetzen, die von den Vier Mächten erlassen wurden, verboten. Die drei Westmächte messen diesen Gesetzen große Bedeutung bei und haben über ihre Befolgung sorgfältig gewacht. Das gleiche gilt von den deutschen Behörden. Die Bevölkerung von Berlin-West hat diese Gesetze genauestens beachtet. Die Bundesregierung kann nur hoffen, daß die Regierung der UdSSR als die verantwortliche Instanz das Ihre dazu beitragen wird, den Frieden in Berlin zu sichern. Die Bundesregierung wird in jedem Falle darauf hinweisen, daß die Duldung des Auftretens und der Betätigung derartiger bewaffneter Organisationen mit den Rechten und Pflichten, welche die Vier Mächte für Berlin übernommen haben, nicht vereinbar ist. Im übrigen steht die Bundesregierung hinsichtlich aller Fragen Berlins und seiner Verbindungswege dauernd in engem Kontakt mit den drei Westmächten und bringt ihnen ihre Wünsche und Auffassungen zu Gehör.
Soweit die Beantwortung der Fragen.
Und nun namens der Bundesregierung noch dieses: Die Große Anfrage aller Fraktionen des Bundestages gab Veranlassung, das tragische Geschick Deutschlands in seiner Zerrissenheit wenigstens in einigen Zügen erneut sichtbar zu machen. Dieses Geschick lastet besonders schwer auf den 18 Millionen in der Zone und in Ostberlin. Gewiß, meine Damen und Herren, zeichnen sich in der Politik der Sowjetunion und in den west-östlichen Beziehungen Veränderungen ab, die alle Aufmerksamkeit erfordern. Was Deutschland selbst betrifft, so müssen wir jedoch bei gewissenhafter Prüfung feststellen: Im sowjetischen Einflußbereich, in der Behandlung unserer 18 Millionen Menschen ist der Uhrzeiger kaum merklich über Stalin hinausgerückt.
In der Zone sind immer noch die gleichen Männer und die gleichen Methoden.
Noch immer schmachten Tausende in den Zuchthäusern und in den Gefängnissen. In dieser Zeit, in der sich die Völker bemühen, zu einer allgemeinen Entspannung zu kommen, in dieser Zeit, in der auch im Ostblock viele Tausende von politischen Gefangenen entlassen werden, können die Tore der Zuchthäuser in Mitteldeutschland unmöglich geschlossen bleiben.
Das ist die Überzeugung der gesamten deutschen Öffentlichkeit, die in diesen Tagen und Wochen mit wachsendem Nachdruck immer wieder zum Ausdruck kam.
Unter diesem Druck hat das Regime der Zone versucht, eine Parallele zu ziehen zwischen der politischen und parteilichen Justiz auf der einen und der Justiz eines Rechtsstaates auf der anderen Seite. Eine solche Parallele gibt es nicht.
In der Bundesrepublik urteilen unabhängige Gerichte nach den Bestimmungen des Gesetzes, das
vom Gesetzgeber, nämlich vom frei gewählten Parlament, nach rechtsstaatlichen Grundsätzen verabschiedet wurde. Den Angeklagten stehen unabhängige und freie Rechtsanwälte als Verteidiger zur Seite. In der Zone — wir haben dafür das Zeugnis der führenden Funktionäre des Regimes — steht über der Justiz die Politik, über dem Gericht die Partei. Deshalb sind Argumente, wie sie Herr Pieck gegenüber dem Herrn Bundespräsidenten anwandte, bloße politische Propaganda.
Nach allen Grundsätzen von Recht, Gerechtigkeit und Menschlichkeit kann den politischen Gefangenen in Mitteldeutschland die Freiheit nicht mehr vorenthalten werden.
Die Entlassung der politischen Gefangenen in der Zone würde im übrigen einen Anhaltspunkt geben, daß sich der Uhrzeiger in Mitteldeutschland doch bewegt.
Die Frage von Gefangenen, die wegen Taten, die sich gegen den Bestand der freiheitlichen demokratischen Grundordnung unseres Staates richten, in Haft sind, kann nicht in Parallele zur Frage der politischen Gefangenen der Zone gestellt werden.
Diese Taten werden von unseren unabhängigen Gerichten auf Grund streng rechtsstaatlicher Gesetze beurteilt, die vom freiheitlich gewählten Deutschen Bundestag beschlossen sind.
Die Bundesregierung wird mit Aufmerksamkeit die weitere Entwicklung in der Zone verfolgen. Sie wird von sich aus alles tun, um die Freizügigkeit in ganz Deutschland zu fördern und die geistige und kulturelle Einheit Deutschlands zu stärken und zu vertiefen. Dabei ist sich die Bundesregierung im klaren darüber, daß alle Bemühungen vor allem Vorbereitungen bleiben für den Tag, an dem sich frei gewählte Repräsentanten aus beiden Teilen Deutschlands zusammenfinden, um gemeinsam das Werk der Einigung zu vollziehen.
Meine Damen und Herren! Sie haben die Beantwortung der Großen Anfrage gehört. Ehe ich die allgemeine Aussprache, die zweifellos gewünscht wird, eröffne, gebe ich dem Herrn Abgeordneten Dr. Mommer das Wort zur Begründung der dem Hause vorliegenden Anträge der Fraktion der SPD Umdrucke 608 und 609.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. Mommer.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir haben geglaubt, daß es nützlich wäre, die Debatte, die gleich folgen wird, nicht ohne Verabschiedung einiger Anträge zu beschließen.
Was wir in dieser Debatte vertreten, kann nicht damit erreicht werden, daß wir sporadisch, von Zeit zu Zeit einmal über diese vielen konkreten Fragen sprechen, die da anstehen. Wir müssen ständig daran arbeiten, daß, wo immer es möglich ist, auf jedem einzelnen Gebiet Fortschritte, und seien es noch so kleine, erzielt werden. Dazu bedarf es einer ständigen Arbeit.
Deswegen haben wir den Antrag auf Umdruck 609*) eingebracht, in dem wir das Haus darum bitten, den Komplex der Fragen, den wir heute behandeln, dem Ausschuß für Gesamtdeutsche und Berliner Fragen zur weiteren Beratung zu überweisen.
Aber wir glauben, daß es darüber hinaus auch nötig ist, einige besondere Probleme als Hauptpunkte unserer Debatte herauszustellen, um sie zu ringen und uns zu den beantragten Maßnahmen zu bekennen oder vielleicht auch nicht zu bekennen. Deshalb haben wir den weiteren Antrag auf Umdruck 608**) eingereicht, der zur Debatte steht, den wir aber heute nicht zu verabschieden brauchen; wir bitten, ihn dem Ausschuß zur weiteren Beratung zu überweisen.
Ich darf nun kurz einige Worte zu den verschiedenen Punkten dieses Antrags sagen. Ich gestehe offen, daß es sich da in einigen Fällen um recht heiße Eisen handelt. Ich werde mich bemühen, mit diesen heißen Eisen vorsichtig zu hantieren.
Wir ersuchen im ersten Punkt darum, daß die Bundesregierung alles tun möge — wenn nötig einseitig —, um die an der Zonengrenze aufgerichteten Grenzmauern abzutragen. Das Prinzip ist heute allgemein anerkannt. Wir haben mit ihm an unseren In- und Auslandsgrenzen die besten Erfahrungen gemacht.
Es ist aber noch ein Gebiet, ein wichtiges Gebiet vorhanden, auf dem nach unserer Meinung diese Methode auch angewandt werden sollte: es handelt sich um den Verkehr mit Druckschriften über die Zonengrenze hinweg. Wir wissen, wie der heutige Zustand ist. Nur technische und wissenschaftliche Literatur findet in kleiner Zahl den Weg über die innerdeutsche Grenze. Es ist selbstverständlich, daß wir anstreben müssen, diesen Verkehr in beiden Richtungen von allen Fesseln zu befreien; darin stimmen wir mit den zu diesem Thema von dem Herrn Bundesminister Kaiser gemachten Ausführungen überein.
Freilich, meine Damen und Herren, müssen wir uns vor Illusionen hüten. Wir haben in der Frage des Personenverkehrs auch einseitig alle Hindernisse abgeschafft. Als wir es taten, wußten wir im voraus, daß wir kaum hoffen konnten, die andere Seite würde voll nachziehen. Aber wir hatten richtig berechnet, daß die andere Seite gezwungen sein würde, doch etwas zu tun, doch Konzessionen zu machen. Es hat sich gezeigt, daß wir mit dieser Vorausberechnung recht hatten, und heute ist das einseitige Vorgehen auf diesem Gebiet ja allgemein gebilligt.
Wir erwerben uns, wenn wir so handeln, immer eine starke moralische Position. Und es ist doch so gut, in allen politischen Gesprächen sagen zu können, daß die Hemmungen, die es da gibt, ausschließlich von der anderen Seite ausgehen und daß es auf unserer Seite die Freiheit und die ganze Freiheit gibt. Wenn wir die Personen frei ohne jede Kontrolle zu uns hereinlassen, dann lassen wir dabei auch die überzeugten und fanatischen Anhänger der SED in unser Gebiet hinein. Bisher hat niemand behauptet, daß sie eine ernsthafte Gefährdung unserer inneren staatlichen Sicherheit bedeuten könnten. Ich glaube, daß die Druckerzeugnisse dieser selben SED-Leute für uns ebensowenig eine ernsthafte Gefährdung der inne*) Siehe Anlage 3. **) Siehe Anlage 2.
ren Sicherheit bedeuten wie diese Personen selbst, wenn sie zu uns einreisen. Außerdem können wir das, was in diesen Druckerzeugnissen an politischer Propaganda steht und an staatsgefährdenden Thesen enthalten ist, hier in legal erscheinenden kommunistischen Zeitungen am Kiosk kaufen. Die ganze Jagd auf die Literatur von der anderen Seite ist eine sehr gespenstische Jagd. Wenn wir, nachdem wir alle Versuche gemacht haben, die wir machen können, um möglichst viele Konzessionen auch gegenseitig einzuhandeln, einseitig die Druckerzeugnisse der anderen Seite hereinlassen, dann werden die in der Bundesrepublik ebensowenig reißenden Absatz finden, wie die kommunistischen Zeitungen reißenden Absatz finden.
Auf dem Gebiet der gegenseitigen Ausschließung der Presseerzeugnisse haben sich bei uns Mißstände eingenistet, die wir nicht mehr lange dulden sollten. Sie sind beschämend und unerträglich. In einer Auslegung der Gesetze, die mein Freund Arndt z. B. für völlig ungesetzlich und gesetzlos hält, wird da Jagd auf Zeitungen und Druckschriften gemacht, die von drüben nach hier versandt werden. Es ergeben sich dabei sonderbare Zustände. Zwei unserer Kollegen in diesem Hause, einer von meiner Fraktion, aber ein anderer von der CDU-Fraktion, sind doch neulich mit einem Ermittlungsverfahren belästigt worden, weil sie wie wir alle in großer Menge Propagandaliteratur von der anderen Seite der Zone her zugeschickt bekamen.
Sehen Sie, wo so etwas hinführt! Man kommt da in die Psychologie hinein, die die Hexenverfolgung charakterisiert.
Ich glaube, daß auf diesem Gebiet etwas getan werden muß.
Auch die rein sachliche Unterrichtung über das, was auf der anderen Seite passiert, ist schwierig geworden. Abonnieren Sie mal eine Zeitung, die drüben erscheint, wenn sie sich hier im Bundestag politisch und sozusagen beruflich mit den Ereignissen drüben zu befassen haben! Dann werden Sie sehen, wie schwierig es ist, sich rein sachlich über das zu unterrichten, was drüben vor sich geht. Ich hörte von einem Fall, daß ein Gelehrter, der für die Kultusminister die Entwicklung der Schulbücher drüben zu untersuchen hat, sich jedes Mal mit Dienststellen der Polizei und des Zolls herumschlagen muß, ehe er in den Besitz der Bücher kommt, die er analysieren muß, damit man hier vernünftig auf das reagiert, was drüben geschieht. Diese Praxis, meine Damen und Herren, beweist doch einen sehr großen Kleinmut
und einen Mangel an demokratischem Selbstvertrauen, den wir nicht vertragen können. Diese Praxis beweist auch, daß bestimmte Stellen in unserer Regierung die Urteilskraft unserer Bevölkerung gewaltig unterschätzen. Wir stehen nicht allein mit der Forderung, daß da Remedur geschaffen wird. Wir wissen uns einig mit vielen Kräften außerhalb der Sozialdemokratie. Namentlich hat das Kuratorium „Unteilbares Deutschland" vor einiger Zeit auch gefordert, daß man einseitig hier wie auf den anderen Gebieten handle und dem Verkehr der Druckschriften keine Hemmnisse mehr in den Weg lege.
Das zweite heiße Eisen hat schon unser verehrter Herr Kollege Lemmer vor mir angepackt, und man hat den Eindruck, daß er sich dabei ein wenig verbrannt hat; ich meine das Problem der Amnestie für politische Straftaten in der Bundesrepublik.
— Nicht verbrannt, Herr Kollege Lemmer? Nun, Sie werden uns das gleich sicher in Ihrer Rede sagen.
Wir wissen sehr wohl, wie schwierig dieses Problem ist. Wir werden nicht in den Fehler verfallen, die Verurteilung von einigen Dutzend Kommunisten hier in einem rechtsstaatlichen Verfahren zu Strafen, deren höchste, soviel ich sehen konnte, fünf Jahre beträgt, gleichzusetzen mit der Willkürjustiz auf der anderen Seite, die zur Verurteilung von vielen Tausenden zu Todesstrafe, lebenslänglichem Zuchthaus und anderen Strafen geführt hat. Aber immerhin, wir haben in der Bundesrepublik auch einige Gefangene, die wegen politischer Straftaten Gefangene sind, und nach unserer Meinung kann kein Zweifel daran bestehen, daß die Erwägung einer Amnestie der Auflockerung, der Entkrampfung und der Entspannung des Verhältnisses der beiden Teile Deutschlands zueinander dienen würde. Wir sind überzeugt, daß ein Handeln auf diesem Gebiet aus eigener Initiative hier auch der Befreiung der Gefangenen auf der anderen Seite dienen würde, ohne daß wir im mindesten eine Koppelung etwa unseres Handelns hier mit einem entsprechenden Handeln auf der anderen Seite fordern wollten.
Auch der Punkt 3 unseres Antrags Umdruck 608 verzichtet auf Selbstgerechtigkeit — jene Selbstgerechtigkeit, die gern meint, daß auf der eigenen
Seite alles so gut sei und nichts mehr zu verbessern sei. Wir sollten, glaube ich, aus unserem besseren humanitären und demokratischen Gewissen heraus anerkennen, daß politische Straftaten Straftaten besonderer Art sind und daß eine politische Haft eine Haft besonderer Art sein kann. Es wäre nicht opportun, wenn ich hier über Einzelfälle sprechen wollte. Wir haben eine besondere Sache herausgestellt, nämlich die übermäßige Dauer der Untersuchungshaft bei solchen Gefangenen, die in einem Falle jetzt bald das dritte Jahr erreicht hat.
Unsere Forderung, die wir im Punkt 5 stellen, nämlich nach Haftentlassung und Verbesserung der Haftbedingungen auf der anderen Seite der Zonengrenze — diese unsere Forderung zugunsten der Gefangenen drüben hat um so mehr moralisches Gewicht, als wir im eigenen Strafvollzug humanitär beispielhaft sind; und das ist der Punkt, um den es hier geht.
Ich darf zuerst weiter zu dem Punkt 5 unseres Antrags einiges sagen. Wir haben gehört, wie schlimm drüben die Lage der Gefangenen ist und wie sie sich in letzter Zeit sogar verschlechtert hat. Die Hilfe für sie ist dringend, und wir sollten alle Wege beschreiten, die beschritten werden können, um unseren Gefangenen zu helfen. Wir sollten dabei auch nachdenken, ob die nichtstaatlichen Organisationen, etwa die Kirchen und das Rote Kreuz, auf diesem Gebiet in Zukunft vielleicht noch mehr tun könnten, als sie schon getan haben.
Durch die Heimschaffung der von sowjetischen Tribunalen verurteilten Gefangenen aus der Sowjetunion ist ja die sonderbare Situation entstanden — sie ist hier schon geschildert worden —, daß diejenigen, die von den Verurteilenden als die schwereren Verbrecher angesehen wurden, jetzt frei sind, während an die 1200 leichtere Fälle jetzt noch nicht durch die Freilassung der Verurteilten erledigt sind. Hier können wir nicht ruhen und nicht rasten, und hier sollten wir auch die Sowjetregierung selbst nicht aus der Verantwortung entlassen. Wir sollten an sie herantreten — wir haben die diplomatischen Beziehungen —, sie auf diese Verantwortung immer wieder hinweisen und die Freilassung dieser Gefangenen aus der Haft in der Zone verlangen.
In diesem Zusammenhang haben wir dann auch unter Punkt 6 eine Frage aufgegriffen, die zu Spannungen in den Beziehungen der Bundesrepublik zur Sowjetunion geführt hat. Wir ersuchen in diesem Punkt 6 die Regierung, dem Bundestag einen Bericht über Fälle zuzuleiten, in denen von der Regierung der Sowjetunion in der Bundesrepublik lebende Personen als Sowjetbürger reklamiert werden, die angeblich an der Heimkehr gehindert werden. Meine Damen und Herren, wir stehen sicher alle ohne Ausnahme dazu, daß jeder, der aus der Bundesrepublik irgendwohin ausreisen will, daran nicht gehindert werden darf, und das gilt genauso für Sowjetbürger. Aber wir stehen auch alle zu dem anderen Prinzip, daß niemand, der sich auf das Asylrecht beruft, gezwungen werden darf, in das Land zurückzukehren, aus dem er geflüchtet ist. Da, meine ich, handelt es sich natürlich um einen Kapitalpunkt, um einen grundsätzlichen Punkt. In keinem Falle dürfen wir einem Druck nachgeben, der darauf abzielt, gegen ihren Willen bestimmte Personen in die Sowjetunion zurückzuführen.
Ich komme damit zu Punkt 7 unseres Antrags. Nach 1945 bestand bekanntlich der Plan, durch Staatssekretariate die Verwaltung für das ganze besetzte Deutschland zusammenzuhalten. Statt dessen haben wir die Teilung bekommen, und wir haben heute nur eine Stelle als Institution, die sich mit der Aufrechterhaltung der Verbindungen zwischen den beiden Teilen Deutschlands systematisch befaßt, nämlich die Treuhandstelle für den Interzonenhandel. Ich glaube, wir sollten trotz aller Fehlschläge bei früheren Bemühungen es nicht aufgeben, zu versuchen, diese Treuhandstelle auszubauen, namentlich auf dem Gebiet des Verrechnungswesens, wo noch viel zu tun ist. Wir sollten auch nicht auf den Versuch verzichten, weitere Stellen, weitere Treuhandstellen für spezielle _Verwaltungsfragen zu schaffen, insbesondere für Verkehrsfragen, aber möglicherweise auch für Kultur-und Unterrichtsfragen, in denen der Vertiefung der Teilung Deutschlands zumindest entgegengewirkt werden könnte.
Schließlich komme ich zum politisch heikelsten Punkt unseres Antrags, zu Punkt 8, den ich mit der Wiedergabe einer wahren Geschichte aus dem Bundestag beginnen möchte. Vor etwa Jahresfrist kam es in einem Ausschuß des Bundestages zu einer Diskussion über Beziehungen, die die Bundesregierung zu einer anderen deutschen Regierung ohne demokratische Legitimation angeknüpft hatte, nämlich zu der Saarregierung Johannes Hoffmanns, und auf Fragen der Opposition hin erklärte ein hoher Regierungsvertreter schließlich, wenn es der Sache der Wiedervereinigung Deutschlands dienlich sei, dann müsse man auch mit dem Teufel verhandeln. Worauf wir gefragt haben: Gilt das nur für schwarze Teufel, oder gilt das auch für rote Teufel? Wir haben auf diese Frage keine eindeu-
tige Antwort bekommen; aber wir haben bei diesen Verhandlungen — bei diesen Verhandlungen mit „schwarzen Teufeln" — immer den Standpunkt vertreten, daß ihre Bewertung die Frage der Abwägung von Für und Wider sei, daß Verhandlungen, die z. B., wie damals, dem Abbau der innerdeutschen Saargrenze, der Einführung des Inlandstarifs für Postsendungen oder der Abschaffung der Paßkontrolle an dieser innerdeutschen Grenze dienen, der Wiedervereinigung nicht schadeten, im Gegenteil, ihr nützten, und daß solche Verhandlungen geführt werden mußten. Die Bundesregierung hat damals auch mit Johannes Hoffmann verhandelt, ohne dadurch diese Regierung Hoffmann anzuerkennen. Sie hat sie nie anerkannt. Ähnlich verhandelt die Bundesregierung seit Jahren mit Pankow über weisungsgebundene Beamte der Bundesregierung in der Treuhandstelle für den Interzonenhandel. Trotz dieser Verhandlungen, die seit Jahren stattfinden, wird kein Mensch behaupten, daß die Bundesregierung die Regierung in Pankow anerkannt habe.
— Ja, technisch, auf bestimmte Probleme beschränkt! Wenn etwa Beamte des Verkehrsministeriums mit Beamten des anderen Verkehrsministeriums drüben verhandelten, etwa über den Verkehr auf der Autobahn nach Berlin, dann wären das technische Verhandlungen, und dann läge in ihnen nicht mehr an Anerkennung des Regimes drüben, als in den Verhandlungen in der Treuhandstelle liegt. Grundsätzlich, glaube ich, ändert sich daran auch nichts, wenn man von der Ministerialratsebene auf eine höhere Ebene geht, und es ändert sich auch nichts daran, wenn man sogar auf die Ministerebene geht.
Der Herr Bundeskanzler hat etwa vor einem Jahr auch mit Herrn Johannes Hoffmann einmal gesprochen, und auch da hat niemand gesagt, daß die Bundesregierung darum die Regierung Johannes Hoffmann anerkannt habe.
Aber wir möchten diese Dinge auf die technischen Fragen beschränken. Wenn unser Verkehrsminister etwa mit dem „Teufelsverkehrsminister" auf der anderen Seite spräche, läge darin keine Anerkennung; im Gegenteil: indem er an der Beseitigung der skandalösen Verkehrsgrenzen innerhalb Deutschlands arbeitete, arbeitete er daran, daß die Wiedervereinigung Deutschlands ein Stück vorwärtskäme.
Niemand von uns wird dabei einen Zweifel an folgendem aufkommen lassen, auch nicht gegenüber den Herren in Pankow: Nie werden wir die Teilung Deutschlands anerkennen; nie werden wir uns damit abfinden, daß es zwei Regierungen in Deutschland gibt. Immer und in allem, was wir tun werden, werden wir darauf ausgehen, zur Bildung einer einzigen deutschen, gesamtdeutschen Regierung zu kommen, die aus freien Wahlen hervorgehen soll.
Wenn wir vorwärtskommen wollen in den Problemen, die uns heute beschäftigen, müssen wir uns, glaube ich, von der Verkrampfung und von den gedanklichen Kurzschlüssen um das Thema Anerkennung befreien. Wir werden Pankow nicht anerkennen, und wir werden in Gesprächen über den Berlin-Verkehr und über das Gefangenenproblem nicht mehr an Anerkennung hineinlegen, als in den Verhandlungen der Treuhandstelle liegt oder als darin liegt, daß ich z. B. noch vorige Woche
durch die Zone gefahren bin und treu und brav, das Bestehen der dortigen Behörden zur Kennuris nehmend, die Straßengebühren bezahlt habe.
Vor fast genau einem Jahr haben wir hier den Antrag des Ausschusses Drucksache 1325 einstimmig verabschiedet, worin eine Fülle von Vorschlägen zur Verbesserung der Verbindungen zwischen den beiden Teilen Deutschlands enthalten waren. In allen Punkten, in denen das Vorwärtskommen auch davon abhing, daß von der anderen Seite etwas geschah, in allen Punkten, in denen die Macht des Handelns nicht ausschließlich bei uns lag, in all diesen Punkten sind wir um keinen Zentimeter vorwärtsgekommen. Wenn wir keine Form dafür finden, in Auseinandersetzungen mit den augenblicklichen Machthabern drüben über die praktischen, technischen Fragen zu sprechen, dann besteht auch im nächsten Jahr wenig Hoffnung. daß wir einen Zentimeter vorwärtskommen.
Wir müssen wissen, was wir wollen. Man muß mit dem Zweck die Mittel wollen, und wenn man die Mittel nicht akzeptieren kann, dann hat es wenig Sinn, von dem Zweck zu reden. Ich glaube, daß das die ernsteste Wahl ist, vor die wir gestellt sind. Wir von der sozialdemokratischen Fraktion sind uns bewußt, daß man die Wiedervereinigung Deutschlands mit viel Umsicht und Vorsicht und Klugheit betreiben muß. Aber man kann sie auch nicht ohne Kühnheit betreiben. Und hier ist einmal die Forderung: etwas mehr Kühnheit, keine Angst vor Teufeln, meine Damen und Herren, selbst wenn sie rot sind!
Das Wort zur Begründung des Antrags auf Umdruck 610*) hat Frau Abgeordnete Hütter.
Herr Präsident! Meine Herren und Damen! Ich habe die Ehre, den Antrag Umdruck 610 der Fraktion der Freien Demokratischen Partei betreffend die Entwicklung in der Sowjetzone und die Möglichkeiten engerer Verbindungen zwischen den beiden Teilen Deutschlands zu begründen. Der Antrag sagt aus, worum es uns geht: um ein verstärktes Bekanntwerden mit den Zuständen in Berlin als dem Mittelpunkt, der von hier aus erreichbar ist, für die Auseinandersetzung zwischen Ost und West.
Wie oft haben wir in den letzten Jahren, wenn wir einmal vor Gremien sprachen, die sich aus Jugendlichen zusammensetzten, die Frage gestellt bekommen, ob es denn wirklich wahr sei, was wir Abgeordneten über die Zustände in der Sowjetzone vortragen. Eine Bejahung aus unserem Munde allein genügt als Antwort nicht. Wir müssen die Jugendlichen überzeugen, indem wir ihnen die Möglichkeit geben, sich selbst ein Bild davon zu machen. Und das können sie am besten an Ort und Stelle, in Berlin, tun.
Genauso wie in den letzten Jahren Tausende in diesem Parlament zu Besuch weilten, um sich von dem Parlamentarismus des Bundestages ein Bild zu machen, genauso sollten Tausende und aber Tausende die Gelegenheit bekommen, sich in der ehemaligen Hauptstadt mit den wirklichen Zu Zuständen vertraut zu machen. Dies würde de Be-
*) Siehe Anlage 4.
mühungen der Regierung um Aufklärung, aber auch um Mitarbeit an unseren Problemen aus den Reihen der Bürger entgegenkommen und unsere Arbeit unterstützen.
Eine Erfahrung ganz besonderer Art war es, die mich zu diesem Antrag veranlaßt hat. Es war die Sitzung des Gesamtdeutschen Ausschusses in der letzten Woche in Berlin, die dieser zusammen mit zwei Ausschüssen des Europarats abhielt, und es waren die Eindrücke der Fremden, d. h. der Mitglieder der beiden Ausschüsse des Europarats, nach einer Fahrt durch West- und Ostberlin sowie die Worte, die sie darüber in einer gemeinsamen Sitzung am Samstagvormittag fanden, die uns dermaßen berührten, daß wir quasi durch ihre Erlebnisse, durch ihre Gefühle ermuntert wurden, unsere Arbeit verstärkt fortzusetzen, unsere eigene Arbeit zu verdoppeln.
Ich zog das Fazit aus dieser Beobachtung, daß wir einer solchen Ermunterung ständig bedürfen und daß unsere eigene Jugend — niemand ist dazu besser legitimiert als sie — in diesem Sinne verantwortlich erzogen werden muß. Unsere Jugend muß einmal die Verantwortung für das Gesamtproblem übernehmen, wenn es uns nicht gelungen sein sollte, es zu lösen. Außerdem glaube ich, daß eine solche Verwendung eines Teils der Mittel des Bundesjugendplans von großen Teilen der Bevölkerung einschließlich der Jugend selbst sehr begrüßt werden würde.
Ich beantrage deshalb Überweisung dieses Antrages an den Ausschuß für gesamtdeutsche Fragen.
Meine Damen und Herren, sicherlich wird eine allgemeine Aussprache über die Große Anfrage gewünscht. — Es erhebt sich kein Widerspruch.
Ich erteile in der allgemeinen Aussprache das Wort dem Abgeordneten Brookmann .
Herr Präsident! Meine Damen und meine Herren! Einem Unterausschuß des Bundestagsausschusses für Gesamtdeutsche und Berliner Fragen war die Aufgabe gestellt, eine Große Anfrage über die Entwicklungen in der Sowjetzone und Möglichkeiten engerer Verbindungen zwischen den beiden Teilen Deutschlands zu erarbeiten. Als Vorsitzender dieses Unterausschusses habe ich das Bedürfnis, allen denen aufrichtig zu danken, die an dem Zustandekommen dieser Großen Anfrage, die dem Hohen Hause in Drucksache 2364 vorliegt, zu danken, nicht zuletzt auch den beteiligten Ministerien, insbesondere dem federführenden Ministerium, dem Bundesministerium für Gesamtdeutsche Fragen. Wir haben inzwischen die Antwort der Regierung auf diese Große Anfrage gehört. Meine Damen und Herren, welche grausame und uns alle zutiefst erschütternde Bilanz über die Lage in der sowjetischen Besatzungszone! Ich möchte auch an dieser Stelle der Regierung, dem Bundesministerium für Gesamtdeutsche Fragen dafür danken, daß sie mühsam, mit Eifer und mit viel Sorgfalt Material zusammengetragen hat, das uns ein Gesamtbild über die derzeitige Lage in der Zone gibt. Die Einmütigkeit, mit der die Große Anfrage an die Bundesregierung gerichtet wird, geht von der Einsicht aus, daß die Deutschen in Westdeutschland, die den Vorzug haben, in Freiheit und weithin auch in Wohlstand zu leben, aufgerufen und aufgerüttelt werden sollen, sich mit ihren Landsleuten jenseits der tragischen und völlig überflüssigen Zonengrenze immer wieder solidarisch zu fühlen.
Die heutige Debatte, die zu eröffnen ich die Ehre habe, soll mehr als eine Demonstration oder Bekundung gesamtdeutscher Solidarität sein; sie soll den Willen zum Ausdruck bringen, alle nur erdenklichen Mittel und Wege zu suchen, menschlich näherzurücken.
In der vorigen Woche hat der Gesamtdeutsche und Berliner Ausschuß gemeinsam mit Vertretern der Beratenden Versammlung des Europarates in Berlin getagt. In diesem Zusammenhange ist das Wort des Apostels Paulus zitiert worden: „Einer trage des andern Last!" — Meine Damen und Herren, das ist der eigentliche, tiefere Sinn unseres heutigen Begehrens. Wir sollten uns verpflichtet fühlen, die Last, die die Menschen in der Zone zu tragen haben, zu übernehmen.
Wir fordern heute weniger Rechenschaft von der Regierung für ihr eigenes Verhalten. Wir wollten ihr vielmehr die Möglichkeit bieten, zu veranschaulichen, was innerdeutsch geschehen kann, um das Verhältnis der Deutschen in West- und Mitteldeutschland zu- und untereinander wesentlich zu bessern.
Es handelt sich also heute weniger um die Behandlung außenpolitischer Probleme, sondern mehr um innenpolitische Probleme, die zum Teil in den technischen Bereich gehören. Wir wollen wissen, ob die Sowjetzonenregierung, die der Wiedervereinigung im Namen Moskaus so große Schwierigkeiten bereitet, klipp und klar erkennen lassen will, ob sie tatsächlich auch zu allen Möglichkeiten njet sagt, die Deutschen in freierem Verkehr einander näherzubringen. Die Große Anfrage ist eine Aktion der deutschen Innenpolitik. Die Deutschen in der Zone und in Berlin sollen wissen, daß der Deutsche Bundestag keineswegs gewillt ist, zu resignieren und abzuwarten, bis sich in der großen Politik etwas tut, was der Wiedervereinigung nützlich wäre. Wir wollen den uns befreundeten Mächten auch beweisen, daß wir Deutschen nicht allein auf ihre uns immer wieder versprochene Hilfe warten, sondern auch selbst bereit sind, einen gehörigen Anteil an Anstrengungen zu leisten, die auf innerpolitischem Gebiete liegen. Wir wollen und dürfen uns dem Vorwurf nicht aussetzen, tatenlos den Zustand hinzunehmen, der durch die augenblicklichen Schwierigkeiten und Unklarheiten in der Welt in der Frage der Wiedervereinigung entstanden ist.
Ich deutete es schon an: die Große Anfrage richtet sich im Wesentlichen vorwiegend an das eigene Volk. Wir fühlen uns verpflichtet, den Brüdern und Schwestern in der Zone zu beweisen, daß wir sie nicht abgeschrieben haben.
Es ist gewiß schmerzlich, zu wissen, daß wir Deutschen innerhalb unseres eigenen Vaterlandes elf Jahre nach Kriegsschluß immer noch nicht ungehindert, ohne Kontrollen hin- und herreisen kön-
nen, daß wir auf sehr merkwürdige Weise brieflich miteinander verkehren müssen, um niemanden in der Zone in den Verdacht zu bringen, ein Spion oder ein Agent zu sein.
Bis zu einem gewissen Grade war der Ablauf des 3. Parteikongresses der Sozialistischen Einheitspartei in Ostberlin eine Sensation. Grotewohl hat auf diesem Parteikongreß, den man den „Kongreß der Selbstanklage" genannt hat, Willkürakte gegenüber der Bevölkerung zugegeben. Er hat gewissermaßen ein Geständnis abgelegt, daß dort in der Zone keine Rechtssicherheit mehr bestünde. Er hat, wie das üblich ist, wenn man Selbstkritik üben muß, den Generalstaatsanwalt Melsheimer gerüffelt und den Justizminister Hilde Benjamin zur Ordnung gerufen. Allerdings, zur gleichen Zeit verteidigt sich der Leiter des dortigen Staatssicherheitsdienstes, Herr Wollweber, und meint, daß diese Vorwürfe zu Unrecht bestünden. Er hat sogar eine Sonderkommission seines Staatssicherheitsdienstes eingerichtet: „Zur Bekämpfung westlicher Spionageorganisationen und Diversanten-Zentralen", — also offenbar doch nur ein Lippenbekenntnis, nur Phrasen über die Herstellung der Rechtsstaatlichkeit oder die Hinwendung zu ihr.
Wir haben gern und dankbar die Entlassung von politischen Häftlingen in der Zone zur Kenntnis genommen. Aber warum werden nicht auch gleichzeitig die noch etwa 20 000 hinter Gefängnismauern schmachtenden Menschen entlassen, die unserer Meinung nach und nach unseren Gesetzen unschuldig sind? Es ist erschütternd, zu wissen von den drakonischen Strafen, die in der zivilisierten Welt einfach unmöglich sind, wegen sogenannter politischer Vergehen, Plakatankleben, Verteilen von Zetteln oder Flugblättern so hart verurteilt zu werden. Wir wissen von den Grausamkeiten, von den Folterungen, von mittelalterlichen Methoden zur Erpressung von Geständnissen hinter den Zuchthaus- und Gefängnismauern. Wir wissen von den Schindereien und der völlig unzureichenden Ernährung, die den Tod von Tausenden herbeigeführt und zahllose Erkrankungen, insbesondere Tuberkuloseerkrankungen, hervorgerufen haben. Terror und Unrecht regieren dort. Das wissen wir, und das weiß die Welt. Wann soll das — das ist doch die bange Frage, die wir uns täglich immer wieder stellen —, wann soll das endlich einmal enden? Wir glauben Ihnen nicht, Herr Melsheimer, wenn Sie behaupten: Unsere Staatsanwälte — d. h. hier in der Zone — sind Hüter der Gesetzlichkeit!, oder wenn Herr Wollweber, der schon zitierte Leiter des sowjetzonalen Staatssicherheitsdienstes, sagt: „Alle Maßnahmen der Organe der Staatssicherheit geschehen unter der strengsten Einhaltung der demokratischen Gesetzlichkeit." Ich möchte wirklich einmal fragen: Ist das demokratische Gesetzlichkeit, wenn man zwischen 1945 und 1949, allein in den vier Jahren, 185 000 Mitteldeutsche willkürlich in die KZs geschleift hat? Ist das demokratische Gesetzlichkeit, daß man von diesen Unschuldigen 96 000 Männer, Frauen und Jugendliche verhungern ließ? War das demokratische Gesetzlichkeit, als Sowjets, Volkspolizei, SSD-Männer am 17. Juni 1953 auf deutsche Arbeiter schossen und dabei 408 Demonstranten töteten? Wir können diesen Funktionären eines grauenhaften, entsetzlichen Systems nur zurufen: Achten Sie das Leben, respektieren Sie die Menschenwürde und respektieren Sie die Menschlichkeit!
Denn das, was drüben in der Zone geschieht, nehmen wir so hin, als wenn es uns geschähe.
Wir fordern weitere Erleichterungen im Interzonenreiseverkehr, Erleichterungen im Wirtschafts-und Kulturaustausch, Verbesserungen der technischen Kontakte, die auf dem Gebiete des Verkehrs und der Nachrichtenverbindungen nun einmal bestehen. Wir verlangen die Beseitigung der Störsender. Wenn man durch die Zone fährt, von welcher Seite man auch kommt, empfindet man es geradezu als lächerlich, aber auch als betrüblich, daß dort an der Zonengrenze zahlreiche Störsender aufgestellt sind, die ein Verstehen der westdeutschen Sender einfach unmöglich machen. Warum das? Wovor fürchtet man sich? Wir sind gerne bereit, Konzerte aus Leipzig oder den Thomanerchor in Leipzig zu hören, was man uns dadurch eigentlich unmöglich macht. Wir würden vielleicht sogar das politische Propagandageschwätz, das dort Tag für Tag über den Rundfunk gesendet wird, anhören; denn ich glaube, nach wenigen Stunden oder Tagen wären wir durchaus kuriert. - Also die Forderung: Heraus aus der Isolierung der Zone!
Mit Befriedigung will ich gerne anerkennen, daß der Interzonenhandel der Bundesrepublik und Westberlins mit dem Währungsgebiet der DM-Ost 1955 den Stand von 1 102 000 DM-West erreicht hat, immerhin 244 Millionen DM mehr als im Jahre 1954. Ich anerkenne auch dankbar, daß der Ministerrat der Zone jetzt in einer neuen Verordnung der Zone die Bestimmungen über Aufenthalt und Verkehr in der 5 km breiten Sperrzone, wenn auch nur geringfügig, gemildert hat. Künftig entfällt auch die Passierschein- und Meldepflicht für Ärzte und Hebammen, die im Sperrgebiet wohnen und dort ihre Praxis ausüben. Gewiß sind auch andere Erleichterungen in diesem Gebiet einschließlich des 10-km-Streifens unmittelbar entlang der Zonengrenze geschaffen worden, die dankbar anerkannt werden sollen. Aber Gaststätten. Kinos und Pensionen, die sich in diesem Schutzstreifen befinden, sind dabei ausgeschlossen geblieben. Man kann immer nur wieder fragen: Warum das, warum ist man nicht bereit, den Eisernen Vorhang ganz nach oben zu ziehen?
Ein Wort zur kirchenpolitischen Lage. Mit großer Besorgnis und Trauer haben wir die eindeutigen Bestrebungen verfolgt, auch die Kirchen in der Zone gleichzuschalten, die Kirchen, die bisher auf Grund der Verfassung der sogenannten DDR das verbriefte Recht besaßen, „zu den Lebensfragen des Volkes von ihrem Standpunkt aus Stellung zu nehmen". Offenbar soil der einzige geistige Gegenspieler des Regimes des Kommunismus auch noch stumm gemacht werden. Seit vier Jahren stehen die Kirchen in einem anhaltenden Abwehrkampf gegen die mit den verschiedensten Mitteln geführten Versuche von Partei und Regierung, ihre Wirksamkeit einzuschränken und ihren Einfluß zu unterdrücken. Warum sind heute noch Mitarbeiter der evangelischen Bahnhofsmission eingesperrt? Sie taten doch wirklich nichts weiter, als eine soziale, eine segensreiche Tätigkeit auszuüben. Ich will anerkennen, daß seitens der sowjetzonalen Behörden dem Evangelischen Kirchentag 1956 in Frankfurt am Main keine Schwierigkeiten im Hinblick auf die Beschickung mit sowjetzonalen Deutschen bereitet worden sind. Ich will das dankbar anerkennen.
Wenn diese Debatte den Erfolg hat, einen wesentlichen innerdeutschen Beitrag zur Wiedervereinigung geleistet zu haben, sind wird glücklich.
Die Bundesregierung ist im Rahmen der ihr gesetzten Möglichkeiten den Beitrag hierfür nicht schuldig geblieben. Die Männer von Pankow sollen jetzt Farbe bekennen, in welchem Umfang sie bereit und in der Lage sind, Worten ihrer Propaganda auch Taten folgen zu lassen. Hier kann es kein Ausweichen geben. Das wollen nicht nur wir, sondern das wollen besonders die Deutschen in der Zone wissen.
Meine Damen und Herren, ich habe nunmehr namens meiner Fraktion zu dem Antrag der Fraktion der SPD Umdruck 608 *) folgende Erklärung abzugeben. Die Fraktion der CDU/CSU ist fest entschlossen, alle Maßnahmen zu unterstützen, die den Zusammenhalt des deutschen Volkes festigen, die Lage der Deutschen in der sogenannten DDR erleichtern und den Weg zu einer Wiedervereinigung in Frieden und Freiheit bahnen helfen. Sie ist aber ebenso fest entschlossen, allen Versuchen zu widerstehen, die gegenwärtig amtierenden Machthaber in Pankow durch ein ständig wachsendes Netz amtlicher Beziehungen und Verflechtungen anzuerkennen. Wir dürfen nicht zulassen, daß die im Interesse der deutschen Bevölkerung notwendigen verwaltungsmäßigen und technischen Beziehungen für die politischen Zwecke der sogenannten DDR mißbraucht werden. Der Weg zur Wiedervereinigung in Frieden und Freiheit führt nicht über Pankow. Die gegenwärtige sowjetrussische Politik versucht uns dies zwar einzureden. Um so wichtiger ist es, daß alle Parteien des Deutschen Bundestages solche Tendenzen klar und entschieden ablehnen und sich auf keine Politik einlassen, die praktisch den Zielen der Machthaber in Pankow dienen könnte. Wir haben aus diesen Gründen gegen einige Punkte des sozialdemokratischen Antrages Umdruck 608 schwere Bedenken. Um aber den erst heute vorgelegten umfangreichen Antrag mit der gebotenen Sorgfalt behandeln zu können, stimmt die Fraktion der CDU/CSU mit den eben formulierten Vorbehalten der Überweisung an den Ausschuß für Gesamtdeutsche und Berliner Fragen und an den Ausschuß für auswärtige Angelegenheiten zu.
Das Wort hat der Abgeordnete Wehner.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die sozialdemokratische Fraktion ist bei der Ausarbeitung der Einbringung und der Behandlung dieser Großen Anfrage, die ja eine Gemeinschaftssache ist, von der Auffassung ausgegangen, daß es sich dabei um einen Versuch handeln soll, zu erkunden, wie weit in der gegenwärtigen Lage in der Klärung und in der Bereinigung einiger Fragen zu gelangen ist, die zu den Folgen der Spaltung unseres Landes gehören. Wir sind also nicht der Auffassung, daß bei dieser Anfrage der Versuch im Spiele ist, irgendeine Seite in eine Art von Anklagezustand zu versetzen, sondern wir möchten, daß man sich in dieser freimütigen Aussprache im Haus und auch außerhalb dieses Hauses, auf dieser Seite der Zonengrenze wie auch auf der anderen Seite der Zonengrenze, mit Hilfe der Aussprache, die wir hier pflegen können, klar wird, was unsere Meinung hinsichtlich dessen ist, was zur Zeit noch auf unser Land drückt, und wie man anfangen kann, es zu ändern. Wir sind dabei — das haben ja auch schon andere hier gesagt - der
Siehe Anlage 2.
Meinung, daß jede Gelegenheit ergriffen werden sollte, die Spannungen in Deutschland zu vermindern, und daß dabei — und davon gehen wir ja aus — unglücklichen Menschen, die unter den Spannungen und der Spaltung leiden, geholfen werden muß.
Insofern, als wir die Spannungen in Deutschland mildern oder zu vermindern suchen, leisten wir ja eigentlich auch einen Beitrag zu dem, was heute bei der Begründung der Großen Anfrage mein Kollege Brandt mit der Weltpolitik hat sagen wollen. Ich bin im Unterschied zu ihm der Auffassung, daß in dem, was wir mit dieser Anfrage beginnen und weitertreiben wollen, ein ganz guter und unserer Lage gemäßer Beitrag zu dem, was man die Weltpolitik nennt, liegen mag und liegen soll. Ich möchte diesen Akzent auch so setzen. Das ist die Art, in der wir versuchen, ein Wort, das seit einiger Zeit über dem gespaltenen Deutschland geistert, das Wort von der Annäherung der Teile Deutschlands aneinander, mit einem Inhalt zu füllen, von dem wir meinen, er lasse sich vertreten.
Wir sind für die Annäherung der Teile Deutschlands aneinander. Wir wollen dazu den uns zukommenden Beitrag leisten. Es ist also nicht so, wie es in der sowjetzonalen Volkskammer bei einer Klassifizierung der Fragen, die in der Großen Anfrage enthalten sind, gesagt worden ist, als ob einige der Fragen nach Provokation röchen, während andere Fragen als der Versuch einer Irreführung bezeichnet werden müßten. So ist es nicht. Es ist auch nicht so, daß es sich hier, wie man uns auch vorwirft, um ein Ausweichen in Neben- oder Einzelfragen handle, weil man zur Zeit auf dem „Hauptkriegsschauplatz" nichts Rechtes zu tun wisse. Nun, mag es sich um Einzelfragen oder Nebenfragen handeln, die manche ganz große Politiker kaum interessieren können — was ich verstehen kann bei der Größe ihrer Politik! —, aber von dem Geiste, in dem man solche Einzelfragen und solche Nebenfragen zu lösen versucht, hängt es doch entscheidend ab, wie wir das Verhältnis der Teile Deutschlands zueinander im Positiven ändern können. Mit der Behandlung solcher Fragen sollen Wege für weitere Schritte und Möglichkeiten geebnet werden.
Wir haben uns nun an erster Stelle — dazu will ich auch noch einiges sagen — der Gefangenen mit einer Reihe von Fragen anzunehmen versucht, von denen ich noch einmal sagen möchte: soweit es meine Fraktion betrifft, bleiben wir bei der Intention, hier eine ernsthafte Bestandsaufnahme beginnen zu wollen. Und weshalb wollen wir an erster Stelle die Gefangenen und ihre Lage und die Möglichkeiten, ihr Los zu ändern, behandelt wissen? Weil wir der Meinung sind: es ist an der Zeit, hier endlich einen Strich unter das Vergangene zu ziehen.
Ailes andere, was gesagt werden mag über Rechtsstaatlichkeit hier und Unrechtsstaatlichkeit dort, in Ehren; aber es ist an der Zeit, einen Strich unter das Vergangene zu ziehen. Das ist das einzige, was uns dabei bewegen kann. Wer dabei, gleichgültig, welcher politischen Ansicht er ist, gleichgültig, auf welcher Seite der Zonengrenze er steht und etwas zu sagen hat, helfen will, der soll es tun, und in dieser Frage ist uns das willkommen. Wenn, wie es in der sowjetzonalen Volkskammer gesagt worden ist, der Teil Deutschlands, der sich DDR nennt,
fest im Leben steht - ich nehme diesen Begriff wörtlich —, dann muß man doch die Frage stellen: Warum dann diese Härte gegen die Gefangenen, warum dann, wenn man fest im Leben steht, diese Abneigung dagegen, den Strich nun wirklich zu ziehen?
Der erste Sekretär der Kommunistischen Partei der Sowjetunion, die dort Regierungspartei und alleinige Partei ist, hat immerhin auf dem hier verschiedentlich apostrophierten XX. Parteitag jener Partei erklärt: Das Zentralkomitee mußte in der zurückliegenden Periode Maßnahmen ergreifen, um der Gerechtigkeit Geltung zu verschaffen. Das war ein lapidarer und aufschlußreicher Satz, über den ich nicht lächeln kann, weil ich weiß — zum Teil aus eigener Erfahrung —, welche Unsumme menschlichen Leids dahintersteckt, was damit zum Teil ausgeräumt werden soll, zum großen Teil nicht mehr ausgeräumt werden kann, weil die Betroffenen in dieser Zeit, in der die Gerechtigkeit keine Geltung hatte, zugrunde gegangen sind. Aber keiner der leitenden Männer oder Frauen in der Sozialistischen Einheitspartei, der stärksten unter den Regierungsparteien jenseits der Zonengrenze, hat bisher ähnliche Worte gefunden wie diesen Satz: Es mußten Maßnahmen ergriffen werden, um der Gerechtigkeit wieder Geltung zu verschaffen. Das Gegenteil ist leider noch festzustellen. ich hoffe, daß das ein Prozeß ist. Man versucht zu bagatellisieren. Man sagt z. B.: Wir brauchen nicht so wie in einigen anderen Ländern Osteuropas zu rehabilitieren, denn wir - so sagen sie jetzt auf der anderen Seite der Zonengrenze — haben keinen Raijk-Prozeß wie in Ungarn und keinen Slansky-Prozeß wie in der Tschechoslowakei gehabt. Aber es ist nicht ausgelöscht, daß jenseits der Zonengrenze im Jahre 1950 in einer umfangreichen Erklärung, die ein Beschluß der führenden Körperschaften dort war, behauptet wurde: die und die und die namentlich Genannten und zahlreiche andere nicht Genannte, von denen man nur ahnen kann, daß es viele waren, werden beschuldigt, mit amerikanischen Spionagezentren, mit Noel Field und mit anderen zusammen konspiriert zu haben. Hier war die Verbindung zu jenen Prozessen oder Untersuchungen gegeben, die um jene Zeit stattfanden, und dann kamen in Ungarn und in der Tschechoslowakei Raijk, Slansky und andere. Es wurden doch aus diesen Prozessen von denen, die in Deutschland jenseits der Zonengrenze regieren, Schlußfolgerungen gezogen. Diese Schlußfolgerungen bestanden in Verhaftungen und in Verurteilungen, auch wenn man dort keinen öffentlichen Prozeß gemacht hat; man hat zwar eine ganze Zeit daran herumgedacht, ob man nicht vielleicht auch drüben im deutschen Teil des Sowjetblocks einen solchen Prozeß, wie man ihn in Ungarn und in der Tschechoslowakei machte, machen sollte.
Wir haben übrigens in diesem Haus, d. h. im Vorgänger des 2. Bundestages, im 1. Bundestag, einen Kollegen gehabt, der diesen Prozessen zum Opfer gefallen ist. Das war der damalige stellvertretende Vorsitzende der kommunistischen Partei und Fraktion hier im Hause, der kürzlich amnestierte ehemalige Bundestagsabgeordnete Kurt Müller, ein Mann, der unter Hitler immerhin elf Jahre gesessen hat, weil er kein Nationalsozialist war, und der dann wieder unter Stalin sechs Jahre gesessen hat: zusammen 17 Jahre. Das ist ein einziger Fall. Ich greife ihn auf, weil jedenfalls manche von denen, die jetzt hier sitzen, den Mann noch kennen und weil das ein Fall ist, der unstreitig zu den Auswirkungen dieser Seuche um die Prozesse Raijk, Slansky usw. gehört, von denen man heute nichts wissen möchte. Man möchte heute noch schweigend und etwas billig von einer Reihe der Fragen davonkommen.
Das Ganze wird nicht dadurch erleichtert — erlauben Sie mir, diese Bemerkung hier zu machen —, daß auch bei uns, auf dieser Seite der Zonengrenze, nur ausnahmsweise einmal Menschen angetroffen werden, die wirklich brennen, wenn es um die Notwendigkeit geht, Menschen auf der andern Seite der Zonengrenze zu helfen. Ich will damit niemandem zu nahe treten; aber ich habe das Empfinden: so ist es leider, wie ziehen uns hinter unsere Gesetze zurück — sie sind fast alle vortrefflich —, wir haben das, was es auf dem Gebiete des Humanitären zu ordnen gibt, meist in Organisationen geregelt; und wehe dem, der nicht zu einer solchen Organisation, der nicht zu der entsprechenden Organisation gehört!
Das sage ich hier, weil wir ein frei gewähltes Parlament sind, und das sage ich auch im Blick auf den für die Behandlung jener aus der Hölle entronnenen zuständigen Minister, der hier auf der Bank sitzt, weil ich das Gefühl habe: auch da brennt es nicht, wenn es um das Heilen der Wunden geht, die dort drüben geschlagen worden sind.
- Bitte?
Man sollte heute, meine verehrten Damen und Herren, auf beiden Seiten der Zonengrenze die Opfer des Kalten Krieges begnadigen. Ich sage das mit aller Deutlichkeit. Man sollte diesen Schritt tun. Man sollte großherzig sein. Man sollte damit den Versuch zu einem neuen Anfang machen. In der sowjetzonalen Volkskammer ist versucht worden aufzurechnen, und hier hat der Herr Bundesminister bei der Beantwortung der Anfrage einiges zu einer falschen Parallelität gesagt. Er hat ausdrücklich erklärt, man könne die Verurteilungen jenseits der Zonengrenze nicht mit denen diesseits in irgendeinen Vergleich stellen. Ich möchte mich und uns ja auch aus dieser Lage herausbringen, daß wir bei der Behandlung dieses schwierigen Problems zu einem solchen Vergleich gedrängt werden. Deswegen sollte man auf beiden Seiten der Zonengrenze die Opfer des Kalten Krieges begnadigen. Denn wenn man rechnen wollte, nun, dann könnte man auch dem Herrn Grotewohl nachrechnen, wieviel von denen, die auf dieser Seite wegen politischer Straftaten verurteilt warden sind, nachweislich — ich spreche nur von denen, bei denen es nachweislich ist — sehr gelenkt gehandelt haben und sehr bewußt Zersetzungsarbeit in demokratischen Organisationen geleistet haben. Wenn wir anfangen wollen aufzurechnen, nun, dann sind wir an einem Punkt. den wir schon oft berührt haben und von dem, wenn man an ihm stehenbleibt, nicht zu hoffen ist, daß er ein Punkt ist, von dem aus man weiterkommen kann.
Wenn es so möglich wäre, dann sollte man auch sofort die Behandlung der noch Inhaftierten
humanitär gestalten. Noch ein Wort dazu. Das ist wichtig genug, wenn es um Menschen geht. Wer einmal als Gefangener in einem Gefängnis oder Zuchthaus oder Konzentrationslager gelebt hat, für den ist das eine Sache, die ihn nicht zur Ruhe kommen läßt, wenn er an Gefangene dieser Art denkt.
Man sollte es nicht bei den Bekenntnissen bewenden lassen, so wichtig die auch sind; ich will sie nicht herabzusetzen oder zu verkleinern suchen. Man sollte das, was man tut, und auch das, was man zu tun gedenkt, auch unter dem Gesichtspunkt der Notwendigkeit der Bereinigung dieses Kapitels diesseits und jenseits der Zonengrenze tun. So sollte man aufhören, z. B. durch aufreizende Erklärungen neue Reaktionen bei denen drüben an Stellen herauszufordern, an denen sie dies auf Kosten von Menschen tun, die in ihrer Gewalt sind. Wer z. B. in der politischen Polemik mit seinem ganzen Gewicht so, wie es leider geschehen ist, von den „Todfeinden" spricht, die die anderen seien, der verbessert diese Lage nicht.
Ich meine also, wir müssen unablässig nach Wegen suchen, um Erleichterungen zu schaffen, und sollten keine Mühe scheuen. Ich meine das ganz wörtlich.
Wenn man sich mit der Lage derer, die auf der andern Seite der Zonengrenze jetzt noch in Strafanstalten sitzen, befaßt, dann kommt man zu Feststellungen, die einen immer wieder nachzugrübeln veranlassen, was wir denn wohl tun könnten, um
1 über das Feststellen des Schrecklichen hinaus zu Änderungen zu kommen. Hier ist schon von einigen der Verschlechterungen gesprochen worden, die leider in der letzten Zeit im Strafvollzug jenseits der Zonengrenze Platz gegriffen haben und Auswirkungen auf die leidenden Menschen haben. Wenn es sich nur darum handelte, daß die Leute, die jenseits der Zonengrenze von den dortigen Behörden ergriffen und dann auf den dort üblichen Wegen der Verurteilung zugeführt und zur Verbüßung dieser Strafen in Haftanstalten eingeliefert worden sind, bestraft werden sollen, so wäre das eine Sache, über die schon genug zu reden wäre. Daß sie aber unter Bedingungen bestraft werden, die die Gefahr überhängend machen, daß viele von ihnen diese Strafe nicht überleben — und das in einer Zeit, in der allgemein vom Auftauen der Blöcke und von Änderungen im Verhältnis der Mächte, der Staaten, der Systeme zueinander gesprochen wird —, das ist etwas, worüber man nicht nur nicht schweigen darf, sondern was uns eben auch veranlaßt, immer wieder zu drükken: wie können wir, und sei es auch auf außergewöhnliche Weise, diesen Menschen aus dieser schrecklichen Lage helfen, aus einer Lage, von der manche sich schon ausrechnen, daß sie sie nicht länger überstehen können, und ihren Angehörigen durch die Blume — ein schlechtes Wort, aber durch die Blume in der Sklavensprache — beim Besuch sagen, daß sie in einigen Monaten „fertig" sein werden? Wo gibt es einen Grund für eine solche Behandlung von Menschen durch ein Regime, das dieser Tage selbst gesagt hat, es stehe fest im Leben? Wozu hat es das nötig, Menschen, die aus umstrittenen Gründen — aus in der ganzen Welt und auch in Deutschland umstrittenen
Gründen — in seiner Gewalt sind, in dieser Weise zu behandeln?
Es ist vom Gesundheitlichen her unmöglich, so zu verfahren wie dort, wo siebzehn und mehr Menschen in für drei bestimmten Zellen liegen. Es ist unmöglich, mit einer harten Dreischichtenarbeit in den Strafanstalten z. B. für Frauen fortzufahren, wenn die Grundlage einer auch nur einigermaßen für Schichtarbeiter ausreichenden Ernährung fehlt. Wer schon einmal in diesem fürchterlichen Turnus war, wer schon einmal in einem Betrieb, vielleicht sogar einem gesundheitsschädlichen, Schichtarbeit hat machen müssen, wird nachfühlen, wie schrecklich es erst sein muß, wenn man das als Gefangener ertragen muß, als Gefangener ohne auch nur annähernd ausreichende Ernährung und ausreichende Wäsche und ohne die Möglichkeit, die karge Freizeit, die bei solcher Schichtarbeit bleibt, zu nutzen. Wie schrecklich das insbesondere für Frauen sein muß! Es betrifft ja große Frauenstrafanstalten. Das ist es, was wir nicht als Einzelfrage oder als irgendeine Nebenfrage betrachten können: die Tatsache, daß wir Menschen vor uns sehen — ich sehe solche: eine Frau, die mit ihrer Rente, die sie dort erhält, drei aus derselben Familie unterhalten und aufrechterhalten muß durch Zuspruch in der Sklavensprache bei den vierteljährlichen Besuchen. Bloß weil sie Sozialdemokraten sind, werden sie eben dort noch daringehalten und sind sie auch jetzt noch nicht herausgekommen; drei aus derselben Familie.
— Ich spreche jetzt, sehr verehrter Herr Dr. Rinke, der Sie darüber lächeln, von einem Fall, der mir vor Augen steht; ich glaube, Ihnen stehen auch Fälle aus Ihrem Kreise vor Augen. Wenn ich diesen mir bekannten Fall apostrophiere, so trete ich doch nicht Ihnen oder anderen zu nahe, sondern ich spreche nur davon, warum diese z. B. noch darinsitzen, und Sie werden sagen können, warum andere noch darinsitzen. Das wird genau so schrecklich sein; da nehmen wir uns doch wohl hoffentlich gegenseitig nichts, wenn dabei auch einmal das Wort „Sozialdemokraten" fällt.
Die Lage der Gefangenen läßt uns nicht zur Ruhe kommen, und ganz bitter ist mir die Nacht geworden, als ich in einem letzten Brief las, wie einer, der solchen Stimmungen bei einem Besuch wieder ausgesetzt war, schrieb: „Ja, wie kommt es, daß der frühere hohe SS-Führer Soundso" — ich verzichte auf Namensnennung — „nun unter den Amnestierten und Freigelassenen ist? Aber vielleicht haben die" — so räsonierte der kleine Mann — „im Zuchthaus andere Fürsprecher als wir armen kleinen Sozialisten."
Die Krankheit greift in den Strafvollzugsanstalten infolge ungenügender Ernährung, harter Arbeit und einer brutalen Behandlung in einer Weise um sich, daß es zu einer Gefahr wird. Ich darf ein paar Zeilen aus einem Brief zitieren, der für viele spricht — aus der Summe solcher Eingaben und Briefe und mir zugeleiteter Unterlagen weiß ich genug davon —:
Ihr Bruder, mit dem ich manchen Tag gemeinsames Leid erdulden mußte, hat mich gebeten, Ihnen herzliche Grüße zu bestellen und Sie zu bitten, alles, was nur möglich ist, zu tun, damit er und die anderen zurückgebliebenen Kameraden auch bald frei werden. Er selbst wurde am letzten Mittwoch umgestuft auf die und die Abteilung; das heißt, daß er jetzt keine Tuberkulosenverpflegung mehr erhält und außerdem vom Bezug von HO-Waren ausgeschlossen ist. Das letzte trifft ja seit über vier Wochen für alle nicht arbeitenden Gefangenen zu.
Was das für einen Tuberkulosekranken in Bautzen bedeutet, kann sich jeder ausrechnen. Mit Kohlrüben und Graupen und wenig frischer Luft kann man höchstens Tuberkulose züchten!
Das ist nicht der einzige Fall; das ist die Gefahr, in der heute die, die noch in Bautzen und in den anderen Strafanstalten sind, schweben, und deswegen greifen wir das auf. Deswegen, verehrte Frau Dr. Weber, die Sie vorhin ungehalten darüber waren, daß ich als einer der frei gewählten Abgeordneten dieses Hauses bei dieser Gelegenheit auch einmal ein Wort zu einem unserer Minister sage, möchte ich betonen: Menschen, die dem entronnen sind, indem sie endlich amnestiert worden sind, verdienen unsere ganze Fürsorge.
— Darüber bin ich sehr froh. Ich wollte gerade diese Einigkeit haben, damit der zuständige Minister sie noch einmal kennenlernt; denn in der Behandlung dieser Menschen gibt es den Ausdruck dieser Einigkeit, in Zahlen, in Beträgen ausgedrückt, leider noch nicht.
Ein Mann, der mir schreibt, ist als „Schumacherling" verurteilt worden und als einer von denen, die 1954 amnestiert worden sind, aus der Zone hergekommen. Die fünf Jahre, die er unter schweren Bedingungen nachweisbar gesessen hat, sind nichts. Warum? Weil er zu den Menschen gehört, die sich umsehen und sich Arbeit besorgen. Sein Lohn als Arbeiter liegt ganz knapp über der Grenze, die für Unterstützungen festgesetzt worden ist, und deshalb kann er keine Entschädigung für die fünf Jahre Hölle bekommen. Sehen Sie, das sind Fragen, in denen es ganz ans Menschliche geht!
Da müßte man wirklich großherzig sein, was man nicht ist. Entschuldigen Sie, daß ich diese Berner-kung an dieser Stelle einmal mache. Ich möchte nach der anderen Seite ebenso sagen: Auch Menschen, die in einem der Teile Deutschlands gegen das Gesetz gefehlt haben, müssen als Menschen behandelt werden.
Ich habe gerade gezeigt, wie es auf der anderen Seite der Zonengrenze mit dem Hunger, mit der Schichtarbeit steht bis hinein in diese letzte Drangsal, daß der Angehörige, wie das auch aus der Antwort der Bundesregierung hervorgegangen ist, aus der Freiheit nur einmal in soundso viel Wochen einen 20 Zeilen langen Brief schicken kann. Das ist eine schreckliche Schikane. Wer gesessen hat, weiß, wie schlimm es ist, daß man nur selten schreiben darf, und welcher Trost es ist, daß man wenigstens Briefe bekommen darf. Um so schlimmer ist es, daß der Gefangene nur dieselbe Zeilenzahl bekommen darf, die er in vielen Wochen und Monaten einmal schreiben darf.
Nun sagt man — und dazu muß man noch etwas bemerken —, die Leute säßen in der Regel wegen konkreter Vergehen in bezug auf Spionage, Sabotage, und wie diese Nachkriegskrankheiten alle heißen. Die Fraktion, für die ich spreche, ist gegen Spionage- und Sabotage-Zentralen und -Organisationen auf deutschem Boden. Wir wissen, wie schwer nach diesem Krieg die Entwirrung der mit dem Krieg heraufgekommenen Verhältnisse auf diesen Gebieten ist. Wir möchten aber bei dieser Gelegenheit noch einmal sagen: Dieses gespaltene Land und auch seine gespaltene eigentliche Hauptstadt dürfte, wenn die anderen ein Gewissen hätten und wenn sie politische Vernunft hätten, kein Übungsfeld für Geheimdienste sein,
und bei uns Deutschen muß man allmählich die Einstellung schaffen, daß wir uns dazu nicht hergeben dürfen.
Dafür gibt es Grenzen, auch für das, was man tun muß. Wenn andere behaupten, man müsse es tun, gibt es eine staatsbürgerliche Norm, über die niemand hinausgedrängt werden darf und sich hinausdrängen lassen muß.
Aber die Regierung des Teiles Deutschlands jenseits der Zonengrenze, der sich DDR nennt, bezeichnet als „Spionage" und „Sabotage" auch solche Tätigkeiten — oder sogar Nichttätigkeiten; es kommt darauf an —, die im Grunde genommen nur die Folgen der in ihrem Bereich vorhandenen Knebelung politischer Freiheiten sind.
Dagegen muß man sich wehren, und wir wehren uns mit aller Entschiedenheit.
Hier wäre der Punkt, an dem man endlich den Strich ziehen sollte, indem man die Opfer des Kalten Krieges begnadigt und sagt: sie sind Opfer eines Kalten Krieges, Opfer von Umständen, die zum Teil stärker waren als sie. Noch manches andere steckt darin, aber auch dies. Wenn man sich dazu entschließen kann, ist es leichter, auch diesem heiklen Kapitel endlich zu Leibe zu rücken.
Ich möchte einige Bemerkungen zu dem Teil der Ausführungen des Herrn Ministers machen, in dem er den zweiten Komplex der Großen Anfrage beantwortet hat. Diese Antwort auf den Fragenkomplex über das, was zur Zeit ist und was noch getan werden muß in bezug auf den Verkehr über die Zonengrenze und über die Minderung und Milderung der Auswirkungen der Zonengrenze, war trotz der Ausführlichkeit und erfreulichen Übersichtlichkeit in der Zusammenstellung von Angaben über die tatsächlichen Zustände sachlich eigentlich ein magerer Teil. Es wirkt so — sicher
ist das nicht beabsichtigt, aber es wirkt so —, als sollte mit dieser Aufzählung, die an sich gut ist, da sie die Vielschichtigkeit der ganzen Probleme und Aufgaben zeigt, so etwas selbstgerecht gesagt werden: Auf unserer Seite ist eigentlich alles Erforderliche getan. Das trifft nicht ganz zu. Das mag im Technischen, von der Regierung aus gesehen, in den Hauptgebieten der Fall sein. Wenn Sie aber dann ins Leben steigen und die Praxis der Behandlung der Menschen, die von drüben nach hüben zu Besuch kommen und nach dem Ablauf ihrer Aufenthaltszeit wieder zurückmüssen, die Schwierigkeiten der Rückfahrgeldbeschaffung prüfen, sehen Sie, daß selbst in der vortrefflichsten Administration, die wir offenbar haben, weil bei uns solche Dinge besonders genau durchgefeilt sind, ziemlich viel Ecken für diese Leute stecken, an denen sie sich hart stoßen. Warum muß z. B. ein Familienvater, der hier mit seinen drei Kindern bei seinen Eltern zu Besuch ist, wenn er zurückwill, unbedingt die Bedingungen erfüllen, die eigentlich die Regierung jenseits der Zonengrenze gestellt hat, nämlich daß er an dem und dem Tag zurücksein muß? Wenn er nun wegen eines Feiertags die Frist um einen Tag überschritten und die Hilfe für die Rückfahrgelder von unseren übereifrigen Behörden nicht bekommen hat, weil diese sagen: Du hast deinen Rückreisetermin schon überschritten, so muß ich sagen, das sollte man die Sorge der anderen Seite sein lassen und man sollte sie nicht auch noch in dieser Beziehung unterstützen.
Ich denke auch an jenen Schwerkriegsbeschädigten, der zwar drüben ein Anrecht auf die und die Vergünstigungen hat, auch der Rückfahrkarte, der sich aber hier erst einem Papierkrieg und Schlimmerem unterwerfen muß.
Ich rede nur über geprüfte Fälle und über solche, in denen ich Gelegenheit hatte, den Standpunkt der Regierung und ihrer beteiligten Stellen bis zu Ende auszuloten, so daß man nicht sagen kann: Das ist ein irgendwie besonderer, ein nicht typischer Fall. Wir haben da vieles zu ändern. Deswegen meine ich, in die Behandlung dieser Frage müßte etwas mehr Wärme hinein und etwas weniger von der Selbstgerechtigkeit, die wir dabei doch zutage legen.
Nun zu dem Punkt, mit dem der Herr Minister die Behandlung dieses Teils der Fragen schloß. Er bezog sich dabei auf die Viermächte-Außenministerkonferenz in Paris des Jahres 1949. Hut ab davor, daß man sich dieser Konferenz noch erinnert und daß man noch genau nachgeforscht und festgestellt hat, daß damals über die Beiziehung deutscher Sachverständiger ein interessanter Beschluß gefaßt worden ist, ein Beschluß, der seinerzeit — ich erinnere mich dessen noch, es war ja vor der eigentlichen Konstituierung der Bundesrepublik — ziemliches Kopfzerbrechen darüber verursacht hat, ob man dem zustimmen konnte. Jetzt nach sieben Jahren — sieben Jahren! — holen wir es heraus. Also doch eine Chance, daß selbst. vergangene Konferenzen nicht ganz umsonst gewesen sind!
Aber ist das der Lage gemäß, Herr Minister und meine Herren von der Bundesregierung? Inzwischen haben sich ja beide Teile Deutschlands in Souveränität gehüllt. Inzwischen waren zwei weitere Viermächte-Außenministerkonferenzen, auf denen zumindest der eine Teil — und in gewisser Weise auch der andere Teil — sich gegen die logische Weiterentwicklung der Pariser Anregungen und Beschlüsse über eine Arbeit zur Verminderung der Auswirkungen der Spaltung durch Beiziehung deutscher Vertreter gewandt hat. Die Sozialdemokratische Partei, für die zu sprechen ich die Ehre habe, hatte für die Genfer Konferenz Vorschläge in dieser Richtung gemacht. Die Bundesregierung hat diese Vorschläge, die eine zeitgemäße Entwicklung dessen, was auf der Pariser Außenministerkonferenz noch vor der eigentlichen Konstituierung der Bundesrepublik geschehen war, enthielten, damals vorgelegt. Sicher, man muß heute die Genfer Vorschläge schon wieder abwandeln. Der Schnee vom vorigen Winter ist so interessant nicht mehr für das, was wir nun weiter tun müssen.
Man kann jedenfalls auf diesem Gebiet, das ein schwieriges Gebiet ist, keine Politik und keine Praxis des Wartenlassens und des Anstehenlassens sieben Jahre — sieben Jahre! — pflegen. Man müßte z. B. über eine Sache nachdenken, die in dem Komplex von Auffassungen, der zu diesen Fragen bei den Regierungsparteien vorzuherrschen scheint, eine beträchtliche Rolle spielt. Ich meine den Umstand, daß, wenn man — bleiben wir einmal bei dem Terminus „technische Abkommen" — technische Abkommen zwischen beiden deutschen Seiten auf Ebenen schließt, wie sie nun eben gerade erreichbar sind, in der Regel — so wurde gesagt — die andere Seite nur solche Abkommen zu schließen bereit sei, aus denen sie Vorteile habe. Es klingt mir noch in den Ohren aus der Zeit nach der Genfer Konferenz, daß man überhaupt annehmen müsse, jene Seite schließe nur Abkommen, die für sie vorteilhaft seien. Können wir nicht einmal versuchen, uns davon zu befreien? Denn wenn wir daran festhalten, weil wir eine bestimmte Auffassung vom Charakter des Regimes der anderen Seite haben, sind wir in einem unheilvollen Zirkel, aus dem es überhaupt keinen Weg nach draußen gibt.
— Das, sehr verehrter Herr Kiesinger, sollten Sie mich wohl nicht fragen. Wir haben so oft die Klingen gekreuzt, und unsere, die sozialdemokratischen Vorstellungen über den Charakter des Regimes drüben sind nie verborgen geblieben. Hier geht es aber um die Frage, wie man dazu beitragen kann, das Regime mit diesem Charakter — vielleicht in einem Prozeß gewisser Wandlungen begriffen —zu Zugeständnissen oder, wenn Sie wollen, zum Nachgeben und zu gewissen Abkommen zu drängen, die den Menschen unter diesem Regime helfen können.
Nur darum geht es.
Ich glaube, jenen Komplex muß man auszuräumen versuchen. Wir müssen die Auseinandersetzungen aufnehmen. Wenn Sie gestern zwei Meldungen — ich habe sie hier in der dpa-Fassung — über gewisse Möglichkeiten an der Zonengrenze in der Helmstedter Gegend gelesen haben, wo man Dinge, die man jahrelang unter dem Zeichen des Kalten Krieges nicht gemacht hat und sich auch
nicht zu machen traute, nun macht, nämlich Stücke Landes, die bisher brach lagen, wieder bebaut, weil die örtlichen Stellen dazu übergegangen sind, das nun für möglich zu halten; wenn Sie weiter Fragen — die dort sehr wichtig sind — der Wasser- und Flußregulierung oder jetzt auch die andere Meldung über die Regulierung des Vorgangs mit den Schiffspermits, d. h. den Zulassungsscheinen für die Binnenschiffahrt im Verkehr zwischen hier und Berlin und dem Gebiet in der Zone, nehmen, — so sind das einige Anzeichen, die Regel werden sollten. Damit lösen wir andere politische Fragen noch keineswegs; aber wenn wir das zur Regel werden lassen, schaffen wir vielleicht eine A t m o s p h ä r e, in der sich anderes leichter lösen läßt. Wir können uns doch wohl — dürfen wir in diesem Punkt wenigstens einig sein — bei einer solchen Auseinandersetzung in konkreten Fragen und bei einer solchen notwendigen Berührung in der Frage technischer Abkommen auf eines verlassen: auf die demokratische Festigkeit dieses Teiles der deutschen Bevölkerung und ihrer Parteien und auf unsere wirtschaftliche Leistungsfähigkeit! Wovor also haben wir bei solchen Notwendigkeiten Angst, wovor?
Nun hat man in der Antwort der Regierung — und der Herr Minister hat es auch besonders im Tonfall unterstrichen — gesagt, daß man über eine bestimmte Grenze der Kontakte nicht hinausgehen könne. Das ist die bekannte Auffassung der Regierung; sie hat sich in diesem Punkte nicht geändert. Das ist nach der Darstellung aus dem Jahre 1949 als Schlußfolgerung geschrieben worden, weil man die Vertreter der anderen Seite nicht als legitime Vertreter der deutschen Bevölkerung ansehen kann.
Es ist gar kein Zweifel, daß das so ist, daß es nicht die legitimen Vertreter in unserem Sinne sind. Das haben andere hier auch schon gesagt. Aber eine Frage läßt mich doch nicht ruhen: Haben Sie unter den Beziehungen verschiedener Art, die Sie haben, und, wenn wir so wollen, haben wir als Bundesrepublik unter den Beziehungen verschiedener Art, die wir haben, nur solche Beziehungen, von denen wir sagen können, die andere Seite ist demokratisch legitimiert als Vertreter ihrer Bevölkerung?
Nun, die Frage hat auch eine Seite, auf die ich selbst sofort eingehen will. Es wird mir vielleicht geantwortet, daß es sich in diesen Fällen, die ich nun apostrophieren möchte, um fremde Staaten handele
— ja, ja, ich komme selbst darauf — und daß das ein Unterschied in diesem schwierigen Kapitel der innerdeutschen Regelungen und Beziehungen sei. Ich sage ausdrücklich: auch ich meine, daß ein Unterschied besteht. Dieser Unterschied sollte dann aber nicht gegenüber den Ostblockstaaten bestehen, wenn man auch sonst, weil es sich um fremde Staaten handelt, die Legitimation, die eigentliche, uns gemäße demokratische Legitimation nicht als Kriterium Nr. 1 zur Verhinderung solcher Beziehungen betrachtet.
Bezüglich des Teiles Deutschlands, der sich „DDR" nennen läßt, bin ich der Meinung: Hier ist es noch notwendiger, alle erdenklichen Versuche zu machen, weil der eigene Volksteil ja davon betroffen ist und weil wir nicht die Vertiefung der Spaltung auf unsere Verantwortung nehmen dürfen.
Dabei gibt es manches zu berücksichtigen. Mein Kollege Dr. Mommer hat in der Begründung unseres Antrages einige Dinge ganz scharf gesagt. Es kommt summa summarum darauf an, bei dem, was zu tun notwendig ist, nicht die Teilung anzuerkennen, als ob sie unabänderlich wäre. Es kommt ebenso darauf an, mit den politischen Kräften im anderen Teil des gespaltenen Landes, die doch anwesend sind, um jeden Zoll innerdeutscher Verbindung und um jeden Schritt Freizügigkeit für die Deutschen zu ringen und zu verhandeln. Es ist des Schweißes der Edlen wert, zu überlegen, wie das im einzelnen, der Situation entsprechend und der Situation entsprechend sich wandelnd, zu geschehen hat.
Dabei muß man — da sind wir wahrscheinlich einig, wenn wir sonst nicht einig sind — an den Verpflichtungen der Vier Mächte festhalten und klarstellen, daß sie den Rahmen für das, was wir als deutsche Seite tun, bilden und daß dieser Rahmen eine wirkliche Verpflichtung darstellt. Sie wurde zuletzt noch einmal von allen Vier auf der Genfer Konferenz der Regierungschefs im Sommer 1955 hervorgehoben. Ich will es hier nicht zitieren; es ist sicher den meisten Anwesenden noch im Gedächtnis.
Zur Regelung der Berliner Fragen möchte ich nur eine Bemerkung machen. Warum sollten wir nicht versuchen, eine Praxis zu finden, bei der die Regelung dieser Fragen zu einer Art Probe für den guten Willen und für die Anwendbarkeit konkreter Bemühungen um die innerdeutsche Entspannung gemacht wird? Das klingt meinetwegen sehr hochtrabend, aber wenn man es einmal im Lichte der schwankenden Ereignisse in und um Berlin prüft, dann wird man dazu kommen, daß das eigentlich die Arbeitsregel, die Arbeitshypothese sein sollte.
Damit möchte ich meine Bemerkungen schließen. Ich bin dankbar, daß die Regierung so ausführlich auf die zugegebenermaßen sehr zahlreichen Fragen geantwortet hat. Ich hoffe, daß dies ein Anfang zur weiteren Erörterung der Probleme war, aus denen heraus diese Fragen geboren worden sind.
Das Wort hat der Abgeordnete Lemmer.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Beantwortung der Fragen, die der Deutsche Bundestag an die Bundesregierung gerichtet hat, wie der bisherige Verlauf der Debatte haben gezeigt, daß in den meisten, in wesentlichen Fragen eine Übereinstimmung zwischen allen Teilen dieses Hauses besteht. An die Fragen, in denen sich keine volle Übereinstimmung gezeigt hat, an dieser Stelle und in diesem Zusammenhang eine Polemik anzuknüpfen, wäre wohl politisch nicht zweckmäßig.
Ich denke daran, daß eine nahezu verzweifelte deutsche Bevölkerung jenseits der tragischen Demarkationslinie mit neu geweckten Hoffnungen auf den Verlauf der heutigen Bundestagssitzung blickt. Das allein schon legt uns gemeinsam eine
außerordentlich schwere Verantwortung auf. Die Fragen und die Antwort haben meines Erachtens dreierlei gezeigt. Sie haben die Bereitschaft dieses Hauses und der Bundesregierung gezeigt, sich auch bis in die letzten Details hin für die Lage der mitteldeutschen Bevölkerung verantwortlich zu fühlen. Die Detaillierung der Problematik ist aus dem Grunde erfolgt, unsere Bereitschaft erkennen zu lassen, das Menschenmögliche zu tun, um die tragische Lage dieses deutschen Bevölkerungsteils zu erleichtern.
Fragestellung und Antwort sind aber auch realistisch gehalten. In diesen Impulsen für ein besseres Neben- und Zusammenleben deutscher Menschen ist keine illusionäre Politik enthalten. Zweifellos ist die Absicht, zu prüfen, was zur Erleichterung dieser Lage möglich ist, ganz illusionslos.
Der Tenor der Fragestellung und der Antwort darf als Ausdruck eines guten Willens gewürdigt werden. Wenn die andere Seite, auf die es ankommt, guten Willens sein sollte — was wir bisher nicht feststellen konnten —, dann wird sie aus der sorgsam formulierten Antwort der Bundesregierung herauslesen können, in welchem Umfang die Bundesregierung bereit ist — nicht im Interesse dieses Pseudostaates, sondern im Interesse der leidenden Bevölkerung —, ihrerseits keinen Beitrag schuldig zu bleiben.
Aber auch die Perfektionierung aller der Wünsche, Anregungen und Forderungen, wie sie in den 23 Fragen enthalten sind, würde uns nicht die Erlaubnis geben, uns in politischer Saturiertheit zur Ruhe zu begeben. Denn auch die beste Normalisierung des innerdeutschen Verkehrs und des unpolitischen Zusammenlebens deutscher Menschen kann nicht als die Lösung der deutschen Frage angesehen werden. Es gibt wohl eine Normalisierung des äußeren Lebens, es gibt aber keine Normalisierung für die Existenz unseres Volkes, ohne daß die Kluft an der Demarkationslinie bei Helmstedt und am Brandenburger Tor durch eine gesamtdeutsche Konstruktion in Freiheit überwunden worden ist.
Lassen Sie mich in dem Gesamturteil noch zum Ausdruck bringen: der ganze Jammer deutscher Wirklichkeit konnte kaum erschütternder als in diesen Fragen nach absoluten Selbstverständlichkeiten zum Ausdruck gekommen sein.
Wir meinen daher, daß es im zwölften Nachkriegsjahr auch im Wissen um unsere historische Verantwortlichkeit für das, was entstanden ist, die höchste Zeit wäre, wenn schon die Probleme der großen Politik selber im Augenblick noch nicht lösbar erscheinen, mit einem Aufgebot an gutem Willen und gesundem Menschenverstand wenigstens dazu beizutragen, daß zwischen Görlitz und Aachen und Konstanz und Rostock Verkehrsmöglichkeiten geschaffen werden, wie sie in jedem zivilisierten Lande als Selbstverständlichkeit angesehen werden.
Lassen Sie mich ein Wort zu der Frage der Gefangenen aussprechen. Ich bin mit meinem Vorredner der Ansicht, daß man, wenn es um Menschenschicksale geht, seine Position möglichst un-doktrinär beziehen sollte. Lassen Sie mich Ihnen mit schlichten und redlichen Worten sagen, wie ich ohne komplexe Gedanken ganz einfach dazu
gekommen war, auch meinerseits diese Frage in der Öffentlichkeit anzusprechen.
Wir haben feststellen müssen — wir wollen das gar nicht leugnen —, daß in den letzten drei Jahren einige tausend Häftlinge aus dem sowjetzonalen Gewahrsam entlassen worden sind. Die kommunistische Propaganda hat daran eine große Kampagne geknüpft, um nun mit dem Ruf nach Freigabe ihrer Gefangenen in der Bundesrepublik davon abzulenken, daß eine weitaus größere Zahl, wie wir gehört haben, 18 000 unserer Brüder und Schwestern, auch heute noch drüben der Freiheit beraubt sind. Als ich durch einen Zufall zur Kenntnis nehmen konnte, in welchem Umfang sich kommunistische Gesinnungstäter — vielleicht ist das der genehmere Ausdruck als „politische Gefangene" — in westdeutschen Gefängnissen befinden, habe ich feststellen müssen, daß es gerade über eine dreistellige Zahl hinausgeht.
— Noch weniger! Ich bin dankbar für diesen Zuruf, weil er, Herr Bundesminister, meine Empfehlung noch mehr rechtfertigt, hier nicht kleinlich, sondern großzügig zu sein.
Es geht um das Schicksal von 18 000, und ich muß als ein Mann, der neben Jakob Kaiser drei Jahre die politische Führung meiner Freunde in der Zone gehabt hat, an unsere zahlreichen namentlich bekannten Weggenossen und Kameraden denken, die mir wertvoller sind als die paar Dutzend Kommunisten in westdeutschen Gefängnissen!
— Provozieren Sie mich nicht zu einer unfreundlichen Bemerkung!
Wenn wir also der Meinung sind, daß hier ein Akt politischer Klugheit und zugleich ein Akt der Menschlichkeit geboten wäre, lassen Sie mich, mit der feinen Unterscheidung — ich wiederhole es — zwischen Gesinnungstätern und Kriminellen, meinen Dank anfügen an die deutsche Presse und an den deutschen Rundfunk, die mein Anliegen nicht der Person, sondern der Sache wegen in den letzten Wochen so gut unterstützt haben.
Die Reaktion jenseits des Brandenburger Tores hat meine Erwartungen bestätigt. Nach längerem, offenbar von Verlegenheit bestimmtem Schweigen entschloß sich der Präsident der ostzonalen Republik, in einem Brief an den Bundespräsidenten von dem Kern der Dinge abzulenken, indem er ausschließlich von dieser Handvoll sogenannter politischer Gefangener in der Bundesrepublik sprach. Nicht ein Wort in diesem doch wohl nur propagandistisch gemeinten Dokument, das an die Bereitwilligkeit hätte erinnern können, auch drüben der Vernunft und der Menschlichkeit in ausreichendem Maße zu folgen!
Schließlich haben wir gestern aus dem Munde des ostzonalen Ministerpräsidenten Grotewohl vernommen, was seine Regierung zu dieser uns so ernst bewegenden Angelegenheit nunmehr zu sagen hat. Er weist zunächst die Behauptung in
Westdeutschland, wie er sagt, zurück, daß die Strafverbüßung solcher Leute, die sich gegen die Gesetze der DDR vergangen hätten — „und andere Inhaftierte gebe es nicht" —, der Verständigung der beiden deutschen Staaten entgegenstehe. Meine Damen und Herren, in der Bundesrepublik ist kein einziger Kommunist wegen seiner Gesinnung Verfolgungen ausgesetzt gewesen, während im sowjetzonalen Bereich die erkennbare Gesinnung bereits genügt, um Tausende zu politischen Gefangenen werden zu lassen.
Zweifellos hat die Bundesregierung mit ihrem ausdrücklichen Hinweis recht — dem auch die Opposition gewiß in keiner Weise widersprechen wird, ohne nun das eine oder andere Urteil westdeutscher Gerichte im einzelnen zu werten -, daß jedenfalls in der Bundesrepublik auch politische Delikte nur nach den Grundsätzen absoluter Rechtsstaatlichkeit geahndet worden sind.
Nun aber fährt Herr Grotewohl fort:
Aber die Freilassung von Gefangenen ist für uns kein Handelsobjekt. Mit der Präsentierung sogenannter Freilassungslisten ist überhaupt nichts zu erreichen.
Sehr bemerkenswert! Daß Herr Grotewohl diese Äußerung getan hat, daß er aus seiner Orthodoxie heraus keine Maßstäbe findet für einen fairen, soliden und freien Handel als einer Funktion des gesellschaftlichen Lebens, vermag ich zu verstehen. Aber ich darf Herrn Grotewohl versichern, daß niemand von uns, auch nicht mein verehrter Vorredner, in diesem Zusammenhang an ein Handelsgeschäft gedacht hat. Was uns vorschwebt, ist, daß Gesten, zwingende Gesten guten Willens gemacht werden, und ich bin sicher, daß nach der Beantwortung der diesbezüglichen Frage auch die Bundesregierung bereit sein wird, einzelne Fälle zu prüfen und festzustellen, wie weit ein Gnadenerlaß empfohlen werden könnte, um auf diese Weise zum Abbau des Leides zu kommen.
Von einem Handelsgeschäft ist in keinem Zusammenhang die Rede gewesen.
Nun, meine Damen und Herren, lassen Sie mich noch einen letzten Punkt auch nur mit wenigen Worten erläutern, weil die Geduld dieses Hauses, die Zeit und auch die Ausdauer des Herrn Bundeskanzlers nicht mehr als notwendig strapaziert werden sollen. Ein Wort zu den Berliner Fragen. Lassen Sie mich nur zwei herausgreifen, die ich allerdings für besonders wesentlich und auch symptomatisch halte. Das eine Wort gilt der Sperrung der Westberliner Sektoren- und Zonengrenzen nach dem natürlichen Hinterland dieser Stadt. In diesem Zusammenhang wurde auf die 40 000 Kleingärtner hingewiesen, die seit 1952 von ihren Grundstücken verbannt sind. Wer einmal in Berlin gelebt hat — ich möchte optimistischerweise glauben, daß das sogar bei dem größeren Teil dieser Versammlung irgendwann einmal der Fall war —, der weiß, welche Rolle im sozialen Leben der Millionenstadt die Schrebergärten am Stadtrand spielen. Die Schrebergärtner mit ihrer Freude an der Natur sind die kleinsten und harmlosesten Menschen. Es ist eine wahre Unmenschlichkeit, diese braven Menschen von ihren Schrebergärten auszuschließen.
Es geht aber nicht nur um die Schrebergärten. Wer in diesen schönen Frühlingstagen an einem Wochenende in Berlin lebt oder in Berlin sein muß, den wird es aufs tiefste bedrücken, daß 2,2 Millionen Berliner keine Möglichkeit haben, in die Naturschönheiten ihrer so nahe gelegenen märkischen Heimat zu gelangen. Wir sind in den Wohnblocks, den wenigen Freiflächen und in den Ruinenfeldern, die es immer noch gibt, gewissermaßen interniert. Ich möchte nicht verhehlen, daß für die meisten meiner Mitbürger wie auch für mich selbst die Verweigerung des Auslaufs in die Natur der Umgebung der Stadt seelisch außerordentlich bedrückend ist. Zur Politik des guten Willens, von der auch Herr Grotewohl gesprochen hat, würde beispielsweise gehören, daß man ohne technische Kontakte in Ostberlin verfügt, der Westberliner Bevölkerung, wenn ihr vorläufig auch keine Passierfreiheit für die Zone selbst gewährt werden soll, wenigstens die Möglichkeit zu geben, sich innerhalb des Autobahnringes allein mit ihrem Personalausweis frei und ungefährdet zu bewegen.
Solche Möglichkeiten gibt es viele. Eine, die ich von der Berliner Situation her auch für nicht unwesentlich halte, ist die, den Interzonenverkehr zwischen Westberlin und dem Gebiet der Bundesrepublik noch mehr als bisher zu erleichtern. Ich geniere mich nicht, wahrheitsgemäß festzustellen, daß die ostzonalen Polizei- und Zollbeamten seit längerer Zeit keine besonderen Schwierigkeiten machen, daß sie sich vielmehr durchaus bemühen, den Verkehr auf Grund ihrer komplizierten Direktiven so schnell und so einfach wie möglich abzuwickeln. Warum soll man diesen Männern nicht auch einmal diese Anerkennung aussprechen! Aber auch der beste Wille dieser untergeordneten Organe reicht nicht aus.
Das Passieren des Zonengebiets von Berlin her und umgekehrt, insbesondere in der Sommerzeit, bleibt nach wie vor eine wahre Strapaze. Wenn Sie am Wochenende etwa mit einem Auto oder Omnibus Berlin verlassen wollen, müssen Sie sich mit einer vielstündigen Wartezeit in Babelsberg und dann auch noch einmal in Marienborn abfinden, und umgekehrt ist es dasselbe.
Auch der Eisenbahnverkehr, der zweifellos wesentlich korrekter und hilfsbereiter als vor Jahren für die Reisenden durchgeführt wird, läßt trotzdem noch viel zu wünschen übrig. Was geschehen könnte, meine Damen und Herren, darf ich aufzeigen, indem ich nur zwei Sätze aus ostzonalen Blättern der letzten Tage, aus einem Artikel „Am Fenster des Saßnitz-Expreß — Neue Schienenverbindung mit Schweden" mit Erlaubnis des Herrn Präsidenten hier vortrage. Da heißt es wörtlich:
Im Interzonenverkehr ist es keine Besonderheit, wenn die Deutsche Reichsbahn
— das ist die ostzonale —
Schienenwege der Bundesbahn benutzt. Doch mit dem FDT 129, dem Saßnitz-Expreß, hat es eine andere Bewandtnis. Er hält im Gegensatz zu Interzonenzügen nur wenige Minuten in Gutenfürst, zu seiner Abfertigung erscheinen keine Vertreter des Zolls, und die Grenzpolizei sichtet keine Pässe, Personalausweise und Einreisegenehmigungen.
Welch ein unvorstellbares Paradies für die gequälten Reisenden von und nach Berlin würde entstehen, wenn für den Interzonenverkehr zwischen Deutschen die gleiche Eleganz der Großzügigkeit gezeigt würde wie bei der Behandlung des Skandinavien-Expreß von Malmö nach Innsbruck und nach Mailand!
Ich habe in der vorgesehenen Ergänzung der Ausführungen meines Freundes Brookmann den Standpunkt meiner Fraktion zu diesem Fragenkomplex zum Ausdruck zu bringen versucht. Lassen Sie mich der Erwartung Ausdruck geben, daß das, was sich hier an Übereinstimmung des Willens zeigt, auch durch Ideen, Phantasie und Initiative realisiert werden möge.
Der Versuchung, in diesem Zusammenhang zu dem Hintergrund der Wiedervereinigungspolitik Stellung zu nehmen, bin ich nicht erlegen; dazu werde ich mich bei anderer Gelegenheit äußern.
Ich habe eingangs unserer Landsleute in den Ländern Mitteldeutschlands gedacht und schließe jetzt mit der Überzeugung, daß sich der Deutsche Bundestag über alle seine Fraktionsgrenzen hinweg einig ist in der Bereitschaft zur ungeteilten Verantwortung für unsere Landsleute in der Zone.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Das Wort hat der Abgeordnete Will.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Lassen Sie mich für die Fraktion der Freien Demokraten zu der Großen Anfrage sämtlicher Fraktionen des Hauses in Kürze das Folgende ausführen. Ich habe nicht die Absicht, zu wiederholen, was meine Herren Vorredner hier schon gesagt haben, und zwar weil ich in der Lage bin, festzustellen, daß ein wesentlicher Unterschied in fast allen Fragen nicht besteht. Es ist hier eine der erfreulichen Tagesordnungen des Hauses gegeben, in denen eine einheitliche Meinung des gesamten Deutschen Bundestages zum Ausdruck kommen kann. Ich möchte glauben, daß gerade das der Sinn der heutigen Sitzung und letzten Endes der Sinn dieser Großen Anfrage gewesen ist.
Worauf es uns hier ankommt, meine Damen und Herren, das ist, heute eine Hand auszustrecken, eine Hand des guten Willens, in der Hoffnung, daß sie auf der andern Seite ergriffen wird, im Interesse der Erleichterung der Lebensführung unserer 18 Millionen Brüder und Schwestern, die nicht gleich uns in der Lage sind, frei über das zu sprechen, was ist. Ich werde auch nicht der Versuchung erliegen, hier eine Frage der Weltpolitik anzuschneiden, d. h. das Thema Wiedervereinigung zu erörtern, das heute nicht zur Diskussion steht. Auch meine Herren Vorredner der bisher zu Wort gekommenen Fraktionen haben ausgeführt, daß das heute nicht möglich ist. Ich sehe darin einen wesentlichen Fortschritt in der augenblicklichen Situation. Denn die übereinstimmende Meinung geht doch dahin, daß die Frage der Wiedervereinigung im eigentlichen Sinne als Lösung der deutschen Frage im Moment nicht wesentlich gefördert werden kann, nachdem auf der ersten Genfer Konferenz durch die erste Garnitur, durch die Regierungschefs selber, festgestellt worden ist, daß sie nicht zu einer Einigung kommen konnten. Die Frage, die ja nicht für sie lebenswichtig war, aber
für uns, wird trotzdem niemals von der Tagesordnung des Deutschen Bundestages verschwinden.
Wenn wir der Überzeugung sind, daß eine gewaltsame Lösung nicht möglich ist — darin weiß ich mich einig mit allen Parteien dieses Hauses dann bleibt ja nur der Weg der Verhandlung. Und wenn nun festgestellt worden ist, daß auf dem Verhandlungswege über diese Frage im Augenblick nichts erreicht werden kann, wie wir das in der Tat immer wieder hören und lesen, dann gibt es nur eine dritte Möglichkeit, nämlich die der geduldigen Vorbereitung eines Zustandes, in dem sich die Dinge allmählich so gestalten, daß später von einer clausula rebus sic stantibus gesprochen werden kann, von der berühmten normativen Kraft des Faktischen. Es muß uns also möglich sein, in kleineren Schritten auf Nebenwegen einen Zustand herbeizuführen, der dann eine Übereinstimmung auch in der großen politischen Frage ermöglichen wird. Dazu soll diese Große Anfrage beitragen. Dazu soll beitragen, was der Herr Bundesminister für gesamtdeutsche Fragen hier ausgeführt hat und was nun in der Aussprache von seiten der Fraktionsvertreter erklärt werden kann.
Ich schließe mich der Auffassung aller meiner Vorredner an, daß am Anfang unserer Erklärungen, unserer Stellungnahmen die eindeutige Forderung zu stehen hat: Gebt endlich die politischen Gefangenen frei! Ich kann es mir ersparen, nach all dem, was gerade zu diesem Punkt hier gesagt worden ist, auf besondere Einzelheiten einzugehen, obwohl natürlich auch bei meiner Fraktion, bei der Fraktion der Freien Demokraten, eine Unzahl von Einzelfällen bekannt sind, die hier vorgetragen werden könnten und genauso dramatisch wirken wie diejenigen, die dem Hause bereits zu Gehör gebracht wurden. Ich möchte es also dabei belassen, daß ich für meine Fraktion erkläre: Diese Forderung und all das, was dazu gesagt worden ist, machen wir uns in vollem Umfang zu eigen, und wir werden wie die übrigen Fraktionen dieses Hauses niemals aufhören, diese Forderung als erste immer wieder vorzutragen und zur Durchsetzung zu bringen.
Ob auf irgendeine Weise durch Freilassung von politischen Gefangenen, die im Bundesgebiet noch vorhanden sind, etwas erreicht werden kann, will ich im Augenblick dahingestellt sein lassen. Wenn es aber dahin führen sollte, dann sollte kein Weg unbegangen bleiben, der zu einem solchen Ziel führen könnte.
Nun wird es natürlich, wenn es sich darum handelt, allmählich eine Anpassung, eine Entspannung, eine Milderung der Gegensätze herbeizuführen, erforderlich sein, daß die Lebenshaltung in den beiden Teilen, einerseits dem Bundesgebiet, andererseits der DDR, nicht so auseinanderklafft, wie es bisher der Fall ist. Hier müßte noch ein Wort gesagt werden, das ich bisher vermißt habe, ein Wort über die Tatsache, daß wir immer noch Tausende, Zehntausende, ja zusammengenommen Hunderttausende von Zonenflüchtlingen haben, daß deren Zustrom nicht abreißt, im Gegenteil, in der letzten Zeit noch stärker geworden ist. Solange der Unterschied in der Lebenshaltung, in der Freiheit der Person so groß ist, daß ein großer Teil der Bevölkerung des einen Gebiets sich auf dem Fluchtwege von dem ihr auferlegten Zwange frei machen muß, so lange kann natürlich nicht davon geredet werden, daß auch nur in etwa eine Anpassung denkbar wäre.
Es wäre verführerisch, an dieser Stelle darüber zu sprechen, welche Erfahrungen jedermann macht, der etwa in Berlin oder in Marienfelde an einem Notaufnahmeverfahren teilnimmt und die Gründe kennenlernt, die die Menschen dazu bringen, ihre Heimat und ihre Familien zu verlassen, was doch immerhin die schwersten seelischen Kämpfe voraussetzt, ein außerordentliches menschliches Risiko einschließt und letzten Endes auf die Dauer gesehen zu einer Entvölkerung eines deutschen Gebiets führen muß, an der uns natürlich auch nicht gelegen sein kann.
Diese Fragen also, die mit den Gefangenen und mit den Flüchtlingen aus der Zone zusammenhängen, werden in erster Linie anzugehen sein, wenn es sich darum handelt, zu einer echten Entspannung zu kommen.
Nun hat der Herr Bundesminister für gesamtdeutsche Fragen eine meiner Meinung nach äußerst dankenswerte ausführliche Antwort zu jedem einzelnen Punkt der Großen Anfrage gegeben. Ich muß es mir, vor allem im Hinblick auf die vorgerückte Zeit, versagen, zu all diesen Dingen Stellung zu nehmen, was ja auch mein Herr Vorredner nicht mehr getan hat. Aber einige Dinge bedürfen doch noch einer Hervorhebung, weil, wie ich glaube, diese Taste besonders angeschlagen werden sollte, wenn uns daran liegt, allmählich zu einer Verbesserung der Beziehungen zu kommen.
Das eine ist — es ist hier auch schon zum Ausdruck gekommen — die Verbesserung der Bedingungen des Interzonenhandels. Ich würde es durchaus begrüßen, wenn in Berlin die Verwaltungsstellen des Interzonenhandels ausgebaut werden könnten. Denn es ist nicht etwa so, daß durch eine Einschränkung der Handel zwischen dem Bundesgebiet und der DDR verhindert werden könnte; es besteht lediglich die Gefahr, daß dann über ausländische Leitfirmen die gleichen bundesdeutschen Waren eben doch dorthin kommen, nur mit dem Unterschied, daß dann natürlich die Gewinne und die Geschäftsbeziehungen nicht unmittelbar wahrgenommen werden können, sondern, wie gesagt, über ausländische Leitfirmen. Das ist eine Frage, die uns zu beschäftigen haben wird.
Besonders aber ist es die Verkehrsfrage, die auch heute und gerade jetzt zuletzt immer wieder berührt worden ist. Zu den vielen Wünschen, die wir auf diesem Gebiet haben, gehört die endliche Wiederherabsetzung der Autobahngebühren, die insbesondere von dem Berliner Senat mit allen Mitteln angestrebt, aber nicht erreicht worden ist. Zu diesen Fragen gehört auch der Flugverkehr, von dem bisher noch nicht die Rede war. Sie wissen, meine Damen und Herren, daß es nicht möglich ist, mit einem deutschen Flugzeug, d. h. mit der Deutschen Lufthansa nach Westberlin und nach der DDR zu gelangen. Es ist der Deutschen Lufthansa nicht gestattet, Berlin anzufliegen. Abgesehen davon, ist dies überhaupt ein sehr ernstes Thema, weil die ausländischen Maschinen, die zur Verfügung gestellt werden, bei weitem nicht ausreichen. Es ist, wie ich höre, schon so, daß auf der meistbeflogenen Strecke nach Hannover insbesondere die verbilligten Nachtmaschinen schon bis in den August hinein ausverkauft sind, so daß einem wesentlichen Teil der Berliner Bevölkerung kein anderer Ausweg bleibt, als sich entweder der Autobahn oder der Eisenbahn zu bedienen, mit all den Schwierigkeiten, mit all den Aufenthalten, mit all den Risiken, von denen wir
hier ja gehört haben und die sowohl an der Berliner Zonengrenze als auch in Helmstedt bestehen. Wir können natürlich nicht mehr tun, als daß wir die Bundesregierung oder im Rahmen der Zuständigkeit den Senat von Berlin ermuntern oder ermahnen, in ihren Anstrengungen nicht zu erlahmen, gerade auf dem Gebiet des Verkehrs das Möglichste zu erreichen.
Wenn ich hier — und Sie werden mir als Berliner das gestatten — noch einiges zu den besonderen Problemen dieser Stadt sage, dann möchte ich meinen — und hier befinde ich mich etwas im Gegensatz zu dem, was vorher gesagt worden ist -, daß man eigentlich mit der Auflockerung am besten und am einfachsten in Berlin beginnen sollte und könnte. Wenn man zum Reichskanzlerplatz fährt — er heißt immer noch nicht Bundeskanzlerplatz, Herr Regierender Bürgermeister! —, dann kommt man normalerweise am Funkhaus in der Masurenallee vorbei, das sich ja viele Jahre hindurch gerade gegenüber der britischen Besatzungsmacht befunden hat. Dieses an sich durchaus geeignete Zweckgebäude steht seit soundso viel Jahren vollkommen leer, verkommt innen und außen, obwohl es für unsere Zwecke außerordentlich geeignet wäre. Sollte es nicht möglich sein, bei einigem guten Willen hier eine Vereinbarung zu erreichen, da dies keinerlei Verzicht für die sowjetzonalen Behörden bedeuten würde, die ja von diesem Gebäude gar keinen Gebrauch machen? Wir haben etwas Ähnliches seinerzeit mit dem Verwaltungsgebäude der Reichsbahn am Anhalter Bahnhof erlebt. Dort ist ja ein Versuch gemacht worden, zu einer etwas gewaltsamen Lösung zu kommen, die natürlich nach wenigen Tagen zum Scheitern verurteilt war. Auch hier handelt es sich um Enklaven, die der Gegenseite absolut nichts nützen, während sie für uns in Westberlin von großem Nutzen sein könnten.
Das sind natürlich nur Beispiele für Beweise des guten Willens, die vorhanden sein müßten, wenn wir mit der Großen Anfrage und mit der Erwiderung Erfolg haben wollen. Der Sinn der ganzen Debatte, die wir heute haben, ist doch, wenn es schon nicht im Großen möglich ist, dann wenigstens auf Einzelgebieten, die lokale Bedeutung haben, zu einem Ausgleich zu kommen, und schon das würde in der gegenwärtigen Situation ein wesentlicher Fortschritt sein. Meine Damen und Herren, wir dürfen der Auffassung sein, daß mit einer Politik der Stärke, die nach Lage der Dinge im wesentlichen nur eine Politik der starken Worte sein kann, auf Jahre hinaus ein Erfolg sowieso nicht zu erzielen ist. Wenn diese Überzeugung Allgemeingut ist, bleibt uns nur übrig, hier immer wieder durch Vorleistungen, durch ständige Versuche, durch Kontakte, die natürlich technischer Art sein müssen, eine Erleichterung für die Bevölkerung in der Ostzone und in Ostberlin zu erreichen.
Worauf kommt es an? An der Spitze aller Bemühungen, mit denen wir heute beginnen wollen, muß unser Ziel stehen, endlich die Vereinigung in Freiheit zu erreichen. Wir wissen, daß es hier Bedingungen gibt, die wir niemals erfüllen werden, wozu unfreie Wahlen, wozu ein unmittelbarer Kontakt mit Pankow gehören. Aber davon abgesehen gibt es eine ganze Reihe anderer Dinge, die heute besprochen worden sind und die sehr wohl eine Einigung ermöglichen würden. Voraussetzung dafür ist natürlich, daß auf beiden Seiten die Absicht einer friedlichen Lösung besteht und nicht diejenige
einer Verwandlung dessen, was man bisher den Kalten Krieg genannt hat, in einen „heißen" Krieg. Ich möchte glauben, daß diese Absicht auf beiden Seiten nicht besteht. Wenn es also darum geht, auf friedlichem Wege zunächst ein Nebeneinander als Vorbereitung zu einem Miteinander zu schaffen, dann sollten wir uns über eines klar sein: Falls man diesen Frieden will, kann nicht das Wort gelten: Si vis pacem, para bellum, das immer wieder genannt wird, sondern dann sollten wir sagen: Si vis pacem, para pacem. Allein in dieser Entscheidung, in dieser Haltung sehe ich, und zwar für eine längere Zeit, einen Ausweg, der das vorbereitet, was unserem Ziel näher kommt, nämlich die Wiedervereinigung in Frieden und Freiheit.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Das Wort hat der Abgeordnete Seiboth.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich bin nun bereits der dritte, der auf Grund der von dem Herrn Begründer der Großen Anfrage, Kollegen Brandt, ausgesprochenen Mahnung, sich nicht in die Weltpolitik zu verlieren, hier versichern kann, daß ich mich auch sehr knapp und eng an das durch die Große Anfrage gestellte Thema halten werde. Ich möchte andererseits doch auf eines hinweisen. Bei aller Zustimmung zu der Erklärung des Herrn Kollegen Brandt, es ginge hier weder um die Weltpolitik noch um die Frage, ob die sogenannte DDR eine demokratische Legitimität besitzt oder völkerrechtlich anzuerkennen sei, bei allem guten Willen, diese Fragen heute auszuklammern, müssen wir uns letzten Endes doch mit dem Tatbestand auseinandersetzen, daß jener Teil Deutschlands, der hinter dem Eisernen Vorhang liegt, sich selbst als Staat betrachtet und als Faktum, als Staat nun einmal da ist. Ich will keineswegs — erschrecken Sie nicht! — diesen Staat vielleicht als politisch ebenbürtig dieser Bundesrepublik gegenüberstellen. Ich will damit nur eines sagen: Auch wenn wir entschlossen sind, ihn politisch, diplomatisch und völkerrechtlich nicht anzuerkennen, so ist er auf Grund seines Bestehens doch immer in der Lage, alle Maßnahmen, die wir ergreifen wollen, um unser gesamtdeutsches Anliegen zur Wiedervereinigung zu fördern, durch Gegenmaßnahmen, wenn es ihm so beliebt, unmöglich zu machen.
Es ist hier genug darüber gesagt worden, daß wir es bei der sogenannten DDR mit keinem Rechtsstaat zu tun haben. Auch wir stehen auf diesem Standpunkt; denn ein Staat, dessen hohe Würdenträger betonen, daß man gar nicht daran denke, im Zuge angekündigter neuer Entwicklungen zwischen Legislative, Exekutive und Justiz die Gewaltentrennung, wie wir sie verstehen, herbeizuführen, ein Staat, in dem die Legislative eigentlich nur als dekoratives Feigenblatt für die Exekutive da ist und in dem die Justiz mit allen ihren Richtern von der Partei, der SED, und von der Regierung abhängig ist, ein solcher Staat verdient auch dann nicht, als Rechtsstaat anerkannt zu werden, bzw. er verdient nicht, daß man von ihm annimmt, er bewege sich bewußt zur Rechtsstaatlichkeit hin, wenn er Gefangene entläßt, die unter Gesichtspunkten eines Unrechtsstaates zu Strafen verurteilt wurden.
Aber, meine Damen und Herren, es geht hier, wie -der Herr Kollege Wehner gesagt hat — und da stimmen wir ihm voll zu —, eben nicht darum, daß wir in dieser Situation und bei dem Anliegen, das wir mit der Großen Anfrage aller Fraktionen verfolgen, hier einen Streit darüber führen, was nach unseren Vorstellungen Recht und was Unrecht ist. Es geht darum, in erster Linie unglückliche Menschen da drüben, die unsere Brüder und Schwestern sind, die Opfer des Kalten Krieges, wie der Kollege Wehner sie genannt hat, aus ihrer unmenschlichen und unerträglichen Lage zu befreien. Unter diesem Gesichtspunkt und in Würdigung dieses Anliegens sollten wir überlegen, ob wir nicht auch bei der Untersuchung der Frage, was wir hier vom Westen zur Förderung dieses Anliegens beitragen können oder müssen, recht großzügig sein sollten, eben weil wir um die Tatsache dieses da drüben existierenden Staates und seiner Möglichkeiten nicht herumkommen.
Wir schließen uns der Wertung an, die der Herr Bundesminister für gesamtdeutsche Fragen vorgenommen hat, daß man nämlich keine Parallele zwischen den Verurteilungen, die drüben erfolgt sind, und den sogenannten politischen Urteilen ziehen kann, die in der Bundesrepublik ausgesprochen worden sind. Wir sollten aber vielleicht doch bedenken, daß es, wenn es darum geht, zwischen Deutschen die Lage zu entspannen, der Einheit Deutschlands zu dienen, Menschen zu helfen, die in Bedrängnis sind, nicht nur die Pflicht zur unbedingten Wahrung rechtsstaatlicher Prinzipien gibt, sondern unter Umständen auch die menschliche und die politische Pflicht, solche rechtsstaatlichen Prinzipien einmal weniger in den Vordergrund zu rücken, um Menschen, die unter Unrecht leiden, anderswo zu ihrem Recht zu verhelfen.
Aus diesem Grunde steht die Fraktion des Gesamtdeutschen Blocks/BHE auf dem Standpunkt, daß die Bundesregierung und die anderen zuständigen Stellen unseres Staates doch sehr ernst und mit dem Willen zur Großzügigkeit die Frage prüfen sollten, ob wir nicht zur Unterstützung unseres Wunsches, daß drüben von den Zonenmachthabern und ihrer Justiz möglichst alle unter politischen Gesichtspunkten verurteilten deutschen Menschen entlassen werden, die andere Seite zu guten Taten dadurch provozieren könnten, daß wir hier im Bundesgebiet eine Amnestie für alle sogenannten politischen Straftaten erwägen. Wir sind allerdings der Meinung, daß die Regierung dabei nicht so weitherzig wie gewisse Funktionäre der SED in Artikeln, die in den letzten Tagen in der Presse der Zone veröffentlicht wurden, bei der Umgrenzung des Personenkreises vorgehen sollte. Es sind dort als bei uns unter „politischen" Gesichtspunkten Verurteilte auch die sogenannten Kameradenschinder und auch, wie wir es schlicht und richtig ausdrücken, die Menschenräuber mit genannt worden.
Nun, meine Damen und Herren, wir meinen, es ist eine Selbstverständlichkeit — und ich erwähne es nur, damit wir nicht mißverstanden werden —, daß wir alle, wenn wir uns mit dem Gedanken an eine solche Amnestie befassen, natürlich nur solche Straftaten amnestiert haben wollen, die nicht Verbrechen gegen die Menschlichkeit, also gegen Leib, Leben und Freiheit anderer, darstellen. Wir meinen aber andererseits, daß man ohne Ausnahme in eine solche Amnestie alle jene Straftaten mit ein-
beziehen sollte, die vor der Jugendgerichtsbarkeit zur Verhandlung anstanden.
Wir haben es bei der sogenannten „DDR" nun eben einmal mit einem System zu tun, das den Druck auf andere — um das Wort „Terror" zu vermeiden — für ein anwendbares Mittel der Politik hält.
Ich will hier nicht auf den Brief eingehen, den der sogenannte Präsident der „DDR" an den Herrn Bundespräsidenten geschrieben hat. Dieser Brief —er ist uns ja allen in Abschrift zugestellt worden — enthält von A bis Z Unwahrheiten, Entstellungen und Tatsachenverdrehungen. Aber dieser Brief an den Herrn Bundespräsidenten ist andererseits doch ein Anlaß, denen drüben, wenn hier eine Amnestie erfolgen sollte, zu sagen: Nun seid ihr beim Wort genommen; nun müßt ihr alle die, die unter politischen Gesichtspunkten verurteilt worden sind, aus den Gefängnissen, aus den Kerkern entlassen!
Lassen Sie mich — ich will mich kurz halten, wie ich erwähnt habe — zu dem andern Thema dieser Großen Anfrage, zur Verbesserung der Kontakte zwischen der deutschen Bevölkerung in der Zone und uns noch einiges ausführen. Dieser Fragenkomplex scheint uns gleich wichtig dem der politischen Gefangenen zu sein. In dem ersten Falle geht es um Menschenschicksale, in dem zweiten Falle, bei der Herstellung oder Erhaltung der Beziehungen der beiden Teile der deutschen Bevölkerung, geht es aber um das Schicksal unseres Volkes und der Nation an sich.
Die Entwicklung, die wir vor uns haben und die wir bisher nicht bremsen konnten — die Unterschiedlichkeit oder, noch richtiger gesagt, die Gegensätzlichkeit der Systeme hier und drüben, die in der sowjetisch besetzten Zone herrschende and ere Geistigkeit des Totalitarismus, die Verschiedenartigkeit auch der Begriffe hinter gleichen Worten ein- und derselben Sprache; unser Bekanntwerden hier im Westen mit dem Westen, seinem Geist, seinen Sitten, seinen gesellschaftlichen Formen, unsere fast ausschließliche Begegnung mit der Welt des Westens und andererseits die Einbeziehung des anderen Teiles Deutschlands in die Welt des kommunistischen Ostens —, läßt uns doch die Gefahren deutlich erkennen, daß wir als Volk auseinanderbrechen, ehe wir die staatliche Wiedervereinigung erreicht haben. Dieser Gefahr müssen wir mit allen Mitteln, die uns zu Gebote stehen und die wir ergreifen können, begegnen, indem wir uns unsererseits bemühen, diese schändliche und, ich möchte sagen, im Sinne des Naturrechts geradezu verbrecherische Grenze mitten durch unser Volk durch Aufrechterhaltung und Vertiefung der menschlichen Beziehungen unwirksam zu machen. Wenn ich sagte „unsererseits bemühen", so meine ich natürlich nicht, nur oder hauptsächlich wir allein hätten Anlaß, bestehende Schranken wegzuräumen; wir wissen — und wir haben das heute oft und berechtigterweise aus dem Munde meiner Vorredner gehört —, daß unsere besten Maßnahmen nichts nützen oder unwirksam bleiben müssen, wenn die andere Seite eben nicht gewillt ist, mit gleichen Maßnahmen zu antworten, um zu einem Erfolg in der gesamtdeutschen Sache zu kommen. Aber ich möchte bei aller Betonung dieser für uns unglückseligen Situation und bei Anerkennung der Tatsache, daß auf der andern Seite der gute Wille viel mehr fehlt denn bei uns, doch sagen: wir könnten auch bei uns einige „Räumkommandos des guten Willens" einsetzen, um so manche Dinge, von denen heute die Rede war, wegzuräumen.
Ich will nicht nur auf das eingehen, was hier schon der Herr Kollege Wehner erwähnt hat, beispielsweise hinsichtlich der oft recht wenig herzvollen, bürokratischen Behandlung der Menschen, die zu uns herüberkommen als Flüchtlinge oder als Besucher. Ich möchte darauf hinweisen, daß uns selbst ja auch die sonderbarsten Dinge passieren, wenn wir uns um einen engen persönlichen Kontakt auf brieflichem oder anderem Wege mit unseren Freunden und Brüdern drüben in der Zone bemühen. Wenn das der Wille dieses Bundestages ist, so mutet es zumindest sonderbar an, wenn beispielsweise bei der Beförderung von Post irgendwelcher Menschen drüben an mich — es sind oft gezwungene Briefschreiber; es wird Ihnen ähnlich gehen — der westdeutsche Briefbote nicht in der Uniform des bekannten Briefträgers kommt, sondern wenn ich so alle Vierteljahre von der Staatsanwaltschaft ein Päckchen mit Briefen zugestellt bekomme, mit einem höflichen Anschreiben, ich möge doch Verständnis für die Notwendigkeit haben, daß man diese Post durchsehe. Nun, meine Damen und Herren, ich habe für manches Verständnis, für die Notwendigkeit, daß man sich gegen Infiltration usw. schützt; aber ich glaube doch
— — Ja, Sie schlagen die Hände zusammen, meine Damen und Herren; fragen Sie Kollegen aus unserer Fraktion! Das geht noch weiter! Da sind heute schon Zollämter, die bei der Staatsanwaltschaft Anzeige gegen Abgeordnete erstatten wollen, weil ihnen, ohne daß sie es wünschen, Propagandamaterial von drüben zugeschickt wird.
— Ja! Meine Damen und Herren, es kann uns doch ganz bestimmt niemand zumuten, daß wir auf diese Propagandaparolen, die mir beispielsweise drei Jahre lang bis 1948 die Kommunisten im tschechischen Kerker ins Ohr gebrüllt haben, heute hereinfallen würden.
Nun, meine Damen und Herren, das gehört aber alles mit dazu, das sind nicht kleine Schikanen, das sind Übervorsichtigkeiten, die geradezu lächerlich wirken und die unsere geistige Abwehrstärke gegenüber dem Bolschewismus in einem sehr sonderbaren Licht erscheinen lassen.
Wir sind außerdem der Meinung, daß wir auch geeignete Wege im Westen finden sollten, um dem Jugendaustausch oder besser — dieses Wort klingt schon zu sehr nach Organisation von östlicher Seite — dem ungehinderten Jugendwandern und dem ungehinderten Aufenthalt unserer Jugend drüben und der anderen Jugend bei uns Möglichkeiten zu geben.
Ich weiß, welche Gefahren darin stecken, wenn der Osten geschlossene Jugendgruppen zu sich einlädt, sie in sogenannten Erholungslagern unterbringt und dort auch politisch in seinem Sinne auf diese Jugend einwirkt. Ich weiß, daß wir auf der anderen Seite den Staat bei uns nicht für gleiche
oder ähnliche Maßnahmen einspannen wollen oder sollten. Wir könnten es wahrscheinlich auch gar nicht, weil dann der Osten bzw. die DDR-Regierung mit Verbotsmaßnahmen gegen einen Jugendaustausch überhaupt antworten würde.
Aber ich meine, wir könnten etwas anderes tun: wir könnten uns bemühen — das ist allerdings nicht nur Sache dieses Bundestags oder der Bundesregierung, das ist auch Sache der Länder und vor allem ihrer Kultusministerien —, daß unsere Jugend schon in der Schule in geeigneter Weise darauf vorbereitet wird, was sie da drüben erwartet, wenn sie einmal hinkommt; daß ihr schon im Unterricht beigebracht wird, wie sie mit unseren Augen die Dinge, die sie dort sieht, beurteilen soll.
Schließlich sollten wir selber, wo wir können, ein Beispiel dafür geben, daß wir trotz aller bestehenden Schwierigkeiten, die uns gemacht werden, immer nach einer Möglichkeit suchen, Mitteldeutschland auch heute noch als unsere Heimat und damit als unser Reise-, Urlaubs- und Wanderland zu sehen. Ich weiß — ich sagte das schon —, das ist nicht so einfach. Man braucht Aufenthaltsgenehmigungen. Aber wer von uns hat nicht Verwandte drüben? Wenn wir das endlich einmal in einer großen Zahl täten, dann wäre wohl auch die Befürchtung vieler auszuräumen, daß man dort zurückgehalten wird und die Angehörigen — oder in unserem Falle eine staatliche Stelle oder eine Stelle unseres Parlaments — bekämen die Mitteilung, man habe drüben politisches Asyl gesucht. Ich möchte hier das Wort von Professor Friedensburg benützen, das er in Heidelberg einmal ausgesprochen hat: Wir sollten das „mystische Grauen", wie er es nannte, das gegenüber dem Bolschewismus vorhanden ist, nun nicht auch noch gegenüber dem anderen Teile Deutschlands bei uns durch solche Befürchtungen und solche Erwägungen wecken.
Schließlich meinen wir, daß wir bei unserem Bestreben, auch die sprachliche, die geistige, die kulturelle innere Einheit unseres Volkes zu wahren, auf westdeutscher Seite mit guten Beispielen und einer gewissen Vorleistung, die drüben zur Nachahmung zwingt, vorangehen sollten. Wir sind in dem Falle nicht befriedigt, Herr Bundesminister, wenn Sie in Ihrer Regierungserklärung sagten, in der Frage des freien Einlasses von Druckerzeugnissen, Zeitungen, Zeitschriften, Büchern, müßten wir uns immer entsprechend denen verhalten, die drüben den freien Austausch solcher Erzeugnisse durch ihre Maßnahmen unmöglich machen. Wir sind der Auffassung, daß wir damit anfangen sollten. Wir sollten die Druckerzeugnisse, die Zeitungen, die Zeitschriften, die Bücher, auch die Filme, die drüben erzeugt werden, frei nach Westdeutschland passieren lassen. Fürchten wir uns etwa, daß das, was in diesen Zeitungen geboten, in Propagandabroschüren geschrieben oder auf der Leinwand an Propagandafilmen gezeigt wird, unsere westdeutsche Bevölkerung zum Bolschewismus hinführen könnte? Ich bin persönlich gegenteiliger Ansicht. Wenn solche Zeitungen hier verbreitet würden, in denen der Herr Bundeskanzler täglich oder wöchentlich dreimal als Kriegsverbrecher apostrophiert wird, diese oder jene Organisation als faschistisch oder meine Partei, weil sie den Namen „Heimatvertriebene" mit im Schilde führt
statt, wie es ostzonalen Ohren vielleicht lieber wäre „human Ausgesiedelte" oder „Umgesiedelte", als revanchistisch bezeichnet wird, —
wer wird sich daran stoßen, wer fällt denn auf so etwas schon herein?! Unsere Menschen sind doch politisch reif genug, um bald erkennen zu können, daß es drüben nur ein en Chefredakteur gibt und alles nur auf das abgestellt ist, was man dort erreichen will. Wir sollten hier also nicht so kleinlich sein. Wir sollten nicht nur immer von der Notwendigkeit der geistigen Auseinandersetzung mit dem Bolschewismus, mit dem Kommunismus reden. Ich weiß, es gibt jetzt schon einige Volkshochschulen, wo seit kurzem Kurse im dialektischen Materialismus veranstaltet werden. Ich weiß nicht, wie groß die Besucherzahlen dort sind. Das scheint mir aber nicht das geeignete Mittel zu sein. Ich bin überzeugt, wenn unsere Bevölkerung diese Zeitungsartikel, diese unmöglichen Riemen nur einmal vier, fünf Wochen oder Monate lesen würde, in einer Zeitung immer dasselbe wie in der anderen, ein Zeug, das man nicht lesen kann, weil man ebenso gut Leder fressen könnte, dann hätte sie genug davon, dann würde sie zu unterscheiden wissen zwischen Literatur und Makulatur.
Meine Damen und Herren, auf Grund dieser Einstellung zu den Problemen sind wir nicht nur geneigt, heute zuzustimmen, daß der Antrag, den die Sozialdemokratische Partei gestellt hat, mit seinen mehreren Verlangen an die Bundesregierung in die Ausschüsse überwiesen wird, sondern wir werden uns auch in der Ausschußarbeit durchaus im Sinne dieses von der Sozialdemokratischen Partei geäußerten Anliegens verhalten.
Ich darf mir erlauben — ich hoffe, damit Ihre Zustimmung zu finden —, zu dem Berliner Komplex nichts weiter auszuführen. Dazu haben Kollegen, die Berliner sind, schon sehr Richtiges gesagt, dem wir uns voll und ganz anschließen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Kalinke.
Herr Präsident! Meine Herren und Damen! Die Debatte des heutigen Vormittags hat das Bild des großen deutschen Unglücks erschütternd vor aller Augen gestellt. Niemand, der diese Debatte mit Ernst angehört hat, wird in Zukunft dem Ungeist, der uns alltäglich — aus dem Übergewicht der materialistischen und egoistischen Auffassungen und Forderungen unserer Tage — mit dem Schrei nach eigener Sicherheit und eigenem Wohlleben anspricht, ohne Gewissenskonflikte begegnen können. Möge unsere heutige Diskussion auch alle diejenigen aufrütteln, die aus Trägheit der Herzen und aus Sattheit die Not des Alltags nicht mehr sehen und ihre Ohren der Stimme der Not verschließen. Es ist auch kein Ablaß, wenn wir uns mit guten Gaben, hier und da gegeben vom Überfluß, oder unseren Paketsendungen, so wichtig sie sind, von jenem Aufruf zu befreien suchen, der an uns alle ergeht: die große Not deutscher Menschen, unserer Brüder und Schwestern als gemeinsame Not zu empfinden. In der Aussprache dieses Tages und angesichts des erschütternden Bildes mit der Fülle der vielen einzelnen Sorgen des Alltags, die uns als Deutsche gemein-
sam erfüllen, darf keine neue falsche Hoffnung geweckt werden, die neue Enttäuschungen zur Folge haben könnte. Die Folgen des Hungers, die Folgen der Überanstrengung, die Folgen der Unfreiheit sind heute so vielfältig geschildert worden, daß ich dem, was von meinen Vorrednern gesagt worden ist, nicht einen Fall hinzufügen möchte. Aus dem Sattsein unserer wieder in Freiheit aufgerichteten, wirtschaftlich gesundeten und sozial immer weiter gesundenden Ordnung aber sollen wir täglich daran denken, daß wir den Mut und die Pflicht zum Opfer nicht verlieren dürfen. Wir sollten auch täglich daran denken, daß verlorene deutsche Heimaten genausowenig wie verlorene Freiheiten verloren zu sein brauchen, wenn wir sie niemals aufgeben. Alle Deklamationen über die Grundlagen unserer Auffassung von der Politik sind leere Worte, wenn die Not und die Unfreiheit nicht als unsere gemeinsame Not von uns allen getragen und die Beseitigung gemeistert wird.
Nach Ansicht der Fraktion der Deutschen Partei ist der Zeitpunkt gekommen, alle außen- und innenpolitischen Möglichkeiten neu zu überdenken und neu zu überprüfen. Wir, die Generation der beiden Kriege, und wir, die Männer und Frauen, die das Opfer des deutschen Ostens und den Opfergang der ostdeutschen Menschen miterleben mußten, dürfen nur ein oberstes Ziel kennen: um die Freiheit aller Deutschen zu ringen. Und unser gemeinsamer Appell möge heute nicht nur all denen dienen, die nicht täglich an diesen Auftrag denken; er möge an das Weltgewissen genauso rühren wie an das Gewissen unseres eigenen Volkes. Wir Frauen, die wir den Krieg hassen und den Frieden lieben, wissen, wie mühsam alle Ziele zu erreichen sind. Wir sehen real, daß das Ziel der Freiheit für unsere Brüder und Schwestern in allen deutschen Heimaten im Frieden nur erreicht werden wird, wenn wir auch die Notwendigkeit einsehen, uns um den Einsatz und den Kaufpreis, um das Kennenlernen dieses Kaufpreises zu bemühen. Niemand wird uns besser verstehen als die Menschen in der Zone, die zwischen Schein und Sein oft sehr viel klarer zu entscheiden wissen als mancher in unserem westlichen Teil Deutschlands.
Nachdem — ich verhehle das nicht — gegen ernste Bedenken der Deutschen Partei ein deutscher Botschafter nach Moskau gesandt wurde und Botschafter ausgetauscht worden sind, versteht es sich von selbst — und Herr Dehler sollte auch beruhigt sein —, daß die deutschen Botschafter sich, wo immer sie stehen, nicht auf Repräsentation beschränken werden.
Die Aufzählung all der Leiden und Nöte, die ich nicht wiederholen will, soll uns aber nicht nur heute bewegen. Sie zwingt uns immer wieder, nach Wegen zu suchen, um die Freiheit unserer Landsleute endlich zu gewinnen und für die Zukunft, nachdem wir sie gewonnen haben, auch zu verteidigen. Für die Deutsche Partei ist jede Forderung unannehmbar, die die Gefährdung der Freiheit unserer Landsleute oder die Übernahme scheinbarer sozialer Errungenschaften der DDR um des Preises der Freiheit willen zum Ideal und zum Ziel hat. Als unlängst eine deutsche Bundestagsdelegation Gast in England war, hat uns ein Labour-Abgeordneter in London gewarnt, in dem Wechsel der Taktik der Sowjetmachthaber etwa einen Wechsel der Gesinnung zu sehen, und gemahnt, das von den Sowjets niemals aufgegebene Ziel ihrer Oktoberrevolution stets im Auge zu behalten. Er hat uns mit allem Ernst aus der gemeinsamen europäischen Verantwortung gebeten, doch nicht zu übersehen, daß es den Sowjets darauf ankommt, mit legalen Mitteln die Westmächte auseinanderzubringen und zum Zweck der Beseitigung der Verträge und der Verhinderung einer deutschen Nachrüstung eine neue, scheinbar andere Taktik einzuschlagen.
Die Besprechungen mit den Russen in London haben ebenfalls gezeigt, daß die Russen zwar die Abrüstung des Westens fordern, selbst aber nicht bereit sind, eine Abrüstungskontrolle zuzulassen. Auch die Entlassung von Angehörigen der Streitkräfte, die dann in Uranbergwerken und anderswo für die Kriegsproduktion eingesetzt werden, ist ebensowenig überzeugend wie die Selbstanklagen und Versprechungen, wie die Selbstkritik Grotewohls und seine Eingeständnisse auf der SED-Konferenz in Ostberlin im März. Sein Versprechen, Rechtsbrüche und Willkür endlich zu beseitigen, ungerechte Verhaftungen zu verhindern, ist nur glaubhaft, wenn die geplagten und verzweifelten Menschen der Zone ihre Sorgen und Befürchtungen in aller Öffentlichkeit, ohne Angst vor offenen Türen und Fenstern, ohne jenen uns sattsam bekannten „deutschen Blick" aussprechen können. Wenn in der Sowjetzone und in den Satellitenstaaten endlich ein Hoffnungsschimmer auf wirkliche Freiheit sichtbar würde, für den noch alle Beweise fehlen, dann könnten wir hoffen, daß die neue Taktik nicht nur neue Überlegungen, sondern auch neue Maßnahmen zur Folge haben wird.
Derselbe sehr maßgebliche englische LabourAbgeordnete, der den Mitgliedern der Bundestagsdelegation, besonders auch seinen Freunden von der Sozialdemokratischen Partei das deutsche Dichterwort: „Nur der verdient sich Freiheit wie das Leben, der täglich sie erobern muß", in Erinnerung brachte, hat uns auch darauf aufmerksam gemacht, daß in ganz Europa das Bewußtsein wächst, daß die Verteidigung der deutschen Freiheit und die Frage der deutschen Einheit eine Frage der europäischen Sicherheit und Freiheit ist.
Meine Freunde in der Deutschen Partei sind der Auffassung, daß, wenn auch die Kräfte des Herzens und des Geistes heute nicht hoch im Kurs stehen, doch alle diese Kräfte mobilisiert werden müssen, um unserem Volk den Willen zum Opfer, die Bereitschaft zum Risiko wieder in aller Verantwortung vor Augen zu führen. Wir wollen gemeinsam mit allen guten Kräften in unserem Volk darum ringen, daß in einem erneuerten deutschen Staat eine freiheitliche Ordnung geschaffen wird und eine Stabilisierung eintritt. Durch diesen Staat werden dann die Grundrechte der Freiheit, aber auch die Sehnsucht nach Ruhe, Frieden und Sicherheit, die alle Völker bewegt — ich meine den Wunsch nach Sicherheit und Frieden aus eigener Kraft —, allen Deutschen und allen Europäern gewährleistet werden.
Unsere Außenpolitik und unsere Innenpolitik haben in diesem Ziel unlösbar verbundene Aufgaben. Durch die außenpolitischen Bemühungen müssen die Weichen für die Erreichung auch der innenpolitischen Ziele gestellt werden, die für die Erhaltung der Freiheit nach innen und nach außen notwendig sind. Wir sollten darum bei allen Gesetzen, die wir in diesem Hause beschließen, bei
allen Ansprüchen, denen wir nachgeben oder denen wir uns versagen müssen, immer daran denken, daß wir die gleichen sozialen Leistungen, die gleichen Chancen zum Aufstieg, zum Erwerb, zur Erhaltung und zur Wiedergewinnung von Eigentum auch für die 16 Millionen mitgestalten müssen und in unsere Rechnung zu setzen haben, die die gleichen Ansprüche an uns anzumelden haben.
Die Wirtschaft und der Handel sind nur eins der möglichen Hilfsmittel zur Wiedervereinigung. Der Vorschlag, mit der Zone in stärkerem Umfange als bisher Handel zu treiben, hat sicher viel Bestechendes an sich. Durch verstärkte Handelsbeziehungen, so argumentiert man, könnte den deutschen Menschen in der Zone unmittelbar geholfen werden. Ihr großer Hunger nach Konsumgütern könnte mehr denn je mit unserer Hilfe gestillt werden. Hier haben wir sehr ernsthaft zu prüfen, ob diese Vorstellung real ist. Den Menschen in der Zone würde durch verstärkte Handelsbeziehungen nur dann wirksam geholfen werden, wenn sie auch unmittelbar in den Genuß der Auswirkungen dieser wirtschaftlichen Beziehungen kämen. Dabei ist das System der Zone und das Fehlen von privatwirtschaftlichen Einrichtungen ein entscheidendes Hindernis.
Nun lehnen wir selbstversändlich die wirtschaftlichen Beziehungen zur Sowjetunion nicht grundsätzlich ab. Wir glauben vielmehr, daß es an der Zeit ist, die wirtschaftlichen Beziehungen zur Sowjetunion zu normaliseren. Wir sind uns aber bewußt, daß alle wirtschaftlichen Beziehungen allein nicht die Entspannung zwischen West und Ost bewirken können. Es ist heute darauf hingewiesen worden, welchen Wert die Möglichkeiten des gemeinsamen Gesprächs bei den Aufgaben der
Verkehrspolitik, bei einer gemeinsamen Beteiligung im Alltag beim Sport, in den Feierstunden und an Feiertagen, bei musikalischen und kirchlichen Veranstaltungen, bei den großen gemeinsamen karitativen Aufgaben durch Werke der gegenseitigen Hilfe haben können. Sie sind aller hier aufgezeigt worden. Meine Freunde in der Deutschen Partei haben keine Angst, alle diese Möglichkeiten des Gesprächs zu fördern und an ihnen teilzuhaben. Es ist notwendig, daß wir täglich die Frage vor unser Gewissen stellen, ob wir dazu auch genug getan haben.
Wenn in vereinzelten Presseerklärungen im Zusammenhang mit den Ausführungen des zweiten Vorsitzenden der Deutschen Partei, Dr. von Merkatz, auf unserem Lüneburger Parteitag, hinter denen die Fraktion der Deutschen Partei geschlossen steht, unsere gemeinsame Verantwortung in der Koalition auch nur im geringsten in Frage gestellt wurde, so sei hier in aller Deutlichkeit erklärt, daß sich die Fraktion der Deutschen Partei zur Pflicht der Erfüllung der Pariser Verträge genauso bekennt, wie sie ein enges Zusammenwirken mit unseren Bundesgenossen für unerläßlich hält. Wir halten allerdings die Nachrüstung der Bundesrepublik ohne weitere Verzögerung für dringlich und lehnen mit gleicher Deutlichkeit die Verhandlungen mit der Pankower Regierung ab.
Was den Antrag der Fraktion der Sozialdemokratischen Partei angeht, so können wir dem Abs. 1 Satz 2 und vor allem dem letzten Satz des Abs. 8, daß, „unbeschadet der vorbehaltenen Rechte und Verpflichtungen der Vier Mächte gegenüber Deutschland als Ganzem, mit den in der sowjetisch besetzen Zone bestehenden Behörden alle nötigen
Besprechungen zu führen" sind, nicht zustimmen. Wir glauben, daß die Vertreter des Unrechtsregimes in der Zone nicht die geeigneten Persönlichkeiten sind, mit denen wir darüber verhandeln könnten!
— Ich will Ihnen darauf antworten, Herr Wehner; haben Sie ein wenig Geduld; ich habe Sie auch mit Geduld angehört. — Wir werden in Übereinstimmung mit dem Vorschlag der CDU der Ausschußüberweisung zustimmen und über unsere Bedenken im Ausschuß mit Ihnen sprechen.
Wir glauben, daß es an der Zeit ist — und die Macht der realen Tatsachen, die veränderte und sich täglich neu verändernde weltpolitische Situation zwingt genauso wie unsere wachsende Sorge um die schwindenden physischen und psychischen Kräfte unseres Volkes jenseits des Eisernen Vorhangs verantwortungsbewußte Politiker dazu —, nach neuen Wegen zur Beendigung der Unfreiheit in der Zone zu suchen. Wir hoffen, daß unser Bestreben von einer zielklaren Außenpolitik gestützt wird, die sich darum bemühen muß, ein Ausklammern der deutschen Frage auf der Grundlage des Status quo der Teilung Deutschlands zu verhindern und den Kalten Krieg zu beenden.
Wenn es sich als richtig erweisen sollte, daß die Gefahrenlage wirklich verändert ist, und wenn eine andere Taktik der Sowjets eine andere Art der Anpassung notwendig macht, dann sollten alle Möglichkeiten, die unsere Verbindung mit der freien Welt nicht stören, ausgewertet werden. Wenn es die Entwicklung verlangt, sollten wir, wenn sich nach verantwortungsbewußter Prüfung neue Gesichtspunkte zeigen, ohne Angst — auch ohne Angst vor dem Unter- und Hintergründigen, auch ohne Angst vor „Teufeln", wie Sie es nannten — die Voraussetzungen für neue Formen der diplomatischen Beziehungen prüfen.
Mit der praktischen Politik der Aufnahme der Beziehungen zu den Ostblockstaaten ist weder zur Oder-Neiße-Grenze noch zu dem Unrecht, das unseren Vertriebenen angetan wurde und unseren ostdeutschen Menschen noch angetan wird, eine Zustimmung gegeben. Es ist auch sicher ein Irrtum, daß es nur eines deutsch-russischen Gesprächs oder nur eines Gesprächs mit den Machthabern der Zone bedürfte, um die Wiedervereinigungsprobleme zu lösen.
Nicht nur die Westmächte, sondern auch Polen hat dabei ein Wort mitzureden.
Die Fraktion der Deutschen Partei ist in Übereinstimmung mit den in der gesamten Presse veröffentlichten Erklärungen des 2. Vorsitzenden der Deutschen Partei davon überzeugt, daß die gesamte freie Welt durch eine gemeinsame Aktion das Unrecht in der sowjetisch besetzten Zone endlich beseitigen und für die Wiederherstellung von Recht und Freiheit in allen totalitären Herrschaftsbereichen eintreten sollte. Wir sind den freien Juristen der Welt dankbar, daß sie unermüdlich den Protest der Weltöffentlichkeit wachgerufen und an das Gewissen der freien Völker appelliert haben. Ich glaube in diesem Zusammenhang nicht, daß der Vorschlag Dr. Dehlers bezüglich einer Volksbefragung ohne internationale Kontrolle
realisierbar ist. Er dürfte genau wie die Forderung nach freien Wahlen noch für lange Zeit auf den Widerstand der sowjetischen Machthaber stoßen und an ihren Methoden der fortgesetzten Verletzung freiheitlicher Prinzipien scheitern.
Statt dessen glaube ich aber, daß die Russen wie die Machthaber der Zone nicht ausweichen dürften, ihre eigenen Forderungen nach gemeinsamen Gesprächen in Freiheit zu realisieren. Die Deutsche Demokratische Republik sollte den Mut aufbringen, ihren Bürgern jede Möglichkeit des Gesprächs mit Freunden und Verwandten im Westen zu gestatten. Sie sollte freie Diskussionen in Schulen, Universitäten und in der Öffentlichkeit zulassen. Sie sollte endlich die Briefkontrolle und das Versagen der Reisegenehmigung aufgeben. Ich könnte mir auch vorstellen, daß eine Vereinbarung zwischen dem Rundfunk der DDR und unseren Rundfunkanstalten über ein freimütiges Gespräch, eine halbe Stunde Diskussion zwischen Ost und West vieles dazu beitragen könnten, in Offenheit die Probleme der gemeinsamen deutschen Not zu diskutieren. Wenn es der DDR wirklich ehrlich ist um solche Gespräche, die sie fordert, muß sie alles tun, um sie zu ermöglichen. Auch wir sollten den Mut haben, noch mehr als bisher jede Gelegenheit des Zusammenseins mit den Menschen der Zone zu ergreifen. Insofern stimme ich mit dem, was die Kollegen von der Sozialdemokratischen Partei gesagt haben, durchaus überein. Die Westmächte sollten dazu beitragen, daß unter ihrer Kontrolle ein Organ des Kontakts zwischen Ost und West — und das ist die Antwort, Herr Wehner, die ich Ihnen jetzt gebe — aus unabhängigen Persönlichkeiten gebildet wird, aus Persönlichkeiten aus Kreisen der Kirchen, der Universitäten, aus Wissenschaft und Forschung, aus der Welt des Geistes und aus dem Kreis derjenigen, die sich in der Nächstenliebe betätigen, die allgemeines Vertrauen und allgemeines Ansehen besitzen — wir alle kennen solche Persönlichkeiten in Ost und West —, aus einem Kreis von Männern und Frauen, die Mut zur Unabhängigkeit und Kraft der Überzeugung haben, ohne sich mit Pankow zu identifizieren. Schon im Oktober 1953 hat die Fraktion der Deutschen Partei vorgeschlagen, Gespräche zwischen freiheitlich gesinnten Vertretern der ost- und mitteleuropäischen Nachbarstaaten Deutschlands in Gang zu bringen und vorzuschalten, um zu einer friedlichen Regelung der Wiedervereinigungsprobleme zu kommen und damit künftige freie Wahlen vorzubereiten.
Eine solche Aussprache zwischen Ost und West ist aber nur auf der Grundlage einer demokratischen Legitimation möglich, mit einem in freiheitlicher Methode gewählten oder bestellten vorbereitenden Organ. Wenn Grotewohl wirklich will, dann kann er diese Voraussetzungen vorbereiten durch den eigenen Rücktritt und durch den Rücktritt seiner Regierung und durch die Bereitschaft seiner Regierung, solche Legitimation durch wirklich freie und geheime Wahlen zu schaffen. Zum mindesten sollte er dann seine sowjetischen Freunde darum ersuchen.
In einer frühen Ausgabe der Bismarckschen Erinnerungen steht das Widmungswort: „Den Söhnen und Enkeln zum Verständnis der Vergangenheit und zur Lehre für die Zukunft." Es wiederholt sich in der Geschichte seltsamerweise vieles. Aber es wiederholt sich in der Geschichte des einzelnen wie der der Völker seltsamerweise auch, daß die Menschen aus der Geschichte nicht lernen.
— Ich freue mich über diese Übereinstimmung, die ich mit Ihnen in diesen grundsätzlichen Fragen habe.
Trotz allen Wundern von Fortschritt und Technik, trotz Atomzeitalter sind die Probleme, die den Generationen gestellt werden, gar nicht so unterschiedlich. Es hat sich leider immer wiederholt, daß es die Alten, die Einsamen und vor allem die Frauen eines Volkes sind, die die Last der Notzeiten besonders zu tragen haben.
Ich wiederhole: Das oberste Gesetz aller unserer Bemühungen bleibt die Bewahrung der Freiheit, die Herstellung der Einheit Deutschlands in Zusammenarbeit mit den Partnern der Bundesrepublik und die Bewahrung des Friedens durch friedliche Auseinandersetzung mit den Machthabern der Zone.
Trotz allem Unglück und allen zum Trotz, die es bestreiten wollen, gibt es noch eine unzerstörbare Einheit des nationalen Empfindens aller Deutschen. Es gibt noch ein Gefühl für unlösbare Bande eines gemeinsamen Schicksals, einer gemeinsamen Not.
Das Menschliche, das heute hier von allen Rednern so offen und bewegend angeklungen ist, das Menschliche aber sollte das oberste Gesetz unseres Handelns sein. Das tägliche Denken an die gequälten alten Menschen, an die fliehende Jugend, an die einsamen Gräber der Zone — das alles darf uns niemals ruhig schlafen lassen. Die Sorge um Freiheit und Frieden für alle deutschen Menschen wird uns auch den Mut geben, bisher Ungewohntes und vielleicht in der Zukunft auch Ungewöhnliches zu tragen.
Wenn Grotewohl mit seinen Genossen wirkliche Entspannung wünscht, dann möge er mit ihnen alles tun, um an Stelle der bisherigen Deklamationen durch Taten zu zeigen, daß er den Menschen in der Zone nicht neue Enttäuschungen und nicht neues Leid zumuten will. Dann möge er endlich — es ist heute schon ausgesprochen worden — die Tore der Zuchthäuser öffnen und denen die Angst um Leben und Sicherheit nehmen, die noch tagtäglich und stündlich um ihre Freiheit zittern müssen.
Der Standpunkt eines politischen Machtkampfes ist dabei kein guter Berater. Was der stellvertretende Ministerpräsident Rau in der Zone vertrat, als er die Todesstrafe für politische Vergehen verteidigte mit den Worten: „Die Frage kann nur vom Standpunkt der Macht der Arbeiterklasse gesehen werden" — diese Auffassung lehnt die Fraktion der Deutschen Partei mit aller Entschiedenheit ab. Dem Machtstandpunkt und dem parteipolitischen Machtkampf sollten wir immer wieder den gemeinsamen, Willen, den wir heute hier bekundet haben, entgegensetzen, und wir sollten gemeinsam uns immer wieder in Fragen der Not- und Schicksalsgemeinschaft unseres Volkes und unserer Brüder und Schwestern finden.
Es gibt sicher, und wer ehrlich ist, wird es mir zugeben, kein Rezept und kein Heilmittel, mit dem ad hoc eine Klarheit über Lüge und Wahrheit in der Zone zu erhalten ist. Es gibt sicher auch keinen totalen Vorschlag, der sofort realisierbar würde und sofort zum Ziel führte. Es gibt aber die Zuversicht, daß die Kraft unserer Überzeugung und die
Stärke unseres Willens vereint mit der Kraft der Herzen und des Glaubens eines unlösbar miteinander verbundenen Volkes dazu beitragen wird, die Opferbereitschaft und die Bereitschaft zum Tragen des Risikos auch bei denen zu wecken, die sich allem bisher noch verschlossen haben. Wir sind besorgt darum, daß die Sorge um die eigene Sicherheit und Sattheit und das Schreien organisierter Gruppen nach immer mehr Sicherheit nicht den Willen ersticken möchte zur Verteidigung der Freiheiten für alle Deutschen.
Die Geschichte unseres Volkes, aber auch die Erfahrungen unserer Generationen sollten eine gute Lehrmeisterin sein. Wir, die wir als die Vertriebenen des deutschen Ostens die bitteren Erfahrungen der blutenden Grenze nach 1918, die Opfer vor und nach 1939 und den Opfergang des deutschen Ostens nach dem Zusammenbruch miterlebt haben, wir sind einig, und ich persönlich bin es auch mit dem Kollegen Brandt, in der Feststellung, daß der deutsche Osten diese Zeche nicht allein bezahlen darf.
Wenn die Geschichte eine Lehrmeisterin ist, so sollte uns Hoffnung daraus werden, wenn wir uns zurückerinnern an jene Zeit nach dem Tilsiter Frieden, als das Reich zerschlagen und die staatliche Einheit zerstört war, aber das Band des gemeinsamen Schicksals nach der geschichtlichen Erfahrung um so enger geknüpft wurde. Im Frieden zu Tilsit verlor Preußen die Hälfte seines Gebiets; aber gerade die Not und das Unglück jener dunklen Tage deutscher Geschichte schufen ein neues Bewußtsein zur Erneuerung des Staates und eine nie dagewesene Bereitschaft zum Opfern und zum Zusammenstehen der Deutschen, die damals unter der Führung des Nassauers Stein, des Altpreußen Humboldt, des Hannoveraners Scharnhorst und des Württembergers Gneisenau gemeinsam die Erneuerung vorbereiteten.
Wir haben in diesen Jahren in gemeinsamen Anstrengungen die Trümmer unserer Städte und die Trümmer unserer Arbeitsplätze beseitigt. Jetzt ist es höchste Zeit, die Trümmer unserer Zerrissenheit aus einer tiefen menschlichen Verpflichtung endlich zu beseitigen. Wieder ist die Einheit des Reichs zerschlagen. Aber die Einheit des deutschen Volkes als lebendig wirkende Kraft aus dem gemeinsamen Schicksal unserer Geschichte, dem Erbe unserer Muttersprache, den ewigen Quellen unserer Kultur und dem Vermächtnis der Heimat ist unzerstörbar. Aus diesem Gefühl der unzerreißbaren Verbundenheit mit unseren Landsleuten und mit unseren deutschen Heimaten werden wir in Fragen des deutschen Gewissens und der Nation mit allen Männern und Frauen in diesem Hause hoffentlich einig sein. Sie sollten nicht nur zuhören, wenn die Sprecher Ihrer eigenen Fraktion sprechen. In den Schicksalsfragen der Nation werden wir uns von niemandem, von keinem anderen Volk, aber auch von keiner anderen politischen Partei übertreffen lassen in dem Ziel, im Unglück erst recht zusammenzustehen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Henn.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Für meine politischen Freunde von der Demokratischen Arbeitsgemeinschaft habe ich die Erklärung abzugeben, daß auch wir mit allem
Nachdruck darauf hinweisen, daß bisher die Machthaber der Sowjetzone über unverbindliche Erklärungen hinaus keine hinreichenden Beweise ihres Willens zur Durchführung der entsprechenden Maßnahmen nach den Erklärungen von Spitzenfunktionären auf der dritten Parteikonferenz der SED im März dieses Jahres in Ostberlin gegeben haben und daß bisher noch keine grundsätzlichen Ansätze zu erkennen sind, die auf einen echten Gesinnungswandel der Machthaber der Sowjetzone und der das politische Leben in der Sowjetzone bestimmenden SED schließen lassen. Ich werde das im Laufe meiner Ausführungen an Hand von Beispielen erhärten, die Gebiete des öffentlichen Lebens in der Sowjetzone berühren, welche heute noch nicht angesprochen sind. Ich bin gebeten worden, mich wegen der vorgeschrittenen Zeit kurz zu fassen. Ich will das tun und will nur zu dem Punkt der Großen Anfrage sprechen, zu dem, glaube ich, noch etwas gesagt werden muß.
In Teil I Ziffer 9 der Großen Anfrage wird danach gefragt, ob es zutrifft, daß seit Anfang dieses Jahres durch die Bildung von „Produktionsgenossenschaften" der Druck auf das Handwerk verschärft worden ist. Die Bundesregierung hat in ihrer Antwort diesen Tatbestand bejaht. Ihren Ausführungen ist mit Bezug auf das Handwerk nichts hinzuzufügen. Aber das Gebiet der betroffenen Wirtschaft umfaßt ja nicht nur das Handwerk. Es ist heute von einer öffentlichen Bestandsaufnahme gesprochen worden, die in bezug auf die Sowjetzone durchgeführt werden müsse. Da müssen wir doch auch fragen, ob in den Bereichen der privaten Wirtschaft, die in der Sowjetzone noch bestehen, in der Landwirtschaft, in der privaten Industrie und im privaten Handel diese Grundsätze, die auf der dritten Parteikonferenz verkündet worden sind, auch tatsächlich zur Anwendung kommen. Wir müssen das Gegenteil feststellen. Gerade in den letzten Monaten wurde deutlich, daß die SED zu immer brutaleren und hinterhältigeren Methoden übergeht, um die Liquidation der noch bestehenden Privatbetriebe einzuleiten und durchzuführen. Das Unrecht, das in der Zone geschieht, äußert sich nicht allein darin, daß Menschen in die Zuchthäuser und in die Gefängnisse geworfen werden; das Unrecht geschieht auch laufend dadurch, daß Existenzen vernichtet werden, und es geschieht durch die Methoden dieser Existenzvernichtung. Über diese Methoden möchte ich hier zu Ihnen kurz sprechen. Ich bitte nochmals um Verständnis dafür, daß ich wegen der Kürze der Zeit auf all die anderen Fragen, die in der Großen Anfrage berührt sind und die auch uns, besonders nach der Antwort der Bundesregierung, zutiefst bewegen, vor allem das Schicksal der Gefangenen, hier nicht eingehe.
In wirtschaftlicher Hinsicht hat sich auf dem Gebiet der Landwirtschaft nach der Beendigung des 3. Parteitages der SED in der Sowjetzone nichts geändert. Nach wie vor wird die Kolchosierung der Landwirtschaft vorangetrieben, und die Geheimanweisungen des Zentralkomitees der SED an die Bezirkssekretariate der SED sind nicht zurückgezogen worden. Nach diesen Geheimanweisungen soll die gesamte Landwirtschaft der Zone bis zum Ende des zweiten Fünfjahresplans 1960 zumindest zu 80 Prozent in Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften zusammengeschlossen sein.
Diese Maßnahme wird unterstützt durch die ver-
schiedensten Erleichterungen für Landwirtschaft-
liche Produktionsgenossenschaften gegenüber den selbständigen Bauern. So ist im Gesetzblatt der sogenannten DDR vom 7. Mai 1956 festgelegt, daß die Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften in der Ablieferungsnorm zur Pflichtablieferung von tierischen und pflanzlichen Produkten in den Betriebsgrößengruppen von 5 bis 10 ha veranlagt werden. Das bedeutet, daß durchschnittlich die geringste Ablieferungsnorm für die Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften festgelegt ist. Die Feststellungen haben ergeben, daß eine Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaft in der Größe von 350 ha die gleiche Menge an Markterzeugnissen aufzubringen hat wie ein bäuerlicher Betrieb in der Größe von 35 bis 50 ha.
Am 22. Januar 1955 wurden Arbeitstarife für die Maschinentraktorenstationen unterschiedlich nach den Betriebsgrößen für die zu leistenden Arbeiten festgelegt. Die Einstufung erfolgte in Tarifgruppen von I bis IV und wurde aufgegliedert nach Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften, Betrieben von 0 bis 10 ha, 10 bis 20 und über 20 ha landwirtschaftlicher Nutzfläche. Danach hat die Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaft für das Pflügen über 25 cm Tiefe 19 Mark je Hektar zu zahlen, während die Wirtschaften über 20 ha landwirtschaftlicher Nutzfläche 41 Mark je Hektar zahlen müssen. Das bedeutet eine Bevorzugung der Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften gegenüber den selbständigen Bauern mit einem Besitz von über 20 ha, eine Beorzugung von über 100 %.
In der gleichen Weise sind auch die anderen landwirtschaftlichen Arbeiten gestaffelt worden. Alle entsprechenden Anweisungen sind nicht aufgehoben worden. Nach wie vor besteht die Anweisung, daß selbständigen Bauern keine Arbeitskräfte zu vermitteln sind und die sogenannten „freiwilligen Arbeitseinsätze" an Sonn- und Feiertagen Arbeiten bei selbständigen Bauern nicht verrichten dürfen. Ebenfalls haben die staatlichen Kreiskontore für landwirtschaftlichen Bedarf noch immer die Anweisung, daß den selbständigen Bauern keine Großmaschinen wie Traktoren, Dreschmaschinen, Melkanlagen usw., zugeteilt werden dürfen, da diese Produktionsmittel ausschließlich für die Maschinentraktorenstationen oder die Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften bestimmt sind. In der Geheimanweisung vom 29. Dezember 1952 werden den Mitgliedern, die einer Produktionsgenossenschaft beigetreten sind, neben der Einkommensteuer, der Umsatz- und der Vermögensteuer die Grundsteuer und die sonstigen gemeindlichen Steuern zu 25 % gestrichen. Auch diese Anweisung besteht nach dem 3. Parteitag weiter und wird auch weiterhin durchgeführt. Das waren nur einige Beispiele aus der Landwirtschaft; sie könnten beliebig vermehrt werden. Die Willkür- und Unrechtsmaßnahmen in der Landwirtschaft der sowjetischen Besatzungszone, die 1945 mit der Durchführung der Bodenreform sehr schnell Formen annahmen, denen jede gesetzliche Grundlage fehlte, sind bis zum heutigen Tage fortgesetzt und immer weiter entwickelt worden.
Auch in der sonstigen privaten Wirtschaft, in der Industrie und im Gewerbe, sind Willkür und Unrecht und Existenzvernichtung auch nach den entgegengesetzten Ankündigungen auf dem 3. Parteitag der SED gang und gäbe. Nur die plumpen
Methoden der Enteignung nach 1945 haben sich geändert, und es sind immer raffiniertere und immer hinterhältigere Methoden der Existenzvernichtung entwickelt worden.
Das Neueste ist die staatliche Kapitalbeteiligung an Privatbetrieben. Die erste Andeutung über eine staatliche Kapitalbeteiligung tauchte in den Beschlüssen des 25. Plenums des Zentralkomitees der SED im Oktober 1955 auf. Seitdem wurde seitens der SED die staatliche Kapitalbeteiligung bei volkswirtschaftlich wichtigen Privatbetrieben immer stärker in den Vordergrund gestellt. Die Sowjetzonenparteien, die Industrie- und Handelskammern der Zone, die sowjetzonalen Banken und Verwaltungen haben diese Methode sehr stark propagiert. Angestrebt wird eine staatliche Kapitalbeteiligung über die Investitionsbank, wobei der Kapitalanteil des Staates mindestens 50 % betragen soll. Der Unternehmer verliert damit seine Selbständigkeit. Er wird Angestellter des Betriebs. Der Betrieb selbst gilt dann als dem Volkseigentum gleichgestellt.
In den letzten Wochen ist seitens offizieller Organe der Zone offen erklärt worden, daß diese Kapitalbeteiligung einen weiteren Schritt zum Sozialismus bedeute und daß die Betriebe endlich einsehen müßten, daß nur dieser Weg über die Kapitalbeteiligung geeignet sein könne, die Existenz der Betriebe überhaupt auf die Dauer zu erhalten.
Zahlreiche Betriebe haben einen Kapitalbedarf, aber sie lehnen nach Möglichkeit diese Form der staatlichen Kapitalbeteiligung ab. Die Folge war, daß man in den letzten Wochen zu erheblichen Zwangsmaßnahmen überging, einmal, indem man Kredite, die durch die staatlichen Banken der Zone gegeben waren, in staatliche Kapitalbeteiligungen umwandelte, und zum andern, indem die Unterabteilung Abgaben der Finanzverwaltung sogenannte steuerliche Tiefenprüfungen durchführte und mehr oder weniger willkürlich hohe Steuerfehlbeträge errechnete. Entweder raten dann die Tiefenprüfer der Abgabenverwaltung dem Unternehmer unmittelbar zur Aufnahme einer staatlichen Kapitalbeteiligung — wobei die festgesetzten Steuermehrbeträge in der Regel 51 % des Gesamtkapitals des Unternehmens ausmachen —, oder aber die Betriebsprüfer wenden sich mit Unterstützung der sowjetzonalen gewerkschaftlichen Organisation an die Arbeiterschaft des privaten Unternehmens, halten dieser die Forderung des staatlichen Haushalts vor und drohen mit Liquidierung des Betriebes und damit Verlust des Arbeitsplatzes. Sie wollen dadurch die Arbeiter veranlassen, einen Druck auf diese privaten Unternehmer auszuüben und sie zu einer staatlichen Kapitalbeteiligung zu zwingen.
Ganz allgemein verschärft sich die Kontrolle des privaten Unternehmers in der Zone in den letzten Monaten in einer bisher nicht zu verzeichnenden Weise. Der sowjetzonale Freie Deutsche Gewerkschaftsbund ist in letzter Zeit dazu übergegangen, sogenannte Arbeiterkontrolleure in den Privatbetrieben auszuwählen und sie für die Durchführung bestimmter Aufgaben zu schulen. Die hauptsächliche Aufgabe besteht darin, den privaten Unternehmer in seiner geschäftlichen Praxis ebenso wie in seiner Lebenshaltung ständig zu überwachen. Praktisch schafft sich damit die sowjetzonale Gewerkschaft einen eigenen Spitzelapparat in den Privatbetrieben und veranlaßt die Arbeitnehmer zur Spitzeltätigkeit bzw. zur Denunziation
der Unternehmer. Dieser Arbeiterkontrolleure bedienen sich auch die Tiefenprüfer der Unterabteilung Abgaben. Die Betriebsprüfer der Abgabenverwaltung wurden Ende Februar beauftragt, auch von sich aus die Anwerbung derartiger Arbeiterkontrolleure in den Privatbetrieben vorzunehmen. In einer vorliegenden Anweisung heißt es:
Die Betriebsprüfer sind so anzuleiten, daß sie selbst fortschrittliche Werktätige in den Betrieben für die Mitarbeit werben.
Weiter ist in der gleichen Anweisung gesagt, daß die Betriebsprüfer der Abgabenverwaltung eine ständige Verbindung zum FDGB unterhalten und daß anzustreben ist, daß auch der FDGB versucht, in stärkerem Maße als bisher Arbeiterkontrolleure zu werben.
Darüber hinaus sollen die Betriebsprüfer in Zukunft auch die sogenannten Abschnittsbevollmächtigten der Volkspolizei und die Straßenvertrauensleute zu den Prüfungen der Privatbetriebe heranziehen. In einer vorliegenden Unterlage vom 6. März 1956 sind diesbezüglich den Betriebsprüfern der Abgabenverwaltung Aufgaben gestellt, als deren Erfüllungstermin der 31. März 1956 festgestellt wurde. Punkt 3 dieser Anweisung betrifft die Schulung der Abschnittsbevollmächtigten der Volkspolizei. Dabei werden neue Prüfmethoden der Abgabenverwaltung erläutert.
Mit diesen Dingen ist nichts anderes zum Ausdruck gebracht, als daß in Zukunft die Finanzprüfer der Abgabenverwaltung Auskünfte bei den Arbeiterkontrolleuren in den Privatbetrieben, bei den Abschnittsbevollmächtigten der Volkspolizei und bei den Hausvertrauensleuten der „Nationalen Front" einholen. Es versteht sich von selbst, daß dabei nicht nur sachliche Dinge erörtert werden, sondern damit der Diffamierung und Denunziation Tür und Tor geöffnet werden, ja daß diese sogar besonders gefördert werden. Aus Auskünften von Angestellten der Abgabenverwaltung geht hervor, daß die Arbeiterkontrolleure die Anweisung haben, auf alle Kleinigkeiten innerhalb des Betriebes zu achten, z. B. darauf, welche Zeitungen der Unternehmer liest, ob er Westkorrespondenz empfängt, ob er westdeutsche Besucher empfängt, ob er bestimmte Waren ohne Rechnung verkauft, wer mit ihm innerhalb des Betriebes besonders eng und vertrauensvoll zusammenarbeitet, wie die Lebenshaltung des Unternehmers ist, ob er Gasthäuser und Cafés aufsucht, ob er den Geschäftswagen zu Privatfahrten benutzt, woher er das Benzin dafür bekommt usw. usw.
Der Abschnittsbevollmächtigte der Volkspolizei soll Angaben über die politische Haltung des Unternehmers machen, ob er zu den nationalen Feiertagen das Haus schmückt, ob die Ehefrau des Unternehmers gegebenenfalls gehässige Äußerungen beim Einkauf macht und dergleichen. In ähnlicher Richtung bewegen sich auch die Anweisungen für die Haus- und Straßenvertrauensleute.
Seit März 1956 steht die gesamte Privatwirtschaft in der Sowjetzone im Zeichen einer neuen Entwicklung. Einmal sind die Betriebe ohne Ausnahme in das staatliche Vertragsverfahren eingeschaltet, andererseits werden ihnen systematisch Aufträge entzogen und wird damit zwangsläufig die Liquidation der Betriebe verursacht. Es handelt sich dabei nicht etwa um Einzelmaßnahmen, sondern um systematische und von zentraler Stelle aus gelenkte Maßnahmen der Regierung der SBZ.
Es hat mir ein Fernschreiben des Ostberliner Magistrats vom 15. Januar 1956 vorgelegen, das ich mit Erlaubnis des Herrn Präsidenten hier verlesen darf. Es heißt darin wörtlich:
Die Schaffung der Grundlagen des Sozialismus verlangt die schnelle Entwicklung der volkseigenen Wirtschaft und die Steigerung ihres Anteils an Produktion und Warenumsatz.
Entgegen diesem Grundsatz haben verschiedene Dienststellen des Magistrats ohne zwingende Notwendigkeit Aufträge an Privatbetriebe vergeben.
Ich weise darauf hin, daß es zu den selbstverständlichen Pflichten aller Organe der Staatsmacht, ihrer nachgeordneten Dienststellen und Einrichtungen gehört, Aufträge aller Art grundsätzlich nur an volkseigene oder genossenschaftliche Betriebe zu erteilen. Eine andere Handlungsweise ist eine Verletzung des Grundsatzes, daß alle Mitglieder der Organe der Staatsmacht jederzeit die Grundlagen unserer volksdemokratischen Ordnung zu festigen haben. Sie ist ein Verstoß gegen die Disziplinarordnung vom 13. 5. 1955 und wird in Zukunft entsprechend disziplinarisch bestraft werden.
Unterschrieben ist dieses Fernschreiben von dem Bürgermeister von Ost-Berlin, Ebert.
Das heißt doch alles nichts anderes, als daß jeder Staatsangestellte in Zukunft bestraft wird, der im Rahmen seiner dienstlichen Tätigkeit Aufträge an Privatbetriebe vergibt. Wir wissen, daß es nicht nur bei dieser Drohung geblieben ist; es sind uns eine ganze Reihe von Einzelfällen bekannt, wo Angestellte der Verwaltung oder von volkseigenen Betrieben — bestraft worden sind, weil sie Aufträge an Privatbetriebe weitergegeben haben.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Abgeordneter, wollen Sie bitte einen Moment unterbrechen!
Meine Damen und Herren, wir haben heute wiederum die Ehre, eine Gruppe von sechs Mitgliedern des englischen Unterhauses in unserer Mitte zu sehen.
Ich darf diese Gruppe im Namen des ganzen Hauses und in meinem eigenen Namen auf das herzlichste begrüßen.
Bitte, wollen Sie fortfahren!
Auch rim Handel in der Sowjetzone macht sich ein verschärfter Kampf bemerkbar. Im März dieses Jahres sind systematische Schulungen im genossenschaftlichen staatlichen Handel angelaufen, in denen als Thema die weitgehende Ausschaltung des privaten Handels behandelt werden mußte. Zu diesem Zweck hatte das Ministerium für Handel und Versorgung der Zone ein besonderes Schulungsheft herausgegeben, das ich mit Interesse studiert habe. Es hat die Oberschrift: „Was geschah in der Verkaufsstelle 308?" In der für diese Schulung herausgegebenen Referentenanweisung heißt es, daß jeder Angehörige des sozialistischen und genossenschaftlichen Handels sich darüber im klaren sein muß, daß in die-
sen Jahren der Beweis dafür erbracht werden muß, daß der sozialistische Handel besser ist als der privatkapitalistische. Der Tenor der Schulung steht unter der Fragestellung: „Wer-Wen?", d. h. wer vernichtet wen? Erreicht wird dieses Ziel dadurch, daß die Umsatzmenge des privaten Handels systematisch verringert wird. Trotz aller gegenteiligen Behauptungen ist dem sozialistischen und genossenschaftlichen Handel der Auftrag erteilt worden, sein Verteilernetz im Jahre 1956 wesentlich zu erweitern. Ein Konsumverband hat beispielsweise für 1956 die Auflage bekommen, 43 weitere Verkaufsstellen einzurichten. Ein Neubau von Verkaufsstellen ist nicht vorgesehen; man hat vor, wie bisher auf bestehende Privatgeschäfte zurückzugreifen, deren Inhaber durch entsprechende steuerliche und finanzpolitische Maßnahmen zur Liquidation oder zur Flucht veranlaßt werden. Die Ausweitung der volkseigenen und genossenschaftlichen Wirtschaft vollzieht sich uneingeschränkt nach wie vor auf Kosten und aus der Vermögenssubstanz der privaten Wirtschaft.
Die Verhaftungen und Verurteilungen privater Unternehmer wegen geringfügiger Steuerrückstände sind auch nach der neuesten politischen Entwicklung der Zone nicht eingestellt worden. Immer wieder geschieht es, daß privaten Unternehmern wegen Wirtschaftsstrafvergehen ein Prozeß gemacht wird, weil sie infolge ständigen Umsatzrückgangs ihren steuerlichen Verpflichtungen nicht mehr pünktlich genug nachkommen können.
Hier ist eines bemerkenswert. Der private Hersteller wird gleichzeitig als Akziseträger für Sondersteuern benutzt. Die auf jedes anfallende Erzeugnis entfallende Akzise ist jeweils in Zeiträumen von zehn Tagen von dem privaten Unternehmer an den Staatshaushalt abzuführen. Da die Lieferungen aber erst nach vier, sechs oder neun Wochen, oft auch noch später, bezahlt werden, hat der private Unternehmer die Akzise vorab, also vor Bezahlung der Rechnung zu zahlen. Häuft sich die nicht pünktliche Bezahlung der Rechnungen, so gerät der Unternehmer zwangsläufig in Zahlungsschwierigkeiten, weil er einfach nicht in der Lage ist, neben den laufenden Betriebsausgaben auch die Beträge für die Vorfinanzierung der Steuern aufzubringen. In solchen Fällen wird ihm dann der Vorwurf der Gefährdung des Staatshaushalts gemacht und werden alle die Maßnahmen gegen ihn eingeleitet, von denen ich vorhin sprach.
Ich glaubte, daß diese Mitteilung über die Methoden der Willkür und des Unrechts und der systematischen Existenzvernichtung auf dem Gebiete der Wirtschaftspolitik in der Zone hier und heute noch gemacht werden mußte, damit in einer öffentlichen Bestandsaufnahme die Situation in der Zone so klargestellt werden kann, wie wir uns das zum Ziel gesetzt hatten.
Ich habe Ihre Zeit durch diese notwendigen Ergänzungen zu dem bereits Gesagten schon reichlich in Anspruch genommen. Ich möchte meine Feststellungen damit schließen, daß wir von der Demokratischen Arbeitsgemeinschaft alle Maßnahmen der Bundesregierung begrüßen, die sie zur Erleichterung im Verkehr der Menschen zwischen den beiden Teilen Deutschlands und zur Förderung innerdeutscher wirtschaftlicher und kultureller Beziehungen durchgeführt und eingeleitet
hat. Insbesondere begrüßen wir alle Schritte der Bundesregierung, die zu einer Normalisierung der Lage in Berlin führen können, und bitten alle in dieser Hinsicht gegebenen Möglichkeiten auszunutzen.
Aber eine Normalisierung geht allen anderen Normalisierungen voraus, und das ist die Normalisierung, die wir fordern müssen im gesamtdeutschen Interesse, die Normalisierung der Zustände in der Sowjetzone. Aus der Zone der Willkür und des Unrechts muß wieder ein Teil Deutschlands mit rechtsstaatlichen Zuständen werden. Das ist eine entscheidende Voraussetzung für alle wirklich realen Bestrebungen auf Wiedervereinigung. Mit Einheit allein ist es nicht getan. Das wiedervereinigte Deutschland muß ein Deutschland des Rechts und der Freiheit sein. Die hinterhältigen Methoden der Willkür und des Unrechts, wie sie heute in der Sowjetzone praktiziert werden, Methoden, deren Ergebnisse völlig im Gegensatz stehen müssen zu dem, was in der Zone auf Kongressen und Tagungen von den Spitzenfunktionären verkündet wird, erscheinen uns mit als das schwerste Hindernis für ein Zusammenwachsen der getrennten Teile Deutschlands, für eine Wiedervereinigung in Freiheit. Wir halten diesen eklatanten Widerspruch zwischen Ankündigungen und Zielsetzungen einerseits und den angewandten Methoden andererseits deswegen für so verhängnisvoll, weil er allgemein zu größten Zweifeln an der Glaubwürdigkeit von Versicherungen der Sodjetzonenmachthaber führt.
Wer darf es denn wagen, den ständigen Bekundungen der Zonenmachthaber für die Wiedervereinigung zu glauben, ohne in Rechnung zu setzen, daß sie wie auf allen anderen Gebieten auch hier „Einheit" nur sagen und tatsächlich ganz andere Zielsetzungen verfolgen?! Meine politischen Freunde und ich sind auf jeden Fall der Überzeugung, die ich einleitend mit der Zustimmung zu der Erklärung der Bundesregierung zum Ausdruck gebracht habe: daß noch keine Ansätze zu erkennen sind, die auf einen echten Gesinnungswandel der Machthaber der Zone und der das politische Leben in der Sowjetzone allein bestimmenden SED schließen lassen.
Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die Aussprache.
Dem Hause sind inzwischen auf den Umdrucken 608, 609 und 610 Anträge vorgelegt worden. Zu dem Antrag der Fraktionen der SPD, der FDP und des GB/BHE Umdruck 609*) gebe ich dem Herrn Abgeordneten Dr. Lenz das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Namens der CDU/ CSU-Fraktion habe ich zu erklären, daß wir diesem Antrag zustimmen werden, aber davon ausgehen, daß dadurch nicht neue Sonderrechte für den Ausschuß geschaffen werden.
Meine Damen und Herren, für den Antrag Umdruck 609 ist keine Überweisung an den Ausschuß beantragt. Ich habe
*) Siehe Anlage 3.
verstanden, daß für die Anträge Umdrucke 608 und 610 Ausschußüberweisung beantragt ist.
Wir kommen zunächst zur Abstimmung über den Antrag Umdruck 609*). Wer diesem Antrag zustimmen will, den bitte ich um ein Handzeichen. — Gegenprobe! — Dieser Antrag ist einstimmig angenommen.
Ich komme zu dem Antrag Umdruck 608**). Hier ist Überweisung an den Ausschuß für Gesamtdeutsche und Berliner Fragen und an den Ausschuß für auswärtige Angelegenheiten beantragt. Wer dieser Überweisung zustimmen will, den bitte ich um ein Handzeichen. — Gegenprobe! — Es ist so beschlossen.
Umdruck 610***). Hier ist Überweisung an den Ausschuß für Gesamtdeutsche und Berliner Fragen, an den Auswärtigen Ausschuß und an den Ausschuß für Jugendfragen beantragt. Wer der Überweisung des Antrags Umdruck 610 an diese drei Ausschüsse zustimmen will, den bitte ich um ein Handzeichen. — Gegenprobe! — Es ist so beschlossen.
Damit ist der Punkt 1 der heutigen Tagesordnung erledigt.
Ich rufe auf Punkt 2:
Große Anfrage der Abgeordneten Mellies, Dr. Reif, Feller und Genossen betreffend Verfassungsklage wegen des Reichskonkordats .
Zur Begründung der Großen Anfrage hat das Wort der Herr Abgeordnete Dr. Arndt.
Dr. Arndt , Anfragender: Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In einer Konkordatsdebatte des Reichstages hat der Sprecher der Bayerischen Volkspartei eine damals seltsame Berner-kung gemacht. Der Abgeordnete Dr. Pfleger äußerte, vielleicht könne die Zeit wiederkommen, wo auch Angehörige der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands in einem bischöflichen Palais um Schutz für ihre Person nachsuchen. Das war am 17. Juni 1925. Nur wenige Jahre später bot auch ein bischöfliches Palais keinen sicheren Schutz mehr. Da wurden katholische Geistliche um ihres Glaubens willen und sozialdemokratische Politiker wegen ihrer sittlichen Überzeugung auf dieselbe Weise von den gleichen Henkersknechten in den nationalsozialistischen Konzentrationslagern gemartert und hingemordet. Vor dem Schwurgericht am Sitz dieses Bundestages wird sich in nächster Zeit ein SS-Mann zu verantworten haben, von dessen Hand der katholische Geistliche und Zentrumsabgeordnete Professor Schmittmann und der sozialdemokratische Chefredakteur Dr. Lothar Erdmann einen qualvollen Tod erlitten.
Ich stelle diese geschichtliche Erfahrung an den Anfang meiner Rede als ein Mahnmal, weil das Vermächtnis der Opfer im gemeinsamen Leiden und Sterben uns die Aufgabe, gemeinsam zu leben, verpflichtender stellt als je zuvor. Ich beginne damit, diese schmerzliche Erinnerung heraufzubeschwören, aber auch deshalb, weil zu befürchten ist, daß ihre Lehren allzu flüchtig einem unverantwortlichen Vergessen zu verfallen drohen. Nach 1945 ist zwar die Zusammengehörigkeit der katholischen und evangelischen Kirche, leider allerdings nicht immer aus dem richtigen Blickwinkel und aus
*) Siehe Anlage 3. **) Siehe Anlage 2. ***) Siehe Anlage 4.
einer zweckfreien Unparteilichkeit, viel berufen worden. Kaum jedoch hat man sich ein Gedächtnis dafür bewahrt, daß es in Deutschland eine Vielheit sittlicher Konfessionen gibt und das kostbare Erbe jener gemeinsamen Not nicht nur ein neues Verständnis zwischen den Kirchen, sondern auch das Bewußtsein der Verbundenheit zwischen Christen und Humanisten sein sollte, um die Freiheiten des Glaubens und des Denkens als die unteilbare Gewissensfreiheit des Geistes gegenseitig anzuerkennen.
Ich stelle jene schreckliche Heimsuchung uns und nicht zuletzt mir selber auch deshalb vor Augen, weil sie uns gebietet, über eine Frage, die, wie die Frage nach dem Verhältnis zwischen dem Staat und den Kirchen, die Gewissen bewegt, mit Ehrfurcht einander zu begegnen. Einander mit Ehrfurcht begegnen heißt hier — um dies eindeutig auszusprechen — nicht nur, daß die unter uns, die katholischen Glaubens sind, das Recht auf Ehrfurcht vor ihrem Bekenntnis zu beanspruchen haben, sondern daß ebenso die unter uns, die eine andere Konfession haben, auch die Humanisten, die nicht an die Botschaft einer der christlichen Kirchen glauben können, Ehrfurcht vor ihren sittlichen Überzeugungen erwarten dürfen. Erst diese Ehrfurcht in der Gemeinschaft der Mitmenschlichkeit ermöglicht es, sich frei über eine so tiefgreifende Frage wie den Streit um das Reichskonkordat auszusprechen. Doch sie stellt uns auch unter das Gebot der Wahrhaftigkeit, die ernstlichen Sorgen, die manch einen in unserem Volk und hier im Bundestag beunruhigen, in aller Offenheit auszusprechen.
Diese Sorgen sind durch die Konkordatspolitik der Bundesregierung oder wahrscheinlich richtiger gesagt die Kanzlerpolitik in der Konkordatsfrage hervorgerufen. Gegenstand der Großen Anfrage ist darum nicht eigentlich das Reichskonkordat, schon gar nicht die Notwendigkeit oder das allseits als wünschenswert anzuerkennende Ja zu einem guten Einvernehmen zwischen dem deutschen Bundesstaat, seinen Ländern und der katholischen Kirche. Gegenstand der Großen Anfrage ist vielmehr die Art und Weise, wie die Regierung diese Frage behandelt und wie die Regierung sich den Ländern gegenüber auf das Konkordat berufen, es auslegen und innerstaatlich anwenden will.
Die erste Frage ist deshalb die Frage nach der Verantwortlichkeit für die beim Bundesverfassungsgericht erhobene Konkordatsklage. Ist diese Klage von der Bundesregierung beschlossen oder beruht sie auf einem einsamen Entschluß des Kanzlers? Wenn die Bundesregierung meinte, daß Zweifel bestünden, ob das niedersächsische Schulgesetz als Landesrecht mit einem, wie die Bundesregierung behauptet, aus dem Konkordat abzuleitenden Bundesrecht vereinbar sei und wenn dann die Bundesregierung auf den unseligen Gedanken eines gerichtlichen Prozesses verfiel, warum hat sie nicht zuerst den in Betracht kommenden Weg des Normenkontrollantrags gewählt statt des Umweges, aus der Behauptung einer Bundesaufsicht die Bundestreue eines Landes anzuzweifeln? Ist sich die Bundesregierung bewußt, daß dieser auffallende Umweg, der zu keiner gesetzeskräftigen Entscheidung über die Vereinbarkeit niedersächsischen Landesrechts mit behauptetem Bundesrecht führen kann, sondern die Bundestreue zum Gegenstand des Streites macht, abermals die so bedenkliche Vermutung wecken könnte, als hätte die Bundesregierung nicht zu beiden Senaten des Bundes-
verfassungsgerichts das unbedingt gleiche Vertrauen? Und erkennt die Bundesregierung nicht, daß auf diesem Umwege die unabsehbare Frage aufgerollt wird, wie es dann um die Gültigkeit wesentlicher Verfassungsbestimmungen auch der meisten anderen Bundesländer steht? Und weshalb hat die Bundesregierung niemals, und zwar weder vor dem Bundestag noch vor dem für Fragen der Bundesaufsicht besonders zuständigen Bundesrat, in einer Regierungserklärung zu einer so fundamentalen Frage Stellung genommen, auch um durch eine parlamentarische Debatte den Stand der Meinungen zu erkunden? Die Bundesregierung ist dem Bundestage politisch verantwortlich. Sie hätte deshalb einen Schritt, der schlechthin das bundesstaatliche Gefüge berührt, nicht tun sollen, ohne zuvor das Parlament zu unterrichten, sich mit dem Parlament darüber auszusprechen und seinen Willen zu beachten. Ja, die Bundesregierung durfte diesen Schritt überhaupt nicht tun, weil das Grundgesetz in seinem Art. 84 aus guten Gründen zwingend vorschreibt, daß in Fragen der Bundesaufsicht vor einer Entscheidung eine politische Instanz, der Bundesrat, angerufen werden muß und seine guten Dienste in Anspruch zu nehmen sind, bevor der Gerichtsweg beschritten werden darf. Die Art, wie diese Klage begonnen und geführt wurde, ist leider ein weiterer Beweis für das frostige Verhältnis der Bundesregierung zu den anderen Verfassungsorganen. Gerade in diesem Fall wäre es nicht nur ein verfassungsrechtliches Gebot, sondern auch ein Erfordernis des politischen Taktes gewesen, eine Verständigung mit Hilfe der guten Dienste des Bundesrates zu suchen, bevor der diffamierende Vorwurf der Bundesuntreue erhoben wurde.
Eine weitere Frage ist die, ob die Bundesregierung glaubt, daß ein Gerichtsverfahren über die Bündnistreue des Landes Niedersachsen das geeignete Mittel ist, um zur Verständigung über das jedermann angehende Anliegen des religiösen Friedens zu kommen, obgleich ihr bekannt war, wie gegensätzlich die Meinungen zum Reichskonkordat sich schon im Parlamentarischen Rat gegenüberstanden.
Ich will hier gleich auf die Möglichkeit eines Scheinargumentes eingehen, dessen Gebrauch die Diskussion nicht fördern würde. Ich meine den Einwand, daß doch auch die Frage nach der verfassungsrechtlichen Zulässigkeit der Wiederbewaffnung von der Minderheit des Bundestages vor das Bundesverfassungsgericht gebracht wurde. Jene Streitigkeiten sind geführt worden, ehe die strittigen Verträge in Kraft traten, und dienten der rechtlichen Forderung, daß die einfache Mehrheit zu einer Entscheidung in der Bewaffnungsfrage nicht ausreiche, sondern erst eine qualifizierte Mehrheit des Parlaments, also allein die verfassungändernde Mehrheit dazu legitimiert sei. Die Konkordatsklage dagegen ist unter Ausschaltung des Bundestages und unter Ausschaltung des Bundesrates erhoben worden und zielt umgekehrt darauf ab, daß eine Fortgeltung des Reichskonkordats keiner parlamentarischen, ja überhaupt keiner demokratischen Legitimation bedürfe. Der Sinn der Wehrklage war es, darüber Gewißheit zu schaffen, daß die Verfassung als die Grundordnung durch die Verträge nicht verletzt werde. Die Konkordatsklage droht aber gerade die Verfassung und das in ihr als unverbrüchlich gewährleistete demokratische Prinzip in Frage zu stellen, wenn sie auf der Ansicht beruhen und zu dem Ergebnis führen sollte, wie es, um nur ein Beispiel zu nennen, Herbert Groppe in seinem soeben erschienenen Buch über das Reichskonkordat in die Worte zusammengefaßt hat — ich zitiere wörtlich —: „Die Bestimmungen des Reichskonkordates gehen allen Gesetzen des Bundes und der Länder und auch den Bestimmungen des Grundgesetzes uneingeschränkt voran."
Daher fragen wir die Bundesregierung, ob auch sie diese Auffassung vertritt und wie sie der Gefährdung des demokratischen Gedankens begegnen will, die daraus erwächst, daß eine aus Hitlers angeblichem Führertum getroffene Entscheidung für alle Zeiten die in freier Selbstbestimmung geschaffene demokratische Grundordnung überlagern soll. Es geht dabei in erster Linie gar nicht um eine Rechtsfrage, die verbindlich zu entscheiden ein Parlament ohnehin nicht berufen wäre, sondern um Fragen ganz anderer Art, einmal die Frage nach der Legitimität unserer inneren Ordnung und zum anderen um die politische Frage, warum die Bundesregierung es bisher unterließ, in Verhandlungen mit dem Heiligen Stuhl unter Beteiligung der Länder eine solche Verständigung zwischen dem deutschen Staat und der Katholischen Kirche anzubahnen, die das demokratische Prinzip des Grundgesetzes wahrt, die den geschichtlichen und verfassungsrechtlichen Wandlungen gerecht wird und die wieder dem Erfordernis der Parität zwischen der Katholischen und der Evangelischen Kirche genügt.
Die Kritik, die ich am Verhalten der Bundesregierung zu üben habe, richtet sich somit dagegen, daß sie insbesondere durch ihre Klage eine Gestaltungsaufgabe als ein vermeintlich bloß juristisches Problem behandelt, das es nicht oder mindestens nicht nur ist, weshalb die viel umstrittene Frage nach der Gültigkeit des Reichskonkordats vielleicht überhaupt eine falsch gestellte Frage ist oder ihr jedenfalls nicht die ihr beigemessene Bedeutung zukommt.
Es läßt sich aber voraussehen, daß sich die Bundesregierung auf die Linie, die ja bekannt ist, zurückziehen wird, das Reichskonkordat sei ein völkerrechtlicher Vertrag und als solcher gültig abgeschlossen, weshalb es ein Erfordernis der Vertragstreue und aus dem gesamtdeutschen Gesichtspunkt eine Notwendigkeit sei, daran festzuhalten.
Ich wiederhole, daß diese Betrachtungsweise die eigentlichen Fragen umgeht und die Aufgaben einer Konkordanz zwischen der Verfassungsordnung des Bonner Grundgesetzes und der Kurie nicht lösen kann. Aber diese von der Bundesregierung zu erwartende Antwort zwingt dazu, das Unzulängliche eines solchen Standpunktes aufzuzeigen. Dabei wird es sich zu meinem Bedauern nicht vermeiden lassen, auf die rechtliche Seite des Problems einzugehen, wie wenig fruchtbar eine juristische Erörterung hier auch sein mag.
In diesem Zusammenhang ist zunächst die Behauptung als unzutreffend zurückzuweisen, daß im Reichskonkordat der Sache nach lediglich die schon von der Weimarer Republik in Aussicht genommenen oder abgesprochenen Regelungen niedergelegt seien. Meine Damen und Herren, es ist überhaupt schlimm, daß in dem wuchernden Schrifttum ständig so viele Behauptungen verbreitet werden, die keinerlei Grundlage in der Geschichte haben. Insbesondere sollte man sich dabei nicht auf Reichspräsident Friedrich Ebert berufen.
Wer Ebert zitiert, muß ihn vollständig zitieren. Gewiß hat Friedrich Ebert, als ihm der Apostolische Nuntius Monsignore Pacelli sein Beglaubigungsschreiben überreichte, am 30. Juni 1920, von der Aufgabe gesprochen, das Verhältnis zwischen Staat und Kirche in Deutschland neu zu regeln. Aber Ebert fügte wörtlich hinzu: Das soll geschehen auf Grund der Verfassung der Republik, die vollste Gewissensfreiheit verbürgt. Das darf man nicht fortlassen. Das Reichskonkordat ist jedoch nicht auf der Grundlage der Weimarer Reichsverfassung abgeschlossen, mit deren Schulartikel es in Konflikt geraten kann; es ist nicht einmal in dem parlamentarisch-demokratischen Verfahren jener Reichsverfassung ratifiziert worden.
In einer Rede vom 2. Juni 1945 hat Papst Pius XII. selber ausgesprochen, daß bei Abschluß des Konkordats 1933 für die Kirche auch der Gedanke maßgebend war, daß aus ihrer Sicht die Weimarer Reichsverfassung keine ausreichende Gewähr für die Rechte der Katholiken bot. Also wird das Konkordat insoweit über jene Verfassung hinausgegangen sein.
Es trifft ferner nicht zu, daß bloß die innere Schwäche der Weimarer Republik es nicht zum Konkordatsabschluß habe kommen lassen. Die Reichstagsdebatte von 17. Juni 1925 sowie der Widerspruch aus Kreisen der Evangelischen Kirche lassen keinen Zweifel daran, daß in der Sache selbst damals unüberbrückbare Meinungsverschiedenheiten bestanden.
Seit dem Abschluß des bayerischen und insbesondere — 1929 — des preußischen Konkordats ist es deshalb nach dem Jahre 1927 schon zu keiner Erörterung der Konkordatsfrage im Reichstag mehr gekommen. Auch soweit man, damals — wie das Auswärtige Amt und das Reichswehrministerium — ein Reichskonkordat für erstrebenswert hielt, das von der Zentrumspartei und der Bayerischen Volkspartei gefordert wurde, ist für die damalige politische Lage ein Aktenvermerk des Auswärtigen Amts vom 17. Juli 1926 kennzeichnend, worin es wörtlich heißt:
Daß der Inhalt eines Reichskonkordats sich von dem unlängst abgeschlossenen bayerischen Konkordat wesentlich würde unterscheiden müssen, ist bei allen einschlägigen Erwägungen die selbstverständliche Voraussetzung.
Schließlich hat der Sachbearbeiter im Auswärtigen Amt, der Vortragende Legationsrat Dr. Menshausen, durch einen Aktenvermerk vorn 5. April 1933 niedergelegt, daß sich nach der Zusammensetzung des Reichstags vor 1933 zwei Hauptanlieren der Kurie als undurchführbar erwiesen, nämlich die Änderung des § 67 des Personenstandsgesetzes und vor allem die Bindung des Reichs an die Länderkonkordate. Ehe Hitler die Macht an sich riß, hieß es demgemäß in der Antwortnote der Reichsregierung auf das Promemoria des Päpstlichen Kardinalstaatssekretärs vom 26. Oktober 1932 betreffend Militärseelsorge, daß die Reichsregierung keine Zusage für ein Reichsschulgesetz, das zu den Landeskonkordaten nicht in Widerspruch stehe, werde geben können, und es wurde hinsichtlich des Wunsches nach Sicherung der konfessionellen Schule darauf verwiesen, daß Art. 146 der Weimarer Reichsverfassung eine für alle gemeinsame Grundschule vorsehe.
Das Reichskonkordat 1933 ist unter gänzlich anderen Voraussetzungen abgeschlossen und hat
einen völlig anderen Inhalt, als es je zur Weimarer Zeit in Betracht gekommen war. Diesen Voraussetzungen und diesem Inhalt wird eine rein formale Betrachtungsweise nicht gerecht, die unabhängig vom Gehalt des Konkordats, ohne Rücksicht darauf, was gelten soll und unter welchen Umständen es gelten soll, in der Frage der Gültigkeit scheinbar juristisch rein auf den Akt des Versprechens, die Ratifikation, und auf die rechtliche Befugnis dazu abstellen will. Der Art. 123 des Grundgesetzes, an dem man nicht deuteln sollte, hat seinem Wortlaut nach und ausweislich des von dem Herrn Abgeordneten Dr. von Brentano dazu erstatteten Berichts die Frage offengelassen, also deklariert, daß das Grundgesetz sie nicht entscheiden wolle. Deshalb sollte man auch jetzt nicht eine „Bestandsgarantie" bundesverfassungsrechtlicher Art in den Art. 123 hineingeheimnissen.
Infolgedessen ist man auf das Jahr 1933 zurückgegangen und hat den Standpunkt verfochten, daß Hitler zu seinem Vorgehen ermächtigt gewesen sei, jedenfalls aber der Ratifikation des Konkordats als einem Versprechen durch den Reichspräsidenten die Kraft völkerrechtlicher Verbindlichkeit zukomme. Es wäre verständlich und der Untersuchung wert, wenn die Bundesregierung allein das Zweite geltend machen würde, geltend machen würde, daß nach völkerrechtlichen Grundsätzen der andere Partner, die Kurie, nicht gehalten war, die innerstaatliche Rechtmäßigkeit zu prüfen, und sich auf die Ratifikation durch den Reichspräsidenten verlassen durfte. Darauf werde ich noch zu sprechen kommen. Aber es ist nicht verständlich und für eine demokratische und rechtsstaatliche Regierung — ich bedauere, das sagen zu müssen — nicht angemessen, daß sie vor dem Bundesverfassungsgericht die angebliche Gültigkeit des Ermächtigungsgesetzes vom 24. März 1933 zu verteidigen sucht. Abgesehen davon, daß nach dem Urteil des Staatsgerichtshofs vom 25. Oktober 1932 die sieben Stimmen Sachsens und die dreizehn Stimmen Preußens im Reichsrat verfassungswidrig von angeblichen Reichsbeauftragten abgegeben wurden und somit schon die verfassungändernde Mehrheit im Reichsrat nicht erreicht wurde, ist der mit unmittelbarer Gefahr für Leib und Seele erpreßte Beschluß eines von Hitlers Bürgerkriegshorden umzingelten Reichstags null und nichtig,
eines Reichstags, aus dessen Mitte zahlreiche Mitglieder durch verfassungswidrige Freiheitsberaubung am Reden und am Abstimmen verhindert wurden.
An jenem angeblichen Gesetz klebt so viel Schmutz und Blut, daß es unmöglich ist, sich darauf zu berufen.
Wenn in unseren Tagen jetzt einige Juristen sogar behaupten wollen, jenes angebliche Gesetz habe die „allgemeine Anerkennung" gefunden, so kommt diese Verirrung einem geschichtsfälschenden Bekenntnis zur Kollektivschuld gleich.
Zu Argumentationen solcher Art kann sich nur ein Fanatismus versteigen, der die Auseinandersetzung leider ungeheuer erschwert.
Es gibt bedauerlicherweise im deutschen Schrifttum wenige ernstliche Erörterungen über die Wirksamkeit des sogenannten Ermächtigungsgesetzes vom 24. März 1933. Immerhin haben Hans Nawiasky
und Claus Leusser in ihrem Kommentar zur bayerischen Verfassung die Gültigkeit jenes angeblichen Gesetzes mit überzeugenden Gründen verneint.
Im übrigen stützte Hitler die von ihm behauptete Macht zu einem solchen Konkordat und die geheime Art seines Abschlusses gar nicht auf das sogenannte Ermächtigungsgesetz, sondern auf seinen totalitären Führungsanspruch, den er aus jenem gewaltsamen Vorgang ableitete, den er die „nationale Revolution" nannte, einem Staatsstreich, der vom deutschen Volke niemals freiwillig gutgeheißen ist, sondern der in einer Abschaffung des Rechts bestand, die dem entmündigten Volke durch Geheime Staatspolizei, SS und Konzentrationslager zwölf Jahre lang vorübergehend aufgezwungen wurde.
Meine Damen und Herren! Ich glaube sagen zu dürfen und dankbar anerkennen zu können, daß die Kurie, die man hier vor dem Übereifer einiger ihrer Freunde schützen muß, sich zum sogenannten Ermächtigungsgesetz niemals geäußert hat. Die Kurie hat zu keiner Zeit den Nationalsozialismus anerkannt. Insbesondere ist der damalige Kardinalstaatssekretär und gegenwärtige Papst Pius XII. so in Liebe mit Deutschland verbunden, daß für ihn die nationalsozialistischen Machthaber nie und nimmer Deutschland bedeuten konnten. Die Kurie selber hat den Konkordatsabschluß stets von einer ganz anderen Seite gesehen. In seiner Enzyklika „Mit brennender Sorge" hat Papst Pius XI. bereits am 14. März 1937 bekanntgegeben, daß die katholische Kirche sich den Entschluß zum Reichskonkordat nur „trotz mancher schwerer Bedenken" abgerungen hat. Sie wollte den Katholiken in Deutschland — ich zitiere wörtlich -
im Rahmen des Menschenmöglichen die Spannungen und Leiden ersparen, die andernfalls unter den damaligen Verhältnissen mit Gewißheit zu erwarten gewesen wären.
Dieses Selbstzeugnis aus berufenstem Munde hat den Rang einer authentischen Interpretation zu beanspruchen, anders als das Selbstlob Papens und eines Kreises um ihn, der dem Nationalsozialismus verfallen war.
Die innere Gesetzlichkeit der Kirchen ist anders als jene aus der Welt der Staaten. Die Kurie konnte einer Begegnung nicht ausweichen, als Hitler eine Friedensbereitschaft heuchelte. Die Kurie hat das Konkordat als eine Notmaßnahme getroffen in einer Zeit, da zahlreiche Geistliche sich in widerrechtlicher Haft befanden und vielfach Diözesanvermögen rechtswidrig beschlagnahmt war.
Auf den Notstand dieser außerordentlichen Lage ist im Art. 32 des Konkordats ausdrücklich abgehoben, der die damals aktuellen und besondersartigen Umstände in Deutschland als eine Voraussetzung anspricht. Weder diesen geschichtlichen Voraussetzungen noch dem eigentümlichen Charakter eines Konkordats wird es gerecht, wenn man es als irgendeinen völkerrechtlichen Vertrag klassifizieren und sich in der Frage seiner Geltung oder Fortgeltung formal auf den Ratifikationsakt stützen wollte.
Die Konkordatsakten des Auswärtigen Amtes ergeben, daß man seitens der deutschen Unterhändler die Übereinkunft als Vertrag benennen wollte, aber auf Verlangen des damaligen Kardinalstaatssekretärs Msgr. Pacelli das Wort Vertrag aus dem Entwurf gestrichen werden mußte. Der „Osservatore
Romano" kommentierte denn auch das Konkordat offiziös dahin, daß es tatsächlich und rechtlich auf der Grundlage des Codex iuris canonici zustande gekommen sei.
Eine parlamentarische Erörterung eignet sich jedoch kaum dazu, die Unterschiede der Vertragstheorie, der Legaltheorie und der Privilegientheorie im einzelnen auseinanderzusetzen. Ich halte diese Doktorfrage nach dem rechtstheoretischen Charakter eines Konkordats im Ergebnis sogar für unerheblich; denn so oder so wird man zu dem gleichen Ergebnis kommen müssen, zumal keine der verschiedenen Theorien leugnen kann, daß Konkordate eben etwas unvergleichlich Besondersartiges sind.
Es genügt, zu sagen, daß ein Konkordat weder zwischen gleichartigen Partnern wie ein völkerrechtlicher Vertrag unter Staaten abgeschlossen wird noch es sein Sinn sein kann, durch den Formalakt der Ratifikation eine Schuldbeziehung im Außenverhältnis zwischen zwei Souveränen zu begründen. Ein Konkordat wird vielmehr seinem Wesen nach dadurch geschaffen oder zumindest verwirklicht, daß Staat und Kirche nebeneinander, ein jeder aus eigenem Recht und auf seine Weise, einen konkordatären Status im Innern herbeiführen, weshalb sowohl das kircheneigene oder kanonische Recht einerseits als auch die Staatsverfassung oder das für jedermann gleiche Recht des Staates andererseits unlösbar zu den Geltungsgrundlagen eines Konkordats mit gehören.
Wie wenig sich die Kategorie des völkerrechtlichen Vertrages, Staatsvertrages ohne weiteres dazu eignet, ein Konkordat zu erklären, wird einsichtig, wenn man bedenkt, daß es für die Römisch-Katholische Kirche dogmatisch unmöglich ist und sein muß, sich dem Schiedsspruch einer übergeordneten Stelle, die undenkbar ist, zu unterwerfen oder die Zulässigkeit von Sanktionen einzuräumen oder über ihre Glaubenssätze oder ihr eigenes Recht als Leistung durch einen Vertrag zu verfügen. In Übereinstimmung mit dem kanonischen Recht, das ein Konkordat als partikulare Form der päpstlichen Rechtsetzung definiert, umschreibt der am Abschluß des Reichskonkordats maßgeblich beteiligte Kurienkardinal Ottaviani den konkordatären Vorgang einerseits als Privilegien, die von der Kirche gewährt werden, und andererseits als Verpflichtungen, die der Staat anerkennt.
Der dogmatisch unlösbare Konflikt zwischen den Strukturen staatlichen und kirchlichen Rechts ist die Quelle des bitteren Wortes: „Concordatum est mater rixarum". Aber wir bringen diesen Spruch, daß ein Konkordat die Mutter der Zwistigkeiten sei, nur dadurch zum Verstummen, daß wir den verfehlten Versuch unterlassen, Geltungsgrund und Geltungsgrenze eines Konkordats als eine Frage völkerrechtlicher Vertragstreue zu ideologisieren, sondern aus der Erkenntnis des Wesens des Konkordats und seiner Geschichte anerkennen, daß die Verbindlichkeitsfrage befriedigend nur im Rahmen des für alle gleichen Staatsgesetzes, also nicht losgelöst von der Verfassungsordnung im Staate, zu behandeln ist.
Auch das polemische Schrifttum, das sich gegenwärtig eine Verteidigung des Reichskonkordats angelegen sein läßt, kann sich zuletzt dieser Einsicht nicht verschließen, indem es, wie z. B. wiederum Herbert Groppe — aber ich könnte auch eine Reihe anderer nennen —, dies in die Formel kleidet, die clausula rebus sic stantibus sei, wie es wörtlich
heißt, ein „stets wesentlicher Bestandteil eines jeden Konkordats", eine Auffassung übrigens, die im kanonistischen Rechtsschrifttum wohl unbestritten ist.
Dieser entscheidende Charakter eines Konkordats, der den Formalakt der Ratifikation als Geltungsgrund unzureichend erscheinen läßt, dieser Charakter eines Konkordats als eines mit dem zugehörigen Bestand der innerstaatlichen Ordnung unlösbar verknüpften Regimes findet seine Ausprägung auch darin, daß, anders als der Abschluß eines völkerrechtlichen Vertrages, ein Konkordat niemals die Anerkennung de jure der jeweiligen Herrschaftsform im Staate bedeutet, auch wenn das Reichskonkordat als eine angebliche Anerkennung von den Nationalsozialisten propagiert und leider damals auch weitgehend so mißverstanden wurde. Es ist, um ein Beispiel aus der Gegenwart zu nehmen, eine selbstverständliche Prärogative der Kirchen, eben weil sie keine Staaten sind und nicht völkerrechtlich handeln, daß sie auch in Beziehung zu den illegalen Machthabern im sowjetisch kontrollierten Teil Deutschlands stehen können. Die Beziehung zwischen einer Kirche und Pankow ist keine im völkerrechtlichen Sinne diplomatische und präjudiziert nichts weniger als eine Anerkennung de jure, woraus mit Notwendigkeit umgekehrt folgt, daß irgendeine Übereinkunft zwischen einer Kirche und dem Pankower Machtgebilde, wenn es eine solche Übereinkunft gäbe, ihre Voraussetzungen nicht überdauern kann oder gar eine künftige gesamtdeutsche Verfassung zu überlagern imstande wäre. Für ein Konkordat ist die innerstaatliche Ordnung oder auch die bloße Macht im Staate eine Voraussetzung, die kirchlicherseits nicht anerkannt, aber, um einen völkerrechtlichen terminus technicus zu gebrauchen, hingenommen wird, weil die Kirchen von ihren inneren Pflichten nicht durch die jeweilige Machtgestaltung im Staate entbunden werden können. Auf dieser Hinnahme jener innerstaatlichen Verhältnisse als staatseigenem Geltungsgrund der Übereinkunft beruht die Konkordanz, zumal da sie sich anders gar nicht erzielen ließe, so daß einer der unerläßlichen Geltungsgründe entfällt, wenn die hingenommene Voraussetzung untergeht. Das Reichskonkordat ist hierfür ein Beispiel, weil es von der Hinnahme des politischen Monopols der NSDAP ausging und ausgehen mußte. Es wäre für die Kurie unzumutbar und mit unserem freiheitlichen rechtsstaatlichen Denken nicht zu vereinbaren, wollte man staatlicherseits die Kurie auf die Artikel 31 und 32 des Reichskonkordats festlegen. Diese in ihrer Bedeutung und Tragweite weitgehend unbekannten Artikel sind, wie aus den Akten des Auswärtigen Amts dokumentarisch hervorgeht, auf der Grundlage zu verstehen, daß die Kurie in eine dauernde Auflösung der Zentrumspartei als einer in ihrem Sinne christlichen Partei, in die Auflösung der christlichen Gewerkschaften und in die grundsätzliche Überführung aller ihrer Laienvereinigungen in die gleichgeschalteten staatlichen Verbände einwilligte und nicht zuletzt in das, was die Akten als Entpolitisierung der katholischen Geistlichkeit bezeichnen, auch in das Verbot einer als katholisch gekennzeichneten Presse.
— Ja, das weiß ich wohl, aber in die Auflösung
der christlichen Gewerkschaften wurde eingewilligt. Ich werde Ihnen das gleich noch im einzelnen belegen, Herr Kollege Albers.
Würde man, was mir irrig erscheint, das Reichskonkordat als einen gegenseitigen Vertrag des Völkerrechts auffassen wollen, so lag in diesem bis zum Äußersten gehenden Verzicht der Kirche auf ihren Öffentlichkeitsanspruch die Gegenleistung für Hitlers keineswegs eindeutige Zusagen besonders in der Schulfrage, die von der Machtbehauptung eines Parteimonopols über den Staat und seine Schulen aus gegeben wurden. Als ein völkerrechtlicher Vertrag hätte das Konkordat somit seine Wechselseitigkeit verloren. Es ist ein Unglück für uns alle, daß die Diskussion in der Konkordatsfrage sich mit wachsendem Eifer auf beiden Seiten zu einem Streit um die Schulartikel versteift hat, während das Gespräch, dessen Ziel eine neue Konkordanz sein sollte, nüchtern und unbefangen damit zu beginnen hat, die geschichtliche Wahrheit über die Gesamtheit jener Notmaßnahme, die das Reichskonkordat war, zu erforschen. Im Mittelpunkt des Ringens um diese Notmaßnahme stand notgedrungen damals die Frage, welcher konkordatäre Status im Verhältnis zwischen der katholischen Kirche und dem von einer Monopolpartei beherrschten totalitären Machtgebilde aus der Hinnahme jener innerstaatlichen Zustände zu folgern sei. Einige Zitate aus den Dokumenten mögen dies belegen.
In einem Schreiben Papens vom 26. Mai 1933 an den deutschen Botschafter beim Heiligen Stuhl, Dr. von Bergen, heißt es u. a. wörtlich:
Der springende Punkt wegen des Zustandekommens unserer Vereinbarungen wird vermutlich Art. 31 sein.... Es scheint mir auch völlig falsch zu sein, die Zentrumspartei als solche konservieren zu wollen, und ... Parteien im Sinne des liberalen Denkens der vergangenen Epoche werden schon deshalb keinen Raum mehr haben, weil Koalitionen oder Mehrheitsbeschlüsse in Zukunft undenkbar sind.
Soweit Papen an von Bergen. Die hier als Art. 31 bezeichnete Bestimmung des Entwurfs ist, wie sich noch zeigen wird, aus bemerkenswerten Gründen dann als Art. 32 in den ratifizierten Text eingegangen. Es ist die Klausel der Entpolitisierung.
Am 31. Mai läßt Papen durch den Sachbearbeiter im Auswärtigen Amt, Vortragenden Legationsrat Dr. Menzhausen, an den geheimen Unterhändler in Rom, den ehemaligen Vorsitzenden der Zentrumsfraktion, Prälat Kaas, nach Rom telegraphieren:
Ohne Annahme unseres Standpunktes in Art. 31 scheint mir indessen Vertragswerk undurchführbar. Empfehle Stellungnahme Fuldaer Konferenz, gegebenenfalls auch telegraphisch einzuholen, sofern dortige Entscheidung davon abhängig gemacht wird.
Am 1. Juni läßt Botschafter von Bergen über das Auswärtige Amt Papen benachrichtigen —
wörtlich —:
daß wir meiner Ansicht nach an der Forderung einer möglichst weitgehenden Entpolitisierung der Geistlichkeit unbedingt festhalten sollten, selbst auf die Gefahr eines Scheiterns der Verhandlungen. Die Forderung ist sachlich begründet und angesichts der sehr großen staatlichen Konzessionen durchaus gerechtfertigt.
Am 16. Juni läßt Papen an Botschafter von Bergen telegraphieren:
Meine Reise hat aber nur dann Zweck, wenn seitens Vatikan unseren Wünschen Art. 31 Genüge geleistet wird. Bitte dies bei Kardinalstaatssekretär festzustellen.
Am 23. Juni läßt Papen abermals an Bergen telegraphieren:
Art. 31 hält Kanzler daran fest, daß Geistlichen jede politische Tätigkeit zu untersagen sei, also nicht nur Ausübung besonderer Ämter in politischen Parteien.
Ich darf eine Zwischenbemerkung machen. Es wird immer so getan, als ob der Art. 32 lediglich bedeute, daß Geistliche nicht die Mitgliedschaft in einer politischen Partei erwerben dürfen. Nein, er bedeutete nach den damaligen Vertragsverhandlungen und den Dokumenten des Auswärtigen Amts die völlige Entpolitisierung und den Verzicht auf den Öffentlichkeitsanspruch, soweit das überhaupt möglich ist.
Am 2. Juli bezeichnet Papen aus Rom in einem Schreiben unmittelbar an Hitler den Entwurfsartikel 31 als den wichtigsten und erläutert eingehend den darin ausbedungenen Rückzug der Kirche aus dem Vereinsleben, damit, wie er sich ausdrückt, in Zukunft eine ganz klare Scheidung zwischen den Vereinen herbeigeführt werden könne, die wirklich religiösen Zwecken dienten, und denen, die der Staat auf Grund der nationalsozialistischen Auffassung in seine Obhut nehmen müsse.
Am 3. Juli berichtete Botschafter von Bergen an Neurath:
Der frühere Art. 31 wurde mit Art. 32 aus taktischen Gründen vertauscht, um die Diskussion über die für den Vatikan sehr peinliche Frage der Entpolitisierung der Geistlichkeit an die letzte Stelle zu bringen und die Kurie vor die schwierige Entscheidung zu stellen, ob sie es würde verantworten können, alle in den früheren Artikeln mühsam erreichten Zugeständnisse wegen des Art. 32 zu opfern. Tatsächlich hat sie zum Schluß diesen bitteren Artikel geschluckt.
Soweit Botschafter von Bergen an Reichsaußenminister von Neurath.
Am selben Tag telegraphierte Botschafter von Bergen an Neurath:
Kanzler wird morgen mit Ihnen Konkordat besprechen. Art. 31 Abs. 2 befriedigt ihn anscheinend nicht. Dieser Artikel ist aber entscheidend für Gesamtwerk. Formulierung „sofern sie Gewähr dafür bietet" gibt dem Staat jede Möglichkeit, von sich aus festzustellen, daß Gewähr nicht gegeben. Außerdem wird Kurie keinerlei politische Vereine mehr dulden.
Ebenfalls noch am gleichen 3. Juli telegraphierte Bergen „ganz geheim" an Neurath persönlich:
In Verhandlungen, die ich heute abend mit Pacelli, Erzbischof Gräber und Kaas hatte, ergab sich, daß Auflösung Zentrumspartei mit Abschluß Konkordats hier als feststehend betrachtet und gebilligt wird.
In der entscheidenden Kabinettssitzung am 14. Juli 1933 erklärte Hitler dann nach dem Protokoll wörtlich,
daß mit dem Konkordat sich die Kirche aus dem Vereins- und Parteileben herauszöge, z. B. auch die christlichen Gewerkschaften fallenließe. Auch das hätte er,
— der Reichskanzler —
noch vor einigen Monaten nicht für möglich gehalten. Auch die Auflösung des Zentrums wäre erst mit Abschluß des Konkordats als endgültig zu bezeichnen, nachdem nunmehr der Vatikan die dauernde Entfernung der Priester aus der Parteipolitik angeordnet hätte.
Daß es sich hierbei nicht nur um eine einseitige Auffassung der nationalsozialistischen Machthaber handelte, bestätigt die bisher unveröffentlichte Authentische Interpretion, die zu den Artikeln 31 und 32 einvernehmlich beiderseits festgelegt wurde und die so weit geht, daß sogar solche der Kirche noch belassenen Organisationen, die ausschließlich der religiösen, geistlichen oder karitativen Schulung dienen, das Gebiet einer Diözese nicht überschreiten dürfen.
Dieser Verzicht der Kirche auf ihren Öffentlichkeitsanspruch fand beispielsweise seinen Ausdruck in dem von Kardinal Faulhaber unterzeichneten Hirtenbrief vom 8. November 1933 des bayerischen Episkopats zur Volksabstimmung am 12. November, worin es wörtlich heißt:
Was dagegen die Abstimmung zur Reichstagswahl am 12. November betrifft, so handelt es sich dabei um eine parteipolitische Frage, die wir mit Rücksicht auf Art. 32 des Reichskonkordats dem freien Ermessen und Gewissen der Wahlberechtigten überlassen.
Begreiflicherweise legte die Kurie, die so bedrängt wurde, Gewicht auf Parität. Daraus ergibt sich eine Demarche, die zur Sprache zu bringen heikel ist, die aber zur Sprache zu bringen notwendig ist, um das volle Bild zu geben, eine Demarche, die der Apostolische Nuntius wenige Tage vor dem Austausch der Ratifikationsurkunden dem Auswärtigen Amt gegenüber unternahm und die zeigt, wie eng die Kurie die ihr in der politischen Öfentlichkeit durch das Konkordat aufgezwungenermaßen gesetzten Grenzen selber sah. In einem Aktenvermerk des Auswärtigen Amtes heißt es über diese Demarche:
Bei einem Besuch, den mir der Apostolische Nuntius heute abstattete, brachte er das Gespräch auf die für den 31. Oktober dieses Jahres in Wittenberg geplante Luther-Feier. Nach den Zeitungsnachrichten sei beabsichtigt, diese Feier zu einer Art Nationalfeier zu machen. Er könne nicht umhin, seiner Besorgnis Ausdruck zu geben, daß dadurch eine Trübung der Beziehungen zwischen Deutschland und dem Heiligen Stuhl eintreten werde; denn es handle sich um die Feier eines Aktes — die Anheftung der Thesen an die Kirche in Wittenberg —, der eine ausgesprochen feindliche Tendenz gegen die Katholische Kirche gehabt habe. Er, der Nuntius, fürchte sogar für die Ratifikation des Konkordats, falls diese Feier in großem Rahmen und mit staatlicher Beteiligung stattfände.
Meine Damen und Herren, wenn neuerdings die Behauptung aufgebracht wird, jener in Art. 32 des Reichskonkordats ausgesprochene weitgehende Verzicht der Katholischen Kirche auf ihren Öffentlichkeitsanspruch, Verzicht auf eine im katholischen Sinne christliche Partei, Verzicht auf eine katholi-
sehe Presse, Verzicht auf christliche Gewerkschaften sei mangels Parität niemals aktuell geworden, so werden die Unterdrückung der Evangelischen Kirche und das Unternehmen ihrer Gleichschaltung durch das ausgesprochen nationalsozialistische „Reichsgesetz" über die Verfassung der Deutschen Evangelischen Kirche vergessen, ein sogenanntes Reichsgesetz, das am gleichen 14. Juli 1933 verkündet wurde, an dem das Reichskabinett auch das Reichskonkordat beschloß. Beide Kirchen wurden in derselben Weise bedrängt. Ohne Kenntnis dieses Sinngehalts und seiner geschichtlichen Zusammenhänge aber ist das Konkordat nicht zu verstehen. Es ist absolut unrichtig, ja unhaltbar, daß das Konkordat 1933 — und zwar auch in den Schulartikeln nicht — mit den Vorentwürfen der Weimarer Zeit übereinstimme. Es bedarf wohl keines Wortes darüber, wie undenkbar es für einen freiheitlich-demokratischen Rechtsstaat, der den Öffentlichkeitsanspruch der Kirchen bejaht, sein muß, daß eine Kirche in dem Ghetto festgehalten wird, in das sie durch die Hinnahme des politischen Monopols einer den Staat vergewaltigenden Partei verbannt werden sollte. Sosehr wir eine Überparteilichkeit der Kirchen für eine moralische Notwendigkeit halten, wünscht niemand — ich bin überzeugt, daß das im ganzen Hause einheitlich so ist —, daß den Kirchen die Freiheit ihres sittlichen Wächteramtes in der Welt, die eine politische Welt ist, verwehrt wird.
In den Akten des Bundesverfassungsgerichts taucht nun weiter die Behauptung auf, daß die Bundesregierung bereits im Jahre 1950 insoweit die Hinfälligkeit des Konkordats bestätigt habe. Es wäre wünschenwert und an der Zeit, daß sich die Bundesregierung öffentlich und unter Vorlage der Dokumente darüber erklären würde. Jedenfalls dürfte klar sein, daß sich die Frage nach den Geltungsgrundlagen des Reichskonkordats nicht formal aus dem Ratifikationsakt beantworten läßt. Selbst wenn man sich auf den Boden der Vertragstheorie stellen will und Konkordate als quasivölkerrechtliche Verträge eigener Art ansieht, sind nach der Tradition auch der Kurie diese Geltungsgrundlagen geschichtlich überholt, — ein Standpunkt, den die Kurie selber z. B. im Jahre 1919 gegenüber dem bayerischen Konkordat von 1817 einnahm und nach Francos Sieg im Spanischen Bürgerkrieg gegenüber dem Konkordat mit der spanischen Monarchie von 1851.
Die Verschmelzung einer konkordatären Ordnung mit den staatsinneren Verhältnissen läßt daher den für zwischenstaatliche Verträge des Völkerrechts grundsätzlichen Gesichtspunkt nicht zu, daß ein Verfassungswechsel weder die Identität des Staates noch seine völkerrechtlichen Verbindlichkeiten berühre, zumal der deutsche Zusammenbruch 1933 und die Staatskatastrophe 1945 etwas ganz anderes waren als eine bloße Veränderung der Staatsform, nämlich nach dem destruktiven Prinzip eines totalitären Machtgebildes die zeitweilige Abschaffung des Rechts. Selbst aber von dem heutzutage in den Vordergrund gerückten Standpunkt aus, daß Konkordate Verträge nach Art von völkerrechtlichen Verträgen seien, wenn auch Verträge mit selbständigem und eigentümlichem Charakter — zumal einer für Verträge kennzeichnenden Wechselseitigkeit das Hemmnis entgegensteht, daß die katholische Kirche von ihrer Dogmatik aus auf die von ihren Rechtsquellen aus eigenständigen Befugnisse oder Ansprüche gar nicht verzichten kann —, selbst von diesem Standpunkt aus könnte dem formalen Akt der Ratifikation keine absolute Kraft innewohnen.
Erstens fehlt der innere Grund für die auch im Völkerrecht übrigens strittige abstrakte Verbindlichkeit der Ratifikation, weil bei einem Konkordat die beiden Souveräne sich nicht als einander fremde Staaten gegenüberstehen. Denn weil es sich um die innere Ordnung für ein Staatsvolk handelt, das zu einem wesentlichen Teil auch Kirchenvolk ist, ist wegen dieser weitgehenden Identität von Staatsvolk und Kirchenvolk auch tatsächlich und rechtlich ein anderer Maßstab für die Kenntnis der innerstaatlichen Legalität und Legitimität anzulegen. Die Kurie wußte um die Rechtsnot in Deutschland, weil sie selber, ihr Klerus und ihre Gläubigen, darunter litt.
Zweitens kommt deshalb innerstaatlichen Wandlungen eine rechtserhebliche Bedeutung zu. Deutschland hat aber nach 1945 nicht nur den Schritt vom totalitären Unrechtsstaat zum demokratischen Verfassungsstaat getan, sondern auch den Schritt vom zentralistischen Einheitsstaat zum föderalistischen Bundesstaat. In betonter Abweichung von den Konkordaten mit Italien — 1929 — oder mit Spanien — 1953 — ist im Reichskonkordat nicht allgemein nur vom deutschen Staat die Rede, sondern wird durch Art. 32 die außergewöhnliche Lage innerhalb Deutschlands 1933 als besondere Grundlage hervorgehoben und wird an die Einrichtung der Reichsstatthalter angeknüpft. Das hatte seinen zeitbedingten Sinn, weil auf der staatlichen Seite ein totalitäres Regime ohne Grundrechte hingenommen wurde, ein Regime, mit dem eine geheime Ratifikation wesentlicher Konkordatsteile möglich war, und eine durch Länderzuständigkeiten ungehemmte Reichszentralgewalt vorausgesetzt wurde. Das alles ist heute irreal geworden. Ohne weiter darauf einzugehen, daß die Bundesrepublik nicht der gesamtdeutsche Staat ist und ihm nicht vorgreifen darf, hat sich jedenfalls normativ die staatliche Seite als Rechtsperson absolut gewandelt. Oder welche Instanzen sollten heute wohl den Reichsstatthaltern entsprechen? Im übrigen ist es auch in der Praxis so, daß auch die Kurie keine Bundesorgane an die Stelle der Reichsstatthalter zu setzen wünscht und in den Ländern, die das Konkordat anerkannt haben, gesetzt hat.
Drittens würde die Ratifikation eines völkerrechtlichen Vertrages nicht unmittelbar innerstaatliches Recht setzen. Diejenigen aber, die hier völkerrechtlich und legalistisch argumentieren wollen, können dann auch nicht daran vorbeigehen, daß das von ihnen als völkerrechtliches Versprechen gedeutete Konkordat niemals in innerstaatliches Recht umgeformt wurde. Zwar sah der vom Reichsminister des Innern am 11. Juli 1933 für ein Zustimmungsgesetz vorgelegte Entwurf ursprünglich den Satz vor: „Seine Bestimmungen" — die des Konkordats — „treten als Reichsgesetz in Kraft." Dieser Satz ist jedoch am 12. September 1933 nicht verkündet, sondern durch die bloße Ermächtigung ersetzt worden, das Konkordat im Verordnungswege durchzuführen, und die Kurie wußte, daß hierdurch nur ein Schwebezustand eintrat. Denn im geheimen Schreiben des Auswärtigen Amtes vom 18. Dezember 1933 an den Staatssekretär der Reichskanzlei heißt es wörtlich:
Der Heilige Stuhl hat in letzter Zeit wiederholt mündlich und schriftlich zum Ausdruck gebracht, daß die Verzögerung der immer noch nicht erlassenen Durchführungsverordnungen
zu dem bereits am 10. September ratifizierten und in Kraft getretenen Reichskonkordat einen täglich unhaltbarer werdenden Schwebezustand geschaffen habe.
Dieses gerade für eine legalistisch-positivistische Betrachtungsweise bedeutsame Fehlen einer Umwandlung in innerstaatliches Recht kann seit dem Erlaß des Bonner Grundgesetzes nicht mehr ausgeglichen werden, weil dem Bund insoweit jede Gesetzgebungszuständigkeit genommen wurde.
Schließlich ist das Reichskonkordat in seiner Gesamtheit niemals verkündet, sondern in wesentlichen Teilen geheimgehalten worden. Dazu gehört nicht nur die als authentisch vereinbarte Interpretation zu den entscheidenden Artikeln 31 und 32, deren Bedeutung deshalb so unbekannt blieb, sondern auch die Abrede darüber, daß die katholischen Geistlichen von der allgemeinen Wehrpflicht befreit sind. Die Bundesregierung mag sich darüber erklären, wie nach ihrer Meinung ein Reichskonkordat unverändert gelten soll, das in erheblichem Umfang als Geheimnis behandelt ist und gerade in der Wehrpflichtfrage jedenfalls auch die Parität verletzt. Eine geheime Ratifikation mit ewiger Wirkung ist rechtsstaatlich unvorstellbar und unvollziehbar.
Ich wiederhole, daß alle diese nur wegen des bisher von der Bundesregierung erklärten Standpunktes leider notwendigen Erörterungen nach meiner Überzeugung bloß einen Umweg darstellen, der an den eigentlichen Fragen vorbeiführt, weil man dem Konkordatsproblem als einer politischen und moralischen Gestaltungsaufgabe mit juristischen Mitteln nicht gerecht werden kann.
Aus diesem Grunde ist der Konkordatsprozeß in Karlsruhe so untunlich und unzweckmäßig, weil er ungeeignet ist, uns die geschichtliche und geistige Verantwortung abzunehmen, und weil er so oder so nicht zu dem Ziel führen kann, auf das es ankommt: den religiösen Frieden zu gewinnen. Das Bundesverfassungsgericht vermag über Gültigkeit oder Fortgeltung eines Konkordats nur inzidenter, also nur als Vorfragen, Erwägungen anzustellen. Verneint es die Geltung des Konkordats, so ist eine solche Meinung für die Kurie in keiner Weise verbindlich. Bejaht es die Geltung, so bedeutet diese Ansicht keine für die Länder gesetzeskräftige Entscheidung, zumal da es gar keine Möglichkeit gibt, eine solche Auffassung gegen die Länder zu vollstrecken. Der Prozeß räumt also nicht Gefahren aus, sondern vermehrt sie. Eine bloße Absage an das Konkordat droht nicht allein die wünschenswerten Beziehungen zur Kurie zu trüben, sondern würde auch im katholischen Volksteil nicht verstanden und würde zu seiner Beunruhigung führen. Ein Festhalten am Konkordat dagegen, so als ob sich seit 1933 gar nichts verändert hätte, würde wiederum andere Volksteile mit Besorgnis erfüllen, insbesondere beachtliche Kreise innerhalb des evangelischen Kirchenvolkes. Außerdem müßte ein Beharren auf dem Konkordat von 1933 die Kurie verpflichten, auch die Art. 31 und 32 als noch gültig anzuerkennen. Es sollte doch bitte einmal einer aufstehen und sagen, ob er das für richtig und für zumutbar hält und wie sich die Geschehnisse seit 1945 mit einem so unmöglichen Standpunkt vertragen! Diese vielschichtige und tiefgründige Lage müssen wir erkennen, wenn wir uns nicht in theoretisch und dogmatisch kaum lösbare Streitigkeiten über die Vergangenheit verlieren wollen, sondern den Blick auf die Zukunft und unsere eigene Verantwortung für sie richten.
Auf dem Spiel steht die Glaubwürdigkeit unserer Staatsidee, deren demokratisches Prinzip keine Ausnahme erleiden kann und für die eine innere Ordnung, zu der das Staatskirchenrecht, das konkordatäre Regime wesentlich gehören, nicht legitim sein kann, die nicht auf der freien Selbstbestimmung und dem Grundsatz des für alle gleichen Gesetzes beruht. In Gefahr droht der religiöse Frieden zu geraten, wenn die Parität zwischen den Kirchen ungewahrt bleibt und nicht ein Ausgleich gefunden wird, der kein Gewissen verletzt und den Freiheitsrechten aller gerecht wird.
Um so mehr freue ich mich, dankbar anerkennen zu dürfen, daß der Vatikan offiziös, durch den „Osservatore Romano", eine verständigungsbereite Haltung hat erkennen lassen, indem er entsprechend den Erklärungen des österreichischen Episkopats zu dem mit Dollfuß abgeschlossenen Konkordat behutsam verlauten ließ, daß einzelne Bestimmungen des Konkordats verändert werden könnten und die Bereitschaft zu freundschaftlichen Verhandlungen bestehe. Diese Verlautbarung wird bei allem Vorbehalt doch als eine grundsätzliche Verhandlungsbereitschaft gewertet werden dürfen. In solchen wünschenswerten Verhandlungen sollte die unfruchtbare Gültigkeitsfrage ausgeklammert werden, weil sie keine geeignete Grundlage bildet, sondern ein darum geführter Gerichtsprozeß die Verständigung nur stört und das Gegeneinanderstellen von Rechtsbehauptungen die freundschaftliche Aussprache nur erschwert.
Diese Einstellung der Kurie führt auch einen an sich gewiß beachtlichen Gesichtspunkt, die gesamtdeutsche Bedeutung der Konkordatsfrage, auf die richtige Perspektive zurück. Ich darf für mich in Anspruch nehmen, schon sehr frühzeitig und meines Wissens vor der Bundesregierung auf diesen Aspekt hingewiesen und gerade daraus gegenüber den hitzigen Polemiken die Mahnung abgeleitet zu haben, daß sich die Holzhammermethode, das Reichskonkordat im Prozeßwege juristisch zu traktieren oder zu dogmatisieren, nicht empfehle.
Ich unterschätze nicht die aus dem Konkordat ableitbare gesamtdeutsche Bindung, wenn ich dazu sage, daß es sich dabei nur um einen Gesichtspunkt, einen höchst beachtlichen zwar, aber nur um einen neben anderen handelt, überdies weniger einen rechtlichen als einen politischen und auch einen Gesichtspunkt, der — ich möchte niemanden verletzen, ich bitte das zu entschuldigen — nicht ohne eine Leidensgeschichte und nicht ohne legitime Interessenkollisionen, wie sie zuweilen in der Saarfrage sich andeuteten, gewesen ist und auf den man nur mit äußerster Behutsamkeit eingehen könnte. Ich unterschätze diesen Gesichtspunkt auch nicht, wenn ich mir in aller Bescheidenheit dazu die Bemerkung erlaube, daß ich überzeugt bin, daß die Verbundenheit der römisch-katholischen Kirche mit dem deutschen Volk, seiner Freiheit und Einheit doch nicht erst und nicht allein auf dem Reichskonkordat von 1933 beruht, sondern eine geschichtliche, eine geistige und mit unserem katholischen Volksteil insbesondere auch eine religiöse ist, die zutiefst in der deutschen Geschichte wurzelt.
Es sollte deshalb wohl nicht unangemessen sein, den Gedanken zu äußern, daß auch der Kurie daran gelegen sein dürfte, ihre Beziehungen zu Deutschland nicht an die mit dem bösen Namen Hitlers verbundene Notmaßnahme anzuknüpfen.
Dieser notwendigen gemeinsamen Zukunft dient es jedoch nicht, daß die Bundesregierung sich durch ihr Prozeßvorgehen auf eine Haltung in der Schulfrage versteift, die weder mit der verfassungsrechtlichen Lage noch mit der Entstehungsgeschichte des Reichskonkordats noch mit den grundlegend veränderten Verhältnissen unserer Gegenwart vereinbar erscheint. Gerade diese Haltung aber ist es, die die Gemüter bewegt.
Es trifft zu, daß bereits der aus dem Juli 1922 stammende Referentenentwurf aus dem Auswärtigen Amt für ein Reichskonkordat auch einen Schulartikel vorsah, der fast wörtlich mit dem Schulartikel 23 des Konkordats von 1933 übereinstimmt. Das gilt allerdings nicht für den weiteren Artikel 24, der auch Schulfragen, und zwar in ganz entscheidender Weise behandelt. Abgesehen von den verfassungs- und kulturpolitischen Einwendungen, die damals von einigen Ländern, von der evangelischen Kirche der Preußischen Union und von den meisten politischen Parteien dagegen erhoben wurden, war, wie insbesondere der damalige Meinungsaustausch zwischen dem Reichsministerium des Innern und den Ländern ergibt, seinerzeit nichts anderes gemeint als eine Bekräftigung der auf Grund der Weimarer Reichsverfassung bereits bestehenden Rechtslage einschließlich des Rechtsvorbehalts eines künftigen Reichsschulgesetzes. Daraus erklärt sich die Wendung, daß es sich um eine Gewährleistung handle, wobei bemerkenswert ist, daß es 1922 hieß „wird" gewährleistet, während man 1933 noch deutlicher formulierte „bleibt" gewährleistet, also nach Maßgabe des schon bestehenden Rechtszustandes einschließlich der Befugnis des Reiches, im Rahmen der Weimarer Reichsverfassung ein Reichsschulgesetz zu erlassen.
Das Reich behielt sich somit in jenem Vorentwurf insbesondere die freie Entscheidung vor, welche Anforderungen an einen geordneten Schulbetrieb zu stellen sind. Dieser Rechtsvorbehalt zugunsten der staatlichen Schulhoheit wird vollends eindeutig, sobald man beachtet, daß sich im bayerischen Konkordat von 1924 das Anerkenntnis findet, daß auch die ungeteilte Schule einen geordneten Schulbetrieb ermögliche, während diese Klausel im Reichskonkordat von 1933 fehlt. Selbst vom Buchstaben eines unveränderten Reichskonkordats aus bestünde also weit mehr Raum für eine die verschiedenen Gesichtspunkte befriedigende Gestaltungsmöglichkeit, als es die Bundesregierung durch ihre starre Haltung und ihr Prozeßvorbringen wahrhaben will.
Es ist für uns in Deutschland eine Lebensfrage, über die Schule wieder miteinander reden zu lernen, ohne daß man die Gesprächspartner von vornherein als kirchenhörig oder kirchenfeindlich diskriminiert. Darum wenden wir uns mit dieser Interpellation gegen den verfehlten Versuch der Bundesregierung, die Erörterung dieser Lebensfrage in das tödliche Schema entweder der Vertragstreue oder der angeblichen Vertragsuntreue gegenüber einem unter völlig andersartigen Umständen entstandenen Reichskonkordat zu pressen und die Kulturpolitik mit juristischen Mitteln als eine Angelegenheit der Bundesaufsicht zu traktieren.
Diese Uniformierung der Kulturpolitik wird von der gleichen Bundesregierung angestrebt, in deren Denken und Planen das Kulturpolitische sonst einen nur sehr stiefmütterlich behandelten Platz einnimmt. Es ist gewiß höchste Zeit, daß sich der Bund im Rahmen des Grundgesetzes auch auf seine
kulturpolitischen Pflichten besinnt. Aber es sollte das nicht durch eine Abkanzelung der Länder, sondern im verträglichen Zusammenwirken mit ihnen geschehen und nicht auf eine Weise, die das Reichskonkordat zur ewigen Quelle unfruchtbarer Streitigkeiten zu machen droht.
Ich bekenne mich zu der Überzeugung, daß es uns allen gemeinsam aufgegeben ist, derartige Streitigkeiten zu überwinden; denn die Eintracht mit der Katholischen Kirche als einer moralischen Instanz von Weltbedeutung liegt nicht nur ihren Gläubigen am Herzen, sondern geht jeden von uns an. Das notwendige Streben nach dieser Eintracht wird aber sinnvoll von den tiefgreifenden Veränderungen seit 1933 ausgehen müssen, und diese Veränderungen seit dem Jahre 1933 bestehen nicht allein darin, daß jene Zeit von der Abschaffung des Rechts gebrandmarkt war, der das Konkordat aus der Sicht der Kurie als abwehrende Notmaßnahme entgegengestellt werden sollte, während jetzt die rechtsstaatliche Erneuerung unseres Verfassungswesens eine demokratische Legitimierung der Konkordanz erfordert. Diese Veränderungen sind darüber hinaus umfassender Art. Die innere Struktur unseres Staatswesens wird zwar nach wie vor davon mitbestimmt, daß wir ein konfessionsgespaltenes Volk sind. Aber einerseits hat sich die Haltung der christlichen Kirchen in einem guten und versöhnlichen Sinne zueinander gewandelt, andererseits hat sich die konfessionelle Gliederung infolge der Wanderung der Heimatvertriebenen und der Sowjetzonenflüchtlinge verändert, wodurch fast bis in jede Dorfgemeinde die Diaspora der einen oder anderen Konfession entstanden ist.
Aber nicht nur diese inneren Bewegungen wollen beachtet sein und mit der Tradition in Einklang gebracht werden, weil Kulturpolitik ohne behutsame Rücksicht auf das geschichtlich Gewachsene nicht fruchtbar sein kann, sondern die Welt um uns ist eine andere geworden, wodurch Kultur, insbesondere das Bildungswesen, eine unmittelbar politische Bedeutung gewonnen haben. Es wird tagaus tagein betont, daß der Westen einig und stark sein müsse, was noch kein vernünftiger Mensch, der die Freiheit liebt, je verkannte. Aber es geschieht viel zuwenig, um die Erkenntnis wirksam werden zu lassen, daß die Kraft der westlichen Welt sich von der Aussicht und dem Wert freier Entwicklung nährt, die unsere Überlegenheit gegenüber dem Osten verbürgt. Diese unmittelbar politische Bedeutung des Bildungswesens prägt sich auch darin aus, daß wir es als eine Lebensfrage, ja geradezu als eine Frage des Überlebens anzusehen haben, was heutzutage ein geordneter Schulbetrieb zu leisten hat. Denn diese Ordnung entscheidet weit in die Zukunft hinein darüber mit, ob wir Menschen heranbilden, die sowohl sittlich dem Wagnis der Freiheit gewachsen sind als auch in ihrem Wissen das Rüstzeug mitbringen, zur Höchstleistung im Beruf einer technischen Welt der Automation und des Atomzeitalters befähigt zu sein.
Die Frage, was ein geordneter Schulbetrieb ist und ob eine ungeteilte Schule diesen Aufgaben noch genügen könnte, ist daher uns aus unserer Verantwortung für die Zukunft ganz anders gestellt, als dies etwa noch im Jahre 1933 oder früher der Fall war. Die Schwierigkeit und die nicht zu verharmlosende Spannungsgeladenheit der Schulfrage — die Lösung der Schlüsselprobleme für eine vorwärtsblickende Konkordanz zwischen dem Staat und den Kirchen ist eine Gestaltungsaufgabe, die
sich nicht mit dem juristischen Instrumentarium eines rückwärts gerichteten Verfassungsgerichtsprozesses bewältigen läßt — liegen darin, daß unser Bildungswesen drei verschiedenartige Strukturen vereinigen muß: erstens die aus der Ganzheitssicht zeitgerechter Erziehung grundlegende Bildung im Sittlichen, wodurch, vom geschlossenen Welt- und Menschenbild des Katholizismus für seine Gläubigen her, die Forderung nach der Konfessionalität des Unterrichts eine stärkere Akzentuierung erhält — das muß man sehen —, zweitens aber das staatspolitische Gebot der höchstmöglichen Entfaltung aller Begabungen und drittens das Toleranzgesetz der geistigen Freiheit, die eine Gewissensfreiheit für Lehrer und Schüler sein muß, ein Toleranzgesetz, ohne das wir aufhören würden, ein europäisches Staatswesen als Rechtsgemeinschaft der Vielheit im Glauben und Denken gleicher und freier Menschen zu sein.
Die Frage der Konkordanz muß deshalb nüchterner und verantwortungsbewußter als je zuvor aus dem Eingeständnis heraus entwickelt werden, daß legitime Rechte des Staates und legitime Anliegen der Kirchen einen Konflikt begründen, der sich nicht ,dogmatisch, sondern allein aus einer versöhnlichen Verständigungsbereitschaft heraus pragmatisch unter Berücksichtigung aller dieser geschichtlichen Veränderungen befrieden läßt.
Dabei ist auch zu bedenken, daß die Schulfragen gegenwärtig zur ausschließlichen Zuständigkeit der Länder gehören, weshalb als Partner grundsätzlich die einzelnen Länder in Betracht kämen. Aus der gegenseitigen Verpflichtung der Bundestreue ist daher der Bund gehalten, in Schulfragen neutral zu bleiben, nicht aber darf er, wie es durch seine Verfassungsklage geschieht, gegen einzelne Länder mit eigener Schultradition einseitig Partei ergreifen.
Worum es geht, ist die politische Grundfrage, ob die Zuständigkeitsordnung unseres Grundgesetzes gewahrt wird und ob unsere innere Ordnung demokratisch legitimiert und in freier Selbstbestimmung gestaltet sein muß oder ob die Bundesregierung obrigkeitlich mit dem diskriminierenden Vorwurf einer Verletzung der Vertrags- und Bündnistreue ihre Konkordatsmeinung den Ländern als eine Art Überverfassung aufzwingen kann.
Diese Erwägungen — lassen Sie mich damit schließen, meine Damen und Herren — verpflichten uns zu der warnenden Kritik, daß die Konkordatspolitik der Bundesregierung und der von ihr begonnene Konkordatsprozeß, der abgebrochen werden sollte, kein geeigneter Weg zum inneren Frieden sind.
Sie haben die Begründung der Großen Anfrage gehört.
Das Wort zur Beantwortung hat der Herr Bundesminister des Auswärtigen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Bundesregierung beantwortet die Große Anfrage — Bundestagsdrucksache 2258 —, die der Herr Abgeordnete Dr. Arndt soeben begründet hat, wie folgt.
Die in Punkt 1 gestellte Frage ist zu bejahen. Die vor dem Bundesverfassungsgericht wegen der Unvereinbarkeit des niedersächsischen Schulgesetzes mit dem Reichskonkordat erhobene Klage beruht auf einem Entschluß der Bundesregierung vom 9. März 1955.
Zu Punkt 2 möchte ich folgendes feststellen: Nachdem die niedersächsische Landesregierung im Februar 1954 dem Landtag die Regierungsvorlage zu einem Schulgesetz vorgelegt hatte, erhob die Apostolische Nuntiatur wiederholt Vorstellungen bei der Bundesregierung. Sie erblickte in der Regelung des niedersächsischen Schulgesetzentwurfs einen Verstoß gegen die im Reichskonkordat getroffenen vertraglichen Vereinbarungen und bat die Bundesregierung um Abhilfe. Die Apostolische Nuntiatur berief sich bei ihrem Einspruch insbesondere auf Art. 23 des Reichskonkordats, der die Beibehaltung und Neuerrichtung katholischer Bekenntnisschulen gewährleistet und in allen Gemeinden den Eltern oder sonstigen Erziehungsberechtigten grundsätzlich die Errichtung solcher Volksschulen, falls in ihnen ein geordneter Schulbetrieb durchführbar erscheint, auf Antrag zusichert.
Der Herr Bundeskanzler und das Auswärtige Amt haben daraufhin den damaligen niedersächsischen Ministerpräsidenten gebeten, die von dem Heiligen Stuhl erhobenen Vorstellungen zu prüfen und für eine Anpassung des in Aussicht genommenen Gesetzes an die vertraglichen Bindungen der Bundesrepublik Sorge zu tragen. Dabei wurde der niedersächsischen Landesregierung vor allem zu bedenken gegeben, daß ein möglicherweise berechtigter Vorwurf der Verletzung eines völkerrechtlichen Vertrags geeignet sei, das Ansehen der Bundesrepublik empfindlich zu schädigen und ihre internationale Vertragswürdigkeit zu schwächen.
Der Regierungsentwurf wurde gleichwohl vom a Landtag mit nur geringen Änderungen verabschiedet und vom Ministerpräsidenten als Gesetz verkündet. Das Schulgesetz trat am 1. Oktober 1954 in Kraft, ohne daß die vom Heiligen Stuhl beanstandeten Vorschriften beseitigt oder gemildert worden wären. Allein durch § 15 Abs. 1 dieses Schulgesetzes wurden an diesem Tage in Gemeinden mit nur einer Schule mindestens 304 katholische Bekenntnisschulen in Gemeinschaftsschulen umgewandelt. Insgesamt werden durch das niedersächsische Schulgesetz wenigstens 75 % der bestehenden Bekenntnisschulen beseitigt.
Infolge der durch die Verkündung des niedersächsischen Schulgesetzes geschaffenen Lage sah sich die Bundesregierung genötigt, eine Feststellungsklage vor dem Bundesverfassungsgericht zu erheben. Ich darf hier darauf hinweisen, Herr Kollege Arndt, daß sich diese Klage nicht auf Art. 84 Abs. 4 des Grundgesetzes stützt, da es sich nach der Meinung der Bundesregierung nicht um Mängel bei der Ausführung eines Bundesgesetzes handelt, sondern daß die Klage auf Art. 93 Abs. 1 Ziffer 3 gestützt wurde. Daraus ergibt sich ohne weiteres auch die Zuständigkeit des angerufenen Senats.
Die Bundesregierung hat die Pflicht, für die gewissenhafte Erfüllung der die Bundesregierung bindenden völkerrechtlichen Verträge zu sorgen. Dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts soll hier nicht vorgegriffen werden. Die Bundesregierung hat jedoch stets auf dem Standpunkt gestanden, daß das Reichskonkordat ein gültiger Vertrag sei. Auch der Herr Bundespräsident hat dieser Ansicht Ausdruck gegeben, indem er dem Apostolischen Nuntius, als dieser ihm am 4. April 1951 sein Beglaubigungsschreiben überreichte, wörtlich er-
klärte, er und die Bundesregierung seien „wohl eingedenk der vertraglichen Vereinbarungen, die frühere Regierungen mit dem Heiligen Stuhl eingegangen sind und an deren Fortbestand für das gesamte deutsche Gebiet auch die Bundesrepublik festhält."
Zu dieser Auffassung hält sich die Bundesregierung auch auf Grund z. B. der Ergebnisse der Mar-burger Tagung der Vereinigung der deutschen Staatsrechtslehrer aus dem Jahre 1952 für berechtigt und verpflichtet.
Das Reichskonkordat findet in der Praxis bei wichtigen Fragen nach wie vor Anwendung, z. B. bei der Mitwirkung der zuständigen Landesregierungen bei der Besetzung von Bischofsstellen , bei der Leistung des in Art. 16 des Reichskonkordats vereinbarten Treueides der Bischöfe und bei der soeben gemäß Art. 27 des Reichskonkordats erfolgten Ernennung des Militärbischofs. Auch hat sich die Bundesregierung in der Auseinandersetzung mit dem Heiligen Stuhl über die Tragweite des Art. 26 des Konkordats, der die Vornahme der religiösen vor der zivilen Trauung nur ausnahmsweise gestattet, sofort nach Bekanntwerden des Falles Tann wiederholt auf die vertragliche Regelung berufen. Ich darf dabei an die Kleine Anfrage 151 der Herren Abgeordneten Dr. Bucher, Dr. Hoffmann und Genossen vom 31. Januar 1955 —Drucksache 1179 — erinnern, in welcher die Bundesregierung unter Punkt 3 gefragt wurde, ob sie bereit sei, unverzüglich beim Heiligen Stuhl für eine Klarstellung zu sorgen, da die Einstellung des Bischöflichen Ordinariats von Passau und die ihr entsprechende Handlungsweise des Geistlichen — ich zitiere wörtlich — „dem Konkordat widerspricht".
Die damaligen Fragesteller gingen demnach eindeutig ebenfalls von der Fortgeltung des Reichskonkordats aus; denn eine Berufung auf Art. 26 wäre gegenstandslos, wenn das Reichskonkordat als solches nicht in Kraft wäre.
Übrigens hat der Heilige Stuhl aus der Fortgeltung des Reichskonkordats von sich aus — und Sie, Herr Kollege Dr. Arndt, haben schon darauf hingewiesen — die bedeutsame Folgerung gezogen, daß es nicht nur auf dem Gebiete der Bundesrepublik, sondern auch für die noch unter fremder Verwaltung stehenden Gebiete gilt. Das Reichskonkordat ist also gerade unter gesamtdeutschen Gesichtspunkten eine der wichtigsten Klammern. Der Heilige Stuhl hat folgerichtig gemäß Art. 11 des Konkordats keine dem gesamtdeutschen Interesse zuwiderlaufende Neuordnung der Diözesanzirkumskription vorgenommen, die Schaffung eines SaarBistums abgelehnt, die Bistümer Breslau und Frauenburg nicht wieder besetzt und die von seiten der polnischen Regierung gewünschten Änderungen der Diözesangrenzen nicht sanktioniert.
Folgerichtig werden auch im Päpstlichen Jahrbuch von 1956 die Erzdiözese Breslau, das Bistum Frauenburg und die frühere Prälatur Schneidemühe noch als deutsches Gebiet behandelt, das durch die in Deutschland residierenden Kapitularvikare dieser kirchlichen Distrikte repräsentiert wird.
Ist das Reichskonkordat aber in Kraft—worüber zwischen dem Heiligen Stuhl und der Bundesregierung keine Meinungsverschiedenheiten bestehen —, so muß auch der Schulartikel in der Bundesrepublik durchgeführt werden.
Als die Bundesregierung den Rechtsstreit vor dem Bundesverfassungsgericht anhängig machte, glaubte sie im übrigen einer ausdrücklichen Anregung der niedersächsischen Landesregierung zu entsprechen. Denn der frühere Ministerpräsident Kopf gab, als er während der dritten Lesung des Schulgesetzes in der 76. Sitzung des Niedersächsischen Landtages am 1. September 1954 seine Auffassung von der Rechtmäßigkeit des Schulgesetzes darlegte, dem Wunsche Ausdruck, daß die in diesem Zusammenhang zwischen dem Bund und der Landesregierung streitigen Rechtsfragen abschließend durch das Bundesverfassungsgericht entschieden werden sollten.
Die Fortentwicklung der Ordnung zwischen Staat und Heiligem Stuhl, wie sie in Ziffer 2 der Großen Anfrage angesprochen wird, könnte nach Auffassung der Bundesregierung nur durch neue konkordatäre Abmachungen erfolgen, die an die Stelle des Reichskonkordats treten und bis zu deren Zustandekommen das Reichskonkordat in Kraft bleibt.
Zu Punkt 3 der Großen Anfrage ist folgendes zu bemerken.
Die Erfüllung gültiger völkerrechtlicher Verträge durch die Bundesrepublik und die Erhaltung ihrer internationalen Vertragswürdigkeit sind ein Anliegen der Gesamtbevölkerung, also auch des evangelischen Bevölkerungsteils. Die Rechtsgültigkeit des Reichskonkordats wird nicht nur im Schrifttum von hervorragenden Rechtslehrern evangelischer Konfession wie etwa den Professoren Adalbert Erler, Giese, Liermann, Scheuner, Werner Weber bestätigt.
Auch Sprecher der evangelischen Kirche selbst haben davor gewarnt, die Konkordatsfrage zum Gegenstand innen- oder gar parteipolitischer Auseinandersetzungen zu machen. So heißt es z. B. in einem vielbeachteten Aufsatz mit dem Titel „Um das Reichskonkordat" im Informationsblatt für die Gemeinden in den niederdeutschen lutherischen Landeskirchen, es sei gefährlich, in der Konkordatsfrage „ohne Berücksichtigung aller in Betracht zu ziehenden rechtlichen und tatsächlichen Gesichtspunkte sich in vorschnellen Urteilen festzulegen". Auch der evangelische Bevölkerungsteil trage gerade im gegenwärtigen Zeitpunkt der Neubegründung deutschen Rechts eine Verantwortung dafür, daß der jeder Rechtsordnung zugrunde liegende Satz eingehalten werde: „Verträge müssen gehalten werden." Die Nichteinhaltung des bisher von der Kurie eingehaltenen Reichskonkordats könne unerwünschte Folgen für unser Volk haben. Eine abschließende Stellungnahme werde „in dieser schwierigen Frage im Bereiche unserer Rechtsordnung wohl nur ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts geben können". So weit der zitierte Artikel in dem genannten Informationsblatt.
Im übrigen dürfte das Beispiel der bayerischen Verträge mit den evangelischen Kirchen vom 15. November 1924, in welchen im Anschluß an Art. 6 des bayerischen Konkordats das Recht auf
Errichtung von Bekenntnisschulen gewährleistet wurde, zeigen, daß die im Konkordat vorgesehene Regelung auch in Kreisen der evangelischen Bevölkerung nicht als bedenklich angesehen wird. Nach einem schon wiederholt zitierten Wort von Professor Werner Weber entspricht das Konkordat einer liberal-parlamentarischen Demokratie mit föderalistischem Einschlag. Dem Leser trete die Mischung liberal-demokratischer, rechtsstaatlicher und föderalistischer Elemente entgegen, die für das Weimarer Verfassungssystem charakteristisch gewesen sei. Das Konkordat sei der heutigen Lage Deutschlands eher angepaßt, als es dem nationalsozialistischen Staate gegenüber je gewesen sei. So weit Professor Werner Weber in seiner Abhandlung „Die Ablösung der Staatsleistungen an die Religionsgesellschaften".
Zu Punkt 4 vermag die Bundesregierung nicht anzuerkennen, daß ihr Vorgehen in der Konkordatsfrage in die nach dem Grundgesetz begründete Kulturhoheit der Länder eingreife. Die Verlagerung bestimmter Zuständigkeiten für die Gesetzgebung kann die Fortgeltung völkerrechtlicher Verträge nach der Auffassung der Bundesregierung nicht berühren. Das Völkerrecht erlaubt den Staaten grundsätzlich nicht, sich durch Änderungen ihrer Verfassungsstruktur und durch interne Neuverteilung staatlicher Kompetenzen ihren Verpflichtungen aus allgemeinem Völkerrecht oder zwischenstaatlichen Verträgen zu entziehen. Außerdem enthält das gleiche Grundgesetz, welches den Ländern auf weiten Gebieten der Kultur die Gesetzgebungszuständigkeit zuweist, in Art. 123 Abs. 2 die ausdrückliche Anerkennung der Fortgeltung völkerrechtlicher Verträge des Deutschen Reichs auch über Gegenstände, für die nach dem Grundgesetz die Landesgesetzgebung zuständig ist.
Der Bundesregierung ist schließlich nicht ersichtlich, inwiefern durch die Erfüllung eines nach ihrer Auffassung gültigen, die Bundesrepublik verpflichtenden Vertrags die Entscheidung einer gesamtdeutschen Regierung vorweggenommen werden könnte. Entgegen der Auffassung der Fragesteller glaubt die Bundesregierung daher, mit der von ihr vor dem Bundesverfassungsgericht eingebrachten Klage nicht nur die völkerrechtlichen Verpflichtungen der Bundesregierung beachtet, sondern auch der durch das Grundgesetz geschaffenen Ordnung entsprochen zu haben.
Meine Damen und Herren, ich darf wohl annehmen, daß das Hohe Haus versteht, wenn die Bundesregierung sich auf diese Antwort beschränkt. In wenigen Tagen soll vor dem obersten deutschen Gericht der von der Bundesregierung angestrengte Prozeß beginnen. Die Bundesregierung ist in diesem Verfahren Partei und möchte sich nicht den Vorwurf machen lassen, daß sie etwa für ihre Auffassung durch eine Debatte im Parlament politische Unterstützung gesucht habe.
Sie haben die Antwort auf die Große Anfrage gehört. Ich nehme an, daß das Haus in die Beratung einzutreten wünscht. — Das Wort hat der Herr Abgeordnete Cillien.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zu Beginn der heutigen Plenarsitzung erklärte der Herr Bundestagspräsident, er
bedauere, daß die Aussprache über das Konkordat am Vorabend eines hohen kirchlichen Festes stattfinde. Dieses selbe Bedauern sei von sehr vielen Mitgliedern des Hauses aus allen Fraktionen geteilt worden. Ich freue mich, daß diese Eröffnung dem Bundestag gemacht worden ist. Das zeugt von einer noblen Gesinnung.
Auf der anderen Seite ist zugleich mitgeteilt worden, daß eine Verschiebung des Termins nicht möglich gewesen sei. So sind wir gezwungen, heute doch über diese Frage miteinander zu sprechen. Ich vermeide mit Absicht das Wort „zu diskutieren" oder „zu streiten". Allerdings glaube ich, daß uns eine Aufgabe von besonderer Verantwortung gestellt ist. Ich hoffe, daß wir ihr gerecht werden, und bin in dieser meiner Meinung bestärkt worden durch die Ausführungen des Kollegen Arndt, die er vorhin gemacht hat. Ich selbst wünsche, daß meine Ausführungen ein Beitrag in der gleichen Richtung sein möchten.
Es ist nicht meine Aufgabe, die juristische Seite zu behandeln. Soweit das etwa aus der Diskussion heraus noch erforderlich sein sollte, wird einer meiner juristischen Kollegen dazu sprechen. Im übrigen teile ich die Auffassung in den Schlußbemerkungen des Herrn Bundesaußenministers. Es ist ungut, am Vorabend der gerichtlichen Verhandlung juristische Ausführungen im höchsten Parlament der Bundesrepublik zu machen.
Wenn ich eben gesagt habe, Herr Kollege Arndt, daß ich Ihre Ausführungen wegen des Inhalts und wegen des Tones durchaus begrüßt habe, so werden Sie mir nicht verargen, daß ich allerdings etwas überrascht darüber gewesen bin, wie wenig Sie sich an die Große Anfrage gehalten haben. Ihre bedeutsame Rede verdient durchaus als ein Plädoyer bezeichnet zu werden, das auch an jeder anderen Stelle seinen Eindruck gemacht hätte. Wir hatten geglaubt, daß es Ihnen sehr viel mehr auf eine Stellungnahme etwa zu der Ziffer 3 oder zu der Ziffer 4 Ihrer Großen Anfrage ankomme.
Ich darf darauf hinweisen, daß durch das, was die Anfrage beinhaltet und was auch bislang hier zur Aussprache gestellt worden ist, zwei außerordentlich wichtige, j a vielleicht die entscheidenden Probleme Deutschlands und des deutschen Volkes berührt worden sind. Wir leben seit 400 Jahren in einem konfessionell gespaltenen Volk, und wir leben seit über 10 Jahren in einem politisch gespaltenen Volk. Das ist das Tragische und Schmerzliche, das wir in der Gesamtheit unseres Volkes überhaupt zu tragen haben.
Wir haben heute morgen über das Problem der Wiedervereinigung gesprochen, und es war doch erfreulich, daß dem eine Anfrage zugrunde lag, die von sämtlichen Fraktionen dieses Hauses unterzeichnet war und deren Diskussion doch auch in einer erheblichen Übereinstimmung verlaufen ist. Es wäre sehr gut, wenn dieses andere Problem, die konfessionelle Spaltung, mit derselben Einmütigkeit und mit derselben Verantwortlichkeit behandelt würde wie das nationale Problem, und zwar überall, nicht etwa nur in diesem Hause. Die konfessionelle Spaltung unseres Volkes ist nicht nur tragisches Schicksal, sondern sie ist auch eine ganz große geschichtliche Aufgabe für uns alle, mit der wir innerlich unbedingt und um jeden Preis fertigwerden müssen. Insofern kann es durchaus einen Dienst erweisen, daß wir uns auch einmal um diese
so ernste Frage des Reichskonkordats sammeln. Denn aus den Worten des Kollegen Arndt ist ja an vielen Stellen deutlich geworden, wie kompliziert diese Angelegenheit ist und wie wenig sie mit einigen Schlagworten etwa in Volksversammlungen gelöst werden kann.
Es wäre ein Gewinn, wenn uns allen zum Bewußtsein gekommen wäre, wie stark diese Frage eingeflochten ist in unsere geschichtliche Vergangenheit, aber auch im besonderen in jene tragischen Jahre des Nationalsozialismus
und wie nun einfach das Problem auf uns zugekommen ist, in einer völlig veränderten rechtlichen und staatlichen Situation und dennoch auch in Achtung vor einem einmal geschlossenen Vertrag bestehen zu können.
Wir wissen, daß in all den vergangenen Jahren durchaus Spannungen konfessioneller Art in geringerer oder in stärkerer Weise in unserem Volke bestanden haben. Nun kann man Spannungen vergrößern, man kann aber auch dazu beitragen, daß sie geringer werden. Und das darf ich doch einmal ganz offen hier sagen: Es ist seit über zehn Jahren das ernsteste Anliegen meiner Partei, gerade auf dies e m Gebiet einen wesentlichen Beitrag zu leisten.
Es ist das Bestreben meiner Partei seit ihrer Gründung, unentwegt und auch heute die einfach nicht wegzuleugnenden konfessionellen Unterschiede im politischen Raum, ich unterstreiche: im politischen Raum — wir haben keinerlei Absicht, etwa irgendwelche religiösen Übereinkünfte zu erzielen —, auszugleichen und hier endlich einmal die getrennten Brüder unseres Volkes zu einer gemeinsamen Arbeit zusammenzuführen.
Es ist uns eine innere Befriedigung — das spreche ich heute hier aus —, daß unser Bemühen nicht umsonst gewesen ist.
Ich füge dem allerdings hinzu: Wir haben auch nicht die Absicht, uns von diesem Wege jemals abbringen zu lassen.
Dazu ist allerdings, wenn wir gemeinsam — und nun spreche ich nicht nur von meiner Union — dieses Ziel wirklich wollen, eine ganz außerordentliche Toleranz notwendig.
Dieses Wort Toleranz ist sehr stark abgegriffen. Es ist überhaupt nicht zweckmäßig, über Toleranz zu reden oder Toleranz zu fordern, sondern es kann sich nur darum handeln, Toleranz zu üben.
Und dann kann es nicht darauf hinauslaufen, die Forderung zu stellen, daß der andere sich meinen Anschauungen, meinen Überzeugungen anschließt, sondern eine echte Toleranz verlangt gerade die Achtung und den Respekt vor den Überzeugungen, auch glaubensmäßigen Überzeugungen, die ich innerlich nicht teilen kann. Denn nur wenn ich den anderen so mit vollem Ernst nehme, kann ich denselben Respekt auch für meine Person verlangen.
An dieser Stelle muß ich allerdings eine ganz klare und eindeutige Feststellung treffen. Ich bin nicht der Meinung, daß die Antragsteller aktiv legitimiert sind, für den evangelischen Volksteil oder gar für die evangelische Kirche zu sprechen.
— Augenblick! Wenn Sie mich nur hätten weitersprechen lassen, Herr Kollege Arndt, hätten Sie das wahrscheinlich nicht gesagt. — Ich füge mit derselben Entschiedenheit hinzu, daß auch die über hundert evangelischen Mitglieder meiner Fraktion nicht dazu legitimiert sind, für den evangelischen Volksteil oder gar für die evangelische Kirche zu sprechen.
Das ist uns schon deshalb verwehrt, weil der Rat der Evangelischen Kirche und auch die Kirchenkonferenz es ausdrücklich abgelehnt haben, zu diesem Reichskonkordat und der Klage irgendwie Stellung zu nehmen. Aber es entspricht auch durchaus unserer eigenen Überzeugung.
Wenn wir, was uns ja manchmal vorgeworfen wird, in Anspruch nehmen — allerdings mit allem Zagen —, eine christliche Politik zu betreiben, so ist das in keiner Weise Kirchenpolitik. Einer meiner Freunde hat das vor kurzem mit aller Deutlichkeit so formuliert:
Die Politik der CDU befaßt sich weder mit den Kirchen noch wird sie von den Kirchen gemacht, befohlen oder dirigiert. Wir sehen in den Kirchen nicht unsere politische, sondern unsere geistige, auf jeden Fall aber unsere geistliche Heimat. Selbstverständlich liegt uns daran, daß uns diese Heimat nicht unleidlich gemacht wird wegen unserer politischen Arbeit. Aber wir verlangen auch nicht, daß die Kirchen sich für uns politisch engagieren. Wir treiben Politik nicht mit dem Mandat der Kirche, sondern mit dem frei errungenen Mandat unseres Volkes. Die CDU ist ein Teil der politischen Organisation unseres Volkes, so wie es andere Parteien in diesem Hause ebenfalls sind.
In dieser Eigenschaft, als eine politische Organisation, nehmen wir Stellung zu der Frage des Reichskonkordats.
Meine Herren Antragsteller, Sie sprechen in Ihrer Anfrage von den besonderen Bedenken bei dem evangelischen Volksteil wegen der Gültigkeit des Reichskonkordats. Sie werden mir zugeben müssen, daß solche Feststellungen sehr schwierig und sehr ungenau sind. Auch Stimmen der Gemeinde kann da nicht eine besondere Bedeutung beigemessen werden. Ich muß es schon sagen, es ist mir gar nicht erwünscht, daß Bedenken aus der Bevölkerung heraus gerade auf kulturpolitischem Gebiete so äußerst selten sind, daß sie sehr viel deutlicher etwa auf rein politischem oder wirtschaftlichem Gebiet und auf steuerlichem Gebiet in die Erscheinung treten. Dabei haben wir gerade auch auf dem kulturpolitischen Gebiet mancherlei Erscheinungen in unserem Volke, die Bedenken erregen und über die man sich eine echte Sorge machen sollte. Ich denke dabei sogar an die wirklich außerordentliche Differenziertheit unseres Schulwesens, in die wir allmählich hineingeraten sind und die nicht durch gute und unaufhebbare föderalistische Traditionen allein voll gerechtfertigt wird. Dabei besteht die Gefahr, daß zu den
zwei Teilungen, die ich vorhin nannte, nun etwa auch noch eine Aufspaltung unserer deutschen Kultureinheit kommt.
Obwohl in der Großen Anfrage die Gültigkeit oder Nichtgültigkeit des Konkordats nicht angeschnitten wird, ist die Beantwortung gerade dieser Frage natürlich von entscheidender Bedeutung. Darüber wird nach unserer Überzeugung das Bundesverfassungsgericht das entscheidende Urteil abzugeben haben, dem wir in gar keiner Weise vorzugreifen gedenken. Wir haben ein ganz klares und eindeutiges Bekenntnis zu der großen Bedeutung von Recht und Gericht sowohl im persönlichen wie im nationalen und völkerrechtlichen Raum, und es ist doch unser gemeinsames Anliegen in diesem ganzen Hause, daß wir unsere Arbeit unter rechtsstaatlichen Gesichtspunkten tun. Deshalb — verargen Sie es mir nicht — halten wir die Anrufung des Bundesverfassungsgerichts immerhin für ein mögliches Mittel, einen Rechtsstreit zu klären. Die Opposition hat sich ja auch in den vergangenen Jahren in rein politischen Fragen an dieselbe Instanz gewandt.
Daß die Bundesregierung sich auch des Verhandlungsweges mit der niedersächsischen Regierung bedient hat, ist durch die Darlegungen des Herrn Bundesaußenministers deutlich geworden. Da sie zu keinem Ziele geführt haben, ist die höchstrichterliche Entscheidung gegeben gewesen. Jedenfalls wie die Dinge in dieser Stunde liegen, bleibt nur übrig, dieses Urteil abzuwarten. Ich darf vielleicht als ein Mann aus Niedersachsen sagen, daß tatsächlich bei der Verabschiedung des Schulgesetzes der damalige sozialdemokratische Ministerpräsident Kopf
erklärt hat: „Auf diese Klage freue ich mich!" Diese Meinung würde ich mit ihm nicht teilen, denn ich glaube nicht, daß dabei in irgendeiner Weise eine Freude zu ernten ist, da es, wie ich eingangs schon gesagt habe, um eine gemeinsame Frage für uns alle geht.
Es wäre eine völlig falsche Behauptung, wenn man etwa der Sozialdemokratischen Partei eine unentwegte Konkordatsfeindlichkeit vorwerfen wollte. Das ist völlig falsch. Reichskanzler Bauer und sein Außenminister Herrmann Müller haben bereits 1919 die Errichtung einer deutschen Botschaft beim Heiligen Stuhl gefordert und zur Begründung gerade auf die Notwendigkeit eines Reichskonkordats hingewiesen. Seitdem haben eigentlich alle die verschiedensten und sehr wechselnden Reichsregierungen sich immer wieder darum bemüht, ein solches Reichskonkordat zustande zu bringen. Herr Kollege Arndt hat mich zwar rechtzeitig davor gewarnt, mich etwa auf den ersten Reichspräsidenten Ebert zu berufen. Aber Sie wissen: Zitate werden so und so ausgelegt. Ich möchte dieses Zitat doch zur Kennnis bringen, weil Sie es ja nicht ganz getan haben. Er hat immerhin erklärt:
Mit Ihnen, Herr Nuntius, gedenke ich die vor uns liegende Aufgabe, das Verhältnis zwischen Kirche und Staat in Deutschland neu zu regeln. Das soll geschehen auf Grund der Verfassung der Republik, die vollste Gewissensfreiheit verbürgt. Die Reichsregierung ist sich bewußt, daß hier eine die berechtigten Interessen beider Teile dauernd befriedigende Einigung erstrebt werden muß. Sie dürfen des größten
Verständnisses und Entgegenkommens auf deutscher Seite von vornherein versichert sein.
— Ja sicher, selbstverständlich!
Daß in jenen Jahren auch evangelische Männer an der gestellten Aufgabe beteiligt worden sind, Herr Professor Schmid, das werden Sie bezeugen. Es ist damals gar kein Gegensatz gewesen, sondern man hat aus sehr gewichtigen innerpolitischen und außenpolitischen Gründen den Abschluß eines Reichskonkordats durchaus für eine erstrebenswerte Aufgabe gehalten. Auch mit der evangelischen Kirche sind in jenen Jahren mehrere Staatsverträge zustande gekommen, als die Länderkonkordate — mit Bayern 1925 und mit Preußen 1929 — abgeschlossen wurden. Alle diese Verhandlungen zwischen der Reichsregierung und der Kurie fanden ihren Niederschlag in dem Reichskonkordat von 1933. Da gehen unsere Meinungen natürlich auseinander, Herr Kollege Arndt. Es gibt Leute — auf die ich mich berufe; es ist nicht mein eigenes Urteil —, die eben der Meinung sind, daß da tatsächlich politisches Gedankengut und politische Grundprinzipien der Weimarer Republik ihren Niederschlag gefunden haben. Der „Osservatore Romano" erklärte z. B. dazu:
Der Text des Reichskonkordats wie der Geist, der es gestaltete, gibt nicht die Idee und die Politik dieses neuen Regimes wieder, sondern im Gegenteil, sie entsprechen getreu den Linien der kirchlichen Politik, die in der Republik von Weimar vor 1933 entwickelt wurden.
Und ein Mann wie Hausmann betont 1939 im Zentralorgan der NSDAP:
Das Konkordat steht als ein Abklatsch der Weimarer Verfassung wie ein Petrefakt im Strom der Zeit.
Auch ein Urteil! Das Urteil von Herrn Professor Weber ist mir leider vorweggenommen worden, sonst hätte ich es zitiert.
Nun etwas ganz anderes, und da berühren wir uns wieder, Herr Kollege Arndt: Auch nach ergangenem Urteil werden sich manche ernsten und schwierigen Fragen ergeben — gerade auch auf innerstaatlichem Rechtsboden — durch die Veränderungen in den verfassungsrechtlichen Beziehungen und Bestimmungen unserer Bundesrepublik. Sie müssen — und daß Sie das getan haben, Herr Kollege Arndt, habe ich aus Ihren Worten herausgehört, wie ich Ihnen gerne zugestehe — mit außerordentlicher Sorgfalt geprüft werden. Das Reichskonkordat gibt in vielen seiner allgemein gefaßten Bestimmungen der näheren Ausführung einen gewissen Spielraum. Beachtlich hierfür ist Abs. 2 des Art. 33 mit dem Wortlaut:
Sollte sich in Zukunft wegen der Auslegung oder Anwendung einer Bestimmung dieses Konkordats irgendeine Meinungsverschiedenheit ergeben, so werden der Heilige Stuhl und das Deutsche Reich in gemeinsamem Einvernehmen eine freundschaftliche Lösung suchen.
Bei der augenblicklichen Diskussion darf aber vor allem eins nicht übersehen werden; es ist schon berührt worden, auch in der Regierungserklärung: Das ist die nach meinem Dafürhalten große außenpolitische Bedeutung des Reichskon-
kordats. Der Vatikan betrachtet nach wie vor das Konkordat als gültig, trotz aller Vertragsbrüche durch das Hitler-Regime. Dadurch ist es auch heute noch vielleicht die einzige ganz Deutschland umspannende völkerrechtliche Klammer, und durch sein Verhalten hat der Vatikan unmißverständlich zum Ausdruck gebracht, daß er nach wie vor die uns entzogenen deutschen Gebiete auch heute noch zu dem Bestand des Deutschen Reichs rechnet und vor allem, daß er allein die Bundesrepublik als den legitimierten Sprecher für ganz Deutschland anerkennt. Ich glaube, das ist ein Faktum, das nicht mit leichter Hand weggewischt werden kann. Diese Tatsachen mögen wegen ihrer überragenden Bedeutung manche hier und da bestehenden Einzelbedenken gegen das Konkordat zerstreuen, da in ihm die allein noch bestehende internationale rechtliche Sicherung für den Anspruch auf die uns entzogenen Gebiete, auf das uns entzogene deutsche Land gegeben ist. Ich glaube, daß insofern sowohl für die Vertriebenen wie auch für die Einheimischen gerade diese außenpolitische Bedeutung von großem Belang ist.
Heute morgen waren wir uns untereinander völlig einig, daß wir niemals gewillt sein werden, den Anspruch auf jenes deutsche Land aufzugeben, und daß wir alles tun wollen, was zur Wiedervereinigung führen kann. Ich darf zum Schlusse meiner Ausführungen den Wunsch hinzufügen, daß wir uns in der anderen Frage, die wirklich eine notvolle Frage ist — die konfessionelle Spaltung durch Jahrhunderte hindurch — mit derselben Einmütigkeit und Geschlossenheit zusammenfinden und daß wir die Gegensätze nicht vergröbern und vergrößern, sondern überbrücken und mildern — nicht im Sinne der kirchlichen Einheit, das ist eine Sache, die überhaupt nicht in unseren Bereich gehört.
Daß uns das gelingt, ist für das Zusammenleben unseres Volkes von einer geradezu entscheidenden Bedeutung. Dann sind auch die Bedenken unseres Herrn Bundestagspräsidenten und vieler unserer Freunde unberechtigt. Wenn die Aussprache diesen Entschluß fördert, dann ist dieser Tag trotz allem ein guter Tag gewesen.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Schmid .
— „Schmid ", schön; an Tübingen sind wir gewöhnt.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Verehrte Frau Kollegin Weber, ich höre „Tübingen" ebenso gern wie „Frankfurt".
— Das darf ich als hessischer Beamter nicht sagen.
Meine Damen und Herren, das Grundthema, das in der Großen Anfrage der sozialdemokratischen Fraktion anklingt, gehört zu denen, deren Behandlung zeigen könnte, daß man auch in einem Parlament nicht nur streiten kann, um Recht zu behalten,
sondern miteinander reden kann, um die Wahrheit zu suchen. Die Reden, die wir bisher gehört haben, beweisen, daß dies möglich ist.
Es handelt sich im Grunde bei dem, wovon wir reden, um die Frage des richtigen Verhältnisses von Staat und Kirche. Ich sage: des richtigen Verhältnisses; denn daß Staat und Kirche zueinander in engster Beziehung stehen und stehen müssen, darüber brauchen wir nicht zu streiten. Die Frage ist, wie man diese Beziehung zum Nutzen und Frommen beider am besten gestaltet. Am besten sicher, wenn man bei den Formen und Einrichtungen, die man sucht und findet, sich bemüht, dem Wesen beider so gerecht als möglich zu werden. Ich glaube, daß hier Fragen des Opportunismus völlig beiseite bleiben sollten und völlig beiseite bleiben können.
Das rechte Verhältnis zu finden ist aus einer ganzen Reihe von Gründen ungemein schwer, nicht nur aus den Gründen, die der verehrte Kollege Cillien angeführt hat, sondern aus einem viel weiter zurückliegenden Grund: aus dem Grund, daß Kirche und Staat, beide, Anstalten eigenen Rechtes sind und daß dabei die Kirche die ältere dieser Anstalten ist, daß auf der andern Seite aber der Staat die Anstalt ist, die für einen größeren Umkreis von Menschen als nur die Angehörigen einer Kirche zu sorgen und für sie die Verantwortung zu tragen hat. Das macht das Problem so schwierig, und deswegen laboriert man in Europa, nicht nur in Deutschland, auch in anderen Ländern, doch seit Jahrhunderten an diesem Problem herum. Letzten Endes — die Historiker werden mir die Blasphemie verzeihen — ist doch, was wir hier tun, im kleinen mikroskopischen Format etwas wie die Fortsetzung der Diskussion des Investiturstreites.
— Ich sage: im mikroskopischen Format. Auch dort hat es sich darum gehandelt, welcher der beiden Anstalten — die sich als Heilsanstalten fühlten —, dem Reich oder der Kirche, in bestimmten Dingen der Primat zukomme.
Nun, die Kirche umfaßt nicht alle Staatsbürger, sondern nur einen Teil von ihnen. Darum können ihre spezifischen Gebote und Rechtsvorschriften sich nur an einen Teil der Staatsbürger wenden. Auf der andern Seite umfaßt der Staat sehr viel mehr Menschen als die Angehörigen einer Kirche, Angehörige anderer Kirchen und auch Menschen, die keiner Kirche angehören. Darum muß der Staat, der für sie alle verantwortlich ist, für Rechtsnormen sorgen, die den Interessen aller, der Angehörigen der verschiedensten Kirchen und auch den Interessen derer, die keiner Kirche angehören, gerecht werden.
Die Kirche wiederum hat Rechte und Gebote aus eigenem Recht. Es ist hier nicht der Ort, die von Sohm aufgeworfene Kontroverse zu erneuern, — Sohm, Herr Cillien, der wie Sie ein guter Lutheraner gewesen ist und der der Meinung war, daß es dem Wesen der Kirche widerspreche, eine Rechtsanstalt zu sein und ein Kirchenrecht zu haben. Meiner Meinung nach ist das ein Irrtum dieses großen Gelehrten gewesen. Aber es lohnt sich heute noch, sein großes Buch zu lesen.
Der Staat hat seine eigenen Rechte, seine eigenen Vorstellungen, die mit denen der Kirche nicht übereinzustimmen brauchen und in manchen Fällen wegen der Pflicht des Staates, gleichermaßen für
alle da zu sein, wegen seiner Pflicht, das Leben aller in seiner Gemeinschaft möglich zu machen, gar nicht übereinstimmen können. Das ist zu jeder Zeit in Erscheinung getreten, und man hat dem immer Rechnung getragen, außer in den Zeiten der Religionskriege.
Welche Möglichkeiten gibt es, aus dieser Antinomie herauszukommen? Und es liegt eine echte Antinomie vor, wenn man diese Dinge schwer genug nimmt, und man kann sie gar nicht schwer genug nehmen! Es gibt eine Reihe von Möglichkeiten, die alle in der Geschichte versucht worden sind. Es gibt die eine, daß der Staat erklärt, er bestimme allein und autonom: der laizistische Staat, der sagt: Was innerhalb meiner Grenzen die Rechte der Kirchen und der Angehörigen der Kirchen sind, das bestimme ich allein durch meine Gesetze. So hat es Frankreich seit Beginn dieses Jahrhunderts gemacht, so haben es andere Staaten gemacht. Ich glaube nicht, daß das unter allen Umständen ein nachahmenswertes Beispiel für uns ist. Auf diese Weise kommt man zu einem Staatskirchenrecht, bei dem der Akzent auf „Staat" liegt. In diesem Falle wird die Kirche ausschließlich dem staatlichen Vereinsrecht unterworfen.
Eine andere Möglichkeit wäre die, daß die Kirche selber autonom bestimmt, was ihre Glieder und auch sie selbst im Staate an Rechten haben sollen. Das ist wohl nur im Kirchenstaat möglich gewesen. Es wäre schließlich — ich sage das ohne jede Ironie und ohne jede Lust zu Invektiven — auch in einem Staat möglich, in dem politische Parteien die Mehrheit haben, die der Meinung sein könnten, ihre Aufgabe sei es, im Staate die Kirche zu vertreten und zu repräsentieren. Das ist bei uns nicht der Fall.
Manche Länder haben es sich einfacher gemacht. Das Goethesche Wort „Amerika, du hast es besser!" trifft vielleicht auch für das Verhältnis von Staat und Kirche zu. Hier hat der Staat den ganzen kirchlichen Bereich aus dem Gebiet der staatlichen Tätigkeit ausgeklammert. Auf der andern Seite entspricht aber dieser völligen Freiheit der Umstand, daß der Staat verbietet, öffentliche Mittel für kirchliche Zwecke, auch im weitesten Sinne des Wortes, zur Verfügung zu stellen. Das ist eine andere Tradition als unsere; ich glaube nicht, daß es möglich und richtig wäre, diese fremde Tradition bei uns nachzuahmen.
Die andere Möglichkeit ist, daß Staat und Kirche die Art und Weise ihres wechselseitigen Sichdurchdringens oder ihres Nebeneinander miteinander vereinbaren. Das ist das Konkordatssystem. Konkordate gibt es seit Jahrhunderten. Sie werden auf die verschiedenste Weise aufgefaßt. Es ist vielleicht nicht ganz gleichgültig, sich einmal zu vergegenwärtigen, welche Auffassungen vom Wesen des Konkordats geschichtlich geworden sind. Da gibt es zunächst einmal die alte kuriale Theorie, die Theorie der Kanonisten, der Juristen der Kurie, die sogenannte Privilegientheorie, die da lautet: Die Kirche nimmt das Recht auf die autonome Regulierung bestimmter Lebensgebiete auch dem Staate gegenüber in Anspruch, aber sie erteilt gewissen Staaten das Privileg, vom kanonischen Recht abzuweichen, z. B. bei den Formalien der Bestellung der Bischäfe, beim formellen Eherecht und bei anderen Dingen. Diese Privilegien werden nach dieser kanonischen Theorie nur bestimmten Regierungen erteilt, auf jeden Fall nur bestimmten Regimen. Wechselt das Regime, so gelten nach dieser Theorie die Konkordate als erloschen. Das ist, wenn man das Konkordat als ein Privilegium ansieht, auch durchaus logisch; denn wenn man ein Privileg erteilt, dann möchte man den Mann kennen, dem man es erteilt hat, und wenn dieser Mann wechselt, dann will man sich den Nachfolger ansehen, ob auch er dieses Privilegs würdig ist.
Die andere Vorstellung ist die Legaltheorie. Das ist im Grunde die Privilegientheorie in ihrem Anderssein. Hier ist es der Staat, der behauptet, daß er der Kirche Privilegien erteilt, nämlich in der Form staatlicher Gesetze, und daß diese Privilegien darum zur Verfügung des Gesetzgebers stehen, auch wenn der Inhalt dieser Gesetze vorher mit kirchlichen Stellen vereinbart worden ist.
Die dritte Theorie ist die Vertragstheorie. Hier sagen die einen, ein Konkordat sei ein völkerrechtlicher Vertrag. Man kann das in manchen Lehrbüchern lesen. Ich für meinen Teil vermag ein Konkordat nicht als einen völkerrechtlichen Vertrag anzusehen, denn das Konkordat ist kein Vertrag mit einem Staate. In einem Konkordat werden doch nicht die Verhältnisse der Bundesrepublik zur Vatikanstadt geregelt — wenn das der Fall wäre, dann würde es sich um einen völkerrechtlichen Vertrag handeln —, sondern es handelt sich um einen Vertrag, den der Staat mit der Katholischen Kirche schließt, also nicht mit einem Staat, sondern mit einer Anstalt, die ihm gleichgeordnet ist, deren Reich von einer anderen Welt ist als das seine, zu der er aber rechtlich geordnete Beziehungen unterhalten will. — Ich möchte hier bemerken, daß es doch Botschafter bei der Kurie schon lange vor den Lateranverträgen gab, also lange bevor der Papst ein anerkanntes Hoheitsgebiet hatte.
Wenn dem so ist, dann ist es meiner Meinung nach unmöglich, ein Konkordat für einen völkerrechtlichen Vertrag und seine Normen für Normen des Völkerrechts zu halten. Dagegen ist es natürlich richtig, daß man auf einen solchen Vertrag sui generis analog Normen anwenden kann, die auch im Völkerrecht gelten. Es gibt ja allgemeine Rechtsnormen, die mehr oder weniger allen Rechten zugrunde liegen, zumindest in unserem Europa, zumindest bei den Völkern, deren juristisches Patrimonium ein Erbe des römischen Rechtes ist.
Dieser Vertrag hat den Zweck, das Verhältnis des Staates in seinem jeweiligen Sosein mit den Bedürfnissen der Kirche in ein angemessenes Verhältnis zu bringen, in das angemessenste Verhältnis, und der Grad, in dem diese Angemessenheit sich kundtut, kann und wird nach Zeit und Ort wechseln. Es ist gar kein Zweifel — um ein extremes Beispiel zu nehmen —, daß ein Konkordat mit Spanien anders aussehen könnte und würde als eines, das, sagen wir, mit Schweden oder einem anderen im wesentlichen protestantischen Staat, geschlossen würde. Der Inhalt der Konkordate ist ganz wesentlich mit durch die spezifische Struktur des Staates bestimmt, mit dem sie abgeschlossen werden. Ein Konkordat mit einem totalitären Staat wird anders aussehen können als eines, das mit einer demokratischen Republik abgeschlossen wird.
Wenn man aber davon ausgeht, es handle sich um einen Vertrag, nun, dann muß man diesen Vertrag als ein Ganzes nehmen, dann muß man darauf den allgemeinen Rechtsgrundsatz anwenden, der auch im Bürgerlichen Gesetzbuch gilt und
der auch im Völkerrecht gilt — der Haager Gerichtshof hat ihn mehrere Male bestätigt —, daß, wenn ein wesentlicher Bestandteil des Vertrages gegenstandslos wird, der ganze Vertrag das Schicksal dieses seines wesentlichen Bestandteils teilt. Es geht nicht an, daß der eine oder der andere der beiden Partner beim Wechsel des Regimes nur noch die Teile des Vertrages gelten lassen will, die er als für sich günstig hält. Wenn nach Auffassung der Kurie wesentliche Teile des Vertrages gegenstandslos geworden sind — ich nenne nur die Art. 31 und 32 —, dann muß sich die Kirche auch gefallen lassen, daß man die übrigen Teile des Vertrages als gegenstandslos betrachtet. Wenn nicht, nun, dann müßte sie sich gefallen lassen, daß man diese Artikel 31 und 32 — Verbot der politischen Tätigkeit des Klerus, Verzicht auf katholische Vereine, die nicht nur der Seelsorge dienen, usw. — auch heute noch als gültig ansieht.
Aber unser Grundgesetz würde einen solchen Zustand nicht erlauben. Es würde nicht erlauben, daß dem Klerus politische Tätigkeit verboten und die Bildung katholischer Vereine eingeschränkt wird. Denn wir haben die politische Meinungsfreiheit, wir haben die Koalitionsfreiheit.
Unter dem Vertragsgesichtspunkt bedeutet das aber, daß nunmehr die Möglichkeit einer vertraglichen Gegenleistung fehlt, der Gegenleistung, um derentwillen die damalige deutsche Regierung den Vertrag geschlossen und ihrerseits Gegenleistungen gewährt hat. Wir wissen doch, daß Hitler als Gegenleistung für seine papiernen Konzessionen die Entpolitisierung im kirchlichen Raum verlangt und erhalten hat. Aus keinem anderen Grund hat er seine Konzessionen gemacht.
Aber nunmehr haben wir eine staatliche Rechtsordnung, die solche Gegenleistungen verbieten würde; und das, Herr Kollege Cillien, war es wohl, was der Reichspräsident Ebert meinte, als er von Abmachungen „im Rahmen unserer Verfassung" sprach: es dürfe in dem Konkordat nichts stehen, was etwa den Grundrechten der Verfassung widersprechen könnte.
So ist also dem Konkordat das innere Gleichgewicht genommen. Man könnte sich fragen, ob wir hier nicht vor einem klassischen Fall für die Anwendung der These, des Rechtssatzes von der clausula rebus sic stantibus stehen, der da sagt, daß, wenn sich die Umstände, die für die Schaffung eines Vertrages ursächlich waren, wesentlich geändert haben, der ganze Vertrag nicht mehr gilt.
Der Rechtsberater der Bundesregierung, mein Lehrer Professor Erich Kaufmann, hat darüber ein sehr bedeutendes, sehr beachtetes und heute noch sehr lesenswertes Buch geschrieben. Er ist leider nicht da; sonst könnte er Ihnen mit einem Kopfnicken sagen, daß dies auch seine Meinung ist.
Man hat mit der These von der Kontinuität des Staates operiert. Sicher gibt es diese Kontinuität. Aber eine ganz andere Frage ist, ob, wenn sich das Regime in einem Staat in seiner Substanz wesentlich wandelt, dadurch nicht auch die internationalen Verträge, die dieser Staat einst abgeschlossen hat, gegenstandslos werden. Es gibt hierfür ein Beispiel: Als das zaristische Rußland zum sowjetischen Rußland wurde, haben die meisten Staaten erklärt, daß ihre mit dem zaristischen Rußland geschlossenen Verträge nicht mehr gälten, obwohl die Kontinuität des Staates nicht bestritten wurde. Es wurde lediglich gesagt, die
Staatssubstanz habe sich wesentlich geändert, und dies wirke sich auf die Geltung der Verträge aus.
Nun will ich nicht sagen, daß dieses Beispiel ohne weiteres auf unser Problem anzuwenden sei. Aber schließlich hat sich doch, Herr Cillien, auch in der Substanz uns er es Staates seit den Zeiten Hitlers, Gott sei Dank, einiges Wesentliche geändert.
— Halten Sie auch Art. 31 und 32 für Substanz von vorher, die verboten, katholische Vereine außer auf rein seelsorgerischem Gebiet zu bilden? Das war doch nicht Substanz der Weimarer Verfassung, das war Drittes Reich und reinstes Drittes Reich.
Es wurde auch davon gesprochen, daß das Konkordat die einzige Klammer sei, die das Deutsch- land, das unser Deutschland ist, noch zusammenhält. Nun, wir können uns über jede Rechtseinrichtung freuen, die darauf hinweist, daß Deutschland sich nicht auf das Gebiet der Bundesrepublik beschränkt. Aber, meine Damen und Herren, ich glaube, daß die Einheit Deutschlands doch wesentlich zusammengehalten wird durch das Bewußtsein der deutschen Nation, eins und unteilbar zu sein.
Was die Gebiete östlich der Oder und Neiße betrifft, so hat die Kurie — das ist ganz selbstverständlich und natürlich — sich den Gegebenheiten akkommodieren müssen.
— Nein, sie hat zwar keine neue Zirkumskriptionsbulle erlassen, Herr Kollege Schütz, aber sie hat auch keinen deutschen Bischof in Breslau und in Gnesen ernannt. Sie hat den politischen Veränderungen Rechnung getragen, die dort vor sich gegangen sind. Das ist ihr Recht.
— Herr Kollege Schütz, ich erlaube Ihnen gern eine Frage.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Professor, ich bin zwar kein Gelehrter, ich darf Sie aber doch einmal an den Prälaten Kather erinnern, dessen Wahl zum Kapitelvikar für das Bistum Memelland von der Kurie anerkannt ist.
Entschuldigen Sie einen Augenblick, Herr Kollege. — Ich glaube, jetzt wird es mit der technischen Anlage gehen.
— Aber das Haus hat die Frage noch nicht gehört.
Der Kollege Schmid hat gesagt, die Kirche habe den Zuständen dadurch Rechnung getragen, daß sie für Breslau keinen neuen deutschen Bischof ernannt hat. Das ist wahr. Die Kirche hat aber dort, wo die Möglichkeit bestand, einen neuen Oberhirten auch für die Gebiete jenseits der Oder und Neiße anzuerkennen, auch
wenn er nicht dort lebt, von dieser Möglichkeit Gebrauch gemacht. Ich verweise dabei auf das Beispiel des Kapitelvikars von Ermland, Herrn Prälaten Kather.
Ich kenne dieses Beispiel nicht.
— Aber ich glaube Ihnen doch! Sie brauchen mir nicht zu belegen, was Sie sagen.
Meine Damen und Herren, es Ist sehr freundlich, daß der Sprecher, der am Wort ist, diese Feststellung zugelassen hat. Aber wir haben eigentlich nur das System der Zwischenfragen. — Bitte fahren Sie fort.
Unter den dargelegten Umständen gibt es meiner Meinung nach keine andere realistische und den Interessen aller gemäße Möglichkeit, als neu zu verhandeln, um ein neues Konkordat abzuschließen.
Ich habe jüngst in einer Zeitung ein Interview des Prälaten Böhler gelesen, der sagt: Verhandeln, ja, aber zuerst anerkennen; dann verhandeln. — Ich halte das nicht für einen fairen Vorschlag. Denn wenn man aus einer solchen Position heraus verhandelt, was soll denn dann sehr viel herauskommen! Ich will hier nicht ein geläufiges Zitat aus dem zweiten Teil des „Faust" anführen; vielleicht fällt es dem einen oder anderen von Ihnen von selbst ein.
Aus einer solchen Position heraus verhandelt es sich gerade mit der Kurie sehr schwer; vielleicht ist ein Verhandeln so überhaupt unmöglich.
Und nun die Frage: Wer soll denn anerkennen? Soll der Bund anerkennen? Er hat gar keine Gesetzgebungsgewalt auf dem Gebiet, das das Konkordat regelt. Sein Inhalt ist keine .,auswärtige Angelegenheit" im Sinne des Grundgesetzes, kein Gegenstand der Bundesgesetzgebung. Art. 32 des Grundgesetzes spricht von Beziehungen „zu auswärtigen Staaten". Art. 59 des Grundgesetzes sagt: der Bund schließt Verträge mit „auswärtigen Staaten". Es heißt dort weiter: „Verträge, welche die politischen Beziehungen des Bundes regeln ..." usw. Das alles gibt doch keine Zuständigkeit für die Materie, die das Konkordat regelt. Darüber hinaus: die Bundesregierung — das hat die Erklärung des Herrn Außenministers gezeigt — hat ja das Konkordat anerkannt. Warum verhandelt man denn da nicht? Wenn jemand — von der Substanz der Dinge her — berechtigt wäre. das Konkordat anzuerkennen, dann wären es die Länder, die ja durch das Konkordat betroffen sind. im Grunde die einzigen dadurch Betroffenen sind.
Im übrigen, Herr Außenminister: ich glaube nicht, daß Sie recht haben mit Ihrer Feststellung, daß die Klage nur auf Art. 93 des Grundgesetzes gestützt werden könnte. Im Verhältnis zu Art. 93 ist Art. 84 die lex specialis. Sie haben von dem Lande Niedersachsen ein bestimmtes Tun verlangt, und dieses Tun ist verweigert worden. Also müssen Sie auf Grund der Bestimmung des Grundgesetzes klagen, die besagt, daß, wenn ein Land Gesetze nicht ausführt, der Bundesrat anzurufen sei. Bei Art. 93 handelt es sich um „Meinungsverschiedenheiten", die sich noch nicht aktualisiert haben. Das Gericht in Karlsruhe wird darüber entscheiden. Ich glaube, meine These von der lex specialis trifft eher das Richtige als die Ihre von der Generalzuständigkeit nach Art. 93.
Sie sagten, daß nicht auf Grund der Bundesaufsicht vorgegangen worden sei. Ich nehme das zur Kenntnis. Aber trotz alledem ist doch das Problem, um das es sich handelt — da muß ich meinem Freund Arndt recht geben —, nicht durch ein Gerichtsurteil zu lösen. Denn dieses Gerichtsurteil entbehrt doch, da es nur eine Inzidentfeststellung sein wird, der Vollstreckbarkeit im weiteren und im engeren Sinne des Wortes, ganz abgesehen davon, daß man Dinge, die so delikater Art sind wie diese Dinge, nicht vor dem Richter austragen sollte. Man sollte versuchen, ein faires Einverständnis zu erreichen; und ich glaube, daß das möglich ist, wenn man alle Partner, die in Betracht kommen können, heranzieht, nämlich den Bund, die Länder und die Kirchen.
Die Antwort der Bundesregierung trägt, glaube ich, dem Wesentlichen, dem Problem nicht Rechnung. Sie hat mich nicht befriedigen können. Ich hätte erwartet, daß man uns die Mitteilung macht, daß die Bundesregierung an die Kurie mit der Aufforderung herangetreten ist, in Verhandlungen über den Abschluß eines neuen Konkordats einzutreten. Damit hätte sie das Ihre dazu beigetragen, einen Restbestand aus dem Arsenal der Politik zu beseitigen, mit der das „Dritte Reich" sich hoffähig zu machen versuchte und sich hoffähig zu machen verstanden hat
und mit der das „Dritte Reich" es auf eine diabolische Weise verstanden hat, viele gute und demokratische Katholiken glauben zu machen, die Kurie halte den Staat Adolf Hitlers für einen legitimen Staat. Sie hat es nicht getan; aber durch dieses Konkordat ist, nachdem es in die Propagandamühle von Goebbels gekommen ist, dieser Eindruck bei vielen Menschen erweckt worden. Ich meine, daß man damit aufräumen sollte, und ich glaube, daß die Kurie zur Bereitschaft der Bundesrepublik, ihre und des Staates Interessen und Ordnungen in ein angemessenes, für beide nutzbringendes Verhältnis zu bringen, so viel Vertrauen haben könnte, wie sie es seinerzeit zu der Regierung gehabt hat, mit der sie das Konkordat abschloß.
Das Wort hat Herr Abgeordneter Dr. Reif.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Daß meine Fraktion in dieser Aussprache nicht von einem Juristen vertreten wird, liegt in unserer Ansicht über den Gegenstand dieser Aussprache begründet. Wir sind der Meinung, daß vor der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts das Parlament dieses Landes eine Diskussion der Rechtslage nicht durchführen sollte, ganz abgesehen von der Frage, ob Parlamente, die ja politische Entscheidungen treffen sollen, überhaupt eine Rechtslage klären können. Ich möchte also auch darüber nichts sagen und muß nur mit Rücksicht darauf eine Bemerkung machen, daß der Herr Bundesaußenminister in
seiner Beantwortung der Anfrage auf die Kleine Anfrage 151 und auf die Begründung dieser Anfrage durch die Vertreterin unserer Partei, Frau Dr. Ilk, Bezug genommen hat. Ich möchte ausdrücklich feststellen, daß Frau Dr. Ilk am 10. November 1955 in dieser Begründung mit Zustimmung unserer Fraktion hier erklärt hat, daß wir die Rechtsgültigkeit des Konkordats nicht ohne Bedenken betrachten. Wir haben also in sehr vorsichtiger Form angedeutet, worum es sich für uns handelt.
Hier aber, meine Damen und Herren, geht es in diesem Hause nicht um Fragen der Toleranz. Es geht nicht um Fragen des Glaubens; es geht nicht einmal um die Frage — verzeihen Sie, Herr Kollege Schmid, wenn ich das sage — des Verhältnisses von Staat und Kirche in seiner grundsätzlichen Bedeutung. Es geht erst recht nicht um die Frage unserer Stellung zu der verehrungswürdigen Einrichtung der Kurie, sondern es geht im Grunde genommen um das Verhalten der Bundesregierung, zu dem Stellung zu nehmen und das unter Umständen zu kritisieren Aufgabe eben dieses Parlaments ist.
So ist, das möchte ich vorausstellen, sowohl bei der Begründung der Anfrage als auch jetzt wieder vom Herrn Kollegen Schmid durchaus mit Recht darauf hingewiesen worden, daß es die Aufgabe der Bundesregierung gewesen wäre, einen politischen Weg zu suchen in der Auseinandersetzung mit dem Land Niedersachsen, aber auch einen politischen Weg zu betreten in Verhandlungen mit der Kurie. Das ist die Frage, um die es sich für uns handelt; denn alles das, was vom Herrn Kollegen Arndt in so überzeugender Weise über die Entstehungsgeschichte des Konkordats gesagt worden ist, berührt uns als Demokraten gar nicht als eine Kirchenangelegenheit, sondern als eine politische Frage. Ich kann mich dabei auf die nach meinem Dafürhalten ausgezeichnete Darstellung meines Berliner Kollegen Dr. Bracher berufen, aus der doch nun wirklich eines ganz klar und deutlich hervorgeht: Das Ermächtigungsgesetz, die Rechtsbasis für die Verhandlungen und für den Abschluß des Konkordats durch die Regierung Hitler, ist keine im historischen Raum isoliert stehende Tatsache, sondern das Ergebnis von Machtkämpfen gewesen. Der Verabschiedung dieses Gesetzes in der Kroll-Oper gingen Rechtsbrüche voraus, wie z. B. die Verordnung zum Schutze von Volk und Staat, die Reichstagsbrand-Verordnungen und vor allen Dingen, worauf ich auch noch einmal hinweisen möchte, die im letzten Augenblick vorgenommene Änderung der Geschäftsordnung des Reichstages, die den Reichstagspräsidenten ermächtigte, Abgeordnete. die nicht anwesend waren, für 60 Tage auszuschließen, gleichzeitig aber sie selbst bei der Berechnung des Quorums mit in Ansatz zu bringen. Diese Maßnahme hatte man doch gerade getroffen, um zu verhindern, daß Parteien des Hauses durch Nichterscheinen eine Verfassungsänderung unmöglich machten. Diese und andere Voraussetzungen waren notwendig, und immer wieder muß betont werden, daß die NSDAP in Deutschland damals keine Mehrheit und auch keine Aussicht auf eine Mehrheit hatte und daß sie dieser Rechtsbrüche bedurfte, um sich durchzusetzen.
Auch unter diesen Voraussetzungen wäre die Zustimmung zum Ermächtigungsgesetz niemals
möglich gewesen ohne die deutsche Zentrumspartei.
Wiederum geht doch aus dem Wortlaut der Erklärungen des Herrn Prälaten Kaas, des damaligen Sprechers der Zentrumspartei in dieser, wenn ich so sagen darf, denkwürdigen, dramatischen Reichstagssitzung hervor, daß die Zustimmung zum Ermächtigungsgesetz für die deutsche Zentrumspartei nur deshalb möglich war, weil man ihr den Abschluß des Konkordats in Aussicht stellte,
desselben Konkordats, das für Herrn Hitler dazu dienen sollte, diese selbe Zentrumspartei umzubringen.
Ich glaube nicht, daß die deutsche Zentrumspartei das damals gewußt hat. Man darf nicht unterstellen, daß sie sich gern und freiwillig umbringen ließ, sondern dies ist ein Beweis mehr für die Hinterhältigkeit, mit der von deutscher Seite diese Verhandlungen mit der Kurie geführt wurden.
Meine Damen und Herren, es ist doch wohl nicht zu bestreiten, daß das Interesse, das Hitler an dem Zustandekommen des Konkordats hatte, ein rein politisches Interesse war. Es war einmal das Interesse an der Anerkennung der sogenannten nationalsozialistischen Revolution — die im übrigen ja keine war — durch eine Macht, die nicht nur als eine ausländische Macht, sondern mit Recht als eine moralische Macht in der Weltgeschichte gilt. Ich kann mich jedenfalls an jene Tage erinnern, in denen wir verzweifelt in Berlin saßen und mit unseren jüdischen und unseren katholischen Freunden über das Entsetzliche sprachen, was nach unserer Meinung damals geschehen war, als die Anerkennung Hitlers, sicherlich nicht in der Absicht der Kurie, aber in der Absicht Hitlers durch die Kurie erfolgt war. Das zweite war, daß Hitler auf diese Weise die Zustimmung ides Vatikans zum Verbot, zur Auflösung nicht nur der deutschen Zentrumspartei, sondern, wie schon gesagt wurde, auch der nicht rein seelsorgerischen. katholischen Organisationen, darunter auch der christlichen Gewerkschaften, bekam.
Der Herr Kollege Schmid hat mit besonderem Nachdruck auf die Artikel 31 und 32 des Konkordats hingewiesen. Das waren für Adolf Hitler die entscheidenden Artikel, und es existiert ja — der Herr Kollege Arndt hat darauf hingewiesen — eine Anweisung an den deutschen Unterhändler, daß ohne dieses Zugeständnis das Konkordat für die Reichsregierung uninteressant sei. Es ist also gar kein Zweifel, daß, wenn überhaupt eine Bestimmung von der einen Vertragsseite her als wesentlicher Bestandteil, ja, als Conditio sine qua non betrachtet wurde, es gerade die Bestimmungen der Artikel 31 und 32 waren. Und das sind die Artikel, die heute nicht mehr gelten.
Ich erwähne das nicht, um das, was der Herr Kollege Arndt schon in so ausgezeichneter Weise dargelegt hat — die historische Brüchigkeit der juristischen Rechtfertigung des Konkordats aus dem Ermächtigungsgesetz usw. —, zu wiederholen, sondern weil ich sagen möchte, daß die Bundesregierung, wenn sie den Weg, den wir für einen unheilvollen Weg halten, beschritten hat,
vor dem Bundesverfassungsgericht zu klagen, verpflichtet ist, in der rein juristischen Argumentation die Rechtmäßigkeit des Konkordats zu unterstellen. Und diese Rechtmäßigkeit kann rein formaljuristisch nur auf das Ermächtigungsgesetz gestützt werden. Das ist ein Zeichen dafür, daß in gewissen historischen Verhältnissen das Formaljuristische allein nicht ausreicht, sondern daß die historischen Kräfte, daß die Ereignisse — und es handelt sich ja nicht um Kleinigkeiten, sondern es handelt sich um gewaltige und gewalttätige Ereignisse, die sich hier abgespielt haben — dabei mit beachtet werden müssen.
Ich darf vielleicht noch erwähnen, daß auch die Frage der Seelsorge nach der Wiedereinführung der allgemeinen Wehrpflicht von Herrn von Papen dem damaligen Reichskanzler Adolf Hitler triumphierend mitgeteilt wurde als ein ganz großer Erfolg der deutschen Politik, der zwar geheimgehalten werden müsse. Auch das, meine Damen und Herren — ich will Sie jetzt nicht mit Zitaten langweilen, ich habe sie hier —, ist doch wieder ein Beleg dafür, daß jene Regierung nur politische Absichten hatte, die mit einer wirklichen Konkordanz überhaupt nicht das geringste zu tun hatten.
Nun möchte ich eine Frage stellen, ich bitte sie mir nicht übelzunehmen, meine Damen und Herren. Ist es nicht eigentlich etwas bedrückend, ist es nicht wirklich etwas bedrückend, daß man, wenn man es mit dem Verhältnis von Politik und Moral ernst nimmt und wenn man überzeugt ist von der großen Bedeutung der christlichen Kirchen für die Geltung eines gesunden Verhältnisses zwischen Politik und Moral oder — sagen wir ruhig besser — für die Durchdringung der Politik mit Moral in der Praxis des Volkslebens, uns gewissermaßen zumutet, etwas so Unmoralisches, etwas so Hinterhältiges wie diese Verhandlungen Hitlers und des Herrn von Papen in ihren Resultaten heute noch anzuerkennen?
Das ist doch etwas, was uns alle tief bewegt. Es geht doch hier nicht um Anerkennung der Kirche oder um Glaubensdinge. Es gibt nun mal hier, es gibt auch in diesem Hause Gott sei Dank noch Leute, die sich innerlich dagegen aufbäumen, daß man zugeben soll, daß Hitler überhaupt irgendwelches Recht hat schaffen können.
Meine Damen und Herren, ich spreche hier als ein Mitglied des Wiedergutmachungsausschusses. Ich weiß, daß die Dinge juristisch auf verschiedenen Ebenen liegen. Aber es gibt vielleicht doch auch in unserem Volke Leute, die fragen werden, wie denn sonst von uns Verbindlichkeiten behandelt werden,
nicht nur unsere Verpflichtungen gegenüber den Opfern des Nationalsozialismus, auch andere. Ich bin zufällig auch im Ausschuß für Geld und Kredit, und wir sprechen dort über das Kriegsfolgenschlußgesetz. Es gibt Reichsverbindlichketiten, bei denen wir anerkennen, daß es ein ultra posse nemo obligatur gibt, daß es Verhältnisse gibt, die niemand übersehen darf, daß es eine clausula rebus sic stantibus in all den Dingen gibt. Warum nun nicht auch hier? Gerade
deshalb, weil es letzten Endes doch um das Moralische geht, weil man uns nicht zwingen soll, etwas anzuerkennen, was unmoralisch entstanden ist, weil man uns nicht zwingen soll, die Folgen des Willens, eines bösartigen und hinterhältigen Willens Adolf Hitlers und seiner Regierung in irgendeiner Weise noch für uns gelten zu lassen!
Ich kann mir gar nicht denken, daß man darüber nicht mit der Kurie soll reden können. Ich bin doch fest überzeugt, daß man das kann. Ich weiß doch selbst, wie katholische Freunde, mit denen ich damals in Berlin zusammengelebt habe, zum Kardinalstaatssekretär gefahren sind — der heute der Heilige Vater ist — und ihm ihre Sorgen anvertraut haben. Ich kenne diese ganzen Dinge. Glaubt man denn wirklich, daß das nicht geht? Heißt das nicht eigentlich, der Kirche unrecht tun, wenn man unterstellt, daß sie für solche ernste seelische Nöte eines deutschen Demokraten nach der Hitlerzeit kein Verständnis hätte? Ich kann mir das nicht denken.
Das ist das, was wir nun eben in der Auseinandersetzung mit unserer Regierung zu sagen haben. Unsere Regierung sollte das doch wissen. Unsere Regierung sollte doch, ehe sie die Dinge durch einen Prozeß, durch eine Entscheidung klären läßt, die doch letzten Endes immer nur formaljuristisch sein wird und die nicht einmal praktische Folgen haben kann, den politischen Weg gehen, den politischen Weg innerhalb Deutschlands und den politischen Weg, der zur Kurie führt. Das ist nach unserer Auffassung das Gebot der Stunde. Ich möchte nicht — das möchte ich noch einmal betonen —, daß alle diese Fragen belastet werden mit Vorstellungen des Verhältnisses von Staat und Kirche, der Frage etwa des Zusammenlebens beider Konfessionen usw. Das steht alles gar nicht auf der Tagesordnung, sondern es steht auf der Tagesordnung: Warum ist die Regierung der Bundesrepublik Deutschland unter Führung eines Bundeskanzlers, der der Vorsitzende der Christlich-Demokratischen Union ist, nicht auf diese natürlichste Weise auf den natürlichen Weg gekommen, in diesem Falle nun einmal wirklich echte Politik anzufangen, statt einfach zum Kadi zu gehen?
Das Wort hat der Abgeordnete Prinz zu Löwenstein.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich spreche nicht für die Fraktion der FDP; ebensowenig handelt es sich bei dieser Großen Anfrage um eine Angelegenheit der Fraktion. Es liegt hier ein Fall vor, in dem ein jeder nach seiner eigensten Überzeugung und unter eigener politischer Verantwortung entscheiden muß. So spreche ich auch nicht nur im eigenen Namen, sondern gleichzeitig für eine große Anzahl meiner politischen Freunde.
In aller Klarheit möchte ich gleich zu Beginn meiner Darlegungen herausstellen, daß ich aus rechtlichen und politischen Gründen anderer Meinung bin als die Unterzeichner der Großen Anfrage. Ich sehe im Reichskonkordat gültiges Staats- und Völkerrecht, und überdies liegt hier ein gesamtdeutsches Interesse vor. Wir im Deutschen Bundestag als einzigem frei gewählten Parlament sind gehalten, dieses Interesse zu wahren. Es handelt sich nicht um irgendwelche konfessionelle Probleme; es ist besonders glücklich, daß in der gesamten
Diskussion nichts dergleichen mitklang. Es geht lediglich um politische und rechtliche Fragen. Über andere könnte der Deutsche Bundestag ja auch gar nicht entscheiden.
Ich meine sagen zu dürfen, daß ich sehr objektiv über diesen Komplex urteilen kann. Ich habe seinerzeit als sehr junges Mitglied der Zentrumspartei in Wort und Schrift keinen Zweifel daran gelassen, daß ich dem Abschluß des Konkordats mit ganz großen Bedenken entgegensehe. Ich darf hinzufügen, daß ich im Jahre 1935 diese Bedenken — also zwei Jahre nach dem Abschluß des Konkordats — auch bei den zuständigen Stellen in Rom mit großer Deutlichkeit vorgetragen habe. Ich habe hingewiesen — und ich tat es immer wieder — auf den Gewissenskonflikt, der für viele dadurch entstehen konnte. Tatsache ist zweifellos, daß der Vatikan über die damalige Lage in Deutschland durch Herrn von Papen und durch andere nicht richtig informiert worden ist. Ich weiß dies aus allererster Quelle. Dennoch wird man sagen dürfen und sagen müssen, daß das Konkordat ein positives Ziel gehabt hat und daß dieses Ziel in gewissem Maße auch erreicht wurde. Es ging darum, zumindest den Versuch zu machen, dem totalitären Staat gewisse Grenzen zu setzen. Wenn es gelungen wäre, den totalitären Staat Hitlers dazu zu zwingen, die religiöse und die Gewissensfreiheit zu achten, dann wäre die Totalität selber eingeschränkt gewesen.
Ich darf auf das Zusatzprotokoll zum oft zitierten Art. 32 hinweisen, in dem ganz ausdrücklich festgestellt wird, daß in keiner Weise eine Einengung der dogmatischen und sittlichen Lehrfreiheit, Lehrpflicht der Kirche beabsichtigt ist. Es ist vielleicht heute noch zu früh, mit letzter Deutlichkeit zu entscheiden, welche Rolle diese Garantie, wenn sie auch nur auf dem Papier stand und von der verbrecherischen Hitler-Regierung natürlich nie ernst gemeint war, dennoch gespielt hat, um in Deutschland die ganzen Jahre des „Dritten Reiches" hindurch ein gewisses Minimum an Rechtssicherheit zu gewährleisten. Immerhin, wir wissen von der großen Rolle, die beide Kirchen im Kampf gegen den totalitären Staat gespielt haben. Wir wissen, daß das Wohl der einen Kirche gleichzeitig das Wohl der anderen ist und daß die Freiheit der einen gleichbedeutend ist mit der Freiheit der anderen Kirche. Alle Bekenntnisse in Deutschland sind in guten und in bösen Zeiten untrennbar miteinander verbunden. Es ist in diesem Konkordat auch nichts enthalten, das irgendwie nationalsozialistischen Ungeistes wäre. Natürlich ist im Konkordat keine Anerkennung des Nationalsozialismus enthalten. Das ist von allen Seiten auch heute mit letzter Klarheit herausgestellt worden.
Die Frage nach dem rechtmäßigen Zustandekommen des Konkordats ist eine sehr komplexe. Ich darf vielleicht dazu kurz bemerken, daß ich selber zu denen gehört habe, die bis zum Schluß auf das leidenschaftlichste gegen das geplante Ermächtigungsgesetz Stellung genommen haben. Noch in den letzten großen politischen Versammlungen, die schon unter dem Schatten des Terrors und unter dem Schatten möglicher Konzentrationslager in Berlin stattfanden, haben meine Freunde und ich gegen dieses sogenannte ..Gesetz" plädiert, von dem wir wußten, daß es das Ende der deutschen Demokratie bedeuten würde. Ich glaube, daß wir da alle einer Meinung sind. Ich möchte dennoch vom juristischen Standpunkt eins hinzufügen. Das Reichskonkordat bedarf meiner Meinung nach zu
seiner Gültigkeit gar nicht der nichttragfähigen Krücken des Ermächtigungsgesetzes.
Die Vorfrage, ob das Reich überhaupt ein Konkordat abschließen konnte, ist sehr einfach zu beantworten. Die Berechtigung ergab sich aus Art. 10 Nr. 1 und Art. 135 ff. der deutschen Reichsverfassung. Die Kollegen Arndt und Schmid haben in sehr dankenswerter Weise auf die verschiedenen Theorien hingewiesen, die einem Konkordat zugrunde liegen. Gestatten Sie mir, daß auch ich einige Worte dazu sage; sie sind vielleicht von praktischer Bedeutung. Und über die unmittelbar praktische Bedeutung hinaus meine ich, daß ein solches Parlament auch Hüter der historischen Bildung, des Geschichtsbewußtseins sein sollte. Die Privilegientheorie der späten mittelalterlichen Kirche ist heute zweifellos überwunden. Dabei ist es interessant, festzustellen, wie geschichtskrisenfest bestimmte Begriffe und Grundprobleme der geistigen und politischen Ordnung geblieben sind, geschichtskrisenfest durch die Jahrhunderte hindurch. Eine sehr kluge und zweifellos mit großem historischen Wissen verfaßte Streitschrift gegen das Konkordat, die wohl jedem Abgeordneten zugesandt wurde, nimmt zur Begründung ihrer ablehnenden Haltung auf diese geschichtliche Entwicklung und die kirchliche Staatslehre Bezug. Daher muß einiges dazu gesagt werden. Die sogenannte Zwei-Schwerter-Theorie des Mittelalters ist etwas, was wir als geschichtskrisenfest bezeichnen dürfen. Sie geht nämlich durch die Jahrhunderte, und seit Papst Leo XIII., seit der Enzyklika „Immortale Dei" des Jahres 1885 ist die ursprünglich ghibellinische Zwei-Schwerter-Theorie schlechthin zur Grundlage der kirchlichen Staats- und Gesellschaftsauffassung geworden. Das ist von großer Bedeutung; denn durch die Annahme dieser Doktrin der zwei gleichgeordneten Gesellschaften, beide in unmittelbarer Beziehung zu Gott, einander nicht unterworfen, ist die Entwicklung der modernen Vertragstheorie für Konkordate überhaupt erst möglich geworden.
Nun ist es interessant, festzustellen, daß jene Enzyklika „Immortale Dei" erging, nachdem der Reichskanzler Fürst Otto von Bismarck mit Papst Leo XIII. Verhandlungen über die Beendigung des so verhängnisvollen Kulturkampfes eingeleitet hatte. Unmittelbar darauf fielen in Deutschland die letzten Überbleibsel der Maigesetze, und es entstand ein harmonisches Verhältnis zwischen Kirche und Reich.
Verträge — darüber wird es keinen Zweifel geben — müssen auch im völkerrechtlichen Raum nach Treu und Glauben ausgelegt werden. Hierauf besteht ein Anspruch des Vertragspartners. Schon das ist ein wichtiges Argument für die Gültigkeit des Konkordats.
Aber ich möchte mich nicht allein darauf berufen. Ich deutete schon an, daß meiner Meinung nach die Krücken des Ermächtigungsgesetzes gar nicht gebraucht werden. Nach Art. 45 Abs. 1 der Verfassung des Deutschen Reiches schloß der Reichspräsident im Namen des Reiches Bündnisse und andere Verträge mit auswärtigen Mächten. Bündnisse und Verträge mit fremden Staaten, die Gegenstand der Reichsgesetzgebung waren, bedurften der Zustimmung des Reichstags. In Art. 78 Abs. 1 der Reichsverfassung wird der Ausdruck „auswärtige Staaten" verwendet. Kein geringerer als Georg Anschütz, auf den ich mich ausdrücklich berufe, stellt nun fest, daß beide Begriffe, „auswärtige
Staaten" und „auswärtige Mächte", dasselbe bedeuten. Die Lehre von Anschütz — das ist ganz entscheidend — wird von der überwiegenden Mehrheit aller deutschen Rechtslehrer geteilt, daß nämlich der Vatikan unter keinen dieser beiden Begriffe fällt, daß er weder auswärtiger Staat noch auswärtige Macht ist. Unmittelbare Konsequenz ist, daß die deutschen Länder Konkordate abschließen konnten ohne die Zustimmung des Reiches, was nach Art. 78 Abs. 2 der Reichsverfassung sonst nicht möglich gewesen wäre. Das war auch der Standpunkt der Reichsregierung, dargelegt in der heute schon einmal zitierten Sitzung, die sich mit dem bayerischen Konkordat befaßte: Reichstagssitzung vom 17. Juni 1925.
Durch den Abschluß der Lateranverträge hat sich nichts geändert; denn es handelt sich, worauf Kollege Carlo Schmid zu Recht hingewiesen hat, nicht um einen Vertrag zwischen dem Staat X und dem Staat Citta del Vaticano, sondern mit der Kirche als einer universalen Institution. Also auch im ungestörten Verfassungsleben wäre meiner Meinung nach — ich darf mich noch einmal auf Anschütz und alle Quellen berufen, die auch er angibt — eine formelle Zustimmung des Reichstags nicht nötig gewesen. Vielmehr war der Reichspräsident nach Art. 45 Abs. 1 der Reichsverfassung berechtigt, dieses Konkordat als Regierungsabkommen abzuschließen.
Von großer und entscheidender Bedeutung für unsere heutige Betrachtung ist der Fortbestand des Deutschen Reiches über den 8. Mai 1945 hinaus, der ja heute auch nicht mehr bezweifelt wird. Ich darf auf das erste Rechtsgutachten von Smend und Kraus in der „Göttinger Erklärung" der „Deutschen Aktion" vom Januar 1950 mit dem Titel „Das Deutsche Reich hat nicht kapituliert" hinweisen, eine Meinung, geteilt von Laun, Stödter und eigentlich sämtlichen deutschen Rechtslehrern. Das Reich besteht weiter. Daher bestehen auch jene Verträge weiter, die nicht offensichtlich mit einem nationalsozialistischen Makel behaftet sind. Die einzige Instanz, die die Möglichkeit gehabt hätte, Verträge oder Gesetze für das Reich aufzuheben, waren die Vier Mächte als zeitweilige Verwalter der deutschen Souveränität. Die Vier Mächte haben eine ganze Reihe von Verträgen und sogenannten Gesetzen Hitlers aufgehoben, aber nicht das Reichskonkordat. Da diese Aufhebung nicht erfolgt ist, gibt es heute gar keine Instanz, die das überhaupt tun könnte.
Dies ist — und das ist von verschiedenen Rednern zum Ausdruck gebracht worden — ein entscheidender Gesichtspunkt, daß es eben ein Reichs konkordat ist und daß im Ringen um die deutsche Einheit, über die wir heute morgen gesprochen haben, eine Kraft da ist, die diese Einheit anerkennt, daß der Apostolische Nuntius in Bonn nicht Nuntius bei der Bundesrepublik ist, sondern Nuntius in Deutschland, daß der deutsche Botschafter beim Vatikan deutscher Botschafter ist und nicht nur Botschafter der Bundesrepublik. Ich habe vor einigen Wochen den Ausdruck geprägt „die Klammer des Reiches". Ich freue mich, daß dieser Ausdruck sich durchgesetzt hat. Wenn ein Mann wie Ministerpräsident Hubert Ney in Saarbrücken, wenn der Landtagspräsident Heinrich Schneider ausdrücklich auf das Konkordat Bezug nehmen als eine Klammer der Reichseinheit, dann hat das schon eine Bedeutung. Wenn wir einige Monate zurückblicken, meine Damen und
Herren: Das Reichskonkordat hat mitgewirkt in der Abwehr ganz bestimmter Bedrohungen, denen das Saargebiet ausgesetzt war.
Der Herr Bundesaußenminister hat mit Recht auf das Päpstliche Jahrbuch von 1956 hingewiesen, in dem ohne irgendwelche Einschränkungen die deutschen Ostgebiete als zu Deutschland gehörig verzeichnet sind. Ich sehe hier etwas von größter außenpolitischer Bedeutung. Denn wir wissen, daß die Weltgeschichte nicht nur durch Divisionen bestimmt wird und daß es nie ein törichteres Wort, ein platteres Wort gegeben hat als das, das Stalin in Jalta verwandt hat, als er rhetorisch-höhnisch fragte: Wieviel Divisionen hat der Papst? Die Weltgeschichte wird durch andere Kräfte bestimmt.
So also ist die heutige Lage. Ich bin der Meinung — um zu der Großen Anfrage einiges zu sagen —, daß ein Urteil Karlsruhes durchaus ein geeignetes Mittel darstellt, eine so schwierige Frage genauer zu klären. Sie ist eine Rechtsfrage, aber natürlich auch eine politische; sie ist eine politische, aber auch eine Rechtsfrage.
Es ist das Problem der Autonomie der Länder aufgetaucht. Ich sehe da keinen unzulässigen Eingriff. Auch hier sind sich alle Kommentatoren einig: daß nämlich der Satz, daß höheres Recht, daß gesamtdeutsches Recht, daß Reichsrecht Landesrecht bricht, auch bei Konkordaten gilt. Freuen wir uns doch, daß es ein solches Recht gibt, das auch heute noch über allen deutschen Teilungen und Teilstaaten steht!
Zu Unrecht wird manchmal vorgetragen, das Reichskonkordat verschärfe die unglückseligen konfessionellen Spannungen in unserem Volke. Das Gegenteil ist richtig. Ich habe schon gesagt, daß erfahrungsgemäß das Wohl beider Konfessionen auf das engste miteinander verbunden ist. Je freier die eine, desto freier auch die andere. Ich würde wünschen und hoffen, daß es bald zu großen Abmachungen mit den evangelischen Kirchen Deutschlands kommt. Selbstverständlich dürfen die evangelischen Kirchen Deutschlands in keiner Weise anders oder gar schlechter gestellt sein als die Katholische Kirche in Deutschland.
Es ist ein Wort von Amerika gefallen. Ich glaube, es war Herr Kollege Schmid, der, das Goethe-Wort zitierend, gesagt hat, Amerika habe es auch in dieser Beziehung besser. Das kann ich aus vielen Jahren der Erfahrung voll bestätigen. Dort ist es schon so, daß die Christen in allen Parteien drin sind und aktiv mitarbeiten, daß es niemals vorkommt, daß eine Gruppe oder eine Partei die Ansicht vertritt, nur sie sei christlich. Wie schön wäre es, wenn wir in Deutschland zu einer ähnlichen Lage kämen, zu einer Entgiftung der Gesamtatmosphäre! Wie sehr würde der Staat, wie sehr würden die geistigen Kräfte in Deutschland daraus Nutzen ziehen können!
Zum Schluß nur noch eines. Als Treuhänder von Gesamtdeutschland ist die Bundesrepublik meiner Meinung nach im übrigen gar nicht befugt, Abänderungen zu treffen, die sich im gesamtdeutschen Rahmen durch Lockerung der Klammern negativ auswirken könnten. Was Verhandlungen anlangt, so bin ich durchaus der Meinung, daß man sie führen kann, sogar führen sollte, aber mit höchster Vorsicht. Ich möchte nicht — und ich bin überzeugt, daß über alle Parteien hinaus diese Meinung
vertreten wird —, daß damit ein Teilkonkordat zustande kommt. Ich möchte nicht, daß etwas Größeres zugunsten eines Teiles aufgegeben wird. Man müßte solche Verhandlungen mit großer Vorsicht, mit großem Takt führen, immer mit der Betonung, daß kein Präjudiz geschaffen werden soll, das sich irgendwie gegen die Anerkennung des Deutschen Reiches in seinen Grenzen vom 31. Dezember 1937 auswirken würde, also kein Präjudiz in bezug auf jene Anerkennung, die heute von seiten des Vatikans gegeben ist. Auf jeden Fall scheint es mir von ausschlaggebender Bedeutung zu sein, daß wir das gegebene Recht für Gesamtdeutschland auch hier wahren und daß wir keinen Zweifel aufkommen lassen an unserer Vertragstreue gegenüber sittlich und politisch durchaus zu bejahenden internationalen Abmachungen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Eickhoff.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In Anbetracht der vorgeschrittenen Zeit und unter Berücksichtigung der tiefgründigen Ausführungen, die von beiden Seiten dieses Hohen Hauses zu der Konkordatsfrage abgegeben worden sind, beschränkt sich die Fraktion der Deutschen Partei auf die Abgabe der folgenden kurzen Erklärung.
Die Große Anfrage wegen der Konkordatsklage erregt bei der Deutschen Partei tiefe Sorge. Wir halten es nicht für richtig, daß sich das Parlament wenige Tage vor der mündlichen Verhandlung der Konkordatsklage vor dem Bundesverfassungsgericht mit dieser Materie befaßt und dabei Fragen erörtert, die das Bundesverfassungsgericht möglicherweise prüfen muß. Dies gilt insbesondere für die Fragen unter den Nummern 1 und 4. Wir wollen deshalb zu diesen Fragen keine Stellung nehmen.
Nachdem aber die Große Anfrage nun einmal zur Diskussion gestellt worden ist, glauben wir, zum Ausdruck bringen zu müssen, daß wir es nicht für richtig halten, die Frage der Gültigkeit des Reichskonkordats einem staatlichen Gericht zur Entscheidung zu unterbreiten, das mit bindender Wirkung für alle Organe des Bundes und der Länder, aber nicht mit bindender Wirkung gegenüber dem Heiligen Stuhl entscheidet. Ein solches Verfahren kann zu keinem befriedigenden Ergebnis führen. Wird die Gültigkeit des Reichskonkordats anerkannt, so ist der Weg zu Verhandlungen zwecks Anpassung des Reichskonkordats an die gegenwärtige Lage außerordentlich erschwert, weil der Heilige Stuhl dann nicht die geringste Veranlassung hat, seine durch das Gerichtsurteil äußerst verstärkte Rechtsposition aufzugeben. Wird die Gültigkeit des Reichskonkordats verneint, so- ist der Heilige Stuhl an diese Entscheidung eben nicht gebunden. Es ist damit zu rechnen, daß er den Bund als vertragsbrüchig bezeichnet und daß damit eine Lage herbeigeführt wird, die sehr viel mißlicher ist als die jetzige Situation, wo diese ganzen Fragen um die Gültigkeit des Reichskonkordats und die Vereinbarkeit des niedersächsischen Schulgesetzes mit dem Reichskonkordat offen sind.
Die Deutsche Partei bedauert deshalb sehr, daß die Bundesregierung diese Klage erhoben hat. Es bleibt nur zu hoffen, daß es der Weisheit des
Bundesverfassungsgerichts gelingt, einen Ausweg
aus dieser schwierigen Situation zu finden, bei der
die eben geschilderten Folgen vermieden werden.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. Schneider.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! In Anbetracht der vorgeschrittenen Zeit möchte ich nur einige kurze Bemerkungen machen.
Ich möchte mich hier nicht mit der sehr interessanten Theorie auseinandersetzen, die der Herr Abgeordnete Prinz zu Löwenstein entwickelt hat; er steht damit wohl beinahe allein. Ich möchte bloß einiges zu dem sagen, was der Herr Kollege Arndt ausgeführt hat. Er hat heute — das kann man ihm nicht bestreiten; das sage ich sogar als Jurist — ein geradezu vorzügliches Plädoyer gehalten, das er wahrscheinlich demnächst in Karlsruhe wiederholen wird.
Ich will mich auch nicht weiter mit dem auseinandersetzen, was Herr Kollege Schmid gesagt hat. Er hat die verschiedenen Theorien erläutert und dann gesagt, daß, wenn man schon nach der Vertragstheorie geht, man eben anerkennen muß, daß der völkerrechtliche Grundsatz zu gelten hat: Wenn wesentliche Teile des Vertrages — solche sieht er und auch der Herr Kollege Arndt in den Art. 31 und 32; man wird als Jurist das noch gar nicht einmal ernstlich bestreiten können — fallen, dann fällt der ganze Vertrag, und im übrigen wird die clausula rebus sic stantibus gelten. Aber ich bin der Meinung, wir sollten uns hier — und ich glaube, das Plenum dieses Hohen Hauses eignet sich in gewissem Sinne gar nicht dazu, derartige Rechtsfragen tiefschürfend und abschließend zu erörtern — darauf beschränken, die Problematik anzudeuten, aber, da sie doch juristischen Inhalt hat und da die Klage nun einmal anhängig ist, die Entscheidung dem Bundesverfassungsgericht zu überlassen.
Der Herr Kollege Arndt sagt: aus den verschiedensten Gründen kann das Konkordat nicht gültig sein, einmal weil das Ermächtigungsgesetz keine rechtsverbindliche Grundlage ist, zum andern, weil der Ratifikationsakt das nicht ersetzen konnte, ferner weil keine Transformierung in innerstaatliches Recht erfolgte, und viertens, weil das Reichskonkordat in entscheidenden Teilen geheimgehalten und gar nicht verkündet wurde. Das alles sind juristische Fragen, juristische Probleme, die zur Entscheidung anstehen und über die das Bundesverfassungsgericht entscheiden muß. Ich will mich deshalb einer eigenen juristischen Stellungnahme zu diesen Problemen enthalten.
Auch die Frage: Ist hier eine Generalzuständigkeit nach Art. 93 gegeben, wie sie die Bundesregierung in Anspruch nimmt, oder hätte nach Art. 84 Abs. 4 als lex specialis verfahren werden müssen? kann authentisch und wirklich für alle verbindlich nur das Bundesverfassungsgericht entscheiden.
Der Herr Vorredner, Herr Kollege Eickhoff, hat darum gefleht, daß das Bundesverfassungsgericht in letzter Weisheit einen Ausweg finden möge, daß nichts passiere, wenn ich das einmal ins Unreine sagen darf. Dieser Ausweg ist ihm geradezu hingehalten, wenn es auf die Theorie geht, die der Herr Kollege Arndt bezüglich der Anwendung des
Art. 84 Abs. 4 hier entwickelt hat. Denn dann wäre das tatsächlich eine echte Verfahrensvoraussetzung, die hier nicht erfüllt wäre, und dann würde die Klage schon aus diesen formellen Gründen das entsprechende Schicksal erleiden. Vielleicht wäre das der Ausweg, von dem sich der Herr Kollege Eickhoff so sehnlich wünschte, daß ihn die Weisheit des Bundesverfassungsgerichts findet. Aber, wie gesagt, ich möchte mich jeder juristischen Stellungnahme dazu enthalten, weil ich meine, wir sind dazu nicht berufen, nachdem nun einmal das Bundesverfassungsgericht angegangen worden ist.
Ich bin auch der Meinung, wir müssen uns der Bedeutung bewußt sein, die gerade dieses Konkordat als eine der letzten Klammern um das Reich noch darstellt. Aber all das sind Dinge, die eben doch von uns letztlich nicht entschieden werden können.
Nur in einem bin ich mit den meisten Rednern, die vor mir gesprochen haben, einig: ich bezweifle, ob der Weg nach Karlsruhe der richtige Weg war. Ich habe ganz erhebliche Zweifel. Denn was passiert, wenn — unterstellen wir es einmal — Karlsruhe entscheidet, das Konkordat sei noch gültig? Das kann es aber nicht direkt — denn es ist ja kein Normenkontrollverfahren —, sondern diese Entscheidung kann nur inzidenter fallen. Dann gibt es keinerlei Möglichkeiten, gegen die Länder, namentlich gegen die beklagten Länder, von Bundes wegen zu vollstrecken, sondern dann versteifen sich nur die Fronten. Entscheidet das Bundesverfassungsgericht anders, dann hat das nur innerstaatliche Bedeutung. Denn eine Entscheidung eines Partnergerichts — wenn ich mich schon auf den Boden der Vertragstheorie stelle und sage, ein Konkordat sei ein völkerrechtlicher Vertrag — wirkt nur im innerstaatlichen Bereich und berührt nicht den anderen Partner. Das verärgert dann, das schafft dann wieder Unruhe bei uns.
Deshalb bin ich diesmal der gleichen Meinung wie der Herr Kollege Arndt — ich bin das ja nicht sehr oft, aber in diesem Punkte bin ich es —: Wir müssen doch erkennen, daß sich die Dinge seit 1933 entschieden gewandelt haben. Wir müssen miteinander sprechen, diese Dinge müssen eine echte demokratische Legitimation erfahren, und wir dürfen dieser heiklen Frage — Gestaltung des Schulwesens usw. — einfach nicht länger ausweichen. Was vielleicht doch eine kleine Unruhe in manchen Bevölkerungskreisen schafft, das ist der ganz leise Verdacht, der sich da einzuschleichen anfängt, als ob man bei der Bundesregierung den Weg nach Karlsruhe in diesem Fall nur gewählt hätte, um für einen bestimmten Bevölkerungsteil einen Rechtsstatus, der eben besser wäre als der für den anderen, unter allen Umständen zu erhalten. Diesen Verdacht sollte man erst gar nicht aufkommen lassen, sondern wir müssen uns zusammenfinden, wir müssen über diese Dinge sprechen und müssen sie regeln. Auch die Kurie hat durchaus erkannt, daß sich hier etwas geändert hat und daß man über manche Dinge, auch über Änderungsvorschläge, sprechen müßte. Ich freue mich, daß Herr Kollege Arndt hierauf schon hingewiesen hat.
Wir alle haben die Pflicht, die Kluft nicht zu vertiefen, sondern die Dinge in demokratischer Toleranz zu behandeln. Ich freue mich über Art und Ton der heutigen Aussprache über dieses heikle Thema. Denn unser Volk ist schon politisch
gespalten, und es wäre ein Unglück schlimmster Art, wenn wir alle miteinander, die wir dazu aufgerufen sind, nicht alles täten, dazu beizutragen, daß wir nicht auch noch eine unüberbrückbare konfessionelle Spaltung heraufbeschwören. Wir alle sind aufgerufen, das zu vermeiden, und ich glaube. wenn das Ergebnis der heutigen Diskussion das wäre, daß diesem Anliegen aller Sprecher wirklich der Erfolg beschieden ist, dann wäre es trotz allem, trotz aller Differenzen ein glücklicher Tag gewesen. Wir können nicht eine neue Spaltung unseres Volkes gebrauchen, wenn wir die nationalen Probleme, die noch vor uns stehen, wirklich mit Aussicht auf Erfolg anpacken und lösen wollen. Deshalb müssen wir zusammen sprechen, deshalb müssen wir dem demokratischen Prinzip der Toleranz auf alle Fälle huldigen.
Das Wort hat der Abgeordnete Hoogen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich bin Herrn Kollegen Schneider sehr dankbar dafür, daß er in der Sache selbst und im Ergebnis präzise das gleiche erklärt hat, was unser Freund und Stellvertretender Fraktionsvorsitzender Herr Kollege Cillien hier dargelegt hat; nur hat Herr Cillien es in der ihm eigenen Art eines evangelischen Theologen und Herr Schneider in der ihm eigenen Art, der etwas deutlicheren und heftigeren Art eines Rechtsanwalts gesagt.
Was mir aber an der heutigen Aussprache bedeutsam zu sein schien, war ein in Gedanken vorgenommener Vergleich mit einer ähnlichen Debatte, wie sie etwa um das Jahr 1880, 1890 im Deutschen Reichstag hätte stattfinden können. Heute war bemerkenswert — ich habe es mir gerade bei den Ausführungen von Herrn Kollegen Professor Schmid gemerkt —: wenn früher von dem Verhältnis des Staates zu den Kirchen gesprochen wurde, wurde immer — oder jedenfalls meistens — der Staat zuerst genannt. Ich glaube, allein in der Tatsache, daß — vielleicht unbewußt — in der heutigen Debatte die Kirchen vor dem Staat genannt wurden, kommt zum Ausdruck, was sich in den letzten 50 bis 70 Jahren in unserem Vaterlande Gott sei Dank geändert hat.
Ich erinnere mich sehr genau daran, erstaunt gewesen zu sein, als die Weimarer Verfassung den Kirchen — den Evangelischen Kirchen und der Katholischen Kirche — den Status einer öffentlich-rechtlichen Körperschaft zuerkannte; sicherlich nicht, um sie mit anderen öffentlich-rechtlichen Körperschaften unseres Rechtssystems auf eine Stufe zu stellen, aber immerhin fand man damals in staatsrechtlicher Hinsicht offenbar keine andere Möglichkeit, die Kirchen in unserer Verfassung zu behandeln. Man hat sich vermutlich auch nicht die Mühe gegeben, die sicherlich alle Sprecher in der Diskussion und auch der Begründer der Großen Anfrage, Herr Kollege Arndt, sich hier in dieser Debatte gegeben haben, zum eigentlichen Kern des Problems vorzustoßen.
Aber ich glaube, was die Kirchen angeht, so ist zu betonen, daß durch ihre Bedrückung im Dritten Reich, durch den Versuch ihrer Unterdrückung im Dritten Reich, in ihrer Stellung nach 1945 eine Änderung sich vollzog. Wenn ich es einmal so sagen darf: von öffentlich-rechtlichen Körperschaf-
ten wurden sie zu Mächten im öffentlichen Leben. Das steht zwar noch in keiner Verfassung, aber ich glaube, es ist unbewußt in der heutigen Debatte doch zum Ausdruck gekommen.
Meine Damen und Herren! Ich habe nun nicht vor, hier noch ein Kolleg über die verschiedenen Theorien zum Begriff und zum Wesen der Konkordate zu halten; ich glaube, das ist hier schon so ausführlich geschehen, wie es in diesem Hohen Hause geschehen muß; wir schließlich sind ja hier nicht Bundesverfassungsgericht. Ich habe auch nicht vor, ein Kolleg über sonstige Fragen, die vor dem Bundesverfassungsgericht eine Rolle spielen, zu halten. Ich habe mir von sehr gelehrter Seite sagen lassen, daß das bis vor vierzehn Tagen 58 Streitfragen waren. Ich glaube, wir können uns glücklich schätzen, daß wir heute davon nicht die Hälfte behandelt haben. Es gehört ja auch nicht zu unserer Aufgabe hier. Deswegen will ich mich darauf beschränken, die ganz wenigen Fragen, die nicht nur Rechtsfragen, sondern auch politische Fragen sind, kurz zu berühren, und auch hier wieder mit der Einschränkung: nur insoweit, als sie von meinen Vorrednern angesprochen worden sind.
Herr Kollege Arndt hat sich in der Begründung der Großen Anfrage auf die Autorität des Kardinals Ottaviani berufen, der seiner Meinung nach zu den katholischen Kanonisten zählt, die nicht der Meinung sind, daß ein Konkordat nach der Vertragstheorie zu beurteilen sei. Ich darf darauf hinweisen, daß sich Kardinal Ottaviani im Compendium iuris ecclesiastici aus dem Jahre 1954 zur Vertragstheorie bekannt hat. Gerade hier macht er Ausführungen zum Reichskonkordat, nach denen seiner Meinung nach auch das Reichskonkordat auf Grund der Vertragstheorie in Kraft sei.
Es ist weiter hier in der Debatte von verschiedenen Seiten darauf hingewiesen worden — Herr Arndt hat sich zwar, was den früheren Reichspräsidenten Friedrich Ebert betrifft, schon im vorhinein dagegen verwahrt —, daß es ein Anliegen der deutschen Reichsregierung nach 1919 gewesen sei, möglichst bald zu einem Konkordat mit dem Heiligen Stuhl und zur Einrichtung einer Nuntiatur zu kommen, wie sie damals bekanntlich nur in München bestand. Es ist dann von einer Reichstagsdebatte am 17. Juni 1925 die Rede gewesen, in der man sich gegen den Abschluß eines Konkordats geäußert haben soll. Ich habe nicht die Gelegenheit gehabt, die ganze Debatte im Reichstag nachzulesen. Ich habe mir immerhin die Stelle gemerkt, die mir interessant zu sein schien, weil sie die Ansicht des Herrn Professors Kahl, des langjährigen Vorsitzenden des Rechtsausschusses des Reichstags, wiedergibt. In den Ausführungen von Herrn Professor Kahl, der der Deutschen Volkspartei angehörte, heißt es wie folgt — ich darf es mit der freundlichen Genehmigung des Herrn Präsidenten verlesen —:
Ich wünsche sogar dringend, daß ein solches Reichskonkordat zustande kommen möge, nämlich so, daß die von den einzelnen Ländern oder Kirchenprovinzen sukzessive abzuschließenden oder abgeschlossenen Konkordate unter einem einheitlichen Reichsmantelgesetz zusammengestellt werden. Der Gedanke dabei ist nicht, unitaristische Tendenzen zu verfolgen, die Länder etwa in der Freiheit ihrer Konkordatsabschlüsse zu beschränken, die Landeskirchenhoheit der einzelnen Staaten irgendwie zu beeinflussen. Solche Ziele liegen dem Gedanken eines Reichskonkordats völlig fern. Hier sind viel tiefer liegende Beweggründe
maßgebend. Die Sicherung des Friedens zwischen Reich und Ländern auf religiös-kirchlicher Grundlage gebietet das.
Meine Damen und Herren, ich glaube sagen zu dürfen — hier befinde ich mich wohl in Übereinstimmung mit Herrn Kollegen Arndt auf Grund seiner sonstigen Ausführungen —, daß wir das sicherlich dem Heiligen Stuhl für das Konkordat vom Jahre 1933 unterstellen dürfen. Das Konkordat ist bei der Beurteilung im Parlamentarischen Rat etwas summarisch als „dolos" bezeichnet worden. Es ist sogar in der öffentlichen Meinung als „verbrecherisch" bezeichnet worden. Ich bin mir völlig darüber klar, daß damit keinesfalls das Verhalten des Heiligen Stuhls gemeint war. Herr Arndt hat das in aller Form heute auch sehr deutlich erklärt. Ich brauche dem insoweit nichts hinzuzufügen.
Dann hat Herr Arndt — und da gehe ich allerdings nicht ganz einig mit ihm — darauf hingewiesen, daß — ich weiß nicht, wie dieser Passus seiner sehr langen Ausführungen, die mir noch nicht vorliegen, wörtlich lautet; ich glaube mich aber zu besinnen —, daß er in dem Abschluß des Konkordats und im Fortgelten des Konkordats eine Gefährdung der demokratischen Grundordnung erblicke. Ich kann es mir zwar in der Form nicht vorstellen; aber ich darf mir für den Fall, daß es so gemeint sein sollte, doch erlauben, auf folgendes hinzuweisen. In der Bundesrepublik sind für den Abschluß von Konkordaten die deutschen Länder zuständig. Das Land Nordrhein-Westfalen hat seine Verfassung am 18. Juni 1950 einem Volksentscheid unterbreitet. In dieser Verfassung — das darf ich denen sagen, die sich weigern, die Gültigkeit des Konkordats anzuerkennen — heißt es in Art. 23 Abs. 1 wie folgt:
Die Bestimmungen der Verträge mit der
Katholischen Kirche und Evangelischen Kirche
der Altpreußischen Union, die im früheren
Freistaat Preußen Geltung hatten, werden für
die Gebiete des Landes Nordrhein-Westfalen,
die zum ehemaligen Preußen gehörten, als
geltendes Recht anerkannt.
Zu diesen Konkordaten zählt sowohl das preußische Konkordat wie auch das Reichskonkordat; denn auch das Reichskonkordat galt in dem Gebiet Nordrhein-Westfalens, soweit es zum ehemaligen Lande Preußen gehört hat. Das ist also in Nordrhein-Westfalen vom Landtage, ich weiß nicht, ob auch insoweit gegen die Stimmen derjenigen, die die Verfassung im Ergebnis abgelehnt haben, aber immerhin in dem Volksentscheid und in der Propaganda zu diesem Volksentscheid von der Sozialdemokratischen Partei, von den Freien Demokraten und von der Kommunistischen Partei abgelehnt worden. Ich entsinne mich der damaligen Situation noch sehr genau, weil ich selbst Bürger dieses Landes bin. Diese Verfassung mit dem Elternrecht und mit dem Art. 23 wurde dem Volksentscheid unterbreitet. In der Wahlpropaganda setzten sich für die Verfassung mit diesem Inhalte die Christlich-Demokratische Union und die Zentrumspartei ein, dagegen sprachen sich die drei von mir soeben erwähnten Parteien aus. Das Ergebnis ist in doppelter Hinsicht interessant. Denn gleichzeitig fand eine Landtagswahl statt. Bei dieser Landtagswahl bekamen bei einer Wahlbeteiligung von 72 % die beiden von mir genannten Parteien, CDU und Zentrum, die sich für die Verfassung, also für die Anerkennung des Reichskonkordats und für das Elternrecht einsetzten, 44,5 % der Stimmen; die drei übrigen Parteien bekamen
49,5 % der Stimmen, also mehr. Bei dem „Ja" oder „Nein" zur Verfassung war es genau umgekehrt. Es sprachen sich für die Verfassung, also für den Standpunkt der CDU und des Zentrums, 57 %, und gegen die Verfassung, also für den ablehnenden Standpunkt der drei anderen Parteien, 35 % aus. Daraus geht doch wohl — und das sage ich in aller Freundschaft, Herr Kollege Arndt — hervor, daß 14,5 % derjenigen, die SPD- oder FDP- oder KPD-Landtagsabgeordnete gewählt haben, sich für diese Verfassung mit dem Elternrecht und mit der Anerkennung des Konkordats ausgesprochen haben. Das ist bei einer Wahlbeteiligung von 72 % ein immerhin nicht geringer Prozentsatz. Ich glaube, das muß man doch feststellen, wenn behauptet wird, daß dieses Konkordat keine demokratisch-grundgesetzmäßige Legitimation habe. Diese Wahl im größten deutschen Lande mit einer konfessionell gemischten Bevölkerung sollte uns zum Nachdenken veranlassen.
In der Diskussion ist — wenn ich mich recht entsinne, von Herrn Professor Schmid — der Beauftragte der Fuldaer Bischofskonferenz, Herr Prälat Böhler, namentlich angesprochen worden, und zwar deswegen, weil er in einem Interview dieser Tage verlangt habe, daß man vor Eintritt in Abänderungsverhandlungen die Gültigkeit des Konkordats anerkenne. Ich meine, wenn man ein solches Verlangen stellt, befindet man sich angesichts des Ergebnisses dieser Volksabstimmung in guter Gesellschaft. Deswegen glaube ich nicht, daß Herr Prälat Böhler unrecht hat. Wir verstehen ihn jedenfalls so: Wenn die Rechtsfrage: Konkordat gültig oder ungültig?, Konkordat verfassungswidrig oder nicht? an das Bundesverfassungsgericht herangetragen ist, dann soll sie dort erst entschieden werden. Die Bundesregierung ist ja nicht die erste, die die Gültigkeit des Konkordats anerkannt hat. Wer die Verhandlungen des Parlamentarischen Rates mitgemacht oder nachgelesen hat, weiß, wie dort die Standpunkte waren.
Herr Kollege Arndt hat schon darauf hingewiesen, daß man sich in Art. 123 des Grundgesetzes weder für noch gegen die Gültigkeit des Konkordats expressis verbis ausgesprochen hat. Deswegen habe ich auch durchaus Verständnis dafür, wenn es in der Folgezeit im Jahre 1953 in Baden-Württemberg zu dem bekannten Schriftwechsel zwischen dem Herrn Bundeskanzler und dem Ministerpräsidenten des Landes Baden-Württemberg kam und wenn es nunmehr zu dem verfassungsgerichtlichen Verfahren mit Niedersachsen gekommen ist. Dabei darf ich nochmals hervorheben, daß das auch ein Anliegen der niedersächsischen Landesregierung, vertreten durch ihren Ministerpräsidenten Herrn Kopf, damals geäußert im Landtag, war.
Herr Cillien hat auch darauf hingewiesen — und ich habe es selbst soeben schon getan —, daß die Reichsregierung seit 1920 ständig den Versuch gemacht hat, über das Jahr 1925 hinaus zu einem Konkordat zu kommen. Die viel beredete und viel angesprochene Regelung der Schulrechtsfrage in Art. 23 des Reichskonkordats entsprach, wenn wir sie uns genau ansehen — ich fürchte, die wenigsten derjenigen, die sich in der öffentlichen Diskussion um diese Frage bemühen, denken darüber nach —, doch genau der Regelung in Art. 146 Abs. 2 der Weimarer Reichsverfassung und im Art. 174 der Übergangsbestimmungen.
Man kann also, glaube ich, dem Heiligen Stuhl nicht einen Vorwurf daraus machen, daß er damals
im Jahre 1933 das Angebot, das ihm die Reichsregierung machte, nicht zurückwies. Das hätte man ihm, da er doch den Schutz der katholischen Bevölkerung des Reichsgebiets im Auge haben mußte und ihm das immerhin eine Art Mindestschutz für diese Bevölkerung zu sein schien und auch scheinen durfte, in der damaligen Situation nicht zumuten können.
Ich meine, wir machen bei der Beurteilung dieser Dinge sehr oft einen großen Fehler. Ich darf jetzt einen lateinischen Ausdruck gebrauchen, auch auf die Gefahr hin, daß mir zugerufen wird, ich solle in diesem Deutschen Bundestag deutsch sprechen; wie ich im Protokoll gelesen habe, ist das nämlich in einer der letzten Sitzungen geschehen. Wir dürfen, glaube ich, nicht den Fehler machen, die Situation von 1933 ex nunc zu betrachten, sondern wir müssen sie ex tunc sehen. Und wenn wir das tun, werden wir der ganzen Situation gerechter.
Letztlich, um zum Schluß zu kommen — ich darf den Schluß ankündigen —, ein Hinweis auf einen Artikel des Konkordats. Ich weiß nicht, ob er angesprochen worden ist. Es ist der Art. 33 Abs. 2, die sogenannte Revisionsklausel, die aber in Wirklichkeit keine Revisionsklausel, sondern eine Anwendungs- und Auslegungsklausel ist. Für diesen Fall, daß über die Anwendung des Konkordats zwischen den Vertragsparteien, also jetzt zwischen dem Heiligen Stuhl und der Regierung der Bundesrepublik, Meinungsverschiedenheiten entstehen sollten, haben sich beide Parteien zu freundschaftlicher Regelung dieser Fragen verpflichtet. Dies gilt nicht nur für den Fall, daß hinsichtlich der Auslegung, sondern auch für den Fall, daß hinsichtlich der Anwendung des Konkordats Schwierigkeiten entstehen sollten. Ich glaube, wir brauchen nicht die clausula rebus sic stantibus zu bemühen, sondern wir müssen, wenn die Verbindlichkeit des Konkordats durch die dafür allein zuständige Stelle in der Bundesrepublik — das ist das Bundesverfassungsgericht — festgestellt ist, nur diesen Art. 33 regionalfiter oder auch in sonstiger einengender oder ausweitender Weise, je nachdem, wie es die Verhandlungen ergeben sollten, für die Anwendung des Konkordats bemühen und die Bundesregierung bitten, Verhandlungen auf der Grundlage dieses Artikels zu führen. Ich glaube, daß dann das Ziel erreicht wird, das von den meisten Rednern hier in diesem Hohen Hause angesprochen wurde, nämlich den lange Zeit hindurch gefährdeten konfessionellen Frieden unter gar keinen Umständen zu gefährden.
Ich weiß nicht, welcher Redner es gewesen ist,
der sagte, es komme nicht darauf an, durch Konkordate oder Kirchenverträge — und was ich sage,
gilt von den Kirchenverträgen mit den evangelischen Landeskirchen ebenso — auch das Verhältnis
zwischen Kirchen und Staat zu regeln. Ich bin hier
gegenteiliger Meinung. Ich bin der Meinung, daß
dieses Verhältnis zwischen Kirchen und Staat durch
Verträge und Konkordate geregelt werden sollte
und nicht nach der Legalitätstheorie durch Gesetze
einseitig von seiten des Staates. Ich glaube, das
würde der Bedeutung der Kirchen nicht gerecht.
Ich bin bei der Vorbereitung der heutigen Sitzung auf einen sehr lesenswerten, weil sehr bemerkenswerten Aufsatz von Herrn Kollegen D r. Arndt in der „Süddeutschen Juristenzeitung" — Januarnummer 1948 — gestoßen, in dem Herr
Kollege Arndt vom gerechten Frieden spricht und sich auf die Beschlüsse verschiedener Kirchen in den Vereinigten Staaten, Englands, u. a. auch auf die Ansprache des Papstes vom Juni 1945, die er auch heute hier erwähnt hat, beruft und in dem er an anderer Stelle, gegen Ende dieses Aufsatzes, einen Satz aufnimmt, der von anderer Seite geprägt worden ist, den ich hier in diesem Hohen Hause nur unterstreichen möchte, weil er nämlich den Abschluß und die Existenz von Konkordaten und Kirchenverträgen rechtfertigt. Dieser Satz lautet:
Keine Politik kann in einem freien Staatswesen auf die Dauer stärker sein als der Glaube des Volkes.
Herr Kollege Arndt, genau das ist es, was uns dazu veranlaßt, daß Konkordat zu bejahen und Art. 33 Abs. 2 — um den veränderten Verhältnissen gerecht zu werden, nachdem die Rechtmäßigkeit des Konkordats festgestellt ist — anzuwenden, nämlich: die Bundesregierung zu bitten, insoweit Verhandlungen aufzunehmen. Wir glauben, daß nur so die Erfüllung dieses Anliegens, das ich soeben hier mit Ihren Worten zitiert habe — daß nämlich keine Politik in einem freien Staatswesen auf die Dauer stärker sein könne als der Glaube des Volkes —, gesichert und gewährleistet werden kann.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Welskop.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Gestatten Sie mir nur einige Worte zu den Ausführungen des Kollegen Professor Schmid betreffend die clausula rebus sic stantibus. Herr Professor Schmid hat geglaubt, diese Formel heranziehen zu können, um darzulegen, daß das Konkordat nicht mehr rechtsgültig sei. Er hat darauf hingewiesen, daß wesentliche Teile des Konkordats weggefallen sind, daß insbesondere die Bestimmungen, wonach katholische Arbeitervereine verboten seien und wonach es den katholischen Priestern verboten sei, politisch zu wirken, nicht mehr gälten.
Die Heranziehung der clausula rebus sic stantibus zu diesem Punkte ist meines Erachtens verfehlt. Ich glaube, das als Jurist nicht unwidersprochen hinnehmen zu können. Die clausula rebus sic stantibus gibt dem Vertragspartner das Recht, von einem Vertrag zurückzutreten, wenn wesentliche Veränderungen eingetreten sind, so daß dem Vertragspartner nicht mehr zugemutet werden kann, den Vertrag fortzusetzen. In diesem Falle liegen die Verhältnisse doch aber so, daß beide Vertragspartner, die Kurie wie die westdeutsche Bundesrepublik, sich einig sind, daß es gut ist, daß die beanstandeten Artikel des Konkordats weggefallen sind. Wenn das aber der Fall ist, liegt der Tatbestand der clausula rebus sic stantibus unzweifelhaft nicht vor, und deswegen kann zu diesem Punkte die Rechtseinrichtung der clausula rebus sic stantibus nicht herangezogen werden.
Meine Damen und Herren, weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe damit die Aussprache.
Wir sind am Ende eines langen und Gott sei Dank nicht heißen Tages. Aber ich muß Ihnen leider noch zumuten, daß wir die übrigen Punkte der Tagesordnung noch erledigen. Für alle diese Punkte ist vorgesehen, daß sie ohne Aussprache behandelt werden. Ich rufe deshalb die in der gedruckten
Tagesordnung als Punkt 2, in der heutigen Tages
ordnung aber tatsächlich als Punkt 3 vorgesehene
Erste Beratung des Entwurfs eines Gesetzes
über die Liquidation der Deutschen Reichsbank und der Deutschen Golddiskontbank
auf.
Auf das Wort zur Einbringung wird verzichtet. Ich eröffne die Beratung. — Das Wort wird nicht gewünscht. Ich schließe die Beratung. Vorgesehen ist die Überweisung an den Ausschuß für Geld und Kredit — federführend — und an den Ausschuß für Finanz- und Steuerfragen zur Mitberatung. Wer dieser Überweisung zustimmen will, den bitte ich um ein Handzeichen. — Gegenprobe! — Es ist so beschlossen.
Ich rufe Punkt 4 der Tagesordnung auf:
Erste Beratung des von den Abgeordneten Lenz , Dr. Hesberg, Lücke und Genossen eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über die Gemeinnützigkeit im Wohnungswesen (Drucksache 2321).
Auf Einbringung wird verzichtet. Ich eröffne die Beratung. — Das Wort wird nicht gewünscht. Ich schließe die Beratung. Vorgesehen ist die Überweisung an den Ausschuß für Wiederaufbau und Wohnungswesen und an den Ausschuß für Rechtswesen und Verfassungsrecht. Ich unterstelle, daß der Ausschuß für Wiederaufbau und Wohnungswesen federführend sein soll. Ist das richtig?
— Der Ausschuß für Wiederaufbau und Wohnungswesen ist federführend. Wer dieser Überweisung zustimmen will, den bitte ich um ein Handzeichen. — Gegenprobe! — Es ist so beschlossen.
Punkt 5 der Tagesordnung:
Erste Beratung des Entwurfs eines Gesetzes über das Internationale Pflanzenschutzabkommen .
Das Wort zur Einbringung wird nicht gewünscht. Ich eröffne die Beratung. — Das Wort wird nicht gewünscht. Ich schließe die Beratung. Beantragt ist Überweisung an den Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten. Wer dieser Überweisung zustimmen will, den bitte ich um ein Handzeichen. — Gegenprobe! — Es ist so beschlossen.
Punkt 6 der Tagesordnung:
Erste Beratung des Entwurfs einer Wehr-
beschwerdeordnung (Drucksache 2359).
Das Wort zur Einbringung wird nicht gewünscht. Ich eröffne die Beratung. — Das Wort wird nicht gewünscht. Ich schließe die Beratung.
Vorgesehen ist die Überweisung an den Ausschuß für Verteidigung — federführend — und an den Ausschuß für Rechtswesen und Verfassungsrecht zur Mitberatung. Wer dieser Überweisung zustimmen will, den bitte ich um ein Handzeichen. — Gegenprobe! — Die Überweisung ist beschlossen.
Damit sind wir am Ende der heutigen Sitzung. Ich berufe die nächste, die 147. Sitzung des Deutschen Bundestages ein auf Mittwoch, den 6. Juni 1956, 14 Uhr.
Die Sitzung ist geschlossen.