Rede von
Dr.
Hans
Henn
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(FDP)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (FDP)
Auch rim Handel in der Sowjetzone macht sich ein verschärfter Kampf bemerkbar. Im März dieses Jahres sind systematische Schulungen im genossenschaftlichen staatlichen Handel angelaufen, in denen als Thema die weitgehende Ausschaltung des privaten Handels behandelt werden mußte. Zu diesem Zweck hatte das Ministerium für Handel und Versorgung der Zone ein besonderes Schulungsheft herausgegeben, das ich mit Interesse studiert habe. Es hat die Oberschrift: „Was geschah in der Verkaufsstelle 308?" In der für diese Schulung herausgegebenen Referentenanweisung heißt es, daß jeder Angehörige des sozialistischen und genossenschaftlichen Handels sich darüber im klaren sein muß, daß in die-
sen Jahren der Beweis dafür erbracht werden muß, daß der sozialistische Handel besser ist als der privatkapitalistische. Der Tenor der Schulung steht unter der Fragestellung: „Wer-Wen?", d. h. wer vernichtet wen? Erreicht wird dieses Ziel dadurch, daß die Umsatzmenge des privaten Handels systematisch verringert wird. Trotz aller gegenteiligen Behauptungen ist dem sozialistischen und genossenschaftlichen Handel der Auftrag erteilt worden, sein Verteilernetz im Jahre 1956 wesentlich zu erweitern. Ein Konsumverband hat beispielsweise für 1956 die Auflage bekommen, 43 weitere Verkaufsstellen einzurichten. Ein Neubau von Verkaufsstellen ist nicht vorgesehen; man hat vor, wie bisher auf bestehende Privatgeschäfte zurückzugreifen, deren Inhaber durch entsprechende steuerliche und finanzpolitische Maßnahmen zur Liquidation oder zur Flucht veranlaßt werden. Die Ausweitung der volkseigenen und genossenschaftlichen Wirtschaft vollzieht sich uneingeschränkt nach wie vor auf Kosten und aus der Vermögenssubstanz der privaten Wirtschaft.
Die Verhaftungen und Verurteilungen privater Unternehmer wegen geringfügiger Steuerrückstände sind auch nach der neuesten politischen Entwicklung der Zone nicht eingestellt worden. Immer wieder geschieht es, daß privaten Unternehmern wegen Wirtschaftsstrafvergehen ein Prozeß gemacht wird, weil sie infolge ständigen Umsatzrückgangs ihren steuerlichen Verpflichtungen nicht mehr pünktlich genug nachkommen können.
Hier ist eines bemerkenswert. Der private Hersteller wird gleichzeitig als Akziseträger für Sondersteuern benutzt. Die auf jedes anfallende Erzeugnis entfallende Akzise ist jeweils in Zeiträumen von zehn Tagen von dem privaten Unternehmer an den Staatshaushalt abzuführen. Da die Lieferungen aber erst nach vier, sechs oder neun Wochen, oft auch noch später, bezahlt werden, hat der private Unternehmer die Akzise vorab, also vor Bezahlung der Rechnung zu zahlen. Häuft sich die nicht pünktliche Bezahlung der Rechnungen, so gerät der Unternehmer zwangsläufig in Zahlungsschwierigkeiten, weil er einfach nicht in der Lage ist, neben den laufenden Betriebsausgaben auch die Beträge für die Vorfinanzierung der Steuern aufzubringen. In solchen Fällen wird ihm dann der Vorwurf der Gefährdung des Staatshaushalts gemacht und werden alle die Maßnahmen gegen ihn eingeleitet, von denen ich vorhin sprach.
Ich glaubte, daß diese Mitteilung über die Methoden der Willkür und des Unrechts und der systematischen Existenzvernichtung auf dem Gebiete der Wirtschaftspolitik in der Zone hier und heute noch gemacht werden mußte, damit in einer öffentlichen Bestandsaufnahme die Situation in der Zone so klargestellt werden kann, wie wir uns das zum Ziel gesetzt hatten.
Ich habe Ihre Zeit durch diese notwendigen Ergänzungen zu dem bereits Gesagten schon reichlich in Anspruch genommen. Ich möchte meine Feststellungen damit schließen, daß wir von der Demokratischen Arbeitsgemeinschaft alle Maßnahmen der Bundesregierung begrüßen, die sie zur Erleichterung im Verkehr der Menschen zwischen den beiden Teilen Deutschlands und zur Förderung innerdeutscher wirtschaftlicher und kultureller Beziehungen durchgeführt und eingeleitet
hat. Insbesondere begrüßen wir alle Schritte der Bundesregierung, die zu einer Normalisierung der Lage in Berlin führen können, und bitten alle in dieser Hinsicht gegebenen Möglichkeiten auszunutzen.
Aber eine Normalisierung geht allen anderen Normalisierungen voraus, und das ist die Normalisierung, die wir fordern müssen im gesamtdeutschen Interesse, die Normalisierung der Zustände in der Sowjetzone. Aus der Zone der Willkür und des Unrechts muß wieder ein Teil Deutschlands mit rechtsstaatlichen Zuständen werden. Das ist eine entscheidende Voraussetzung für alle wirklich realen Bestrebungen auf Wiedervereinigung. Mit Einheit allein ist es nicht getan. Das wiedervereinigte Deutschland muß ein Deutschland des Rechts und der Freiheit sein. Die hinterhältigen Methoden der Willkür und des Unrechts, wie sie heute in der Sowjetzone praktiziert werden, Methoden, deren Ergebnisse völlig im Gegensatz stehen müssen zu dem, was in der Zone auf Kongressen und Tagungen von den Spitzenfunktionären verkündet wird, erscheinen uns mit als das schwerste Hindernis für ein Zusammenwachsen der getrennten Teile Deutschlands, für eine Wiedervereinigung in Freiheit. Wir halten diesen eklatanten Widerspruch zwischen Ankündigungen und Zielsetzungen einerseits und den angewandten Methoden andererseits deswegen für so verhängnisvoll, weil er allgemein zu größten Zweifeln an der Glaubwürdigkeit von Versicherungen der Sodjetzonenmachthaber führt.
Wer darf es denn wagen, den ständigen Bekundungen der Zonenmachthaber für die Wiedervereinigung zu glauben, ohne in Rechnung zu setzen, daß sie wie auf allen anderen Gebieten auch hier „Einheit" nur sagen und tatsächlich ganz andere Zielsetzungen verfolgen?! Meine politischen Freunde und ich sind auf jeden Fall der Überzeugung, die ich einleitend mit der Zustimmung zu der Erklärung der Bundesregierung zum Ausdruck gebracht habe: daß noch keine Ansätze zu erkennen sind, die auf einen echten Gesinnungswandel der Machthaber der Zone und der das politische Leben in der Sowjetzone allein bestimmenden SED schließen lassen.