Die Sitzung ist eröffnet.
Meine Damen und Herren! Vor Eintritt in die Tagesordnung
gedenken wir erneut eines viel zu früh verstorbenen Kollegen. Wir gedenken unseres Kollegen Wilhelm Naegel. Die Nachricht von seinem plötzlichen und unerwarteten Tode hat uns tief bewegt. Um die Mittagsstunde des 24. Mai ist er im Alter von 52 Jahren nach einem Herzinfarkt gestorben.
Wilhelm Naegel aus Hannover-Kirchrode wurde am 3. August 1904 in Fritzlar geboren. Nach dem Studium an den Handelshochschulen in Berlin und Königsberg, an der Universität Köln und der Technischen Hochschule in Braunschweig war er als Diplomhandelslehrer tätig. Seit über 25 Jahren wirkte er in der Firma Brenninkmeyer und gehörte zuletzt deren Hauptgeschäftsleitung an. Auf Grund seiner beruflichen Fähigkeiten und seines ausgezeichneten Könnens wurde er zu zahlreichen Ämtern berufen. Er war Mitbegründer und Ehrenpräsident des Einzelhandelsverbandes Niedersachsen und bis Oktober 1953 Vizepräsident der Hauptgemeinschaft Deutscher Einzelhandel sowie Ehrenmitglied des Präsidiums des Bundesverbandes des Deutschen Textileinzelhandels. Seine Tätigkeit galt auch der Industrie- und Handelskammer Hannover, deren Vizepräsident er war, und sie galt dem Deutschen Industrie- und Handelstag, dessen
Handelsausschuß er als Vorsitzender leitete. Der Bund Deutscher Katholischer Unternehmer zählte Herrn Naegel zu seinen Vorstandsmitgliedern.
Wilhelm Naegel war Mitbegründer der ChristlichDemokratischen Union in Hannover und in der britischen Zone und später Mitglied des Landesvorstandes der CDU Niedersachsen. Bis Juli 1947 gehörte er dem Niedersächsischen Landtag und als stellvertretendes Mitglied schon dem Zonenbeirat für die britische Zone an. 1947 wurde er Abgeordneter des Wirtschaftsrats für das Vereinigte Wirtschaftsgebiet.
Unser Kollege Naegel war bereits Mitglied des 1. Bundestages. Er übernahm im Januar 1953 den Vorsitz des Ausschusses für Wirtschaftspolitik in diesem Hause. Seine Verdienste richtig zu würdigen vermag nur der, der um die Arbeitslast und Verantwortung aller dieser Verpflichtungen, die unser Kollege Naegel auf sich genommen hatte, etwas weiß.
Herr Naegel hinterläßt Frau und fünf Kinder, und wir sprechen seiner Gemahlin und seinen Kindern unsere tief empfundene Anteilnahme aus. Ich spreche dieselbe Anteilnahme der CDU/CSU-Fraktion aus, der Wilhelm Naegel in unserem Hause angehört hat.
Meine Damen und Herren, es ist nicht üblich, in solchen Zusammenhängen Worte der Mahnung zu sagen; aber wenn ein Mann — ich kann nur sagen: wieder einer — in der kräftigsten Mitte der Mannesjahre plötzlich von uns geht, dann ist das für uns eine Mahnung, in unserem Tun, in unserer starken Inanspruchnahme auf alles das Rücksicht zu nehmen, was der Verlängerung unserer Arbeitskraft und der Verlängerung unseres Lebens nach Gottes Willen dienlich ist. Ich meine, daß wir uns in diesem Hause darin einig sein sollten, daß alles, was dafür geschehen kann, auch in diesem Hause noch mehr als seither geschieht und geschehen muß.
Sie haben sich zu Ehren des heimgegangenen Kollegen erhoben; ich danke Ihnen.
Meine Damen und Herren, ich schlage Ihnen vor, die Ihnen vorliegende Tagesordnung durch die Aufnahme des folgenden Punktes: Große Anfrage der Abgeordneten Mellies, Dr. Reif, Feller und Genossen betreffend Verfassungsklage wegen des Reichskonkordats — Drucksache 2258 — zu ergänzen und diesen Punkt als Punkt 2 auf die heutige Tagesordnung zu setzen. Ich darf hinzufügen, daß bis gestern abend spät in diesem Hause Bemühungen angestellt worden sind, um — ausschließlich aus Gründen des Taktes im Hinblick auf den hohen Feiertag in dieser Woche — einen anderen Termin als den heutigen Tag für die Behandlung dieser Großen Anfrage zu finden. Ich danke für die Würdigung und Unterstützung dieser Bemühungen Kollegen aus allen Fraktionen. Vor allem aber möchte ich der die Große Anfrage stellenden Fraktion dafür danken, daß sie diese Bemühungen nachhaltig unterstützt hat. Es ist mir nicht möglich gewesen, dem Hause schließlich einen besseren Termin vorzuschlagen, insbesondere mit Rücksicht darauf, daß am Freitagvormittag eine — wovon ich mich überzeugt habe — lange verabredete Sitzung zahlreicher Ausschüsse dieses Hauses stattfinden muß. Ich mache Ihnen deshalb, wie gesagt, den Vorschlag, die heutige Tagesordnung um diesen Punkt zu ergänzen. — Ich höre keinen Widerspruch; es ist so beschlossen.
Ich habe ferner folgende Mitteilungen zu machen:
1. Der Abgeordnete Dr. Reinhold Maier hat gemäß § 51 Abs. 1 Ziffer 3 des Wahlgesetzes zum 2. Deutschen Bundestag seine Verzichterklärung vor dem Präsidenten des Bundestages am 8. Mai 1956 unterzeichnet, nach der er sein Bundestagsmandat zum 15. Mai 1956 niedergelegt hat. Der Vorstand des Deutschen Bundestages hat gemäß § 52 des Wahlgesetzes die Wirksamkeit der Niederlegung des Mandats zum 15. Mai 1956 beschlußmäßig anerkannt. Als sein Nachfolger ist der Abgeordnete Herr Weber in den Bundestag eingetreten. Ich darf fragen, ob Herr Weber anwesend ist. - Ich heiße Herrn Weber hier in unserer Mitte herzlich willkommen.
2. Als Nachfolger des früheren Abgeordneten Schmidt-Wittmack ist der Abgeordnete Albrecht in den Bundestag eingetreten. Ich frage, ob Herr Albrecht hier im Hause anwesend ist. - Ich heiße auch Herrn Albrecht hier in diesem Hause herzlich willkommen.
Ich wünsche beiden Herren Gottes Segen für ihre Arbeit im Deutschen Bundestag.
Glückwünsche darf ich aussprechen dem Herrn Abgeordneten Dr. Brönner, der am 12. Mai seinen 72. Geburtstag gefeiert hat.
Ebenso herzliche Glückwünsche darf ich Frau Albrecht aussprechen, die am 27. Mai Geburtstag gefeiert hat.
Der Antrag der Abgeordneten Stiller, Dr. Dollinger, Dr. Baron Manteuffel-Szoege und Genossen betreffend Bau einer Entlastungs- und Umgehungsstraße für die Bundesstraße 8 bei Nürnberg - Drucksache 2117 - und der Antrag der Abgeordneten Sabel, Frau Dr. Probst, Knapp und Genossen betreffend Bau der Autobahn Hersfeld-Fulda-Würzburg - Drucksache 2123 - sind durch Beschluß des Deutschen Bundestages in seiner 133. Sitzung dem Ausschuß für Verkehrswesen - federführend - und dem Haushaltsausschuß zur Mitberatung überwiesen worden. Da es sich zunächst um noch in der Planung begriffene Bauvorhaben handelt, für die die Mittel, wenn überhaupt, frühestens im Bundeshaushaltsplan 1957 bereitgestellt werden, hat der Haushaltsausschuß auf die Beratung und seine Beschlußfassung zu den vorliegenden Anträgen verzichtet. Ich unterstelle, daß das Haus damit einverstanden ist, daß der Haushaltsausschuß mit diesen Vorlagen nicht mehr befaßt wird. - Ich höre keinen Widerspruch.
Die übrigen amtlichen Mitteilungen werden ohne Verlesung in den Stenographischen Bericht aufgenommen:
Der Bundesrat hat in seiner Sitzung am 18. Mai 1956 den nachstehenden Gesetzen zugestimmt bzw. einen Antrag gemäß Art. 77 Abs. 2 des Grundgesetzes nicht gestellt:
Gesetz betreffend das deutschisländische Protokoll vom 19. Dezember 1950 über den Schutz von Urheberrechten und gewerblichen Schutzrechten,
Erstes Gesetz zur Aufhebung des Besatzungsrechts, Zweites Gesetz zur Aufhebung des Besatzungsrechts,, Viehzählungsgesetz,
Gesetz betreffend das Übereinkommen Nr. 29 der Internationalen Arbeitsorganisation vom 28. Juni 1930 über Zwangs- oder Pflichtarbeit,
Fünftes Gesetz zur Änderung und Ergänzung des Bundesversorgungsgesetzes,
Zweites Gesetz über den Bundesgrenzschutz,
Gesetz zur Angleichung der Dienstbezüge von Vollzugsbeamten des Bundesgrenzschutzes an die Besoldung der Freiwilligen in den Streitkräften .
Der Bundesrat hat weiterhin in seiner Sitzung am 18. Mai 1956 zum Zweiten Wohnungsbaugesetz verlangt, daß der Vermittlungsausschuß einberufen wird. Die Gründe hierzu sind in der Drucksache 2392 niedergelegt.
Die Bundesregierung hat am 11. Mai 1956 zum Gesetz über die vorläufige Fortgeltung der Inanspruchnahme von Gegenständen für Zwecke der ausländischen Streitkräfte und ihrer Mitglieder, dem der Bundesrat in seiner Sitzung am 19. April 1956 seine Zustimmung verweigert hatte, die Einberufung des Vermittlungsausschusses verlangt. Die Gründe hierzu sind in Drucksache 2386 niedergelegt.
Der Herr Staatssekretär des Auswärtigen Amts hat unter dem 18. Mai 1956 die Kleine Anfrage 242 der Fraktion der SPD betreffend Bombardierung des Großen Knechtsandes und des neuen Bombenziels B bei Sahlenburg beantwortet. Sein Schreiben wird als Drucksache 2395 vervielfältigt.
Der Herr Bundesminister der Finanzen hat unter dem 24. Mai 1956 die Kleine Anfrage 244 der Fraktion der SPD betreffend Vergabe öffentlicher Aufträge beantwortet. Sein Schreiben wird als Drucksache 2404 vervielfältigt.
Der Herr Bundesminister des Innern hat unter dem 28. Mai 1956 die Kleine Anfrage 246 der Fraktion der DP betreffend Grenzzeichen an den Übergangsstellen vom Ausland ins Bundesgebiet beantwortet. Sein Schreiben wird als Drucksache 2405 vervielfältigt.
Der Herr Bundesminister der Finanzen hat unter dem 9. Mai 1956 die Kleine Anfrage 247 der Abgeordneten Kühltau, Huth, Schmücker und Genossen betreffend Lastenausgleichsgesetz beantwortet. Sein Schreiben wird als Drucksache 2385 vervielfältigt.
Der Herr Bundesminister der Finanzen hat unter dem 23. Mai 1956 die Kleine Anfrage 249 der Abgeordneten Krammig, Dr. Dollinger, Schlick, Schmücker und Genossen betreffend Anwendung von § 8 Abs. 3 des Mineralölsteuergesetzes beantwortet. Sein Schreiben wird als Drucksache 2394 vervielfältigt. (J
Der Herr Bundesminister für Verkehr hat unter dem 18. Mai 1956 die Kleine Anfrage 250 der Fraktion der FDP betreffend Einhalten der deutschen Straßenverkehrsvorschriften durch Kraftfahrzeuge der amerikanischen Streitkräfte beantwortet. Sein Schreiben wird als Drucksache 2391 vervielfältigt.
Der Herr Bundesminister für Verkehr hat unter dem 23. Mai 1956 die Kleine Anfrage 252 der Abgeordneten Richarts und Genossen betreffend Unfälle an der Autobahnstrecke ElzerBerg (2375) beantwortet. Sein Schreiben wird als Drucksache 2403 vervielfältigt.
Der Herr Bundesminister des Innern hat unter dem 20. April 1956 auf Grund der Entschließung des Deutschen Bundestages in seiner 91. Sitzung über die Gewährung von Zuschüssen zur Gemeinschaftsverpflegung berichtet. Sein Schreiben ist als Drucksache 2384 vervielfältigt.
Der Herr Bundesminister für Arbeit hat unter dem 12. Mai 1956 auf Grund des Beschlusses des Deutschen Bundestages in seiner 91. Sitzung über die Sozialabkommen der Brüsseler Vertragsstaaten berichtet. Sein Schreiben ist als Drucksache 2390 vervielfältigt.
Der Herr Bundesminister für Wirtschaft hat unter dem 16. Mai 1956 auf Grund des Beschlusses des Deutschen Bundestages in seiner 50. Sitzung über die vollzogene Unterzeichnung des deutsch-amerikanischen Filmabkommens am 26. April 1956 berichtet. Sein Schreiben ist als Drucksache 2393 vervielfältigt.
Damit kommen wir zur Tagesordnung. Ich rufe den Punkt 1 auf:
Große Anfrage der Fraktionen der CDU/ CSU, SPD, FDP, GB/BHE, DP, DA betreffend Entwicklung in der Sowjetzone und Möglichkeiten engerer Verbindungen zwischen den beiden Teilen Deutschlands .
Ich frage, wer zur Begründung der Anfrage das Wort wünscht. - Das Wort hat der Abgeordnete Willy Brandt .
Brandt (SPD), Anfragender: Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Beratungen im Ausschuß für Gesamtdeutsche und Berliner Fragen haben zum Entwurf dieser Großen Anfrage geführt, die dann von sämtlichen Fraktionen dieses Hauses eingebracht worden ist und die uns die Möglichkeit bieten soll, die Auffassung der Bundesregierung zu hören und unsere eigene Meinung zur Entwicklung in der Sowjetzone und zu den Möglichkeiten engerer Verbindungen zwischen den beiden Teilen Deutschlands zu sagen. Ich verweise zunächst auf das, was in der Großen Anfrage selbst zur Begründung bereits enthalten ist, nämlich daß wir alle miteinander die heute zur Erörterung stehenden Fragen gestellt haben aus der Sorge um die betroffenen Menschen, die den Bundestag in allen seinen Bemühungen um eine Erleichterung der Verhältnisse in der sowjetisch besetzten Zone geleitet hat. Ich verweise auch darauf, daß sich die Fraktionen zum ersten Teil dieser Großen Anfrage auf eine Konferenz der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands beziehen, die Ende März in Ostberlin stattgefunden hat und auf der Spitzenfunktionäre der sowjetzonalen Verwaltung Rechtsverletzungen zugegeben und für bestimmte Gebiete eine Überprüfung der bisherigen polizeistaatlichen Maßnahmen in Aussicht gestellt haben.
Diese Erklärungen müssen, wie wir alle wissen, auf dem Hintergrund dessen gesehen und gewertet werden, was in der Sowjetunion und im sowjetischen Machtbereich vor sich geht. Hier kann es sich gewiß nicht darum handeln, die Ergebnisse des XX. Parteitages der Kommunistischen Partei der Sowjetunion, seine Vorgeschichte, seine Auswirkungen zu deuten. Die Meinungen darüber würden vermutlich auch ziemlich weit auseinandergehen.
Unabhängig jedoch von der Wertung dieser Vorgänge haben uns alle in den letzten Monaten und Wochen Nachrichten erreicht, die auf unser menschliches und auf unser politisches Interesse stießen. Aus der Sowjetunion selbst kamen Meldungen darüber, daß Opfer der Stalinschen Willkür aus den Zwangsarbeitslagern entlassen würden, daß die Vollmachten der Geheimpolizei beschnitten würden oder bereits beschnitten seien, daß die Prozeßordnung revidiert werden solle und daß Verhaftete nicht mehr bloß auf Grund erpreßter Geständnisse verurteilt werden sollten. Aus Polen ist berichtet worden, daß politische Häftlinge freigelassen und daß statt dessen Beamte des staatlichen Sicherheitsdienstes festgesetzt worden seien. Aus Bulgarien, aus Ungarn, aus der Tschechoslowakei haben wir erfahren, daß in gewissen Fällen politische Gefangene amnestiert worden sind und daß Urteile in früheren Prozessen desavouiert worden sind. Und wir haben zur Kenntnis genommen, meine Damen und Herren, daß auch in der sowjetisch besetzten Zone Deutschlands in diesen letzten Wochen und Monaten davon gesprochen worden ist, die Gesetzlichkeit sei in gewissen Fällen verletzt worden, und in Zukunft sollten die Rechte der Bürger besser gewahrt werden.
Grotewohl hat gestern in einer Rede gesagt, es seien „Maßnahmen zur Auflockerung des Strafgesetzbuchs" in Angriff genommen. Er hat auch gesagt, in beiden Teilen Deutschlands erwarte die Bevölkerung, daß sich in Deutschland eine „Politik der Entspannung" durchsetze. Nun, Spitzenfunktionäre des sowjetzonalen Regimes haben bei verschiedenen Gelegenheiten den Eindruck zu erwecken versucht, als ob ihnen neben einer Hinwendung zu rechtsstaatlichen Gesichtspunkten an einer Erleichterung der innerdeutschen Beziehungen und an einer Normalisierung der Lage in Berlin gelegen sei. Eben diese Themen haben wir in der Großen Anfrage, über die heute gesprochen werden soll, aufgeworfen.
Es darf jedoch festgestellt werden, und ich finde, es m u ß festgestellt werden, daß wir von den sowjetzonalen Stellen bisher zwar viele mehr oder weniger schöne Worte gehört, aber noch wenig entsprechende T a t en gesehen haben. Nach allem, was hinter uns liegt, sind es jedoch allein Taten und Tatsachen, die zu überzeugen vermögen. In der sowjetisch besetzten Zone Deutschlands hat sich, was das Leben der Menschen betrifft, bisher so gut wie nichts geändert.
Auf dem Gebiet des innerdeutschen Verkehrs hat sich in diesen letzten Monaten so gut wie nichts verändert.
Was die Freilassung von Gefangenen angeht, so ist einiges angekündigt worden. Die tatsächlichen Freilassungen scheinen sich bisher im wesentlichen auf die etwa 700 Fälle zu beschränken, in denen das Eingreifen auf sowjetische Instanzen zurückzuführen war und in denen es auch sowjetische Stellen gewesen waren, die die ursprüngliche Verurteilung direkt oder indirekt bewirkt hatten.
Ich stelle also zweierlei fest. Erstens: Es besteht auf den Gebieten, die hier heute zur Erörterung stehen, in der sowjetisch besetzten Zone Deutschlands ein peinliches Mißverhältnis zwischen Worten und Taten. Zweitens: Die sowjetisch besetzte Zone Deutschlands hinkt nach, auch wenn man so bescheiden ist, ihr Verhalten nur zu vergleichen mit den Meldungen aus der Sowjetunion und aus gewissen osteuropäischen Staaten, insbesondere Polen.
Dieser zweite Punkt verdient vielleicht noch eine zusätzliche Bemerkung. Die sowjetzonalen Stellen sind, wie alle, die die Dinge verfolgen, wissen, eifrig bemüht, die Entstalinisierung im sowjetischen Machtbereich zu bagatellisieren oder gar — was die Meldungen darüber angeht — zu unterschlagen. Die Machthaber im sowjetisch besetzten Teil Deutschlands versuchen sich sogar mit der dreisten Behauptung herauszureden, daß sie sich nicht zu korrigieren brauchten, denn sie hätten sich strenger als die übrigen Ostblockstaaten in den hinter uns liegenden Jahren an die Formen der Gesetzlichkeit gehalten.
Das bedeutet natürlich nichts anderes — darüber sollte man sich an zuständiger Stelle im klaren sein —, als daß Pankow objektiv weiterhin alles tut, um die angekündigten Wandlungen der sowjetischen Politik im deutschen Bereich unglaubwürdig erscheinen zu lassen.
Die deutsche und die ausländische Öffentlichkeit mag eine kurze Antwort auf die Frage erwarten, was der eigentliche Sinn, die eigentliche Motivierung dieser Interpellation ist. Ich darf dazu folgendes sagen. Einmal kam es uns, den Kollegen aus allen Fraktionen dieses Hauses, die über die Dinge vorbereitend gesprochen haben, auf eine I öffentliche Bestandsaufnahme der Lage in der
Zone und der innerdeutschen Beziehungen an. Wir und die durch uns vertretenen Menschen möchten ganz einfach wissen, was ist. Wir möchten uns und andere vor Fehleinschätzungen und auch vor der Annahme bewahren, es habe sich bereits etwas Grundlegendes verändert. Zugleich aber möchten wir möglichst vorurteilsfrei prüfen, ob sich Möglichkeiten für die eine oder andere Veränderung abzeichnen. Dabei leitet uns gewiß die Hoffnung, daß sich die Lage für unsere Menschen und die innerdeutschen Beziehungen zum Besseren verändern mögen; denn wir fühlen uns, wie wir es häufig gesagt haben, dem ganzen Volk und dem ganzen Deutschland verpflichtet. Wir sollten nicht darauf verzichten, uns von jetzt ab laufend über die Lage in der Zone und über die innerdeutschen Beziehungen und Entwicklungen berichten zu lassen und uns unsere Meinung darüber zu bilden.
Zum anderen kann unsere Rolle — auch das war eine gemeinsame Überzeugung derer, die hier vorbereitend miteinander gesprochen haben — nicht die von passiv Abwartenden sein. Bei dem, womit wir uns heute befassen, handelt es sich nicht um die Weltpolitik; hier handelt es sich auch nicht um die Erörterung der außenpolitischen Voraussetzungen für die Lösung der deutschen Frage. Aber hier handelt es sich darum, ob wir in einem bescheideneren Rahmen Einfluß nehmen können und wie wir Einfluß nehmen wollen, um ein Höchstmaß an Beziehungen zwischen den Menschen in den beiden Teilen Deutschlands zu sichern oder wieder zu erreichen.
Niemand sage, daß wir auf die Entwicklung im anderen Teil Deutschlands ohne Einfluß seien. Es hat sich schon in der Vergangenheit, obgleich die Fronten viel mehr erstarrt waren, als sie es heute sind, gezeigt, daß Landsleute vor dem Tode bewahrt werden konnten, weil wir unsere Meinung gesagt haben und weil die öffentliche Meinung reagiert hat. Pankow und seine Hintermänner sind nicht so taub, wie sie sich gelegentlich stellen. Pankow ist gar nicht unempfindlich, wenn wir es zwingen, Farbe zu bekennen.
Drüben diskutiert gerade in dieser Lage die Bevölkerung, drüben diskutieren heute bis zu einem gewissen Grade auch die Angehörigen der SED. Und wir verdienten alle miteinander geprügelt zu werden, wenn wir nicht prüften, ob und wie wir solche Entwicklungen fördern könnten, die geeignet wären, den Landsleuten das Leben zu erleichtern und der Wiedervereinigung vom innerdeutschen Rahmen her den Weg zu ebnen.
Wenn es noch, meine Damen und Herren, eines Beweises bedurft hätte, daß unser Wort auch gegenüber den Machthabern auf der anderen Seite der willkürlichen Zonengrenze einiges Gewicht hat, so ist dieser Beweis gestern erbracht worden. Die Volkskammer war einberufen worden, und Herr Grotewohl mußte sich des längeren mit der Tatsache auseinandersetzen, daß wir heute über diese Große Anfrage beraten. Dort wurde zwar betont, eigentlich habe es einer solchen Interpellation nicht bedurft, einige unserer Fragen seien provokatorisch oder irreführend, aber dann fiel immerhin das Wort von den „ernsthaften Bemühungen".
Jawohl, das wollen wir vor dem eigenen Volk und vor der Welt klarwerden lassen, daß wir ernsthaft bemüht und von einem festen Willen geleitet
sind, wenn es sich darum handelt, soviel an uns liegt, das Leben im willkürlich gespaltenen Deutschland zu erleichtern und eines Tages — hoffentlich bald — sinnvoll wieder zusammenzufügen, was sinnlos auseinandergerissen worden ist.
Die entscheidende Frage eins lautet dahin, ob der Bundesregierung Tatsachen bekanntgeworden sind, die auf eine Hinwendung zu allgemein rechtsstaatlichen Prinzipien in der Sowjetzone schließen lassen könnten.
Wir fragen dann im ersten Abschnitt auch danach, ob der Regierung Unterlagen dafür vorliegen, daß die angekündigten neuen Methoden auf dem Gebiet des Arbeitsrechts zu tatsächlichen Veränderungen geführt haben, und ob es zutrifft, daß durch die Bildung von Produktionsgenossenschaften der Druck auf das Handwerk verschärft worden ist.
Wir fragen ferner, wieviel Prozesse wegen sogenannter Abwerbung in den letzten Monaten in der Zone stattgefunden haben und ob solche Verfahren noch andauern.
Mit der letzten Frage, meine Damen und Herren, richten wir das Scheinwerferlicht nochmals auf den empörenden Zustand, daß Deutsche bis in diese Tage zu Zuchthausstrafen verurteilt werden, weil sie die Absicht haben, ihren Arbeitsplatz von einem Teil Deutschlands in den anderen zu verlegen, oder beispielsweise auch nur deswegen, weil sie während eines Besuchs in der Zone von Arbeitsmöglichkeiten sprechen; sie werden dann wegen Boykotthetze abgeurteilt.
Die Entwicklung des sowjetzonalen Arbeitsrechts und Arbeitsstrafrechts — und das ist das Arbeitsrecht in der Zone weitgehend — verdient unsere besondere Aufmerksamkeit. Was sich dort dieser Tage unter der Parole der „vollen Ausnutzung des Arbeitstags" als neuer Parole zur Antreiberei abspielt und was sich in Gestalt der neu geschaffenen Kontrollposten der FDJ in den Betrieben abspielt, das ist einfach ein Skandal. Es muß auch zu denken geben, wenn das Organ des FDGB-Vorstandes schreibt, daß die „Arbeitsdisziplin nichtallein durch Überzeugungsarbeit erreicht werden könnte, sondern mit Hilfe einer besseren Anwendung der demokratischen Arbeitsgesetze" sichergestellt werden müsse.
In diesen Tagen haben viele von uns Briefe aus der Zone erhalten, aber auch hier aus dem deutschen Westen, Briefe, in denen viele Einzelheiten aufgeworfen werden, mit denen wir uns heute nicht befassen können, kleine Fragen, wie man häufig sagt, aber Fragen, die unsere volle Aufmerksamkeit verdienen. Da schildert der eine, daß es immer noch abgelehnt werde, das Evakuierten-gut armer Leute, auch bei kleinen Dingen ohne großen materiellen Wert, in den Westen herüberkommen zu lassen. Ein anderer berichtet, wie der legale Umzug der nächsten Angehörigen behindert wird, wenn es sich um die Wiederzusammenführung der Familien von politischen Flüchtlingen handelt. Wir werden all diese Einzelfragen weiter aufmerksam und vielleicht noch aufmerksamer als bisher prüfen müssen.
Das Kernstück dieses Teils der Großen Anfrage stellen jedoch die Fragen dar, die sich auf das Schicksal der politischen Gefangenen beziehen. Wir fragen, wieviel politische Gefangene nach Kenntnis der Bundesregierung in den letzten Monaten freigelassen worden sind. Wir fragen, wie groß die Zahl der aus politischen Gründen in der Zone noch immer Verurteilten bzw. Verhafteten ist, in welchen Gefängnissen und Zuchthäusern sie sich befinden, auf Grund welcher Bestimmungen sie verurteilt worden sind, wie groß noch jetzt die Zahl der Gefangenen ist, die der Zonenverwaltung durch die sowjetischen Besatzungsbehörden zur Verurteilung bzw. zum Vollzug der durch Militärtribunale verhängten Strafen übergeben wurden, und ob sich noch Verurteilte des 17. Juni 1953 in den Strafanstalten der Zone befinden.
Nicht ohne Grund, meine Damen und Herren, haben wir die Opfer des 17. Juni hierbei besonders erwähnt, handelte es sich doch um die Opfer einer Erhebung, einer Erhebung von Arbeitern 1m wesentlichen, gegen die stalinistischen Herrschaftsmethoden in der Zone. Wir hätten vielleicht auch fragen sollen, wieviel junge Menschen noch heute wegen sogenannter antistalinistischer Äußerungen in den Strafanstalten der Zone sitzen,
Landsleute, die doch nun nach allem, was wir inzwischen gehört haben, deswegen sitzen, weil sie Ulbricht um einiges voraus waren,
wenn es sich darum handelte, Stalin und den Stalinismus zu durchschauen.
Wir hoffen, daß die Regierung in ihrer Antwort in der Lage sein wird, uns eine umfassende Übersicht zum Problem der politischen Gefangenen zu geben. Aber wir würden sie nicht angreifen können, wenn sie nicht über alle Einzelheiten verfügte; denn bekanntlich ist es mit einigen Schwierigkeiten verbunden, sich umfassende Informationen über ein solches Gebiet zu sichern.
Außerdem kann man zu unterschiedlichen Beurteilungen über die Gesamtzahl der politischen Gefangenen schon deswegen sehr leicht kommen, weil man den Begriff des politischen Gefangenen unterschiedlich beurteilen kann, weil die Grenze beispielsweise zu den Wirtschaftsstraftatbeständen nicht ganz leicht abzustecken ist. Immerhin möchte ich hier auf drei Gesichtspunkte hinweisen.
Grotewohl hat gestern gesagt, es handle sich bei den Strafgefangenen in der Zone nicht um Leute, die wegen ihrer politischen Überzeugung verurteilt worden seien, sondern um solche, die Hetze, Wühlarbeit, Spionage und Sabotage getrieben hätten. Aber vorher hatte er von Entlassungen gesprochen und davon, daß man sich noch in der weiteren Überprüfung befinde. Ein anderer Zonenfunktionär, Herr Nuschke, hatte am Pfingstsonntag von Entlassungen gesprochen und hinzugefügt, daß — wie er sagte und wie wir hoffen — noch viele, viele folgen werden und daß es dazu gewisser Beratungen bedürfe. Und dann hat Herr Girnus vom sowjetzonalen Ausschuß für deutsche Einheit angekündigt, daß alle wegen politischer Vergehen gefällten Urteile — es müssen dann wohl doch solche Urteile gefällt worden sein — in der Sowjetzone nachgeprüft werden sollten. Die Behauptung, es gebe keine politischen Gefangenen in der Zone — eine Behauptung, die wir in den letzten Wochen zwischendurch immer wieder gehört haben —, kann einfach nicht aufrechterhalten werden.
Zum andern: Herr Melsheimer, noch Generalstaatsanwalt der Sowjetzone, hat kürzlich angekündigt, daß der berüchtigte Art. 6 der Sowjetzonenverfassung geändert werden soll, jener Artikel, der ja dazu gedient hat, mit den dehnbaren Begriffen der Friedensgefährdung und der Boykotthetze Tausende von Menschen in die Zuchthäuser und Gefängnisse zu bringen. Da drängt sich doch nun unwillkürlich die Frage auf, ob die nach diesen Kautschukbestimmungen willkürlich Verurteilten weiter sitzen sollen, während das Pankower Justizkollegium seelenruhig — anscheinend seelenruhig — über neue Formulierungen berät.
Als besonders empörend will uns auch der Tatbestand erscheinen, daß heute in der Zone aus ein und derselben Gruppe von Verhafteten die ursprünglich von der sowjetischen Besatzungsmacht als die leichteren Fälle betrachteten weiterhin sitzen, während die seinerzeit von der sowjetischen Besatzungsmacht als besonders ernste Fälle Betrachteten inzwischen auf Grund der Amnestie auf freiem Fuße sind. Hier kann es sich doch wahrscheinlich nur darum handeln, daß die sowjetische Regierung nicht hinreichend und nicht richtig darüber informiert ist, was sich auf diesem sie unmittelbar betreffenden Gebiet in der Zone abspielt; darum habe ich es noch einmal aufgegriffen.
Wir waren uns bei unseren Vorberatungen darüber einig, daß konkrete Unterlagen zum Gefangenenkomplex noch wichtiger sind als Gesamtziffern und daß alle mit diesen Dingen befaßten Stellen so sorgfältig wie möglich an der Prüfung des vorhandenen und des noch zu erlangenden Materials arbeiten sollten. Es sollte aber, von allen großen Ziffern abgesehen, allen Beteiligten klarwerden, daß es uns in diesem Deutschen Bundestag um jeden einzelnen Menschen geht,
daß wir uns durch jeden einzelnen Akt der willkürlichen Verhaftung getroffen und herausgefordert fühlen und daß wir es — auch das sei allen in Frage Kommenden gesagt — jenseits aller großen oder kleinen Politik für unsere einfache menschliche Pflicht halten, uns für diese Landsleute einzusetzen, die für uns eine Last mittragen.
Aber, meine Damen und Herren, wenn ich von der menschlichen Verpflichtung gesprochen habe, dann muß ich und darf ich ein Wort hinzufügen über das, was mit den Häftlingen geschieht, solange noch keine umfassende Haftentlassung stattgefunden hat. Darauf bezieht sich eine unserer Fragen:
Unter welchen Bedingungen leben diese Gefangenen? Seit wann dürfen ihnen keine Pakete mehr geschickt werden?
Gewiß, wir haben in den letzten Wochen einige Meldungen darüber erhalten, daß sich die Lage der Gefangenen hier und da etwas verbessert habe. Aber dem stehen doch erschütternde Berichte, erschütternde Briefe gegenüber, die wir in allen Teilen dieses Hauses bis in die letzten Tage erhalten, erschütternd vor allem, soweit sie den Gesund-
heitszustand der Menschen in den Haftanstalten betreffen, insbesondere seitdem im vorigen Herbst die Paketsperre verhängt wurde.
Ich habe hier vor mir den Brief einer Frau aus der Zone, der dieser Tage eingegangen ist, und ich darf mit Erlaubnis des Herrn Präsidenten ein paar Sätze daraus verlesen. Diese Frau schreibt:
Nun bitte ich Sie — und ich bitte im Namen wohl aller Frauen und Angehörigen —: weisen Sie doch immer wieder darauf hin, daß wenigstens die so dringend benötigten Pakete von sechs Pfund monatlich geschickt werden dürfen! Jeder, der Besuche zur Sprechzeit im Zuchthaus macht, wird bekümmert auf der Rückfahrt die immer wiederkehrenden Worte im Ohr haben: „Hunger, Hunger, Hunger!",
die immer zwischen den Redewendungen in
der Unterhaltung eingeflochten werden. Die
Wachbeamten dürfen das natürlich nicht hören.
Dann sagt diese Frau, und das geht uns alle an:
Sie wissen es bestimmt nicht, wenn man bei
jeder Mahlzeit an den Angehörigen denken
muß, wie wenig, viel zuwenig er jetzt nur hat.
Und dann stellt sie die Frage, die an das Gewissen des ganzen Hauses und des Volkes rühren muß, die Frage nämlich: Warum muß die Ostzone den Krieg bezahlen?
Wir haben Berichte von Stellen, die die Dinge verantwortlich prüfen, über den Gesundheitszustand und insbesondere darüber, daß sich die Zahl der Tbc-Erkrankungen seit dem Wegfall der Pakete katastrophal erhöht hat, daß man in manchen Haftanstalten damit rechnet, daß 40 % aller Inhaftierten an offener Tbc leiden, und daß die Untersuchungen der SBZ-Entlassungen im Lager Friedland bestätigt haben, daß der Gesundheitszustand ganz allgemein zu den allergrößten Besorgnissen Anlaß gibt. Hier muß etwas geschehen, und hier muß rasch etwas geschehen.
Die vielzitierte Hinwendung zur Gesetzlichkeit müßte auch mit einer Rückkehr zur Strafprozeßordnung verbunden sein, in der es heißt, daß sich der Beschuldigte in jeder Lage des Verfahrens des Beistands eines Verteidigers bedienen kann und daß zu Verteidigern die bei einem deutschen Gericht zugelassenen Rechtsanwälte gewählt werden können. Bis zum März 1948 galt das auch noch in der Zone, und bis zum Juni 1953 konnten noch Anwälte aus Westberlin in großer Zahl auch im Osten tätig sein. Dann hat man unter Mißachtung der auf Viermächtebasis erteilten Anwaltszulassungen auch diesen Anwälten in Berlin das Wirken im ganzen Gebiet ihrer Stadt unmöglich gemacht. Heute muß eine der Forderungen lauten, daß auch den deutschen Rechtsanwälten wieder gestattet sein muß, als Verteidiger vor Strafgerichten in der Zone aufzutreten. Mindestens aber — als Übergang — muß den Berliner Anwälten, soweit sie eine Zulassung aus der Zeit vor 1949 besitzen, die Möglichkeit eingeräumt werden, vor Ostberliner Gerichten Verteidigungen zu führen.
Noch ein Wort zur Frage der innerdeutschen Beziehungen; das ist der Teil II unserer Großen Anfrage. Auch hier handelt es sich zunächst um die öffentliche Bestandsaufnahme. Darum fragen wir unter Ziffer 11, was in den letzten Monaten geschehen ist, einmal seitens der Bundesrepublik, zum andern seitens der Verwaltung der Zone, um den Verkehr zwischen den beiden Teilen Deutschlands zu erleichtern. Wir verweisen auf die wiederholten Bemühungen des Bundestages, insbesondere auf unsern Beschluß vom 26. Mai vorigen Jahres. Ich nehme an, daß es heute wie früher unser gemeinsames Bestreben ist, wo immer möglich von uns aus aufzulockern, möglichst wenig Kontrollen zu haben, möglichst viel zu tun, um zur Freiheit des Verkehrs von Menschen, Waren und kulturellen Gütern zu gelangen.
Wir fragen in diesem Teil danach, ob es wahr ist, daß die Zonenbehörden die Genehmigung zu Besuchen von Verwandten in der Bundesrepublik weiter eingeschränkt haben und welche weiteren Schritte unsere Regierung empfiehlt, um die innerdeutschen Beziehungen zu fördern, welche Schritte insbesondere erfolgen könnten, um den geistigen und kulturellen Zusammenhalt zwischen den beiden Teilen Deutschlands zu pflegen, und welche Vereinbarungen der vier Kontrollmächte untereinander oder mit deren Einverständnis zwischen deutschen Verwaltungsstellen geeignet wären, die innerdeutschen Verbindungen und damit die Wiedervereinigung Deutschlands zu erleichtern.
Ich darf sagen, worum es uns ging und gehen soll: es geht einfach um die Existenz als Nation. Über die gesamtdeutsche Zukunft entscheidet nicht allein das, was mit den und zwischen den beteiligten Mächten ausgehandelt wird und ausgehandelt werden muß, sondern entscheidend ist auch, ob es gelingt, ein Höchstmaß an Beziehungen zwischen den Menschen in diesem Volk aufrechtzuerhalten. Uns geht es nicht um das viel zitierte „brüderliche Gespräch" mit irgendwelchen Zonengewaltigen, sondern um das vielfältige Gespräch mit der Bevölkerung, jenes innerdeutsche umfassende Gespräch, das die willkürlichen Grenzen aufweichen soll. Es geht — so haben wir es bei unseren Vorberatungen aufgefaßt — nicht um die Anerkennung einer demokratischen Legitimität dort, wo sie nicht anerkannt werden kann. Es geht nicht und kann auch nicht gehen um die völkerrechtliche Anerkennung eines zweiten Deutschland. Aber die Frage steht, was geschehen kann und soll, um unter Beachtung dieser Vorbehalte zu einem Ausbau bisheriger Regelungen und zu neuen Regelungen oder Abkommen zu gelangen, die dem bezeichneten Zweck dienen können. Es geht darum, daß die andere Seite auch auf diesem Gebiet Farbe bekennen soll. Die Anstrengungen auf diesem Gebiet — es handelt sich um die Demarkationslinie mitten durch unser eigenes Land — müssen doch wohl angesichts der Meldungen aus Ungarn, die besagen, daß zwischen Ungarn und Österreich die bisherige Stacheldrahtabsperrung abgeschafft werden soll, besonders energisch sein. Wir sind uns gewiß darüber im klaren, daß es sich hier nicht nur um eine Aufgabe des Staates, sondern auch um eine Aufgabe der vielen einzelnen in unserem Volk handelt und daß durch die Anstrengungen der vielen einzelnen unendlich viel dazu beigetragen werden kann, die Anstrengungen des Staates zu unterstützen, zu unterbauen.
Uns erreichen gerade auch zu dieser Frage
Briefe, die wir nicht unbeachtet beiseite legen
dürfen. Hier ein langer Brief aus der Zone, in I dem es heißt, daß es auf die starken Herzen ankomme, um die Zonengrenzen zu beseitigen. Der
Mann schreibt, er denke nicht an politische Briefe, sondern an die Bekenntnisse von Mensch zu Mensch, und er sagt, daß die Bekundungen der Gemeinsamkeit sich nicht im zum Dank verpflichtenden Eßpaket verlieren dürften. Solche Hilfe könne manchmal auch sehr wichtig sein, aber viel wichtiger sei die wirkliche, die persönliche Anteilnahme des einzelnen am Schicksal seines Bruders.
Schließlich, meine Damen und Herren, befaßt sich der dritte Teil dieser Großen Anfrage mit der Lage in Berlin. Es sind diesmal nicht akute Schwierigkeiten in Berlin, die uns dazu veranlassen, die Lage in Berlin mit in diese Debatte einzubeziehen. Die Dinge in Berlin gehen gut voran; wir befinden uns nicht in einer akuten Bedrängnis, obgleich es nützlich ist, immer mal wieder auch gegen die Auffassung anzugehen, das bedeute eine Normalisierung der Dinge in Berlin. Es ist gewiß keine Normalisierung, solange zusätzlich zur Spaltung Deutschlands ein zweiter Schnitt mitten durch die deutsche Hauptstadt geht. Die andere Seite könnte — dazu bedürfte es keines großen Palavers — gerade in Berlin zeigen, ob sie guten Willens ist. In Berlin gibt es eine Vielzahl praktischer, technischer Fragen, die für das Leben der Menschen von großer Bedeutung sind und in denen man dadurch eine Besserung erreichen kann, daß man verwaltungsmäßig einfach auf den Knopf drückt, buchstäblich auf den Knopf drückt. Wir fragen auch hier, einfach um klarzustellen, was ist, wie die Regierung die erwähnten Erklärungen der anderen Seite über eine Normalisierung in Berlin beurteilt und welche Möglichkeiten sie für eine Erleichterung des Verkehrs von und nach Berlin sieht, auf welchen Gebieten nach Kenntnis der Bundesregierung technische Kontakte zwischen den beiden Teilen der deutschen Hauptstadt unverzüglich wiederhergestellt werden könnten, wenn es die östliche Verwaltung zuließe, und wie die Regierung die serienmäßige Verhängung von Geldstrafen gegen solche Bewohner des Ostsektors beurteilt, die in Westberlin arbeiten oder deren Kinder Westberliner Schulen besuchen. Wir fragen, ob es noch in der letzten Zeit vorgekommen ist, daß sich Angehörige von Ostberliner Betrieben oder Verwaltungen schriftlich verpflichten mußten — im Zeichen der angeblichen Bemühungen um eine „Normalisierung" der Lage! —, Westberliner Boden nicht mehr zu betreten.
Wir fragen, wieviel Fälle von Menschenraub aus Westberlin nach Kenntnis der Bundesregierung in der letzten Zeit vorgekommen sind, nachdem dieser empörende Vorgang des Menschenraubs immer wieder im Mittelpunkt des öffentlichen Interesses stand. Uns allen sind Fälle wie die des Dr. Walter Linse, Fälle wie die von Alfred Weiland, von Karl Fricke und Robert Bialek noch in guter Erinnerung, und sie werden in besonderem Maße mit im Mittelpunkt solcher Erörterungen bleiben müssen.
Wir fragen auch noch einmal nach all den vielen Tausend Kleingärtnern und Siedlern, denen die Nutzung ihrer Grundstücke in den Zonenrandgebieten genommen worden ist.
Wir fragen, ob Westberliner noch immer daran gehindert werden, die Friedhöfe in der Umgebung der Stadt zu besuchen.
Schließlich fragen wir — das ist die Frage 23; sie berührt den Status von Berlin —, wie die Bundesregierung das Mißverhältnis zwischen den Rechten und Pflichten, die die Vier Mächte für Berlin übernommen haben, und der Tatsache beurteilt, daß im Ostsektor bewaffnete sogenannte „Kampfgruppen" und Formationen der sowjetzonalen Streitkräfte aufmarschieren.
Gestatten Sie eine Schlußbemerkung! Ich bin fest davon überzeugt — und ich hoffe, wir sind es alle —, daß diejenigen nicht recht haben, die meinen, daß ein Sich-Befassen mit den heute hier zu erörternden Fragen ein Sich-ablenken-Lassen von den Fragen der großen Wiedervereinigungspolitik oder ein Sich-Abgeben mit kleinen Geschäften bedeute. Nein, es handelt sich um etwas anderes: es handelt sich darum, auch auf dieser Ebene alles uns Mögliche zu tun, um den Bestand als Volk zu wahren und um dadurch der Wiedervereinigung den Weg mit ebnen zu helfen.
Wir wissen gut genug, daß das nicht identisch ist mit dem sozusagen weltpolitischen Problem der Wiedervereinigung. Das steht hier insoweit auch nicht zur Debatte. Aber es schadet meiner Überzeugung nach nichts, wenn auch das Ausland zur Kenntnis nimmt — auch im Zusammenhang mit Erörterungen dieser Art —, wie wenig wir uns mit dem Zustand der willkürlichen Spaltung abfinden,
daß wir auch in Perioden zwischen den Konferenzen, auch in Situationen, die eine Lösung der deutschen Frage angeblich noch nicht ermöglichen oder tatsächlich nicht ermöglichen, immer wieder bohren, uns immer wieder fragen und uns und andere vor dem verhängnisvollen Mißverständnis und dem tragischen Irrtum bewahren, daß wir uns abgefunden hätten.
Wir haben uns nicht abgefunden, wir w er d en uns nicht abfinden und wir werden alles tun, um auf dieser Ebene und auf anderen immer wieder neue Anstrengungen zu machen, um den Weg zum ganzen Deutschland zu bereiten.
Ich hoffe — ich glaube, das auch im Namen der Kollegen aus allen Fraktionen sagen zu dürfen —, daß uns in zweieinhalb Wochen der 17. Juni, der Tag der deutschen Einheit, allen miteinander erneut die Möglichkeit gibt, in sinnvoller Weise und mit dem Blick nach vorn gerichtet den Willen unseres Volkes sichtbar werden zu lassen. Nichts wird uns dabei, auch wenn wir uns mit den vielen kleinen Fragen befassen — das läßt sich so leicht sagen, „kleine Fragen"; da steckt das Schicksal von Menschen darin —, nichts wird uns, auch wenn wir uns mit den kleinen Fragen der innerdeutschen Beziehungen befassen, von unserem Rechtsanspruch auf die deutsche Einheit ablenken können. Wir erinnern daran besonders nachdrücklich — und wir werden es auch in anderem Zusammenhang noch tun — in einer Zeit, in der in Moskau wieder von dem, wie es heißt, „Leninschen Grundsatz der Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten anderer Völker" die Rede ist und, wie es in diesen Erklärungen heißt, insoweit Stalinsche Methoden abgelöst werden sollen.
Dazu ist zu sagen, daß der Grundsatz der Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten eines
anderen Volkes für Deutschland und in Deutschland die Preisgabe des Regimes Ulbricht-Grotewohl-Melsheimer-Benjamin bedeuten müßte; denn dieses Zonenregime ist durch seine Existenz und durch seine Aktivität die denkbar brutalste Intervention in die inneren Angelegenheiten unseres Volkes.
Dem Selbstbestimmungsrecht als einem Grundrecht im Zusammenleben der Völker werden wir weiter Bahn zu brechen versuchen, auch dadurch, daß wir uns um die Verbindungen zwischen den Menschen in den beiden Teilen Deutschlands bemühen und indem wir die Übereinstimmung dieses unseres Strebens mit dem wohlverstandenen Interesse derer in der Welt immer wieder klarwerden lassen, denen es nicht nur um fromme Sprüche zu tun ist, sondern denen es mit uns zu tun ist um die Ordnung in Europa und um den Frieden in der Welt.