Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Lassen Sie mich für die Fraktion der Freien Demokraten zu der Großen Anfrage sämtlicher Fraktionen des Hauses in Kürze das Folgende ausführen. Ich habe nicht die Absicht, zu wiederholen, was meine Herren Vorredner hier schon gesagt haben, und zwar weil ich in der Lage bin, festzustellen, daß ein wesentlicher Unterschied in fast allen Fragen nicht besteht. Es ist hier eine der erfreulichen Tagesordnungen des Hauses gegeben, in denen eine einheitliche Meinung des gesamten Deutschen Bundestages zum Ausdruck kommen kann. Ich möchte glauben, daß gerade das der Sinn der heutigen Sitzung und letzten Endes der Sinn dieser Großen Anfrage gewesen ist.
Worauf es uns hier ankommt, meine Damen und Herren, das ist, heute eine Hand auszustrecken, eine Hand des guten Willens, in der Hoffnung, daß sie auf der andern Seite ergriffen wird, im Interesse der Erleichterung der Lebensführung unserer 18 Millionen Brüder und Schwestern, die nicht gleich uns in der Lage sind, frei über das zu sprechen, was ist. Ich werde auch nicht der Versuchung erliegen, hier eine Frage der Weltpolitik anzuschneiden, d. h. das Thema Wiedervereinigung zu erörtern, das heute nicht zur Diskussion steht. Auch meine Herren Vorredner der bisher zu Wort gekommenen Fraktionen haben ausgeführt, daß das heute nicht möglich ist. Ich sehe darin einen wesentlichen Fortschritt in der augenblicklichen Situation. Denn die übereinstimmende Meinung geht doch dahin, daß die Frage der Wiedervereinigung im eigentlichen Sinne als Lösung der deutschen Frage im Moment nicht wesentlich gefördert werden kann, nachdem auf der ersten Genfer Konferenz durch die erste Garnitur, durch die Regierungschefs selber, festgestellt worden ist, daß sie nicht zu einer Einigung kommen konnten. Die Frage, die ja nicht für sie lebenswichtig war, aber
für uns, wird trotzdem niemals von der Tagesordnung des Deutschen Bundestages verschwinden.
Wenn wir der Überzeugung sind, daß eine gewaltsame Lösung nicht möglich ist — darin weiß ich mich einig mit allen Parteien dieses Hauses dann bleibt ja nur der Weg der Verhandlung. Und wenn nun festgestellt worden ist, daß auf dem Verhandlungswege über diese Frage im Augenblick nichts erreicht werden kann, wie wir das in der Tat immer wieder hören und lesen, dann gibt es nur eine dritte Möglichkeit, nämlich die der geduldigen Vorbereitung eines Zustandes, in dem sich die Dinge allmählich so gestalten, daß später von einer clausula rebus sic stantibus gesprochen werden kann, von der berühmten normativen Kraft des Faktischen. Es muß uns also möglich sein, in kleineren Schritten auf Nebenwegen einen Zustand herbeizuführen, der dann eine Übereinstimmung auch in der großen politischen Frage ermöglichen wird. Dazu soll diese Große Anfrage beitragen. Dazu soll beitragen, was der Herr Bundesminister für gesamtdeutsche Fragen hier ausgeführt hat und was nun in der Aussprache von seiten der Fraktionsvertreter erklärt werden kann.
Ich schließe mich der Auffassung aller meiner Vorredner an, daß am Anfang unserer Erklärungen, unserer Stellungnahmen die eindeutige Forderung zu stehen hat: Gebt endlich die politischen Gefangenen frei! Ich kann es mir ersparen, nach all dem, was gerade zu diesem Punkt hier gesagt worden ist, auf besondere Einzelheiten einzugehen, obwohl natürlich auch bei meiner Fraktion, bei der Fraktion der Freien Demokraten, eine Unzahl von Einzelfällen bekannt sind, die hier vorgetragen werden könnten und genauso dramatisch wirken wie diejenigen, die dem Hause bereits zu Gehör gebracht wurden. Ich möchte es also dabei belassen, daß ich für meine Fraktion erkläre: Diese Forderung und all das, was dazu gesagt worden ist, machen wir uns in vollem Umfang zu eigen, und wir werden wie die übrigen Fraktionen dieses Hauses niemals aufhören, diese Forderung als erste immer wieder vorzutragen und zur Durchsetzung zu bringen.
Ob auf irgendeine Weise durch Freilassung von politischen Gefangenen, die im Bundesgebiet noch vorhanden sind, etwas erreicht werden kann, will ich im Augenblick dahingestellt sein lassen. Wenn es aber dahin führen sollte, dann sollte kein Weg unbegangen bleiben, der zu einem solchen Ziel führen könnte.
Nun wird es natürlich, wenn es sich darum handelt, allmählich eine Anpassung, eine Entspannung, eine Milderung der Gegensätze herbeizuführen, erforderlich sein, daß die Lebenshaltung in den beiden Teilen, einerseits dem Bundesgebiet, andererseits der DDR, nicht so auseinanderklafft, wie es bisher der Fall ist. Hier müßte noch ein Wort gesagt werden, das ich bisher vermißt habe, ein Wort über die Tatsache, daß wir immer noch Tausende, Zehntausende, ja zusammengenommen Hunderttausende von Zonenflüchtlingen haben, daß deren Zustrom nicht abreißt, im Gegenteil, in der letzten Zeit noch stärker geworden ist. Solange der Unterschied in der Lebenshaltung, in der Freiheit der Person so groß ist, daß ein großer Teil der Bevölkerung des einen Gebiets sich auf dem Fluchtwege von dem ihr auferlegten Zwange frei machen muß, so lange kann natürlich nicht davon geredet werden, daß auch nur in etwa eine Anpassung denkbar wäre.
Es wäre verführerisch, an dieser Stelle darüber zu sprechen, welche Erfahrungen jedermann macht, der etwa in Berlin oder in Marienfelde an einem Notaufnahmeverfahren teilnimmt und die Gründe kennenlernt, die die Menschen dazu bringen, ihre Heimat und ihre Familien zu verlassen, was doch immerhin die schwersten seelischen Kämpfe voraussetzt, ein außerordentliches menschliches Risiko einschließt und letzten Endes auf die Dauer gesehen zu einer Entvölkerung eines deutschen Gebiets führen muß, an der uns natürlich auch nicht gelegen sein kann.
Diese Fragen also, die mit den Gefangenen und mit den Flüchtlingen aus der Zone zusammenhängen, werden in erster Linie anzugehen sein, wenn es sich darum handelt, zu einer echten Entspannung zu kommen.
Nun hat der Herr Bundesminister für gesamtdeutsche Fragen eine meiner Meinung nach äußerst dankenswerte ausführliche Antwort zu jedem einzelnen Punkt der Großen Anfrage gegeben. Ich muß es mir, vor allem im Hinblick auf die vorgerückte Zeit, versagen, zu all diesen Dingen Stellung zu nehmen, was ja auch mein Herr Vorredner nicht mehr getan hat. Aber einige Dinge bedürfen doch noch einer Hervorhebung, weil, wie ich glaube, diese Taste besonders angeschlagen werden sollte, wenn uns daran liegt, allmählich zu einer Verbesserung der Beziehungen zu kommen.
Das eine ist — es ist hier auch schon zum Ausdruck gekommen — die Verbesserung der Bedingungen des Interzonenhandels. Ich würde es durchaus begrüßen, wenn in Berlin die Verwaltungsstellen des Interzonenhandels ausgebaut werden könnten. Denn es ist nicht etwa so, daß durch eine Einschränkung der Handel zwischen dem Bundesgebiet und der DDR verhindert werden könnte; es besteht lediglich die Gefahr, daß dann über ausländische Leitfirmen die gleichen bundesdeutschen Waren eben doch dorthin kommen, nur mit dem Unterschied, daß dann natürlich die Gewinne und die Geschäftsbeziehungen nicht unmittelbar wahrgenommen werden können, sondern, wie gesagt, über ausländische Leitfirmen. Das ist eine Frage, die uns zu beschäftigen haben wird.
Besonders aber ist es die Verkehrsfrage, die auch heute und gerade jetzt zuletzt immer wieder berührt worden ist. Zu den vielen Wünschen, die wir auf diesem Gebiet haben, gehört die endliche Wiederherabsetzung der Autobahngebühren, die insbesondere von dem Berliner Senat mit allen Mitteln angestrebt, aber nicht erreicht worden ist. Zu diesen Fragen gehört auch der Flugverkehr, von dem bisher noch nicht die Rede war. Sie wissen, meine Damen und Herren, daß es nicht möglich ist, mit einem deutschen Flugzeug, d. h. mit der Deutschen Lufthansa nach Westberlin und nach der DDR zu gelangen. Es ist der Deutschen Lufthansa nicht gestattet, Berlin anzufliegen. Abgesehen davon, ist dies überhaupt ein sehr ernstes Thema, weil die ausländischen Maschinen, die zur Verfügung gestellt werden, bei weitem nicht ausreichen. Es ist, wie ich höre, schon so, daß auf der meistbeflogenen Strecke nach Hannover insbesondere die verbilligten Nachtmaschinen schon bis in den August hinein ausverkauft sind, so daß einem wesentlichen Teil der Berliner Bevölkerung kein anderer Ausweg bleibt, als sich entweder der Autobahn oder der Eisenbahn zu bedienen, mit all den Schwierigkeiten, mit all den Aufenthalten, mit all den Risiken, von denen wir
hier ja gehört haben und die sowohl an der Berliner Zonengrenze als auch in Helmstedt bestehen. Wir können natürlich nicht mehr tun, als daß wir die Bundesregierung oder im Rahmen der Zuständigkeit den Senat von Berlin ermuntern oder ermahnen, in ihren Anstrengungen nicht zu erlahmen, gerade auf dem Gebiet des Verkehrs das Möglichste zu erreichen.
Wenn ich hier — und Sie werden mir als Berliner das gestatten — noch einiges zu den besonderen Problemen dieser Stadt sage, dann möchte ich meinen — und hier befinde ich mich etwas im Gegensatz zu dem, was vorher gesagt worden ist -, daß man eigentlich mit der Auflockerung am besten und am einfachsten in Berlin beginnen sollte und könnte. Wenn man zum Reichskanzlerplatz fährt — er heißt immer noch nicht Bundeskanzlerplatz, Herr Regierender Bürgermeister! —, dann kommt man normalerweise am Funkhaus in der Masurenallee vorbei, das sich ja viele Jahre hindurch gerade gegenüber der britischen Besatzungsmacht befunden hat. Dieses an sich durchaus geeignete Zweckgebäude steht seit soundso viel Jahren vollkommen leer, verkommt innen und außen, obwohl es für unsere Zwecke außerordentlich geeignet wäre. Sollte es nicht möglich sein, bei einigem guten Willen hier eine Vereinbarung zu erreichen, da dies keinerlei Verzicht für die sowjetzonalen Behörden bedeuten würde, die ja von diesem Gebäude gar keinen Gebrauch machen? Wir haben etwas Ähnliches seinerzeit mit dem Verwaltungsgebäude der Reichsbahn am Anhalter Bahnhof erlebt. Dort ist ja ein Versuch gemacht worden, zu einer etwas gewaltsamen Lösung zu kommen, die natürlich nach wenigen Tagen zum Scheitern verurteilt war. Auch hier handelt es sich um Enklaven, die der Gegenseite absolut nichts nützen, während sie für uns in Westberlin von großem Nutzen sein könnten.
Das sind natürlich nur Beispiele für Beweise des guten Willens, die vorhanden sein müßten, wenn wir mit der Großen Anfrage und mit der Erwiderung Erfolg haben wollen. Der Sinn der ganzen Debatte, die wir heute haben, ist doch, wenn es schon nicht im Großen möglich ist, dann wenigstens auf Einzelgebieten, die lokale Bedeutung haben, zu einem Ausgleich zu kommen, und schon das würde in der gegenwärtigen Situation ein wesentlicher Fortschritt sein. Meine Damen und Herren, wir dürfen der Auffassung sein, daß mit einer Politik der Stärke, die nach Lage der Dinge im wesentlichen nur eine Politik der starken Worte sein kann, auf Jahre hinaus ein Erfolg sowieso nicht zu erzielen ist. Wenn diese Überzeugung Allgemeingut ist, bleibt uns nur übrig, hier immer wieder durch Vorleistungen, durch ständige Versuche, durch Kontakte, die natürlich technischer Art sein müssen, eine Erleichterung für die Bevölkerung in der Ostzone und in Ostberlin zu erreichen.
Worauf kommt es an? An der Spitze aller Bemühungen, mit denen wir heute beginnen wollen, muß unser Ziel stehen, endlich die Vereinigung in Freiheit zu erreichen. Wir wissen, daß es hier Bedingungen gibt, die wir niemals erfüllen werden, wozu unfreie Wahlen, wozu ein unmittelbarer Kontakt mit Pankow gehören. Aber davon abgesehen gibt es eine ganze Reihe anderer Dinge, die heute besprochen worden sind und die sehr wohl eine Einigung ermöglichen würden. Voraussetzung dafür ist natürlich, daß auf beiden Seiten die Absicht einer friedlichen Lösung besteht und nicht diejenige
einer Verwandlung dessen, was man bisher den Kalten Krieg genannt hat, in einen „heißen" Krieg. Ich möchte glauben, daß diese Absicht auf beiden Seiten nicht besteht. Wenn es also darum geht, auf friedlichem Wege zunächst ein Nebeneinander als Vorbereitung zu einem Miteinander zu schaffen, dann sollten wir uns über eines klar sein: Falls man diesen Frieden will, kann nicht das Wort gelten: Si vis pacem, para bellum, das immer wieder genannt wird, sondern dann sollten wir sagen: Si vis pacem, para pacem. Allein in dieser Entscheidung, in dieser Haltung sehe ich, und zwar für eine längere Zeit, einen Ausweg, der das vorbereitet, was unserem Ziel näher kommt, nämlich die Wiedervereinigung in Frieden und Freiheit.