Rede von
Ernst
Lemmer
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(CDU/CSU)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CDU)
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Beantwortung der Fragen, die der Deutsche Bundestag an die Bundesregierung gerichtet hat, wie der bisherige Verlauf der Debatte haben gezeigt, daß in den meisten, in wesentlichen Fragen eine Übereinstimmung zwischen allen Teilen dieses Hauses besteht. An die Fragen, in denen sich keine volle Übereinstimmung gezeigt hat, an dieser Stelle und in diesem Zusammenhang eine Polemik anzuknüpfen, wäre wohl politisch nicht zweckmäßig.
Ich denke daran, daß eine nahezu verzweifelte deutsche Bevölkerung jenseits der tragischen Demarkationslinie mit neu geweckten Hoffnungen auf den Verlauf der heutigen Bundestagssitzung blickt. Das allein schon legt uns gemeinsam eine
außerordentlich schwere Verantwortung auf. Die Fragen und die Antwort haben meines Erachtens dreierlei gezeigt. Sie haben die Bereitschaft dieses Hauses und der Bundesregierung gezeigt, sich auch bis in die letzten Details hin für die Lage der mitteldeutschen Bevölkerung verantwortlich zu fühlen. Die Detaillierung der Problematik ist aus dem Grunde erfolgt, unsere Bereitschaft erkennen zu lassen, das Menschenmögliche zu tun, um die tragische Lage dieses deutschen Bevölkerungsteils zu erleichtern.
Fragestellung und Antwort sind aber auch realistisch gehalten. In diesen Impulsen für ein besseres Neben- und Zusammenleben deutscher Menschen ist keine illusionäre Politik enthalten. Zweifellos ist die Absicht, zu prüfen, was zur Erleichterung dieser Lage möglich ist, ganz illusionslos.
Der Tenor der Fragestellung und der Antwort darf als Ausdruck eines guten Willens gewürdigt werden. Wenn die andere Seite, auf die es ankommt, guten Willens sein sollte — was wir bisher nicht feststellen konnten —, dann wird sie aus der sorgsam formulierten Antwort der Bundesregierung herauslesen können, in welchem Umfang die Bundesregierung bereit ist — nicht im Interesse dieses Pseudostaates, sondern im Interesse der leidenden Bevölkerung —, ihrerseits keinen Beitrag schuldig zu bleiben.
Aber auch die Perfektionierung aller der Wünsche, Anregungen und Forderungen, wie sie in den 23 Fragen enthalten sind, würde uns nicht die Erlaubnis geben, uns in politischer Saturiertheit zur Ruhe zu begeben. Denn auch die beste Normalisierung des innerdeutschen Verkehrs und des unpolitischen Zusammenlebens deutscher Menschen kann nicht als die Lösung der deutschen Frage angesehen werden. Es gibt wohl eine Normalisierung des äußeren Lebens, es gibt aber keine Normalisierung für die Existenz unseres Volkes, ohne daß die Kluft an der Demarkationslinie bei Helmstedt und am Brandenburger Tor durch eine gesamtdeutsche Konstruktion in Freiheit überwunden worden ist.
Lassen Sie mich in dem Gesamturteil noch zum Ausdruck bringen: der ganze Jammer deutscher Wirklichkeit konnte kaum erschütternder als in diesen Fragen nach absoluten Selbstverständlichkeiten zum Ausdruck gekommen sein.
Wir meinen daher, daß es im zwölften Nachkriegsjahr auch im Wissen um unsere historische Verantwortlichkeit für das, was entstanden ist, die höchste Zeit wäre, wenn schon die Probleme der großen Politik selber im Augenblick noch nicht lösbar erscheinen, mit einem Aufgebot an gutem Willen und gesundem Menschenverstand wenigstens dazu beizutragen, daß zwischen Görlitz und Aachen und Konstanz und Rostock Verkehrsmöglichkeiten geschaffen werden, wie sie in jedem zivilisierten Lande als Selbstverständlichkeit angesehen werden.
Lassen Sie mich ein Wort zu der Frage der Gefangenen aussprechen. Ich bin mit meinem Vorredner der Ansicht, daß man, wenn es um Menschenschicksale geht, seine Position möglichst un-doktrinär beziehen sollte. Lassen Sie mich Ihnen mit schlichten und redlichen Worten sagen, wie ich ohne komplexe Gedanken ganz einfach dazu
gekommen war, auch meinerseits diese Frage in der Öffentlichkeit anzusprechen.
Wir haben feststellen müssen — wir wollen das gar nicht leugnen —, daß in den letzten drei Jahren einige tausend Häftlinge aus dem sowjetzonalen Gewahrsam entlassen worden sind. Die kommunistische Propaganda hat daran eine große Kampagne geknüpft, um nun mit dem Ruf nach Freigabe ihrer Gefangenen in der Bundesrepublik davon abzulenken, daß eine weitaus größere Zahl, wie wir gehört haben, 18 000 unserer Brüder und Schwestern, auch heute noch drüben der Freiheit beraubt sind. Als ich durch einen Zufall zur Kenntnis nehmen konnte, in welchem Umfang sich kommunistische Gesinnungstäter — vielleicht ist das der genehmere Ausdruck als „politische Gefangene" — in westdeutschen Gefängnissen befinden, habe ich feststellen müssen, daß es gerade über eine dreistellige Zahl hinausgeht.
— Noch weniger! Ich bin dankbar für diesen Zuruf, weil er, Herr Bundesminister, meine Empfehlung noch mehr rechtfertigt, hier nicht kleinlich, sondern großzügig zu sein.
Es geht um das Schicksal von 18 000, und ich muß als ein Mann, der neben Jakob Kaiser drei Jahre die politische Führung meiner Freunde in der Zone gehabt hat, an unsere zahlreichen namentlich bekannten Weggenossen und Kameraden denken, die mir wertvoller sind als die paar Dutzend Kommunisten in westdeutschen Gefängnissen!
— Provozieren Sie mich nicht zu einer unfreundlichen Bemerkung!
Wenn wir also der Meinung sind, daß hier ein Akt politischer Klugheit und zugleich ein Akt der Menschlichkeit geboten wäre, lassen Sie mich, mit der feinen Unterscheidung — ich wiederhole es — zwischen Gesinnungstätern und Kriminellen, meinen Dank anfügen an die deutsche Presse und an den deutschen Rundfunk, die mein Anliegen nicht der Person, sondern der Sache wegen in den letzten Wochen so gut unterstützt haben.
Die Reaktion jenseits des Brandenburger Tores hat meine Erwartungen bestätigt. Nach längerem, offenbar von Verlegenheit bestimmtem Schweigen entschloß sich der Präsident der ostzonalen Republik, in einem Brief an den Bundespräsidenten von dem Kern der Dinge abzulenken, indem er ausschließlich von dieser Handvoll sogenannter politischer Gefangener in der Bundesrepublik sprach. Nicht ein Wort in diesem doch wohl nur propagandistisch gemeinten Dokument, das an die Bereitwilligkeit hätte erinnern können, auch drüben der Vernunft und der Menschlichkeit in ausreichendem Maße zu folgen!
Schließlich haben wir gestern aus dem Munde des ostzonalen Ministerpräsidenten Grotewohl vernommen, was seine Regierung zu dieser uns so ernst bewegenden Angelegenheit nunmehr zu sagen hat. Er weist zunächst die Behauptung in
Westdeutschland, wie er sagt, zurück, daß die Strafverbüßung solcher Leute, die sich gegen die Gesetze der DDR vergangen hätten — „und andere Inhaftierte gebe es nicht" —, der Verständigung der beiden deutschen Staaten entgegenstehe. Meine Damen und Herren, in der Bundesrepublik ist kein einziger Kommunist wegen seiner Gesinnung Verfolgungen ausgesetzt gewesen, während im sowjetzonalen Bereich die erkennbare Gesinnung bereits genügt, um Tausende zu politischen Gefangenen werden zu lassen.
Zweifellos hat die Bundesregierung mit ihrem ausdrücklichen Hinweis recht — dem auch die Opposition gewiß in keiner Weise widersprechen wird, ohne nun das eine oder andere Urteil westdeutscher Gerichte im einzelnen zu werten -, daß jedenfalls in der Bundesrepublik auch politische Delikte nur nach den Grundsätzen absoluter Rechtsstaatlichkeit geahndet worden sind.
Nun aber fährt Herr Grotewohl fort:
Aber die Freilassung von Gefangenen ist für uns kein Handelsobjekt. Mit der Präsentierung sogenannter Freilassungslisten ist überhaupt nichts zu erreichen.
Sehr bemerkenswert! Daß Herr Grotewohl diese Äußerung getan hat, daß er aus seiner Orthodoxie heraus keine Maßstäbe findet für einen fairen, soliden und freien Handel als einer Funktion des gesellschaftlichen Lebens, vermag ich zu verstehen. Aber ich darf Herrn Grotewohl versichern, daß niemand von uns, auch nicht mein verehrter Vorredner, in diesem Zusammenhang an ein Handelsgeschäft gedacht hat. Was uns vorschwebt, ist, daß Gesten, zwingende Gesten guten Willens gemacht werden, und ich bin sicher, daß nach der Beantwortung der diesbezüglichen Frage auch die Bundesregierung bereit sein wird, einzelne Fälle zu prüfen und festzustellen, wie weit ein Gnadenerlaß empfohlen werden könnte, um auf diese Weise zum Abbau des Leides zu kommen.
Von einem Handelsgeschäft ist in keinem Zusammenhang die Rede gewesen.
Nun, meine Damen und Herren, lassen Sie mich noch einen letzten Punkt auch nur mit wenigen Worten erläutern, weil die Geduld dieses Hauses, die Zeit und auch die Ausdauer des Herrn Bundeskanzlers nicht mehr als notwendig strapaziert werden sollen. Ein Wort zu den Berliner Fragen. Lassen Sie mich nur zwei herausgreifen, die ich allerdings für besonders wesentlich und auch symptomatisch halte. Das eine Wort gilt der Sperrung der Westberliner Sektoren- und Zonengrenzen nach dem natürlichen Hinterland dieser Stadt. In diesem Zusammenhang wurde auf die 40 000 Kleingärtner hingewiesen, die seit 1952 von ihren Grundstücken verbannt sind. Wer einmal in Berlin gelebt hat — ich möchte optimistischerweise glauben, daß das sogar bei dem größeren Teil dieser Versammlung irgendwann einmal der Fall war —, der weiß, welche Rolle im sozialen Leben der Millionenstadt die Schrebergärten am Stadtrand spielen. Die Schrebergärtner mit ihrer Freude an der Natur sind die kleinsten und harmlosesten Menschen. Es ist eine wahre Unmenschlichkeit, diese braven Menschen von ihren Schrebergärten auszuschließen.
Es geht aber nicht nur um die Schrebergärten. Wer in diesen schönen Frühlingstagen an einem Wochenende in Berlin lebt oder in Berlin sein muß, den wird es aufs tiefste bedrücken, daß 2,2 Millionen Berliner keine Möglichkeit haben, in die Naturschönheiten ihrer so nahe gelegenen märkischen Heimat zu gelangen. Wir sind in den Wohnblocks, den wenigen Freiflächen und in den Ruinenfeldern, die es immer noch gibt, gewissermaßen interniert. Ich möchte nicht verhehlen, daß für die meisten meiner Mitbürger wie auch für mich selbst die Verweigerung des Auslaufs in die Natur der Umgebung der Stadt seelisch außerordentlich bedrückend ist. Zur Politik des guten Willens, von der auch Herr Grotewohl gesprochen hat, würde beispielsweise gehören, daß man ohne technische Kontakte in Ostberlin verfügt, der Westberliner Bevölkerung, wenn ihr vorläufig auch keine Passierfreiheit für die Zone selbst gewährt werden soll, wenigstens die Möglichkeit zu geben, sich innerhalb des Autobahnringes allein mit ihrem Personalausweis frei und ungefährdet zu bewegen.
Solche Möglichkeiten gibt es viele. Eine, die ich von der Berliner Situation her auch für nicht unwesentlich halte, ist die, den Interzonenverkehr zwischen Westberlin und dem Gebiet der Bundesrepublik noch mehr als bisher zu erleichtern. Ich geniere mich nicht, wahrheitsgemäß festzustellen, daß die ostzonalen Polizei- und Zollbeamten seit längerer Zeit keine besonderen Schwierigkeiten machen, daß sie sich vielmehr durchaus bemühen, den Verkehr auf Grund ihrer komplizierten Direktiven so schnell und so einfach wie möglich abzuwickeln. Warum soll man diesen Männern nicht auch einmal diese Anerkennung aussprechen! Aber auch der beste Wille dieser untergeordneten Organe reicht nicht aus.
Das Passieren des Zonengebiets von Berlin her und umgekehrt, insbesondere in der Sommerzeit, bleibt nach wie vor eine wahre Strapaze. Wenn Sie am Wochenende etwa mit einem Auto oder Omnibus Berlin verlassen wollen, müssen Sie sich mit einer vielstündigen Wartezeit in Babelsberg und dann auch noch einmal in Marienborn abfinden, und umgekehrt ist es dasselbe.
Auch der Eisenbahnverkehr, der zweifellos wesentlich korrekter und hilfsbereiter als vor Jahren für die Reisenden durchgeführt wird, läßt trotzdem noch viel zu wünschen übrig. Was geschehen könnte, meine Damen und Herren, darf ich aufzeigen, indem ich nur zwei Sätze aus ostzonalen Blättern der letzten Tage, aus einem Artikel „Am Fenster des Saßnitz-Expreß — Neue Schienenverbindung mit Schweden" mit Erlaubnis des Herrn Präsidenten hier vortrage. Da heißt es wörtlich:
Im Interzonenverkehr ist es keine Besonderheit, wenn die Deutsche Reichsbahn
— das ist die ostzonale —
Schienenwege der Bundesbahn benutzt. Doch mit dem FDT 129, dem Saßnitz-Expreß, hat es eine andere Bewandtnis. Er hält im Gegensatz zu Interzonenzügen nur wenige Minuten in Gutenfürst, zu seiner Abfertigung erscheinen keine Vertreter des Zolls, und die Grenzpolizei sichtet keine Pässe, Personalausweise und Einreisegenehmigungen.
Welch ein unvorstellbares Paradies für die gequälten Reisenden von und nach Berlin würde entstehen, wenn für den Interzonenverkehr zwischen Deutschen die gleiche Eleganz der Großzügigkeit gezeigt würde wie bei der Behandlung des Skandinavien-Expreß von Malmö nach Innsbruck und nach Mailand!
Ich habe in der vorgesehenen Ergänzung der Ausführungen meines Freundes Brookmann den Standpunkt meiner Fraktion zu diesem Fragenkomplex zum Ausdruck zu bringen versucht. Lassen Sie mich der Erwartung Ausdruck geben, daß das, was sich hier an Übereinstimmung des Willens zeigt, auch durch Ideen, Phantasie und Initiative realisiert werden möge.
Der Versuchung, in diesem Zusammenhang zu dem Hintergrund der Wiedervereinigungspolitik Stellung zu nehmen, bin ich nicht erlegen; dazu werde ich mich bei anderer Gelegenheit äußern.
Ich habe eingangs unserer Landsleute in den Ländern Mitteldeutschlands gedacht und schließe jetzt mit der Überzeugung, daß sich der Deutsche Bundestag über alle seine Fraktionsgrenzen hinweg einig ist in der Bereitschaft zur ungeteilten Verantwortung für unsere Landsleute in der Zone.