Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Für meine politischen Freunde von der Demokratischen Arbeitsgemeinschaft habe ich die Erklärung abzugeben, daß auch wir mit allem
Nachdruck darauf hinweisen, daß bisher die Machthaber der Sowjetzone über unverbindliche Erklärungen hinaus keine hinreichenden Beweise ihres Willens zur Durchführung der entsprechenden Maßnahmen nach den Erklärungen von Spitzenfunktionären auf der dritten Parteikonferenz der SED im März dieses Jahres in Ostberlin gegeben haben und daß bisher noch keine grundsätzlichen Ansätze zu erkennen sind, die auf einen echten Gesinnungswandel der Machthaber der Sowjetzone und der das politische Leben in der Sowjetzone bestimmenden SED schließen lassen. Ich werde das im Laufe meiner Ausführungen an Hand von Beispielen erhärten, die Gebiete des öffentlichen Lebens in der Sowjetzone berühren, welche heute noch nicht angesprochen sind. Ich bin gebeten worden, mich wegen der vorgeschrittenen Zeit kurz zu fassen. Ich will das tun und will nur zu dem Punkt der Großen Anfrage sprechen, zu dem, glaube ich, noch etwas gesagt werden muß.
In Teil I Ziffer 9 der Großen Anfrage wird danach gefragt, ob es zutrifft, daß seit Anfang dieses Jahres durch die Bildung von „Produktionsgenossenschaften" der Druck auf das Handwerk verschärft worden ist. Die Bundesregierung hat in ihrer Antwort diesen Tatbestand bejaht. Ihren Ausführungen ist mit Bezug auf das Handwerk nichts hinzuzufügen. Aber das Gebiet der betroffenen Wirtschaft umfaßt ja nicht nur das Handwerk. Es ist heute von einer öffentlichen Bestandsaufnahme gesprochen worden, die in bezug auf die Sowjetzone durchgeführt werden müsse. Da müssen wir doch auch fragen, ob in den Bereichen der privaten Wirtschaft, die in der Sowjetzone noch bestehen, in der Landwirtschaft, in der privaten Industrie und im privaten Handel diese Grundsätze, die auf der dritten Parteikonferenz verkündet worden sind, auch tatsächlich zur Anwendung kommen. Wir müssen das Gegenteil feststellen. Gerade in den letzten Monaten wurde deutlich, daß die SED zu immer brutaleren und hinterhältigeren Methoden übergeht, um die Liquidation der noch bestehenden Privatbetriebe einzuleiten und durchzuführen. Das Unrecht, das in der Zone geschieht, äußert sich nicht allein darin, daß Menschen in die Zuchthäuser und in die Gefängnisse geworfen werden; das Unrecht geschieht auch laufend dadurch, daß Existenzen vernichtet werden, und es geschieht durch die Methoden dieser Existenzvernichtung. Über diese Methoden möchte ich hier zu Ihnen kurz sprechen. Ich bitte nochmals um Verständnis dafür, daß ich wegen der Kürze der Zeit auf all die anderen Fragen, die in der Großen Anfrage berührt sind und die auch uns, besonders nach der Antwort der Bundesregierung, zutiefst bewegen, vor allem das Schicksal der Gefangenen, hier nicht eingehe.
In wirtschaftlicher Hinsicht hat sich auf dem Gebiet der Landwirtschaft nach der Beendigung des 3. Parteitages der SED in der Sowjetzone nichts geändert. Nach wie vor wird die Kolchosierung der Landwirtschaft vorangetrieben, und die Geheimanweisungen des Zentralkomitees der SED an die Bezirkssekretariate der SED sind nicht zurückgezogen worden. Nach diesen Geheimanweisungen soll die gesamte Landwirtschaft der Zone bis zum Ende des zweiten Fünfjahresplans 1960 zumindest zu 80 Prozent in Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften zusammengeschlossen sein.
Diese Maßnahme wird unterstützt durch die ver-
schiedensten Erleichterungen für Landwirtschaft-
liche Produktionsgenossenschaften gegenüber den selbständigen Bauern. So ist im Gesetzblatt der sogenannten DDR vom 7. Mai 1956 festgelegt, daß die Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften in der Ablieferungsnorm zur Pflichtablieferung von tierischen und pflanzlichen Produkten in den Betriebsgrößengruppen von 5 bis 10 ha veranlagt werden. Das bedeutet, daß durchschnittlich die geringste Ablieferungsnorm für die Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften festgelegt ist. Die Feststellungen haben ergeben, daß eine Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaft in der Größe von 350 ha die gleiche Menge an Markterzeugnissen aufzubringen hat wie ein bäuerlicher Betrieb in der Größe von 35 bis 50 ha.
Am 22. Januar 1955 wurden Arbeitstarife für die Maschinentraktorenstationen unterschiedlich nach den Betriebsgrößen für die zu leistenden Arbeiten festgelegt. Die Einstufung erfolgte in Tarifgruppen von I bis IV und wurde aufgegliedert nach Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften, Betrieben von 0 bis 10 ha, 10 bis 20 und über 20 ha landwirtschaftlicher Nutzfläche. Danach hat die Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaft für das Pflügen über 25 cm Tiefe 19 Mark je Hektar zu zahlen, während die Wirtschaften über 20 ha landwirtschaftlicher Nutzfläche 41 Mark je Hektar zahlen müssen. Das bedeutet eine Bevorzugung der Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften gegenüber den selbständigen Bauern mit einem Besitz von über 20 ha, eine Beorzugung von über 100 %.
In der gleichen Weise sind auch die anderen landwirtschaftlichen Arbeiten gestaffelt worden. Alle entsprechenden Anweisungen sind nicht aufgehoben worden. Nach wie vor besteht die Anweisung, daß selbständigen Bauern keine Arbeitskräfte zu vermitteln sind und die sogenannten „freiwilligen Arbeitseinsätze" an Sonn- und Feiertagen Arbeiten bei selbständigen Bauern nicht verrichten dürfen. Ebenfalls haben die staatlichen Kreiskontore für landwirtschaftlichen Bedarf noch immer die Anweisung, daß den selbständigen Bauern keine Großmaschinen wie Traktoren, Dreschmaschinen, Melkanlagen usw., zugeteilt werden dürfen, da diese Produktionsmittel ausschließlich für die Maschinentraktorenstationen oder die Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften bestimmt sind. In der Geheimanweisung vom 29. Dezember 1952 werden den Mitgliedern, die einer Produktionsgenossenschaft beigetreten sind, neben der Einkommensteuer, der Umsatz- und der Vermögensteuer die Grundsteuer und die sonstigen gemeindlichen Steuern zu 25 % gestrichen. Auch diese Anweisung besteht nach dem 3. Parteitag weiter und wird auch weiterhin durchgeführt. Das waren nur einige Beispiele aus der Landwirtschaft; sie könnten beliebig vermehrt werden. Die Willkür- und Unrechtsmaßnahmen in der Landwirtschaft der sowjetischen Besatzungszone, die 1945 mit der Durchführung der Bodenreform sehr schnell Formen annahmen, denen jede gesetzliche Grundlage fehlte, sind bis zum heutigen Tage fortgesetzt und immer weiter entwickelt worden.
Auch in der sonstigen privaten Wirtschaft, in der Industrie und im Gewerbe, sind Willkür und Unrecht und Existenzvernichtung auch nach den entgegengesetzten Ankündigungen auf dem 3. Parteitag der SED gang und gäbe. Nur die plumpen
Methoden der Enteignung nach 1945 haben sich geändert, und es sind immer raffiniertere und immer hinterhältigere Methoden der Existenzvernichtung entwickelt worden.
Das Neueste ist die staatliche Kapitalbeteiligung an Privatbetrieben. Die erste Andeutung über eine staatliche Kapitalbeteiligung tauchte in den Beschlüssen des 25. Plenums des Zentralkomitees der SED im Oktober 1955 auf. Seitdem wurde seitens der SED die staatliche Kapitalbeteiligung bei volkswirtschaftlich wichtigen Privatbetrieben immer stärker in den Vordergrund gestellt. Die Sowjetzonenparteien, die Industrie- und Handelskammern der Zone, die sowjetzonalen Banken und Verwaltungen haben diese Methode sehr stark propagiert. Angestrebt wird eine staatliche Kapitalbeteiligung über die Investitionsbank, wobei der Kapitalanteil des Staates mindestens 50 % betragen soll. Der Unternehmer verliert damit seine Selbständigkeit. Er wird Angestellter des Betriebs. Der Betrieb selbst gilt dann als dem Volkseigentum gleichgestellt.
In den letzten Wochen ist seitens offizieller Organe der Zone offen erklärt worden, daß diese Kapitalbeteiligung einen weiteren Schritt zum Sozialismus bedeute und daß die Betriebe endlich einsehen müßten, daß nur dieser Weg über die Kapitalbeteiligung geeignet sein könne, die Existenz der Betriebe überhaupt auf die Dauer zu erhalten.
Zahlreiche Betriebe haben einen Kapitalbedarf, aber sie lehnen nach Möglichkeit diese Form der staatlichen Kapitalbeteiligung ab. Die Folge war, daß man in den letzten Wochen zu erheblichen Zwangsmaßnahmen überging, einmal, indem man Kredite, die durch die staatlichen Banken der Zone gegeben waren, in staatliche Kapitalbeteiligungen umwandelte, und zum andern, indem die Unterabteilung Abgaben der Finanzverwaltung sogenannte steuerliche Tiefenprüfungen durchführte und mehr oder weniger willkürlich hohe Steuerfehlbeträge errechnete. Entweder raten dann die Tiefenprüfer der Abgabenverwaltung dem Unternehmer unmittelbar zur Aufnahme einer staatlichen Kapitalbeteiligung — wobei die festgesetzten Steuermehrbeträge in der Regel 51 % des Gesamtkapitals des Unternehmens ausmachen —, oder aber die Betriebsprüfer wenden sich mit Unterstützung der sowjetzonalen gewerkschaftlichen Organisation an die Arbeiterschaft des privaten Unternehmens, halten dieser die Forderung des staatlichen Haushalts vor und drohen mit Liquidierung des Betriebes und damit Verlust des Arbeitsplatzes. Sie wollen dadurch die Arbeiter veranlassen, einen Druck auf diese privaten Unternehmer auszuüben und sie zu einer staatlichen Kapitalbeteiligung zu zwingen.
Ganz allgemein verschärft sich die Kontrolle des privaten Unternehmers in der Zone in den letzten Monaten in einer bisher nicht zu verzeichnenden Weise. Der sowjetzonale Freie Deutsche Gewerkschaftsbund ist in letzter Zeit dazu übergegangen, sogenannte Arbeiterkontrolleure in den Privatbetrieben auszuwählen und sie für die Durchführung bestimmter Aufgaben zu schulen. Die hauptsächliche Aufgabe besteht darin, den privaten Unternehmer in seiner geschäftlichen Praxis ebenso wie in seiner Lebenshaltung ständig zu überwachen. Praktisch schafft sich damit die sowjetzonale Gewerkschaft einen eigenen Spitzelapparat in den Privatbetrieben und veranlaßt die Arbeitnehmer zur Spitzeltätigkeit bzw. zur Denunziation
der Unternehmer. Dieser Arbeiterkontrolleure bedienen sich auch die Tiefenprüfer der Unterabteilung Abgaben. Die Betriebsprüfer der Abgabenverwaltung wurden Ende Februar beauftragt, auch von sich aus die Anwerbung derartiger Arbeiterkontrolleure in den Privatbetrieben vorzunehmen. In einer vorliegenden Anweisung heißt es:
Die Betriebsprüfer sind so anzuleiten, daß sie selbst fortschrittliche Werktätige in den Betrieben für die Mitarbeit werben.
Weiter ist in der gleichen Anweisung gesagt, daß die Betriebsprüfer der Abgabenverwaltung eine ständige Verbindung zum FDGB unterhalten und daß anzustreben ist, daß auch der FDGB versucht, in stärkerem Maße als bisher Arbeiterkontrolleure zu werben.
Darüber hinaus sollen die Betriebsprüfer in Zukunft auch die sogenannten Abschnittsbevollmächtigten der Volkspolizei und die Straßenvertrauensleute zu den Prüfungen der Privatbetriebe heranziehen. In einer vorliegenden Unterlage vom 6. März 1956 sind diesbezüglich den Betriebsprüfern der Abgabenverwaltung Aufgaben gestellt, als deren Erfüllungstermin der 31. März 1956 festgestellt wurde. Punkt 3 dieser Anweisung betrifft die Schulung der Abschnittsbevollmächtigten der Volkspolizei. Dabei werden neue Prüfmethoden der Abgabenverwaltung erläutert.
Mit diesen Dingen ist nichts anderes zum Ausdruck gebracht, als daß in Zukunft die Finanzprüfer der Abgabenverwaltung Auskünfte bei den Arbeiterkontrolleuren in den Privatbetrieben, bei den Abschnittsbevollmächtigten der Volkspolizei und bei den Hausvertrauensleuten der „Nationalen Front" einholen. Es versteht sich von selbst, daß dabei nicht nur sachliche Dinge erörtert werden, sondern damit der Diffamierung und Denunziation Tür und Tor geöffnet werden, ja daß diese sogar besonders gefördert werden. Aus Auskünften von Angestellten der Abgabenverwaltung geht hervor, daß die Arbeiterkontrolleure die Anweisung haben, auf alle Kleinigkeiten innerhalb des Betriebes zu achten, z. B. darauf, welche Zeitungen der Unternehmer liest, ob er Westkorrespondenz empfängt, ob er westdeutsche Besucher empfängt, ob er bestimmte Waren ohne Rechnung verkauft, wer mit ihm innerhalb des Betriebes besonders eng und vertrauensvoll zusammenarbeitet, wie die Lebenshaltung des Unternehmers ist, ob er Gasthäuser und Cafés aufsucht, ob er den Geschäftswagen zu Privatfahrten benutzt, woher er das Benzin dafür bekommt usw. usw.
Der Abschnittsbevollmächtigte der Volkspolizei soll Angaben über die politische Haltung des Unternehmers machen, ob er zu den nationalen Feiertagen das Haus schmückt, ob die Ehefrau des Unternehmers gegebenenfalls gehässige Äußerungen beim Einkauf macht und dergleichen. In ähnlicher Richtung bewegen sich auch die Anweisungen für die Haus- und Straßenvertrauensleute.
Seit März 1956 steht die gesamte Privatwirtschaft in der Sowjetzone im Zeichen einer neuen Entwicklung. Einmal sind die Betriebe ohne Ausnahme in das staatliche Vertragsverfahren eingeschaltet, andererseits werden ihnen systematisch Aufträge entzogen und wird damit zwangsläufig die Liquidation der Betriebe verursacht. Es handelt sich dabei nicht etwa um Einzelmaßnahmen, sondern um systematische und von zentraler Stelle aus gelenkte Maßnahmen der Regierung der SBZ.
Es hat mir ein Fernschreiben des Ostberliner Magistrats vom 15. Januar 1956 vorgelegen, das ich mit Erlaubnis des Herrn Präsidenten hier verlesen darf. Es heißt darin wörtlich:
Die Schaffung der Grundlagen des Sozialismus verlangt die schnelle Entwicklung der volkseigenen Wirtschaft und die Steigerung ihres Anteils an Produktion und Warenumsatz.
Entgegen diesem Grundsatz haben verschiedene Dienststellen des Magistrats ohne zwingende Notwendigkeit Aufträge an Privatbetriebe vergeben.
Ich weise darauf hin, daß es zu den selbstverständlichen Pflichten aller Organe der Staatsmacht, ihrer nachgeordneten Dienststellen und Einrichtungen gehört, Aufträge aller Art grundsätzlich nur an volkseigene oder genossenschaftliche Betriebe zu erteilen. Eine andere Handlungsweise ist eine Verletzung des Grundsatzes, daß alle Mitglieder der Organe der Staatsmacht jederzeit die Grundlagen unserer volksdemokratischen Ordnung zu festigen haben. Sie ist ein Verstoß gegen die Disziplinarordnung vom 13. 5. 1955 und wird in Zukunft entsprechend disziplinarisch bestraft werden.
Unterschrieben ist dieses Fernschreiben von dem Bürgermeister von Ost-Berlin, Ebert.
Das heißt doch alles nichts anderes, als daß jeder Staatsangestellte in Zukunft bestraft wird, der im Rahmen seiner dienstlichen Tätigkeit Aufträge an Privatbetriebe vergibt. Wir wissen, daß es nicht nur bei dieser Drohung geblieben ist; es sind uns eine ganze Reihe von Einzelfällen bekannt, wo Angestellte der Verwaltung oder von volkseigenen Betrieben — bestraft worden sind, weil sie Aufträge an Privatbetriebe weitergegeben haben.