Gesamtes Protokol
Noch unter dem Eindruck der eben zu Ende gegange-nen Gedenkstunde für die Opfer des Nationalsozialismuseröffne ich die Sitzung. Bitte nehmen Sie Platz.Ich rufe die Tagesordnungspunkte 28 a und 28 b auf:a) Erste Beratung des von der Bundesregierungeingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ver-besserung der Fahndung bei besonderen Ge-fahrenlagen und zum Schutz von Beamtinnenund Beamten der Bundespolizei durch denEinsatz von mobiler VideotechnikDrucksache 18/10939Überweisungsvorschlag: Innenausschuss
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz Ausschuss Digitale Agendab) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ände-rung des Bundesdatenschutzgesetzes – Erhö-hung der Sicherheit in öffentlich zugänglichengroßflächigen Anlagen und im öffentlichenPersonenverkehr durch optisch-elektronische
Drucksache 18/10941Überweisungsvorschlag: Innenausschuss
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur Ausschuss Digitale AgendaNach einer interfraktionellen Vereinbarung sind fürdiese Aussprache 60 Minuten vorgesehen . – Widersprucherhebt sich dagegen keiner . Dann ist dies so beschlossen .Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red-ner dem Bundesminister Dr . Thomas de Maizière dasWort .
Herr Minister, bitte sehr .Dr. Thomas de Maizière, Bundesminister des In-nern:Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ichbeginne mit der Darstellung von ein paar Szenen; siesind gleichermaßen schrecklich und skrupellos . 16 . Mai2015, Berlin, S-Bahnhof Wuhletal: Eine Schülerin wirdauf dem Heimweg grausam erdrosselt . 27 . Oktober 2016,Berlin, U-Bahnhof Hermannstraße: Einer jungen Frauwird völlig unvermittelt brutal in den Rücken getreten,sie stürzt die Treppe hinab . 24 . Dezember 2016, Heilig-abend, Berlin, U-Bahnhof Schönleinstraße: Ein schla-fender Obdachloser wird in Brand gesetzt . Die schockie-renden Szenen sind tausendfach über die Bildschirmegeflackert und wurden in den sozialen Netzwerken ver-breitet . Sie haben bundesweit für Erschütterung gesorgt,für Wut und für Entsetzen .Die Ermittlung der mutmaßlichen Täter gelang nurdeshalb, weil die Taten aufgezeichnet, dadurch Ermitt-lungsansätze vorhanden und der Verfolgungsdruck aufdie Täter hoch waren . Die Szenen haben den Ruf nacheiner größeren und erweiterten Videoüberwachung öf-fentlicher Räume weiter verstärkt .Nun lösen Debatten um Videomaßnahmen in Deutsch-land reflexhaft Gegenreaktionen aus. Kritiker zeichnenregelmäßig düstere Bilder, Bilder einer total kontrollier-ten, gleichgeschalteten und von Menschlichkeit befreitenGesellschaft, ganz nach George Orwells Buch 1984. Mitdem Rechtsstaat, in dem wir leben, hat das überhauptnichts zu tun; uns geht es um eine vernünftige Auswei-tung der Videoüberwachung .
Die immer gleiche Rhetorik wird auch durch stetesWiederholen nicht besser . Oft heißt es, Videoüberwa-chung verhindere keine Verbrechen, sie helfe bestenfallsbei der Aufklärung und sie erhöhe nur die gefühlte Si-cherheit . Ich frage: Sind Aufklärung von Straftaten unddie Verbesserung des subjektiven Sicherheitsgefühls derBevölkerung keine verfolgenswerten Ziele? Genau dieseZiele verfolgen wir mit diesem Gesetzentwurf .Es käme niemand auf die Idee, auf DNA-Reihenun-tersuchungen, auf den Abgleich von Autokennzeichen
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oder Fingerabdrücken zu verzichten, weil dadurch keineStraftaten verhindert werden . Mich überzeugt das jeden-falls nicht . Ich sage klar: Straftaten mithilfe dieser Instru-mente aufzuklären, ist besser, als auf diese Instrumentezu verzichten und damit die Aufklärung zu erschwerenoder sogar erfolglos beenden zu müssen .
Dann gibt es das Argument – das werden wir vielleichtwieder hören; ich habe es in der letzten Debatte schoneinmal erwähnt –: Macht doch lieber mehr Polizeiprä-senz statt Videoüberwachung . Als ob das eine das andereausschlösse! Es ist schlicht lebensfremd, eine Polizei-dichte zu fordern, die Kameras überflüssig macht. Einsolches Versprechen abzugeben, ist einfach unlauter .Richtig an diesem Argument ist: Das Personal der Si-cherheitsbehörden muss wachsen . Im Bund haben wirdafür auch gesorgt, und das massiv . Sie kennen die Zah-len: rund 7 500 Stellen zusätzlich für die Bundespolizeiund 1 300 Stellen für das Bundeskriminalamt . Das sind20 Prozent bzw . beim Bundeskriminalamt über 25 Pro-zent mehr Personal innerhalb von fünf Jahren . Es wäreschön, wenn die Länder dem folgen würden . Wer das hierkritisiert, von dem erwarte ich das gleiche Engagementin den Bundesländern, um dort für entsprechende Haus-haltsaufwüchse zu sorgen .Uns allen ist klar, dass Videotechnik kein Allheilmit-tel ist . Sie ist aber auch kein Dämon . Kameras leisteneinen entscheidenden Beitrag zu mehr Sicherheit . Siehelfen, Straftäter zu identifizieren, festzunehmen und zubestrafen . Sie verhindern auch Straftaten . Über die ge-neralpräventive Wirkung von Videoüberwachung gibt eszahlreiche Studien, auch widersprüchliche Studien . Manmuss kein Kriminologe sein, um zu wissen, dass Kame-ras nicht global gegen jede Form von Kriminalität helfen,vor allem dann nicht, wenn Täter im Affekt handeln oderes ihnen gerade auf eine breite Öffentlichkeit ankommt.Aber deliktsspezifisch differenziert verhindert Video-überwachung auch Straftaten, und das wirksam .Ich freue mich, dass wir uns in der Koalition darü-ber einig sind und den Entwurf des Gesetzes zur Verbes-serung der Videoüberwachung heute in erster Lesungberaten. Die neuen Regelungen schaffen für diejenigenErleichterung, die Sportstätten, Einkaufszentren und an-dere große öffentliche Einrichtungen oder Fahrzeuge desöffentlichen Personennahverkehrs betreiben. Ein Anlassfür dieses Gesetz war der Amoklauf in München . Dortgab es eine Videoüberwachung bei McDonald’s . Wäreder Täter in ein Kaufhaus gegangen, hätte es auch dorteine Videoüberwachung gegeben . Nur weil er in ein Ein-kaufszentrum lief, gab es keine Videoüberwachung, unddie Sicherheitsbehörden wussten über lange Zeit nicht,wo sich der Täter befand . Die Ungleichbehandlung vonKaufhäusern und Einkaufszentren hat sich mir nie er-schlossen; wir beenden sie jetzt .
Meine Damen und Herren, Videomaßnahmen sindnicht isoliert zu betrachten . Intelligent mit Systemen zurGesichtserkennung verknüpft, können sie in Zukunftauch ein effektives Fahndungsmittel sein. Wir arbeitendaran . Noch ist das Zukunftsmusik; aber es ist, glaubeich, etwas, was wichtig ist und hilft .Ich habe nach den Anschlägen von Würzburg undAnsbach und dem Amoklauf in München im August ver-gangenen Jahres eine Reihe von Maßnahmen vorgeschla-gen, um die Sicherheit in Deutschland zu erhöhen . Das,was wir jetzt vorschlagen, ist ein Teil dieser Maßnahmen .Dazu gehören auch neue Befugnisse für die Bundespo-lizei in Bezug auf den Einsatz von Body-Cams und dieNutzung von automatischen Kennzeichenlesesystemen,die mit dem zweiten Gesetz beschlossen werden sollen .Auch das ist eine große Hilfe bei der polizeilichen Arbeit .In vielen Ländern gibt es das bereits . Das wird und kannaber nicht flächendeckend erfolgen; darauf weist dieBundesdatenschutzbeauftragte heute hin . Das ist auchgar nicht beabsichtigt, sondern der Einsatz ist beabsich-tigt, wenn er sinnvoll ist, wenn er nützlich ist, wenn er beider Fahndung hilft, wenn er bei Kriminalitätslagebildernunterstützen kann, wie es bereits in sechs, sieben, achtBundesländern geschieht, die zum Teil rot-grün regiertsind . Nicht mehr und nicht weniger als das, was die Lan-despolizeien an Befugnissen haben, soll auch der Bun-despolizei zugestanden werden . Und das ist sinnvoll .
Besonders am Herzen liegt mir, dass wir nach einerPilotphase jetzt auch den Bundespolizisten Body-Camsgeben, also Kameras, die ihre Arbeit aufzeichnen . Dashat auch mit der zunehmenden Zahl von Angriffen aufBundespolizisten in der letzten Zeit zu tun . Da sage ichnoch einmal ganz klar: Wenn Repräsentanten unseresStaates persönlich angegriffen werden, nur weil sie Po-lizisten sind, dann werden auch wir als demokratischeGesellschaft, als Abgeordnete, als Minister, als gesamteGesellschaft politisch angegriffen, und das verlangt eineklare Antwort .
Indem wir unsere Polizisten mit Body-Cams ausstat-ten, schrecken wir Gewalttäter von Exzessen ab oderdokumentieren diese wenigstens, um im Anschlussdie Täter schnell zur Verantwortung ziehen zu können .Gleichzeitig kann auch die Rechtmäßigkeit des Han-delns von Polizisten besser bewiesen, entkräftet oderjedenfalls zum Gegenstand von Betrachtungen gemachtwerden . Wenn wir das machen, ist das sozusagen ein pas-siver Schutz von Polizeibeamten . Wir werden sehr baldin diesem Bundestag auch darüber diskutieren – darü-ber besteht in der Koalition Einvernehmen –, dass wirdie Strafandrohung bei Angriffen gegen Polizisten undRettungskräfte verschärfen wollen, und zwar nicht nurbei Vollstreckungshandlungen, sondern auch bei Dienst-handlungen . Das ist ein doppelter Schutz für die Polizis-ten. Angriffe gegen sie werden härter bestraft, und Bo-dy-Cams schützen davor, dass es überhaupt zu solchenAngriffen kommt.
Meine Damen und Herren, ich hoffe, dass Sie dieseGesetzentwürfe schnell beraten. Ich hoffe auch, dass wirBundesminister Dr. Thomas de Maizière
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möglichst gemeinsam zu einer Verabschiedung kommen,und ich freue mich auf eine große Zustimmung .
Der Kollege Frank Tempel spricht jetzt für die Frak-
tion Die Linke .
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen
und Herren! Sehr geehrter Herr Minister! Ich möchte
mich als ehemaliger Polizeibeamter mit dem Vorschlag
zur Ausrüstung von Bundespolizisten mit Body-Kameras
beschäftigen . Laut Gesetz sollen diese ja zum Schutz von
Beamtinnen und Beamten der Bundespolizei, zur Verfol-
gung von Straftaten, zur Verfolgung von Ordnungswid-
rigkeiten mit erheblicher Bedeutung und auf Verlangen
von Betroffenen zur Überprüfung der Rechtmäßigkeit
polizeilicher Maßnahmen dienen . Sie machen da also zur
Abwechslung mal in der Innenpolitik einen Vorschlag,
der tatsächlich diskussionswürdig ist . Wir werden darü-
ber diskutieren, ob die Body-Cam das leisten kann, was
sie verspricht, und wir müssen sicherstellen, dass die Re-
gelungen zur Einschränkung von Datenschutz und Bür-
gerrechten in verfassungskonformer Verhältnismäßigkeit
stehen; das ist ja unsere Aufgabe .
Wenn ich an meinen früheren Alltag als Polizeibeam-
ter denke, kann ich mir sehr gut vorstellen, dass die Bo-
dy-Cam, wenn sie läuft, zum Beispiel die Hemmschwelle
hebt, einen Polizeibeamten anzugreifen . Und das wäre
ein Erfolg . Ich habe in den letzten Tagen in digitalen Me-
dien viele Polizeibeamte gefragt, was sie selbst davon
halten . Zu meiner Überraschung waren die Meinungen
relativ kontrovers, Pro und Kontra waren gleichermaßen
dabei . Auch Studien helfen uns nicht weiter; denn sie be-
ziehen sich momentan auf sehr wenige Fälle und sagen
uns erst einmal noch nicht viel . Ich schlage vor, wenn wir
uns für eine Einführung entscheiden – und ich kann mir
das durchaus vorstellen –, eine begleitende wissenschaft-
liche Evaluierung gleich mit zu beschließen .
Vorher, meine Damen und Herren, müssen wir uns
aber über die Ausgestaltung des Gesetzes unterhalten .
Da fehlt einiges, worüber wir tatsächlich reden müssen .
Nach Ihrem Vorschlag funktioniert das ja so: Der Poli-
zeibeamte kündigt die Aufzeichnung, wenn er die Zeit
dafür hat, an, und dann zeichnet die Body-Cam auf . Sie
zeichnet also nicht permanent auf . Auf der einen Seite
ist das richtig: Sie wollen verdeckte Aufzeichnungen
vermeiden, an die das Bundesverfassungsgericht ja hohe
Hürden geknüpft hat . Auf der anderen Seite kann der Be-
amte so natürlich willkürlich entscheiden, welche Situa-
tion und vor allen Dingen welchen Teil einer Situation er
aufzeichnet und speichert .
Meine Damen und Herren, Sie können sich vorstellen,
dass das natürlich auch Besorgnis hervorruft . Oft werden
wir nur einen Teil einer Situation auf Video haben, und
das kann zu einer einseitigen Wertung führen . Wie sieht
es mit der Hoffnung aus, polizeiliches Fehlverhalten
aufklären zu können? Sie haben ja eine 30-tägige Auf-
bewahrungspflicht, unter anderem zur Möglichkeit der
gerichtlichen Überprüfung rechtmäßigen polizeilichen
Handelns, in diesen Gesetzentwurf hineingeschrieben .
Kann es aber Aufzeichnungen über unrechtmäßiges Han-
deln überhaupt geben, wenn der Polizeibeamte individu-
ell und ohne Regeln entscheiden kann, was aufgezeich-
net wird und was nicht? Das ist eine schwierige Frage,
die wir gerne mit Ihnen diskutieren wollen . Denn wir
brauchen, denke ich, schon klare Regelungen, was und
wann aufgezeichnet werden darf und muss .
Es gibt aber noch weitere offene Fragen und damit
auch Hausaufgaben, Herr Minister, damit wir das be-
schließen können. Im Gesetzentwurf finden sich kei-
ne Regelungen zur Manipulationssicherheit relevanter
Aufzeichnungen für eine richterliche Nutzbarkeit – ich
erinnere nur an das Verfahren gegen den Pfarrer König
in Dresden, wo die Polizei manipuliertes Videomaterial
vorgelegt hat –: keine Datenschutzbestimmungen, keine
Regelungen zu den Zugriffsrechten, keine Regelungen
zu den Beschäftigtenrechten – auch das wird die Beam-
ten interessieren –, keine Regelungen zu einer Kontrol-
le durch Datenschutzbeauftragte oder das Parlament . Da
muss nachgearbeitet werden .
Ich möchte aber noch einmal betonen: Ideen für mehr
persönliche oder rechtliche Sicherheit steht die Linke
sehr aufgeschlossen gegenüber . Wenn uns Polizeibeam-
te sagen, dass die Body-Cam mehr Sicherheit bringen
könnte, nehmen wir das sehr ernst . Wenn uns aber Bür-
ger sagen, dass sie glauben, dass kritische Aspekte zu
wenig berücksichtigt wurden, dann nehmen wir auch das
sehr ernst . Deswegen schlage ich ernsthaft vor, dass wir
zu diesem Thema eine Expertenanhörung im Innenaus-
schuss durchführen, um uns mit diesen offenen Fragen,
die Sie in Ihrem Gesetzentwurf komplett vergessen ha-
ben, noch einmal zu beschäftigen, damit dieses Hilfsmit-
tel, das ein Nützliches sein kann, tatsächlich beschlossen
werden kann; denn ohne Regelungen geht es nicht .
Der Kollege Uli Grötsch spricht jetzt für die SPD .
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! DerGesetzentwurf, über den wir heute in erster Lesung de-battieren, enthält im Wesentlichen drei Maßnahmen, diedie Arbeit der Beamtinnen und Beamten der Bundespo-lizei effizienter machen sollen und auf die ich in meinerRede im Wesentlichen eingehe .Erstens wollen wir, dass unsere Bundespolizisten mitBody-Cams ausgestattet werden . Damit erfüllen wir aucheine langjährige Forderung der GdP, der Gewerkschaftder Polizei . Wir haben gute Erfahrungen mit Pilotpro-jekten in den Ländern gemacht, die die deeskalierendeBundesminister Dr. Thomas de Maizière
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und präventive Wirkung von Body-Cams belegt haben .Die offenen Aufzeichnungen mit mobiler Videotechnik,die beispielsweise an der Schulter getragen wird, dienenauch der Strafverfolgung, aber vor allem dem Schutz der-jenigen, die etwa im bahnpolizeilichen Brennpunktbe-reich jeden Tag ihre Gesundheit und ihr Leben für unsereSicherheit riskieren .Dass Body-Cams inzwischen notwendig sind, istleider eine bittere und traurige Wahrheit . Die Kriminal-statistik zeigt, dass die Zahl der Angriffe auf Polizistenmerklich zugenommen hat . Deshalb ist es sehr richtigund wichtig, dass wir im aktuellen Haushalt 5 MillionenEuro für eine breit angelegte Imagekampagne bereitge-stellt haben . Wir haben nicht nur das Personal der Bun-despolizei auf Rekordniveau aufgestockt, sondern auchMittel für die erforderliche Ausrüstung zur Verfügunggestellt. Daher finde ich, dass wir, was den Schutz unse-rer Beamtinnen und Beamten angeht, den richtigen Wegeingeschlagen haben .Wir werden aber auch ein schärferes Vorgehen gegenGewaltdelikte gegen Polizisten gesetzlich regeln . Dieneue Regelung wird dann auch für Kräfte der Feuerwehroder etwa der Rettungsdienste gelten, die tätlich ange-griffen werden. All diese Maßnahmen senden ein klaresSignal aus: Wer Polizisten, Rettungsärzte oder Feuer-wehrleute angreift, der greift den Staat an . Das duldenwir nicht . Dagegen gehen wir mit der erforderlichen Här-te vor .
Eine zweite wesentliche Maßnahme nach den Bo-dy-Cams ist die anlassbezogene automatische Kfz-Kenn-zeichenerfassung . Mit diesen mobilen Kameras darf dieBundespolizei Autokennzeichen scannen und mit deneinschlägigen polizeilichen Datenbanken abgleichen .Zum einen liegt hierbei die Betonung auf anlassbezo-gen, also nicht flächendeckend, sondern bei bestimmtenGefahrensituationen, wie Gefahr für Leib oder Leben,Schutz der öffentlichen Sicherheit oder schwere Strafta-ten, die gegen die Sicherheit der Grenze gerichtet sind .Zum anderen werden die erhobenen Kennzeichen sofortund spurlos wieder gelöscht, wenn es sich nicht um einenTreffer handelt. Die Daten werden sogar gelöscht, wennder Treffer im Fahndungsbestand nicht im Zusammen-hang mit den bestimmten Gefahrensituationen steht, diewir in diesem Gesetz regeln .Ich denke, das ist ein maßvolles Mittel, um der Bun-despolizei eine bessere Fahndung, auch und speziell imGrenzgebiet, und eine schnelle und effiziente Strafverfol-gung zu ermöglichen . Eine solche Arbeitserleichterungist für unsere Bundespolizisten, die bereits MillionenÜberstunden durch die Migrationslage angehäuft haben,dringend notwendig . Ich meine, wenn wir bei vielenGelegenheiten über die Stärkung der Schleierfahndungdiskutieren, müssen wir das auch in einem Gesetz umset-zen, wenn wir Gelegenheit dazu haben . Das tun wir mitdiesem Gesetz .Die dritte wesentliche Maßnahme eröffnet der Bundes-polizei die Möglichkeit, wenn für die Aufgabenerfüllungerforderlich, in Einsatzleitstellen eingehende Telefon-anrufe aufzuzeichnen . Das klingt eigentlich selbstver-ständlich . Nicht nur, wenn Bombendrohungen eingehen,sondern auch, wenn jemand etwa mit Selbstmord droht,muss die Bundespolizei in der Lage sein, noch mal rein-zuhören, um alle Informationen aufzunehmen . Deshalbist das eine überfällige und ganz sicher vernünftige Re-gelung .
Sehr geehrte Damen und Herren, diese Maßnahmensind ein Teil eines umfassenderen Pakets an Gesetzen mitAugenmaß, die wir in der Koalition beschlossen haben,um die Sicherheit in diesem Land zu erhöhen . Weil das inunser aller Sinne ist und es sich hierbei um angemessene,milde Mittel handelt, bitte ich im folgenden Beratungs-verfahren um konstruktive Mitarbeit aller Fraktionen .Vielen Dank .
Nächste Rednerin ist die Kollegin Irene Mihalic für
Bündnis 90/Die Grünen .
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Lie-be Kollegen! In einem der beiden Gesetzentwürfe stehtja sogar im Titel, dass es um besondere Gefahrenlagengeht . Dabei denken wir natürlich alle an die furchtbarenAnschläge vom Breitscheidplatz oder von Würzburg undAnsbach und auch an den Amoklauf in München .Um eines vorweg zu sagen: Wir sind natürlich vereintin der Trauer um die Opfer, aber auch hinsichtlich derdrängenden Frage, was wir besser machen können, umterroristische Anschläge oder andere schwere Verbrechenin Zukunft zu verhindern . Wir Grüne diskutieren mit Ih-nen dabei alle Vorschläge, die in der Sache zielführendsind und die einen tatsächlichen Sicherheitsgewinn aufrechtsstaatlichen Grundlagen bringen .Und ja, da kann man auch über einen verbesserten po-lizeilichen Videoeinsatz nachdenken . Denn es kann einenja auch nicht zufriedenstellen, dass die Videoaufnahmenzum Beispiel von der Fussilet-Moschee, die Amri kurzvor dem Anschlag zeigen, erst Wochen später ausgewer-tet wurden . Doch das, was Sie jetzt vorschlagen, meineDamen und Herren, ist Sicherheitspolitik ins Blaue hi-nein . Privatleute sollen mehr Kameras aufhängen undlänger Bildmaterial speichern . Ist das Ihre Teilantwort –wie Sie sagen – auf den Terrorismus? Wenn es so wäre,dann würde mich ein Teil Ihrer Antwort zugegebenerma-ßen sehr verunsichern . Denn private Stellen, die Video-kameras betreiben, haben doch gar keine Möglichkeit,im Falle eines Falles einzugreifen oder irgendetwas zuverhindern . Das Einzige, was hier passiert, ist, dass Siegewaltige Datenberge schaffen, von Flensburg bis Ro-senheim, um im Fall eines Attentates ein paar mehr Bil-der vom Tatort zu bekommen . Und am Ende dauert dieAuswertung – wie im Fall Amri – womöglich wochen-Uli Grötsch
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lang . Ja wen wollen Sie mit diesem Placebo eigentlichberuhigen, meine Damen und Herren?
Das Gleiche gilt für die automatische Kennzeichener-fassung . Bei einer konkreten Gefahr für Leib oder Lebenkann doch die Kennzeichenfahndung an der Grenze nichtdie Antwort auf die aktuelle Sicherheitslage sein . KollegeGrötsch, es geht dabei eben nicht um die Strafverfolgung,sondern es ist eine Maßnahme nach dem Bundespolizei-gesetz . Also geht es um Gefahrenabwehr und eben nichtum Strafverfolgung . Deswegen fragt man sich natürlich,welches konkrete Szenario Sie da eigentlich im Kopf ha-ben . Denn Anschläge wie der vom Breitscheidplatz kön-nen es ja nicht gewesen sein, weil solche Anschläge mitgestohlenen Fahrzeugen innerhalb von wenigen Stundenbegangen werden, noch bevor irgendein Kennzeichenzur Fahndung ausgeschrieben werden kann, und nach ei-nem solchen Anschlag fehlt es den Behörden sicher nichtan Daten, die ausgewertet werden können, aber es fehltan Personal . Oder haben Sie auch nur eine Minute darü-ber nachgedacht, wie personalintensiv schon allein dieBearbeitung der vielen Fehltreffer ist?Sie sagen es ja selber, Herr Minister, dass einige Län-der bereits über ein solches Fahndungsinstrument ver-fügen und dass die Bundespolizei jetzt im Grunde ge-nommen nichts anderes tun soll . Wozu das führen wird,ist mir schon klar: Es wird doppelte Abgleiche geben,es wird dreifache Abgleiche geben . Da braucht man garnicht bei den vielen Fehltreffern anzufangen, um zu er-ahnen, was es bedeutet, am Ende die doppelte und drei-fache Arbeit zu bewältigen . Jedenfalls hat Ihr Vorschlagmit Terrorabwehr nicht das Geringste zu tun . Auch hierist es wieder die pure Technikgläubigkeit ohne einenFunken mehr Sicherheit .
Da fällt Ihr Vorschlag zu den Body-Cams in diesemGesetzespaket ja fast schon positiv auf . Jedenfalls gibtes gute Gründe für deren Einsatz, auch wenn man natür-lich gespannt sein darf, ob die Body-Cams am Ende auchdie Erwartungen, die an sie gerichtet sind, erfüllen wer-den . Aber Sie haben natürlich recht: Gewalt gegen Poli-zeibeamte ist ein sehr ernstes Thema . Und wenn es derBundespolizei bei der Erfüllung ihrer rechtsstaatlichenAufgaben hilft, dann ist die Einführung von Body-Camssicher einen Versuch wert . Nur beim Datenschutz soll-ten Sie auf jeden Fall noch nacharbeiten, zum Beispiel,was die notwendige Verschlüsselung der Daten betrifft.Das gilt für die dienstrechtliche Seite genauso wie fürdie Rechte der Betroffenen. Es geht aber auch um dieFrage, wo die Aufnahmen aufbewahrt werden und wereigentlich darüber entscheidet, was weiterhin aufbewahrtwird, was noch benötigt wird oder was gelöscht werdenkann . Das ist im Gesetzentwurf bisher leider noch nichtgeregelt. Aber wir geben die Hoffnung nicht auf, dass wirwenigstens in diesem Bereich zu einer vernünftigen Lö-sung kommen werden .Vielen Dank .
Für die CDU/CSU spricht jetzt der Kollege Stephan
Mayer .
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr verehrte Kolle-ginnen! Sehr geehrte Kollegen! Beide Gesetzentwürfe,die wir heute in erster Lesung beraten, sind sachlich not-wendig, sie sind sachlich erforderlich, sie sind aber allemvoran maßvoll, sie sind verhältnismäßig, und sie erhaltendie nachdrückliche Unterstützung der CDU/CSU-Frakti-on . Beide Gesetzentwürfe dienen aber nicht der Skanda-lisierung und der Empörung .Frau Kollegin Mihalic, wenn Sie davon sprechen,durch beide Gesetzentwürfe würde kein Funken mehr Si-cherheit generiert und dass wir nur der Technikgläubig-keit nachhängen, dann trifft das einfach nicht den Kern.Ich gehe ja gar nicht so weit, zu sagen: Allein durch diesebeiden Gesetze wird in Zukunft mit hundertprozentigerSicherheit ein Terroranschlag in Deutschland verhin-dert . Ich bin aber der festen Überzeugung, dass beideGesetzentwürfe, sowohl die Novellierung des Bundes-polizeigesetzes als auch die maßvolle Erweiterung derVideoüberwachung, ein weiterer wesentlicher Schritt zurVerbesserung der Sicherheit in Deutschland sind .Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen,zunächst zur maßvollen Erweiterung der Videoüberwa-chung . Worum geht es denn ganz konkret? Es geht da-rum, dass wir § 6b des Bundesdatenschutzgesetzes dahingehend ändern, dass in Zukunft in privaten Einrichtun-gen, beispielsweise in Einkaufszentren, aber auch in Ver-sammlungs-, Vergnügungs- und Sportstätten, unter er-leichterten Bedingungen Videoüberwachung stattfindenkann, dass die Themen „Freiheit“, „Schutz des Lebens“und „Schutz der Gesundheit“ von besonderem Interessesind, wenn es darum geht, abzuwägen, ob im konkretenEinzelfall Videoüberwachung zulässig ist oder nicht . Dasist aus meiner Sicht vollkommen maßvoll und verhältnis-mäßig und entspricht überhaupt nicht dem, was teilweiseseitens der Opposition daraus gemacht wird .
Es gibt aus meiner Sicht gute Gründe für die Vi-deoüberwachung . Herr Minister de Maizière hat denAmoklauf in München angesprochen . Damals war überStunden hinweg unklar, wo sich der Attentäter, derAmok läufer aufhält, es war damals auch die Rede davon,dass der Anschlag möglicherweise von mehreren Perso-nen verübt wurde . Vor dem Hintergrund ist es schon einMehrwert an Sicherheit, wenn insbesondere in größe-ren Einkaufszentren, in Sportstätten und in SportstadienVideoüberwachung stattfinden kann. Die BevölkerungIrene Mihalic
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goutiert dies übrigens . 81 Prozent der Bundesbürger sinddafür, dass man die Videoüberwachung ausweitet .Natürlich ist Videoüberwachung kein Allheilmittel,und natürlich geht es auch darum, dass wir verstärkt aufmehr Polizeipräsenz setzen . Gerade der Bund hat in derlaufenden Legislaturperiode so viel zur Stärkung der Si-cherheitsbehörden getan wie noch nie zuvor . Allein imZeitraum zwischen 2016 und 2020 wird die Zahl derStellen bei der Bundespolizei um 7 500 erhöht, das ent-spricht 20 Prozent der Belegschaft . Beim Bundeskrimi-nalamt wurde die Zahl der Stellen im gleichen Zeitraumsogar um 25 Prozent, also um ein Viertel, erhöht . Ichglaube, das kann sich wirklich sehen lassen .
Ich bin der festen Überzeugung: Eine moderate, maß-volle Ausweitung der Videoüberwachung, die bei wei-tem nicht der eines Überwachungsstaates entspricht,stärkt die Arbeit der Sicherheitsbehörden sowohl in derpräventiven Arbeit, weil sie abschreckende Wirkung hat,als auch bei der Verfolgung von Straftaten, weil sie die-se erleichtert . Ich glaube, uns allen sind die schreckli-chen Bilder in guter Erinnerung – oder besser gesagt: inschlechter Erinnerung –, als eine Gruppe von Jugendli-chen vor wenigen Wochen in einem U-Bahnhof hier inBerlin versucht hat, einen Obdachlosen anzuzünden . DieJugendlichen haben sich dann sehr schnell „freiwillig“ –in Anführungszeichen – gestellt, weil die vorhandenenVideoaufzeichnungen so gut waren, dass sie davon aus-gehen mussten, dass sie sehr schnell überführt werden .Daran sieht man ganz konkret, dass Videoüberwachungauch zur Strafverfolgung einen sehr wertvollen Beitragleisten kann .
Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, wirnovellieren aber auch das Bundespolizeigesetz . Es gehtinsbesondere darum, Bundespolizisten besser zu schüt-zen . Gestatten Sie mir auch hier ein klares Wort: Es läuftderzeit in manchen Medien – auch in einer Boulevardzei-tung – eine Kampagne gegen Polizisten in Ausbildung,die sehr pauschal diskreditiert werden . Folgende Zahlenseien einmal dagegengestellt: Im Jahr 2015 sind 64 371Polizisten Opfer von Straftaten geworden . 64 371! ImJahr 2014 waren es 62 770 und im Jahr 2013 59 044Polizisten . Das heißt, dass fast jeder dritte Polizist inDeutschland einmal im Jahr entweder bespuckt, belei-digt, diskriminiert, diskreditiert oder sogar körperlichangegriffen wird. Vor dem Hintergrund sind wir es ausmeiner Sicht den Personen, die für uns den Kopf hin-halten, schuldig, sie besser zu schützen, sowohl was diepersönliche Ausstattung als auch was Technik anbelangt .Das hat, Kollegin Mihalic, überhaupt nichts mit Tech-nikgläubigkeit zu tun . Es gibt aufgrund der EntwicklungGott sei Dank neue Möglichkeiten, und die mobile Vi-deotechnik gehört dazu .
Die wird ja jetzt auch nicht vom Bund erfunden .Manche Länder haben die Body-Cams sehr erfolg-reich eingesetzt, allen voran das Land Hessen . Ich binauch dem hessischen Innenminister Peter Beuth sehrdankbar, dass er dieses Thema mit Nachdruck vorange-bracht hat .
Vor dem Hintergrund sind wir nachdrücklich der Auf-fassung, dass auch die Ermöglichung des Tragens vonBody-Cams für Bundespolizisten ein sinnvolles Mittelist .
Es geht bei dem Gesetzentwurf auch darum, dasswir in Zukunft dahin gehend Klarheit schaffen, dass dieDaten von Personen, deren Zurückweisung an der deut-schen Außengrenze ermöglicht werden soll, über INPOLin das Schengener Informationssystem eingespeist wer-den können .Ebenso sind wir der Auffassung, dass die automati-sche Kennzeichenerfassung ein wichtiges Hilfsinstru-ment ist . Auch hier sei wieder klar gesagt: Das ist keinAllheilmittel . Von vielen Bundesländern – allen voranBayern – ist dieses Mittel aber schon sehr erfolgreicheingesetzt worden. Es geht nicht um eine flächende-ckende Erfassung der Pkws oder Lkws, die die deutscheGrenze überqueren, sondern um eine anlassbezogene Er-fassung der Kfz-Kenneichen . Auch hier, weil das Stich-wort „Datenschutz“ heute schon gefallen ist, sei gesagt:Es kommt nicht zur Speicherung Unbeteiligter und vonPkws, die keinen Treffer auslösen. Die werden nicht maleine Sekunde lang gespeichert . Vielmehr kommt es nurdann zur Speicherung, wenn ein konkreter Treffer vor-liegt . Ich glaube, dass das wirklich maßvoll und verhält-nismäßig ist . Vor dem Hintergrund erfährt auch dies dienachdrückliche Unterstützung der CDU/CSU-Fraktion .Meine sehr verehrten Damen und Herren, als letztenPunkt zum Inhalt des Gesetzentwurfs möchte ich er-wähnen, dass die Möglichkeit besteht, in Zukunft die inEinsatzzentralen eingehenden Anrufe zu speichern . Ausmeiner Sicht ist das in der heutigen Zeit eine Selbstver-ständlichkeit, sodass die Möglichkeit besteht, sich solcheAnrufe noch einmal anzuhören .Wie gesagt: Diese beiden Gesetzentwürfe sind einSchritt nach vorn . Sie sind Bestandteil eines größerenSicherheitspakets, das wir in den nächsten Wochen undMonaten – noch in der laufenden Legislaturperiode – imDeutschen Bundestag voranbringen werden .Sehr geehrter Herr Bundesinnenminister, wir nehmenIhren Appell sehr ernst und werden das Gesetzgebungs-verfahren in der gebotenen Qualität zügig und schnelldurchführen . Wir werden, Herr Kollege Tempel, selbst-verständlich auch eine Anhörung dazu durchführen .Auch das ist eine Selbstverständlichkeit, dass wir auchdie Expertise von außen hinzuziehen .Stephan Mayer
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Ich bitte gerade angesichts der derzeitigen brisantenSicherheitslage in unserem Land darum, dass wir uns alledarauf konzentrieren und das Gesetzgebungsverfahrendiszipliniert, schnell und zügig vorantreiben .Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit .
Die Kollegin Martina Renner spricht jetzt für die
Fraktion Die Linke .
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Her-
ren! Als Innenpolitikerin spreche ich nicht das erste Mal
zur Videoüberwachung . Wir sollten es sachlich tun . Es
geht hier nicht um den Einsatz der Technik zur Überwa-
chung von Kriminalitätsschwerpunkten . Es geht darum,
Videoüberwachung tatsächlich flächendeckend einzu-
führen und auch zu nutzen .
Der grauenhafte Terroranschlag auf dem Breitscheid-
platz hat der Frage nach öffentlicher Sicherheit traurige
Aktualität verliehen . Der vorgelegte Gesetzentwurf ist
jedoch die falsche Antwort auf diese Frage . Er bedeu-
tet ein Mehr an Überwachung, aber nicht ein Mehr an
Sicherheit . Die Fraktion Die Linke wird daher den Ge-
setzentwurf ablehnen, weil er nichts besser, aber einiges
schlechter machen wird .
Was wird er nicht besser machen? Die Ausweitung der
Überwachung öffentlicher Räume taugt nicht einmal als
Placebo; denn anders als ein Placebo hilft Überwachung
selbst dann nicht, wenn man daran glaubt . Schauen wir
auf die beiden zentralen Versprechen, mit denen dieser
Eingriff in Datenschutz und Bürgerrechte gerechtfertigt
werden soll .
Zum einen wird gesagt, Videoüberwachung erhöhe die
Sicherheit der Bevölkerung . Das ist nachweislich falsch .
Die flächendeckende Videoüberwachung in Großbritan-
nien, wo ein Passant etwa 300-mal am Tag von Kameras
erfasst wird, verhinderte nicht die Anschläge in London .
Ein Rückgang der Kriminalität, insbesondere der Ge-
waltkriminalität, ist im Land der 4,5 Millionen Kameras
nicht feststellbar, und die abschreckende Wirkung nimmt
ab . Dies räumen inzwischen auch die Behörden in Groß-
britannien ein . Der Leiter von Scotland Yards Videoüber-
wachungsabteilung bilanzierte 2010 zur Kameraüberwa-
chung, sie sei ein – Zitat – „völliges Fiasko“ . Dies gilt für
die Strafverfolgung wie für die Prävention . Das in dem
Gesetzentwurf formulierte Versprechen – Zitat –, „die
Sicherheit der Bevölkerung präventiv zu erhöhen“, wird
also nicht eingelöst .
Das andere Versprechen lautet, dass die Ermittlungen
effektiver werden. Ist die Linke eigentlich die Einzige,
die sich an Amris hämische Geste nach der Tat erinnert,
deren Erfassung durch eine Kamera am Bahnhof Zoo
exakt gar nichts zur Ergreifung beitrug? Sind wir die
Einzigen, die sich daran erinnern, dass die Aufnahmen
der NSU-Terroristen von Kameras in Köln vor dem Na-
gelbombenanschlag eben nichts zur Effizienz der Ermitt-
lungen beitrugen?
Auch dieses Versprechen ist leer .
Das Gesetz wird also nichts besser machen . Doch was
macht das Gesetz schlimmer? Videoüberwachung ist ein
intensiver Eingriff. Sie beeinträchtigt alle, die den betrof-
fenen Raum betreten . Sie dient dazu, belastende hoheitli-
che Maßnahmen vorzubereiten und das Verhalten der den
Raum nutzenden Personen zu lenken .
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Wendt?
Herr Wendt, bitte .
Frau Kollegin, vielen Dank für die Möglichkeit zur
Zwischenfrage . – Sie sagten, dass die Videoüberwa-
chung von Herrn Amri – er hat hämisch in die Kamera
gegrinst – zu keinem Erfolg geführt hat . Hätte sie Ihrer
Meinung nach aber zu einem Erfolg geführt, wenn wir
eine Videoüberwachung mit Gesichtserkennung gehabt
hätten und ein Foto von Herrn Amri in der Datenbank
hinterlegt worden wäre? Dann hätte in dem Moment, in
dem Herr Amri hämisch in die Kamera lachte, im La-
gezentrum der Polizei ein Alarm losgehen können: Herr
Amri hat eben in diese Kamera gelacht . – Das hätte doch
zu einem Erfolg geführt, oder?
Wir reden doch hier über die Nutzung von Aufnah-men durch Private . Sie wollen doch jetzt nicht ernsthaftder Überlegung das Wort reden, in Zukunft Kameras inSupermärkten technisch so zu konfigurieren, dass dortauch ein Gesichtserkennungsprogramm läuft . Haben Sieeine Vorstellung davon, welchen Missbrauch Sie damitermöglichen würden? Wenn das möglich wäre, gäben wirein komplettes Bewegungsbild an Dritte .
Herr Wendt, ich glaube, das ist ein vollkommen falscherVorschlag und ein verfehlter Einwand .
Ich möchte zurückkommen auf das Zitat des Bundes-verfassungsgerichts, das ich vorhin verlesen habe . Darinwird ganz klar ausgedrückt, wie intensiv der Eingriff istund dass maßgebliche Verhaltungsänderungen mit einerVideoüberwachung einhergehen .Ich möchte darauf verweisen, dass in dem Gesetzent-wurf eine einheitliche und klare Normierung von Lö-schungsfristen nicht vorgesehen ist . Auch das muss manmeiner Meinung nach als Kritikpunkt erwähnen .Stephan Mayer
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Um es noch einmal zusammenzufassen und im Klar-text darzulegen: Wer beobachtet wird, ändert sein Ver-halten . Jeder von uns kennt das: Wenn die Kamera hierangeht, laufen, sitzen und reden wir anders, als wenn wirunbeobachtet sind . Videoaufzeichnungen können in viel-fältiger Weise missbraucht werden, nicht nur von Priva-ten und Firmen . Auch der Staat hat kein Recht, immer zuwissen, wo wir sind und was wir genau tun . Schon jetztist klar, dass die Benachrichtigungspflichten, die sich ausden Maßnahmen gegenüber den Betroffenen ergeben,nicht erfüllt werden können .Nein, das Gesetz wird nichts besser machen, und des-halb können wir ihm nicht zustimmen . Wir sehen es alseine Maßnahme, die gesellschaftlicher Verunsicherungbegegnen soll, die wesentlich auch Ergebnis unsozialerPolitik ist . Doch anders als in der Mathematik ergebenMinus und Minus hier kein Plus . Wir werden deshalbweiterhin für eine Politik streiten, die öffentliche und so-ziale Sicherheit als Einheit begreift .Vielen Dank .
Der Kollege Sebastian Hartmann spricht jetzt für die
SPD .
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Die wichtigste Nachricht vorab: Wir leben ineinem der sichersten Staaten der Welt .
Dass das so bleibt und dass das Sicherheitsniveau jedenTag weiter verbessert wird, ist unsere gemeinsame Ver-antwortung, und zwar aller Teile dieses Hauses, sowohlder Opposition, die schon versucht, Brücken zu bauen,um mit uns mitzugehen auf dem Weg der Verbesserungder inneren Sicherheit, als auch der die Regierung tragen-den Fraktionen, die gemeinsam einen Gesetzentwurf aufden Weg gebracht haben, um die öffentliche Sicherheitin Deutschland noch weiter zu verbessern . Genau darumgeht es . Das werden wir gemeinsam tun .Wir haben verschiedene Vorschläge gemacht; KollegeGrötsch ist schon darauf eingegangen . Was den Schwer-punkt der Videoüberwachung angeht: Wenn man dasGesetz daraufhin bewertet, sollte man sich den Text desGesetzes dazu genau ansehen: Wir reden über 3 100 Ka-meras in bestimmten abgegrenzten Bereichen, und zwarimmer dort, wo es eine Lücke in den Bestimmungen gibt,nämlich wo es um große, öffentlich zugängliche Räumegeht,
die durch private Akteure betrieben werden, zum Bei-spiel ein Einkaufszentrum. Immer mehr Teile des öffent-lichen Raums werden durch private Akteure betrieben,und es kann doch nicht sein, dass wir genau dort keineVideoüberwachung ermöglichen .Wir machen es nicht einfach so, dass, wenn das Si-cherheitsgefühl subjektiv infrage steht, jeder das irgend-wie machen kann, wie er will . Nein, wir geben klareLeitplanken vor, indem wir eine klare Vorgabe für eineAbwägung hinsichtlich der Schutzgüter der körperlichenUnversehrtheit und des Lebens ins Gesetz schreiben . Wirregeln, dass es nur in den Fällen, wo es notwendig underforderlich ist, gemacht wird .Deutschland ist eines der sichersten Länder der Welt;ich sagte es . Die Statistiken, die genannt worden sind,bezogen sich vor allem auf Probleme des Schutzes vonPolizistinnen und Polizisten; dieser muss verbessert wer-den . Andere Zahlen zeigen, dass es in den vergangenenzehn Jahren in Deutschland wesentlich sicherer gewor-den ist . Die Wahrscheinlichkeit, Opfer eines Gewalt-verbrechens zu werden, ist um 17 Prozent niedriger alsvor zehn Jahren . Die Wahrscheinlichkeit, dass ein Bank-überfall stattfindet, ist um drei Viertel zurückgegangen.Gleichzeitig ist Deutschland in einer paradoxen Lage:Denn wenn wir über das subjektive Sicherheitsgefühlsprechen, so merken wir, dass die Angst zugenommenhat, Angst, Opfer eines Verbrechens, von Gewalt oderTerrorismus zu werden .Verantwortungsvolle Politik muss darauf reagieren .Auf der einen Seite sieht man, dass es sicherer gewor-den ist, auf der anderen Seite muss man aber auch die-sem subjektiven Sicherheitsgefühl begegnen und eineentsprechende Regelung auf den Weg bringen, damitdie Menschen sich sicherer fühlen . Auch das subjektiveSicherheitsgefühl ist entscheidend; diese Ängste müssenwir ernst nehmen . Aber wir wollen dabei nicht, dass esuferlos wird . Wir wollen nicht anlasslos handeln . Viel-mehr wollen wir in ganz konkreten Fällen besser werden .Durch die Technik haben wir verbesserte Möglichkei-ten . Wenn jetzt seitens der Opposition gesagt wird: „Naja, dann schafft man Hundertausende von Fotos, die sichniemand anschauen wird, und unklare Speicherfristen“,dann entgegne ich Ihnen, liebe Frau Kollegin: Wenn eineinziges Foto ausreicht, eine Tat aufzuklären, oder sogardazu führt, dass ein Täter seine Vorbereitungshandlungim öffentlichen Raum, zum Beispiel in einem Einkaufs-zentrum, nicht so durchführen kann, wie er sich das vor-gestellt hat, und wir ihn auf dem Weg zur Tat stoppenkönnen, dann hat es sich gelohnt, das Gesetz an dieserStelle klarer zu fassen und privaten Akteuren eine klareVorgabe zu geben, was ihre Verantwortung ist, damit wirgemeinsam für mehr Sicherheit sorgen . Da können Sieuns begleiten .
Es handelt sich immer um eine Kombination . Herr In-nenminister, ich gebe Ihnen völlig recht: Die Videoüber-wachung ist nicht die Kernfrage der inneren Sicherheit .Es geht um eine Kombination von Maßnahmen . Wennwir, Länder und Bund gemeinsam, über mehr Polizei re-den, wenn wir über mehr Personal reden, das wir zukünf-tig mithilfe von Body-Cams besser schützen werden,Martina Renner
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wenn wir die Möglichkeiten der Digitalisierung und vonmehr Videoüberwachung an bestimmten Punkten nutzen,dann führt diese Kombination zu einem handlungsfähi-gen starken Staat, der dafür sorgt, dass Deutschland einsicheres Land bleibt .Dass dies die Leitlinie der Sozialdemokratie ist, kannman daran erkennen, dass wir eben nicht auf das Spielhereinfallen, Freiheit gegen Sicherheit auszuspielen;denn Freiheit und Sicherheit gehören untrennbar zu-sammen . Das eine geht nicht ohne das andere . „Freiheitist unmöglich, wenn sie nicht durch den Staat gesichertwird“, hat Karl Popper einmal formuliert . Das ist dochdie Linie; man muss beides zusammen denken . Deswe-gen: Schauen Sie in den Gesetzentwurf, und lesen Sie,was da drinsteht .
Ich möchte es der Opposition einfach machen . Ich lesees Ihnen vor, damit Sie wissen, was in diesem Gesetzent-wurf steht .
Es geht um den Einsatz der Videoüberwachung „in Ein-richtungen und Fahrzeugen des öffentlichen Schienen-,Schiffs- und Busverkehrs und öffentlich zugänglichengroßflächigen Anlagen, wie Sport- und Vergnügungs-stätten, Einkaufszentren und Parkplätzen“ . Genau darumgeht es . Wenn man den Gesetzentwurf gelesen hat, weißman es . Es handelt sich – so ungefähr in der Abschät-zung – um 3 100 Kameras .Das Gute ist: Wenn man einen Eingriff in Grundrech-te wie die informationelle Selbstbestimmung vornimmt,dann ist dies mit einem Verfallsdatum doppelter Art ver-sehen . Ein solches Verfallsdatum ist der 25 . Mai 2018;denn dann wird durch europäisches Recht eine klareRegelung für ganz Europa getroffen. Europa ist schließ-lich der größte Raum von Freiheit, Recht und Rechts-staatlichkeit, und Deutschland ist ein starker Teil davon .Hinzu kommt, dass wir eine Abschätzung vorgenommenhaben, um wie viele Kameras es überhaupt geht; ich habedie Zahl genannt . Wir werden das evaluieren, damit wirauf unserem Weg, Deutschland zu einem der sicherstenStaaten der Welt zu machen und dafür zu sorgen, dassdies so bleibt, beurteilen können, wie viel Erfolg wir bis-lang damit hatten .Vielen Dank für die Aufmerksamkeit .
Nächste Rednerin ist die Kollegin Renate Künast,
Bündnis 90/Die Grünen .
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir dis-kutieren über dieses Thema heute auch im Lichte desTerroranschlags am Breitscheidplatz am 19 . Dezemberletzten Jahres; zu beklagen waren 12 Tote, 50 Verletzteund viele Schwerverletzte . Aber wir diskutieren darü-ber nicht nur in diesem Lichte, sondern die Debatte überdie Sicherheitsstruktur bzw . -architektur und über dieMaßnahmen, die zulässig sind, hat bereits vorher statt-gefunden . Sie wurde zum Beispiel geführt, als wir überRechtsextremismus, Rechtsterrorismus und den NSU ge-redet haben . Außerdem haben wir uns mit verschiedenenVerfassungsgerichtsurteilen und mit der Vorratsdaten-speicherung beschäftigt .Was mich betroffen macht, ist: Wir haben über soviele Gesetze geredet, am Ende sind wir doch wiederin Karlsruhe gelandet, und die Richter haben gesagt: Eshat keine hinreichende Abwägung der Rechte stattge-funden . – Oder wir enden in einer Situation, in der wirfeststellen: Schon existierende Regelungen werden in derPraxis gar nicht angewandt . Es erschüttert mich, meineDamen und Herren, dass wir mit Verve ein Sicherheits-versprechen abgeben,
aber es gar nicht hinbekommen, im Alltag auf Bundes-und Länderebene das zu tun, was wir tun könnten .Gerade der Fall Amri, der hier schon angesprochenwurde, zeigt ein Vollzugsdefizit. Maßnahmen, die mög-lich gewesen wären, wurden nicht angewandt, Materialwurde nicht ausgewertet . Die Aufnahmen einer Kamera,die sie 24 Stunden, 7 Tage in der Woche macht, wurdennur wegen des Anschlags überhaupt ausgewertet . Wirdiskutieren hier über ein neues Verhältnis von Sicher-heit, Freiheit und Grundrechten wie dem auf informati-onelle Selbstbestimmung . Wir als Grüne wollen darüberwirklich ernsthaft diskutieren. Wir wollen die öffentlicheSicherheit verbessern . Aber wir werden genau hinse-hen . Ich zitiere Herrn Lammert, der letzte Woche in derGedenkstunde ganz klar gesagt hat: Sicherheit brauchtFreiheit . – Gehen wir doch nicht los, geben ein Sicher-heitsversprechen ab und blasen etwas auf! Denn nachherentsteht Verdruss, weil wir nur geredet haben und unsereMaßnahmen gar nicht für mehr Sicherheit gesorgt haben .
Der Deutsche Anwaltverein, aber auch der DeutscheRichterbund haben in ihren Stellungnahmen zu diesenGesetzen schon festgestellt: Es gibt verfassungsrechtli-che Bedenken . – Der Deutsche Richterbund – auch seineMitglieder haben ja einen Eid auf die Verfassung geleis-tet – hat gesagt, es würden überwiegend Personen über-wacht, die selbst keinen Anlass zu einer Überwachungböten, und die Ausweitung des Einsatzes von Kamerasim öffentlichen Raum führe zu einem diffusen Gefühl despermanenten Überwachtwerdens . Das ist etwas, was manbeachten muss . Denken Sie daran: Das Bundesverfas-sungsgericht hat in verschiedenen Entscheidungen sehrdeutlich ausgeführt: Es gibt sehr, sehr hohe Anforderun-gen, wenn ereignislos und verdachtslos intensive und un-gezielte Grundrechtseingriffe erfolgen. – Genau das istes, worum es hier geht . Wollen Sie hier Vorschläge ma-chen, mit denen Sie demnächst in Karlsruhe landen undscheitern? Das verbessert doch kein Sicherheitsgefühl!Schauen wir einmal genau hin: Mir ist in dieser Debat-te aufgefallen, dass die Redner der CDU/CSU das WortSebastian Hartmann
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„Grundrechte“ kein einziges Mal genannt haben . Dortbesteht Ihre rechtliche Schieflage.
Sie fragen, ob die Aufklärung von Straftaten und die Er-höhung des subjektiven Sicherheitsgefühls keine verfol-genswerten Ziele sind . Natürlich! Das sind doch Dinge,die uns auch beschäftigen . Aber schauen wir auf das,was Sie vorschlagen: Herr de Maizière hat vor etwa ei-ner Stunde hier gefragt: Fingerabdrücke nehmen – istdas etwa falsch? – Nein, natürlich ist das nicht falsch .Aber hier geht es zum Beispiel nicht darum, dass voneiner einzigen verdächtigen Person Fingerabdrücke ge-nommen werden, sondern es geht um die anlasslose, ver-dachtslose, ungezielte Speicherung, meine Damen undHerren .
Wir kritisieren auch die Body-Cam überhaupt nicht . Siekann situationsbezogen eingesetzt werden, und sie ist gutfür den Schutz von Polizeibeamten . Das haben sie ver-dient . Sie ist auch gut für den Schutz des Bürgers gegenÜbergriffe. Diskutieren wir es! Aber geben Sie doch zu –das haben Sie nicht getan –, dass die von Ihnen benannteBundesdatenschutzbeauftragte Frau Voßhoff bezüglichder Erfassung von Autokennzeichen gesagt hat, dass siedas so nicht will und sie nicht richtig ist . Das Bundes-verfassungsgericht hat einzelne Regelungen der Länderdazu längst, 2008, als nicht verfassungsgemäß bezeich-net .Wir haben Verantwortung, aber diese soll sich nichtbeziehen auf ein subjektives Gefühl, sondern auf wirk-lich hergestellte Sicherheit: mehr Sicherheit, aber auchmehr Schutz für die Grundrechte der Bürgerinnen undBürger, keine falschen Versprechungen, sondern viel-mehr Maßnahmen, die wirklich helfen und die Grund-rechte wahren . Wie Herr Lammert hier sagte: Sicherheitbraucht Freiheit .
Der Kollege Günter Baumann spricht jetzt für die
CDU/CSU-Fraktion .
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Die Sicherheitslage in Deutschland hat sichverändert . Wir haben eine Zunahme terroristischer Be-drohung, und wir haben eine Zunahme an Kriminalitätgenerell . Wir haben eine Zunahme an Wohnungseinbrü-chen, Autodiebstählen und Rauschgiftdelikten . Wir ken-nen die Statistiken . Es beunruhigt uns alle .Wir haben in den letzten Jahren eine Reihe von Ge-setzen in Kraft gesetzt, um die Sicherheit zu erhöhen,und merken: Es reicht nicht aus . Wenn wir vor Jahren inDeutschland noch dachten, Sicherheit sei besser gewor-den und wir könnten Polizei abbauen, so war das leiderein Trugschluss . Wir müssen heute gegensteuern . FrauKünast, „Sicherheit braucht Freiheit“, haben Sie hierzitiert . Aber Freiheit ohne Sicherheit ist überhaupt nichtmöglich .
Ich denke – es wurde von mehreren Rednern auch ge-sagt –, wir als Staat haben die Pflicht, für unsere Bürgeralles uns Mögliche zur Sicherheit zu leisten . Das verlan-gen und erwarten die Bürger von uns, und wir sind auchdafür gewählt worden, dies zu leisten . Jeder von uns hatauch im privaten Bereich umdenken müssen . Nachdemwir vor Jahren noch relativ sorglos waren, so haben wirauch zu Hause einiges verändert, seien es die Türen,die Fenster oder anderes . Wir haben also mehr für un-sere eigene Sicherheit getan . Das müssen wir auch vomStaat verlangen . Wir stehen in der Verantwortung . FrauMihalic, wir wollen mit dem Gesetz heute nicht beruhi-gen . Wir wollen einfach handeln; denn Nichtstun ist ga-rantiert der falsche Weg .
Auch wenn bei jedem Gesetz die Möglichkeit besteht,dass etwas nicht hundertprozentig funktioniert: Nichts zutun, ist überhaupt keine Lösung .Meine Damen und Herren, einzelne Punkte des Ge-setzes sind bereits von mehreren Rednern erwähnt wor-den, deshalb nur kurz: Beim Videoüberwachungsverbes-serungsgesetz geht es um öffentlich zugängliche Plätze;die Regelung für den privaten Raum ist bereits diskutiertworden . Das müssen wir einfach leisten . Frau Renner,die Abwägung zwischen Datenschutz und Sicherheit istimmer in der Diskussion, gar keine Frage . Aber wir ha-ben ja gerade an Beispielen aus der letzten Zeit gemerkt,dass uns Videoaufnahmen geholfen haben . Wenn wirdie U-Bahn-Station Schönleinstraße in Berlin sehen, woChaoten einen Obdachlosen angezündet haben,
so war es dort nur durch Videoüberwachung möglich,dass die Täter erkannt worden sind .
Wir können dankbar sein, dass dort Kameras installiertwaren und schnell gehandelt werden konnte . Bei demschrecklichen Anschlag am 19 . Dezember 2016 in Berlinhatten wir eben keine Aufnahme, weil die Berliner Poli-zei das relativ restriktiv sieht .
Renate Künast
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Am Ende haben wir Bürger gefragt, ob jemand Handy-aufnahmen hat, um uns zu helfen .
Bei den Videoaufnahmen geht es also sowohl um dieIdentifizierung als auch um die Rekonstruktion einer Tat.Wenn wir die Möglichkeit haben, dann müssen wir sieeinfach auch nutzen .Daneben ist bei Videokameras auch die Präventionentscheidend, da sich viele abschrecken lassen, wenn sieKameras sehen und wissen: Hier wird überwacht; hierkann ich nicht das tun, was ich vielleicht vorhatte .
Zum Thema „Mobile Videotechnik/Body-Cams“: InDeutschland ist die Hemmschwelle von Chaoten totalgesunken; das ist etwas ganz Schlimmes . Zum Teil habensie überhaupt keine Hemmschwelle mehr . Steine auf Po-lizisten zu werfen, ist bei manchen Veranstaltungen schonfast normal . Wenn wir sehen, dass 2015 64 000 Strafta-ten registriert wurden, bei denen es um Angriffe gegenPolizisten ging – es gab alleine 7 Tötungsversuche gegenPolizisten –, wird klar, Frau Mihalic: Es ist unverant-wortlich, wenn wir als Staat hier nicht handeln . Deswe-gen müssen wir die Möglichkeiten nutzen .
Im Freistaat Sachsen gab es vor kurzem das ganzschlimme Beispiel, dass bei dem Brand eines Asylbe-werberheimes Feuerwehrleute angegriffen worden sind.Das muss man sich einmal vorstellen: Bürger sind eh-renamtlich bei der Feuerwehr tätig, opfern ihre Freizeit,sind für andere da und werden bei dem Einsatz an einemGebäude, in dem sich Menschen befinden, von Chaotenangegriffen! Und wir als Staat sagen: Na ja, gut, okay;das ist halt so . – Nein, wir müssen hier alle Möglichkei-ten nutzen, um Polizisten und Rettungskräfte zu schützenund ihnen zu helfen, weil das einfach nicht so sein kann .Ich sage aber auch: Das ist nur ein Baustein, den wirfür Sicherheit brauchen . Das allein wird nicht alles re-geln, aber alles zusammen, im Komplex, kann helfen .Die Polizei in Hessen hat einen entsprechenden Ver-such gemacht. Die Zahl der Angriffe auf Polizisten ist um38 Prozent zurückgegangen . Wenn das nicht zum Nach-denken Anlass gibt, dann kann man Ihnen einfach nichtmehr helfen .Kollege Tempel, bei den Body-Cams geht es um denSchutz der Polizei . Dass es Fehler geben kann, indemman die Kamera zu zeitig oder zu spät einschaltet oderin die falsche Richtung hält, ist klar – das kann alles pas-sieren –, aber nichts zu tun, ist zu hundert Prozent falsch .
– Okay . Sie haben ja gesagt: Wir wollen darüber reden . –Das ist schon mal ein Angebot . Ich denke, das ist schonein Ansatz .Zum Thema Kennzeichenerfassung ist mir etwas Selt-sames eingefallen .
– Nein . – Das Seltsame ist, dass ich vor etwa 15 Jahrenauch an diesem Pult stand und dasselbe Thema schoneinmal diskutiert habe . Damals, vor 15 Jahren, hattenwir eine rot-grüne Regierung . Ich bin damals beschimpftworden, dass wir das nicht brauchen, weil die Sicher-heitslage gar nicht so schlimm ist . Der Datenschutz gingüber alles . Dann haben wir das zu den Akten gelegt .Seitdem hat sich die Lage wesentlich verschärft, ge-rade in den Grenzregionen . Wer aus den Grenzregionenkommt, weiß, was sich dort abspielt: Crystal Meth, Au-todiebstähle, hohe Kriminalität, organisierte Kriminali-tät . Dort müssen wir einfach die Möglichkeiten nutzen –nicht generell, sondern anlassbezogen, bei bestimmtenSituationen und in bestimmten Regionen . Dort müssenwir Videoaufnahmen anfertigen . Sie werden sofort ge-löscht, wenn es keine Treffer gibt. Jedenfalls können sieabsolut helfen, etwas aufzuklären .Die Aufzeichnung von Notrufen ist, denke ich, dasSelbstverständlichste der ganzen Welt . Ein Notruf bei derPolizei muss aufgezeichnet werden . Man muss sich nocheinmal anhören können, was genau gesagt wurde, undman muss nachrecherchieren können . Die Länder, in de-nen das schon lange gang und gäbe ist, würden über unslachen, wenn wir das nicht erlauben würden . Deswegenkönnen wir diesen Punkt ganz schnell abschließen .Meine Damen und Herren, die vorliegenden zwei Ge-setzentwürfe helfen, die Sicherheit zu verbessern . Siekönnen sie nicht komplett garantieren, aber verbessern .Vor allen Dingen schützen diese Gesetzentwürfe unserePolizei noch mehr, und dazu sind wir verpflichtet.Herzlichen Dank .
Nächster Redner ist der Kollege Matthias Schmidt für
die SPD .
Vielen Dank . – Herr Präsident! Verehrte Kolleginnenund Kollegen! Prägnantes Merkmal unserer Arbeit istdas Abwägen – das Abwägen verschiedener Individual-interessen, um das Gemeinwohlinteresse herauszufilternund sie zu einem Kompromiss zu bündeln .Günter Baumann
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Sie, verehrte Zuschauerinnen und Zuschauer auf denTribünen, sehen heute hierfür ein sehr gutes Beispiel: dieverschiedenen Argumente für und gegen die Videoüber-wachung und das Abwägen von uns Parlamentariern .Auslöser der Debatte sind drei furchtbare Anschläge imJuli letzten Jahres in Bayern: der Axtangriff in Würzburg,der Sprengstoffanschlag in Ansbach und der Amoklaufim Einkaufszentrum in München . Aber eine dramatischeSteigerung hat diese Debatte am 19 . Dezember 2016 hierin Berlin mit dem Attentat auf dem Weihnachtsmarkt amBreitscheidplatz erfahren . Zeitgleich mit dem Anschlagauf den Breitscheidplatz gab es zwei weitere abscheuli-che Verbrechen in Berlin, die mittels Videotechnik relativschnell aufgeklärt wurden . Der erste Vorfall: Ein Mannhatte auf dem U-Bahnhof Hermannstraße eine Frau ge-treten, die daraufhin die Treppe herunterstürzte und sichschwer verletzte . Der andere Vorfall ereignete sich aufdem U-Bahnhof Schönleinstraße, wo ein Obdachloserangezündet wurde .In diesem Zusammenhang hat mir ein Bürger, denich sehr schätze, eine E-Mail geschrieben . Der Kernsatzlautete: Gegen Videoüberwachung kann doch wirklichniemand etwas haben . – In diesem Kernsatz war der ver-zweifelte Ruf nach einem Gegenargument enthalten . Erwollte nicht, dass es eine flächendeckende Videoüberwa-chung gibt, sondern wollte hören, dass wir dies sehr wohlabwägen . Ja, Sie erleben es auch in dieser Debatte: WirAbgeordneten wägen die Argumente sehr intensiv ab .Selbstverständlich birgt jede Überwachung auch dieMöglichkeit des Missbrauchs . Eine Lehrerin hat mirkürzlich erzählt: Sie hatte einen schweren Fahrradunfall .Der Klassiker, beim Rechtsabbiegen hat sie ein Lkw er-wischt . Nach langem Krankenhausaufenthalt ist sie zumGlück gesundet . Jetzt aber geht die juristische Debattelos, ob sie an dem Unfall eine Teilschuld hat oder nicht .Der Vater einer ihrer Schüler ist Polizist . Er hat sie einesMorgens begrüßt mit der Aussage, er habe einmal in ihreAkte geschaut, das sei ja wirklich ein furchtbarer Vor-gang . – Daran sieht man: Es gibt immer Missbrauchs-möglichkeiten . Wir müssen sehr gut aufpassen, dass sienicht genutzt werden .Berlin – wir haben die Beispiele gehört – ist im Grun-de gut aufgestellt . Die Vorfälle in der U-Bahn in Berlinwurden aufgeklärt; das ist positiv . Die Gesetzeslage istnicht so schlecht, dass keine Aufklärung erfolgen konn-te . Insgesamt gibt es in Berlin 15 000 Videokameras imöffentlichen Raum, die meisten davon im öffentlichenPersonennahverkehr . Interessanterweise gibt es sie so gutwie gar nicht bei der S-Bahn . Dort gibt es zwar auf denBahnsteigen ein paar Kameras; diese zielen aber eher aufdie Türen, um Abfertiger einzusparen . In den Zügen derS-Bahn gibt es die Videoüberwachung noch gar nicht .Sie wird es mit der neuen Baureihe geben, die in vierJahren eingeführt wird . Bei der U-Bahn hingegen gibt esdie Videoüberwachung schon flächendeckend.Die Videokameras bei der U-Bahn führen mich zueinem weiteren Gedanken . Videotechnik ist – auch imübertragenen Sinne – nicht nur schwarz-weiß . Man kannnicht sagen: Mit Videotechnik ist es gut, ohne Video-technik ist es schlecht . Ganz wichtige Fragen, die hierbisher kaum diskutiert wurden, sind: Wie gehen wir an-schließend mit den Aufnahmen um? Wie ist es um dieEingriffs tiefe in die Grundrechte tatsächlich bestellt? –Es macht einen großen Unterschied, ob die Bilder live ineinem Kontrollzentrum von Polizisten oder elektronischausgewertet werden oder ob sie, wie in der U-Bahn üb-lich, 48 Stunden gespeichert werden, um sie nutzen zukönnen, wenn eine Straftat begangen worden ist . Die Bil-der in der U-Bahn, die nur gespeichert werden, werdensofort in die Leitzentrale geschaltet, wenn ein Notruf-knopf gedrückt wird . Sie sehen, es gibt sehr viele Schat-tierungen . Wir müssen sehr intensiv miteinander um eineLösung ringen .Die Gesetze, die wir hier im Bundestag formulieren,müssen sich stets in der Realität bewähren . Trauriger An-lass sind hier die verübten Attentate . Mit den jetzt vor-gelegten Gesetzentwürfen der Bundesregierung habenwir eine sehr gute Diskussionsgrundlage für unsere Aus-schussberatungen . Ich wünsche uns allen eine saubereAbwägung im wohlverstandenen Gemeinwohlinteresse .Vielen herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit .
Zum Abschluss dieser Aussprache hat der Kollege
Marian Wendt für die CDU/CSU das Wort .
Herr Präsident ! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Diebeiden vorliegenden Gesetzentwürfe gehen in die rich-tige Richtung . Das Gesetz zur Verbesserung von Video-aufzeichnungen konkretisiert und stellt klar, in welchenöffentlichen und halböffentlichen Bereichen videoüber-wacht werden darf, nicht mehr und nicht weniger . EineRechtsklarstellung ist immer im Sinne eines Rechtsstaa-tes . Das Gesetz zur Einführung von Body-Cams ist fürmich ein wesentlicher Schritt hin zum weiteren Schutzunserer Polizistinnen und Polizisten . Neben der Zulas-sung von Kennzeichenlesegeräten und der Aufzeichnungin Dienststellen eingehender Anrufe komplettieren die-se Gesetzentwürfe das Bündel der Maßnahmen, die diePolizei ergreifen kann, um ihrer Arbeit so effizient wiemöglich nachzugehen . Wir, also Sie und ich, liebe Kol-leginnen und Kollegen, haben die Verantwortung unddie Pflicht, den Polizisten das Material, das Rechtsin-strument und die Ausrüstung zur Verfügung zu stellen,die sie brauchen, um ihre Arbeit bestmöglich zu erfüllen .Dabei weiß ich um den Widerspruch in unserem Landin Bezug auf unsere Polizei . Tägliches Brot der Polizeiist der Schutz unseres Zusammenlebens, der Schutz derfreiheitlich-demokratischen Grundordnung . Das ist eineehrenvolle und wichtige Aufgabe . Einerseits wird der Po-lizei mit besonders hohen Vertrauenswerten in Umfragendafür gedankt. Andererseits sind Polizisten – das findeich schlecht – viel zu oft Objekt von Pöbeleien, Belei-digungen, Gewalt und Hass, von Stein- und Flaschen-würfen, bis hin zu Angriffen mit Molotowcocktails. DasLagebild „Gewalt gegen Polizisten“ des Bundeskrimi-Matthias Schmidt
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nalamtes weist für das Jahr 2015 über 33 000 Gewaltta-ten gegenüber Polizisten aus. Das finde ich beschämend.
Vor allem finde ich es beschämend, weil ich davon über-zeugt bin, dass wir Menschen, die uns dienen – nicht nurdie Polizei, sondern beispielsweise auch die Feuerwehrund das THW –, doch mit Respekt begegnen müssen .Damit kommen wir zur Ausgangsfrage: Wieso brau-chen wir eigentlich Body-Cams, wie im Gesetzentwurfvorgesehen? Weil es leider in Deutschland eine Unkul-tur des Hasses und der Gewalt gegen Sicherheitskräftegibt . Die Tatsache, dass es eine solche Unkultur gibt, istvöllig inakzeptabel, unabhängig davon, ob die Gewaltvon links oder von rechts kommt oder von vorgeblichunpolitischen Tätern . Es ist unsere Aufgabe, dieser Ge-walt entgegenzuwirken . Dieses Problem lässt sich abernicht allein mit Body-Cams lösen; denn hinter den An-griffen auf unsere Sicherheitskräfte stehen eine Unkulturund ein Hass, der viel tiefer geht . Die Gewalt gegen Po-lizisten beginnt nicht erst bei einem Steinwurf, sondernbereits bei Beleidigungen . Wo „Bullenschweine“- oder„All Cops Are Bastards“-Rufe gang und gäbe sind undentsprechende Plakate gezeigt werden, ist auch die kör-perliche Gewalt gegen Polizisten nicht fern . Aus Wortenwerden Taten; denn sie erzeugen ein Klima, in dem to-leriert, ja sogar akzeptiert wird, dass das Gegenüber alsMensch weniger wert ist und Gewalt gegen ihn somit ge-rechtfertigt ist. Deswegen sind nach meiner Auffassung –um die Unversehrtheit von Polizistinnen und Polizistenund allen anderen Einsatzkräften zu gewährleisten – auchBeleidigungen unter Strafe zu stellen .Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts imvorigen Jahr zum Ruf „All Cops Are Bastards“ hat ge-zeigt: Es mangelt uns an einer gesetzlichen Grundlage,gegen solche auch gegen die freiheitlich-demokratischeGrundordnung gerichteten Beleidigungen vorzugehen .Es ist grundsätzlich möglich, solche Beleidigungen unterStrafe zu stellen . Darum müssen wir uns weiterhin küm-mern . Die entsprechenden Straftatbestände werden einweiterer Baustein zum Schutz unserer Polizistinnen undPolizisten sein . Dazu haben wir uns als sächsische Unioneinstimmig verpflichtet. Wir haben auch eine möglicheÄnderung des Strafgesetzbuches mit einem neuen § 90cmit Unterstützung der Gewerkschaft der Polizei erarbei-tet .Der heute vorliegende Gesetzentwurf ist der Beginndieses von mir skizzierten Kulturwandels und eines bes-seren Schutzes der Polizisten auf Bundesebene . Diejeni-gen, die uns schützen – wir müssen das wahrscheinlichauf die Feuerwehr, das THW und auch auf Politessen imAlltag ausweiten –, haben einen hohen Schutz verdient .Die hohen Vertrauenswerte für diese Sicherheitskräftezeigen das auch .
Weil es eine kleine Minderheit in diesem Land gibt,die Gewalt gegen Sicherheitskräfte ausübt, ist dieses Ge-setz nötig . Ich denke aber auch, dass Prävention in allenBereichen notwendig ist . Wir dürfen unsere Anstrengun-gen nicht ruhen lassen .Ich freue mich auf die Gesetzesberatungen und hoffe,dass wir diese zügig und erfolgreich abschließen .Vielen Dank .
Ich schließe die Aussprache .
Interfraktionell wird Überweisung der Gesetzentwür-
fe auf den Drucksachen 18/10939 und 18/10941 an die in
der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschla-
gen . – Andere Vorschläge liegen mir nicht vor und sind
auch nicht erkennbar . Dann sind die Überweisungen so
beschlossen .
Ich rufe nun unseren Zusatzpunkt 5 auf:
Eidesleistung der Bundesministerin für Wirt-
schaft und Energie
Der Herr Bundespräsident hat mir soeben mitgeteilt,
dass er am 27 . Januar – das ist heute – gemäß Artikel 64
Absatz 1 des Grundgesetzes für die Bundesrepublik
Deutschland auf Vorschlag der Frau Bundeskanzlerin
den Bundesminister des Auswärtigen, Herrn Dr . Frank-
Walter Steinmeier, und den Bundesminister für Wirt-
schaft und Energie, Herrn Sigmar Gabriel, aus ihren
Ämtern als Bundesminister entlassen und Herrn Sigmar
Gabriel zum Bundesminister des Auswärtigen und Frau
Brigitte Zypries zur Bundesministerin für Wirtschaft und
Energie ernannt hat .
Nach Artikel 64 Absatz 2 des Grundgesetzes leistet
ein Bundesminister bei der Amtsübernahme den in Arti-
kel 56 vorgesehenen Eid . Herr Gabriel hat diesen Eid als
Minister in dieser Wahlperiode bereits geleistet und wird
daher nicht erneut vereidigt .
Frau Zypries, ich darf Sie zu mir bitten, um den im
Grundgesetz vorgesehenen Eid zu leisten .
Brigitte Zypries, Bundesministerin für Wirtschaft
und Energie:
Ich schwöre, dass ich meine Kraft dem Wohle des
deutschen Volkes widmen, seinen Nutzen mehren, Scha-
den von ihm wenden, das Grundgesetz und die Gesetze
des Bundes wahren und verteidigen, meine Pflichten ge-
wissenhaft erfüllen und Gerechtigkeit gegen jedermann
üben werde .
Frau Bundesministerin, Sie haben den im Grundgesetzvorgesehenen Eid geleistet . Ich gratuliere Ihnen herzlichzur Übernahme dieses Amtes und wünsche Ihnen für dieWahrnehmung der damit verbundenen Aufgaben viel Er-folg .Marian Wendt
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Brigitte Zypries, Bundesministerin für Wirtschaftund Energie:Vielen Dank .
Meine Damen und Herren, nach der in der Tages-
ordnung nicht vorgesehenen, aber absehbaren Gratula-
tionscour an die neue Bundesministerin will ich doch
die Gelegenheit nutzen, dem neuen Bundesminister des
Auswärtigen, Sigmar Gabriel, auch für diese neue Auf-
gabe alle guten Wünsche des Hauses mit auf den Weg
zu geben .
Dem Kollegen Frank-Walter Steinmeier möchte ich
für seine Tätigkeit in der Bundesregierung herzlich
danken . Er bleibt uns ja, wenn vielleicht auch nicht bis
zum Ende der Legislaturperiode, so doch eine Weile als
Mitglied dieses Hauses erhalten . Dann sehen wir einmal
weiter .
In diesem Sinne können wir diesen Tagesordnungs-
punkt abschließen .
Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 29 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Klaus
Ernst, Susanna Karawanskij, Jutta Krellmann,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Europa- und Verfassungsrecht wahren – Vor-
läufige Anwendung von CETA verhindern
Drucksache 18/10970
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Energie
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 60 Minuten vorgesehen . – Dazu höre ich
keinen Widerspruch. Offenkundig können wir so verfah-
ren .
Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kollegen
Klaus Ernst für die antragstellende Fraktion das Wort .
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ersteinmal die besten Wünsche an die neue Wirtschaftsmi-nisterin, Frau Zypries . Alles Gute für Ihr neues Amt!Wir haben heute CETA erneut auf der Tagesordnung,weil dies die letzte Gelegenheit für eine Aussprache vorder Abstimmung über CETA im Europaparlament ist .Sie wollen, dass die Anwendung in Kraft tritt, bevor dieNationalstaaten entschieden haben . Das wollen wir mitunserem Antrag verhindern .Unsere inhaltlichen Vorbehalte gegen CETA – übri-gens auch die Vorbehalte vieler Sozialdemokraten, vie-ler Kommunalpolitiker der Union, vieler Verbände, Ge-werkschaften und weiter Teile der Öffentlichkeit – sindbisher keinesfalls ausgeräumt worden . Im Gegenteil: Siekritisieren wie wir – ich sage es noch einmal: auch sehrviele Sozialdemokraten –, dass mit CETA Konzernson-derklagerechte zementiert werden, anstatt sie zwischenentwickelten Rechtsstaaten abzuschaffen, dass die Be-griffe „faire und gerechte Behandlung“ und „indirekteEnteignung“ weiter im Vertrag stehen – obwohl den So-zialdemokraten etwas anderes versprochen wurde –, dasses eben keinen Sanktionsmechanismus bei Verstößen ge-gen Arbeits-, Sozial- und Umweltstandards gibt und dassdie öffentliche Daseinsvorsorge nicht umfassend ausge-nommen wurde . Sie kritisieren auch, wie es in einer Stu-die von Nettesheim heißt, dass – ich zitiere jetzt – „das‚right to regulate’ … nur innerhalb der Liberalisierungs-strukturen von CETA wahrgenommen werden“ kann .Deshalb kann der Staat nicht mehr frei Regeln im Sinnedes Allgemeinwohls setzen .Die sozialdemokratische Regierung der Wallonie, dietapfer Widerstand leistete, wurde – das wissen Sie alle –massiv unter Druck gesetzt und von einem Mitglied derEU-Kommission als „Kommunisten“ diffamiert. Nur mitList und Tücke wurde der Widerstand auch der SPD-Mit-glieder ausgebremst .
Den Widerstand gegen CETA dadurch brechen zu wol-len – jetzt wird es wirklich geschmacklos –, dass manCETA-Gegner und damit auch Teile der eigenen Parteimit Trump in einen Topf wirft, wie es gestern hier ge-schehen ist, das ist eine ganz üble Entgleisung und bedarfeigentlich einer Entschuldigung .
Sie diffamieren Teile Ihrer eigenen Partei gleich mit,wenn Sie das durchgehen lassen . Ich weiß nicht, wie Siedas gegenüber denen rechtfertigen wollen, die im Eu-ropaparlament und in dessen Ausschüssen gegen CETAgestimmt haben . Sind die auch für Trump, oder wie? Soeinen Unfug wie die Äußerungen vom Genossen Heilgestern habe ich selten in diesem Parlament gehört .
Diese Rhetorik vergiftet die politische Debatte . Ihr einzi-ger Sinn besteht darin, den politischen Gegner zu diffa-mieren und sich damit der inhaltlichen Argumentation zuentziehen . Das ist nicht in Ordnung .
Meine Damen und Herren, die Positionierung der Zi-vilgesellschaft, von Mitgliedern Ihrer Partei und vielerpolitischen Akteure ist kein Protektionismus à la Trump .Selbstverständlich sind wir für Handel, und selbstver-ständlich sind wir für fairen Handel; aber der sogenann-te Freihandel im Rahmen von CETA ist eben kein fairer
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Handel . Wodurch zeichnet sich denn fairer Handel aus?Fairer Handel zeichnet sich dadurch aus, dass Regeln ge-schaffen werden, dass sich in der globalen Konkurrenzeben nicht der Billigste durchsetzt, sondern der mit ho-hen Sozial- und Umweltstandards .
Fairer Handel zeichnet sich dadurch aus, dass regiona-le Wirtschaftsstrukturen berücksichtigt werden, erhaltenbleiben und nicht dem Profitstreben international tätigerGroßunternehmen geopfert werden .
Fairer Handel zeichnet sich dadurch aus, dass alle Regi-onen der Welt eine reale Chance für ihre wirtschaftlicheEntwicklung haben und eben nicht dazu gezwungen wer-den, ihre Märkte zu öffnen und ihre eigenen Wirtschafts-strukturen damit zu zerstören .Ich weiß, Sie wissen das alles, und Sie wissen auch,dass CETA diesen Anforderungen nicht gerecht wird .Auch die Grundwertekommission der SPD findet – ichzitiere –, dass „eine Aussetzung des vorläufigen Inkraft-tretens sachlich betrachtet erforderlich und ein Akt poli-tischer Klugheit“ wäre . Es ist ganz und gar absurd, einAbkommen in Teilen in Kraft zu setzen, solange, erstens,die Verfassungsmäßigkeit noch nicht endgültig geklärtist, solange, zweitens, erhebliche Zweifel an der Verein-barkeit mit den Verträgen der EU bestehen und solange,drittens, überhaupt nicht klar ist, wie man diese vorläufi-ge Anwendung wieder beenden kann – und das ist nichtklar .
Nach Ansicht der EU-Kommission und des Juristi-schen Dienstes des Europäischen Parlaments kann dievorläufige Anwendung nur durch Ratsbeschluss beendetwerden . Der frühere Bundeswirtschaftsminister behaup-tete, dass ein EU-Mitglied die vorläufige Anwendungeinseitig beenden kann . Wer hat nun recht?
– Aha . Es entscheidet aber nicht über das, was in der EUpassiert .
Der frühere Bundeswirtschaftsminister hat etwas an-deres behauptet, als die EU letztlich gesagt hat .Ich weiß ja, wie es ausgeht: Sie werden den Antragablehnen . Aber ich sage Ihnen: Der Widerstand gegenCETA wird weitergehen. Keinesfalls ist die Ratifizie-rung in allen Mitgliedstaaten sicher . Selbst im Bundesratist eine Mehrheit für CETA offen. Deshalb sage ich Ih-nen – das richtet sich an die Sozialdemokraten –: HörenSie einmal auf Ihre Grundwertekommission! Sie ist sehrklug . Sie sagt: CETA so lange nicht endgültig in Kraftsetzen, solange die offenen Fragen nicht geklärt sind. –Es wäre schön, wenn sich die sozialdemokratische Frak-tion auf das beziehen würde, was auch in ihrer Parteidiskutiert wird .Ich danke für die Aufmerksamkeit .
Nun erhält für die Bundesregierung die neue Bun-deswirtschaftsministerin das Wort . – Bitte schön, FrauZypries .
Brigitte Zypries, Bundesministerin für Wirtschaftund Energie:Vielen Dank . – Herr Präsident! Meine sehr geehrtenDamen und Herren! Man muss sich ja fast bedanken fürdie Chance, wenige Minuten nach der Ernennung schondie erste Rede halten zu dürfen, und das an diesem Ort,den Frank-Walter Steinmeier gestern sinngemäß als denOrt der demokratischen Auseinandersetzung bezeichnethat, also als einen Ort, wo Themen diskutiert werden,die die Gesellschaft beschäftigen, und wo wir vor allenDingen über die Lösungen diskutieren, über die Gesetze,mit denen wir die Gesellschaft in unserem Sinne gerechtgestalten wollen .Natürlich machen wir das auch und gerne öfter zumselben Thema, so zum Beispiel bei CETA . Ich weiß nichtgenau, der wievielte Antrag der Linken zu CETA dasheute ist; sehen Sie es mir nach .
Ich weiß aber, dass das Bundesverfassungsgericht schonzweimal entschieden hat, dass alles, was wir mit CETAmachen, im Sinne der Verfassung ist .
Zuletzt am 7 . Dezember letzten Jahres hat der ZweiteSenat festgestellt, dass die Bundesregierung die vomBundesverfassungsgericht vorgegebenen Maßnahmenüber die Unterzeichnung und auch, Herr Ernst, über dievorläufige Anwendung von CETA korrekt umgesetzt hat.Das heißt: Was wir machen, ist von der Verfassung ab-gesegnet .Jetzt können Sie einwenden: Das ist ja alles nur einEilverfahren; die Entscheidung in der Hauptsache stehtnoch aus .
Diesem Urteil sehen wir gelassen entgegen, meine Da-men und Herren. Wir sind der Auffassung, dass mit CETAdie demokratischen Rechte nicht beschnitten werden .Vielmehr haben wir mit dem Abkommen jetzt endlich dieChance, einen modernen Investitionsschiedsgerichtshofzu schaffen und damit auch Maßstäbe für künftige Han-delsverträge zu setzen .In Zeiten, in denen in Nordamerika Mauern gebautwerden und mit protektionistischen Schutzzöllen gedrohtwird, ist es wichtiger denn je, dass wir Europäer uns einigKlaus Ernst
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sind: Wir stehen zusammen, und wir stehen gemeinsamfür faire und für offene Handelsbeziehungen.
In einer globalisierten Welt kann der Bau von Mauernkeine Antwort sein .
CETA bedeutet Fortschritt auf dem Weg zu einer so-zialen und nachhaltigen Gestaltung der Globalisierung .Deutschland steht für offene Märkte. Unsere Volkswirt-schaft hängt fundamental von den internationalen Vernet-zungen und von dem Marktzugang ab, den wir weltweitbrauchen . Wer, wenn nicht wir, muss deshalb für fairenund freien Handel einstehen?
Sigmar Gabriel hat das getan, und ich denke, es gebührtihm aller Dank dafür, dass er CETA mit neuen Ideen undauch mit großem Engagement zu dem fortschrittlichstenHandelsabkommen fortentwickelt hat, das wir je hatten .
Natürlich wäre es schön, Herr Ernst – das ist es ja, wasSie kritisieren –, wenn wir es schaffen könnten, diesesHandelsabkommen für die ganze Welt abzuschließen .
Leider aber ist die Welthandelsorganisation wenig bereit,Verhandlungen mit allen zu führen und zu Beschlüssenzu kommen . Das ist der Grund dafür, dass wir so vielebilaterale und multilaterale Handelsabkommen schließenmüssen .Ich denke, CETA ist ein Handelsabkommen, dasdie richtigen Standards setzt, sowohl bei der Frage derSchiedsgerichte als auch in der Frage der Beibehaltungder Arbeitnehmerrechte und der Wahrung der kulturellenVielfalt . Wir stellen mit diesem Abkommen sicher, dasswir Maßnahmen zur Gestaltung und zur Organisation derDaseinsvorsorge aufrechterhalten . Es ist klar, dass das„right to regulate“ nicht angetastet wird. Von daher fin-de ich, dass wir mit CETA ein gutes Abkommen haben;es ist ein wichtiges Signal gegen Protektionismus . DasAbkommen wurde in einem fairen, offenen Prozess vonden Mitgliedstaaten unterzeichnet . Es wird jetzt in einemdemokratischen Verfahren weiterbehandelt . Es wird vonallen nationalen Parlamenten sowie vom EuropäischenParlament legitimiert und ratifiziert.Ein solches Abkommen gerade in diesen internationalpolitisch problematischen Zeiten so zu diskreditieren,halte ich nicht für richtig .
Ich bedanke mich deshalb bei all denen, die mit uns ge-meinsam diesen Weg gehen und sagen: Jawohl, wir ste-hen zu CETA . CETA ist ein gutes Abkommen und wirdden Handel zwischen Kanada und Europa verbessern .Wir wollen es als Blaupause für künftige Abkommennehmen .Besten Dank .
Das Wort erhält nun die Kollegin Katharina Dröge für
die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen .
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Sehr geehrte Frau Zypries, zunächst einmalauch von mir herzlichen Glückwunsch zu Ihrer Ernen-nung als Wirtschaftsministerin. Ich hoffe, dass wir wei-terhin so intensive und kontroverse Debatten miteinanderführen können wie mit Ihrem Vorgänger .
Jetzt zum Antrag der Linken . Aus meiner Sicht ist essehr richtig und wichtig, dass wir heute noch einmal überdas Handelsabkommen CETA diskutieren . Denn wenndas Europaparlament in der nächsten Sitzungswocheüber das CETA-Abkommen entscheidet und, so wie esjetzt aussieht, dem Abkommen zustimmen wird, startethier in Deutschland der Ratifizierungsprozess.Damit startet ein Prozess, in dem für uns als Parla-ment weiterhin viele Fragen offen sind, Fragen, die wirversucht haben in den letzten drei Jahren miteinander zudiskutieren, Fragen, auf die wir aber gerade von Ihnenals denjenigen, die CETA umsetzen wollen, keine Ant-worten bekommen haben, Fragen, mit denen sich jetztdas Bundesverfassungsgericht beschäftigen und die esim Mai oder Juni entscheiden wird .Dazu gehört zum Beispiel die Frage: Was passiert ei-gentlich, wenn dieses Abkommen abgeschlossen wird?Dann gibt es nämlich Gremien, die den Vertragstext fort-entwickeln und verändern können, Gremien, von denenwir nicht wissen, welche Kompetenzen sie haben, Gre-mien, von denen wir nicht abschließend wissen, wie siezusammengesetzt sind, Gremien, die aber gegebenenfallsüber die Zukunft dieses Vertrages entscheiden können,ohne dass sichergestellt ist, dass Sie, dass wir als Parla-ment über dieses Abkommen noch mitentscheiden kön-nen, weder im Europaparlament noch hier im DeutschenBundestag. Diese Frage ist offen. Diese Frage haben wirder Bundesregierung zigfach gestellt . Auf diese Fragehaben wir bis heute keine Antwort bekommen . Genaudas ist sinnbildlich für Ihren Umgang mit diesem Ab-kommen . Deswegen ist es richtig und wichtig, dass wirhier im Parlament dieses Abkommen immer wieder zumThema machen .
Gleichzeitig ist es aber auch wichtig, jetzt über die in-ternationale Handelspolitik zu diskutieren, weil sich jain den letzten Monaten ungeheuer viel in der internati-onalen Debatte verschoben hat . Auch damit müssen wirals Parlament uns beschäftigen . Die Wahl von DonaldTrump hat zu einer Achsenverschiebung geführt . SeineBundesministerin Brigitte Zypries
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Ankündigungen, auf Einfuhren ausländischer Unter-nehmen Strafzölle zu verhängen, eine nationalistischeWirtschaftspolitik durchzusetzen, nur noch auf bilateraleAbkommen zu setzen, das Brechen der WTO-Regeln inKauf zu nehmen und gegebenenfalls auch gezielt eineSchwächung der Europäischen Union zu provozieren,sind Herausforderungen, die völlig neu sind . All dassind Herausforderungen, denen wir uns stellen müssenund vor deren Hintergrund jetzt auch ein Innehalten undNachdenken notwendig wäre .
Angesichts dieses Erstarkens des Nationalismus undangesichts dieser Herausforderungen, vor denen wir ge-rade stehen, fand ich es umso bedenklicher, wie wir diegestrige Debatte zum Jahreswirtschaftsbericht hier imParlament geführt haben . Ich fand es ebenso bedenk-lich, dass ein ehemaliger Bundeswirtschaftsminister undkünftiger Außenminister nichts anderes zu dieser Debat-te zu sagen hatte außer: Wir machen einfach so weiterwie bisher . Wir ziehen CETA durch . – Sie überlegennoch nicht einmal mehr, ob es einen Moment gibt, woman analysieren und nachdenken muss . Die Antwort isteinfach nur: Ich habe recht, weil ich es immer schon sogemacht habe . – Und all diejenigen, die das nicht sehen,sind entweder auf der Seite von Donald Trump oder –noch schlimmer – verstehen einfach nicht, was SigmarGabriel sich da Geniales gedacht hat .
Gerade diese Art ist jetzt nicht angemessen . Geradejetzt wäre es wichtig, innezuhalten und zu schauen: Wasist da in den USA eigentlich passiert?
Wenn wir die Debatte in den USA beobachten, dannsehen wir, dass es da ein Zerrbild gibt zwischen einerunregulierten Globalisierung auf der einen Seite undDonald Trump auf der anderen Seite, der sagt: Wir ma-chen die Grenzen dicht . Ich verspreche euch: Wenn ichdie Grenzen schließe, dann bleiben die Jobs hier imLand, und dann werde ich diese Jobs sichern . – Genaudiese Verkürzung, dieses Schwarz-Weiß-Bild, diesesZerrbild ist es, was Probleme in der Gesellschaft provo-ziert . Genau dieses Zerrbild ist es, das die Rechten undNationalisten erst stark macht . Deshalb ist es so wichtig,eine Debatte zu führen, die Alternativen aufzeigt, eineDebatte zu führen, die zeigt, wie eine faire Handelspoli-tik aussieht . Dazu hätten Sie hier die Chance, wenn Sieeinmal nachdenken würden . Wenn Sie CETA zum An-lass nehmen würden, jetzt mit den Kanadiern, mit einerneuen kanadischen Regierung, die uns durchaus näherist als ihre Vorgängerregierung, neu zu verhandeln, dannkönnten Sie sagen: Wir Europäer zeigen der Welt jetzt,wie ein gutes Abkommen aussieht . – Das wäre Ihre Auf-gabe .
Sie könnten als Antwort auf Donald Trump, der diefortschrittliche Finanzmarktregulierung der letzten Jahrezurückdrehen will, sagen: Wir setzen uns mit Kanada fürgute Regeln auf den Finanzmärkten ein . – Das steht imAbkommen aber nicht drin .
Sie könnten als Antwort auf May, als Antwort auf Trump,die Steuerdumping wollen, sagen: Wir vereinbaren mitKanada gute Regelungen zur Bekämpfung von Steuer-hinterziehung . – Das steht im Abkommen aber nicht drin .
Erlauben Sie eine Zwischenfrage oder -bemerkung
von Herrn Ernst?
Ja . Das ist übrigens meine erste Zwischenfrage in die-
sem Parlament überhaupt . Voll cool .
Es ist manchmal schwierig, bei Ihnen dazwischenzu-
kommen .
Kollegin Dröge, das liegt daran, dass sich die anderen
nicht trauen .
Ich habe folgende Frage: Sie haben von neuen As-
pekten gesprochen . Wir haben den Fakt: Donald Trump
schottet sein Land ab . Das heißt, der Handel der Europä-
er mit den Amerikanern wird eher schwieriger werden .
Gleichzeitig können die Amerikaner, die Dependancen in
Kanada haben, den Vorteil des CETA-Abkommens nut-
zen . Durch die Abschottung der Amerikaner können die
Europäer nicht gegenüber den Amerikanern die Vorteile,
die immer erwähnt werden, nutzen . Stimmen Sie aus Ih-
rer Sicht zu, dass auch das allein schon ein Grund wäre,
dass man die vorläufige Anwendung des Abkommens
nicht macht und abwartet, was passiert?
Sehr geehrter Herr Kollege Ernst, wir sind uns in derSache einig, dass wir die vorläufige Anwendung diesesAbkommens stoppen wollen, und zwar aus vielen inhalt-lichen Gründen, die wir hier im Parlament miteinanderdiskutiert haben . Hinsichtlich der Frage des Verhältnisseszwischen den USA und Kanada stehen auch die kanadi-schen Kolleginnen und Kollegen vor vielen Fragen, vorvielen Herausforderungen, weil Trump auch angekündigthat, dass er das Freihandelsabkommen NAFTA auf denPrüfstand stellen wird . Was das für die Kanadier bedeu-Katharina Dröge
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tet, werden sie erst in den nächsten Wochen und Mona-ten sehen . Was das im Umkehrschluss für ein möglichesAbkommen mit der Europäischen Union und Kanadabedeutet, kann man jetzt nicht abschließend beurteilen .Deswegen müssen wir abwarten, müssen wir schauen,was passiert .Weil auch die Kanadier vor der Herausforderung ste-hen, dass NAFTA als Freihandelsabkommen – das hat-te für sie durchaus Nachteile, aber natürlich auch wirt-schaftliche Vorteile – gegebenenfalls zur Debatte steht,ist gerade jetzt ein wichtiger Zeitpunkt, um mit den Ka-nadiern noch einmal darüber zu sprechen, wie ein gutesAbkommen aussehen könnte . Gerade jetzt ist die Gele-genheit da, zu sagen: Wir machen einen Neustart bei denGesprächen mit den Kanadiern und reden noch einmaldarüber, ob wir es nicht schaffen, ein vorbildliches Ab-kommen mit guten Regeln und ohne Schiedsgerichte,die Sie implizit mit Ihrer Frage gemeint haben, zu veran-kern . Das wäre jetzt die Chance . Dass die Bundesregie-rung überhaupt nichts tut, dass sie einfach nur sagt: „Wirmachen die Augen zu, wir ziehen CETA durch“, ist dasProblem . Das müssen wir jetzt thematisieren .
Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, ich kannnur an Sie appellieren. Wir haben jetzt eine Verpflich-tung, nachzudenken, innezuhalten, alle miteinander ineine vernünftige parlamentarische Debatte einzusteigen .Schuldzuweisungen und „Augen zu“ werden nicht funk-tionieren . Wir bieten Ihnen unsere Zusammenarbeit an .Trauen Sie sich einfach, haben Sie Mut, lassen Sie da-von ab, es durchzuzwingen . Ich weiß, dass Sie von derSPD Schwierigkeiten haben, dies mit der CDU/CSUdurchzusetzen . Nur ist dort leider weniger Erkenntnisvorhanden als bei Ihnen . Deshalb appelliere ich an Sie,weil Sie schon jetzt Teile in Ihrer Fraktion haben, die imeuropäischen Handelsausschuss, aber auch hier im Par-lament gesagt haben: Ihr erkennt wenigstens einen Teilunserer Kritik an . – Das ist bei der CDU/CSU deutlichschwieriger .Lassen Sie uns gemeinsam handeln und sagen: Wirwagen jetzt den Neustart . Leider hat Herr Gabriel – undauch Herr Heil – gestern gesagt, dass sich alle, die CETAkritisieren, auf die Seite von Trump stellen . Hören Siedamit auf und sagen Sie: Wir nutzen gemeinsam dieChance für eine faire Handelspolitik und beweisen denMenschen, dass es geht, dass Globalisierung Gewinnererzeugt, wenn sie fair ausgestaltet ist; gewinnen sollenalle Menschen in diesem Land, gewinnen soll sowohl dieUmwelt als auch die Unternehmen . Das wäre eine Rie-senchance und eine großartige Antwort auf den erstar-kenden Nationalismus .
Vielen Dank, Katharina Dröge . – Schönen guten Tag,
liebe Kolleginnen und Kollegen, an diesem bewegenden
Tag! – Nächster Redner: Andreas Lämmel für die CDU/
CSU-Fraktion .
Schönen guten Tag, Frau Präsidentin! Frau MinisterinZypries, herzlichen Glückwunsch zur Ernennung! Wirsind uns nicht fremd . Wir arbeiten schon viele Jahre mitIhnen gut zusammen, als Sie noch als Staatssekretärinim Amt waren. Ich hoffe, wir werden noch die restlichenacht Monate eine fruchtbare Zeit für die deutsche Wirt-schaftspolitik haben .Frau Dröge, gestern hat Ihr Spitzenkandidat, HerrÖzdemir, sich als großer Kämpfer für Handelspolitik dar-gestellt . Heute haben Sie die Wendung nach hinten voll-zogen . Im Prinzip sind Sie genau in das Muster gefallen,das Sie seit Monaten hier bieten . Sie müssen sich dochmal Ihre eigenen Argumente auf der Zunge zergehenlassen . Sie haben die Begründung dafür, dass wir CETAjetzt schnellstmöglich abschließen sollten, eigentlichselbst geliefert
Denn CETA, also das Abkommen zwischen der Europä-ischen Union und Kanada, ist das modernste Handelsab-kommen, das es weltweit gibt .Sie haben NAFTA, also das Abkommen zwischen Ka-nada, den USA und Mexiko, angesprochen . Es ist fast30 Jahre alt . Inhaltlich liegt CETA meilenweit vor demNAFTA-Abkommen . Alle Themen, die hier im Hausediskutiert worden sind, die draußen in der Zivilgesell-schaft diskutiert worden sind, die auf den Großdemons-trationen eine Rolle spielten, die Sie von den Linken undden Grünen mit angeführt haben, sind im Prinzip verhan-delt und im Abkommen berücksichtigt worden .Unser Wirtschaftsminister hat – ich glaube, misstrau-isch beäugt von den europäischen Partnern, denn es istja kein deutsches, sondern ein europäisches Abkom-men – noch viele Dinge durchsetzen können, was manvielleicht vor einem Dreivierteljahr überhaupt nicht er-ahnen konnte . Ich kann also Ihre Kritik überhaupt nichtverstehen – im Gegenteil . Sie sagen, wir brauchen einmodernes Abkommen . Wenn Sie das erreichen wollen,heißt das: Wir müssen das Abkommen jetzt in Kraft set-zen . Es ist wichtig – vor allem hat es einen enorm hohensymbolischen Wert –, dass wir uns gerade in dieser Zeit,die Sie ja auch beschrieben haben, mit einem US-Präsi-denten, der Handelsabkommen sozusagen mit einem Fe-derstrich beendet und seine ganzen Partner ohne Zögernvor den Kopf stößt,
zu einem Handel zu fairen Konditionen bekennen – ge-nau so, wie Sie es gesagt haben . Dafür bietet CETA diebeste Basis .
Katharina Dröge
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Vor allen Dingen würde dies zeigen, dass Europa hand-lungsfähig ist, meine Damen und Herren .Ich will es mal so sagen: Sie sagen nie, dass die Dis-kussion in anderen europäischen Ländern ganz andersverläuft,
dass Deutschland sozusagen als Bremser im Bremser-häuschen sitzt, anstatt als Lokomotive vorneweg zu fah-ren .
Das ist doch das Problem . Man kann nur sagen: Das,was Sie jetzt hier machen, spielt all jenen Leuten in dieHände, die sowieso europafeindlich eingestellt sind, diegegen die Globalisierung sind .
– Genau . – Bei dem Spiel machen Sie mit . Frau Dröge,damit werden Sie letztendlich keinen Beitrag zur Ent-wicklung der Wirtschaftspolitik in Deutschland leisten .Man muss einmal sagen: Natürlich wäre es schön,wenn man das umsetzen könnte, was Herr Ernst immerverkündet: Wir brauchen weltweite Abkommen . – Aberjeder, der die Verhältnisse in der WTO kennt, weiß, dassdort schon seit Jahren kaum ein Millimeter Fortschritt zuerzielen ist, weil zum Beispiel Länder wie Indien immerauf der Bremse stehen und Russland auf der Bremse ge-standen hat . Wenn man eben kein weltweites Abkommenin der Art und Weise, wie wir uns ein modernes Abkom-men vorstellen, zustande bekommt, dann muss man ebenversuchen, erst einmal über bilaterale Abkommen einenSchritt weiterzukommen .Ich habe es schon gestern vor dem Plenum gesagt:Es läuft im Moment der G-20-Prozess . Deutschlandhat die Präsidentschaft in der G 20 . Ein Kernpunkt derG-20-Präsidentschaft ist die Diskussion über die Chan-cen und die Risiken der Globalisierung . Dieser Punktpasst genau ins Bild; denn man weiß ja überhaupt nicht,was Herrn Trump eigentlich bewegt oder was er vorhat:Will er sich sozusagen – wie er es im Moment macht –völlig abschotten, Mauern bauen, Handelsabkommen be-enden, will er sozusagen in seinem eigenen Saft weiterschmoren, und gelten eigentlich überhaupt keine Abspra-chen mehr, die in den letzten Jahrzehnten gemacht wor-den sind? Insofern ist dieser G-20-Prozess im Momenteiner der wichtigsten Diskussionsprozesse, in dem sichdie amerikanische Politik letztendlich zu klaren Aussa-gen bekennen muss:
Wollen wir weiterhin freien Handel in der Welt haben?Wollen wir Handelsschranken weiterhin abbauen? Wol-len wir zu modernen Handelsabkommen kommen, damitder Wohlstandszuwachs in der Welt, der in den letztenJahrzehnten mit der Globalisierung einherging, weitervoranschreiten kann? Das sind doch die grundsätzlichenFragen .Ich kann festhalten: Die Gerichte in Deutschland ha-ben erst einmal entschieden . Sie haben die Anträge derLinken, auch die Eilanträge, abgewiesen . Das heißt, derWeg ist jetzt erst einmal frei. Dann muss das Ratifizie-rungsgesetz eingebracht werden. Im Rahmen des Ratifi-zierungsprozesses haben wir noch so viele Stunden Zeit,über all diese Dinge zu diskutieren . Die Linken werdenden 150 . Antrag schreiben, in dem immer das Gleichesteht .
– Es kam von Ihnen kein einziges neues Argument, HerrErnst . Sie führen nur das weiter, was Sie hier schon seitfünf Jahren erzählen . In Ihrem Antrag steht immer nur:können, können, können, möglicherweise, können, kön-nen, können . Das ist im Prinzip also nur ein Können-kön-nen-können-Antrag, aber Sie können es eben nicht rich-tig; das ist das Problem .
Ich kann nur sagen: Die substanziellen Punkte, diewir in der politischen Diskussion über CETA besprochenhaben, sind aufgenommen worden . Vieles ist in dem Ab-kommen untergebracht worden . Ich kann nur darauf ver-weisen: Im Ratifizierungsprozess können wir uns langegenug darüber unterhalten .Ich finde, Ihr heute vorgelegter Antrag war überflüs-sig .
Wir werden Ihrem Antrag natürlich nicht zustimmenkönnen .Vielen Dank .
Vielen Dank, Andreas Lämmel . – Nächster Red-
ner: Hansjörg Durz für die CDU/CSU-Fraktion, Augs-
burg-Land .
Vielen Dank . – Sehr geehrte Frau Präsidentin! Mei-ne sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnenund Kollegen! Auch ich darf der Ministerin zunächstganz herzlich gratulieren . Ich freue mich auf die Zusam-menarbeit .Sie haben schon erwähnt, dass wir zum x-ten Mal übereinen Antrag zu CETA beraten . Heute versuchen die Lin-Andreas G. Lämmel
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ken – diesmal mit juristischer Argumentation –, das Ab-kommen in irgendeiner Weise zu bremsen, zu verhindern .Die im vorliegenden Antrag infragegestellte Konformitätder vorläufigen Anwendung von CETA steht im Wider-spruch zur Auffassung des Bundesverfassungsgerichts.Es ist erwähnt worden: Der Zweite Senat hat vor kur-zem eindeutig festgestellt, dass die Bundesregierung dievom Bundesverfassungsgericht vorgegebenen Maßgabenvor der Zustimmung zur vorläufigen Anwendung vonCETA umgesetzt hat . Weder hat die Bundesregierungeiner vorläufigen Anwendung von CETA in bestimmtenSachgebieten wie Investitionsschutz, Portfolioinvestitio-nen, Anerkennung von Berufsqualifikationen oder demArbeitsschutz zugestimmt, noch hegt das Bundesverfas-sungsgericht Zweifel an der Möglichkeit Deutschlandsgemäß Artikel 30 des Vertrages, die vorläufige Anwen-dung von CETA einseitig zu beenden . Die Bundesregie-rung habe diese Erklärung in völkerrechtlich erheblicherWeise abgegeben und eindeutig notifiziert. – Dem ist imGrunde nichts hinzuzufügen .Das Freihandelsabkommen CETA hat in dieser Wo-che eine weitere wichtige Hürde genommen . Der Han-delsausschuss des Europäischen Parlaments stimmte mitgroßer Mehrheit für den Vertrag und hat damit den Wegzur Verabschiedung von CETA im Europäischen Parla-ment im kommenden Monat freigemacht . Das sind guteNachrichten: gute Nachrichten für den freien Handel undgute Nachrichten für die wirtschaftliche Entwicklung .
Mit CETA liegt ein exzellentes Freihandelsabkommenauf dem Tisch . CETA wird bestehende Handelshemmnis-se spürbar reduzieren, indem Zölle für Industriegüter um-fassend abgebaut und der Marktzugang im Bereich deröffentlichen Beschaffung verbessert wird. Es bekräftigtsoziale und ökologische Standards und schützt europäi-sche und kanadische Eigenheiten und Errungenschaften .Es stellt sicher, dass wir Maßnahmen zur Gestaltung undOrganisation der Daseinsvorsorge und zur Regulierungin den Bereichen Bildung, Gesundheit, Soziales, Was-serversorgung, Kultur und Medien auch zukünftig in un-verändertem Umfang ergreifen können . Und CETA wirdanstelle der traditionellen Schiedsgerichte mit Schieds-richtern erstmals die Einrichtung eines Investitionsge-richts vorsehen, dessen Richter von den CETA-Vertrags-parteien ernannt werden . Das Verfahren ist transparent,und es gibt eine Berufungsinstanz .
All das zeigt: CETA setzt Maßstäbe dafür, wie interna-tionaler Handel, wie Globalisierung nachhaltig und fairgestaltet werden können . Wir brauchen CETA aber auch,weil wir wissen, welch überragende Bedeutung offeneMärkte und freier Handel gerade für uns in Deutschlandhaben .Gestern haben wir hier im Parlament über den Jah-reswirtschaftsbericht und die herausragende Lage aufdem deutschen Arbeitsmarkt debattiert . Wir wissen: Je-der vierte Arbeitsplatz in Deutschland hängt am Export .Ohne den Zugang zu internationalen Märkten fiele dasPro-Kopf-Einkommen in Deutschland um gut 50 Prozentniedriger aus . Unsere Exportquote lag 2015 bei 46,9 Pro-zent des Bruttoinlandsprodukts .
Diese Zahlen zeigen: Der internationale Handel istGrundlage unseres Wohlstandes .
Angesichts dessen muss es in unserem ureigenen Inte-resse liegen, erfolgreichen Außenhandel voranzutreiben .Mit ausgewogenen Freihandelsabkommen verbessernwir die Marktzugangsmöglichkeiten, schaffen Rechtssi-cherheit in den internationalen Handelsbeziehungen undermöglichen es auch, die Gestaltung internationaler Han-delsregeln zu prägen .Die Entwicklungen in der Welt deuten aktuell aber ineine andere, in eine besorgniserregende Richtung . Wirbeobachten einen zunehmenden Rückzug ins Nationale .Freihandel gerät unter Druck . Was vor kurzem noch un-denkbar schien: Sowohl in den USA als auch in Großbri-tannien sind anstelle von grenzüberschreitendem Handelund offenen Märkten Protektionismus und Abschottungauf dem Vormarsch, und das – wie wir feststellen, wennwir die Berichterstattung in den letzten Tagen verfol-gen – offensichtlich in atemberaubendem Tempo.Der Ausstieg der USA aus dem transpazifischen Frei-handelsabkommen hat zwei Dinge verdeutlicht:Erstens . Der neue US-Präsident macht Ernst, all dasumzusetzen, was er im Wahlkampf angekündigt hat . Erist fest entschlossen, sich auf das Nationale zurückzu-ziehen und den freihandelspolitischen Rückzug der USAanzutreten .Zweitens . China ist fest entschlossen, das dadurch ent-stehende Vakuum zu seinen Gunsten zu nutzen .Wie reagieren wir auf diese Situation? Wir müssenverdeutlichen, dass Protektionismus die falsche Antwortauf die Herausforderungen der Globalisierung ist . Er istdie scheinbar einfache Antwort auf Sorgen und Ängstederer, die fürchten, im weltweiten Wettbewerb nicht mehrmithalten zu können . Protektionistische Maßnahmen –etwa Strafzölle und die damit verbundene Verteuerungvon Importen –, das klingt für viele offensichtlich verfüh-rerisch und mag kurzfristig vielleicht sogar Effekte erzie-len . Mittel- bis langfristig wird die Wirtschaft, werdendie Arbeitnehmer bis ins Mark getroffen. Gleiches giltfür die Aufkündigung von geplanten oder bestehendenHandels- und Investitionsabkommen . Es ist geradezu einParadoxon unserer Zeit, dass vor allem jene Menschen inden traditionellen Industriestaaten der USA einen Präsi-denten ins Amt gewählt haben, dessen erste Amtshand-lung massive Auswirkungen auf ihre soziale Sicherheitentfalten könnte und wahrscheinlich auch entfalten wird .Und selbstverständlich hätten Zölle auf Autos in Höhevon 35 Prozent auch beträchtliche Folgen für die hiesigeHansjörg Durz
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Automobilindustrie, für unsere Wirtschaft insgesamt . Esist der Weg in den Verlust von Arbeitsplätzen .Protektionismus kennt nur Verlierer . Protektionismusist die falsche Antwort auf die Herausforderungen derGlobalisierung .
Stattdessen müssen wir deutlich machen, dass wirFreihandel gestalten wollen und auch gestalten können .Der chinesische Präsident hat in Davos angedeutet,wie China auf den Rückzug der USA zu reagieren ge-denkt . Die Ankündigung Australiens, sich nach demEnde des transpazifischen Abkommens künftig mögli-cherweise China zuzuwenden, muss uns beschäftigen .Ein Freihandel nach chinesischen Vorstellungen, ge-prägt von Marktöffnung ohne Standards, ohne Regelnund ohne Schutzmechanismen, darf uns nicht kalt lassen .Deutlich wie nie zeigt sich: Wenn wir die Standards nichtsetzen, dann setzen sie andere . Wir können dann zwarnoch Handel treiben – aber zu den Bedingungen, die an-dere setzen . Darum brauchen wir Abkommen wie CETA .Mit kaum einem anderen Land haben wir solcheSchnittmengen wie mit Kanada – vor allem auch an Wer-ten und freiheitlichen Grundvorstellungen . Gestern hat –wir müssen jetzt sagen: Ex-Wirtschaftsminister – SigmarGabriel im Parlament gesagt: Kanada ist europäischer alsso manches Land in Europa . – Dem kann man sicher zu-stimmen .Wenn dieses Abkommen nicht gelingt, dann wohlkeines mehr . Und ich bin der festen Überzeugung, dassCETA ein sehr gutes Abkommen, ein faires Abkommenist, dass CETA als erfolgreiches Abkommen zukünftigVorbild für weitere Abkommen sein muss und sein wird .Deutschland muss den freien und fairen Handel voran-treiben . Wir tun dies .Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit .
Vielen Dank, Hansjörg Durz . – Nächster Redner:
Alexander Ulrich für die Linke .
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Es gibt Veränderungen in der Rhetorik . Wer wie wir bisvor kurzem mit Hunderttausenden in Deutschland odermit Millionen in Europa gegen CETA und TTIP demons-triert hat, wurde als antiamerikanisch hingestellt .
Jetzt sind wir auf der Seite des US-Präsidenten .
Ich bin mal gespannt, wann bei Ihnen, den regierungs-tragenden Fraktionen, dieser Widerspruch ankommt,dass es uns nicht um Personen geht, um Verträge mitLändern, sondern um die Inhalte . Deshalb lehnen wirTTIP und CETA ab . Das hat mit fairem Handel überhauptnichts zu tun .
Frau Wirtschaftsministerin, das war kein guter Start,als Sie hier zum Ausdruck gebracht haben – das habenauch Herr Lämmel und mein Vorredner gesagt –, wirwürden hier zu oft über CETA diskutieren . Ich möchtefesthalten: Über TTIP und CETA ist in diesem Parlamentfast nur aufgrund unserer Anträge und aufgrund von An-trägen der Grünen geredet worden . Wenn es nach der Re-gierung gegangen wäre, hätten wir über dieses Thema imParlament fast nie debattiert . Aber wir brauchen eine De-batte hier im Parlament, insbesondere vor so wichtigenEntscheidungen wie der über die vorläufige Anwendung.
Ich frage mich langsam: Was muss denn noch allespassieren, damit man endlich einmal politisch reagiertauf Ereignisse wie den Brexit oder die Trump-Wahl?Immer nach solchen Ereignissen werden Analysen er-stellt – es gibt Globalisierungsverlierer; wir müssen dieMenschen ernst nehmen; wir müssen die Menschen mit-nehmen –, aber dann wird die Politik einfach so fortge-setzt . Was muss denn noch passieren, damit endlich klarwird: Dieser unfaire Handel ist mit ein Grund dafür, dassdie Rechten stärker werden, er ist mit ein Grund dafür,dass sich Länder auf das Nationale zurückziehen? Wirhätten jetzt die Chance für einen Neustart mit CETA, umdiesen rechten Rattenfängern endlich das Wasser abzu-graben; aber dazu sind Sie nicht bereit .
Schade ist auch, dass wir die Debatte hier nichtmehr mit Sigmar Gabriel führen können . Es war immerschön, hier im Bundestag darüber zu diskutieren, wie derSPD-Parteivorsitzende mit seiner eigenen Partei Ach-terbahn gefahren ist . Wenn es einen Grund gibt, warumSigmar Gabriel als Parteivorsitzender gescheitert ist,dann den, dass er hier immer im Geist der Agenda 2010weitergemacht hat,
auch bei solchen Freihandelsverträgen, während seineeigene Partei auf diesem Weg kaum mehr mitzunehmenwar . Wenn er, wie er sagt, keine ausreichende Unterstüt-zung durch seine Partei hatte, dann hing das auch damitzusammen, dass die SPD im Prinzip anders tickte als ihrParteivorsitzender . Daran ist Sigmar Gabriel gescheitert .Aber auch jetzt merkt man nicht, dass die SPD endlichHansjörg Durz
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erkennt, dass sie ihre Politik verändern muss, um wiederbessere Umfragewerte zu bekommen .
Schauen wir uns jetzt einmal an, was im Einzelnenbeschlossen worden ist .
Wir sind anders als meine Vorredner nicht der Auffas-sung, dass die Bundesregierung die Vorgaben des Bun-desverfassungsgerichts in ausreichendem Maße einge-halten hat .
Schauen wir uns die einzelnen Punkte an, zuerst den In-vestorenschutz . Beim Investorenschutz hat man zwar dieKlagerechte herausgenommen, aber alles andere bleibtwie bisher . Auch die schwierigen Marktzugangsregelnbleiben wie bisher . Was haben Sie damit erreicht? DieProtokollerklärungen, die verabschiedet werden sollen,haben rechtlich überhaupt keine Verbindlichkeit .
Alles, was gesagt worden ist, um deutlich zu machen,man habe tatsächlich etwas erreicht im Sinne von Ver-besserungen für die Arbeitnehmer oder im Sinne desVerbraucherschutzes, ist nur heiße Luft . Sie versuchen,mit Protokollerklärungen etwas rechtsverbindlich zu ma-chen, was nicht rechtsverbindlich zu machen ist .
Deshalb bleibt der Druck gegen CETA und TTIP wei-terhin aufrechterhalten . Wir werden diese Themen auchin den Bundestagswahlkampf tragen . Ich glaube nicht,dass Sie sich trauen, den Ratifizierungsprozess noch vorder Bundestagswahl abzuschließen, weil auch Sie wis-sen, dass es im Bundesrat keine Mehrheit dafür gebenwird . Also wird das ein Thema im Bundestagswahl-kampf . Wir müssen deutlich machen: CDU, CSU undSPD stehen für unfairen Handel, für eine Politik gegenVerbraucherschutz, für eine Politik gegen Umweltschutz,für eine Politik gegen Arbeitnehmerrechte; und wir Lin-ke wollen fairen Handel, wollen diese Interessen berück-sichtigt wissen .In diesem Sinne: Vielen Dank . Die Debatte geht wei-ter .
Vielen Dank, Alexander Ulrich . – Nächster Redner für
die SPD-Fraktion: Bernd Westphal .
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Zunächst herzlichen Glückwunsch an die neueBundeswirtschaftsministerin . Viel Erfolg, viel Kraft undviel Glück in Ihrem neuen Amt!Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Aufforderung,dass die Debatte hier weitergehen soll, ist völlig richtig;aber es kann ruhig etwas niveauvoller sein .
Neue Argumente, die wirklich schlagkräftig sind, undeine seriöse Auseinandersetzung habe ich vonseiten derLinksfraktion hier noch nicht erlebt .In dieser Woche haben wir hier in diesem Hauseund auch im Wirtschaftsausschuss über den Jahreswirt-schaftsbericht 2017 diskutiert . Im Zentrum dieser De-batte stand die Bedeutung, die Wichtigkeit des globalenHandels, den wir brauchen . Unsere exportorientierteWirtschaft ist Voraussetzung dafür, dass wir Zugang zuMärkten haben . Sie sichert nicht nur die Zukunft unsererWirtschaft, sondern auch den Wohlstand unseres Landes .Wenn man verfolgt, was die Regierungschefin Mayin Großbritannien zurzeit auf ihrer politischen Agendahat, fällt auf, dass sie in erster Linie Gespräche darüberführt, wie sie den Zugang zu Märkten sichern kann; dennsie muss Freihandelsabkommen aushandeln, um die Per-spektiven der britischen Wirtschaft abzusichern .Jetzt liegt hier dieser Antrag vor, um CETA zu verhin-dern; es ist nicht der erste Antrag zu diesem Thema . Dasist Ihr gutes Recht . Allerdings gehen Sie diesmal nocheinen Schritt weiter . Sie formulieren, dass Sie CETA alseuropa- und verfassungsrechtlich problematisch einstu-fen . Dabei sind die Linken bereits mit Eilanträgen vordem Bundesverfassungsgericht gescheitert, mit denen siedie vorläufige Anwendung von CETA verhindern woll-ten . Ich war selbst bei den Verhandlungen vor dem Bun-desverfassungsgericht in Karlsruhe dabei und habe dieArgumentation der Richter sehr genau verfolgt . HörenSie endlich auf, das zu bekämpfen, was unserem Landnutzt!
Seit genau drei Jahren diskutieren wir hier an dieserStelle über immer mehr Anträge mit immer weniger Ar-gumenten . Sie zaubern immer wieder neue Argumenteaus dem Hut, die von Gerichten widerlegt werden . Nunfordern Sie in Ihrem Antrag ein ausführliches Gutachtendes Europäischen Gerichtshofs, bevor über die vorläufi-ge Anwendung Fakten geschaffen werden. Warum wirddiese Forderung nicht an Ihre Kollegen im Europaparla-ment gestellt? Warum muss sich der Deutsche Bundestagüberhaupt mit dieser Fragestellung befassen, wenn ersteinmal das Europaparlament zuständig ist?
– Die Ratifizierung kommt danach. Erst einmal mussdas Europaparlament beschließen . – Das wäre der PlatzAlexander Ulrich
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für die Forderung nach solch einem Gutachten gewesen .Dort gibt es diese Forderung allerdings nicht . Ich will Siefragen: Warum haben Sie sich nicht mit Ihren Kollegenim Europaparlament in einem Dialog über diese Dingeausgetauscht?
Diese wurden bereits im November 2016 im Europapar-lament mit satter Mehrheit abgelehnt . Jetzt beantragenSie das Gleiche hier im Deutschen Bundestag . Keinewirklich originelle Idee!Ihre politische Ablehnung von CETA soll juristischaufgewertet und mit angeblichen schwierigen europa-und verfassungsrechtlichen Problemen in Verbindunggebracht werden . Man mag zu CETA stehen, wie manwill, aber ich bin grundsätzlich nicht der Meinung, dassdie Legitimität europäischer Abkommen und Institutio-nen deshalb hinterfragt werden kann, weil gewisse Ent-scheidungen, zum Beispiel im Handelsbereich, nicht ge-fallen sind .Sie fordern die Bundesregierung auf, die Notifizierungan Kanada zur Inkraftsetzung der vorläufigen Anwen-dung von CETA zu verhindern . Damit sollen die vorläu-fige Anwendung und auch CETA insgesamt verhindertwerden . Sie bezweifeln in Ihrem Antrag die MöglichkeitDeutschlands zur einseitigen Beendigung der vorläufi-gen Anwendung; allerdings hat das Bundesverfassungs-gericht genau das in seinem Beschluss am 7 . Dezember2016 eindeutig festgestellt .
Ich denke, das sollten Sie berücksichtigen . Die Bundes-regierung hat eine entsprechende Erklärung in völker-rechtlich erheblicher Weise abgegeben . Die JuristischenDienste der Kommission und auch des EuropäischenParlaments gehen davon aus, dass das Investitionsschutz-system, wie in CETA vorgeschlagen, EU-rechtskonformist . Das ist also eine klare juristische Bewertung, die zueinem anderen Ergebnis kommt als dem, das Sie in IhremAntrag zum Ausdruck bringen .
Das Bundesverfassungsgericht hat schon am 13 . Ok-tober 2016 CETA behandelt und klargestellt, dass dieBundesregierung CETA im Rat zustimmen und sich auchfür die vorläufige Anwendung aussprechen kann. Es giltalso auch weiterhin: Eilanträge, die vor dem Bundesver-fassungsgericht – zuletzt vor zwei Wochen – verhandeltwurden, blieben erfolglos . Die Antragsteller hatten er-neut gegen die vorläufige Anwendung geklagt und hattendamit keinen Erfolg .Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Deutsche Bun-destag hat am 22 . September 2016 – es gab auch einenamentliche Abstimmung dazu – über den CETA-Ver-tragstext debattiert . In der Plenardebatte wurde dieNotwendigkeit von Handelsabkommen nochmals un-terstrichen . Es wurde darauf hingewiesen, dass sie eineBereicherung für die Weltwirtschaft sind und welcheBedeutung die Standards haben, die dort definiert wur-den . Inzwischen haben sich vier Ausschüsse des Europa-parlaments mit CETA befasst und darüber beraten . DieZustimmung des Europaparlaments steht kurz bevor undist Voraussetzung für die Ratifizierung. Am 15. Februarwird sich das Parlament damit beschäftigen .Wir als SPD haben uns immer für fortschrittliche undfaire Handelsabkommen ausgesprochen . Gerade SigmarGabriel hat auf europäischer Ebene wie auch mit derkanadischen Seite mit Politik auf wirklich höchstem Ni-veau eine ganze Reihe von Verbesserungen in den aus-gehandelten Text einbringen können . Wir haben immergesagt, dass wir mit globalem Handel nicht nur freienHandel, sondern auch faire Bedingungen wollen . Genaudiese sind hier verankert . Helmut Schmidt hat einmalgesagt: „Märkte sind wie Fallschirme: sie funktionierennur, wenn sie offen sind.“Liebe Kolleginnen und Kollegen der Linken, geradevor dem Hintergrund der aktuellen politischen Entwick-lungen – die USA sind hier einige Male genannt wor-den – sind Sie mit Ihrem Antrag auf dem Holzweg . Des-halb werden wir ihn ablehnen .Vielen Dank .
Vielen Dank, Bernd Westphal . – Die nächste Redne-
rin: Bärbel Höhn für Bündnis 90/Die Grünen .
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Ich möchte gerne die Worte der neuen Wirtschaftsminis-terin Zypries, dass hier der Ort der Auseinandersetzungist, aufgreifen . Wir sollten diese Diskussion in der Tathier führen . Gerade angesichts der Wahl in den USA undweil Trump dort jetzt Protektionismus und Nationalis-mus vorantreibt, können wir sie viel weiter fassen unddürfen sie nicht auf CETA beschränken .
Insbesondere Sie von der SPD möchte ich bitten,sich noch einmal genau zu überlegen, was Sie im letz-ten Herbst auf Ihrem Parteikonvent beschlossen haben .Einer Ihrer Beschlüsse war: Das Europaparlament sollnoch einmal ganz intensiv über diese Verträge diskutie-ren . – Das ist nicht passiert . Im Handelsausschuss habendie Grünen den Antrag gestellt, zu beschließen: Solangewir noch nicht einmal wissen, wie bzw . ob das Europa-parlament überhaupt eingebunden wird, ob es also einenPlatz im Joint Committee bekommt, in dem ganz wich-tige Entscheidungen gefällt und die Annexe des Vertra-ges verändert werden können, sollten wir diesem Vertragnicht zustimmen .
Es wäre richtig, jetzt innezuhalten und noch einmal überdie Wirkungen dieser Handelsverträge nachzudenken .Es hat übrigens auch Sozialdemokraten gegeben, dieCETA im Handelsausschuss nicht zugestimmt haben . EsBernd Westphal
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gab bei Ihnen also ein gespaltenes Abstimmungsverhal-ten . Insofern möchte ich an Sie appellieren, innezuhaltenund noch einmal nachzudenken . Denn in der Tat habenwir durch die Wahl von Trump auch die große Chance,der Welt gemeinsam mit Kanada zu zeigen, dass es an-ders geht als nationalistisch und mit Mauerbau und Pro-tektionismus .
Trudeau hat den CETA-Vertrag doch gar nicht ausge-handelt; das war Harper . Trudeau und auch Freeland ha-ben CETA vor der Wahl sogar kritisiert . Selbst Harper hatnoch versucht, im Hinblick auf die Schiedsgerichte dasSchlimmste zu verhindern, weil Kanada im Rahmen vonNAFTA das Land ist, das am häufigsten verklagt wird. Inrund 60 Prozent der Schiedsverfahren geht es um Um-welt- und Energiefragen . Kanada weiß, dass es negativbetroffen ist, und wollte das eigentlich vermeiden.Weil gerade die Grüne Woche stattfindet, sollten wiruns auch die Frage stellen: Was haben Handelsverträgeüberhaupt mit der Landwirtschaft, mit unserem Essen zutun? Wir alle wissen: CETA wird dazu führen, dass derDruck auf die Schweinebauern hierzulande stark steigenwird; gleichzeitig wird der Milchmarkt in Kanada zer-stört . Wollen wir das? Wollen wir, dass noch mehr bäuer-liche Familienbetriebe in beiden Ländern aufgeben? Daswollen wir nicht . Deshalb müssen wir auch diese Wir-kungen der Verträge im Blick haben .
Ich möchte sagen: Wir sollten nicht nur über CETA,sondern zum Beispiel auch über die Handelsverträge mitAfrika diskutieren .
Das, was da passiert, ist wirklich unsinnig: Der Land-wirtschaftsminister sorgt dafür, dass ganz viel Fleischund Milch billig nach Afrika exportiert werden, dort ge-hen die Märkte kaputt, und dann kommen die Menschen,weil sie in ihrem Land keine Perspektiven mehr haben,als Flüchtlinge zu uns . Das alles hängt zusammen, meineDamen und Herren .
Es ist unsinnig, dass das Landwirtschaftsministeriumwahnsinnig viel Geld ausgibt und damit die Märkte inAfrika zerstört und dann das Entwicklungsministeriumversucht, mit seinem Marshallplan ein wenig diese Feh-ler zu beseitigen . Machen Sie endlich eine vernünftige,ganzheitliche Politik, die all das berücksichtigt! Sie kön-nen nicht auf der einen Seite in New York die Sustain-able Development Goals und in Paris den Klimavertragunterzeichnen und auf der anderen Seite Handelsverträgeabschließen, die dazu führen, dass wir die eingegangenenVerpflichtungen überhaupt nicht erfüllen können. Dasfunktioniert nicht, meine Damen und Herren .
Vielen Dank, Bärbel Höhn . – Nächster Redner:
Dr . Heribert Hirte für die CDU/CSU-Fraktion .
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Liebe Zuhörer! Auch von mir – wenn sie noch da wäre,würde ich es ihr persönlich sagen – herzliche Glückwün-sche an die neue Bundeswirtschaftsministerin! Es freutmich ganz besonders, dass wir mit ihr eine Juristin ha-ben, die sich, wenn es um einen solch juristischen Textund ein solch juristisches Thema geht, auskennt . Sie hatja eben schon die wesentlichen Punkte angesprochen .Wir beraten hier über Ihren Antrag „Ein“ – ich sagegleich: angeblich – „europa- und verfassungswidrigesCETA-Abkommen verhindern“ . Ehrlich gesagt, der An-trag ist eine Dreistigkeit .
Denn Sie sind mit dem Versuch gescheitert, mit einereinstweiligen Anordnung vor dem Bundesverfassungsge-richt die Zustimmung der Bundesregierung zur einstwei-ligen Inkraftsetzung dieses Abkommens zu verhindern .Sie sind nicht nur einmal gescheitert, Sie sind zweimalgescheitert; denn natürlich hat die Bundesregierung –das war dann der zweite Antrag – die Maßgaben, die esvor einer Zustimmung von BundeswirtschaftsministerGabriel im Ministerrat für nötig gehalten hat, korrektumgesetzt .Jetzt ziehen Sie einen der Punkte, mit denen Sie schonin Karlsruhe gescheitert sind, erneut aus der Tasche, weilder Juristische Dienst des Europäischen Parlaments einevon der Auffassung der deutschen Bundesregierung ab-weichende Auffassung vertritt. Es geht um die Frage, obdie Bundesregierung in dem – erst einmal völlig unwahr-scheinlichen – Fall, dass das Bundesverfassungsgerichtdas Abkommen endgültig als verfassungswidrig ansehensollte, einseitig kündigen kann . Das sei, so der JuristischeDienst, nicht möglich .Lieber Kollege, es tut wirklich not, sich einmal anzuse-hen, was das Bundesverfassungsgericht dazu gesagt hat .Genau damit – wir haben es ansatzweise schon mehrfachgehört – hat sich das Bundesverfassungsgericht in seinerzweiten Entscheidung auseinandergesetzt und gesagt:Die Bundesregierung hat diese Erklärung durch diebeiden Schreiben des Ständigen Vertreters … anden Generalsekretär des Rates sowie den StändigenVertreter Kanadas … in völkerrechtlich erheblicherWeise abgegeben und notifiziert. Etwaige Zweifelan der Bedeutung dieser Erklärung werden jeden-falls dadurch ausgeräumt, dass die Schreiben desStändigen Vertreters der Bundesrepublik Deutsch-Bärbel Höhn
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land bei der Europäischen Union zur Erläuterungder darin erhaltenen Erklärung auf das Urteil desSenats– des Bundesverfassungsgerichts – . . . verweisen, das hinsichtlich der Erforderlichkeit,die vorläufige Anwendung ... beenden zu können,eindeutig ist .So steht es in Randnummer 32 .
Herr Dr . Hirte, erlauben Sie eine Frage?
Er redet die ganze Zeit . Jetzt möchte ich zu Ende re-den .
Jetzt könnte man natürlich sagen: zwei Juristen, dreiMeinungen .
Das stimmt hier nicht . Denn wenn tatsächlich der Falleintreten sollte, dass das Abkommen vom Bundesver-fassungsgericht als verfassungswidrig qualifiziert wür-de, Deutschland einseitig kündigen würde, die EU dasnicht bestätigen würde und dann auch noch der Europä-ische Gerichtshof die abweichende Auffassung der EUbestätigen würde, wäre die Lage nach unserem Verfas-sungsrecht völlig eindeutig; denn wir hätten es mit ei-nem ausbrechenden Rechtsakt zu tun, der von uns nichtzu beachten wäre . Sie bauen hier einen Popanz auf, denes rechtlich nicht gibt, und das, finde ich, ist ein Unding.
Ich empfehle Ihnen – ich habe es Ihnen vorgelesen –:Sie sollten die Entscheidungen des Bundesverfassungs-gerichts lesen – wir tun das –, statt hier Zirkusvorführun-gen zu machen .
Vor allen Dingen: Führen Sie die Menschen nicht in dieIrre!Eine Zwischenbemerkung an die Kollegin Dröge:Sie fragen nach der Diskussion vor dem Bundesverfas-sungsgericht und sagen, es fehle die Rückbindung derAusschüsse an unsere Parlamente . Das Bundesverfas-sungsgericht hat sich in der mündlichen Verhandlungausführlich – wir waren gemeinsam da – mit dieser Fragebefasst und gesagt: Ja, Abkommen werden weiterentwi-ckelt; denn Texte entwickeln sich weiter . Auch der Präsi-dent des Bundesverfassungsgerichts hat genau zu diesemPunkt gesagt: Auch wir als Richter sagen später etwasanderes, als man sich irgendwann einmal in der Historiedazu gedacht haben könnte . – Auch das ist Irreführung .
Der zweite Punkt – EUZBBG: Wir werden in den Aus-schüssen bei allen Fragen beteiligt . Das ist schon jetztso . Es besteht keinerlei Handlungsbedarf auf der Seitedes nationalen Verfassungsrechts . Auch das ist schlichtfalsch .
Dann kommen Sie mit der Frage: Warum wurde dasnicht alles vorab mit dem EuGH geklärt? Klar, man kannviele Fragen mit den Gerichten klären . Der entscheiden-de Punkt ist aber: Was sich darin eigentlich offenbart, istein falsches Demokratieverständnis; denn die Gerichtekommen doch erst zum Zuge, wenn wir hier entschiedenhaben, und Sie haben eben schon gehört – Herr Westphalwar es, glaube ich, der es sagte –, Sie hätten doch einenentsprechenden Antrag mit Ihren Freunden im Europäi-schen Parlament einbringen können . Das haben Sie nichtgemacht . Sie fördern mit solchen Anträgen das Demo-kratiedefizit, das Sie angeblich beseitigen wollen. Dennwir, die Deutschen, wollen mit Mehrheit Freihandel,weil wir davon leben, und wir haben über diese Fragex-mal – auch das haben wir mehrfach gehört – beratenund entschieden . Diese Mehrheitsentscheidung wollenSie konterkarieren .Im Übrigen wollen Sie, dass der Europäische Ge-richtshof angerufen wird . Die Entscheidung des Bundes-verfassungsgerichts akzeptieren Sie nicht . Würden Siedenn die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofsakzeptieren? Auch nicht! Ihnen geht es nicht um die Sa-che .
Ich kann nur sagen: Die Mehrheit der Bürger unseresLandes und die Mehrheit der Bürger der EuropäischenUnion möchten eine starke Europäische Union, einestarke, auf Wettbewerb und Freiheit gegründete Gemein-schaft . Das ist das, was Sie zerstören .
Deshalb bin ich, ehrlich gesagt, erschrocken, als ichgesehen habe – das muss man am Rande hier einfüh-ren –, dass dem englischen Parlament gestern ein Gesetz-entwurf vorgelegt wurde, mit dem der britischen Regie-rung die Erlaubnis zur Stellung des EU-Austrittsantrageseingeräumt werden soll, der gerade einmal zwei Sätzeumfasst. Wenn wir eine öffentliche Diskussion brauchen,stellt sich die Frage, ob eine solche Basis für das engli-sche Parlament reicht. Wenn wir eine inhaltliche öffentli-che Diskussion brauchen, dann ist es nicht die öffentlicheDiskussion über Freihandel, sondern über die Kosten desProtektionismus . Das können Sie Ihren englischen Kol-legen gerne zurufen .
Dr. Heribert Hirte
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Das Schlimme ist: Mit solchen Anträgen fördern Siedie Enttäuschung über die Politik und das Misstrauen .Wenn wir es nicht mit Kanada hinbekommen – FrauHöhn hat gerade selber gesagt: Kanada ist ein guter Part-ner für uns –: Mit wem sonst bekommen wir Freihandelhin? Vielleicht mit Nordkorea? Ist das Ihre Vorstellung?Lieber Herr Ernst, wir haben öfter über diese Frage dis-kutiert .
– Wir kommen weiter nach oben . Bei Ihnen ist es unter-irdisch .Ich zitiere jetzt Sie vom 27 . Februar 2015 . Sie sagten:Ich möchte das Thema, bei dem ich vorhin war,noch einmal aufgreifen, weil das wirklich sehrwichtig ist . Entstehen in Deutschland und in Euro-pa wirklich Riesenprobleme, wenn wir bei diesemAbkommen– gemeint war TTIP –nicht dabei sind? Ich glaube das nicht . Wir werdenweiter nach Amerika liefern, weil unsere Produktedort auch dann verkauft werden, wenn die Standardsbei uns höher sind, und wir werden weiterhin Pro-dukte von anderen kaufen . . . Auf keinen Fall wirdein Arbeitsplatz in Deutschland gefährdet, wenn wiruns hier nicht beteiligen .Heute wissen wir: Genau das ist mit Ihrer Blockade-politik gegenüber dem Abkommen in Gefahr . Wir hättendeshalb besser gestern als erst irgendwann in ferner Zu-kunft die entsprechenden Abkommen geschlossen . Dannhätten wir etwas für die freie Wirtschaft und die freieWelt getan . Das versuchen Sie zu verhindern .
Es ist naiv, zu glauben, dass wir von unseren Standardsals gegeben ausgehen können und dass es nicht auch Re-gierungen in der Welt gibt, die über Rückentwicklungennachdenken . Mit dieser Begründung Freihandel zu tor-pedieren, bringt alle diese Grundwerte, die uns einigen,in Gefahr .Daher liegt Armin Laschet gar nicht so verkehrt, wenner sagt:Zehntausende linke und rechte TTIP-Gegner habenihren Wunschpräsidenten .
Mit Ihrem Antrag machen Sie Werbung für den Pro-tektionismus von Donald Trump . Wir machen das nichtmit .
Danke schön, Dr . Heribert Hirte . – Bevor Frau
Tausend das Wort hat, hat der Kollege Ernst das Wort zu
einer Kurzintervention .
Herr Kollege Dr . Hirte, Sie haben gesagt, wir hättenein Demokratiedefizit. Glauben Sie nicht, dass es des-halb ein Demokratiedefizit gibt und die Zustimmung derBürgerinnen und Bürger fehlt, weil man von Anfang anversucht hat, solche Abkommen hinter dem Rücken derMenschen zu verabschieden?
Glauben Sie nicht, dass das Demokratiedefizit auch mitdem Eindruck zu tun hat, dass verhindert werden sollte,dass nationale Parlamente und die Bürger Europas über-haupt mitreden? Besteht das Demokratiedefizit darin,dass die von den Bürgern Europas gestartete Bürgeriniti-ative nicht angenommen wurde?Das alles sind Demokratiedefizite!Ist ein Demokratiedefizit vielleicht auch dadurch ent-standen, dass es fast ausschließlich die Opposition war,die dieses Thema hier im Bundestag angesprochen hat,und dass man den Eindruck hatte, dass Sie sich jeweilsdarüber aufregen, dass sie das tut, weil Sie die Debattegar nicht wollten? Könnte das vielleicht die Ursache ei-nes Demokratiedefizits sein?
– Herr Dr . Hirte, ich bin noch nicht fertig .Sie haben erzählt, dass wir vor dem Bundesverfas-sungsgericht gescheitert sind . Herr Dr . Hirte, ja, wir ha-ben das nicht so hingekriegt, wie wir es wollten, aber dieBundesregierung hat Auflagen bekommen.Die erste Auflage – ich war dabei –, die erteilt wordenist, war, dass all die Bereiche von der vorläufigen An-wendung ausgenommen werden müssen, die nicht „EUonly“ sind . Das haben Sie überhaupt nicht gemacht .Die zweite Auflage, die erteilt wurde, war, dass ge-klärt wird – jetzt sind wir bei dem Punkt, den Sie ange-sprochen haben –, dass die Bundesrepublik durch eigeneEntscheidung aussteigen kann . Es ist gut und schön, dassdie Verfassungsrichter auf der Grundlage des nationalenRechts, also der Verfassung, urteilen; das ist ihr Job . Aberdie Europäer sehen dies ganz anders . Sie sagen: Es gibteuropäische Verträge, in denen der Ausstieg bei solchenFragen wie etwa die vorläufige Anwendung geklärt wird.Da sagen Sie: Das interessiert uns alles nicht . – In die-sem Fall brauchen wir solche Verträge nicht zu schlie-ßen; denn Verträge müssen eingehalten werden . Sie wer-den sehen: Da werden wir noch ein Problem bekommen .Die dritte Auflage war, sicherzustellen – so die Verfas-sungsrichter –, dass die Entscheidungen der Ausschüsseauf EU-Ebene eine demokratische Rückkopplung an dienationalen Parlamente und an die demokratische Ebenehaben. Offensichtlich sahen auch die Verfassungsrichterdie Konstruktion so, dass das nicht gegeben ist . Das mussgeklärt werden . Ich sage Ihnen: All das ist nicht geklärt .Warten Sie einmal ab, was in der endgültigen Entschei-dung der Verfassungsrichter als Ergebnis herauskommt .Dr. Heribert Hirte
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Warten Sie vor allen Dingen ab, was auf EU-Ebene he-rauskommt. Warten Sie ab, ob alle Staaten ratifizieren.
Vielen Dank, Herr Ernst . – Jetzt hat Herr Dr . Hirte die
Möglichkeit einer Kurzinterventionsantwort .
Herr Ernst, Sie wiederholen nur all die Punkte, die Sie
eben schon genannt haben . In der Frage der einseitigen
Kündigungsmöglichkeit habe ich genau erklärt, was das
Bundesverfassungsgericht dazu ausgeführt hat .
Für uns ist die Entscheidung des Bundesverfassungs-
gerichtes maßgeblich . Wenn Sie sich ein bisschen mit
dieser Rechtsfrage beschäftigen würden – die Bundes-
wirtschaftsministerin ist jetzt leider nicht mehr da, sonst
würde sie es Ihnen erklären –, dann wüssten Sie: Die Fra-
ge der Reichweite der Integration ist vom Bundesverfas-
sungsgericht entschieden, nicht vom Europäischen Ge-
richtshof . Insofern ist das maßgeblich, was in Karlsruhe
entschieden wird .
Das, was Sie verbreiten, ist schlicht falsch .
Stichwort „Demokratiedefizit“. Es ist falsch, dass bei
diesen Verhandlungen irgendetwas verheimlicht wurde .
Gehen Sie einmal auf die Homepage der Europäischen
Kommission. Dort finden Sie alle Entwürfe und alle Ab-
kommen sowie alle Stellungnahmen . Genauso war es
auch bei CETA und bei TTIP .
– Jetzt rede ich! – Ich sage es Ihnen ganz deutlich: Nie-
mand hat sich dafür interessiert . Nicht einmal der Deut-
sche Gewerkschaftsbund oder der Europäische Gewerk-
schaftsbund haben sich dafür interessiert . Erst als sie
gemerkt haben, dass sie mit Amerika – das ist auch mit
Blick darauf zu sehen, dass CETA als Blaupause dient –
ein Feindbild haben, das ihnen in den Kram passt, haben
sie angefangen, herumzuwühlen und in dieser Richtung
weiter vorzugehen .
Noch ein Wort zum Stichwort „Demokratiedefizit“.
An all diesen Abkommen sind die Parlamente beteiligt .
Das ist auch nicht anders als bei Koalitionsvereinbarun-
gen . Ich kann nur sagen – da schaue ich die Kollegin
Dröge an –: Wir haben in Köln eine Koalitionsvereinba-
rung geschlossen; die Koalition läuft übrigens gut . Diese
Vereinbarung wurde zwischen den Führungen genauso
vereinbart, wie ein Abkommen zwischen Regierungen
vereinbart wird . Die einen Vereinbarungen werden nach-
her den Parteitagen und die anderen den Parlamenten
vorgelegt .
Suggerieren Sie den Bürgern nicht, es gäbe ein Demo-
kratiedefizit! Wir haben kein Demokratiedefizit. Alles,
was wir wollen – deshalb sitzen wir hier zusammen –,
geben wir nach oben an die Regierung weiter . Gerade
zum Thema Schiedsverfahren habe ich Vorschläge ge-
macht, und das Wirtschaftsministerium hat sie aufgegrif-
fen . Das ist die jetzige Entscheidungsgrundlage . Reden
Sie den Menschen nichts ein, was unwahr ist!
Vielen Dank .
Vielen herzlichen Dank . Das ist lebendiges Parla-
ment . – Die letzte Rednerin in dieser Debatte: Claudia
Tausend für die SPD-Fraktion .
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Kolleginnen und Kollegen! Manchmal hilft es,darauf zu schauen, woher man kommt, um zu wissen,wohin man will . – Ich möchte Sie einladen, diesen Wegfür die nächsten fünf Minuten konzentriert mit mir zugehen .Lassen Sie mich einen Blick zurück auf die Anfangs-zeit dieser Diskussion werfen, nämlich auf den Winter2013/2014 . Damals wurden die beiden transatlantischenHandelsabkommen TTIP und CETA erstmals in der brei-ten Öffentlichkeit diskutiert. Auch hier im DeutschenBundestag haben wir uns seitdem mit den Abkommenintensiv und kritisch auseinandergesetzt .Es ist richtig: Es gab auf jeden Fall ein beklagenswer-tes Demokratie- und Transparenzdefizit. Verhandlungenwurden in der europäischen Handelspolitik bisher hinterverschlossenen Türen geführt . Auch wir als Abgeordnetewaren ungenügend eingebunden . Es gab private Schieds-gerichte, bei denen internationale Anwälte, die sonst fürGroßkonzerne arbeiten, über Milliardenentschädigungenvon Unternehmen entscheiden sollten . Es gab schwam-mige Formulierungen, die nicht sicherstellten, dass So-zial-, Umwelt- oder Arbeitnehmerstandards ausreichendgeschützt sind . Es gab Klauseln, die es hätten ermögli-chen können, Bereiche der Daseinsvorsorge zu privati-sieren . Es gab also sehr wohl Dinge, mit denen wir unsintensiv auseinandersetzen mussten .Liebe Kolleginnen und Kollegen der Linken und derGrünen, keine Partei hat sich so intensiv mit beiden Ab-kommen – zunächst mit TTIP, das im Blickpunkt derÖffentlichkeit stand, aber später auch mit CETA – ausei-nandergesetzt wie die bundesdeutsche Sozialdemokratie .
Ich glaube, wir waren die einzige Partei, die zwei The-menparteitage – bei uns werden sie „Parteikonvente“Klaus Ernst
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genannt – veranstaltet hat und sich gemeinsam mit derZivilgesellschaft und den Gewerkschaften, aber auch mitder neuen kanadischen sozialliberalen Regierung undCecilia Malmström intensiv mit dem Thema auseinan-dergesetzt hat . Wir haben vieles durchgesetzt .
Frau Kollegin Höhn, ich hätte eine Synopse
unserer Parteikonventbeschlüsse und der Umsetzungenvonseiten der Europapolitiker im Angebot . Gerne könnteich das eine oder andere zitieren, wenn Sie eine Nachfra-ge haben .
Kolleginnen und Kollegen, ich bitte Sie: VergleichenSie ernsthaft die Situation 2013 mit der 2017! Wir ha-ben jetzt ein CETA, das zum ersten Mal mit den priva-ten Schiedsgerichten bricht . ISDS gibt es so nicht mehr .Stattdessen werden wir einen multilateralen Handels-gerichtshof schaffen – mit ordentlichen Richtern, Beru-fungsinstanz und transparenten Verhandlungen .
Das ist ein außerordentlicher Erfolg unseres mittlerweileehemaligen Wirtschaftsministers Sigmar Gabriel,
der sich zusammen mit den sozialdemokratischen Amts-kollegen und der Zivilgesellschaft gegen alle Widerstän-de durchgesetzt hat .Wir haben durchgesetzt, dass die Daseinsvorsorgeumfassend geschützt ist . Wir können Unternehmen deröffentlichen Hand und Dienstleistungen ohne Einschrän-kungen wieder rekommunalisieren . Kanada hat zugesagt,die letzte der acht ILO-Kernarbeitsnormen – sieben sindbereits ratifiziert – demnächst zu ratifizieren. Das sindgroße Erfolge .
Kolleginnen und Kollegen, ich bitte Sie, das anzuerken-nen . Es sind unsere Erfolge, die Erfolge der Zivilgesell-schaft, der Nichtregierungsorganisationen, der Verbändeund der Gewerkschaften . Aber schlussendlich sind esauch Ihre Erfolge . Sie haben oft den Finger in die Wundegelegt . Wir haben uns intensiv damit auseinandergesetztund sehr viele Kritikpunkte aufgegriffen. Wir haben jetztein sehr gutes Abkommen und übrigens ein Modell fürweitere Handelsabkommen . Cecilia Malmström hat zu-gesagt, künftig alle Verhandlungsmandate für Handels-abkommen sofort zu veröffentlichen, sofort in die natio-nalen Parlamente einzubringen und alle Dokumente insNetz einzustellen . Das ist ein großer Erfolg . Ich bitte Sie,das anzuerkennen .
Wir haben daran gearbeitet, der Globalisierung faireRegeln zu geben und die internationale Handelspolitikweiterzuentwickeln . Die handelspolitische Weltordnungwar – ich blicke noch einmal auf den Winter 2013/14zurück – stabil . Wir hätten das Endergebnis vielleichtablehnen müssen, wenn wir diesen guten Weg nichthätten gehen können . Aber heute – das ist mehrfachangeklungen – hat sich die bisher als sicher erachteteGrundordnung des Welthandels eklatant verändert . Wirhaben es mit einem amerikanischen Präsidenten zu tun,der China einen Handelskrieg androht und der Unterneh-mer mit Strafzöllen belegen will, wenn sie nicht in denUSA produzieren wollen . Selbst deutsche Unternehmenwie BMW sind nicht ausgenommen . Donald Trump hatangekündigt, aus der WTO auszutreten . Damit müssenwir uns auseinandersetzen . Das wäre das Ende des freienWelthandels . Das wäre die Rückkehr zum Protektionis-mus und zum Recht des Stärkeren . Das kann doch nie-mand von uns wirklich wollen .
Gerade deshalb muss Europa jetzt in diesen Zeiten hand-lungsfähig sein . CETA kann ein Impuls für das Welt-handelssystem sein; es kann ein Vorbild sein . Es bietetmittel- und langfristig die Möglichkeit für weitere faireHandelsabkommen, die auch den Partnerstaaten nutzen .Zum Antrag der Linken . Wir müssen uns jetzt ent-scheiden, Herr Kollege Ernst: Wollen wir das protekti-onistische Modell Trump zulassen? Wollen wir der Han-delsmacht China die Führung überlassen, oder wollen wirdie Globalisierung mit europäischen Werten prägen? InIhrem Antrag geht es um pure Verzögerung . Wir wissen:Ein Rechtsgutachten des Europäischen Gerichtshofs, wievon Ihnen gefordert, würde zwei, drei Jahre in Anspruchnehmen . So lange wären die parlamentarischen Verhand-lungen gestoppt .Der Juristische Dienst – das kam ja auch im Beitragvon Ihnen vor – hat die Zusatzabkommen noch einmalgeprüft und hat festgestellt, dass sie sowohl integralerBestandteil von CETA als auch juristisch verbindlichsind .
Frau Kollegin .
Insofern ist es, glaube ich, in der Tat nicht nötig, ein
weiteres Rechtsgutachten einzufordern .
Ich komme zum Schluss .
Ja, bitte .Claudia Tausend
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Lassen wir bitte die politische Verantwortung in den
Parlamenten! Schieben wir sie nicht auf den EuGH ab!
Schieben wir sie nicht auf Gutachten ab! Und lassen Sie
uns in diesen Zeiten für eine fortschrittliche Handelspo-
litik streiten!
Ich danke fürs Zuhören .
Ich schließe die Aussprache .Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage aufDrucksache 18/10970 an die in der Tagesordnung auf-geführten Ausschüsse vorgeschlagen . – Damit sind Sieeinverstanden . Dann ist die Überweisung so beschlossen .Ich bitte, bevor wir zum neuen Tagesordnungspunktkommen, die Plätze, falls nötig, zu wechseln, damit wirschleunigst weiterkommen .Ich rufe Tagesordnungspunkt 30 auf:Erste Beratung des von der Bundesregierungeingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Um-setzung der Richtlinie 2014/52/EU im Städte-baurecht und zur Stärkung des neuen Zusam-menlebens in der StadtDrucksache 18/10942Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktor-sicherheit
Innenausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur Ausschuss für Tourismus HaushaltsausschussIch bitte, die Plätze einzunehmen .Interfraktionell sind für die Aussprache 38 Minutenvorgesehen . – Auch dazu gibt es keinen Widerspruch .Dann ist das so beschlossen .Ich eröffne die Aussprache. Die erste Rednerin in die-ser Debatte ist die Ministerin Dr . Barbara Hendricks .Dr. Barbara Hendricks, Bundesministerin für Um-welt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit:Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Unsere Städte erleben seit Jahren eine Renaissance, weildas Leben in den Städten und Ballungsräumen für vieleund aus ganz unterschiedlichen Gründen immer attrak-tiver geworden ist . Wie bei den meisten Veränderungenhaben wir es dabei mit Chancen, aber auch mit Heraus-forderungen oder gar Problemen zu tun . Deshalb ist diePolitik aufgerufen, ein gutes Zusammenleben der Men-schen zu ermöglichen und den sozialen Zusammenhalt inden Kommunen und Quartieren zu stärken .An erster Stelle steht eine so von uns vor einigen Jah-ren nicht erwartete Binnenwanderung unserer Bürgerin-nen und Bürger . Es folgt der Zuzug von Menschen ausEuropa, und hinzugekommen sind die zu uns Geflüch-teten, die vor Ort integriert werden wollen und müssen .Weil die Bundesregierung diese Herausforderungen ernstnimmt, hat sie im November den entsprechenden Gesetz-entwurf zum Maßnahmenpaket „Neues Zusammenlebenin der Stadt“ beschlossen . Ein wesentlicher Baustein istdie Novelle des Bauplanungsrechts, die wir heute in ers-ter Lesung beraten .Liebe Kolleginnen und Kollegen, mit der neuenBaugebietskategorie „Urbane Gebiete“ wollen wir denKommunen ein Instrument an die Hand geben, mit demsie insbesondere in innerstädtischen Gebieten eine nut-zungsgemischte Stadt mit kurzen Wegen verwirklichenkönnen . Mir geht es dabei ganz ausdrücklich darum, denKommunen neue Spielräume zu verschaffen, und nichtetwa darum, ihnen etwas vorzuschreiben . Die Kommu-nen sollen die neuen Instrumente nutzen können, nichtnutzen müssen . Unsere Bürgermeisterinnen und Bürger-meister, die Stadträte und die Magistrate können verant-wortungsvolle Entscheidungen für ihre Kommunen sehrwohl selbst treffen. Sie brauchen dafür aber natürlichauch die geeigneten Instrumente, den passenden Rah-men .Urbane Gebiete sollen dem Wohnen dienen undgleichzeitig Gewerbebetriebe ermöglichen sowie sozia-le, kulturelle und andere Einrichtungen stärken . Damitlehnen wir uns bewusst an die „Leipzig Charta zur nach-haltigen europäischen Stadt“ an . Eine Stadt der kurzenWege verringert den Verkehr und kann gleichzeitig fürmehr Lebendigkeit und Vielfalt im öffentlichen Raumsorgen .
Wir wollen eine flexiblere Nutzungsmischung. Siemuss daher in Abgrenzung zum Mischgebiet ausdrück-lich nicht gleichgewichtig sein . Notwendige Lärmschutz-regeln sollen kleinere Gewerbebetriebe nicht verdrän-gen . Deshalb wollen wir in einem parallelen Verfahrenauch die TA Lärm ändern . Die Immissionsrichtwerte fürurbane Gebiete sollen die Mischgebietswerte um 3 Dezi-bel übersteigen dürfen . Über die konkrete Ausgestaltungwerden wir natürlich im Gespräch bleiben . Ich glaube,dass dieser Wert für einen angemessenen Interessenaus-gleich sorgt und vor allem auch die nötige Flexibilität fürdas gewünschte Nebeneinander von Wohnen, Leben undArbeiten ermöglicht .Begleitend wollen wir aber hinsichtlich dieser höherenLärmaußenwerte im Gesetz ausdrücklich festhalten, dassdie Kommunen die Möglichkeit haben, passive Schall-schutzmaßnahmen festzusetzen und damit die Auswir-kungen für die Bewohner zu reduzieren .
Dann könnte zum Beispiel das „Hamburger Fenster“ zumEinsatz kommen, oder es könnte Investoren vorgegebenwerden, einen begrünten Lärmschutzwall zu errichten .An die Länder gerichtet betone ich hier nochmals, dasses um Möglichkeiten für Kommunen geht, mit denendiese verantwortlich umgehen können und werden . Bundund Länder sollten den Kommunen diesen zusätzlichenSpielraum nicht verweigern .
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Wir können unseren Kommunen schon etwas zutrauen .Liebe Kolleginnen und Kollegen, in urbanen Gebie-ten soll auch von vornherein eine höhere Dichte mög-lich sein . Auf gleicher Fläche kann somit mehr Raum fürWohnungen entstehen . Denn bei allen Diskussionen überDetails sollten wir das große Ziel nicht aus den Augenverlieren: Wir brauchen mehr bezahlbaren Wohnraum,
und es gibt viele Menschen, die dringend darauf ange-wiesen sind, dass wir dafür eben auch die richtigen Rah-menbedingungen setzen .
Es geht aber bei weitem nicht nur um einen erhöhtenImmissionsrichtwert . So erfordert zum Beispiel die geän-derte Richtlinie zur Umweltverträglichkeitsprüfung einneues Verfahren, wenn Bauleitpläne aufgestellt werden .Ein weiteres Thema dieses Gesetzentwurfs sind Fe-rienwohnungen . Die Rechtsprechung des Oberverwal-tungsgerichts Greifswald hat die Frage aufgeworfen, obFerienwohnungen in klassischen Baugebieten überhauptzulässig sind . Dies hat vor allem in touristischen Regio-nen die Kommunen und die privaten Ferienwohnungsbe-treiber verunsichert . Hier wollen wir durch Klarstellungdie nötige Rechtssicherheit herstellen und zugleich denKommunen mehr planerische Möglichkeiten geben .
Liebe Kolleginnen und Kollegen, das Gesetzgebungs-vorhaben ist in den vergangenen Monaten bereits sehrintensiv diskutiert worden . Ich möchte Sie daher um IhreUnterstützung bitten. Die Kommunen und die Betroffe-nen warten durchaus auf dieses Gesetz .Herzlichen Dank .
Vielen Dank, Barbara Hendricks . – Nächste Rednerin:
Caren Lay für die Linke .
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Ferienwohnungen an der Nord- und Ostseeküsteermöglichen vielen Familien mit kleinem, mit mittleremEinkommen einen preiswerten Urlaub für die schönstenWochen im Jahr . Und für viele Einheimische ist der Tou-rismus ein willkommener Zuverdienst, manchmal sogardie Lebensgrundlage . Leider haben diverse Gerichtsur-teile dafür gesorgt, dass nun quasi Tausende Ferienwoh-nungen an der Küste in die Rechtsunsicherheit, zum Teilin die Illegalität gedrängt wurden . Viele Menschen fürch-ten um ihre Einkünfte . Deswegen sagen auch wir Linken:Wir brauchen Rechtssicherheit für die betroffenen Feri-enwohnungen .
Wir wissen aber zugleich, dass es auch Missbrauchmit Ferienwohnungen gibt . An den Küsten haben wirbeispielsweise oft das Problem, dass Zweitwohnungen,die nur wenige Wochen im Jahr genutzt werden, dafürsorgen, dass die auch dort zum Teil angespannten Woh-nungsmärkte weiter belastet werden . Viele Menschen,die dort in der Gastronomie arbeiten, ein kleines Einkom-men haben, finden in den Küstenorten gar keine Woh-nungen mehr . Wir haben das Problem mit langweiligensogenannten Rollladensiedlungen, die Städte und Dörferveröden lassen, und wir erleben vor allen Dingen in denGroßstädten, dass es massive Probleme mit dem enor-men Missbrauch von Wohnungen als Ferienwohnungengibt, was die Wohnungsmärkte weiter anspannt . Des-wegen finden wir es richtig, dass die Kommunen eineHandhabe haben, dies zu regulieren; denn sie können ambesten entscheiden, ob es sinnvoll ist, Ferienwohnungenzuzulassen, oder ob einfach ein Missbrauch vorliegt .Meine Damen und Herren, wir begrüßen auch einenweiteren wichtigen Punkt, nämlich dass die Planungs-verfahren beschleunigt werden und gleichzeitig die Um-weltverträglichkeitsprüfungen gestärkt werden . Auch dasfindet unsere Unterstützung.Jetzt zum zentralen Punkt des Vorhabens, zu den so-genannten urbanen Gebieten . Wir wollen – ich denke,wir sind uns darin sicherlich einig – lebendige Städte mitkurzen Wegen, in denen Wohnen, Arbeiten, Erholung,Gastronomie und Kultur sowie kleine Handwerksbetrie-be nebeneinander ihren Platz haben können . Das ent-spricht heute für viele dem Idealbild . Wir wollen nichtmehr Städte, wo das Wohnen an einem Ort stattfindetund das Arbeiten, verbunden mit langen Wegen, an an-derer Stätte, wo es nachts langweilig ist und wo man dieBürgersteige hochklappen kann . Die beliebten Gründer-zeitviertel in den Großstädten garantieren beispielsweisegenau dieses Leben . Sie sind deswegen so beliebt und fürviele das Idealbild . Heute könnten sie so gar nicht mehrgenehmigt werden, weil das Baurecht es gar nicht mehrzulässt . Deswegen ist es richtig, für diese Art von leben-digen Wohnvierteln eine Gesetzesgrundlage zu schaffen.
Ich denke, angesichts der Mietenexplosion in denGroßstädten ist es unausweichlich, dass wir Brachflächenbebauen, dass wir sie dichter als bisher bebauen, dass wirBahngelände bebauen . Von daher ist es richtig, entspre-chende innerstädtische Flächen zu aktivieren und dichterund auch höher bauen zu können .Diskutiert werden urbane Gebiete aber vor allen Din-gen im Zusammenhang mit dem Thema Lärm . Ich binfroh, dass für bestehende Wohn- und Mischgebiete diederzeitigen Regeln weitergelten werden . Es muss alsoniemand, der jetzt in einem ruhigen Wohngebiet wohnt,befürchten, dass es bei ihm lauter wird; das ist gut so .Ich finde gleichzeitig: Wer in die Nähe von bestehendemKleingewerbe, von bestehenden Bars, Klubs und Dis-Bundesministerin Dr. Barbara Hendricks
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kotheken zieht, der muss auch bereit sein, eine höhereLärmbelastung zu akzeptieren . Er wird andererseits jamit einem lebendigen Stadtteil belohnt . Deswegen sagenauch wir: Ja, wir brauchen einen Bestandsschutz für be-stehende Bars, für bestehendes Kleingewerbe, für beste-hende Klubs und Diskotheken .Die Frage ist aber aus meiner Sicht, wie wir die Lärm-konflikte, die es hier geben wird, lösen. Da hat die Regie-rung, finde ich, in ihrem Entwurf auf das falsche Pferdgesetzt . Sie sagen zwar „man könnte“, „man müsste“ und„alles toll“, aber im Gesetzentwurf steht bisher etwas an-deres; dort steht, man wolle die Lärmschutzgrenzen pau-schal nach oben setzen. Ich finde, da setzen Sie auf dasfalsche Pferd . Es gibt viele technische Möglichkeiten . Esgibt zum Beispiel das sogenannte Hamburger Fenster . Esgibt die Möglichkeit, in den Bebauungsplänen entspre-chende Vorschriften zu machen .
Das wäre im Interesse der Mieterinnen und Mieter undletztlich auch im Interesse des bestehenden Gewerbes,weil es die Lärmkonflikte minimieren würde. Ich glaube,darüber werden wir im weiteren Verfahren noch sprechenmüssen. So, wie es jetzt im Gesetzentwurf steht, finde iches falsch .Ebenso falsch und kontraproduktiv ist der letzte Punkt;er wird dazu führen, dass wir als Linke dem so nicht zu-stimmen können . Auf den letzten Metern hat nämlicheine Regelung in den Gesetzentwurf Eingang gefunden,die es ermöglichen würde, dass die Außenbereiche vonStädten und Dörfern im Eilverfahren bebaut werden .
Das hat die CSU ja nachträglich durchgesetzt . Das Zieldieser Novelle, nämlich die Innenstadtentwicklung zustärken, wird durch diesen Paragrafen völlig konterka-riert . Wir müssen die weitere Zersiedlung und den weite-ren Flächenfraß verhindern .
Frau Hendricks, Sie haben sich selber mit den Wortenzitieren lassen, dass dies im Widerspruch zu allen um-weltpolitischen Bemühungen steht . Sie haben gesagt, Siekönnten es in keiner Weise akzeptieren . Sie haben dannauch Ihre Hoffnung zum Ausdruck gebracht, dass dieseÄnderung, auf den letzten Metern von der CSU durchge-setzt, keine Mehrheit finden wird. Das finden wir auch.Diese Änderung lehnen wir ab . Wir werden dazu aucheinen Änderungsantrag einbringen . Dann, meine Damenund Herren, wird es auch an Ihnen liegen, ob der Wunschvon Frau Hendricks hier eine Mehrheit finden wird.Vielen Dank .
Vielen Dank, Kollegin Lay . – Nächster Redner: Kai
Wegner für die CDU/CSU-Fraktion .
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Städtein Deutschland sind im Kommen . Sie sind Wachstums-treiber, Zukunftslabore und für viele Menschen auchechte Sehnsuchtsorte . Bei allen Herausforderungen, diedadurch entstehen, freue ich mich als überzeugter Stadt-mensch sehr über die neue Urbanität in unserem Land .Klar ist aber zugleich, dass mit der Renaissance derStädte neue Herausforderungen einhergehen . Das Wachs-tum der Städte müssen wir gestalten . Deshalb ist es gut,dass wir auch im Städtebaurecht neue Antworten suchen,neue Antworten geben .Eine zentrale Herausforderung ist in der Tat die Schaf-fung von bezahlbarem Wohnraum . Es darf nicht sein,dass die Menschen in Stadtvierteln nach Einkommen ge-trennt leben . Das zerstört Vielfalt, das zerstört Kreativi-tät, und es spaltet letztlich die Gesellschaft .
Wir wollen in unseren Städten keine Pariser Verhältnisse,sondern wir wollen die gesunde Durchmischung in un-seren Städten erhalten, liebe Kolleginnen und Kollegen .
Um zu verhindern, dass Menschen aus ihren angestamm-ten Wohnvierteln verdrängt werden, müssen wir der stei-genden Wohnraumnachfrage auch ein steigendes Ange-bot an Wohnungen entgegensetzen .Von der linken Seite war wieder das Schlagwort„Mietpreisbremse“ zu hören . Ich sage Ihnen eines: EineMietpreisbremse schafft keine einzige neue Wohnung imbezahlbaren Bereich, meine Damen und Herren .
Das müssen auch Sie endlich einmal verstehen . Wennwir mehr bezahlbaren Wohnraum sichern wollen, danngibt es nur eine Maßnahme, liebe Kolleginnen und Kol-legen: Bauen, Bauen und noch einmal Bauen!
Das ist die einzige und richtige Maßnahme .Ja, wir müssen bauen: für Familien, für ältere Men-schen, für Singles, für Gutverdiener, aber eben auch fürGeringverdiener. Jeder soll die Wohnung finden, die sei-nen Ansprüchen und seinen Bedürfnissen genügt, liebeKolleginnen und Kollegen .Caren Lay
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Herr Wegner, erlauben Sie eine Zwischenfrage oder
-bemerkung?
Ja, gerne .
Gut .
Vielen Dank, dass Sie die Zwischenfrage zulassen . –
Sie haben als Rezept für bezahlbares Wohnen die Losung
„Bauen, Bauen, Bauen!“ ausgegeben . Deswegen möch-
te ich Sie fragen: Ist Ihnen bekannt, dass nach aktuellen
Studien in den 20 größten Städten in Deutschland nur
circa 10 Prozent der neu gebauten Wohnungen überhaupt
im bezahlbaren Bereich liegen? „Bezahlbar“ ist nach
dem Durchschnittsverdienst definiert; wir reden dabei
gar nicht über arme Menschen bzw . über Sozialwohnun-
gen . Also: Ist Ihnen bekannt, dass nur circa 10 Prozent
der neu gebauten Wohnungen für Durchschnittsverdiener
bezahlbar sind? Und können Sie angesichts dieser Tatsa-
che Ihre These, dass Bauen, Bauen, Bauen die einzige
Lösung für bezahlbares Wohnen ist, noch irgendwie auf-
rechterhalten?
Frau Lay, das ist ja genau der Punkt . Wenn es so ist,wie Sie es beschreiben, dann hilft eine Mietpreisbremseauch nicht;
denn dann bleibt es ja bloß bei den 10 Prozent . Deswe-gen sage ich noch einmal: Wir brauchen ein Bündel anMaßnahmen, um auch bezahlbaren Wohnraum sicherzu-stellen, und die beste Maßnahme ist in der Tat: Bauen,Bauen, Bauen .Wir brauchen ein Mehr an Angebot . Es muss über-haupt erst einmal ein Angebot an bezahlbaren Wohnun-gen für die Menschen geben . Deshalb muss der Staat al-les daransetzen, dass Wohnungsbaugesellschaften, aberauch private Firmen bauen können, um dieses Angebotzu vergrößern . Das ist die Antwort, die wir geben müs-sen, und zwar in einem Maßnahmenpaket . Es gibt keineAntwort, die für sich allein stehen kann .Wir setzen bei der Bauplanungsrechtsnovelle an, undwir schaffen in der Tat den neuen Baugebietstypus „Ur-banes Gebiet“ . So ermöglichen wir eine höhere Bebau-ungsdichte und damit den Bau zusätzlicher Wohnungenin den urbanen Zentren . Das „Urbane Gebiet“ wird zu-dem die funktionale Durchmischung in unseren Städtenstärken . Wir fördern ganz bewusst das Nebeneinandervon Arbeiten, Wohnen und Wohlfühlen . Dabei lassen wiruns von der Erkenntnis leiten, dass gemischte Quartiereeine Stadt der kurzen Wege ermöglichen und letztlich derGarant für Lebensqualität, für Wohnzufriedenheit, fürStandortbindung und für Identitätsbildung sind .Meine Damen und Herren, es ist richtig und wich-tig, über das „Urbane Gebiet“ die Innenentwicklung zustärken . Zur Wahrheit gehört aber auch, dass wir oftmalsauch an die Grenzen von Verdichtung stoßen und Wider-stand angestammter Bewohner erleben .Nach allen Schätzungen benötigen wir in Deutschlandjährlich mindestens 350 000 neue Wohnungen . Wir wer-den diese große Zahl von neuen Wohnungen nicht alleindurch Geschossaufstockungen und das Schließen vonBaulücken im Innenbereich liefern können .Wir dürfen unsere Städte allerdings nicht so verdich-ten, dass man irgendwann den Himmel nicht mehr sieht .Auch in zentralen Lagen brauchen wir Freiräume, Grün-flächen und Parkanlagen. Unsere Städte müssen auch inZukunft mehr als nur Steine und Beton sein .Uns als Union war es deshalb sehr wichtig, dass dernotwendige Wohnungsneubau auf zwei Säulen ruht .Die erste Säule ist die Nachverdichtung in den Zentren .Dazu kommt aber noch eine zweite Säule, nämlich dasbeschleunigte Planungsverfahren im siedlungsnahen Au-ßenbereich .Der erleichterte Wohnungsbau am Ortsrand wird dieInnenstädte entlasten und vielen Bürgern die Chanceauf eine bezahlbare Wohnung eröffnen. Gerade weil ichweiß, dass es im Ministerium hier zunächst Bedenkengab, danke ich für die Bewegung in diesem Punkt . DieRegelung, die wir gefunden haben, gilt für Gebiete klei-ner als 10 000 Quadratmeter und ist bis 2019 befristet .Ich denke, das ist eine sehr maßvolle Regelung, die wirgefunden haben, und dazu ein fairer Kompromiss insbe-sondere im Sinne der Menschen, die davon profitierenwerden .
Meine Damen und Herren, auch für die Bauplanungs-rechtsnovelle gilt: Kein Gesetzentwurf ist so gut, dass ernicht im parlamentarischen Verfahren weiter verbessertwerden könnte . Dazu wird sicher auch die Anhörung bei-tragen, die wir im Ausschuss durchführen werden . Wirsollten bei der Städtebaurechtsnovelle an die gute Tra-dition anknüpfen, Änderungen des Baurechts in einembreiten Konsens aller Fraktionen zu beschließen . Hierzulade ich auch ausdrücklich die Opposition ein .
Einen Punkt möchte ich zudem ansprechen, der mirbesonders wichtig ist und der im Regierungsentwurfnoch keine Berücksichtigung gefunden hat: das Dauer-wohnen in Erholungsgebieten . Derzeit haben die Kom-munen keine Möglichkeit, dort dauerhaftes Wohnen zugenehmigen, obwohl die Lebensrealität vielerorts andersaussieht . Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen, Politikbeginnt mit dem Betrachten der Lebenswirklichkeit . Ichkenne die prekäre Situation der Betroffenen aus eigenerAnschauung . In meinem Wahlkreis in Berlin-Spandaubefindet sich die Wohnsiedlung Hakenfelde. Die Bewoh-ner dieser Wohnsiedlung leben in ständiger Furcht, ausihren Häusern vertrieben zu werden . Ähnliche Wochen-endsiedlungen gibt es im ganzen Bundesgebiet . Vieleentstanden bereits in den 20er-Jahren, schon damals mit
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eingestreuter Dauerwohnnutzung . Wir sollten die Bau-planungsrechtsnovelle nutzen, um die rechtliche Situa-tion der seit Jahrzehnten gelebten Praxis anzugleichen .Es ist höchste Zeit, den Bewohnerinnen und Bewohnerndieser Siedlungen endlich die Rechtssicherheit zu geben,die sie verdienen .
Meine Damen und Herren, die deutschen Städte sindattraktiv und ziehen viele Menschen an . Dieses Wachs-tum wollen, dieses Wachstum werden wir gestalten . DieStädtebaurechtsnovelle ist ein weiterer Baustein für einelebenswerte Zukunft in unseren Städten und Gemeinden .Deshalb freue ich mich auf die Beratungen im Ausschuss,hoffe, mich dann letztlich auch über ein gutes Ergebnisfür die Menschen in unseren Städten freuen zu können .Ihnen allen wünsche ich ein schönes Wochenende .Herzlichen Dank .
Vielen Dank, Kai Wegner, auch für das schöne Wo-chenende . – Nächster Redner: Chris Kühn für Bünd-nis 90/Die Grünen .Christian Kühn (BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN):Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kollegin-nen und Kollegen! Im Jahr 1959 ist ein Buch des AutorsHans Reichow erschienen . Es hatte den Titel Die auto-gerechte Stadt. Dieses Buch hat in der Stadtentwicklunggroße Wirkung entfaltet und hat dazu geführt, dass unse-re Städte heute sind, wie sie sind: Sie sind nämlich fürsAuto gebaut und nicht für die Menschen .
Ich bin froh, dass wir uns mit der heutigen BauGB-No-velle von dieser Idee der autogerechten Stadt ein Stückweit verabschieden und endlich Städte für Menschenbauen, das menschliche Maß in den Mittelpunkt nehmenund eben nicht das Maß des Autoverkehrs,
Städte, in denen Leben, Arbeiten, Freizeit auf engemRaum möglich sind . Die Stadt der kurzen Wege ist einegrüne Idee, die wir in vielfältigen Anträgen in den letzten30 Jahren in Kommunalparlamenten, Landesparlamen-ten und hier im Bundestag eingebracht haben . Insofernist es auch ein Erfolg der grünen Partei, dass wir dieseBauGB-Novelle heute im Deutschen Bundestag beratenund auf den Weg bringen .Für uns ist Urbanisierung ein wichtiges und zentralesThema. Es geht darum, Bauflächen im Innenbereich zuerschließen . Innen- vor Außenentwicklung ist ganz zen-tral . Ich glaube, die Zukunft der Stadt zu sichern, kannnur dann gelingen, wenn wir uns wirklich in Urbanitätund Innenentwicklung diesem Idealbild von Stadt annä-hern . Sie schreiben in der Einleitung zu diesem Gesetzja Dinge wie „soziale Gerechtigkeit und Teilhabe“, „le-bendiges, tolerantes und kreatives Miteinander“, „Nach-haltigkeit“, „saubere Umwelt“ und „intaktes Klima“ .Das sind schöne Worte . Es handelt sich sicher um einegute Gesetzesvorlage . Wir unterstützen auch das urbaneGebiet . Aber Ihre Gesetzesnovelle, Frau Hendricks, hateinfach zwei Pferdefüße . Auf diese möchte und muss ichhier bei der ersten Lesung eingehen .Der erste Punkt ist: Sie versprechen eine flächenspa-rende Siedlungsentwicklung . Das ermöglicht das urba-ne Gebiet. Ich muss ja, um Grünflächen in der Stadt zuhalten, höher und dichter bauen, wenn ich Druck im In-nenbereich habe. Ich finde, diesbezüglich ist dieses Ge-setz ein gutes Gesetz . Aber dass Sie sich dann aus demBauministerium in München einen Paragrafen ins Gesetzdiktieren lassen, sozusagen eine BauGB-Novelle miteiner Ausnahme für Bayern – wieder einmal –, ist, fin-de ich, umweltpolitisch und städtebaulich vollkommenfalsch .
Der § 13b, den Sie in das Baugesetzbuch hineinschrei-ben wollen, sorgt doch dafür, dass Bürgerbeteiligungausgehebelt wird – im Jahr 2017 –, Umweltprüfung aus-gehebelt wird und Ausgleichsmaßnahmen beim Natur-schutz ausgehebelt werden . Wir reden über Biodiversität,wollen aber keine Ausgleichsmaßnahmen machen .
Ich glaube, das passt nicht zusammen . Wir Grüne werdenden § 13b nicht mitragen .
Liebe Kolleginnen und Kollegen der CSU, § 13b giltnicht nur in Gebieten mit Wohnraummangel, sondern ergilt in ganz Deutschland, also auch in Gebieten, in denendie Bevölkerungsentwicklung rückläufig ist.
Das hat mit Flächensparen nichts zu tun . Ich glaube, dieCSU hat die Dorfkerne und die Kleinstädte längst aufge-geben . Das ist nämlich das Signal des § 13b, das Sie vonder CSU senden .
Frau Hendricks, ich kann nicht verstehen, dass Siesolch einen Paragrafen in den Gesetzentwurf aufgenom-men haben . Sie sind doch die Ministerin, die für Flä-chensparen zuständig ist, und sind trotzdem beim Flä-chensparen auf einem Auge blind . Ich glaube, Sie nähernsich da vom Niveau her dem Verkehrsminister Dobrindtmit seinem Bundesverkehrswegeplan an .Der zweite Pferdefuß ist die Gesundheit und derLärmschutz in der Stadt . 3 dB(A) sind eben kein ange-messener Interessenausgleich . Das kann ich überhauptnicht erkennen .
Kai Wegner
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3 Dezibel mehr bedeuten doppelten Schallschlag . Das istgesundheitsgefährdender Lärm . Ich kann nicht erkennen,dass man so gesunde und lebenswerte Städte bauen kann .Das hat nichts mit ungestörtem Schlaf zu tun und auchnichts mit ungestörter Kommunikation in der eigenenWohnung . Vielmehr heißt das dann: Das Fenster mussgeschlossen bleiben . – Ich glaube, das ist heutzutage kei-ne adäquate Lösung mehr .
Die Länder Hamburg und Bremen haben mehr techni-schen Lärmschutz gefordert . Den werden auch wir Grü-ne bei dieser Baugesetzbuchnovelle einfordern . Das istnämlich, wie ich glaube, eine adäquate Lösung, wie wirLärmschutz auf der einen Seite und gute Stadtentwick-lung und Innenentwicklung auf der anderen Seite kombi-nieren und voranbringen können .Frau Hendricks, Sie selbst haben ja in Ihrer Rede vom„Hamburger Fenster“ gesprochen . Bis jetzt hieß es im-mer: Das geht alles nicht . Das ist umweltrechtlich garnicht möglich . – Wenn Sie selbst es hier ansprechen,dann hätten Sie es mit dieser Gesetzesnovelle auf denWeg bringen können und den technischen Lärmschutzendlich rechtlich absichern können .
Zum Schluss möchte ich noch etwas zum Verfahrensagen . Auch Sie, Frau Hendricks, haben ja gesagt: DieMenschen haben schon sehr lange gewartet, bis diese Ge-setzesnovelle kam . Jetzt solle sie doch sehr zügig durchdas Parlament gehen . Für mich stellt es sich so dar: In derAbenddämmerung der Großen Koalition bringen Sie einGesetz auf den Weg, was Sie selbst über Jahre blockierthaben . Es liegt demnach nicht am Parlament oder derOpposition, sondern daran, dass Sie als Große Koalitiondie Gesetzesnovelle nicht zustande gebracht haben . Siehätte schon im Sommer letzten Jahres kommen sollen .Sie liegt jetzt vor, und wir müssen sie jetzt in einem sehrschnellen Verfahren beraten .Wir wollen ein vernünftiges Verfahren, damit dieStandards des Baugesetzbuches so weiterentwickelt wer-den, dass es am Ende zu einer guten Stadtentwicklungkommt . Wir stehen zu der Gebietskategorie „UrbanesGebiet“ . Wir werden dazu Änderungsvorschläge, auchfür das Verfahren, einbringen . Wenn Sie bereit sind, un-sere Änderungsvorschläge gemeinsam zu debattierenund vielleicht den einen oder anderen zu übernehmen,werden wir auch gemeinsam vorankommen .Wir Grüne sind überzeugt: Die Stadt ist für die Men-schen da und nicht für den Lärm oder den Verkehr .Danke schön .
Vielen Dank, Chris Kühn . – Nächste Rednerin:
Claudia Tausend für die SPD-Fraktion .
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Kolleginnen und Kollegen! Ich bin sehr froh,Herr Kollege Kühn, dass wir heute in erster Lesung überdie Änderung wichtiger Bereiche des Baugesetzbuchesberaten können . Mitte letzten Jahres – hier gebe ich Ihnenvöllig recht – war durchaus nicht sicher, dass wir in die-ser Legislaturperiode noch zu einem guten gemeinsamenErgebnis kommen würden . Dabei warten gerade unsereStädte – Frau Ministerin hat darauf hingewiesen – hände-ringend darauf, dass das Bauen auch im innerstädtischenBereich erleichtert wird, um den nötigen Wohnraum zü-gig herstellen zu können .Wir als Bundesgesetzgeber haben zwei Stellschrau-ben, die wir bewegen können, um den Städten zu helfen .Wir können einerseits finanzielle Mittel zur Verfügungstellen, und wir können andererseits die Mobilisierungvon Bauland erleichtern . Wir haben vonseiten des Bun-des den Kommunen bereits mit einer Verdreifachung derMittel für die Förderung des sozialen Wohnraums maß-geblich geholfen . Wir haben gesehen: Erste Erfolge sindgreifbar . Die Anzahl der Baugenehmigungen ist in denersten zehn Monaten des letzten Jahres auf 340 000 an-gestiegen . Das ist ein Plus von 23 Prozent . Ich glaube,das ist ein erster schöner Erfolg . Heute geht es in einemzweiten Schritt darum, die Rahmenbedingungen für denBau von Wohnungen zu verbessern und die Mobilisie-rung des knappen Baulands zu erleichtern .Es wurde mehrfach angesprochen: Eine maßgeblicheRolle spielt dabei das „Urbane Gebiet“, eine neue Ge-bietskategorie, die wir in der Baunutzungsverordnungeinführen wollen . Das „Urbane Gebiet“ soll die Gebiets-kategorien „Mischgebiet“ und „Allgemeines Wohnge-biet“, die ja noch auf der Idee einer möglichst weit ge-henden Trennung der Nutzungen fußen und einer Stadtder kurzen Wege oftmals entgegenstehen, ergänzen unddurch eine flexiblere Handhabung hinsichtlich Wohnenund Gewerbe Nutzungsvielfalt und Durchmischung inden Quartieren sicherstellen, um so die schon mehrfachangesprochene Urbanität des Wohnens herzustellen .
Um es jetzt ein bisschen verständlicher zu machen,schließe ich an die Ausführungen der Kollegin Lay an .Umfragen zeigen, dass mindestens jeder zweite Deutschegerne in München leben würde –
zumindest behaupten wir Münchener das, und die Zu-zugsraten deuten auch darauf hin . Aber, Kolleginnen undKollegen, mit München gemeint sind Schwabing unddie Maxvorstadt, die Isarvorstadt, die Ludwigsvorstadtund natürlich Haidhausen . Das sind die ganz dicht be-bauten Gründerzeitquartiere mit einem vielfältigen undbunten Angebot an Gaststätten, kulturellen Nutzungenund Kleingewerbe direkt vor der Haustür . So kann mannatürlich schon seit Jahrzehnten nicht mehr bauen; denndieser Städtebau ist noch der Charta von Athen gefolgt .Christian Kühn
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Um nicht missverstanden zu werden: Wir wollen jetztweder zurück in die Gründerzeit – denn die damaligenAnsprüche an Belichtung, Besonnung und Belüftung vonWohnraum und an Grün- und Freiräume im Wohnumfeldwürden wahrscheinlich jedem Stadtplaner den Schweißauf die Stirn treiben –, noch wollen wir Neubaugebietekünftig nur noch als urbane Gebiete bauen . Die Men-schen haben unterschiedliche Ansprüche an ihr Wohn-und Lebensumfeld, und um diesen Ansprüchen gerechtzu werden, wollen wir Angebote schaffen.Als Bundesgesetzgeber wollen wir nun den Kommu-nen die Möglichkeit geben, dort höher und dichter zubauen, wo es Sinn macht, zum Beispiel – das wurde auchschon angesprochen – auf gewerblichen Brachen oderin Umstrukturierungsgebieten mit einer Gemengelage,die dann stärker in Richtung Wohnen entwickelt werdenkönnten –
und zwar, Kolleginnen und Kollegen, in Richtung bezahl-bares Wohnen . Denn mit der Einführung der urbanen Ge-biete schaffen wir neues Baurecht und können dann überstädtebauliche Verträge auch sicherstellen, dass nicht nurteurer Wohnraum – wie oft bei Nachverdichtungsvorha-ben nach § 34 Baugesetzbuch der Fall – entsteht, sondernauch sozial orientierter Wohnraum .
Kolleginnen und Kollegen, das ist für uns zentral; dennfür uns Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten istWohnen kein Luxusgut, sondern ein Grundrecht .Das urbane Gebiet – auch darauf wurde hingewie-sen – hat eine ökologische Komponente und leistet ei-nen wichtigen Beitrag zum Klimaschutz . Es ermöglichtressourcenschonendes und flächensparendes Bauen,wirkt der Zersiedelung von Landschaften und dem umsich greifenden Flächenverbrauch entgegen . Wir wollenauch künftig, Kolleginnen und Kollegen, der Innenent-wicklung der Städte gegenüber der Bebauung des Au-ßenbereichs Priorität einräumen. In diesem Sinne hoffeich, dass vonseiten der Kommunen bei der Baulandmo-bilisierung vorrangig die Chance des urbanen Gebietsgenutzt wird .Wir gehen aber auch den Weg mit, einen neuen § 13bBaugesetzbuch zu schaffen, der ein beschleunigtes Bau-leitplanverfahren auch für den Außenbereich vorsieht,aber nur dort, wo sich die Bauvorhaben an zusammen-hängende Ortsteile anschließen, und auch das nur befris-tet bis zum 31. Dezember 2019. Ich hoffe und erwarte,dass die Kommunen dieses Instrument sorgfältig und be-hutsam und nur zur Arrondierung von Siedlungsrändernnutzen werden . Ich kenne den § 13a, der 2007 eingeführtwurde, aus der Praxis . Zumindest in meiner HeimatstadtMünchen wurde von diesem Instrument in untergeordne-tem Maße Gebrauch gemacht .Ich glaube, zum Thema Lärmschutzmöglichkeiten istvon den Kolleginnen und Kollegen alles gesagt worden .Es gibt zwei Möglichkeiten: Entweder gehen wir mitden Lärmemissionswerten um 3 Dezibel hoch, oder wirschaffen alternativ mit einer Neuinterpretation der Tech-nischen Anleitung zum Schutz gegen Lärm die Möglich-keit, in Bebauungsplänen einen passiven Schallschutzvorzusehen . Ich würde mir aber auch eine Regelung in§ 34 Baugesetzbuch wünschen .Ich komme zum Schluss, Kolleginnen und Kollegen .Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf geben wir denKommunen wesentliche Instrumente zur Mobilisierungvon Bauland an die Hand und leisten damit einen weite-ren Beitrag nicht nur zur Schaffung von mehr Wohnraum,sondern vor allem auch zur Schaffung von bezahlbaremWohnraum .Ich bedanke mich .
Vielen Dank, Frau Kollegin Tausend . – Nächste Red-
nerin: Dr . Anja Weisgerber für die CDU/CSU-Fraktion .
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen undKollegen! „Billig Wohnen geht nur weit ab vom Schuss“,„Die Mieten werden immer teurer“, „Wohnen müssenalle“ – das sind nur einige Schlagzeilen aus den letztenWochen und Monaten zum Thema „Wohnen und Bauen“ .Die Schaffung von bezahlbarem Wohnraum in Bal-lungsgebieten ist eine der drängendsten Herausforde-rungen, vor der wir stehen . Immer mehr Menschen ziehtes in die Städte, und dadurch wird der Wohnraum dortimmer knapper und auch immer teurer . Diese Wohnungs-knappheit wird in den Städten zunehmend zum Problem .Wir haben in dieser Wahlperiode schon vieles auf denWeg gebracht, um genau dem entgegenzuwirken; denn esmuss doch auch der Krankenschwester oder dem Polizis-ten möglich sein, bezahlbaren Wohnraum in den Stadt-zentren zu finden. Mietpreisbremse, Wohngeldreformund die deutliche Erhöhung der Mittel für die sozialeWohnraumförderung von 500 Millionen auf 1,5 Milliar-den Euro jährlich – das sind alles wichtige Instrumente .Diese Gelder – das betone ich jedes Mal aufs Neue –müssen von den Ländern zielgenau für die soziale Wohn-raumförderung eingesetzt werden .
– Bayern macht das sehr vorbildlich, ganz genau . Wirgehen mit gutem Beispiel voran .Das beste Instrument – das betone ich auch noch ein-mal – für mehr bezahlbaren Wohnraum, Frau Lay, ist undbleibt: Bauen, bauen, bauen . Es gibt bekanntlich auchden Sickerungseffekt. Wer eine teure Wohnung mietet,macht eine günstigere Wohnung frei .
Claudia Tausend
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– Dazu gibt es Studien . Wir haben darüber auch schonauf vielen Podiumsdiskussionen gesprochen . Wer eineteurere Wohnung mietet, macht eine andere Wohnungfrei . Das ist Fakt . – An genau dieser Stelle setzen wir mitder Novelle an .Der derzeitige rechtliche Rahmen ermöglicht das Ne-beneinander von Wohnen und Gewerbe, aber den Bauzusätzlicher Wohnungen in urbanen Zentren nur einge-schränkt . Mit der neuen Baugebietskategorie „UrbanesGebiet“ wollen wir das ändern . Wir wollen das Baupla-nungsrecht und das Immissionsschutzrecht flexibilisie-ren, das heißt: mehr Innenverdichtung, es kann dichterund höher gebaut werden . Und dadurch ermöglichen wireine Nutzungsmischung von Wohnen und Gewerbe, auchvon Kultur- und Sporteinrichtungen . Das, meine Damenund Herren, ist genau der richtige Schritt .Aber ich sage auch – Herr Kühn, hören Sie mir bit-te zu –: Allein durch die Innenentwicklung werden wires nicht schaffen, den Bedarf an Wohnraum zu decken;denn wir brauchen 350 000 bis 400 000 neue Wohnun-gen pro Jahr . Einige Städte – München ist dafür ein gutesBeispiel – platzen schon jetzt schier aus allen Nähten .Auch in Berlin wird die Situation – ich habe mich gesternerst mit einem Berliner darüber unterhalten – auf demWohnungsmarkt immer schwieriger .Für mehr neuen und vor allem bezahlbaren Wohnraumbenötigen wir mehr Bauland .
Fehlendes Bauland ist ein wesentlicher Preistreiber beimWohnen und Bauen . Das hat übrigens auch – Sie habengerade nach Studien gefragt – die Baukostensenkungs-kommission ganz deutlich herausgearbeitet: FehlendesBauland ist ein Preistreiber . – Deshalb haben wir unsals Union – als CDU und CSU – uns für ein Signal amOrtsrand starkgemacht . Wir haben schließlich einenKompromiss gefunden . Kommunen sollen künftig imbeschleunigten Verfahren Bebauungspläne für den Orts-rand aufstellen können, allerdings unter strengen Voraus-setzungen: nur auf drei Jahre befristet, in engen Grenzen,und der Vorrang der Innenentwicklung als Grundsatz derBauleitplanung bleibt selbstverständlich bestehen . Es istso, wie Frau Tausend gerade gesagt hat: Es liegt in derHand der Kommunen, verantwortungsvoll mit diesem In-strument umzugehen . Sie bekommen dieses Instrument,um auf die aktuelle Situation an den Wohnungsmärktenzu reagieren, ohne dass wir strukturelle Veränderungenim Baurecht vornehmen .Das beschleunigte Verfahren kommt gerade den Ge-meinden zugute, die mit der Nachverdichtung und derInnenentwicklung an ihre Grenzen stoßen . Herr Kühn,wir machen im Bereich der Ortskernrevitalisierung sehrviel mit LEADER-Mitteln, auch in meinem Heimatland-kreis – Besucher aus meiner Heimat sitzen oben auf derTribüne; die können das bezeugen –, aber es gibt den-noch Gemeinden, die da an ihre Grenzen stoßen . DiesenGemeinden möchten wir dieses Instrument an die Handgeben;
denn neben dem freien Wohnungsbau kann auch der so-ziale Wohnungsbau davon profitieren, wenn dieses Inst-rument besteht .Meine Damen und Herren, der Gesetzentwurf ist einegute Grundlage, um die Herausforderungen, vor die unsder Wohnraummangel stellt, an der Wurzel zu packen .An einer Stelle wünschen wir eine Ergänzung . Dennnach der aktuellen Rechtslage können Gemeinden keinenBebauungsplan aufstellen, der dauerhaftes Wohnen inErholungsgebieten ermöglicht; das wurde bereits ange-sprochen . Hier möchten wir eine Verbesserung erreichen .Gerade in stadtnahen Erholungsgebieten ist es nämlichRealität, dass dort auch gewohnt wird . Im Zuge dieserBaurechtsreform sollten wir versuchen, diese unklare Si-tuation der gelebten Realität anzupassen .Ich freue mich auf die weiteren – auch parteiüber-greifenden, fraktionsübergreifenden – Diskussionen imanstehenden Gesetzgebungsverfahren, die dazu führenwerden, dass wir am Ende ein gutes Gesetz bekommen .Vielen Dank für die Aufmerksamkeit .
Vielen Dank, Frau Kollegin Weisgerber . – Der letzte
Redner in dieser Debatte: Volkmar Vogel für die CDU/
CSU-Fraktion .
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Ich möchte noch einmal daran erinnern: Wir bringen heu-te das Gesetz zur Stärkung des neuen Zusammenlebensin der Stadt ein . Die Diskussion, die eben stattgefundenhat, zeigt mir, dass wir da auf einem guten Weg sindund sicherlich eine gemeinsame Position finden werden.Wir setzen damit eine EU-Richtlinie um, aber unter demStrich kann man sagen: Wir ändern in dieser Legislatur-periode auch das Baugesetzbuch, insbesondere das Pla-nungsrecht .Frau Ministerin, unabgesprochen habe ich auf mei-nem Spickzettel auch vermerkt, dass es wichtig ist, dasswir schnell zu einem Ergebnis kommen . Deswegen vie-len Dank auch an Ihr Haus, dass wir mit der Einbringungnicht im Verzug sind . Es kommt jetzt darauf an, dass sichder Bundesrat schnell – am 10 . Februar – damit beschäf-tigt, dass wir unsere Anhörung konstruktiv durchführenund noch im März hier zu einem Ergebnis kommen . DieMenschen und die Kommunen warten aus mehrerenGründen darauf . Die Kommunen warten darauf, damitRechtsklarheit bei der Anpassung im Bereich Ferien-wohnungen herrscht . Klar ist, wir wollen nicht die so-genannten Rollladensiedlungen, sondern wollen WohnenDr. Anja Weisgerber
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möglich machen . Aber wir brauchen auch Rechtsklarheitfür die Bestände . Das ist für diejenigen wichtig, die indiesem Bereich tätig sind .Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, die Woh-nungssituation ist vor allem in den Ballungsräumen undin den sogenannten Schwarmstädten schwierig . Wirmüssen hier zwei Strategien fahren, eine kurzfristige undeine, die langfristig wirken kann . Was die kurzfristigeStrategie angeht, ist es richtig, dass wir unter bestimm-ten Voraussetzungen auch ein vereinfachtes Planungs-recht zulassen und dies – das möchte ich noch einmalausdrücklich betonen – zeitlich begrenzen .
Wir sollten die Zeit aber auch nutzen, langfristig wir-kende Instrumente auf den Weg zu bringen . Dazu gehörtmeiner Meinung nach insbesondere – wir hatten Mitt-woch ein Expertengespräch dazu –, dass es möglich ist,in den Kommunen – auch mit Unterstützung des Bun-des und der Länder – Brachflächen zu erschließen – obBrachflächen der Bahn oder Militärkonversionsflächensei dahingestellt –, um auf diese Art und Weise zusätzli-ches Bauland zu schaffen. Denn wie sollen wir ansonstenjungen Familien erklären, die aus ihrer Mietwohnung he-rauswollen und sich Wohneigentum bilden wollen – sei esdurch ein eigenes Haus oder eine Eigentumswohnung –,dass wir dem durch die ungenügende Bereitstellung vonBauland – noch dazu zu überhöhten Preisen – einen Rie-gel vorschieben? Deswegen ist es auch wichtig – dasist zwar nicht unser Thema –, dass wir bei der Wohn-immobilienkreditrichtlinie eine Änderung auf den Weggebracht haben . Auch das wird uns sehr dabei helfen .Aber das Kernstück, wenn es um das bessere Leben inder Stadt geht, ist das urbane Gebiet . Ich kann mich da-ran erinnern, wie wir vor drei Jahren in unserer Fraktiondarangingen, die Baunutzungsverordnung zu ändern . Dawar die Diskussion noch eine ganz andere . Aber ich den-ke, wir haben es gut auf den Weg gebracht, dass die urba-nen Gebiete hier eingeführt werden . Dadurch können wirzum einen Abstandsflächen verändern, um zusätzlichenWohnraum zu schaffen, und zum anderen auch dafürsorgen, dass unsere Städte lebenswerter und attraktiverwerden .Ich will hier ausdrücklich sagen: Es geht nicht darum –denn auch die Diskussion hatte ich –, Wohnen in Gewer-begebieten zuzulassen. Damit würde man neue Konflikteverursachen . Es geht darum, Wohnen und Arbeiten zuverbinden; denn die Arbeitswelt hat sich verändert . Sieist nicht mehr mit derjenigen von vor 50 Jahren zu ver-gleichen – so alt ist die jetzige Baunutzungsverordnung .Liebe Kolleginnen und Kollegen, auch wenn das nichtunsere Aufgabe ist, bitte ich doch darum, dass wir sehrsorgfältig vorgehen, wenn es um Veränderungen vonVerwaltungsvorschriften geht . Ich meine hier insbeson-dere die TA Luft und die TA Lärm, die die Grundlagefür das Verwaltungshandeln bilden . Bei diesem Themadürfen wir das Kind nicht mit dem Bade ausschütten,sondern müssen sehr sorgfältig vorgehen .Lassen Sie mich noch ein Wort zum ländlichen Raumsagen . Mir ist sehr daran gelegen, dass wir bei dem, waswir jetzt für die Städte auf den Weg gebracht haben –Stichwort „urbanes Gebiet“ –, auch an die kleinen Städteund an die Dörfer denken . Die kleinen Städte und Dörferhaben sich gewandelt . Die Industrieentwicklung der letz-ten 70 Jahre hat dazu geführt, dass sie oftmals nur nochSchlafdörfer sind . Aber Dörfer waren eigentlich etwasanderes . Dörfer waren eigentlich, im übertragenen Sinne,Gewerbegebiete, wo Landwirtschaft, wo Handwerk, woMittelständler, wo kleine Betriebe auf engem Raum desdörflichen Lebens zusammengearbeitet haben. Ich binder festen Überzeugung, dass so etwas in Zukunft wiederbesser möglich sein muss .Ich glaube, das urbane Gebiet, das wir jetzt für Bal-lungszentrum und große Städte auf den Weg gebrachthaben, ist ein gutes Beispiel . Das sollten wir auch in denDörfern anwenden, damit der Schmied wieder im Ort ar-beiten kann . Die Arbeitsbedingungen und das Arbeitsum-feld für einen Schmied und einen Schlosser haben sichenorm gewandelt, genauso wie für einen Tischler odereinen Bäcker . Manch ein Bäcker möchte seine Bäckereivielleicht aus praktischen Erwägungen heraus erweitern,weil zwei, drei Asylsuchende da sind, die gute Falafelbacken . Das würde zu einem größeren Angebot führen,und die Asylsuchenden würden integriert und könntenhier arbeiten .Lassen Sie mich zum Schluss noch einen Satz sagen:Wir wollen das Baugesetz erneut novellieren; das habenwir in der vergangenen Legislatur auch getan . Ein we-sentlicher Punkt, der damals eine Rolle gespielt hat, istdie Privilegierung landwirtschaftlicher Betriebe im Au-ßenbereich . Ich bitte darum, dass wir da sehr sorgfältigvorgehen und, wenn es um den Bau neuer Ställe geht,die landwirtschaftlichen Betriebe im Außenbereich vonrein gewerblichen Ansiedlungen unterscheiden, weil einLandwirt, dessen Familie den Hof vielleicht schon seitGenerationen betreibt und die vor Ort notwendige wirt-schaftliche Tätigkeit ausübt, zu unterscheiden ist von je-mandem, der als Fremder kommt, um eine gewerblicheTätigkeit auszuüben . Deswegen sollten wir zwischen de-nen unterscheiden, die da sind, und denen, die dazukom-men . Die, die da sind, sollten wir nicht verteufeln .
Herr Vogel .
Wir sollten aber dafür sorgen, dass die schwarzenSchafe, die die Regelungen in irgendeiner Art und Weiseausnutzen, zur Rechenschaft gezogen werden .Vielen Dank .
Volkmar Vogel
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Vielen Dank, Herr Vogel . Manchmal ist ein Satz sehr
lang .
– Ich kann Ihnen selbstverständlich stundenlang zuhören,
vor allem, wenn ein Satz eine Stunde dauert .
Ich schließe die Aussprache .
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs
auf Drucksache 18/10942 an die in der Tagesordnung
aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen . – Es gibt keine
anderweitigen Vorschläge . Dann ist die Überweisung so
beschlossen .
Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 31 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Bildung, Forschung
und Technikfolgenabschätzung
zu dem Antrag der Fraktionen der CDU/CSU
und SPD
Wissenschaftskooperation mit Partnern in
Subsahara-Afrika stärken
Drucksachen 18/10632, 18/10973
Interfraktionell wurden 38 Minuten für die Ausspra-
che vorgesehen . – Alle sind einverstanden .
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat Dr. Claudia
Lücking-Michel für die CDU/CSU-Fraktion .
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Liebe Gäste auf der Tribüne! Alle sprechen gerade vonAfrika . Doch welches Bild haben Sie eigentlich vor Ih-rem geistigen Auge, wenn der Name dieses Kontinentsfällt? Seien wir ehrlich: Nach wie vor tragen wir hier inDeutschland nur allzu häufig ein sehr einseitiges Bild vonAfrika mit uns herum. Dabei täuscht schon der Begriff alssolcher eine Einheitlichkeit vor, die es so gar nicht gibt .So viele Sprachen, Religionen, Kulturen und Nationen,so viele verschiedene Wirklichkeiten werden hier zusam-mengefasst . Eigentlich müsste man sagen, wir brauchtennicht ein Bild, sondern eine ganze Bildergalerie vor unse-rem geistigen Auge . Aber in unserer Wahrnehmung über-wiegen die Krisenmeldungen aus Afrika im Vergleich zuden guten Botschaften . Oft wird Henning Mankell zitiert:Wenn wir uns am Bild der Massenmedien orientie-ren, lernen wir heute alles darüber, wie Afrikanersterben, aber nichts darüber, wie sie leben .Leider stimmt das allzu häufig – bisher jedenfalls.Ich bin überzeugt, dass unsere Afrika-Politik in Zu-kunft ganz andere Bilder liefern kann und wir einen an-deren Ansatz verfolgen werden . Anfang dieser Wochehat Entwicklungsminister Müller sein Konzept vorge-stellt, das er „Marshallplan mit Afrika“ nennt . Das istwichtig: nicht „für Afrika“ . Sein Ziel ist es, Afrika alsChancenkontinent zu begreifen und partnerschaftlich dieEntwicklung Afrikas zu Wohlstand und Frieden voran-zutreiben .
Dafür müssen wir eine andere Brille aufsetzen, und zwarin allen Politikbereichen .In unserem Antrag fangen wir heute damit an . Hierschauen wir auf den Kontinent aus der Perspektive vonWissenschaftskooperationen mit Partnern in Subsaha-ra-Afrika . Zugegeben, manch einer reagiert dann er-staunt und sagt: Wenn wir an Spitzenforschung oder erst-klassige Hochschulausbildung denken, fällt uns nicht alsErstes diese Weltregion ein .Lassen Sie uns heute versuchen, an einem anderenBild von Afrika weiterzuzeichnen . Als Bildungspoliti-kerin sehe ich Folgendes quasi als Grundierung unse-res Bildes: Das größte Potenzial Afrikas ist seine jungeGeneration . Schon heute ist die Hälfte der afrikanischenBevölkerung jünger als 18 Jahre . Bis zum Jahr 2050 wirdsich die Bevölkerung des Kontinents wahrscheinlich aufüber 2 Milliarden Menschen verdoppeln . Wenn eines klarist, dann das: Alle diese jungen Menschen brauchen guteBildung als Voraussetzung, um dieses Potenzial wirklichentfalten zu können .Das Hochschul- und Wissenschaftssystem spielt dabeieine entscheidende Rolle – für eine gute Lehrerbildungals Voraussetzung für gute Schulen, für den Hochschul-lehrernachwuchs, für Studienangebote, die arbeitsmarkt-orientiert ausbilden, für Forschung, die neue Lösungenfür die wirtschaftliche, aber auch die gesellschaftlicheEntwicklung ermöglicht . Außerdem könnten Hochschu-len auch qualifizierte Beratung für Politik und Verwal-tung anbieten . Wir schlagen deshalb eine ganze Serie vonMaßnahmen in unserem Antrag vor . Nur einige will ichnennen .Erstens . Künftig wollen wir zum Beispiel afrikanischeWissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die durch-aus in großer Zahl überall in der Welt arbeiten, als so-genannte Flying Faculties für kurzzeitige Lehraufträgean Hochschulen in ihren Heimatländern gewinnen, umdamit die Qualität der Lehre dort langsam, aber stetig zuverbessern .
Zweitens . Bereits jetzt vergeben wir viele Stipendien .Rund 1 000 Stipendien für die qualitätsvolle Ausbildungvon Hochschullehrern vor Ort sollen hinzukommen .Wir fordern drittens noch mehr Mittel für Rückkehrsti-pendien . Menschen mit all ihren Talenten und all ihremWissen sind mobil . Sie ziehen durch die Welt, gerade dieHochqualifizierten. Davon profitieren alle am Austauschbeteiligten Seiten . Das ist die Idee der Brain Circulation .Viertens wollen wir gerade die Süd-Süd-Kooperationstärken . Die afrikanischen Wissenschaftssysteme solltensich viel stärker untereinander vernetzen . Einen gutenAusgangspunkt dafür sehen wir im African-German Net-
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work of Excellence in Science, Kurzform AGNES . Esbringt etablierte Nachwuchsforscherinnen und -forscheraus Subsahara-Afrika bereits jetzt zusammen .Als Forschungspolitikerin entdecke ich auf meinemBild von Afrika täglich viele spannende Einzelheiten .Ich bin beeindruckt von Innovationen, die in Afrika er-dacht wurden, zum Beispiel eine Erfindung aus Kenia:M-Pesa . Dies bedeutet auf Suaheli mobiles Geld . PerSMS können afrikanische Mobilfunkkunden – ein Han-dy besitzen zum Glück die meisten – Geld überweisen,auch wenn sie kein eigenes Bankkonto haben . Das wardie Ursprungsidee . Mittlerweile ist das Handy zum gän-gigen Zahlungsmittel geworden . Man kann per Handy imSupermarkt zahlen, seine Stromrechnung begleichen undsogar günstige Kleinkredite bei Banken anfragen . Einanderes Beispiel, eine Idee, die zurzeit in Ruanda voneinem Start-up-Unternehmen erprobt wird: Um Medika-mente und Blutkonserven trotz mangelnder Infrastrukturdort hinzubringen, wo sie gebraucht werden, verschicktman sie nicht per Transport auf der Straße, sondern gleichmit Drohnen .Auch über solche technologischen Sprünge sollten wirreden, wenn wir von Afrika sprechen . Sie gehören zu ei-nem vollständigen Bild von Afrika dazu . Unser Ziel istdeshalb, mit unserem Antrag auch dafür zu sorgen, dassdie Bundesregierung die europäische Forschungspolitikin Zukunft noch besser mit der afrikanischen verknüpftund verzahnt .
Meine Damen und Herren, ich bin überzeugt, dass wirdie Herausforderungen der Zukunft nur gemeinsam undnur als Partner bewältigen können, als Partner aus demglobalen Norden und Süden mit unterschiedlichen He-rangehensweisen . Denn wieder einmal gilt: Spitzenfor-schung lebt vom Austausch der Ideen, von unterschied-lichen Blickwinkeln, von Differenzerfahrung. Ob es umdie Ernährungssicherung oder die Behandlung globalbedrohlicher Krankheiten geht, wir benötigen Innovatio-nen, die wir nur gemeinsam entwickeln können .Es gibt zum Glück zu zentralen Forschungsthemenschon eine Reihe von erfolgreichen Kooperationen zwi-schen deutschen Institutionen und Partnern aus Sub-sahara, zum Beispiel die sogenannten Klimakompetenz-zentren im westlichen und südlichen Afrika . Dort wirdgeforscht, damit es auch in Zeiten des Klimawandelsnoch Ernten geben kann und die Artenvielfalt nicht wei-ter reduziert wird . Aber das Besondere an diesen Kom-petenzzentren ist – der Name sagt es schon –, dass dieErkenntnisse der Wissenschaft gleich an die ansässigenBauern und die lokale Verwaltung weitergegeben wer-den . Dort entsteht also Expertise bei afrikanischen For-schern, die von der Gesellschaft vor Ort gleich in neueKompetenzen umgesetzt werden kann und konkret an-gewandt wird .Wir wollen die Klimaforschung – so ist es in unse-rem Antrag formuliert – in Zukunft dringend um dieForschung zum Katastrophen- und Risikomanagementergänzen . Auch hier sollen die gewonnenen Erkenntnisseso aufbereitet werden, dass sie angewandt werden kön-nen . Wir wollen darum auch die Hochschulkooperatio-nen zwischen Deutschland und Subsahara-Afrika weiterfördern, konkret das Projekt der deutsch-afrikanischenFachhochschulen . Auch hier kann man sagen, dass sichsolche Partnerschaften als ein erfolgreiches Instrument,um gemeinsame Problemlösungen zu erarbeiten, be-währt haben .Zum Schluss ein kühner Blick in die Zukunft . Stellenwir uns vor, der nächste Einstein kommt zum Beispielaus dem Senegal . Es gibt nämlich schon eine ganze Rei-he von Initiativen, die die mathematische Forschung inSubsahara-Afrika stärken wollen .
– Gut ausgewählt, nicht? Genau . – Wir fördern den Auf-bau neuer Lehrstühle für Mathematik .
– Das wäre doch etwas für dich, Karamba . Wer weiß?Karamba ist hier, aber vielleicht studiert oder forschtder nächste Einstein ja schon an einer der neuen mathe-matischen Fakultäten dort . Das wäre doch durchaus re-alistisch . Ein afrikanischer Einstein – damit würde un-seren Bildern von Afrika jedenfalls eine kräftige neueFarbe hinzugefügt werden . Ich bitte Sie jedenfalls um dieUnterstützung unseres Antrags, damit wir die Bildergale-rie Afrikas gemeinsam erweitern .Danke schön .
Vielen Dank, Claudia Lücking-Michel . – Nächste
Rednerin: Christine Buchholz für die Linke .
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen undHerren! Die Koalition möchte die Wissenschaftskoope-ration zwischen der Bundesrepublik Deutschland undden Ländern in Subsahara-Afrika vertiefen . Dadurch sol-len Chancen genutzt und „entscheidende Hebel“ in Be-wegung gesetzt werden, um dort Wachstum, Wohlstandund sozialen Frieden zu schaffen und damit den Flucht-ursachen zu begegnen .
So heißt es im vorliegenden Antrag von Union und SPD .Keine Frage: Selbstverständlich unterstützt die Linkeinternationale Wissenschaftskooperationen, insbesonde-re mit den armen und ärmsten Ländern der Welt .
Denn viele von ihnen sehen sich gegenwärtig kaum inder Lage, gute Forschung und Lehre aus eigener Kraftzu entwickeln und zu betreiben . Wir sollten uns schondamit beschäftigen, welche Gründe das hat . Es sind dieSpätfolgen des Kolonialismus und eine jahrzehntelangeDr. Claudia Lücking-Michel
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Politik der Unterentwicklung, die auch von Europa undDeutschland betrieben wurde . Es liegt daran, dass wirt-schaftliche Interessen, auch die der deutschen Politik,primär die Politik gegenüber Afrika bestimmen und dassdie Eliten in den verschiedenen Ländern – nicht nur indenen Subsahara-Afrikas – vorrangig ihre eigenen In-teressen und nicht die der breiten Bevölkerung im Sinnhaben .
Zweifellos kann Wissenschaftskooperation dazu bei-tragen, gesellschaftlichen Fortschritt in diesen Ländernzu erreichen . Die Bundesregierung sieht jedoch darinzentrale Hebel für gesellschaftlichen Fortschritt, und da-von kann doch wirklich nicht die Rede sein .
Es gibt viel zentralere Hebel, die Sie gar nicht erstanfassen . Nehmen wir beispielsweise ein 17 Jahre altesVersprechen der Bundesrepublik: 0,7 Prozent des Brut-toinlandsproduktes soll für Entwicklungszusammenar-beit zur Verfügung stehen . Das ist schon nicht besondersviel. 2015 betrugen die deutschen öffentlichen Ausgabenfür die Entwicklungszusammenarbeit gerade einmal0,5 Prozent des Bruttoinlandsproduktes . Damit ist dieBundesregierung – wie in jedem Jahr zuvor – ihren Ver-pflichtungen nicht nachgekommen.Um die jeweiligen Anstrengungen einmal ins Verhält-nis zu setzen: Für den Bundeswehreinsatz in Mali wur-den die Ausgaben von 35 Millionen Euro im letzten Jahrauf 163 Millionen Euro in diesem Jahr angehoben, alsoinnerhalb eines Jahres um mehr als 100 Millionen Euro .Das zeigt doch die falschen Prioritäten Ihrer Afrika-Po-litik!
Schauen wir noch einmal in den Bildungsbereich . Ichdenke, ein zentrales Thema ist die Grundschulbildung,und die höchste Rate von Analphabeten finden wir in die-ser Region . Jetzt sollen die Mittel für den Fonds der Glo-balen Bildungspartnerschaft 2018 von 7 auf 9 MillionenEuro steigen .
Jedoch wären 100 Millionen Euro nötig, um zumindestdie selbstgesteckten Ziele zu erreichen . Angesichts des-sen ist das doch mehr als erbärmlich .
Sie deuten in Ihrem Antrag an, dass Hochschulbildungvor Armut schützen würde . Seien Sie doch ehrlich: Nach-haltigen Schutz vor Armutslöhnen beispielsweise bietenvor allem starke und durchsetzungsfähige Gewerkschaf-ten und Bewegungen .
Wie sonst könnten den inländischen und vor allem denausländischen Unternehmen höhere Löhne abgerungenwerden? Aber das kollidiert natürlich dann mit den In-teressen von europäischen und deutschen Unternehmen,die dort billig produzieren lassen wollen .
– Nun regen Sie sich nicht auf! Das ist die bittere Wahr-heit .
In Kenia führen übrigens dieser Tage Tausende Ärztean öffentlichen Kliniken einen erbitterten Streik für dieUmsetzung ihres Tarifvertrages . Diesen hat die Regie-rung in den letzten Jahren immer wieder gebrochen .
Dies zeigt deutlich: Die fehlende Hochschulbildung isteben nicht das zentrale Hemmnis im Gesundheitssystemoder der Hauptgrund für schlechte Löhne, sondern dahin-ter stehen ganz andere Interessen .Ein weiteres Beispiel: Der guten Versorgung derBevölkerung mit Medikamenten steht nicht die unter-entwickelte Wissenschaft im Wege . Nein, es sind diePatentrechte der Pharmaindustrie, mit denen sich dieeuropäischen Unternehmen überteuerte Preise und satteGewinne sichern können . Dort könnten Sie doch aucheinmal aktiv werden!
Das Wichtigste, Frieden für die Menschen in Afrika,wird nicht vorrangig durch Bildung und Wissenschafterreicht . Viele der blutigsten Diktatoren Afrikas habenselbst studiert – übrigens viele von ihnen auch in Euro-pa –, aber Afrika wurde allein dadurch nicht friedlicherund freier; denn Frieden und Entwicklung kann es nurgeben, wenn die gesamte Bevölkerung endlich von demmassiven Reichtum ihres Kontinents profitiert.
Das setzt einen Bruch mit der bisherigen Afrika-Politikder Bundesregierung voraus, die auf wirtschaftliche Inte-ressen, eine Sicherheitsstrategie und Flüchtlingsabwehrsetzt .Sie sprachen davon, dass der nächste Einstein ausAfrika kommen könnte . – Ja, davon bin ich auch über-zeugt .
Aber wir müssen uns einem Problem stellen: Der nächsteEinstein, wenn er denn aus Afrika kommt und sich aufChristine Buchholz
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den Weg nach Norden macht, hat eine sehr hohe Wahr-scheinlichkeit, im Mittelmeer zu ertrinken .
Deshalb müssen wir hier über Heuchelei sprechen, Heu-chelei Ihrer Politik . Wir wissen um die Bedeutung vonHochschulen und Forschung für die Entwicklung und un-terstützen dies auch, aber wir wollen hier nicht der Heu-chelei das Wort reden, die Ihre Afrika-Politik dominiert .
Sie sollten vorsichtig sein, sich hier als Vorkämpfer fürWachstum, Wohlstand und sozialen Frieden in Afrikadarzustellen; denn das steht Ihnen wirklich nicht zu .Vielen Dank, meine Damen und Herren .
Vielen Dank . – Für die SPD-Fraktion erhält nun
Dr . Daniela De Ridder das Wort .
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Vielen Dank . – Frau Präsidentin! Meine sehr verehrtenKolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Zuhö-rerinnen und Zuhörer! Der Name Steinmeier, so sagte dernoch amtierende Bundespräsident Joachim Gauck heute,steht für Unermüdlichkeit, dafür, weiter zu verhandeln,zu vermitteln und zu überzeugen .Dem neuen Außenminister Sigmar Gabriel wünschteer für die schwierigen Zeiten und Herausforderungenmit Blick auf die Europäische Union und die transatlan-tischen Partnerschaften, die es zu verteidigen gilt, vielGlück und gutes Gelingen . Die SPD-Fraktion und ichschließen uns diesen guten Wünschen unumwunden an .
– Sie dürfen gerne mit einstimmen .Allen drei Herren und auch der neuen Wirtschaftsmi-nisterin, Brigitte Zypries, wünsche ich für ihre Zukunftviel Erfolg, und ich gratuliere herzlich .Bevor Sie sich räuspern: Gleich heute Morgen habeich die Gelegenheit genutzt, dem neuen AußenministerSigmar Gabriel die Außenwissenschaftspolitik und da-mit auch den unterschätzten afrikanischen Kontinent ansHerz zu legen . Wir werden das in den kommenden Wo-chen sicherlich noch deutlich vertiefen können .Frank-Walter Steinmeier hat gestern in seiner Ab-schiedsrede – viele von Ihnen waren ja dabei – nocheinmal sehr deutlich gesagt, wie wichtig die AuswärtigeKultur- und Bildungspolitik ist und wie sehr die Wissen-schaftspolitik unterschätzt wird . Ich bin ihm sehr dank-bar dafür; denn genau in diesem Kontext bewegt sich jader heutige Antrag zu Wissenschaftskooperationen mitPartnern in Subsahara-Afrika .„Ich hatte eine Farm in Afrika am Fuße der Ngong-Ber-ge .“
So beginnt der Roman von Tania Blixen mit dem TitelJenseits von Afrika, den viele von Ihnen hoffentlich ge-lesen haben .
Tania Blixen beginnt mit einer Beschreibung der Land-schaft, und der erste Absatz endet mit folgendem Satz:„Alles in dieser Natur strebte nach Größe, Freiheit undhohem Adel .“Liebe Claudia Lücking-Michel, ich bin dir sehr dank-bar für diesen Antrag, den wir gemeinsam entwickelnkonnten . Ich will gerne zugeben, dass genau dieser Ro-man lange Zeit mein Afrika-Bild mitgeprägt hat .
Möglicherweise habe ich dabei aber in der Tat übersehen,wie scharf und hart das koloniale Erbe noch heute dieStrukturen in Afrika und damit auch in Subsahara beein-flusst.Wir haben heute die Gelegenheit, vieles von dem zukorrigieren, Frau Buchholz, was Sie kritisiert haben –vielleicht auch nicht immer ganz zu Unrecht .Ja, es geht aus gutem Grund darum, Partnerschaftenzwischen Deutschland und Subsahara-Afrika zu verstär-ken, und zwar auf Augenhöhe . Wir wollen nämlich einenBrain-Drain vermeiden und Brain-Gain unterstützen undfördern .
Wissenschaftsförderung ist eine eminente Aufgabe imRahmen der Zusammenarbeit zwischen uns und den afri-kanischen Ländern im Subsahara-Raum; denn es gilt, diegroßen gesellschaftlichen Herausforderungen zu meis-tern: den Klimawandel, die Bekämpfung von Hungerund die Bekämpfung von Krankheiten, die es in Afrika –René Röspel wird nie müde, dies zu sagen – ohne denKolonialismus möglicherweise nie gegeben hätte . Auchhier haben wir eine deutsche Verantwortung .Es gilt in der Tat, Zukunftsperspektiven für die afrika-nische Bevölkerung aufzuzeigen und, ja, durch die Bil-dungs- und Wissenschaftspolitik auch Fluchtursachen zubekämpfen;
denn Bildung ist eine ganz wesentliche Voraussetzung,um am Arbeitsmarkt partizipieren und den Fachkräftebe-darf, den Subsahara-Afrika zweifellos hat, befriedigen zukönnen . Bildung ist auch eine Voraussetzung für Autono-mie und Perspektiven auf dem unterschätzten KontinentAfrika, und schließlich geht es darum, mit Bildung auchEmpowerment zu betreiben – eine ganz zentrale Aufga-Christine Buchholz
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be, die wir heute hier mit diesem Vorhaben unterstützenwollen .Ja, mir ist es auch wichtig, dass wir die transnationa-len Bildungskooperationen noch einmal deutlich verstär-ken, und zwar durch Bildungsketten von Anfang an . Einganz zentrales Element dabei – das haben wir in unseremAntrag sehr deutlich gemacht – ist die Bildung von Leh-rerinnen und Lehrern, die ja die Schülerinnen und Schü-ler qualifizieren können müssen, damit sie überhaupt dieChance haben, an Bildung zu partizipieren und um späterauch Karriere zu machen .
Es gilt, die Hochschullehrerinnen und Hochschulleh-rer weiter zu qualifizieren und unser Know-how anzubie-ten, nicht überzustülpen . Wir müssen bei der Stärkungdes Hochschulmanagements also möglicherweise auchberatend tätig werden .Weiterhin ist es mit Sicherheit förderlich und kon-struktiv, die Politikfelder stärker interdisziplinär zu ver-netzen . Es ist egal, ob das die Wissenschafts- und Bil-dungspolitik ist, ob wir als Hochschulpolitikerinnen und-politiker gefordert sind oder ob es – ich erwähnte des-halb die neue Ministerin und den neuen Minister – gilt,die Wirtschafts- und Entwicklungspolitik und die Außen-politik zusammenzudenken .Der Antrag, den wir entwickelt haben, ist nicht ohnedas Zutun des Auswärtigen Amtes, des BMBF oder desBMZ entstanden .
Deshalb bin ich an dieser Stelle dankbar, dass es uns inder Großen Koalition gelungen ist, diesen Antrag kon-struktiv und produktiv voranzutreiben . Deshalb vielenDank an die entsprechenden Ministerien .
Es ist unbedingt notwendig, längerfristige Förder-möglichkeiten voranzutreiben . Deshalb sind Stipendien-programme wichtig, die wir weiterführen und ausbauenwollen, aber nicht ohne unsere Partner . Hier nenne ichden Deutschen Akademischen Austauschdienst oder dieAlexander-von-Humboldt-Stiftung, die wir finanziell un-terstützen und die wiederum das Geld, das wir ihnen zu-kommen lassen, gut investieren werden . Ja, wir brauchenForschungsnetzwerke, um den Austausch, immer auchmit Blick auf die regionalen und lokalen Arbeitsmärkte,zu befördern .Eine Idee, die wir mit Intensität verfolgen und von derich überzeugt bin, dass sie sich umsetzen lässt, ist dieErrichtung einer Hochschule für angewandte Wissen-schaften in Kenia . Die Blaupause dafür ist die GermanJordanian University in Jordanien, die mit Sicherheit denWissenstransfer – auf gut Neudeutsch: Third Mission –unterstützen wird .
Es bedarf einer Stärkung der Studierenden und der Wis-senschaftlerinnen und Wissenschaftler, damit in der Tatso etwas wie Brain-Gain gelingt .Meine beiden Söhne – damit will ich enden – habenmir – einen lieben Gruß an Till und Jonas –, als ich dieLegislaturperiode begann, mit auf den Weg gegeben: Esist nicht deine Schuld – Sie kennen möglicherweise dasZitat –, dass die Welt ist, wie sie ist . Es wär aber deineSchuld, wenn sie so bleibt . – Heute, meine sehr verehr-ten Kolleginnen und Kollegen, haben wir die Chance, einVersprechen einzulösen .Vielen lieben Dank .
Vielen Dank . – Für Bündnis 90/Die Grünen spricht
jetzt Kai Gehring .
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Meine sehr geehrten Damen und Herren! Beratungsge-genstand dieser Debatte ist ein Wohlfühlantrag der Koa-litionsfraktionen zur Wissenschaftskooperation mit Sub-sahara-Afrika nach dem Strickmuster: Fördere Gutes undrede darüber .
In der Tat, der Antrag ist eine beeindruckende Leis-tungsschau über die Aktivitäten deutscher Wissenschafts-organisationen in Afrika . Ihnen gebührt unser Dank .
Weniger beeindruckend ist, dass die Kolleginnen undKollegen von Union und SPD nur wenige eigene Ideeneingeflochten haben, wie sie die Wissenschaftskooperati-on in Zukunft stärken wollen .
Gar enttäuschend sind die Lücken in Ihrem Antrag . Da-bei stürzt sich das halbe Bundeskabinett auf das ThemaAfrika: Entwicklungsminister Müller hat seit wenigenTagen eine Skizze für einen Marshallplan für Afrika,Forschungsministerin Wanka ihre eigene Afrika-Strate-gie und Innenminister de Maizière seine Flüchtlingsab-schreckungsagenda .
Dr. Daniela De Ridder
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Anstelle dieses konfusen Durcheinanders erwartenwir von der Ministerin und den Ministern und von deneinzelnen Bundesministerien den Willen und die Fähig-keit zur Kooperation, zu echter und funktionierenderinterministerieller Zusammenarbeit . Wir brauchen kei-ne Egotrips einzelner Kabinettsmitglieder, sondern einewirklich konsistente Afrika-Strategie, die Partnerschaftauf Augenhöhe und auf Herzenshöhe bringt .
Wissenschaft, Forschung und Innovation leisten wich-tige Beiträge zur nachhaltigen gesellschaftlichen, öko-logischen und ökonomischen Entwicklung der LänderAfrikas . Ob Wohlstand, Chancen des Einzelnen, Frieden,Stabilität, Good Governance: Bildung und Wissenschaftsind Hebel und Schlüssel für die nachhaltigen Entwick-lungsziele, die SDGs der Vereinten Nationen . Dafür mussaber die Basis stimmen, also die Grundbildung .
In vielen Ländern Afrikas gibt es hier Fortschritte .Immerhin acht von zehn Kindern aus Ländern Subsaha-ra-Afrikas besuchten 2015 eine Grundschule . Im Jahre2000 waren es nur 60 Prozent . Das Entwicklungszielliegt aber weiterhin bei 100 Prozent: Alle Kinder sollenzur Schule gehen und hinterher tatsächlich lesen, schrei-ben und rechnen können . Das muss unser gemeinsamesZiel sein .
Dieses Bekenntnis fehlt in Ihrem Antrag, und das istschlecht .
Was mich weiter stört, sind die blinden Flecken . DasBildungs- und Forschungsministerium ist in 39 von 54Ländern Afrikas aktiv . Da geht noch etwas . Das gegen-seitige Interesse an Kooperation ist hoch und wächst wei-ter . Die Stärken zu stärken und sich gleichzeitig blindenFlecken zuzuwenden, das schließt sich doch nicht aus .Warum Sie ausgerechnet die Maghreb-Staaten komplettausklammern, bleibt Ihr Geheimnis .
Gerade Bildung und Forschung könnten die LänderNordafrikas zu sicheren Staaten entwickeln und der jun-gen Generation Perspektiven und damit Bleibegründeverschaffen.
– So lange ist die Legislaturperiode nicht mehr .
– Schauen wir einmal . Wir sind gespannt .Etwas mehr als die Hälfte der Afrikanerinnen und Af-rikaner, die im Ausland leben, will wieder in ihre Hei-matländer zurückkehren, wenn denn die Bedingungenstimmen . Das sollten wir unterstützen; denn es mussgehen um Nord-Süd- und Süd-Süd-Austausch, um zir-kuläre Migration und Brain Circulation . Es darf nicht umBraindrain und Abwerbung gehen .
Aber wie sind die Bedingungen? Dazu eine kleineGeschichte . Mouhamed Moustapha Fall forscht im Se-negal an einem deutschen Forschungslehrstuhl, gefördertvon der Alexander-von-Humboldt-Stiftung . Er sammeltDaten zu Fischfang und Fischvorkommen und will einmathematisch präzises Modell entwickeln, das prognos-tiziert, wie viele Fische die Fischer vor Ort fangen kön-nen, ohne den Beständen zu schaden . Das ist ein durch-aus tolles Projekt. Wenn allerdings die EU-Fangflottendas Meer quasi leerfischen, beißt sich die Katze in denSchwanz . Ich will sagen: Mit Wissenschaft alleine lösenwir die Entwicklungsprobleme vor Ort nicht . Es brauchteine ressort- und themenübergreifende Afrika-Strategie,idealerweise noch mit den europäischen Partnern zusam-men .
In der nächsten Woche findet der EU-Gipfel in Val-letta statt . Es wäre das falsche Signal, dort einseitig dieAbwehr von Flüchtlingen zu verabreden . Fluchtursachenin Afrika zu bekämpfen, das ist der richtige Ansatz . Dasmuss aber heißen, gemeinsame strukturelle Reformen zuverabreden in Bereichen wie Handel, Landwirtschaft,Fischerei, Klimaschutz, Abrüstung und nicht zuletzt inBildung und Wissenschaft .
In Afrika keimt immer mehr Hoffnung, bis hin zurAufbruchstimmung . Deutschland muss aus meiner Sichtalles dafür tun, dass daraus eine wirklich robuste Ent-wicklung zum Wohle aller Menschen auf dem afrikani-schen Kontinent wird . Da könnte Deutschland Antreibersein, statt hinterherzuhecheln .Vielen Dank .
Vielen Dank . – Als Nächster hat der Kollege
Dr . Thomas Feist, CDU/CSU-Fraktion, das Wort .
Vielen Dank . – Frau Präsidentin! Meine verehrtenKolleginnen und Kollegen! Es ist der Moment gekom-men, wo man aufhören muss, die Menschen aus demFluss zu ziehen. Man muss flussaufwärts gehen, um zuschauen, warum sie hineingefallen sind .
Kai Gehring
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– Sie alle – außer dem Kollegen Mutlu, der schaut, als ober das noch nie gehört hätte – kennen dieses Zitat .
Der Friedensnobelpreisträger Bischof Desmond Tutuhat das im Jahr 1984 gesagt; damals war noch HeinzRiesenhuber Forschungsminister . Das zeigt, dass dieUnterstützung und Hilfe für Afrika kein Thema ist, dasschnell hochkocht und zu dem man dann einen Antrageinbringt . Vielmehr verfolgen wir dieses Thema kontinu-ierlich seit vielen Jahren und Jahrzehnten .
– Es ist schön, dass der Kollege Mutlu wieder aufge-wacht ist und an der Debatte teilnehmen kann .
Wenn wir etwas für Afrika tun, dann ist das gut undwichtig . Aber es ist genauso wichtig, dass wir die gutenInitiativen aus den verschiedenen Ministerien noch stär-ker als bisher zusammenführen . Denn es ist völlig klar:Wenn sich das Forschungsministerium, das AuswärtigeAmt, das Entwicklungshilfeministerium, das Landwirt-schaftsministerium, das Innenministerium und andereMinisterien mit Afrika befassen, dann ist das gut . Aber esmacht die administrative Arbeit nicht leichter . Deswegenist es wichtig, dass wir als CDU/CSU gemeinsam mit derSPD einen Antrag vorgelegt haben, aus dem hervorgeht,wie wir die Hochschulkooperation speziell in diesem TeilAfrikas, der für uns besonders wichtig ist, stärken wollen .
Ich brauche das eigentlich gar nicht zu fragen: Gestat-
ten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Gehring? –
Bitte schön, Herr Gehring .
Sie haben sich gerade – wie es bereits in dem Antrag
steht – für eine stärkere interministerielle Zusammenar-
beit ausgesprochen . Diese Woche Mittwoch haben wir
im Ausschuss Ihren Antrag beraten . Zeitgleich hat der
Entwicklungsminister ohne Absprache mit irgendeinem
anderen Haus seinen Marshallplan für Afrika, den ich
eher als Skizze sehe, vorgestellt .
Wenn man sich diesen Plan einmal durchliest, stellt
man fest, dass Bildung und insbesondere Wissenschaft
und Forschung weitestgehend fehlen . Wie beurteilen Sie
ein solches Verhalten, während gleichzeitig der Koaliti-
onsantrag beraten wird? Wie wollen Sie das jetzt in den
verbliebenen Wochen dieser Legislatur noch ändern?
Wie wird der Marshallplan konkret durch die Wissen-
schaftspolitik angereichert?
Ich fühle mich dabei hervorragend . Wenn auch Sieeine Zwischenfrage haben, können Sie diese anmelden .Ansonsten würde ich gerne vorwiegend auf den KollegenGehring eingehen .Ich war am Mittwoch bei der Parlamentarischen Ver-sammlung des Europarates, deswegen konnte ich an derSitzung des Ausschusses nicht teilnehmen und kann dieSituation nicht beurteilen . Außerdem würde ich von hieraus das Verhalten von Ministern, deren Geschäftsbereichwir heute nur am Rande streifen, nicht beurteilen .
Ich finde es wichtig, dass wir nicht auf Regierungs-handeln warten, sondern als selbstbewusste Parlamen-tarier sagen: Wir legen zu diesem Thema einen Antragvor und stellen Wissenschaftskooperation, Bildung, dieVernetzung und die Forderung, dass das geschieht, in denMittelpunkt .
Ich finde es nicht schlimm, dass wir das machen. Ich fin-de es im Gegenteil gut . Wenn Sie auf das Handeln derRegierung erst warten wollen, bevor Sie etwas tun, istdas Ihr Problem .
Ich finde es wichtig, dass wir in diesem Bereich vorallen Dingen auch auf die Wissenschaftsorganisationeneingehen, die die Arbeit vor Ort leisten – allen voran derDeutsche Akademische Austauschdienst und die Alexan-der-von-Humboldt-Stiftung . Es ist ja so, dass diese Orga-nisationen von verschiedenen Ministerien gefördert wer-den: vom Auswärtigen Amt, vom Bundesministerium fürwirtschaftliche Zusammenarbeit und natürlich auch vonunserem Bundesministerium für Bildung und Forschung .Die Arbeit, die vor Ort geleistet wird, stellt sich aberso dar, dass die Initiativen und die Projekte aus einemGuss sind . Deswegen fordern wir in unserem Antrag,dass dieses Prinzip der Kohärenz weiter und konsequentdurchgesetzt wird, weil wir nur dann nachhaltig – dasmüsste uns allen ein wichtiges Anliegen sein – etwas mitund für Afrika tun können .Als Berufsbildungspolitiker ist es mir natürlich nichtganz unwichtig, dass dieses Thema im Antrag auch er-wähnt wird, weil Forschung ohne eine gute Forschungs-infrastruktur nur die halbe Miete ist . Natürlich müssenwir jungen Leuten über die Wissenschaft hinaus eineChance geben . Wenn ich mir die ganzen Debatten ver-gegenwärtige, die wir zu wissenschaftlichem und nicht-wissenschaftlichem Personal an den Hochschulen inDeutschland geführt haben, stelle ich fest, dass es wich-tig ist, auch diese Personengruppe, die dafür sorgt, dassForschung in Afrika überhaupt gelingen kann, im Blickzu haben .Dr. Thomas Feist
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Insofern finde ich es wichtig, dass wir nicht nur auf dieWissenschaftskooperation in Afrika abzielen, sondernuns auch in einer bilateralen Vereinbarung beispielswei-se mit Südafrika dafür einsetzen, ein Kompetenzzentrumfür die berufliche Ausbildung dort zu errichten. Das mussineinandergreifen . Natürlich haben wir alle gemeinsamdie Aufgabe, zu schauen, was vor Ort konkret passiert .Neben dem Antrag, den ich für wichtig und richtighalte, ist es mir aber genauso ein persönliches Anliegen,dass wir nicht nur reden, sondern auch handeln . Ich un-terstütze beispielsweise seit zehn Jahren eine Schule inAccra in Ghana . Es handelt sich um eine Schule in denSlums mit dem Namen „Hope for Life“ . Dort wird denjungen Menschen eine Chance gegeben, die sonst keineChance hätten .Ich habe für jemanden, der in dieser Schule groß ge-worden ist, eine Patenschaft übernommen . Er kann dortjetzt auch studieren . Das wäre mein Appell kurz vor die-sem Wochenende an Sie, meine lieben Kolleginnen undKollegen: Nicht nur reden, sondern auch handeln . Dakann jeder von uns mithelfen .Vielen Dank .
Vielen Dank . – Als letzter Redner zu diesem Tages-
ordnungspunkt hat jetzt der Kollege Martin Rabanus,
SPD-Fraktion, das Wort .
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Am Ende die-
ser Debatte noch ein paar zusammenfassende Worte von
mir. Ich finde es erst einmal gut und einen Wert an sich,
dass wir heute diese Debatte über Afrika führen – am Be-
ginn des Afrika-Jahres der Bundesregierung .
Es steht im Laufe des Jahres vieles im Zeichen die-
ses Kontinents, unter anderem auch im Rahmen der
G-20-Präsidentschaft . Deswegen ist es gut, dass wir heu-
te diese Diskussion führen und dass wir sie heute auch
über die Wissenschaftskooperation mit Afrika führen, die
natürlich nur ein kleiner Teil ist . Ich will jetzt gar nicht
den Versuch unternehmen, die 24 Punkte, die wir in die-
sem Antrag sozusagen anerkennen, würdigen, zu rekapi-
tulieren . Wir haben ja gehört, dass selbst die Opposition
sagt, dieser Teil des Antrags sei ausgesprochen gelungen
und beeindruckend .
Ich will mich ausdrücklich dem Dank anschließen,
den der Kollege Gehring ausgesprochen hat, nämlich
dem Dank an unsere Mittlerorganisationen, auch an die
Stiftungen, die für uns in fast allen Staaten des afrikani-
schen Kontinents tätig sind . Nicht in allen, aber in fast
allen Staaten sind wir vertreten . Da sind viele Menschen,
die sich unter nicht immer einfachen Bedingungen ein-
setzen, die sich engagieren. Ich finde, im Rahmen einer
solchen Debatte kann man da den Dank nicht laut genug
sagen .
Als Zweites möchte ich sagen, dass Europa und
Deutschland eine besondere Verantwortung für Afrika
haben, eine, die in der Vergangenheit auch aus meiner
Sicht nicht hinreichend wahrgenommen worden ist . Ich
finde es deswegen ausdrücklich gut, dass sich die unter-
schiedlichen Teile der Bundesregierung nun auch stärker
auf den Weg machen, sich damit auseinanderzusetzen .
Beide Kontinente, Europa und Afrika, sind Nachbarn .
Ich will einmal daran erinnern, dass uns an einigen Stel-
len nur wenige Kilometer geografisch trennen.
Wir sind aber nicht nur Nachbarn, sondern wir sind
historisch miteinander verbunden . Die Kolonialzeit ist
angesprochen worden, eine Zeit von Unterdrückung,
Bevormundung, Erniedrigung, von Ausbeutung . All das
prägt auch das Zusammenleben und die Geschichte, die
Europa und Afrika verbinden .
Daran jetzt anzuknüpfen und zu sagen, dieses Afrika,
das sich auf den Weg gemacht hat, dieses Afrika, das sich
erkennbar zusammenrauft, das Strukturen bildet – ich
nenne einmal das Stichwort „Afrikanische Union“, die
sozusagen immer stärker Fahrt aufnimmt –, dieses Afri-
ka, das sich gemeinsame Entwicklungsziele gesetzt hat –
unter anderem in der Agenda 2063 –, Entwicklungsziele
wie Demokratie, Frieden, Nachhaltigkeit, dieses Afrika,
das wächst – im Jahr 2050 wird Afrika 20 Prozent der
Weltbevölkerung stellen, wenn unsere Prognosen zutref-
fend sind –, dieses Afrika, das ein junger Kontinent ist –
das Durchschnittsalter der afrikanischen Bevölkerung
beträgt 18 Jahre –, dieses Afrika zu unterstützen, dieses
Afrika stark zu machen, das ist die Aufgabe, vor der wir
stehen . Die Koalition zeigt mit dem Antrag, dass bereits
vieles passiert ist, dass wir uns auch vieles vorgenommen
haben und dass wir konsequent weitergehen wollen – in
diesem Jahr, aber auch darüber hinaus –, um Bewusstsein
für den Kontinent zu schaffen.
Deswegen ist es gut, dass wir am Beginn des Afri-
ka-Jahres der Bundesregierung hier heute diese Debatte
führen . Denn es ist wichtig, dass wir mehr Bewusstsein
für diesen Kontinent schaffen und dass wir dafür sorgen,
dass er einen festen Platz in unserem Kopf, aber auch in
unserem Herzen hat .
Herzlichen Dank .
Vielen Dank . – Damit schließe ich die Aussprache .Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss-empfehlung des Ausschusses für Bildung, Forschung undTechnikfolgenabschätzung zu dem Antrag der Fraktionender CDU/CSU und SPD mit dem Titel „Wissenschafts-kooperation mit Partnern in Subsahara-Afrika stärken“ .Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlungauf Drucksache 18/10973, den Antrag der Fraktionen derDr. Thomas Feist
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CDU/CSU und SPD auf Drucksache 18/10632 anzuneh-men . Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Werstimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die Beschluss-empfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktio-nen bei Enthaltung der Opposition angenommen .Ich rufe Tagesordnungspunkt 32 auf:Erste Beratung des von den Abgeordneten KatjaKeul, Renate Künast, Luise Amtsberg, weiterenAbgeordneten und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs einesGesetzes zur Änderung des Gesetzes über dieEntschädigung für Opfer von Gewalttaten
Drucksache 18/10965Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz HaushaltsausschussNach einer interfraktionellen Vereinbarung sind fürdie Aussprache 38 Minuten vorgesehen . – Ich sehe, Siesind damit einverstanden . Dann ist so beschlossen .Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat Katja Keulfür Bündnis 90/Die Grünen .
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Bevor ich über die Schließung von Gesetzes-lücken spreche, möchte ich klarstellen, dass wir uns alleeinig sind in der Trauer und dem Entsetzen über das Ver-brechen vom Breitscheidplatz . Neben der Aufarbeitungder Fehlerketten, die zu diesem furchtbaren Ereignis ge-führt haben, muss es vor allem darum gehen, den Opfernnicht nur unser Mitgefühl, sondern auch jede erdenkli-che Hilfe zukommen zu lassen . Ich begrüße es deswe-gen ausdrücklich, dass die Bundesregierung einen Weggefunden hat, in diesem speziellen Fall über eine Här-tefallregelung Opferentschädigung zu gewähren, obwohldas Gesetz dies eigentlich nicht vorsieht . Dafür auch vonunserer Seite unseren ganz herzlichen Dank .
Diese Härtefallregelung im Einzelfall hilft allerdingsnicht über die Gesetzeslücke hinweg, wenn es generellum die Opfer von Straftaten geht, in denen der Täter einKraftfahrzeug zum Schaden eines anderen einsetzt; dennin § 1 Absatz 11 des Opferentschädigungsgesetzes steht:Dieses Gesetz ist nicht anzuwenden auf Schädenaus einem tätlichen Angriff, die von dem Angreiferdurch den Gebrauch eines Kraftfahrzeugs oder einesAnhängers verursacht worden sind .Das heißt, alle Gewalttaten mittels eines Kfz sind damitausgenommen, egal ob Körperverletzung, Mord oderTotschlag .Denken Sie nur an die illegalen Autorennen . Da wol-len Sie ja demnächst sogar einen neuen Straftatbestandschaffen, um eine härtere Bestrafung zu ermöglichen.Wie Sie wissen, halte ich selbst nicht allzu viel von sym-bolhaften Strafverschärfungen . Für die Opfer könnten wirallerdings tatsächlich eine wirksame und wichtige Geset-zesänderung vornehmen . Dem Opfer hilft nämlich einehärtere Bestrafung am Ende wenig . Im Gegenteil: Wirdder Täter nicht nur wegen grober Fahrlässigkeit, sondernauch wegen Vorsatzes verurteilt, ist die Kfz-Haftpflicht-versicherung in jedem Fall raus aus der Haftung . Das istfür die Verletzten im Zweifelsfall eine Katastrophe, weildie Haftpflichtversicherung den umfassendsten Scha-densersatz bietet und nun komplett ausfällt .An dem Haftungsausschluss an sich wollen und kön-nen wir nichts ändern; denn der Versichertengemeinschaftkann sicher nicht zugemutet werden, für die Folgen vonVerbrechen zu haften. Eine Haftpflichtversicherung sollbei fehlerhaftem Gebrauch eines Pkw aufkommen, abersicher nicht bei vorsätzlichem Missbrauch . Verbrechensind eben nicht versicherbar .Dann sollten die Geschädigten aber wenigstens so be-handelt werden wie andere Verbrechensopfer auch,
und die haben, gerade wenn sie schwer verletzt und dau-erhaft geschädigt sind, Ansprüche nach dem Opferent-schädigungsgesetz . Es ist doch nicht einzusehen, warumich, wenn ich mit einem Baseballschläger zusammenge-schlagen worden bin, bessergestellt werden soll, als wennich vorsätzlich von einem Auto überfahren worden bin .Wenn es richtig ist, dass die Haftpflichtversicherer fürsolche Schäden nicht aufkommen müssen, dann muss esauf der anderen Seite richtig sein, dass es Entschädigun-gen für die Opfer solcher Straftaten nach dem Opferent-schädigungsgesetz gibt . Deshalb muss die Ausnahmevor-schrift in § 1 Absatz 11 des Opferentschädigungsgesetzes,wonach dieses Gesetz immer dann nicht zur Anwendungkommt, wenn die Straftat mittels eines Pkw erfolgt ist,gestrichen werden .
Diese Gesetzeslücke wird auch nicht durch den frei-willigen Fonds des Vereins Verkehrsopferhilfe geschlos-sen, den die Haftpflichtversicherer für die Fälle einge-richtet haben, in denen sie aus Rechtsgründen nichteinzustehen haben; denn aus diesem Fonds werden zumeinen keine Renten gezahlt, sondern es werden Mittelzum Ausgleich anderer Schäden wie Sachschäden oderSchmerzensgelder bereitgestellt, die wiederum nicht vonder Opferentschädigung erfasst sind, und zum anderenist der Schadensersatz aus dem Fonds auf 7,5 Millio-nen Euro pro Ereignis gedeckelt . Das kann bei mehre-ren Schwerverletzten schnell nicht mehr ausreichen . DieLeistungen, die das Opferentschädigungsgesetz bietet,können dagegen lebenslang gelten und sind in der Höhenicht gedeckelt .Aufgrund der Unterschiedlichkeit der Ansprüchemuss der Verkehrsopferhilfefonds von der Streichungder Ausnahmevorschrift im Opferentschädigungsgesetzunberührt bleiben . Das heißt, wenn jemand künftig durcheine Vorsatztat mittels eines Pkw schwer verletzt unddauerhaft geschädigt wird, sollte er nach wie vor Sach-schaden- und Schmerzensgeld von der Verkehrsopferhil-Vizepräsidentin Ulla Schmidt
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fe bekommen und trotzdem eine Versorgungsrente nachdem Opferentschädigungsgesetz erhalten .
Das wäre auch angemessen und ist noch längst nicht soviel, wie die Kfz-Haftpflichtversicherung im Falle einesfahrlässig verursachten Verkehrsunfalls zahlen würde .Weil gerade von Schmerzensgeld die Rede ist: SeitMonaten kündigen Sie den Gesetzentwurf an, mit demendlich auch ein Schmerzensgeld für Hinterbliebene ein-geführt werden soll . Zwischenzeitlich hatte schon ein Re-ferentenentwurf seine Runden gedreht, und was ich daringelesen habe, war doch eigentlich gar nicht schlecht . Ei-nigen Sie sich doch endlich, damit auch dieses Vorhabenauf den Weg gebracht werden kann!
Ich befürchte schon länger, dass Sie das trotz ständigerBeteuerungen in dieser Legislaturperiode leider nichtmehr hinbekommen .Lassen Sie uns also wenigstens über die Opferent-schädigung bei Straftaten reden . Vielleicht kriegen wirda ja noch etwas hin .Weil Sie bei unseren Anträgen – gerade wenn Ihnenkeine inhaltlichen Gegenargumente mehr einfallen – im-mer bemängeln, dass es keine Gesetzentwürfe seien, ha-ben wir Ihnen in diesem Fall sogar einen mundgerechtenGesetzentwurf geliefert, dem Sie nur noch zustimmenmüssen .
Für Verbesserungsvorschläge sind wir immer offen.Wichtig wäre am Ende, dass wir zu einem Ergebniszugunsten der Geschädigten kommen . In diesem Sinnefreue ich mich auf die Beratungen .Vielen Dank .
Danke schön . – Für die CDU/CSU-Fraktion spricht
jetzt die Kollegin Jutta Eckenbach .
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Am Ge-denktag für die Opfer des Nationalsozialismus in einerPlenardebatte über die Opfer des Breitscheidplatzes zusprechen, ist zum Teil unfassbar; das fällt am heutigenTage nicht leicht .Die vergangenen Wochen waren von den Eindrückendes Terroranschlags geprägt . Wir trauern sehr, und unsereGedanken sind bei den Opfern, Verletzten und Hinter-bliebenen .
Dazu zähle ich auch Freunde, Arbeitskollegen und Nach-barn, die allesamt mit den Eindrücken und dem Verlustumgehen müssen .Die Bedrohung durch den islamistischen Terrorismusist global, unberechenbar und trifft Bürgerinnen und Bür-ger, Besucher und somit uns alle, egal ob es Anschläge inFrankreich, Istanbul, Brüssel oder Berlin sind . Die Tätermeinen unsere Lebensweise, unsere Werte, unsere De-mokratie und unseren Rechtsstaat, auf den wir wirklichsehr stolz sein können .Die Wehrhaftigkeit unseres Rechtsstaates ist geradejetzt gefordert, mehr als je zuvor . Wir müssen uns den-jenigen entgegenstellen, die unseren Lebensstil mit Ter-ror zerstören wollen und unsere von Werten getrageneGemeinschaft spalten wollen . Wir müssen uns aber auchdenjenigen entgegenstellen, die aus Terror Profit schla-gen wollen und in angeblicher Verteidigung des Abend-landes ebenfalls eine Abkehr vom Rechtsstaat und vonunserer Demokratie in Kauf nehmen, wenn nicht sogarbeabsichtigen .Meine Kolleginnen und Kollegen, wir dürfen bei allenDiskussionen über Folgen von Terrorakten, über die Tä-ter und über die Wehrhaftigkeit jedoch nicht die konkre-ten Opfer aus den Augen verlieren: unsere Mitbürger unddiejenigen, die als Gäste mit Neugier und Erwartungenunser Land besucht haben und gestorben sind oder ver-letzt wurden . Bundestagspräsident Norbert Lammert hatdafür in der vergangenen Woche in diesem Hohen Hausedie richtigen Worte gefunden .Selbstverständlich ist es unsere Pflicht, den Verletz-ten, den Hinterbliebenen und auch den traumatisiertenAugenzeugen jegliche notwendige Hilfe zukommen zulassen . Wir als staatliche Gemeinschaft werden dieserVerantwortung gerecht .Meine Damen und Herren, der heute eingebrachte Ge-setzentwurf macht die Entschädigungen der Opfer zumThema . Die Bundesregierung hat klargestellt, dass dieverletzten Opfer, die Hinterbliebenen, auch die Hinter-bliebenen des Lkw-Fahrers Lukasz Urban, nun die erfor-derlichen Leistungen je nach Fall erhalten . Sie erhaltenLeistungen, zum Beispiel Schmerzensgeld aus dem Ent-schädigungsfonds über die Verkehrsopferhilfe . Hier wer-den die Ansprüche gegen den Kfz-Halter oder -Eigentü-mer nun dem Entschädigungsfonds gegenüber geltendgemacht . Sie erhalten Leistungen als Härteleistungen fürOpfer terroristischer Straftaten aus den Haushaltsmittelndes Bundestages, die vom Bundesamt für Justiz verwaltetwerden, und – darum geht es heute vor allen Dingen – sieerhalten Leistungen nach dem Opferentschädigungsrechtim Wege des Härteausgleichs .Sie erhalten den gesamten Umfang des Leistungs-spektrums, unter anderem einkommensunabhängigemonatliche Grundrenten, einkommensabhängige monat-liche Rentenleistungen zum Ausgleich wirtschaftlicherund beruflicher Nachteile und weitere Leistungen. DieOpfer und die Hinterbliebenen erhalten Leistungen nachdem Opferentschädigungsgesetz, obwohl im Opferent-schädigungsgesetz in § 1 Schäden aufgrund tätlicher An-griffe durch ein Kfz ausgeschlossen werden. Das OEGgreift trotz Kfz-Ausschluss, da die Tat in ihrer Gesamt-Katja Keul
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heit betrachtet werden muss . Dazu gehören eben auchdie Beschaffung des Lkws und der Mord am Fahrer. Hierbeginnt ja bereits die Gewalttat, in deren weiterer Folgedie vielen Opfer zu beklagen sind . Den Kfz-Ausschlussjetzt zurückzunehmen, macht in Kenntnis der Härtefall-leistungen, die nach dem OEG möglich sind, momentankeinen Sinn .Wo etwas verbessert werden kann, werden wir es tun .Wo zu wenig finanzielle Ressourcen bereitgestellt wer-den, werden wir diese aufstocken . Sie gaukeln – Ent-schuldigung – auch zu diesem ernsten Thema mit Ihremdoch sehr mageren Gesetzentwurf vor, es gebe einfacheLösungen . Darüber bin ich etwas enttäuscht; denn daswird der Würde der Menschen an dieser Stelle nun wirk-lich nicht gerecht .
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Opferentschädi-gung ist ein sehr komplexes Feld; das steht doch ganzaußer Frage .
Wer sich etwas ausführlicher mit Opferentschädigungbefasst hat, weiß, wie schwierig diese Thematik ist . Esgibt sehr viele und sehr unterschiedliche Opfergruppen:Opfer von Gewalttaten, von Stalking, psychischer Ge-walt, staatlich angeordneter medizinischer Straftaten inder DDR, aber auch traumatisierte Eltern von ermordetenKindern und viele andere mehr . Fest steht, dass sich vie-le Menschen vom derzeitigen Opferentschädigungsrechtnicht hinreichend beachtet sehen . Wir haben dazu oftausführliche Gespräche geführt, auch ich als Berichter-statterin für die CDU/CSU-Fraktion . Wir werden uns dassoziale Entschädigungsrecht insgesamt ansehen müssen .
Dieser Prozess dauert länger als gedacht, aber es wirduns gelingen . Ziel muss es sein, den Opfern zu helfen .Diesen Anspruch lege ich auch an, wenn es um die Opfervon Terror in unserem Land geht . Es geht um schnelle,möglichst unbürokratische und ausreichende Hilfe .Es ist mir außerordentlich wichtig, eines noch zu er-wähnen: Die Hilfe sollte aus einer Hand oder wie auseiner Hand sein . Wir können nur erahnen, in welchemAusnahmezustand sich diese Menschen befinden. Wennwir deren Situation etwas näher an uns heranlassen unduns konkrete Behördengänge oder den Versicherungs-schriftverkehr vorstellen, wird unser Auftrag in diesemHause sehr deutlich . Ich plädiere daher dafür, dass wir imaktuellen Fall das Hilfesystem wirken lassen . Ich bin derÜberzeugung, dass die momentane Hilfe ausreichend istund dass sie auch wirklich vollumfänglich den Entschä-digungsgedanken widerspiegelt . Aber wir sollten auch –das ist ja geschehen – mit Überbrückungsmechanismenund Aufstockungen Verbesserungen herbeiführen unddann alles in Ruhe analysieren .
In einem weiteren Schritt muss es eine umfassendeReform der Opferentschädigung geben . Ich sage ganz of-fen: Wenn sich bei der Analyse der aktuellen Fälle Hand-lungsbedarf herausstellen sollte, werden wir auch darü-ber reden . Gegebenenfalls muss dann das OEG um dieseSachverhalte erweitert werden oder an anderer Stelleeine Klärung erfolgen . Ich glaube, dass wir neben denDiskussionen über sicherheitspolitische Maßnahmen,das Sicherheitsempfinden der Bevölkerung und die An-wendung bestehender Gesetze – es ist mir wichtig, dasnoch einmal zu erwähnen – auch darüber nachdenkensollten, wie wir den Opfern sehr unbürokratisch und sehrschnell die entsprechende Hilfe angedeihen lassen .Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit .
Vielen Dank . – Nächste Rednerin ist Ulla Jelpke,
Fraktion Die Linke .
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wirsehen, dass Terroristen sich immer perfidere Methodenaneignen, um Terroranschläge zu begehen . Erst im letz-ten Jahr sind 80 Menschen im französischen Nizza umsLeben gekommen, weil ein Lkw in eine Menschenmengesteuerte . Am 19 . Dezember 2016 riss Anis Amri mit ei-nem entführten Lkw 11 Menschen auf dem Weihnachts-markt am Berliner Breitscheidplatz in den Tod und ver-letzte 50 Menschen zum Teil schwer . Übrigens hat es inden letzten Tagen einen ähnlichen Anschlag in Jerusalemgegeben . Dies zeigt – hier widerspreche ich der KolleginEckenbach ganz klar –, dass wir eine neue Entwicklunghaben . Daher müssen unsere Gesetze auch entsprechendangepasst werden .
Wir geben den Grünen mit ihrem vorliegenden Gesetz-entwurf recht .
Meine Damen und Herren, wir reden über eine Än-derung des Opferentschädigungsgesetzes, das Geschä-digte von Gewalttaten und Verbrechen in Deutschlandfinanziell entschädigen soll. Das Problem ist: Aufgrundder Entstehungsgeschichte des Gesetzes, nämlich ausdem Kriegsopferentschädigungsgesetz der WeimarerRepublik, kommt dieses Gesetz ausdrücklich nicht zumTragen, wenn ein Schaden durch ein Kraftfahrzeug ver-ursacht wurde . In diesem Fall – derzeit können Ersatzan-sprüche für Schäden durch Kraftfahrzeuge gegenübereinem Entschädigungsfonds geltend gemacht werden –Jutta Eckenbach
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werden nur 7,5 Millionen Euro pro Ereignis gezahlt, un-abhängig von der Zahl der Opfer . Man kann sich einmaldurchrechnen, was das heißt .Zudem muss es den Menschen als unsäglich zynischerscheinen, wenn sie Opfer von Anschlägen werden, dieTerroristen und Amokläufer absichtlich mit einem Fahr-zeug herbeigeführt haben, und entschädigungstechnischzu Opfern von Verkehrsunfällen erklärt werden . Das gehtgar nicht .
Der Gesetzentwurf ist deswegen richtig . Er wird,wenn wir ihn verabschieden würden, eine Schutzlückeschließen . Deswegen stimmt die Linke diesem Gesetz-entwurf zu .
Meine Damen und Herren, im Falle des Anschlagesauf dem Weihnachtsmarkt am Breitscheidplatz hat sichdie Bundesregierung auf eine Härtefallregelung ver-ständigt, allerdings – das muss man hier auch einmalsagen – erst, nachdem die Anwälte der Opfer mit einerEntschädigungsklage in dreistelliger Millionenhöhe ge-droht haben . Erst danach hat man sich bewegt . Ich willaber hier, wie auch meine anderen Kollegen, deutlich sa-gen: Wir begrüßen es ausdrücklich, dass es hier zu einerExtra-Regelung gekommen ist .Doch Opferentschädigung ist nur die eine Seite, diematerielle Seite . Wir wissen, dass der Schmerz für dieAngehörigen, aber auch für die Verletzten mit Geld alleinnicht aufgewogen werden kann . Deswegen muss auch andieser Stelle gesagt werden: Gerechtigkeit kann es nurgeben, wenn es eine wirkliche Aufklärung gibt . Hierappelliere ich an das Haus . Zurzeit wird die Aufklärungeher blockiert . Der Anschlag war vor einem Monat . DieAufklärungsarbeiten werden immer mehr in das geheimeParlamentarische Kontrollgremium verlegt . Es werdenSonderkommissionen und Sonderbeauftragte eingesetzt .Es muss aber auch für die Opfer die Aufklärung statt-finden. Es müssen Fragen beantwortet werden: Warumwurde nie versucht, Amri aufgrund seiner zahlreichenStraftaten zu inhaftieren? Ist die Hand über ihn gehaltenworden? Haben Geheimdienste ihn laufen lassen? Ist erLockvogel gewesen? Auch das wird zur Gerechtigkeitbeitragen und gehört zu diesem Thema .
Wir sind fest davon überzeugt: Eine rückhaltlose Of-fenlegung von Fehlern macht es auch möglich, dass wirdaraus lernen und möglicherweise weitere Anschlägeverhindern .Ich danke Ihnen .
Vielen Dank . – Für die SPD-Fraktion hat jetzt
Waltraud Wolff das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Fas-sungslos habe ich am 19 . Dezember auf die Bilder vomBreitscheidplatz geschaut . Fassungslos und geschocktbin ich eigentlich noch heute, wie wir alle .Aus kalter Berechnung wurden wahllos Menschengetötet, verletzt, mit dem alleinigen Ziel, tiefe Angst zuschüren und zu schaffen. Meine Damen und Herren, ichbin froh, dass das nicht gelungen ist . Das haben die Ber-liner, das hat die Bevölkerung gezeigt . Das ist sehr, sehrgut .
Liebe Kolleginnen und Kollegen, den Schmerz derAngehörigen und der Opfer kann ich nur erahnen . Eben-so kann ich nur erahnen, welche Folgen die Verletzungenund die traumatischen Erlebnisse für die Überlebendenin der Zukunft haben werden . Umso wichtiger ist es, denOpfern und Angehörigen unser Mitgefühl zu zeigen undsie zu unterstützen, wo wir nur können . Sie müssen nachdieser Tat weiterleben, und es ist unsere Aufgabe, ihnenso zu helfen, wie wir es können .Frau Jelpke, Sie haben hier vom gerichtlichen Einkla-gen von Entschädigungen gesprochen . Mir ist so etwasnicht bekannt . Das müssten Sie dann schon unterlegen .
Es geht hier, meine Damen und Herren, natürlich umkörperliche und seelische Folgen, die die Menschen da-vongetragen haben – aber nicht nur . Oft brechen bei Op-fern oder Angehörigen Einkommen weg . Es ist für michüberhaupt keine Frage, dass wir diese Menschen nichtalleinlassen . Das hat Andrea Nahles sofort nach dem An-schlag deutlich gemacht, und das war gut und richtig .
Direkt nach dem Anschlag hat das Land Berlin den Ver-letzten und den Angehörigen der Opfer seine Traumaam-bulanzen zur Verfügung gestellt . Das war ein ganz wich-tiger Schritt .Letzte Woche, meine Damen und Herren, wurde nundie weitere Entschädigung vereinbart . Liebe Kolleginnenund Kollegen, die Verletzten und Hinterbliebenen diesesAnschlages erhalten das ganze Spektrum der Leistungennach dem Opferentschädigungsgesetz . Dafür wird derHärteausgleich genutzt . Die Hinterbliebenen und Ver-letzten erhalten Leistungen aus dem Entschädigungs-fonds, der von der Verkehrsopferhilfe e . V . verwaltetwird, und sie erhalten auch Härteleistungen für Opferterroristischer Straftaten . Ich persönlich bin sehr froh,Ulla Jelpke
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dass die Bundesministerien für Arbeit und Soziales so-wie der Justiz und für Verbraucherschutz gemeinsam mitdem Land Berlin zügig eine ganz umfassende Lösunggefunden haben .Im konkreten Fall diskutieren wir natürlich, ob undwie so ein Anschlag hätte verhindert werden können .Aber die traurige Gewissheit ist: Wir können nicht alleGewalttaten, wir können nicht alle Anschläge verhin-dern . Wir können auch nicht den Schmerz und die kör-perlichen und seelischen Folgen lindern . Aber wir kön-nen mit unserem Opferentschädigungsrecht helfen, diegesundheitlichen und auch die finanziellen Folgen einerGewalttat zumindest zu schmälern .
– Ich komme noch darauf .Meine Damen und Herren, ich will keine Schelte ver-teilen; aber wenige Tage nach dem Anschlag wurde inden Medien die Frage, ob und welche Entschädigungenmöglich sind, breit diskutiert . Viele haben auch berichtet,eine Entschädigung sei überhaupt nicht möglich . Was füreine Verunsicherung für die Opfer und die Hinterbliebe-nen! Meine Damen und Herren, richtig ist, dass zu die-sem Zeitpunkt nicht klar war, dass der Härteausgleich ge-nutzt werden kann . Aber: Dass der Entschädigungsfondsder Verkehrsopferhilfe greift, war bereits am nächstenTag klar . Ich will einfach die Frage in den Raum stellen:Wäre hier nicht mehr Sorgfalt angebracht gewesen? Wares wirklich notwendig, Opfer zu verunsichern?
Es ist unser gemeinsames Anliegen, dass die Betroffe-nen alle notwendige Hilfe bekommen .
– Zu euch . –
Sie bekommen – und das ist jetzt auch klar – alle Leistun-gen, die zur Verfügung stehen . Der Härteausgleich ist daein richtig guter Weg .Die Grünen schlagen heute in ihrem Gesetzentwurfvor,
in der Zukunft einen anderen Weg zu gehen . Sie wol-len die Ausnahme für Kraftfahrzeuge aus dem Opferent-schädigungsgesetz streichen . Die Abgrenzung zwischender Entschädigung über den Fonds der Verkehrsopfer-hilfe und der Entschädigung nach dem Opferentschädi-gungsgesetz würde dadurch schwieriger . Darüber hinausbefürchten Sie – so habe ich das interpretiert –, dass esStreit zwischen den Trägern über die Zuständigkeit ge-ben könnte .Der Härteausgleich, liebe Kolleginnen und Kollegen,dagegen bietet die Möglichkeit, unvorhergesehene Fälleabzudecken, und die Verwaltung ist ermächtigt festzule-gen, dass das Opferentschädigungsrecht greift . Das hatnach dem Anschlag auch gut funktioniert .Liebe Kolleginnen und Kollegen, nach Anschlägenwird oft mehr über die Täter als über die Opfer geredet .Oft nimmt man die Toten mehr wahr als die Überleben-den . Umso wichtiger ist es, dass unser Opferentschädi-gungsrecht gut funktioniert . Die Teile, die wir zusam-mengefügt haben, funktionieren richtig gut .
Es ist ein wichtiges Zeichen unserer Gesellschaft andie Überlebenden: Wir nehmen euch wahr . Wir könneneuer Leid zwar nicht stillen, aber wir wollen helfen, wowir können .Herzlichen Dank .
Vielen Dank . – Nächster Redner ist Dr . Albert Weiler,
CDU/CSU-Fraktion .
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damenund Herren! Werte Kolleginnen und Kollegen! DasJahr 2016 ging in Deutschland mit einem schrecklichenEreignis zu Ende . Es waren schwere Tage, in denen ichwie Millionen Menschen in Deutschland entsetzt, er-schüttert und tief traurig war aufgrund der grausamenund letztlich unbegreiflichen Tat auf dem Breitscheid-platz in Berlin .Im Hinblick auf die Bedrohung durch Menschen,die sich voller Hass gegen unsere Gemeinschaft stellenund unser friedliches Zusammenleben gefährden oderzerstören wollen, ist ein vereintes Vorgehen notwendig .Gemeinsam haben wir die Kraft, uns für ein freies undoffenes Leben, wie wir es in Deutschland leben wollen,einzusetzen .Auch gut einen Monat nach dem Anschlag sind mei-ne Gedanken weiterhin bei den zwölf Toten, den vielenVerletzten, ihren Familien, Angehörigen und Freunden .Angesichts der Katastrophe auf dem Weihnachtsmarktan der Gedächtniskirche ist es unsere Pflicht, über eineangemessene Entschädigung zu diskutieren . Dies nichtzu tun, hieße, unserer politischen Verantwortung gegen-über denjenigen, die Trauer und Leid erfahren haben,nicht gerecht zu werden . Aus diesem Grund sage ichganz deutlich: Für die Opfer von Gewalttaten, auch wieim Fall vom vergangenen Dezember, müssen wir unein-Waltraud Wolff
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geschränkte Hilfe leisten und eine schnelle, direkte undunbürokratische Entschädigung sicherstellen . Ich binerleichtert, dass dies im Anschluss an den Berliner An-schlag auf der Grundlage des geltenden Gesetzes durchdie Anwendung des Härteausgleichs nach § 1 Absatz 12Opferentschädigungsgesetz in Verbindung mit § 89 Bun-desversorgungsgesetz aktuell schon geschieht .Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales, dasBundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutzsowie die Berliner Senatsverwaltung und das Landesamtfür Gesundheit und Soziales haben sich bereits auf eineLösung zur Entschädigung der Opfer verständigt . DieVerletzten und Hinterbliebenen des Anschlags erhaltennach dieser Lösung Leistungen nach dem Opferentschä-digungsgesetz im Wege des Härteausgleichs, Leistungenaus dem Entschädigungsfonds, der von der Verkehrsop-ferhilfe verwaltet wird, und Leistungen als Härteleistun-gen für Opfer terroristischer Straftaten, welche vom Bun-desamt für Justiz verwaltet werden .Mir ist besonders wichtig, zu erwähnen, dass die Ent-schädigung aus dem Opferentschädigungsgesetz im Um-fang des gesamten Leistungsspektrums erbracht werdensoll . Ergebnis dessen ist, dass alle Opfer des Berliner An-schlags auf der Grundlage der heutigen Rechtslage wich-tige Leistungen erhalten . Das sind wir den Menschenauch schuldig .
– An der Stelle wäre es schön, wenn Sie zuhören würden,anstatt dazwischenzureden; denn es ist wirklich ein ernst-haftes Thema . Dass wir hier reden, ist kein Selbstzweck,sondern wir debattieren hier, um Menschen helfen zukönnen . – Danke schön .
Mit dem vorgelegten Gesetzentwurf soll die Ausnah-me von der Anwendbarkeit des Opferentschädigungsge-setzes bei Schäden aus einem tätlichen Angriff, die voneinem Angreifer durch den Gebrauch eines Kraftfahr-zeugs oder eines Anhängers verursacht werden, aufgeho-ben werden . Die rechtssichere Versorgung und Entschä-digung aller Opfer soll sichergestellt werden – sicherlichein hehrer Vorsatz . Aber wir müssen uns die Frage stel-len, ob eine Änderung der gesetzlichen Regelungen tat-sächlich angebracht ist, und dies mit äußerster Vorsichtangehen; meine Vorrednerin hat das eingehend dargelegt .Inhaltlich teile ich den Anspruch, der diesem Gesetz-entwurf zugrunde liegt, aus tiefstem Herzen . Als Gesetz-geber müssen wir allerdings auch sorgfältig prüfen, obdie Sachlage tatsächlich nach einer Gesetzesänderungruft . Aktionistische Schnellschüsse sollten bei einer sowichtigen Angelegenheit unbedingt vermieden werden .
Ich möchte zudem anmerken, dass der von den Grüneneingebrachte Gesetzentwurf aus meiner Sicht den Opfernnicht ganz gerecht wird und einer Überarbeitung bedarf .Insgesamt begrüße ich die Debatte aber und stelle zufrie-den fest, dass auch die Grünen einer hilfreichen Lösungaufgeschlossen gegenüberstehen .Ich bin überzeugt, dass wir als staatliche Gemein-schaft eine gesteigerte Verantwortung gegenüber denentragen, die Opfer eines Terroranschlags geworden sind .Daher ermuntere ich alle Parteien, bei der weiteren Dis-kussion nicht gegeneinander, sondern miteinander zuagieren, um die bestmögliche Entschädigung aller Opfersicherzustellen .Ich hoffe auf eine sachliche Debatte in der weiterfüh-renden parlamentarischen Behandlung
mit dem Ziel einer optimalen Hilfe für alle Opfer, ihreAngehörigen und Anverwandten .Vielen Dank .
Vielen Dank . – Letzter Redner für die heutige Debatte
ist der Kollege Karl-Heinz Brunner, SPD-Fraktion .
Sehr verehrte Frau Präsidentin! Meine Kolleginnenund Kollegen! Eigentlich ist dieser Tagesordnungspunktheute, nach einer spannenden Sitzungswoche, als letzterTagesordnungspunkt fast an die falsche Stelle gesetzt;denn die Entschädigung der Opfer des Anschlags vomBreitscheidplatz, die Würdigung der Leistungen für dieMenschen, die dort schweres Leid erlitten haben, hätteneinen prominenteren Platz verdient .
Wir, meine sehr verehrten Damen und Herren, wür-den uns – das sind vielleicht Vorurteile unserer Nach-barn – gerne von Szenarien treiben lassen, so sagt man,Ungewissheit in Bahnen zu lenken, fast so, als ob wirdem Schicksal ein Schnippchen schlagen wollten . Wohlgerade deshalb hat uns der Anschlag am Breitscheidplatzganz besonders – ich sage: ins Mark – getroffen. Nein,nicht weil ein Teil der Opferentschädigung im Pflichtver-sicherungsgesetz geregelt ist – vielmehr, weil uns allenauf einmal bewusst wurde, dass Terror, dass Tod, Ent-setzen, Hilflosigkeit eben nicht durch Gesetze und Vor-schriften, sondern nur durch unsere Solidarität, unsereEmpathie, Menschlichkeit, Hilfsbereitschaft und Zuwen-dung gemildert werden können .
Ich jedenfalls glaube – ich habe dies in meinem Freun-deskreis so erfahren –: An erster Stelle steht die SorgeDr. h. c. Albert Weiler
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um die Unversehrtheit derjenigen, die wir lieben, die wirkennen, die uns nahe sind . Dann ist es das Entsetzen überden Tod, den Verlust, der Schmerz darüber, Kind, Frau,Mann, Partnerin, Partner, Tante, Onkel, Nachbarn verlo-ren zu haben – unwiederbringlich, endgültig, für immer .Und in dieser Situation denkt niemand an Entschädigung,Haftungssummen oder Abwicklung . In diesen Stundenbraucht man jemanden, der auffängt, Halt gibt, tröstet.Dass die Berlinerinnen und Berliner, dass die Menschendieses Landes dies taten, war großartig, und dafür meinpersönlicher herzlicher Dank .
Doch es folgt die Zeit danach . Ich bin den Grünenausdrücklich dankbar dafür, die Frage der Opferentschä-digung auch hier im Hohen Hause des Deutschen Bun-destages zu stellen, gerade weil in der Sensationspressesofort spekuliert wurde, Opfer und Angehörige gingenleer aus, das Opferentschädigungsgesetz greife nicht,weil das Attentat unter anderem mit einem Kraftfahrzeugbegangen wurde . Mittlerweile sind wir alle schlauer . Un-sere Minister Heiko Maas und Andrea Nahles brachtenLicht ins Dunkel; denn bereits nach geltendem Recht er-halten Verletzte und Hinterbliebene des Anschlags Ent-schädigungsleistungen, und zwar auch ohne Gesetzesän-derungen .Es stimmt zwar, dass das Opferentschädigungsgesetzlaut § 1 Absatz 11 Taten mit einem Kfz ausschließt; dadas Attentat jedoch als Gesamtgeschehen zu betrachtenist, das mit dem tödlichen Schuss auf den Lkw-Fahrerbeginnt, liegt ein weiterer Teilakt vor, den der Täter, dersich das Fahrzeug mit dem Ziel beschafft hat, es als Tat-waffe zu missbrauchen, begangen hat, sodass auch dieOpfer am Breitscheidplatz unter das Gesetz fallen . Dieshört sich fürchterlich juristisch an, ist aber nun einmalRealität .Dazu kommen noch die Leistungen aus dem besag-ten Kfz-Entschädigungsfonds der Versicherer sowieHärteleistungen für Opfer terroristischer Straftaten . Dasklingt vielleicht hölzern, das klingt vielleicht zu juris-tisch, das gibt uns aber ganz konkrete Mittel an die Hand,mit der Situation umzugehen und das zu tun, wofür wirda sind: zu helfen – den Opfern, den Angehörigen, dentraumatisierten Menschen und sogar den auf den erstenBlick unverletzten Besuchern des Weihnachtsmarkts am19 . Dezember 2016 . Den allen ist es vermutlich egal,welcher rechtliche Rahmen hilft; Hauptsache, er hilft .
Ich glaube, meine Kolleginnen und Kollegen, es istsogar zweitrangig, wie viel Geld fließt; Hauptsache, esfließt schnell und unkompliziert. Ich sage das, weil ichals Berichterstatter im Verteidigungsausschuss oft mittraumatisierten Soldatinnen und Soldaten zu tun habeund weiß, dass manche der von Posttraumatischen Be-lastungsstörungen Betroffenen nicht die finanzielle Ent-schädigung wollen, nicht die schnelle Hilfe, sondernsofort das offene Ohr, Verständnis und Rechtssicherheit.Wir brauchen unkomplizierte Verfahren, Behörden,die mit dem richtigen Fingerspitzengefühl handeln, diefinanziellen Mittel, aber auch die Unterstützung aus derGesellschaft heraus . Ich nenne beispielsweise den Wei-ßen Ring, in dem sich viele Bürgerinnen und Bürgerengagieren . Diesen Zusammenhalt in der Gesellschaftbrauchen wir nach solchen Anschlägen in Deutschland,den brauchen wir zur Abwicklung, zur Milderung derFolgen und zur Opferentschädigung, und zwar über denTag hinaus; denn Solidarität wiegt mehr als jede abge-schlossene Versicherung, mehr als jedes Opferentschä-digungsgesetz . Sie kann nämlich die Gräben zuschütten,die Ungewissheiten beseitigen und die Ängste besiegen .Nur sie kann dem Terror mutig ins Angesicht blicken undBollwerk sein für unser Leben, so wie wir es leben, inFreiheit .
Ich wünsche Ihnen ein wunderschönes Wochenendeund eine gute sitzungsfreie Woche .
Vielen Dank . – Damit ist die Aussprache beendet .
Die Fraktionen haben sich darauf verständigt, den
Gesetzentwurf auf Drucksache 18/10965 an die in der
Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen .
Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? – Ich sehe, das ist
nicht der Fall . Dann ist so beschlossen .
Damit sind wir am Schluss unserer heutigen Tages-
ordnung .
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundes-
tages auf Mittwoch, den 15 . Februar 2017, 13 Uhr, ein .
Die Sitzung ist geschlossen . Ich wünsche Ihnen ein
schönes Wochenende .