Gesamtes Protokol
Guten Morgen, liebe
Kolleginnen und Kollegen! Die Sitzung ist eröffnet.
Bevor wir in die vorgesehene Tagesordnung eintre-
ten, teile ich mit, daß interfraktionell vereinbart worden
ist, die heutige Tagesordnung um Zusatzpunkt 3, „Be-
ratung der Beschlußempfehlung des Geschäftsordnungs-
ausschusses zur Änderung der Richtlinien zur Überprü-
fung auf eine Tätigkeit für das Ministerium für Staatssi-
cherheit“, Drucksache 14/1698, zu erweitern. Die Bera-
tung soll jetzt gleich vor Tagesordnungspunkt 12 erfol-
gen. Sind Sie damit einverstanden? – Ich höre keinen
Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich rufe den soeben aufgesetzten Zusatzpunkt 3 auf:
Beratung der Beschlußempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Wahlprüfung, Immu-
nität und Geschäftsordnung
Änderung der Richtlinien zur Überprüfung
auf eine Tätigkeit oder politische Verantwor-
tung für das Ministerium für Staatssicher-
heit/Amt für Nationale Sicherheit der ehema-
ligen Deutschen Demokratischen Republik
gemäß § 44b des Abgeordnetengesetzes
– Drucksache 14/1698 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Stephan Hilsberg
Joachim Hörster
Eine Aussprache ist nicht vorgesehen. Wir kommen
daher gleich zur Abstimmung über die Beschlußemp-
fehlung des Geschäftsordnungsausschusses auf Druck-
sache 14/1698. Wer stimmt für diese Beschlußempfeh-
lung? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die
Beschluß- empfehlung ist mit den Stimmen von SPD,
CDU/CSU, Bündnis 90/Die Grünen und F.D.P. gegen
die Stimmen der PDS angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 12 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Be-
– Drucksache 14/1578 –
Seit Mitte der 80er Jahre, also seit 15 Jahren, hat esimmer wieder Versuche gegeben, eine bundeseinheitli-che Regelung für einen anerkannten Fachberuf Alten-pflege zu schaffen. All diese Versuche sind gescheitert.Diese Situation ist angesichts des Wildwuchses, den wirin der Altenpflegeausbildung in Deutschland vorfinden,schon lange nicht mehr hinnehmbar.
Wir haben in 16 Ländern 17 verschiedene Ausbil-dungen. Ziele, Inhalte, Dauer und Strukturen sind unter-schiedlich. Es gibt nicht einmal in jedem Bundesland fürdie Altenpflege eine Erstausbildung. Nicht überall wirdeine Ausbildungsvergütung gezahlt. Im Gegenteil: Hierund dort wird auch noch Schulgeld verlangt. Wir erlau-
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ben uns diese strukturelle Nachlässigkeit in der Aus-bildung in einem Berufsfeld, in dem hinsichtlich dererforderlichen professionellen Qualifikation geradenicht Nachlässigkeit, sondern äußerste Sorgfalt gefordertwäre.
Es geht um die Pflege von älteren und alten Men-schen. Ich bin sicher: Über die Fraktionen hinweg ver-bindet uns das Anliegen, die Pflege für ältere und alteMenschen auf hohem Niveau sicherzustellen. Dazubrauchen wir das Engagement qualifizierter Pflegekräf-te. Vor allem Altenpflegerinnen und Altenpfleger tragenwesentlich dazu bei, daß eine qualifizierte und men-schenwürdige Betreuung und Versorgung gewährleistetist.Durch die Veränderung der Pflegelandschaft hat sichihr Aufgabenfeld, insbesondere im ambulanten Bereich,erheblich erweitert. Aber auch die Anforderungen in denPflegeeinrichtungen haben sich durch die steigende Zahlhochbetagter und schwerpflegebedürftiger Menschenverändert. Von 1993 bis 1998 hat sich die Zahl der be-schäftigten Altenpflegekräfte in Deutschland um zirka40 Prozent auf 268 000 erhöht. Alle kennen die Zahlender demographischen Entwicklung. Der Bedarf an quali-fizierten Pflegekräften wird weiter steigen.Obwohl all dies bekannt ist und bekannt war, hat esdie Regierung Kohl versäumt, eine bundeseinheitlicheAltenpflegeausbildung einzuführen. Wir haben über 360Ausbildungsberufe. Neue kommen hinzu; alte werdenmodernisiert. Aber die Altenpflege wurde immer über-sehen. Zugleich ist festzustellen, daß über 90 Prozentder Altenpflegekräfte Frauen sind.
Man kann schon vermuten, daß das Übersehen diesesBerufes damit zu tun hat, daß es sich um einen typischenFrauenberuf handelt. So ein Verhalten ist nicht zulässig.
Die Bundesregierung hat deshalb zu Beginn dieser Le-gislaturperiode angekündigt, daß sie einen neuen Vor-stoß für ein bundeseinheitliches Berufszulassungs-und Ausbildungsgesetz unternehmen wird. Das erwar-ten die Betroffenen, das heißt die Pflegekräfte und auchdie zu Pflegenden.Die alte Bundesregierung hat in diesem Bereich sehrviel Porzellan zerschlagen. Über mehrere Legislaturpe-rioden hinweg gab es vielversprechende Ankündigun-gen, aber nichts geschah. Dringender Regelungsbedarfbesteht; denn bisher ist es nicht gelungen, dem Berufinsgesamt ein klares Profil zu geben und das Berufsum-feld attraktiv zu gestalten. Er zeichnet sich vielmehrdurch hohe Arbeitsbelastung, geringe Berufsverweildau-er, schlechte Aufstiegsmöglichkeiten usw. aus. Die Al-tenpflege, meine Damen und Herren, steht immer nochnicht gleichberechtigt neben der Krankenpflege. Dieszeigt sich allein daran, daß Altenpflegerinnen im Gegen-satz zu Krankenschwestern nur in sehr engen Grenzenals Leiterinnen von ambulanten Pflegediensten akzep-tiert werden. Darum ist es dringend nötig, daß wir heutegemeinsam über den Gesetzentwurf zur Neuregelungder Altenpflegeausbildung debattieren.
Ziel ist eine bundeseinheitliche Altenpflegeausbil-dung. Es muß sichergestellt werden, daß die Ausbildungvergütet wird, die Ausbildungsinhalte bundesweit gleichsind und Abschlußzeugnisse überall in Deutschland diegleiche Kompetenz bescheinigen. Um dies zu erreichen,sollen die 17 verschiedenen Ländergesetze durch einebundeseinheitliche Regelung abgelöst werden. Das heißtjedoch nicht, daß wir den Beruf ganz neu erfinden müs-sen. Es war gerade ein Verdienst der Länder, Ausbil-dungsgänge für die Altenpflege eingeführt und in be-achtlichem Umfang immer wieder modernisiert zu ha-ben.Bestimmte Strukturen, die sich bewährt haben, sollenerhalten bleiben. Das Gesetz regelt die Ausbildung undZulassung für die Berufe der Altenpflege, das heißt fürAltenpflegerinnen und Altenpfleger sowie für Alten-pflegehelferinnen und Altenpflegehelfer. Diese Berufs-bezeichnungen werden dadurch dann endlich auch ge-setzlich geschützt.Die Regelausbildungszeit soll drei Jahre betragen. Siebesteht aus theoretischem und fachpraktischem Unter-richt und einer praktischen Ausbildung, die zeitlichüberwiegen wird. Wir haben uns für diese sogenanntequasi-duale Ausbildung entschieden, weil wir davonausgehen, daß die Schülerinnen und Schüler so ambesten auf die Berufstätigkeit vorbereitet werden kön-nen. Sowohl der Schule als auch dem Träger der prak-tischen Ausbildung soll eine besondere Verantwortungfür die Ausbildung übertragen werden. Dieses Modellhat sich auch schon in der Krankenpflegeausbildungbewährt.Die Ausbildung muß ein ganzheitliches Pflegekon-zept vermitteln. Darauf sind auch die Ausbildungszieleabgestellt. Dieses bedeutet, daß die Ausbildung auf so-ziale und psychosoziale Aufgaben, auf Kenntnisse überdie normalen Alterungsprozesse, aber auch verstärkt aufmedizinisch-pflegerische Aufgaben auszurichten ist. Somuß zum Beispiel gerade auf Altersdemenz professio-nell reagiert werden. In einer in der letzten Woche aufdem Welt-Alzheimer-Tag hier in Berlin vorgestelltenStudie wurde noch einmal bestätigt, daß die Zahl derAlzheimer-Erkrankungen dramatisch ansteigen wird. Biszum Jahr 2030 muß mit einer Zunahme der Demenzer-krankungen bei über 65jährigen um 60 Prozent gerech-net werden. Das heißt, 1,8 bis 2,5 Millionen alte Men-schen werden von dieser Krankheit betroffen sein. Dar-auf müssen die Schülerinnen und Schüler umfassendParl. Staatssekretärin Dr. Edith Niehuis
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vorbereitet werden. Das sind wir allen Betroffenenschuldig.
Die Einzelheiten wie konkrete Ausbildungsinhalteund Stundenzahlen sind nicht im Gesetz enthalten, son-dern werden gesondert in einer Ausbildungs- und Prü-fungsverordnung festgelegt. Auf Grund der beruflichenAnforderungen müssen allerdings die Zugangsvoraus-setzungen für die Ausbildung festgelegt werden. Vor-aussetzung soll der Realschulabschluß bzw. der erwei-terte Hauptschulabschluß sein. Für die Organisation undAusgestaltung der schulrechtlichen Strukturen werdenauch in Zukunft die Länder verantwortlich bleiben. Wiein der Krankenpflege wollen wir auch für die Altenpfle-ge die Erstausbildung bundesweit ermöglichen. Dieseist zum Beispiel in Bayern nicht möglich. Ich erwähnedies, weil wir alle wissen, daß es der Freistaat Bayernwar, der über den Bundesrat jahrelang eine bundesein-heitliche Altenpflegeausbildung blockiert hat.
Das bayerische Verständnis von Pflegekräften wurdein der öffentlichen Anhörung des Ausschusses für Fa-milie, Senioren, Frauen und Jugend am 13. November1996 so formuliert:Die Altenpflege sollte insbesondere für Frauennach der Erziehungsphase ihrer Kinder, für Be-rufswechsler und ältere Bewerber offengehaltenwerden. Eine dreijährige Erstausbildung ist hierfürnicht geeignet.So die Ansicht Bayerns.Hier kommt, meine Damen und Herren, ein Ver-ständnis von Altenpflegeberuf zum Ausdruck, das nichtmehr der Realität entspricht.
Es geht dabei anscheinend immer noch um die pflegen-de Hand der erfahrenen Frau, weniger um professionelleKenntnisse. Der ehemalige Arbeitsminister NorbertBlüm hat es hier im Plenum einmal so ausgedrückt:„Dazu braucht man ein gutes Herz und eine ruhigeHand.“
– Natürlich braucht man ein gutes Herz. Aber das giltnicht nur für Pflegeberufe. Ein gutes Herz braucht manhoffentlich für alle Berufe.
Pflegeberufe bedürfen ebenso wie andere Berufe auchder professionellen Qualifikation.In Richtung CDU/CSU möchte ich doch noch einmaleines klarstellen: Das Argument, dem Bund fehle dieGesetzgebungskompetenz für dieses Vorhaben, ist undbleibt vorgeschoben. Wer sich ernsthaft mit dem Beruf-salltag auseinandersetzt und vor der Entwicklung derletzten Jahre nicht die Augen verschließt, der weiß umdie umfassenden medizinisch-pflegerischen Aufgaben,die es zu verrichten gilt. Zur Verdeutlichung brauche ichdazu nur wieder das Stichwort Demenz zu nennen.Ein Ländervergleich zeigt im übrigen, daß gerade diebayerischen Ausbildungsanforderungen von den mitt-lerweile weiterentwickelten Standards anderer Länderdeutlich abweichen. Da gibt es eine zweijährige Ausbil-dung,
keine Erstausbildung und keine Ausbildungsvergütung,sondern Schulgeld. Das sind überholte Maßstäbe, diedem heutigen Anspruch an einen modernen Pflegeberufnicht mehr gerecht werden.
Ganz wichtig ist mir auch die Festschreibung derAusbildungsvergütung, die wir in diesem Gesetz gere-gelt haben; denn ohne Zweifel ist es für die Motivationvon Jugendlichen schon von Bedeutung, ob sie eineAusbildungsvergütung bekommen oder nicht.Wir werden noch viele Gelegenheiten haben, überEinzelheiten dieses Gesetzentwurfs zu debattieren. DerBundesrat hat schon viele wichtige Vorschläge dazuunterbreitet, wie eine bundeseinheitliche Altenpfle-geausbildung gestaltet werden sollte. Als Bundesregie-rung werden wir uns diesen Vorschlägen des Bundesra-tes nicht verschließen. Ich hoffe, daß auf dieser Grund-lage auch ein breiter Konsens im Deutschen Bundestaggeschaffen werden kann. Ich setze auf Ihre Unterstüt-zung und auf eine baldige Verabschiedung nach 15 Jah-ren hier im Deutschen Bundestag.Danke schön.
Für die CDU/CSU-
Fraktion hat nun Kollegin Anke Eymer das Wort.
Herr Präsident!Liebe Kollegen und Kolleginnen! Die Initiative zumAltenpflegegesetz ist eine sehr erfreuliche Initiative,obwohl es ja bereits der zweite Anlauf ist. Wie bekannt,haben wir schon in der letzten Legislaturperiode denVersuch unternommen, die Altenpflegeausbildung bun-deseinheitlich zu regeln. Im Kern bestand die Auseinan-dersetzung in der Frage, ob es notwendig und rechtlichmöglich ist, daß dieser Ausbildungszweig bundesein-heitlich geregelt wird. Der vorliegende Gesetzentwurfverfolgt genau dieses Ziel: eine bundesrechtlicheGrundlage für eine bundeseinheitliche Ausbildung in derAltenpflege zu schaffen.Parl. Staatssekretärin Dr. Edith Niehuis
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Die Aufgabe der Altenpfleger und Altenpflegerinnenist es, älteren Menschen zu helfen, ihre körperliche, gei-stige, aber auch ihre seelische Gesundheit zu fördern,diese zu erhalten oder, wenn möglich, sogar wiederzu-erlangen. Vor diesem Hintergrund soll die Altenpflegeein gefächertes Hilfsangebot der persönlichen Beratung,Betreuung und Pflege in stationären, teilstationären undambulanten Diensten und anderen Einrichtungen er-möglichen. Dies ist ein ganzheitlicher Ansatz. Dement-sprechend erstrecken sich die Ausbildungsinhalte so-wohl auf medizinisch-pflegerische als auch auf sozial-pflegerische Aspekte. Wenn die Ausbildung zur Alten-pflegerin oder zum Altenpfleger nun im Rahmen einerGesetzgebungskompetenz des Bundes und unter Be-achtung der schulrechtlichen Strukturen der Länder alseigenständige Ausbildung geregelt werden kann, so istdies nur zu begrüßen.
Richtig ist: Auf Grund der demographischen Ent-wicklung nimmt der Bedarf an qualifizierten Altenpfle-gekräften zu. Hinzu kommt ein erheblicher Nachqualifi-zierungsbedarf in der stationären Pflege, besonders aberin der ambulanten Pflege, jedoch auch in der Hauspfle-ge. Die explosionsartige Zunahme dementer Patientenund auch von Alzheimer-Patienten, von schwerstpflege-bedürftigen oder mehr multimorbiden Patienten führt zuimmer höheren Anforderungen an die Altenpflegekräfteim Umgang mit den Betroffenen. Frau Staatssekretärin,ich stimme Ihnen da zu; Sie haben das ja bereits er-wähnt.Gleichzeitig ist richtig – auch da sind wir uns einig –,daß der Beruf der Altenpflegerin oder des Altenpflegersnicht immer die notwendige Anerkennung gefunden hatund findet. Dieses beruht nicht zuletzt auf dem unein-heitlichen Berufsbild.
Daher ist richtig, daß ein Altenpflegegesetz ein wich-tiger Schritt ist, um die professionelle Pflege sowohl inqualitativer als auch in quantitativer Hinsicht zu sichern.Das Ziel muß eine Altenpflege sein, die fachlich kom-petent und auch menschlich ist. Ich meine, daß die Pfle-ge mit Herz durchaus dazugehört.
Die Gestaltung des Gesetzentwurfes zeigt, daß mansich im Sinne der Vereinheitlichung am Krankenpfle-gegesetz orientiert hat: Die Dauer der Regelausbildungvon drei Jahren, die Regelung der Zugangsvorausset-zungen, der Schutz der Berufsbezeichnung, die Gestal-tung des Ausbildungsverhältnisses und der Anspruch aufAusbildungsvergütung folgen diesem Vorbild. Eine be-rufsbegleitende und damit eine entsprechend verlängerteAusbildung ist möglich. Das bedeutet eine frühere, fürdie Altenpflege nützliche Ausbildung kann zur Verkür-zung der Ausbildung in der Altenpflege führen. Für Be-rufsrückkehrerinnen, zum Beispiel nach der Familien-phase, bedeutet dies einen erleichterten Wiedereinstiegins Berufsleben. Denn auf der Lebenserfahrung und demAllgemeinwissen erwachsener Personen mit abgeschlos-sener Berufsausbildung kann man aufbauen. Gerade die-ser Kreis hat auf Grund der Lebenserfahrung ein weitaushöheres Humankapital beizusteuern, was besonderswichtig ist. Denn – ich sage es noch einmal – oft gilt: Esist besser, Hinwendung, Zuspruch, Herzlichkeit zu ge-ben, als die in der Pflegeplanung vorgegebenen Punktestatisch abzuarbeiten.
Es darf aber nicht sein, daß gerade junge Menschen,die sich für diesen verantwortungsvollen Beruf ent-schieden haben, nach einer theoretischen Schulaus-bildung plötzlich mit einer Berufspraxis konfrontiertwerden, die sie völlig überfordert. Daher ist es un-bedingt notwendig, eine praxisnahe Ausbildung zuschaffen, die die Menschen fachlich, aber auch psy-chisch auf diesen Beruf vorbereitet. Gut im vorliegendenEntwurf ist die fachlich-praktische Betonung der Aus-bildung gegenüber der eher theoretischen vieler Landes-gesetze.Aber trotz all dieser positiven Ansätze zeigt der Ge-setzentwurf noch reichlich Klärungsbedarf. Zunächsteinmal sind 50 Prozent der Tätigkeiten in der Altenpfle-ge Arbeitsabläufe, die nicht von drei Jahre lang ausge-bildeten Kräften durchgeführt werden müssen, sonderndurchaus in den Hilfebereich fallen. Ich denke an Ar-beiten wie Bettenmachen oder auch Körperpflege. Siekönnen durchaus von jemandem mit einer einjährigenAusbildung durchgeführt werden. Hierzu braucht mannur eine sinnvolle Rahmengesetzgebung.Aber es stellt sich vehement die Frage nach der Fi-nanzierung. Dazu, Frau Staatssekretärin, haben Sie mirzuwenig gesagt. Diese Finanzierung, so scheint es mir,ist noch nicht abschließend geklärt. Ein ausgereiftes Al-tenpflegegesetz darf sich aber nicht um die Fragen derFinanzierung drücken. Dies ist der entscheidende Punktdes Gesetzes. Die Länder bleiben zwar für die Finanzie-rung der Kosten der schulischen Ausbildung verant-wortlich; die Finanzierung der Ausbildungsvergütungsoll aber über die Entgelte für die ausbildenden Ein-richtungen erfolgen.
– Das sehe ich anders.Die Kosten können angeblich über die Pflegeversi-cherung refinanziert werden. Aber dabei muß gesichertsein, daß der Ausbildende nicht ökonomisch schließlichder Dumme ist. Die Pflegeversicherung ist nämlich inihren Entgelten festgelegt, wie wir wissen. So bleibenim Prinzip nur zwei Möglichkeiten übrig: Entwederbleibt vom Entgelt nicht mehr so viel übrig, denn esmüssen nun einmal die Ausbildungskosten abgezogenwerden, oder das Entgelt wird erhöht, um die Kosten ab-zudecken. Dann wird die Pflege teurer, und die Konkur-Anke Eymer
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renzfähigkeit des ausbildenden Einrichtungsträgerssinkt.
– Ja, das ist die Folge davon.Daß die Sozialhilfe gemäß Paragraph 93 BSHG dieAusbildungskosten bezahlen wird, bezweifle ich stark.Nun haben einige Bundesländer bereits ein soge-nanntes Umlageverfahren eingeführt. Das Ergebnis ist,daß viele Klageverfahren gegen entsprechende Umlage-bescheide anhängig sind, die sich unter anderem auf dieVerfassungswidrigkeit einer Umlagefinanzierung stüt-zen. Das Umlageverfahren soll die Finanzierung derAufwendungen für die Ausbildung sicherstellen. Was istjedoch mit den ambulanten Diensten und der Hauspfle-ge, die sich frei von institutionellen Einrichtungen ge-bildet hat? Was ist mit denjenigen, die ausbilden, odersollen diese ebenfalls zahlen? Ich denke, wir müssennoch einmal sehr intensiv darüber diskutieren, wie eineoptimale Finanzierung aussehen kann, wobei besondersdarauf geachtet werden muß, daß nicht neue Abrech-nungsbürokratien das Kind mit dem Bade ausschütten.Also, der vorliegende Gesetzentwurf über die Berufein der Altenpflege enthält nicht nur gute Teile; der Bun-desrat hat schon Korrekturen angemahnt. Wir müssenüber diese Mahnung hinausgehen und auch noch fragen:Weshalb geben so viele den erlernten Beruf auf? – Dasgeschieht doch nicht auf Grund der langen Ausbildung.Die Gründe liegen eher in den Arbeitsbedingungen fürdie Altenpflegekräfte. Für diese ist gleichzeitig einemotionaler und organisatorischer Spagat zwischen bü-rokratisch ablaufender Pflege im Minutentakt und einerhumanen, hinwendungsvollen Pflege zu absolvieren.Gefordert ist daher nicht allein eine Neuregelung derAusbildung, sondern es sind Veränderungen der Rah-menbedingungen für die Ausübung des Pflegeberufes ansich erforderlich.Danke fürs Zuhören.
Für BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN erteile ich nun Kollegin IrmingardSchewe-Gerigk das Wort.
Kollegen! Seit zehn Jahren diskutiert nun der DeutscheBundestag über eine bundeseinheitliche Altenpflegeaus-bildung. 1989 von der damaligen Ministerin Lehr erar-beitet, kurz darauf wieder zurückgezogen, 1994 von derhessischen Landesregierung in den Bundesrat einge-bracht, wurde der Gesetzentwurf kurzerhand auf Eisgelegt. Gesetzentwürfe der Grünen und der SPD wurdenvon der alten Regierung immer wieder von der Tages-ordnung gestimmt. Zu stark war das Land Bayern, zustark die CSU. Aber da bekanntlich aller guten Dingedrei sind, werden wir heute einen neuen Anlauf nehmen,auch wenn wir wissen, daß der Bundesrat hier ein ge-wichtiges Wort mitzureden hat.Aber, meine Damen und Herren von der Opposition,wir haben es gerade gehört: Inhaltlich sind wir uns rela-tiv einig, und ich nehme Sie einfach beim Wort, wennSie sagen, Sie machen keine Blockadepolitik.
Herrn Blüm werden heute morgen die Ohren klin-geln, wenn er so häufig zitiert wird. Ein Zitat von ihm:„Pflegen kann jeder.“ Ich füge hinzu „und jede“, und das„gute Herz“ und die „ruhige Hand“ sind von der Staats-sekretärin bereits erwähnt worden. Die hohen Anforde-rungen in den gerontologischen und geriatrischen Berei-chen können jedoch nur mit einem guten Herzen und ei-ner ruhigen Hand nicht erfüllt werden. Die Fachwelt wardaraufhin auch sehr empört. Daß gerade in einem zu90 Prozent von Frauen ausgeübten Beruf diese Fähig-keiten als ausreichend anerkannt wurden, war bezeich-nend auch für die alte Bundesregierung. Schlechte Ar-beitsbedingungen, geringe Bezahlung, fehlende Auf-stiegschancen – das sind alles Merkmale für typischeFrauenberufe. Auch hier hat also die rotgrüne Regierungeinen Reformstau zu beseitigen, und das tun wir jetztmit dem vorliegenden Gesetzentwurf.
Es wurde schon darauf hingewiesen: Noch immergibt es in den 16 Bundesländern 17 unterschiedlicheAusbildungen. In einigen Ländern beträgt die Ausbil-dungsdauer zwei Jahre, in anderen drei. Die Abschlüssesind nicht vergleichbar und werden in den jeweils ande-ren Bundesländern nicht anerkannt. In einigen Einrich-tungen muß noch Schulgeld gezahlt werden, währendanderenorts Ausbildungsvergütungen gezahlt werden.Daß die heutige Ausbildung nicht dem qualitativenAnspruch an die Pflege alter Menschen und den entspre-chenden fachlichen Anforderungen entspricht, zeigtauch die hohe Unzufriedenheit in diesem Beruf. DieAusstiegsrate in der Altenpflege ist so hoch wie in kei-nem anderen Beruf. Denn bereits am Ende der Ausbil-dung plant ein Drittel den sofortigen Ausstieg. Im erstenBerufsjahr gibt bereits jede vierte Frau den Beruf auf.Die durchschnittliche Verweildauer beträgt nur zweiJahre. Ich finde, das können wir nicht länger hinnehmen.
Nach langer Zeit des Stillstands hat nun die neueBundesregierung bundeseinheitliche Regelungen vorge-sehen. Es ist, wie Sie sich vorstellen können, kein Pap-penstiel, 16 Länder davon zu überzeugen, daß sie ihreGesetze zugunsten einer bundeseinheitlichen Regelungzurücknehmen müssen. Das ist ein hartes Stück Arbeit.So hat auch der Bundesrat eine Reihe von unserer Mei-nung nach positiven Änderungen vorgesehen, wobei inder Stellungnahme der Bundesregierung die meistenübernommen werden. Der Gesetzentwurf legt nun eineAnke Eymer
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Regelausbildungsdauer von drei Jahren fest, regelt Min-deststandards und schreibt künftig eine Ausbildungsver-gütung fest. Ich finde, das ist zunächst ein sehr großerFortschritt.
Einem Kritikpunkt des Bundesrates muß ich michallerdings anschließen. Ich finde es problematisch, daßdie dreijährige Ausbildung durch eine generelle Verkür-zungsmöglichkeit von bis zu 12 Monaten für Umschüle-rinnen und Umschüler unterlaufen werden kann. Dennzwei Drittel aller Auszubildenden in der Altenpflegesind Umschülerinnen und Umschüler. Das bedeutet: DieAusbildungsdauer würde sich für die meisten Auszubil-denden tatsächlich auf zwei Jahre belaufen, ohne daßdiese eine einschlägige Vorbildung vorweisen müßten.Mir hat noch niemand plausibel erklären können, wiesozum Beispiel ein Bergmann, der wegen einer Zechen-schließung eine Umschulung zum Altenpfleger anstrebt,eine Reduzierung seiner Ausbildungsdauer um ein Jahrerfährt. Gerade aus den entsprechenden Schulen hörtman, daß dieser Personenkreis eigentlich eine längereAusbildungsdauer bräuchte, weil das Lernen erst wiedergelernt werden muß.Daß mit diesem Gesetzentwurf auch eine einjährigeAltenpflegehelferinnen- und Altenpflegehelferausbil-dung geregelt wird, ist der bestehenden Situation undder Zustimmungsbereitschaft der Länder geschuldet. DieEinführung eines Helferinnen- und Helferberufes in derAltenpflege führt meines Erachtens nicht zu einer Auf-wertung und Professionalisierung dieses Pflegeberufs.
Die zu pflegenden Menschen erwarten eine qualifiziertePflege. Sie machen keinen Unterschied, ob nun einePflegerin oder eine Helferin an ihrem Bett steht. Überdieses Problem sollten wir noch mit den Ländern spre-chen.
Aber auch arbeitsmarktpolitisch gesehen ist dies eineSackgasse. Denn bei der Anrechnung der Fachkraftquotezählen die Helferinnen nicht mit. Für die Heime sind sieviel zu teuer; denn es gibt ungelernte Kräfte, die einge-stellt werden können. Das ist der Grund dafür, weshalbin einigen Ländern – es gibt ja nicht in allen LändernHelferinnen – eine Vielzahl von Altenpflegehelferinnenerwerbslos ist.Die fachlichen Anforderungen an das ausbildendeLehrpersonal für Altenpflegeschulen und für die prakti-sche Ausbildung nehmen Rücksicht auf die Unter-schiedlichkeit der Ausbildungsstätten der einzelnenLänder. Für die Altenpflegeschulen gilt nur, daß in aus-reichender Zahl pädagogisch qualifizierte Fachkräfte zurVerfügung stehen müssen. Für die Qualifikation derAusbilderinnen und Ausbilder in der praktischen Aus-bildung sind keine Kriterien vorgesehen. Diese Quali-tätsstandards entsprechen meiner Meinung nach nichtden Qualifikationen, die im Rahmen eines dualen Sy-stems gefordert werden.
Langfristig gesehen müssen hier Verbesserungen erfol-gen. Aber das ist natürlich eine Angelegenheit der Län-der.Was uns Bündnisgrüne besonders freut, ist, daß mitdiesem Gesetzentwurf nach einer über zehn Jahre dau-ernden Reformdiskussion der Einstieg in die integriertePflegeausbildung möglich wird. Alten-, Kranken- undKinderkrankenpflege können – zunächst in einem Mo-dellversuch – in einem einheitlichen Ausbildungsberufzusammengefaßt werden.
– Danke schön, Herr Kollege Goldmann. – Diese Not-wendigkeit hat erfreulicherweise auch der Bundesrat ge-sehen und hat eine Öffnungsklausel für Modellversucheder Länder eingebracht. Ich bin sehr gespannt darauf,welches Land als erstes den Reformschritt wagt, der vonder Fachwelt seit langem gefordert wird.Liebe Kolleginnen und Kollegen, zusammenfassendläßt sich sagen: Wir sind ein gutes Stück vorangekom-men. Es sind keine Wege für weiterreichende Reformenverstellt, so daß wir mit Fug und Recht behaupten kön-nen: Hier wurde ein Schritt in Richtung einer qualifi-zierten Berufsausbildung insbesondere für Frauen –90 Prozent der in der Altenpflege Tätigen sind Frauen –getan. Daneben – das freut mich angesichts des heutigenInternationalen Tages der Senioren ganz besonders –kommt diese Ausbildung natürlich auch der professio-nelleren Pflege alter Menschen zugute. Ich finde, dafürlohnen sich alle Anstrengungen. Lassen Sie uns in denAusschußberatungen über diese Ziele einig sein, so daßwir in Kürze ein gutes Gesetz vorlegen können.Vielen Dank.
Das Wort hat nun
der Kollege Klaus Haupt, F.D.P.-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damenund Herren! Alle sind sich seit langem einig: Es muß ei-ne bundesweit einheitliche Regelung der Altenpfle-geausbildung geben. Die F.D.P. drängt seit sehr vielenJahren auf ein Altenpflegegesetz.
– Wahrheit muß Wahrheit bleiben. Deshalb begrüßenwir, daß die Bundesregierung einen neuen Anlauf unter-nimmt, diese fast unendliche Geschichte zu einem Ab-schluß zu bringen.Irmingard Schewe-Gerigk
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Seit Mitte der 80er Jahre wird versucht, zu einemAltenpflegegesetz zu kommen. Zuletzt waren die Bemü-hungen an der Blockadehaltung Bayerns gescheitert.
Aber sowohl die betroffenen alten Menschen als auchdie jungen Auszubildenden haben ein Anrecht auf einenSchutz der Berufsbezeichnung, auf einen bundeseinheit-lichen Ausbildungsstandard, auf bundeseinheitliche Zu-gangsvoraussetzungen sowie auf eine Regelung derAusbildungsvergütung.
Für die älteren Bürgerinnen und Bürger, die auf Pfle-ge angewiesen sind, sichert das Gesetz einen gewisseneinheitlichen Ausbildungsstandard ihres Pflegers oderihrer Pflegerin auf hohem Niveau. Für die jungen Men-schen wird zugleich die Attraktivität dieses wichtigenBerufszweiges erhöht.Sehr vernünftig ist an dem Gesetzentwurf aus unsererSicht, daß eine Ausbildung in bestimmten anderen Pfle-ge- und Heilberufen angerechnet werden kann. So ent-steht Flexibilität auf dem Arbeits- und Ausbildungs-markt, die für die Zukunft der Arbeit in Deutschland vonentscheidender Bedeutung ist. Deshalb unterstützen wirauch die Absicht, eine integrierte Ausbildung fürKranken- und Altenpflege anzustreben und modellhafteine gemeinsame Ausbildung zu erproben.
Die Anerkennung der Haushaltsführung als Kriteri-um für die Verringerung der Ausbildungsdauer sehenwir etwas kritisch. Wir sind der Auffassung, daß schwernachprüfbar ist, ob wirklich ein Erwerb von Kenntnissenim Sinne des Altenpflegeberufes vorliegt. Wir sind fürobjektiv nachweisbare Kriterien, die zur Verkürzung derAusbildungsdauer berechtigen. Das Ziel eines möglichsthohen fachlichen Qualitätsniveaus der Altenpflegermuß Vorrang haben vor etwa wünschenswerten famili-enpolitischen Signalen. Dies liegt eigentlich im Interesseder auf professionelle Hilfe angewiesenen Pflegebe-dürftigen.Wesentlich ist, daß auch im Hinblick auf die Ausbil-dungsvergütung nun eine bundesweit einheitliche Re-gelung getroffen wird. Die Ausbildungsvergütung stärktdie Attraktivität der Ausbildung. Es gibt einen wachsen-den Bedarf an qualifizierter Altenpflege. Die Vergütunghilft, eine ausreichende Zahl qualifizierter Fachkräftedafür zu gewinnen.Meine Damen und Herren, es ist vorhin schon er-wähnt worden: Die Finanzierung der Ausbildung unddamit auch die Ausbildungsvergütung ist ein schwieri-ges Thema, Frau Eymer. Sie sollte möglichst einfachund ohne besonderen Verwaltungsaufwand geregeltwerden. Die von der Bundesregierung zunächst vorge-sehene Regelung – Erstattungsverfahren durch alle ander praktischen Ausbildung beteiligten Betriebe unddarüber hinaus eine Verordnungsermächtigung für dieLänder mit der Möglichkeit, die nicht an der Ausbildungbeteiligten Betriebe im Wege eines Umlageverfahrenszu beteiligen – war zu kompliziert und verwaltungstech-nisch sehr aufwendig. Darin stimmt die F.D.P. demBundesrat zu.Ein Ausgleich über ein Umlageverfahren – wenndenn die Länder eine entsprechende Verordnung erlas-sen – erscheint uns sinnvoller. Jedoch müssen die hin-sichtlich des Umlageverfahrens bestehenden verfas-sungsrechtlichen Bedenken geklärt werden. Eine Umla-ge für alle, auch für die nicht an der Ausbildung betei-ligten Betriebe, erscheint aus Wettbewerbsgründen ge-rechter, zumal damit die Kosten für die einzelne Ausbil-dungsstätte gering gehalten werden können.
Ansonsten bevorzugen wir die Regelung, den Trägerder praktischen Ausbildung die Kosten der Ausbil-dungsvergütung tragen zu lassen, die er über die Ent-gelte für seine Leistungen refinanzieren kann. Allerdingsmüssen im Laufe dieses Gesetzgebungsverfahrens dienoch laufenden Rechtsstreitigkeiten in einzelnen Bun-desländern in dieser Hinsicht berücksichtigt werden.Sicherlich läßt der Gesetzentwurf Wünsche offen. Inmanchen Details sind wir noch ein gutes Stück von einerbundeseinheitlichen Regelung entfernt, besonders imBereich der Altenpflegehilfeausbildung. Doch ist derGesetzentwurf ein wichtiger Schritt zu einheitlichenAusbildungsstandards.Die F.D.P. hofft, daß die Beratungen noch problema-tische Punkte klären helfen und daß sich auch der Bun-desrat diesmal zu einer positiven Entscheidung durch-ringen kann. Wir werden konstruktiv an den weiterenBeratungen mitwirken, um endlich zum längst überfälli-gen Altenpflegegesetz zu kommen. Packen wir es an!
Ich erteile das Wort
der Kollegin Monika Balt, PDS-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damenund Herren! In der Begründung des Gesetzentwurfs istdie Aufgabe des Altenpflegeberufes definiert – ichstimme dieser Definition voll und ganz zu –:Aufgabe der Altenpflegerinnen und Altenpfleger istes, älteren Menschen zu helfen, die körperliche,geistige und seelische Gesundheit zu fördern, zuerhalten und wiederzuerlangen.Mit einem neuen Altenpflegegesetz soll ein sozial-pädagogisches Berufsprofil gesichert werden, das denälteren Mitbürgerinnen und Mitbürgern ein Leben inAnstand und Würde ermöglicht. Ziel ist es aber nicht,den Altenpflegerinnen- und Altenpflegerberuf in einenHeilhilfsberuf umzuwidmen. Genauso wenig, wie einKind ein „kleiner Erwachsener“ ist, genauso wenig istein älterer Mensch ein Langzeitkranker. Dieser Tatsachemuß mit professioneller Altenpflege Rechnung getragenwerden. Wie Frau Staatssekretärin Niehuis schon be-Klaus Haupt
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5282 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 59. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Oktober 1999
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merkte: Der Bedarf an qualifizierten Pflegekräften wirdweiter steigen.Mit der schon längst fälligen Neuordnung der Alten-pflegeausbildung müssen Qualitätsstandards und umfas-sende Sozialpflege gesichert werden. Ebenso sollten Be-treuung, Anleitung, Beaufsichtigung, Aktivierung und dieBeachtung sozialpädagogischer Aspekte möglich sein.Der Gesetzentwurf bringt aber keinen Qualitätsge-winn. Er bewirkt vielmehr eine gravierende Verschlech-terung der Altenpflegeausbildung. Er schraubt er-reichte Qualitätsstandards zurück
und verschiebt das Profil der Altenpflege deutlich inRichtung eines medizinisch-pflegerischen Profils.
In seiner Orientierung folgt er dem Krankenpflegege-setz. Die in verschiedenen Ländern auf hohem Niveauentwickelten Ausbildungsordnungen für die Altenpflegestellen für uns unverständlicherweise keine Basis für denGesetzentwurf dar.Die wesentlichen grundsätzlichen Einwände sind:Erstens. Aus dem bewährten sozialpflegerischen Be-rufsprofil wird ein Heilhilfsberuf gemacht.Zweitens. Die dreijährige Ausbildung wird zum Son-derfall, die zweijährige Ausbildung zur Regel. Umfang-reiche Verkürzungsmöglichkeiten machen aus der in denLändern jetzt überwiegend dreijährigen Ausbildung einezweijährige Ausbildung. Der Bund geht davon aus, daßnur in einem Drittel der Fälle überhaupt noch eine drei-jährige Ausbildung absolviert wird.Drittens. Eine klare Ansiedlung im System berufli-cher Bildung – im Schulrecht oder im Berufsbildungs-gesetz – erfolgt nicht. Die Modellschule aber ist eineSchule im Niemandsland der Berufsbildungssystematik.Uneinheitliche Niveaus – ich nenne in diesem Zusam-menhang Schulen besonderer Art in Abgrenzung gegen-über dem Schulrecht – bleiben unangetastet. Das Be-rufsbildungsgesetz wird ausgeschlossen. Das Schulrechtwird zwar zugelassen, jedoch durch die Konstruktiondes Gesetzes strukturell gefährdet.Viertens. Das Niveau der theoretischen Ausbildungwird strukturell nicht gesichert; einer Absenkung nachunten werden Tür und Tor geöffnet.
Die Mindestqualifikation für leitende Lehrkräfte wirdunterhalb eines Fachhochschulstudiums festgeschrieben.Fünftens. Das Gesetz sieht eine im Grundsatz und imDetail höchst problematische Zwitterstellung zwischenArbeitsrecht und Schülerstatus – gegebenenfalls imRahmen von Schulrecht – für den Studierenden vor.Sechstens. Die Zahlung einer Ausbildungsvergü-tung bei einer Ausbildung an berufsbildenden Schulenschließt sich schulrechtlich derzeit zum Beispiel in denLändern Berlin und Bayern aus.Siebtens. Das Gesetz schließt die Zahlung von Schul-geld aus. Die Fachschulen arbeiten, finanzieren aber ausden Schulgeldern ihre Sachkosten. Ohne diese könnensie ihren Ausbildungsauftrag nicht wahrnehmen.Achtens. Die im Gesetz vorgeschlagene Umlagefi-nanzierung ist rechtlich umstritten. Ausbildungskapazi-täten wären bedroht.Fazit. Die geforderte Qualitätsprüfung für die Alten-pflegeausbildung bringt dieser Gesetzentwurf ebenso-wenig wie die erhoffte Vereinheitlichung der Ausbil-dungen. Der Bundesrat und zahlreiche Fachverbändefordern Korrekturen des Gesetzentwurfes. Das sollteauch geschehen.Danke schön.
Nun erteile ich das
Wort der Kollegin Christa Lörcher, SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kol-leginnen und Kollegen! Liebe Gäste aus dem Pflegebe-reich und aus anderen Bereichen! „Altenpflege, ein Be-ruf mit Zukunft“, so werben viele Altenpflegeschulenfür eine Ausbildung in einem sehr schönen und sehr an-spruchsvollen Beruf. Positiv sind die Ziele der Ausbil-dung und der Arbeit in der Altenpflege. Ich zitiere denDeutschen Berufsverband für Altenpflege zu dem Be-rufsbild Altenpfleger/Altenpflegerin:Ziel ... ist es, für die Würde, die Rechte und dasWohlbefinden alter Menschen einzustehen. Pla-nung und Gestaltung aller Dienste sollen sich leitenlassen von folgenden Gedanken: Unterstützung ge-ben bei der Gestaltung des persönlichen Lebens-raumes alter Menschen, ihre Kompetenzen schüt-zen und fordern; sich an ihren individuellen Le-bensgeschichten orientieren, ihnen einen aner-kannten Platz in der Gesellschaft sichern helfen.
Anspruchsvoll sind die Aufgaben in der Altenpfle-ge, und sie werden immer anspruchsvoller. Die Unter-stützung bei der Lebensgestaltung umfaßt nicht nur dieBetreuung und Beratung, Ermutigung und Begleitungalter Menschen, sondern auch die Mitwirkung bei Prä-vention und Rehabilitation, Pflegeplanung und pflegeri-sche Versorgung, Reflexion der eigenen beruflichen Ar-beit – gerade angesichts der Belastungen, die in diesemBeruf zu bewältigen sind –, Anleitungsaufgaben undZusammenarbeit im multiprofessionellen Team.Trotz guter Ziele und anspruchsvoller Aufgaben – wirhaben es gehört – ist die Verweildauer im Beruf ge-ring: Ausbildung, besonders die Diskrepanz zwischenTheorie und Praxis, Arbeitsbedingungen, physische undpsychische Belastungen und die mangelnden Aufstieg-schancen sind häufig genannte Gründe für Unzufrieden-heit und Flucht aus dem Beruf. Die Bevölkerungsentwicklung in unserem Land istbekannt. Ausführlich haben wir die Auswirkungen aufMonika Balt
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den Arbeitsmarkt, auf die sozialen Sicherungssystemeund auf die sozialen Dienste in der Enquete-Kommission „Demographischer Wandel“ diskutiert. DerBedarf an qualifizierten Pflegeleistungen wird – wirhaben es heute mehrfach gehört – steigen.Wir leisten uns 17 Ausbildungsregelungen in 16Bundesländern, und das in einem Europa, in dem immermehr Mobilität und Zusammenarbeit gefordert ist. Dasmüssen wir ändern; wir sind auf dem Weg dazu.
Dieser Weg ist heute aufgezeigt worden; ich will dieVorgeschichte jetzt gar nicht wiederholen. Er war ge-kennzeichnet von Hindernissen und Hürden. Ich hoffeim Interesse der Pflegebedürftigen und der Pflegenden,daß dieser Weg jetzt zu einem guten Ende führt und daßdas Ziel in nicht allzu ferner Zeit erreicht wird.Der vorliegende Gesetzentwurf der Bundesregierunghat Vorläufer aus Bundestag und Bundesrat. Eine Anhö-rung zum damaligen Gesetzentwurf im November 1996hat dringenden Handlungsbedarf bestätigt. Jetzt habenwir die Chance, nachdem Kabinett und Bundesrat denaktuellen Gesetzentwurf begutachtet und Stellung dazugenommen haben, diesen Entwurf im Ausschuß und mitden Verbänden ausführlich zu diskutieren und, wennnötig, Änderungsvorschläge einzubringen. Die SPD-Fraktion wird eine Anhörung zu diesem Gesetzentwurfbeantragen.„Qualität erfordert Qualifikation“, fordert der Bun-desausschuß der Lehrerinnen und Lehrer für Pflegeberu-fe. Ich freue mich über das Engagement der Kolleginnenund Kollegen für hohe Standards in der Ausbildungfür Pflegeberufe.
Ebenso freue ich mich über die ausführlichen Stellung-nahmen zum Beispiel meiner Gewerkschaft, der ÖTV,oder der Arbeiterwohlfahrt und vieler anderer Verbändeund Organisationen.Ich will nur einige Aspekte aus den genanntenSchreiben und Stellungnahmen anführen. Der erstePunkt: Eine einheitliche dreijährige Ausbildungsdauermit bundeseinheitlichen Standards wird allgemein be-grüßt. Ebenso wird eine Ausbildungsvergütung, die sichan der Vergütung in der Krankenpflege orientiert, vonvielen als Fortschritt betrachtet. Allerdings muß die Fi-nanzierung dieser Ausbildungsvergütung möglichst ge-recht und einfach sein, und ihre Rechtmäßigkeit mußabgeklärt sein. Auch dazu ist schon einiges ausgeführtworden.Der zweite Punkt: Eine Altenpflegehelferausbildungist nach wie vor sehr umstritten. Aus altenpolitischer wieaus bildungs- und frauenpolitischer Sicht ist eine Hel-ferausbildung abzulehnen. Das Argument, ein JahrAusbildung ist besser als keine Ausbildung, ist zwarnicht von der Hand zu weisen, aber es entkräftet nichtdie Tatsache, daß die Chancen auf dem Arbeitsmarktschlechter sind als die von Fachkräften, daß die geringe-re Qualifikation eine geringere Bezahlung zur Folge hatund daß oft ohne rechtliche Grundlage Tätigkeiten aus-geübt werden müssen, für die keine Qualifikation er-worben wurde. Das, denke ich, ist der entscheidendePunkt.
Der vorliegende Gesetzentwurf der Bundesregierungüberläßt die Entscheidung über eine Helferausbildungden Ländern. Damit können bundeseinheitliche Stan-dards für den Beruf Altenpflegehelferin/Altenpflege-helfer kaum erreicht werden. Ich denke aber, es wäresinnvoll, diese Ausbildung auf eine gewisse Zeit zu be-grenzen und dann auf wirklich qualifizierte Fachkräftezu setzen.Der dritte Punkt: Sehr großen Diskussionsbedarf ha-ben die im Gesetzentwurf vorgesehenen Verkürzungs-möglichkeiten ausgelöst. Besonders die Tatsache, daßdie Führung eines Familienhaushalts unter bestimmtenBedingungen zu einer Verkürzung der Ausbildungführen sollte, hat Empörung bei den Fachverbänden her-vorgerufen, da die Qualität der Ausbildung dadurch inFrage gestellt wird. Der Bundesrat hat diese Möglichkeitder Verkürzung gestrichen, und die Bundesregierung hatder Streichung zugestimmt. Insofern ist das vom Tisch.Über die Verkürzung bei Umschulungsmaßnahmenist schon gesprochen worden. Ich glaube, darauf braucheich nicht noch einmal einzugehen. Ich denke, auch hierwäre es sinnvoll, das auf einen bestimmten Zeitraum,zum Beispiel auf fünf Jahre, zu begrenzen.Der vierte Punkt: Bei der Fehlzeitenregelung, derDauer der Probezeit und der Regelung des Ausbildungs-verhältnisses sind im Gesetzentwurf zum Teil ungünsti-gere Rahmenbedingungen als im Berufsbildungs- undim Krankenpflegegesetz enthalten. Dies sollte im Inter-esse der Schülerinnen und Schüler – diese sind meinerErfahrung nach zwischen 18 und 50 Jahre alt, es sind al-so Erwachsene – nochmals überprüft werden. Ich denke,hier kann man noch bessere Regelungen finden. In derAnhörung werden wir sicher noch darauf eingehen.Der fünfte Punkt: Bei der Finanzierung der Ausbil-dung sind die Kosten für die Ausbildungsstätten mitBetriebs- und Verwaltungsaufwand wie bisher von denLändern aufzubringen. Über die Finanzierung der Aus-bildungsvergütungen ist bereits gesprochen worden. DieBundesregierung hat einen anderen Vorschlag gemachtals der Bundesrat. Ich denke, es sollte eine möglichsteinfache und gerechte Finanzierung gefunden werden.Das Umlageverfahren – das wissen wir alle – ist eigent-lich die gerechteste Lösung, und zwar deswegen, weil esalle Institutionen einbezieht und mehr Ausbildungsplät-ze schafft, indem es die Betriebe, die nicht ausbilden,zur Finanzierung heranzieht und damit Anreize zur Aus-bildung schafft.Der sechste Punkt: In § 29 des vorliegenden Gesetz-entwurfs wird ausdrücklich betont, daß das Berufsbil-dungsgesetz für die Berufe in der Altenpflege und in derAltenpflegehilfe keine Anwendung findet. Dem Vor-schlag des Bundesrates, die in Hamburg durchgeführteChrista Lörcher
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Regelung der Ausbildung nach dem BBiG bis zum31. Juli 2006 zu belassen, hat die Bundesregierung zu-gestimmt.Ich möchte für die SPD-Fraktion und die Mitgliederim Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugendsagen, daß wir bei allen Beratungen betont haben, daßdie Standards des Berufsbildungsgesetzes auch für diePflegeberufe Maßstab sein müssen. Das gilt insbesonde-re für den Status von Auszubildenden, für die Ausbil-dungs- und Rahmenpläne und für die Qualifikation derLehr- und Fachkräfte für die theoretische und praktischeAusbildung.
Qualität erfordert Qualifikation, dieser Satz gilt fürdie Pflegekräfte ebenso wie für die Lehrkräfte und dieAusbilderinnen und Ausbilder.Langfristig ist natürlich die integrierte Ausbildungsinnvoll. Ich kürze diesen Punkt jetzt einfach ab, weil erschon mehrfach erwähnt worden ist. Ich freue mich, daßauch die F.D.P.-Fraktion diese Art der Ausbildung fürsinnvoll hält. Ich glaube wirklich, daß wir gemeinsameine gute Lösung erzielen können.„Älter werden ist die einzige Chance, länger zu le-ben.“ Dies wurde mir im KDA, Kuratorium DeutscheAltershilfe, einmal gesagt. Nutzen wir diese Chance undbereiten wir uns und andere auf das Älterwerden vor!Die Pflegebedürftigen erwarten von uns qualifizierteund würdige Pflege. Sie erwarten Respekt vor ihrer Per-son und Biographie. Sie sind dankbar für Zuwendungund menschliche Wärme. Schülerinnen und Schüler so-wie die Lehrkräfte in den Altenpflegeschulen und diePflegekräfte in den Institutionen erwarten von uns hoheQualitätsstandards für Ausbildung und Arbeit in derPflege.
Wenn wir dies Schritt für Schritt verwirklichen, dannkann Altenpflege ein schöner und anspruchsvoller Berufsein, in dem Frauen und Männer kompetent undmenschlich den letzten Lebensabschnitt von Menschenbegleiten, die diese Hilfe brauchen.Danke für Ihre Aufmerksamkeit.
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Walter Link, CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident!Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Auf Grund derdemographischen Entwicklung müssen wir in dennächsten Jahren mit einer verstärkten Nachfrage nachqualifiziertem Pflegepersonal in der Altenpflege rech-nen. So sind zum Beispiel heute in der BundesrepublikDeutschland 21 Prozent der Menschen über 60 Jahre alt.Im Jahr 2030 werden es 30 Prozent, im Jahr 2040 fast 40Prozent sein. Nun wissen wir, daß die meisten Men-schen auch im hochbetagten Alter alleine und gut zu-rechtkommen und leben. Dennoch wird es für einen Teilder Menschen von großer Wichtigkeit sein, Hilfen zuhaben.Wir müssen nach heutigem Kenntnisstand davon aus-gehen, daß die Zahl der Pflegebedürftigen von jetzt1,6 Millionen auf 2,5 Millionen bis 2,8 Millionen imJahre 2040 steigen wird. Wir haben in einem Zwischen-fazit der Enquete-Kommission „Demographischer Wan-del“ auch deutlich gemacht, daß eine Konzentration derPflegebedürftigkeit auf die hochbetagten Menschen –wie könnte es anders sein – sowohl die Familien alsauch das Altenpflegepersonal besonders fordern wird.Wir können und sollten nicht verschweigen, daß zwi-schen dem 60. und dem 90. Lebensjahr das Risiko vonDemenzerkrankungen steigt. Bereits heute leiden800 000 Menschen in unserem Lande an einer Form derDemenz. Nach Hochrechnungen könnten es bis zumJahr 2010 auf Grund der kontinuierlich steigenden Le-benserwartung 1,7 Millionen Menschen sein. Hier gibtes Grenzen bei der Pflege durch Angehörige in derFamilie. Wir brauchen qualifiziertes Pflegepersonal, so-ziale Netzwerke und Dienste, die flexibel den privatenmit dem professionellen Sektor verbinden.Diese Zahlen und Fakten zeigen deutlich: Dem Berufder Altenpflegerin und des Altenpflegers kommt eineimmer größere Bedeutung zu. Aufgabe der Altenpflege-rinnen und Altenpfleger ist es, älteren Menschen zu hel-fen, die körperliche, geistige und seelische Gesundheitzu fördern, zu erhalten oder auch wiederzuerlangen.Sorge bereitet uns, daß ein Drittel aller Altenpflege-rinnen und Altenpfleger die Aufgabe des Berufs bereitsam Ende ihrer Ausbildung plant. 35 Prozent von ihnenbegründen den frühen Ausstieg mit psychischer undphysischer Überbelastung im Beruf. Die Altenpflege-rinnen und Altenpfleger fühlen sich in ihrer Ausbildungnicht genügend auf praktische Tätigkeitsanforderungenund Krisenbewältigung vorbereitet. Besonders fordernsie, daß Altersheilkunde und Alterspsychiatrie in ihrerAusbildung eine größere Rolle spielen müssen. Hierwird sehr deutlich, daß die Ausbildung eine gesunde Mi-schung von Praxis und Theorie sein muß.Der vorliegende Gesetzentwurf der Bundesregierunghat zum Ziel, die Ausbildung, Prüfung und staatlicheAnerkennung von Altenpflegerinnen und Altenpflegernbundeseinheitlich zu regeln. Dieses Anliegen ist keinneues. Seit 1989 hat es immer wieder Bestrebungen indiese Richtung gegeben. Aber es hat bis heute immerwieder von seiten der verschiedensten BundesländerWiderstand gegen eine solche bundeseinheitliche Re-gelung gegeben. Wir müssen uns in der Tat fragen, obdie Begründung im Gesetzentwurf für eine Bundeskom-petenz wirklich ausreichend ist. Die Bundesregierungordnet die Tätigkeit in der Altenpflege in den Bereichder Heilberufe ein. Sie begründet dies nach Artikel 74Abs. 1 Nr. 19 des Grundgesetzes damit, daß die Zulas-sung zu ärztlichen und anderen Heilberufen GegenstandChrista Lörcher
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der konkurrierenden Gesetzgebung sei. Hierzu gibt eswidersprüchliche Äußerungen aus den Fraktionen desDeutschen Bundestages und aus den Ländern. Es sindnicht nur die Bayern oder die CSU
– ich freue mich im übrigen darüber, daß die CSU beiuns so stark ist –,
sondern mittlerweile fünf Länder, die, wenn Sie den Ge-setzentwurf der Bundesregierung und die Anfragen undÄußerungen des Bundesrates dazu lesen, mittlerweile100 Änderungen zu diesem Gesetz beantragt haben.
– Frau Kollegin Lörcher, das muß einen doch nach-denklich machen. Wenn Sie die Bundeseinheitlichkeiterreichen wollen, dann würde ich an Ihrer Stelle mehrwerben, auch bei den anderen.
Die Frage ist: Ist die Altenpflege nicht vielmehrüberwiegend eine sozialpflegerische Betreuung, Bera-tung, Unterstützung, helfende Begleitung und Versor-gung unserer älteren Mitbürgerinnen und Mitbürger?Die Altenpflegerinnen und Altenpfleger heilen nicht inerster Linie Krankheiten und entlassen den gesundenMenschen aus der Pflege. Nein, sie helfen den älterenMenschen, sie pflegen und betreuen sie.
– Die Übereinstimmung mit Ihnen ist mir fast peinlich.Damit ist eigentlich klar: Die Altenpflege ist ein so-zialpflegerischer Beruf, für den die Kompetenz desBundes nicht durch die genannten Artikel unseresGrundgesetzes abgedeckt ist.Immer mehr Bundesländer – ich sage an dieser Stellenoch einmal: nicht nur Bayern – haben Zweifel im Hin-blick darauf angemeldet, daß der Bund sich in ihre An-gelegenheiten einmischt. Wir nehmen jedenfalls dieKritik sehr ernst, wenn auch die Bundesratsbank heutemorgen schlecht besetzt ist, und werden dies in die Dis-kussion der nächsten Wochen und Monate einbringen.Heute ist ja erst die erste Lesung. Wir kommen noch zuAnhörungen und Fachgesprächen zusammen. Vielleichteinigen wir uns ja noch.Diese Länder fragen: Müssen wir denn alles immerzentral regeln?
Für die betroffenen Berufsangehörigen ist vor allemwichtig, daß die in einem Bundesland absolvierte Aus-bildung in den anderen Ländern anerkannt wird.
Um dies sicherzustellen, haben die Kultusministerkonfe-renz sowie die Arbeits- und Sozialministerkonferenz1984/85 eine entsprechende Rahmenvereinbarung abge-schlossen. Es findet ja die gegenseitige Anerkennungstatt. Im übrigen haben sie sich gesagt, wir befinden unsin einer Experimentierphase. Diese dauert bis 2001 an.Darauf hat man sich geeinigt.Wir, die CDU/CSU, haben uns immer für klare Ab-grenzungen der Zuständigkeiten und der Verantwort-lichkeiten zwischen Kommunen, Ländern, Bund undauch Europa eingesetzt.Es wird immer wieder argumentiert, man brauche dasAltenpflegegesetz, weil ein Mangel an gut ausgebildetenAltenpflegerinnen und Altenpflegern besteht. Es istnicht zu bezweifeln – das habe ich eingangs gesagt –,daß hier eine große Welle auf uns zukommen wird. Faktist aber auch, daß wir von 1995 auf 1996 trotz der man-gelnden Bundeszuständigkeit 28 000 Vollzeitkräfte inder Pflege neu hinzubekommen haben.Wenn wir den Altenpflegerinnen und Altenpflegernbei ihrer schweren sozialpflegerischen Tätigkeit helfenwollen, so müssen die Bundesländer ihre überwiegendschulrechtlichen Ausbildungsregelungen auf die Erfor-dernisse der Praxis einstellen. Das fordere ich jedenfallsfür meine Fraktion nachdrücklich.Ich fasse zusammen: Heute ist die erste Lesung desGesetzentwurfes über die Berufe in der Altenpflege. Wirsehen den Diskussionsbedarf der Länder und werden inden Beratungen des Ausschusses und gegebenenfalls ineiner Anhörung mit Fachleuten die Kritikpunkte disku-tieren.Heute bleibt mir noch zu sagen, daß trotz der fehlen-den Bundeskompetenz, weshalb Ihrer Ansicht nach allesso schwierig ist, zigtausende Altenpflegerinnen undAltenpfleger sowie -helferinnen und -helfer einen sehrschweren, aber auch wunderbaren Dienst an unserenalten Menschen tun. Dafür danken wir ihnen von Her-zen.
Damit wäre ich bei der Äußerung, Frau Staatssekretä-rin, die Sie gegenüber Norbert Blüm gemacht haben: mitHerz und ruhiger Hand.
Ich würde es so formulieren, wie es in einem evangeli-schen Gesangbuch heißt: mit Herz und Mund und Hän-den, so sind Norbert Blüm und wir Christlich-Sozialeaus der Gewerkschaftsbewegung nun mal. Damit habenwir in diesem Jahrhundert hervorragende Arbeit gelei-stet.
Ich bin sicher: Das werden wir – ganz modern – auch imnächsten Jahrhundert tun.
Walter Link
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5286 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 59. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Oktober 1999
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Ich schließe die Aus-
sprache. Interfraktionell wird Überweisung des Gesetz-
entwurfs auf Drucksache 14/1578 an die in der Tages-
ordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt
es dazu anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der
Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 13 auf:
Erste Beratung des von der Fraktion der
CDU/CSU eingebrachten Entwurfs eines ErstenGesetzes zur Änderung des Arbeitnehmerüber-
lassungsgesetzes
– Drucksache 14/1211 –
– Doch, das ist so. Das können Sie in der Regierungs-erklärung nachlesen. Vielleicht wollen Sie das nichtmehr wahrhaben, aber er hat es gesagt. Er wird darangemessen werden.
Die wirklich vorhandene Reduzierung der Arbeits-losigkeit um 400 000 ist im letzten Jahr passiert, alsonoch unter der Regierung Helmut Kohl, unter einerCDU/CSU-geführten Regierung.
– Nein, es sind in der Tat – das können Sie doch in allenStatistiken nachlesen – im letzten Jahr 400 000 Arbeits-lose weniger geworden. Diese Reduzierung trägt durch.Jetzt kann man feststellen – ich werde hier keine Redehalten, in der ich das nicht deutlich sage –: Seit Märzsteigt die Arbeitslosigkeit unter Bundeskanzler SchröderMonat für Monat saisonbereinigt an. Auch das könnenSie nachlesen. Bisher ist die Meßlatte von Schrödernicht erreicht worden.
Meine Damen und Herren, es kann auch nicht darumgehen, die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit auf die Fra-ge zu reduzieren, wie man neue Berechnungsmodelleerstellen kann, um möglicherweise statistisch zu einerBereinigung des Problems zu kommen.
Wenn das gemacht wird, müssen wir darüber reden,welche Auswirkungen das auf bisherige Zahlen hat.Reine Statistik werden wir nicht hinnehmen; es istWählertäuschung, wenn man dafür sorgt, daß die Ar-beitslosigkeit statistisch zurückgeht, wenn aber anson-sten auf dem Arbeitsmarkt nichts passiert. Das muß mandeutlich festhalten.Ich will ein weiteres festhalten – auch das werde ichin jeder Rede, die ich hier halten werde, sagen –: DerPräsident der Bundesanstalt für Arbeit hat verdeutlicht,daß wir allein in den nächsten drei Jahren aus demogra-phischen Gründen einen Rückgang der Arbeitslosigkeitum 600 000 haben werden – Jahr für Jahr 200 000 –,nämlich einfach deswegen, weil weniger junge Men-schen in den Arbeitsmarkt eintreten, als ältere Menschenherausgehen werden. Auch dies ist eine Zahl, die manim Kopf haben muß, damit nicht hinterher irgendwersagt, Schröder habe die Arbeitslosigkeit um 600 000verringert. Diese Verringerung ergibt sich rein aus de-mographischen Gründen; ich will das hier festhalten,
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weil wir das irgendwann in der Diskussion mit Ihnenmöglicherweise brauchen.
– Genau das will ich jetzt tun.Wenn wir nicht abwarten wollen, wenn wir uns nichtdarauf beschränken wollen, Statistiken zu bereinigen,dann müssen wir handeln. Unser Gesetzentwurf zur Än-derung des Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes tut dies.Schon bisher ist Arbeitnehmerüberlassung ein unver-zichtbarer Bestandteil des Arbeitsmarktes. Sie leistetHilfestellung, indem unter der Aufsicht der Dienststellender Bundesanstalt für Arbeit im Rahmen des Arbeit-nehmerüberlassungsgesetzes Chancen auf dem Arbeits-markt geboten werden. Es gibt Abbau von Arbeitslosig-keit durch Personaleinstellungen bei Zeitarbeitsunter-nehmen. Im Juni 1997 gab es bereits rund 160 000 Lei-harbeitnehmer. Ich nenne Ihnen die Zahlen der Bun-desanstalt für Arbeit für den Stichtag 31. Dezember1998: Da waren es 202 000 Beschäftigte bei Zeitarbeits-unternehmen; im Vorjahr waren es 167 000. Alle Stati-stiken, die es gibt, und alle Angaben der Verleihunter-nehmen selber zeigen deutlich, daß es eine steigendeTendenz gibt. Also müssen wir Interesse daran haben,auch in den Bereich der Arbeitnehmerüberlassung mehrFlexibilität hineinzubekommen.
Die Leiharbeitnehmer sind überwiegend jüngereMänner, die im gewerblichen Bereich tätig sind. DieExpansion bei der Leiharbeit findet zur Zeit hauptsäch-lich über den verstärkten Einsatz von gering qualifizier-tem Personal statt. Wir müssen einige Beschränkungenaus dem Gesetz entfernen, um die Leiharbeit auch fürandere Problemgruppen interessant zu machen.Was wollen wir also verändern? Wir wollen zunächstdie zulässige Höchstdauer der Überlassung eines Lei-harbeitnehmers an denselben Entleiher – sie istbisher auf zwölf Monate beschränkt – auf 36 Monateerweitern.
– Ja, ich weiß, daß Sie eher für Beschränkungen undKontrolle sind. Aber ich bin dafür, hier mehr Freiheitund mehr Möglichkeiten zu schaffen, damit Arbeitsloseauch in diesem Bereich die Chance erhalten, Arbeit zubekommen. Das ist wichtiger, als im Gesetz Beschrän-kungen durchzusetzen.
Warum sind wir für diese Ausweitung? Sie wird ge-rade Arbeitslosen mit höherer Qualifikation, etwa Inge-nieuren oder Programmierern, in diesem Bereich Hilfe-stellung bieten, weil für diese Kräfte hauptsächlich län-gerfristige Verträge gefordert werden. Sie kann auchhelfen, die Zeitspanne des Erziehungsurlaubs – das sinddrei Jahre – zu überbrücken. Auch hier wird es neueMöglichkeiten geben. Wir sollten diesen Weg gehen unddiesen Gruppen das eröffnen.Der zweite Punkt, bei dem wir eine Veränderungdurchsetzen wollen, betrifft das Synchronisationsver-bot, das wir streichen wollen. Bisher verhält es sich beieinem Arbeitslosen, der von einer Verleihfirma über-nommen wird und der dann an einen Entleiher weiterge-geben wird, so, daß die Zeit, die er bei dem Zeitarbeits-unternehmen ist, nicht mit der Zeit identisch sein darf, inder das Leihunternehmen ihn an einen Arbeitgeber wei-tergibt. Dies führt dazu, daß viele Arbeitslose nicht ver-mittelt werden können, weil in diesem Bereich dieNachfrage befristet ist und es nicht längerfristig gemachtwird. Die Erfahrung zeigt, daß sich für jemanden, der ineinem Zeitarbeitsverhältnis ist, automatisch eine An-schlußarbeit ergibt. Das wird bisher durch das Gesetzblockiert. Hier sollten wir mehr Flexibilität einführenund sollten die starren Regeln lockern; auch das wirdArbeitslosen helfen.
Weiterhin wollen wir die Beschränkung in bezug aufbefristete Arbeitsverträge abschaffen. Für einige be-sonders anspruchsvolle Arbeitsplätze sehen Zeitarbeits-unternehmen bisher die Möglichkeit vor, daß sie nur eineinziges Mal befristet vergeben werden. Wegen des bis-her geltenden Rechts zur Befristung können Zeitarbeits-unternehmen viele geeignete Arbeitsuchende nicht ein-stellen. Auch hier soll mehr Flexibilität her, die hilft,Arbeitslose in Arbeit zu bringen.Ebenso sollte eine Streichung der gesetzlichen Wie-dereinstellungssperre von drei Monaten vorgesehenwerden, weil wir mehr Möglichkeiten und mehr Flexi-bilität erwarten können, wenn wir allen Beteiligten mehrFreiräume geben. Dann können die Entscheidungen derBetroffenen zu dem Ergebnis führen, daß Menschen, obsie gering oder hoch qualifiziert sind, ob sie für einekürzere oder längere Zeit arbeiten wollen, Arbeit finden,daß also mehr Arbeitslose in Arbeit gebracht werdenkönnen. Das ist nicht nur ein Beitrag für diese Men-schen, sondern auch für den Staat, der auch an dieserStelle zum Sparen aufgefordert ist. Ich sage es nocheinmal: Dadurch, daß Menschen in Arbeit gebracht wer-den, werden Kosten bei der Bundesanstalt für Arbeit,beim Staat gespart. Zeitgleich wird so für mehr Einnah-men gesorgt.Ich bitte Sie, die Beratung in den Ausschüssen wohl-wollend anzugehen. Wir können uns hier noch einStückchen bewegen, weil mehr Flexibilität möglich ist.Herzlichen Dank, meine Damen und Herren. Ichwünsche uns allen eine gute Beratung.
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Klaus Brandner, SPD-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsi-dent! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen undKollegen! Wir haben von Herrn Meckelburg wieder vielWolfgang Meckelburg
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5288 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 59. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Oktober 1999
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gehört, aber wenig zum Antrag. Es waren viele Allge-meinplätze; er sagte wenig zu dem, was uns alle berüh-ren müßte: In dieser Republik sind in der Tat zu vieleMenschen arbeitslos.Nach der Statistik sind zur Zeit 4,1 Millionen Men-schen arbeitslos gemeldet. Bei diesen 4,1 MillionenArbeitslosen handelt es sich überwiegend um die Erb-schaft, die Sie uns nach konservativ-wirtschaftsliberalerPolitik hinterlassen haben.
Nun stellt die an dieser Politik hauptbeteiligte Fraktioneinen Antrag zur Änderung der Arbeitnehmerüberlas-sung, um so die Arbeitslosigkeit abzubauen.Für dieses Ziel haben wir Sozialdemokraten vielSympathie; das ist unbestritten; denn für die SPD-Bundestagsfraktion ist es das wichtigste politische Ziel,die Arbeitslosigkeit in unserem Lande abzubauen.
Deshalb sehen wir in diesem Zusammenhang auch dieMöglichkeiten, die die Arbeitnehmerüberlassung bietet.Zeitarbeit kann Perspektiven eröffnen, zum Beispielwenn Auftragsspitzen kurzfristig Mehrarbeit notwendigmachen.
Dabei darf die Zeitarbeit nicht gegen die Stammbeleg-schaft ausgespielt werden. Sie muß vielmehr ergänzendwirken.
Zeitarbeit darf nicht in Konkurrenz zur Stammbeleg-schaft treten. Deshalb dürfen Stammbelegschaften nichtabgebaut und durch Leiharbeitnehmer ersetzt werden.Mehr Beschäftigung kann zum Beispiel durch denAbbau der Mehrarbeit mittels neu eingestellter Zeit-arbeitnehmer entstehen. Arbeitnehmerüberlassung soangewandt schafft Vertrauen. Das ist seriös. Zirka2 Milliarden Überstunden werden jährlich geleistet. EineReduzierung um 50 Prozent könnte ungefähr 400 000neue Arbeitsplätze bringen. Zeitarbeit bedeutet Arbeitauf Zeit, eben vorübergehende Arbeit.
Schon die Eigenbezeichnung der Verleiher deutet aufdie Beschränkung ihrer Arbeitsmarktfunktion hin: Zeit-arbeitsbranche, Arbeit auf Zeit.Im Unterschied dazu sind die Arbeitsverhältnisse derStammbelegschaft unbefristet. Für die Beseitigung derMassenarbeitslosigkeit sind uns viele wirksame Mittelrecht. Da gibt es keinen Königsweg. Die Chancen derArbeitnehmerüberlassung zur Bekämpfung der Massen-arbeitslosigkeit würden wir gerne dort ergreifen, wo siehilft, die Arbeitslosigkeit zu reduzieren. Darauf solltenwir uns konzentrieren.
Allerdings haben weite Teile der Öffentlichkeit keinehohe Meinung von Zeitarbeit. Sie hat bei den Beschäf-tigten und oft auch bei den Entleihern einen anrüchigenRuf. Es ist kein Geheimnis, daß die Personalreserve-quote in Unternehmen oft zu Lasten der Stammbeleg-schaft reduziert wird. Stammbelegschaft raus, Leihar-beiter rein – das ist nicht die erwünschte Lösung undhilft nicht, die Arbeitslosigkeit abzubauen.In den Betrieben entstehen genau vor diesem Hinter-grund Konflikte zwischen der Unternehmensleitung undden Betriebsräten. Davon sind über 200 000 Leihar-beiter und über 8 000 Verleiher betroffen. Darüber be-klagen sich Unternehmen ebenso wie Beschäftigte undBetriebsräte zu Recht. Da müssen wir etwas ändern.Daran müssen wir arbeiten. Wir müssen die Vorbehaltegegen die Arbeitnehmerüberlassung beseitigen, insbe-sondere dort, wo ihre Anwendung zu mehr Beschäfti-gung führt. An dieser Stelle muß die Arbeitneh-merüberlassung in der Diskussion raus aus der Schmud-delecke.Wir müssen soziale und rechtliche Strukturen verbes-sern, allein um den Mißbrauch von Zeitarbeitsverhält-nissen zu Lasten der Stammbelegschaft zu verhindern.Dazu können wir das Arbeitnehmerüberlassungsgesetznicht isoliert betrachten; vielmehr müssen wir es imGesamtzusammenhang sehen. Wir müssen zum Beispielverstärkt darüber nachdenken, ob wir in diesem Zusam-menhang nicht auch das Betriebsverfassungsgesetzverändern müssen.
Ich könnte mir eine Regelung gut vorstellen, durchdie Zeitarbeitnehmer, die länger bei einem Entleihertätig waren, bei Neueinstellungen bevorzugt eingestelltwerden und zu deren Durchsetzung der Betriebsrat er-weiterte Rechte bekommt.
Auch könnte man Leiharbeitnehmern eine Rechtsstel-lung geben, die eine stärkere Vertretung durch den Be-triebsrat des Entleihers ermöglicht. Oder man könntedie Entwicklung von humanem Kapital auch für Leihar-beiter bewerkstelligen, damit sie in Fragen der Weiter-bildung, der Qualifizierung, des Arbeitsschutzes und desGesundheitsschutzes nicht allein gelassen werden.
Diese Beispiele machen deutlich, daß wir überVeränderungen des ArbeitnehmerüberlassungsgesetzesWolfgang Meckelburg
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gründlicher und im Zusammenhang nachdenken müs-sen. Nach Ihren Vorstellungen würden weitere Schutz-rechte für Leiharbeitnehmer nur abgebaut werden. Aller-dings ist der bisherige Zeitrahmen von zwölf Monaten,wie Sie sicherlich wissen, in aller Regel völlig aus-reichend, wenn wir Zeitarbeit als Sprungbrett ins unbe-fristete Arbeitsverhältnis, ins unbefristete Erwerbsleben,in sogenannte Normalarbeitsverhältnisse verstehen. DieAusdehnung auf 36 Monate kann zu einer Vernichtungvon Stammarbeitsplätzen führen. Auch deshalb wollenwir Arbeitnehmerüberlassungen nicht zu unsozialerKonkurrenz zwischen Normal- und Leiharbeitsverhält-nissen erweitern.Sie haben in den letzten 16 Jahren Schutzvorschrif-ten abgebaut, ohne damit mehr Beschäftigung zubekommen. Sie haben 16 Jahre etwas vorgelebt, wasarbeitsmarktpolitisch nicht erfolgreich war.
Herr Meckelburg, heute sagen Sie, unsere Politik beste-he nur in Sparen. Wir müssen sparen, weil durch IhrePolitik die öffentlichen Kassen, auch die Sozialkassen,derart angeknackst und quasi leer sind, daß wir nicht aufBeitragssteigerungen, sondern auf Beitragssenkungen inden Sozialversicherungen bauen. Damit das geschehenkann, müssen wir die Arbeitslosigkeit wirksam reduzie-ren.
Wir wollen mit Arbeitnehmerüberlassungen zusätz-liche Beschäftigungschancen ergreifen. CDU und CSUwollen mit ihrem Gesetzentwurf die Beschränkung derDauer des Arbeitsverhältnisses zwischen Leiharbeit-nehmern und Verleihern auf die Dauer der erstmaligenÜberlassung an einen Entleiher grundsätzlich aufheben.Dies bedeutet wiederholte Befristung von Arbeitsver-hältnissen. Letztendlich bedeutet dies Arbeit auf Abruf.Tagelöhnerarbeit ist eines Sozialstaats unwürdig. Arbeitnach Gutsherrenart – den brauche ich heute, und denbrauche ich morgen – ist eine Politik, die wir nicht mit-tragen können.
Mit einer solchen Politik trägt der Verleiher fast keinunternehmerisches Risiko mehr, weil dieses Risiko aufdie Sozialversicherung übertragen werden würde, undzwar zu Lasten der Versichertengemeinschaft. Dieskönnen wir so nicht hinnehmen. Wir müssen den Men-schen Sicherheit bieten, sowohl den Leiharbeitnehmernals auch den Verleihern.Mit Ihrem Gesetzentwurf haben Sie sich wieder ein-mal zum Erfüllungsgehilfen der Arbeitgeberverbändegemacht. Die Kernpunkte Ihres Entwurfs haben Sie de-ren Verbandsforderungen fast wortwörtlich entnommen.Das haben wir Sozialdemokraten zwar oft vermutet.Aber daß Sie noch immer vortäuschen, Sie betrieben imInteresse der Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger inDeutschland Politik, ist schon ziemlich unverschämt.
Nach gängigen Vorstellungen der Logik vom sozialenAusgleich müßte die Gesetzgebung nun allein nach denVorstellungen der Gewerkschaften erfolgen. Wir Sozial-demokraten werden diesen Verlockungen allerdingsnicht nachgeben. Wir Sozialdemokraten werden uns alsPartei der sozialen Gerechtigkeit zusammen mit unse-rem Koalitionspartner sowohl mit den Gewerkschaftenals auch mit den Arbeitgeberverbänden für eine ausge-wogene Lösung der Probleme der Arbeitnehmerüberlas-sung einsetzen. Wir dürfen die Menschen in unsererRepublik mit gesetzlichen Schnellschüssen nicht weiterverunsichern.Der Gesetzentwurf der Fraktion der CDU/CSU würdesich ganz schnell als Rohrkrepierer in Sachen Abbau derArbeitslosigkeit erweisen, wenn wir ihn mittragen undverabschieden würden. Durch Ihre Vorstellungen wer-den keine neuen Arbeitsplätze geschaffen. Im Gegenteil:Durch Ihre Vorstellungen werden Stammarbeitsplätzevernichtet. Sie entlasten damit die Arbeitslosenversiche-rung nicht, Sie belasten sie zusätzlich.
Deshalb setzen wir für Arbeitnehmerüberlassungenfeste soziale Standards fest und knüpfen sie an Bedin-gungen: Sie müssen der Förderung von Beschäftigungdienen und quasi ein Sprungbrett in Normalarbeits-verhältnisse darstellen. Das hat im übrigen auch IhrParteimitglied, der Christdemokrat Bernhard Jagoda, vorkurzem in einem interessanten Aufsatz zur Zeitarbeitnoch einmal ganz deutlich gemacht. Er sagte: Etwa30 Prozent der Zeitarbeitsverhältnisse werden nach vierMonaten in Normalarbeitsverhältnisse überführt. Länge-re Beschäftigungszeiten, als sie im Zeitarbeitsbereichheute in der Regel üblich sind, sind nicht notwendig.Dafür gibt es überhaupt keinen Anlaß; das macht keinenSinn und würde den Wettbewerb zwischen Normalar-beitsverhältnissen und Leiharbeitsverhältnissen nur aus-dehnen. Das wäre eines Sozialstaates unwürdig.Die arbeitsrechtliche Stellung von Leiharbeitsverhält-nissen zu den Normalarbeitsverhältnissen muß weiterverbessert werden. Insbesondere denke ich dabei an denbetriebsverfassungsrechtlichen Rahmen, an die Zustän-digkeit des Betriebsrates und auch an die Möglichkeitdes Betriebsrates, Zeitarbeitsverhältnisse in Normalar-beitsverhältnisse des ersten Arbeitsmarktes umzuwan-deln. Natürlich hilft die Wiederherrichtung des Syn-chronisationsverbotes und der Ausschluß von Befri-stung. Im Rahmen von Zeitarbeit ist Befristung keinwirksames Mittel, um mehr Beschäftigung zu erreichen.Ich habe dazu umfangreich Stellung bezogen. Insbeson-dere ist es wichtig, daß die Qualifizierung von Leih-arbeitnehmern in Zeitarbeitsverhältnissen nicht auf derStrecke bleibt. Erfolg in der Arbeitsmarktpolitik werdenwir nur haben, wenn wir Qualifizierungsmaßnahmen fürdiesen Personenkreis ermöglichen und fördern.Wolfgang Meckelburg
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5290 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 59. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Oktober 1999
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In Ihrem Gesetzentwurf finden wir an keiner Stelleein Konzept, das sich schlüssig mit diesen Zielen ver-binden läßt. Deshalb lehnen wir ihn ab. Ein solcherGesetzentwurf, der nicht der Beschäftigung dient, mußverschwinden. Wir wollen Beschäftigung fördern, Ar-beitsplätze schaffen und Lösungsansätze mit beiden So-zialpartnern prüfen. Dieser Weg, den wir Sozialdemo-kratinnen und Sozialdemokraten eingeschlagen haben,ist ausgewogen. Wir werden ihn konsequent weiterge-hen, bis er Erfolg zeigt.Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Für die F.D.P.-
Fraktion spricht nun Kollege Dr. Heinrich Kolb.
Herr Präsident! LiebeKolleginnen und Kollegen! Ich finde, wir sollten es unszur guten Gewohnheit machen, zu Beginn jeder Debatte,die sich mit arbeitsmarktpolitischen Fragen befaßt, einenBlick auf die Schröder-Uhr der „Wirtschaftswoche“zu werfen. Diese Schröder-Uhr, die die Entwicklung derArbeitslosigkeit seit dem Amtsantritt des Herrn Bundes-kanzlers dokumentiert, zeigt mit Stand dieser Woche einPlus – ich muß das leider betonen – von 58 300 Ar-beitslosen bei einem gleichzeitigen Rückgang der Zahlder Erwerbstätigen um 367 000.
Das sind, Herr Brandner, in der Tat eindrucksvolleZahlen. Sie zeigen, daß Sie entgegen Ihren Ankündi-gungen unfähig sind, eine Trendwende auf dem Ar-beitsmarkt herbeizuführen.
Ebenso eindrucksvoll – dabei handelt es sich aller-dings um eine positive Entwicklung – ist die Bilanz derZeitarbeitsbranche. Von Dezember 1997 bis Dezember1998 stieg die Zahl der Zeitarbeitsbetriebe von 4 036 auf4 581 an, also um rund 13 Prozent. Im gleichen Zeit-raum beschäftigten diese Betriebe 20,9 Prozent mehrMitarbeiter – Kollege Meckelburg hat die Zahl schongenannt –: Es waren im Dezember 1998 202 000 gegen-über 167 000 im Vergleichsmonat Dezember 1997.
– Das sind neue Arbeitsplätze. [Klaus Brandner [SPD]: Zu Lasten der ande-ren!)– Nein, Herr Brandner, Sie müssen da Ihre ideologi-schen Scheuklappen einmal ablegen.
Ich denke, daß diese Branche bewiesen hat, daß dieEröffnung der Möglichkeit des flexiblen Einsatzes vonArbeitnehmern Arbeitsplätze in beträchtlichem Umfangschaffen kann. Ich erinnere daran – soviel Zeit solltesein, Herr Meckelburg; das sollten wir immer tun –, daßin den Zeitraum, für den ich eben die Zahlen genannthabe, die letzte Arbeitnehmerüberlassungsgesetzreformgefallen ist. Damals hat die alte Bundesregierung diehöchstzulässige Überlassungsdauer eines Zeitarbeitneh-mers von neun auf zwölf Monate verlängert. Die dama-lige Opposition war seinerzeit dagegen. Hätten Sie sichdamals durchgesetzt, Herr Brandner, wäre die dynami-sche Entwicklung dieser Branche nicht möglich gewe-sen, und wir müßten heute 34 695 Arbeitslose mehr beider Schröder-Uhr berücksichtigen.
64,9 Prozent der Zeitarbeitnehmer, Herr Thönnes,waren vorher ohne Beschäftigung. 10 Prozent von ihnenhatten vor ihrer Tätigkeit bei einem Zeitarbeitsunter-nehmen noch nie Arbeit. Das sind Zahlen, die uns allehier aufhorchen lassen.Weil Sie so skeptisch gucken, Herr Brandner undHerr Thönnes, empfehle ich Ihnen einen Blick über denTellerrand nach Holland. In den Niederlanden ist dieZeitarbeit weit verbreitet. Die großen, auch in Deutsch-land bekannten Zeitarbeitsunternehmen kommen in vie-len Fällen von dort. Bei unseren holländischen Nachbarnkommt man ins Arbeitsamt hinein und hat auf der einenSeite den Schalter der Arbeitsvermittlung, auf der ande-ren gleich mehrere Schalter von Zeitarbeitsunternehmen.Die Kunden – die Arbeitslosen versteht man dort alsKunden – reicht man sich gegenseitig so zu, wie es fürdie Kunden, die Arbeitslosen, selbst am besten ist.
Davon können wir lernen. In Holland hat man begriffen,daß die beste Methode zur Wiedereingliederung vonArbeitslosen in das Erwerbsleben – gerade Langzeitar-beitlose haben hier ja erhebliche Probleme – das „Trai-ning on the job“ ist.
– Ja, gerne.In der Bundesrepublik leisten die Zeitarbeitsfirmendie Integration von 150 000 Arbeitnehmern pro Jahr.Diese Menschen werden ohne staatliche Förderpro-gramme und ohne in Bündnissen für Arbeit ausgearbei-tete Beschäftigungsinitiativen in den ersten Arbeitsmarktzurückgeführt. Das kostet keinen einzigen Steuerpfen-nig. Darüber müßte der Bundesfinanzminister, HerrEichel, vor Begeisterung sprühen. [Klaus Brandner [SPD]: Dazu steht im Antragnichts, Herr Kolb)Die holländischen Erfahrungen zeigen, daß die Be-schäftigungsentwicklung einen dynamischen, positivenVerlauf nimmt, wenn man den Arbeitsmarkt von künst-Wolfgang Meckelburg
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lich angelegten Fesseln befreit. Angesichts dessen emp-fand ich es schon als enttäuschend, was Sie hier gesagthaben. Ihren Worten und zwischen den Zeilen war stän-dig „Regulierung, Regulierung, Regulierung“ zu ent-nehmen. Mit diesen Methoden werden Sie die Situationam Arbeitsmarkt nicht nachhaltig verbessern können.
Herr Kollege Kolb,
gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Brand-
ner?
Ja, bitte.
Herr Kolb, Sie stellten ge-
rade fest, daß wir den Arbeitsmarkt von Fesseln befreien
müßten. Ist Ihnen bekannt, daß in den Niederlanden bei
den Leiharbeitnehmern regelmäßig tarifvertragliche
Bedingungen herrschen, daß also die Grundlage des
Arbeitsverhältnisses die Anwendung des jeweiligen für
den Betrieb zuständigen Tarifvertrages ist,
so daß hier eine „Fessel“ vorhanden ist, die Sie im Kern
beseitigen wollen?
Nein, ich verstehe ei-
nen Tarifvertrag nicht als Fessel. Wenn Sie den Antrag
der CDU/CSU aufmerksam gelesen haben, werden Sie
festgestellt haben, daß dies sehr wohl in dem Antrag
enthalten ist. Zum anderen gibt es mittlerweile in dieser
Branche auch in Deutschland erste Tarifverträge. Das
sehe ich als durchaus positiv an. Ich bin nicht gegen ta-
rifvertragliche Regelungen, sondern ich bin dagegen,
daß der Gesetzgeber alles und jedes zu regulieren ver-
sucht.
Dabei will ich durchaus konzedieren, Herr Brandner,
daß ich nicht gegen jede Regelung bin. Unter den Zeit-
arbeitsfirmen gibt es – das sagt der Bundesverband Zeit-
arbeit selbst – schwarze Schafe, die auf kurzfristige Pro-
fiterzielung zu Lasten ihrer Beschäftigten aus sind. Das
darf selbstverständlich nicht sein. Daher ist die ordnen-
de Hand des Staates in Form des Arbeitnehmerüberlas-
sungsgesetzes bis zu einem gewissen Punkt sinnvoll.
Meines Erachtens sind wir aber an einem Punkt ange-
kommen, an dem eine Überregulierung besteht, die zu
beseitigen ist. Angesichts der Erfahrungen mit gelok-
kerten Bestimmungen im Bereich der Zeitarbeit insbe-
sondere in den Niederlanden müssen wir uns fragen, ob
wir hier nicht zu weitergehenden Veränderungen kom-
men wollen.
Deswegen – das sage ich für meine Fraktion – begrü-
ßen wir den vorliegenden Gesetzentwurf der CDU/CSU.
Er geht in die richtige Richtung. Damit werden noch
nicht die gleichen Zustände wie in Holland erreicht. Es
werden aber gegenüber der jetzigen Situation weitrei-
chende Verbesserungen erzielt, ohne daß man großzügi-
ge Freiräume für schwarze Schafe schafft. Es ist – das
sage ich anerkennend – ein gut durchdachter Gesetzent-
wurf; er könnte durchaus auch von uns stammen.
Mit der Verlängerung der maximalen Verweildauer
des Leiharbeitnehmers bei einem Entleiher auf drei Jah-
re werden einige Vorteile erzielt. Insofern verändert das
die Situation gegenüber dem bisherigen Zustand ent-
scheidend; denn Hochqualifizierte werden jetzt erstmals
für die Zeitarbeitsfirmen interessant werden. Wir wis-
sen, daß wir in einigen Bereichen eine sehr hohe Aka-
demikerarbeitslosigkeit haben, die man ebenfalls mit
Hilfe von Zeitarbeit reduzieren kann.
Auch den Denkansatz, daß Mutterschaftsurlaubsver-
tretungen nicht mehr auf mehrere Zeitarbeiter verteilt
werden müssen, finde ich sehr positiv. Die Lockerungen
beim Verbot der Synchronisation versprechen überdies
die Beschäftigung weiterer Gruppen von Arbeitneh-
mern. Es besteht dann die Möglichkeit, daß Menschen
von Zeitarbeitsfirmen eingestellt werden, auch wenn
noch ungewiß ist, ob für diese Arbeitnehmer eventuell
ein Folgeauftrag zu akquirieren ist.
Fazit: Nutzen wir die Chance, und lassen wir in die-
sem Bereich ein bißchen mehr Flexibilität zu. Die Erfah-
rungen in anderen Ländern und die Zahlen bei uns spre-
chen dafür, daß wir einigen hunderttausend Bürgern eine
reale Arbeitsplatzperspektive und damit vielen Familien
Hoffnung auf ein Ende der Arbeitslosigkeit geben kön-
nen.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
Ich erteile das Wort
der Kollegin Thea Dückert, Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren!
– Herr Meckelburg, wir trinken nicht nur aus einemGlas, sondern wir haben auch etwas anderes ge-mein: Wir haben im letzten Jahr sehr viel gelernt, Siein der Opposition und wir in der Regierung. Ich habefestgestellt: Ihnen jedenfalls hat die Opposition sehrgutgetan,
Dr. Heinrich L. Kolb
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denn Sie haben nach 16 Jahren Regierung, nach denenSie vier Millionen Arbeitslose hinterlassen haben, in ei-nem Jahr endlich gelernt, daß das erste Ziel der Politikin der Bundesrepublik Deutschland sein muß, diese Ar-beitslosigkeit abzubauen. Ich begrüße, daß das auch beiIhnen endlich angekommen ist.
Sie haben, Herr Meckelburg, auch richtig gelernt, daßdazu natürlich ein Bündel von arbeitsmarktpolitischenMaßnahmen gehört. Ich bestätige Ihnen ebenfalls, daßdie Zeitarbeit bei den privaten, aber auch bei den ge-meinnützigen Zeitarbeitsfirmen Element eines Bündelsfür eine aktivierende Arbeitsmarktpolitik sein kann.Die Zeitarbeitsfirmen wurden anfänglich sehr ange-feindet und zum Beispiel als moderne Sklavenhändlerverdächtigt.
Die Entwicklung hat gezeigt, daß sich diese umstritte-nen Zeitarbeitsfirmen bewährt haben.
Es gibt auch weiterhin schwarze Schafe; das haben wirsogar von Ihnen gehört, Herr Kolb. Aber es gibt auchviele positive Beispiele, und darüber sollten wir eben-falls sprechen.Eines jedoch ist natürlich falsch, Herr Kolb: WennSie im Zusammenhang mit arbeitsmarktpolitischen Ent-wicklungen die Niederlande erwähnen – andere erwäh-nen auch Dänemark –, dann unterstellen Sie, daß die po-sitiven Arbeitsmarkteffekte ein Erfolg der Deregulie-rung sind. Richtig ist doch aber vielmehr, daß geradedie Form von Arbeitsmarktpolitik in den Niederlandenmit sehr starker Regulierung, und zwar in sozialpoliti-schem Sinne, zu tun hat,
zum Beispiel durch ein Mindestlohnniveau. Auch inDänemark gibt es sehr starke Regulierungen durch einsehr hohes Arbeitslosengeld.Ich sage Ihnen deswegen: Wenn Sie in diesem Be-reich über Deregulierung sprechen, dann müssen Sieauch den Mut haben, über Regulierung zu sprechen,denn das gehört zusammen.
Zeitarbeitsfirmen sind keine normalen Arbeitgeber;das wissen auch Sie. Deswegen macht es aus vielenGründen keinen Sinn, sie gleichzustellen.
Sie arbeiten in einem Dreiecksverhältnis. Sie sind sozu-sagen der doppelte Arbeitgeber für die Beschäftigten.Aber es ist auch so, daß die Form der flexiblen Ar-beitsvermittlung, die eine Ergänzung der staatlichen Ar-beitsvermittlung ist, dazu geführt hat, daß hinsichtlichdes Übergangs gerade von Langzeitarbeitslosen, auchvon gering qualifizierten Langzeitarbeitslosen, in denersten Arbeitsmarkt hohe Vermittlungsquoten zu ver-zeichnen sind. Das bedeutet schon, daß diese Firmeneine Brückenfunktion für die Vermittlung in den erstenArbeitsmarkt haben.Das ist auch der Grund, warum ein großer Anstiegder Zahl der Arbeitskräfte, die in diesem Bereich arbei-ten, erfolgt ist, eine Verdopplung in den letzten fünf Jah-ren. Das ist auch der Grund dafür, warum wir mittler-weile etwa 10 000 Firmen haben, die dieses betreiben.Zeitarbeitsfirmen sind keine Konkurrenz zur Bundes-anstalt für Arbeit, zur Arbeitsvermittlung, wie anfäng-lich befürchtet wurde, sondern eine Ergänzung. Mansieht das insbesondere, wenn man das zentrale Problemder Langzeitarbeitslosigkeit betrachtet. Es ist schon er-staunlich – die Zahlen sind schwierig zu deuten, weil sienicht ganz flächendeckend sind –, aber alle Zahlen, diees dazu gibt, zeigen, daß dort der Vermittlungsgrad vonLangzeitarbeitslosen in vorübergehende Beschäftigung,aber dann auch in Dauerbeschäftigung sehr hoch, signi-fikant hoch ist.
Ich denke, das liegt auch daran, daß die Zeitarbeitsfir-men so etwas wie eine Pufferfunktion übernehmen, eineArt Barriere darstellen vor der Angst der Arbeitgeber,Langzeitarbeitslose einzustellen.Insofern ist dieses immer auch kritisch beäugte Test-feld für Arbeitgeber, Arbeitnehmerinnen und Arbeit-nehmer für eine Zeit sozusagen ausprobieren zu könnenund nicht nur die Auftragsspitzen abzufangen, sonderneben auch zu schauen, wie deren Qualifikation ist,durchaus eine positive Möglichkeit im Sinne der Inte-gration von Langzeitarbeitslosen.
Meine Damen und Herren, man muß das Problemwirklich umfassend betrachten. Es sind flexible Formender Arbeitsvermittlung, aber zu dieser Bilanz gehörtauch noch etwas anderes. Zu dieser Bilanz gehört auch, daß die Beschäftigtenin solchen Arbeitsverhältnissen in der Regel etwa 20 bis30 Prozent geringere Bruttolöhne im Vergleich zu Ar-beitnehmern erhalten, die vergleichbare Tätigkeiten aus-üben. Dies, meine Damen und Herren, müssen wir auchberücksichtigen, und genau dies ist auch der Grund,warum eine Regulierung in diesem Bereich notwendigist und bleiben wird.
Zeitarbeitsfirmen vermitteln Arbeitskräfte, die einenhohen Einsatz an Mobilität, an Flexibilität und anDr. Thea Dückert
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Bereitschaft dokumentieren, auch dadurch, daß sie ge-ringere Löhne in Kauf nehmen.
Das bedeutet aber auch, daß wir nicht hinnehmen kön-nen, daß diese hohe Mobilität ausgenutzt wird,
indem sie langfristig zu Arbeitnehmerinnen und Arbeit-nehmern zweiter Klasse gemacht werden.
Wir können hier keinen Markt eröffnen, der dieseArbeitnehmer auf lange Frist in ungeschützteren Ar-beitsverhältnissen läßt. Deswegen ist Ihr Antrag, dieVerleihdauer auf drei Jahre auszudehnen, hochproble-matisch, sozialpolitisch problematisch, aber auch be-schäftigungspolitisch überhaupt nicht einsichtig, weilnatürlich ein Arbeitgeber nach einem Jahr längst erken-nen kann, ob er diesen Beschäftigten in ein Langzeit-arbeitsverhältnis übernehmen kann. Das bedeutet auchfür die Beschäftigten einfach eine Schlechterstellung,die langfristig überhaupt nicht hinzunehmen ist.Außerdem: Die Statistiken sprechen dafür, daß dieseArbeitsverhältnisse in der Regel nur drei bis sechsMonate dauern. Das heißt, Sie argumentieren hier mitdiesen Forderungen an der Realität vorbei.Meine Damen und Herren, die Zeitarbeitsbranche istin Bewegung; das wissen wir. Es fehlt ihr immer nochan Transparenz, aber es gibt Entwicklungen. Der Bun-desverband der Zeitarbeitsfirmen wird immer größer.
Ich sagte es eingangs: Es gibt positive Entwicklungen,zum Beispiel mit Tarifverträgen, wie sie in Hannoverzur EXPO mit der Firma Adecco abgeschlossen wordensind.
Meine Damen und Herren, aber das heißt noch langenicht, daß es in irgendeiner Weise arbeitsmarktpoliti-schen Sinn macht, das Synchronisationsverbot aufzu-heben, wie Sie es hier fordern. Ich habe den Eindruck,Herr Meckelburg, Sie haben noch nicht einmal kapiert,worum es dabei geht.
Sie haben sich hier hingestellt und gesagt, das Synchro-nisationsverbot würde verhindern, daß Arbeitnehme-rinnen und Arbeitnehmer ein Anschlußarbeitsverhältnisbekommen. Gerade das Gegenteil ist doch der Fall. Da-durch, daß hier verhindert wird, daß eine Politik des„hire and fire“ betrieben wird, und die Arbeitnehmerweiterhin den Zeitarbeitsfirmen zur Verfügung stehen,kümmern sich diese Firmen auch um die Weiterbe-schäftigung. Das heißt, die Chance bzw. die Wahr-scheinlichkeit, daß sie ein Anschlußarbeitsverhältnis be-kommen, ist größer und über das vorgesehene Synchro-nisationsverbot stärker abzusichern als über jede andereRegelung.In Ihrem Gesetzentwurf findet sich darüber hinaus einvöllig sachfremdes Argument zur Begründung der Auf-hebung des Synchronisationsverbotes. Deswegen glaubeich weiterhin, daß Sie nicht einmal kapiert haben, wor-über Sie sprechen.
Da haben Sie geschrieben, das Synchronisationsverbotund auch befristete Arbeitsverträge würden verhindern,daß in den Unternehmen Arbeitnehmer, die in den Er-ziehungsurlaub gehen, durch einen einzigen Leiharbeiterersetzt werden, weil die Befristung der Arbeitsverträgezu kurz sei. Das ist doch alles Humbug. Wer hindertdenn, wenn jemand in den Erziehungsurlaub geht, einenArbeitgeber daran, ein befristetes Arbeitsverhältnis ab-zuschließen? Kurz und krumm, Sie wollen hier letztenEndes eine Regelung wieder einführen, die beschäfti-gungspolitisch keinen Sinn macht,
die das Risiko auf die Arbeitnehmer abwälzt und dendiesbezüglichen Firmen überhaupt kein unternehmeri-sches Risiko zugesteht. Das, denke ich, ist der falscheWeg.Gleichwohl wird an der Problematik der Synchroni-sation ein wichtiger arbeitsmarktpolitischer Problembe-reich aufgespießt. Dies umfaßt die Fragestellung: Waspassiert mit Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern zwi-schen zwei Jobs? Der Arbeitsmarkt ist hochflexibel undweist Bewegung auf, da die Menschen immer häufigerzwischen Jobs wechseln müssen. Dies betrifft geradeauch diejenigen, die bei Zeitarbeitsfirmen arbeiten.Es wäre ein von Ihnen nach vorne gewandter Vor-schlag gewesen, dieses Thema so aufzugreifen, wie dasbeispielsweise die gemeinnützigen Zeitarbeitsfirmentun, nämlich einmal darüber nachzudenken, ob wir dieSynchronisation bei den Zeitarbeitsfirmen nicht mit ei-nem Qualifikationsangebot an Arbeitnehmerinnen undArbeitnehmer verbinden können, beispielsweise über dieBundesanstalt für Arbeit. Das heißt, daß wir das flexibleInstrument der Arbeitsvermittlung mit einer Qualifika-tion im Sinne einer zusätzlichen Unterstützung, auf denersten Arbeitsmarkt zu gelangen, verbinden.
Kollegin Dückert,Kollegin Luft möchte noch eine Zwischenfrage stellen.Sie haben die Chance, Ihre Redezeit, die Sie schondeutlich überschritten haben, noch ein bißchen zu ver-längern.
Dr. Thea Dückert
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5294 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 59. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Oktober 1999
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Ich danke Ihnen, Herr Präsident. – Bitte, Frau Luft.
Frau Kollegin Dückert, Sie
haben ein Hohelied auf die Zeitarbeit gesungen und be-
tont, damit müßten Lohnabstriche in Kauf genommen
werden. Ich möchte Sie fragen, welchen Resonanzboden
diese Thesen wohl in den neuen Bundesländern finden
werden, wo heute die Masse der Arbeitsplätze in der
freien Wirtschaft nicht mehr tarifgebunden ist und wo es
– insbesondere in Thüringen – Stundenlöhne in Höhe
von 8 DM brutto gibt. Ich kann mir schlechterdings
nicht vorstellen, daß dies für die neuen Bundesländer ein
guter Weg ist. Dort herrscht eine Arbeitslosigkeit von
offiziell 17 Prozent. Das heißt, gerade den neuen Bun-
desländern müßten wir im Rahmen dieser Debatte eine
Perspektive anbieten.
Frau Luft, Sie sprechen einen wichtigen Bereich an. Ich
habe nicht dafür plädiert, daß wir, wie die CDU/CSU
das fordert, die Schranken so verändern, daß die Mög-
lichkeit des Lohndumping eröffnet wird. Aus Diskus-
sionen mit Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, die
nur über Zeitarbeitsfirmen zu Beschäftigung gekommen
sind und keine andere Chance gehabt hatten, weiß ich,
daß die von mir dargestellte flexible Form der Arbeits-
vermittlung weiter aufgegriffen werden muß.
Wir müssen von der sehr rückwärtsgewandten, ideo-
logischen Diskussion wegkommen, die davon geprägt
ist, daß über die Bundesanstalt für Arbeit, das heißt über
staatliche Einrichtungen, eine Arbeitsvermittlung erfol-
gen sollte. Wir müssen verschiedene Elemente wählen
und müssen sie tarifvertraglich absichern; das habe ich
vorhin schon gesagt. Der Weg, den beispielsweise
Adecco bei der EXPO gegangen ist, ist einer, den man
sehr viel intensiver verfolgen sollte. Dieser bringt die
Beschäftigten in tarifvertraglich gebundene, mit Qualifi-
kationsprogrammen versehene Arbeitsverhältnisse, die
ihnen den Einstieg in den ersten Arbeitsmarkt eröffnen.
Meine Damen und Herren, ich weiß, ich muß jetzt
zum Schluß kommen.
Aber ganz schnell.
Wir werden diesen Weg weiterverfolgen, aber nicht im
sozialpolitischen Niemandsland enden.
Ich danke Ihnen.
Das Wort hat nun die
Kollegin Heidi Knake-Werner, PDS-Fraktion.
Herr Präsident!Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich denke, Zeitarbeitbewirkt sicherlich viel. Ein Beitrag zum Abbau der Ar-beitslosigkeit ist sie ganz bestimmt nicht. Schon wäh-rend der Regierungszeit der CDU/CSU und F.D.P. hatsich Deregulierung beschäftigungspolitisch in der Re-gel als Flop erwiesen. Insofern ist der Weg der Deregu-lierung genau der falsche Weg.
Nach meiner Auffassung gehört Leiharbeit immernoch zu einem düsteren Kapitel des Arbeitsmarktes inder Bundesrepublik. Wer die Leiharbeit heutzutage nochausweiten möchte, muß wissen, was dann passiert. Dasbedeutet noch mehr Sozialdumping, einen noch größe-ren Druck auf das Tarifgefüge und das Lohnniveau ins-gesamt sowie schließlich eine Entwicklung in den Be-trieben mit olympiareifen Kernmannschaften und Rand-belegschaften, die nach Belieben geheuert und gefeuertwerden können. Diese Entwicklung möchte die PDSnicht.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU,mit Ihrem Gesetzentwurf erreichen Sie doch nur eines:Den Zeitarbeitsfirmen wird es erleichtert, mit dem Ver-leih von Menschen Geld zu machen. Sie mögen dieswollen. Wir wollen das einschränken.
Aus der Sicht der PDS gibt es überhaupt keinenGrund, Leiharbeit zu fördern. Die Zeitarbeit boomtnämlich schon unter den gegenwärtigen gesetzlichenBedingungen. Entsprechende Zahlen sind hier schon ge-nannt worden. Es gibt mehrere tausend Zeitarbeitsfir-men. Im vergangenen Jahr waren mehr als eine halbeMillion Menschen bei Leiharbeitsfirmen beschäftigt. Inden letzten fünf Jahren hat in diesem Bereich eine Ver-doppelung dieser Zahl stattgefunden. Das zeigt offen-sichtlich, daß die gegenwärtige Gesetzeslage eine wir-kungsvolle Nutzung des Instruments der Arbeitneh-merüberlassung in keiner Weise behindert. Das Gegen-teil ist der Fall.
Die Beantwortung der Frage, ob Zeitarbeit wirklichein Sprungbrett in einen festen Job darstellt, bleibt nachwie vor im Bereich der Spekulation. DiesbezüglicheZahlen gibt es nicht. Diese Vorstellung aber ist dasHauptmotiv für viele Menschen, sich auf die miesen Be-dingungen der Zeitarbeit einzulassen. Diesen Menschennoch mehr Deregulierung zuzumuten, bedeutet für sieleider überhaupt keine Alternative.Leiharbeiterinnen und Leiharbeiter werden heute zuweit schlechteren Arbeitsbedingungen beschäftigt als ih-
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re Kolleginnen und Kollegen, die feste Arbeitsverträgehaben. Ihr Einkommen liegt deutlich unter dem tarifver-traglicher Beschäftigung. Die Zahlung eines um 20 Pro-zent geringeren Einkommens – diese Zahl ist hier schongenannt worden – ist für die meisten Zeitarbeitsfirmendie Regel. Selbst in dem jetzt im Rahmen der EXPO2000 abgeschlossenen Tarifvertrag liegen die Brutto-stundenlöhne zwischen 13,50 DM und 26 DM. Das istwahrlich nicht üppig. Im Gegenteil: Hier findet eineFestschreibung von Niedriglöhnen in diesem Bereichstatt.
Selbst der Geschäftsführer der Adecco gibt dies zu. Erspricht von schwarzen Schafen unter den Zeitarbeitsfir-men, die heute immer noch Stundenlöhne von wenigerals 10 DM zahlen.Liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU,Sie wollen diese Entwicklung befördern. Wir wollen,daß das Sozialdumping in diesem Bereich endlich ge-stoppt wird. Wir wissen: Leiharbeit ist in der Bundesre-publik heute eine feste Größe. Aber gerade deshalb ist eswichtig, daß nicht weniger, sondern mehr Sozialstan-dards in diesem Bereich durchgesetzt werden. Die Uni-on aber will genau das Gegenteil. Das machen wir nichtmit.
Mehr als die Hälfte der bei Leihfirmen Beschäftigtenhaben ein tatsächliches Arbeitsverhältnis von einer Dau-er zwischen einer Woche und drei Monaten. Zehn Pro-zent dieser Beschäftigten arbeiten weniger als eine Wo-che bei diesen Leihfirmen.Stellen Sie von der CDU/CSU sich einmal vor, waspassieren würde, wenn Ihr Vorschlag, daß Leiharbeit-nehmerinnen und –arbeitnehmer nur für die Dauer ihrerersten Verleihung eingestellt werden können, ange-nommen würde. Das führt zu einem Heuern und Feuernim Bereich der Leiharbeit ohne Ende. Auch das ist füruns nicht hinnehmbar. Die Verlängerung der Verleih-dauer auf drei Jahre hat zur Folge, daß Arbeitnehmer indiesem Bereich noch länger unter Druck gesetzt werdenkönnen, schlecht bezahlte, mit miesen Arbeitsbedingun-gen und unzureichendem Arbeitsschutz ausgestatteteJobs akzeptieren zu müssen.Sie sollten einmal in Ihren eigenen Bericht über dieWirkungen von Arbeitnehmerüberlassungen schauen,liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU.Darin haben Sie selber festgestellt:Leiharbeitnehmer wagen nur selten, sicherheitswid-rige Arbeitsbedingungen anzuzeigen, weil sie hof-fen, bei einem Wohlverhalten einen Dauerarbeits-platz zu erhalten.Das ist genau die Realität. Diesen Druck sollten wirnicht erhöhen.
– Nein, das ist nicht Ideologie, sondern einfach Realität,lieber Herr Kollege Kolb.Ich sage Ihnen in aller Deutlichkeit: Alles in allemwird das Instrument der Leiharbeit schon heute viel zuhäufig mißbraucht, um tarifliche und soziale Standardsauszuhebeln. Das muß unbedingt anders werden. Darumsetzt sich die PDS dafür ein, daß mit einer Reform desBetriebsverfassungsgesetzes auch Leiharbeiter zurBelegschaft desjenigen Betriebes gezählt werden, an densie ausgeliehen werden, und daß sie zum Vertretungsbe-reich der Betriebsräte gehören. Das halten wir für denrichtigen Weg.Lassen Sie mich noch eine letzte Bemerkung machen.
Die allerletzte.
Ja. – Daß sich
Unternehmer mit dem Verleih von Menschen eine gol-
dene Nase verdienen, zeigt der erste erfolgreiche Bör-
sengang einer Leiharbeitsfirma. Die Beschäftigten sol-
chen Firmen schutzlos zu überlassen liegt nicht im In-
teresse der PDS.
[Beifall bei der PDS – Ulrich Heinrich
[F.D.P.]: Wer soll denn das Geld verdienen,
das Sie umverteilen wollen?)
Das Wort hat nun
Kollege Franz Thönnes, SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolle-ginnen und Kollegen! Wenn wir über dieses wichtigeThema der Zeitarbeit in der Arbeitswelt sprechen, dannmüssen wir zunächst versuchen, uns gemeinsam darüberim klaren zu sein, daß sich die Arbeitswelt vor demHintergrund des internationalen Wettbewerbs, des tech-nologischen Wandels und der kürzeren Phasen von Pro-duktinnovationen in einem rasanten Tempo verändert.Klarheit muß auch darüber herrschen, daß es den Jobfürs Leben nicht mehr gibt.
Alle haben sich auf diese Situation einzustellen undmüssen darauf ihre politischen Ziele ausrichten.Wir müssen außerdem feststellen, daß sich bei denMenschen die Ausdifferenzierung von Interessen wei-terentwickelt, daß die Individualität weiter zunimmt unddaß neue Formen der Betriebs- und Unternehmensorga-nisation Platz greifen. Das heißt aber auch: Wenn maneine vernünftige und seriöse Arbeitsmarktpolitik machenwill, dann darf man nicht nur einseitig Unterneh-mensinteressen im Auge haben, sondern man muß auchan die Interessen der Arbeitnehmerinnen und Arbeit-nehmer hinsichtlich eines guten sozialen Gefüges den-ken.
Es ist völlig richtig: Die Zeitarbeitsbranche hat in denletzten Jahren eine enorme Entwicklung durchgemacht.Es ist schon die Zahl von 220 000 Beschäftigten genanntDr. Heidi Knake-Werner
Metadaten/Kopzeile:
5296 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 59. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Oktober 1999
(C)
worden, die 1999 in dieser Branche gearbeitet haben.Das heißt aber im Klartext – diese Zahl ist überhauptnoch nicht genannt worden –, daß 360 000 Arbeitneh-mer in diesem Bereich zirkulieren. Diese Tatsache un-terstützt nicht unbedingt die Aussage, daß hier feste Ar-beitsplätze entstehen. Es ist vielmehr ein Markt, der inständiger Bewegung ist.
Dies muß der Klarheit halber gesagt werden.Man muß an dieser Stelle aber auch den Bericht deralten Bundesregierung zur Kenntnis nehmen. In diesemBericht wird deutlich gesagt: Alle Erfahrungsberichtezeigen: Diese Branche hat nur geringen Einfluß auf denallgemeinen Arbeitsmarkt. – Man sollte deswegen in derDiskussion ein bißchen mehr für Klarheit und Wahrheitsorgen und nicht gleich über Hunderttausende von Be-schäftigten reden, die in der Zukunft dort arbeitenwerden. Die Branche selbst rechnet im Jahr 2 000 mit250 000 Beschäftigten. Das wäre eine Steigerung von30 000 und ist daher wert, daß man sich ernsthaft mitdiesem Thema auseinandersetzt.Man sollte aber auch ein bißchen darauf schauen,welche Qualifikationen sich hinter diesen Tätigkeitenverbergen. In diesem Zusammenhang muß man fest-stellen: Es gibt 25 Prozent Hilfskräfte in diesem Bereichgegenüber 0,9 Prozent Hilfskräfte in der Gesamtwirt-schaft. Wer über Zeitarbeit spricht, der muß berücksich-tigen – die Vorredner aus meiner Fraktion haben diesenPunkt schon erwähnt –, daß Beschäftigung und Qualifi-zierungspotentiale zusammengehören. Diese Tatsacheblenden Sie aber leider völlig aus.
Lassen Sie uns nun darüber sprechen, welche Vorteiledie Unternehmen haben. Diese Vorteile will keiner ge-ringschätzen. Es geht darum, unvorhergesehenen Ar-beitsanfall leichter erledigen zu können, Urlaubsvertre-tungen zu besetzten und saisonale Spitzen abzudecken.Man sollte aber auch zur Kenntnis nehmen, was derBundesverband für Zeitarbeit auf der Basis eines Gut-achtens des Instituts für Wirtschaft und Gesellschaftsagt: Die Inanspruchnahme von Leiharbeitnehmern istnur selten Bestandteil langfristig angelegter Personalpo-litik. – Also erwecken Sie bitte nicht den Eindruck, alswürden dort langfristig organisierte neue Arbeitsplätzeentstehen.
Es geht darum, Spitzen aufzufangen und Engpässe zubewältigen. Dies sagt selbst der entsprechende Fachver-band. Gehen Sie nicht über dessen Interpretationen hin-aus!Damit können auch Sie die Frage, ob die Arbeitslo-sigkeit dadurch in einem großen Maße reduziert werdenkann, nicht so einfach beantworten, weil keiner von unsweiß – aber Vermutungen sprechen an vielen Stellen da-für –, ob nicht die Kernbelegschaft der Betriebe redu-ziert wird, ob nicht outgesourct wird, so daß die Be-schäftigungspotentiale am Ende den Zeitarbeitsfirmenzugute kommen. Deswegen bitte ich Sie, mit etwas mehrZurückhaltung und Glaubwürdigkeit über das Thema zureden. Sonst verrennen Sie sich beim Komplex der Ar-beitslosigkeit.
Welche Position haben die Arbeitnehmerinnen undArbeitnehmer in diesem Gefüge? Zeitarbeit kann für dieArbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer eine große Chan-ce sein, wieder in den Arbeitsmarkt hineinzukommen.Sie erweitert den Horizont, weil man mehrere Ar-beitstechniken, mehrere Arbeitsfelder kennenlernt. DieEinsatzmöglichkeiten sind vielfältig. 30 bis 50 Prozentfinden am Ende einen Job beim Entleiher, weil sie sichdort eingegliedert haben. Und – auch diese Zahlen müs-sen wir zur Kenntnis nehmen –: Mehr als 60 Prozent derZeitarbeitnehmer waren vorher arbeitslos, 43 Prozentsogar länger als ein Jahr.
Das heißt, Zeitarbeit kann zur Wiedereingliederungbeitragen.Aber Sie müssen auch deutlich sagen: Wo Licht ist,ist auch immer Schatten.
Reden wir nun ein bißchen über den Schatten, den Sieauszusparen versuchen.
– Mein lieber Herr Kolb, daß Sie sich als Vertreter einerPartei, die in der Vergangenheit immer auf Leihstimmender CDU/CSU angewiesen war, beim Thema Leiharbeitmit Zurufen besonders hervortun, verstehe ich ja. DaßSie das mittlerweile aber, wie bei der Landtagswahl inThüringen, so weit treiben, daß Ihr LandesvorsitzenderIhre Stimmen gleich der CDU überläßt, das allerdingshalte ich für ein Ding der Unmöglichkeit.
– Wenn Sie mit den Zwischenrufen sachlich bleiben, re-den wir weiter über die Situation der Arbeitnehmer.Diese Arbeitnehmer haben nicht, wie viele andereBeschäftigte, die Möglichkeit, kollegiale Kontakte inden Unternehmen aufzubauen. Das Betriebsgefüge ist insozialer Hinsicht für sie anders als für die anderen Ar-beitnehmer. Das widerspricht im übrigen den modernenUnternehmensphilosophien, die auf Corporate IdentityWert legen.Franz Thönnes
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Der Bericht der Bundesregierung besagt: Das Lohn-niveau ist teilweise auf das Niveau von 1991 zurückge-fallen. Die Bundesanstalt für Arbeit schreibt: Das Lohn-niveau bei Leiharbeitnehmern, die zu gewerblichenHilfsarbeiten überlassen werden, ist nicht selten so weitgesunken, daß Verleiher den Übergangspreis niedrigergestalten können, als Entleiher für die Lohn- und Lohn-nebenkosten ihrer Arbeitnehmer kalkulieren können.Diese Ungleichgewichte müssen Sie doch einmal zurKenntnis nehmen. Man kann nicht auf das Schiff Lei-harbeit springen und dabei vergessen, daß Arbeitnehme-rinnen und Arbeitnehmer am Ende unter Dumpinglöh-nen leiden müssen.
– Nein, ich will überhaupt kein Totschlagargument brin-gen. Wir müssen uns darüber unterhalten, wie wir dieseBedingungen verbessern können und wie wir vermeidenkönnen, daß die nachgewiesenen Lohndefizite 10 bis 40Prozent betragen. Das alles beruht auf Daten, die stati-stisch erfaßt sind. Sie wissen doch ganz genau, daß dasArbeitnehmerüberlassungsgesetz genaue Berichtevorschreibt. Es geht darum, dies zur Kenntnis zu neh-men.
Dann kommen Sie mit dem Argument von Tarifver-trägen. Ja, wo gilt denn der Tarifvertrag? Wo habenwir denn eine Situation wie in Holland? Von 1985 und1989 gab es einen Tarifvertrag mit der Deutschen Ange-stellten-Gewerkschaft. Der ist aufgekündigt, ist nichtverlängert worden. Man findet heute drei, vier einzelbe-triebliche Tarifverträge. Das heißt, den Schutz, den es inanderen Ländern gibt, finden wir in Deutschland nicht.Deswegen gilt es, den Dialog über die Frage, die Siediskutieren wollen, gemeinsam mit Gewerkschaften undArbeitgebern zu führen.
Ich kann den Kollegen Brandner nur unterstützen inder Auffassung, daß wir uns auch über den Begriff desBetriebes Gedanken machen müssen, daß wir uns überdie Einflußmöglichkeiten der Betriebsräte Gedankenmachen müssen, daß wir uns über die Benachteiligungin bezug auf die Interessenvertretung Gedanken ma-chen müssen, unter der Arbeitnehmerinnen und Arbeit-nehmer in Zeitarbeitsunternehmen leiden, weil sieschlichtweg nicht die gleichen Mitbestimmungs- undInteressenvertretungsmöglichkeiten haben wie die ande-ren Arbeitnehmer.
Nun komme ich zu einem ganz brisanten Thema, dasmich bei der Lektüre sehr erstaunt hat. Im Bericht derBundesregierung steht: Leiharbeitnehmer werden öfterzu Tätigkeiten herangezogen, bei denen hohe Schutzan-forderungen zu beachten sind oder deren Ausführungenbei der Stammbelegschaft unbeliebt sind. Leiharbeit-nehmer sind erfahrungsgemäß wegen des häufigerwechselnden Einsatzortes größeren Gefahren ausgesetztals andere Arbeitnehmer. Man stellt häufigere Verstößegegen den Arbeitnehmerschutz, häufigere Verstöße ge-gen Arbeitgeberpflichten zum Arbeitsschutz fest. Manstellt ebenso fest, daß die Probleme des Arbeitsschutzesfür Leiharbeitnehmer in den letzten Jahren zugenommenhaben.Diese Ausführungen stammen nicht von mir, sondernvom Bayerischen Staatsministerium für Arbeit- und So-zialordnung, Familie, Frauen und Gesundheit; daher istes hier an dieser Stelle unverdächtig. Das gleiche sagtsogar der Bundesverband für Zeitarbeitsunternehmen,der seine Aktivitäten für die Arbeitssicherheitspolitik inden letzten Jahren verstärkt hat.Es bleibt dennoch dabei: Jeder vierte Betrieb im Be-reich der Zeitarbeitsunternehmen ist bei den jährlichenÜberprüfungen mit einem Bußgeldverfahren belegtworden. Wir müssen uns doch darüber Gedanken ma-chen, warum das so ist. Es geht hier nicht um einigeschwarze Schafe, sondern es geht um 25 Prozent.Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn wir über Ih-ren Gesetzentwurf reden, müssen wir uns seine Kern-punkte ansehen. Die Befristung haben wir schon einmal,nämlich von neun auf zwölf Monate, verlängert. Auchder Bericht der Bundesregierung hat über die vorherigenVerlängerungen gesagt, daß sie nicht zu längeren Be-schäftigungszeiträumen in diesem Bereich geführt ha-ben. 11 Prozent der Arbeitsverhältnisse dauern wenigerals eine Woche. 57 Prozent dauern eine Woche bis dreiMonate, und 32 Prozent drei Monate und länger.Eines kommt noch hinzu: Zweieinhalbmal pro Jahrwird die durchschnittliche Beschäftigtenzahl im Ver-leihgewerbe umgeschlagen. Das ist siebenmal höher alsin der Gesamtwirtschaft.
Reden Sie bitte nicht über „diese festen Arbeitsplätze“.Ich will als Argument akzeptieren, daß man sagt: Zeitar-beit kann ein Sprungbrett in Beschäftigung hinein sein,und sie verhindert, daß man zu Hause sitzt und einemdie Decke auf den Kopf fällt. Man darf das aber nicht zuhoch stilisieren und so tun, als ließe sich Arbeitslosigkeitso in feste Arbeitsplätze umwandeln.Wenn ich Ihren Gesetzentwurf bewerte, dann muß ichfeststellen, daß die Streichung des Verbots der wie-derholten Befristung nicht zu einer wesentlich größe-ren Möglichkeit, Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmerzu beschäftigen, führt. Im übrigen sage ich Ihnen: Siewissen ganz genau, daß am 31. Dezember die Fristfür die Befristung nach dem Beschäftigungsförde-rungsgesetz ausläuft und die Entscheidung darüber,wie wir mit Befristungen umgehen werden, neu ansteht.Das muß doch im Gesamtzusammenhang diskutiertwerden.Franz Thönnes
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5298 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 59. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Oktober 1999
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Wenn man die Streichung der gesetzlichen Wieder-einstellungssperre und die Zulassung der befristetenArbeitsverhältnisse addiert, dann führt das unweiger-lich dazu – „hire and fire“ und Kapovaz sind genanntworden –
– hören Sie doch zu; ich habe gesagt: sie sind genanntworden –, daß ein anderes Beziehungsverhältnis zwi-schen dem Arbeitgeber und dem Arbeitnehmer entsteht,daß es nicht die soziale Verpflichtung des Arbeitgebersgibt, den Arbeitnehmer bei nicht vorhandenen Aufträ-gen weiterzubeschäftigen, und dann kann es wirklichdazu kommen, daß das Beschäftigungsrisiko einzig undallein auf den Arbeitnehmer verlagert wird. Das werdenSie mit uns nicht hinbekommen, das machen wir nichtmit. Rechte und Pflichten sind von beiden Seiten zutragen.
Es ist schlitzohrig – das sage ich Ihnen –, den Begriffdes Tarifvertrags als sogenannte Schutzvoraussetzunghineinzuschreiben, wissend, daß es ihn für diesen großenBereich überhaupt nicht gibt. Das darf man nicht ma-chen, das ist Blendwerk. Man kann Sachen nicht einfachherbeireden, die überhaupt nicht vorhanden sind. WennSie sie herausgelassen hätten, wäre es wenigstens ehr-lich gewesen, so aber erwecken Sie den Eindruck, daßauch noch ein Deckmantel darüber gelegt und den Ar-beitnehmerinnen und Arbeitnehmern Schutz vorgegau-kelt werden soll. Aber selbst wenn es so wäre, muß ichIhnen deutlich sagen: Sie wissen ganz genau – Sie,Kollege Laumann, haben nach dem Experten gefragt –,daß der Tarifvertrag nur für die Arbeitnehmer gilt, dieArbeit haben, und nicht für die, die keine haben. Er hatmit der Zahlung von Beiträgen in die Arbeitslosenversi-cherung, mit Arbeitslosengeld und Arbeitslosenhilfenichts zu tun. Deswegen trägt Ihr vorliegender Gesetz-entwurf am Ende mit dazu bei, daß dieses Risiko nichtnur den Arbeitnehmern, sondern der Gesamtheit derBeitragszahler, also auch den Arbeitgebern, die ordentli-che Arbeitsverhältnisse abgeschlossen haben, überlassenwird. In diese Situation haben Sie uns mit Ihrer Politikin den letzten 16 Jahren schon lange genug hineingerit-ten. Wir wollen keinen weiteren Anstieg der Lohn-nebenkosten, auch nicht der Beiträge zur Arbeitslosen-versicherung.
Ich betone auch: Über den Kern Ihres Gesetzentwurfszu diskutieren lohnt sich. Aber er muß aufgepeppt undmit Erfahrungsberichten verglichen werden. Sie wissenganz genau: 1996 gab es den letzten Erfahrungsbericht.Die Bundesregierung gibt alle vier Jahre einen solchenBericht heraus. Im Jahr 2000 steht der nächste an. Wirwerden die Erfahrungen der Gewerkschaften und derZeitarbeitsunternehmen, die abgefragt werden, in dieBeratungen einbeziehen. Wir werden keine Schnell-schüsse wie Sie machen. Wir werden gute handwerkli-che Arbeit leisten,
wenn es um die Reform der Arbeitsförderung geht. Diejetzt diskutierte Frage wird dann auch eine Rolle spielen.Lassen Sie sich von unserer guten handwerklichen Ar-beit überraschen! Wir werden keine Flickschusterei be-treiben, wie Sie sie uns in der Arbeitsmarktpolitik hin-terlassen haben.
Das Wort hat
jetzt der Kollege Laumann.
Frau Präsiden-tin! Meine Damen und Herren! Die Debatte am heutigenMorgen hat zumindest einen neuen Aspekt gebracht,Herr Thönnes, nämlich daß Sie jetzt gute handwerklicheArbeit leisten wollen. Dies ist in der heutigen Diskussi-on um die Arbeits- und Sozialpolitik wirklich etwasNeues,
wenn man bedenkt, daß sich die Gesetze zur Neurege-lung der 630-DM-Jobs und zur Bekämpfung der Schein-selbständigkeit gerade nicht durch gute handwerklicheArbeit auszeichneten.
– Wenn man hier von handwerklicher Arbeit gesprochenhätte, dann wäre dies eine Beleidigung für jeden Hand-werker gewesen. – Deshalb finde ich es toll, wenn Sieheute sagen, daß Sie zu einer soliden Gesetzgebungsar-beit zurückkehren wollen. Dies ist erst einmal etwas Po-sitives und Neues.
Über den nächsten Punkt muß man eigentlich nach-denklich werden. Heute haben die Redner aller Fraktio-nen – wenn man von der PDS einmal absieht – daraufhingewiesen, daß sich die Bedingungen der Leiharbeitin Deutschland in den letzten zehn Jahren stark verän-dert haben. Auch ich habe vor zehn Jahren Leiharbeit alseine Form der Arbeit betrachtet, der man nicht ganztrauen könne. Auch ich habe viele Bedenken gehabt.Damals waren im Bereich der Leiharbeit viele Firmentätig, die sich damit besser nicht beschäftigt hätten. Die-se Firmen haben überhaupt keine moralischen Ansprü-che an ihre Tätigkeit gestellt. Aber dies hat sich in denletzten zehn Jahren maßgeblich verändert. Es gibt jetztsehr viele grundsolide Verleihfirmen.Franz Thönnes
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Die großen Veränderungen auf dem Arbeitsmarktsind ja nicht zufällig entstanden; vielmehr sind sie ent-standen, weil sie notwendig waren. Wenn Sie sich heutein einem Betrieb, der im Anlagenbau tätig ist, umschau-en, dann wird man Ihnen dort sagen, daß die Zeitspannezwischen Auftragseingang und Auftragserlediung immerkürzer wird. Wenn wir nicht wollen, daß die dadurchentstehende Mehrarbeit über Überstunden geleistet wird,dann müssen wir es als etwas ganz Normales akzeptie-ren, daß Betriebe die Dienstleistungen einer Firma fürden Verleih von Zeitarbeitnehmern in Anspruch neh-men.Wenn die Arbeit der Verleihfirmen mit Vorsicht zugenießen ist, dann ist es richtig, neben dem normalenArbeitsrecht, das für jeden Arbeitgeber in Deutschlandgilt, auch zukünftig das Arbeitnehmerüberlassungsge-setz zu haben. Daran wollen auch wir von derCDU/CSU nichts ändern. Aber wir meinen, daß aufGrund der Entwicklung der Zeitarbeit in Deutschlandder Zeitpunkt gekommen ist, die Fesseln, die durch dasArbeitnehmerüberlassungsgesetz angelegt worden sind –damals sicherlich aus guten Gründen, weil es so vieleschwarze Schafe in dieser Branche gab –, ein bißchen zulösen.
Herr Kollege
Laumann, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kolle-
gen Dreßen?
Ja, gerne.
Kollege Laumann, Sie haben
gerade behauptet, daß die Leiharbeitsfirmen grundsolide
geworden seien.
Meinen Sie nicht, daß auch in solchen Betrieben ge-
werkschaftlichen Rechten Geltung verschafft werden
müßte und Betriebsräte zugelassen werden müßten?
Sind Sie nicht der Meinung, daß die Arbeitgeber auch
für diesen Bereich einen Tarifvertrag schließen müßten?
Würden Sie, auch wenn dies alles nicht vorhanden ist,
trotzdem sagen, daß diese Firmen grundsolide sind? Ich
sehe eine gewisse Schwierigkeit darin, hier eine Solidi-
tät zu akzeptieren, wenn bestehende Gesetze nicht ein-
gehalten werden; denn im Betriebsverfassungsgesetz
heißt es ja, daß auch der Arbeitgeber den Betriebsrat
fördern und einsetzen soll.
Kollege Dreßen,ein Betriebsrat ist etwas Vernünftiges und Gutes. Dasgehört zu einer Firma dazu.
Unternehmer, die die Bildung von Betriebsrätenverhindern, sind nicht gut beraten. Aber ich sage Ihnenauch: Die Welt ist so, wie sie ist. Wir können nicht er-warten, daß die Unternehmer die Betriebsräte gründen.Das müssen die Arbeitnehmer schon selbst machen. Da-bei müssen die Gewerkschaften die Arbeitnehmer unter-stützen; dafür sind sie da. Ich finde auch, es ist eineschöne Aufgabe für jeden Gewerkschaftssekretär, sich indiesem Bereich zu engagieren. Das ist vielleicht besser,als immer nur Parteipolitik zu machen.
Es ist natürlich klar, daß die Bildung von Betriebsrä-ten in Verleihfirmen, in denen die Menschen oft nur we-nige Wochen oder Monate beschäftigt sind, viel schwe-rer handhabbar und zu organisieren ist, als wenn manStammbelegschaften hat. Ich meine, da muß auch dieGewerkschaftsbewegung überlegen, wie man so etwasmachen kann. Das ist nicht nur die Aufgabe von Politik,erst recht nicht die von Unternehmern. Ich meine, dieArbeitnehmer sind heute so klug – sie sind gebildet undhaben Rückgrat –, daß sie es selbst durchsetzen können.
Jetzt wieder zurück zu dem eigentlichen Thema. Ichwar eben dabei, zu sagen, daß wir ein zusätzliches Ar-beitsrecht in diesem Bereich brauchen. Aber wir alsCDU/CSU sind der Meinung, daß wir es wegen derEntwicklung, die im Grunde niemand hier in Frage ge-stellt hat, verantworten können, dieses Recht zu lockern.Man steht bei Schutzrechten – auch bei diesemSchutzrecht – immer vor einer Abwägungsfrage. DasSchutzrecht ist immer gut für diejenigen, die im Systemsind. Als Politiker muß ich aber auch sehen: Wie schaffeich es, zu verhindern, daß andere, die gerne in dieses Sy-stem hinein wollen – in diesem Fall, weil sie arbeitslossind –, auf Grund übertriebener Schutzfunktionen keineChance haben, hier einzusteigen?Damit bin ich bei dem von Ihnen am meisten kriti-sierten Vorschlag, nämlich dem Vorschlag, das soge-nannte Synchronisationsverbot aufzuheben. Ich habemir darüber Gedanken gemacht. Natürlich ist es ein Ein-schnitt, wenn Sie den Verleihfirmen sagen, sie müßtennicht unbedingt eine anschließende Beschäftigung ga-rantieren. Das ist eine wesentliche Veränderung. Wirhaben diesen Vorschlag aber deswegen gemacht, weilwir glauben – auch auf Grund von Gesprächen, die wirmit Zeitarbeitnehmern und mit Betrieben, die es so ma-chen, geführt haben; wir haben über mehrere Tage auchGespräche in Holland geführt –, daß wir auf diese Weisevor allem Menschen, die sehr lange arbeitslos sind unddie angesichts dessen, wie der Arbeitsmarkt heute funk-tioniert, kaum eine Chance haben, wieder einzusteigen,die Möglichkeit geben, Arbeit zu finden. Deswegen ha-ben wir uns bei dieser Abwägung so entschieden.Ich meine, wir sollten über diese Frage auch so imAusschuß beraten. Vielleicht können wir dann Ihre Ide-en doch so anreichern, daß Sie ein Jahr später unter Ih-rem Briefkopf einen ähnlichen Gesetzentwurf einbrin-gen, den Sie dann durchsetzen könnten.Karl-Josef Laumann
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Ein weiterer Punkt ist folgender: Zeitarbeit hat auchetwas mit Vermittlung in den ersten Arbeitsmarkt zutun. 30 Prozent der Menschen, die bei Zeitarbeitsfirmenbeschäftigt sind, finden bei den Firmen, in die sie entlie-hen worden sind, ein unbefristetes Arbeitsverhältnis.Das heißt, daß die Zeitarbeit, die den Staat keine Markkostet, eine Brücke in den ersten Arbeitsmarkt auf jedenFall genausogut, wenn nicht sogar besser schafft, als esüber die Arbeitsverwaltung mit ABM und anderen Maß-nahmen gemacht wird.
Das sagen einem auch Menschen, die sehr lange ar-beitslos waren. Sie sagen: Mein größtes Problem ist, daßich in keine Firma, in kein Büro hineinkomme, um ein-mal zu beweisen, daß ich arbeitswillig bin, daß ichpünktlich bin und daß ich auch etwas leisten kann.Menschen haben auf diesem Wege die Möglichkeit,gerade dorthin zu kommen, wo eine gute Auftragslageist. Deswegen gibt es auch die guten Erfolge, daß 30Prozent in den ersten Arbeitsmarkt gehen. Deswegenwerden wir eine Vorschrift im Arbeitnehmerüberlas-sungsgesetz nicht ändern: daß nämlich jede Verleihfirmaauf jeden Fall einen Arbeiter gehen lassen muß – undzwar sofort –, wenn er ein unbefristetes Arbeitsverhält-nis gefunden hat. Das ist in diesem Bereich eine sinn-volle Schutzvorschrift. Deswegen sollten Sie überlegen,ob wir das Synchronisationsverbot nicht doch abschaf-fen können.Sie haben heute oft angesprochen, daß wir in diesemBereich tarifvertragliche Regelungen brauchen. Ja, wirbrauchen diese Regelungen, aber wie können wir siedurchsetzen? Ich glaube, wir können sie durchsetzen,wenn wir das Lösen von Fesseln, das uns durch das Ar-beitnehmerüberlassungsgesetz ermöglicht wird, daranbinden, daß es in diesem Bereich Tarifverträge und Ta-rifrecht gibt. Dann werden nämlich die Betriebe, die dieVorteile dieses Gesetzes nutzen wollen, ein großes In-teresse daran haben, daß sie zu tarifvertraglichen Ver-einbarungen für Entlohnung, Arbeitszeit und all dieseDinge gelangen. Diejenigen, die das nicht tun, werdendann die Vorteile dieses Gesetzes schlicht und ergrei-fend nicht nutzen können.Ich glaube, daß wir gerade damit einen Anreiz schaf-fen werden, in diesem Bereich endlich zu tarifvertrag-lichen Regelungen zu kommen. Das ist auch sehr deut-lich geworden, als wir mit einigen Kollegen aus der Ar-beitsgruppe der CDU/CSU in Holland waren: Man kanndie Zeitarbeit nur dann verantwortungsbewußt aus-weiten, wenn wir hier zu anderen, besseren tarifvertrag-lichen Regelungen kommen, so wie wir sie auch im er-sten Arbeitsmarkt haben. Zeitarbeit darf keine Zonesein, in der das Tarifrecht nicht gilt. Das ist auch inHolland nicht so. Im übrigen glaube ich nicht, daß dieZeitarbeit in Deutschland jemals eine so große Rollespielen wird wie in Holland. In Holland herrscht da eineganz andere Mentalität als bei uns; das muß man sehrwohl sehen.Ich bin auch der Meinung, Zeitarbeit muß nicht un-bedingt reguläre Beschäftigung ersetzen. Mir ist reguläreBeschäftigung in der Abwägung auf jeden Fall lieberund sympathischer – aber darum geht es nicht. Es gehtdarum, daß man die neue Entwicklung in der Arbeits-welt – von Auftragsvergabe bis -erledigung muß allesschneller fertig werden; ich nenne hierzu auch dasThema Überstunden – mit diesem Vehikel in den Griffbekommen kann. Es hat auch gute Entwicklungen imBereich von Menschen, die langzeitarbeitslos sind, ge-geben.Das Beeindruckendste für mich ist, wie viele Lang-zeitarbeitslose in Holland über Zeitarbeit in eine regulä-re Beschäftigung kommen. Das liegt auch daran, daß dasStigma der Langzeitarbeitslosigkeit bei der Zeitarbeitnicht vorhanden ist. Wenn ein Unternehmer fünfSchweißer braucht und sie über eine Leihfirma holt,schaut er sich deren Biographien – wann ist er zurSchule gegangen, wie lange hat er eine Lehre gemacht,wie hat er seine Gesellenprüfung bestanden – vorher garnicht an. Er hat Schweißer bestellt, und die müssen einebestimmte Schweißarbeit können. Wenn er sieht, daß ei-ner dieser Arbeitnehmer anschließend eine guteSchweißarbeit abliefert, und wenn er in seiner Firma aufDauer einen Schweißer mehr braucht und ihn auch stän-dig beschäftigen und bezahlen kann, dann stellt er ihnein. Ich glaube, das ist eine tolle Geschichte, wie sie sichpraktisch in der Arbeitswelt bei uns in Deutschland Tagfür Tag abspielt.Ich möchte zum Schluß um eines bitten. Die heutigeDebatte hat auch gezeigt, daß man bei der Einschätzungvon Zeitarbeit hier im Hause – die PDS ausgenommen –nicht weit auseinanderliegt. Wir sollten im Ausschuß fürArbeit und Sozialordnung sehen, ob die Regelungen alleso umsetzbar sind, wie wir sie vorgeschlagen haben. Ichgebe auch zu, daß wir – wie immer im Leben – nicht derWeisheit letzten Schluß gepachtet haben. Sie könnenÄnderungsanträge stellen. Ich finde, dann könnten wirzu einer vernünftigen Beratung in diesem Bereich kom-men. Wenn Sie am Ende Probleme damit haben, diesemAntrag zuzustimmen, weil „CDU/CSU“ draufsteht, kön-nen wir daraus auch ein „Interfraktionell“ machen; dannfällt es Ihnen leichter. Mir geht es nur darum, daß wirdie Möglichkeit nutzen sollten – es gibt ja nicht denKönigsweg aus der Arbeitslosigkeit –, eine Branche, derwir vor zehn Jahren – zu Recht – durch Gesetze engeFesseln angelegt haben, die aber in vielen Bereichenbewiesen hat, daß sie sich sehr positiv entwickelt hat,Schritt für Schritt in das normale Arbeitsrecht zu entlas-sen. Das ist das, was ich mir wünsche.Einen Satz noch zur PDS. Sie, Frau Knake-Werner,haben eben gesagt, die Deregulierung habe in Deutsch-land in die Irre geführt.
Ich kann nur sagen: Ihre Partei hat viel mit einem Staatzu tun, in dem alles reguliert war. Diese Regulierunghatte bei Ihnen zum Stillstand geführt. Deswegen warenSie nicht einmal mehr in der Lage, in Ihrem Land einegute Sozialpolitik zu finanzieren. Denn auch das gehörtKarl-Josef Laumann
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 59. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Oktober 1999 5301
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dazu: Wir können nur Sozialpolitik machen, wenn wirden Arbeitsmarkt im Griff haben, wenn Geld ver-dient wird, wenn Steuern und Beiträge gezahlt werden –dann können wir uns auch um die armen Leute küm-mern.Wenn Sie uns bei der Zeitarbeit unterstützen und dieArbeitsämter deswegen weniger Arbeitslosengeld aus-zahlen müssen, haben Sie vielleicht für Herrn Eichelauch einen Deckungsvorschlag, so daß Sie den Griff indie Pflegekasse von 400 Millionen DM nicht machenmüssen.Schönen Dank.
Ich schließe
damit die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf Drucksache 14/1211 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. – Ander-
weitige Vorschläge gibt es, soweit ich das sehe, nicht.
Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe jetzt Tagesordnungspunkt 15 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulrike
Flach, Ulrich Heinrich, Birgit Homburger, weite-
rer Abgeordneter und der Fraktion der F.D.P.
Chancen der Gen- und Biotechnologie nicht
verspielen
– Drucksache 14/1316 –
Der Verzicht auf die Bio- und Gentechnik würde be-
deuten, daß man diese Arbeitsplätze der Konkurrenz auf
dem Weltmarkt überläßt.
Herr Kollege
Heinrich, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Ja, bitte.
Herr Heinrich, Siehaben eben Zahlen dahin gehend genannt, wie viele Ar-beitsplätze in der Biotechnologie zu erwarten sind. Siehaben vorher von der Landwirtschaft gesprochen. Siewissen genauso wie ich, daß sich die Biotechnologieauch in der Medizin sehr auswirkt. Können Sie quantifi-zieren, wie sich die Biotechnologie in der Landwirt-schaft auswirkt? Können Sie sagen, ob es in der Land-wirtschaft, wenn man die Gesamtzahl der Arbeitsplätzebetrachtet, auf Grund der Umstellung der Methoden undder Industrialisierung der Landwirtschaft nicht vielleichtsogar weniger Arbeitsplätze geben wird?Karl-Josef Laumann
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5302 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 59. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Oktober 1999
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Ich kann das nicht quanti-
fizieren und auch keine genauen Zahlen angeben. Rich-
tig ist natürlich, daß im Moment die große Zahl der Ar-
beitsplätze auf den Arzneimittelbereich entfällt. Dieser
Einsatz der Biotechnologie wird in unserer Gesellschaft
bemerkenswerterweise – dort hat er direkt Einfluß auf
unsere Gesundheit – akzeptiert. Dies gilt auch für den
Lebensmittelbereich, zum Beispiel für die Käseproduk-
tion. Da redet doch kein Mensch von der Gentechnik,
und wir haben sie sozusagen jeden Tag auf dem Tisch.
Die Gefährdung der Arbeitsplätze ist weitaus größer,
wenn die Wettbewerbsfähigkeit verlorengegangen ist,
als wenn eine technische Entwicklung nicht vollzogen
wird.
Wir müssen uns darüber klar sein: 90 Prozent der deut-
schen Landwirte setzen ihre Produkte auf Märkten mit
internationaler Konkurrenz ab. Die Wettbewerbsfähig-
keit unserer Bauern ist deshalb mit dafür entscheidend,
ob wir der Konkurrenz standhalten können.
Wir brauchen natürlich auch in Zukunft eine um-
weltverträgliche Produktion. Genau diese Anfor-
derungen stellen wir an die Gentechnik. Sie soll nicht
nur den Herausforderungen der Ernährung der Bevöl-
kerung gerecht werden, sondern auch auf einer für
Mensch und Umwelt verantwortbaren Umweltpolitik be-
ruhen. Hier lassen wir überhaupt keinen Zweifel auf-
kommen.
Im Augenblick wird davon gesprochen, wir müßten
Monitoring durchführen. Ich bin sehr dafür. Vorausset-
zung für ein zuverlässiges Monitoring aber sind Freiset-
zungsversuche. Wie sieht die Situation in Europa aus? In
den USA wurden 10 000 Freisetzungsversuche durchge-
führt, in Deutschland ganze 60 und in Frankreich 270.
Ähnliche Zahlen sind für Großbritannien, Belgien und
die Niederlande zu nennen. – Daran sieht man sehr
deutlich, an welcher Stelle wir hier stehen.
Ich frage Sie, ob wir nicht die in über 10 000 Freiset-
zungsversuchen in den USA – diese wurden wissen-
schaftlich durch Monitoring begleitet, also kontrolliert –
gewonnene Sicherheit auf uns übertragen können. Wenn
wir Freilandversuche machen, haben wir es hauptsäch-
lich mit radikalen Gentechnikgegnern zu tun. Diese
verwüsten die Felder und verhindern die Erfahrungen,
die wir erst aus der Freisetzung erzielen, von vornherein.
Quer durch die Republik kann ich Ihnen Felder zeigen,
die verwüstet worden sind, und zwar von jenen, die die
Sicherheit grundsätzlich ideologisch diskutieren und auf
wissenschaftliche Ergebnisse überhaupt keine Reaktion
zeigen.
Ihre Redezeit
ist schon abgelaufen. Es besteht aber noch ein Wunsch
nach einer Zwischenfrage. Diese lasse ich noch zu,
wenn Sie nach der Beantwortung nicht in Ihrer Rede
fortfahren.
Ich möchte Sie fra-
gen, wie Sie es beurteilen, daß zum Beispiel die Öster-
reicher gentechnisch veränderten Mais nicht in ihrem
Land haben wollen, weil die österreichische Landwirt-
schaft Angst hat, daß sich sonst das Marketing für ihre
Produkte verschlechtern könnte. Österreich möchte da-
mit werben, daß es gentechnikfrei ist, und verspricht
sich davon einen Beschäftigungseffekt und bessere Ab-
satzchancen. Wieso sind Sie so sicher, daß die landwirt-
schaftlichen Produzenten in Deutschland nicht ähnlich
denken?
Dieser Frage stehe ich sehr
sympathisch gegenüber. Ich bin aber der Meinung, daß
man gegenüber dem Verbraucher offen sein muß. Dazu
gehört eine klare Deklarierung.
Wir brauchen eine Kennzeichnung, damit klar ist,
was gentechnisch verändert wurde und was nicht. Be-
reits heute hat jeder in Deutschland, in Österreich und in
jedem anderen europäischen Land die Möglichkeit, die
Produkte positiv zu deklarieren, das heißt, sie dergestalt
zu kennzeichnen, daß garantiert keine gentechnisch ver-
änderten Bestandteile enthalten sind.
Diese Möglichkeit hat heute jeder.
– Ich gehe noch einen Schritt weiter, um diese Frage or-
dentlich zu beantworten. – Das generelle Verbot bringt
Sie und erst recht die Österreicher in allergrößte Be-
drängnis; denn auf einem liberalisierten europäischen
Markt werden einzelne Verbote früher oder später un-
terlaufen. Ihre Einhaltung läßt sich nicht kontrollieren.
Wo würde man hinkommen, wenn man jeden Sack Mehl
kontrollieren würde? Es ist völlig ausgeschlossen, daß
wir uns in Europa wieder zu einem Flickenteppich ent-
wickeln, der dadurch gekennzeichnet ist, daß jeder Na-
tionalstaat seine eigenen Vorstellungen verwirklichen
will.
Ich plädiere deshalb nachdrücklich für eine europäi-
sche Zulassung und für ein mit unabhängigen Wissen-
schaftlern besetztes Gremium, das entsprechende Zulas-
sungskriterien erarbeiten und begleiten soll, so daß wir
in Europa eine einheitliche Regelung haben. Wer den
Binnenmarkt ernst nimmt und wer vor allen Dingen den
Verbrauchern verspricht, daß durch nationale Maßnah-
men tatsächlich etwas für den Verbraucherschutz be-
wirkt wird, der darf mit solchen Maßnahmen nicht
kommen.
Herr KollegeHeinrich, kommen Sie bitte zum Schluß.Ulrich Heinrich
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Wer dies verspricht, der
muß eine einheitliche europäische Regelung anstreben.
Ich bedanke mich.
Das Wort hatjetzt der Abgeordnete Heino Wiese.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 59. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Oktober 1999 5303
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Frau Präsidentin!
Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Lieber Herr Hein-
rich, wir befassen uns heute mit dem F.D.P.-An-
trag „Chancen der Gen- und Biotechnologie nicht ver-
spielen“.
– Ich würde eher sagen: Was Sie uns mit diesem Antrag
zugemutet haben, ist reine Zeitverschwendung.
Dieser Antrag besteht aus einer Mischung von
Selbstverständlichkeiten und unbegründeten Behauptun-
gen. Vielleicht stimmt ja doch das, was am letzten
Dienstag in der „FAZ“ zu lesen war:
... der Aktionismus der F.D.P. wirkt kopflos. Muß
sie solche Scheingefechte führen, um überhaupt
noch wahrgenommen zu werden?
Sie fordern Unterstützung für eine verantwortbare
Stärkung der Bio- und Gentechnik.
– Das tue ich ja. – Natürlich sind wir für eine Stärkung
der grünen Gentechnik, und die Bundesrepublik hat
sich vorgenommen, die verantwortbaren Potentiale der
Bio- und Gentechnologie systematisch weiterzuentwik-
keln.
– Ich möchte keine Zwischenfrage von Herrn Abgeord-
neten Ronsöhr zulassen.
Herr Ronsöhr,
möchten Sie eine Zwischenfrage stellen oder nicht?
Das einzige, was
ich in der Gentechnologie fürchte, ist, daß es von dir
zwei geben könnte.
Ministerin Bulmahn hat unter anderem gerade das
Pflanzengenomprojekt GABI gestartet, um in dem wich-
tigen Bereich der mittelständischen Industrie ein Zei-
chen zu setzen und entsprechende Innovationen zu er-
möglichen. 32 Millionen DM werden bis Ende 2000 von
der Bundesregierung für dieses Projekt zur Verfügung
gestellt.
Es gilt, was ich eben schon zu Herrn Ronsöhr gesagt
habe: Es gibt nicht nur Chancen, sondern auch Risiken
in der Gentechnologie. Deswegen sind Risikovorsorge
und Sicherheitsforschung von zentraler Bedeutung.
Denn es geht nicht nur um das, was technisch möglich
ist; vielmehr geht es auch darum, vernünftige und nutz-
bringende Anwendungsmöglichkeiten zu entwickeln
und unvertretbare Risiken zu vermeiden.
Deswegen wurde 1996 beim Büro zur Technikfol-
genabschätzung der Bericht „Gentechnik, Züchtung und
Biodiversität“ in Auftrag gegeben. Das TAB-Büro hat in
anderthalb Jahren Arbeit den derzeitigen Wissensstand
zusammengetragen. Wirkungsketten, von denen man
beim Einsatz neuer Pflanzensorten in der Landwirtschaft
ausgeht, wurden beschrieben, und die Erhaltungsmög-
lichkeiten für die biologische Vielfalt wurde dargestellt
und diskutiert.
Gestatten Sie
eine Zwischenfrage des Kollegen Heinrich?
Nein, auch vonHerrn Heinrich nicht.Die wissenschaftliche Qualität der Ergebnisse diesesBerichtes ist bei uns im Ausschuß ausdrücklich bestätigtworden. Aus diesem Bericht haben wir unseren Antragentwickelt. Heute behaupten Sie, er gehe in die falscheRichtung. Als wir diesen Antrag im Ausschuß für Er-nährung, Landwirtschaft und Forsten diskutierten, habenSie nichts dergleichen geäußert. Im Gegenteil, es be-stand Konsens darüber.Mit Ihrem Antrag, meine Damen und Herren von derF.D.P., reißen Sie Gräben auf, die wir doch längst wie-der zugeschüttet hatten. Sie stellen sich als Gentechnik-befürworter und uns als Verweigerer dar. Diese Strate-gie ist lächerlich und bringt uns in der Sache überhauptnicht weiter.
Eine Technologie an sich ist doch weder gut nochschlecht. Sie muß danach beurteilt werden, welche Pro-blemlösungen sie ermöglicht und welche Risiken sie insich birgt. Hier lenkend und gestaltend einzugreifen istunsere gemeinsame Aufgabe.Ich möchte noch kurz auf das so häufig bemühte Ar-gument, Gentechnik sichert die Welternährung, einge-hen. Ich brauche Ihnen von der F.D.P. doch sicherlichnicht zu erklären, daß Unternehmen auf dem freienMarkt in erster Linie Gewinn erwirtschaften wollen undmüssen. Die sogenannten Entwicklungsländer sind aberkein entsprechend gewinnversprechender Markt. Des-halb wird an den dort üblichen Nahrungsmittelpflanzenkaum geforscht, dafür aber um so mehr an denen, die
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5304 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 59. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Oktober 1999
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auf dem europäischen und amerikanischen Markt abge-setzt werden.
Ich zitiere aus dem Kompendium „Gentechnik undLebensmittel“, an dem die Firmen Agrevo, Monsantound Novartis, die alle unabhängig von der SPD sind,mitgewirkt haben:Die meisten der bisher hergestellten gentechnischveränderten Kulturpflanzen sind für die Landwirt-schaft der kapitalstarken industrialisierten Länderbestimmt. Landwirte in den Entwicklungsländernkönnen sich dieses Saatgut nicht leisten.So steht es in dem Bericht.Die Hungerproblematik in den Entwicklungsländernist in erster Linie auch ein Verteilungsproblem. Da kanndie Gentechnologie nur begrenzt helfen. Wir könnennicht darauf hoffen, daß uns die Unternehmen die Ver-antwortung dafür abnehmen. Ich möchte aber ausdrück-lich betonen, daß natürlich alle Entwicklungen, diegeeignet sind, den Welthunger zu bekämpfen, von unsunterstützt werden.Meine Damen und Herren, wir haben die systemati-sche Weiterentwicklung der verantwortbaren Potentialeder Bio- und Gentechnologie auch in unserer Koaliti-onsvereinbarung festgeschrieben. Es hätte also diesesF.D.P.-Antrages gar nicht bedurft.
– Das ist doch gar nicht wahr. Wir haben unter anderemdas Programm, von dem ich gerade geredet habe, auf-gelegt.
– Das ist doch gar nicht wahr.
In Brüssel hat die Bundesregierung in Verhandlungenversucht, die Zulassungsbestimmungen zu vereinfachenund die Instanzenwege zu verkürzen. Dieses Vorhabenist zugegebenermaßen von der alten Regierung angesto-ßen worden, aber wurde unter der jetzigen Regierungfortgeführt. Insofern gibt es hier eine Kontinuität. Siekönnen an dieser Stelle keinen Konflikt aufbauen, den esin dieser Form nicht gibt.
Zum Schluß noch eine kleine Anmerkung zu der Fra-ge, wie man mit Freilandversuchen umgehen soll. Ichweiß nicht, was der Bund da machen soll. Natürlich istes sinnvoll, daß die Polizei der Länder die Felderschützt. Ich kann mir aber schlecht vorstellen, was derDeutsche Bundestag dazu beitragen soll. Oder sollen wirden Bundesverteidigungsminister auffordern, jetzt Sol-daten so, wie sie der Alte Fritz um Kartoffelfelder auf-gestellt hat, um diese Felder zu stellen?Ich danke Ihnen.
Sie wollen
jetzt aber wohl keinen Unterschied zwischen den Kar-
toffeln und der Gentechnologie in diesem Sinne ma-
chen.
Wir müssen jetzt mit der Debatte fortfahren. Das Wort
hat der Kollege Meinolf Michels.
Frau Präsidentin!Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich halte den Antragder F.D.P. für durchaus richtig, denn er veranlaßt unsalle, sich mit diesem wichtigen Zukunftsthema im Deut-schen Bundestag auseinanderzusetzen.Seit Anfang der 70er Jahre ist es der Wissenschaftmöglich, gezielt in die Erbsubstanz einzugreifen. Diewissenschaftliche Erkenntnis auf diesem Gebiet ist frap-pierend. Gleichzeitig sind die warnenden Stimmen mitunterschiedlicher Gewichtung geblieben. Im medizini-schen Bereich – das hat Herr Kollege Heinrich ebenschon ausgeführt – ist die Möglichkeit gentechnischenEingreifens auch in der praktischen Anwendung vollakzeptiert. Bei genetisch veränderten Pflanzen für dieNahrungsmittelversorgung – hier ist der Grund für denAntrag zu sehen – sind bei uns die Ängste sehr groß.Während im medizinischen Bereich, zum Beispiel beiInsulin, das durch gentechnische Verfahren gewonnenwurde, der gesundheitlich helfende Effekt sofort er-kennbar ist, bestehen im Bereich der Nahrungsmittel-produktion die Ängste wegen der Nichtdurchschaubar-keit nach wie vor fort.Diese Sorge der Verbraucher müssen wir sehr ernstnehmen. Wir Menschen haben in der Regel gegenüberNeuem, uns Unbekanntem immer Vorbehalte, zumindestso lange, bis wir die Unbedenklichkeit und den prakti-schen Nutzen zweifelsfrei verinnerlicht haben. DurchKennzeichnung gentechnisch veränderter Produkte sinddie Verbraucher in der Lage, sich für oder gegen denKauf solcher Produkte zu entscheiden.Heino Wiese
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 59. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Oktober 1999 5305
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(D)
Herr Kollege
Michels, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen
Weisheit?
Aber gern, selbstver-
ständlich.
Kollege Michels, würden
Sie mir zustimmen, daß es sich nicht in erster Linie um
Angst handelt, sondern auch um die schlichte Überle-
gung der Menschen auf einem Kontinent, auf dem Nah-
rungsmittel im Überfluß da sind, ob es überhaupt not-
wendig ist, etwas zu ändern, und zu wessen Nutzen da
etwas getan wird?
Ich stimme Ihnen
nicht zu. Wenn Sie bitte weiter zuhören, werde ich die
Begründung dafür gleich liefern.
Der Gesetzgeber hat die berechtigten Sorgen aufzu-
nehmen, aber auch für die notwendigen Fortschritte
Sorge zu tragen. Der Deutsche Bundestag hat dazu 1984
eine Enquetekommission eingesetzt. Die Erkenntnisse
aus deren sorgfältigen Beratungen sind 1990 in das
Gentechnikgesetz eingeflossen. Dieses Gesetz trägt den
berechtigten Schutzbedürfnissen der Verbraucher in ho-
hem Maße Rechnung, läßt aber auch die verantwor-
tungsvolle Nutzung neuer Erkenntnisse zur Erzeugung
von gentechnisch veränderten Produkten zu.
Zum Beispiel ist es gelungen, beim Mais eine Züns-
ler-Resistenz zu erreichen. Ohne den Einsatz von Insek-
tiziden ist Maisanbau auf dieser veränderten Grundlage
heute in den USA und Kanada bereits die Regel. Bei der
Zuckerrübe können wir davon ausgehen, daß mit Hilfe
der Gentechnologie demnächst die Infektion durch den
Rizomania-Virus ausgeschlossen werden kann. Die bis-
her geringen Möglichkeiten zur Bekämpfung dieses Vi-
rus sind außerordentlich umweltbelastend und wenig er-
folgreich. Daher ist – ich unterstütze das, was Herr Kol-
lege Heinrich dazu gesagt hat – die ideologisch moti-
vierte Zerstörung von Freilandversuchen nicht nur als
eine Straftat anzusehen, sondern in höchstem Maße zu-
kunftsschädigend.
Nach zirka 20 Jahren Erfahrung sind wir heute in der
Lage, durch gezielten Eingriff einzelne Inhaltsstoffe von
Pflanzen zu verändern. So wird zum Beispiel an Pflan-
zen geforscht, die mit weniger Wasser gleiche Ertrags-
leistungen erbringen oder die Nutzung übersalzter Bö-
den wieder ermöglichen. – Herr Kollege Weisheit, jetzt
haben Sie die Antwort auf Ihre Zwischenfrage.
Die bisherigen Forschungsergebnisse der Biotech-
nologie lassen eine weltweite Nutzung dieser Kenntnis-
se zu. Zweifelsohne haben wir es da mit einer Schlüs-
seltechnologie des 21. Jahrhunderts zu tun, die auch für
den weltweiten Bevölkerungsanstieg und den daraus re-
sultierenden steigenden Bedarf an Nahrungsmitteln eine
weitreichende Bedeutung hat.
In den nächsten 25 Jahren wird die Zahl der Men-
schen von heute 6 Milliarden auf schätzungsweise
8 Milliarden anwachsen. Während heute für jeden unse-
rer Mitmenschen zirka 0,28 Hektar landwirtschaftliche
Nutzfläche zur Verfügung stehen, werden es in 25 Jah-
ren unter 0,2 Hektar sein. Für unsere Nachkommen wird
es bei einer weitaus größeren Zahl von Menschen kei-
nesfalls ein Mehr an Ackerfläche geben.
Im Gegenteil: Zusätzlicher Siedlungsflächenbedarf und
Erosion werden den Anteil nutzbaren Bodens weiter
mindern.
Mit Sicherheit werden die Möglichkeiten der Gen-
technik nicht die alleinigen Problemlöser von heute und
in der Zukunft sein. Bei sorgfältigstem und verantwor-
tungsvollem Vorgehen wird die Biotechnologie aber ei-
nen unverzichtbaren Beitrag zur Ernährungssicherung
leisten können. Die FAO unterstellt, daß die Biotechno-
logie in der Landwirtschaft eine der vielversprechend-
sten Technologien sein wird. Die FAO geht davon aus:
In Verbindung mit traditionellen oder herkömmli-
chen Züchtungsmethoden kann sie die Pflanzerträ-
ge erhöhen, die Widerstandsfähigkeit von Nutz-
pflanzen gegenüber Schädlingen oder Krankheiten
verbessern, Toleranz gegenüber ungünstigen Witte-
rungsbedingungen entwickeln, den Nährwert ver-
schiedener Nahrungsmittel erhöhen und die Halt-
barkeit der Erzeugnisse … verbessern.
Herr Kollege
Michels, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen
Wodarg?
Bitte.
Herr Michels, da Sie
gerade die FAO ansprechen: Meinen Sie nicht auch, daß
Sie hier ein wenig differenzieren müßten und, wenn Sie
hier so lobend die Möglichkeiten der Biotechnologie
erwähnen, auch ein Wort zu dem verlieren müßten, was
die FAO zu der Problematik der „farmers rights“, der
Rechte der Landwirte, sagt, Saatgut selbst zu vermehren,
selbst zu handeln und selbst herzustellen? Auch zu der
negativen Seite – die im Vordergrund der Kritik steht –,
daß durch Patentrechte großer Konzerne den Landwirten
diese Möglichkeit genommen wird, hätte ich gerne et-
was von Ihnen gehört.
Herr Kollege, mit Si-cherheit ist das ein sehr wichtiger Bereich, der aber nichtin den mir zur Verfügung stehenden Zeitrahmen hinein-paßt. Wir haben uns im Europarat mit dieser Frage sehr
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5306 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 59. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Oktober 1999
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eingehend beschäftigen können. Ich denke, es gibt zwi-schen uns beiden in dieser Frage keinen Dissens.Am 5. Oktober wird in Hannover die Biotechnica-Messe mit einem Rekord an Ausstellern eröffnet. InDeutschland gibt es zur Zeit 543 Biotechnikfirmen imengsten Sinne, allein 33 Neugründungen in diesem Jahr.Insgesamt beschäftigten sich 1 330 Firmen mit diesemBereich. Nach Großbritannien verzeichnet Deutschlanddamit die höchsten Zuwachsraten bei Unternehmens-gründungen. Vorgespräche für die Hannover-Messe ha-ben ergeben, daß im Bereich der Biotechnologie einegroße und steigende Zahl von hochwertigen Arbeitsplät-zen entstanden ist und weiterentwickelt werden kann.Liebe Kolleginnen und Kollegen, höchstmögliche Si-cherheit bei der gentechnologischen Forschung schafftdas Vertrauen, welches unabdingbar notwendig ist, umauch in Zukunft in unserem Land Entwicklungschancenfür alle Menschen dieser Welt zu ermöglichen.Ich danke Ihnen.
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Ulrike Höfken.
Sehr
geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Her-
ren! Liebe Kollegen! In dieser Debatte um die Gentech-
nik übernimmt ganz offensichtlich die F.D.P. die jetzt
als Sloterdijksche Position bekannte deterministische
und autoritäre Ausrichtung Arme Liberale!
Sie sind sich nicht einmal dafür zu schade, die Bun-
desregierung dafür zu rügen, daß sie die Entscheidungen
von Nachbarländern kritisiert, die nämlich die proble-
matische Freisetzung von gentechnisch verändertem
Mais aussetzen möchten.
Diese Position ist blauäugig und ideologiebeladen. Sie
verkennt nämlich auch das Wesen der Gentechnik. Sie
kann nicht per Knopfdruck gute Produkte herstellen, das
Gute im Menschen zum Beispiel herbeiführen. Das kann
sie nicht leisten.
Ein gentechnischer Eingriff kann eine Vielzahl von
sichtbaren und unsichtbaren Veränderungen bewirken,
gewünschte ebenso wie unerwünschte. Dabei sind auch
noch die gentechnisch veränderten Freisetzungen in die
Umwelt nicht rückholbar. Deshalb orientiert sich die
Technologiepolitik von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
an einer Problemorientierung.
Wir fragen uns: Was kann die Gentechnik genau wie
andere neue Techniken, zum Beispiel die Atomtechnik,
zur Lösung der drängenden Zukunftsfragen beitragen?
Sie muß deswegen ebenso wie solche Technologien an
ökologischen, sozialen, ethischen und ökonomischen
Kriterien gemessen werden können.
Ganz richtig – das haben Sie auch erwähnt –, im Be-
reich grüner Gentechnik sind das die Fragen der Welt-
ernährung, der Schutz der Umwelt genauso wie Ar-
beitsplätze und Einkommen. Sie sind zu sichern, ohne
unvertretbare Risiken zuzulassen. Da müssen wir uns
eben fragen, inwieweit die Gentechnik dazu beitragen
kann.
Die Bundesregierung fördert die Biotechnologie in
zahlreichen Projekten, von den Genomprojekten bis zu
Bio-Regio, bis Bio-Chance. In diesen Bereichen werden
die Chancen ausgelotet. Aber wir unterstützen die Ab-
wägungsprozesse. In weiten Bereichen wendet man
sich im Zuge dieser Abwägungsprozesse gegen gen-
technische Lösungen. Großbritannien, Frankreich, Grie-
chenland, früher einmal für eine gewisse Zeit Protagoni-
sten de Gentechnik und des damit verbundenen Mach-
barkeitswahns, sind inzwischen diejenigen Länder, die
aus den Erfahrungen aus dem Umgang mit der Gentech-
nologie Rückschlüsse ziehen. Auch in den USA sind die
Diskussionen zunehmend kritischer geworden. Das hier
auszublenden ist nun wirklich naiv. Die Deutsche Bank
– vielleicht ist das ein Argument, das die Liberalen in ir-
gendeiner Form interessieren könnte – rät ihren Anle-
gern schon ganz offiziell von Investitionen in diesem
Bereich ab.
Ich will auf den Mais eingehen, den Sie hier so rüh-
men und der in Ihrem Antrag vorkommt. Der gentech-
nisch veränderte Mais, so sagen Sie, kommt ohne Pesti-
zide aus. Es handelt sich hier um ein im Inneren der
Pflanze erzeugtes Pestizid – im Gegensatz zu Pestiziden,
die von außen aufgebracht werden.
– Ich weiß, es ist BT, natürlich. Es ist ein Pestizid oder
ein Wirkstoff, der auch im ökologischen Landbau einge-
setzt wird. Das ändert nichts daran. Diese Technologie
im Inneren der Pflanze etwa Giftstoffe zu erzeugen,
wirkt sich genauso aus wie die Methode, Wein vom er-
sten Blatt im Frühjahr an bis hin zur Lese im Herbst im
Sprühnebel stehenzulassen. Das heißt, mit dem Einsatz
eines solchen inneren Insektizids machen Sie nichts an-
deres, als die Nützlinge in der Umwelt – im Gegensatz
zu den Pestiziden – über eine lange Zeit hinweg einer
entsprechenden intensiven Einwirkung auszusetzen. Das
hat dann eine qualitativ und quantitativ andere Dimensi-
on, als sie die Pestizide haben, die ich übrigens gar nicht
verteidigen möchte.
Frau Kollegin,
gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Ronsöhr?
Ja.
– Wieso? Ich freue mich darauf.Meinolf Michels
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 59. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Oktober 1999 5307
(C)
(D)
Frau
Höfken, ich freue mich auch und bin sehr dankbar, daß
Sie die Zwischenfrage zulassen.
Sie haben eben doch sehr stark nur die Risiken der
Gentechnologie betont, wobei Sie von Abwägungs-
prozessen sprechen. Sind Sie nicht der Auffassung, daß
Sie von vornherein auch bei Abwägungsprozessen nur
auf die Risiken hinweisen werden, weil Sie die Risiken
höher einschätzen als die Vorteile, die uns die Gentech-
nik auch bietet? Ist das nicht ein fundamentaler Wider-
spruch zu dem, was nicht alle, aber einige aus der SPD
sagen?
Ich habe neulich eine anläßlich einer Veranstaltung
im Bundessortenamt in Hannover von Bundeslandwirt-
schaftsminister Funke gehaltene Rede gelesen. Dort hat
er sich eindeutig für die Gentechnik ausgesprochen. Ich
möchte wissen, für was die Koalition in diesem Bereich
steht.
Die-
se Frage ist gut zu beantworten. Das haben wir übrigens
auch im Koalitionsvertrag festgelegt. Es geht uns darum,
einen gesellschaftlichen Prozeß zu initiieren,
Bewertungskriterien für die Nutzen- und Risikopoten-
tiale der Gentechnik zu entwickeln und danach zu ent-
scheiden, welche Bereiche der Gentechnik Chancen und
welche Risiken beinhalten. Da muß man ganz klar fest-
stellen: Nach einem solchen Diskussionsprozeß, der im
übrigen bis heute nicht in Gang gekommen ist,
wird es Bereiche der Gentechnik geben, die auf Grund
ihres Nutzens unterstützt werden, und solche, die auf
Grund der Risikobewertung nicht unterstützt werden.
Dazu gehören vielleicht der BT-Mais oder aber be-
stimmte Bereiche der grünen Gentechnik. Andere Berei-
che, zum Beispiel diagnostische Verfahren bei der Tier-
oder Pflanzenzucht, werden zu den unterstützungswür-
digen Bereichen gehören.
Es ist notwendig – das kritisiere ich an dem Antrag
der F.D.P. –,
einen solchen Prozeß, wie er beispielsweise im Monito-
ring angelegt ist, tatsächlich ernst zu nehmen. Man kann
doch nicht dann, wenn plötzlich auf Grund einer Be-
wertung, die jetzt in unseren Nachbarländern erfolgte,
eine kritische Haltung entsteht, sagen: Das möchten wir
nicht hören; wir möchten die Ergebnisse einer solchen
Bewertung nicht wahrnehmen. Das geht nicht. Da ver-
liert die Politik der Opposition wie auch die Haltung der
Industrie an Glaubwürdigkeit.
Die Glaubwürdigkeit hat im Laufe der Diskussionen
über die Gentechnik schwer gelitten. Jahrelang hat uns
die Industrie erzählt, es gebe keine Auswilderung von
gentechnisch veränderten Organismen. Heute müssen
wir uns damit auseinandersetzen, daß wir Grenzwerte
für gentechnische Immissionen benötigen. Das ist eine
wahrhaftig traurige Entwicklung.
Nichtsdestotrotz brauchen wir einen solchen gesell-
schaftlichen Prozeß. In solch einen Prozeß müssen
Ökologen, Ökonomen sowie Soziologen und Ethiker
einbezogen werden. Dann werden wir uns entscheiden
können, welche Bereiche dieser Technik wir nutzen
werden. Entsprechend werden wir auch die Risiken be-
werten. Wie andere Entwicklungen, zum Beispiel im
Bereich der Atomtechnologie, zeigen, ist es notwendig,
in diesen Bereichen verantwortungsvoll zu handeln.
Danke.
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Angela Marquardt.
Frau Präsidentin! MeineDamen und Herren! Kollege Heinrich, es ist immerhöchst löblich, den Hunger in der Welt zu einem zen-tralen Thema zu machen. Da besteht überhaupt keinDissens.
Selbst die Hoffnung auf viele tausend Arbeitsplätze, denSchutz der Umwelt oder gar die Stärkung des StandortesDeutschland kann man nicht oft genug in Erinnerung ru-fen. Vermißt habe ich in Ihrer Aneinanderreihung nurnoch den Hinweis, daß mit der Gentechnik sämtlicheKrankheiten ausgerottet werden können.
Dann hätten Sie nach meiner Ansicht wirklich alles ausder Gentechnikwerbekiste herausgegriffen.Eines muß ich Ihnen sagen: Ich verstehe Ihr Problemja. Denn es ist natürlich nicht einfach, neben der Bun-desregierung als wahrer Förderer der Gentechnik aufzu-fallen.
Ihre Handlungsaufforderungen an die Bundesregierungkönnen mich insofern nur verwundern. Was wollen Sieeigentlich? Sie müßten doch zufrieden sein. Denn sei esMinister Funke oder sei es Ministerin Bulmahn, das hal-be Kabinett zieht durch die Gegend und macht Werbungfür die sogenannte grüne Gentechnik. Insofern müßtenSie doch zufrieden sein.
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5308 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 59. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Oktober 1999
(C)
Der Antwort auf unsere Kleine Anfrage haben Siezudem entnehmen können, daß die Bundesregierungnicht im Traum daran denkt, der Beschlußempfehlungdes Umweltausschusses zu den Verkaufsverboten vongentechnisch verändertem Mais zu folgen. Schon seitder enttäuschenden rotgrünen Koalitionsvereinbarungzum Thema Gentechnik und noch vielmehr nach demersten Jahr Regierungsgeschäft ist deutlich, daß die Re-gierung nicht bereit ist, der Chemie- und Saatgutindu-strie klare Grenzen vorzugeben.Auch bei den Verhandlungen zur neuen EU-Freisetzungsrichtlinie gehörte die Bundesregierung zuden Bremsern, als es um verbraucherfreundliche, ökolo-gisch sinnvolle Verschärfungen der Richtlinie oder garum ein Moratorium für Freisetzungen gentechnisch ver-änderter Organismen ging. Geringfügige Verbesserun-gen der Richtlinie sind jetzt vom Ministerrat in Brüsselvereinbart worden, beispielsweise die Genehmigungsbe-fristung von zehn Jahren oder die verpflichtende Öffent-lichkeitsbeteiligung bei Freisetzungen. Die Einigung istaber nur deshalb zustande gekommen, weil die Über-windung des faktischen EU-Zulassungsmoratoriums fürgentechnisch veränderte Organismen das erklärte Zielauch dieser Bundesregierung war.Dabei ist ein Zulassungsmoratorium die absolutrichtige Konsequenz aus den offenkundigen Risiken vonFreisetzungen. Diese richten sich auch gegen die wichti-ge Weiterentwicklung der ökologischen Landwirtschaft.Im übrigen existiert der unübersehbare Wille der Men-schen, keine gentechnisch manipulierten Lebensmittelessen zu wollen. Meiner Ansicht nach wäre also einStopp der Freisetzungen gentechnisch veränderter Orga-nismen das Richtige. Das ist unsere Forderung.
– Das ist nicht die Arroganz des Satten. Ich möchte,auch wenn ich satt bin, nicht, daß die Menschen, dieHunger haben, gentechnisch manipulierte Lebensmittelessen müssen.
Die müssen vielmehr etwas von unserem Reichtum ab-bekommen. Von Gentechnik können sie nur krank wer-den und nicht satt.
Zu den reellen Problemen des weltweiten Einsatzesder Gentechnik und dem Erhalt biologischer Vielfaltfindet sich
– ich habe im Sozialismus nicht gehungert – im Antragder F.D.P. ebenfalls kein erhellender Gedanke. Es findetsich kein Wort zum ungehinderten, weltweiten Gentech-nikhandel, kein Wort zur Saatgutmonopolisierung,
keine Stellungnahme gegen „Biopiraterie“, wie der Eu-roparat die ausufernde Patentierung von genetischemMaterial aus Ländern des Südens nannte.
– Ich kann damit leben. Ich habe nicht gehungert. – Hierwären Widerstand und klare Beschlüsse angesagt, nichtaber billiger Populismus gegen den Sozialismus, dersowieso zu Ende ist. Wir werden weiter dafür kämpfen.
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete René Röspel. – Ist es richtig, daß
das Ihre erste Rede ist?
Ja.
Dann hören
wir genau zu.
Frau Präsidentin! Meine sehrverehrten Damen und Herren! Einen wunderschönenguten Tag! Liebe Kolleginnen und Kollegen von derF.D.P., ich kann verstehen, daß Sie als relativ kleineFraktion nur über wenige Fachleute und auch über we-nig Zeit verfügen, um sich wissenschaftlichen Publika-tionen zu widmen und sie entsprechend auszuwerten.Aber vielleicht schaffen Sie es irgendwann einmal, zumKiosk zu gehen und sich wenigstens Zeitschriften oderpopulärwissenschaftliche Magazine zu kaufen. Dannwäre uns vielleicht Ihr oberflächlicher, dünner und un-wissenschaftlicher Antrag hier erspart geblieben.
– Sie dürfen gern intelligente Zwischenfragen stellen,
aber Ihre Zurufe sind nicht sehr förderlich.Sie behaupten in Ihrem Antrag beispielsweise, dieWelternährung sei langfristig nur mit den Zukunft-stechnologien wie Bio- und Gentechnologie zu sichern.Wenn Sie zum Kiosk gegangen wären und sich diewirklich nicht industrie- und technikfeindlichen „VDI-Nachrichten“ gekauft hätten – also das Organ des Ver-eins Deutscher Ingenieure –, wären Sie auf einen Artikelmit der Überschrift gestoßen: „Gen-food wird den Wel-thunger nicht stoppen“. Dann hätten Sie einen sehr diffe-renzierten und guten Artikel gelesen und vielleicht einenanderen oder gar keinen Antrag gestellt.Wenn Sie sich vielleicht hin und wieder bemühenwürden, die Zeitschrift „New Scientist“ zu lesen: Dieberichtet über eine Studie des US-amerikanischenLandwirtschaftsministeriums vom Sommer, also desLandwirtschaftsministeriums des Landes mit der größtenAngela Marquardt
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 59. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Oktober 1999 5309
(C)
(D)
Anbaufläche für gentechnisch veränderte Organismenvon über 20 Millionen Hektar. Das US-amerikanischeLandwirtschaftsministerium sagt, daß es nicht so ist, daßgentechnisch veränderte Organismen oder Pflanzen zumehr Erträgen oder einem geringeren Einsatz von Pesti-ziden führen. Das sind Fakten, die das amerikanischeLandwirtschaftsministerium feststellt. Dies betrifft dieÖkologie.Sie wissen vielleicht, daß es neuerdings ein ganz in-teressantes Medium gibt: das Internet. Ich habe ein we-nig zur Ökonomie und zu den Auswirkungen der Bio-technologie auf den Arbeitsmarkt recherchiert. Dabeibin ich in einer Datei gelandet, die relativ kritisch mitden Chancen der Biotechnologie und ihrer Wirtschaft-lichkeit umging und noch einmal auf etwas hinwies, wasauch am Dienstag in den „Tagesthemen“ zu sehen war,nämlich daß die Preise und auch die Akzeptanz fürgentechnisch veränderte Pflanzen sinken. Als dann ir-gendwann in dieser Internetdatei die Überschrift „GMOsare dead“ – also: Gentechnisch manipulierte Organis-men sind tot, haben keine Zukunft – auftauchte, wurdees mir zu bunt, und ich habe nachgesehen, in welcherradikalen Datei ich gelandet bin. Ich muß Ihnen sagen:Es war die Internetseite der Deutschen Bank AG. Befas-sen Sie sich bitte damit. Suchen Sie es raus. Es gibt die-se Datei mit diesem Artikel. Die Analysten raten: Ver-kauft eure Aktien, weil die Unsicherheit sehr groß istund diese Technologie keine Chance hat! Befassen Siesich damit! Sie können dieses Argument im Internetnachlesen.Das zur ökologischen und ökonomischen Seite.In Ihrem Antrag behaupten Sie ferner, wir ver-schlechterten die Rahmenbedingungen für diese Tech-nologie.
Worauf beziehen Sie sich in diesem Zusammenhang?Wir haben die Länder Österreich und Luxemburg in ih-rer Haltung unterstützt, keinen gentechnisch veränder-ten Mais einzusetzen. Ich habe im Umweltausschußversucht, Ihnen zu erklären, worum es dabei geht. Dergentechnisch veränderte Mais enthält das Gen eines Bo-denbakteriums. Das führt dazu, daß dieser Mais perma-nent ein Insektizid abgibt, mit dem man den Maiszünslerbekämpfen kann. Das ist soweit in Ordnung. Aber dasführt auch zu zwei großen Nachteilen oder sogar Gefah-ren:Die erste Gefahr ist, daß nicht nur „Lästlinge“, son-dern auch Nützlinge bekämpft werden. Ich nenne zumBeispiel die Florfliege. Lesen Sie dazu die Veröffentli-chung von Hilbeck et al. aus dem Jahr 1998, oder lesenSie in diesem Zusammenhang Berichte der BiologischenBundesanstalt. Es sind also auch Nützlinge betroffen.Die zweite große Gefahr ist, daß durch eine ständigeProduktion dieses Insektizids durch die Pflanze sehrwahrscheinlich eine Resistenz entstehen kann, weil sichdie „Lästlinge“ an dieses Gift gewöhnen. In dem ebenerwähnten Bericht der Deutschen Bank – es ist mir fasteine Freude, diese Quelle zu zitieren, weil Sie der Deut-schen Bank vielleicht mehr Glauben schenken – steht,daß die Firma Mycogen, die dieses Gen im wesentlichenentwickelt hat, der Meinung ist: Diesen Mais können wireh nur über 10 Jahre einsetzen, weil die Resistenzendann wahrscheinlich so groß sind, daß man ihn nichtmehr vermarkten kann.
– Nein, wir wollen nur einen verantwortungsvollen Um-gang mit dieser Technik.
Man kann nicht einfach etwas einpflanzen, ohne dieseEntwicklung ökologisch langfristig zu begleiten.Um Ihr Argument zu entkräften, zitiere ich aus unse-rer Koalitionsvereinbarung:Die neue Bundesregierung wird die verantwortba-ren Innovationspotentiale der Bio- und Gentech-nologie systematisch weiterentwickeln.Wenn Sie sich die Mittel für Forschung und Ent-wicklung im Haushalt ansehen, dann können Sie fest-stellen, daß wir in diesem Jahr 10 Millionen DM mehrfür die Entwicklung und Forschung in der Biotechnolo-gie zur Verfügung stellen. Die Hälfte davon wird sinn-vollerweise für die Sicherheitsforschung aufgewandt,damit wir endlich Langzeitbeobachtungen durchführenkönnen.Auch die neue Freisetzungsrichtlinie wird nicht dierasche Erteilung von Genehmigungen in den Vorder-grund stellen, sondern das, was den Menschen nutzt: denGesundheitsschutz und den vorbeugenden Umwelt-schutz. Diese Aspekte dürfen nicht in den Hintergrundgerückt werden.
Diese Maßnahmen dienen einem vernünftigen Umgangmit der Bio- und Gentechnologie. Nur wenn wir ehr-lich und offen mit den Stärken und Schwächen dieserTechnologie umgehen, werden wir Akzeptanz in derBevölkerung erreichen. Der von der F.D.P. vorgelegteAntrag, der falsche Erwartungen weckt, führt genau indie falsche Richtung. Damit werden nur Luftschlössergebaut.Ich lade Sie ein: Gehen Sie mit uns den vernünftigenWeg, mit dieser neuen Technologie, deren Auswirkun-gen wir in wissenschaftlicher Hinsicht nur unzureichendverstehen, offen und ehrlich umzugehen. Nur dann wirdsie eine Chance haben.Danke schön.
René Röspel
Metadaten/Kopzeile:
5310 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 59. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Oktober 1999
(C)
Ich möchte Ih-
nen, Herr Kollege, im Namen des Hauses für Ihre Rede
danken. Zum Inhalt darf ich aus Neutralitätsgründen
nichts sagen. Ich darf aber sagen, daß Ihre Rede rheto-
risch wunderbar war.
Ich schließe damit die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 14/1316 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 16 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr.
Uwe-Jens Rössel, Heidemarie Ehlert, Dr. Barbara
Höll, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
PDS
Einstieg in eine umfassende Reform der Fi-
nanzierung der Städte, Gemeinden und Land-
kreise
– Drucksache 14/1302 –
Überweisungsvorschlag:
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 59. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Oktober 1999 5311
(C)
(D)
.
Wir wollen die Finanzkraft der Gemeinden stärkenund das Gemeindefinanzsystem einer umfassendenPrüfung unterziehen.Diese eindeutige Stellungnahme zur Gewährleistungder kommunalen Selbstverwaltung hat auch nach einemJahr für uns – so denke ich – volle Gültigkeit.
Diejenigen, die etwas länger als ich in diesem Parlamentsitzen, werden sich an eine Reihe von SPD- und Grü-nen-Anträgen zum Thema Kommunalfinanzen erinnern.Das ist Vergangenheit. Die Zeit der Opposition ist fürRotgrün im Bund vorbei.Die angespannte Finanzlage vieler Gemeinden bleibtweiter bestehen. Hier ist es ein schwacher Trost, daß ge-genüber der Defizitquote des Bundes von 12,4 Prozentin 1998 die der Länder und ihrer Gemeinden nur3,6 Prozent betrug. Das aber sind nur Prozentzahlen. Je-der von uns kennt – neben Städten und Gemeinden, de-nen es momentan finanziell gut bis sehr gut geht– auchsolche Städte und Gemeinden in seinem Bereich, dieHaushaltssicherungskonzepte fahren müssen, bei denendie kommunale Selbstverwaltung nur noch darin besteht,zu entscheiden, in welcher Reihenfolge die freiwilligenLeistungen gestrichen werden. In vielen Gemeinden istdas Tafelsilber bereits verkauft, und kommunale Inve-stitionen sind unter der Rubrik „wünschenswert, abernicht realisierbar“ ausgewiesen.
Der Weg aus dieser Krise kann unserer Meinung nachnur in der Sicherung bzw. Wiederherstellung derfinanzpolitischen Handlungsfähigkeit aller staatlichenEbenen erfolgen.
Um diese zu erreichen, hat das Bundeskabinett am25. August dieses Jahres das Zukunftsprogramm 2000beschlossen. Wie Sie alle wissen, umfaßt dieses Re-formpaket das Haushaltssanierungsgesetz, das Steuerbe-reinigungsgesetz 1999, das Familienentlastungsgesetzsowie weitere Maßnahmen im steuerlichen Bereich.
Die diesem Programm zugrunde liegenden Zahlen be-deuten insgesamt eine Entlastung der kommunalen Ebe-ne und stärken damit ihre Finanzkraft.Die isolierte Betrachtung einzelner Maßnahmen, diesich für einzelne Kommunen möglicherweise belastendauswirken, wird dem Gesamtprogramm nicht gerecht.Ich denke, wir müssen die Sache ein wenig globaler be-trachten.
Ziel des Zukunftsprogramms ist die Aufrechterhaltungder finanzpolitischen Handlungsfähigkeit des Bundes.Nur wenn diese gewährleistet ist, können auch weiterhinfinanzschwache Länder und Gemeinden in angemesse-ner Weise unterstützt werden.
Ich denke dabei vor allem an den Aufbau Ost, der ganzstark von diesem Punkt abhängig ist. Das Zukunftspro-gramm enthält konkrete Entlastungen für die Kommu-nen. Sie sind im Durchschnitt auf 1,1 Milliarden DM fürdie Jahre 2000 bis 2003 veranschlagt. Dazu kommenDr. Uwe-Jens Rössel
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5312 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 59. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Oktober 1999
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noch die positiven Auswirkungen des steuerlichen Sub-ventionsabbaus.Ich möchte Sie jetzt nicht reihenweise mit Zahlenbelasten, sondern einige Entlastungen kurz in Oberbe-griffen beschreiben. So gibt es für die Kommunen einerhebliches Einsparpotential im sozialen Bereich, dadie Erhöhung des Kindergeldes Entlastungen bei der So-zialhilfe für die Kommunen nach sich ziehen wird. Daßdas nicht ganz unumstritten ist, wissen wir, aber das istderzeit die rechtliche Lage.Gerade in den neuen Ländern wirken sich das Sofort-programm zur Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit,das ungekürzt fortgeführt werden soll, und die Versteti-gung der Arbeitsmarktpolitik begrenzend auf die zu lei-stende Sozialhilfe aus.
Entlastungen für die Kommunen werden auch im Be-reich der Personalkosten anfallen. Hier sind einerseitsdie Begrenzung des Zuwachses der Pensionen und Be-amtengehälter und andererseits die Begrenzung derRentenversicherungsbeiträge im Arbeitgeberanteil zunennen.
Zudem hoffen wir darauf, daß die Tarifabschlüsse eini-germaßen niedrig ausfallen; hier könnten also auch nochEntlastungsmöglichkeiten bestehen. Außerdem wird esEntlastungen im steuerlichen Bereich geben. Entspre-chend ihrem Anteil am Steueraufkommen werden dieKommunen vom Abbau steuerlicher Subventionen ganzerheblich profitieren.Nicht verschweigen möchte ich Maßnahmen aus demSparpaket, die eine gewisse Belastung für einzelne –nicht für alle – Kommunen darstellen können. DerRückzug des Bundes aus der Mitfinanzierung desWohngeldes führt zu einer Kostentragungspflicht derLänder, die die Verwaltungszuständigkeit im Bereichder öffentlichen Fürsorge besitzen. Die Finanzverant-wortlichkeit im Verhältnis zwischen Ländern undKommunen regelt das Landesrecht. Darauf kann derBund überhaupt keinen Einfluß nehmen. Bestenfallskann er empfehlend tätig werden.Die vorgesehene Angleichung des pauschaliertenWohngeldes an das Tabellenwohngeld zieht Minderaus-gaben bei der Sozialhilfe nach sich und führt daher zukeiner zusätzlichen Belastung. Die Rückführung desBundesanteils an den Kosten des Unterhaltsvorschußge-setzes belastet zunächst die Länder. Inwieweit diese dieKommunen an der Finanzierung beteiligen, ist dort zuklären. Nordrhein-Westfalen tut das, um säumige Unter-haltszahler ein wenig mehr unter Druck zu setzen. Wieich gehört habe, hat diese Vorgehensweise Erfolg.
Die Belastungen durch das Auslaufen der originärenArbeitslosenhilfe werden nicht so hoch sein, wie es unsdie kommunalen Spitzenverbände immer einreden wol-len, da nur ein Teil der heutigen Leistungsempfänger inZukunft auf Sozialhilfe angewiesen sein wird.Die Mindereinnahmen auf Grund des Familienentla-stungsgesetzes treffen Bund, Länder und Gemeinden –entsprechend ihrem Anteil an den Steuerarten – glei-chermaßen. Auch an der vorgesehenen Kindergelderhö-hung, die wir aus Gerechtigkeitsgründen vornehmenwollen, sind Bund, Länder und Gemeinden im Verhält-nis 42,5 : 42,5 : 15 beteiligt. Dieser Schlüssel ist eben-falls üblich und vorgegeben. Ich denke, er hat sich be-währt.Die geplante Unternehmensteuerreform wird die Ein-nahmestruktur der kommunalen Ebene nicht ver-schlechtern. Wir werden die finanziellen Belange derKommunen im Auge behalten. Diese Reform wirdgründlich vorbereitet werden. Wir werden uns auch mitden Kommunen zusammensetzen, um zu versuchen, dieganzen Probleme, die mein Vorredner angesprochen hat,in den Griff zu bekommen.Insgesamt läßt sich also feststellen, daß die kommu-nale Ebene nur durch eine Abbremsung der Staatsver-schuldung gestärkt werden kann.
– Bitte nicht mißverstehen! Dies war kein Koalitionsan-gebot. – Wie die direkten Auswirkungen des Sparpake-tes auf einzelne Gemeinden ausfallen werden, liegt inder Hoheit der Länder. Nicht der Bund, sondern dieLänder sind für die Finanzen der Kommunen zuständig.Die SPD-Bundestagsfraktion begrüßt es deshalb aus-drücklich, daß die Länder bei der Neuregelung des Län-derfinanzausgleichs die Kommunen mit an den Tischholen wollen.
Wir fühlen uns auf dem Boden unserer Koalitionsver-einbarung den Gemeinden stark verpflichtet und freuenuns über jeden, der dies ebenso sieht. Ein gesonderterAntrag wie der vorliegende ist dafür nicht notwendig.Ich danke Ihnen.
Liebe Frau
Kollegin, ich möchte auch Ihnen im Namen des Hauses
zu Ihrer ersten Rede gratulieren.
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Peter Götz.
Frau Präsidentin! MeineDamen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Die rotgrüne Bundesregierung ist – entgegen anderslau-tenden Behauptungen – gerade dabei, die kommunaleSelbstverwaltung auszuhöhlen. Sie nennt das Ganzeauch noch sparen.
Ingrid Arndt-Brauer
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Meine Damen und Herren von der Koalition, derBund hat auch gegenüber den Städten und Gemeinden inunserem Land ein hohes Maß an Verantwortung. FrauKollegin, wir haben 1994 Art. 28 des Grundgesetzesgemeinsam geändert und damit die Mitverantwortungdes Bundes für die kommunalen Finanzen hervorgeho-ben. Wir sind während unserer Regierungszeit dieserMitverantwortung des Bundes gerecht geworden. Sowerden die Kommunen allein durch die Pflegeversiche-rung jährlich um 10 Milliarden DM entlastet.Auch auf der Einnahmenseite haben wir langfristigwirkende strukturelle Veränderungen vorgenommen. Soist unbestritten, daß der Tausch von Gewerbesteuerein-nahmen gegen eine unmittelbare Beteiligung an der Um-satzsteuer für die Kommunen langfristig ein guterTausch war. Was aber passiert jetzt? Unsere positivenReformschritte als Element einer langfristigen Gesun-dung der Kommunalfinanzen werden durch dieseBundesregierung schon innerhalb weniger Monate zer-stört.
Während wir die Kommunen von den Pflegekostenentlastet haben, wollen Sie mit einem FederstrichWohngeldkosten in einer Größenordnung von 2,5 bis3 Milliarden DM vom Bund auf die Kommunen ver-schieben.
Das ist sachlich falsch und wird zu einem Sprengsatz fürdie kommunalen Haushalte werden.
– Lieber Herr Kollege, mit Sparen, wie Sie es ankündi-gen, hat das nichts zu tun. Das ist ein Verschiebebahn-hof pur und sonst nichts.Falls Sie Ihre Pläne durchsetzen – was ich übrigenserheblich bezweifle, weil auch die von Ihnen regiertenLänder im Bundesrat das nicht mitmachen werden –,würde das im nächsten Jahr zu einem Schub bei den So-zialkosten von 10 Prozent allein in diesem Bereich füh-ren. Mit den Maßnahmen, die Sie dem Deutschen Bun-destag zur Beschlußfassung vorgelegt haben, werden Sieder Verantwortung des Bundes für die Kommunalfinan-zen nicht gerecht.Die Frau Kollegin hat vorhin in ihrer Rede die Koali-tionsvereinbarung zitiert – richtig so. Große Worte, ein-verstanden. Die Erklärung, das Konnexitätsprinzipeinzuhalten – nach dem Motto: Wer bestellt, bezahlt –,hat auch mir Freude bereitet. Viele tausend Kom-munalpolitiker haben das positiv zur Kenntnis genom-men.Das ist allerdings ein Jahr her. Inzwischen ist die Zeitvorangeschritten. Inzwischen haben Sie mit dem BruchIhres Versprechens viele Menschen in diesem Landeauch in diesem Bereich enttäuscht und getäuscht.
Oder wie können Sie mir erklären, was es mit der Be-rücksichtigung des Konnexitätsprinzips zu tun hat,wenn Sie die Bezahlung des pauschalierten Wohngeldes,das sich innerhalb von vier Jahren auf 10 Milliarden DManhäuft, einfach den Kommunen zuschieben? Was hates mit dem Konnexitätsprinzip zu tun, wenn der Bundeinseitig seinen Finanzierungsanteil beim Unterhaltsvor-schuß reduziert? Oder was hat es mit dem Konnexi-tätsprinzip zu tun, wenn Sie die Leistungen des Bundesfür den Zivildienst kürzen und erwarten, daß die Kom-munen und die Träger der freien Wohlfahrtspflege vorOrt das fehlende Geld drauflegen? Der Zivildienst ist einaußerordentlich wichtiges Element der sozialen Dienstein den Städten und Gemeinden. Es ist schon erstaunlich,daß eine Partei, die von sich auch noch behauptet, vonsozialer Gerechtigkeit mehr zu verstehen als andere, oh-ne Vorberatung mit der örtlichen Ebene kaltschnäuzigsoziale Netzwerke des Helfens zerschneidet und damitzerstört.
Was hat es mit Konnexität zu tun, wenn Sie unter derÜberschrift einer sogenannten ökologischen Steuerre-form den öffentlichen Personennahverkehr in den näch-sten vier Jahren zusätzlich mit 2,5 Milliarden DM zurKasse bitten?
– Die Entlastung bewegt sich im 10-prozentigen Be-reich. Das hat weder mit Stärkung der kommunalenSelbstverwaltung noch mit Öko noch mit einer umwelt-verträglichen Verkehrspolitik zu tun.
Ich sage noch einmal: Das ist Abkassieren pur.
Sie nehmen mit Ihrem Handeln – nicht mit den Papie-ren, die Sie drucken, sondern mit Ihrem Handeln – denStädten und Gemeinden die Luft zum Atmen. Das ist dieWahrheit.Die Menschen in den Städten und Gemeinden müssendafür teuer bezahlen: höhere Fahrpreise bei Bus undBahn, reduzierte kommunale Angebote in Schulen undSchwimmbädern, bei der Vereins- und Kulturförderung.Viele freiwillige Leistungen sind heute nicht mehr mög-lich.
– Die Kommunen haben selbstverständlich Vereinsför-derung und kulturelle Förderung betrieben.Ich will einen weiteren Punkt ansprechen. Auch inden investiven Bereichen werden den Kommunen diePeter Götz
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Möglichkeiten genommen. Wir brauchen kommunaleInvestitionen, auch zur Entlastung am Arbeitsmarkt.
Herr Kollege,
gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Franziska
Eichstädt-Bohlig?
Aber ja.
mir wirklich etwas den Atem.
Das soll sie ja auch.
daß Sie mit der Unsumme von Steuersubventionen, die
Sie in den letzten Legislaturperioden gewährt haben –
ich sage nur: Fördergebietsgesetz mit 50 Prozent Son-
derabschreibung –, die Einnahmeseite von Bund, Län-
dern und vor allem auch Gemeinden stark herunterge-
fahren haben, weil Sie es Steuermillionären gestattet ha-
ben, sich steuerlich auf null zu rechnen, so daß es in Ih-
rer Verantwortung liegt, daß unter anderem den Kom-
munen das Wasser bis zum Hals steht? Insofern finde
ich Ihre Rede wirklich ziemlich zynisch. Sie sollten auf
meine Frage einmal eine ehrliche Antwort geben und
keine Schaurede halten.
Erstens gebe ich Ihnen dar-
auf eine ehrliche Antwort – das mache ich immer –, und
zwar folgende: Sie haben die Wiedervereinigung in vie-
len Bereichen dieses Hauses nicht gewollt.
Wir haben, auch in den neuen Ländern, finanzielle
Rahmenbedingungen schaffen müssen, damit sich der
Wiederaufbau schnell vollzog. Es mag sein, daß es da in
vielen Bereichen auch Fehlentwicklungen gab; das wird
zugestanden.
Zweitens eine Bemerkung. Das, was Sie kritisieren –
die Abschreibungsmöglichkeiten –, ist finanzpolitisch
lediglich eine Frage der Liquidität. Im Klartext: Es wer-
den Einnahmen auf der Zeitachse verschoben. Das heißt,
die negativen Auswirkungen, die Sie jetzt beschreiben,
sind Summen, die letzten Endes dem Steuerzahler oder
dem Staat insgesamt zugute kommen. Das, was ich kriti-
siere, ist der Unterschied zwischen Anspruch und Wirk-
lichkeit, der Unterschied zwischen dem, was diese Bun-
desregierung im Rahmen des Bundestagswahlkampfes
angekündigt hat, dem, was sie in die Koalitionsvereinba-
rung geschrieben hat, und dem, was sie jetzt auf den
Tisch legt. Hier gibt es eine riesige Bandbreite, ein riesi-
ges Spektrum von Dingen, die nicht zusammenpassen.
Das kritisiere ich.
Gestatten Sie
eine zweite Zwischenfrage der Kollegin Eichstädt-
Bohlig?
Wenn es Spaß macht, na-
türlich.
zustimmen, daß Ihr Bild mit den verschobenen Einnah-
men einfach nicht stimmt? Erstens nützt es den Kom-
munen nichts, wenn sie ihre Einnahmeverluste lediglich
zu einem anderen Zeitpunkt haben. Zweitens haben Sie
mit Ihren Steuergeschenken so viele leerstehende Büro-
paläste, leerstehende Siedlungen, leerstehende Gewer-
beäcker – beleuchtete Äcker – gefördert, daß dauerhaft
steuerliche Verluste gerade auch für die Kommunen und
für die sonstigen öffentlichen Hände entstehen. Stimmen
Sie mir da zu, Herr Kollege Götz?
Sind es in Ihren Augen
Steuergeschenke, wenn der Staat Rahmenbedingungen
schafft, um ein von Sozialismus und Kommunismus zer-
störtes Land wieder aufzubauen? Sind das in Ihren Augen
Steuergeschenke? Diese Frage stelle ich an Sie zurück.
Meiner Meinung nach täuschen Sie Sparen vor und ver-
schieben in Wirklichkeit die Finanzprobleme, die Sie
sich selbst geschaffen haben, auf die unterste Ebene: auf
die Kommunen, auf die Rentner, auf die Sozialhilfeemp-
fänger, also auf diejenigen, die sich am wenigsten weh-
ren können. Das ist doch unsozial.
Herr Kollege,
gestatten Sie noch eine Zwischenfrage des Kollegen
Brinkmann?
Aber gern, macht ja Spaß.
Ganz abgese-hen davon, daß ich in dieser Woche insbesondere vonRednern Ihrer Fraktion immer wieder zur Kenntnisnehmen mußte, daß Sie offensichtlich nicht wissen, daßes einen Bundeskanzler in diesem Hause gegeben hat,der wie kaum ein anderer die Grundlagen für die deut-sche Einheit gelegt hat – das war nämlich Willy Brandt,ein Sozialdemokrat; das ist bei Ihnen offensichtlich im-mer noch nicht angekommen –,
Peter Götz
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 59. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Oktober 1999 5315
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möchte ich Sie fragen, ob Ihnen eigentlich bekannt ist,daß in der Zeit Ihrer alten Bundesregierung in einigenLändern bis zu 30 Prozent aller Kommunen ein Haus-haltssicherungskonzept erarbeiten mußten, weil sie dieEinnahmen nicht mehr realisieren konnten, die siebrauchten, um ihre Verwaltungsausgaben sicherzustel-len?
Ich teile Ihre Auffassung,
daß der Aufbau nach 1990 eine gesamtstaatliche Aufga-
be von Bund, Ländern und Gemeinden war. Das heißt,
die Herausforderungen, die Teilung und Sozialismus uns
auferlegt haben, waren die Grundlage für eine ganze
Reihe von Ausgaben der öffentlichen Hand. Daran wa-
ren auch die Kommunen beteiligt, das ist unstrittig. Was
haben wir gemacht? Wir haben versucht, durch unsere
Reformschritte – ich habe es vorhin gesagt – die kom-
munalen Haushalte zu entlasten. Das haben wir auch er-
reicht. Wenn Sie heute Haushaltsplanberatungen in den
Kommunen verfolgen und die Ausführungen von kom-
munalen Kämmerern hören, dann werden Sie erleben,
daß sich eine Stadt nach der anderen darüber freut, daß
die Gewerbesteuereinnahmen gestiegen sind, daß die
Rahmenbedingungen jetzt wieder in Ordnung sind. Ich
kritisiere, daß das, was sich in den letzten drei bis vier
Jahren zum Positiven entwickelt hat, von Ihnen mit Ihrer
Politik, mit den Entscheidungen, die Sie treffen wollen,
innerhalb von wenigen Monaten zerstört wird.
Gestatten Sie
eine zweite Zwischenfrage des Kollegen Brinkmann?
Bitte sehr.
Haben Sie
vielleicht vergessen, werter Kollege, daß in Ihrer Regie-
rungszeit der Städte- und Gemeindebund und der Deut-
sche Städtetag zweimal – in zwei verschiedenen Jahren
– heftigst kritisiert haben, daß durch Kürzungen im
Haushalt der Bundesanstalt für Arbeit die Sozialhilfetats
der Kommunen erheblich ausgeweitet werden mußten,
weil Sie nämlich einen Verschiebebahnhof von arbeits-
marktpolitischen Leistungen hin zur Sozialhilfe gemacht
haben und weil diese Ausgaben einseitig zu Lasten der
Kommunen finanziert werden mußten?
Das habe ich zur Kenntnisgenommen. Aber ich habe auch zur Kenntnis genommen– Entschuldigung, lassen Sie mich auch einen zweitenSatz sagen, damit Ihre Frage beantwortet werden kann –,daß im Bereich der Sozialhilfe – wenn Sie vorhin richtigzugehört hätten, müßten Sie das mitbekommen haben –die Haushalte der Kommunen durch die Einführung desPflege-Versicherungsgesetzes um jährlich 10 MilliardenDM entlastet worden sind.
Das ist also ausgeglichen. Wenn Sie heute mit Vertre-tern der kommunalen Spitzenverbände reden, dann fal-len denen, sofern noch vorhanden, sämtliche Haare aus,
wenn sie darüber nachdenken, was Sie auch im Bereichder Arbeitsmarktpolitik, etwa durch das Verschieben derArbeitslosenhilfe in den Sozialhilfebereich – das habenSie ja ebenfalls als Gesetzesvorlage in petto –, planen.Wir kritisieren also das, was Sie jetzt an Belastungenfür die kommunalen Haushalte planen. Ich sage es Ihnennoch einmal: Es würde den Kommunen, den Städten undGemeinden, das Wasser abdrehen, wenn diese Gesetz-entwürfe, so wie sie vorgelegt worden sind, Gesetz wür-den. Aber ich bezweifle, daß das der Fall sein wird.Die Kommunen erwarten keine Geschenke. Auch dassage ich. Aber was sie zu Recht erwarten können, isteine faire Partnerschaft. Deshalb lassen Sie mich im fol-genden vier wichtige Kernelemente einer ausgewogenenBeziehung zwischen den Kommunen und dem Bundkurz darstellen.Erstens. Wir brauchen eine Selbstbindung des Bundesan das Konnexitätsprinzip, und das darf nicht einfachnur in der Koalitionsvereinbarung stehen. Das Konnexi-tätsprinzip bedeutet ja nichts anderes, als daß der Bunddarauf verzichtet, seine politische Macht und seinefinanzielle Stärke zu Lasten des Schwächeren, subsidiä-ren Partners zu mißbrauchen. Das geschieht im Moment.Zweitens. Nur über eine Konsolidierung auf der Aus-gabenseite können die Städte und Gemeinden Spielraumfür notwendige Investitionen gewinnen. Die Kommunenselbst haben in den letzten Jahren mit großer Verant-wortung erfolgreich Ausgabenkonsolidierung betrieben.Es ist deshalb unfair, wenn der Bund jetzt die Konsoli-dierungserfolge der Kommunen durch Ausgabenverla-gerungen auf seinen eigenen Haushalt umlenkt.
Es ist auch staatspolitisch unklug. Konsolidierungsbe-reitschaft und Sparwille dürfen nicht bestraft, sondernmüssen unterstützt werden.
– Genau, Herr Kollege Hörster.Wir brauchen drittens eine schrittweise Umstrukturie-rung der kommunalen Einnahmeseite. Unser Gemeinde-steuersystem gehört auf den Prüfstand. Die Entwicklungist weitergegangen. Die Gewerbesteuerumlage kannnicht ins Uferlose gesteigert werden. Daß die Grund-steuer als zweite wichtige kommunale Steuer der Re-form bedarf, ist unstrittig.
Rainer Brinkmann
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5316 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 59. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Oktober 1999
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– Ich bin jetzt bei der Grundsteuer. Wenn Sie eine Zwi-schenfrage stellen wollen, dann können Sie sie stellen.Dagegen habe ich überhaupt nichts.
Die Grundsteuer mit dem Einheitswert als Bemes-sungsgrundlage ist heute so kompliziert, daß das geän-dert werden muß. Das wissen wir. Wir sollten die Chan-ce nutzen und das nicht einfach nur ändern, sondern zueiner radikalen Vereinfachung des Systems kommen.Das wäre auch ein Beitrag zu mehr Transparenz, zumAbbau von Bürokratie und damit zu einer Verschlan-kung des Staates.Eines will ich auch noch sagen: BundesfinanzministerTheo Waigel hat in der vergangenen Legislaturperiodepersönlich mit allen wichtigen Repräsentanten derkommunalen Spitzenverbände gesprochen. Soweit ichweiß – vielleicht täusche ich mich auch –,
hat es seit dem Amtsantritt dieser Bundesregierung –außer den regelmäßigen Kontakten etwa im Finanzpla-nungsrat – noch kein besonderes Gespräch des Bundes-finanzministers mit den kommunalen Spitzenverbändengegeben.
– Gut. Ich freue mich, wenn das der Fall ist.
Frau Parla-
mentarische Staatssekretärin, von der Regierungsbank
aus dürfen Sie nicht dazwischenrufen.
Nach meiner Information
haben kommunale Vertreter lediglich als Gast am Kat-
zentisch bei der Diskussion um die Unternehmensteuer-
reform gesessen. Wenn Sie das darunter verstehen, dann
mögen Sie recht haben.
Lassen Sie mich viertens sagen: Die meisten öffent-
lichen Aufgaben in Deutschland werden in den Städten,
Gemeinden und Kreisen wahrgenommen. Wenn wir
Subsidiarität und Föderalismus ernst nehmen, müssen
wir Wege finden, daß die Kommunen, die die Aufgaben
wahrzunehmen haben, auch die dafür notwendigen
finanziellen Mittel zur Verfügung erhalten. Deshalb
müssen die Kommunen in die Gespräche über die
Finanzreform von Bund und Ländern als gleichberech-
tigte Partner einbezogen werden.
Frau Präsidentin, liebe Kolleginnen und Kollegen,
lassen Sie mich zum Schluß folgendes anmerken:
Deutschland ist ein starkes Land. Leistungsfähige Städte
und Gemeinden sind die Grundvoraussetzung dafür, daß
wir ein starkes Land bleiben. Zerstören Sie dieses für die
Menschen in unserem Land wichtige Gut nicht! Wir
sollten das Erfolgsmodell „kommunale Selbstverwal-
tung“ nicht schwächen, sondern stärken.
Vielen Dank.
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Christine Scheel.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!Ich möchte am Anfang darauf hinweisen, daß es vonHerrn Dr. Rössel nicht ganz uneigennützig war, sich hierhinzustellen und sich für die Kommunen stark zu ma-chen. Ich will jetzt keine Werbung betreiben, aber er istimmerhin vom „Zentralkomitee der SED“ als Kandidatfür die Oberbürgermeisterwahl in Halle am 13. Februarvorgeschlagen worden.
– Wir wissen, daß er schon immer kommunalpolitischerSprecher war. Er ist aber auch Bundespolitiker und hatan anderer Stelle eine gewisse Verantwortung zu über-nehmen. Er hat hier nicht in populistischer Weise einHorrorbild zu zeichnen und eine isolierte Darstellungabzugeben, was die Belastung der Kommunen durchMaßnahmen des Bundes betrifft. Diese Unseriosität, ge-paart mit Populismus, ist wirklich kaum auszuhalten.
– Ich habe nur gesagt, daß das, was er uns geboten hat,nicht ganz uneigennützig war. Die Bevölkerung solltewissen, daß er sich hier zwar für die Kommunen ein-setzt, aber als Bundespolitiker eine andere Rolle zuspielen hat.Ich möchte noch einige Anmerkungen zu Herrn Götzmachen. Herr Götz, Sie wissen doch genausogut wiewir, daß es bezüglich der Finanzlage der Städte, derGemeinden und Landkreise in den letzten Jahren großeSchwierigkeiten gab, daß insbesondere in den Berei-chen, die Sie genannt haben – im kulturellen Bereich,aber auch im Bereich der Jugendhilfe, der Jugendpflegeund der Jugendhäuser –, massiv abgebaut wurde. Esmacht aber wenig Sinn, jetzt, da wir in gemeinsamerVerantwortung die zukünftige Finanzplanung beraten,so zu tun, als sei in den letzten Jahren alles unproblema-tisch gewesen. Sie versuchen, den Schwarzen Peter einerRegierung zuzuschieben, die für Ihre Entscheidungenrelativ wenig konnte. Das weiß auch jeder.
Peter Götz
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 59. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Oktober 1999 5317
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Eines finde ich sehr unehrlich – von der F.D.P. hörenwir vielleicht noch etwas dazu –: Die alte Koalition hattedoch Bestrebungen, die Gewerbesteuer ganz abzuschaf-fen. Aber als es um die Abschaffung der Gewerbekapi-talsteuer ging, haben wir alle in diesem Hohen Haus diewichtige Bedeutung des Bindeglieds zwischen Gemein-den und Unternehmen im Grundgesetz noch einmal be-stätigt. Es war klar, daß ein eigenes Hebesatzrecht fürdie Kommunen gewährleistet sein muß; darin waren wiruns einig.Ihr damaliger Koalitionspartner hat aber ein ganz an-deres Interesse. Nach den letzten Verlautbarungenmöchte er die Gewerbesteuer abschaffen und für dieKommunen eine andere anteilige Beteiligung an derEinkommensteuer und/oder an der Umsatzsteuer. Daßdies derzeit überhaupt nicht zur Diskussion steht – –
– Das weiß ich. Ich kenne die Vertreter der kommunalenSpitzenverbände gut genug, um zu wissen, daß sie dieSorge haben, daß auf Bundesebene eine Partei, die rela-tiv wenig Interesse an kommunalpolitischen Entwick-lungen hat, den Versuch unternimmt, ihnen dieses Hebe-satzrecht zu nehmen, das ihnen heute zu stetigen Ein-nahmen verhilft.
Gestatten Sie
eine Zwischenfrage des Kollegen Götz?
Gerne.
Zu meinen vorherigen Ausführungen möchte ich ab-
schließend noch sagen, daß das mit uns so nicht zu ma-
chen sein wird. Wenn wir etwas ändern werden und
wenn es zu einer Regelung kommen wird, dann wird
dies nur unter Berücksichtigung des gemeinsamen Inter-
esses von Bund, Ländern und Kommunen unter Einbe-
ziehung der kommunalen Spitzenvertretungen gesche-
hen. Nur wenn die kommunalen Spitzenvertretungen
dieses Vorhaben entsprechend absegnen, dann kann der
Bund Änderungen vornehmen. Dies kann nicht mit der
Brechstange geschehen, wie Sie es vorsehen.
Herr Götz, bitte.
Sie haben das Stichwort
„Gewerbesteuer in der letzten Legislaturperiode“ ange-
sprochen. Ist Ihnen aus meiner Rede noch meine Aussa-
ge in Erinnerung, daß die Abschaffung der Gewerbe-
kapitalsteuer, eines ganz wichtigen Teils der Gewerbe-
steuer, ein wichtiges reformpolitisches Element war? Ich
sagte, ihre Abschaffung sei deshalb möglich geworden,
weil es gelungen sei, den Kommunen unmittelbar – dar-
auf liegt die Betonung – eine Beteiligung an der Um-
satzsteuer zuzuordnen, so daß die Kommunen durch
diese Veränderungen der Gewerbesteuer heute nicht
schlechter gestellt seien. Unser Ziel war es immer, im
Zuge der Reform der Gewerbesteuer die notwendigen
Voraussetzungen für einen finanziellen Ausgleich für
wegfallende Einnahmen der Kommunen zu schaffen. Ist
Ihnen das noch in Erinnerung?
Das ist mir sehr gut in Erinnerung; aber darum ging es
an dieser Stelle nicht.
Ich habe gesagt: In der damaligen Diskussion war für
uns Voraussetzung für die Abschaffung der Gewerbeka-
pitalsteuer, daß den Kommunen das, was ihnen an Ein-
nahmen entgeht – Sie haben es soeben angesprochen –,
an anderer Stelle zur Verfügung gestellt wird. Meines
Wissens wurden die fehlenden Einnahmen sogar ein
bißchen überkompensiert. Dazu werde ich gleich etwas
sagen, wenn ich über die Be- und Entlastungsvolumina
– es geht um Milliardenbeträge – sprechen werde.
– Das bestreite ich gar nicht. – Ich habe betont, daß wir
dieses Vorhaben damals mitgetragen haben. Wenn Sie
sich richtig erinnern: Die Grünen gehörten zu denjenigen,
die die Auffassung vertreten haben, daß die Gewerbe-
kapitalsteuer keine zeitgemäße Steuer ist, weil sie eine
Substanzbesteuerung darstellt. Aus unserer Sicht war
es daher – egal, ob man rote oder schwarze Zahlen
schrieb – vertretbar, diese Steuer möglichst schnell ab-
zuschaffen. Wir haben dazu sogar eine Vorlage einge-
bracht.
Uns waren auch die Folgewirkungen klar. Aber Ihr
damaliger Koalitionspartner, die F.D.P., hat ein weiter-
gehendes Interesse. Solange es keine einvernehmliche
Klärung mit den Kommunen gibt, ist das Vorhaben der
F.D.P. zum Schaden der Kommunen. Würde man es
umsetzen, würde in der öffentlichen Diskussion un-
heimlich viel Unruhe ausgelöst. Ich bin in kommunalen
Bereichen viel unterwegs. Dort heißt es immer: Die Re-
gierung plant. Ich entgegne dem stets: Die alte Regie-
rung hat geplant; wir sind es nicht. – Die F.D.P. verfolgt
eine Politik, bei der die Interessen der Kommunen, was
die Gesamtentwicklung angeht, nicht ausreichend in die
Beratungen einbezogen worden sind.
Gestatten Sie
eine Zwischenfrage des Abgeordneten Solms?
Bitte schön, gerne.
Liebe FrauKollegin, wenn Sie schon unsere Absichten zitieren,dann tun Sie es bitte auch richtig. Würden Sie bitte zurKenntnis nehmen, daß es seit Jahrzehnten und damit einlangfristiges Projekt der F.D.P. war, die Finanzen derGemeinden auf andere Einnahmequellen zu stützen,nämlich auf solche, die stabil und nicht konjunkturab-hängig, also nicht zyklisch, sind?
Christine Scheel
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5318 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 59. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Oktober 1999
(C)
Unser Ziel ist seit langem, die Gemeinden in die Lage zuversetzen, eine mittelfristige Haushaltsplanung vorzu-nehmen, die verläßlich ist.Deswegen haben wir in der sozialliberalen Koalitionfür die Abschaffung der Lohnsummensteuer und in derletzten Koalition für die Abschaffung der Gewerbeka-pitalsteuer gesorgt. Als letztes Element muß natürlicheine Beseitigung der Gewerbesteuer insgesamt folgen.Dies muß aber durch den Ersatz in Form von stabilenEinnahmen aus der Umsatzsteuer und aus der Lohn- undEinkommensteuer geschehen. Dies stand schon 1994 imKoalitionsvertrag der alten Koalition. Das Vorhabenkonnte leider nicht verwirklicht werden, weil die Dis-kussion mit den Kommunen noch nicht weit genug ge-diehen war.Ich sage Ihnen voraus: Die Diskussion in diese Rich-tung wird weitergehen. Auch die Kommunen werden ihrInteresse an einer solchen Umgestaltung zeigen, weil siean verläßlichen und gleichmäßig fließenden Steuerquel-len mehr als an einer zyklischen Gewerbesteuer interes-siert sind.
Danke schön, Herr Solms. Das war eine gute Steilvorla-
ge. Sie haben im Prinzip das bestätigt, was ich gesagt
habe.
Außerdem haben Sie noch einmal darauf hingewie-
sen, daß es in der alten Koalition nicht gelungen ist, Ih-
ren Wunsch umzusetzen, weil sich die kommunalen
Spitzenverbände mit Ihren diesbezüglichen Vorstellun-
gen nicht haben anfreunden können. Man hat kein Er-
gebnis zustande gebracht, da die Finanzierungsfrage
vollkommen offengeblieben ist. Wir haben dieses jetzt
– das wissen natürlich auch Sie – auf der Basis des Ko-
alitionsvertrages durch die Bund-Länder-Kommissionen
bereits in Angriff genommen. Dazu gehört die Ent-
wicklung des kommunalen Finanzausgleiches genauso
wie die Finanzverteilung zwischen Bund und Ländern.
Das muß entwickelt werden, da es ab dem Jahre 2003
bzw. 2004 neu zu regeln sein wird. Das wissen ja auch
Sie.
Außerdem haben wir auf Grund der Überlegungen
der Oberfinanzdirektionen der Länder – das geht auch
an die Adresse von Herrn Götz; Sie haben das ja unter
dem Stichwort Grundsteuer angesprochen –, wie die
Grundsteuer in Zukunft ausgestaltet werden soll, eine
Kommission eingesetzt. Wir haben in diesem Jahr in
Übereinstimmung mit den Formulierungen des Koaliti-
onsvertrages konkrete Schritte unternommen, die genau
in diese Richtung gehen und die die kommunalen Spit-
zenverbände bei der Entwicklung der Finanzplanung
einbinden, um die Finanzkraft der Kommunen und vor
allen Dingen auch die kommunale Selbstverwaltung zu
stärken. Diese stellt nämlich für uns ein wesentliches
Element einer demokratischen Gesellschaft dar. Das ist
überhaupt keine Frage. Deswegen noch einmal vielen
Dank für Ihre Ausführungen. Diese haben meine Ge-
danken, die ich hier vorgetragen habe, sehr gut ergänzt.
Ich komme nun zu den Zahlen. In ihren isolierten
Darstellungen haben Herr Dr. Rössel genauso wie Herr
Götz so getan, als ob die in unserem Zukunftsprogramm
getroffenen Entscheidungen bei den Kommunen zu
Mehrausgaben und enormen Problemen in der Finanzie-
rung von verschiedensten Maßnahmen führen. Das Re-
formpaket entlastet die Kommunen aber an zahlreichen
Punkten; das sollte hier nicht verschwiegen werden. Das
sollte man auch in der Öffentlichkeit – die Kollegin von
der SPD hat ja schon viele Punkte angesprochen – sa-
gen, anstatt immer so zu tun, als ob irgend jemandem
etwas genommen wird.
Letztendlich muß man immer sehen, was hinten dabei
herauskommt. Das haben Sie selber gesagt; einer von
Ihnen hat ja diesen Satz geprägt.
Es ist auch richtig, daß allein das interessiert. Es interes-
sieren nicht die einzelnen Maßnahmen, sondern es inter-
essiert, was diese an den Strukturen ändern und verbes-
sern und was finanziell letztlich herüberkommt. Es ist
vollkommen klar, daß sich für die Kommunen durch die
Begrenzung des Zuwachses bei den Renten, den Pensio-
nen, den Beamtenbezügen, den Gehältern und durch die
Änderungen bei der Eigenheimzulage im Zeitraum von
2000 bis 2003 Mehreinnahmen in einer Größenordnung
von 4 Milliarden DM ergeben.
Hierbei sind die dämpfenden Auswirkungen des Spar-
pakets auf den Tarifbereich überhaupt noch nicht be-
rücksichtigt worden. Da die Kommunen ja bekannter-
maßen einen relativ hohen Angestelltenanteil haben,
wird sich hier noch einmal eine zusätzliche Entlastung
ergeben.
Gestatten Sie
noch eine Zwischenfrage des Kollegen Götz?
Ja, gerne. Herr Götz, bitte.
Frau Kollegin, habe ich es
richtig verstanden, daß Sie mit Ihren letzten Bemerkun-
gen den Ausgang der Tarifverhandlungen schon vor-
weggenommen haben?
Wir haben Vorschläge zum Zuwachs der Renten ge-macht. Es handelt sich dabei übrigens nicht um eineRentenkürzung – das möchte ich in diesem Zusammen-hang noch einmal klar sagen –, sondern wir nehmen ei-nen Inflationsausgleich vor, der so von der alten Regie-rung in den letzten Jahren nie vorgenommen wurde.
Dr. Hermann Otto Solms
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Die Rentner und Rentnerinnen werden in den nächstenzwei Jahren durch diese Anpassung in Höhe der Inflati-onsrate – 0,7 Prozent im nächsten Jahr und 1,4 Prozentim Jahre 2001 – mehr bekommen, als sie in den letztenfünf Jahren im Durchschnitt von der alten Koalition be-kommen haben. Dieses sage ich an dieser Stelle nocheinmal zur Klarstellung. Es wird ja immer so getan, alsob man etwas nehme. Hier wird vielmehr mehr gegeben,als die alte Regierung gegeben hätte.Wenn Sie, Herr Götz, jetzt ansprechen – –
Frau Kollegin,
bitte beantworten Sie die Frage etwas kürzer. Sie müs-
sen auch noch mit Ihrer Rede zum Schluß kommen.
Ja.
Sie sagten, wir griffen den Tarifverhandlungen vor.
Wir haben darum gebeten, daß man im Rahmen der Ta-
rifverhandlungen von beiden Seiten darauf hinwirken
solle.
Ich hoffe, daß es im Sinne des Allgemeinwohls so ge-
schehen wird, und ich gehe auch davon aus, daß es so
geschehen wird; die Signale sind ziemlich klar.
Ich möchte zu dem, was
Sie über die Renten gesagt haben – –
– Es nützt nichts, es hilft nichts. – Wissen Sie nicht ge-
nau, daß das, was Sie gesagt haben, falsch ist und nicht
der Realität entspricht? Sie nehmen doch den Rentnern
etwas weg, was den Rentnern zusteht. Darum geht es.
Es gibt Tabellen, aus denen eindeutig hervorgeht, wie
sich die Rentenanpassung in den letzten Jahren entwik-
kelt hat, und zwar die reale Anpassung im Verhältnis zu
dem, was als Inflationsausgleich hätte gewährt werden
müssen.
1994 gab es einen Ausreißer; das war das Wahljahr. Die
Rentnerinnen und Rentner sind nicht dumm. Sie wissen,
was sie am Monatsende an Rente bekommen. Diejeni-
gen, die schon einige Jahre lang Rente beziehen, wissen,
was sie bekommen haben, und sie werden sehen, was sie
in den Jahren 2000 und 2001 bekommen werden. Bei
vielen von denen, die jetzt durch die Kampagnen, die
Sie in den letzten Wochen leider gestartet haben,
irritiert und durcheinander gebracht worden sind, wird
ein Aha-Erlebnis einsetzen. Dann wird die Stimmung
kippen, und dann werden sie ganz klipp und klar sehen,
daß sie mehr haben, als sie vermutet haben.
Ich bitte jetzt
darum, daß die Rednerin zum ursprünglichen Thema zu-
rückkommt und in ihrer Rede fortfährt. Wir wollen doch
alle mit dieser Debatte heute noch zu Ende kommen.
Das tue ich gerne, Frau Präsidentin.Ich möchte nur fairerweise noch erwähnen, daß diefinanzielle Situation des Bundes dramatisch schlechterals die der Länder und auch die der Gemeinden ist. Dazuein paar Zahlen, weil auch Sie gerne mit Zahlen argu-mentieren: Von 1994 bis 1998 sank der Bundesanteil amgesamten Steueraufkommen von 48,2 Prozent auf 41Prozent.
Im gleichen Zeitraum konnten die Länder ihren Anteilvon 34,2 Prozent auf 41,3 Prozent erhöhen. Der Anteilder Gemeinden – darum geht es heute – hat sich von12,4 Prozent auf 12,6 Prozent erhöht. Das heißt, daß inder Konsequenz dieser Verteilung des Steueraufkom-mens der Anteil desjenigen, der mehr aufzubringen hat-te, seit 1993, seit dem FKP, gesunken ist, während derAnteil der Länder über die Jahre stieg. Auch bei denKommunen hat sich der Steueranteil leicht nach obenentwickelt. Dasselbe Bild zeigen die Zinsausgaben, dieZinsquote und all die Entwicklungen, die damit zusam-menhängen.
An die Adresse der PDS möchte ich sagen, daß sieein verzerrtes und insoweit falsches Bild gezeichnet hat.Insgesamt weist die kommunale Ebene nach den Kasse-nergebnissen 1998 erstmals seit 1989 deutliche Über-schüsse aus. Gegenüber einem Fehlbetrag in Höhe von5,9 Milliarden DM im Jahre 1997 ergab sich 1998 einÜberschuß von 4,8 Milliarden DM. Das muß man hierChristine Scheel
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bitte schön auch einmal auf Ihrer Seite zur Kenntnisnehmen.
Ich möchte abschließend feststellen, daß vom Erfolgdes Zukunftsprogramms 2000 alle staatlichen Ebenensowie die Gesellschaft insgesamt profitieren werden.Der Reformstau wird aufgelöst werden. Viele falsche In-formationen in diesem Zusammenhang werden in dennächsten Wochen korrigiert werden.
Ich bin sehr zuversichtlich, daß Bund, Länder undKommunen dieses Zukunftsprogramm gemeinsam tra-gen werden.Danke schön.
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Gerhard Schüßler.
Frau Präsidentin! Mei-ne sehr verehrten Damen und Herren! Der Zeitrahmenfür ein solches Thema und eine solche Debatte ist sehrkurz bemessen – völlig unangemessen für ein solchkomplexes Thema. Das zeigt den Stellenwert, denKommunalpolitik in diesem Hause hat.
Eine umfassende Gemeindefinanzreform ist in derTat dringend geboten; sie ist aber unabdingbar mit derNotwendigkeit einer vollständigen Neuordnung derBund-Länder-Finanzbeziehungen verbunden.
Es ist außerordentlich bedauerlich, daß die GemeinsameVerfassungskommission die Chance der notwendigenVeränderung nicht genutzt hat. Da saßen die Gemeindensozusagen am Katzentisch. Das macht ebenfalls deut-lich, daß die Kommunen sowohl beim Bund als auch beiden Ländern nicht sehr hochrangig angesiedelt sind.Von der erhöhten Umsatzsteuerzuweisung von 7 Prozentfür die Länder haben die Gemeinden keinen Pfennig ge-sehen. Auch das muß hier einmal festgestellt werden. Dasind die Länder in der Pflicht.
Der PDS-Antrag spricht einerseits eine Vielzahl er-kannter Probleme an, enthält andererseits aber kaumrealistische Lösungsansätze, und wenn, dann falsche.
Revitalisierung der Gewerbesteuer – das hätte uns ge-rade noch gefehlt! Die Gewerbesteuer muß endgültigabgeschafft werden.
Sie ist nämlich eine mittelstandsfeindliche und wettbe-werbsverzerrende Steuer, die sich gerade bei inhaberbe-zogenen kleinen und mittelständischen Betrieben wieeine zweite Einkommensteuer auswirkt.
Aber das können Sie ja nicht wissen. Deswegen sage iches Ihnen noch einmal.Über den Ausgleich hat Ihnen der Kollege Solmseben etwas gesagt. Ich bin übrigens sehr erfreut, daßFrau Kollegin Scheel ihm zugestimmt hat. Wir werdensehen, wie sich das im täglichen Handeln auswirkt.Die PDS fordert eine Flächennutzungssteuer und da-mit nichts anderes als eine Erhöhung der Grundsteuer.
Darüber hinaus haben Sie die Vermögensteuer ange-führt.
Damit präsentieren Sie sich hier als Steuererhöhungs-partei für die Gemeinden. So nicht!
Die Aufgabenverteilung zwischen den verschiedenenföderalen Ebenen muß neu geregelt werden. DiejenigeKörperschaft, die eine Aufgabe zu erfüllen hat, muß diedaraus entstehenden Ausgaben tragen.
Sonst gibt es keinen Anreiz für eine wirtschaftlicheAusgestaltung und Durchführung von Gemeinschafts-aufgaben, da die finanziellen Folgen von unterschied-lichen Gebietskörperschaften getragen werden müs-sen.Ohne das vielbeschriebene Konnexitätsprinzip wirdeine sachgerechte Verteilung und Konzentration öffent-licher Mittel nicht erreicht. Mittelfristig müssen wir diesogenannten Gemeinschaftsaufgaben und ihre Mischfi-nanzierung abschaffen. Die Mischfinanzierungstatbe-stände sind ein ganz entscheidendes Hindernis beim Ab-bau und bei der Deregulierung von ins Kraut gewachse-nen Verwaltungsstrukturen.Aber – auch heute morgen war es hier wieder hörbar– alles Klagen und Jammern darüber hilft uns überhauptnicht weiter. Es ist dieses Parlament, das endlich die In-itiative ergreifen und handeln muß.
Lassen Sie mich abschließend sagen: Für die F.D.P.ist eine Reform der Finanzverfassung mit einer umfas-senden Gemeindefinanzreform überfällig.
Christine Scheel
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Die heutige Debatte – auch wenn sie eine Kurzdebatteist – muß der Auftakt für eine gemeindefreundliche Po-litik von Bund und Ländern sein.
Die Bundesregierung, verehrte Frau Kollegin Scheel, hatauch auf diesem Politikfeld einen miserablen Start hin-gelegt.
Der Verschiebebahnhof „Sparpaket“, das Sie auch noch„Zukunftsprogramm“ nennen, beinhaltet ganz erheblicheund unrentable Mehrbelastungen für die Gemeinden.
Genau das ist der falsche Weg, den wir nicht mitgehenwerden.
Stellung und Ansehen des Staates entwickeln sich vorallem auf kommunaler Ebene. Die verbalen Bekundun-gen von allen Seiten müssen endlich dazu führen, daßdanach auch gehandelt wird. Nur daran kann ich heuteappellieren.Ich danke Ihnen.
Ich schließe
damit die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage
auf Drucksache 14/1302 an die in der Tagesordnung
aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie ein-
verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Wir sind damit am Schluß unserer heutigen Tages-
ordnung. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen
Bundestages ein auf Mittwoch, den 6. Oktober 1999,
13 Uhr.
Die Sitzung ist geschlossen.