Gesamtes Protokol
Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Sitzung ist eröffnet.
Ich rufe den Zusatzpunkt 9 auf: Eidesleistung von Bundesministern
Der Herr Bundespräsident hat mir mit Schreiben vom 21. Januar 1993 folgendes mitgeteilt:
Gemäß Artikel 64 Absatz 1 des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland habe ich heute auf Vorschlag des Herrn Bundeskanzlers
Herrn Bundesminister Jürgen W. Möllemann auf seinen Antrag aus seinem Amt als Bundesminister für Wirtschaft,
Herrn Bundesminister Ignaz Kiechle aus seinem Amt als Bundesminister für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten und
Herrn Dr. Heinz Riesenhuber aus seinem Amt als Bundesminister für Forschung und Technologie entlassen sowie
Herrn Dr. Günter Rexrodt zum Bundesminister für Wirtschaft,
Herrn Jochen Borchert zum Bundesminister für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten,
Herrn Dr. Wolfgang Bötsch zum Bundesminister für Post und Telekommunikation und
Herrn Matthias Wissmann zum Bundesminister für Forschung und Technologie ernannt.
Nach Art. 64 Abs. 2 des Grundgesetzes leistet ein Bundesminister bei der Amtsübernahme den in Art. 56 vorgesehenen Eid.
Herr Bundesminister Rexrodt, ich darf Sie zur Eidesleistung zu mir bitten. Ich bitte Sie, den Eid zu sprechen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich schwöre, daß ich meine Kraft dem Wohle des deutschen Volkes widmen, seinen Nutzen mehren, Schaden von ihm wenden, das Grundgesetz und die Gesetze des Bundes wahren und verteidigen, meine Pflichten gewissenhaft erfüllen und Gerechtigkeit gegen jedermann üben werde. So wahr mir Gott helfe.
Herr Bundesminister, Sie haben den vom Grundgesetz vorgesehenen Eid gesprochen. Ich wünsche Ihnen eine gute Hand und Gottes Segen für Ihr Amt. Herzlichen Glückwunsch!
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herzlichen Dank, Frau Präsidentin.
Ich möchte jetzt Herrn Bundesminister Borchert zu mir bitten. Ich darf Sie bitten den Eid zu sprechen.
Ich schwöre, daß ich meine Kraft dem Wohle des deutschen Volkes widmen, seinen Nutzen mehren, Schaden von ihm wenden, das Grundgesetz und die Gesetze des Bundes wahren und verteidigen, meine Pflichten gewissenhaft erfüllen und Gerechtigkeit gegen jedermann üben werde. So wahr mir Gott helfe.
Herr Borchert, meinen ganz herzlichen Glückwunsch. Alles Gute zum Gelingen.
Herzlichen Dank.
Herr Bundesminister Dr. Bötsch, ich darf auch Sie zu mir bitten.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich schwöre, daß ich meine Kraft dem Wohle des deutschen Volkes widmen, seinen Nutzen mehren, Schaden von ihm wenden, das Grundgesetz und die Gesetze des Bundes wahren und verteidigen, meine Pflichten gewissenhaft erfüllen und Gerechtigkeit gegen jedermann üben werde. So wahr mir Gott helfe.
Metadaten/Kopzeile:
11712 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 135. Sitzung. Bonn, Freitag, den 22. Januar 1993
Sie haben den Eid des Grundgesetzes gesprochen. Auch Ihnen herzlichen Glückwunsch und Gottes Segen für Ihr Amt.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Vielen Dank, Frau Präsidentin.
Ich bitte jetzt Herrn Bundesminister Wissmann zu mir. Ich bitte Sie, den Eid zu sprechen.
Ich schwöre, daß ich meine Kraft dem Wohle des deutschen Volkes widmen, seinen Nutzen mehren, Schaden von ihm wenden, das Grundgesetz und die Gesetze des Bundes wahren und verteidigen, meine Pflichten gewissenhaft erfüllen und Gerechtigkeit gegen jedermann üben werde. So wahr mir Gott helfe.
Herr Bundesminister, Sie haben den Eid gesprochen. Alles Gute für Ihr neues Amt und Gottes Segen.
Herzlichen Dank.
Ich möchte zugleich den ausgeschiedenen Bundesministern Ignaz Kiechle, Jürgen W. Möllemann und Heinz Riesenhuber für ihre langjährige verdienstvolle Arbeit im Namen des Hauses ganz herzlich danken. Für ihr weiteres Wirken begleiten Sie unsere besten Wünsche.
Meine Damen und Herren, die Fraktion der CDU/ CSU teilt mit, daß der Abgeordnete Bernhard Jagoda als ordentliches Mitglied aus dem Vermittlungsausschuß ausscheidet. Als Nachfolger wird der Abgeordnete Dr. Paul Hoffacker vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? — Ich höre keinen Widerspruch. Damit ist Kollege Dr. Paul Hoffacker als ordentliches Mitglied des Vermittlungsausschusses bestimmt.
Ich rufe den Tagesordnung i i auf:
a) Beratung der ersten Beschlußempfehlung und des ersten Teilberichts des 1. Untersuchungsausschusses nach Artikel 44 des Grundgesetzes
b) Beratung der zweiten Beschlußempfehlung und des zweiten Teilberichts des 1. Untersuchungsausschusses nach Artikel 44 des Grundgesetzes
— Drucksachen 12/654, 12/662, 12/3462, 12/3920 —
Berichterstattung:
Abgeordnete Joachim Hörster Dr. Andreas von Bülow
Arno Schmidt Andrea Lederer
Ingrid Köppe
Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat sind für die gemeinsame Aussprache zwei Stunden vorgesehen. — Ich sehe dazu keinen Widerspruch und eröffne die Aussprache. Als erster erhält der Abgeordnete Friedrich Vogel das Wort.
Frau Präsidentin! Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen! Mit wem auch immer ich über den 1. Untersuchungsausschuß sprche, die erste Frage ist: „Kommt denn dabei überhaupt etwas heraus?" Und gleich darauf folgt: „Der Schalck sitzt immer noch unangefochten in seiner Villa am Tegernsee. " Das passiert selbst bei professionellen Beobachtern, vor allem auch bei vielen Kolleginnen und Kollegen, was deutlich macht, welche Mißverständnisse über den vom Parlament erteilten Untersuchungsauftrag bestehen.Um es noch einmal deutlich zu sagen: Der Untersuchungsausschuß hat nicht die Aufgabe, Fehlverhalten und Schuld von Schalck-Golodkowski oder anderen im strafrechtlichen Sinne aufzuklären; dafür haben wir Staatsanwaltschaften und Gerichte. Er kann auch nichts von dem Schaden wiedergutmachen, der den Menschen in der ehemaligen DDR durch das SED-Regime zugefügt worden ist. Bestenfalls kann er hierzu einen kleinen vorbereitenden Beitrag leisten. Im übrigen möchte ich in diesem Zusammenhang doch auch auf die Enquete-Kommission „Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland" hinweisen, die von unserem Kollegen. dem ehemaligen Bürgerrechtler Rainer Eppelmann geleitet wird.Der Auftrag des 1. Untersuchungsausschusses zielt — und darin liegt zu Recht eine weise Selbstbeschränkung — darauf, vor allem die besondere Bedeutung und Stellung des von Schalck-Golodkowski geleiteten Bereichs „Kommerzielle Koordinierung" im Staats- und Gesellschaftssystem der DDR aufzuklären. Damit wird ein bedeutsamer Beitrag zur öffentlichen politischen Aufarbeitung eines Stückes Nachkriegsgeschichte geleistet, und zwar nicht nur der Geschichte der DDR, sondern der Geschichte des gesamten Deutschland. Diese Form der Vergangenheitsbewältigung gerade durch das erste gemeinsame frei gewählte deutsche Parlament ist ein wichtiger Schritt auf dem Weg zur Herstellung der inneren Einheit Deutschlands.
Der Bundestag hat den Untersuchungsausschuß, damit er seiner Aufgabe gerecht werden kann, mit bislang einmaligen personellen und technischen Mitteln ausgestattet. Das ist zweifellos eine große Hilfe.Das rechtliche Instrumentarium, das dem Ausschuß zur Verfügung steht, versetzt ihn in die Lage, wie ein Gericht, notfalls unter Zwang, Akten beizuziehen und Zeugen zu vernehmen. Diese Möglichkeiten hat nur ein Untersuchungsausschuß. Wir haben gestern ein
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 135. Sitzung. Bonn, Freitag, den 22. Januar 1993 11713
Friedrich Vogel
Verfahren beschlossen, das erstmals eine solche Anwendung einer Zwangsmaßnahme einleiten soll.Deswegen vermag auch nur der Untersuchungsausschuß umfassend Aussagen von Zeitzeugen zu sichern, die ansonsten nicht erreichbar wären. Diese Möglichkeit steht z. B. Historikern nicht offen. Sie können allerdings auf den Ergebnissen der Ausschußarbeit aufbauen.Trotz der besonderen Ausstattung, die dem Ausschuß mitgegeben wurde, wird er nicht in der Lage sein, den ihm erteilten Auftrag bis zum Ende der Legislaturperiode vollständig zu erfüllen. Der Ausschuß hat sich daher vorgenommen, seine Arbeit auf besonders wichtige Untersuchungskomplexe zu konzentrieren. Dem entsprechen die beiden heute dem Plenum vorliegenden Teilberichte. Ein dritter Teilbericht wird in Kürze folgen. Diese Teilberichte enthalten schon einige wichtige Antworten auf den Untersuchungsauftrag. Insbesondere der zweite Teilbericht mit einer Darstellung der 1989 zum Bereich „Kommerzielle Koordinierung " gehörenden Unternehmen beschreibt plastisch und präzise die Größe und Bedeutung sowie die Verästelung des Schalckschen Imperiums. Dieses Imperium stellte eine vom Ministerium für Staatssicherheit abgesicherte kapitalistische Insel in einem sozialistisch-planwirtschaftlichen Meer dar. In welcher Weise KoKo gleichzeitig auch vom MfS für seine Zwecke genutzt worden ist, bleibt ein wichtiger Punkt, der vom Ausschuß noch weiter aufzuklären ist.Umfang und Schwierigkeit der noch bevorstehenden Arbeit des Ausschusses lassen sich an dem bisher schon erbrachten Aufwand messen. Ich will dies an einigen wenigen Zahlen deutlich machen: Bisher hat der Ausschuß rund 1,3 Millionen Blatt Dokumente beigezogen und in mehr als 300 Stunden knapp 150 Zeugen in öffentlichen Sitzungen vernommen. Weitere 250 Zeugenvernehmungen sind beschlossen. Jede Woche kommen neue Dokumente hinzu und werden neue Zeugen benannt.Im Laufe der Beweisaufnahme ist deutlich geworden, daß vielfach Dokumente in ungeordnetem Zustand und lückenhaft vorliegen, zum Teil auch offenbar nicht mehr auffindbar sind. Dieser Umstand macht es häufig schwierig, Sachverhalte wahrheitsgemäß nachzuvollziehen. Auch kann nicht davon ausgegangen werden, daß die Wirklichkeit immer dem entsprach, was in Befehlen und sonstigen Anordnungen gefordert wurde.Die Ausfüllung der bestehenden. Erkenntnislücken durch Zeugenbefragungen begegnet wiederum anderen Schwierigkeiten. Bei den Zeugen handelt es sich nur in Ausnahmefällen um unbeteiligte Dritte. Hochrangige Zeugen, wie z. B. Schalck-Golodkowski selbst oder der vor einigen Tagen vernommene Dr. Günter Mittag, versuchen in der Regel, ihr Persönlichkeitsbild für die Geschichte aufzupolieren. Zeugen aus den unteren Rängen neigen dazu, ihre Mitwirkung zu bagatellisieren. Manche haben auch bereits wesentliche Teile aus ihrer Erinnerung verdrängt. Manche, die früher das große Wort führten, sind als Zeugen mucksmäuschenstill.Gerade, was den Bereich KoKo angeht, haben wir den Eindruck gewinnen müssen, daß seine Angehörigen auch heute noch ein ausgeprägter Korpsgeist bindet — vielleicht auch bestehende gemeinsame Interessen. Auch wenn viele dieser Zeugen treuherzig bestreiten, daß der Kontakt untereinander noch intensiv weiterbesteht,
glaube ich nicht, daß er sich auf die jährlichen gegenseitigen Grüße zu Geburtstagen oder zu den hohen Festtagen wie Weihnachten und Ostern beschränkt.
Nicht verhehlen will ich, daß trotz des hohen Maßes an Kooperationsbereitschaft, das die Ausschußarbeit prägt, auch bislang nicht ausgeräumte Meinungsverschiedenheiten über die weitere Ausschußarbeit und insbesondere über die Art und Weise ihrer Beendigung bestehen. Aus der Verantwortung, die ich als Vorsitzender im Rahmen des vom Parlament erteilten Untersuchungsauftrages sehe, will ich mit meiner Meinung nicht hinter dem Berge halten. Die Bedeutung des Untersuchungsauftrages gerade im Blick auf das aufzuklärende Stück Zeitgeschichte macht es nach meiner Auffassung erforderlich, dem Parlament einen sorgfältig erarbeiteten Schlußbericht vorzulegen.
Wenn das gelingen soll, können wir nicht wie bisher einen hohen Arbeits- und Zeitaufwand für die Abfassung weiterer Teilberichte leisten, der zuviel Arbeitskraft der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Ausschußsekretariats wie der Fraktionen und Gruppen binden würde.
Für die Erarbeitung eines der Bedeutung des Auftrags entsprechenden Schlußberichts muß nach meiner Überzeugung allein ein Bearbeitungsaufwand von einem halben Jahr eingeplant werden. Wollen wir den Schlußbericht dann auch noch im Plenum debattieren, was sicher mehr als angemessen ist, dann müssen wir berücksichtigen, daß nach bisheriger Erfahrung nach der Sommerpause 1994 nicht mehr mit Plenarsitzungen des Parlaments gerechnet werden kann.Daraus ergeben sich für die weitere Ausschußarbeit Folgerungen, über die, so hoffe ich, eine Verständigung wird erreicht werden können.Als Vorsitzender möchte ich nicht versäumen, die gute Kooperation mit dem von der Bundesregierung bestellten Koordinator, dem Parlamentarischen Staatssekretär beim Bundesminister der Finanzen, Dr. Joachim Grünewald, lobend hervorzuheben.
Ich füge hinzu: Die eine oder andere Stelle der Bundesregierung könnte sich daran allerdings noch intensiver als bisher orientieren.
Metadaten/Kopzeile:
11714 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 135. Sitzung. Bonn, Freitag, den 22. Januar 1993
Friedrich Vogel
Auch die Zusammenarbeit mit der Gauck-Behörde ist inzwischen zufriedenstellend.Zu loben ist auch der Einsatz der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Sekretariats. Das gilt besonders für den Ausschußsekretär, Dr. Heymer, und seinen Stellvertreter Hotter. Sie tragen einen wesentlichen Teil der Arbeitslast der Ausschußarbeit.Selbst bin ich erst seit etwa einem halben Jahr Vorsitzender des Ausschusses. Es gibt einige unter den Mitgliedern, die nicht nachlassen, darauf immer wieder hinzuweisen. Den größeren Teil der bisherigen Arbeit hat der Ausschuß unter dem Vorsitz meines Vorgängers, des Kollegen Eylmann, geleistet, dem ich von dieser Stelle aus dafür herzlich danken möchte.
Als nächster spricht der Abgeordnete von Bülow.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der 1. Untersuchungsausschuß des Deutschen Bundestages dieser Legislaturperiode geht zurück auf die Umstände des nicht zuletzt auch wirtschaftlichen Zusammenbruchs der DDR. Die DDR war 1989 pleite. Dies wußten die Bürger, mit Sicherheit auch die führenden Leute des Bereichs Kommerzielle Koordinierung um Schalck-Golodkowski.
Das letzte wirtschaftspolitische Experiment, sich über außergewöhnliche Deviseneinnahmen aus dem Sumpf zu ziehen, war gescheitert. Der Kopf dieses Experiments, der Oberst des Ministeriums für Staatssicherheit und zugleich Staatssekretär des Ministeriums für Außenhandel, floh am 3. Dezember 1989 nach West-Berlin, nachdem er, von seiner Partei fallengelassen, gedroht hatte, vor der Volkskammer auszupacken.Von West-Berlin führte der Weg unter tatkräftiger Mithilfe der Familie Strauß einerseits und des damaligen Bundesministers des Innern und heutigen Fraktionsvorsitzenden der CDU/CSU andererseits nach München. Der BND nahm sich des Mannes an. Eine private Sicherheitsfirma, geleitet von einem ehemaligen Oberst und Vertreter des Militärischen Abschirmdienstes beim Ministerpräsidenten von Bayern, brachte das Ehepaar Schalck in einer Hütte unter.Das Ehepaar Schalck-Golodkowski erhielt falsche Papiere auf den Namen Gutmann, den Mädchennamen von Frau Schalck, unter dem Frau Schalck auch zu DDR-Zeiten schon als Oberst des Ministeriums für Staatssicherheit Kurierdienste leistete.Das Ehepaar Schalck-Golodkowski fand einen fernsehbekannten Wohnsitz am Tegernsee, finanziert mit einem Kredit der CSU- und Franz-Josef-Strauß-nahen Firma März in Rosenheim, angeblich ohne Absicherung.Der 1. Untersuchungsausschuß des Deutschen Bundestages dieser Legislaturperiode versucht nun, Licht in Aufbau und Betrieb des Bereichs Kommerzielle Koordinierung zu bringen, in die Fragen, wer westlicherseits kooperierte, welche Gelder er erwirtschaftete, wo diese im In- und Ausland teils angelegten, teils vagabundierenden Gelder nach dem Zusammenbruch der DDR geblieben sind und wie denn die merkwürdigen Umstände des Wechsels des Ehepaares Schalck-Golodkowski in die Bundesrepublik zu erklären sein könnten.Der Untersuchungsausschuß arbeitet nun bereits anderthalb Jahre. Über vieles herrscht inzwischen Klarheit. Die Bau- und Machart des Bereichs Kommerzielle Koordinierung ist einigermaßen durchschaubar geworden. Der Brief Schalcks aus dem Jahre 1965 an das Mitglied des Politbüros der SED Matern verrät uns die Stoßrichtung des Anzapfens westlicher Fonds, auch unter Nutzung krimineller Methoden und unter Abschirmung durch den Staatssicherheitsdienst. Die Doktorarbeit Schalcks aus dem Jahre 1968, zusammen mit seinem Führungsoffizier Volpert verfaßt, verrät uns weitere Details. Offiziere im besonderen Einsatz der Staatssicherheit schirmen im Staatsapparat, im Zoll, in der volkseigenen Wirtschaft den immer weiter wuchernden und das Import- und Exportmonopol über die DDR-Wirtschaft anstrebenden KoKoBereich vor jeder unliebsamen DDR-internen Staatskontrolle ab.Ein speziell auf die Betriebe von KoKo angesetzter Spezialapparat der Stasi, die Arbeitsgruppe Bereich Kommerzielle Koordinierung, durchdringt zwar den Bereich, schirmt ihn nach außen ab, hindert ihn jedoch nicht ernsthaft an seinen Aktivitäten. Die staatliche Finanzrevision findet in weiten Teilen nicht statt.Eine geordnete Buchführung gab es nicht. Nur Teile der Kontenbewegungen lassen sich nachvollziehen. Viele Geschäfte wurden mit Koffern, wenn nicht Containern voll Bargeld gemacht. Selbst die Geschäfte, die über die Konten liefen, sind häufig nur schwer nachzuvollziehen, weil ein Schleier von Scheinfirmen von Liechtenstein über die Schweiz und Österreich nach Panama und Curaçao oder Hongkong die Bewegungen verheimlicht.Die Kriminalität mancher Geschäfte ist stichprobenartig offenbar geworden bei früheren Zufallstreffern des westdeutschen Zolls, durch Ermittlungen des Bundesamtes für Verfassungsschutz und des Bundesnachrichtendienstes. So wurden systematisch die westdeutschen und europäischen Zollbestimmungen unterlaufen, das Tabakmonopol wurde durch Zigarettenschmuggel in alle Länder der Europäischen Gemeinschaft unterlaufen, das Branntweinmonopol wurde betrogen, das Welttextilabkommen untergraben. Die Einfuhrbedingungen für Fleisch wurden jeweils mit Hilfe westlicher Kollaborateure hintergangen.Um an Kunst und Antiquitäten zum Verkauf gegen westliche Devisen heranzukommen, wurden Sammler ausgeforscht und mit enteignungsgleichen Steuerbescheiden zum Verkauf gezwungen. Im Bereich des Waffenexports war die DDR über ein spezielles Firmengeflecht bereit, an Freund und Feind Waffen jeder Herkunft zu verkaufen.Durch Schalcks Hände wanderten die Gelder, mit denen die Bundesrepublik Häftlinge freikaufte, die Postpauschale ebenso wie die Transitgebühren, die Kirchengelder, die Genex-Einnahmen ebenso wie die
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag -- 12. Wahlperiode — 135. Sitzung. Bonn, Freitag, den 22. Januar 1993 11715
Dr. Andreas von BülowGelder für Transport und Ablagerung westlichen Mülls auf östlichen Deponien. Dazu kamen Zwangsprovisionen auf Import und Export und vieles andere mehr.Die Frage nach dem Nutzen für die DDR-Bevölkerung ist nicht beantwortet. Schalck berühmt sich, der DDR 50 Milliarden DM an Devisen zusätzlich erwirtschaftet zu haben. Doch was waren die Kosten? Die Blütezeit von KoKo geht einher mit dem rasanten Verfall der Wettbewerbsfähigkeit der DDR-Volkswirtschaft. Mußte die DDR-Wirtschaft Anfang der 80er Jahre zwei Mark der DDR an Kosten aufwenden, um auf westlichen Märkten eine westliche D-Mark zu erwirtschaften, so verfiel dieses Austauschverhältnis auf vier Mark Ost an Kosten für eine D-Mark Erlös binnen acht bis neun Jahren. Statt die DDR-Wirtschaft wettbewerbstüchtig zu machen, geschah in Wirklichkeit genau das Gegenteil. Zum Schluß wurden die Waren der DDR auf den Weltmärkten regelrecht verschleudert.Ob hier alles mit rechten Dingen zuging, ist nach wie vor die große Frage. Es ist schwer nachweisbar und dennoch sehr wahrscheinlich, daß mit Hilfe westlicher Kollaborateure über Dumpingpreise Geld beiseite geschafft worden ist.Mit Sicherheit hat noch nie ein Ausschuß eines deutschen Parlaments sich durch ein derart komplexes, unübersichtliches mafioses Gebilde eines für die Mehrzahl der Mitglieder zumindest am Anfang noch sternenfremden Wirtschafts- und Staatssystems hindurcharbeiten müssen. Wir stehen vor einem Berg von 1 300 000 Aktenseiten. Sie sind nicht vollzählig. Fortbestehende KoKo-Firmen sitzen auf Akten aus der DDR-Zeit. Wichtige Akten, etwa zum Drogen- und Waffenhandel im Zuge des Iran-Contra-Skandals, sind noch vor der Vereinigung ins Ausland gebracht worden.Bisher sind erst 10 000 der 1,3 Millionen Seiten so aufbereitet worden, daß man mit Kombinationen von Stichworten erhoffte Schätze heben kann. So großzügig sich der Ältestenrat bei der Beschaffung der Computeranlage gezeigt hat, so knauserig ist er jetzt bei der Bewilligung von Datensichtgeräten für die einzelnen Abgeordneten. Wir fühlen uns wie Abgeordnete, denen der Zugang zur Bundestagsbibliothek verwehrt wird.Niemand kann derzeit ermessen, wieweit der Ausschuß in der Lage sein wird, die Materie wirklich zu durchdringen. Daß dies in einer kurzen Legislaturperiode nur unzureichend möglich sein wird, hängt auch an der Organisation des Ausschusses und seiner Mitglieder selbst. Trotz der 1,3 Millionen Seiten, trotz der ungeheuren Komplexität des Untersuchungsgegenstandes weigern sich die Regierungsparteien mit für uns unverständlicher Hartnäckigkeit, das Berichterstattersystem einzuführen.
— Ein Geschäftsführer sollte wissen, was das heißt. So gelingt es nicht, arbeitsteilig die Thematik des Ausschusses so aufzuarbeiten, daß sich das Plenum des Ausschusses nur noch mit Beweiserhebungen beschäftigt, die der Sache wirklich dienen. Mit dergewählten Arbeitsorganisation sind wir nicht in der Lage, große Aktenbestände durch Berichterstatter sichten und darüber dem Ausschuß berichten zu lassen, wie es der parallel tagende bayerische Untersuchungsausschuß im übrigen mit gutem Erfolg praktiziert, Herr Hörster.Wir können keine Vorabklärung von Zeugenvernehmungen durchführen. Auch an die in der Parlamentspraxis des amerikanischen Kongresses übliche Vorermittlung durch Mitarbeiter des Ausschusses und der Fraktionen ist angesichts der rigiden Haltung der Regierungsfraktionen nicht zu denken. Wir kommen daher nur außerordentlich mühsam und zäh voran und werden wichtige Komplexe in dieser Legislaturperiode vermutlich nicht abarbeiten können.Über die Motive der Koalition kann man nur mutmaßen.
Die Verweigerung einer vernünftigen Arbeitsorganisation geht einher mit Merkwürdigkeiten, die dieses Verfahren von Beginn an begleiten. Da fehlen z. B. alle Unterlagen aus der Zeit des Staatsministers Jenninger im Bundeskanzleramt.
Da sind die Briefe Schalcks an den derzeitigen Fraktionsvorsitzenden der CDU/CSU, Wolfgang Schäuble, seinerzeit Bundesinnenminister und davor Kanzleramtsminister, der Geschäftsbriefe zu Privatbriefen erklärt und diese nicht mehr auffinden kann, ja sogar ausdrücklich erklärt, daß er diese Briefe, selbst wenn er sie fände, dem Ausschuß nicht gedenke zur Verfügung zu stellen; eine Aussage, die er inzwischen korrigiert hat.
Da bleibt eine der engsten Mitarbeiterinnen Schalcks, Frau Lisowski, in der Treuhand bis zum Herbst 1991 mit der Abwicklung der ihr auch früher anvertrauten Firmen des KoKo-Imperiums betraut. Niemand stößt sich daran. Und genau dies hatte Schalck auch dem damaligen Bundesinnenminister in einem Brief, der in seiner Entwurfsform auch dem BND zur Verfügung stand, empfohlen.Weitere Merkwürdigkeiten kommen hinzu. Da gibt es den Fall des Landtagsabgeordneten Geistardt, der sich noch zu DDR-Zeiten auf Vermittlung des Kanzleramts auf den Weg zum BND und zu Schalck macht, um Informationen in Sachen KoKo einzuholen. Er berichtet hierüber angeblich dem heutigen Bundesverkehrsminister
und damaligen Parlamentarischen Staatssekretär von der CDU, allerdings zu einem Termin, der so nicht stattgefunden haben kann. Die Union ließ eine Gegenüberstellung der Zeugen Krause und Geistardt per Mehrheitsbeschluß nicht zu.
Metadaten/Kopzeile:
11716 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 135. Sitzung. Bonn, Freitag, den 22. Januar 1993
Dr. Andreas von BülowSo verwirrt das Erscheinungsbild dieses Zeugen gewesen sein mag, immerhin soll es ihm in der Wendezeit gelungen sein, an die Stasi-Akten zahlreicher Landtagskollegen der CDU im Landtag von Sachsen-Anhalt zu gelangen und diese mit diesen Akten zur Aufgabe des Mandats zu veranlassen.Wir trauern um den so frühen Tod des Kollegen Stavenhagen, Staatsminister im Kanzleramt, doch was hat der Mann leiden müssen unter dem Schulkameraden unseres Bundeskanzlers, des Herrn Jung, der zum Sachbearbeiter im Kanzleramt für Fragen des Geheimdienstes gemacht worden war. Im Panzerschrank dieses Sachbearbeiters pflegten die zahlreichen Berichte des Bundesnachrichtendienstes ohne Weiterleitung an den Minister zu verschwinden, darunter auch Akten, die mit dem KoKo-Bereich zu tun hatten.Der Merkwürdigkeiten gibt es noch viele. So die mangelnde Energie und Phantasie des Bundesministers der Finanzen bei der Aufspürung der KoKoMilliarden zu Beginn der Tätigkeit. Hier ist es die Berliner Kripo, die den großen BMF nach der Vereinigung immer wieder zum Jagen zu tragen versucht.Auffällig ist auch der Umstand, daß die Bundesregierung nie zur Aufdeckung des KoKo-Netzes eine Sondergruppe besonders befähigter Mitarbeiter eingesetzt hat. Es gibt Mitarbeiter beim Zoll, beim Bundesamt für Verfassungsschutz, beim Bundesnachrichtendienst, die exzellent informiert waren. Trotz Anregung unsererseits wurde auf dieses Instrument verzichtet.Auch im Bereich der Strafverfolgung ließ man monatelang die Kripo Berlin im eigenen Saft schmoren, ebenso die Staatsanwaltschaft mit ihrer unzweckmäßigen Aufteilung in Regierungskriminalität und Vereinigungskriminalität und den absurd kurzen Abordnungsverhältnissen westdeutscher Staatsanwälte.Es ist also manches so bestellt, daß die Machenschaften des Bereiches Kommerzielle Koordinierung nur unter extrem erschwerten Bedingungen aufgeklärt werden können. Es riecht nach wie vor an so manchen Ecken und Enden.Dennoch gilt es, diesen Beitrag zur Aufklärung zu leisten. Wir sind es den Bürgern der DDR schuldig, allen Widrigkeiten zum Trotz diese Machenschaften des Bereichs KoKo unter den Bedingungen der Ost-West-Trennung zu klären und nach Kräften dafür zu sorgen, daß veruntreutes Vermögen dem Aufbau der neuen Bundesländer zugeführt werden kann.Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
Als nächster spricht der Abgeordnete Arno Schmidt.
Herr von Bülow, etwas wundert es mich natürlich, wenn wir uns inPressekonferenzen oder auch im Plenum befinden; ich lerne Sie da immer aufs neue kennen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Den 1. Untersuchungsausschuß sehen wir als Chance, über Parteigrenzen hinweg ein Stück deutscher Geschichte gemeinsam aufzuarbeiten. Wenn man von den Pressekonferenzen, die wir gegeben haben — sie wurden eben angesprochen — einmal absieht, haben wir dies meiner Einschätzung nach auch ganz gut hinbekommen.Natürlich möchte der eine oder andere liebend gern eine andere Zielstellung anpeilen, als dies im Untersuchungsauftrag vorgegeben ist. Doch die Sichtung von über einer Million Dokumenten übersteigt alles bisher Dagewesene von Untersuchungsausschüssen des Deutschen Bundestages und verlangt deshalb von allen Beteiligten eine Konzentration auf das Wesentliche. Der Aufwand zur Bewältigung solcher Aktenmassen ist sehr hoch für alle und bindet Kräfte, die mancher von uns gelegentlich sicherlich lieber für seine anderen Aufgaben einsetzen möchte. Meiner Meinung nach ist dies jedoch ein noch zu rechtfertigender Preis, der aber nicht ins Grenzenlose steigen sollte.Wir sind bestrebt, wenigstens die Grundlinien aufzuzeigen, um die Bedeutung des Bereiches Kommerzielle Koordinierung — KoKo — für den Machterhalt der Partei- und Staatsführung in der DDR zu verdeutlichen. Andererseits wollen wir auch die wirtschaftliche und politische Bedeutung des Bereichs KoKo für die Beziehungen der DDR zur Bundesrepublik Deutschland aufhellen.Spektakuläre Aufklärungsergebnisse sind in der Arbeit des Untersuchungsausschusses die Ausnahme. Wir wissen auch, daß wir das Dickicht, das den Bereich KoKo umgab, mit den Mitteln dieses Untersuchungsausschusses endgültig nicht werden lichten können. Genauso wenig, wie sich die Vergangenheit durch juristische Mittel umfassend aufklären läßt, werden wir im Untersuchungsausschuß in umfassendem Maße dazu in der Lage sein. Denn dazu ist die gesamte deutsche Gesellschaft gefordert, im Osten wie im Westen. Doch wir wollen in dem vorgegebenen Rahmen unseren uns möglichen Beitrag leisten.Wenn wir auf die Resonanz der Aufklärungsarbeit um Koko in den neuen Bundesländern blicken, sehen wir eine durchaus recht wechselhafte Stimmungslage. Da ist zum einen das engagierte und vehemente Interesse an Aufklärung von seiten derer, die in irgendeiner Form — sei es als ehemalige politische Häftlinge, als Freigekaufte, oder als um ihre Antiquitäten Beraubte — unwissentlich mit KoKo direkt in Berührung gekommen sind. Doch dann sind da auch die vielen, für die KoKo-Verstrickungen ein Teil des Unrechtsregimes sind, mit dem sie mittlerweile abgerechnet haben und das sie verständlicherweise eher zu vergessen versuchen. Zudem hatte KoKo für einen Bürger in der DDR seine Arbeit mit Erfolg auch geheimhalten können.Daß nun auch die KoKo-Thematik in die Konkursmasse des Vergessens fällt, erklärt sich sicherlich aus
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 135. Sitzung. Bonn, Freitag, den 22. Januar 1993 11717
Arno Schmidt
dem Umstand, daß die Art der staatlichen Devisenbeschaffung nicht nur gegen die nach außen verkündete Ideologie, sondern insgesamt gegen die grundlegendsten moralischen und ethischen Maßstäbe verstoßen hat, wie es kaum vorstellbar ist.Noch immer müssen wir die Befürchtung haben, daß die DDR ganz bewußt aus politischen Gründen Menschen inhaftiert hat um der Devisen willen, die auf diesem Wege der Bundesrepublik abzupressen waren. Diesem Verdacht sind wir nachgegangen, konnten ihn aber noch nicht abschließend klären. Daß dabei Rechtsanwalt Vogel, zum mindestens für mich, selbst eine moralisch zweifelhafte Rolle gespielt hat, kann, glaube ich, offen gesagt werden.Diese Bemühungen der Bundesrepublik, die ausschließlich humanitäre Gründe hatten, jetzt zu diffamieren halte ich für absolut inakzeptabel. Die Zeit im geteilten Deutschland war für alle schwer, die an der Überwindung des Risses arbeiteten, der quer durch die Nation ging. Sicher war es sowohl für die sozialliberale als auch später für die christlich-liberale Regierung nicht leicht, die Entscheidungen, die im Interesse der Menschen richtig erschienen, zu treffen. Und wie oft mußte ein Pakt mit dem Teufel eingegangen werden, um Erleichterungen für die Menschen zu erreichen. Daran muß man sich auch heute noch erinnern und es entsprechend werten.
Persönlich habe ich mindestens die Hälfte meines Lebens gehofft, daß es einmal ein vereintes Deutschland geben wird. Ich verstehe heute einige nicht, die diese Bundesrepublik — oftmals nur aus rein egoistischen Gründen — zerreden wollen.
In den neuen Bundesländern drohen persönliche und gesellschaftliche Probleme des Alltags allerdings die Behandlung dieses Themas in der Öffentlichkeit zu erdrücken.Für viele, die selber auf keine direkt erlittene und erlebte schadvolle Begegnung mit KoKo zurückschauen, ist die Arbeit des 1. Untersuchungsausschusses dabei, zum eher akademisch zeitgeschichtlichen Interessengebiet zu mutieren. Andere hegen — vergleichbar etwa mit dem Fall Honecker — die Erwartung, daß auch die für KoKo Verantwortlichen und die, die persönlichen Profit auf diesen Tätigkeiten zogen, doch zu fassen sein müßten.Immer neue Enthüllungen über immer weitergehende Schurkereien dieses Regimes, unter dem sie gelitten haben, das aber strafrechtlich nicht zu packen ist, sind nicht unbedingt geeignet, das Verständnis für die Arbeit des Ausschusses zu fördern. Entsprechend, häufig werde ich gefragt, welchen Sinn eine so intensive Beschäftigung mit dem Vergangenen hat, wo doch die Probleme der Gegenwart und der Zukunft die Bürger um ein Vielfaches mehr beschäftigen. Auch wenn ich Bedenken dieser Art nicht restlos zu zerstreuen vermag, meine ich doch, daß das Wissen um diese facettenreichen Strukturen des Unrechts nicht in der Versenkung verschwinden darf. Trotz aller zukunftsgerichteten Probleme sind wir dieseAufklärungsarbeit uns selber, den vielen, die gelitten haben, und unseren Nachkommen schuldig.
Doch plädiere ich ebenso für eine vernünftige Eingrenzung der Arbeit des KoKo-Ausschusses. Ich meine, wir sollten auf jeden Fall, möglichst im Herbst, die Zeugenvernehmung abschließen, damit der Schlußbericht des Ausschusses noch vor der Sommerpause 1994 debattiert werden kann. Diese Zeit benötigt das Ausschußsekretariat — es wurde gesagt — schon aus rein technischen Gründen, um einen Bericht zu erstellen.Ich bitte auch hier die Opposition, sich nochmals zu beraten, ob sie diesen Weg nicht mit uns gemeinsam gehen will; denn wir müssen aufpassen, daß die Sachaufklärung nicht in den Strudel des nächsten Wahlkampfs gerät.
Wir sollten auch aufhören, uns gegenseitig immer vorführen zu wollen.
Zweifellos ist der Untersuchungsauftrag an sich schon zu umfangreich formuliert worden, um seine Erfüllung jetzt auch noch zeitlich unnötig zu strecken.Im Interesse der inneren Vereinigung Deutschlands soll die Aufklärung der Vergangenheit befrieden. Die vor uns liegenden Probleme des Aufbaus im Osten und des Fortgangs der Vereinigung Deutschlands sind zu wichtig, als daß wir unsere Zeit und Kraft verschwenden könnten, uns zu zerstreiten.Vorwürfe der Art, der bayerische Ministerpräsident Strauß habe Landesverrat begangen oder der nordrhein-westfälische Ministerpräsident Johannes Rau hätte Wahlkampfhilfe bei Honecker erbettelt, sind zu vordergründig, um wirklich ernst genommen zu werden.
Dafür sollten wir uns auch zu schade sein.
Bisher können wir auf zwei erstellte Teilberichte verweisen. Mit dem zweiten Teilbericht, der wie der erste den Sinn hat, Arbeitsergebnisse strukturiert festzuhalten, stellen wir der Öffentlichkeit detaillierte Informationen über die Strukturen von KoKo vor. Seine Essenz ist der Organisationsplan von KoKo, in dem die Firmen genannt und beschrieben sind, die europaweit, aber mit Schwerpunkt auch auf Westdeutschland dem Bereich KoKo zugeordnet waren.
Für einen ehemaligen DDR-Bürger scheint es kaum glaubhaft, in welchen Wirtschaftsbereichen das sozialistische Regime hinter der Fassade selbstproduzierter ideologischer Verblendung dann selbst aktiv war, um
Metadaten/Kopzeile:
11718 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 135. Sitzung. Bonn, Freitag, den 22. Januar 1993
Arno Schmidt
der eigenen Mangelwirtschaft mit kräftigen Devisenschüben nachzuhelfen.
— Das kommt ja noch. Das ärgert Sie wohl etwas.KoKo war der Versuch, selbst mit den nach außen als merkantilistisch-kapitalistisch kritisierten Strukturen die Existenzunfähigkeit des sozialistischen Systems unbemerkt auszubügeln. Vielleicht gefällt Ihnen das besser.
Trotz intensiver Recherchen ist es immer noch fraglich, ob die im zweiten Teilbericht aufgeführten Firmen tatsächlich alle Unternehmen sind und — was weitaus mehr interessiert — ob einzelne Firmen wirklich immer noch tätig sind. Auf diese Frage werden wir eine sichere Antwort vermutlich erst später geben können.Dagegen kann mittlerweile mit Sicherheit behauptet werden, daß entgegen Schalck-Golodkowskis öffentlicher Darstellung zwischen dem Bereich KoKo und dem Ministerium für Staatssicherheit enge Verknüpfungen bestanden haben. Die auf Schalcks Veranlassung eigens bei der Stasi eingerichtete Arbeitsgruppe Bereich KoKo, sein Rang als Offizier im besonderen Einsatz, seine gemeinsam mit einem engen Mitarbeiter Mielkes verfaßte Doktorarbeit sind dabei Hinweise genug.Hinsichtlich des Wahrheitsgehalts verschiedener Äußerungen von Schalck-Golodkowski kann ich mir kein abschließendes Urteil erlauben. Ich befürchte aber, daß sich über die Akten des Untersuchungsausschusses und unseren Schlußbericht noch der Staatsanwalt wird beugen müssen, um gegebenenfalls die Frage hinsichtlich von Falschaussagen nicht nur von Schalck-Golodkowski zu überprüfen.Bei Einsetzung des Untersuchungsausschusses haben wir Liberale betont, daß der Ausschuß kein Tribunal ist. Dazu stehen wir auch heute noch. Doch verdenkt es hoffentlich keiner den Bürgern in den neuen Bundesländern, wenn sie die Schlagkraft dieses Untersuchungsausschusses an der Person Schalck-Golodkowskis messen, der, sich die Hände reibend, in seiner Villa am Tegernsee residiert und über einen Neuanfang als Wirtschaftsberater sinniert. Die Hoffnung seines Anwalts, Schalck könne schon nächstes Jahr aus allem heraus sein, kann ich jedenfalls nicht teilen.Zweifellos sind uns als Untersuchungsausschuß gelegentlich die Hände gebunden, nicht nur weil wir Rücksicht auf staatsanwaltschaftliche Ermittlungen und Strafverfahren nehmen müssen. Doch selbst wenn mit den Möglichkeiten des Rechtsstaates eine Strafe die Täter wahrscheinlich kaum in dem Maße treffen wird, wie es unserem Empfinden nach gerecht wäre, so wird uns die moralische Verurteilung aber keiner nehmen können.Schönen Dank.
Jetzt hat das Wort die Abgeordnete Andrea Lederer.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Einem hartnäckigen Gerücht zufolge sollen ja parlamentarische Untersuchungsausschüsse ein Mittel zur Wahrheitsfindung sein. Dem KoKo-Untersuchungsausschuß gebührt das Verdienst, mit diesem Mißverständnis einigermaßen aufgeräumt zu haben. Der Ausschuß sollte nämlich — wenn Sie das ehrlich einräumen würden, wäre ich Ihnen dankbar — vor allem eines: an der Person Alexander Schalck-Golodkowski und seiner KoKo den längst feststehenden Schuldspruch exekutieren, daß der Sozialismus ein einziges Verbrechen ist.
Der Versuch allerdings, Politik und Wirtschaft der Bundesrepublik im Vergleich dazu als einen Hort der Ehrbarkeit erscheinen zu lassen, ist gescheitert.Der Auftrag des Untersuchungsausschusses litt in der Intention der großen Parteien an einem entscheidenden Geburtsfehler: Der reale Sozialismus sollte ausgerechnet an dem Punkte seiner Unmenschlichkeit überführt werden, wo er sich der kapitalistischen Bundesrepublik am weitesten angenähert hatte. Insofern stimme ich auch mit Ihrer Einschätzung überein, daß es eine Art kapitalistische Insel war. Denn eines steht fest: Der Bereich Kommerzielle Koordinierung hat mit Sozialismus genauso viel zu tun wie Herr Waigel mit einer soliden Finanzpolitik — herzlich wenig also.
KoKo war von Anfang an ein Kind der Marktwirtschaft. Als solches war es geplant, als solches hat es funktioniert. Es ist eine Ironie der Geschichte, daß ausgerechnet durch KoKo die Realität des Kapitalismus aktenkundig geworden ist. Alles, was der Ausschuß an Skandalen hat aufdecken können und was er noch aufdecken wird — die Gründung von Schein-und Briefkastenfirmen, Steuerhinterziehung, Bestechung, Provisionsschiebereien etc. —, gehört zum marktwirtschaftlichen Geschäft.
— Sie haben hier geredet, und ich rede jetzt; vielleicht sind Sie deswegen jetzt wenigstens etwas leiser —
Zu einem Geschäft, sei es politisch oder ökonomisch, gehören bekanntlich immer zwei Beteiligte. Daß sich Strauß und Schalck, Schalck und März, das MfS und der BND, Günter Mittag und Otto Wolff von Amerongen mehr als gut verstanden haben, läßt sich ohne Schwierigkeiten aus den Akten ablesen.Es waren Herr Schalck und Herr Schäuble, die 1985 gemeinsam ein Geschäft abschlossen. Für die Erhöhung des Swing auf 850 Millionen DM versprach Schalck der Bundesregierung, den Flughafen Schönefeld für die Bürgerkriegsflüchtlinge aus Sri Lanka
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 135. Sitzung. Bonn, Freitag, den 22. Januar 1993 11719
Andrea Ledererdichtzumachen. Es wird sich nicht ermitteln lassen, wie viele Tamilen dieser deutsch-deutschen Kumpanei zum Opfer gefallen sind.
Gewiß, die DDR hat, um Devisen zu erwirtschaften, Antiquitäten verkauft. Sie hat sich zu diesem Zweck auf ihre Steuerhoheit besonnen, veranschlagte harmlose Sammler auf Zahlung von Vermögensteuer und kassierte, da diese von den Betroffenen in der Regel nicht aufzubringen war, die begehrten Kunstgegenstände an Geldes Statt.Es gibt — auch das sage ich — nichts zu entschuldigen, und es ist zu verurteilen, was die Inhaftierung solcher Menschen anbelangt. Aber es handelte sich auch — da wollen wir gar nichts beschönigen — um eine Maßnahme, die es an Gemeinheit durchaus mit den von der Bundesregierung geplanten Kürzungen von Arbeitslosengeld und Sozialhilfe aufnehmen kann.
Damit das Geschäft überhaupt funktionieren konnte, bedurfte es aber auf bundesrepublikanischer Seite Antiquitätenhändler, die bereit waren, solch unrechtmäßig erworbene Kunstgegenstände billig auf- und mit erheblichem Profit weiterzuverkaufen.
— Klar, stimmt. Aber es gibt eben zwei Seiten bei diesen Geschäften.Es ist ferner unbestreitbar, daß die DDR Waffen verkauft hat. Sie hat an dem Elend des Krieges verdient, indem sie z. B. gleichzeitig Waffen an den Irak und den Iran geliefert hat. Sie hat ihre eigenen sozialistischen und internationalistischen Prinzipien dem Bedürfnis nach harten Dollars geopfert und ganz nebenbei ihr Volk nach Kräften belogen. Die Friedensbewegung, die Bürgerrechtler und Sozialisten haben also allen Grund zur Empörung. Die Abgeordneten der Parteien allerdings, unter deren Regierungszeit die Bundesrepublik zum fünftgrößten Waffenexporteur der Welt aufgestiegen ist, sollten an diesem Punkt vielleicht ein wenig leiser werden.Um an Embargoware zu kommen, auf die sie dringend angewiesen waren, durften es die KoKoVerantwortlichen mit den gesetzlichen Bestimmungen nicht so genau nehmen. Das COCOM-Regime der westlichen Staaten verbot den realsozialistischen Ländern den Erwerb sogenannter strategisch relevanter Güter. Was „strategisch relevant" war, bestimmten in erster Linie die USA. Daß zeitweise sogar die Lieferung von Weizen unter das COCOM-Verbot fiel, zeigt die Absicht von COCOM: Die realsozialistischen Staaten sollten in ihrer ökonomischen Entwicklung nach Kräften behindert und geschädigt werden. Trotzdem gelang es der DDR, an Embargogüter heranzukommen. Aber auch hier gilt: Um Computerchips illegal erwerben zu können, mußten westliche Firmen bereit sein, sie illegal zu verkaufen — zu einem weit überhöhten Preis, versteht sich.Für diese Praktiken trägt Alexander SchalckGolodkowski einen großen Teil der Verantwortung. Er war ein gelehriger Schüler der Marktwirtschaft,
und hätte er im Auftrag der Firma Siemens getan, was er für KoKo tat, hätte er gute Chancen gehabt, zum Manager des Jahres gekürt zu werden.
Das alles ist der Ausschußmehrheit natürlich auch bekannt. Sie tat sich über Monate schwer, mit dem Dilemma fertig zu werden, daß die Marktwirtschaft immer gleich mit auf der Anklagebank saß, wo doch nur über KoKo gerichtet werden sollte.
Der Ausweg, der letztendlich gefunden wurde, zeugt von ernster Entschlossenheit zu selektiver Wahrnehmung. Das Zauberwort heißt MfS. MfS, oft genug wiederholt, erspare dem Ausschuß, so glaubte man, die Pein des Argumentierens, und lasse die Bundesrepublik schon deshalb in einem glanzvollen Licht erscheinen, weil es hier kein MfS gab, und überführe den Schalck nun endgültig vom Tegernsee direkt in den Knast. Die selbstzufriedene Gewißheit, daß erstens die Stasi die Finger bei KoKo ganz schön drin hatte, womit zweitens ja eigentlich schon alles gesagt sei, verlieh dem Ritual der Zeugenvernehmung einen durchaus neuen Schwung.
Damit komme ich zum Verfahren der Vernehmungen. Die KoKo-Verantwortlichen, die vor dem Ausschuß erschienen, hatten nur noch formal den Status eines Zeugen. De facto wurden sie behandelt wie Angeklagte. Wenn ein Markus Wolf seine rechtlich verbriefte Möglichkeit des Zeugnisverweigerungsrechtes in Anspruch nimmt, überführt ihn das in den Augen der Ausschußmehrheit auch schon seiner Schuld — getreu der reaktionären Logik, daß nur der schweigt, der etwas zu verbergen hat.
Es ist wirklich höchst interessant, an einem Nachmittag einen Vergleich zwischen der Vernehmung eines Westzeugen und eines Ostzeugen, der sich möglicherweise traut, sich auf seine gesetzlich verbrieften Rechte zu berufen, anzustellen. Insofern artet der Ausschuß häufig durchaus zu einem Tribunal aus.
— Ich könnte jetzt natürlich auf den Vorwurf, den icherwartet habe, mit dem antworten, was Herr vonBülow gestern in einem Interview erklärt hat und was
Metadaten/Kopzeile:
11720 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 135. Sitzung. Bonn, Freitag, den 22. Januar 1993
Andrea Ledererdie 80 % überflüssigen Sitzungen anbelangt. Ich will aber ganz ernst sein.
— Sie wissen ganz genau, daß ich erstens weitaus mehr Verpflichtungen unterschiedlicher Art habe als Sie, weil wir eine kleine Gruppe sind. Zweitens liegt mir in der Tat mehr am Herzen, was in Sachen Asylrecht und Bundeswehr in diesem Land passiert. Deswegen wäge ich ab. Ich glaube nicht, daß das Ergebnis ausgerechnet dieses Untersuchungsausschusses irgendeinen Einfluß auf die Rechtsentwicklung in dieser Bundesrepublik haben wird.Inzwischen halten viele den Bereich Kommerzielle Koordinierung für nichts anderes als eine Tarnfirma des Ministeriums für Staatssicherheit. Die Wahrheit ist allerdings auch hier ein wenig anders. Für die Staatssicherheit war der Bereich KoKo ein einziges Ärgernis. Die Geschäfte, die mit dem Westen abgeschlossen wurden, waren in der Logik des DDR-Geheimdienstes ein unvertretbares Sicherheitsrisiko, die Menschen, die bei KoKo arbeiteten, allesamt potentielle Republikflüchtlinge.
Diese Logik müßte im übrigen den Repräsentanten einer Gesellschaft, in der ein ehemaliger Chef des Bundesnachrichtendienstes Außenminister werden kann, einigermaßen eingängig sein.Auf der anderen Seite versuchten die Geschäftsleute bei KoKo, den Einfluß der Stasi eher gering zu halten, weil jene bei der schnellen Abwicklung profitabler Geschäfte mit ihrem paranoiden Sicherheitsbedürfnis nur störte. Beide haben sich nach Kräften behindert, hintergangen und ausgetrickst.Die Vorstellung, ausgerechnet das MfS habe KoKo gewollt, ist jedenfalls absurd. Die Beschaffung von Embargowaren, also das einzig positive materielle Interesse, das das MfS an geschäftlichen Kontakten mit dem Westen gehabt haben könnte, wurde nur zum geringsten Teil von KoKo getätigt. Die HVA hatte ihre eigenen Beschaffungslinien.Unsere Kritik an Schalck-Golodkowski ist wesentlich härter als die des Untersuchungsausschusses.
Wir sagen, daß KoKo mit dem Versuch, den DDRSozialismus ausgerechnet durch den Import kapitalistischer Produktionsanlagen vervollkommnen zu wollen, aktiv dazu beigetragen hat, daß sich die DDR im Westen über beide Ohren verschulden mußte.
Die Interessen der Bevölkerung spielten in dem Bestreben der DDR-Regierung, es der BRD gleichzutun, eine untergeordnete Rolle. Sie mußte mit der Kapitulation der DDR einen hohen Preis dafür zahlen.Alexander Schalck-Golodkowski war aktiver Manager einer Politik, die der Bundesregierung die DDR praktisch zum Nulltarif überließ. Daß sich die Bundesregierung bei der Übernahme ebenfalls gewaltig verrechnete, ändert an dieser Tatsache nichts. Eigentlich gebührt dem Mann am Tegernsee also das Bundesverdienstkreuz.
Das ist nun wahrlich ein harter Vorwurf an die Adresse eines Mannes, der von sich behauptet, immer nur das Beste für den Sozialismus gewollt zu haben.Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
Es spricht jetzt die Abgeordnete Ingrid Köppe.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die beiden jetzt vorgelegten Zwischenberichte des 1. Untersuchungsausschusses sind eine ordentliche Fleißarbeit und ein wichtiges Arbeitsmaterial für Interessierte.Kurz zusammengefaßt lautet die Aussage dieser beiden Zwischenberichte: Erstens. Der Bereich Kommerzielle Koordinierung war eng mit dem MfS verbunden. Zweitens. Zum Bereich Kommerzielle Koordinierung gehörten viele Firmen.Daß diese Feststellung allerdings im Jahre 1993 bei einigen Abgeordneten der Fraktionen ein solches Aha-Erlebnis ist, wird viele im Osten verwundern,
insbesondere all jene, die 1989 intensiv an der Enttarnung von MfS- und KoKo-Objekten mitgewirkt haben. Sie fragen heute vielmehr: Was ist aus KoKo geworden? Wo ist das Geld? Wie funktionierte dieses Devisengeschäft? Wer waren die westdeutschen Geschäftspartner? Was überhaupt wußte der Westen von der Tätigkeit des Bereichs Kommerzielle Koordinierung? Wie kommt es, daß noch heute die eine oder andere KoKo-Firma weiterexistiert, und wer verdient daran? Aber diese Fragen beantworten die vorliegenden Zwischenberichte nicht.Übrigens sind die jetzt öffentlich vorgelegten Erkenntnisse über die KoKo-Firmen und die StasiAnbindung auch für den Westen so neu nicht. Vieles von dem ist dem BND schon seit 20 Jahren im Detail bekannt, also schon zu Zeiten, als DDR-Bürger noch nicht einmal den Namen Schalck-Golodkowski kannten.Bereits 1973 wußte der BND, daß der Bereich KoKo im Auftrag des MfS gegründet wurde. Bereits 1974 war sich der BND sicher, daß der Bereich Schalck durch den Aufbau von Firmen in der Bundesrepublik Einfluß auf die bundesrepublikanische Republik ausüben werde. Spätestens 1975 war dem BND klar, daß sich KoKo jeglicher krimineller Methoden bedienen würde, um seine Ziele der Devisenbeschaffung und der Spionage für die HVA zu erreichen.Diese Mitteilungen des BND sind regelmäßig an das Kanzleramt, an das Auswärtige Amt sowie an die Ministerien der Finanzen, für innerdeutsche Beziehungen und der Verteidigung gegangen. Die jeweiligen Bundesregierungen waren also über die
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 135. Sitzung. Bonn, Freitag, den 22. Januar 1993 11721
Ingrid KöppeGeschäfte von Schalck-Golodkowski und auch über die Stasi-Anbindung schon lange Zeit informiert, vorausgesetzt, diese BND-Mitteilungen landeten nicht regelmäßig ungelesen in Papierkörben oder Panzerschränken.Was taten die jeweiligen bundesdeutschen Regierungen? Sie verhinderten nicht den Antiquitätenausverkauf in der DDR. Sie verhinderten nicht, daß sich die Stasi aus dem Westen Waffen und Ausrüstungen besorgte. Sie schrieben nicht einmal Protestnoten an die DDR-Regierungen. Die jeweiligen bundesdeutschen Regierungen schauten zu. Agenten von BND und BW wurden zwar in KoKo-Firmen tätig. Doch außer einer Beobachtungstätigkeit durch die westdeutschen Geheimdienste unternahm die Bundesregierung nichts.
Johannes Vöcking, Staatssekretär im Innenministerium, teilte dem Untersuchungsausschuß am 10. Dezember 1992 folgendes mit — ich zitiere —:Eine Einflußnahme auf den Bereich Kommerzielle Koordinierung im Sinne einer Behinderung oder Verhinderung eventueller rechtswidriger, gegen die Bundesrepublik gerichteter Unternehmen wäre im übrigen nicht nur auf Grund der insgesamt ungünstigen Zugänge und der Quellengefährdung nicht durchführbar gewesen; entsprechende Versuche hätten auch jeden nachrichtendienstlichen Ansatz blockiert.Das belegt: Der Bundesregierung war die eigene geheimdienstliche Arbeit im Bereich Kommerzielle Koordinierung wichtiger als die Verhinderung von Straftaten.Nehmen wir einmal das Beispiel der SED-Parteifirmen: Bekanntermaßen wurden mit den Gewinnen der Parteifirmen ein Geheimkonto Honeckers sowie die DKP finanziert. Diese Parteifirmen standen im Widerspruch zu dem gültigen Militärregierungsgesetz von 1953. Sie waren also eigentlich verboten in der Bundesrepublik.Bekannt ist bereits, daß der Geschäftsführer der Firma Noha in Bochum jahrelang für den Verfassungsschutz gearbeitet hat. Bekannt ist dies auch vom Geschäftsführer der Firma Chemoplast. Es gab insgesamt etwa 20 solcher SED-Parteifirmen in der Bundesrepublik.Warum hält die Bundesregierung die Zahl der Verfassungsschutzagenten in diesen Firmen noch immer geheim? Ist es nicht so, daß die Zahl deshalb geheimgehalten wird, weil sie verdeutlichen würde, daß die SED-Parteifirmen fast ausschließlich von BfVAgenten geführt wurden?
Wie würde die Bundesregierung heute dastehen, wenn öffentlich bekannt würde, daß es der Verfassungsschutz selbst war, der einerseits in den jährlichen Verfassungsschutzberichten die DKP-Finanzierung angeprangert hat, andererseits diese Finanzierung aber mit ermöglicht hat?Unser Ansatz bei der Auflösung der Staatssicherheit war: Das MfS ist erst dann wirklich aufgelöst, wenn das Stasi-Wissen nicht mehr geheim ist. Das gleiche gilt auch für den eng mit der Staatssicherheit verbundenen Bereich Kommerzielle Koordinierung. KoKo-Strukturen, Namen von Mitarbeitern und Geschäftspartnern müssen öffentlich gemacht werden, um zu verhindern, daß ehemalige KoKo-Firmen und Geschäftsbeziehungen weiter existieren.Noch immer aber, im Jahre 1993, sind die Erkenntnisse über den Bereich Kommerzielle Koordinierung nicht vollständig der Öffentlichkeit zugänglich. Heute, 1993, lagern in der Geheimschutzstelle des Deutschen Bundestages 250 „geheim" eingestufte Akten über den Bereich Kommerzielle Koordinierung. Wir fordern, daß diese Akten der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden.Noch immer werden auch dem Untersuchungsausschuß Akten über den Bereich Kommerzielle Koordinierung vorenthalten, so z. B. Akten von den einzelnen Diensten, die über KoKo-Firmen angelegt worden sind. Wir haben erst vor zwei Tagen erfahren dürfen, daß der Bundesnachrichtendienst nach seinen Aussagen sechs Quellen in KoKo-Firmen geführt habe. Wo sind die Berichte dieser Quellen? Wo sind die Akten, die vom Bundesnachrichtendienst und vom Verfassungsschutz über die einzelnen Firmen angelegt worden sind?Es ist heute genau drei Jahre her, daß Schalck seine Gespräche mit dem BND begann — oder umgekehrt. Am 22. Januar 1990 fand das erste Treffen zwischen Schalck und BND nach Schalcks Flucht statt. Dem voraus ging, daß Schalck eine Wunschliste abgab und damit ganz genau die Bedingungen für seine Gespräche dem BND gegenüber diktierte. Wir können heute sehen, daß etliche dieser Bedingungen als Voraussetzung für die Gespräche vom BND erfüllt worden sind.Die Akten über diese Gespräche sind zum größten Teil noch immer „geheim" eingestuft. Wir fordern, daß diese Akten endlich entstuft und der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden.Ich habe im Untersuchungsausschuß die Erfahrung gemacht, daß sich die Fraktionen ausführlich mit der Vergangenheitsaufarbeitung beschäftigen, solange diese nicht sie selbst betrifft, also mit Vorliebe Vergangenheitsaufarbeitung Ost betreiben. KoKo aber war kein reines Ostunternehmen.
— Das war überhaupt nicht so, Herr Hörster; dann kennen Sie die Akten nicht.
Sie werden mir zustimmen, daß zum Handel immer zwei gehören und zur Devisenbeschaffung natürlich sowohl die Ost-Seite als auch die West-Seite.Der Untersuchungsausschuß steht in der Gefahr, Geschichtsverfälschung zu betreiben. Es kann nicht nur darum gehen, die Ost-Geschichte und die Stasi-Rolle im Bereich Kommerzielle Koordinierung zu untersuchen. Die Rolle der jeweiligen Bundesregie-
Metadaten/Kopzeile:
11722 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 135. Sitzung. Bonn, Freitag, den 22. Januar 1993
Ingrid Köpperung ist ebenso Thema des Untersuchungsauftrags, egal, ob dies der Mehrheit des Ausschusses paßt oder nicht. Wenn das von der Mehrheit des Ausschusses nicht endlich akzeptiert wird, dann wird es später einmal einen Untersuchungsausschuß geben müssen, der die Aufgabe haben wird, zu klären, warum wer mit welchem Ziel die Arbeit des Schalck-Untersuchungsausschusses blockiert hat.Ich danke Ihnen.
Das Wort hat nunmehr der Abgeordnete Reiner Krziskewitz.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die in sachlichem Ton gehaltenen Teilberichte des 1. Untersuchungsausschusses zeigen die Fakten auf, die die Ermittlungsarbeit ergaben. Was die Berichte jedoch nicht vermitteln können, sind das Leid von Betroffenen und ihre Ohnmacht gegenüber einem Staat, der aus permanenter Devisenknappheit das Land und seine Bürger planmäßig plünderte.Lassen Sie mich einige Erkenntnisse aus dem Bereich Kunst- und Antiquitätenverkauf schildern. Wir werden zwar noch vor der Sommerpause den 3. Teilbericht, der sich mit der Kunst und Antiquitäten GmbH beschäftigt, beraten; doch war gerade dies ein Thema, bei dem der Ausschuß zwar nicht spektakulär und medienwirksam, dafür aber recht systematisch, so meine ich, aufklären konnte.Vieles von dem, was früher gemutmaßt wurde, können wir nun belegen. Die Kunst und Antiquitäten GmbH war zunächst angehalten, jährlich 4 Millionen Mark in Devisen dem DDR-Staatshaushalt abzuliefern. Um dies zu erreichen, wurden in einer ersten Aktion die Museen „ausgeraubt".Die hierzu in Schalck-Golodkowskis Arbeitsbereich ausgearbeitete Ministerratsverfügung 4/73 führte zu einer planmäßigen Plünderung kultureller Werte zugunsten dieser Devisenbeschaffung.Auf Grund seiner Untersuchungen ist der Ausschuß zu der Überzeugung gelangt, daß die Kunst und Antiquitäten GmbH auch Kunstobjekte mit besonderer kulturhistorischer Bedeutung sowie in einem sehr hohen Umfang Kulturgüter der Kategorien II und III exportierte, urn Devisen zu beschaffen. So wurde das kulturelle Erbe, welches zu pflegen man immer vorgab, schlicht verschleudert.Da diese Einnahmen selbstverständlich nicht ausreichten, um die Mißwirtschaft des Staates auszugleichen, wurden Methoden entwickelt, privaten Kunstsammlern ihr Eigentum abzunehmen. Zunächst wurde diesen angeboten, sich auf Geschäfte einzulassen, um in den Besitz von Konsumgütern zu gelangen, die die Volkswirtschaft der DDR überhaupt nicht oder nur mit ungewöhnlich langen Lieferfristen bereitzustellen in der Lage war. Wo dies nicht gelang, etwa in den Fällen, in denen Sammler um den Wert ihrer Objekte wußten oder sich von diesen nicht trennen wollten, wurden Kunstsammlern unter Beugung derDDR-Gesetzgebung Steuer- und Zollvergehen vorgeworfen, um deren Sammelstücke in der Regel entschädigungslos einzuziehen.
Bezeichnend und erschreckend zugleich war die Aussage eines Zeugen hierzu, der dem Ausschuß gegenüber äußerte, daß man den Vorgesetzten, insbesondere Herrn Neiber und Herrn Mielke, am besten imponieren konnte, wenn man einen Vorgang mit 500 000 Mark abschloß.Viele verloren durch das illegale Vorgehen der staatlichen Organe in Jahrzehnten zusammengetragenen wertvollen Familienbesitz, zum Teil aber auch den Hausrat. Sie wurden nicht nur ihrer Sammlungen beraubt, sondern zum Teil auch wegen angeblicher Steuervergehen inhaftiert und dann über Rechtsanwalt Vogel zum Freikauf angeboten.Die Adressen der Bürger, die wertvollen Besitz ihr eigen nennen konnten, erhielt die Kunst und Antiquitäten GmbH vom MfS, mit dem eine enge Zusammenarbeit bestand.Man schreckte auch nicht davor zurück, selbst das DDR-Recht zu beugen. So erklärten uns Zeugen, daß es in der Regel weder schriftliche Verfügungen gab, noch auf gesetzliche Vorschriften geachtet wurde, sondern daß die Regel galt: Höhere Dienststellen hatten im konkreten Fall das Sagen über untere Dienststellen, so daß man letztlich auf Befehle „aus Berlin" wartete. Auch wurde etwa die Beweislast in Steuersachen im Gegensatz zur Regelung des § 204 Abs. 1 der Abgabenordnung der DDR dem Steuerpflichtigen auferlegt.Im Gegensatz zu den Normalbürgern wurde Schalck und anderen Mitgliedern der Führungsebene, die außerordentlich wertvolle Kunst- und Gemäldesammlungen besaßen — auf welchen Wegen auch immer erlangt —, selbstverständlich niemals die Steuerfahndung auf den Hals geschickt.Einer der erschütterndsten Fälle, die wir zu untersuchen hatten, war der Fall Dr. Garcke. Der erfolgreiche Arzt und Antiquitätensammler hatte über Jahre eine einzigartige Sammlung aufgebaut; den Grundstock bildeten Erbschaften und Familienbesitz. In einer Nacht-und-Nebel-Aktion wurde das Vermögen 1978 beschlagnahmt und Dr. Garcke inhaftiert.In den Akten der Staatssicherheit, die Frau Garcke inzwischen einsehen konnte, befinden sich bis ins Detail gehende Absprachen des MfS mit dem daran beteiligten IM, Informellen Mitarbeiter, einem Mitarbeiter der Kunst und Antiquitäten GmbH, der mit der Familie Garcke auch noch befreundet war, in der Familie verkehrte und die Sammlung bestens kannte. Ich zitiere:Der IM ist der Meinung, daß es auffällig wäre, in Ermittlungsverfahren gegen Dr. Garcke nicht gehört zu werden, da allgemein unter den Sammlern bekannt ist, daß er Verbindung zum Verdächtigen hat. Er erhielt den Hinweis, daß zu gegebener Zeit darüber konkrete Absprachen geführt werden.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 135. Sitzung. Bonn, Freitag, den 22. Januar 1993 11723
Reiner KrziskewitzDer IM betonte abschließend nochmals, daß die strafrechtlichen Maßnahmen wirklich keine Lükken für Dr. Garcke zulassen dürfen, zumal Dr. Garcke auch über Rechtskenntnisse verfügt.Jetzt kommt es:Es könnte nach Meinung der Quelle nichts Schlimmeres passieren, als wenn man Dr. Garcke eines Tages auf Grund fehlender Beweise wieder freilassen müßte. Der politische Schaden wäre schon allein unausdenkbar.Am 7. April 1978 wurde Dr. Garcke tot in seiner Zelle aufgefunden. Seine Witwe hat bis heute — berechtigte, so glaube ich — Zweifel an der Darstellung des Todes als Selbstmord.Meine Damen und Herren, es ist nicht meine Art, polemisch aufzutreten. Aber ich muß doch sagen: Die beschönigende Darstellung der Rolle des MIS, die vorhin von einer Kollegin hier gegeben wurde, hat mir weh getan.
So können wir mit Geschichte nicht umgehen.Ich bin davon überzeugt, daß eine wirklich umfassende Aufklärung dieses Falles und ungezählter anderer Fälle nur durch die Sichtung der Unterlagen der Gauck-Behörde — auch der Opfer-Akten — möglich ist.Bisher noch nicht vor dem Ausschuß behandelt — jedoch für die nächsten Wochen vorgesehen — ist ein Fall, der deutlich zeigt, wie die Herrschenden zusammenarbeiteten und daß ihnen die Unrechtmäßigkeit ihres Handelns durchaus bewußt war.1980 erbte eine DDR-Schuldirektorin in der Bundesrepublik einen erheblichen Nachlaß. Der nicht ganz unbekannte Rechtsanwalt Wünsche orientierte darauf, diesen Nachlaß im Westen aufzulösen und in der DDR zu transferieren. Damit war diese Bürgerin aber nicht einverstanden; denn sie wollte das Geld im Westen anlegen. Ihre Beschwerden an die westdeutsche Justiz führten zu einer dortigen Untersuchung, die die Tätigkeit des Herrn Rechtsanwalts Wünsche offenzulegen drohte.Zitat aus einem Brief Wünsches an Schalck: Durch die Handlungsweise von Frau .. . — ich lasse den Namen einmal aus —ist zunächst im Düsseldorfer Raum bekanntgeworden, daß versucht wird, unter Umgehung gesetzlicher Bestimmungen der BRD DM-Beträge zu transferieren.In einem Brief an Mittag schreibt Schalck-Golodkowski:Um nicht die Verbindung zwischen dem Rechtsanwalt und dem Bereich KoKo offen darzulegen, wende ich mich an Dich mit der Bitte zu entscheiden, ob der Brief der Genossin Honecker zugestellt oder auf anderem Wege zur Kenntnis und Entscheidung gegeben wird ... es muß durch den Minister für Volksbildung eine prinzipielle Einflußnahme auf N. N. ausgeübt werden.Hiermit wird eindeutig belegt: Es handelte sich nicht um den Übereifer oder das Über-die-SträngeSchlagen irgendwelcher untergeordneter Ebenen; nein, die DDR-Führung wußte um das Verbrecherische ihres Tuns.Meine Damen und Herren, es ist auch sehr wichtig, hier einmal zu berichten, daß es unter all diesen Umständen auch eine gehörige Anzahl aufrechter und mutiger Menschen, Bürger und Bürgerinnen, in der DDR gab, die sich unter hohem persönlichen Einsatz und Risiko bemühten, Schaden — ich möchte einmal sagen: vom deutschen Volk und ihrer Heimat — abzuwenden und zu verhüten und der Kunst und Antiquitäten GmbH auch bei Druckausübung nicht zuarbeiteten, ja, beabsichtigte Plünderungen verhinderten und so wertvollen kulturellen Besitz unserer Heimat erhielten.
Ich glaube, daß gerade dieser Teil der Geschichte auch in den Medien sehr oft ungerechterweise unterschlagen wird.Meine Damen und Herren, die Arbeit des 1. Untersuchungsausschusses, so schwierig sie sich auch gestaltet und so aufwendig sie für Abgeordnete und Mitarbeiter auch ist, ist, glaube ich, ein unverzichtbarer Teil der historischen Wahrheitsfindung.Es darf nicht geschehen, daß durch eine Legendenbildung — sie hat inzwischen schon eingesetzt — die Wirklichkeit der DDR geschönt und das Unrecht bagatellisiert wird.
Nicht nur einzelne Vertreter eines ineffizienten Systems haben sich schuldig gemacht — das ist nur die halbe Wahrheit—, sondern das gesamte System— das beweisen die Akten — war auf Unrecht, auf Rechtsbeugung, selbst der eigenen Gesetze, und auf Unterdrückung angelegt, und dieses System konnte auch nur so existieren. Als die Unterdrückung nicht mehr funktionierte, brach das System wie ein Kartenhaus zusammen. Meine Damen und Herren, dieses System war verbrecherisch!
Zu einer Kurzintervention erteile ich der Abgeordneten Andrea Lederer das Wort.
Herr Krziskewitz, ich möchte gern auf Ihren Beitrag eingehen. — Mir liegt es wirklich fern, zu beschönigen, zu bagatellisieren.
Metadaten/Kopzeile:
11724 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 135. Sitzung. Bonn, Freitag, den 22. Januar 1993
Andrea LedererMir liegt es absolut fern, jemandem auch im Hinblick auf seine persönlichen Erfahrungen weh zu tun, wie Sie das formuliert haben.
— Ich habe meinen Beitrag nicht nur gelesen; ich habe ihn auch geschrieben. Insofern weiß ich, wovon er handelt.Ich sage Ihnen: Es ist tatsächlich so — das hat gerade auch das Ende Ihrer Rede deutlich gemacht —, daß im Grunde genommen im Sinne einer Art Siegerjustiz Geschichtsaufarbeitung betrieben werden soll.
Gegen dieses Herangehen an Geschichtsaufarbeitung werde ich mich und wird sich auch meine Gruppe immer wehren. Es gilt zu differenzieren. Ich kann da auch nur meiner Kollegin Köppe beipflichten, daß in Sachen Ost-Aufarbeitung West-Abgeordnete, West-Kollegen schnell dabei sind, intensiv dabei sind, auch Urteile zu sprechen.
— Nein, ich bin nicht ruhig. Ich habe ein Interesse daran — genau das habe ich ausgesagt —, daß die deutsch-deutsche Koordinierung in diesem Bereich deutlich wird. Zu Geschäften gehören nun einmal— KoKo war dazu da, Geschäfte zu betreiben, Devisen zu erwirtschaften — zwei Seiten. Darin sind wir uns, denke ich, einig.Wenn Sie verfolgen würden, welche Diskussionen in unserer Partei laufen, wenn Sie verfolgen würden, welche Position ich da vertrete,
dann wüßten Sie, daß Ihr Vorwurf, den Sie an mich gerichtet haben, ziemlich ungerechtfertigt ist.
Aus meiner Sicht ist Ihnen nicht damit geholfen, sich bei der Aufarbeitung der Geschichte der DDR tatsächlich auf die Seite derjenigen zu schlagen, die nicht einmal mehr differenziert an das herangehen wollen, was in der DDR war.
Es geht darum, ohne Beschönigung zu benennen, was die Wahrheit war, zu sagen, was für Unrecht geschehen ist, aber tatsächlich zu differenzieren und auch zu sehen, welche Beteiligung etwa der Bundesrepublik oder anderer westlicher Länder es an einer ganz bestimmten Situation in der DDR am Schluß, ökonomisch betrachtet, gab.
Herr Abgeordneter Krziskewitz, Sie haben nun die Möglichkeit, zu erwidern.
Meine Kollegen, die mich kennen, wissen, daß ich ein Mensch bin, der sehr wenig von Polemik hält. Aber ich muß doch sagen: Es ist für mich unerträglich, wie Sie vorhin versucht haben — wir können ja das Protokoll nachlesen —, jede Schuld des Ministeriums für Staatssicherheit zu bagatellisieren.
Wenn Sie sagen, das Ministerium für Staatssicherheit habe selbst unter KoKo gelitten und sei damit nicht einverstanden gewesen, dann spricht das den Tatsachen hohn.
Frau Lederer, entschuldigen Sie, aber was Sie in Ihren internen Zirkeln beraten, interessiert mich nicht. Was Sie in diesem Hause sagen, was Sie hier heute von sich gegeben haben, das kann man nachlesen, und dafür werden Sie auch die Verantwortung vor der Geschichte tragen müssen.
Ich habe in der Volkskammer, und zwar am 12. September gesagt: Ich habe Verständnis für Menschen, die sich in ihrem Leben anders eingerichtet hatten. Ich habe Verständnis für Menschen, die an eine Idee geglaubt haben. Als Christ weiß ich auch um Kategorien wie Vergebung, Sühne und Umkehr. Ich weiß auch, daß man dann entgegengehen muß. Aber eines müssen Sie einfach tun: Sie müssen das verbrecherische Tun dieser Partei, von der wir alle sprechen, der SED, eingestehen. Ohne das werden Sie keinen Neuanfang machen können. Dazu müssen Sie sich bekennen!
Ich erteile nunmehr dem Abgeordneten Axel Wernitz das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Diese Intervention, dieser Dialog zeigt, wie schwierig, wie komplex und auch wie mühselig bis in sensible Bereiche hinein die Aufarbeitung ist, die wir in einem Teilbereich zu leisten haben und die eine ganz andere Dimension hat.Mit der Vorlage von zwei Teilberichten dokumentiert der 1. Untersuchungsausschuß des Bundestags erstmals gegenüber dem Parlamentsplenum die Ergebnisse seiner am 7. Juni 1991 begonnenen Arbeit. Ein weiterer umfangreicher Teilbericht zum Thema „Kunst und Antiquitäten" ist in Vorbereitung. Wir haben soeben im Vorgriff dazu schon etwas gehört.Entgegen der überwiegenden Praxis bei früheren parlamentarischen Untersuchungsausschüssen, erst zum Schluß einen umfassenden schriftlichen Bericht vorzulegen, haben wir zunächst einmal den Weg über Teilberichte versucht. Zum einen erlaubt der Gegen-
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 135. Sitzung. Bonn, Freitag, den 22. Januar 1993 11725
Dr. Axel Wernitzstand des Untersuchungsauftrags dieses abschnittsweise Vorgehen, und zum anderen erleichtert dieses Vorgehen es den Interessierten innerhalb und außerhalb des Parlaments, Ergebnisse aktuell und nicht erst ani Ende eines mehrjährigen Verfahrens zur Kenntnis zu nehmen. Wenn Sie sich die Teilberichte anschauen und auf das Ergebnis hochrechnen, dann ist das schon fast die Kapazität eines Containers. Es ist sehr schwer, das dann wirklich intensiv zur Kenntnis zu nehmen und umfassend aufzuarbeiten.Es versteht sich von selbst, daß am Ende der Arbeit des Untersuchungsausschusses ein Abschlußbericht stehen muß, mit dem dann die bis dahin vorliegenden Teilberichte verbunden sind bzw. eine Einheit bilden.
Bis dahin ist aber noch viel zu tun, um dem Untersuchungsauftrag annähernd gerecht zu werden. Ohne eine entschlossene Konzentration auf das Wesentliche droht die verbleibende Zeit sehr knapp zu werden. Gleichwohl sehe ich trotz aller Skepsis durchaus realistische Chancen, daß die Verfahrensprobleme gemeistert werden. In der Tat muß man versuchen, vor der Sommerpause 1994 ein Ergebnis unter den Konditionen, die auch von den anderen Kollegen genannt worden sind, zu erreichen.Laut Einsetzungsbeschluß des Bundestags soll untersucht werden,welche Rolle der Arbeitsbereich „Kommerzielle Koordinierung" und sein Leiter Dr. Alexander Schalck-Golodkowski im System von SED-Führung, Staatsleitung und Volkswirtschaft der früheren DDR spielte und wem die wirtschaftlichen Ergebnisse der Tätigkeit dieses Arbeitsbereichs zugute kamen und gegebenenfalls heute noch zugute kommen.Wer sich die Mühe macht, in die vorliegenden Teilberichte einmal hineinzuschauen, wird feststellen, daß wir im Sinne des gerade zitierten Gesamtauftrags des Ausschusses durchaus ein gutes Stück vorangekommen sind.
Richtig ist gleichzeitig aber auch, daß noch sehr viele Fragen offen sind.Mit der Dokumentation seiner Untersuchungsergebnisse leistet dieser Ausschuß auf seinem Gebiet nach meiner Überzeugung einen konkreten und wichtigen Beitrag dazu, daß das untergegangene realsozialistische SED-Regime mit wachsendem Abstand zur Wende und angesichts des schwierigen Alltags im Vereinigungsprozeß nicht da und dort zu einer rosaroten Gartenlaube verklärt wird. Das heißt, diese Aufarbeitung der Vergangenheit ist im Grunde eine Zukunftsinvestition gegen das Nachleben der SED-Vergangenheit im demokratischen Rechtsstaat und gegen eine verfehlte DDR-Nostalgie.
Dieser Aspekt ist zwar weniger spektakulär als sogenannte Enthüllungen. Gerade deshalb halte ich esaber für notwendig, auf diesen Effekt der Arbeit des 1. Untersuchungsausschusses hinzuweisen. Herr Kollege Vogel hat auf die Berührungspunkte zur Enquete-Kommission an dieser Stelle bereits hingewiesen.Demgegenüber steht im Vordergrund des öffentlichen Interesses in Ost und West — durchaus verständlich und sehr berechtigt — die Frage, ob und inwieweit es gelingt, den Leiter des KoKo-Bereichs, SchalckGolodkowski, und andere Akteure dieses Bereichs als Hauptverantwortliche zu ermitteln. Hier wehre ich mich, Frau Köppe — aber auch bei der Kollegin Lederer klang das da und dort an —, leidenschaftlich gegen die Unterstellung, daß es sich hier um ein Tribunal handele und daß bestimmte Ergebnisse bereits feststünden. Wir bemühen uns, redlich und fair, offen und solide auf das Ergebnis hinzuarbeiten und nicht Vorverurteilungen vorzunehmen.
Auch wenn das bisher Erreichte nicht den — teilweise von Anfang an zu hoch gespannten — Erwartungen entspricht und insoweit nicht spektakuläre Enthüllungen bietet, so ist es doch mittels zahlreicher Zeugenvernehmungen und Materialaufarbeitung insgesamt gut gelungen, die Organisations- und Verantwortungsstruktur des Bereichs Kommerzielle Koordinierung aufzuhellen.KoKo arbeitete innerhalb der DDR-Planwirtschaft nach marktwirtschaftlichen oder nach kapitalistischen Prinzipien. Aufgabe des Bereichs war es, alle Möglichkeiten der Erwirtschaftung von Devisen zu nutzen. Gerade die Vernehmung von Günter Mittag am 6. und 7. Januar dieses Jahres in Berlin durch den Vorsitzenden und mich als Stellvertreter hat in der Frage des Verantwortungsprofils von Schalck zusätzliche Klarheit gebracht. Danach trug Schalck für das Devisenbeschaffungsunternehmen KoKo die volle Eigenverantwortung. Mittag hat diese Verantwortung im übrigen als eine ganz konkrete klassifiziert, während sich Schalck bislang stets auf eine allgemeine, abstrakte Verantwortung zurückzuziehen versuchte. Ich halte dies für ein wichtiges Ergebnis und Faktum.Ich weiß, daß die weitere Tätigkeit des 1. Untersuchungsausschusses angesichts der komplexen Materie schwierig und mühselig bleibt. Mit dem Untersuchungsauftrag des Bundestages bleibt auch 1993 ein trauriges und dunkles Kapitel deutscher Geschichte auf der politischen Tagesordnung. In den zurückliegenden Wochen und Tagen hat es sich gezeigt, daß es keinen Königsweg zur Vergangenheitsbewältigung im Zusammenhang mit der SED-Herrschaft gibt. Das gilt selbstverständlich auch für das Instrument des parlamentarischen Untersuchungsausschusses. Viele rechtliche Schwierigkeiten, die in Strafprozessen bzw. in ihrem Vorfeld aufgetreten sind, begleiten auch unsere Aufklärungsarbeit. Hier stoßen wir immer wieder an Grenzen, die der Rechtsstaat setzt, setzen muß und die wir zu repektieren haben, für die aber Teile der Bevölkerung nur bedingt oder kein Verständnis haben.
Metadaten/Kopzeile:
11726 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 135. Sitzung. Bonn, Freitag, den 22. Januar 1993
Dr. Axel WernitzGerade in diesem Punkt wird deutlich, wie wichtig es wäre, daß die Ergebnisse unserer Arbeit Initialzündung und Anregung zu öffentlicher Diskussion und individueller Bereitschaft zur kritischen Auseinandersetzung mit dem DDR-SED-Stasi-KoKo-Regime werden. Die Erfahrungen mit dem Untersuchungsausschuß in eineinhalb Jahren zeigen, daß diese Aufgabe nur bewältigt werden kann, wenn man sie nicht parteitaktisch — nach keiner Richtung — sieht und begreift, sondern grundsätzlich als eine gesamtdeutsche Verantwortung. Hier stehen wir alle miteinander in der Pflicht.
Ich erteile nunmehr dem Abgeordneten Jörg van Essen das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir beraten heute über die erste Beschlußempfehlung und den ersten Teilbericht des 1. Untersuchungsausschusses; weiterhin stehen auch die zweite Beschlußempfehlung und der zweite Teilbericht des 1. Untersuchungsausschusses zur Debatte. Wenn es nach dem Titel ginge, ist es also eine außerordentlich trockene Materie. Im krassen Gegensatz dazu steht die Feststellung, daß die Erwartungen an den Untersuchungsausschuß überproportional hoch waren und noch sind. Es ist kaum möglich, diesen Vorstellungen gerecht zu werden. Der Untersuchungsausschuß hat sich mit einem Zeitraum zu befassen, der in den 60er Jahren beginnt und über die deutsche Einheit hinausreicht. Diese Zeitspanne ist natürlich viel zu lang, um bereits zu diesem Zeitpunkt umfassende Aufklärung zu verlangen. Ich denke aber, daß wir mit dem bereits Erreichten zufrieden sein können.Die Liberalen im Bundestag haben diesen Untersuchungsausschuß als Möglichkeit gesehen, die deutsch-deutsche Vergangenheit auch über die Parteigrenzen hinaus sachlich aufzuarbeiten.Die PDS ist, wie der heutige Beitrag der Kollegin Lederer gezeigt hat, daran nicht interessiert.
Es ist schlicht infam, die bundesdeutschen Kollegen aus allen Parteien, die sich bemüht haben, das Los der Menschen in der ehemaligen DDR zu erleichtern, der Kumpanei zu bezichtigen.
Es ist schlicht lächerlich, wenn wir von der Kollegin Lederer hören, daß der Sozialismus in der DDR nicht an seinem an der Wirklichkeit vorbeigehenden ideologischen Gerüst gescheitert ist, sondern an dem Import von Westmaschinen.
Ich hatte mir eigentlich vorgenommen, auf einige juristische Fragen einzugehen. Ich möchte das jetzt tun.Die häufigste Frage war die nach der Wahrheit der vor dem Untersuchungsausschuß getätigten Zeugenaussagen. Nicht nur die Aussagen von Herrn SchalckGolodkowski wurden immer wieder angezweifelt. Ich fürchte, daß meine staatsanwaltlichen Kollegen die Frage zu klären haben werden, welche Aussagen — Hinweise bei mehreren Zeugen sind offenkundig — mit den Tatsachen nicht übereingestimmt haben.Weiterhin mußte im Untersuchungsausschuß auf die staatsanwaltlichen Ermittlungsverfahren der Arbeitsgruppe Regierungskriminalität bei der Staatsanwaltschaft beim Kammergericht Berlin Rücksicht genommen werden. Wir waren auf enge Zusammenarbeit angewiesen, wurden aber ständig mit dem Problem konfrontiert, daß die staatsanwaltlichen Ermittlungen nichtöffentlich zu sein haben. Die Gegensätze zwischen der Offenheit eines Untersuchungsausschusses des Bundestages auf der einen Seite und der Diskretion des staatsanwaltlichen Ermittlungsverfahrens auf der anderen Seite mußten also gelöst werden. Es ist weitgehend gelungen.Allerdings war ein Informationsaustausch immer dann sehr problematisch, wenn die Ermittlungsbehörde in Berlin ihre Arbeit gefährdet sah. Nur in diesen Ausnahmefällen bestand ein Informationsverweigerungsrecht der Arbeitsgruppe Regierungskriminalität. Ich danke den Kollegen der Arbeitsgruppe für ihre Unterstützung.Wir sind weiter auf die Zusammenarbeit mit diesen staatsanwaltlichen Kollegen angewiesen, insbesondere in der noch vor uns liegenden Arbeit bei der Beurteilung von Aussageverweigungsrechten von Zeugen.Es erschwert die Arbeit doch sehr, wenn erst nach einer Zeugenaussage vor dem Untersuchungsausschuß festgestellt wird, daß ein Zeugnisverweigerungsrecht auf Grund eines bereits eingeleiteten Ermittlungsverfahrens schon zur Zeit der Aussage hier bestanden hat. Wenn der Ausschuß vor der Aussage von einem Ermittlungsverfahren gegen einen Zeugen unterrichtet werden würde, würde sich die Arbeit sehr vereinfachen. Dabei muß natürlich auf eine vernünftige Arbeit von Staatsanwaltschaft und Kriminalpolizei in Berlin Rücksicht genommen werden.Das mögliche Zeugnisverweigerungsrecht war auch ansonsten eine schwierige juristische Frage. Diskutiert wurde in diesem Zusammenhang etwa ein mögliches Recht für Angehörige der ehemaligen Staatsverwaltung der DDR sowie für andere Personen, die auf Grund eines besonderen Auftragsverhältnisses für die Staatsverwaltung tätig waren.Wir haben diese Frage aus guten juristischen Gründen und nicht aus „Siegermentalität" restriktiv ausgelegt. Aber wir als Liberale, die sich die Aufgabe gesetzt haben, die Freiheit des Bürgers in diesem Land zu schützen und zu erhalten, dürfen nicht zulassen, daß die Rechte von Betroffenen im Strafverfahren beschnitten werden. Die rechtsstaatlichen Prinzipien und die daraus stammenden Rechte müssen jedem gewährt werden. Ich denke, das haben wir getan.Ferner hat uns das Problem beschäftigt, wie die bundesdeutschen Regierungsakten behandelt werden, insbesondere deren Geheimhaltung. Von der Oppositionsseite, insbesondere von Frau Köppe,
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 135. Sitzung. Bonn, Freitag, den 22. Januar 1993 11727
Jörg van Essenwurde häufig kritisiert, daß alle einschlägigen Akten, auch die der Nachrichtendienste, nicht bekanntgemacht wurden. In diesem Zusammenhang wurde der Bundesregierung vorgeworfen, sie behindere die Aufklärung. Ich halte diesen Vorwurf ebensowenig für berechtigt wie die weiteren Vorwürfe der Kollegin Köppe. Auch wenn da und dort Mitarbeiter westlicher Nachrichtendienste im KoKo-Bereich tätig gewesen sein mögen — gesteuert, und das an enger Leine, wurde aus Ostberlin. Es ist Geschichtsklitterung, liebe Frau Kollegin Köppe, die DDR als Marionettentheater westdeutscher Nachrichtendienste darstellen zu wollen.
Der Untersuchungsausschuß ist kein Tribunal. Wir sollten ihn auch nicht dazu machen. Wir sind auf dem Weg der Aufklärung ein gutes Stück vorangekommen. Das lag auch an der F.D.P.Vielen Dank.
Das Wort hat nun der Abgeordnete Heinz-Jürgen Kronberg.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn wir heute über Kommerzielle Koordinierung, über Schalck-Golodkowski sprechen, müssen wir, denke ich, auch über die Staatssicherheit sprechen.Bei dieser Gelegenheit möchte ich an den Mut und vor allen Dingen an das Engagement derjenigen erinnern, die im Herbst 1989 die Staatssicherheitszentralen, anfänglich in Erfurt, dann bis hoch nach Rostock, besetzt und sie nicht nur gesichert haben, sondern auch die Akten aufgearbeitet haben, bis hin zum Zusammenlegen von Schnipseln bereits zerrissener Akten. Ich denke, wir vergessen allzu leicht, welchen Anteil diese Leute, die in den Bürgerkomitees gearbeitet haben, an der heutigen Aufklärung im Rahmen unserer Tätigkeit haben.
Wenn wir den Anfang der Kommerziellen Koordinierung anschauen, müssen wir sagen: Das war kein Kind der Marktwirtschaft. Es war die erste Bankrotterklärung der defizitären DDR-Planwirtschaft. Das ist die Wirklichkeit. Man hatte erkannt, daß die DDR-Wirtschaft nicht mehr in der Lage war, vernünftig und gewinnbringend zu wirtschaften. Vielmehr war sie defizitär. Daher waren dieses Wirtschaftssystem und vor allen Dingen die Kommerzielle Koordinierung ein besonders sensibler Bereich und damit auch für die Staatssicherheit sehr interessant.Das wird dadurch dokumentiert, daß von Anfang an, seit 1966, das MfS in die Arbeit von KoKo involviert war. Schon vor seiner Ernennung zum Leiter von KoKo informierte Schalck das damalige Mitglied des Politbüros Hermann Matern mit Schreiben vom 29. Dezember 1965 über den Stand der damals im Außenhandel erwirtschafteten Valuten. Ich zitiere:Dabei haben uns vor allem Vertrauensfirmen desMfS über die Firma Simon und die Firma Gerlachaußerordentlich große Hilfe und Unterstützung gegeben.Die Unterstützung u. a. durch das Ministerium für Staatssicherheit bezeichnete er deshalb als notwendig — noch ein Zitat —,weil eine Reihe von Operationen, wie illegaler Warentransport, Versicherungsbetrug und andere streng geheimzuhaltende Maßnahmennur einem sehr kleinen Personenkreis bekannt werden durfte.Was wir bisher nicht gefunden haben, sind Hinweise auf die inhaltliche Beeinflussung von seiten des MfS während der Gründung, im Gegensatz zu der alltäglichen Arbeit, wo sie um so massiver gewesen ist.Ein Beispiel haben wir diese Woche von einem ehemaligen Offizier der HVA, d. h. vom Hause Markus Wolf, gehört, der sagte:Es ging nicht nur um die diffizile Arbeit, sondern es ging auch um die globale Beschaffung für die Staatssicherheit. Mielke selbst hat Listen erstellt, hat sie Schalck selbst gegeben, und Schalck leitete diese weiter zu seinen Mitarbeitern, zur Beschaffung.Der Kontakt zwischen Schalck und Mielke beschränkte sich aber nicht nur auf das Arbeiten von KoKo. Es wurde vorhin schon erwähnt: Mielke war, obwohl er selbst nicht Doktor war, der Doktorvater von Schalcks Dissertation. Eine beachtliche Konstellation!
— In der DDR war alles möglich. — Er hat sie aber nicht allein geschrieben, sondern — auch das ist beachtlich — zusammen mit Heinz Volpert, der Oberst war und zum Schluß zur führenden Ebene um Erich Mielke gehörte. Das Thema war — das wissen Sie genausogut wie wir — die Arbeit von KoKo an sich. Es war die theoretische Grundlage seiner Arbeit in der Kommerziellen Koordinierung.Die Staatssicherheit — um das einmal von der Struktur her zu sehen — hatte bei den ca. 100 Mitarbeitern, die in Berlin bei der KoKo beschäftigt waren, allein 19 Offiziere in besonderem Einsatz. Das heißt, jeder fünfte war Offizier in besonderem Einsatz, ganz zu schweigen von den IMs. Einer der Offiziere in besonderem Einsatz war Schalck selbst.Ein weiterer wichtiger Mann für das MfS war Manfred Seidel. Er war bereits 1966, als er zur KoKo kam, Oberst des MfS. Er war nicht nur der Leiter der Hauptabteilung 1, sondern er war der eigentliche Brückenkopf für das MfS im Bereich Kommerzielle Koordinierung. Ihm unterstanden, wirtschaftlich gesehen, u. a. die Firmen Asimex, Camet, F. C. Gerlach, Forgber, Interport und Intertechna. Operativ gesehen unterstanden sie der HVA, der Hauptverwaltung Aufklärung.Der Kollege Krziskewitz hat vorhin auch die Firma Kunst und Antiquitäten GmbH angeführt. Auch diese unterstand Manfred Seidel. Gerade an ihr wird deut-
Metadaten/Kopzeile:
11728 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 135. Sitzung. Bonn, Freitag, den 22. Januar 1993
Heinz-Jürgen Kronberglieh, daß es bei KoKo kein eng spezialisiertes Arbeiten gab. Vielmehr war es eine Zusammenarbeit zwischen der Kommerziellen Koordinierung, der Staatssicherheit, den öffentlichen Organen, z. B. der Volkspolizei, der Staatsverwaltung und der öffentlichen Rechtsprechung. Das heißt, der Bereich Kommerzielle Koordinierung hat nichts ausgelassen. Es war eine Krake, die bis in die letzte Ecke der DDR reichte.Ungefähr ab Mitte der 70er Jahre ist, wie wir feststellen müssen, die Zusammenarbeit zwischen KoKo und dem MfS dann immer enger geworden. 1983 wurde auf Betreiben von Schalck-Golodkowski die Arbeitsgruppe BKK, eine eigene MfS-Arbeitsgruppe speziell für diesen Bereich, gegründet. Schalck wurde es ganz einfach zuviel, unter der globalen Beobachtung des MfS zu stehen. Er erhoffte sich, damit die Informationen in dieser speziellen Arbeitsgruppe kanalisieren zu können.Ein Zeichen dafür ist der Befehl 14/83. Er zeigt die Unterstellung in allen Fragen der Sicherheit und der Nutzung unter die Person von Schalck-Golodkowski; in der Art des Bereiches für die politisch-operative Arbeit des MfS direkt unterstellt und verantwortlich.Das heißt: Ohne Schalcks Abnicken, ohne sein Ja-Wort war nichts möglich. Wenn man sich die Einzelbestimmungen durchliest, dann wird klar: Er hatte sogar Gestaltungsfreiraum; er hatte die Möglichkeit, freien Handlungsraum für die Arbeit des MfS innerhalb seines Betriebes zu nutzen.So war es beispielsweise nicht möglich, die Installation von Offizieren im besonderen Einsatz oder von IMs ohne seine Rücksprache oder gar sein Einverständnis zu bewerkstelligen. Das beweist, daß hier im wechselseitigen Interesse gearbeitet wurde.Wie uns Mitarbeiter bei den Befragungen mehrmals bestätigten, hat Schalck den Kontakt zu Mielke nicht nur dazu benutzt, seine Arbeit effizient gestalten zu können, sondern auch dazu, seine persönliche Bedeutung aufzupolieren.Ich denke mir, das ist Beweis genug für die Verstrikkungen zwischen MfS und dem Bereich Kommerzielle Koordinierung, die Schalck in seiner ersten Aussage so vehement bestritten hat.
Damit nicht genug: Ich denke, wir müssen uns natürlich auch nach den Schlußfolgerungen fragen, die sich aus unserer Arbeit ergeben.Es gab in der KoKo nicht nur ein wechselseitiges Arbeiten. Nein, KoKo war in ihrer Arbeit nur so effektiv und nur so gut — wenn man dies überhaupt sagen kann —, weil die Möglichkeit bestand, nach den politisch-operativen Arbeitsweisen des MfS vorzugehen.
Das müssen wir hier betonen. Das ist der Unterschied zur Marktwirtschaft.Ich denke mir, die Schlußfolgerung daraus muß vor allem sein, daß es keinen Bereich im Staat mehr geben darf, der nicht unter politischer und demokratischer Kontrolle steht; denn wir haben ja gerade bei KoKo gesehen, welches skrupellose Geschwür ohne jegliche Grenzen mit der ihm gegebenen Eigendynamik sonst entstehen kann.Vielen Dank.
Nunmehr hat das Wort der Abgeordnete Volker Neumann.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen aus dem Untersuchungsausschuß und die fünf anderen!
Wohl bei keiner Tätigkeit in diesem Parlament hat mich bisher immer so die Wut gepackt wie bei der Arbeit in diesem Untersuchungsausschuß; nicht etwa deshalb, weil uns die Akten so spät und so langsam — manchmal ging es vielleicht auch nicht anders — geliefert worden sind, sondern deshalb, weil bei dem Blick auf den Kalender deutlich wurde, daß wir mit der verbliebenen Zeit den Auftrag, den der Bundestag uns gegeben hat, nicht erledigen können.
Grund dafür ist nicht das Schweigen der Zeugen, und Grund dafür ist auch nicht das Verdrängen von Wahrheiten.
Die Wut beruht auch auf der Tatsache, daß viele der Kollegen unsere Arbeit als Medienspektakel betrachten,
nicht aber als das, was es eigentlich sein sollte. Damit sind auch die gemeint, die Sonnabends eine Meldung „Wir wollen Honecker als Zeugen vor den Untersuchungsausschuß laden" herausbringen, aber dann, wenn es zum Schwur kommt, sagen: Jetzt aber nicht.
Wie viele unserer Kollegen, insbesondere aus den ostdeutschen Ländern, bin ich aber angetreten, um im Rahmen unseres Auftrags in diesem Ausschuß ein Stück schlimmer deutscher Geschichte aufzuarbeiten.Wir wollten, soweit nötig, auch feststellen, wo westdeutsche Versäumnisse vorhanden sind und wo jene Organisatoren des kommunistischen Systems der DDR heute tätig sind. Es geht nicht um Sühne, und es geht auch nicht um Rache für die Menschen, die unter ihnen gelitten haben und denen ein Teil ihrer Lebenszeit geraubt wurde. Nein, es geht darum, Verantwort-
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 135. Sitzung. Bonn, Freitag, den 22. Januar 1993 11729
Volker Neumann
lichkeiten festzustellen und zu verhindern, daß so etwas wieder geschieht.
Schon einmal, nach der Nazi-Zeit, haben wir, meine ich, unzureichend aufgeklärt, was geschehen ist und wer was getan hat.Es soll doch nicht so sein, daß diejenigen, die in der DDR schon wie die Maden im Speck gelebt haben, sich, nachdem sie die Einheit bekämpft haben, wiederum die größten Stücke des Kuchens herausschneiden. Es geht also schlicht um Gerechtigkeit.
Ich bin auch sicher, daß meine Wut von vielen Menschen in den neuen Bundesländern geteilt wird. Sie haben ihre Arbeitsplätze verloren. Ihre Mieten steigen. Sie werden von skrupellosen Geschäftemachern aus dem Westen betrogen. Ihre Zukunft erscheint unsicher.
Dann erleben sie, wie Alexander Schalck-Golodkowski am Tegernsee lebt, wohlbehütet und wohlgenährt;
jener, der, wie ein Zeuge sagte, schon in der DDR wie ein barocker Fürst gelebt hat. Er brauchte nicht beim Arbeitsamt anzustehen oder sich verzweifelt über die Antragsformulare für Wohngeld zu beugen.
Die Menschen erleben auch, wie leitende Angestellte aus dem KoKo-Imperium in zum Teil seltsamen Firmen als Gesellschafter oder Geschäftsführer eintreten. Es bleibt aufzuklären, woher sie ihr Startkapital bekommen. Einige aus dem KoKo-Bereich sind sogar stattlich und staatlich versorgt, nämlich bei der Treuhand.
Viele Menschen haben ihre Hoffnung auf uns, auf den Untersuchungsausschuß gesetzt, fühlen sich aber bisher enttäuscht. Können wir ihre Hoffnungen auf Gerechtigkeit eigentlich erfüllen?Fangen wir bei Schalck an. Die am meisten gestellte Frage an uns lautet: Könnt ihr Schalck vor Gericht bringen?Darauf müssen wir antworten: Das ist nicht unsere Aufgabe. Die strafrechtliche Verantwortung von Schalck nachzuweisen, das ist Aufgabe der Staatsanwaltschaft. In unserem Rechtsstaat gilt im übrigen die Unschuldsvermutung, was aber nicht bedeutet, daß wir strafrechtlich relevanten Sachverhalten nicht nachgehen und Verdachtsmomente nicht ausleuchten.Die strafrechtliche Verfolgung der Täter aus dem Bereich Kommerzielle Koordinierung obliegt zunächst der Staatsanwaltschaft beim Kammergericht Berlin. Dort gibt es erhebliche, zum Teil auch objektive Schwierigkeiten, die Sachverhalte aufzuklären.Ich beginne mit der organisatorischen Ebene: Zunächst wurden die erforderlichen Staatsanwälte und Polizeibeamten erst sehr spät von den Bundesländern abgeordnet. Diese Abordnungen sind oft auf ein Jahr begrenzt, so daß nach einer Einarbeitungszeit schon wieder das Kofferpacken beginnt. Zudem werden noch vielfach Berufsanfänger abgeordnet, die die Lebensverhältnisse in Italien und Spanien besser als die in der ehemaligen DDR kennen.Es geht weiter auf der juristischen Ebene: 1990 hat die damals schon frei gewählte Volkskammer mit der Streichung des § 165 DDR-Strafgesetzbuch, des Tatbestands der Untreue, eine wohl ungewollte juristische Wohltat für die Täter aus dem KoKo-Imperium beschlossen. Für Schalck und Co., bei denen Millionenbeträge an Bargeld unkontrolliert zirkulierten, kam diese Streichung wie bestellt.
Aber auch die Verjährungsvorschriften im Strafrecht haben fatale Folgen. Die Zeit spielt für die Täter. Die Verjährungsvorschriften sind z. B. bei Verstößen gegen das Kriegswaffenkontrollgesetz unvorstellbar kurz: nur fünf Jahre. Wir hoffen, daß dies geändert wird.Dennoch teile ich nach der bisherigen Zeugenvernehmung und der Akteneinsicht die optimistische Prognose der Staatsanwaltschaft hinsichtlich der Einleitung einer größeren Anzahl von Strafverfahren. Hier gilt allerdings, daß zunächst die Handelnden der zweiten Ebene vor Gericht gestellt werden müssen, wenn sie sich strafbar gemacht haben. Dann muß gegen die Anstifter und die Helfer vorgegangen werden.In diesem Zusammenhang weise ich darauf hin, daß es auch in der gut organisierten alten Bundesrepublik langwierig und mühsam ist, Ermittlungsverfahren in Wirtschaftsstrafsachen durchzuführen. Um so schwieriger ist die Arbeit der Staatsanwaltschaft bei dem Wirtschaftsimperium KoKo, wo nahezu alle Gesetze und Regeln der DDR außer Kraft gesetzt worden sind.Trotzdem darf sich auf keinen Fall bei der Staatsanwaltschaft die Auffassung durchsetzen: Lieber ein Ende mit Schrecken als ein Schrecken ohne Ende.Kommen wir zu der Frage, ob nicht andere, vielleicht politische Gründe die strafrechtliche Verfolgung von Schalck ver- oder zumindest behindern. Ich komme zu dem Ergebnis: So ist es.Schon vom Beginn der Tätigkeit im Untersuchungsausschuß an finde ich immer wieder Fingerabdrücke derer, die zu verhindern suchen, daß in der knapp bemessenen Zeit einer Legislaturperiode wirklich der ganze Umfang der Tätigkeit und des Wissens von Schalck aufgedeckt wird. Einige, die an den Schalthebeln der Macht sitzen, scheinen Angst vor dem tatsächlichen oder möglichen Wissen um peinliche Tatbestände über Politiker, Manager oder Unternehmen zu haben.Alles spricht dafür, daß Schalck mächtige Schutzengel in der Bundesrepublik hat. Ich will nur einige Indizien kurz nennen.
Metadaten/Kopzeile:
11730 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 135. Sitzung. Bonn, Freitag, den 22. Januar 1993
Volker Neumann
Erstens. Erinnern wir uns: Schalck ist am 3. Dezember 1989 Hals über Kopf — so sagte er — aus der DDR geflüchtet, nachdem er buchstäblich bis zur letzten Minute normal seinen Geschäften, seinen, wie ich meine, dubiosen Geschäften, nachgegangen ist.Als Begründung hat er „Todesangst" angegeben, die ihm damals vom Bundesnachrichtendienst bestätigt worden ist. Es mag ja sein, daß er Todesangst hatte. Er hat aber später nie gesagt, was eigentlich der Grund für die DDR sein könnte, ihm nach dem Leben zu trachten. Die Todesstrafe war abgeschafft. Weder bei dei Polizei noch beim Bundesnachrichtendienst hat er etwas ausgesagt, was diese Angst hätte rechtfertigen können.Daß er nichts über die Gesprächspartner im Westen sagt, über seine Partner bei den Waffengeschäften, beim Menschenhandel mit Häftlingen und bei den sonstigen Machenschaften, ist klar; denn dieses Schweigen schützt ihn. Aber auch über die damals Mächtigen in der DDR hat er bei der Polizei oder der Staatsanwaltschaft nichts ausgesagt, was deren strafrechtliches Fehlverhalten belegen könnte.Der Mann, der, wie wir von Zeugen wissen, fast täglich mit Mielke gesprochen hat, der eine Direktleitung von seinem Büro zum obersten Stasichef hatte, wird sicher nicht nur seine Berichte über alle Gespräche mit Politikern der Bundesrepublik weitergeleitet haben, sondern auch von Mielke alle Informationen über diese Personen erhalten haben. Kein Wunder also, wenn manchmal von Schalck eine Drohung in bestimmte Richtung ausgeht. Klaus Bölling hat das schon erfahren müssen.Sein Übertritt nach West-Berlin erfolgte fast planmäßig. Anruf bei Schäuble, Betreuung durch das Diakonische Werk, Beschaffung eines Anwalts. Alles war prima organisiert. Immer mehr fragt man sich, ob das nicht von langer Hand geplant war und welche Gründe alle diese Helfer bewogen haben, so schnell, uneigennützig und perfekt zu handeln.Der BND sollte Schalck in Pullach vernehmen und nicht betreuen. So wurde es dem Bundestag mitgeteilt. Aber gab es wirklich keine „Betreuung"? Deckpapiere wurden angeschafft — wozu eigentlich bei dem Bekanntheitsgrad von Herrn Schalck? —; ein Bewacher wurde organisiert; Max Strauß war, aus alter Freundschaft, als Münchener Anwalt tätig. Warum wurden sofort ein Führerschein und ein Reisepaß ausgehändigt? Sollte er möglichst schnell seine Bewegungsfreiheit gesichert bekommen? Schalck hatte doch mitgeholfen, daß Millionen von Menschen in der DDR nicht reisen konnten; er hatte in der vordersten Front den Mauerbau abgesichert und bejubelt. Warum mußten er und seine Frau so schnell in die Lage versetzt werden, ins Ausland zu reisen?Ich könnte noch viele dieser Fragen stellen, die wir auch noch im Ausschuß stellen müssen. Schon die genannten Fragen machen deutlich, wie sich durch einen Teilkomplex die Zweifel verdichten, ob wirklich alle, die es könnten, mithelfen, die Wahrheit ans Licht zu bringen. Meiner Meinung nach dürfen wir nicht auf die Spekulation der Täter auf den Zeitablauf hereinfallen.Immer noch tauchen neue Akten auf, wie etwa in dieser Woche ein Teil der Barschel-Akte des MfS. Immer mehr Zeugen werden auch bereit sein, die Wahrheit zu sagen; immer mehr Zusammenhänge werden erkennbar.Die geschichtliche Dimension der Aufarbeitung dieses Teils der deutschen Geschichte rechtfertigt die Überlegung, ob der Untersuchungsauftrag in der nächsten Legislaturperiode nicht fortgesetzt und zum Abschluß gebracht werden sollte. Wir sollten, meine ich, nicht auf halbem Wege stehenbleiben.Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Ich erteile nunmehr dem Abgeordneten Joachim Hörster das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Ausführungen der Kolleginnen und Kollegen von Bülow, Frau Lederer, Frau Köppe und Neumann geben doch Anlaß, noch einmal an die Entstehung dieses Untersuchungsausschusses zu erinnern, damit wir etwas aus dem Dunstkreis der Vermutungen, Verdächtigungen und sonstigen Spekulationen herauskommen und uns an den Tatsachen orientieren, die dazu geführt haben, diesen Untersuchungsausschuß einzurichten.Zunächst möchte ich daran erinnern, daß in der Nacht vom 2. auf den 3. Dezember 1989 Alexander Schalck-Golodkowski, der bis damals der Öffentlichkeit in seinen Funktionen, insbesondere als Chef des Bereichs Kommerzielle Koordinierung, wenig bekannt war, fluchtartig die DDR verließ. Diese Flucht verursachte größte Besorgnisse und auch größte Aktivitäten. Nach der Flucht Schalcks erließ der Vorsitzende des Ministerrats der DDR, Dr. Hans Modrow, am 3. Dezember 1989 folgende Anordnung:Aus Gründen der nationalen Sicherheit ordne ich an, daß mit sofortiger Wirkung der Einsichtnahme der Geschäftsakten der Hauptabteilung I des Bereichs Kommerzielle Koordinierung nicht stattgegeben wird.Heute wissen wir, daß das die Stasi- und Kirchenabteilung des Bereichs Kommerzielle Koordinierung war. Was — leider ist Frau Lederer nicht mehr da — hatte denn der Herr Modrow zu verbergen, daß er diese Anordnung unmittelbar nach der Flucht von Schalck treffen mußte? Worin war denn das nationale Interesse begründet?
Aber auch bei einem anderen löste die Flucht Schalcks Besorgnisse aus. Das konnte man in der „Welt" vom 6. Dezember 1989 nachlesen. Dort erklärte Dr. Manfred Stolpe:Die Flucht von Herrn Schalck löst großes Entsetzen im Lande aus. Jeder, der von dieser Nachricht erfahren hat, ist natürlich zutiefst beunruhigt wegen dieses persönlichen Verhaltens.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 135. Sitzung. Bonn, Freitag, den 22. Januar 1993 11731
Joachim Hörster— Was der Schalck gemacht hat, wußte kein Mensch in der DDR, jedenfalls kein normaler Bürger. —Aber ich will nicht verhehlen,— so weiter Manfred Stolpe —daß mich noch viel mehr bewegt: daß dieser Weggang nämlich ein Teil der Selbstzerfleischung der SED ist, die im Augenblick stattfindet. Es ist für mich unvorstellbar, daß in der bisherigen Parteiführung niemand gewußt haben soll, was da im einzelnen gelaufen ist. Von daher habe ich immer ganz große Sorge, daß dieser Selbstzerfleischungsprozeß der SED zusätzliche Unruhe in unsere Bevölkerung hineinträgt und uns an den Rand des Chaos führt.Betrachtungen, ausgelöst durch die Flucht Schalcks!Versuche der DDR, Schalcks habhaft zu werden— die gab es nämlich anschließend als Konsequenz aus dem Erlaß von Modrow —, führten zur Einschaltung der Westberliner Justiz, in deren Gewahrsam Schalck dann einige Tage verbrachte.Dann nahm sich in der Tat der Bundesnachrichtendienst Schalck-Golodkowskis an. Und weil Sie das alle so sehr verwundert hat, möchte ich Sie daran erinnern, daß Ihr Parteifreund Konrad Porzner, Präsident des Bundesnachrichtendienstes, auf eine entsprechende Frage im Untersuchungsausschuß Ihnen, Herr von Bülow, geantwortet hat: „Ja, wer hätte sich denn sonst um den DDR-Bürger Schalck kümmern sollen; etwa das Goethe-Institut?"
Wofür haben wir denn einen Bundesnachrichtendienst, wenn sich dieser Nachrichtendienst nicht gerade in einer solchen Phase des Umbruchs darum kümmert, was in den Ländern des Ostblocks, insbesondere in der damals noch existierenden DDR, passiert, wobei es um die Frage geht, ob der Umbruch in friedlicher Weise vollzogen werden kann, wo es um die Frage geht, wer dort demnächst das Sagen hat? Ja, wann überhaupt soll denn ein Bundesnachrichtendienst arbeiten, wenn nicht in einer solchen Situation im Interesse des Friedens?
Es haben sich dann zahlreiche Berichte und Spekulationen um Schalck-Golodkowski und um die KoKo gerankt. Es gab Gerüchte über verschobene und versteckte Milliardenbeträge. Alles mögliche bewegte die Gemüter, auch die Gemüter von Mitgliedern der SPD-Fraktion, weil nämlich ein Bundestagswahlkampf bevorstand. So kam es denn dazu, daß ein BND-Vermerk — —
— Es geht um die Vorgeschichte des Untersuchungsausschusses, verehrte Frau Kollegin Hämmerle. Wir machen so etwas nie.Es kam also dazu, daß der verehrte Kollege MdB Singer den BND in Pullach besuchte. Darüber gab es dann einen Vermerk des BND, den wir mit Interesse gelesen haben. Dort heißt es:MdB Singer erklärte dann, daß er den Auftrag, sich bei Präsident Porzner über Schalck-Golodkowski zu erkundigen, von Vertretern der SPD-Fraktion erhalten habe, um dies eventuell noch im Wahlkampf verwenden zu können,
— Originaltext BND! —
weil die Bevölkerung kein Verständnis über die scheinbare Untätigkeit der Justiz— das war die in Berlin, die von Frau Limbach! —aufbringe und dahinter eventuelle Zusagen oder Versprechen des BND vermute. MdB Singer räumte ein, daß er als ehemaliger Staatsanwalt sich derartiges aber nicht vorstellen könne.
In einer „Report"-Sendung wurde der Kollege Singer dann befragt, und er hat so geantwortet:Also, die Sache war ja fünf Tage vor der Wahl, und jeder Politiker, der sagen würde, das hätte mit Wahlkampf nichts zu tun, den würde man auslachen, und das mit Recht. Also, daß ich Wahlkampf natürlich auch im Hinterkopf gehabt habe, ist völlig klar, würde ich auch nie bestreiten. Aber gesagt habe ich so etwas nicht, und Aufträge hatte ich auch nicht.
Als diese Vorgänge bekannt wurden und der SPD dämmerte, was man da im Vorfeld des SchalckUntersuchungsausschusses eigentlich angerichtet hatte, sah sich der Kollege Singer veranlaßt, hierzu eine etwas abmildernde Erklärung abzugeben und zu äußern, er habe sich bei Präsident Porzner nicht auf den Wahlkampf bezogen. Weil wir uns — im Gegensatz zu Ihnen, Herr von Bülow — nicht auf Nebenkriegsschauplätze begeben, haben wir den Kollegen Singer und den Herrn Porzner im Zeugenstand nicht danach gefragt, was denn nun tatsächlich bei dieser Besprechung gelaufen ist.
Aber es gab noch eine Reihe anderer Merkwürdigkeiten im Zusammenhang mit der Einsetzung des Untersuchungsausschusses, was wir dann ebenfalls in den BND-Akten — die uns nach Ihrer Auffassung nur in unzureichender Weise geliefert worden sind — feststellen konnten.Man fragt sich z. B., was die Kontakte der Fraktion DIE GRÜNEN mit Schalck-Golodkowski wegen eines Untersuchungsausschusses vor der Einsetzung des Untersuchungsausschusses sollten. Zwar hat der Herr Schalck-Golodkowski gemeint, es handele sich um einen MdB Krämer, aber das war er nicht; es war das Mitglied der Unabhängigen Kommission Parteivermögen, Herr Krämer von den GRÜNEN, der mit Herrn Schalck offenbar über diese Dinge verhandelt hat. Herr Schalck selbst hat am 6. Mai 1991 seinem BND-Betreuer mitgeteilt, daß er nun selbst die Einsetzung eines parlamentarischen Untersuchungsausschusses betreiben wolle. In der Tat, am 13. Mai 1991
Metadaten/Kopzeile:
11732 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 135. Sitzung. Bonn, Freitag, den 22. Januar 1993
Joachim Hörsterhat dann die SPD den Grundsatzbeschluß zur Einsetzung dieses Untersuchungsausschusses gefaßt.
Das sind schon interessante Vorgänge, die im Vorfeld der Bildung dieses Untersuchungsausschusses stattgefunden haben. Weil wir das alles nicht wußten, haben wir denn auch, als wir hier über die Einsetzung dieses Untersuchungsausschusses beraten haben, wirklich auf das vertraut, was der Kollege Dr. Struck damals gesagt hat. Er sagte nämlich, daß dieser Untersuchungsausschuß ein deutliches Signal für die Menschen in der ehemaligen DDR sein sollte, daß die Vergangenheit aufgearbeitet werden soll. Dann erklärte Herr Dr. Struck — ich darf wörtlich zitieren —:Um allen Mißverständnissen vorzubeugen, möchte ich hier für meine Fraktion erklären, daß wir— die SPD —im Gegensatz zu manchem anderen Untersuchungsausschuß, der in den vergangenen Legislaturperioden tätig gewesen ist, die Arbeit dieses Untersuchungsausschusses nicht vordringlich unter dem Gesichtspunkt sehen, die Regierung vorzuführen oder der Regierung ein Versagen auf einem bestimmten Gebiet vorzuwerfen. Vielmehr glaube ich, daß unser Appell an die anderen Fraktionen dieses Hauses, die sich an diesem Untersuchungsausschuß beteiligen werden, gemeinsam den Komplex Kommerzielle Koordinierung aufzuarbeiten, auf fruchtbaren Boden fallen wird.Wir alle miteinander in der Unionsfraktion haben damals, als wir diesen Untersuchungsausschuß eingesetzt haben, auch geglaubt, daß es darum ginge. Nur, der SPD-Obmann hatte entweder dem Kollegen Dr. Struck nicht zugehört, oder er führte schon ganz anderes im Schilde; denn kaum daß der Untersuchungsausschuß im Gange war, begann ein merkwürdiges Spiel. Als Reaktion auf eine von der Koalition vorgelegte Liste von Zeugen, die ganz überwiegend der SED angehörten, sprach er am 13. Juni 1991 in einer recht merkwürdigen Weise, die gewisse Probleme mit der Rechtsstaatlichkeit vermuten ließ, davon, der Untersuchungsausschuß würde mit diesen Zeugen „zugemüllt".Einige Zeit später hatte Herr Dr. von Bülow die Berichterstattung über vermeintliche oder tatsächliche Notizen von Schalck-Golodkowski dazu benutzt, den verstorbenen bayerischen Ministerpräsidenten Franz Josef Strauß als Spion zu verdächtigen.Ich weise darauf deswegen hin, weil die Kollegen von der SPD hier den Eindruck erweckt haben, als sei der Umstand, daß wir mit dem Untersuchungsausschuß, wie einige meinten, noch nicht weit genug seien, darauf zurückzuführen, daß wir zu spät Akten bekommen haben. Das ist nicht der Grund. Der Grund, warum wir in dem Untersuchungsausschuß noch nicht weiter sind, besteht darin, daß wir uns wochenlang mit dem Kram beschäftigt haben, den Sie, Herr Kollege von Bülow, aus Effekthascherei an Randthemen in den Untersuchungsausschuß hereingebracht haben, ohne daß wir uns dem Kern der Aufgabe widmen konnten.
Es kamen dann die Attacken gegen den BND, die ja, wie wir das auch heute wieder erlebt haben, in der Weise laufen, daß die kleinen Gruppen, die PDS und das BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, für das Grobe zuständig sind und die feineren Niederträchtigkeiten dann von der SPD verbreitet werden.
Da wir in der Zeit der Tätigkeit des Unternehmens Kommerzielle Koordinierung, verehrte Kollegen von der SPD, jeder für einen Teilbereich Regierungsverantwortung getragen haben und jeder für einen Teilbereich auch für die Kontrolle und die Organisation des BND verantwortlich war, darf ich von Ihnen doch erwarten, daß Sie einen Unterschied machen können zwischen einem Geheimdienst, der dazu geschaffen worden ist, unter bestmöglicher parlamentarischer Kontrolle einen Beitrag zum Schutz der freiheitlich-demokratischen Grundordnung zu leisten, und einem anderen Geheimdienst wie dem MIS, der ausschließlich dazu geschaffen worden ist, die eigene Bevölkerung zu kujonieren, zu quälen und zu unterdrücken.
Ich möchte auf die weiteren Betrachtungen, die Herr Bülow im Zusammenhang mit Waffenhandel angestellt hat, nicht weiter eingehen. Ich möchte auch darauf verzichten, auf das einzugehen, was wir alles im Zusammenhang mit den Akten des Untersuchungsausschusses an intimen Kontakten zwischen den verschiedensten Politikern der Sozialdemokratischen Partei, dem Bereich Kommerzielle Koordinierung und der SED festgestellt haben.
Es muß einem natürlich auf der Zunge zergehen, wenn man feststellen kann, daß der saarländische Umweltminister Jo Leinen die DDR besucht hat, in diesem Zusammenhang von den hervorragenden Möglichkeiten, aus deren Umweltproblembewältigung zu lernen, spricht und sich dafür entsprechend bedankt.
Es muß einem schon auf der Zunge zergehen, wenn im Vorfeld des Landtagswahlkampfes in Nordrhein-Westfalen 1985 über ein Gespräch berichtet wird, bei dem Herr Neuber anbietet, Kontakte zu Herrn Rau herzustellen mit der Maßgabe, daß Herr Rau ansonsten die in der Bundesrepublik Deutschland nicht üblichen Wege einschlagen wolle.
— Das, was der Herr Strauß gemacht hat, ist imGegensatz zu dem, was ich Ihnen hier berichte,
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 135. Sitzung. Bonn, Freitag, den 22. Januar 1993 11733
Joachim Hörsterverehrter Herr Kollege Weiß, alles öffentlich gewesen.
— Ja, so ist es. Ich weiß gar nicht, warum Sie sich darüber aufregen.Es gibt noch weitere schöne Verquickungen, die die besonderen diplomatischen Beziehungen des Saarlandes mit der DDR betreffen, wo Verhältnisse angeknüpft werden, in denen in Ausführung der Vereinbarungen zwischen Honecker und Lafontaine dafür gesorgt werden soll, auf umweltpolitischem und auf wirtschaftspolitischem Gebiet die Beziehungen zwischen der DDR und dem Saarland zu intensivieren — wahrlich fast vergleichbare Partner, was die Wirtschaftskraft betrifft!
Ich will darauf verzichten, diese Dinge weiter zu untersuchen, und will noch einmal darauf kommen, was wir im Kern dieses Untersuchungsauftrages zu leisten haben.Wir haben mit den Möglichkeiten, die der Bundestag hat, die Aufgabe, dieses weitverzweigte Imperium Schalck-Golodkowski so weit wie möglich aufzuklären, d. h. die Durchforstung von über 160 unterschiedlichsten Firmen in unterschiedlichsten Ländern mit den unterschiedlichsten Beziehungen.Ich weiß nicht, wie lange eine Wirtschaftsprüfergesellschaft braucht — das ist eben schon einmal angesprochen worden —, um dies alles aufzuarbeiten. Dann müssen wir uns, verehrter Herr Kollege von Bülow, Zeit dafür nehmen. Da müssen wir auch bereit sein, in die Details zu gehen. Da die Zeugen ja nun leider nicht sehr gesprächig sind, müssen wir uns dafür auch wirklich Zeit nehmen. Aber wir sollten doch die Möglichkeit haben, bei dem Wust von Arbeit, der vor uns liegt, uns in der Tat auf das Wesentliche zu beschränken.Wenn ich mir überlege, wie Sie in der Sache Barschel agieren, bei diesen merkwürdigen Akten, die wir via SPD in den Untersuchungsausschuß bekommen haben und die jetzt dort, wo sie hingehören, nämlich bei der Gauck-Behörde, wieder gelandet sind,
wenn ich sehe, wieviel Zeit und Engagement Sie in diesem Bereich versprühen, obwohl sich in unseren Akten nicht ein einziger klarer, eindeutiger Hinweis oder Anhaltspunkt darauf ergibt, daß Barschel irgend etwas mit dem Bereich Kommerzielle Koordinierung zu tun gehabt haben könnte,
dann wird überdeutlich, daß eine massive Diskrepanz zwischen den hier verkündeten wohlmeinenden Absichten des Kollegen Dr. Wernitz — die ich ihm sogar zutraue und auch abnehme — und dembesteht, was Sie tatsächlich im Untersuchungsausschuß betreiben wollen.
Und das wird die Schwierigkeit sein, vor der wir stehen.
Wir haben uns, Herr Kollege von Bülow, schon im letzten Jahr darüber unterhalten, wie wir durch Setzung eines Schlußpunktes der Beweisaufnahme dafür sorgen können, daß wir uns einvernehmlich auf die wesentlichen Themen einigen, die dann noch konzentriert zu untersuchen sind, und das ist ja nun immerhin am Widerstand der SPD-Fraktion gescheitert. Wenn wir den Auftrag erfüllen wollen, den wir uns selbst nach den eigenen IPA-Regeln gegeben haben, dann sind wir nach § 23 dieser Regeln gehalten, einen Untersuchungsbericht dem Plenum zur Verfügung zu stellen und darüber hier auch zu diskutieren.
Herr Dr. Wernitz hat darauf hingewiesen, daß wir rechtzeitig zu einem Abschlußergebnis kommen müssen.
Herr Kollege Hörster, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Beucher?
Ja.
Kollege Beucher, bitte.
Herr Hörster, könnten Sie uns denn sagen, woher Sie das alles wissen, was in der Barschel-Akte steht, die Sie uns unterstellen weitergegeben zu haben?
Wir haben sie zunächst im Ausschuß lesen wollen. Dann ist doch maßgeblich durch Ihren Einsatz dazu beigetragen worden, daß die Akte erst einmal weggeschickt wurde. Deshalb war es für uns natürlich sehr erhellend, jetzt zu hören, was alles darinstehen soll. Darum will ich erfahren, woher Sie das wissen.
Verehrter Herr Kollege Beucher, wenn Sie mir genau zugehört haben, werden Sie wissen, daß ich nur davon gesprochen habe, daß diese Akten via SPD beim Ausschuß angekommen sind.
Dann habe ich gesagt: Aus den anderen Akten, die wir bisher haben, ergibt sich kein Anhaltspunkt dafür, daß irgendein Zusammenhang herzustellen ist.
Das können sie nicht leugnen.Wir haben einen Beweisbeschluß gefaßt — vielleicht waren Sie gerade geistig abwesend, körperlich anwesend waren Sie ja — dergestalt, daß die Akten, die via SPD in den Untersuchungsausschuß gelangt
Metadaten/Kopzeile:
11734 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 135. Sitzung. Bonn, Freitag, den 22. Januar 1993
Joachim Hörstersind, dortin zurückgegeben werden wo sie hingehören, nämlich an die Gauck-Behörde, und daß wir von der Gauck-Behörde diese Akten anfordern, soweit sie mit dem Thema des Untersuchungsausschusses zu tun haben. Also, es hat alles seine Ordnung. Versuchen Sie nicht, auch nicht durch eine Zwischenfrage, die Dinge zu verdrehen.
Das haben wir übrigens einvernehmlich gemacht, mit Ihren Stimmen!
Gestatten Sie noch eine Zwischenfrage des Kollegen Beucher?
Ja, ich bin gerne bereit, den Kollegen Beucher immer wieder daran zu erinnern, was er selbst mit beschlossen hat.
Kollege Beucher, bitte.
Wir haben zwar jetzt von Ihnen nicht erfahren, Herr Hörster, woher Sie das wissen oder ob Sie diese Akten wirklich kennen,
aber ich darf Sie und auch Herrn Vogel daran erinnern, daß ich in diesem Beschluß, bei dem Sie mir unterstellten, daß ich ihn nur körperlich mitgefaßt hätte, noch um die Ergänzung gebeten habe, daß dann Herr Gauck bitte auch vergleichen möge,
ob die Aktenlage, die er über Herrn Barschel hat, mit der Akte identisch ist, was wir jetzt Herrn Gauck geschickt haben. Sind Sie in der Lage, sich an diesen Vorgang zu erinnern, um Ihren Vorwurf zurücknehmen zu können?
Jetzt hat er die Formalitäten erfüllt; jetzt war es eine Frage. — Daß Herr Gauck vergleichen soll, haben wir auch beschlossen; ich bin gerne bereit, Ihnen das zuzugestehen. Aber das ändert nichts an der Tatsache, daß bis zu dem Zeitpunkt, zu dem diese Akten via SPD an den Untersuchungsausschuß gelangten, in den bisher dem Untersuchungsausschuß zur Verfügung stehenden Akten — seien es Akten des Politbüros, seien es Akten des MfS —
— oder in irgendeiner Zeugenaussage — nicht die Spur eines Hinweises enthalten war, daß es eine Verbindung zwischen Barschel und KoKo gäbe. Trotzdem reiten Sie immer wieder auf diesem Thema herum, weil Sie einen Nebenkriegsschauplatz aufmachen wollen und sich eben nicht um den Kern der Ermittlungen kümmern, der eigentlich Gegenstand unseres Auftrages ist.
Ich denke aber, daß die Mehrheit des Ausschusses ihre Pflichten gegenüber dem Bundestag erfüllen wird, so mühselig dies auch ist und so sehr viel „Müll" nach Auffassung des Herrn Kollegen von Bülow in den Aktenbergen auch zu finden und zu verhandeln ist.
Wir werden diese Akten durchforsten, wir werden sie gründlich prüfen. Wir werden nicht alles lesen können, aber wir werden den Auftrag erfüllen und dem Bundestag rechtzeitig vor Ende dieser Wahlperiode einen aussagekräftigen Bericht vorlegen. Wir werden dann in diesem Bericht auch erklären können — im wesentlichen jedenfalls —, was es mit dem Bereich Kommerzielle Koordinierung auf sich hat.
Nur, ich möchte Sie bitten, Herr Kollege Dr. von Bülow, daran mitzuwirken und nicht die Arbeit des Ausschusses durch Verlautbarungen zu erschweren, wie sie erst gestern über die Ticker gegangen sind:
„Wir vertrödeln hier nur unsere Zeit" schimpft Andreas von Bülow. 80 % aller bisherigen Sitzungen des Untersuchungsausschusses Kommerzielle Koordinierung des Bundestages seien sinnlos gewesen, schätzt der SPD-Obmann die vergangenen eineinhalb Jahre ein.
Wenn Sie Ihre eigene Arbeit so qualifizieren, dann muß ich Ihnen die Frage stellen, warum Sie in diesem Untersuchungsausschuß überhaupt noch mitarbeiten; denn mit dieser Einstellung kann man den Auftrag nicht erfüllen.
Nächster Redner ist unser Kollege Hans-Joachim Hacker. Bitte sehr.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Nach dem ausführlichen Ausflug in die Geschichte der Entstehung des KoKoAusschusses möchte ich jetzt wieder zum Gegenstand kommen, der für den KoKo-Ausschuß ansteht.
— Lieber Herr Kollege Hörster, ich denke, wir haben hier heute insgesamt eine weitestgehend vernünftige Debatte geführt. Wir haben uns alle weitestgehend an den Sachthemen orientiert. Ich unterstreiche, daß ich das für fast alle Ausführungen meine, die heute von diesem Pult aus getätigt worden sind.Ich denke, gerade Ihre Rede — Sie haben schon bessere Reden hier im Hause gehalten, Herr Hörster —
ist ein Beispiel dafür, wie wir es im Ausschuß und vor allen Dingen in der Öffentlichkeit nicht machen sollten, weil dann in der Öffentlichkeit der Eindruck entsteht: Es ist nur Hickhack.
Wenn Sie hier den Umweltminister vom Saarland, Jo Leinen, und seine Äußerungen zur Qualität einer
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 135. Sitzung. Bonn, Freitag, den 22. Januar 1993 11735
Hans-Joachim HackerDeponie oder zur Situation der Umwelttechnik in der früheren DDR zitieren, dann wissen Sie doch selber, daß es seitenweise ähnliche Aussagen von anderen Politikern und von Beamten gibt.
— Haben Sie z. B. die Unterlagen über die Mülldeponie Schönberg nicht gelesen? Keimen Sie Herrn Dr. Conrad, Staatssekretär im Umweltministerium von Mecklenburg? Das ist doch mehrfach durch die Presse gegangen.
— Ja, ganz richtig. Wenn Sie die Unterlagen gelesen haben, werden Sie auch feststellen, daß ein Herr Hillmer, der in höchsten Kreisen der F.D.P. verkehrt, ebenso solche Äußerungen getätigt
und alle Bemühungen unternommen hat, die Umweltpolitik der DDR in einem positiven Licht erscheinen zu lassen.Also, ich mache bei diesem Thema jetzt einmal einen Punkt, weil uns das nicht weiterhilft und weil davon nur die Medien in einer Weise profitieren, die dem Auftrag nicht gerecht wird.
Fast am Ende der Plenardebatte ist es jetzt schwer, ein neues Thema anzureißen, ein Betätigungsfeld des Bereiches Kommerzielle Koordinierung herauszustellen, das nicht bereits von anderen Rednern thematisiert wurde. Ich will deshalb, weil ich selber früher DDR-Bürger war, die besondere Bedeutung unserer Tätigkeit für die Bürgerinnen und Bürger in den neuen Ländern hervorheben.Ausgangspunkt — das will auch ich noch einmal sagen — für alle Erörterungen sollte sein, welche zwei zentralen Aufgaben unser Ausschuß hat, nämlich zum einen die Frage welche Rolle der KoKo-Bereich und sein Leiter, Schalck-Golodkowski, im System der DDR-Führung und des Staatsapparats hatten, und zum zweiten, die Bevorteilung durch das Wirken des Bereiches KoKo zu Zeiten der ehemaligen DDR und — das möchte ich dick unterstreichen — in der gegenwärtigen Zeit zu klären.Den letztgenannten Zeitraum will ich dabei deutlich markieren, weil nach meiner Auffassung die Beziehungsverflechtungen in bestimmten Bereichen fortwirken. Andere Kollegen haben das ähnlich interpretiert.Altbewährte Seilschaften des innerdeutschen Handels aus der Zeit der deutschen Teilung haben ihre Chance im Einigungsprozeß hervorragend genutzt. Ich stelle heraus, daß auch von den Strafverfolgungsbehörden eine nicht unerhebliche Gefahr für das Weiterbestehen dieser Strukturen im Bereich der organisierten Kriminalität gesehen wird. Stichworte wie internationaler Waffenhandel — wir hatten gestern dazu Zeugenvernehmungen — oder Geldwäsche sind hier zu nennen.In diesem Nebel ist die Bundesregierung trotz besserer Kenntnisse aus der Aufklärungstätigkeit der zuständigen Dienste, die ich auch heute noch für dringend notwendig halte, in eine undurchsichtige Situation, in ein Nichthandeln hineingestolpert. Es gab kein erkennbares Konzept, wie der KoKo-Bereich aufgelöst werden sollte, obwohl Kenntnisse über den KoKo-Bereich in den 80er Jahren in ausreichendem Maße gesammelt worden sind. Zumindest ist uns ein solches Konzept im Ausschuß bisher nicht deutlich geworden. Auch ein Management fehlte.Was die intensive Strafverfolgung bei diesem Thema betrifft, haben dazu insbesondere die Kollegen von Bülow und Neumann ausführlich gesprochen. Ich will dazu weiter nichts sagen.Bei den Zeugenbefragungen sensibilisierten mich am meisten die Aussagen der Führungskader der früheren DDR Frau Dr. König, stellvertretende Finanzministerin, und Dr. Mittag, bekannter SEDZK-Sekretär für Wirtschaft.Beide stellten übereinstimmend fest, daß es mit der DDR-Wirtschaft ab Anfang der 80er Jahre rapide bergab ging. Trotz zunehmender Verschuldung und Verschlechterung der Zahlungsbilanz wurden zusätzliche Importe aus dem westlichen Ausland geordert, um die Bevölkerung bei Stimmung zu halten und den Gläubigen in der DDR — nicht den Christen, den anderen Gläubigen in der DDR - die Überlegenheit des Sozialismus à la DDR zu beweisen. Was viele DDR-Bürger vermutet haben, ist heute durch die früheren Funktionäre dokumentiert worden: Die Haushaltsrechnung in der DDR war unsolide. Ein unüberschaubares und wirtschaftsschädigendes Subventionssystem trieb den Staat finanziell in eine Krise und in den Staatsruin. Die sozialen Errungenschaften wurden durch Zugriff auf die Zukunft finanziert.Ich muß hier auch sagen, daß unsere Vernehmungen ein Weiteres zutage gefördert haben. Bereits Anfang der 80er Jahre gab es nicht nur Überlegungen, sondern auch Pläne, mit Hilfe von Gegenmaßnahmen zumindest den Versuch zu unternehmen, eine wirtschaftliche Stabilisierung der DDR zu erreichen und sich so aus der geschilderten Verstrickung zu lösen. Ich nenne insbesondere den radikalen Abbau von Subventionen in den Bereichen Mieten, öffentlicher Nahverkehr, Kinderbekleidung.Ich denke, dieses Thema stand später ja noch einmal auf der Tagesordnung, nämlich zu einem Zeitpunkt, als manche in der DDR über einen sogenannten dritten Weg nachgedacht haben, den ich für völlig unrealistisch gehalten habe. Dieser dritte Weg in der DDR wäre nur bei einer mindestens 30%igen Absenkung des Lebenshaltsungsniveaus in der DDR im Jahre 1989 möglich gewesen. Das darf nicht verkannt werden. Jeder, der die damalige Situation in der DDR kannte und heute bei einer realistischen Betrachtungsweise bleibt, wird sagen müssen: Dazu war die Masse der DDR-Bevölkerung nicht bereit, ich denke, auch die Masse derjenigen nicht, die früher in der Partei oder in anderen Organisationen in der DDR in privilegierten Funktionen waren.
Metadaten/Kopzeile:
11736 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 135. Sitzung. Bonn, Freitag, den 22. Januar 1993
Hans-Joachim Hacker— Die erst recht nicht; da stimme ich Ihnen voll zu, Herr Kronberg.Liebe Kolleginnen und Kollegen, Herr Dr. Mittag kommt zu der Erkenntnis, daß die Sowjetunion schon 1981 bankrott war. Der ökonomische Niedergang der DDR folgte auf dem Fuße. Ich zitiere Herrn Dr. Mittag— damit komme ich noch einmal zu dem zuerst Gesagten zurück —:Viele wollten nach 1989 das Geschäft insgesamt weiterführen. Sie hatten nicht begriffen, daß die DDR faktisch ökonomisch kaputt war.Herr Dr. Mittag sagte an anderer Stelle:Und wenn heute noch jemand sagt: Also, wenn das nicht gewesen wäre usw., dann würde die DDR noch existieren. Das ist eine geschichtliche Lüge.Bei all dem hat auch der vermeintliche Rettungsanker Kommerzielle Koordinierung die DDR nicht am Untergang gehindert. Ich denke — ich unterstreiche das, was Herr Kollege Wernitz gesagt hat —, das müssen wir immer thematisieren, wenn wir die reale Situation im wiedervereinigten Deutschland, vor allen Dingen in den neuen Ländern, analysieren.
Ich bin kein Vertreter derjenigen, die alles, was von den Menschen in der DDR irgendwann geleistet wurde, nun auf den Müllhaufen der Geschichte werfen wollen. Da ist doch auch nicht das Thema. Das Thema ist doch die Frage, wie wir heute ein reales Bild der Situation in der DDR zeichnen und wie wir verhindern, daß so etwas wie DDR-Nostalgie entsteht.
Dabei sage ich, an die Medien gewandt: Hierbei haben die Medien den Politikern nicht geholfen.
Es bestand für sie sicherlich keine Rechtspflicht dazu.
Aber ich denke, der Prozeß der deutschen Wiedervereinigung, diese einmalige Herausforderung, hat sie in eine moralische Pflicht gestellt.
Diese Pflicht ist bis heute unzureichend erfüllt worden.
Ich sage ein Letztes zu diesem Thema. Ich denke auch, daß mit dem Ausleuchten der schweren Fehler vor allen Dingen im ökonomischen Bereich der DDR die Mängel, die seit dem Jahre 1990 beim Prozeß der deutschen Einheit vor allem im ökonomischen, im finanzökonomischen Bereich gemacht worden sind, nicht erklärt werden können. Das sind neue Herausforderungen. Allein das Stichwort „Altschulden" oder das Stichwort „Erblast" erklärt unsere Verpflichtung nicht ausreichend.Verehrte Kolleginnen und Kollegen, beim Handel mit Kunst und Antiquitäten sind viele Bürger der DDR geschädigt worden. Zu den schmutzigsten Kapiteln der Tätigkeit des Bereiches Kommerzielle Koordinierung und damit der damaligen politischen Führung der DDR gehörten vor allen Dingen die Geschäftstätigkeiten beim Häftlingsfreikauf.Frau Lederer möchte ich auch noch einmal sagen: Ich bin kein Opfer der DDR. Ich war sicherlich Betroffener, aber Opfer war ich nicht. Ich sage aber: Diese Ausführungen kommen einer Verhöhnung von Opfern gleich.
Wir müssen mit diesen Menschen gerecht umgehen, und wir können Vergleiche nicht in der Form anstellen.Ich komme zu einem zweiten Thema, das mich sensibilisiert. Der Handel mit Waffen für kriegführende Parteien war für mich bei der Arbeit im KoKoAusschuß eine schlimme Erfahrung.
Der moralische Anspruch, als Friedensstaat in Erscheinung zu treten, der uns täglich in der Presse vorgeführt wurde, Frau Dr. Enkelmann, und die Wirklichkeit, die in der DDR existierte, sind für mich ungeheuer widersprüchlich. Ich erinnere daran, was einer ganzen Generation in der DDR vorgespielt wurde, wie deutsche Firmen im Ersten Weltkrieg schmutzige Geschäfte gemacht haben. Das ist kritikwürdig, verabscheuungswürdig. In genau dieses Level paßt auch das Handeln von KoKo.
KoKo hat die DDR insbesondere in den damaligen Bezirken Potsdam und Schwerin zur Müllkippe Europas werden lassen. Diese Geschäftsbeziehungen sind bis heute nicht ausreichend ausgeleuchtet worden.
Wir werden an der Stelle noch Arbeit zu leisten haben. Ich stelle die Frage nach den Umständen und Bedingungen der Veränderung der Geschäftsanteile an der Mülldeponie Schönberg bzw. der Mecklenburgischen Abfallgesellschaft oder — sagen wir es einmal richtig — nach der Übernahme der Deponie durch das Land Mecklenburg-Vorpommern oder — sagen wir es ganz richtig — durch ein privates Unternehmen. Es drängen sich Fragen auf, warum hier wieder Gewinne privatisiert und am Ende Verluste sozialisiert werden. Das sind Fragen, die wir nach weiterer Zeugenvernehmung zu beantworten haben.Es bleibt natürlich — insofern unterstütze ich das, was von Ihnen, Herr Hörster, gesagt wurde — die Fragestellung bestehen: Wie war es möglich, daß am 3. oder 4. Dezember 1989 ein intimer Beraterkreis zusammenkam, der über die weiteren Schritte nachdachte, und daß in diesem intimen Kreis ein Herr Wolf, längst ausgeschieden auf dem MfS, aber ehemaliger
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 135. Sitzung. Bonn, Freitag, den 22. Januar 1993 11737
Hans-Joachim HackerChef der HVA, hinzugezogen wurde? Herrn Manfred Seidel war das selbst unerklärlich. Ich hoffe, ein Kollege dieses Hohen Hauses wird uns dazu nähere Einzelheiten vor dem Untersuchungsausschuß mitteilen können.
Das war der letzte Redebeitrag zu diesem Thema. Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlußempfehlungen des 1. Untersuchungsausschusses auf den Drucksachen 12/3462 und 12/3920. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlungen? — Gegenprobe! — Stimmenthaltungen? — Diese Beschlußempfehlungen sind einstimmig angenommen.
— Ich bin guter Hoffnung, daß noch einige wiederkommen.
Ich rufe Zusatzpunkt 10 der Tagesordnung auf:
Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/ CSU, SPD und F.D.P.
Einsetzung eines Ausschusses Treuhandanstalt
— Drucksache 12/4153 —
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. — Ich höre und sehe keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile zunächst unserem Kollegen Arnulf Kriedner das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Bei dem Rieseninteresse, das das Thema findet, ist man ja versucht, kürzer zu reden, als die Redezeit ursprünglich beträgt.
Ich möchte nichtsdestotrotz eingangs eines sagen: Die Debatte, die hier soeben geführt worden ist, leitet inhaltlich nahtlos zu dem über, womit sich ein solcher künftiger Vollausschuß zu beschäftigen hat, nämlich auch mit der Frage, wie man mit dem Erbe eines desolaten Systems fertigwerden kann. Der Kollege Hacker hat hier soeben aus dem bemerkenswerten Erkenntnisbuch des Herrn Mittag zitiert, eines Mannes, der sich insbesondere dadurch hervorgetan hat, daß er trotz seiner angeblichen Erkenntnisse der Jahre 1980 und 1981 bis zum bitteren Ende seine desolate Wirtschaftspolitik weitergeführt hat.Wir haben im Unterausschuß Treuhandanstalt, der bisher ein Teil des Haushaltsausschusses war, versucht, dieses Erbe via Kontrolle über die Treuhandanstalt zu verwalten. Sie gestatten mir, daß ich ganz kurz einige Ausführungen zu dem bisherigen Unterausschuß des Haushaltsausschusses vortrage und über seine Arbeitsweise spreche. Denn ich bin davon überzeugt, daß die Arbeit dort zumindest eine Grundlage für das bietet, was der neue Vollausschuß zu tun hat.Der Unterausschuß Treuhandanstalt hat in einer schwierigen Situation seine Arbeit begonnen, in einer Situation, in der die Treuhandanstalt parallel aufgebaut wurde, in einer Situation, in der die Treuhandanstalt nach vernünftigen Wegen gesucht hat und in der sie nach übereinstimmender Einschätzung aller Fraktionen dieses Hauses eine große Anzahl teilweise auch schwerer Fehler begangen hat. Ich glaube, das ist unbestritten.Ich konstatiere aber auch, daß die Treuhandanstalt inzwischen eine Linie gefunden hat. Diese Linie weicht insbesondere deshalb von der früheren ab, weil Konsolidierung und Sanierung der Firmen die sehr schnelle Privatisierung ersetzt haben. Aus der Situation heraus, aus der wir damals angetreten sind, war die Privatisierung jedoch ohne Alternative. Ich sage das so deutlich, weil es immer noch Leute gibt, die irgenwelchen Blütenträumen nachhängen und glauben, daß andere Modelle hätten gefahren werden können. Ein Ersatz für die Staatswirtschaft, etwa im Sinne von staatlichen Holdings, kann und darf es nicht geben, weil man dann sogenannten Sozialismus auf andere Art weiterbetrieben hätte.Was im Unterausschuß zu kontrollieren war, war die Art und Weise, wie die Treuhandanstalt ihre Aufgabe zu verstehen hatte. Dort hat der Unterausschuß, so meine ich, seine Arbeit permanent verbessert. Er hat am Schluß fast wie ein Vollausschuß gearbeitet. Insofern ist es nicht unlogisch, jetzt einen Vollausschuß statt eines Unterausschusses einzusetzen. Ich verhehle auch nicht, daß es eine Menge Leute gab, insbesondere Haushälter, die gesagt haben, wir hätten lieber in der bisherigen Arbeitsform weitermachen sollen. Ich verhehle auch nicht, daß ich selbst zu denen gehöre, die die Einsetzung eines Vollausschusses in der jetzigen Phase kritisch betrachten. Aber ich glaube trotz allem, daß es eine ganze Reihe von Argumenten gibt, die dafür sprechen, das Ganze auf eine breitere Ebene zu stellen, insbesondere aber auch Kollegen aus anderen Fachbereichen die Möglichkeit zu geben, sich in die Arbeit um die Treuhandanstalt einzuschalten.Ich will kurz sagen, was Thema und Zielstellung der Arbeit eines solchen neuen Ausschusses sein können. Viele sagen: Die Treuhand hat ihr Kerngeschäft zu fast 80 % erledigt; warum dann jetzt noch ein parlamentarisches Organ, das sich künftig mit ihrer Arbeit weiter befaßt? Da sage ich: Es bleiben in großem Umfang Arbeiten übrig, die eben nicht erledigt sind. Lassen Sie mich einige davon nennen.Es gibt einen Bestand in der Treuhandanstalt, der im gegenwärtigen Zustand der Betriebe kaum privatisierbar ist. Es gibt in der Öffentlichkeit eine Diskussion um sogenannte industrielle Kerne. Ich finde diesen Begriff nicht sonderlich glücklich. Ich meine, wir sollten besser von strukturbedingten Betrieben reden, die in einer Region eine Bedeutung haben. Denn unter „Industrie" wird alles mögliche verstanden. Jeder versteht das darunter, wovon er am liebsten
Metadaten/Kopzeile:
11738 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 135. Sitzung. Bonn, Freitag, den 22. Januar 1993
Arnulf Kriednerreden würde. Es geht hier um produzierendes Gewerbe, das eine Region braucht.
— Es ist schwierig. Ich merke das immer wieder, wenn man darüber redet. Aber ich sage trotz allem: Es ist wichtig, daß Regionen ihre Betriebe behalten, die selbst produzieren.
— Das ist mir schon klar. Deshalb ist ein solcher plakativer Begriff immer interpretierbar.Das sogenannte Restgeschäft der Treuhandanstalt bedarf der ganz besonderen Beachtung. Es gibt eine Reihe von Modellen — ich nenne nur Stichworte — etwa Management KG oder das Sachsen-Modell. Wir werden sehr intensiv darüber reden müssen, wie es mit diesen Betrieben weitergehen soll, weil es darum geht, die Industrielandschaft im Osten, die schon sehr verarmt ist, nicht weiter unmöglich zu machen und total sterben zu lassen.Das zweite ist, daß wir einen Riesenbedarf haben, das Vertragsmanagement der Treuhandanstalt zu kontrollieren. Die Treuhandanstalt hat ja nicht Betriebe verkauft und dafür eine Summe eingestrichen, womit der geschlossene Vertrag beendet wäre. Sie hat vielmehr in sehr vielen Fällen die Verträge mit Optionen auf die Zukunft bedacht, teilweise mit einer fünf oder acht Jahre langen Ertragsabhängigkeit. Das wird zu beachten sein. Insbesondere in der gegenwärtigen konjunkturellen Situation muß jeder Betrieb daraufhin kontrolliert werden, ob er z. B. Vertragsstrafen überhaupt zahlen kann oder ob nicht durch die Zahlung von Vertragsstrafen ein weiteres Wirtschaften des Betriebs unmöglich wird.Es geht um die Liegenschaften der Treuhandanstalt, die, teilweise mit Eigentumsvorbehalten behaftet, über lange Jahre hinweg noch veräußert werden und die im Sinne von Ländern und Kommunen besser eingesetzt werden müssen.
Es geht um die Kommunalisierung, die immer noch nicht den Stand erreicht hat, den wir von Bonn aus fordern müssen. Es geht um die Frage der Reprivatisierung, der Vermögenszuordnung. Es geht bei diesem Thema auch um das Vermögen der Parteien und Massenorganisationen. Zu diesem Vermögen ist das letzte Wort immer noch nicht gesprochen, weil die Erkenntnisse — wir haben eben in einem anderen Bereich darüber gesprochen — noch nicht so weit sind, daß man sagen kann: Wir sind schon am Ende einer Aufarbeitung dieser Frage.Es geht auch um die Frage der Liquidation, wo sie unvermeidlich ist, und die entsprechende Begleitung durch die Politik. Schließlich geht es um die verbleibenden ökologischen Altlasten. Auch dazu kamen in der vorhin geführten Debatte schon Akzente. Altlasten können manchmal eine Firma an den Rand des Abgrunds bringen, wollte man sie ihr auflasten.Das heißt mit anderen Worten: Die Zahl der Themen, die über den jetzigen Stand der Treuhandanstalt hinausgehend noch vorhanden ist, ist riesig und bedarf dringlich der weiteren parlamentarischen Begleitung. Aus diesem Grund, meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, ist es richtig, diesen Ausschuß einzusetzen. Es ist vielleicht auch richtig, den Sachverstand anderer, etwa aus den Bereichen Landwirtschaft und Wirtschaft, stärker einzubeziehen. Wir sollten das heute tun. Wir sollten das auf der Basis tun, daß sich der Einfluß dieses Parlaments bei der künftigen Arbeit weiter verbessert.Ich darf aber noch einmal sagen — das tue ich von dieser Stelle aus gern —: Der bisherige Unterausschuß Treuhandanstalt hat trotz aller Kritik, die geübt worden ist, seine Aufgabe unter dem Strich zufriedenstellend erfüllt. Man wird nie sagen können, daß es gut oder sogar sehr gut war, weil die Schwierigkeiten so waren, wie sie nun einmal waren. Ich möchte von dieser Stelle aus denjenigen, die daran beteiligt waren, ein herzliches Dankeschön sagen, sowohl denen in der Treuhandanstalt und in der Regierung, als auch besonders den beteiligten Kolleginnen und Kollegen.
Nun erteile ich dem nächsten Redner das Wort. Das ist unser Kollege Hinrich Kuessner.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Endlich, wenn auch reichlich spät, wird der Vorschlag der SPD auf Einsetzung eines Vollausschusses Treuhandanstalt umgesetzt. Die Einrichtung dieses Ausschusses geschieht in einer dramatischen Situation der Gesamtwirtschaft. Sie findet vor dein Hintergrund statt, daß die liberal-konservative Koalition den Umstrukturierungsprozeß in Ostdeutschland bisher nicht in den Begriff bekommen hat. Die Bundesregierung ist mit ihrer Treuhandpolitik faktisch gescheitert. Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung stellt in seinem ersten Wochenbericht in diesem Jahr fest:Die Strategie forcierter Privatisierung, wie sie die Treuhandanstalt von Anfang an verfolgte, stößt spätestens jetzt an Grenzen. Das Konzept „Aufbau durch Privatisierung" allein reicht nicht aus. Mit der Absicht, eine Bestandsgarantie für industrielle Kerne zu geben, räumt die Regierung dieses Scheitern im Grunde ein.Soweit das DIW.Jetzt gilt es zu retten, was noch zu retten ist. Der Blick muß nach vorn gerichtet werden. Das heißt für die SPD: Wir werden hier im Parlament und im neuen Ausschuß alles daransetzen, daß ohne ideologische Scheuklappen alle Möglichkeiten zur Erhaltung und Schaffung neuer Arbeitsplätze im Osten durch eine geänderte Treuhandpolitik genutzt werden.Für die Ausschußarbeit bedeutet dies zuallererst: Es muß ein Konzept für die Arbeit der Treuhandanstalt entwickelt werden, das die wirtschafts-, finanz- und sozialpolitischen Dimensionen des Auf- und Umbaus in Deutschland Ost zusammenführt. Die Auswahl der
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 135. Sitzung. Bonn, Freitag, den 22. Januar 1993 11739
Hinrich KuessnerMitglieder der SPD-Fraktion im neuen Ausschuß wird dies berücksichtigen.Inzwischen hat auch die Bundesregierung verstanden: Allein auf Privatisierung kann bei der Umstrukturierung der Wirtschaft in Ostdeutschland nicht gesetzt werden. Die Bildung von Management KG war ein deutliches Zeichen. Aber es geht immer noch alles viel zu unentschlossen und zu zäh. Es fehlt ein Strategiekonzept. Es fehlen in den entscheidenden Positionen Leute, die etwas zustande bringen, die mit langem Atem und mit Sachverstand den Aufbau Ost zügig vorantreiben. Heute wird dieser Vorschlag gemacht, morgen jener, und heraus kommt dabei nur Verwirrung.Wir müssen von Aktionismus und von zentralistischen Entscheidungsprozessen wegkommen. Privatisierung und Sanierung von Unternehmen und die Verwertung von Grundstücken müssen zusammen mit den Verantwortlichen der Länder und Regionen entschieden werden. Entscheidungen müssen stärker vor Ort unter Beteiligung der Geschäftsführungen, Betriebsräte und Gewerkschaften getroffen werden. Sie müssen für die Betroffenen durchsichtig gemacht werden. Eine Umstrukturierung dieses Ausmaßes ist nur mit den Betroffenen zusammen zu machen. Psychologie spielt dabei eine nicht unwesentliche Rolle.Der Treuhandausschuß muß sich intensiv mit Sanierungsmodellen der Treuhandanstalt auseinandersetzen. Bisher wurde im früheren Unterausschuß nur das Modell der Management KG diskutiert. Dieses Modell betrifft Unternehmen mit einer Beschäftigtenzahl von mindestens 200. Es paßt nicht für ganz große Unternehmen und für die vielen kleinen, die jetzt nicht privatisiert werden können, aber in den Regionen Bedeutung haben und saniert werden können. Darum wird die Erhaltung industrieller Kerne einen Schwerpunkt der Ausschußarbeit bilden, wobei Erhaltung nicht die Bewahrung des Alten sein kann, sondern die Schaffung eines Produktes sein muß, das auf dem Markt abgesetzt werden kann.Wir haben keine Zeit mehr für lange Diskussionen. Die Debatte um die Management KG lief schon viel zu lange. Bereits im Januar 1992 hat der Verwaltungsrat die Bildung der Management KG beschlossen. Damals sollten darin Unternehmen mit einer Beschäftigtenzahl ab 500 zusammengefaßt werden. Die Bildung der KG wurde hinausgezögert; der Verfall der Betriebe ging voran, weil in den Betrieben nichts oder nicht genug passierte. Inzwischen muß man auf Betriebe mit Beschäftigtenzahlen von 200 zurückgreifen. Und die Management KG ist dabei nur die Betriebsform, die die Erneuerung ermöglichen soll.Entscheidend ist die innerbetriebliche Umstrukturierung, die bei Treuhandunternehmen in der Regel auf der Strecke geblieben ist. Wenn die anderen Sanierungsmodelie nicht schnell entwickelt und umgesetzt werden, brauchen wir darüber nicht zu reden, denn dann sind die Betriebe nicht mehr sanierungsfähig.Mein Eindruck von vielen Besuchen in Treuhandunternehmen ist, daß die Entscheidungen über die Sanierung bis spätestens zum Sommer dieses Jahres fallen müssen, sonst wird das operative Geschäft der Treuhand im Herbst vor allem in der Stillegung von Unternehmen bestehen.Zur Sanierung von Treuhandunternehmen gehören insbesondere auch die Lösung der Managementprobleme und die Aus- und Weiterbildung von Mitarbeitern. Nach meinem Eindruck wird dies sträflich vernachlässigt. Ohne qualifizierte Aus- und Weiterbildung ist der Industriestandort Deutschland Ost nicht zu halten. Billige Massengüterproduktion aus Deutschland Ost hat auf den westeuropäischen und internationalen Märkten keine Chance auf Absatz. Sie kann in anderen Teilen der Welt billiger hergestellt werden. In Deutschland muß Hochwertigeres produziert werden. Darum muß in Forschung und Entwicklung investiert werden. Wer sanieren will, darf diese Betriebsabteilungen nicht abwickeln.Der Treuhandausschuß wird sich auch verstärkt den arbeitsmarktpolitischen Fragen zuwenden müssen, die sich aus der Privatisierung, Sanierung und Stillegung durch die Treuhand ergeben. Die vielen Arbeitnehmer, die aus dem Arbeitsprozeß ausscheiden mußten oder die es noch müssen, dürfen nicht in der Luft hängenbleiben. Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen und Umschulungen sind Themen, denen sich die Treuhand stellen muß. Manchmal habe ich den Eindruck, daß sich das Bundesfinanzministerium und seine Treuhandanstalt mehr mit der Zukunft der Mitarbeiter in der Treuhandzentrale und ihren Außenstellen als mit der der vielen Mitarbeiter in ihren Unternehmen befaßt.Im Treuhandausschuß werden wir uns außerdem mit der Verwertung von Treuhandliegenschaften befassen müssen. Ganz besonders gilt dies für die Verwertung der land- und forstwirtschaftlichen Flächen. Hier wird bisher eine Politik zu Lasten der einheimischen Landwirte und einseitig zugunsten der alten Großgrundbesitzer gemacht.Ein bleibendes Thema im Ausschuß wird die Kontrolle der Privatisierungsverträge sein. Auf der einen Seite muß die Einhaltung der Verträge durchgesetzt werden, auf der anderen Seite — wie schon mein Vorredner betont hat — darf den Käufern nicht zu schnell der einfache Weg der Zahlung der Pönalen eröffnet werden,Ziel aller Aktivitäten der Treuhandanstalt muß die Realisierung von Investitionen und damit die Erhaltung und Neuschaffung von Arbeitsplätzen sein.
Darüber, wie dieses Ziel erreicht wird, wird in neuen wirtschaftlichen Situationen neu nachgedacht werden müssen. Mit einer bürokratischen Abarbeitung der Vertragsstrafen ist es nicht getan.Aufgabe des Treuhandausschusses ist es vor allem, mit dafür zu sorgen, daß die Arbeit der Treuhandanstalt sich in ein Gesamtkonzept für den Aufbau Ost einpaßt. Da die Regierung dieses Gesamtkonzept noch immer vermissen läßt, wird der Ausschuß im Zusammenwirken mit anderen Ausschüssen hieran arbeiten müssen. Ziel der Ausschußarbeiten muß es
Metadaten/Kopzeile:
11740 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 135. Sitzung. Bonn, Freitag, den 22. Januar 1993
Hinrich Kuessnersein, den Umstruktierungsprozeß der Wirtschaft in Ostdeutschland aktiv mitzugestalten.Auch wenn die Zahl der Treuhandunternehmen kleiner und der Arbeitsanfall in der Treuhandanstalt damit geringer wird, wird durch ihr Tun bzw. Nichttun immer noch Industriepolitik gemacht. Diese muß in Bonn definiert und durch die Treuhand umgesetzt werden.Das sind die Vorstellungen der SPD-Fraktion für die Arbeit des neuen Treuhandausschusses. Diesen Aufgaben müssen wir uns gemeinsam mit aller Kraft im Interesse der Menschen in Deutschland Ost und West stellen, denn nur so werden wir den inneren Frieden in Deutschland erhalten und die Einheit vollenden.Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.
Meine Damen und Herren, ich erteile jetzt unserem Kollegen Jürgen Türk das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Mit dem Treuhandgesetz der DDR sollte zunächst die Verwaltung des volkseigenen Vermögens und danach die schnelle Privatisierung durchgesetzt werden. Das heißt, es ging um die Herstellung der Wettbewerbsfähigkeit möglichst vieler Unternehmen. Das schloß die Entflechtung nicht beherrschbarer Großstrukturen und die Bereitstellung von Grund und Boden für wirtschaftliche Zwecke ein. Damit war eine gesamtwirtschaftliche Aufgabe von außerordentlicher Dimension gestellt.Deshalb stellte ich bereits im Februar 1991 die Forderung auf, die Treuhandanstalt dem Wirtschaftsminister zu unterstellen, eben aus diesem Grunde.
Ganz offensichtlich wurde von den Verfassern des Gesetzes die tatsächliche Situation nicht voll erkannt. Man war der Ansicht, daß die Strukturanpassung durch zügige Privatisierung schnell zu schaffen sei. Tatsächlich stellte sich heraus, daß sowohl die Produktivität als auch der Zustand der Betriebe wesentlich schlechter waren, als angenommen worden war. Das heißt, daß in weit größeren Dimensionen vor der Privatisierung zunächst saniert werden mußte. Dazu bedurfte es realer Unternehmenskonzepte, die nicht bzw. nur schleppend vorgelegt wurden. Aber nur kompetente Geschäftsleitungen hätten auch schlüssige Konzeptionen vorlegen und umsetzen können.Anstelle des Aufbaus eines handlungsfähigen Managements sind und werden in die Verkaufsverhandlungen oft Vertreter von Konkurrenzunternehmen eingeschaltet. Notwendig wäre hier aber, daß das handlungsfähige Unternehmensmanagement zunächst ungestört die Leistungsfähigkeit des Betriebes nachvollziehbar entwickeln und nachweisen kann.
Insbesondere ist die zentrale Bearbeitung der Unternehmen mit über 1 500 Beschäftigten ganz offensichtlich nachteilig, weil man in Berlin von den eigentlichen Problemen zu weit weg ist. Den Beweis, daß vor Ort praxisnah und zügiger entschieden wird, bringen die Treuhandniederlassungen in den Ländern.Ein weiteres Hemmnis ist nach wie vor die Überbetonung des fiskalischen Aspekts. Die erforderliche wirtschaftspolitische Betrachtung kommt dabei zu kurz. Die Treuhandkabinette sind als strukturpolitische Instrumentarien meines Erachtens nur teilweise wirksam geworden.Insgesamt heißt das, daß zuerst die Privatisierung einschließlich Wegbruch nicht wettbewerbsfähiger Arbeitsplätze erfolgt und erst danach durch Feuerwehreinsätze eine Heilung versucht wird.Was ist deshalb sofort zu tun, und was ist noch machbar? Meines Erachtens ist es noch nicht zu spät, endlich aktive Strukturpolitik zu betreiben. Aktive Strukturpolitik will nicht Markt durch Staat ersetzen, sondern der Staat muß in Ostdeutschland dem Markt auf die Beine helfen. Das bedeutet, es muß jetzt ganz bewußt die Schaffung wettbewerbsfähiger Dauerarbeitsplätze angegangen werden, denn notwendige Investitionshilfen sind die eine Seite, und die Schaffung von Rahmenbedingungen, also von Standortvorteilen für Gewerbe- und Industrieansiedlungen, ist die andere Seite. Das kann nur durch Integration der Privatisierung in die Standortentwicklung gelingen, weil erstens von einer stark reduzierten Arbeitsplatzanzahl verbleibender Kernbereiche auszugehen ist, zweitens Ausgliederungen zu berücksichtigen sind und drittens bundeseigene Liegenschaften und Immobilien in ausreichendem Umfang für gezielte Gewerbe- und Industrieansiedlungen zur Verfügung stehen.Es muß Prinzip werden, daß bei notwendigem Arbeitsplatz- und Anlagenabbau auf der dazugehörenden, voll erschlossenen, nicht betriebsnotwendigen Liegenschaft neue Gewerbeparks bzw. alternative Industrieanlagen entstehen.Die bisherige Philosophie, schnelles Geld durch Verkauf an den Meistbietenden zu machen, ist kontraproduktiv,
weil sie nur kurzsichtige fiskalische Interessen befriedigt. Gerade der Fiskus erleidet dadurch erhebliche Einbußen. All diese Aufgaben können nur vor Ort, in einer überschaubaren Region gelöst werden.
Deshalb folgender Vorschlag: Die Treuhandunternehmen, die den vorhandenen Treuhandniederlassungen eindeutig regional zuordenbar sind, sollten aus der Zuständigkeit der Berliner Zentrale herausgelöst und „vor Ort" saniert und privatisiert werden. Daraus ergibt sich die Schlußfolgerung, diese Niederlassungen noch nicht aufzulösen und den Rest der Beschäftigten nicht in Berlin unterzubringen. Vielmehr ist es notwendig, daß die Mitarbeiter aus Berlin in die Regionen und in die Treuhandunternehmen gehen, denn vor Ort ist noch viel zu tun.Vor allem um die Fragen hinsichtlich Ziel, Aufgabe und Struktur aus strukturpolitischer und nicht nur aus fiskalischer Sicht zu lösen, halte ich die Einsetzung
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 135. Sitzung. Bonn, Freitag, den 22. Januar 1993 11741
Jürgen Türkeines Bundestagsausschusses „Treuhandanstalt" auch jetzt noch für sinnvoll.Vielen Dank.
Ich erteile jetzt unserer Kollegin Dr. Dagmar Enkelmann das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Spielen wir mal ein bißchen Zimmermann mit „Aktenzeichen XY ungelöst" !
Ich komme zum ersten Fall: Aus bisher ungeklärten Gründen löst sich das von den Treuhandbetrieben in ihren Eröffnungsbilanzen ausgewiesene Vermögen von 600 bis 700 Milliarden DM in Luft auf. Neueste Berechnungen ergeben nun eine Minus-Bilanz von 209 Milliarden DM. Betriebe, Grundstücke, Immobilien, kulturelle und sportliche Einrichtungen plötzlich wertlos?
Zweiter Fall: Mit jährlich 13 Millionen DM belohnen sich Treuhand-Mitarbeiter für eine möglichst rasche Privatisierung von Treuhandbetrieben. Das Leistungsprinzip wurde außer Kraft gesetzt, denn bei den Einkommen finden weder der beim Verkauf realisierte Gewinn noch die tatsächlich erhaltenen Arbeitsplätze oder die getätigten Investitionen eine Berücksichtigung.
Dritter Fall: Die Treuhand-Osteuropaberatungsgesellschaft soll mit jährlich 30 Millionen DM Steuermitteln finanziert werden — eine wahrlich großangelegte Arbeitsbeschaffungsmaßnahme für Mitarbeiter der Treuhand. Sollte man nicht eher verhindern, daß die anderen osteuropäischen Länder ähnliche WildwestEntindustrialisierungserfahrungen machen wie der Osten Deutschlands?
Vierter Fall: In einer ganzen Reihe von Beispielen wurden Privatisierungserlöse erzielt, die eindeutig unter dem tatsächlichen Wert der Betriebe liegen und die Frage provozieren, wer ein Interesse am Verschleudern von Vermögenswerten hat.
Erstes Beispiel — das Hallesche Pumpenwerk: verkauft für 1 DM, die vereinbarte Personalreduzierung von 1 700 auf 900 Arbeitsplätze.
Zweites Beispiel — Deutsches Hydrierwerk Rottleben: Statt eines Kaufpreises Investitionszusage über 70 Millionen DM bei einer Personalreduzierung von 1 300 auf 700 Arbeitsplätze.
Drittes Beispiel — Geräte- und Reglerwerke Teltow und Elektronik GmbH Teltow: Laut Treuhandsprecher Schröder entstand durch den Verkauf ein Schaden von 15 Milliarden DM.
Viertes Beispiel — Märkische Faser AG Premnitz: noch über 2 000 Arbeitsplätze. Nach Aussage des Treuhand-Vorstandssprechers Schucht noch vor Vertragsabschluß ist das Schweizer Unternehmen gar nicht in der Lage, die vereinbarte Vertragsstrafe von 68 Millionen DM für Nichteinhaltung von Arbeitsplatzgarantie zu zahlen.
Fünftes Beispiel — Walzwerk Eberswalde-Finow: Monatelange Hinhaltepolitik der Treuhand, nach wie vor keine Entscheidung über die Zukunft, dafür weitere 300 Kündigungen zum 31. März. Die Beispiele ließen sich beliebig fortsetzen.
Fünfter Fall: Im Rahmen der Privatisierung kam es zu zahlreichen verbrecherischen Betrugshandlungen. Bis September 1992 wurden 300 Ermittlungsverfahren eingeleitet. Als realistisch könnte nach Angaben des Leiters der Stabstelle Recht der Treuhandanstalt, Richter, ein Gesamtschaden von fast 9 Milliarden DM angenommen werden. Der Privatisierungserlös betrug übrigens bis zu diesem Zeitpunkt rund 33 Milliarden DM.
Nein, meine Damen und Herren, das hat nichts mehr mit normalen Reibungsverlusten zu tun. Es riecht, nein, es stinkt nach kriminellen Machenschaften. Da wollen Sie sich mit einem normalen Ausschuß zufriedengeben? Hier ist ein Untersuchungsausschuß zwingende Konsequenz.
Oder könnte es sein, daß einige von Ihnen selbst so tief drinhängen, daß sie an einer Aufdeckung gar nicht interessiert sind?
Zimmermann würde sagen: „Für sachdienliche Hinweise, die zur Aufklärung der genannten Tatbestände beitragen könnten, steht Ihnen der Bundestag nicht zur Verfügung."
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
Meine Damen und Herren, ich erinnere nach dem Redebeitrag von Frau Dr. Enkelmann noch einmal daran, daß wir hier nicht über die Einsetzung eines Untersuchungsausschusses diskutieren, sondern über die eines ordentlichen Ausschusses.
Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist Kollege Werner Schulz.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Einsetzung eines Vollausschusses „Treuhandanstalt" ist goldrichtig. Das Tragische an dieser Entscheidung ist nur, daß sie mindestens zwei Jahre zu spät kommt.Als unsere Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN im Frühjahr 1991 in Verbindung mit einem TreuhandGesetzentwurf die Einsetzung eines solchen Ausschusses gefordert hat, gab es quer durch alle Fraktionen Ablehnung. Ich nehme an, daß auch der Parlamentarische Staatssekretär Grünewald, der vielleicht dazu noch sprechen wird und den Ausschuß jetzt für begründet hält, ihn damals abgelehnt hat. Jetzt die einzelnen Zitate gegen die Einsetzung anzuführen würde meinen Drei-Minuten-Beitrag sprengen, aber die Ablehnung ging damals durch alle Fraktionen. Auch die SPD, Herr Kuessner, war in
Metadaten/Kopzeile:
11742 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 135. Sitzung. Bonn, Freitag, den 22. Januar 1993
Werner Schulz
dieser Frage, wie bei so manchen Problemen momentan, gespalten.
Während die Wirtschaftsfachleute einen solchen Ausschuß gefordert haben, haben sich die Mitglieder des Haushaltsausschusses strikt dagegen gewehrt. Das tim sie, glaube ich, auch heute noch, weil man dort immer die Gefahr sah, Einfluß zu verlieren. Wenn der Ausschuß in der derzeitigen Konstellation des Unterausschusses „Treuhand" nur aufgewertet werden soll, ist das von Anfang an verfehlt.In dem diese Woche auf den Tisch gelegten föderalen Kollisionsprogramm der Bundesregierung kann man lesen, daß die Treuhandanstalt zügig bis 1994 aufgelöst werden soll. Da muß man doch ehrlicherweise zugeben, Herr Kriedner, daß wir nur zu Nachlaßverwaltern gemacht werden, zu nichts anderem. Die Menschen in den neuen Bundesländern haben etwas Besseres verdient als eine Konkursverwaltung mit Sozialplan.Herr Türk hat richtigerweise festgestellt — ich kann ihm nur beipflichten —, daß es um Struktur- und Industriepolitik gehe. Dazu muß ich Ihnen sagen: Die Botschaft habe ich wohl vernommen, allein, mir fehlt der Glaube. Die Kardinalschwäche dieser Regierung besteht doch genau darin, daß sie diese Chance von Anfang an überhaupt nicht erkannt hat, nicht in der Lage war, es umzusetzen, und personell wie ideell nicht fähig ist, eine solche Sache in Deutschland zu praktizieren. Ich glaube, hier müssen wir wirklich noch ein Stück warten, bis — wie in den USA — tatsächlich eine Zeitenwende kommt, bis das neue Denken auch in der Wirtschaftspolitik Einzug hält. Bis dahin ist dieser Ausschuß Treuhandanstalt, glaube ich, eine typische parlamentarische Arbeitsbeschaffungsmaßnahme.
Meine Damen und Herren, ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung. Wer stimmt für den interfraktionellen Antrag auf Drucksache 12/4153? — Gegenprobe! — Stimmenthaltungen? — Bei Gegenstimmen aus der Gruppe PDS/Linke Liste und Enthaltung aus der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ist der Antrag angenommen. Der Ausschuß Treuhandanstalt ist damit eingesetzt. Er besteht im übrigen nach einer interfraktionellen Vereinbarung, wenn ich richtig unterrichtet bin, aus 24 Mitgliedern.
Ich rufe nunmehr den Zusatzpunkt 11 auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Anpassung von Dienst- und Versorgungsbezügen in Bund und Ländern 1992
Bundesbesoldungs- und -versorgungsanpassungsgesetz 1992 —
— Drucksache 12/3629 —
a) Beschlußempfehlung und Bericht des Innenausschusses
— Drucksache 12/4165 — Berichterstattung:
Abgeordnete Otto Regenspurger Fritz Rudolf Körper
Dr. Burkhard Hirsch
b) Bericht des Haushaltsausschusses gemäß § 96 der Geschäftsordnung
— Drucksachel2/4169
Eine Aussprache ist nicht vorgesehen.
Wir kommen damit gleich zur Einzelberatung und Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf auf den Drucksachen 12/3629 und 12/4165. Ich bitte diejenigen, .die dem Gesetzentwurf in der Ausschußfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. —Wer stimmt dagegen? — Stimmenthaltungen? — Bei Stimmenthaltung aus der Gruppe PDS/Linke Liste ist der Gesetzentwurf in zweiter Beratung angenommen.
Wir kommen damit zur
dritten Beratung
und Schlußabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Bei denselben Mehrheitsverhältnissen ist der Gesetzentwurf angenommen.
Unter Buchstabe b seiner Beschlußempfehlung auf Drucksache 12/4165 empfiehlt der Innenausschuß die Annahme einer Entschließung. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? — Gegenprobe! — Stimmenthaltungen? Bei Stimmenthaltungen aus den beiden Gruppen ist die Beschlußempfehlung angenommen.
Meine Damen und Herren, ich rufe nunmehr Tagesordnungspunkt 12 auf:
Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten Dr. Barbara Höll, Dr. Ursula Fischer, Dr. Uwe-Jens Heuer, weiterer Abgeordneter und der Gruppe der PDS/Linke Liste
Bildungs- und Wissenschaftspolitik der Bundesregierung
— Drucksachen 12/2047, 12/3492 —
Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die Gruppe PDS/Linke Liste zehn Minuten Redezeit erhalten soll. — Ich höre und sehe keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile zunächst unserem Kollegen Dr. Keller das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Bundesregierung beschreibt in ihrer Antwort auf die Große Anfrage unserer Gruppe ihre ostdeutsche Bildungs- und Wissenschaftspolitik im großen und ganzen, aber auch im Detail als erfolgreich. Um diese wahrlich nicht sensationelle Botschaft zu formulieren, benötigten die beteiligten Ministerien für Bildung und Wissenschaft sowie für Forschung und Technologie immerhin neun Monate. Da wir die Anfrage am 6. Februar 1992
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 135. Sitzung. Bonn, Freitag, den 22. Januar 1993 11743
Dr. Dietmar Kellereingebracht haben, ist heute fast der erste Jahrestag zu vermelden. Da Teile der Öffentlichkeit an unserer Anfrage nicht ganz uninteressiert waren, werden sie hoffentlich diesen Fakt zu würdigen wissen.Was sind die Maßstäbe, nach denen die Bundesregierung Erfolg oder Mißerfolg ihrer Politik mißt? Nach der Antwort zu urteilen, war die Politik erstens dann erfolgreich, wenn man das gemacht hat, was man machen wollte, und zweitens dann, wenn man das statistisch irgendwie belegen kann.Danach ist die gegenüber Ostdeutschland betriebene Bildungs- und Wissenschaftspolitik der Bundesregierung erfolgreich, weil es ihr gelungen ist, die Geschichte der Bildung und Wissenschaft in der DDR, einschließlich des Herbstes 1989 mit seinen Versuchen und Ansätzen demokratischer Selbsterneuerung im Bildungs- und Wissenschaftsbereich, zu ignorieren und die zeitweilige Gutgläubigkeit und Offenheit der Ostdeutschen gegenüber ihren Brüdern und Schwestern für eine Bildungs- und Wissenschaftsreform „von oben" und nach original-westdeutschen Maßstäben zu nutzen.
Die erste und letzte frei gewählte Regierung der DDR hatte kaum ihre Sitze eingenommen, schon war eine „gemeinsam" genannte Kommission zur Stelle, um Geschichte und die nun einmal zwangsläufig daran hängenden Menschen zu beurteilen und auszutilgen, indem das westdeutsche Modell von Bildung und Wissenschaft zum alleingültigen erklärt und seine prompte Übernahme beschlossen wurde.Der erste Halbsatz der Antwort der Bundesregierung lautet — ich zitiere —: „Die Herstellung der Einheit Deutschlands wurde getragen von dem Wunsch der Menschen ... " Wenn die Bundesregierung die Wünsche der Ostdeutschen tatsächlich zum Maßstab ihres Handelns erhoben hätte, wie sie vorgibt, hätte sie nie auf die Idee kommen können, das gesamte ostdeutsche Bildungs- und Wissenschaftssystem für null und nichtig zu erklären und das westdeutsche an seine Stelle zu setzen.Es gab viele Wünsche, viele Hoffnungen und Bestrebungen zur gründlichen Reform des Bildungs- und Wissenschaftssystems der DDR, beispielsweise zusammengefaßt und dokumentiert in einem Beschluß des zentralen Runden Tisches zu Bildung und Jugend vom 5. März 1990. Den Wunsch, in Bildung und Wissenschaft alles westdeutsch zu machen, gab es in Ostdeutschland nur bei wenigen Anschlußeuphorikern, und auch die westdeutschen Sachkundigen haben davor gewarnt.Der Bundeskanzler ist der DDR-Nostalgie gewiß unverdächtig. Um so mehr frage ich mich, wie man aus seinen wiederholten Aussagen, daß die Ostdeutschen einen hohen Stand an Bildung, Ausbildung und Qualifikation als wichtigstes Gut in die Einheit einbringen, in der Bildungs- und Wissenschaftspolitik den Schluß ziehen konnte, alles Ostdeutsche zu beseitigen und das westdeutsche Modell als einzig gültiges zu betrachten.Festzuhalten bleibt, daß es keine Legitimation und erst recht keinen vernünftigen Grund gab und gibt, das zunehmend in der Kritik stehende westdeutsche Bildungs- und Wissenschaftssystem ungeprüft und voraussetzungslos an die Stelle des ostdeutschen zu setzen.
Die Bundesregierung aber stiehlt sich aus der Verantwortung. Denn schließlich habe sie, wie sie in ihrer Antwort betont, nur die Vorgaben für die überhastete und weitgehend unbegründete Umstrukturierung gegeben. Soweit sie die bedrohlichen Zustände in der nun westdeutsch geformten Bildungs- und Wissenschaftslandschaft Ost überhaupt zur Kenntnis nimmt, dann natürlich nicht als Folge der damaligen Sturzgeburt, sondern als Folge der mangelhaften Ausführung ihres Kurses durch die neuen Bundesländer.Das eigentliche „Glanzlicht" der Regierungspolitik aber sind die besonderen Kündigungsgründe für öffentlich Bedienstete der ehemaligen DDR, wie sie in den Einigungsvertrag hineingeschrieben und jüngst um 15 Monate bis Ende 1993 verlängert wurden. Inzwischen beläuft sich die Zahl der auf dieser mehr als fragwürdigen, weil das Grundgesetz außer Kraft setzenden Rechtsgrundlage Gekündigten auf etwa 1,2 Millionen Personen, darunter einige hunderttausend mit abgeschlossener Hochschul- und Fachschulausbildung und Zehntausende von Kindergärtnerinnen, Horterzieherinnen, Lehrer und Wissenschaftler. Für die exzessive und vielfach rechtswidrige Handhabung dieser besonderen Kündigungsmöglichkeiten in den meisten neuen Bundesländern gibt es inzwischen Tausende von Beispielen.In der Antwort der Bundesregierung wird unter dem Stichwort Einigungsvertrag darauf freilich nicht eingegangen, sondern es werden die Regelungen zur Anerkennung von schulischen, beruflichen und akademischen Abschlüssen gelobt, und das — wie es heißt — „als Voraussetzung für die Freizügigkeit und Mobilität der Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen". Von Mobilität und Freizügigkeit ist natürlich nicht viel zu spüren. Wahr ist freilich, daß unabhängig von schulischen, beruflichen und akademischen Abschlüssen vier Millionen Ostdeutschen die Arbeit genommen wurde.Was die Anerkennung speziell der ostdeutschen Fachschulabschlüsse betrifft, so konnten wir vorgestern am Beispiel der berufspädagogischen Fachschulabschlüsse hören, daß da noch gar nichts anerkannt ist — übrigens ganz anders als vor der staatlichen Einigung, denn damals wurde DDR-Flüchtlingen mit Fachschulabschluß dieser ganz selbstverständlich als Fachhochschulabschluß anerkannt.Ich bin bewußt etwas ausführlicher auf den Ursprung dieses fehlgeschlagenen Einigungsprozesses in Bildung und Wissenschaft eingegangen; denn alles, was von der Bundesregierung 1991 und 1992 getan wurde, ist entweder eine gedämpfte oder verkleinerte Fortsetzung der Fehlentscheidungen von 1990 wie etwa das Hochschulerneuerungsprogramm Ost, das in der Besetzung der frei gekündigten Hochschullehrstühle Ost durch häufig zweit- und drittklassige Importe das Heil sucht, oder eine Politik, die versucht, die Folgeschäden der damaligen Fehlent-
Metadaten/Kopzeile:
11744 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 135. Sitzung. Bonn, Freitag, den 22. Januar 1993
Dr. Dietmar Kellerscheidungen zu begrenzen, wie etwa in der Berufsbildungspolitik Ost.Ich sehe im Augenblick eigentlich nur zwei Möglichkeiten, aus dieser Situation herauszukommen. Die eine Möglichkeit — es ist allerdings angesichts dieser Bundesregierung nur eine theoretische Möglichkeit — bestünde darin, die Fehlentscheidungen 1990 rückgängig zu machen.Die andere, angesichts der inzwischen veränderten globalen europäischen und deutschen Verhältnisse näherliegende Möglichkeit bestünde darin, gründlicher über den nächsten Wahltag hinaus und das zu Ende gehende Jahrhundert, den gewohnten Krämer-und Ressortgeist verlassend, über Bildung und Wissenschaft in Deutschland in einem breiten demokratischen Dialog nachzudenken, über den Platz, den Bildung und Wissenschaft in der Gesellschaft haben sollten, und darüber, was zu tun ist, damit sie auf diesen Platz gelangen, was Sache des Staates, was Sache der Länder und was Sache anderer ist, wie Demokratie in diesem Bereich mit einer gewissen Ausstrahlung auf die ganze Gesellschaft ausgestaltet und entwickelt werden könnte, wie aus den ehemaligen zwei deutschen Bildungs- und Wissenschaftslandschaften doch noch eine, eine erneuerte Einheit werden könnte, und schließlich auch, wer was würdig zu bezahlen hat.Aber wenn ich als selbstgefälliges Resümee der Bundesregierung auf unsere kritische Anfrage lese — ich zitiere —: „Bildung und Wissenschaft haben nach der staatlichen Vereinigung einen entscheidenden Beitrag zum politischen, wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Erneuerungsprozeß geleistet", ist doch wohl zu befürchten, daß wir unter dieser Bundesregierung einen solchen Bildungsgipfel leider nicht mehr erleben werden.Ich danke.
Das Wort hat nunmehr der Abgeordnete Dr. Rainer Jork.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Gegenstand der Anfrage ist die Bildungs- und Wissenschaftspolitik in den neuen Bundesländern. Wie alle die Menschen in den neuen Bundesländern betreffenden Vorgänge beim Herstellen der inneren Einheit Deutschlands sind die Änderungen im Bereich Bildung und Wissenschaft durch eine deutliche Dynamik des Prozesses charakterisiert. Die Fragestellung wird durch die PDS vordergründig stationär formuliert und weitgehend übersehen, daß die Bundesländer bei der Umstellung eine erhebliche Kompetenz haben.Die Notwendigkeit der Anpassung an gesamtdeutsche Bedingungen ist vor allem durch das Grundgesetz formuliert. Außerdem ging es im wesentlichen um eine Effektivierung von Forschung und Bildung, um die Entpolitisierung von Bildung und Wissenschaft, die Verbesserung gerätetechnischer Ausrüstungen und Methoden in der Forschung und um die Notwendigkeit, die neuen Bundesländer an diesem Prozeß zu beteiligen.Es muß festgestellt werden, daß der Prozeß der Erneuerung unter Zeitdruck und Geldnot für einzelne oft sehr schmerzlich verläuft. Wir können das auch in der Drucksache der Bundesregierung mit nachlesen.Zu einer sachlich fundierten Aussage der beschriebenen Ausgangssituation gehört aber auch eine Einschätzung dazu, wie es mit Bildung, Forschung und Wissenschaft in der damaligen DDR hätte weitergehen können.Dazu dient am besten die von Schürer vorgelegte Analyse der ungeschminkten wirtschaftlichen Lage der DDR aus einer Zuarbeit an seinen SED-Generalsekretär Egon Krenz vom 30. Oktober 1989. Diese Analyse, so denke ich, liegt wohl auch der PDS vor. Ich darf daraus einige Angaben zitieren.Schürer spricht von der Konsequenz der unmittelbar bevorstehenden Zahlungsunfähigkeit der DDR und einem außergewöhnlich hohen Schuldenberg. Er beschreibt, daß — ich zitiere erneut — „ eine Umstrukturierung des Arbeitskräftepotentials erforderlich ist, um das Mißverhältnis zwischen produktiven und unproduktiven Kräften in der gesamten Wirtschaft und im Überbau zu beseitigen". Und weiter: „Das erfordert Abzüge von Lohn und Einkommen."Bezogen auf Wissenschaft und Technik fordert Schürer konkret: „Reduzierung der Ausgaben des Staatsplans ,Wissenschaft und Technik' von 3 800 Positionen auf 600 bis 800 Positionen, die inhaltlich entscheidend sind und zentral beeinflußt und entschieden werden müssen." Formal bedeutet das eine Reduzierung auf 18 %.Also Schürer verlangte bereits Eingriffe in die Forschung, die weit über das hinausgehen, was jetzt kritisiert wird.Ich wünschte mir an dieser Stelle von den Urhebern der Anfrage etwas mehr Ehrlichkeit, auch hinsichtlich der Dialektik von Ursache und Wirkung.Da ich sicher zu Recht davon ausgehen kann, daß den Fragestellern die ökonomische Situation in der damaligen DDR bekannt war, erhebt sich für mich die Frage, welches Ziel die Anfrage verfolgt. Geht es um eine Verschleierung der Ausgangssituation? Soll die Schuld an den derzeitigen Problemen anderen zugeschoben werden? Spielt man mit dem Vergessen? Ich habe den Eindruck, daß aus dem praktizierten Befehlsvollzugs- und Verbeugungszwang nun im Nachgang liebevolle Fürsorgewahrnahme formuliert werden soll.
Im Rahmen der Plenumsdebatte zum Berufsbildungsbericht 1992 am 6. November 1992 konnte ich bereits feststellen, daß nicht nur jeder Bewerber eine Stelle erhalten hatte, sondern daß es noch eine Vielzahl offener Stellen auf dem Lehrstellenmarkt gibt. Ich sagte auch dort bereits, daß es Wünsche hinsichtlich der Qualität gibt.Einige Bemerkungen zur Industrieforschung. Natürlich konzentrierte man sich zunächst auf Aktivitäten in der Industrie, die geprägt waren, kurzfristig Erträge zu bringen. Es gibt umfassende Berichte — aus Zeitgründen möchte ich darauf nicht einge-
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 135. Sitzung. Bonn, Freitag, den 22. Januar 1993 11745
Dr.-Ing. Rainer Jorkhen —, vor allem vom BMFT, dem BMWi im Zusammenspiel mit dem Bundesministerium für Bildung und Wissenschaft, wo gezeigt wird, was für Ausgaben gemacht wurden und welche Erfolge dort vorliegen.Wenn nun mit der Anfrage allein oder überwiegend die Bundesregierung in die Pflicht genommen werden soll, dann ist fairerweise auch auf die Landeskompetenz hinzuweisen und darauf, daß in der letzten Volkskammer — Herr Keller sagte das eben — der gesetzliche Rahmen bereits gegeben wurde.Wir wissen alle, daß angesichts der außenpolitischen Instabilität, vor allem in der Sowjetunion in der zweiten Hälfte des Jahres 1990, das Erreichen der staatlichen Einheit und damit die Möglichkeit, Förderung aus den alten Bundesländern zu erhalten, für uns die Chance darstellte, aus dem wirtschaftlichen, politischen und organisatorischen Dilemma der DDR herauszukommen.Unter Bezug auf die Bankrottoffenbarung des ZK der SED und den ersten Satz der PDS-Anfrage ist festzustellen: „Die ungünstigste Variante der Einheit Deutschlands" wäre auch für Bildung und Wissenschaft die nach dem realen Sozialismus der SED in der DDR gewesen.
Ich halte es in diesem Zusammenhang schon für angeraten und hilfreich, sich die entsprechende Situation in den anderen Ländern des damaligen sozialistischen Lagers vor Augen zu führen. Anläßlich einer Reise in die Baltischen Staaten im Mai des vergangenen Jahres wurde uns als Mitgliedern des Ausschusses für Bildung und Wissenschaft bei Hinweis auf unsere Schwierigkeiten in den neuen Bundesländern immer wieder deutlich gesagt: „Eure Probleme wollen wir haben. "Ich möchte an dieser Stelle ganz einfach summarisch allen dafür danken, die dazu beitrugen, daß uns die derzeitigen Probleme in Polen, der Tschechei und Slowakei, in Ungarn, Rußland, dem Baltikum und in Bulgarien in den neuen Bundesländern erspart blieben.Den erklärten Dialektikern in diesem Raum möchte ich nahelegen, Ursache und Wirkung nicht zu verwechseln, den genannten Blick nach Osteuropa zu wagen und darüber nachzudenken, ob man an Stelle von Anklage nicht auch wenigstens einmal danken oder zumindest die in eine Anfrage gekleidete Kritik konstruktiver gestalten kann.Was hätten wir denn in der damaligen DDR angesichts des von Schürer formulierten Bankrotts der Wirtschaft noch für Chancen gehabt, Bildung und Wissenschaft zu aktualisieren, zu erneuern oder auch nur auf dem Stand zu halten?Danke.
Ich erteile nunmehr der Abgeordneten Frau Doris Odendahl das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Einschätzung, daß die derzeitige Bildungs- und Wissenschaftspolitik dieser Bundesregierung in einer halbstündigen Debatte abgehandelt werden kann, mag richtig sein, wenn sie an dem heute dazu noch übriggelassenen Gestaltungswillen und Handlungsrahmen gemessen wird.In der Großen Anfrage der PDS/Linke Liste vom Februar 1992 sind alle Punkte angesprochen, die im Bildungs-, Wissenschafts- und Forschungsbereich der neuen Bundesländer wichtig sind, um zu dem vielbeschworenen „Aufschwung Ost" beizutragen.Das Bundesministerium für Bildung und Wissenschaft hat sich nun im Oktober 1992 redlich bemüht, die Fragen zu beantworten. Es lohnt sich heute nicht mehr, diese Antworten zu bewerten, denn ein Teil ist durch das föderale Konsolidierungsprogramm des Bundesfinanzministers, das dem deutschen Volk noch immer als Solidarpakt verkauft werden soll, Makulatur geworden.
Es ist ungeheuer, mit welcher Kaltschnäuzigkeit immer noch so getan wird, als ginge es darum, den wirtschaftlichen Aufschwung Ostdeutschlands zu finanzieren. Jeder, der rechnen kann, stellt fest, daß der Hauptbatzen nur einem Zweck dienen soll, nämlich dem, Haushaltslöcher zu stopfen.
Dafür sind dieser Bundesregierung nun wirklich alle Mittel recht, auch nicht eines ist ihr zu schäbig.
Von Solidarpakt kann auch aus bildungspolitischer Sicht keine Rede sein,
wenn man die Liste der vorliegenden Beschlüsse durchsieht. Der Zugang zu den weiterführenden Bildungsangeboten soll für Jugendliche aus einkommensschwächeren Verhältnissen weiter erschwert, wenn nicht gar versperrt werden.Weder die vorgesehenen Einsparungen bei staatlichen Leistungen noch die Maßnahmen für die neuen Länder lassen ein Konzept der Bundesregierung erkennen, das Bildung als Zukunftsinvestition wertet. Die Folge wird eine Schwächung der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit der Bundesrepublik sein. Ein „Aufschwung Ost" ist damit nicht mehr in Sicht.
Der Bundeskanzler und der Bundesfinanzminister haben um eine unvoreingenommene Prüfung der Vorschläge gebeten. Soll es so sein. Die Verschiebung der BAföG-Anpassung von 1994 auf 1996 wird von der SPD abgelehnt.
Bereits in den letzten Jahren, Graf Waldburg, ist der reale Wert des BAföG gesunken, wie der Beirat für Ausbildungsförderung vor einem Jahr bei der Beratung der 15. BAföG-Novelle der Bundesregierung ins Stammbuch geschrieben hat. Werden die Bedarfs-
Metadaten/Kopzeile:
11746 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 135. Sitzung. Bonn, Freitag, den 22. Januar 1993
Doris OdendahlSätze nicht angepaßt, müssen mehr Studierende als bisher neben dem Studium ihren Lebensunterhalt verdienen. Werden die Einkommensfreibeträge nicht erhöht, fallen auch bereits Studierende aus unteren Einkommensgruppen aus der Förderung heraus, auch davon wieder besonders viele aus Ostdeutschland.
Familienlastenausgleich, der Ihnen ja immer wichtig ist, findet auch hier nicht mehr statt. Wer BAföG nicht als Sozialleistungsgesetz und als Teil des Generationenvertrages begreift, hat die Regierungsfähigkeit in der Bildungspolitik endgültig verspielt.
Die SPD lehnt es ab, die erst 1990 eingeführte Studienabschlußförderung zum Herbst 1993 auslaufen zu lassen. Sie ist unverzichtbar, wenn man es mit der Studienzeitverkürzung ernst meint. Der Bundesbildungsminister wollte im März dazu einen Gesetzentwurf einbringen. Wieder einmal hat ihn der Bundesfinanzminister aufs Kreuz gelegt.
— Ohne Kreuz, Frau Kollegin Fuchs! — Kürzungen bei der Sozialhilfe, beim Erziehungsgeld und eine zynische Mißbrauchsunterstellung bei Arbeitslosengeld und Arbeitslosenhilfe treffen Familien mit Kindern in der Ausbildung doppelt, da zugleich die Ausbildungsförderung nicht der Entwicklung der Lebenshaltungskosten angepaßt werden soll.Man braucht keine Prophetin zu sein, um die negativen Folgen dieser Zangenbewegung der Bundesregierung gegen die Jugendlichen, besonders in den neuen Ländern, vorauszusagen. Bei etwa 50 % offener bzw. verdeckter Arbeitslosigkeit muß das Konzept der Bundesregierung als eine Unverschämtheit bezeichnet werden.
Der Bundeskanzler hat den ostdeutschen CDU-Bundestagsabgeordneten für dieses Jahr eine Neuauflage der kommunalen Investitionspauschale in Höhe von 1,5 Milliarden DM zugesagt.
Dieser Betrag ist einfach lächerlich, Herr Kollege Jork, angesichts der Aufgaben der Kommunen beim Erhalt und der Modernisierung insbesondere der berufsbildenden Schulen; das wissen Sie ganz genau. Hierfür ist ein spezielles Sonderprogramm, wie wir es bereits vor längerer Zeit beantragt haben, dringend notwendig. Die Länder und Gemeinden werden die Aufforderung, in eigener Verantwortung jede weitere Sparmöglichkeit zu nutzen, als Eingriff in ihre Kulturhoheit zurückweisen. Wer allein aus Kostengesichtspunkten den Verzicht auf das 13. Schuljahr und eine kostensenkende Studienreform fordert, hat sich als seriöserGesprächspartner für den Bildungsgipfel im Sommer 1993 schlichtweg disqualifiziert.
Wer die Einführung von Studiengebühren nach Ablauf der Regelstudienzeiten fordert, hat Ursachen und Verantwortlichkeiten für die studienzeitverlängernde Situation an den überlasteten Hochschulen nicht begriffen.
Die CDU kann sich einen Bildungskongreß im März schenken, weil die Herren Kohl und Waigel die brutalen bildungspolitischen Leitlinien der Konservativen bereits verkündet haben. Selbst wenn der Kanzler noch immer an seinem Gipfeltraum festhalten wollte, Waigel hat ihm die Steigeisen dafür längst abgenommen.Wie heißt es dazu in dem föderalen Konsolidierungsprogramm? Jetzt zitiere ich — vielleicht haben Sie es ja doch nicht ganz gelesen —:
Das föderale Konsolidierungsprogramm ist ein in sich geschlossenes und ausgewogenes System, das für den mittelfristigen Zeitraum eine abschließende Neuordnung der Bund-LänderFinanzbeziehungen darstellt.
Bund-Länder-Gespräche zu anderen Themen, wie beispielsweise der Bildungsgipfel, dürfen diese Ergebnisse nicht mehr in Frage stellen.Meine Güte, Sie haben keine Hosentasche mehr, in die Sie fassen können!
Angesichts dieser Aussichten für seine Amtsführung in den nächsten zwei Jahren, Herr Ortleb, kann der Bundesbildungsminister einpacken. Sie tun mir wirklich leid. Angesichts dieser Aussichten ist der von der CDU vorgesehene Bildungskongreß reif für die Müllkippe.
Ich erteile nunmehr dem Bundesminister für Bildung und Wissenschaft, Dr. Rainer Ortleb, das Wort.
Sehr geehrter Herr Päsident! Meine Damen und Herren! Mit dem Beitritt der DDR zur Bundesrepublik Deutschland kommt auch den neuen Ländern die Gestaltung von Bildung, Wissenschaft und Kultur weitgehend als eigene Aufgabe zu. Dies entspricht der Kompetenzordnung des Grundgesetzes. Nicht ohne Grund existiert demzufolge die Kultusministerkonferenz der Länder, in der die Bundesregierung nur Gast ist.
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 135. Sitzung. Borin, Freitag, den 22. Januar 1993 11747
Bundesminister Dr. Rainer Ortleb
Bereits im Verlauf des Einigungsprozesses im Jahre 1990 wurden noch vor der notwendigen Vereinbarung längerfristiger Programme wichtige Sofortmaßnahmen ergriffen. Erwähnen möchte ich an dieser Stelle nur die unverzüglich durchgeführte Schulbuchhilfe, mit der Wahlmöglichkeiten aus mehr als 650 Titeln geschaffen worden sind, und erinnere auch an die Ausstattung von Hochschulen mit Rechnern und Büchern.
In den Jahren 1991/92 sind im Bereich der beruflichen Bildung besonders das vom Bundesminister für Bildung und Wissenschaft initiierte Ausbildungsplatzförderungsprogramm Ost, der beschleunigte Ausbau überbetrieblicher Ausbildungsstätten, das Soforthilfeprogramm zur Verbesserung der Grundausstattung der Berufsschulen sowie das Sonderprogramm für Ausbildungsgeräte ostdeutscher Industriebetriebe herauszuheben. Im übrigen sind die Mittel des Gemeinschaftswerks Aufschwung Ost — insgesamt 5 Milliarden DM — auch für die Sanierung der Berufsschulen zur Verfügung gestellt worden.
Im Wissenschaftsbereich ist die zügige Umsetzung des vom Bund und von den neuen Ländern finanzierten Erneuerungsprogramms für Hochschule und Forschung in den neuen Ländern von besonderer Bedeutung, das inzwischen ein Gesamtvolumen von 2,43 Milliarden DM hat. Es ist also gemäß seiner inneren Konstruktion um 40 % aufgestockt worden.
Außerdem hat der Bund bereits zum 1. Januar 1991 die bedarfsdeckende Ausbildungsförderung nach dem Bundesausbildungsförderungsgesetz in den neuen Ländern eingeführt und den Aufbau einer funktionsfähigen Förderungsverwaltung unterstützt.
Es steht nicht in Frage, daß der Übergang von einem sozialistischen zu einem freiheitlich-demokratischen Gesellschafts- und Bildungssystem einen langwierigen und tiefgreifenden Umgestaltungsprozeß darstellt, der für den einzelnen oft auch schmerzlich ist. Für einen zügigen Auf- und Ausbau einer inhaltlich und strukturell neugeordneten Bildungs- und Wissenschaftslandschaft in den neuen Ländern bedarf es daher der Unterstützung aller, insbesondere auch der Solidarität der alten Länder, die rhetorisch oft stärker zum Ausdruck kommt als im tatsächlichen Verhalten.
Meine Damen und Herren, die Große Anfrage der Gruppe PDS/Linke Liste liest sich wie ein Register von Vorwürfen. Diese Vorwürfe dürfen jedoch nicht an die Bundesregierung gerichtet werden.
Vielmehr muß man daran erinnern, daß die DDR wohl kaum eine so ganz heile Welt eingebracht hat. Oder?
Das für den Sommer dieses Jahres vom Bundeskanzler und von den Ministerpräsidenten der Länder in Aussicht genommene bildungspolitische Spitzengespräch wird die Gelegenheit bieten, der Devise der Bundesregierung, dort substantiell und materiell entgegenzukommen, wo es für die angestrebte Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse notwendig ist, zu entsprechen.
Frau Odendahl, ich möchte abschließend bemerken: Was die Sache mit dem Kreuz angeht, so warten Sie bitte meine nächsten öffentlichen Äußerungen ab.
Danke schön.
Das Wort hat nunmehr Graf Waldburg-Zeil.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich habe mit großem Interesse diese Anfrage gelesen und Ihre Ausführungen gehört, Herr Kollege Keller, weil sie einen Blickwinkel aufzeigen, den einmal nachzuvollziehen einfach interessant ist. Wenn ich einmal den anderen Blickwinkel wählen darf, so ist zu sagen: Für mich ist zunächst einmal wichtig, daß das Bildungs- und Erziehungssystem in einem totalitären System ein entscheidender Faktor ist, um die Jugend in den Griff zu nehmen und im Griff zu halten. Dies kann man nicht auf einmal abstellen; das dauert länger. Ich glaube, das war die schwerste und wichtigste Aufgabe, die die Länder zunächst einmal zu vollziehen hatten.
Sie haben sodann, und zwar mit Recht, darauf hingewiesen, daß es Entwicklungen gegeben hat, die im Westen positiv beurteilt wurden. Man darf aber nicht vergessen, daß die Umstellung eines gelenkten Gesellschaftssystems auf ein freiheitliches Gesellschaftssystem auch einen Zusatz schulischer Angebote erfordert und von daher eine neue Formel notwendig machte,
Abschließend noch eines: Sie haben gesagt, es gebe keine Chancen mehr. Es gibt eine ganze Menge Chancen, das Bildungssystem in beiden Teilen zu verbessern. Ich denke z. B. an die zwölf Schuljahre, die uns in der DDR vorgemacht werden. Wir brauchen keine 13 Jahre. Ich denke an die Hochschulstruktur. Ich denke daran, daß Studenten auch von hier nach drüben gehen können.
Meine Redezeit ist vorbei. — Herzlichen Dank.
Ich erteile nunmehr Professor Dr. Christoph Schnittler das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Bildungs- und die Wissenschaftspolitik gehören durchaus zu den komplizierten Politikfeldern, ändern sich doch heute die Anforderungen an Bildungseinrichtungen und an Forschungsstätten in einem Tempo, dem die politische Meinungsbildung und die daraus resultierenden Maßnahmen nur sehr schwer hinter-
Metadaten/Kopzeile:
11748 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 135. Sitzung. Bonn, Freitag, den 22. Januar 1993
Dr. Christoph Schnittlerdreinkommen. In der deutschen Hochschullandschaft ist das besonders auffällig. Die Defizite sind sichtbar: überfüllte Hochschulen, zu wenig Stellen, zu lange Studienzeiten und zu alte Studenten. Um Abhilfe zu schaffen, ist ein Bildungsgipfel dringend nötig. Die F.D.P. begrüßt es außerordentlich, daß dieser für den Sommer dieses Jahres vorgesehen ist, und sie wird sich daran aktiv beteiligen.
Allein, nicht dies ist es, was die PDS bei ihrer Großen Anfrage umtreibt. Ihr Anliegen ist es vielmehr, ein großes Lamento über die Bildungs- und Wissenschaftslandschaft in den neuen Ländern abzugeben.Nun bin ich als Thüringer Bundestagsabgeordneter natürlich keineswegs nur darüber erfreut, was heute in den neuen Ländern vor sich geht. Wenn ich die Arbeitslosigkeit und den Rückgang industrieller Arbeitsplätze betrachte, dann kommt natürlich auch mir manchmal der Optimismus abhanden. Nur, verehrte Kolleginnen und Kollegen — es sitzen nur noch Kollegen da — von der PDS: Die Bildungs- und Wissenschaftslandschaft in den neuen Ländern gibt wahrlich nicht Anlaß zu Pessimismus. Ich stelle hier als Hochschullehrer bei allen Schwierigkeiten fest: Was auf diesem Gebiet von dieser Bundesregierung geleistet worden ist, das kann sich durchaus sehen lassen und verdient Anerkennung.
Natürlich gibt es Schwierigkeiten in der Berufsausbildung. Wo die Industrie fehlt, da fehlen auch die betrieblichen Ausbildungsplätze. Aber allein die Tatsache, daß es gelungen ist, bis heute den Bedarf an Ausbildungsplätzen abzudecken, ist eine hervorragende Leistung von Bund und neuen Ländern. Sie kann angesichts der rechtsextremistischen Tendenzen in der Jugend überhaupt nicht hoch genug eingeschätzt werden.
Die PDS beklagt die Situation der allgemeinbildenden Schulen in den neuen Ländern. Die Eltern tun das nicht, und auch die Schüler tun das nicht. Ich konnte mich eben in einem Gespräch mit einer Schülergruppe aus Thüringen davon überzeugen. In Thüringen wird das System der Regelschule und des Gymnasiums mit großer Zustimmung angenommen. Alle sind sehr froh, daß nicht mehr der Parteisekretär und der Schulrat darüber entscheiden, welches Kind eigentlich eine höhere Bildung erhalten kann.
Junge Berufstätige können das Thüringen-Kolleg besuchen und so die Hochschulreife erwerben, die ihnen vor der Wende oft aus politischen Gründen versagt worden ist.Nur in einem Punkt muß ich der PDS zustimmen: Das Verfahren der Überprüfung und Entlassung von Lehrern ist problematisch, aber nicht etwa deshalb, weil es der Rechtsstaatlichkeit entbehrt, sondern weil es — durchaus verständlich — vor allem nach sozialen Gesichtspunkten durchgeführt wurde und es deshalb an jungen dynamischen Lehrern fehlt, die die neuen Freiräume auch wirklich kreativ ausfüllen können.Die PDS beklagt die Situation der wissenschaftlichen Hochschulen und Forschungseinrichtungen in den neuen Ländern. Ich will hier durchaus der Versuchung widerstehen — Kollege Dr. Keller, Sie kennen das sehr gut —, auf die von der SED durchgeführte 3. Hochschulreform und ihre Folgen einzugehen. Aber wollen Sie denn nicht wenigstens sehen, was sich inzwischen alles ereignet hat?Die universitären und Forschungseinrichtungen der ehemaligen DDR sind in kurzer Zeit vom Wissenschaftsrat evaluiert worden. Uns hat damals das Wort „evaluiert" erschreckt. Aber es gibt heute einen breiten Konsens: Diese Evaluierung ist mit großer Sachkompetenz und durchaus auch mit Wohlwollen durchgeführt worden. Sie ist eine sehr solide Grundlage für unsere neue Wissenschaftslandschaft.Ich könnte viele positive Beispiele hier noch anführen: das Hochschulerneuerungsprogramm, die über 1 000 Professoren und Dozenten aus den alten Ländern, die ihre Tätigkeit an ostdeutschen Universitäten aufgenommen haben, die neuen geisteswissenschaftlichen Fakultäten, 21 neue Fachhochschulen sind gegründet worden, 10 Graduiertenkollegs, 18 weitere sind in Vorbereitung, drei Großforschungszentren, eine große Anzahl von Fraunhofer-, Max-Planck- und Blaue-Liste-Instituten.Meine Damen und Herren, das alles ist unter dem Strich eine durchaus positive Bilanz. Nicht Jammern, sondern Zupacken ist gefragt, so daß wir diese positive Bilanz gemeinsam weiter fortsetzen können.Danke schön.
Meine Damen und Herren, damit sind wir am Ende der Aussprache über den Tagesordnungspunkt 12.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 13 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Uwe Jens, Wolfgang Roth, Harald B. Schäfer , weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Anpassung des Gesetzes zur Förderung der Stabilität und des Wachstums der Wirtschaft an die neuen ökologischen, sozialen und wirtschaftlichen Anforderungen
— Drucksache 12/1572 —
Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Wirtschaft
Finanzausschuß
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Haushaltsausschuß
Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit
Meine Damen und Herren, der Ältestenrat schlägt Ihnen eine Debattenzeit von zwei Stunden vor. — Das wird offensichtlich akzeptiert. Dann darf ich das als beschlossen feststellen.
Ich eröffne die Aussprache. Ich erteile zunächst einmal dem Abgeordneten Dr. Uwe Jens das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich hatte geglaubt, wir könnten diese Debatte unter Anwesenheit des neuen Wirtschaftsmi-
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 135. Sitzung. Bonn, Freitag, den 22. Januar 1993 11749
Dr. Uwe Jensnisters, Herrn Rexrodt, führen. Aber das ist wohl ein Irrtum.
Der Staatssekretär ist uns auch sehr lieb; aber lieber wäre uns der Wirtschaftsminister.Der letzte Appell, meine Damen und Herren, des ehemaligen Wirtschaftsministers Möllemann, um den anhaltenden Konjunktureinbruch zu überwinden, lautet: Konsolidierung der öffentlichen Haushalte, geringe Lohnerhöhungen. Dies ist jedoch aus meiner Sicht ein Nachhutgefecht einer ideologiebeladenen, einseitig angebotsorientierten Wirtschaftspolitik.
Diese Politik würde unweigerlich die deflationären Tendenzen in unserer Wirtschaft verstärken. Sie würde die wirtschaftliche Situation nicht verbessern, sondern verschlechtern. Diese einseitige Orientierung gehört nach meiner Meinung der Vergangenheit an.
Mit dem Antrag auf Drucksache 12/1572, Anpassung des Stabilitäts- und Wachstumsgesetzes, wollen wir Sozialdemokraten eine Debatte über die Notwendigkeit einer makroökonomischen Wirtschaftspolitik anregen. Dabei geht es uns um verbesserte Informationen, eine wirksamere Koordination der Politik und sowohl um die Angebots- wie auch vor allem um die Nachfragebedingungen in der Volkswirtschaft.
Die deutsche Wirtschaft leidet zur Zeit an einem besonderen Strukturproblem — wer wollte das leugnen? —, nämlich an der Angleichung der Lebensverhältnisse in Ostdeutschland. Um dieses Problem zu lösen, benötigen wir aus meiner Sicht erstens ein wirklich glaubwürdiges Konzept für die wirtschaftliche Entwicklung der neuen Bundesländer,
zweitens eine ökologisch verträgliche Wirtschaftsentwicklung in der Bundesrepublik insgesamt
und drittens eine sich besser entwickelnde Weltwirtschaft.
Selbstverständlich haben wir Sozialdemokraten die Erfahrungen aus der Anwendung des Stabilitäts- und Wachstumsgesetzes von 1967 bis 1980 gut in Erinnerung behalten. Eine konjunkturelle kurzfristige Keynesianische Steuerung kann in einer parlamentarischen Demokratie kaum richtig funktionieren. Antizyklische Maßnahmen haben nicht selten prozyklische Effekte gehabt. Die Begierden der Politiker waren zum Teil so groß, daß Wohltaten verteilt wurden, wenn Sparen angebracht war.
Dies und anderes muß man bei einer neuen Makropolitik sehr wohl in Erinnerung behalten.Tatsache ist aber auch, Herr Kollege Ost, daß die Ziele der Wirtschaftspolitik, stabile Preise, hohe Beschäftigung, Wirtschaftswachstum, in den siebziger Jahren unter sozialdemokratischer Regierungsverantwortung im internationalen Vergleich wesentlich besser erreicht wurden als etwa in den achtziger Jahren.Die in den achtziger Jahren unter CDU-Herrschaft praktizierte Angebotspolitik hat aus unserer Sicht schwerwiegende Mängel gezeigt:Erstens. Die Einkommensverteilung hat sich einseitig zugunsten der Unternehmen und zu Lasten der Arbeitnehmer entwickelt.Zweitens. Trotz Schaffung zusätzlicher Beschäftigung blieb die Anzahl der Arbeitslosen stets auf hohem Niveau.Drittens. Die Preissteigerungen waren bei scharfer Geldmengensteuerung der Bundesbank hoch, und unsere international gute Position in der Preisentwicklung haben wir seit langem eingebüßt.Viertens ist vor allem die Verschuldung nicht langsamer, sondern viel schneller gestiegen.Diese Politik dieser Regierung hat es geschafft, den Schuldenberg, der bis 1982 in 33 Jahren angehäuft war, in nur sieben Jahren zu verdoppeln. Bis 1994 wird er vervierfacht worden sein. So — das sage ich Ihnen allen Ernstes — kann es nicht weitergehen. Die verfehlte Politik schreit geradezu nach einer Wende.
Meine Damen und Herren, deshalb und auch auf Grund der weltwirtschaftlichen Schwächen gibt die OECD in ihrem neuen Bericht vom 1. Januar 1993 den Regierungen den Rat, wieder Überlegungen zur Makropolitik anzustellen. Steigende Arbeitslosigkeit, schwaches Wirtschaftswachstum und zum Teil deflationäre Entwicklungen bilden die Voraussetzung für eine makroökonomische Nachfragepolitik.Unabhängig davon sollen selbstverständlich die mittelfristigen Angebotsbedingungen nicht vergessen werden. Notwendig ist aber auf alle Fälle, daß die Bundesbank sofort, ohne Verzögerung ihren Diskont- und Lombardsatz deutlich senkt. Ich füge hinzu: Ich finde, es ist nahezu ein Skandal, daß Herr Waigel gestern zum Zentralbankrat nach Frankfurt gefahren und mit leeren Händen zurückgekommen ist, sich also nichts getan hat.
Ich sage Ihnen allen Ernstes: Jeder neue Arbeitslose, den wir in Zukunft zu verzeichnen haben werden, ist ein Arbeitsloser der Deutschen Bundesbank.
Die Sozialdemokraten wollen auch in Zukunft eine rationale und nicht eine ideologiebeladene Wirtschaftspolitik betreiben. Wir werden auch in Zukunft aus Fehlern lernen. Mit unserem Antrag wollen wir eine besondere Wirtschaftspolitik. Wir wollen, daß die
Metadaten/Kopzeile:
11750 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 135. Sitzung. Bonn, Freitag, den 22. Januar 1993
Dr. Uwe JensInstitutionen verbessert sowie die Information und der Zielkatalog erweitert werden.Gestatten Sie mir einige wenige Sätze zu den Institutionen. Wenn ich es richtig sehe, dann wäre eine Konzertierte Aktion heutzutage dringend angebracht. Vor allem muß die Wirtschaftspolitik aber stärker als bisher zwischen Bund, Ländern und Gemeinden koordiniert werden. Deswegen verlangen wir, daß der Konjunkturrat der öffentlichen Hand ergänzt und zu neuem Leben erweckt wird. Das gleiche gilt übrigens auch für die im Stabilitäts- und Wachstumsgesetz bereits enthaltene Konjunkturausgleichsrücklage, die nach unserer Meinung obligatorisch sein muß und der in Zukunft in bestimmten Zeiten auch die Bundesbankgewinne zugeführt werden sollten.Bessere Informationen, die dringend notwendig sind, verlangen wir mit unserem Antrag u. a. insbesondere über strukturelle Probleme der Volkswirtschaft, über den Arbeitsmarkt und vor allem über die Umweltsituation in unserem Lande.In erster Linie ist jedoch der Zielkatalog des Stabilitäts- und Wachstumsgesetzes nicht mehr zeitgemäß. Die Forderung nach stetigem Wirtschaftswachstum kann nach dem herkömmlichen Maßstab des Bruttosozialprodukts nicht mehr sinnvoll sein. Es wäre höchste Zeit, daß das Statistische Bundesamt mit der Veröffentlichung eines Ökosozialprodukts rüberkommt. Dies war eine gemeinsame Forderung aller Parteien im Wirtschaftsausschuß. Ich mahne die Veröffentlichung des Ökosozialprodukts hier ausdrücklich an. Wir brauchen dringend einen besseren Maßstab für die Wohlfahrtsentwicklung in unserer Gesellschaft.
In Zukunft ist es notwendig, bei allen wirtschaftspolitischen Maßnahmen neben den ökonomischen Notwendigkeiten gleichberechtigt oder gar mit höherer Priorität die ökologischen Notwendigkeiten zu beachten. Nach unserem Antrag müssen in Zukunft die wirtschaftspolitischen Maßnahmen zu einem ökologisch verträglichen Wachstum beitragen.Das heißt aber auch, daß die rein quantitative Betrachtung der Ziele aufgehoben wird. Sie wird aus unserer Sicht ersetzt durch eine qualitative Orientierung. Das ist deshalb notwendig, weil wir nach sozialdemokratischer Auffassung nicht nur für andere Länder auf dieser Erde, sondern auch für die Generationen, die nach uns kommen, Verantwortung haben. Die bisherige Wirtschaftspolitik hat weitgehend kurzfristige Geschaftelhuberei betrieben.Es besteht durchaus die Gefahr eines Rückfalls in den punktuellen Interventionismus: Man kümmert sich um die Sorgen einzelner Unternehmen und vergißt die Sorgen der gesamten Volkswirtschaft. Das kann nicht so weitergehen.
Ich sehe in der ökologischen Ergänzung des Zielkatalogs für die deutsche Volkswirtschaft eine große Chance, die wir Sozialdemokraten, wenn wir 1994 die Regierung übernehmen, nutzen werden. Die OECD schätzt, daß der Weltmarkt für Umweltgüter und für Umweltdienstleistungen 1990 mehr als 300 Milliarden DM betrug. Dieser Markt soll bis zum Jahre 2000, also in nicht einmal zehn Jahren, um mehr als 50 % wachsen. Damit würde die Umweltindustrie zu den am schnellsten wachsenden Branchen der Erde gehören.Meine sehr verehrten Damen und Herren, vor sechs Jahren hat Fritjof Capra sein Buch mit dem Titel „Wendezeit" veröffentlicht. Ich gebe zu: Es dauert manchmal sehr lange, bis sich die Denkstrukturen der Politiker und der Politik verändern. Wir Sozialdemokraten werden jedoch entscheidend daran mitwirken, daß es zur Veränderung der Denkstrukturen kommt.
Wir wollen nicht mehr mechanistisch denken,
sondern im Gesamtzusammenhang; wir wollen nicht nur ökonomisch, sondern auch ökologisch handeln. Unsere Ordnung der Wirtschaft soll offen, marktwirtschaftlich, sozial und ökologisch sein. Dafür benötigen wir eine Politik, die nicht nur für die Deutsche Bank, sondern auch für die neuen Bundesländer und für die gesamte Volkswirtschaft konzipiert wird.Die Reagonomics haben mit der Wahl von Präsident Clinton in den Vereinigten Staaten aus unserer Sicht endgültig abgedankt.
Hoffentlich kann sich der neue Präsident gegen die mächtigen Interessenvertreter in der Wirtschaft durchsetzen. Das ist meine Sorge. Aber notwendig wäre es schon, daß er das einhält, was er im Wahlkampf zugesagt hat. Wir wollen ihn dabei unterstützen.Wir brauchen eine bessere Forschungs- und Technologiepolitik. Wir brauchen nicht weniger Ausbildung, sondern mehr Ausbildung, auch im Interesse der Wirtschaft;
wir brauchen einen verbesserten Ausbau der Infrastruktur; wir brauchen eine neue Umweltpolitik. Wenn Sie so wollen, sind dies zum Teil durchaus angebotsorientierte Maßnahmen. Jedenfalls sind es richtige Maßnahmen, und darauf kommt es an.Mit Clinton — das sage ich Ihnen von der CDU und vor allem Ihnen von der F.D.P. — geht auf alle Fälle auch der internationale Standortwettlauf mit ständigen Steuersenkungen für die wirtschaftliche Tätigkeit zu Ende. Das funktioniert nämlich nicht mehr.Ich bin überzeugt davon, daß wir eine dezentrale marktwirtschaftliche Ordnung nur dann auf Dauer
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 135. Sitzung. Bonn, Freitag, den 22. Januar 1993 11751
Dr. Uwe Jenssichern, wenn wir die externen Kosten voll in die betriebswirtschaftliche Kostenrechnung integrieren.
Das muß möglichst überall auf der Welt geschehen. Aber Lander, die damit vorausmarschieren, haben Vorteile und sind Vorbild für andere.
Hinzu kommen muß zwingend eine Renaissance der Makropolitik — das will unser Antrag deutlich machen —, wie sie hier von uns angeregt wurde. Dabei wissen wir genau, daß der Staat nicht etwa alles kann. In vielen Bereichen brauchen wir auch nicht weniger, sondern mehr private Initative. Zum anderen greifen nationale Problemlösungen häufig zu kurz, weil sich die Wirtschaft schon lange international organisiert hat.Deshalb bedarf es auch einer internationalen Koordination der Wirtschaftspolitik. Die G-7-Gruppe, die sieben führenden Industrienationen, müssen, wie uns scheint, zu neuem Leben erweckt werden. Clinton macht das bestimmt mit. Ein Land allein kann sich nicht mehr als weltwirtschaftliche Lokomotive betätigen. Ich füge hinzu — das liegt mir nämlich am Herzen —: Wenn sich Rußland entwickeln sollte — ich bin davon überzeugt: es schafft den Sprung —, dann wird das ein dynamischer Markt, und dann werden wir aus der G-7- schnell eine G-8-Gruppe machen. Wir wenigstens werden die Entwicklung der osteuropäischen Märkte nicht vernachlässigen.Ich komme zum Schluß. — Deutschland und die Vereinigten Staaten müssen und können auf diesem Gebiet der ökologischen Erneuerung eine Vorreiterrolle übernehmen. Ich bin sicher: Die ökonomischen Vorteile für die Bundesrepublik Deutschland werden nicht ausbleiben. Alle anderen großen Industrienationen werden sich einer ökologischen Erneuerung schnell anpassen. Der zukünftige Motor für eine langfristige wirtschaftliche Entwicklung ist nicht mehr das Automobil — das ist Vergangenheit — und noch nicht einmal mehr — auch das glaube ich sagen zu können — die Informationsindustrie — so lieb wir sie haben —, sondern der zukünftige Motor ist vor allem die Sicherung der natürlichen Lebensgrundlagen durch — wie ich meine — moderne Technik.Ich bin ein ziemlicher Optimist, und das will ich auch bleiben. Ich gehe noch davon aus, daß die Menschen in unserer Republik mit Vernunft begabte Wesen sind. Deshalb meine ich: Die neue Wirtschaftspolitik verbunden mit einer ökologischen und innovativen Wende in der Wirtschaft kommt mit naturwissenschaftlicher Notwendigkeit.Schönen Dank.
Ich erteile nunmehr dem Abgeordneten Friedhelm Ost das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Lieber Herr Kollege Jens, ich verstehe ja gut die von Ihnen dargelegten Wünsche bezüglich verbesserter Instrumentarien und noch mehr. Das mögen ja Ihre Wünsche sein. Aber nach dem, wie Sie die 80er Jahre so dargestellt haben, habe ich den Eindruck, daß Sie alle vorliegenden Berichte nicht richtig studiert haben.
Im Seminar hätten Sie das doch machen können.Wir haben in den 80er Jahren, nachdem Sie den Konkurs anmelden mußten, mehr als eine Million neue Arbeitsplätze geschaffen.
— Im Verhältnis zur Leistungskraft war Ihre Verschuldung selbst ohne Wiedervereinigung höher.
Für eine Juristin ist das nur sehr schwer einzusehen. Gehen Sie doch mal in ein Seminar von Professor Jens; dann sehen Sie, daß Verschuldung und Vermögen — es gibt immer die doppelte Buchhaltung —, daß Soll und Haben eine Rolle spielen.Es wurden also eine Million neue Arbeitsplätze geschaffen.Wir haben noch Jahre gehabt, in denen ein Rückgang der Preissteigerung auf unter Null vorhanden war.Wir haben neue, zusätzliche selbständige Existenzen in großer Zahl bekommen. Daß sich dann auch die Verteilungsrelation zugunsten der Einkommen aus Unternehmertätigkeit und Vermögen verschiebt, wenn mehr als 3 Billionen DM — 3 000 Milliarden DM — Spar- und Geldvermögen angesammelt werden — lieber Herr Professor Jens, das wissen Sie auch —, ist klar.
— Nein! Studieren Sie einmal ganz genau die Berichte, die alle schon vorliegen, und schreiben Sie nicht auf, welche Berichte Sie alle wünschen, die es längst gibt! Das wäre doch seriös!In vielen Punkten, lieber Herr Professor Jens, stimmen wir doch, würde ich sagen, weitgehend überein.Auch das gibt es schon: Es gab hier eine große Regierungserklärung vom Bundeskanzler — daran haben wir uns gehalten —: Die Schöpfung bewahren.
— Sie lesen eben alles, was es schon gibt, nicht und wünschen immer was Neues. Es war eigentlich immer auch Politik der SPD, immer nur Wünsche zu äußern.Wenn Sie sich heute einmal die demoskopischen Befunde ansehen, so stellen Sie fest, daß die Leute in Westdeutschland in der Tat besorgt sind über die
Metadaten/Kopzeile:
11752 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 135. Sitzung. Bonn, Freitag, den 22. Januar 1993
Friedhelm OstEntwicklung am Arbeitsmarkt, über die Wirtschaftsentwicklung, auch über die Inflation.
— Lieber Herr Kollege Schwanhold, hören Sie doch erst einmal zu! Sie kommentieren immer schon, bevor Sie überhaupt die Tatsachen gehört haben. Das zeichnet Sie aus.
— Natürlich haben Sie das nicht gelesen und kommentieren das schon.In Ostdeutschland spielen die Arbeitslosigkeit und eben der wirtschaftliche Aufschwung die größte Rolle.Vergegenwärtigen Sie sich doch noch einmal die Ziele des Gesetzes zur Förderung der Stabilität und des Wachstums der Wirtschaft vom 8. Juni 1967! Da sind Stabilität des Preisniveaus, ein hoher Beschäftigungsstand, ein außenwirtschaftliches Gleichgewicht bei stetigem und angemessenem Wirtschaftswachstum, also nicht bei Wachstum um jeden Preis, sondern bei angemessenem Wachstum,
angemessen eben allen anderen Entwicklungen, auch der Ökologie, aufgeführt.
Das wissen Sie doch alles; das haben Sie vielleicht auch gelesen.
Natürlich stellen diese Ziele immer wieder neue Herausforderungen an alle am Wirtschaftsprozeß Beteiligten, an die Politik, an die Arbeitgeber, an die Gewerkschaften, an die Verbraucher, an alle, die am Wirtschaftsprozeß beteiligt sind.
— Ich komme noch auf Maßstäbe zu sprechen; ich werde auch noch Maßstäbe setzen, lieber Herr Professor Jens.Wer sich den Werdegang dieses Gesetzes einmal anschaut — der hat ja lange vor Karl Schiller begonnen, wie Sie wissen —, der erfährt, daß im Mittelpunkt der Forderung nach einer Erweiterung und Verbesserung des konjunkturpolitischen Instrumentariums zunächst auch Vorschläge über die konjunkturgerechte Ausgestaltung der Finanzpolitik standen. Was dann als Gesetz kam, war — das merken Sie, wenn Sie das noch einmal nachvollziehen; ich habe mir die Mühe gemacht — mehr als nur ein Konjunkturrahmengesetz. Wenn Sie auch den Inhalt des Gesetzes genau studieren, so stellen Sie fest daß darin viele Instrumente, Institutionen, Berichte, Koordinationsgremien zu finden sind.Nun ist es sicherlich richtig, daß die ökologischen Anforderungen — da unterstreiche ich das, was Sie gesagt haben, Herr Professor Jens — nicht schon 1967 Eingang in dieses Gesetz gefunden haben. Möglicherweise hat man dies auch nicht gewollt. AngemessenesWirtschaftswachstum bedeutet eben nicht — ich sagte es schon — Wachstum um jeden Preis. Wir haben doch im ökologischen Bereich — wenn Sie die 80er Jahre einmal realistisch betrachten, stellen Sie das auch fest— auf allen Ebenen, beim Bund, bei den Ländern, auch bei den Gemeinden, bei den Verbrauchern, bei den Betrieben, gewaltige Fortschritte gemacht.Natürlich wäre es gut gewesen, wenn wir schon in den 70er Jahren mit praktischem Umweltschutz angefangen hätten. Ich weiß noch, daß Herr Präsident Nixon den Katalysator in den USA eingeführt hat, daß deutsche Firmen das auch hier tun konnten und daß ein SPD-Kanzler, nämlich Helmut Schmidt, der ja der größte Weltökonom aller Zeiten war oder sich jedenfalls dafür hält, das verhindert hat.
— Jetzt halten Sie nichts mehr davon; weder Karl Schiller noch Helmut Schmidt spielen bei Ihnen eine große Rolle.
Damals ist das Katalysatorauto hier also nicht eingeführt worden, sondern wir haben das 1985 gemacht.
Herr —
Nein, ich möchte die Rede zu Ende halten.
— Ich möchte das erst einmal ausführen; Sie müssen ja zunächst die Fakten zur Kenntnis nehmen.
— Das mag ja durchaus sein. Das Datum stimmt ja. Ich möchte aber fortfahren.Wenn Sie sich einmal anschauen — ich bin da kein großer Experte
bei den ökologischen, chemischen Werten, Emissionswerten — - Sie sind da natürlich Experte, lieber Kollege Schily, weil Sie grün geübt sind.
Das ist ja ganz gut.
— Nein, das hat doch nichts damit zu tun.
Wenn Sie sich also die Werte etwa der Schwefeldioxid-Emissionen oder anderer Emissionen ansehen, stellen Sie fest: Sie sind gewaltig zurückgegangen. Das können Sie doch nicht bestreiten.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 135. Sitzung. Bonn, Freitag, den 22. Januar 1993 11753
Friedhelm Ost— Ich werde Ihnen das dann genau sagen. Ich wollte Sie ja nicht langweilen. — Die Schwefeldioxid-Emissionen sind mehr als halbiert worden. Anfang der 80er Jahre waren es 3 Millionen t und 1991 nur noch 1 Million t.
— Nein, nein, das sind offizielle Statistiken. Sie studieren die Berichte eben nicht.
Herr Abgeordneter Müller, ich darf Sie darauf aufmerksam machen, daß ich dem Abgeordneten Ost und nicht Ihnen das Wort gegeben habe.
Sie kommen immer mit falschen Gegenargumenten. — Wir hatten 1983 also 3 Millionen t Emissionen und 1991 1 Million t. 1 Million t sind — selbst wenn Sie ganz sozialdemokratisch rechnen — weniger als 3 Millionen t.
Wirtschaftswachstum ist sicherlich kein Selbstzweck, vor allem nicht für Vertreter der Sozialen Marktwirtschaft. Wenn Sie einmal Ludwig Erhard, Müller-Armack, Eucken und andere studieren, werden Sie feststellen: Der Gedanke des Umweltschutzes, der Ökologie, spielte auch dort in der Sozialen Marktwirtschaft schon eine Rolle. Ich bin einverstanden: Lassen Sie uns gemeinsam überlegen, den guten Begriff der Sozialen Marktwirtschaft — aber dann groß geschrieben und nicht klein geschrieben; manchmal machen Sie auch den Fehler, daß Sie „sozial" klein schreiben in Richtung auf eine soziale und ökologische Marktwirtschaft ausbauen.
Ich selber habe große Hoffnung — da unterstreiche ich das, was Kollege Jens gesagt hat —, daß sich möglicherweise auch die amerikanische Politik in Richtung mehr Ökologie umorientiert, und zwar nicht nur national, sondern auch international. Ich jedenfalls habe mit großem Interesse und Gewinn das Buch von Al Gore „Earth in the Balance" gelesen und habe sehr gute Ansatzpunkte gefunden. Auch Sie haben hier darauf hingewiesen, daß wir die Umweltkosten volkswirtschaftlich und auch betriebswirtschaftlich richtig kalkulieren müssen.
Was wir in Deutschland jetzt brauchen, ist sicherlich mehr Wachstum und nicht weniger Wachstum, und zwar qualitatives Wachstum, das wir in den letzten Jahren aber auch entwickelt haben.
— Nein, Herr Kollege Schily. — Schauen Sie sich das Automobil von 1993 an. Es ist doch schon wesentlich umweltfreundlicher hergestellt worden als das Auto von 1983 oder 1973. Das müssen Sie doch sehen.
Auch die Ausstattung ist wesentlich besser und ökologisch sinnvoller. Wir denken auch weiter. Wir wollen — gemeinsam denke ich — doch eine Kreislaufwirtschaft entwickeln — damit befaßt sich eine Enquete-Kommission —, so daß schon bei der Produktion des Autos von morgen überlegt wird, wie wir es übermorgen wiederverwerten.
— Na gut, Sie fahren nur Fahrrad, Herr Kollege Schwanhold; aber ab und zu sehe ich Sie allerdings sehr intensiv mit dem Auto durch die Gegend sausen.
— Das mag durchaus sein. Das ist ganz einfach.
Wir brauchen Wachstumsschübe aus Basisinnovationen, aus der Mikroelektronik wie aus der Biotechnologie und neuen Werkstoffen. Wir sind — das unterstreiche ich — im Bereich der Umweltschutztechnologie sicherlich ganz innovativ. Wir Deutsche sind auf diesem Gebiet sehr gut im internationalen Markt. Ich habe den Katalysator erwähnt, da sind wir mit führend. Wir werden die Wachstumsquelle Umweltschutztechnologie, umweltfreundliche Produkte auf dem nationalen Markt und den internationalen Märkten natürlich weiter ausbauen können.
Allerdings sage ich Ihnen auch eines — da müssen wir uns bei Bund, Ländern und Gemeinden, aber auch über die Parteigrenzen hinweg einig sein —: Wir dürfen manche Technologien nicht mutwillig abbremsen und ausbremsen oder die Genehmigungsverfahren so kompliziert machen, daß in der Tat erst mit zehnjähriger Verspätung auch ökologisch positive Effekte eintreten.
— Sehr geehrter Herr Schily, auch Ihr undeutliches Reden macht es mir außerordentlich schwer, Ihre sicherlich angebrachten Ilemerkungen zur Kenntnis zu nehmen.
Ich gebe zu, die derzeitigen Indikatoren der Wirtschaftslage zeigen Wachstumsschwäche an. Ich denke, wir müssen keinen tiefen Einbruch erleben. Die Konstitution, die Kondition der deutschen Wirtschaft, vor allem der westdeutschen Wirtschaft, ist recht gut. Wir müssen die richtigen Weichen stellen. Ich würde nicht so weit gehen, so sehr ich mir Zinssenkungen durch die Bundesbank wünsche, Herr Kollege Jens, die ganzen Probleme des Arbeitsmarktes jetzt der Bundesbank zuzuschieben. Ich glaube, dies wäre falsch.
Herr Abgeordneter Ost, würden Sie bereit sein, eine Zwischenfrage des Abgeordneten Schily zu beantworten?
Metadaten/Kopzeile:
11754 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 135. Sitzung. Bonn, Freitag, den 22. Januar 1993
Nein, ich wollte ihm erst noch etwas erzählen, und danach können wir uns vielleicht unterhalten.
— Schließlich ist es auch ganz gut — und der Respekt gebietet das auch —, daß wir uns gegenseitig zuhören. Ich bin für nette Zwischenbemerkungen, aber nicht für irgendwelches Gemurmel.
Wir sollten die Weichen in der Finanzpolitik durch einen Solidarpakt stellen, meinetwegen nennen Sie es eine Konzertierte Aktion; es kann auch auf anderem oder höherem Niveau als zu Karl Schillers Zeiten sein. Wir sollten die Weichen auch in der Tarifpolitik stellen. Die Tarifpartner sind hier aufgerufen. Damit machen wir es auch der Bundesbank leichter, von dem hohen Niveau der Leitzinsen herunterzukommen. Die Marktzinsen sind — das wissen Sie auch, lieber Herr Kollege Jens — schon kräftig heruntergegangen.
Nur in einer wachsenden Volkswirtschaft — auch das müssen wir uns deutlich machen — werden sich umweltschutzpolitische Ziele am besten erreichen lassen. Wo kein Wachstum ist, wird es keinen technologischen und auch keinen umweltschutztechnologischen Fortschritt in diesem Maße geben. Oder wir machen alles platt, aber dann sind die ökologischen Probleme — wir sehen dies in den neuen Bundesländern sehr deutlich — nicht geregelt.
— Nein, Nein, das ist so, lieber Herr Kollege Schily.
Wir brauchen neue Arbeitsplätze. Wenn wir es mittelfristig betrachten, brauchen wir in Deutschland 5 Millionen neue Arbeitsplätze, um wieder eine angemessene Vollbeschäftigung zu erreichen.
Wir sollten uns vor Augen führen, was dies an Investitionen bedeutet: etwa 100 000 DM pro Arbeitsplatz, und dies ist vielleicht sogar zu gering gerechnet. Dies wären schon 500 Milliarden DM an Investitionen. Die müssen erarbeitet werden, die fallen nicht vom Himmel, und die kommen auch nicht dadurch zustande, daß wir hier irgendwelche Gesetze anpassen. Wir sollten uns wieder darauf besinnen, die Ziele des Wachstums- und Stabilitätsgesetzes sehr ernst zu verfolgen.
Wir sollten in der Tat nicht zu viele zusätzliche Ziele hinzufügen, sonst kommt man sozusagen in ein Dikkicht von Zielen, in dem man sich dann gar nicht mehr zurechtfindet und gar nicht mehr die richtigen und wichtigsten Ziele findet.
Ich selber habe gelesen, daß Sie der marktwirtschaftlichen Ordnung nach wie vor sehr stark mißtrauen. Dies sollten Sie aufgeben. Ich habe Sie immer für einen Marktwirtschaftler gehalten; aber vielleicht haben Sie den Antrag nicht ganz allein geschrieben, und dann müssen ja Kompromisse geschlossen werden. Sie sollten mit uns gemeinsam wirklich zur Revitalisierung der Sozialen Marktwirtschaft mit — da gebe ich Ihnen recht — einem starken Akzent oder sogar mehr als einem Akzent in Richtung Ökologie beitragen. Mehr Marktwirtschaft und mehr Umweltschutz sollten wir gemeinsam anstreben.
Vielen herzlichen Dank.
Ich erteile nunmehr dem Abgeordneten Bernd Heim das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Nach der Rede des Kollegen Ost, in der er sich meines Erachtens als erster Umweltschützer der CDU profiliert hat, kann Herr Töpfer eigentlich nur froh sein, daß die Kabinettsumbildung schon vorbei ist und er keine Angst um seinen Sessel haben muß.
Kolleginnen und Kollegen, für den Antrag der sozialdemokratischen Fraktion, das Stabilitäts- und Wachstumsgesetz zu novellieren, gibt es auch aus unserer Sicht plausible Gründe. Das gilt sowohl für die Erweiterung des Zielkatalogs wie für die Forderung nach ökologischen Zielwerten, der Erweiterung der Berichtspflicht, der Forderung nach besserer Koordinierung der wirtschaftspolitischen Maßnahmen von Bund, Ländern und Gemeinden und nach Schaffung einer Konjunkturausgleichsrücklage. Das alles sind sinnvolle und nützliche Forderungen für einen ordnungspolitischen Rahmen, innerhalb dessen Wirtschaftspolitik stattzufinden hätte. Ich möchte daran erinnern, daß auch DIE GRÜNEN in der letzten Wahlperiode auf Drucksache 11/7607 einen kompletten Gesetzentwurf zu diesem Thema eingebracht haben. Auch wir werden im Rahmen eines noch einzubringenden Gesetzentwurfs zur sozialen Grundsicherung ähnliche Forderungen verarbeiten. Ich glaube allerdings, daß niemand im Saal wirklich ernsthaft erwartet, daß die Regierung und die sie tragenden Fraktionen sich auf solche Novellierungsvorstellungen einlassen werden,
— ja —, während sie in der aktuellen Praxis das direkte Gegenteil tun.Die Forderung nach einer gleichmäßigen Einkommens- und Vermögensverteilung ist berechtigt, sie gehört in einen Zielkatalog, insbesondere nach zehn Jahren Umverteilung von unten nach oben. Aber das sogenannte föderale Konsolidierungsprogramm, das uns jetzt seit zwei Tagen auf dem Tisch liegt, will noch mehr Verteilungsungerechtigkeit, als wir ohnehin schon haben.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 135. Sitzung. Bonn, Freitag, den 22. Januar 1993 11755
Bernd HennDie Erhaltung und Verbesserung der natürlichen Lebensgrundlagen gehört in den Zielkatalog, aber die Regierung schreibt in das sogenannte Solidarpaktangebot weniger Umweltschutz hinein. Deshalb frage ich mich, ob es sinnvoll ist, zum jetzigen Zeitpunkt einen Antrag einzubringen, der einen so komplexen ordnungspolitischen Rahmen beschreibt, von dem man zwar sagen kann, daß er inhaltlich in die richtige Richtung zielt, der aber in diesem Hause mit Sicherheit abgeschmettert wird — das geht anderen Anträgen auch so — und wegen seiner komplexen Struktur den Bürgern im Lande nicht unmittelbar aufzeigen keim, wie sich ihre aktuellen Sorgen dadurch auflösen ließen.Richtig ist, wir brauchen eine andere Wirtschafts-, Finanz- und Sozialpolitik. Wir brauchen auf Vollbeschäftigung orientierte Wirtschaftspolitik, die zugleich auch notwendige ökologische Zielvorstellungen realisiert. Dafür gibt aber auch das geltende Stabilitäts- und Wachstumsgesetz schon einiges her, denn es verpflichtet Bund und Länder schon jetzt auf eine Politik, die zumindest auch einen hohen Beschäftigungsstand herbeizuführen hat, und davon kann nun absolut keine Rede sein.Nun hat die Bundesregierung auf dem Hintergrund des bestehenden Gesetzes meines Erachtens drei Möglichkeiten, die aktuelle Lage zu erklären. Erstens: mit der Unmöglichkeit, die vier in § 1 des Stabilitätsgesetzes genannten Ziele auch nur annähernd in Übereinstimmung bringen zu können, weil das in einer Marktwirtschaft prinzipiell unmöglich erscheint. Dann wäre allerdings die logische Konsequenz: Verabschiedung von der Vorstellung eines sozial temperierten Kapitalismus, mithin Verabschiedung von diesem Gesetz.Zweitens kann sie der Auffassung sein, daß das geltende Gesetz unzureichend ist. Dann wäre die Alternative, sich auf eine Novellierung einzulassen, möglicherweise mit anderen Inhalten.Drittens kann man die grundsätzliche Möglichkeit, mit dem geltenden gesetzlichen Rahmen die wirtschaftspolitischen Ziele zu erreichen, bejahen. Dann allerdings müßte das Eingeständnis folgen, daß die Bundesregierung selbst versagt hat. Allerdings würde — das will ich auch sagen — dieses Versagen auch für Vorgängerinnen dieser Bundesregierung gelten, bis tief in die sozialdemokratische Ära hinein. Denn wann hatten wir in den letzten 25 Jahren einmal außenwirtschaftliches Gleichgewicht? Von stetigem und angemessenem Wachstum kann man ja angesichts zweier tiefer Wirtschaftskrisen — 1974/75 und 1981/82—und der Krise, in der wir jetzt stecken, wirklich nicht sprechen.Preisstabilität, deren Durchsetzung institutionelle Aufgabe der Bundesbank ist, die sich zeitweise einen Dreck darum geschert hat, wie ihre Politik auf andere Stabilitätsziele wirkt, hatten wir trotz des harten Kurses der Frankfurter Währungshüter in vielen Jahren dennoch nicht.Ein hoher Beschäftigungsgrad — wie immer man diesen auch definieren will — ist spätestens seit 1975 ein Fremdwort. Denn die Massenarbeitslosigkeit lag seitdem immer in der Höhe von ungefähr einerMillion, seit 1982 sogar an der Zwei-MillionenGrenze.Mit anderen Worten: Das Stabilitäts- und Wachstumsgesetz war spätestens seit Mitte der 70er Jahre Makulatur, sieht man einmal davon ab, daß Jahreswirtschaftsbericht, Subventionsbericht, der mittelfristige Finanzplan und der Finanzplanungs- und Konjunkturrat als Institutionen überlebt haben.Meine Meinung ist, daß die jetzige Bundesregierung den Kern des Gesetzes überhaupt nicht braucht. Denn im Gegensatz zu der Forderung nach Erweiterung der wirtschaftspolitischen Ziele und Instrumente hat sie den § 1 des Gesetzes längst aufgeschnürt und einen zentralen Punkt für den sozialen Ausgleich im Kapitalismus, die Durchsetzung eines hohen Beschäftigungsstandes, seit langem aufgegeben.Allerdings habe ich die Sorge, daß auch die Sozialdemokratie im Begriff ist, die Forderung nach Vollbeschäftigung fallenzulassen bzw. dieses Ziel umzudefinieren.
— Zumindest ist die Formulierung in Ihrem Antrag mißdeutig, wenn es zur Kritik des Bruttosozialprodukts als Indikator für gesellschaftliche Wohlfahrt — eine Kritik, die ich selbstverständlich teile — heißt: „Unentgeltlich geleistete Arbeit im Haushalt, in der Freizeit oder ehrenamtliche Arbeit werden ebensowenig erfaßt wie der individuelle Gewinn an Freizeit durch die zunehmende Verkürzung der bezahlten Arbeitszeit". Das erinnert mich an Lafontaine und den Nürnberger Parteitag. Ich hoffe, wir gehen noch gemeinsam davon aus, daß das Recht auf Arbeit in unserer Gesellschaft auch ein Recht auf Erwerbsarbeit bleiben muß, ein Recht auf Sicherung des Lebensunterhalts kraft eigener Leistung und nicht durch private oder staatliche Alimentation.Ich habe eingangs bezweifelt, oh der heutige Antrag Sinn macht, und will das näher erläutern. Sosehr die einzelnen Ziele zu begrüßen sind: Dieser Antrag für eine Gesetzesnovelle ist meines Erachtens leider nicht kampagnenfähig. Ich würde mich gern revidieren, wenn es Ihnen gelänge, mit dem, was Sie heute vorgelegt haben, Druck auf die Bonner Politik auszuüben. Es würde mich freuen, wenn die Wirtschaftspolitik davon angestoßen würde. Ich fürchte, das wird leider nicht so sein.Aber da wir nichts dringlicher brauchen als eine kräftige Kurskorrektur von Wirtschafts-, Finanz- und Sozialpolitik, muß mehr Druck von Betroffenen im Lande ausgehen. Dieser kann meines Erachtens nur von unmittelbar nachvollziehbaren Politikvorschlägen erzeugt werden. Ich denke, da ist der Hinweis von dem Kollegen Jens heute und auch von Wolfgang Roth in dem von Stratmann, Hickel und Priebe herausgegebenen Buch „Wachstum — Abschied von einem Dogma" auf die ökonomische Rentabilität von Umweltschutzmaßnahmen wichtig. Wenn es richtig ist, daß mit 1 Milliarde DM wirksam eingesetzter Umweltschutzgelder 2,5 Milliarden DM Umweltschäden vermieden werden können, dann müssen sich auch die aufgeschlossenen und innovativen Unternehmen finden lassen, bei denen Unternehmer undBernd HennArbeitnehmer ihr Interesse in die Waagschale werfen, um Politik auf einen besseren Weg zu helfen.Konkret hieße das, viele Projekte zu popularisieren, die einerseits Arbeit schaffen und bei denen andererseits dieser sinnvolle Zusammenhang von Ökologie und Ökonomie deutlich wird. Wir haben in der letzten Woche über die ökologische Sicherheit auf den Weltmeeren diskutiert. Inzwischen sind wieder zwei Tanker zusammengestoßen. Wenn dieses Problem tatsächlich so konsequent angepackt würde, wie es das Europäische Parlament jetzt fordert, dann könnte z. B. die Erzwingung eines höheren Sicherheitsstandards für Tanker auch mit marktwirtschaftlichen Mitteln zu viel Arbeit auf europäischen Werften führen, mit allen Auswirkungen auf Zulieferer wie Stahl usw.Oder denken wir an das Thema Energievermeidung. Wieso läßt sich eigentlich das Interesse des Bauausbaugewerbes und seiner Unternehmer und Arbeitnehmer nicht gegen die bayerische Ziegelindustrie mobilisieren, die, wie man hört, sich gegen eine sinnvolle Wärmeschutzverordnung querlegt?
— Ich kann die personellen Hintergründe leider nicht nachvollziehen. Aber wenn Sie das sagen, glaube ich Ihnen das. Ich meine also, daß man hier wirklich auch andere mit mobilisieren muß, in diesem Fall das Bauausbaugewerbe, das natürlich an einer solchen Regelung Interesse haben müßte. Ich denke, es gibt viele Ideen und Initiativen in dieser Richtung. Sie müßten meines Erachtens aber eine größere Rolle spielen.Ein ganzes Bündel von konkreten Vorschlägen für eine alternative Wirtschaftspolitik wäre sinnvoller als der heute vorliegende Antrag, der sicher abgeschmettert wird und dem dann leider viel zu wenige nachweinen werden. Wir brauchen also etwas Konkreteres — wie 1977 das Zukunftsinvestitionsprogramm — als alternativen Politikentwurf. Das, was heute von Ihnen vorgelegt worden ist, sollte wieder auf die Tagesordnung kommen, wenn die politischen Mehrheitsverhältnisse in diesem Land wieder in Ordnung gebracht worden sind.
Schönen Dank fürs Zuhören.
Herr Abgeordneter, zunächst einmal wird der Antrag an die Ausschüsse überwiesen. Das sei nur am Rande vermerkt.
Das Wort hat nunmehr die Abgeordnete Frau Marita Sehn.
Verehrter Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Mit großer Aufmerksamkeit habe ich den vorliegenden SPD-Antrag zur Anpassung des Gesetzes zur Förderung der Stabilität und des Wachstums der Wirtschaft an die neuen ökologischen, sozialen und wirtschaftlichen Anforderungen am letzten Wochenende studiert. Vor noch nicht einmal zwei Stunden hat ein Kollege Ihrer Fraktion — jetzt zitiere ich wörtlich — „die dramatische Situation der Gesamtwirtschaft" beklagt. Deshalb kann ich nicht glauben, daß Sie die hier aufgestellten Forderungen der gesamtwirtschaftlichen Situation in der Bundesrepublik Deutschland noch für angemessen erachten. Wir wollen Ihnen aber zugute halten, daß diese Drucksache vom 13. November 1991 datiert ist.Ich empfehle wirklich jedem Mitglied dieses Hauses, dieses Papier doch einmal in aller Ruhe zu lesen. Zwei Stunden debattieren wir heute über einen Antrag, der so angelegt ist, als ob wir in einer Zeit lebten, in der alle gravierenden wirtschaftlichen Probleme gelöst sind und wir noch eins draufsetzen könnten.
Die deutsche Einheit und die daraus resultierenden gesamtwirtschaftlichen Folgen vor dem Hintergrund eines weltweit zu beobachtenden Konjunkturrückgangs scheinen manchen Mitgliedern dieses Parlaments, vor allem wenn ich auf die linke Seite blicke, noch immer nicht bewußt zu sein.
Das Gesetz Herr Schily, vielleicht hören Sie mir einmal zu —, daß Sie, meine Damen und Herren, zu novellieren beabsichtigen und das der Bundesrat mit der Stimmenmehrheit der SPD-regierten Länder unterstützt, stammt aus dem Jahre 1967 und ist von einem Wirtschaftsminister unterschrieben, dessen Kompetenz — darin sind wir uns bestimmt einig — nicht in Frage zu stellen ist. Deshalb wundert es mich um so mehr, daß Sie diesen Antrag zum jetzigen Zeitpunkt stellen. Immerhin hat selbst der Bundesrat einen Antrag beschlossen, der gegenüber dem ursprünglichen Entschließungsantrag des Landes Nordrhein-Westfalen deutlich eingeschränkt ist.Das im Gesetz zur Förderung der Stabilität und des Wachstums der Wirtschaft verankerte magische Viereck — Stabilität des Preisniveaus, hoher Beschäftigungsstand, außenwirtschaftliches Gleichgewicht bei stetigem und, Herr Müller, angemessenem Wirtschaftswachstum — ist — hier werden Sie mir sicherlich zustimmen — ein sehr hochgestecktes Ziel. Aus der Erfahrung wissen wir, daß es nicht gelingt, die vier genannten Ziele gleichzeitig zu erfüllen, zumal die Tarifpolitik nicht unberücksichtigt bleiben darf.Die Geometrie des magischen Vierecks war und ist schwierig. Die Lehren der 70er Jahre — Herr Jens, meine Nachforschungen haben zu einem anderen Ergebnis geführt als Ihre —, die sowohl Inflation als auch Arbeitslosigkeit und erlahmendes Wachstum brachten, haben gezeigt, daß die angestrebte Globalsteuerung in allen ihren Zielsetzungen versagt. Oder sind die Worte des früheren Bundeskanzlers Helmut
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 135. Sitzung. Bonn, Freitag, den 22. Januar 1993 11757
Marita SehnSchmidt „Lieber 5 % Inflation als 5 % Arbeitslosigkeit" schon vergessen?
Mit der Erweiterung des Zielkatalogs des Stabilitäts- und Wachstumsgesetzes, wie in diesem Antrag gefordert, besteht die Gefahr, daß die Ausgewogenheit in den Wechselwirkungen der vier Einzelkomponenten des magischen Vierecks noch stärker zu Fall gebracht wird.Meine Damen und Herren, ich frage mich, ob das magische Viereck des Stabilitäts- und Wachstumsgesetzes wirklich um das Ziel „Erhaltung und Verbesserung der natürlichen Lebensgrundlagen" erweitert werden muß.Der Umweltschutz nimmt in der Bundesrepublik Deutschland zu Recht einen hohen politischen Rang ein.
Alle konjunkturpolitischen Maßnahmen unterliegen ohnehin bereits den geltenden Umweltnormen. Die Aufnahme des Umweltzieles in das Stabilitäts- und Wachstumsgesetz macht einfach keinen Sinn.Dies wurde im übrigen auch von Ihrer Parteifreundin, der nordrhein-westfälischen Ministerin Frau Ilse Brusis, in ihrer im Bundesrat am 29. November 1991 zu Protokoll gegebenen Rede richtig erkannt. Scheinbar hat der Bundesrat dem Antrag keine sonderlich große Beachtung geschenkt.Ohnehin strebt die Bundesregierung noch in dieser Legislaturperiode die Verankerung des Umweltschutzes als Staatsziel im Grundgesetz an. I-tier erwarten wir Ihre Unterstützung.Damit wird endlich eine Forderung realisiert, die die Liberalen als erste Partei bereits 1971 in den Freiburger Thesen aufgestellt haben.
Ebenso inakzeptabel ist der Verzicht auf die Verpflichtung der Wirtschaftspolitik, sich im Rahmen der marktwirtschaftlichen Ordnung zu bewegen.Wachstum ist das Ergebnis eines spontanen Koordinierungsprozesses auf einer Vielzahl von Einzelmärkten. Entscheidend sind die Bedingungen, die das einzelne Wirtschaftssubjekt in die Lage versetzen, so viel mehr zu leisten, wie es kann und will.Es ist Aufgabe des Staates, den erforderlichen Ordnungsrahmen durch Gebote und Verbote, durch Steuern und durch komplementäre Leistungen zu schaffen. Diese Vorgaben sind nötig und sinnvoll; denn sie bestimmen, wieviel Wachstum sich einstellen kann.
Auch von der Ausweitung der Berichterstattung über die Wirtschaftspolitik hat die nordrhein-westfälische Landesregierung im Bundesrat bereits wieder Abstand genommen. Gleiches gilt für Brandenburg.Meine Damen und Herren, ich denke, wir verfügen über eine gut ausgebaute Berichterstattung über die Wirtschaftslage, ihre künftigen Perspektiven und die Auswirkungen der Wirtschaftspolitik. Dennoch lassen Sie mich sagen: Quantität steht nicht für Qualität. Mehr Information muß nicht zwangsläufig zu einer besseren Beurteilungsgrundlage führen. Die Berichterstattung über die Auswirkungen der Wirtschafts- und Finanzpolitik auf alle Ziele der Wirtschaftspolitik wollen Sie in Ihrem Antrag ausbauen.Die Bundesregierung soll jährlich ein umfassendes Gesamtbild der ökonomischen, ökologischen, verbraucherpolitischen und sozialen Lage abgeben. Darunter verstehen Sie die Erstellung folgender Berichte:Erstens: eines Jahreswirtschaftsberichts. Hier verweise ich auf das BMWi und den Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung.Zweitens: eines Folgekostenberichts. Hier verfügen wir zur Zeit noch nicht über eine ausreichende statistische Basis, und ich warne davor, Erwartungen bzw. Wunschvorstellungen gesetzlich einzufordern, die derzeit einfach noch nicht erfüllt werden können.Drittens: eines Umweltberichts. Hier verweise ich auf das BMU und den Sachverständigenrat für Umweltfragen.Viertens: eines Arbeitsmarktberichts. Hier verweise ich u. a. auf die Bundesanstalt für Arbeit, die die aktuellen Daten sogar monatlich liefert.Fünftens: eines Verteilungsberichts. Vor dem Hintergrund der gegenwärtigen wirtschaftlichen Lage in West- und Ostdeutschland paßt der Gedanke eines Verteilungsberichts besonders gut.Nachdem wir Politiker in den letzten Jahren — aus welchen Gründen auch immer — unsere Bürger dazu verleitet haben, all die Wohltaten des Sozialstaates in Anspruch zu nehmen,
geht es nunmehr darum, auf ein realistisches und machbares Niveau zurückzufahren. In diese Landschaft paßt ein Verteilungsbericht ganz und gar nicht.
Hier kann nur gelten, daß Leistung, sprich: Arbeit sich wieder lohnen muß und nicht umgekehrt. Aus diesen Gründen lehnt die F.D.P. einen solchen Bericht ab.
Weiterhin fordern Sie einen Struktur- und einen Subventionsbericht.Ich frage Sie in aller Offenheit: Haben Sie wirklich die Zeit, weitere Berichte neben den bereits vorhan-
Metadaten/Kopzeile:
11758 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 135. Sitzung. Bonn, Freitag, den 22. Januar 1993
Marita Sehndenen zu lesen? Oder haben Sie vielleicht Sorge, daßdie Mitarbeiter in den Ministerien ohne Arbeit sind?Hier verweise ich erneut auf das Protokoll der Sitzung des Bundesrates vom 29. November 1991, in der Ihre Kollegin, Frau Brusis, zu Protokoll gab — ich zitiere wörtlich —:Andererseits ist aber auch die Sorge verständlich, Politik und Verwaltung könnten in einem Übermaß an Berichten ersticken. Hier wird man einen Mittelweg finden müssen. Von einer Ausweitung der Berichterstattung soll die Beschlußfassung über den vorliegenden Antrag nicht abhängig gemacht werden. Die Landesregierung Nordrhein-Westfalen ist deshalb damit einverstanden, wenn der Bundesrat jetzt keine neuen Berichte für die Wirtschaftspolitik fordert.Ihre Forderung nach einer gemeinsamen Konjunkturausgleichsrücklage dürfte in der gegenwärtigen Situation wohl nicht ganz ernst gemeint sein.Liebe Kolleginnen und Kollegen der SPD, ich schlage vor, daß Sie sich künftig mit Ihren in der Regierungsverantwortung stehenden Parteikollegen in Nordrhein-Westfalen, in Rheinland-Pfalz usw. über das Wesentliche und Machbare abstimmen. Dann gelingt es uns ganz bestimmt, gemeinsam das zu tun, was unser aller Aufgabe ist, uns für das Wohl des Volkes einzusetzen und die parteipolitischen Auseinandersetzungen in der Sache zu führen.
Ihre Vorschläge zur Stärkung des Konjunkturrates können wir bei gutem Willen durch einfache Absprache einvernehmlich ohne Gesetzesänderung verwirklichen.Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir werden uns im Ausschuß mit diesem Antrag weiter auseinandersetzen und feststellen, daß wir leider oder Gott sei Dank nicht in einer Traumwelt leben, sondern sehr schnell in der Diskussion auf den Boden der Tatsachen zurückkommen.Vielleicht stellen wir dann gemeinsam fest, wo und wie die wirklichen Probleme angegangen werden müssen.Vielen Dank.
Das Wort hat nun der Abgeordnete Werner Schulz.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Beiträge der Koalition haben gezeigt: Sie haben die Zeichen der Zeit wirklich nicht erkannt. Wir leben — auch wenn Sie Fritjof Capra zitieren, Herr Ost — nicht in einer Wendezeit. Diese Wendezeit haben Sie, glaube ich, zehn Jahre lang gehabt.Sie haben es geschafft, diese Gesellschaft zu wenden, daß jetzt nur noch ein Drittel oben steht, daß wir tatsächlich eine pervertierte Zweidrittelgesellschaft haben. Wir erleben doch die Vermögensentwicklung. Das hat Professor Jens, glaube ich, sehr deutlich gezeigt. Die Vermögensentwicklung weist das ganz deutlich nach: 57 % der privaten Haushalte in der Bundesrepublik haben mehr als die zwei Drittel der anderen zusammen.
— Ich habe jetzt keine Lust, darüber im Detail mit Ihnen zu diskutieren.
— Das könnte ich auch. Aber es ist schade um meine Zeit. Vielleicht ist es auch schade um Ihre Zeit.Wenn Sie wirklich Capra gelesen hätten, dann wüßten Sie: Wir leben in einer Zeitenwende. Vielleicht müssen wir in dieser Bundesrepublik noch ein Stück darauf warten, weil die Regierung Kohl diese Probleme aussitzt — zwar in einem fliegenden Wechsel, aber auch das sind wir gewohnt.Wir führen heute eine Debatte über einen Antrag der SPD-Fraktion, der eine zeitgemäße Überarbeitung des Stabilitäts- und Wachstumsgesetzes zum Ziel hat. Dies ist in mehrerer Hinsicht bemerkenswert.Bevor man sich mit der Novellierung dieses Gesetzes beschäftigt, sollte man vielleicht ein Wort über die bisherige Praxis sagen. Da ist festzustellen, daß die Regierung Kohl dieses Gesetz in wesentlichen Teilen seit langem ignoriert.Um die Verwirklichung zweier Ziele dieses Gesetzes hat sich die Bundesregierung nie geschert. Statt ein außenwirtschaftliches Gleichgewicht, also eine ausgeglichene Leistungsbilanz anzustreben, betrieb sie, solange dies möglich war, eine Politik der Maximierung von Exportüberschüssen, eine Politik des außenwirtschaftlichen Ungleichgewichts.Statt ein hohes Beschäftigungsniveau anzustreben, betrachtet sie offenbar eine Arbeitslosigkeit von etwa zwei Millionen im Westen — in der Schizophrenie der Bundesregierung wird das ja aufgeteilt: 2,1 Millionen West und 1,1 Millionen Ost — als Normalfall.
Wenn es mehr zu werden drohen, frisiert sie die Statistik und eilt der tatsächlichen Situation in der Darstellung hinterher.Wenn wir also das Stabilitäts- und Wachstumsgesetz novellieren wollen, sollten wir als erstes Sanktionsmöglichkeiten für den Fall der Nichtbeachtung einführen. Was sollen sonst die Bürger — namentlich in den neuen Bundesländern — von einem Rechtsstaat halten, in dem sich alle an die Gesetze halten müssen, nur nicht die Kapitalanleger und die Bundesregierung?Der SPD-Antrag geht auf einen Gesetzentwurf zurück, den in der vergangenen Legislaturperiode vor der deutschen Einheit die Fraktion der GRÜNEN in den Bundestag eingebracht hat. Es hat einen gewissen
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 135. Sitzung. Bonn, Freitag, den 22. Januar 1993 11759
Werner Schulz
Symbolwert, daß die SPD ihren auch nicht mehr ganz neuen Antrag gerade jetzt aus der Schublade zieht;
gerade jetzt, wo BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN mit ihrem Zusammenschluß für alle sichtbar die Grundlage für ihren Wiedereinzug in den Bundestag gelegt haben.Ein zentraler Bestandteil des Gesetzentwurfs der GRÜNEN war die Kritik des Wachstumsziels. Die zerstörerische Wirkung ungehemmten Wirtschaftswachstums wird zwar auch in sozialdemokratischen Kreisen mitunter eingeräumt, doch haben Sie in Ihrem Antrag der Vorlage der GRÜNEN diesen Zahn gezogen. Das macht die Kopie nicht eben besser als das Original.Es geht mir nicht darum, Wirtschaftswachstum unter allen Umständen zu verhindern. Im Osten ist es ja dringend erforderlich.
Aber wir wissen doch alle auch, daß das Wachstum des Sozialprodukts häufig nichts über Wohlfahrtsgewinne, aber viel über Umweltzerstörung aussagt.Es muß daher gelingen, wirtschaftlichen Zuwachs ohne zusätzlichen Umweltverbrauch zu realisieren und einen Begriff der Wirtschaftsleistung zu entwikkeln, der die ökologischen Kosten einbezieht und dem gesellschaftlichen Nutzen des Wirtschaftens näher kommt, eben das Ökosozialprodukt.Es ist aus unserer Sicht unabdingbar, das Stabilitäts- und Wachstumsgesetz zu verbessern, namentlich die Erhaltung der Umwelt und die Bekämpfung der Armut in den Zielkatalog aufzunehmen, die Politikberatung wie auch die Abstimmung der Gebietskörperschaften untereinander zu verbessern. Aber was würde ein so verbessertes Gesetz in den Händen dieser Koalition nützen?
Das hieße nicht etwa Eulen nach Athen tragen, es hieße leider — verzeihen Sie den Ausdruck —, Perlen vor die — — Na, Sie wissen schon.Mit dieser Regierung wird das Programm einer ökologischen und sozialverträglichen Wirtschaftspolitik nicht zu verwirklichen sein. Es mag Sie verunsichern, wenn Ihnen jetzt auch aus den USA entgegenschallt, daß eine Politik auf Kosten der Armen, der sozial Schwachen und der Umweltschutz zerstörerisch und ohne jegliche Perspektive ist. Aber dieser Regierung fehlen der Esprit, die Einsicht und die Kraft, das Ruder herumzureißen. Dabei wären gerade jetzt die Rahmenbedingungen deutlich verbessert, auch auf der internationalen Ebene ökologischem Denken im wirtschaftlichen Handeln zum Durchbruch zu verhelfen.Kein Land der Erde, auch nicht größere und stärkere als die Bundesrepublik, kann eine wirklich nachhaltige Ökologisierung seiner Wirtschaft im Alleingang verwirklichen. Deshalb ist es ja von so entscheidender Bedeutung, die Europäische Gemeinschaft auf dieses Ziel zu verpflichten und möglichst schnell über Maastricht hinauszukommen.Deshalb muß bei der nächsten Verhandlungsrunde im GATT die ökologische Regulierung des Welthandels ganz oben auf der Agenda stehen.
Und wenn Europa der Regierung Clinton, die dafür ja aufgeschlossen zu sein scheint, den Rücken stärkt, kann dies auch zum Erfolg führen.Erst im Zusammenwirken von einzelstaatlichem Vorangehen und internationalen Verbesserungen läßt sich eine umweltgerechte Umgestaltung der Weltwirtschaft und damit auch der europäischen und deutschen Wirtschaft realisieren. In einem solchen Kontext macht auch eine ökologische Novellierung des Stabilitäts- und Wachstumsgesetzes erst wirklich Sinn.Meine Damen und Herren, das Programm einer ökologischen Strukturpolitik, das überfällig ist und das dringend auf den Weg gebracht werden muß, ist in diesem Lande nur in einer Zusammenarbeit von Sozialdemokraten und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN zu verwirklichen. Die amtierende Bundesregierung tut alles, um einer solchen Konstellation bei den nächsten Wahlen zum Durchbruch zu verhelfen. Der Verfall der Koalition und der sie tragenden Parteien ist für jedermann in diesem Lande offensichtlich. Tun wir das Unsrige, um die einzig produktive und vorwärtsgewandte Alternative zur Regierung Kinkel/Kohl auf die Beine zu stellen.In diesem Sinne wünsche ich dem vorliegenden Antrag eine konstruktive Beratung in den Ausschüssen.
Nunmehr erteile ich dem Abgeordneten Ernst Hinsken das Wort.
Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Zunächst eine Bemerkung zu einem meiner Vorredner. Lieber Kollege Professor Jens, ich glaube, auch heute gilt es festzustellen, daß es unseren Bundesbürgern noch nie so gut gegangen ist wie zur Zeit.
In den letzten zehn Jahren sind die Einkommen der einzelnen Familienhaushalte real um über 63 % gestiegen, während die Inflationsrate nur bei 25,7 % liegt. Man soll nicht alles niedermachen, man soll nicht alles schlechtmachen, sondern man soll auch einmal bereit sein anzuerkennen, was sich an Positivem bei uns in der Bundesrepublik Deutschland, insbesondere seit Übernahme der Regierung durch Helmut Kohl, entwickelt hat und vorzeigen läßt.
Meine Damen und Herren, in der Themenreihe „Zur Sache — Themen parlamentarischer Beratungen" schreibt zum Titel „Ökologie und Wachstum" der ehemalige Vorsitzende unseres Wirtschaftsausschusses Dr. Unland:
Metadaten/Kopzeile:
11760 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 135. Sitzung. Bonn, Freitag, den 22. Januar 1993
Ernst HinskenWoran mißt man den Wohlstand oder das Wohlbefinden eines Landes? In der öffentlichen Diskussion wird meist das vom Statistischen Bundesamt mit Hilfe der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung ermittelte Bruttosozialprodukt verwendet. Aufgabe der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung in der Bundesrepublik ist es, ein quantitatives Gesamtbild des Wirtschaftsablaufs zu geben. Ob allerdings ein so ermitteltes Wachstum den echten Wohlfahrtsgewinn korrekt wiedergibt, wird mit Recht bezweifelt, da z. B. qualitative Aspekte nur insofern Eingang in die Berechnung des Sozialprodukts finden, als sie im Marktpreis der gehandelten Güter und Dienstleistungen berücksichtigt werden. Somit entstehen Kosten und auch Nutzen, die im Sozialprodukt nicht ausgewiesen werden.Und so weiter, usf. Ich empfehle jedem der anwesenden Kollegen, dieses Buch „Zur Sache" einmal genau zu lesen.Wir haben gerade auch im Wirtschaftsausschuß im Jahre 1989 zu dieser Themenstellung ein Hearing durchgeführt. Ich nehme schon mit Verwunderung zur Kenntnis, daß sich jetzt in dem Antrag der SPD zwei damals eingebrachte Anträge der GRÜNEN in gewisser Hinsicht wiederfinden. Man hat anscheinend nichts hinzugelernt, sondern dieses wieder aufgegriffen.
Ich möchte es mir ersparen, näher darauf einzugehen oder eine Wertung vorzunehmen.
Heute setzen wir uns nun mit einem Antrag von Ihnen, der SPD-Fraktion, auseinander, den Sie am 13. November 1991 eingebracht haben. Interessant ist in diesem Zusammenhang aber die Feststellung, daß sich nicht einmal die SPD-geführten Länder im Bundesrat — jetzt bitte ich Sie, genau aufzupassen — mit dem vorgelegten Entwurf einverstanden erklären können. Er geht nämlich weit über das von den SPD-geführten Ländern im Bundesrat mehrheitlich Beschlossene hinaus.Ich bin überzeugt, daß unsere Vorstellungen realitätsnäher als dieser Ihr SPD-Vorschlag sind. Ich stelle deshalb fest, daß die Bundesregierung wiederholt zu Recht dargelegt hat, sie strebe in dieser Legislaturperiode die Verankerung des Umweltschutzes als Staatsziel im Grundgesetz an.
Hierin soll zum einen der hohe politische Rang des Umweltschutzes als Solidarauftrag an die Politik zum Ausdruck kommen. Zum anderen entspricht eine solche generelle Regelung der Tatsache, daß Umweltpolitik ein breites Spektrum von Sachpolitiken betrifft.Beide Anforderungen würden einer Aufnahme des Umweltziels in das Stabilitäts- und Wachstumsgesetz nicht gerecht. Im übrigen haben alle konjunkturpolitischen Maßnahmen, die im Rahmen dieses Gesetzes ergriffen werden, von jeher ohnehin die geltendenUmweltnormen zu erfüllen. Ich meine deshalb, daß das Stabilitäts- und Wachstumsgesetz nicht geeignet ist, dem im Antrag des Bundesrates und der SPD-Fraktion formulierten Umweltziel verstärkt Ausdruck zu verleihen.
Bei ihren wirtschaftspolitischen Maßnahmen berücksichtigen die Bundesregierung und die sie fragenden Parteien, also auch meine Fraktion, schon bisher das Umweltziel wie auch die anderen zusätzlich formulierten Ziele. Zudem muß immer wieder ins Gedächtnis gerufen werden, daß die besagten Ziele am besten bei stetigem und angemessenem Wachstum erreicht werden.Im Hinblick z. B. auf das Umweltziel bedeutet angemessenes Wirtschaftswachstum zugleich auch ökologisch verträgliches Wachstum. Wir, meine Freunde und ich, meinen, die für eine Anpassung an eine neue umweltpolitische Rahmenbedingung erforderliche Umstrukturierung der Wirtschaft und Verhaltensveränderungen der Verbraucher lassen sich in einer wachsenden Wirtschaft, die sich dem Strukturwandel stellt, ihren Produktionsapparat mit entsprechenden Investitionen bestätigt, ihn modernisiert und neue, umweltschonende Produkte hervorbringt, sowie mit einer Wirtschafts- und Finanzpolitik, die umweltbedingte Belastungen durch Entlastungen an anderer Stelle ausgleicht, am ehesten erreichen.Meine Damen und Herren, bei einer Erweiterung des Zielkatalogs des Stabilitäts- und Wachstumsgesetzes wäre auch das grundsätzliche Problem zu beachten, daß die Bedeutung eines jeden Einzelziels mit der Gesamtzahl der Ziele sinkt. Schon die mit dem magischen Viereck gemachten Erfahrungen unterstreichen diesen Aspekt. Kollege Ost hat vorhin in seiner Rede bereits umfangreich auf diese Themenstellung hingewiesen. Ich meine, das magische Viereck der Wirtschaftspolitik würde zu einem imaginären Ziel. Aus dem Stabilitäts- und Wachstumsgesetz würde eine Mischung aus Konjunktur- und Strukturgesetz, das wegen innerer Widersprüche inoperatibel für die praktische Wirtschaftspolitik würde.
Im übrigen verstärkt jedwede Erweiterung des Zielkatalogs des Stabilitäts- und Wachstumsgesetzes das Risiko, daß antizyklisch gedachte Maßnahmen infolge einer wesentlich längeren Konservierungsphase prozyklisch wirken.
— Das ist nicht falsch, Herr Kollege Schwanhold. Ich bitte Sie, das einmal genau vertiefend zu überlegen und nachzulesen. In dem von mir erwähnten Band „Zur Sache" steht viel; aus dem ist das überwiegend entnommen.
Für uns ist auch völlig inakzeptabel, daß nach den Anträgen die Verpflichtung der Wirtschaftspolitik, sich im Rahmen der marktwirtschaftlichen Ordnung zu bewegen, wegfallen soll. Dies ist doch eine bedenkliche ordnungspolitische Schieflage, in der Sie
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 135. Sitzung. Bonn, Freitag, den 22. Januar 1993 11761
Ernst Hinskensich, meine lieben Kollegen von der SPD, als Antragsteller befinden, und widerspricht auch allen Erfahrungen.
Gerade erst jetzt wieder wird doch die Erkenntnis belegt, daß vorzeigbare ökonomische, soziale und umweltpolitische Leistungen nur im und nur durch den Wettbewerb, also im Rahmen der marktwirtschaftlichen Ordnung zu erzielen sind. Das interessiert Sie offensichtlich in keinster Art und Weise.Die Umsetzung konkret vorgegebener ökologischer Zielwerte erfordert ein umfassendes Instrumentenbündel. Eine verbindliche Festlegung ökologischer Zielwert kann nach unserer Meinung nicht mehr bedeuten als die Mahnung, Wirtschaftspolitik und ihre konjunkturpolitischen Instrumente umweltfreundlich zu gestalten. Dabei ist immer an das finanziell Machbare zu denken.Der Antrag, der uns vorliegt, sollte eigentlich überschrieben werden mit dem Titel: Berichte, Berichte, Berichte. Werden doch neben dem Jahreswirtschaftsbericht und dem Subventionsbericht als Bestandteil einer Gesamtbilanz jährlich zusätzlich ein Folgekostenbericht, ein Umweltbericht, ein Arbeitsmarktbericht, ein Verteilungsbericht und ein Strukturbericht gefordert.
— Liebe Kollegin Fuchs, zum Berichteschreiben sind Sie gut, aber das ist zuwenig. Sie müssen akzeptable Vorstellungen entwickeln, die Sie uns an die Hand geben können, und dann sind wir zu guter Letzt gerne bereit, diese auch überzubringen.
Ich meine nämlich, daß das, wenn es umgesetzt werden würde, zu einer Berichtsbürokratie führen würde, und die wollen wir nicht; denn uns ist klar: Herausforderungen kann man mit einer Flut von Berichten einfach nicht beikommen.
Was die Darlegung der ökologischen Folgekosten der Wirtschaft anbelangt, will ich nicht bestreiten, daß das umweltstatistische Informationssystem verbessert werden muß, um diese vermehrt erfassen zu können. Ich begrüße deshalb ausdrücklich die diesbezüglichen Bemühungen des Statistischen Bundesamtes.Von einer umfassenden Bewertung der ökologischen Folgekosten sind wir jedoch noch weit entfernt. Es sollten keine Erwartungen und Wunschvorstellungen gesetzlich eingefordert werden, die wegen ungenügender statistischer Basis und wissenschaftlicher Erkennungsgrenzen derzeit nicht erfüllt werden können.Wir werden sowieso demnächst durch die Stellungnahme des Beirates „Umweltökonomische Gesamtrechnungen" nähere Aufschlüsse darüber erhalten, was in absehbarer Zeit möglich ist. Das ist ein entsprechendes Vorhaben des Statistischen Bundesamtes.
Ich meine darüber hinaus, daß sich die Vorschläge zur Stärkung des Konjunkturrates bei gutem Willen aller Beteiligten einvernehmlich auch ohne Gesetzesänderung verwirklichen lassen, z. B. durch einfache Absprache oder Briefwechsel.Im übrigen ist es jetzt schon grundsätzlich möglich, Experten z. B. aus dem Bereich von Umweltschutz oder Arbeitsverwaltung zu den Sitzungen des Konjunkturrates einzuladen. Allerdings warne ich vor einer zu starken Ausweitung des Teilnehmerkreises, weil darunter die Formulierung praktischer Wirtschaftspolitik zu schwerfällig werden würde.Das Postulat, die Ausgabentätigkeit von Bund, Ländern und Gemeinden mittelfristig zu verstetigen, ist grundsätzlich positiv zu bewerten, wenn das mit Ausgabendisziplin verbunden ist. Keinesfalls darf es je zu einer Verstetigung expansiver Ausgabenpolitik kommen.Da aber Ihr Antrag, meine Kollegen von der SPD, die Ausgabenverstetigung mit der Forderung verbindet, die Bundesbankgewinne — Herr Kollege Professor Jens, Sie haben vorhin noch einmal darauf verwiesen — in eine Konjunkturausgleichsrücklage bei der Bundesbank einzubringen, aus der auch Länder und Gemeinden für strukturpolitische Zwecke Mittel erhalten würden, dürfte der eigentliche Zweck dieses Vorschlages darin bestehen, ein Vehikel zu erhalten,
mit dessen Hilfe finanzschwache SPD-Länder aus den Bundesbankgewinnen Finanzhilfen erhalten.
Einer expansiven Ausgabenverstetigung würde durch den Zugriff auf den Bundesbankgewinn geradezu Vorschub geleistet.Im übrigen ist darauf zu verweisen, daß weitere Forderungen im Hinblick auf eine Verstetigung der Ausgabentätigkeit der Länder und Gemeinden als Fragen der Finanzverfassungen im Zusammenhang mit einem Novellierungsbegehren zum Stabilitäts- und Wirtschaftsgesetz artfremd sind.
— Artfremd. Ich kann mir vorstellen, Herr Schily, daß Sie das Wort ungern zur Kenntnis nehmen. Aber ich schaue gern im Duden nach und übermittle Ihnen eine genaue Zerlegung dieses Wortes, damit Sie es kapieren.
Hier ist zu bemerken, daß das richtige Diskussionsforum die Verfassungsreformkommission gemäß unserem Einigungsvertrag wäre.Meine Damen und Herren, vorhin wurde der amerikanische Präsident, der vor zwei Tagen in Amt und Würden trat, zitiert. Ich erlaube mir, zum Abschluß
Metadaten/Kopzeile:
11762 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 135. Sitzung. Bonn, Freitag, den 22. Januar 1993
Ernst Hinskenmeiner Rede Abraham Lincoln, den 16. Präsidenten der USA, zu zitieren,
— weil er einfach recht hat —:
Ihr werdet die Schwachen nicht stärken, indem ihr die Starken schwächt. Ihr werdet denen, die ihren Lebensunterhalt verdienen müssen, nicht helfen, indem ihr diejenigen ruiniert, die sie bezahlen. Ihr werdet keine Brüderlichkeit schaffen, indem ihr Klassenkampf und Klassenhaß schürt. Ihr werdet den Armen nicht helfen, indem ihr die Reichen ausmerzt. Ihr werdet mit Sicherheit in Schwierigkeiten kommen, wenn ihr mehr ausgebt, als ihr verdient. Ihr werdet kein Interesse an öffentlichen Angelegenheiten und keinen Enthusiasmus wecken, wenn ihr dem einzelnen seine Initiative und seine Freiheiten nehmt. Ihr könnt den Menschen nie auf Dauer helfen, wenn ihr für sie tut, was sie selber für sich tun sollten und könnten.Soweit Lincoln.Ich möchte hinzufügen: Überzogene Bürokratie macht die Wirtschaft und einen Staat kaputt.
Ökologie und Wachstum müssen im Einklang stehen.Ich glaube, daß dem im großen und ganzen gesehen nichts hinzuzufügen ist. Auch bei der Beratung dieses Antrages sowie aller wirtschaftlichen, sozialen, aber auch ökologischen Fragen sollte das, was Lincoln gesagt hat — auch wenn es schon 130 Jahre alt ist — immer wieder Eingang finden. Wir haben die Möglichkeit und Gelegenheit, in weiteren Beratungen des Wirtschaftsausschusses näher darauf einzugehen.Ich darf mich für die Aufmerksamkeit herzlich bedanken.
Nunmehr erteile ich dem Abgeordneten Ernst Schwanhold das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Sie brauchen keine Angst zu haben, ich habe weder Lincoln noch irgend jemand anders in der Zettelkiste. Völlig unabhängig davon, ob es paßt oder nicht, wenn es nun gerade zuoberst gefunden wird, muß das Zitat auch gebraucht werden.Wir beraten heute den Antrag zur Änderung des Gesetzes über Stabilität und Wachstum. Ich will Ihnen den restlichen Text des Titels ersparen. Wir sind der festen Überzeugung, daß es dringend notwendig ist, dieses Gesetz an die veränderte Situation anzupassen. Ich komme zu einem späteren Zeitpunkt, Frau Sehn, aber auch Herr Ost und Herr Hinsken, auf Ihren Ansatz von Ökologie noch einmal zurück, der sich immer als ein nachbereitender Ansatz ökologischen Vorgehens darstellt und dabei eigentlich nur Reparatur oder end of the pipe meint und nicht eine ökologische Umstrukturierung dieser Industriegesellschaft wirklich ins Auge faßt.Ich will mich auseinandersetzen mit den als Zielen definierten Aufgaben dieses Gesetzes und ihrer Einhaltung durch die jetzige Bundesregierung und die vorherigen Bundesregierungen seit 1982.Die vier Ziele des Stabilitätsgesetzes sind nämlich Stabilität des Preisniveaus, hoher Beschäftigungsstand, stetiges und angemessenes Wirtschaftswachstum sowie außenwirtschaftliches Gleichgewicht. Wenn ich das einmal kritisch überprüfe, so ist in den vergangenen zehn Jahren, zumal in den letzten zweieinhalb keines dieser Ziele erreicht worden. Wir waren von allen diesen Zielen noch nie so weit entfernt wie zur Zeit.
Der eigentliche Auftrag dieses Gesetzes, den Sie aber verschweigen, lautet auch, aktive Wirtschaftspolitik zu betreiben. Mindestens die tiefe Rezession, in die wir jetzt hineinschlittern — Herr Ost, wir sind uns darin einig, daß die Zahlen, die bisher vorliegen, nur einen Teil der Wahrheit wiedergeben —, ist Beleg dafür, daß weder Instrumente noch Auftrag des Stabilitäts- und Wachstumsgesetzes von Ihnen in hinreichendem Maße angewendet und verfolgt worden sind.Ich will bei den Ursachen dafür nicht jenen Anteil verschweigen, den die von Ihnen hausgemachten Fehler bei der deutschen Einheit, die falschen Umtauschkurse und die Konzeptionslosigkeit bis zum heutigen Tag ausmachen.
Ich will auch nicht verschweigen, daß die 40jährige kommunistische Planwirtschaft ein völlig marodes Erbe hinterlassen hat. Auch dieses gehört dazu, aber man darf die Fehler bis in die heutigen Tage hinein dabei ebenfalls nicht vergessen.
Der Antrag zum Stabilitäts- und Wachstumsgesetz gibt uns den Auftrag, etwas grundsätzlicher darüber nachzudenken, wie die Wirtschaft in den nächsten Jahren aussehen kann, wohin die Wirtschaft steuert. Dabei ist der entscheidende Ansatzpunkt, daß wir mindestens vier Ziele zur Zeit nicht mehr zueinander bringen können — diese nicht einmal mehr verfolgen —, daß wir keine Verzahnung dieser Ziele erreichen. Das ist eigentlich der Ansatz: die Verzahnung dieser Ziele.Dazu gehört zunächst einmal, daß wir nach meiner Einschätzung völlig zu Recht eine Standortdebatte in der Bundesrepublik haben. Diese ist nicht auf soziale Wohltaten oder andere Dinge zurückzuführen — die von Ihnen immer wieder angeführt werden —, sondern insbesondere auf drei Elemente, und zwar erstens auf die mangelnde demokratische Akzeptanz unseres Wirtschaftsstandortes.Die Ursache dafür ist, daß für die Menschen, für die Bevölkerung nicht einsichtig ist, welche qualitativen, welche strukturellen Veränderungen wir in wirtschaftlichen Fragen anstreben, wohin die Wirtschaft steuert, wann endlich der Umweltschutz integrierter Teil bei der Entwicklung, Planung und Vorausschau
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 135. Sitzung. Bonn, Freitag, den 22. Januar 1993 11763
Ernst Schwanholdvon Wirtschaft wird. Ökodesign am Anfang von Produkten ist das Schlagwort dazu. Wir müssen der Wirtschaft für die nächsten Jahre verläßliche Rahmendaten geben, damit ein „sustainable development", eine nachhaltige Entwicklung wirklich vorangetrieben werden kann. Insofern gibt es die Debatte um den Standort völlig zu Recht.Zweitens. Der eigentliche stabile Faktor bisher — ich befürchte, Sie sind gerade dabei, auch diesen noch zu zerstören — für den Standort Bundesrepublik Deutschland ist der soziale Friede. Das, was Sie jetzt vorgelegt haben, geht nachhaltig an die Grundfesten des sozialen Friedens.
Der dritte Faktor, von dem ich glaube, daß er wesentlich zur Berechtigung der Standortdebatte beiträgt, ist, daß wir längst dabei sind, durch aufgepfropften Umweltschutz am Ende eines Produktionsprozesses die erwirtschafteten Gewinne wieder aufzufressen. Daraus resultiert übrigens auch, daß wir seit längerer Zeit sozial nichts mehr zu verteilen haben, weil alles aufgefressen wird. Dabei ist das kein Umweltschutz, sondern eigentlich nur die Überführung eines Schadstoffaustrages von einem Medium in das andere. Das hat nichts mit nachhaltiger Entwicklung zu tun.Deshalb ist unser Auftrag — darüber sind sich übrigens auch die Fachpolitiker über alle Fraktionen hinweg einig; Sie müßten nur einmal die Diskussion mit Ihren Kolleginnen und Kollegen suchen —,
dafür zu sorgen, daß wir erstens Stoffflüsse minimieren und daß wir zweitens den Schadstoffaustrag minimieren, und zwar am Anfang der Produktion und auch durch das Produkt, welches zunehmend zum Problem wird.Sie tun so, Herr Hinsken — ich will ausdrücklich noch einmal auf Sie und auch auf Frau Sehn zu sprechen kommen —, als ob wir im Bereich des Umweltschutzes wirklich etwas erreicht hätten, weil wir den Ausstieg bei den FCKW ins Auge gefaßt haben. Dabei wissen wir überhaupt noch nicht, welche Konsequenzen die längere Verweildauer des FCKW in den Kühlanlagen und dessen Freisetzung am Ende dieses Prozesses mit sich bringen.Wir steigen heute in eine Ersatzstoffproduktion ein, völlig undiskutiert und ohne politische Vorgabe, entschieden von Anwendern und Herstellern und mit hohen Risiken mit Blick auf die Klimakatastrophe, nämlich mit einem Faktor 3 000 jenes Ersatzstoffes R 134 a, verglichen zum CO2, und mit den gleichen Auswirkungen auf das Klima. Das hat nichts mit nachhaltiger Entwicklung zu tun, sondern ist die Irreleitung der Industrie in eine Ersatztechnologie, von der wir heute schon wissen, daß wir den Ausstieg für übermorgen organisieren müssen. Es wäre besser, darüber nachzudenken, wie wir diese Zwischenstufe verhindern können, um gleich zu einer nachhaltigen Entwicklung zu kommen.
Dieses Ziel des Zusammenbindens und des Diskussionsprozesses zwischen unterschiedlichen Fachpolitiken, die nebeneinander agieren, müßte sich auch im Stabilitäts- und Wachstumsgesetz wiederfinden.
Ich freue mich eigentlich auf die Diskussionen. Sie haben ja Ansätze dazu gemacht, wie wir nachhaltige Entwicklung für die Zukunft definieren.Ich bin der festen Überzeugung, daß wir heute schon darüber nachdenken müssen, wie Stoffströme insgesamt minimiert werden können und wie wir jenen Ländern, die an der Schwelle zur Industrialisierung stehen oder die einen berechtigten Anspruch an uns formulieren, auch industrialisiert zu werden, die Möglichkeit eröffnen können, diesen Weg zu gehen. Wir europäischen Industrienationen verbrauchen heute den größten Teil der Ressourcen. Wir schädigen die Umwelt weit mehr als alle Entwicklungsländer und die Mehrheit der Menschen zusammen. Stellen Sie sich einmal vor, diese Schwellenländer würden nur an 10 % unseres Industrialisierungsgrades heranreichen: Es gäbe von einem auf den anderen Tag den vollständigen Zusammenbruch unseres Ökosystems.
Also können wir doch nicht auf Dauer so weitermachen und in Sonntagsreden sagen, die Schwellenländer und die Länder der Dritten Welt sollen Chancen bekommen, während wir in Wahrheit eine Verhinderungspolitik betreiben, weil wir bei uns selber den Stoffstrom und den Energiestrom, der dazugehört, nicht mindestens um den Faktor 10 reduzieren. Ansonsten ist eine ökologisch verträgliche Entwicklung jener Länder gar nicht möglich. Das ist längst zur Überlebensfrage geworden.Wenn wir dieses Instrumentarium nicht anwenden, um zu einer kurzfristig, mittelfristig und langfristig abgestimmten Politik in diesen von mir skizzierten Bereichen zu kommen, dann vertun wir heute diese Chance, die wir dringend für die Zukunft nötig haben.
Meine Damen und Herren, der nächste Redner ist unser Kollege Rainer Haungs.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Dem SPD-Antrag über die neuen Herausforderungen merkt man an einigen Stellen an, daß er nicht mehr ganz so taufrisch ist. Er ist immerhin vor eineinhalb Jahren der Presse vorgestellt worden. Richtig ist allerdings, daß nach über 25 Jahren das Gesetz zur Förderung von Stabilität und Wachstum auf den Prüfstand gehört.Es kann und muß heute die Frage gestellt werden, ob dieses Gesetz hilfreich ist, unsere Schwierigkeiten im vereinten Deutschland zu beheben; denn dieses Gesetz — darüber herrscht Übereinstimmung — war
Metadaten/Kopzeile:
11764 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 135. Sitzung. Bonn, Freitag, den 22. Januar 1993
Rainer Haungsein typisches Beispiel des wirtschaftlichen Denkens jener Zeit: Der Einfluß des Staates wurde überschätzt — ich hoffe, daß die Opposition in dieser Richtung in der Zwischenzeit dazugelernt hat —, man glaubte, durch kreditfinanzierte Nachfrage jede Wachstumsschwäche zu beheben, und man hat hinterher gemerkt, daß dies nicht geht.Allerdings geht der Ansatz der SPD in der vorliegenden Form in die falsche Richtung. Wie schon meine Vorredner gesagt haben — da muß nichts wiederholt werden —: Die anspruchsvollen Ziele dieses Gesetzes — Preisstabilität, Beschäftigung, außenwirtschaftliches Gleichgewicht und angemessenes Wachstum — wurden selten erreicht, weder von der vorhergehenden Regierung noch von der jetzigen.
Dieses magische Viereck ist nicht zu erreichen. Das kann man zwar schön ins Gesetz schreiben, aber es ist eine Leerformel und würde, wenn Sie es auch noch erweitern, wie von der Opposition vorgetragen, völlig unpraktikabel werden.
Es geht nicht darum, das Umweltziel zu vernachlässigen. Ich stimme mit vielen überein — das wurde von meinen Vorrednern auch betont —, daß wir bei den Produktionsmethoden, aber auch bei den Umweltprodukten eine Herausforderung haben und daß dies durchaus — Herr Professor Jens, ich stimme Ihnen zu— ein Wachstumsfeld der Zukunft ist. Produkte, die weltweit für die Umwelt geeignet sind, können in den nächsten Jahren und Jahrzehnten als Exportschlager— damit wir zumindest beim außenwirtschaftlichen Gleichgewicht wieder etwas zulegen — der Bundesrepublik Deutschland dienen.Aber wir müssen in einer wirtschaftlichen Debatte hinzufügen, daß es auch viele Unternehmen gibt — Chemie und andere —, die wegen der hohen Umweltstandards andere Standorte als die Bundesrepublik Deutschland sehen. Deshalb muß unsere politische Forderung sein, daß dies nur europaweit durchgesetzt werden kann. Gerne können wir der Vorreiter sein, aber Alleingänge, etwa nach dem Spruch „Am deutschen Wesen soll die Welt genesen", sind ökonomisch völlig unsinnig und dienen auch nicht dazu, unsere Probleme hier zu lösen.
Nun hat der Kollege Schwanhold vorhin von einem Fehlen demokratischer Akzeptanz in bezug auf den Wirtschaftsstandort Deutschland gesprochen. Wir machen uns um den Wirtschaftsstandort Deutschland große Sorgen. Nur, eine Anhörung der CDU/CSU-Fraktion hat gezeigt, daß es bei nüchternem Abwägen derjenigen, die weltweit Investitionen vornehmen, neben den zugegebenermaßen guten Bedingungen in der Bundesrepublik — ich wende mich immer dagegen, sie herabzuwürdigen — eben einige Faktoren gibt, die Sie so gut keimen wie wir — hohe Personalkosten, hohe Energiekosten, hohe Umweltstandards, kurze Arbeitszeit —, die dazu führen, daß in den letzten Jahren erheblich mehr Unternehmen an anderen Standorten investiert haben und die Bundesrepublik Deutschland aus anderen als den von Ihnen genannten Gründen kein begehrter Industriestandort ist. Dies macht uns im Hinblick auf die Arbeitsplätze zu schaffen.
— Ich versuche ja, es zu erklären.Ich komme zur prinzipiellen Kritik an dem Antrag. Er ist, wie ich schon sagte, veraltet. Die Verfasser akzeptieren nicht, daß wir heute zu einer ganz anderen Bewertung des Wachstums gelangen. Sie schätzen das Wachstum geringer ein als wir. Dies erscheint mir Anfang 1993 absolut ungeeignet, um unsere Probleme im vereinten Deutschland zu lösen.
Wir alle wissen, daß Wachstum kein Selbstzweck ist; da brauchen wir keinen Nachhilfeunterricht. Wir alle wissen, daß die statistischen Zahlen Mängel aufweisen, daß ökologische Gesichtspunkte auch statistisch erfaßt werden müssen, daß eine strenge Umweltgesetzgebung notwendig ist und daß umweltverträgliche Arbeits- und Produktionsbedingungen— aber nicht, indem man entsprechende Regelungen gesetzlich fixiert, sondern indem man andere Maßnahmen ergreift — von uns eingeführt werden müssen.
Aber alle Wirtschaftspolitiker — vor allem die Wirtschaftspolitiker in den neuen Bundesländern, aber auch die Wirtschaftspolitiker bei uns — machen sich doch derzeit Gedanken und zerbrechen sich den Kopf, wie wir mit wettbewerbsfähigen Produkten und Dienstleistungen neue Arbeitsplätze in Deutschland schaffen können, und zwar nicht einige hunderttausend, sondern -- meine Vorredner haben es gesagt — Millionen. Wenn Sie mir sagen könnten, wie Sie dies ohne Wachstum schaffen wollen, dann würden Sie wahrscheinlich wieder einmal den Nobelpreis bekommen.
— Lesen Sie doch einmal Ihren Antrag! Sie haben ihn nicht gelesen, aber es ist entschuldbar; denn Sie brauchen ihn auch nicht zu lesen. Es steht nichts Neues drin.
— Ich habe ihn sehr wohl gelesen.Jeder Ökonom weiß, daß sich im Abschwung oder in der Rezession, in der wir uns heute befinden, die wirtschaftlichen und sozialen Probleme multiplizieren. Um es positiv zu formulieren — auch das haben meine Vorredner schon angesprochen —: Eine wachsende Wirtschaft entlastet das Sozialbudget, ermöglicht schärfere Umweltbedingungen, verbessert die Einkommensverteilung und modernisiert die Produktionspalette.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 135. Sitzung. Bonn, Freitag, den 22. Januar 1993 11765
Rainer HaungsIch will nur einen Satz zur Einkommensverteilung sagen, weil die Statistik hier eben auch in die Irre führt. Wenn man das Einkommen aus Zinsen und das Einkommen aus Unternehmertätigkeit zusammenfaßt und sagt, daß der Lohnanteil auf der einen Seite sinkt, während der Anteil der Erträge aus Unternehmertätigkeit auf der anderen Seite steigt, dann zeigt dies, da die meisten Haushalte Arbeitnehmerhaushalte sind, die aúch Vermögen besitzen, das sie rentierlich anlegen, doch nur, daß die Kombination aus Vermögenserträgen und Unternehmererträgen statistisch nicht weiterführt. Auch hier müßte man etwas ändern, um die richtigen und nicht, wie Sie es oft tun, die falschen Schlußfolgerungen zu ziehen.Es wurde darauf hingewiesen, daß in Ihrem Antrag so schön steht, Bund, Länder und Gemeinden sollten ihre Ausgaben verstetigen. Im Gegenteil, meine Damen und Herren, sie sollen sie zurückführen. Sie sollen sie nicht verstetigen, sondern sie sollen ihre Quote zurückführen.
— Weil sie ihre Verschuldung zurückführen sollen. Wir wollen in den Ländern doch keine Zunahme der Verschuldung von 5 oder 6 % haben, während wir uns im Bund bemühen, die Zunahme auf 2,5 oder 3 % zu begrenzen. Wir wollen doch umschichten. Das wissen Sie doch ganz genau. Das Problem ist also keineswegs die Verstetigung, sondern das Problem ist die Rückführung und auch die Reduzierung der Staatsquote. Wir haben bei den staatlichen Aufgaben im Zusammenhang mit der Wiedervereinigung eine Zwischenphase erreicht, aber dies kann nicht die Zukunft sein.
Herr Kollege Haungs, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Schwanhold?
Bitte schön.
Bitte, Kollege Schwanhold.
Herr Kollege Haungs, würden Sie bitte zur Kenntnis nehmen, was in dem Abschnitt unseres Antrages steht, der unsere Aussagen zum Thema Wachstum beinhaltet? In Ziff. II.1 heißt es nämlich:
Die Maßnahmen sind so zu treffen, daß sie zur Stabilität des Preisniveaus, zu einem hohen Beschäftigungsstand und außenwirtschaftlichem Gleichgewicht bei ökologisch verträglichem Wirtschaftswachstum ebenso beitragen wie zu den folgenden zusätzlichen Zielen: Erhaltung und Verbesserung der natürlichen Lebensgrundlagen, Erleichterung des wirtschaftlichen Strukturwandels , Abbau des regionalen Wirtschaftsgefälles, gleichmäßigere Einkommens- und Vermögensverteilung, vorsorgender Verbraucherschutz.
Das ist ein ausdrückliches Bekenntnis dazu.
Ich höre Ihnen gerne zu, aber ich habe es vorher tatsächlich schon mehrmals gelesen. Ich versuche, Ihnen im Rahmen meiner Ausführungen darauf zu antworten.
Die Kritik lautet: Wenn Sie den bisher fast nicht erreichbaren vier Zielen noch einmal vier, fünf oder sechs Ziele hinzufügen und gleichzeitig einige Nebenbedingungen daran knüpfen, dann werden Sie am Ende zwar eine hervorragende Formulierung finden, aber Sie werden — lassen Sie sich das von jemandem sagen, der über praktische Erfahrungen in der Unternehmertätigkeit verfügt — in bezug auf Wachstum und Arbeitsplätze nichts, aber auch gar nichts verbessern, weil dies eine absolute Leerformel ist. Die Ziele sind löblich; da gebe ich Ihnen recht.
— Ja, natürlich. Lieber Herr Kollege Schily, wenn Sie zugehört hätten,
dann hätten Sie gemerkt, daß ich am Anfang gesagt habe, daß das Gesetz zur Förderung des Wachstums und der Stabilität überprüft werden muß, weil die dort festgelegten Ziele zum Teil Leerformeln sind und zum Teil nicht erreicht werden können. Wenn Sie das Gesetz mit anderen hehren Zielen — mit teilweise richtigen, teilweise falschen Zielen — befrachten, dann werden Sie auch nicht weiterkommen.Lassen Sie mich zu dieser fortgeschrittenen Stunde noch den Versuch wagen, in den mir verbleibenden restlichen fünf Minuten meiner Redezeit noch einige kritische Punkte vorzutragen.Ich frage mich: Worin bestehen jetzt, wie Sie sagen, „die neuen ökologischen, sozialen und wirtschaftlichen Anforderungen"? Meine Antwort ist: Die neue ökologische Herausforderung besteht darin, daß wir vor allem in den neuen Bundesländern die ruinierte Landschaft sanieren müssen. Hier müssen wir sanieren, während wir bei uns im Westen gleichzeitig eine vorausschauende Umweltpolitik betreiben müssen.Das heißt, daß wir die sozialen Herausforderungen nicht darin sehen, daß wir dem schon ordentlichen Standard im Westen noch mehr soziale Leistungen hinzufügen, sondern daß wir eine sozial im Umbruch befindliche Gesellschaft in den neuen Bundesländern mit den Mitteln unterstützen, die wir haben, und das tun wir ja im Haushalt.Die wirtschaftliche Herausforderung bedeutet, daß wir gemeinsam die Rezession bei uns bekämpfen und den wirtschaftlichen Aufschwung in den neuen Bundesländern fördern. Dort gibt es Erfolge in Teilbereichen. Ich komme aus dem Handwerk. Das Handwerk ist äußerst erfolgreich. Es wäre jedoch noch erfolgreicher, wenn wir die Handwerksordnung etwas andern würden. Aber dort gibt es gute Beispiele dafür, wie der Umbruch — ohne Ihren Antrag — ökologisch bewältigt werden kann. Darüber hinaus gibt es auch in anderen Bereichen positive Entwicklungen. Ich sage dies nur, damit hier nicht alles grau in grau gemalt wird. Wir sollten nicht so tun, als ob sich dort nichts bewege.
Metadaten/Kopzeile:
11766 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 135. Sitzung. Bonn, Freitag, den 22. Januar 1993
Rainer HaungsEs geht meines Erachtens nicht darum, das Instrumentarium in dem geltenden Gesetz zu verfeinern, denn so viel — das wissen wir — können wir mit der Steuer- und mit der Geldpolitik überhaupt nicht erreichen. Wir haben vielmehr die Chance, in den neuen Bundesländern Neues zu schaffen und die Rezession zu überwinden, wenn wir die dynamischen Elemente in unserer Wirtschaftsordnung strukturell stärken.Das Vertrauen in die deutsche Wirtschaft hat derzeit etwas gelitten. Man weiß nicht so richtig, ob wir nur eine kleine Rezession haben oder ob wir uns tiefergehend ändern müssen. Ich glaube, wir können die deutsche Wirtschaft, die im Prinzip wettbewerbsfähig ist, im Osten wie im Westen durch eine schlankere Produktion — es fehlt die Zeit, um dies zu erklären — in ihrer inneren Verfassung stärken. Wir können sie durch die Erhöhung der Produktivität wettbewerbsfähig machen. Wir können ihre Bedingungen durch eine niedrigere Unternehmensbesteuerung — ich nenne das Stichwort „Standortsicherungsgesetz" — verbessern. Ich gebe dem Kollegen Jens recht: Die Rückführung des Zinsniveaus gehört genauso dazu wie der wahrscheinlich zu erwartende moderate Tarifabschluß.Der Staat braucht keine Industriepolitik, sondern er muß das Seine tun, um Standortbedingungen zu verbessern.
— Jetzt hören Sie doch einmal zu! Sie sind so ungeduldig und haben so wenig Ahnung.
— Ich bin doch nicht großkotzig.
— Wenn Frau Fuchs sagt, das ist eine schlechte Botschaft an die neuen Bundesländer?
Ich habe gerade angefangen, zu erklären, wie meine Vorschläge für die neuen Bundesländer sind. Denn Sie reden in Ihrem Antrag, den wir heute diskutieren — das ist der eigentliche Skandal —, über Gott und die Welt, aber nicht über die wirtschaftlichen Bedingungen in den neuen Bundesländern.
Hätten Sie doch Ihren Antrag zurückgezogen und gesagt
— ich habe jetzt keine Zeit —: Die neuen sozialen und wirtschaftlichen Herausforderungen sind die Bewältigung der Situation in den neuen Bundesländern.
Trotz der gewaltigen Anstrengungen, die wir derzeit bei der Infrastruktur durch Investitionshilfen in den neuen Bundesländern unternehmen, gibt es dort einige Dinge zu ändern. Die Industriebetriebe — sowohl die im Besitz der Treuhand als auch die privatisierten — kämpfen ums Überleben. Welcher Instrumente bedarf es, um sie beim Überlebenskampf zu unterstützen? — Sie werden bei Ihnen nicht genannt. Wir wollen etwas tun, damit die Arbeitsplätze in den neuen Bundesländern entstehen und nicht in Ungarn, in Polen oder in der früheren Tschechoslowakei
und damit die neuen Produktionsverfahren bei uns gemacht werden, so daß die Milliardensubventionen, die wir im Kern geben, nicht zur Erhaltung alter Strukturen, sondern zur Unterstützung der Industriestandorte mit einem Als-ob-Management oder mit einer Investitionspolitik dienen und nicht allein Lohnunterstützung bei Treuhandbetrieben sind. Auf diese Weise wird eine verstärkte Investitionstätigkeit unterstützt. Vom Ifo-Institut werden für dieses Jahr 17 Milliarden DM Industrieinvestitionen erwartet. Letztes Jahr war es ungefähr der gleiche Betrag.Wenn wir es schaffen, den Unternehmen ohne Branchenvorgabe den Freiraum zu geben, unternehmerisch tätig zu sein, wenn wir einen staatlichen Nachteilsausgleich dafür geben, daß die Bedingungen in den neuen Bundesländern mit denen im Westen nicht zu vergleichen sind, und wenn Sie das alles Industriepolitik nennen wollen, dürfen Sie es durchaus tun. Es darf keine Vorgabe nach Branchen geben und keine Garantien, daß keine Personalveränderungen durchgeführt werden. Wir brauchen marktkonforme Hilfen für eine begrenzte Zeit,
damit wir Wettbewerbsbedingungen erhalten, die vergleichbar sind.Ich komme zum Schluß: Der Sachverständigenrat prognostiziert zum erstenmal seit 28 Jahren kein Wachstum. In einer solchen Situation, für die er kein Wachstum prognostiziert, ist jede kritische Diskussion darüber, ob man es eher so oder so machen sollte, äußerst schwierig. Die Stagnation kam für alle Wissenschaftler und für einige Politiker unerwartet. Ich bin der Meinung, daß wir das Wachstumsgesetz anders anpassen müssen, als Sie es vorschlagen. Wir müssen uns überlegen, wie wir die Instrumente finden, um die Krise zu beheben.Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Meine Damen und Herren, ich erteile jetzt unserem Kollegen Dr. Ulrich Briefs das Wort.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 135. Sitzung. Bonn, Freitag, den 22. Januar 1993 11767
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Ökologisierung der Wirtschaftspolitik ist überfällig. Wir produzieren und konsumieren uns sonst, wenn es so weitergeht wie bisher, in die Klimakatastrophe und womöglich in die Unbewohnbarkeit des Planeten hinein.
Der vorliegende Antrag der SPD kann ein Einstieg in die notwendige Ökologisierung der Wirtschaftspolitik sein. Er ist deshalb zu begrüßen. Die anderen Ziele, die der Antrag in das Stabilitäts- und Wachstumsgesetz hineinbringen will — mehr soziale Gerechtigkeit, den Abbau des regionalen Wirtschaftsgefälles, den vorsorgenden Verbraucherschutz —, sind ebenfalls zu begrüßen. Die Erleichterung des wirtschaftlichen Strukturwandels dagegen muß insbesondere mit weiteren, duchgreifenden ökologischen Kontrollen verbunden werden. Er muß insbesondere — aber das ist nicht Gegenstand des Stabilitäts- und Wachstumsgesetzes — durch wirkliche ökologische, durch wirkliche soziale, durch wirkliche technologische und durch wirkliche wirtschaftliche Mitbestimmung der Beschäftigten und der demokratisch gewählten betrieblichen Interessenvertretungen, der Betriebs- und Personalräte, ergänzt werden.
Der von den GRÜNEN 1990 gemeinsam mit der Memo-Gruppe erarbeitete Entwurf eines Gesetzes zur Förderung der umwelt- und sozialverträglichen Entwicklung der Wirtschaft sah ausdrücklich auch vor, die gleiche Teilhabe von Frauen und Männern an der Erwerbsarbeit zu gewährleisten.
Von besonderer Bedeutung in der Zukunft wird aber die Transparentmachung und Kontrolle von High-Tech-Industrien sein, von Industrien, die Spitzentechnologien entwickeln und produzieren. Dies nicht nur deshalb, weil sie immer stärker dazu beitragen, eine an Höchstleistung orientierte und deshalb z. B. mit immer mehr giftigen Substanzen durchsetzte Produktionsweise voranzutreiben. In der High-Tech-, High-Speed-, High-Performance-Produktionsweise, in dieser Produktionsweise, die auf Spitzentechnologien beruht, die auf Höchstgeschwindigkeiten orientiert ist, die in bestimmten technischen Systemen auf zum Teil nicht mehr richtig faßbare Leistungsgrade hin orientiert ist, wird die Arbeit zudem immer knapper. Die Gefahr weiter eskalierender Arbeitslosigkeit wird noch größer, weil die notwendige Kapitalausstattung, die Kapitalintensität mit modernen Technologien geradezu rasant zunimmt. Die damit verbundene, rapide steigende Fixkostenbelastung in den Betrieben wiederum heizt die Rationalisierung an, kostet damit weitere Arbeitsplätze und führt zudem zu Konzepten wie der just-in-time-production, die die betriebliche Lagerhaltung auf die Straße verlegt. Der Verkehr, der Umweltbelaster Nummer 1 — noch vor der Industrie und der sonstigen Wirtschaft —, wird damit noch umweltzerstörender.
Die moderne Produktionsweise ist insbesondere flächenfressend. In den Niederlanden ist von 1966 bis 1991 die Nutzung von Bodenfläche für den Wohnungsbau um etwa 50 % gestiegen, die für den gewerblichen Bau aber um mehr als 130 %. Nur der durch Verkehrsbauten bedingte Flächenfraß ist noch größer gewesen. Deshalb brauchen wir z. B. eine rechtzeitige und umfassende Technologiefolgenabschätzung, der die Bundesregierung in der vorigen Legislaturperiode leider eine Beerdigung 1. Klasse hat zukommen lassen. Die Erstellung von Ökobilanzen und Produktlinienanalysen ist der Wirtschaft ergänzend als Pflicht aufzuerlegen.
Deshalb brauchen wir nicht weniger, sondern mehr Mitbestimmung und mehr Informationsrechte für Bürger und Bürgerinnen, für Bürgerinitiativen und Umweltschutzverbände. Deshalb brauchen wir auch keine Beschleunigung von Planungs- und Genehmigungsverfahren, sondern eher eine Politik der verstärkten Transparentmachung und Intervention in technologische und ökonomische Prozesse. Vielleicht brauchen wir sogar eine systematische Politik der Entschleunigung und der Verlangsamung, in der Konsequenz natürlich auch des Verzichts auf bestimmte spitzentechnologische Entwicklungen. Eine stärkere Durchdringung der staatlichen Wirtschaftspolitik mit Zielen, die ökologischer und sozialer Natur sind, wie sie der SPD-Antrag vorsieht, ist sicherlich ein Schritt in die richtige Richtung.
Nach mehr als vier Jahrzehnten fast ausnahmslos stürmischen Wachstums ist es an der Zeit, durch Vorgabe ökologischer und sozialer Ziele die Wirtschaft dorthin zu bringen, wo sie hingehört: in eine dienende und nicht in eine bestimmende Rolle.
Herr Präsident, ich danke Ihnen.
Meine Damen und Herren, vorletzter Redner in dieser Debatte ist unser Kollege Michael Müller.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Seit 25 Jahren, Herr Kollege Ost, bin ich in verschiedenen Funktionen in der Umweltbewegung tätig.
— Das werde ich Ihnen genau sagen. Ich glaube, daß Sie nicht einmal die Umweltdokumente des Hauses zur Kenntnis nehmen, die wir sogar einstimmig beschlossen haben.
— Nein, gemeinsame. Das ist ja das Problem. Sie kennen z. B. nicht einmal die Berichte der Enquete-Kommission. Ich bin immer wieder erschrocken, wie sehr wir nach außen reden und etwas ernsthaft darstellen, aber selbst die Berichte nicht gelesen haben. Sie sind ein klassisches Beispiel dafür. Ich komme darauf zurück.Ich glaube, daß der Kern dieser Debatte die Frage des Wachstums ist. Dabei geht es nicht um die Frage: Wachstum, ja oder nein?, sondern um die Gestaltung von Wachstum. Deshalb sollten wir nicht auf der etwas platten Ebene argumentieren: Der eine ist für, der andere gegen Wachstum. Wir sollten vielmehr die Probleme, die mit Wachstum und den Mechanismen, die Wachstum tragen, verbunden sind, objektiv darstellen. Darüber muß man sich auseinandersetzen.
Fast auf den Tag genau vor 25 Jahren hat Aurelio Peccei, italienischer Industrieller und Gründer des
Metadaten/Kopzeile:
11768 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 135. Sitzung. Bonn, Freitag, den 22. Januar 1993
Michael Müller
Club of Rome, gesagt: Die Menschheit befindet sich an „einer epochalen Wegscheide". — Er hat dies auf die Folgen des industriellen Wachstums bezogen. Das war sein Ausgangs- und Bezugspunkt. Er hat seine Sicht mit den Worten begründet:Wir sind Bürger einer Welt voller Unruhe, in der wir neu begreifen müssen, wohin es uns treibt und welche Wege wir gehen müssen, um unseren Nachfahren eine gute, eine menschenwürdige Welt zu hinterlassen.Das ist genau der Punkt, um den es geht. Wir müssen darüber nachdenken, ob die Form von Wachstum, die uns ohne Zweifel in den letzten Jahrzehnten auch viele Vorteile gebracht hat, in der Lage ist, die Probleme der Zukunft zu lösen. Das ist die Auseinandersetzung, nichts anderes.
Die kann man hier wirklich nicht mit oberflächlichen Formeln wegdrängen.
Wir sind hier in einer Situation, daß auf diese neuen Herausforderungen die alten Antworten nicht mehr passen. Ganz im Gegenteil: Wir haben, wie das beispielsweise die moderne Chaostheorie feststellt, mit unserer Form von Wachstum — es wäre ganz gut, wenn man, Herr Ost, vielleicht auch als Wirtschaftspolitiker zuhörte — einen selbstorganisierten kritischen Zustand der Welt erreicht, die so hochkomplex geworden ist, daß sie einer gefährlichen Störanfälligkeit unterliegt. Das ist das Ergebnis eines Wachstumsprozesses, bei dem die Vorteile ins Negative umkippen oder bei dem — wie Peccei das sagt — Aufstieg und Fall eng nebeneinander liegen.Wir sind heute in einer Situation, daß auf einer endlichen — zunehmend wieder ungleichen — Welt die Fortsetzung der heutigen Form des Wachstums eine Gleichung mit urkalkulierbaren Faktoren ist.Wir sind, anders als in früheren Phasen der menschlichen Zivilisation, in einer Gesellschaftsordnung, die von einer unglaublichen Dynamik aus Arbeitsteilung, Veränderung, Wachstum und Beschleunigung geprägt ist. Diese Art der Dynamik steht zunehmend im Widerspruch zu den gleichbleibenden Zyklen der Natur. Die Evolution ist in sich weitgehend gebunden, während der Mensch die Prozesse unglaublich beschleunigt. Daraus ergibt sich eine Schere, die immer weniger zusammenkommt. Genau dieser Widerspruch zwischen Wachstum und Bewahren schlägt nun auch auf die Gesellschaften selbst zurück.Wenn Sie Al Gore gelesen hätten, dann hätten Sie begriffen, daß das sein strategischer Ansatzpunkt ist. — Ich stelle fest, Sie hören noch immer nicht zu; insofern wird es auch nichts nützen zu versuchen, Ihnen das beizubringen.
Nun kommen wir zu den konkreten Folgen für die Gesellschaft. Ich will Ihnen das an konkreten ökologischen Punkten deutlich machen.Der bekannte amerikanische Wissenschaftler William A. Crosby hat beispielsweise die Energienachfrage pro Kopf in der Menschheitsgeschichte von der Antike bis heute verglichen. Er stellt fest, daß etwa bis 1400 die spezifische Energienachfrage gleichgeblieben ist. Dann begann der Kolonialismus: Die Energienachfrage stieg leicht an. Seit dem Industriezeitalter explodiert sie.Die Energiefrage ist eine Schlüsselfrage im Verhältnis von Ökonomie und Ökologie. Die Energienachfrage hat sich allein in diesem Jahrhundert um den Faktor 15 — ich wiederhole: Faktor 15 — erhöht. Entsprechend sind natürlich auch die Auswirkungen auf die Natur.Ich will Ihnen andere Beispiele nennen, weil Sie meinen, es sei alles besser geworden. Die Stoffstromeffizienzanalyse des Wissenschaftszentrums Berlin weist nach, daß wir in der Zwischenzeit Materie und Stoffe in einem Umfang bewegen, der allen geologischen Bewegungen entspricht. Er ist eine gefährliche Größe geworden.Oder: Durch unsere Nutzung der Natur verbrauchen wir in der Zwischenzeit 40 % der an Land erzeugten Photosynthese. Rechnen Sie das hoch: Sie haben in 30 Jahren vielleicht 80 %; das nähert sich kritischen Grenzen.Ein weiteres Beispiel: Ben Clark, einer der führenden Umwelt-Wissenschaftler der Harvard-Universität, hat die wichtigsten fünf globalen ökologischen Systeme untersucht: Chemie und Dynamik der Atmosphäre, globaler Wasserhaushalt, Artenvielfalt, Böden sowie die biochemischen Grundelemente. Bei einer Analyse der letzten 300 Jahre kommt er zu dem Ergebnis, daß mindestens 50 % der Verschlechterungen auf die letzten 30 Jahre entfallen. Wir müssen solche Fakten einfach einmal zur Kenntnis nehmen.
— Entschuldigung, das sind beispielsweise Dokumente des Erdgipfels in Rio; es ist eine unglaubliche und wirklich ärgerliche Form von Ignoranz, wenn man sie nicht einmal liest.
Man kann zu anderen Schlußfolgerungen kommen — das finde ich in Ordnung —, aber wir brauchen uns nicht zu wundern, daß Politik nicht mehr ernst genommen wird, wenn sie die Fakten so negiert. Darüber kann ich mich wirklich aufregen.
— Auch Sie, Frau Sehn, wissen es besser, z. B. aus den Dokumenten der Enquete-Kommission. Sie sitzen dort völlig nutzlos rum, wenn Sie dies hier nicht weitergeben.
Ich will Ihnen einen weiteren Punkt nennen: Heute gibt es auf der Welt 460 Millionen Fahrzeuge. Hätten wir überall auf der Welt so viele Fahrzeuge wie in Nordamerika, Japan oder Westeuropa, dann hätten wir 2,9 Milliarden Fahrzeuge. Dies wäre vom ErdÖko-System nicht verkraftbar.Wenn Sie sagen, es sei alles besser geworden, dann will ich Ihnen einfach nur eine Tatsache aus den
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 135. Sitzung. Bonn, Freitag, den 22. Januar 1993 11769
Michael Müller
Berichten der Bundesregierung zitieren: Heute sind die NOx-Emissionen, die für das Waldsterben hauptverantwortlich sind, höher als 1982. Sie sind in der Menge höher, und zwar deshalb, weil die Massenzunahme der Fahrzeuge und immer höhere Geschwindigkeiten selbst den Vorteil des Katalysators kompensieren. Man muß das allerdings auch einmal zur Kenntnis nehmen und nicht alles wegdrücken.
Wir kommen nicht an dem Punkt vorbei, daß, so wichtig es ist, effiziente Technologien einzusetzen, damit allein das Problem nicht gelöst werden kann.Die USA mit einem Bevölkerungsanteil von 4,6 % nutzen genausoviel Energie wie 75 % der Menschheit, wie alle Menschen in den Entwicklungsländern. Deshalb können wir uns nicht an der historischen Herausforderung vorbeidrücken, daß wir eine Ökonomie der Vermeidung statt einer Ökonomie der Expansion brauchen.
Das ist die historische Herausforderung.
— Sehen Sie, da haben Sie die Dokumente nicht gelesen; sonst hätten Sie nämlich feststellen müssen, daß beispielsweise auch Kernenergie die Klimaprobleme nicht löst. Kernenergie ist nämlich ein Energiesystem, das auf Stromexpansion ausgerichtet ist, abgesehen davon, daß davon sowieso nur 5 % der Weltenergienachfrage berührt ist. Sie haben offenkundig nicht gelesen, was in den Dokumenten des Deutschen Bundestages, geschweige einmal in denen irgendwelcher Umweltgruppen, steht. Ich muß Ihnen sagen: Manchmal schäme ich mich wegen der mangelnden Seriosität unserer Arbeit. Wir beschließen hier einstimmig und behaupten in der Öffentlichkeit das Gegenteil. Ich finde, das ist ein geistiger Skandal.
Ich kann Ihnen auch Herrn Töpfer zitieren. Herr Töpfer nennt unsere Form von Energieversorgung „Wohlstandslüge". Herr Möllemann hat bei der Vorstellung des Prognose-Gutachtens zu „Externe Kosten" gesagt, es sei „Selbstbetrug", wie wir unser Energiesystem organisiert haben. Das ist völlig richtig. Aber es ist wirklich schlimm, daß sich diese Einsicht scheinbar wenig verbreitet und nur auf einzelne Sonntagsreden beschränkt. Ich finde dies traurig.Wer meint, an dem heutigen Status quo festhalten zu können — was übrigens auch für die Politik in den neuen Bundesländern gilt —, wird die Probleme nicht mehr lösen können. Mit den Methoden von vorgestern sind die Probleme von morgen nicht mehr lösbar, weder in der Bundesrepublik noch international.Ich will sehr deutlich hinzufügen: Wer nach den Erfahrungen der letzten drei Jahre glaubt, mit dem wirklich überholten neokonservativen Instrumentarium der Wirtschaftspolitik
die Probleme in den neuen Bundesländern lösen zu können, wird Schiffbruch erleiden. Gerade jetzt ist es notwendig, in die Ökonomie der Zukunft zu springen. Wir müssen den Menschen in den neuen Bundesländern eine Perspektive geben. Diese Perspektive muß heißen: ökologisch verträgliche und sozial verträgliche Wirtschaft, aber nicht Rückfall in den ManchesterKapitalismus, den Sie hier propagieren.
Lassen Sie mich zum Abschluß noch eine Anregung machen. Bei dem Wachstums- und Stabilitätsgesetz ging es auch um die Konzertierte Aktion. Aus meiner Sicht sind die Probleme, vor denen wir stehen, derartig komplex und weitreichend, daß sie in der Tat mit unseren traditionellen Formen der politischen Auseinandersetzung nicht mehr lösbar sind.Um so wichtiger ist es — das rege ich an —, daß wir überlegen, ob man nicht eine Konzertierte Aktion „Ökosoziale Marktwirtschaft" oder „Ökosozialer Umbau" in der Bundesrepublik organisiert. Wir stehen vor Problemen und Herausforderungen, bei denen sich einzelne überheben, übrigens auch einzelne Parteien und selbst die Bundesregierung. Eine Entwicklung hin zu einer Ökonomie der Vermeidung bedeutet einen tiefen Bruch, einen Bruch mit den Denkweisen der letzten 100 bis 200 Jahre. Deshalb empfehle ich, daß wir auch zu anderen Formen der Diskussion über solche Prozesse kommen.Wir sehen, daß die Ökologiepolitik heute konjunkturabhängig ist; das ist fatal. Sobald sich der ökonomische Wind dreht, will man von Umweltpolitik nichts mehr wissen, obwohl gerade jetzt Umweltpolitik notwendig wäre.
Deshalb müssen wir zu anderen Formen kontinuierlicher Auseinandersetzung mit den Problemen kommen.Ich danke Ihnen.
Meine Damen und Herren, als letztem Redner in der Debatte erteile ich dem Herrn Parlamentarischen Staatssekretär beim Bundesminister für Wirtschaft, unserem Kollegen Dr. Heinrich Kolb, das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Mehr als ein Jahr hat sich die SPD-Opposition Zeit gelassen, um ihren am 13. November 1991 vorgelegten Antrag zur Anpassung des Gesetzes zur Förderung der Stabilität und des Wachstums der Wirtschaft an die neuen ökologischen, sozialen und wirtschaftlichen Anforderungen zum ersten Mal auf die Tagesordnung setzen zu lassen.In der vergangenen Woche wurde von der SPD der Versuch gemacht, eine Fragestunde in eine Wirtschaftsdebatte umzufunktionieren. Gestern wurde die Aktuelle Stunde zur Haltung der Bundesregierung zur Arbeitsmarktsituation und zum Abbau von Arbeits-
Metadaten/Kopzeile:
11770 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 135. Sitzung. Bonn, Freitag, den 22. Januar 1993
Parl. Staatssekretär Dr. Heinrich L. Kolbplätzen von Ihnen in eine Konjunkturdebatte umgewidmet.Heute wollen Sie über die mit Ihrem StWG-Antrag vorgeschlagenen Instrumente diskutieren.
Mir fällt auf, daß in der Debatte insbesondere von Ihnen relativ wenig zum Stabilitäts- und Wachstumsgesetz gesagt wurde. Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, das sind doch untaugliche Versuche, in angemessener Weise der kritischen wirtschaftlichen Entwicklung in Deutschland zu begegnen.
— Das werde ich vielleicht im weiteren Verlauf der Rede tun, Herr Kollege Schily.Eine Ergänzung der Ziele des Stabilitäts- und Wachstumsgesetzes um die Erhaltung und Verbesserung der natürlichen Lebensgrundlagen, die Erleichtung des wirtschaftlichen Strukturwandels, den Abbau des regionalen Wirtschaftsgefälles und schließlich eine gleichmäßigere Einkommens- und Vermögensverteilung ist zwar grundsätzlich unterstützenswert; wie die SPD dies behandeln will, werden diese Ziele allerdings nicht erreicht werden können.Es ist richtig — Herr Kollege Hinsken hat bereits darauf hingewiesen —, daß sich bei einer Erweiterung des Zielkatalogs des Stabilitäts- und Wachstumsgesetzes das grundsätzliche Problem stellt, daß die Bedeutung eines jeden Einzelziels mit der Gesamtzahl der Ziele sinkt. Schon die mit dem magischen Viereck gemachten Erfahrungen unterstreichen diesen Aspekt, und durch Hinzufügen weiterer Ziele würde das magische Viereck der Wirtschaftspolitik zu einem imaginären Vieleck. Viele Köche verderben den Brei, und für die vielen Ziele gilt ähnliches. Es entstünde ein Mischmasch aus Konjunkturgesetz und Strukturgesetz, der wegen innerer Widersprüche für die praktische Konjunkturpolitik inoperabel würde.Im übrigen verstärkt — auch das hat Kollege Hinsken gesagt — jedwede Erweiterung des Zielkatalogs des Stabilitäts- und Wachstumsgesetzes das Risiko,
daß antizyklisch gedachte Maßnahmen wegen einer wesentlich längeren Konzipierungsphase schließlich prozyklisch wirken.Zweifel habe ich auch, ob für die Einführung des Umweltschutzes das Stabilitäts- und Wachstumsgesetz der angemessene Ort ist. Die Erhaltung und Verbesserung der natürlichen Lebensgrundlagen hat in der deutschen Politik sehr hohe Priorität. Die Bundesregierung hat dargelegt, daß sie den Umweltschutz als Staatsziel im Grundgesetz verankern möchte. Das hätte schon lange erfolgen können, wenn die SPD unserem Vorschlag hierzu zugestimmt hätte. Derzeit wird in der Gemeinsamen Verfassungskommission erneut über die konkrete Ausgestaltung diskutiert.
Ich hoffe sehr, daß wir hier zu einer Einigung kommen können.Meines Erachtens — das beantwortet Ihren Einwurf, Herr Kollege Schily — kommen in einer grundgesetzlichen Verankerung der hohe politische Rang des Umweltschutzes und sein Dauerauftrag an die Politik am besten zum Ausdruck. Die Auswirkung einer Verankerung im StWG wäre demgegenüber weitaus schwächer.
Man muß das Ziel des Umweltschutzes, wenn es im Grundgesetz steht, eben nicht an jeder anderen Stelle wiederholen.
Im Antrag wird der instrumentelle, dienende Charakter von stetigem und angemessenem Wirtschaftswachstum bezweifelt. Statt dessen wird ein ökologisch verträgliches Wachstum postuliert. Hier werden nach meiner Meinung Widersprüche konstruiert, wo in Wirklichkeit keine sind. Die Versöhnung von Ökonomie und Ökologie bestimmt seit langem unser Handeln.
Angemessenes Wirtschaftswachstum ist gerade deshalb erforderlich, damit Umweltschutz wirksam durchgesetzt werden kann. Bei wachsendem Sozialprodukt werden umweltschonende Investitionen und die Umstellung auf umweltverträgliche Produktionsverfahren und Produkte gefördert sowie die notwendigen Umstrukturierungen der Wirtschaft erleichtert.
— Die Kosten des Umweltschutzes, Herr Kollege Schily, können ohne übermäßige Verengung der Verteilungsspielräume leichter aufgebracht werden.Wirtschaftswachstum und gute Umweltqualität sind kein Gegensatz, sondern bedingen einander. Die unermeßlichen Umweltschäden durch das sozialistische System in der ehemaligen DDR sind leider der beste Beleg dafür.
Herr Dr. Kolb, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Schily?
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 135. Sitzung. Bonn, Freitag, den 22. Januar 1993 11771
Dr. Heinrich L. Kolb, Parl. Staatssekretär: Ich bitte um Verständnis, daß ich nur eine Zwischenfrage zulasse, weil auch die Kollegen nach Hause wollen.
Bitte, Herr Kollege Schily.
Herr Kolb, ist Ihre These, daß wir möglichst viel umweltzerstörerische Produktion betreiben müssen, durch die die Wirtschaft wächst, um dann deren Reparaturen bezahlen zu können?Dr. Heinrich L. Kolb, Parl. Staatssekretär: Da haben Sie mich völlig mißverstanden, Herr Kollege Schily. Ich habe nicht gesagt, daß Produktion und Wachstum umweltschädlich sein müssen. Wir wollen natürlich, daß das mehr und mehr umweltschonend gelingt, aber ich habe deutlich gemacht, daß im Wirtschaftsprozeß erst durch Wachstum Kräfte und Mittel freigesetzt werden, die dann letztlich auch in den Erhalt unserer Umwelt investiert werden können.
Ich will in meiner Rede fortfahren: Wie sonst, liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn nicht durch angemessenes Wirtschaftswachstum in den alten Bundesländern, ließe sich in den neuen Bundesländern der Aufschwung Ost beschleunigen, um nach der staatlichen auch die wirtschaftliche, soziale und ökologische Einheit Deutschlands in vertretbarer Zeit herzustellen?Schaut man die im Antrag formulierte Liste der Berichte durch, könnte man meinen, die SPD wolle die anstehenden Probleme durch Beschäftigungsprogramme für Beamte in den Griff bekommen.
Nach dem Jahreswirtschaftsbericht und dem Subventionsbericht werden zusätzlich folgende jährliche Berichte gefordert: Folgekostenbericht, Umweltbericht, Arbeitsmarktbericht, Verteilungsbericht, Strukturbericht.Die Berichterstattung, über Wirtschaftslage und Perspektiven sowie über die Auswirkungen der Wirtschafts- und Finanzpolitik ist bereits jetzt gut ausgebaut.
Neben den jeweiligen Jahresgutachten des Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung zeichnet der Jahreswirtschaftsbericht ein umfassendes Gesamtbild.
— Der wird demnächst vorgelegt.Vertieft wird die Umweltpolitik in den Umweltberichten der Bundesregierung behandelt.
Auch berichten z. B. der Sachverständigenrat für Umweltfragen und das Bundesumweltamt umfassend.
Außer Zweifel steht für die Bundesregierung, daß die Darlegung der ökologischen Folgekosten des Wirtschaftens sowie der volkswirtschaftlichen Kosten zur Vermeidung und Beseitigung von Schäden an der Umwelt verbesserungsbedürftig ist. Großen Wert legt die Bundesregierung deshalb auf die entsprechenden Arbeiten des Statistischen Bundesamtes. Von einer umfassenden statistischen Erfassung und Bewertung der ökologischen Folgekosten sind wir jedoch noch weit entfernt.Den Konjunkturrat zu stärken ist auch ein Anliegen des Bundesministers für Wirtschaft. Die Anregungen, die sich in Ihrem Antrag auf den Konjunkturrat beziehen, liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, lassen sich auch ohne Gesetzesänderung verwirklichen.
— Das Bundeswirtschaftsministerium hat sich immer bemüht, Kollegin Fuchs, den Wünschen der Mitglieder des Konjunkturrats so weit wie möglich zu entsprechen. Gerade angesichts der aktuellen wirtschaftspolitischen Situation sind Koordinierung und Zusammenarbeit zwischen den staatlichen Ebenen wichtig. Das läßt sich nicht per Gesetz verordnen. Gefordert ist hier vielmehr der gute Wille aller Beteiligten; den des Bundeswirtschaftsministers können Sie dabei voraussetzen.
Ich will auch betonen: Die SPD kann ihrerseits jetzt durch konstruktives Mitwirken am Solidarpakt ihren guten Willen zeigen.
Damit die derzeitige Schwächephase der deutschen Wirtschaft schnell überwunden wird und der Aufbau in den neuen Bundesländern rascher und auf voller Breite vorankommt, muß der Solidarpakt ein Wachstumspakt für mehr Leistung, mehr Investitionen und mehr Beschäftigung in ganz Deutschland werden.
Die Überforderung der Leistungsfähigkeit der deutschen Volkswirtschaft kann jedoch in keinem Fall straflos fortgesetzt werden. Wir können nicht so tun, als hätte sich mit der Einheit Deutschlands nichts geändert. Gemessen am Bruttoinlandsprodukt pro Kopf, ist Deutschland um rund 13 % ärmer geworden. Auf diese veränderte Situation nach der Wiedervereinigung wurde bislang zu wenig Rücksicht genommen.
Metadaten/Kopzeile:
11772 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 135. Sitzung. Bonn, Freitag, den 22. Januar 1993
Parl. Staatssekretär Dr. Heinrich L. KolbGefordert ist jetzt auf allen Seiten eine Zurücknahme des Anspruchsdenkens.
Der selbstzerstörerische Verteilungskampf muß durch den gemeinsamen Willen ersetzt werden, die Konjunkturschwäche im Westen schnell zu überwinden, die neuen Bundesländer aufzubauen und die wirtschaftlichen Chancen der deutschen Einheit zu nutzen.Zur Steigerung der Wachstumsdynamik und zur Belebung der Konjunktur hat die Bundesregierung daher ein Maßnahmenpaket geschnürt, zu dem jeder seinen Beitrag leisten muß.
— Ich weiß nicht, Herr Kollege Schily, ob aus Ihren Worten der Neid spricht.
— Das kann sein, Herr Kollege Hörster; darum wollen wir das Ganze überhören.Die Sicherstellung solider Staatsfinanzen ist jetzt von entscheidender Bedeutung für die Stabilisierung des Vertrauens im In- und Ausland. Ein eiserner Sparkurs ist unverzichtbar, damit die öffentlichen Haushalte nicht aus dem Ruder laufen und die Leistungen für Ostdeutschland finanzierbar bleiben.
Das Föderale Konsolidierungsprogramm muß deshalb jetzt gemeinsam von Bund, Ländern und Gemeinden zur Grundlage ihres Handelns gemacht werden. Nur mit substantiellen Einsparungen auf allen staatlichen Ebenen ist es möglich, die Erblast zu schultern, den Finanzausgleich ausgewogen zu regeln und die erheblichen Transferleistungen für den wirtschaftlichen Aufbau in den neuen Ländern zu finanzieren.
— Sie sollten nicht voreingenommen gleich die Klappe herunterlassen, Herr Kollege.
Ich bin der Meinung, wir sollten das, was in dieser Woche von der Bundesregierung an Programm auf den Tisch gelegt worden ist, ernsthaft prüfen.
Wir sollten in Gespräche darüber eintreten. Dann werden Sie sehen, daß dies zum Nutzen unseres Landes ist.
Wie gesagt: Es geht darum, daß wir mit substantiellen Einsparungen aller staatlichen Ebenen die erheblichen Transferleistungen für den wirtschaftlichen Aufbau in den neuen Bundesländern finanzieren. An dieser Erkenntnis dürfte auch die Opposition letztlich nicht vorbeikommen.
Bei den finanziellen Hilfen für die neuen Bundesländer läßt sich realisieren, was ohne Schaden für das gesamtwirtschaftliche Wachstum finanzierbar ist. Die unumgängliche Prioritätensetzung muß zugunsten der zukunftsorientierten investiven Verwendung geschehen, die Neues schafft. Genau dies macht die Bundesregierung.Ich möchte noch darauf hinweisen, daß eine beschäftigungsorientierte Lohnpolitik die Verwirklichung des Notwendigen wesentlich erleichtern würde. Die Lohnpolitik in Ost- wie in Westdeutschland muß endlich den überfälligen Kurswechsel vollziehen.
Bei stabilitätsgerechtem Verhalten von Staat und Tarifvertragsparteien wird auch der Bundesbank Spielraum eröffnet, die Zinsen konsequent zu senken, denn, Herr Kollege Jens, es ist ja nicht so, daß man nach Frankfurt fährt und sich eine Zinssenkung abholt, sondern wir alle müssen durch gemeinsames Handeln die Voraussetzungen dafür schaffen, daß der Bundesbank Zinssenkungsspielräume eröffnet werden.
— Herr Kollege Jens, ich habe bereits darauf hingewiesen, daß ich mit Rücksicht auf die fortgeschrittene Zeit nur eine Zwischenfrage zulassen möchte.
Jeder muß jetzt wissen: Wenn nicht jetzt verantwortlich gehandelt, sondern die Überforderung der Leistungsfähigkeit der Volkswirtschaft fortgesetzt wird, werden sich Finanz- und Einkommenspolitik auf der einen Seite und Geldpolitik auf der anderen Seite zum Schaden von Wachstum, Wohlstand, Beschäftigung und Aufschwung Ost auswirken.
Jetzt kommt es darauf an, eine Negativspirale zu verhindern und die Wachstumskräfte zu mobilisieren.
Nur wenn jetzt gesamtwirtschaftlich verantwortlich gehandelt wird, läßt sich der Rückgang des Bruttoinlandsprodukts 1993 auf die für Westdeutschland in Rede stehenden 0 bis minus 1 % beschränken und eine Stabilisierungskrise vermeiden.Darauf, meine lieben Kolleginnen und Kollegen, kommt es jetzt an. Dafür brauchen wir kein angepaßtes Stabilitäts- und Wachstumsgesetz. Dafür brauchen
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 135. Sitzung. Bonn, Freitag, den 22. Januar 1993 11773
Parl. Staatssekretär Dr. Heinrich L. Kolbwir Mut zu situationsgerechtem wirtschaftlichen Handeln und Willen zum Konsens.
Die Bundesregierung jedenfalls hat ihn.
Schönen Dank.
Meine Damen und Herren, gestatten Sie mir noch einmal eine Bemerkung. An dieser Debatte haben elf Redner teilgenommen. Von diesen elf Rednern sind vier schon nicht mehr da. Ich finde das nicht besonders günstig.
Natürlich kann es Entschuldigungen geben. Aber dem Präsidium liegt keine vor.
Ich kann das auch namentlich feststellen: Der Kollege Bernd Henn ist nicht mehr da, der Kollege Werner
Schulz ist nicht mehr da, der Kollege Ernst Hinsken ist nicht mehr da, und der Kollege Rainer Haungs ist nicht mehr da. Wenn wir hier debattieren, wollen wir doch einander zuhören. Immer gibt es wichtige Gründe, wenn man das nicht kann; aber dann möchte man das bitte wissen.
Meine Damen und Herren, wir sind am Schluß der Aussprache. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf der Drucksache 12/1572 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Zusätzlich soll die Vorlage dem Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit überwiesen werden. Sind Sie damit einverstanden? — Ich höre und sehe keinen Widerspruch. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Wir sind damit am Schluß unserer heutigen Tagesordnung. Ich wünsche allen hier noch Versammelten ein nicht zu anstrengendes Wochenende und berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Mittwoch, den 3. Februar 1993, 13.00 Uhr ein.
Die Sitzung ist geschlossen.