Gesamtes Protokol
Die Sitzung ist eröffnet.
Vor Eintritt in die Tagesordnung habe ich einige Mitteilungen zu machen. Zunächst geht es um Glückwünsche zu Geburtstagen. Am 28. Oktober hat der Abgeordnete Müller seinen 60. Geburtstag gefeiert, und am 5. November hat der Abgeordnete Dr. Czaja seinen 65. Geburtstag gefeiert. Herzliche Glückwünsche des Hauses!
Als Nachfolger für den verstorbenen Abgeordneten Koblitz hat mit Wirkung vom 18. Oktober 1979 der Abgeordnete Vosen die Mitgliedschaft im Deutschen Bundestag erworben. Ich begrüße den neuen Kollegen sehr herzlich und wünsche ihm eine erfolgreiche Arbeit im Deutschen Bundestag.
Amtliche Mitteilungen ohne Verlesung
Der Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung hat mit Schreiben vom 5. November 1979 die Kleine Anfrage der Abgeordneten Frau Hürland, Hasinger, Höpfinger, Dr. George, Schedl, Zink, Frau Dr. Neumeister, Dr. Becker , Pohlmann, Müller (Berlin), Horstmeier und der Fraktion der CDU/CSU betr. Teilzeitarbeitsmarkt und früherer Rentenbezug — Auswirkungen des Bundessozialgerichtsurteils vom 10. Dezember 1976 — Drucksache 8/3266 — beantwortet. Sein Schreiben wird als Drucksache 8/3320 verteilt.
Der Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung hat mit Schreiben vom 5. November 1979 die Kleine Anfrage der Abgeordneten Frau Hürland, Dr. Becker , Burger, Franke, Hasinger, Dr. Hammans, Kroll-Schlüter, Dr. Möller, Dr. George, Neuhaus, Dr. Unland, Horstmeier, Frau Dr. Wilms, Dr. Warnke, Rühe, Röhner und der Fraktion der CDU/CSU betr. Ausbildungsregelung für behinderte Jugendliche — Drucksache 8/3075 — beantwortet. Sein Schreiben wird als Drucksache 8/3321 verteilt.
zur Fortschreibung des Bildungsgesamtplans
— Drucksache 8/2955 —
Überweisungsvorschlag des Ältestenrates:
Ausschuß für Bildung und Wissenschaft Ausschuß für Jugend, Familie und Gesundheit
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Lattmann, Weisskirchen , Dr. Meinecke (Hamburg), Thüsing, Vogelsang, Wüster, Frau Schuchardt, Dr. Dr. h. c. Maihofer, Dr.-Ing. Laermann und der Fraktionen der SPD und FDP
zur Fortschreibung des Bildungsgesamtplans
— Drucksache 8/3271 —
Überweisungsvorschlag des Ältestenrates:
Ausschuß für Bildung und Wissenschaft Ausschuß für Jugend, Familie und Gesundheit
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Abgeordnete Pfeifer.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die heutige Debatte zur Fortschreibung des Bildungsgesamtplans führen wir zu einem Zeitpunkt, zu dem sich die schulpolitischen Gegensätze zwischen der CDU/CSU einerseits und der SPD/FDP-Koalition andererseits deutlich verhärtet haben. Es ist deshalb wohl angebracht, sich am Beginn einer solchen Debatte Gedanken darüber zu machen, was sie bewirken kann und was sie nicht bewirken sollte.Ich meine, wir sollten unter allen Umständen vermeiden, daß sich durch diese Debatte der Streit weiter vertieft.
Wenn am Ende dieser Debatte nur ein Scherbenhaufen von gegenseitigen Vorwürfen läge, wäre sie nutzlos und schädlich gewesen.Bei dieser Debatte geht es — und das dürfen wir keinen Augenblick aus den Augen verlieren — um das Glück und die Lebenstüchtigkeit unserer Kinder, um das Recht der Eltern, für ihre Kinder den bestmöglichen Bildungsweg zu bestimmen, und um die Möglichkeit aller Lehrer, ihren pädagogischen
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14364 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 183. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. November 1979
PfeiferAufgaben auf vielfältigen Bildungswegen zum Nutzen der Kinder und Jugendlichen gerecht zu werden. Diese Ziele lassen sich nur durch eine solide und tragfähige Bildungsplanung erreichen, um die es uns geht und auf die wir diese Debatte konzentrieren wollen, damit am Ende nicht zusätzliche Polarisierung steht, sondern eindeutig erkennbar wird, wie wir mit den notwendigen Entscheidungen über die Fortentwicklung unseres Bildungswesens vorankommen können.Eine solide und für die Zukunft tragfähige Bildungsplanung setzt zunächst einmal voraus, daß sich, anders als in den letzten Jahren, alle Beteiligten im Rahmen des föderativen Bildungssystems an die vereinbarten Grundlinien des Bildungsgesamtplans halten. In meinen Augen ist eine solide Bildungsplanung nicht möglich, wenn Bund und Länder zunächst einen gemeinsamen Bildungsgesamtplan verabschieden, dann aber in Hamburg, Bremen, Berlin, Hessen oder Nordrhein-Westfalen ein bildungspolitischer Alleingang nach dem anderen inszeniert wird.
In meinen Augen ist es auch nicht im Interesse einer soliden Bildungsplanung, wenn die Bundesregierung einerseits in einem sogenannten Mängelbericht zum föderativen Bildungssystem die Auseinanderentwicklungen im Bildungswesen der Bundesrepublik beklagt, andererseits aber zu den schulpolitischen Alleingängen der SPD/FDP-Bundesländer nicht nur schweigt, sondern sie auch noch ausdrücklich verteidigt und billigt.
Die Bundesregierung muß sich über eines im klaren sein: CDU und CSU waren und sind stets zu Verhandlungen und auch zu vernünftigen Kompromissen über eine gemeinsame Bildungsplanung von Bund und Ländern bereit. Das wird auch in der Zukunft so sein, aber nicht um den Preis der auch nur stillschweigenden Billigung oder gar Anerkennung einseitig gesetzter Fakten, die einer mutwilligen Zerstörung des Konsenses in der Bildungspolitik gleichkommen.
Ich will dazu drei Beispiele nennen:
Erstens. Noch in der Regierungserklärung des Bundeskanzlers vom 16. Dezember 1976 hat es geheißen, daß die Einführung eines Berufsgrundbildungsjahres Vorrang gegenüber der Einführung des zehnten Hauptschuljahres haben müsse. Das war ein vernünftiger Ausgangspunkt für eine einheitliche Lösung dieses Problems. Aber inzwischen haben Berlin und Nordrhein-Westfalen einseitig und ohne Rücksicht auf andere Länder das zehnte Pflichtschuljahr in der Hauptschule eingeführt. Die Bundesregierung, die noch eben einen Mängelbericht vorgelegt hat, schweigt zuerst und ändert dann allmählich ihre Politik. Allein das wirft doch schon die Frage auf, ein wie verläßlicher Partner die Bundesregierung in der Bildungsplanung tatsächlich ist.Ein zweites Beispiel. In Nordrhein-Westfalen und Hessen wurde versucht, ohne Rücksicht auf die Entwicklung des Schulwesens in den anderen Bundesländern die sogenannte Koop-Schule bzw. die integrierte Orientierungstufe als Vorstufe zur integrierten Gesamtschule durchzusetzen, und zwar in einem erbitterten Kampf gegen die Eltern. Die Koop-Schule wurde in Nordrhein-Westfalen von den Eltern verhindert. Ich finde, meine Damen und Herren, es gehört schon ein erhebliches Maß an Zynismus dazu, wenn sich SPD und FDP jetzt für ihre Schulpolitik auf den Elternwillen berufen wollen, nachdem sie sich in der Schulpolitik in Hessen und Nordrhein-Westfalen um den Elternwillen überhaupt nicht gekümmert
und die Eltern geradezu in einen Schulkampf gegen die sozialdemokratische Bildungspolitik gezwungen haben.Nach der Niederlage im Volksbegehren von Nordrhein-Westfalen haben verantwortliche Bildungspolitiker der SPD angekündigt, nachdem man die Gesamtschule nicht über die Koop-Schule erreichen konnte, wolle man sie nun direkt erreichen.Damit bin ich beim dritten und wohl gravierendsten Beispiel schulpolitischer Alleingänge von SPD- und FDP-regierten Ländern. Ursprünglich war man sich doch einmal darüber einig, daß in etwa 40 Gesamtschulversuchen die Gesamtschule erprobt werden sollte. Jeder dieser Versuche sollte wissenschaftlich vorbereitet und begleitet werden.
Am Ende sollten die Ergebnisse und Erfahrungen wissenschaftlich ausgewertet werden. Die Entscheidung über die Einführung der Gesamtschule sollte danach getroffen werden.Meine Damen und Herren, schon an diese einmal vereinbarte Politik haben sich nur die Länder, in denen die CDU/CSU regiert, gehalten, die anderen Länder nicht. Der Bundeskanzler hat nach einem Bericht des „Hamburger Abendblattes" vom 8. November 1976 vor einer Kreisdelegiertenkonferenz in seinem Wahlkreis als einen der Gründe über so viel Unzufriedenheit über das Schulwesen u. a. genannt — ich zitiere das wörtlich — überstürzte Gesamtschulversuche, die dann steckengeblieben sind.
In mehreren Tageszeitungen ist im Oktober dieses Jahres ein Zitat des Kollegen Ehmke wiedergegeben, in dem es heißt:In der Bildungspolitik ist vieles geschehen. Es sind dort allerdings auch Fehler gemacht worden. Vor allen Dingen ist zunächst, was meine Partei betrifft, zuviel zu schnell von oben herab gemacht worden, etwa in der Gesamtschule.
Einen Augenblick, Herr Abgeordneter! Ich darf den ehrenwerten Vertreter des Bundesrats darauf hinweisen, daß der Bereich, in
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Präsident Stücklendem Sie sich zur Zeit aufhalten, ausschließlich den Mitgliedern des Bundestages vorbehalten ist.
Was Herr Ehmke in diesem Zitat sagt, trifft in der Tat zu. Aber es ändert nichts an der Tatsache und hat nichts an ihr geändert, daß dort, wo SPD und FDP regierten, die integrierten Systeme ausgebaut wurden und schließlich in Berlin, Bremen und Hamburg die integrierte Gesamtschule als eine Regelschule eingeführt wurde, und zwar ohne Rücksicht darauf, ob die Beschlüsse dieser Gesamtschulen auch außerhalb dieser Stadtstaaten anerkannt werden.Im Grunde ist es doch ein unglaublicher Vorgang, wenn verantwortliche Schulpolitiker der SPD zunächst entgegen allen mit den anderen Ländern getroffenen Vereinbarungen den Eltern und Schülern als Regelschule eine Schule anbieten, deren Abschlüsse in anderen Ländern nicht anerkannt sind, und dann diesen anderen Ländern, die sich absprachegemäß verhalten, vorwerfen, sie betrieben eine Schulpolitik auf dem Rücken der Kinder, wenn sie nicht schleunigst diese Abschlüsse anerkennen würden, und zwar ohne Wenn und Aber. Das ist doch ein unglaublicher Vorgang.
Wenn es eine Konfrontation und Polarisierung, wenn es eine auf Schulreform mit dem Hammer
angelegte Bildungspolitik in der letzten Zeit gegeben hat, dann war es dieses Vorgehen SPD- und FDP-regierter Länder.
Was in Hamburg geschehen ist, Frau Kollegin Schuchardt und Herr Kollege Lattmann, war nicht ungeschickt, wie Sie gesagt haben. Was in Hamburg geschehen ist, war bewußte Konfrontation, war schulpolitische Rechthaberei, der die Geduld fehlt, Ergebnisse von Schulversuchen abzuwarten.
Nach unserer Ansicht berechtigen die bis heute vorliegenden Ergebnisse der Gesamtschulversuche nicht dazu, die Gesamtschule als die Regelschule oder auch nur als eine Regelschule einzuführen.
Die Gesamtschule ist gegenwärtig nicht serientauglich. Ich möchte Sie darauf hinweisen, daß es selbst in der im letzten Jahr abgeschlossenen hessischen Koalitionsvereinbarung heißt, im Gesamtschulbereich müßten zuerst die Begleituntersuchungen zu den zur Zeit laufenden Schulversuchen abschließend ausgewertet werden.Es ist doch nicht zu bestreiten, daß die Gesamtschule, soweit bisher wissenschaftliche Ergebnisse vorliegen, auf dem Prüfstand der Wissenschaft zumindest zwiespältige Ergebnisse erbracht hat.Wenn 200 Lehrer an Gesamtschulen in NordrheinWestfalen zum Ergebnis kommen, die Zusammenfassung von Schülern aller Begabungsrichtungen in integrierten Lerngruppen zeige schlimme Auswirkungen im Unterricht, wie — jetzt zitiere ich wörtlich — „Absinken des Leistungsniveaus, erhebliche Lernrückstände gegenüber entsprechenden Jahrgängen anderer Schulformen, Verzerrung der Leistungsbeurteilung", und wenn diese 200 Lehrer an Gesamtschulen in Nordrhein-Westfalen sagen, die Abschlüsse der Gesamtschulen seien unglaubwürdig, da — und jetzt wieder ein wörtliches Zitat — „eine inhaltliche Gleichwertigkeit mit den Abschlüssen anderer Schularten nicht gewährleistet ist",
und wenn diese 200 Lehrer an Gesamtschulen in Nordrhein-Westfalen weiter sagen, die Größe der Gesamtschulen und die organisatorischen Zwänge des Differenzierungssystems führten — und jetzt wieder wörtlich — „zu Bürokratismus und Formalismus, durch welche die Arbeit der Lehrer an Gesamtschulen erschwert wird", wenn das die Aussage von 200 Lehrern, die an Gesamtschulen in Nordrhein-Westfalen unterrichten, ist, dann können doch alle Interpretationskünste die Tatsache nicht vernebeln, daß diese neue Schulform noch nicht überall die Leistung des gegliederten Schulwesens erbringt.
Wir wollen deshalb den Abschluß der Gesamtschulversuche und deren wissenschaftliche Auswertung abwarten. Für uns sind diese Auswertungsergebnisse erst dann aussagekräftig, wenn gegliedertes Schulwesen und integrierte Gesamtschule in ihren Lernanforderungen, in der Personal-und Sachausstattung und in den Abschlußergebnissen vergleichbar gemacht worden sind.Meine Damen und Herren, Herr Bundesminister Schmude hat in seiner kürzlichen Rede während des bildungspolitischen Kongresses des DGB ausgeführt — ich möchte auch das zitieren —
— dieses Zitat lohnt sich schon —:
Die Bildungsreform der vergangenen zehn Jahre hat zum Ziel, alle Bereiche des Bildungswesens für alle Bürger zu öffnen, so daß auch Arbeiterkinder ihren Fähigkeiten und Neigungen entsprechende Chancen bekommen, ebenso wie Rechtsanwalts- und Arztsöhne.
Diese Öffnung ist noch nicht vollständig gelungen. Aber wir haben deutliche Fortschritte erzielt. Heute zeigt sich, daß Arbeiterkinder in allen Bildungsbereichen zwar noch immer nicht ihrer Zahl nach gleichberechtigt vertreten sind, daß sie aber erheblich aufgeholt haben.
Ich möchte zunächst einmal diese Aussage unterstreichen. Sie ist zutreffend. Dann möchte ich aber
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Pfeiferfolgendes hinzufügen: 95 % unserer Schüler gehen in das gegliederte Schulwesen. Wenn Herr Schmude — zu Recht — deutliche Fortschritte in der sozialen Öffnung unseres Bildungswesens in den vergangenen zehn Jahren feststellt, liegt der Grund dafür in erster Linie in dem gewachsenen Bildungsbewußtsein der Arbeiter, der Handwerker, der Facharbeiter, ebenso aber in dem reformierten gegliederten Schulwesen und nicht in der Gesamtschule.
Das ist doch völlig unbestreitbar.
Herr Schmude fährt fort, diese Entwicklung habe selbstverständlich Folgen gehabt, u. a. die Folge, daß heute auch ein Arzt- oder Rechtsanwaltssohn gleichberechtigt auf der Hauptschule und später in der beruflichen Bildung landen könne, während der Sohn des Schlossers oder die Tochter des Bäkkers studiere. Meine Damen und Herren, in der Tat, auch dies ist eine der Folgen des fortentwickelten gegliederten Schulwesens,
eine der Folgen, die wir politisch vertreten, die wir gewollt haben, zu der wir die entsprechenden Maßnahmen durchgeführt haben.Herr Dr. Schmude fährt weiter fort — jetzt zitiere ich wieder —:Diese Entwicklungen taten einigen Leuten weh. Sie haben sich in den vergangenen Jahren zum Gegenangriff gesammelt.An einer anderen Stelle der Rede heißt es, es gehe im gegenwärtigen Streit um die Zukunftschancen der jungen Generation, „darum, diese Chancen nicht mehr, wie früher, nach dem sozialen Status der Eltern zu verteilen". Herr Dr. Schmude, ich möchte Sie bitten, hier zu sagen, wen Sie damit eigentlich meinen
und welcher verantwortliche Kultusminister, welcher verantwortliche Ministerpräsident oder Parlamentarier dies, was Sie hier gesagt haben, will. Von den Unionsparteien will es bestimmt niemand. Oder glauben Sie im Ernst, daß die CSU in Bayern über 60 %, die CDU in Baden-Württemberg, dem industrieintensivsten Land der Bundesrepublik, über 57 % der Stimmen, die CDU in fünf Landtagen die absolute Mehrheit, in vier weiteren Landtagen die relative Mehrheit erhalten hätten, wenn dort jemand, wie früher, die Zukunftschancen nach dem sozialen Status der Eltern verteilen wollte?
Ich möchte ganz deutlich sagen: diese Ihre Rede in Essen ist mit dem Willen zu einem kooperativen Zusammenwirken im Föderalismus nicht zu vereinbaren gewesen.
Sie war nur auf Polarisierung und Konfrontation ausgerichtet,
aber sie war keine Grundlage für eine solide und tragfähige Bildungsplanung.
Meine Damen und Herren, in diesem Zusammenhang möchte ich überhaupt etwas sagen
zu dem Stil der Auseinandersetzungen in den letzten Wochen.
Der Parteivorsitzende der SPD sprach in der gegenwärtigen Auseinandersetzung von einem „Glaubenskrieg„ der sogenannten „christlichen Parteien", der Fraktionsvorsitzende der FDP sprach von „Scharfmachern", der Parteivorsitzende sprach von „Religionskrieg",
Bundesminister Schmude sprach von einem „Kampf, in dem Kinder und Jugendliche als Geisel genommen werden".
Ich will hier nur ganz einfach fragen: Ist dies das Vokabular, das einer gebraucht, dem es im kooperativen Föderalismus um die Zukunftschancen der Jugend geht? Oder ist dies nicht viel eher die Sprache des Kampfes?
Herr Senator Glotz hat im Rückblick auf die Bildungspolitik seiner Partei während des kürzlich stattgefundenen bildungspolitischen Kongresses seiner Partei in Böblingen gesagt — ich zitiere —:Wir haben unsere ganze Hoffnung insbesondere nach der Diskussion um das Godesberger Programm an die Bildung und an das Bildungssystem gehängt. Es hat viele gegeben, die gesagt haben: die Umgestaltung der Wirtschaft ist schwer möglich und nicht nötig, laßt uns das Bildungswesen umgestalten; damit ist dann die Gesellschaft auch in eine sozialistische zu gestalten.
Herr Glotz hat hier richtig analysiert. Hier liegt auch der wahre Hintergrund der ganzen Auseinandersetzung. Nur, die Folgen einer solchen Politik waren schwere schulpolitische Auseinandersetzungen zwischen Eltern und der sozialdemokratischen Bildungspolitik vor allem in Hessen und Nordrhein-
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Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 183. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. November 1979 14367
PfeiferWestfalen. Es ist Mißbrauch der Schule, wenn man über die Schule gesellschaftliche Veränderungen einzuleiten versucht,
es ist Mißbrauch der Schule, wenn man über sie gesellschaftliche Veränderungen einzuleiten versucht, welche die Gesellschaft über ihre politischen Institutionen nicht einleiten will. In Wahrheit isoliert man damit die Schule und ihre Schüler gegenüber der Gesellschaft. Denn keine Gesellschaft kann Schulen als ihre eigenen Schulen anerkennen, wenn in diesen Schulen den Schülern eine andere Gesellschaft vermittelt werden soll. Eine solide und seriöse Bildungsplanung darf deshalb nicht noch einmal den Keim zu Schulkämpfen — wie in Nordrhein-Westfalen — legen.
Die Schule muß von gegenseitigem Vertrauen zwischen Eltern, Lehrern und Schülern getragen sein und darf nicht von Konflikten und Konflikttheorien geprägt werden.
Das gegliederte Schulwesen hat viele Vorzüge. Es wird unseres Erachtens dem einzelnen Schüler und seinen Begabungen und Neigungen und Interessen am ehesten gerecht. Es ist anders als die Gesamtschule auf Großsysteme nicht angewiesen. Es besteht aus leistungshomogenen und überschaubaren Einheiten, und es entspricht damit auch der Forderung nach der ortsnahen Schule.Das gegliederte Schulwesen fördert den personalen Bezug zwischen Schülern und Lehrern und trägt damit auch zur persönlichen und emotionalen Sicherheit des Schülers bei.Das gegliederte Schulwesen bietet unterschiedlich lange, in sich abgeschlossene Ausbildungsgänge an, die eine sichere Ausrichtung auf das jeweilige Abschlußprofil ermöglichen. Es sichert damit seinen Schülern und deren Eltern Transparenz seiner Ausbildungsgänge und -abschlüsse. Das gegliederte Schulwesen ermöglicht damit jedem einzelnen die verantwortliche Gestaltung seines Bildungsweges.Wir wollen, daß dieses gegliederte Schulwesen und nichts anderes bei der Fortschreibung des Bildungsgesamtplanes die Regel und die Regelschule bleibt.
Die CDU/CSU bekennt sich daher nachdrücklich zum Reformmodell des gegliederten Schulwesens. Wir sind der Überzeugung, daß das in Hauptschule, Realschule und Gymnasium gegliederte Schulwesen verbesserungs- und ausbaufähig ist, daß es fortentwicklungswürdig ist, weil es sich in Jahrzehnten bewährt hat und weil es am besten und flexibelsten auf die Bildungsaufgaben der Zukunft für die junge Generation und für die nächsten jungen Generationen reagieren kann.Nun haben SPD und FDP plötzlich wieder das Elternrecht entdeckt. Sie wollen die Gesamtschule flächendeckend überall da installieren, wo Eltern sich das wünschen. Dazu muß ich — wie übrigenskürzlich auch der Bundeselternrat — auf einen fatalen Pferdefuß aufmerksam machen, der hinter einer solchen zunächst recht demokratisch klingenden Formel steckt. Die Schüler einer solchen Gesamtschule müssen ja irgendwo herkommen. Bei den zurückgehenden Schülerzahlen kann sich eine solche Gesamtschule vor allem in den Flächenstaaten nur auf Kosten eines Gymnasiums oder auf Kosten einer Hauptschule oder auf Kosten einer Realschule oder auf Kosten von mehreren solcher Schulen entfalten. Die flächendeckende Ausdehnung der Gesamtschulen ist deswegen in Wahrheit ein Angriff auf das gegliederte Schulwesen, solange nicht vor der Installierung der Gesamtschule den Eltern, die ihre Kinder weiter in die bestehenden Hauptschulen, Realschulen oder Gymnasien schicken wollen, eine Garantie dafür gegeben wird, daß bestehende Schulen nicht geschlossen werden. Aber, meine Damen und Herren, genau zu einer solchen Bestandsgarantie ist ja z. B. der Kultusminister von Nordrhein-Westfalen nicht bereit, und angesichts der zurückgehenden Schülerzahl kann er sich dazu auch gar nicht bereit finden.Die Folge wird dann sein, daß unter der Überschrift des Elternrechts bestehende Schulen, leistungsfähige Hauptschulen, leistungsfähige Realschulen, leistungsfähige Gymnasien, gegen den Willen von Eltern wegen der Installierung von Gesamtschulen aufgelöst werden müssen. Dadurch wird neue Unruhe in das Schulwesen kommen, neuer Streit. Genau das aber wollen wir doch durch unsere Bildungsplanung vermeiden. Zu einer soliden und tragfähigen Bildungsplanung gehört deshalb, daß wir in allen unseren Überlegungen vom gegliederten Schulwesen ausgehen, daß die Gesamtschule zunächst einmal Versuchsschule bleibt und daß wir abwarten, welche Ergebnisse diese Schulversuche erbringen.Meine Damen und Herren, zu einer soliden und tragfähigen Bildungsplanung gehört weiter, daß die Leistungen der Schüler nach gleichen Maßstäben gemessen werden, damit die Schüler aller Schularten die gleiche und faire Chance erhalten. Unsere Forderung, daß die Absolventen der Gesamtschulen am Ende die gleichen Leistungen erbringen müssen wie die Absolventen der Hauptschulen, Realschulen und Gymnasien, ist für uns unverzichtbar; denn jede andere Regelung wäre ungerecht gegenüber den Hauptschülern, den Realschülern und den Gymnasiasten.
Diese Forderung ist aber auch im Interesse der Gesamtschüler. Die Unionsparteien haben nicht den Standpunkt vertreten, daß nach 1981 Gesamtschulabschlüsse unter keinen Umständen mehr anerkannt werden sollen. Wir unterstützen auch weiterhin Schulversuche mit neuen, weiterführenden Modellen. Aber wir legen an ihre Leistungen und Ergebnisse die gleichen Bewertungsmaßstäbe wie an die bestehenden Schulen. Denn es nützt den Gesamtschülern und ihren Eltern überhaupt nichts, wenn die jungen Menschen kurzfristig auf bequemem Weg zu einem formal hohen Abschluß gebracht werden, der später in weiteren Bildungsgängen der
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14368 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 183. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. November 1979
PfeiferBerufsbildung und der Arbeitswelt nicht standhalten kann und nicht taugt.
Der Parteivorsitzende der FDP, Herr Genscher, hat unseren Standpunkt in dieser Frage als „Rückkehr in den Provinzialismus" bezeichnet.
— Jetzt will ich Ihnen einmal sagen, was in meinen Augen Provinzialismus ist. Provinzialismus ist etwas ganz anderes. Rückkehr zum Provinzialismus ist es in meinen Augen, wenn z. B. Schüler an einigen Schulen — nicht überall — am Ende des Gymnasiums einen Abschluß erhalten, mit dem sie an einer wachsenden Zahl ausländischer Universitäten nicht mehr studieren können,
weil der Abschluß z. B. an schweizerischen, österreichischen und anderen ausländischen Hochschulen nicht mehr anerkannt wird.
Eine solide und tragfähige Bildungsplanung muß z. B. die Gesamtschüler vor einer Rückkehr in einen solchen Provinzialismus weiß Gott bewahren.In einem hochindustrialisierten, hochentwickelten, auf Leistung in der Forschung, Technologie und Berufswelt angewiesenen Land wie der Bundesrepublik ist das Bildungswesen zwar nicht allein, aber eben doch auch auf Leistungsfähigkeit angewiesen, und zwar auf eine Leistungsfähigkeit, die internationalen Maßstäben entspricht. Die jungen Menschen in unserem Lande stehen in ihren Berufs- und Zukunftschancen längst in einer Konkurrenz, welche über den Rahmen der Bundesrepublik hinausgeht. Und jedes Leistungsgefälle des Schul- und Hochschulwesens in unserem Lande zu dem Schul- und Hochschulwesen in den benachbarten europäischen Ländern hätte deshalb heute und künftig eine Verminderung der Berufs- und Lebenschancen unserer jungen Generation zur Folge, vor der wir sie doch bewahren sollten.Ich meine deshalb, daß sich auch im Interesse der Gesamtschüler SPD und FDP nicht länger in der Kultusministerkonferenz einer Vereinbarung über die Vergleichbarkeit der Leistungen zwischen Gesamtschulen und dem gegliederten Schulwesen widersetzen sollten.
Notwendig ist allerdings ebenso, daß die Leistungen zwischen den einzelnen Schulen des gegliederten Schulwesens in den Abschlüssen vergleichbar sind. Herr Remmers hat meines Erachtens zu Recht darauf hingewiesen, daß auch hier noch einiges verbesserungsbedürftig ist.
— In der Tat.Zu einer soliden und tragfähigen Bildungsplanung gehört weiter, daß auch in den 80er Jahren die großen Vorzüge, Leistungen und der Bildungswert der beruflichen Bildung in Beruf und Schule ungeschmälert erhalten bleiben. Wir werden uns entschieden allen Plänen widersetzen, die das Ziel haben, den Anteil der im dualen System Ausgebildeten in den 80er Jahren weiter oder gar bis unter 50% abzusenken.Wenn sich das Handwerk und die übrige Wirtschaft in den zurückliegenden Jahren von solchen Vorstellungen, man könne das duale System etwas zurückdrängen, hätten leiten lassen, wäre nach meiner Überzeugung die Bildungskatastrophe perfekt geworden.
Allein das Handwerk hat in der Zeit von 1970 bis 1978 die Zahl der Ausbildungsplätze — trotz Rezession in diesen Jahren — um 46 % gesteigert. Das waren fast 200 000 Ausbildungsplätze mehr. Die Leistungen der übrigen Wirtschaft waren nicht minder groß. Nur der Staat hat dort, wo von ihm Ausbildungsplätze angeboten wurden, nicht mitgehalten.
Durch diese Leistungen von Handwerk, Handel und Industrie hat das duale Ausbildungssystem nicht nur eine einmalige Bewährungsprobe bestanden, es hat uns auch Probleme meistern helfen, wozu keine staatliche Bildungseinrichtung in der Lage gewesen wäre.
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Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 183. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. November 1979 14369
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14370 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 183. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. November 1979
Wenn Sie meinen, Sie könnten uns einen erbitterten Kampf gegen die Eltern anlasten, dann kann ich nur sagen: Wir werden heute unser Bild der Situation vor der Offentlichkeit und damit in erster Linie auch vor den Eltern ausbreiten. Wir haben nicht die geringste Sorge, daß wir in der Lage sind, mit dieser Position eine sehr starke Gruppe der Eltern in allen Bundesländern zu überzeugen.Im übrigen wäre es, Herr Kollege Pfeifer, fair gewesen, sie hätten den Berliner Wissenschaftssenator Glotz mit seiner Böblinger Rede aus dem Mai gerade an jener Stelle noch ein paar Sätze weiter zitiert; dann wäre keine Verfälschung des Inhalts der Rede dabei herausgekommen.Aber, wie gesagt, die Kollegen, die in der Debatte noch im einzelnen die Argumente der CDU/CSU behandeln, werden ausführlicher auf Ihren Beitrag eingehen.Für die sozialdemokratische Fraktion ist hier heute folgendes darzustellen. Seit dem 15. Oktober, an dem der niedersächsische CDU-Kultusminister Remmers vom stellvertretenden Vorsitz der BundLänder-Kommission für Bildungsplanung und Bildungsforschung zurücktrat, weil er den Konfrontationskurs der eigenen Parteifreunde, vor allem aus Bayern und Baden-Württemberg, nicht länger mitverantworten wollte, erfährt die bundesweite Bildungspolitik eine öffentliche Aufmerksamkeit wie seit Jahren nicht mehr. Dennoch bleibt bisher für die Betroffenen, also für Millionen Schüler, Auszubildende, Studenten und ihre Familien, schwer verständlich, was eigentlich geschehen ist und was werden soll; denn ein Großteil der Kommentare in den
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Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 183. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. November 1979 14371
LattmannMedien, aber auch die fachpolitische Auseinandersetzung findet in einer Sprache statt, die verlernt hat, allgemeinverständlich zu argumentieren.
Deswegen sieht die sozialdemokratische Fraktion in der heutigen Debatte in erster Linie die Aufgabe, die Offentlichkeit unmißverständlich zu informieren und Begriffe zu entwirren, die teilweise zu inhaltsleeren und verzogenen Schlagworten erstarrt sind. Es muß klar werden, wer was verhindert und wer für welche Politik eintritt.
— Herr Kollege Daweke und auch eventuelle andere Kollegen, die gern Zwischenfragen stellen möchten: Ich bitte Sie um Verständnis, wenn ich Zwischenfragen nicht zulasse; ich halte hier nämlich keine spontane, sondern eine mit meiner Fraktion überlegte Rede, die ich im Zusammenhang darstellen möchte. Ich bin sonst immer gern offen für die Ermunterungen, die sich aus Zwischenfragen ergeben können.
Es geht um den Bildungsgesamtplan, in dem Bund und Länder 1973 erstmals umfassende Vereinbarungen über gemeinsame Ziele auf allen Hauptgebieten der Bildungspolitik getroffen haben. Es handelt sich dabei also keineswegs nur um Schulfragen mit der Betonung auf dem Punkt „Gesamtschule". Es handelt sich vielmehr um die ganze Breite der Bildungseinrichtungen, angefangen vom Kindergarten über die Schule und Berufsausbildung bis zur Hochschule und Weiterbildung. Dementsprechend geht der Gesamtplan für die Bildung alle Mitbürger an.Angesichts der Aufteilung der Zuständigkeit zwischen Ländern und Bund ist die jetzt anstehende Fortschreibung, also die Weiterentwicklung dieser Vereinbarungen, zwingend erforderlich, wenn die Freizügigkeit der Heranwachsenden und damit auch all ihrer Angehörigen in der Bundesrepublik nicht verhindert werden soll. Was sie zu verhindern droht, ist das Auseinanderfallen der gemeinsamen Bildungspolitik in lauter unterschiedliche Gesetze und Vorschriften der Länder, die die Grenzen innerhalb der Bundesrepublik für junge Leute in der Ausbildung und für Berufsanfänger am Ende so schwer überwindlich machen könnten wie einst in der unseligen deutschen Kleinstaaterei.Die Notwendigkeit der Einigung sieht darum jeder Vernünftige ein. So taten es auch alle Parteien, als sie sich auf der Sitzung der Bund-Länder-Kommission am 18. Juni 1979 auf einen Kompromiß einigten. Die Ausgangslage hatte so ausgesehen: CSU und CDU verlangten als Maßstab — auch für die Abschlüsse der Gesamtschule — ausschließlich die Abschlußbedingungen der dreigliedrigen Schulform. Schließlich aber fiel die Verständigung so aus, wie es die abschließende öffentliche Erklärung der BLK zusammenfaßte:Die Freizügigkeit im Bildungswesen soll insbesondere durch eine endgültige Absicherung der gegenseitigen Anerkennung der Abschlüsse gewährleistet werden, für die in der Kultusministerkonferenz möglichst rasch die Rahmenbedingungen geschaffen werden sollen.Selbst in der noch jederzeit umstrittenen Frage der unterschiedlichen Entwicklung im Schulbereich hatte man eine Lösung gefunden, die wechselseitige Toleranz verhieß. Die von der SPD und FDP regierten Länder und die Länder mit Mehrheiten der CDU und CSU haben sich darauf verständigt, die jeweils in anderen Ländern getroffenen Entscheidungen anzuerkennen.Doch die Rechnung war ohne den CSU-Vorsitzenden gemacht. Zwei Tage nach jener erwähnten BLK-Einigung ließ der bayerischen Ministerrat verlauten — ich zitiere —:Die Staatsregierung hat nicht die Absicht, der Einführung der Gesamtschule als Regelschule — weder in Bayern noch anderswo — zuzustimmen.
„Am bayerischen Wesen soll die Welt genesen", kommentierte daraufhin trefflich „Die Zeit".
Jetzt ging nichts mehr, ohne daß die bedingungslose Unterwerfung der SPD und FDP unter den CSU-Maßstab der dreigliedrigen Schulform mit einzig deren Abschlüssen lauthals gefordert wurde.Deshalb sei festgestellt: Wer versucht, sich vom Grundkonsens des 18. Juni 1979 wieder abzusetzen — aus welchen Gründen auch immer —, gefährdet die weitere Zusammenarbeit im Bildungswesen auf allen Ebenen aufs schwerste.
Genau das aber, meine Damen und Herren, ist in den zurückliegenden Wochen geschehen, und zwar mit einer Rücksichtslosigkeit,
die sich, so meinen wir, über wesentliche Erfordernisse für Kinder und junge Leute um einer maßlosen Konfrontation willen hinwegsetzt. Unverkennbar auf Druck des Gewittermachers von Sonthofen haben CSU und CDU die schon gefundene Gemeinsamkeit plötzlich aufgekündigt und selbst die längst anberaumte Anhörung der Betroffenen vor der Bund-Länder-Kommission abgesagt. Ihr Spitzenkandidat kann Einigung nicht gebrauchen. Neuerdings muß ihm also auch die Bildungspolitik zur unversöhnlichen Polarisierung herhalten.
Leider fand er seine Zauberlehrlinge auch unter bildungspolitischen Sprechern der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, die schon Nichtanerkennungspolitik betrieben, als sich die Mehrzahl Ihrer Länder-Minister noch um den Kompromiß in der Bund-LänderKommission verdient machten. In Ihrem Antrag
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14372 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 183. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. November 1979
Lattmannvom 11. Juni, Herr Pfeifer und Herr Rühe, ist das nicht weniger als in Ihren Eckpunkten zur Bildungspolitik vom 10. Oktober nachzulesen. Wer so kompromißlos immer nur den eigenen Standpunkt durchpauken will, wie Sie es dort tun, legt offensichtlich keinen Wert auf Verständigung, er will den Glaubensstreit.
So unverhohlen wie in den jüngsten Verlautbarungen der CSU und eines Teils der CDU ist selten ausgesprochen worden, worum es den Konfliktstrategen in Ihren Reihen offenbar in erster Linie geht: um die bildungspolitische Gegenreformation, um das möglichst totale In-Besitz-Nehmen des Denkens und Handelns der Heranwachsenden durch das alternativlose und zwanghafte Festhalten am überkommenen Schulsystem.
Um Schlimmeres zu verhindern, nämlich den Abbruch der bildungspolitischen Beziehungen zwischen der CSU-Staatsregierung und den CDU-regierten Ländern zum Bund und den Ländern mit SPD- und FDP-Mehrheit, legt die sozialdemokratische Fraktion gemeinsam mit dem Koalitionspartner den Antrag zur Fortschreibung des Bildungsgesamtplans vor. Wir geben uns mit dem Einfrieren der Bildungspolitik zwischen den Parteien bis nach der Bundestagswahl 1980 — das hieße konkret bis ins erste Arbeitsjahr der 9. Legislaturperiode, also 1981 — keineswegs zufrieden. Zwar ist es legitim, ja erforderlich, Schul- und Bildungsfragen zum Wahlkampfthema zu machen; doch halten wir es für unverantwortlich gegenüber den Betroffenen — das sind Millionen junger Menschen in der Bundesrepublik —, inzwischen das erforderliche bildungspolitische Handeln aufzugeben.
Nach unserem Antrag fordert der Deutsche Bundestag die Bundesregierung deswegen auf, sich mit allem Nachdruck für die Verabschiedung der Fortschreibung des Bildungsgesamtplans in der BundLänder-Kommission zu verwenden; ferner dafür einzutreten, daß das am 18. Juni von der BLK einvernehmlich beschlossene Anhörverfahren der Verbände und Institutionen ohne zweckvolle Verzögerung seitens der konservativen Parteien verwirklicht wird; schließlich die Gründe einsehbar zu machen, die zu der Blockade des von der Bund-LänderKommission ebenfalls einvernehmlich beschlossenen Verfahrens zur baldigen Verabschiedung der Fortschreibung des Bildungsgesamtplans geführt haben.Die Auseinandersetzung um die Weiterführung oder den Abbruch gemeinsamer Verantwortung von Bund und Ländern in der Bildungspolitik und damit konkret jetzt vor allem der Anerkennung von Bildungsabschlüssen der Länder untereinander darf nicht zum Ideologiestreit um Schulformen verkommen, denn es geht um mehr. Aber das Reizwort ,,Gesamtschule" ist nun einmal der Angelpunkt der öffentlichen Deutung und Fehldeutung geworden.Deswegen füge ich folgende Klarstellungen für die sozialdemokratische Fraktion an.Erstens. Wir treten für ein vielfältiges Bildungsangebot ein, in dem möglichst in allen Ländern die Gesamtschule als Angebotsschule überall dort verfügbar sein soll, wo der Elternwille sich dafür entscheidet.Zweitens. Die Bezeichnung „Regelschule" haben wir für die Gesamtschule durch „Angebotsschule" ersetzt, um Mißverständnisse auszuschließen.
Unter Regelschule verstehen manche Mitbürger anscheinend eine zwangsweise verordnete Schule. Das kann nach unserer Auffassung nur dort gelten, wo, wie in Bayern unter der CSU, mit Ausnahme nur noch eines voll gültigen Gesamtschulversuchs in München, keine freie Entscheidungsmöglichkeit der Eltern für diese alternative Schulform besteht.
Drittens. Die Orientierungsstufe, also die gemeinsame Schule für die Schüler der fünften und der sechsten Klasse, halten wir für die bessere Schule, weil die Kinder in ihr länger zusammenbleiben können und die Eltern sich später entscheiden müssen. Wir stimmen dem Bundesvorsitzenden des Verbandes Bildung und Erziehung, Wilhelm Ebert, zu, der sagt: „Eine Auslese mit zehn Jahren ist pädagogisch unhaltbar. Nur gottähnliche Leute können sagen, was aus Zehnjährigen wird."
Viertens. Wir weisen dringend darauf hin, daß etwa 360 000 Schüler in 295 Gesamtschulen überall in der Bundesrepublik ab 1981 drastisch benachteiligt wären, wenn die wechselseitige Anerkennung der Abschlüsse nicht durch Vereinbarung der Kultusministerkonferenz gewährleistet würde.Fünftens. Der Streit um dieselben Abschlüsse, wie ihn unerbittlich die CSU aufwirft, ist deswegen müßig, weil es sich bei alternativen Schulformen nur um einander entsprechende, gleichrangige Abschlüsse handeln kann.Im übrigen sollte es den alternativlosen Verfechtern des hergebrachten Dreiersystems — Hauptschule, Realschule, Gymnasium — zu denken geben, daß die Unzufriedenheit mit den staatlichen Schulen, also überwiegend mit der dreigliedrigen Schulform, an vielen Orten so bestimmend ist, daß nach Angaben des Verbandes der Privatschulen gegenwärtig mehr als 344 000 Schüler, freilich aus denkbar unterschiedlichen Motiven, private Schulen von 1479 Schulträgern besuchen, darunter allein im CSU-Staat fast 70000 Privatschüler in 352 Schulen. Spricht das etwa für die CSU-Schulpolitik, die erst unlängst im Bayerischen Landtag den Antrag der Sozialdemokraten zur Einführung von Gesamtschulen nach freier Elternwahl in zentralistischer Manier abgelehnt hat?
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Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 183. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. November 1979 14373
LattmannI Warum wird jede Neugründung einer Waldorfschule — wie kürzlich in Tübingen oder im Chiemgau — von den Eltern und den Kindern so stürmisch angenommen, daß es für nicht wenige der 61 Waldorfschulen in der Bundesrepublik mit nahezu 30000 Schülern dreifach so zahlreiche Wartelisten gibt, obwohl es sich hier um einen der klassischen Vorläufer der Gesamtschule handelt?
Wer wollte in diesem Zusammenhang die pädagogischen Erfolge etwa der Odenwaldschule oder der katholischen „Friedensschule" in Münster übersehen?
— Meine Damen und Herren Kollegen von der CDU/CSU, wir haben Ihren ersten Sprecher, Herrn Pfeifer, sehr ruhig und aufmerksam angehört.
Es wäre — —
Einen Augenblick, Herr Abgeordneter Lattmann! — Diesen Ausdruck weise ich zurück, Herr Abgeordneter Kohl.
Herr Kollege Kohl, es ist verhältnismäßig einfach, mit Hilfe von Mikrophon und Lautsprecher Zwischenrufe zu übertönen, aber es war doch Herr Pfeifer, der sich hier hinstellte und sagte: Wir wollen die Menschen im Lande sachlich über das informieren, was hier geschieht.
Deswegen wäre es doch ganz gut, wenn die uns an Fernsehen und Radio zuhörende Bevölkerung nicht so sehr Ihre Zwischenrufe hören müßte, sondern Gelegenheit hätte, den Sachstand und den Vortrag der Meinung der SPD-Fraktion ungestört anzuhören.
Gewiß sind diese die Privatschulen betreffenden Zahlen, die ich hier angeführt habe, in dieser Debatte nur ein Nebenaspekt, aber es muß schon sehr viel Unzufriedenheit mit herkömmlichen Staatsschulen geben, wenn so viele — oft keineswegs begüterte — Eltern für ihre Kinder die Zuflucht zu privaten Schulen nehmen. Diese Verdrossenheit kann durch das Konfrontationsdiktat des Spitzenkandidaten aus der CDU-Zentrale nur größer werden.Es gilt, denke ich, noch einiges zu dem Klima zu sagen, aus dem heraus sich diese Konfrontationspolitik anschickt, in andere Länder der Bundesrepublik hineinzuregieren. Man braucht im CSU-Staat nur mit Schulen umzugehen, um zu erleben, was mir unlängst im Allgäuer Wahlkreis eine Frau berichtete, die ihre Tochter in Sonthofen — ja dort — auf das Gymnasium hat einschulen lassen. Nachdem das Kind von zu Hause das Mitreden gewohnt war, eckte es in der Klasse an. Eine Lehrerin gab daraufhin der Mutter den gut gemeinten Rat: „Sie müssen wissen, daß das Gymnasium nicht nur hohe Anforderungen an den Intellekt stellt, sondern auch ein Höchstmaß an anpasserischen Fähigkeiten erfordert."
Meine Damen und Herren, wer so spricht, erzieht potentiell eine neue Generation von Mitläufern.
Wäre das ein Einzelfall, man könnte es vergessen, doch die Fälle häufen sich, in denen man in den konservativsten Bundesländern die Schüler und jungen Erwachsenen eher zum Gehorsam als zur Zivilcourage erzieht. Wer außerdem ständig Nationalsozialismus und Sozialismus verwechselt, wie dies die 'CSU geflissentlich tut, wer derlei geschichtslosen Unsinn verbreitet, blamiert nicht nur die eigene Partei bis auf die Knochen, sondern er macht sich auch politisch unglaubwürdig, wenn er von solcher Position aus der nächsten Generation Schularbeiten vorschreiben will.
Muß man denn in Deutschland die Wahrheit immer erneut zu Protokoll geben:
Die Sozialdemokraten stimmten gegen Hitlers Ermächtigung; es waren die Konservativen, die ja sagten.Eben wegen der drohenden Emotionalisierung, die durch Konfrontation angeheizt wird, tut es not, die bundesweite Diskussion um den Bildungsgesamtplan und in diesem Zusammenhang um die Gesamtschule auf die Fakten herabzunüchtern, gerade weil sich damit weniger schaumig argumentieren läßt. Dazu hat die 3. Bildungspolitische Konferenz des DGB vom 29. bis 31. Oktober in Essen Überzeugendes geleistet. Wer die Ergebnisse nachliest, findet das klare Ja zur Gesamtschule,
aber auch die kritische Auseinandersetzung mit manchen erwiesenen Mängeln in verschiedenen Ländern je nach Größe, Organisation, Lernzielen und Lehrerzahlen.Die stellvertretende Vorsitzende des Deutschen Gewerkschaftsbundes, Frau Maria Weber,
jetzt vom „Bayernkurier" mit einem Parteiausschlußverfahren aus der CDU bedroht,
hat dafür in Essen die folgenden richtigen Worte gefunden:
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14374 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 183. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. November 1979
LattmannWir halten die Gesamtschule für eine reale Chance, den Kindern und Jugendlichen insbesondere aus Arbeitnehmerfamilien die bestmögliche Bildungsförderung zu sichern, damit Chancengleichheit zu schaffen und neue Lern- und Arbeitsformen durchzusetzen.Auch die sogenannte Fend-Studie, die Kultusminister Girgensohn am 2. November in Düsseldorf der Offentlichkeit vorgestellt hat, kommt zu sehr differenzierten Ergebnissen.
Erwiesen ist demnach — analog zu Untersuchungen in anderen Ländern —, daß die Gesamtschule im Verhältnis zum dreischichtigen Schulsystem vor allem eines ist: die demokratischere Schule.
Die Gesamtschulen fördern die im Sinn eines herkömmlichen Leistungskodex als schwächer eingeschätzten Kinder besonders. Weniger Kinder verlassen daraufhin unser Schulsystem ohne einen Abschluß. Das ist angesichts der realen Gegebenheiten der Arbeitswelt, in der Hauptschüler die meisten Arbeitslosen stellen, ein vom Standpunkt der Gerechtigkeit nicht zu unterschätzender Vorzug. Daß in manchen untersuchten Fällen — in anderen trat diese Erscheinung nicht auf — demgegenüber intellektuell besonders begabte Kinder durch das Einbeziehen in den allgemeinen Entwicklungsgang nicht ganz so schnell vorankommen, wie es ihnen individuell möglich wäre, mag nur denen schlimm erscheinen, für die soziale Geduld kein pädagogisches Kriterium ist. Überdurchschnittlich Begabte und Hochbegabte haben es ohnehin leichter in einer Gesellschaft, die ihre Leistungsansprüche so überzogen am abfragbaren Formelwissen und ganz allgemein beim Materiellen setzt.Integration ist das umfassendere Bildungsprinzip. Jedenfalls brauchen wir keine Aufzucht von Spalierstrebertum, in dessen oberem Netzwerk Eierköpfe auf dünnen Hälsen wackeln.
Wo Polarisierung triumphiert, geraten solche Erfahrungen gar nicht erst in den Blick. Die Konsequenzen der Konfrontationsfernsteuerung aus der Münchener Lazarettstraße bekommen wir in jeder Sitzungswoche zu spüren. Sie wirken sich bis in die Ausschußarbeit aus. Parlamentarier aus unterschiedlichen Fraktionen, die sich vorher auf Vernunftmaßstäbe einigen konnten, können das immer seltener. Die Sonthofener Lesart richtet nicht nur in der Bildungspolitik Flurschaden an: geistigen Flurschaden in einem Gelände, das sachpolitisch nur mit Differenzierung zu vermessen ist.
Dabei gibt es doch in letzter Zeit immer mehr warnende Stimmen von besonnenen Sachkennern unter aufgeklärten Konservativen, die ebenfalls vor der Mobilmachung aller Konfrontations-Mechanismen zurückschrecken. Rühmenswert ist hier die Stellungnahme des Vorsitzenden des Bundeselternrats, Alois Graf von Waldburg-Zeil, der vor wenigen Tagen gesagt hat:Wir müssen vor allem unterscheiden, daß wir in dem Konfrontationskurs, der gegenwärtig die Politik in der Bildung bestimmt, strikt dagegen sind, daß sich diese Konfrontation auf die wechselseitige Anerkennung der Abschlüsse ausweitet. Wir haben nichts dagegen, daß in der bildungspolitischen Landschaft darüber diskutiert wird, ob neue Schulformen sinnvoll sind oder nicht und in welchem Ausmaße sie eingeführt werden sollen. Was man aber nicht machen darf, ist, die Konfrontation auszuweiten auf die Kinder, indem man wechselseitige Abschlüsse nicht anerkennt.
Wir haben gebeten, daß sich die Politiker wieder an den Tisch zurücksetzen und weiterverhandeln ... Herr Remmers war ja bei den Gesprächen in der Bund-Länder-Kommission schon zu einem Punkt gediehen, in dem er glaubte, einen Kompromiß erzielt zu haben. Dieser Kompromiß entspricht dem, was der Bundeselternrat gefordert hat.Sinngemäß gleichlautend könnte man ausführlich den frisch gewählten Bundesvorsitzenden des Verbands Bildung und Erziehung mit etwa 100 000 Lehrer-Mitgliedern, Wilhelm Ebert, mit seiner Rede auf dem VBE-Kongreß in Mainz am 3. November zitieren. Unzählige Beispiele dieser Art lassen sich anführen für den, der für mäßigende Vernunft noch den Kopf frei hat.Argumente ebenso dafür, daß neben der Diskussion der Schulfragen die Neubelebung der Berufsbildungspolitik im Rahmen der Fortschreibung des Bildungsgesamtplans mindestens ebensoviel Bedeutung hat. Die Fragen der besseren Abstimmung der Rahmenlehrpläne der Berufsschulen mit den Ausbildungsordnungen und neuen Berufsbildern. Die für große Bevölkerungszahlen immer wichtiger werdenden Fragen der Berufsfortbildung, der allgemeinen Weiterbildung. Die Auseinandersetzung um die Qualität der Inhalte, bei denen das Lernziel Leistung scheitert, wenn man das Lernziel Demokratie und Toleranz darüber vergißt.
Angesichts dieser Fülle konkreter Notwendigkeiten zu bildungspolitischem Handeln im Einvernehmen von Bund und Ländern dürfen wir uns nicht zu Unversöhnlichkeit hinreißen lassen, auch wenn die Fliehkräfte des Wahlkampfs das Unternehmen der Wahrheitsfindung bis ins Absurde erschweren. Eine Unmenge Intelligenz wird darauf verwendet, Sachprobleme in der Reaktion der Bevölkerung emotional zu verzerren. Hören wir auf damit! Beauftragen wir Parlamentarier in Bund und Ländern diejenigen Politiker, die in der Bund-Länder-Kommission die Verhandlungen führen, mit der Wiederaufnahme konkreter Verhandlungen, mit der Durchführung des Anhörverfahrens, mit der Verabschiedung der
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Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 183. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. November 1979 14375
LattmannFortschreibung des Bildungsgesamtplans auf der Linie des Kompromisses vom 18. Juni!
Tun wir das in dem Wissen, wieviel zwischen Bund und Ländern auf der Ebene der Bildungsbürokratien politisch ausgetragen und ausgehandelt wird — ohne parlamentarische Kontrolle!Jedenfalls, Herr Kollege Pfeifer — und damit schließe ich —, wenn der Teil Ihrer Rede, der hier heute morgen sagte: „Rückkehr zur Sachlichkeit", „Rückkehr zur Verhandlungsbereitschaft", so ernst gemeint ist, wie er klang, ist es für eine Einigung zwar spät, aber noch nicht zu spät.
Das Wort hat Frau Abgeordnete Schuchardt.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der kooperative Föderalismus ist zur Zeit in einer tiefen Krise. Dieses konnten wir bereits in den ersten beiden Reden bestätigt finden. Bund und Ländern gelingt es nicht, sich zu einer gemeinsamen Bildungsplanung durchzuringen. Der kooperative Föderalismus mußte dem Konfrontationsföderalismus weichen.Ich kann mich noch sehr wohl an die Debatte erinnern, die vor etwas mehr als einem Jahr zu dem Bericht über die strukturellen Probleme des föderativen Bildungssystems stattfand.
Damals traten die Kultusminister der unionsregierten Länder auf und priesen das hohe Lied des Föderalismus. Der bayerische Kultusminister pries damals sogar den Mut zur Ungleichheit.
— Das ist gut, daß Sie das unterstützen.
Zur Ungleichheit gehört aber untrennbar die Toleranz, diese Ungleichheit zu akzeptieren oder zumindest zu ertragen.
Nun aber ist es genau dieses Land, das den kooperativen Föderalismuns durch eigene Zensur gegenüber der Entwicklung in anderen Ländern gefährdet, ja zerstört. In den letzten Wochen und Monaten hat sich die Debatte über den Bildungsgesamtplan auf die Auseinandersetzungen um die Gesamtschule verengt. Tatsächlich umfaßt der Bildungsgesamtplan aber die Entwicklung im Bildungssystem vom Kindergarten bis zur Erwachsenenbildung.
Nach einer Lösung schreiende Probleme liegen auf dem Tisch. Das Bildungssystem muß mit zahlenmäßig stark schwankenden Geburtsjahrgängen fertig werden. Die Eltern haben einen Anspruch, zu erfahren, wie ihre Kinder, die in geburtenschwachenJahrgängen geboren wurden, ein wohnortnahes Bildungsangebot im Schulbereich sichergestellt bekommen. Die rund 1 Million Kinder ausländischer Arbeitnehmer sollen — darüber sind sich alle Parteien einig — gleiche Bildungschancen erhalten wie ihre deutschen Altersgefährten. Nur, wo folgt diesen hehren Zielen die konkrete Planung?Da bringt die Union hier im Bundestag wohlklingende Anträge ein, um dem Bürger möglichst zu suggerieren, daß der Bund dafür zuständig sei, und verhindert gleichzeitig dort, wo die Zuständigkeit liegt, in den Ländern, eine vernünftige, zukunftsorientierte Lösung.
Die Bürger haben ein Recht darauf, daß auch bei unterschiedlichen Entwicklungen und Wegen in den einzelnen Bundesländern die Freizügigkeit für Schüler, Lehrer und Eltern durch Toleranz und gegenseitige Anerkennung der Abschlüsse sichergestellt wird. Dies sind nur einige Beispiele. Aber dies und vieles Notwendige darüber hinaus wird einer zukunftsorientierten Planung entzogen, weil einer die Devise der totalen Konfrontation ausgibt. Leider nur mit wenigen Ausnahmen folgt diesem der Rest der Union. Welch ein erbärmliches Schauspiel!Es gehört oder wenigstens gehörte zum Konsens aller politischen Verantwortlichen, daß die gemeinsame Bildungsplanung von Bund und Länder ein Höchstmaß an Weitsicht, Kompromißbereitschaft und gegenseitiger Toleranz erfordert. Der erste Bildungsgesamtplan — von 1973 — wurde von allen Regierungschefs gebilligt, obwohl es in den Fragen der Gesamtschule, der Orientierungsstufe und der Lehrerausbildung unterschiedliche Auffassungen gab, die weiter bestanden, aber gegenseitig toleriert wurden.Nach längeren Vorbereitungsarbeiten einigten sich nun Bund und Länder am 18. Juni dieses Jahres, den Bildungsgesamtplan fortzuschreiben und zu aktualisieren; sie stellten insbesondere auch einen Zeitplan zur Anhörung von Verbänden auf und wollten die endgültige Verabschiedung noch in diesem Jahr herbeiführen. In der Frage der Gesamtschule wurde eine Verständigung gefunden, nach der die Freizügigkeit im Bildungswesen durch eine endgültige Absicherung der Abschlüsse von Gesamtschulen durch gegenseitige Anerkennung gewährleistet werden sollte. Grundlage dieser Verständigung war das Wissen um die unterschiedlichen politischen Auffassungen und eine entsprechend unterschiedlich verlaufene Entwicklung in den Ländern. Mit diesem Kompromiß wäre dem Gesamtschulstreit der Charakter eines bildungspolitischen Glaubenskrieges genommen worden.Ein Satz nun machte — zwei Tage später, noch im Juni — diesen vernünftigen Ansatz zunichte:Die bayerische Staatsregierung hat nicht die Absicht, der Einführung der Gesamtschule als Regelschule — weder in Bayern noch anderswo — zuzustimmen.
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14376 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 183. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. November 1979
Frau SchuchardtDies war vor der schulpolitischen Entscheidung in Hamburg. Ich bin wirklich nicht aufgerufen, diese nun in der Form, wie sie gefallen ist, zu verteidigen.
Nur: Zu unterstellen, daß dies der Anfang der Konfrontation war, heißt natürlich schlicht und einfach die Geschichte auf den Kopf stellen.
Nach dem 18. Juni begann die Konfrontation, ausgelöst durch einen Beschluß der bayerischen Staatsregierung.
Dies war vor der Rede von Bildungsminister Schmude in Essen — die ist nämlich noch gar nicht so lange her —, und es war auch vor der Zeit, in der mein Bundesvorsitzender in diesem Zusammenhang die außerordentlich harten Worte fand. Jeder, der Genscher kennt, weiß, daß er eher zu Kooperation bereit ist, als daß er sich allzu leicht auf Konfrontation einläßt. Hier hat selbst er nur noch diese harten Worte finden können. Man muß die Konfrontation offenbar annehmen.Es ist allzu offensichtlich, daß der Spitzenkandidat der Union im Sinne seiner Sonthofener Rede — die kann man in diesem Zusammenhang ja noch einmal nachlesen — im Hinblick auf die Bundestagswahl 1980 eine Emotionalisierung der Wähler im Bereich der Schulpolitik anstrebt. Wahlkampf statt Bildungspolitik, das ist offenbar nun die Devise.Kultusminister Remmers hat durch seinen Rücktritt als stellvertretender Vorsitzender der BundLänder-Kommission, nachdem er gerade gewählt worden war, die Konsequenzen daraus gezogen, daß sich ein großer Teil der bildungspolitisch Verantwortlichen in der Union offensichtlich mit der Konfrontationsstrategie einverstanden erklärt hat. Welch ein Armutszeugnis, daß die Vernünftigen, die an der Sache orientiert sind, innerhalb der Union zahlenmäßig nur so schwach vertreten sind!Im vorliegenden Antrag der Union wird die Fortschreibung des Bildungsgesamtplanes als eine wichtige Aufgabe gemeinsamer Bildungsplanung bezeichnet, die durch vertrauensvolle Kooperation und einvernehmliche Lösungen bewältigt werden soll. Dies ist auch die Auffassung der FDP und der sozialliberalen Koalition.Nun konnten wir allerdings erfahren, daß die Vertreter der CDU/CSU-Bundestagsfraktion Herrn Remmers im Mai dieses Jahres gedrängt haben, auf die Fortschreibung des Bildungsgesamtplans überhaupt zu verzichten. Sie hätten sich gegen jeden Kompromiß, mindestens vor der Bundestagswahl, gewandt. Diese Zeit müsse nun einmal die Zeit harter bildungspolitischer Konfrontation sein. — Herr Pfeifer, dies steht ja nun wohl im krassen Widerspruch zu Ihren ersten Worten hier.Wenn nun dies alles, was Herr Remmers geschrieben hat, richtig ist, ist der vorliegende Antrag der Union vom 13. Juni, also einen Monat, nachdem offenbar auch in Ihrer Fraktion die Konfrontation Devise war, ein Dokument politischer Unaufrichtigkeit.Die FDP beobachtet seit Jahren mit großer Skepsis die Ausschaltung der Parlamente in Bund und Land aus der bildungspolitischen Willensbildung. Immer mehr mußten die Länderparlamente akzeptieren, was die Kultusbürokratien ausgehandelt hatten, ohne daß es noch wesentliche Möglichkeiten der Einflußnahme gab. Jetzt müssen wir Parlamentarier in Bund und Land sogar hinnehmen, daß die Kultusbürokratien nicht mehr fähig sind, notwendige Beschlüsse zu fassen, wobei wir noch nicht einmal die Möglichkeit haben, das Gesetz des Handelns an uns zu ziehen. In einer parlamentarischen Demokratie ist es schlimm, wenn die Parlamente ihre eigene Ohnmacht feststellen müssen.Als die Bundesregierung vor anderthalb Jahren auf Betreiben der FDP den Bericht über die strukturellen Probleme des föderativen Bildungssystems vorlegte, erklärten die unionsregierten Länder, dies sei ein unnützes und unredliches Papier. Jetzt wird die Notwendigkeit unseres Antrags durch das Verhalten der unionsregierten Länder auf traurige Weise bestätigt.Die FDP wendet sich nicht generell gegen die Kulturhoheit der Länder. Jedes Land sollte für sich in der Lage sein, das Bildungssystem zu gestalten. Der Wettbewerb zwischen den einzelnen Ländern für ein besseres Bildungssystem kann für alle nur zum Nutzen sein. Es gilt also nicht, den kooperativen Föderalismus abzuschaffen, sondern es gilt, ihn überhaupt erst wieder gangbar zu machen. Dazu muß der Deutsche Bundestag seinen Teil beitragen.Der Bericht der Bundesregierung machte deutlich, mit welchem Kirchturmdenken die einzelnen Bundesländer bei der Anerkennung der Abschlüsse in anderen Bundesländern verfahren. Wir kämpfen weltweit für die Anerkennung unserer Abschlüsse im Bildungssystem. Wie wollen wir eigentlich von anderen Ländern erwarten, daß sie unsere Abschlüsse anerkennen, wenn sich die einzelnen Bundesländer untereinander damit so schwertun! Hier bedarf es dringend der Kompetenz des Bundes.Die Stellungnahme der Kultusministerkonferenz zum Strukturbericht über das föderative Bildungssystem lautet:Die Kultusministerkonferenz ist sich bewußt, daß in der Bundesrepublik Deutschland ein stärkeres Maß an Einheitlichkeit, besonders in den von der Bundesregierung angesprochenen Problembereichen, angestrebt werden muß. Die Länder sind entschlossen, besonders im Rahmen der Kultusministerkonferenz und der Bund-Länder-Kommission für Bildungsplanung und Forschungsförderung, bestehende Schwierigkeiten zu bewältigen.Die Kultusminister versprachen, nicht nur für die Fortschreibung des Bildungsgesamtplans Ende des Jahres 1978 einen beschlußreifen Entwurf vorzulegen, sondern auch die offenen Fragen der gegenseitigen Anerkennung von Abschlüssen im Geiste des kooperativen Föderalismus ohne den Bund zu lösen.
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Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 183. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. November 1979 14377
Frau SchuchardtHeute wissen wir, daß, wenn nur ein Land diesen Geist des kooperativen Föderalismus vermissen läßt, das ganze System in sich zusammenfällt. Ungelöst ist die Frage der Anerkennung der Abschlüsse in den Berliner Oberstufenzentren, und ungelöst ist die Anerkennung von Gesamtschulabschlüssen über das Jahr 1981 hinaus, mal ganz abgesehen von den vielen Abschlüssen unterschiedlicher Art in den einzelnen Bundesländern,, die nun wiederum von anderen Bundesländern nicht akzeptiert werden.Wenn es nun darum geht, die Berliner Oberstufenzentren nicht anzuerkennen, so möchte ich die Union einmal daran erinnern, daß sie laufend das Hohelied der Gleichrangigkeit von beruflicher und allgemeiner Bildung predigt. Und wenn es darum geht, bestimmte berufsqualifizierende Abschlüsse einzubeziehen, um auch diesen Menschen ein Universitätsstudium zu ermöglichen, dann wird diese Gleichwertigkeit verweigert.
Werden Sie endlich einmal ehrlich in Ihrer eigenen Argumentation!
— Natürlich ist dies richtig, ich bitte Sie. Vielleicht hat das Baden-Württemberg anerkannt, aber Bayern hat außerordentliche Schwierigkeiten damit, diesen Abschluß anzuerkennen. Wenn Sie schon den Handwerksmeistern vorreden, Sie seien für die gleichrangige Anerkennung ihrer Leistungen innerhalb unseres Systems, dann machen Sie bitte daraus auch eine gewisse Logik, und erkennen Sie diese Leistungen als gleichwertig an, und geben Sie ihnen damit auch die gleichen Aufstiegschancen!
All diese Probleme geben dem Strukturbericht ein neues Gewicht. Wenn sich dieses Parlament oder, besser gesagt, dieses parlamentarische System überhaupt noch ernst nimmt, werden wir wichtige Entscheidungen wie z. B. die Anerkennung von Abschlüssen aus der Grauzone der Kultusbürokratien in der Kultusministerkonferenz und in der BundLänder-Kommission an das Licht der parlamentarischen Entscheidung dieses Bundestages hervorziehen müssen.Die FDP bekennt sich zur Gesamtschule als einem zusätzlichen Angebot neben dem gegliederten Schulsystem von Hauptschule, Realschule und Gymnasium.
— Nein, ich würde Ihnen empfehlen, die Sachen, die in Nordrhein-Westfalen zumindest im Vorentwurf vorliegen, einmal durchzulesen, bevor Sie diesen Zwischenruf machen.Die Zusammenfassung der Klassen 5 bis 10 in einer integrierten Gesamtschule ist eine vernünftige Sache, wenn ein nach Leistung, Interesse und Begabung differenziertes Lernangebot vorhanden ist. Die Gesamtschule ist eine der Demokratie angemessene Schule.
Ich möchte dies einmal mit den Erfahrungen einer Grundschullehrerin verdeutlichen. Sie lädt von Zeit zu Zeit ihre früheren Schüler ein, die inzwischen in den unterschiedlichen Schultypen gelandet sind, und stellt fest, daß sich die Schüler aus der Hauptschule und aus dem Gymnasium nach einigen Jahren kaum mehr miteinander unterhalten können. Aber die Schüler einer Gesamtschule sind noch fähig, sich miteinander zu unterhalten, unabhängig davon, ob sich der Schüler in Leistungskursen befindet, die der Hauptschule oder dem Gymnasium entsprechen. Meine Damen und Herren, wenn nicht das gegenseitige Verständnis, weil man eine gleiche Sprache spricht, eine notwendige Voraussetzung für die demokratische Gestaltung unserer parlamentarischen Demokratie ist, dann weiß ich nicht, welche Voraussetzung es dann ist.Die Bundesregierung hat in ihrer Antwort auf die Große Anfrage der SPD und FDP zur Bildungspolitik aus den vorliegenden Ergebnissen der Gesamtschulversuche feststellen können, daß der einzelne Schüler dort besser nach seinen spezifischen Neigungen und seinem Leistungsvermögen gefördert werden kann als im dreigliedrigen Schulsystem. Die Benachteiligungen bestimmter Gruppen können besser ausgeglichen werden, die Einstellung von Eltern und Schülern zur Schule ist positiver, und, was für eine Demokratie unverzichtbar ist, die Toleranz, die Zusammenarbeit, das Selbstvertrauen, die Bereitschaft zum Kompromiß und die soziale Integration können in einer Gesamtschule stärker gefördert werden.Meine Damen und Herren, wir Liberalen wollen die Gesamtschule niemandem aufzwingen, auch wenn wir sie für eine gute und zukunftsträchtige Schulform halten.
— Das stimmt nicht, Herr Rühe. Seit Sie nicht mehr in der Bürgerschaft sind, scheinen Sie sich auch nicht mehr für den Inhalt der beschlossenen Gesetze zu interessieren. Ich möchte Sie einmal daran erinnern. Es ist keineswegs so; zwar nennen die es Regelschule, aber die machen genau den Fehler, den Herr Lattmann hier beschrieben hat. Lesen Sie einmal den genauen Wortlaut durch, und gehen Sie nicht nur nach Schlagworten!
Die Gesamtschule hat sich bereits so bewährt, daß sie als ein normales zusätzliches Angebot bereitgestellt werden muß. Wer vom Elternwillen spricht, muß auch zugestehen, daß es für die Gesamtschulen überall dort, wo sie schon existieren, einen Numerus clausus gibt, d. h. es möchten mehr Eltern ihre Kinder in die Gesamtschule schicken, als Gesamt-
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14378 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 183. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. November 1979
Frau Schuchardtschulplätze bereitstehen. Wer den Elternwillen wirklich ernst nimmt, muß auch hinnehmen, daß die Eltern, die ihre Kinder in eine Gesamtschule schikken wollen, dies in absehbarer Zeit auch tun können.Wir wollen, daß das Gesamtschulsystem und das traditionelle dreigliedrige Schulsystem nebeneinander bestehen. Ich habe nichts gegen den Wettbewerb. Ich bin ganz sicher, zu wessen Gunsten er sich entscheidet.
Einige unionsregierte Länder vorenthalten ihren Schülern nun ein solches Angebot. Dafür gibt es für mich nur zwei Erklärungen. Entweder will man aus ideologischen Gründen am dreigliedrigen Schulsystem und damit an einem hierarchisch gegliederten System festhalten.
— Ich möchte nicht weiter darauf eingehen, wenn Hierarchie nur mit dem Begriff „praktisch" umschrieben wird. Wir sind hier in einem demokratischen System, wenn ich es richtig sehe, und darin muß Hierarche durch Autorität und nicht durch autoritäres Verhalten sichergestellt werden.
Es gibt noch die zweite Möglichkeit, daß die Union den Wettbewerb zwischen dem dreigliedrigen Schulsystem und dem Gesamtschulsystem nicht wagt und ihn deshalb in ihren Ländern auch nicht einführt.
Die FDP ist in allen Ländern für eine intensive wissenschaftliche Begleitung der Gesamtschulversuche eingetreten. Wir haben diese Versuche nie unter dem Gesichtspunkt gesehen, daß sich unsere Auffassung dadurch bestätigen sollte, sondern immer unter dem Aspekt, daß wir daraus auch lernen wollen. Insofern nehmen wir die von der in Nordrhein-Westfalen eingesetzten wissenschaftlichen Beratergruppe festgestellten Leistungsdefizite ernst. Wir nehmen sie ernst, auch wenn sie von den Wissenschaftlern nicht als gesamtschulspezifisch angesehen werden. Ähnlich wie die FDP in Hessen zur Konsolidierung der Gesamtschulen beigetragen hat, wird sie es auch in Nordrhein-Westfalen tun und konkrete Verbesserungsvorschläge einbringen, um die festgestellten Mängel zu beseitigen.In weiten Teilen der Bevölkerung besteht — Herr Lattmann hat bereits darauf hingewiesen — großer Unmut über das Bildungssystem. Dabei wird immer gern übersehen, daß die weitaus meisten Schüler im Rahmen des dreigliedrigen Schulsystems ausgebildet werden. Folglich ist der Unmut auch fast ausschließlich gegen das dreigliedrige Schulsystem gerichtet. Die Wasserköpfe in den einzelnen Kultusbürokratien der Länder — unabhängig vom Parteibuch —
übertreffen sich gegenseitig in dem Erberschwemmen mit Verordnungen und Richtlinien, die bis in das einzelne gehen. Herr Probst, Sie sollten sich einmal die nach Metern zu messenden Verordnungen der bayerischen Kultusbürokratie ansehen.
Dann werden Sie feststellen, daß auch Sie sich sehr wohl im Gestrüpp der Bürokratie verstricken können. Diese Bürokratisierung — bis hinein in die Schulen — hat zu der zu beobachtenden Resignation geführt. Die Bürokratisierung gibt nicht mehr die Möglichkeit der Eigengestaltung in den Schulen. Das führt zur Resignation. Sie resultiert z. B. aus dem Stundenausfall, wenn also das Kind plötzlich viel früher aus der Schule kommt, als es eigentlich nach dem Stundenplan vorgesehen ist. Das sind die Probleme, die dem einzelnen Bürger wirklich auf den Nägeln brennen.Die Union versteht es nun, diese Kritik einseitig auf ein Schulsystem abzulenken. Man scheut sich dann auch nicht, sich polemischer Worte zu bedienen und von der sozialistischen Einheitsschule, dem Billigpreisabitur oder von Discountexamina zu sprechen. So kann man sicherlich keine vernünftige Bildungspolitik betreiben.Nun sollten wir einmal einen Blick über den Zaun in die anderen Länder wagen. Das kann manchmal sehr hilfreich sein. In den führenden Industrieländern außerhalb Europas — wie den USA, Kanada, Australien und Japan — ist die Gesamtschule schon seit langem die Regel, und zwar im wahrsten Sinne des Wortes. In den letzten zwanzig Jahren ist in fast allen Ländern Europas eine zügige Hinwendung zur Gesamtschule erfolgt, so u. a. in den skandinavischen Ländern, in England, in Frankreich und in Italien. Nur einige Kantone in der Schweiz und Osterreich tun sich in dieser Hinsicht schwer.Man kann nicht häufig genug auf die Erklärung der Bayrischen Staatsregierung vom Juni dieses Jahres hinweisen.
Wenn wir heute den Streit um die Anerkennung von Abschlüssen der Gesamtschulen hier in der Bundesrepublik betrachten, so wirkt dieser geradezu gespenstisch. „Die Staatsregierung hat nicht die Absicht, der Einführung der Gesamtschule als Regelschule weder in Bayern noch anderswo zuzustimmen." Wie schon gesagt, gerade die Union singt in den letzten Monaten das hehre Lied von der Freizügigkeit, um junge Menschen dazu zu motivieren, einen Teil ihrer Ausbildung im Ausland zu absolvieren. Richtig. Nur, will die Bayerische Staatsregierung logisch sein, so dürfte sie die in den anderen Industrienationen im Gesamtschulsystem erworbenen Abschlüsse auch nicht anerkennen — nach dem Motto: die Amerikaner, die Engländer, die Franzosen und die Skandinavier haben es versäumt, vor der
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Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 183. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. November 1979 14379
Frau SchuchardtVerabschiedung ihrer Schulgesetze bei der Bayerischen Staatsregierung die Zustimmung dazu einzuholen. Auf welche abenteuerliche Schiene sich die Bayerische Staatsregierung hier begeben hat, wird daran wohl nur allzu deutlich.Natürlich werden die Abschlüsse der Gesamtschulen anderer, nichtdeutscher Länder, anderer Industriestaaten anerkannt. Man gäbe sich ja sonst auch der Lächerlichkeit preis, gesetzt den Fall, diese Debatte fände auf europäischer Ebene statt. Stellen Sie sich diese Debatte einmal im Europäischen Parlament vor: Der Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland würde sagen, die Bundesregierung hat nicht die Absicht, der Einführung der Gesamtschule als Regelschule weder in der Bundesrepublik noch in den anderen europäischen Ländern zuzustimmen. Ich frage mich, was die anderen europäischen Staatschefs dazu wohl sagen würden.
Hier in der Bundesrepublik aber wird uns diese Debatte ohne Rücksicht auf die Souveränität der Länderparlamente, ohne Rücksicht auf die Kinder und Jugendlichen in diesen Schulen und ohne Rücksicht auf das Elternrecht zugemutet.Gestatten Sie mir noch ein paar Bemerkungen zu einigen Themen, die die bildungspolitische Debatte mit bestimmen. Die Schulgröße ist keine Frage der Schulform. Die Schulen müssen so gestaltet sein, daß sich Kinder, Eltern und Lehrer dort zurechtfinden und wohlfühlen. Die Diskussion um die Gigantomanie beim Schulbau ist nun aber merkwürdigerweise im Zusammenhang mit der Gesamtschule entstanden. Gleich große Schulen im herkömmlichen Schulsystem haben allerdings keineswegs zur gleichen Kritik geführt.
Frau Abgeordnete Schuchardt, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Ich habe nicht mehr viel Zeit, aber bitte schön.
Frau Schuchardt, nur zur Klarstellung: Sind Sie nicht darüber orientiert, daß sich zwangsläufig bestimmte Größen ergeben müssen, wenn man in einer Gesamtschule nach innen und nach außen differenzieren will?
Ich wollte jetzt gerade beweisen, daß das Gegenteil der Fall ist. Zu diesem Ergebnis kommt man jedenfalls, wenn man die wissenschaftliche Begleitung von Gesamtschulen aufmerksam verfolgt hat.
Für die FDP ist die Schulgröße, Herr Daweke, keine Frage eines Arguments gegen die eine oder die andere Schulform,
sondern ein grundsätzliches Problem.
— Kann ich das nun einmal — —
— Herr Rühe, ich muß Ihnen wirklich sagen: Nein, keineswegs ganz kurz; denn ich werde jetzt anschließend genau das beweisen, was Sie jetzt zu fragen beabsichtigen. Deswegen, Herr Präsident, fühle ich mich leider nicht in der Lage, diese Frage zuzulassen.
Frau Abgeordnete Schuchardt, es ist Ihr gutes Recht, eine Zwischenfrage nicht zu gestatten. Das ist hiermit geschehen.
Ich bitte, Platz zu nehmen, Herr Rühe.
— Ja.
Es ist ja auch ein ganz schönes Prinzip, einen Redner immer dann durch Zwischenfragen zu unterbrechen, wenn er einen Gedankengang hinsichtlich eines wichtigen Punktes darlegen will,
ihn zunächst einmal nicht ausreden zu lassen, damit er ja nicht zu einem sachlichen Beitrag kommt.
Einen Augenblick, Frau Kollegin Schuchardt. Der Geräuschpegel steht in diametralem Gegensatz zum Besuch dieses Hauses durch die Abgeordneten.
Ich habe nichts dagegen. Dieses ist keine Kanzel.
Ich wollte auch kein Prediger sein, zumal sich eine Klage über die große Zahl Abwesender ohnedies immer an die Falschen richtet.
Meine Damen und Herren, ich gebe gern zu: Wir waren der Auffassung, daß ein differenziertes Bildungsangebot nur in größeren Schulen bereitgestellt werden kann. Wir sind nach den ersten Jahren der Schulversuche zu dem Ergebnis gekommen, daß auch Schulen mit drei parallelen Klassen sehr wohl eine gute Differenzierung ermöglichen. Damit wird das Bildungsangebot in einer Gesamtschule besonders attraktiv in dünn besiedelten Gebieten. Meine Damen und Herren, bedenken wir, wie lange Schüler heute in einigen Regionen der Bundesrepublik fahren müssen, um zum nächsten Gymnasium zu kommen, so erscheint es sehr gut möglich, daß durch die Gesamtschulen auch das gymnasiale Angebot sehr viel wohnortnäher eingerichtet werden könnte, als das heute vielerorts der Fall ist.Die FDP hat aus den vorliegenden Gesamtschulversuchsergebnissen noch eine weitere Erkenntnis gezogen: Kinder bedürfen in den ersten Jahren des Schutzes einer festen Gruppe. Die Differenzierung darf also erst mit steigendem Alter in der Schule zunehmen. Die Bezugsgruppe muß für ein Kind und für einen Jugendlichen noch erhalten bleiben. Die
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Frau SchuchardtDifferenzierung des Lernangebots für den einzelnen Schüler ist also insoweit begrenzt.Ich möchte auch noch eine Bemerkung zum Begriff „Regelschule" machen. Die Bildungspolitiker neigen dazu — wie übrigens die Politiker aller anderen Politikbereiche auch —, sich einen bestimmten Sprachschatz zuzulegen, der von denen, die sich nicht täglich mit Bildungspolitik befassen, kaum mehr verstanden wird. Dazu gehört der Begriff „Regelschule". Jeder normale sprachkundige Mensch versteht unter dem Begriff „Regelschule" diejenige Schule, die in der Regel überall angeboten wird. Hört er also, daß die Gesamtschule als Regelschule eingeführt werden soll, so schließt er daraus messerscharf, daß diese Schule in der Regel angeboten wird und dann nur noch wenige Ausnahmen belassen werden.Ich bedauere seit vielen Monaten, daß die Bildungspolitiker, die die Gesamtschule befürworten, dieses Mißverständnis nicht ausräumen, sondern statt dessen auch noch halstarrig auf dieser mißverständlichen Bezeichnung beharren.Es würde der weiteren Diskussion sicherlich erheblich helfen, wenn man die derzeitigen bildungspolitischen Vorgänge in einigen Bundesländern auch so beschreibt, wie sie sich tatsächlich abspielen. Dieses heißt: Die Gesamtschule wird eben neben dem herkömmlichen Schulsystem gleichberechtigt angeboten, und Eltern, die ihre Kinder in eine Gesamtschule schicken wollen, sollen einen Anspruch darauf haben. Nur so kann es gelingen, den Eltern gegenüber wieder deutlich zu machen, daß ihnen nichts oktroyiert werden soll, sondern daß ihrem Willen überlassen bleibt, welche Schule ihre Kinder besuchen sollen.Meine Damen und Herren, zum Elternwillen ist hier viel gesagt worden. Ich nenne nur ein Beispiel: Die FDP in Bayern mußte mit großem Aufwand ein Volksbegehren herbeiführen, damit die Eltern endlich in die Lage versetzt wurden, ihre Kinder nicht notwendigerweise auf eine Konfessionsschule schicken zu müssen. Die Möglichkeit der Durchsetzung des Elternwillens bei der richtigen Findung der Schulform ist in Bayern gleich Null. Hier entscheidet schlicht und einfach die Note bei Zehnjährigen. Hier wird nicht nur der Elternwille mißachtet, sondern auch die humane Schule zutiefst ins Gegenteil verkehrt.
Bildungspolitik ist Sache der Länder. Durch den eingeschlagenen Konfrontationskurs in der Bildungspolitik soll sie zu einem Thema für den Bundestagswahlkampf werden. Ich komme noch einmal auf den Satz zurück, daß die bayerische Staatsregierung nicht die Absicht hat, der Einführung der Gesamtschule als Regelschule in Bayern oder anderswo zuzustimmen. Dieser Beschluß ist zutiefst illiberal und undemokratisch;
illiberal deshalb, weil er keine andere Meinung neben der eigenen zuläßt, und undemokratisch deshalb, weil er die Funktion der Parlamente außer- Kraft setzt und jegliche Achtung vor parlamentarischen Entscheidungen anderer Länder vermissen läßt.Es wird uns wohl nichts anderes übrigbleiben, als diesen Fehdehandschuh aufzugreifen. Die FDP wird es nicht versäumen, während des Wahlkampfes deutlich zu machen, daß die Union einen Spitzenkandidaten präsentiert, der für Liberale unakzeptabel ist,
weil er Toleranz anderen Meinungen gegenüber vermissen läßt
und die fehlende Autorität in der Sache durch autoritäre administrative Maßnahmen ersetzten will, und dadurch wird verhindert, was viele Tausende von Eltern für ihre Kinder wünschen.
— Das höre ich regelmäßig, und zwar immer dann, wenn die Argumente ausgehen. Na gut, was soll's?Um einer vernünftigen, zukunftsorientierten Bildungspolitik willen hoffe ich jedoch, daß die Zahl derer in der Union größer wird, die zu einer Kooperation in der Bildungspolitik bereit sind, zugunsten der vielen Millionen Betroffenen.
Meine sehr verehrten Damen, meine Herren, wir fahren jetzt in der Debatte fort, obwohl die Absicht bestand, nun eine Unterbrechung der Sitzung herbeizuführen, um die Möglichkeit zu haben, mit den Fraktionsvorsitzenden darüber zu sprechen, ob es nicht erforderlich ist, bei einer Diskussion von so weittragender Bedeutung für Eltern und die Zukunftschancen der jungen Generation in Anwesenheit so vieler Mitglieder des Bundesrates den Besuch in dieser Plenarsitzung wesentlich zu verbessern.
Im Augenblick ist der Besuch so, daß man
— unter Anlegung des Maßstabs, der üblicherweise zugrunde gelegt wird —
ihn gerade noch als erträglich bezeichnen kann.
— Ich möchte bitten, daß wir uns in erster Linie an unsere eigene Brust klopfen, bevor wir unseren Zeigefinger nach anderen ausstrecken.
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Präsident Stücklen— Es kommt natürlich sehr darauf an, mit welchem spitzen Zeigefinger dies geschieht. — Ich möchte also im Augenblick von einer Unterbrechung absehen, aber ausdrücklich darum bitten, daß sich die Abgeordneten aller Fraktionen an den Fraktionsvorsitzenden ein Beispiel nehmen.
Ich erteile dem Herrn Bundesminister für Bildung und Wissenschaft das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es hat nicht in meiner Absicht gelegen, den Bildungsgesamtplan hier im Bundestag zum Gegenstand großer bildungspolitischer Kontroversen werden zu lassen. Noch vor wenigen Monaten war ich darin mit den Kultusministern aller Länder einig.
Wäre es bei dieser, inzwischen von anderer Seite zerstörten Einigung geblieben, dann könnte ich heute berichten, daß das Bemühen von Bund und Ländern um eine in fast allen wichtigen Fragen gemeinsame Bildungspolitik vor einem erfolgreichen Abschluß steht. Die vorgesehene Anhörung von Vertretern der betroffenen Jugendlichen, Eltern, Lehrer läge jetzt schon zehn Tage zurück. Ihre Erklärungen könnten wir heute mitbedenken und aus dieser Debatte zusätzlich Anregungen in die abschließende Beratung der Bund-Länder-Kommission für Bildungsplanung und Forschungsförderung einbringen.
Der Abschluß wäre dann in einem guten Monat, am 10. Dezember, erfolgt: Ein neuer Bildungsgesamtplan mit aktueller Bestandsaufnahme und gemeinsamen Vorstellungen über die weitere Entwicklung des Bildungswesens bis 1990 hätte vorgelegen.
Statt dessen müssen wir uns heute mit dem einstweiligen Scheitern dieses Vorhabens befassen, und das ist schlimm. Denn mit der Blockade der gemeinsamen Bildungsplanung, einer Blockade durch CDU und CSU,
werden nicht etwa Planspiele von Bildungsexperten gestoppt. Nein: Die Blockade gilt dem gemeinsamen Bemühen aller für Bildung verantwortlichen Politiker um die solide Weiterentwicklung der Bildungsangebote, um die Sicherung der dazu erforderlichen Finanzmittel, um ein Mindestmaß an Einheitlichkeit im Bildungswesen der ganzen Bundesrepublik.Das hört sich sehr grundsätzlich an und betrifft doch unmittelbar die künftigen Chancen und damit die Schicksale junger Menschen.Da geht es zunächst darum, für die starken Jahrgänge von Jugendlichen mehr und bessere Ausbildungsangebote bereitzustellen. Dazu sind in den 80er Jahren weiterhin große Anstrengungen in derBerufsbildung und in den Hochschulen erforderlich.Die berufliche Bildung ist ein Kernstück der Bildungsplanung. Es geht dabei auch um die Sicherung unseres Facharbeiternachwuchses. Für ihn muß es mehr Ausbildungsplätze geben, für ihn brauchen die Berufsschulen eine bessere Ausstattung, d. h. mehr Lehrer, mehr Räume, moderne Werkstätten.Ein zehntes Vollzeitbildungsjahr muß allen Jugendlichen in allgemeinbildenden Schulen und in den verschiedenen Formen der beruflichen Grundbildung angeboten werden. Bisher besuchen erst zwei Drittel aller Kinder ein zehntes Bildungsjahr.In den 80er Jahren bieten schwächere Jahrgänge in Kindergarten und Schule die Chance, kleinere Klassen zu bilden, den einzelnen besser zu fördern, eine menschlichere Schule zu schaffen.Die Kinder ausländischer Arbeitnehmer — rund eine Million — müssen gleiche Bildungschancen wie ihre deutschen Altersgefährten erhalten. Ihre Eingliederung muß nicht nur aus menschlichen Gründen, sondern auch deswegen Schritt für Schritt erreicht werden, weil die sonst entstehenden sozialen Probleme und Spannungen für unsere Gesellschaft unerträglich würden.Verstärkte und verbesserte Weiterbildungsangebote müssen dem einzelnen die Möglichkeit geben, mit dem raschen Wandel auf dem Arbeitsmarkt und in der Technologie Schritt zu halten.
— Ich bitte, dabei zu bedenken, daß ich hier aus der gemeinsamen Bildungsplanung referiere, die fertig vorliegt. Darin steht das, was Sie hier „Sprüche" nennen.
Schließlich muß die Freizügigkeit zwischen den Bundesländern und den verschiedenen Schulsystemen durch Toleranz gegenüber unterschiedlichen Entwicklungen und durch wechselseitige Anerkennung der Abschlüsse gesichert werden.Bei diesen und anderen Punkten haben wir in zwei Jahren intensiver gemeinsamer Arbeit an der Fortschreibung des Bildungsgesamtplans ein ausgewogenes bildungspolitisches Gesamtkonzept zustande gebracht.Der Weg zur fest vereinbarten Verabschiedung noch in diesem Jahr war frei, nachdem auch in der umstrittenen Gesamtschulfrage eine Verständigung gefunden war. Zwar blieben die politischen Meinungsunterschiede in der Bewertung der Gesamtschule bestehen, alle Länder waren aber bereit, die Entscheidungen anderer Länder über Einführung bzw. Ausbau der Gesamtschule als normales Schulangebot zu akzeptieren. In der Kultusministerkonferenz sollte dafür gesorgt werden, daß den Abschlüssen an Gesamtschulen über die bisher vereinbarte Frist von 1981 hinaus im gesamten Bundesgebiet die Anerkennung erhalten bleibt.Ich habe diesen Kompromiß mit erarbeitet und als gemeinsam erreichten Erfolg für unser Bildungswe-
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Bundesminister Dr. Schmudesen begrüßt. Nicht Konfrontation und bildungspolitischer Grabenkrieg von Land zu Land, sondern sachbezogene Zusammenarbeit und Toleranz sollten die künftigen Bildungschancen der Jugend bestimmen.
Ich habe nach Kräften dazu beigetragen, Streitpunkte auszuräumen oder zu überbrücken, und zwar nicht, weil ich meine Ruhe haben will, sondern damit Jugendliche, Lehrer und Eltern das Maß an Ruhe in der Schule behalten, auf das sie zu ihrer eigenen Sicherheit Anspruch haben.Ich habe als Vorsitzender der Bund-Länder-Kommission für Bildungsplanung im Anschluß an. die erfolgreiche Juni-Sitzung öffentlich erklärt: „Der Glaubenskrieg um die Gesamtschule findet nicht statt!" Das war nicht nur eine optimistische Feststellung, es war zugleich eine dringliche Aufforderung, es nun bitte bei den Vereinbarungen der Kultus- und Bildungsminister zu lassen und keinen Glaubenskrieg ausbrechen zu lassen. Mit vollem Recht sind es die Bürger leid, bildungspolitische Ansichten mit Absolutheitsansprüchen und fanatischer Rechthaberei umkämpft zu sehen.Diesen verhängnisvollen Weg haben die für das Bildungswesen verantwortlichen Minister mit ihren einstimmigen Beschlüssen vom Juni dieses Jahres vermieden. Ich wollte ihn mit meiner Aufforderung, den Glaubenskrieg zu unterlassen, auch für die Zukunft ausschließen. Daß das nicht gelungen ist, daß mit mir auch meine Kollegen einstweilen erfolglos geblieben sind, liegt nicht an einem ungünstigen Geschick und nicht an der Schwierigkeit von Sachfragen, es liegt am bösen Willen eines Mannes, dem zur Erfüllung seines Machtanspruches als Kanzlerkandidat innerhalb der Unionsparteien
— Ich glaube, ich muß diese für Sie unangenehme Wahrheit wiederholen:
dem zur Erfüllung seines Machtanspruches als Kanzlerkandidat innerhalb der Unionsparteien und darüber hinaus offenbar kein Opfer zu groß ist.
Der Toleranz- und Vernunftpakt der deutschen Bildungsminister ist zu einem solchen Opfer gemacht worden.
Fast wären zwei Inhaber politischer Ämter — —
— Meine Damen und Herren, was ich Ihnen hier sage, belege ich im Moment. Ich kann verstehen, daß Ihnen das unangenehm ist und daß Sie es nicht hören wollen,
Sie werden es aber anhören müssen.
Fast wären zwei Inhaber politischer Ämter gleich mitgeopfert worden; tagelang mußten der bayerische Kultusminister und seine Staatssekretärin gegen die Wut des CSU-Vorsitzenden und seiner Landtagsfraktion ankämpfen, um sich in ihren Ämtern behaupten zu können.
Von Toleranz war da keine Rede mehr!
Wer — wie Strauß — die Gesamtschule
als eine Regelschule — —
Herr Bundesminister, fahren Sie doch bitte in Ihrer Rede fort.
Wer — wie Strauß — die Gesamtschule als eine Regelschule — und das heißt nach den Absprachen vom Juni: als eine reguläre Angebotsschule neben anderen — „weder in Bayern noch anderswo" zulassen will,
zerstört den Föderalismus.
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Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 183. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. November 1979 14383
Bundesminister Dr. SchmudeEr erhebt genau jenen Absolutheitsanspruch, der bildungspolitische Meinungsverschiedenheiten zu Glaubenskriegen verdirbt.
Das wäre schon schlimm genug, wenn Bildungsfragen wirklich im Vordergrund gestanden hätten.
Tatsächlich aber war das Kalkül des Wahlkämpfers Strauß ausschlaggebend, dem es nicht um die Sache, sondern auf Konfrontation um jeden Preis ankommt.
Das war schon damals sichtbar, meine Damen und Herren. Die scharfe Kritik der CSU wurde in jenen Juni-Tagen nicht etwa nur gegen mich, sondern im gleichen Atemzug auch gegen den niedersächsischen Kultusminister Remmers gerichtet, der zu der Ministervereinbarung maßgeblich beigetragen hatte. Nach einem Bericht der „Süddeutschen Zeitung" vom 21. Juni 1979 unterrichtete Strauß die CSU-Fraktion von einem Gespräch mit dem rheinischen CDU-Vorsitzenden Köppler. Der habe Strauß schon damals, als der niedersächsische Ministerpräsident Albrecht noch Kanzlerkandidat der CDU war, erklärt, Albrecht sei für ihn als Kandidat deshalb nicht geeignet, weil dessen Kultusminister Remmers zu den Verfechtern der Gesamtschule gehöre, gegen die die CDU in Nordrhein-Westfalen kämpfe. Sehr treffend faßte die „Stuttgarter Zeitung" damals die Schilderung dieser Lage in die Schlagzeilen zusammen: „Ein Reizwort, und Strauß sieht rot.
Der Kompromiß über die Gesamtschule fällt den unionsinternen Konflikten zum Opfer."
Meine Damen und Herren, das waren die Schlagzeilen, das war der Tenor der Berichterstattung damals in allen Zeitungen.In diesen unionsinternen Konflikten haben sich — jetzt komme ich zu Ihnen — die bildungspolitischen Sprecher der CDU/CSU-Bundestagsfraktion leider von Anfang an auf die Seite geschlagen, auf der Strauß und Streit wieder einmal zu einer Gleichung geworden waren.
Ihnen verdanken wir immerhin über den Brief von Herrn Remmers die Bestätigung der bösen Absicht, daß nämlich die Fortschreibung des Bildungsgesamtplans und Kompromisse vor der Bundestagswahl verhindert werden sollten, weil diese Zeit vor der Bundestagswahl „nun einmal die Zeit harter bildungspolitischer Konfrontationen" sein müsse. Auf dieses Ziel, meine Damen und Herren, haben Sie mit großer Konsequenz hingearbeitet. Besonders an Sie hatte ich nach früheren Äußerungen gedacht, als ich die Beendigung des Glaubenskrieges um die Gesamtschule forderte.
Gerade von Ihnen bekam ich sofort die Antwort: Von einem Ende des Gesamtschulstreits könne nicht die Rede sein. So stand es in einer Agenturmeldung von AP vom 20. Juni 1979. Dann folgte es Schlag auf Schlag: Die Zustimmung der CDU/CSU zum Bildungsgesamtplan müsse „generell noch einmal überprüft werden". Der Bundeskulturausschuß der CDU sollte einberufen werden — er hat inzwischen getagt —, um die Kultusminister auf Ihre Linie zu zwingen.Ihr Ziel haben Sie vorerst erreicht. Aber um welchen Preis! Sie sabotieren die gemeinsame Bildungspolitik über Parteigrenzen hinweg, Sie demolieren bereits vereinbarte Lösungen.
Von einem Machtpolitiker, der alles und jedes in der Politik zur Waffe umschiedet, erwarte ich nichts anderes. Bildungspolitiker aber, die sich für Zukunftschancen der jungen Generation verantwortlich wissen, müssen solchen Mißbrauch der Bildungspolitik abwehren.
Den Bildungspolitikern der CDU/CSU-Bundestagsfraktion bleibt der traurige Ruhm, den Mißbrauch statt dessen noch tatkräftig gefördert zu haben.
— Ich habe es Ihnen belegt. Sie können zu den klaren Zitaten und Äußerungen, die letztlich von Ihnen stammen, hier nachher Stellung nehmen.
Eine Sekunde, Herr Bundesminister.
Herr Kollege Daweke, „dumm" und „scheinheilig" ist bei uns vom Präsidium her nicht parlamentsgemäß.
Ich habe Ihnen belegt und vorgehalten, daß Sie die Bildungspolitik in dieser Form bewußt mit zum Wahlkampfthema gemacht haben.Wie aber steht es nun mit der Eignung dieser Themen für den Wahlkampf? Natürlich darf und soll auch über Bildungs- und Schulprobleme vor Wahlen
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14384 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 183. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. November 1979
Bundesminister Dr. Schmudesachlich — und durchaus hart — gestritten werden.
Aber es heißt doch, ein schändliches Spiel mit dem Wähler zu treiben, wenn man zu Wahlkampfzwekken bildungspolitischen Streit mutwillig vom Zaun bricht.
Da wird von wirklich wichtigen offenen Fragen abgelenkt, da werden Scheinkonflikte vorgeführt, bei denen tatsächlich schon Einigungen gefunden sind, aus wahltaktischen Gründen aber nicht zur Geltung kommen dürfen.Ich bin sicher, daß die Wähler solche Manöver durchschauen und daß sie die Schuldigen zur Verantwortung ziehen werden.
Ich möchte es von mir aus aber trotzdem nicht gerne dazu kommen lassen; denn Bildungspolitik braucht Vertrauen,
weil Schüler, Eltern und Lehrer sichere Erwartungen für ihre Zukunft brauchen.
Das Vertrauen wird zerstört,
wenn Bildungspolitik im Wahlkampf den Bürgern als Schlachtfeld vorgeführt wird, auf dem Konflikte alles und Gemeinsamkeiten, sachliche Zusammenarbeit nichts bedeuten.
•
Noch, meine Damen und Herren, ist es möglich, unsere Arbeit an der gemeinsamen Bildungsplanung fortzusetzen.
Es ist — bei etwas gutem Willen — auch möglich, alsbald zu Ergebnissen zu kommen. Ich rufe erneut alle Verantwortlichen dazu auf; denn die Einwände von CSU und CDU haben nicht genug Gehalt und Gewicht, um eine Prüfung zu überstehen, die von Bereitschaft zur Zusammenarbeit und von Toleranz geprägt ist.
Die von CDU und CSU regierten Länder sind inzwischen sämtlich auf den „scharfkantigen Konfliktkurs" — wieder ein Zitat — von Strauß und seinen Helfern gegangen. Wer diesen Kurs innerlich nicht billigt, hat resigniert und läßt seine Stimme in diesen Gremien von anderen abgeben. Am deutlichsten ist das beim niedersächsischen Kultusminister Remmers. So hat es also die Unionsseite geschafft, den fest vereinbarten Terminplan umzustoßen und das Ende der Beratungen unabsehbar weit hinauszuschieben, vielleicht sogar über den Wahltag hinaus.Daß die angeblichen Gründe für dieses Vorgehen überhaupt ernst gemeint sind, darf man bezweifeln. Wer die Fortschreibung blockieren will, um Konfliktfelder für Wahlkämpfe aufzureißen, dem kommt es auf zusätzliche Gründe gar nicht an.
— Auf Hamburg komme ich. Nur einen kleinen Moment!Aber ernstgemeint oder nicht: bei näherer Betrachtung erweisen sich diese Gründe als Vorwände.Erster Vorwand: Es gebe noch einige offene Fragen in der Sachplanung. In der Tat, einige wenige gibt es noch. Aber sollen denn die Betroffenen erst angehört werden, wenn alles bis ins letzte festgezurrt ist und kein Jota mehr geändert werden darf? Das wäre nicht Bildungspolitik mit dem Bürger, sondern eine Alibi-Veranstaltung mit Statistikerrollen für die Anzuhörenden.Zweiter Vorwand: Die Planung sei finanziell noch nicht abgesichert. Dieses mühsame und schwierige Geschäft — notwendig sind Verhandlungen mit den Finanzministern — ist zwar noch nicht abgeschlossen, aber auf gutem Weg. Der Finanzrahmen ist aber nicht Gegenstand dieser Anhörung und war es übrigens auch nicht beim Bildungsgesamtplan von 1973.Schließlich: Die Beratungen in der Kultusministerkonferenz zur endgültigen Anerkennung der Schulabschlüsse seien noch nicht vorangekommen. In der Tat hat die Unionsseite das mit der Forderung zustande gebracht, die Gesamtschule in Hamburg oder Hessen oder Niedersachsen habe sich bei der Prüfung der Gleichwertigkeit ihrer Abschlüsse an bayerischen Stundentafeln messen zu lassen. Wer darauf besteht, will hundertprozentige Übereinstimmung statt Gleichwertigkeit und verläßt damit die Vereinbarungen vom Juni dieses Jahres.Erst recht ist damals nicht vereinbart worden, daß über die Anerkennung der Gesamtschulabschlüsse zuerst volle Übereinstimmung erzielt werden muß, bevor die Fortschreibung des Bildungsgesamtplans abgeschlossen wird. Es ist durchaus möglich — und das wurde auch von den Beteiligten der Juni-Vereinbarung in Betracht gezogen —, daß die gemeinsame Bildungsplanung zu einem erfolgreichen Abschluß gebracht wird, die Bemühungen über die Sicherung anerkannter Gesamtschulabschlüsse über
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Bundesminister Dr. Schmude1981 hinaus aber in der Kultusministerkonferenz weiter andauern.
Übrigens, bei allem Eifer, mit dem hier auf Bundesebene über Gesamtschulen gestritten wird, sollten wir nicht völlig außer acht lassen, daß Bundestag und Bundesregierung keine einzige Gesamtschule zu errichten haben und auch keine einzige schließen können.
Deshalb sollten wir uns auch nicht in lautstarken Auseinandersetzungen als Gesamtschul-Strategen aufführen, die bis in die Einzelheiten das Für und Wider von Gesamtschulen diskutieren. Folgerungen daraus hätten wir ohnehin nicht zu ziehen.
Das geschieht — oder unterbleibt — in der ausschließlichen Verantwortung der Länder.Sehr stark allerdings muß die Frage interessieren, ob die Länder den Freiraum haben, innerhalb ihrer eigenen Zuständigkeit Gesamtschulen einzurichten, oder sie darin durch grenzüberschreitende Diktate behindert sind. Die Drohung, Gesamtschulabschlüsse aus anderen Ländern nicht mehr anzuerkennen, ist ein solches Diktat.
Wo die unmittelbar wirksame Einmischung verfassungsrechtlich unzulässig ist, werden den Schülern Nachteile angedroht, um andere Länder auf den eigenen bildungspolitischen Kurs zu zwingen.
Wer so handelt — das müssen Sie sich mit aller Deutlichkeit sagen lassen —, übt erpresserischen Druck aus und macht, wie ich schon einmal gesagt habe, Schüler zu Geiseln in einem bildungspolitischen Kampf ohne Grenzen.
— Das ist eine Sprache, mit der ein Verhalten geschildert wird, das man leider nicht anders schildern kann.
In allen Bundesländern bestehen heute Gesamtschulen. Hunderttausende sind die Betroffenen, wenn es nicht gelingt, die bundesweite Anerkennung ihrer Schulabschlüsse auch für die weitere Zukunft sicherzustellen.
Die Bundesregierung hat in ihrer Verantworung für gesamtstaatliche Belange des Bildungswesens auf die Notwendigkeit der bundesweiten Anerkennung von Schulabschlüssen in dem vor anderthalb Jahren vorgelegten „Bericht über die strukturellen Probleme des föderativen Bildungswesens" nachdrücklich hingewiesen. Die Bundesregierung ist dafür von mehreren Landesregierungen und von der CDU/CSU-Bundestagsfraktion heftig kritisiert worden. Es gehe in solchen Fällen auch ohne Bundeskompetenzen, wurde uns entgegengehalten. Die Bundesregierung solle sich da gefälligst heraushalten.
Ich habe damals gesagt und wiederhole es heute: Der Bundesregierung geht es nicht um Kompetenzen, sondern im Interesse der betroffenen Jugendlichen und ihrer Eltern um die schnelle Lösung der aufgezeigten Probleme.Von der Fähigkeit der Länder, solche Lösungen durch Vereinbarungen zu erreichen, haben mich die bisherigen Beratungen über den Strukturbericht in der Kultusministerkonferenz nicht überzeugt Obwohl die Kultusministerkonferenz der Bundesregierung ihre Mängelanalyse einstimmig bestätigt und schnelle Abhilfe versprochen hat, ist bisher noch keine einzige Vereinbarung zu diesem Zweck zustande gekommen oder auch nur in Angriff genommen worden. Daß jetzt auch noch offen mit der zusätzlichen Nichtanerkennung von Schulabschlüssen gedroht wird, bestärkt meine Skepsis.Völlig unverständlich ist mir die Erregung über den Hamburger Gesetzesbeschluß zur Einführung der Gesamtschule als reguläre Angebotsschule. Es ist geradezu komisch, meine Damen und Herren, daß dazu jetzt von der gleichen Seite ein Verstoß gegen die Forderungen des Strukturberichts behauptet wird, die mich vor einem guten Jahr noch verdächtigte, mit dem Strukturbericht und den dort angeregten Zuständigkeitsübertragungen Gesamtschulen bundesweit durchsetzen zu wollen. Beides ist völlig falsch; die Zuständigkeit der Länder für die Organisation des Schulwesens wird mit dem Strukturbericht überhaupt nicht in Frage gestellt. Er fordert, daß gerade auch auf unterschiedlichen Wegen erreichte Abschlüsse bundesweit als gleichwertig anerkannt werden.Dabei verfolgt die Bundesregierung mit dem Strukturbericht allerdings das Ziel, den Eltern in stärkerem Maße das Recht der Entscheidung über die weitere Schullaufbahn ihrer Kinder einzuräumen. Dieser Forderung entspricht die in Hamburg getroffene Regelung, die Gesamtschule den 20% und mehr der Eltern für ihre Kinder zu erhalten, die sie ausdrücklich gewünscht haben.Berlin hat übrigens seit Jahren vergleichbare Regelungen. Und der niedersächsische Kultusminister hat vor kurzem einen Gesetzentwurf im Landtag eingebracht, durch den ebenfalls die Gesamtschule aus dem Versuchsstadium herausgenommen und als Angebotsschule eingeführt werden soll.Bei dieser Sachlage kann es wirklich niemanden überzeugen, wenn von seiten der CDU und CSU immer wieder die Hamburger Entscheidung — übrigens eine Entscheidung lange nach dem StraußMachtwort: „Wir werden die Gesamtschule weder in Bayern noch anderswo zulassen" — als Grund für
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14386 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 183. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. November 1979
Bundesminister Dr. Schmudedie jetzige Konfrontation in der gemeinsamen Bildungsplanung genannt wird.Wie steht es mit dieser Entrüstung im Hinblick auf Berlin und auf Niedersachsen? Wird nicht in dem Geamtschulkompromiß vom Juni dieses Jahres den Ländern, die es wollen, ausdrücklich freigestellt, den Eltern, die es wollen, die Gesamtschule als reguläre Schule zusätzlich anzubieten?Nur um dieses zusätzliche Angebot geht es bei den Entscheidungen, die Sozialdemokraten und Freie Demokraten über Gesamtschulen getroffen haben oder noch treffen wollen.Wenn CDU und CSU die Rechte der Eltern nicht nur im Rahmen ihrer familienpolitischen Sonntagsreden mit leeren Worten feiern, sondern in der Praxis stärken wollen, könnten sie das mit der Duldung, ja zumindest der Duldung dieses zusätzlichen Schulangebots beweisen.
Diesen Widerspruch zu Ihren eigenen Deklamationen, meine Damen und Herren von der CDU/ CSU, dürften Sie längst gemerkt haben. Die Schwäche Ihrer Argumentation dürfte Ihnen klargeworden sein. Denn nur so ist es zu erklären, daß Unionspolitiker unverdrossen den falschen Eindruck erwecken, Sozialdemokraten wollten die Schule flächendeckend als ausschließlichen Schultyp einführen. Bei solchen Verdrehungen wird der juristischtechnische Ausdruck der „Regelschule" mißverständlich verwendet, damit der Eindruck entsteht, hier gehe es darum, die Realschule und vor allem das Gymnasium in eine Ausnahmestellung zu drängen. Dabei besagt dieser Begriff im Zusammenhang mit der Gesamtschule nichts anderes, als daß Gesamtschulen aus dem Versuchsstadium in die Rechtsstellung einer regulären Schule neben Hauptschule, Realschule und Gymnasium überführt werden sollen.Mehr und mehr erkennen die Bürger diese Zusammenhänge. Mehr und mehr begreifen sie, daß es um die Stärkung ihrer Rechte durch eine breitere Vielfalt des Angebots geht. Mit dem Versuch, Schüler, Lehrer und Eltern durch falsche Darstellung unserer Absichten unsicher zu machen, werden Sie keinen Erfolg haben, meine Damen und Herren!
Was bleibt danach eigentlich noch an Gründen gegen die Anerkennung der Gesamtschulabschlüsse, deretwegen Sie die Fortschreibung des Bildungsgesamtplanes blockieren? Ich sehe nur Gründe, die in vollem Umfang meine Sorge bestätigen, daß hier der Sachauseinandersetzung ausgewichen, daß hier ein Glaubenskrieg geführt wird. Der Vorwurf der Ideologie, lange Zeit und weitgehend unbegründet gegen die Befürworter von Gesamtschulen gerichtet, wendet sich heute in vollem Umfang gegen konservative Bildungspolitiker, die Gesamtschulen der Gleichmacherei beschuldigen und als „sozialistische Einheitsschulen" oder „Kaderschmieden" bekämpfen, als seien sie ein wahres Teufelswerk.Wer mit solchem Fanatismus gegen die Gesamtschulen kämpft, der muß dann freilich im Bayerischen Landtag einen Gesetzentwurf der SPD ablehnen, in dem die Einrichtung von Gesamtschulen dort gefordert wird, wo Eltern in ausreichender Zahl sie beantragen.
Noch vor etwa zwei Wochen haben die Bayerische Staatsregierung und die CSU durch eine solche Ablehnung erneut ihr irrationales und emotionales Verhältnis zur Gesamtschule zum Ausdruck gebracht,
das in den Zornausbrüchen der Juni-Tage nach dem Kompromiß in der Bund-Länder-Kommission schon so deutlich sichtbar geworden war. Statt irgendwelcher Anzeichen der Einsicht hören wir neuerdings vor allem von Bildungspolitikern der CSU verstärkt eine wahrhaft schuler-, ja menschenfeindliche Sprache.
Ich werden es Ihnen zitieren.
— Hören Sie doch eben noch die Zitate an, dann können Sie sich davon überzeugen. — Da ist von „Billigpreis-Abschlüssen" oder vom „Examen zu Discountpreisen" die Rede,
als ginge es bei den Schulabschlüssen um wirtschaftlichen Wettbewerb, in dem Markenartikel gepflegt und Marktmacht durchgesetzt werden müßte,
als ginge es um solche ökonomischen Vorgänge und nicht um die Schicksale junger Menschen.Natürlich bestehen auch wir bei Schülern auf Leistung, auf Nachweisen von Lernerfolgen. Aber wir wollen, daß die Schule solche Erfolge gerade auch bei schwächeren Schülern nach Kräften fördert. Leistungen und Lernerfolge dürfen nicht Siege in einem gnadenlosen schulischen Konkurrenzkampf sein, in dem über „hohe Preise" ein rigoroser Aussonderungskurs gesteuert wird.
Das sind dann nämlich eben jene Mechanismen, die in der Schule zu der verbissenen Atmosphäre führen, über die sich auch Unionspolitiker gelegentlich in anklagenden Worten äußern.
Ich kann Ihnen einen — es gibt mehrere — geeigneten Adressaten für solche Anklagen gegen Schulstreß nennen: den bayerischen Kultusminister Professor Maier, der noch kürzlich in einem Zeitungsar-
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Bundesminister Dr. Schmudetikel davon schwärmte, in der Schule „den Brotkorb höher zu hängen", damit sich „die geistigen Hälse recken". Mit solcher, wie ich deutlich sagen möchte, hausbackenen Brutalität
kann man natürlich die Schule als Anstalt betreiben, in der Schwächere schnell und wirksam ausgehungert werden.
Ich halte es demgegenüber mit dem neuen Vorsitzenden des Verbandes Bildung und Erziehung, Wilhelm Ebert, der vor einigen Tagen treffend festgestellt hat:
Ich hoffe und wünsche, daß es den Lehrern und erfahrenen Praktikern im Verband Bildung und Erziehung und in anderen Verbänden gelingt. solche Einsichten gerade in Bayern zur Geltung zu bringen, daß es gelingt, der CSU, die mit selbstgefälligem Stolz das Leistungsniveau bayerischer Schulen preist, die Augen für die Kosten und Opfer ihrer Auslesepolitik zu öffnen.
Es ist ja doch ausgerechnet in Bayern gewesen, wo Anfang Oktober, noch vor wenigen Wochen, der Landesvorsitzende des Bayerischen Familienverbandes in einer Veranstaltung mit dem Bayerischen Lehrer- und Lehrerinnenverband beklagt hat, daß die Familie zum Kampfplatz geworden ist, über dem das Damoklesschwert Schule schwebe.Erklärtermaßen versprechen sich konservative Politiker von Leistungsdruck und verschärfter Auslese eine stärkere Förderung jener Elite, die angeblich zu geringe Chancen bei uns hat. In diesem Zusammenhang bringen Sie dann wehleidig die Frage vor, ob uns nicht eine gezielte Eliteförderung auch wieder eine größere Zahl an Nobelpreisträgern bescheren würde. Ich halte diesen versponnenen Vorstellungen entschieden und nachdrücklich entgegen: Die hohe Leistungsfähigkeit unserer Wirtschaft, die politische und soziale Stabilität unserer Gesellschaft danken wir nicht nur einigen wenigen Spitzenkönnern — die bei uns keineswegs unterdrückt oder behindert werden —, sondern vor allem einer breiten Schicht qualifizierter Fachleute in allen Berufen und Positionen.
Die Förderung einer solchen breiten und immer breiter werdenden Schicht bietet neben der Sicherung unserer wirtschaftlichen und politischen Zukunft zugleich die Chance für eine wachsende Zahl von Talenten, sich durch zusätzliche Hochbegabtenförderung zu entwickeln und Spitzenleistungen zu erbringen.Ich kann aus diesen Feststellungen nur die Schlußfolgerung ziehen, daß es für die anderen deutschen Länder nicht in Betracht kommen darf, sich den bildungspolitischen Forderungen der Bayerischen Staatsregierung zu unterwerfen. Solche Forderungen sind nicht nur anmaßend und föderalismusfeindlich, wir hätten bei ihrer Durchsetzung auch verhängnisvolle Rückentwicklungen im Bildungswesen der ganzen Bundesrepublik zu erwarten.
Ich bin ganz sicher, meine Damen und Herren, daß viele CDU-Landespolitiker diese Überzeugung teilen, wenn sie gegenwärtig auch aus wahltaktischen Gründen schweigen müssen.
Die Fraktionen von SPD und FDP fordern die Bundesregierung in ihrem Entschließungsantrag auf, die Gründe der eingetretenen Blockade des Bildungsgesamtplans offenzulegen. Ich halte diese Forderung für berechtigt und habe mich bemüht, sie zu erfüllen. Dabei habe ich die deutliche Kennzeichnung der Vorgänge und die eindeutige Bewertung des Verhaltens der für die Blockade Verantwortlichen nicht gescheut.Mir hat es stets ferngelegen, unnötige Schärfen in die bildungspolitische — —
Meine Damen und Herren, lassen Sie den Herrn Bundesminister weiterreden.
Die verehrte Opposition hat alle Möglichkeiten, nachher zu antworten. Bitte, lassen Sie ihn fortfahren.
Ich weiß, daß Ihnen das unangenehm
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Bundesminister Dr. Schmudeist; aber ich werde Ihnen nicht den Gefallen tun, jetzt aufzuhören.Mir hat es stets ferngelegen, unnötige Schärfen in die bildungspolitische Auseinandersetzung einzubringen.
Für mein ständiges Bemühen um Sachlichkeit und Ausgleich, mit dem ich zu der Kompromißvereinbarung vom 18. Juni dieses Jahres erfolgreich beitragen konnte, habe ich mich gerne von denen kritisieren lassen, die die Lebhaftigkeit harter Kontroversen vorziehen. Dabei geht es mir nicht um die — und das ist ein Zitat von Herrn Maier — „heile Welt in der Bildungspolitik", sondern um das notwendige und auch mögliche Maß an Gemeinsamkeit, das nicht mutwillig vermindert werden darf.Bei der Fortschreibung des Bildungsgesamtplans sind jedoch durch Strauß und andere zerstörerische Aktivitäten in die Bildungspolitik hineingetragen worden,
die bereits jetzt schweren Schaden angerichtet haben.
Es droht die ernste Gefahr, daß der Schaden anhält und wuchert. Die Zukunftschancen der jungen Generation, die Sie ja so gern im Mund führen, werden davon ebenso beeinträchtigt wie das Vertrauen der Jugend in die Fähigkeit und Bereitschaft des Staates, ihr solche Zukunftschancen durch ausreichende Bildungsangebote zu gewährleisten.In dieser Lage, meine Damen und Herren, habe ich es heute morgen allerdings für verantwortlich und für notwendig gehalten, deutliche Warnungen auch in harten Worten auszusprechen. Ich spreche sie nicht aus, um. Kontroversen zu verschärfen,
sondern um die Unverzichtbarkeit weiterer Zusammenarbeit in der Bildungspolitik nachdrücklich zu unterstreichen.
— Ich hätte mir eine konstruktivere Mitarbeit an der Bildungsplanung von Ihnen gewünscht; das Fehlen muß ich heute bedauern.
Mit der Bereitschaft zu dieser Zusammenarbeit ist es möglich, die gemeinsame Bildungsplanung erfolgreich abzuschließen und damit die Gefahr nocheinmal zu wenden. Dazu bedarf es freilich glaubhafter Bemühungen um das gemeinsame Vorhaben.
Gelegentliche Bekundungen der Aufgeschlossenheit von Unionspolitikern genügen dafür so wenig wie emsige Aktivitäten, mit denen man auf fachlicher Ebene alles mögliche berät und prüft, während das politische Ziel unverändert im Scheitern der gemeinsamen Bildungsplanung liegt.
Ich fordere die Kultusminister von CDU und CSU auf, nicht nur an den Verhandlungstisch, sondern auch zu den einstimmig getroffenen Vereinbarungen vom Juni dieses Jahres zurückzukehren.
Mit dieser Forderung stehe ich nicht allein. Sie wird nicht nur von den sozialliberalen Ministern getragen, sondern stützt sich auch auf drängende Appelle großer Verbände, in denen die Betroffenen der Bildungspolitik organisiert sind: Deutscher Gewerkschaftsbund, Bundeselternrat, Verband Bildung und Erziehung.
Die Sprecher dieser Verbände sind keine Sozialdemokraten; in zwei Fällen sind sie Mitglieder der CDU. Da ist es, meine Damen und Herren, keine angemessene Antwort, wenn man dann kurzerhand den Parteiausschluß verlangt, was ja jetzt bei Ihnen streitig ist.
Vielmehr ist es notwendig, daß wir uns von diesen eindringlichen Mahnungen leiten lassen, schnell wieder auf den Weg der bildungspolitischen Vernunft und der bildungspolitischen Toleranz zurückzufinden.
Das Wort hat der Herr Ministerpräsident des Landes Rheinland-Pfalz, Herr Dr. Vogel.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Verehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren Bundestagsabgeordneten! Wenn alle drei Fraktionen des Deutschen Bundestages — die CDU/ CSU-Fraktion schon vor Monaten, die Fraktionen der SPD und der FDP vor ein paar Tagen — Anträge zur Fortschreibung des Bildungsgesamtplanes einbringen, wird es niemanden, wie ich annehme, verwundern, wenn sich auch die Länder in diesem Haus zu Wort melden. Es ist nicht nur ihr Recht, sondern, wie ich glaube, bei einer derartigen Debatte sogar ihre Pflicht, hier zu diesen Fragen Stellung zu nehmen.
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Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 183. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. November 1979 14389
Ministerpräsident Dr. Vogel
Vor gut zehn Jahren wurde noch in den Tagen der Großen Koalition mit verfassungsändernden Mehrheiten von Bundestag und Bundesrat das Grundgesetz zum einundzwanzigsten Mal geändert. Durch die Einfügung des Art. 91 b wurde die Möglichkeit geschaffen, daß Bund und Länder „auf Grund von Vereinbarungen bei der Bildungsplanung ... zusammenwirken". Dem kooperativen Föderalismus im Bundesstaat sollte dadurch eine bessere Möglichkeit der Entfaltung gesichert werden. Es entstanden durch diese Verfassungsänderung neue Rechte und Pflichten, insbesondere für den bis zu diesem Zeitpunkt in diesem Mali nicht beteiligten Bund. Meine Damen und Herren, in diesem Verfassungstext ist vom Zusammenwirken die Rede.Gestatten Sie mir, hier die Meinung zum Ausdruck zu bringen: Was der verantwortliche Sprecher der deutschen Bundesregierung heute morgen gesagt hat, war nicht vom Geist des Zusammenwirkens, sondern vom Geist der Konfrontation geprägt.
Wenn den verantwortlichen bildungspolitischen Sprechern der Mehrheit der deutschen Bundesländer menschenfeindliche Sprache vorgeworfen wird,
so ist eine noch unnötigere Verschärfung des Klimas wohl kaum denkbar.
Ich bitte es recht zu verstehen, wenn ich hinzufüge: Ich kehre nach dem Beitrag des verantwortlichen Sprechers der Bundesregierung ohne Komplexe und Minderwertigkeitsgefühle in eine Landesregierung zurück. Ganz so schlecht haben es die Väter der Verfassung nicht gemacht, als sie die Hauptverantwortung den Landesregierungen und den Landesparlamenten übertrugen.
Eines der Länder ist heute hier besonders häufig zitiert und genannt worden: der Freistaat Bayern. Darf man bitte auch einmal fragen, wie es in den elf Ländern mit dem Grad der Übereinstimmung der Eltern, Lehrer und Schüler im Bildungswesen steht.
Ich habe den Eindruck, als schneide Bayern in dieser Hinsicht anders ab, als es in den Beiträgen heute früh — vor allem in dem Beitrag der verehrten Sprecherin der FDP — dargestellt worden ist. In ähnlicher Weise möchte ich vorschlagen, die Ergebnisse der Schulsysteme in den elf Ländern einmal nicht nur zu zählen, sondern auch zu wiegen. Wenn schließlich einerseits von der bayerischen Staatsregierung die Rede ist und andererseits mehr Demokratie und mehr parlamentarische Beteiligung gefordert wird, so kann ich nur sagen: Ich habe nicht den Eindruck, daß die bayerische Staatsregierung einen Mangel an Zustimmung durch das bayerische Parlament zu beklagen hat.
Die Jahre der seit der Grundgesetzänderung betriebenen gemeinsamen Bildungsplanung von Bund und Ländern sind trotz aller akuten Diskussionen nicht ohne positives Ergebnis geblieben. Der Bildungsgesamtplan von 1973 gehört für mich ausdrücklich zu diesen positiven Ergebnissen. Es hat sich gelohnt, daß wir so um ihn gekämpft haben. Aber gerade weil es sich gelohnt hat, gerade deswegen wehren wir uns heute gegen Scheinkompromisse, die dann nicht tragen, wenn sie geschlossen sind.
Im übrigen: Die personelle und finanzielle Ausstattung des Bildungsbereichs hat sich in den zehn Jahren wesentlich verbessert. Alle elf Länder zusammen gaben für Schule und Hochschule 1969 rund 16 Milliarden DM aus; heute sind es 46 Milliarden DM, die die Länder aufwenden. Alle elf Länder haben 1969 340 000 Lehrer in allen ihren Schulen gehabt; heute sind es rund 540 000. Vor allem aber — und das ist wichtiger —: Die Zahl der Studien- und Ausbildungsplätze ist in diesen zehn Jahren Zusammenarbeit gewachsen. Heute studieren 500 000 Studenten mehr als vor zehn Jahren, und heute werden 125 000 Lehrlinge mehr als vor zehn Jahren ausgebildet. Ich glaube, das ist eine gute Bilanz.Aber dennoch: Wenn man heute ernsthaft und offen mit den Bürgern im Land, mit den Eltern, den Lehrern und den älteren Schülern spricht, spürt man allerorts viel Unmut und Sorge. Nicht darüber, daß noch viele bildungspolitische Einzelprobleme ungelöst sind. Das wird im Bildungsbereich stets so sein. Es herrscht die weitverbreitete Sorge, daß alles viel komplizierter, daß die Erziehung von Kindern schwieriger geworden ist, daß Eltern nicht mehr verstehen, was in der Schule vorgeht, daß sich Lehrer als Mädchen für alles mißbraucht fühlen und daß junge Menschen die Schule nicht mehr mit Zuversicht, sondern mit Resignation verlassen, daß über das Ziel der Erziehung und über den Inhalt der Schule kein Konsens mehr besteht. Aber man ist auch besorgt darüber, daß sich das Bildungswesen in der Bundesrepublik Deutschland auseinanderentwickelt, daß in manchen Ländern die Verläßlichkeit auf die Schule und ihre Abschlüsse geringer geworden ist.
Ich widerspreche dem Versuch, die Verantwortung dafür alleine den Kultusministern anzulasten. Im Gegenteil: Sie haben es verdient, in Schutz genommen zu werden. Nur ist das Thema, das uns heute im Grunde beschäftigt, eben zu umfassend, als daß wir es allein einigen Ressortministern überlassen könnten.Gleichzeitig ist es meines Erachtens so bedeutsam, daß es niemand verwundern sollte, wenn es auch im Wahlkampf eine Rolle spielt, jedenfalls
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14390 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 183. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. November 1979
Ministerpräsident Dr. Vogel
dann nicht, wenn man den Wahlkampf als eine Stunde besonderer Wachheit der Bürger und der Bereitschaft der Politiker begreift, besonders bedeutsame Themen zu erörtern. Wer dagegen im Wahlkampf nur einen Kampf um Machterhaltung und Machtgewinnung sieht, denkt hier natürlich anders und muß ein Interesse daran haben, die zentralen Themen auszuklammern.
Dabei spreche ich vor allem von Landtagswahlkämpfen; denn nach wie vor fallen die zentralen bildungspolitischen Entscheidungen in den Landtagen.Es geht mir nicht darum, festzustellen, daß die Bildungspolitik der Union in allen Fragen immer richtig und die Bildungspolitik der Koalitionsparteien in allen Fragen immer falsch gewesen wäre. Das ist viel zu einfach. Worum es mir geht — ich meine das sehr ernst —, ist, darzustellen, daß wir in der Bildungspolitik der Bundesrepublik Deutschland am Beginn eines neuen Zeitabschnittes stehen. Die ersten Jahre nach 1945 waren geprägt durch das Wiederanknüpfen an die Weimarer Zeit und den notdürftigen Wiederaufbau dessen, was zerstört war. Die zweite Phase hat sich durch eine explosionsartige Ausweitung der Schüler- und Lehrerzahlen, durch einen gewaltigen Bauboom im Schulbereich und durch eine seit Generationen nicht mehr gekannte Welle von Universitätsgründungen ausgezeichnet.Ich bin der Überzeugung, daß in diesen Jahren, in denen wir jetzt Verantwortung tragen, die dritte Phase beginnt, die gekennzeichnet ist durch völlig veränderte Rahmendaten. Die Zahl der Schüler steigt nicht mehr, sie hat bereits rapide zu sinken begonnen. Niemand plant mehr die Gründung neuer Universitäten; im Gegenteil, einige der in den letzten zehn Jahren neu gegründeten Universitäten machen sich Gedanken um ihre eigene Existenz. Es herrscht in den meisten Bereichen heute kein Lehrermangel mehr, sondern die Studenten machen sich umgekehrt Sorgen, je im erstrebten Lehrerberuf tätig sein zu dürfen. Kleine und mittelgroße Schulen befürchten, morgen nicht mehr existenzfähig zu sein.Ich meine, wenn das zutrifft, ist es an der Zeit, neue, andere Schwerpunkte zu setzen. Wir müssen statt zu Strategen ständig neuer Reformen zu Anwälten der Sorge der Eltern und Kinder in der Bundesrepublik werden.
Die Schule muß zum Vertrauen zwischen Eltern, Lehrern und Schülern zurückfinden. Nicht Konflikte und Konflikttheorien dürfen die Szene beherrschen; nicht Quantität, Qualität wird für die Zukunft entscheidend sein. Darum geht es in erster Linie.Daran, meine Damen und Herren, muß sich auch die Fortschreibung des Bildungsgesamtplans und der Stellenwert der Gesamtschule und ihrer Abschlüsse orientieren. Schulen, ihre Inhalte und Organisationsformen sind für die Kinder da und nichtfür die Politiker, nicht für die Planer und erst recht nicht für einige Ideologen.
Es ist sehr deutsch, daß sich viele heftiger um Pläne streiten als um die Wirklichkeit im Schulalltag in der Bundesrepublik Deutschland.
Zu dieser sehr deutschen Grundeinstellung gehört auch die irrige Mär, außerhalb Deutschlands sei es überall besser, und die noch irrigere, es sei dort besser, weil dort überall Gesamtschulen bestünden. Meine Damen und Herren, das stimmt einfach nicht. Es stimmt vor allem nicht für England: Wer ein System hat, bei dem jedes vierte Kind in eine Privatschule geht, kann nicht anmelden, daß das staatliche. Schulsystem mit unserem vergleichbar ist.
Was uns wirklich aufrütteln muß, ist die Sorge der Eltern und die wachsende Zukunftsangst der Jugend, vielleicht eines Tages Schulabschlüsse zu erhalten, die nicht mehr bundesweit anerkannt werden.Der Bildungsgesamtplan von 1973 war ein Kompromiß, der aber trotzdem — oder vielleicht gerade deswegen — in wesentlichen Bereichen eine tragfähige Grundlage für die gemeinsame Bildungsplanung von Bund und Ländern darstellt. Nichtlösbare bildungspolitische Streitfragen — die gab es auch vor zehn Jahren — führten zu sogenannten Sondervoten. Was damals möglich war, muß auch heute möglich sein und darf heute nicht als unmöglich erklärt werden, nur weil heute die Stimmenzahl der Union in den Kommissionen größer ist als vor zehn Jahren.
Es war einhellige Auffassung von CDU, CSU, SPD und FDP, den Bildungsgesamtplan fortzuschreiben. Ich frage, ob diese Position, der Verfahrenskompromiß, der am 18. Juni 1979 in der Bund-Länder-Kommission einstimmig bekräftigt wurde, heute noch gilt. Wer heute der jeweils anderen Seite Unzumutbares zumutet, schert aus der gemeinsamen Bildungsplanung aus und will im Grunde keine Fortschreibung. Das ist der Kern der Sache.
Fortschreibung will nur der, der dem anderen nichts Unzumutbares zumutet. Wer das tut, will die Fortschreibung nicht und nicht den Kompromiß.Für die Union ist die Fortschreibung des Bildungsgesamtplanes kein Selbstzweck. Sie ist nur sinnvoll, wenn damit ein Beitrag zu einer soliden und tragfähigen Bildungsplanung für die Zukunft gewährleistet wird. Meine Damen und Herren, ich hoffe gerade für das, was ich jetzt sagen möchte, bei Ihnen auf Verständnis: Zur Solidität der Planung gehört auch die Planung der Finanzierbarkeit der Pläne,
zur Fortschreibung des Bildungsgesamtplans gehört auch die Fortschreibung des Bildungsbudgets.
Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 183. Sitzung. Bonn. Donnerstag, den 8. November 1979 14391Ministerpräsident Dr. Vogel
Meine Damen und Herren, wenn man mir sagt, daß eine Abstimmung zwischen dem Finanzvolumen, das sich aus den Bedarfsplanungen ergibt, und den finanzwirtschaftlichen Möglichkeiten derzeit noch nicht möglich sei, weil weder vom Bundesfinanzminister noch vom Bundeswirtschaftsminister die erbetenen Aussagen über langfristige Prognosen der wirtschaftlichen Entwicklung und ein daraus abgeleiteter Finanzkorridor der öffentlichen Gesamtausgaben vorgelegt worden sind, dann, meine Damen und Herren, scheint mir jede Hektik bei der Fortschreibung des Bildungsgesamtplanes zur Zeit verfehlt.
Meine Damen und Herren, Herr Schmude hat hier vorhin gesagt, wenn niemand behindert hätte, wären wir in einem Monat fertig gewesen. Diese Aussage, meine Damen und Herren, ist falsch.
Solange keinerlei Äußerungen derer, die es finanzieren wollen, vorliegen, ist schon aus diesem Grunde eine abschließende Beratung der Vorlage nicht möglich.
Mindestens ebensowichtig wie die Frage der Anerkennung von Abschlüssen nach 1981 ist die Frage der Finanzierbarkeit fortgeschriebener Pläne. In der Vergangenheit jedenfalls ist bei den Eltern mehr Enttäuschung daraus entstanden, daß Hoffnungen und Erwartungen geweckt worden sind, die nicht erfüllt werden konnten. Daß Stunden ausfielen, Lehrer fehlten, Geld für angekündigte und versprochene Maßnahmen nicht zur Verfügung stand, hat mehr enttäuscht, als daß es in diesem oder jenem Land ein paar Gesamtschulversuche mehr oder weniger nicht gegeben hat.Meine Damen und Herren, Sinn der Fortführung einer gemeinsamen Bildungsplanung kann es nicht sein, daß die eine Seite jeweils anzuerkennen hat, was die andere tut; das ist zuwenig. Wenn wir ein Mindestmaß an Abstimmung und Vergleichbarkeit im Bundesstaat gewährleisten wollen, dann mag zwar der Anschein von Einheitlichkeit erweckt werden, in Wahrheit ist das aber weiter von der Lösung der Fragen entfernt als die offene Kontroverse.Wir müssen uns den inhaltlichen Fragen stellen. Da geht es nicht an, daß die eine Seite — ohne Rücksicht auf die getroffenen Vereinbarungen, beispielsweise auch unter Mißachtung des Hamburger Abkommens der Ministerpräsidenten — ständig neue Alleingänge unternimmt und uns anschließend auffordert, daß dies doch bitte als vollendete Tatsache zu betrachten und anzuerkennen sei.
Zahllose Beispiele sind für das, was ich soeben sagte, anzuführen. Eines davon will ich nennen. Da heißt es in der Regierungserklärung des Bundeskanzlers der heute amtierenden Bundesregierungzu Beginn dieser Legislaturperiode, im Dezember 1976 gesprochen, die Einführung eines Berufsgrundbildungsjahres habe Vorrang vor einem allgemeinbildenden 10. Hauptschuljahr.
Das steht nicht in einem Papier aus der Nymphenburger Straße, sondern das steht in der Regierungserklärung des Bundeskanzlers der Bundesrepublik Deutschland. Und heute, meine Damen und Herren: Wer sich an diese Aussage hält und ja zum freiwilligen 10. Schuljahr, aber nein zum Zwang zur Einheitsform eines 10. Pflichtschuljahres an der Hauptschule sagt, der ist dort, wo Sozialdemokraten in der Opposition stehen, heftigster Kritik ausgesetzt.
Dort, wo Sozialdemokraten regieren, z. B. in Nordrhein-Westfalen, führen sie — genau an dieser Aussage des Bundeskanzlers vorbei — das 10. Pflichtschuljahr an der Hauptschule als Zwang ein.
Wer so vorgeht, meine Damen und Herren, trägt die Verantwortung für ein Stück der Konfrontation, für die Aufrichtung von bildungspolitischen Grenzpfählen zwischen den Ländern und — was am schlimmsten ist — vor allem für die Verunsicherung von Eltern, Lehrern und Schülern, mit einem Wort: für den Schwund an Verläßlichkeit, der sich gegenwärtig vielerorts bemerkbar macht.
Ich füge ein Wort zur Gesamtschule an, weil sie im Zentrum des gegenwärtigen Interesses und der gegenwärtigen Kontroverse steht. Ich habe keine Vorurteile gegen die Gesamtschule; aber ich bin skeptisch gegenüber denjenigen, die den Eltern weismachen wollen, die Gesamtschule sei die beste aller denkbaren Schulen, bringe die Lösung aller bestehenden Probleme und schaffe praktisch das pädagogische Paradies auf Erden.
Die Gesamtschule ist eine andere Schule mit anderen Problemen, sie ist eine Schule, aus deren Erprobung wir manches, auch für die Weiterentwicklung des gegliederten Schulwesens, lernen können. Aber die meisten Versuche, die bisher mit Gesamtschulen in Deutschland gemacht worden sind, standen unter atypischen Bedingungen: Neue Gebäude wurden errichtet, modernste Ausstattung stand zur Verfügung, sie wurde mit Ganztagsschule verbunden, und in einigen Fällen lag die Lehrerversorgung bis zu 40 % über dem Durchschnitt der Versorgung der Regelschule nebenan.Die Grundspannung der Gesamtschule zwischen hoher Zielsetzung und schulischer Wirklichkeit — das erweisen auch alle Gutachten — ist ungelöst. Einerseits soll soziales Lernen und Durchlässigkeit durch langes Zusammenbleiben der Schüler verbessert werden, andererseits soll den individuellen Begabungen und Interessen der Schüler durch gestuften Kursunterricht mit unterschiedlichen Lernan-
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Ministerpräsident Dr. Vogel forderungen entsprochen werden. Eine überzeugende Lösung dieser Spannung — Überforderung der Schwachen und Hilfsbedürftigen, Unterforderung der Starken und Leistungsfähigen, Gefahr der Nivellierung — ist den Gesamtschulen bisher nicht gelungen.
Während das gegliederte Schulwesen von der Gleichwertigkeit des Unterschiedlichen ausgeht, ist die Gesamtschule in der Gefahr, jede Unterschiedlichkeit in Frage zu stellen, wenn nicht gar zu leugnen. Unser Ziel ist nicht die Egalisierung aller Eigenschaften, unser Ziel ist ein Bildungsangebot, das jedem Menschen die Möglichkeit schafft, seine Begabung zu entfalten, seine Fähigkeiten und Neigungen zu entwickeln und zu einer qualifizierten Berufstätigkeit zu führen. Wir wollen nicht die Einheitsschule für alle, wir wollen die richtige Schule für jeden.
Von besseren Leistungen, die in der Gesamtschule erzielt würden, sprechen nicht einmal die engagiertesten Befürworter. Sie tun so, als stände der alten, überholten Leistungsschule die fortschrittliche moderne Vergnügungsschule gegenüber. Ich wende mich gegen solche Etikettierungen. Sicher soll die Schule Freude bereiten, aber sie muß auch dazu befähigen, mit dem bevorstehenden Leben des Erwachsenen fertig zu werden. Eine Gesamtschulphilosophie nach dem Motto, wie sie eine kritische Formulierung eines FDP-Politikers in NordrheinWestfalen einmal ausgedrückt hat: „Die Kinder lernen zwar nichts, aber sie haben viel Spaß dabei",
ist verantwortungslos.
Jedes Kind hat nur eine Schulzeit. Niemand kann es später wiedergutmachen, wenn sich ein erworbener Schulabschluß auf längere Sicht als nicht tragfähig erweist.
Schule soll erziehen, aber sie muß auch zur Leistung erziehen. Es ist nicht inhuman von der Schule, Leistung zu verlangen; denn unsere Gesellschaft beruht auch darauf, daß Menschen in ihr Leistung erbringen.
Auch Leistung gehört zur Persönlichkeitsentfaltung junger Menschen.Die Gesamtschule muß — nicht durch Zwang, sondern durch Bewährung — beweisen, was sie vermag. Meine Damen und Herren, soweit Sie Befürworter der Gesamtschule sind, frage ich Sie: Wenn sie so gut ist, wie ihre Befürworter immer sagen, warum dann diese große Ängstlichkeit, die aus der Hektik spricht, sie durch Zwang einführen zu müssen?
Sieht man denn nicht, daß aus der Eile, die Gesamtschule zur Regelschule zu machen, letztlich doch das schlechte Gewissen — auf Grund der Erwartung, morgen dafür vielleicht keine Mehrheiten zu haben — spricht?
Herr Ministerpräsident, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Kühbacher?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Gerne.
Herr Ministerpräsident, würden Sie mir zustimmen, wenn ich sage, daß die Gesamtschule überall dort, wo die Eltern sie nachdrücklich fordern, auch eingeführt werden sollte?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich bin gern bereit, auch über diesen Punkt mit Ihnen zu reden, wenn Sie mit mir darüber reden, ob überall dort, wo die Zwangsgesamtschule gegen den Willen der Betroffenen eingeführt worden ist, die Rückkehr zu einem Schulsystem, wie die Eltern es wollen, gewährleistet ist.
— Ja, wenn Sie das Glück haben, in Niedersachsen zu Hause zu sein, kann ich Ihnen das Angebot, das ich Ihnen machen wollte, nicht machen: Schaffen Sie Gymnasien im Kreis Hanau oder in Offenbach, und ich lasse mit mir über eine weitere Gesamtschule in Rheinhessen gern reden.
— Sicher, den haben wir aber in Hessen auch, Herr Schäfer.
— Wissen Sie, meine Damen und Herren, die Zwischenrufe der letzten drei oder vier Minuten haben bestätigt, was ich gerade sagen wollte: Als die Gesamtschuldiskussion begann, waren nach meinem Eindruck die Befürworter der Gesamtschule selbstbewußter, als sie es heute sind,
und vertraten die Meinung, sie sei gut und werde sich selbst durchsetzen. Heute ist diese Überzeugung offensichtlich schwächer geworden.Kein bisheriger Versuch und keine Studie über diese Versuche haben erwiesen, daß die Gesamtschule serientauglich wäre. Im Gegenteil, die Befürworter der Gesamtschule werfen immer neue verwirrende Modelle auf den Markt: Die einen wollen die Gesamtschule, weil sie große Schulsysteme befürworten, die anderen preisen sie neuerdings als die neue Schule im Dorf an.Auch angesichts der demographischen Entwicklung erscheint die Einführung der Gesamtschule gerade im gegenwärtigen Augenblick unvertretbar.
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Ministerpräsident Dr. Vogel
Bei einer flächendeckenden Einführung der integrierten Gesamtschule etwa in Rheinland-Pfalz — eine sechszügige Führung, um ausreichende Differenzierung zu gewährleisten, vorausgesetzt — wären von 609 bestehenden Hauptschulen, Realschulen und Gymnasien 328 aufzulösen.
Bei steigenden Schülerzahlen mag es in der Vergangenheit vertretbar gewesen sein, neben dem gegliederten Schulwesen zusätzliche Gesamtschulen einzurichten. Wer jetzt, angesichts ständig sinkender Schülerzahlen, mit solchen Plänen fortfährt, tut dies auf Kosten des gegliederten Schulwesens.
Das Ergebnis sind ein Verlust an Wahlfreiheit für Eltern und Schüler, mehr Zwang und weniger Freiheit und vor allem mehr Staat und weniger Elternrecht.
Die Entscheidung einiger Länder, die Gesamtschule so, wie sie heute ist, zur Regelschule zu machen, halte ich im gegenwärtigen Augenblick für falsch und verhängnisvoll. Es wäre schlimm, wenn wir in Deutschland tatsächlich unterschiedliche Verhältnisse zwischen verschiedenen Gruppen von Ländern bekämen. Meine Damen und Herren, schlimmer wäre es aber noch, wenn möglicherweise von Wahltermin zu Wahltermin das bestehende Schulwesen eines Landes in Frage gestellt werden könnte.
Unsere diesbezügliche Position ist klar: Für Länder, in denen sich die Union anschickt, Regierungsverantwortung zu übernehmen, hat Alfred Dregger von dieser Stelle aus zusammenfassend formuliert:Wir werden nach einem Regierungswechsel keine einzige Gesamtschule auflösen, wenn die Eltern sie beizubehalten wünschen, und wir werden Gesamtschulen, die beibehalten werden, genauso fördern, wie jede andere Schule auch.
Jedes Kind hat nur eine Schulzeit und darf nicht Opfer von Schulexperimenten werden. Wir werden aber nicht zulassen, daß Entscheidungen von so großer Tragweite gegen den Willen der Betroffenen gefällt werden.Dieser Aussage von Dregger ist nichts hinzuzufügen.
Meine Damen und Herren, was nun Herrn Kultusminister Remmers betrifft, so möchte ich mich dagegen verwahren, in welcher Form hier ein Kultusminister der Union von manchem Redner mißbraucht wird.
— Doch, das kann der auch selbst. Er hat es aber verdient, daß wir es auch für ihn tun.
Wenn man das heute morgen alles so gehört hat und wenn man, was man ja auch tun muß, noch liest, was gesagt wird, dann sollte man doch glauben, dieser Werner Remmers fände überall die volle Unterstützung von SPD und FDP!
Meine Damen und Herren, wenn Sie sich einmal die Protokolle des niedersächsischen Landtags vorlegen lassen, dann sieht das allerdings ganz anders aus. In der Bundesrepublik wird er zum Kronzeugen für die Gesamtschule ernannt; seine Bemühungen um Ausgleich im Schulstreit werden als Blankoscheck für die Richtigkeit sozialdemokratischer Bildungspolitik ausgegeben. Zu Hause freilich werfen Sozialdemokraten ihm vor, er entfache einen bildungspolitischen Glaubenskrieg um die Gesamtschule, er verteidige überholte Strukturen und schreibe restriktive Tendenzen fort. Meine Damen und Herren, im Zeitalter der Medienkommunikation müssen wir deutlich machen, welcher Antwort der gewürdigt wird, der hier aus ganz anderen Gründen so gerne gelobt wird.Noch ein Wort zur gegenseitigen Anerkennung der Abschlüsse von Gesamtschulen. Sie wissen, daß sie zunächst durch Beschlüsse der Kultusministerkonferenz für die Dauer eines Versuchszeitraums bis Ende 1981 gewährleistet ist. Ich bin auch weiterhin für die Anerkennung der Abschlüsse von Gesamtschulen, sofern diese mit denen des gegliederten Schulwesens inhaltlich vergleichbar sind. Ich sage nicht „gleich", sondern ich sage: vergleichbar. Vergleichbar müssen Abschlüsse sein, weil sonst immer eine Seite benachteiligt ist. Was Befürworter der Gesamtschule für diese nicht wollen, dürfen sie auch anderen nicht zumuten. Weil es eines Maßstabes bedarf, um Leistungen zu bewerten, kommen nur objektive Kriterien in Frage. Was einer gelernt hat, was einer weiß, ist die Voraussetzung für das, was man ihm anschließend zumuten kann. Alle ideologische Rederei hilft nicht darüber hinweg: Wenn einer weitergeführt werden soll, muß man wissen, was er bisher schon kann.
Die Gesamtschule hat bisher immer betont — nicht zuletzt um ihre Anerkennung zu erreichen und um für die Schüler und Eltern attraktiv zu sein —, daß sie die gleichen Abschlüsse wie das gegliederte Schulwesen verleiht. Für mich folgt daraus, daß es bestimmte unverzichtbare Anforderungen an Grundwissen und Grundfertigkeiten gibt, die nach wie vor notwendige Voraussetzungen für fortführende Ausbildungsgänge sind. Dazu gehört für mich beispielsweise auch, daß zwei Fremdsprachen gelernt haben muß, wer ein akademisches Studium aufnimmt.
Nun argumentiert man — auch heute morgen ist das geschehen —, 360 000 Schüler an 295 Gesamtschulen pochten auf ihr Recht. Es sei unverantwort-
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14394 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 183. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. November 1979
Ministerpräsident Dr. Vogel
lich, sie im Stich zu lassen. — Umgekehrt wird ein Schuh daraus. Es wäre noch unverantwortlicher, fast 12 Millionen Schüler an rund 35 000 Schulen des gegliederten Schulwesens im Stich zu lassen.
Ich erwarte von den Kultusministern der Länder, daß sie auf ihrer bevorstehenden Konferenz noch einmal ernsthaft eine Einigung in der Anerkennungsfrage versuchen und ihren Kabinetten und Parlamenten entscheidungsfähige Ergebnisse vorlegen.Gerade weil von Demokratie und Parlament heute morgen so viel die Rede war: Jedes Land, jede Landesregierung und jeder Landtag haben das Recht, zu dem, was Minister aushandeln, Stellung zu nehmen. Und dieses Recht ist in der Verfassung meinem bayerischen Ministerpräsident-Kollegen nicht aberkannt. Im Gegenteil, auch er und die bayerische Staatsregierung haben das Recht, zu Bildungsgesamtplan-Entwürfen ihre politische Meinung zu sagen. Wer so häufig wie Herr Schmude heute früh Herrn Strauß zitiert, wer von Strauß und Streit spricht, muß die Frage gestatten: Wieviel Furcht muß eigentlich dort umgehen, wo solche Reden vorbereitet werden, daß man das so tut?
Wir werden der Fortschreibung des Bildungsgesamtplans dann zustimmen können, — —
— Wenn ich Ihren Zwischenruf verstanden hätte, Herr Kollege, wäre ich darauf eingegangen. So kann ich das leider nicht.
— Dann war es ja gut, daß ich ihn nicht gehört habe.Wir werden der Fortschreibung des Bildungsgesamtplans nur dann zustimmen, wenn eine verbindliche Rahmenvereinbarung der Kultusminister über die qualitative Vergleichbarkeit und Anerkennung der Abschlüsse des gegliederten Schulwesens und der integrierten Gesamtschule zustande kommt. Gelingt eine Einigung der Kultusminister auf dieser Grundlage, so halte ich eine Fortschreibung des Bildungsgesamtplans für möglich. Gelingt sie nicht, so muß der Verzicht auf eine baldige Fortschreibung hingenommen werden, zumal da die Bund-Länder-Kommission noch andere wichtige Aufgaben hat und die Zeit auch für eine solide Abstimmung von Struktur- und Finanzplanung sinnvoll genützt werden könnte.Ich füge im Interesse der Eltern und Schüler hinzu: Besser kein Kompromiß als ein fauler Kompromiß.
Es gibt ohne Zweifel sehr erhebliche und tiefgreifende Meinungsunterschiede zwischen den politischen Parteien. Was die Union betrifft: Sie ist gesprächsbereit; aber sie wünscht eine redliche Debatte. Und zu dieser Redlichkeit gehört, daß ich hier dieGrenzen, deren Überschreitung wir nicht akzeptieren können, angebe — nicht, weil es uns an Courage fehlt, sondern weil das Miteinander der Demokraten und die politische Kultur in der Bundesrepublik Deutschland dabei Schaden nähme.Der Bundesminister für Bildung und Wissenschaft hat am 29. Oktober auf einer bildungspolitischen Konferenz erklärt — ich zitiere drei Sätze mit Erlaubnis der Frau Präsidentin —:Wir befinden uns mitten in einer scharfen Auseinandersetzung zwischen konservativen und fortschrittlichen Positionen. Sie geht vordergründig um die Fortschreibung des Bildungsgesamtplans. Dahinter steckt eine verschärfte Auseinandersetzung um die Gesamtschule. Und eigentlicher Gegenstand ist — mit einem Wort — das demokratische Bildungswesen.
So geht es nicht. So sollte ein verantwortlicher Sprecher einer Regierung nicht formulieren.
Demokratischer ist es allemal, das gegliederte Schulwesen weiter zu entwickeln und die Gesamtschule zu erproben, als Eltern, Schülern und Lehrern aus ideologischen Gründen die Gesamtschule gegen ihren Willen zu oktroyieren.
Demokratischer ist es, sich das zu Herzen zu nehmen, was Eltern, Lehrer und Schüler kümmert, als noch immer nicht den längst zu den Akten gelegten Bildungsbericht 1970 und die Reformeuphorie vergangener Jahre zu vergessen.Schreiben Sie ruhig weiter Mängelberichte, Herr Bundesminister. Nehmen Sie weiter die Alleingänge Ihrer Parteifreunde in den Ländern, wo sie stattfinden, in Schutz. Aber belehren Sie uns bitte nicht darüber, was Demokratie und was ein demokratisches Bildungswesen in der Bundesrepublik Deutschland sind.
Meine Damen und Herren, ich habe versucht, darzulegen, was unsere Grundlagen, was unsere Grenzen sind. Ich unterstreiche noch einmal unsere Bereitschaft zur Fortsetzung der Debatte auf der Basis des hier Gesagten.
Das Wort hat Herr Senator Rasch .
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich höre schon den Zuruf, es werde schwer für mich. Ich nehme das zur Kenntnis, Herr Abgeordneter.
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Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 183. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. November 1979 14395
Senator Rasch
Ich spreche hier als Ländervertreter und mache mir die Einführungsworte des Herrn Ministerpräsidenten zu eigen, in denen er auf die Rolle der Länder in dieser Frage hingewiesen hat, die in der Sache, die Sie hier heute beraten, die eigentliche Verantwortung tragen. Ich nehme zum zweiten zur Kenntnis — wenn ich einmal einige selbstverständlich auch notwendige Grundpositionen in der politischen Auseinandersetzung beiseite lege —, daß der Ministerpräsident des Landes Rheinland-Pfalz hier sehr deutlich das Angebot zum Weiterverhandeln in der Kultusministerkonferenz gemacht hat. Das trifft sich mit meiner Grundüberzeugung. Er hat eine Linie aufgezeigt, die hinter dem vordergründigen Pulverdampf, der durch dieses Hohe Haus gezogen ist, deutlich macht, daß vielleicht doch noch eine Chance besteht, sich im Rahmen des kooperativen Föderalismus zu einigen.Ich beginne so konstruktiv, um mich als Ländervertreter nicht in eine Kampfposition oder „Glaubenskriegposition" hineinziehen zu lassen, in die man sehr leicht gezogen werden kann. Ich hebe hervor, Herr Ministerpräsident Vogel, daß es mir fern-liegt — da ich kein „Schul-Mann" bin —, mit Belehrungen gegenzuhalten. Im Bildungsbereich versucht jeder, jeden zu belehren. Ich glaube, auch in Ihren Ausführungen gab es einige Belehrungen.
Meine Damen und Herren, politisch geht es bei dem Antrag der CDU doch darum — das darf ich als Ländervertreter sagen —, die Position, die im Bildungsgesamtplan von 1973 enthalten ist und die die Kultusminister in der Zwischenzeit bei den Verhandlungen in der Bund-Länder-Kommission für Bildungsplanung erreicht hatte, auf einen Stand der Bildungspolitik zurückzuführen, den wir aus der Phase der 50er Jahre und Anfang der 60er Jahre kennen. Dies ist der politische Hintergrund.Das können Sie für Ihre Länder wollen und auch tun. Nur müssen Sie uns in unseren Ländern den Spielraum belassen, dort fortzufahren, wo wir mit dem Bildungsgesamtplan stehengeblieben sind. Das ist der Diskussionsprozeß über die Fortschreibung des Bildungsgesamtplans, der im übrigen, meine Damen und Herren — daran darf ich erinnern —, durch die Pflicht der Ministerpräsidenten belastet ist, diese unglücklichen Minderheitsvoten zu überwinden und zu einer gemeinsamen Aussage zu kommen.Den Optimismus, daß wir diesen Dissens in der Gesamtschulfrage, in der Frage der Einheitlichkeit des Abschlusses der Sekundarstufe I überwinden, habe ich heute nicht mehr. Ich versuche, mir den Optimismus zu erhalten, daß wir wenigstens soviel Toleranz aufwenden, im Rahmen der Fortschreibung des Bildungsgesamtplanes — Anpassung an die quantitative und demographische Entwicklung — die Unterschiedlichkeiten zu gewähren, aber auch die Vergleichbarkeit im Bildungsbereich zu erhalten oder zu erzielen. Auf diese Weise hätte jeder in seinem Land in diesem Rahmen einen Bewegungsspielraum.Meine Damen und Herren, der Stand der Beratungen über die Fortschreibung des Bildungsgesamtplans war am 18. Juni dieses Jahres eigentlich ermutigend. Er war ermutigend in der Frage der Gesamtschulentwicklung, auch in anderen Bereichen, weil wir — bei aller Eigenständigkeit und der Hervorhebung der unterschiedlichen Entwicklung der einzelnen Länder — einen Weg gesehen haben, wie wir über die Vergleichbarkeit zu einer Einigung bezüglich der Anerkennung der Gesamtschulabschlüsse kommen können.In diesem Zusammenhang ist es interessant, sich einmal die Palette der Länderaussagen vor Augen zu führen. Die von mir sehr geschätzte Kollegin Frau Laurien — meine Zuneigung im bildungspolitischen Bereich, zumindest was die Kooperation angeht, wächst sozusagen von Monat zu Monat — hat ja interessante Positionen markiert, indem sie — ich darf, Frau Präsidentin, mit Ihrer Genehmigung zitieren — in der „Zeit" formuliert hat:Meine Position, das sagte ich auch in meiner Partei ganz deutlich, denn wir sind ja keine Meinungseunuchen, ist: die CDU führt keinen Kreuzzug gegen integrierte Gesamtschulen. Ich kämpfe allerdings leidenschaftlich dagegen, daß die integrierte Gesamtschule zur einzigen Regelschule wird.Das ist die Position der Frau Kollegin Laurien. Sie fährt in diesem Beitrag — vor dem Hintergrund des Zieles der Bildungsgleichheit oder vergleichbarer Bildungschancen — fort:Ich meine,— so Frau Laurien —daß das gegliederte Schulwesen, das ja längst vielgliedrig ist, diese Antwort überzeugend geben kann.So ihre Position. Das mag sie so sehen. Aber sie fährt fort:Ich bestreite nicht, daß auch die integrierte Gesamtschule und die kooperative Gesamtschule, wenn sie pädagogisch sorgfältig und verantwortungsvoll gemacht werden, diese Antwort geben können. Ich bedaure ungeheuer, daß wir in Deutschland über die Organisation Glaubenskriege führen, statt uns über die Inhalte auseinanderzusetzen.Sehr wohl, sehr gut, Frau Kollegin. Ich hätte mir gewünscht, daß die Herren der CDU/CSU genau diese Position schon zu Beginn der Debatte eingeführt hätten. Dann hätten wir uns manche Kontroverse sparen können.
Anders sieht es aus — und das stimmt mich ein wenig ernst —, wenn mein Kollege Maier, den ich ebenfalls — wir sind ja sehr kooperativ in der Kultusministerkonferenz — sehr schätze, in einem Artikel des „Bayernkurier" Ausführungen macht und Begriffe gebraucht, die ich in ihrer Art und Weise als sehr stark empfinden muß. Zum Beispiel sagt er: „In der Geschichte unserer Schulpolitik ist es ohne Beispiel, daß, wie jetzt geschehen, Verhandlungen zwischen Ländern über Sachfragen wie die gegensei-
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14396 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 183. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. November 1979
Senator Rasch
tige Anerkennung von Zeugnissen in Konfrontation und Polarisierung unter sozialliberalen Ländern geführt werden.'' Es werden Begriffe verwendet: „Es gehört schon ein Übermaß an Ideologie und blindwütigem Reformeifer dazu." Oder: „Nur ideologischer Fanatismus kann eine solche Politik gegen die öffentliche Meinung verfolgen.''Gucken Sie sich mal die elf Kultusminister an, wir sind ja mehr. Wer ist denn da ein Fanatiker? Wer ist denn da ein blindwütiger Ideologe im Bereich der sozialliberalen Länder? Nennen Sie mir einen amtierenden Kultusminister der sozialliberalen Länder, der — —
— Wenn Sie genau zugehört hätten, hätten Sie beachtet: ich sprach von den sozialliberalen Kultusministern auf der Landesebene.
Da hatten Sie nichts Besseres, als auf HerrnSchmude zu verweisen. Der ist ja nun Bundesminister und hat in dieser Frage gar keine Kompetenz.
Ich darf Sie trösten, meine Damen und Herren: Sie auch nicht.Aber der Bundesminister hat hier völlig richtig, wie ich meine, die Streitfrage aus seiner Sicht aufgenommen. Ich distanziere mich nicht im geringsten von ihm in dieser Frage — wenn Sie das schon von mir hören möchten.Die Ausführungen, die der Kollege Maier im „Bayernkurier" gemacht hat, sind nicht geeignet, in diesem Hohen Hause oder in der Kultusministerkonferenz eine Diskussion zu erzeugen, die von Sachlichkeit und Kooperation getragen ist und die dem Grundprinzip des Pluralismus in unseren Bundesländern und in unserem Gemeinwesen insgesamt Rechnung trägt. Mit solchen Verunglimpfungen der jeweiligen Minister hier, wie ich meine, sollten wir nicht arbeiten.
Noch eines ist interessant. Das ist Ihnen faktisch nicht deutlich geworden. Die Einheitlichkeit vor dem Hintergrund dieses Antrags der CDU/CSU-Fraktion ist doch gar nicht vorhanden. Wie könnte denn sonst in Berlin die CDU, nämlich der Herr Vizepräsident Richard von Weizsäcker, Mitglied dieses Hohen Hauses, im Wahlkampf erklären, daß er die Gesamtschule respektiert? Der Sprecher der CDU-Fraktion im Abgeordnetenhaus erklärt: Wir sagen ja zur integrierten Gesamtschule in Berlin als gesetzlich anerkannter Regelform; sie muß nur weiterentwickelt werden.Das tun wir. Da sind wir gar nicht so weit voneinander entfernt. In einem Bundesland wie Berlin geht jeder vierte Schüler in der mittleren Schulstufe in die Gesamtschule als Regelschule. Wie ist es möglich, daß in bezug auf eine solche gesetzlich anerkannte Schulform Ministerpräsident Strauß in Bayern erklärt: weder in Bayern noch anderswo!? Wie müssen sich meine parlamentarischen Kollegen in Berlin düpiert fühlen, wenn der Ministerpräsidentvon Bayern das Votum eines Souveräns, das Votum des — leider allerdings eingeschränkten — Souveräns in Berlin, mit einer schlichten Anreihung von Silben korrigiert! Was ist denn das für eine Landschaft im Zuge des kooperativen Föderalismus? Meine Damen und Herren, Sie müssen sich hier auch mit Ihren eigenen Positionen auseinandersetzen.
Ich bin also gespannt, wie die Einheitlichkeit, die in Ihrem Antrag hier vordergründig vorgetragen wird, in der Wirklichkeit aussieht.Ich will den Kollegen Remmers hier gar nicht zitieren; er ist in dieser Debatte schon viel zuviel beansprucht worden. Seine Position ist klar. Die kennen Sie, und das ist für Sie durchaus sehr schmerzlich.Wo standen wir eigentlich am 18. Juni in der Bund-Länder-Kommission für Bildungsplanung? Wir hatten uns, wie ich schon ausführte, auf ein Verfahren geeinigt, wie die Anerkennung der Gesamtschulzeugnisse erfolgen soll. Ich darf Ihnen das — mit Genehmigung der Frau Präsidentin — ganz kurz noch einmal vorführen. Wir haben gesagt, es müssen eine einheitliche Mindestschuldauer für den Erwerb bestimmter Abschlüsse vorhanden sein, die Einhaltung eines gemeinsamen verbindlichen Fächer- und Stundenrahmens, Abstimmung der Zielsetzungen für die Fächer- und Lernbereiche einander entsprechender Schularten und Bildungsgänge, Festlegung der Anforderungen, die zum Erreichen eines bestimmten Abschlusses zu erbringen sind, Sicherung gleichwertiger Regelungen für die Versetzung und Übergänge im Sekundarbereich I sowie die Übergänge in II. Dies war gemeinsame Grundlage, und in der Kultusministerkonferenz wurde ein Verfahren in Gang gesetzt, diese Fragen durch Rahmenvereinbarungen zu lösen. Und da muß sich schon der Ministerpräsident von Bayern korrigieren, wenn der Ministerpräsident von RheinlandPfalz heute hier erklärt, er sei bereit, auf diesem Wege weiterzuverhandeln. Denn noch steht das klare Votum in der „Welt" — oder auch in anderen Zeitungen —: Weder in Bayern noch anderswo werden wir die Gesamtschule zulassen. Hier muß sich die CDU, einfach im Interesse der Kooperation in der KMK, nun einmal klar bekennen und entscheiden, was sie nun wirklich will.
Meine Damen und Herren, es ist nicht meine Absicht und auch nicht die Absicht meiner Kollegen im sozialliberalen Lager, SPD oder FDP, die CDU zu überzeugen, daß sie in ihren Ländern forciert Gesamtschulen einführen muß. Das ist ihre Sache, das hat sie vor ihren Parlamenten, vor ihren Wählern zu verantworten. Lassen Sie, meine Damen und Herren von der CDU und CSU, es aber zu, daß unsere Souveräne, unsere Parlamente, die Entscheidung für die Gesamtschule treffen, und gehen Sie nicht in die verfassungspolitisch gefährliche Situation, daß Länderverwaltungen beginnen, Länderparlamente zu korrigieren!
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Deutscher Bundestag - 8. Wahlperiode — 183. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. November 1979 14397
Herr Senator, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Daweke.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Selbstverständlich.
Herr Senator, nur damit wir das nicht vergessen: Können Sie bestätigen, daß auch Bundesminister Schmude zugestimmt hat, daß die Frage der Vergleichbarkeit und der Inhalte geklärt werden sollte — wovon er ja heute überhaupt nicht geredet hat?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Abgeordneter, es ist natürlich ein gewagtes Unternehmen, wenn ich einen Bundesminister bestätigen will.
Aber ich kann bestätigen, da er sich ja zu der Grundlage dieser Vereinbarungen bekannt hat, daß das so ist, wobei die Gleichheit der Inhalte auch von dem Kollegen Vogel soeben nicht gefordert worden ist; denn da geht es um einen Bereich, in dem wir uns auf einen Kompromiß geeinigt haben, so daß Herr Schmude in diesem Punkt nicht beansprucht werden kann.Meine Damen und Herren, wenn wir einen Schritt weiterkommen wollen — das ist hier schon mehrfach angesprochen worden —, dann müssen wir über den Begriff der Gleichwertigkeit in diesem Zusammenhang nachdenken. Wenn wir uns zur Gleichwertigkeit bekennen, dann heißt das in allen Ländern und in allen Bereichen nicht Gleichheit Auch hier muß die CDU/CSU deutlich sagen, will sie Gleichheit im Bildungsbereich — das ist das Ende des Föderalismus —, oder will sie Gleichwertigkeit; dann können wir im kooperativen Föderalismus fortfahren. Hier müssen Sie sich klar bekennen. Herr Vogel hat eine Meinung vorgetragen, die ich unterstütze. Das ist die entscheidende Frage: Gleichheit oder Gleichwertigkeit? Wir haben und ich habe nie ein Hehl daraus gemacht, daß es um die Gleichwertigkeit geht, d. h., daß der Weg zur Erlangung ganz bestimmter Abschlüsse unterschiedlich sein kann — geprägt von der kulturellen Verantwortung und Vorstellung des jeweiligen Landes —, daß aber das Ziel die Gleichwertigkeit und damit Vergleichbarkeit des Abschlusses sein muß. Dies ist eine klare Position, die wir auch in der KMK angesprochen haben. Wenn Sie aber, meine Damen und Herren, die Meßlatte des gegliederten Schulwesens anführen, dann müssen Sie sich auch darüber im klaren sein — Herr Kollege Herzog, das ist so —, daß es gar kein absolut gleiches gegliedertes Schulwesen in unseren schönen Bundesländern gibt. Es gibt doch — deswegen bekommen wir Kultusminister hier keine großen Probleme — erhebliche Unterschiede zwischen den einzelnen Bundesländern im gegliederten Schulsystem. Es ist doch nicht so, als wenn das ein geschlossenes, in sich ganz klares System ohne Unterschiede wäre. Da gibt es Unterschiede im Hauptschulabschluß. In Berlin z. B. müssen die Hauptschüler grundsätzlich eine erste Fremdsprache erlernen. In anderen Bundesländern ist das nicht notwendig. Sollten wir etwa auf die Idee kommen, z. B. den Hauptschulabschluß aus BadenWürttemberg nicht mehr anzuerkennen, nur weil die Schüler die erste Fremdsprache nicht haben? Oder sollten wir auf die Idee kommen, einen Realschulabschluß aus Hamburg nicht anzuerkennen, weil die in der Stundentafel insgesamt weniger Stunden haben als in Berlin? Oder sollten wir auf die Idee kommen, weil wir in Berlin im Gymnasium insgesamt mehr Stunden haben als in Bayern, den Gymnasialabschluß aus Bayern nicht mehr anzuerkennen? Das wäre doch aberwitzig. Ich könnte Ihnen eine Fülle von Beispielen nennen, wo Unterschiedlichkeiten in dem gegliederten Schulsystem vorhanden sind, auch bei den Inhalten. Keiner kommt auf die Idee zu sagen: da fehlen ja zehn oder zwölf oder zwanzig Stunden in der gesamten Stundenbilanz einer Schulform; deswegen können wir das Ergebnis nicht mehr anerkennen. Das geht doch nicht. Diese Flexibilität, die wir hier zugrunde legen, müssen wir selbstverständlich doch auch gegenüber der Gesamtschule zugrunde legen. Man kann doch nicht so argumentieren, daß man hier einen angeblichen Splitter im Auge der Gesamtschule sieht, und den Balken im eigenen Auge — um dieses berühmte Bibelwort zu zitieren — sieht man nicht. Ich hoffe, meine Damen und Herren, daß wir auch in dieser Frage, was die MeBlatte des gegliederten Schulsystems angeht, einen Schritt weiterkommen.Ein kurzer Satz zu dem Problem der Einheitlichkeit insgesamt. Hier ist angesprochen worden — da spielt Berlin eine durchaus interessante Rolle —, daß wir es trotz der Erklärung des Bundeskanzlers, der Bundesregierung zum zehnten Bildungsjahr in Berlin gewagt hätten, ein zehntes, allgemeinbildendes Pflichtschuljahr in der Hauptschule einzuführen. Ich muß Sie, meine Damen und Herren, daran erinnern, daß es Zielsetzung des Bildungsgesamtplanes von 1973 war, einen einheitlichen Abschluß der Sekundarstufe I zu bekommen, daß es auch Zielsetzung war, die allgemeine und die berufliche Bildung einander anzunähern, daß Gleichwertigkeit das Ziel war. Das muß man Ihnen mal vor Augen führen. Berlin hat in der besonderen Rolle eines Stadtstaates von dieser Möglichkeit der Einführung eines zehnten Schuljahres Gebrauch gemacht Sie müssen zur Kenntnis nehmen, daß über 60 % eines Jahrganges in der Hauptschule freiwillig diesen Abschluß machten und 90 % bei dem Übergang in die neunte Klasse der Hauptschule dafür votierten, freiwillig das zehnte Schuljahr zu machen, es aber nicht gemacht haben, weil sie vielleicht einen Ausbildungsplatz gefunden haben. Sie müssen sehen, daß eine große Mehrheit der Schüler das freiwillig getan hat.
Wenn Sie das sehen und noch berücksichtigen, daß viele gerade nach dem neunten Schuljahr abgegangen sind, für die es eine echte Chance gewesen ware, das zehnte Pflichtschuljahr zu machen, dann werden Sie, wenn auch vielleicht noch nicht jetzt, aber doch allmählich begreifen, daß das zehnte Schuljahr nicht, wie der Kollege Vogel gesagt hat, ein Zwang ist, sondern daß es eine Chance für diese Schüler ist, indem sie das gleiche oder ein vergleichbares Bildungsangebot bekommen wie alle anderen
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14398 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 183. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. November 1979
Senator Rasch
im gegliederten Schulsystem. Wir weichen damit nicht ab. Es gibt keine Anerkennungsprobleme. Wir haben eine zehnjährige Erfahrung auch in der curricularen Entwicklung.Das zweite Beispiel ist die berühmte Frage der berufsfeldbezogenen Oberstufenzentren. Die wenigsten — das ist nun das Problem unseres Bildungschinesisch — wissen, was das eigentlich ist. Das ist eine berufsfeldorientierte Schule, in der alle Berufsschulen eines Berufsfeldes und eine gymnasiale Oberstufe zusammengefaßt sind. In bezug auf die beruflichen Schulen gibt es vollen Konsens und keine Probleme.Lediglich im elften Schulbesuchsjahr werden die Schüler, die die gymnasiale Qualifikation haben und in die Oberstufe eintreten, die Gelegenheit erhalten, neben der Einführungsphase der gymnasialen Oberstufe ein Berufsgrundbildungsjahr zu absolvieren, also eine Annäherung zwischen allgemeiner und beruflicher Bildung. Dies ist der Punkt. Es geht darum, daß nach Ansicht einiger Länder zu wenig allgemeinbildende Stunden erteilt werden. Wir sehen uns hier in voller Übereinstimmung mit den Vereinbarungen der Kultusministerkonferenz. Hier gibt es einen Dissens: es fehlen angeblich wenige Stunden.Meine Damen und Herren, lassen Sie es doch einmal auf den Versuch ankommen, ob die Mathematik-Stunde, die berufsfeldbezogen in einem Leistungskurs und in einem Grundkurs für ein Berufsfeld — etwa kaufmännisches Rechnen — angeboten wird, nicht doch einen ganz bestimmten Anteil von allgemeiner Mathematik hat. Hier gibt es doch Überschneidungen, die kein Mensch leugnen kann. Hier kann man doch nicht additiv rechnen, sondern muß sehen, daß sich allgemeines und berufliches Bildungswesen durchaus ergänzen. Lassen Sie doch diese Offenheit zu, wenn ein Land das will — so kann ich meinen CDU/CSU-Kollegen nur zurufen. Aber hier gibt es eben keine Toleranz, sondern allenfalls die Bereitschaft, weiter darüber zu verhandeln. Hier entscheidet wieder ein Land gegen die Entscheidung eines Gesetzgebers, ob das, was das Land Berlin im Einvernehmen mit der Mehrheit im Parlament tut, bundesrepublikanisch anerkannt werden kann oder nicht. Dies ist nach meiner Überzeugung ein unmögliches und politisch nicht vertretbares Verhalten der einzelnen Länder.Im Zusammenhang mit der Gesamtschule ist hier mehrfach der Elternwille zitiert worden. Lassen Sie mich ein Wort zur Gesamtschule generell sagen. Aus meiner politischen Sicht geht es eigentlich gar nicht mehr darum, über die Existenz der Gesamtschule zu streiten. Sie ist ja da. Das anerkennen auch alle CDU/CSU-Minister. Machen Sie doch nicht den Versuch, über die Anerkennungspolitik die Existenz zu zerstören. Sie geraten sonst sofort in den Konflikt mit den Eltern, die diese Schulform wollen. Die Regierungen, die wir repräsentieren, haben über das Votum in der Wahl, über die Mehrheit im Parlament, ja, sogar über die Voten der Elterngremien den Elternwillen hinter sich, daß die Gesamtschule eingerichtet oder erhalten werden soll. Führen Sie doch nicht einen Streit über die Abschlüsse! Führen Sie vielmehr eine politische Diskussion über die Gleichwertigkeit, wie wir es vorhin getan haben! Der Elternwille zieht doch nicht. Hamburg hat doch eine gesetzliche Regelung geschaffen; es mußte dies nach einem Gerichtsentscheid tun, der den Elternwillen ausdrücklich respektiert. In Berlin ist die Gesamtschule eine Schulform neben dem gegliederten Schulsystem, wobei der Elternwille ebenfalls respektiert wird.Ich will Ihnen eines ganz offen sagen. Wenn die Schülerzahlen zurückgehen, kann es auch passieren, daß eine Gesamtschule geschlossen wird. Warum denn nicht? Wir sind doch nicht ideologisch engstirnig, sondern versuchen, eine Politik zu machen, bei der in einem hohen Maße Übereinstimmung mit der Offentlichkeit und mit den Eltern erreicht wird.Herr Kollege Vogel, Sie haben Hessen angeführt. Nach meiner Ansicht und meiner Information ist das, was Sie diesbezüglich gesagt haben, auch falsch. In Hessen werden die Gesamtschulen, weil sie einen Schulversuch darstellen, nicht gegen den Elternwillen, sondern mit Zustimmung der Eltern eingeführt. Hier wird immer wieder etwas behauptet, was nach meiner Kenntnis nicht zutrifft. Die Kollegen haben mir das auf der Bundesratsbank soeben noch einmal bestätigt.Schauen Sie sich, wenn Sie den Elternwillen zitieren, doch einmal das Votum des Bundeselternrates an. Was hat denn der Bundeselternrat empfohlen, das höchste Gremien der Elternvertretung in unserem Land? Er hat gesagt: Kultusminister, kehrt zu eurem Kompromiß vom 18. Juni zurück! Betreibt hier keine Anerkennungspolitik zu Lasten der Schüler und der Kinder! — Darum geht es. Das ist nicht eine Aufforderung an die sozialliberalen Kultusminister, sondern das kann nur eine Aufforderung an Herrn Strauß und an die CDU-Kultusminister sein. Geben Sie dem endlich nach.Ein weiterer Punkt ist die ständige Diskussion über den Leistungsverfall. Wieso machen Sie sich eigentlich Sorgen — bis hin zu der Angst, daß die Gesamtschüler, die aus anderen Ländern kommen, vielleicht Ihre Länder überfluten könnten — in der Frage der Gleichwertigkeit bzw. Vergleichbarkeit der Leistungen? Wir müssen diese garantieren. Ich bekenne mich ausdrücklich dazu, daß eine Gesamtschule nur dann eine Gesamtschule sein kann, wenn sie zumindest die im gegliederten Schulsystem erzielten Leistungen erbringt. Die Gesamtschule wird darüber hinaus noch stärker als das gegliederte Schulsystem durch die Betonung bestimmter Verhaltensformen — als Beispiel nenne ich soziales Lernen — geprägt.Wenn das Ergebnis der Gesamtschule darin bestünde, daß sie eine „Dünnbrettschule" werden würde, hätte sie hinsichtlich des Begriffes der Integration ihre Zielsetzung verwirkt. Das muß man ganz klar sagen. Wir müssen doch selbst die Gesamtschulen in unseren Ländern an dem bestehenden gegliederten System messen und umgekehrt. Wir leben doch im Dialog. Wenn ich Hauptschüler in der Gesamtschule habe und dort den Hauptschulabschluß vergebe, dann muß ich doch schon in meinem eigenen Lande die Gleichwertigkeit sichern. Das
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Senator Rasch
gleiche gilt für den Übergang von der Gesamtschule auf die gymnasiale Oberstufe, das gleiche gilt für den Übergang von der mittleren Schulstufe eines Gymnasiums auf die gymnasiale Oberstufe. Das muß doch vergleichbar und gleichwertig sein. Ersparen Sie sich deswegen die Polemik. Wir müssen diese Auseinandersetzung doch innerhalb der einzelnen Länder selbst führen, und wir garantieren die Gleichwertigkeit. Insofern ist Ihr Argument mit der Nivellierung nichts anderes als ein Buhmann gegen die Gesamtschule, und zwar aus ideologischer Position heraus vorgebracht, und hat meiner Ansicht nach nichts mit der Vergleichbarkeit der Leistungen zu tun.Für das Land Berlin geht es darum — ich darf das ganz deutlich sagen —, für die optimale Förderung unserer Kinder die Schulform zu finden, die dieser Zielsetzung in geeignetster Weise gerecht wird. Optimale Förderung, Förderung statt Auslese — das sind die Grundprinzipien, um die Verwirklichung des einzelnen schon in der Schule einen Schritt weiterzubringen. Wir können das sowieso nicht zu hundert Prozent gewährleisten. Dann lassen Sie uns doch das unterschreiben, was Frau Kollegin Laurien in der Kultusministerkonferenz oder Bund-LänderKommission gesagt hat: nicht über die Organisation, nicht über den Weg streiten. Das ist doch nicht der Punkt; die Wege können verschieden sein, wenn die Ergebnisse vergleichbar sind.Ich glaube im übrigen — das darf ich deutlich sagen —, daß die Gesamtschule in den nächsten Jahren überlegen sein wird. Das wird sich in der Konkurrenz der Systeme herausstellen. Aber die Grundposition ist doch folgende. Wir dürfen diesen Streit, der ohne die Kompetenz des Bundes auf der Bundesebene geführt wird und in dem die Bundestagsfraktion der CDU/CSU ihre Landesminister zurückgepfiffen hat, nicht zu Lasten der Kinder führen. Wenn Sie dieser Grundposition zustimmen, kommen wir in der Frage der Anerkennung der Abschlüsse ein gutes Stück weiter.Ich hoffe sehr, daß das Argument, das heute von dem Abgeordneten Pfeifer neu eingeführt worden ist — ich habe in der Zeitung gelesen, daß es auch der Kultusminister und Kollege Herzog öffentlich verwandt hat —, nämlich das der Finanzierbarkeit, nun nicht ein weiterer Hebel wird, um die Fortschreibung des Bildungsgesamtplanes zu verhindern. Wir Bildungspolitiker müssen uns doch erst einmal in einer Phase, die ich als Phase des neuen Realismus in der Fortschreibung bezeichnen möchte, darüber einig werden, was wir politisch wollen. Dann können wir fragen: Was kostet das? Dann erst müssen wir uns mit den Finanzministern abstimmen. Das ist doch selbstverständlich. Machen wir uns doch nichts vor: Wenn wir in dieser Phase des Streits zu den Finanzministern gehen und sie fragen, was sie denn dazu sagen würden, wäre ihre freudige Antwort: Liebe Leute, bevor ihr mit uns überhaupt über Finanzen redet, einigt euch erst einmal auf eine Linie, auf ein Konzept. Das wäre jedenfalls die vernünftigste Position, um in der Sache weiterzukommen.Ich möchte mit einem Appell an die CDU/CSU-Fraktion schließen. Nachdem Sie das Ergebnis vom 18. Juni 1979 mit Ihrem Antrag, den Sie eingebracht und den Sie zu Anfang vielleicht sogar nicht einmal ganz ernst genommen haben, und mit der Äußerung des Herrn Ministerpräsidenten Strauß zerstört haben, müssen Sie hier und heute deutlich sagen, ob Sie bereit sind, auf die Linie dieses Kompromisses zurückzukehren. Das, was Herr Kollege Vogel gesagt hat, ist ein kleiner Fingerzeig. Ich erwarte von Ihrer Fraktion allerdings noch wesentlich mehr.
Ich erteile das Wort Herrn Staatsminister Maier.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Fast muß ich mich dafür entschuldigen, daß wieder jemand von der Bundesratsbank spricht. Aber der Freistaat Bayern ist so oft genannt und auch von den Rednern der sozialliberalen Koalition so oft angegriffen worden, daß es, glaube ich, zur Fairneß gehört, wenn hier jemand für Bayern und für die CSU sprechen darf.Zunächst in aller Kürze zu einigen meiner Vorredner. Herr Kollege Lattmann ist noch hier. Ich glaube, seine Argumentation war widersprüchlich. Er hat das Auseinanderfallen der Bildungspolitik und der Bildungseinheit in unterschiedliche Gesetze beklagt. Aber, Herr Lattmann, das geschieht ja gerade dadurch, daß die sozialliberal regierten Länder aus einem Versuch der Gesamtschule die Gesamtschule als Regelschule machen wollen.
Das ist nun geschehen; Hamburg war nur die letzte Station.Sie haben weiter gesagt, nach Meinung der CDU/ CSU sei der Maßstab des Vergleichs das gegliederte Schulwesen. Herr Schmude hat es wiederholt. Das ist eine Legende, der ich scharf widersprechen muß. Nach Meinung aller — darauf beruht der Kompromiß vom 18. Juni — war das gegliederte Schulwesen der Maßstab, und davon ist die sozialliberale Koalition abgegangen oder scheint davon abzugehen.
Sie haben weiter gesagt, wir wollten hier etwas durchpauken. Wer will etwas durchpauken? Wer will denn die Verlängerung der Anerkennung der Gesamtschulabschlüsse? — Das sind Sie. Sie wollen etwas von uns. Wir sagen: wir sind bereit, darüber zu verhandeln. Aber natürlich muß man dann den Maßstab kennen; sonst hält der Kompromiß nicht.In dem Zusammenhang übrigens ein Wort zu Strauß. Es ist auch ein Teil dieser Legende, daß der Kompromiß durch eine Intervention von Herrn Strauß zerstört worden sei. Das ist reiner Unsinn. Der Kompromiß besteht nach wie vor. Er ist kein Inhaltskompromiß, sondern ein Verfahrenskompromiß. Im Verfahren sind wir auf den harten Kern der Meinungsverschiedenheit gekommen, nämlich auf die Frage: Wo messen wir? Wo vergleichen wir?
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14400 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 183. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. November 1979
Staatsminister Dr. Maier
Sie sagen: Die Gesamtschule ist etwas völlig Neues, Unvergleichbares, aus dem Haupt des Zeus entsprungen. Wir sagen: Die Gesamtschule ist eine neue Form; sie muß sich messen lassen an den Leistungen des gegliederten Schulwesens, das schon älter ist.
Wenn der bayerische Ministerpräsident in dem Zusammenhang für sich das Recht in Anspruch nimmt — wohlgemerkt: innerhalb der gemeinsamen Bildungsplanung von Bund und Ländern nach Art. 91 b des Grundgesetzes — zu sagen: „Bayern stimmt nicht zu, daß in der gemeinsamen Bildungsplanung die Gesamtschule auf kaltem Wege eingeführt wird", so ist das sein gutes Recht, das ihm ebenso zusteht wie jedem anderen Ministerpräsidenten eines jeden anderen Landes der Bundesrepublik.
Schließlich noch ein Wort zu Herrn Schmude.
— Ich beschränke mich auf einen Punkt
— Herr Wehner, ich habe nicht den Eindruck, daß Sie in bildungspolitischen Fragen bisher über eine, wie man sagen kann, parlamentarische Austerity hinausgewachsen sind.
Zu Herrn Schmude wollte ich nur noch sagen: Er scheint gar nicht bemerkt zu haben, daß dieser Satz „Man muß den Brotkorb manchmal höher hängen, damit die geistigen Hälse sich recken" vor vielen, vielen Jahren, nämlich bei der Freiburger Universitätsfeier 1957, in einem Gespräch mit Arnold Bergstraesser gefallen ist Wissen Sie — das sage ich jetzt zu Frau Schuchardt —, von wem er stammt? — Von Theodor Heuss. Ich bin sicher, Frau Schuchardt: Wenn Theodor Heuss heute morgen Ihre Rede gehört hätte, dann hätte er das in seiner schwäbischen Art vielleicht so kommentiert „Da hat man den Brotkorb möglicherweise nicht hoch genug gehängt".
Aber jetzt in gedrängter Kürze zur Sache. Es geht bei dieser Debatte um drei Fragen. Es besteht ja offensichtlich ein Konflikt Die erste Frage lautet: Wie sind wir in diesen Konflikt hineingekommen? Dazu möchte ich einige kurze Worte sagen.Die zweite Frage lautet: Um was geht es bei diesem Konflikt? Ich habe es schon angedeutet: Es geht um die Frage der Vergleichbarkeit und des Leistungsmaßstabs. Es gibt keine Vergleichbarkeit ohne die Einigkeit über den Maßstab des Vergleichs.Drittens möchte ich etwas sagen über mögliche Lösungsformen. Darüber ist von den Vorrednern schon ausführlich gesprochen worden.Mit Recht haben verschiedene Redner den Konsens über Bildungspolitik — ungeachtet der Zuständigkeit der Länder, die in einem föderalistischen System immer besteht — immer wieder hervorgehoben und beschworen. Dieser Konsens, der bestand, der heute durch Alleingänge gefährdet wird, zu dem wir hoffentlich wieder zurückkehren werden, ist niedergelegt im Hamburger Abkommen. Dort steht nämlich drin, welche Schulen, welche Schulformen überall in der Bundesrepublik, in allen Ländern in ihren Abschlüssen anerkannt werden. — Ich glaube nicht, Herr Rohde, daß man darüber lachen sollte; denn darauf beruht die Einheitlichkeit unseres Bildungswesens: daß wir wissen, was in der Bundesrepublik überall anerkannt wird. — Nun, die Gesamtschule gehört nicht zu diesen von allen Ländern der Bundesrepublik anerkannten Standardformen. Daher ist sie nach dem Hamburger Abkommen ein Schulversuch. Daher haben die Länder die Kultusminister beauftragt, die Gesamtschulen erst einmal zu erproben. Das ist geschehen mit der Vereinbarung vom 27. November 1969. Denn ohne diese Vereinbarung wären Gesamtschulen noch nicht einmal als Versuche nach dem Hamburger Abkommen zulässig gewesen, das doch immerhin von allen Ministerpräsidenten — gleich welcher Länder, gleich welcher Parteien — unterschrieben worden ist.Nun hat man dieses Experimentalprogramm an den Deutschen Bildungsrat angelehnt Es geisterte damals die Zahl 40 — 40 Versuchsschulen — durch die Bundesrepublik; inzwischen ist die Zahl erhöht worden. Vor allem die sozialdemokratisch und sozialliberal regierten Länder sind dazu übergegangen, auf kaltem Wege aus einer Versuchsform Gesamtschule so etwas wie eine Regelform zu machen — unter Bruch des Hamburger Abkommens; das wollen wir festhalten.
Noch einmal hat dann die Kultusministerkonferenz 1977 — unter größter Selbstverleugnung der unionsgeführten Länder — einen Kompromiß zuwege gebracht, indem wir gesagt haben: Gut, bis 1981 wird die Anerkennung noch einmal verlängert, aber wohlgemerkt: die Anerkennung als Versuch; es war nie von einer Regelform die Rede. Inzwischen sind mehrere Länder dazu übergegangen, mindestens anzukündigen, daß sie die Gesamtschule als Regelform einführen werden.
Dagegen gab es heftige Elternproteste. Höhepunkt war. das Koop-Volksbegehren in Nordrhein-Westfalen. Denn auch die Koop-Schule war ja als eine Vorstufe zur Gesamtschule als Regelschule gedacht;
die Gerichte haben sich eingeschaltet
In dieser Situation nun begann die Verhandlung über die Fortschreibung des Bildungsgesamtplanes, eine Verhandlung, die durch die von mir erwähnte Vorgeschichte mehr als belastet war. Trotzdem haben wir, die unionsregierten Länder, erklärt, die Ab-
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Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 183. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. November 1979 14401
Staatsminister Dr. Maier
schlüsse der Gesamtschulen im Interesse der Kinder, die sich ihre Regierungen ja oft nicht auswählen können,
weiter anzuerkennen, wenn wir auf den Tisch gelegt bekommen, was Gesamtschulen sind, was sie leisten und ob sie die Leistungen des gegliederten Schulwesens erreichen. Das war der Kompromiß, dem alle zugestimmt haben.Nun sollte man vielleicht einmal ein wenig darstellen — ich tue es in stichwortartiger Kürze —, was dann passiert ist. Dann passierte folgendes: Trotz der berühmten, heute geradezu legendenhaft stilisierten Intervention aus München gingen nämlich die Arbeiten im Juni, Juli und sogar im August ganz ruhig und ganz sachlich weiter. Bayern hat mitgearbeitet, alle Unions-Länder haben mitgearbeitet. Und dann, in einer Amtschef-Konferenzsitzung, trat Herr Thiele — Nordrhein-Westfalen — für die Bildungspolitiker der SPD und der FDP — er sagte das ausdrücklich —, mit einem Papier auf, und dort wurde gesagt: Vorsicht, Kommando zurück oder zur Hälfte zurück!
Zum Vergleich kann nicht das gegliederte Schulwesen herangezogen werden. Es wurde aber nicht klar gesagt, was künftig die neue Meßlatte sein solle. Das war in einer August-Sitzung; ich habe die Protokolle dabei. Man muß Legenden wirklich im Beginn ihrer Entstehung zerstören. Ich war heute morgen empört, zu hören, wieviel hier an Legenden von Sprechern der Regierungskoalition geboten worden ist.
Seither sind die Arbeiten in der Kultusministerkonferenz nicht weitergekommen. Wir bemühen uns in der nächsten Woche, das Schiff wieder flottzumachen. Das wird aber schwierig sein, und auf jeden Fall muß klar sein, worüber man verhandelt, wo der Vergleichsmaßstab ist. Ich glaube, das ist eine gerechte Forderung und hat nichts damit zu tun, ob man jetzt die Gesamtschule will, nicht will oder weniger will.Bernhard Vogel hat von der Frage der Serientauglichkeit gesprochen. Ich möchte zur Versachlichung der Diskussion auch hier ein wenig auf die Gesamtschulgutachten eingehen. Ich habe im Schweiße meines Angesichts die acht Bände von Herrn Fend durchgearbeitet, die gerade erschienen sind. Ich sage nicht: Jede Gesamtschule ist schlecht oder muß schlecht sein. Das wäre ein ganz unsinniger Standpunkt. Ich sage aber: Die Gesamtschule hat ihren Leistungsbeweis in der Breite noch nicht erbracht und wird ihn wohl in Kürze nicht erbringen können, nicht in der Form, in der sie angetreten ist. Deswegen fordern wir, daß die Versuche weitergeführt werden, daß aber nicht vollendete Tatsachen geschaffen werden. Denn vollendete Tatsachen bedeuten in der gegenwärtigen Situation folgendes: Die wissenschaftlichen Ergebnisse stimmen in dem Punkt überein, daß es eine außerordentlich großeStreubreite unter den Gesamtschulen gibt. Ich zitiere aus dem Band 8 der Nordrhein-WestfalenStudie auf Seite 359:Außer der bereits bekannten großen Streubreite hinsichtlich der Leistungsresultate an Gesamtschulen können, je nach betrachtetem Lernbereich, nur ein bis drei Gesamtschulen— Anmerkung: von neun —im Leistungsbereich der traditionellen Schulen mithalten.Ein weiteres Zitat:In keinem anderen Bereich scheinen wir— die Verfasser —eine so deutliche Bestätigung von Befürchtungen zu finden wie in bezug auf die fachlichen Schulleistungen.Wenn das von Leuten gesagt wird, die überwiegend die Gesamtschule favorisieren, dann möchte ich den Schulpolitiker sehen, der sagt: Wir führen jetzt die Gesamtschule ein, weil sie eindeutig das Bessere ist. Das kann überhaupt niemand verantwortlich sagen.
Das ist auch noch aus einem weiteren Grund so. Jedermann kennt die Entwicklung der Schülerzahlen, jedermann weiß, daß wir seit 12 Jahren einen Rückgang unserer Schulbevölkerung um über 50 haben. Es ist auch gesagt worden, manche Hauptschule sei dem Untergang geweiht, wenn daneben eine Gesamtschule errichtet werde. Man wird nicht in einem Augenblick, wo schon die bestehenden Schulen um Schüler kämpfen müssen, eine weitere Schulform einführen, die dann zu einer ruinösen Konkurrenz und zu einem Dauerwahlkampf unter den Eltern führt.
Das ist nämlich das Ergebnis; denn wir haben gesehen, daß die Eltern in einem Fall auf Gymnasium beharren und gegen Gesamtschulen klagen, während sich Eltern im anderen Fall zusammenschließen, um Gesamtschulen zu fordern, wobei sich die anderen wehren. Wir müssen darüber einen bildungspolitischen Konsens haben, und der kann nur in der Leistung der Schulen bestehen. Wir dürfen jetzt organisatorisch nicht alles sich auseinanderentwickeln lassen; denn das können wir hinterher den Eltern nicht mehr erklären und der Bevölkerung nicht mehr zumuten.In dem Zusammenhang füge ich noch ein Wort zum Mängelbericht an. Es ist sehr merkwürdig: Man hat uns, den Ländern, mit dem Mängelbericht vorgehalten, daß wir nicht genügend zur Vereinheitlichung des Bildungswesens beitrügen. Heute haben sich die Fronten fast umgekehrt, und die Bundesregierung argumentiert jetzt mit einer Art von Föderalismus, den ich nur als archaisch, als Paläoföderalismus charakterisieren kann. Denn sie sagt: Im Föderalismus kann jedes Landesparlament beschließen, welche Schule es für gut befindet. Natürlich kann jedes Landesparlament das tun; aber dann wäre nicht nur das Hamburger Abkommen, sondernStaatsminister Dr. Maier
auch jede Art von Vergleichbarkeit und jede Art von Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse im Bundesgebiet erledigt. Wollen Sie das? Kann jemand in diesem Hohen Hause das wollen? Das ist sicher nicht der Fall. Föderalismus — ich habe das gegenüber dem Mängelbericht deutlich gemacht — verlangt, daß sich der Bund nicht als Oberzensor — Herr Schmude — aufspielt.
Föderalismus verlangt aber ebenso, daß sich die Länder bundesfreundlich verhalten, d. h., daß sie Rücksicht auf den Bund und aufeinander nehmen, denn nur damit entsteht ja eine gewisse einheitliche Struktur, die dann Freizügigkeit erlaubt.
— Jetzt hören Sie doch bitte mit diesen Zwischenrufen auf! Ich habe doch dargestellt, daß sich Bayern geradezu pedantisch an die Absprachen — vom Hamburger Abkommen über das Gesamtschulexperimentalprogramm bis hin zum Kompromiß des 18. Juni — gehalten hat. Sie haben doch die Einheitlichkeit aufgekündigt,
und jetzt wollen Sie noch den bestrafen, der, wenn andere Alleingänge machen, sagt: Bitte sehr, ich bin dann aber wirklich nicht gezwungen, das anzuerkennen, dann siehe du zu.Föderalismus gibt immer die Möglichkeit des Spielraums und des Alleingangs. Nur eines ist nicht möglich: daß dann das betreffende Land auch noch beansprucht, daß alle anderen seine Alleingänge freudig akzeptieren und anerkennen.
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Wie kann ich denn vor den bayerischen Bürger, vor den bayerischen Steuerzahler treten und rechtfertigen — darüber ist neulich im Bayerischen Landtag lange diskutiert worden —, daß jemand, der zunächst durchgefallen war und der dann an einem hessischen Abendgymnasium mit einer sehr guten Note abschloß, in Bayern einen Studienplatz vor einem bayerischen Abiturienten, der ordentlich gearbeitet hat, bekommt?
Meine Damen und Herren, Sie können hier „Hessen" gern gegen „Bayern" oder „Baden-Württemberg" austauschen; es geht mir nicht um Parteipolitik. Aber wir müssen uns auf ein gewisses Qualitätsniveau einigen. Wenn Sie, Frau Schuchardt, dabei mit der internationalen Flagge winken, gebe ich Ihnen das zurück. Wir kämpfen ja heute schon um die Anerkennung des deutschen Abiturs,
etwa in der Schweiz. Wir haben also allen Grund, nicht nur auf die Masse, sondern auch auf die Qualität zu schauen. Das ist noch lange kein elitäres Denken, sondern ein Denken nach Grundsätzen, wie es in der ganzen Welt üblich ist. Darauf beruhen übrigens die alte Geltung unserer Schulen und Hochschulen und auch unsere wirtschaftliche Leistungsfähigkeit in der ganzen Welt.
Meine Damen und Herren, Sie werden fragen — und damit bin ich beim dritten und abschließenden Teil —: Was tun? Welche Lösungen gibt es, um aus dem geschilderten Konflikt — ich wiederhole es: aus dem Konflikt in der Frage des Maßstabs, der Vergleichbarkeit — herauszukommen?Es gibt zunächst einmal die erste Alternative: Es wird, wie von der Bund-Länder-Kommission am 18. Juni vorgeschlagen, von der Kultusministerkonferenz eine unbefristete Vereinbarung getroffen, die die Bedingungen für die Anerkennung der Gesamtschulzeugnisse festlegt, Bedingungen hinsichtlich Mindestschuldauer, Fächer- und Stundenrahmen, Zielsetzungen und Anforderungen in den einzelnen Fächern, Regelungen für Übergänge innerhalb des Sekundarbereichs I und in den Sekundarbereich II. Ich habe damit wörtlich die Übereinkunft zitiert. Wir sind ja in diesem Punkt durchaus einig. Nur kommen wir eben beim Verfahren auf den harten Kern: Wie macht man das? Das wird nicht sofort gehen.Maßstab dafür sind die Regelungen, Anforderungen und Bedingungen des gegliederten Schulwesens. Ich kann deswegen auch nicht einfach anerkennen, daß etwa — darüber habe ich einen Briefwechsel mit meinem Hamburger Kollegen gehabt — die Hamburger SPD Flugblätter an die Eltern verteilt oder verteilt hat, in denen steht: Geht in die Gesamtschulen, denn sie werden um 40 % besser mit Sachmitteln und Lehrern ausgestattet.
Wo ist denn dann ein echter, redlicher Vergleich? Ich kann natürlich jedes Modell zum Erfolg verurteilen, indem ich es besser füttere, aber in Wahrheit streue ich damit doch dem Bürger Sand in die Augen, und hinterher, wenn die Begeisterung der ersten Stunde vorbei ist, zeigt sich ja, daß diese Schulen oft nicht so glorios weiterarbeiten, wie man es dem Bürger versprochen hat.
Meine Damen und Herren, der Leistungsvergleich ist etwas Rechtes und Billiges. Ich wehre mich dagegen, daß gesagt wird, hier würde in wirtschaftlichen Kategorien gedacht. Zum einen sollten Schule und wirtschaftliches Denken nicht so weit auseinanderliegen, daß man die Schule geradezu in einen Gegensatz zur Arbeitswelt und zur Gesellschaft insgesamt stellt.
Zum andern: Leistung muß auch in der Schule eingeübt werden. Ich glaube, man kann nicht so vorgehen — ich karikiere jetzt ein wenig —, daß man sagt: Ihr seid gut in Mathematik, aber dafür sind die anderen gut in gesellschaftsrelevanten Fächern, und die dritten sind gut in Emanzipation. Das läßt sich einfach nicht machen. Wir müssen über die intellektuellen, aber auch über die sozialen Anforderungen an die jungen Menschen eine Einigkeit erzielen. Das läßt sich auch machen.Ich möchte darauf hinweisen, daß diese Forderung auch dadurch gerechtfertigt ist, daß das Bun-
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Staatsminister Dr. Maier desverfassungsgericht die einheitliche Vergabe der Studienplätze an unseren Hochschulen festgelegt hat. Ein Abiturzeugnis des Landes A eröffnet den Zugriff auf Studienplätze des Landes B. Bei den Numerus-clausus-Fächern geschieht das zentral über die Vergabestelle, und jedes Abiturzeugnis geht mit demselben Gewicht in das Auswahlverfahren ein. Bei dieser Sachlage ist es völlig selbstverständlich, daß nicht der eine Berechtigungsschein, bildlich gesprochen, für harte Währung und der andere für zahlenmäßig denselben Betrag, aber in weniger harter Währung erworben wird. Die Gleichwertigkeit der Währungen, der Leistungen muß überprüft werden.Herr Kollege Rasch, ich bin froh, daß wir in der Kultusministerkonferenz alles auf den Tisch bekommen. Wenn Sie sagen, Sie garantieren die Gleichwertigkeit, dann werden Sie auch beweisen können, daß diese Schulen gleichwertig sind. Wir warten auf den Beweis, den Beleg; die bloße Garantie genügt uns nicht. Wenn ich sehe, daß manche Gesamtschulen mancher Länder 40, 50, ja sogar über 60 % der Schüler eines Altersjahrganges die Berechtigung zum Besuch der Gymnasialoberstufe mit der Folge einer sehr hohen Abiturientenquote verleihen und dies sogar noch als Erfolg der Gesamtschule darstellen, in anderen Ländern dagegen die Quote der Oberstufenreife bei 15, bei 20 % liegt, dann ist der Verdacht begründet, daß hier die Währungen, d. h. die Anforderungen an die Zuerkennung der Qualifikation, nicht stimmen. Einheitlichkeit der Vergabe von Studienplätzen bedeutet aber notwendig Gleichwertigkeit der schulischen Voraussetzungen, daran führt kein Weg vorbei.
Ich möchte auf eine Konsequenz deutlich hinweisen. Wenn man für die Gesamtschulen den Maßstab der Regelungen und Bedingungen des gegliederten Schulwesens nicht akzeptieren will — und darüber vermisse ich noch ein klares Wort, eine deutliche Aussage aus dem Mund der Sprecher von SPD und FDP —, dann allerdings fällt eine wichtige Voraussetzung für ein Rechtsgut weg, das bisher unter den Ländern und den Parteien unstrittig war, nämlich die bisherige Form der Einheitlichkeit der Vergabe der Studienplätze. Bei der zentralen Vergabe von Studienplätzen darf dann die Chance des einzelnen Abiturzeugnisses, wenn man sich über Vergleichbarkeit nicht einigen kann, nicht mehr mit der Einwohnerzahl und der Quote der Studienberechtigten gewichtet werden, wie es im Hochschulrahmengesetz festgelegt ist, sondern nur noch mit der meßbaren Zahl der Einwohner eines Landes. Es ist dann das interne Problem eines Landes, ob seine Abiturienten einen Studienplatz erhalten oder nicht, aber Überquoten auf Grund einer Billigpreispolitik — ich kann das Wort nun einmal nicht vermeiden — niedrigerer Anforderungen und Schulleistungen gehen dann wenigstens nicht zu Lasten von Schülern aus Ländern, die Berechtigungen gegen harte Währung verleihen. Unter dieser Voraussetzung könnten dann sogar ohne Festlegung weiterer Bedingungen die Zeugnisse von Gesamtschulen akzeptiert werden. Ob dann ein Schüler des Landes A, der nach der zehnten Jahrgangsstufe der Gesamtschule in dieelfte Klasse eines Gymnasiums des Landes B eintritt, dort Erfolg hat, wird sich herausstellen. Die Verantwortung dafür liegt in jedem Fall bei dem Land, aus dem er kommt.Eines jedenfalls kann es nicht geben: eine Vermischung der beiden Alternativen, nämlich Fortbestand der Einheitlichkeit der Studienplatzvergabe einerseits und andererseits Anerkennung von Gesamtschulzeugnissen ohne Festlegung präziser Bedingungen hinsichtlich Fächerkanon, Fächerumfang und Anspruchshöhe der Lernziele und Lerninhalte. Es ist doch nicht einzusehen, meine Damen und Herren, daß diejenigen, die aus bestehenden Abkommen und Vereinbarungen ausbrechen, auch noch einen Vorzugspreis für die Anerkennung ihrer Abschlüsse eingeräumt bekommen.
Kommt es nicht zu der genannten Vereinbarung der KMK über die unbefristete Anerkennung von Zeugnissen der Gesamtschulen, bliebe als dritte Alternative auch die Anerkennung von Zeugnissen im Einzelfall. Das gilt ja ohnehin gegenüber dem überwiegenden Teil des europäischen Auslands. Auch in England müssen Sie gegebenenfalls gesonderte Aufnahmeprüfungen machen, also ein Leistungsfeststellungsverf ahren.
— Ich glaube, das ist ein völliges Mißverständnis. Dort, wo es Absprachen zwischen den Ländern gibt, funktioniert das ja reibungslos. Aber es ist doch wichtig, daß wir auch zu einer einheitlichen Festlegung in der Bundesrepublik kommen. Ich spreche ja hier für eine gesamtstaatliche Lösung, und ich wehre mich dagegen, daß uns Kleinstaaterei vorgeworfen wird, wenn wir mit einem gewissen Nachdruck darauf bestehen, daß das deutsche Abitur nicht entwertet wird und daß die Leistung, die die Schule fordert, nicht diskreditiert oder durch fragwürdige sozialintegrative Ersatzleistungen herabgesetzt wird.
Die letzte denkbare Alternative ist die Verlängerung der bis 1981 befristeten KMK-Vereinbarung über die Anerkennung von Zeugnissen der Gesamtschulen. Freilich ist diese Vereinbarung unter der Voraussetzung eines bestehenden Experimentalprogramms geschlossen worden. Das heißt — und das wäre die Bedingung eines solchen Vorgehens —, sie gilt ausschließlich für den Bereich der gemeldeten Versuchsschulen im Rahmen des Experimentalprogramms. Die Zahl der Schulversuche wird nicht erweitert. Einer Ausdehnung auf nach Gesetzen eingeführte Schulen kann nicht zugestimmt werden.Zusammenfassend und abschließend: Obwohl die Einrichtung von Gesamtschulen als reguläre Schulen, die im Gesetz verankert sind, weder im Hamburger Abkommen noch in dem erwähnten Experimentalprogramm mit Gesamtschulen ihren Niederschlag gefunden hat, sind die unionsregierten Länder bereit, im Interesse der betroffenen Schüler die
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Staatsminister Dr. Maier
Zeugnisse der Gesamtschulen — nicht die Institution Gesamtschule als Regelschule — anzuerkennen, wenn gewährleistet ist, daß die Bedingungen und Anforderungen des gegliederten Schulwesens erfüllt werden. Darüber hinaus habe ich andere Verhandlungsmöglichkeiten genannt.In jedem Fall sollten wir uns darauf besinnen, daß Schule immer auch Einführung in ein Stück Leben, in die Bewährung in der Berufs- und Arbeitswelt ist. Schule ist gewiß ein Stück Schonraum. Aber sie ist nicht allein Schonraum. Schule muß das Kunststück fertigbringen, den Menschen aus der behüteten Umwelt seiner Familie, seiner jungen Lebensjahre allmählich in die Welt hinüberzuführen, in der etwas gefordert und geleistet wird. Daß sie dies mit pädagogischer Klugheit tut und nicht mit hartem Druck, ist selbstverständlich. Aber wir sollten den Begriff der Leistung nicht aus unserem Schulwesen entfernen. Es ginge sonst auf Kosten unserer Kinder und unserer Zukunft.
Im Ältestenrat ist vereinbart worden, daß eine Mittagspause eingelegt wird.
Ehe ich die Sitzung unterbreche, möchte ich mitteilen, daß der Haushaltsausschuß die Genehmigung erhält, während der Plenarsitzung Sitzungen abzuhalten.
Die Sitzung wird um 14 Uhr fortgesetzt. Die Sitzung ist unterbrochen.
Meine Damen und Herren, die Sitzung ist wieder eröffnet.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung soll die heutige Tagesordnung ergänzt werden um die Beratung der Beschlußempfehlung des Ausschusses nach Art. 77 des Grundgesetzes zu dem Gesetz zur Neufassung des Umsatzsteuergesetzes und zur Änderung anderer Gesetze — Drucksache 8/3332 —. Der Zusatzpunkt soll im Anschluß an die Fragestunde aufgerufen werden. Ich frage, ob dazu das Wort gewünscht wird. — Das ist nicht der Fall. Ist das Haus damit einverstanden? — Ich sehe und höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich rufe Punkt 1 der Tagesordnung auf: Fragestunde
— Drucksache 8/3310 —
Meine Damen und Herren, aus dem Geschäftsbereich des Bundesministers des Auswärtigen ist eine Dringliche Frage gestellt worden. Ich rufe die Dringliche Frage des Herrn Abgeordneten Dr. Barzel auf:
Wie oft und aus welchen Anlässen hat die Sowjetunion wegen westpolitischer Schritte der Bundesrepublik Deutschland offiziell, offiziös oder in anderer Weise protestiert oder gedroht?
Zur Beantwortung hat Frau Staatsminister Hamm-Brücher das Wort.
Herr Präsident! Die Dringlichkeitsfrage des Herrn Abgeordneten Barzel beantworte ich wie folgt.
Gegen wichtige Schritte, die auf eine engere Zusammenarbeit der Bundesrepublik Deutschland mit ihren westlichen Partnern gerichtet waren, hat die Sowjetunion unter Androhung von Konsequenzen Stellung genommen. Für den Beitritt zum Atlantischen Bündnis z. B. gilt das ebenso wie für die Integrationspolitik in der Europäischen Gemeinschaft. Als ein anderes Beispiel ist die Note vom 5. Februar 1963 gegen den Vertrag über die deutsch-französische Zusammenarbeit zu nennen. Dieser Vertrag wurde seinerzeit als „Kriegsvertrag" bezeichnet, und es wurde der Hoffnung Ausdruck gegeben, „daß die Regierung der deutschen Bundesrepublik bei der Festlegung ihrer weiteren Aktionen alle deren mögliche Folgen für die Bundesrepublik, vor allem für ihre Sicherheit, in Rechnung stellt, damit nicht etwas geschieht, was nicht wiedergutzumachen ist".
Die Bundesrepublik Deutschland hat die jeweils in Rede stehenden Entscheidungen in großer Verantwortung für den Frieden in Europa und in Wahrnehmung der eigenen Interessen getroffen. Sie hat durch diese Politik das Fundament für die Politik der Entspannung und des Ausgleichs mit der Sowjetunion und ihren Verbündeten geschaffen.
Die Vertragspolitik der Bundesrepublik Deutschland und der multilaterale Entspannungsprozeß, der in dem Schlußdokument von Helsinki seinen Niederschlag findet, beweisen das ebenso wie die MBFR-Verhandlungen in Wien und der jetzt vom westlichen Verteidigungsbündnis vorbereitete neue Verhandlungsvorschlag.
Die Politik der Bundesrepublik Deutschland wird auch in Zukunft auf die Einigung Europas und auf die Sicherung des Friedens gerichtet sein. Der Moskauer Vertrag und die Teilnahme der Sowjetunion am multilateralen Entspannungsprozeß zeigen, daß auch sie die Bedeutung der von der Bundesrepublik Deutschland betriebenen Politik zu würdigen weiß.
Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Dr. Barzel.
Darf ich fragen, Frau Kollegin, wie die Bundesregierung im Lichte dieser Erfahrungen mit der offenbar sehr langen Liste östlicher Proteste und Drohungen gegen jeden wichtigen westpolitischen Schritt die jüngsten Drohungen aus Ost-Berlin und Moskau gegen ein Vorhaben im Bereich unserer Bewaffnung in der Nato beurteilt.
Frau Dr. Hamm-Brücher, Staatsminister: Herr Kollege, die Bundesregierung wird wie bisher, kontinuierlich, ihre Entscheidungen auf Grund unserer Interessenlage treffen.
Noch eine Zusatzfrage.
Wie, verehrte Frau Kollegin, beurteilt die Bundesregierung diese skizzierte jüngste Politik mit Blick auf die Schlußakte von Helsinki von 1975 und die darin feierlich beschworenen
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Dr. Barzelund unterschriebenen Prinzipien der souveränen Gleichheit, der Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten und der Gleichberechtigung der Völker?Frau Dr. Hamm-Brücher, Staatsminister: Herr Kollege, ich habe meiner vorherigen Antwort nichts hinzuzufügen. Denn sie beantwortet auch Ihre zweite Zusatzfrage.
Die Frage ist beantwortet. Wir kommen dann zur regulären Fragestunde.
Ich rufe Frage 100 — des Abgeordneten KrollSchlüter — auf:
Von welchen Vertretern der Wirtschaft hat sich der Bundeskanzler auf seinen sechs Auslandsreisen begleiten lassen?
Zur Beantwortung Herr Staatsminister Wischnewski.
Herr Kollege, ich darf Ihre Frage wie folgt beantworten:
Ich vermag der Fragestellung nicht zu entnehmen, welche sechs Auslandsreisen des Bundeskanzlers Sie meinen. Seit Beginn des Jahres hat der Bundeskanzler acht Auslandsreisen unternommen. Bei drei dieser Reisen hat sich der Bundeskanzler von Persönlichkeiten unseres gesellschaftlichen Lebens begleiten lassen.
Sofern der Bundeskanzler auf Auslandsreisen von Persönlichkeiten des kulturellen, wissenschaftlichen, gewerkschaftlichen und wirtschaftlichen Lebens begleitet wird, wird Wert auf die Ausgewogenheit der Delegation gelegt, Ausgewogenheit in dem Sinne, daß neben Gästen aus der Wirtschaft auch Vertreter der Gewerkschaften sowie Persönlichkeiten aus den Bereichen Wissenschaft und Kultur eingeladen werden. Dabei geht es der Bundesregierung im wesentlichen darum, kompetente Gesprächspartner aus allen Bereichen unserer Gesellschaft zu präsentieren und einen Eindruck unserer Gesellschaft zu vermitteln.
Neben den repräsentativen Anforderungen an die Zusammensetzung einer Delegation spielen selbstverständlich auch Fragen der anstehenden Fachgespräche eine ganz wesentliche Rolle. Wir stellen Ihnen gerne die Unterlagen zur Verfügung.
Zusatzfrage gewünscht?
Es war sicherlich eine Falschmeldung oder ein Mißverständnis der Zeitungen, die von dem SPD-Bezirkstag Westfalen-Lippe in Recklinghausen berichteten, der Bundeskanzler habe hier mit Nachdruck zum Ausdruck gebracht, daß er mit Unternehmern nichts am Hut habe. Das kann wahrscheinlich auch angesichts dieser Begleitpersönlichkeiten nicht der Fall sein.
Wischnewski, Staatsminister: Daß es eine ganz typische Falschmeldung ist, können Sie daran sehen, daß der Herr Bundeskanzler in regelmäßigen Zeitabständen mit Vertretern der deutschen Wirtschaft und der Gewerkschaften zusammen am Tisch sitzt und das mit ganz großer Freude tut.
Keine Zusatzfrage mehr? — Damit sind die Fragen aus dem Bereich des Bundeskanzlers erledigt.
Wir kommen zu den Fragen aus dem Geschäftsbereich des Bundesministers des Auswärtigen.
Die Fragen 101 und 102 des Abgeordneten Dr. Hupka werden schriftlich beantwortet, da der Fragesteller nicht im Saal ist. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
Frage 103 — des Abgeordneten Straßmeir —:
Treffen Presseberichte zu, wonach der chinesische Parteivorsitzende Hua Guofeng bereit gewesen ware, auch Berlin zu besuchen, wenn die Bundesregierung ihn dazu aufgefordert hätte?
Das Wort hat Frau Staatsminister Dr. Hamm-Brücher.
Herr Präsident, ich möchte Herrn Kollegen Straßmeir fragen, ob er einverstanden ist, daß ich die Fragen 103 und 104 gemeinsam beantworte.
Er ist einverstanden. Daher rufe ich auch die Frage 104 des Abgeordneten Straßmeir auf:
Welches waren die Gründe der Bundesregierung, eine entsprechende Einladung zu unterlassen?
Frau Dr. Hamm-Brücher, Staatsminister: Herr Kollege, die Bundesregierung hat es aus Gründen der internationalen Courtoisie stets vermieden, sich in der Offentlichkeit über die in der Vorbereitungsphase für den Besuch ausländischer Gäste geführten Gespräche bezüglich der Programmgestaltung zu äußern. Werden in der Presse dazu Spekulationen angestellt, kann es nicht Aufgabe der Bundesregierung sein, hierzu Stellung zu nehmen.
Unter Berücksichtigung dessen möchte ich nun Ihre beiden Fragen wie folgt beantworten. Erstens. Die Bundesregierung ist selbstverständlich daran interessiert, daß ihre Staatsgäste auch Berlin besuchen. Dabei hat sich im Laufe der Jahre eine Praxis entwickelt, bei der es keinen Automatismus gibt. So sind eine ganze Reihe hoher ausländischer Staatsgäste — aber nicht alle — nach Berlin gekommen. Bei der Programmgestaltung für den Besuch des Regierungschefs der Volksrepublik China wurden dieses Mal Nordrhein-Westfalen, Hamburg, RheinlandPfalz, Baden-Württemberg und Bayern berücksichtigt.
Zweitens. Der Praxis entsprechend, hat die Bundesregierung auch diesmal das Programm mit ihrem Gast abgestimmt.
Zusatzfrage, bitte.
Frau Staatsminister, nachdem Hua Guofeng auf der Pressekonferenz auf die
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StraßmeirFrage das ZDF, warum bei seiner Deutschlandreise ein Berlinbesuch ausgespart worden sei, geantwortet hat: „Ich respektiere die Gestaltung des Programms durch die Gastgeber", frage ich Sie, ob die Chinesen nicht doch die Einbeziehung Berlins in die Reiseroute gewünscht haben und dies die Bundesregierung wissen ließen?Frau Dr. Hamm-Brücher, Staatsminister: Herr Kollege, ich kann das mit einem ganz klaren Nein beantworten und zu der Bemerkung auf der Pressekonferenz darauf hinweisen, daß es einfach chinesischer Höflichkeit entspricht, immer auf den Gastgeber Bezug zu nehmen.
Noch eine Zusatzfrage?
Herr Präsident, ich habe noch drei Zusatzfragen.
Frau Staatsminister, ich möchte Sie fragen, ob in der Vorbereitung dieser Reise der Senat von Berlin den Wunsch an die Bundesregierung herangetragen hat, daß Berlin einbezogen würde, oder haben Sie sich damit begnügt, daß demnächst der stellvertretende Regierungschef des Fürstentums Liechtenstein Berlin besuchen wird?
Frau Dr. Hamm-Brücher, Staatsminister: Herr Kollege, mir ist nicht bekannt, daß der Senat der Stadt Berlin an die Bundesregierung herangetreten ist.
Noch eine Zusatzfrage.
Frau Staatsminister, hat es in der Vorbereitung des Besuchs des chinesischen Staats- und Parteichefs in der Bundesrepublik Deutschland eine Intervention der Sowjetunion gegeben, daß der Staatsgast Berlin nicht besuchen sollte, oder genügt bereits der erahnte Wunsch der Sowjetunion, daß die Bundesregierung einen solchen Besuch in Berlin unterläßt?
Frau Dr. Hamm-Brücher, Staatsminister: Herr Kollege, das sind Unterstellungen, die ich namens der Bundesregierung zurückweise.
Noch in keinem einzigen Fall hat bei der Ausgestaltung des Besuchsprogramms von Staatsgästen irgendwelche Einflußnahme eine Rolle gespielt.
Sie haben noch eine Zusatzfrage, Herr Kollege Straßmeir.
Frau Staatsminister, hält es die Bundesregierung nicht vielleicht doch für sinnvoll, nachdem die führenden Staatsmänner der Welt bei ihren Deutschlandbesuchen Berlin besucht haben, daß es im Sinne der Verbundenheit Berlins mit den übrigen Ländern der Bundesrepublik und seiner Zugehörigkeit zur Bundesrepublik Deutschland günstig gewesen wäre, wenn der chinesische Staats- und Parteichef Berlin besucht hätte?
Frau Dr. Hamm-Brücher, Staatsminister: Herr Kollege, ich darf hier einfach mal sagen, daß der chinesische Ministerpräsident ganz dezidierte Wünsche geäußert hat, welche Bundesländer er besuchen will und für welche Besichtigungen er ein besonderes Interesse hat. Ich habe die besuchten Länder genannt. Es war gar nicht mehr möglich, im Rahmen des Besuchsprogramms neben den fünf Bundesländern weitere Reiseziele unterzubringen; das wäre sonst auf Kosten des Besuchs in Bayern gegangen.
Als nächster Herr Kollege Corterier zu einer Zusatzfrage.
Frau Staatsminister, sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, daß Herr van Well gestern den Auswärtigen Ausschuß im Detail über die Art und Weise informiert hat, wie das Besuchsprogramm zustande gekommen ist, und würden Sie mir zustimmen, wenn ich feststelle, daß es den wohlverstandenen Interessen Berlins kaum dienlich sein kann, eine solche Erörterung hier in der Offentlichkeit des Plenums vorzunehmen?
Frau Dr. Hamm-Brücher, Staatsminister: Das erste weiß ich, und dem zweiten stimme ich zu.
Zu einer Zusatzfrage Herr Kollege Jäger .
Frau Staatsminister, ich möchte Sie um eine klare Antwort bitten: hat denn die Bundesregierung überhaupt an den chinesischen Ministerpräsidenten den Vorschlag herangetragen, im Rahmen des Besuches nach Berlin zu gehen?
Frau Dr. Hamm-Brücher; Staatsminister: Herr Kollege Jäger, wir haben die Wünsche hinsichtlich der zu besuchenden Bundesländer entgegengenommen und daraus für den verfügbaren Zeitraum ein Programm erstellt.
Zu einer weiteren Zusatzfrage Frau Kollegin Schlei.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Staatsminister, können Sie versichern, daß die Stadt Berlin und die Bürger Berlins teilhaben werden an der Entwicklung der freundschaftlichen Beziehungen, der politischen, der wirtschaftlichen, der kulturellen und der technologischen?
Frau Dr. Hamm-Brücher, Staatsminister: Ja, natürlich werden sie an dieser Entwicklung teilhaben.
Es sind zwei Fragen gestellt, es gibt also auch die Möglichkeit, zwei Zusatzfragen zu stellen. — Herr Kollege Jäger .
Frau Staatsminister, darf ich aus ihrer Antwort entnehmen, daß die Bundesregierung einen solchen Vorschlag an den chinesischen Ministerpräsidenten nicht herangetragen hat?Frau Dr. Hamm-Brücher, Staatsminister: Herr Kollege Jäger, ich kann nur wiederholen, daß das Pro-
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Staatsminister Frau Dr. Hamm-Brüchergramm im vollen Einvernehmen mit unseren Gästen zustande gekommen ist.
Zu einer Zusatzfrage Frau Kollegin Simonis.
Frau Staatsminister, besteht nicht die Besorgnis, daß der Versuch, den chinesischen Parteivorsitzenden, Hua Guofeng, hier in eine innerpolitische Auseinandersetzung hineinzubringen, zu einer Trübung des guten Verhältnisses zwischen dem chinesischen und dem deutschen Volk führen könnte?
Frau Dr. Hamm-Brücher, Staatsminister: Frau Kollegin, die Bundesregierung wird sich in so eine Auseinandersetzung nicht hineinziehen lassen.
Keine weiteren Zusatzfragen mehr.
Ich rufe die Frage 105 des Herrn Abgeordenten Jäger auf:
Welche Gründe haben die Bundesregierung veranlaßt, bei der Vorbereitung des umfangreichen Besuchsprogramms für den chinesischen Ministerpräsidenten Hua Guofeng in der Bundesrepublik Deutschland keinen Besuch in der deutschen Hauptstadt Berlin vorzuschlagen, und hat hierbei Rücksichtnahme auf die sowjetische Regierung eine Rolle gespielt?
Das Wort hat die Frau Staatsminister.
Frau Dr. Hamm-Brücher, Staatsminister: Herr Kollege, ich darf nochmals wiederholen, was ich auf die beiden vorherigen Fragen gesagt habe. Unserer wohletablierten Praxis entsprechend ist das Besuchsprogramm auf die Besuchs- und Besichtigungswünsche des Gastes ausgerichtet und mit ihm abgestimmt worden. Ich kann Ihnen versichern, daß die Bundesregierung bei der Gestaltung ihrer Besuchsprogramme niemals unter dem Einfluß dritter Staaten handelt. Im übrigen erfolgen die Besuche in Berlin im vollen Einklang mit dem Viermächteabkommen über Berlin vom 3. September 1971. Dabei hat die Bundesregierung die grundsätzliche Zustimmung der Drei Mächte. Das ist der Sowjetunion bekannt.
Eine Zusatzfrage, Herr Kollege Jäger.
Frau Staatsminister, nachem Sie keine klare und eindeutige Antwort auf die Frage gegeben haben, ob die Bundesregierung überhaupt einen Vorschlag bezüglich Berlins an den chinesischen Ministerpräsidenten herangetragen hat, möchte ich Sie fragen, ob es die Bundesregierung nicht für außerordentlich wahrscheinlich gehalten hat, daß der chinesische Ministerpräsident einer solchen Einladung angesichts der bekannten und von ihm mehrfach öffentlich geäußerten Einstellung der chinesischen Politik zur Frage der deutschen Einheit zugestimmt hätte.
Frau Dr. Hamm-Brücher, Staatsminister: Herr Kollege, die Bundesregierung konnte diesen Vorschlag nicht machen, da das. Programm mit den Wünschen des Gastes randvoll ausgefüllt war.
Noch eine Zusatzfrage.
Frau Staatsminister, hat die Bundesregierung — ich unterstelle, da ich hier keine Meinungsverschiedenheiten sehe, daß das Problem Berlin auch von der Bundesregierung außerordentlich ernst genommen wird — einen Versuch unternommen, den einen oder anderen Punkt des Besuchsprogramms in Bundesländern, wobei ich Bayern mit einschließe, zugunsten Berlins zu streichen?
Frau Dr. Hamm-Brücher, Staatsminister: Herr Kollege, da es sich hier um ausdrückliche Wünsche unseres Gastes gehandelt hat, konnte die Bundesregierung das ja gar nicht versuchen.
Eine Zusatzfrage, Abgeordneter Straßmeir.
Frau Staatsminister, wollen Sie uns, nachdem Hua Guofeng in der Pressekonferenz deutlich zu erkennen gegeben hat, daß er nach Berlin gekommen wäre, nicht doch einmal die Gründe der Bundesregierung erläutern, warum sie ihn dazu veranlaßt hat, nicht nach Berlin zu kommen?
Frau Dr. Hamm-Brücher, Staatsminister: Herr Kollege, Sie interpretieren das falsch, was Hua Guofeng gesagt hat. Er hat nach chinesischer Höflichkeit dem Gastgeber sozusagen den Vortritt gelassen. Nichts anderes hat er ausgedrückt.
Eine Zusatzfrage, Frau Kollegin Simonis.
Frau Staatsminister, wäre das Auswärtige Amt unter Umständen bereit, Briefe der Kollegen mit entsprechenden Fragen durch den Postkurier des Auswärtigen Amts nach Peking mitzunehmen, damit die Antwort dann von dort kommen kann, da sie Ihnen ja nicht Glauben schenken?
Frau Dr. Hamm-Brücher, Staatsminister: Wir werden das prüfen.
Die Frage ist erschöpfend beantwortet, und es sind auch keine weiteren Zusatzfragen gestellt.Die Frage 106 des Abgeordneten Dr. Langguth wird auf Wunsch des Fragestellers schriftlich beantwortet. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt.Die Frage 107 des Abgeordneten Dr. Czaja ist zurückgezogen.Ich rufe die Frage 108 der Kollegin Frau Simonis auf:Liegen der Bundesregierung Informationen darüber vor, in welchen Ländern Kinder und Jugendliche Opfer von Folterungen geworden sind beziehungsweise als politische Gefangene gehalten oder ermordet wurden, und ist die Bundesregierung bereit, ihren Einfluß geltend zu ma-
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14408 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 183. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. November 1979
Vizepräsident Leberchen, um Kinder und Jugendliche vor politischem Terror zu schützen?Das Wort hat Frau Staatsminister.Frau Dr. Hamm-Brücher, Staatsminister: Frau Kollegin, der Bundesregierung ist aus verschiedenen Quellen — zuletzt aus der verdienstvollen Dokumentation von Amnesty International — bekannt, daß in vielen Teilen der Welt auch Kinder und Jugendliche nicht davor geschützt sind, Opfer von Menschenrechtsverletzungen zu sein. Die Bundesregierung verurteilt diese Tatsache mit tiefem Abscheu und sieht darin auch nach den neuen, der Offentlichkeit übergebenen Berichten eine zusätzliche Bestätigung der Notwendigkeit, ihre Menschenrechtspolitik überall auf der Welt konsequent fortzusetzen.Die Bundesregierung wird immer und überall alles in ihren Kräften Stehende tun, um vor allem such Kinder und Jugendliche vor politischer Gewalt, vor Folter und Terror zu schützen. Sie wird dabei im Einzelfall stets die Schritte und Mittel wählen, von denen sie sich für die Betroffenen die bestmögliche Hilfe verspricht. Es ist — das darf ich abschließend sagen — für die Sache der Menschenrechte außerordentlich hilfreich, wenn sich die Bundesregierung bei ihrer Menschenrechtspolitik auf eine wache und informierte Bevölkerung stützen kann.
Eine Zusatzfrage, Frau Kollegin Simonis.
Frau Staatsminister, sehen Sie die Möglichkeit, durch eine verstärkte Zusammenarbeit mit der UNESCO schon im politischen Vorfeld darauf hinzuwirken, daß Kinder und Jugendliche nicht gefoltert und mißhandelt werden?
Frau Dr. Hamm-Brücher, Staatsminister: Ich werde diese Anregung gerne aufgreifen. Ich glaube, das wäre ein geeignetes Gremium, um über diese Fragen zu sprechen.
Eine weitere Zusatzfrage.
Frau Staatsminister, sehen Sie eine Möglichkeit, auf die Länder, die in der Amnesty-International-Veröffentlichung genannt worden sind, auch auf dem Gebiet der Wirtschaftspolitik Einfluß zu nehmen und in den Fällen, in denen die Bundesregierung oder deutsche Firmen wirtschaftliche Beziehungen aufrechterhalten, besonderen Einfluß geltend zu machen, insbesondere dann, wenn bestimmte wirtschaftliche Geschäfte durch Hermes-Bürgschaften abgesichert werden?
Frau Dr. Hamm-Brücher, Staatsminister: Frau Kollegin, Sie wissen, daß wir immer von Fall zu Fall die Verhältnismäßigkeit prüfen müssen. Sie dürfen aber versichert sein, daß jedem konkreten Fall von Menschenrechtsverletzungen insbesondere bei Kindern und Jugendlichen mit allen zu Gebote stehenden Mitteln nachgegangen werden wird.
Ich rufe nun die Frage 111 des Herrn Abgeordneten Sauter auf:
Hat sich die Bundesregierung mit den Problemen beschäftigt. die durch eine immer radikaler werdende Rodung bzw. Vernichtung des noch 4 Millionen Quadratkilometer umfassenden tropischen Regenwaldes im Amazonas-Gebiet entstehen und die auch klimatische Auswirkungen zur Folge haben werden, unter denen die Landwirtschaft und gesamte Ökologie in Europa und der Bundesrepublik Deutschland zu leiden haben werden, und wie gedenkt die Bundesregierung sich in dieser Frage zu verhalten?
Frau Staatsminister.
Frau Dr. Hamm-Brücher, Staatsminister: Herr Kollege, die Vernichtung tropischen Regenwaldes ist ein Problem, das nicht auf das Amazonasgebiet in Brasilien beschränkt ist, sondern weltweit eine Rolle spielt. Wissenschaftler befürchten, daß — neben anderen Ursachen — der Waldverlust zu einem Anstieg des Kohlendioxidgehalts in der Atmosphäre mit überwiegend negativen klimatologischen Auswirkungen führen könnte. Etwaige negative Auswirkungen auf die deutsche Landwirtschaft sind derzeit nicht abschätzbar.
Gesicherte Erkenntnisse fehlen jedoch bisher. Daher muß rasch eine wissenschaftliche Grundlage für künftiges Handeln geschaffen werden. Die Bundesregierung beteiligt sich deshalb sowohl national als auch international an einer entsprechenden Forschung.
Eine Zusatzfrage, Herr Kollege Sauter.
Frau Staatsminister, könnten Sie mir zusagen, daß die Bundesregierung bei nächster Gelegenheit eines Besuches in Brasilien dieses besondere Beispiel der Gefahr für unsere Ökologie mit der brasilianischen Regierung bespricht, und wären Sie darüber hinaus bereit, zuzusagen, daß diese Frage dann auch im Auswärtigen Ausschuß und im Ernährungsausschuß des Bundestages besprochen wird bzw. dort Bericht erstattet wird?
Frau Dr. Hamm-Brücher, Staatsminister: Herr Kollege, ersteres sage ich Ihnen gerne zu. Wir haben bereits ein übriges getan, nämlich bei unserer Vertretung angefragt, wie der Sachverhalt dort beurteilt wird. Wir können Sie dann auch gern über die Antwort unserer Vertretung unterrichten. Selbstverständlich steht es Ihnen frei, das Thema auch im Auswärtigen Ausschuß zur Sprache zu bringen.
Eine zweite Zusatzfrage, Herr Kollege Sauter.
Frau Staatsminister, da es sich hier um ein sehr wichtiges und ernst zu nehmendes Problem handelt, frage ich Sie: Teilen Sie meine Auffassung, daß diese Frage auch im Rahmen des Europäischen Parlaments, des EG-Ministerrates und der EG-Kommission besprochen werden muß, und sind Sie mit mir der Auffassung, daß die Bundesrepublik Deutschland versuchen sollte, diese Frage in der UNO zur Sprache zu bringen?Frau Dr. Hamm-Brücher, Staatsminister: Herr Kollege, ich darf Sie darüber informieren, daß sich die Bundesregierung bereits am Weltklimaprogramm der Vereinten Nationen beteiligt. Sie stellt dafür im Augenblick allerdings noch keine Mittel zur Verfü-
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Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 183. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. November 1979 14409
Staatsminister Frau Dr. Hamm-Brüchergung. Im Rahmen der EG wird ein Klimaprogramm als Forschungsprogramm geplant. Im Rahmen der nationalen Forschung ist das gleiche auf dem Wege.
Eine Zusatzfrage. Herr Kollege Niegel.
Ist der Bundesregierung bekannt, daß es sich bei der bewußten VW-Farm in Vale do Rio Cristalino um ein von der brasilianischen Regierung gefördertes Objekt handelt, in dessen Rahmen 800 einheimische Kräfte Brot und Arbeit finden, und daß das VW-Werk von der brasilianischen Regierung aufgefordert wurde, zur Erschließung und Urbarmachung des Landes etwas zu unternehmen, und daß die Kultivierung sich in geordneten Bahnen vollzieht?
Frau Dr. Hamm-Brücher, Staatsminister: Herr Kollege, ich gehe davon aus, daß, wenn Industrieunternehmen sich an solchen Vorhaben beteiligen, dies im Rahmen der gültigen Gesetze des Landes geschieht.
Ich rufe die Frage 112 des Herrn Abgeordneten Sauter auf:
Ist die Bundesregierung damit einverstanden, wenn, wie aus einem Pressebericht im Bonner General-Anzeiger vom 16. Oktober 1979 hervorgeht, auch das Volkswagenwerk. das 140 000 Hektar tropischen Regenwald kaufte und ihn zur Hälfte niederbrennen will, um eine Viehzucht zu errichten, sich an diesem Raubbau beteiligen und die einheimische Bevölkerung und dort ansässige Siedler rücksichtslos vertreiben will, und wenn nein, was gedenkt die Bundesregierung dagegen zu unternehmen?
Frau Dr. Hamm-Brücher, Staatsminister: Herr Kollege, ich darf noch einmal sagen, daß die Bundesregierung den von Ihnen zitierten Artikel im „General-Anzeiger" zum Anlaß genommen hat, bei der Vertretung in Brasilia zurückzufragen. Es trifft zu, daß deutsche Firmen an der Erschließung des Amazonasgebiets beteiligt sind. Entsprechend der brasilianischen Gesetzgebung müssen dabei 50 % des vorhandenen Waldbestandes erhalten bleiben. Nach Kenntnis der Bundesregierung handeln die deutschen Firmen vollständig im Rahmen der brasilianischen Gesetze.
Bitte sehr.
Frau Staatsminister, waren den Vertretern des Bundes bei den VW-Werken die Absichten dieses Werkes, solche großen Flächen mit der bekannten Zielsetzung aufzukaufen, schon vorher bekannt, und wie haben sich die Vertreter des Bundes im VW-Aufsichtsrat dazu gegebenenfalls verhalten?
Frau Dr. Hamm-Brücher, Staatsminister: Herr Kollege, ich bitte um Verständnis, daß ich diese Frage nicht vorhersehen konnte. Wir werden der Sache nachgehen und Ihnen eine schriftliche Nachricht zukommen lassen.
Ich bedanke mich zunächst, Frau Staatsminister. Aber könnten Sie mir zusichern, daß die Vertreter des Bundes die Kritik, die im eigenen Lande über diese Aufkäufe laut geworden ist, auch berücksichtigen, falls VW die Absicht hat, weiteres so großflächiges Gelände zu erwerben, und auch darauf achten, daß die Frage der gesunden Verteilung von Grund und Boden gerade an die kleinen Landwirte in Brasilien beachtet wird?
Frau Dr. Hamm-Brücher, Staatsminister: Herr Kollege, das liegt zunächst einmal in der Verantwortung der VW-Werke. Ich bin im übrigen gerne bereit — Sie können das ja auch selber direkt tun —, Ihre Bedenken an die Verantwortlichen der VW-Werke weiterzugeben.
Eine Zusatzfrage, Herr Kollege Bindig.
Frau Staatsminister, können Sie bitte auch ermitteln lassen, ob diese Rodungsmaßnahmen vielleicht über das Entwicklungsländersteuergesetz und damit vom deutschen Steuerzahler gefördert werden, und mir das Ergebnis mitteilen?
Frau Dr. Hamm-Brücher, Staatsminister: Ich werde mich bemühen, Herr Kollege.
Eine weitere Zusatzfrage, Herr Kollege Niegel.
Wird die Bundesregierung bei ihren Ermittlungen auch berücksichtigen, daß es sich bei dem Projekt der VW-Farm um eine gezielte Entwicklung und Erschließung des Landes handelt und daß dort zwangsläufig keine einheimischen Siedler vertrieben wurden, weil dort bisher noch niemand ansässig gewesen ist, vielmehr es sich um eine weite Fläche menschenleerer Wildnis handelte
Frau Dr. Hamm-Brücher, Staatsminister: Herr Kollege, ich glaube, man muß das Problem doch wirklich sehr differenziert sehen. Einmal geht es um die Frage: Was bedeutet das Projekt für die örtliche Entwicklung? Zweitens ist zu fragen: Was kann es unter Umständen tatsächlich an Gefährdungen für die klimatologische Entwicklung in der ganzen Welt bedeuten? Diese beiden Probleme sind, so meine ich, gleichgewichtig. Wir werden ihnen im Zusammenhang mit den hier angeschnittenen Fragen große Aufmerksamkeit zuwenden.
Ich danke Ihnen, Frau Staatsminister Hamm-Brücher, für die Beantwortung der Fragen aus dem Geschäftsbereich des Bundesministers des Auswärtigen.Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundesministers der Finanzen. Die Fragen 41 und 42, 44, 45 und 46 sowie 47 der Abgeordneten Rapp, Dr. Möller, Dr. Häfele und Dr. Meyer zu Bentrup werden schriftlich beantwortet. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.Ich rufe die Frage 49 des Abgeordneten Kirschner auf:Trifft es zu, daß Streikgelder, die an streikende bzw. ausgesperrte Arbeitnehmer von ihrer Gewerkschaft laut Satzung ausbezahlt werden, der Lohnsteuer unterliegen, obwohl diese Streikunterstützung aus Beiträgen stammt, die sich nach dem Arbeitsentgelt bemessen, für das bereits Lohnsteuer bezahlt wurde, und wenn ja, ist die Bundesregierung bereit, hier eine Änderung herbeizuführen?
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14410 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 183. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. November 1979
Herr Kollege Kirschner, der Bundesfinanzhof hat entschieden, daß Streikunterstützungen, die Gewerkschaften an ihre Mitglieder zahlen, den Einkünften aus nichtselbständiger Arbeit zuzurechnen sind. Die Finanzverwaltung ist gehalten, dieser Entscheidung zu folgen.
Die Versteuerung erfolgt aber nicht im Rahmen des Lohnsteuerabzugsverfahrens, sondern durch Veranlagung zur Einkommensteuer. Allerdings entsteht in der Praxis wohl in den meisten Fällen keine oder nur eine geringe steuerliche Belastung. Bei der Einkommensteuerveranlagung eines Arbeitnehmers bleiben nämlich bis zu bestimmten Einkommensgrenzen Einkünfte, von denen der Steuerabzug vom Arbeitslohn nicht vorgenommen worden ist, nach § 46 des Einkommensteuergesetzes 800 DM frei. Bei höheren Beträgen setzt die Besteuerung erst dann voll ein, wenn diese 1 600 DM im Jahr übersteigen.
Zu Ihrem Hinweis, daß Streikunterstützungen aus Beiträgen stammen, die aus versteuertem Arbeitslohn bezahlt worden sind, bemerke ich, daß Gewerkschaftsbeiträge steuerlich als Werbungskosten berücksichtigt werden und damit den steuerpflichtigen Arbeitslohn entsprechend mindern; ein Vorgang, von dem ich übrigens selber profitiere.
Die Bundesregierung hat nicht die Absicht, eine Änderung der steuerlichen Behandlung von Streikunterstützungen vorzuschlagen.
Eine Zusatzfrage, Herr Kollege Kirschner.
Herr Staatssekretär, sind Sie nicht auch der Auffassung, daß Streikunterstützungen nicht als eine Ersatzleistung für entgangenen Lohn anzusehen sind, sondern als eigenständige Leistung, die auf das Rechtsverhältnis zwischen Gewerkschaft und Mitglied zurückzuführen ist, d. h., daß sie kein Lohnersatz sind, sondern daraus resultieren, daß der einzelne Gewerkschaftsbeiträge bezahlt und sich die Streikunterstützung auch nach der Höhe und der Anzahl der Beiträge richtet?
Haehser, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Kirschner, ich glaube, hier kommt es weniger darauf an, wie man die Streikunterstützung qualitativ bewertet, sondern darauf, daß der Bundesfinanzhof sie als Einkommen bewertet, was sie ja auch ist. Darum unterliegt sie nach dem Entscheid des Bundesfinanzhofs der Steuer.
Ich habe, weil ich natürlich sehe, wie bedeutsam nicht nur ihnen, sondern vielen hier und anderswo diese Frage ist, prüfen lassen, wie sich die tatsächliche Steuerpflicht bei einem durchschnittlich verdienenden Arbeitnehmer stellt. Ich habe ein Beispiel bilden lassen für einen Arbeitnehmer mit einem Bruttomonatseinkommen von 2 500 DM. Er würde bei einem durch Streik nicht beeinträchtigten Einkommen eine Jahreslohnsteuer von 3154 DM zahlen. Wenn ich davon ausgehe, daß er für zwei Monate ein Streikgeld in Höhe von je 1600 DM
erhält, stellt sich die steuerliche Gesamtbelastung geringer.
Eine weitere Zusatzfrage, Herr Kollege Kirschner.
Herr Staatssekretär, gibt es nicht auch vergleichbare Regelungen in anderen Bereichen? Beispielsweise ist es ja wohl auch so, daß das Arbeitslosengeld nicht der Lohnsteuerpflicht unterliegt. Ist nicht in bezug auf die Streikunterstützung eine vergleichbare Regelung wünschenswert, wenn man davon ausgeht, daß die Höhe des Arbeitslosengeldes darauf beruht, was der einzelne vorher verdient und dementsprechend als Beitrag zur Arbeitslosenversicherung geleistet hat? Ist hier nicht eine ähnlich gelagerte Regelung vorhanden?
Haehser, Parl. Staatssekretär: Ich sehe die Ähnlichkeit nicht, Herr Kollege Kirschner. Sie wissen, daß das Arbeitslosengeld nur einen Teil des Arbeitseinkommens ausmacht. Im Gegensatz zu dem Beispiel, das ich Ihnen nannte, wird bei satzungsgemäß geleistetem Beitrag — das ist allerdings eine wichtige Voraussetzung — der Arbeitslohn weitgehend erreicht. In diesem Fall — das zeigt mein Beispiel deutlich — liegt die steuerliche Belastung unter der Belastung, die durch ein voll erreichtes Arbeitseinkommen entsteht.
Das Wort zu weiteren Zusatzfragen wird nicht gewünscht. Damit sind die Fragen aus dem Geschäftsbereich des Bundesministers der Finanzen erschöpfend behandelt. Ich danke Ihnen, Herr Parlamentarischer Staatssekretär.
Wir kommen nunmehr zu den Fragen aus dem Geschäftsbereich des Bundesministers für Wirtschaft. Zur Beantwortung steht Herr Parlamentarischer Staatssekretär Grüner zur Verfügung. Ich rufe die Frage 50 des Herrn Abgeordneten Niegel auf:
Sind der Bundesregierung die derzeitigen Versorgungsschwierigkeiten mit Briketts bekannt, wonach Händler und Raiffeisenbanken fiber drei Monate auf bestellte Ware warten müssen, und was gedenkt die Bundesregierung zu tun, um die Versorgung mit Briketts umgehend sicherzustellen?
Herr Kollege, der Bundesregierung ist bekannt, daß in Einzelfällen bei der Belieferung mit Braunkohlenbriketts Lieferverzögerungen aufgetreten sind. Diese Schwierigkeiten haben ihre Ursache darin, daß erstmals seit fast zwei Jahrzehnten im laufenden Jahr die Nachfrage nach Braunkohlenbriketts wieder anhaltend angestiegen ist. Dieser Anstieg dürfte jedoch nicht auf eine Strukturveränderung des Marktes zurückzuführen sein. Die Gründe dafür liegen einmal in dem infolge des langen und kalten Winters 1978/79 sich ergebenden Nachholbedarf. Zum anderen dürfte sich auch die Krise auf dem Ölmarkt zu Anfang dieses Jahres auf das Verbraucherverhalten ausgewirkt haben.Handel und Verbraucher haben auf Grund dieser Gegebenheiten im laufenden Jahr mehr Vorsorge als in früheren Jahren getroffen. Darüber hinaus wurden Reservemengen eingekauft, die jedenfalls zunächst nicht für den Verbrauch bestimmt sind.
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Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 183. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. November 1979 14411
Parl. Staatssekretär GrünerDie Lieferungen von Braunkohlenbriketts an den Handel für die Versorgung von Hausbrand und Kleinverbraucher lagen im Zeitraum Januar bis September dieses Jahres um rund 21 % höher als im gleichen Vorjahreszeitraum. Die Belieferung wäre noch besser gewesen, wenn nicht zu Anfang dieses Jahres Bezugsmengen aus der DDR ausgefallen wären, die durch die heimische Produktion ersetzt werden mußten. Die Rheinische Braunkohlenwerke AG und ihre Verkaufsgesellschaft als einzige Produzentin von Braunkohlenbriketts im Bundesgebiet ist bemüht, die noch bestehenden Auftragsüberhänge abzubauen bzw. die bekanntgewordenen Einzelfälle zu bereinigen.
Eine Zusatzfrage, Herr Kollege Niegel.
Herr Staatssekretär, stehen dann die Meldungen aus dem Kreise des Handels und der Raiffeisenbanken dazu im Widerspruch, die am Vertrieb der Briketts hauptsächlich beteiligt sind und die nach wie vor vor allem für die Versorgung mit Hausbrand und die Belieferung vieler Bäkkereien mit Briketts sorgen müssen, die besagen: Seit der Versorgung nach dem Kriege gab es keine solchen Versorgungengpässe mehr wie in diesem Jahr?
Grüner, Parl. Staatssekretär: Ich habe Ihnen die Gründe genannt, die im einen oder anderen Bereich zu dieser Engpaßsituation geführt haben. Im übrigen darf ich auf die Antwort verweisen, die Staatsminister Jaumann auf eine Frage im Bayerischen Landtag gegeben hat. Er hat darauf hingewiesen, daß sich Verbraucher und Händler in solchen Fällen umgehend an den Bayerischen Brennstoffhandelsverband in München wenden sollten, damit sich dieser für eine schnellstmögliche Belieferung einsetze. Ich meine, daß dieser Weg in den Fällen, in denen solche Engpässe noch bestehen, zu empfehlen ist.
Eine weitere Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, Sie führten vorhin an, daß die DDR in diesem Jahr nicht genügend liefern könne. Hält die DDR die eingegangenen Lieferverpflichtungen nicht ein, obwohl sie unseren Markt sonst hinsichtlich anderer Waren — auf jeden Fall zum Teil — überschüttet? Dann, wenn unser Markt keinen Bedarf hat, liefert sie, dann aber, wenn wir hier etwas brauchen könnten, ist sie nicht bereit und in der Lage, uns, z. B. mit Briketts, zu versorgen.
Grüner, Parl. Staatssekretär: Nein, ein solcher Vorwurf ist nicht berechtigt. Ich habe darauf hingewiesen, daß die Nachfrage sprunghaft angestiegen ist und daß wir Anlaß haben, auch mit gewissen Vorrätskäufen zu rechnen. Angesichts der außergewöhnlichen Situation, die durch die Ölpreiskrise bedingt war, war es verständlich, daß solche Engpaßsituationen auftreten konnten. Im übrigen waren es objektive, von der DDR nicht zu verantwortende Gründe der Witterung, die zu diesen Lieferverzögerungen und -ausfällen seitens der DDR geführt haben.
Keine weitere Zusatzfrage.
Ich rufe nunmehr die Frage 51 des Herrn Abgeordneten Niegel auf:
Ist der Bundesregierung bekannt, daß von der DDR oberfränkischen Modellen in Form und Ausstattung nachgebaute Polstermöbel in größerem Umfang, zum Teil mit westdeutschen Stoffen bezogen, zu Preisen an Großabnehmer in der Bundesrepublik Deutschland geliefert werden, die unter den Gestehungskosten der heimischen Polsterindustrie liegen, und welche Maßnahmen wird die Bundesregierung ergreifen, um solche Dumpinglieferungen im Interesse der Erhaltung der Arbeitsplätze in der Polstermöbelindustrie im Zonenrandgebiet umgehend zu unterbinden, ohne daß betroffene und geschädigte Unternehmen Preisprüfungsunterlagen ausfüllen müssen, mit Daten, über die nicht sie, sondern nur der Zoll beziehungsweise die belieferten Großabnehmer verfügen?
Herr Parlamentarischer Staatssekretär.
Grüner, Parl. Staatssekretär: Der Bundesregierung sind in den letzten zwei Jahren keine konkreten Klagen seitens der westdeutschen Polstermöbelindustrie über den Nachbau oberfränkischer Polstermöbel in der DDR und Lieferungen im innerdeutschen Handel zu so niedrigen Preisen zugegangen, daß dadurch eine Schädigung der hiesigen Industrie droht bzw. eingetreten ist. Bei Lieferungen zu Dumpingpreisen, die zu Schädigungen eines Wirtschaftszweiges führen, ist die Durchführung eines Preisprüfungsverfahrens möglich; ein entsprechender Antrag liegt bislang nicht vor. Dabei ist es nicht unbedingt erforderlich, daß die Antragsteller alle im Fragebogen vorgesehenen Daten angeben. Diese können gegebenenfalls in Zusammenarbeit mit dem Fachverband von Amts wegen ergänzt werden.
Eine weitere Zusatzfrage, Herr Kollege Niegel.
Herr Staatssekretär, würden Sie es, wenn ein Preisprüfungsverfahren beantragt worden wäre — das kann notfalls ja auch eine Firma tun — und darin nachgewiesen ist, zumindest annähernd nachgewiesen ist, wie die Einfuhrpreise der DDR sind, die bis zu 40 % unter den Gestehungskosten der heimischen Industrie liegen, für angebracht halten, daß man dann Maßnahmen ergreift, die einen Einfuhrstopp zur Folge haben?Grüner, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, ich möchte auf eine solcher hypothetische Frage nicht antworten, weil Sie Tatsachen unterstellt, die erst durch ein Preisprüfungsverfahren zur amtlichen Kenntnis kommen können. Wenn die Ergebnisse eines Preisprüfungsverfahrens, das ja häufig praktiziert wird, es ermöglichen, sind wir bereit und in der Lage, Abhilfe zu schaffen und darauf hinzuwirken — wir haben das erfolgreich praktiziert —, eine entsprechende Änderung des Preisverhaltens der DDR — immer wieder unterstellt, daß sich die von Ihnen genannten Zahlen in einem solchen Verfahren ergeben — herbeizuführen. Das ist unsere Verpflichtung, das ist Gegenstand unserer Regelungen betreffend den innerdeutschen Handel mit der DDR. Es gibt keine Hinderungsgründe, nicht entsprechend zu verfahren.Ich möchte darauf hinweisen, daß ich angesichts der enorm gestiegenen Einfuhr an Polstermöbeln aus der DDR und insbesondere aus Italien zwar volles Verständnis für die Sorgen einzelner Firmen habe, daß ich aber deutlich machen muß, daß wir, da von dem zuständigen Fachverband in dieser Sache
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14412 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 183. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. November 1979
Parl. Staatssekretär Grünerseit zwei Jahren keine konkreten Anliegen an uns herangetragen worden sind, von uns aus keine Möglichkeit und keine Notwendigkeit sehen, zu handeln. Denn dieses Preisprüfungsverfahren beruht auf der Voraussetzung, daß sich die Betroffenen an uns wenden.
Eine weitere Zusatzfrage, Herr Kollege Niegel.
Herr Staatssekretär, nehmen Sie zur Kenntnis, daß das Preisprüfungsverfahren, wie es bisher durchgeführt wurde, mit solchen Schwierigkeiten verbunden war, daß es jeder von vornherein aufgegeben hat, es einzuleiten, und sind Sie bereit, jetzt ein vereinfachtes Preisprüfungsverfahren durchzuführen oder durchführen zu lassen?
Grüner, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, es ist bekannt, daß es mit einem Preisprüfungsverfahren Schwierigkeiten gibt. Ich möchte aber noch einmal darauf hinweisen, daß wir in zahlreichen Fällen Preisprüfungsverfahren im Sinne der Antragsteller erfolgreich durchgeführt haben. Wir haben alles getan, um dieses Preisprüfungsverfahren anwendbar zu machen, und wir haben auch zahlreiche Anregungen aus der Wirtschaft berücksichtigt. Solange nicht praktikable Vorschläge vorliegen, in welcher Weise Änderungen stattfinden sollen, sehe ich deshalb im Augenblick dazu keinen Anlaß.
Das Wort zu weiteren Zusatzfragen wird nicht gewünscht.
Ich rufe die Frage 52 des Herrn Abgeordneten Spöri auf:
Was gedenkt die Bundesregierung zu tun angesichts der Tatsache, daß mehrere amerikanische Ölkonzerne ihre explosionsartige Gewinnsteigerung im dritten Quartal 1979 auf das Europageschäft und dabei insbesondere auf das Geschäft in der Bundesrepublik Deutschland zurückführen?
Bitte, Herr Staatssekretär.
Grüner, Parl. Staatssekretär: Es trifft zu, daß die amerikanischen Ölgesellschaften, z. B. die Exxon, in der Erläuterung zur Ertragslage 1979 — Gewinnsteigerung Exxon im dritten Quartal 118 %, im ersten bis dritten Quartal 42 % — auf einen im Verhältnis zum vergangenen Jahr überproportionalen Beitrag ihres Geschäftes außerhalb der USA sowohl im Bereich Exploration und Förderung als auch im Bereich Verarbeitung hingewiesen haben. Nicht zutreffend ist, daß dabei das Mineralölgeschäft in der Bundesrepublik besonders erwähnt wäre. Die Aussagen zur Gewinnentwicklung beziehen sich jeweils auf die Vorjahreszahlen. Wesentlich erscheint deshalb die Aussage der Exxon, daß die Verzinsung des in Europa eingesetzten Kapitals im Jahre 1979 nicht höher als bei der Gesellschaft insgesamt, nämlich 15,8 %, liegt. Dies entspricht in der Größenordnung auch in etwa den der Bundesregierung vorliegenden Erkenntnissen zur Gewinnentwicklung der großen Ölgesellschaften im Bereich Mineralverarbeitung in diesem Jahr.
Eine Zusatzfrage, Kollege Dr. Spöri.
Herr Staatssekretär, sind Ihnen nicht die Antworten und Äußerungen amerikanischer Konzernsprecher auf Vorhaltungen amerikanischer Verbraucherverbände bekannt, daß sich die amerikanische Offentlichkeit nicht über diese Gewinnsteigerung aufregen solle, weil die entsprechenden Gewinne in Europa, insbesondere in der Bundesrepublik, gemacht worden seien?
Grüner, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, meine Aussage beruht auf den veröffentlichten Zahlen der Exxon. Sie beruht auf den Einsichten, die wir in die Besteuerung der hier tätigen Mineralölgesellschaften haben, deren Gewinne in exakter Weise erfaßt werden und die, wie Sie wissen, mit ca. 75 % insgesamt der Besteuerung bei uns unterliegen. Ich habe durchaus solche Äußerungen von amerikanischer Seite gelesen. Man kann sie allerdings meiner Ansicht nach nur vor dem Hintergrund verstehen, daß in Amerika eine sehr heftige Diskussion über die Besteuerung der windfall profits im Gange ist, daß das amerikanische Ölgeschäft von administrierten, staatlich festgelegten Höchstpreisen bestimmt war und daß sich die Kritik an den amerikanischen Ölgesellschaften aus Kreisen der Regierung daran orientiert, daß diese staatlich festgesetzten Höchstpreise von den amerikanischen Ölgesellschaften umgangen worden seien. Man muß also derartige Äußerungen vor dem Hintergrund der inneramerikanischen Diskussion und vor dem Versuch der Regierung sehen, die Ölpreise dort allmählich freizugeben, um sie im Sinne einer sinnvollen Energiepolitik an das Weltmarktpreisniveau heranzuführen. Weiter muß man den wirtschaftlich verständlichen, energiepolitisch unverständlichen Widerstand der dortigen 01-gesellschaften sehen, sich einer solchen Entwicklung anzupassen.
Eine weitere Zusatzfrage, Herr Kollege Dr. Spöri.
Herr Staatssekretär, sind Sie meiner Auffassung, daß angesichts der bisherigen Preisopfer, die die Bevölkerung in Westeuropa im Zusammenhang mit der Preisentwicklung auf dem Ölsektor im letzten Jahr erbracht hat, eine solche Gewinndynamik aus der Sicht konjunktur- und sozialpolitischer Aspekte unzumutbar und nicht mehr passiv hinnehmbar ist?Grüner, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, ich bin nicht dieser Ansicht, sosehr ich auch unterstreiche, daß die Verantwortung der hier tätigen Ölgesellschaften, insbesondere in der jetzigen Situation vor dem Hintergrund eines funktionierenden Ölpreiskartells, darin besteht, über ihre Gewinne vollkommene Transparenz zu schaffen, was in einer Marktwirtschaft normalerweise nicht notwendig wäre. Aber ich möchte mit Nachdruck der Meinung Ausdruck geben, daß es politisch verhängnisvoll ist, die Preisdiskussion hier in der Bundesrepublik vor allem vor dem Hintergrund der Gewinnentwicklung bei den Mineralölgesellschaften zu führen und damit den Blick darauf zu verstellen, daß das eigentliche Problem, vor dem wir stehen und das diese Gewinnentwicklung überhaupt möglich macht, ja darin liegt, daß die OPEC-Länder eine erfolgreiche Kar-
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Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 183. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. November 1979 14413
Parl. Staatssekretär Grünertellpolitik betreiben, für die es viele gute Gründe gibt und der sich übrigens alle anderen Erdölförderländer in der westlichen und der östlichen Welt hinsichtlich der Preisgestaltung angeschlossen haben.Von daher meine ich, daß das Gewinnproblem ein Teilproblem ist und daß angesichts der Größenordnung der erzielten Gewinne, die nach Aussagen der Mineralölgesellschaften pro Liter verarbeiteten Rohöls wohl zwischen 1 und 2 Pfennig liegen, die Konzentration der öffentlichen Diskussion auf diese Gewinnentwicklung vom eigentlichen Problem eher wegführt, so wichtig selbstverständlich diese Erörterung ist und so sehr wir es bedauern, daß die von uns immer wieder geforderte Gewinntransparenz bisher nicht geschaffen worden ist.
Zu einer weiteren Zusatzfrage der Abgeordnete Conradi.
Herr Staatssekretär, haben Sie Verständnis dafür, daß die von den räuberischen Preiserhöhungen der Mineralölkonzerne Betroffenen — für die das Preisproblem ja nicht, wie Sie eben gesagt haben, ein Teilproblem ist — angesichts der nun vorliegenden Gewinnzahlen der Konzerne die mehrfachen doch sehr unkritischen Äußerungen des Bundeswirtschaftsministers zu den Erdölpreissteigerungen als mindestens merkwürdig empfinden?
Grüner, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, wenn ich davon ausgehe, daß pro Liter hier verarbeiteten Rohöls 1 bis 2 Pfennig bei den hier tätigen Mineralölgesellschaften als Gewinn verbleiben, ist das wegen der großen Zahl von Litern in absoluten Zahlen ein hoher Gewinn, aber man wird wohl nicht davon sprechen können, daß derartige Gewinnzahlen einen entscheidenden Einfluß auf das Preisniveau in der Bundesrepublik hätten. Ich darf darauf hinweisen, daß das Mineralölpreisniveau, sowohl was leichtes Heizöl als auch was Benzin anlangt, in der Bundesrepublik unter dem Niveau liegt, das nach Weltmarktpreisen auf den Spotmärkten gegeben ist.
Ich ergänze das mit dem Hinweis darauf, daß unsere Steuerbehörden in der Vergangenheit die Besteuerung der Gewinne der hier tätigen Mineralölgesellschaften bei den Verrechnungspreisen so bemessen haben, wie wenn die Zulieferung von Rohöl vom Rotterdamer Markt erfolgt wäre. Das heißt, man ist von den wesentlich niedrigeren Preisen des Rotterdamer Markts zu wesentlich höheren Erträgen der hier tätigen Mineralölgesellschaften gekommen, was zu einer entsprechend höheren Besteuerung geführt hat. Wenn dasselbe Prinzip jetzt in umgekehrter Richtung angewandt würde, kämen die Finanzbehörden zu geringeren Steuereinnahmen.
Ich habe volles Verständnis für die öffentliche Diskussion dieser Frage, aber ich habe — das muß ich einfach der Ehrlichkeit halber sagen — kein Verständnis dafür, daß hier eine Gewichtung vorgenommen wird, die dem eigentlichen Problem nicht gerecht wird.
Hier wird ein Schuldiger gesucht, der in Wahrheit auf diese Art und Weise nicht gefunden werden kann.
Ich würde es allerdings sehr begrüßen, wenn unsere jahrelangen Bemühungen um eine internationale Kontrolle durch die zuständigen Kartellbehörden der Europäischen Gemeinschaft, der USA und Japans in Zusammenarbeit mit unserer Kartellbehörde zu einer wirkungsvollen internationalen Mißrauchsaufsicht führen würden. Unsere Bemühungen haben zwar zu engen Kontakten, aber noch nicht zu einem Erfolg geführt. In diesen Bemühungen sehe ich den einzigen Weg, hier zu Klarheit und Transparenz zu kommen, auf die wir alle, wie ich meine, einen Anspruch haben. Ich füge hinzu, daß es schwer sein wird, eine solche Vereinbarung zustande zu bringen, weil die nationalen Interessen der notwendigerweise daran Beteiligten sehr unterschiedlich sind.
Eine weitere Zusatzfrage, Herr Kollege Wolfram.
Herr Staatssekretär, teilen Sie meine Auffassung, daß lange anhaltende überproportionale Gewinnmargen mit negativen sozialen Auswirkungen auf diesem Sektor unsere Position gegenüber den OPEC-Staaten und deren Preispolitik natürlich schwächen, und sehen Sie auch die Sorge, daß sich neben dem explosionsartigen Entstehen von Gewinnen ein Verdrängungswettbewerb der großen gegenüber den kleinen und selbständigen Tankstellenbesitzern mit einer Menge negativer Auswirkungen vollzieht, und was gedenken Sie dagegen zu tun?Grüner, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, ich sehe einmal den Tatbestand, daß hohe Gewinne bei unseren Gesellschaften, wenn ich Einkommensteuer, Körperschaftsteuer, Gewerbesteuer, Vermögensteuer und alle anderen ertragsunabhängigen Steuern zusammenrechne, mit rund 75 % besteuert werden. Das heißt, mit rund 75 % sind wir dabei. Was uns allerdings beschäftigt, sind die trotzdem verbleibenden im Augenblick hohen Nettogewinne, denen, wie Sie sehr genau wissen, in der Vergangenheit hohe Verluste der Mineralölgesellschaften hier bei uns gegenübergestanden haben. Ich erinnere an die zahlreichen besorgten Anfragen hier im Deutschen Bundestag, was die Bundesregierung zu tun gedenke, um diese Verlustquellen zu stopfen, die die Gefahr in sich schließen würden, daß Raffinerien geschlossen würden, was wir auch als Problem angesehen haben. Vor diesem Hintergrund meine ich, daß die Diskussion allein über die Preise und die Gewinnsituation tatsächlich in die Irre führt. Es gibt in der Lage, die durch das OPEC-Kartell geschaffen worden ist, für uns nur theoretische Wege, die bisher von dem Rotterdamer Markt zu niedrigen Preisen versorgten freien Händler auf Dauer zu schützen. Im Grunde, Herr Kollege, wäre das nur möglich,
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14414 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 183. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. November 1979
Parl. Staatssekretär Grünerwenn wir die Mineralölgesellschaften hier aufforderten, ihrerseits nur Preise zu nehmen, die den Rotterdamer Marktpreisen entsprechen. Dann könnten sich die Kleinen wie bisher am Rotterdamer Markt eindecken. Daß das eine Erhöhung unseres Preisniveaus zur Folge hätte, brauche ich nicht zu betonen. Das ist der einzige Weg, der theoretisch in einer mittel- und langfristigen Betrachtung denkbar wäre, den unabhängigen Händlern zu helfen.
Eine weitere Zusatzfrage, Herr Kollege Sieler.
Herr Staatssekretär, kann die Bundesregierung die Auffassung der amerikanischen Offentlichkeit bestätigen, wonach die Ölkonzerne ihre Gewinne in der Bundesrepublik Deutschland gemacht haben?
Grüner, Parl. Staatssekretär: Diese Auffassung können wir nicht bestätigen, weil wir ziemlich genaue Unterlagen darüber haben, welche Gewinne die Gesellschaften hier bei uns erzielt haben, weil wir ein Doppelbesteuerungsabkommen mit den Amerikanern haben und weil eine sehr enge Zusammenarbeit der Steuerbehörden der Bundesrepublik Deutschland und der USA besteht. Es ist aber klar, daß etwa aus Nordseeöl in Europa ein erheblicher und möglicherweise auch überdurchschnittlicher Beitrag zu den Gewinnen der amerikanischen Konzerne geleistet worden ist, was besonders vor dem Hintergrund verständlich wird, daß die amerikanischen Gesellschaften in Amerika selbst zu staatlich festgesetzten niedrigen Preisen zu verkaufen gezwungen sind, was der amerikanische Präsident ändern will, weil er weiß, daß diese Politik zu der allgemein bekannten Verknappung von Mineralölprodukten in den USA geführt hat.
Eine weitere Zusatzfrage, Herr Kollege Dr. Jens.
Herr Staatssekretär, können Sie denn bestätigen, daß die Gewinnsituation der deutschen Mineralölgesellschaften im Vergleich zu früheren Jahren in diesem Jahr außerordentlich gut ist?
Grüner, Parl. Staatssekretär: Das kann ich bestätigen. Ich habe schon in einer früheren Fragestunde ausgeführt, daß im Augenblick Gewinne pro Tonne verarbeiteten Rohöls erzielt werden, die in der Vergangenheit bei einzelnen Gesellschaften als Verluste aufgetreten sind. Das ist aber keine Abschwächung meiner Aussage, daß von den Mineralölgesellschaften in dieser Situation ausgezeichnete Gewinne erzielt werden, trotz der Tatsache, daß rund 75 % dieser Gewinne auf dem Wege der Besteuerung in die Staatskassen kommen.
Eine weitere Zusatfrage, der Kollege Cronenberg.
Herr Staatssekretär, können Sie bestätigen, daß insgesamt, wenn man die Gewinnsituation der Mineralölgesellschaften in den letzten fünf Jahren global betrachtet, mehr Verluste
denn Gewinne erzielt worden sind, und können Sie mir bestätigen, Herr Staatssekretär, daß der harte Wettbewerb, dem die Ölgesellschaften auch jetzt noch ausgesetzt sind, zu dem Erfolg geführt hat, daß wir das relativ niedrigste Preisniveau haben, und daß die Bundesregierung nicht die Absicht hat, durch Preiskontrollen oder -vorschriften diesen Wettbewerb kaputtzumachen?
Grüner, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, ich kann vor allem das letztere bestätigen, daß wir nicht die Absicht haben, irgendeine Art von Preiskontrolle einzuführen, und daß die Sicherheit unserer Versorgung darauf beruht, daß die internationalen Gesellschaften einschließlich unserer eigenen an diesem deutschen und europäischen Markt ein wirtschaftliches Interesse haben. Damit kann die Gefahr einer staatlich bestimmten Austrocknung unseres Marktes nicht eintreten.
Ich möchte zu Gewinn und Verlust keine Aussagen machen, weil mir Vergleichsunterlagen hierüber im Augenblick nicht vorliegen. Ich kann nur an die Fragestunden vergangener Jahre erinnern, wo dieses Thema häufig eine Rolle gespielt hat.
Im übrigen bin ich der Auffassung, es wäre lohnend, vielleicht auch in einer Anfrage an den zuständigen Bundesfinanzminister gerade dieses Verhältnis zwischen Erträgen, Belastungen und Verrechnungspreisen zu erörtern. Ich glaube, es wäre politisch außerordentlich notwendig, die Diskussion über die Ölpreisentwicklung, die sich in der Bundesrepublik Deutschland allein auf die Gewinne der Mineralölkonzerne konzentriert, breiter zu führen und den Gesamtaspekt, der für uns von dramatischer Zukunftsbedeutung ist, ins öffentliche Bewußtsein zu rücken.
Noch eine Zusatzfrage, Herr Kollege Ey.
Herr Staatssekretär, sind Sie mit mir der Auffassung, daß angesichts der erkennbaren möglichen brisanten Entwicklung der gesamten Ölversorgung mit jedem verbrauchten Liter die Explorationskosten für 01 deutlich und stark steigen werden?
Grüner, Parl. Staatssekretär: Dieser Auffassung bin ich, Herr Kollege. Es ist selbstverständlich, daß wir ein großes Interesse daran haben, daß von den hohen Gewinnen, die die Mineralölgesellschaften erzielen, entsprechende Investitionen, die der Sicherheit unserer Versorgung dienen, abgezweigt werden. Das ist, soweit ich die zunehmenden Investitionen der hier tätigen Gesellschaften sehe, durchaus der Fall.
Das Wort zu weiteren Zusatzfragen wird nicht gewünscht.Ich rufe die Frage 53 des Herrn Abgeordneten Dr. Spöri auf:Teilt die Bundesregierung die Auffassung des amerikanischen Finanzministers William Miller, daß diese über die europäischen Tochtergesellschaften der amerikanischen Ölkonzerne erzielte Gewinnsteigerung eine Sondersteuer für Ölkonzerne notwendig mache, und wird sie in dieser Frage mit der amerikanischen Regierung Kontakt aufnehmen?
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Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 183. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. November 1979 14415
Grüner, Parl. Staatssekretär: Der amerikanische Finanzminister William Miller hat am 23. Oktober erklärt, daß die von den Ölgesellschaften für das dritte Quartal 1979 gemeldeten Gewinne die Richtigkeit der von der amerikanischen Regierung verfolgten Steuerpläne unterstreichen. Die amerikanische Regierung verfolgt mit diesen Plänen das Ziel, übermäßige Gewinne im Zusammenhang mit der beabsichtigten Preisfreigabe für US-01 und der Heranführung des amerikanischen Preisniveaus an das Weltmarktpreisniveau abzuschöpfen, ohne allerdings damit den Anreiz für die weitere Ölsuche zu mindern. Finanzminister Miller hat also nicht eine Sondersteuer im Hinblick auf von europäischen Tochtergesellschaften amerikanischer Ölkonzerne erzielte Gewinne gefordert.
Eine Zusatzfrage, Herr Kollege Spöri.
Herr Staatssekretär, ist Ihre ablehnende Antwort, was eine Sondersteuer für diese Sondergewinnentwicklung anlangt, etwa darauf zurückzuführen, daß Sie immer noch die gegenwärtige Gewinnentwicklung, die Sie selber als ausgezeichnet bezeichnet haben, als einen direkten kaufmännischen Ausgleich für die in der Vergangenheit bei den Ölkonzernen aufgetretenen Verluste betrachten?
Grüner, Parl. Staatssekretär: Nein, Herr Kollege. Meine Aussage zur Gewinnsituation beruht darauf, daß wir ein Steuersystem haben, das alle Firmen in guten und in schlechten Tagen in gleicher Weise erfaßt. Ich kann nur noch einmal sagen: Wenn sie rund 75 % Ihres Gewinns bei insgesamt guten Verdiensten abzuführen haben, kann man sich zwar darüber unterhalten, ob das ausreicht — dann muß man die Diskussion über die windfall profits, die wir ja in diesem Hause ebenfalls führen, hinzunehmen —; aber dann würde ich vorschlagen, daß entsprechende Anträge zur Erhöhung der Steuern vorgelegt werden. Ich würde es rundweg ablehnen, etwa hier bei uns in der Bunderepublik Sondersteuern für einzelne Branchen einzuführen. Ich würde Ihnen dann übrigens auch Branchen nennen müssen, die sich in ähnlichen Gewinnsituationen befinden, und wir könnten dann nicht nur über die Ölindustrie sprechen. Ich füge hinzu, daß sich alle die Gewinnzahlen, die hier genannt werden, auf das Gesamtgeschäft der internationalen Konzerne beziehen, die auch im Kohlegeschäft, im Urangeschäft und im Gasgeschäft tätig sind, wenn auch der Beitrag der Mineralölprodukte im allgemeinen einen überragenden Anteil hat und heute von der Gewinnsituation her sicher überdurchschnittlich ist.
Eine weitere Zusatzfrage, Herr Kollege Dr. Spöri.
Läßt die von Ihnen hier skizzierte ausgezeichnete Gewinnlage im dritten Berichtsquartal dieses Jahres nicht auch zumindest die Feststellung zu, daß die multinationalen Ölgesellschaften preiskalkulatorisch auf den Abnehmer mehr abgewälzt haben als den reinen OPEC-Preissteigerungseffekt, weil man diese Preissteigerungen ansonsten gar nicht analytisch erklären kann, und ist dies nicht auch ein Grund, von seiten der Bundesregierung zu sagen, daß eine solche zusätzliche Preissteigerungspolitik gegenüber den OPEC-Preiserhöhungen einen konjunkturpolitischen Risikofaktor ersten Ranges in der Bundesrepublik darstellt?
Grüner, Parl. Staatssekretär: Wir haben die Mineralölkonzerne immer wieder auf ihre gesamtwirtschaftliche Verantwortung aufmerksam gemacht, wie übrigens andere Branchen auch. Es besteht dazu Anlaß. Das hat sich auf die Bundesrepublik Deutschland bezogen. Ich unterstreiche nachdrücklich, daß die Ausnutzung einer gegebenen Marktchance nicht unbedingt der kaufmännischen Weisheit letzter Schluß sein muß.
Ich glaube aber, daß sich Ihre Frage auf die internationale Situation, die internationalen Konzerne und darauf bezogen hat, wie der Beitrag der deutschen Mineralölfirmen zu den Gewinnen der amerikanischen Muttergesellschaften sei. Hier kann ich nur auf das Doppelbesteuerungsabkommen und darauf verweisen, daß alle unsere Möglichkeiten an unseren Grenzen enden und daß lediglich eine konzertierte Aktion der Kartellbehörden der beteiligten Länder dazu beitragen könnte, mit Hilfe eines Mißbrauchsverfahrens gegenüber international tätigen Konzernen eine Art Transparenz zu ermöglichen. Ich würde das sehr unterstützen. Die Bundesregierung arbeitet seit Jahren daran, eine solche Vereinbarung zu erreichen. Seit 1973 sind wir auf diesem Gebiet tätig, allerdings ohne großes Aufsehen, weil wir wissen, daß viele, auch ganz verständliche Gründe, einer solchen Vereinbarung entgegenstehen, die wir im übrigen aber rückhaltlos begrüßen würden.
Meine Damen und Herren, mir liegen noch Wortmeldungen für vier Zusatzfragen zur Frage 53 vor. Mit Rücksicht auf die Tatsache, daß noch zahlreiche andere Kollegen auf eine mündliche Beantwortung ihrer Fragen warten, bitte ich, daß die Fragen und die Antworten so kurz wie möglich gefaßt werden.
Zu einer Zusatzfrage hat Herr Kollege Conradi das Wort.
Herr Staatssekretär, kann man angesichts der Machtverteilung zwischen Mineralölkonzernen auf der einen und Verbrauchern auf der anderen Seite, die an den Gewinnzahlen deutlich wird, tatsächlich noch von einer funktionierenden marktwirtschaftlichen Ordnung in diesem Bereich reden?Grüner, Parl. Staatssekretär: Ich meine, daß man das kann, weil die Konkurrenzsituation gegeben ist. Daß die Wettbewerbssituation durch ein funktionierendes OPEC-Kartell beeinträchtigt ist, kann nicht bestritten werden. Aber wir wissen, daß dieses Kartell von uns nicht beseitigt werden kann und daß es auch als eine politische Waffe eingesetzt wird. Von der Preiswirkung her wird es im übrigen von allen anderen erdölerzeugenden Ländern mitgetragen. Von daher ist eine Sondersituation gegeben, die eine besondere gesellschaftspolitische Verantwor-
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14416 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 183. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. November 1979
Parl. Staatssekretär Grünertung der Mineralölkonzerne auf unserem Boden unerläßlich macht.
Eine weitere Zusatzfrage, Kollege Wolfram.
Herr Staatssekretär, da die Multis auch auf dem deutschen Fördermarkt kräftige windfall profits machen und damit die Wettbewerbslage gegenüber anderen verzerren: Teilen Sie meine Auffassung, daß wir Wege finden müßten, diese windfall profits kräftiger abzuschöpfen, nicht zuletzt auch mit Blick auf die jüngsten „Explosionen" gerade auf diesem Gebiet,
Grüner, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, wir haben die Besteuerung der windfall profits immer für notwendig gehalten, allerdings nicht in erster Linie aus Gründen der Gewinnbesteuerung, sondern um eine faire Konkurrenz unter den hier tätigen Gesellschaften zu ermöglichen. An diesem Ziel halten wir fest.
Wir sind dabei, im Bundesberggesetz eine entsprechende Rechtsgrundlage zu formulieren, wobei ich darauf hinweise, daß windfall profits hier erfaßt und abgeführt werden, wenn auch auf vertraglicher Ebene zwischen den beteiligten Ländern und den dort tätigen Gesellschaften.
Eine weitere Zusatzfrage, Herr Kollege Jens.
Herr Staatssekretär, darf ich Ihre Ausführungen so interpretieren, daß sie nicht der Ansicht des Vorstandsvorsitzenden der VEBA, von Bennigsen-Foerder, zustimmen, der gerade jüngst wieder eine Sondersteuer auf die windfall profits gefordert hat?
Grüner, Parl. Staatssekretär: Er hat diese Raerung, die mir nicht bekannt ist, in Verfolg seiner uralten Forderung, gleiche Wettbewerbsverhältnisse zu schaffen, getan. Im Grundsatz stimmen wir dem durchaus zu. Wir haben bisher lediglich nicht die rechtlichen Möglichkeiten gehabt, das als Bundesgesetzgeber zu tun. Das ist auf der Basis von vertraglichen Regelungen in den Ländern geschehen, in denen Fördergesellschaften tätig sind.
Eine weitere Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Cronenberg.
Herr Staatssekretär, teilen Sie meine Auffassung, daß das Drohen mit Sondersteuern das Interesse der Gesellschaften, Öl auf dem deutschen Markt zu verkaufen, nicht fördert und daß umgekehrt angemessene Gewinne der Gesellschaften das Interesse, auf dem deutschen Markt zu verkaufen, steigert, d. h. daß uns solche Sondersteuer möglicherweise neben dem Preisproblem auch noch ein Mengenproblem beschert?
Grüner, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, ich glaube, daß meine sehr klare Ablehnung jeder Sondersteuer die Mineralölgesellschaften in der von Ihnen mit Recht angenommenen Sorge beruhigen wird. Im übrigen weise ich darauf hin, daß, je riskanter ein Geschäft ist, desto höher der Ertrag sein muß. Auch das ist ein Grundsatz, den man im Bereich gerade der Mineralölexploration angesichts der hohen und nicht immer kalkulierbaren Risiken mit sehen muß.
Noch eine Zusatzfrage, Kollege Sieler.
Herr Staatssekretär, ist die Bundesregierung bereit, eventuell andere Formen der Abschöpfung der erzielten Gewinnsteigerungen der Tochtergesellschaften der amerikanischen Ölkonzerne in der Bundesrepublik Deutschland in die Überlegungen einzubeziehen?
Grüner, Parl. Staatssekretär: Dazu besteht kein Anlaß, da wir ja hohe Gewinnsteuern haben und die windfall profits erfaßt werden, auch unter Umständen auf der Grundlage einer gesetzlichen Regelung, wenn sich herausstellt, daß die vertraglichen Verhandlungen nicht zu der von uns gewünschten und für notwendig gehaltenen Höhe der Besteuerung der windfall profits, die ja nur einen Teilaspekt darstellen, führen.
Weitere Zusatzfragen werden nicht gewünscht.
Ich rufe die Frage 54 des Abgeordneter Corterier auf:
Wird die Bundesregierung, wie angekündigt vor Ende des Jahres 1979 den Bericht fiber die Einhaltung des EG-Verhaltenskodex für Unternehmen mit Tochterunternehmen, Filialen und Vertretungen in Südafrika durch deutsche Firmen vorlegen?
Herr Parlamentarischer Staatssekretär.
Grüner, Parl. Staatssekretär: Wie bereits angekündigt, beabsichtigt die Bundesregierung, den Bericht über die Anwendung des Verhaltenskodex für Unternehmen mit Tochtergesellschaften, Zweigniederlassungen oder Vertretungen in Südafrika durch deutsche Unternehmen bis zum Jahresende vorzulegen.
Eine Zusatzfrage, Kollege Corterier.
Herr Staatssekretär, nachdem nur noch wenige Wochen bis zum Jahresende bleiben, frage ich: Wäre es Ihnen denn nicht möglich, jetzt schon ein konkretes Datum, zu dem der Bericht vorgelegt werden soll, zu nennen?Grüner, Parl. Staatssekretär: Angesichts der Kürze der zur Verfügung stehenden Zeit wäre es wirklich frevelhaft, jetzt auch noch ein Datum zu nennen, weil es wirklich so kurz ist, daß wir es alle noch erleben werden.
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Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 183. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. November 1979 14417
Keine weitere Zusatzfrage.
Die Frage 55 des Abgeordneten Dr. Steger und die Fragen 56 und 57 des Abgeordneten Paintner werden auf Antrag der Fragesteller schriftlich beantwortet. Die Antworten werden als Anlage abgedruckt, ebenso die Frage 58 — —
— Wollen Sie die Frage mündlich beantwortet haben? Bei mir steht „schriftlich".
Dann danke ich für die Beantwortung der Fragen aus dem Geschäftsbereich des Bundesministers für Wirtschaft und rufe den Geschäftsbereich des Bundesministers für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten auf.
Ich rufe die Frage 58 des Abgeordneten Dr. von Geldern auf:
Sieht die Bundesregierung keinen Widerspruch zwischen ihren eigenen Angaben, wonach die dänische Industriefischerei rückläufige Fangmengen aufweise , und den Angaben der Bundesforschungsanstalt für Fischerei gegenüber dem Ernährungsausschuß des Deutschen Bundestages am 1. Oktober 1979 in Hamburg, wonach die Fangmenge von 1977 1,8 Millionen Tonnen auf 1978 1,9 Millionen Tonnen gestiegen ist, und wenn doch, wie erklärt sie diesen Widerspruch?
Bitte, Herr Staatssekretär.
Herr Kollege von Geldern, es besteht kein Widerspruch zwischen den Angaben der Bundesregierung und denen der Bundesforschungsanstalt für Fischerei. Die von der Bundesregierung angeführten Fangzahlen beschränkten sich entsprechend der Fragestellung auf die Fangergebnisse der dänischen Industriefischerei. Dagegen umfaßten die von der Bundesforschungsanstalt für Fischerei zitierten Daten die Gesamtlänge der dänischen Seefischerei, also sowohl die der Industrie- als auch die der Konsumfischerei.
Entgegen der im Rahmen der Hamburger Diskussion als Schätzzahl erwähnten Menge von bis zu 1,9 Millionen Tonnen wird nach den jetzt vorliegenden, allerdings noch vorläufigen Fischereistatistiken für 1978 der dänische Gesamtfang zirka 1 721 000 t gegenüber zirka 1 783 000 t im Jahre 1977 betragen.
Das Wort zu einer Zusatzfrage, Herr Kollege.
Herr Staatssekretär, wird die Bundesregierung in Zukunft noch stärker, als in der Vergangenheit bereits geschehen, darauf drängen, daß der Anteil der dänischen Fischerei, der als Industriefischerei bezeichnet wird, reduziert werden wird?
Gallus, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, das ist so. Tatsache ist auch, wie ich bereits in der Beantwortung der Frage vom 10./11. Oktober mitgeteilt habe, daß wir einen stetigen Rückgang der dänischen Industriefischerei in den letzten Jahren zu verzeichnen haben.
Eine weitere Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, wie erklärt es sich, daß die Statistik für 1978 jetzt noch nicht vorliegt, drei Viertel Jahre nach Ende des Jahres 1978?
Gallus, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, Statistiken haben es so an sich, daß sie erst erstellt werden können, nachdem das Jahr vorbei ist, und dann braucht man noch einige Monate, um die endgültigen Zahlen zu erstellen. Das ist auch bei dieser Statistik der Fall.
Keine weiteren Zusatzfragen.
Ich rufe die Frage 59 der Abgeordneten Frau Dr. Hartenstein auf:
Was gedenkt die Bundesregierung auf internationaler Ebene zu unternehmen, um dem bestialischen Massaker, das alljährlich an Zehntausenden von Jungrobben durchgeführt wird, entgegenzutreten?
Das Mißverständnis eben, meine Damen und Herren, war entstanden, weil mir mitgeteilt worden war, solange die Fraktionssitzung der CDU andauere, sollten alle Fragen schriftlich beantwortet werden. Ich konnte nicht wissen, daß Ihre Fraktionssitzung zu Ende ist.
Herr Staatssekretär.
Gallus, Parl. Staatssekretär: Frau Kollegin, während der alljährlich in Kanada durchgeführten Robbenjagden werden grundsätzlich nur Tiere erlegt, die zur Art der Sattelrobbe gehören. Diese Art ist in ihrem Bestand nicht bedroht. Sie ist mit etwa 2 Millionen Tieren sogar die zweithäufigste Robbenart der Erde.
Die Jagd geht nicht ungeregelt vonstatten. Um den gegenwärtigen Stand der Sattelrobbe langfristig zu erhalten und sogar in einem vernünftigen Maß zu erhöhen, werden in Absprache zwischen Kanada und der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, die insoweit wegen Grönland betroffen ist, Jagdquoten festgelegt.
Die einschlägigen kanadischen Bestimmungen schreiben vor, daß die geschlechtsreifen Tiere erschossen, die Jungtiere durch einen Keulenschlag auf den Kopf betäubt und anschließend getötet werden. Vor der Häutung wird die Herzarterie durchgeschnitten, so daß die Tiere ausbluten. Dies ist nach Ansicht des Committee on Seals and Sealing, dem neben Wissenschaftlern auch leitende Mitglieder humanitärer Organisationen angehören, die am wenigsten schmerzhafte Tötungsmethode.
Die Robben dürfen nur von Personen bejagt werden, die über die Rechtsbestimmungen des Robbenfangs und auch über die Betäubungs- und Tötungsmethoden unterrichtet sind.
Nicht zuletzt die weltweite Aufmerksamkeit dürfte die kanadischen Überwachungsbehörden hinlänglich dazu anhalten, auf die Einhaltung der einschlägigen Bestimmungen zu achten.
Eine Zusatzfrage, Frau Kollegin Hartenstein.
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14418 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 183. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. November 1979
Herr Staatssekretär, halten Sie auch dann noch an der Auffassung fest, daß keine Gefahr des Aussterbens dieser Tierart besteht, wenn Meldungen zutreffen, nach denen jährlich 90 % der Jungtiere abgeschlachtet werden — im übrigen, wie allgemein bekannt ist, auf eine Weise, die Ihrer Darstellung nicht entspricht?
Gallus, Parl. Staatssekretär: Frau Kollegin, die Jagdzahlen sind genau festgelegt und werden von dem von mir erwähnten Komitee überwacht. Ich glaube, wir müssen uns auf das verlassen, was uns die kanadische Regierung jeweils zu dem Gesamtproblem mitteilt.
Noch eine Zusatzfrage, Frau Kollegin Hartenstein.
Herr Staatssekretär, sehen Sie irgendwelche Möglichkeiten, daß die Bundesregierung über das Washingtoner Artenschutzabkommen Einfluß darauf nimmt, daß mit dieser unerträglichen Art der Robbenjagd, wie sie in Kanada gang und gäbe ist, endlich Schluß gemacht wird?
Gallus, Parl. Staatssekretär: Frau Kollegin, wir müssen ganz klar sehen, daß die Robbenart, um die es sich hier dreht, nicht unter das Washingtoner Artenschutzübereinkommen fällt, dem die Bundesrepublik Deutschland als erster Staat der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft beigetreten ist und das den Handel mit gefährdeten Tier- und Pflanzenarten und deren Erzeugnissen im Interesse der Arterhaltung weltweit regelt.
Zu Ihrer ersten Zusatzfrage darf ich Ihnen noch nachträglich mitteilen, daß im Jahre 1979 ca. 350 000 Robbenbabys geboren werden. Erlaubt wird der Fang von 170 000 Tieren. Von den 170 000 Tieren sind 80 % Jungtiere und 20 % Alttiere. Die Quote wird höchstwahrscheinlich ebenso wie in den vorangegangenen Jahren nicht erreicht werden. Hinzu kommen noch ca. 10 000 Tiere, die von den Ureinwohnern Grönlands und Nordostkanadas erlegt werden.
Ich rufe die Frage 60 der Abgeordneten Frau Dr. Hartenstein auf:
Welches ist der Stand der Bearbeitung sowie der Inhalt der von der Bundesregierung auf Grund von § 23 des Bundesnaturschutzgesetzes zu erlassenden Rechtsverordnung über den Import und Export von Tieren bzw. Teilen von Tieren, bzw. wann ist mit dem Erlaß dieser Rechtsverordnung zu rechnen?
Herr Staatssekretär.
Gallus, Parl. Staatssekretär: Die Bundesregierung beabsichtigt, die Import- und Exportverordnung auf Grund des § 23 des Bundesnaturschutzgesetzes unmittelbar nach der Verabschiedung der Bundesartenschutzverordnung, die noch in diesem Jahre dem Bundesrat zugeleitet werden soll, vorzulegen.
Ein Entwurf der Import- und Exportregelung liegt zur Zeit noch nicht vor. Dieser soll erst erarbeitet werden, nachdem die Bundesländer und die betroffenen Verbände Gelegenheit hatten, ihre grundsätzlichen Vorstellungen zum Inhalt der Neuregelung zu äußern. Zu diesem Zweck hat das Bundesministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten zu einer Verbandsanhörung zur Import- und Exportregelung für Ende November eingeladen und wird vorher die Länderarbeitsgemeinschaft für Naturschutz, Landschaftspflege und Erholung zur Gesamtproblematik hören.
Eine Zusatzfrage, Frau Kollegin Hartenstein.
Herr Staatssekretär, teilen Sie meine Auffassung, daß es äußerst schwer ist, nicht nur den Tierschützern, sondern auch anderen um den Naturschutz besorgten Bürgern zu erklären, warum nahezu drei Jahre nach Inkrafttreten des Bundesnaturschutzgesetzes noch nicht die entsprechenden Rechtsverordnungen, die zum Schutze wild lebender Tiere und Pflanzen gedacht sind, erschienen sind, und daß es auch für einen Abgeordneten sehr unbefriedigend ist, wenn er heute in etwa dieselbe Antwort bekommen muß, wie sie der Herr Kollege Kiechle am 21. April 1977 von Ihrem Hause bekommen hat?
Gallus, Parl. Staatssekretär: Frau Kollegin, das Naturschutzgesetz sieht eine Reihe von Verordnungen vor. Es ist im Hinblick auf die Verhandlungen mit den Ländern, das Erfordernis entsprechender Gutachten usw. nicht einfach, diese Verordnungen sofort zu erlassen. Aber Sie können ohne Sorge sein; denn wir sind jetzt mit dem Gesamtkomplex so weit, daß die Import- und Exportregelung nach dem Naturschutzgesetz so schnell wie möglich erlassen wird. Im übrigen enthält bereits das Washingtoner Artenschutzübereinkommen entsprechende Beschränkungen.
Eine weitere Zusatzfrage, Frau Kollegin.
Herr Staatssekretär, auf Grund der Tatsache, daß es in der Schweiz und in Frankreich gelungen ist, mit den Kürschnern Abkommen zu treffen, wonach sich die Kürschnerinnung selber verpflichtet hat, keine Jungrobbenfelle mehr zu verarbeiten und die Produkte nicht mehr zu verkaufen, möchte ich Sie fragen, ob in Ihrem Hause erwogen worden ist, in der Bundesrepublik ähnliche Versuche zu unternehmen, um zu solchen Abkommen zu gelangen.Gallus, Parl. Staatssekretär: Frau Kollegin, die Situation in der Bundesrepublik ist so, daß Felle von jungen Robben — white coats — schon seit Jahren weder gehandelt noch verarbeitet werden.Auch die Einfuhr von sonstigen Robbenfellen ist rückläufig. Die deutschen Einfuhren von Seehundfellen aus Kanada betrugen 1975 49 000 Stück, 1976
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Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 183. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. November 1979 14419
Parl. Staatssekretär Gallus41 000 Stück; 1977 sind sie etwas angestiegen, und zwar auf 56 000 Stück; aber 1978 betrugen sie nur 26 000 Stück. Die Bundesrepublik kann weder nach internationalen noch nach nationalen Gesichtspunkten des Artenschutzes die Einfuhr von Robbenfellen generell verbieten.
Eine weitere Zusatzfrage, der Kollege Baack.
Herr Staatssekretär, darf ich Ihrer Antwort entnehmen, daß die Rechtsverordnung in dieser Legislaturperiode nicht mehr kommen wird?
Gallus, Parl. Staatssekretär: Das können Sie meiner Antwort nicht entnehmen. Ich habe erklärt, daß die Vorbereitungen für eine Import- und Exportregelung, die durch das Washingtoner Artenschutzabkommen für die davon betroffenen Tierarten bereits gegeben ist, jetzt verstärkt vorangetrieben werden. Ich glaube, Sie können davon ausgehen, daß die Regelung in den nächsten Monaten erlassen wird, vorausgesetzt, daß wir auch mit den Bundesländern zu Streich kommen; denn in dieser ganzen Angelegenheit liegt ja die Durchführung bei den Ländern.
Keine Zusatzfrage mehr?
Der Herr Parlamentarische Staatssekretär hat sich sehr extensiv zu dem aufgeworfenen Fragenkomplex geäußert. Ich hoffe, Frau Kollegin Hartenstein, Sie haben auch das Gefühl, daß Ihre Fragen befriedigend beantwortet sind.
Ich rufe die Frage 61 des Abgeordneten Schröder auf:
Wie ist es nach Ansicht der Bundesregierung zu erklären, daß der Verkauf von Magermilchpulver sowohl aus Interventionsbeständen als auch frisch aus dem Markt zur Verarbeitung in Schweine- und Geflügelmischfutter Mitte Oktober schlagartig ohne jede Ankündigung abgebrochen wurde, nachdem die Mischfutterhersteller in den Vormonaten auf Grund der von der EG-Kommission festgesetzten Verkaufspreise den Eindruck haben mußten, daß auf absehbare Zeit noch genügend Ware zur Verfügung steht und die Verwaltung an einem stärkeren Abfluß von Magermilchpulver interessiert ist?
Herr Parlamentarischer Staatssekretär.
Gallus, Pari. Staatssekretär: Herr Präsident, ich möchte gerne die beiden Fragen des Herrn Abgeordneten Schröder gemeinsam beantworten, wenn es der Herr Abgeordnete erlaubt.
Dann rufe ich auch die Frage 62 des Herrn Abgeordneten Schröder auf:
Ist die Bundesregierung der Meinung, daß der abrupte Verkaufsstopp mit seinen negativen Folgen auf Grund der raschen Rezepturumstellung durch eine marktkonforme Preispolitik vermeidbar gewesen ware, und ist die Bundesregierung der Ansicht, daß der schlagartige Verkaufsabbruch nicht in Einklang steht mit den wiederholten Appellen von Minister Ertl an die Mischfutterhersteller, sich stärker als bisher am Abbau des Magermilchpulverüberschusses zu beteiligen?
Gallus, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, die Aussetzung der Verbilligung von Magermilchpulver und des Verkaufs von verbilligtem Magermilchpulver aus der Intervention für die Herstellung von Schweine- und Geflügelfutter durch die Kommission erfolgte nicht ohne Ankündigung. Die Kommission hat vielmehr Mitte Juli 1979, als die Bestände an Magermilchpulver auf rund 450 000 t ab-
gebaut waren, erstmalig vorgeschlagen, die Preise für Magermilchpulver aus Interventionsbeständen zu erhöhen und die Beihilfen zur Verbilligung von Magermilchpulver zu senken. Sowohl die beteiligte Wirtschaft als auch die Mitgliedstaaten waren jedoch zu diesem Zeitpunkt der Auffassung, daß ein derartiges Vorgehen noch nicht erforderlich sei.
Erst als sich auf dem Weltmarkt Preisanhebungen und größere Absatzmöglichkeiten ergaben, auf die die Kommission mit einer Senkung der Erstattungen reagierte, zeichnete sich im September dieses Jahres ein Meinungsumschwung ab. Dieser veranlaßte die Kommission dazu, Ende September 1979 vorzuschlagen, eine der drei gegebenenen Möglichkeiten zur Verbilligung von Magermilchpulver auszusetzen. Die Mehrheit der Mitgliedstaaten hielt dieses Vorgehen nicht für zweckmäßig und bat die Kommission, eine Ubersicht über Herstellung, Bestände, Verbrauch und Export von Magermilchpulver zur besseren Beurteilung der Lage vorzulegen. Auch über diese Entwicklung ist die Wirtschaft laufend informiert worden.
Nach Vorlage der geforderten Übersicht hat die EG-Kommission am 11. Oktober 1979 sämtliche Verbilligungsmaßnahmen für die Verwendung von Magermilchpulver zu Schweine- und Geflügelfutter ausgesetzt, um eine Verknappung für die sonstigen Verwendungszwecke — einschließlich Nahrungsmittelhilfe — zu vermeiden.
Die Bundesregierung war und ist der Auffassung, daß der abrupte Verkaufsstopp mit seinen negativen Folgen vermeidbar gewesen wäre. Sie hat sich deshalb im Rahmen der Gemeinschaftsverfahren gegen eine Aussetzung ausgesprochen und statt dessen vorgeschlagen, eine Kürzung der Beihilfen bzw. eine Erhöhung der Verkaufspreise vorzunehmen. Angesichts des weitgehenden Bestandsabbaus und der Situation auf dem Binnenmarkt und dem Weltmarkt hätte auch dies, allerdings schrittweise, dazu führen müssen, den Einsatz von Magermilchpulver im Schweine- und Geflügelfutter einzuschränken. Die Mehrheit der Mitgliedstaaten hat sich jedoch dem Vorschlag der Kommission angeschlossen, den Verkauf und die Verbilligung vorübergehend völlig einzustellen.
Eine Zusatzfrage, Herr Kollege Schröder.
Herr Staatssekretär, können Sie Behauptungen bestätigen, nach denen der plötzliche Abbau der Magermilchpulvervorräte durch spekulative Ankäufe des Handels verursacht wurde, und was könnte man, wenn dies so stimmen sollte, künftig unternehmen, um solche Spekulationen zu verhindern?
Gallus, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, ich kann das nicht bestätigen. Wenn Sie aber Unterlagen hierüber besitzen und sie mir zugänglich machen, will ich das gern prüfen lassen.
Eine weitere Zusatzfrage.
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14420 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 183. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. November 1979
Muß ich Ihre Äußerungen über die Weltmarktpreise auf dem Magermilchpulvermarkt so verstehen, daß dieses Produkt inzwischen ein interessanter Marktfaktor geworden ist und dadurch die Subventionen in diesem Bereich gesenkt werden können?
Gallus, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, ich glaube nicht, daß man ohne weiteres diesen Schluß ziehen kann, da sich die Weltmarktpreise sehr schnell nach oben und nach unten bewegen und die Situation in wenigen Minuten wieder völlig anders sein kann.
Keine weiteren Zusatzfragen. Die Fragen aus dem Geschäftsbereich des Bundesministers für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten sind damit beantwortet. Ich danke Ihnen, Herr Staatssekretär.
Meine Damen und Herren, auf der Diplomatentribüne hat der Justizminister der Demokratischen Republik Sudan Platz genommen. Er ist zugleich Mitglied der Volksversammlung. Er hält sich zu einem Informationsbesuch in der Bundesrepublik Deutschland auf. Ich habe die Ehre, Sie in der Sitzung des Deutschen Bundestages zu begrüßen.
Ich wünsche Ihnen gute Gespräche und einen angenehmen Aufenthalt in unserem Lande.
Wir fahren nun in der Fragestunde fort und kommen zu der Beantwortung der Fragen aus dem Geschäftsbereich des Bundesministers für Arbeit und Sozialordnung. Ich begrüße dazu den Herrn Parlamentarischen Staatssekretär Buschfort.
Die Frage 48 ist von dem Herrn Abgeordneten Dr. Meyer zu Bentrup eingebracht. — Die Frage wird schriftlich beantwortet. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt.
Bei den Fragen 63 und 64 des Abgeordneten Milz ist schriftliche Beantwortung beantragt. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
Ich rufe die Frage 65 des Herrn Abgeordneten Vogelsang auf:
Kann die Bundesregierung bestätigen, daß die Beitragssätze in den einzelnen Krankenkassenarten, aber auch der einzelnen Krankenkassenarten zueinander, eine erhebliche Spannweite haben, die Leistungen dagegen nicht?
Herr Staatssekretär.
Herr Kollege Vogelsang, es ist richtig, daß die Beitragssätze der gesetzlichen Krankenkassen trotz weitgehend einheitlicher Leistungen zum Teil erhebliche Unterschiede aufweisen. Die Spannweite liegt bei den Ortskrankenkassen zwischen 9,2 und 13,9 %, bei den Betriebskrankenkassen zwischen 7 und 13,8 %, bei den Innungskrankenkassen zwischen 9,2 und 13 %, bei den Ersatzkassen für Arbeiter zwischen 9,5 und 12,4 % und bei den Ersatzkassen für Angestellte zwischen 10,0 und 11,4 %.
Im Durchschnitt der Kassenarten betrug der allgemeine Beitragssatz am 1. Juli 1979 bei den Ortskrankenkassen 11,48 %, bei den Betriebskrankenkassen 10,45 %, bei den Innungskrankenkassen 11,19 %, bei der Bundesknappschaft bis 12,6 %, bei den Ersatzkassen für Arbeiter 11,03 % und bei den Ersatzkassen für Angestellte 11,22 %. Der Bundesdurchschnitt aller Kassen liegt bei 11,26 % des Grundlohnes, d. h. des beitragspflichtigen Arbeitsentgelts oder Arbeitseinkommens eines Versicherten.
Die Gründe für die unterschiedlichen Beitragssätze sind vielgestaltig. Hauptursachen dürften eine unterschiedliche Risikostreuung, die unterschiedlich hohe Zahl mitversicherter Familienangehöriger sowie unterschiedliche Grundlöhne sein. Da das gegenwärtige statistische Instrumentarium insoweit noch lückenhaft ist, wurde zur genaueren Untersuchung dieses Themenbereichs ein Forschungsauftrag vergeben, der die Ursachen von Belastungsunterschieden in der Krankenversicherung untersuchen soll. Ergebnisse dieser Untersuchung dürften im Laufe des nächsten Jahres vorliegen. Ergänzend sind die Spitzenverbände der Krankenversicherung um eine einvernehmliche Ursachenanalyse bemüht.
Herr Präsident, da die zweite Frage von Herrn Vogelsang im Zusammenhang mit seiner ersten steht, sollte ich die Antwort darauf jetzt vielleicht gleich anschließen.
Bitte sehr. Dann rufe ich die Frage 66 des Herrn Abgeordneten Vogelsang auf:Welche Möglichkeiten sieht die Bundesregierung gegebenenfalls, diesem Zustand entgegenzuwirken?Buschfort, Parl. Staatssekretär: Nach Auffassung der Bundesregierung müssen zunächst die Ursachen für die Unterschiede bei den Beitragssätzen der Krankenkassen exakt untersucht werden. Entsprechende Maßnahmen sind — hierauf habe ich hingewiesen — im Gange.Soweit unterschiedliche Beitragssätze in einer ungleichen Risikostruktur der Kassen oder Kassenarten begründet sind, die die Wettbewerbsfähigkeit auf Dauer beeinträchtigt, muß nach Auffassung der Bundesregierung geprüft werden, wie die Belastungen gerechter verteilt werden können. Das ist ein Gebot des Solidarprinzips in der gesetzlichen Krankenversicherung. Die Bundesregierung hat die Spitzenverbände der Krankenversicherung gebeten, sich diese Fragen anzunehmen und Lösungsvorschläge zu machen. Soweit Regelungen auf regionaler Ebene und innerhalb einer Kassenart in Frage kommen, hat bereits der Gesetzgeber im Krankenversicherungs-Weiterentwicklungsgesetz und im Krankenversicherungs-Kostendämpfungsgesetz Lösungsmöglichkeiten aufgezeigt.In § 414 b der Reichsversicherungsordnung sind die Landesverbände ermächtigt worden, geeignete Finanzausgleichsverfahren einzuführen. Sie können einen Finanzausgleich für bestimmte Leistungsfälle und einen Finanzausgleich bei Überschreitung eines bestimmten durchschnittlichen Bedarfssatzes beschließen. Von diesen Möglichkeiten haben die Verbände bereits in einigen Fällen Gebrauch gemacht. Vor weitergehenden Regelungen sollten zunächst
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Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 183. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. November 1979 14421
Pari. Staatssekretär Buschfortdie damit gemachten Erfahrungen und das Ergebnis der Beratungen der Träger der gesetzlichen Krankenversicherung abgewartet werden.
Eine Zusatzfrage, Herr Kollege Vogelsang.
Herr Staatssekretär, teilt die Bundesregierung meine Befürchtung, daß diese große Spannweite der Beiträge und die geringe Spannweite der unterschiedlichen Leistungen die Gefahr beinhalten, daß das gegliederte System der Krankenversicherung dadurch ausgehöhlt wird?
Buschfort, Pari. Staatssekretär: Herr Kollege, ich gehe davon aus, daß ein Solidaritätsausgleich notwendig ist. Die Spannweite ist kaum noch vertretbar, und sie ist auch wohl kaum allein mit den von mir genannten Risiken zu begründen.
Ich hoffe darauf, daß die Untersuchungen uns weitere Aufschlüsse geben werden. Das Bundesarbeitsministerium ist der Auffassung, daß wir dem derzeitigen Unterschied entgegenzuwirken haben.
Eine weitere Zusatzfrage, Herr Kollege Vogelsang.
Herr Staatssekretär, teilt die Bundesregierung meine Meinung, daß es zur Erhaltung des gegliederten Systems der Sozialversicherung, hier speziell der Krankenversicherung, notwendig ist, zu einer Annäherung dieser Beiträge über alle Kassenarten hinweg zu kommen?
Buschfort, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Vogelsang, ich bin dieser Auffassung. Ich meine auch, daß wir der Sache schon ein ganzes Stück näher kämen, wenn die Selbstverwaltung zunächst einmal von der Möglichkeit der gegenseitigen Unterstützung innerhalb der Kassenart Gebrauch machte. Sollte auch dieser Ausgleich nicht ausreichend sein, ist es selbstverständlich notwendig, über geeignete Schritte nachzudenken..
Herr Kollege Müller zu einer Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, sind die großen Unterschiede in den Beitragssätzen der einzelnen Kassenarten und der einzelnen Kassen der gleichen Art — sicherlich bedingt durch die unterschiedliche Belastung durch Familienangehörige — erst eine Erscheinung der neueren Zeit, oder ist das nicht eigentlich schon seit Jahrzehnten der Fall?
Buschfort, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, diese Unterschiede gibt es sicherlich schon längere Zeit. Einige Unterschiede mögen aus anderen finanziellen Gründen in der Vergangenheit überdeckt worden sein. Es ist aber nicht richtig, daß diese Unterschiede nur mit der Zahl der jeweiligen Mitversicherten begründet werden können, sondern es kommt eine ganze Anzahl von anderen Risiken hinzu. Wie Sie selbst wissen, haben wir mit einigen Gesetzesvorhaben bereits angestrebt, einen Ausgleich herbeizuführen.
Sie haben noch eine Zusatzfrage, Herr Kollege Müller.
Herr Staatssekretär, Sie sprachen vorhin von der notwendigen Angleichung und der Aufrechterhaltung der gegliederten Krankenversicherung. Was verstehen Sie unter einer gegliederten Krankenversicherung, wenn die Rechte und Pflichten bzw. die Beiträge einander angeglichen werden?
Buschfort, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Müller, ich habe bereits vorhin darauf hingewiesen, daß ich mir sehr wohl vorstellen kann, daß man innerhalb der Kassenart im Rahmen der Selbstverwaltung eine gewisse Ausgleichsfunktion herbeiführen kann. Ich kann mir auch vorstellen, daß man innerhalb der Kassenart zu anderen regionalen Auffassungen kommen kann. Ich könnte mir sogar vorstellen, daß in bestimmten Fallen auch über die Kassenart hinaus etwas getan werden könnte.
Keine weiteren Zusatzfragen mehr. Ich danke Ihnen, Herr Parlamentarischer Staatssekretär.
Die Fragen 69 und 70 des Abgeordneten Prinz zu Sayn-Wittgenstein-Hohenstein und die Frage 74 der Abgeordneten Frau Erler sind von den Fragestellern zurückgezogen.
Die nicht aufgerufenen Fragen werden schriftlich beantwortet Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt
Meine Damen und Herren, ich hatte eingangs der Fragestunde darauf hingewiesen, daß wir in die Beratung des Zusatzpunktes „Beratung der Beschlußempfehlung des Ausschusses nach Artikel 77 des Grundgesetzes zu dem Gesetz zur Neufassung des Umsatzsteuergesetzes und zur Änderung anderer Gesetze" nach der Fragestunde eintreten wollen. Dies ist leider nicht möglich, da die Voraussetzung dafür wegen des Fehlens der Drucksache im Augenblick noch nicht erfüllt ist Ich stelle deshalb den Aufruf dieses Tagesordnungspunktes zurück. Ich denke, die Beratung wird in etwa einer Stunde möglich sein, wenn die entsprechende Drucksache vorliegt
Ich komme damit auf die Beratung zu Tagesordnungspunkt 2 — Fortschreibung des Bildungsgesamtplans — zurück, die wir heute vormittag unterbrochen hatten. Ich erteile Herrn Senator Dr. Grolle das Wort.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Nach dem Pathos der Vormittagsdebatte und nach dem Pathos auch der Vordebatte der letzten Wochen und Monate erlaube ich mir eine trockene Vorbemerkung. Ich hätte eigentlich geglaubt, das Zeitalter der Heldentenöre sei vorbei. Aber ich sehe: Ich habe mich da geirrt.
Ich sage hier ganz offen: Ich zweifele sehr daran, obwir — damit meine ich beide Lager — irgend jeman-
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Senator Dr. Grolle
den damit beeindrucken, wenn wir uns als Bildungspolitiker mit martialischen Parolen bekämpfen.
Jeder von uns weiß doch, daß es eine einigermaßen absurde Vorstellung ist, demnächst Schulabgänger als Prügelknaben für Kultusministerquerelen über Ländergrenzen Mn- oder herzuscheuchen. Jeder von uns weiß doch, daß wir auch nach dem Wahljahr 1980 noch Bildungspolitik machen müssen. Ich plädiere daher dafür — ich weiß mich da mit vielem einig, was hier auch der Kollege Vogel gesagt hat —, daß wir uns von der Pose der Kriegserklärungen verabschieden und das Thema Gesamtschule wieder etwas gelassener diskutieren. Es bleibt dann sicher immer noch ein sehr wichtiges, vermutlich auch ein kontroverses Thema, aber doch kein Thema, mit dem man Bürgerschreck-Schauspiele aufführen kann.Lassen Sie mich — ebenso wie Herr Kollege Vogel und Herr Kollege Rasch — versuchen, einen — für mich will ich das gerne sagen — bescheidenen Beitrag zu einer Entdämonisierung unserer Diskussion zu leisten. Nun hoffe ich auf Ihr Verständnis, wenn ich dabei das am Fall Hamburg in den letzten Wochen sattsam erörterte Thema Angebotsschule — Regelschule — Versuchsschule hier nicht zum xten Male in aller Breite noch einmal auftische. Ich halte dies zwar für einen Punkt, aber eigentlich nicht für den Kernpunkt unserer Kontroverse. Für Hamburg jedenfalls — das mag nun den einen oder anderen überraschen — möchte ich hier ausdrücklich sagen: Bei uns wäre die Gesamtschule noch heute Versuchsschule, wenn nicht das Oberverwaltungsgericht den Gesetzgeber in Zugzwang gebracht hätte. Man mag sich zwar an diesem Gerichtsbeschluß und seinen dann vom Gesetzgeber gezogenen Konsequenzen eine ganze Weile erhitzen — das haben ja auch viele im Lande getan —, aber wir können uns auch in Hamburg Gerichtsbeschlüsse nicht bestellen oder gar abbestellen; niemand in diesem Hause kann das. Am besten wissen das aus leidvoller Erfahrung, wie ich weiß, meine Kollegen Kultusminister.Ich darf in ganz wenigen Sätzen verdeutlichen, worum es vor Gericht ging und weshalb der Gesetzgeber in Hamburg gar keine Wahl hatte, als zu einer Novellierung des Schulgesetzes zu kommen. Es ging um einen Konflikt zwischen Eltern von Kindern, die das Gymnasium bzw. die Gesamtschule besuchten. In diesem Konflikt haben die Richter gar nicht materiell abgewogen, sondern sie haben festgestellt, daß sozusagen schon vorab, vor einer materiellen Prüfung, allemal zu vermuten sei, daß die Eltern, die ihre Kinder in Regelschulen haben, unbesehen ein höheres Recht einbringen als Eltern, die ihre Kinder auf Versuchsschulen haben.Das hätte für die Hamburger Situation eine folgenschwere Rechtsungleichheit zur Folge gehabt, die ein fast totales schulorganisatorisches Chaos heraufbeschworen hätte. Um diesem Gerichtsbeschluß Rechnung zu tragen, blieb dem Gesetzgeber in Hamburg gar keine andere Wahl, als die Gleichheit der Eltern vor dem Gesetz insoweit wiederherzustellen. Ich sage ausdrücklich: Diese Novellierung des Hamburger Schulgesetzes hat in keinem Punkt zu einer materiellen Veränderung dessen geführt, was in der Gesamtschule inhaltlich geschieht: weder in Hinsicht auf die Abschlüsse noch in Hinsicht auf die Stundentafel, den Fächerkanon und das Differenzierungsmodell. Materiell — ich sage das noch einmal — hat sich an keinem Punkte etwas geändert Insofern, meine Damen und Herren, ist es schlechterdings eine Mystifikation, wenn behauptet wird, der Hamburger Gesetzgeber habe hier gezielt — eigens im Hinblick auf den zufällig zum gleichen Zeitpunkt liegenden Kultusministertermin — eine Provokation vornehmen wollen. Davon kann, wenn man die Rechtslage und den Zugzwang kennt, in dem sich der Hamburger Gesetzgeber befand, überhaupt keine Rede sein.
Meine Damen und Herren, ich will an diesem Punkte jetzt nicht weiter insistieren, weil ich — das habe ich vorhin schon gesagt — den Regelschulstreit ohnehin nicht für den Kernpunkt unserer Kontroverse halte. Im Kern geht es gar nicht — das ist ja auch aus Ihren Debattenbeiträgen durchaus hervorgegangen — um juristische Fragen, auch nicht darum, ob Sie, ob wir, ob ich, ob Herr Kollege Maier mit seinen schulpolitischen Vorstellungen letztlich das Feld behauptet. Im Kern geht es darum, was nach Überzeugung der Eltern, meine Damen und Herren, die beste Schule für ihre Kinder ist. Und hier meine ich allerdings: Über diese Kernfrage zu streiten lohnt sich, auch in diesem Hause.
Ich möchte eine etwas einschränkende Vorbemerkung machen. Ich weiß sehr wohl, daß die Einlösung von Elternrechten in Stadtstaaten unter anderen, wenn Sie so wollen, günstigeren Bedingungen als in Flächenstaaten zu vollziehen ist. Insofern bitte ich, meinen Beitrag zunächst einmal unter den Erfahrungsbedingungen eines Stadtstaates zu sehen. Bekanntlich ist Hamburg das erste und bisher in dieser Weise auch das einzige Bundesland, das allen Eltern — das ist jetzt wirklich der Kernpunkt — einen Rechtsanspruch einräumt, ihre Kinder auf eine Schulform ihrer Wahl zu schicken. Dies gilt für die herkömmlichen Schulen — das unterstreiche ich — des gegliederten Schulwesens in gleicher Weise wie für die-Gesamtschulen.Genau hier liegt für die Union offenbar das Ärgernis. Ich kann die Unruhe der Union in diesem Punkt sogar verstehen. Generationenlang gab es zur Verteidigung des dreigliedrigen Schulsystems kein wirkungsvolleres Argument als das Elternrecht. Wo immer Elternvereine, siehe Nordrhein-Westfalen, in den letzten Jahren die Offentlichkeit für die Erhaltung ihres bildungspolitischen Besitzstandes mobilisierten, taten sie dies unter dem Banner des Elternrechtes. Ich sage es noch einmal: Ich kann die Unruhe der Union darüber verstehen, daß dies in Zukunft plötzlich so uneingeschränkt nicht mehr gelten soll. Denn zum erstenmal räumt ein Gesetzgeber auch den Anhängern integrierter Schulsysteme den
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Rechtsanspruch ein, ihre Kinder auf eine Schulform ihrer Wahl zu schicken.Vorhin ist in der Debatte schon von einigen Rednern angesprochen worden, daß das vielleicht zunächst ganz plausibel klingt, daß aber, speziell in Hamburg, dieser Rechtsanspruch der Gesamtschulanhänger gleichsam unter privilegierten Vorbedingungen stehe, und zwar einmal wegen der besseren Ausstattung und dann wegen der billig zu habenden Abschlüsse, die dort zu erzielen seien. Ich möchte ganz kurz auf diese Einwände eingehen. Ich komme zunächst auf diejenigen Kollegen zu sprechen, die behaupten, in Hamburg seien die Gesamtschulen in jeder Weise üppiger als herkömmliche Schulen ausgestattet. Diese Kollegen bitte ich — Herr Rühe, Sie werden das am ehesten beurteilen können —, einen Blick in den Hamburger Haushaltsentwurf für das Jahr 1980 zu tun, den wir gegenwärtig in der Hamburger Bürgerschaft diskutieren. Dann werden Sie feststellen können, daß für diejenigen Jahrgangsklassen, um die es im Augenblick für die Elternentscheidung geht, nämlich die 5. Klassen, die materielle, personelle, kurz die finanzielle Ausstattung an Gymnasien und an Gesamtschulen gleich groß ist. Für die weiteren Jahrgänge will ich zwar nicht ankündigen, daß wir in jeder Hinsicht eine absolute Gleichheit erzielen können, weil auch sonst für das Schulsystem gilt, daß wir unterschiedliche Schulsysteme finanziell unterschiedlich ausstatten, aber im Prinzip werden wir natürlich auch für die weiteren Jahrgänge garantieren, daß beide Systeme so ausgestattet sind, daß es nicht zu Wettbewerbsverzerrungen kommt.Herr Kollege Maier hat besonders ausführlich auf die Frage der gewaltigen Abiturquoten abgehoben, die die Gesamtschulen sozusagen als Werbung anzubieten hätten. Auch das sei eine Wettbewerbsverzerrung. Herr Kollege Maier, ich darf für Hamburg sagen, daß wir nie behauptet haben, daß wir an den Gesamtschulen besonders große Abiturquoten hätten. Diese haben wir auch gar nicht; denn unsere Abiturquoten unterscheiden sich nicht wesentlich von denen anderer Hamburger Schulen oder auch Schulen des Umlandes. Dagegen sind wir, wie ich meine, mit Recht stolz darauf, daß die Zahl derer, die keinen Hauptschulabschluß erwerben, an den Gesamtschulen in Hamburg sehr niedrig ist. Sie beträgt 3 %. Ich glaube wirklich, das ist keine Frage von billigen Bedingungen, sondern eine Frage der Lernsituation, in der sich Gesamtschüler befinden, die sonst in der Hauptschule wären. Diese Schüler befinden sich an der Gesamtschule in einem größeren Lernverbund, auch zusammen mit anderen Kindern, die leichter lernen. Dieses Lernklima ermöglicht es, Hauptschulabgängern an Gesamtschulen eine bessere Abschlußchance als an einer herkömmlichen Hauptschule zu geben.
In diesem Punkte fühlen wir uns in Hamburg von dem, was Sie als Einwand formuliert haben, in gar keiner Weise getroffen.Nun möchte ich mit wenigen Sätzen auf die Frage eingehen, wie die Eltern, denen dieses Angebot in Hamburg durch den Gesetzgeber gemacht wordenist, auf dieses Angebot reagiert haben. In Hamburg haben sich schon im ersten Jahr der Geltung dieses soeben beschriebenen erweiterten Elternrechts — meine Damen und Herren, im ersten Jahr! — immerhin 24 To aller Eltern, die ihre Kinder für eine der weiterführenden Schulen anzumelden hatten, für integrierte Schulsysteme — sei es Gesamtschule, sei es Orientierungsstufe — entschieden. Diese 24 sind nach unserem Schulgesetz eben nicht mehr Bittsteller, sie brauchen sich nicht mehr in Geduld — auf Wartelisten mit ungewisser Aussicht — zu üben.
Diese Eltern können jetzt auf ein gesetzlich verbrieftes Recht pochen, und zwar, meine Damen und Herren, genau so wie dies seit eh und je die Gymnasialeltern können und wie sie es in Hamburg auch in Zukunft können.Ich räume ein — und das sage ich in Richtung Opposition in diesem Hause —, daß hier eine Herausforderung für all diejenigen liegt, die sich ausschließlich dem herkömmlichen Schulsystem verpflichtet fühlen. Aber ich frage — ich frage das ohne jede Polemik —: Ist diese Herausforderung nicht zugleich eine Chance, eine Chance für beide politischen Lager mit ihren ja nach wie vor unterschiedlichen bildungspolitischen Positionen? Ich gehe davon aus — ich denke, sogar in Übereinstimmung mit der Opposition in diesem Hause —, daß die Schulen des gegliederten Schulwesens — das ist doch Ihre These — die freie Elternentscheidung nicht zu scheuen haben. Meine Damen und Herren, warum können wir dann, wenn das so ist, nicht über die schulpolitischen Lager hinweg ein Elternrecht akzeptieren, das ohne Verbotstafeln für irgendeine Schulform auskommt?
Ich frage: Warum sollte nicht eine Schullandschaft möglich sein, in der Toleranz gegenüber unterschiedlichen Vorstellungen von der „besten Schule" geübt wird?Meine Damen und Herren, ich komme damit zu einem sehr kritischen Punkt. Ich bin mir durchaus darüber im klaren, daß eine solche Toleranzformel weitreichende Konsequenzen hat. Eine dieser Konsequenzen ist, daß wir Abschied von einer traditionellen Vorstellung deutscher Bildungspolitik nehmen müssen, von der Vorstellung nämlich, daß der Staat allein das Verfügungsrecht über die Gestaltung der Schullandschaft hat.
Ich weiß sehr wohl, daß ich jetzt ein Problem anspreche, bei dem ich möglicherweise Zustimmung und Widerspruch quer durch die politischen Lager finde. Seit es ein öffentliches Schulwesen in Deutschland gibt, haben die jeweiligen — ich darf einmal das altmodische Wort gebrauchen — Obrigkeiten über das Schulangebot für die Bürger bestimmt. Die demokratisch legitimierten Autoritäten unseres Jahrhunderts haben diesen Staatsanspruch
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keineswegs aufgegeben. Im Gegenteil, sie haben ihn weit über das hinaus, was seinerzeit einmal das aufgeklärte Zeitalter eingeleitet hatte, ausgebaut und rechtlich verfestigt. Das war in Stadtstaaten wie Hamburg und Bremen nicht anders als in Flächenstaaten so unterschiedlicher Couleur wie Hessen oder Bayern; Sie können beliebige andere Flächenstaaten anreihen. So verschieden auch die schulpolitischen Ziele waren und bis heute sind, in einem Punkte sind sich bis heute Rechts und Links, Konservative und Progressive nahezu einig: daß nämlich allein der Staat die Dispositionsgewalt über das öffentliche Schulwesen zu beanspruchen hat.Meine Damen und Herren, nun muß ich allerdings für Hamburg bekennen: Der Hamburger Gesetzgeber hat diesen Monopolanspruch des Staates zum erstenmal wenn nicht aufgehoben, so doch wesentlich eingeschränkt. Er hat den einzelnen Eltern einen einklagbaren Rechtsanspruch auf ein Schulformangebot ihrer Wahl eingeräumt, einen Anspruch auf ein Angebot ihrer Wahl für herkömmlich gegliederte Angebote ebenso wie für integrierte Schulangebote.
Sicherlich — und damit komme ich schon zum Schluß meines kurzen Beitrages — werden wir in Hamburg uns auch in Zukunft für die Gesamtschule als für die nach unserer Überzeugung bessere Schule einsetzen. Herr Maier, ich darf, damit keine Mißverständnisse aufkommen, deutlich sagen: Unter „bessere Schule" verstehe ich eine Schule, die natürlich leistungsfähig ist und die sich gleichzeitig ein humanes und soziales Lernklima erhält. Es ist nicht so, daß etwa das eine das andere ausschließen dürfte.Wir haben in Hamburg diesen unseren schulpolitischen Anspruch ausdrücklich an das Votum der Eltern gebunden. Soweit und solange Eltern für ihre Kinder an gegliederten Schulformen festhalten, werden wir ein solches Schulangebot, und zwar von Gesetzes wegen, garantieren. Das heißt, wir stellen die Durchsetzung der eigenen Sache, die wir schulpolitisch vertreten, unter den Vorbehalt der Toleranz gegenüber entgegenstehenden Elternwünschen. Wir haben die Gewißheit — vielleicht sollte ich etwas vorsichtiger sagen: die Hoffnung —, damit für die weitere schulpolitische Entwicklung einen Weg gewiesen zu haben, der, wenn nicht sofort, so doch auf weitere Sicht aus den Sackgassen der Konfrontation herausführt. Ich hoffe, daß dies auch der weiteren Diskussion um die Fortschreibung des Bildungsgesamtplans zugute kommt. Nach den Voten der Ministerkollegen aus beiden politischen Lagern bin ich eigentlich ganz sicher, daß wir unseren Dialog fortsetzen werden und nicht etwa, wie manche das hier befürchtet haben, in dogmatischer Starre verharren.
Meine Damen und Herren, nun hat wieder ein Mitglied des Bundestages das Wort. Das Wort hat der Abgeordnete Rühe.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Bundesminister für Bildung und Wissenschaft hat den Ruf, das unbekannteste Mitglied des Bundeskabinetts zu sein. Er hat sich deswegen auch schon schlechte Noten des Bundeskanzlers zugezogen.
— Ich weiS nicht, Herr Wehner, ob man immer auf Alter usw. pochen sollte.
— Wollen wir einmal abwarten, ob das Plenum am Ende der Rede Ihre Einschätzung teilt. Bisher habe ich weder etwas Kluges noch etwas Dummes gesagt. Warten Sie also einen Augenblick ab.Herr Schmude, ich habe den Eindruck, Sie haben heute versucht, im Bekanntheitsgrad ein bißchen aufzuholen und haben sich dabei in ein Vokabular der Konfrontation verstiegen, daß man nur sagen kann: Sie mögen vielleicht bekannter geworden sein, aber das mit einem Bundesbildungsminister in Verbindung zu bringen, fällt einem noch schwerer, als es vorher schon der Fall war.
Im übrigen haben wir immer lesen können, wir seien die Leute, die die Konfrontation, den Gesamtschulkrieg, den Kulturkampf wollten. Ich glaube, daß gerade diejenigen, die sich nicht mit Bildungspolitik beschäftigen, sondern nur Ihre Worte hier und den Stil Ihrer Auseinandersetzung verfolgen, sehr leicht feststellen können, wer die Konfrontationspolitik macht, wer den Kulturkampf betreibt.
Wenn sie sich dann die Reden von unserer Seite anhören, maßvoll im Stil, vernünftig im Inhalt,
dann ist auch klar, daß wir diejenigen gewesen sind, die eine Politik versuchen, die direkt den Schülern und den Schulen nützt und die versucht, den Schulfrieden, den Sie zerstört haben, wiederherzustellen.
Meine Damen und Herren, die Sprecher der Koalition haben in einigen Beiträgen die Rolle der Bundestagsfraktion bei der Behandlung des Bildungsgesamtplans gewürdigt. Sie haben erstens gesagt, wir hätten einen großen Einfluß gehabt. Zweitens haben sie gesagt, wir hätten diesen Einfluß zerstörerisch genutzt. Für den ersten Teil darf ich mich bedanken. In der Tat, wir haben aktiv an der Gestaltung des Bildungsprogrammplans mitgewirkt, wie das auch unsere Pflicht ist. Was den zweiten Teil angeht, muß ich feststellen, daß wir zu keinem Zeitpunkt die These verfolgt haben, es dürfe vor der Bundestagswahl keinen Bildungsgesamtplan geben. Wir haben allerdings ähnlich, wie das auch Ministerpräsident Vogel gesagt hat, die Meinung vertreten: Lieber keinen Kompromiß als einen schlechten
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RüheKompromiß. Dies war eine der Bedingungen, die wir in die Debatte eingeführt haben. Wir wollen keine bloßen Formelkompromisse, die eine Stunde, nachdem die Tinte trocken geworden ist, von beiden Seiten schon wieder unterschiedlich ausgelegt werden.Die zweite Forderung, die wir in der Diskussion gestellt haben, lautete: Wir müssen bei der Frage der Anerkennung der Abschlüsse auf die Aufrechterhaltung des bisherigen Leistungsstandards des deutschen Bildungswesens achten. Wenn diese beiden Forderungen erfüllt werden, kann der Bildungsgesamtplan sofort verabschiedet werden.Ich meine, dies mußte einmal zur Korrektur von Behauptungen gesagt werden, wir seien auf keinen Fall bereit gewesen, dem Bildungsgesamtplan zuzustimmen. Richtig ist, daß das einseitige Hamburger Vorgehen die Baratungen sehr erschwert hat. Es ist ja kein Zufall, daß der Herr Grolle hier so ausführlich über die Hamburger Situation sprechen mußte. Er hat zu Recht das Gefühl bekommen, daß es bis zu den eigenen Parteifreunden auf wenig Beifall gestoßen ist, wie kaltschnäuzig Hamburg in einer Konfrontationspolitik die Gesamtschule zur Regelschule gemacht hat.Herr Schmude, Sie haben davon gesprochen, unsere Politik sei arbeitnehmerfeindlich. Ich will Ihnen mal am Beispiel einer Hamburger Schule zeigen, wie das in Wirklichkeit aussieht. Der Höhepunkt des Streits in Hamburg hat sich an der Schule Neu-Altona vollzogen. Für die, die sich nicht auskennen: Das liegt zwischen St. Pauli und Altona in einem Gebiet, das mit Sicherheit keine CDU-Hochburg ist, sondern ungefähr zwei Drittel SPD-Wähler aufweist. Da gibt es seit zehn Jahren ein Gymnasium, das die sozialdemokratische Elternschaft — alles Arbeitnehmer aus dem Hafen und verwandten Betrieben — sich mühsam erkämpft hat. Diese sozialdemokratische Arbeitnehmerschaft hat gesagt: Wir wollen unser Gymnasium behalten. Aber die sozialdemokratische Landesregierung hat es ihnen weggenommen. Sie hat es dichtgemacht. Das ist die Politik für Arbeitnehmer, die Sie verfolgen, Herr Schmude.
Sie meinen, diese Arbeitnehmer im Hamburger Hafen hätten das falsche Bewußtsein, daß sie ihre Kinder an Gymnasien anmelden;
die müßten sich für die Gesamtschule entscheiden, weil nur die arbeitnehmerfreundlich sei. Deswegen haben Sie die Schule dichtgemacht. Sie haben die Eltern gezwungen, die Kinder auf dem Rechtsweg wieder hineinzubekommen. Und dann haben die Gesamtschulbefürworter auf dem Rechtsweg versucht, die Schüler wieder hinauszuschmeißen.Dieses Konfliktgesetz zeigt ja im übrigen den Kampf zwischen den Elternschaften, den Kultusminister Maier angedeutet hat und den wir bundesweit bekommen, den wir z. B. auch in Nordrhein-Westfalen in großem Umfang bekommen werden, wenn diese unheilvolle Politik von Ihnen weiter verfolgt werden kann.Herr Grolle, Sie haben gerade wieder versucht, von Elternrecht und von Toleranz zu sprechen. Die Dinge in Hamburg sehen aber ganz anders aus. Sie müssen sich das Mitbestimmungsmodell der Hamburger Sozialdemokraten vor Augen führen. Da werden Ihnen die Augen übergehen.Die Hamburger Eltern dürfen mitbestimmen, solange sie für die Gesamtschule sind. Es ist nämlich ins Hamburger Gesetz hineingeschrieben worden, daß sie einen Rechtsanspruch darauf haben. Und danach werden sie gefragt. Wenn sie dafür sind: Ist gut; Mitbestimmung findet statt. Aber wehe, sie sind dagegen. Wehe, die Elternschaft einer bestehenden Schule ist dagegen, daß diese Schule zur Gesamtschule wird. Dann findet Mitbestimmung nicht mehr statt.Ich kann nur sagen: Was hätten Sie wohl gesagt, wenn eine deutsche Partei in der Mitbestimmungsdiskussion ein Modell nach dem Motto vorgelegt hätte: Wenn ihr dafür seid, dürft ihr mitbestimmen; wenn ihr dagegen seid, dürft ihr nicht mehr mitbestimmen? Das hätte doch einen Sturm der Entrüstung gegeben. Wo bleibt eigentlich Ihre Entrüstung über dieses merkwürdige Mitbestimmungsmodell der Hamburger Elternschaft, was die Gesamtschule angeht?
Diese Lage beweist ja, daß es nicht darum geht, ein Angebot zu machen. Das klingt ja schön. Wer ist nicht für Angebote? Aber die Gesamtschulen in Hamburg sind keine Angebote, Herr Grolle. Das ist nicht, wie Herr Schmude gesagt hat, ein zusätzliches reguläres Angebot. Sondern für jede Gesamtschule verschwinden andere Schulen, bestehende Schulen. Und Sie haben das Schulgesetz so geändert, daß Sie innerhalb einer Woche ohne jede Mitbestimmungsmöglichkeiten Schulen, die Jahrhunderte alt sind — und einige waren ja auch noch in der Diskussion, z. B. eine Schule, die gerade 330 Jahre alt geworden ist —, mit einem Federstrich beseitigen können, ohne daß auch nur ein Elterngremium oder das Parlament mitwirken könnte.Und da kommen Sie nach Bonn und künden von der Hamburger Toleranz und davon, daß es keine Verbotstafeln in der Schullandschaft geben dürfe. Und dort in Hamburg wird schiere Machtpolitik praktiziert. Es waren Vertreter der Hamburger Elternschaft, Kreiselternräte, die von einer beispiellosen Brutalität im Umgang mit der Hamburger Elternschaft gesprochen haben. Das mußte ich hier mal sagen, um deutlich zu machen, wie es in Hamburg tatsächlich aussieht.
— Ja, Herr Wehner kommt aus Harburg. Er ist im übrigen nicht häufig genug da, um das im einzelnen beurteilen zu können. Aber Sie werden feststellen, daß er schon viel stiller als zu Beginn der Rede geworden ist.Aber ich bin gern bereit, mit ihm mal an das Gymnasium Neu-Altona zu gehen und mit lauter eingeschriebenen Mitgliedern der SPD dort darüber zu diskutieren, ob sie ein Gymnasium oder eine Gesamtschule haben wollen. Ich erkläre mich aus-
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Rühedrücklich bereit, mit Ihnen, Herr Wehner, dahin zu gehen.
— Wie bitte? —
— Da habe ich keine Sorgen; da habe ich keine Sorgen.
— Ich bin gewählt und insofern bin ich sicherlich Parlamentarier.
Darüber braucht man, glaube ich, nicht zu diskutieren.Zu dem Wettbewerb, Herr Grolle: Sie haben gesagt: Lassen Sie uns doch in den Wettbewerb eintreten. Warum haben Sie eigentlich Angst? Da kann ich nur sagen: Wir sind die klassische WettbewerbsPartei.
In dem Moment, wo Sie sagen, es solle einen wirklich offenen Wettbewerb, unter gleichen Bedingungen, zwischen Gesamtschulen und Regelschulen geben, sind wir sofort dabei.
Aber wie sieht der Wettbewerb in Hamburg aus? Herr Maier hat zu Recht das Flugblatt angesprochen, in dem den Eltern gesagt wurde, die Gesamtschulen seien deswegen besser, weil es dort 40 % mehr Lehrer gebe. Ich habe in Versammlungen Eltern getroffen, die ganz empört gefragt haben: Wieso sind Sie gegen die Gesamtschule? Da gibt es doch mehr Turnhallen — als ob man nicht auch an Gymnasien mehr Turnhallen bauen könnte.
Aber wie sieht es mit dem Wettbewerb und dem Startvorteil aus? Wissen Sie, Sie erinnern mich an jemanden, der bei einem 100-m-Lauf jemandem 20 m Vorgabe gewährt; das sind die 40 % mehr Lehrer. Dann beginnt der Lauf, und dieser Gegner verliert trotz der Vorgabe. Ich sage gleich noch etwas dazu, wie das mit den Leistungsnachweisen ist. Nach dem Lauf kommt dann Herr Grolle und sagt: Du wirst dennoch als deutscher Vertreter für die Olympischen Spiele nominiert; mit anderen Worten: Die Gesamtschule ist dennoch die richtige Schule. Trotz Startvorsprungs verlieren sie die meisten Rennen, aber Sie halten dennoch daran fest.Gerade heute hat die „Frankfurter Allgemeine Zeitung" unter der Überschrift „Zahlen belegen die Schwächen der Gesamtschulen" Zahlen veröffentlicht. Ich darf das kurz zitieren — das wird auch den Ministerpräsidenten aus Nordrhein-Westfalen interessieren; offensichtlich ist darauf spekuliert worden, daß diese umfangreichen acht Bände bis heute nicht gelesen werden konnten; aber es gibt auchnoch Journalisten, die das zuverlässig zusammenfassen können —:Die Ergebnisse ... sind weit weniger positiv ausgefallen, als der Düsseldorfer Kultusminister Girgensohn das bei seiner Bilanz Ende letzter Woche zu erkennen gegeben hat ... Das zentrale Ergebnis ist ... , daß bei Abschluß der Pflichtschulzeit, also nach dem neunten Schuljahr, die Schüler der Gesamtschulen deutliche Leistungsrückstände in den Fächern Deutsch, Mathematik, Englisch und im Prinzip auch in Physik gegenüber den Schülern an Hauptschulen, Realschulen und Gymnasien im gleichen Jahrgang haben.
Die Gesamtschüler bringen also in ihren weiteren Werdegang, sei es im Berufsleben oder in weiterführenden Schulen, weniger Wissen und Kenntnisse ein als die Schüler des gegliederten Systems.Dennoch sagen Sie: Die Gesamtschule ist für Sie die Schule der Zukunft.Nun versuchen Sie Leistung gegen Demokratie und soziale Geduld auszuspielen. Ich muß schon sagen, daß es starker Tobak ist, wenn Sie sagen, die Gesamtschule sei die demokratische Schule, und damit allen anderen Zehntausenden von Schulen in unserem Lande unterstellen, sie seien weniger demokratisch als die Gesamtschule.
— Ich weiß nicht, wer Spezialist für schwarz-weiß ist. Ich glaube, da gibt es tüchtigere Leute als denjenigen, der gerade hier vorn steht.Ich meine, wer solche falschen Alternativen aufstellt, wie demokratische Schule mit sozialer Geduld an Stelle der Leistungsschule, verkennt, daß sich dieses Land im internationalen Wettbewerb nur dann behaupten kann, wenn die Schulen sowohl Schulen für die Demokratie, demokratische Schulen, als auch Schulen sind, an denen etwas geleistet wird; denn den Reichtum dieses Landes machen doch die Fähigkeiten, die Kenntnisse und die Leistungsbereitschaft, die unsere Bevölkerung bisher gehabt hat, aus. Diese dürfen nicht leichtfertig verspielt werden.
Die Lernziele Leistung und Demokratie ergänzen sich deswegen und sind überhaupt keine Gegensätze, die in unterschiedlichen Schulsystemen organisiert werden müßten.
Eine falsche Alternative aufzustellen, bedeutet es auch, wenn Sie sagen, Sie wollten fördern statt auszulesen. In der Begründung des Hamburger Senats für die 40 % mehr Lehrer heißt es: Fördern war schon immer teurer als Auslesen — eine Unverschämtheit, kann ich nur sagen. Das schreibt derselbe Schulsenator, der jetzt noch in Hamburg für die Hauptschulen, für die Gymnasien, für die Realschulen und die
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RüheBerufsschulen zuständig ist, an denen offensichtlich nur ausgelesen und nicht gefördert wird — jedenfalls kriegen die zur Förderung keine Lehrer; denn dann bräuchten sie, wie Herr Grolle gesagt hat, mehr. Es ist eine Unverschämtheit zu sagen, an den einen Schulen werde gefördert und an den anderen nur ausgelesen. Richtig ist doch, daß eine gute Schule sowohl fördern, und zwar in erster Linie, Herr Wehner,
als auch auslesen muß. Denn sonst würde sie die Schüler zu weltfremden Menschen erziehen. Sie würde die Schüler in eine Sackgasse drängen. Sie würde sie nicht in die Lage versetzen, mit den Anforderungen fertig zu werden, die mit Sicherheit sehr schnell im Anschluß an die Schulzeit sich stellen.Abschließend möchte ich folgendes sagen. Hier ist von Schützengräben und davon die Rede gewesen, wer für den Schulfrieden und für den Schulkampf sei. Ich glaube, daß heute morgen und auch heute 'nachmittag deutlich geworden ist, daß die CDU/CSU sich nicht in Schützengräben befindet, sondern daß wir in vorderster Front stehen. Jetzt bleibe ich schon bei dem kriegerischen Vokabular. Ich gebe zu, daß das ansteckend ist, Herr Minister, insofern haben Sie mal Einfluß ausgeübt.Wir bemühen uns stark darum, den Ansprüchen der Schüler von heute gerecht zu werden. Diese Ansprüche bedeuten, daß die Schüler natürlich auch ein Recht darauf haben, in der Schule glücklich zu sein. Sicherlich müssen wir noch mehr tun, auch durch nichtintellektuelle Fächer, die stärker betont werden müssen — musische Fächer —, damit die Schüler noch glücklicher in den Schulen sind.Aber sie haben auch einen Anspruch darauf, daß sie etwas leisten können und dürfen an den Schulen, daß sie entsprechend ihren unterschiedlichen Fähigkeiten und Begabungen gefördert werden, daß man niemanden ständig überfordert, aber auch viele nicht ständig unterfordert.Wenn Sie zu dieser Politik einen Zugang finden und wenn Sie bereit sind, sich dem Wettbewerb zu stellen, dafür zu sorgen, daß auch an den bestehenden Gesamtschulen die Schüler so viel lernen — im Interesse der Schüler —, daß sie leistungsfähig sind, dann würden Sie von der verfehlten Bildungspolitik der letzten Monate Abschied nehmen und die notwendige Übereinstimmung für den Bildungsgesamtplan wiederherstellen.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Weisskirchen.
Frau Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn ich Sie, sehr geehrter Herr Rühe, zuallererst ansprechen darf, möchte ich Ihnen folgende Antwort geben. So wie Sie hier gesprochen haben, hat es ja ausgesehen, als wenn Sie in Hamburg bei den letzten Bürgerschaftswahlen die absolute Mehrheit hätten erringen müssen. Das Gegenteil ist richtig. Gerade mit der Schulpolitik und mit der Gesamtschule ist Wahlkampf zu einem erheblichen Teil betrieben worden. Die Hamburger Arbeiter und Arbeiterinnen und die Eltern, die Sie hier zitiert haben, haben Ihnen die richtige Quittung erteilt. Die SPD hat dort die absolute Mehrheit erzielt.
Zu Beginn möchte ich drei Punkte noch einmal aufnehmen, die in die Debatte neu eingeführt worden sind. Herr Pfeifer, Sie haben heute morgen einen neuen Gesichtspunkt in die Debatte gebracht. Sie warnten davor, die Gesamtschule einzuführen, weil die europäische Integration dadurch gefährdet werden könne. Dieses Stichwort haben Sie benutzt. Falsch, muß ich dazu sagen, Herr Kollege Pfeifer. Die Gesamtschule ist längst die Schule Europas geworden. Es gibt eine ganze Reihe von Ländern in der Europäischen Gemeinschaft, die die Gesamtschule schon längst eingeführt haben, übrigens auch zu erheblichen Teilen längst als Regelschule. Was warden die italienischen Christdemokraten sagen, wenn sie das hörten, was Sie heute dem Bundestag erzählt haben! Die würden Ihnen gegenüber sehr deutlich machen, daß Sie bildungspolitisch ziemlich am Ende der gesamten Politik in Europa stehen. Damit können Sie in Europa keinen Blumentopf gewinnen. Sie müssen sich mal anschauen, welche Länder bereits die Gesamtschule eingeführt haben. Herr Dr. Dregger, das wird Ihnen nicht passen. Aber Ihre christdemokratischen Kollegen haben das bereits getan und auch Frau Thatcher wird das nicht wieder rückgängig machen. Das wird jedenfalls in Finnland, in Norwegen, in Island, in Dänemark, in Frankreich, in England, was ich bereits zitiert habe, und in Italien praktiziert. Es gibt nur ganz wenige Länder in Europa — dazu gehört die Bundesrepublik Deutschland —, die die Gesamtschule noch nicht als eine der Regelschulen eingeführt haben. In vielen anderen gibt es sie bereits als einzige Schule.Herr Kultusminister Maier, Sie haben die Bildungschancen, die durch die Gesamtschule verbessert werden, mit einem schrecklichen Wort bezeichnet. Sie haben gesagt, dies sei als eine sozialintegrative Ersatzleistung des Staates zu bezeichnen. Sie wehren sich damit gegen die Fähigkeit der Gesamtschule, mehr jungen Menschen einen besseren Bildungsabschluß zu gewähren. Was sagen Sie denn, Herr Professor Maier, wenn z. B. in NordrheinWestfalen die Arbeitereltern einmal auf dieses Argument von Ihnen eingehen? Was würden Sie denn sagen, wenn beispielsweise klar ist — Sie wissen das genauso gut wie ich —, daß die Gesamtschule, gemessen an dem, was sie an mittleren Bildungsabschlüssen gewährleistet, für diese Kinder jedenfalls sehr viel bessere Leistungen aufweist als das bisherige dreigliedrige Schulsystem? Da möchte ich Sie einmal sehen, wie Sie das gegenüber Arbeitereltern erklären wollen. An diesem Punkt werden Ihnen die Argumente ausgehen. Diesen Menschen müßte einmal deutlich gemacht werden, mit welchem Hochmut und welcher Überheblichkeit Sie in Ihrer Rede
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Weisskirchen
heute mit den Zukunftschancen der jungen Menschen umgegangen sind.
Zum dritten hat Herr Ministerpräsident Vogel gesagt, die Gesamtschule sei eine Zwangsanstalt. Dies hat mich an eine Debatte erinnert, die im Jahre 1919, vor 60 Jahren, stattgefunden hat, als es um die Einführung der Grundschule in Deutschland ging, als die Einführung der Grundschule erstmalig für die ersten vier Schuljahre durchgesetzt wurde. Es waren Sozialdemokraten, die dafür gekämpft haben, daß die Grundschule eingeführt und in die Weimarer Verfassung geschrieben wurde.
Ich will Ihnen einmal sagen, was Ihre Vorläufer zu der Einführung der Grundschule gesagt haben.
Ich darf Ihnen das aus der 151. Sitzung der Nationalversammlung zitieren. Da sagt der Herr Dr. Oberfohren, ein Abgeordneter der deutschen Rechten
— von der Deutschnationalen Volkspartei; und Sie werden sich daran erinnern, — —
Meine Damen und Herren, ich bitte doch, den Redner zu Wort kommen zu lassen. Sie haben doch die Möglichkeit, hier zu Wort zu kommen.
Sie werden sich vielleicht erinnern, Herr Dr. Kohl, daß Ihr Nachfolger, der Kanzlerkandidat der CSU und nun auch Ihrer Partei, gesagt hat, er sei ein solcher Deutschnationaler.
Aus dieser Ecke ist argumentiert worden von dem Abgeordneten Dr. Oberfohren — nicht von der Deutschen Volkspartei, sondern von der deutschnationalen Rechten:
Die Vorschule
— die gab's damals noch —
hat ihre pädagogische Aufgabe, den höheren Schulen ein einheitlich vorgebildetes Schülermaterial zu verschaffen, in geradezu hervorragender Weise erfüllt.
Und dann sagt er zu dem § 4 des Entwurfs eines Grundschulgesetzes, den die Sozialdemokraten — übrigens mit der Deutschen Volkspartei — damals vorgelegt haben:
Das heißt ja praktisch, daß jedes Elternpaar direkt von Staats wegen mit den rigorosesten Mitteln gezwungen wird, seine Kinder ausgerechnet in die Grundschule zu schicken, die der Staat einrichtet. Das ist, meine Damen und Herren, ein Kinderzwangszuchthaus.
Hier kommt dieses Wort vom Zwang erneut. Und er schließt ab, indem er, zu den Sozialdemokraten gewendet, sagt:
Sie schlagen geradezu die Freiheit ans
Kreuz, ...
wenn nämlich die Grundschule eingeführt wird.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Dr. Becher?
Herr Kollege, darf ich Sie daran erinnern, daß das alte österreichische Reichsvolksschulgesetz bereits im Jahre 1878 eingeführt wurde und zu den besten Volksschulgesetzen der Welt gehört und daß sich in diesem Hause noch Personen befinden, die sich zu dieser Tradition bekennen, in der die Volksschule schon damals eingeführt wurde, daß man also nicht bis zum Jahre 1919 warten mußte, um zu Ihrer Problemstellung zu kommen?
Herr Dr. Becher, ich bitte Sie ganz herzlich: Schauen Sie einmal die Protokolle der Deutschen Nationalversammlung durch, und zwar die Debatte um die Weimarer Reichsverfassung, und darüber hinaus die gesamten Debatten, die bis 1925 um die Grundschule geführt worden sind; dann werden Sie feststellen, daß es im gesamten Deutschen Reich die Grundschule als die Schule der Kinder für die Klassen 1 bis 4, wie wir sie heute kennen, zu der damaligen Zeit eben noch nicht gegeben hat. Es war eine gewaltige Leistung der deutschen Sozialdemokratie, dies überhaupt durchzusetzen.
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Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 183. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. November 1979 14429
Wo ist denn Ihre Glaubwürdigkeit heute?
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14430 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 183. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. November 1979
Es ist zwar schon lange her, als das Grundsatzprogramm der CSU geschrieben wurde, in dem das steht, Herr Kollege Stücklen. Das war im Dezember 1946. Aber herausgegeben von Franz Josef Strauß.Im Ernst: Den Schaden nach einer solchen Konfrontation tragen wir alle, zuallererst aber unsere Kinder. In Wahrheit lenkte diese Konfrontation, die geführt wird, von den wirklichen Problemen ab, die wir doch nur gemeinsam lösen können; jeder mit seinen politisch verantworteten Mitteln, aber eben doch nur gemeinsam. Wir müssen versuchen, denke ich, das, was in dieser ganzen Debatte bisher falsch gelaufen und an Konfrontationen erfolgt ist, in der Zukunft zu vermeiden und auf den Boden der kooperativen Vernunft zurückzukehren. Dazu gab es in der heutigen Debatte einige Anklänge.
Wenn am 10. Dezember 1979 darüber gesprochen und auch nachgedacht wird, wie es denn mit dem kooperativen Föderalismus weitergehen soll, dann bitte ich Sie ganz herzlich: Reden Sie nicht nur von Toleranz, sondern praktizieren Sie diese Toleranz. Sie wissen doch genauso gut wie ich, daß es in SPD-regierten Ländern mehr Gymnasiasten als in CDU/ CSU-regierten Ländern Gesamtschüler gibt. Das ist der Tatbestand. Wir praktizieren Toleranz. Jetzt liegt es an Ihnen, Ihren Teil dieser Toleranz auch uns gegenüber beizutragen.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. Maihofer.
Frau Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! In den Mittelpunkt dieser Parlamentsdebatte ist in den letzten Stunden immer stärker die Gesamtschulfrage gerückt, die den eigentlichen Streitpunkt bei der von allen Seiten nochmals bejahten Fortschreibung des Bildungsgesamtplans darstellt. Bei allen förderlichen Einzelvorschlägen, auch von seiten der Opposition, in Bund und Ländern, in Richtung auf einen erneuten Einigungsversuch auf der nächsten Kultusministerkonferenz - die ich nur begrüßen kann — scheint mir in der kontroversen Debatte die Grundsatzfrage, um die es bei der Gesamtschule allein geht und gehen kann, doch etwas an den Rand gedrängt worden zu sein. Ich will sie bei dem erreichten Stand der Debatte auch aus unserer Perspektive gegenüber manchen Verunklarungen auf der einen wie der anderen Seite des Hauses nochmals zu verdeutlichen suchen.Für uns Liberale steht alle Bildungspolitik unter dem Leitgedanken des Bürgerrechts auf Bildung. Dieses Recht auf Bildung ist für uns mehr als die formale Garantie der freien Wahl der Ausbildungsstätte und des Berufs, wie sie Art. 12 unseres Grund-
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Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 183. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. November 1979 14431
Dr. Dr. h. c. Maihofergesetzes verbürgt. Dieses Recht ist für uns nur dort verwirklicht, wo die reale Chance dieser freien Wahl der Ausbildung und des Berufs für jeden Bürger in der alltäglichen Wirklichkeit besteht. Allein daran ist zu messen, ob Recht und Freiheit wirklich ist oder nicht. Eben diese reale Chance des Bürgers in der alltäglichen Wirklichkeit unserer Gesellschaft zu gewährleisten, ohne die seine Freiheit und sein Recht nicht verwirklicht werden kann, ist die Verpflichtung eines freiheitlichen nicht nur Rechts-, sondern auch Sozialstaates.Es ist dieses Vorzeichen des Bürgerrechts auf Bildung, von dem aus wir auch die Frage der Gesamtschule beurteilen. Sie ist für uns darum keine Frage parteipolitischer Ideologie, sondern des bildungspolitischen Pluralismus. Das Ja oder Nein zur Gesamtschule scheint uns darum schon nach dem Auftrag unserer Verfassung allein davon abzuhängen, ob diese Schule als ein zusätzliches Angebot zur Verwirklichung dieser Wahlfreiheit der Kinder und des mit ihr zusammenhängenden Elternrechts befürwortet oder abgelehnt werden muß. Auf diese Frage kann es nach den vorliegenden Erfahrungen und wissenschaftlichen Untersuchungen schon heute nur ein Ja für uns Liberale geben; ein Ja dazu, diese Schule als eine Angebotsschule neben die bisherigen Schularten treten zu lassen.Wie die Erfahrungen gezeigt haben, entspricht diese Schulart, darüber kann es keinen grundsätzlichen Streit geben, besonderen Bedürfnissen. Sie eröffnet eine faire Chance in unserem Bildungswesen auch für Kinder, deren Begabungsrichtung sich erst vergleichsweise spät entwickelt, aber auch für solche Kinder, in deren Elternhaus ein die Schulentwicklung mittragender Bildungshintergrund nicht vorhanden ist.Wollen wir auch und gerade diesen Kindern und Eltern vergleichbare Freiheiten in unserem Bildungswesen geben und damit auch wirkliche Rechte einräumen, dann muß eine Schule mit längerer Offenhaltung der Wahlmöglichkeiten und zugleich mit größerer Durchlässigkeit zwischen den verschiedenen Schularten als ein Angebot auf diese besonderen Bedürfnisse von Kindern und Eltern vorhanden sein. Nur so kann der Staat seiner Verpflichtung genügen, reale Chancen für die Verwirklichung des Rechts auf Bildung für alle Bürger zu schaffen. Nur so wird die Verpflichtung des Staates gegenüber den Kindern und Eltern erfüllt, ihnen das wirkliche Recht und die tatsächliche Freiheit zu gewährleisten, sich für die Schulart der Gesamtschule zu entscheiden, nicht zuletzt deshalb auch, weil diese als einzige heute regelmäßig als Ganztagsschule geführt wird.Für uns Liberale ist die Gesamtschule so ein zusätzliches Element im grundsätzlichen Pluralismus unseres Schulwesens — nichts mehr, aber auch nichts weniger. Deshalb halten wir den Streit um die Gesamtschule unter der Fragestellung „Regelschule — ja oder nein?" für doppelt mißverständlich und irreführend.Gehen wir von der Wahlfreiheit der Kinder und dem Recht der Eltern aus, die im Mittelpunkt jeder Schulpolitik in einer pluralistischen Demokratiestehen müssen — nicht etwa die Entscheidungen der jeweiligen Mehrheit, sondern diese, da stimme ich Herrn Grolle zu, Urrechte der Eltern und Kinder sind hier die letztentscheidenden —, kann es überhaupt nicht im freien Belieben des Staates stehen, diese heute als wichtige Erweiterung des Schulangebots erkannte und von Kindern und Eltern, zumindest eines Teils unserer Bevölkerung, gewünschte Gesamtschule nunmehr als eine regelmäßige Angebotsschule neben den anderen einzuführen.Es kann aber auch nicht in das freie Belieben selbst der herrschenden Mehrheit in einem Staat gestellt werden, diese Schulart — sei es offen, sei es verdeckt — als die einzige sogenannte Regelschule einzuführen und so die Wahlfreiheit der Kinder und die Rechte der Eltern nach der anderen Seite hin zu verkümmern.
Dies wäre nach beiden Seiten eine Schulpolitik, die nach meiner Auffassung den Grundprinzipien einer pluralistischen Demokratie widerspricht. Darum geht es hier; um nichts anderes.Sie fordert Pluralismus des Schulangebots, da nur in ihm die Chance verwirklicht werden kann, Kindern und Eltern die ihren jeweiligen Begabungen und Neigungen, Wünschen und Verhältnissen entsprechende optimale Form der Schulentwicklung zu eröffnen.
Es gibt nun einfach — ich möchte auch hier daran erinnern — verschiedene Begabungen, aber auch unterschiedliche Möglichkeiten ihrer Verwirklichung in der einen oder anderen Schulart. Deshalb halte ich eine Politik, die diesen Pluralismus nicht wahrhaben will und so den Kindern und Eltern die Gesamtschule als Angebotsschule verweigert, für ebenso illiberal wie eine Politik, die diesen Pluralismus dadurch abschaffen will, daß sie die Gesamtschule zur alleinigen Regelschule machen will.
Uber diesen Uniformismus tröstet mich dann auch nicht die Vorstellung hinweg, die man gelegentlich hört, daß dann der bisherige Pluralismus jedenfalls im Privatschulwesen fortbestünde. Solche Vorstellungen kann ich nur als politischen Zynismus empfinden.
Wenn wir als Liberale deshalb die Einführung der Gesamtschule als Angebotsschule grundsätzlich bejahen, dann bedeutet dies für uns dreierlei. Erstens bedeutet es für uns die baldmöglichste Herstellung einer Normalsituation für diese Schule. Dies schließt nicht nur die Normalisierung der Situation der Lehrer, sondern auch der Kinder und Eltern dieser Schulen sowie die Normalisierung ihrer Über- oder Unterprivilegierung ein.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Daweke?
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14432 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 183. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. November 1979
Wir können uns außerhalb dieser Debatte gern über diese stehenden Probleme unterhalten, doch jetzt kann ich wegen der knappen Zeit eine Zwischenfrage nicht zulassen.
Herr Kollege, fahren Sie dann bitte in Ihrer Rede fort.
Sie wissen, wie gern ich mit Ihnen diskutiere.
— Nein, ich diskutiere mit Herrn Daweke nun ausnahmsweise gerne. —
Dies schließt also nicht nur die Normalisierung — ich wiederhole — der Situation der Lehrer und Kinder an diesen Schulen, sondern auch Normalität in bezug auf Unter- oder Überprivilegierung dieser Schularten gegenüber anderen ein. Dies schließt darüber hinaus aber auch den Abbau jeder — hie und da anzutreffenden — Ideologisierung dieser Gesamtschulen selbst ein.
Hierüber werden gerade wir Liberale aufmerksam wachen.Zweitens bedeutet die Einführung der Gesamtschule als Angebotsschule für uns die Gewährleistung einer fairen Konkurrenz, eines fruchtbaren Wettstreits der verschiedenen Schularten. Dies schließt eine Bestandsgarantie für die traditionellen Schularten mit ein, so wie sie jetzt auch von unseren Spitzengremien in Nordrhein-Westfalen vorgeschlagen worden ist — ich zitiere mit Ihrer Erlaubnis, Frau Präsident, aus der dortigen These 5 —:Die FDP wird die bewährten Schulformen wie Hauptschule, Realschule, Gymnasium, berufsbildende Schulen und Schulen für den zweiten Bildungsweg erhalten und weiterentwickeln.
Sie sieht in der Gesamtschule eine Erweiterung der vielfältigen schulischen Angebote. Gesamtschulen können dort eingerichtet werden, wo sich eine ausreichende Nachfrage im Elternwillen ausdrückt und der Schulträger ihr folgt.Erläuterung: Liberaler Grundsatz ist, in zumutbarer Entfernung die gewünschte Schulform zur Verfügung zu stellen. Zu diesen Schulformen gehört auch die Gesamtschule. Bestehende Schulformen dürfen durch die Errichtung von Gesamtschulen in ihrer Existenz nicht gefährdet werden.
— Diese Erklärung mache ich mir vollinhaltlich zu eigen.
Drittens bedeutet die Einführung der Gesamtschule als Angebotsschule die Anerkennung der Vergleichbarkeit der Abschlüsse all dieser traditionellen und modernen Schularten. Nur — das sage ich nun vor allem in Ihre Richtung, Herr Kollege Maier —, es gibt keine volle Gleichheit, noch nicht einmal Vergleichbarkeit der Abschlüsse von Schulen, die sich hier in einer Normalsituation, dort aber in einer Pioniersituation befinden. Und deshalb: Wenn wir schon von Vergleichen reden, dann sollten wir erst einmal die Voraussetzungen einer solchen vollen Vergleichbarkeit herstellen, nämlich die Normalität der Situation hier und dort, dieser und jener Schulen.
Selbst in einer solchen normalisierten Situation wäre ein Vergleich zwischen Ganztagsschulen in Form von Gesamtschulen und den Ganztagsschulen in Form traditioneller Schulen möglich. Meine Überzeugung ist — ähnliches hat schon Herr Remmers in einer Äußerung angemerkt —, daß die Attraktivität der derzeitigen Gesamtschulen für eine bestimmte Situation von Eltern und Kindern — für spezifische Bedürfnisse und vielleicht auch Verhältnisse dieser Eltern und Kinder — nicht so sehr in der Gesamtschule, sondern in der Ganztagsschule liegt, die in solchen Einrichtungen angeboten wird. Daher finde ich, daß wir bis heute nach beiden Seiten hin weder einen fairen Vergleich noch einen normalen Wettbewerb zwischen den verschiedenen Schultypen haben. Wenn es richtig ist, was Ihnen bei jeder Unterhaltung, auch im Familienkreise, entgegenschlägt, dann leiden an der Schule wie noch nie vorher nicht nur Lehrer und Kinder, sondern auch die Eltern.
Dies ist nicht so sehr ein Leiden an diesen progressiven Gesamtschulen, sondern genauso ein Leiden an den traditionellen Schulen. In Elternhäusern, in denen der Bildungshintergrund für eine traditionelle Schulart nicht gegeben ist und somit die Eltern auch als Hilfsschullehrer ausfallen, wozu sie heute häufig mißbraucht werden, haben solche Eltern und Kinder keine faire Chance. Gerade für Schüler, deren Eltern beide berufstätig sind, — —
— Ja, von der Ganztagsschule.Lassen Sie mich dazu abschließend klar die Meinung der Liberalen sagen. Die Schülerzahlen werden zurückgehen, gewisse Kapazitäten an Lehrern und auch an Geldmitteln werden frei werden. Sie sollten eben hierfür genutzt werden: die Einführung fairer und auch alternativer Angebote, und zwar nicht nur von traditionellen Schulen hier und von modernen Gesamtschulen dort, sondern von Ganztagsschulen in Form der traditionellen Schulen und Ganztagsschulen in Form der Gesamtschule.Nach unserer Überzeugung ist für die Herstellung gleicher Bildungschancen für alle nichts so entscheidend wie die Eröffnung der Möglichkeit auch in unserem Lande, in der einen wie anderen
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Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 183. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. November 1979 14433
Dr. Dr. h. c. MaihoferSchulart zwischen Halbtags- oder Ganztagsschulen zu wählen. Daraus scheint mir der Streit, den wir heute führen, neben der Sache zu liegen, um die es wirklich geht: nämlich um den Schritt, der in anderen Ländern seit Jahrzehnten vollzogen ist, zur Ganztagsschule als Angebotsschule in diesen und jenen Schularten.
Herr Kollege, würden Sie bitte zum Ende kommen, da die Redezeit abgelaufen ist?
Es tut mir leid, aber ich muß Sie daran erinnern. Bitte, Herr Kollege Maihofer, wenn Sie zum Schluß kommen würden!
Bei alledem geht es um die Grundsatzfrage, ob wir ein Schulsystem wollen, das dem Bilde eines gepflegten Rasens entspricht, bei dem kein Hälmchen zu sehr über die anderen Hälmchen hinausragt, oder aber ein Schulwesen,
das einer blühenden Wiese gleicht, auf der verschiedenartige Blumen blühen.
Dies aber bedeutet: Sosehr wir uns als Liberale auf der einen Seite von Vorstellungen unterscheiden, die unseren Bürgern eine Gesamtschule als normale Angebotsschule, als eine reguläre Schule unter anderen, verweigern wollen, so sehr unterscheiden wir uns auf der anderen Seite auch von Vorstellungen, wie sie etwa bei dem respektierten Kollegen Lattmann durchklingen, der davon gesprochen hat, wir sollten in unserem Schulwesen keine Hochspaliertypen von Eierköpfen auf dünnen Beinen züchten, schon vom Grundsatz her.
Sind diese hier abschätzig angesprochenen Eierköpfe doch mit die Hefe im Teig der künftigen Entwicklungen unseres Volkes, in Wissenschaft und Wirtschaft, in Kultur und Technik.
Herr Kollege Maihofer, ich muß Sie jetzt bitten, Ihre Rede zu beenden.
Ja, ich komme zum Schluß.
Von daher glaube ich — —
— Nun, ich hielte es für ein faires Verfahren, wenn Sie mir wenigstens die Gelegenheit geben, in einer Minute zum Ende zu kommen.
Herr Kollege, ich habe Ihnen schon einige Minuten mehr zugebilligt.
Wenn Sie doch bitte zum Ende kommen würden!
Ich meine, nur ein nach beiden Seiten ausdifferenziertes Schulsystem, das allen spezifischen Begabungen und Verhältnissen die optimalen Chancen der Entfaltung bietet — und dies ist ein Schulsystem, das die traditionellen Schularten wie auch die moderne Gesamtschule umfaßt —, ist wirklicher Ausdruck des demokratischen Pluralismus, auf den wir alle doch eingeschworen sind.
Herr Kollege, Sie müssen jetzt die Rede abbrechen. Ich muß Sie jetzt endgültig unterbrechen. Es tut mir furchtbar leid.
Von daher kann ich nur diejenigen — —
Herr Kollege, seien Sie so lieb, machen Sie Schluß.
Darf ich den Satz zu Ende sagen?
Bringen sie den Satz bitte zu Ende.
Von daher kann ich nur diejenigen Äußerungen mit Freude begrüßen, die auch im Laufe dieser Debatte aus den verschiedenen Lagern den Willen bekundet haben, in diesem Schulstreit zu einem. neuen Einigungsversuch zu gelangen; sonst
werden wir als demokratische Parteien die Unglaubwürdigkeit bei den Heranwachsenden, unter der wir schon heute leiden, nicht nur zum Verdrusse mehren, sondern zur Verachtung steigern und so, wenn wir diesen Streit nicht nicht schleunigst beenden, alle die Verlierer dieses unseligen Schulstreits sein!
Ich unterbreche jetzt die Aussprache.
Wir kommen zum Zusatzpunkt zur Tagesordnung:
Beratung der Beschlußempfehlung des Ausschusses nach Artikel 77 des Grundgesetzes zu dem Gesetz zur Neufassung des Umsatzsteuergesetzes und zur Änderung anderer Gesetze
— Drucksache 8/3332 —
Das Wort zur Berichterstattung hat der Herr Abgeordnete Jahn.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Nachdem der Bundesrat das Gesetz zur Neufassung des Umsatzsteuergesetzes am 28. September 1979 abgelehnt hatte, beschloß der Deutsche Bundestag am 11. Oktober 1979 die Anrufung des Vermittlungsausschusses.
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14434 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 183. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. November 1979
Jahn
Die Bemühungen des Vermittlungsausschusses waren darauf gerichtet, zu § 1 Abs. 2 des Gesetzes eine Formulierung zu finden, die die bekannten Standpunkte des Bundesrats und des Bundestages berücksichtigt. Nach sehr schwierigen Verhandlungen wird nunmehr vom Vermittlungsausschuß folgende Fassung vorgeschlagen:Unter Erhebungsgebiet im Sinne dieses Gesetzes ist der Geltungsbereich des Gesetzes mit Ausnahme der Zollausschlüsse und der Zollfreigebiete zu verstehen. Außengebiet im Sinne dieses Gesetzes ist das Gebiet, das weder zum Erhebungsgebiet noch zum Gebiet der Deutschen Demokratischen Republik und von Berlin gehört.Der Vermittlungsausschuß legt Wert auf die Feststellung, daß sich die hier gefundenen und verwendeten Begriffe nur auf das Steuerrecht beziehen und keine staatsrechtliche Bedeutung haben.Der Vermittlungsausschuß hat im übrigen nochmals den bereits nach dem ersten Vermittlungsbegehren verabschiedeten § 12 Abs. 2 Nr. 42 des Umsatzsteuergesetzes aufgegriffen und ohne materielle Änderung neu gefaßt. Die übrigen Vorschläge des Vermittlungsausschusses sind ausschließlich Folgeänderungen zum Einigungsvorschlag zu § 1 Abs. 2.Zum gesamten Einigungsvorschlag erbitte ich Ihre Zustimmung. Der Vermittlungsausschuß hat nach § 10 Abs. 3 der Gemeinsamen Geschäftsordnung bestimmt, daß über die Vorschläge gemeinsam abgestimmt werden soll.
Danke schön, Herr Berichterstatter.
Das Wort zur Erklärung hat Herr Abgeordneter Westphal.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der Vermittlungsausschuß hat bei der Formulierung des Inlandsbegriffes im Umsatzsteuergesetz 1980 eine Einigung erreicht. Der vorgesehene Termin des Inkrafttretens, der 1. Januar 1980, kann damit eingehalten werden. Die erforderliche Durchführungsverordnung ist so weit vorbereitet, daß sie dem Bundesrat am 30. November 1979 vorliegen wird und vor Weihnachten verabschiedet werden kann.
Der Streit mit der oppositionsbestimmten Mehrheit des Bundesrates über das vom Bundestag im Juli 1979 beschlossene Gesetz entstand ganz allein über die Frage, ob in diesem auf der Grundlage der 6. Harmonisierungsnovelle der Europäischen Gemeinschaft völlig neu gestalteten Umsatzsteuergesetz, also einem Gesetz des Jahres 1979, Formulierungen enthalten sein sollten, die die Grenzen des Deutschen Reiches vom 31. Dezember 1937 als Begriffsdefinition für das Inland festschreiben. Das ist ein Streit, von dem wir nicht nur von Anfang an erwartet haben, sondern inzwischen auch feststellen müssen, daß er erhebliche negative Auswirkungen für uns im Ausland, in Ost und West, hatte. Denn wer im Ausland, aber auch hier bei uns im Inland, soll denen, die da für solche zu unseren Vertragsvereinbarungen im Widerspruch stehende Formeln der Grenzbestimmung eingetreten sind, abnehmen, daß ihre wiederholten Äußerungen im Sinn von „pacta sunt servanda" — „Verträge sind heilig" — wirklich ernstgemeint sind?
Für uns Sozialdemokraten war in dieser Debatte durch das gesamte Vermittlungsverfahren vom ersten Augenblick an klar: Die Grenzen von 1937 dürfen nicht zur Definition des Inlandsbegriffs in ein Gesetz dieser Republik des Jahres 1979 geschrieben werden, eben weil wir vertragstreu sind und die Entspannungsentwicklung nicht beeinträchtigen wollen, die uns Frieden sichert.
Dieses Ziel ist erreicht. Der auch vom Vertreter des Landes Bayern nun präsentierte Formulierungsvorschlag, der nur noch unwesentlich verändert wurde, rückt von dem früheren eigenen Ziel der Festschreibung der Grenzen des Jahres 1937 ab. Es ist deshalb ein Fortschritt nach langen Diskussionen, weil dadurch von der Bundesratsmehrheit der Anspruch aufgegeben wird, eine vor unseren Partnern draußen in West und Ost unhaltbare Fiktion in ein Bundesgesetz zu schreiben.
Der vom Bundestag im Juli 1979 beschlossene Wortlaut wird praktisch nur durch zwei andere Worte an Stelle von „Inland" und an Stelle von „Ausland" geändert, nämlich durch ,,Erhebungsgebiet" und „Außengebiet". Das ist nicht nur hinnehmbar, sondern bestätigt unsere Rechtsauffassung, weil es in der Sache und politisch nichts anderes besagt als die Begriffe „Inland" und „Ausland", die für das Gesetz notwendige Definitionen sind und die wir hier im Juli beschlossen hatten.
Wir können nur hoffen, daß hinter der Bereitschaft, die unhaltbar gewordene Grenzen-Definition fallenzulassen, bei der Opposition die Einsicht steht, die tatsächliche völkerrechtliche Lage künftig auch wirklich beim Namen zu nennen. Wenn dahinter aber leider kein Sinneswandel in der entscheidenden Frage zugunsten einer vertragskonformen Formulierung stehen sollte, sondern die außenpolitischen Positionen unberührt bleiben, dann wird die Debatte darüber nun an anderer Stelle geführt werden müssen. Wir werden dabei deutlich machen, wer in diesem Land für Entspannung und Frieden steht und wer nicht.
Die gefundene Formulierung im Umsatzsteuergesetz 1980 läßt keinen Zweifel an unserem sachlichen und politischen Willen. Sie bestätigt ihn.
Deshalb werden wir dem Einigungsvorschlag unsere Zustimmung geben.
Das Wort hat Herr Staatsminister Streibl.
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Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 183. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. November 1979 14435
Staatsminister Streib! : Frau Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren!
Die CDU/CSU wird der Beschlußempfehlung des Vermittlungsausschusses zustimmen und damit das Inkrafttreten des neuen Umsatzsteuerrechts ermöglichen.Wir stellen allerdings fest, daß die notwendige Anpassung des nationalen Umsatzsteuerrechts an die 6. Umsatzsteuerrichtline der Europäischen Gemeinschaft nur deshalb so lange verzögert worden ist, weil Bundesregierung und Bundestagsmehrheit das vorliegende Steuergesetz zur Durchsetzung ihrer ostpolitischen Wunschvorstellungen mißbrauchen wollten.
— Herr Wehner, wäre es nur um steuerrechtliche Fragen gegangen, wäre das Gesetz schon längst verabschiedet.
Über steuerrechtliche Fragen war man sich sehr schnell einig. Worauf die ganze Polemik zielt, hat der Vorredner gerade gezeigt,
als er erklärte, er wolle damit dartun, wer für Entspannung sei und wer nicht. Eine schlimmere Polemik kann man sich im Zusammenhang mit einem Steuergesetz doch überhaupt nicht vorstellen.
Meine Damen und Herren, nach unserer Auffassung stellt das Vermittlungsergebnis einen politischen Kompromiß dar, zu dem die Bundesregierung und die Mehrheit des Bundestages lange Zeit offensichtlich allein deshalb nicht bereit waren, um mit dem vorliegenden Steuergesetz doch noch die Durchsetzung ihrer umstrittenen ostpolitischen Vorstellungen erreichen zu können. Dieses Vorhaben ist sicher auf Grund der Mehrheiten im Bundesrat gescheitert.
Der Verlauf des Gesetzgebungsverfahrens, bei dem die reinen Steuerfragen bereits im ersten Vermittlungsverfahren erledigt wurden, hat deutlich gemacht, daß die Bundesregierung für die Verwirklichung ihrer deutsch-politischen und außenpolitischen Ziele sogar bereit war, die Verpflichtungen aus dem EWG-Vertrag zu vernachlässigen,
und daß sie ihre Versprechen gegenüber den betroffenen Wirtschaftskreisen, für eine angemessene Zeit zur Vorbereitung auf das neue Umsatzsteuergesetz zu sorgen, nicht eingehalten hat.
Dagegen möchte ich feststellen, meine Damen und Herren, daß wir durch verschiedene Kompromißvorschläge immer bemüht waren, eine rasche Verabschiedung des Gesetzes im Interesse eines guten Verhältnisses der Bundesrepublik zu ihren EG-Partnerstaaten und einer ausreichenden Umstellungszeit für die Wirtschaft zu erreichen.Das Ergebnis, das heute auf dem Tisch liegt, hätten wir bereits nach dem ersten Vermittlungsverfahren haben können.
Die Beschlußempfehlung des Vermittlungsausschusses vermeidet die staatsrechtlich relevanten Begriffe „Inland" und „Ausland" im neuen Umsatzsteuergesetz durch die Verwendung der neutralen Worte ,,Erhebungsgebiet" für den Geltungsbereich des Gesetzes und „Außengebiet" für die Gebiete, die nicht zum Geltungsbereich des Gesetzes, nicht zur Deutschen Demokratischen Republik und nicht zu Berlin gehören. Hier wird das vorliegende Steuergesetz von dem anhaltenden deutschlandpolitischen Streit, der offensichtlich, wie die Ausführungen des Vorredners gezeigt haben, noch nicht ausgetragen ist, befreit.Diese nunmehr gefundene Kompromißformel trägt den wichtigsten verfassungspolitischen Bedenken des Bundesrats und der CDU/CSU gegen den ursprünglichen Gesetzesbeschluß dadurch Rechnung, daß die Gebiete der Deutschen Demokratischen Republik und von Berlin nicht mehr als Gebiete bezeichnet werden, die nicht zum Inland gehören. Die deutschen Gebiete jenseits von Oder und Neiße werden nun nicht mehr als Ausland abgebucht.
Ich meine, die Regelung, die wir gefunden haben, läßt eine klare Abgrenzung für steuerliche Fragen absolut zu.Eines hat im Laufe dieser Debatte allerdings etwas bedenklich gestimmt. Es war das erstemal, daß sich die Bundesregierung die Lesart der östlichen Vertragspartner des Warschauer Vertrags und des Grundvertrags zu eigen gemacht hat, nämlich die Ansicht, daß sich aus den Ostverträgen unmittelbare Verpflichtungen zur Änderung innerstaatlicher Rechtssätze ergeben würden.
Das steht nicht in Übereinstimmung mit unserem Grundgesetz und mit dem Bundesverfassungsgericht.
Das Bundesverfassungsgericht hat in seinen Entscheidungen zu den Ostverträgen für alle Organe der Bundesrepublik verbindlich festgestellt, daß die Ostverträge hochpolitischen Charakter haben und durch sie nur die allgemeinen politischen Beziehungen der Bundesrepublik Deutschland geregelt werden. Die Bundesregierung hat die Verreinbarungen mit der Deutschen Demokratischen Republik und der Volksrepublik Polen nur als politische Verträge zur Ratifizierung vorgelegt
und damit ausdrücklich erklärt, daß sich die Verträge nicht auf die innerstaatliche Gesetzgebung be-
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14436 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 183. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. November 1979
Staatsminister Streib!
ziehen. Nur deshalb bedürfen sie auch nicht der Zustimmung des Bundesrats.
Aus diesem Grunde kann ihnen nicht nachträglich eine unmittelbare rechtliche Rückwirkung auf die innerstaatliche Gesetzgebung — hier auf die Definition des Begriffes Inland — zugemessen werden.
Um hier Klarheit über die Stellung der CDU/CSU zu schaffen, möchte ich meine Ausführungen folgendermaßen zusammenfassen.Erstens. Mit der jetzt gefundenen Neufassung des § 1 Abs. 2 des Umsatzsteuergesetzes ist die Begriffssprache dieses Gesetzes für seine steuerrechtlichen Zwecke auf steuertechnische Begriffe umgestellt worden.
Diese Änderung erfolgte aus steuertechnischen Erwägungen. Die Ostverträge enthalten keine Verpflichtungen zu innerstaatlichen Rechtsänderungen der Bundesrepublik Deutschland.
Zweitens. Diese Gesetzesänderung berührt nicht den staats- und völkerrechtlichen Deutschlandbegriff.
Sie bedeutet in keiner Weise eine Änderung des Rechtsstandpunktes der Bundesrepublik Deutschland in bezug auf die rechtliche Fortexistenz des Deutschen Reiches, in bezug auf den völkerrechtlichen Friedensvertragsvorbehalt sowie in bezug auf den sich daraus ergebenden Rechtsvorbehalt hinsichtlich der endgültigen Regelung der Grenzen Deutschlands.Drittens. Dies bedeutet insbesondere folgendes. Die Gesetzesänderung berührt nicht die gebiets- und personalrechtliche Lage Deutschlands und der Deutschen. Die Gebiete östlich der Oder und der Neiße sind aus der rechtlichen Zugehörigkeit zu Deutschland nicht entlassen und fremder Souveränität nicht endgültig unterstellt.
Mitteldeutschland ist für die Bundesrepublik Deutschland nicht Ausland.
Deutschland besteht rechtlich in seinen völkerrechtlich noch gültigen Grenzen fort.
In den Ostverträgen wird die deutsche Frage offengehalten. — Ich weiß nicht, wer hurra geschrien hat. — Aber, Herr Wehner, Sie wollen es offensichtlich anders.
Wir gehen von der rechtlichen Wirklichkeit aus.
Herr Wehner, die rechtliche Wirklichkeit wird sich nicht Ihren Wünschen anpassen.
In den Ostverträgen wird die deutsche Frage offengehalten. In ihnen ist die volle Weitergeltung des Deutschland-Vertrags anerkannt und sind der Friedensvertragsvorbehalt und die Rechte und Verantwortlichkeiten der Alliierten für Deutschland als Ganzes und Berlin bestätigt. Der Deutschland-Vertrag verbietet ohne frei vereinbarte friedensvertragliche Regelung eine endgültige Grenzregelung für Deutschland.Das Grundgesetz gibt an alle Verfassungsorgane den Auftrag, die nationale und staatliche Einheit Deutschlands zu wahren und die Einheit in Freiheit zu vollenden.
Ein gerechter Ausgleich in der deutschen Frage setzt die freie Selbstbestimmung des ganzen deutschen Volkes voraus.
Die Ostverträge enthalten keine Souveränitätsanerkennungen der Bundesrepublik Deutschland zu Lasten ganz Deutschlands. Die Bundesrepublik Deutschland hat alle Rechtspositionen ganz Deutschlands zu wahren und darf diese ohne freie Selbstbestimmung des ganzen deutschen Volkes und vor frei vereinbarten friedensvertraglichen Regelungen nicht mindern. — Ich glaube, meine Damen und Herren, gerade auf den Vorredner hin waren diese Feststellungen notwendig.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, mit der Befreiung des vorliegenden Umsatzsteuergesetzes von der Deutschlandfrage verbessert sich jetzt auch die Position der Bundesrepublik in dem vor dem Europäischen Gerichtshof anhängigen Verfahren. Hätte die Bundesregierung schon früher ihre Zusage verwirklicht, die sie in diesem Verfahren am 9. August 1979 abgegeben hat, nämlich sie unternehme nach wie vor alles, um das Gesetzgebungsverfahren so schnell wie möglich zu einem erfolgreichen Abschluß zu führen, hätten wir unseren Bürgern, unseren Unternehmern und unserer Verwaltung die dringend notwendige Umstellung auf das neue Recht zeitlich erheblich erleichtert. Die Verzögerung kann jedenfalls nicht dem Bundesrat oder der _ CDU/CSU-Fraktion im Deutschen Bundestag angelastet werden,
da wir immer wieder verschiedene sachliche Lösungsvorschläge versucht haben.
Meine Damen und Herren, die Verzögerung ist ausschließlich darauf zurückzuführen, daß man es in den Regierungsparteien darauf angelegt hat, das Steuerrecht zur Schaffung außenpolitischer Tatbestände zu mißbrauchen.
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Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 183. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. November 1979 14437
Staatsminister Streibl
Der Vermittlungsvorschlag stellt aus den dargelegten Gründen jetzt für uns eine Möglichkeit zur Einigung dar. Die CDU/CSU wird dem Kompromißvorschlag zustimmen.
Das Wort zu einer Erklärung hat der Abgeordnete Kleinert.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Bei einem einstimmigen Vermittlungsergebnis hat man selten ein so volles Haus. Ich nehme an, Sie haben die Gelegenheit benutzt, hier endlich einmal den richtigen Sprecher der CDU zu feiern.
Sie wollten einmal sehen, wie jetzt die Richtung ist und daß der bayerische Staatsminister der Finanzen uns sagt, wo es innerdeutsch langgeht
Das ist die neue Schlachtordnung.
— Der Herr Staatsminister der Finanzen aus dem Freistaat Bayern, Herr Kollege, hat den Begriff der Erklärung so großherzig gehandhabt, daß ich hoffe, daß die amtierende Präsidentin auch mir insofern ein wenig Freiheit läßt.
Ich kann mich nur wundern,
warum wir drei Sitzungen des Vermittlungsausschusses gebraucht haben. Das ist ja normalerweise ein Gremium, in dem vieles, was in diesem Lande berechtigt oder unberechtigt über Polarisierung gesagt wird, ad absurdum geführt wird, weil die dort versammelten Damen und Herren glücklicherweise zum Wohle des Landes sehr vernünftige Gespräche miteinander führen und normalerweise auch in einer Sitzung zum Ende kommen. Ich kann mich also nur darüber wundern, daß jetzt ausgerechnet der Herr bayerische Staatsminister hergeht und die Zeit der Beratung und die Verzögerung beklagt, die ja nur dadurch hervorgerufen worden ist, daß man hier, im Gegensatz zu den hochgehaltenen bayerischen Bildungsgrundsätzen — um auf die vorhergegangene und folgende Debatte Bezug zu nehmen —, völlig ahistorisch vorgeht. Die Grenzen des Jahres 1937 sind doch erkennbarerweise bei bayerischer Gymnasialausbildung kein gescheiter Anknüpfungspunkt für ein vernünftiges Vermittlungsergebnis in diesem Zusammenhang.
Das nimmt natürlich für die Bildungsdebatte einiges von der Wucht der bayerischen Argumente,
denen ich ganz persönlich — um auch das dabei zu sagen — nicht in jedem Punkt unaufgeschlossen gegenüberstehe.
Aber jetzt kommen Sie zur Erklärung zurück, Herr Kollege, ja?
Ich darf für die Freien Demokraten erklären, daß wir uns sehr freuen, daß es schließlich und endlich gelungen ist, im Rahmen dieser Umsatzsteuernovelle das steuerrechtlich Notwendige, das Objektivierbare so darzustellen, wie es in dem jetzigen Vorschlag niedergelegt ist. Deshalb werden wir diesem Vorschlag zustimmen. Die Debatte darüber, ob wir eine vernünftige Ostpolitik geführt haben oder nicht, gehört nicht in dieses Steuergesetz, sondern die werden wir — —
— Das finde ich herrlich, ich finde das richtig herrlich. Ich habe Ihnen ja eben gesagt, durch wen sie in dieses Steuergesetz hineingekommen ist, nämlich durch die, die eben so begeistert geklatscht haben. Wir haben doch von Anfang an nichts weiter vorgehabt,
als ein vernünftiges Umsatzsteuergesetz vorzulegen. Das ist nun in einem ungewöhnlich schwierigen Verfahren mit der nötigen Objektivierung auch dieses § 1 gelungen. Wir hätten es leichter haben können.
Ich würde nur alle Beteiligten herzlich darum bitten, weit abseits von dem Gerede über Transparenz und Undurchsichtigkeit und notwendige Offentlichkeit aller möglichen Beratungen dazu überzugehen, vor einer solchen Beratung im Vermittlungsausschuß unter allen Beteiligten so lange miteinander zu reden, bis dieses Ergebnis klar ist, damit man nicht drei Sitzungen braucht, sondern, wie es in allen anderen Fällen mit einem so vorhersehbaren Sachverhalt üblich ist, mit einer Sitzung auskommt. Das ist meine Bitte, damit der besondere und, wie ich meine, nach wie vor zu Recht bestehende Rang des Vermittlungsausschusses, insbesondere hinsichtlich seines Stils, behauptet werden kann. Insofern hoffe ich, daß das eine Ausnahme bleibt. Aber wer für die Ausnahme von diesem normalen Verhalten des Vermittlungsausschusses verantwortlich zu machen ist, das haben Sie am besten durch die Auswahl Ihres Sprechers hier heute deutlich gemacht.
Meine Damen und Herren, wir kommen jetzt zur Abstimmung.Der Vermittlungsausschuß hat gemäß § 10 Abs. 3 Satz 1 seiner Geschäftsordnung beschlossen, daß über die vorliegenden Änderungen gemeinsam abzustimmen ist. Wer dem Antrag des Vermittlungsausschusses auf Drucksache 8/3332 zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. — Ge-
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14438 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 183. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. November 1979
Vizepräsident Frau Rengergenprobe! — Enthaltungen? — Gegen eine Stimme ist der Antrag des Vermittlungsausschusses angenommen.
— Vielleicht warten wir einen Moment, bis sich der Saal wieder entleert hat. Dann fahren wir in der Debatte fort.
Meine Damen und Herren, wir fahren jetzt in den Beratungen zu dem Tagesordnungspunkt 2 a und b, Fortschreibung des Bildungsgesamtplans, fort.Das Wort hat der Herr Minister Remmers.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich bitte um Nachsicht, daß ich Sie nach dieser Unterbrechung noch einmal um Aufmerksamkeit für das bildungspolitische Thema bitten muß. Ich will nur drei Komplexe ansprechen, einmal die Frage der Gesamtschule, die ja heute in der Debatte ein zentrales Thema dargestellt hat, zweitens möchte ich einige Dinge zu den eigentlich wichtigen Fragen der Bildungspolitik sagen, und drittens möchte ich einiges zu der Frage sagen, wie es denn nun weitergehen soll.Zu dem ersten Komplex, also zu der Frage der Gesamtschule bzw. der Anerkennung der Abschlüsse usw. Ich bin ja heute morgen — das kam mir ganz komisch vor, weil ich das erste Mal hier bin — häufig zitiert worden, und es würde mir große Freude machen, die Zitate, die im Zusammenhang mit meinem Rücktritt als stellvertretender Vorsitzender der BLK in Umlauf gekommen sind, gewissermaßen auf die besondere Wirkungsgeschichte dieser Zitate abzukürzen. Aber ich will das beiseite lassen; dazu haben wir in dieser spätnachmittäglichen Stunde auch wahrscheinlich keine Zeit mehr. Was ich allerdings betrüblich finde und auf keinen Fall hinnehmen kann, ist, daß die Sozialdemokraten meine Bemühungen um Schulfrieden und mein Engagement für den Abbau der Konfrontation zum Anlaß nehmen, mich als Kronzeugen für ihre eigene Gesamtschuleuphorie zu benutzen.
Meine Damen und Herren, es ist allgemein bekannt und ich bestreite auch ausdrücklich nicht, daß ich in bildungspolitischen Fragen eine — ich will es mal so sagen — eigenständige Position einnehme, die im übrigen von meiner Partei respektiert wird.
Meine Bemühungen um einen Ausgleich im Schulstreit sind aber auf keinen Fall — ich werde das gleich erläutern — ein Blankoscheck für die bildungspolitischen Verheißungen der Sozialdemokraten. Im übrigen ist es meiner Ansicht nach ein trauriges taktisches Spiel — Herr Ministerpräsident Dr. Vogel hat das heute morgen auch schon gesagt —, wenn mich die SPD auf Bundesebene gewissermaßen in ihren Schützengraben ziehen will, während sie mich in Niedersachsen als — ich zitiere jetzt — „Bannerträger einer reaktionären Schulpolitik" beschimpft, mir die „Festschreibung restaurativer Tendenzen" vorwirft, von einer „Versteinerung des gegliederten Schulwesens" spricht, die ich durch die Schulgesetznovellierung betriebe, ganz zu schweigen davon, daß man mir in der letzten Debatte gesagt hat, die Orientierungsstufe in Niedersachsen hätte ein ganz anderes Geschlecht, wie der Redner sagte, das sei eine Orientierungsstufe im Transvestitenlook.
Meine Damen und Herren, diese Zweigleisigkeit zeigt mir, daß die Sozialdemokraten bis heute offenbar noch nicht wirklich an den Fragen der Vergleichbarkeit der Abschlüsse interessiert sind.
Die SPD muß sich fragen lassen, ob sie einer sauberen, vergleichenden Exegese schulischer Abschlüsse vielleicht deshalb so halbherzig gegenübersteht, weil sie auf diesem Wege gewissermaßen eine Entmythologisierung ihres Gesamtschulmythos befürchten muß. Wer wie die SPD die Sache mit der Gesamtschule so hoch hält, steht jetzt offenbar vor der zweifelhaften Konsequenz, der Gesamtschule weiterhin eine reelle Normalität zu verweigern. Wenn die einen — und das ist der eigentliche Zusammenhang — die Gesamtschule so fraglos als die bessere Schule verkünden, wie das heute wieder geschehen ist, auch durch Herrn Schmude, wird sich niemand wundern dürfen, wenn die anderen auf diese Weise geradezu gezwungen sind, das gegliederte Schulwesen mit allem Nachdruck zu betonen und herauszustreichen. Ich sage Ihnen auch warum. Immerhin besuchen über 90 % der Schüler in der Bundesrepublik Deutschland Schulen des gegliederten Schulwesens. Es geht nicht an, daß man die schulische Wirklichkeit dieser Schüler ständig durch did Behauptung in ein schlechtes Licht rückt, die Gesamtschule sei auf jeden Fall die bessere Schule. Wie soll sich diese „Gesamtschullyrik" mit der Tatsache reimen, daß ja auch die SPD-regierten Länder überwiegend gegliederte Schulen haben? Will die SPD der Mehrheit ihrer Schüler, diesen 90 %, wirklich bescheinigen, daß sie schlechtere Schulen besuchen? Diese Frage müßte doch auch einmal beantwortet werden.Ich bin im übrigen, wenn ich an meine Tätigkeit als Kultusminister eines Landes denke, der Meinung, daß die eigentliche Frage, die uns bedrängt, doch ganz anderer Natur ist, als ständig zu erörtern, wie es mit den Gesamtschulen ist. Die eigentliche Frage, mit der wir uns in der Wirklichkeit vor Ort auseinandersetzen müssen, lautet: Wie bekommen wir im Zusammenhang mit den jetzt zurückgehenden Schülerzahlen für jeden Ort ein Schulangebot, das gewissermaßen einen Maßanzug in bezug auf die jeweilige örtliche Situation darstellt?
Weil das so ist, plädiere ich dafür — das nehmen Sie mir bitte allseits ab —, daß wir die Fahnen dieses ideologischen Schulkampfes einziehen, erst recht die Fahnen — das muß ich allerdings hinzufügen —, mit denen die Frage der Organisationsform der Schule in die Nähe des Klassenkampfes gebracht
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Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 183. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. November 1979 14439
Minister Dr. Remmers
wird. Wem ist wirklich mit der Behauptung gedient — Herr Schmude, es hat mich tief getroffen, daß Sie das heute wiederum angedeutet bzw. auf dem Kongreß in Essen gesagt haben —, das gegliederte Schulwesen sei ein arbeitnehmerfeindliches Konzept im gesellschaftlichen und politischen Machtkampf ? Das ist genau das, was ich bemängele — was auch Sie, Herr Schmude, heute morgen wieder gesagt haben —: Wer nicht per se generell in einer Weise für die Gesamtschule ist, wie sich die Sozialdemokraten das vorstellen, der ist gewissermaßen ein Feind eines demokratischen Schulwesens. Genau das ist doch der Punkt, über den man sich eigentlich unterhalten müßte.Wir sollten die Gesamtschulfrage niedriger hängen. Das wäre vielleicht auch möglich, wenn nicht gerade Sie, meine Damen und Herren von den Koalitionsfraktionen, die Gesamtschule nicht immer wieder so wahnsinnig hochstilisierten, wenn Sie nicht sagen würden, das sei die demokratischste Schule, das sei die bessere Schule, das sei die Schule ohne Tränen. Ich habe vorhin von Herrn Weisskirchen gehört, das sei die Schule, in der es kein Elend des Sitzenbleibens mehr gebe, in der vielmehr Freiheit von Angst usw. herrsche. Das ist nicht einmal mehr mit der Bibel in Übereinstimmung zu bringen.
— Ich sage das mit vollem Ernst; denn wer sagt, daß es irgendwo in irgendeinem Winkel dieser Welt oder etwa auch in den Schulen möglich wäre, die Angst zu beseitigen, vergißt, daß es z. B. in der Bibel heißt: In der Welt habt ihr Angst. Es ist eine ganz schlimme Irreführung, wenn man so tut, als könnte man so etwas wie Angstfreiheit durchsetzen.
Ich meine also, daß es wirklich darauf ankommt, dieses Thema niedriger zu hängen. Wir dürfen es nicht zulassen, daß es, wie es häufig geschieht, zu d e m Thema hochstilisiert wird. Deswegen lassen Sie mich zu meinem zweiten Punkt kommen. Ich plädiere dafür, damit aufzuhören, weiterhin Energien in das wechselseitige Abgeben von Bekenntnissen zu vergeuden. Diese Energien sollten wir vielmehr für die Lösung der alltäglichen wirklichen Probleme von Schule und Schülern einsetzen. Ich plädiere dafür, jetzt endlich jene Normalität von Schule sichtbar werden zu lassen, die sich zeigt, wenn man sich der Schule einmal von unten zuwendet.Wenn wir uns einmal in diesem Sinne, d. h. von unten, der Schule nähern — wie das vor kurzem in einer treffenden Analyse einer deutschen Monatszeitschrift geschehen ist —, so werden wir wahrnehmen, daß heute eine ganz wesentliche Schwierigkeit der Schule generell — durchgängig, in allen Schularten, egal wie sie organisiert ist — die Motivierung der Schüler ist, die Motivierung zum Lernen, die Motivierung, Anstrengungen wegen einer lohnenden Sache und nicht nur wegen einer guten Zensur auf sich zu nehmen. Vielen Schülern fehlt die Motivierung, ins Leben zu treten. Sie weigern sich gewissermaßen, erwachsen zu werden, Verantwortung zu übernehmen, die Zukunft zu gestalten.In diesem Zusammenhang frage ich mich auch selbst, ob wir, die erwachsene Generation, die Jugend nicht dazu verführt haben, sich in einer Gegenwart einzurichten, in der so vieles an Konsum- und Gebrauchsgütern und an Hilfsmitteln für ein angeblich leichtes und glückliches Leben vorgegeben ist, in der die Zukunft der Jugend nur noch — um es in den Begriffen der heutigen Debatte zu sagen — die Fortschreibung des Gesamtplans unserer unerschütterlichen Gewohnheiten ist.Im übrigen ist das abstrakte Auseinanderdividieren von reiner Leistungsschule einerseits und reiner Vergnügungsschule andererseits wahrscheinlich doch ein Anzeichen dafür, daß es hier nicht mehr gelingt, Anstrengung und Vergnügen in einen sinnvollen Zusammenhang zu bringen. Genau dies ist doch unsere Aufgabe in der Schule.
Meine Damen und Herren, bildungspolitisch streiten wir uns über Leistung und Leistungsvergleich. Die einen argwöhnen Leistungsfetischismus, die anderen argwöhnen heimliche Leistungsverweigerung durch die Hintertür einer vorgeblich besseren Schule. Das eigentliche Problem ist aber, daß der Zugang zu einem tieferen Sinn von Leistung und Glück bei vielen Schülern verschüttet ist. Das sind die eigentlichen Probleme, an denen auch unsere Zukunft hängt. Dies sind die wirklichen Sorgen der Eltern. Wir werden immer Menschen brauchen, die bereit sind, mehr zu leisten, weil es immer Menschen geben wird, die ohne eigene Schuld nicht voll leistungsfähig sind. Unser ganzes soziales System oder Netz, wie wir häufig sagen, besteht gerade darin, daß es welche geben muß, die bereit sind, mehr zu leisten.
Unsere Gesellschaft braucht anstrengungsbereite Menschen, die sich nicht mit dem geringstmöglichen Aufwand an den eigentlichen Aufgaben und Anforderungen vorbeimogeln. Es gibt doch auch Glückserfahrungen — meine Damen und Herren, Sie brauchen sich nur selber zu erinnern —, die nur der macht, der sich mit Erfolg etwas abverlangt hat. Diesen höchstpersönlichen Zugang zum Glück dürfen wir niemandem versperren.Dies sind, so meine ich, Fragen — ich habe nur ein Thema herausgegriffen —, von denen man nicht behaupten kann, daß sie durch die eine oder andere Organisationsform der Schule schon beantwortet sind. Diese Fragen reichen tiefer an ein Verständnis des Menschen heran.Dritte Bemerkung. Was die Einzelfragen betrifft, so ist es unbestritten, daß die Schulpolitik eine Sache der Länder ist. Der Kulturföderalismus setzt voraus, daß es in den Ländern auf Grund der landsmannschaftlichen und historischen Gegebenheiten Unterschiede gibt. Diese Unterschiede gibt es selbstverständlich auch zwischen Ländern, deren Regierungen von der gleichen Partei getragen sind. Um jedes Mißverständnis zu vermeiden, sage ich hier mit aller Deutlichkeit: Die niedersächsische Landesregierung hält am bewährten und weiterentwickelten gegliederten Schulwesen fest. Die Gesamtschule hat für uns eine Ergänzungsfunktion. Ich
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14440 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 183. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. November 1979
Minister Dr. Remmers
sage auch hier: Die Gesamtschule hat für uns ihre Serientauglichkeit noch nicht bewiesen.Hier in dieser Diskussion geht es jedoch nicht um die Landespolitik; hier geht es allein um das Sichtbarmachen und die Sicherung der gesamtstaatlichen Verantwortung. Der Bundestag befindet sich insofern in der glücklichen Lage — so könnte man sagen —, für die Kinder in den Schulen nicht unmittelbar haften zu müssen. Die Kultusminister haben dagegen im Rahmen der KMK die Aufgabe, die Freizügigkeit und Vergleichbarkeit der Bildungschancen in unserem Staat zu sichern.Der Kulturföderalismus ist von Hause aus ein Instrument der Verständigung und des Ausgleichs, ohne Unterschiede verwischen zu müssen. Der Kulturföderalismus ist gewissermaßen ein Kernstück unserer pluralistischen Gesellschaft, die es für wichtig hält, das Gespräch mit dem Andersdenkenden nicht abreißen zu lassen. Bisher ist die KMK — zugegeben: wenn auch unter Mühen — ihren Aufgaben gerecht geworden. Dem Bund stände es gut an, den Kulturföderalismus zu respektieren, statt ihn, wie wir es heute bei Herrn Schmude gemerkt haben, mit seiner Vorliebe für die Polarisierung zu gefährden.
Meine Damen und Herren, ich bin innerhalb der Bund-Länder-Kommission nicht zurückgetreten, um ein Ende zu machen, sondern um einen Anstoß für eine erneute bildungspolitische Nachdenklichkeit zu geben. Ich möchte deshalb hier auch nicht Vergangenheitsbewältigung betreiben, sondern nur fragen: Wie kann es weitergehen? Niemand kann und will im Ernst die Gesamtschüler von heute über ihre künftigen Abschlüsse im Ungewissen lassen. Niemand von uns wird die Absicht haben, die Gesamtschüler gewissermaßen freiwillig zu Märtyrern zu machen.Die Gesprächsmöglichkeiten innerhalb der KMK sind noch nicht voll ausgeschöpft. Die öffentlichen Äußerungen von Bildungspolitikern aus den verschiedenen politischen Lagern geben zu erkennen, daß die Chance für ein erfolgreiches Weiterverhandeln durchaus gegeben ist. Dies hat auch die Debatte heute meiner Ansicht nach gezeigt. Ich bin also in dieser Hinsicht kein Pessimist. Ich bekenne offen: Ich habe die Hoffnung, daß wir uns auf die wirklichen Fragen im Zusammenhang mit der Schule, wie ich sie angedeutet habe, einlassen.Wenn wir das tun, dann werden wir auch mit ein wenig mehr Gelassenheit an die Fragen der Vergleichbarkeit der Abschlüsse erneut herangehen können. Lassen sie mich hier einmal deutlich machen, worum es bei dieser Vergleichbarkeit geht. Wir müssen ja einen Maßstab haben. Wir haben von unserer Seite gesagt: Wir nehmen den Maßstab des gegliederten Schulwesens und dessen Abschlüsse.
Dies ist zunächst einmal wichtig, weil wir gar keinen anderen Maßstab haben. Aber — das sage ich hier auch — wir können an eine solche Vergleichbarkeit natürlich nicht mit der Mikrometerschraube herangehen und ganz genau austüfteln, wie sich das in jeder Einzelheit darstellt. Vielmehr brauchen wir da eine gewisse Bandbreite. Denn es gibt natürlich auch im gegliederten Schulwesen bei den Abschlüssen eine gewisse Bandbreite. Sie wissen ganz genau, daß man an dem einen Gymnasium so ein Abitur und an jenem so eines bekommen kann. Auch gibt es Unterschiede hinsichtlich eines Realschulabschlusses; es gibt einen Realschulabschluß, den ich an einer normalen Realschule erworben habe, und einen solchen, den ich in einer zweijährigen Fachschule, an der Berufsschule, einer Vollzeitschule erworben habe. Insofern muß es — das darf ich hier einmal für alle sagen — hinsichtlich dieser Vergleichbarkeit, die notwendig ist, die aber nicht Gleichheit sein kann, eine gewisse Bandbreite geben. Dies muß aber andererseits bedeuten, daß in etwa gesagt wird, wieviel Stundeneinheiten ein Schüler, der einen Real' schulabschluß erworben hat — egal, wo —, über die Jahre — grob gerechnet — abgeleistet hat. Man kann hier zwar eine gewisse, knappe Bandbreite zulassen, aber man kann nicht akzeptieren, daß der eine Schüler beim Erwerb seines Schulabschlusses die Stundenzahl eines ganzen Jahres weniger abgeleistet hat als ein anderer Schulabgänger; das ist nicht möglich.In diesem Sinne sage ich also, wir sollten mit einer gewissen Gelassenheit und nicht mit der Mikrometerschraube an die Festlegung der Leistungsprofile herangehen. Das sollten wir schon deshalb nicht tun, weil wir im übrigen unser gesamtes Schulwesen — auch das gegliederte — weiterentwickeln wollen und weil es sich weiterentwickelt. Zu dieser Gelassenheit gehört dann auf der anderen Seite aber auch, daß Allzweckwörter wie Emanzipation, Sozialisation, Angstfreiheit und ähnliche durch konkrete, für jeden vollziehbare Zielbeschreibungen ersetzt werden; dies ist auch notwendig.
Meine Damen und Herren, ich meine, daß wir der jungen Generation diese Gelassenheit und die erforderliche Gesprächsbereitschaft schuldig sind.
Das Wort hat Herr Ministerpräsident Rau .
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Meine Damen und Herren!
— Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! — Entschuldigung, ich bin in Gedanken noch ganz in Düsseldorf.
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Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 183. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. November 1979 14441
Ministerpräsident Rau
— Ach, machen Sie sich keine Sorgen um unsere Regierung. —
Sie haben in der Debatte des heutigen Tages mit mancherlei Beiträgen sehr oft nach NordrheinWestfalen geblickt. Es hat schon in der Rede des Herrn Abgeordneten Pfeifer und später in anderen Diskussionsbeiträgen Hinweise auf die Situation in der nordrhein-westfälischen Landespolitik und auf ihre Ziele gegeben. Dabei ist u. a. auch der Verdacht geäußert worden, daß das Bestreben unserer Landesregierung, ab 1980 mehr Möglichkeiten für mehr Gesamtschulen als Angebote neben dem herkömmlichen Schulsystem zu haben, nichts anders als der Versuch sei, das wieder wettzumachen, was mit dem Volksbegehren gegen die kooperative Schule aus der Sicht der Koalition in Verlust geraten ist.
Mich hat die Debatte heute in einigen Teilen — der letzte Diskussionsbeitrag hat sich da wohltuend abgehoben — weniger an das Volksbegehren gegen die kooperative Schule erinnert, das wir vor zwei Jahren in der Tat nicht haben zum Erfolg führen können
— ja, ja, das hatte ich im Vorsatz schon gesagt; ich habe Ihnen zugetraut, daß Sie den Vorsatz noch in Erinnerung haben —,
sondern mich hat die Debatte hier in einigen Teilen mehr an die Situation erinnert, die wir in Nordrhein-Westfalen vor zwei Jahrzehnten gehabt haben.
— Aber sicher. Wir kennen uns noch nicht lange genug. Fragen Sie einmal die Kollegen, wann ich gekommen bin!
Das hat mich mehr an den Kampf der CDU/CSU für die Beibehaltung der Konfessionsschule und der konfessionellen Lehrerbildung als an die Diskussion erinnert, die wir hinsichtlich der Gesamtschule geführt haben.
Herr Ministerpräsident, fahren Sie bitte in Ihrer Rede fort.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich habe den Beitrag, den Herr Kollege Remmers soeben hier geleistet hat — —
— Ich habe die Reden von heute vormittag nur nachlesen können.
— Darf ich jetzt meinen Diskussionsbeitrag leisten? Ich rede hier nicht für eine politische Partei wie Herr Streibl, sondern ich rede hier, um Ihnen die Position der nordrhein-westfälischen Landesregierung deutlich zu machen.
Wenn Herr Kollege Remmers soeben gesagt hat — —
Meine Damen und Herren, bitte lassen Sie den Herrn Ministerpräsidenten jetzt in seiner Rede fortfahren. Sie haben sich dazu geäußert.
Erlauben Sie eine Zwischenfrage, Herr Ministerpräsident?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ja, gerne.
Bitte, eine Zwischenfrage, Herr Dr. Hennig.
Herr Ministerpräsident, können Sie mir verraten, wo Sie die Reden des heutigen Vormittags nachgelesen haben?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Abgeordneter, ich habe mir die Diskussionsbeiträge von meinen Mitarbeitern, die mitgeschrieben haben, in den Hauptteilen darstellen lassen, einige habe ich nachlesen können, und einige habe ich selber gehört. Zu denen wollte ich gern etwas sagen.
Ich habe beispielsweise die Rede des Hamburger Abgeordneten, dessen Namen ich nicht gegenwärtig habe, sehr genau gehört.
— Ist es schlimm, wenn man nicht alle Abgeordneten kennt, weil man nicht oft im Bundestag ist? Es
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14442 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 183. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. November 1979
Ministerpräsident Rau
kommt doch vielmehr auf die Argumente als darauf an, wer was gesagt hat.
Ich habe geglaubt, es sei hier so, daß ein Redner seine Gedanken im Zusammenhang darstellen, daß er auf Zwischenfragen antworten kann und daß der Bundestag im übrigen eine Stätte des Hörens und Argumentierens und nicht der permanenten Unterbrechung ist.
Herr Kultusminister Remmers hat gesagt, es gehe bei der Schule um einen Maßanzug. Es gehe darum, daß wir jedem das ihm Angemessene anbieten. Er hat gesagt, die Anhänger der Gesamtschule sollten das „niedriger hängen". Er hat weiter gesagt, daß das Stichwort von der Gesamtschule als der demokratischen Schule den Verdacht nähre, die Befürworter der Gesamtschule wollten sagen, die andere Schule sei nicht oder weniger demokratisch. Ich glaube, daß das herkömmliche, das gegliederte Schulwesen in unserem Land nicht diffamiert werden darf, weil die in ihm Tätigen vieles erbracht und geleistet haben und weil wir denen, die da lehren und lernen, helfen müssen, damit sie lehren und lernen können. Aber ich halte die Frage für berechtigt, ob dies die optimale Form sei oder ob man nicht eine andere Form gleichberechtigt danebenstellen sollte, wenn man glaubt, daß es eine andere Schulform gibt, in der besser gelehrt und besser gelernt werden kann als im herkömmlichen System. Dafür ist man dann in der Tat beweispflichtig.
Ich gebe zu, daß das allzu pauschale Reden von der Gesamtschule als der demokratischen Schule falsch ist, wenn es den Verdacht nährt, man wolle behaupten, sie sei die einzige demokratische Schule.
— Ich hatte die Absicht, noch ein paar gute Sätze zu sagen, z. B. den nächsten.
Meine Damen und Herren, erlauben Sie mir dann die Rückfrage: Handelt nicht derjenige, der die Gesamtschule als „sozialistische Einheitsschule" verteufelt, genauso fahrlässig und genauso bösartig wie diejenigen, die meinen, man müsse das gegliederte Schulwesen erst in Grund und Boden verdammen, bevor man ein gleichwertiges oder gar besseres danebenstellen dürfe?
Und wer von der „Unterrichtskolchose" spricht und die Gesamtschule meint — —
— Lesen Sie denn nicht die apokryphen Schriften Ihrer eigenen Partei? Ich habe nicht behauptet, das habe heute jemand gesagt. Wir haben hier eine Debatte über Bildungspolitik, die nicht nur mit den heutigen Positionen und Argumenten zu tun hat, sondern in der man sogar noch den „Bayernkurier" aus der vergangenen Woche zitieren darf, wenn man keine hygienischen Vorbehalte hat.
Herr Ministerpräsident, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Rawe?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ja.
Bitte, Herr Rawe.
Herr Ministerpräsident Rau, können wir uns denn auf folgendes verständigen? Sie selbst haben gerade gesagt, wir wollten hier nicht irgendwelche Scheingefechte führen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Richtig.
Darf ich Sie dann fragen: Wer hat denn diese Vokabeln, die Sie jetzt in den Mund nehmen, heute in dieser Debatte gebraucht?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Sie sind nicht heute in dieser Debatte gebraucht worden, aber mit diesen Vokabeln ziehen doch die engagierten Gegner der Gesamtschule von Ort zu Ort, und wer bei uns Lokalausgaben der Zeitungen liest, kann solche Zitate von verantwortlichen Politikern immer wieder lesen. Dagegen wehre ich mich.Es hat ja heute auch keiner gesagt, daß wir diesen Versuch nicht machen sollten, die verschiedenen nebeneinanderzustellenden Schulformen aus dem Ideologieverdacht herauszuholen. Deshalb habe ich eben dem Herrn Kollegen Remmers, dem ich nicht in allem zustimme, für die Sachlichkeit seines Diskussionsbeitrages gedankt und habe hinzugefügt: Wer diese Sachlichkeit will, darf dann aber nicht draußen im Lande eine Schule unter Ideologieverdacht stellen, wie das vielerorts geschieht.Richtig ist, daß es die angstfreie Gesellschaft nicht gibt. Richtig ist, daß es die angstfreie Schule nicht gibt. Auch da ist Herrn Kollegen Remmers zuzustimmen. Sie haben dafür ein Bibelwort zitiert, Sie haben gesagt, das stehe sogar da: „In der Welt habt ihr Angst." — Richtig, aber es geht ja weiter. Da heißt es dann: „Aber seid getrost."Dann gibt es noch ein paar Stellen, an denen steht, daß „Furcht nicht in der Liebe" ist und daß es zum Wesen der Gesellschaft gehört, daß wir Furcht und Angst abbauen. Und da darf doch wohl jemand der Meinung sein, daß die eine Schule dafür bessere Voraussetzungen bietet als die andere.
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Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 183. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. November 1979 14443
Ministerpräsident Rau
Leistung und Vergnügen darf man nicht so auseinandernehmen.
— Er ist nicht von mir, er ist von Herrn Remmers. — Beides gehört zusammen: richtig. „Leistung" ist kein obszönes Wort. Ganz im Gegenteil, wir leben von der Leistung, wir leben von der Leistung aller Menschen, auch und besonders der Arbeitnehmer in unserem Lande. Aber dann muß doch wohl die Frage erlaubt sein, ob es nicht — auch für die Arbeitnehmer — eine bessere Schule gibt als das gegliederte Schulsystem. Das ist eine Frage, die uns bewegt.
So wenig „Leistung" ein obszönes Wort ist, so wenig darf das Wort „gesamt" die Menschen gleich unter Ideologieverdacht bringen und verdächtigen.
Wenn wir Vergleichbarkeit erreichen wollen, müssen wir über die Kriterien des Vergleichbaren und über die Methoden der Leistungsmessung und des Leistungsdrucks, die es gibt, reden, und wir müssen darüber reden, wie man verhindert, daß man Leistung so mißt, daß das Reformziel der Alternative deshalb nicht erreicht werden kann, weil die Leistungskriterien des Herkömmlichen die eigentlichen Kriterien und die eigentlichen Maßstäbe sind.Wir in Nordrhein-Westfalen haben zehn Jahre Schulversuch mit der Gesamtschule hinter uns. Wir haben die Gesamtschulversuche wissenschaftlich ausgewertet. Wir haben mit diesem einmaligen Versuch wissenschaftlicher Begleitung in der Gesamtschule die wissenschaftlich bestuntersuchte Schule in der Geschichte des Schulwesens. Man darf ja wohl hinzufügen, daß dabei nicht nur Gutes, nicht nur Lobenswertes, nicht nur Unkorrigierbares zustande gekommen ist. Das wußten die, die diese Untersuchung in Auftrag gegeben haben. Aber glauben Sie denn, bei der Untersuchung des Gymnasiums, der Realschule und der Hauptschule, in welchem Bundesland auch immer, kämen nur Lobsprüche zustande und da würden nicht Defizite offenbar, die es seit Jahren und Jahrzehnten in unserem Schulwesen gibt, nicht wegen der Leute, die da lehren und lernen, sondern trotz deren Anstrengungen? Davon muß die Rede sein dürfen.
Wir wollen in Nordrhein-Westfalen die Gesamtschule — wir haben 32 davon — nicht als Zwangsgesamtschule, wie heute morgen Herr Kollege Vogel zitiert hat, sondern wir möchten gerne angesichts eines zunehmenden Drucks von Eltern, daß es mehr Elternrecht und mehr Elternwillen in Nordrhein-Westfalen gibt und daß er sich stärker realisieren kann als bisher.
Das Volksbegehren richtete sich ja nicht gegen die Gesamtschule, sondern gegen die Förderstufe. Die war nicht nur in Nordrhein-Westfalen beabsichtigt. Es gibt andere Lander, in denen es eine Förderstufe gibt. Da gibt es keine Volksbegehren dagegen, da gibt es keine Hirtenbriefe gegen die Förderstufe. Offenbar hat das von Ort zu Ort auch etwas mit Regierungssystemen zu tun.
Wir haben Jahr für Jahr für mehr als ein Drittel der Anmeldungen an den Gesamtschulen keine Plätze. Wir haben einige Schulen, bei denen wir weit über die Hälfte der Anmeldungen abweisen müssen. Wir haben positive Urteile der Eltern, der Schüler, der Lehrer und der Schulaufsicht. Wir schließen aber in Nordrhein-Westfalen daraus nicht, daß nun die Zeit des Angriffs auf das herkömmliche Schulsystem gekommen wäre.
— Deshalb rede ich hier als Ministerpräsident, damit deutlich ist, was Nordrhein-Westfalen will.
Wir schließen daraus, daß die Gesamtschule aus dem Charakter des Schulversuchs heraus muß in den der Angebotsschule und daß sie gleichberechtigt und gleichwertig neben das herkömmliche gegliederte Schulsystem überall da gestellt werden soll, wo die Eltern das wollen.
— Nein, die gleichen Reden haben wir bei Koop nicht gehalten. Da kann ich Sie nur fragen: Wo waren Sie denn, als ich da geredet habe?
Die Gesamtschule wird nach meiner persönlichen Überzeugung den Herausforderungen der 80er Jahre besser gerecht. Sie ist nicht die angstfreieSchule, aber sie kann die Schule mit weniger Angst sein.
Sie ist keine Schule ohne Leistung, aber sie kann eine Schule mit anderen Kriterien der Leistungsmessung als die herkömmliche Schule sein.
— Nicht weniger. Nein, das ist nicht nachgewiesen: weniger Leistung.
Meine Damen und Herren, ich bitte Sie wirklich, den Herrn Ministerpräsidenten ausreden zu lassen. Sie können Zwischenfragen stellen, Sie können zur Diskussion re-
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Vizepräsident Frau Rengerden lassen, aber es ist doch ein Akt der Höflichkeit, dem Ministerpräsidenten die Möglichkeit zum Reden zu geben.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Meine Damen und Herren, Sie wissen, es gibt kein Werk, geschweige denn ein achtbändiges, aus dem man nicht die Zitate herausziehen kann, die einem gerade passen. Das können Sie auch mit einer Evangeliensynopse machen. Damit haben sie aber noch keine Bewertung der Gesamtschule geliefert.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ja.
Bitte, Herr Abgeordneter.
Herr Ministerpräsident, würden Sie es für ein unzulässiges Herausziehen von einzelnen Sätzen halten, wenn in der FAZ von heute in bezug auf Ihr Land festgestellt wird: „Das zentrale Ergebnis ist jedoch, daß bei Abschluß der Pflichtschulzeit, also nach dem neunten Schuljahr, die Schüler der Gesamtschulen deutliche Leistungsrückstände in den Fächern Deutsch, Mathematik, Englisch und im Prinzip auch in Physik gegenüber den Schülern an Hauptschulen, Realschulen und Gymnasien im gleichen Jahrgang haben"?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ja, das würde ich für eine unzulässige Verkürzung des Berichts halten.
— Das werde ich tun, Herr Abgeordneter! Ich bin bereit, mit Ihnen jede Wette zu machen, Daß auch Sie ihn noch nicht vollständig gelesen haben, jedenfalls noch nicht alle acht Bände. Aber es gibt keinen, dem ich nicht zutraue, daß er nicht durch Lesen noch klüger wird, als er schon ist. Es kommt allerdings auf die richtige Lektüre an.
In unserem Land haben die Eltern und die Schüler und die Lehrer derer, die Gesamtschulen besuchen, ein Ja zu dieser Schule gesagt. Wir werden keinen zwingen, diese Schule zu besuchen, und wir werden keine Voraussetzungen dafür schaffen, daß die Wahlfreiheit der Eltern eingegrenzt wird.
Aber eine Partei wie die CDU und die CSU, die jahrelang das Wort „Elternrecht" auf ihre Fahne geschrieben hatte, als das nach dem vermuteten Willen der Eltern ihr zugute kam, sollte jetzt hinnehmen und akzeptieren, daß sie, wenn Eltern andere Wege gehen wollen, nicht die Vormünder dieser Eltern zu sein hat, sondern daß der Staat die Wege freizugeben hat, die Eltern für ihre Kinder und mit ihren Kindern gehen wollen.
Gestatten sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Daweke,
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ja.
Bitte.
Herr Ministerpräsident, wie wird denn das konkret beispielsweise in dem Teil unseres Bundeslands, aus dem ich komme, in Ostwestfalen, aussehen, wenn Sie vor die Frage gestellt sind: Sollen Sie jetzt diesem Elternwillen einer Minderheit nachgeben und die Gesamtschule unter Aufgabe des dreigliedrigen Schulwesens am Ort einführen? Wir haben ja nur eine ländliche Region, und — —
Sie haben eine Zwischenfrage gestellt. Danke schön.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Abgeordneter, ich glaube, daß diese Frage eine rhetorische Frage ist, und zwar deshalb, weil in Nordrhein-Westfalen bei über 7 000 Schulen nur 32 Gesamtschulen existieren und weil selbst dann, wenn die Mehrheit der Eltern eine Gesamtschule will, natürlich der Schulträger sicherstellen muß, daß Gymnasien und Realschulen in ebenso zumutbarer Weise wie Gesamtschulen erreicht werden können.
Das halte ich für selbstverständlich.
— Nicht für jede einzelne Schule.
Das können sie gar nicht. Gibt es denn bei Ihnen eine Bestandsgarantie für jede einzelne Schule angesichts eines Ersatzschulfinanzgesetzes mit 120 privaten Gymnasien, von denen 90 % in konfessioneller Trägerschaft sind?
Die Leistungsfähigkeit der Gesamtschule als Schulform hat sich bei uns erwiesen. Es gibt Mängel. Diese Mängel sind aufgezeigt worden. Sie sind ernst zu nehmen, aber behebbar. Die vorliegenden Auswertungsmaterialien sind eine umfassende und ausreichende Grundlage zur Beurteilung der Gesamtschule in Nordrhein-Westfalen.
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Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 183. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. November 1979 14445
Ministerpräsident Rau
Deshalb liegt die Änderung des Rechtsstatus der Gesamtschule von der Versuchsschule zur Angebotsschule nahe. Aber wir möchten vor einer solchen Entscheidung die öffentliche und die parlamentarische Diskussion, und wir wollen die Ergebnisse der Diskussion in die Entscheidungen der Landesregierung einbeziehen. Das kann nur dann geschehen, wenn wir für die Argumente des anderen offen sind, wenn wir die sachliche Auseinandersetzung suchen, wenn wir die Beurteilungskriterien offenlegen, auch die, die uns zu Präferenzen für bestimmte Schulen geführt haben, und wenn wir die Schulen aus der Keulenschlacht des Wahlkampfes heraushalten, in die wir sie nicht hineingebracht haben,
damit es nicht zur Auseinandersetzung auf dem Rücken von Schülern, Eltern und Lehrern kommt. Ich, der ich achteinhalb Jahre lang der Kultusministerkonferenz angehört habe, hoffe, daß dort noch die Möglichkeit zum Konsens ist, daß dort keine Außensteuerung stattfindet, daß dort nicht um des Wahlkampfes willen Prinzipien geopfert, Alternativen verschwiegen, Offenheiten mißbraucht werden. — Herzlichen Dank denjenigen, die bereit waren, zuzuhören.
Das Wort hat der Herr Minister Professor Herzog .
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Präsident! Meine Damen und Herren! Ich komme zum Bildungsgesamtplan zurück; denn über den wird heute gesprochen. Ich sage am Ende dieser Debatte ausdrücklich noch einmal für mich und meine Kollegen aus den CDU- und CSU-regierten Ländern, daß wir weiterhin gesprächsbereit sind, daß wir nicht davon ausgehen, den Bildungsgesamtplan platzen zu lassen, daß wir aber nach älteren und jüngeren Erfahrungen jetzt eine Reihe von Bedingungen zu formulieren haben.Erstens. Wir wollen — und das ist ein gerechtes Verlangen — glasklare Abmachungen. Wir werden uns nicht mehr auf Formelkompromisse einlassen. Dazu sind wir zu oft hinters Licht geführt worden. Die Geschichte, die der Herr Ministerpräsident Dr. Vogel heute früh vorgetragen hat, ist eine Geschichte von ununterbrochenen Alleingängen, zum- Teil Vertragsbrüchen der anderen Seite. Darauf werden wir uns nicht mehr einlassen. Das geht bis hin zur Verfahrenseinigung vom 18. Juni.Wenn eine Verfahrenseinigung darin besteht, daß man zunächst ohne jegliche Wertung unterschiedliche Positionen gegeneinanderstellt und die eine Seite dann hinausgeht und dies als den Kompromiß feiert, und darin, daß man ehrliche, grundsätzliche und richtige Verfahrens- und Beratungsvorschläge vereinbart und die andere Seite hinausgeht und nach einem Vierteljahr in der Achter-Kommission Bedingungen aufstellt, die die Weiterarbeit unmöglich machen — das war die SPD-Seite, das war der Staatssekretär Thiele aus Düsseldorf —, dann können wir sagen: auf dieser Basis nicht. Ich sage aber ausdrücklich: Wenn wir zu klaren Formulierungen kommen — das wird Zeit kosten —, wollen auch wir diesen Bildungsgesamtplan.Zweitens. Wir verlangen — und das ist ein gerechtes Verlangen — klare Verhältnisse in dieser Planung. Das bedeutet, daß wir über die Finanzierung Bescheid wissen müssen.
Allein für das Jahr 1983 differieren die Vorstellungen der Kultusministerseite und der Finanzministerseite um acht bis zehn Milliarden DM. Ich gebe meine Unterschrift nicht unter ein Papier, in dem die Bürger dieses Landes wieder einmal mit großen Versprechungen belogen, hinters Licht geführt werden und man ihnen nicht sagt, daß am Ende, vor der Unterschrift der beteiligten Ministerpräsidenten und Minister, ein allgemeiner Finanzierungsvorbehalt steht Das können wir unseren Mitbürgern nicht zumuten.
Wir wollen auch insofern klare Verhältnisse — auch das ist ein billiges Verlangen —, als wir endlich wissen wollen, worin sich die Gesamtschulen und die Regelschulen in allen Ländern in ihren Leistungen, in dem, was geboten, und in dem, was verlangt wird, unterscheiden und worin sie sich ähnlich sind.Die Arbeiten der vorhin schon zitierten AchterKommission haben ergeben, daß die Verhandlungspositionen, mit denen die CDU-regierten Länder, und die, mit denen die SPD-regierten Länder in die Beratungen gegangen sind, bei der Hauptschule um fast 1000 Unterrichtsstunden in fünf Schuljahren, bei der Realschule und bei den Gymnasien in sechs Schuljahren um über 1300 Unterrichtsstunden differieren. Meine Damen und Herren, wer rechnen kann, der sieht, daß es hier um ein volles Schuljahr geht, von dem der Herr Kollege Remmers vorhin gesprochen hat Wir werden in diesen Verhandlungen nie hundertprozentige Einigkeit, hundertprozentige Regelzahlen verlangen oder erreichen können. Aber wenn es um den Unterschied eines Schuljahres geht, meine Damen und Herren, muß ich Sie fragen: Wie soll ich mich vor meine baden-württembergischen Eltern und Schüler hinstellen, um ihnen zu erklären, daß bei dieser Bandbreite die gleichen Berechtigungen erteilt werden? Darüber wird man reden müssen, darüber wird man auch reden können. Aber es geht nicht so, Frau Schuchardt, daß man im Gesetz festsetzt, daß das alles gleichwertig sei, oder, wie der Kollege Rasch sagt, das alles „garantiert". Ich weiß auch, daß es hier nicht nur um Zahlen, um Stunden und dergleichen geht; das ist völlig klar. Aber irgendwo hängen die Dinge doch zusammen. Ich muß dringend dazu raten, daß wir uns über diese Fragen konkret, nüchtern, kompromißbereit und ohne Zugzwang — weil der Bildungsgesamtplan gerade jetzt oder im März 1980 unterschrieben werden soll — noch einmal unterhalten.Drittens. Wir wollen, daß wir uns in diesem Zusammenhang alle gegenseitig nichts in die Taschen lügen und nichts in die Taschen lügen lassen. In Ba-
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14446 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 183. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. November 1979
Minister Dr. Herzog den-Württemberg, wo ich Kultusminister bin, fürchten Hunderte von Gemeinden und Hunderttausende von Eltern um die eine Hauptschule, die am Ort noch ist, um die eine Realschule, die am Ort ist, um das eine Gymnasium, das am Orte oder das in erreichbarer Nähe ist. Darum fürchten die. Wenn ich die Verhältnisse von heute auf 1986 hochrechne, habe ich in diesem Land 70 % einzügige Hauptschulen. Ich bin heute bereits dabei, mit 2 600 Lehrerdeputaten — das sind zig Millionen Mark — kleine ländliche Schulen zu halten. Das gilt bei den Grund- und Hauptschulen im Augenblick bereits. Wir sind jetzt dabei, das in den Realschulen fortzusetzen.Wie kann denn, Herr Kollege Maihofer, diese segensreiche Theorie, die Sie hier entwickelt haben und die ich im Prinzip, in der Theorie sofort unterschreibe, funktionieren, daß man in einer solchen Situation in sich entleerenden agrarischen Räumen, um deren gerechte Beteiligung an unseren Bildungschancen es geht, um die es in einem Land wie dem meinen primär geht, in einem solchen Land Regelschulen und Gesamtschulen nebeneinandersetzt und außerdem man nach Ihrem höchst gerechten, aber eben leider auch höchst originellen Vorschlag bei den Regelschulen dann noch Halbtags- und Ganztagsschulen nebeneinandersetzt und auch bei den Gesamtschulen Halbtags- und Ganztagsschulen nebeneinandersetzt?
Es ist unglaublich, so etwas überhaupt zu diskutieren.Wir wollen— damit komme ich auch schon zum Schluß — dann auch wissen, wie es in den SPD-Ländern mit der Chancengleichheit des Regelschulwesens und des Gesamtschulwesens bestellt ist. Ich will wissen, ob wir eine Garantie haben können. Wir sollten es auch in unseren Ländern allmählich anstreben, daß eine Gesamtschule oder auch eine Regelschule nicht besser als eine Regelschule oder Gesamtschule umgekehrt ausgestattet wird.Weil heute von SPD-Seite so viel vom Elternwillen geredet worden ist, möchte ich wenigstens noch daran erinnern, daß sich das höchste deutsche Gericht, das Bundesverfassungsgericht, damit befassen mußte, ob es dem Land Hessen erlaubt war, das Hinüberwechseln von hessischen Schülern in rheinland-pfälzische Schulen zu verbieten. Ich sage das, was ich in diesem Zusammenhang immer gesagt habe, auch hier: das ist das dingliche Recht des Regierenden an seinen Untertanen. So etwas hat es in Deutschland seit dem 18. Jahrhundert nicht mehr gegeben.
Ich möchte noch einmal ausdrücklich folgendes sagen. Gehen wir diese Probleme an; verhandeln wir in aller Ruhe und in aller Offenheit klar, mit einer klaren Einsicht in das, was in Planung möglich ist und das was nicht möglich ist, und hören wir endlich auf, uns auf diesem Gebiet Dinge in die Tasche zu lügen.Schlußwort! Ich habe in diesem Jahr etwa 120 Lehrer- und Elternveranstaltungen hinter mir. ImLande Baden-Württemberg ist mir die Frage, die heute hier so diskutiert worden ist, ein einziges Mal gestellt worden. Im übrigen interessiert unsere Eltern — ich glaube, mit Recht —, ob es Lehrpläne gibt, die man auch ohne Lexikon lesen kann, ob es Schulbücher gibt, die man ohne Lexikon lesen kann, ob es kürzere oder längere Omnibusverbindungen für die Schüler gibt, ob der menschenwürdige Bus eigentlich hergestellt werden kann, ob es Lehrer gibt, die so ausgebildet sind, daß sie auch mit kleinen Kindern reden können, ob der Lehrer die Möglichkeit und auch den Willen hat und es gelernt hat, Zuneigung zu seinen Schülern zu zeigen. Das sind die Dinge, die unseren Eltern auf den Nägeln brennen.
Das, was heute hier geliefert worden ist, war zum größten Teil eine Debatte auf hohem Niveau,
aber ich fürchte, über die Köpfe der Menschen hinweg.
Das Wort hat Herr Bundesminister Schmude.
Frau Präsident! Meine Damen und Herren! Nach der Stimmung, die heute vormittag hier aufgekommen ist und die in einigen spitzen Bemerkungen jetzt noch nachwirkt, möchte ich hier zum Schluß noch einige Erklärungen abgeben.Ich weiß nicht, meine Damen und Herren von der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, ob es der Überblick über die Tatsachen war, den ich heute morgen gegeben habe, oder die Bewertungen, die Ihre Entrüstung in besonderer Weise herausgefordert haben.
Die Tatsachenübersicht allein — ich rate Ihnen, das nachzulesen — spricht eine ausreichend deutliche Sprache. Widerlegen Sie mich an diesen Tatsachen, widerlegen Sie mich an Ihren Absichten, die aktenkundig sind, und ich bin bereit, die Bewertungen zu überprüfen.Nur überrascht es mich etwas, mit welcher Empfindlichkeit Sie reagiert haben. Ich hatte den Eindruck, daß Ihnen eine deutliche und klare, auch eine harte Sprache aus eigenem Gebrauch durchaus vertraut ist.Herr Rühe hat uns vorhin gesagt, Sie hätten sich maßvoll im Stil und vernünftig im Inhalt geäußert. Herr Rühe, mir fiel dazu gerade Ihre Presseerklärung vom 3. Oktober zur hamburgischen Gesamtschulsituation ein, in der es heißt, die Bundesregierung habe sich zum Komplizen des Hamburger Senats und seiner Gesamtschulpolitik gemacht; der
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Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 183. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. November 1979 14447
Bundesminister Dr. SchmudeBundesminister für Bildung und Wissenschaft, Schmude, habe sich entlarvt.
Wissen Sie, da fragt man sich, wieso man als „entlarvter Komplize'' überhaupt noch frei herumläuft, wenn man eine solche Sprache hört. Von „maßvoll im Stil" und „vernünftig im Inhalt" jedenfalls kann hier überhaupt nicht die Rede sein.
Ich habe heute morgen keinen Blick auf die Vorgeschichte dieses Kompromisses vom 18. Juni getan. Wenige Sätze sollen das denn doch noch beleuchten.Das Gesamtschulproblem — in der Tat, Herr Kollege Herzog, ein kleines Problem angesichts dessen, was wir bei der Fortschreibung des Bildungsgesamtplans zu bedenken und zu bewegen haben — hat uns lange beschäftigt. Monatelang hat es besondere Bemühungen, Besprechungen in Extrakreisen gegeben, um einen solchen Kompromiß zu finden, wie er dann schließlich am 18. Juni gefunden worden ist. Also nichts Überstürztes, es ist dabei nicht irgend jemand überfahren worden, sondern es ist das Ergebnis langer, mühsamer Vorarbeiten.Ich sagte Ihnen: Ich habe diesen Kompromiß begrüßt und begrüße ihn heute noch. Deshalb war ich so bestürzt, als er noch kaum druckfrisch auf dem Papier stand und schon aus München dieses Getöse herüberdrang, diese Kämpfe innerhalb der CSU, bei denen Herr Maier und seine Staatssekretärin in der Tat viel Mühe aufwenden mußten, um sich überhaupt Gehör zu verschaffen.Herr Kollege Maier, auch Herr Ministerpräsident Strauß hat natürlich das Recht, wie Sie hier formulierten, zu sagen: Wir stimmen nicht zu, daß die Gesamtschule in der gemeinsamen Bildungsplanung zur Regelschule werden wird. Nur, das, was wir am 18. Juni vereinbart haben, ist doch auch unter Ihrer Beteiligung vereinbart worden. Sie waren doch dabei. Sie haben doch anschließend dem Herrn Ministerpräsidenten Strauß erklärt, worum es geht und daß seine Eindrücke, nun werde die Gesamtschule etwa auch in Bayern eingeführt, falsch sind. Weshalb ist es dann trotzdem bei diesem Widerstand geblieben?Ich hatte erwartet, daß mit der Kanzlerkandidatur, mit der Nominierung des Kandidaten, Anfang Juli, diese Auseinandersetzungen beendet waren. Ich konnte Ihnen ja nachweisen, daß das auch etwas mit den unionsinternen Konflikten zu tun hatte. Die Folgezeit hat diese Erwartung enttäuscht. Wir hatten eine weitere Entwicklung mit Sondersitzungen der BLK, mit der Absetzung des Termins zur Anhörung der Verbände, mit der Aufkündigung des Terminplans, auf den wir uns im Juni verständigt hatten. Mit anderen Worten: Jene bösen Vorzeichen von Mitte Juni bewahrheiteten sich, wirkten sich aus. Das Werk, das wir mit viel Mühe zustande gebracht hatten, ging wieder verloren, wurde wieder aufgelöst. Das ist die Situation, in der ich es für richtig, für notwendig gehalten habe, deutlich und nachdrücklich auf die Gefahren hinzuweisen, die sich aus einem solchen Verhalten ergeben.Nun hören wir heute, der Kompromiß vom 18. Juni stehe ja nach wie vor, man könne weiterarbeiten. Ich hoffe, daß dann auch die Versuche unterbleiben, diese gemeinsam gefundenen Formulierungen vom Juni nachträglich wieder zu ändern. Wir haben entsprechende Anträge in der Bund-LänderKommission vorliegen.Wir haben im Juni nicht vereinbart, daß die Gesamtschulabschlüsse an den Abschlüssen des dreigliedrigen Schulsystems zu messen sind, daß das die absolute Meßlatte sein solle. Ich bitte jeden von Ihnen, das im einzelnen nachzulesen. Dies ist nicht vereinbart worden, und Sie sollten hier auch nicht eine solche Bedingung stellen, zumal Herr Remmers mit Recht sagt, hier gehe es nicht mit der Mikrometerschraube, hier muß man Gleichwertigkeit feststellen, hier kann man nicht Gleichheit herstellen.Im übrigen — Herr Kollege Remmers, ich stimme Ihnen darin zu — sollten wir nicht die Gesamtschule hochstilisieren — und wir haben es heute auch nicht getan — als etwas, was nun ohne Alternative das Einzige ist. Ich kenne überhaupt keine Schule, der man mit Euphorie begegnen könnte; sie haben alle mehr oder weniger ihre Probleme, aber sie haben auch alle ihre Vorteile und Chancen, und diese sollte man nennen.
Hier ist davon geredet worden, daß die Finanzen noch ungeklärt seien. Nun, ganz so wild, wie das hier gesagt wurde — ich glaube, von Ihnen, Herr Kollege Herzog —, ist es nicht mehr. Inzwischen ist bei einem Gesamtvolumen der Finanzen von 87 Milliarden DM, die für 1983 anstehen, noch ein Betrag zwischen 2 und 4 Milliarden DM streitig. Aber darum wollen wir uns ja kümmern; das wollen wir ja weiter vorantreiben. Das kann nur nicht die Vorbedingung für die weitere Arbeit sein. Denken wir doch daran, wie es 1973 ausgesehen hat! Da war es doch der Herr Ministerpräsident Vogel — damals Kultusminister —, der gemeinsam mit dem Bundesbildungsminister von Dohnanyi den damaligen Bildungsgesamtplan zur Geltung gebracht hat, obwohl keine Finanzierungszusage vorlag, obwohl es harte Vorbehalte der Finanzministerkonferenz gab. Es ist dann später bei den Ministerpräsidenten und beim Bundeskanzler gelungen, diese Vorbehalte in eine akzeptable Form zu bringen. Stellen wir heute doch nicht die Bedingung, daß, bevor die Bildungspolitiker sich geäußert haben, in finanzieller Hinsicht schon alles völlig klargestellt sein muß.Meine Damen und Herren, ich wiederhole meinen Appell, den Kurs der Konfrontation nicht fortzusetzen. Ich wiederhole meinen Appell, von der Zielvorstellung abzugehen, dies alles, was wir schon einheitlich vereinbart und beschlossen hatten, eigne sich gut für die Auseinandersetzungen im Wahlkampf und bis dahin solle nicht viel laufen. Geht dieser Kurs weiter, dann haben Sie sich auch weiterhin
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14448 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 183. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. November 1979
Bundesminister Dr. Schmudedarauf einzustellen, daß es eine deutliche und klare Sprache dazu geben wird.Auf der anderen Seite appelliere ich an alle Verantwortlichen — und ich tue das im gleichen Sinne wie Herr Remmers —, zum Wege der Zusammenarbeit, zum Wege der Vernunft zurückzukehren. Da läßt sich dann auch vieles ertragen, da lassen sich auch manche Schwierigkeiten und Rückschläge hinnehmen. Nur, man muß sehen, daß es weitergeht und daß das alles nicht nur ein Spiel ist, über das einige längst ihre politische Entscheidung getroffen haben. Wenn wir uns dazu entschließen könnten — es gibt in dieser Debatte heute einige Anzeichen dafür, und es wird am 10. Dezember die Möglichkeit geben, dazu Beweise beizutragen —, werden wir in der Bildungspolitik, glaube ich, wieder zu einem sachlicheren Klima zurückfinden. Das wird dann freilich nicht die Folge haben, daß man sich im Bundestagswahlkampf — unzuständigerweise übrigens — über Bildungs- und Schulfragen bis in alle Einzelheiten streiten kann; aber wir werden einen Beitrag dazu leisten, daß Schüler, Eltern, Lehrer neue Sicherheit gewinnen, daß sie eine klare Zukunft, daß sie neue Chancen vor sich sehen.
Das Wort hat Herr Staatsminister Professor Maier, Bayern.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich bitte um Vergebung, daß ich zu später Stunde doch noch etwas zur Aufklärung, wenn nicht gar zur Entmythologisierung womöglich entstehender Legendenbildung beitragen muß.
Herr Kollege Schmude, nach Ihrer zweiten Einlassung heute muß ich wirklich sagen: Sie können es nicht lassen, auf der anderen Seite können Sie es aber auch nicht beweisen. Sie wiederholen Behauptungen, die ich — übrigens zusammen mit anderen Kollegen — eingehend behandelt, analysiert und widerlegt habe.
Damit Ihre letzten Sätze nicht unwidersprochen stehenbleiben, möchte ich noch einmal folgendes feststellen. Es ist eine Legende, wenn Sie sagen, wir seien von dem Verfahrenskompromiß des 18. Juni abgerückt Sie und auch andere Redner der SPD und FDP haben die Legende entwickelt, daß unter Wahlkampfgesichtspunkten ein Kompromiß gekündigt worden sei. Ich stelle nochmals die Gegenfrage: Wann und wo ist hier ein Kompromiß gekündigt worden? Es grenzt schon an Irreführung der Offentlichkeit, wenn hier immer wieder eine solche Behauptung aufgestellt wird.
Herr Staatsminister, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Gern.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Verehrter Herr Kultusminister, klären Sie uns bitte einmal auf über
den Unterschied zwischen der Erklärung vom 18. Juni, die gemeinsam in einer Pressemeldung der Bund-Länder-Kommission herausgegeben worden ist, und der Erklärung Ihrer Staatsregierung vom 20. Juni, in der diese frühere Erklärung exakt aufgehoben worden ist
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege, es ist überhaupt nichts aufgehoben worden. Aufgehoben — ich muß jetzt den Spieß herumdrehen — haben Sie zumindest bis zur Stunde — darauf haben wir keine Antwort bekommen — aber einen wesentlichen Punkt der Kompromißformulierung vom 18. Juni. Diesen Punkt will ich Ihnen jetzt in Beantwortung Ihrer Frage vorlesen. Es heißt nämlich in dem einvernehmlich verabschiedeten Formulierungsentwurf:Wegen der organisatorisch unterschiedlichen Gestaltung ist es notwendig, die Gleichwertigkeit von Bildungsgängen im Sekundarbereich I und damit die gegenseitige Anerkennung der Abschlüsse entsprechend den bisherigen Regelungen für die Schularten des gegliederten Schulwesens im Hamburger Abkommen zu sichern.Was ist denn inzwischen geschehen? Auf Grund dieses Kompromisses hat man sich dann im August zusammengesetzt. Ende August hat Herr Thiele — auch darauf habe ich keine Antwort bekommen, ich warte schon den ganzen Tag darauf — namens der SPD und der FDP in der Amtschefkonferenz der KMK erklärt — ich gebe es sinngemäß wieder —: Bedaure, Kommando zurück, diese Formulierung „entsprechend den bisherigen Regelungen für die Schularten des gegliederten Schulwesens" kann man offensichtlich nicht aufrechterhalten. Darüber muß die KMK noch einmal beraten. — Mein Gott, es ist wirklich schwer, das deutlich zu machen.Meine Damen und Herren, Sie müssen doch den Beweis für eine falsche Behauptung führen. Ich habe doch die Tatsachen und auch die Texte für mich. Ich bin empört, muß ich sagen, nachdem ich mich jahrelang mit dieser Materie befaßt habe.
Ich gehöre wirklich zum „Urschlamm" der Bildungsplanung. Ich beschäftige mich damit ja seit den Zeiten des Bildungsrates, seit 1966. Ich gehöre wirklich zu denen, die das ganze Versuchsprogramm in seiner Entstehungsgeschichte miterlebt haben, die die Ausweitung, den Kompromiß von 1977 und auch den jetzigen Kompromiß miterlebt haben. Diesen letzten Kompromiß trage ich nach wie vor mit. Sie sind aber doch den Beweis schuldig, daß wir einen solchen Kompromiß gekündigt hätten. Erklären Sie uns, in wessen Namen Herr Thiele in der Amtschefkonferenz gesprochen hat und warum man die Bindung des Vergleichs an das gegliederte Schulwesen aufgegeben hat. Darauf möchte ich eine Antwort von Ihnen — nicht aber Behauptungen, wir hätten unter Wahlkampfgesichtspunkten Kompromisse gekündigt.
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Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 183. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. November 1979 14449
Staatsminister Dr. Maier
Es muß auch klar und deutlich festgestellt werden, daß der Vorsitzende der Finanzministerkonferenz Anfang Oktober an uns geschrieben hat, wir von der Bund-Länder-Kommission mögen bitte den Entwurf der Fortschreibung des Bildungsgesamtplans so lange nicht an die Verbände zur Stellungnahme hinausgeben, bis die Finanzminister Gelegenheit gehabt hätten, sich zu diesem ersten Entwurf zu äußern. Dies ist auch eine immerhin beachtliche neue Tatsache, auf die wir schließlich reagieren müssen.Sie führen alles gleichsam monokausal auf Wahlkampf und auf eine Intervention aus München zurück. Das ist einfach schlicht nicht wahr; es ist nicht so gewesen.Bitte kehren Sie doch zu den Tatsachen zurück. Bitte erklären Sie uns, warum bei den Beratungen in der Kultusministerkonferenz plötzlich von der Bindung an das gegliederte Schulwesen, die ja im Text stand, nicht mehr die Rede war. Sprechen wir doch von den Tatsachen. Es ist kein Kompromiß gekündigt worden, sondern indem wir dem Kompromiß zustimmten — es war ja ein Verfahrenskompromiß, nicht einer in der Sache; unsere schulpolitisch verschiedenen Meinungen bleiben bestehen —, haben wir ein Verfahren gefunden, um die Anerkennungsfrage zu lösen. Im Vollzug dieses Verfahrens sind wir auf diesen harten Kern gestoßen.Ich kann nur wiederholen: Wenn verglichen wird — über Vergleich war man einig —, woran wird dann gemessen, womit wird verglichen? Wir, die Union, sagen: Man kann nur von dem gegliederten Schulwesen ausgehen, das ja über 90 % unserer Schüler in der Bundesrepublik besuchen. Daran muß sich auch eine neue Schulform orientieren. Ich stimme Herrn Remmers völlig zu, daß man das nicht mit der Millimeterschraube machen kann. Aber es ist auf der anderen Seite klar — Herr Herzog hat darauf hingewiesen —: Es kann nicht so sein, daß in einem Fall 100 Stunden das gleiche Ergebnis bringen wie 190 Stunden. Das ist ein ganz grober Verstoß gegen die Chancengleichheit, die Sie immer im Munde führen.
Ich hätte das wirklich alles nicht gesagt, wenn es nach den Worten von Herrn Schmude, nachdem wir doch den ganzen Tag den Hergang und den Punkt der Kontroverse geklärt haben und ich für Ihre Gegenbehauptungen nicht den Schatten eines Belegs und eines Beweises gehört habe, nicht notwendig gewesen wäre, das noch einmal klarzustellen. Ich bitte um Verständnis, daß ich mich deswegen noch einmal zu Wort gemeldet habe, und danke fürs Zuhören.
Wortmeldungen liegen nicht mehr vor. Ich schließe die Aussprache.
Der Ältestenrat empfiehlt, die Anträge auf Drucksache 7/2955 und 7/3271 an den Ausschuß für Bildung und Wissenschaft — federführend — und an den Ausschuß für Jugend, Familie und Gesundheit — mitberatend — zu überweisen. Ist das Haus damit
einverstanden? — Ich sehe und höre keinen Widerspruch. Es ist so beschlossen.
Ich rufe Punkt 3 der Tagesordnung auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Verwaltung der Mittel der Träger der Krankenversicherung
— Drucksache 8/3126 —
a) Bericht des Haushaltsausschusses gemäß § 96 der Geschäftsordnung
— Drucksache 8/3325 —
Berichterstatter: Abgeordneter Prinz zu Sayn-Wittgenstein-Hohenstein
b) Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung
— Drucksache 8/3267 —
Berichterstatter: Abgeordneter Egert
Wünscht einer der Berichterstatter das Wort? — Das ist nicht der Fall.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Herr Abgeordnete Neuhaus.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Meine Fraktion stellt mit Befriedigung fest, daß entsprechend den Erklärungen aller Fraktionen in der ersten Lesung am 20. September dieses Jahres eine zügige und sachgerechte Beratung des Gesetzentwurfs über die Verwaltung der Mittel der Träger der Krankenversicherung im Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung möglich war, die zu der heute dem Hohen Hause vorliegenden einstimmig verabschiedeten Beschlußempfehlung führte.Ergänzend zu dem im Gesetzentwurf der Bundesregierung enthaltenen und auch von uns geforderten neuen § 257 e der Reichsversicherungsordnung, der grundsätzlich die Kassenzuständigkeit für behinderte Jugendliche in Berufsbildungswerken in sachgerechter Weise neu regelt, indem die bisher auf wenige Kassen konzentrierten erheblichen Belastungen auf eine Vielzahl von Kassen, nämlich in der Regel die Kassen der Heimatorte der Behinderten, verteilt werden, wurde auf unseren Vorschlag hin eine Übergangsregelung beschlossen, die sicherstellt, daß die Änderung der Kassenzuständigkeit für die bereits heute in Berufsbildungswerken tätigen jugendlichen Behinderten bereits ab 1. Januar 1980 Anwendung findet.Die Bedeutung dieser Änderung lassen Sie mich bitte an einem Beispiel erläutern, mit dem ich mich selbst in den letzten drei Jahren intensiv beschäftigt habe. Im Kassenbezirk der Allgemeinen Ortskrankenkasse Heidelberg, der einen Großteil meines Wahlkreises umfaßt, befinden sich allein drei Rehabilitationsstätten mit jugendlichen Behinderten. Zwei davon weisen besondere Ausbildungsstätten für Bluter auf, was mit einer erheblichen Konzentration von Patienten und damit von Kosten für diese Krankenkasse verbunden ist.
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14450 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 183. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. November 1979
NeuhausDen jährlichen Beitragseinnahmen für die nach § 165 Abs. 1 Nr. 2 a RVO versicherten jugendlichen Behinderten von 50 000 DM stehen bisher rund 3 Millionen DM, also das Sechzigfache, an Leistungen für denselben Versichertenkreis gegenüber. Ab 1. Januar 1980 werden sich diese 3 Millionen DM an Krankenkassenleistungen auf über 175 Krankenkassen über das gesamte Bundesgebiet verstreut verteilen. Dadurch wird die AOK Heidelberg entsprechend entlastet.Entsprechend der Anregung meines Fraktionskollegen Dr. Becker in der ersten Lesung wurde auf interfraktionellen Antrag in § 365 Abs. 4 RVO der Zwang einer Beitragssatzerhöhung allein zum Zweck der Rücklagenauffüllung beseitigt.Letztlich wurde eine Kosteneinsparung bezüglich der Gebührenregelung für Wahlbriefe bei den Sozialversicherungswahlen erreicht, eine Regelung, die angesichts der Wahlen im kommenden Jahr wohl dringlich war.Meine Damen und Herren, obwohl sich an der in der ersten Lesung ebenfalls vom Kollegen Dr. Bekker angesprochenen politischen Absicht der Koalition, der auch gar nicht widersprochen wurde, mit Hilfe dieses Gesetzes ein wenig länger Ruhe an der Beitragsfront der Krankenkassen zu erreichen, nichts geändert hat, stimmt meine Fraktion diesem Gesetzentwurf zu. Wir wollen schließlich nicht, meine Damen und Herren, daß Anfang 1981, nämlich dann, wenn wir wieder die Regierungsverantwortung im Bund übernehmen, eine Welle von Beitragserhöhungen allein aus Gründen der Rücklagenauffüllung erfolgt.
Diese flexiblere Lösung bei den Rücklagen, die Übergangslösung in Verbindung mit dem neuen § 257 e RVO, die Abgrenzung des Vermögens der Krankenkassen nach Betriebsmitteln, Rücklagen und Verwaltungsvermögen sowie die funktionsgerechte Gestaltung der Bereithaltung der Mittel der Krankenkassen erscheinen uns vernünftig und notwendig. Dies hat uns die Zustimmung möglich gemacht.Lassen Sie mich hier aber doch eines anführen. Unangenehm berührt hat uns, die Mitglieder meiner Fraktion im Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung, die Tatsache, daß im schriftlichen Bericht des Kollegen Egert mit keinem Wort darauf hingewiesen wird, daß in den Ausschußberatungen seitens meiner Fraktion ausdrücklich die Frage des Beitragseinzugsverfahrens bei den Ersatzkassen angesprochen wurde, hat doch Herr Kollege Schmidt bei der ersten Lesung des Gesetzentwurfs auf die diesbezügliche Zwischenfrage des Kollegen Dr. Becker — ich muß ihn leider noch einmal erwähnen - wörtlich erklärt: „Ich kann mir vorstellen, daß es möglich ist."Ähnliches hörten wir von Ihnen, Herr Kollege Schmidt , allerdings schon 1975 — ich glaube, es war am 5. Juni — bei der ersten Lesung des Krankenversicherungs-Weiterentwicklungsgesetzes. Ich darf Ihre damaligen Ausführungen zitieren:Dabei darf ich für die Beratungen seitens der Freien Demokraten noch einen Gedanken in die Diskussion einbringen. Wir sind der Meinung, daß im Rahmen der Beratung darüber nachgedacht werden sollte, ob es nicht möglich ist, das gesamte Beitragssystem, auch die Beitragszahlungen an die Ersatzkassen, auf dem bisherigen, nur für die gesetzlichen Krankenkassen vorgesehenen Weg zu regeln, ob wir nicht ein generelles Beitragszahlungssystem im Rahmen der RVO verankern können.Leider muß man den Eindruck haben, daß die FDP auch in dieser Frage zwar vor der Offentlichkeit den Mund spitzt, aber dann, wenn es darauf ankommt, nicht pfeift, und zwar deshalb nicht, weil sie sich eben beim Koalitionspartner, der etwas ganz anderes will, nicht durchsetzen kann.
Für die SPD, meine Damen und Herren, hat Herr Kollege Glombig wiederholt deutlich gemacht — das ist ja auch dem Orientierungsrahmen '85 zu entnehmen —: Gleichbehandlung der Ersatzkassen nur bei Gleichschaltung. Dabei hätte sich gerade dieser Gesetzentwurf für diese überfällige Korrektur angeboten, und zwar keineswegs nur im Interesse der Ersatzkassen, sondern insbesondere im Interesse der Versicherten. Denken wir doch auch hier einmal an die Frage des Datenschutzes, aber auch an das den Versicherten auferlegte Meldeverfahren. Es hätte sich hier jetzt deswegen angeboten, weil in diesem Gesetz den Behinderten in Berufsbildungswerken gemäß § 257 e Abs. 4 RVO die Möglichkeit eröffnet wird, auch Mitglied einer Ersatzkasse zu werden. In diesem Gesetz hat man die Ersatzkassen zwar angesprochen, aber die Regelung des Beitragseinzugsverfahrens hat man erneut hinausgeschoben.Letztlich entspricht die Änderung des Beitragseinzuges — dies soll nur der Ordnung halber noch erwähnt werden — auch einem lang angemeldeten Wunsch der Rentenversicherungsträger, insbesondere im Hinblick auf die neuzeitliche, heutige EDV-Verarbeitung.Wir werden nach unseren Erklärungen, die wir schon im Ausschuß abgegeben haben und die ich hier heute eindeutig bekräftigen darf, diese Frage bei der nächsten passenden Gelegenheit erneut zum Antrag erheben. Dann darf es sicherlich nicht mehr nur bei Absichtserklärungen der Koalition bleiben.
Lassen Sie mich abschließend, meine Damen und Herren, noch eine Bemerkung machen: Ich vermag die von Herrn Kollegen Egert angesprochene Kostendämpfung dieses Gesetzes so nicht zu erkennen. Wenn bisherige, höhere Rücklagen nunmehr aufgelöst werden können, bedeutet dies doch nur eine zeitliche Verschiebung der ansonsten unter Umständen notwendigen Beitragssatzerhöhungen der Krankenkassen je nach der tatsächlichen Kostenentwicklung. Darüber hinaus meine ich — im Gegensatz zu dem, was Sie in der ersten Lesung hierzu gesagt haben —, daß geringere Rücklagen eben auch geringere Sicherheit bedeuten. Sie bedeuten eine größere Konjunkturanfälligkeit und
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Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 183. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. November 1979 14451
Neuhausnicht zuletzt auch Einnahmeausfälle durch den Wegfall von Zinseinnahmen.Um die eigentliche Kostenentwicklung im Gesundheitswesen in den Griff zu bekommen, bedarf es sicherlich anderer und — zugegebenermaßen — wesentlich größerer Anstrengungen, und zwar nicht nur des Gesetzgebers, sondern vor allem der Selbstverwaltung, der Patienten und der Ärzte.
Teilerfolge der Kostendämpfung waren und sind im wesentlichen Erfolge der Selbstverwaltung, die sich im übrigen schon vor Inkrafttreten des Krankenversicherungs-Kostendämpfungsgesetzes deutlich abgezeichnet haben.
Wer nicht nur an Sonn- und Feiertagen über die Stärkung der Selbstverwaltung sprechen will,
wie Sie, Herr Kollege Egert, dies in der ersten Lesung und Herr Kollege Hölscher anderenorts bekundet haben, kann dies ja wohl nicht auf finanzwirtschaftliche Bewegungsfreiheit und organisatorische Fragen reduzieren,
andererseits aber durch steuerliche Maßnahmen, die dieses Haus mit seiner Mehrheit beschlossen hat, und zwar zum falschen Zeitpunkt, z. B. durch die Mehrwertsteuererhöhung am 1. Juli dieses Jahres, selbst zu Kostenerhöhungen beitragen — und dies auch noch beim vollen Steuersatz bei Arzneimitteln.
— Das ist kein Quatsch. Denn natürlich ist es bei den Arzneimitteln ein Kostenfaktor, daß die Mehrwertsteuer erhöht wird. Während wir bei Blumen den halben Steuersatz konzedieren, erheben wir bei Arzneimitteln den vollen Steuersatz.Die in jüngster Zeit vom Bundesverband der Ortskrankenkassen vorgetragene Problematik unterschiedlicher Risikostrukturen — auch wir sehen diese Problematik —, auch die gerade heute in der Fragestunde angesprochene Spannweite der Beitragssätze zwischen den Kassenarten, aber auch innerhalb einzelner Kassenarten bedarf sicherlich gründlicher Überlegungen aller. Grundlage muß aber sein — und das ist für uns eindeutig —, daß unser bewährtes System der gegliederten Krankenversicherung erhalten bleibt. Denn auch dies ist für uns ein Stück Freiheit.
Wir werden uns deshalb über das eigentliche Problem des Kosten-Leistungs-Verhältnisses im Gesundheitswesen unter dem Primat der Menschlichkeit hier sicher noch häufig — und dies auch hart — auseinanderzusetzen haben.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Egert.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Auch ich möchte mit der Feststellung beginnen, daß es uns gelungen ist, diesen Gesetzentwurf im Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung in relativ kurzer Zeit sorgfältig zu beraten und ihn heute in zweiter und dritter Lesung dem Bundestag zur abschließenden Beratung vorzulegen. Ich möchte den Appell in Richtung Bundesrat hinzufügen, daß er sich diesem Vorbild anschließt, so daß wir das Gesetz fristgemäß zum 1. Januar 1980 in Kraft setzen können, damit die Krankenkassen, die weitestgehend ihre Haushaltsplanungen für das Jahr 1980 auf diesen Gesetzentwurf eingestellt haben, diesen auch tatsächlich zur Grundlage ihrer Haushaltsplanung machen können.Mit den Verdiensten bei solch einem Gesetzentwurf ist es immer so, daß jeder das Recht für sich in Anspruch nimmt, verdient zu sein, Verdienste zu haben. Ich will in diesen Wettbewerb mit der Opposition und ihren Rednern heute nicht eintreten. Es wäre für die Genesis dieses Gesetzentwurfs und den Änderungen, die wir vorgenommen haben, sicherlich reizvoll, die Urheberschaften zu untersuchen. Das will ich nicht tun, da es uns nichts bringt. Für mich ist es entscheidend, daß das Versicherteninteresse, das Interesse der Organisationen, die das Versicherteninteresse wahrnehmen, gewahrt wird. Wir sollten sachlich sagen, was tatsächlich geschehen ist und nicht in die Konkurrenz der politischen Eitelkeiten eintreten.Wir haben die Kassenvermögen klar in Betriebsmittel, Rücklagen und Verwaltungsvermögen gegliedert, die ständige Liquidität der Kassen gesichert. Es wird verhindert, daß Finanzmittel in den Rücklagen blockiert werden, und damit — das bedeutet das im Klartext, weg von der abstrakten Sprache — werden die Geldbeutel der Versicherten geschont. Wenn unsinnig gebundenes Geld flüssig gemacht und eingesetzt werden kann, hat das einen Effekt für den Beitragszahler, und darauf kommt es uns an. Das hat dann doch etwas mit Kostendämpfung zu tun, denn für den Familienvater und die Frau, die ihre Kinder erziehen muß, ist es schon wichtig, zu wissen, wann sie aus ihrem Geldbeutel mehr Beiträge für die Versicherung zahlen muß. Wenn das gedämpft werden kann, dann ist das konkret ein Beitrag zur Kostendämpfung. Wir haben nichts von dem zurückzunehmen, was in erster Lesung zu dem Gesetzentwurf gesagt worden ist.Daneben ist sichergestellt worden, daß die Beitragserhöhung nicht allein wegen des Grundsatzes der Auffüllung der Rücklagen notwendig gemacht wird. Wir haben die Beitragssatzkontinuität dadurch erhöht, daß die Rücklagen die Aufgabe einer Schwankungsreserve bekommen.Zusätzlich zu den bereits im Regierungsentwurf getroffenen Regelungen sind während der Ausschußberatungen insofern für die Krankenkassen nicht unwichtige finanzielle Beiträge geleistet worden, als wir die Gebührenregelung für die Sozialwahlen der für die Bundestagswahl geltenden nachgebildet haben. Der Postminister hat sich erfreuli-
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Egertcherweise damit einverstanden erklärt, daß dieses Geld bei den Kassen verbleiben kann. Das ist ein Betrag von 5 Millionen DM. Man kann zwar sagen, daß das nicht viel ist, aber angesichts der angespannten Finanzlage einzelner Kassen ist das ein wichtiger Beitrag, um auch dort ein Stück Entlastung zu bringen.Ein anderer Punkt ist bereits angesprochen worden, den ich auch anführen möchte, weil er uns besonders wichtig war. Bei den Ausschußberatungen haben wir insofern einen Beitrag zum Solidarausgleich geleistet, als das Risiko der Krankenversicherung für behinderte Jugendliche, die in Berufsbildungswerken tätig sind, auf mehrere Krankenkassen verteilt worden ist. Wir haben bei dieser Maßnahme das Wohnortsprinzip der Krankenversicherung im eigentlichen Sinne verwirklicht. Wir sollten in Zukunft durchgängig an diesem Wohnortsprinzip festhalten.Dies ist im Gesetz auch an dem weiteren, nicht unwichtigen Punkt geschehen, wo es um das Recht der unständig Beschäftigten geht. Was verbirgt sich hinter diesem seltsamen Wort? Es sind im wesentlichen die freien Mitarbeiter, die bei Rundfunk, Fernsehen und bei den Zeitungen tätig sind. Für diese Gruppe haben wir einen Schritt zur Anpassung an das allgemeine Krankenversicherungsrecht gemacht. Dabei ist festgesetzt worden, daß die unständig Beschäftigten bei der Ortskrankenkasse ihres Wohnorts versichert sind. Wir haben die Hoffnung, daß sich diese Regelung bewährt, trotz der Proteste, die wir gehört haben, daß es aus der Sicht der Rundfunkanstalten — das sind in diesem Fall die Arbeitgeber — bequemer wäre, es beim alten Recht zu belassen. Uns kommt es darauf an, daß wir mit dem Wohnortsprinzip ein Stück versicherten- und bürgerfreundlicher Verfahren; denn schließlich hat die Verwaltung bürgergerecht zu sein und nicht die Bürger verwaltungsgerecht. Deshalb wollen wir diese Proteste, die uns erreicht haben, wohl gemeinschaftlich nicht aufnehmen.Lassen Sie mich einen Punkt noch einmal aufgreifen, weil der Kollege Neuhaus hier den Versuch unternommen hat, nun noch etwas Spannung in die an sich sachliche Beratung zu diesem Gesetzentwurf zu bringen. Er hat gesagt: Der Kollege Egert hat im Ausschußbericht einen ganz wichtigen Punkt vergessen, er hat unterschlagen, daß zum Beitragseinzugsverfahren nichts gesagt wird. — Nun gut, dieser Vorwurf trifft mich hart.Nur will ich Sie, Herr Kollege, eines fragen: Wo ist denn Ihr Änderungsantrag geblieben? Herr Kollege Müller, Ihr bemühtes Eintreten, das Ihre Fraktion nicht aufgegriffen hat, ist sicher ehrenwert.Lassen Sie mich aber zur Sache selbst eine Feststellung treffen: Sie werden an diesen Punkt die Koalition nicht auseinanderdividieren. Der Kollege Schmidt , der Kollege Glombig und ich haben über dieses Thema sehr sorgfältig und lange gesprochen. In beiden Fraktionen sind wir uns darüber einig, daß an diesem Punkt etwas passieren muß. Allerdings haben wir — auch einvernehmlich — gesagt: Dies ist ein Punkt, der insgesamt in die strukturellen Überlegungen, die das Kassenversicherungsrecht angehen und bei denen die Ortskrankenkassen mit ihren Klagen ja gerade einen Beitrag geleistet haben, einbezogen werden muß. Wir haben dazu gesagt: in der nächsten Legislaturperiode.Wir wollen doch in Ausschußberichten auch nur über das reden, was wir wirklich gemacht haben, und wollen nicht sozusagen vom Ausschuß her eine kleine Regierungserklärung zu diesem pikanten Punkt „Beitragseinzugsverfahren" abgeben. Herr Kollege Neuhaus, so verfahren heißt sich verheben. Ich fand es nicht redlich, daß Sie hier versucht haben, einen kleinen Tritt ans Schienbein anzubringen. Nun habe ich ein sehr kräftiges Schienbein, und Sie können treten, soviel Sie wollen, ich werde es überleben. Nur finde ich es unnötig, daß wir die an sich sachliche Beratung mit solchen Punkten belasten.Sie haben weiter gesagt: Eine kostendämpfende Wirkung hat das nicht. Darüber kann man nun streiten. Ich habe das an dem Punkt „Geldbeutel der Versicherten" schon gesagt. Ich bin mit Ihnen darin einig, daß das ein Schritt ist, der nur eine einmalige Wirkung hat. Nur stehen wir eben angesichts der Kostenentwicklung im Gesundheitswesen vor der Frage, ob wir nicht jeden Punkt aufgreifen müssen, der geeignet ist, hier ein Stück Entlastung zu schaffen. Dies ist ein solcher Punkt, und da verheben wir uns nicht. Wir sagen nicht, nun wäre die Kostendämpfung im Gesundheitswesen gelungen, sondern sagen: Dies ist ein Schrittchen, ein flankierender Beitrag dazu, daß die Beitragszahler von Mehrbelastungen verschont bleiben. Dieses Schrittchen nimmt sich mit ca. 2 Milliarden DM, die da an beweglicher Masse erwartet werden, ja gar nicht so bescheiden aus, und ich finde, wir sollten das in diesem Zusammenhang durchaus sehen und es nicht unter Wert verkaufen.Nun haben Sie einen Vorschlag gemacht, indem Sie gesagt haben, es sei ja fast unsittlich, daß sich diese Regierung angesichts der Kostenentwicklung im Gesundheitswesen nicht dazu versteht, steuerlich etwa auf dem Arzneimittelsektor Entlastungen herbeizuführen; sie gehe mit der Mehrwertsteuer sogar noch nach oben und behindere dadurch letztendlich die Kostendämpfung im Gesundheitswesen.Nun, Herr Kollege, ich habe an dieser Stelle „Quatsch" dazwischengerufen. Das war nicht ganz präzise. Ich füge hinzu: es ist ein lebensfremder Quatsch. Das will ich begründen. Zu dieser Forderung, die ja sehr populär ist, die ja von der pharmazeutischen Industrie an jedem Punkt auf den Tisch gebracht wird, damit von deren eigenen Gewinnen, die seit Jahren kontinuierlich wachsen, abgelenkt wird, sage ich Ihnen, sie ist deshalb lebensfremd, weil der kostendämpfende Effekt, den Sie von einer Abschaffung der Mehrwertsteuer an dieser Stelle erwarten — und auch ich finde es ein bißchen unappetitlich, daß in diesem Lande z. B. pornographische Erzeugnisse nur mit dem halben, Arzneimittel aber mit dem vollen Mehrwertsteuersatz belastet sind —, deshalb nicht eintreten wird, weil das nur eine heimliche Preiserhöhung würde. „Lebenfremd" sage ich deswegen, weil ich noch nie erlebt habe, daß eine
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Egertsteuerliche Entlastung, die wir gewähren, dann auch an die Verbraucher, in diesem Falle an die mittelbaren Verbraucher, weitergegeben wird. Dies ist eine heimliche Preiserhöhung, die sozusagen nicht im Blick der Offentlichkeit stattfindet, die ausschließlich die pharmazeutische Industrie begünstigen wird,
und dazu habe ich keine Lust, denn dadurch entsteht ein Loch in der Kasse des Finanzministers, und bei den vielfältigen Aufwendungen, die wir im Gesundheitswesen vornehmen müssen — und das halte ich für einen wichtigen Punkt, gerade wegen der Menschlichkeit im Gesundheitswesen —, sollten wir uns in diesem Punkte doch nicht aufs Glatteis begeben.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Müller?
Bitte, Kollege Müller, sie dürfen mich immer fragen.
Herr Kollege Egert, würden Sie mir wenigstens bestätigen, daß ein Verzicht auf die Herabsetzung der Mehrwertsteuer von dem Versicherten, von den kleinen Leuten bezahlt wird?
Nein, Herr Kollege, wir sind insofern in der Situation, daß die Versicherten doppelt betroffen sind, als einmal die Preiserhöhung sofort stattfinden würde, was die Taschen der pharmazeutischen Industrie füllt, und als zum anderen das beim Finanzminister entstehende Loch mittelbar die Steuerzahler belastet, also die Solidargemeinschaft der Steuerzahler.
Dies ist der Punkt.
Nun ist hier davon gesprochen worden, Herr Kollege Müller, und zwar vom Kollegen Dr. Neuhaus, man solle nicht nur an Sonn- und Feiertagen über Selbstverwaltung reden. Richtig, sage ich, gut gesprochen, der Mann. Nur will ich ihn ermuntern, daß er nach dieser Sitzung an seine eigenen Sätze denkt. Wir beraten gerade im Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung das Krankenhausfinanzierungsgesetz. Wir haben gestern den ersten Durchgang gehabt. Insofern trifft sich das gut. Da sind uns vier Streichungsanträge der Opposition auf den Tisch geflattert. Da haben wir festgestellt, daß die Positionen des Bundesrates alle übernommen werden, die ein Stück von der Selbstverwaltung wegnehmen wollen, die wir in diesem Feld bescheiden ausbauen wollen. Diese vier Streichungsanträge machen deutlich, daß Sie sich hier als Sonntagsredner betätigen und die Selbstverwaltung mit ihren Anliegen nicht ernst nehmen. Wir nehmen sie auch im Alltag ernst. Da kommen dann so bescheidene Gesetzchen heraus, aber diese bescheidenen Gesetzchen fügen sich wie
Mosaiksteinchen und werden irgendwann ein Bild, zu einem Bild, das, wie ich finde, ein wichtiger Beitrag zu diesem Teil des Gesundheitswesens ist.
Lassen sie mich, weil ich die Gelegenheit dazu habe und weil wir über Selbstverwaltung reden, noch eine Bemerkung machen. Ich habe vorhin schon kurz darauf hingewiesen, daß wir die Entwicklung bei den Ortskrankenkassen sehr sorgfältig beobachten. Wir sehen mit erheblicher Sorge, daß sich die Ortskrankenkasse als Säule unseres Krankenversicherungssystems zunehmend dadurch bedroht sieht, daß die Mitgliederentwicklung weg von den Ortskrankenkassen hin zu den Ersatzkassen und von den Ersatzkassen zur privaten Krankenversicherung geht.
Wir sind der Meinung, daß die Selbstverwaltungsorgane — deswegen setzen wir auf Selbstverwaltung — diese Entwicklung sehr ernst nehmen sollten. Sie müssen von sich aus Maßnahmen ergreifen, um dieser Entwicklung Einhalt zu gebieten, weil wir es nicht hinnehmen können, daß sozusagen die Mitglieder mit gutem Risiko im Wettbewerb wandern und daß sich das schlechte Risiko im Wesentlichen bei den Ortskrankenkassen versammelt.
Wir finden, es ist ein bedenkliches Zeichen, wenn sich etwa die Beitragssätze bei den Ersatzkassen und bei den Ortskrankenkassen, die sich jahrelang umgekehrt entwickelt haben, jetzt zu Lasten der Ortskrankenkassen und günstiger bei den Ersatzkassen entwickeln. An diesem Punkt müssen wir insgesamt über die Struktur der Krankenversicherung nachdenken. Wir setzen dabei mit Vorrang auf die Selbstverwaltung.
Wenn es die Selbstverwaltung nicht schafft, den Solidarausgleich innerhalb der Krankenversicherung sicherzustellen, dann, so meinen wir, ist allerdings der Gesetzgeber gefordert, um Fehlentwicklungen zu korrigieren. Wir stehen alle in der Pflicht, unser gegliedertes System der gesetzlichen Krankenversicherung funktionsfähig zu halten.
Die Beratung dieses Gesetzes im Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung haben wir einvernehmlich abschließen können. Dies zeigt, so meine ich, daß wir uns dieser Verantwortung, wenn wir nur wollen, bewußt sein können. Das zur Verabschiedung anstehende Gesetz ist ein Beitrag zur Aufrechterhaltung der Funktionsfähigkeit unserer Krankenversicherung. Ich bitte Sie namens der sozialdemokratischen Bundestagsfraktion, diesem Gesetz zuzustimmen.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Schmidt .
Frau Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es könnte zwar jetzt reizen, die etwas munter gewordene Debatte über dieses Gesetz fortzusetzen, trotzdem möchte ich mich in Anbetracht der späten Stunde und der noch vor uns liegenden Tagesordnungspunkte auf vier Bemerkungen beschränken.
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Schmidt
Erstens. Meine sehr geehrten Damen und Herren, wir begrüßen es — dies habe ich für die Freien Demokraten schon in der ersten Lesung deutlich gemacht und brauche es daher im Detail nicht zu wiederholen —, daß dieses Gesetz so schnell vorgelegt wurde und nunmehr auch zügig beraten und heute verabschiedet werden kann, weil wir sehr großen Wert darauf legen, daß die eigentlich schon vor Jahren fällige Neuordnung der Rücklagen —, da das Ganze ja mit dem Lohnfortzahlungsgesetz zusammenhing —, nunmehr endgültig vollzogen wird, weil dabei der Spielraum der Selbstverwaltung, der wir großes Augenmerk schenken, im Rahmen der Möglichkeiten für diese Rücklagen und die Aufteilung der Mittel weiter ausgedehnt wird und weil zum dritten dadurch schon ein Stück Beitragsstabilität erreicht wird.Meine zweite Bemerkung. Es ist sicher richtig, Herr Kollege Neuhaus, daß damit kein riesiges Maß an Kostendämpfung erreicht wird. Aber — der Kollege Egert hat schon darauf hingewiesen — es wird zunächst einmal die Möglichkeit erreicht, gewisse Beitragsentwicklungen, die sich abzeichnen, zu stabilisieren.Weiter wird es darauf ankommen — und dies ist eine Bemerkung auch an Sie, meine Damen und Herren von der Opposition —, ob wir, dieses Hohe Haus, in der Lage sind, auch den Bereich der stationären Versorgung noch etwas stärker wirtschaftlicher und damit kostendämpfender zu gestalten. Ich glaube, Herr Kollege Neuhaus, wenn sie vorhin von „den Mund-Spitzen und Pfeifen" gesprochen haben — ich komme gleich darauf —, wäre es sicher sehr erfreulich, wenn in der nächsten Ausschußsitzung, wenn es darum geht, etwas mehr Wirtschaftlichkeit, mehr Selbstverwaltung, mehr Möglichkeit der Einwirkung der Kostenträger im stationären Bereich zu beschließen und nicht den Länderegoismus und die Länderkompetenz allein zu verteidigen, diejenigen von der Opposition auch einmal pfeifen würden, die erfreulicherweise mit uns zusammen gesagt haben: Im stationären Bereich muß noch etwas geschehen. In der nächsten Woche sollten also auch diejenigen pfeifen, die bei der Verabschiedung des Kostendämpfungsgesetzes heilige Eide geschworen haben, daß auch im Krankenhausbereich etwas Vernünftiges geschehen muß. Was Sie in dieser Woche vorgelegt haben, sieht nicht danach aus, daß da viel gepfiffen wird.Aber nun meine dritte Bemerkung zu dem, was Sie, Herr Kollege Neuhaus bezüglich des Beitragseinzugsverfahrens an meine Adresse richteten. Ich habe für die Freien Demokraten und für mich persönlich nichts von dem zurückzunehmen, was ich hier mehrmals im Deutschen Bundestag zu diesem Thema gesagt habe.
Der Kollege Egert hat schon darauf hingewiesen. Auch ich habe den Antrag im Ausschuß vermißt. Er ist nicht gekommen. Er ist auch interfraktionell, in den Gesprächen, die stattgefunden haben, von Ihrer Seite in dieser Form nie gestellt worden. Wir waren uns klar — der Kollege Egert hat darauf hingewiesen; ich habe das im übrigen auch einigen Ihrer Kollegen gesagt —, daß diese Frage im Zusammenhang mit einer Reihe anderer zu regelnder Fragen gelöst werden muß. Dies wird geschehen. Die Freien Demokraten werden dafür sorgen, daß dieses Beitragseinzugsverfahren zum richtigen Zeitpunkt im richtigen Gesetz entsprechend geregelt wird.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Müller ?
Herr Kollege Schmidt, würden Sie mir zumindest bestätigen, daß nicht erst 1975, als Sie das gesagt haben, sondern schon im Jahr 1972 vom Bundesministerium lauthals den verschiedensten Mitgliedern der einzelnen Fraktionen erklärt wurde, daß diese Maßnahmen in Vorbereitung sind und demnächst verwirklicht werden. Bis heute sind sie es nicht. Und wenn Sie jetzt sagen: Grundsätzlich ja; aber es ist ungewiß, ob noch in dieser Legislaturperiode, dann frage ich Sie: Sind Sie der Meinung, daß das in der nächsten Legislaturperiode geschieht?
Herr Kollege Müller, ich bestätige Ihnen gern, daß seit 1972 solche Überlegungen bestehen. Ich bestätige allerdings auch, daß es seit 1972 in diesem Hause außer Zwischenfragen von Ihnen nie einen Antrag in diese Richtung gegeben hat;
nur immer Zwischenfragen, um ein bißchen in irgend etwas rumzubohren.
Die letzte Bemerkung. Wir sollten diese Debatte und die Verabschiedung hier nicht abschließen — und das haben auch meine beiden Kollegen getan — ohne eine Bemerkung zu den sich abzeichnenden Diskussionen über die Beitragsentwicklung, über die Unruhe an der Beitragsfront, oder wie man es nennen will. Der Kollege Egert hat darauf hingewiesen. Wir kennen die t Überlegungen des Bundesverbandes der Ortskrankenkassen. Wir Freien Demokraten sehen das mit großer Sorge. Wir halten allerdings dirigistische Maßnahmen oder neue Gesetzesvorhaben in keiner Weise für den richtigen Weg, hier vielleicht notwendige Wettbewerbsentzerrungen vorzunehmen
— Herr Kollege Becker, das werden Sie tun können. Wir haben das große Vertrauen in die Selbstverwaltung, daß sie mit den Problemen nicht nur in den einzelnen Kassenarten fertig wird. Ich denke nur an den Ausgleich. Die Ortskrankenkassen sollten vielleicht einmal nachdenken, ob sie auf Landesebene
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Schmidt
nicht von dem Gebrauch machen sollten, was andere Kassen auf Bundesebene auch tun müssen. Dies haben wir im Gesetz bereits ermöglicht. Dazu brauchen wir kein neues Gesetz. Wir setzen in die Selbstverwaltung das Vertrauen, daß sowohl in den Kassenarten wie auch zwischen den Kassenarten im Rahmen eigener Lösungen hier Dinge abgebaut werden, die Schwierigkeiten bringen könnten. Wir glauben nicht, daß dazu ein neues Gesetz notwendig ist. Wir werden uns an einem solchen auch nicht beteiligen.
Das Wort hat der Herr Parlamentarische Staatssekretär Buschfort.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Erfreulicherweise befinden wir uns bereits heute in der Schlußberatung eines Gesetzentwurfs, den wir erst am 20. September dieses Jahres hier in erster Lesung behandelt haben. Ich möchte diese Gelegenheit nutzen, mich bei allen Beteiligten, vor allem bei den Kolleginnen und Kollegen des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung, für diese zügige Beratung zu bedanken. Ein so schnelles Vorgehen war nur möglich, weil das Anliegen dieses Gesetzentwurfs die einmütige Zustimmung des Hauses, der Länder und der Verbände gefunden hat. Ich begrüße dies ausdrücklich; denn damit kann nach dem Krankenversicherungskostendämpfungsgesetz eine weitere Initiative der Bundesregierung zur Sicherung der finanziellen Grundlagen und zur Stärkung der eigenverantwortlichen Finanzwirtschaft der gesetzlichen Krankenversicherung abgeschlossen werden.
Lassen Sie mich die Ziele des Gesetzentwurfs noch einmal kurz zusammenfassen: Die Bestimmungen über die Bereithaltung von Betriebsmitteln, Rücklagen und Verwaltungsvermögen bei den Krankenkassen und Ersatzkassen werden neu geregelt. Die Finanzausstattung der Kassen soll ausreichen, um die laufenden Ausgaben zu erfüllen. Damit können die Beitragssätze währen des ganzen Haushaltsjahres stabil gehalten werden. Ebenso bleibt die Vermögensbildung überschaubar und auf den erforderlichen Umfang beschränkt.
In diesem Zusammenhang möchte ich auf eine Änderung hinweisen, die der Gesetzentwurf während der Beratungen im Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung erfahren hat. Eine Auffüllung der Rücklage kann dann unterbleiben, wenn allein wegen dieser Auffüllung eine Beitragserhöhung notwendig würde. Auch diese Regelung soll die Bemühungen um Beitragsstabilität unterstützen. Sie darf jedoch nicht so verstanden werden, daß dadurch die finanzielle Stabilität der Kasse außer acht gelassen werde.
Ein zweites Ziel, das ich hier ansprechen möchte, ist mit dem Gesetzentwurf ebenfalls erreicht worden: Es ist gelungen, das Recht der Krankenversicherung der unständig Beschäftigen weitgehend
an das Recht der sonstigen Arbeitnehmer anzupassen. In diesem Zusammenhang möchte ich mitteilen, daß die Bundesregierung die Anregung des Bundesrates, durch Rechtsverordnung für alle unständig Beschäftigten eine einheitliche Bemessungsgrundlage für die Beiträge zur Krankenversicherung und zur Rentenversicherung zu schaffen, aufgenommen hat.
Als dritten Punkt möchte ich erwähnen, daß die Kassenzuständigkeit für behinderte Jugendliche in Berufsbildungswerken geändert worden ist. Während bisher einige wenige Krankenkassen die hieraus resultierenden außergewöhnlichen Belastungen zu tragen hatten, ist nun eine Vielzahl von Krankenkassen zuständig.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich zum Abschluß dieses Gesetzgebungsverfahrens noch eine auf weitere, vielleicht auf den ersten Blick weniger wichtig erscheinende Änderung hinweisen: Ich meine die neue Gebührenregelung für die Wahlbriefe bei den Sozialversicherungswahlen. Diese Briefe werden künftig gebührenfrei befördert. Damit werden sie solchen Wahlbriefen gleichgestellt, wie sie z. B. bei den Wahlen zum Deutschen Bundestag verwendet werden. Mit dieser Regelung ist nach Meinung der Bundesregierung die Bedeutung der Sozialversicherungswahlen unterstrichen worden. Deshalb möchte ich die Gelegenheit heute hier nicht verstreichen lassen, ohne schon jetzt alle Wahlberechtigten für die Sozialversicherungswahlen aufzurufen, von ihrem Wahlrecht Gebrauch zu machen. Eine hohe Wahlbeteiligung könnte eindrucksvoll untermauern, daß sich die Selbstverwaltung im Bereich der Sozialversicherung nicht nur bewährt hat, sondern auch in Zukunft das Vertrauen der Versicherten genießt.
Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die Aussprache.Wir kommen jetzt zur Einzelberatung und Abstimmung in zweiter Beratung. Ich rufe die Art. 1 bis 9, Einleitung und Überschrift in der Ausschußfassung auf. Wer zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. — Die Gegenprobe! — Enthaltungen? — Das Gesetz ist damit in zweiter Beratung einstimmig angenommen.Wir treten in diedritte Beratungein. Wird das Wort gewünscht? — Das ist nicht der Fall.Wir kommen zur Schlußabstimmung. Wer dem Gesetz als Ganzem zuzustimmen wünscht, den bitte ich, sich zu erheben. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Das Gesetz ist einstimmig angenommen.Wir haben noch über eine Beschlußempfehlung des Ausschusses abzustimmen. Der Ausschuß empfiehlt auf Drucksache 8/3267 unter Nr. 2, die zu dem Gesetzentwurf eingegangenen Eingaben und Petitionen für erledigt zu erklären. Ist das Haus damit
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Vizepräsident Dr. von Weizsäckereinverstanden? — Ich sehe und höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.Ich rufe Punkt 4 der Tagesordnung auf:Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Neuregelung des Rechts des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle— Drucksache 8/2024 —a) Bericht des Haushaltsausschusses gemäß § 96 der Geschäftsordnung— Drucksache 8/3308 —Berichterstatter: Abgeordneter Westphalb) Beschlußempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses
— Drucksache 8/3305 —Berichterstatter: Abgeordneter Lambinus, Erhard
Wünscht einer der Berichterstatter das Wort? — Das ist nicht der Fall. Anderweitig wird das Wort auch nicht gewünscht.Wir kommen zur Einzelberatung und Abstimmung in zweiter Lesung. Ich rufe die Artikel 1 und 2 und die Artikel 4 bis 6, Einleitung und Überschrift in der Ausschußfassung auf. Wer den aufgerufenen Bestimmungen, der Einleitung und der Überschrift zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. — Die Gegenprobe. — Enthaltungen? — Das Gesetz ist in zweiter Beratung angenommen.Wir treten in diedritte Beratungein. Das Wort wird nicht gewünscht.Wir kommen zur Schlußabstimmung. Wer dem Gesetz als Ganzem zuzustimmen wünscht, den bitte ich, sich zu erheben. — Die Gegenprobe. — Enthaltungen? — Das Gesetz ist einstimmig angenommen.Wir haben noch über eine Beschlußempfehlung des Ausschusses abzustimmen. Der Ausschuß empfiehlt mit Drucksache 8/3305 unter Nr. 2, die zu diesem Gesetzentwurf eingegangenen Petitionen für erledigt zu erklären. — Kein Widerspruch. Das Haus ist damit einverstanden. Es ist so beschlossen.Dann' rufe ich Punkt 5 der Tagesordnung auf:Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umgestaltung der Kilometerpauschale in eine Entfernungspauschale— Drucksache 8/3242 —Überweisungsvorschlag d. Ältestenrates:Finanzausschuß
Ausschuß für Verkehr und für das Post- und Fernmeldewesen Haushaltsausschuß gemäß § 96 GOWird das Wort zur Einbringung gewünscht? — Das ist nicht der Fall.Dann eröffne ich die allgemeine Aussprache. Das Wort hat Frau Abgeordnete Will-Feld.
Herr Präsident! Meine Damen, meine Herren! Es liegt der Entwurf eines Gesetzes zur Umgestaltung der Kilometerpauschale in eine Entfernungspauschale vor. Nach geltendem Recht können Aufwendungen des Arbeitnehmers für Fahrten zwischen Wohnung und Arbeitsstätte steuerlich als Werbungskosten berücksichtigt werden. Voraussetzung ist hierbei, daß die Aufwendungen bei Fahrten mit dem eigenen Kraftfahrzeug entstehen. Für jeden Arbeitstag, an dem das Kraftfahrzeug benutzt wird, werden Pauschbeträge für den Kraftwagen von 36 Pf und für das Motorrad oder den Motorroller von 16 Pf für jeden Kilometer, den die Wohnung von der Arbeitsstätte entfernt liegt, berücksichtigt.Dem Finanzamt gegenüber muß also nachgewiesen werden: einmal die Entfernung zwischen Wohnung und Arbeitsstätte, zum anderen die Anzahl der Arbeitstage und zum dritten das Fahren mit dem eigenen Fahrzeug. Auch zusätzliche Kosten können Berücksichtigung finden, nämlich die Reparaturkosten auf Grund eines Unfalles, der sich bei Fahrten zwischen Wohnung und Arbeitsstätte erreignet, und unter Umständen auch der Wertverlust eines Kraftfahrzeuges, der bei einem Unfall zwischen Wohnung und Arbeitsstätte entsteht.Der vorliegende Gesetzentwurf auf Drucksache 8/3242 wandelt diese sogenannte Kilometerpauschale in eine Entfernungspauschale um. Dabei ist vorgesehen, daß alle Arbeitnehmer für die Entfernung zwischen Wohnung und Arbeitsstätte eine Entfernungspauschale geltend machen können, unabhängig davon, ob sie den Weg von der Wohnung zur Arbeitsstätte im eigenen Wagen, mit der Bahn, dem Bus, dem Fahrrad oder gar zu Fuß zurücklegen. Die Entfernungspauschale soll wie bisher 36 Pf betragen. Außerdem sollen für den Kalendermonat, in dem der Arbeitnehmer beschäftigt ist, 20 Arbeitstage ohne Einzelnachweis anerkannt werden, es sei denn, der Arbeitnehmer weist für den Durchschnitt der Monate eine höhere Anzahl von Arbeitstagen aus.Der Schwerpunkt der Überlegungen — so die Begründung zum vorliegenden Gesetzentwurf — liege in dem Aufstellen einer unwiderlegbaren Vermutung, daß ein Aufwand in Höhe der Entfernungspauschale ohne Rücksicht darauf besteht, ob ein Verkehrsmittel benutzt wird oder nicht. Aus Gründen der Gleichbehandlung aller Steuerpflichtigen werden in die Entfernungspauschale sämtliche Einkunftsarten eingeschlossen, auch die sogenannten Gewinneinkünfte.Die CDU/CSU-Fraktion weiß sehr wohl, meine Damen und Herren, daß der vorliegende Gesetzentwurf intensiv beraten werden muß und auch in seinen rechtssytematischen Auswirkungen überdacht werden sollte, wobei in die Überlegungen auch die Möglichkeit der Erhöhung der Kilometerpauschale einzubeziehen ist.Der Zielsetzung des vorliegenden Gesetzentwurfs ist zu entnehmen, daß mit der Umgestaltung der Kilometerpauschale in eine Entfernungspauschale vor allem der Anreiz verstärkt werden soll, Energie zu sparen in der Weise, daß öffentliche
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Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 183. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. November 1979 14457
Frau Will-FeldVerkehrsmittel benutzt oder Fahrgemeinschaften gebildet werden. In den Ballungsräumen sind in den letzten Jahren die öffentlichen Verkehrsmittel so koordiniert worden, daß der Arbeitnehmer in diesen Regionen auf öffentliche Verkehrsmittel umsteigen kann. Dies ist nicht so in den Flächenregionen. Die Flächenregionen verfügen nicht über ein Angebot eines dichten Netzes von Bahn und Post. Im Gegenteil: Erhebliche Einschränkungen des Zug- und Busverkehrs sind in den letzten Jahren vorgenommen worden, und Bahn und Post haben sich teilweise geweigert, ihre Linienkonzessionen privaten Busbetrieben wenigstens zeitweise zur Verfügung zu stellen. So fehlt es in den Flächenregionen in aller Regel an einem entsprechenden Angebot. Für diese Regionen würde sich die Möglichkeit der Einrichtung sogenannter Fahrgemeinschaften anbieten.Aus einer Antwort des Parlamentarischen Staatssekretärs im Bundesfinanzministerium in der Fragestunde habe ich entnommen, daß die Bundesregierung bereits Mitte Mai 1979 dem Bundesverkehrsminister den Auftrag erteilt hat, die haftungs-, versicherungsrechtlichen, arbeits-, dienstrechtlichen und steuerlichen Gesichtspunkte der Fahrgemeinschaften zu untersuchen. Allerdings liegen die Ergebnisse einer solchen Prüfung noch nicht vor.
Der Anreiz zur Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel und Fahrgemeinschaften wäre sicher ein nicht unerheblicher Beitrag zur Energieeinsparung.Die Einführung der Entfernungspauschale sollte aber auch als ein Beitrag zur Steuervereinfachung geprüft werden. Natürlich werden dann die Arbeitnehmer der Bundesbahn, die seit eh und je ihre Freifahrten haben, oder die Arbeitnehmer, die mit betriebseigenen Fahrzeugen bisher schon abgeholt und nach Hause gebracht werden, auch an dieser steuerlichen Vergünstigung teilhaben. Aber es sollte doch die Frage erlaubt sein, ob nicht schon heute Staatsbürger — ich drücke dies einmal ganz vorsichtig aus — in den Genuß der Vergünstigung der Kilometerpauschale kommen, weil gewisse Nachweise überhaupt nicht nachgeprüft werden können. Bei der Finanzverwaltung wäre nach dem vorliegenden Entwurf nur noch die Bestätigung des Arbeitgebers über die Arbeitsstätte und die Bestätigung der Gemeinde über den Wohnort dem Finanzamt vorzulegen. Die außerordentlich schwierigen Nachweispflichten hinsichtlich der Arbeitstage würden bei der Pauschalierung auf 20 Arbeitstage im Kalendermonat nahezu restlos entfallen.Was aber die Verwaltungsarbeit besonders erschwert und die Mitarbeiter der Finanzverwaltung sehr viel Zeit kostet, ist die Überprüfung der nachgewiesenen Unfallkosten, die Prüfung der Frage, wo, wann und in welchem Umfang diese Kosten entstanden sind. Die Überprüfung, ob der eigene Pkw gefahren oder ob ein anderes Verkehrsmittel benutzt wurde, ist nach dem geltenden Recht für die Finanzverwaltung schier unmöglich und hat viel Ärger, Mißtrauen und Verdruß zwischen Betroffenen und Verwaltung geschaffen.Abschließend, meine Damen und Herren, erlaube ich mir eine etwas ketzerische Anmerkung. Eigentlich müßten die Bundesregierung und die sie tragende Koalition diesen Gesetzentwurf begrüßen;
denn es sind ja ihre Freunde, die sich in dieser Richtung draußen vor Ort äußern. Das hört sich dann so an: es sei unerträglich, daß die steuerliche Begünstigung der jetzt geltenden Kilometerpauschale von der privaten Wahl des Verkehrsmittels abhänge;
der Benutzer des eigenen Autos sei gegenüber dem Benutzer von Bahn, Bus oder gar Fahrrad massiv begünstigt.Meine Damen und Herren von der Koalition, diesem Dilemma kann abgeholfen werden durch die Umwandlung der Kilometerpauschale in eine Entfernungspauschale, die allen Arbeitnehmern eine gleiche Wegekostenpauschale für den Weg von der Wohnung zur Arbeitsstätte gewährt
Das Wort hat der Abgeordnete Professor Diederich.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zu einer guten Entscheidung gehören verschiedene Dinge, drei meiner Meinung nach. Die Idee muß vernünftig sein, sie muß bezahlbar sein, und sie muß im richtigen Zusammenhang stehen und zum richtigen Zeitpunkt behandelt werden.
Ich glaube, das gehört immer wieder zusammen.Damit Sie nicht so auf die Folter gespannt werden, möchte ich es geradeheraus sagen: Wir wollen diesen Vorschlag der Entfernungspauschale, der übrigens schon einmal vor langen Jahren in der Steuerreform-Kommission 1971 von Troeger gemacht worden ist, ernsthaft — und wenn ich ernsthaft sage, dann meine ich positiv — prüfen. Aber wir sehen, Frau Will-Feld — und dazu haben Sie nichts gesagt —, die dafür anfallenden Kosten in einem gröBeren Zusammenhang. Wir sind nicht dafür, hier steuerpolitische Mauerblümchen zu pflücken und uns sozusagen von Kleingesetz zu Kleingesetz zu hangeln,
sondern wir möchten das in den größeren Zusammenhang gestellt sehen und in größerem Zusammenhang prüfen.
Es handelt sich um einen anderen Tatbestand. Ichhabe immer gesagt: zum richtigen Zeitpunkt und imrichtigen Zusammenhang. Ich spreche jetzt über den
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Dr. Diederich
steuerpolitischen Zusammenhang. Ich werde das auch gleich erläutern.Zunächst einmal sehen wir die anstehende Kraftfahrzeugsteuerreform. Wir haben hier bereits — auch zu später Stunde — darüber diskutiert. Sie wissen, daß die Frage der Kraftfahrzeugsteuer in den letzten Jahren immer mehr unter dem Gesichtspunkt energiepolitischer Wirkung diskutiert wird. Ich sehe auch die Frage der Kilometerpauschale und der Entfernungspauschale sehr eng in diesem Zusammenhang.
Insofern darf ich sagen, daß dies nach meiner persönlichen Meinung zusammengehört. Wie Sie wissen, werden wir in dieser Legislaturperiode wohl nicht mehr dazu kommen, eine endgültige Lösung zu finden. Wir werden uns also spätestens in der nächsten Legislaturperiode in diesem Zusammenhang damit zu befassen haben.Der Antragsteller gibt die Mehrkosten bei der Einführung der Entfernungspauschale mit 800 Millionen DM an. Ich habe keine neuen Rechnungen angestellt, aber jedenfalls sind auch schon 800 Millionen DM — ich zweifle daran, daß es dabei bleibt — kein Pappenstiel. Wenn wir uns einig sind, daß wir in einer größeren steuerpolitischen Anstrengung wesentliche steuerliche Erleichterungen gewähren wollen, müssen wir das berücksichtigen. Darum ist für uns der früheste Zeitpunkt, zu dem wir uns in der Lage sehen, die Umwandlung der Kilometerpauschale in eine Entfernungspauschale zu prüfen, die Beratung des Pakets für das Steuerentlastungsprogramm 1981. Dahin gehört es,
dort werden wir es diskutieren und prüfen.
Nachdem ich diese Grundfragen hier klargestellt habe, möchte ich zur Sache im einzelnen kurz Stellung nehmen. Frau Will-Feld, Sie haben auf die großen energie- und umweltpolitischen Wirkungen hingewiesen. Ich möchte das ein bißchen zurechtrücken. Ich möchte vor Illusionen warnen, denn ich glaube nicht, daß die Entfernungspauschale als alleinige Maßnahme eine nennenswerte Zahl von Berufstätigen veranlassen könnte, das Auto stehenzulassen und öffentliche Verkehrsmittel zu benutzen.
Frau Will-Feld, wir im Finanzausschuß denken in Steuerkategorien. Der normale Bürger legt den Kostenfaktor, der sich in der Größenordnung der Steuerentlastung in diesem Bereich ergibt, aber nicht vorrangig als Maßstab an. Für ihn spielen — das werden Sie sicherlich nicht abstreiten können — eine ganze Reihe anderer Gesichtspunkte eine Rolle, die ich hier nicht alle ausbreiten will. Die Entscheidung, ob man lieber auf einen Zug umsteigt oder nicht, wird viel eher vom Gesichtspunkt der Bequemlichkeit und davon, ob man am Arbeitsplatz einen günstigen Parkplatz findet oder nicht, sowie von anderen Gesichtspunkten bestimmt. Ich meine auch, daß man in der Diskussion über die Entfernungspauschale — Sie haben das getan; ich stimme Ihnen hier voll zu — differenzieren muß. Sie kann für Ballungsräume durchaus eine gewisse Bedeutung gewinnen, in denen es eine bequeme, schnelle und auch preisgünstige Bedienung mit öffentlichen Verkehrsmitteln gibt. Dies haben auch Sie gesagt; wir stimmen darin überein. Überall dort, wo die Nahverkehrsanbindung nicht optimal ist, wird die Pauschale aber kaum zu Umsteigewirkungen führen. Hier spielen dann auch nicht fehlende Regelungen zwischen Post und Bahn, sondern andere Faktoren eine Rolle.Wir dürfen nicht vergessen, daß wir Arbeitnehmern jahrzehntelang durch eigentumspolitische Förderungsmaßnahmen nahegelegt haben, außerhalb des Ortes der Arbeitsstätte zu bauen und zu siedeln. Für den Arbeitnehmer stand das auswärtige Bauen daher naturgemäß häufig in engem Zusammenhang mit der Benutzung seines Kraftfahrzeugs. Nun können wir nicht plötzlich sagen: Jetzt haben wir eine andere Idee; gebt all das auf. — Es handelt sich hier schließlich um eine langfristige Angelegenheit. Ich glaube auch nicht, daß das, was der Einbringer im Bundesrat gesagt hat, nämlich daß die Entfernungspauschale große energiepolitische Wirkungen haben werde, ein glaubhaftes und glaubwürdiges Argument ist. Es ist ein Faktor, aber nur ein sehr geringer Faktor, vielleicht sogar nur der geringste Faktor unter allen anderen. Um grundlegende Veränderungen bei der Wahl der Verkehrsmittel zu erzeugen, bedarf es anderer massiver Maßnahmen als nur der Einführung der Entfernungspauschale. Was man tun kann, zeigt das Beispiel Schweden: ich will das jetzt nicht diskutieren. Wir lesen ja in diesen Tagen, daß auch die Bundesregierung in ihren Programmen entsprechende Überlegungen anstellt, was die Investitionen betrifft.Sie haben die Fahrgemeinschaften angesprochen. Herr Finanzminister Gaddum hat gemeint, die Bildung von Fahrgemeinschaften werde gefördert. Ich will das nicht im Detail diskutieren, wohl aber meine Zweifel anmelden, ob in dieser Hinsicht mehr geschehen würde als heute. Heute tun sich auch oftmals mehrere Arbeitnehmer zusammen und fahren sich abwechselnd zur Arbeitsstätte. Wir würden gewissermaßen jetzt etwas in das Gesetz schreiben, was bisher schon Usus ist.
— Nein, darüber können wir zu einem anderen Zeitpunkt diskutieren. Ich will den Abend hier nicht verlängern; sonst würde ich Ihnen darüber ein Spezialkolleg halten.
Der Kollege Dregger hat, wenn ich mich recht erinnere, an irgendeiner Stelle einmal argumentiert, Tempo 100 erübrige sich, wenn wir die Entfernungspauschale einführten. Ich möchte nur sagen, daß man einen solchen Zusammenhang wohl auch nicht herstellen kann. Ich glaube auch nicht, daß das Argument, mit der Entfernungspauschale sei eine erhebliche Verwaltungsvereinfachung verbunden,
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Dr. Diederich
so ernst zu nehmen ist, daß wir sagen können, hier werde ein Durchbruch erzielt. Wir dürfen nicht vergessen, daß auf der anderen Seite eine große Zahl von Berufstätigen, die die Entfernungspauschale in Zukunft in Anspruch nehmen werden, auch ihre kleine Multiplikation machen müssen. Sie müssen ja auch die Entfernung von Arbeitsort zur Arbeitsstätte glaubhaft machen. Sicherlich entfällt dann die Überprüfung des Kraftfahrzeugkennzeichens, aber es gibt auch noch andere Faktoren. Wir werden in diesem Zusammenhang überlegen müssen, ob man nicht aus Gründen der Verwaltungsvereinfachung auch die Werbungskostenpauschale heraufsetzen muß, damit nicht Tausende von Arbeitnehmern zusätzliche Erklärungen ausfüllen müssen, weil sie nämlich die Werbungskostenpauschale schon mit der Entfernungspauschale ausschöpfen. Wir werden dies sehr sorgfältig prüfen und diskutieren müssen. Ich sage nur, wir sind in der Frage nicht festgelegt. Wir wollen aber keine Flickschusterei betreiben.Ich möchte nichts wiederholen, zumal der Abend fortgeschritten ist. Ich möchte nur noch einmal einen Punkt hervorheben. Fernpendler aus verkehrsmäßig nicht günstig erschlossenen Räumen werden zunehmend unter den Druck der steigenden Benzinpreise geraten. Das ist ein Faktum, das sich wohl nicht ändern läßt. Sie sind auf den Kraftverkehr angewiesen. Ich habe schon gesagt weshalb: nicht, weil keine alternativen Verkehrsangebote vorhanden sind, sondern weil sich unsere Siedlungsstrukturen über Jahrzehnte so entwickelt haben und auch bewußt so gefördert worden sind. Insofern gehört die gesamte Diskussion um die Entfernungspauschale zur Frage der Umlegung der Kraftfahrzeugsteuer auf den Benzinpreis. Denn wenn wir den Treibstoff künstlich verteuern, wird es kein Arbeitnehmer verstehen, daß wir für diejenigen, die auf den Pkw angewiesen sind, keine Entlastung schaffen, während wir denen, die in Ballungsgebieten verkehrsmäßig gut bedient sind, eine Prämie in Form der Entfernungspauschale geben. Ich stimme Ihnen zu — Sie haben das angedeutet —, daß da ein Zusammenhang besteht. Möglicherweise ist an eine Stufung des Kilometergeldes oder an andere Dinge zu denken. Das ist schon früher diskutiert worden. Ich glaube nicht, daß wir das sehr schnell machen können.
Ich fasse zusammen. Die sozialdemokratische Fraktion steht dem Vorschlag prinzipiell aufgeschlossen gegenüber. Wir sehen das aber erstens als ein Element in einem größeren Zusammenhang.Zweitens. Die Kostenfrage ist im Zusammenhang mit dem vorgesehenen Steuerentlastungsprogramm zu bewerten. Deshalb kommt die Beratung für uns frühestens zu diesem Zeitpunkt in Frage. Wir glauben nicht, daß 800 Millionen DM eine realistische Schätzung sind.Drittens. Wenn über die Entfernungspauschale entschieden wird, muß man auch über die Fragen,die mit der Kraftfahrzeugsteuerreform zusammenhängen, nachdenken und sprechen.
Wir wollen kein Flickwerk, sondern wir wollen den Entwurf in Ruhe beraten. In diesem Sinne werden wir ihn mit Ihnen in dem zuständigen Ausschuß behandeln.
Das Wort hat Frau Abgeordnete Matthäus-Maier.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die FDP begrüßt es, daß die Zahl der Befürworter einer Umwandlung der Kilometerpauschale in eine Entfernungspauschale offensichtlich zugenommen hat. Die Entfernungspauschale soll jedem Steuerpflichtigen für den Weg von der Wohnung zur Arbeit gewährt werden, und zwar unabhängig davon, wie er sich zum Arbeitsplatz begibt und welche Verkehrsmittel er dabei benutzt.Die Entfernungspauschale, deren Einführung von der FDP auf ihrem letzten Parteitag in Bremen im Rahmen der steuerpolitischen Beschlüsse gefordert worden ist, hat nach unserer Meinung gegenüber der geltenden Kilometerpauschale folgende erhebliche Vorteile, die ich — nicht zuletzt wegen der vorgeschrittenen Zeit — nur kurz erwähnen möchte.Erstens. Die Entfernungspauschale vereinfacht in vielen Fällen — selbstverständlich nicht in allen Fällen — das Besteuerungsverfahren, da die herkömmlichen differenzierten Regelungen entfallen und das Nachweis- und Prüfungsverfahren erleichtert wird. Entscheidend für die Höhe der anzusetzenden Kosten ist allein die Entfernung zwischen Wohnort und Arbeitsplatz. Diese Vereinfachungswirkung ist natürlich besonders hoch, wenn wir uns gleichzeitig dafür entscheiden, für die Zahl der Arbeitstage ebenfalls eine Pauschalierung vorzusehen, wie es der Gesetzentwurf ja auch zugrunde legt; z. B. 20 Arbeitstage pro Monat, die ohne Nachweis anerkannt werden.Der zweite Vorteil: Die verkehrsmittelunabhängige Entfernungspauschale bietet in vielen Fällen einen wirtschaftlichen Anreiz, den eigenen Pkw in der Garage zu lassen und öffentliche Verkehrsmittel zu benutzen. Natürlich nicht in allen Fällen. Wenn jemand meint, mit der Entfernungspauschale könnten alle verkehrspolitischen, energiepolitischen und umweltpolitischen Probleme gelöst werden, ist das selbstverständlich abwegig. Sie ist aber ein Mosaikstein neben anderen, der ein Umsteigen begünstigt und die bisherige Privilegierung des Kraftfahrzeuges in der Steuer bei den Werbungskosten vermeidet. Dieses Umsteigen halten wir für verkehrspolitisch wünschenswert. Wer heute mit öffentlichen Verkehrsmitteln fährt, kann nur die tatsächlichen Fahrtkosten geltend machen. Bei der Entfernungspauschale könnte aber derselbe Betrag
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Frau Matthäus-Maiergeltend gemacht werden wie bei der Benutzung des eigenen Pkw.
Dort taucht allerdings folgendes Problem auf: In Einzelfällen kann es bei sehr kurzen Wegstrecken zum Arbeitsplatz dazu führen, daß die Kosten des öffentlichen Verkehrsmittels trotz Zeitkarte höher sind als die zugestandenen 36 Pfennig pro Kilometer bei der Entfernungspauschale. Dies ist aber nach den bisherigen Erfahrungswerten sehr selten. Zum zweiten sind wir der Ansicht, daß dies hingenommen werden muß, da ja auch heute derjenige Steuerpflichtige, der seinen Pkw benutzt und nachweislich höhere Kosten hat, nicht die Chance hat, höhere Kosten als die 36 Pfennig geltend zu machen. Im übrigen darf ich darauf verweisen, daß meine Kollegin Funcke eine Anfrage zu diesem Komplex eingebracht hat, die wahrscheinlich nächste Woche hier im Bundestag beantwortet werden wird. Wir werden die Ergebnisse dieser Anfrage bei der Beratung des Gesetzentwurfs sicher verwerten können.Dritter Vorteil: Mit der Entfernungspauschale läßt sich eine Kostendeckung dann erreichen, wenn sich mehrere Arbeitnehmer zu einer Fahrgemeinschaft zusammenschließen — Frau Will-Feld und Herr Professor Diederich wiesen darauf hin —, weil dann die Entfernungspauschale jedem Fahrer zusteht, während die Kilometerpauschale nur einmal gewährt werden darf. Das bringt insbesondere in den Gebieten Hilfe, die nicht mit guten öffentlichen Verkehrsbedingungen ausgestattet sind.Vierter Vorteil: Die Entfernungspauschale ist umweltfreundlicher und hilft Energie sparen, weil sie das Umsteigen auf die öffentlichen Verkehrsmittel begünstigt. Dabei betone ich nochmals, daß kein Mensch auf die Idee kommt zu sagen, daß allein diese Maßnahmen dazu führen würden, daß alle diejenigen, die bisher mit dem Auto gefahren sind, in Zukunft mit der Bahn oder mit dem Bus fahren würden. Das erwartet keiner; keiner sollte auch diese Erwartungen nach draußen erwecken. Aber immerhin glauben wir, daß in Zukunft eine Anreizwirkung von dieser Entfernungspauschale ausgehen wird, die heute nicht vorhanden ist.Nach Meinung der FDP tritt allerdings die erwünschte Vereinfachungswirkung nur dann wirklich ein, wenn die Einführung der Entfernungspauschale mit einer Anhebung der Werbungskostenpauschale gekoppelt wird. Die Kosten für die Fahrt zum Arbeitsplatz gehören ja bekanntlich zu den Werbungskosten. Die FDP hat auf ihrem Bundesparteitag vorgeschlagen, diese Pauschale von bisher 564 DM auf 936 DM zu erhöhen. Dies würde eine ganz erheblich höhere Anzahl von Arbeitnehmern als bisher von der Notwendigkeit befreien, selber umfangreiche Nachweise gegenüber dem Finanzamt zu führen. Dies würde umgekehrt das Finanzamt von umfangreichen Nachprüfungspflichten entlasten.Meine Damen und Herren, nach unserer Ansicht sollte aus diesem Grunde die Einführung der Entfernungspauschale mit einer Anhebung der Werbungskostenpauschale verbunden werden.Die Kosten von mindestens 800 Millionen DM für die Einführung der Entfernungspauschale würden sich durch die von uns gleichzeitig vorgeschlagene Erhöhung der Werbungskostenpauschale auf etwa 1,5 Milliarden DM erhöhen, also auf etwa das Doppelte.
— Herr Schäuble, auch unter diesem Gesichtspunkt ist die FDP der Ansicht, daß der Vorschlag des Bundesrates nicht gesondert beraten und beschlossen werden kann, sondern nur in Verbindung mit einem ganzen Paket von steuerpolitischen Maßnahmen.
Es geht nicht an, meine Damen und Herren, daß unser Steuerrecht mit so vielen Einzelvorschlägen verändert wird, wobei jeder Vorschlag für sich durchaus sinnvoll sein mag, die in der Gesamtheit aber nicht aufeinander abgestimmt sind, weder finanziell noch systematisch noch konzeptionell.Meine Damen und Herren von der Opposition, die FDP sieht nicht als ein geordnetes Steuerverfahren an, wenn die Opposition - sei es im Bundestag, sei es im Bundesrat — den Gesetzgeber mit einer Flut von Einzelforderungen eindeckt, die zusammengenommenen weder vom Verfahren noch vom Ergebnis her zur Steuervereinfachung führen. Ich darf Sie darauf hinweisen, daß von seiten der CDU/ CSU im Bundestag und im Bundesrat in den letzten Monaten allein 12 unterschiedliche Gesetzentwürfe zur Steuervereinfachung und Steuererleichterung vorgelegt worden sind, die alle jeweils Einzelpunkte betreffen, ohne daß sie miteinander koordiniert sind, und die insgesamt zu Steuerausfällen von über 10 Milliarden DM führen.
— Herr Schäuble, ich sprach nur von Steuergesetzentwürfen. Von den unzähligen Vorschlägen, die Sie sonst noch machen, z. B. in Reden im Bundestag, in Haushaltsdebatten im Lande, wo Sie Wahlkampf führen, will ich hier gar nicht reden.
Meine Damen und Herren, das spricht nach unserer Auffassung nicht für das Vorhandensein einer durchgehenden Steuerkonzeption bei der Opposition und erst recht nicht für die angebliche Führungskraft des bisherigen finanzpolitischen Sprechers und jetzigen Spitzenkandidaten für die Bundestagswahl, Franz Josef Strauß.
— Herr Schäuble, hören Sie doch zu. Es ist nun wirklich nicht die feine Art — Frau Renger hat Sie vor zwei Stunden schon einmal darauf aufmerksam gemacht —, daß Sie ununterbrochen — wir kennen uns ja aus dem Finanzausschuß — wie in der Klippschule dazwischenrufen. Stellen Sie mir doch eine
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Frau Matthäus-MaierZwischenfrage! Sie wissen, ich lasse alle Zwischenfragen zu. Aber dieses Geschrei wie bei kleinen Kindern sollten wir wirklich abstellen.
Meine Damen und Herren, wir sind der Ansicht: Franz Josef Strauß, der sich immer als der starke Mann darstellt, erweist sich als völlig hilflos, wenn es darum geht, die unzähligen Einzelforderungen einzelner Gruppen und Grüppchen zum Teil zurückzuweisen oder aber zu koordinieren und zu einem geschlossenen Konzept zusammenzustellen.
Meine Damen und Herren, die Koalition wird sich dadurch nicht davon abhalten lassen, in einem geschlossenen Konzept weiterhin Vorschläge zur Steuervereinfachung und Steuerentlastung zu machen. Wir werden das spätestens, wie Sie wissen, wieder im Frühjahr des kommenden Jahres für ein umfangreiches Vereinfachungs- und Entlastungspaket mit Wirkung vom Jahre 1981 an tun. Wir von seiten der Freien Demokraten hoffen, daß in diesem Rahmen dann auch die Umwandlung der Entfernungspauschale beschlossen wird. Wir werden das Thema umfassend beraten.
Meine Damen und Herren, weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die Aussprache.
Der Ältestenrat schlägt vor, den Gesetzentwurf des Bundesrates auf Drucksache 8/3242 zur federführenden Beratung an den Finanzausschuß, zur Mitberatung an den Ausschuß für Verkehr und für das Post- und Fernmeldewesen sowie gemäß § 96 unserer Geschäftsordnung an den Haushaltsausschuß zu überweisen. Ist das Haus damit einverstanden? — Kein Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich rufe jetzt Tagesordnungspunkt 6 auf:
Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Verbesserung der Besteuerung gemeinnütziger, mildtätiger und kirchlicher Körperschaften
- Drucksache 8/3243 -
Überweisungsvorschlag des Ältestenrates:
Finanzausschuß Sportausschuß
Haushaltsausschuß gemäß f 96 GO
Das Wort zur Einbringung hat der Herr Staatssekretär im Finanzministerium des Landes BadenWürttemberg, Herr Mayer-Vorfelder.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Gestatten Sie mir, daß ich die Gelegenheit der Einbringung des Gesetzes — der Initiativedes Landes Baden-Württemberg — benutze, um zunächst einige allgemeine Bemerkungen zu diesem Gesetzentwurf zu machen, wobei es mir sehr wesentlich erscheint, eingangs festzustellen, daß dieser Initiativentwurf Baden-Württembergs die Mehrheit im Bundesrat gefunden hat,
unabhängig von der Couleur der einzelnen Regierungen.
Das beweist, daß die angebliche Ideologiebefrachtetheit dieses Gesetzentwurfs eben gar nicht vorhanden ist.Nun, meine sehr verehrten Damen und Herren, wir alle, die wir uns um Politik bemühen, sind schon zu Vereinsjubiläen gerufen worden, um dort über die gesellschaftspolitische Bedeutung der Vereine zu sprechen. Dies haben wir sicherlich auch mit mehr oder weniger großem Erfolg getan. Beinahe alle, die wir hier sitzen, sind von den Vereinen, wenn sie finanzielle oder steuerrechtliche Probleme hatten, schon angegangen worden. Sehr viele haben sich dann an die Finanzämter oder an die Finanzminister gewandt und gebeten, diesen Vereinen doch in irgendeiner Weise zu helfen. Das haben wir getan, obwohl die Finanzämter nichts anderes tun, als die Gesetze, die letzten Endes von parlamentarischen Gremien beschlossen worden sind, in die Tat umzusetzen. Daraus wird schon deutlich, worum es bei dieser Steuerinitiative geht.Wenn wir uns der Sache näher annehmen, sehen wir, daß sich die Vereine immer mehr im Gestrüpp der steuerrechtlichen Bestimmungen verfangen. Meine Damen und Herren, Ursache dafür ist die große Strukturveränderung, die die Vereine erfahren haben. 15 bis 20 Millionen Mitglieder sind in einzelnen Vereinen passiv oder aktiv tätig. Die Zahl der Abteilungen in den Vereinen hat ungeheuer zugenommen. Einzelne Vereine haben 20 und mehr Jugendmannschaften. Sie können deshalb bei den gestiegenen Aufwendungen für diese großen Abteilungen ihre Finanzen über die Mitgliedsbeiträge nicht mehr abdecken. Es ist einfach gesagt: die Vereine sollen ihre Mitgliedsbeiträge erhöhen. Wer in die Vereine hineinschaut, der weiß, daß bei der Generalversammlung fast alles erreicht werden kann — der Präsident kann abgewählt werden, der Trainer kann entlassen, der Vereinsvorsitzende kann gestürzt werden —; aber an einer Beitragserhöhung in Höhe von 50 Pfennig kann die ganze Generalversammlung scheitern. Gerade deshalb sind die Vereine zu anderen Finanzierungsquellen ausgewichen; sie sind in die, wie es im Steuerrecht so schön heißt, geselligen Veranstaltungen gegangen. Das geschah, um daraus Mittel zu bekommen, und zwar nicht für eine Fahrt des Vereinsvorsitzenden an das Mittelmeer, sondern um damit die breite Basisarbeit, insbesondere bei der Jugend, finanzieren zu können. Hier kommen wir zu dem entscheidenden Punkt: Je mehr ehrenamtliche Kraft in diese Tätig-
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Staatssekretär Mayer-Vorfelder keit investiert wird, um so mehr schlägt die Steuer zu.
Das ist einfach deshalb so, weil diese ehrenamtliche Tätigkeit nicht vergütet und damit der Gewinn nach den jetzigen Freigrenzen so überschritten wird, daß sofort die Körperschaftsteuer in Höhe von 50% fällig wird. Im Bund und in den Ländern sind wir alle stolz auf das, was wir zur Förderung der Vereine tun. Wir würden nun mit der einen Hand über die Steuer das nehmen, was wir mit der anderen Hand über die Förderung der Vereine gegeben haben. Das paßt einfach nicht zusammen.
Der arme Vereinskassierer ist sicherlich nicht steuerrechtlich vorgebildet, und er wird sich nicht nur in Baden-Württemberg, sondern überall in den Freigrenzen, Freibeträgen und Werbungskostenpauschalen verheddern, die für jede Steuerart eine andere Höhe haben und überhaupt nicht aufeinander abgestimmt sind. Er hat dann keinerlei Durchblick mehr durch die verschachtelten Regelungen dieses Steuerrechts. Daß dem so ist, beweist die Zahl der Schriften, die vom Bundesfinanzministerium und von den Länderfinanzministern herausgegeben werden. Vorn ist darin jeweils das Bild des betreffenden Finanzministers abgebildet, und dieser stellt bedauernd fest, wie kompliziert das Steuerrecht ist, er aber im Grunde genommen den Vereinen auch nicht helfen kann. In diesen Broschüren sind zwar schöne Ratschläge enthalten; doch wer die Wirklichkeit in den Vereinen kennt, der weiß, daß diese Vorschläge zum Teil von den Leuten überhaupt nicht mehr verstanden werden.Eigentlich müßte ich den Kassierern sagen, sie sollten jedem Ehrenamtlichen 300 DM auszahlen. Mit dem Geld liefe dieser dann zur Gemeinde, zahlte es dort ein, und das Geld käme dann wieder dorthin, wo es über die ehrenamtliche Tätigkeit erarbeitet worden ist. Diese Regelung kann ich den Leuten, die ihre Freizeit opfern, nicht mehr verdeutlichen. In einem Büchlein habe ich gelesen: Die Musikvereine sollten ihre geselligen Veranstaltungen ohne den Ausschank von Bier durchführen. Wenn ein Vorsitzender eines Musikvereins in einem Dorf so etwas machte, würde er sofort hinsichtlich seines Gesundheitszustandes untersucht werden, weil solche Bräuche nicht zu exekutieren sind. — Ich kann Ihnen das Heft zuschicken, in dem das steht.Bei dieser Diskussion gibt es im Grunde genommen für die Vereine nur zwei Möglichkeiten. Entweder beschäftigen sie einen Steuerberater und geben die Gewinne, die sie erzielen, dafür wieder aus, oder aber — das ist weitaus häufiger die Regel — die Kassierer und Vereinsvorstände haben ein schlechtes Gewissen, weil sie nicht mehr alles angeben, was sie nach den steuergesetzlichen Bestimmungen eigentlich angeben müßten. Ich füge hinzu, daß sogar auch die mit dieser Materie Befaßten in den Finanzämtern und die zuständigen Referenten in den Ministerien ein schlechtes Gewissen haben, weil sie das Gesetz gegenüber den Vereinen weitgehend nicht mehr anwenden. Ich glaube, daß wir alles tunmüssen, um sowohl das schlechte Gewissen der Finanzbeamten als auch das schlechte Gewissen der ehrenamtlich Tätigen zu beseitigen.
Ich bin seit über zehn Jahren in der Verbandsund Vereinsarbeit tätig und kann sagen, daß das ehrenamtliche Engagement und der Idealismus nach wie vor vorhanden sind. Die Frustration beginnt in den Bereichen, in denen sich Leute, die dafür nicht vorgebildet sind, mit der Bürokratie und der Steuerverwaltung in einer unerträglichen Art und Weise herumzuschlagen haben, wenn sie etwas für die Finanzen ihrer Vereine tun wollen.Diese Initiative sollten wir schnell verwirklichen, weil die Leute dies verdient haben, die draußen tätig sind. Die Initiative, die wir eingebracht haben, bringt einen Steuerausfall von etwa 100 bis 150 Millionen DM. Ich will jetzt nicht darüber reden, ob die Initiativen 1980 oder 1981 Wirklichkeit werden und von den Ländern oder vom Bund eingebracht werden. Auf jeden Fall sind diese 100 bis 150 Millionen DM Steuerausfall im Verhältnis zu den Milliardenbeträgen, um die es dort geht, wenig, und sie sind günstig und gut angelegt, wenn wir den Entwurf, so wie er vorliegt, verabschieden. Darüber hinaus werden die Vereine in großem Umfang von Verwaltungsarbeit entlastet werden.Vor allem aber, meine Damen und Herren, werden die Unterschiede beseitigt, die heute im Steuerrecht vorhanden sind. Es soll mir doch einmal jemand erklären, weshalb ein Sportverein selbstverständlich seine Kosten für den Trainer und für alle Geräte, die er anschafft, absetzen kann, während ein Musikverein dies nicht tun kann. Er kann nur die Kosten für zwei Zehntel der Posaune, die er angeschafft hat, absetzen. Das wird der Betreffende doch klipp und klar sagen: Ich kann eben nur spielen, wenn ich 100 % Posaune habe, aber nicht, wenn ich nur 20 % Posaune habe. Es ist doch ganz klar, daß diese Unterschiede beseitigt werden müssen. Dem Musikverein muß dasselbe wie dem Sportverein zugestanden werden, damit er die Kosten für seine Chorleiter und für Instrumente, die angeschafft werden müssen, absetzen kann.Lassen Sie mich noch zu drei Einzelfragen dieses Gesetzes Stellung nehmen.Es geht zunächst um gewisse Abgrenzungen im Bereich der Gemeinnützigkeit. Das ist natürlich im Streit. Ich persönlich vermag z. B., wenn ich über Land gehe, nicht einzusehen, weshalb der Kleingärtnerverein gemeinnützig ist, der Kleintierzüchterverein aber nicht, obwohl er seine Tätigkeit im selben Bereich ausübt. Das kann ich nicht einsehen.Bei den Bürgerinitiativen, bei denen man über diesen Punkt auch streitet, überläßt man den Finanzämtern die Entscheidung in dieser schwierigen Frage. Wenn Sie eine Trasse bauen wollen, haben Sie eine Bürgerinitiative für die Trasse und eine Bürgerinitiative gegen die Trasse. Beide laufen zum Finanzamt und beantragen die Gemeinnützigkeit. Nun muß der Finanzbeamte entscheiden, was rich-
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Staatssekretär Mayer-Vorfelder tig ist, die Bürgerinitiative für oder die gegen die Trasse. Oder er gibt beiden die Gemeinnützigkeit.
— Nein, das will ich eben nicht entscheiden! Der Gesetzentwurf will diese Entscheidung vom Finanzamt wegnehmen, weil der einzelne Beamte doch nicht entscheiden kann, was nun das Richtige und was das Falsche ist.
Herr Kühbacher, ich habe Ihre Rede vorweg gelesen; es hat ja auch Vorteile, wenn ein Presseabdruck vorausgeht.
Es geht nicht darum, die Bürgerinitiativen in gute und schlechte einzuteilen, sondern nur darum, die Verwaltung von der Entscheidung zu entlasten, welche die richtige und welche die falsche Bürgerinitiative ist.Nun kommt der zweite Bereich. Hinsichtlich der Zweckbetriebe haben wir vorgeschlagen, diese Bereiche von der Umsatzsteuer auszunehmen. Nun haben Sie, Herr Kühbacher, darauf hingewiesen, wie klipp und klar und wie wunderbar das alles umsatzsteuerrechtlich geregelt sei. Sie benötigten aber in Ihrer Rede vier Spiegelstriche, um zu erläutern, wie dies einfache Regelung der Umsatzsteuer für die Vereine aussieht.
Ich kann dazu nur sagen, wir nehmen damit eine Riesenlast von den Vereinen, wobei in diesem Bereich gar nicht so hohe Ausfälle entstehen, wenn wir den Vereinen sagen: Dieser Bereich ist umsatzsteuerfrei.
— ja, ich habe das mit den vier Spiegelstrichen sehr genau gelesen.Nun zur Vermögensteuer. Tun wir doch nicht so, als ginge es hier um riesige Dinge! Im Grunde geht es darum, daß Finanzämter heute einen Verein zur Vermögensteuer veranlagen müssen, obwohl dieser sein Vereinsheim zu 80 % mit Eigenarbeit gebaut hat. Das, was freilich ehrenamtlich aufgebaut worden ist, belegt der Staat mit Vermögensteuer,
betont aber gleichzeitig die gesellschaftspolitische Bedeutung dieser Vereine. Darin liegt eben eine gewisse Unlogik.Nun etwas zu dem, was im Entwurf nicht steht, nämlich zur Erhöhung des Freibetrags für Übungsleiter von 1200 auf 2 400 DM. Wer draußen in den Vereinen tätig ist, weiß, welche Bedeutung diese Erhöhung hat. Wir haben das aus dem Gesetzentwurf herausgenommen, weil der verantwortliche Vertreter im Finanzausschuß des Bundesrats erklärt hat, man werde den Freibetrag auf dem Verwaltungswege auf 2 400 DM erhöhen. Wenn ich aber jetzt den Entwurf der Bundesregierung lese, sehe ich wieder nur „1200 DM". Das enttäuscht mich etwas, weil eben die Vereine — —
— Doch, ich begrüße, daß Sie von 200 DM pro Monat reden, und ich sage ja, daß das gar keine ideologische Frage ist, sondern wir uns in diesem Punkte weitgehend einig sind.Lassen Sie mich ein letztes Wort zum Verfahren sagen. Die Bundesregierung hat die Dreimonatsfrist voll ausgeschöpft, um ihre Stellungnahme zu diesem Initiativentwurf von Baden-Württemberg abzugeben, der im Bundesrat eine Mehrheit fand. Ich habe gedacht, da käme eine sehr detaillierte Stellungnahme heraus. Die Stellungnahme besteht aber nur aus drei Sätzen. Diese drei Sätze hätte man sicherlich auch schneller abfassen können.Die Bundesregierung weist nun zwar darauf hin: Ja, gut, dann behandelt das alles in den Ausschüssen zusammen mit dem Entwurf, den wir jetzt in die Anhörung gegeben haben. Dies ist aber teilweise ein Entwurf zur Vereinfachung von Bestimmungen im Einkommensteuerrecht. 60 verschiedene Regelungen sind darin enthalten. Bei aller Ehrfurcht vor dem Verplombungsgesetz, das auch darin angesprochen ist, und vor dem Ordnungswidrigkeitentatbestand, der da eingeführt werden soll, daß nämlich bestraft wird, wer die Plombe verändert, glaube ich, daß die Frage der Vereinsbesteuerung weitaus dringlicher ist. Sie sollte schneller gelöst werden.
— Nein, kein Dalli-dalli. In manchen Dingen hat Dalli-dalli auch einen Vorteil. Da kann man sogar einmal sagen, es wäre Spitze, wenn wir das Vereinssteuergesetz noch in diesem Jahre verabschieden könnten.
Im Endergebnis geht meine Bitte dahin, dieses Gesetz trotz der Einzelfragen, über die man sich natürlich unterhalten kann und unterhalten muß, möglichst schnell zu verabschieden. Die Vorschläge, die die Bundesregierung vorgelegt hat und die zum Teil auch sehr gut sind — ich denke z. B. an den einen 12000-DM-Freibetrag und die Möglichkeit der Rücklagenbildung —, könnten ohne weiteres im Rahmen einer zügigen Behandlung als Antrag im Finanzausschuß des Bundestages nachgeschoben werden.Ich darf Sie sehr herzlich bitten, diesen Entwurf, auf den die Vereine warten, möglichst rasch zu verabschieden.
Meine Damen und Herren, ich eröffne die allgemeine Aussprache. Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär beim Bundesminister der Finanzen, Herr Dr. Böhme.
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14464 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 183. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. November 1979
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Erlauben sie mir zunächst einige Vorbemerkungen zu der Rede meines Vorredners.
Zunächst möchte ich erwähnen, daß der Entwurf, den das Land Baden-Württemberg hier über den Bundesrat eingebracht hat, jetzt in einer Form vor uns liegt, die sich wesentlich von der ursprünglichen Vorlage unterscheidet; denn der Entwurf wurde im Bundesrat selbst außerordentlich dezimiert.
Die zweite Vorbemerkung: Sie haben mit Recht davon gesprochen, daß für Vereine vieles eine Frage der Gesetzesanwendung ist. Nun können wir als Gesetzgeber nicht für die unmittelbare Anwendung der Gesetze verantwortlich sein, wohl für ihren Inhalt. Jeder weiß aus der Praxis, daß man Gesetze so oder so anwenden kann. Wenn die Verwaltung die bestehenden Gesetze nicht kleinlich, sondern vernünftig anwenden würde, wäre in den meisten Fällen, in denen es zu Unzuträglichkeiten gekommen ist, eine bessere Regelung möglich.
Die dritte Vorbemerkung: Sie haben mit Recht davon gesprochen, daß bei den Vereinen Strukturveränderungen stattgefunden haben. Welche Strukturveränderungen sich ergeben haben, zeigt nichts besser als Person und Funktion meines Herrn Vorredners. Sehr geehrter Herr Kollege Mayer-Vorfelder, Sie sind ja nicht nur Staatssekretär im Finanzministerium von Baden-Württemberg, Sie sind zugleich Präsident eines sehr großen Vereins.
Sie haben sehr beredt davon gesprochen, wie sehr es den kleinen Vereinen an finanziellen Mitteln fehlt. Ich möchte, um einmal die Unterschiede und die Strukturverschiebungen klarzumachen, darauf hinweisen, daß z. B. Ihr Verein gestern abend in einem Spiel Einnahmen von rund einer Million DM hatte. Dies zeigt, daß es bei Vereinen sehr unterschiedliche Verhältnisse gibt. Verein ist nicht gleich Verein, sondern man muß sehr genau hinschauen und prüfen, um was es sich im einzelnen handelt,
und die gesetzlichen Regelungen entsprechend formulieren. Es ist nicht damit getan, pauschal von den Vereinen zu sprechen und dann ein Klagelied anzustimmen. Man muß vielmehr bei Gesetzesinitiativen und bei der Gesetzesanwendung in jedem Einzelfall genau hinschauen.
Herr Staatssekretär, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Dr. Schäuble?
Bitte.
Dr. Schäuble [CDU/CSU]: Herr Staatssekretär Böhme, sind Sie in der Lage und bereit, dem Hohen Hause darzulegen, daß es sich bei den gemeinnützigen Sportvereinen um Amateurvereine und nicht
um die Lizenzspielerabteilungen nach dem Statut des Deutschen Fußballbundes handelt?
Sicher. Ich sprach von Strukturveränderungen.
— Da sehe ich überhaupt keinen Widerspruch.
Es ist doch nicht zu bestreiten, daß ein an sich gemeinnütziger Verein, wie z. B. der VfB Stuttgart, Abteilungen hat, die außerordentlich hohe Einnahmen haben. Dies ist ein Beweis für die von meinem Vorredner erwähnten Strukturveränderungen.
Das heißt, daß das, was in den Vereinen heute vor sich geht, sehr unterschiedliche Akzente aus sehr unterschiedlichen Entwicklungen hat. Hier die richtige Antwort zu geben ist unsere Aufgabe.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Dr. Czaja?
Nein, ich muß jetzt zu Ende kommen.Eine vierte Vorbemerkung: Mir fiel auf — es ist mir ein Anliegen, das vor dem Forum des Bundestages zu sagen —, daß besonders in Süddeutschland die Steuerprobleme eine Rolle spielen.
Wenn Sie mit Vereinen und Kennern der Materie sprechen, stellt sich immer wieder heraus, daß die die Vereine betreffenden steuerlichen Probleme hauptsächlich in Süddeutschland zu suchen sind.
In West- und Norddeutschland ist nämlich die direkte Förderung des Staates für Sportvereine viel höher als in Süddeutschland.
Vielleicht sollte man dies einmal näher überprüfen und die Länder, gerade auch Baden-Württemberg, bitten, die Sportvereine intensiver als bisher direkt zu fördern.
Vielleicht würden sich dann einige der Probleme, um die es im Steuerbereich geht, etwas verringern.
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Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 183. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. November 1979 14465
Parl. Staatssekretär Dr. BöhmeDas Schwergewicht des Gesetzentwurfs des Bundesrats, über den wir heute in erster Lesung befinden, liegt bei Vergünstigungen im Bereich der wirtschaftlichen Betätigung derartiger Vereine. Er sieht vor allem für die wirtschaftlichen Geschäftsbetriebe dieser Vereine Steuervorteile durch Freibeträge z. B. bei der Gewerbesteuer, bei der Vermögensteuer oder auch bei der Körperschaftsteuer vor.Dazu möchte ich sagen: Bei allem Respekt vor den eigentlichen Zielen gemeinnütziger, mildtätiger oder kirchlicher Körperschaften muß hier die Frage nach der Rechtfertigung derartiger Maßnahmen im wirtschaftlichen Bereich erlaubt sein. Mit ihren wirtschaftlichen Geschäftsbetrieben beteiligen sich die steuerbegünstigten Körperschaften ja auf den verschiedensten Gebieten am allgemeinen Wirtschaftsleben, ohne dort unmittelbar gemeinnützig zu wirken. Sie treten in Wettbewerb zu uneingeschränkt steuerpflichtigen, vorwiegend mittelständischen Unternehmen, deren Tätigkeit ja nicht gemeinschädlich, sondern notwendig ist, weil sie Arbeitsplätze schafft und eine wichtige Funktion in unserer Volkswirtschaft erfüllt.Dies gilt in vielen Bereichen. Vereinsgaststätten z. B. konkurrieren mit anderen gastronomischen Betrieben. Trikots und Stadien sind Werbemedien wie andere auch. Der Handel mit Sportkleidung, Sportgeräten und Sportliteratur steht in Wettbewerb mit Angeboten vereinseigener Betriebe. Hohe Freibeträge verschaffen den wirtschaftlichen Aktivitäten der Betriebe dieser Vereine einen Wettbewerbsvorsprung.Hier möchte ich klar sagen: Wir wollen die Vereine nach Kräften fördern. Dies ist ein besonderes Anliegen gerade der Bundesregierung. Aber wir wollen auch kein Sondersteuerrecht für wirtschaftliche Aktivitäten gemeinnütziger Vereine. Denn dies läßt sich mit unserer Vorstellung von Wettbewerbsgleichheit nicht vereinbaren.
Ganz anders sind dagegen steuerliche Verbesserungen für den eigentlichen gemeinnützigen Bereich der steuerbegünstigten Körperschaften zu beurteilen. Die Bundesregierung befürwortet derartige Verbesserungen im Kernbereich des Gemeinnützigkeitsrechts. Sie ist aber der Auffassung, daß Vorschläge auf diesem Gebiet sehr genau abgewogen sein müssen. So muß der Frage nachgegangen werden, was die in dem Gesetzentwurf vorgesehene Modifizierung des Begriffs der Gemeinnützigkeit zu bedeuten hat. Ich meine hier die von Ihnen vorgeschlagene Vorschrift, die auf eine Einschränkung der Gemeinnützigkeit bei Bürgerinitiativen zielt.Auch die Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs — das möchte ich ausdrücklich erwähnen — geht in die entgegengesetzte Richtung. Ihr entsprechend sagen wir: Wir wollen nicht mehr, sondern weniger obrigkeitliche Aufsicht. Es darf doch nicht Sache der Steuerverwaltung sein, bei der Bestätigung der Gemeinnützigkeit über den Wert oder den Unwert gesellschaftspolitischer Bestrebungen zu befinden.
Wenn über konkret zu ergreifende Maßnahmen im Rahmen allgemein anerkannter Ziele, etwa des Umweltschutzes, der Energieversorgung, unterschiedliche Meinungen bestehen, ist es nicht Aufgabe von Steuerbeamten, sich auf die eine oder andere Seite zu schlagen und quasi Prämien zu verteilen. Daß viele Bürgerinitiativen allgemein anerkannte Ziele verfolgen, z. B. den ausdrücklich gesetzlich anerkannten Umweltschutz, kann niemand bestreiten. Nur sind die Mittel, mit denen dieses Ziel oft angestrebt wird, eben umstritten, sei es, daß sich die Initiative konkret gegen eine bestimmte Autobahn — ich nenne die Schwarzwald-Autobahn als Stichwort - oder allgemein gegen eine bestimmte Energiequelle wendet.Ich frage: Soll wirklich die Steuerverwaltung darüber befinden, wer bei all diesen schwierigen, auch quer durch die Parteien umstrittenen Fragen recht und wer unrecht hat? Dies zu bejahen, wäre gleichbedeutend mit einer völligen Verkennung der legitimen Aufgaben der staatlichen Verwaltung. Wir wollen weniger Bürokratie, nicht mehr bürokratische Aufsicht. Damit verträgt sich der Vorschlag aus Baden-Württemberg ganz und gar nicht. Er ist genau das Gegenteil.Der Gesetzentwurf enthält ferner eine Sonderbestimmung zu Jugendsekten. Dies ist eine Regelung, die nach Auffassung der Bundesregierung nicht erforderlich ist. Sie ist deshalb überflüssig, weil jugendgefährdende Bestrebungen bereits nach geltendem Recht nicht gemeinnützig sind. Insoweit bedarf es keiner gesetzlichen Klarstellung der Probleme, die bei der Beurteilung der Gemeinnützigkeit von Jugendsekten auftreten.Nun zu der vorgeschlagenen Ausweitung des Katalogs der gemeinnützigen Zwecke: Hier laufen wir doch Gefahr, mit immer neuen Tatbeständen immer neue Ungerechtigkeiten zu produzieren. Warum sollen wir Galopprennen und Trabrennveranstaltungen steuerlich begünstigen, während beispielsweise die Fußballveranstaltungen der an sich gemeinnützigen Bundesliga-Fußballvereine zu Recht als uneingeschränkt steuerpflichtige wirtschaftliche Geschäftsbetriebe behandelt werden? Was gibt es da für einen Unterschied? Deswegen glaube ich, daß der Vorschlag, Galopprennen als gemeinnützig anzuerkennen, nicht zu verwirklichen ist.Gewiß lassen sich auch Gründe für die Forderung finden, die Pflanzen- und Kleintierzucht oder den Modellbau und Modellflug für gemeinnützig zu erklären. Dies sind sicher Betätigungen, die begrüßenswert sind. Aber wir müssen sorgfältig prüfen, ob wir damit nicht Berufungsfälle für den gesamten Bereich privater Freizeitbeschäftigungen schaffen. Nach geltendem Recht können diese Freizeitbetätigungen, so sinnvoll und begrüßenswert sie auch sein mögen, nicht als Tätigkeiten beurteilt werden, die unmittelbar oder ausschließlich der selbstlosen Förderung der Allgemeinheit dienen.
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14466 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 183. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. November 1979
Parl. Staatssekretär Dr. BöhmeHier müssen Lösungen gefunden werden, die nicht jeder sinnvollen Abgrenzung die Grundlage entziehen. Die Wünsche auf Anerkennung des Go-Spiels, des Skat-Spiels, des Hundesports, des Funksports, des Pool-Billards, des Leistungsbridges usw. liegen doch bereits als Anträge beim Bundesfinanzminister.
Diejenigen, die ständig weniger Staat und mehr Privatinitiative fordern, wenn es um die Sicherheit der Arbeitsplätze geht, könnten ihre Stimme wirklich mit mehr Recht erheben. Aber leider tun sie oft genau das Gegenteil und fordern staatliche Subventionen für rein private Bereiche.Der Vorschlag, bei der Ermittlung der Freigrenze von 12 000 DM für die Begünstigung kultureller Einrichtungen und Veranstaltungen künftig den Abzug sämtlicher Kosten des Vereins — also nicht nur die unmittelbaren Veranstaltungskosten — zuzulassen, deckt sich hingegen mit der Auffassung der Bundesregierung. Sie wird — das wurde schon erwähnt — im Rahmen des nächsten Steueränderungsgesetzes einen entsprechenden Änderungsvorschlag unterbreiten. Auf diese von der Bundesregierung beabsichtigte Initiative zur Förderung der Sport- und anderer Vereine möchte ich besonders hinweisen.Die Bundesregierung wird noch vor Weihnachten den gesetzgebenden Körperschaften mit dem nächsten Entwurf eines Steueränderungsgesetzes weitere Verbesserungen in dieser Richtung vorschlagen. So ist daran gedacht, die kulturellen, sportlichen und geselligen Veranstaltungen trotz Überschreitung der Überschußgrenze von 12 000 DM steuerlich zu begünstigen, wenn die Überschüsse über einen längeren Zeitraum hinweg für größere Investitionen angespart und innerhalb eines bestimmten Zeitraumes für diese Zwecke verwendet werden. Der Bundesfinanzminister hat mehrfach diese Initiative angekündigt und bereits erläutert.Die Bundesregierung wird außerdem in diesem Entwurf eines Steueränderungsgesetzes vorschlagen, nebenberufliche Tätigkeiten im gemeinnützigen, mildtätigen und kirchlichen Bereich steuerlich zu begünstigen. Betroffen werden davon vor allem die sogenannten Übungsleiter in Sportvereinen.
Für sie soll ein Betrag von 2 400 DM pro Jahr eingeführt werden, der Leistungen steuerfrei stellen soll, die im wesentlichen als Aufwandsentschädigung aufzufassen sind.
Herr Kollege, Sie haben vorhin von 1200 DM gesprochen. Es ist richtig, daß in dem Referentenentwurf nur ein Betrag von 1200 DM enthalten ist. Die Bundesregierung wird ihn auf 2 400 DM aufstocken und damit den Wünschen gerade aus dem Bereich des Sports Rechnung tragen.
Ich bin sehr glücklich, hier erklären zu können, daßdamit ein Hauptwunsch des Sports aufgenommenworden ist. Es ist ein besonderes Anliegen der Bundesregierung, den Übungsleitern eine Hilfe zu gewähren und sie von bürokratischem Ballast zu befreien.
Der Betrag von 2 400 DM ist von den Sportvertretern als mögliche Summe genannt worden. Herr Kollege, der Sie vorhin gesprochen haben, es geht nicht um einen Werbungskostenabzug. Vielmehr wird es künftig so sein, daß für nebenberufliche Tätigkeiten monatlich 200 DM, also 2 400 DM pro Jahr im mildtätigen, gemeinnützigen und kirchlichen Bereich als Aufwandsentschädigung angesehen und steuerfrei gestellt werden.
— Herr Kollege Schäuble, wenn Sie eine Zwischenfrage stellen wollen?
Bitte, eine Zwischenfrage.
Herr Staatssekretär, nur damit wir es gleich genau erfahren: Wird es nach den Vorstellungen der Bundesregierung ein Freibetrag oder eine Freigrenze sein?
Es wird ein Betrag sein, der als Aufwandsentschädigung steuerfrei ist, wie z. B. die Aufwandsentschädigungen für ehrenamtliche Tätigkeiten von kommunalen Mandatsträgern. Wir haben es als Aufwandsentschädigung aufgefaßt und steuersystematisch dort eingeordnet.
Ich fasse zusammen. Der Bundesratsentwurf enthält eine Reihe von Vorschlägen, die durchaus unterschiedlich zu bewerten sind, die zum Teil noch der genauen Prüfung bedürfen, zum Teil aber auch von der Bundesregierung begrüßt und aufgenommen werden. Die Bundesregierung wird Ihnen in einem eigenen Gesetzentwurf ergänzende Vorschläge unterbreiten. Alle Vorschläge sollten wegen ihres Zusammenhangs gemeinsam beraten werden, um die Anliegen des Sports und der Vereine erfolgreich und abschließend aufzunehmen und zu entscheiden.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. Schäuble.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich will versuchen, Herr Staatssekretär Böhme, es so mild wie möglich zu machen.
Ich meine, bezüglich der Besteuerung der Vereine haben wir uns auf Grund der jahrelangen Diskussionen inzwischen — jedenfalls in einigen Bereichen, das hat auch Ihre Rede gezeigt — einem Punkt angenähert, der es ermöglichen sollte, zu konkreten Lösungen und Fortschritten zu kommen.Allerdings muß ich sagen, daß es mir Ihre einleitenden Bemerkungen ein bißchen schwergemacht
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Dr. Schäublehaben. Denn die Art, wie Sie den Vertreter des Landes Baden-Württemberg, Herrn Staatssekretär Mayer-Vorfelder, hier behandelt haben, war nicht sehr fair.
Es ist nicht zumutbar, daß Sie Herrn Mayer-Vorfelder, weil er nun Präsident des VfB Stuttgart ist, im Grunde so darstellen, als wolle er die Steuervergünstigungen für Bundesligavereine des Deutschen Fußballbundes. Dies ist der Versuch einer bewußten Irreführung. Das kann hier so nicht stehenbleiben.
Sie haben von den besonderen Verhältnissen in Süddeutschland gesprochen, Herr Staatssekretär Böhme. Sie müßten wissen, daß das Land BadenWürttemberg die höchsten Zuschüsse pro Kopf der Mitglieder an die Sportvereine im Vergleich aller Bundesländer zahlt. Deswegen ist das, was Sie hier gesagt haben, nicht die Wahrheit gewesen. Wenn das Problem der Besteuerung der Vereine in Süddeutschland eine besondere Rolle spielt, dann hat das natürlich damit zu tun, daß wir sicherlich in Süddeutschland, wie allerdings auch in anderen Gegenden der Bundesrepublik Deutschland ein besonders intensives und reges Vereinsleben haben. Aber wenn Sie ein bißchen mehr im Lande herumkämen, Herr Böhme, dann wüßten Sie beispielsweise, wie stark diese Probleme auch in Nordrhein-Westfalen eine Rolle spielen. Es ist ja schade, daß Ministerpräsident Rau vor ein paar Stunden gegangen ist; sonst hätte er vielleicht seine Rede wiederholen können, in der er vor einem großen Sportverein in Nordrhein-Westfalen Steuererleichterungen gefordert und dringlich notwendig genannt hat.
Im übrigen muß ich schon sagen, daß das Verfahren, das hier angewendet wird, eigentlich nicht ohne Kritik bleiben kann. Die Stellungnahme der Bundesregierung zu diesem Gesetzentwurf, die in drei Monaten intensiver Arbeit — Herr Mayer-Vorfelder hat es erwähnt — ausgearbeitet worden ist, beschränkt sich auf lapidare zehn Zeilen, in denen nur darauf hingewiesen wird, daß man an einem eigenen Entwurf arbeite.Herr Böhme hat, wenn ich das richtig verstanden habe, hier als Vertreter der Bundesregierung eine mündliche Stellungnahme abgegeben. Das, was Sie als Stellungnahme zum Gesetzentwurf des Bundesrates gesagt haben, hätte eigentlich in der Drucksache erwähnt werden müssen. Wenn die Bundesregierung dazu nicht mehr zu sagen hat, hätten Sie Ihre Rede an dieser Stelle jetzt nicht halten dürfen.
Und im übrigen, Herr Böhme: Wir haben einen Übungsleiterfreibetrag von 3 600 DM in unserem Antrag vom 15. März dieses Jahres gefordert. Ich habe schon in der ersten Lesung dieses Antrags gesagt: Wenn wir uns auf eine vernünftige Größenordnung und eine vernünftige Ausgestaltung einigen können, werden wir dies mittragen. Ich füge hinzu, daß wir die Lösung, die Sie jetzt hier beschrieben haben, im Finanzausschuß und im Plenum dieses Hauses mittragen werden. Aber es ist doch schon merkwürdig, daß Ihr Haus den Verbänden einen Referentenentwurf zur Anhörung vorlegt, die in der nächsten Woche stattfindet, in dem 1200 DM stehen, während Sie hier jetzt mündlich verkünden: 2 400 DM. Wir begrüßen ja Ihren Sinneswandel, aber wir fragen: Was sind das eigentlich für Zustände in Ihrem Haus, daß Sie den Verbänden für die Anhörung in der nächsten Woche einen Referentenentwurf vorlegen, von dem Sie jetzt verkünden, alles, was darin stehe, sei überholt, sei Quatsch.
— Nein, nein, Herr Spöri, so können wir nicht miteinander umgehen. Es gibt ja gewisse Regeln des Umgangs der verschiedenen verfassunggebenden Organe, und es ist eben auch nicht zumutbar, daß Sie das Thema der Vereinsbesteuerung für weitere Monate auf die lange Bank schieben wollen. Die Wahrheit, Herr Spöri, ist, daß wir, die Fraktion der CDU/ CSU, am 15. März dieses Jahres den Antrag in diesem Hause vorgelegt haben. Den haben wir im Mai in erster Lesung beraten und dann dem Finanzausschuß überwiesen.Das Land Baden-Württemberg hat etwa zum selben Zeitpunkt im Bundesrat seine Initiative eingebracht. Sie ist vom Bundesrat vor der Sommerpause verabschiedet und dem Bundestag zugeleitet worden. Die Bundesregierung hat das Höchstmaß für die Dauer der Stellungnahme ausgeschöpft, die Sache drei Monate verzögert. Sie leitet jetzt zu und sagt: Wir arbeiten aber an einem eigenen Entwurf, der noch im Stadium des Referentenentwurfs ist. Er muß ja dann als Regierungsentwurf durch den Bundesrat gehen. Im Finanzausschuß des Bundestages werden wir also frühestens im März dazu kommen, uns mit dem Thema zu beschäftigen, während wir längst entschieden haben könnten. Deswegen sage ich vorweg: Wenn es Ihnen mit Steuererleichterungen für die Vereine so ernst ist, wie Sie das hier gesagt haben und wie ich es unterstellen will — ich begrüße das ja, ich kämpfe seit Jahren darum, daß Sie endlich zur besseren Einsicht kommen —, dann muß von Ihnen auch verlangt werden, daß Sie den Gesetzentwurf, den wir geschäftsordnungsmäßig als Grundlage haben, als Beratungsgrundlage nehmen. Was an Änderungen und Ergänzungen für erforderlich gehalten wird, können wir dann beantragen. Wir sollten aber schnell entscheiden, Herr Huonker, und nicht noch Monate warten. Denn wer schnell gibt, gibt doppelt. Wir haben jetzt die Möglichkeit, die Dinge zu regeln. Ob dann über dem Gesetzentwurf steht, er sei von der Regierung oder vom Bundesrat, kann doch nicht entscheidend sein. Entscheidend ist, daß den Sportvereinen schnell geholfen wird, wenn wir gemeinsam der Überzeugung sind, daß dies notwendig ist.
Meine Damen und Herren, es wird Sie nicht überraschen, aber lassen Sie mich es ganz kurz sagen: Die CDU/CSU-Fraktion begrüßt die Zielsetzung des vom Bundesrat auf Initiative von Baden-Württemberg vorgelegten Entwurfs. Er deckt sich mit unse-
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14468 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 183. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. November 1979
Dr. Schäubleren seit Jahren eingebrachten Anträgen, jedenfalls in der grundsätzlichen Zielsetzung. Wir haben uns in all den zurückliegenden Jahren für steuerliche Erleicherungen der gemeinnützigen Vereine eingesetzt, weil die gemeinnützigen Vereine nach unsrem Verständnis ein unverzichtbarer Bestandteil einer freiheitlichen Lebensordnung sind. Unzählige ehrenamtliche Mitarbeiter leisten in den Vereinen uneigennützig Dienst zum Wohl ihrer Mitbürger und zum Wohl der Allgemeinheit. Sie nehmen damit im Sinne des Subsidiaritätsprinzips der staatlichen Verwaltung viele Aufgaben ab, die sie in eigener Verantwortung und auf Grund freier Entscheidung selbst besser erfüllen können.Deshalb, Herr Spöri, sind wir uns ja inzwischen einig, daß gemeinnützige Vereine auch Anspruch auf öffentliche Förderung haben. Und jetzt werden wir uns darin einig, daß zu dieser öffentlichen Förderung auch steuerliche Erleichterungen gehören, die den Vereinen für ihre Tätigkeiten Freiräume schaffen sollen. Herr Mayer-Vorfelder hat schon gesagt, daß es ein Unding ist, wenn der Staat mit der einen Hand Zuschüsse gibt und sie mit der anderen Hand über die Besteuerung wieder wegnimmt. Was etwa die öffentlichen Zuschüsse für die Übungsleiter betrifft, so wissen wir ja, daß sie in der Bundesrepublik Deutschland inzwischen eine Größenordnung von etwa 50 Millionen DM erreicht haben und daß die Besteuerung der Übungsleiterhonorare in der Bundesrepublik Deutschland ein Aufkommen von etwa 50 Millionen DM einbringt, so daß die Rechnung im Grunde null auf null aufgeht. Das ist doch wirklich paradox.
Meine Damen und Herren, weil das so ist, begrüßen wir auch die Zielsetzung des Bundesratsentwurfs, wirtschaftliche Aktivitäten der gemeinnützigen Vereine in der Besteuerung zu begünstigen, soweit die Erträge dem gemeinnützigen Zweck — nicht der Bundesligaabteilung des VfB Stuttgart — des Vereins uneingeschränkt zur Verfügung gestellt werden. Wir nehmen allerdings auch die Bedenken wegen möglicher Wettbewerbsverzerrungen, die insbesondere aus den Kreisen des gastronomischen Gewerbes vorgetragen werden, sehr ernst, Herr Spöri. Wir werden im Finanzausschuß mit Ihnen gemeinsam, wenn Sie mitmachen, einen Weg suchen, um das Risiko von Wettbewerbsverzerrungen auszuschalten. Wir suchen einen Weg, der den Vereinen hilft, ohne berechtigte Belange anderer aus dem Auge zu verlieren.Allerdings, manches, was an Bedenken vorgetragen wird, ist in sich nicht ganz logisch. Wenn sich etwa der Einzelhandelsverband der Textileinzelhändler darüber beklagt, die Vereine würden möglicherweise selbst Trikots beschaffen und damit die Interessen des Einzelhandels schädigen, dann muß sich der Einzelhandel auch fragen lassen, an wen er denn Sporttrikots verkaufen wollte, wenn es keine gemeinnützigen Sportvereine gäbe; denn diese schaffen ja überhaupt erst die Voraussetzung dafür, daß man Trikots verkaufen kann.
Also man darf da die Dinge nicht zu kleinlich sehen. Herr Schirmer, wir wissen sehr genau, und auch die Vertreter des gastronomischen Gewerbes wissen sehr wohl, wieviel sie den Bemühungen und Initiativen der gemeinnützigen Vereine an eigenen wirtschaftlichen Möglichkeiten verdanken. Deswegen meine ich, man sollte die Wettbewerbsgesichtspunkte sorgfältig prüfen, aber zugleich auch sehen, daß es sich in Wahrheit nicht um ein Gegeneinander, sondern um ein Miteinander handelt. Dies muß auch einmal deutlich unterstrichen werden.
Die CDU/CSU-Fraktion unterstützt auch die Absicht des Entwurfs, die Auslegungsschwierigkeiten bei der Abgrenzung gemeinnütziger Zwecke, auch bei der Abgrenzung der Frage, was Sport ist, zu beseitigen. Ich bezweifle allerdings, ob wir gut beraten sind, den Begriff Sport nun wieder einschränkend zu definieren, indem wir hinzufügen: das und das ist auch Sport, statt daß wir vielleicht, Herr Staatssekretär Mayer-Vorfelder, die obersten Finanzbehörden von Bund und Ländern bewegen, den Begriff Sport großherziger zu interpretieren, so daß wir solche gesetzlichen Auslegungskünste, die am Schluß den Begriff Sport ja einengen, nicht brauchen. Wir würden den Weg der Interpretation für den besseren halten. Wenn er nicht geht, müssen wir es auf dem Weg der gesetzlichen Interpretation machen; aber die verwaltungsmäßige wäre uns lieber.Wir begrüßen sehr — und das sei unterstrichen —, daß in Zukunft auch kulturelle Vereine die Möglichkeit bekommen sollen, die gesamten Vereinsunkosten bei den Veranstaltungseinnahmen abzusetzen. Herr Staatssekretär Böhme, die Bundesregierung wird bei der CDU/CSU-Fraktion auch Zustimmung zu dem Vorschlag finden, die Überschreitung der Grenze durch den Weg einer Rücklage für die steuerbegünstigten Zwecke zu ermöglichen.Lassen Sie mich schließlich sagen, daß nach Auffassung der CDU/CSU-Fraktion ein Vereinbesteuerungsgesetz nicht verabschiedet werden kann, ohne daß das Problem der Besteuerung von Aufwandsentschädigungen für die ehrenamtlichen Übungs-, Organisation- und Jugendleiter gelöst worden ist. Herr Staatssekretär Böhme, ich habe das schon gesagt: der einfachste Weg wird sein, wenn wir uns auf 2 400 DM — ich nenne es jetzt einmal so — Freibetrag einigen und dies in Form eines Ergänzungsantrags in die Bundesratsinitiative hineinnehmen. Dann kann es zum 1. Januar 1980 in aller Ruhe in Kraft treten, und wir haben dann wirklich einmal bewiesen, daß wir nicht nur zur Konfrontation, sondern auch zur konstruktiven Zusammenarbeit in diesem Hause in der Lage sind.Meine Damen und Herren, wir von der CDU/ CSU-Fraktion werden auch noch einmal sehr an Sie appellieren, die Problematik der Erstattung von Ausbildungskosten in bezug auf die Steuerschädlichkeit bei den gemeinnützigen Vereinen sehr intensiv zu überprüfen. Wir werden darüber, Herr Schirmer, vielleicht im einzelnen noch einmal im Ausschuß sprechen. Ich will nur sagen, daß auch dieses Thema für uns und für viele, die die Wirklich-
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Dr. Schäublekeit der Sportvereine und der Leistungsförderung kennen, ein zentrales Thema ist.
— Nein, Herr Huonker; das habe ich Ihnen schon einmal erklärt. Das müßten Sie besser verstehen; sonst verstehen Sie nichts von Sport. Ich will versuchen, es Ihnen an einem Beispiel zu erklären. Sie bekommen ja jetzt möglicherweise höheren Sachverstand, wenn der SPD-Parteitag entsprechende Voten abgibt. Vielleicht hilft Ihnen auch der. Wir haben vom Bund ein Leistungsförderungskonzept mit Stützpunkten. Wir sagen zu talentierten Athleten: Ihr müßt, wenn ihr ein bestimmtes Niveau erreicht, zu diesen Stützpunkten gehen; verlaßt euren ländlichen Verein. — Der ländliche Verein hat jahrelang viel Geld in den Athleten stecken müssen — an Trainingskosten, an Ausbildungskosten — und hat dann nichts mehr von seinem Sportler. Es geht um gar nichts anderes als dies, daß der Verein von dem anderen Verein, an den er den Athleten abgibt, ein bißchen etwas im Sinne einer Erstattung dieser Kosten bekommen soll. Herr Staatssekretär MayerVorfelder, hier wird, was die Gemeinnützigkeit angeht, nach einer, wie ich finde, unzutreffenden Auslegung des § 52 Abs. 2 der Abgabenordnung verfahren. Es handelt sich natürlich nicht um jene Ablösesummen, wie sie in Ihrem Bereich beim VfB Stuttgart anfallen. Davon reden wir nicht. Es ist völlig klar, daß diese Ablösesummen steuerpflichtig sind.
— Reden Sie einmal mit ein paar Sportvereinen darüber, was sie für Probleme haben. Dann werden Sie solche Zwischenrufe nicht mehr machen. Das ist das Elend, das der Herr Böhme hier angerichtet hat: daß er die Amateurvereine mit den Bundesligavereinen in einen Topf wirft. So nette, sympathische Leute wie Sie verstehen dann nicht mehr, daß es sich hier um zwei verschiedene Paar Stiefel handelt. Mich hat dies deswegen so geärgert, weil es der Herr Böhme ja eigentlich wissen muß.Lassen Sie mich zum Ende kommen. Ich möchte noch einmal an alle Seiten in diesem Hause und in der zweiten Runde dann auch an den Bundesrat appellieren, jetzt schnell zu handeln und zu entscheiden. Wir haben jetzt alle miteinander jahrelang über die Besteuerung der Vereine und die Erleichterungen geredet. Die Bundesregierung hat oft genug intern gesagt: Das geht nicht, weil die Länder nicht mitmachen. Dieses Alibi, Herr Böhme, haben Sie nicht mehr, nachdem der Bundesrat einen eigenen Entwurf vorgelegt hat. Sie haben jetzt keine Ausrede, keine Entschuldigung mehr. Sie sind sich in der Sache jetzt offensichtlich klargeworden, was Sie wollen. Wir können die Anträge im Finanzausschuß stellen. Wir können beraten, wir können verabschieden. Das Gesetz kann, wenn Sie wollen, bereits zum 1. Januar 1980 verabschiedet sein und in Kraft treten. Ihr guter Wille, den Vereinen mit uns zusammen zu helfen, wird daran gemessen werden, ob Sie jetzt bereit sind, schnell zu handeln.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Kühbacher.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist erfreulich zu sehen, in welch edlem Wettstreit wir hier stehen, wenn es um die Vereine in der Bundesrepublik geht. Die baden-württembergische Landesregierung tut etwas, die Bundesregierung tut etwas, die Unionsfraktion tut etwas, wir tun etwas, und sicherlich werden die Freien Demokraten auch noch etwas dazu beisteuern. Ich glaube, der Sport und die Vereine sind bei uns insgesamt gut aufgehoben. Dieser Eifer steht uns auch gut an.Diese freundliche Stimmung, Herr Kollege Dr. Schäuble, wird aber durch Ihre letzte Einlassung, die bei uns an den Nerv geht, getrübt. Sozialdemokraten werden es nicht zulassen, daß aus Amateurvereinen Sportler, die von klein auf von Übungsleitern ehrenamtlich betreut und von ehrenamtlichen Vorständen begleitet worden sind, von Vereinen, die sich das leisten können, aufgekauft werden. Wir werden dies nicht noch steuerlich begünstigen.
Dies ist für mich schlicht und einfach der Eingriff in die Selbstbestimmung der Sportler, wenn über Geld versucht wird, jemanden zu einem anderen Verein zu ziehen.
Natürlich wird dies versucht. Wir sind doch selbst im Sport zu Haus; wir wissen das doch. Sie wissen genausogut wie ich, daß es inzwischen in bestimmten Fußballbereichen Mode ist, daß jemand, der den Verein wechselt, z. B. ein Auto geschenkt bekommt. Ich finde das unanständig bei Amateursportlern.
Gucken wir doch einmal hinüber in die Nachbarstadt, nach Köln. Dort gibt es einen Eishockeyclub, einen Amateursportverein, der den halben Umsatzsteuersatz bei Eintrittsgeldern eingeräumt bekommt. Ich bin sicher, daß dort Millionenbeträge durch die Kassen laufen. Herr Kühnhackl soll 800 000 DM gekostet haben. Er ist ein lupenreiner „Amateur". Das ist unanständig. Es handelt sich hier um Berufssport. Den Berufssport können wir ausgliedern. Den Amateursport halten wir vom Geld frei. Das ist unsere Position. Dann sollen eben Wirtschaftsbetriebe mit Gesellschaftsanteilen gegründet werden. Das wäre völlig korrekt. Wir lassen aber nicht zu, daß Amateure gekauft werden. Jedenfalls werden wir dies nicht durch diesen Staat steuerlich begünstigen.
Die Kommerzialisierung des Sports muß dort ein Ende finden. Dies ist der grundsätzliche Unterschied.
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14470 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 183. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. November 1979
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Riedl?
Gern.
Herr Kollege Kühbacher, ist Ihnen denn nicht bekannt, daß z. B. alle deutschen Lizenz- und Profifußballabteilungen voll steuerpflichtig sind, und zwar in allen Bereichen, angefangen von der Mehrwertsteuer über die Körperschaftsteuer, wenn diese anfällt, und die Einkommensteuer bis hin zur Lohnsteuer? Von was reden Sie denn überhaupt? Würden Sie mir das hier bitte einmal sagen?
Herr Kollege Riedl, Sie haben einen großen sportlichen Sachverstand. Ich rede nicht über die Bundesligalizenzabteilungen, über den Berufssportbereich. Das ist für mich eine klare Sache. Ich rede über den Amateursport, für den Herr Dr. Schäuble zum Schluß seiner Rede gefordert hat — insoweit liegt auch eine Gesetzesinitiative Ihrer Fraktion vor, hoffentlich nicht mit Ihrer Unterschrift —, Ablösungen zwischen Amateursportvereinen bis zu 20 000 DM steuerlich zu begünstigen. Das ist unanständig. Davon rede ich, Herr Dr. Riedl. Und wenn Sie mich fragen, ob ich wüßte, worüber ich rede, so muß ich fragen: Wissen Sie eigentlich, was in Ihrer Fraktion vorgeht? Wir können doch politisch nicht zulassen, daß mit der Kommerzialisierung in den Amateursportvereinen begonnen wird, die wir im Lizenzspielerbereich, wo es sich um Gewerbebetriebe handelt, akzeptieren können. Das ist ein anderer Bereich. Aber im Amateursport wollen wir das Geld in dieser Massivität heraushalten. Das soll nicht noch durch den Staat gefördert werden.
— Das segelt unter der Flagge Amateursport. Das ist der Punkt.
— Richtig. Aber dahin führt das doch. Das können Sie doch gar nicht aufhalten.Der Gesetzentwurf des Bundesrates ist in einigen Punkten zu begrüßen, in einigen Punkten sehen wir das etwas anders.Ich muß einige Ausführungen zum Vereinsbereich machen. Ich danke der Bundesregierung dafür, daß sie ihre Bereitschaft bekundet hat, nunmehr über den Referentenentwurf hinauszugehen und die Übungs- und Jugendleiter im Bereich der Aufwandsentschädigung steuerlich zu entlasten und damit auch einen Verwaltungsaufwand abzubauen. Dieser Schritt auf die Grenze von 2 400 DM im Jahr oder 200 DM im Monat ist wichtig und richtig. Ich glaube, dadurch wird das ehrenamtliche Engagement in den Vereinen nachdrücklich gestärkt.
Ich bedanke mich ausdrücklich dafür.
Wir wollen nicht, daß das ehrenamtliche Engagement durch Steuern behindert wird. Lassen Sie mich die Vereinslandschaft, um das zu veranschaulichen, einmal in drei Bereiche einteilen. Wir haben den Berufssport, Herr Dr. Riedl, als einen Bereich: Gewerbebetrieb, voll steuerpflichtig. Dann haben wir in den Vereinen wirtschaftliche Geschäftsbetriebe und Zweckbetriebe, die in Konkurrenz stehen mit Gaststätten, Einzelhändlern usw. Sie sind steuerlich nicht anders zu behandeln als dieser Mittelstand auch. Dann haben wir den Amateurverein, und diesem wollen wir nachdrücklich helfen.In diesem Bereich des Amateurvereins ändert sich im Laufe der Zeit einiges. Die Strukturen werden verändert; Herr Dr. Böhme hat darauf hingewiesen. In diesem Bereiche haben wir mit der Änderung der Abgabenordnung doch bereits eine Unmenge getan, dadurch nämlich, daß die Vereine steuerunschädlich aus geselligen Veranstaltungen bis zu 12 000 DM Gewinn im Jahresmittel machen können. Dabei können sämtliche Leistungen und Ausgaben der Vereine abgezogen werden. Damit ist doch ein ganz wichtiger Schritt gemacht worden, um die Vereine zu entlasten.
Ich begrüße es nachdrücklich, daß sowohl die Bundesregierung erklärt hat als auch der Gesetzentwurf des Bundesrates bestimmt, diese Wohltat auf die anderen kulturellen Vereine wie Musikvereine, Musikzüge, Theatervereine usw. zu übertragen. Ich unterstütze das lebhaft. Das wird in diesem Bereich sicherlich eine Hilfe bedeuten. Im Klartext: Wenn ein Musikverein Darstellungen macht, dafür Eintrittsgelder nimmt und diese Eintrittsgelder in der Vereinsabrechnung zu einem Überschuß führen, dann wollen wir, daß daraus die Posaunen und sonstige Musikinstrumente gekauft werden können. Das gleiche wird ja bereits im Sport richtigerweise und zweckmäßigerweise so gehandhabt. Diese Passage des Gesetzentwurfs begrüßen wir also, Herr Staatssekretär.Wir akzeptieren auch, daß der Problembereich Schach — Schachvereine, Schachabteilungen in Sportvereinen — geregelt werden soll. Auch das findet unsere volle Zustimmung. Darüber hat es lange Gespräche gegeben; wir stimmen dem zu. Das gleiche gilt für den Modellflug und Modellbau im Zusammenhang mit dem Segelflugsport. Auch das gehört zu den Bereichen, denen wir helfen wollen. Auch das stellt eine Erleichterung dar, und auch das wird von uns begrüßt.Allerdings darf ich in diesem Zusammenhang darauf hinweisen — es sind ja eben einige weitergehende Wünsche angesprochen worden —, daß die Frage der Freizeitbetätigung schwierige Abgrenzungsprobleme aufwirft. Wir müssen aufpassen, daß wir als Gesetzgeber nicht dazu beitragen, den Begriff der Gemeinnützigkeit zu inflationieren. Es soll eine selbstlose Aufgabenstellung im Interesse der Allgemeinheit sein. Wir müssen aufpassen, daß nicht jeder, der für sich sein privates Hobby isoliert betreibt, plötzlich die Gemeinnützigkeit in Anspruch nehmen kann. Damit würden wir den Cha-Kühbacherrakter der Gemeinnützigkeit entwerten, und es gibt darüber hinaus Abgrenzungsschwierigkeiten.Ich stimme Herrn Schäuble zu, daß es sicher in manchen Fällen richtiger ist, eine weite Auslegung vorzunehmen, als eine enumerative Aufzählung vorzusehen, weil dann jeder, der nicht in der Aufzählung enthalten ist, sich benachteiligt fühlt. Jeder möchte in den Katalog aufgenommen werden, und dadurch erfolgt eine Inflationierung.Soweit stimmen wir diesem Gesetzentwurf zu. Ich muß Ihnen allerdings sagen: Das ist aber auch alles. In einigen Punkten sehen wir die Dinge entscheidend anders.Ich will bei der Erörterung in der Chronologie des Gesetzentwurfs vorgehen und bei den Bürgerinitiativen beginnen. Herr Staatssekretär Mayer-Vorfelder, bei den Bürgerinitiativen ist es wirklich so, daß wir als Gesetzgeber zwischen genehmen und unangenehmen Bürgerinitiativen unterscheiden würden. Das geschieht natürlich unter der Überschrift, die Sie im Gesetz gewählt haben, daß nämlich keine Förderungswürdigkeit besteht, wenn „schutzwürdige Interessen anderer Bevölkerungsteile" tangiert werden. Wer formuliert denn den Inhalt des Begriffs „schutzwürdige Interessen anderer Bevölkerungsteile"? Ich muß Ihnen sagen: Da fängt für mich die Meinungsmanipulation an. Wir müssen es in diesem Staat ertragen, daß es Bürger gibt, die zu einem bestimmten staatlichen oder privaten Vorhaben diese oder jene Auffassung haben. Wenn der Satzungszweck deutlich macht, daß die Vereinigung keine staatsgefährdenden oder sonstigen Umtriebe bezweckt, werden wir ihre Meinungen ertragen müssen. Wir dürfen die Vereinigungen nicht mit Hilfe des Steuergesetzes an die goldene Kette legen. Das ist der entscheidende Punkt.
Ich warne vor folgender gefährlicher Situation, in die wir kämen: Da gibt es eine Bürgerinitiative pro Kernenergie, die gerade die schutzwürdigen Interessen der Bevölkerung unterstreicht, und es gibt eine Bürgerinitiative gegen die Kernenergie, beispielsweise dort, wo ein Kraftwerk gebaut werden soll, die schutzwürdige Interessen tangiert. Die eine Bürgerinitiative ist begünstigt; die andere wollen Sie nicht begünstigen. Dies ist ein gefährlicher Weg. Ich muß sagen: Das erinnert mich ein bißchen an feudalistische Zeiten, in denen es hieß: „Wes Brot ich eß, des Lied ich sing." Das wollen wir im Zusammenhang mit den Bürgerinitiativen aber nicht haben.Dasselbe Problem stellt sich im Zusammenhang mit den Jugendsekten. Ich glaube, es ist ein ernsthaftes Problem. Es ist hier im Bundestag mehr als vier Stunden lang erörtert worden. Ich muß mich bei meinen Kollegen Meinecke bedanken, der dazu interessante und für mich aufschlußreiche Ausführungen gemacht hat. Aber wir werden diesem im Jugendbereich schwierigen Problem nicht dadurch Herr, daß wir die Jugendsekten qua Gesetz durch Behinderung einer Anerkennung der Gemeinnützigkeit bekämpfen mit der Begründung, daß sie jugendgefährdend sind. Das funktioniert nicht. Das muß in der Satzung nachgeprüft werden, wenn die Gemeinnützigkeit beantragt wird. Darüber hinaus muß man sehen, ob sich die Vereinigung auch so verhält, wie es in der Satzung beschrieben ist. Dazu sind die Länder aufgerufen, die die Kontrollmöglichkeiten dazu haben. Dieses auf den Gesetzgeber abzuschieben nach dem Motto „Wir haben denen die Gemeinnützigkeit genommen, damit ist die Gefahr der Jugendsekten beseitigt", scheint mir nur eine Alibifunktion zu haben.
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Es scheint mir die Alibifunktion zu haben: Man muß gegenüber den Kirchen etwas gemacht haben, und damit kann man das Thema vergessen. Das Problem muß an der Wurzel angepackt werden. Was hier vorgesehen ist, reicht nicht aus.Nun muß ich zu den Zweckbetrieben und deren gewünschten Begünstigungen kommen. Ich frage mich, Herr Staatssekretär, ob Ihr Minister Gleichauf alles so unterschrieben hat, was Sie hier auf dem Wege des Initiativentwurfs von Baden-Württemberg gewünscht haben. Auf eine Anfrage im badenwürttembergischen Landtag hin hat dieser Finanzminister, gerade was die Aktivitäten angeht, nämlich Vereinsgaststätten, Trikotwerbung, wirtschaftliche Betätigung der Vereine, am 11. Juni 1974 ausgeführt — ich habe die Landtagsdrucksache hier —:Allerdings sollte eine einseitige Steuerbegünstigung grundsätzlich dort vermieden werden, wo ernsthafte Beeinflussungen des Wettbewerbs zu befürchten sind. Eine Wettbewerbssituation besteht beispielsweise, soweit gemeinnützige Vereine Vereinsgaststätten betreiben oder Einnahmen aus Banden- und Trikotwerbung beziehen.So Herr Gleichauf. Das sind die Wettbewerbsschwierigkeiten, die er damals den CDU-Kollegen im baden-württembergischen Landtag entgegengehalten hat. Er hat gesagt: Wir gehen da nicht heran, wir wollen den Einzelhandel und den Mittelstand schützen.Plötzlich kommt aus demselben Hause ein Gesetzentwurf, der in diesem Punkt vermuten läßt, daß Sie den Herrn Finanzminister wohl geistig umgedreht haben. Ich frage mich, weil wir dieses Bandenspiel über Eck kennen, ob diese Passage im Vereinsbesteuerungsgesetz — ich kenne nämlich die Position der Mittelstandsvereinigung, der Gaststättenlobby und derjenigen, die das besonders unterstützen — nicht der Ausdruck eines Bandenspiels ist, ob wir, Herr Staatssekretär, in diesem Punkt nicht einen Etikettenschwindel beim Vereinsbesteuerungsgesetz vor uns haben, daß Sie genau wissen, daß das nicht zu machen ist, daß Sie es finanzpolitisch auch nicht wollen, auch aus wirtschaftspolitischen Gründen nicht, aber um den Vereinen gegenüber ein Alibi zu haben — nach dem Motto „Wir würden es ja tun" —, bringt man hier so einen Gesetzentwurf ein, wohl wissend, daß dieses im Bundestag nicht akzeptiert werden kann. Denn zur gleichen Frage haben wir ja vor gut einem halben Jahr in Sachen Umsatzsteuergesetz schon einmal entschieden, aber es kommt hier erneut auf den Tisch. Und da frage ich
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14472 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 183. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. November 1979
Kühbachermich: Ist das nicht Etikettenschwindel? Denn diesem Umsatzsteuergesetz, der jetzt gefundenen Passage, hat der Deutsche Bundestag einstimmig zugestimmt, der Bundesrat ebenfalls. Von daher frage ich mich, wieso Sie ein Vierteljahr später mit dieser Sache plötzlich hier erneut hereinkommen. Das scheint mir, wie gesagt, Etikettenschwindel zu sein. Aber ich habe ja Verständnis für viele Dinge. Sie sind im Wettbewerb, und der Wettbewerb in BadenWürttemberg ist, glaube ich, im März nächsten Jahres; denn dann haben Sie Landtagswahlen. Da müssen Sie so einiges vorweisen; ich verstehe das ja.
Nur muß man wahrheitsgemäß sagen, daß das wahrscheinlich so ist.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Schäuble?
Ja, sehr gern; denn er kommt ja auch aus Baden-Württemberg.
Herr Kollege Kühbacher, da Sie auf die Entstehungsgeschichte des neuen Umsatzsteuergesetzes eingehen und mit unserer Zustimmung argumentieren, muß ich Sie fragen, ob Sie sich nicht mehr erinnern, daß wir in einem Gespräch im kleinen Kreis die Forderung, Sportvereine von der Umsatzsteuer zu befreien, haben fallenlassen, weil Sie gesagt haben, Sie würden zu anderen Zugeständnissen nur bereit sein, wenn wir auf diesem Punkt nicht beharren würden.
Herr Dr. Schäuble, ich weiß, daß wir ein sehr ausführliches Gespräch mit dem Deutschen Sportbund hatten und hier unten im Bundestagsrestaurant zugestanden haben, daß insbesondere Startgelder oder Nenngelder bei Sportveranstaltungen nicht mehr steuerpflichtig sein sollen. Das haben wir aus dem Gesetz — unter Zustimmung des Deutschen Sportbundes — herusgenommen.
— Herr Dr. Schäuble, ich glaube nicht, daß ich Ihnen Bedingungen stellen könnte. Sie sind ein freier Abgeordneter, das würden Sie doch nie akzeptieren.
Ich möchte noch einen letzten Punkt ansprechen, der mir besonders schlimm zu sein scheint, nämlich die steuerliche Begünstigung von Pferderennveranstaltungen. Heute geht über den Ticker eine Meldung, die sich mit dem Turf und Rennwettgeschäft auf bestimmten Rennplätzen — konkret: in Düsseldorf — beschäftigt. Meine Damen und Herren, hier spielen wir nicht mit. Wir werden Pferderennveranstaltungen, die reiner Kommerz sind, Galoppveranstaltungen, Trabrennveranstaltungen nicht in den Sattel der Gemeinnützigkeit heben.Was ist denn daran selbstlose Erfüllung einer dem Allgemeinwohl dienenden Aufgabe, wenn sich die Vereine, die dort über hohe Preisgelder, hohe Eintrittspreise und eine Lotterie große Summen umschlagen, wirtschaftlich betätigen? Was ist denn da gemeinnützig? Gemeinnützig sind die Pferdesportvereine, und die haben diese Steuerbegünstigung bereits. Das unterstützen wir nachdrücklich, weil dort Sport — auch sehr viel für die Behinderten — getrieben wird. Aber Pferderennvereine sind aus unserer Sicht nicht gemeinnützig, und wir werden dies ablehnen.Meine Damen und Herren, ich möchte zum Schluß nur noch folgendes sagen: Herr Dr. Schäuble, ich glaube, daß wir im gemeinsamen Wollen die guten Teile — die aus unserer Sicht guten Teile — hier beraten werden.
— Was die Schnelligkeit angeht, so will ich Ihnen nur folgendes sagen: Die Tagesordnung für die nächste Sitzung des Finanzausschusses ist klar. In der Sitzungswoche danach finden die Haushaltsberatungen statt. Und dann haben wir noch eine Sitzungswoche im Dezember. Von daher ist es nicht ganz redlich, hier jetzt laut in die Offentlichkeit hinein zu sagen: Wenn wir wollten, könnten wir zum 1. Januar 1980 fertig sein.
Das ist der Punkt. Sie wissen, daß das nicht redlich ist. Ich nehme an, Sie haben das bereits in Presseveröffentlichungen geäußert. Es ist nicht fair, was Sie hier tun, so nach dem Motto: Der Finanzausschuß könnte es ja möglich machen. Setzen Sie es auf die Tagesordnung für die nächste Sitzung des Finanzausschusses — in der Obleutebesprechung haben Sie keinen Antrag dieser Art gestellt —, beantragen Sie eine Sondersitzung des Finanzausschusses; auch das werden Sie nicht tun. Also, es ist, wie gesagt, unredlich, so zu tun, als könnte man das bereits zum 1. Januar 1980 in Kraft setzen. Im übrigen, so nehme ich an, wird der Bundesrat an diesem Gesetz auch noch beteiligt sein wollen. Von ihm ist es gekommen, und er wird nicht alles akzeptieren. Von daher wird es sicherlich ein Vermittlungsverfahren geben. Angesichts dessen, ist das bis zum 1. Januar 1980 oder gar bis zum Dezember nicht zu machen. Das sollten Sie öffentlich erklären, das ist die Verfahrenslage. Es ist — ich wiederhole es noch einmal — unredlich, so zu tun, als wäre das möglich. Wir wollen es doch!
— Bitte, so schnell wie möglich soll das durch den Finanzausschuß kommen, und so schnell wie möglich soll auch die Zustimmung des Bundesrates herbeigeführt werden. — Ich bedanke mich.
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Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 183. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. November 1979 14473
Das Wort hat Frau Abgeordnete Funcke.
Herr Präsident! Meine Herren und Damen! Die schriftliche Begründung zu dem Gesetzentwurf unterstreicht, daß die ehrenamtliche Tätigkeit aus der Arbeit der zahlreichen gemeinnützigen Vereine nicht wegzudenken ist. Der Herr Staatssekretär Mayer-Vorfelder hat das soeben noch einmal deutlich gemacht, und ich glaube, das ist gemeinsame Überzeugung. Wir wissen, daß im gesamten gesellschaftlichen Leben und nicht nur bei den hier genannten Vereinen das ehrenamtliche Mitwirken der Bevölkerung in den verschiedenen Bereichen ein entscheidender Bestandteil unserer Demokratie überhaupt ist. Deshalb sollten wir dieses ehrenamtliche Mitwirken soweit wie möglich nicht behindern, sondern unterstützen. Wir werden daher mit großer Sorgfalt und mit großem Wohlwollen den Problemen nachgehen, die hier aufgezeigt worden sind.Aber nicht jede populäre Forderung, über die viele Leute vordergründig erfreut sind, ist in Wirklichkeit eine Hilfe. Denn wenn wir den Katalog der Gemeinnützigkeit erheblich ausweiten und mehr oder weniger alle Tätigkeiten im Freizeitbereich über die Steuerbegünstigung finanzieren, dann fragt man sich zum Schluß, warum wir unser tägliches Brot noch versteuern müssen und nicht auch noch eine Steuervergünstigung für den Lebensunterhalt haben. Wir müssen prüfen, ob wir nicht mit einer zu wohlwollenden und in manchen Dingen sogar sehr ungleichen Förderung etwas auslösen, was die Vereine am wenigsten wollen, nämlich eine sehr eingehende Prüfung ihrer Tätigkeiten im Sinne der Gemeinnützigkeit. Die Definition der Gemeinnützigkeit enthält den Passus, daß es nicht nur um die Förderung der Mitglieder gehen darf. Bei einer sehr großzügigen Ausweitung könnten wir nicht verhindern, daß dann sehr präzis und bis in jede Einzelheit geprüft werden muß, wie es sich mit den Einnahmen und Ausgaben verhält Derjenige, der diese Dinge sehr großzügig behandeln möchte, muß wissen, daß mit dieser Großzügigkeit nachher sehr kleinkarierte Prüfungen verbunden sein müßten, um die Gleichmäßigkeit der Besteuerung zu gewährleisten.Sie wollen den Katalog ausweiten. Ich glaube, wir sind uns über einige Positionen durchaus einig, daß etwa Schach dazu gehören soll. Der Tierschutz ist schon heute anerkannt. Doch dann folgen sehr unterschiedlich geregelte Dinge. Sie wollen z. B. Pflanzen- und Kleintierzucht durch Zusammenschlüsse nicht berufsmäßiger Züchter als gemeinnützig anerkennen. Ich frage mich, ob ein Hundezuchtverein ohne Mitglieder aus dem Bereich berufsmäßiger Züchter überhaupt denkbar ist und ob dann solche Mitglieder dazu führen würden, daß der gesamte Hundezuchtverein nicht mehr gemeinnützig ist. Oder wollen Sie eine Quote der berufsmäßigen Züchter festsetzen, bis zu der eine Gemeinnützigkeit anzunehmen ist? Bei der Pferdezucht werden berufsmäßige Züchter dagegen nicht ausgeschlossen. Zwar kenne ich sehr wohl den Unterschied zwischen einem Goldfisch und einem Pferd;
aber für einen Goldfischzüchter ist eine unterschiedliche Behandlung bezüglich der Gemeinnützigkeit nicht verständlich. Wenn Sie sagen, daß Pferde nicht nur hinsichtlich ihrer Größe, sondern auch hinsichtlich ihrer Nutzbarkeit überlegen seien, dann wird die entsprechende Argumentation beim Schäferhund schon problematisch; denn er gilt als „Kleintier", und es fragt sich, ob sein Züchter anders als ein Pferdezüchter behandelt werden kann. Hier muß die Frage nach der Gleichmäßigkeit der Besteuerung gestellt werden.Das Gleiche — jetzt im Ernst — gilt für den Modellflug und Modellbau, den Sie dort als Sport anerkennen wollen, wo er im Zusammenhang mit Segelflug und Motorsport betrieben wird. Hier wird also nicht die Tatsache einer Tätigkeit, sondern die Organisationsform begünstigt, und das ist unter verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten wohl nicht möglich. Denn ob etwas als Sport gilt, kann nicht von der Organisationsform, sondern nur von der jeweiligen Betätigung abhängen. Ich bin sehr dafür, daß der Aero-Club seine Gemeinnützigkeit nicht deshalb verliert, weil ihm ein nicht als Sport anerkannter Bereich angeschlossen ist. Es gäbe die Möglichkeit, zu sagen, daß ein größerer Verein mit Untergruppen die Gemeinnützigkeit nicht dadurch verliert, daß er in geringem Umfang Mittel für solche Abteilungen gibt, die nicht der Gemeinnützigkeit unterliegen. Über solche Formulierungen könnten wir uns unterhalten. Aber wir können sicher nicht auf Grund der Organisationsform unterscheiden, ob etwas als Sport anerkannt wird oder nicht.Meine Damen und Herren, man kann nicht alles, was man politisch will, ohne weiteres im Steuerrecht verwirklichen.
Ich trete immer für Steuersystematik, aber auch für Gerechtigkeit ein; denn ich glaube, Steuern sind dann am ungerechtesten, wenn der Bürger nicht mehr begreift, warum im Steuerrecht das eine so und das andere so behandelt wird. Ich glaube, mindestens wir im Finanzausschuß sind uns darüber klar: Man kann nicht willkürlich eines so und das andere so behandeln. Wir sind auf die Gerechtigkeit bei der Steuer verpflichtet. Dabei schließe ich mich der bereits geäußerten Ansicht an, daß wir bei den Ubungsleitern Aufwendungen etwa in der Größenordnung bis zu 200 DM im Monat pauschaliert anerkennen sollten; größere Aufwendungen müßten nachgewiesen werden. Sonst kommen wir in einen problematischen Bereich. Ich habe einmal folgendes nachgerechnet, ohne unterstellen zu wollen, daß viele so handeln: Wenn etwa ein alleinstehender jüngerer Mensch arbeitslos ist, kann er mit der Arbeitslosenunterstützung und 15 bis 20 steuerfreien Stundenvergütungen von 5 bis 6 DM besser stehen, als wenn er 8 Stunden am Tag in seinem Beruf arbeiten würde. Da stellt sich ernstlich die Frage, ob das mit unserer Vorstellung von Leistung in Einklang zu bringen ist. Mir scheint, dies sollte
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14474 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 183. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. November 1979
Frau Funckevon uns einmal an Beispielen durchgerechnet werden, weil das, was ich gerade mitgeteilt habe, nicht so ganz weltfremd ist, insbesondere, wenn wir auch die Veranstaltungen im kulturellen und darstellenden Bereich in diese Vergünstigungen einbeziehen; ich glaube, Sie wissen, wovon ich rede.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
„Wenn eine Körperschaft ... Ziele verfolgt, die mit schutzwürdigen Interessen anderer Teile der Bevölkerung nicht im Einklang stehen, oder wenn eine Jugendgefährdung nicht auszuschließen ist", soll die Gemeinnützigkeit versagt werden.
Nun kann ich mir eigentlich in dem Bereich, in dem Menschen sich um Schutz bemühen, kaum vorstellen, daß man nicht mit anderen Leuten in Konflikt gerät. Wenn Sie etwa einen Grüngürtel um die Stadt schützen und pflegen wollen — und dafür kann es ja durchaus eine gemeinnützige Institution geben —, kommen Sie möglicherweise mit Leuten in Konflikt, die dort Bauland haben und bauen wollen. Es ist auch ein schutzwürdiges Interesse, wenn man dort sein Eigentum bebauen will. Aber natürlich steht das dem gegenüber. In unserer Welt stehen immer Interessen gegen Interessen, und auch Interessen, die man für andere — nicht einmal für sich — wahrnimmt, stehen in dieser Welt durchaus miteinander im Konflikt. Ich sehe gerade Herrn Staatssekretär Gallus. Natürlich ist der Tierschutzverein bei der Landwirtschaft nicht gerade besonders beliebt. Ich möchte einmal wissen, wie dem armen Finanzbeamten nun in einer Rechtsverordnung oder Richtlinie hinreichend klargemacht werden kann, wo durch die Aktivität einer Gruppe schutzwürdige Interessen anderer gefährdet sind und wo das nicht der Fall ist.
Und dann kommt es noch schöner, wo es heißt: „wenn eine Jugendgefährdung nicht auszuschließen ist". Meine Damen und Herren, wo eigentlich in dieser Welt ist Jugendgefährdung von vornherein ganz auszuschließen? Und wo um alles in der Welt soll der Finanzbeamte die Maßstäbe dafür bekommen, zu beurteilen, ob möglicherweise eine Jugendgefährdung nicht auszuschließen ist? Meine Damen und Herren, ich bin voll davon überzeugt, daß die Angehörigen der christlich-demokratischen und christlich-sozialen Fraktion selbstverständlich immer wissen, was jugendgefährdend ist und was nicht.
Aber es sind ja nicht alle Beamten Mitglied Ihrer Fraktion, und nicht alle kennen Ihre Maßstäbe. Ich glaube, dies geht wirklich nicht, und das hat Herr Kühbacher eben auch schon deutlich gemacht.
Wir sind ernstlich daran interessiert, echte Jugendgefährdungen in dem Bereich, der hier gemeint ist, zu bekämpfen. Aber wenn es die Jugendämter nicht wissen, woher soll es dann der Finanzbeamte wissen?
Wie soll er das von sich beurteilen? Die Anerkennung oder Nichtanerkennung der Gemeinnützigkeit ist übrigens ein völlig untaugliches Mittel, Jugendreligionen zu bekämpfen; denn diese pflegen auf steuerabzugsfähige Spenden relativ wenig Wert zu legen, und körperschaftsteuerpflichtig sind sie eh nicht. Ihnen ist die Anerkennung vom Finanzamt ziemlich gleichgültig. Sicherlich wäre die Überprüfung durch andere, die Jugend schützende Organisationen, angebracht, aber, bitte schön, nicht durch das Finanzamt. Ob die Identität zwischen Satzung und Durchführung der Satzung gegeben ist, kann sicherlich geprüft werden, nicht aber der Inhalt im Hinblick auf eine mögliche Jugendgefährdung.
Meine Damen und Herren, ein letztes Bedenken, und dies ist mir sehr ernst. Was hier gefordert wird, ist im Hinblick auf Wettbewerbsverzerrungen nicht hinzunehmen. Sie wollen den Geschäftsbetrieb der Vereine von der Körperschaftsteuer, von der Gewerbesteuer, von der Vermögensteuer, von der Umsatzsteuer freistellen. Wenn das keine Wettbewerbsverzerrung ist im Bereich der Geschäftsbetriebe, die auch von gewerblichen Kräften geführt werden, dann möchte ich wissen, was Wettbewerbsverzerrung ist.
Wettbewerbsverzerrung darf nicht eintreten; das steht in der AO. Herr Lampersbach, ich glaube, die Mittelstandsvereinigung der CDU sollte sich dieser Frage einmal etwas intensiver annehmen. Der einfache Hinweis, Herr Schäuble, hier irre die Dehoga und die Dehoga sollte froh sein, daß es noch Vereine gibt, genügt nicht.
Nein, meine Damen und Herren, die Vereinsgastronomie hat — nicht allein bei den Sportvereinen sondern insgesamt — ein Ausmaß angenommen, das die Frage nach dem Schutz mittelständischer Betriebe auslöst.
Ich glaube, wir sollten sehr genau prüfen, was einerseits im Interesse der Vereine und andererseits im richtigen Verständnis von Wettbewerb und Mittelstandspolitik zu vertreten ist.
Wir wollen die Dinge genau prüfen. Sie mögen aber an dieser Aufzählung der Fragen, die zumindest ich habe, aber nicht nur ich, ersehen, daß man mit einem so schnell konzipierten Gesetz, das sicher mit großem Eifer und Engagement geschrieben worden ist — das unterstellen wir alle —, so schnell nicht durch unseren Finanzausschuß kommt. Wir werden uns aber bemühen, die Vorlage zügig zu behandeln; denn ich glaube, es gibt keinen, der nicht das Anliegen des Antrages als solches bejaht.
Das Wort hat der Herr Staatssekretär Mayer-Vorfelder.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es gäbe sicher eine Fülle von Punkten, zu denen man etwas sagen und auch sachkundig entgegnen könnte. Ich will Ihre Zeit aber nicht zu sehr in Anspruch nehmen. Das sind Gegenstände, die man im Ausschuß beraten kann, wo ich gerne auch als Beauftragter des Bundesrates zugegen sein werde, um zu diesem oder jenem Punkt aus der Praxis heraus etwas zu sagen. Aber zu zwei Punkten, wo ich sehr persönlich angenommen worden bin, möchte ich noch etwas sagen.
Erster Punkt: Ich habe es nicht ganz richtig gefunden, Herr Staatssekretär Böhme — er ist leider nicht mehr da —, hier über die Lizenzspielervereine etwas zu sagen, weil jeder, der sich den Gesetzentwurf genau angeschaut hat, gewußt hat, daß Lizenzspielervereine von diesem Entwurf überhaupt nicht berührt sind.
Natürlich ehrt es mich, wenn der VfB Stuttgart in diesem Hohen Hause eine große Rolle spielt. Es ist aber beinahe zuviel der Ehre, wenn man die Gegenstände anschaut, um die es hier geht.
Die zweite Bemerkung. Sehr verehrter Herr Abgeordneter Kühbacher, ich möchte eines mit Deutlichkeit klarstellen, gerade weil ich im Amateurverein, im Vorstand des Württembergischen Fußballverbandes sehr viel zu tun habe: Es geht uns in diesem Entwurf nicht darum — das ist in diesem Entwurf überhaupt nicht angesprochen —, die Dinge, die im sogenannten Amateurbereich eingerissen sind, abzudecken und sie vielleicht noch steuerrechtlich zu bevorzugen. Schauen Sie in die Amateuroberligen des Fußballs hinein! Wenn dort unter dem Tisch 10 000 Mark pro Monat schwarz und cash und ohne Steuer bezahlt werden, dann wäre es falsch, dies noch steuerrechtlich bevorzugen zu wollen. Das geht einfach nicht, weil der Arbeitnehmer letzten Endes für seine 10 000 oder 20 000 DM, die er verdient, seine Lohnsteuer zu zahlen hat. So muß es natürlich auch im Amateurbereich bleiben.
Herr Staatssekretär, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Kühbacher?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Selbstverständlich.
Herr Staatssekretär, ich bedanke mich nachdrücklich. Ist Ihnen bekannt, daß nicht in Ihrem Gesetzentwurf, sondern in dem dem Finanzausschuß vorliegenden Gesetzesantrag der CDU/CSU-Fraktion beabsichtigt ist, 20 000 DM Ablösesumme steuerlich zu begünstigen? Das ist der Punkt.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kühbacher, ich gebe gern Antwort. Das Problem, das im Augenblick im Bereich des Amateurs in den Grauzonen hin zum Berufssport besteht, ist, daß ein Amateurstatus aus olympionikischen Gedanken heraus gehandelt wird, der im Grunde genommen mit der Wirklichkeit nicht mehr übereinstimmt, ob Sie Tischtennis, Ringen oder Eishockey nehmen. Da bin ich eben für klar Schiff, daß man es wie im Fußball macht und sagt: Hier sind Profis, und da sind Amateure.
Es gibt aber ein großes Grundproblem, das alle Vereine berührt. Es ist das, das mit diesem Antrag angesprochen ist, und das hat nur mit der Frage der Gemeinnützigkeit etwas zu tun, aber nicht mit der Frage des Steuerrechts von der Lohnsteuer bis zur Körperschaftsteuer. Wenn ein Verein einen Spieler wechselt, gleichgültig in welchem Bereich, und 1 000 DM an den abgebenden Verein bezahlt, verliert er automatisch die Gemeinnützigkeit. Das ist das Problem, das mit dem Antrag von Herrn Schäuble angesprochen ist. Das ist aber eine ganz andere Frage, nämlich der Sauberkeit im Amateurbereich, wo viel gesündigt wird und wo die Dinge einfach nicht mehr stimmen. Das muß jeder sehen, der in diesem Bereich engagiert tätig ist.
Ich möchte noch eine letzte Bemerkung machen, weil sowohl von Ihnen, Herr Kühbacher, als auch von Ihnen, Frau Funcke, gesagt worden ist, wir wollten den Wettbewerb verzerren.
Wir wollen den Wettbewerb überhaupt nicht verzerren. Nur ist die Wirklichkeit: Wenn man den Gesetzentwurf anschaut, stellt man fest, daß wir nie gefordert haben, daß bei den Wirtschaftsbetrieben die Umsatzsteuer wegfällt. Es soll genau der normale Umsatzsteuersatz sein. Nur haben wir gesagt: Im Körperschaftsteuerbereich und im Gewerbesteuerbereich muß ein gewisser Freibetrag her. Und nun soll mir jemand erklären, wo hier der Wettbewerb ist. Wenn ich eine Vereinsgaststätte betreibe, habe ich bislang einen Freibetrag von 5 000 DM. Wenn jemand im freien Beruf eine Gaststätte betreibt, hat er einen Gewerbesteuer-Freibetrag von 36 000 DM und eine Einkommensteuer von - in der Proportionalzone — 22 %, während der Verein sofort 50 % Körperschaftsteuer von jeder Mark zahlen muß, die über 5000 DM hinausgeht.
Wer da von Wettbewerbsverzerrung spricht, vergleicht einfach Äpfel mit Birnen. Das muß hier mal mit Deutlichkeit gesagt werden.
Ein allerletztes Wort, Herr Kühbacher, zu dem schönen Pferderennen. Politik ist immer die Kunst des Möglichen, auch im Kompromiß zwischen den Ländern. Die Pferderennen sind hineingekommen, weil die Nordrhein-Westfälinger das unbedingt drin haben wollten. Der Pferdesport spielt in BadenWürttemberg nicht die entscheidende Rolle. Deshalb ist das nicht ein Punkt, über den wir uns besonders streiten müssen.
Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die Aussprache.
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14476 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 183. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. November 1979
Vizepräsident Dr. von WeizsäckerDer Ältestenrat schlägt Ihnen vor, den Gesetzentwurf auf Drucksache 8/3243 zur federführenden Beratung an den Finanzausschuß, zur Mitberatung an den Sportausschuß und zusätzlich — nach einer interfraktionellen Vereinbarung — an den Ausschuß für Wirtschaft sowie gemäß § 96 unserer Geschäftsordnung an den Haushaltsausschuß. Ist das Haus damit einverstanden? — Kein Widerspruch. Es ist so beschlossen.Ich rufe Punkt 7 der Tagesordnung auf:Erste Beratung des von der Fraktion der CDU/CSU eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Hypothekenbankgesetzes und des Gesetzes über die Pfandbriefe und verwandten Schuldverschreibungen öffentlich-rechtlicher Kreditanstalten— Drucksache 8/3264 —Das Wort wird nicht gewünscht. Der Ältestenrat schlägt vor, den Gesetzentwurf auf Drucksache 8/3264 zur federführenden Beratung an den Finanzausschuß sowie zur Mitberatung an den Ausschuß für Wirtschaft zu überweisen. Ist das Haus damit einverstanden? — Kein Widerspruch. Es ist so beschlossen.Ich rufe Punkt 8 der Tagesordnung auf:Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über Hilfe durch kostenlose Beratung und Vertretung in Rechtsangelegenheiten außerhalb eines gerichtlichen Verfahrens
— Drucksache 8/3311 —Das Wort zur Einbringung hat der Herr Parlamentarische Staatssekretär Dr. de With.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Bundesregierung hat den Entwurf eines Gesetzes über Hilfe durch kostenlose Beratung und Vertretung in Rechtsangelegenheiten außerhalb eines gerichtlichen Verfahrens — kurz: „Beratungshilfegesetz" — vorgelegt. Sie greift hiermit ein altes Anliegen aller Rechtspolitiker auf, die sich für mehr Chancengleichheit im Recht eingesetzt haben.Der Bürger kann sein Recht nur wahren, wenn er es erstens kennt, wenn er zweitens in der Lage ist, sein Verhalten nach dieser Kenntnis einzurichten, und wenn er drittens sich notfalls auch außergerichtlich durch einen Anwalt vertreten lassen kann. Daher darf der sachkundige Einsatz geeigneter rechtlicher Gestaltungsmöglichkeiten nicht auf die Bevölkerungsgruppe beschränkt bleiben, die entweder selbst rechtskundig oder aber fähig ist, sich bezahlten Rechtsrat und außergerichtliche Vertretung zu verschaffen.Die Erkenntnis, daß für weite Schichten unserer Bevölkerung der Zugang zum Recht erleichtert werden muß, hat zu Beginn dieses Jahrhunderts Gemeinden und Verbände verschiedener Art dazu veranlaßt, Beratungsstellen aufzubauen. Zwischen derAnwaltschaft und den kommunalen Beratungsstellen bahnte sich in den 20er Jahren eine Zusammenarbeit bei der Rechtsfürsorge an. Die ab 1929 einsetzende Wirtschaftskrise hat der konununalen Beratungstätigkeit allerdings weitgehend ein Ende bereitet. Sie ist nach 1945 — wenn man von der öffentlichen Rechtsberatung in den Stadtstaaten absieht — nur in verhältnismäßig geringem Umfang wieder aufgelebt. Die Folge war jedenfalls — auch hier wieder von den Stadtstaaten abgesehen —, daß den Bürgern mit geringem Einkommen ein erleichterter Zugang zum Recht nur über die von der Anwaltschaft standesrechtlich organisierten Beratungsmöglichkeiten geboten wurde. Nimmt man das Gebot der Chancengleichheit, das dem Rechtsstaats- und Sozialstaatsprinzip entspringt, ernst, so kann eine solche gleichsam karitative Tätigkeit eines Berufsstandes nicht genügen.Nach Erörterungen unter den Justizministern in den Jahren 1974/75 sind von mehreren Bundesländern Modellversuche unternommen worden, die als Entscheidungshilfe für eine gesetzliche Regelung gedacht waren. Die Erfahrungen mit diesen Modellversuchen haben ebenso wie eine rege Diskussion unter den Rechtspolitikern, die Erörterungen auf dem 51. Deutschen Juristentag und die Stellungnahmen der verschiedensten Organisationen den Ihnen jetzt vorgelegten Entwurf eines Beratungshilfegesetzes wesentlich gefördert.Der wesentliche Inhalt des Entwurfs ist kurz folgender:Erstens. Dem rechtsuchenden Bürger, dessen Einkommen und Vermögen eine nach den Sätzen des Bundessozialhilfegesetzes bestimmte Grenze nicht überschreitet, wird ein Anspruch auf — sieht man von einer geringen Gebühr ab — kostenlose Beratung und, soweit dies notwendig ist, auch Vertretung im vorprozessualen Bereich gewährt.Zweitens. Über die Befugnis zur Inanspruchnahme dieser Hilfeleistung soll grundsätzlich im behördlichen Bereich entschieden werden. Zuständig hierfür sollen die auch heute noch räumlich weitgestreuten Amtsgerichte sein. Die dort mit der Wahrnehmung der Aufgaben einer Anlaufstelle betrauten Rechtspfleger sollen, wenn dem Rechtsuchenden mit einer sofortigen Auskunft geholfen werden kann, diese Auskunft erteilen. Darunter fällt selbstverständlich auch ein Verweis an die zuständige Stelle. Nach den Erfahrungen mit den Modellversuchen der Bundesländer ist hier mit bereits einem erheblichen Prozentsatz der Rechtsuchenden geholfen worden.Drittens. Kann dem Rechtsuchenden mit einer sofortigen Auskunfts nicht geholfen werden, erscheint insbesondere eine Vertretung notwendig, soll der Rechtsuchende einen Berechtigungsschein zur Inanspruchnahme eines Rechtsanwalts seiner Wahl und seines Vertrauens erhalten. Der Rechtsanwalt ist verpflichtet, dem Rechtsuchenden die im Einzelfall notwendige Hilfe zu erteilen. Er wird dafür aus öffentlichen Mitteln mit Pauschalgebühren entschädigt, die in ihrer Höhe auf den ungefähren Umfang der entfalteten Tätigkeit Rücksicht nehmen.
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Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 183. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. November 1979 14477
Parl. Staatssekretär Dr. de WithViertens. Für Ausnahmefälle, in denen etwa besondere Eilbedürftigkeit gegeben ist, soll auch ein unmittelbarer Zugang zu anwaltlichem Rechtsrat gegeben sein. Das Netz der Anwälte ist ja breit gestreut.Letztlich, fünftens. Für die Stadtstaaten, die schon seit längerer Zeit eine sehr ausgebaute Beratung durch öffentlich-rechtlich organisierte Beratungsstellen anbieten — ich nenne nur das Stichwort ORA —, ist, soweit dies von den Stadtstaaten gewünscht wird, eine Sonderregelung vorgesehen. Hiernach soll das dort bestehende System grundsätzlich den Vorrang vor dem System des Entwurfs haben.Mit zwei Bemerkungen möchte ich noch auf den Inhalt des Entwurfs näher eingehen. Sie sind zugleich Antworten auf hin und wieder zu hörende Einwände.Zum einen soll der Entwurf keine kodifikatorische Zusammenfassung aller Beratungsmöglichkeiten für Bürger mit geringem Einkommen sein. Seine Aufgabe ist es vielmehr, die erkennbar gewordenen Lücken auf dem Gebiet der rechtlichen Beratung zu schließen, nicht aber, bestehende, mitunter durch Spezialisierung besonders wertvolle Möglichkeiten der rechtlichen Beratung und Vertretung abzulösen. Ich verweise in diesem Zusammenhang auf die Auskünfte, die im Bereich der öffentlichen Verwaltung, etwa nach dem Ersten Buch des Sozialgesetzbuches oder nach dem Bundessozialhilfegesetz, zu erteilen sind, aber auch auf die vielfache rechtliche Betreuung, die von den Verbänden wie etwa den Gewerkschaften und den großen Sozialverbänden gewährt wird. Der Entwurf sieht daher Beratungshilfe nur für solche Rechtsgebiete vor, auf denen das Bedürfnis nach kostenlosem Rechtsrat besonders hervorgetreten ist. Dieses behutsame Vorgehen empfiehlt sich auch im Hinblick auf die mit dem Entwurf verbundene Belastung der öffentlichen Haushalte. Ferner soll, wo bereits Möglichkeiten für eine anderweitige kostenlose Beratung bestehen, das Amtsgericht in erster Linie an diese verweisen; ich habe darauf bereits hingewiesen.Zum zweiten soll mit dem Entwurf die rechtliche Betreuung der hilfsbedürftigen Schichten unseres Volkes in dem notwendigen Umfang gesichert, nicht aber — wenn das so formuliert werden darf — „Lebenshilfe" im allgemeinen gewährt werden. Für die letzte haben wir im Fürsorgerecht eine Vielfalt von jeweils auf die konkrete Lebenslage des Hilfsbedürftigen zugeschnittenen Hilfsmöglichkeiten.Lassen Sie mich noch ein Wort zu dem Beschluß des Bundesrates bei dem ersten Durchgang des Entwurfs sagen. Der Bundesrat hat den Entwurf im Hinblick auf bestehende Alternativlösungen als entbehrlich abgelehnt. Dies ist bedauerlich und verwunderlich zugleich und, ich meine, im Grunde unverständlich.Der Beschluß ist bedauerlich, weil damit der Versuch abgelehnt wird, dem Bürger ohne Rücksicht auf seine finanzielle Lage die Gleichheit der Chancen im Recht besser zu sichern. Der Hinweis auf die Alternativlösungen — gemeint sind hiermit die Modellversuche in den Ländern, von denen ichsprach — geht fehl. Diese Modellversuche waren — das möchte ich an dieser Stelle ausdrücklich anerkennen — eine sehr wertvolle Hilfe. Der Entwurf baut auch weitgehend auf diesen Erfahrungen auf. Aber sie können eine bundesgesetzliche Regelung nicht entbehrlich machen. Denn sie erreichen nur einen Teil der Bürger, weil sie nicht in allen Bundesländern und nicht durchweg flächendeckend durchgeführt werden. Sie geben ferner dem Bürger keinen gesicherten Anspruch auf Rechtsrat, weil sie auf jederzeit rücknehmbaren Verwaltungsanordnungen beruhen.Verwunderlich ist der Beschluß des Bundesrates, weil die Modellversuche der Länder nach allgemeiner Meinung in eine bundeseinheitliche Regelung einmünden sollten. Die Bundesländer haben an dem Entwurf intensiv mitgearbeitet. Ihre Anregungen sind fast ausnahmslos übernommen worden.In diesem Hohen Haus wird die Notwendigkeit einer bundesgesetzlichen Regelung für eine Beratungshilfe in Rechtsangelegenheiten wohl außer Streit sein. Wozu hätte sonst die parlamentarische Opposition einen eigenen Entwurf eingebracht, der sich mit dieser Materie befaßt? Der Zugang des Bürgers zum Recht unabhängig von seinen finanziellen Verhältnissen ist heute angesichts der allseits beklagten Normenflut notwendiger denn je. Ich gebe deswegen der Hoffnung Ausdruck, daß der Deutsche Bundestag noch in dieser Legislaturperiode für eine bundesgesetzliche Lösung des Problems eintreten wird.
Meine Damen und Herren, der Entwurf ist begründet.
Ich eröffne die allgemeine Aussprache. Das Wort hat der Herr Abgeordnete Langner.
Frau Präsident! Meine Damen und Herren! Ich stimme Ihnen, Herr Kollege de With, darin zu, daß der vorgelegte Gesetzentwurf einen Regelungsgegenstand von relativ bescheidenem Umfang hat, und auch darin, daß die Stellungnahme des Bundesrates vielleicht doch etwas zu kurz gedacht war.Worum geht es bei diesem Entwurf? Nicht nur im Prozeß, auch außerhalb gerichtlicher Verfahren sollen Bürger mit geringem Einkommen sachgerecht beraten und vertreten werden. Die Kosten für Rechtsrat und Vertretung sollen durchaus ihre Funktion, als Preis für eine qualifizierte Dienstleistung regulierend zu wirken, behalten. Die Kosten dürfen jedoch für denjenigen, der sie nicht aufbringen kann, nicht zu einer Sperre werden, die unübersteigbar wird und ihn etwa zwingen würde, Unrecht hinzunehmen. Dagegen sträubt sich das Rechtsempfinden aller billig und gerecht denkenden Menschen. Deshalb regeln wir heute hier etwas, von dem eine hundertjährige Rechtsentwicklung gezeigt hat, daß es regelungsbedürftig ist.Wir verweisen daher auch mit einigem Stolz darauf, daß die Unionsfraktion schon am 17. April 1978 — Sie haben zum Schluß darauf abgehoben, aber nicht gesagt, daß das schon vor anderthalb Jahren
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14478 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 183. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. November 1979
Dr. Langnerwar — einen Entwurf eingebracht haben, den ich hier begründen durfte. Wenn wir ihn im Ausschuß etwas zügiger beraten hätten, hätten wir schon lange ein Gesetz.Damals, als ich ihn einbrachte, habe ich mich eingehend mit der Frage auseinandergesetzt: Brauchen wir überhaupt ein Gesetz? Dies ist eine Frage, die in diesem Haus und von den Koalitionsfraktionen viel zu selten gestellt wird.Ich verweise auf das damals Gesagte und möchte heute nur anmerken, daß wir ein so umfangreiches und kompliziertes Gesetz, wie es der Regierungsentwurf vorsieht, in der Tat in dieser Form nicht brauchen.Vergleichen Sie nur einmal die Paragraphen. Die Regierung braucht 17 inhaltliche Paragraphen und weitere umfängliche Anfügungen in anderen Bundesgesetzen. Wir brauchen ganze sechs inhaltliche Paragraphen. Die längste Vorschrift des Regierungsentwurfs hat über 50 Zeilen, unsere nur 30.
— Aber immerhin schon besser, Herr Kleinert. — Und es gibt im Regierungsentwurf viel zu viele Vorschriften, die um die 50 Zeilen haben. Wir haben also gezeigt, daß es viel einfacher geht.
Die Regelungsbedürftigkeit ergibt sich für mich aus dem Sachzusammenhang mit der Prozeßkostenhilfe im gerichtlichen Verfahren, die wir zur Zeit neu regeln. In der Tat sollten Regeln über den Rechtsrat und die außergerichtliche Vertretung, die ja auch durchaus Regeln zur Vermeidung eines Prozesses sind, mit den Regeln prozessualer Rechtshilfe wie aus einem Guß abgestimmt sein. Sie müssen einfach und unbürokratisch sein.Es sollte keiner das so viel gebrauchte Wort der Chancengleichheit oder Chancengerechtigkeit in den Mund nehmen dürfen, der für Bürger mit geringem Einkommen nur Paragraphen und Belegsammlungswust oder gar Formularkrieg parat hätte.
Lieber bin ich bereit, die Selbstbeteiligung von 10 auf 20 DM zu erhöhen, um Mißbräuchen zu wehren, möchte aber dafür keine Drangsalierung der Menschen durch zu viel Überprüfung und keine unnötige Verwaltungsarbeit für das Gericht. Es versteht sich am Rande, daß dort, wo Not am Mann ist, von der Erhebung der Schutzgebühr ohnehin abgesehen wird.Natürlich kann und darf nicht jeder berechtigt sein, kostenlosen Rechtsrat einzuholen. Der wirklich Bedürftige soll einen Anspruch haben. Deshalb ist die Anknüpfung dieses Entwurfs an den doppelten Regelsatz des Bundessozialhilfegesetzes an und für sich sachgerecht, aber auf keinen Fall darf man nun komplizierte Einkommensermittlungen mit Durchführungsverordnungen zum BSHG vorschreiben, wie das der Regierungsentwurf tut. Das geht viel einfacher. Warum harmonisiert man nicht dasGanze mit der Prozeßkostenhilfe, indem man sagt, etwa die zwei oder drei untersten Reihen der Tabelle der Prozeßkostenhilfe ergeben die Berechtigung? Damit Schluß und aus. Das würde also heute bedeuten, daß ein Lediger, der unter 1000 DM hat, oder ein Verheirateter mit zwei Kindern, der unter 2000 DM hat, berechtigt sein soll. Da brauchen wir unsere Justizbeamten gar nicht erst am BSHG und den Dingen, mit denen sie sonst amtlich nichts zu tun haben, zu schulen.
Unser Entwurf ist auch in einem anderen Punkt lebensnäher als der Regierungsentwurf. Der Bürger soll gleich zum Anwalt gehen können; ein Weg weniger, ein Berechtigungsschein weniger, gleiches Verfahren wie der reichere Mitbürger. Ich meine, das wäre ein Stück Chancengleichheit.Die Vielfalt der schon vorhandenen Landesmodelle und der vorhandenen spezialisierten Beratungsmöglichkeiten — Sie gingen kurz darauf ein, Herr Parlamentarischer Staatssekretär — machen nach Ansicht des Bundesrates eine Regelung überflüssig; dies war eine Richtung des Bundesrates, die wohl weniger mit Parteipolitik als mit den Finanzministern zu tun hat Da hat sich in dieser Bundesratssitzung ein bißchen sehr viel kulminiert, was durchaus zu verstehen ist. Ich bin der Auffassung, daß die Bundesratsargumentation zunächst einmal nicht so ganz von der Hand zu weisen ist. Pluralität ist ja nicht unbedingt ein Argument dafür, daß man möglichst schnell uniformieren müsse, weil die Pluralität Zersplitterung bedeuten würde. Auch bezieht sich die Stellungnahme des Bundesrates konkret auf den Regierungsentwurf. Den habe ich nicht zu verteidigen; da reizt ja vieles zur Ablehnung. Das mag den Bundesrat entschuldigen.Sie wollen mit diesem Entwurf das bayerische Modell verwirklichen. Tatsächlich aber kombinieren Sie Bayern mit preußischer Bürokratie, und das kann ja nicht gutgehen.
Der Bundesrat hat aber nach meiner Auffassung nichtsdestotrotz unrecht. Die mehr als hundertjährige Rechtsentwicklung auf dem Gebiet der außengerichtlichen Rechtsberatung erlaubt jetzt durchaus die Normierung in einer einfachen Praxis und lebensnahen, bürgerfreundlichen Form.Das kostet die Länder — sie sind nicht mehr vertreten — im übrigen kaum mehr, als sie bereits heute für ihre Modelle aufwenden müssen; denn die Anwälte leisten hier einen lobenswerten Beitrag zu Anerkennungsgebühren. Sie werden dafür — und das ist eine Art Gegenleistung — in ihrer Rechtsberatungszuständigkeit, die eben nicht staatlich sein soll, bestätigt. Die Union begrüßt es sehr, daß diese von ihr stets bekundete Meinung nun auch im Regierungslager ausreichend Anhänger gefunden hat. Das war ja bei der Favorisierung von öffentlichen
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Dr. LangnerRechtsberatungsmodellen auf Kongressen der Sozialdemokratischen Partei nicht immer so. Den Bürgern — das ist das Entscheidende — wird geholfen, sich durch Rat und Vertretung im Rechtsgestrüpp zurechtzufinden.Nur, verehrte Kolleginnen und Kollegen, all das hätten wir schon seit anderthalb Jahren haben können, wenn man damals unserem Entwurf zügig zugestimmt hätte. Springen Sie deshalb, meine Damen und Herren von der Koalition, über Ihren Schatten und lassen Sie uns den heute in erster Lesung behandelten Regierungsentwurf als eine anregende Begleitlektüre betrachten, die etwas spät kommt und etwas zu kompliziert ausgefallen ist! Machen wir den Unionsentwurf zum Gesetz. Stimmen wir ihn noch mit der Prozeßkostenhilfe ab. Ich meine, daß wir dann ein gutes Werk getan hätten.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Schöfberger.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ihr Vorteil und der Vorteil Ihres Entwurfes, Herr Dr. Langner, war, daß Sie ihn nicht durch den Bundesrat bringen mußten, während die Regierung ihren Entwurf dort durchschleusen mußte. Sie hatten also nicht den Nachteil, mit Ihrem Entwurf von Bundesrat abgelehnt zu werden. Sie stehen ja insgesamt, wenn man die Mehrheit des Bundesrates einschließt, auf diesem Felde nicht besonders gut da. Der 51. Deutsche Juristentag befürwortete und forderte damals die bundeseinheitliche Regelung. Der Deutsche Anwaltverein begrüßt sie auch. Ihre Vertreter in der Landesjustizministerkonferenz fordern auch eine bundeseinheitliche Regelung. Der Rechtsausschuß des Bundesrates begrüßt die bundeseinheitliche Regelung. Aber der Finanzausschuß des Bundesrates setzt sich durch, weil er nämlich am selben Freitag schon 250 Millionen DM ausgegeben hat und für die außergerichtliche Rechtsberatung nicht mehr die 14 Millionen DM, die sie die Länder vermutlich kosten wird, übrig hat. So fallen halt im Bundesrat manchmal die Entscheidungen.
Wir möchten Sie daher herzlich bitten, bei Ihren Freunden im Bundesrat darauf einzuwirken — nachdem Sie selbst ja für eine bundeseinheitliche Regelung der Beratungshilfe sind —, die Politik der Obstruktion aufzugeben.
— Wenn das so geht, mag das so sein.Ich gehe von folgendem aus: Das Recht hierzulande ist seit der Rezeption des römischen Rechts alles andere als volkstümlich und für den Bürger lesbar. Deutsches Recht ist Juristenrecht, von Juristen erdacht, von Juristen gemacht, von Gerichten interpretiert und angewendet, aber vom Bürger dann letzten Endes immer erlitten. Davon muß man ausgehen, wenn man von außergerichtlicher Rechtsberatung spricht.
Es kommt noch etwas hinzu. Recht hat man, aber das Recht bekommen muß man käuflich erwerben. Ein Kritiker des Gerichtskostensystems und der Gebührenordnung hat einmal sehr deutlich gesagt: Die Gerichte verkaufen ihre Urteile und Beschlüsse wie der Metzger die Wurst. Bei den Anwälten ist das wohl nicht anders. Der Unterschied zum Metzger ist nur die Vorauskasse nach der Gebührenvorschußpflicht. Man muß zuerst zahlen, bevor man die Ware bekommt.
Deshalb entsteht die Frage, wie einkommensschwache und daher meist auch sozial schwache Bürger zu ihrem Recht kommen. Dies ist eine elementare Frage nach der Rechtskultur eines Volkes. Die Rechtstatsachenforschung steckt hier noch in den Kinderschuhen. Die Frage, warum der einkommensschwache Bürger schwer zu seinem Recht kommt, ist nur in Ansätzen beantwortet. Fest steht jedenfalls, daß der einkommensschwache Bürger in der Mehrzahl der Fälle auch ein Bürger mit geringerem Bildungs- und Ausbildungsstand, ein Bürger mit geringerer Artikulationsfähigkeit, ein Bürger mit geringeren Rechtskenntnissen, ein Bürger mit größerer rechtsgeschäftlicher Unbeholfenheit, also ein Bürger ist, der leichter übertölpelt, der leichter hereingelegt, der leichter ausgeschmiert werden kann. Bei den Haustürgeschäften und den Kaffefahrten wissen wir ja alle, wie das geht. Die Folge bei dem betroffenen Personenkreis ist oft eine schicksalhafte Ergebenheit in die Umstände, die halt von anderen geschaffen werden, von den Vermietern, von den Haustürverkäufern, von der Finanzierungsbank, von streitsüchtigen Nachbarn, von der Erschließungsbeitragsbehörde oder vom Finanzamt. In diese Umstände ergibt sich der einzelne hilflos und verbrämt das Ganze mit dem schönen populären Wort: Ich habe noch nie mit Anwälten und Gerichten zu tun gehabt. Dem Recht aber entsagen und damit der Gerechtigkeit entbehren zu müssen ist für viele Menschen so schmerzhaft, wie Hunger zu erleiden oder körperliche Leiden zu ertragen.Es handelt sich ja nicht nur um die Kostenangst. Die Rechtstatsachenforschung sagt uns, daß über die Kostenangst hinaus auch die Schwellenangst eine Rolle spielt. Nun meine ich — ich habe nichts gegen das Anwaltsmodell einzuwenden —, daß die Schwellenangst der Bürger bei Anwälten und ihren Kanzleien nicht geringer ist als gegenüber Gerichten und Behörden.Und dann ist es die Artikulationsangst. Die Anwälte genießen nicht das höchste Ansehen in unserem Land. Anwälte genießen in angelsächsischen
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Dr. SchöfbergerLändern ein viel höheres Ansehen. Der Anwalt wird bei uns nicht als Partner und Helfer des einkommenschwachen Bürgers verstanden, sondern eher als sprach- und redegewandter Vertreter der Mittel- und Oberschicht, der seinen Geist und seine Fähigkeit gegen Geld einzusetzen weiß und der desto besser ist, je besser er bezahlt wird. Das ist die landläufige Meinung über Anwälte. Mit solchen Leuten will man nicht gerne reden.Es gibt schon Chancengleichheit beim Zugang zum Recht. Die einzigen Gerichte, zu denen die einfachen und einkommensschwachen Leute immer schon, seit Jahrhunderten, einen chancengleichen, ja geradezu überprivilegierten Zugang hatten, sind die Strafgerichte. 90 % der Angeklagten und 95 % der Strafgefangenen stammen aus der unteren Bevölkerungsschicht. Die Differenz dieser Zahlen 90 und 95 beweist auch, daß man nicht allein häufiger angeklagt, sondern noch häufiger eingesperrt werden kann, wenn man sich die Rechtsverteidigung vor den Strafgerichten eben nicht leisten kann: Weil Du arm bist, mußt Du öfter sitzen!Bei allem Respekt vor dem, was Gewerkschaften, was Mietervereine, was Sozialverbände — ich denke hier an den Reichsbund, an den VdK —, was Lohnsteuerhilfen, was öffentliche Rechtsantragstellen, was wesentliche Teile der Anwaltschaft auf diesem Felde geleistet haben und auch täglich leisten, kann man wohl sagen: Unsere Bundesrepublik ist auf dem Gebiet der außergerichtlichen Rechtsberatung im Vergleich zu anderen Ländern reines Entwicklungsland. Man muß die Hansestädte Hamburg, Bremen und Lübeck sowie Berlin davon ausnehmen. Sie stehen in einer alten, bewährten Tradition der sozialen Rechtsberatung. Sie haben auf diesem Feld Pionierleistungen erbracht. Es ist auch erfreulich, daß in anderen Teilen der Bundesrepublik Modellversuche stattfinden. Aber irgendwann muß man doch von den Modellen zur Rechtswirklichkeit nach einheitlichen Kriterien in der ganzen Bundesrepublik kommen. Insgesamt kann man feststellen, daß die soziale Rechtsberatung in einem erschreckenden Maß unterentwickelt ist, so sehr, daß das einem Ausschluß einkommensschwacher Schichten aus unserer Rechtskultur gleichkommt.Es ist lohnenswert, den Blick auf die Einrichtungen anderer Länder zu richten, die dort seit Jahrzehnten funktionieren oder sich seit einigen Jahren entwickeln. Man denke etwa an die law-shops, die ein Peter Kandler 1970 in North-Kensington eingerichtet hat, nicht in der Nähe des Gerichts, sondern in Arbeitervierteln, auch in den Slums. Das wäre bei uns für ein Anwaltsbüro undenkbar. Man denke etwa an die Legal Aid Clinics der Vereinigten Staaten, eine interessante Mischung aus Sozialberatung, menschlicher Lebenshilfe und Rechtsberatung, soweit sie notwendig ist. Man denke an den Schweizer „Rechtswinkel", ein Ausdruck, der bei uns nicht denkbar wäre, weil man damit sofort den Winkeladvokaten assoziiert. Man denke an die boutiques de droit, die sich im 19. Arrondissement in Paris entwickelt haben und mittlerweile in Limoges und in anderen Mittelstädten Frankreichs Platz greifen.Oder man denke an die Neighbourhood Law Centres in London-Islington.In anderen Ländern — das habe ich schon betont— scharen sich die Anwaltsbüros nicht bei uns wie die Küken um die Glucke Amtsgericht. In anderen Ländern siedeln sich die Rechtsberatungsbüros unterschiedlichster Prägung in den Geschäftsstraßen, in den Einkaufsstraßen, in den Wohnvierteln, in den Arbeitervierteln und in den Vereinigten Staaten auch in den Slums an, weil sie die Nähe zum Bürger suchen, weil der Anwaltsstand dort ein ganz anderes Gewicht hat, weil der Gang zum Gericht im angelsächsichen Recht die letzte, die allerletzte Vernunft und Möglichkeit ist und weil der Anwalt im angelsächsischen Recht sehr viel mehr regelnd, streitverhütend, streitschlichtend eingreift als die deutsche Anwaltschaft.Wir gehen bei der Beratung von folgenden Grundsätzen aus.
— Da ist es genauso schlimm wie in den anderen Teilen der Bundesrepublik.
— An der U-Bahn-Station, aber auch nicht dort, wo es eigentlich hingehört. Da gebe ich Ihnen recht.
Nein, in der Vorstadt Sendling. Wir wollen ein vielfältiges, auf örtliche, sachliche Bedürfnisse abgestelltes, breitgefächertes Beratungssystem. Wir wollen also eine Vielfalt der Beratungschancen und kein Beratungsmonopol. Deswegen muß es als Träger öffentlich-rechtliche, gemeinnützige und anwaltschaftliche Beratungseinrichtungen geben.Wir sind für das Anwaltsmodell, aber nicht für das ausschließliche Anwaltsmodell. Auf Anwälte, ihre Kenntnisse, ihre Fähigkeiten kann nicht verzichtet werden. Sie bieten auch einen flächendekkenden Service mit 25 000 Anwaltsbüros in der Bundesrepublik. Es wäre unverantwortlich, auf diese Einrichtungen zu verzichten.Es gibt noch einen wesentlichen Grund: Die Rechtsberatung Einkommensschwacher muß tendenziell der Chancen bei der Rechtsberatung einkommensstarker Bürger angenähert werden, und einkommensstarke Bürger haben den Anwalt. Es wäre höchst unverantwortlich, den einkommensschwachen Bürgern den Weg zum Anwalt zu versperren. Das ist für mich ein Grund, für das Anwaltsmodell einzutreten.Aber wir sollten uns vor einer Monopolisierung hüten. Die ORA-Büros, die sich bewährt haben, dürfen jetzt nicht aufgehoben werden, dürfen nicht durch das Anwaltsmodell ersetzt werden.
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Dr. SchöfbergerIch gehe noch einen Schritt weiter, denn dies steht ja im Entwurf: Es muß in Zukunft auch für Städte möglich sein, als eine mögliche Alternative zur Anwaltsberatung solche ÖRA-Beratungsstellen neu einzurichten. Ich glaube, wir sollten uns auch überlegen, ob wir nicht beim Rechtsberatungsmißbrauchsgesetz eine Lockerung einführen müssen, damit eine Rundumberatung in Vielfalt möglich ist.Ein Anwaltsmodell ist auch deswegen als durchgängiges Modell problematisch — jedenfalls in angelsächsischen Ländern als problematisch erkannt worden —, weil die Beratung einkommensschwacher Bürger selten eine ausschließliche Rechtsberatung ist. Das geht fließend ineinander über. Das ist Sozialberatung, das ist Rechtsberatung, das ist Eheberatung, das ist einfachste Lebenshilfe, das ist nachbarliche Streitschlichtung. Ich möchte sogar sagen: Die Rechtsberatung ist bei diesem Personenkreis oft der geringere Teil der anwaltschaftlichen Betätigung. Deswegen muß es auch andere Institutionen geben, die die Sozialberatung durch Sozialarbeiter mit der Rechtsberatung durch Juristen kombinieren.Ein zweiter Grundsatz, bei dem wir uns entgegenkommen können, Herr Kollege Langner: Wir wollen ein bürgerfreundliches, einfaches, unbürokratisches Beratungssystem mit offenen, gradlinigen, leicht zu beschreitenden Zugangswegen. Ich pflichte Ihnen voll bei: Ein Berechtigungsschein des Amtsgerichts als Voraussetzung für die Beratung beim Anwalt ist ein Schein zuviel.
Ein Gang zum Amtsgericht, um hinterher zum eigenen Lohnbüro zu gehen, um dort den Einkommensnachweis zu holen, wieder zum Amtsgericht zu laufen, um dann endlich zu einem Anwalt zu kommen, sind drei Gänge zuviel.Rechtsanwälte sind doch nach übereinstimmender Auffassung und nach im Gesetz festgelegten Grundsätzen „Organe der Rechtspflege". Nun erwarte ich mir vorn Gesetzgeber und damit von uns selbst, daß ihnen endlich einmal das Vertrauen entgegengebracht wird, das der Gesetzgeber ansonsten Staatsanwaltschaften und Gerichten entgegenbringt.
Wenn Rechtsanwälte dieses Vertrauen als Organe der Rechtspflege verdienen, dann muß man ihnen auch vertrauen, daß sie die Einkommensgrenzen und damit die Berechtigung für eine Beratung selbst feststellen und entscheiden dürfen und dem Gericht auf dem dafür vorgesehenen Formblatt selbstverantwortlich mitteilen können. Auf diese Weise spart man bürokratische Hürden.Es kann doch wohl nicht Sinn und Zweck eines solchen Gesetzes sein, einige Schwellen zwecks Abbau der Schwellenangst herauszunehmen und dafür dem Bürger einen Hindernislauf über raffinierte bürokratische Hürden abzuverlangen. Das kann nicht der Sinn unseres Bemühens sein.Der letzte Grundsatz lautet: Wir wollen eine möglichst streitschlichtende, nicht um jeden Preis streitfördernde Beratung. Anwälte, die normale Gebühren nehmen können, gehen nach der Rechtstatsachenforschung zu 44 To zu den Gerichten, raten zum gerichtlichen Schritt, während Armenanwälte zu 64 % ihren Mandanten den gerichtlichen Schritt vorschlagen. Man muß nachdenken, woher die Diskrepanz kommt. Ich meine, sie kommt vom Gebührenrecht. Wenn wir nicht sicherstellen, daß der beratende Anwalt einkommensschwacher Bürger in etwa entsprechend seinem Arbeitsaufwand und seinem Fleiß honoriert wird, dann wird er den Bürger nach wie vor zum Prozeß drängen — da mag er noch so sehr vom Berufsethos erfüllt sein —, weil er die Chance sieht, daß er beim Prozeß besser honoriert wird als bei der bloßen Beratung.
Auch aus diesem Grunde müssen wir das System der Beratungshilfe auf das System der Prozeßkostenhilfe abstellen und beide Vorhaben harmonisieren.Ein besonderes Problem tritt noch bei den Honoraren auf: Wenn in Zukunft Anwälte mit Steuergeldern honoriert werden, dann entsteht die Frage, ob man es den Gewerkschaften, den Mietervereinen und den Sozialverbänden in Zukunft noch so ohne weiteres zumuten kann, daß sie — nur finanziert durch Mitgliedsbeiträge — ihre Leistungen kostenlos erbringen.Ich komme zum Schluß. Wir sind um der Sache willen zur guten und fruchtbaren Zusammenarbeit bereit. Ich glaube, das haben wir bei den Beratungen zur Prozeßkostenhilfe im Ausschuß schon bewiesen. Wir sind auf Ihre Vorschläge, eben weil es sich um eine sehr komplexe Materie handelt, angewiesen. Es wird, solange ich Berichterstatter bin, keiner Ihrer Vorschläge nur deshalb abgelehnt werden, weil er aus den Reihen der Opposition kommt. Aber ich bitte, bei der Beratung nichts zu verschleppen. Wir wollen spätestens im Januar zu Stuhle kommen. In diesem Sinne ergeht herzliche Einladung zur tatkräftigen Zusammenarbeit. Außergerichtliche Rechtsberatung einkommensschwacher Bürger verknüpft Rechtshilfe mit Sozialhilfe, verbindet deshalb Rechtspolitik mit Sozialpolitik. Der angestrebte Verbund ist damit ein Stück sozialer Rechtsstaat.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Kleinert.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Sehr vieles, zum Teil auch sehr zu Herzen Gehendes ist schon gesagt worden. Ich möchte nur noch einige Bemerkungen anfügen. Wichtig erscheint mir für die Beratung, daß die Beratungshilfe und die Prozeßkostenhilfe, so wie- Herr Schöfberger es soeben dargestellt hat, als ein sehr eng zusammenhängender Beratungsgegenstand gesehen werden. Das haben wir im Rechtsausschuß auch schon so ins Auge gefaßt. Das wird uns
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Kleinerthelfen, in diesem Zusammenhang vieles von dem, was Herr Schöfberger soeben dargestellt hat, ausgewogen zu berücksichtigen.Der Bundesregierung sind wir ganz besonders dankbar dafür, daß sie hier die Anwaltslösung eingeführt hat. Dabei treten wir Anwälte hier jetzt zu später Stunde nicht als Lobby an, um uns um die 20 oder 40 DM, von denen hier die Rede ist, zu bewerben. Ich bin ganz sicher, Herr Schöfberger — das ist ein gewisser Gegensatz zwischen uns —, daß die Zahl, die wir am Schluß unserer Beratungen in das Gesetz hineinschreiben werden, nicht die Kosten dessen, was hier zu geschehen hat — nach meiner Überzeugung sehr wichtig: so geschehen soll —, decken kann. Ich habe bei früheren Gelegenheiten schon gesagt: Das Anwaltsgebührenrecht ist sehr alt und, weil es so alt ist, für Menschen, die in dieser Zeit leben, überraschenderweise sehr sozial.
Denn es lebt davon, daß die Großen die Kleinen mittragen müssen. Das „rasch und schnell verdiente Geld", von dem alle schwärmen, die das dem Betreffenden vorwerfen, der vielleicht gerade einmal in seinem Leben einen Streitwert von 5 oder 10 Millionen DM oder vielleicht auch nur von 1 Million DM gehabt hat, ist doch das Geld, mit dem auf Grund der geltenden Anwaltsgebührenordnung die kleinen Sachen durchgezogen werden müssen. Prozesse mit einem Streitwert von weniger als 2 000 oder 3 000 DM zu führen ist, wenn man nur ein klein wenig Kopfrechnen kann, mit Sicherheit nicht kostendekkend. Die Anwaltschaft macht dieses in Erkenntnis der sozialen Bedürfnisse, wie hier zutreffend dargestellt worden ist, schon seit vielen Jahrzehnten. Das ist gar nicht so sehr neu, und man sollte bei dieser Gelegenheit auch einmal erwähnen, daß die Rechtsanwaltsgebührenordnung eine ganz merkwürdig alte und dennoch sehr soziale Einrichtung ist.
- Ich glaube, daß er das weiß; ich hatte nie einen anderen Eindruck.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Schöfberger?
Bitte.
Sie können davon ausgehen, daß ich das weiß; denn ich wende die Gebührenordnung öfter an. Ich gestatte mir die Frage, Herr Kleinert, welche großen Streitwerte die niedrigen finanzieren helfen, wenn ein Anwalt nicht eine Klientel mit hohen Streitwerten zu vertreten pflegt, sondern eine Klientel mit niedrigen Streitwerten hat.
Herr Schöfberger, so ist das nun einmal im freien Beruf, und so geht es auch dem Unternehmer. Das ist der Beamte in dieser Form natürlich nicht so gewohnt; da liegt das Berufsrisiko. Ich glaube, die Mischung ist in den meisten Praxen vorhanden. Daß es Praxen gibt, die sich fast nur in denhohen Bereichen bewegen, und daß es andere gibt, die sich fast nur in den niedrigen bewegen — ich glaube, letzteres ist seltener als das erste, wobei das erste zahlenmäßig sehr klein ist —, werden Sie nicht ausräumen können. Aber das bringt das System der Marktwirtschaft einmal mit sich.Eines weiß ich ganz genau. Bei der ganzen ORA-Geschichte, bei der ganzen Stadtstaatengeschichte kommen Sie an einen Punkt, der anders betrachtet werden muß, als Sie das soeben gesagt haben. Die Klientel eines Anwalts kann gar nicht so schlecht zusammengesetzt sein, daß er sich nicht viel mehr als ein Richter im Nebenberuf einsetzt. Bei Ihnen klang es so, als ob sich ein Rechtsanwalt mit seinem Arbeitsaufwand, seinem Fleiß, wie er sich einsetzt, danach richtet, wie das Geld fließt. Ich halte das für falsch. Ein Anwalt, der sich um seine Praxis bemüht, wird sich bemühen, jeden Mandanten ohne Rücksicht auf den Streitwert so zu vertreten, wie es optimal möglich ist, wenn nicht aus sozialer Einstellung, dann aus Eigennutz; denn auch wenn sich der kleine Mann enttäuscht abwendet, weil der nicht richtig vertreten worden ist und seinen Prozeß verloren hat, wird er in seinem Bekanntenkreis auch die größeren Mandanten durch den Bericht über diese schlechte Behandlung abschrecken.Ein Mensch, der als Richter am späten Nachmittag noch das bißchen Nebeneinkommen mitnimmt, wie das in Hamburg der Fall ist, hat dazu nach meiner Ansicht eine leicht andere Einstellung. Ich beabsichtige überhaupt nicht, gewachsene Traditionen der Freien und Hansestadt Hamburg hier in Zweifel zu ziehen. Wir haben uns darüber schon viel früher unterhalten und werden dieses hier ganz normal mitlaufen lassen, wie es die Bundesregierung vorgeschlagen hat.
Aber diese Bemerkung darf ich mir bei dieser Gelegenheit wenigstens noch erlauben.Im übrigen möchte ich darauf hinweisen, daß diese ORA-Klausel, die der Entwurf der Bundesregierung vorsieht, heißt, daß die Stadtstaaten das so machen können, wie sie es gern möchten. Es besteht also ohne weiteres die Möglichkeit, daß sich z. B. das Land Berlin eines Tages dazu entschließt, eine reine Anwaltsregelung durchzuführen. Das sieht der Gesetzentwurf der Bundesregierung vor. Wir wollen Hamburg das belassen; seit 1920 sind jetzt 59 Jahre vergangen, und wenn sich alle daran gewöhnt haben, ist es gut. Wir werden uns bei einigen anderen Gelegenheiten in nächster Zeit mit Nebeneinkommen von Beamten zu beschäftigen haben, und dabei werden wir ganz unauffällig von einer ganz anderen Seite auch an das ÖRA-Modell stoßen. Ich habe da ganz eigentümliche Ansichten zum Verhältnis von Risiko und Einkommen; ich bin der Meinung, daß das eine dem anderen irgendwo entsprechen muß. Ich bin nicht der Meinung, daß wir dann, wenn wir einen gesunden Beamtenstand erhalten wollen, das, was zur Zeit in dieser Bundesrepublik an Nebenein-
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Kleinertkommen der Beamten vorhanden ist, in dieser Form durchgehen lassen können.
Darauf werden wir aber bei anderer Gelegenheit zu sprechen kommen.Der interfraktionelle Sachverstand der Justizminister ist angesprochen worden. Die Justizminister waren immer einig. Sie waren im Strafvollzugsbereich einig, sie waren im Bereich der Anwaltsgebühren einig, sie sind auch in diesem Bereich wieder einig. Und die Finanzminister sind dagegen. Der Bundesrat hat uns ja sehr deutlich bescheinigt, wie wenig er von der Sache hält, weil sich eben die Justizminister nicht haben durchsetzen können. Woran das politisch im einzelnen liegt, müssen wir hier nicht genauer untersuchen. Wir alle sind auch in der praktischen Politik tätig und haben da unsere Vorstellungen. Ich hoffe nur, daß die Einigkeit, die hier heute im wesentlichen zutage getreten ist, dazu führt, daß wir den interfraktionellen Justizministern den notwendigen Rückhalt geben können, sich hier einmal mit einem, wie Sie sehr richtig gesagt haben, vergleichsweise kleinen Betrag gegen die Finanzminister durchsetzen zu können.Zur Schwellenangst ist einiges gesagt worden. Leider ist dazu eine klare Aussage kaum möglich. Wir haben noch keine — wie das heute so schön heißt — Rechtstatsachenforschung zu der Frage, ob ein Bürger lieber durch das Tor des Amtsgerichts geht, um sich dort bescheinigen zu lassen, daß er zu einem Berater gehen kann, oder lieber gleich zum Anwalt gehen würde. Das wissen wir nicht so genau. Ich habe die Vermutung — so haben es wohl auch Sie gesagt, Herr Schöfberger —, er würde lieber direkt zum Anwalt gehen, und ich denke, daß wir in dieser Richtung nach einer möglichst praktikablen, nach einer möglichst schlanken Lösung suchen sollten. Auch das ist ein neueres Wort, dessen Erfinder ich bin, wie ich glaube. Wenn wir mehrere schlanke Gesetze bekämen, wäre das schon ganz gut.Ich meine, wir werden — das ist hier heute ganz deutlich geworden — zusammenarbeiten, weil wir von gleichen Voraussetzungen ausgehen. Wir werden versuchen müssen, die Sache so unkompliziert wie nur irgend möglich zu machen. Wir haben uns schon früher darüber unterhalten, daß wir das in beiden parallelen Bereichen versuchen wollen, sowohl bei der Beratungshilfe als auch bei der Prozeßkostenhilfe. Wir werden dann auch zu einem Ergebnis kommen, das den Ruf dieses Hauses, Verkomplizierer und Verfasser überflüssiger Gesetze zu sein, in diesem Bereich vielleicht etwas abschwächt.
Bemühen wir alle uns darum; ich hoffe auf Ihre Mithilfe.
Wortmeldungen liegen nicht mehr vor. Ich schließe die Aussprache.
Der Ältestenrat empfiehlt, den Gesetzentwurf auf Drucksache 8/3311 an den Rechtsausschuß — federführend —, zur Mitberatung an die Ausschüsse für
Arbeit und Sozialordnung sowie für Jugend, Familie und Gesundheit und gemäß § 96 der Geschäftsordnung an den Haushaltsausschuß zu überweisen. Wer dem zustimmt, den bitte ich um das Handzeichen. — Es ist so beschlossen.
Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 9 und 10 auf:
9. Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Änderung des Deutschen Richtergesetzes
— Drucksache 8/3301 —Überweisungsvorschlag des Ältestenrates:
Rechtsausschuß
Innenausschuß
Ausschuß für Bildung und Wissenschaft Haushaltsausschuß gemäß § 96 GO
10. Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Deutschen Richtergesetzes
— Drucksache 8/3312 —Überweisungsvorschlag des Ältestenrates:
Rechtsausschuß
Innenausschuß
Ausschuß für Bildung und Wissenschaft Haushaltsausschuß gemäß § 96 GO
Es ist verbundene Debatte vereinbart. Das Wort zur Begründung des Regierungsentwurfs hat der Herr Parlamentarische Staatssekretär Dr. de With.
Frau Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die herkömmliche Juristenausbildung wird seit Jahrzehnten kritisiert. Diese Kritik richtet sich vor allem gegen die Ausbildungsinhalte und ihre mangelnde Übereinstimmung mit den Prüfungen, gegen die lange Ausbildungsdauer, darüber hinaus aber auch gegen die Grundstruktur der Ausbildung, gegen ihre Aufspaltung in zwei getrennte Abschnitte, das theoretisch ausgerichtete Universitätsstudium und den daran anschließenden praktischen Vorbereitungsdienst.Obwohl über diese Mängel seit langem weithin Übereinstimmung herrscht, sind bis zum Anfang der 70er Jahre nur Einzelkorrekturen an der herkömmlichen Ausbildung vorgenommen worden, die diese in ihrem Kernbereich unberührt ließen. Erst durch das Gesetz zur Änderung des deutschen Richtergesetzes vom 10. September 1971 ist eine Neuentwicklung eingeleitet worden. Zur Vorbereitung einer umfassenden Neuordnung der Juristenausbildung ermächtigt dieses Gesetz die Länder, und zwar befristet auf zehn Jahre, neue Ausbildungsgänge zu erproben, in denen Theorie und Praxis unter inhaltlicher Abstimmung zu einer einheitlichen Ausbildung zusammengefaßt sind.Zur Bemessung der Zehnjahresfrist hat der Rechtsausschuß des Deutschen Bundestages in seinem Schriftlichen Bericht — ich meine, daran muß einmal erinnert werden — folgendes ausgeführt, wobei angemerkt werden muß, daß dieser Bericht von allen Mitgliedern des Rechtsausschusses getragen worden ist:
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Parl. Staatssekretär Dr. de WithNach Ablauf dieser zehn Jahre muß entweder die Experimentierzeit verlängert oder eine bundeseinheitliche Ausbildungsordnung für Juristen verabschiedet sein.Der Ihnen vorliegende Entwurf der Bundesregierung zieht die notwendigen Konsequenzen aus dieser Aussage.
— Sie haben ja gar keinen vorgelegt, Herr Kollege.
— Ich komme darauf noch zu sprechen, und Sie können erwidern, Herr Kollege.
Es wäre leichtsinnig, jetzt schon zu sagen: Die Ausbildung sieht in Zukunft so aus. Ich meine, hier bedarf es sorgfältiger Abwägung. Darin sollten Sie mit uns einig sein.
— Wobei Sie ja genau wissen, daß es nur zwei Universitäten gibt, die von Anfang an, wenn ich so sagen darf, ein Modell vorgelegt haben. Das ist ein bißchen wenig.
— Dann brauchen Sie aber lange dazu. Das können Sie jetzt schon tun. Offensichtlich fehlt rechtzeitig ein Referentenentwurf unseres Hauses. In dem letzteren Fall, den wir besprochen haben, lag ja einerVOLMeine sehr verehrten Damen und Herren, der Ihnen vorliegende Entwurf zieht die notwendigen Konsequenzen aus dieser Aussage, auf die ich ausdrücklich zurückkommen möchte. Er sieht eine Verlängerung der Experimentierzeit um fünf Jahre vor, da bei realistischer Einschätzung die Neuordnung der Juristenausbildung in Bund und Ländern ganz sicher nicht vor 1986 abgeschlossen sein kann. Das hat seinen Grund vor allem darin — ich wiederhole mich —, daß die volle Experimentierzeit von zehn Jahren halt nur an zwei Universitäten — Sie wissen genau, wo, nämlich in Augsburg und in Bremen — läuft, wobei nur dort die gesetzlichen Möglichkeiten voll ausgeschöpft werden. An den Universitäten Bielefeld, Hamburg, Hannover, Konstanz und Trier hat die einstufige Ausbildung erst in den Jahren 1973 bis 1975 und an der Universität Bayreuth sogar erst im Jahre 1977 begonnen. Außer in Augsburg und Bremen hat daher noch kein Jahrgang die einstufige Ausbildung voll durchlaufen. Bis zum Ende der zehnjährigen Experimentierzeit wird noch keine repräsentative Anzahl von Studierenden die einstufige Ausbildung durchlaufen haben. Wie soll man dann mit Anstand sagen: „Heute schon regle ich diese Materie neu"?Die Frage nach der Bewährung und Übertragbarkeit der einstufigen Ausbildung insgesamt und ihrer einzelnen Elemente sollte dann, so meine ich, übereinstimmend heute noch nicht beantwortet werden. Zwar wird die frühere Begegnung der Studierenden mit der Praxis in der einstufigen Ausbildung allgemein positiv beurteilt — auch das sollte gesagt werden —, offen ist aber beispielsweise die Frage der genauen zeitlichen Einordnung und der Dauer der Ausbildung in der Praxis. Bei dem jetzigen Erfahrungsstand ist eine sachgerechte Entscheidung darüber, ob und in welchem Umfang eine Ausbildung in den Kernbereichen durch eine Schwerpunktausbildung entsprechend den beruflichen Neigungen der Studierenden ergänzt werden kann und muß, nicht möglich. Darüber hinaus bedürfen andere Fragen, etwa die beste Ausstaltung des Prüfungssystems, noch der Klärung.Obwohl nach fast einhelliger Auffassung für eine Neuordnung der Juristenausbildung bis 1981 keine durch Erfahrungen hinreichend abgesicherte Entscheidungsgrundlage besteht, hat sich die Bundesratsmehrheit, wie Sie wissen, für ein Auslaufen der Experimentierphase zum ursprünglich vorgesehenen Termin ausgesprochen. Würde dieser Empfehlung gefolgt — wobei jeder weiß, daß jedes Land sein Ein-Stufen-Modell ohnehin jederzeit zurückziehen kann —, müßten auch die einstufigen Fakultäten bzw. Fachbereiche Studienanfänger ab Ende 1981 zweistufig ausbilden. Dadurch würde einerseits die Übernahme positiver Elemente der einstufigen Ausbildung in die angestrebte Neuordnung in Frage gestellt. Andererseits würden die einstufigen Fakultäten bzw. Fachbereiche vor die kaum lösbare Aufgabe gestellt, drei unterschiedliche Ausbildungsgänge kurz hintereinander und zeitweilig sogar nebeneinander anzubieten. Das ist mit Sicherheit nicht gut. Deshalb hat sich auch der diesjährige Fakultätentag für eine Verlängerung der Experimentierphase ausgesprochen.Die Befürchtungen der Bundesratsmehrheit, daß die vorgesehene Verlängerung der Experimentierphase eine Zersplitterung der Juristenausbildung zur Folge haben werde, kann ich schon deshalb nicht teilen, weil nur die laufenden Modellversuche, in denen weniger als 10 % der Studierenden der Rechtswissenschaft ausgebildet werden, fortgeführt werden dürfen.Im übrigen beabsichtigt die Bundesregierung, einen Gesetzentwurf der Neuordnung der Juristenausbildung in der ersten Hälfte des Jahres 1983 einzubringen, damit das Gesetzgebungsverfahren im Bund in der nächsten Legislaturperiode abgeschlossen werden kann und die bundesrechtlichen Regelungen bis 1986 in Landesrecht umgesetzt werden können.Anders als der Entwurf der Bundesregierung, der das nicht ändert, sondern lediglich für die spätere Ausbildungsreform bessere Voraussetzungen schaffen will, zielt der vom Bundesrat beschlossene Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Deutschen
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Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 183. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. November 1979 14485
Parl. Staatssekretär Dr. de WithRichtergesetzes bereits auf Änderungen ab, und zwar im Bereich der herkömmlichen zweistufigen Ausbildung. Verbesserungen in diesem Bereich sind zwar vor allem auch im Hinblick darauf, daß die Neuordnung der Juristenausbildung erst in etwa sieben Jahren abgeschlossen sein kann, begrüßenswert. Zeitlichen Vorrang hat jedoch die Regelung über die Dauer der Experimentierzeit.Nach einer langen und umfassenden Diskussion über diese Frage müssen die einstufigen Fakultäten und auch die anderen Beteiligten endlich Klarheit darüber erhalten, ob sie die einstufigen Ausbildungsgänge auch noch nach dem 15. September 1981 für alle Studierenden fortführen können oder ob sie für die Studienanfänger ab Wintersemester 1981 wieder die herkömmliche Ausbildung durchführen müssen. Der Regierungsentwurf bechränkt sich deshalb auf eine Regelung dieser Frage.Demgegenüber könnten die Regelungen des Bundesratsentwurfs als Vorgriffe auf die Gesamtneuordnung der Juristenausbildung verstanden werden und Vorentscheidungen für Teilbereiche treffen, die sich nicht in die Gesamtkonzeption der neuen Ausbildung einfügen und deshalb später zurückgenommen werden müßten.Ungeachtet dieser Bedenken spreche ich mich dafür aus, in den Fragen, die beide Entwürfe aufwerfen, meine Herren von der Opposition, Einvernehmen zu suchen. Die Juristenausbildung kann nur unter Berücksichtigung der Erfahrungen der Länder neu geordnet werden. Es ist daher notwendig, daß Bund und Länder sich gemeinsam dieser schwierigen, wegen der Bedeutung der Juristenausbildung für die Qualität der Rechtspflege außerordentlich wichtigen Aufgabe stellen. Nach meiner Auffassung sollte deshalb im Laufe des Gesetzgebungsverfahrens versucht werden, die bestehenden Meinungsverschiedenheiten auszuräumen und etwa auf der Basis
— lassen sie uns das doch beraten! — des Kompromißvorschlags, der der diesjährigen Justizministerkonferenz vorlag, einvernehmliche Lösungen für die in beiden Gesetzentwürfen angesprochenen Fragen zu finden, Lösungen, die eine Rückkehr zu einer einheitlichen Juristenausbildung zum frühestmöglichen Termin begünstigen und die Neuordnung der Juristenausbildung nicht präjudizieren. Ein derartiger Kompromiß wäre sicher eine gute Grundlage für die angestrebte Neuordnung und Verbesserung der Juristenausbildung in der nächsten Legislaturperiode.
Ich eröffne die allgemeine Aussprache. Das Wort hat der Herr Abgeordnete Bötsch.
Frau Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Ausführungen des Herrn Staatssekretärs zur Einbringung des Gesetzentwurfs der Bundesregierung und die Stellungnahme zu dem Gesetzentwurf des Bundesrates ersparen es mir, etwas zur Vorgeschichte dieser Debatte zu sagen.
— Ich kann es noch nachholen, Herr Wehner.
— Aber ich glaube, im Interesse derjenigen, die nicht so fleißig den Plenarsitzungen lauschen wie Sie, sollten wir schauen, daß wir noch vor Mitternacht mit der Plenarsitzung zu Ende kommen.
Sicherlich ist es ein Zufall, daß heute nach einer ganztägig geführten Debatte um die Bildung noch etwas beraten wird, was vordergründig mit Ausbildung, aber sicherlich auch mit der Bildung von Juristen zu tun hat.
— Ich gehe davon aus. Die Berufsstruktur der Mitglieder des Bundestages spricht doch dafür, daß sie jedenfalls nicht ganz ungebildet sind, Herr Kollege Gerster.Herr Staatssekretär, wir sagen Ihnen selbstverständlich zu, daß wir die von Ihnen und im Gesetzentwurf angesprochene Problematik unvoreingenommen prüfen werden. Aber wir verhehlen schon heute nicht, daß wir einer Verlängerung der Experimentierphase skeptisch gegenüberstehen. Wir sind tatsächlich der Auffassung, daß man auch im Jahre 1971 gewußt hat, daß zehn Jahre zehn Jahre sind.
Ich meine, im Laufe dieser zehn Jahre hätte schon die Möglichkeit bestanden, die eine oder andere Überlegung im Hinblick auf die neue Ausbildung anzustellen. Ich bin der Meinung, daß sich die Modelle, je länger die Experimentierphase dauert — inzwischen ist die Zahl der Modelle auf acht angewachsen —, immer mehr auseinanderentwickeln. Dadurch verfestigt sich eine unterschiedliche Entwicklung immer mehr, was eine Vereinheitlichung am Schluß, die wir hoffentlich alle wollen, immer schwieriger macht.Die Experimentierklausel wurde ursprünglich eingeführt, um den Nutzen von Reformgedanken erproben zu können, die zu einer Verbesserung der einheitlichen Ausbildung beitragen sollten. Ich meine, daß eine zehnjährige Erprobungsphase, auch wenn wir sie nur in Augsburg und Bremen in voller Länge hatten — das mögen wir bedauern; Sie haben das angedeutet —, ausreichen sollte. Sie verschieben ein Nebeneinanderbestehen von drei Modellversuchen nur um fünf Jahre, weil sich dann ein Teil derjenigen, die noch nicht von der neuen zweiphasigen Ausbildung umfaßt werden, die vielmehr in der ursprünglichen Form ausgebildet werden, und diejenigen, die in den laufenden Modellversuchen ausgebildet werden, in der Ausbildung befinden. Damit
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14486 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 183. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. November 1979
Dr. Bötschwird das laufende Experiment um fünf Jahre, im Extremfall bis zum Jahre 1994, verlängert.Wir sollten uns dazu zwingen — das Auslaufen des Modellversuches würde das bewirken —, beschleunigt über die weitere Entwicklung nachzudenken und dann zu entscheiden. Erfahrungen liegen genügend vor, gerade aus den Modellen, die sich am meisten unterscheiden, denen in Augsburg und Bremen. Diese beiden extremen Modelle werden am 15. September 1981 zehn Jahre voll gelaufen sein.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Frage des Herrn Kollegen Dr. Lenz?
Ja.
Würden Sie mir beipflichten, Herr Kollege Bötsch, wenn ich sage, daß die beiden Erfahrungen, die in Bremen und in Augsburg vorliegen, inzwischen es durchaus erlauben, ein abschließendes Urteil über die Brauchbarkeit dieser Modelle zu fällen?
Ich meine, das ist möglich. Ohne daß ich heute auf die Inhalte eingehen will. Vielmehr möchte ich mich auf die Frage beschränken, ob wir verlängern oder nicht. Aber zu den Inhalten werden wir in einer späteren Phase sicherlich noch kommen.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Frage der Frau Abgeordneten Däubler-Gmelin?
Herr Bötsch, sind Sie nicht auch der Meinung, daß, wenn 1971 die Universität Bremen gegründet wurde und wenn wir wissen, wie lange heute eine Juristenausbildung tatsächlich braucht, Sie diese Aussage, die Sie gerade meinem verehrten Kollegen Dr. Lenz machten, noch einmal auf ihre inhaltliche Richtigkeit überprüfen sollten, möglichst vielleicht dadurch, daß Sie sich einmal die Untersuchungsergebnisse anschauen?
Wenn die Universität Bremen mit demselben Tempo und in der gleichen Intensität ihre Gründungsphase vorangetrieben hätte wie beispielsweise bayerische Universitäten, hätte sich diese Ihre Frage heute sicherlich nicht gestellt. Das muß ich Ihnen darauf antworten.
Es ist nicht zu bestreiten, daß die Experimentierklausel zu einer erheblichen Zersplitterung der Juristenausbildung geführt hat, die teilweise natürlich auch ideologische Hintergründe enthält. Das wollen wir doch heute auch mal in aller Vorsicht ansprechen. Ich darf hier etwas zitieren und werde am Schluß dann sagen, woher das Zitat ist. Dort heißt es:
Man darf eben nicht übersehen, daß in der Öffnung des Weges für Experimente neben seriösen Erwägungen, daß an der Juristenausbildung manches verbesserungsbedürftig sei,
— und dies war sicherlich richtig —
bei den Koalitionsparteien SPD und FDP auch der Gedanke eine Rolle gespielt hat, man müsse das herkömmliche System aufbrechen, endlich den fortschrittlichen, der Sozialgestaltung offenen, sich als Gesellschaftsveränderer einsetzenden, nicht mehr den reaktionär gesetzesgebundenen Rechtsanwender bekommen, vielmehr einen Rechtsschöpfer, der dabei von den „richtigen" Voraussetzungen, „Vorverständnissen" ausgeht.
Dieses Zitat ist der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung" entnommen, einem Artikel von Friedrich Karl Fromme vom 17. September dieses Jahres mit der Überschrift „Zweierlei Juristen", in dem er sich sehr sachverständig mit der heute in erster Lesung zu beratenden Problematik auseinandergesetzt hat.
Letztlich, meine sehr verehrten Damen und Herren, sollten Sie beachten, daß die einstufige Erprobungsphase und überhaupt die Ausbildung ein Experiment mit Menschen und deren Berufsaussichten ist. Bei der derzeitigen unterschiedlichen Entwicklung besteht die Gefahr, daß immer mehr Studenten eine für die Berufstätigkeit unbrauchbare Berufsausbildung erhalten. Ich möchte sagen: wir streben nicht zurück zu der reinen Lehre etwa des alten Systems. Nein, wir sagen: wir müssen jetzt überprüfen, wie die Vereinheitlichung aussehen soll.
Wir begrüßen es aus diesen Gründen, Herr Staatssekretär, daß der Deutsche Richterbund in einer Stellungnahme bereits vor eineinhalb Jahren, am 18. März 1978, sehr klar die Auffassung vertreten hat, daß eine Verlängerung der Experimentierphase nicht zweckmäßig sei, da, wie er berechnet hat, bis etwa acht Jahre nach dem Inkrafttreten einer zu schaffenden Neuregelung drei Studiengänge nebeneinander bestehen würden.
Wir begrüßen es auch, daß neben dem Gesetzentwurf der Bundesregierung heute der des Bundesrates in erster Lesung beraten wird und somit gewährleistet ist, daß das Thema umfassend in den Ausschüssen des Deutschen Bundestages überprüft wird. Denn wenn Sie, meine sehr verehrten Damen und Herren von der Koalition, die Vorschläge des Bundesrates sehr nüchtern betrachten, werden Sie feststellen, daß sehr vieles dafür spricht, erstens die Referendarzeit vielleicht wieder von zwei auf zweieinhalb Jahre zu verlängern und insbesondere den Vereinheitlichungsvorschlägen der Prüfungsordnung in diesem Gesetzentwurf etwas näherzutreten, insbesondere, was die Anrechnung der sogenannten Ausbildungsnote betrifft. Dies hat mit Vorgriffen, Herr Staatssekretär, tatsächlich nur bedingt etwas zu tun. Das Angebot, beides unvoreingenommen der nötigen kritischen Prüfung zu unterziehen, nehmen wir deshalb gern auf und stimmen der Überweisung beider Gesetzentwürfe an die zuständigen Ausschüsse zu.
Das Wort hat Herr Abgeordneter Dürr.
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Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 183. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. November 1979 14487
Frau Präsident! Meine Damen und Herren! Der Bundestag hat im Jahre 1971 einmütig die Experimentierklausel beschlossen.
Ich darf nur die Namen der damaligen Berichterstatter, Fritz Beermann und Hans Dichgans, nennen. Beide haben so viel Ansehen weit über ihre damaligen Fraktionen hinaus, daß sich ein Vorwurf der Ideologie irgendwelcher Art von selbst erledigt.Diese Experimentierklausel war nötig. Denn nicht nur Sozialdemokraten und Freie Demokraten haben an der Juristenausbildung eine Menge zu kritisieren gehabt, etwa die Tatsache der Trennung: Theorie, dann 1. Staatsexamen, erst dann Praxis und 2. Staatsexamen. Kritik fand auch die Tatsache, daß die traditionelle Juristenausbildung viel zu stark auf die Ausbildung eines Justizjuristen, insbesondere Richters, ausgerichtet ist. Da klingt so ein bißchen die Meinung durch, das höchste, was dabei zu erreichen sei, sei der Zivilrichter; dann kommt mit Abstand der Strafrichter, dann eine ziemliche Zeitlang nichts mehr, und dann erst kommt in der Rangordnung der Arbeitsrichter und ähnliches. Da kommt die Vorbereitung auf rechtsgestaltende und planende Aufgaben, etwa für Verwaltungsbeamte oder Wirtschaftsjuristen, durchaus zu kurz.Die Experimentierphase hat, weil es mehrere Experimente gibt, wie Herr Bötsch sagte, zur Zersplitterung geführt. Es kann ja gar nicht anders sein, wenn man verschiedene Experimente haben wollte.
Unter uns gesagt: Besser mehrere Experimente an verschiedenen Hochschulen als das, was wir zeitweise im Schulwesen gehabt haben: Experimente auf der Ebene ganzer Länder, die dann unbedingt gelingen mußten, weil man nicht „Kommando zurück" sagen konnte, ohne sich zu blamieren.
— Ich spreche von ganzen Ländern. Wissen Sie, ich möchte nicht auf die Bildungsdebatte zurückgreifen, sonst könnte ich wirklich darauf hinweisen, daß die Baden-Württemberger jetzt die Fehler machen, die die Hessen schon vor Jahren gemacht und längst wieder korrigiert haben. Aber das können wir dann bei der nächsten Bildungsdebatte genauer besprechen.
— Herr Erhard, ich möchte nicht dafür sorgen, daß die Debatte noch näher an Mitternacht herankommt.Wichtiger ist doch der Zweck dieser Experimentierphase: zu ermöglichen, daß wir bald der bundesweiten Einführung einer reformierten Juristenausbildung näherkommen.Es ist mit Recht darauf hingewiesen worden, daß die Experimente zum Teil mit großer Verspätungbegonnen haben. Das, Herr Bötsch, hat man 1971 noch nicht gewußt. Damals hatte man den Optimismus, daß nach dem Beschluß über die Experimentierklausel auch bald mit dem Experimentieren begonnen würde. Daß Bayreuth erst 1977 mit dem Experimentieren beginnen würde, haben wir, die wir bei dem Gesetzesbeschluß im Jahre 1971 dabei waren, uns wirklich nicht vorzustellen gewagt.
Wie ist es denn mit den Experimenten? Reden wir ausnahmsweise einmal Lateinisch! Das experimentum soll doch zur experientia — auf Deutsch: Erfahrung — führen. Führt es nicht zur Erfahrung, kann das Ergebnis eines Experiments nicht bewertet oder, wie die modernen Pädagogen sagen, evaluiert werden.
Den Erfolg eines solchen Experiments kann man nicht dadurch messen, daß man die Examensnoten an den verschiedenen Experimentierstätten den Computern eingibt, diesen Erfolg kann man doch letztlich erst an einer gewissen Berufsbewährung der Absolventen ablesen.
Hier bedarf es einer sachlichen Überprüfung.Bei der Zwischenfrage von Herrn Lenz kann ich mich des Eindrucks nicht erwehren, daß hier eine Neigung zum Vorurteil obgewaltet hat, so nach dem Motto: Was kann schon Gutes aus Bremen kommen! Nun, eine solche Art von Vorurteilen ist Jahrtausende alt. Es hat auch einmal den Satz gegeben: Was kann denn aus Nazareth Gutes kommen!
Kurz und schlicht, eine Verlängerung der Experimentierphase ist nötig, und über die Einzelheiten werden wir uns im Ausschuß unterhalten.Zum Gesetzentwurf des Bundesrates ist mit Recht gesagt worden: er muß mit Blick auf die Notwendigkeit einer künftigen einheitlichen Juristenausbildung betrachtet werden, die nicht in wesentlichen Punkten präjudiziert werden sollte. Es kann sein, daß, so wie wir beide Gesetzentwürfe heute gemeinsam debattieren, aus diesen beiden Gesetzentwürfen ein Paket gemacht wird. Aber dann, meine Damen und Herren, bitte, finden wir den Kompromiß im Rechtsausschuß unter Beteilugung von Ländervertretungen, um die ich herzlich bitte, und nicht im Vermittlungsausschuß! Ich rede da nicht wie der Blinde von der Farbe, sondern kann als Mitglied des Rechtsausschusses wie des Vermittlungsausschusses beurteilen, daß die gründlichere Prüfung und die Zuziehung von Sachverständigen hier im Rechtsausschuß besser möglich ist und deshalb mit Wahrscheinlichkeit zu besseren Ergebnissen führt.
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14488 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 183. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. November 1979
DürrBei der Prüfung der Frage einer Verlängerung der Referendarzeit dürfen wir auch nicht nur die Referendarzeit im Auge haben, sondern müssen das Problem der Länge der Studienzeit mit betrachten. Ich weiß, alle juristischen Spezialisten sagen, das Studium der Rechtswissenschaft müsse verkürzt werden mit Ausnahme ihres eigenen Fachgebiets; dem müsse mehr Zeit gegeben werden. Auf der anderen Seite haben wir auch das Bestreben mancher Studenten — ich betone: mancher —, die der Meinung sind — wie es in dem Studentenlied heißt: Herr, laß die Zeiten nie vergehen —, daß die Studienzeit möglichst nicht zu bald zu Ende gehen solle.Herr Klein, Sie haben den Kopf geschüttelt.
Wenn ich von den Spezialjuristen sprach, meinte ich keineswegs allein die Spezialisten auf den Lehrstühlen der Universitäten. Nehmen Sie doch höchst ehrbare Verbände von in bestimmten Spezialgebieten der Juristerei Tätigen; die sagen ja auch, daß gerade ihrem Gebiet mehr Aufmerksamkeit und auch mehr Dauer in der Juristenausbildung gewidmet werden müsse. Da schaue ich nach allen Seiten.
Lassen Sie mich ein Letztes sagen. Der Bundesratsentwurf schlägt auch den schönen Satz vor: Eine Anrechnung von Noten für Leistungen im Vorbereitungsdienst auf die Gesamtnote der Zweiten Prüfung ist ausgeschlossen. Darüber kann man reden. Ob allerdings die nächsten Sätze im Entwurf des Bundesrats mit diesem wolkigen Prüferermessen ein Patentrezept gegen Schwierigkeiten sind, die sich mit Noten im Vorbereitungsdienst tatsächlich ergeben haben, wage ich zu bezweifeln.Wir sind uns alle miteinander darüber einig, daß wir beiden Gesetzentwürfen in den Ausschüssen eine gewissenhafte, aber zügige Beratung angedeihen lassen wollen.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Kleinert.
Frau Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Ich versuche, es sehr kurz zu machen. Wie so oft ist das meiste Kluge schon gesagt. Die Einstufigkeit und die Einseitigkeit der Juristenausbildung werden häufig in einen Topf geworfen. Das finde ich ganz verkehrt. Ich bin persönlich der Meinung, daß die traditionelle Juristenausbildung nicht richtig ist. Das zeigt das Geld, das wir alle, die wir hier sitzen — mit wenigen Ausnahmen; das will ich gern einräumen —, zum Repetitor getragen haben.
An dieser Geschichte ist irgend etwas nicht richtig gewesen.
— Das ist natürlich ein persönlichkeitsbildendes Moment, Herr Lenz, das glücklicherweise früher einmal existiert hat.
— Keineswegs!Lassen Sie mich folgendes sagen: Ich finde es ganz verkehrt, daß diese wichtige Auseinandersetzung über die einstufige Juristenausbildung mit der Tatsache belastet wird, daß man einige Fakultäten von Haus aus nur auf eine einstufige Ausbildung aus- und eingerichtet hat und in der Berufungspraxis, gelinde gesagt, ein wenig einseitig war. Das ist das allerwenigste, was man dazu als Hannoveraner sagen kann. Von daher kommt es dann zu Vorurteilen gegen diese Art der Ausbildung, die in Wirklichkeit Vorurteile, zum Teil sogar, wie ich meine, berechtigte Vorurteile gegen die Zusammensetzung des Lehrerkollegiums sind. Das darf man nicht miteinander vermengen. Man muß überlegen, ob diese einstufige Ausbildung, diese Durchdringung von Praxis und Theorie für die Juristen nicht wirklich besser ist als das herkömmliche zweigeteilte Schema, wobei man im Studium nicht so recht weiß, wofür man lernt, weil man die Anforderungen nicht kennt, und als Referendar dann ganz erstaunt darüber ist, was man alles nicht gelernt hat, nun aber plötzlich braucht.
Wir müssen versuchen, mit diesem Problem fertig zu werden. Wir dürfen uns nicht dadurch abschrekken lassen, daß zu einem dafür offenbar besonders ungünstigen Zeitpunkt — so sehe ich das jedenfalls— einige Fakultäten auf etwas eigensinnige Weise einseitig zusammengesetzt worden sind, an denen diese Art von Ausbildung praktiziert wird. Einseitige Zusammensetzung hilft uns hier in keinem Fall weiter.
— Ich bin auch der Meinung, Frau Däubler-Gmelin, daß die mentalitätsmäßigen Macken, die eine ganze Reihe von Nichtjuristen bei den Juristen vermuten und die sie mit der juristischen Ausbildung in Verbindung zu bringen geneigt sind — solche Macken sind: sich anderen Leuten nicht so richtig verständlich zu machen, ein gewisses Geheimdeutsch zu sprechen, eine gewisse Arroganz an den Tag zu legen und überhaupt als ein bißchen verquer von anderen Menschen empfunden zu werden —, nicht dadurch besser werden, daß die Betreffenden weniger wissen als diejenigen, die diese Macken auch schon hatten, aber wenigstens anständige Juristen waren. Das muß man bei der ganzen Aktion im Auge behalten.
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Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 183. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. November 1979 14489
KleinertDarauf lege ich wirklich Wert. Ich bin schon der Meinung, daß solche Macken existieren und daß wir alle uns immer wieder einmal sehr kritisch betrachten müssen. Das Interessante ist, daß Sie diese Makken bei den neueren, den ganz tollen Reformfakultäten genauso wie bisher finden, aber die Kenntnisse und die exakte wissenschaftliche Arbeit daneben nicht so mitgeliefert werden. Das ist, wie ich meine, ein ungewöhnlich hoher Preis für eine Reform.Herr Engelhard hat mir vorhin mitgeteilt, daß nach seinen privaten Rechtstatsachenforschungen die kürzere Referendarausbildung zu immer älteren Referendaren führt. Ich weiß nicht ganz genau, wie er das festgestellt hat. Ich möchte dies nur einmal als Überlegung mit anheimgeben. Tatsache ist, daß trotz geringerer Kenntnisvermittlung das Ausbildungsalter — insbesondere im Studium — ständig zunimmt
Herr Kollege, gestatten Sie eine Frage des Herrn Abgeordneten Lenz?
Herr Kleinert, würden Sie mir beipflichten, daß eine Studienzeit von sieben Semestern und eine Referendarzeit von sieben Semestern zusammen 14 Semester ergibt, während eine Studienzeit von zehn Semestern und eine Referendarzeit von vier Semestern auch 14 Semester ergibt und daß infolgedessen das Phänomen, das Sie eben geschildert haben, mit großer Wahrscheinlichkeit stattgefunden hat?
Herr Kollege Lenz, iudex non calculat, sagt man. Ich bin überrascht, daß Sie dennoch in der Lage waren, das richtig zu addieren.
Rechnerisch zweifellos richtig.
Wir Freien Demokraten sind der Meinung, Herr Lenz, daß wir bei der Ausbildung der Referendare ganz schnell auf 30 Monate zurückkommen müssen. Wir haben uns damals auf 24 Monate als einen Kompromiß geeinigt Die Referendare wollten das damals auch alle so. Das, was ich heute aus Referendarkreisen höre, geht dahin, daß sie selbst mit dem Erfolg ihrer früheren Forderungen nicht mehr so recht zufrieden sind.
Bei dieser Gelegenheit möcht ich Ihnen gleich sagen, daß ich in bezug auf zukünftige Ausbildungsordnungen ganz dringend Wert darauf lege, die OLG-Station wieder einzuführen; denn das, was am OLG vor sich geht, nämlich eine gewisse Objektivierung und eine Loslösung vom Tagesgeschäft — das zunächst einmal für die Ausbildung zweifellos wichtig ist —, hat für die Ausbildung einen ganz besonderen Wert. Ich bin der Meinung, daß man die OLG-Station wieder einführen und zur Pflichtstation machen sollte. Dazu brauchen wir diese 30 Monate.
Es gibt nicht nur Bremen und Hannover, es gibt auch Augsburg. Das wollte ich bei der Gelegenheit noch erwähnen. Wir haben ein ziemlich breites Feld
von Experimentierunternehmungen. Mit Augsburg sind offenbar alle Christdemokraten und — heißt das eigentlich Sozial oder Sozialisten? Nein, Soziale, nicht? —
Christlich-Sozialen hochgradig zufrieden. Warum also sollten wir uns dann nicht einmal in den Ausschußberatungen der Frage ganz objektiv, ganz entspannt stellen, was an der Sache gut und was schlecht ist und wie wir unter Berücksichtigung der bisherigen Erfahrungen weiterkommen.
Ich halte den Vorschlag, die Experimentierphase bis in die 90er Jahre zu verlängern, nicht für angemessen,
weil das nämlich die Sache nur zementiert, die Zweigleisigkeit und das Auseinanderlaufen festschreibt. Das finde ich nicht richtig.
Ich bin andererseits der Meinung, daß wir die Leute, die wir einstimmig — wenn ich das richtig in Erinnerung habe — in eine solche Experimentierfakultät, eine solche einstufige Einrichtung hereingerufen haben, nicht auf einmal hilflos dastehen lassen können. Wir können nicht sagen: Jetzt machen wir mal Schluß; wir haben das zwar einmal so ins Gesetz geschrieben, aber nun ist es aus.
Vielmehr muß das dann in der Weise verlängert werden, daß das aus der Anlage des bisherigen Studiums sich ergebende Zeitmaß auch ausgeschöpft werden kann.
Daraus ergibt sich auch eine gewisse Verlängerung der Experimentierklausel.
Wir sollten einfach versuchen, die Zeit zu nutzen, das Ganze zusammenzuführen. Wir sollten jedenfalls versuchen — vielleicht auf dem Wege, der vom Bundesrat vorgeschlagen worden ist —, über eine einheitliche Prüfung die Dinge wieder so zusammenzuführen, daß Vergleichbarkeit und Chancengleichheit auch für den weiteren Berufsweg gegeben ist Ob das so laufen muß, wie der Bundesrat das vorgeschlagen hat, weiß ich nicht. Aber darüber können wir uns dann ja im einzelnen unterhalten.
Wenn wir als Ergebnis dieser kleinen Unterhaltung heute abend mitnehmen, daß wir allseits ohne Vorurteile herangehen, die Juristenausbildung so zu gestalten, daß wir berufstüchtige Juristen bekommen, und von Vorurteilen und gegenseitigen Verteufelungen abgehen, dann wäre, so meine ich, diese Unterhaltung nicht ganz wertlos gewesen.
Meine Damen und Herren, Wortmeldungen liegen nicht mehr vor. Ich
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14490 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 183. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. November 1979
Vizepräsident Frau Funckeschließe die Aussprache. Der Ältestenrat empfiehlt, die Drucksachen 8/3301 und 8/3312 an den Rechtsausschuß — federführend — und zur Mitberatung an den Innenausschuß und den Ausschuß für Bildung und Wissenschaft sowie gemäß § 96 der Geschäftsordnung an den Haushaltsausschuß zu überweisen. Ist das Haus damit einverstanden? — Ich höre und sehe keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.Ich rufe Punkt 11 der Tagesordnung auf:Beratung der Unterrichtung durch den BundesrechnungshofBemerkungen des Bundesrechnungshofes zur Bundeshaushaltsrechnung für das Haushaltsjahr 1977— Drucksache 8/3238 —Überweisungsvorschlag des Ältestenrates: HaushaltsausschußIch eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Abgeordnete Gerster.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Das Etatrecht des Parlaments erschöpft sich nicht in der Bereitstellung der Haushaltsmittel; genauso wichtig ist die Kontrolle, wie mit den Steuergroschen der Bürger umgegangen worden ist. Grollen Sie nicht mit denjenigen, die heute abend hierüber sprechen, sondern mit denjenigen, die für die Tagesordnung und die Gestaltung des Zeitplans verantwortlich sind. Ich meine, dieses Thema hätte eine größere Aufmerksamkeit verdient.Die Bemerkungen des Bundesrechnungshofs für das Jahr 1977 sind jedenfalls eine sehr große Fundgrube. Sie zeigen, daß die gigantische Zunahme der Verschuldung des Bundes nicht zu einem sorgfältigeren Umgang mit Steuergeldern führt. Fehler und Mißstände sind zwar immer gegeben; die für das Jahr 1977 festgestellten Verfehlungen überschreiten aber wieder einmal das Maß des Erträglichen.Zunächst ist dem Rechnungshof wie immer und voller Überzeugung herzlich zu danken. Er hat die Ordnungsmäßigkeit, Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit der Verwaltung als Maßstab zu nehmen, Fehler und Regelwidrigkeiten in den Bundesbehörden zu erkennen. Er tut dies — das sollte man bei dieser Gelegenheit einmal sagen — im wesentlichen mit demselben Personalbestand wie vor 20 Jahren, obwohl das von ihm überprüfte Personal der Bundesverwaltung in dieser Zeit um 63 % gestiegen ist und obwohl das Haushaltsvolumen seit 1965 um 219 % zunahm.
Vielleicht ist die Regierung angesichts dieser Tatsache bereit, die Mahnungen des Rechnungshofs entgegenzunehmen, Rechnungslegung und Berichterstattung in Zukunft aussagefähiger zu machen und mehr Transparenz zu üben, gerade durch eineRegierung, die einmal auszog, mehr Demokratie wagen zu wollen.
Ober die Sachverhalte, die vom Rechnungshof festgestellt worden sind, können Meinungsverschiedenheiten nicht bestehen. Sie wurden mit den geprüften Stellen erörtert, und die Bundesministerien, die betroffen sind, hatten ausreichend Gelegenheit, dazu Stellung zu nehmen. Diese Sachverhalte sprechen für sich selbst. Sie brauchen heute nicht politisch bewertet zu werden. Sie sind so überzeugend, daß einige, hoffentlich abschreckende Beispiele — und zwar abschreckend für diese Regierung und für das zukünftige Ausgabegebaren — ausreichend und plastisch genug sind und vor allen Dingen auch entgegengenommen werden.Was halten Sie von folgenden Fällen? Nachdem die Kutter- und Küstenfischerei 1975 beim Bundesernährungsminister vorstellig geworden war, erwirkte dieser außerplanmäßige Ausgaben für echte wirtschaftliche Notlagen. Zwei mit Zuschüssen bedachte Erzeugerorganisationen waren so „in Not", daß sie die Darlehen in Höhe von jeweils über 200000 DM sofort verzinslich auf Festgeldkonten anlegen konnten, wo sich die Gelder auch noch zwei Jahre später befanden. Zwei andere Darlehensempfänger haben die Mittel in Höhe von fast 2 Millionen DM und fast 400000 DM sogleich in anderen Firmen weiterschieben können, an denen sie beteiligt sind. Sie sehen, ein aktueller Beitrag zum Thema: Subventionen durch diese Bundesregierung.Oder was halten Sie von Zuschüssen an Krankenkassen, die gewährt werden sollen, damit arbeitslose Jugendliche zwischen 18 und 23 Jahren in die Familienpflege aufgenommen werden können? Da nicht überprüft wurde, ob die Anspruchsvoraussetzungen in Einzelfällen überhaupt vorlagen, erhielten mindestens zehn Krankenkassen um 6 bis 34 % zu hohe Zuschüsse — auch dies sicherlich ein sehr interessantes Thema für den Bundestag, der in Kürze über neue Haushaltsmittel zu entscheiden haben wird.Oder nehmen Sie als weiteres Beispiel den Bau von Bundesfernstraßen. Hier hat der Rechnungshof festgestellt, daß Abrechnungen über durchgeführte Erdbewegungen in fünf Fällen nicht angemessen geprüft wurden.
Hier wurden in fünf Fällen Zahlungen bis zu 4,5 Millionen DM für Erdbewegungen geleistet, die in der Phantasie der Rechnungssteller vorgenommen worden und möglicherweise auch auf dem Mond anzusiedeln sind, aber jedenfalls nicht zum Bau von Straßen durchgeführt werden mußten.Großzügig — dies ist ein weiteres Beispiel, und diese Beispiele sollte die Offentlichkeit ruhig einmal hören — verfuhr man auch bei Hochbauprojekten. Ich will aus dem Bereich des Bundesministers der Verteidigung die Offiziersschule in Hannover anführen. Ich nenne ein besonderes Bonbon aus dem Projekt. Da wurde in derselben Kasernenanlage — neben Altbauten an der Pheripherie dieser Ka-
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Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 183. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. November 1979 14491
Gerster
serne — ein Wachgebäude nebst Hundezwinger errichtet.
Wenn Sie meinen, daß Herr Albrecht so mit öffentlichen Mitteln umgeht, sind Sie, glaube ich, etwas schief gewickelt. - Meine Damen und Herren, hier wurden für den Platz jedes Hundes in diesem Zwinger 25 000 DM errechnet. Wenn Sie bedenken, daß für jede Wohnung in einem Studentenwohnheim nur 21 000 DM zur Verfügung gestellt werden dürfen, dann können Sie die Tragweite dieser Ausgabe abschätzen.
Ein besonders schönes Beispiel ist der Ankauf von Bomben durch die Bundeswehr. 1970 wurde eine größere Anzahl von NATO-Partnerstaaten angekauft. Nach fünf Jahren waren 94 Bombenkörper und 68 Leitwerke noch nicht bezahlt, da Unklarheit bestand, wie viele Bomben geliefert waren. Der Auftragspartner erklärte, es sei alles geliefert; das Bundesbeschaffungsamt konnte zur Aufklärung nichts beitragen; Ermittlungen in den Depots brachten keine neuen Erkenntnisse. Dann wurden im Mai 1977 plötzlich wieder Bomben und Leitwerke nachgeliefert. Auf die Beanstandungen des Rechnungshofes hin ließ der Bundesminister neu ermitteln und teilte mit, daß bis auf einen Bombenkörper alles geliefert sei. Außerdem sei noch die Zahlung für 22 Bombenkörper und neun Leitwerke zu leisten. Der Rechnungshof hat auch hier wieder nachgestoßen. Daraufhin hat der Bundesminister von neuem nachgeforscht und kam nun zu dem neuen, überraschenden Ergebnis, daß noch sechs Bombenkörper und Leitwerke zu liefern seien. Das ging also ein paarmal hin und her. Schließlich ergaben die Ermittlungen nach acht Jahren als Endergebnis, daß drei Bombenkörper zuwenig, dagegen 15 Leitwerke zuviel geliefert und dafür fast 300 000 DM zuviel gezahlt worden waren.
Mir ist klar, Herr Staatssekretär Haehser, daß Sie diese Dinge nicht hören wollen.
Nun, wenn Ihnen diese Beiträge peinlich sind oder zu lange dauern, mache ich Ihnen einen Vorschlag: Fertigen Sie doch demnächst eine Liste der Behörden, in denen ausnahmsweise Verfehlungen nicht festzustellen sind. Ich bin sicher, diese ist kürzer, und wir brauchen dann auch weniger lange über diese Liste zu debattieren.Oder nehmen Sie ein weiteres Beispiel, das Sie sicherlich auch besonders ungern hören werden: Die Bundeswehr kauft vier Flugzeuge für die Flugbereitschaft zum Preis von 3 Millionen DM, die dann für weitere 2 Millionen DM umgebaut werden. Dadurchwurden diese Flugzeuge — oh Wunder! — zu schwer, ihre Reichweite war zu gering. Daraufhin wurden sie nach drei statt nach den vorgesehenen 15 Jahren ausgesondert. Zwei gingen unentgeltlich an einen Dritten, zwei wurden schnell noch einmal für 460 000 DM umgebaut und dann für den erstaunlichen Preis von 333 000 DM an den Hersteller zurückverkauft.Oder nehmen Sie den Fall des stellvertretenden Präsidenten des Bundesgesundheitsamts. Diesem Herrn wurde nach einem förmlichen Disziplinarverfahren verboten, seine Amtsgeschäfte fortzuführen. Ihm wurde nachher nur gestattet, seine Tätigkeit als Sachverständiger des Bundes fortzuführen, sofern er hierfür seine Diensträume nicht mehr benutze und die Dienststelle nicht mehr betreten müsse. Was hat stattgefunden? Dieser Herr blieb weiter in seinen Büroräumen, dieser Herr hat weiterhin Vorzimmer, Vorzimmerkraft, Geräte und sämtliche sonstigen Dienstleistungen in Anspruch genommen, obwohl er, wie gesagt, nicht mehr im Dienst war. Dann waren ihm im Laufe der Zeit die Räumlichkeiten nicht mehr gut genug. Er beantragte größere Räumlichkeiten und weitere Mitarbeiterinnen, und diese wurden ihm selbstverständlich auch für diese Tätigkeit zur Verfügung gestellt.
— Ich glaube, Herr Wehner, daß das Leben und die Tätigkeit dieses Genossen Ihnen ganz besonders am Herzen liegen. Erst nach fünf Jahren konnte dieser Herr nach vielen Mahnungen des Rechnungshofes aus den Räumen entfernt werden.Oder nehmen Sie ein letztes Beispiel. Im Kampf gegen die Arbeitslosigkeit hat die Bundesregierung vor fünf Jahren 408 Millionen DM als Mobilitätszulage für längerfristig arbeitslose Arbeitnehmer und als Lohnkostenzuschüsse für die Arbeitgeber gezahlt. Hier wurden weder die Saisonarbeiter ausgeschlossen noch wurde eine Vermittlung und damit Prüfung durch die Arbeitsverwaltung für die einzelnen Geldzahlungen vorausgesetzt. Die Statistik beweist, daß im folgenden Jahr fast genauso viele Arbeitnehmer ohne Zahlung eines Zuschusses vermittelt werden konnten. Der Rechnungshof ist sich daher sicher und kann dies belegen, daß ein ganz wesentlicher Teil der Fördermittel für langjährige und ohnehin benötigte Saisonarbeiter der Bauindustrie, des Hotel- und Gaststättengewerbes sowie der Land- und Forstwirtschaft ohne jeden dauerhaften Nutzen zugeflossen sind. Immerhin betraf dies die stolze Summe von 408 Millionen DM.Das sind nur einige Blüten, die, wie mir scheint, in diesem Hause einmal genannt werden müssen, auch wenn mir klar ist, daß die Vertreter der Regierungsparteien und die Regierung nachher sagen werden, man solle erst die Beratungen im Rechnungsprüfungsausschuß abwarten. Dies sind Fakten und harte Tatsachen, und Sie sollten sich einmal überlegen, wie derartige Verfehlungen abgestellt werden können. Mir scheint, daß Verschwendung, Leichtfertigkeit und Schlamperei harte, aber in diesem Fall angebrachte Bezeichnungen sind. Hier wurde, wie gesagt, nur eine kleine Auswahl geboten; man
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14492 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 183. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. November 1979
Gerster
könnte diese Reihe beliebig fortführen, wenn Sie dies wünschten.Ich frage mich: Was soll die Rentnerin mit 400 DM im Monat von diesem Staat denken, dessen Regierung Derartiges öffentlich zu verantworten hat. Ich frage mich auch, was das vornehmste Recht des Parlaments, das Etatrecht, dem Parlament nützt, wenn nach der Aufstellung des Haushaltes mit dem Geld der Bürger so gewirtschaftet wird.
Es ist auch die Frage zu stellen, wer uns ernst nimmt, wenn wir darartige Verfehlungen nicht konsequenter ausmerzen können.Gerade die verschiedenen Zwischenrufe des Staatssekretärs Haehser
erinnern mich in diesem Zusammenhang an ein Wort des früheren Bundeskanzlers Konrad Adenauer — offenbar ist dieses Wort vor dem Hintergrund dieses Berichtes nach wie vor aktuell —: Sozialdemokraten können nicht mit dem Geld umgehen, schon gar nicht mit dem Geld anderer Leute.
— Das sind keine Scherze, das ist ein Zitat,
— Dazu haben Sie auch keinen Anlaß.
— Herr Kollege Wehner, Sie werden mir das Recht zugestehen,
hier zu zitieren, was ich will.
— Herr Kollege Wehner, Ihre Reaktion zeigt mir, daß dieses Zitat in diesem Falle offenbar nicht ins Schwarze, sondern ins Rote getroffen hat.
— Nein, ich mißbrauche Adenauer nicht, ich habe ein Zitat von Adenauer gebraucht, ein Zitat, dem ich nach wie vor volle Aktualität zumesse. Ich bedanke mich im übrigen für Ihr großes Interesse an meinen Ausführungen; Ihre Reaktion zeigt, daß diese Rede hier notwendig war.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Esters.
Frau Präsident! Meine Damen und Herren! Nachdem der Kollege Gerster hier einige Zitate aus dem Bericht des Bundesrechnungshofes zur Haushaltsrechnung 1977 vorgetragen hat, hat sich bei mir der erste Eindruck verstärkt, daß die Bemerkungen, die diesmal vorgelegt worden sind, für diejenigen, die sie betreffen, nämlich die Bundesregierung und einige Landesregierungen, ziemlich harmlos sind.Ein Beispiel will ich ansprechen. Herr Kollege Gerster, Sie werden bei einem Haushaltsvolumen von mehr als 180 Milliarden DM im Jahre 1977 bei einer genauen Durchleuchtung der Beträge, die hier anstehen — mit den 20 000 DM für Hundezwinger und ähnlichem —, sehen, daß ein ganz minimaler Prozentsatz der Mittel in der öffentlichen Verwaltung nicht rechtmäßig verwendet worden ist. Wir begrüßen, daß dieser Anteil gegenüber den vergangenen Jahren geringer wird.
Ein anderes Beispiel ist das, was Sie zum Bereich des Straßenbaus sagen. Wir haben seinerzeit gemeinsam bedauert, daß der Bund weder im Hochbau noch im Tiefbau eine eigene Bauverwaltung hat und sich der Länder
per Auftragsverwaltung bedienen muß.
In diesem Fall, Herr Kollege Gerster, prüft nicht der Bund. Nicht geprüft aber haben auch die Länder Rheinland-Pfalz und Baden-Württemberg. Wir werden dies ja sehen.
— Wissen Sie denn, um welche Gesetze es sich handelt?
Wenn es sich hier z. B. um das Gemeindeverkehrsfinanzierungsgesetz handelt — —
— Sie werden es ja sehen, Herr Kollege Gerster.
— Ja, trotzdem werden Sie, wenn die Beratungen im Detail stattgefunden haben, sehen, wo und in welcher Instanz Schlamperei vorliegt. Sie liegt dann nicht bei einer Verwaltung des Bundes, sie liegt in jedem Falle bei einer Verwaltung der Länder.
Wir sollten uns darauf verständigen — die Kollegen aus dem Rechnungsprüfungsausschuß wissen
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Estersdies —, daß wir diese Dinge intensiv beraten und noch lange nicht alles genauso bestätigen, wie es uns der Bundesrechnungshof vorgelegt hat.
Denn wir hören dort auch denjenigen, der angeklagt worden ist, und die Debatten führt man besser dann, wenn man beide Seiten zu den einzelnen Sachverhalten intensiv gehört hat. Sie wissen — jedenfalls dann, wenn Sie da waren —, daß wir in vielen Fällen zu anderen Auffassungen gekommen sind, als uns der Bundesrechnungshof empfohlen hatte.
— Auch in den Sachverhalten!Wir haben schon einmal bei einer Empfehlung zu Einzelplan 11, die sich auch auf das Finanzvolumen bezog, dem Bundestag vorgeschlagen, in eine bestimmte Richtung zu gehen, und im Jahr danach haben wir empfohlen, genau diesen Beschluß wieder aufzuheben, weil wir uns alle inzwischen sachkundig gemacht hatten und wußten, daß wir auf dem falschen Dampfer gefahren waren.Besser ist es, Herr Kollege Gerster, wenn die Bemerkungen des Rechnungshofs dann zur Aussprache stehen, wenn dies durch eingehende Beratungen bei uns geprüft worden ist, wenn sich das erhärtet hat. Dann allerdings bin ich mit Ihnen bereit zuzuschlagen, nur zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Zu diesem Zeitpunkt möchte ich erst diejenigen hören, die angegriffen worden sind.
Im übrigen hoffe ich, daß wir diese Bemerkungen bis zum Frühjahr 1980 abschließend beraten können. Ich wäre allerdings dankbar, wenn Sie sich dann auch hier hinstellen würden und diejenigen Punkte, die sie als Vorwürfe zitiert, als Tatsachen hingestellt haben,
zurücknähmen. Wenn Sie nicht dazu bereit sind, Herr Kollege Gerster, dann verspreche ich Ihnen, daß ich es tun werde.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Cronenberg.
Frau Präsident! Meine Damen und Herren! Ursprünglich hatten wir die Absicht, Sie hier nicht mehr mit einer Rede der Liberalen zu belästigen.
Sie können aber ganz beruhigt sein; ich möchte nur zwei Feststellungen treffen.
Der Kollege Gerster hat viele Einzelfragen aufgegriffen, was sicher sein gutes Recht ist und was sicher auch darauf zurückzuführen ist, daß er unterstellt, daß die wenigsten den Bericht gelesen hatten.
Ich bin auch sicher, soweit ich das weiß, daß die Berichte zu anderen Zeiten nicht anders, nicht weniger umfangreich, nicht weniger bedeutend waren.
Ich bin aber einfach hier hingegangen, um die Feststellung zu treffen, daß mich zutiefst traurig bin, daß in einer solchen späten Nachtstunde eine solche Debatte wiederum zum Anlaß genommen wird, in billigster Art zu diffamieren. Dies habe ich sehr bedauert. Es ist der einzige Grund, warum ich mich veranlaßt gesehen habe, hier hinzugehen.
Meine Damen und Herren, Wortmeldungen liegen nicht mehr vor.Der Ältestenrat schlägt Überweisung der Vorlage auf Drucksache 8/3238 an den Haushaltsausschuß vor. Ist das Haus damit einverstanden? — Ich höre keinen Widerspruch. Es ist so beschlossen.Ich rufe Punkt 12 der Tagesordnung auf:Beratung der Sammelübersicht 57 des Petitionsausschusses über Anträge zu Petitionen mit Statistik über die beim Deutschen Bundestag in der Zeit vom 14. Dezember 1976 bis 30. September 1979 eingegagenen Petitionen— Drucksache 8/3278 —Das Wort wird nicht gewünscht.Wir kommen zur Abstimmung. Wer der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses auf Drucksache 8/3278 die in der Sammelübersicht 57 enthaltenen Anträge anzunehmen, zustimmen möchte, den bitte ich um das Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Es ist so beschlossen.Ich rufe Tagesordnungspunkt 13 auf:Beratung der zustimmungsbedürftigen Verordnung der Bundesregierung zur Änderung des Deutschen Teil-Zolltarifs
— Drucksache 8/3261 —Überweisungsvorschlag des Ältestenrates: Ausschuß für WirtschaftDas Wort wird nicht gewünscht.Der Ältestenrat schlägt Überweisung der Vorlage auf Drucksache 8/3261 an den Ausschuß für Wirtschaft vor. Ist das Haus damit einverstanden? — Ich höre keinen Widerspruch; es ist so beschlossen.
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Vizepräsident Frau FunckeIch rufe Tagesordnungspunkt 14 auf:Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Auschusses für Wirtschaft zu der Zustimmungsbedürftigen Verordnung zur Änderung des Deutschen Teil-Zolltarifs (Nr. 10/79) — Zollpräferenzen 1979 gegenüber Entwicklungsländern — EGKS)— Drucksachen 8/3151, 8/3268 —Berichterstatter: Abgeordneter Junker Das Wort wird nicht gewünscht.Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuß empfiehlt, der Verordnung auf Drucksache 8/3151 zuzustimmen. Ist das Haus damit einverstanden? — Ich höre keinen Widerspruch. Es ist so beschlossen.Ich rufe Tagesordnungspunkt 15 auf:Beratung des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft zu derAufhebbaren Verordnung zur Änderung desDeutschen Teil-Zolltarifs
— Drucksachen 8/3178, 8/3269 —Berichterstatter: Abgeordneter JunkerDas Wort wird nicht gewünscht.Es handelt sich um einen Bericht des Ausschusses für Wirtschaft, von dem das Haus nur Kenntnis zu nehmen braucht, falls nicht Anträge aus dem Haus vorliegen. — Anträge liegen nicht vor. Ich stelle fest, daß das Haus von dem Bericht auf Drucksache 8/3269 Kenntnis genommen hat.Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 16 und 17 auf:16. Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Finanzausschusses
zu der Unterrichtung durch die BundesregierungVorschlag einer Verordnung des Rates über die bei Unregelmäßigkeiten im Bereich der mit Beschluß vom 21. April 1970 vorgesehenen eigenen Mittel zu treffenden Maßnahmen sowie die Einrichtung eines einschlägigen Information- und Kontrollsystems— Drucksachen 8/2922, 8/3263 — Berichterstatter: Abgeordneter Dr. Kreile17. Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Finanzausschusses zu der Unterrichtung durch die BundesregierungVorschlag einer Zehnten Richtlinie des Rates zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern in Ergänzung der Richtlinie 77/388/EWG — Anwendung der Mehrwertsteuer auf die Vermietung von beweglichen körperlichen Gegenständen— Drucksachen 8/2921, 8/3247 —Berichterstatter: Abgeordneter Gertzen Das Wort wird nicht gewünscht.Erhebt sich Widerspruch dagegen, daß wir über beide Vorlagen gemeinsam abstimmen? — Das ist nicht der Fall.Wer den Beschlußempfehlungen des Finanzausschusses auf den Drucksachen 8/3263 und 8/3247 zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Einstimmig so beschlossen.Meine Damen und Herren, damit sind wir am Schluß der heutigen Tagesordnung.Ich berufe das Haus auf morgen, den 9. November 1979, 9 Uhr.Die Sitzung ist geschlossen.