Gesamtes Protokol
Die Sitzung ist eröffnet.
Ich habe die Freude und das Vergnügen, eine Delegation der Zweiten Kammer des niederländischen Parlaments unter der Führung ihres Präsidenten, Herrn van Thiel, zu begrüßen.
Unsere niederländischen Gäste haben den Wunsch, Einrichtungen des Deutschen Bundestages zu studieren und Gespräche mit ihren deutschen Kollegen über künftige Planungen zu führen. Wir wünschen ihnen für ihren Besuch viel Erfolg.
Die folgenden amtlichen Mitteilungen werden ohne Verlesung in den Stenographischen Bericht aufgenommen:
Der Bundesminister der Finanzen hat am 26. Januar 1971 die Kleine Anfrage der Abgeordneten Strauß, Stücklen, Wagner und Genossen betr. Verteilung von parteipolitischer Literatur in Bundesbehörden — Drucksache VI/1716 — beantwortet. Sein Schieiben wird als Drucksache VI/1772 verteilt.
Der Parlamentarische Staatssekretär beim Bundesminister des Auswärtigen hat am 26. Januar 1971 die Kleine Anfrage der Abgeordneten Strauß und Genossen betr. Diebstähle bei der Bundeswehr — Drucksache VI/1685 — beantwortet. Sein Schreiben wird als Drucksache VI/1777 verteilt.
Der Bundesminister des Innern hat am 28. Januar 1971 die Kleine Anfrage der Abgeordneten Spilker, Dr. Kraske, Dr. Evers, Dr. Riedl , Frau Griesinger, Hussing, Dr. Schneider (Nürnberg) und Genossen betr. Fußballweltmetsterschaft 1974 — Drucksache VI/1695 — beantwortet. Sein Schreiben wird als Drucksache VI/1778 verteilt.
Meine Herren und Damen, wir setzen die Beratung über die Punkte b und c der Tagesordnung fort:
b) Große Anfrage der Fraktionen der SPD, FDP betr. Außenpolitik der Bundesregierung — Drucksachen V1/1638, VI/1728 —
c) Aussprache über den Bericht der Bundesregierung zur Lage der Nation 1971
— Drucksache VI/ 1690 —
Das Wort hat Herr Abgeordneter Dr. Marx. Es ist eine Redezeit von 45 Minuten beantragt.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Kürzlich hat der ehemalige amerikanische stellvertretende Außenminister George Ball in einer Kontroverse mit dem früheren Chefdelegierten seines Landes bei den Vereinten Nationen, Arthur Goldberg, festgestellt, daß es gefährlich sei — ich zitiere —, „Außenpolitik nach Persönlichkeitswerten zu bemessen anstatt durch die rigorose Analyse von Tatbestand und Postulat". Damit hat Ball an die Selbstverständlichkeit erinnert, daß außenpolitische Aktionen sich vor allem an objektiven Tatsachen orientieren müssen. An anderer Stelle hat er gesagt, daß diejenigen, die mit der Sowjetunion weitgehende Abreden treffen, sich immer bewußt sein müssen, daß sich ihr Partner im Innern und im Verhältnis zu anderen Völkern weit mehr auf die Macht denn auf festgelegtes und festgeschriebenes Recht stützt.Heute haben wir hier über die Politik der Bundesregierung, über ihre Anlage und Methode, über ihre Ausgangspunkte und die Ziele, so wie sie sich in der Antwort auf die Große Anfrage darstellen, zu sprechen. Wir, die CDU/CSU-Fraktion, sind davon überzeugt, daß diese Politik, vor allem die Deutschland- und Ostpolitik, an diesen Maßstäben gemessen, falsch und gefährlich angelegt ist.
Sowjetische Politik — und ich hätte, meine Damen und Herren, gern das Vergnügen, daß sowohl der Herr Bundeskanzler als auch der Herr Außenminister dies mit hörten —
wird von anderen Kräften angetrieben als jenen in liberalen Ländern. Ihr Fundament ist ideologisch, revolutionär, imperial. Sie ist langfristig angelegt und wird zäh und mit großer Hartnäckigkeit verfolgt. Ihre Akteure sehen den Westen nicht als Partner im echten Sinne dieses Wortes, sondern als feindselige, mit Mißtrauen beobachtete, andere Welt. Dies ist der Grund, warum es so schwer, so außerordentlich schwer ist, Ostpolitik zu betreiben und dabei zu fruchtbaren Ergebnissen zu kommen.
Der zweite Grund ist dieser: Vielen bei uns im Westen ist die Mentalität der östlichen Verhandlungspartner fremd und vielen auch unzugänglich.
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5128 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 94. Sitzung. Bonn, Freitag, den 29. Januar 1971
Dr. Marx
Sie begreifen die andersartigen Denkkategorien, die daraus entstehen, nicht, weil sie entweder dazu nicht fähig oder nicht willens sind, den Tatsachen ins Auge zu sehen.Am Anfang des ostpolitischen Irrweges der Bundesregierung stand ihr Unvermögen, das östliche Gegenüber als das zu erkennen, was es wirklich ist. Sie hat auf diesem Irrweg, meine Damen und Herren, bereits eine weite Strecke zurückgelegt,
gegen unsere ständigen Mahnungen und Warnungen, gegen unseren Willen, unter Ausschaltung der größten Fraktion dieses Hauses, die heute, wie die letzten Landtagswahlen unwiderlegbar bewiesen haben, die Mehrheit in diesem Lande hinter sich weiß.
Die Koalition hat in ihrer Großen Anfrage die Bundesregierung eingeladen, nach einem Jahr ihrer Tätigkeit Rechenschaft zu geben. Die Bundesregierung hat geantwortet, und wir prüfen diese Antwort. Um es gleich zu sagen: neue Aussagen gibt es in dieser Antwort nicht. Sie wiederholt und variiert längst Bekanntes, Formeln und Floskeln, wenig Substanz und viele Worte.
Auch in dieser Antwort erleben wir, daß fehlende Substanz durch die ständige Wiederholung zugedeckt werden soll, daß es sich bei dieser Politik — Herr Bundesaußenminister, ich. meine weniger Ihre Redensarten, mehr die des Kanzlers — um eine Form von Friedenspolitik handelt, die andere Konzepte, und zwar in dialektischer Umkehr, als friedensgefährdend diskreditiert. Das hören wir landauf, landab, und ich sage Ihnen, wir haben das jetzt satt! Daher fordern wir Sie auf — und ich hätte mich, ich wiederhole es, jetzt gern an den Herrn Bundeskanzler oder z. B. auch an Herrn Ehmke gewandt —,
endlich mit den Versuchen Schluß zu machen, unsere Fragen, unsere Kritik, unsere politischen Überzeugungen mit pseudomoralischer Überheblichkeit abzufertigen.
— Herr Raffert, was ich jetzt angreife sind jene, die sagen, zu dieser Friedenspolitik gebe es „keine Alternative" und: wer sich dieser Politik entgegenstelle, spiele mit dem Krieg, wie Herr Ehmke das ausgedrückt hat. Ich antworte Ihnen, diese CDU/ CSU hat den Frieden in Deutschland und in Europa gewahrt, seit sie hier verantwortlich wirkt,
und zwar durch eine wahre, durch eine klare undkonsequente Politik, durch das Vertrauen, das beieiner folgerichtigen Bündnispolitik mühsam ge-wonnen wurde. Die Sicherheit, die damit erreicht wurde, war real und für jedermann spürbar.Jetzt sagen Sie, der Friede werde „sicherer". Es ist gestern erklärt worden, was dieser Komperativ bedeutet, eben im Hinblick auf die Ausdeutung des Harmel-Berichts. Ich antwortete, nein, er wird zerbrechlicher; denn es bedeutet nicht mehr, sondern weniger Sicherheit, wenn wir an Verträge festgebunden werden, in denen sich der Vertragspartner z. B. auf den Art. 2 der UN-Charta beruft, jener Vertragspartner, der genau zwei Jahre vorher seinen eigenen, tschechoslowakischen Bruder schamlos und zynisch unter Verleugnung des Inhalts und Geistes eben dieses gleichen Art. 2, bei Nacht und Nebel überfallen und sein gegebenes Wort gebrochen hat.
Die Bundesregierung versichert in ihrer Antwort, ihre Politik stehe in Übereinstimmung mit einem allgemeinen Entwicklungstrend in der Welt. Aber — und ich wiederhole, was wir gestern durch Zwischenfragen hier herauszuholen versuchten — wo bleibt denn der Nachweis, daß auch der Partner im Osten bereit sei, wirkliche Entspannung, solche, die diesen Namen verdient, zu leisten?
Ein Weiteres. Die Bundesregierung behauptet in ihrer Antwort erneut, daß sie keine deutsche Position aufgegeben habe. In Wirklichkeit — dies ist unsere Überzeugung — hat sie in einem einzigen Jahr wichtige Positionen geräumt oder gefährdet, ohne auch nur einen Hauch konkreten Entgegenkommens dafür zu erhalten.
Die Bundesregierung sagt, daß die sowjetische Regierung schon heute zu einer realistischen Bewertung der westlichen Gemeinschaften gelangt sei. Aber daran schließt sich die virtuos verschleiernde Anmerkung in der Antwort an — ich zitiere —, daß der Osten dies „nach außen hin nicht erkennen lasse". Ich frage, warum verschweigt die Bundesregierung, was sie offenbar wirklich weiß? Wenn das Frage- und Antwortspiel in diesem Hause nicht zum leeren Gerede werden soll, muß doch der Herr Außenminister hier und heute Farbe bekennen. Herr Kollege Scheel, welche Erfahrungen, welche Zusicherungen oder was sonst geben Ihnen das Recht und die Möglichkeit, die soeben zitierte Antwort niederzuschreiben?Meine Kollegen von der SPD und FDP, es ist doch Ihre Anfrage, die hier zur Debatte steht. Wollen Sie es sich gefallen lassen, daß auch Sie keine klare Antwort bekommen? Sind Sie bereit, hinzunehmen, daß die Bundesregierung den Begriff „politische Union" systematisch vermeidet? Ich frage mich, warum eigentlich? Wem mag er unangenehm in den Ohren klingen? Sind Sie bereit, hinzunehmen, daß das Ziel der politischen Einigung Europas, das als langfristig bezeichnet wird, sorgfältig von den unmittelbaren Aufgaben abgegrenzt wird und daß zwar oft von Zusammenarbeit, nicht aber von Integration, Union oder Vergemeinschaftung gespro-
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Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 94. Sitzung. Bonn, Freitag, den 29. Januar 1971 5129
Dr. Marx
chen wird? Der Fatalismus und die Perspektivlosigkeit dieser Politik wird in vielen Sätzen klar. Wir fragen uns: Wo bleibt eigentlich die klare Aussage, daß sich die Bundesregierung hinsichtlich der europäischen Ordnungen als Motor versteht und auch so handelt?
Auch die Antwort auf die wichtige Frage nach den Auswirkungen der Deutschland- und Ostpolitik, Herr Moersch, auf die westliche Integration ist äußerst unbefriedigend. Auch wenn die Bundesregierung behauptet, um Verständnis für das europäische Einigungswerk geworben und keinen Zweifel daran gelassen zu haben, daß die europäische Einigung durch ihre Ostpolitik nicht beeinträchtigt werden dürfe, so ist dieser Zweifel eben doch entstanden. Die Befürchtungen, daß der westeuropäische Zusammenschluß einer gesamteuropäischen Illusion zur Disposition gestellt werden könnte, sind verstärkt worden. Es kommt nicht nur, meine Damen und Herren, auf gute Absichten — die wir der Bundesregierung nicht absprechen — an, es muß auch Adäquates getan werden.
Wenn politische Maßnahmen und Festlegungen in der Methode und in der Sache falsch angelegt sind, lassen sich diese durch gute Absichten allein leider nicht wieder in den Griff bekommen.Die Kritik der CDU/CSU-Fraktion an der Unzulänglichkeit der von den Regierungen der SechsB) beschlossenen Maßnahmen und an der Zurückhaltung der Bundesregierung in der Frage der politischen Union ist keineswegs widerlegt, sondern findet in der vorliegenden Antwort neue Nahrung. In dieses negative Bild paßt leider auch das Ergebnis der gerade zu Ende gegangenen deutsch-französischen Konsultationen. Von einem Stufenplan, meine Damen und Herren, kann nun nicht mehr die Rede sein, auch dann nicht, wenn aus optischen Gründen die Prozedur als erste Stufe ausgegeben wird.
Wir halten daran fest, daß die Wirtschafts- und Währungsunion stufenweise verwirklicht werden muß.
Herr Kollege. ,gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Dr. Apel?
Gern.
Herr Kollege Marx, übersehen Sie in Ihren Ausführungen nicht, daß zur Politik gerade in Europa immer Partner gehören und daß eigene gewollte Fortschritte nur in dem Umfang möglich sind, wie sie vom Partner mitgetragen werden, und sind Sie nicht auch der Meinung, daß es besser ist, einen Schritt voranzukommen, als Sie es in Ihrer Regierungszeit gemacht haben, eine europäische Krise zu produzieren?
Herr Apel, die Art und Weise, wie Sie die Frage beendet haben, richtet sich selbst; erste Antwort. Zweite Antwort: Natürlich wissen wir — und deshalb spreche ich ja von den Stufen —, daß man nur schrittweise vorgehen kann. Natürlich wissen wir, daß Außenpolitik im Schnittpunkt vieler Bestrebungen steht und daß man sie nicht allein nach eigenem Konzept machen kann. Aber es kommt darauf an, daß man eben nicht nur einen Verbalismus predigt, sondern versucht, Taten dazuzusetzen, und daß man versucht — Sie machen es doch in Ihrer Ostpolitik so, wo Sie ständig von Ihrer eigenen Konzeption sprechen —, die andere Seite Stück um Stück zäh und beharrlich dazu zu bringen, auf diesem Wege einen weiteren Schritt voranzukommen.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Moersch?
Frau Präsidentin, wenn das von der Redezeit abgerechnet wird, gern.
Ja, es wird abgerechnet.
Herr Kollege Marx, wollen Sie ernsthaft bestreiten, daß in den letzten fünf Vierteljahren die Zusammenarbeit innerhalb der westeuropäischen Gemeinschaft wesentlich besser geworden ist, nicht nur obwohl, sondern möglicherweise weil weniger von Institutionen gesprochen wurde und dafür mehr für die praktische Zusammenarbeit getan worden ist als früher?
Herr Kollege Moersch, ich glaube, daß Sie hier erneut eine Frage aufwerfen, die in den letzten Monaten von Ihrer Seite sehr oft in der gleichen, sehr einseitigen und polemischen Weise vorgetragen worden ist. Es ist uns völlig klar, Herr Kollege Moersch, und wir haben immer wieder darauf hingewiesen, daß sich in einem sehr wichtigen Partnerland einige entscheidende Veränderungen ergeben haben. Wir beide sind uns doch darüber im klaren, daß dort die eigentliche Quelle der Tatsache liegt, daß sich in den letzten eineinhalb Jahren einiges — es war nicht alles konkret, sondern es war leider oft nur scheinbar besser — geändert hat.
Meine Damen und Herren, die CDU/CSU besteht nach wie vor darauf, daß die Integration im Bereich der Wirtschafts- und Währungspolitik gleichzeitig und aufeinander abgestimmt vollzogen werden muß. Wir lassen auch keinen Zweifel daran, daß die Wirtschafts- und Währungsunion unserer Überzeugung nach nur dann gelingen kann, wenn sie im Rahmen einer politischen Union und ausgestattet mit den nötigen Gemeinschaftssituationen — diese sind nun einmal notwendig, wer wollte das leugnen? — ins Werk gesetzt wird.
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5130 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 94. Sitzung. Bonn, Freitag, den 29. Januar 1971
Dr. Marx
Meine Damen und Herren, wir fragen, warum die Bundesregierung — diesen Eindruck haben wir jedenfalls — jetzt von einem Konzept abzugehen bereit ist, das sie noch vor wenigen Wochen für gut befand. Wir fürchten, daß auch hier die Auswirkungen einer in der Methode und in der Sache falsch angelegten Ostpolitik zu spüren sind.In diesem Zusammenhang möchte ich — mit einem Blick auf die vorliegenden Materialen zum „Bericht zur Lage der Nation . . ." — darauf hinweisen, daß darin ausschließlich von wirtschaftlichen Bindungen die Rede ist und die angestrebte politische Union unterschlagen wird. Warum lassen Sie, Herr Außenminister, der Sie sich hier oft als Europäer vorgestellt haben — wir attestieren Ihnen das und haben Sie auch ermuntert, diesen Weg weiterzugehen —, zu, daß in dem Bericht zur Lage der Nation — wobei ich sagen muß, daß der Bericht immer noch „Bericht zur Lage der Nation im gespaltenen Deutschland" heißt — festgestellt wird — —
— Wenn das so ist, Herr Stücklen, dann ist allerdings die Auslassung der Worte „im gespaltenen Deutschland" in der Überschrift des gestern vorgelegten Berichts bezeichnend für den weiteren Weg, den diese Regierung zurücklegt.
Herr Außenminister, wir fragen, warum die Gründung der Gemeinschaften, wie es dort heißt, „politische Ziele mit wirtschaftlichen Mitteln" verfolgt. Warum wird das so vernebelt? Wir halten fest, die Gemeinschaft und ihre Gründung sind nicht nur wirtschaftliche, sondern eminent politische Mittel. Politisch sind die Verträge, politisch die nach ihnen arbeitenden Institutionen, politisch die Methoden und die Gegenstände der Vergemeinschaftung.
Wir sagen — man muß eben den Wortlaut dessen, was in den Materialen steht, noch einmal genau lesen —: die politischen Ziele waren nicht nur auf die Gründung beschränkt, sondern sie müssen uns den ganzen Weg begleiten. Diese Ziele müssen wir anstreben.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Dr. Apel?
Herr Apel!
Herr Kollege Marx, bauen Sie jetzt nicht fortlaufend Pappkameraden auf und übersehen Sie dabei nicht geflissentlich die politische Zielsetzung, die die Haager Gipfelkonferenz ausdrücklich verfolgt hat und die z. B. auch der Davignon-Bericht und die beschlossenen Konsultationen nachvollzogen haben?
Herr Apel, ich versuche wirklich nicht, Pappkameraden aufzubauen. Ich hatte gestern mitunter den Eindruck, als ich die eine oder andere Rede von Ihrer Seite hörte, daß Sie selbst das geflissentlich tun. Aber vielleicht ist das eine Art von politischer Bewertung, die uns eben trennt. Aber, Herr Apel, zur Sache!
— Wenn Sie glauben, Sie seien auf einer Versammlung Ihrer eigenen Partei, mögen Sie so reden; hier im Bundestag nicht!
Meine Damen und Herren, hier werden keine Pappkameraden aufgebaut, sondern ich habe ganz konkret und nur zu einem einzigen Satz in den gestern von der Regierung vorgelegten Materialien zu dem Gegenstand, über den wir jetzt diskutieren, Stellung genommen. Ich habe mich bei seiner Bewertung noch sehr zurückgehalten. Wenn Sie dies bitte nachlesen und ernsthaft darüber nachdenken wollen, werden Sie sicherlich zugeben, daß z. B. der Satz „politische Ziele würden mit wirtschaftlichen Mitteln" verfolgt, von unserer Seite notwendigerweise angegriffen werden muß,
weil es sich nicht nur um wirtschaftliche, sondern auch um politische Mittel handeln muß, wenn die gesamte westeuropäische Entwicklung einen Sinn haben soll.
Sicherlich hat die EWG auch ihren wirtschaftlichen oder, besser gesagt, ihren wirtschaftspolitischen Sinn. Sie findet jedoch ihre eigentliche raison d'être, zumal für die Bundesrepublik Deutschland, die ja für ihr Zustandekommen und für ihr Funktionieren erhebliche Leistungen erbracht hat, in ihrem von uns gewollten und von uns mitgestalteten politischen Charakter.Nun, meine Damen und Herren, in der Antwort auf Frage 5 der Großen Anfrage beruft sich die Bundesregierung — gestern ist hier mehrmals darüber gesprochen worden — auf den Harmel-Bericht vom Dezember 1967. Herr Kollege Wienand, Sie haben sich in Ihren Ausführungen dazu wiederholt geäußert, und wir werden noch einmal Gelegenheit haben, uns das, was Sie dabei sagten, genau anzusehen, und zwar in zweierlei Hinsicht: erstens weil ich denke, Sie haben mit Ihrer Art der Darlegung tatsächlich versucht, so etwas wie eine neue Verteidigungskonzeption zu entwickeln, von der ich nicht sicher bin, ob sie diesen Namen noch verdienen würde.
Und Sie haben zur gleichen Zeit — wir haben es jetzt auch gelesen — eine Große Anfrage Ihrer Fraktion zur Verteidigungspolitik angekündigt. Ich sage Ihnen, daß die Fraktion der CDU/CSU ebenfalls, und zwar ausgehend von ihren verteidigungspolitischen Vorstellungen, eine solche Große Anfrage einbringen wird,
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Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 94. Sitzung. Bonn, Freitag, den 29. Januar 1971 5131
Dr. Marx
weil wir uns dann in der gemeinsamen Debatte — und Sie, Herr Kollege Wienand, haben mich gestern dazu eingeladen — über dieses Thema ausführlich und streng nach der Ordnung der Fragen unterhalten können.Sie müssen aber doch zugeben - und damit komme ich auf diese Frage zurück —, daß seit der Annahme des Harmel-Berichts sozusagen einiges passiert ist, daß sich z. B. die sowjetische Macht erneut in aller Brutalität gezeigt hat. Die Bundesregierung beruft sich in der Antwort auf die Anfrage für ihre Politik auf die Konzeption jenes Berichts, wonach „détente" und „défense" einander ergänzen sollen. Ich frage: Versteht sich der Warschauer Pakt ebenso? Davon kann doch — auch mit einem Blick auf die beiden Budapester Konferenzen — wohl nicht ernsthaft gesprochen werden.Die Bundesregierung geht bei den in der Antwort verwendeten Zitaten — auch das gehört offenbar zur Methode ihrer Politik — um nahezu alle jene Teile des Harmel-Berichtes herum, die nicht ganz ins Konzept passen. Sie zitiert z. B. über die beiden Funktionen der Allianz folgendes aus dem Bericht:Die erste besteht darin, eine ausreichende militärische Stärke und politische Solidarität aufrechtzuerhalten, um gegenüber Aggression und anderen Formen von Druckanwendung abschreckend zu wirken ...Die drei Auslassungspunkte am Schluß dieser Passage sind bezeichnend meine Damen und Herren. Ich will Ihnen sagen, was die Bundesregierung ausgelassen hat, und ich zitiere auch dies aus dem Bericht:Aber die Möglichkeit einer Krise kann nicht ausgeschlossen werden, solange die zentralen politischen Fragen in Europa, zuerst und zunächst die Deutschlandfrage,
ungelöst bleiben.
Außerdem schließt die Situation mangelnder Stabilität und Ungewißheit noch immer eine ausgewogene Verminderung der Streitkräfte aus.So hieß es im Dezember 1967, und ich frage mich, warum die Bundesregierung ausgerechnet diese Stelle, die sie eigentlich zur Stützung ihrer Politik verwenden und zitieren müßte, ausgelassen hat. Ich frage mich weiter, ob es mit dem Weglassen, ob es mit der zur Zeit beobachteten Verharmlosung, mit dem Verschweigen und mit dem Herunterspielen der kommunistischen Realitäten so weitergehen soll.Manlio Brosio, der Generalsekretär der NATO, hat in einem den Harmel-Bericht kommentierenden Aufsatz die Sowjets aufgefordert, nicht nur mit Worten, sondern endlich auch durch Taten die ausgestreckte Hand des Westens zu ergreifen. Dies gilt auch heute. Die Bundesregierung verweist auf die NATO-Beschlüsse von Rom und Brüssel. Wenn wir dort nachlesen, finden wir in der sehr behutsamen Sprache der Dokumente — den Hinweis auf „bestimmte beunruhigende Merkmale der internationalen Situation". Es wird hinzugefügt, daß man diese Tatsachen nicht ignorieren dürfe, denn die Sowjetunion habe „die Absicht, ihren politischen Einfluß auszudehnen und zu stärken", und sie handhabe ihre Beziehungen zu anderen Staaten „auf der Grundlage der Vorstellungen, von denen einige der Entspannung nicht dienlich sind".In diesem Zusammenhang frage ich mich: Wie eigentlich entwirft die Bundesregierung in ihrer Antwort ein knappes, wenn auch nur skizzierendes Bild der sowjetischen Macht? Gibt es für die Bundesregierung eine sowjetische Europapolitik, eine sowjetische Westpolitik? Wenn ja, wie sieht das aus? Aber man wird vergeblich auch nur einen einzigen Hinweis zu all dem suchen. Die Bundesregierung sagt dazu nichts. Ihre Beurteilung der sowjetischen Politik, ihrer Ziele, Absichten und Methoden bleibt auch in dieser Antwort dunkel.Meine Damen und Herren, auch darüber ist gestern wiederholt gesprochen worden: Es hat sich in den letzten Wochen eine neuerliche Kontroverse an Aussagen der Regierung und der Abgeordneten Wehner und Apel entzündet. Ich entnehme diesen Aussagen, meine Herren, daß Sie auf dem Wege zurück hinter Ihre eigenen früheren Versicherungen sind. Ich meine nämlich den für uns unauflösbaren Zusammenhang zwischen befriedigender Berlin-Regelung, innerdeutschen Regelungen und der Einbringung der unterzeichneten Verträge zur Ratifikation.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Dr. Apel?
Gerne.
Herr Kollege Marx, haben Sie soeben mit Ihren Ausführungen unterstellen wollen, daß Herr Kollege Wehner und ich eine befriedigende Berlin-Regelung nicht mehr als Voraussetzung für die Ratifizierung des deutsch-sowjetischen Vertrages ansehen?
Herr Apel, ich habe gesehen, daß Sie sich schon zur Frage erhoben haben, noch ehe Sie den Inhalt des Satzes haben verstehen können, weil er noch nicht ausgesprochen war.
Insoweit ist dies ein Kompliment für Ihre gute Reaktionsfähigkeit am frühen Morgen. Ich muß aber sagen, die Frage erübrigt sich, wenn Sie bitte zuhören, was ich jetzt anschließend sage. Ich will Ihnen nämlich sagen, Herr Apel, daß gerade Sie es waren, der sich besonders bösartig und — ich muß das hinzufügen — für uns beleidigend geäußert hat.
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5132 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 94. Sitzung. Bonn, Freitag, den 29. Januar 1971
Dr. Marx
Sie haben nämlich die ganz absurde Behauptung aufgestellt, wir würden zusammen mit der SED ein eindeutiges Spiel treiben und damit der Entspannungspolitik zuwiderhandeln.
— Herr Apel, wenn Sie jetzt eine Frage stellen wollen, würde ich doch bitten, daß Sie die Gelegenheit nutzen, um deutlich zu machen, daß Sie sich davon distanzieren.
Sie gestatten ,die Zwischenfrage?
Bitte sehr!
Herr Kollege Marx, wollen Sie eigentlich den Zusammenhang bestreiten, daß derjenige, der die Ratifizierung des deutsch-sowjetischen Vertrages nicht nur mit einer befriedigenden Berlin-Lösung befrachtet — die gehört sowieso dazu, weil es Teil des Gewaltverzichtes ist ,
sondern im voraus auch noch verlangt, daß innerdeutsche Regelungen kommen, damit der DDR eine absolute Sperrmöglichkeit gibt,
insofern in der Tat das Spiel der SED betreibt? Wollen Sie das bestreiten, und können Sie bestreiten, daß Sie damit, wenn Sie dieses verlangen, gewollt oder ungewollt das Spiel der SED spielen?
Herr Apel, Sie haben leider die Chance, sich von Ihrem unerhörten Vorwurf zu befreien, nicht genutzt.
Sie können durch eine nicht ganz durchgeformte und nicht ganz durchdachte dialektische Unterstellung nicht aufs neue den Versuch machen, diese Fraktion auch nur in die Nähe dessen zu bringen, war wir an politischer Ausformung bei Ulbricht und seiner SED sehen.
Im übrigen - das muß ich jetzt hinzufügen —gab es in den Weihnachtsferien Äußerungen in der Presse, einer Ihrer Kollegen wolle in Kürze eine Dokumentation zu diesem Thema vorlegen. Wir warten darauf, denn wir möchten gerne, daß so unerhörte Arten von Unterstellungen zumindest mit dem Anschein der wissenschaftlichen Dokumentation unterlegt werden.
Verehrter Herr Apel, die Art und Weise, wie Sie sich da ausgelassen haben, zeigt uns, daß Sie angesichts der Tatsache, daß sich Ihre Politik in der Sackgasse befindet, offenbar verzweifelt sind.
— Herr Raffert, wir haben es nicht erfunden, sondern wir weisen zurück, und zwar noch in die Zeit des Spätherbstes 1969, wo der Herr Bundeskanzler immer wieder auf den engen Zusammenhang zwischen, wie er sich ausdrückte, Moskau, Warschau und Ost-Berlin in allem, was dort geschieht, hingewiesen hat. Ich verweise z. B. auf ein Interview des Kanzlers vom 20. Mai letzten Jahres, wo er wörtlich. sagte: „Alles hängt zusammen." Das ist auch logisch, und wir haben es auch so verstanden. Aber jetzt muß ich fragen: Wo ist dieser Zusammenhang heute? Am Anfang dieser Politik erweckte unsere Regierung den Eindruck, die ganze Ostpolitik diene vorrangig einem wichtigen Ziele, nämlich der Besserung der Lage der Menschen im geteilten Deutschland.
Wie aber stellt es sich heute dar, und — das müssen wir doch auch fragen was leistet die DDR an eigenen Beiträgen für eine Regelung, die die Menschen in beiden Teilen Deutschlands spüren, die ihnen wirklich weiterhilft, die tatsächlich als ein Beitrag zur Entspannung und zur Menschlichkeit bezeichnet werden kann? Wir haben aus der Rede, die der Herr Bundeskanzler gestern hier hielt, entnommen, daß sich seine Beurteilung der Situation drüben realistischer darstellt. Vieles, was er vorgetragen hat, war auf Moll gestimmt, und vieles von dem, was im Laufe des letzten Jahres an euphorischen Stimmungen erzeugt worden war, hat jetzt wegen der harten und doch von uns allen so sehr beklagten Tatsachen einer nüchternen Beurteilung Platz gemacht.Meine Damen und Herren, die Regierung sagt, Ost-Berlin stemme sich der Tendenz zur Entspannung entgegen. Niemand, der objektiv urteilt und Tatsachen nicht durch Illusionen oder zungenfertige Interpretationen ersetzt, wird behaupten können, daß die deutsche Filiale des sowjetischen Systems ihren Kurs auf Entspannung oder sogar auf Verständigung oder Versöhnung gerichtet hätte. Die Verhärtung der Position der SED ist das wissen wir alle — ein Zeichen ihrer eigen Untersicherheit. Man hat diese Verhärtung in Ost-Berlin seit dem April 1968, also seit der Einführung der sogenannten sozialistischen Verfassung, immer weiter vorangetrieben. Hieran hat sich trotz aller Hoffnungen auf Grund der neuen Ostpolitik unserer Bundesregierung nichts geändert. Die Situation hat sich leider noch verschärft.
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Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 94. Sitzung. Bonn, Freitag, den 29. Januar 1971 5133
Dr. Marx
Bei der Lektüre von Ostberliner Dokumenten fällt auch auf, daß die Sprache der SED noch schärfer, noch hochfahrender und noch selbstbewußter geworden ist. Die Sperrmaßnahmen auf den Zufahrtswegen nach Berlin — heute morgen hören wir wieder davon, daß die Lastkraftwagenfahrer acht Stunden warten müssen — sprechen ihre eigene und unüberhörbare Sprache. Sie zeigen, wie man drüben Entspannung praktiziert. Sie zeigen auch, daß man in Ost-Berlin jetzt darangeht, mit Mitteln der Schikane zu versuchen, wesentliche Grundrechte von uns einzuschränken. Wenn wir — sei es als Fraktion oder als Parteivorstand oder als Konferenz der Fraktionsvorsitzenden —in Berlin tagen, so üben wir doch offenkundig das Recht der Koalitionsfreiheit, der Versammlungsfreiheit und der Meinungsfreiheit aus.
Aber gerade das Abhalten dieser Veranstaltungen wird nun, und zwar offen und zynisch, von den Grenzposten als Ursache für die Sperrmaßnahmen angegeben. Früher wurden Straßenausbesserungen als Grund genannt. In einem anderen Fall war einmal eine Schleuse nicht in Ordnung; sie mußte repariert werden. Heute sagt man offen, was der eigentliche Grund ist.
Leider fühlen sich diejenigen, welche Berlin immer weiter abschnüren wollen, durch manche leichtfertige Äußerung über die Bereitschaft, sogenannte demonstrative Berlin-Präsenz einzuschränken, ermutigt. Meine Damen und Herren, ich bitte darum, solche Äußerungen endlich zu unterlassen. Wer das Zusammenkommen demokratischer politischer Gremien in Berlin in Frage stellt — übrigens zur gleichen Zeit, da die Sozialistische Einheitspartei West-Berlins dort massiv für die sowjetische Berlin- und Deutschlandkonzeption wirbt —, hilft Ulbricht, irritiert unsere Verbündeten und schadet Berlin.
Meine Damen und Herren, man hört in letzter Zeit — das möchte ich einmal darstellen — öfters die These — diese These wird auch von manchen Kollegen auf der linken Seite des Hauses ausgesprochen —, daß die DDR ein besonders starkes Eigengewicht im Rahmen der Ostblockländer erworben habe. Dieses Eigengewicht, so wird gesagt, zwinge die Sowjets, Dinge zu tun, die außerhalb ihres Konzeptes und ihrer wahren Absichten lägen. Manche Spekulation ist darüber angestellt worden, ob sowjetische Emissäre sich nicht immer wieder genötigt sahen, zu Ulbricht zu reisen und ihm gut zuzureden, damit er doch auf den Pfad der gemeinsam vereinbarten Entspannungstugend zurückgeführt werden könne. Es ist mitunter sogar eine Haltung der SED konstruiert worden, die, wie man sagt, den guten und auf Entspannung gerichteten Absichten der Sowjets entgegenwirkt.Meine Damen und Herren, niemand in der CDU/CSU sieht den Osten etwa als eine völlige, fugenlose Einheit. Wir wissen, daß es dort vieleNuancen gibt, und wir kennen sie auch. Wir kennen auch das Gewicht, das die DDR im Rahmen des Warschauer Paktes und des „Rates für gegenseitige Wirtschaftshilfe" besitzt. Aber wir wissen auch, daß die Sowjetunion über jene Macht verfügt, die es ihr erlaubt, überall dort ihren Herrschaftsanspruch durchzusetzen, wo sie dies für ihre eigene imperiale Politik als richtig erachtet.Vor Jahren wurde draußen und auch hier — viel, und von manchem, wie ich glaube, in zu lautem Ton, über sogenannte „zentrifugale Tendenzen" im Osten gesprochen. Viele glaubten, daß die nationalen Wünsche, die in der Tiefe der Geschichte angelegten Kräfte der Ost- und Südosteuropäer, ihr Drang nach Selbständigkeit und Freiheit, ein polyzentrisches System des Weltkommunismus herbeiführen würden. Viele haben daran die Hoffnung geknüpft, daß in einer solchen Differenzierung die eigentliche Möglichkeit zu einer vernünftigen Kooperation — bilateral und multilateral — mit dem Westen liege.Es trifft zu, daß es diese Kräfte gab und gibt, aber — meine Damen und Herren, wer wollte das leugnen — ihre Wirkung ist doch niedergezwungen durch jene eisernen institutionellen Klammern, die der Wille der sowjetischen Führer um den gesamten Ostblock gelegt hat: erstens durch den Warschauer Pakt, der nur ein verlängerter Arm des sowjetischen Generalstabs ist, zweitens durch das COMECON, das die wirtschaftlichen Interessen der Sowjetunion absichert, drittens durch das, was man die Breschnew-Doktrin nennt, welche die rigorose Handhabung jener Form von „brüderlicher Hilfe" erlaubt, die dann angewandt wird, wenn nach der Definition der Sowjetunion die geheiligten Prinzipien des sozialistischen Lagers und des proletarischen Internationalismus berührt werden.Die DDR, meine Damen und Herren, ist ein Teil dieses Systems. Sie ist durch die Organisation der Partei, durch die totalitäre Methode ihrer Machtausübung und durch die Amalgamierung ihres rechtlichen und gesellschaftlichen Gefüges in den sowjetischen Willen diesem, und zwar mehr als andere, unterworfen. Die DDR ist auch ein besonders treuer Bundesgenosse. Sie versteht sich — ich zitiere dabei sie selbst in ihrer oft frenetischen Sprache — als Leuchtfeuer des sozialistischen Lagers gegenüber dem imperialistischen kapitalistischen Westen. Und dieser Teil Deutschlands — auch das soll nicht vergessen und verschwiegen werden — ist von 20 sowjetischen Divisionen, die eine militärische Elite darstellen, besetzt, und er ist durch vielfältige Beschlüsse an die gemeinsame, in Moskau konzipierte Linie der Politik gebunden.Es sollte niemand, meine Damen und Herren, glauben, daß sich gerade dieser Teil Deutschlands im Herzen Europas, der von Ost-Berlin aus reglementiert und von Tausenden sowjetischer Beobachter und Berater kontrolliert wird, eine eigentsändige Politik, ja, vielleicht sogar eine, die gegen die Interessen und Entspannungsbemühungen der Sowjetunion gerichtet wäre, erlauben könnte.
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5134 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 94. Sitzung. Bonn, Freitag, den 29. Januar 1971
Dr. Marx
Den Sowjets ist ihre deutsche Bastion — gestern ist die Aufforderung ausgesprochen worden, diese Überlegungen einmal von der anderen Seite her zu verstehen; ich mache jetzt gerade diesen Versuch — viel zu wichtig, als daß sie ihrem dort residierenden Statthalter tatsächliche Abweichungen von der Linie erlauben würden.Um was es sich wirklich handelt, ist dieses: Im Spiel der verteilten Rollen hat die DDR jene des Verzögerers, jene des Widerspenstigen übernommen, den man durch weitere Zugeständnisse beruhigen soll. Ich möchte sagen: Die DDR-Karte wird immer dann ins Spiel gebracht, wenn andere sich nicht selber, allzu sichtbar, die Hände schmutzig machen wollen.Meine Damen und Herren! Was nun Gespräche, Verhandlungen und schließlich auch einen künftigen Vertrag mit der CSSR anlangt, so verfolgen wir mit Aufmerksamkeit die Äußerungen, die hierzu aus Prag zu uns herübertönen. Leider hat die monotone Forderung nach der Ungültigkeitserklärung des Münchener Abkommens von Anfang an — in der Fachsprache: ex tunc — sich nicht verflüchtigt, sondern in den letzten Wochen noch verstärkt.
Eine solche Forderung geht an allen historischen und rechtlichen Gegebenheiten vorbei.
Sie ist offenbar ausgewählt, um jetzt das freie Deutschland zu demütigen. Man muß sich das einmal genau vergegenwärtigen, um auf diesem Um- weg nun, sozusagen von der anderen Seite her, eine Identitätstheorie aufzubauen.In diesem Zusammenhang ist es erstaunlich, daß sich die Sowjetunion, wenn sie schon darauf besteht, daß das Münchener Abkommen als null und nichtig zu erklären sei, nicht auch — und zwar in konsequenter Analogie — bereit erklärt, den Hitler-Stalin-Pakt vom 23. August 1939 für ungültig erklären zu lassen.
Denn dort wurde doch in dem Zusatzabkommen zwischen beiden Diktatoren die polnische Ostgrenze festgelegt. Niemand wird bestreiten können, daß diese Grenze mit nackter Gewalt von beiden Seiten geschaffen wurde.Seit die Sowjetunion und die CSSR im Mai des vergangenen Jahres ihr — was man da so nennt — Freundschaftsabkommen abgeschlossen haben, ist nicht nur die Unterwerfung dieses unglücklichen Nachbarlandes unter den sowjetischen Willen womöglich noch perfekter und dauerhafter geworden, sondern uns gegenüber wird stereotyp die Formel gebraucht, daß man nur einen Weg zur Normalisierung des Verhältnisses zwischen Deutschen und Tschechen finden könne, nämlich denjenigen, der über die „Nullität" des Münchener Abkommens führt.Meine Damen und Herren, noch während der Verhandlungen von Egon Bahr in Moskau haben die Sowjets und die Tschechen die Formulierung inArt. 6 ihres Abkommens vereinbart, in dem sie maximale Positionen uns gegenüber festgelegt haben. Aber die Bundesregierung hat es als bemerkenswert und Erfolg ihrer Moskauer Verhandlungen gewertet, daß die Sowjets von uns in dem Vertrag nicht ein solches Einverständnis gefordert hätten. Aber man kann sagen: Die Folgerichtigkeit und Raffinesse sowjetischer Diplomatie kann, wie dieses Beispiel zeigt, das gleiche Ziel auch auf verschlungenen Pfaden erreichen. Ich erinnere in diesem Zusammenhang daran, daß wir ja auch die Absichtserklärungen haben, die die Bundesregierung durch einen hohen Beamten hat unterzeichnen lassen, in denen klar dargelegt ist, wie es dort weitergehen soll.In der Antwort der Bundesregierung und auch in einem großen Teil der gestrigen Debatte ist über 'das Problem der europäischen Ordnung in der NATO gesprochen worden. Es gibt da neue Beschlüsse; das ist gut. Aber ich glaube, daß die Wirklichkeit nicht sehr ermutigend aussieht. Es wäre angesichts der neu zugeführten sowjetischen Waffenpotentiale, der gemeinsamen militärischen Stärke und — das sage ich im Zusammenhang mit dem Begriff des Gleichgewichts — der zahlenmäßigen Überlegenheit der Warschauer-Pakt-Truppen im Abschnitt Europa Mitte, im Mittelmeer und im Norden von entscheidender Bedeutung, daß sich die Europäer entschlössen, ihre Pflichten innerhalb des Verteidigungssystems neu zu überdenken. Denn es ist doch wohl richtig, daß die NATO-Streitkräfte in Europa an jene kritische Schwelle gekommen sind, die unserer Überzeugung nach nicht unterschritten werden darf. Würde sie trotzdem unterschritten, so wäre die Möglichkeit einer realistischen, aussichtsreichen und konfliktverhindernden Verteidigung in unerträglicher Weise eingeengt.Gemessen an dem, was die Bundesregierung bei ihrem Amtsantritt und beim Abschluß des deutschsowjetischen Vertrages an Erwartungen, Hoffnungen, Absichten und Versicherungen vorgetragen hat, sehen wir diese Politik scheitern.Die Bundesregierung sagte, sie gehe von der Lage aus, wie sie ist. Sie behauptet gleichzeitig in ihrer Antwort, daß die Weltpolitik auf Entspannung gerichtet sei. Wir alle wollen Entspannung; da sind wir uns doch einig. Aber wir sehen, daß sie auf der anderen Seite offenbar nicht gewollt wird.
Die Regierung hat allen Entspannung versprochen. Aber es hat sich gezeigt — und Herr Kollege Barzel hat gestern darauf hingewiesen —, daß keine einzige der Spannungsursachen beseitigt worden ist. Im Gegenteil, durch die Verträge sind sie festgeschrieben worden.
Die Bundesregierung versprach Ausgleich. Aber, meine Damen und Herren, wir sehen heute, daß sich die sowjetische Vorherrschaft über Europa weiterentwickelt.Die Regierung sagt, sie wolle Versöhnung mit allen Völkern in Osteuropa. Gut, das ist das eigentliche und auf Dauer konzipierte Ziel unserer Politik.
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Dr. Marx
Aber die Völker — der Ton liegt auf „die Völker" — in Osteuropa, die, wie man hinzufügen muß, über uns durchaus anders denken, als ihre Regierungen glauben machen, dürfen nicht laut sprechen; sie sind mit ihren eigenen Regierungen selbst nicht in innerem Einverständnis.Die Bundesregierung hat in deutschen Fragen Annäherung angekündigt. Meine Damen und Herren, scharfe Abgrenzung ist die Antwort aus Ost-Berlin.Die Regierung hat Erleichterungen des Lebens für die Menschen im geteilten Deutschland in Aussicht gestellt. In Wahrheit wurden und werden unser Land und seine Demokratie immer nachdrücklicher und immer krasser in das Feindbild der anderen Seite eingeordnet.Die Bundesregierung hat gesagt, daß im Zentrum ihrer Ostpolitik — ich wiederhole, was ich vorhin andeutete — ihre Bemühungen um eine einvernehmliche Regelung der deutschen Frage stünden. Jetzt, so scheint es, ist sie bereit, die Verträge auch ohne eine innerdeutsche Regelung zur Ratifizierung vorzulegen.Die Bundesregierung hat gesagt, sie wolle keine endgültige Regelung in der Grenzfrage mit Polen vornehmen. In Polen aber und darüber hinaus fast überall in der Welt versteht man die vertraglichen Regelungen als endgültig.Die Bundesregierung hat immer wieder der Erwartung Ausdruck gegeben, daß auch die Sowjetunion die Realitäten auf unserer Seite anerkenne. Jetzt erweist es sich, daß Moskau nicht daran denkt,3) die Wirklichkeit in West-Berlin, so wie sie gewachsen und für uns von vitaler Bedeutung ist, anzuerkennen.Die Bundesregierung hat die Hoffnung geäußert, daß nach ihrer Moskauer Vorleistung — so sehen wir es — eine wirklich befriedigende Berlin-Regelung erreicht werde. Nun ist uns allen, wie ich denke, klargeworden, daß die Sowjets für eine solche Regelung weitere substantielle Leistungen fordern und daß die in Moskau bereits geleisteten Zugeständnisse konsumiert sind. Es ist schon wahr: die andere Seite arbeitet nach der Devise „Was ich habe, ist tabu; was du hast, steht zur Disposition".
Ich komme zum Schluß. Die Bundesregierung glaubte, daß die Anerkennung eines Staatscharakters der DDR die Basis für friedliche Koexistenz, für politischen und wirtschaftlichen Wettbewerb geschaffen habe. In Wirklichkeit hat diese Politik — z. B. in den 20 Kasseler Punkten und in den Moskauer Absichtserklärungen niedergelegt — dazu nicht geführt; die friedliche Koexistenz ist weit entfernt. Im übrigen — damit nehme ich noch etwas auf, was gestern von Ihnen, Herr Apel, in einer Kontroverse mit dem Kollegen Barzel diskutiert worden ist — kann die zielgerichtete, hinterhältige und folgenschwere Agitation der DDR gegen uns in Guinea nur als ein sichtbar gewordenes Element der aggressiven Politik desjenigen deutschen Teiles verstanden werden, mit dem man hier „koexistieren" will und wo man vorgibt, dies sei möglich.
Der Herr Bundeskanzler hat gestern in seiner Antwort auf die Ausführungen unseres Fraktionsvorsitzenden, die, wie ich glaube, polemische und ungerechtfertigte Behauptung aufgestellt, unsere Politik führe zurück in die 50er Jahre.
Herr Bundeskanzler, ich glaube, dies gehört mit in die Diskreditierungskampagne, in der man die Dinge in der Öffentlichkeit so darzustellen versucht, als ob wir eine reaktionäre Politik betrieben. Wahr ist aber, daß die Politik dieser Regierung unter dem Anspruch und dem Anschein des Progressiven in der Tat in Verhärtungen vielfältiger Art zurückgeführt hat.
Gegenüber der Behauptung, man werde dann keine Verbündeten finden, muß ich darauf hinweisen, daß wir da ohne Sorge sind. Es war die Partei Konrad Adenauers, die das, was man heute Verbündete nennt, zu Verbündeten dieses Landes gegen den Widerstand anderer gemacht hat, und es war die Partei Konrad Adenauers, ja, er war es, selbst, der den Deutschland-Vertrag herbeigeführt hat. Wenn gesagt wird, wir fänden dann keine Verbündeten mehr, so müssen wir antworten, daß wir sehen„ wie die Regierung heute dabei ist, Sinn und Geist des Deutschland-Vertrages, der einen wesentlichen Faktor unserer Sicherheit darstellt, permanent auszuhöhlen. Dies ist die Wirklichkeit, und dies ist das, was wir zurück und nicht vorwärts nennen.
Meine Damen und Herren! Wenn ich nicht selbst geglaubt hätte, daß die Bundesregierung mit dieser Politik wirklich scheitere, dann hätte mich, Herr Kollege Wehner, Ihre Erklärung vom 5. Januar eines schlechteren belehrt. Sie haben, Herr Wehner, von einem Desaster gesprochen, das sich anbahne, wenn die Verträge nicht ratifiziert würden. In Wirklichkeit hat diese Politik bereits zum Desaster geführt.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Apel? — Herr Abgeordneter Apel, bitte!
Herr Kollege Dr. Marx, wollen Sie, wenn Sie zitieren, auch genau zitieren! Darf ich Sie darauf hinweisen, daß Kollege Wehner gesagt hat — und das stimmt überein mit der Meinung meiner Fraktion —, daß es ein Desaster wäre, wenn die Ratifizierung der Verträge an der deutschen Seite scheitern würde, das hieße, wenn wir fortwährend, wie Sie es tun, diese Ratifizierung mit weiteren Vorbedingungen befrachten würden?
Herr Apel, ich wiederhole noch einmal und bedanke mich für das Ungeschick Ihrer Frage:
es ist nicht eine von uns neu aufgebrachte Vorbedingung.
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5136 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 94. Sitzung. Bonn, Freitag, den 29. Januar 1971
Dr. Marx
Wir befinden uns in dieser vitalen Frage eindeutig auf jenen Positionen, die Sie selbst doch ausgegeben haben. Wie können Sie, wenn Sie Ihre eigenen Positionen minimalisieren, uns, die wir darauf stehenbleiben, vorwerfen, wir würden neue Hürden aufbauen? Ich habe das nicht verstanden.
Herr Kollege, gestatten Sie eine weitere Frage?
Wir wollen auch mit der Zeit ein wenig sorgsam umgehen. Wir haben noch eine ganze Reihe von Einlassungen. Denn obwohl die Große Anfrage und die Antwort eine Menge von Floskeln enthält, gibt es politisch eine Fülle von. weiteren Dingen zu sagen, die Kollegen von meiner Fraktion hier vortragen möchten. Deshalb, bitte, eine letzte Frage!
Herr Kollege Marx, sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, daß natürlich in den Kontext unserer Ostpolitik ein Vertrag mit der DDR zur Regelung des innerdeutschen Verhältnisses mit hineingehört, daß wir es aber ablehnen, das als Vorbedingung in die Ratifizierung des deutsch-sowjetischen Vertrages einzubeziehen?
Haben Sie nicht, Herr Apel, selbst gesagt, daß dies alles ein gemeinsames Ganzes ist? Haben Sie nicht ini Juni letzten Jahres Kabinettsentscheidungen darüber gefällt und haben Sie nicht in diesem Hause und in der Öffentlichkeit immer gesagt, daß das Ziel Ihrer Politik — ich wiederhole es, und das ist ja auch für uns das Entscheidende — nicht Verträge sind, sondern die Verbesserung des Lebens der Menschen im geteilten Deutschland ist. Darauf kommt es an.
Herr Apel, noch einmal: Wenn Sie sehen, daß Sie das nicht durchsetzen können, müssen wir miteinander überlegen, was man anders machen kann. Aber ich weigere mich, Ihnen zu erlauben, daß Sie den Versuch machen, uns die Schuld in die Schuhe zu schieben, wo Sie selbst — ich wiederhole — mit dieser Politik in die Sackgasse geraten.
Meine Damen und Herren, eine letzte Bemerkung. Wir fragen die Bundesregierung, ob sie denn nicht sieht — ich sage das jetzt einmal mit allem Bedacht und auf Grund der dauernden Lektüre dessen, was in Osteuropa geschrieben wird —, daß diese Ihre Politik, wie wir es verstehen, der hektischen Annäherung auch drüben, auf der anderen Seite zu Problemen geführt hat. Und ich frage, ob sie sich denn auch ganz sicher ist, daß nicht die Sowjetunion eines Tages das Steuer herumwirft. Was dann?
Meine Damen und Herren! Wandel durch Annäherung stand als einprägsame Losung am Anfang dieser Politik. Sie stammt von demjenigen, den ich
als einen der Architekten dieser Politik ansehe, von Staatssekretär Bahr. Wo wir, die CDU/CSU, für Geduld, für Augenmaß, für Klarheit und für Zähigkeit eingetreten sind und dies zur Grundlage unseres politischen Handelns gemacht haben, bildet sich nun offenbar heraus: Wandel bei uns, Verhärtung bei den anderen. Dies, meine Damen und Herren, ist in der Tat ein Desaster, dies ist auch das Urteil über die Politik, die sich in der Großen Anfrage für unseren Begriff nur mangelhaft, aber in den entscheidenden Dingen doch unverhüllt präsentiert hat.
Das Wort hat Herr Abgeordneter Dr. Achenbach.
Frau Präsidentin, meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Fraktion der Freien Demokraten — lassen Sie mich dies zu Beginn meiner Darlegungen ganz klar sagen — billigt uneingeschränkt die Außenpolitik, die die Regierung Brandt/Scheel seit ihrer Bildung betrieben hat.
Es war nach Westen wie nach Osten wie auch gegenüber der Dritten Welt eine Politik redlicher und zäher Bemühungen zur Sicherung und Festigung des Friedens.
Welch vornehmeres Ziel könnte es für einen Deutschen, der sein Land und sein Volk liebt, aber auch in einer durch die moderne Technik klein gewordenen Welt um seine Verantwortung für das Schicksal der anderen Völker weiß, geben, als unserem Volk, unseren Nachbarn, ja der ganzen Welt den Frieden zu erhalten, soweit dies von unserer Politik abhängt! Dieses Volk und ebenso seine europäischen Nachbarvölker in West und Ost, die in diesem Jahrhundert durch zwei große Weltkriege haben hindurchgehen müssen, haben es wahrlich verdient, Herr Kollege Stücklen, daß ihre aus dem Leid der Kriege geborene Sehnsucht nach dauerhaftem Frieden von allen politisch Verantwortlichen als sie bindende Verpflichtung respektiert wird, alles in ihren Kräften Stehende zu tun, eben um diesen dauerhaften Frieden herbeizuführen.Aus der Rede des Bundeskanzlers und den Antworten, die der Bundesaußenminister im Namen der Bundesregierung auf die Große Anfrage der Fraktionen der SPD und FDP betreffend die Außenpolitik der Bundesregierung gegeben hat, habe ich im Gegensatz zu Ihnen, Herr Kollege Marx, die feste Überzeugung gewonnen, daß sich in unserer Regierung redliche Menschen redlich darum bemühen, neuem Unheil vorzubeugen. Ich freue mich, daß diese Redlichkeit der Gesinnung und der Bemühungen in West und Ost anerkannt wird, was ich selbst in vielen Gesprächen an Ort und Stelle in West und Ost feststellen konnte.Mit der Regierung bedauere ich allerdings zutiefst — und dies als ein Mann, der seit Jahren gerade auch für innerdeutsche Gespräche eingetreten ist —, daß die Friedenspolitik der Regierung Brandt/Scheel in der DDR noch nicht den Widerhall
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Dr. Achenbachgefunden hat, den sie verdient. Ich hoffe mit der Regierung, daß die DDR in absehbarer Zeit die mit dem gleichen Gewicht wie auf der Bundesrepublik auch auf ihr lastende Verantwortung für den Frieden unseres Volkes und den Frieden in Europa ebenso stark empfindet wie wir und ihr Verhalten danach einrichtet.In dem Moskauer Vertrag, Art. 1 Abs. 2, bekunden die Sowjetunion und die Bundesrepublik „ihr Bestreben, die Normalisierung der Lage in Europa und die Entwicklung friedlicher Beziehungen zwischen allen europäischen Staaten zu fördern, und gehen dabei von der in diesem Raum bestehenden wirklichen Lage aus". Dieses sollte auch die DDR tun, hat sie doch den Moskauer Vertrag zwischen der Sowjetunion und der Bundesrepublik offiziell begrüßt, und ist sie doch auch sicherlich von der Sowjetunion über den Gang der Verhandlungen genauestens unterrichtet worden, auch darüber, daß der sowjetische Außenminister der deutschen Verhandlungsdelegation in Moskau bei der Eröffnungssitzung im Spiridonowka-Palais erklärte, die Sowjetunion wünsche eine Wende in ihren Beziehungen zur Bundesrepublik, eine Wende zur vertrauensvollen Zusammenarbeit. Dabei betonte der sowjetische Außenminister, die Sowjetunion wolle die Bundesrepublik nicht deren Freunden und Verbündeten abspenstig machen, ebenso wie sie davon ausgehe, daß die Bundesrepublik die Sowjetunion nicht deren alten Freunden abspenstig machen wolle. Die DDR weiß auch, daß gemäß Ziffer 5 des sogenannten Bahr-Papiers zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und der Regierung der ) Sowjetunion Einvernehmen darüber besteht, daß der Moskauer Vertrag und entsprechende beabsichtigte Verträge der Bundesrepublik mit anderen sozalistischen Ländern, insbesondere die mit der Deutschen Demokratischen Republik, der Volksrepublik Polen und der Tschechoslowakei zu schließenden Verträge, ein einheitliches Ganzes bilden in dem Sinne, daß überall für den angestrebten Modus vivendi von der bestehenden wirklichen Lage auszugehen ist und diese nicht durch Gewalt oder Drohung mit Gewalt, sondern nur in friedlichem Einvernehmen geändert werden kann.Daß das Wirksamwerden der von der Bundesrepublik abzuschließenden Verträge, die, wie gesagt, ein einheitliches Ganzes bilden, an die politische Voraussetzung eines befriedigenden Ergebnisses der Viermächteverhandlungen über die Lage in und um Berlin geknüpft ist, brauche ich nicht erneut zu unterstreichen. Diesen politischen Zusammenhang versteht man, wie ich meine, auch in Moskau. Darüber gibt es auch in diesem Hohen Hause keine Meinungsverschiedenheit. Lassen Sie mich auch meinerseits unterstreichen, daß Störungen auf den Zugangswegen nach Berlin Störungen der Viermächteverhandlungen sind und mit dem Geist des Moskauer Vertrages nicht vereinbar sind.Ich weigere mich jedoch, Herr Kollege Barzel, Ihre Unterstellung und auch die Unterstellung einiger Kollegen zu akzeptieren, Herr Ulbricht handle nach sowjetischen Regieanweisungen, d. h. praktisch die Unterstellung, die Sowjetunion rate Herrn Ulbricht zu einer intransigenten Haltung. Dies wäre unzweifelhaft, Herr Kollege Marx, nach dem Geist des Vertrages von Moskau ein Verstoß gegen Treu und Glauben.
- Darf ich das eben zu Ende führen, Herr Barzel?Abg, Dr. Barzel: Es ist sehr wichtig, HerrAchenbach!)- Bitte!
Glauben Sie, Herr Kollege Achenbach, daß die heute fortdauernden Schikanen in und um Berlin Ulbrichts Erfindung sind oder daß die Sowjetunion dahintersteht?
Herr Kollege Barzel, das wissen weder Sie noch ich präzise.
Hören Sie daher genau zu, was ich hierzu zu sagen habe.
Ich glaube, ich mache hier verantwortliche Äußerungen. Ich sagte, daß, falls die Sowjetunion Herrn Ulbricht zu dieser intransigenten Haltung ermutigt, dies unzweifelhaft nach dem Geist des Vertrages von Moskau und auch nach den Verhandlungen in Moskau ein Verstoß gegen Treu und Glauben wäre.Treu und Glauben verlangt — das habe ich jedenfalls und hat auch mein Freund Walter Scheel allenGesprächspartnern in Moskau, die wir dort hatten, erklärt —, daß die Sowjetunion den Einfluß, den sie bei ihren Freunden in der DDR hat, in Zukunft dahin ausübt, daß diese wie die Sowjetunion selbst in ihrem Verhältnis zur BRD im Geiste friedlicher Koexistenz den innerdeutschen Dialog ohne ideologische Scheuklappen mit dem Ziel führt, einen vernünftigen Modus vivendi zu finden.Hierbei gestehe ich ganz offen, daß ich wie mein Freund Mischnick kein Verständnis dafür habe, daß die DDR es beanstandet, wenn der Vorsitzende der FDP-Fraktion im Berliner Abgeordnetenhaus seine Kollegen aus den FDP-Fraktionen der Länder der Bundesrepublik Deutschland zu einer Besprechung nach Berlin einlädt oder wenn der Bundeskanzler oder der Bundespräsident Berlin besucht. Ich vermag beim besten Willen nicht einzusehen — Herr Kollege Wehner, ich nehme an, Sie stimmen mit mir überein —, wieso die Interessen der DDR dadurch beeinträchtigt werden, ebensowenig wie ich im übrigen verstehe, daß dadurch berechtigte sowjetrussische Interessen verletzt werden. Unter vernünftigen Leuten, die ein Gespür für wirkliche Probleme haben, sollten solche gekünstelten Streitereien keine Rolle spielen. Dafür ist die internationale Lage — ich nenne nur den Nahen Osten und Ostasien — zu ernst, und dafür ist das Elend in weiten Teilen der Dritten Welt, der wir, die Industriestaaten von Amerika über Westeuropa, die Sowjetunion bis hin nach Japan, gemeinsam helfen sollten, zu groß.
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5138 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 94. Sitzung. Bonn, Freitag, den 29. Januar 1971
Dr. AchenbachMeine Damen und Herren, ich habe schon in Moskau den Moskauer Vertrag als einen Akt der Hoffnung bezeichnet. Wir verbinden mit ihm zunächst die Hoffnung auf einen vernünftigen Modus vivendi, aber darüber hinaus — das lassen Sie mich hier sehr deutlich sagen — auf einen Modus vivendi, der in absehbarer Zeit zu einer dauerhaften Friedensordnung führen muß. Denn 25 Jahre nach Beendigung der Feindseligkeiten ist es bei Gott nicht zu früh. Wenn der Kollege von Weizsäcker gemeint hat, es handle sich hierbei nicht um einen Modus vivendi, sondern bereits um einen Friedensvertrag, so ist das nicht richtig. Ein Friedensvertrag kann sich nicht mit Situationen abfinden, wie sie jetzt in Berlin sind. In einem Friedensvertrag, der den Frieden dauernd sichern soll, muß das deutsche Volk die gleichen Rechte haben wie alle anderen Völker Europas. Da kann es keine originären Rechte mehr geben, und da wird man uns auch zubilligen müssen, daß Berlin die Hauptstadt unseres Landes ist.Nun hat man der Regierung vorgeworfen, daß sie das Selbstbestimmungsrecht des deutschen Volkes aufgebe. Ich möchte in diesem Zusammenhang nur noch einmal den Brief verlesen, den unser Außenminister in Moskau übergeben hat, den Brief an Herrn Gromyko:Im Zusammenhang mit der heutigen Unterzeichnung des Vertrages zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken beehrt sich die Regierung der Bundesrepublik Deutschland festzustellen, daß dieser Vertrag nicht im Widerspruch zu dem politischen Ziel der Bundesrepublik Deutschland steht, auf einen Zustand des Friedens in Europa hinzuwirken, in dem das deutsche Volk in freier Selbstbestimmung seine Einheit wiedererlangt.Ich glaube, eine klarere und präzisere Definition unserer deutschen Politik, die, wie ich hoffe, von allen hier im Hause getragen wird, kann es doch wohl kaum geben.
Und dabei werden wir auch bleiben. Wir verlangen für unser Volk nicht mehr, als wir allen anderen Völkern zuzugestehen bereit sind.Nun lassen Sie mich auch einige Worte zur Europapolitik sagen. Es ist sehr leicht, zu sagen, es sei alles dünner geworden, oder, die Regierung tue nicht genug. Die CDU-Kollegen, die mit uns im Europäischen Parlament tätig sind, sind doch wirklich mit den ständigen Bemühungen unserer Regierung vertraut, mit den unerhört zähen Bemühungen, die gerade unser Außenminister in den letzten sechs Monaten an den Tag gelegt hat, als er den Vorsitz im Ministerrat führte. Ich möchte dieser Bundesregierung wirklich nach bestem Wissen und Gewissen bescheinigen, daß sie gerade in der europäischen Einigungspolitik von sich aus das Menschenmögliche getan hat.
Meine Damen und Herren, verfallen wir doch nicht in den jahrelangen Fehler, immer wieder Diskussionen über die Begriffe Integration und Kooperation zu führen. Wir sind uns doch in diesem Hohen Hause einig, wir alle, die Regierungskoalition und die Opposition. Wir wollen als Ziel den europäischen Bundesstaat, und dabei bleibt es.
Aber wir sind vernünftige Menschen. Wir haben es mit selbständigen Partnern zu tun, und wir müssen daher pragmatisch und vernünftig alles begrüßen — ob es nun zunächst im Wege der Kooperation oder dem der Integration geschieht —, was die Erreichung dieses Zieles nicht gefährdet, sondern auf dieses Ziel hinführt. Meine Damen und Herren, wenn man sich über das einigen kann, was in den nächsten drei Jahren geschehen kann, aber noch nicht endgültig über das, was dann in vier Jahren geschehen soll, nun, dann macht man erst einmal das, was in den nächsten drei Jahren nach gemeinsamer Meinung vernünftig ist
und entscheidet dann auf dieser neuen Basis, was weiter zu geschehen hat. So verhalten sich politisch verantwortliche Menschen, die wissen, wie es in der Welt zugeht.
Meine Damen und Herren, ich habe nicht die Neigung, im einzelnen auf alle Dinge hier einzugehen. Ich möchte vielmehr zum Schluß meiner Ausführungen noch etwas Allgemeines sagen.Meine verehrten Kollegen von der CDU, daß die Opposition diese Regierung nicht mag, hat sie nun hinlänglich klargemacht. Das wissen wir. Die CDU, diese starke Partei unseres Hohen Hauses, darf jedoch nicht vergessen, daß wir gerade auf dem Gebiet der Außenpolitik alle in einem Boot sitzen. Wir Freien Demokraten haben immer, wenn es irgend möglich war, einer gemeinsamen Außenpolitik das Wort geredet.In der Tat,— so habe ich schon 1958 hier erklärt -eine Außenpolitik, die in kritischen Zeiten der Nation von allen Seiten dieses Hauses aus ehrlicher Überzeugung mitgetragen wird, hat international ein stärkeres Gewicht, als wenn sich in wesentlichen Lebensfragen der Nation ganz verschiedene Auffassungen der Regierung und der Opposition gegenüberstehen. Es ist deshalb, wie ich meine, unser aller Pflicht— auch die Pflicht der Opposition; und damals sprach ich als Vertreter der Opposition —unserem Volke gegenüber, immer wieder unter Zurückstellung jeglicher Ressentiments und auch unter Zurückstellung parteipolitischer und wahltaktischer Gesichtspunkte zu prüfen, ob nicht eine gemeinsame Grundlage für eine gemeinsame richtige Außenpolitik gefunden werden kann.Ich richte diesen Appell an alle Mitglieder dieses Hohen Hauses. Denn, meine Damen und Herren, wir müssen in den außenpolitischen Debatten her-
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Dr. Achenbachunter von dem hohen Pferd der Polemik. Die Polemik nützt gar nichts.Ich meine, es gibt auch heute noch fundamentale Gemeinsamkeiten zwischen der Regierung und der Opposition. Wer wollte bestreiten, daß wir alle ehrlich den Frieden wollen? Wir alle stehen treu zu unseren Bündnissen mit den Vereinigten Staaten, Frankreich, England und den anderen westeuropäischen Staaten. Wir alle sind entschlossen, unseren freiheitlichen Rechtsstaat zu verteidigen und für die Verteidigung das aufzuwenden, was notwendig ist. Wir lassen uns da nicht beeinträchtigen von gewissen Vorstellungen, daß eine Konsumgesellschaft dazu nicht in der Lage sei. Nein, wir sind alle entschlossen, diesen freiheitlichen Rechtsstaat zu verteidigen. Wir alle sind sicherlich — ich glaube nicht, daß Sie mir widersprechen werden — für ausgewogene Abrüstungsmaßnahmen, wenn das irgend zu machen ist. Wir alle sind auch bereit, mitzuhelfen, daß auch in den am wenigsten begünstigten Entwicklungsländern die Menschen ein menschenwürdiges Dasein führen können. Wir alle ersehnen mit ganzem Herzen eine dauerhafte und gerechte Friedensordnung in ganz Europa, im Westen wie aber auch im Osten. Sie werden mir nicht widersprechen, Herr Barzel, daß wir gemeinsam eine gerechte und dauerhafte Friedensordnung ersehnen.Ich habe seinerzeit im Jahre 1958, als wir uns auch hier über Schicksalsfragen der Nation unterhielten, einen Appell an den damaligen Bundeskanzler gerichtet und habe ihm zugerufen:Suchen Sie mit allen Kräften Ihres Herzens und Ihrer Intelligenz nach vernünftigen und friedlichen Lösungen! Greifen Sie jeden möglichen Versuch auf! Verhandeln Sie mit Geduld und unermüdlicher Zähigkeit! Sorgen Sie dafür, Herr Bundeskanzler, daß die ganze Welt erkennt und anerkennt: Die Deutschen haben sich redlich bemüht, neuem Unheil vorzubeugen!Meine Damen und Herren, ich richte den gleichen Appell heute an Bundeskanzler Brandt und an meinen Freund Walter Scheel. Sie haben beide schon viel für dieses Ziel, insbesondere im letzten Jahr, getan. Fahren Sie, Herr Bundeskanzler und Herr Bundesaußenminister, in Ihren Bemühungen beharrlich fort und lassen Sie sich durch Polemik nicht beirren! Das Ziel, das wir gemeinsam haben, lohnt den ganzen Einsatz.
Das Wort hat der Abgeordnete Mattick.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich fand es gut, daß gestern hier an diesem Pult Herr Becher gestanden hat, weil ich glaube, daß es gut ist, wenn über das Haus hinaus auch draußen einmal deutlich wird, in welch schwierigem Spannungsfeld sich die CDU und wer sich in ihren Reihen befindet. Ich habe nicht die Absicht, mich mit Herrn Becher auseinanderzusetzen; das muß die CDU selber tun. Aber durch einen solchen Auftritt wird klarer, daß wir hier zumTeil ein Schattenboxen veranstalten, weil die CDU aus dem Rahmen, den sie sich selber gesteckt hat, gar nicht herauskommt.Einige 'Redner der CDU haben gestern den Versuch gemacht, mit alten Zitaten nachzuweisen, daß sich die sozialdemokratische Position wesentlich geändert habe.
— Meine verehrten Damen und Herren, lesen Sie doch einmal Ihre eigenen Reden aus der Vergangenheit nach! Untersuchen Sie doch einmal, ob es einen maßgeblichen Politiker in diesem Hause gibt, der nicht, so lange noch andere Voraussetzungen gegeben waren, etwas gesagt hat, was heute nicht mehr gilt! Das fing doch wohl mit Dr. Adenauer an, als er sich 1949 darauf festlegte, daß in Deutschland nie wieder eine Aufrüstung stattfinden würde. 1950 hatte er diesen Standpunkt bereits wieder aufgegeben.Ich will damit nur sagen: Wir lassen uns durch solche Erinnerungen an Zitate aus einer Zeit, als sich Europa noch in einer anderen politischen Position befand, nicht von der heutigen Wirklichkeit ablenken.
Sie können uns damit nicht erschüttern. Wir können Ihnen genauso viele Zitate von Ihnen vorlegen, die heute nicht mehr zutreffend sind. Das ist nun einmal so in der Politik: Man stellt sich auf eine eigene Position ein, und in dieser Position versucht man durch das, was man sagt, auf die Politik einzuwirken. Jeder vernünftige Mensch, der in der Politik steht, muß die Position immer wieder überprüfen, und wenn sich diese Position nicht auf Grund der eigenen Verhaltensweise, sondern durch die Entwicklung in der Welt ändert, wird man prüfen müssen, ob die ursprünglichen Verhältnisse noch bestehen. Daher habe ich mich darüber gefreut, daß Herr von Guttenberg gestern abend in der Diskussion, die ich beobachtet habe, erklärt hat, auch die CDU sei variabel geworden, und auch die CDU habe ihren Standpunkt wesentlich geändert. Also lassen wir doch diesen Unsinn, als ob irgend jemand auf Aussagen festgenagelt werden könnte, die er in einer Phase gemacht hat, in der die politische Auseinandersetzung noch unter anderen Vorzeichen stand als heute.Nach 25 Jahren Politik, die zum Teil wir, zum Teil die Alliierten zu verantworten haben, haben sich die Ausgangspositionen geändert, ist das, was 1945 entstanden war, im Grunde genommen nicht mehr diskutabel oder nicht mehr dazu angetan, eigene Rechtsansprüche auf etwas aufzubauen, was durch die Entwicklung völlig überholt ist. Die Berufung auf die Kapitulationsbedingungen ist nicht mehr möglich. Die Potsdamer Vereinbarungen sind restlos ausgehöhlt.
Der Standpunkt der Westmächte, den sie schon inPotsdam eingenommen haben und den wir immer
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Mattickwieder zur Grundlage unseres Rechtsanspruchs machen, ist inzwischen so klargeworden, daß es überhaupt nicht mehr sinnvoll ist, sondern höchstens eine Belastung unseres Verhältnisses zu den Westmächten bei der künftigen Zusammenarbeit darstellt, wenn man sich auf die Vergangenheit beruft.Es ist unmöglich, verehrte Kolleginnen und Kollegen, heute noch davon auszugehen, daß die vier Siegermächte — oder auch nur die Sowjetunion -mir auf den Knopf zu drücken brauchten, um einen Zustand wiederherzustellen, den wir uns früher einmal vorgestellt haben, und daß es sich bei der Bildung der DDR um eine Übergangserscheinung handele, so daß die Sowjetunion eines Tages auf den Knopf drücken könnte, um die Wiedervereinigung und freie Wahlen in ganz Deutschland herbeizuzaubern. Der Zug ist doch endgültig abgefahren! Darüber müssen wir uns doch wohl alle im klaren sein, und wir müssen daher wissen, daß wir unsere Politik auf andere Positionen aufzubauen haben. Und auch dieser Zug ist doch endgültig abgefahren: die Vorstellung aus der Ära Adenauer/Dulles - um sich das in Erinnerung zu rufen, weil man sich ja so gern erinnert —, die Möglichkeit einer machtpolitischen Verschiebung in Europa sei noch gegeben.Ich komme zu dieser Feststellung, meine Damen und Herren: Aus dem sogenannten kurzen Weg von Adenauer und Dulles ist ein unendlicher geworden. Nur der lange Weg bietet für uns noch eine Chance, das Ziel zu erreichen. Davon müssen wir ausgehen, wenn wir heute unsere Politik bestimmen.Allerdings, verehrte Anwesende, ist folgendes zu sagen. Wer den Parteitag der CDU beobachtet und wer gestern das Gespräch im Fernsehen verfolgt hat, geht und das tue ich — von dieser Voraussetzung aus: hier wurde gestern und heute nicht darum gekämpft, ob man und wie man die deutsche Außenpolitik der Bundesregierung unterstützen kann, sondern es ist ganz deutlich geworden, sowohl auf dem CDU-Parteitag als auch gestern durch eine Berner-kung von Herrn Dr. Schröder, daß die CDU allein darauf eingestellt ist, dieser Regierung bei jeder möglichen Politik Knüppel zwischen die Beine zu werfen, diese Regierung, wie es ja Herr Kiesinger täglich hinausposaunt, so schnell wie möglich zum Ende zu führen. Und dann ist es natürlich logisch — —
— Schön, daß Sie Beifall klatschen! Darin kommt Ihre ganze Schizophrenie zum Ausdruck.
Sie tun so, als kämpften Sie hier noch darum, an den Verträgen oder an der Politik, die zu ihnen geführt hat, etwas zu verbessern. Aber das liegt ja gar nicht in Ihrem Interesse! In Ihrem Interesse liegt das Scheitern dieser Politik!
Das ist auf Ihrem Parteitag deutlich geworden, das ist gestern abend deutlich geworden, und das ist hier in dieser Debatte deutlich geworden.
Machen wir uns doch hier nichts mehr vor! Und Ihr Pfui hilft uns da doch gar nichts.
— Ja, ja, ich weiß, Sie machen hier schöne Worte. Und im Grunde genommen ist die Bemerkung des Herrn Dr. Marx von vorhin: „Wir, die Mehrheitspartei ..." — was ja Quatsch ist; das muß wohl jeder zugeben — —
— „Wir, die Mehrheitspartei ...". Das haben Sie gesagt!
— „Die Mehrheitspartei, die wir ja eigentlich sind ...". So haben Sie gesagt, Herr Marx. Ich muß sagen, Sie sind mir ein schöner Demokrat. Was Sie manchmal für Vorstellungen von der parlamentarischen Demokratie haben, wenn es für Sie nicht mehr in den Kram paßt, wie sie läuft! Das ist phantastisch.
Die Mehrheit dieses Hauses ist bestimmt durch den Wähler, und der Wähler ist sogar noch durch die Übertritte von Mende und anderen Herren betrogen worden.
Die Mehrheit dieses Hauses ist bestimmt durch den Wähler und wird durch ihn alle vier Jahre wieder bestimmt. Und in diesen vier Jahren — so sollte es in der parlamentarischen Demokratie sein — bestimmt diese Mehrheit die Politik. Daß Ihnen das nicht paßt, leuchtet mir ein, denn Sie sind ja einmal davon ausgegangen, daß Sie die Partei des Staates sind und daß die andere Partei die Opposition bleiben muß. Aber ich glaube, Sie müssen sich damit abfinden, daß das nicht mehr so ist.
Nun hat es mich gewundert, daß Herr Dr. Barzel von den Gesprächen, die er in Warschau mit den Polen geführt hat, nicht wenigstens diesen einen Gedanken als den entscheidenden mitgebracht hat:
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Mattickdie deutsche Außenpolitik, die in ihrer Vergangenheit auf Positionen gesetzt hat, die heute nicht mehr möglich sind, und die durch die deutsche Bundesregierung nunmehr auf neue Wege geführt wird, ist — das hätten Sie in Warschau eigentlich erfahren müssen, Herr Dr. Barzel — überhaupt nur möglich, wenn wir als ihre Voraussetzung die Verträge abschließen, um die es sich in dieser Runde jetzt handelt. Ich möchte das hier sagen, meine Damen und Herren, weil es nach draußen immer wieder so dargestellt wird, als wenn die Verträge der Selbstzweck dieser Politik seien. Nein, wir sollten es sehr offen und klar sagen: die Politik, die wir entwickeln möchten, an der wir arbeiten, setzt diese Verträge voraus, weil ohne diese Verträge das Tor für die Kooperation mit den östlichen Ländern, die dazu bereit sind, nicht aufgestoßen werden kann. Dieser Weg wird lang sein, aber er wird in dieser Phase begonnen werden, wie es gerade der PolenVertrag deutlich gemacht hat.Herr Barzel wird dann auch in Warschau erfahren haben, was ich vor ihm erfahren konnte, daß die Polen z. B. von folgendem Standpunkt ausgehen: Wir betrachten den Vertrag zwischen uns als bestehend, weil wir wissen, daß die Ratifikation nicht von den beiden Partnern, sondern von Dritten abhängt. Daher werden wir das, was wir versprochen haben, Herr Barzel — das ist Ihnen doch sicher auch gesagt worden; Sie haben ja angeblich sogar Neues mitgebracht —, was wir bei den Vertragsverhandlungen neben dem Vertrag zugesagt haben, jetzt in die Wege leiten. Wir hoffen, daß wir gemeinsam alles andere, was mit dem Vertrag zusammenhängt, auch dann in die Wege leiten, wenn die Ratifizierung durch Dritte noch aufgehalten wird. — Ich finde, daß ist ein Standpunkt, der hier dargelegt werden sollte und der auch von Ihnen hier hätte dargelegt werden können, nachdem Sie in Warschau waren und sich dort viel vernünftiger geäußert haben, als das hier wieder zum Ausdruck gekommen ist, wo Sie in der Auseinandersetzung mit der Bundesregierung standen.Meine Damen und Herren, was wir mit dieser Politik wollen ich komme da gleich auf den Kern, der hier eine Rolle gespielt hat —, ist folgendes: Wir sind erstens zu der Erkenntnis gekommen, daß eine Möglichkeit, die Positionen der Bundesrepublik und des Westens dem Osten gegenüber durch westlichen Druck oder durch Abwarten zu verändern, nicht besteht,
daß die Verhärtung dadurch stärker wird und wir keinen Schritt weiterkommen. Wir gehen davon aus, daß mit der Vertragspolitik, die wir eingeleitet haben, die Voraussetzung gegeben ist — und da sage ficht jetzt: auf langem Wege und mit langem Atem —, schrittweise Kooperationen mit Teilen und vielleicht später mit dem ganzen Ostblock zustande zu bringen, die dazu beitragen, eine Entspannung herbeizuführen, Interessenverlagerungen mit sich zu bringen und die Voraussetzungen zu schaffen, eine Friedenspolitik zu führen, an der wir alle gemeinsam beteiligt sein können.Da wird jetzt gleich der Zwischenruf kommen: Aber die DDR. Lassen Sie mich darum in diesem Zusammenhang ein paar Bemerkungen dazu machen. Meine Damen und Herren, ich sehe es so: der Schwarze Peter der europäischen Friedenssicherung sowie der Friedenskonferenz sowie überhaupt der Beziehungen zwischen den Ländern des Ostblocks und Westeuropa liegt nun in Pankow. Da unterscheide ich mich in der Einschätzung von dem, was hier Herr Dr. Marx gesagt hat. Die Lage im Ostblock ist auch nicht so, daß die Sowjetunion auf Grund ihrer Machtposition nur auf den Knopf zu drücken braucht.
Und was den Zwischenruf angeht, den ich hier vorhin aus der CDU-Reihe gehört habe, daß die Sowjetunion dies und das nicht zulasse: so eingeschnürt ist die Führung der DDR auch nicht. Ich glaube, da sind sich diejenigen unter uns, die sich mit diesen Fragen beschäftigen, einig. Folglich ist es auch nicht so einfach, daß die Sowjetunion nach dem 12. August einfach bestimmen konnte, welche Politik die DDR jetzt macht.
Wie ich sehe, sind wir uns da einigermaßen einig. Wenn das so ist, gehe ich von folgendem aus: Ich nehme nicht an, daß sich die Sowjetunion nach dem 12. August 1970 den Ablauf der Entwicklung so gedacht hat.Worum geht es? In seiner Neujahrsbotschaft hat Ulbricht folgendes festgestellt:Der Abschluß der Verträge zwischen der UdSSR und der Bundesrepublik Deutschland sowie zwischen der Volksrepublik Polen und der Bundesrepublik ist ein großer Erfolg der Friedenspolitik und brachte neue Momente in die Lage Europas. Die große Bedeutung dieser Verträge besteht darin, daß in ihnen die Unverletzbarkeit und Unabänderlichkeit der Grenzen in Europa einschließlich der Westgrenze der Volksrepublik Polen und der Grenze zwischen der DDR und der Bundesrepublik von der Regierung der Bundesrepublik Deutschland völkerrechtlich anerkannt werden. Außerdem hat die Regierung der Bundesrepublik Deutschland verpflichtend erklärt, die Beziehung zur DDR auf der Grundlage der vollen Gleichberechtigung und Nichtdiskriminierung zu gestalten sowie den Beitritt der Bundesrepublik Deutschland und der DDR zur Organisation der Vereinten Nationen und deren Spezialorganisationen zu fördern.Ulbricht sagt dann weiter:Was das West-Berlin-Problem betrifft, das im Interesses des Friedens in Europa geregelt werden sollte, so habe ich unseren Standpunkt hierzu in meiner Neujahrsbotschaft bereits ausgeführt. Obwohl es hier um komplizierte Fragen geht, sind wir doch der Ansicht, daß vereinbarte Regelungen möglich sein sollten,
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Mattick— und jetzt kommt der Pferdefuß, über den wir mit ihm, auch hier an dieser Stelle und öffentlich, reden müssen —wenn auch die andere Seite— damit sind wir angesprochen —durch entsprechendes Entgegenkommen ihren ernsthaften Verständigungswillen unter Beweis stellt.Hier irrt Herr Ulbricht. Hier stehen Herr Ulbricht und die SED-Führung vor einer entscheidenden Frage. Der Feststellung, daß die Bundesrepublik mit ihrer Ostpolitik und den Verträgen einen neuen Weg gegangen ist, daß sie damit den Weg für eine neue Entwicklung freigemacht hat — diese Entwicklung kann lange dauern; sie ist nicht zuletzt von unserer Beharrlichkeit abhängig —, muß die DDR-Führung die folgende Frage anschließen: Zu welchen Konzessionen sind wir, die DDR, bereit, um die Verständigung nicht an Berlin scheitern zu lassen, nachdem die Bundesrepublik diese Schritte getan hat?Meine Damen und Herren von der CDU/CSU, Sie haben erklärt, Sie wollten die Bundesregierung in der Berlin-Frage unterstützen. Diese Unterstützung wird im Osten nur ernst genommen werden, wenn daran die Vorstellung geknüpft werden könnte, daß Sie dann, wenn in der Berlin-Frage etwas erreicht wird, den Verträgen zustimmen. Ihre Zusage, uns in der Berlin-Frage zu unterstützen, ist ein Unsinn, wenn Sie vorher festlegen, zu den Verträgen niemals ja zu sagen. Die anderen wissen dann doch, daß sie durch ihre Berlin-Politik, die Sie unterstützen, keine breitere Mehrheit bei der Ratifizerung der Verträge im Bundestag erreichen, weil Sie bei Ihrem Nein zu den Verträgen bleiben.Aber zurück zu West-Berlin. Ich möchte hier etwas sagen, was meiner Ansicht nach einmal für die ganze deutsche Bevölkerung und auch an die Adresse der SED-Führung gesagt werden muß. Daß West-Berlin für die DDR-Führung eine unpäßliche Belastung ist, begreifen wir. Der jetzige Zustand ist aber nicht unser Werk, sondern das Nachkriegswerk der Siegermächte. So wie sich die SED mit dem Berlin-Zustand, wie er gewachsen ist und wie er sich unvermeidbar auf Grund der internationalen Politik entwickelt hat, abfinden muß, so hat sich auch die Bundesregierung mit anderen Gegebenheiten in Europa abfinden müssen. Die DDR steht nun vor der Frage, ob sie bereit ist, gleichermaßen zu handeln, wie die Bundesregierung gehandelt hat, oder ob sie auf dem hohen Roß sitzenbleiben will und sich zu keiner Konzession bereit finden will. Nur wenn sie in Berlin den gleichen Schritt tut, den die Bundesregierung auf großer Ebene getan hat, leistet sie ihren Beitrag zur Friedenspolitik. Sie hilft damit auch den Ländern des Ostblocks, die an der Fridenskonferenz interessiert sind und die im Grunde genommen 15 Jahre stillgehalten und zugelassen haben, daß die DDR auf dem Wege des Interzonenhandels — das bedeutet Anschluß an die EWG — allein von der westlichen Entwicklung profitieren konnte. Wir werden, genauso wie die Sowjetunion, viel Geduld haben müssen. Allerdings sollten wir es der SED nicht gestatten, den Gesamtprozeß zu blockieren. Sofern die SED nicht bereit ist, ihren Beitrag zu leisten, sollten wir unseren Weg weitergehen, wo immer dies möglich ist. Wir sind bereit, gegenüber anderen Ländern des Ostblocks unsere Vermittlungspolitik im Sinne der Vertragspolitik auch ohne Ratifikation der ersten Verträge fortzusetzen.Der Führung der DDR aber müssen wir sagen, daß die Vergangenheit, die sie uns immer vorhält, nicht nur auf der Bundesrepublik lastet. Die Schuld am Hitler-Kriege tragen wir alle gleichermaßen, in Ost- und Westdeutschland.
Die Menschen in ganz Deutschland müssen jedenfalls wissen, daß von seiten der Bundesregierung nun alle Voraussetzungen geschaffen wurden, um die durch die Nachkriegsentwicklung entstandene Lage in ein System einzubetten, das den Frieden sichern und die Voraussetzung zur Überwindung des Spannungszustands schaffen kann. Auch die SED-Führung wird auf die Dauer daran nicht vorbeikommen.Zur Zeit setzt die SED-Führung ihre Partner anscheinend unter Druck. Die Absage aus Ostblockländern für Sportveranstaltungen in Berlin und die Absage der Beteiligung von Ostblockländern an der Grünen Woche in Berlin deuten darauf hin. Dies sage ich, verehrte Kolleginnen und Kollegen, um einen Appell an unsere Partner zu richten, sich ähnlich zu verhalten. Ich meine, es ist nicht gerade notwendig, daß befreundete Mächte, bevor die DDR-Führung ihren Beitrag zur Friedenspolitik leistet, Verträge mit der DDR abschließen, die im Flugverkehr der Lufthansa-Ost den Weg in westliche Länder ebnen. Diese Verträge haben auch noch Zeit, bis wir mit der DDR die Vereinbarung zustande gebracht haben, die für die weitere Entwicklung der Friedenspolitik notwendig ist.
Ich möchte die Gelegenheit benutzen, verehrte Kolleginnen und Kollegen, der ARD Dank zu sagen für eine Sendung, und ich möchte bitten, sie im Interesse der Bevölkerung jenseits der Mauer doch möglichst zu wiederholen. In der Sowjetunion ist vor einiger Zeit ein neues Todeslager aus dem Hitler-Krieg entdeckt worden. Die Sowjetunion war auch in der Lage, die Namen einiger derer zu nennen, die an dem Massaker teilgenommen haben. Die sowjetische Presse berichtete darüber in sachlicher Form, indem sie den Abstand zur damaligen Zeit würdigte und das Massaker mit dem HitlerKrieg in Verbindung brachte. Es blieb dem „Neuen Deutschland" und Herrn von Schnitzler überlassen, diese Gelegenheit wieder zu benutzen, um auf unverschämteste Weise die Bundesrepublik anzugreifen und zu verleumden. Die Namen wurden schlicht übernommen, und es wurde die Behauptung aufgestellt, diese Verbrecher lebten in der Bundesrepublik in Saus und Braus und würden von der Bundesregierung geschützt. Die Nachforschungen der ARD — und dafür danke ich — führten zu dem Beweis, daß keine Behauptung der SED stimmt, daß die Personen, soweit sie überhaupt auffindbar waren und identifiziert werden konnten, gestorben
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Matticksind, verurteilt sind, in Landsberg erschossen wurden oder hinter Gefängnisgittern sitzen. Bisher haben weder das „Neue Deutschland" noch die SED, noch Herr von Schnitzler es für richtig gehalten, eine Korrektur dieser Verleumdung vorzunehmen. Ich bitte die ARD, diese Sendung zu wiederholen, damit jeder, der noch Gelegenheit dazu hat, einmal an diesem Beispiel sehen kann: Alles, was die SED in diesem Zusammenhang über die Bundesrepublik sagt, und überhaupt alle Anklagen der DDR gegen die Bundesrepublik liegen auf der gleichen Ebene; sie sind eine Verleumdung und eine Beschimpfung ohne jeden Tatsachengehalt. Die DDR-Führung wird sich überlegen müssen, wie sie diese Auseinandersetzung auf die Dauer bestehen will, wenn in den anderen Ostblockländern allmählich deutlich wird, daß dort der Bundesrepublik und dieser Bundesregierung gegenüber eine andere Einstellung besteht, als sie früher in diesen Ostblockländern generell vorhanden war, zu einer Zeit, als nur das „Neue Deutschland" und Ulbricht in diesen Ländern die Auffassung und den Eindruck von dem geprägt haben, was die Bundesrepublik ist.Meine Damen und Herren, eine Bemerkung zu der Antwort der Bundesregierung auf unsere Große Anfrage zur deutschen Außenpolitik. Ich bin sehr dankbar für die umfangreiche und ausführliche Darstellung, die die Bundesregierung in dieser Antwort gegeben hat. Die Antwort im ganzen spricht für sich selbst und spricht für diese Politik.Herr Dr. Marx, wenn ich mir Ihre Ausführungen noch einmal vergegenwärtige, habe ich den Ein) druck, daß Sie in der Europapolitik, wie Sie sie hier vertreten, wieder den gleichen Fehler machen, wie Sie ihre Deutschlandpolitik seit 1950 falsch geführt haben. Sie glauben dauernd, in der Zielsetzung auf das Ganze uns unter Druck setzen zu können, ohne zu sehen, daß Sie damit nicht einen Schritt weiterkommen. Ich frage dieses Haus: Wo wäre denn die Europapolitik heute, wenn wir vor einem Jahr Ihrem Rat gefolgt wären und die Politik so gesteuert hätten, wie Sie empfohlen haben!
Wir gehen pragmatisch vor, Schritt für Schritt, ohne illusionäre Endvorstellungen immer an den Anfang der Auseinandersetzungen zu setzen, Endvorstellungen, die manchen Partner mehr in Abwehr drängen, als ihm die Mitarbeit möglich machen.Diese pragmatische Arbeit, die die Bundesregierung geleistet hat, hat immerhin Erfolge gezeitigt, die heute auf dem Tisch liegen. Diese Erfolge kann nur jemand abstreiten, der mit Absicht darauf ausgeht, nicht politisch zu handeln oder Handlungen zu unterstützen, sondern, weil es so sein muß, daß diese Regierung keine Erfolge haben darf, das umzukehren, was an Erfolgen da ist. Die Begegnungen von Herrn Brandt mit dem Präsidenten der Französischen Republik in den letzten Tagen hat noch einmal deutlich gemacht, wie man diese Politik sehen muß und auf welchem richtigen Wege die deutsche Bundesregierung in dieser Politik ist.Meine Damen und Herren, in diesem Zusammenhang muß ich sagen, daß die Ausführungen vonHerrn Dr. Marx im Grunde genommen der Versuch waren, nicht nur uns, sondern auch die Partner Westeuropas in eine Ecke zu drücken, in der sie nicht stehen, und eine Auseinandersetzung auch mit ihnen zu führen, die sich auf Grund der Leistungen, die in den letzten Monaten gemeinsam vollbracht worden sind, einfach nicht gebührt. Die wiederholte Berufung auf einzelne Personen, die im Augenblick nicht in der Verantwortung stehen, hilft uns überhaupt nicht weiter.
Was uns weiterhilft, ist, die Möglichkeiten auszuschöpfen, die sich jeden Tag neu ergeben. Auf diesem Wege, so muß ich sagen, ist die Bundesregierung in diesem Jahr weiter gekommen, als es die meisten von Ihnen und von uns erwarten konnten. Dafür gebührt ihr Dank und dafür gebührt ihr die Unterstützung des ganzen Hauses,
damit auch draußen gesehen wird, daß diese Politik vom Bundestag unterstützt wird, und damit die Bundesregierung diese Politik im Interesse Deutschlands fortsetzen kann.Ich weiß, daß die CDU dauernd auf der Suche ist, wie sie dieser Regierung nachweisen kann, daß sie ihre Politik falsch betreibt. Ich weiß, daß Sie in dieser Phase stecken, in der Sie den Auftrag auch von Ihrem Parteitag haben, an dieser Politik nicht mitzuwirken und die positiven Punkte nicht herauszustellen. Sie haben die Verpflichtung, alles zu tun, um dieser Regierung jeden, auch den besten Schritt schwerzumachen.Ich glaube, Sie müssen von einem ausgehen: diese Koalition steht hinter dieser Europa- und Außenpolitik. Diese Koalition weiß, um was es in den nächsten Jahren geht. Sie weiß auch, mit welchem Gegner sie es in diesem Hause zu tun hat. Daher sage ich Ihnen eines: wir werden diese Politik fortsetzen, ohne uns von Ihren Störungsaktionen beeinflussen zu lassen. Was wir von Ihnen erwarten, Herr Dr. Marx,
ist folgendes: nach einer gewissen Zeit die Einsicht, daß bei allem Streit in diesem Hause um Fragen, die die Innenpolitik unmittelbar betreffen, es in einer demokratischen Ordnung notwendig wäre, sich in den wichtigsten Fragen der Außenpolitik zusammenzufinden.
Dazu gehört, Herr Dr. Marx, daß man davon ausgeht, daß auch eine kleine Mehrheit eine Mehrheit ist und daß die Mehrheit entscheiden muß und sich die Minderheit damit abzufinden hat, daß man miteinander redet und den Versuch macht, zu einer Verständigung zu kommen, ohne daß die große Minderheit den Versuch macht, die kleine Mehrheit zu terrorisieren oder in ihr Korsett zu zwingen.
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MattickEine kleine Mehrheit ist eine Mehrheit, und eine große Minderheit muß sich damit abfinden, daß die Mehrheit für vier Jahre regiert.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Das Wort hat Herr Bundesminister Scheel.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Große Anfrage der Fraktionen der SPD und der FDP ist umfangreich beantwortet worden. In der Debatte haben wir den Bericht zur Lage der Nation und die Beantwortung dieser Großen Anfrage zusammengefaßt. Ich denke, daß es deshalb sinnvoll ist, wenn ich jetzt noch ein paar Bemerkungen über den Zusammenhang zwischen der Lage unserer Nation und der Außenpolitik hinzufüge. Ich tue das mit der Absicht, die Spannweite und das Engagement einer Außenpolitik erkennbar zu machen, in der auch die Opposition, so hoffe ich, viele Elemente des Gemeinsamen finden wird. Hieran liegt mir, und hieran liegt der Bundesregierung. Ich glaube, daß am Schluß der gestrigen Rede des Oppositionsvorsitzenden Dr. Barzel, als er vier wichtige Punkte für die zukünftige Politik nannte, so etwas an möglicher Gemeinsamkeit sichtbar geworden ist. Ich nehme an, daß der Herr Bundeskanzler, der nachher noch sprechen wird, auf diese vier Punkte eingehen wird. Vor allem wird er wohl feststellen wollen, daß sich seine Bemerkung zu den 50er und 60er Jahren sicherlich nicht auf diese vier Punkte bezogen hat.Die Beantwortung der Großen Anfrage der Fraktionen der SPD und der FDP hat gezeigt, daß die Außenpolitik als ein Gesamtkonzept angelegt ist. Indem sie Frieden und Ausgleich sucht, dient sie dem Ganzen. Wenn Skeptiker im Ausland der deutschen Seite nach dem Kriege mit Distanz gegenüberstanden, so gestehen sie der Bundesrepublik Deutschland heute ein solides psychologisches Kapital zu. Ein Beweis dafür ist vielleicht, daß im letzten Jahre drei weltbekannte Zeitschriften den Chef dieser Regierung zum Mann des Jahres gewählt haben. Auch das gehört zu diesem Kapital, das wir haben. Psychologisches Kapital ist auch politisches Kapital. Ein breites internationales Vertrauen ist die beste Grundlage einer Außenpolitik. Vertrauen haben frühere Regierungen in der Welt geschaffen, und Vertrauen ist und wird die Grundlage der Außenpolitik dieser Regierung sein.Dieses Vertrauen hat sich in ganz besonderem Maße gerade jetzt wieder in unserem Verhältnis zu Frankreich bewährt. Ich stehe unter dem frischen Eindruck der deutsch-französischen Konsultationen. Sie waren für beide Seiten von großem Wert, und sie haben deutlich gezeigt, wie sehr die europäischen Initiativen, die die sechs europäischen Partnerstaaten als Ergebnis der Konferenz von Den Haag im Dezember 1969 eingeleitet haben, eine Annäherung der Standpunkte erleichtern, und dies trotz der schwierigen Materie, die Währungsfragen nun einmal darstellen.Die Bundesregierung tut alles, was der Stärkung und Erweiterung der Gemeinschaft und was der Stärkung und Förderung des Gemeinschaftsbewußtseins zwischen den Partnern dienen kann. Nun bedeutet Gemeinschaftsbewußtsein nicht Abwendung von der Umwelt. In diesem Sinne wird sich die Bundesregierung für eine nach außen geöffnete Politik der Europäischen Gemeinschaft einsetzen. Das ist nicht nur ein Gebot wirtschaftlicher Vernunft, sondern auch der Ausdruck eines internationalen Verantwortungsbewußtseins im weitesten Sinne. Ich brauche nur daran zu erinnern, daß unter deutschem Vorsitz im Ministerrat nach Aufnahme der Erweiterungsverhandlungen auch die Gespräche mit den nicht beitretenden EFTA-Ländern aufgenommen wurden, mit den neutralen Ländern in Europa. Wir haben bei Eröffnung dieser Gespräche auch ein Wort zur Bedeutung der Neutralitätspolitik für die Stabilität in Europa gesagt. Ich erinnere daran, meine Damen und Herren, daß sich die Bundesregierung mit Nachdruck für die außenwirtschaftsnotwendige Abstimmung der EWG mit den Vereinigten Staaten eingesetzt hat. Ich kann Ihnen versichern, daß wir das weiter innerhalb des Ministerrates betreiben werden. Wir alle wissen, was von dieser Abstimmung abhängt. Sie ist unter dem übergeordneten Gesichtspunkt der westlichen Allianz unerläßlich. Ich glaube, daß es in diesem Punkt kein Mißverständnis gibt, weder unter uns, noch darf es ein Mißverständnis nach draußen geben.Meine Damen und Herren, der Zug der westeuropäischen Integration ist auf dem richtigen Gleis, und er ist in Bewegung. Und Ihnen, Herr Marx, will ich sagen: es ist das Gleis zu einer europäischen Union. Die Europapolitik hat ein politisches Ziel, und sie geht einen politischen Weg. Das ist ganz unbestritten, das kann auch nur so sein, meine Damen und Herren.
— Ich will noch etwas hinzufügen, Herr Dr. Marx. Deswegen ist einer der wichtigsten Fortschritte in der europäischen Politik ganz zweifelsfrei der Schritt zur politischen Zusammenarbeit zwischen den sechs Mitgliedstaaten unter einer entsprechenden Beteiligung der beitrittswilligen Staaten.In diesem Bericht, der zu dieser politischen Zusammenarbeit geführt hat, heißt es, daß das Ziel nicht die Einigung Europas, die man noch interpretieren könnte, ist, sondern dort heißt es, das Ziel ist die politische Einigung Europas. Diesem Bericht haben alle Partnerstaaten, auch Frankreich, zugestimmt. Ich komme nachher auf die französische Haltung.Aber bei dieser politischen Zusammenarbeit zeigt sich gleichermaßen der Vorteil pragmatischer Lösungen auf dem Weg zu einer Einigung Europas. Lange Zeit nämlich hat der Dogmenstreit, von dem er auch immer geführt sein mag, nämlich der Streit darüber, ob es supranationale Institutionen vorher oder nachher oder ob es sie überhaupt geben muß, die poli-
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Bundesminister Scheeltische Zusammenarbeit über Jahre blockiert. Wir haben jetzt eine Lösung beschlossen, die eine einheitliche Politik zum Ziele hat und zur Grundlage macht, die aber in der ersten Phase auf supranationale Einrichtungen noch verzichtet. Wir haben gemeinschaftliche Einrichtungen, wir haben ein politisches Komitee, die Gruppe derjenigen hohen Beamten, die in den Außenministerien der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft die politischen Abteilungen leiten. Dieses Komitee hat schon einen hohen Grad an Solidarisierung, auch menschlich, erreicht. Nicht zuletzt daraus entstehen gemeinsame politische Überzeugungen. Die politischen Direktoren werden uns schon in Kürze den ersten Erfahrungsbericht über die bisherige Arbeit vorlegen, verbunden mit Vorschlägen über eine Verdichtung dieser Arbeit und auch zu einer Ergänzung des Instrumentariums. Wir gehen auch hier Schritt für Schritt vor.Meine Damen und Herren, jetzt zurück zu dem Treffen von Paris! Staatspräsident Pompidou hat anläßlich der deutsch-französischen Konsultationen in seiner Tischrede erklärt: „Der europäische Staatenbund, der aus unseren gemeinsamen Bemühungen hervorgehen müßte, hat kein Vorbild in der Geschichte und kann abstrakt vorher nicht definiert werden. Dieser tagtäglichen Aufgabe müssen wir uns unermüdlich vorurteilslos und ohne falsche Illusionen widmen." In diesem Geiste, meine Damen und Herren, verliefen die Konsultationen, ohne Illusionen und ohne Vorurteile. Sie haben deswegen Ergebnisse gebracht trotz mancher skeptischer Kommentare, die Sie über diese Konsultationen gelesen haben mögen. Es ist nämlich gelungen, in der Frage der Wirtschafts- und Währungsunion die Standpunkte der Konsultationspartner doch einander nä-herzubringen. Die Bundesrepublik und Frankreich stimmen darin überein, daß alles daran gesetzt werden muß, die Wirtschafts- und Währungsunion innerhalb der vorgeschlagenen Zehnjahresfrist zu verwirklichen. Der Zusammenhang zwischen wirtschaftlichen und monetären Vorgängen, der vor allen Dingen von der Bundesregierung immer wieder betont worden ist, ist von Frankreich voll anerkannt.Es bestand Einigkeit über die Orientierungslinien, die die weiteren Beratungen bestimmen können, insbesondere darüber, daß der Gemeinschaft die zum Zusammenhalt und zur Effektivität einer Wirtschafts- und Währungsunion erforderlichen Befugnisse zuwachsen müssen, zuzuweisen sind. Es besteht Einigkeit darin, daß die Organe der Gemeinschaft, die diese Befugnisse nachher ausüben, in die Lage versetzt werden müssen, sie rasch und reibungslos ausüben zu können; denn in der Währungspolitik ist es unmöglich, lange Prozeduren für Entscheidungen in Kauf zu nehmen, weil sonst währungspolitische Entscheidungen ihren Sinn und ihren Wert verlieren.Es besteht Einigkeit darüber, daß die erste Stufe der Wirtschafts- und Währungsunion und die dabei gewonnenen Erfahrungen von besonderer Bedeutung für die folgenden Stufen sind. Es besteht Einigkeit darüber, Herr Dr. Marx, daß es ein Stuf en-Plan ist, daß es nicht eine Entscheidung geben kann,eine Etappe dieses Stufenplanes in Kraft zu setzen, ohne auf das Ganze zu sehen. Nach Ablauf der ersten Stufe muß darüber gesprochen und entschieden werden, wie denn der weitere Weg aussieht, den wir in den nächsten Etappen — das mögen noch zwei oder noch drei oder wie viele auch immer sein — gehen müssen. Und es muß darüber entschieden werden, und es wird darüber entschieden, ob für diese weiteren Etappen Vertragsänderungen nötig sind und wie solche Vertragsänderungen aussehen können.Meine Damen und Herren, der französische Staatspräsident hat bei dieser Gelegenheit einen Vorschlag gemacht, der auf diese Entwicklung hin Druck auszuüben in der Lage ist. Das ist der Vorschlag, eine clause de prudence vorzusehen, die etwa folgendes bewirken soll: Sie soll bewirken, daß solche Partnerstaaten, die in ihrer Wirtschaftspolitik ihre eigene Währung in Gefahr bringen und somit auch für die Partner gefährlich werden, auf den Beistand währungspolitischer Natur keinen Anspruch mehr haben sollen. Das ist ein gewisser Druck auf die effektive Parallelität von Wirtschaftspolitik und Währungspolitik.Wir haben dem hinzugefügt, daß man außerdem daran denken muß, die währungspolitischen Vereinbarungen für die erste Etappe nicht etwa unbegrenzt zu treffen, sondern sie mit einem festen Auslaufdatum zu versehen, das über diese erste Etappe hinausreichen sollte, damit man etwas Zeit gewinnt. Das, glaube ich, ist ein weiterer Druck darauf, daß man die praktischen Schritte auch wirklich tut, nachdem die erste Etappe einer solchen Währungsunion angelaufen ist.Der erste Schritt in all diesen Dingen muß nun getan werden, auch wenn man in manchen Fragen mit dem einen oder anderen Partner nicht hundertprozentig einig ist. Wenn man auf diese endgültige Einigkeit über den letzten Schritt warten wollte, würde man nie dazu kommen, den ersten Schritt zu tun. Es ist also entscheidend, den ersten Schritt zu tun, aber zu wissen, was das Ziel ist und wie die letzten Etappen aussehen sollen. Deswegen haben wir in Frankreich nicht puren, wertfreien Pragmatismus besprochen, sondern wir haben in Paris einen Pragmatismus besprochen, den wir mit einem fest umrissenen Ziel einschlagen wollen, über das sich alle Partner in der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft einig sind.Meine Damen und Herren, das muß einmal deutlich gesagt werden, damit nicht der Irrtum entsteht, wir hätten ,das politische Ziel aus dem Auge verloren oder wir würden jetzt in eine unbestimmte Zukunft auf dem Gebiete der Wirtschafts- und Währungspolitik, auf ,dem Wege zu einer Wirtschaftsunion und Währungsunion hin, gehen.Auch in der Frage der Beitrittsverhandlungen wurde eine weitere Annäherung erreicht, vor allem im Hinblick auf die Übergangsregelungen, über die man jetzt beschließen muß. Es war wichtig — für Sie interessant zu wissen, glaube ich —, daß der französische Staatspräsident Pompidou in der Schlußbesprechung dieser Konsultationen unsere Meinung geteilt hat, daß im Jahre 1971 der Beitritt Groß-
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Bundesminister Scheelbritanniens erfolgen kann. Der Wille dazu ist bei allen Partnern gleichermaßen vorhanden.Es bestand auch Einigkeit darüber, daß der Dialog zwischen der Europäischen Gemeinschaft und den Vereinigten Staaten verstärkt werden muß, wenn auch hier bei dem französischen Partner größere Reserven bestehen, als sie bei uns bestehen. Wir sind dafür, daß dieser Dialog fortgesetzt und intensiviert wird. Dies muß geschehen; denn von ihm hängt sehr viel ab auch für die zukünftige politische Zusammenarbeit zwischen Europa und den Vereinigten Staaten.Aber auch auf dem Gebiete der Wirtschafts- und Handelspolitik hängt unsere Zukunft davon ab. Wir kennen die Entwicklung in den Vereinigten Staaten. Wir wissen, daß dort protektionistische Vorstellungen herrschen. Die Mills Bill, über die in der vergangenen Legislaturperiode des Kongresses diskutiert worden ist, ist wieder eingebracht. Wir wissen, was das heißt.Hier ergeben sich auch neue wirtschaftspolitische Probleme und handelspolitische Probleme für die Vereinigten Staaten dadurch, daß Großbritannien und andere dem Gemeinsamen Markt beitreten. Diese Erweiterung schafft eben Probleme. Es ist richtig, daß sich die Gemeinschaft frühzeitig, und zwar nicht nur über diplomatische Kanäle von Regierung zu Regierung, sondern auch in Dialogen zwischen den beteiligten Gruppen der Gesellschaft, über diese Frage unterhält. Wir befürworten das. Ich selber werde eine Reise, die ich in Kürze, etwa Mitte Februar, nach Washington machen werde, benutzen, um auch über diese wichtige Frage mit meinen Gesprächspartnern in Washington zu sprechen. Das sind nur einige Ergebnisse unserer Konsultationen in Paris, meine Damen und Herren.Bei diesen Konsultationen wollten wir nicht den Beratungen im Rahmen des Ministerrats der Europäischen Gemeinschaften vorgreifen. Ich erkläre: Es wird nichts ohne die anderen Partner entschieden, jetzt nicht und natürlich auch in der Zukunft nicht. Im übrigen haben wir unsere übrigen Partner unmittelbar nach Beendigung der Konsultationen, wie sich das gehört, über ihre Botschafter hier gleich vom Ergebnis informiert.Auch sie werden es freilich begrüßen, wenn im bilateralen Verhältnis Annäherungen auf 'dem Weg zur Einigung möglich sind. Alles sollte getan und nichts sollte unterlassen werden, was der Dynamik der europäischen Entwicklung zugute kommt. Dieses Ziel werden wir weiter verfolgen, pragmatisch, wo es zweckmäßig erscheint, elastisch, wo dies den Erfolg verspricht, aber in der Sache konsequent, und ,die Sache, das heißt hier: ein einiges Europa. Nur eine gemeinschaftliche Politik führt zu einem einigen Europa. Das darf ich sagen: Diese gemeinschaftliche Politik wird nicht nur von der Bundesrepublik vertreten, sondern auch von den anderen Partnern, auch von Frankreich.
Die europäische Zusammenarbeit ist die eine Säule, auf der die Westpolitik der Bundesregierung beruht. Die andere ist die atlantische Zusammenarbeit. Beide sind unlösbar miteinander verbunden, und in beiden Bereichen sind wir im letzten Jahr vorangekommen. Das hat der Verlauf der NATORats-Tagung in Brüssel Anfang Dezember ganz eindeutig gezeigt. Auf das Kommuniqué dieser Ministerratstagung ist im Verlauf der Debatte hier schon hingewiesen worden.Diese Zusammenarbeit in der NATO selbst hat ihrerseits wieder zwei Säulen. Auf der einen Seite ist es die Anstrengung der Mitglieder, die Verteidigungsbereitschaft auf einem Stand zu halten, der unsere Sicherheit voll garantiert. Auf der andern Seite ist es die politische Aufgabe der NATO, in Europa für Entspannung zu sorgen, damit die Konfrontation zwischen den beiden Blöcken abgebaut werden kann, die mitten in Europa zusammentreffen, und damit es auch den beiden großen Mächten eines Tages gelingt, von dem übertriebenen Niveau der Rüstungsausgaben herunterzukommen, was beide Mächte erreichen wollen. Das können sie aber nur erreichen, wenn sie nicht nur bilateral Salt-Gespräche führen, sondern das können sie nur erreichen, wenn ihre Partner — also z. B. die Partner der USA in der NATO — mit ihnen gemeinsam bereit sind, in Europa eine konsequente Politik der Entspannung zu betreiben.
Das tun wir, und das ist ja Inhalt des NATO-Kommuniqués. Hier haben Sie gesehen, daß die Politik der Bundesregierung sich in diese sich darüberlagernde Bündnispolitik integriert.Meine Damen und Herren, hier ist allerdings auch der Zusammenhang zu sehen — auch das geht aus dem NATO-Kommuniqué hervor — zwischen dieser europäischen Entspannungspolitik, zwischen der Absicht, in Europa eine Konferenz über Sicherheitsfragen einzuberufen, und der Lösung des Berlin-Problems. Unsere Partner haben mit uns gemeinsam der Überzeugung Ausdruck gegeben, daß Entspannungspolitik in Europa nicht um Berlin herumgehen kann. Denn wenn an einem Punkte die Ursachen für mögliche Spannungen in dem Maße erhalten bleiben, in dem das heute wieder so stark sichtbar ist, dann kann man nicht von Entspannungspolitik, nicht von einem Erfolg der Entspannungspolitik sprechen. Dieser Punkt gehört dazu, wenn ich von einem Erfolg der Entspannungspolitik sprechen will.Ich bin also dabei, hier einen Schritt in einer Etappe auf einem umfassenderen Weg zur Entspannung in Europa zu gehen. Darüber besteht Einigkeit, und deswegen haben die NATO-Partner diesen Punkt in ihrem Kommuniqué so klar untergebracht. Ich darf hier entgegen manchen Vermutungen in der öffentlichen Meinung, daß dieses Kommuniqué sozusagen der erfolgreiche Versuch unserer NATO-Partner gewesen sei, die Bundesrepublik etwas an die Kette zu legen, sagen: Meine verehrten Damen und Herren, es wird Ihnen sicherlich kein Geheimnis sein — und die, die früher mit der Materie zu tun hatten, wissen das —, daß diese Formulierungen, die unsere Politik, die Berlin und die die europäische Politik der Bundesregierung betreffen, sicherlich nicht ohne unsere Zustimmung, ja, ich darf das ruhig
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Bundesminister Scheelsagen, wesentlich auf unsere Initiativen hin zustande gekommen sind. Es ist also die Politik der Bundesregierung, die hier in einem internationalen Kommuniqué sichtbar wird.Meine Damen und Herren, im Bewußtsein vieler wohnt den Begriffen Europa und Allianz heute wenig Spektakuläres inne. Das Interesse der Öffentlichkeit gehört, im Augenblick auf jeden Fall, überwiegend der Entwicklung unserer Politik gegenüber Osteuropa, weil hier ein gewisser Nachholbedarf und deshalb ein besonderer Neuigkeitswert besteht. Dabei hat es uns erst die feste Verbindung zum Westen ermöglicht, den Versuch eines Ausgleichs mit dem Osten einzuleiten. Wir haben sehr bewußt unsere Anstrengungen für die Einigung Westeuropas gerade in dem Zeitpunkt verdoppelt, als wir daran gingen, längst fällige Entscheidungen in der Ostpolitik zu treffen. Unser Beitrag in der Osteuropapolitik ist der eines gleichberechtigten Partners der westlichen Gemeinschaft zur allgemeinen Friedens- und Entspannungspolitik. Dieser Beitrag steht nicht allein, und wir werden nicht allein gelassen, gleich wie sich diese Politik entwickeln wird.Die deutsche Ostpolitik ist daher auch keine Politik des Verzichts und der Vorleistung, des Ausverkaufs und des Verrats, des Verschenkens oder des Verschleuderns, wie uns das manche Demagogen wissen machen wollen.
Die deutsche Ostpolitik ist vielmehr der ernste und der notwendige Beitrag zum Abbau der Konfrontation, zur Beseitigung der Kriegsgefahr in Europa. Diese Politik erhebt den verbindlichen Anspruch, durch praktische Schritte zur Völkerverständigung beizutragen, und auch den verbindlichen Anspruch, die Teilung unserer Nation auf diesem Wege zu überwinden.Diese Politik ist allerdings eine bewußte Abkehr von der schrecklichen Folge von Eroberung und Rückeroberung, die jahrzehntelang die Menschen unseres Kontinents in Unglück und Tod gestürzt hat.
Meine Damen und Herren, niemand täuscht sich: Es wird noch lange dauern, bis alle Hindernisse auf diesem Wege weggeräumt sind. Wir wissen und haben gewußt, daß das ein sehr schwieriger und sehr dorniger Weg ist, und nicht erst jetzt. Wir wissen, wie langwierig dieser Weg ist, und wir haben nicht zuletzt deswegen gleich mit dieser Osteuropapolitik begonnen. Wenige Tage, nachdem wir die Regierungsverantwortung übernommen haben, haben wir mit dieser Politik begonnen, weil wir wissen, wieviel Zeit wir für diese Politik brauchen.Aber das, Herr Dr. Barzel, darf man nicht mit Hast verwechseln. Wenn einer frühzeitig eine Aufgabe beginnt, weil er sich die Zeit, die er braucht, weise einteilen muß und möchte, dann ist das nicht mit Hast zu verwechseln.
— Herr Dr. Marx, auch in Ihrer Rede heute morgen kam der Widerspruch zutage, den ich bei der CDU immer wieder sehe, der Widerspruch nämlich, auf der einen Seite von einer hastigen, ja, hektischen Politik der Regierung zu sprechen, auf der anderen Seite aber, wie Sie es heute morgen getan haben, zu sagen: Es ist ein Desaster, daß diese Politik noch nicht am erfolgreichen Ende angekommen ist; weil sie jetzt noch keinen Erfolg hat, ist es ein Desaster.
Meine verehrten Damen und Herren, ich bin recht froh darüber, daß ich in jüngster Zeit auch andere Meinungen gehört habe. Denn wenn es eine Gemeinsamkeit geben muß, dann ist es die Gemeinsamkeit, meine ich, mit Geduld und mit Zähigkeit zu warten, damit wir nichts verlieren.
— Nein, Herr Dr. Kiesinger, ich glaube, man kann mit Fug und Recht nicht sagen, wenn man 20 oder 25 Jahre mit Zähigkeit gar nichts getan hat,
das sei die einzige Lösung. Der Beginn mußte einmal kommen. Die ganze Welt hat auf diesen Beginn gewartet, meine Damen und Herren.
Aber wenn es die Opposition ernst meint mit ihrer Verantwortung, dann muß sie, da die Ziele, die wir haben, die gleichen sind, mit uns gemeinsam die Geduld aufbringen und die Regierung in der Geduld stärken, so lange zu warten, bis die Etappen erreicht sind, die erreicht sein müssen.
— Meine Damen und Herren, die Bundesregierung hat diese Geduld; das werden Sie noch in diesem Jahr sehen.Aber nun darf ich, damit das nicht in der Polemik untergeht, noch etwas zu der Behauptung sagen, daß sich die Situation überhaupt nicht geändert habe, sondern im Gegenteil sogar noch verschärft worden sei.
Eines steht doch völlig außer Zweifel, nämlich daßim deutsch-sowjetischen und im deutschen-polnischen Verhältnis Veränderungen eingetreten sind.
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5148 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 94. Sitzung. Bonn, Freitag, den 29. Januar 1971
Bundesminister ScheelDie Emotionen sind nicht mehr so wie früher vordergründig in unserem Verhältnis zu den beiden Staaten sichtbar. Die Beziehungen zwischen der Bundesrepublik und diesen beiden Ländern sind vernünftiger geworden.
Das war nicht zuletzt auch anläßlich des Besuchs einer Delegation des polnischen Parlaments in der Bundesrepublik erkennbar. Diese Delegation, mit der ich ausführlich habe sprechen können, hat sich nicht zuletzt auch von ihren Diskussionen mit Vertretern der Oppositionspartei beeindruckt gezeigt.
Sicherlich wird hier eine Veränderung in beiden Richtungen vor sich gehen können.Nur habe ich manchmal den Eindruck, daß in dem direkten Gespräch zwischen Vertretern der Oppositionspartei und polnischen Politikern, und zwar auch verantwortlichen polnischen Politikern, die Position der Opposition den Gesprächspartnern gegenüber nicht ganz deutlich gemacht wird. Aber hier besteht schließlich kein großer Unterschied zu Äußerungen der Oppositionspartei gegenüber der breiten Öffentlichkeit. Auch hier ist ihre Position noch nicht ganz deutlich gemacht worden.
Zwar ist der Wille der Opposition, zu dem gleichen Ziel zu gelangen, zu dem auch wir gelangen möchten, völlig unbestritten, und ich will auch gar nicht daran zweifeln. Aber der Weg dorthin ist dornig.Nun werden Sie mit Recht sagen: Dafür ist nun einmal jemand in der Regierung, daß er diesen dornigen Weg geht; das kann man der Opposition nicht zuschieben. Das wollen wir auch nicht. Natürlich geht die Regierung diesen Weg, und sie ist ihn gegangen. Aber die Bereitschaft, diesen Weg zu gehen, der nach Meinung jedes nüchtern denkenden Menschen der einzige Weg ist, der zu dem Ziel führt, das auch Sie anstreben, sollte einer sachlichen Würdigung wert sein. Um nichts anderes geht es.
Meine verehrten Damen und Herren, sowohl unsere Politik der europäischen Integration als auch unsere Poiltik des Gewaltverzichts, sowohl unsere Politik der Entspannung als auch unsere Politik der allmählichen Verständigung mit Osteuropa sind auf das Ziel gerichtet — danach ist gestern und heute immer wieder gefragt worden —, in Gemeinschaft mit unseren Verbündeten und unter Respektierung der Vier-Mächte-Verantwortung bessere Voraussetzungen für ein geregeltes Miteinander der beiden Staaten in Deutschland zu schaffen.Die deutsche Frage ist nämlich nicht isoliert von der Umwelt und nicht im nationalen Rahmen zu lösen. Darüber sind wir uns heute Gott sei Dank alle in diesem Hause im klaren. Die deutsche Frage ist vielmehr nur in einem europäischen politischen Rahmen zu lösen. Aber darin liegt auch gleich das Verbindungsglied zwischen der deutschen Frage und der Europapolitik; denn eine Regelung in Deutschland ist andererseits die Voraussetzung für einen dauerhaften Frieden in Europa und innerhalb Deutschlandes selbst. Und darauf hat heute morgen Herr Dr. Marx hingewiesen, als er der Bundesregierung den Vorwurf machte, sie hätte aus dem Kommuniqué, das auf den Harmel-Bericht vom Jahre 1967 Bezug genommen hat, nicht alles zitiert.
— Ja, ich hole diesen Satz, den Sie genannt haben, sehr gern nach. Es ist wohl der folgende:Aber die Möglichkeit einer Krise kann nicht ausgeschlossen werden, solange die zentralen politischen Fragen in Europa, zuerst und zunächst die Deutschlandfrage, ungelöst bleiben.Herr Dr. Marx, wir identifizieren uns mit diesem Satz natürlich in vollem Umfange, ja, dieser Satz ist in der Tat die elementare Grundlage der gesamten Außenpolitik der Bundesrepublik Deutschland.
Dieser Satz ist die Grundlage unserer Position, die Lösung der deutschen Frage nicht als ein Endziel immer nur zu beschreiben
und sich immer nur auf sie zu berufen, sondern endlich praktisch an die Lösung dieser deutschen Frage heranzugehen.
Das ist die Grundlage unserer Politik.Meine Damen und Herren, heute, in diesem Augenblick konzentriert sich das Interesse naturnotwendig auf Berlin. Das ist nicht nur ein Problem der Deutschen, es ist auch ein Problem der Sicherheit für ganz Europa. Es steht damit in einem unmittelbaren Zusammenhang mit der beabsichtigten Konferenz über die Sicherheit Europas.Eben das ist in dem NATO-Kommuniqué gesagt worden; hier ist der Zusammenhang hergestellt. Unsere Partner sagen mit uns, daß eine Konferenz über europäische Sicherheitsfragen keine Erfolgsaussichten hat, wenn sie nicht in einer günstigen politischen Atmosphäre beginnen kann. Niemand im Kreise der NATO-Partner — und, wie ich glaube, überhaupt kein Europäer, auch kein Osteuropäer — wird annehmen, daß eine Konferenz über europäische Sicherheitsfragen erfolgreich sein könnte, ohne daß vorher das Berlin-Problem befriedigend geregelt ist. Darin sind sich unsere Partner einig; wir befinden uns in dieser Frage in voller Übereinstimmung mit den NATO-Partnern.Aber es gibt, meine verehrten Damen und Herren, hinsichtlich der Außenpolitik und der Frage nach der Lage der Nation einen weiteren Zusam-
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Bundesminister Scheelmenhang. Das sind unsere Gespräche mit der DDR, die im Augenblick von dem Staatssekretär im Bundeskanzleramt, Herrn Bahr, mit seinem Partner auf der anderen Seite geführt werden. Diese Gespräche umfassen im Augenblick das, was in den 20 Punkten von Kassel bestanden hat. Darüber könnte man sprechen. Die Gesprächspartner sind noch nicht bereit, das jetzt in vollem Umfange zu tun. Es sind zur Zeit also Vorgespräche im Gange, die erst zum Kern der Sache führen sollen.
Worüber wir jetzt nicht sprechen können, das ist die Frage des Verkehrs zwischen der Bundesrepublik und West-Berlin, denn dieser Verkehr ist ein wichtiger Teil des freien Zugangs nach West-Berlin und fällt somit in die Verantwortlichkeit der Vier Mächte, eine Verantwortlichkeit, die wir nicht anrühren wollen und nicht anrühren werden. Dieser Teil also kann natürlich zwischen Bundesrepublik und DDR besprochen und verhandelt werden, aber nur als ein Teil einer umfassenden Regelung des Berlin-Problems. Es bedarf also zunächst einer gemeinsamen erklärten Haltung — einer gemeinsamen erklärten Haltung! — der Vier Mächte zu diesem Punkt, bevor wir das tun können, was notwendigerweise die beiden Teile Deutschlands dann als gleichberechtigte Partner in rechtsgültigen Verträgen tun müssen. Das ist Teil einer gesamten Regelung für Berlin, die später von den Vier Mächten garantiert ist.
Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Dr. Barzel?
Bitte sehr!
Herr Kollege Scheel, nachdem Sie auf unsere Aufforderung hin einige der Voraussetzungen für das Zustandekommen einer europäischen Sicherheitskonferenz aus der Sicht der Bundesregierung dargestellt haben, können Sie vielleicht auch gleich zur Vermeidung einer Intervention noch aus der Sicht der Bundesregierung über die Voraussetzungen für die UNO-Mitgliedschaft einiges konkretisieren?
Ich komme nachher im Zusammenhang mit dem Thema darauf.Ich glaube, wir sind einig darüber, wie das Procedere bei den Berlin-Verhandlungen vor sich gehen muß.Meine Damen und Herren! Die CDU/CSU-Fraktion hat in dem Zusammenhang weitergehende Verbindungen zwischen der Lösung der Berlinfrage und der Ratifizierung des Moskauer Vertrages in der Öffentlichkeit diskutiert. Gestern ist von dem Herrn Bundeskanzler hier gesagt worden — er hat dabei sehr stark auf seine frühere verantwortliche Tätigkeit inBerlin Bezug genommen —, daß die befriedigende Regelung des Berlin-Problems eine Voraussetzung für die Bundesregierung ist, dem Deutschen Bundestag den Moskauer Vertrag zur Ratifizierung zuzuleiten. Ich glaube, das ist heute so unbestritten, daß man darüber gar nicht mehr diskutieren muß. Dabei sollte man, wie ich glaube, nicht in eine Interpretation oder in Deutungsversuche der Wörter „Lösung" oder „Regelung" eintreten. Wir wissen, was darunter zu verstehen ist: eine befriedigende Regelung in Berlin umfaßt eben die Bereiche, über die wir hier alle schon gesprochen haben.Ich darf noch einmal sagen, meine Damen und Herren, daß die Bundesregierung hier in engstem Einvernehmen mit ihren westlichen Verbündeten steht und daß hier nichts geschieht, was wir nicht miteinander abgemacht haben. Ich darf aber gleichermaßen sagen, daß die Oppositionsfraktion diese Position ganz genau kennt, denn der Vorsitzende der Oppositionsfraktion macht kein Hehl daraus, daß er diese Position in vollem Umfange stützt, daß er sie kennt, daß er weiß, welche Position wir einnehmen, und daß er sie deswegen stützen kann. Das ist etwas, was wir an Gemeinsamkeit haben und an Gemeinsamkeit vertreten werden.Meine Damen und Herren, es gibt im Augenblick Störungen auf den Straßen nach Berlin, die wir alle, wie es der Bundeskanzler gestern getan hat, auch als Störungen der Verhandlungen betrachten müssen.
Es ist doch ein Unding, den Begründungen für diese Schikanen etwa glauben schenken zu wollen. Was wird als Begründung herangezogen? Die Absicht von Politikern der Bundesrepublik Deutschland, auf Einladung von verantwortlichen Politikern in Berlin eine Konferenz über Fragen abzuhalten, die im Kern nichts anderes zum Inhalt haben, als sich in gemeinsamen Beratungen darüber zu sorgen, wie man denn den Frieden erhalten kann und wie man den Frieden sicherer machen kann. Wenn das eine Provokation sein soll, meine verehrten Damen und Herren, dann, ich glaube, kann man allerdings nicht mehr von einer gemeinsamen Sprache sprechen. Das als eine Begründung ist das Schlechteste, was man überhaupt heranziehen kann.
Wir wissen, daß das Zustandekommen aller Verträge seine Zeit braucht. Wir haben auch Verständnis dafür. Aber auch für Berlin sollte jetzt eine befriedigende Regelung heranreifen, um das Vertragswerk, das unsere Beziehungen zum Osten klärt, unserem Wunsche entsprechend abschließen zu können. Wir jedenfalls haben dazu den Willen, wir haben die Geduld, wir haben die Ausdauer. Ich glaube, daß das Jahr 1971 das Jahr sein könnte, in dem die Berlin-Regelung möglich ist, in dem die Ratifizierung der Verträge mit Moskau und mit Warschau erfolgen kann.
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5150 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 94. Sitzung. Bonn, Freitag, den 29. Januar 1971
Bundesminister Scheel— Wenn das sein muß, auch für 1972, Herr Dr. Barzel.
Ich sage, das .Jahr 1971 kann das Jahr sein, und es besteht begründete Hoffnung, daß es das Jahr ist, aber wir wollen nicht die Qualität von Ergebnissen zugunsten schnellerer Ergebnisse schmälern.
Uns kommt es auf die Qualität der Ergebnisse an. Das ist auch die Meinung unserer Partner und Verbündeten in diesem so wichtigen Punkt.
Die CDU hat nun nicht nur die Regelung der Berlin-Frage, sondern auch die endgültige Regelung des Verhältnisses der beiden Staaten in Deutschland zur Voraussetzung ihrer Zustimmung zu der Ratifizierung gemacht. Meine Damen und Herren, ich glaube, wir sollten uns hier nicht selbst ein Bein stellen. So etwas ist doch von seiten der Bundesregierung — jedenfalls von mir — nie gesagt worden.
Ich will Ihnen sagen, was ich darüber gesagt habe. Ich habe gesagt: Wir nehmen die Absichtserklärung, die wir in Moskau abgegeben haben, ernst, daß alles das eine politische Einheit darstellt. Aber „politische Einheit" kann nicht heißen, daß man alle notwendigen Verträge an einem Tage in Kraft setzen oder ratifizieren müßte. Es kann sehr wohl möglich sein— damit wiederhole ich eine Interpretation, die ich im gleichen Wortlaut immer wieder, auch hier, gegeben habe —, daß es, um das Ganze erfolgreich zu Ende führen zu können, sogar nötig ist, die eine oder andere Etappe vorzuziehen.
— Nein, dabei würde man den ganzen Bereich nicht außer acht lassen. Ich glaube, man wird der vorgezogenen parlamentarischen Behandlung eines Teilbereiches zustimmen müssen, wenn für den ganzen Bereich wirklich eine befriedigende Regelung gefunden werden kann. Wir haben uns, was den Vertrag von Moskau angeht, im Laufe der Entwicklung schon weitgehend über einige Fragen einigen können. Es herrscht auch weitgehend Einigkeit über die Zeitfolge im Hinblick auf den Vertrag von Warschau, d. h. mit anderen Worten, daß wir hier zweifellos zu einer Annäherung der Standpunkte kommen.
Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten von Wrangel?
Ja, bitte!
Herr Bundesminister, geben Sie zu, daß Sie in der ersten Phase Ihrer Amtszeit und insbesondere auch der Bundeskanzler in Erfurt immer betont haben, daß Statusveränderungen der DDR — ich drücke mich jetzt so aus,
wie Sie es damals getan haben — mit innerdeutschen Fortschritten verbunden sein müssen, und verstehe ich Sie richtig, daß diese Ihre Aussage von damals durch die jetzigen Erklärungen revidiert worden ist?
Nein. Ich komme darauf zu sprechen. Das ist ja nicht die einzige Verbindung, die es zwischen der innerdeutschen Entwicklung und dem, was Sie Statusveränderung nennen, gibt. Sie haben hier die falsche Verbindung gezogen. Es geht nicht etwa um die zeitliche Bindung von innerdeutscher Regelung und den Verträgen von Moskau und Warschau. Die logische Verbindung liegt in der zeitlichen Folge von innerdeutschen Regelungen und der Aufnahme der beiden Teile Deutschlands in die UNO. Die Politik der Bundesregierung — ich habe es soeben gesagt — ist ein einheitliches Ganzes. Das alles ist logisch aufeinander abgestimmt. Logisch ist die Statusveränderung im internationalen Bereich ganz ohne Zweifel im Blick auf die Mitgliedschaft in der UNO. Da ist sie auch berechtigt. Eben wegen der logischen zeitlichen Folge steht dieser Punkt im Katalog der Kasseler 20 Punkte an letzter Stelle.
Herr Minister, gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten von Wrangel?
Bitte!
Herr Bundesminister, ich möchte Sie insistierend fragen: Sind Sie der Meinung, daß sowohl durch die Absichtserklärungen in Moskau als auch durch den Grenzartikel im Moskauer Vertrag eine Statusveränderung der DDR erfolgt ist?
Man mag sich über den Begriff „Statusveränderung" streiten. Ich hatte den Begriff bisher so aufgefaßt — und ich nahm an, daß auch Sie das taten —, daß damit eine Veränderung des internationalen Status der DDR gemeint ist.
Dadurch ist der internationale Status der DDR überhaupt nicht berührt worden. Das geht auch aus dem Briefverkehr hervor, den wir anläßlich der Vertragsunterzeichnung geführt haben. — Zumindest ist er nicht dadurch berührt worden. Statusveränderungen ergeben sich aus ganz anderen Entwicklungen, auf die wir zum Teil keinen Einfluß haben.
Herr Minister, gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage des Abgeordneten Dr. Barzel?
Herr Kollege Scheel, sind dies Ihre Worte vom 14. Dezember 1970 in Brüssel: „Die Bemühungen um eine vertragliche Regelung mit der DDR und die Verhandlungen über Berlin bilden eine politische Einheit. Die Bundesregierung werde nicht zulassen, daß nur Fragmente eines Konzepts verwirklicht werden"?
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Herr Dr. Barzel, ich kann Ihnen das sehr leicht erläutern. Teil der Verhandlungen über Berlin sind ja Verhandlungen mit der DDR. Mit anderen Worten: Wenn wir eine befriedigende Berlin-Regelung haben, Herr Dr. Barzel, haben wir auch eine entscheidende Etappe der Verhandlungen mit der DDR hinter uns gebracht. Das ist der Punkt, an dem man sagen kann: wir sind auf dem Wege zu den Regelungen, die wir wollen.
Meine Damen und Herren, es ist heute von Herrn Dr. Marx die Frage nach unseren Verhandlungen mit der Tschechoslowakei gestellt worden. Ich will nur ganz kurz dazu etwas sagen, damit hier kein Mißverständnis bestehenbleibt. Die Bundesregierung ist bereit, mit der Tschechoslowakei in Gespräche und Verhandlungen einzutreten. Die tschechoslowakische Regierung ist nach ihren Äußerungen ihrerseits daran interessiert, in Gespräche und Verhandlungen einzutreten. Die technischen Kontakte zwischen den Außenministerien sind hergestellt worden. Solche Gespräche und Verhandlungen können beginnen, wenn die Zeit dazu reif ist, wenn die Vorbereitungen, die dazu nötig sind, abgeschlossen sind. Sie können beginnen ohne Vorbedingungen von der einen oder anderen Seite. Vorbedingungen der Art, wie Sie sie heute morgen hier genannt haben, Herr Dr. Marx, kann es dabei nicht geben.Im Rahmen der Großen Anfrage ist ein Thema wenig behandelt worden, das Thema unserer Beziehungen zur Dritten Welt. Es ist unvermeidlich, daß unsere Verbindungen zu den westlichen Nachbarn und Freunden und zu den östlichen Nachbarn und Gesprächspartnern einen Vorrang in unserem außenpolitischen Denken einnehmen. Das sollte aber nicht so verstanden werden, als ob wir unsere Verpflichtung zum Verständnis der Probleme der Dritten Welt nicht erkennen würden. Das Gegenteil ist der Fall. Ich halte es für wünschenswert, dies gerade im Laufe dieser Debatte über die Lage der Nation zu betonen. Gerade die Bundesregierung setzt sich sowohl bei der Pflege der bilateralen Beziehungen als auch in den europäischen und weltweiten Gremien dafür ein, daß überall auf der Welt eine zeitgemäße Vorstellung von politischer Gleichberechtigung und sozialer Gerechtigkeit Geltung erhält. Die Bundesrepublik Deutschland tut das aus freier, aus eigener Entscheidung.Um so mehr sind wir alle von dem tief betroffen, was sich in diesen Tagen in Conakry ereignet. Ich möchte mich zu diesem Zeitpunkt, in dem die Belastungsprobe unserer Beziehungen zu Guinea unvermindert andauert, darauf beschränken, Ihnen zu versichern, daß die Bundesregierung alles getan hat, um das Los der verhafteten Deutschen in Guinea zu verbessern. Dabei — das darf ich sagen, meine Damen und Herren — haben uns erfreulicherweise die afrikanischen Länder ganz besonders geholfen, die afrikanischen Länder, die genau wissen, in welchem Geiste die Bundesrepublik Deutschland von Anfang an, seitdem sie unabhängig geworden sind, die Beziehungen zu ihnen begonnen und weiter gepflegt hat. Ich muß sagen: uns hat in dieser schwierigen Situation auch eine verständnisvolle öffentliche Meinung in Deutschland, eine verständnisvolle Presse geholfen. Unsere Entscheidungen in Conakry orientierten sich an den humanitären Erwägungen. Ich darf hier aber auch einmal sagen: Das Unerfreuliche ist, daß diese unsere früheren guten Beziehungen zu Guinea nicht zuletzt das Opfer von Intrigen und dunklen Machenschaften geworden sind, an denen auch Deutsche beteiligt sind,
Deutsche, die dieser Nation angehören. Auch das gehört zur Lage dieser Nation.Meine Damen und Herren, wir werden nicht Gleiches mit Gleichem vergelten. Wir werden auch in Zukunft zwischen denen, die unsere Freunde sind, und denen, die es nicht sein wollen, zu unterscheiden wissen. Erlauben Sie mir deshalb, der großen Gemeinschaft der afrikanischen Staaten zu versichern, daß die Grundlinien der deutschen Afrikapolitik für uns verbindlich bleiben. Wir lehnen jede Form der Bevormundung afrikanischer Staaten ab, jede Form der Intervention in ihre inneren Verhältnisse, jede Rassendiskriminierung, jede neo-kolonialistische Verhaltensweise. Wir sind bereit, unsere Partnerschaft mit allen afrikanischen Staaten, die dazu bereit sind, fortzusetzen. Wir sind bereit, mit diesen Staaten auf der Basis der Gleichberechtigung und der gegenseitigen Wertschätzung — ich sage: der gegenseitigen — ein für beide Seiten fruchtbares Verhältnis und Beziehungen zu pflegen, die diesen Staaten helfen sollen, unter Wahrung von Souveränität und Eigenart den Anschluß an die Industrienationen zu finden.Mag unsere Afrikapolitik durchaus in diesem Sinne als vorbeugende Sicherheitspolitik verstanden werden; sie ist eine Sicherheitspolitik, die den Wohlstand für alle sichern soll, eine Politik, die, wenigstens was uns betrifft, nichts mit Waffen zu tun hat. Es ist eine Politik mit entwicklungspolitischer Partnerschaft, die den Wohlstand durch diese Partnerschaft sichern soll. Diese Politik bleibt, ich wiederhole es, Basis und Ziel unserer Beziehungen zu dem großen Kontinent in unserem Süden, der natürlicher Partner Europas ist.Ich fasse zusammen und stelle damit noch einmal die Grundsätze unserer Außenpolitik heraus, wie sie die Bundesregierung sieht:Die Außenpolitik der Bundesrepublik Deutschland ist eine Politik des Friedens, die bilateral und multilateral bei der Lösung offener Fragen vom Gewaltverzicht ausgeht und eine Sicherung des Friedens anstrebt, soweit es in unserer Kraft steht; eine Politik der Freiheit, die die allgemeinen Grundrechte wahren und sichern hilft und zu ihrer internationalen Anerkennung und Respektierung beitragen will, ohne anderen unsere Lebensform aufzuzwingen; eine Politik der Solidarität mit unseren Freunden, die wir im Rahmen der Allianz und der Integration ständig erneuern, vertiefen und erweitern; eine Politik des Realismus, die im Verhältnis zu den östlichen Nachbarn pragmatisch zu regeln sucht, was für eine Lösung von Grund auf noch nicht reif ist, die aber
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5152 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 94. Sitzung. Bonn, Freitag, den 29. Januar 1971
Bundesminister Scheeldie Chance nutzt, wenn sich die Möglichkeit für systematisch angelegte Vereinbarungen abzeichnet; eine Politik, die das Erreichbare nicht durch den Blick auf das Unerreichbare gefährden will; eine Politik der sozialen Gerechtigkeit, die humanitäre Probleme mit Vorrang behandelt und sich der Verpflichtung gegenüber den Notleidenden auf nationaler und internationaler Ebene bewußt ist; eine Politik der Standhaftigkeit, die niemanden unter Druck setzt und sich nicht unter Druck setzen läßt; schließlich eine Politik der Geduld, die Enttäuschungen in Kauf nimmt, sich aber in ihren begründeten Hoffnungen nicht beirren läßt.Wir wollen die Stunde, meine Damen und Herren, wenn sie sich bietet, nutzen, und wir werden sie zu nutzen wissen.
Das Wort hat Herr Abgeordneter Dr. Birrenbach.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich möchte jetzt nicht zu den allgemeinen Ausführungen des Herrn Bundesaußenministers Stellung nehmen; das bleibt einer berufenen Seite meiner Fraktion vorbehalten.
Ich möchte mich mit einer zentralen Frage in der Antwort der Bundesregierung auf die Große Anfrage beschäftigen. Das ist ein Punkt, den sowohl der Bundeskanzler als auch der Bundesaußenminister heute an die Spitze ihrer Ausführungen gestellt haben. Die Bundesregierung erklärt immer wieder, die Ostpolitik der Bundesregierung finde die einhellige Zustimmung unserer Verbündeten. Wie steht es nun damit bei Licht besehen?
Diese Zustimmung findet beispielsweise ihren Widerhall in den Schlußkommuniqués der beiden letzten NATO-Konferenzen. Im Mai-Kommuniqué heißt es, die Bundesregierung führe mit Unterstützung und Verständnis ihrer Verbündeten Gespräche mit den Oststaaten. Die Verbündeten geben aber der Hoffnung Ausdruck, daß diese Gespräche nicht etwa durch unannehmbare Forderungen beeinträchtigt werden. Die Frage, die sich stellt, lautet also: Waren diese Forderungen alle aus der deutschen Perspektive heraus annehmbar?Im Kommuniqué vom 10. Dezember begrüßen die Minister die Ostverträge als, wie es heißt, Beiträge zur Minderung der Spannung in Europa und als wichtige Elemente des Modus vivendi der Bundesrepublik mit Osteuropa. Handelt es sich hier wirklich nur um einen Modus vivendi? Die Verbündeten verweisen weiter darauf, daß eine akzeptable Berlin-Lösung und außerdem in den Verhandlungen mit der DDR eine Regelung gefunden werden müsse, welche die Besonderheiten der Situation in Deutschland berücksichtigt. Besteht dafür im Augenblick wirklich eine reale Aussicht?Diese Erklärungen spiegeln formell ein Einverständnis wider, ohne sich im einzelnen dazu zuäußern, welche Erwartungen, welche Hoffnungen, welche Sorgen und welche Befürchtungen sich mit diesen Verträgen aus der ausländischen Perspektive verbinden.
Daran hindern die Verbündeten nämlich allein schon die Bündnissolidarität und die Tatsache, daß die Bundesrepublik schließlich ein souveräner Staat ist und ihrer Zustimmung gar nicht bedarf.Daß diese Regierungen aus sehr verschiedenen Gründen ihre Zustimmung zu den Verträgen geben und gegeben haben, weiß jeder. Sicherlich — das bezweifelt keiner gibt es zahlreiche Regierungen, die der Ostpolitik der Bundesregierung nicht nur formell zustimmen. Was dies allerdings im einzelnen bedeutet, kann man nur dann ermessen, wenn man weiß, welche Vorstellungen diese Regierungen mit dem Moskauer Vertrag verbinden, d. h. ob sie in dem Moskauer Vertrag einen reinen Gewaltverzichtsvertrag sehen wie es im NATO-Kommuniqué vom 10. Dezember auf Grund der vorherigen Erklärungen des Bundesaußenministers heißt: ein Modus vivendi der Bundesrepublik mit Osteuropa —, oder ob sie in dem Moskauer Vertrag und in dem deutsch-polnischen Vertrag eine Festigung der Teilung Deutschlands sehen. Das ist doch ein eminenter Unterschied.Ich will mich hier auf den Moskauer Vertrag beschränken, weil dieser der entscheidende Vertrag ist, der die gesamte Ostpolitik als solche beherrscht. Im übrigen kann niemand in der Bundesrepublik erwarten, daß die ausländischen Regierungen, Parlamentarier oder Publizisten deutscher denken als die Deutschen.
Die Opfer im Rahmen der Ostverträge bringen nicht die Ausländer, sondern die Deutschen!Eine Prüfung der Zustimmung führt also zu ganz verschiedenen Ergebnissen, je nachdem, unter welchen Voraussetzungen diese gegeben ist. Die Zustimmung kann formeller, sie kann auch materieller Natur sein. Sie kann von Erwartungen ausgehen, die im einzelnen auf ihre Realisierbarkeit hin geprüft werden müssen. Sie kann auch in einer spezifischen Interessenlage eines bestimmten Landes oder bestimmter Länder ihre Erklärung finden. Sie kann sich aber auch aus Motiven herleiten, die eindeutig nicht im wohlverstandenen deutschen Interesse liegen. Wenn die eigene Nation ihre Interessen nicht mit dem notwendigen Nachdruck verfolgt, kann man nicht erwarten, daß ausländische Regierungen das statt unserer tun.
Ich möchte mich also zunächst mit der Zustimmung zu dem Vertrag auseinandersetzen und untersuchen, was diese Zustimmung vom deutschen Standpunkt aus bedeutet. Dieser Standpunkt muß natürlich aus europäischer und atlantischer Perspektive gesehen werden; ein isolierter deutscher Standpunkt wäre als solcher nicht tragbar. In einem zweiten Teil werde ich die Argumente der eigentlichen Kritiker des Moskauer Vertrages im Ausland vortragen. Zur
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Dr. Dr. h. c. BirrenbachVersachlichung der Debatte und zwecks Vermeidung von persönlichen Auseinandersetzungen, wie sie im Zusammenhang mit der höchst peinlichen Diskussion über die Unterredungen von Dean Acheson, John McCloy, General Clay und Mr. Dewey mit dem amerikanischen Präsidenten am 10. Dezember vergangenen Jahres in der deutschen Öffentlichkeit aufgetreten sind, möchte ich hier keine Namen zitieren.Im Lager der Koalition hatte man sich im Dezemzember vergangenen Jahres hinreißen lassen, zu sagen, diese Äußerungen stammten von im Ruhestand befindlichen Herren, denen also offenbar keine besondere Bedeutung zukomme. Glücklicherweise hat Herr Schmidt ähnliche Erklärungen dieser Art gestern fairerweise zurückgezogen. Diese Qualifizierung gerade dieser Persönlichkeiten zeigt eine profunde Unkenntnis der amerikanischen Demokratie, der Bedeutung, die gerade diese Persönlichkeiten in der amerikanischen Politik heute immer noch haben, von ihrem historischen Rang und ihrer persönlichen Einstellung zur Bundesrepublik ganz abgesehen.
Diese Herren haben, weil sie anerkannte Freunde Deutschlands sind, aus echter Sorge um die deutsche Zukunft gesprochen, und sie in dieser Form abzuqualifizieren, ist nicht nur peinlich, sondern in der Sache schädlich.
3) Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Schmidt? —
Herr Kollege Birrenbach, würden Sie bereit sein, mir zuzugeben, daß ich die Personen, von denen Sie sprechen, nicht nur gestern mit Ausdrücken meines ehrlich empfundenen Respekts bedacht habe, sondern daß ich darüber hinaus mich in meinem Urteil über deren Neigung gegenüber der Bundesrepublik Deutschland von dem Ihren nicht unterscheide und daß es deswegen im Grunde überflüssig ist, wenn Sie den Eindruck heute morgen zu erwecken trachten, als ob ich diese Personen in irgendeiner Weise abqualifiziert hätte, wie Sie es soeben zu nennen beliebten?
Lieber Herr Kollege Schmidt, ich habe Sie ganz ausdrücklich ausgenommen und mich auf eine andere Persönlichkeit bezogen, die im Dezember diese Äußerung getan hat. Das waren Sie nicht. Ich habe sogar im Hinblick auf Sie das Wort „fair" gebraucht. Ich weiß, wie Sie denken. Wir freuen uns darüber, daß Sie Ihre gestrige Erklärung, die nicht glücklich war, zurückgezogen haben. Das ist durchaus im Sinne der deutsch-amerikanischen Beziehungen, von deren Wichtigkeit wir beide gleicherweise überzeugt sind.
Herr Abgeordneter Birrenbach, gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage?
Wenn es nicht zu Lasten meiner Zeit geht, dann ja!
Ich werde wie in solchen Fällen üblich verfahren.
Ich danke Ihnen sehr, Herr Präsident!
Wenngleich es mir schwerfällt, dies jetzt in Frageform zu fassen, so sehe ich doch, daß ich soeben Ihre Ausnahme in bezug auf meine gestrigen Äußerungen überhört habe. Ich möchte mich dafür entschuldigen.
Das ist eindeutig, Herr Schmidt.Um nun eine Wiederholung solcher Vorkommnisse zu vermeiden, möchte ich, wie gesagt, die von mir zitierten Stimmen, gleichviel, ob es sich um amerikanische, französische, englische, italienische, belgische oder holländische Staatsmänner, Minister, Leiter internationaler Organisationen, Parlamentarier oder Publizisten handelt, nicht beim Namen nennen, sondern lediglich ihre Argumente objektiv für sich sprechen lassen.Zunächst, meine Damen und Herren, zur Frage der Methode der Verhandlungen! Es wird darauf hingewiesen, daß die parlamentarische Basis der liberal-sozialen Koalition zu schmal sei, daß die Bundesrepublik als solche nicht mächtig genug sei, um mit der Sowjetunion über die entscheidenden Fragen, die an sich in einem Friedensvertrag geregelt werden müßten, allein zu verhandeln, daß man vielmehr hätte abwarten müssen, bis eine europäische politi-. sche Zusammenarbeit einen Grad erreicht hätte, der eine konzertierte Verhandlung der Europäer mit der Sowjetunion unter gleichzeitiger aktiver Assistenz der Vereinigten Staaten möglich gemacht hätte.Jetzt werden Sie sagen, dieser Moment sei noch nicht gekommen. Natürlich nicht, aber so wird fortgefahren — die Verzögerung der Verhandlungen wäre um so unbedenklicher, als eine Verhandlung mit der Sowjetunion über das Problem der DDR im jetzigen Augenblick, im Schatten der gerade 1968 proklamierten Breschnew-Doktrin, der Sowjetunion wenig Spielraum für Konzessionen in der Frage der DDR gibt. Insbesondere weist man darout hin, die amerikanischen Erfahrungen in den Verhandlungen mit der Sowjetunion in den letzten 25 Jahren hätten dringend nahegelegt, sich für diese Verhandlungen unendlich mehr Zeit zu nehmen, als die Bundesregierung es getan hat. Die Österreicher hätten für die Verhandlungen über das Neutralitätsstatut 252 Sitzungen gebraucht, die Amerikaner für den Teststoppvertrag vier Jahre und für den Atomsperrvertrag ebenso vier Jahre. Der Vertrag mit der Sowjetunion enthalte keinerlei relevante sowjetische Gegenleistungen, so wird gesagt. Die Kompensation für die deutschen Opfer bestehe allein in Erwartungen und Hoffnungen auf zukünftige Entspannungen, die im übrigen von vielen Faktoren
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5154 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 94. Sitzung. Bonn, Freitag, den 29. Januar 1971
Dr. Dr. h. c. Birrenbachabhänge, nicht nur vorn Moskauer Vertrag, und die darüber hinaus höchst zweifelhaft sei.
Die Bundesregierung habe sich durch die Unterzeichnung des Moskauer Vertrages in einen Zugzwang versetzt, der der Sowjetunion den Hebel gebe, auf die Bundesrepublik Pressionen auszuüben, den Vertrag zu ratifizieren.Ob die Bundesregierung diesem Druck widersteht oder widerstehen kann, lasse ich völlig dahingestellt Mir geht es hier um die objektive Darlegung von Argumenten kompetenter ausländischer Seite.Nun zum materiellen Inhalt des Moskauer Vertrages und der Bedeutung der Zustimmung des Westens. Es ist bekannt, daß vielfach im Ausland davon ausgegangen wird, der Moskauer Vertrag sei nur ein Gewaltverzichtsvertrag. Wenn die Zustimmung des Auslands auf dieser Ausgangsbasis be ruht, so bedeutet sie gar nichts Besonderes, denn auch die früheren CDU/CSU-Regierungen und die Große Koalition waren bereit, den osteuropäischen Staaten Gewaltverzichtsverträge anzubieten. Insbesondere auf Grund der Erklärungen der Bundesregierung und der systematischen Kampagne des Bundespresseamtes unter besonderem Hinweis auf Abs. 4 von Art. 3 im deutschen Text — ich sage: im deutschen Text mußte im Ausland der Eindruck entstehen, als begründe — um den Herrn Bundesaußenminister zu zitieren - der Art. 3 lediglich einen Modus vivendi mit der DDR in Gestalt einesI Gewaltverzichts, ein Begriff, der interessanterweise auch in das Kommuniqué der NATO vorn 10. Dezember eingegangen ist. Da also weder das Ausland noch die Opposition gegen die Idee eines Gewaltverzichts etwas einzuwenden haben, ist insoweit die Zustimmung des Auslands gar nichts Besonderes, auf das sich die Bundesregierung der Opposition gegenüber berufen könnte.Es ist allerdings eine ganz andere Frage, ob mit dem Gewaltverzicht das Ergebnis erreicht werden kann, das sich die Bundesregierung und zahlreiche andere westliche Regierungen von dem Moskauer Vertrag erhoffen.Was nun den Gewaltverzichtscharakter des Vertrages anbelangt, so hat die CDU/CSU-Fraktion in ihrer Kleinen Anfrage vom 12. Oktober gesagt, was zu sagen ist. Von den vier Formulierungen im Art. 3 zur Grenzfrage gestatten die ersten drei nicht unbedingt den Eindruck, als wenn es sich nur um einen, wie der Bundesaußenminister sagt, abstrakten Gewaltverzicht handelt. Für die These der Bundesregierung spricht vielleicht der Abs. 4 von Art. 3, und zwar im deutschen Text, wo von Unverletzlichkeit die Rede ist. Aber im sowjetischen Text heißt es, wie Sie alle wissen, „njerushimyi", das heißt „unveränderlich", „unerschütterlich"; so auch in der Übersetzung des Prawda-Artikels vom 13. August 1970.Diese Auffassung ist auch vertreten worden von Ministerpräsident Kossygin in der Note vom 2. August 1970 an die drei westlichen Siegermächte, wo von „Unwandelbarkeit" der Grenzen die Rede ist,ebenso in der berühmten Rede Breschnews in Alma Ata vom 28. August 1970, wo von der Anerkennung der Unverbrüchlichkeit der in Europa bestehenden Grenzen die Rede ist, insbesondere der Grenze zur DDR.Der Herr Bundesaußenminister hat in einer außenpolitischen Debatte dieses Hohen Hauses im vergangenen Jahr die Interpretation des Vertrages für Semantik erklärt. Das ist schon eine erstaunliche Erklärung, wenn man bedenkt, daß eine der entscheidenden Funktionen des Parlaments in der Außenpolitik die Zustimmung zur Ratifikation von internationalen Verträgen ist. Die Interpretation eines Vertrages ist wahrscheinlich der wichtigste Weg, einen Vertrag zu prüfen. Daß aber die Interpretation des Vertrages durch den Vertragspartner, insbesondere wenn er eine Weltmacht ist wie die Sowjetunion, ein ganz entscheidendes Element für die Bewertung des Vertrages ist, das zu leugnen ist der Koalition vorbehalten geblieben. Natürlich sind die Folgen des Vertrages wichtig. Diese aber ergeben sich zunächst einmal aus den Verpflichtungen, die der Vertrag als solcher kreiert.Da im übrigen der gesamte Ostblock in seinen Erklärungen davon spricht, der Moskauer Vertrag bedeute eine endgültige Sanktionierung der Folgen des zweiten Weltkrieges, ist es nicht verwunderlich, daß im Ausland vielfach davon ausgegangen wird, daß mit diesem Vertrag mindestens de facto, wenn nicht de jure, die Teilung Deutschlands vollzogen sei. Zahlreiche politische Persönlichkeiten im Westen von hohem Rang haben sich so geäußert, teilweise in tiefer Sorge um das deutsche Schicksal, teilweise aber auch — meine Damen und Herren, das müssen wir sehen — in Verkennung der deutschen Lage aus einer rein ausländischen Perspektive.Es ist leider nicht zu leugnen, daß es zahlreiche Stimmen im westlichen Ausland gibt, die der Meinung sind, daß ein wiedervereinigtes Deutschland zumindest heute innerhalb Westeuropas schwer verkraftbar oder nicht erwünscht sei. Das ist eine beunruhigende Erkenntnis im Hinblick auf den Art. 7 des Deutschland-Vertrages. Wenn aber dies das Motiv der Zustimmung zu den Verträgen ist, so besteht für uns kein Grund, darüber irgendeine Genugtuung zu äußern.
Wenn die Bundesrepublik ihre vitalen nationalen Positionen nicht selbst verteidigt, dann ist es unvermeidlich, daß sie auch im Westen unberücksichtigt bleiben. Es ist also eine deutsche Aufgabe und in erster Linie eine deutsche Aufgabe, sich der Aufrechterhaltung dieser Option anzunehmen.Zusammenfassend wäre also zur Zustimmung der westlichen Staaten zu sagen, daß diese entweder nur formeller Natur war und ist oder daß diese Staaten von einer Vertragsstruktur ausgehen, die mindestens zweifelhaft ist und, wenn sie zutreffend wäre, sich von der Auffassung der Opposition gar nicht wesentlich unterschiede, oder auf Motiven beruht, die wir als Nation schlechthin nicht akzeptieren können. So gesehen ist die sogenannte breite Welle der Zustimmung, wenn man sie näher unter-
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Dr. Dr. h. c. Birrenbachsucht, kein so schlüssiges Argument für dieses Hohe Haus, dem Moskauer Vertrag morgen seine Zustimmung zu geben, wie das behauptet wird.Meine Damen und Herren, was ist nun die Kritik im Ausland gegen die deutsche Ostpolitik, insbesondere gegen den Moskauer Vertrag? Zum Friedensvertrag — ich zitiere —: Die Stabilität in Europa werde dadurch gefährdet, daß die Bundesregierung praktisch den Friedensvertrag für den zweiten Weltkrieg ausgehandelt habe, während die für diesen entscheidenden Mächte, nämlich die drei westlichen Großmächte, trotz ihrer Vorbehaltsrechte dabei als Zuschauer am Rande ständen. Die wichtigsten Entscheidungen eines Friedensvertrages seien vorweggenommen. Diese Auffassung wird im Ausland immer wieder vertreten. Der Status quo in Deutsch- land, so meinen andere, möge zwar nicht im vollen Rechtssinn durch die Bundesrepublik anerkannt sein, in der Tat sei dies aber de facto für unbegrenzte Zeit geschehen. Der Vertrag mit Moskau erkenne die Realität der russischen Hegemonie in Osteuropa an, indem er die gegenwärtigen Grenzen festschreibe. Im Warschauer Vertrag verzichte die Bundesrepublik auf 40 000 Quadratmeilen deutschen Landes, welches von den Siegern Polen nach dem zweiten Weltkrieg zugedacht worden sei. Im Westen sei man beeindruckt von der Ironie, daß, während Bundeskanzler Brandt seine Politik als Instrument gradueller Änderung des Status quo ansehe, der Kreml dieselbe Politik als ein Mittel zur definitiven Konsolidierung des Status quo ansehe.Nun einige Bemerkungen zur Schwächung der westlichen Verhandlungsposition. Diese oder eine kommunistische Bundesregierung werde der Versuchung verfallen — kommende Bundesregierung, Verzeihung! — —
— Entschuldigen Sie! Ich meine, Ihre Ahnungen sollten Sie zurückhalten, Herr Wehner.
— Herr Wehner, ich möchte Ihnen sagen: in den 14 Jahren, die ich in diesem Hause bin,
habe ich nie eine Bemerkung gemacht, die in irgendeiner Form, in irgendeiner Art polemisch gewesen wäre oder irgend jemand beleidigt hätte. Das möchte ich Ihnen sagen.
- Gut, sehr schön!Nun einige Bemerkungen zur Schwächung der westlichen Verhandlungsposition. Diese oder eine kommende Bundesregierung, Herr Wehner, werde oder könne der Versuchung verfallen, der Sowjetunion, nachdem diese der Bundesrepublik im Moskauer Vertrag keine konkreten Zugeständnisse gemacht habe, zusätzliche Konzessionen in der Berlinoder Deutschlandfrage zu machen in der wahrscheinlich vergeblichen Hoffnung, die starre Haltung der Männer des Kreml zu erweichen, von denen schließlich entscheidend die Wiederherstellung der deutschen Einheit abhänge. Oder: Der Moskauer Vertrag würde in seinen Konsequenzen zu einem wahnsinnigen Wettlauf um die Gunst Moskaus in den verschiedenen Hauptstädten führen. Das haben, Herr Schmidt, auch prominente französische Vertreter — Sie kennen die Namen — gesagt. Moskau werde versuchen, die westliche Allianz durch Verhandlungen abwechselnd mit der Bundesrepublik, Frankreich und Italien zu schwächen, um diese zu veranlassen, den territorialen und politischen Status quo in Europa anzuerkennen, ihre Bindungen mit den Vereinigten Staaten zu lockern, die Einigung Europas, insbesondere im politischen und militärischen Bereich, zu verhindern und Europa in Abhängigkeit von der Sowjetunion zu bringen. Durch seine Vorleistungen habe Bundeskanzler Brandt dem Entspannungswillen der sowjetischen Führer Glauben geschenkt und damit sein Schicksal in ihre Hand gelegt.Zur Frage der Sicherheit heißt es, die westeuropäischen Staaten könnten in der Annahme, eine entscheidende Ursache der Spannung in Europa sei durch die deutsche Ostpolitik beseitigt worden, ihre Verteidigungsanstrengungen reduzieren und sich — ähnlich wie nach dem Kellogg-Pakt Ende der zwanziger Jahre— der Illusion eines gesicherten Friedens hingeben. Oder: Die Befürworter einer Reduzierung des amerikanischen militärischen Engagements auch in Europa, die im Senat die Resolution von Senator Mansfield unterstützen, könnten sich in ihrer Beurteilung der Lage bestärkt fühlen und auf einer substantiellen Verringerung der amerikanischen militärischen Präsenz in Europa bestehen. Die Unterschrift unter den Moskauer Ver- trag könnte in der Bundesrepublik einen Prozeß in Gang setzen, der den deutschen Willen unterminieren würde, die langfristigen Verteidigungsanstrengungen durchzuhalten, die notwendig seien, um die Sowjetunion, insbesondere im Falle einer Verringerung des amerikanischen Engagements in Europa, davon zu überzeugen, daß ihr politischer Druck in Mitteleuropa in Zukunft keine Aussicht auf Erfolg habe. Auf diese Weise — so sagt ein anderer — würde das an sich schon prekäre militärische Gleichgewicht auf dem europäischen Kontinent bedrohlich gestört. Eine weitere Verlagerung des politischen und militärischen Gravitätszentrums nach Osten zugunsten der Sowjetunion werde dann unvermeidlich sein. Oder: Wenn zumindest die Bundesrepublik den Status quo in Deutschland de facto für unbegrenzte Zeit anerkannt habe, so müsse man wissen, daß der Begriff des Status quo in der sowjetischen Perspektive kein statischer oder rein defensiver, sondern ein eminent politischer und aggressiver sei. Dieser sei ein mächtiger Hebel in ihrer Hand, Druck auf Westdeutschland auszuüben, welches den Schlüssel zum europäischen Machtgleichgewicht bilde.Nun zu Europa. Der Moskauer Vertrag könne sich als ein Hebel für die Sowjetunion erweisen, Bonn unter Druck zu setzen, um die Erweiterung der west-
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5156 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 94. Sitzung. Bonn, Freitag, den 29. Januar 1971
Dr. Dr. h. c. BirrenbachL) lichen Gemeinschaft, insbesondere die Schaffung einer politischen Union, zu blockieren mit der Begründung, eine solche Entwicklung würde die Spaltung Europas nur noch vertiefen, während die Sowjetunion durch Entspannung und Kooperation diese gerade zu überbrücken versuche. Oder: Die Ostpolitik begründe die große Gefahr, die Bindung der Bundesrepublik an den Westen zu lockern zugunsten einer imaginären gesamteuropäischen Ordnung.
In Deutschland würde sich, sobald es sich, von den Bindungen und Erwartungen des Deutschland-Vertrages frei, als ein unabhängiger Staat fühle, die Begeisterung für das Aufgehen der deutschen nationalen Identität in einer europäischen Einheit unvermeidlich verringern. Das zeige die Erklärung Bundeskanzler Brandts im März in London zur Frage der politischen Integration, die Sie kennen. Nichts sei aber schlimmer, als der russischen Diplomatie einen Hebel an die Hand zu geben, Einwände gegen die Integration zu erheben. Die deutsche Ostpolitik und die mögliche Reduzierung der amerikanischen politischen wie militärischen Präsenz in Europa könnten ihre Wirkung zu früh auslösen, bevor der politische Aufbau der Europäischen Gemeinschaft weit genug gediehen sei. Es bestehe daher eine imperative Notwendigkeit, in den nächsten fünf Jahren entscheidende Fortschritte in der europäischen Integration zu machen. Andernfalls bestehe die Gefahr, daß der europäischen Einigung durch andere mächtige internationale Strömungender Boden entzogen werde.
die sowjetische Macht in Osteuropa konsolidiert und auf diese Weise ihrer Hegemonie in diesem Raum Vorschub geleistet. Die Legitimierung der Staatlichkeit ihres ostdeutschen Satelliten, der das Schlußstück des sowjetischen Herrschaftsbereichs in Deutschland sei, würde diese Entwicklung nur fördern.Die Anstrengungen des Westens, insbesondere der Bundesrepublik, den sowjetischen Wünschen durch legale Sanktion des Status quo entgegenzukommen, würden wenig zu einer entscheidenden Entspannung beitragen, da die Bedrohung des Status quo in Europa weniger vom kapitalistischen Westen komme, wie Moskau längst wisse, sondern aus dem System im Ostblock selbst, wie die jüngsten Ereignisse in Polen gezeigt hätten.Die Schaffung eines Klimas des Vertrauens sei nicht deswegen schwierig, weil die sowjetischen Führer dem Westen mißtrauten, sondern weil das kommunistische Regime einen Feind als integrierendes Element brauche, um das totalitäre System zusammenzuhalten. Alles, was erreicht werden könnte, sei ein bedingtes Nachlassen verbaler Angriffe und Beschimpfungen.Selbst wenn der Schein der Normalisierung in der Tschechoslowakei für eine definitive Aufrechterhaltung der Sowjetherrschaft spreche, sei es klüger, eine abwartende Politik zu verfolgen und alle Möglichkeiten für eine zukünftige Evolution offenzuhalten, jedenfalls aber nichts zu tun, was auch nur den Anschein erwecken könnte, als würde die sowjetische Herrschaft in diesem Teil der Welt akzeptiert oder ermutigt.Für den Osten und für den Westen sei Brandts Politik gefährlich. Im Westen befürchte man, Brandts Initiative ende mit der Annahme belastender Bedingungen durch Bonn ohne Gegenleistung, während im Osten die Sorge bestehe, diese Politik führe
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Dr. Dr. h. c. Birrenbachzu engeren Kontakten mit dem Westen, die dann nur in Entwicklungen wie 1968 in der Tschechoslowakei oder in Unruhen wie jetzt in Polen enden würden.Die Vermittlung eines falschen Gefühls der Entspannung könne zu einem Verfall der NATO führen und das Ergebnis haben, daß die Sowjetunion in dieses Machtvakuum hineinstoße, nicht im Sinne eines militärischen Angriffs, sondern durch Einflußnahme auf die europäische Politik. Auf Grund der schieren Übermacht der Sowjetunion könne dann Westeuropa in Etappen in einen finnlandähnlichen Typ neutraler Abhängigkeit von der Sowjetunion abgleiten.Nun zwei letzte Bemerkungen zu Berlin. Es bestehe die Besorgnis — ich zitiere —, daß sich die Bundesregierung aus der Befürchtung, ihre Ostpolitik scheitern zu sehen, mit einer Berlin-Lösung zufriedengebe, die auf die Dauer die Sicherheit dieser Stadt gefährden müßte, nachdem die Anerkennung der DDR als souveräner Staat an sich allein schon den Einfluß der DDR auf die Sicherheit der Zugangswege nach Berlin erhöht habe. Jede größere Beschneidung der Bundespräsenz in Berlin allein könne alle Vorteile wegwischen, die durch eine russische Garantie der Zugangswege erreicht werden könnten.Zur europäischen Sicherheitskonferenz heißt es, der Moskauer Vertrag sei ein bedeutsamer Schritt in der Richtung auf die Abhaltung einer europäischen Sicherheitskonferenz, deren langfristiges Ziel es sei, die Vereinigten Staaten aus Europa herauszudrängen. Eine solche Konferenz müsse zu einer wachsenden Entfremdung zwischen den Westeuropäern und den Vereinigten Staaten führen, und zwar mit allen fatalen Konsequenzen, die eine solche Entwicklung hätte.Meine Damen und Herren, zusammengefaßt bedeutet die Zustimmung des Westens zur Ostpolitik der Bundesregierung aus deutscher Perspektive ungleich weniger, als die Bundesregierung uns glauben macht. Das habe ich im ersten Teil meiner Ausführungen eindeutig klargemacht. Was nun die Kritik der Ostpolitik anbelangt, so mag es sein, daß sie in diesem oder jenem Punkt über das Ziel hinausschießt. Im ganzen gesehen werden aber in ihr die tiefen Sorgen laut, die ausgesprochen oder unausgesprochen unter der Oberfläche formeller Zustimmung im Ausland gehegt werden. Man fürchtet offenbar doch im Sinne des Wortes des Bundeskanzlers von gestern, daß „Gleichgewichtsstörungen" eintreten könnten.Das objektiv und unpolemisch darzustellen, war der Zweck meiner Intervention.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Wehner.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Bemühungen meines verehrten Herrn Vorredners bei der Beurteilung von Detailproblemen und Detaillösungen im Westen habe ich in der Regel sehr geschätzt. Aber über das, was er hier in einem Teil seines Vortrags über die Reduzierung des spezifischen Gewichts positiver ausländischer Bewertungen der Politik der Regierung Brandt/Scheel darzulegen versucht hat, möchte ich mit ihm nicht streiten. Das ist eine Taktfrage, und es tut mir leid, daß ich - -
- Ja, sicher! Jedenfalls könnte ich, wenn ich mich mit Ihnen messen würde, immer noch bestehen, verehrte Herren.
Es tut mir leid, daß mir Ihre Kassandrarufe nicht klargeworden sind;
ich werde sie also einer zweiten Lesung unterziehen.Natürlich ist das, was Sie, Herr Kollege Birrenbach, sagen, nicht unwichtig. Aber in einem Punkt will ich Sie gleich beruhigen: Imaginäre Gesamteuropa-Vorstellungen, wie sie etwa bei einem Teil Ihrer Freunde vorhanden sind, von ihnen gehegt, gepflegt und sogar polemisch gegen uns eingesetzt werden, oder ein Übergreifen unserer europäischen Vereinigungsideen auf den Osten und immer weiter haben Sie von uns nicht zu befürchten. Ich glaube nicht, daß wir uns sehr streiten werden, wenn wir konkret werden und über europäische Politik reden, über das, was im Rahmen dieser Politik heute möglich ist, was notwendig ist und inwieweit das Notwendige möglich gemacht werden kann. Aber von dieser Tribüne aus macht es sich ganz gut, so zu tun, als könne man leicht über sämtliche in Paris, Den Haag und anderswo geschaffenen Tatsachen hinweghüpfen.Ich kann nicht eine Vorlesung an diese eben hier gehörte anschließen; es tut mir leid. Aber ich mache Sie, verehrter Herr Kollege, auf sehr präzise Auffassungen aufmerksam, die ich im Dezember-Heft des „Merkur" durchaus als bestreitbar zur Diskussion stelle, wo ich mich mit einem derer auseinandergesetzt habe, die der Meinung sind, die Politik dieser unserer Regierung sei sozusagen eine, die Europa nicht nur aufs Spiel setze, sondern schon aufs Spiel gesetzt habe. Dort habe ich mich sehr eingehend mit diesen Einwänden befaßt, und ich nehme an, Sie werden auch für die Beschäftigung damit einmal Zeit haben.Ich muß zurückkommen zu den Fragen, die hier zu so später Stunde meiner Meinung nach noch aufgegriffen werden dürfen und auch aufgegriffen werden müssen. Der Bundeskanzler hat sechs Feststellungen an den Schluß seines Berichts gestellt, und meiner Ansicht nach dürfte die Opposition diese Feststellungen nicht einfach unbeachtet lassen, wie es leider bisher in der Debatte geschehen ist. Ich bringe diese Feststellungen deswegen noch einmal auf, denn bei aller Gegensätzlichkeit in der Bewertung der Ansätze der Politik der Regierung Brandt/ Scheel müssen Sie, meine Damen und Herren, doch
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5158 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 94. Sitzung. Bonn, Freitag, den 29. Januar 1971
Wehnerder Tatsache Rechnung tragen, daß diese Feststellungen des Bundeskanzlers von Ihnen im Kern nicht abgelehnt werden können, daß nämlich das „in der Charta der Vereinten Nationen niedergelegte Recht auf Selbstbestimmung ... im geschichtlichen Prozeß auch den Deutschen zustehen" müsse, daß zweitens die „deutsche Nation ... auch dann eine Realität" bleibe, „wenn sie in unterschiedliche staatliche und gesellschaftliche Ordnungen aufgeteilt ist", daß drittens die „auf Bewahrung des Friedens verpflichtete Politik der Bundesrepublik Deutschland ... eine vertragliche Regelung der Beziehungen auch zur DDR" erfordere; und es heißt weiter:Die in den 20 Punkten von Kassel niedergelegten Grundsätze und Vertragselemente bleiben die für uns gültige Grundlage für Verhandlungen.Viertens. Der rechtliche Status von Berlin darfnicht angetastet werden. Im Rahmen der vonden verantwortlichen Drei Mächten gebilligten- und von uns wahrgenommenen —Rechte und Aufgaben wird die Bundesrepublik Deutschland ihren Teil dazu beitragen, daß die Lebensfähigkeit West-Berlins besser als bisher gesichert wird.Fünftens. Ein befriedigendes Ergebnis der Viermächteverhandlungen über die Verbesserung der Lage in und um Berlin wird es der Bundesregierung ermöglichen, den am 12. August 1970 in Moskau unterzeichnten Vertrag mit der Sowjetunion den gesetzgebenden Körperschaften zur Zustimmung zuzuleiten.Sechstens. Im gleichen zeitlichen und politischen Zusammenhang werden die gesetzgebenden Körperschaften über den am 7. Dezember 1970 in Warschau unterzeichneten Vertrag mit der Volksrepublik Polen zu entscheiden haben.Wenn Sie, meine Damen und Herren, bestreiten oder bezweifeln, daß die Verträge und die von Ihnen vermuteten und befürchteten Wirkungen der Verträge sowie auch die durch das Bemühen um solche Verträge entstehende Lage und die Kräfteverhältnisse in ihr diesen Feststellungen entsprechen, so werden Sie andere Alternativen bieten und begründen müssen, als es geschehen ist.Ich erinnere mich an eine Interpretation der Regierungserklärung vom Dezember 1966, in der es u. a. hieß, wenn dem so ist, nämlich wenn sich die politischen Positionen so hart gegenüberstehen, so müssen wir uns ehrlich fragen, ob Bemühungen um eine friedliche Lösung überhaupt einen Sinn haben, ob wir nicht, statt trügerische Hoffnungen zu wekken, warten müssen, bis der Geschichte etwas Rettendes einfällt, und uns bis dahin darauf zu beschränken haben, das zu bewahren, was uns geblieben ist: unsere eigene Freiheit und die Verweigerung der Anerkennung eines zweiten deutschen Staates durch die freie Welt. — Aber eine solche rein defensive Politik würde von Jahr zu Jahr in größere Bedrängnis führen; sie würde uns nicht nur keinen Schritt vorwärtsbringen, sie könnte uns auch das gar nicht bewahren, was sie bewahren will, denn die Zeit wirkt nicht für uns.Es ging also damals um Aspekte einer politischen Konzentration, welche, so fahre ich mit dieser Interpretation fort, auf der Prämisse beruht, daß Europa nicht darauf verzichten könne, eine solche, seine politische Spaltung überwindende zukünftige Friedensordnung zu entwerfen, in welcher auch die deutsche Frage ihre gerechte Lösung finden könnte. So weit aus dieser Interpretation, die der damalige Bundeskanzler aus Anlaß des 17. Juni zu seiner Regierungserklärung vom Dezember 1966, die von uns mitgetragen wurde, gegeben hat. Wer die jetzt einmal pauschal sogenannten Ostverträge ablehnt, muß erklären, was er an ihre Stelle mit der UdSSR, mit der Volksrepublik Polen, mit der CSSR und anderen an verbindlichen Verträgen setzen will und welche realen Aussichten er dafür zu haben meint. Ich kann mir durchaus vorstellen, daß man sagt, man lehne überhaupt Verträge in dieser Richtung ab, und verhält sich so, wie es hier nicht für angängig gehalten wurde. Aber Sie können nicht zwischen diesen beiden Pfeilern hängen, jedenfalls nicht sehr lange.
Sie können ablehnen. Es gibt Leute, die Verträge in dieser Richtung überhaupt ablehnen. Sie haben dafür moralische Gründe, sehr beredt vorgebrachte moralische Gründe.
Es gibt andere, die haben mehr taktische Gründe.
Alles das ist zu wägen. Wer aber diese Verträge etwa mit der Begründung ablehnt, daß sie einer zukünftigen Friedensordnung nicht entsprächen, nicht gerecht würden, was durchaus ein Streitgegenstand sein kann — warum sollte man sonst darüber diskutieren —, weil sie damit nicht identisch wären oder als nicht auf sie zuführend betrachtet werden, mit dem setzen wir uns sachlich auseinander, soweit er die Absicht hat, sachlich zu bleiben, denn wir halten diese Verträge für das real Erreichbare und Vertretbare. Wir sehen zweitens in ihnen eine Verbesserung sowohl der Position der Bundesrepublik Deutschland als Partner als auch der Atmosphäre für friedliche konstruktive Zusammenarbeit und nicht zu vergessen auch der Möglichkeiten, der Ansätze zur Entwicklung des Verhältnisses im gespaltenen Deutschland. Ich glaube, hier muß man auch die Chance nennen, auch wenn sie noch so schmal ist, wie sie jetzt etwa der Vertrag mit Polen zur Lösung gewisser humanitärer Probleme gibt, die von uns abgesprengt lebende Menschen brauchen, die durch Krieg und Kriegsereignisse in jene Lage gekommen sind, in der sie sind. Das sind Dinge, die man nicht einfach nur der Vollendung solcher Verträge bis in die letzten Verästelungen überlassen kann.Der Bundeskanzler hat seinen Bericht meiner Meinung nach mit Recht mit dem Satz geschlossen:... wir werden der Lage der Nation nur danngerecht, wenn wir fähig sind. den Meinungs-
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Wehnerstreit so zu führen, daß er dem Gegenstand und unser aller Verantwortung gerecht wird.Und da sage ich, die Verträge entlassen niemanden, kein Land oder keine Macht, aus Verpflichtungen, die er für Deutschland als Ganzes und insonderheit für Berlin hat. Wenn der Vorsitzende der Fraktion der CDU/CSU der Bundesregierung vorwerfen zu dürfen, vielleicht auch zu müssen meint, was durchaus legitim wäre, in dem Maße, in dem sie die Westmächte de facto von ihren Pflichten entbinde, würden die Rechte der drei Westmächte ausgehöhlt, so meine ich, vergreift er sich nicht nur in der Richtung, sondern er schwächt die eigene Position.
Das Fazit der Bemühungen der Bundesregierung Brandt/Scheel, so hat der Vorsitzende der Oppositionsfraktion der Bundesregierung vorgeworfen, sei das „Feindbild", sei die „Abgrenzung", die von der Gegenseite zu uns zurückschallt. Aber seit wann ist das, sehr verehrter Herr Kollege, der Maßstab? Was hätten Sie denn dazu gesagt, wenn etwa im Jahre 1968 die damalige Opposition durch ihren Sprecher der Bundesregierung Kiesinger/Brandt vorgeworfen hätte, das Fazit ihrer Bemühungen — und jetzt zitiere ich, was man damals hätte aufbieten können — sei „die Militärdoktrin der DDR" ? So lautete nämlich die Überschrift eines Artikels im „Neuen Deutschland" vom 23. November 1968. Wenn Sie das Spiel so spielen wollen, kommen weder Sie noch andere einen Schritt über das, was Sie sich jeweils zu spielen vornehmen, hinaus.
Ich habe damals gesagt: Wer die Landschaft verstehen will, wer verstehen will, was in diesem gespaltenen Deutschland alles an Last wegzubringen und abzutragen ist, um überhaupt zu Erörterungen über vernünftige Regelungen der Beziehungen zueinander zu kommen, muß das, was in diesem Artikel „Die Militärdoktrin der DDR" steht, wirklich fassen und erfassen. Wenn man damals so argumentiert hätte, wie Sie jetzt gegen diese Regierung argumentieren, hätte man damals sagen können: Das war also das Fazit der Bemühungen der Regierung Kiesinger/Brandt — die Militärdoktrin der DDR! Soll ich es zitieren? Meine Zeit reicht dafür nicht. Ich stelle Ihnen den Text aber gern zu, da manche so gern in Zitaten herumsuchen. In einem rororo-Band, der sozialdemokratische Beiträge über die Perspektiven im Übergang zu den siebziger Jahren enthält, habe ich in einem Beitrag über das gespaltene Deutschland dargelegt, was diese Militärdoktrin sagt, wie sie zu sehen ist, wie scheußlich sie ist und daß für die, die sie gemacht haben, so gesehen, das ganze geteilte Deutschland nichts anderes zu sein schien als ein Glacis zur Austragung eines bestimmten Kampfes. Das alles ist gesagt worden.
Aber ich muß zur Ehre der damaligen Opposition sagen, daß sie eine solche Form des Anklagens verschmäht hat. Sie war also nicht so fit wie Sie, was das Zurückwerfen dessen, was dort drüben übel ist,auf die jeweilige Mehrheit hier im Hause angeht. Das machen Sie. Das ist Ihnen vorbehalten.
Das Feinddenken ist für die Deutschen selbst und für Europa außerordentlich gefährlich. In diesem Artikel über die Militärdoktrin z. B. finden Sie das in einer ganz besonders krassen Form. Es lohnt sich, sich das noch einmal anzusehen und Überlegungen darüber anzustellen.Der verehrte Kollege Amrehn hat gestern gesagt, die Unterschrift unter den Vertrag habe uns nicht vor dem bewahrt, was als Rückfall in den kalten Krieg bezeichnet worden ist. Ich stehe nicht an zu sagen: Das ist leider wahr! Aber es handelt sich ja um eine ganze Etappe, in der es darum geht, daß nun um den Geist und das Lebendigwerden dieses Vertrages gerungen werden muß. Es ist leider auch wahr, daß Stau und Stopp früher gelegentlich mit Brücken- und Straßenreparaturen und ähnlichem begründet oder bemäntelt wurden, während heute etwa Tagungen und politische Besuche in der Stadt Berlin zum Vorwand genommen werden. Verehrter Herr Kollege Dr. Marx, die Wertungen, die Sie daran knüpfen, sind aber nicht richtig. Es handelt sich hier um eine lange und zum Teil furchtbar bittere Auseinandersetzung. Die Hauptsache ist, wie und mit wie klarem Verstand wir sie führen. Ich will jetzt gar keine Parallele ziehen. Ich muß Ihnen allerdings sagen — das haben wir doch alle zusammen erlebt , daß uns die Westverträge nicht davor bewahrt haben, daß als schlimmste Besiegelung der Zerreißung Deutschlands und im besonderen Berlins jene Mauer errichtet wurde. Dennoch haben wir die Westverträge nicht zum alten Eisen geworfen. Oder? Ich rate auch niemandem, es zu tun.
Wir dürfen nur nicht vergessen, daß diese Mauer ungeachtet der Westverträge von denen, die diese Verträge mit uns feierlich geschlossen haben, hingenommen worden ist, wenn auch mit Protest.
Die Verträge sind deswegen nicht so behandelt worden, wie Sie jetzt Verträge behandeln zu sollen meinen.
Meine Damen und Herren, ich vermag nur mit großer Distanz das zur Kenntnis zu nehmen, was kürzlich unter Berufung auf den früheren stellvertretenden amerikanischen Außenminister der Regierungen unter den Präsidenten Kennedy und Johnson, Herrn George Ball, dargelegt wurde, allerdings, gebe ich zu — deswegen kann ich ihn nicht voll verantwortlich machen —, in der Fassung, die Herr „Henrique" Barth in der „Welt" diesen Worten zu geben versteht — das muß ich sagen — —
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5160 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 94. Sitzung. Bonn, Freitag, den 29. Januar 1971
Wehner— Ja, das ist Ihnen unbenommen. Sie können reisen und können zurückkommen
mit einem Koffer voll Maden, um damit hier zu angeln; das ist in Ordnung, das ist Ihre Rolle.
— Die einen haben sie errichtet, und die anderen haben es hingenommen. Das ist eine Tatsache.
— Bleiben Sie doch auf dem Teppich, Herr! — Zehn Jahre danach lebt man nicht mehr von der Propaganda, welches Zeichen der Schwäche dies für jenes Regime ist, das sie errichtet hat, sondern man muß sich darum kümmern, wie man sie allmählich abträgt, allmählich überwindet.
Das ist alles.
Sie haben durch Ihren Vorsitzenden gefragt, wer denn der Partner sei, ob es überhaupt ein Gleichgesinnter sei. Das ist eine berechtigte Frage. Aber zu unserem Bedauern ist die Welt nicht so einfach, wie sie sich in den fünfziger Jahren den damals bei uns Regierenden auszunehmen schien. Es gibt nämlich nicht den großen Zuchtmeister im Osten, dessen Direktiven alle wie Marionetten und Satelliten — diese Worte kommen manchmal jetzt noch vor -befolgen, wie es auch nicht den großen Befreier im Westen gibt, der alle Fragen löst, — —
— Ja, da könnten wir einmal ein Privatissimum miteinander halten, verehrter Herr Ex-Bundeskanzler. Das möchte ich einmal.
Aber ich weiß, daß für Sie ein Unterschied besteht im Gespräch und im Auftritt. Ich gönne Ihnen den Auftritt.
Es gibt weder das eine nach das andere. Was es aber gibt, das ist die Notwendigkeit, sich um den Interessenausgleich zwischen den Bündnissen von West und Ost zu bemühen — um einen Begriff, der zur Interpretation unserer Regierungserklärung"vom Dezember 1966 geprägt wurde, zu Hilfe zu nehmen.Die Ost-Verträge — einschließlich dessen, den wir mit der DDR anstreben sind eine Konsequenz aus den West-Verträgen. Durch diese Konsequenz wird unsererseits die Bundesrepublik Deutschland a) handlungsfähig zur Mitwirkung an der Organisierung des Friedens werden, und b) wird sie ihren Beitrag zu einem Interessenausgleich zwischen den Bündnissen von West und Ost leisten können.Zu der von der Opposition gelegentlich — und manchmal sehr bösartig — gebrauchten Unterstellung, daß mit diesen Ost-Verträgen die NATO aufgeweicht, ausgehölt, wirkungslos werde, hat gestern mein Kollege Wienand und hat der Verteidigungsminister in angemessener Weise Stellung genommen.
Ich will nur sagen, die Beispiele Rom und Brüssel 1970, in Fortführung von Reykjavik 1968 und Washington 1969, die auch schon die Handschrift des damaligen Bundesministers des Auswärtigen und jetzigen Bundeskanzlers zeigten, sind doch wohl nicht einfach zu leugnen. Wer daran interessiert ist, daß die Entwicklung in Richtung Interessenausgleich der Bündnisse von West und Ost gefördert wird, der muß auch daran interessiert sein, daß nicht z. B. die DDR die Möglichkeit eines Vetos gegen die Wirksamkeit der Verträge bekommt noch über das hinaus, was sie sowieso an Position hat, die wir ja nicht einfach manipulieren können.Bei Ihnen, meine Damen und Herren, wird einerseits — das hat man auch in ■dieser Debatte bis jetzt gemerkt — behauptet, ,die Verträge seien mit unserer Verfassung überhaupt nicht vereinbar. Andererseits möchten Sie glauben machen, die endgültige Entscheidung der CDU/CSU werde erst noch getroffen. Nun, ich bin weit davon entfernt, Sie mit diesem Widerspruch unter sich zu lassen und uns etwa damit begnügen zu wollen, diesen Widerspruch zu beleuchten. Aber ich möchte Sie auch darauf aufmerksam machen, daß Sie in die Irre gehen, wenn Sie annehmen, die Schärfe Ihrer Angriffe gegen die konkreten Bemühungen der Bundesregierung Brandt/Scheel ändere positiv etwas an der Gesamtlage der Nation. Das ist das, was ich feststellen muß, und das kann auch eine Opposition nicht völlig unbeachtet lassen.Die Ostverträge sind zunächst nichts anderes als die Konsequenz aus den Westverträgen.
Die Westverträge haben Sie damals mit großer Begeisterung abgeschlossen. Das war Ihnen damals noch zu fernliegend, als daß Sie es heute mit Ruhe und Sachkenntnis beurteilen können.Zu Herrn von Weizsäckers Einwand, die Sowjetunion werde uns ,doch keine Bündnisse anbieten, die nicht ihren eigenen Interessen entsprächen! Bei den Ostverträgen handelt es sich überhaupt nicht
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Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 94. Sitzung. Bonn, Freitag, den 29. Januar 1971 5161
Wehnerum Bündnisverträge, es sind Verträge ganz anderer Art.
Es handelt sich um Verträge, die es der Bundesrepublik Deutschland möglich machen sollen und werden, als ein gleichberechtigter Partner am Bemühen um die Organisierung des Friedens teilzunehmen und nicht lediglich zu postulieren, welche deutschen Fragen erst gelöst werden müßten, damit wir als gleichberechtigtes Glied eines vereinigten Europas dem Frieden der Welt dienen können. Was von den deutschen Fragen lösbar gemacht werden kann, das kann der Lösung zugeführt oder nähergebracht werden nur durch unser praktisches Bemühen um die Organisierung des Friedens als Bundesrepublik Deutschland und nicht als ein Fahnenmast eines gewünschten vereinigten Deutschlands.
Das ist es, worum es heute in der Politik geht, um weiterzukommen.Wenn Sie, wie das gestern hier geschehen ist, behaupten, die deutsche Frage sei nur noch in Erklärungen, aber nicht mehr in den Verträgen offen, so muß ich erwidern, daß die Ostverträge von einer Bundesrepublik Deutschland geschlossen werden, die unter den Vorbehaltsrechten der Westverträge steht und handelt.
Wer diese Hypothese leugnet, wird den Dingen entweder nicht gerecht oder will die Debatte auf ein falsches Gleis schieben.Sie meinen, die Sowjetunion werde doch nur ihren eigenen Interessen gemäße Verträge mit uns eingehen. Darauf muß ich sagen, daß mit dem Argwohn gegen die Motive der Sowjetunion und der DDR z. B. auch die seinerzeitigen, hier vorzunehmenden Prüfungen solcher Vorschläge der anderen Seite belastet waren, wie etwa die Vorschläge, die zu dem Passierscheinabkommen führten. Da hat man auf Ihrer Seite doch auch gesagt: Wenn die so etwas vorschlagen, dann muß etwas ganz Besonderes im Hintergrund sein. Es war gar nicht so einfach, hier Sie dazu zu bringen und im Einvernehmen miteinander schließlich jene bescheidenen Sachen damals überhaupt — —
— Ja, ja, sicher! Und wie würden Sie sich heute die Finger lecken, wenn solche „kleinen Fische" nicht wegen eines Fehlers der Regierung 1966 — —
Es war ja nicht Ihre Regierung, Herr Kiesinger. Das war eine Regierung, in der der Bundeskanzler Erhard und der sich heute noch gelegentlich in Erinnerung bringende damalige Vizekanzler und Gesamtdeutsche Minister im Juni 1966 wegen einer kleinen Modifikation, zu der auch der Berliner Senat damals gesagt hatte, die könne man ertragen,einer Modifikation in der Unterschrift und in der Bevollmächtigung, es abgelehnt hatten, das Passierscheinabkommen zu erneuern; und man wußte, daß es ohne dies keines gibt. Als man im Oktober wieder zusammenkam und nichts Neues zu sagen hatte, gab es eben keines. Seither stehen wir auf jenem schwachen Fuß der Härtefallregelung, nach der wenigstens einige — gelegentlich werden die Zahlen veröffentlicht — den Vorzug haben, in schwierigen familiären Fällen über die Sektorengrenze gehen zu können.Zu der seltsamen Bemerkung von gestern — ich drücke mich vorsichtig aus, weil ich das Protokoll noch nicht habe; ich habe das nur mitgeschrieben — über die unglückliche sachliche Konzessionsbereitschaft, verbunden mit zu starker provokatorischer Wirkung, die angeblich von uns hier, von dieser Regierung und natürlich vor allen Dingen von den Sozialdemokraten, auf drüben ausgehe, muß ich Ihnen sagen, sehr verehrter Herr von Weizsäcker: Was Sie und andere sich auch ausdenken mögen, die politische Führung der DDR wird das Nebeneinander von DDR und BRD stets als — wie sie es dort definieren — „Klassenkampf" definieren.
— Sicher! Wollen wir darüber reden, was das alles involviert? Da geht des Wortes wegen natürlich noch lange keiner in die Knie, es sei denn, man will damit Dritten schaden und tut so, als gehe man in die Knie. Sie möchten doch wohl nicht — ich unterstelle Ihnen das nicht — im Negativen mit der politischen Führung der DDR übereinstimmen?
— Ich habe Ihnen gesagt, daß Sie das wohl doch nicht möchten.Ich kenne einen bedeutenden Mann, der am Ende seiner politischen Laufbahn das, was an ihr das Entscheidende gewesen sein mag, soweit es sich auf unser Land bezog, völlig umdrehte. Das war John Foster Dulles. Da konnte er es nicht mehr ändern. Nur: als er 1953 seinen Antrittsbesuch hier machte, wurden auch einige Herren der damaligen Opposition dorthin gebeten, um etwas zu sagen. Ich war einer von den Dreien; die anderen waren mein verstorbener Freund Ollenhauer und mein Freund Carlo Schmid. Wir kriegten ein paar Minuten, um etwas über unsere abseitigen Vorstellungen zu sagen, und dann wurden wir belehrt. — In Ordnung!Damals hat Dulles uns gesagt, er kenne es, wie die Russen das mit geteilten Ländern usw. machten. Er sagte — ich will mich kurz fassen —, solange wir uns noch erkennbar für das, was im anderen Teil vor sich gehe, interessierten, so lange hätten die Russen ein Interesse, dies als Faustpfand zu behalten; das würde sich erst ändern, wenn wir uns durch das, was dort geschieht, in nichts mehr beeinträchtigen ließen und uns auch — um es dann zu steigern — in nichts mehr erpressen ließen.Der Kollege Gradl hat gestern gesagt, zwar sei die DDR eine Realität, aber — ich nehme seine Worte —
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5162 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 94. Sitzung. Bonn, Freitag, den 29. Januar 1971
Wehnereine kranke und nicht eine gesunde. Ich kann mich diesen Worten nicht einfach anschließen. Aber ich kann mir vorstellen, was Sie darunter verstehen. Die Frage ist auch dann, wie wir uns angesichts dessen verhalten.Wenn Sie fragen: Wo bleibt wenigstens im Umgangston eine entsprechende Leistung der anderen Seite?, sage ich Ihnen: Ich möchte mir die nicht auch noch erkaufen! — Das ist doch wohl kein Problem, wie die uns apostrophieren, oder ist das plötzlich für Sie ein Problem geworden? Das nehme ich nicht an.
— Nur: sollten wir, wenn wir das auch noch zu einer Bedingung machen, aufhören? Wir können ja gar nicht aufhören. Bei u n s liegt der moralische Stachel, sich zu bekümmern. Da sind Sie doch nicht anderer Meinung als wir! Da geht es dann doch nur darum, wie man das machen muß. Aber Sie haben doch auch kein Rezept dafür. Weil die ihren Ton, weil die bestimmte Dinge nicht ändern, drehen wir uns ihnen eben einmal mit dem Rücken zu? Sie von der Opposition sind ja nicht John Foster Dulles. Ich habe ihm damals gesagt: Das ist eine grandiose Vorstellung; die paßt aber für jenseits des Ozeans und nicht für die unmittelbar Betroffenen und Beteiligten! — So haben wir offen miteinander gesprochen.
Meine Zeit ist abgelaufen. Bildlich und auch sonst gesprochen: Die politische Führung der DDR hat — das ist das eigentliche Dilemma — keine gesamtnationale Legitimation, auch nicht in dem Sinne, in dem andere Staaten jener Sphäre sich auf eine solche berufen können und es auch tun. Hätte ich Zeit, würde ich mich weiter damit befassen können.Weil das so ist, ist deren Reaktion sowohl bei den theoretischen Darlegungen, die ihnen geschenkt sein mögen, als auch sonst in der Praxis eben die: erst wenn alles DDR wäre, könnten wir von einer Nation sprechen. Es hat einen Mann gegeben, der heute eine Unperson ist, wie es häufig der Fall ist, nicht nur dort bei denen, sondern auch bei uns; wenn man früher einmal etwas war und dann nichts mehr ist, ist man eine Unperson.Dieser Mann hat in der damaligen „Täglichen Rundschau", in einem dieser großen Artikel, geschrieben: „DDR werden wir nur, wenn wir es in ganz Deutschland werden. Wir sind bis jetzt nur mit einem Bein über den Berg. Wenn wir das andere nicht nachziehen können, verlieren wir Kopf und Kragen." Das war seine Warnung. Der hat aber heute auch nichts mehr zu sagen. Er steckt in einem Archiv oder ist wohl schon gestorben. Wenn nicht — ich bin da nicht so genau im Bilde. Das war Herrnstadt. Daran war natürlich etwas. Das war eine Vorstellung des Entweder-Oder. Nicht nur unter taktischen Gründen, sondern auch zum möglichen Sicheinander-Anpassen mußte die Möglichkeit zur Berührung gesehen werden. Aber das ist vorbei.Ich muß schließen. Unser deutsches Volk hat sein Bewußtsein, als Nation zu leben und zu handeln, in schwierigen Entwicklungen seiner Staatlichkeit erworben. Unter uns sind ja noch Zeitgenossen, diesowohl das Wilhelminische Kaiserreich, als auch die Weimarer Republik, als auch den NS-Staat Adolf Hitlers, als auch die Besatzungszonen, als auch die Bundesrepublik Deutschland und ihr Gegenüber, die DDR, erlebt haben. Immer waren Spannungen und Spannweiten, war Kampf und waren Ausschließlichkeitsansprüche, Verdammungen schrecklicher Art. Das ging von „Ich kenne keine Parteien mehr, ich kenne nur noch Deutsche" bis zu „Die Partei ist alles" und „Wer nicht für uns ist, der ist unser Feind" . Die DDR hat diese Spannungen, meine Damen und Herren, und den Konflikt nicht gelöst. Sie hat ihn nur verschoben. Sie hat ihn nur verzerrt, und darüber ließe sich manches sagen. Daraus würde sich für uns manches erklären.Dennoch gibt es ein Kulturerbe, und es gibt die geschichtlich gewordene Nation, wenn auch nicht in einem Staat. Und da beginnen unsere Probleme, die Probleme, von denen die Regierung will, daß wir sie nicht einfach nur beschreiben, sondern daß wir versuchen, sie lösbar zu machen, und von denen ich nichts mehr sagen kann, weil, wie gesagt, meine Redezeit abgelaufen ist. Ich danke Ihnen für ihre Geduld.
Meine Damen und Herren, das Wort hat Herr Abgeordneter Dr. Kiesinger.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Herr Bundeskanzler hat gestern gesagt, das Jahr 1970 habe die deutsche Frage auf eine neue Art auf die Tagesordnung der europäischen Politik gebracht. In der Tat. Die Frage ist: War es die richtige Art? Der Herr Bundeskanzler hat erklärt, die Bundesrepublik sei bei den schwierigen Bemühungen um einen gesicherten Frieden eine treibende Kraft. In der Tat. Wohin treiben wir?
Der Herr Bundeskanzler hat eine nachdenkenswerte Bemerkung gemacht. Er sagte, wir beeinflußten das Geschehen um uns her, aber dieses Geschehen wirke noch stärker auf uns ein.Herr Bundeskanzler, hätte Sie diese Einsicht nicht zu äußerster Vorsicht beim Start Ihrer neuen Ostpolitik mahnen sollen? Hätte diese Einsicht nicht vor allem den ganzen methodischen Ansatz, das überstürzte Tempo der neuen Ostpolitik zügeln müssen?
— Ich komme darauf. — Oder ist Ihnen diese Einsicht erst hinterher gekommen, nachdem Sie, um das frisch-fröhliche Wort Helmut Schmidts aus der gestrigen Debatte zu wiederholen, sich entschlossen hatten, es einmal so 'rum zu versuchen?
Wie gedämpft ist Ihre Sprache geworden, HerrBundeskanzler! Das ehrt Sie, aber es ändert nichts
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Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 94. Sitzung. Bonn, Freitag, den 29. Januar 1971 5163
Dr. h. c. Kiesingeran dem schlimmen Sachverhalt, daß wir durch Ihre Politik im vergangenen Jahr wichtige Positionen verloren
und nichts, aber auch gar nichts anderes gewonnen haben als die vage Hoffnung, eines Tages werde sich das alles lohnen.
Jetzt ist bei Ihnen die Rede von zäher Geduld und langer Zeit, von Politik auf lange Sicht, ohne Hast, doch ohne Rast.Hätten doch all diese Erkenntnisse und guten Vorsätze am Beginn Ihrer neuen Politik gestanden!
Dann hätten Sie gestern — —
— Immer wenn es Ihnen unangenehm wird, Herr Dr. Schäfer, dann ist es bei Ihnen „Bla B1&. Das kennen wir aus der Geschichte dieses Parlamentes seit über 20 Jahren.
Immer, wenn dieser Zwischenruf kommt, weiß ich, daß ich ins Schwarze getroffen habe.
Wenn diese Erwägungen — —
Herr Abgeordneter Kiesinger, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Ich möchte den Gedanken zu Ende führen und gestatte dann die Zwischenfrage.Wenn — und ich sage das sehr ernst — diese Erkenntnisse am Beginn Ihrer Politik gestanden hätten, ja dann, Herr Bundeskanzler, hätten Sie wohl gestern Besseres berichten können und vielleicht nicht nur den Beifall Ihrer Koalition, sondern dieses ganzen Hauses, auch der Opposition, gefunden, ohne deren Unterstützung — Sie wissen es genau — Ihre ganze Politik scheitern muß.
Es war von der Mehrheit die Rede.
Sie selbst wissen doch, wie es in dieser Sache um Ihre Mehrheit in diesem Hause bestellt ist.
Aber Sie haben diese Unterstützung gar nicht ernsthaft gesucht,
und Ihr Fraktionsvorsitzender hat sie sogar mit bitterem Spott zurückgewiesen. Nun bleibt ihm nichts anderes übrig, als zu sagen, die deutsche Politik könne nicht hinter die unterzeichneten Verträge zurück, sonst werde es ein Desaster, eine Katastrophe geben.
— Das ist ganz genau zitiert. Wer so denkt, meine Damen und Herren, der hätte das vor der Unterzeichnung bedenken müssen und alles daransetzen müssen, mit Geduld und Zähigkeit und Offenheit, ohne Hast und ohne Rast das Verständnis und das Einverständnis der Opposition zu suchen,
das Einverständnis jener breiten Mehrheit, die allein eine so anspruchsvolle Politik hätte tragen können.Jetzt sollen die von Ihnen geschaffenen Tatsachen uns zum Einlenken zwingen. Aber, meine Herren, die von Ihnen geschaffenen Tatsachen haben ja Sie selbst in eine Zwangslage versetzt, in der, nimmt man das Wort Herbert Wehners ernst, Sie selbst schon nicht mehr frei handeln können. Sie sind zum Gefangenen ihrer eigenen, überstürzten Politik geworden.
Damit sind wir beim Spielraum für die deutsche Außenpolitik, über den Helmut Schmidt gestern in diesem Hause so optimistisch plauderte. Dieser Handlungsspielraum, meinte er, sei größer, als man sich zugebe, obwohl er bei der Debatte zum Bericht zur Lage der Nation im Jahre 1968 genau das Gegenteil festgestellt hatte. Dieser Spielraum sei größer, als man sich zugebe, nur hätten ihn die früheren Bundeskanzler entweder nicht wahrgenommen oder nicht ausgenützt.Merkwürdig nur, wie schüchtern Helmut Schmidt dann zur Zeit der Großen Koalition war, Vorschläge zur Ausnutzung dieses Spielraums zu machen. Schüchternheit ist doch sonst nicht seine hervorstechendste Eigenschaft.
Wir waren doch so schön einig; fast bis zum Ende der Großen Koalition gab es gemeinsame Resolutionen, auch gegen die FDP.Helmut Schmidt amüsiert sich gern, etwa über das Wort „Phänomen", das sich einmal im Blick auf das, was sich „DDR" nennt, gebrauchte. Ich hätte ihn, wenn er da wäre, gern gefragt, ob er sich auch über seinen Parteivorsitzenden Willy Brandt amüsiert hat, als dieser sagte — es ist nicht ein Wort aus grauen Vorzeiten, Herr Mattick, es ist gar nicht so lange her —, die Politik des freien Deutschland stehe vor der Notwendigkeit, sich jeder Anmaßung
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5164 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 94. Sitzung. Bonn, Freitag, den 29. Januar 1971
Dr. h. c. Kiesingerund Aufwertung des Ulbrichtschen quasi-staatlichen Gebildes
zu widersetzen oder jenem Gebilde, das sich zu Unrecht die Deutsche Demokratische Republik nenne. Meine Damen und Herren, ich finde das ganz vortreffliche Übersetzungen des von mir gebrauchten beanstandeten Fremdwortes.
Aber vielleicht hat Herr Schmidt Humor genug, sich auch über seine eigenen vergangenen Äußerungen zu amüsieren.
Lassen Sie mich nachhelfen; denn unser Gedächtnis ist ja so kurz. In der Debatte zu meinem Bericht zur Lage der Nation im Jahre 1968 sagte der Fraktionsvorsitzende Helmut Schmidt in seinem Beitrag folgende interessante Sätze:In fast allen Staaten Europas besteht an der Wiederherstellung der deutschen Einheit primär kein nennenswertes Interesse. Man muß auch das einfach zur Kenntnis nehmen. Vielen Menschen in diesen anderen Staaten wäre durchaus wohler, wenn das deutsche Problem auf die bequemste Weise aus der Welt geschafft würde, nämlich dadurch, daß die Deutschen sich mit dem heutigen Zustand abfinden.
Meine Damen und Herren, ich komme auf dieses Wort zurück.Da ich schon bei der Gedächtnisauffrischung bin, könnte ich Beiträge Herbert Wehners, gute Beiträge, aus jener Debatte zitieren. Ich weiß, daß wir alle lernen müssen und gelernt haben. Ich will dafür zwei Äußerungen aus dem Jahre 1966 zitieren, um zu zeigen und zu fragen, wo denn die Gründe für eine so rasche Sinnesänderung liegen. Die erste ist Ihre Äußerung am 23. Januar 1966 im Hessischen Rundfunk:Wir sollten dabei bleiben, einen friedensvertragliche Regelung für Deutschland, d. h. für Deutschland in den Grenzen von 1937, zu verlangen.
Ich habe immer gesagt, daß dann versucht werden muß, für die Deutschen soviel von Deutschland wie möglich zu retten.
Das war eine ausgezeichnete Form.
Und Sie haben am 28. August 1966, also kurz vor der Begründung der Großen Koalition, gesagt:Wenn ich die polnische Haltung richtig verstehe, dann verlangt Gomulka zur Zeit bei der Aufnahme diplomatischer Beziehungen die Anerkennung der Oder-Neiße-Linie, die Anerkennung der sowjetischen Besatzungszone als Staat und die Ausklammerung Berlins.
Diesen Preis für diplomatische Beziehungen mit Polen zu bezahlen, das kann doch niemand im Ernst von uns verlangen.
Eine Zwischenfrage, bitte!
Herr Bundeskanzler außer Diensten,
würden Sie mir bitte erlauben, Ihnen das, was Sie jetzt an Auslese haben, in vollständigem Text zu überreichen, damit sich niemand mit Auslesen begnügen muß, und zwar so, wie ich es jetzt wieder gebracht habe, ohne jede Kürzung, für eine stille Stunde in Schönbuch?
Ich danke Ihnen. Aber an den Sätzen, verehrter Herr Kollege ID Wehner, die ich vorgelesen habe, ebenso wie an den Sätzen, die Sie in der Debatte zum Bericht zur Lage der Nation 1968 über den Vorbehalt und über das Aufsparen unserer Rechtspositionen, auf die man nicht verzichten solle, gesagt haben, gibt es wenig herumzudeuteln.
Genug der Zitate! Ich sage dies alles nur, weil es aus Ihren Reihen jetzt so aufgeregt herüberschallt, wenn wir heute dasselbe sagen und verlangen, was Sie noch ganz vor kurzem selber gesagt und verlangt haben.
Ich erinnere mich noch sehr genau an unsere Gespräche in der Großen Koalition. Herr Schmidt hat gestern gemeint, ich hätte den Brief von Herrn Stoph angenommen, geöffnet und beantwortet unter dem Einfluß von Herrn Wehner. Herr Wehner weiß es besser. Ich habe den Brief von Herrn Stoph aus eigenem Entschluß angenommen, ohne irgend jemanden zu fragen, und ich habe höflicherweise meine damals zuständigen Kollegen davon unterrichtet, daß ich den Brief öffnen werde und daß ich auch vorhabe, ihn zu beantworten. So ist es gewesen.
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Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 94. Sitzung. Bonn, Freitag, den 29. Januar 1971 5165
— Ich gebe Ihnen das zu. Es gibt Präzedenzfälle genug.Sie, Herr Bundeskanzler, haben in Moskau und Warschau verhandelt und anerkannt. Sie haben ohne Zwang und Not und ohne Gegenleistung die Staatlichkeit der DDR anerkannt, ihre Grenzen, mit jenem merkwürdigen Vorbehalt, daß jener Staat für alle Staaten wie für uns ein Staat, für uns aber nicht Ausland sei. Danach wollen Sie nun verhandeln, ohne das im Falle der Erfolglosigkeit die in Moskau und Warschau unterzeichneten Verträge in Frage gestellt werden dürften.Meine Damen und Herren, das ist etwas, worauf der Herr Kollege Wehner in jener Debatte eingegangen ist. Er hat damals gesagt, daß es einen Zustand geben könnte, in dem man sich nicht mehr bewegen könne, daß man etwas preisgeben könnte, das damit enden könnte, daß man keine Manövrierfähigkeit hat. Haargenau das, Herr Bundeskanzler, ist die Lage, in der Sie sich heute befinden. Wie wollen Sie noch manövrieren, wenn diese Verträge für Sie absolut sicher stehen mit der einen Ausnahme Berlins? Selbst da ist es gefährlich genug, daß Sienicht gewartet haben und unserem Rat nicht gefolgt sind und unterzeichnet haben, bevor es zu einem befriedigenden Abschluß der Berlin-Verhandlungen gekommen ist.Natürlich ist es wahr, daß auf jeden Versuch des Entgegenkommens von unserer Seite Ulbricht mit einer neuen aggressiven Aktion nach vorn geantwortet hat. Wir erinnern uns noch sehr gut an jene Neujahrsrede vom 1. Januar 1967. Bei dem Beginn dieser Politik sind von Ihnen selbst spektakulär Hoffnungen erweckt worden. Sie haben gesagt, Herr Bundeskanzler, Sie seien froh, daß die Gespräche mit der DDR, die jetzt stattfänden, von dem spektakulären Charakter, den es einmal gegeben habe, weggekommen seien. Hätten Sie dieses spektakuläre Element in Ihrer Politik von vornherein weggelassen, es wäre besser gewesen. Es hat Ihnen auch innenpolitisch nicht eingetragen, was Sie sich von diesem spektakulären Element erhofften.
Die zunehmende Härte Ulbrichts nach der Unterzeichnung der Verträge, seine Leugnung der Existenz einer beide Teile Deutschlands umfassenden deutschen Nation im Gegensatz zu früher, seine Proklamierung einer eigenen sozialistischen deutschen Nation in seinem Machtbereich mit der Zielsetzung einer einstigen, ganzen sozialistischen Nation in Zukunft, die neuen Schikanen auf den Zufahrtswegen nach Berlin, seine intransigente Haltung gegenüber West-Berlin, der, wie er will, „selbständigen politischen Einheit auf dem Territorium der DDR", die Reduzierung von Kontakten, auf dieRainer Barzel hingewiesen hat, gerade in der Zeit nach der Unterzeichnung der Verträge, gegenüber früher beweisen, wie sicher er sich in dieser politischen Szene fühlt.Und glauben wir doch nicht an das Märchen des auftrotzenden Satelliten gegen — jawohl — den Zwingherrn in Moskau! Wenn Sie etwa Zweifel daran gehabt hätten, daß diese Schikanen auf den Zufahrtswegen nach Berlin mit Wissen und Willen Moskaus erfolgen, dann hätte Ihnen die heutige Stellungnahme der „Iswestija" dazu die Augen geöffnet.
Wir können nur hoffen, daß es mit Berlin doch noch gut enden wird, trotz der Zwangslage, in die Sie sich dadurch hineinmanövriert haben, daß Sie unserem Rat nicht folgten.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Wer die Geschichte dieser Stadt kennt — und Sie kennen Sie besser als jeder andere —, der weiß — —
Wer die Geschichte dieser Stadt kennt — —
Bitte keine Zwiegespräche!
Wer den Ursprung und ihre Raison d'être - - Herr Mattick, Sie können sich gern mit mir unterhalten. Ich stehe Ihnen zur Verfügung. — Wer die Geschichte dieser Stadt und ihre Raison d'être kennt, der kann sich einfach nicht vorstellen, daß eine isolierte Berlin-Lösung ohne gleichzeitige Fortschritte in der deutschen Frage Berlins Zukunft sichern könnte.
Ja, wohin treiben wir? Sie haben, Herr Bundeskanzler, das Selbstbestimmungsrecht des deutschen Volkes, das zentrale Problem der deutschen, aber nicht nur der deutschen, sondern auch der europäischen Frage in Ihrer Zusammenfassung in eine beklemmend nebulöse Formel gehüllt. Das Recht auf Selbstbestimmung — Herbert Wehner hat es soeben wiederholt — müsse im geschichtlichen Prozeß auch den Deutschen zustehen. Die deutsche Nation bleibe auch dann eine Realität, wenn sie in unterschiedliche staatliche und gesellschaftliche Ordnungen aufgeteilt sei. Welch melancholische Feststellung! Es ist ein schlimmer Trost, eine Nation zu sein und in zwei Staaten geteilt zu bleiben. Wie milde hört sich das an: mit unterschiedlichen staatlichen und gesellschaftlichen Ordnungen! Das ist doch die Sprache derer drüben — sagen wir es doch deutlich —:
geteilt in zwei Staaten, in einen, in dem die Menschen in Freiheit leben können, und in den anderen,in dem die Menschen unterdrückt werden und als
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5166 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 94. Sitzung. Bonn, Freitag, den 29. Januar 1971
Dr. h. c. KiesingerGefangene hinter einer einzigen großen Gefängnismauer leben.
Warum das Kind nicht beim Namen nennen? Die drüben sind ja auch nicht zimperlich, wenn sie über uns reden, und sie verstehen uns besser, wenn wir sagen, wie wir sie begreifen.
Eine Zwischenfrage, bitte!
Herr Kollege Dr. Kiesinger, verbuchen Sie auch auf das Konto „nicht zimperlich", was Sie in Berlin gesagt haben, nämlich daß auch der Führer einmal wie der Herr Bundeskanzler zum „Mann des Jahres" gewählt worden sei,
oder sehen Sie nicht darin eine unerhörte Unterstellung, die Ihnen auf Grund Ihrer politischen Vergangenheit nicht zusteht?
Sie wissen ganz genau, daß ich eine ganze Reihe von Männern genannt habe, die von „Time"-Magazin einmal zum „Mann des Jahres" erwählt worden sind. Ich habe das gesagt,
um deutlich zu machen, daß die Wahl zum „Mann des Jahres" durch diese Zeitschrift keineswegs notwendigerweise eine Anerkennung seiner Person und eine Billigung seiner Politik bedeutet. Sie bedeutet vielmehr, daß dieser Mann - sagen wir es einmal ein bißchen forsch — die meisten Schlagzeilen in dem betreffenden Jahr gemacht hat.
'
Wer die Begründung des Artikels in „Time"-Magazin gelesen hat — ich komme auf das zurück, was ich in Berlin gesagt habe —, der weiß, daß ich nicht daran denke, und niemand in diesem Hause sollte es mir auch nur entfernt unterstellen, den Bundeskanzler als Person und als Politiker in die Nähe des Verbrechers Hitler zu rücken.
Ich meine, deutlicher kann ich mich ja wohl nicht ausdrücken.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Frerichs?
Bitte schön!
Herr Dr. Kiesinger, teilen Sie meine Auffassung, daß es drüben in der sogenannten DDR
eine schweigende Mehrheit gibt, die weit über 50 % hinausgeht, die das Regime und die politische Führung ablehnt und die heute in diesem Hause bei der Beratung über den Bericht zur Lage der geteilten Nation auch einmal angesprochen werden sollte?
Ich hoffe, daß es niemanden in diesem Hause gibt, der sich nicht der schweigenden Mehrheit drüben bewußt ist,
und daß jeder weiß, daß sie uns gegenwärtig ist, wenn wir über diese Fragen, und das heißt auch über ihr zukünftiges Schicksal, reden.
Und nun meine Damen und Herren, die Vertröstung auf den geschichtlichen Prozeß — und ich will hier vorsichtig reden, Herr Bundeskanzler —, was ist sie denn anderes als ein Element jener vagen Hoffnung, es werde sich, nachdem man sich so friedfertig-entgegenkommend gezeigt habe, am Ende alles Getrennte wieder finden? Sie haben Verträge mit einer Macht abgeschlossen, die entschlossen ist, kein Glied des sogenannten sozialistischen Lagers jemals aus eigenem Willen wieder aus dem Zwang zu entlassen, also auch nicht unsere Landsleute drüben. Sie können also nur hoffen, daß der „geschichtliche Prozeß" diesen brutalen Herrschaftsanspruch irgendwie ad absurdum führt. Was aber im Laufe eines solchen geschichtlichen Prozesses zu erwarten wäre, hat uns doch die gewaltsame Intervention, die „brüderliche Hilfe" der Sowjetunion in der Tschechoslowakei drastisch vor Augen geführt, und wir sollten das nicht so leicht vergessen.Sie verweisen auf das Echo und die Zustimmung der westlichen Welt. Helmut Schmidt hat mir ja die Antwort vorweggenommen, als er sagte, es wäre vielen Leuten viel wohler, wenn wir selber das Problem vom Tische brächten. Diese Situation haben wir. Die früheren Regierungen dagegen, meine Damen und Herren, haben als sie mit dem Westen zusammengingen, im selben Zug eine verbriefte Unterstützung der deutschen Politik in der deutschen Frage gewonnen, also etwas ganz und gar Positives;
Sie haben nur Ihre Hoffnung. Das war für unsere Bündnispartner nicht bequem, denn die deutsche Einheit ist ja unsere, nicht ihre Sache, und jedem ist das eigene Hemd näher als des anderen Rock.In dem Sinne, daß sich die Deutschen mit dem heutigen Zustand abfinden würden, versteht doch
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Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 94. Sitzung. Bonn, Freitag, den 29. Januar 1971 5167
Dr. h. c. Kiesingerdie ganze Welt Ihre Politik, so verstand sie auch die Zeitschrift, die Sie zum „Mann des Jahres" erkor,
als sie den Kern Ihrer Politik folgendermaßen beschrieb:Willy Brandt ist der erste deutsche Staatsmann, der bereit ist, die Folgen der Niederlage voll zu akzeptieren, den Verlust an Land, die moralische Verantwortung und die Anerkennung der Teilung Deutschlands.Vor Jahresfrist habe ich Sie gefragt, ob das der Kern Ihrer Politik sei, als damals ein bekannter deutscher Journalist dies behauptete. Sie sind mir auf meine Frage die Antwort schuldig geblieben, und wir warten immer noch darauf.Sie verhandeln, Herr Bundeskanzler, mit einem Partner — der Sowjetunion —, dessen Ziele Sie kennen: Sicherung der Ergebnisse des zweiten Weltkrieges und beständige Ausdehnung ihres Interessenbereiches, ihres Einflußbereiches bis zur Hegemonie über ganz Europa.
Von der Expansion der Sowjetunion in anderen Bereichen des Planeten will ich jetzt schweigen. — Die Sowjetunion wird nicht aufhören, die USA aus Europa hinauszudrängen. Als Sie, Herr Außenminister, aus Moskau zurückkamen, glaubten Sie, die Sowjetunion habe sich mit der europäischen Gemeinschaft abgefunden. Aber wir wissen es doch aus dem Munde vieler ihrer Vertreter: sie will keine politische Gemeinschaft, weil diese ihr den cordon sanitaire, jenen Gürtel machtloser Staaten vor ihrem Imperium, nähme, den sie braucht.Und nun zum Schluß
— ja, ich glaube, daß es Ihnen unangenehm ist, wenn ich rede —
die entscheidende Frage: Glauben Sie, Herr Bundeskanzler, durch Ihre Vorleistungen diese große, revolutionäre, unaufhörlich seit vielen Jahrzehnten expandierende Macht zum Verzicht auf diese Zielsetzungen bewegen zu können? Entspannung gäbe es doch nur, wenn dies gelänge. Freilich kann man, wenn zwei entgegengesetzt an einem Seile ziehen, auch dadurch Entspannung schaffen, daß der eine aufgibt. Wenn Sie aber solche Hoffnungen nicht haben, was wird dann aus der deutschen Frage, was wird dann aus der Selbstbestimmung des deutschen Volkes, was wird dann aus Europa?
— Herr Wehner, ich bleibe bei dem,
was ich in meiner Rede zum 17. Juni gesagt habe, Sund das werden Sie nicht aus der Welt reden können.
Aber, Herr Wehner, was ich damals gewollt und begonnen habe, das war ohne Hast und ohne Rast auf eine lange Zeit geduldigsten, wachsamsten
und besonnensten Bemühens angelegt und nicht auf spektakuläre Darstellungen, die uns in eine Lage versetzen, aus der wir nun nicht mehr als frei Handelnde hervorgehen können.
Das Wort hat der Abgeordnete Moersch.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Abgeordnete Kiesinger hat eben einen Satz aus dem „Time"-Magazin über den Bundeskanzler zitiert, den er wenige Wochen zuvor am 16. Januar bereits in Baden-Baden auf dem CDU-Landesparteitag zitiert hat.
— Ich werde gleich darauf zurückkommen, Herr Kiesinger, es ist Ihnen bekannt, daß das Wort „Anerkennung" in diesem Falle eine Übersetzung aus dem amerikanischen Text ist und das „recognition" — —
— Gut, auch „acknowledgement" — —
— Herr Czaja, Sie können sich Ihre Späße für nachher aufheben!
Die Bedeutung des amerikanischen Wortes bekommt in der deutschen Übersetzung einen Doppelsinn.
Moersch?)Es bekommt einen Doppelsinn, denn „Anerkennung" hat im Deutschen, wie Sie wissen, auch eine moralische Bedeutung, so daß die deutsche Übersetzung einen anderen Klang hat. Wenn Sie mit einem Amerikaner sprechen, sagen Sie „with compliments". Das ist der Unterschied. Das können Sie im Deutschen auch mit Anerkennung übersetzen: „Ich spreche Ihnen meine Anerkennung aus." Ich glaube, das sollte man auseinanderhalten.
— Herr Kiesinger, Sie lachen darüber! Sie können nicht bestreiten, daß Sie nicht das amerikanische
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5168 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 94. Sitzung. Bonn, Freitag, den 29. Januar 1971
MoerschWort zitiert haben, sondern eine deutsche Übersetzung, die hier verbreitet worden ist
und die einen Doppelsinn ergibt.
— Ich hätte es so übersetzt; aber man muß dann dazu sagen, wie es im Amerikanischen klingt und wie es dort gemeint ist.
— Es ist doch ganz einfach, Herr Kiesinger. Die Sache ist doch so gemeint, daß wir zur Kenntnis nehmen, daß dort ein Staat besteht, daß wir aber die Herrschaftsform dort nicht in irgendeiner Form legitimieren wollen. Wir wollen den Unterschied zwischen demokratischer Legitimation und einer anderen nicht verwischen. Darum geht es doch.
Sie haben bei dem, was Sie in Baden-Baden gesagt haben, Sätze hinzugefügt, die deutlich machen, daß Sie etwas ganz anderes unterstellt haben. Sie haben nämlich den Satz hinzugefügt:Ich möchte nicht als deutscher Bundeskanzler in die Geschichte eingegangen sein, über den irgend jemand in der Welt diese Sätze hätte schreiben können.Das haben Sie gesagt.
Herr Kiesinger, Sie hätten Gelegenheit gehabt, die Frage, wie man in die Geschichte eingeht, als Bundeskanzler selbst in Ihrem eigenen Sinne zu beantworten, wenn Sie Ihrer eigenen Regierungserklärung gefolgt wären, die Sie am 13. Dezember 1966 abgegeben haben.
Dort haben Sie nämlich etwas anderes gesagt. Das haben Sie offensichtlich sowohl in Baden-Baden als auch hier vergessen. Damals haben Sie in einer ganz anderen Tonart gesprochen. Damals haben Sie Ihre wirkliche politische Meinung, die Sie in den fünfziger Jahren zum Ausdruck gebracht haben, keineswegs hinter Emotionen verborgen. Sie haben in Ihrer Regierungserklärung — daran muß man erinnern, wenn die jetzige Politik von Ihrer Seite kritisiert wird — gesagt:Die letzte Bundesregierung- das war die Regierung Erhard —hat in der Friedensnote vom März dieses Jahres- so sagten Sie 1966 — auch der Sowjetunion den Austausch von Gewaltverzichtserklärungen angeboten, um erneut klarzustellen, daß sie nicht daran denke, unsere Ziele anders als mit friedlichen Mitteln anzustreben.Sie haben hinzugefügt:Die Bundesregierung wiederholt heute dieses auch an die anderen osteuropäischen Staaten gerichtete Angebot. Sie ist bereit, das ungelöste Problem der deutschen Teilung in dieses Angebot einzubeziehen.Was heißt denn das anderes, als daß wir von der Existenz zweier Staaten in Deutschland auszugehen haben, wenn wir zu Gewaltverzichtsvereinbarungen mit osteuropäischen Staaten kommen wollen? Oder wollen Sie heute sagen, das sei nicht so gemeint gewesen?
Gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Bitte schön!
Herr Kollege Moersch, haben Sie nicht bemerkt, daß in dieser Fassung, in der gesagt ist, die Bundesregierung sei bereit, das ungelöste Problem der deutschen Teilung in den Gewaltverzicht einzubeziehen, offengelassen wurde, wie diese Einbeziehung in den Gewaltverzicht erfolgen soll? Wir haben uns das damals sehr genau überlegt. Mit diesem Angebot war noch kein Angebot an die Machthaber in der DDR selbst gemacht, mit ihnen eine Gewaltverzichtsvereinbarung abzuschließen. Haben Sie bemerkt, daß Gewaltverzicht genau das bedeutet, was das Wort aussagt, und daß diese Bundesregierung dem Moskauer Vertrag aus guten Gründen nicht mehr den Namen „Gewaltverzichtsvertrag" gegeben hat?
Wenn mich mein Gedächtnis nicht täuscht und wenn ich überhaupt die Logik dessen verstehen soll, was Sie soeben mit Ihrer Frage ausgedrückt haben, kann das doch nur heißen, daß Sie jetzt nachträglich diese damalige Meinung so interpretieren wollen, daß man zu Gewaltverzichtsvereinbarungen mit der Sowjetunion unter Ausklammerung der DDR und des gesamten Problems hätte kommen können. Wenn Sie das in der Tat geglaubt haben, verstehe ich Ihre Regierungserklärung von 1966 nicht mehr. Ich glaube, dann ist sie auch in diesem Hohen Hause mißverstanden worden.
— Aber das ist ja nicht die einzige Stelle, die darauf hinweist, daß Sie nicht immer so geredet haben, wie Sie heute reden. Sie haben damals im Jahre 1966 auch eine eigene Äußerung aus dem Jahre 1958
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Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 94. Sitzung. Bonn, Freitag, den 29. Januar 1971 5169
Moerschselbst zitiert. Sie haben darauf hingewiesen, daß Sie 1955 zu den Befürwortern der Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen der Bundesrepublik und der Sowjetunion gehört haben — ich erinnere mich sehr gut an diese Zeit — und daß Sie damals für eine Verbesserung der Beziehungen eingetreten sind, auch wenn das auf der anderen Seite sehr schwergefallen sein sollte. Sie haben damals gesagt, wenn wir nicht sofort eine positive Antwort erhielten, sollte das für uns kein Anlaß sein, uns Schritt für Schritt um zunehmendes gegenseitiges Vertrauen und um Verständigung zu bemühen. Das war der Sinn ihrer Ausführungen damals.
Warum soll das, was Sie damals für richtig gehalten haben, nun nicht für diese Bundesregierung gelten? Das ist doch die Frage, die Sie in diesem Zusammenhang zu beantworten haben. Sie haben doch im Jahre 1958 selbst darauf hingewiesen, daß es für die Sowjetunion im Zusammenhang mit der Wiedervereinigung Deutschlands Probleme gebe, deren Lösung ihr schwierig scheine. Sie haben dann gesagt, politische Klugheit und weitblickender Verständigungswille auf allen Seiten würden aber solche Schwierigkeiten überwinden können. Sie seien auch heute noch dieser Überzeugung, haben Sie hinzugefügt. Was hat sich denn daran geändert, Herr Kiesinger? Das ist die Frage.
Eine weitere Zwischenfrage.
Weitblickender Verständigungswille auf beiden Seiten! Muß ich mich noch deutlicher ausdrücken?
Auf allen Seiten!
Gibt es bis jetzt nicht nur auf unserer Seite einen Verständigungswillen? Wo sehen Sie auf der anderen Seite einen Verständigungswillen, der nicht nur auf den bloßen Abschluß eines Vertrages, auf Grund dessen wir auf unsere Positionen einseitig verzichten, abzielt? Glauben Sie nicht, daß man unter Verständigung verstehen muß, daß beide Teile sich wirklich entgegenkommen?
In der Tat verstehe ich das darunter. Aber eines verstehe ich nicht: daß man Deklamation schon für Politik hält.
Man muß ja doch wohl irgendwann einmal anfangen, von sich aus den ersten Schritt zu tun.
Den ersten Schritt zu tun, dies war unsere Aufgabe. Es wird sich herausstellen, ob sich andere diesem Willen auf die Dauer widersetzen können, ob sie sich dagegen sperren können, ob es nicht auch ineiner Friedenspolitik eine Dynamik gibt, die eben zur Entspannung führt, wenn und weil sie den Interessen der Beteiligten entspricht. Ich glaube, daß unsere Politik weitgehend diesen Interessen entspricht, auch wenn das jetzt noch nicht überall erkannt werden sollte.Ich möchte aber zurückkommen, Herr Kiesinger, auf Ihre Haltung in den fünfziger Jahren, weil Sie meiner Ansicht nach heute wieder den Fehler gemacht haben, diese unsere Politik nicht klar genug in der Konsequenz der Politik zu sehen, die Sie selber damals, als Sie sich in der Westpolitik auf die Seite der Mehrheit in der CDU, auf die Seite Konrad Adenauers geschlagen hatten, mitverantwortet haben.
— Herr Vogel, Sie haben vorhin in Zwischenrufen widersprochen als der Kollege Wehner sagte, daß die Ost-Verträge die Konsequenz der West-Verträge seien. Ich ersehe nun aus Ihrem Zwischenruf wieder, daß Sie bis zum heutigen Tage diese Konsequenz in der Tat nicht begreifen, daß Sie nicht begreifen, daß die Entscheidung für die Westpolitik, wenn man überhaupt dauerhafte Sicherheit und Frieden in Europa wollte, eben nicht darin bestehen konnte, nur zu sagen: Wir haben ein westliches Militärbündnis, und wir haben westliche politische Zusammenarbeit, sondern daß außerdem ein wesentliches Element dauerhafter Sicherheit die politische Entspannung ist. Als sich die CDU damals für die West-Verträge entschied, hatte ich das so verstanden, als glaubten Sie, nur auf dieser Basis die Sicherheit zu gewinnen, die für eine Lösung der deutschen Frage, d. h. für einen Abbau der Konfrontation in Europa, notwendig sei.
— Wenn Sie mir zustimmen, Herr Kiesinger, frage ich Sie: Warum haben Sie dann nicht konsequent dieses Instrument der West-Verträge und der Westpolitik genau für die entscheidende Aufgabe unserer nationalen Existenz eingesetzt?
Warum haben Sie dann in Wirklichkeit eine Politik des Abwartens betrieben, des Wartens, wie gesagt, auf irgendein Wunder, das dann nicht kam? Dafür kam dann die Mauer in Berlin. Das war die sichtbare Konsequenz.
— Ja, aber wir haben jetzt gezeigt, daß wir den Schritt in der richtigen Richtung getan haben. Wir haben uns nicht gescheut, diesen Gedanken zu Ende zu denken, den Sie damals der deutschen Politik aufgedrängt haben. Denn Sie haben in den Jahren 1952 und 1955 nicht einmal ausgelotet, ob es eine andere Möglichkeit gab. Sie hatten gute Argumente dafür. Sie waren der Meinung, daß ein Gesamtdeutschland zwischen Ost und West unserem lang-
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5170 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 94. Sitzung. Bonn, Freitag, den 29. Januar 1971
Moerschfristigen Sicherheitsinteresse nicht diene. Sie haben sich damit dazu entschlossen, diese Bundesrepublik Deutschland nicht als ein Provisorium und nicht als Transitorium — wie Heuss sagte —, sondern als einen Staat in der westlichen Gemeinschaft zu betrachten.
— Aber dann hätten Sie ehrlicherweise auch aufhören müssen, zu sagen, daß diese Ihre Politik zur baldigen Wiedervereinigung Deutschlands führe. Das war in diesem Zusammenhang unehrlich.
Das konnte diese Politik nicht. Das konnte sie auch wegen der westlichen Nachbarn nicht, die hierbei andere Interessen hatten.Im Jahre 1952 sagten Sie mit Recht, daß man dieses Angebot der Sowjetunion nicht ausloten könne, weil damit langfristig unserer Sicherheit nicht gedient sei. Sie müssen dann aber doch auch akzeptieren, daß eben das, was wir als Eigenstaatlichkeit daraus gemacht und darunter verstanden haben, auch auf der anderen Seite spiegelbildlich entstehen würde. Wenn Sie das leugnen wollen, muß ich Ihnen sagen: Ich habe Sie damals offensichtlich mißverstanden. Dann muß ich nachträglich feststellen, daß Ihre Reden im Deutschen Bundestag, die Redegefechte, die Sie damals mit Fritz Erler geführt haben, offensichtlich nicht zu Ende gedachte Darstellungen waren, daß Sie offensichtlich nicht nur verschwiegen haben, was daraus werden soll, sondern daß Sie es auch nicht gewußt haben.
Das ist eine Feststellung, die man nach Ihren Antworten hierauf treffen muß, daß Sie nicht verstehen wollen, daß die Politik, die wir heute als Ostpolitik betreiben, die Konsequenz aus der West-Entscheidung der Bundesrepublik Deutschland ist und sonst nichts.
- Bitte schön!
Wenn wir hier ernsthaft miteinander reden wollen, darf ich Sie fragen, Herr Moersch: Haben Sie denn nicht verstanden, daß mein Haupteinwand gegen die Politik dieser Regierung der ist den viele Leute außerhalb der Reihen der Opposition, z. B. Herr Dahrendorf, ebenfalls erheben —, daß Sie die Fortsetzung der von uns in der Großen Koalition begonnenen Politik nicht auf lange Sicht angelegt haben, um am Ende vielleicht durch Opfer, die wir zu bringen hätten, Gegenleistungen zu bekommen, sondern daß Sie die Opfer und Preisgaben an den Anfang gestellt haben und nun warten müssen, bis irgendein Wunder Ihnen gibt, auf was Sie hoffen?
Herr Kiesinger, allein die Vokabeln, die Sie soeben wieder gewählt haben, zeigen,
daß Sie die Dinge offensichtlich sehr emotional nehmen. Es geht dabei nicht um Preisgaben. Es geht darum, daß in der Tat diese Bundesregierung die Konsequenz aus Erfahrungen von acht Jahren Politik gezogen hat, und zwar die vollständige Konsequenz,
die Lehren aus Erfahrungen, die Sie selber als Bundeskanzler gemacht haben.
Ich will Ihnen hier einige dieser Erfahrungen ins Gedächtnis zurückrufen. Es gab 1961 eine Bundesregierung, der die FDP angehörte, deren Außenminister Gerhard Schröder war, die mit aktiver Ostpolitik begann. Sie begann diese aktive Ostpolitik um die DDR herum.
Herr Czaja, ich will Ihnen gleich sagen, wohin das am Ende geführt hat. Man hat die Augen vor der Tatsache verschlossen, daß dort ein wichtiges Mitglied des Warschauer Paktes vorhanden ist. Das hat dazu geführt, daß wir über Handelsmissionen nicht hinausgekommen und nicht zu wirklichen politischen Kontakten und Gesprächen gelangt sind.
Zum zweiten haben Sie dann etwas getan, was Sie sicherlich nicht wollten, was aber zeigt, daß Sie die Dinge nicht zu Ende gedacht hatten. Sie haben nämlich die diplomatischen Beziehungen mit Rumänien in einem Zeitpunkt und in einer Form aufgenommen, die dazu geführt haben, daß wenige Wochen und Monate später eine außerordentliche Verhärtung in den sich bereits bessernden Beziehungen zur Tschechoslowakei und zu Ungarn eingetreten ist. Die damalige Nichtaufnahme diplomatischer Beziehungen zu Ungarn und zur Tschechoslowakei hängt zeitlich eng zusammen mit der Aufnahme diplomatischer Beziehungen zu Rumänien, weil diese Beziehungen ohne entsprechende Absicherung mit der Sowjetunion und den anderen osteuropäischen Staaten begonnen wurden. Damals entstand ein Eindruck, den Sie sicherlich nicht erwecken wollten und der in der Sache falsch war, nämlich der Eindruck, daß Sie eine Isolierungspolitik um die DDR herum betreiben wollten. Damit haben Sie damals zweifellos psychologisch einen Fehler gemacht.
— Ich habe gesagt, daß man aus diesen Erfahrungen lernen mußte, daß niemand diese Konsequenz in jeder Weise voraussehen konnte. Aber wenn man diese Erfahrung gemacht hat, ist es doch nützlich, daraus zu lernen, nämlich zu sehen, daß man nicht um die DDR herum Politik machen kann, sondern daß man sie in die Entspannungspolitik einbeziehen muß, wenn diese auf die Dauer erfolgreich sein will. Wenn Sie das bestreiten, sind wir allerdings verschiedener Meinung.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage?
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Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 94. Sitzung. Bonn, Freitag, den 29. Januar 1971 5171
Herr Kollege Moersch, sind Sie sich eigentlich klar darüber, daß Sie als Staatssekretär des Auswärtigen Amts
— der Sie ja auch sind — soeben eine Definition gegeben haben, die demjenigen, mit dem wir damals die Beziehungen, auch weil dies seinem Willen entsprach, so aufgenommen haben, einen Bärendienst in seinem inneren Lager aufgebürdet hat?
Herr Dr. Marx, wenn man die Dinge so nennt, wie sie sind und wie es alle Welt weiß — —
— Herr Dr. Marx, was ich jetzt gesagt habe, haben meine politischen Freunde schon damals gesagt, und ich stehe nicht an, es zu wiederholen, weil ich es für richtig halte und weil alle Welt weiß, daß es so ist. Es hat auch keinen Sinn, sich nicht einzugestehen, daß man damals eine Situation falsch eingeschätzt hat. Wie sollte man sonst künftig richtige Politik machen können?
Gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Wir geraten ein bißchen in die Gefahr von Geschichtsklitterungen. Aber jetzt muß ich doch eine Frage an Sie richten, weil Sie von Ihren politischen Freunden sprachen. Glauben Sie, daß es einer richtigen Einschätzung der Lage in Osteuropa entsprach, als die führenden Herren der FDP, als es in Prag bereits lichterloh brannte, dorthin reisten und damit Moskau das Argument einer tschechoslowakisch-deutschen Verschwörung in die Hand spielten?
Herr Kiesinger, auch aus dieser Erfahrung kann man lernen. Ich will nur hinzufügen
— damit das ganze Zitat gebracht wird —, daß erstens diese Reise mit der von Ihnen geführten Bundesregierung abgesprochen war und sicherlich mit Ihrer Zustimmung stattfand
und daß es zweitens der Bundesbankpräsident, mit dem Sie ja sicher noch näher verbunden waren, war, der anschließend dahin fuhr.
— Es ist gut, daß man das hier einmal hört.
Man konnte wirklich nicht ahnen, daß der Bundesbankpräsident gegen den Rat des Bundeskanzlers nach Prag fahren würde. Ich hatte gedacht, Sie hätten bessere Kontakte zu ihm gehabt.
Es ist keine Frage, daß diese Dinge im Licht der Ereignisse heute ganz anders zu bewerten sind; das wissen auch meine politischen Freunde. Aber gerade aus solchen Erfahrungen zu lernen und das hier darzustellen, daran liegt mir, weil wir Freien Demokraten nämlich den Mut gehabt haben, daraus Konsequenzen für die praktische Politik zu ziehen. Herr Kiesinger, das haben Sie in Ihrer Darstellung eben nicht getan. Sie sind bei dem stehengeblieben, was damals an Erkenntnis vorhanden war, und Sie haben nicht die Folgerungen bedacht, die inzwischen zu ziehen sind.
Zwischenfrage, Herr von Wrangel.
Herr Kollege Moersch, zur Klarstellung: Wollen Sie behaupten, daß die damalige Opposition, die FDP, gegen die Aufnahme der diplomatischen Beziehungen zu Rumänien gewesen ist?
Das will ich nicht behaupten, und das behaupte ich auch nicht. Wir haben diese Beziehungen in der Regierung Erhard gefördert. Wir hatten später aber als Opposition nicht vermuten können, daß diese Aufnahme diplomatischer Beziehungen nicht in der gehörigen Weise diplomatisch mit den anderen Interessenten besprochen war. Darum ging es.
— Gut, Herr Kiesinger, das ist eine Antwort. Man konnte in der Tat nicht vermuten, daß man so einseitig vorgehen würde. Ich weiß, daß Sie das, was an Folgen eingetreten ist, nicht gewollt haben. Ich sage Ihnen aber, daß man diese Dinge überlegen mußte und die DDR nicht einfach wegstreichen konnte, daß man nicht so tun konnte, als gäbe es sie nicht, als hätte sie keinen Einfluß. Sie hat, wie Sie wissen, gerade in dieser Phase der Politik Einfluß genommen. Ich meine, diese Politik, die Sie bezüglich der Ostpolitik begonnen hatten, hat sich als nicht vollständig genug und vor allem nicht konsequent erwiesen.Nun ist heute morgen vom Kollegen Dr. Marx gesagt worden, daß unsere Politik zu einer Abgrenzung der DDR führe.
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5172 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 94. Sitzung. Bonn, Freitag, den 29. Januar 1971
Moersch— Herr Marx, Sie haben aber einen ganz entscheidenden Fehler gemacht: Sie haben am Ende Ihrer Rede ein Urteil gefällt. Ich habe bisher nicht gehört daß man in einem Prozeß der gerade erst eröffnet worden ist - auch in einem politischen Prozeß, der gerade eröffnet worden ist —, schon ein Urteil fällen kann, wenn dieser Prozeß noch lange nicht zu Ende ist. Insofern ist das, was Sie gesagt haben, eben kein Urteil, sondern ein Vorurteil, das Sie gern bestätigt haben wollten. Ich sehe mich nicht in der Lage, dieses Ihr Vorurteil zu bestätigen.Ich kann mich jedenfalls nur wundern, daß Sie sich heute über die Haltung der DDR in dieser Frage wundern. Die Politik der Isolierung, die Sie lange Jahre betrieben und für gut gehalten haben, ist jedenfalls den Menschen im gespaltenen Deutschland nicht zugute gekommen, sondern hat viel eher den Graben vertieft, der diese beiden deutschen Staaten und diese beiden Teile Deutschlands trennt.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Marx?
Herr Staatssekretär, ich will nur auf eine Sache eingehen. Sie sagten, ich hätte ein Urteil gefällt. Sind Sie bereit, zuzugeben, daß ich gesagt habe: „Wir sehen diese Politik scheitern"? Verstehén Sie nicht von der ganzen Position her, die wir hier dargelegt haben, daß dies die Konsequenz ist?
Herr Marx, Sie haben das Wort „Urteil" gebraucht. Ich habe es mitnotiert.
Wir wollen hier keine grammatikalischen Studien treiben!
Sie können kaum bestreiten, daß Sie am Schluß ihrer Rede das Wort „Urteil" benutzt haben. Das fand ich reichlich verfrüht.
Heute aus der aktuellen Reaktion eines anderen Partners im Prozeß bereits zu einem Urteil kommen zu wollen — obwohl Sie genau wissen, daß ganz wesentliche Teile unserer politischen Absichten noch nicht einmal angepackt werden konnten, daß also erst eine erste Etappe in Gang gesetzt worden ist , das halte ich jedenfalls nicht für korrekt und auch nicht für fair.
Ferner haben Sie gemeint, wir verstünden die Mentalität, die Denkweise unserer östlichen Nachbarn nicht. Herr Marx, Sie haben gesagt, die Mentalität der östlichen Partner werde von ihrem Wesen her von uns nicht verstanden. Das haben Sie als Hauptvorwurf gegen diese unsere Politik angeführt.
Nun frage ich Sie, ob Sie wirklich der Meinung sind, daß die Politik der Stärke, welche die CDU/ CSU in den fünfziger Jahren — zum Teil als alleinige
Regierungspartei — zu verantworten hatte, auf einer richtigen Einschätzung der Mentalität der anderen Seite beruhte. Oder ist es nicht vielmehr so, daß eben durch diese damals falsche Einschätzung der Mentalität der anderen Seite gerade die Verhärtung in Europa entstanden ist, die abzubauen sich diese Bundesregierung als eine mühsame Aufgabe vornehmen mußte.
Herr Abgeordneter Marx, in diesem Hause besteht nicht die Übung, Zwiegespräche zu führen. Wenn der Präsident gelegentlich eine spontane Intervention von den Bänken aus zuläßt, dann geschieht das gewissermaßen gratial und nicht auf Grund der Geschäftsordnung. Ich muß Sie bitten, das, was Sie wissen wollen in Frageform vorzubringen.
Herr Kollege Moersch, Sie haben soeben so getan, als ob ich gesagt hätte, Sie oder die Regierung würden die „Mentalität" nicht begreifen. Meine Bitte ist — ich will es dann gar nicht noch einmal wiederholen —, den Text nachzulesen, der ganz eindeutig ist und aus dem Sie eine so verkürzende und verschärfende Behauptung bitte nicht ableiten sollten.
Ich werde das nachlesen. Ich habe es übrigens bereits getan; ich habe mir das stenographische Protokoll besorgt. Ich hatte das aus dem geschlossen, was ich soeben gesagt habe. Wir werden das klären können. Aber eines steht doch fest — und Sie können mir nicht bestreiten, daß das meine Meinung ist —: die im Deutschen Bundestag, z. B. von Herrn Kiesinger, in den Jahren 1954, 1955 und 1956 vorgetragenen Meinungen über die Veränderung, die in der Welt entsteht, wenn wir diese Politik machen, die wir damals gemacht haben — Wiederbewaffnung, Politik der Stärke und was dazugehört, Herr Wehner hat aus den Gesprächen mit Herrn Dulles heute ja auch einiges zitiert —, haben sich nicht bestätigt. Damals war behauptet worden, es entstehe mit dieser Politik ein Übergewicht im Westen, und dann gelange man zu einer Verhandlungsposition, die unseren Interessen weit besser diene, als es etwa die im Jahre 1952 vorhandene Position getan habe. Diese Einschätzung war falsch, weil sie auf einer irrigen Beurteilung der Möglichkeiten und der Mentalität der Partner und Machthaber beruhte, um die es wirklich geht.
Das ist meine Folgerung aus dieser Sache. Meine Damen und Herren, Sie können doch diese Tatsache nicht ungeschehen machen; Sie jedenfalls haben dem deutschen Volk beim Abschluß der Wiederbewaff-
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Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 94. Sitzung. Bonn, Freitag, den 29. Januar 1971 5173
Moerschnungsverträge andere Aussichten gemacht als es nachher der Wirklichkeit entsprach. Das ist doch nicht zu bestreiten, das sollten Sie sich endlich einmal vor sich selber ehrlicherweise eingestehen.Ich will darauf verzichten, weil die Zeit schon weit fortgeschritten ist, einige Zitate aus der Zeit des Abschlusses des Locarno-Paktes zu bringen. Meine Damen und Herren, was damals von einer nicht nazistischen, nicht kommunistischen Opposition, sondern von der deutschnationalen Opposition die Deutschnationalen sind ja damals deswegen aus der Reichsregierung ausgetreten — gesagt worden ist, gegen die damalige Regierung, gegen den damaligen Außenminister Stresemann, hat in Wortwahl und Diktion eine fatale Ähnlichkeit mit dem, was heute an Vorwürfen von Ihrer Seite gegen diese Bundesregierung erhoben wird. Wenn Sie sich diese Verwandtschaft einmal klarmachen, wenn Sie sich die Mühe machen, einmal nachzulesen, was es hier an Dokumenten gibt, dann, bin ich der Meinung, sollten Sie Ihre — —
— Sie brauchen gar keine Unterstellungen zurückweisen. Ich bin bereit, Ihnen einige Zitate hier vorzulesen. Vielleicht geht Ihnen dann auf, in welcher Nachbarschaft Sie sich mit Ihrer Kritik gelegentlich befinden.
Wenn es einen Sinn hat, sich mit Geschichte zu befassen, dann sicherlich doch auch den, daraus einiges zu lernen.
— Herr von Wrangel, Sie sollten sich nicht aufregen, bevor Sie die Texte kennen. Sonst lese ich Ihnen jetzt ein paar Zitate aus den „Alldeutschen Blättern" vor. Dann werden Sie überrascht sein, daß die Artikel des „Bayernkurier" fast wörtlich die Diktion haben wie damals die „Alldeutschen Blätter".
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Horten?
Herr Staatssekretär, sind Sie sich darüber klar, daß Sie mit diesen interessanten Bemerkungen — ich will mich sehr höflich ausdrükken —, mit diesem merkwürdigen Vergleich einen großen Europäer Briand, der damals Verhandlungspartner Deutschlands war, in die gleiche Ebene stellen wie heute Herrn Breschnew und Herrn Ulbricht?
Ich muß antworten, Herr Horten, das ist nun wirklich Ihre Erfindung. Nein, ich will Ihnen sagen, daß es eine sogenannte nationale Op-
position im Deutschen Reichstag gegeben hat, die damals gegen die Westpolitik eines Gustav Stresemann fast mit den gleichen Tiraden angetreten ist, wie sie heute eine „Aktion Widerstand" oder auch andere gegen die Ostpolitik dieser Bundesregierung benutzen. Das sollten Sie doch einmal wissen.
Darf ich Ihre Antwort also so verstehen: Sie geben zu, daß die Verhältnisse angesichts des Locarno-Paktes völlig anders als heute waren?
Ja, Herr Horten, das ist sicherlich richtig. Um so bedauerlicher ist die gleiche Diktion. Ich will Ihnen einmal ein Zitat vorlesen, damit Sie wissen, was gemeint ist. Zum Abschluß des Locarno-Paktes — ich verweise jetzt nicht einmal auf die offizielle Erklärung der Deutschnationalen im Reichstag, die von Graf Westarp abgegeben wurde — stand in den „Alldeutschen Blättern" :
Die politischen Dinge werden heute aus einem grundsätzlich falschen Gesichtswinkel beurteilt, weil man glaubt, durch Nachgeben, Verhandeln, Wohlverhalten wieder hochkommen zu können, wo allein die mannhafte Tat bei regem Ehrgefühl und auf dem Boden völkischer Erneuerung die Gesundung bringen kann: die rettende Tat eines einzigen, die wir ersehnen, und dessen Wirkungsmöglichkeiten wir vorbereiten müssen.
Wenn Sie dann vergleichen, daß vor kurzem einer gesagt hat: „Was sind eigentlich Parteiprogramme? — Es kommt auf den Mann an!", dann wissen Sie doch, was wirklich gemeint ist.
Meine Damen und Herren, der Redner ist so oft unterbrochen worden, daß ich seine Redezeit verlängern muß.
Es ist eine sehr beruhigende Feststellung, Herr Vogel, ,daß es offensichtlich doch nützlich ist, wenn man Ihnen gelegentlich solche Parallelen ins Gedächtnis ruft.
Ich will damit nur sagen, daß die Leute, die nach 1919 beispielsweise der Ansicht waren, daß der Versailler Vertrag zwar nicht in unserem Sinne liege, daß man aber das Bestmögliche, was man daraus machen könne, daraus machen müsse, nämlich zu einer Politik der Verständigung und nicht zu einer Politik der Revision zu kommen — das war beispielsweise auch Stresemanns Stimme, der in seiner Jugendzeit ebenfalls ganz andere Dinge geschrieben und gesagt hatte —, daß diese Männer nicht ge-
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Moerschhört wurden und daß die Folge davon der „Einzige" war, der Deutschland dann ins Unglück geführt hat.Deswegen möchte ich Sie bitten, unsere politischen Bemühungen mit Nüchternheit zu betrachten und nicht mit Emotionen zu begleiten, wie das gelegentlich geschieht, und auch zu verstehen, daß man nicht ständig warten kann, wenn man eine positive politische Wirkung erzielen will, bis andere den ersten Schritt tun, sondern daß es die Pflicht einer Regierung ist, selbst den ersten Schritt zu tun, weil dann jedenfalls die moralische Rechtfertigung auf unserer Seite liegt und weil man dann mit gutem Gewissen sagen kann, daß man alles versucht hat, was überhaupt menschenmöglich war. Eine Politik des Wartens auf ein Wunder ist im Grunde genommen keine Politik, sondern das Ausweichen vor der Entscheidung. Deswegen muß sich Herr Kiesinger sagen lassen, daß über ihn in den Geschichtsbüchern in der Tat eher stehen wird, daß er Entscheidungen ausgewichen ist, und daß es schlecht ist, wenn er den jetzigen Bundeskanzler wegen der gewiß notwendigen Entscheidungsfreudigkeit angreift.
Es ist notwendig, die Entscheidung zur rechten Zeit zu treffen. Man darf nicht zwei oder drei Mal Gelegenheiten in der Geschichte auslassen, wie Sie sie 1952 und 1955 ausgelassen haben. Das aber wollen Sie heute nicht mehr wahrhaben.
Das Wort hat der Bundesminister Schiller.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Debatte in diesem Hohen Hause bewegt sich zwischen drei Eckpfeilern: Deutschlandpolitik, Westpolitik oder Westeuropapolitik und Ostpolitik. Ich bin dabei übrigens der Meinung, daß diese so gegliederte Debatte in Wahrheit, meine Damen und Herren von der Opposition, ein Kompliment an die Symmetrie des politischen Konzepts dieser Regierung ist. Jene Symmetrie, die darin besteht, daß wir immer wieder sagen:
es ist zwingend notwendig, daß wir Aktivitäten in der einen Richtung durch entsprechende Aktivitäten in der anderen Nichtung begleiten lassen. Darum geht es.Nach einigen deutschland- und ostpolitischen Beiträgen möchte ich jetzt selber im Sinne dieser Symmetrie einen kurzen Blick auf ein Thema unserer Europapolitik — unserer Westpolitik, wenn Sie so wollen — werfen. Im Rahmen der gestrigen und heutigen Debatten über unsere Europapolitik ist das Thema Wirtschafts- und Währungsunion bereits mehrfach angeklungen. Diese kühne Vision, skizziert in dem Bericht der Werner-Gruppe, ist doch für uns alle eine Herausforderung. Es geht im übrigen bei diesem Thema nicht um Rückblicke in die Vergangenheit. Bei diesem Thema gibt es keinen„Blick zurück im Zorn", sondern alle Blicke müssen da nach vorn gerichtet sein. Es geht um einen entscheidenden, vielleicht den entscheidenden Schritt, den Fortschritt des europäischen Einigungswerkes in der nahen Zukunft.Zugleich geht es aber auch darum und vor allem darum, daß dieser Weg in die wirtschafts- und stabilitätspolitisch richtige Richtung führt. Wie wir von deutscher Seite immer wieder festgestellt haben, muß die Wirtschafts- und Währungsunion eine Gemeinschaft der Stabilität und des Wachstums sein. Eine Gemeinschaft der permanenten Inflationierung wäre ein lebensgefährlicher Rückschritt. Ein geldwirtschaftlich kränkelndes, d. h. ein wirtschaftlich krankes Europa wäre im übrigen auch nicht in der Lage, seine ihm gemäße politische Rolle in der Welt zu spielen. Ich sage hier deutlich, der europäische Gedanke könnte durch nichts stärker in Mißkredit gebracht werden als durch eine ökonomische Fehlkonstruktion.Daher wollen wir in unseren Anstrengungen für eine vernünftige Lösung der Wirtschafts- und Währungsunion es auch erreichen, daß in späteren Jahren niemand sagen kann: Wie konnte man damals in den ersten 70er Jahren sich auf eine solche Sache einlassen, die uns am Ende wie ein Bleigewicht anhängt, die uns zu immer neuen Fehlern zwingt und deren einmal in Gang gesetzte Apparatur uns in unserem freien Handeln einengt und das freie Handeln erschwert! In der Tat, etwa die heutigen europäischen Agrarmarktordnungen, über die doch eigentlich niemand mehr glücklich ist und bei denen man sich auch noch oft fragt: Wie konnte man das damals so falsch anfangen?, sind ein lehrreiches und warnendes Beispiel bei unseren heutigen Überlegungen. Derartige Gefahren wollen wir nun durch eine gute und klare, durch eine marktwirtschaftlich orientierte Konstruktion einer Wirtschafts- und Währungsunion vermeiden.Sie wissen, meine Damen und Herren, wir alle haben es bedauert, daß die Einigung über dieses Thema in der langen Nacht am 14. und 15. Dezember in Brüssel noch nicht zustande gekommen ist. Diese Verspätung gegenüber dem Fahrplan von Den Haag, so bedauerlich sie war und ist, war aber letztlich nicht entscheidend. Wichtiger als der Zeitgewinn von einigen Wochen oder Monaten ist die richtige Architektur der Wirtschafts- und Währungsunion. Ich sage es noch deutlicher: eine Fehlkonstruktion von heute könnte sich leicht als ein „100Milliarden-Dollar-Mißverständnis" von morgen mit allen seinen inflationären Konsequenzen erweisen.In den ersten Wochen dieses neuen Jahres hat es es zwischen allen Partnern der Gemeinschaft und auch mit Mitgliedern der Kommission eine Reihe von sondierenden und klärenden Gesprächen gegeben. Diese Sondierungen und Vorklärungen haben alle die Chancen für eine baldige Einigung erheblich verbessert, und zwar für eine Einigung ohne Preisgabe der Substanz.Meine Damen und Herren, das gilt auch und gerade für unsere Gespräche in Paris. Der jetzige Besuch von Ministerpräsident Colombo in diesen Ta-
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Bundesminister Dr. Schillergen in Paris wird hier sicherlich ein weiterer Meilenstein sein. Bei unserer deutsch-französischen Konsultation — der Herr Außenminister hat davon gesprochen — zu Anfang dieser Woche haben wir in der Sache gute Fortschritte gemacht. Durch den freimütigen, freundschaftlichen Gedankenaustausch konnten wir Meinungen abklären sowohl im Hinblick auf das Endziel der Wirtschafts- und Währungsunion als auch im Hinblick auf den äußerst wichtigen Übergang von der ersten Stufe in die folgende. Wir konnten uns gegenseitig auf mögliche Lösungen, auf Lösungsversuche aufmerksam machen, und wir haben wichtige Elemente einer Wirtschafts- und Währungsunion definiert. Aber dies alles ich bin sicher — wird sich erst voll in den kommenden Ratssitzungen in Brüssel auszahlen, weil das alles eben sehr nützlich gewesen ist.Ich möchte aber ein Mißverständnis ausschließen. Es ging in dieser Woche in Paris nicht darum, bilaterale Beschlüsse herbeizuführen. Wir haben bei allen unseren Überlegungen stets daran gedacht, daß alle Entscheidungen in dieser wichtigen Sache nicht zu zweit, sondern eben nur zu sechst am Tisch der Europäischen Gemeinschaft in Brüssel gefunden werden müssen. Außerdem muß ich noch sehr präzise folgendes klarstellen: Die Frage der Wirtschafts- und Währungsunion ist in ihrer harten Substanz kein bilaterales deutsch-französisches Problem, sondern tatsächlich eine multilaterale Problemaufgabe.Um zu zeigen, daß wir inzwischen in unserer eigenen Meinungsbildung nicht zurückgefallen, sondern vorangekommen sind, um auch zu zeigen, daß bei diesen Bemühungen die Mitglieder der Bundesregierung von einem gemeinsamen, klar entwickelten Konzept geleitet werden, möchte ich, in Unterstreichung und Ergänzung der Ausführungen des Herrn Außenministers, in einigen Thesen beschreiben, wie wir von deutscher Seite gerade nach den fruchtbaren Erfahrungen der Gespräche von Paris die Entwicklungslinien zur Wirtschafts- und Währungsunion nunmehr sehen. Wir können dankbar feststellen, daß uns alle Fraktionen dieses Hauses in unseren Bemühungen internationaler Art um die Wirtschafts- und Währungsunion nachdrücklich unterstützt haben. Um so mehr sind wir wohl verpflichtet, hier und heute unsere Position noch etwas deutlicher zu skizzieren.Erstens. Über die erste Stufe mit einer Dauer von drei Jahren besteht ein weitgehender Konsensus. Aber diese erste Stufe ist kein Ziel in sich; sie hat nur Sinn, wenn die Regierungen von Anfang an ihren politischen Willen bekräftigen, die Wirtschafts- und Währungsunion innerhalb eines Zeitraumes von etwa zehn Jahren zu vollenden.Zweitens. Zwischen den wirtschaftspolitischen und den währungspolitischen Aktionen muß dabei durchgehend eine effektive Parallelität gesichert werden. Einseitige währungspoltische Bindungen ohne wirtschaftspoltische Entsprechungen würden sich bald als ein stabilitätspolitischer Fehlschlag erweisen, als ein Kartenhaus, das bei jedem Windstoß zusammenstürzen würde.Drittens. Die Vision von der Endstufe der Entwicklung darf dabei vom heutigen Standpunkt aus nicht im Nebel völliger Ungewißheit zerfließen. Sicherlich ist es weder möglich noch angebracht, alle möglichen institutionellen Feinheiten für die Endstufe heute liebevoll im Detail zu beschreiben. Das will niemand. Wohl aber geht es uns heute um die präzise Formulierung einiger fundamentaler Prinzipien auch für die Endstufe. Dazu gehört u. a. auch die Feststellung, daß die Gemeinschaft mit den erforderlichen Befugnissen ausgestattet sein muß, z. B. für die gemeinsame Geld- und Kreditpolitik, für die Steuerpolitik, für die Budgetpolitik, für die Kapitalmarktpolitik. Hinsichtlich der Verteilung der Kompetenzen auf die Gemeinschaft und die Mitgliedstaaten sollte der altehrwürdige Grundsatz der Subsidiarität gelten.Viertens. Die Gemeinschaftsorgane müssen in die Lage versetzt werden, rasch und wirksam jene wirtschafts- und währungspolitischen Entscheidungen treffen zu können, die für den Zusammenhalt und für das Funktionieren der Union erforderlich sind. Ich füge hinzu: Selbstverständlich müssen dementsprechend die Befugnisse des Europäischen Parlaments ausgebaut werden.Fünftens. Das in der Endstufe unerläßliche gemeinschaftliche Zentralbanksystem kann nach unserer Auffassung seine Aufgabe nur dann voll erfüllen, wenn es eine adäquate Eigenverantwortlichkeit besitzt. Für die einzelnen Stufen könnte der Rat die Notenbankgouverneure einladen, die jeweilige Art der Zusammenarbeit durch Verein- i barungen zwischen den Notenbankpräsidenten festzulegen. Mit dieser Lösung würde nicht zuletzt auch der in den einzelnen Ländern unterschiedlichen konstitutionellen Lage der Zentralbanken Rechnung getragen.Sechstens. Die Maßnahmen der ersten Stufe könnten möglichst bald beginnen. Das gilt auch und gerade für die dort vorgesehenen monetären Maßnahmen, über die ein prinzipieller Konsensus bereits weitgehend vorliegt. Es sind dies folgende vier sehr wichtige Dinge: 1. Einengung der Bandbreiten der Wechselkurse innerhalb der Gemeinschaft, 2. gemeinsame Interventionen der Zentralbanken der Gemeinschaft auf den Devisenmärkten, 3. Bereitstellung eines mittelfristigen Währungsbeistands, also beispielsweise Zahlungsbilanzhilfen, und 4., falls die Voraussetzungen dafür vorliegen, möglicherweise in der zweiten Hälfte der ersten Phase, auch die Errichtung eines Devisenausgleichsfonds oder eines Reservefonds.Meine Damen und Herren, das ist alles schon sehr weitgehend. Grundsätzlich sollte man jetzt die Absicht erklären, daß rechtzeitig vor dem Ende der Drei-Jahres-Periode, also der ersten Phase, Bilanz gezogen und über die weiteren gemeinschaftlichen Instrumente und Maßnahmen- konkret und rechtsverbindlich entschieden werden muß. Zu jenem Zeitpunkt, also am Ende der ersten Dreijahresperiode sollten die zuständigen Stellen der Gemeinschaft in einer Analyse darlegen, welche Schritte entweder auf der Grundlage des geltenden Vertrags, — oder ergänzend auf der Basis des bekann-
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Bundesminister Dr. Schillerten Artikels 235 — und schließlich auf der Grundlage von Vertragsänderungen nach Artikel 236 notwendig und möglich sind. Bei dieser Sortierng der Instrumente und Maßnahmen nach diesen drei Kategorien am Ende der ersten Stufe kann das Prinzip der Subsidiarität wieder eine nützliche Richtschnur des Handelns sein. Wir wollen keineswegs von vornherein und wahrlich nicht total den Vertrag von Rom auf dem Wege über den Artikel 236 ändern.Siebentens. Heute kann niemand — das ist das eigentliche Dilemma — rechtsverbindlich erklären, ob man trotz aller politischen Absichtserklärungen hinsichtlich der bisher skizzierten Vorschläge am Ende der Dreijahresperiode, also der ersten Phase, wirklich zu einer inhaltlichen Einigung im einzelnen kommen wird. Es ist jedoch unzweifelhaft richtig, daß im Falle einer Nichteinigung über das Ökonomische dann die bestehenden monetären Verabredungen, Aktionen und Mechanismen nicht von einer entsprechenden Weiterentwicklung der gemeinschaftlichen Wirtschaftspolitik begleitet sein würden. Das wäre gefährlich. Das Prinzip der effektiven Parallelität wäre dann nicht verwirklicht. Für diesen Fall müssen heute schon gewisse Sicherungen eingebaut werden.Dafür sind zwei Wege denkbar, die einander nicht ausschließen, sondern sich ergänzen können: zum einen die schon von Herrn Scheel erwähnte „clause de prudence", die Vorsichtsklausel, nach der ein Land, das trotz anhaltender währungspolitischer Notwendigkeit die erforderliche wirtschaftspolitische Konsequenz nicht zieht oder nicht ziehen kann, dann von der gemeinschaftlichen Währungshilfe ausgeschlossen wird.Aber das allein dürfte nicht genügen. Wirksamer erscheint eine andere Klausel, eine „clause de sauvegarde", eine Vorbehalts- oder Verfallsklausel. Das heißt, für alle währungspolitischen Aktionen, für alle Vereinbarungen in diesem Bereich, würde die gleiche Frist, die gleiche Geltungszeit, festgelegt werden. Im Falle der Nichteinigung im Sinne des Stufenplans hinsichtlich der ökonomischen Dinge würden dann also die monetären Aktionen und Einrichtungen automatisch auslaufen.Dabei könnte man für die monetären Aktionen und Verabredungen ab Beginn generell eine Vierjahresfrist festlegen. Damit wäre angesichts der bestehenden und im groben verabredeten Dreijahresfrist — für die erste Phase des Stufenplans — genügend Spielraum für weitere Versuche zur Einigung im wirtschaftspolitischen Bereich gegeben. Diese Terminfestsetzung für den monetären Bereich würde einen heilsamen Druck ausüben, eine förderliche Kraft dafür sein, daß die Parallelität doch noch hergestellt und ein Fortschritt im Sinne des Stufenplans erzielt wird.Achtens. Schließlich sollte die Gemeinschaft im Sinne ihrer Erweiterung die Beschlüsse über die Bildung der Wirtschafts- und Währungsunion so formulieren, daß auch die Beitrittsanwärter am Ende der ersten Stufe für den gemeinsamen Übergang zur folgenden Phase und für deren Gestaltung optieren könnten.Dieser 8-Punkte-Katalog zeigt: wir haben von unserem ursprünglichen Konzept auf der Basis des Werner-Berichtes nichts weggegeben. Wenn das Konzept heute nun als pragmatisch bezeichnet wird, so möchte ich sagen: dies ist ein Pragmatismus mit Zielvorstellungen, dies ist ein Pragmatismus auf Zeit. Um es noch einmal zu sagen und um alle Mißverständnisse auszuschließen: dies ist kein im einzelnen bilateral abgesprochenes Konzept; das ist vielmehr unsere Linie, die wir in Kenntnis einiger essentials anderer Partner formuliert haben. Es ist ein Konzept, von dem wir glauben, daß es der Einigung förderlich sein wird, ohne die fundamentalen Grundsätze einer Wirtschafts- und Währungsunion zu gefährden.Wir werden am 8. und 9. Februar am Verhandlungstisch in Brüssel im Rat gemeinsam beraten. Ich habe die Zuversicht, daß wir bei dieser Beratung weitere Fortschritte machen werden. Mein Kollege Giscard d'Estaing hat am Dienstag dieser Woche mit Recht darauf hingewiesen, daß ein Werk von solcher Bedeutung und von solcher Dimension jetzt wohl kaum in übertriebener Hast und Eile abgeschlossen werden könne.Wenn aber eine Einigung entlang den Linien eines solchen Konzepts erfolgen würde, so würde die Gemeinschaft in der Zukunft Schritt für Schritt eine neue Qualität erreichen. Sie wird nicht nur in der Weltwirtschaft, sondern auch in der Weltpolitik ein immer stärkeres Element der Stabilität werden. Sie wird dann auch im Innenverhältnis zu jener Integration der einzelnen Volkswirtschaften führen und vordringen, die den Namen „Wirtschaftsunion" wirklich verdient. Für den Weg zu diesem Ziel gibt es keine Automatik, steht uns keine Glücksmaschine zur Verfügung, die die Entwicklung programmieren und Stufe für Stufe verwirklichen würde. Solche Automatik würde im übrigen allzu leicht umschlagen in eine Zwangsapparatur, die uns in neue Ungleichgewichte führen würde.Meine Damen und Herren, was wir jetzt brauchen, ist Flexibilität in den einzelnen Phasen, aber Festigkeit in unseren letzten Zielvorstellungen. Ohne solche Festigkeit — und ich sage das mit allem Bedacht würden wir leicht im Zwielicht eines höchst unvollkommenen und unausgewogenen geldpolitischen Nothilfesystems landen. Und das wollen wir vermeiden. Dazu brauchen wir für die entscheidenden Stationen des Übergangs von einer Stufe zur anderen deutliche Absicherungen und klar formulierte Optionen für die beteiligten Länder. Nur dadurch, durch Absicherungen und durch solche klaren Optionen, die angeboten werden müssen, erhöhen wir die Chancen dafür, daß sich die Mitgliedstaaten auf diesem Wege richtig und nach vorn entscheiden, daß sie die Kosten dieses gemeinsamen Abenteuers gemeinsam tragen und seine Früchte dereinst gemeinsam genießen werden.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. Arndt.
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Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 94. Sitzung. Bonn, Freitag, den 29. Januar 1971 5177
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es läge natürlich nahe, obwohl Herr Kollege Kiesinger den Saal verlassen hat, einiges zu dem zu sagen, was er uns hier in der blumenreichen Sprache seiner schwäbischen Heimat dargelegt hat. Ich glaube, man könnte es auf zwei scheinbar nebensächliche Sätze aus seiner Rede konzentrieren, auf jene Sätze, in denen er gesagt hat, daß ohne die Mitwirkung der Opposition in diesem Hause die Ost- und Außenpolitik dieser Bundesregierung scheitern werde. Noch deutlicher hat er sich, ja, ich möchte sagen: entlarvt
mit dem Satz, den er hier gesprochen hat, daß die Ost- und Deutschland- und Außenpolitik dieser Bundesregierung, der Koalition aus Sozialdemokraten und Freien Demokraten, innenpolitisch nichts eingebracht habe. Meine Damen und Herren, deutlicher kann man nicht zeigen, wie man die Opposition der CDU/CSU zu dieser Politik zu verstehen hat. Sie zielt darauf, innenpolitisch hier im Lande etwas zu erreichen. Sie zielt darauf, die Außenpolitik als Vehikel zum Sturz dieser Regierung zu benutzen.
Meine Damen und Herren, es ist sicherlich das gute Recht einer jeden Opposition, sich zu bemühen, die gegenwärtige Regierung durch eine eigene abzulösen. Ob aber die Außenpolitik unter dem Gesichtspunkt des nationalen Interesses eines Volkes das geeignete Vehikel ist, um die Regierung im Innern zu stürzen, darüber müssen Sie sich vor Ihrem Gewissen und vor dem deutschen Volke Rechenschaft ablegen. Ich will das hier gar nicht qualifizieren.
Worum geht es, meine Damen und Herren? Wir im Westen Deutschlands vertreten das Recht, die Einheit in Freiheit für das deutsche Volk zu erstreben. Jenseits von Mauer und Stacheldraht in der DDR will man ,die staatliche Einheit nach deren Vorzeichen schaffen. Diese beiden Ziele schließen sich sicherlich aus. Daran kann man keinen Zweifel haben. Dennoch müssen wir aber, weil jeder Mensch dieses Leben auf dieser Erde nur einmal zu leben hat, miteinander auskommen. Um das tun zu können, müssen wir dieses Auskommen miteinander vertraglich absichern.
Die Verträge der fünfziger Jahre sind heute Fakten, sie sind nicht rückgängig zu machen. Auf ihrer Basis machen wir heute Politik und müssen wir Politik machen. Aber die Vorstellungen, die damals gerade auf dieser Seite des Hauses, hier rechts, die Motive für diese Verträge lieferten, die damals um sie herum waberten, diese Vorstellungen und Motive sind es gewesen, die uns in die Sackgasse geführt haben.
Auch hierfür ist wieder der Rede des Herrn Abgeordneten Kiesinger ein deutliches Beispiel zu entnehmen gewesen. Er hat nämlich gesagt, es gebe keine Entspannung in Europa, wenn die Bundesregierung die Sowjetunion nicht zur Aufgabe ihrer weltrevolutionären Ziele bewege. Nun, meine Damen und Herren, wenn dieses Ihre Bedingung für die Entspannung ist, dann erklären Sie durch Ihren Parteivorsitzenden, daß Sie andere Ziele als die Entspannung haben, denn die Setzung einer unmöglichen Bedignung zeigt, daß Sie dieses nicht wollen.
Das ist Dulles in seiner bösen Zeit, nicht en der letzten, von der Herbert Wehner, unser Vorsitzender, vorhin gesprochen hat. Diese Vorstellungen, wie sie der Abgeordnete Kiesinger hier dargelegt hat, meine Damen und Herren, können nicht die Basis sein, von der aus
nein, im Augenblick lasse ich keine Zwischenfrage zu — wir heute voranschreiten.Weil aber diese Vorstellungen und Motive falsch waren — wir haben Ihnen das damals von dieser Stelle aus gesagt, und dazu stehen wir auch noch heute —, müssen wir sehen, wie wir nunmehr aus dieser Sackgasse herauskommen. Wenn wir heute, wie Herr Kiesinger hier gesagt hat, sowenig Manövrierfähigkeit haben, wenn die Basis so schmal ist, dann danken wir das jener Politik von damals. Gott sei Dank hat uns das letzte Jahr gezeigt, daß die Manövrierfähigkeit größer ist als wir befürchtet haben, daß sie noch sei. Es ist aber nicht Ihr Verdienst, daß das so ist.
Meine Damen und Herren, wegen der fortgeschrittenen Zeit will ich mich kurz fassen. Ich meine aber, daß die Ausführungen, die ein Abgeordneter dieses Hauses gestern zur Frage der Verfassungsmäßigkeit der Ostverträge gemacht hat, hier nicht unwidersprochen im Raum stehenbleiben sollten. Sicherlich ist es nicht unsere Aufgabe, jetzt eine Ratifikationsdebatte vorwegzunehmen. Der Abgeordnete, von dem ich spreche, hat gesagt, ,die Gefühle des Volkes zeigten deutlich, daß das deutsche Volk die Verträge als verfassungswidrig ansähe. Dazu ist zunächst zu sagen, daß Gefühle sicherlich keine Basis sind, um die Verfassungsmäßigkeit von Verträgen in diesem Hause zu prüfen. Im übrigen ist diese Behauptung unbewiesen. Ich habe vielmehr den Eindruck, daß der Wunsch hier der Vater des Gedankens ist
und daß einige von dieser Stelle aus jene Gefühle im deutschen Volk hervorlocken möchten, von denen sie behaupten, daß sie da seien. Diese Argumentation scheint mir sehr genau in eine Politik hineinzupassen, die wir im letzten Jahr hier mehr-
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Dr. Arndt
fach erlebt haben, von dieser Stelle aus etwas gemäßigter, im Lande sehr viel härter: Sie brauchen wieder ein Vehikel, um diese Regierung, mit welchem Mittel auch immer, zu stürzen.
Sie haben mit der gleichen Argumentation versucht, die Inflationsangst in diesem Lande zu schüren. Sie haben versucht, die Kriminalitätsangst hochzupeitschen. Und jetzt versuchen Sie durch solche Reden bei der Bevölkerung den Eindruck zu erwecken, als seien die Verträge nicht mit der Verfassung in Einklang zu bringen.Diese Bundesregierung hat, bevor sie die Verträge unterzeichnete, die Aufgabe gehabt — und sie hat diese Aufgabe auch wahrgenommen —, zu prüfen, ob die Verträge mit unserer Verfassung vereinbar seien. Niemand in diesem Lande soll so tun, als ob die Mitglieder dieser Bundesregierung ihren Eid weniger ernst nähmen als andere vor ihnen. Wir Sozialdemokraten werden uns von niemandem, aber auch wirklich von niemandem in der Treue zur Verfassung übertreffen lassen.
Die Sozialdemokraten — auch Personen, die heute hier handeln — haben in ihrer Geschichte so viele Opfer an Gut und Blut für die Treue zur demokratischen Verfassung gebracht, daß sie sich in dieser Treue zur demokratischen Verfassung von niemandem übertreffen lassen werden.
— Herr Ott, angesichts der Opfer der deutschen Sozialdemokratie halte ich es für unter meiner Würde, auf diesen Zwischenruf zu antworten.
— Sehr richtig! Aber der Abgeordnete, von dem ich soeben sprach, hat in einer Gruppe, die sich politische Partei nannte, mitgewirkt. Der Vorsitzende dieser Gruppe hatte den Eid auf die Verfassung bereits gebrochen, ehe er ihn als Reichskanzler geschworen hatte, und er kam durch den Verfassungsbruch des Reichspräsidenten in sein Amt, der damit ebenfalls seinen Eid brach. Dieser Abgeordnete ist deswegen, weil er dieser Gruppe angehörte, zuletzt legitimiert, dieser Bundesregierung implizite oder ausdrücklich zu unterstellen, daß sie die Verfassungsmäßigkeit ihrer Handlungen nicht ernst nähme.
Zurück zu dem Kernpunkt, der Verfassungsmäßigkeit unserer Ostpolitik. Diese Bundesregierung handelt, soweit sie Verbindlichkeiten setzt, nur für diejenigen, die ihr die Legitimation dazu gegeben haben. Sie handelt nur für den Geltungsbereich des Grundgesetzes, denn nur von den Deutschen im Gel tungsbereich des Grundgesetzes hat sie die demo- (I kratische Legitimation. Das ist die eine Einschränkung.Die andere Einschränkung ist die, daß diese Regierung ihre Politik auf jenen Gebieten, auf denen sich die Vier Mächte die aus der Besatzungszeit überkommenen Verantwortlichkeiten auf Grund des General- oder Deutschland-Vertrages noch vorbehalten, eben nur im Rahmen der Verantwortlichkeiten der Vier Mächte betreiben kann. Sie kann also für Gesamtdeutschland allenfalls Rechte wahren. Sie muß dies allerdings auch tun. Das schreibt uns die Präambel vor.
Ich werde darauf gleich noch zurückkommen, Herr Vogel.
Eine Verfassung, die ein solches Ziel hätte, wäre eben keine Verfassung; das könnte keine Rechtsnorm sein. Das ist auch nicht das Grundgesetz. Es ist vielmehr das Gegenteil unserer Verfassung.Das kommt aber auch daher, meine Damen und Herren, weil die Wiedervereinigung nicht allein das höchste Verfassungsgut unseres Grundgesetzes ist. Art. 26 des Grundgesetzes macht völlig deutlich, daß die Sicherung des Friedens, d. h. der primitivsten Voraussetzung überhaupt, daß Menschen auf dieser Erde miteinander leben können, das höchste Gut ist, das eine Regierung, das auch unsere Regierung zu wahren hat.
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Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 94. Sitzung. Bonn, Freitag, den 29. Januar 1971 5179
Dr. Arndt
— Herr Schulhoff, im Augenblick lasse ich keine Zwischenfragen zu.Das haben auch frühere Bundesregierungen anerkannt; denn auch sie haben ja in der Debatte die Frage Einheit oder Frieden oder die Frage Einheit oder Freiheit zugunsten des Friedens entschieden, aber auch zugunsten der Freiheit, zugunsten der Grundrechte. Nicht ohne Grund haben wir das Grundrecht des Art. 1, sozusagen das Muttergrundrecht der anderen, wenn auch nicht im rechtlichen, so doch im tatsächlichen Sinne, durch Art. 79 des Grundgesetzes sogar vor der legalen Verfassungsänderung geschützt. Hier sind also Güter, die noch höher zu bewerten sind als ,das freie Zusammenleben der Menschen in ganz Deutschland. Es war richtig und gut, daß diese Priorität so gesehen wurde.Über die Lebensform und über die Grenzen Deutschlands kann aber nur eine Regierung entscheiden, die von allen Deutschen dazu legitimiert ist. Das haben wir auch unseren Vertragspartnern ganz klar gesagt. Ich erinnere in dem Zusammenhang nur an die Briefe, die die Bundesregierung — unwidersprochen und vorher vereinbart — unseren Vertragspartnern übersandt hat, in denen das, was ich hier mit anderen Worten gesagt habe, zusammengefaßt ist in dem Satz, daß diese Regierung nur für die Bundesrepublik Deutschland sprechen könne. Das steht im übrigen auch in den Vertragstexten selbst, denn welch andere Bedeutung hätten sonst die Vorbehaltsklauseln der Verträge, etwa Art. 4 des Moskauer Vertrages und andere.)Diese Bundesregierung kann also Gesamtdeutsch-land nicht verpflichten. — Herr Czaja!
Herr Kollege Dr. Arndt, würden Sie mir denn zustimmen, daß das Grundgesetz von Deutschland in den Grenzen von 1937 ausgeht und daß die Bundesrepublik nicht üer Teile dieses Deutschlands verfügen kann?
Das kann ich Ihnen nur teilweise konzedieren, und zwar deswegen, weil über die Grenzfrage selbst im Grundgesetz, wie Sie wissen, nichts gesagt ist. Allerdings gehört natürlich auch das Staatsgebiet zu den elementaren Bestandteilen eines Staates.
Wir sind uns darüber im klaren, daß die Bundesregierung nicht befugt ist, von Rechts wegen Teile der Bundesrepublik Deutschland, Teile Deutschlands überhaupt — das ist für mich dasselbe — an fremde Mächte zu überantworten.
Aber, meine Damen und Herren, der Fehler in Ihrer Argumentation liegt eben darin, daß Sie behaupten, daß dies in den Verträgen geschehe.
— Herr Czaja, die Lampe leuchtet bereits; es tut mir leid.
— Die Bundesregierung hat ganz deutlich gemacht, daß sie nur für den Geltungsbereich des Grundgesetzes etwas sagt. Die Vorläufigkeit aller Entscheidungen der Bundesregierung resultiert aus ihrer Legitimationsbasis in diesem Grundgesetz. Es ist infolgedessen kein Verfügen über Staatsgebiet für sich und. die Deutschen, die sie legitimiert haben, zu erklären, daß sie dann später einmal für diese Menschen, die sie legitimiert haben, d. h. für uns hier im Westen Deutschlands, etwas nicht mehr geltend machen wolle.
Herr Abgeordneter, Ihre Redezeit läuft ab.
Entschuldigen Sie, Herr Präsident, die Uhr ist während der Fragen weitergelaufen. Ich bitte mir das doch nachzusehen.
Ich gebe Ihnen wegen der vielen Unterbrechungen weitere fünf Minuten Redezeit.
Meine Damen und Herren, das Grundgesetz ist der Rahmen, in dem wir arbeiten können. Auch das Wiedervereinigungsgebot ist ein Rahmen, der von der praktischen Politik zu füllen ist. Das Bundesverfassungsgericht hat mit Recht gesagt: Nur eine Politik, die evident zeigt, daß sie gegen dieses Wiedervereinigungsgebot verstößt, ist eine verfassungswidrige Politik. Daß 20 Jahre christlich-demokratischer Regierung uns von diesem Ziel der Wiedervereinigung noch weiter entfernt haben, bedarf heute in diesem Hause keines Beweises mehr.
Die Politik der Bundesregierung Brandt, die Spannungen abbaut, die Konfrontationen abbaut, die einen Modus vivendi durch praktische Politik auch für Deutschland schafft, ist die einzige Politik, die heute überhaupt noch für die deutsche Einheit als Nation etwas zu retten vermag. Sie ist darum nicht nur nicht grundgesetzwidrig, sie ist nicht nur angelegt, das Grundgesetz zu vollstrecken, sie ist sogar die letzte Chance, den Grundgesetzauftrag überhaupt noch zu vollziehen,
hier für das ganze deutsche Volk ein Leben in gesicherter Freiheit zu ermöglichen. Nur diese Politik vermag infolgedessen das Grundgesetz auszufüllen. All das, was der Abgeordnete, von dem ich vorhin gesprochen habe, hier gesagt hat, ist daher irrig.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Mende.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Durch den Abbruch der gestrigen Debatte in den späten Abendstunden bestand leider keine Möglichkeit, auf die ausführlichen Darlegungen des Bundesministers für innerdeutsche
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Dr. MendeBeziehungen, Franke, einzugehen. Ich bitte daher um Verständnis, wenn ein Mitglied dieses Hauses, das die Ehre hatte, drei Jahre das Amt des Bundesministers für gesamtdeutsche Fragen innezuhaben, zum Thema „Lage der Nation" Stellung nimmt, auch in der 15. Stunde dieser Debatte. Mir scheint, daß einige Fragen noch zu klären, einige Antworten der Bundesregierung noch zu erwarten sind.Herr Kollge Arndt, ich muß bei allem Respekt insbesondere vor der hervorragenden parlamentarischen Leistung Ihres Herrn Vaters in den ersten Perioden des Deutschen Bundestages doch in die Erinnerung zurückrufen, daß die damaligen Entscheidungen der Bundesregierung und der Mehrheit dieses Hauses, zu der auch ich beitrug, nicht losgelöst werden können von den Ost-West-Spannungen, die sich insbesondere in der Berlin-Blockade 1948/49 offenbarten sowie in dem expansiven Versuch der Sowjets, ganz Berlin in ihre Hand zu bekommen und eine kasernierte Volkspolizei aufzustellen. Spätestens am 17. Juni 1953 mußte durch das Eingreifen der Roten Armee in Mitteldeutschland und Ost-Berlin jedem klarwerden, wie notwendig es für die Bundesrepublik Deutschland war, so früh wie möglich dem Europarat beizutreten — 1950 geschehen —, sich um die Demontage des Besatzungsstatuts und des revidierten Besatzungsstatuts zu bemühen und an das atlantische Bündnis anzulehnen, wenn das Schicksal, das Ihren sozialdemokratischen Genossen in Mitteldeutschland bei der Vereinigung mit der SED bereitet wurde, nicht auf ganz Deutschland übergreifen sollte.
Zwanzig Jahre lang war in diesem Hause die Gemeinsamkeit aller drei Fraktionen in der Verpflichtung auf die Präambel des Grundgesetzes unbestritten, die uns allen auferlegt, die Einheit und Freiheit Deutschlands in freier Selbstbestimmung zu vollenden. Das wurde durch das verfassungsgerichtliche Urteil von 1956 und durch spätere Entscheidungen in den Rang eines Verfassungsgebots erhoben, verpflichtend und bindend für Gesetzgebung, Verwaltung und Rechtsprechung. Neuerdings reduziert sich im öffentlichen Bewußtsein dieser Verfassungsauftrag leider mehr und mehr auf eine historische Deklamation, die immer weiter hinter der politischen Wirklichkeit zurückbleibt. Daran ändert auch Ihr Schlußbekenntnis nichts, Herr Kollege Dr. Arndt, der Sie eben vor mir gesprochen haben.Dagegen wächst der deutschen Politik aus Art. 8 der Verfassung der DDR vom 9. April 1968 ein neuer Verfassungsauftrag zu. Ich zitiere:Die Überwindung der vom Imperalismus der deutschen Nation aufgezwungenen Spaltung Deutschlands, die schrittweise Annäherung der beiden deutschen Staaten bis zu ihrer Vereinigung auf der Grundlage der Demokratie und des Sozialismus ...Das ist der neue Verfassungsauftrag der anderen Seite.
Walter Ulbricht hat dazu folgende Begründung gegeben — ich darf auch das wörtlich zitieren —:In diesem Satz drückt sich unsere feste Überzeugung aus, daß der Sozialismus keinen Umweg um Westdeutschland machen wird und daß der Tag kommt, wo die westdeutschen Arbeiter und ihre Verbündeten mit uns gemeinsam den Weg zu einem vereinten sozialistischen Deutschland beschreiten werden.
Hier ist in der Tat die Gefahr der Umkehrung des uns verpflichtenden Verfassungsauftrags des Grundgesetzes in einen neuen Verfassungsauftrag gegeben, der ganz Deutschland unter kommunistische Herrschaft bringen soll.Ich darf Sie an einem anderen Beispiel an die Veränderung der Ausgangsposition erinnern. Am Beginn der 60er Jahre stand der hier schon zitierte Begriff „Wandel durch Annäherung". Gemeint war — auch hier im ganzen Hause unbestritten —, daß durch die menschlichen Begegnungen, durch mehr wirtschaftlichen Austausch, durch mehr technische Kooperation die Verkrampfung im anderen Teil Deutschlands abgebaut werden könnte und durch die Annäherung auf den verschiedensten Gebieten menschliche Erleichterungen im anderen Teil Deutschlands zu erwarten wären.Anfang der 70er Jahre hat auch dieser Begriff seine Umkehrung in „Annäherung durch Wandel" erfahren. Das heißt, man soll sich hier in Westdeutschland erst verändern, bevor die kommunistischen Machthaber in Ost-Berlin so gnädig sein werden, uns größere Kommunikationen zu gestatten. Dieser Wandel wird von der SED und einigen Helfershelfern hier in unserem Lande sehr deutlich in folgende Begriffe gekleidet: Beseitigung der Herrschaft der Kapitalisten, womit man alle Unternehmer, Handel, Handwerk und Gewerbe, kurzum: die Beseitigung der freien Leistungswirtschaft und des Eigentums meint, Beseitigung des Militarismus, wobei selbstverständlich alle Berufssoldaten und insbesondere Offiziere darunter zu rubrizieren sind, und Entmachtung der Revanchisten — selbstverständlich sind das die hier lebenden Ostpreußen, Schlesier, Pommern, Westpreußen und Sudetendeutschen, kurzum: die sogenannten Berufsflüchtlinge, zu denen man sie selbst in der Sprache von Abgeordneten dieses Hohen Hauses bereits zu degradieren beginnt.Natürlich braucht ein totalitäres System seine Prügelknaben.
— So war es ja damals auch in den dreißiger Jahren, Herr Kollege Mattick. Damals waren es für die Nationalsozialisten die Juden, die Freimaurer, die Jesuiten, und heute soll diese Rolle hier von den Kapitalisten, den Militaristen und Vertriebenen übernommen werden. Das ist alles das gleiche Konzept.
Wie meisterhaft diese psychologische Kampfführung ist, mögen Sie an zwei Fällen ersehen. Professor Boris Meissner, ein unbestrittener Experte und Mitarbeiter aller Parteien dieses Hauses, wird 25 Jahre nach Beendigung des zweiten Weltkrieges
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Dr. Mendeplötzlich als Kriegsverbrecher deklariert, weil er offensichtlich aus seinen Studien und Überlegungen den Moskauer Vertrag ablehnt — wie übrigens auch ein anderer prominenter Professor, der früher hier Mitglied des Hauses war — in der Formulierung, der Moskauer Vertrag sei die Anerkennung der sowjetischen Hegemonieansprüche auf ganz Deutschland und ganz Europa. — Konzertierte Aktion! Nirgendwo funktioniert sie so glänzend wie in der Zusammenarbeit der SED-Propanganda einerseits mit nützlichen, leider meist jüngeren Idioten in unserem Lande andererseits.
Wie soll ich es anders verstehen, daß selbst in der Bonner Universität in den nächsten Tagen ein sogenanntes Tribunal gegen zwei Abgeordnete dieses Hohen Hauses, Franz Josef Strauß und Freiherr von Guttenberg stattfinden soll? Leider befinden sich unter den Einladenden sowohl die Gruppe der Jungsozialisten wie die der Jungdemokraten wie junge Gewerkschaftler. Sehen Sie, das sind die nützlichen Wegbereiter, die nützlichen Idioten — frei nach Lenin.
Dae Anlehnung an den Rätestaat, die Anlehnung an Volksdemokratien, ja an dieses Tribunal, das leider vor wenigen Tagen in Guinea zum Entsetzen aller demokratischen Staaten stattfand, die Parallele zu solchen Volktribunalen ist doch sehr offenbar. Das ist der erste Schritt zu den Schauprozessen der nächsten Zeit.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Dr. Arndt?
Ich darf vielleicht einen Gedanken erst zu Ende führen; dann sehr gern.
Herr Bundeskanzler Brandt hat in einer Replik an den Fraktionsvorsitzenden Barzel die Politik der fünfziger Jahre so etwas in degradierender Form apostrophiert: das, was Herr Dr. Barzel hier vorschlage, sei die Rückkehr zur Politik der fünfziger Jahre. Worin bestand, meine Damen und Herren, die Politik der fünfziger Jahre? Ist sie wirklich nur absolut mit negativen Vorzeichen zu versehen? Uns allen war doch auch in den Debatten dieses Hauses klar, daß die Dreiheit kontrollierte Abrüstung, europäische Sicherheit und Wiedervereinigung ein unteilbares Ganzes bilde und wir uns daher bemühen müßten, bei den Siegermächten dieser Welt, bei den Vier Mächten eine Klärung des militärischen Status eines wiedervereinigten Deutschlands im Rahmen eines neuen Sicherheitssystems zu finden, mit dem Ziel, die Möglichkeit eines gesamtdeutschen Willenentscheides dann zu erreichen. So lagen die Deutschlandpläne der Sozialdemokratischen Partei, dann, allerdings wieder zurückgezogen, der Freien Demokratischen Partei. So ähnlich äußerte sich der Deutsche Gewerkschaftsbund am 1. Mai 1957. Ich bitte einmal nachzulesen, was der Deutsche Gewerkschaftsbund an Forderungen für ein wiedervereinigtes Deutschland damals in Berlin aufzählte. Und so wurde es auch in der Berliner Entschließung lesbar,
die am 1. Oktober 1958 einstimmig in Berlin gefaßt werden konnte. Ja selbst in dem Gromyko-Plan, der bei der Genfer Außenministerkonferenz 1959 in Genf vorgelegt wurde, war die Einheit Deutschlands unbestrittener Inhalt dieses Friedensvertrages wie des Friedensvertrages der Westmächte, den Christian Herter vortrug.
Für alle damaligen Vorstellungen der Parteien, der Verbände, ja sogar für den sowjetischen Friedensvertragsentwurf von 1959 galt die Herbeiführung der Einheit des deutschen Volkes. Urn so bedauerlicher ist es, daß dieses selbst von den Sowjets noch 1959 anerkannte Thema nicht im Vertrag von Moskau im Jahre 1970 verankert wurde, sondern lediglich in einem Brief.
Ich zitiere auch noch aus dem Aide-mémoire, das uns damals im Frühjahr 1958 während einer heißen Debatte erreichte. Ich zitiere wörtlich:
Gegenüber verleumderischen Behauptungen, die Sowjetunion wolle einen Friedensvertrag mit zwei deutschen Staaten, stellt die Regierung der UdSSR fest, sie wolle einen Friedensvertrag mit ganz Deutschland.
Zwar sei die Konföderation der beiden deutschen Staaten der beste Weg, aber - so der Schluß —die Regierung der UdSSR ist weit davon entfernt, diese oder andere Lösungen dem deutschen Volk aufzwingen zu wollen.
Der Wille zur Herbeiführung der staatlichen Einheit. war also ein integrierender Bestandteil der Deutschlandpolitik dieses Hauses bis Anfang der siebziger Jahre.
Seit einer gewissen Zeit sind Resignation und die Bereitschaft erkennbar, insbesondere auch in der Rede des Herrn Kollegen Mattick — „Der Zug ist abgefahren" , sich nicht nur mit der Teilung auf lange Zeit abzufinden, sondern auch Vorleistungen an Ost-Berlin zu erbringen ohne die geringsten Gegenleistungen. — Sie wollten eine Frage stellen.
Herr Kollege Dr. Mende, sind Sie bereit zur Kenntnis zu nehmen, daß die .Jungsozialisten nicht zu den Einladenden jenes Bonner Kongresses zählen? Haben Sie die Jungsozialisten eventuell mit der Sozialistischen Deutschen Arbeiterjugend verwechselt, die nicht sozialistisch, sondern kommunistisch ist und zu den Eingeladenen gehört, oder haben Sie die Einladenden mit den zur Teilnahme Aufgeforderten verwechselt? Für eine Einladung kann ja niemand etwas.
Ich habe das Flugblatt gestern abend gesehen. Ich habe es nicht zur Hand. Es ist durchaus möglich, Herr Kollege Arndt.
Aber wir werden das ja sehen. Wir werden das Echo hören.
- - Bitte schön, Herr Kollege Mattick.
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5182 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 94. Sitzung. Bonn, Freitag, den 29. Januar 1971
Herr Kollege Dr. Mende, würden Sie zur Kenntnis nehmen, daß meine Darstellung nicht Resignation war, sondern die Feststellung, daß der Zug abgefahren ist, nämlich der Zug der fünfziger Jahre, und daß wir daher heute eine offensive Ostpolitik in Bewegung setzen müssen?
Das Prinzip, nämlich der Eid, den Nutzen des deutschen Volkes zu mehren und Schaden von ihm zu wenden, ist für mich, ist für Präsident, Kanzler und Minister so verpflichtend, daß ich hier keinen abgefahrenen Zug erkenne.
Ich darf noch mit wenigen Bemerkungen darauf hinweisen, daß aktive Deutschlandpolitik nicht erst im Oktober 1969 begonnen hat. Ich erinnere — das ist hier auch schon zum Teil erwähnt worden — an die Einrichtung der Handelsmission unter der Verantwortung des Außenministers Dr. Schröder, an die Passierscheine 1963 bis 1966 mit der salvatorischen Klausel, daß man sich über Orts-, Dienst- und Amtsbezeichnungen nicht einigen konnte. Wo waren wir damals in der Wahrung von Rechtspositionen? —Und es gab trotzdem Passierscheine, Rentnerreisen, Kulturbegegnungen und Sport.
Wenn ich mir heute den Stander desselben Herrn Kohl ansehe, wie er mit dem Staatswappen der DDR mit Hammer und Zirkel beim Bundeskanzleramt vorfährt — derselbe Herr Kohl, der damals die salvatorische Klausel akzeptierte —, dann sehe ich darin, Herr Kollege Mattick, demonstrative Präsenz in Bonn aber auf der anderen Seite.
Wir haben damals Erleichterungen und Begegnungen ohne Preisgabe von Rechtspositionen erreichen können. Sie sind heute bereit, Rechtspositionen preiszugeben, ohne die geringsten Konzessionen, nicht einmal Passierscheine, erreicht zu haben.
Ich darf daher zum Schluß, Herr Präsident, folgende Fragen an die Bundesregierung richten: Ist der Verfassungsauftrag des Grundgesetzes tatsächlich noch eine imperative Maxime der Deutschlandpolitik im Sinne der Formulierung: „Oberstes Ziel deutscher Politik war und ist die friedliche Vereinigung der Deutschen in freiheitlicher demokratischer Ordnung. Dabei sind zu berücksichtigen die Grundsätze für nationale Selbstbestimmung, freiheitliche Menschenrechte und das Recht auf Heimat."?
Zweite Frage: Gilt in diesem Sinne der Grundsatz, daß auf deutschem Boden ein System rechtlich nicht anerkennbar ist, das nicht dem Volkswillen entspricht und das die Menschenrechte verleugnet?
Die dritte Frage und zugleich Aufforderung: Ist die Bundesregierung bereit, das Memorandum des Bundesministeriums für gesamtdeutsche Fragen vom September 1966 zum Ersuchen der DDR um Aufnahme in die Vereinten Nationen zu beachten und die entsprechenden Unterlagen des Forschungsbeirats für Wiedervereinigung auszuwerten? Denn Menschenrechtsverletzungen sollten gleichermaßen
verurteilt werden, auch wenn sie von kommunistischen Machthabern kommen.
Schließlich die vierte Frage: Gilt der frühere Vorbehalt noch, daß einseitige Vorleistungen politisch schädlich sind und den Interessen aller Deutschen widersprechen, oder ist man hier anderen Sinnes geworden?
Herr Präsident, ich habe die Sorge — das sei mein Schlußsatz; viele teilen diese Sorgen, täuschen wir uns nicht, hier und im anderen Teil Deutschlands —, daß wir durch Fehler und rechtliche Preisgaben in den 70er Jahren zu einem Weg kommen könnten, der in den 80er Jahren zu einem kommunistischen Gesamtdeutschland nach den Zielvorstellungen der SED führen könnte.
Das gilt es zu bedenken, und es gilt, auf diese Gefahren rechtzeitig aufmerksam zu machen.
— Auch im Frühjahr 1933 haben manche im alten Reichstag gelacht, die dann später an den Galgen mußten.
Das Wort hat der Herr Bundeskanzler.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Meine a Damen und Herren! Wenn ich dem Herrn Vorredner im einzelnen antworten wollte, käme ich nicht zu dem, worauf es mir jetzt gegen Ende dieser Debatte - ich darf nicht sagen, zum Schluß, aber gegen Ende — ankommt. Mir kommt es darauf an, deutlich zu machen, ohne irgend etwas zu verniedlichen, daß es nicht nur Meinungsverschiedenheiten, zum Teil ernste Meinungsverschiedenheiten gibt, sondern — wenn ich mir den gestrigen Tag und den heutigen zusammen noch einmal klarzumachen versuche —, auch Berührungspunkte zwischen Regierung bzw. Regierungskoalition einerseits und Opposition andererseits in bezug auf wichtige Fragen unserer Außenpolitik.Ich meine damit erstens: in bezug auf die Erhaltung des westlichen Verteidigungsbündnisses. Ich habe bei allen Kontroversen des gestrigen und des heutigen Tages nicht gefunden, daß das, was die Regierung zunächst in der Regierungserklärung und was dann der Verteidigungsminister und der Außenminister dazu gesagt haben, umstritten sei.Zweitens: in bezug auf die Erweiterung der Europäischen Gemeinschaft und ihre Fortentwicklung zu einer Währungs- und Wirtschaftsunion und zur engeren politischen Zusammenarbeit. Ich habe nicht gefunden, daß diese Zielsetzung und die Anstrengung, die damit verbunden ist, ernsthaft angegriffen und in Frage gestellt wurden. Was der Herr Außenminister dann ausführlicher und der Kollege Schiller dazu gesagt haben, war ja auch ganz nützlich, damit nach den wenigen Sätzen, die ich gestern dazu nur sagen konnte, deutlich wurde, wie unrecht diejeni-
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Bundeskanzler Brandtgen haben, die uns drei in dieser Frage im Anschluß an die Pariser Gespräche hatten auseinanderdividieren wollen.Ich denke drittens an die Fragen, die sich auf — lassen Sie es mich so nennen — die generellen Ziele unserer Ostpolitik beziehen, also die Verständigung mit der Sowjetunion und anderen osteuropäischen Staaten sowie die Aussöhnung mit den Völkern Europas. Ich denke dabei nicht zuletzt auch an die Fragen, die sich auf das Bemühen um eine befriedigende Berlin-Regelung und deren wesentliche Elemente beziehen.Meine Damen und Herren, Sie haben dabei wahrscheinlich gleich verstanden, daß ich das Selbstbestimmungsrecht deshalb nicht genannt habe, weil es mir erscheine, als würde ich bei einer solchen Summierung etwas mit einem Fragezeichen versehen. Das Festhalten am Selbstbestimmungsrecht brauche, nein, darf ich nicht in diesem Sinne in eine solche Summierung mit aufnehmen, denn dies ergibt sich aus der Verfassung dieses Staates.
Um das gleich hinzuzufügen, ohne jetzt noch unnötig in einer solchen — was mich angeht — abschließenden Bemerkung zu polemisieren: Herr Kollege Birrenbach irrt nach Überzeugung der Regierung, wenn er auf Grund eigener Überlegungen oder ausländischer Quellen, Zeitungsartikel und anderem meint, der mit der Sowjetunion unterzeichnete Vertrag bedeute die endgültige Teilung des deutschen Volkes und des deutschen Staates. Ich kann nichts daran ändern, daß solche Unkenrufe vorgebracht werden, auch unter Berufung auf ausländische Quellen. Das Geschäft dieser deutschen Regierung und jeder künftigen deutschen Regierung wird durch die Berufung auf solche Aussagen nicht leichter gemacht. Darüber müssen wir uns hier miteinander im klaren sein.
Was die Anerkennung angeht, verehrter Herr Kollege Kiesinger: Das, was Herr Moersch, als hier von einer amerikanischen Zeitschrift die Rede war, auf die Sie sich gelegentlich berufen, vorbrachte, kann man sogar noch ein bißchen humorvoller bringen. Ein uns beiden bekannter englischer Politiker wurde vor Jahren einmal gefragt, ob er sich dann, wenn er die oder die Verantwortung an der Spitze seines Landes oder sonst an höherer Stelle habe, zur „recognition of the GDR" entschließen würde. Er antwortete, er verstehe das nicht ganz. Er sagte: Wenn ich in einen zoologischen Garten gehe und dort einen Elefanten sehe, dann — jetzt verballhorne ich — recognize ich, daß das ein Elefant ist, aber damit anerkenne ich ihn doch nicht.
— Ja. Aber es ist doch klar, daß dieser Doppelsinn, das Erkennen des Elefanten und die Anerkennung der Teilung oder der Vertreibung, ganz unterschiedliche Tatbestände enthält.
Ich muß hier den Kollegen der Opposition auch einmal sagen: die Diskussion wird auch nicht dadurch erleichtert, meine Damen und Herren, daß Sie sich heute in der Polemik zu einem nicht geringen Teil auf Positionen berufen, die Sie gestern angegriffen haben. Als ich aus Kassel zurückkam und hier am nächsten Morgen sagte, daß und warum wir für die 20 Punkte eingetreten sind, da haben Sie uns getadelt, anstatt uns zu stützen, und heute sagen Sie, wir stünden nicht zu den 20 Punkten.
Ich werde mich gleichwohl in meiner Politik bemühen - -
— Gut, ich korrigiere mich insoweit; ich bin dankbar dafür, Kollege Barzel. Die Äußerung vor dem Plenum erfolgte nicht nach Kassel, sondern nach Erfurt; da haben Sie recht. Die 20 Punkte wurden nicht in Erfurt, sondern in Kassel vorgetragen. Sie wurden hier nicht im Plenum, sondern auf der Pressekonferenz vorgetragen. Dies ändert nichts an den nicht sehr hilfreichen, weil nicht sehr positiven Äußerungen, die die Opposition zu jenem Zeitpunkt abgegeben hat, während Sie heute glauben, sich auf die 20 Punkte gegen die Regierung berufen zu sollen. Das hatte ich gesagt.
Nun, meine Damen und Herren, ich werde mich in meiner Politik gleichwohl bemühen, die übereinstimmenden Feststellungen im Auge zu behalten — vielleicht nicht nur die, die ich jetzt genannt habe; man muß solchen Dingen zum Teil im einzelnen noch weiter nachgehen —, wie auch anderen deutlich zu machen, was sich aus solchen übereinstimmenden Feststellungen ergibt oder ergeben könnte, und die Basis solcher Feststellungen nach Möglichkeit zu erweitern.Aber wir verstehen uns sicher auch richtig, wenn ich sage, daß das Bemühen um — in diesem Sinne verstanden — Gemeinsamkeit in nationalen Fragen natürlich nicht zur politischen Passivität führen darf. Wir müssen immer wieder versuchen, die Gemeinsamkeit politischer Aktion zu finden. Jeder Versuch, die Bundesregierung unter Berufung auf Gemeinsamkeit am Handeln zu hindern, wird scheitern, muß scheitern, weil wir gegen das verstießen, was wir für unsere Pflicht halten, weil die Regierung nun einmal, auch wenn sie eine schwache parlamentarische Mehrheit hat, zum Handeln berufen ist und weil wir davon überzeugt sind, daß unser Handeln im Interesse der Nation liegt. Davon sind wir überzeugt.
Nun hat die Opposition, wie mir wohl bewußt ist, Anstoß daran genommen, daß ich Ihrem Fraktionsvorsitzenden, Herrn Dr. Barzel, gestern in einer kurzen Intervention nach seiner Rede gesagt habe, der Kern seiner Einwände bedeute eine gedankliche Rückkehr in die fünfziger und die frühen sechziger
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5184 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 94. Sitzung. Bonn, Freitag, den 29. Januar 1971
Bundeskanzler BrandtJahre. Ich weiß nicht, ob Herr Kollege Mende im Saal war, als ich dies vorbrachte. Ich fügte hinzu: also in die Konzeptionen vor Bildung der Regierung Erhard/Schröder, wenn ich sie mal so nennen darf, der Sie, glaube ich, dann auch beitraten, als diese gebildet wurde. Dieses Kernstück der Ausführungen bedeute gewissermaßen, so sagte ich, die Abschaffung der DDR zur Voraussetzung einer westlichen Entspannungspolitik zu machen, und dafür, so sagte ich weiter, würden wir die Unterstützung keines unserer Verbündeten finden.Nun, diese Äußerung, Herr Kollege Barzel, bezog sich natürlich nicht auf die vier Punkte, die in Ihrer Rede gegen Ende enthalten sind. Aber Sie machen es einem auch nicht leicht.
— Sehr wohl, das weiß ich. Ich meine, leicht in einem anderen Sinn, Herr Kollege Windelen. Sie machen es einem natürlich auch dadurch nicht leicht, daß Sie aus der Lage der Union heraus sehr viel Unterschiedliches unter einen Hut zu bringen haben,
und das merkt man natürlich auch bei der Präsentation der Auffassung der Union.
Dafür habe ich ein gewisses Verständnis. Aber Sie müssen bitte auch verstehen, Herr Kollege Barzel, wenn ich es für richtig halte, auf jene Gedankengänge oder Kompromißformulierungen oder Zugeständnisse einzugehen, die meiner Überzeugung nach besonders wenig in die heutige politische Landschaft passen.Die CDU hat es nicht leicht, sie macht es sich nicht leicht, und — Sie haben völlig recht — es ist nicht ihre Aufgabe, es der Regierung leichtzumachen.
Aber was, so frage ich mich, hält die führenden Vertreter der Union auch nachdem, was sie gestern und heute im Deutschen Bundestag gesagt haben, eigentlich davon ab, schon jetzt ein deutliches Ja z. B. zum Vertrag mit Polen zu sagen?
Was anderes hält sie davon ab, wenn. nicht u. a. die Rücksichtnahme auf innerparteiliche Schwierigkeiten und auf bestimmte Wählergruppen?
Ein solches Ja würde, wenn Sie sich dazu durchringen könnten,
dem Willen zur Aussöhnung noch erheblich mehr Gehalt geben als das, was sonst gesagt wurde,
und würde trotzdem der Abstimmung, der Ratifizierungsdebatte nicht vorgreifen.Die gegenwärtige Haltung der Opposition, so wie sie in fast allen Reden, vor allem draußen im Lande, aber auch hier im Bundestag, durchschimmert, läßt viele andere vor allem nur das Nein hören. Wer auf diesem Gebiet aber nur anklagt, nur kritisiert, wer insoweit eigentlich nur polemisiert, der kann nicht erwarten, daß seine Argumente dann das gleiche Gewicht haben, wenn er hinzufügt, er behalte sich die eigentliche Entscheidung vor.Zu dieser Polemik gegen die Politik der Bundes regierung gehört vor allem der häufige Gebrauch des Wortes „Verzicht" hier weniger, aber auch hier, draußen mehr — und der Vorwurf, die Bundesregierung habe Vorleistungen erbracht — Herr Kollege Kiesinger sprach von Positionen, von, wie ich sage, eingebildeten, vermuteten Positionen —,
ohne auf Gegenleistungen hoffen zu können.Eingebildete Positionen: Hier komme ich nun doch noch einmal auf das Jahr 1961, von dem der Kollege Wehner gesprochen hat, zurück. Meinen Sie nicht heute auch, daß das damals eine eingebildete Position war und daß, als der Vorhang weggezogen war,
nichts auf der Bühne stand, von der man immer gehört hatte, die Vier Mächte stünden darauf?
Nein, nichts war.
Doch, das Gerede war, die Formeln waren, der Selbstbetrug war; aber mit der Wirklichkeit mußten sich die Leute neu auseinandersetzen.
— Damit geben Sie mir ein gutes Stichwort: Diese Bundesregierung — ich sage das mit Leidenschaft bei allem Respekt vor der Meinung anderer — hat keine Rechtspositionen aufgegeben.
Außerdem stünde ein Urteil darüber, wenn zu entscheiden wäre, nicht einem politischen Gremium, sondern einem anderen zu.
Ich sage Ihnen: Diese Regierung hat keine Rechtspositionen preisgegeben.
Die Bundesregierung hat keine Vorleistungen erbracht, sie hat nichts verschenkt, sondern sie ist von der Lage ausgegangen, wie sie ist.Was schließlich die Gegenleistungen angeht, so zeigt sich schon heute, also bereits vor der Ratifizierung der Verträge, daß sich die Beziehungen zwi-
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Bundeskanzler Brandtschen uns und Moskau einerseits und uns und Warschau andererseits verbessern, daß sich — ich übertreibe es nicht, streiche aber auch nichts davon ab— die Aktionsmöglichkeiten, die Handlungsmöglichkeiten der Bundesregierung, der deutschen Politik etwas erweitern, daß die Stellung der Bundesrepublik in der Welt — ich übertreibe auch dies nicht — nicht geschwächt, sondern gestärkt worden ist.
— Aber es ist natürlich klar, Herr Kollege Kiesinger, daß die ganze Bedeutung dieses Vorhabens, in dem wir jetzt erst mitten drinstecken, erst sichtbar werden kann, wenn die Verträge in Kraft sein werden. Und gerade dies versucht die Opposition auf Grund ihrer Sicht der Dinge zu verhindern.
Wir bleiben dabei, daß die Ratifizierung des Moskauer Vertrages nur im Zusammenhang mit einer befriedigenden Berlin-Lösung erfolgen kann. Ein sogenanntes innerdeutsches Junktim hinsichtlich dieses Vertrages kann ich jedoch nicht akzeptieren, denn es wäre nicht vernünftig.
— Nein, nicht weg vom sachlichen Zusammenhang,
sondern jetzt reden wir vom Zusammenhang mit einem Vertrag, der der Schlüssel zu weiteren Entwicklungen ist.
Wir alle wissen, daß eine Verbesserung der Beziehungen zwischen den beiden Staaten in Deutschland und darüber hinaus zwischen den Teilen des deutschen Volkes zwar ein wesentliches, wenn nicht d a s wesentliche Ziel unserer Politik ist und zu sein hat, zugleich aber auch das schwierigste ist. Wir können der Lösung dieses Problems überhaupt nur näherkommen, wenn wir in Europa und insbesondere in Mitteleuropa einen Rahmen der Entspannung geschaffen haben, der dann auch auf unser Verhältnis zu Ost-Berlin positiv zurückwirkt. Daß es auf dem Wege dahin bereits durch ein Abkommen oder durch eine Gruppe von Abkommen über Berlin — darauf hat der Herr Außenminister heute früh hingewiesen — zu Teilregelungen, zu Einstiegsregelungen zwischen den beiden Administrationen auf deutschem Boden kommen würde, ist der andere Gedanke, der mit in diesem Zusammenhang gehört.Die Ostverträge, meine Damen und Herren, bilden die Voraussetzung für eine solche Entspannung, die allein uns auch in den deutschen Dingen weiterhilft. Wer der Forderung der Opposition — lassen Sie mich dies in aller Ruhe sagen — folgen würde, würde meiner Meinung nach die Aussichten für eine Entspannung mindern und eine Verbesserung der innerdeutschen Beziehungen nicht fördern, ja im Grunde unmöglich machen, indem er ihre Voraussetzung, eben die Ostverträge, zum Scheitern bringt oder auf Eis legt. So sehe ich das.Auch was Berlin angeht, ,Herr Kollege Kiesinger, kenne ich die Auffassung, die früher vorgebracht wurde: Wartet erst ab, bis man sich über Berlin einigt, und redet dann mit den Russen über einen Gewaltverzichtsvertrag oder einen Vertrag über Gewaltverzicht und Zusammenarbeit.
Nein, meine Erfahrung und der bisherige Ablauf der Dinge zeigen mir, daß dies falsch gewesen wäre. Und so schwierig, so bedrückend die Dinge heute sind — ich selbst bin heute abend und für die nächsten paar Tage in Berlin, und ich habe es leichter als die, die da auf der Straße anstehen müssen; nicht wahr, wir, die wir auf andere Weise dorthin reisen, haben es leichter als die, die als Lkw-Fahrer stundenlang an der Ausübung ihres Berufs gehindert werden, und als die vielen Tausende mit ihren Pkws —, eines sage ich Ihnen: wenn wir diesem Rat gefolgt wären, hätten wir die Aussichten für ein gutes Ergebnis der Berlin-Verhandlungen auf Null reduziert.
Das sagt mir mein Einblick in die Zusammenhänge.Stellen wir uns einmal vor, meine Damen und Herren, daß die Vier Mächte eine Regelung für Berlin erreichen, die sie und wir befriedigend nennen können und auf der anderen Seite auch sonst noch jemand. Dies wird schwer genug sein, aber wenn das geschehen ist, soll nach den Vorstellungen einiger Herren der Opposition diese Regelung nicht etwa in Kraft treten, sondern sie soll warten, bis auch das Verhältnis zwischen beiden Staaten geregelt ist, und zwar über das hinaus, was in Verbindung mit Berlin ohnehin geregelt werden muß. Niemand weiß, wie lange dies dauern wird. Mit anderen Worten, eine gute Regelung für Berlin soll vielleicht auch dann nicht in Kraft treten, wenn die DDR bewogen werden könnte, an ihr bzw. ihrer Ausführung mitzuwirken, oder aber Berlin soll auf eine Verbesserung seiner Lage warten, bis die DDR umfassend kooperativ sein sollte.Wer einen solchen Vorschlag macht - ich bitte, dies noch einmal miteinander oder jeder für sich zu überdenken —, der hilft Berlin nicht. Eine gute Rege lung für Berlin ist das, worauf wir uns jetzt konzentrieren müssen. Jede weitere andere, neue Vorbedingung hilft nicht Berlin, sondern schadet Berlin. Auch deshalb lehne ich solche zusätzlichen Vorbedingungen ab.
Herr Kollege Kiesinger, mit den Zitaten von vorhin — das sage ich ganz ehrlich — kann ich und können auch Sie nichts anfangen. Ich sage Ihnen offen: ich habe zu einer Reihe dieser Fragen aus guten Gründen auch in meinen frühen Jahren im Deutschen Bundestag anderes gesagt, als ich heute sage. Ich habe nämlich zur damaligen Zeit das gesagt, was ich für möglich, notwendig und erstrebenswert hielt.
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5186 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 94. Sitzung. Bonn, Freitag, den 29. Januar 1971
Bundeskanzler BrandtIch könnte, verehrter Herr Dr. Kiesinger, mit Zitaten aufwarten.
Aber was soll das? Lassen wir das beiseite, das hilft uns nicht.
Wir können etwas anderes machen, wenn es Ihnen Spaß macht, Herr Marx. Wir können einmal die Zitate beiseite lassen und dann miteinander die Rechnung aufmachen: Wer hat seit 1949 für Berlin was gefordert, und wer hat was unterlassen?
Gegen wessen Bedenken konnte 1949 die Deutsche Mark in West-Berlin — die heute die Grundlage für die Verklammerung ist, die wir nicht aufgelöst wissen wollen — eingeführt werden?
Und wenn ich es recht sehe, mancher, der heute glaubte, mir in bezug auf Bundespräsenz etwas vorwerfen zu sollen, hat sich bei den Bundesversammlungen 1954 und 1959 nicht durch Übereifer ausgezeichnet. Spätere Zeitpunkte will ich jetzt einmal völlig außer Betracht lassen.Meine verehrten Damen und Herren, es ist im übrigen, gerade auch nach dem, was uns Herr Schiller nach der Mittagspause, die wir nicht gehabt haben, sofern wir nicht den Saal kurz verlassen haben, dargelegt hat, und gestützt auf das, was der Außenminister ausführlicher zu den verschiedenen Aspekten unserer Politik sagen konnte, überhaupt nicht zu bestreiten, daß wir, wie wir es gesagt haben, die Unterstützung unserer westlichen Partner, besonders der in Westeuropa, haben. Keiner kann ernsthaft behaupten, wir vernachlässigten die westeuropäische Zusammenarbeit. Keiner hat hier darlegen können, wir täten gerade auch auf diesem Gebiet nicht das Letztmögliche.Ich will folgendes noch hinzufügen. Auch heute helfen uns keine begriffstheoretischen Erörterungen, wie wir sie in den fünfziger Jahren auch einmal gehabt haben, Erörterungen darüber, ob hieraus einmal eine Föderation, eine Konförderation oder ein Gebilde eigener Art werden wird. Hier wie anderswo zählen die praktischen Schritte in unserer Westpolitik, in unserer Ostpolitik und auf den vielen Gebieten, wo diese miteinander verzahnt sind.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. Barzel.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Kontroverse über die Beteiligung der Jungsozialisten an der geschilderten Bonner Veranstaltung will ich nicht aufnehmen. Ich habe dem Herrn Vorsitzenden der Sozialdemokratischen Partei soeben das uns vorliegende foto-kopierte Exemplar, um das es geht, gegeben. Auf unserem Exemplar sind die Jungsozialisten aufgeführt. Ich nehme an, er wird das in Ordnung bringen.Meine Damen und Herren, der Herr Bundeskanzler hat zu Beginn seiner Erklärung davon gesprochen, es hätte in dieser Debatte nicht nur Meinungsverschiedenheiten, sondern auch Berührungspunkte gegeben. Mit dem Wort „Berührungspunkte" stimme ich überein — aber Gemeinsamkeit? Herr Bundeskanzler, ob man das nun wirklich auf das NATO-Bündnis und die engere europäische Politik beziehen kann, müßte man ausdiskutieren, und das ginge jetzt, wie ich glaube, ein bißchen zu weit. Diese Themen sind ja heute nur kurz angesprochen worden.In dem dritten Punkt — wenn Sie sagen, daß das ganze Haus für Entspannung und Aussöhnung sei — stimmen wir überein.Wenn sie in dem vierten Punkt von einer befriedigenden Berlin-Regelung sprechen, so hoffe ich, daß damit manches aus der Debatte in der Öffentlichkeit zu der Zeit, als dieses Haus nicht versammelt war, vom Tisch ist; und daß es bei dem bleibt — so verstehe ich Ihre Erklärung, Herr Bundeskanzler —, was vertraulich miteinander besprochen worden ist.In einem anderen Punkt kann ich Ihnen nicht folgen, wenn Sie nämlich sagen, daß Sie zum Selbstbestimmungsrecht keine Feststellung zu treffen wünschten, weil diese Forderung im Grundgesetz enthalten sei. Herr Bundeskanzler, im Grundgesetz ist auch die Forderung auf deutsche Einheit, auf europäische Einheit und auf Gewaltverzicht als verbindliches Ziel jeder deutschen Politik normiert.Herr Bundeskanzler, was Sie hier am Schluß gesagt haben, hätten Sie besser gestern zu Anfang gesagt. Sie hätten sich die eruptive und polemische Antwort auf meine erste Einlassung besser erspart. Dann wäre es etwas leichter gewesen, in dieser Debatte zu erkennen, ob es Berührungspunkte gibt, aus denen man etwas Gemeinsames entwickeln kann. Herr Bundeskanzler, Sie haben hier von Gemeinsamkeit gesprochen und im Zusammenhang mit Polen — darauf komme ich zu sprechen — an uns appelliert. Vielleicht nehmen Sie zum Wochenende noch einmal den vertraulichen Schriftwechsel aus der Zeit vor der endgültigen Vertragsverhandlung zur Hand und überdenken noch einmal den von Ihnen in diesem Briefwechsel schriftlich niedergelegten Satz, in dem es heißt, man sei nicht einmal bereit, die Position der Bundesregierung zu überprüfen. Wenn es das nicht einmal gibt, kann es nicht zu Gemeinsamkeit kommen. Herr Bundeskanzler, Sie sollten es sich deshalb, weil es zu billig ist, selbst schenken, hier zu sagen, wir würden nur aus falschen Rücksichten in dieser Frage jetzt nicht votieren. Nehmen Sie ganz ernst, daß solcherart Sätze bei den Mitbürgern — und ich hoffe, solche sind wir alle —, die hier ernsthaft im Gewissen angesprochen sind, zusätzliche Erschwerungen schaffen.
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Dr. Barzel— Ich bin bereit, mit Ihnen über diese ernste Frage zu streiten, weil ich jedwedem Kollegen, wo immer er sitzt, dies gern abnehme. Wenn Sie dazu einen ernsthaften Zuruf haben, können wir diesen gern erörtern.
Herr Kollege Mattick, ich bin bereit, Sie persönlich, da Sie gerade in Polen waren, genauso zu informieren wie die Mitglieder der Bundesregierung, damit dieser Punkt vielleicht jetzt hier außen vor ist. Ich nehme im übrigen Bezug auf das, was ich gestern hier in der Debatte in einer Zwischenfrage dazu gesagt habe.Herr Bundeskanzler, die fünfziger Jahre, Ihr Vorworf von gestern: Ich begrüße, daß Sie heute — anders als gestern, ebenso wie der Außenminister — gerechter gewürdigt haben, was wir hier vorgetragen haben. Sie haben natürlich etwas übersehen. Es ist schon ziemlich merkwürdig, wenn ein Bundeskanzler mit dieser schwachen Mehrheit übersieht, daß eine Opposition öffentlich davon spricht, daß auch Mitverantwortung für Verträge denkbar sei. Dazu gehört schon eine Menge Blindheit und Taubheit, das zu übersehen und dann, wie gestern, hier so zu reagieren.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Wir haben gesagt — Herr Schäfer, hören Sie gut zu —: die Kondition dafür: Wenn deren unzweideutiger Inhalt — und um den Inhalt eindeutig zu bekommen, verlangen wir die Protokolle, Herr Bundeskanzler; das Thema ist ja noch nicht zu Ende —
unwiderrufliche Fortschritte enthielte, Herr Kollege Schäfer. Oder wollen Sie vielleicht etwas weggeben für ein Tagesgeschenk, das man jeden Tag wieder in Frage stellen kann? Wollen Sie vielleicht in Berlin etwas verabreden, was widerruflich ist, Herr Schäfer? Das können Sie doch selbst nicht sagen.Die Konditionen also: Wenn der unzweideutige Inhalt der Verträge unwiderrufliche Fortschritte für die Menschen — das habe ich zwischen Weihnachten und Neujahr auch gegenüber Herrn Wehner gesagt, meine Damen und Herren, damit die gemeinsame Plattform in Sachen Berlin erhalten blieb, trotz seiner Erklärungen — und konkrete substantielle Bauelemente für eine gesamteuropäische Friedensordnung enthielte — was das ist, haben wir in den vier Punkten gestern bezeichnet — und die deutsche Frage, in der Substanz zumindest, offenbliebe. Das, meine Damen und Herren, sollte die Regierung zur Kenntnis nehmen, bevor Sie hier — um ein Wort von Herrn Apel aufzunehmen, das er in dieser Debatte so oft zu verwenden beliebte — „Pappkameraden" aufbauen.Aber, Herr Bundeskanzler, wie können Sie von „eingebildeten" Positionen sprechen?
Ist es eine eingebildete Position, wenn nun, Herr Kollege Mattick, Schlesien einfach Ausland wird? Ist das eine eingebildete Position, oder verwechselt hier der Bundeskanzler Rechtspositionen mit seinen eingebildeten, nicht eingetretenen Gegenleistungen?
Wenn Sie, Herr Bundeskanzler, Verträge als Voraussetzung betrachten, dann wundere ich mich, woher Sie den Mut dazu nehmen. Denn dies ist doch nur ein Beweis, daß die Kraft Ihrer Hoffnung stärker ist als die Kraft Ihrer Erfahrung.
Wie ist denn nach diesem Jahr das möglich, Herr Bundeskanzler? Was haben Sie für Erwartungen erweckt? Was haben Sie uns allen aus Moskau in Ihrer Fernsehansprache gesagt?! Und nun stehen Sie mit leeren Händen an.
— „Neuer Anfang" hat er gesagt. — Es ist eben eine Illusion, zu glauben, man könne zuerst alles weggeben und dann hoffen, es werde schon noch eine Gegenleistung kommen. Bei dieser Politik, Herr Bundeskanzler, werden Sie im nächsten Jahr mit einer noch traurigeren Zwischenbilanz hier stehen — falls Sie dann noch hier stehen.
Erlauben Sie mir, zu dieser Debatte zunächst noch folgende Bemerkung zu machen. Meine Damen und Herren, wir haben erlebt, daß in dieser Debatte Koalition und Regierung zusammen genau zwei Drittel der Redezeit in Anspruch genommen haben. Wir haben genau ein Drittel bekommen.
Das werden wir zur Sprache bringen; denn es scheint uns keine vernünftige Verteilung der Redezeiten in einer solchen Debatte zu sein.
Ich möchte nun noch zu dem am meisten kontroversen Punkt dieser Debatte kommen, zu der Frage der Zusammenhänge und des Rangs der innerdeutschen Fortschritte und der Abhängigkeit anderer Dinge davon; denn das ist die zentrale Kontroverse.Herr Kollege Schmidt, der gestern in die Debatte eingriff, hat auf das NATO-Kommuniqué verwiesen. Es wird im einzelnen, wie es aussieht, in den Ausschüssen erörtert werden. Ich möchte aber hier gleich, weil er danach gefragt hat, zwei Dinge klarstellen.Zu Ziffer 6 dieses Kommuniqués können wir nur erneut sagen, daß wir diese Verträge nicht unter-
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Dr. Barzelschrieben hätten. Aber ich bin mir nicht ganz sicher, warum hier nun so auf dieses Kommuniqué abgehoben wird; denn aus dem Kommuniqué kann man für unsere Forderung — „nichts ohne unwiderrufliche Fortschritte für die Deutschen in Deutschland" — eine ganze Menge herauslesen.In Ziffer 7 des Kommuniqués wird nicht nur Berlin behandelt, sondern es heißt:Sie— das sind die NATO-Mächte —unterstreichen die Notwendigkeit eines Einverständnisses zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der DDR über eine auf dem Verhandlungsweg gefundene Regelung ihrer gegenseitigen Beziehungen, welche die Besonderheiten der Situation in Deutschland berücksichtigt.In Ziffer 10 ist davon die Rede, daß die NATO-Mächte gehofft hätten, daß bei den bilateralen Sondierungen und in den laufenden Verhandlungen „größere Fortschritte in der Substanz" erzielt werden könnten. Es heißt dann wörtlich:Sie bekräftigen die Bereitschaft ihrer Regierungen, sobald die Berlin-Gespräche einen befriedigenden Abschluß gefunden haben und insoweit, als die übrigen laufenden Gespräche einen günstigen Verlauf nehmen, mit allen interessierten Regierungen multilaterale Kontakte aufzunehmen.In Ziffer 12 werden dann die Grundsätze genannt, die im Ost-West-Verhältnis, wie es heißt, Beachtung finden müssen. Da ist die Rede von dem „Recht des Volkes jedes europäischen Staates, sein eigenes Schicksal frei von äußerem Zwang zu gestalten".Ich glaube, in diesem Kommuniqué steht eine Menge von Argumenten, die für unsere Position sehr hilfreich sind. Wir werden es in den Ausschüssen im einzelnen erörtern.Herr Kollege Wienand war gestern besorgt, daß wir vielleicht in Fragen der Europäischen Sicherheitskonferenz unzumutbare Voraussetzungen verlangten. Der Herr Bundesaußenminister hat diese Besorgnis zum Teil zerstört, weil er einiges gesagt hat, was sehr in der Nähe dessen liegt, was hier auch wir denken. Ich hoffe, daß der Herr Bundeskanzler, der sich dazu nicht geäußert hat, noch zu dem steht, was er am 7. Mai 1969 als Außenminister gesagt hat, „daß das innerdeutsche Verhältnis geklärt wird, bevor es eine derartige Sicherheitskonferenz gibt". Er hat es wie folgt begründet — dies sind seine Worte —:Schon um keine unliebsamen Überraschungen zu erleben, erscheint es mir dringend erforderlich, daß wir durch nichtdiskriminierende, gleichberechtigte Verhandlungen zwischen Bonn und Ost-Berlin, wie sie seit 1967 in den Briefen des Bundeskanzlers an den Vorsitzenden des Ministerrats vorgeschlagen wurden, eine Klärung des Verhältnisses zwischen den beiden Teilen Deutschlands erreichen. Sonst würdeeine europäische Sicherheitskonferenz zusätzlich zu den anderen Belastungen durch eine übersteigernde Vorführung deutscher Querelen von ihren eigentlichen Aufgaben abgelenkt werden.Dies, Herr Wienand, zu Ihrer Erinnerung.Herrn Kollegen Apel würde ich gern ermuntern, einen Satz noch einmal zu überlegen, den er in der Kontroverse mit Werner Marx gesagt hat. Er hat zur Begründung der neuen Position der Koalition, den innerdeutschen Vorbehalt, der früher gemeinsam hier bestand, wegzunehmen, gesagt: „Die Berlin-Lösung ist eben ein Teil des Gewaltverzichts." Ich will zu dieser Stunde nicht mit Ihm polemisiesieren, sondern möchte ihn nur einladen, zu überlegen, ob er nicht klugerweise den Satz hinzufügen sollte: Die Beseitigung des Minengürtels quer durch Deutschland ist eben auch ein Teil des Gewaltverzichts.
Dann meine Damen und Herren, hätten wir wieder einen „Berührungspunkt".Herr Bundeskanzler und Herr Wehner haben in Sachen Berlin gesagt - und ich glaube, dies war offenbar, Herr Bundeskanzler, weil Sie es zum zweitenmal hier im Bundestag extemporiert sagten —, daß da plötzlich „ein Vorhang weg gewesen" sei.Nun zu den fünfziger Jahren und zu Konrad Adenauer. Herr Bundeskanzler, fassen wir es in dem Satz zusammen: „Dank Ihrer Politik ist es gelungen, die Freiheit und Sicherheit Berlins und der Berliner zu erhalten." So sprach der Regierende Bürgermeister von Berlin zum Geburtstag Adenauers im Jahre 1961.
Der Mauerbau — —
Es ist also kein Zweifel erlaubt: Diese Koalition ist bereit — —
— Herr Kollege Schäfer, Herr Kollege Mattick, Sie werden eins verstehen: Ich kann die Laudatio hervorholen — wir beide waren Zeugen, Herr Mattick —, die dem Ehrenbürger Berlins, Konrad Adenauer, durch den damaligen Regierenden Bürgermeister zuteil wurde. Die Worte waren damals nicht sehr viel anders. Dies werden Sie mir zugeben.
Es ist also kein Zweifel erlaubt: Die Koalition ist dabei, das zentrale Thema der Ostpolitik, die Lage der Deutschen in Deutschland, zeitlich auszuklammern und ohne Fortschritte hier andere Verträge zu ratifizieren. Das ist wohl das Ergebnis dieser Debatte.Im vorigen J ahr hieß es in Ihrem Bericht zur Lage der Nation noch anders, Herr Bundeskanzler. Damals haben Sie noch gesagt:Man kann verstehen, daß es der Regierung inOst-Berlin um politische Gleichberechtigung,
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Dr. Barzelauch um gewisse abstrakte Formalitäten geht.Man muß aber auch Verständnis dafür haben, daß die Regierung nur dann über vieles mit sich reden lassen wird, wenn dabei gleichzeitig auch Erleichterungen für die Menschen im geteilten Deutschland herauskommen.Davon war heute nicht mehr die Rede.Herr Kollege Scheel, Ihre heutige Rede zu dieser Frage steht nicht in Übereinstimmung mit dem, was Sie nach dem Protokoll am 27. Mai des vergangenen Jahres hier im Deutschen Bundestag erklärt haben. Sie haben damals auf eine Frage von mir gesagtich zitiere —:Wir haben mehrfach deutlich gemacht, daß Verhandlungen mit der Sowjetunion und Vertragsabschlüsse mit der Sowjetunion, Vertragsabschlüsse mit Polen, Vertragsabschlüsse auch mit der DDR und daß die Regelung der Fragen, die mit Berlin zusammenhängen, ein einheitliches politisches Ganzes bilden. Nur wenn alle Fragen zu unserer Zufriedenheit geregelt sind, können sie politisch wirksam werden. Das ist unsere Meinung, und ich glaube, da stimmen wir hier im ganzen Hause überein.
Dann gab es eine Zusatzfrage. Sie sagten daraufhin:In Kraft gesetzt werden kann das eine nur, wenn das andere geregelt ist.
Wenn wir die Absichtserklärung dieser Regierung, verbindlich für diese Regierung, entsprechend dem Bahr-Papier nachlesen, gibt es noch ein Argument, das ich der Regierung zum Verfolgen dieser Debatte und zu ihrer Auswertung mitgeben möchte. In dieser Ziffer heißt es — ich zitiere —:Zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und der Regierung der UdSSR besteht Einvernehmen darüber, daß das von ihnen zu schließende Abkommen und entsprechende Abkommen der Bundesrepublik Deutschland mit anderen sozialistischen Ländern, insbesondere die Abkommen mit der DDR, der Volksrepublik Polen und der Tschechoslowakei, ein einheitliches Ganzes bilden.Herr Bundeskanzler, ich habe gestern wohl zu Recht darauf hingewiesen, daß die Verträge mit Moskau und Warschau sich gegenseitig interpretieren und, soweit sie doppeldeutig sind, verdeutlichen. Deshalb müssen wir, auch um die Möglichkeit auszuschließen, daß wir die Katze im Sack kaufen, den Text von Abmachungen — wenn es dazu kommt — mit dem anderen Teil Deutschlands kennen, damit sich hier nicht neue Interpretationen anschließen, die dann wechselseitig das ganze Werk in einem noch anderen Licht erscheinen lassen. Dies ist ein Argument, Herr Bundeskanzler, das ich zu erwägen bitte.Wir halten am Schluß fest: Es ist in einem fundamentalen Punkt eine Kontroverse da. Die Kontroverse besteht darin: Soll es hier dabei bleiben, wie es noch im vorigen Jahr die einmütige Meinungdes Hauses war, daß es nichts gibt - so waren die Worte des Bundeskanzlers in Erfurt —, wenn nicht alle Deutschen etwas davon haben? Wir stehen dazu, und ich glaube, Herr Bundeskanzler, eine Politik, an deren Ende die Russen alles, die Polen alles und die Deutschen nichts haben, wird in diesem Hause ohne Mehrheit sein.
Meine Damen und Herren! Weitere Wortmeldungen für die allgemeine Aussprache liegen nicht mehr vor. Wir kommen nunmehr zu den Anträgen, die Ihnen auf drei Umdrucken vorliegen. Umdruck 101 *) enthält den Antrag der Fraktionen der SPD und FDP. Wie ich höre, wird auf eine Begründung verzichtet. Zur Begründung der Anträge auf den Umdrucken 102 **) und 103 ***) hat Herr Abgeordneter von Wrangel das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und 'Herren! Wir wären dankbar, wenn unser Änderungsantrag zum Umdruck 101, der Ihnen vorliegt, ebenfalls — federführend — an den Auswärtigen Ausschuß und — mitberatend
— an den Ausschuß für Verteidigung und an den Ausschuß für innerdeutsche Beziehungen überwiesen werden könnte, und wir wären dankbar, wenn nicht nur das NATO-Kommuniqué, sondern gleichzeitig auch das Kommuniqué 'der Verteidigungsminister in diese Beratungen mit einbezogen werden könnten.
Zu unserem Antrag auf Umdruck 102 meinen wir, daß es notwendig ist, daß der Deutsche Bundestag angesichts der Gewaltpolitik auf den Zufahrtswegen nach Berlin jetzt nicht schweigen darf. Ich glaube, daß ein Schweigen so aussehen könnte, als würden wir dies hinnehmen. Wir meinen, daß wir mit diesem Antrag sowohl unseren Alliierten als auch der Regierung, wenn sie an der gemeinsamen Berlin-Position festhält, einen Dienst erweisen.
Herr Präsident, ich möchte bitten, diesen Antrag
- federführend — an den Ausschuß für innerdeutsche Beziehungen und — mitberatend — an den Auswärtigen Ausschuß zu überweisen.
Darf ich folgendes feststellen. Es wird vorgeschlagen, den Antrag der Fraktionen der SPD und FDP auf Umdruck 101 —federführend — an den Auswärtigen Ausschuß und- mitberatend — an den Ausschuß für Verteidigung und an den Ausschuß für innerdeutsche Beziehung zu geben. Ist das korrekt?
Da der Umdruck 103 praktisch eine Ergänzung dazu bedeutet, muß er, so scheint mir, an die gleichen Ausschüsse überwiesen werden. Ist das korrekt?
*) Siehe Anlage 2 **) Siehe Anlage 3 ***) Siehe Anlage 4
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5190 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 94. Sitzung. Bonn, Freitag, den 29. Januar 1971
Präsident von HasselDer Umdruck 102 soll — federführend — an den Ausschuß für innerdeutsche Beziehungen und — mitberatend — an den Auswärtigen Ausschuß gehen. Ich stelle fest, daß es so vorgeschlagen ist.Wer der Überweisung dieser drei Anträge bzw. Änderungsanträge mit der von mir vorgelesenen federführenden und mitberatenden Beteiligung der Ausschüsse zustimmt, den bitte ich um ein Handzeichen. — Ich bitte um die Gegenprobe. — Enthaltungen? — Es ist einstimmig so beschlossen.Wir sind damit am Ende unserer Tagesordnung angelangt. Ich berufe die nächste Sitzung auf Dienstag, den 2. Februar, 9 Uhr, und schließe die Sitzung.