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ID0609406400

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    Deutscher Bundestag 94. Sitzung Bonn, Freitag, den 29. Januar 1971 Inhalt: Begrüßung einer Delegation der Zweiten Kammer des niederländischen Parlaments unter Führung des Präsidenten van Thiel 5127 A Amtliche Mitteilungen 5127 B Große Anfrage der Fraktionen der SPD, FDP betr. Außenpolitik der Bundesregierung (Drucksachen VI/1638, VI/ 1728) in Verbindung mit Aussprache über den Bericht der Bundesdesregierung zur Lage der Nation 1971 (Drucksache VI/ 1690) Dr. Marx (Kaiserslautern) (CDU/CSU) 5127 C Dr. Achenbach (FDP) 5136 C Mattick (SPD) . . . . . . . . 5139 B Scheel, Bundesminister . . . . 5144 A Dr. Dr. h. c. Birrenbach (CDU/CSU) 5152 A Wehner (SPD) . . . . . . . 5157 B Dr. h. c. Kiesinger (CDU/CSU) . . 5162 D Moersch (FDP) . . . . . . . . 5167 C Dr. Schiller, Bundesminister . . . 5174 B Dr. Arndt (Hamburg) (SPD) . . . . 5177 A Dr. Mende (CDU/CSU) 5179 D Brandt, Bundeskanzler 5182 D Dr. Barzel (CDU/CSU) 5186 B Baron von Wrangel (CDU/CSU) . 5189 C Anlagen Anlage 1 Liste der beurlaubten Abgeordneten . . 5191 A Anlagen 2 und 3 Entschließungsanträge Umdrucke 101 und 102 zur Großen Anfrage der Fraktionen der SPD, FDP betr. Außenpolitik der Bundesregierung (Drucksachen VI/1638, W1728) 5191 D Anlage 4 Änderungsantrag Umdruck 103 zum Entschließungsantrag Umdruck 101 zur Großen Anfrage der Fraktionen der SPD, FDP betr. Außenpolitik der Bundesregierung (Drucksachen VI/1638, VI/1728) . . 5191 D Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 94. Sitzung. Bonn, Freitag, den 29. Januar 1971 5127 94. Sitzung Bonn, den 29. Januar 1971 Stenographischer Bericht Beginn: 9.00 Uhr
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    Anlage 1 Liste der beurlaubten Abgeordneten Abgeordnete(r) beurlaubt bis einschließlich Dr. Ahrens * 29. 1. Alber * 29. 1. Dr. Arndt (Berlin) 1. 2. Dr. Artzinger ** 29. 1. Bals * 29. 1. Bauer (Würzburg) * 29. 1. Blumenfeld 29. 1. Bühling 28. 2. Dr. Burgbacher ** 29. 1. Dasch 5. 4. van Delden 29. 1. Dichgans 29. 1. Frau Dr. Diemer-Nicolaus * 29. 1. Dr. Dittrich ** 29. 1. Dr. Dollinger 23. 2. Dorn 29. 1. Draeger *** 29. 1. Dröscher ** 29. 1. Fellermaier ** 1. 2. Flämig ** 29. 1. Fritsch * 29. 1. Dr. Furler * 29. 1. Gewandt 29. 1. Dr. Giulini 29. 1. Dr. Götz 13. 2. Frau Griesinger 29. 1. Grüner 29.1. Frhr. von und zu Guttenberg 29. 1. Dr. Hallstein 29. 1. Frau Herklotz * 29. 1. Dr. Hermesdorf (Sehleiden) * 29. 1. Hösl * 29. 1. Dr. Jobst 29. 1. Dr. Jungmann 15. 2. Dr. Kempfler 29. 1. Frau Klee * 29. 1. Klinker 29. 1. Dr. Koch ** 29. 1. Kriedemann ** 29. 1. Freiherr von Kühlmann-Stumm 29. 1. Lange ** 29. 1. Lautenschlager ** 29. 1. Leicht 29. 1. Lemmrich 29. 1. Lenze (Attendorn) * 29. 1. Dr. Löhr ** 2. 2. Dr. Martin 29. 1. Maucher 12. 2. Memmel ** 29. 1. Dr. Müller (München) * 29. 1. Pieroth 29. 1. Pöhler * 29. 1. * Für die Teilnahme an Sitzungen der Beratenden Versammlung des Europarates ** Für die Teilnahme an Ausschußsitzungen des Europäischen Parlaments *** Für die Teilnahme an Ausschußsitzungen der Versammlung der Westeuropäischen Union Anlagen zum Stenographischen Bericht Abgeordnete() beurlaubt bis einschließlich Dr. Prassler 29. 1. Rasner 12. 2. Riedel (Frankfurt) *5 29. 1. Richarts * 29. 1. Richter *** 29. 1. Dr. Rinderspacher *** 29. 1. Roser 29. 1. Schachtschabel 29. 1. Schmidt (Würgendorf) * 29. 1. Dr. Schmücker * 29. 1. Dr. Schober 29. 1. Frau Schroeder (Detmold) 29. 1. Dr. Schulz (Berlin) * 29. 1. Saxowski 2. 2. Sieglerschmidt * 29. 1. Springorum ** 29. 1. Dr. Stark (Nürtingen) 29. 1. Steiner 29. 1. Strauß 29. 1. v. Thadden 6. 2. Frau Dr. Walz *** 29. 1. Dr. Warnke 29. 1. Weber (Heidelberg) 29. 1. Werner 29. 1. Wienand * 29. 1. Dr. Wörner 29. 1. Anlage 2 Umdruck 101 Antrag der Fraktionen der SPD, FDP zur Großen Anfrage der Fraktionen der SPD, FDP betr. Außenpolitik der Bundesregierung - Drucksachen VI/ 1638, VI/ 1728 . Der Bundestag wolle beschließen: Der Deutsche Bundestag stimmt der Politik des Nordatlantischen Bündnisses zu, wie sie im Kommuniqué der Ministertagung des Nordatlantikrates vom 3. und 4. Dezember 1970 in Brüssel niedergelegt worden ist (Drucksache VI/1686). Er fordert die Bundesregierung auf, ihre Politik im Einklang mit den darin enthaltenen Grundsätzen fortzuführen. Bonn, den 28. Januar 1971 Wehner und Fraktion Mischnick und Fraktion Anlage 3 Umdruck 102 Antrag der Fraktion der CDU/CSU zur Großen Anfrage der Fraktionen der SPD, FDP betr. Außenpolitik der Bundesregierung - Drucksachen VI/1638, VI/1728 -. 5192 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 94. Sitzung. Bonn, Freitag, den 29. Januar 1971 Der Bundestag wolle beschließen: Der Deutsche Bundestag verfolgt mit Sorge die ständigen Versuche, den freien Zugang nach Berlin zu behindern. Der Deutsche Bundestag sieht in diesen Behinderungen eine Aktion, die das Ziel verfolgt, West-Berlin von der Bundesrepublik und der freien Welt zu isolieren. Der Deutsche Bundestag ist der Auffassung, daß Behinderungen auf den Zufahrtswegen nach Berlin dem Geist der Entspannung, dem Geist des Gewaltverzichts und dem Geist der Normalisierung widersprechen. Bonn, den 29. Januar 1971 Dr. Barzel, Stücklen und Fraktion Anlage 4 Umdruck 103 Änderungsantrag der Fraktion der CDU/CSU zum Antrag der Fraktionen der SPD, FDP zur Großen Anfrage der Fraktionen der SPD, FDP betr. Außenpolitik der Bundesregierung — Drucksachen VI/1638, VI/1728 — Umdruck 101 —. Der Bundestag wolle beschließen: Der Antrag der Fraktionen der SPD, FDP — Umdruck 101 — wird durch folgenden Satz ergänzt: „Insbesondere betont der Bundestag — entsprechend dem NATO-Kommuniqué — das Recht des Volkes jedes europäischen Staates, sein eigenes Schicksal frei von äußerem Zwang zu gestalten." Bonn, den 29. Januar 1971 Dr. Barzel, Stücklen und Fraktion
  • insert_commentVorherige Rede als Kontext
    Rede von Dr. Kurt Birrenbach


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (CDU/CSU)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CDU)

    Das ist eindeutig, Herr Schmidt.
    Um nun eine Wiederholung solcher Vorkommnisse zu vermeiden, möchte ich, wie gesagt, die von mir zitierten Stimmen, gleichviel, ob es sich um amerikanische, französische, englische, italienische, belgische oder holländische Staatsmänner, Minister, Leiter internationaler Organisationen, Parlamentarier oder Publizisten handelt, nicht beim Namen nennen, sondern lediglich ihre Argumente objektiv für sich sprechen lassen.
    Zunächst, meine Damen und Herren, zur Frage der Methode der Verhandlungen! Es wird darauf hingewiesen, daß die parlamentarische Basis der liberal-sozialen Koalition zu schmal sei, daß die Bundesrepublik als solche nicht mächtig genug sei, um mit der Sowjetunion über die entscheidenden Fragen, die an sich in einem Friedensvertrag geregelt werden müßten, allein zu verhandeln, daß man vielmehr hätte abwarten müssen, bis eine europäische politi-. sche Zusammenarbeit einen Grad erreicht hätte, der eine konzertierte Verhandlung der Europäer mit der Sowjetunion unter gleichzeitiger aktiver Assistenz der Vereinigten Staaten möglich gemacht hätte.
    Jetzt werden Sie sagen, dieser Moment sei noch nicht gekommen. Natürlich nicht, aber so wird fortgefahren — die Verzögerung der Verhandlungen wäre um so unbedenklicher, als eine Verhandlung mit der Sowjetunion über das Problem der DDR im jetzigen Augenblick, im Schatten der gerade 1968 proklamierten Breschnew-Doktrin, der Sowjetunion wenig Spielraum für Konzessionen in der Frage der DDR gibt. Insbesondere weist man darout hin, die amerikanischen Erfahrungen in den Verhandlungen mit der Sowjetunion in den letzten 25 Jahren hätten dringend nahegelegt, sich für diese Verhandlungen unendlich mehr Zeit zu nehmen, als die Bundesregierung es getan hat. Die Österreicher hätten für die Verhandlungen über das Neutralitätsstatut 252 Sitzungen gebraucht, die Amerikaner für den Teststoppvertrag vier Jahre und für den Atomsperrvertrag ebenso vier Jahre. Der Vertrag mit der Sowjetunion enthalte keinerlei relevante sowjetische Gegenleistungen, so wird gesagt. Die Kompensation für die deutschen Opfer bestehe allein in Erwartungen und Hoffnungen auf zukünftige Entspannungen, die im übrigen von vielen Faktoren



    Dr. Dr. h. c. Birrenbach
    abhänge, nicht nur vorn Moskauer Vertrag, und die darüber hinaus höchst zweifelhaft sei.

    (Zuruf von der SPD: Nichts Neues!)

    Die Bundesregierung habe sich durch die Unterzeichnung des Moskauer Vertrages in einen Zugzwang versetzt, der der Sowjetunion den Hebel gebe, auf die Bundesrepublik Pressionen auszuüben, den Vertrag zu ratifizieren.
    Ob die Bundesregierung diesem Druck widersteht oder widerstehen kann, lasse ich völlig dahingestellt Mir geht es hier um die objektive Darlegung von Argumenten kompetenter ausländischer Seite.
    Nun zum materiellen Inhalt des Moskauer Vertrages und der Bedeutung der Zustimmung des Westens. Es ist bekannt, daß vielfach im Ausland davon ausgegangen wird, der Moskauer Vertrag sei nur ein Gewaltverzichtsvertrag. Wenn die Zustimmung des Auslands auf dieser Ausgangsbasis be ruht, so bedeutet sie gar nichts Besonderes, denn auch die früheren CDU/CSU-Regierungen und die Große Koalition waren bereit, den osteuropäischen Staaten Gewaltverzichtsverträge anzubieten. Insbesondere auf Grund der Erklärungen der Bundesregierung und der systematischen Kampagne des Bundespresseamtes unter besonderem Hinweis auf Abs. 4 von Art. 3 im deutschen Text — ich sage: im deutschen Text mußte im Ausland der Eindruck entstehen, als begründe — um den Herrn Bundesaußenminister zu zitieren - der Art. 3 lediglich einen Modus vivendi mit der DDR in Gestalt eines
    I Gewaltverzichts, ein Begriff, der interessanterweise auch in das Kommuniqué der NATO vorn 10. Dezember eingegangen ist. Da also weder das Ausland noch die Opposition gegen die Idee eines Gewaltverzichts etwas einzuwenden haben, ist insoweit die Zustimmung des Auslands gar nichts Besonderes, auf das sich die Bundesregierung der Opposition gegenüber berufen könnte.
    Es ist allerdings eine ganz andere Frage, ob mit dem Gewaltverzicht das Ergebnis erreicht werden kann, das sich die Bundesregierung und zahlreiche andere westliche Regierungen von dem Moskauer Vertrag erhoffen.
    Was nun den Gewaltverzichtscharakter des Vertrages anbelangt, so hat die CDU/CSU-Fraktion in ihrer Kleinen Anfrage vom 12. Oktober gesagt, was zu sagen ist. Von den vier Formulierungen im Art. 3 zur Grenzfrage gestatten die ersten drei nicht unbedingt den Eindruck, als wenn es sich nur um einen, wie der Bundesaußenminister sagt, abstrakten Gewaltverzicht handelt. Für die These der Bundesregierung spricht vielleicht der Abs. 4 von Art. 3, und zwar im deutschen Text, wo von Unverletzlichkeit die Rede ist. Aber im sowjetischen Text heißt es, wie Sie alle wissen, „njerushimyi", das heißt „unveränderlich", „unerschütterlich"; so auch in der Übersetzung des Prawda-Artikels vom 13. August 1970.
    Diese Auffassung ist auch vertreten worden von Ministerpräsident Kossygin in der Note vom 2. August 1970 an die drei westlichen Siegermächte, wo von „Unwandelbarkeit" der Grenzen die Rede ist,
    ebenso in der berühmten Rede Breschnews in Alma Ata vom 28. August 1970, wo von der Anerkennung der Unverbrüchlichkeit der in Europa bestehenden Grenzen die Rede ist, insbesondere der Grenze zur DDR.
    Der Herr Bundesaußenminister hat in einer außenpolitischen Debatte dieses Hohen Hauses im vergangenen Jahr die Interpretation des Vertrages für Semantik erklärt. Das ist schon eine erstaunliche Erklärung, wenn man bedenkt, daß eine der entscheidenden Funktionen des Parlaments in der Außenpolitik die Zustimmung zur Ratifikation von internationalen Verträgen ist. Die Interpretation eines Vertrages ist wahrscheinlich der wichtigste Weg, einen Vertrag zu prüfen. Daß aber die Interpretation des Vertrages durch den Vertragspartner, insbesondere wenn er eine Weltmacht ist wie die Sowjetunion, ein ganz entscheidendes Element für die Bewertung des Vertrages ist, das zu leugnen ist der Koalition vorbehalten geblieben. Natürlich sind die Folgen des Vertrages wichtig. Diese aber ergeben sich zunächst einmal aus den Verpflichtungen, die der Vertrag als solcher kreiert.
    Da im übrigen der gesamte Ostblock in seinen Erklärungen davon spricht, der Moskauer Vertrag bedeute eine endgültige Sanktionierung der Folgen des zweiten Weltkrieges, ist es nicht verwunderlich, daß im Ausland vielfach davon ausgegangen wird, daß mit diesem Vertrag mindestens de facto, wenn nicht de jure, die Teilung Deutschlands vollzogen sei. Zahlreiche politische Persönlichkeiten im Westen von hohem Rang haben sich so geäußert, teilweise in tiefer Sorge um das deutsche Schicksal, teilweise aber auch — meine Damen und Herren, das müssen wir sehen — in Verkennung der deutschen Lage aus einer rein ausländischen Perspektive.
    Es ist leider nicht zu leugnen, daß es zahlreiche Stimmen im westlichen Ausland gibt, die der Meinung sind, daß ein wiedervereinigtes Deutschland zumindest heute innerhalb Westeuropas schwer verkraftbar oder nicht erwünscht sei. Das ist eine beunruhigende Erkenntnis im Hinblick auf den Art. 7 des Deutschland-Vertrages. Wenn aber dies das Motiv der Zustimmung zu den Verträgen ist, so besteht für uns kein Grund, darüber irgendeine Genugtuung zu äußern.

    (Beifall bei der CDU/CSU.)

    Wenn die Bundesrepublik ihre vitalen nationalen Positionen nicht selbst verteidigt, dann ist es unvermeidlich, daß sie auch im Westen unberücksichtigt bleiben. Es ist also eine deutsche Aufgabe und in erster Linie eine deutsche Aufgabe, sich der Aufrechterhaltung dieser Option anzunehmen.
    Zusammenfassend wäre also zur Zustimmung der westlichen Staaten zu sagen, daß diese entweder nur formeller Natur war und ist oder daß diese Staaten von einer Vertragsstruktur ausgehen, die mindestens zweifelhaft ist und, wenn sie zutreffend wäre, sich von der Auffassung der Opposition gar nicht wesentlich unterschiede, oder auf Motiven beruht, die wir als Nation schlechthin nicht akzeptieren können. So gesehen ist die sogenannte breite Welle der Zustimmung, wenn man sie näher unter-



    Dr. Dr. h. c. Birrenbach
    sucht, kein so schlüssiges Argument für dieses Hohe Haus, dem Moskauer Vertrag morgen seine Zustimmung zu geben, wie das behauptet wird.
    Meine Damen und Herren, was ist nun die Kritik im Ausland gegen die deutsche Ostpolitik, insbesondere gegen den Moskauer Vertrag? Zum Friedensvertrag — ich zitiere —: Die Stabilität in Europa werde dadurch gefährdet, daß die Bundesregierung praktisch den Friedensvertrag für den zweiten Weltkrieg ausgehandelt habe, während die für diesen entscheidenden Mächte, nämlich die drei westlichen Großmächte, trotz ihrer Vorbehaltsrechte dabei als Zuschauer am Rande ständen. Die wichtigsten Entscheidungen eines Friedensvertrages seien vorweggenommen. Diese Auffassung wird im Ausland immer wieder vertreten. Der Status quo in Deutsch- land, so meinen andere, möge zwar nicht im vollen Rechtssinn durch die Bundesrepublik anerkannt sein, in der Tat sei dies aber de facto für unbegrenzte Zeit geschehen. Der Vertrag mit Moskau erkenne die Realität der russischen Hegemonie in Osteuropa an, indem er die gegenwärtigen Grenzen festschreibe. Im Warschauer Vertrag verzichte die Bundesrepublik auf 40 000 Quadratmeilen deutschen Landes, welches von den Siegern Polen nach dem zweiten Weltkrieg zugedacht worden sei. Im Westen sei man beeindruckt von der Ironie, daß, während Bundeskanzler Brandt seine Politik als Instrument gradueller Änderung des Status quo ansehe, der Kreml dieselbe Politik als ein Mittel zur definitiven Konsolidierung des Status quo ansehe.
    Nun einige Bemerkungen zur Schwächung der westlichen Verhandlungsposition. Diese oder eine kommunistische Bundesregierung werde der Versuchung verfallen — kommende Bundesregierung, Verzeihung! — —

    (Abg. Wehner: Das war ein schöner Versprecher, nicht? Das läßt allerlei ahnen!)

    — Entschuldigen Sie! Ich meine, Ihre Ahnungen sollten Sie zurückhalten, Herr Wehner.

    (Abg. Wehner: Das wollte ich nur gesagt baben, Herr, da Sie ja genau zu wägen pflegen!)

    — Herr Wehner, ich möchte Ihnen sagen: in den 14 Jahren, die ich in diesem Hause bin,

    (Abg. Wehner: Haben Sie das zum erstenmal gesagt!)

    habe ich nie eine Bemerkung gemacht, die in irgendeiner Form, in irgendeiner Art polemisch gewesen wäre oder irgend jemand beleidigt hätte. Das möchte ich Ihnen sagen.

    (Abg. Wehner: Vielen Dank! Das wollte ich nur gerne wissen!)

    - Gut, sehr schön!
    Nun einige Bemerkungen zur Schwächung der westlichen Verhandlungsposition. Diese oder eine kommende Bundesregierung, Herr Wehner, werde oder könne der Versuchung verfallen, der Sowjetunion, nachdem diese der Bundesrepublik im Moskauer Vertrag keine konkreten Zugeständnisse gemacht habe, zusätzliche Konzessionen in der Berlinoder Deutschlandfrage zu machen in der wahrscheinlich vergeblichen Hoffnung, die starre Haltung der Männer des Kreml zu erweichen, von denen schließlich entscheidend die Wiederherstellung der deutschen Einheit abhänge. Oder: Der Moskauer Vertrag würde in seinen Konsequenzen zu einem wahnsinnigen Wettlauf um die Gunst Moskaus in den verschiedenen Hauptstädten führen. Das haben, Herr Schmidt, auch prominente französische Vertreter — Sie kennen die Namen — gesagt. Moskau werde versuchen, die westliche Allianz durch Verhandlungen abwechselnd mit der Bundesrepublik, Frankreich und Italien zu schwächen, um diese zu veranlassen, den territorialen und politischen Status quo in Europa anzuerkennen, ihre Bindungen mit den Vereinigten Staaten zu lockern, die Einigung Europas, insbesondere im politischen und militärischen Bereich, zu verhindern und Europa in Abhängigkeit von der Sowjetunion zu bringen. Durch seine Vorleistungen habe Bundeskanzler Brandt dem Entspannungswillen der sowjetischen Führer Glauben geschenkt und damit sein Schicksal in ihre Hand gelegt.
    Zur Frage der Sicherheit heißt es, die westeuropäischen Staaten könnten in der Annahme, eine entscheidende Ursache der Spannung in Europa sei durch die deutsche Ostpolitik beseitigt worden, ihre Verteidigungsanstrengungen reduzieren und sich — ähnlich wie nach dem Kellogg-Pakt Ende der zwanziger Jahre— der Illusion eines gesicherten Friedens hingeben. Oder: Die Befürworter einer Reduzierung des amerikanischen militärischen Engagements auch in Europa, die im Senat die Resolution von Senator Mansfield unterstützen, könnten sich in ihrer Beurteilung der Lage bestärkt fühlen und auf einer substantiellen Verringerung der amerikanischen militärischen Präsenz in Europa bestehen. Die Unterschrift unter den Moskauer Ver- trag könnte in der Bundesrepublik einen Prozeß in Gang setzen, der den deutschen Willen unterminieren würde, die langfristigen Verteidigungsanstrengungen durchzuhalten, die notwendig seien, um die Sowjetunion, insbesondere im Falle einer Verringerung des amerikanischen Engagements in Europa, davon zu überzeugen, daß ihr politischer Druck in Mitteleuropa in Zukunft keine Aussicht auf Erfolg habe. Auf diese Weise — so sagt ein anderer — würde das an sich schon prekäre militärische Gleichgewicht auf dem europäischen Kontinent bedrohlich gestört. Eine weitere Verlagerung des politischen und militärischen Gravitätszentrums nach Osten zugunsten der Sowjetunion werde dann unvermeidlich sein. Oder: Wenn zumindest die Bundesrepublik den Status quo in Deutschland de facto für unbegrenzte Zeit anerkannt habe, so müsse man wissen, daß der Begriff des Status quo in der sowjetischen Perspektive kein statischer oder rein defensiver, sondern ein eminent politischer und aggressiver sei. Dieser sei ein mächtiger Hebel in ihrer Hand, Druck auf Westdeutschland auszuüben, welches den Schlüssel zum europäischen Machtgleichgewicht bilde.
    Nun zu Europa. Der Moskauer Vertrag könne sich als ein Hebel für die Sowjetunion erweisen, Bonn unter Druck zu setzen, um die Erweiterung der west-



    Dr. Dr. h. c. Birrenbach
    L) lichen Gemeinschaft, insbesondere die Schaffung einer politischen Union, zu blockieren mit der Begründung, eine solche Entwicklung würde die Spaltung Europas nur noch vertiefen, während die Sowjetunion durch Entspannung und Kooperation diese gerade zu überbrücken versuche. Oder: Die Ostpolitik begründe die große Gefahr, die Bindung der Bundesrepublik an den Westen zu lockern zugunsten einer imaginären gesamteuropäischen Ordnung.

    (Zustimmung der Abg. Frau Klee.)

    In Deutschland würde sich, sobald es sich, von den Bindungen und Erwartungen des Deutschland-Vertrages frei, als ein unabhängiger Staat fühle, die Begeisterung für das Aufgehen der deutschen nationalen Identität in einer europäischen Einheit unvermeidlich verringern. Das zeige die Erklärung Bundeskanzler Brandts im März in London zur Frage der politischen Integration, die Sie kennen. Nichts sei aber schlimmer, als der russischen Diplomatie einen Hebel an die Hand zu geben, Einwände gegen die Integration zu erheben. Die deutsche Ostpolitik und die mögliche Reduzierung der amerikanischen politischen wie militärischen Präsenz in Europa könnten ihre Wirkung zu früh auslösen, bevor der politische Aufbau der Europäischen Gemeinschaft weit genug gediehen sei. Es bestehe daher eine imperative Notwendigkeit, in den nächsten fünf Jahren entscheidende Fortschritte in der europäischen Integration zu machen. Andernfalls bestehe die Gefahr, daß der europäischen Einigung durch andere mächtige internationale Strömungen
    der Boden entzogen werde.

    (immer wieder gestanden habe. In der Regel, so sagen diese, habe Deutschland dann für den Osten optiert. Damit könnte der radikale Bruch, den Adenauer 1949 mit der einschränkungslosen Eingliederung der Bundesrepublik in den Westen vollzogen habe, erneut in Frage gestellt werden. Das gelte trotz der Versicherung Bundeskanzler Brandts, die Deutschen seien keine „Wanderer zwischen zwei Welten". Gelte es auch für seine Nachfolger? Dann würden einem souverän gelenkten Ostblock die an sich zwar versöhnten, aber nicht einheitlich zu sammengefaßten europäischen Staaten in Moskau ohne ausreichende amerikanische Garantie gegenüberstehen. Eine echte politische Einigung Europas sei ein entscheidendes Element für ,die Aufrechterhaltung eines Gleichgewichts zwischen West und Ost. Nun zu China. Indem die Bundesrepublik der Sowjetunion gestatte, ihr westliches Vorfeld zu konsolidieren, biete sie der Sowjetunion in einem für diese schwierigen Augenblick die Chance, ihre Flanke in Westeuropa zu sichern, sich auf die Stärkung ihrer Macht in Osteuropa und auf die Dekkung der spannunggeladenen 4000 Meilen langen Grenze mit China zu konzentrieren, ohne ihre Ziele aufzugeben, die USA aus Europa herauszudrängen. Nun zur Entspannung. Könne ein zwischen Moskau und Bonn vereinbarter Gewaltverzicht für Bonn von so substantieller Bedeutung sein, wenn keine konkreten Schritte in Aussicht genommen würden, die massive militärische Macht zu reduzieren, die die Sowjetunion in den letzten Jahren verstärkt habe, während der Westen sie verringert habe? Die Erinnerung an Prag, trotz der „brüderlichen Bande" und des Allianzvertrages zwischen der Sowjetunion und der Tschechoslowakei, lege solche Zweifel nahe. Die deutsche Unterschrift unter dem Moskauer Vertrag fördere das Ziel des Kreml, die Eroberungen des zweiten Weltkriegs uneingeschränkt zu erhalten und damit das von ihr auf europäischem Boden errichtete Imperium zu legitimieren. Durch den Moskauer Vertrag und ,die Anerkennung aller Grenzen in Europa werde die Breschnew-Doktrin erstmalig durch einen westlichen Staat anerkannt, (Abg. Dr. Marx [Kaiserslautern] : Hört! Hört!)

    die sowjetische Macht in Osteuropa konsolidiert und auf diese Weise ihrer Hegemonie in diesem Raum Vorschub geleistet. Die Legitimierung der Staatlichkeit ihres ostdeutschen Satelliten, der das Schlußstück des sowjetischen Herrschaftsbereichs in Deutschland sei, würde diese Entwicklung nur fördern.
    Die Anstrengungen des Westens, insbesondere der Bundesrepublik, den sowjetischen Wünschen durch legale Sanktion des Status quo entgegenzukommen, würden wenig zu einer entscheidenden Entspannung beitragen, da die Bedrohung des Status quo in Europa weniger vom kapitalistischen Westen komme, wie Moskau längst wisse, sondern aus dem System im Ostblock selbst, wie die jüngsten Ereignisse in Polen gezeigt hätten.
    Die Schaffung eines Klimas des Vertrauens sei nicht deswegen schwierig, weil die sowjetischen Führer dem Westen mißtrauten, sondern weil das kommunistische Regime einen Feind als integrierendes Element brauche, um das totalitäre System zusammenzuhalten. Alles, was erreicht werden könnte, sei ein bedingtes Nachlassen verbaler Angriffe und Beschimpfungen.
    Selbst wenn der Schein der Normalisierung in der Tschechoslowakei für eine definitive Aufrechterhaltung der Sowjetherrschaft spreche, sei es klüger, eine abwartende Politik zu verfolgen und alle Möglichkeiten für eine zukünftige Evolution offenzuhalten, jedenfalls aber nichts zu tun, was auch nur den Anschein erwecken könnte, als würde die sowjetische Herrschaft in diesem Teil der Welt akzeptiert oder ermutigt.
    Für den Osten und für den Westen sei Brandts Politik gefährlich. Im Westen befürchte man, Brandts Initiative ende mit der Annahme belastender Bedingungen durch Bonn ohne Gegenleistung, während im Osten die Sorge bestehe, diese Politik führe



    Dr. Dr. h. c. Birrenbach
    zu engeren Kontakten mit dem Westen, die dann nur in Entwicklungen wie 1968 in der Tschechoslowakei oder in Unruhen wie jetzt in Polen enden würden.
    Die Vermittlung eines falschen Gefühls der Entspannung könne zu einem Verfall der NATO führen und das Ergebnis haben, daß die Sowjetunion in dieses Machtvakuum hineinstoße, nicht im Sinne eines militärischen Angriffs, sondern durch Einflußnahme auf die europäische Politik. Auf Grund der schieren Übermacht der Sowjetunion könne dann Westeuropa in Etappen in einen finnlandähnlichen Typ neutraler Abhängigkeit von der Sowjetunion abgleiten.
    Nun zwei letzte Bemerkungen zu Berlin. Es bestehe die Besorgnis — ich zitiere —, daß sich die Bundesregierung aus der Befürchtung, ihre Ostpolitik scheitern zu sehen, mit einer Berlin-Lösung zufriedengebe, die auf die Dauer die Sicherheit dieser Stadt gefährden müßte, nachdem die Anerkennung der DDR als souveräner Staat an sich allein schon den Einfluß der DDR auf die Sicherheit der Zugangswege nach Berlin erhöht habe. Jede größere Beschneidung der Bundespräsenz in Berlin allein könne alle Vorteile wegwischen, die durch eine russische Garantie der Zugangswege erreicht werden könnten.
    Zur europäischen Sicherheitskonferenz heißt es, der Moskauer Vertrag sei ein bedeutsamer Schritt in der Richtung auf die Abhaltung einer europäischen Sicherheitskonferenz, deren langfristiges Ziel es sei, die Vereinigten Staaten aus Europa herauszudrängen. Eine solche Konferenz müsse zu einer wachsenden Entfremdung zwischen den Westeuropäern und den Vereinigten Staaten führen, und zwar mit allen fatalen Konsequenzen, die eine solche Entwicklung hätte.
    Meine Damen und Herren, zusammengefaßt bedeutet die Zustimmung des Westens zur Ostpolitik der Bundesregierung aus deutscher Perspektive ungleich weniger, als die Bundesregierung uns glauben macht. Das habe ich im ersten Teil meiner Ausführungen eindeutig klargemacht. Was nun die Kritik der Ostpolitik anbelangt, so mag es sein, daß sie in diesem oder jenem Punkt über das Ziel hinausschießt. Im ganzen gesehen werden aber in ihr die tiefen Sorgen laut, die ausgesprochen oder unausgesprochen unter der Oberfläche formeller Zustimmung im Ausland gehegt werden. Man fürchtet offenbar doch im Sinne des Wortes des Bundeskanzlers von gestern, daß „Gleichgewichtsstörungen" eintreten könnten.
    Das objektiv und unpolemisch darzustellen, war der Zweck meiner Intervention.

    (Beifall bei der CDU/CSU.)



Rede von Dr. Hermann Schmitt
  • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (SPD)
  • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Wehner.

  • insert_commentNächste Rede als Kontext
    Rede von Herbert Wehner


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (SPD)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)

    Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Bemühungen meines verehrten Herrn Vorredners bei der Beurteilung von Detailproblemen und Detaillösungen im Westen habe ich in der Regel sehr geschätzt. Aber über das, was er hier in einem Teil seines Vortrags über die Reduzierung des spezifischen Gewichts positiver ausländischer Bewertungen der Politik der Regierung Brandt/Scheel darzulegen versucht hat, möchte ich mit ihm nicht streiten. Das ist eine Taktfrage, und es tut mir leid, daß ich - -

    (Abg. Windelen: Spezialist für Taktfragen! Weitere Zurufe von der CDU/CSU.)

    - Ja, sicher! Jedenfalls könnte ich, wenn ich mich mit Ihnen messen würde, immer noch bestehen, verehrte Herren.

    (Lachen und Zurufe von der CDU/CSU.)

    Es tut mir leid, daß mir Ihre Kassandrarufe nicht klargeworden sind;

    (Abg. Dr. Wulff: Kassandra hatte recht, Herr Wehner!)

    ich werde sie also einer zweiten Lesung unterziehen.
    Natürlich ist das, was Sie, Herr Kollege Birrenbach, sagen, nicht unwichtig. Aber in einem Punkt will ich Sie gleich beruhigen: Imaginäre Gesamteuropa-Vorstellungen, wie sie etwa bei einem Teil Ihrer Freunde vorhanden sind, von ihnen gehegt, gepflegt und sogar polemisch gegen uns eingesetzt werden, oder ein Übergreifen unserer europäischen Vereinigungsideen auf den Osten und immer weiter haben Sie von uns nicht zu befürchten. Ich glaube nicht, daß wir uns sehr streiten werden, wenn wir konkret werden und über europäische Politik reden, über das, was im Rahmen dieser Politik heute möglich ist, was notwendig ist und inwieweit das Notwendige möglich gemacht werden kann. Aber von dieser Tribüne aus macht es sich ganz gut, so zu tun, als könne man leicht über sämtliche in Paris, Den Haag und anderswo geschaffenen Tatsachen hinweghüpfen.
    Ich kann nicht eine Vorlesung an diese eben hier gehörte anschließen; es tut mir leid. Aber ich mache Sie, verehrter Herr Kollege, auf sehr präzise Auffassungen aufmerksam, die ich im Dezember-Heft des „Merkur" durchaus als bestreitbar zur Diskussion stelle, wo ich mich mit einem derer auseinandergesetzt habe, die der Meinung sind, die Politik dieser unserer Regierung sei sozusagen eine, die Europa nicht nur aufs Spiel setze, sondern schon aufs Spiel gesetzt habe. Dort habe ich mich sehr eingehend mit diesen Einwänden befaßt, und ich nehme an, Sie werden auch für die Beschäftigung damit einmal Zeit haben.
    Ich muß zurückkommen zu den Fragen, die hier zu so später Stunde meiner Meinung nach noch aufgegriffen werden dürfen und auch aufgegriffen werden müssen. Der Bundeskanzler hat sechs Feststellungen an den Schluß seines Berichts gestellt, und meiner Ansicht nach dürfte die Opposition diese Feststellungen nicht einfach unbeachtet lassen, wie es leider bisher in der Debatte geschehen ist. Ich bringe diese Feststellungen deswegen noch einmal auf, denn bei aller Gegensätzlichkeit in der Bewertung der Ansätze der Politik der Regierung Brandt/ Scheel müssen Sie, meine Damen und Herren, doch



    Wehner
    der Tatsache Rechnung tragen, daß diese Feststellungen des Bundeskanzlers von Ihnen im Kern nicht abgelehnt werden können, daß nämlich das „in der Charta der Vereinten Nationen niedergelegte Recht auf Selbstbestimmung ... im geschichtlichen Prozeß auch den Deutschen zustehen" müsse, daß zweitens die „deutsche Nation ... auch dann eine Realität" bleibe, „wenn sie in unterschiedliche staatliche und gesellschaftliche Ordnungen aufgeteilt ist", daß drittens die „auf Bewahrung des Friedens verpflichtete Politik der Bundesrepublik Deutschland ... eine vertragliche Regelung der Beziehungen auch zur DDR" erfordere; und es heißt weiter:
    Die in den 20 Punkten von Kassel niedergelegten Grundsätze und Vertragselemente bleiben die für uns gültige Grundlage für Verhandlungen.
    Viertens. Der rechtliche Status von Berlin darf
    nicht angetastet werden. Im Rahmen der von
    den verantwortlichen Drei Mächten gebilligten
    - und von uns wahrgenommenen —
    Rechte und Aufgaben wird die Bundesrepublik Deutschland ihren Teil dazu beitragen, daß die Lebensfähigkeit West-Berlins besser als bisher gesichert wird.
    Fünftens. Ein befriedigendes Ergebnis der Viermächteverhandlungen über die Verbesserung der Lage in und um Berlin wird es der Bundesregierung ermöglichen, den am 12. August 1970 in Moskau unterzeichnten Vertrag mit der Sowjetunion den gesetzgebenden Körperschaften zur Zustimmung zuzuleiten.
    Sechstens. Im gleichen zeitlichen und politischen Zusammenhang werden die gesetzgebenden Körperschaften über den am 7. Dezember 1970 in Warschau unterzeichneten Vertrag mit der Volksrepublik Polen zu entscheiden haben.
    Wenn Sie, meine Damen und Herren, bestreiten oder bezweifeln, daß die Verträge und die von Ihnen vermuteten und befürchteten Wirkungen der Verträge sowie auch die durch das Bemühen um solche Verträge entstehende Lage und die Kräfteverhältnisse in ihr diesen Feststellungen entsprechen, so werden Sie andere Alternativen bieten und begründen müssen, als es geschehen ist.
    Ich erinnere mich an eine Interpretation der Regierungserklärung vom Dezember 1966, in der es u. a. hieß, wenn dem so ist, nämlich wenn sich die politischen Positionen so hart gegenüberstehen, so müssen wir uns ehrlich fragen, ob Bemühungen um eine friedliche Lösung überhaupt einen Sinn haben, ob wir nicht, statt trügerische Hoffnungen zu wekken, warten müssen, bis der Geschichte etwas Rettendes einfällt, und uns bis dahin darauf zu beschränken haben, das zu bewahren, was uns geblieben ist: unsere eigene Freiheit und die Verweigerung der Anerkennung eines zweiten deutschen Staates durch die freie Welt. — Aber eine solche rein defensive Politik würde von Jahr zu Jahr in größere Bedrängnis führen; sie würde uns nicht nur keinen Schritt vorwärtsbringen, sie könnte uns auch das gar nicht bewahren, was sie bewahren will, denn die Zeit wirkt nicht für uns.
    Es ging also damals um Aspekte einer politischen Konzentration, welche, so fahre ich mit dieser Interpretation fort, auf der Prämisse beruht, daß Europa nicht darauf verzichten könne, eine solche, seine politische Spaltung überwindende zukünftige Friedensordnung zu entwerfen, in welcher auch die deutsche Frage ihre gerechte Lösung finden könnte. So weit aus dieser Interpretation, die der damalige Bundeskanzler aus Anlaß des 17. Juni zu seiner Regierungserklärung vom Dezember 1966, die von uns mitgetragen wurde, gegeben hat. Wer die jetzt einmal pauschal sogenannten Ostverträge ablehnt, muß erklären, was er an ihre Stelle mit der UdSSR, mit der Volksrepublik Polen, mit der CSSR und anderen an verbindlichen Verträgen setzen will und welche realen Aussichten er dafür zu haben meint. Ich kann mir durchaus vorstellen, daß man sagt, man lehne überhaupt Verträge in dieser Richtung ab, und verhält sich so, wie es hier nicht für angängig gehalten wurde. Aber Sie können nicht zwischen diesen beiden Pfeilern hängen, jedenfalls nicht sehr lange.

    (Beifall bei den Regierungsparteien.)

    Sie können ablehnen. Es gibt Leute, die Verträge in dieser Richtung überhaupt ablehnen. Sie haben dafür moralische Gründe, sehr beredt vorgebrachte moralische Gründe.

    (Zuruf des Abg. Dr. Lenz [Bergstraße].)

    Es gibt andere, die haben mehr taktische Gründe. (Zuruf des Abg. Baron von Wrangel.)

    Alles das ist zu wägen. Wer aber diese Verträge etwa mit der Begründung ablehnt, daß sie einer zukünftigen Friedensordnung nicht entsprächen, nicht gerecht würden, was durchaus ein Streitgegenstand sein kann — warum sollte man sonst darüber diskutieren —, weil sie damit nicht identisch wären oder als nicht auf sie zuführend betrachtet werden, mit dem setzen wir uns sachlich auseinander, soweit er die Absicht hat, sachlich zu bleiben, denn wir halten diese Verträge für das real Erreichbare und Vertretbare. Wir sehen zweitens in ihnen eine Verbesserung sowohl der Position der Bundesrepublik Deutschland als Partner als auch der Atmosphäre für friedliche konstruktive Zusammenarbeit und nicht zu vergessen auch der Möglichkeiten, der Ansätze zur Entwicklung des Verhältnisses im gespaltenen Deutschland. Ich glaube, hier muß man auch die Chance nennen, auch wenn sie noch so schmal ist, wie sie jetzt etwa der Vertrag mit Polen zur Lösung gewisser humanitärer Probleme gibt, die von uns abgesprengt lebende Menschen brauchen, die durch Krieg und Kriegsereignisse in jene Lage gekommen sind, in der sie sind. Das sind Dinge, die man nicht einfach nur der Vollendung solcher Verträge bis in die letzten Verästelungen überlassen kann.
    Der Bundeskanzler hat seinen Bericht meiner Meinung nach mit Recht mit dem Satz geschlossen:
    ... wir werden der Lage der Nation nur dann
    gerecht, wenn wir fähig sind. den Meinungs-



    Wehner
    streit so zu führen, daß er dem Gegenstand und unser aller Verantwortung gerecht wird.
    Und da sage ich, die Verträge entlassen niemanden, kein Land oder keine Macht, aus Verpflichtungen, die er für Deutschland als Ganzes und insonderheit für Berlin hat. Wenn der Vorsitzende der Fraktion der CDU/CSU der Bundesregierung vorwerfen zu dürfen, vielleicht auch zu müssen meint, was durchaus legitim wäre, in dem Maße, in dem sie die Westmächte de facto von ihren Pflichten entbinde, würden die Rechte der drei Westmächte ausgehöhlt, so meine ich, vergreift er sich nicht nur in der Richtung, sondern er schwächt die eigene Position.

    (Beifall bei den Regierungsparteien.)

    Das Fazit der Bemühungen der Bundesregierung Brandt/Scheel, so hat der Vorsitzende der Oppositionsfraktion der Bundesregierung vorgeworfen, sei das „Feindbild", sei die „Abgrenzung", die von der Gegenseite zu uns zurückschallt. Aber seit wann ist das, sehr verehrter Herr Kollege, der Maßstab? Was hätten Sie denn dazu gesagt, wenn etwa im Jahre 1968 die damalige Opposition durch ihren Sprecher der Bundesregierung Kiesinger/Brandt vorgeworfen hätte, das Fazit ihrer Bemühungen — und jetzt zitiere ich, was man damals hätte aufbieten können — sei „die Militärdoktrin der DDR" ? So lautete nämlich die Überschrift eines Artikels im „Neuen Deutschland" vom 23. November 1968. Wenn Sie das Spiel so spielen wollen, kommen weder Sie noch andere einen Schritt über das, was Sie sich jeweils zu spielen vornehmen, hinaus.

    (Beifall bei den Regierungsparteien.)

    Ich habe damals gesagt: Wer die Landschaft verstehen will, wer verstehen will, was in diesem gespaltenen Deutschland alles an Last wegzubringen und abzutragen ist, um überhaupt zu Erörterungen über vernünftige Regelungen der Beziehungen zueinander zu kommen, muß das, was in diesem Artikel „Die Militärdoktrin der DDR" steht, wirklich fassen und erfassen. Wenn man damals so argumentiert hätte, wie Sie jetzt gegen diese Regierung argumentieren, hätte man damals sagen können: Das war also das Fazit der Bemühungen der Regierung Kiesinger/Brandt — die Militärdoktrin der DDR! Soll ich es zitieren? Meine Zeit reicht dafür nicht. Ich stelle Ihnen den Text aber gern zu, da manche so gern in Zitaten herumsuchen. In einem rororo-Band, der sozialdemokratische Beiträge über die Perspektiven im Übergang zu den siebziger Jahren enthält, habe ich in einem Beitrag über das gespaltene Deutschland dargelegt, was diese Militärdoktrin sagt, wie sie zu sehen ist, wie scheußlich sie ist und daß für die, die sie gemacht haben, so gesehen, das ganze geteilte Deutschland nichts anderes zu sein schien als ein Glacis zur Austragung eines bestimmten Kampfes. Das alles ist gesagt worden.

    (Abg. Baron von Wrangel: Das ist gültig geblieben! Das gilt doch noch!)

    Aber ich muß zur Ehre der damaligen Opposition sagen, daß sie eine solche Form des Anklagens verschmäht hat. Sie war also nicht so fit wie Sie, was das Zurückwerfen dessen, was dort drüben übel ist,
    auf die jeweilige Mehrheit hier im Hause angeht. Das machen Sie. Das ist Ihnen vorbehalten.

    (Beifall bei den Regierungsparteien. — Zurufe von der CDU/CSU.)

    Das Feinddenken ist für die Deutschen selbst und für Europa außerordentlich gefährlich. In diesem Artikel über die Militärdoktrin z. B. finden Sie das in einer ganz besonders krassen Form. Es lohnt sich, sich das noch einmal anzusehen und Überlegungen darüber anzustellen.
    Der verehrte Kollege Amrehn hat gestern gesagt, die Unterschrift unter den Vertrag habe uns nicht vor dem bewahrt, was als Rückfall in den kalten Krieg bezeichnet worden ist. Ich stehe nicht an zu sagen: Das ist leider wahr! Aber es handelt sich ja um eine ganze Etappe, in der es darum geht, daß nun um den Geist und das Lebendigwerden dieses Vertrages gerungen werden muß. Es ist leider auch wahr, daß Stau und Stopp früher gelegentlich mit Brücken- und Straßenreparaturen und ähnlichem begründet oder bemäntelt wurden, während heute etwa Tagungen und politische Besuche in der Stadt Berlin zum Vorwand genommen werden. Verehrter Herr Kollege Dr. Marx, die Wertungen, die Sie daran knüpfen, sind aber nicht richtig. Es handelt sich hier um eine lange und zum Teil furchtbar bittere Auseinandersetzung. Die Hauptsache ist, wie und mit wie klarem Verstand wir sie führen. Ich will jetzt gar keine Parallele ziehen. Ich muß Ihnen allerdings sagen — das haben wir doch alle zusammen erlebt , daß uns die Westverträge nicht davor bewahrt haben, daß als schlimmste Besiegelung der Zerreißung Deutschlands und im besonderen Berlins jene Mauer errichtet wurde. Dennoch haben wir die Westverträge nicht zum alten Eisen geworfen. Oder? Ich rate auch niemandem, es zu tun.

    (Zuruf von der CDU/CSU.)

    Wir dürfen nur nicht vergessen, daß diese Mauer ungeachtet der Westverträge von denen, die diese Verträge mit uns feierlich geschlossen haben, hingenommen worden ist, wenn auch mit Protest.

    (Beifall bei der SPD. — Zuruf von der CDU/CSU: Das ist Dialektik!)

    Die Verträge sind deswegen nicht so behandelt worden, wie Sie jetzt Verträge behandeln zu sollen meinen.

    (Beifall bei den Regierungsparteien. — Zurufe von der CDU/CSU.)

    Meine Damen und Herren, ich vermag nur mit großer Distanz das zur Kenntnis zu nehmen, was kürzlich unter Berufung auf den früheren stellvertretenden amerikanischen Außenminister der Regierungen unter den Präsidenten Kennedy und Johnson, Herrn George Ball, dargelegt wurde, allerdings, gebe ich zu — deswegen kann ich ihn nicht voll verantwortlich machen —, in der Fassung, die Herr „Henrique" Barth in der „Welt" diesen Worten zu geben versteht — das muß ich sagen — —

    (Abg. Dr. Lenz [Bergstraße] : Was viele hohe amerikanische Beamte genauso sagen wie Herr Ball!)




    Wehner
    — Ja, das ist Ihnen unbenommen. Sie können reisen und können zurückkommen

    (Abg. Vogel: Das werden wir tun!)

    mit einem Koffer voll Maden, um damit hier zu angeln; das ist in Ordnung, das ist Ihre Rolle.

    (Beifall bei den Regierungsparteien.)


    (Zurufe von der CDU/CSU: Wer hat sie errichten lassen?)

    — Die einen haben sie errichtet, und die anderen haben es hingenommen. Das ist eine Tatsache.

    (Beifall bei der SPD. — Abg. Baron von Wrangel: Wer ist denn der Schuldige dabei? Zuruf von der CDU/CSU: Unerhört, so etwas! — Weitere Zurufe von der CDU/ CSU.)

    — Bleiben Sie doch auf dem Teppich, Herr! — Zehn Jahre danach lebt man nicht mehr von der Propaganda, welches Zeichen der Schwäche dies für jenes Regime ist, das sie errichtet hat, sondern man muß sich darum kümmern, wie man sie allmählich abträgt, allmählich überwindet.

    (Lebhafter Beifall bei den Regierungsparteien.) Das ist alles.

    Sie haben durch Ihren Vorsitzenden gefragt, wer denn der Partner sei, ob es überhaupt ein Gleichgesinnter sei. Das ist eine berechtigte Frage. Aber zu unserem Bedauern ist die Welt nicht so einfach, wie sie sich in den fünfziger Jahren den damals bei uns Regierenden auszunehmen schien. Es gibt nämlich nicht den großen Zuchtmeister im Osten, dessen Direktiven alle wie Marionetten und Satelliten — diese Worte kommen manchmal jetzt noch vor -befolgen, wie es auch nicht den großen Befreier im Westen gibt, der alle Fragen löst, — —

    (Abg. Dr. h. c. Kiesinger: Tschechoslowakei!)

    — Ja, da könnten wir einmal ein Privatissimum miteinander halten, verehrter Herr Ex-Bundeskanzler. Das möchte ich einmal.

    (Beifall bei den Regierungsparteien. — Zurufe von der CDU/CSU.)

    Aber ich weiß, daß für Sie ein Unterschied besteht im Gespräch und im Auftritt. Ich gönne Ihnen den Auftritt.

    (Heiterkeit bei den Regierungsparteien.)

    Es gibt weder das eine nach das andere. Was es aber gibt, das ist die Notwendigkeit, sich um den Interessenausgleich zwischen den Bündnissen von West und Ost zu bemühen — um einen Begriff, der zur Interpretation unserer Regierungserklärung
    "vom Dezember 1966 geprägt wurde, zu Hilfe zu nehmen.
    Die Ost-Verträge — einschließlich dessen, den wir mit der DDR anstreben sind eine Konsequenz aus den West-Verträgen. Durch diese Konsequenz wird unsererseits die Bundesrepublik Deutschland a) handlungsfähig zur Mitwirkung an der Organisierung des Friedens werden, und b) wird sie ihren Beitrag zu einem Interessenausgleich zwischen den Bündnissen von West und Ost leisten können.
    Zu der von der Opposition gelegentlich — und manchmal sehr bösartig — gebrauchten Unterstellung, daß mit diesen Ost-Verträgen die NATO aufgeweicht, ausgehölt, wirkungslos werde, hat gestern mein Kollege Wienand und hat der Verteidigungsminister in angemessener Weise Stellung genommen.

    (Abg. Vogel: Aber sehr unterschiedlich!)

    Ich will nur sagen, die Beispiele Rom und Brüssel 1970, in Fortführung von Reykjavik 1968 und Washington 1969, die auch schon die Handschrift des damaligen Bundesministers des Auswärtigen und jetzigen Bundeskanzlers zeigten, sind doch wohl nicht einfach zu leugnen. Wer daran interessiert ist, daß die Entwicklung in Richtung Interessenausgleich der Bündnisse von West und Ost gefördert wird, der muß auch daran interessiert sein, daß nicht z. B. die DDR die Möglichkeit eines Vetos gegen die Wirksamkeit der Verträge bekommt noch über das hinaus, was sie sowieso an Position hat, die wir ja nicht einfach manipulieren können.
    Bei Ihnen, meine Damen und Herren, wird einerseits — das hat man auch in ■dieser Debatte bis jetzt gemerkt — behauptet, ,die Verträge seien mit unserer Verfassung überhaupt nicht vereinbar. Andererseits möchten Sie glauben machen, die endgültige Entscheidung der CDU/CSU werde erst noch getroffen. Nun, ich bin weit davon entfernt, Sie mit diesem Widerspruch unter sich zu lassen und uns etwa damit begnügen zu wollen, diesen Widerspruch zu beleuchten. Aber ich möchte Sie auch darauf aufmerksam machen, daß Sie in die Irre gehen, wenn Sie annehmen, die Schärfe Ihrer Angriffe gegen die konkreten Bemühungen der Bundesregierung Brandt/Scheel ändere positiv etwas an der Gesamtlage der Nation. Das ist das, was ich feststellen muß, und das kann auch eine Opposition nicht völlig unbeachtet lassen.
    Die Ostverträge sind zunächst nichts anderes als die Konsequenz aus den Westverträgen.

    (Widerspruch bei der CDU/CSU. — Abg. Vogel: Das ist Ihre Logik! — Weitere Zurufe von der Mitte.)

    Die Westverträge haben Sie damals mit großer Begeisterung abgeschlossen. Das war Ihnen damals noch zu fernliegend, als daß Sie es heute mit Ruhe und Sachkenntnis beurteilen können.
    Zu Herrn von Weizsäckers Einwand, die Sowjetunion werde uns ,doch keine Bündnisse anbieten, die nicht ihren eigenen Interessen entsprächen! Bei den Ostverträgen handelt es sich überhaupt nicht



    Wehner
    um Bündnisverträge, es sind Verträge ganz anderer Art.

    (Zurufe von der CDU/CSU: Grenzverträge!)

    Es handelt sich um Verträge, die es der Bundesrepublik Deutschland möglich machen sollen und werden, als ein gleichberechtigter Partner am Bemühen um die Organisierung des Friedens teilzunehmen und nicht lediglich zu postulieren, welche deutschen Fragen erst gelöst werden müßten, damit wir als gleichberechtigtes Glied eines vereinigten Europas dem Frieden der Welt dienen können. Was von den deutschen Fragen lösbar gemacht werden kann, das kann der Lösung zugeführt oder nähergebracht werden nur durch unser praktisches Bemühen um die Organisierung des Friedens als Bundesrepublik Deutschland und nicht als ein Fahnenmast eines gewünschten vereinigten Deutschlands.

    (Oh-Rufe von der CDU/CSU.)

    Das ist es, worum es heute in der Politik geht, um weiterzukommen.
    Wenn Sie, wie das gestern hier geschehen ist, behaupten, die deutsche Frage sei nur noch in Erklärungen, aber nicht mehr in den Verträgen offen, so muß ich erwidern, daß die Ostverträge von einer Bundesrepublik Deutschland geschlossen werden, die unter den Vorbehaltsrechten der Westverträge steht und handelt.

    (Abg. Lenz [Bergstraße] : Sie stehen unter dem Vorbehalt des Selbstbestimmungsrechts!)

    Wer diese Hypothese leugnet, wird den Dingen entweder nicht gerecht oder will die Debatte auf ein falsches Gleis schieben.
    Sie meinen, die Sowjetunion werde doch nur ihren eigenen Interessen gemäße Verträge mit uns eingehen. Darauf muß ich sagen, daß mit dem Argwohn gegen die Motive der Sowjetunion und der DDR z. B. auch die seinerzeitigen, hier vorzunehmenden Prüfungen solcher Vorschläge der anderen Seite belastet waren, wie etwa die Vorschläge, die zu dem Passierscheinabkommen führten. Da hat man auf Ihrer Seite doch auch gesagt: Wenn die so etwas vorschlagen, dann muß etwas ganz Besonderes im Hintergrund sein. Es war gar nicht so einfach, hier Sie dazu zu bringen und im Einvernehmen miteinander schließlich jene bescheidenen Sachen damals überhaupt — —

    (Abg. Dr. h. c. Kiesinger: Das waren damals kleine Fische!)

    — Ja, ja, sicher! Und wie würden Sie sich heute die Finger lecken, wenn solche „kleinen Fische" nicht wegen eines Fehlers der Regierung 1966 — —

    (Beifall bei den Regierungsparteien. — Zurufe von der CDU/CSU.)

    Es war ja nicht Ihre Regierung, Herr Kiesinger. Das war eine Regierung, in der der Bundeskanzler Erhard und der sich heute noch gelegentlich in Erinnerung bringende damalige Vizekanzler und Gesamtdeutsche Minister im Juni 1966 wegen einer kleinen Modifikation, zu der auch der Berliner Senat damals gesagt hatte, die könne man ertragen,
    einer Modifikation in der Unterschrift und in der Bevollmächtigung, es abgelehnt hatten, das Passierscheinabkommen zu erneuern; und man wußte, daß es ohne dies keines gibt. Als man im Oktober wieder zusammenkam und nichts Neues zu sagen hatte, gab es eben keines. Seither stehen wir auf jenem schwachen Fuß der Härtefallregelung, nach der wenigstens einige — gelegentlich werden die Zahlen veröffentlicht — den Vorzug haben, in schwierigen familiären Fällen über die Sektorengrenze gehen zu können.
    Zu der seltsamen Bemerkung von gestern — ich drücke mich vorsichtig aus, weil ich das Protokoll noch nicht habe; ich habe das nur mitgeschrieben — über die unglückliche sachliche Konzessionsbereitschaft, verbunden mit zu starker provokatorischer Wirkung, die angeblich von uns hier, von dieser Regierung und natürlich vor allen Dingen von den Sozialdemokraten, auf drüben ausgehe, muß ich Ihnen sagen, sehr verehrter Herr von Weizsäcker: Was Sie und andere sich auch ausdenken mögen, die politische Führung der DDR wird das Nebeneinander von DDR und BRD stets als — wie sie es dort definieren — „Klassenkampf" definieren.

    (Abg. Dr. h. c. Kiesinger: Sehr richtig!)

    — Sicher! Wollen wir darüber reden, was das alles involviert? Da geht des Wortes wegen natürlich noch lange keiner in die Knie, es sei denn, man will damit Dritten schaden und tut so, als gehe man in die Knie. Sie möchten doch wohl nicht — ich unterstelle Ihnen das nicht — im Negativen mit der politischen Führung der DDR übereinstimmen?

    (Abg. Baron von Wrangel: Das sollte selbstverständlich sein! — Abg. Vogel: Das kann Herr Apel machen!)

    — Ich habe Ihnen gesagt, daß Sie das wohl doch nicht möchten.
    Ich kenne einen bedeutenden Mann, der am Ende seiner politischen Laufbahn das, was an ihr das Entscheidende gewesen sein mag, soweit es sich auf unser Land bezog, völlig umdrehte. Das war John Foster Dulles. Da konnte er es nicht mehr ändern. Nur: als er 1953 seinen Antrittsbesuch hier machte, wurden auch einige Herren der damaligen Opposition dorthin gebeten, um etwas zu sagen. Ich war einer von den Dreien; die anderen waren mein verstorbener Freund Ollenhauer und mein Freund Carlo Schmid. Wir kriegten ein paar Minuten, um etwas über unsere abseitigen Vorstellungen zu sagen, und dann wurden wir belehrt. — In Ordnung!
    Damals hat Dulles uns gesagt, er kenne es, wie die Russen das mit geteilten Ländern usw. machten. Er sagte — ich will mich kurz fassen —, solange wir uns noch erkennbar für das, was im anderen Teil vor sich gehe, interessierten, so lange hätten die Russen ein Interesse, dies als Faustpfand zu behalten; das würde sich erst ändern, wenn wir uns durch das, was dort geschieht, in nichts mehr beeinträchtigen ließen und uns auch — um es dann zu steigern — in nichts mehr erpressen ließen.
    Der Kollege Gradl hat gestern gesagt, zwar sei die DDR eine Realität, aber — ich nehme seine Worte —



    Wehner
    eine kranke und nicht eine gesunde. Ich kann mich diesen Worten nicht einfach anschließen. Aber ich kann mir vorstellen, was Sie darunter verstehen. Die Frage ist auch dann, wie wir uns angesichts dessen verhalten.
    Wenn Sie fragen: Wo bleibt wenigstens im Umgangston eine entsprechende Leistung der anderen Seite?, sage ich Ihnen: Ich möchte mir die nicht auch noch erkaufen! — Das ist doch wohl kein Problem, wie die uns apostrophieren, oder ist das plötzlich für Sie ein Problem geworden? Das nehme ich nicht an.

    (Zuruf des Abg. Dr. h. c. Kiesinger.)

    — Nur: sollten wir, wenn wir das auch noch zu einer Bedingung machen, aufhören? Wir können ja gar nicht aufhören. Bei u n s liegt der moralische Stachel, sich zu bekümmern. Da sind Sie doch nicht anderer Meinung als wir! Da geht es dann doch nur darum, wie man das machen muß. Aber Sie haben doch auch kein Rezept dafür. Weil die ihren Ton, weil die bestimmte Dinge nicht ändern, drehen wir uns ihnen eben einmal mit dem Rücken zu? Sie von der Opposition sind ja nicht John Foster Dulles. Ich habe ihm damals gesagt: Das ist eine grandiose Vorstellung; die paßt aber für jenseits des Ozeans und nicht für die unmittelbar Betroffenen und Beteiligten! — So haben wir offen miteinander gesprochen.

    (Beifall bei den Regierungsparteien.)

    Meine Zeit ist abgelaufen. Bildlich und auch sonst gesprochen: Die politische Führung der DDR hat — das ist das eigentliche Dilemma — keine gesamtnationale Legitimation, auch nicht in dem Sinne, in dem andere Staaten jener Sphäre sich auf eine solche berufen können und es auch tun. Hätte ich Zeit, würde ich mich weiter damit befassen können.
    Weil das so ist, ist deren Reaktion sowohl bei den theoretischen Darlegungen, die ihnen geschenkt sein mögen, als auch sonst in der Praxis eben die: erst wenn alles DDR wäre, könnten wir von einer Nation sprechen. Es hat einen Mann gegeben, der heute eine Unperson ist, wie es häufig der Fall ist, nicht nur dort bei denen, sondern auch bei uns; wenn man früher einmal etwas war und dann nichts mehr ist, ist man eine Unperson.
    Dieser Mann hat in der damaligen „Täglichen Rundschau", in einem dieser großen Artikel, geschrieben: „DDR werden wir nur, wenn wir es in ganz Deutschland werden. Wir sind bis jetzt nur mit einem Bein über den Berg. Wenn wir das andere nicht nachziehen können, verlieren wir Kopf und Kragen." Das war seine Warnung. Der hat aber heute auch nichts mehr zu sagen. Er steckt in einem Archiv oder ist wohl schon gestorben. Wenn nicht — ich bin da nicht so genau im Bilde. Das war Herrnstadt. Daran war natürlich etwas. Das war eine Vorstellung des Entweder-Oder. Nicht nur unter taktischen Gründen, sondern auch zum möglichen Sicheinander-Anpassen mußte die Möglichkeit zur Berührung gesehen werden. Aber das ist vorbei.
    Ich muß schließen. Unser deutsches Volk hat sein Bewußtsein, als Nation zu leben und zu handeln, in schwierigen Entwicklungen seiner Staatlichkeit erworben. Unter uns sind ja noch Zeitgenossen, die
    sowohl das Wilhelminische Kaiserreich, als auch die Weimarer Republik, als auch den NS-Staat Adolf Hitlers, als auch die Besatzungszonen, als auch die Bundesrepublik Deutschland und ihr Gegenüber, die DDR, erlebt haben. Immer waren Spannungen und Spannweiten, war Kampf und waren Ausschließlichkeitsansprüche, Verdammungen schrecklicher Art. Das ging von „Ich kenne keine Parteien mehr, ich kenne nur noch Deutsche" bis zu „Die Partei ist alles" und „Wer nicht für uns ist, der ist unser Feind" . Die DDR hat diese Spannungen, meine Damen und Herren, und den Konflikt nicht gelöst. Sie hat ihn nur verschoben. Sie hat ihn nur verzerrt, und darüber ließe sich manches sagen. Daraus würde sich für uns manches erklären.
    Dennoch gibt es ein Kulturerbe, und es gibt die geschichtlich gewordene Nation, wenn auch nicht in einem Staat. Und da beginnen unsere Probleme, die Probleme, von denen die Regierung will, daß wir sie nicht einfach nur beschreiben, sondern daß wir versuchen, sie lösbar zu machen, und von denen ich nichts mehr sagen kann, weil, wie gesagt, meine Redezeit abgelaufen ist. Ich danke Ihnen für ihre Geduld.

    (Anhaltender, lebhafter Beifall bei den Regierungsparteien.)