Protokoll:
3111

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Metadaten
  • date_rangeWahlperiode: 3

  • date_rangeSitzungsnummer: 111

  • date_rangeDatum: 4. Mai 1960

  • access_timeStartuhrzeit der Sitzung: 09:05 Uhr

  • av_timerEnduhrzeit der Sitzung: 20:39 Uhr

  • account_circleMdBs dieser Rede
  • tocInhaltsverzeichnis
    Deutscher Bundestag 111. Sitzung Bonn, den 4. Mai 1960 Inhalt: Nachruf auf die Abg. Dr. Gülich und Cillien Präsident D. Dr. Gerstenmaier . . 6183 A Abg. Dr. Tamblé tritt in den Bundestag ein 6183 D Glückwünsche zu den Geburtstagen der Abg. Höcker, Mensing, Pietscher und Demmelmeier 6183 D Nachrücken der Abg. Dr. Weber (Koblenz) und Dr. Dittrich als Wahlmänner nach § 6 Abs. 2 des Gesetzes über das Bundesverfassungsgericht . . . . . . . 6183 D Begrüßung des Präsidenten Fagerholm und weiterer Abgeordneter des finnischen Reichstags . . . . . . . . . . . 6190 D Eidesleistung des Bundesministers für wirtschaftlichen Besitz des Bundes Dr. Wilhelmi, Bundesminister . . . 6215 D Fragestunde (Drucksache 1810) Frage des Abg. Ritzel: Kapitalanlagen im Ausland Dr. Dr. h. c. Erhard, Bundesminister 6184 C Frage des Abg. Dr. Kohut: Mangel an Narkosefachärzten in der Bundesrepublik Dr. Schröder, Bundesminister . . . 6185 A Frage des Abg. Dr. Reinhard: Schutz des Verbrauchers vor mit Antibiotica behandeltem Importgeflügel Dr. Schröder, Bundesminister . . . 6185 B Frage des Abg. Dr. Arndt: Amtliche Sammlung von Fehlurteilen im Strafprozeß Schäffer, Bundesminister . . . . 6185 D Frage des Abg. Schneider (Bremerhaven) : Beschluß des 5. Gewerkschaftsjugendtages der IG Bergbau betr. Kontakte mit der Bundeswehr Hopf, Staatssekretär . . . . . . 6185 D Fragen des Abg. Dr. Rutschke: Atomreaktor Karlsruhe Dr.-Ing. Balke, Bundesminister . . 6186 B Große Anfrage der Fraktion der FDP betr. Freihandelszone (Drucksache 1305) verbunden mit Große Anfrage der Fraktion der SPD betr. Europäische Wirtschaftsgemeinschaft und Freihandelszone (Drucksache 1464 [neu] ) Margulies (FDP) 6186 D, 6191 A, 6243 C Kalbitzer (SPD) . . . . . . . . 6193 B Dr. Dr. h. c. Erhard, Bundesminister 6197 D Dr. Birrenbach (CDU/CSU) . . . . 6205 A II Deutscher Bundestag — 3. Wahlperiode — 111. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 4. Mai 1960 Birkelbach (SPD) . . . . . . . 6211 B Dr. Starke (FDP) . . . . . . . 6215 D von Hassel, Ministerpräsident des Landes Schleswig-Holstein . . 6223 D Metzger (SPD) 6227 D Dr. Löhr (CDU/CSU) 6232 D Scheel (FDP) 6234 C Lücker (München) (CDU/CSU) . . 6237 B Dr. Deist (SPD) . . . . . . . 6244 D Brand (CDU/CSU) 6247 C Dr. Mommer (SPD) 6248 A Rösing (CDU/CSU) 6248 B Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Kaffeesteuergesetzes (SPD) (Drucksache 1441) Erste Beratung —; verbunden mit Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Teesteuergesetzes (SPD) (Drucksache 1442) — Erste Beratung — Frau Beyer (Frankfurt) (SPD) . . . 6248 C, 6253 C Dr. Schmidt (Wuppertal) (CDU/CSU) 6250 A Scheel (FDP) 6251 D Metzger (SPD) 6253 B Entwürf eines Bundessozialhilfegesetzes (BSHG) (Drucksache 1799) — Erste Beratung — Dr. Schröder, Bundesminister . . . 6254 A Frau Niggemeyer (CDU/CSU) . . . 6256 D Könen (Düsseldorf) (SPD) . . . . 6259 C Dr. Rutschke (FDP) 6261 B Entschließungsantrag zur dritten Beratung des Entwurfs des Haushaltsgesetzes 1959, hier: Einzelplan 14 (FPD); Schriftlicher Bericht des Verteidigungsausschusses (Drucksache 1784, Umdruck 281) . . . 6262 B Sammelübersicht 19 des Petitionsausschusses über Anträge von Ausschüssen zu Petitionen (Drucksache 1801) . . . . . 6262 B Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Süßstoffgesetzes (Drucksache 1146) ; Schriftlicher Bericht des Finanzausschusses (Drucksache 1752) — Zweite und dritte Beratung — . . . . . . . . 6262 C Entwurf eines Gesetzes über die Finanzstatistik (Drucksache 1367) ; Schriftlicher Bericht des Finanzausschusses (Drucksache 1789) — Zweite und dritte Beratung — 6262 D Entwurf eines Fünften Gesetzes zur Änderung des Getreidegesetzes (CDU/CSU, DP) (Drucksache 1693) — Erste Beratung — 6262 D Entwurf eines Gesetzes über die Berechnung strafrechtlicher Verjährungsfrist (SPD) (Drucksache 1738) — Erste Beratung — 6263 A Antrag der Fraktionen der CDU/CSU, SPD, FDP betr. Antrag auf Normenkontrolle bei dem Bundesverfassungsgericht wegen des Sammlungsgesetzes (Drucksache 1697) 6263 A Antrag betr. Beihilfe zur Beschaffung von Hausrat an Deutsche aus der Sowjetzone, die nicht die Voraussetzungen des § 3 des Bundesvertriebenengesetzes erfüllen (SPD) (Drucksache 1698) 6263 B Antrag betr. Abkommen über die einheitliche Auslegung der europäischen Verträge (Abg. Dr. Wahl, Dr. Harm, Dr. Mende u. Gen.) (Drucksache 1731) . . . 6263 B Antrag betr. Zusatzprotokoll zur Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (Abg. Dr. Wahl, Dr. Harm, Dr. Mende u. Gen.) (Drucksache 1732) 6263 C Antrag betr. Schiffbarmachung des Hochrheins (Abg. Hilbert, Dr. Furler u. Gen.) (Drucksache 1786) 6263 C Entwurf einer Zolltarif-Verordnung (Deutscher Zolltarif 1960); Schriftlicher Bericht des Außenhandelsausschusses (Drucksachen 1797, 1815) . . . . . . 6263 C Entwurf einer Verordnung Nr. . . . zur Durchführung einer Erhebung über die Löhne; Mündlicher Bericht des Ausschusses für Arbeit (Drucksachen 1809, 1818) 6263 D Nächste Sitzung 6263 D Anlagen 6265 Deutscher Bundestag — 3. Wahlperiode — 111. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 4. Mai 1960 6183 111. Sitzung Bonn, den 4. Mai 1960 Stenographischer Bericht Beginn: 9.05 Uhr.
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    Anlagen zum Stenographischen Bericht Anlage 1 Liste der beurlaubten Abgeordneten Abgeordnete(r) beurlaubt bis einschließlich a) Beurlaubungen Bauereisen 5. 5. Dr. Becker (Hersfeld) 31. 5. Blachstein 20. 5. Frau Brauksiepe 4. 5. Brüns 2. 7. Dr. Bucerius 15. 5. Bühler 4. 5. Cramer 4. 5. Frehsee 7. 5. Dr. Friedensburg 6. 5. Funk 7. 5. Dr. Furler 6. 5. Gaßmann 6. 5. Geiger (München) 6. 5. Frau Geisendörfer 6. 5. Gerns 6. 5. Dr. Görgen 20. 5. Dr. Gossel 6. 5. Häussler 4. 5. Dr. Heck (Rottweil) 6. 5. Heye 4. 5. Dr. Hoven 6. 5. Jacobs 7. 5. Keller 4. 5. Frau Kipp-Kaule 4. 5. Frau Klemmert 15. 5. Knobloch 6. 5. Köhler 6. 5. Kraft 9. 5. Krammig 4. 5. Dr. Leiske 6. 5. Müller (Worms) 7. 5. Frau Dr. Pannhoff 7. 5. Paul 6. 5. Dr. Preusker 6. 5. Pütz 4. 5. Ramms 6. 5. Rasch 20. 5. Dr. Ratzel 6. 5. Dr. Ripken 15. 5. Frau Schanzenbach 6. 5. Scharnberg 7. 5. Scheel 6. 5. Dr. Schild 4. 5. Schmücker 6. 5. Dr.-Ing. Seebohm 9. 5. Seidl (Dorfen) 6. 5. Solke 6. 5. Stahl 15. 5. Sühler 7. 5. Wehner 4. 5. Welslau 7. 5. b) Urlaubsanträge Dr. Dittrich 31. 5. Dopatka 21. 5. Erler 21. 5. Abgeordnete(r) beurlaubt bis einschließlich Dr. Greve 21. 5. Holla 20. 5. Hufnagel 13. 5. Jahn (Frankfurt) 2. 7. Jaksch 20. 5. Katzer 18. 6. Maier (Freiburg) 2. 7. Probst (Freiburg) 10. 5. Rasner 28. 5. Frau Dr. Rehling 12. 5. Sander 2. 7. Anlage 2 Der Präsident des Bundesrates Abschrift Bonn a. Rh., d. 8. April 1960 An den Herrn Bundeskanzler Bonn Bundeskanzleramt Ich beehre mich mitzuteilen, daß der Bundesrat in seiner 217. Sitzung am 8. April 1960 beschlossen hat, dem vom Deutschen Bundestag am 16. März 1960 verabschiedeten Gesetz über die Regelung der Rechtsverhältnisse bei der Volkswagenwerk Gesellschaft mit beschränkter Haftung gemäß Artikel 105 Abs. 3 und 135 Abs. 5 des Grundgesetzes zuzustimmen. Der Bundesrat begrüßt die Absicht, die Erträge der „Stiftung Volkswagenwerk" zur Förderung von Wissenschaft und Technik in Forschung und Lehre zu verwenden. Er geht bei Erteilung seiner Zustimmung davon aus, daß die nach Anwendung des § 4 Buchst. b) des Vertrages verbleibenden Erträge den Ländern zufließen. Dabei erwartet der Bundesrat, daß im Rahmen der allgemeinen Zweckbestimmung des § 3 Abs. 1 des Vertrages die Länder frei über die Verwendung dieser Mittel entscheiden können und daß mit ihrer Zuweisung keine Auflagen verbunden werden, die die Unabhängigkeit und Selbständigkeit der Haushaltswirtschaft der Länder beeinträchtigen könnten. Dr. Röder Bonn, den 8. April 1960 An den Herrn Präsidenten des Deutschen Bundestages Bonn Bundeshaus Vorstehende Abschrift wird mit Bezug auf das dortige Schreiben vom 18. März 1960 mit der Bitte um Kenntnisnahme übersandt. Dr. Röder 6266 Deutscher Bundestag — 3. Wahlperiode — 111. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 4. Mai 1960 Anlage 3 Schriftliche Antwort des Staatssekretärs im Bundesministerium für Verkehr auf die Mündliche Anfrage des Abgeordneten Jahn (Marburg) betreffend Verwendung von Fahrkarten der Bundesbahn mit Symbolen des NS-Regimes (Fragestunde der 111. Sitzung vom 4. 5. 1960, Drucksache 1810). Ist der Herr Bundesverkehrsminister bereit, die Deutsche Bundesbahn darüber aufzuklären, daß die Verwendung von Fahrkarten mit eingeprägten Symbolen des NS-Regimes im Jahre 1960 mehr ist als eine unverantwortliche Schlamperei? Ist er bereit, darauf hinzuwirken, daß sämtliche, noch im Verkehr befindlichen Fahrkarten dieser Art unverzüglich vernichtet werden? Ich bin mit Ihnen, Herr Abgeordneter, und der Deutschen Bundesbahn darin einig, daß die einem Reisebüro unterlaufene Panne nicht hätte passieren dürfen. Es ist veranlaßt, daß sämtliche etwa noch vorhandenen Fahrkartenbestände dieser Art unverzüglich vernichtet werden. Seiermann Anlage 4 Schriftliche Antwort des Staatssekretärs im Bundesministerium für Verkehr auf die Mündliche Anfrage des Abgeordneten Dr. Dr. h. c. Friedensburg betreffend Errichtung eines Zementschuppens an der Autobahn bei Nikolassee (Fragestunde der 111. Sitzung vom 4. 5. 1960 Drucksache 1810). Weshalb hat die Bundesautobahn-Verwaltung bei der Errichtung eines kahlen Zementschuppens an der Einfahrt der Autobahn nach Berlin bei Nikolassee alle Regeln einer ansprechenden Architekturgestaltung und alle Regeln des Landschaftsschutzes außer acht gelassen? Weshalb hat sie das Vorbild eines daneben liegenden Gebäudes übersehen, das von der früheren Reichsautobahn-Verwaltung errichtet worden ist und das dem besonders repräsentativen Landschaftscharakter des betreffenden Standortes Rechnung trägt? Was gedenkt die Bundesautobahn-Verwaltung zu tun, um den angerichteten Schaden, der in der schönen Jahreszeit täglich für Zehntausende von naturliebenden Berlinern ein Ärgernis bieten muß, zu beseitigen oder wenigstens zu mildern? Bei dem beanstandeten Gebäude handelt es sich um eine Halle zur Aufnahme von Streugut für den Winterdienst auf der Bundesautobahn Avus, die in freitragender Binderkonstruktion aus Stahlbeton mit äußeren Sichtbetonflächen hergestellt worden ist. Die Wahl des Bauplatzes auf einem an der Bundesautobahn gelegenen Grundstück der Bundesautobahnverwaltung war zweckmäßig, weil das Gebäude den Bedürfnissen des Betriebes und der Unterhaltung der Autobahn dienen soll. Das auf dem Grundstück befindliche, vor 25 Jahren von der Reichsautobahnverwaltung errichtete Wohnhaus konnte nicht Vorbild für die Gestaltung sein, weil sich die Bauformen eines kleinen Wohnhauses nicht auf eine große stützenfreie Halle übertragen lassen. Bei der Gestaltung der Halle ist wegen ihrer Lage im Blickpunkt der Autobahnbenutzer versucht worden, eine ansprechende architektonische Gestaltung zu finden. Die Gebäudeformen sind Ausdruck der Konstruktion und entsprechen in ihrer Einfachheit der Zweckbestimmung des Gebäudes. Auch sind Klagen von anderer Seite bisher nicht bekanntgeworden. Ich darf aber bemerken, daß die Arbeiten an den Außenanlagen noch nicht abgeschlossen sind und sich deshalb dem Betrachter noch kein endgültiges und vollständiges Bild bietet. Wenn die Böschung zur Autobahn, wie vorgesehen, vollständig angelegt, befestigt und mit Bäumen und Sträuchern bepflanzt ist, wird — so hoffe ich — erkennbar sein, daß auch dieses Gebäude in die Natur einwachsen und ein Bestandteil der Landschaft werden wird. Seiermann Anlage 5 Umdruck 576 Antrag der Fraktion der FDP zur Großen Anfrage der Fraktion der FDP betreffend Freihandelszone (Drucksache. 1305). Der Bundestag wolle beschließen: Der Deutsche Bundestag stellt mit Bedauern fest, daß die Bemühungen um eine europäische wirtschaftliche Zusammenarbeit seit Inkrafttreten des EWG-Vertrages zu einer Spaltung Europas geführt haben, daß der Beschluß der OEEC vom 13. Februar 1957 und der Beschluß des Bundestages vom 2. Oktober 1958 bisher nicht verwirklicht worden sind, daß die Fristverkürzungsvorschläge und die Vorschläge für eine gemeinsame Agrarpolitik die Tendenz der EWG zur Abspaltung von den anderen OEEC-Staaten sichtbar machen. Er ersucht die Bundesregierung, alles zu tun, um 1. die in der OEEC erzielten Fortschritte und gefaßten Beschlüsse in ihrem Bestande zu sichern. 2. gemäß Absprache des Herrn Bundeskanzlers mit dem französischen Staatschef nunmehr vor allem anderen die Verwirklichung des Beschlusses der OEEC vom 13. Februar 1957 durchzusetzen und eine Freihandelszone in Europa einzurichten, die auf multilateraler Basis den gemeinsamen Markt der Sechs und die anderen Mitgliedsländer vereinigt. Bonn, den 4. Mai 1960 Margulies Dr. Starke Lenz (Trossingen) und Fraktion
Gesamtes Protokol
Dr. Eugen Gerstenmaier (CDU):
Rede ID: ID0311100000
Die Sitzung ist eröffnet.

(Die Abgeordneten erheben sich.)

Meine Damen und Herren! Wir gedenken des Todes zweier verdienter Kollegen.
Am 15. April verstarb nach langer, schwerer Krankheit unser Kollege Professor Dr. Wilhelm Gülich. Wilhelm Gülich wurde am 7. Juni 1895 in Sachsenberg in Waldeck geboren. Nach dem Studium der Nationalökonomie und der Rechtswissenschaft wurde er 1924 Direktor der Bibliothek des Instituts für Weltwirtschaft in Kiel. Es ist bekannt, daß Professor Gülich diese Bibliothek in fast vier Jahrzehnten zur größten sozialwissenschaftlichen Fachbibliothek der Welt ausgebaut hat.
Nach dem Zusammenbruch von 1945 fand der Verstorbene den Weg in die Politik. Wilhelm Gülich schloß sich der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands an. Von 1946 bis 1948 war er Landrat des Kreises Herzogtum Lauenburg. Von 1947 bis 1950 war er Mitglied ,des Schleswig-Holsteinischen Landtags. Von 1949 bis 1950 war er Finanzminister des Landes Schleswig-Holstein.
Dem Deutschen Bundestag hat Wilhelm Gülich seit 1949 angehört, und zwar zunächst für den Wahlkreis 14 Herzogtum Lauenburg. Später wurde er über die Landesliste Schleswig-Holstein gewählt. Wilhelm Gülich war Mitglied des Haushaltsausschusses und des Ausschusses für Kulturpolitik und Publizistik.
Dem Deutschen Bundestag, meine Damen und Herren, bleibt der Verstorbene noch in einer besonderen Weise verbunden. Wir verdanken ihm im wesentlichen den Aufbau unserer Bibliothek. Die Bibliothek unseres Hauses wurde nach dem von Wilhelm Gülich entwickelten Bibliotheksystem aufgebaut.
Am 29. April verstarb nach langer, schwerer Krankheit unser Kollege Adolf Cillien. Adolf Cillien wurde am 23. April 1893 in Volksberg im Elsaß geboren. Nach dem Studium der Theologie und nach der Teilnahme am 1. Weltkrieg war er Pfarrer in verschiedenen Gemeinden dier Hannoverschen Landeskirche. Danach wurde er Superintendent in Burgdorf. 1935 wurde Adolf Cillien in die Leitung des
Volksmissionarischen Amtes der Landeskirche von Hannover berufen. 1943 wurde er Oberkirchenrat.
Nach 1945 nahm er am politischen Wiederaufbau teil. Er war Mitbegründer der Christlich-Demokratischen Union und von 1949 bis 1960 Vorsitzender der CDU Niedersachsens. Von 1946 bis 1951 war Adolf Cillien Mitglied des niedersächsischen Landtages und Vorsitzender der CDU-Landtagsfraktion.
Dem Deutschen Bundestag gehörte er seit 1953 an. Er vertrat den Wahlkreis 40 — Stadt Hannover (Nord). Adolf Cillien war stellvertretender Fraktionsvorsitzender der Christlich-Demokratischen Union und Mitglied des Ausschusses zur Wahrung der Rechte der Volksvertretung.
Meine Damen und Herren, wir gedenken dieser verdienten Kollegen. Vielen von uns waren sie treue Freunde und dem ganzen Hause allseits geschätzte Kollegen. Ich spreche den betroffenen Fraktionen, ich spreche den Hinterbliebenen die herzliche Anteilnahme des Hauses aus. — Sie haben sich zum Gedenken der Verstorbenen erhoben; ich danke Ihnen.
Ich teile dem Hause mit, daß als Nachfolger für den verstorbenen Abgeordneten Dr. Gülich mit Wirkung vom 25. April 1960 der Abgeordnete Dr. Tamblé in den Bundestag eingetreten ist. Ist Herr Tamblé anwesend? — Ich heiße Sie willkommen, Herr Kollege. Ich wünsche Ihnen eine gute Zusammenarbeit mit dem Haus.

(Beifall.)

Glückwünsche zu Geburtstagen: Am 15. April der Herr Abgeordnete Höcker 74 Jahre,

(Beifall)

am 25. April Herr Abgeordneter Mensing 65 Jahre,

(Beifall)

am 30. April der Herr Abgeordnete Pietscher 60 Jahre,

(Beifall)

am 1. Mai der Herr Abgeordnete Demmelmeier 73 Jahre.

(Beifall.)

Für die ausgeschiedenen Abgeordneten Schwarz und Dr. Wilhelmi — der Text ist mißverständlich; sie sind keineswegs als Abgeordnete ausgeschieden, sondern gehören weiterhin dem Hause an; aber es soll gesagt werden, daß sie als Wahlmänner aus dem Wahlausschuß für das Bundesverfassungsgericht ausgeschieden sind — treten als Wahlmän-



Präsident D. Dr. Gerstenmaier
ner nach § 6 Abs. 2 des Gesetzes über das Bundesverfassungsgericht die Abgeordneten Dr. Weber (Koblenz) und Dr. Dittrich ein.
Die übrigen amtlichen Mitteilungen werden ohne Verlesung in den Stenographischen Bericht aufgenommen:
Der Bundesrat hat in seiner Sitzung am 8. April 1960 den nachstehenden Gesetzen zugestimmt bzw. einen Antrag gemäß Artikel 77 Abs. 2 GG nicht gestellt:
Drittes Gesetz zur Änderung des Gesetzes über die Kraftloserklärung von Hypotheken-, Grundschuld- und Rentenschuldbriefen in besonderen Fällen
Gesetz zu dem Abkommen vom 12. August l959 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Island über den Luftverkehr
Gesetz über die Abwicklung der Kriegsgesellschaften
Gesetz über die Regelung der Rechtsverhältnisse bei der Volkswagenwerk Gesellschaft mit beschränkter Haftung.
Zum Gesetz über die Regelung der Rechtsverhältnisse bei der Volkswagenwerk Gesellschaft mit beschränkter Haftung hat der Bundesrat eine Entschließung gefaßt, die dem Sitzungsbericht als Anlage 2 beigefügt ist.
Zum
Gesetz zur Änderung des Mineralölsteuergesetzes
hat der Bundesrat einen Einspruch gemäß Artikel 77 Abs. 3 des Grundgesetzes nicht eingelegt.
In der gleichen Sitzung hat der Bundesrat zum
Gesetz- über die Überführung der Anteilsrechte an der Volkswagenwerk Gesellschaft mit beschränkter Haftung in private Hand
verlangt, daß der Vermittlungsausschuß einberufen wird. Sein Schreiben ist als Drucksache 1788 (neu) verteilt.
Der Herr Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung hat unter dem 7. April 1960 die Kleine Anfrage der Fraktion der FDP betr. Heimkehrer mit Strahlenschäden (Drucksache 1638) beantwortet. Sein Schreiben ist als Drucksache 1792 verteilt,
Der Herr Staatssekretär des Bundesministeriums für Vertriebene, Flüchlinge und Kriegsgeschädigte und der Herr Staatssekretär des Bundesministeriums der Finanzen haben unter dem 8, April 1960 die Kleine Anfrage der Abgeordneten Kuntscher, Dr. Czaja, Leukert, Krüger (Olpe) und Genossen betr. Rechtsverordnung zu § 267 Abs. 3 LAG (Drucksache 1643) beantwortet. Das Schreiben ist als Drucksache 1793 verteilt.
Der Herr Staatssekretär des Bundesministeriums für Verkehr hat unter dem 19. April 1960 die Kleine Anfrage der Fraktion der FDP betr. Flughafen Rio de Janeiro (Drucksache 1691) beantwortet. Sein Schreiben ist als Drucksache 1802 verteilt.
Der Herr Bundesminister für Wirtschaft hat unter dem 21. April 1960 die Kleine Anfrage der Abgeordneten Leicht, Gewandt, Dr. Fritz (Ludwigshafen), Dr. Vogel und Genossen betr. Winterbau durch öffentliche Hand (Drucksache 1753) beantwortet. Sein Schreiben ist als Drucksache 1803 verteilt.
Der Herr Bundesminister des Auswärtigen hat unter dem 28. April 1960 die Kleine Anfrage der Abgeordneten Frau Herklotz, Seither, Ludwig, Odenthal und Genossen betr. Grenzregulierungen an der deutsch-französischen Grenze (Drucksache 1785) beantwortet. Sein Schreiben ist als Drucksache 1812 verteilt.
Der Herr Bundesminister für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten hat unter dem 20. April 1960 unter Bezug auf den Beschluß des Bundestages vom 25. Juni 1960 über die Brandschäden in Niedersachsen berichtet. Sein Schreiben ist als Drucksache 1805 verteilt.
Der Wehrbeauftragte des Bundestages hat unter dem 8. April 1960 gemäß § 2 Abs. 3 des Gesetzes über den Wehrbeauftragten des Bundestages den Jahresbericht 1959 übersandt, der als Drucksache 1796 verteilt ist. Der Herr Präsident des Bundestages hat am 3. Mai 1960 den Jahresbericht gemäß § 76 Abs. 2 GO dem Verteidigungsausschuß überwiesen.
Der Herr Stellvertreter des Bundeskanzlers hat unter dem 13. April 1960 unter Bezugnahme auf § 50 Abs. 2 des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen den Bericht des Bundeskartellamtes über seine Tätigkeit im Jahre 1959 sowie über Lage und Entwicklung auf seinem Aufgabengebiet übersandt, der als Drucksache 1795 verteilt ist.
Der Herr Präsident des Bundestages hat am 5. April 1960 die Schreiben des Vorsitzenden der Schweizerischen Delegation vom 7. November 1959 und des Vorsitzenden der Deutschen Delegation vom 23. November 1959 zum Entwurf eines Gesetzes zu dem deutsch-schweizerischen Abkommen vom 5. Februar 1958 über den Grenz- und Durchgangsverkehr (Drucksache 1758) gemäß § 76 Abs. 2 GO dem Finanzausschuß federführend und dem Außenhandelsausschuß mitberatend überwiesen.
Wir treten in die Tagesordnung ein. Ich rufe auf Punkt 1:
Fragestunde (Drucksache 1810).
Die Fragen aus dem Geschäftsbereich des Auswärtigen Amtes können erst am 6. Mai aufgerufen werden.
Eine Frage aus dem Geschäftsbereich des Bundesministers der Finanzen: Herr Abgeordneter Dr. Friedensburg! Ist der Herr Abgeordnete im Hause? — Er ist nicht im Hause; die Beantwortung der Frage erfolgt schriftlich,
Herr Abgeordneter Ritzel mit einer Frage aus dem Geschäftsbereich des Bundesministers für Wirtschaft betreffend deutsches Anlagekapital im Ausland:
Wie hoch schätzt die Bundesregierung heute das deutsche Anlagekapital im Ausland insgesamt?
Wieviel Kapitalanlagen dieser Art entfallen hiervon auf die
einzelnen europäischen Länder und wieviel auf die USA?
Zur Beantwortung der Herr Bundesminister für Wirtschaft!

Dr. Ludwig Erhard (CDU):
Rede ID: ID0311100100
Ich nehme zu der Frage wie folgt Stellung. Das deutsche Anlagekapital im Auslande betrug am 29. Februar 1960 rund 4,5 Milliarden DM, Dieser Betrag umfaßt aber lediglich die Anlagen, die nach dem zweiten Weltkriege durchgeführt worden sind. Eine allumfassende zahlenmäßige Übersicht über den Stand der privaten deutschen Kapitalanlagen im Ausland gibt es nicht, da es insbesondere an Unterlagen über die aus der Konfiszierung des deutschen Vorkriegsvermögens inzwischen freigegebenen Vermögenswerte fehlt. Die Zahlen, die ich nachfolgend nennen werde, umfassen die seit 1952 durchgeführten Direktinvestitionen deutscher Wirtschaftsunternehmen im Auslande sowie den Überschuß an Zahlungen für den seit 1956 wieder zugelassenen Erwerb ausländischer Wertpapiere gegenüber den aus dem Verkauf solcher Wertpapiere angefallenen Zahlungen.
Bei den privaten Direktinvestitionen handelt es sich hauptsächlich um die Errichtung von Unternehmungen und Niederlassungen, um den Erwerb von Unternehmungen und Beteiligungen sowie von längerfristigen Kreditgewährungen an Tochterunternehmungen.
Für die derzeitige Bewertung haben die Zahlenangaben jedoch keine absolute Aussagekraft. Dies gilt sowohl für die Direktinvestitionen wie auch besonders für die Dividendenpapiere, bei denen sich der Wert gegenüber dem Anschaffungspreis durch Kursänderungen wesentlich verschieben kann. Da in den letzten Jahren die Kursentwicklung im allgemeinen in aufsteigender Richtung tendierte, kann aber davon ausgegangen werden, daß der Überschuß der Aufwendungen erhalten geblieben ist. Nach den statistischen Unterlagen betrugen erstens die privaten Direktinvestitionen im Ausland von 1952 bis Februar 1960 für alle Länder zusammen 2,456 Milliarden DM. Davon entfielen auf europäische Länder 848 Millionen DM, auf die USA 251 Millionen DM. Zweitens. Der Überschuß bei dem Erwerb ausländischer Wertpapiere betrug für alle Länder 2,093 Milliarden DM. Davon entfallen auf europäische Länder 1,481 Milliarden DM, auf die Vereinigten Staaten 263 Millionen DM.




Dr. Eugen Gerstenmaier (CDU):
Rede ID: ID0311100200
Keine Zusatzfrage! — Fragen aus dem Geschäftsbereich des Herrn Bundesministers des Innern. Frage des Herrn Abgeordneten Dr. Kohut betreffend Mangel an Narkosefachärzten in der Bundesrepublik:
Trifft es zu, daß in England und in den Vereinigten Staaten auf eine Million Einwohner fünfzig Narkosefachärzte entfallen und in der Bundesrepublik nur 1,3?
Wie beabsichtigt die Bundesregierung diesem Zustande abzuhelfen, auf den nach Mitteilung der Deutschen Gesellschaft für Anästhesie der tödliche Verlauf einer Reihe chirurgischer Eingriffe zurückzuführen ist?

Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID0311100300
Ich darf die Frage wie folgt beantworten. Die Zahl der Fachärzte für Anästhesie in der Bundesrepublik ist in der Tat noch sehr gering. Die genannten Zahlen der Fachärzte in Deutschland und im Ausland beruhen auf Erhebungen der Deutschen Gesellschaft für Anästhesie. Das Statistische Bundesamt wird erst von 1960 an zuverlässige zahlenmäßige Unterlagen haben.
Um mehr Fachärzte für Anästhesie zu bekommen, müßten an Universitätskliniken und Krankenanstalten vermehrte Ausbildungsmöglichkeiten auf diesem Fachgebiet geschaffen werden. Mit dieser Frage beschäftigt sich u. a. der Wissenschaftsrat. Eine unmittelbare Einwirkung auf die medizinischen Fakultäten und die Krankenhausträger ist aber der Bundesregierung nicht möglich. Ich werde daher den zuständigen Länderministerien empfehlen, dieser Frage ihre besondere Aufmerksamkeit zuzuwenden.

Dr. Eugen Gerstenmaier (CDU):
Rede ID: ID0311100400
Keine Zusatzfrage? —
Frage des Herrn Abgeordneten Dr. Reinhard betreffend Schutz des Verbrauchs vor mit Antibiotica behandeltem Importgeflügel:
Ist der Bundesregierung bekannt, daß es im Ausland üblich ist, geschlachtetes Geflügel in ein Antibiotica-Bad zu legen, um die Frischhaltungsdauer wesentlich zu erhöhen?
Besteht eine Möglichkeit, beim Importgeflügel die Anwendung von Antibiotica nachzuweisen, und was wird getan, um den deutschen Verbraucher entsprechend den Bestimmungen des Lebensmittelgesetzes vor der gesundheitsgefährdenden Wirkung dieser Mittel zu schützen?
Auf welche Weise glaubt die Bundesregierung — falls die Einfuhr des mit Antibiotica vorbehandelten Geflügelfleisches nicht wirksam unterbunden werden kann -- die Wettbewerbsgleichheit der deutschen Geflügelzüchter sichern zu können?

Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID0311100500
Ich darf Ihre Frage im Einvernehmen mit dem Herrn Bundesminister für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten wie folgt beantworten.
Der Bundesregierung ist bekannt, daß es in einigen Staaten zugelassen und üblich ist, geschlachtetes Geflügel in ein Antibioticum-Bad zu legen, um die Frischhaltungsdauer des Fleisches zu erhöhen. So behandeltes Geflügel darf in das Bundesgebiet nicht eingeführt werden.
Es gibt brauchbare Methoden zum Nachweis von Antibiotica in Geflügelfleisch, so daß die amtliche Lebensmittelüberwachung das aus dem Ausland eingeführte Geflügel auf einen eventuellen Gehalt an Antibiotica prüfen kann.
Es liegen mir keine Mitteilungen darüber vor, laß in letzter Zeit mit Antibiotica behandeltes Geflügel in das Bundesgebiet eingeführt worden ist.
Ich werde aber die obersten Landesbehörden bitten, die ihnen nachgeordneten Überwachungsstellen anzuweisen, den Geflügelimporten künftig besondere Aufmerksamkeit zuzuwenden.
In den Einfuhrausschreibungen der Außenhandelsstelle für Erzeugnisse der Ernährung und Landwirtschaft wird bereits seit längerer Zeit ausdrücklich darauf hingewiesen, daß zur Einfuhr bestimmtes Geflügel vor und nach der Schlachtung nicht mit antibiotischen Mitteln behandelt sein darf. Das genügt zur Unterrichtung der Importeure.
Die in- und ausländischen Geflügelzüchter sind hinsichtlich der Verwendung von Antibiotica gleichen Wettbewerbsbedingungen unterstellt. Es ist nicht beabsichtigt, die deutschen lebensmittelrechtlichen Vorschriften durch Angleichung an die Vorschriften anderer Staaten zu lockern. Dem deutschen Geflügelzüchter ist es also unbenommen, für den Export bestimmtes Geflügel mit Antibiotica zu behandeln, wenn die Vorschriften des Empfangslandes dies zulassen.

Dr. Eugen Gerstenmaier (CDU):
Rede ID: ID0311100600
Keine Zusatzfrage? —
Zu dem Geschäftsbereich des Bundesministers der Justiz: Frage des Herrn Abgeordneten Dr. Arndt betreffend amtliche Sammlung von Fehlurteilen im Strafprozeß:
Wird der Herr Bundesjustizminister die — von Karl Peters befürwortete - Anregung von Max Hirschberg („Das Fehlurteil im Strafprozeß") aufgreifen und im Zusammenwirken mit den Landesjustizministern eine der wissenschaftlichen Forschung zugängliche, amtliche Sammlung solcher stratgerichtlichen Urteile anlegen, die als Fehlsprüche im Wiederaufnahmeverfahren aufgehoben worden sind?

Fritz Schäffer (CSU):
Rede ID: ID0311100700
Eine amtliche Sammlung strafgerichtlicher Urteile, die als Fehlsprüche im Wiederaufnahmeverfahren aufgehoben worden sind, besteht, wie Sie, Herr Kollege, selbst angeben, bisher nicht. Ich bin aber gern bereit, mit den Landesjustizverwaltungen sofort Fühlung aufzunehmen und die Frage zu erörtern, ob und in welchem Umfang eine solche Sammlung angelegt werden kann.

Dr. Eugen Gerstenmaier (CDU):
Rede ID: ID0311100800
Geschäftsbereich des Bundesministers für Verteidigung! Frage des Herrn Abgeordneten Schneider (Bremerhaven) betreffend Beschluß der Delegierten des 5. Gewerkschaftsjugendtages der IG Bergbau in Gelsenkirchen:
Welche Auskunft hat der Herr Bundesverteidigungsminister von dem DGB-Vorsitzenden Richter in bezug auf den Beschluß der Delegierten des Gewerkschaftsjugendtages der IG Bergbau in Gelsenkirchen erhalten, die einen „Wehrbeitrag" abgelehnt und sich für einseitige Kontakte mit der Bundeswehr ausgesprochen hatten, wonach zwar Gewerkschaftsvertreter bei der Bundeswehr, nicht aber Offiziere der Bundeswehr in Gewerkschaftsveranstaltungen sprechen dürfen?
Der Herr Staatssekretär!

Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID0311100900
Der Bundesminister für Verteidigung hat am 30. März 1960 den Herrn Vorsitzenden des Deutschen Gewerkschaftsbundes schriftlich gefragt, ob der von einer großen Mehrheit des 5. Gewerkschaftsjugendtages gefaßte Beschluß, wonach ein Wehrbeitrag abgelehnt wird und Gewerkschaftsvertreter wohl vor der Bundeswehr sprechen dürfen,



Staatssekretär Hopf
nicht aber Angehörige der Bundeswehr vor den Gewerkschaften, der offiziellen Auffassung des Deutschen Gewerkschaftsbundes entspricht. Auf diesen Brief ist eine Antwort bisher nicht eingegangen.

Dr. Eugen Gerstenmaier (CDU):
Rede ID: ID0311101000
Keine Zusatzfrage? -
Frage des Herrn Abgeordneten Cramer betreffend Zurverfügungstellung der Schulfregatte „Gneisenau":
Ist dem Herrn Bundesverteidigungsminister bekannt, daß die Schulfregatte „Gneisenau" am 12. April 1960 den Landes-, Bezirks- und Kreisgeschäftsführern der CDU Niedersachsens von Wilhelmshaven aus für eine Fahrt in See" zur Verfügung gestellt wurde?
Billigt der Herr Bundesverteidigungsminister diese Zweckentfremdung von Marinefahrzeugen für parteipolitische Zwecke?
Ist Herr Abgeordneter Cramer im Hause? — Er ist nicht da; die Frage wird nicht mündlich beantwortet.
Geschäftsbereich des Bundesministers für Atomkernenergie und Wasserwirtschaft!
Die erste Frage des Herrn Abgeordneten Dr. Rutschke — er wird vertreten — betrifft den Atomreaktor in Karlsruhe:
Entsprechen die im Landkreis Karlsruhe umlaufenden Gerüchte den Tatsachen, daß für den Fall eines Reaktorunglücks z. Z. Pläne ausgearbeitet werden, nach denen die in unmittelbarer Nähe des Atomreaktors Karlsruhe wohnende Bevölkerung evakuiert werden soll?

Dr. Siegfried Balke (CSU):
Rede ID: ID0311101100
Der voraussichtlich am Ende des Jahres in Betrieb kommende Forschungsreaktor FR II bei Karlsruhe bedingt keinen „Katastropheplan" im eigentlichen Sinne des Wortes. Die allgemeinen Sicherheitsmaßnahmen sind von den zuständigen Behörden des Landes BadenWürttemberg zu treffen. Sie werden derzeit vorbereitet. Es ist noch nicht entschieden, ob Sperrbezirke im engeren Umkreis des Reaktors gebildet werden,
Wie mir das Innenministerium Baden-Württemberg als zuständige Behörde mitgeteilt hat, sind vorbereitende Arbeiten des Landratsamtes Karlsruhe und des Regierungspräsidiums Nord-Baden so weit fortgeschritten, daß bei Inbetriebnahme des Forschungsreaktors Karlsruhe alle erforderlich erscheinenden Sicherheitsmaßnahmen getroffen sein können.

Dr. Eugen Gerstenmaier (CDU):
Rede ID: ID0311101200
Herr Abgeordneter Dr. Rutschke hat eine zweite Frage betieffend den Atomreaktor in Karlsruhe gestellt:
Ist die Bundesregierung bereit, die EURATOM-Kommission zu einem Gutachten über die Sicherheit und den Gesundheitsschutz heim Atomreaktor Karlsruhe aufzufordern, wie dies die belgische Regierung im Hinblick auf die Errichtung eines Hochschulreaktors an der Universität Gent bereits getan hat?
War diese Frage schon mitbeantwortet? — Nicht.

Dr. Siegfried Balke (CSU):
Rede ID: ID0311101300
Die Europäische Atomgemeinschaft hat nach dem EURATOM-Vertrag auf dem Gebiet des Strahlenschutzes im wesentlichen die Aufgabe, allgemeine Richtlinien zum Schutz der Bevölkerung und der Arbeitskräfte herauszugeben.
Diese Richtlinien sind in dem Entwurf der Deutschen Strahlenschutzverordnung berücksichtigt, die derzeit dem Bundesrat vorliegt. Auf dem Gebiet der Reaktorsicherheit sind die Mitgliedsstaaten nach Art. 37 des Vertrages lediglich verpflichtet, der EURATOM-Kommission jeden Plan zur Ableitung radioaktiver Stoffe zu übermitteln, damit diese prüfen kann, ob eine radioaktive Verseuchung eines anderen Mitgliedsstaates verursacht werden kann. Die Übermittlung dieser Angaben für den Karlsruher Reaktor wird zur Zeit vorbereitet.
Der Europäischen Atomgemeinschaft bleibt es unbenommen, einen Mitgliedsstaat auf dessen Wunsch zu beraten. Dies war bei der belgischen Anfrage wegen eines Hochschulreaktors der Fall. Die Kommission betrachtet dies als einen Sonderfall und beabsichtigt nicht, einen ständigen Ausschuß für Reaktorsicherheit einzusetzen.

Dr. Eugen Gerstenmaier (CDU):
Rede ID: ID0311101400
Keine Zusatzfrage.
Die Frage ides Herrn Abgeordneten Bettgenhäuser aus dem Geschäftsbereich des Bundesministers für Verkehr ist zurückgestellt.
Es folgt die Frage des Herrn Abgeordneten Jahn (Marburg) betreffend Verwendung von Fahrkarten der Bundesbahn mit Symbolen des NS-Regimes. Ist der Fragesteller im Hause? — Er ist nicht im Hause. Die Frage wird hier nicht beantwortet.
Frage des Herrn Abgeordneten Dr. Friedensburg betreffend Zementschuppen an der Autobahn bei Nikolassee. Auch hier ist der Fragesteller nicht im Hause.
Die Fragestunde ist für heute beendet.
Meine Damen und Herren, ich rufe Punkt 2 der Tagesordnung ,auf:
Eidesleistung des Bundesministers für wirtschaftlichen Besitz des Bundes.
Ist der Herr Bundesminister anwesend? — Punkt 2 wird zurückgestellt.
Ich rufe Punkt 3 auf:
3. a) Große Anfrage der Fraktion der FDP betreffend Freihandelszone (Drucksache 1305) ;
b) Große Anfrage der Fraktion der SPD betreffend Europäische Wirtschaftsgemeinschaft und Freihandelszone (Drucksache 1464 [neu]).
Zur Begründung der Großen Anfrage der Fraktion der FDP hat der Herr Abgeordnete Margulies das Wort.

Robert Margulies (FDP):
Rede ID: ID0311101500
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Am 2. Oktober 1958 faßte der Deutsche Bundestag in seiner Sitzung in Berlin nach eingehender Aussprache einstimmig folgende Entschließung:
Der Deutsche Bundestag unterstreicht erneut
die große Bedeutung, die dem Abschluß eines



Margulies
Vertrages über eine Europäische Freihandelszone zur Ergänzung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft als einem weiteren Schritt auf dem Wege zur weltweiten wirtschaftlichen Zusammenarbeit zukommt.
Er billigt die Bemühungen der Bundesregierung, einen Ausgleich zwischen den verschiedenen Standpunkten der Verhandlungspartner herbeizuführen und Lösungen zu erarbeiten, die den wichtigsten Interessen aller Beteiligten Rechnung tragen.
Er fordert die Bundesregierung auf, auch weiter alles in ihren Kräften liegende zu tun, um baldmöglichst zum Abschluß eines Vertrages zu gelangen, der die Schaffung einer umfassenden Europäischen Freihandelszone vorsieht, die die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft ergänzen soll.
So der Wortlaut des Wunsches des Deutschen Bundestages an die Bundesregierung.
Das war nun freilich nicht die erste Bekundung der ganz überwiegenden Mehrheit dieses Hauses, daß die römischen Verträge zur Bildung kleineuropäischer Gemeinschaften nur einen Teil des Weges der Entwicklung zu einer engen wirtschaftlichen Zusammenarbeit des ganzen freien Europas darstellen sollten.
Schon in den Beratungen der Verträge im Bundestag und im Bundesrat klang immer wieder die Sorge auf, daß die Verträge eher zu einer Spaltung des freien Europas führen könnten, zu einer Aufteilung Westeuropas in mehrere miteinander rivalisierende Wirtschaftsräume mit der Folge des auch politischen Auseinanderlebens der Mitgliedstaaten der verschiedenen wirtschaftlichen Vereinigungen, also eher zu einer Störung oder gar zu einer Zerstörung der in der OEEC bestehenden wirtschaftlichen Zusammenarbeit in Europa.
Die Sprecher der Regierung und die Sprecher der CDU/CSU konnten diese Sorge nie beseitigen. Sie beschwichtigten nur. Ich will heute nicht in der Wunde wühlen, nicht aufzählen, was damals alles zu dieser Frage gesagt worden ist. Das steht im Protokoll, das kann jeder nachlesen. Ich will die Phrasen nicht wiederholen, mit denen die aufkeimende Abneigung gegen ein allzu gewagtes Experiment eingeschläfert wurde: von der Dynamik der Entwicklung bis zu der im Rechtsausschuß des Bundesrates gegebenen Erklärung, wenn die Freihandelszone nicht zustande käme, würde man die clausula rebus sic stantibus anwenden.
Besonders eindrucksvoll waren immer die politischen Argumente für eine wirtschaftliche und nicht nur wirtschaftliche Zusammenarbeit Europas, Argumente, die meine politischen Freunde und ich in vollem Umfange anerkennen, Argumente, denen sich dann auch der Herr Wirschaftsminister letzten Endes gebeugt hat, der im übrigen die römischen Verträge mit ebenso treffenden wie unfreundlichen Bemerkungen charakterisiert hat. Er übersah dabei allerdings, daß diese politische Argumentation völlig an der Sache vorbeilief, daß sie für jedes irgendwie geartete Unternehmen zur Einigung Europas
zutreffend sein kann, daß sie für die römischen Verträge aber doch nur dann ins Feld geführt werden konnte, wenn man sicher war, daß sie im Ergebnis der Einigung Europas dienen würde, was ja gerade und nicht zuletzt von Herrn Minister Erhard bezweifelt wurde.
Herr Ministerpräsident Kiesinger hat mir kürzlich vorgeworfen, ich betrachtete die Einigung Europas nur unter dem Gesichtspunkt des vollständig freien Handels in Europa. Wenn ich die bindende Kraft wirtschaftlicher Zusammenarbeit so überschätzte, wie es mein sehr geehrter Landesvater meint, dann wäre es ja wohl das einfachste, die wirtschaftliche Situation anzustreben, wie sie bis 1914 bestand. Damals gab es ja keine Handelshemmnisse, Kontingente waren noch gar nicht erfunden, die geringen Zölle betrafen nur Teilabschnitte des Warenverkehrs. Die Freizügigkeit der Menschen, der Arbeitskraft, der Ausbildung, des Kapitals und der Dienstleistungen übertraf bei weitem das, was seit 1945 in mühseliger Kleinarbeit wieder erreicht werden konnte. Gerade die Ereignisse von 1914 haben uns ja belehrt, daß auch die engste wirtschaftliche Zusammenarbeit in ihrer politischen Wirksamkeit nicht so hoch eingeschätzt werden kann, wie das bei den römischen Verträgen geschehen ist. Wirtschaftliche Zusammenarbeit allein geht nicht in das Bewußtsein der Völker ein, auch dann nicht, wenn breite Schichten daraus Vorteil ziehen, auch dann nicht, wenn sie, wie vor 1914, mit völliger Freizügigkeit der Menschen, der Arbeitskraft und des Kapitals verbunden ist.
Dafür haben wir das beste Beispiel aus jüngster Zeit. Die OEEC, der Europäische Wirtschaftsrat, hat zusammen mit der Europäischen Zahlungsunion eindrucksvolle Ergebnisse in europäischer wirtschaftlicher Zusammenarbeit erbracht, Ergebnisse, die aber nicht einmal bis in das Bewußtsein unserer Außenpolitiker gedrungen sind. Mit dem Hauptübel der Handelshemmnisse, mit den Kontingenten, also den mengenmäßigen Beschränkungen des Warenverkehrs, ist die OEEC zu 89 % fertig geworden. Für 89 % des Warenverkehrs innerhalb der 17 Mitgliedstaaten gibt es keine Kontingente mehr, keine Genehmigungsverfahren. 89 % der europäischen Produktion stehen dem europäischen Verbraucher ohne jede behördliche Mitwirkung — oder besser Gegenwirkung — in allen Ländern zur Verfügung.
In diesen nüchternen Zahlen kommt zum Ausdruck, daß wir dank der Tätigkeit des Europäischen Wirtschaftsrates, also der OEEC, einen gemeinsamen europäischen Markt längst haben. In Deutschland ißt man holländisches Gemüse, belgische Eier, dänische Butter, Brot aus französischem Weizen und italienisches Obst. Man trinkt bei passender Gelegenheit schwedischen Aquavit, schottischen Whisky, französischen Cognac, italienischen Campari. Man trinkt griechischen, spanischen, portugiesischen, französischen und italienischen Wein. Man raucht Zigaretten aus griechischem und türkischem Tabak. Der Anzug ist aus englischem Stoff. Die Schuhe kommen aus Italien, der Hut kommt aus Osterreich und die Uhr aus der Schweiz. Und das trotz eigener, leistungsfähiger Industrie, die ihrerseits wieder die



Margulies
Nachbarländer beliefert. Trotz einer eigenen leistungsfähigen Automobilindustrie und trotz der hohen Zollbelastung sehen wir in unserem Straßenbild französische, italienische, englische Wagen, ebenso wie in den anderen Ländern Europas deutsche Wagen, deutsche Photoapparate, deutsche Elektrogeräte zu sehen sind. Man könnte die Zahl dieser Beispiele bis ins unendliche vermehren.
Niemand macht sich doch bei uns Gedanken darüber, woher eine Ware stammt, mit einer kleinen Ausnahme allerdings. Ich lese neuerdings in den Zeitungen große Inserate: „Deutsche, kauft deutsches Aluminium!" Es scheint also, daß für die Bundesregierung in dieser Hinsicht — es ist ja ein bundeseigener Betrieb — Sondervorstellungen herrschen, und ich bedauere sehr, daß dem Aufsichtsratsvorsitzenden, Herrn Staatssekretär Dr. Westrick, dieser Unfug entgangen ist.
Im übrigen trifft doch bei uns der Konsument seine Auswahl zwischen einem niederländischen Radioapparat und einem deutschen a 11e in nach Preis und Qualität. Er hat sich daran gewöhnt, daß ihm die gesamte europäische Produktion jederzeit in jeder benötigten Menge zu angemessenen Preisen zur Verfügung steht.
Noch eindrucksvoller und für den einzelnen bedeutsamer ist die ebenfalls der OEEC zu dankende Liberalisierung des Reiseverkehrs. Zu Millionen durchströmen seitdem die Europäer in den Urlaubszeiten Europa. Es erfordert heute nicht mehr größere Umstände, den Urlaub in Griechenland, Italien oder Spanien zu verbringen, als ihn im Odenwald oder in Bayern zu verleben, und in Ostende oder Scheveningen treffen sich die Menschen aus allen Ländern Europas, die sich sehr viel schneller und sehr viel besser miteinander verständigen, als es ihre Regierungen anscheinend fertigbringen.
Für das Zusammengehörigkeitsgefühl der Europäer hat auch die Europäische Zahlungsunion wertvolle Dienste geleistet. Die gegenseitige Hilfeleistung bei eingetretenen Schwierigkeiten, die dort jahrelang mit gutem Erfolg praktiziert worden ist, die Verläßlichkeit dieser Hilfe — wenn auch unter robusten Bedingungen —, die Sicherheit, sich bei Eintritt von Schwierigkeiten auf die europäschen Kollegen verlassen zu können, haben doch einiges zu den Fortschritten beigetragen und ein europäisches Zusammengehörigkeitsbewußtsein geweckt.
Ich möchte auch den Europarat nicht vergessen. Gewiß, er hat sein Ziel nicht erreichen können, die Vereinigten Staaten von Europa zu schaffen, weil ihm die Regierungen in den Arm gefallen sind. Aber durch seine zahlreichen Konventionen hat er doch manchen Weg geöffnet, manches Hindernis ausgeräumt. Vor allem hat er im Bewußtsein der europäischen Bevölkerung einen Platz geschaffen, an den sich die Europasehnsucht der Menschen klammert. Straßburg ist zu einem Symbol Europas geworden. Wenn also jetzt plötzlich Persönlichkeiken, die kräftig an der Spaltung Europas durch die EWG mitgewirkt haben, die Behauptung aufstellen, man könne nicht spalten, was gar nicht existiere, man könne Europa durch die römischen Verträge gar nicht geteilt haben, weil es gar nicht vorhanden
gewesen sei, dann kann ich dazu nur sagen, daß diese Herren von den Erfolgen der Arbeit der OEEC und der Europäischen Zahlungsunion nichts bemerkt haben, daß sie die Ergebnisse zehnjähriger europäischer wirtschaftlicher Zusammenarbeit übersehen.
Ich kann nun gut verstehen, daß es für Persönlichkeiten vom Range der Außenpolitiker, die von der hohen Warte ihrer Gedankenflüge auf uns erdgebundene Tagwerker herabsehen, peinlich ist, feststellen zu müssen, daß da unten ganz ohne ihre gütige Mitwirkung etwas sehr Wichtiges und Nützliches zustande gekommen ist.

(Beifall bei der FDP.)

Aber für mich und für alle Menschen der facts and figures, der Tatsachen und Zahlen, ist doch nur von Bedeutung, daß hier in dem von uns realistisch bewerteten Rahmen der wirtschaftlichen Zusammenarbeit etwas entstanden ist, das es zu bewahren und auszubauen gilt.
Wie gesagt, im Oktober 1958 brachte der Deutsche Bundestag erneut seinen Willen einmütig zum Ausdruck und forderte die Bundesregierung auf, die Schaffung einer umfassenden europäischen Freihandelszone zu bewirken, die die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft ergänzen soll. Schon damals wurde deutlich sichtbar, wie die Illusionen vor der Wirklichkeit zerstoben, wie die Dynamik der Entwicklung die entgegengesetzte Richtung nahm.
Der Maudling-Ausschuß, der im Rahmen des Europäischen Wirtschaftsrats versuchte, die 17 Regierungen unter den Hut der Freihandelszone zu bringen, hatte sich festgefahren. Die kaum gegründete Kommission der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, die den Standpunkt vertrat, sie allein sei berechtigt, im Namen der sechs Mitgliedstaaten zu sprechen, wurde damals, wie auch später, beiseite geschoben und hat sicher nichts getan, dem Maudling-Ausschuß zu einem Erfolg zu verhelfen. Falls von ihr etwa die These stammen sollte, daß es leichter sei, als einer mit elfen bzw. zwölfen zu verhandeln, und wie schön der Zusammenschluß der Sieben sei, weil dann nur noch zwei miteinander zu reden bräuchten, nämlich einer für EWG und einer für EFTA, dann hat sie sich inzwischen selbst widerlegt. Im zweiten Memorandum der EWG-Kommission steht als erster Satz, daß leider über die Haltung zur Freihandelszone unter den Regierungen der sechs Mitgliedstaaten keine Einmütigkeit herzustellen war.
Nun möchte ich aber auch nicht den Eindruck erwecken, als ob ich etwa der Meinung wäre, die Freihandelszone sei von Großbritannien wesentlich gefördert worden. Ich sehe mich zu der Feststellung genötigt, daß Großbritannien zum Zustandekommen der Freihandelszone auch nichts beigetragen hat.

(Abg. Scheel: Sehr gut!)

Wenn man nämlich die vielfältigen Erklärungen in die gegebenen Tatsachen übersetzt, dann ergibt sich, daß rund 75% der britischen Ausfuhren Industrieerzeuge sind, mit denen sich Großbritannien am gemeinsamen europäischen Markt beteiligen



Margulies
wollte, und daß etwa 75 % der britischen Einfuhren landwirtschaftliche Erzeugnisse sind, die dem Commonwealth-Präferenzraum vorbehalten bleiben sollten. Das war natürlich keine Verhandlungsbasis, nicht nur für die EWG nicht, sondern auch z. B. für die skandinavischen Staaten nicht.
Aber wie sich jetzt zeigt, hätten sich pragmatische Lösungen durchaus finden lassen, zumal da sich die Engländer über den Wert der Präferenzen keinen Illusionen mehr hingeben. Hier hätte die Bundesregierung wirksam werden müssen; hier hätte sie ihre wirtschaftliche Potenz in die Waagschale werfen können; hier fiel ihr eine ganz natürliche Mittlerrolle zu. Nur die Bundesrepublik, deren Außenhandel mit den EWG-Staaten etwa gleich groß ist wie mit den übrigen OEEC-Mitgliedern, deren Außenhandelsüberschüsse aber aus dem Warenaustausch mit den EFTA-Ländern stammen, hätte aus ihren natürlichen wirtschaftlichen Interessen die Aufgabe gehabt, so wie es der Bundestag verlangt hatte, mit allen ihr zur Verfügung stehenden Mitteln einen Ausgleich herbeizuführen. Deutschland, seit eh und je ein Land der europäischen Mitte, hatte hier die Pflicht, die guten Beziehungen zu allen Ländern des freien Europa auszuwerten. Die Bundesregierung hat es nicht getan. Sie hat sich im Maudling-Ausschuß und in den späteren Verhandlungen der französischen Haltung gebeugt, die aus der damaligen wirtschaftlichen Situation Frankreichs sehr verständlich war. Man muß das Sprichwort kennen: Un Français donne toujours sa vie, sa femme, jamais son argent; ein Franzose opfert immer sein Leben, eventuell seine Frau, aber niemals sein Geld.

(Sehr gut! bei der FDP.)

Selbst unter den damaligen wirtschaftlichen Verhältnissen aber verlangten die französischen Industriellen nicht mehr als eine décalage, eine Frist von vier Jahren, also eine Frist, von der die Hälfte heute schon verstrichen ist und mit deren Abkürzung man unter den gewandelten Umständen sicher rechnen könnte. Ein Kompromiß war vielleicht nicht im Bereich der Prinzipien zu finden. Aber im Rahmen der praktischen Zusammenarbeit, bei Krediten und Garantien hat ihn die Bundesregierung überhaupt nicht gesucht. Daß dem so ist, ist nun nicht nur meine Meinung. Mir würde ich eventuell mißtrauen, weil ich zu der Bundesregierung in Opposition stehe. Aber die Kollegen aus den Niederlanden und aus Belgien, die den Verträgen in der sicheren Erwartung zugestimmt haben, daß die Bundesregierung die gut übersehbaren wirtschaftlichen Interessen der Bundesrepublik wahren würde, die ihr die Kraft dazu zugetraut haben, konnten sich gar nicht vorstellen, daß die Bundesregierung, die doch auf politisches Wohlwollen von allen Seiten angewiesen ist, wenn sie ihre natürlichen außenpolitischen Ziele fördern will, eine solche Abkühlung des deutsch-englischen Verhältnisses verschulden würde, wie sie tatsächlich eingetreten ist. Wie oft wird man von den ausländischen Kollegen gefragt, was sie denn glauben sollen, wenn der für die deutsche Wirtschaft verantwortliche Minister in Reden oder Zeitungsanzeigen seine Meinung zur europäischen wirtschaftlichen Zusammenarbeit bekanntgibt und die Handlungen der Regierung dazu in fühlbarem Gegensatz stehen.
Heute haben wir nun als Folge der Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft die Tatsache zu verzeichnen, daß eine zweite Wirtschaftsorganisation in dem von der OEEC überdeckten Raum entstanden ist. Gestern sind die Verträge über die Europäische Kleine Freihandelszone in Kraft getreten. Die Tatsache, daß sich ,die Staaten Großbritannien, Dänemark, Norwegen, Schweden, Osterreich, Portugal und die Schweiz zur Europäischen Freihandelszone zusammengeschlossen haben und damit die Spaltung des freien Europa in mehrere Wirtschaftsräume vollzogen ist, ist ja wohl nicht mehr zu bestreiten. Welche Folgen sich daraus ergeben, wird von den Konsequenzen abhängen, die wir daraus ziehen.
Um jeden Zweifel auszuschließen, möchte ich eindeutig feststellen, daß meine politischen Freunde und ich die römischen Verträge als Tatsache anerkennen, sosehr wir sie 'bis zu ihrer Ratifizierung bekämpft haben. Als Demokraten beugen wir uns der Mehrheit dieses Hauses, die ihnen zugestimmt hat. Aber wir halten an dem vorn Bundestag einstimmig geforderten Ziel fest, eine umfassende europäische Freihandelszone zu schaffen, die die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft ergänzen soll. Wir betrachten die Verträge nicht als Dogma. Wenn sich zur Erreichung des. eben genannten Zieles Änderungen der Verträge nicht vermeiden lassen sollten, wäre eine solche Weiterentwicklung auf dem im Vertrag dafür vorgesehenen Wege anzustreben. Ohnedies wird ja zur Zeit überall von Änderungen der Verträge gesprochen, z. B. von der Abkürzung der Fristen, was so viel Aufsehen erregt hat.
Dieser Fristverkürzungsplan hat zwar sichtbar gemacht, daß die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft sich gegenüber den anderen Staaten Europas und gegenüber der übrigen Welt abzukapseln beginnt. Ich vermag jedoch keinen allzu erheblichen Unterschied ,darin zu sehen, daß man das, was man nach dem Vertrage in eineinhalb Jahren tun muß, eben jetzt tut, wenn die Gelegenheit dazu günstig ist.
Was haben wir an Reaktion auf die Gründung der EFTA bisher zu verzeichnen? Hochstehende Außenpolitiker sprechen vom Brückenschlag zwischen EWG und EFTA oder auch schon vom Brückenschlag in jeder Phase — nicht Phrase, in jeder Phase. Brückenschlag hört sich immer gut an. Für die Einzelheiten sind sie nicht zuständig.

(Sehr gut! bei der FDP.)

Das erinnert mich an den Ausspruch des Herrn Präsidenten der EWG-Kommission, ,der gesagt hat: In den Einzelheiten sitzt der Teufel. Sehen wir uns also einmal die Einzelheiten an! Die EWG-Kommission, deren Präsident Hallstein nach eigenem Eingeständnis an ,das Zustandekommen der EFTA nicht geglaubt hat, legte das schon erwähnte Memorandum vor, in dem sie die Wiederholung der Maßnahmen vorschlug, mit denen sie Anfang 1959 knapp am Ausbruch eines Handelskrieges vorbeikam, nämlich die Gewährung ,der internen Kontingentsaufstockung auch gegenüber den OEEC-Ländern, die Ausdehnung der internen Zollsenkung auf



Margulies
alle GATT-Mitglieder. Für idas Zusammenwachsen der kleineuropäischen Gemeinschaft zu einem gemeinsamen Markt wären also eigentlich nur die Nuller-Kontingente, die Dritten nicht gewährt werden, und Zollsenkungen übriggeblieben, die unter den künftigen Außenzoll fielen. Ein bißchen wenig!
Aber diese Geschenke an die diskriminierten Länder wurden dann auch noch auf dem Verwaltungswege von den hauptsächlichen Gebern beträchtlich gekürzt. Von den Beschenkten kam überhaupt keine Reaktion, mit Ausnahme von Großbritannien, das dagegen protestierte, von den Nuller-Kontingenten ausgenommen zu sein. Irgendeine Gegenleistung ist nicht erfolgt.
Diese Geschenkpolitik soll also wiederholt werden — dann kann man einen Kontaktausschuß bilden, der sich ergebende Schwierigkeiten zwischen EWG und EFTA feststellt und nach Lösungen sucht
und im übrigen soll eine weltweite liberale Handelspolitik betrieben werden.
Nun, meine Damen und Herren, um eine weltweite liberale Handelspolitik zu betreiben, brauchte man ja nun eigentlich die kostspieligen Brüsseler Behörden nicht. Der Terminus technicus der Brüsseler Auguren für diese Absichtserklärung lautet denn auch einfach „die Flucht in die Ferne". Man guckt möglichst weit in die Gegend hinaus, damit man ,die Schwierigkeiten, die vor einem liegen, nicht sieht. Aber man würde natürlich beim nächsten Schritt darüber stolpern.
Der Beschluß des Ministerrates vom 24. November 1959 übernimmt im wesentlichen die Vorschläge der Kommission. Auch da wird der Wille zu einer liberalen Politik mehrfach unterstrichen. Überhaupt habe ich in den 13 Jahren, die ich Abgeordneter bin, nicht oft so häufig davon gehört, daß alle Welt eine liberale Politik betreiben will, wie im letzten halben Jahr. Die Kommission will eine liberale Politik treiben, der Ministerrat will eine liberale Politik treiben. Herrn Professor Hallstein geht das Wort „liberal" schon ganz flüssig von den Lippen.

(Heiterkeit bei der FDP.)

Wir könnten direkt stolz werden. Denn schließlich ist es ja der Sinn meiner Tätigkeit, alle davon zu überzeugen, daß nur eine liberale Politik erfolgreich sein kann.

(Beifall bei der FDP.)

Aber ich bin natürlich noch etwas skeptisch. Dieselben Leute, die eben noch eine Politik der Stärke getrieben haben, die gesagt haben: „Die müssen uns ja kommen, die werden schon noch aus der Hand fressen, die können ja gar nicht anders, als sich uns anschließen", die sollen nun plötzlich ihre Überheblichkeit abgelegt haben? Ein Mann, von dem wir nach allen Erfahrungen, die wir hier mit ihm gemacht haben, erwarten müssen, daß er uns demnächst etwa die Handelsbeziehungen zur Schweiz verbieten wird, wenn die Schweiz Beziehungen zur EFTA unterhält, soll also plötzlich eines anderen belehrt worden sein? Wer soll denn das glauben!
In demokratischen Ländern wechselt man im allgemeinen die Führung aus, wenn sich ein Wechsel der Politik als notwendig erweist, weil eben diejenigen, die die frühere Politik repräsentiert haben, nicht auch für die neue Linie glaubwürdig erscheinen können. Das hat mit der Qualität oder der Ehre der betreffenden Persönlichkeiten gar nichts zu tun, sondern hängt allein mit den praktischen Erfordernissen der Politik zusammen. Ich weiß nicht, ob ich mich da klar genug ausdrücke und ob Sie verstehen können, was ich meine. Wir sind ja von solchen Feinfühligkeiten schon lange abgekommen, wir sind in Taktfragen auch nicht pingelig.

(Beifall und Heiterkeit bei der FDP und bei der SPD.)

Was hier geschieht, soll nun angeblich den Wünschen der Amerikaner entsprechen und durch die Zahlungssituation der USA bedingt sein. Ich will gar nicht untersuchen, wieweit diese angebliche amerikanische Meinung in Brüssel entstanden ist. Die in Bonn zeitweise verbreitete Auffassung, die USA befänden sich in Zahlungsschwierigkeiten, hat ja Herr Dillon persönlich berichtigt. Ich habe mir den Wortlaut der Reden sehr genau angesehen. Was Herr Dillon in Tokio und was Herr Herter in Washington zum Ausdruck gebracht haben, war nicht mehr, aber auch nicht weniger als die Forderung, daß die Staaten der Welt, die dank amerikanischer Hilfe zu Wohlstand gelangt sind, sich jetzt auch an den Leistungen beteiligen, die die USA im Interesse der westlichen Politik für erforderlich halten, und daß die USA handelspolitisch nicht diskriminiert werden. Etwas anderes wäre auch nicht gut verständlich gewesen.
In der OEEC, der die USA und Kanada assoziiert sind, in der sie ihre Mitarbeit jederzeit verstärken können und deren Tätigkeitsbereich man im gegenseitigen Einvernehmen ausdehnen kann, wirkt doch praktisch das gesamte Industriepotential der westlichen Welt. Hier sitzt doch schon der größte Teil der Wirtschaftskraft des Westens zusammen. Die OEEC ist doch die räumlich ausgedehnteste Organisation des Westens. Benachteiligt wären hier die USA und Kanada gegenüber dem innereuropäischen Handel nur noch durch ihre viel höheren Lohnkosten — also durch den Lebensstandard —, die nicht bei allen Produkten durch größere Serien und bessere Rationalisierung ausgeglichen sind, und durch die Entfernung, also durch die Transportkosten. Natürlich spielt auch der Dollarkurs eine Rolle.
Schafft man also die europäische Freihandelszone unter Mitwirkung der USA und Kanadas, dann entwickelt sich ohne weiteres die erwünschte enge wirtschaftliche Zusammenarbeit Europas auf Grund der beiden genannten Kostenvorteile.

Dr. Eugen Gerstenmaier (CDU):
Rede ID: ID0311101600
Einen Augenblick, Herr Abgeordneter!
Meine Damen und Herren, ich unterbreche den Redner einen Augenblick, um eine Delegation des finnischen Reichstages hier in unserer Mitte willkommen zu heißen. Ich begrüße den Herrn Reichs-



Präsident D. Dr. Gerstenmaier
tagspräsidenten Fagerholm und sieben weitere Abgeordnete des finnischen Reichstags, die sämtlichen im finnischen Reichstag vertretenen Parteien angehören, hier in unserer Mitte.

(Lebhafter Beifall.)

Ich freue mich, daß die Herren Gäste des Deutschen Bundestages sind; sie sind unserer Einladung gefolgt. Wir grüßen in ihnen den finnischen Reichstag und Finnlands Land und Volk und wünschen den Herren einen angenehmen Aufenthalt bei uns in Deutschland.

(Erneuter Beifall.)


Robert Margulies (FDP):
Rede ID: ID0311101700
Ich wollte sagen, daß damit die wirtschaftliche Voraussetzung für den politischen Zusammenschluß Europas ebenso erreicht wird wie die unbedingt notwendige wirtschaftliche Basis für die politische Zusammenarbeit der westlichen Welt, von der aus man auch die notwendige Entwicklungshilfe mit ganz anderem Effekt betreiben könnte, als es jetzt der Fall ist.
Das würde die natürliche Ergänzung der zusammengefaßten Politik der westlichen Welt sein, die allerdings auch gewisse Bindungen der USA mit sich brächte. Der Wirtschaftsisolationismus, die amerikanische Hochschutzzollpolitik wäre dann natürlich auch zu überprüfen. Wenn jetzt häufig von einer allgemeinen 20%igen Zollsenkung als einer Dillon-Runde die Rede ist, dann überschätzt man die Vollmachten der US-Regierung. Der Trade Agreements Act vom 20. August 1958 gibt dem Präsidenten der USA die Vollmacht, während eines Zeitraums von vier Jahren, der also am 30. Juni 1962 abläuft, im Wege der Gegenseitigkeit allmählich Zölle bis zu 20 Prozent zu ermäßigen. Von einer allgemeinen Senkung der amerikanischen Zölle um 20 Prozent kann ohne ein neues Gesetz keine Rede sein, und Kanada gehört bekanntlich zum Commonwealth-Präferenzraum.
Auf der anderen Seite, im Ostraum, ist das gesamte Wirtschaftspotential straff zusammengefaßt. Wenn sich jetzt, wie es den Anschein hat, die Auseinandersetzung zwischen Ost und West mehr auf das wirtschaftliche Gebiet verlagert, wird es für den stärksten Faktor der westlichen Politik auch nicht mehr möglich sein, in der Wirtschaftspolitik am Rande zu bleiben. Und wenn schon jeder aus den Dillon-Reden herausliest, was ihm am besten in den Kram paßt, so möchte ich annehmen, daß die Amerikaner diese Notwendigkeit klar erkannt haben und zu einer engeren wirtschaftlichen Zusammenarbeit mit Europa bereit sind.
Wir haben sicher keine Veranlassung, an einen besonderen Weitblick 'der Amerikaner in Europa-Fragen zu glauben. Aber was sie jetzt vor sich sehen, muß sie doch zutiefst stören. Es ist doch eine für die die westliche Politik führende Macht überaus gefährliche Situation, nämlich eine Zersplitterung der Wirtschaftskraft ihrer Verbündeten. Auf der einen Seite die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft von sechs Staaten, die sich gerade anschickt, eine gemeinsame Agrarpolitik zu beginnen, deren Konzeption zur Nahrungsmittelautarkie führt und
damit die nordamerikanischen Interessen empfindlich berührt; auf der anderen Seite die EFTA, die Kleine Freihandelszone der sieben europäischen Staaten, von denen man auch noch nicht weiß, ob sie, wenn weiter so erfolgreich operiert wird, ihren Brückenschlag nicht lieber zum britischen Präferenzraum vornehmen; das wäre auch noch eine Möglichkeit, über die schon gesprochen worden ist. Dann gibt es noch fünf europäische Staaten, darunter zwei besonders wichtige NATO-Mitglieder, die einstweilen ganz in der Luft hängen.
Schließlich die sich im deutsch-englischen Verhältnis deutlich abzeichnende Gefahr, daß die wirtschaftliche Spaltung Europas, heraufbeschworen durch die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft, zu einer politischen Entfremdung führt und damit der westlichen Verteidigung, der westlichen Politik die Grundlage entzieht. Darüber bestehen doch sicher keine Meinungsverschiedenheiten, daß die Politik des Westens, welche Ziele auch immer sie sich setzen mag, nur dann Aussicht auf Erfolg hat, wenn sie gemeinsam betrieben wird.
Ich sprach soeben kurz von der gemeinsamen Agrarpolitik. Die Vorschläge, die uns da vorliegen, sind ein typischer Fall, wie man den Gaul von hinten aufzäumt. Das eigentlich Entscheidende, worüber man sich hätte einigen müssen, sind schließlich die Preise. Diese werden nicht bekanntgegeben. Im Gegenteil; man weicht aus, man sagt, das mag sich in Zukunft empirisch entwickeln. Aber alle die Maßnahmen, mit denen man einen bestimmten Preis erreichen will, hat man beschlossen. Ganz deutlich ist sichtbar, daß diese Vorschläge zu einer Entwicklung führen können — ich will mich ganz vorsichtig ausdrücken —, die die Nahrungsmittelautarkie der sechs Staaten zur Folge haben wird. Es muß nicht unbedingt so kommen, aber alles, was in diesen Vorschlägen steht, sieht so aus, und während auf der ersten Seite steht, die Warenströme dürften in keiner Weise umgelenkt werden, liest man auf Seite 3 oder Seite 18, oder wo Sie wollen, in welcher Weise sie umgelenkt werden. Das ist doch für uns das Entscheidende, daß hier die Abkapselung vom übrigen Europa und von der übrigen Welt auch für uns und ganz sicher für unsere Landwirtschaft nicht ohne ganz schwere Folgen bleiben kann.
Ich möchte nicht auf die Einzelheiten dieser Frage eingehen; ich muß aber darauf aufmerksam machen, daß die Getreidepreise um 50 % auseinanderklaffen. Wenn man unseren Bauern unter solchen Umständen eine Erhöhung des Lebensstandards verspricht, dann darf man den deutschen Getreidepreis auf gar keinen Fall antasten. Ich hoffe, daß die Brüsseler Kommission bei ihren Vorschlägen davon ausgeht und daß die Verzerrung des Wettbewerbs in der gemeinsamen Agrarpolitik im Zuge der Vorschläge beseitigt werden wird.
Meine Damen und Herren! An Stelle fairer und akzeptabler Vorschläge der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft zur Herstellung der wirtschaftlichen Zusammenarbeit des ganzen freien Europa liegen zwei Vorschläge vor, die die Zoll- und Wirtschaftsunion der EWG ohne Rücksicht auf Dritte herstellen sollen, nämlich die Pläne für die gemein-



Margulies
same Agrarpolitik und die Vorschläge für die Fristverkürzung. Die letztgenannten Vorschläge stellen natürlich nicht einen Hallstein-Plan dar; ich glaube, da tut man dem Präsidenten der Wirtschaftsgemeinschaft Unrecht. Sie sind entstanden aus einer Äußerung des belgischen Außenministers, Herrn Wigny, wurden von der niederländischen Regierung aufgenommen und von Herrn Wormser in Frankreich bekräftigt. Ganz sicher hat sich die EWG-Kommission, bevor sie diese Ideen zu ihrem Vorschlag verdichtete, der grundsätzlichen Zustimmung aller sechs Regierungen, auch der der Bundesregierung, versichert.
Während der ganzen Entstehungsgeschichte der römischen Verträge hat man faber niemals daran gedacht, im freien Europa einen isolierten Block der sechs Länder zu schaffen, wie er jetzt entsteht. Meine Damen und Herren, ich habe mir die Beschlüsse, die im Zuge der Beratungen über den EWG- und den Euratom-Vertrag gefaßt worden sind, noch einmal herausgesucht. In der Messina-Konferenz vom 1. Juni 1955 hat man beschlossen, einen gemeinsamen Markt des ganzen freien Europa zu schaffen, und bis Ende 1955 nahm England an den Beratungen teil. Sie wissen, daß es im GATT-Vertrag zwei Typen von erlaubten Diskriminierungen gibt. Das feine ist die Zollunion, das andere die Freihandelszone. Der Unterschied ist ja nur, daß die Zollunion einen gemeinsamen Außenzoll vorsieht, der bei der Freihandelszone fehlt. Im Laufe der Beratungen im Anschluß an die Messina-Konferenz hatte man sich für den fersten Typ, für die Zollunion entschieden, und damit schied Großbritannien aus den Beratungen aus. Aber man war nicht böse, sondern man war sich durchaus darüber einig, was man wollte.
In der Konferenz von Venedig am 30. Mai 1956, in der der Bericht Spaak von den sechs Regierungen angenommen worden ist, haben die sechs Regierungen dann noch einmal beschlossen: ,,in dem Wunsche, den Aufbau Europas auf der weitest möglichen Grundlage anzustreben, daran festzuhalten, den anderen Mitgliedstaaten der OEEC die Teilnahme an den Brüsseler Verhandlungen oder den Beitritt oder die Teilnahme an den beschlossenen Verträgen zu ermöglichen . . ." Auf Grund dieser feierlichen Einladung hat der Rat der OEEC am 19. Juli 1956 beschlossen: „das Prinzip einer multilateralen Assoziation der OEEC-Länder in Form einer Freihandelszone an den gemeinsamen Markt der Sechs gutzuheißen." Dieser Beschluß war die Grundlage für OEEC-Verhandlungen, die am 13. Februar 1957, also als wir das erste Mal hier im Haus die neuen Verträge zu Gesicht bekamen, stattfinden. Die OEEC-Mitglieder, und zwar lane 17, die Franzosen, die Engländer, die Deutschen und wer alles darin ist, haben gemeinsam beschlossen: „eine Freihandelszone in Europa einzurichten, die den gemeinsamen Markt der Sechs und die anderen Mitgliedsländer auf multilateraler Basis vereinigt."
Das ist nun nicht sehr auslegungsfähig. Was multilateral im Gegensatz zu bilateral heißt, brauche ich Ihnen nicht zu erklären; das wissen wir alle. Was die Freihandelszone ist, steht im GATT-Vertrag; da kann man es nachlesen. Und was hier gemeint ist, nämlich die Vereinigung des gemeinsamen Marktes der Sechs mit den anderen Mitgliedsländern der OEEC, ist auch nicht sehr auslegungsfähig. Dieser Beschluß muß verwirklicht werden. Man hat dafür Vorsorge getroffen. In der Präambel der römischen Verträge steht: Die Repräsentanten der sechs Länder
in dem festen Willen, die Grundlagen für einen immer engeren Zusammenschluß der europäischen Völker zu schaffen, entschlossen, durch gemeinsames Handeln den wirtschaftlichen und sozialen Fortschritt ihrer Länder zu sichern, indem sie die Europa trennenden Schranken beseitigen ...,
und in der Abschlußerklärung haben sie gesagt:
Die Regierungen erklären sich bereit, alsbald nach Inkrafttreten dieser Verträge mit den anderen Ländern, insbesondere im Rahmen der internationalen Organisationen, denen sie angehören, Abkommen zu schließen, um diese im gemeinsamen Interesse liegenden Ziele zu erreichen und die harmonische Entwicklung des gesamten Handelsverkehrs zu gewährleisten.
Meine Damen und Herren, das sind die Fakten. Der Ministerrat der Kommission hat auch am 3. Dezember 1958 der EWG-Kommission den Auftrag erteilt, die Schaffung einer multilateralen Assoziation zwischen der EWG und den übrigen OEEC-Ländern zu prüfen. Das war der Auftrag. Er geht wohl zurück auf die Vereinbarung, die der Herr Bundeskanzler bei seiner Konferenz in Bad Kreuznach mit dem französischen Staatschef getroffen hat. Am 26. November 1958 kamen dort die beiden Herren zusammen.
In dem Bulletin der Bundesregierung heißt es:
Die beiden Regierungschefs sind der Ansicht, daß die Bemühungen um die Schaffung einer multilateralen Assoziation zwischen der EWG und den übrigen OEEC-Ländern fortgesetzt werden sollen.
Staatschef de Gaulle erbat nur eine Frist von ein bis eineinhalb Jahren.
Meine Damen und Herren, die eineinhalb Jahre sind gerade herum. Es wäre also höchste Zeit, diesen Beschluß der beiden Staatsmänner nunmehr schleunigst in die Wirklichkeit umzusetzen.
Lassen Sie mich zum Schluß noch einmal sagen: wir Freien Demokraten nehmen die römischen Verträge als gegebene Tatsache hin. Wir halten die Vertragstreue der Bundesrepublik für selbstverständlich. Daran darf überhaupt kein Zweifel entstehen. Wir sind zur Mitarbeit an der Erfüllung dieser gegen unseren Willen zustande gekommenen Verträge bereit. Wir erwarten aber ebenso, daß die Regierungen ihre Zusagen erfüllen, die sie selbst und die Sprecher der CDU/CSU hier im Hause bei der Ratifizierung der Verträge gegeben haben.
Wir haben diese Große Anfrage nicht gestellt, um jetzt ausführlich zu hören, wie dieses oder jenes Ministerium mit den Schwierigkeiten fertig zu werden hofft, die ohne die Verträge überhaupt nicht entstanden wären, oder gar, um zu erfahren, daß

Margulies
die Regierung bei dem Versuch, schädliche Folgen abzuwenden, eben leider gescheitert ist. Das sind Dinge, die wir hier vor drei Jahren aufs gründlichste besprochen haben. Da wurden alle Möglichkeiten herüber- und hinübererörtert; dahinter kann sich jetzt niemand mehr verstecken. Aber wir möchten, daß die Bundesregierung uns heute sagt, wie sie die soeben vorgetragenen Beschlüsse der 17 europäischen Staaten verwirklichen und ihre eigenen Versprechungen erfüllen will, was sie unternehmen will, um ihre Vertragspartner dazu zu veranlassen, ihren feierlichen Proklamationen und Aufträgen zu entsprechen und um. vor allem — als nächstliegendes und wichtigstes — mit der EFTA zu Vereinbarungen zu kommen, die die eingetretene Spaltung Europas vermeiden und die enge wirtschaftliche Zusammenarbeit aller freien Staaten Europas sicherstellen.
Die Vorschläge der EWG-Kommission haben sichtbar gemacht, daß sie ausschließlich das Ziel verfolgt, die EWG auch isoliert in — wie Herr Hallstein sagt — friedlicher Koexistenz mit den anderen vorhandenen Wirtschaftsunionen zu verwirklichen. Daher der Sturm der Entrüstung in Deutschland. Wir wollen das nicht. Ich hoffe, wie früher im Namen des ganzen Hauses sagen zu dürfen: wir wollen die Zusammenarbeit des ganzen freien Europa.

(Beifall bei der FDP und SPD.)


Dr. Eugen Gerstenmaier (CDU):
Rede ID: ID0311101800
Zur Begründung der Großen Anfrage der Fraktion der SPD betr. Europäische Wirtschaftsgemeinschaft und Freihandelszone hat das Wort der Herr- Abgeordnete Kalbitzer.

Hellmut Kalbitzer (SPD):
Rede ID: ID0311101900
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Große Anfrage der SPD — Drucksache 1464 - stammt schon aus dem Dezember vorigen Jahres. Ihre Behandlung war inzwischen nicht möglich gewesen, insbesondere wegen der zu bedauernden Erkrankung unseres Herrn Professor Erhard, über dessen Gesundung ich hier meine Freude zum Ausdruck bringen darf. Die Debatte mußte also fünf Monate verschoben werden.
Seitdem hat die europäische Bürokratie nicht stillgestanden. Dennoch zeigt sich bei Überprüfung dieser Anfrage, daß die Fragen auch nach dieser langen Zeit noch aktuell sind. Das ist mir ein Zeichen dafür, daß es sich hier um die wesentlichen Fragen der europäischen Zusammenarbeit handelt, auf die unsere Große Anfrage eingeht und um deren Beantwortung wir heute bitten.
Die erste Frage lautet:
Welche Gründe waren für das Scheitern der
Verhandlungen über die Bildung einer Europäischen Freihandelszone maßgebend, und was hat die' Bundesregierung getan, um durch möglichst enge Zusammenarbeit mit allen Mitgliedsländern des Europäischen Wirtschaftsrates (OEEC) dem Ziel der Bildung einer Europäischen Freihandelszone näherzukommen?
Diese Frage möchte ich Ihnen etwas näher erläutern
und mit einem Ausspruch des Präsidenten der Europäischen Kommission, Herrn Hallstein, beginnen. Er sagte:
Wenn man die Freihandelszone politisch gewollt hätte, wäre sie möglich gewesen.
Da sie nicht gekommen ist, ist die Frage: Hat man sie politisch nicht gewollt, oder welche Gegenkräfte waren stärker gegenüber der einstimmigen Meinung des Bundestages, wie sie mein Vorredner, Herr Margulies, schon zitiert hat? Wir haben in diesem Hause 1957 und zweimal im Jahre 1958 einer einmütigen Meinung dahin Ausdruck gegeben, daß wir die Freihandelszone als den Rahmen haben wollten, in dem die EWG überhaupt nur wirksam sein könnte.
Insbesondere meine Partei hat bei der Ratifikation im Juli 1957 ausdrücklich gesagt, daß wir „das Zustandekommen der Freihandelszone für eine entscheidende Voraussetzung für ein gutes Funktionieren der EWG halten". Dies war für uns die Bedingung zur Ratifizierung des EWG-Vertrages. Das ist durch Jahre hindurch der einmütige Standpunkt unseres Hauses — also über unsere Partei hinaus des ganzen Hauses — gewesen. Auch der Entschließungsantrag der CDU spricht noch davon, daß man die „Errichtung der Freihandelszone nachdrücklich betreiben" sollte. Warum also — das ist hier die Frage - wurde nichts erreicht? Weshalb hat die Bundesregierung die gesamteuropäische Zusammenarbeit nicht gewollt?
Lassen Sie mich zu der zweiten Frage übergehen:
Wie steht die Bundesregierung zu den Bestrebungen der kleinen Europäischen Freihandelszone,
- das ist die gestern ratifizierte sogenannte EFTA der Länder Skandinaviens, Englands, der Schweiz, Osterreichs und Portugals —
mit der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) über einen einheitlichen Abbau der Handelsschranken zu verhandeln? Welche Initiative gedenkt die Bundesregierung auf diesem Gebiet zu ergreifen, um den Schaden abzuwenden, der für die Bundesrepublik und ihre Nachbarn durch das Scheitern der Europäischen Freihandelszone zu entstehen droht?
Ich möchte Ihnen sagen, daß das europäische Gewissen gebietet, nicht nur auf die bundesdeutschen Interessen in dieser Frage Rücksicht zu nehmen, sondern auch zu überlegen — und darauf möchte ich dann näher eingehen —, was das wirtschaftliche und schließlich das politische Schicksal unserer kleinen Nachbarn in Skandinavien und im Süden sein wird, wenn es nicht zu dieser Zusammenarbeit kommt.

(die Große Anfrage, wie gesagt, bisher schmorte, war die Europäische Kommission tätig und faßte einen Plan, der die Beschleunigung der Fristen des EWG-Vertrages vorsieht. Was man für diese Beschleunigung anführt, ist typisch für den politischen Geist, der in der Hallstein-Kommission existiert. Man argumentiert nämlich ausschließlich damit, die Sechs befänden sich gegenwärtig in einer so günstigen ökonomischen Position, daß man jetzt beschleunigen könne. Das wäre zweifellos richtig, 6194 Deutscher Bundestag — 3. Wahlperiode 111. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 4. Mai 1960 Kalbitzer wenn die EWG ein Ding an sich, ein Selbstzweck wäre, wenn sie von der übrigen Politik in Europa und in der Welt isoliert wäre; dann wäre die Beschleunigung richtig, durchaus logisch, sinnvoll, zweckmäßig; jeder müßte sie unterstützen. Aber in Wirklichkeit ist eben weder die Bundesrepublik Deutschland noch sind die. Sechs allein auf der Welt. Damit entsteht das Problem: Wie soll das Verhältnis zur Umwelt aussehen? Der Beschleunigungsvorschlag an sich wäre also sinnvoll, wenn die EWG allein auf der Welt wäre. Aber so, wie die Wirklichkeit ist, bedeutet die Beschleunigung eine Sabotage der Zusammenarbeit des freiheitlichen Europas. Die EFTA hat als nachträgliche Gegenkonstruktion zur EWG die Termine für die eigenen Maßnahmen mit den vorn EWG-Vertrag vorgesehenen Terminen synchronisiert, sich also darauf eingerichtet, sich nicht weiter von der EWG zu entfernen. Die Partner der EFTA haben eben ,,nachgeklappt". In demselben Augenblick versucht die EWG, sich von der EFTA zu distanzieren, also den entstandenen Graben zu vertiefen. Die politische Logik würde es dagegen erfordern, daß man den Graben, der bedauerlicherweise entstanden ist, möglichst zuschaufelt. In den letzten Tagen hat man gehört, die Bundesregierung wolle die Beschleunigung, deren Beginn auf den 1. Juli 1960 angesetzt ist, um einige Monate verzögern. Nun, das würde der Bundesregierung die Möglichkeit geben, in der so gewonnenen Zeitspanne aktiv zu werden und der Forderung nach Zusammenarbeit zur Erfüllung zu verhelfen. Meine Frage, die sich aus dein Gang der Dinge der letzten Monate ergibt, lautet deshalb: Ist die Bundesregierung bereit, die Beschleunigung, wie sie von der Hallstein, Kommission vorgeschlagen ist, nicht in dieser Form mitzumachen? Sieht sie einen späteren Zeitpunkt vor? Welche Initiative gedenkt die Bundesregierung zu ergreifen, um in der Zwischenzeit politisch aktiv zu werden und sich mit der EFTA zusammenzuraufen? Id' darf Ihnen einige Beispiele dafür bringen, um welche Punkte es bei dem Verhältnis zu dritten Ländern geht. Der eine ist in der Presse schon einmal kurz erwähnt worden. Wenn der Beschleunigungsplan von Herrn Hallstein in Kraft tritt und in der Zwischenzeit kein Arrangement mit der EFTA zustande kommt, dann wird ein Auto mit einem Wert von beispielsweise 10 000 DM, welches aus Schweden eingeführt wird, in der ersten Phase gleich mit 690 DM Zoll mehr belastet als ein gleichwertiges Auto aus, sagen wir, Frankreich oder Italien. In einer späteren Phase, etwa 1970, wird ein gleichwertiges Auto, das aus Schweden importiert wird, 2900 DM mehr Zollbelastung haben als ein Auto des gleichen Wertes aus Italien oder Frankreich. Das bedeutet, daß der Handel — in diesem Beispiel mit Schweden — aufs allerschwerste geschädigt, in wesentlichen Punkten einfach unmöglich gemacht wird. Durch die nun heraufkommenden Zölle auf Apfelsinen, die wir als ein selbstverständliches und notwendiges Volksnahrungsmittel betrachten, werden die Länder, aus denen wir traditionsgemäß Apfelsinen bezogen haben und die ihrerseits von dem Apfelsinenexport nach Zentraleuropa leben und die eine schwerere wirtschaftliche eine schwerere politische Existenz haben als wir, erheblich benachteiligt. Lassen Sie mich die Länder nennen, um die es sich handelt. Es handelt sich um Marokko, und es handelt sich um Israel, die auf diese Weise gegenüber der Apfelsinenlieferung aus Italien benachteiligt werden, Ich frage Sie: welches ist Ihre politische Überlegung, die Länder Israel und Marokko schlechter zu behandeln als z. B. Italien? Zu welchen, ich muß sagen, überspannten Vorstellungen dieses Auseinanderfallen zwischen EWG und EFTA bei Teilen der EWG-Länder bereits geführt hat, zeigt nichts besser als eine Kleine Anfrage, die dieser Tage den Mitgliedern des Europäischen Parlaments in Straßburg auf den Tisch gelegt wurde. In dieser Anfrage ist auf die Handelsverhandlungen zwischen uns und den Dänen Bezug genommen. Die Dänen, die einen wesentlichen Teil ihrer Agrarprodukte an uns, den großen industriellen Nachbarn, absetzen, haben in ihrer schwierigen Lage versucht — und die Bundesregierung ist, so hoffe ich wenigstens, auch einigermaßen positiv darauf eingegangen —, sich trotz dieser Spaltung Agrarlieferungen nach Deutschland zu sichern. Da. heißt es in der Anfrage aus Holland: „Stimmt es, daß kürzlich Besprechungen zwischen Vertretern der deutschen und der dänischen Regierung über die Ausfuhr dänischer Agrarprodukte in die deutsche Bundesrepublik stattgefunden haben?" Dann geht es weiter: „Stimmt es, daß, wie es heißt, Westdeutschland Dänemark derartige Zusagen über die Abnahme von Agrarprodukten gemacht hat, daß dadurch die Erfüllung von Verpflichtungen, die der genannte Mitgliedsstaat gegenüber den anderen Mitgliedsstaaten übernommen hat, erschwert wird? — Zum Schluß heißt es: „Sollte die Bundesrepublik Deutschland der dänischen Regierung diese Zusagen tatsächlich gemacht haben — wir vermuten, daß es geschehen ist — ohne irgendwelche Vorbesprechungen? Kann die Europäische Kommission dann den politischen Mut aufbringen" es geht also darum, ob Herr Hallstein den Mut aufbringen kann -, „unumwunden ihre Mißbilligung über diese deutsche Verfahrensweise auszusprechen?" Ich muß meinerseits sagen, es gehört Mut dazu, daß ein Holländer an uns die Forderung stellt, wir sollten unsere traditionellen und notwendigen freundschaftlichen Beziehungen zu Dänemark aufgeben, um die bekannten und zum Glück ebenso freundschaftlichen Beziehungen zu Holland noch mehr zu intensivieren. Das ist und das kann politisch nicht der Sinn dieses Vertrages sein, daß man sich Feinde schafft, um denen, mit denen man sowieso befreundet ist, noch mehr in den Hals zu stecken. Aber ich darf Sie auf die prekäre Situation auch anderer kleiner Nachbarländer Deutschlands hinweisen. Österreich ist politisch von den EWG-Staaten sozusagen eingeklemmt: das wirtschaftlich Deutscher Bundestag — 3. Wahlperiode — 111. Sitzung. Bonn, Mittwoch, cien 4. Mai 1960 6195 Kalbitzer große Italien im Süden, die Bundesrepublik Deutschland im Norden; im Osten aber liegt der Gürtel der sowjetisch beeinflußten Zone. Österreich hat bisher etwa 50 % seines Außenhandels mit den EWG-Staaten gehabt. Es wird nun durch die EWG wirtschaftlich auf das schwerste benachteiligt. Aber was das Besondere ist: Die politische Lage Österreichs gestattet es ihm nicht, sich seinerseits der EWG anzuschließen. Einerlei, was die österreichische Koalitionsregierung denkt, ob sie möchte oder nicht möchte, sie kann laut ihrem Staatsvertrag, der eine Folge des schrecklichen und verlorenen Krieges ist, diesen Anschluß nicht vollziehen. Österreich ist auch in dieser Beziehung ein direktes Opfer des Krieges und wird nun von uns nochmals gestraft. Es wird von der EWG abgestoßen, es wird fortgedrängt und der sowjetischen Einflußsphäre, an der es mit breiter Grenze liegt, wirtschaftlich in die Arme getrieben. Noch schwieriger liegt der Fall Finnlands. Meine Damen und Herren. Sie haben dem finnischen Volk gerade vor wenigen Minuten durch Ihren Beifall eine so warme Sympathie bezeugt. Hier ist ein Fall, wo man der Sympathie für Finnland in der Sache und nicht im Applaus Ausdruck geben kann. Auch Finnland gehört zu den Ländern, die nach dem verlorenen Krieg das Schwerste haben auf sich nehmen müssen. Es grenzt in breitester Front direkt an die Sowjetunion und ist in große innere Schwierigkeiten verstrickt. Dieses Land hat allmählich etwa 30 % seines Außenhandels — das ist der Anteil im Jahre 1959 — mit den westeuropäischen EWG-Staaten aufgebaut. Die Tendenz der Zusammenarbeit besonders mit der Bundesrepublik ist weiterhin steigend. Die Bundesrepublik ist inzwischen der stärkste Handelspartner Finnlands geworden, vor der Sowjetunion und vor England! Alles, ehe der Vertrag über die EWG in Kraft trat. Wenn man nun Finnland isoliert, wenn man es nur EFTA-Ländern überläßt, d. h. in diesem Falle Schweden, das sich, wie jeder weiß, als direkter Nachbar für Finnlands Schicksal mitverantwortlich fühlt, wenn man die EFTA-Länder gegenüber unseren EWG-Partnern diskriminiert, dann heißt es, daß man Finnland die kalte Schulter weist, daß man Finnlands Handel mit uns erschwert und daß man ihn den Russen geradezu aufnötigt. Ich habe oft das politische Argument gehört, daß die EWG ein Mittel zur politischen Stabilisierung des europäischen Westens gegen kommunistische Infiltration sei. Meine Damen und Herren, der Vertrag bewirkt für diese Länder — Österreich und Finnland — das genaue Gegenteil, er läuft darauf hinaus, diese Länder wirtschaftlich an den Ostblock heranzutreiben. Das kann und darf nicht sein. Wir haben mit den Herren der Europäischen Kommission, in ,diesem Punkt insbesondere mit Herrn Marjolin, über die Sondersituation zum Beispiel Österreichs gesprochen. Darauf wurde uns die Antwort, selbstverständlich könne die EWG mit Österreich Sonderabmachungen treffen, um diese anerkannten — von Herrn Marjolin wenigstens anerkannten — Schwierigkeiten zu überwinden. Aber auf die Nachfrage: Bereiten Sie denn solche Sonderabmachungen mit Österreich zum Beispiel vor?, war betretenes Schweigen. In Wirklichkeit werden diese von Herrn Marjolin zugesagten Möglichkeiten nicht ausgenutzt. Das heißt, man versucht nicht, mit Osterreich ins reine zu kommen, wenn man von dem Husarenritt des Herrn Hallstein absieht, der es vor einiger Zeit für witzig hielt, nicht mit der österreichischen Regierung, sondern mit dem österreichischen Industriellenverband zu verhandeln. Dier österreichische Industriellenverband in allen Ehren! Er ist aber nicht der Partner für ,die EWG. Das kann nur, da es sich hier um Staatsverträge handelt, die österreichische Regierung sein. Ich frage also zu diesem Punkt abschließend: Will die Bundesregierung sich für Verhandlungen dieser Art zwischen EWG und EFTA ,einsetzen, und will die Bundesregierung insbesondere die politisch außerordentlich komplizierte Lage z. B. Österreichs und Finnlands in Rechnung stellen und sich daran klarmachen, daß es hier um mehr als Wirtschaftspolitik, daß es hier um ,große Politik geht? Ich darf nun zu der dritten Frage kommen. Sie lautet: Unterstützt die Bundesregierung Bestrebungen, die EWG zu einem politischen Block zu machen? Ist sich die Bundesregierung der Gefahr bewußt, ,daß es hierdurch zu einer Spaltung der freien Welt kommen kann? Das von meinem Vorredner wie von mir wiederholt festgestellte Fehlen einer Initiative oder, ich will mich ganz vorsichtig ausdrücken, daß bisher nichts bekanntgeworden ist über eine Initiative der Bundesregierung zur Überbrückung der Gegensätze — trotz ,der ewigen Forderungen dieses Hauses, zwischen EWG und EFTA nicht die Spaltung eintreten zu lassen — hat uns aus England und aus anderen Ländern im Laufe der ersten Monate dieses Jahres bereits eine solche Menge von Unfreundlichkeiten eingetragen, daß man von einer an Isolierung grenzenden Situation unserer Politik, z. B. gegenüber unserem westlichen Verbündeten Großbritannien, sprechen muß. Die Bundesregierung hat in der englisch-französischen Eifersüchtelei über die erste Rolle in Westeuropa für Frankreich und gegen England Partei ergriffen. Wir Sozialdemokraten lehnen eine solche Alternative ab. Wir sind nicht für eine Politik, die uns zwischen der Freundschaft mit England und einer Freundschaft mit Frankreich wählen läßt. Wir lehnen es ,ab, den einen zu kujonieren, dem einen alle seine Schwächen vorzuhalten und bei idem anderen stets durch die Finger zu sehen. Wir lehnen es auch ab, den einen besonders herauszuheben und uns dem anderen gegenüber in eine kühle Reserve zu vergraben. Denn einmal ist Europa, das westliche Europa als Ganzes, überhaupt zu klein für eine solche Blockbildung innerhalb Westeuropas, das ja nur ein kleiner Zipfel unserer Landkarte ist. Zum anderen können im Hinblick auf unsere Situation nach dem Kriege, auf unsere Beziehungen zum Kalbitzer Westen, unsere Bemühungen nur darauf hinauslaufen, daß man mit allen westlichen Verbündeten gleiche freundschaftliche Beziehungen herstellt und, wenn man sie hergestellt hat, sie zu dem einen nicht nachträglich wieder zerstört, um mit dem anderen zu einem bündnisähnlichen Sonderstatus zu kommen. Ich würde es ,ebenso ablehnen — das sage ich, um von den Vertretern ,der Regierung nicht mißverstanden zu werden —, daß man sich einseitig an England anschlösse und dann gegenüber Frankreich die kalte Schulter zeigte. In diesem Zusammenhang darf ich auch eine politisch noch delikatere Frage anschneiden, nämlich die der demokratischen Stabilität innerhalb EWG und EFTA. Die Bundesrepublik Deutschland hat sich nach dem Kriege mit guten Erfolgen für die parlamentarische Demokratie entschieden. Aber jeder von uns — links wie rechts — wird selber kritisch eingestehen, daß diese Erfolge Anfangserfolge sind, die es für uns jeden Tag zu untermauern, jeden Tag zu stabilisieren gilt. Unsere großen Partner innerhalb der EWG, Italien und Frankreich, sind in parlamentarisch-demokratischer Hinsicht in außerordentlich prekären politischen Situationen. Das wissen wir alle, das bedauern wir alle; niemand empfindet darüber Schadenfreude, jeder nur Bedauern. Von den EWG-Mitgliedern sind es nur die kleineren Länder — Holland, Belgien und Luxemburg —, bei denen man von einer parlamentarisch-demokratischen Stabilität schlechthin sprechen kann. Eine wesentlich größere Stabilität zeigen die Mitgliedsländer .der Freihandelszone der EFTA. England, die skandinavischen Staaten, die Schweiz sind ,die klassischen demokratischen Länder und auch die stabilisiertesten auf unserem Kontinent. Aus diesem Grunde halte ich es für sehr nachteilig und geradezu gefährlich, sich durch eine Blockbildung in Europa — und das heißt: Spaltung — von den klassischen europäischen Demokratien entfernen zu lassen. Der frühere bundesdeutsche Staatssekretär Hallstein hat bisher die naturgemäß sehr viel schwieriger herzustellenden Beziehungen zu unseren unmittelbaren östlichen Nachbarn zu verhindern gewußt. Diese Politik Hallsteins gilt heute in der Welt als Hallstein-Doktrin. Außerhalb der CDU wird sie heute nur bedauert. Aber wir wollen darüber nicht zuviel rechten. Es zeigt sich jetzt, daß wir in Verfolg der Hallstein-Doktrin außer zu einer solierung gegenüber unseren östlichen Nachbarn auch zu einer Verkrüppelung unserer Politik gegenüber den westlichen Nachbarn kommen. Der Aufbau der EWG ohne Rücksicht auf ,die übrigen westlichen Länder bedeutet die zweite Hallstein-Doktrin, bedeutet, daß man nun, nachdem man gar nicht erst ernstlich das Gespräch mit ,dem Osten aufgenommen hat, auch seine Freundschaften im Westen selber aufspaltet. Die sich daraus ergebenden Schwierigkeiten bestehen für Bundesdeutschland in viel stärkerem Maße als für die übrigen EWG-Nachbarn. Die EWG ist zwar nach außen hin eine Einheit, aber Länder wie Frankreich, Holland, Belgien haben viel tiefergehende Wurzeln der Freundschaft zu den übrigen westlichen Mächten als wir Bundesdeutsche. Das ergibt sich aus der Geschichte. Wir werden erst auf unsere Zuverlässigkeit, auf unseren westlichen Freiheitswillen getestet; wir sind sehr viel mehr dem Mißtrauen und dem Mißverstehen der übrigen Welt ausgesetzt. Ich komme zur vierten Frage. Sie lautet: Ist die Bundesregierung bereit, alles in ihren Kräften Stehende zu tun, um in Abstimmung mit den Partnern in der EWG und insbesondere durch entsprechende Einwirkung auf die französische Regierung zu erreichen, daß der EWG-Außenzolltarif das Niveau des deutschen Zolltarifs nicht übersteigt? Mit anderen Worten: Wird sich die Regierung dafür einsetzen — inzwischen müßte man wohl auch sagen: hat sich die Regierung dafür eingesetzt —, daß die faktisch bei uns in der letzten Zeit erhobenen Zölle nicht erhöht werden, daß also die EWG nicht zu einer Erhöhung unserer Zölle gegenüber England und den skandinavischen Ländern führt? In bezug auf die Vertragszölle und die Nichterhöhung der bestehenden deutschen Zölle muß die Frage nach der Haltung der Bundesregierung bis heute — wenn Sie, Herr Minister, uns hier nicht über neue Tatsachen berichten können — leider negativ beantwortet werden. Wir müssen das — ich will mich hier kurz fassen — auf das tiefste bedauern. Wir halten es für wirtschaftlich unklug und politisch verfehlt, deutsche Zölle gegenüber dritten Ländern zu erhöhen, anstatt die Märkte weltweit zu öffnen und die Zölle abzubauen. Lassen Sie mich zur fünften Frage übergehen. Sie lautet: Wird die Bundesregierung darauf hinwirken, daß den assoziierten Gebieten der EWG durch die wirtschaftliche Unterstützung der Gemeinschaft die politische Entscheidungsfreiheit auch hinsichtlich ihrer Beziehungen zur EWG ermöglicht wird? Das ist — konkret gesprochen — die Frage nach den Beziehungen der EWG zu Ländern wie z. B. Marokko, Tunesien oder Guinea. Diese Länder gehören oder gehörten zur Franc-Zone — darüber ist die Welt nicht ganz genau informiert —, als der Vertrag 1957 geschlossen wurde. Damals glaubte Frankreich, auf diese Länder ganz oder jedenfalls großenteils noch einen nachhaltigen politischen Einfluß weiter ausüben oder eine direkte Kolonialherrschaft aufrechterhalten zu können. In der Entwicklung Afrikas ist in den letzten Jahren und in den letzten Monaten ein so rapider Trend zu verzeichnen — in diesem Jahre müssen wir sagen: pro Monat ein neues freies Land in Afrika —, daß der Vertrag in bezug auf die Beziehungen zu diesen Ländern einfach überholt ist. Heute kann es politisch nicht mehr hingenommen werden, daß die französische Regierung diese Länder durch ihre Unterschrift von 1957 bindet oder sagt: Wenn diese Länder die Zwangsbindungen nicht akzeptieren, ist der Trennungsstrich endgültig. Wir wollen — ich hoffe, das Haus will es auch —, daß diese Länder Afrikas — es werden weitere folgen, wie z. B. die neue Föderation Mali — aus freier, völlig unabhängiger Initiative sich entschei Kalbitzer den können, ob sie sich mit der EWG assoziieren wollen oder nicht. Wir halten es bei einer antikolonialen Politik nicht für tragbar — ich hoffe, auch diese Regierung nicht —, daß frei gewordene frühere französische Kolonien oder Halbkolonien in Afrika vor die Entscheidung gestellt werden: Friß Vogel oder stirb, sondern wir fordern für diese Länder die Möglichkeit, aus Eigenem zu sagen, ob und in welcher Form sie die Assoziation mit uns aufrechterhalten wollen. Der Vertrag selber enthält eine entscheidende Klausel. Sie hat bei der Ratifikation schon eine Rolle gespielt, ich meine die Klausel, die sich auch in der Grundsatzerklärung der Vereinten Nationen findet, nach der die Politik der früheren Kolonialund Industriestaaten in Europa und Nordamerika gegenüber diesen neuen Staaten darauf abzielen muß, ihnen die Unabhängigkeit zu geben und nicht neue Bänder und neue gewaltsame Schlingen auszulegen, um sie entweder an uns zu ketten oder sie in ihrer neu errungenen Unabhängigkeit dem Elend preiszugeben. Wir bitten auch, im Ministerrat dahingehend zu intervenieren, den Ländern Afrikas die Möglichkeit zuzubilligen, frei und unabhängig zu erklären, ob und wie sie mit uns assoziiert sein wollen. Ich darf nun zur sechsten und letzten Frage übergehen. Sie lautet: Welche Maßnahmen wird die Bundesregierung ergreifen, um die wirtschaftlichen und finanziellen Hilfen für die assoziierten Gebiete der EWG nicht zu einer Diskriminierung der übrigen Entwicklungsländer in Afrika, Asien und Amerika werden zu lassen? Hierbei handelt es sich darum, daß laut Vertrag die Kolonien oder früheren Kolonien vor allem von Frankreich — weniger von Holland und Belgien — nicht in einer Form mit uns assoziiert werden, daß man die Gebiete, die sich ökonomisch und gesellschaftlich im Entwicklungsstadium befinden, diskriminiert. Mit anderen Worten: wir halten die interessante Methode der Assoziierung in dem Augenblick für verfehlt, in dem wir Gebiete wie z. B. Madagaskar — Sie können auch FranzösischKamerun oder sonst ein Gebiet nehmen, das jetzt unabhängig wird — in einer Weise handelsund zollpolitisch bevorzugen, daß andere Gebiete, die außerhalb liegen, nehmen wir Kenia, Tanganjika oder das größte dieser Länder, Indien, geschädigt werden. Was indem Assoziierungsvertrag an finanziellen und wirtschaftlichen Unterstützungsmaßnahmen vorgesehen ist, um diese Associés aufzubauen, ist gut. Es wäre schlecht, wenn sich dieser Aufbau dadurch zum Schaden der anderen auswirkte, daß wir Kaffee oder Tee künftig nur noch aus dem Kongo oder aus anderen früheren französischen Kolonialgebieten beziehen könnten und damit der Handel zwischen Indien und uns erschwert oder gar verteuert würde. Ich bin bereit, Besonderes für die Associés zu tun. Ich hielte es für außerordentlich verfehlt, diese Unterstützung auf der anderen Seite damit zu quittieren, daß wir Länder, die uns politisch ebenso am Herzen liegen — ich denke insbesondere an Indien —, nun vor den Kopf stoßen, indem wir sie zollmäßig, handelsmäßig benachteiligen und damit natürlich früher oder später auch politisch von uns forttreiben. Es ist — und damit möchte ich zum Schluß kommen — nicht möglich, eine wirtschaftliche Spaltung, wie sie sich zwischen EWG und EFTA aufgetan hat, auf die Dauer aufrechtzuerhalten, ohne daß sie politische Folgen hat. Im ersten Augenblick und nach dem ersten Anschein mögen Sie sich damit beruhigen, daß sich diese Spaltung der Wirtschaft außerhalb des Niveaus der Politik abspielt. Das kann für einige Zeit gehen, solange nämlich die Geschädigten glauben, daß bei uns der ernsthafte, nachdrückliche gute Wille vorhanden ist, diese Spaltung wieder zu überwinden. Wenn die Länder, die geschädigt werden, diesen Glauben eines Tages nicht mehr haben, wird es zu einer verhängnisvollen politischen Spaltung im freien Europa und im freien Westen kommen. Das zu verhindern, ist, muß ich sagen, des Schweißes der Edlen wert, und darauf müßte die Hauptaktivität unserer Bundesregierung gerichtet sein. Eine solche Spaltung ist nicht nur wirtschaftlich widersinnig, sondern auch politisch für uns von erheblichem Nachteil, und es wäre eine sträfliche Leichtfertigkeit, ihr nicht entgegenzuwirken. Man kann sich auch nicht darauf berufen, meine Damen und Herren, daß die einmal vollzogene Unterschrift unter den EWG-Vertrag alle weiteren Aktionen notwendig mache und daß wir nicht aus dem Vertrag heraus könnten. Zu dem Vertrag, den wir hier ratifiziert haben, steht sicher, wie es auch die FDP schon erklärt hat, dieses Haus einmütig. Aber dieser EWG-Vertrag ist wie so viele Verträge, die unter politischen Aspekten geschlossen worden sind, natürlich auslegungsfähig. Neben Paragraphen, die eine Diskriminierung dritter Länder zum Inhalt haben, wie ich sie Ihnen vorgeführt habe, stehen andere Paragraphen, die eine solche Diskriminierung geradezu verbieten. Es kommt also hier in der Tat auf die politische Aktion der Regierung an. Es besteht keine zwangsläufige Notwendigkeit, die Politik Hallsteins.. zu führen. Hallsteins Politik ist eine Möglichkeit des Vertrages, sie ist die falsche Möglichkeit des Vertrages. Für die Regierung kommt es darauf an, die anderen, positiven Möglichkeiten des Vertrages zum Tragen zu bringen und damit der Zusammenarbeit des freien Westens Möglichkeiten zu geben und zu erhalten und es nicht zu dem Desaster kommen zu lassen, daß wir uns in dem zu kleinen Europa schließlich noch in zwei Blöcke zerspalten. Zur Beantwortung der Großen Anfragen der FDP und der SPD hat das Wort der Herr Bundeswirtschaftsminister. Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zunächst möchte ich mein Bedauern darüber zum Ausdruck bringen, daß ,die Beantwortung der beiden Großen Anfragen der FDP und der SPD sich so Bundeswirtschaftsminister Dr. Dr. h. c. Erhard lange verzögert hat. Ich danke zugleich im Namen der Regierung -, daß Sie den Vertagungswünschen entsprochen haben. Ich habe besonderen Grund zu danken, weil ich ja in dieser Beziehung unschuldig schuldig geworden bin. Ich werde in dem ersten Teil meiner Ausführungen für die Bundesregierung die Fragen im einzelnen beantworten und mich im weiteren Verlauf und damit gleichzeitig in die Debatte eingreifend mit der Frage beschäftigen: Was hat die Bundesregierung getan, um das Ziel einer gesamteuropäischen Integration zu erreichen? Ich glaube, daß es nicht fruchtbar wäre, die historische Entwicklung, die auch hier wieder angeklungen ist, noch einmal aufzuzeigen. Die Bundesregierung hat den Ablauf bereits schriftlich dargestellt. Sie ist auch weiter bereit, in einem detaillierten Bericht im Anschluß an ihren vorigen Bericht — Drucksache 958 — über den weiteren Verlauf der Verhandlungen alsbald schriftlich zu berichten. Nun möchte ich zu der Großen Anfrage der Fraktion der FDP — Drucksache 1305 — Stellung nehmen. Die Frage 1 dieser Großen Anfrage lautet: Was hat die Bundesregierung auf Grund der einstimmig gefaßten Entschließung des Deutschen Bundestages vom 2. Oktober 1958 unternommen, um a)


(Beifall bei der SPD und der FDP.)





(Beifall bei der SPD.)

Dr. Eugen Gerstenmaier (CDU):
Rede ID: ID0311102000
Dr. Ludwig Erhard (CDU):
Rede ID: ID0311102100



b) Fortschritte in Verhandlungen mit den anderen OEEC-Mitgliedern
herbeizuführen mit dem Ziele der Schaffung einer Europäischen Freihandelszone?
Ich antworte darauf: Die Bundesregierung hat sich in den Verhandlungen im Rahmen der EWG — insbesondere in dem „Besonderen Ausschuß der Vertreter der Mitgliedsregierungen und der Kommission zur Prüfung der Frage betreffend eine europäische Wirtschaftsassoziation" — stets und unbedingt für ein Zustandekommen einer GATT-konformen Assoziation zwischen der EWG und den übrigen OEEC-Ländern eingesetzt. Sie hat hierzu diesem Sonderausschuß sogar eine Reihe konkreter Vorschläge unterbreitet. Die zur Bildung einer Freihandelszone erforderliche Übereinstimmung war jedoch trotz aller Bemühungen der Bundesregierung in der EWG nicht zu erzielen.
Es bestanden hier die bekannten Schwierigkeiten, die schon bei den Beratungen in der OEEC in den Jahren 1957 und 1958 eine Rolle gespielt haben. Da eine grundsätzliche Lösung zunächst nicht erreichbar war, hat die Bundesregierung vom September 1959 an ihre Bemühungen darauf konzentriert, daß die EWG durch pragmatische und provisorische Regelungen ihre Bereitschaft zur Aufrechterhaltung der traditionellen Handelsströme und zur Wiederaufnahme der Gespräche mit ihren außerhalb der EWG stehenden europäischen Handelspartnern dokumentierte.
Die Bundesregierung blieb unter Ausnutzung aller Gelegenheiten zu Gesprächen mit Vertretern der einzelnen Regierungen ständig um das Ziel einer
großen europäischen Assoziation bemüht. Aber bei dem Problem einer gesamteuropäischen Integration handelt es sich eben nicht nur um eine Angelegenheit der einzelnen Mitgliedsregierungen der EWG, sondern um eine gemeinsame Sache der EWG als solcher. Es kommt hinzu, daß die Länder der EFTA sich so lange zu Verhandlungen außerstande sahen, als von Experten der Äußeren Sieben an dem Zustandekommen der Kleinen Freihandelszone gearbeitet wurde; das erste Treffen fand am 18. März 1959 in Stockholm statt. Nachdem aber nunmehr über Form und Inhalt der EFTA Klarheit besteht, d. h. nachdem die EFTA-Konvention in Stockholm paraphiert worden ist, ist eine neue Verhandlungsgrundlage gegeben. Seit der Pariser Konferenz von Mitte Januar 1960 und insbesondere seit der Eröffnungssitzung des Handelsausschusses der 21 finden wieder multilaterale Gepräche statt.
Damit komme ich zur Frage 2, die lautet:
Wie gedenkt die Bundesregierung in Zukunft dem in der Entschließung des Deutschen Bundestages vom 2. Oktober 1958 enthaltenen Auftrag gerecht zu werden?
Ich antworte darauf: Zunächst möchte die Bundesregierung feststellen, daß sie an den Grundsätzen der Resolution des Bundestages nach wie vor, festhält. Aus dem vorher Gesagten ergibt sich aber, daß die Verwirklichung dieses Grundsatzes nicht als eine von heute auf morgen zu lösende Aufgabe verstanden werden kann.
Der Auftrag ,des Bundestages wird angesichts der Weiterentwicklung der internationalen handelspolitischen Lage und insbesondere angesichts der Pariser Beschlüsse vom Januar dieses Jahres zunächst noch nicht in der ursprünglich gedachten Weise verwirklicht werden können. Insbesondere geht es für die Folgezeit auch darum, die Grundlagen für eine die Vereinigten Staaten und Kanada stärker als bisher einbeziehende wirtschaftliche Zusammenarbeit zu schaffen. In diese Richtung weisen auch die Pariser Beschlüsse.
Die Vereinigten Staaten stellen sich dabei nicht gegen eine engere europäische Zusammenarbeit. Aber sie wie Kanada legen Wert darauf, daß sie dadurch nicht zusätzlich diskriminiert werden und daß den GATT-Bestimmungen voll Genüge getan wird. Es wird eine der wesentlichen Arbeiten der zwanzig Regierungen und der Kommission der EWG sein, eine genaue Grenzziehung zwischen den Notwendigkeiten und Möglichkeiten einer die USA und Kanada einbeziehenden Zusammenarbeit auf der einen Seite und einer engeren europäischen Zusammenarbeit auf der anderen Seite zu finden. Auch in der Arbeit des Ausschusses für Handelsfragen und gegebenenfalls im europäischen Kontaktausschuß werden die Fragen der Abgrenzung und die Suche nach neuen Formen und Inhalten eines GATT-konformen europäischen Zusammenlebens zentrale Bedeutung erlangen.
Ich darf also wiederholen: die Bundesregierung wird sich nachdrücklich dafür einsetzen, daß neben den weltweiten und atlantischen Aspekten die europäischen Belange nicht zu kurz kommen. Die Bundes-



Bundeswirtschaftsminister Dr. Dr. h. c. Erhard
regierung wird das Ziel, das ihr der Bundestag gesetzt hat, nicht aus dem Auge verlieren.
Soweit und solange das europäische Einigungswerk nicht zum Abschluß gebracht werden kann, wird die Bundesregierung ihr Augenmerk vor allem darauf richten, daß die europäischen Handelsströme nicht unterbrochen werden. Es wird hierbei darauf ankommen, die Herausbildung von Gegensätzen zwischen der EWG und der EFTA dadurch zu vermeiden, daß die gegenseitige unterschiedliche Zollbehandlung auf beiden Seiten, wenn sie nicht überhaupt vermeidbar ist, so gering wie möglich gehalten wird. Hierbei denkt die Bundesregierung vor allem an gegenseitige oder parallel laufende Zollsenkungsmaßnahmen.
Diese zunächst pragmatische Methode entspricht einer realistischen Einschätzung der Lage von heute. Die Möglichkeit, schon in naher Zukunft eine materielle und institutionelle Endlösung zu finden, führt die Bundesregierung nicht zur Resignation. Sie ist vielmehr davon überzeugt, daß in einer stetigen gemeinsamen Arbeit an den Problemen des Tages auch der politische Entschluß zu einer umfassenderen integration heranreifen wird.
Nunmehr komme ich zur Beantwortung der Großen Anfrage der Fraktion der SPD — Drucksache 1464 (neu) —.
Frage 1:
Welche Gründe waren für das Scheitern der Verhandlungen über die Bildung einer Europäischen Freihandelszone maßgebend, und was hat die Bundesregierung getan, um durch möglichst enge Zusammenarbeit mit allen Mitgliedsländern des Europäischen Wirtschaftsrates (OEEC) dem Ziel der Bildung einer Europäischen Freihandelszone näherzukommen?
Die Antwort ergibt sich für die Zeit bis Anfang 1959 aus dem Bericht der Bundesregierung an den Deutschen Bundestag vom 26. März 1959 (Drucksache 958) und für die anschließende Zeit aus der soeben durch mich ,erteilten Antwort auf die Frage 1 der Großen Anfrage der Fraktion der FDP. Ich bitte, mir an dieser Stelle eine Bezugnahme darauf zu gestatten. Soweit es sich um weitere Einzelheiten handelt, wird die Antwort laus dem eingangs von mir angekündigten schriftlichen Bericht der Bundesregierung zu ersehen sein.
Frage 2:
Wie steht die Bundesregierung zu den Bestrebungen der kleinen Europäischen Freihandelszone (EFTA), mit der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) über einen einheitlichen Abbau der Handelsschranken zu verhandeln? Welche Initiative gedenkt die Bundesregierung auf diesem Gebiet zu ergreifen, um den Schaden abzuwenden, der für die Bundesrepublik und ihre Nachbarn durch das Scheitern der Europäischen Freihandelszone zu entstehen droht?
Darauf antworte ich: Die Bundesregierung begrüßt die in der Frage genannten Bestrebungen der
Länder der EFTA. Freilich kann sich die Initiative der Bundesregierung zunächst nur im Rahmen der EWG entfalten. Auch hier bitte ich, mir weitgehend eine Bezugnahme auf die vorangegangenen Ausführungen zu gestatten. Im übrigen werde ich auf diese Frage im weiteren Verlauf meiner Ausführungen zurückkommen. Es kommt im Augenblick in erster Linie darauf an, Schäden zu verhüten und alles zu vermeiden, was zu einer Verschärfung der Meinungsverschiedenheiten und der Spannungen führen könnte.
Die Frage 3 der Großen Anfrage der SPD lautet:
Unterstützt die Bundesregierung Bestrebungen, die EWG zu einem politischen Block zu machen? Ist sich die Bundesregierung der Gefahr bewußt, daß es hierdurch zu einer Spaltung der freien Welt kommen kann?
Darauf antworte ich: Es ist naheliegend, daß die enge wirtschaftliche Verbindung, ,die die Mitgliedstaaten der EWG durch den Abschluß der römischen Verträge miteinander eingegangen sind, auch zu einer immer engeren Zusammenarbeit in wichtigen Fragen und damit auch zu einer Koordinierung ihrer Außenpolitik in großen Zügen führen wird und führen muß. Die Bundesregierung, die dieser Entwicklung positiv gegenübersteht, hat zugestimmt, daß in regelmäßigen Abständen von drei Monaten die Außenminister der EWG-Staaten zusammentreffen, um die sie gemeinsam ,berührenden politischen Fragen zu erörtern. Dabei wird es sich naturgemäß um Gesprächspunkte von außenpolitischer Bedeutung handeln, die aber so eng mit dem Bestand der Gemeinschaft verknüpft sind, daß sie unmittelbar Rückwirkungen auf diese selbst haben.
Die Bundesregierung ist nicht der Auffassung, daß eine solche Übung die Gefahr einer politischen Blockbildung innerhalb der freien Welt auslösen und damit zu einer Spaltung führen könnte. Die bisher bestehenden politischen Konsultationsmöglichkeiten in der NATO und der WEU sollen und dürfen darum in keiner Weise beeinträchtigt, sondern müssen, soweit überhaupt angängig, ausgebaut werden. Die Bundesregierung legt größten Wert darauf, über alle im Kreise der Sechs geführten Konsultationen ihre übrigen atlantischen Partner ausreichend zu informieren.
Im übrigen hat die Bundesregierung in ihrer positiven Haltung mit ihren Bemühungen, die Mitte Januar zur Einberufung einer Atlantischen Wirtschaftskonferenz führten, wobei wichtige konkrete Ergebnisse gezeitigt wurden, überzeugend dargetan, daß ihr alles daran gelegen ist, den atlantischen Zusammenschluß so umfassend und intensiv wie nur möglich zu gestalten. Das mag als Beweis gelten, daß alle Befürchtungen, die Bundesregierung könnte gegenteiligen Tendenzen Vorschub leisten, unbegründet sind.
Die Frage 4:
Ist die Bundesregierung bereit, alles in ihren Kräften Stehende zu tun, um in Abstimmung mit den Partnern in der EWG und insbesondere durch entsprechende Einwirkung auf die



Bundeswirtschaftsminister Dr. Dr. h. c. Erhard französische Regierung zu erreichen, daß der EWG-Außenzolltarif das Niveau des deutschen Zolltarifs nicht übersteigt?
Darauf antworte ich: Für die Aufstellung des gemeinsamen Zolltarifs sieht der EWG-Vertrag in den Artikeln 18 bis 29 feste Regeln vor, die Variationen und beliebige Auslegungen nicht mehr zulassen. Der nach diesen Vorschriften gebildete Außentarif liegt bei sehr vielen Positionen über dem Niveau der zur Zeit in der Bundesrepublik angewandten Zollsätze. Dies ist unter anderem darauf zurückzuführen, daß in der Bundesrepublik durch die konjunkturpolitische Zollsenkung des Jahres 1957 die Zölle, insbesondere auf dem gewerblichen Sektor, unter das Niveau der am 1. Januar 1957 angewandten Zölle gesenkt worden sind, während nach dem Vertrag für die Errechnung des gemeinsamen Außentarifs in der Regel der Stand vom 1. Januar 1957 maßgebend ist.
Die Bundesregierung wird gleichwohl weiter bemüht bleiben, die übrigen EWG-Mitgliedstaaten, insbesondere Frankreich und Italien, davon zu überzeugen, daß es nicht im Interesse der Gemeinschaft liegt, einen hohen Außenzolltarif zu haben. Sie hat bereits in der Vergangenheit alles in ihren Kräften Stehende getan, um auf eine Ermäßigung dieses Außentarifs hinzuwirken. Hier ist vor allem auf die mit dem Beschleunigungsvorschlag der Kommission verbundene Senkung des gemeinsamen Außentarifs um 20 % hinzuweisen. Die Bundesregierung ist entschlossen, sich auch weiterhin mit Entschiedenheit für eine möglichst weitgehende Senkung des Tarifniveaus einzusetzen. Gelegenheit hierzu bieten die bevorstehenden Ausgleichsverhandlungen nach Artikel XXIV des GATT sowie die sogenannte Dillon-Runde.
Frage 5 heißt:
Wird die Bundesregierung darauf hinwirken, daß den assoziierten Gebieten der EWG durch die wirtschaftliche Unterstützung der Gemeinschaft die politische Entscheidungsfreiheit, auch hinsichtlich ihrer Beziehungen zur EWG, ermöglicht wird?
Ich antworte: Den Belangen der überseeischen Länder und Hoheitsgebiete ist in den Bestimmungen im vierten Teil des EWG-Vertrages Rechnung getragen. In der Präambel zum Vertrag ist die Absicht der EWG ausgesprochen worden, den Wohlstand der überseeischen Länder entsprechend den Grundsätzen der Satzung der Vereinten Nationen zu fördern. Ferne: ist im Durchführungsabkommen über die Assoziierung die Bestimmung enthalten, daß die Investitionsprojekte der Zustimmung der verantwortlichen örtlichen Behörden oder der Vertretung der Bevölkerung der betreffenden Länder und Hoheitsgebiete bedürfen.
Die Bundesregierung wirkt im Ministerrat der EWG in den Grenzen des Vertrages durch ihren Beitrag zum Entwicklungsfonds und zur Beseitigung der Handelsschranken an der Aufgabe mit, die Ziele der Assoziation zu verwirklichen. Diese Ziele, die sich gemäß Artikel 3 des EWG-Vertrages darauf erstrecken, den Handelsverkehr zu steigern und die wirtschaftliche und soziale Entwicklung durch gemeinsame Bemühungen zu fördern, dienen einer wirtschaftlichen Stärkung und Konsolidierung dieser Gebiete, aber beeinträchtigen ihre politische Entscheidungsfreiheit nicht.
Auch nach dem Ausscheiden aus den spezifischen Bindungen zu einem Mitgliedstaat der EWG können sich die bereits unabhängig gewordenen oder noch selbständig werdenden Länder frei entscheiden, ob sie mit der EWG assoziiert bleiben wollen. Die Bundesregierung ist der Auffassung, daß die assoziierten Länder über ihren politischen Status selbst zu befinden haben.
Die Frage 6 endlich:
Welche Maßnahmen wird die Bundesregierung ergreifen, um die wirtschaftlichen und finanziellen Hilfen für die assoziierten Gebiete der EWG nicht zu einer Diskriminierung der übrigen Entwicklungsländer in Afrika, Asien und Amerika werden zu lassen?
Die wirtschaftlichen und finanziellen Hilfen für die assoziierten Gebiete sind im EWG-Vertrag geregelt; nach der nahezu einstimmigen Annahme des entsprechenden Gesetzes durch die gesetzgebenden Körperschaften ist der Vertrag für die Bundesrepublik bindendes Recht geworden. Das Ausmaß der finanziellen Hilfe, zu der sich Bundestag und Bundesregierung seinerzeit bekannt haben, entsprach und entspricht auch heute noch politischer Notwendigkeit.
Die Bundesregierung ist sich dessen bewußt und hat es durch die Tat bewiesen, daß sie die Hilfe für die Entwicklungsländer in aller Welt als einen wichtigen Bestandteil ihrer Politik ansieht. Die am 13. Januar 1960 vom Bundesministerium für Wirtschaft herausgegebene Presseverlautbarung unter dem Titel „Finanzielle Unterstützung der Entwicklungsländer durch die Bundesrepublik Deutschland" legt dafür ein beredtes Zeugnis ab. Die Bundesregierung beteiligt sich daher intensiv an den Arbeiten der in der Pariser Konferenz vom 14. Januar 1960 eingesetzten Arbeitsgruppe für Entwicklungsländer.
Meine Damen und Herren, lassen .Sie mich nun — auch auf die Begründung eingehend — noch grundsätzlich etwas sagen. Ich möchte ganz bewußt die Frage in den Vordergrund stellen: Was hat die Bundesregierung getan, um das Ziel einer gesamteuropäischen Integration zu erreichen? Es kann gar kein Zweifel sein, und es ist eindeutig nachweisbar, daß die Bundesregierung sich stets um eine große europäische Lösung bemüht hat und auch weiter bemühen wird. Wenn die Bundesregierung — sei es im Bereich und im Kreise der Sechs oder in einstimmigen Beschlußfassungen in größeren Gremien —immer wieder für den Gedanken einer Freihandelszone und im späteren Verlauf mit einer Änderung des Terminus technicus für eine multilaterale Assoziation eintrat, so war das ehrlich gemeint. Jeder Verdacht etwa, daß gelegentlich der Einbringung des EWG-Vertrages und bei der Beschlußfassung



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des Bundestages eine Täuschung beabsichtigt gewesen sein könnte, hält gegenüber der stets eindeutigen Haltung der Bundesregierung in keiner Weise stand.
Meine Damen und Herren, ich darf sogar noch den Vorsitzenden der CDU, Herrn Bundeskanzler Adenauer, zitieren. Er hat sich erst vor wenigen Tagen in Karlsruhe dahin geäußert:
Selbstverständlich wollen wir nicht, daß Europa in zwei Blöcke auseinanderfällt, auch nicht einmal in zwei Wirtschaftsblöcke; deswegen wollen wir versuchen und ernsthaft bemüht sein, in Gesprächen mit den Vertretern der EFTA eine auf gegenseitiges Entgegenkommen beruhende Verständigung zu finden.
Ich kann 'darauf verzichten, noch andere Beweise anzuführen, um so mehr als sie bereits bei der Begründung vorgebracht worden sind. Die Bundesregierung hat sich durch das Vorbringen immer neuer Vorschläge in den Verhandlungen, von Messina angefangen bis zur Gegenwart, immer wieder, auch in den Details, bemüht, fruchtbare Lösungen zu finden, Spannungen und Spaltungen zu verhindern. Ich darf an die Konferenzen von Venedig und Brüssel, an die Zusammenkunft der Regierungschefs von Frankreich und 'der Bundesrepublik in Bad Kreuznach erinnern. Die Bundesregierung hat selbstverständlich auch in den Ministerratssitzungen in Brüssel im Dezember 1958 und im März 1959 immer ihren Willen zu ,einer multilateralen Assoziation bekundet. Diese Beschlüsse des Ministerrats sind im übrigen einstimmig gefaßt worden.
Was nun die Kontakte mit 'den anderen OEEC-
Ländern anbelangt, so waren wir in vielen Einzelgesprächen, aber auch auf Tagungen immer wieder bemüht, in diesem Kreise umgekehrt Verständnis für die Belange der EWG zu finden, ,denn erst aus dem gegenseitigen Verstehen erwächst das ernste Bemühen, über manche Widrigkeit, über manche Irrungen und Wirrungen schließlich doch zusammenzufinden. Bei jedem Lösungsversuch — dessen sind wir überzeugt — muß davon ausgegangen werden, daß die EWG — das ist der Sinn, das ist auch der Inhalt des Vertrages - in ihrer Substanz erhalten und unangetastet bleibt. Ich wäre der letzte, der bereit wäre, einen Vertrag nicht zu erfüllen. Aber es geht darum, die wirtschaftliche Situation, die sich innerhalb der EWG ausprägt, in liberaler und weltweit offener Weise fortzuentwickeln und für die Folgezeit — vor allen Dingen in Gesprächen mit der EFTA — ernstere Schäden zu verhüten.
Hat, so frage ich, 'die Bundesregierung oder die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft bisher denn überhaupt nichts getan, um die Verbindungen mit den übrigen europäischen Ländern oder die gattweiten Beziehungen befriedigend zu lösen? Die Tatsache allein, ,daß ein Teil der internen Zoll- und Kontingentsmaßnahmen mit dem Inkrafttreten der EWG am 1. Januar 1959 modifiziert auf ,andere Länder ausgedehnt worden ist, kann schon als ein Beweis dafür gelten, daß sich die EWG-Länder und ihre Regierungen bewußt waren, daß eine Isolierung eine schlechte Politik wäre.
Auch die Bemühungen, den Außentarif zu senken, müssen hier angeführt werden. Ich behaupte nicht, daß der Außentarif, so wie er sich nach den Spielregeln des Vertrages errechnet, schon eine Dokumentation liberalen Geistes sei, und ich bin auch nicht der Meinung, daß eine 20 %ige Senkung des Außentarifs bereits unseren deutschen Vorstellungen von einer liberalen, weltweiten Handelspolitik entsprechen würde. Es ist ganz selbstverständlich, daß ein Land wie die Bundesrepublik, die im Export jetzt an zweiter Stelle in der Welt steht, in ökonomischer und sozialer Hinsicht ein vitales Interesse daran haben muß, daß die Verbindungen zu der übrigen Welt offenbleiben.

(Beifall in der Mitte.)

Ich habe es auch bei der Hannoverschen Messe deutlich genug gesagt. Welcher Deutsche und welcher Franzose würde sich nicht ehrlich darüber freuen, daß zwischen ihren beiden Ländern eine Aussöhnung Platz greift und das Gefühl echter, freundschaftlicher Verbundenheit im Wachsen begriffen ist! Ich bin aber nicht der Meinung, daß das Verlangen, Freundschaften zu pflegen, die Konsequenz haben muß, andere Freundschaften trüben zu lassen.

(Sehr gut! in der Mitte.)

Freundschaften sind nicht nach dem Prinzip der Exklusivität zu messen.
So also wird es sich darum handeln, ernsthafte Verhandlungen mit dritten Ländern, vor allen Dingen mit der EFTA, zu führen. Ich darf Ihnen hier nicht nur als meine eigene Auffassung, sondern als die der Bundesregierung sagen, daß diese im Ministerrat der EWG dahin wirken wird, alle Möglichkeiten für eine befriedigende Gestaltung eines freien Außenhandels, insbesondere auch mit den Ländern der EFTA, auszuschöpfen. Soweit also die dadurch noch einmal dokumentierte Haltung der Bundesregierung!
Es wird Gelegenheit sein, noch einmal in der gleichen Richtung auf der Pariser Atlantischen Konferenz zu wirken, die im Januar 1960 erstmalig einberufen wurde und im Mai eine Fortsetzung erfährt. Hier ist insbesondere an den dort eingesetzten Handelsausschuß der 21, d. h. der 18 Vollmitglieder der OEEC mit den USA, Kanada und der Europäischen Kommission zu denken.
Ich glaube, die Diskussion wird fruchtbarer, wenn wir sie auch nach dem Aktuellen hin gestalten, nämlich in Beziehung zu dem Beschleunigungsvorschlag der Kommission, d. h. dem Vorschlag einer Verkürzung der Fristen des EWG-Vertrags. Meine Damen und Herren, es ist kein Geheimnis, daß sowohl in der Bundesregierung als auch in der Öffentlichkeit um diesen Vorschlag ernsthaft gerungen worden ist. Aber ich darf noch eines hinzufügen, um manche falschen Beleuchtungen aus der Welt zu schaffen.
Ich sagte es vorhin schon: Selbstverständlich erfüllen wir Verträge dem Geiste nach und, wenn Sie wollen, sogar dem Buchstaben nach. Aber die Verkürzung der Fristen ist nicht zwingendes Recht des Vertrages, sondern stellt nur eine Möglichkeit dar. Darum ist es nicht nur unser Recht, sondern auch



Bundeswirtschaftsminister Dr. Dr. h. c. Erhard
unsere Pflicht, in einem solchen Falle zu prüfen, welche Wirkungen sich aus einer solchen Malinahme nach innen und nach außen ergeben.

(Sehr gut! in der Mitte.)

Darauf allein kam es mir an! Wenn man gründlich nachdenken will, braucht man Zeit. Ich glaube, daß der Weg, der sich jetzt abzeichnet, doch als fruchtbar, ersprießlich und hoffnungsvoll bezeichnet werden kann.
Es wäre falsch zu sagen, die Beschleunigung, für die sogar manches spricht, bringen nur Vorteile mit sich. Nein, soweit es nicht gelingt, mit der EFTA eine Verständigung zu finden, was wir wirklich sehnlichst wünschen, würde eine Verkürzung der Fristen zwangsläufig zu einer Verschärfung der Spannungen, des beiderseitigen Mißvergnügens, des Gefühls des Diskriminiertwerdens führen müssen. Deshalb ist es gerade so wesentlich, zu einer Verständigung zu kommen.
Selbstverständlich sind auch die Zollanhebungen, die damit für die Bundesrepublik gerade in der Hochkonjunktur notwendig werden, nicht gerade positiv zu beurteilen; denn im Hinblick auf die Preisstabilität ist die Zollanhebung natürlich nicht gerade das allerbeste Mittel, das zu einer Bändigung der überschäumenden Kräfte geeignet erscheint. Wir dürfen indessen hoffen, ja sogar erwarten, daß, insbesondere vom Standpunkt der Bundesrepublik aus, leichtere Übergangsmöglichkeiten geschaffen werden können.
Der eindeutige Vorteil einer Verkürzung liegt darin, daß damit endlich der scheinbar festgefügte gemeinsame Außentarif nach unten gedrückt wird. Das löst in bezug auf die vorher von mir erwähnten Bedenken eine Gegenkraft -aus und bedeutet eine gewisse Heilung in sich selbst. Es war, so glaube ich, niemand in Deutschland, der von Anfang an grundsätzlich gesagt hat: Wir sind unter allen Umständen gegen eine Beschleunigung. Vielmehr lautete die Fragestellung immer dahin: Was müssen wir tun und was ist zu besorgen, damit eine Beschleunigung nicht zu einer Gefahr wird? Je eher wir zu einer Verständigung kommen, sei es durch die Vertiefung der Wirtschaftsbeziehungen auf atlantischer Ebene, sei es auch durch eine bessere Verklammerung zwischen EWG und EFTA, desto leichter lassen sich Gefahren bannen, die sich in einer Versteifung bzw. Atomisierung der Interessenlagen herausbilden könnten.
Ich befürchte, daß, wenn die Versöhnung nicht gelänge, die Gefahr von Fehlinvestitionen nicht von der Hand zu weisen wäre. Wenn z. B. die Vereinigten Staaten zunehmend sowohl im Raum der EWG wie auch im Raum der EFTA investieren und wenn sich unsere deutsche Industrie bemüht — es wird bei den anderen Ländern der EWG nicht anders sein —, auf dem Boden der EFTA Fuß zu fassen, und umgekehrt die EFTA mit entsprechenden Investitionen hier ihre Stützpunkte errichtet, dann wird niemand behaupten wollen, daß diese Aktionen, die sich in ganz kurzer Zeit mit so großer Deutlichkeit ausgeprägt haben, nur auf volkswirtschaftliche Überlegungen zurückzuführen seien und nur etwa von
marktwirtschaftlichen Vorstellungen beherrscht
seien. Nein, es ist ganz selbstverständlich — und so denken die Kaufleute —, daß man sich ausrechnet, was es wert ist, innerhalb eines Wirtschaftsbereichs zu stehen, und was es kostet, außerhalb zu bleiben. Das sollte man nicht vergessen.
Das besagt gar nichts in bezug auf die Ziele und Zwecke der EWG. Das sagt auch nichts gegen die EFTA, denn im Grunde genommen verhalten sie sich ja gleichmäßig. Aber im ganzen glaube ich, daß jetzt eine gute Atmosphäre für eine Verständigung gegeben ist.
Die Bundesregierung und auch die vier Minister, die in einem Spezialkomitee eine Verständigung vorbereitet haben, waren der Auffassung, daß die Landwirtschaft aus der Verkürzung ausgenommen werden sollte, nicht etwa, weil die Landwirtschaft grundsätzlich eine Sonderregelung haben müßte, sondern weil es angesichts der noch fortbestehenden Unklarheit über die Agrarpolitik der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und über die Ausgestaltung einer europäischen Marktordnung kaum zumutbar erscheint, jetzt Bindungen einzugehen, die sich in letzter Konsequenz noch nicht übersehen lassen. In der Aussprache wird dazu sicher noch mehr gesagt werden. Dann mögen sich Sachverständigere auf diesem Gebiet äußern.
Ich bin dessen gewiß, daß z. B. auch die kommenden Zollverhandlungen im GATT ein weiteres Mal dazu beitragen werden, überall dort, wo der Zolltarif des Gemeinsamen Marktes Mißvergnügen und Unbehagen auslöst, Verständigungen zu suchen und zu finden; denn es scheint mir kein Zweifel zu sein, daß wir mancherorts und vor allen Dingen dort, soweit Zoll-Bindungen unsererseits bestehen, noch einmal zu einer Senkung spezifischer Zölle und gerade der neuralgischen Zölle kommen werden.
Sie wissen, meine Damen und Herren, daß man mittels einer Art Zahlenakrobatik immer wieder den Versuch unternommen hat, auszurechnen, was und wieviel denn eigentlich, insbesondere von der Bundesrepublik aus gesehen, die Anhebung der Zölle bedeutet, ob die Wirkung wirklich so dramatisch ist oder ob sie bagatellisiert werden kann. Ich glaube, daß, so gestellt, die Frage überhaupt nicht zu beantworten ist. Sicher ist nur das eine: daß eine Durchschnittsrechnung, in der alles in einen Topf geworfen wird, in der z. B. das Zollaufkommen von gestern und morgen in Vergleich zu der Gesamteinfuhr vor und nach den Änderungen der Tarife gesetzt wird, gleichgültig ob es sich um zollbare oder nichtzollbare Waren handelt, keine Aussagekraft hat. Wir wissen alle, daß z. B. bei den Marktordnungsprodukten der Landwirtschaft der Zoll eine relativ nebensächliche Rolle spielt. Wir wissen auch, daß ein Entfall der Finanzzölle, die bei jeder Durchschnittsrechnung sehr stark ins Gewicht fallen, praktisch ohne wirtschaftliche Bedeutung ist, da an Stelle der Zölle dann entsprechende innere Belastungen Platz greifen. Auch aus rein fiskalischer Sicht, glaube ich, könnte man auf diese Erträge nicht verzichten.
Damit komme ich noch einmal auf den Standpunkt der praktischen Wirtschaft selbst zu sprechen. Sie



Bundeswirtschaftsminister Dr. Dr. h. c. Erhard
wissen, daß die Meinung trotz eines klaren Bekenntnisses zu weltweiter Offenheit doch nicht ganz einheitlich ist. Die erste Reaktion erfolgte aus der großen Sorge, was sich da ereignen mag. Die deutsche Industrie hat sich zu meiner großen Freude offenbar an unsere niedrigen Zölle gewöhnt und erkennt darin einen Wert. Ich hoffe, daß diese Tugend nachhalten wird.

(Abg. Scheel: Sehr gut!)

Die Industrie hat zunächst einmal Sorgen dahin geäußert, ob unsere Wettbewerbsposition durch die Anhebung deutscher Zölle nicht verschlechtert wird. Ich glaube, die Frage ist sehr wohl berechtigt.
Dabei komme ich noch einmal auf die Bewertung der Zollhöhe selbst zurück. Man kann aus Durchschnittszöllen überhaupt keine Folgerungen ziehen. Wer in der Maschinenindustrie, in der chemischen Industrie oder wo auch immer sitzt, wird nicht befriedigt und beruhigt sein, wenn man ihm vorrechnet: Die Gesamtzollbelastung der deutschen Wirtschaft betrug seither soundsoviel und erhöht sich jetzt auf soundsoviel Prozent. Das hat für diese Leute gar kein Interesse. Sie rechnen sich vielmehr aus: Unsere Zollposition XY, die bisher auf x % gelautet hat, wird auf y % erhöht. Das ist die einzig realistische Betrachtungsweise.
Es ist meiner Ansicht nach auch die spezifische Aufgabe des eingesetzten Kontaktausschusses, überall dort anzutreten, wo es sozusagen Erste Hilfe zu ]eisten gilt und wegen untragbarer Diskrepanzen kurzfristige Lösungen zu finden, die die traditionellen Handelsströme nicht unterbrechen, die uns oder unseren Nachbarn außerhalb der EWG keinen Schaden zufügen. Der Kontaktausschuß hat nicht die Aufgabe, künftig die Wirtschafts- oder die Handelspolitik der EWG selbstherrlich in die Hand zu nehmen. Der Kontaktausschuß hat keine grundsätzlichen Fragen zu bearbeiten, sondern überall dort anzutreten, wo Gefahr im Verzuge ist und es sich darum handelt, durch Einzelmaßnahmen und Einzellösungen — das wird in einer ganzen Reihe von Wirtschaftszweigen der Fall sein - Ausgleiche zu suchen.
Die Wirtschaft hat naturgemäß auch ein Interesse daran — das ist wieder verständlich und spricht in gewissem Sinne für eine Beschleunigung —, möglichst bald klare Verhältnisse zu schaffen, damit sie endlich weiß, wie und wo sie steht, und damit ihre längerfristigen Überlegungen auf sicherem Boden ruhen. Selbstverständlich wünscht die deutsche Wirtschaft genau wie wir eine möglichst gute Verständigung mit der EFTA, um klare Verhältnisse zu schaffen, und zwar klare Verhältnisse nicht nur für den Augenblick, sondern auf lange Sicht.
Das Kabinett hat sich in seiner Sitzung vom 22. April dahin geeinigt, daß grundsätzlich jede Maßnahme zu begrüßen sei, die die Ziele des EWG-Vertrages fördere und eine Stärkung der Gemeinschaft der sechs Länder herbeiführe.
Die Bundesregierung knüpft aber an den Vorschlag der Kommission Vorstellungen hinsichtlich des Zeitpunktes, zu dem die Verkürzung der Fristen
verwirklicht werden soll. Der gemeinsame Außentarif wird dabei um 20 % gekürzt werden.
In diesem Zusammenhang ist die Frage entstanden, ob damit zugleich eine endgültige Konsolidierung erfolgen solle. Ich für meine Person würde das wünschen! Aber die Zöllner erheben demgegenüber den Einwand, daß man dieses Pfand bei den kommenden GATT-Verhandlungen bzw. bei der Dillon-Runde als Verhandlungsobjekt in der Hand haben müsse. Es kommt da auf eine grundsätzliche Einstellung an. Ich persönlich bin der Meinung, daß der Zoll an sich kein nationaler Wert ist, der unter allen Umständen verteidigt werden müßte. Im Regelfall ist er zu hoch und erweist sich dann als ein Unglück. Die Zöllner, die in dieser Beziehung von einer anderen Denkweise erfüllt sind, werden also die 20%ige Zollsenkung, die wir nach außen vornehmen, als Verhandlungsobjekt behalten wollen. Ich hoffe aber — und die Bundesregierung wird dafür eintreten —, daß bei den GATT-Verhandlungen seitens der EWG Zollsenkungen über jene 20 % hinaus Platz greifen werden.

(Abg. Dr. Deist: Sitzen in der Bundesregierung keine dieser Zöllner? — Heiterkeit.)

- Gibt es auch! Die gibt es seit Jesus Christus in aller Welt.

(Anhaltende Heiterkeit. — Abg. Illerhaus: Es gibt auch Pharisäer!)

Noch eines scheint mir für die Betrachtung wichtig zu sein. Wir treten dafür ein — und ich glaube, wir werden dazu auch die Zustimmung unserer Partner in der EWG finden —, daß die deutschen Zollanhebungen im Ausmaß dadurch gemildert werden, daß die Rückgängigmachung der konjunkturpolitischen Zollsenkung in Etappen erfolgt. Denn es ist gerade die Rückspulung der konjunkturpolitischen Zollsenkung, die in besonders starkem Maße den Effekt einer Zollerhöhung auslöst.
Das Wesentlichste von allem scheint mir folgendes zu sein. Die Bundesregierung ist der Ansicht, daß vor der Inkraftsetzung einer Beschleunigung alle Möglichkeiten einer Verständigung mit der EFTA ausgenützt werden sollten. Wir wollen damit einem Gebot der Loyalität und der Fairneß auch gegenüber unseren Partnern und Freunden außerhalb der EWG genügen. Diese Verhandlungen müssen mit großer Intensität geführt werden, weil zum 1. Januar die vorgesehenen Maßnahmen der Verkürzung erfolgen sollen, die letzte Entscheidung und das Gesetz des Handelns aber nicht in die Hände unserer Verhandlungspartner gelegt werden können. Diese Verhandlungen müssen nach meiner Überzeugung und auch nach Auffasung der Bundesregierung auf Ministerebene oder auf Staatssekretärebene geführt werden; denn es ist nach dem Vertrag der Ministerrat, der die Verantwortung für die Politik der EWG trägt. Die Europäische Kommission hat nicht den Status einer Regierung, und sie hat auch nicht die Politik der EWG zu verantworten. Nur aus dem politischen Wollen heraus kann und wird nach meiner Überzeugung die Lösung dieser so wichtigen Frage, d. h. eine Einigung mit der EFTA gefunden werden. Selbstverständlich



Bundeswirtschaftsminister Dr. Dr. h. c. Erhard
setzen wir die gleiche gute Gesinnung und die gleiche Aufgeschlossenheit bei unseren Freunden von der EFTA voraus und sind dessen auch gewiß. Denn in der Zwischenzeit habe ich den Eindruck gewonnen, daß in keinem Lager eine ungetrübte Freude vorherrscht, wenn zu befürchten wäre, daß sich die beiden Wirtschaftsbereiche stärker auseinanderleben könnten. Ich will mich ganz vorsichtig ausdrücken und vermeide mit Absicht harte Begriffe wie „Spaltung", „Blockbildung" und alles, was die Situation über Gebühr dramatisieren könnte. Nein, ich sage: auseinanderleben, und zwar mit aller Trübsal, die auch damit verbunden wäre. Es ist offenkundig: Sosehr wir ein vitales nationales wirtschaftliches und soziales Interesse daran haben, mit der ganzen Welt verbunden zu bleiben, sosehr wir das Prinzip der Meistbegünstigung und der Multilateralität als ein unverzichtbares Prinzip bei der fruchtbaren Gestaltung des Welthandels ansehen — jetzt stehen wir vor einer vergleichsweise kleineren und engeren Entscheidung. Europa ist ja nicht nur als ein wirtschaftliches Gebilde, nicht nur in politischem Sinne zu verstehen, sondern Europa bedeutet auch eine geistigkulturelle Einheit. Gerade die bunte Mannigfaltigkeit, die da lebendig ist, darf nicht zerstört werden. Sie hat immer das europäische Zusammenleben und die Freundschaft zwischen den Völkern befruchtet.
Im Grunde genommen haben wir es ja mit zwei Problemen zu tun. Zunächst ist das kurzfristige Problem zu lösen. Wenn die Verkürzung nach unserem Willen erst zum 1. Januar 1961 Platz greift, haben wir am 1. Juli 1960 mit einer Zollsenkung nach innen um 10 % und zum 1. Januar 1961 mit einer weiteren Zollsenkung nach innen um 10 % zu rechnen. Die Frage lautet: Was kann zu diesen Terminen im Hinblick auf diese Schritte geschehen, um durch eine Angleichung der Politik zwischen EWG und EFTA den Graben nicht zu vertiefen, sondern nach Möglichkeit sogar auszufüllen?
Diese Bereitschaft ist nach meiner Überzeugung heute vorhanden, denn einerseits sind manche Länder der EFTA so stark mit der EWG und im besonderen mit der Bundesrepublik verbunden, daß auch von dieser Seite her der Drang und das Wollen nach einer Verständigung lebendig sein wird, wie ich zum anderen die deutsche Situation schon gekennzeichnet habe.
Kurzfristig stellt sich also das Problem: Was kann man in einem pragmatischen Verfahren, insbesondere durch die Einschaltung des Kontaktausschusses, tun, um die beiden Bereiche so nahe wie möglich verbunden zu halten. Diese Frage läßt sich bei gutem Willen lösen; sie läßt sich auch in etwa mit dem Instrumentarium lösen, das schon bisher Anwendung gefunden hat.
Aber neben dem kurzfristigen Problem gibt es ein langfristiges Problem, und damit ist wieder die Frage der „multilateralen Assoziation" angeschnitten. Wir können dieser Frage nicht ausweichen; denn wenn zum 1. Januar 1962 zu der bis dahin vollzogenen 30 %igen Zollsenkung noch einmal 20 % hinzukommen, der Zollabbau nach innen also 50 % beträgt, und bis dahin auch die EFTA-Länder
ihre Zölle nach innen um 50 % gesenkt haben — wir wissen heute schon aus manchen Erklärungen, daß die EFTA-Länder unser Tempo mithalten werden —, dann können wir in beiden Lagern nicht mehr mit dem provisorischen Mittel der Gewährung so weitreichender Zollsenkungen auf GATT-weiter Grundlage operieren. In dieser Beziehung gibt es auch zwischen den beteiligten Ressorts der Bundesregierung keine Meinungsverschiedenheiten. Jeder, der sich mit der Frage befaßt, muß zu der Überzeugung kommen, daß bei einer Zollsenkung von 20 % — also 10 plus 10 im nächsten halben Jahr — die Schwierigkeiten noch einmal mit pragmatischen Lösungen, mit Übergangshilfen zu bereinigen sind — nicht mehr aber zum 1. Januar 1962. Da muß eine Lösung gefunden werden, die vom System her eine bessere Verklammerung oder eine Zusammenschau der Interessen von EWG und EFTA gewährleistet.
Ich will nach dieser Richtung keine Modelle aufzeigen, sondern das den Herren Abgeordneten überlassen. Aber die Lösungen bieten sich sozusagen fast von selbst an. Es gibt nicht sehr viele Variationen, wie EWG und EFTA zu einer systemgebundenen Zusammenarbeit gelangen können.
Lassen Sie mich zum Schluß noch etwas Positives sagen. Wir wollen doch nicht vergessen, daß seit dem Jahre 1948 viele internationale und auch europäische Bemühungen in Richtung einer immer engeren und freieren Verbindung der Nationalwirtschaften zu sichtbarem Erfolg geführt haben. Es ist sicher nicht die EWG gewesen, die die Konvertierbarkeit der Währungen in Europa bewirkt hat. Es lag aber im Wesen der europäischen Zusammenarbeit, daß diese Frucht herangereift ist. Die Konvertierbarkeit der Währungen stellt heute eine weitere und gewiß nicht die schlechteste Verklammerung dar. Die fortschreitende Gesundung der französischen Wirtschafts-, Währungs- und Finanzlage ist ein wesentlicher positiver Faktor von europäischer Bedeutung, und wir wollen glücklich sein, daß es Frankreich unter der jetzigen Regierung gelungen ist, mit einer klaren Wirtschaftspolitik in kurzer Zeit wieder so sichtbare Erfolge zu erreichen. Das macht auch die europäische Verständigung über die EWG hinaus zweifellos leichter.
Schließlich glaube ich auch, daß der Zug in Richtung auf eine liberale Gestaltung der Außenhandelspolitik nicht zu verkennen und nicht mehr zu leugnen ist. Ich habe dazu schon gesagt, daß man in diesem oder jenem Land über die Charakterisierung liberaler Handelspolitik unterschiedlicher Meinung sein kann. Aber angesichts des Trends der Handelspolitik der europäischen Länder — sowohl in ihren einzelnen Bereichen wie auch in umfassenderen Gemeinschaften — können wir uns darauf verlassen, daß wir hier noch nicht am Ende stehen, denn es entspricht einem Gesetz der Logik, daß ein wirtschaftlicher Verband um so liberaler sein kann, je umfassender er gestaltet ist. Die Enge des Denkens erwächst immer nur aus der ökonomischen oder auch der politischen Inzucht. Wenn sich die Grenzen weiten, dann ist für eine liberale Politik sehr viel mehr Raum. Wir wollen alle unsere Kraft daran-
Deutscher Bundestag — 3. Wahlperiode — 111. Sitzung, Bonn, Mittwoch, den 4. Mai 1960 6205
Bundeswirtschaftsminister Dr. Dr. h. c. Erhard
setzen und getreu den Empfehlungen und den Richtlinien, die dieses Hohe Haus uns gegeben hat, dafür sorgen, daß über die engere Bindung der EWG, über ihre innere Festigung hinaus gleichwohl der europäische Gedanke nicht verlorengeht, der Funke nicht verlischt.

(Beifall bei den Regierungsparteien.)


Dr. Kurt Birrenbach (CDU):
Rede ID: ID0311102200
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In den Großen Anfragen der Opposition geht es im wesentlichen um drei Probleme: a) ob und inwieweit der Beschleunigungsvorschlag der Europäischen Kommission für die Bundesrepublik annehmbar ist oder nicht, b) warum die bisherigen Verhandlungen über eine gesamteuropäische Lösung noch nicht zu einem Ziel geführt haben, c) ob der Gedanke einer politischen Integration der EWG zu einer Spaltung der freien Welt führen wird.
Die Bundesrepublik geht in ihrer Stellungnahme zu den Beschleunigungsvorschlägen der Europäischen Kommission von einer bestimmten politischen Grundhaltung aus. Nach dem Scheitern der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft und der Bemühungen um eine europäische Verfassung war die europäische Bewegung bestrebt, über eine Integration der Wirtschaften der sechs Länder das Ziel zu erreichen, das überhaupt das Grundmotiv aller Bestrebungen seit Gründung der Montanunion gewesen ist, nämlich zu einer politischen Zusammenfassung der sechs Länder des europäischen Kontinents zu kommen.
Die römischen Verträge, denen die SPD ihre Zustimmung gegeben und bezüglich deren auch Herr Margulies hier heute für seine Partei eine verhältnismäßig positive Erklärung abgegeben hat, fordern eine gemeinsame Handels-, Wirtschafts-, Finanz- und Landwirtschaftspolitik. Diese Wirtschaftspolitik der Sechs kann aber nur dann gemeinsam sein, wenn die den wirtschaftlichen und finanziellen Entscheidungen zugrunde liegenden Motive Ausfluß eines gemeinsamen und nicht nur koordinierten politischen Willens sind. Die Durchführung dieser Grundbestrebungen des Gemeinsamen Marktes setzt am Ende der Übergangsperiode die Entstehung eines gemeinsamen europäischen föderativen Zusammenschlusses voraus. Das ist das Ziel der europäischen Verträge und kein anderes.
Die mit der Gründung der EWG verbundenen politischen und wirtschaftlichen Ziele sollen nach dem Willen der Bundesregierung und der Mehrheitsparteien mit allem Nachdruck ihrer Verwirklichung zugeführt werden. Keine Maßnahme ist mehr geeignet, diesen Prozeß zu fördern, als die Einführung eines gemeinsamen Außentarifs. Abgesehen von dem Abbau der Binnenzölle bildet dieser gemeinsame Außentarif das Rückgrat der Zoll- und Wirtschaftsunion, die ja das Wesen der EWG ist. Daher kann es wohl über die Höhe, keineswegs aber über die Existenz eines gemeinsamen Außentarifs der EWG eine Diskussion geben. Sie ergibt sich aus den römischen Verträgen. Darum und nur i darum geht es in der jetzigen Kontroverse über die Beschleunigungsvorschläge der Europäischen Kommission: ob die erste Annäherung an den Außentarif am 1. Juli dieses Jahres, am 1. Januar des nächsten Jahres oder am 31. Dezember 1961 stattfindet.
Diese Vorschläge haben, wenn sie verwirklicht werden, wirtschaftliche und auch politische Rückwirkungen nach innen sowie nach außen. Die positiven und negativen Rückwirkungen des Beschleunigungsvorschlages der Europäischen Kommission müssen, wenn man zu einer konstruktiven Entscheidung kommen will, gegeneinander abgewogen werden.
Welches sind zunächst die Nachteile des Beschleunigungsvorschlages? Der erste Nachteil ist die Einbeziehung der Landwirtschaft, die sich schon durch die normalen Fristen der EWG vielenorts überfordert fühlt. Der zweite Nachteil ist folgender: Die Annäherung an den rechnungsmäßigen gemeinsamen Außentarif setzt eine gewisse Anhebung des Zollnivaus der Bundesrepublik und der Beneluxländer voraus, der jedoch beträchtliche Zollherabsetzungen der Hochzolländer der EWG gegenüberstehen. Und endlich drittens: Der Abbau der Binnenzölle führt zu einer wenn auch zunächst noch unwesentlichen Differenzierung in der Zollbehandlung der Drittländer einschließlich der EFTA.
Was diese Nachteile anbelangt, so hoffen wir, daß in den Beratungen des europäischen Ministerrats Verständnis für die Lage der deutschen Landwirtschaft aufgebracht wird. Wir glauben ferner begründete Hoffnung zu haben, daß eine kurzfristige Vertagung des Datums der Beschleunigung und die Erstreckung der Rückspulung der vierten konjunkturpolitischen Zollsenkung die diesbezüglichen Auswirkungen nach innen und außen mildern.
Die Vorteile des Beschleunigungsvorschlages sind überaus gewichtiger Natur. Erstens: Nur unter der Bedingung einer Beschleunigung ist eine 20 %ige Senkung des Außentarifs von morgen durchzusetzen. Zweitens: Die Beschleunigung des Abbaus der Binnenzölle und aller Kontingente für Industriegüter bis zum Ende des kommenden Jahres wird ein bedeutender Schritt vorwärts in Richtung auf die innere Konsolidierung der EWG sein. Ein gesenkter Außentarif und ein so bedeutsamer Abbau der Binnenzölle, nachdem die EWG gerade in Kraft getreten ist, bedeuten ein positive Entwicklung, die vor zwei Jahren niemand vorhergesehen hätte. Drittens: Wenn man an einer handelspolitischen Annäherung insbesondere an die EFTA interessiert ist, ist die Tatsache der Vorziehung des Außentarifs von besonderer Bedeutung. Gerade der Außentarif — und zwar erstaunlicherweise nur dieser und nicht der beschleunigte Abbau der Binnenzölle — ist Gegenstand so scharfer Kritik außerhalb der EWG in Europa trotz der Tatsache, daß die europäische Kommission eine 20 %ige Senkung vorgeschlagen hat. Offenbar liegt hier der Stein der Anstoßes. Das beweist aber gerade, daß immer noch Hoffnungen genährt werden, man könne die EWG in eine Freihandelszone umwandeln. Für diese Hoffnungen stellen die römischen Verträge aber keine Grundlage dar. Stellte man den Außentarif zur Diskussion —ich wiederhole das , würde man die EWG als



Dr. Birrenbach
solche verleugnen. Je eher die Situation außerhalb der EWG definitiv geklärt wird, um so eher werden konstruktive Verhandlungen über eine künftige Lösung des europäischen Handelsproblems möglich sein. Wenn also der Augenblick günstig ist und die Vorteile der Beschleunigung die Nachteile überwiegen, dann hat die Bundesregierung recht, diese Beschleunigung im Prinzip — mit gewissen Modalitäten — zu akzeptieren, wie sie das getan hat.
Aus der Erklärung der Bundesregierung ergibt sich eindeutig ein weiterer, sehr wesentlicher Umstand: Es sollen unverzüglich Verhandlungen mit den äußeren Sieben über eine Interimslösung eingeleitet werden. Für diese Verhandlungen wird die 21 er-Konferenz der zweckentsprechende Rahmen sein. Die Aufgabe dieser Verhandlungen wäre es, die wirtschaftlichen Konsequenzen der divergierenden Zollentwicklungen in den beiden europäischen Handelssystemen in Grenzen zu halten, damit nicht der Weg für eine spätere umfassendere Lösung verbaut wird.
Wie steht es nun mit einer solchen Interimslösung? Die EFTA hat auf ihrer Wiener Tagung der EWG den Vorschlag gemacht, ihre vom 1. Juli dieses Jahres an vorgesehene 20%ige Zollsenkung auf alle GATT-Staaten — unter der Voraussetzung der Gegenseitigkeit seitens der EWG — auszudehnen. Demgegenüber ist festzustellen, daß die EWG-Mitglieder heute gar nicht mehr individuell in der Lage sind, ihre internen Zollermäßigungen voll GATT-weit weiterzugeben. Das ist eben eine Konsequenz der Zollunion. Es geht hier darum, ob man die EWG als solche will oder nicht. Derartige individuelle Zollsenkungen sind nur insoweit möglich, als dadurch der künftige gemeinsame Außentarif nicht unterschritten wird.
Alle Interimsmaßnahmen zur Abschwächung der Zolldifferenzen zwischen den beiden Außenhandelssystemen müssen gemäß dem Prinizip der Meistbegünstigung GATT-weit getroffen werden. Bei bestimmten kritischen Produkten lassen sich beispielsweise GATT-weite Zollkontingente als gezielte Maßnahmen denken, die in erster Linie den europäischen Staaten zugute kämen. Man kann sich weiter vorstellen, daß parallel dazu bei den GATT-Verhandlungen bestimmte kritische Zollpositionen des gemeinsamen Außentarifs gesenkt werden, die gerade europäischen Ländern zugute kommen. Nehmen Sie das Beispiel Portugal! Hier könnte man mit Zollkontingenten für zwei oder drei neuralgische Artikel beinahe die gesamte handelspolitische Problematik lösen, die sich zur Zeit aus dem Vorhandensein der EWG ergibt.
Darüber hinaus bietet der Vorschlag des Kontaktausschusses die Möglichkeit, im Einzelfall auftretende Schwierigkeiten zu behandeln. Das alles klingt nicht nach Sabotage, Herr Kalbitzer.
Lassen Sie mich zum zweiten Punkt kommen! Die Opposition dieses Hauses führt darüber Klage, die zuletzt in dem Bundestagsbeschluß vom Oktober 1958, der einstimmig angenommen worden war, zum Ausdruck gekommene Idee einer multilateralen Assoziation zwischen der EWG und den übrigen Mitgliedern der OEEC habe noch keine genügenden Fortschritte gemacht. Die Opposition — insonderheit Herr Kalbitzer — übersieht dabei eine Reihe wichtiger Momente. Zunächst ist vielfach innerhalb wie außerhalb der EWG die Kompliziertheit der zu lösenden Probleme — gestatten Sie mir, das zu sagen — in einer geradezu beängstigenden Weise unterschätzt worden. In den OEEC-Staaten außerhalb der EWG bestehen wirtschaftliche Interessengegensätze zwischen Niedrig- und Hochzollländern, zwischen Agrar- und Industriestaaten, zwischen entwickelten und unterentwickelten Ländern. Gegensätze dieser Art, die auf wirtschaftlichen Motiven beruhen, lassen sich nur schwer und wenn überhaupt, dann nur in verhältnismäßig langen Zeiträumen überbrücken.
In ¡der EWG haben Interessengegensätze dieser Art natürlich auch bestanden, wenn auch in geringerem Umfang. Wenn es ,dennoch gelungen ist, im Verlaufe von etwa zwei Jahren die römischen Verträge unter Dach und Fach zu bringen, einen gemeinsamen Außenhandelstarif zu schaffen, in einem Jahr die kritische Liste G herzustellen, so beweist das doch, daß das entscheidende Motiv hinter den Zusammenschlußbestrebungen der Sechs nicht nur ein wirtschaftliches, sondern eben ein politisches gewesen ist. Aus der Perspektive des Wunsches nach politischer Einigung verloren die Zolldifferenzen und Interessengegensätze an Gewicht.
Die römischen Verträge haben ein Gleichgewicht zwischen Rechten und Pflichten der einzelnen Partnerstaaten hergestellt. Einen ähnlichen gemeinsamen Nenner für 18 OEEC-Staaten zu schaffen, ist ungleich schwieriger, insbesondere wenn der Wille, die wirtschaftlichen Interessen dem politischen Endziel unterzuordnen, nicht gegeben ist. Noch gestern hat der schwedische Außenminister Undén erklärt, daß die EFTA keinerlei politische Ziele hat.
Zweitens. Bei der Bildung einer europäischen Freihandelszone sind der Phantasie der Politiker wie der Wirtschaftler sehr enge Grenzen durch das Grundgesetz gezogen, auf dem der internationale Handel in der Nachkriegszeit beruht: das GATT. Das Grundprinzip des Außenhandels, zu dem sich 38 Nationen, darunter alle Wirtschaftsnationen der westlichen Welt, bekannt haben, ist das Prinzip der Meistbegünstigung. Der GATT-Vertrag sieht lediglich zwei Ausnahmen von diesem Prinzip vor: die Zollunion und die Freihandelszone. Den ersten Weg hat die EWG, den zweiten haben die peripheren europäischen Staaten in der EFTA begangen.
Eine Zollunion setzt ebenso wie die Freihandelszone voraus, daß die Binnenzölle innerhalb einer bestimmten Frist, und zwar für annähernd den gesamten Handel, beseitigt werden. Dieser umfassende Charakter, der für die Regionalabkommen durch Art. XXIV des GATT vorgeschrieben ist, schloß alle Teillösungen aus, sei es für Teile des Warenverkehrs, sei es in der Form von Vorzugszöllen. Eine europäische Präferenzzone ist also danach keine Alternative. Die Lösungsmöglichkeiten für ein europäisches Handelssystem sind daher sehr beschränkt.
Drittens. Eine weitere Komplikation für die Bildung eines gesamteuropäischen Handelssystems er-



Dr. Birrenbach
gab sich im Verlaufe des vergangenen kritischen Jahres aus dem Zahlungsbilanzdefizit der Vereinigten Staaten. Defizite in den beiden letzten Jahrein in Höhe von über 7,5 Milliarden Dollar, verbunden mit Goldabflüssen in Höhe von über 3 Milliarden Dollar, haben die Amerikaner zu einer Überprüfung ihrer Haltung gegenüber den europäischen wirtschaftlichen Integrationsbestrebungen veranlaßt, zumal da gerade Westeuropa mit Hilfe der Vereinigten Staaten in den letzten Jahren seine Goldreserven von 10 Milliarden Dollar auf den Stand der Vereinigten Staaten im Jahre 1950, id. h. um mehr als 100 % erhöht hat. Wenn man berücksichtigt, daß die amerikanische Wirtschaftshilfe, der Kapitalexport der Vereinigten Staaten in die nichtamerikanische Welt und endlich ,die militärische Rüstungshilfe eine außerordentliche Belastung 'der amerikanischen Zahlungsbilanz darstellen, die zum Teil gerade den europäischen Staaten zugute kamen und kommen, so wird die veränderte amerikanische Haltung verständlich.
Jede Diskriminierung ,des 'amerikanischen Handels wird daher in Amerika kritisch aufgenommen. Nur im Falle der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft wurden die vertragsmäßig vorgesehenen Zollmaßnahmen akzeptiert. Die Überwindung der nationalen Zersplitterung auf dem europäischen Kontinent durch die umfassende Gemeinschaft der Sechs halten die USA, insbesondere aus der Sicht des OstWest-Konfliktes, für so entscheidend, daß sie demgegenüber ihre eigenen Wirtschaftsinteressen zurückstellen. Die USA und Kanada wünschen heute in den wichtigsten Fragen des europäischen Handels konsultiert zu werden und wehren sich gegen weitere Diskriminierungen ihres Exports. Offenbar werden rein handelspolitische Gruppierungen in Europa von 'der amerikanischen Regierung im Augenblick weniger positiv bewertet als die eindeutig politisch orientierte EWG. Selbstverständlich hat auch diese völlig neue Situation die Lösung des gesamteuropäischen Handelsproblems nicht erleichtert.
Viertens. Die Bildung der kleinen Europäischen Freihandelszone durch die Äußeren Sieben hat das ganze vergangene Jahr in Anspruch genommen. Sie ist ja die Verhandlungsplattform der Sieben, und ehe diese nicht fertiggestellt war — sie ist gestern ratifiziert worden —, war praktisch idas Verhandlungsinstrument der EFTA noch nicht griffbereit.

(Abg. Kalbitzer: Europa 'ist doch nicht gestern in die Welt gekommen!)

So war auch von dieser Seite eine abwartende Haltung zu erkennen.

(Abg. Kalbitzer: Sie sind doch nicht gestern auf die Welt gekommen! — Weiterer Zuruf von der SPD: Sie haben sogar verhandelt!)

— Herr Kalbitzer, durch die Ratifikation ist die EFTA praktisch zu einem völkerrechtlichen Instrument geworden. Selbstverständlich ist vorher schon verhandelt worden. Ich habe Ihnen aber, glaube ich, an den Gründen, die ich bisher dargelegt habe, genügend klargemacht und werde es Ihnen an den weiteren Gründen, die ich noch darlegen werde,
ebenso klarmachen, welche schwierigen Probleme praktisch eine Lösung ad hoc dieser großen Handelsfrage bis zu diesem Augenblick unmöglich gemacht haben.
Fünftens. Nachdem ich die komplexe und vielschichtige Problematik eines gesamteuropäischen Handelsschemas dargestellt habe, muß ich weiterhin insbesondere der deutschen Opposition, aber auch vielen ausländischen Kritikern, speziell in Großbritannien, in Erinnerung bringen, daß die Bundesrepublik in der Gestaltung ihrer Außenhandelsbeziehungen heute nicht mehr souverän ist. Sie ist ein Partner innerhalb des Europas der Sechs. Deutschland ist lediglich einer der Faktoren für die Willensbildung der EWG und damit nur ein Element des Kompromisses, den schließlich die sechs Partner untereinander finden müssen. Aus allen diesen Gründen wird deutlich klar, daß es nicht die Schuld der Bundesregierung sein kann, wenn in den letzten anderthalb Jahren nicht größere Fortschritte bei der Lösung des europäischen Handelsproblems erzielt werden konnten.
Nun stellt sich aber eine ganz grundsätzliche Frage: ob überhaupt ein Bedürfnis für ein westeuropäisches Handelssystem besteht oder ob der Brüsseler Vorschlag einer liberalen Handelspolitik der EWG alle Schwierigkeiten ausräumt, vor die wir uns in den letzten Monaten und auch schon im vergangenen Jahr gestellt gesehen haben. Man hat bisher, insbesondere in den europäischen Ländern außerhalb der EWG, angenommen, das Europa der Sechs würde ein autarkes Gebilde, das sich gegenüber der Außenwelt abschließen wolle. Diese Auffassung hat sich jedoch als irrtümlich erwiesen. Über den liberalen Charakter der Handelspolitik der EWG kann nach Festlegung des gemeinsamen Außentarifs, nach Bekanntwerden der Liste G und endlich angesichts des Entschlusses der Europäischen Kommission, mit dem Vorschlag einer 20%igen Außenzollsenkung in die Dillon-Runde hineinzugehen, kein Zweifel mehr bestehen. Daß die Landwirtschaft dabei ein besonderes Problem darstellt, wissen wir alle. Erst wenn man hier klar sieht — und das ist bisher ja noch nicht der Fall —, kann man zu dieser Frage abschließend Stellung nehmen.
Der Außenzoll der EWG unter Berücksichtigung einer 20%igen Reduktion würde unter dem britischen, aber auch unter dem amerikanischen Zoll liegen. Diese Tatsache scheint mir bedeutsam zu sein. Die Opfer, die Frankreich und Italien in diesem Zusammenhang zu bringen gewillt sind, sollten in ihrer ganzen Tragweite auch außerhalb der EWG gewürdigt werden. Ob allerdings eine liberale Politik allein ausreicht, den europäischen Handelskonflikt zu lösen, erscheint zweifelhaft; ich nehme es nicht an.
Nun zum Zweiten. Eine andere, praktisch mögliche Lösung der europäischen Handelsprobleme bestände theoretisch gemäß Art. 237 des EWG-Vertrages im Beitritt der anderen OEEC-Staaten zur EWG. Für eine Reihe von Ländern besteht diese Möglichkeit aber nicht oder jedenfalls noch nicht. Die Schweiz, Österreich und Schweden glauben mit Rücksicht auf die Wahrung ihrer Neutralität der
6208 Deutscher Bundestag —.3. Wahlperiode — 111. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 4. Mai 1960
Dr. Birrenbach
EWG nicht beitreten zu können. Wenn wir die politische Zielsetzung der EWG ernst nehmen, müssen wir für diese Haltung Verständnis haben. Das Schicksal Finnlands muß uns bei den Verhandlungen sowohl über die Übergangsregelung als auch über eine spätere Endlösung ganz besonders am Herzen liegen, und gerade meine Parei wird diesen Gesichtspunkt ganz entscheidend mit in den Vordergrund ihrer Erwägungen stellen.

(Vorsitz: Vizepräsident Dr. Jaeger.)

Großbritannien scheinen bis heute die Bindungen an sein Commonwealth den Beitritt zur EWG unmöglich zu machen. Allerdings mehren sich in Großbritannien die Stimmen, die gerade einer solchen Lösung das Wort reden. Diese Stimmen dürften aber noch isoliert sein. Über die Bedeutung des Commonwealth für Großbritannien und umgekehrt brauche ich hier kein Wort zu verlieren. Insbesondere die Einbeziehung großer asiatischer Völker in diese Machtgruppe stellt einen Friedensfaktor erster Ordnung dar. Eine Lösung oder Schwächung dieser Bindung kann im Interesse des an sich schon so prekären Friedens der Welt gar nicht gewünscht werden.
Eine Reihe anderer Länder wie die Türkei und Griechenland sind zwar der EWG nicht beigetreten, streben aber eine bilaterale Assoziation an, da sie angesichts ihrer besonderen Wirtschaftssituation zur Zeit noch nicht in der Lage sind, sich den Verpflichtungen des Vertrags zu unterwerfen. Ein Land wie Dänemark hat zwischen dem Eintritt in die EWG und dem Eintritt in die EFTA geschwankt, da Dänemark, eines der wichtigsten Exportländer Europas, fast genauso viele landwirtschaftliche Güter in den EWG-Markt wie nach Großbritannien exportiert. Eine Lösung Dänemarks von Schweden beispielsweise hätte eine nicht zu verantwortende Beeinträchtigung der Solidarität der drei nordischen Nationen zur Folge gehabt und schied daher aus.
So ergeben sich — jedenfalls im Augenblick — Gründe, die es verständlich machen, daß der Weg der EWG nicht für alle übrigen OEEC-Staaten gleichermaßen gangbar ist. Dennoch haben diese europäischen Länder einen Anspruch darauf, in enger Verbindung mit dem Kerneuropa der Sechs zu stehen. Zunächst hat der zweite Weltkrieg das alte Europa lebensgefährlich gespalten, so daß das Resteuropa nur bestehen kann, wenn es sich als eine Einheit fühlt. Die Wirtschaft ist ein zu wichtiger Integrationsfaktor, als daß sie in dem Prozeß der Einigung Europas ausgespart werden könnte. Das bedeutet keineswegs, daß alle westeuropäischen Staaten in wirtschaftlicher Hinsicht denselben Weg gehen müssen.
Die Verflechtung der Länder der EFTA mit der EWG — ich erinnere an Österreich oder die Schweiz oder an Länder wie etwa Schweden oder Dänemark — ist in wirtschaftlicher Hinsicht so eng geworden — und historisch gewachsen —, daß allein diese Tatsache diesen Ländern nahezu ein Recht auf eine gewisse Partnerschaft mit dem Kerneuropa gibt, in einer Form, über die man in Zukunft sprechen und verhandeln wird und muß. Über die wirtschaftlichen Verflechtungen hinaus ist ein Teil der OEEC-Länder Mitglied der gleichen Allianz wie die EWG- Länder, die ja die Grundlage der Sicherheit der westlichen Welt überhaupt bilden. Daraus ergibt sich ein enger Interessenzusammenhang zwischen gewissen Staaten der EFTA und der EWG.
Wenn man sich weiter die gewaltige wirtschaftliche Entwicklung im Sowjetblock, insbesondere im Verlaufe des letzten Jahrzehnts, vor Augen hält und mit Sorge die ungleich höheren Wachstumsraten der östlichen Wirtschaft mit denen der westeuropäischen vergleicht, so wird um so deutlicher, daß die Vorteile einer großräumigen Wirtschaft nicht nur auf die EWG beschränkt werden sollten.
Und endlich: Die Hilfe für die unterentwickelten Länder -ist heute als eine der zentralen Fragen in der internationalen Politik erkannt. Diese Aufgabe kann erfolgreich nur im Zusammenwirken zwischen den Vereinigten Staaten, dem ganzen westlichen Europa und den Ländern des britischen Commonwealth durchgeführt werden. Diese Aufgabe setzt einen hohen Grad europäischer, gesamteuropäischer wirtschaftlicher Koordination voraus. Die Gemeinsamkeit dieser großen Aufgabe zwingt uns allein aus der Perspektive des Ost-West-Konfliktes, das europäische Problem unter umfassenderen Gesichtspunkten zu sehen.
Wenn man danach das Bedürfnis nach einer europäischen Handelsregelung, das von den Außen- und Wirtschaftsministern der EFTA auf der Tagung des Europarats in Straßburg am 21. Januar in so beschwörender Form dargelegt worden ist, im Prinzip anerkennt, muß man sich die Frage stellen, welches die Voraussetzungen sind, unter denen ein derartiges europäisches Handelssystem überhaupt denkbar wäre.
Dabei zeichnen sich folgende Bedingungen ab: Ein europäisches Handelssystem ist nur dann akzeptabel, wenn erstens der Bestand der EWG als Wirtschaftseinheit, wie sie in den römischen Verträgen stipuliert ist, anerkannt und den Bedenken Rechnung getragen wird, welche zum Zusammenbruch der Verhandlungen über die große Freihandelszone im November 1958 geführt haben; wenn zweitens unter Beachtung dieser Voraussetzungen die wirtschaftlichen Interessen der EFTA-Länder eine entsprechende Berücksichtigung finden; wenn drittens dieses Handelssystem den Grundsätzen des GATT entspricht und wenn viertens ein solcher Plan die Zustimmung der Vereinigten Staaten und Kanadas findet, die morgen in einer reorganisierten OEEC als Vollmitglieder ihren Einfluß auch auf die Gestaltung der europäischen Handelsbeziehungen geltend machen werden.
Die Erfüllung dieser Bedingungen scheint im ersten Augenblick der Quadratur des Kreises gleichzukommen. Bei näherer Prüfung erweist sich jedoch die hier gestellte Aufgabe zwar als außerordentlich schwierig, aber keineswegs unlösbar. Eine Reihe von Entwicklungen gerade des letzten Jahres haben manche neue Wege eröffnet. Ich nenne nur das Ergebnis der französischen Finanz- und Wirtschaftsreform, die Konvertibilität der europäischen Währungen, die günstige Gestaltung der Währungs-



Dr. Birrenbach
liquiditäten in Europa, die liberale Politik der Europäischen Kommission, die günstige Weltwirtschaftskonjunktur und schließlich die Konferenz der 21 in Paris, die den geeigneten Rahmen für künftige Verhandlungen abgeben wird.
Was nun die Realisierung der angeführten vier Bedingungen anlangt, so ist folgendes zu sagen. Die Verhandlungen über das ursprüngliche britische Freihandelskonzept waren seinerzeit aus verschiedenen Gründen gescheitert. In der EWG war man der Meinung, das wichtigste Unterscheidungsmerkmal zwischen Freihandelszone und Zollunion, die Autonomie der nationalen Zoll- und Handelspolitik, beinhaltet die Gefahr von Handels- und Produktionsverlagerungen.
Diesem Bedenken scheint man innerhalb der EFTA mehr und mehr Rechnung tragen zu wollen. Es hat den Anschein, als wenn die EFTA-Länder, oder zumindest einige von ihnen bereit wären, Verpflichtungen zu einer gewissen Harmonisierung der Außenzölle zu übernehmen und, soweit diese sich als nicht harmonisierbar herausstellen sollten, Bindungen dergestalt einzugehen, daß vor Änderung der Außenzölle die übrigen Partner konsultiert und dann gemeinsame Maßnahmen vereinbart werden, welche nachteilige Wirkungen einer einseitigen Änderung der Zölle beseitigen oder einschränken.
Unverkennbar ist die Harmonisierung zwischen gewissen Gruppen oder Ländern der EFTA mit der EWG einfacher als mit anderen. Vielleicht gestattet der Gedanke des österreichischen Außenministers Kreisky von differenzierenden Assoziationsabkommen innerhalb eines multilateralen Rahmenvertrages eine konstruktive Entwicklung.
In der EWG, insbesondere in den Hochzolländern, war man weiterhin der Meinung, die Entwicklung der Handelsströme in der modernen Wirtschaft hinge heute nicht nur von den direkten Handelshemmnissen, wie Zöllen und Kontingenten, sondern auch von den indirekten Hindernissen, wie den Unterschieden der Wirtschafts-, Finanz- und Sozialpolitik, der Steuergesetzgebung und der Wettbewerbsregelung, ab. Daher hält die EWG aus den Erfahrungen der Montanunion und des Gemeinsamen Marktes jedenfalls eine gewisse Koordinierung der Wirtschafts-, Finanz- und Sozialpolitik für absolut notwendig. Auch dieser Gedanke hat seit den kritischen Dezembertagen des Jahres 1958 Fortschritte gemacht.
Ferner waren die Hochzolländer der EWG in den Verhandlungen im Maudling-Komitee der Meinung, kein Partner eines europäischen Handelssystems dürfe gleichzeitig auf zwei Märkten Privilegien besitzen, wie sie Großbritannien auf Grund der Vorzugszölle von Ottawa genießt. Ein Teil dieser Bedenken scheint durch eine weitgehende Harmonisierung der Einfuhrzölle ausgeräumt werden zu können. Im übrigen aber — das sollte man hier offen sagen — sollten die EWG-Länder bei Prüfung dieses Problems nicht aus den Augen verlieren, daß Großbritannien für die Privilegierung seiner Exporte auf den Commonwealthmärkten außerordentlich bedeutsame Konzessionen in Gestalt umfangreicher
Nahrungsmittelimporte aus diesen Ländern zum Teil zu Lasten der britischen Landwirtschaft und bedeutender Investitionen, im Jahresdurchschnitt von zirka 300 Millionen Pfund, macht.
Des weiteren läßt die Bedeutung der Landwirtschaft für den Außenhandel zahlreicher OEEC-Staaten innerhalb und außerhalb der EWG sowie für das Gleichgewicht der Rechte und Pflichten ihre Einbeziehung in ein derartiges System notwendig erscheinen. Auch dieser Gedanke hat im Verlaufe der letzten anderthalb Jahre, wenn auch langsam, gewisse Fortschritte gemacht. Schließlich gewinnt man aus Äußerungen in verschiedenen EFTA-Ländern den Eindruck, es wachse das Verständnis für den Vorschlag einer Décalage, wie ihn das französische Memorandum vom Februar 1958 ursprünglich enthalten hatte. Auf dieser Basis ergäbe sich die Möglichkeit verschiedener Zeitpläne, die Zoll-Regelungen wesentlich erleichtern könnten. Die von mir angeführten Tendenzen lassen also erkennen, daß sich in zunehmendem Maße seitens der EFTA-Länder eine realistischere Einstellung zur Frage der europäischen Handelsprobleme durchsetzt.
Wie eine solche Endlösung schließlich aussehen wird, ist freilich heute noch nicht zu erkennen. Es erscheint auch verfrüht, sie heute schon als solche zu definieren; nur müßte sie in Übereinstimmung mit dem GATT sein. Der Rahmen für eine derartige Kooperation zwischen den Sechs und den Sieben wäre dann so weit gespannt, daß in wirtschafts- und handelspolitischer Hinsicht den legitimen Interessen dieser Länder entsprochen werden könnte und müßte.
Unabdingbar für eine solche Lösung, selbst wenn sie GATT-konform ist, müßte aber die Zustimmung der USA und Kanadas sein; das habe ich eingangs mit nicht mißzuverstehender Deutlichkeit zum Ausdruck gebracht. Diese Zustimmung hängt von der Wirkung ab, welche ein europäisches Handelssystem auf die Exporte des amerikanischen Kontinents ausüben wird.
Daß die Gleichgewichtsstörung in der Zahlungsbilanz der Vereinigten Staaten durch kurz- und langfristige Faktoren bedingt ist, die im wesentlichen außerhalb der Einwirkungsmöglichkeit der westeuropäischen Wirtschaft stehen, ist bekannt. Zur Überwindung der akuten Störungselemente können wir jedoch in Westeuropa in einem großen Umfang beitragen, indem wir uns bemühen, sämtliche noch bestehenden Dollardiskriminierungen fallen zu lassen.
Auf längere Sicht ist es vielleicht vorstellbar, daß die USA die nachteiligen Wirkungen der Existenz zweier rivalisierender europäischer Handelssysteme ernster beurteilen werden als die auf einen stetigen Zollabbau tendierende umfassende Lösung.
Das allgemeine wirtschaftliche Potential in einem vereinigten europäischen Handelsraum würde sich so erhöhen, daß auch die Exporte der USA an diesem Wachstumsprozeß substanziell profitieren würden und müßten. Darüber hinaus müßte eine multilaterale Assoziation auf längere Sicht eine dynamische Tendenz zur Senkung der Außentarife aus-



Dr. Birrenbach
lösen, da ein größerer Markt eine verstärkte Rationalisierung der Produktion — verbunden mit einer Senkung der Kosten — zur Folge hätte, die ihrerseits das Bedürfnis für eine Protektion wesentlich verringern würde.
Wären klare Vorstellungen über ein gesamteuropäisches Handelskonzept vorhanden, die Aussicht auf Verwirklichung hätten, so würde auch die Investitionspolitik der amerikanischen Wirtschaft eine wesentliche Erleichterung erfahren; insbesondere bedürfte es dann nicht mehr kostspieliger Doppelinvestitionen in zwei verschiedenen Räumen.
Die Lösung des europäischen Handelsproblems würde auf die Dauer ungleich stärkere wirtschaftliche Kräfte innerhalb Europas für eine Hilfe zugunsten unterentwickelter Länder freisetzen. Ihr koordinierter Einsatz wäre von viel größerer Wirkung als unabhängige Hilfsaktionen verschiedener Systeme- oder Länder.
Alle diese Gesichtspunkte werden in den kommenden Jahren sicherlich Gegenstand der Prüfung der zuständigen Stellen in den Vereinigten Staaten und in Kanada sein, zumal die Lösung des europäischen Handelsproblems sowieso nicht von heute auf morgen möglich ist.
Um zu einer Lösung des europäischen Handelsproblems zu kommen, bedarf es nahezu ebenso starker politischer Willensimpulse wie die, deren Ergebnis die römischen Verträge waren. Die Größe der Aufgabe kann schwerlich überschätzt werden. Daß Jahre vergehen werden, ehe dieses Ziel erreicht ist, scheint klar. Aus diesem Grunde ist eine tragbare Zwischenlösung in der Begrenzung, von der Herr Minister Erhard gesprochen hat, um so wichtiger.
Zwei kurze Bemerkungen zu den zusätzlichen Fragen der SPD! Zu den Fragen 4 und 5 ist den Ausführungen von Herrn Erhard nichts hinzuzufügen. Zur Frage 6 möchte ich, auch im Namen meiner politischen Freunde, folgendes betonen. Das Problem der unterentwickelten Länder ist ein Weltproblem, eine zentrale Frage unserer Zeit. Dieses Problem ist bis zu einem gewissen Grade unteilbar. Aber, meine Damen und Herren, aus der Unterstützung der assoziierten Gebiete der EWG zu schließen, daß wir die anderen unterentwickelten Länder in irgendeiner Form benachteiligen würden, ist absurd. Allein ein Blick auf die heutigen Hermes-Garantien zeigt Ihnen, wo bisher das Schwergewicht der Hilfe der Bundesrepublik gelegen hat und wo es auch in Zukunft, insgesamt gesehen, liegen wird.
Ein letztes Wort zur politischen Seite des Problems. Wenn die SPD die Frage stellt, ob die Bundesregierung Bestrebungen, die EWG zu einem politischen Block zu machen, unterstütze, so kann ich nur sagen, daß mir diese Frage völlig unverständlich erscheint. Wie ich eingangs meiner Ausführungen bereits zum Ausdruck gebracht habe, war der Zweck und das Ziel der Integration der europäischen Wirtschaft, wie es ja von Ihnen mit akzeptiert worden ist, im Rahmen des Europas der Sechs die Bildung einer politischen Gemeinschaft. Einen
derartigen Zusammenschluß einen politischen Block zu nennen, erscheint mir völlig abwegig. Der Begriff des Blocks setzt eine diesem innewohnende Frontstellung voraus. Diese ist aber in keiner Hinsicht und in keiner Richtung geplant. Kann es aber —und das ist eine wichtige Frage, die wir sehr ernst zu nehmen haben — hierdurch zu einer Spaltung der freien Welt kommen?
Im Verlaufe des vergangenen Jahres, insbesondere aber in den letzten Wochen und Monaten ist von seiten einzelner EFTA-Länder erklärt worden, die politische Spaltung Europas sei unvermeidlich, wenn es nicht zu einer Lösung des EWG/EFTA-
Problems komme. Von britischer Seite ist darüber hinaus sogar hier und da geäußert worden, in einem solchen Falle bestehe die Gefahr, daß auch die militärischen Bindungen auf dem Kontinent in Mitleidenschaft gezogen würden. Das wäre also die Spaltung der freien Welt, von der die SPD spricht.
Dazu ist folgendes zu sagen. Wie Sie wissen, haben sich die Vereinigten Staaten zu verschiedenen Malen mit aller Autorität hinter das Projekt der EWG, und zwar gerade wegen ihrer politischen Struktur, gestellt.
Die klarste Stellungnahme zu diesem Problem erfolgte durch den britischen Außenminister Selwyn Lloyd auf der Tagung des Europarats in Straßburg am 21. Januar 1960. Er erklärte, er müsse sich kategorisch gegen die Vorstellung wenden, daß Großbritannien gegen die Gemeinschaft der Sechs eingestellt sei. Großbritannien habe seinerzeit das Abkommen von Rom begrüßt, da eine starke, politische Einheit der Sechs besonders für Westeuropa, aber auch für Großbritannien gut sei. Selwyn Lloyd fügte allerdings hinzu, daß allen Beteiligten seinerzeit versichert worden sei, diese Abmachungen würden zu einer Freihandelszone führen.
Ich habe nun darzulegen versucht, wie schwierig es ist, eine für alle Teile akzeptable Bedingung für eine derartige Lösung zu finden, daß aber praktisch der Wille, in konkreten Verhandlungen zu einer solchen Lösung zu kommen, allgemein vorhanden ist und heute sicherlich noch intensiver vertreten wird als vor anderthalb Jahren.
Ich nehme die Worte des britischen Außenministers an dieser Stelle auf. Man kann heute sagen, es besteht kein Zweifel, daß die EWG eine liberale Handelspolitik verfolgt, daß sie keine protektionistische Gemeinschaft sein will und daß der Gedanke einer wirtschaftlichen Einheit Europas nicht durch die EWG ausgeschlossen ist, soweit in diesem Rahmen die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft als Einheit akzeptiert wird. Kein Land Europas wird eine Einigung zwischen der EWG und den übrigen OEEC-Ländern mehr begrüßen als die Bundesrepublik. Sie ist vital an freundschaftlichen Beziehungen mit allen europäischen Ländern, ganz besonders aber mit England, interessiert.
Niemand hat den Gedanken einer gesamteuropäischen Einheit klarer und eindeutiger formuliert als der französische Staatspräsident de Gaulle in seinen Reden in Westminster Hall in London, vor dem National Press Club in New York und in Ot-



Dr. Birrenbach
tawa. In London hat er in bezug auf das Verhältnis Frankreichs zu Großbritannien die Frage aufgeworfen, welche Länder in der Welt wohl so viele gemeinsame Interessen hätten wie Großbritannien und Frankreich. Darum müßten beide Schulter an Schulter stehen. In New York erklärte er, wenn eines unmöglich sei, dann sei das ein Wirtschaftskrieg innerhalb Europas. In Ottawa sagte er, das Schicksal Frankreichs und des Friedens der Welt hänge ab von Amerika und von dem gesamten Europa, de l'Europe toute entière.
Wenn aber, wie Sie aus berufenem deutschem und französischem Munde ebenso wie aus dem Munde des britischen Außenministers gehört haben, alles getan werden soll, um eine Spaltung der freien Welt zu verhindern, dann sollten Sie in die Bundesregierung das Vertrauen setzen, daß diese alles in ihren Kräften Stehende tun wird, um eine derartige fatale Entwicklung zu verhindern. Nur eines kann sie nicht: sie kann nicht das Gesetz verleugnen, nach dem sie durch die Unterzeichnung der römischen Verträge angetreten ist. Der „point of no return", von dem in bezug auf den Außentarif gesprochen worden ist, war erreicht mit der Ratifikation der römischen Verträge, nicht erst heute.

(Beifall bei der CDU/CSU.)


Dr. Richard Jaeger (CSU):
Rede ID: ID0311102300
Das Wort hat der Abgeordnete Birkelbach.

Willi Birkelbach (SPD):
Rede ID: ID0311102400
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der bisherige Verlauf der Debatte zeigte, daß in bezug auf die Größenordnung des vor uns stehenden Problems und in bezug auf die Einschätzung-der Auswirkungen eine Übereinstimmung besteht. Ich brauche hier nicht auf die vergangenen Entwicklungen näher einzugehen. In den einführenden Darstellungen ist darauf überall ausreichend Bezug genommen worden.
Aber es ist für uns wichtig, zu wissen, daß die Frage der wirtschaftlichen Blockbildung in Europa heute in ein kritisches Stadium getreten ist. Wir müssen dabei beachten, daß wir nicht nur unter handelspolitischen Gesichtspunkten, zum Beispiel wegen der Tatsache, daß die Bundesrepublik gegenüber den nordischen Ländern einen gewaltigen Ausfuhrüberschuß hat, ein besonderes Interesse daran haben müssen, zu einem Ausgleich zu kommen. Wir müssen beachten, daß die kleineren tins benachbarten Volkswirtschaften bei dem großen Anteil, den gerade die Handelsbeziehungen mit Deutschland haben, durch Fehlentwicklungen besonders stark betroffen würden. Wir liefern nach Schweden fast soviel wie nach Frankreich. Wir liefern nach Schweden soviel, wie alle anderen EWG-Länder zusammen nach Schweden liefern. Wir liefern nach Österreich dreimal soviel wie alle EFTA-Länder zusammen. Hier müssen wir erkennen, daß unsere Nachbarschaft uns verpflichtet.
Wir Sozialdemokraten sind der Auffassung, daß die Art des Vorgehens der Europäischen Kommission in der Frage der Abkürzung der Fristen und auch das Verhalten der Bundesregierung in den vergangenen Jahren bei den Verhandlungen um die Möglichkeiten einer multilateralen Assoziation unsere Beziehungen zu einer Reihe von Ländern stark belastet haben und daß die Entwicklung in der Zukunft bedroht ist.
Man kann nicht einfach damit zufrieden sein, daß man sagt: So braucht man das nicht einzuschätzen, es ist ja bisher nichts passiert. Ich habe hier eine Studie, die im Europa-Archiv bereits im November 1959 erschienen ist, eine Studie von Miriam Camps, in der eine englische Stellungnahme zum Ausdruck gebracht wird, die vielleicht deutlich macht, um was es geht. Hier heißt es:
Zu Anfang der Verhandlungen um die multilaterale Assoziation verließ man sich vor allem auf die Bundesrepublik, die man als echten Befürworter der Freihandelszone hielt und von der man sich einen wirksamen und rechtzeitigen Druck gegen die Franzosen in Richtung auf ein gesamteuropäisches Abkommen versprach. Alle Versuche jedoch, die Franzosen durch Pressionen oder durch Isolierung zu beeinflussen, indem man andere Mitgliedsländer der EWG entsprechend einsetzte, blieben ganz offensichtlich erfolglos. Der Glaube, daß die deutsche Bundesregierung der Freihandelszone einen so großen Vorrang geben würde, daß schließlich doch ein gemeinsames Abkommen würde durchgesetzt werden können, erwies sich als unheilvoll optimistisch.
Obwohl die Befürchtung von Verlagerungen im Handelsverkehr zweifellos in deutschen Industriekreisen Veranlassung gab, die deutsche Außenpolitik mit ihrer traditionellen und vorrangigen Förderung der französisch-deutschen Beziehungen allmählich anzuzweifeln, lassen jüngste Ereignisse in Deutschland vermuten, daß die Folge des wirtschaftlichen Druckes (oder die Furcht davor) eher zu angespannten Beziehungen zwischen Großbritannien und der Bundesrepublik führen wird als zu einer grundlegenden Änderung der deutschen Außenpolitik.
Hier ist wirklich eine Frage, von einem bestimmten Kreis von Interessierten in Großbritannien zugespitzt worden, eine Zuspitzung, die wir selbst nicht akzeptieren wollen. Aber auf die Gefahr, die hier droht, müssen wir rechtzeitig aufmerksam machen. Das kann sich soweit zuspitzen, daß nachher mit normalen Mitteln keine Heilung mehr möglich ist.
Auch die Äußerungen, die der Herr Präsident der Europäischen Kommission getan hat und in denen das ganze Problem eines möglichen Handelskrieges, wie es genannt wird, einer möglichen Blockbildung, ein wenig verharmlost wird, können uns nicht befriedigen. Er hat zum Beispiel in der Beratenden Versammlung des Europarates gesagt, er wolle den Staatsmann sehen, der die Verantwortung dafür übernehme, daß eine solche Gegeneinanderentwicklung Platz greife. Er wolle wissen, wie man einen verantwortlichen Staatsmann und Politiker in Europa finden könne — es gäbe ihn weder bei den Sechs noch bei den Sieben —, der so etwas wolle.



Birkelbach
Aber, meine Damen und Herren, darum geht es wirklich nicht. Es geht nicht allein um das, was die Staatsmänner wollen, sondern um das, was ihre Handlungen und Unterlassungen an Stimmungen, an Strömungen und an Verhaltensweisen auslösen, die dann wieder die Staatsmänner zwingen, diesen Stimmungen nachzugeben. Diese Gefahr sehen wir. Denn es hat in dieser Beziehung tatsächlich Unterlassungen und Fehlhandlungen gegeben. Ich muß das besonders betonen, weil ich selber als Redner in einer Plenarsitzung, in der wir uns vor nahezu zwei Jahren mit der Fragen der Freihandelszone befaßten, ausdrücklich festgestellt habe, daß man an dem guten Willen der Bundesregierung nicht zu zweifeln brauche. Ich halte dieses Zeugnis heute nicht mehr aufrecht. Die vergangenen Jahre haben gezeigt, daß es hier zwar Deklamationen gibt, daß aber der behauptete Wille nicht mit dem entsprechenden Nachdruck durchgesetzt wurde.

(Beifall bei der SPD.)

Ich sehe, daß auch andere Beurteiler die Dinge in der gleichen Weise darstellen. Ich darf z. B. den Leiter der Schweizer Delegation bei den Verhandlungen über die EFTA, Herrn Hans Schaffner, zitieren, der in einem Aufsatz in „Außenpolitik" vom Februar 1960 sagte:
Nachdem seit dem Zusammenbruch der großen Freihandelszonen-Verhandlungen im Dezember 1958 leider von den Ländern des Gemeinsamen Marktes und vor allem von seinen Institutionen keine überzeugenden Initiativen unternommen wurden, ...
Wir müssen wissen: was ist wirklich ernsthaft getan worden, was ist über bloße Willensbekundungen hinaus geschehen? Ich will jetzt nicht die einzelnen Memoranden und die einzelnen Phasen diskutieren, die durch die Europäische Kommission festgehalten wurden. Das gehört der Vergangenheit an. Nunmehr kommt es darauf an, zu neuen Initiativen zu kommen. Ich glaube, daß tatsächlich nur pragmatisches Vorgehen in der jetzigen Situation überhaupt Aussicht darauf bietet, zu Fortschritten zu kommen. Es gilt, die Perspektiven herauszustellen, auf die auch Herr Minister Erhard eingegangen ist, nämlich folgendes klarzustellen. Man kann vielleicht jetzt noch einmal versuchen, mit Überbrückungsmaßnahmen, mit kurzfristigen Maßnahmen einige Zeit weiterzukommen, aber man muß wissen, wohin man gehen will. Will man wirklich die multilaterale Assoziation oder will man sie nicht? Wir sollten deshalb hier klarstellen, daß sowohl bei den kurzfristigen Verhandlungen und Lösungsvorschlägen wie auch bei den Perspektiven für das Weiterführende dem mächtigen Wirtschaftszusammenschluß der EWG gegenüber der EFTA Großzügigkeit in jeder Weise gut anstehen würde. Es kommt darauf an, die Position, die hier besteht, nicht ungebührlich zu strapazieren. Denn letzten Endes würden die Rückwirkungen unsere eigene Position treffen.
Insofern erwarten wir auch — und das ist von dem Herrn Bundeswirtschaftsminister Erhard angekündigt worden —, daß die nationalen Regierungen, speziell die Bundesregierung, sich als Regierungen verantwortlich fühlen und auf der Ebene der Minister und der Staatssekretäre die Verhandlungen führen und sie nicht wieder in sogenannten Sanitätsausschüssen versanden lassen, die nur versuchen, mit weißer Salbe ein wenig das zu überstreichen, was man sonst nicht verdecken kann.

(Beifall bei der SPD.)

Ich glaube, es muß aber noch ein anderes Wort gesagt werden; wir wollen nicht um die Dinge herumreden. Von Ihrer Seite, von den Regierungsparteien, wird immer der Vorrang der politischen Absichten, des politischen Zweckes der EWG vor den rein wirtschaftlichen Betrachtungsweisen betont. Sie sagen: Wenn hier der Kern eines sich einigenden Europas entsteht, dann lohnt es sich, auch Risiken und Opfer in Kauf zu nehmen.
Nun, selbst wenn man das so sehen wollte, stellen sich zwei Fragen. Die eine lautet: Ist ,es dabei richtig, ,sein europäisches Verhalten immer dadurch zu beweisen, daß man ,sich als ,das Anhängsel eines anderen Partners betrachtet? Ist das richtig und darf das die Position ,der Bundesregierung sein?
Dann die andere Frage: Darf man die institutionelle Seite so überbetonen? Ist dieses ständige Gerede von den sogenannten europäischen Errungenschaften, die ständige Absicht, das Formal-Supranationale mit Worten hervorzukehren, nicht eine sehr kurzsichtige Methode?
Gehen wir diesen zwei Fragen doch ein wenig auf den Grund und denken wir ,dabei daran, ,daß es tatsächlich Entwicklungen gegeben hat, bei denen sich die Bundesrepublik zum Teil selbst ausschaltete! Wir haben das in der Vergangenheit gesehen und müssen ganz eindeutig feststellen: Für die Bundesrepublik spricht — das hat sich in .den vergangenen Verhandlungen und in all dem, was bisher getan worden ist, gezeigt — niemand von den Beauftragten, für die Bundesrepublik spricht nur ,der Regierungschef selber.
Wir möchten ,deshalb gerne wissen, welche endgültigen Überlegungen der Regierungschef gerade in dieser Frage angestellt hat, wohin der Bundeskanzler seinen ganzen Einfluß geltend machen wird, was er unter Einsatz seiner eigenen Autorität unternehmen wird. Bisher haben wir feststellen müssen, daß bei den Besuchen aus ,den Hauptstädten und selbst bei Besuchen in einer Hauptstadt bei ,den Partnern zum Schluß doch so etwas wie eine Enttäuschung hängenblieb, nämlich die Enttäuschung darüber, daß man zwar geredet hatte, aber keine Festlegung erreichen konnte, um auch im Rahmen der Sechs die Autorität der Bundesrepublik voll zur Geltung zu bringen. Dieser Punkt darf nicht vernachlässigt werden.
Der Bundestag hat einstimmig gewisse Entschließungen gefaßt. Ich habe der Beratenden Versammlung des Europarats angehört und gehöre noch dem Parlament der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft an. Ich muß sagen, daß bei der Behandlung der einstimmigen Empfehlungen des Bundestags an die Bundesregierung in mir so ein wenig das Gefühl aufkam, als sei ich hier überhaupt nur in einer



Birkelbach
„beratenden Versammlung" und als würden die Entscheidungen nicht durch das bestimmt, was dieses Parlament hier einmütig zum Ausdruck bringt.

(Beifall bei der SPD. — Zustimmung rechts.)

In den letzten Jahren ist nicht nur eine gewisse Zurückhaltung festzustellen, sondern die Partner wußten, daß man, wenn man mit der Bundesrepublik spricht, in Rechnung stellen muß, ,daß sie sich eigentlich letztlich einem anderen Partner anschließen wird. Wir müssen diese Frage an die Bundesregierung stellen. Das ist keine deutsch-französische Verständigung in echtem Sinne; denn es kann dabei sehr leicht dazu kommen, daß man in all diesen Fragen Leistungen erbringt, die eigentlich woanders und durch andere honoriert werden.
Ich möchte dazu noch einmal Herrn Schaffner kurz zitieren. Er hat gesagt, daß die Entwicklung, insbesondere das Verhalten gewisser Regierungen im Rahmen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, dazu geführt hat, daß man gewisse Allianzverpflichtungen durch wirtschaftliche Zugeständnisse honoriert. Ich ziehe daraus ,die Schlußfolgerung: Diese wirtschaftlichen Zugeständnisse, wenn Sie so wollen, z. B. im Zusammenhang mit der multilateralen Assoziation, können in Wirklichkeit bedeuten, daß sie andere, nämlich unsere benachbarten Volkswirtschaften und nicht wir selber bezahlen. Eine solche Entwicklung liegt nach meiner Ansicht durchaus nicht im deutschen Interesse. Hier stehen, wie ich sagte, nicht nur die deutschen handelspolitischen Interessen zur Diskussion, sondern auch die unserer Nachbarn. Wir müssen uns als die Mitbewahrer ,der gesamteuropäischen Gemeinsamkeit empfinden.
Bei der Praxis, die ich beleuchtet habe, gibt es manche Nebengedanken, wenn sie vielleicht auch nicht in diesem Hause ausgedrückt werden. Sie gipfeln darin, daß man sagt: Lassen wir das ruhig in dieser Gemeinschaft so weiterlaufen; wir — die Deutschen — werden mit unserer großen Wirtschaftskraft am Schluß doch die Bestimmenden sein. Dabei wird sich dann herausstellen, daß tatsächlich ein gewisses Hegemonie-Denken nicht ausgestorben ist. Wir haben in der Montanunion unsere Erfahrungen gemacht und wissen, daß das nicht ins Blaue hinaus gesprochen ist. Dort hat man auch mit dem Begriff der Supranationalität operiert, und gerade zu dem Zeitpunkt, als sich herausstellte, daß sie, wie z. B. in Fragen des Kohlehandels und des Kohleimports, benötigt wurde, haben die beiden wichtigsten Partner den supranationalen Mechanismus sowohl im Ministerrat als auch in der Hohen Behörde durch gegenseitige Verabredung blockiert. Mit anderen Worten: sie haben gerade in dem Augenblick das weggenommen, was vorher mit Worten dauernd hervorgehoben worden war. Diese Verabredung hat letzten Endes dazu geführt, daß die Mitglieder der Hohen Behörde gerade zu einem Zeitpunkt in der Schwebe gelassen wurden, als es darauf ankam, in einer besonders schwierigen Situation einmal ihr besonderes Gewicht als Hohe Behörde in die Waagschale zu werfen.
Warum bringe ich diesen Punkt vor? Weil ich eines klarmachen will: Die europäische politische
Gemeinsamkeit ist kein Spiel mit Tricks; auch die deutsch-französische Verständigung nicht. Das Zueinander-Vertrauen-Gewinnen muß die entscheidende Rolle spielen. Das wirtschaftspolitische Handeln ist aufeinander abzustimmen und muß gemeinsam werden. Konkrete Situationen müssen erweisen, daß man gegenseitig füreinander steht. Das, was auch in der Europäischen Zahlungsunion ein besonderer Wert war — Herr Margulies hat dies ganz richtig betont —, muß sich hier in der Praxis fortsetzen und gewissermaßen eine europäische Verhaltensweise werden. Auf diese Art und Weise stärkt man auch die innere Disziplin der Partner, eine Disziplin, die praktisch, wenn sie gehalten wird, ein Beweis der Achtung vor dem anderen ist und die wir auch als einen echten europäischen Beitrag sehen wollen.
Man schafft Präzedenzfälle, stärkt die Organe und Institutionen in ihrer Rolle, indem man so vorgeht. Mit anderen Worten: hier entsteht im Zusammenhang mit der Vertragsautomatik ein nicht beliebig umkehrbarer Prozeß. Nicht ein Punkt wird erreicht, sondern ein Prozeß wird in Gang gesetzt, der weiter wirkt und dazu führt, daß man ihn zusätzlich in Regeln fassen kann. Damit haben Sie die echte Gemeinsamkeit, nicht etwa, indem Sie das einfach niederschreiben und glauben, damit sei es allgemeines europäisches Besitztum geworden.
Meine Damen und Herren, zu dieser Art Disziplin gehört auch das ernsthafte Vertreten legitimer eigener Interessen, das Inrechnungstellen der Interessen jener Länder, die nicht völlig frei in ihrem Handeln sind. Hier ist auf Osterreich und Finnland bereits hingewiesen worden. Wir glauben, daß sich ein solches Verhalten auch in Übereinstimmung mit der Absicht befindet, die Gemeinschaft der Sechs zu fördern. Wir halten im Prinzip die Absicht der Europäischen Kommission für richtig, die günstige Konjunkturlage, die augenblicklichen psychologischen Gegebenheiten in erster Linie auf seiten der französischen Industrie zu benützen, um zu einem niedrigeren Außenzolltarif zu kommen.
Es geht bei der Auseinandersetzung in erster Linie um die Methode, um das „Wie" und — wie ich glaube—auch um den Zeitfaktor und um das Inrechnungstellen der Außenwirkung. Wir können betonen, daß die Entstehung des Gemeinsamen Marktes anregend, intendierend auf die Wirtschaften gewirkt hat. Wir wollen den Willen bestätigen, daß auch durch weitere Maßnahmen diese Entwicklung in Gang bleibt, und zwar, weil wir glauben, daß das nicht nur im Interesse der Sechs segensreich sein wird, sondern weil wir glauben, daß ein hohes Niveau der Nachfrage in diesem großen Wirtschaftsbereich gleichzeitig auch ein guter Beitrag für die Entwicklungsländer, für die Rohstoffländer ist. Dadurch sehen auch unsere Nachbarn ihre Wirtschaften entsprechend befruchtet.
Es gibt neben den Zollveränderungen einige wichtige Wirtschaftsfaktoren, die über die Grenzen hinweg günstig beeinflußt werden. Das ist -Gott sei Dank ermöglicht durch die OEEC — in den letzten Jahren in erster Linie der Fremdenverkehr. Wir können also, wenn wir

Birkelbach
diese Gemeinschaft wollen und dahin kommen wollen, daß sie einen aktiven Beitrag auch zur europäischen Vereinigung und zum europäischen Zusammenwachsen leistet, immer wieder betonen, daß dann auch die Wirtschaften der Nachbarn Vorteile haben werden und daß es nicht nur negative Auswirkungen auf sie gibt.
Wenn wir aber diese Gedanken voranbringen wollen, müssen wir sie miteinander verbinden unter dem Gesichtspunkt, daß wir diese Länder an uns heranziehen, wobei wir ihre eigenen Interessen berücksichtigen und ihnen nicht nur als eine Art Abspeisung sagen: Bitte, da habt ihr ja schon einen gewissen Vorteil; warum beschwert ihr euch über den Rest?
Wir deutschen Sozialdemokraten können uns nicht vorstellen, daß jemand seinerzeit bei der Verabschiedung des Vertrages diesen Außentarif ohne große Diskussion hingenommen hätte, wenn er von vornherein davon überzeugt gewesen wäre, daß es zu keiner Freihandelszone und zu keiner Zusammenarbeit auf der europäischen Ebene kommen würde. Man hätte dann eine ganz andere Zolldiskussion gehabt. Hier geht es nicht nur um eine Frage des guten Glaubens, sondern um eine Frage der realen Interessen. Die feste Fundierung ergab sich doch daraus, daß hier zweierlei zusammenfiel: auf der einen Seite wollte man etwas Reales, und auf der anderen Seite schien es im natürlichen Gang der Entwicklung zu liegen, daß man zu einer solchen Institution kam.
Jetzt sind wir sicher an einem kritischen Punkt. Durch die Kombinierung der 20%igen Binnenzollsenkung mit der vorzeitigen Annäherung an den Außentarif wird praktisch die erste richtige zollpolitische Schwelle überschritten. Das, was bisher geschehen ist, konnte man so als ein allmähliches Übergehen ansehen. Aber die jetzige Aktion, das, was hier ins Auge gefaßt ist, ist mehr als ein erweiterter Übergang. Das ist etwas Neues. Hier treten neue Faktoren in Erscheinung.
Es geht hier wiederum nicht nur um das Binnenpreisniveau bei uns, sondern auch um die Chancen des Absatzes an unsere Nachbarländer. Hier gibt es genügend Zahlen und Unterlagen, die erkennen lassen, daß diese Länder unter Umständen außerstande sein würden, das zu bezahlen, was sie bisher mit ihren eigenen Lieferungen an uns bezahlt haben. Denn sie können den Außenzoll ja nicht beliebig überspringen. Wenn dann der Osten als Nachfrager auftritt, ist die Folge auf diesem Gebiet unter Umständen viel eher eine Schwächung Gesamteuropas im Verhältnis zum Osten als eine Stärkung.
Ich bin froh, daß der Herr Bundeswirtschaftsminister hier nicht jenes schöne Zahlenspiel erneuert hat, das auch von seinem Ministerium betrieben worden ist. Da wurde gesagt, die Belastung werde im Durchschnitt nur so und so hoch sein, und das Bundesfinanzministerium gab uns dann andere Zahlen. Ich bin froh, daß der Bundeswirtschaftsminister das nicht getan hat. Denn dieses Zahlenspiel erinnert tatsächlich an jene Anekdote von dem Kapitän eines Schiffes, das auf dem Meer hilflos den Wellen preisgegeben ist - es ist ein richtiger Sturm -, der versucht, die Mannschaft und die Passagiere dadurch zu trösten, daß er sagt: Man braucht keine Befürchtungen zu haben; rein statistisch gesehen gibt es hier eine ganz glatte See, denn Wellentäler und Wellenberge heben sich gegenseitig auf.

(Heiterkeit.)

So mußte man auch diese Statistik etwa sehen. Herr Wirtschaftsminister Erhard hat ja versucht, ein wenig illustrierend die einzelnen Sektoren herauszustellen, und hat gesagt: Darauf kommt es doch an!
Abgesehen von den einzelnen Sektoren müssen wir aber nach meiner Auffassung weitere Untersuchungen anstellen. Wir müssen auch die Interessen der anderen Länder, ihre empfindlichen, ihre neuralgischen Punkte kennenlernen und sie im Detail studieren, um zu wissen, welche Angebote wir machen können. Wir wollen nicht nur auf die Forderungen warten. Hier greife ich das Wort auf, das der Bundeswirtschaftsminister über die Zöllner gesagt hat. Hier gibt es eine alte Tradition des „Gibst du mir ein Prozent, gebe ich dir ein Prozent", ohne daß man wirklich weiß, welche Auswirkungen das haben wird, ohne daß man einen Vorgriff macht. Das ist hier noch so etwas wie ein echtes Geschäftemachen auf kleinerer Ebene. Ich habe manchmal nicht so sehr die Zöllner als vielmehr die Finanzminister in Verdacht, die nach meiner Auffassung in vielen Ländern — es braucht in der Bundesrepublik nicht so zu sein — der Ansicht sind: Kleiner Umsatz und großer Nutzen ist viel besser als großer Umsatz und kleiner Nutzen; auch der kleinere Umsatz bringt dann ja genügend ein.
Wir sind daran interessiert, daß auf dem Gebiet der Zollsätze nicht nur diese Einzelpunkte untersucht werden. Wir müssen auch untersuchen: Wie sieht es denn in unserem eigenen Lande aus? Haben wir nicht Regionen, die besonders betroffen sein können? Haben wir nicht in der Nähe der Zonengrenze Gebiete, die sich erst einmal auf ihr neues Hinterland zu integrieren mußten, nachdem sie sich ihre früheren traditionellen Handelswege nicht mehr offenhalten konnten? Sie integrieren sich nun unter Umständen auf einem erhöhten Außenzoll. Sie müssen dann wieder umintegrieren, wenn nach den Worten großer Europäer „die Gemeinschaft erwachsen ist". Sie müssen aber dann noch mehr leisten, wenn es wieder in die andere Richtung geht. Gerade für diese Gebiete ist ein besonderes Wort am Platze.
Ich glaube, ich brauche jetzt nicht über die Agrarpolitik zu sprechen. Aber eines muß ich sagen: man weiß noch gar nicht, welche Art von Agrarpolitik herauskommen wird. Unsere Nachbarländer — nehmen wir z. B. Dänemark —, mit denen wir auch zollpolitisch zu verhandeln haben, könnten das Gefühl haben, hier würden sie abschnittsweise geschädigt, d. h. einmal über die Zollsätze und später noch einmal über die Landwirtschaftspolitik; es ginge ihnen also so wie dem Hund, dem man den Schwanz stückweise abgehauen hat, damit es nicht so weh tat. Wir müssen beachten, daß unsere Nachbarn ein gewisses Interesse daran haben, zu wissen, wo die Bundesrepublik wirklich steht.



Birkelbach
In diesem Zusammenhang können wir unsere Befriedigung darüber zum Ausdruck bringen, daß wenigstens einige Partner in der EFTA den Willen deutlich erkennen lassen, ihren eigenen Außenzoll im Rahmen der EFTA zu harmonisieren und zu Regelungen zu kommen, die dann den Brückenschlag zu einer multilateralen Assoziation erleichtern. Es wäre richtig, daß wir bei der Verwirklichung der pragmatischen Lösungen immer einen Druck auf den Außenzoll ausübten und erkennen ließen, daß wir in diesem Angebot, den Außenzoll um 20 % zu senken, tatsächlich nicht das Letzte sehen, was herausgeholt werden kann. Ob hier konsolidiert wird, sollte für uns keine Frage sein; wir müssen da als von einer absoluten Zusage ausgehen.
Darüber hinaus muß es bei den Gesprächen auf der höchsten Ebene noch neue Initiativen geben. Wir dürfen nicht einfach weiterhin die Praxis zulassen, Daten zu setzen, neue Tatbestände zu schaffen, sie bekanntzugeben und zu sagen: die anderen mögen nun herankommen. Die Bundesrepublik muß ihren eigenen Beitrag leisten. Wir müssen dabei natürlich nicht nur die Interessen der europäischen Länder, sondern auch die Interessen der Vereinigten Staaten und überhaupt aller handeltreibenden Nationen in Betracht ziehen. Aber wir sollten betonen, daß es neben der EWG, neben dieser Gemeinschaft noch besondere spezifische europäische Formen der Zusammenarbeit geben muß, die durchaus nicht im Widerspruch mit den Interessen der Vereinigten Staaten und Kanadas zu stehen brauchen, wenn wir sie als Partner im Rahmen dieser neuen OEEC-Gespräche vor uns sehen.
Ich möchte nun zum Schluß kommen. Wir konnten in dieser Debatte natürlich nicht alle Probleme behandeln, die bei einer solchen Verkürzung der Fristen neues Gewicht gewinnen, wie z. B. Möglichkeiten der Kartellkontrolle, die Wettbewerbsverzerrungen, die sich aus den Verkehrstarifen, aus den unterschiedlichen Steuersystemen und all dem ergeben. Hier muß ein Überblick geschaffen werden. Natürlich brauchen wir auch eine besondere Förderung der Absichten, zu einer gemeinsamen Konjunkturpolitik zu kommen. Wir müssen dahin kommen, daß die arbeitende Bevölkerung, daß überhaupt alle in diesem Bereich und auch darüber hinaus die Sicherheit haben, daß ihnen die Wirtschaft in diesem Rahmen auf die Dauer eine angemessene Existenzgrundlage bieten wird und daß sie abgeschirmt werden vor den Risiken, die auftreten können. Ich weise nur darauf hin, daß die Geschäftsordnung des Europäischen Sozialfonds durchaus noch in der Schwebe ist, daß wir noch gar nicht wissen, welche Gestalt sie annehmen wird. Wir hoffen, daß die Bundesregierung sich in einer Richtung einsetzen wird, bei der es möglich ist, das Risiko der Arbeitnehmer abzufangen.
Meine Damen und Herren, wir wollten mit unserem Beitrag aufzeigen: Es gibt zwar eine Bekundung des guten Willens, es gibt sogar einstimmig angenommene Resolutionen. Aber es ist mehr erforderlich als nur gute Vorsätze, es müssen wirklich die Taten folgen. Nach ihren Taten werden wir die Handelnden beurteilen.

(Beifall bei der SPD und der FDP.)


Dr. Richard Jaeger (CSU):
Rede ID: ID0311102500
Meine Damen und Herren, wir treten in die Mittagspause ein. Ich unterbreche die Sitzung bis 14.30 Uhr.

(Unterbrechung der Sitzung von 12.55 bis 14.33 Uhr.)


Dr. Eugen Gerstenmaier (CDU):
Rede ID: ID0311102600
Die Sitzung ist wieder eröffnet.
Ehe wir in der Aussprache fortfahren, rufe ich Punkt 2 der Tagesordnung auf:
Eidesleistung des Bundesministers für wirtschaftlichen Besitz des Bundes.
Der Herr Bundeskanzler hat mir unter dem 14. April mitgeteilt, daß der Herr Bundespräsident gemäß Art. 64 Abs. 1 des Grundgesetzes den Herrn Bundestagsabgeordneten Dr. jur. Hans Wilhelmi am 12. April 1960 zum Bundesminister für wirtschaftlichen Besitz des Bundes ernannt hat.
Herr Bundesminister, ich darf Sie bitten, zu mir heranzutreten.

(Die Abgeordneten erheben sich.)

Herr Bundesminister, gemäß Art. 64 Abs. 2 des Grundgesetzes leisten die Bundesminister bei der Amtsübernahme vor dem Bundestag den in Art. 56 des Grundgesetzes vorgesehenen Eid. Herr Bundesminister, ich übergebe Ihnen die Urschrift des Grundgesetzes zur Eidesleistung gemäß Art. 56 des Grundgesetzes.

Dr. Hans Wilhelmi (CDU):
Rede ID: ID0311102700
Ich schwöre, daß ich meine Kraft dem Wohle des deutschen Volkes widmen, seinen Nutzen mehren, Schaden von ihm wenden, das Grundgesetz und die Gesetze des Bundes wahren und verteidigen, meine Pflichten gewissenhaft erfüllen und Gerechtigkeit gegen jedermann üben werde. So wahr mir Gott helfe.

Dr. Eugen Gerstenmaier (CDU):
Rede ID: ID0311102800
Ich stelle fest, daß der Herr Bundesminister für wirtschaftlichen Besitz des Bundes Dr. Wilhelmi den vom Grundgesetz in Art. 56 vorgesehenen Eid vor dem Bundestag geleistet hat. Herr Bundesminister, ich spreche Ihnen die Glückwünsche des Hauses aus und wünsche Ihnen zu Ihrer Arbeit Gottes Segen.

(Beifall.)

Wir fahren in der Aussprache zu Punkt 3 der Tagesordnung fort. Ich erteile Herrn Abgeordneten Starke das Wort.

Dr. Heinz Starke (CSU):
Rede ID: ID0311102900
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir haben heute nach der Begründung der beiden Großen Anfragen der Opposition den Herrn Bundeswirtschaftsminister gehört, der zu den Fragen im einzelnen wie allgemein die Stellungnahme der Bundesregierung vorgetragen hat. Ich werde jetzt über die Fragen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft keine grundlegenden Ausführungen mehr machen, sondern mich darauf beschränken, auf die speziellen Fragen einzugehen, um die es bei diesen beiden Großen An-



Dr. Starke
fragen geht, um die es uns insbesondere bei der Anfrage geht, die die Freie Demokratische Partei gestellt hat.

Dr. Eugen Gerstenmaier (CDU):
Rede ID: ID0311103000
Einen Augenblick, Herr Kollege! Ich möchte das Haus davon unterrichten, daß eine interfraktionelle Vereinbarung zustande gekommen ist, wonach Punkt 5 unserer Tagesordnung, Große Anfrage der Fraktion der SPD betreffend deutsche Kulturarbeit im Ausland, abgesetzt wird. Statt dessen wird der Punkt 14, erste Beratung des Bundessozialhilfegesetzes mit Begründung und Debatte, vorgezogen. Ich kann nicht beurteilen, ob wir heute noch dazu kommen; wenn nicht heute, dann am Freitag. Wir müssen morgen den Haushalt verabschieden.
Bitte, Herr Abgeordneter, fahren Sie fort.

Dr. Heinz Starke (CSU):
Rede ID: ID0311103100
Meine sehr geehrten Damen und Herren, der Herr Bundeswirtschaftsminister hat in seiner Beantwortung der Großen Anfrage der FDP eine ganze Reihe von Einzelpunkten gebracht und hat danach allgemeine Ausführungen zu den Problemen gemacht, mit denen wir uns heute befassen. Der Herr Bundeswirtschaftsminister hat uns in diesem Hause vor allem gesagt — und das möchte ich am Anfang betonen —, daß die Bundesregierung an den Grundsätzen festhält, die in der am 2. Oktober 1958 bei der Sitzung des Bundestages in Berlin gefaßten Resolution enthalten sind. Der Herr Bundeswirtschaftsminister hat dem Hohen Hause weiter gesagt, daß diese Grundsätze aber nicht von heute auf morgen verwirklicht werden könnten und daß man in der Zwischenzeit zu pragmatischen Lösungen kommen sollte. In diesem Zusammenhang hat er insbesondere auf die handelspolitische Entwicklung hingewiesen, die seit dieser Resolution des Bundestages vom 2. Oktober 1958 in Berlin eingetreten sei.
Herr Bundeswirtschaftsminister — ich darf Sie direkt ansprechen —, Sie haben dann gesagt, daß es dabei zunächst nicht so sehr um das Problem des Verhältnisses der sechs Länder, die in der EWG vereinigt sind, und der sieben Länder, die in der kleinen Freihandelszone vereinigt sind, gehen könne, sondern daß es zunächts auf eine atlantische Lösung und auf eine weltweite Lösung ankomme. Ich möchte doch gleich zu Beginn meiner Ausführungen sagen, daß das eigentlich der Punkt ist, der uns Sorgen macht. Ich sehe, Herr Bundeswirtschaftsminister, daß Sie das nicht so aufgefaßt haben wollen, wie ich es jetzt wiedergebe. Lassen Sie mich dann gewissermaßen mit Ihnen sagen, wir sind der Meinung, daß man mit der „Flucht in die atlantische Weite", wie Kollege Deist von der Sozialdemokratischen Partei es einmal genannt hat, diese Probleme tatsächlich nicht lösen kann.
Herr Bundeswirtschaftsminister, Sie haben ferner gesagt, daß die Bundesregierung die Ziele, die sie sich gesetzt hat, nicht aus dem Auge verlieren wird; insbesondere die Ziele, die der Bundestag schon 1957 bei der Ratifizierung des EWG-Vertrages in diesem Hause in einer einstimmig gefaßten Resolution zum Ausdruck gebracht hat. Sie haben sehr deutlich ausgesprochen, ,daß es vor allem darauf ankomme, ,daß sich die traditionellen Handelsströme in Europa nicht verlagern. Ich ,darf hierbei kurz verweilen, Herr Bundeswirtschaftsminister. Die sogenannte Verlagerung der Handelsströme in Europa ist ein außerordentlich ernstes Thema. Bei einem Blick auf die Statistik, die über die zurückliegenden Jahre vorliegt, haben wir 'deutlich vor Augen, in welchen Richtungen sich die Handelsströme bewegt haben. Herr Bundeswirtschaftsminister, was uns eigentlich bedrückt, möchte ich mit einem Satz ausdrücken, 'den ich in dem Organ der Europaunion — ich glaube, in einer Nummer vom 8. April — gefunden habe. Dort hieß es in einem Leitartikel, der eigentlich mit der Haltung ,der Europaunion in Deutschland sonst nicht ganz übereinstimmt, Deutschland könne ,eben nicht — es ging dabei um die Beschleunigungspläne, den sogenannten Hallstein-Plan — den großen Markt der EWG für sich haben und außerdem am Tisch der EFTA, der kleinen Freihandelszone, „mitspeisen". Dieser Satz ist es, der uns immer wieder innerlich bewegt. Man findet Qs selten so kraß formuliert. Dieser Satz ist, wenn man ihn untersucht und analysiert undanders formuliert, nichts anderes ,als die Vorstellung, daß die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft einen Markt gebildet habe, der nun für Deutschland da sei und der esgestatte, sich von der übrigen Welt abzukapseln. Wir haben den Gedanken vertreten — er ist in den letzten Monaten in Deutschland sehr stark vertreten worden —, 'daß auch zum Wohle der EWG und des wirtschaftlichen Zusammenlebens der sechs Länder auf die 'deutschen Exportmärkte in den anderen Ländern, insbesondere ,der kleinen Freihandelszone, nicht verzichtet werden kann. Die geistige Abkapselung ist so stark, daß man 'diese Märkte gar nicht mehr sieht 'und dann den iGedanken, daß diese Märkte für ,den 'deutschen Export, für ein wirtschaftliches Gedeihen ,der EWG selbst notwendig sind, mit einer solchen Phrase abtut, man könne neben dem großen Markte der EWG nicht auch noch mit am Tische der EFTA speisen.
Ich darf nun noch etwas zum ersten Teil Ihrer Ausführungen sagen, Herr Bundeswirtschaftsminister. Sie haben ,dort davon gesprochen, daß man das Verhältnis der EWG und der EFTA zueinander in etwa auch durch gegenseitige oder parallel laufende Zollsenkungen lösen könne. Sie haben diesen Punkt nicht vertieft, obwohl natürlich gerade in dieser Frage der Kern ,des ganzen Problems liegt. Wenn man hier keine Klarheit darüber gewinnt, was geschehen soll, dann werden wir eben auch in ,den zukünftigen Monaten, in dem halben Jahr, ,das für Verhandlungen zwischen 'den beiden Ländern übrigbleibt, bis die Beschleunigungspläne von Hallstein verspätet durchgeführt werden, zu keinem Ergebnis und keiner glücklichen Lösung kommen. Das betrifft also die Frage der Konkretisierung dessen, was man eigentlich vor hat und was man von 'deutscher Seite vorschlagen will.
Im Zusammenhang mit dem Gedanken der parallel laufenden oder gegenseitigen Zollsenkungen oder der Zollzugeständnisse taucht die Frage der Diskriminierung der Vereinigten Staaten auf. Ich



Dr. Starke
gehe jetzt zu Beginn von den Punkten aus, so wie Sie sie dargestellt haben, und möchte, obwohl ich nachher noch einmal darauf zurückkommen will, jetzt schon fragen: Ist es nicht ein gesamteuropäisches Anliegen, im gegenwärtigen Zeitpunkt mit den Vereinigten Staaten, die nach dem Krieg in einer überaus großzügigen Weise Europa wieder auf die Beine geholfen haben, darüber zu sprechen, was auf längere Sicht in ihrem Interesse liegt, insbesondere, ob es in ihrem Interesse liegt, sich zu diesen europäischen Fragen, namentlich zu der Frage der europäischen Spaltung, in einer Form zu äußern, wie sie es in den letzten Monaten wiederholt getan haben? Wäre es nicht eine europäische Aufgabe — besonders für uns in der Bundesrepublik —, das Gespräch mit den Vereinigten Staaten nicht so sehr unter dem Gesichtspunkt zu führen, oh sie sich mit dem Beschleunigungsplan einverstanden erklären und ob sie auf der Seite der EWG stehen, als vielmehr unter dem Gesichtspunkt — den sollte man den Vereinigten Staaten immer wieder vor Augen halten —, daß es einzig und allein in ihrem Interesse liegen kann, wenn sich der wirtschaftliche Gesundungsprozeß Europas, der nach dem Zusammenbruch von 1945 eingeleitet wurde, nun weiter fortsetzt?
Wenn sich der wirtschaftliche Gesundungsprozeß fortsetzen soll, dann wäre eine gesamteuropäische Lösung nötig. Dabei möchte ich auch das Wort aufgreifen, das Sie gesagt haben, Herr Bundeswirtschaftsminister, und das ich gerne festhalten möchte, das Wort nämlich, daß ein „weiterer Verband von Natur aus liberaler" sein muß. Im Interesse der Amerikaner, die auf die Liberalität in Europa Wert legen, um nicht durch Kontingente diskriminiert zu werden — eine Frage, die beinahe schon der Vergangenheit angehört --, aber um vor allem auch nicht durch Zölle diskriminiert zu werden, muß es liegen, daß in Europa ein „weiterer Verband" kommt, der wirtschaftlich stärker ist und der aus den ihm innewohnenden Gesetzen heraus liberaler, wie Sie es nannten, sein muß.
An dieser Stelle möchte ich hervorheben, was wir bei der heutigen Debatte nicht übersehen dürfen: das ist die Frage der OOEC, der Europäischen Wirtschaftsorganisation in Paris, die mit Hilfe der USA nach dem Krieg so segensreich gewirkt hat, und zwar erstens durch die Verteilung und Anlage der Marshallplanhilfe, sodann durch die Liberalisierungsmaßnahmen, die Beseitigung der Handelsschranken. Bisher habe ich nur in der Zeitung lesen können, daß der Bericht der sogenannten 4 Weisen, eines Amerikaners, eines Engländers, eines Franzosen und eines Griechen, der Vorschläge für die Reform der OEEC macht, von der Bundesregierung begrüßt worden sei. Ich möchte dem Hohen Hause unsere Meinung dazu nicht vorenthalten. Wenn man die europäischen Probleme so sieht, wie wir Freien Demokraten es tun, muß man diese Äußerung der Bundesregierung bedauern. Denn dieser Bericht der 4 Weisen enthält Merkmale, die für die weitere Behandlung der Fragen des Verhältnisses zwischen der Gruppe der Sechs und der Gruppe der Sieben in Europa entscheidend sind. Es ist schon in der Bezeichnung für die „reformierte" Gruppe,
die entstehen soll, nur noch von wirtschaftlicher Zusammenarbeit und von Zusammenarbeit für die unterentwickelten Gebiete die Rede. Aber wir wissen alle, daß das Gebiet, auf dem sich die OEEC verdient gemacht hat, auf dem sie zu einem Wiederaufstieg Europas in wirtschaftlicher und politischer Beziehung beigetragen hat, das Gebiet der Handelspolitik ist. Gerade das Kapitel über die weitere Tätigkeit der neuen Organisationen auf dem Gebiet der Handelspolitik trägt deutlich die Kennzeichen eines Kompromisses zwischen den 4 „Weisen", der nach den Beratungen mit den verscheidenen Ländern zustande gekommen ist und der für den Gedanken einer Zusammenarbeit auf handelspolitischem Gebiet in Europa nicht nur schädlich, sondern geradezu tödlich ist. Ich wollte das hier einmal herausstellen; denn wir dürfen bei der Frage, die wir heute behandeln, die Reform der OEEC nicht aus dem Auge verlieren.
Mein Kollege Margulies, der heute unsere Große Anfrage begründet hat, wird in einem Schlußwort noch auf eine Resolution, die wir dem Hohen Hause vorlegen, eingehen. Wir haben auch in dieser Resolution diese Frage wegen der großen Bedeutung, die sie für das Gesamtproblem, über das wir heute sprechen, hat, mit behandelt.
Nun darf ich noch auf das zurückkommen, was Sie, Herr Bundeswirtschaftsminister, heute im zweiten Teil Ihrer Beantwortung gesagt haben. Der zweite Teil erschien gegenüber den Ausführungen zu den einzelnen Punkten der Anfragen von grundsätzlicher Bedeutung, weshalb eine Analyse des zweiten Teils Ihrer Ausführungen schon ein wenig notwendig ist; dann kommen wir in der weiteren Diskussion auch zur Klarheit darüber, was Sie gesagt haben, was Sie sagen wollten und was Sie nicht gesagt haben oder vielleicht auch nicht sagen konnten.
Herr Bundeswirtschaftsminister, Sie sind darauf eingegangen, daß sich die Bundesregierung in der vergangenen Zeit, seit dem 2. Oktober 1958, immer im Sinne der Resolution des Bundestages eingesetzt hat. Die Resolution des Bundestages vom 2. Oktober 1958 war in einem gewissen Sinne eine Wiederholung der Resolution, die in diesem Hohen Hause bei der Ratifizierung des Vertrages über die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft einstimmig gefaßt worden ist. Diese Resolutionen enthalten den Wunsch des Hohen Hauses — dem sich damals die Bundesregierung angeschlossen hat —, die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft zu einem Kern in Europa für die weitere Entwicklung zu machen, einem Kern, der aber ergänzt werden müßte und erweitert werden sollte durch eine gesamteuropäische Lösung.
Wir möchten nicht bestreiten, daß diese Ihre Haltung, Herr Bundeswirtschaftsminister, sowohl in Deutschland wie im Ausland bekannt ist. Worauf es uns aber ankommt und worauf der Kollege Birkelbach in seinen Ausführungen besonders hingewiesen hat, ist, daß diese Ihre Haltung draußen zwar bekannt ist, daß draußen aber auch bekannt ist, daß es sich offensichtlich nicht um die Meinung der ganzen Bundesregierung handelt, sondern in



Dr. Starke
diesen Fragen in der Bundesregierung eine Meinungsverschiedenheit besteht.
Ich mache kein Hehl daraus, ich sage es einmal ganz deutlich und präzis, daß uns diese sich durch die Jahre nun hinschleppende Meinungsverschiedenheit, die nach außen deutlich wird, außenpolitisch allgemein geschadet hat, aber vor allem auch bestimmend gewesen ist für den Verlauf, den die Verhandlungen zwischen der EWG und den anderen europäischen Ländern genommen haben und den die Verhandlungen zwischen EWG und EFTA auch heute noch nehmen.
Es sind immer wieder, wenn Sie sich in einer Weise geäußert hatten, die auch wir Freien Demokraten nach unserer Auffassung unterschreiben konnten, Gegenerklärungen oder halbe Dementis von anderen Ministerien oder vom Bundeskanzleramt gekommen. Eben das hat im Ausland den Eindruck hervorgerufen, daß Deutschland nicht mit seinem vollen politischen Willen hinter diesen Resolutionen steht, die das Hohe Haus einstimmig gefaßt hat; Resolutionen, die eine gesamteuropäische Lösung über die EWG hinaus unter Anerkennung ihres wirtschaftlichen und politischen Gehalts fordern.
Das betrifft insbesondere die Vermittlung. Ich bin mir bewußt, daß die deutsche Situation nach dem Kriege nie so gewesen ist und auch heute nicht so ist, daß Deutschland besonders geeignet wäre, in schwierigen politischen Fragen eine Vermittlung zu übernehmen. Hier ging es aber um ein Problem, bei dem man immer deutlicher sehen konnte, daß eine Diskrepanz der Auffassungen zwischen Frankreich und England bestand. Ich möchte es einmal so formulieren: In dem freien westlichen Europa haben insbesondere die kleineren und mittleren Mächte außer Frankreich und England darauf gewartet, daß Deutschland hier eine Vermittlerrolle übernimmt. Ich möchte mich über die Art und die Form einer solchen Vermittlung im einzelnen nicht auslassen, sondern nur das eine sagen, daß draußen nicht der Eindruck einer Vermittlung entstanden ist. Draußen ist vielmehr der Eindruck entstanden, daß sich die Bundesrepublik Deutschland in diesen Fragen eindeutig auf eine Seite gestellt hat. Wenn man es so sieht, wird Ihre Erklärung, daß die Bundesregierung sich im Sinne der Resolutionen, die das Hohe Haus gefaßt hat, und im Sinne einer gesamteuropäischen Lösung eingesetzt habe, nicht ganz den Verhältnissen gerecht. Denn die Verhältnisse draußen, insbesondere im Europäischen Parlament und die Gespräche im europäischen Raum zeigen uns immer wieder das Gegenteil.
Auf das, was Sie weiter ausführten, darf ich noch kurz eingehen. Wir vermissen in diesen Ausführungen, Herr Bundeswirtschaftsminister, eine Konkretisierung dessen, was gewollt ist, und dessen, was möglich ist. Sie haben gesagt, die 20%ige Senkung des Außenzolls entspreche der deutschen Vorstellung. Das ist kein Geheimnis. Bevor die Hallsteinschen Beschleunigungsvorschläge kamen, ist das zwar nicht in der Öffentlichkeit gesagt worden, aber man hatte diesen Eindruck. Ich möchte aber auf etwas hinweisen, was man bei den ganzen Beschleunigungsplänen nicht übersehen darf. Wir haben mit den Beschleunigungsplänen im Januar/ Februar nicht einen Schritt nach vorn, sondern einen großen Schritt zurück getan. Der Ministerrat der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft hatte im November einen Beschluß gefaßt und veröffentlicht. Dabei ging es um die damals für Sommer 1960 bevorstehenden Zollsenkungen. Er hat sich darüber geäußert und in dem Beschluß vom November 1959 ausdrücklich angekündigt, daß in den Verhandlungen im GATT, in der sogenannten Dillon-Runde, eine 20%ige Senkung des Außenzolls in gegenseitigen Verhandlungen ins Auge gefaßt sei.
Weil man damals wußte, was man auch heute noch weiß: daß es bei den Verhandlungen im GATT nach den dort vorherrschenden Regeln nicht zu einer generellen Senkung um 20 %, sondern im Verhandlungswege im Schnitt zu einer Senkung um vielleicht nur 7 oder 8 % kommt, hatte man seinerzeit angekündigt, daß nach der GATT-Runde, nach der Dillon-Runde also, eine sogenannte weitere Senkung des Außenzolls um 20 % stattfinden werde, ohne daß man sich allerdings im einzelnen zu der Methode äußerte. In dem Hallsteinschen Beschleunigungsplan ist nun nur noch eine 20 %ige Senkung, und zwar die in der GATT-Runde, von der wir wissen, daß sie im Schnitt nur 6, 7 oder 8 % Senkung bringen wird, vorgesehen. Diese Senkung wird auch nur noch für den Fall angekündigt — angekündigt, nicht verpflichtend zugesagt —, daß zugleich der Außenzoll vorzeitig eingeführt wird. Damit wird sogar die im November 1959 bereits zugesagte erste Ermäßigung im Februar 1960 von einer Bedingung abhängig gemacht. Das nenne ich einen großen Rückschritt in. der Entwicklung.

Dr. Richard Jaeger (CSU):
Rede ID: ID0311103200
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Dr. Birrenbach?

Dr. Heinz Starke (CSU):
Rede ID: ID0311103300
Bitte sehr!

Dr. Richard Jaeger (CSU):
Rede ID: ID0311103400
Herr Abgeordneter Dr. Birrenbach!

Dr. Kurt Birrenbach (CDU):
Rede ID: ID0311103500
Herr Dr. Starke, darf ich Ihnen die Frage vorlegen, woher Sie wissen, daß in den Verhandlungen in der Dillon-Runde aus dem sogenannten 20 %-Vorschlag nur eine 6 %ige Reduzierung des Außentarifs der EWG zustande kommt?

Dr. Heinz Starke (CSU):
Rede ID: ID0311103600
Herr Kollege Birrenbach, ich sagte schon: Es ergibt sich aus den Methoden bei den Verhandlungen im GATT. Denn bei der ersten Ankündigung der 20 %igen Zollsenkung im November 1959 — es war sogar, wie gesagt, noch eine zweite angekündigt — war nicht davon die Rede, daß man autonom oder einseitig senken wolle. Man wollte vielmehr nach den im GATT üblichen Regeln verhandeln. Nach allen Erfahrungen der zurückliegenden Jahre mit GATT-Verhandlungen kommt dabei im Schnitt weniger heraus als der Prozentsatz, den Herr Dillon für die Amerikaner als den im Einzelfall höchstmöglichen genannt hat.




Dr. Richard Jaeger (CSU):
Rede ID: ID0311103700
Gestatten Sie eine Zwischenfrage? — Bitte sehr!

Dr. Kurt Birrenbach (CDU):
Rede ID: ID0311103800
Herr Dr. Starke, gestatten Sie noch zwei Zusatzfragen!
Wissen Sie, Herr Dr. Starke, ob es nicht gerade die Auffassung der sechs Länder der EWG ist, eventuell auf Grund des Ergebnisses der Dillon-Runde, einen Teil der Reduktion unabhängig von der Reziprozität vorzunehmen?
Die zweite Frage, die ich stellen möchte, ist die: Liegt bei Ihnen, Herr Dr. Starke, bezüglich der 6 % nicht insofern eine Verwechslung vor, als sich diese auf die Kompensation auf Grund von Art. 24 Abs. 6 beziehen?

Dr. Heinz Starke (CSU):
Rede ID: ID0311103900
Ich möchte darauf antworten — um das gleich abzutun —, daß von einer Verwechslung nicht gesprochen werden kann. Ich bin von dem Beschluß des Ministerrates ausgegangen und von den Methoden, die notwendigerweise — wie ich festgestellt habe: auch nach den Vorstellungen der Kommission — im GATT zur Anwendung kommen, nachdem man die Zollrunde einmal betreten hat, mit der Vorstellung, daß im Einzelfall ein Zoll b i s zu 20% gesenkt werden kann.
Ihre erste Frage, Herr Kollege Birrenbach, beantworte ich folgendermaßen. Welche Geheimnisse hinter dem veröffentlichten Beschluß des Ministerrates der EWG vom November 1959 noch im Hintergrund stecken, kann ich als Angehöriger der Opposition sehr viel weniger sagen als wahrscheinlich Sie selber. Ich kenne sie jedenfalls noch nicht, und ich habe bisher auch nicht den Eindruck ge- habt, daß solche Absichten bestanden. Denn wenn sie bestanden hätten, wäre es um so unverständlicher, daß dann die Veröffentlichung vom November 1959 sogar redressiert wurde auf den HallsteinVorschlag, der ja unzweifelhaft — ich glaube, das werden Sie nicht bestreiten — sehr viel weniger gibt und einen Rückschritt darstellt.
Nun darf ich fortfahren und zu der Frage der Beschleunigung kommen. Eigentlich treffen diese beiden Fragen nur zeitlich zusammen. Die Große Anfrage der Freien Demokratischen Partei beinhaltete das generelle Problem einer gesamteuropäischen Lösung. Dieses Problem ist — wie Sie, Herr Bundeswirtschaftsminister, gesagt haben — im Augenblick sehr zugespitzt, noch weit zugespitzter als zu der Zeit, in der die Große Anfrage — im Herbst 1959 — gestellt wurde. Denn unterdessen ist zusätzlich der Beschleunigungsplan veröffentlicht worden und in die Diskussion gekommen. Hinsichtlich der Beschleunigung stimme ich den Ausführungen des Kollegen Birkelbach voll und ganz zu. Er hat auf die besondere Bedeutung hingewiesen, die die Beschleunigung im Zuge des Ganzen hat. Es wurde darauf hingewiesen, daß die Beschleunigung im Vertrag vorgesehen sei. Selbst der Herr Bundeswirtschaftsminister hat ausdrücklich gesagt, daß diese Bestimmungen kein zwingendes Recht seien und daß man deshalb, auch wenn sie im Vertrag stünden, die Verhältnisse sehr sorgfältig prüfen müsse.
In diesem Zusammenhang darf ich an eines erinnern, das mir in den vielen Diskussionen über diese Fragen unterzugehen scheint. Der EWG-Vertrag ist in diesem Hohen Hause in der einmütigen Erwartung ratifiziert worden, daß er durch eine gesamteuropäische Lösung ergänzt wird. Unterdessen wissen wir — und wer es noch nicht gewußt hat, kennt es aus den heutigen Ausführungen des Kollegen Birrenbach daß es mit dieser gesamteuropäischen Lösung sehr schlecht bestellt ist. Das weiß man, und wir haben es hier noch einmal gehört. Es ist etwas ganz anderes,

(Abg. Dr. Birrenbach meldet sich zu einer Zwischenfrage)

— lassen Sie mich diesen Satz zu Ende führen — ob die Möglichkeiten des Vertrages zur Beschleunigung nach einer gesamteuropäischen Lösung ins Auge gefaßt werden oder ob man es in einem Augenblick tut, in, dem die von uns allen gewünschte gesamteuropäische Lösung äußerst ge: fährdet ist. Man muß sich sogar vom Politischen her fragen — nicht vom Konjunkturellen und Wirtschaftspolitischen her —, ob die Beschleunigung, auch wenn sie im Vertrag vorgesehen ist, heute nichts anderes als die Antwort auf die Gründung der EFTA ist. Um dieses Politikum geht es.

(Abg. Dr. Birrenbach meldet sich erneut zu einer Zwischenfrage.)


Dr. Richard Jaeger (CSU):
Rede ID: ID0311104000
Herr Abgeordneter Birrenbach, mit zwei Zusatzfragen ist Ihr Kontingent erschöpft. Ich kann Ihnen das Wort nicht mehr geben.

(Heiterkeit.)


Dr. Heinz Starke (CSU):
Rede ID: ID0311104100
Ich möchte nicht näher auf die Frage der Beschleunigung eingehen, zu der ich auch schon einmal im Europäischen Parlament in Straßburg gesprochen habe, nachdem dort der Präsident der Kommission, Herr Hallstein, sein Exposé vorgelegt hatte. Ich will die wirtschaftlichen Fragen jetzt nicht noch einmal vertiefen, sondern möchte nur auf einige wenige Punkte hinweisen. Bei der Beschleunigung wäre an sich schon vieles zu prüfen. Ich sehe dort Herrn Kollegen Lücker sitzen, von dem ich gehört habe, daß er heute noch zur Frage der Agrarpolitik sprechen wird. Er hat bereits zur Frage der Beschleunigung auf dem Gebiet der Agrarpolitik seine Erklärung abgegeben, die ganz deutlich zeigt, welche Schwierigkeiten dabei auftreten. Wenn man die Agrarpolitik nicht in die Beschleunigung der Anwendung des Vertrages miteinbezieht oder wenn man sie zwar nicht ausdrücklich von der Beschleunigung ausnimmt, in der Praxis aber doch nicht zu einer Beschleunigung kommt, weil man sich noch gar nicht darüber einig ist, wie die gemeinsame Agrarpolitik aussehen soll, dann treten Diskrepanzen zwischen einer Nichtbeschleunigung auf dem Agrarsektor und einer Beschleunigung auf den übrigen Gebieten auf, die man nicht übersehen darf.
Ich komme dabei wieder auf einen Punkt zurück: Zwischen diesen beiden Gebieten steht eine große deutsche Industrie: die Ernährungsindustrie, die in



Dr. Starke
immer größere Schwierigkeiten gerät. Das läßt sich objektiv nicht bestreiten; darüber gibt es heute gar keine Meinungsverschiedenheiten mehr. Die Schwierigkeit liegt darin, daß man auf dem Gebiet der Agrarpolitik die Frage der Preise für Agrarerzeugnisse noch nicht gelöst hat und deshalb diese große Industrie, die für die deutsche Landwirtschaft von so hoher Bedeutung ist, für die Erzeugnisse, die sie verarbeitet, höhere Agrarpreise zahlen muß als ihre Konkurrenz in den anderen Ländern der EWG.
Darüber hinaus gibt es noch andere Schwierigkeiten. Sie werden wohl noch von dem Vertreter des Bundesrats vorgetragen werden. Ich möchte dessen Ausführungen über die Situation der norddeutschen Küstenländer nicht vorgreifen. Ich habe bereits im Straßburger Parlament erklärt: Auch bei einer allgemein guten Konjunktur — Konjunktur ist ja etwas Vorübergehendes, etwas Nicht-immer-Bleibendes — darf man solche Strukturfragen wie die ganz außergewöhnlich starke Verbindung der norddeutschen Länder — aber auch eines Landes wie Bayern; auch das ist untersucht worden — gerade mit der kleinen Freihandelszone nicht aus dem Auge verlieren. Bei der rein politischen Behandlung der Frage der Beschleunigung sind alle diese Einzelfragen bisher so gut wie gar nicht oder wenigstens nicht genügend untersucht worden.
Ich möchte die Schwierigkeiten noch an einem anderen Beispiel aufzeigen; Herr Bundeswirtschaftsminister, wir haben neulich darüber in einem anderen Zusammenhang gesprochen. Gerade eine Industrie, die nicht expandiert, eine Industrie, die im Augenblick, wenn auch nicht konjunkturell, so doch strukturell in Schwierigkeiten ist, wie die Textilindustrie, wird von der Ziehung eines Grabens zwischen EWG und EFTA im Sinne der Beschleunigungspläne ganz besonders betroffen, weil ihr Export in einem großen Umfang gerade in die skandinavischen Länder geht. Auch das sind Fragen, die man doch nicht einfach mit dem Argument abtun kann, daß die günstige konjunkturelle Entwicklung im Augenblick für die Beschleunigung spreche.
Der Herr Präsident der Kommission hat es sich in Straßburg etwas allzu leicht gemacht, als er dort ausführte — ich weiß gar nicht, ob das in diesem Hohen Hause über die Presse bekanntgeworden ist —, daß die Beschleunigung gerade jetzt wegen der guten Konjunktur durchgeführt werden müsse. Er hat dann von sich aus selbst ausgeführt: Sollte aber wegen gewisser konjunktureller Wolken am Horizont — die gerade aus Amerika gemeldet wurden — die Konjunktur nicht den guten Verlauf nehmen, dann sei es um so eher nötig, die Beschleunigung durchzuführen. Das kann natürlich nicht mehr eine logische Beweisführung genannt werden.
Herr Bundeswirtschaftsminister, Sie haben in so eindringlichen Worten von der Zuspitzung gesprochen, die das ganze Problem des Verhältnisses der Sechs und der Sieben durch die Beschleunigung erfährt, daß ich mir darüber weitere Worte ersparen kann. Sie haben ferner von der besonderen Anstrengung gesprochen, die jetzt notwendig ist, um über diese zusätzlichen neuen Schwierigkeiten, diese Zuspitzung, hinwegzukommen. Ihre Ausführungen,
Herr Kollege Birrenbach, danach haben aber gewissermaßen wie eine kalte Dusche gewirkt. Sie haben nämlich in Ihren Ausführungen alles das so stark formuliert, daß ich folgendes hier anmerken möchte. Angesichts der Art und der Form Ihrer Darstellung, ich betone ausdrücklich, daß ich nur die ersten zwei Drittel oder drei Viertel — darüber lasse ich mit mir streiten meine, kann man beinahe nur noch sagen: So werden wir die Probleme in den nächsten Monaten nicht lösen können. Der Herr Bundeswirtschaftsminister hat gesagt, daß die sogenannte — um dieses Wort aus der Presse zu gebrauchen -
verlangsamte Beschleunigung am 1. 1. 61 einsetzen soll. Wenn dies dazu führt, daß wir statt anderthalb Jahren Spielraum bis zu dem nächsten großen Schritt im Zollabbau und in der Verwirklichung der EWG zwar einen kürzeren Zeitraum, aber wenigstens noch ein halbes Jahr haben, nämlich den Sommer und den Winter bis zum 1. Januar 1961, dann ist dieses halbe Jahr sehr kurz. Wenn nun dieses halbe Jahr der Verhandlungen von der Bundesregierung so eingeleitet wird, Herr Kollege Birrenbach, mit den Voraussetzungen und den Bedingungen, die Sie gefordert haben, dann ist ein halbes Jahr zu kurz, um solche Verhandlungen mit Erfolg zu führen.

(Abg. Birrenbach: Ganz sicher! Sie müssen unterscheiden zwischen Interimsund Endlösung!)

— Jawohl, ich komme noch darauf zurück, weil der
Bundeswirtschaftsminister darüber gesprochen hat.
Ich möchte nur mit einem Satz noch an das erinnern, was schon gesagt worden ist. Einen schlechten Eindruck haben die verschiedenen Meinungen gemacht, die in den letzten Wochen von zwei Ministerien in Bonn und darüber hinaus noch von der Kommission in Brüssel über die zollpolitische und zollbelastungsmäßige Bedeutung der Beschleunigungspläne geäußert worden sind. Wenn man dabei, was man vielleicht heute zu wenig getan hat, an die Wirtschaft denkt, die sich in den letzten Wochen zu diesen Fragen nachdrücklich geäußert hat, wird man feststellen, daß dort natürlich die allgemeine Vorstellung herrscht, es werde sich zollpolitisch in der EWG etwas ändern, vielleicht nicht im Juli, sondern im Oktober oder vielleicht im Januar, und es würden die konjunkturellen Zollsenkungen aus dem Jahre 1957 nicht auf einmal, sondern in Etappen redressiert werden. Wenn man nun einmal bedenkt, daß ein Wirtschaftsbetrieb, ein Unternehmen im Wettbewerb draußen auf den Märkten steht und es nun seine Politik, seine Unternehmenspolitik auf den Exportmärkten auf solch vagen Äußerungen über das, was kommen wird, aufbauen soll, dann muß man sagen: Das wäre für die Wirtschaft nur erträglich, wenn es sich um Fragen, die vielleicht in fünf Jahren akut würden, handelte. Wenn die Veränderungen aber schon im Juli oder im Oktober oder am 1. Januar 1961 Wirklichkeit werden und wenn man auch dann nicht einmal weiß, wie es weiter gehen wird, dann glaube ich, daß hier zunächst eine Beschleunigung bezüglich der Klarheit dessen, was man will, sehr notwendig ist.
Eines muß ich noch anfügen. Selbst wenn man weiß, mit welcher Beschleunigung 'die Zollsenkungen in der EWG erfolgen werden — je nachdem,



Dr. Starke
wie die Bundesregierung bei den Verhandlungen im Ministerrat ,durchkommt —, bleibt immer noch die Unklarheit, was die EFTA tun wird — lebenswichtige Exportmärkte für uns! — und in welchem Verhältnis die dort vorgenommenen Zollsenkungen dann zu unseren Exportlieferungen stehen werden, ob auch wir ganz oder zum Teil von ihnen Gebrauch machen können oder nicht.
Nun, Herr Bundeswirtschaftsminister, möchte ich mich noch 'einmal an Sie wenden. Haben Sie heute in 'dem zweiten Teil Ihrer Ausführungen für die Bundesregierung gesprochen oder haben Sie darin ein persönliches Bekenntnis abgelegt?

(Sehr gut! bei der SPD.)

Ich darf vielleicht einen Satz herausgreifen, .den ich mir notiert habe. Sie haben .einmal gesagt: ,,..., und darüber haben wir uns im Kabinett etwa geeinigt". Ich weiß, daß .diese Fragen sehr schwierig sind und sicherlich umstritten waren. Aber die Beantwortung der Frage, was in Ihren Ausführungen Ihre persönliche Meinung und was in ihnen die Meinung des Kabinetts war, ist natürlich für die weitere Entwicklung und unsere Haltung von auschlaggebender Bedeutung.
Ich möchte zunächst auf einen Punkt Ihrer Ausführungen zu sprechen kommen, Herr Bundeswirtschaftsminister, den wir, glaube ich, beachten sollten, Sie haben gesagt — und das ist eigentlich .das, was wir mit unserer Großen Anfrage erreichen wollten, schon bevor 'die Beschleunigungspläne kamen, und was wir nun, nachdem die Beschleunigungspläne gekommen sind, um so mehr .erreichen wollen —: Wir müssen 'den Zeitraum, den wir durch die Verlangsamung der Beschleunigung gewinnen, zu Verhandlungen mit Dritten nutzen, 'd. h. also mit den Ländern der kleinen Freihandelszone und selbstverständlich .darüber hinaus mit .den Vereinigten Staaten und Kanada.
Sie haben dabei, Herr Bundeswirtschaftsminister — und das ist das zweite, was ich festhalten möchte — .gesagt, .daß diese Verhandlungen auf Ministerebene geführt werden sollen. Sie haben dann noch, ich möchte beinahe sagen, so als „oder" oder „beziehungsweise" angefügt: vielleicht Staatssekretärsebene. Ich bin doch .der Meinung, daß die Verhandlungen auf Ministerebene das richtige sind. Wenn man die Bedeutung des Beschleunigungsproblems, wenn man die Bedeutung .des Problems der Verhandlungen mit den Dritten so sieht, wie Sie, Herr Bundeswirtschaftsminister, es heute zum Ausdruck gebracht haben, kann .es hier nur die Verhandlung auf Ministerebene geben. Nur dadurch kann man dem politischen Wollen hinreichend Ausdruck verleihen und den Verhandlungen den Nachdruck geben, 'der ihnen, wie wir glauben, in der Vergangenheit gefehlt hat.
Nun möchte ich noch an das anknüpfen, was der Herr Kollege Birrenbach mir eben zurief und was auch der Herr Bundeswirtschaftsminister zum Ausdruck gebracht hat, daß .es sich hier nämlich um zwei Probleme handelt, um ein kurzfristiges und — ich wage gar nicht zu sagen: langfristiges, ich
möchte einmal ein Mittelwort gebrauchen — ein längerfristiges Problem.

(Abg. Dr. Birrenbach: Gut!)

Das erste, also das kurzfristige Problem — beinahe ist es ein kürzestfristiges Problem — soll bis zum 1. Januar 1961 gelöst worden sein, und das ist eben nur ein halbes Jahr. Auch die Lösung des sogenannten langfristigen Problems hat, nur noch eineinhalb Jahre Zeit, bis nämlich, wenn die EFTA den Weg mitgeht, am 1. 1. 1962 die 50 %ige Zollsenkung in beiden Ländergruppen eintritt. Auch hier handelt es sich eigentlich nicht mehr um ein langfristiges Problem, zumal wenn man all die Schwierigkeiten ins Auge faßt, die dabei noch überwunden werden müssen.
Nun haben Sie, Herr Bundeswirtschaftsminister — und ich bekenne offen: ich habe das nicht ganz verstanden —, die Meistbegünstigung als einen Grundsatz genannt — auch wir erkennen diesen Grundsatz an — und zugleich die Multilateralität (in der gesamteuropäischen Lösung) als notwendig bezeichnet. Wenn ich Sie recht verstanden habe, haben Sie so etwa gesagt, daß man bei der Lösung des kurzfristigen Problems — bis zum 1. Januar 1961 — an diesen beiden Grundsätzen noch nicht vorbeikomme, daß man jedoch für die Lösung des längerfristigen Problems auch diese beiden Begriffe irgendwie werde mit in die Diskussion hineinziehen müssen. Ich bin leider nicht in der Lage, das im einzelnen zu vertiefen, weil ich mir, wie gesagt, nicht darüber im klaren bin, was die Bundesregierung hier konkret meint. Ich halte nur das eine fest: daß wir das entscheidende Problem, nämlich das langfristige Problem, in anderthalb Jahren zu lösen haben. Vielleicht darf ich mir einmal erlauben, anzumerken, daß das dann ein neues Problem ist, welches schon die nächste Regierung zu lösen haben wird. Der 1. Januar 1962 liegt ja nach der nächsten Bundestagswahl. Wir wissen aus vielen Debatten in diesem Hause — darauf haben insbesondere meine politischen Freunde und ich immer wieder hingewiesen —, daß nach dieser Wahl von 1961 sehr, sehr viele Probleme zu lösen sein werden, die sich heute schon abzeichnen, die aber vertagt werden. Zu diesen vielen Problemen tritt nun ein neues hinzu: die Lösung der gesamteuropäischen Frage.
Herr Bundeswirtschaftsminister, Sie haben gesagt, Sie seien bezüglich der weiteren Entwicklung optimistisch, weil Frankreich — wir alle in diesem Flohen Hause begrüßen das; das ist schon mehrfach zum Ausdruck gebracht worden — unterdessen nach einer großen Reform eine glückliche wirtschaftliche Entwicklung genommen habe, die allein es erlaubt habe, bisher die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft in etwa planmäßig zu verwirklichen. Diese wirtschaftliche Entwicklung gebe Ihnen, wie Sie sagten, Herr Bundeswirtschaftsminister, den Optimismus, daß sich auch in Zukunft Lösungen leichter finden ließen.
Ich habe vorhin Ihr Wort aufgegriffen, daß Verhandlungen auf Ministerebene stattfinden müssen. Es ist dies die einzige Möglichkeit, wie wir glauben,

.

Dr. Starke
in der kurzen zur Verfügung stehenden Zeit überhaupt noch etwas zu erreichen. Wenn die wirtschaftliche Aufwärtsentwicklung in Frankreich anhält, könnte sich bei diesen Verhandlungen zeigen, daß Frankreich bisher nicht nur aus wirtschaftlichen Gründen, sondern auch aus politischen Gründen ein Gegner einer gesamteuropäischen Lösung war; es liegen Anzeichen dafür vor. Wenn das tatsächlich der Fall sein sollte, dann können wir uns vorstellen, welche Schwierigkeiten bei den Besprechungen auf Ministerebene zu überwinden sein werden.
Ich darf von diesem Optimismus, den Sie, Herr Bundeswirtschaftsminister, hier geäußert haben, auf das umschwenken, was unmittelbar danach der Herr Kollege Birrenbach für die Regierungspartei gesagt hat. Ich muß offen sagen, daß ich danach diesen Optimismus nicht mehr ganz teile. Was Sie, Herr Kollege Birrenbach, uns hier entwickelt haben, war doch so einschränkend und mit so vielen Bedingungen belastet, daß man eigentlich — ich möchte es einmal so formulieren — nicht annehmen kann, Sie selber glaubten daran, daß eine solche gesamteuropäische Lösung möglich sei.

(Abg. Dr. Birrenbach: Sonst hätte ich die positiven Indizien nicht vorgetragen!)

— Mindestens ist sie nicht zu einem einigermaßen zeitgerechten Zeitpunkt möglich, also zu einem Zeitpunkt, zu dem die Verlagerung der europäischen Handelsströme noch nicht in gefährlichem Umfange eingetreten ist. Ich will gar nicht von Zoll- und Handelskrieg usw. sprechen.

(Abg. Dr. Birrenbach: Ein schwieriges Problem leicht zu sehen, heißt Illusionen erwecken!)

— Herr Kollege Birrenbach, ich glaube, daß es hier um etwas anderes geht. Wir haben vielleicht alle einmal die Probleme einer gesamteuropäischen Lösung leichter angesehen, als sie sich nachher herausgestellt haben. Aber wir dürfen auf keinen Fall daran vorbeigehen, daß es nicht nur wirtschaftliche Schwierigkeiten sind, die im Verlauf der Entwicklung das Problem kompliziert haben, sondern daß auch politische Fragen und politische Probleme darinstecken, die wir heute nicht angeschnitten haben, die jedenfalls nur zum Teil erörtert worden sind.
Ich möchte aber eines herausgreifen, worin Sie, Herr Kollege Birrenbach, mir aus dem Herzen gesprochen haben. Es betraf eine Frage, die wir hier nicht übersehen dürfen: die Frage der Vereinigten Staaten. Sie haben auf Schwierigkeiten hingewiesen, die für die Vereinigten Staaten aus ihren großen politischen und finanziellen Verpflichtungen, aus der Verschlechterung ihrer Handelsbilanz und auch daraus entstanden sind, daß sie dadurch in gewisse Schwierigkeiten auch prestigemäßiger Art gekommen sind. Ich habe vorhin schon angedeutet und möchte es jetzt noch einmal sagen: wir haben für diese Schwierigkeiten der Vereinigten Staaten, insbesondere auch die prestigemäßigen Schwierigkeiten, volles Verständnis. Die europäische Aufgabe und die Aufgabe der Bundesrepublik innerhalb
Europas muß es aber sein, mit den Vereinigten Staaten darüber zu sprechen, diese Probleme mit ihnen zu erörtern. Deshalb haben Sie mir aus dem Herzen gesprochen, als Sie auch darauf hingewiesen haben, daß nur ein wirtschaftlich starkes Europa für die Amerikaner in dieser Frage etwas helfen kann und daß sie uns deshalb eigentlich bei unseren Bemühungen, wie sie der Bundeswirtschaftsminister heute hier dargestellt hat, unterstützen müßten. Das war ein versöhnliches Element in Ihren Ausführungen, das ich deshalb ganz besonders hervorheben möchte. Ich will dazu nicht weiter sprechen, weil ich mich insoweit auf Ihre Ausführungen beziehen kann.
Es ist vielleicht — das gehört noch hierher - notwendig, einmal zu sagen, daß leider in den vergangenen Wochen und Monaten, insbesondere seit dem Herbst 1959, nicht bei allen europäischen Stellen die Meinung bestand, man sollte mit den Vereinigten Staaten vernünftig darüber sprechen, was wir beabsichtigen und was auch für sie das Beste wäre. Es ist doch nun einmal nicht zu leugnen, daß die Vereinigten Staaten von europäischen Stellen als Bundesgenosse für die eine Auffassung in Europa herangeholt worden, also bewußt von Europa aus zur Partei in dieser Streitfrage gemacht worden sind. Das habe ich, ich möchte diesen Ausdruck bewußt gebrauchen, als ein uneuropäisches Verhalten im höchsten Sinne verstanden.

(Abg. Dr. Birrenbach: Woher wissen Sie das?)

— Ich glaube, Herr Kollege Birrenbach, es hat keinen Zweck, auf diesen Zwischenruf: „Woher wissen Sie das?" einzugehen. Ich habe vorhin schon gesagt: vielleicht haben Sie als Mitglied der Regierungspartei mehr Zugang zu Geheimnissen, die dort obwalten. Der Eindruck in Europa draußen ist so gewesen, wie ich sagte, und ich bin überzeugt, Herr Kollege Birrenbach, daß Ihnen das auch im Europäischen Parlament entgegengetreten ist.

(Abg. Dr. Birrenbach: Das ist doch kein Beweis!)

Nun aber noch zu etwas anderem. Ich möchte nicht verfehlen, auf folgende Diskrepanz hinzuweisen. Sie, Herr Bundeswirtschaftsminister, haben
— und das habe ich hervorgehoben — von Verhandlungen auf Ministerebene gesprochen und gesagt: nationales Wollen müsse unterstützend zur Lösung dieses gesamteuropäischen Problems mit eingeschaltet werden. Sie, Herr Kollege Birrenbach, haben für die Regierungspartei gesagt: Deutschland hat keine Handlungsfreiheit; wir sind Mitglied der EWG und können nur mit ihr und durch sie wirken.
— Ich möchte Sie bitten, dieser Diskrepanz in den Auffassungen, die ich hier zu präzisieren versucht habe, Ihre Aufmerksamkeit zuzuwenden; Sie haben ja die Möglichkeit, im Laufe der Diskussion von der einen wie von der anderen Seite dazu noch einmal Stellung zu nehmen.

(Abg. Dr. Löhr: Man kann doch beides tun!)

— Sicherlich, Herr Kollege Löhr, kann man beides tun. Aber wenn von einer Partei der eine von der



Dr. Starke
Regierungsbank aus dies und der andere von der Abgeordnetenbank aus das sagt,

(Abg. Dr. Löhr: So braucht das keine Kontroverse zu sein!)

dann ist das eben nicht dasselbe.
Ich habe bewußt auf die Diskrepanz hingewiesen, damit sie möglichst durch Erklärungen, die noch abgegeben werden, aufgehoben wird. Wenn Sie, Herr Bundeswirtschaftsminister, im .ersten Teil Ihrer Ausführungen gesagt haben: „Die Bundesrepublik hat sich im Rahmen der Organisation, im Ministerrat, bemüht", dann ist das eben etwas anderes gewesen als das, was Sie jetzt vorschlagen: Verhandlungen auf Ministerebene mit den dritten Ländern, um dieses Problem, das kurzfristig gelöst werden muß, einer Lösung zuzuführen. Aus diesem Grunde habe ich noch einmal erwähnt, daß danach Herr Kollege Birrenbach Bindungen, die dem entgegenstehen, angeschnitten hat: und das steht eben in einem gewissen Gegensatz zueinander. Es ist für die Behandlung dieser schwerwiegenden Fragen in der zukünftigen Zeit außerordentlich wichtig, hier Klarheit zu schaffen.
Ich habe damit das erörtert, was ich im Anschluß an die vorangegangenen Ausführungen vor allem bringen wollte, und möchte zum Schluß nur noch einen Gedanken herausstellen, der mir von besonderer Bedeutung zu sein scheint. Wenn man von der Verlagerung der europäischen Handelsströme spricht, die wir alle als eine Gefahr ansehen, dann sollte man sich doch auf eins einigen. Der Sinn der Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft war nicht die Verlagerung der traditionellen europäischen Handelsströme, sondern der Sinn dieser Gründung war, daß diese Gemeinschaft — und hier gebrauche ich einen Ausdruck, der heute morgen in der Presse gestanden hat — als eine Frucht einer wirtschaftlichen Expansion erwachsen sollte. Wenn wir uns das vor Augen halten, werden wir viele Probleme klarer sehen und sie wirksamer durchdenken und dann auch behandeln können.
Ich darf zusammenfassen, daß die Freie Demokratische Partei nach der Ratifizierung des Vertrages über die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft an diesem Vertrag mitarbeitet, daß wir aber natürlich auf Mängel und Schwierigkeiten in der Entwicklung immer hinweisen werden und daß wir darüber hinaus niemals nachlassen werden, insbesondere nicht in der jetzigen zugespitzten Situation, eine gesamteuropäische Lösung zu suchen. Wir sind drittens der Auffassung, daß durch die Beschleunigung ein kritischer Zeitpunkt eingetreten ist, weil uns damit der Zeitraum für Verhandlungen mit den anderen europäischen Ländern verkürzt wird. Wir sind viertens der Meinung, daß in diesem kritischen Zeitpunkt Verhandlungen mit Dritten im Sinne der von diesem Hohen Hause zweimal gefaßten Resolutionen stattfinden müssen, und wir sind dafür dankbar, daß der Herr Bundeswirtschaftsminister uns heute in Aussicht gestellt hat, daß diese Verhandlungen auf Ministerebene mit allem Nachdruck stattfinden werden.
Wir sind fünftens der Meinung, daß die atlantische Zusammenarbeit als Fortsetzung der Politik, die wir nach dem Kriege geführt haben, ebenso wie die weltweite Zusammenarbeit im GATT eine Notwendigkeit ist. Wir sind aber ebenso der Meinung, daß diese atlantische Zusammenarbeit und die weltweite Arbeit im GATT kein Ersatz für die Lösung des gesamteuropäischen Problems ist. Wir haben heute die Zusicherung erhalten, daß die Bundesregierung zu den Grundsätzen der Resolution vom Oktober 1958 steht und daß auch sie in dem Beschleunigungsplan eine solche Zuspitzung der Situation sieht, daß man verstärkte Anstrengungen machen muß, um dieser neuen Zuspitzung Herr zu werden. Wir haben mit Bedauern festgestellt, daß wir zuwenig konkrete Anhaltspunkte bekommen haben, in welcher Richtung und auf welchem Wege man die Verhandlungen führen will, zuwenig Konkretes angesichts der Darlegungen insbesondere der Europäischen Kommission, daß es fast unmöglich sei, noch zu dem zu kommen, was man einen Brükkenschlag nennt. Gerade gegenüber dieser Argumentation wäre ein wenig Konkretes wohl mehr gewesen.
Wir möchten zum Schluß hier durch mich noch einmal sagen, daß es auf den politischen Willen ankommen wird und daß dieser politische Wille, wenn er sich durchsetzen soll, wenn er in den kommenden Monaten Erfolg haben soll, von der Bundesrepublik aus einheitlich in Erscheinung treten muß, damit die Bemühungen, die von seiten der Bundesrepublik unternommen werden, nicht erneut — wie bisher — dadurch vereitelt werden, daß draußen angesichts vorhandener Meinungsverschiedenheiten der Eindruck entsteht, ein wirklich einheitlicher Wille der Bundesrepublik stehe hinter dem, was sie vorträgt, nicht.
Ich möchte als letzten Satz sagen, daß wir Ihnen, Herr Bundeswirtschaftsminister, nach den Ausführungen, die Sie heute gemacht haben, viel Glück für die Gesamtverhandlungen wünschen, die Sie hier angeregt haben; denn vom Ausgang dieser Verhandlungen hängt es ab, ob wir in einem Jahr oder spätestens in zwei Jahren in einer sehr viel schlechteren Situation sowohl wirtschaftlicher wie auch ganz sicher politischer Art in Europa stehen werden. Ich darf mit diesem Glückwunsch, den ich bewußt an das Ende meiner Rede gestellt habe, meine Ausführungen schließen.

(Beifall bei der FDP.)


Dr. Richard Jaeger (CSU):
Rede ID: ID0311104200
Das Wort als Vertreter des Bundesrates hat Herr Ministerpräsident von Hassel.
von Hassel, Ministerpräsident des Landes Schleswig-Holstein: Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Bei der Behandlung der beiden Großen Anfragen ist heute im Deutschen Bundestag die Auffassung der Bundesregierung dargelegt worden, und der Herr Bundeswirtschaftsminister hat sein Bekenntnis zur EWG und der darin verkörperten Zielsetzung mit dem ihm am Herzen liegenden Bestreben verbunden, alle denkbaren



von Hassel
und erreichbaren Möglichkeiten zur Beseitigung der Störungsmomente zwischen den EWG- und EFTA-Ländern auszuschöpfen.
Sie haben, Herr Bundeswirtschaftsminister, als Ziel die gesamteuropäische Integration herausgestellt, Sie haben aber sehr deutlich die Aufrechterhaltung der bestehenden Verbindungen proklamiert, Sie haben gesprochen von der Wiederaufnahme der Gespräche mit den Handelspartnern außerhalb der EWG. Sie haben Ihre Auffassung über die multilateralen Bestrebungen dargelegt. Sie haben miteinander verbunden die europäischen Aspekte und die weltweiten und atlantischen Entwicklungen. Sie haben von den Kontaktmöglichkeiten gesprochen, und Sie haben einen sehr deutlichen Satz gesagt, daß nämlich die Isolierung eine schlechte Politik wäre.
Für uns in den deutschen Bundesländern sind zwei Schlußfolgerungen besonders erfreulich, daß nämlich der sich abzeichnende Weg ersprießlich und hoffnungsvoll sei und daß die Möglichkeiten einer Verständigung in guter Atmosphäre gegeben seien. Die betroffenen Bundesländer und ihre Wirtschaft werden Ihnen, Herr Bundeswirtschaftsminister, für diese Ihre Einstellung Dank wissen.
Meine Damen und Herren, wenn ein Ministerpräsident im Deutschen Bundestag im Auftrag einer Reihe seiner Kollegen, nämlich der Ministerpräsidenten und der Bürgermeister der Küstenländer, das Wort erbittet, so ist das sicher ein Zeichen dafür, daß es sich um Sorgen besonderer Art handelt, für die er hier im Auftrage seiner Kollegen und der deutschen Länder — ich glaube, das wird die Aussprache im deutschen Bundesrat übermorgen auch zeigen: für alle deutschen Länder — einmal Ihre Zeit für eine halbe Stunde in Anspruch nimmt.
Das uns allen vorschwebende große Ziel, die Einheit und die wirtschaftliche Fundierung des freien Europas, sollte angestrebt werden durch ein Aneinander-Gewöhnen, durch rücksichtsvolles Miteinander und durch ein behutsames Vorgehen, das Überkommenes und Gewachsenes im politischen, im kulturellen, im wirtschaftlichen Bereich nicht überrennt. So wird man gewiß am ehesten mit den Lasten und den Ressentiments aus der hinter uns liegenden Zeit fertig werden.
Wenn man das von uns allen angestrebte Ziel erreichen will, muß man also auch die Schicksale und die Sorgen einzelner und einzelner Wirtschaftsräume wichtig nehmen, wenn die Einheitlichkeit von Wohlstand und Lebenshaltung nicht gefährdet werden soll. Das veranlaßt mich, als Ministerpräsident des nördlichsten Bundeslandes und, wie ich schon sagte, aus dieser Sicht auch für alle anderen Küstenländer zu sprechen, deren Sorgen sich mit den unsrigen decken. Diese Länder liegen zwar peripher zu den Zentren der industriellen Produktion in der Bundesrepublik, aber auch sie haben ihre Bedeutung im wirtschaftlichen Geschehen nach dem Zusammenbruch neu beweisen können. Hamburg und Bremen sind Handels- und Hafenplätze mit Ansehen und Geltung geblieben. Niedersachsen hat sich in den Hannoverschen Messen — gestern ist gerade wieder eine zu Ende gegangen — an die
gesamte Welt gewandt, um für die Leistung des Gewerbefleißes der Bundesrepublik, den fortschrittlichen Geist ihrer Wirtschaft zu werben und ihn zu empfehlen. Schleswig-Holstein als natürliche Brücke zum Norden, zu den Volkswirtschaften des skandinavischen Raumes hat diese traditionelle Rolle auch nach dem Zusammenbruch mit beachtlichen Ergebnissen ausgefüllt.
In diesen Ländern sind die Verflechtungen mit denjenigen Nationen und Volkswirtschaften, die heute in der EFTA zusammengeschlossen sind, besonders stark, viel weitergehend, als es für den Durchschnitt der Bundesrepublik erkennbar ist. Diese Küstenländer befürchten, in eine Randlage zu geraten, in der sich an die Stelle des Verbindenden das Trennende in den Vordergrund schiebt. Daß diese Bundesländer — das gilt nicht nur für die Küstenländer — ohnehin durch die Zonengrenze besonders hart getroffen und in ihrer Entfaltungsmöglichkeit beeinträchtigt sind, verschlimmert ihre Lage. Daraus ergibt sich für mich die Verpflichtung, den Ausführungen des Herrn Bundeswirtschaftsministers einige Akzente hinzuzufügen.
Lassen Sie mich eine Vorbemerkung machen. Als die Verträge von Rom anfingen, Gestalt anzunehmen, haben die deutschen Bundesländer im Bundesrat mit den Vertretern der Bundesregierung, mit Ihnen, Herr Bundeswirtschaftsminister, mit dem Herrn Außenminister, dem Herrn Verkehrsminister die Bestimmungen behandelt, die auf die Länder, insonderheit auf die peripheren Länder, Einfluß haben können. Damals haben wir — etwa auf dem Gebiete der Verkehrspolitik oder zu den Fragen der Zonenrandgebiete oder den übrigen Problemen entlang der nassen und der trockenen Grenzen — Lösungen finden können, die verhindern, daß durch die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft neue Sorgen und Schwierigkeiten auf die Rand- oder die Küstenländer zukommen. Wir haben im Grundsatz erreichen können, daß von den Verträgen her die Bundesrepublik Deutschland keine Notstandsräume, keine strukturellen Schwächen nachzubehalten brauchte. Die gemeinsamen Vorberatungen im Bundesrat haben sich als sehr wesentliche Beiträge für die Endformulierung der Verträge erwiesen. Ich hoffe, daß auch in der Zukunft der deutsche Bundesrat bei den Fragen der Weiterentwicklung, der Ausgestaltung dieser Verträge eingeschaltet bleibt.
Als die ersten Nachrichten über die Bildung der EFTA die politische Öffentlichkeit in Europa beschäftigten, haben wir in den Ländern, die an die EFTA-Räume angrenzen, sehr schnell reagiert. Wir haben unsere Sorgen dahingehend geäußert, daß ein Wirksamwerden dieses Zusammenschlusses zu einer Entfremdung zwischen Wirtschaftspartnern von gestern und heute führen könne.
Erklärungen maßgeblicher Politiker und Regierungsstellen aus allen Ländern des EFTA-Bereiches ließen erkennen, daß es zu dieser Form des Zusammenschlusses erst gekommen sei, nachdem die Aussichtslosigkeit von Bemühungen um einen als richtig anerkannten größeren Zusammenschluß deutlich geworden sei. Vorgeschwebt hat hierbei offensichtlich eine Zusammenarbeit, wie sie sich für alle in



von Hassel
der OEEC verbundenen westeuropäischen Volkswirtschaften segensreich ausgewirkt hat. Enttäuscht war man insbesondere darüber, daß die bei der Einführung der römischen Verträge bekräftigte Absicht — viele sehen sie sogar mindestens als eine starke moralische Verpflichtung — für absehbare Zeit nicht Wirklichkeit zu werden schien. Vorbehalte in weiten Kreisen der einheimischen Wirtschaft steigerten sich zu einem ausgesprochenen Unbehagen, als in den Auslassungen über die EFTA das Wort „Kampf" gebraucht wurde und sich abzuzeichnen begann, daß ernsthafte Störungen alter Wirtschaftsbeziehungen nicht ausgeschlossen erschienen. In den Reden und den Veröffentlichungen mancher europäischer Staatsmänner werden wir immer wieder daran erinnert, wie stark sich die Sorge um nachteilige Auswirkungen der bestehenden EWG-EFTA-
Situation über die Verantwortung der einzelnen Nationen hinaus zu einer Sorge um das freie Europa, seine Leistung und seine Widerstandskraft verdichtet.
Meine Damen und Herren, als Sprecher für die Küstenländer Schleswig-Holstein, Hamburg, Bremen und Niedersachsen und als Vermittler der Gedanken, die die Wirtschaft dieses Bereiches bewegen, muß ich vorausstellen, daß wir es für äußerst bedenklich ansehen würden, wenn wir die neuen Formen der Zusammenarbeit, die in der EWG ihre Bewährung finden sollen, .durch Nachteile und Mißerfolge im Wirtschaftsleben 'der Randgebiete belasteten. Diese Gefahren und deren Folgen sind von allen, 'die Verantwortung zu tragen haben, sehr sorgsam zu bedenken.
In der Zusammenarbeit in der EWG soll jenes Maß von gegenseitiger Toleranz und Rücksichtnahme der sechs Nationen, die sich hiermit auf einer Vorstufe zu einer weitergehenden politischen Integration befinden, vorgelebt werden, das auch denjenigen Nationen und Volkswirtschaften nicht versagt werden darf, die bisher als traditionelle und zuverlässige Handelspartner, ja, als wohlmeinende Freunde unsere Achtung und Dankbarkeit verdient haben.
Wie intensiv die Handelsverflechtungen der norddeutschen Küstenländer z. B. mit Skandinavien sind, darf ich in Ergänzung dessen, was schon in der Aussprache des Vormittags von anderer Seite angeführt worden ist, mit wenigen Zahlen verdeutlichen. Der Anteil der Exporte von in diesen Ländern hergestellten Industriewaren in die EFTA-Länder betrug im Jahre 1959 über 31 % gegenüber einer Ausfuhr von nur 16 % in die EWG-Staaten. Die Zahlen für die einzelnen Länder sind eindrucksvoller. Bremen z. B. exportierte rund 40 % seiner Waren in die EFTA-Länder und 16 % in die EWG-Länder, Hamburg rund 29 % in die EFTA-Länder und nur 15 % in die EWG-Länder, Niedersachsen rund 26 % in die EFTA-Länder und rund 16 % in die EWG-Länder, Schleswig-Holstein schließlich rund 51 % in die EFTA-Länder und nur etwa 17 % in die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft.
Ich könnte diese Zahlen noch ergänzen um Angaben über die Auswirkungen der Zollveränderungen, die sich durch die Beschleunigungsvorgänge
ergeben würden. Ich hoffe aber, daß diese Vorschläge sorgfältig geprüft werden, und bin dankbar dafür, daß, wie aus dem Kabinettsbeschluß vom 22. April dieses Jahres sichtbar wird, diese Frage einer ganz besonders sorgfältigen weiteren Behandlung vorbehalten bleibt.
In den vorerwähnten Zahlen kommt auch nicht zum Ausdruck, welche entscheidende Bedeutung diese Handelsbeziehungen für einzelne strukturbestimmte Wirtschaftszweige haben. Sogar auf die Termine des Vertrages sich einzustellen, wird für weite Teile 'dieser Wirtschaft schon erhebliche Anstrengungen bedingen.
Meine Damen und Herren, die Konferenz der Wirtschaftsminister der Länder mit dem Bundeswirtschaftsminister am 12. Januar dieses Jahres gab eine erste Gelegenheit eines Ländervergleichs der voraussichtlichen Auswirkungen einer handelspolitischen Trennung in Europa. Es ergab sich, daß zwar für 'das Bundesgebiet der EWG-Raum und der EFTA-Raum ungefähr den gleichen Außenhandelsanteil beanspruchen, daß aber für die zahlreichen Teilräume der Bundesrepublik stark unterschiedliche Verhältnisse vorliegen. Ich habe dargelegt, daß nicht selten ein Obergewicht des Außenhandels mit den EFTA-Ländern in Erscheinung tritt, dessen Begrenzung zu sehr ernsthaften Störungen des Wirtschaftslebens in diesen Bundesländern führen muß. Das gilt vornehmlich für die Länder in der Randlage, wo die gemeinsame Grenze mit einzelnen EFTA-Staaten den Warenaustausch von jeher günstig beeinflußt hat.
Von diesen Sorgen getragen hat der Wirtschaftsausschuß des Bundesrates in der vergangenen Woche einstimmig eine Entschließung der vier Küstenländer angenommen, die im übrigen übermorgen dem Bundesrat vorliegen wird. Es besteht kein Zweifel darüber, daß im Bundesrat die gleiche Auffassung aller Länder erreicht wird.
In dieser Entschließung heißt es, daß es der Bundesrat anläßlich der Zustimmung zu den römischen Verträgen damals, am 3. Mai 1957, für erforderlich gehalten hat, daß die Bundesregierung im Sinne der gemeinsamen Erklärung der EWG-Mitgliedstaaten mit größter Beschleunigung alle notwendigen Schritte unternimmt, die zu einer europäischen Gesamtlösung führen.
Der Bundesrat fährt in seiner Entschließung fort:
Er unterstützt daher alle Bemühungen der Bundesregierung zur Bildung des Gemeinsamen Marktes im Sinne der im Vertrag vorgesehenen Zielsetzung. Der Bundesrat stellt mit Sorge fest, daß ohne einen Ausgleich mit den EFTA-Staaten für die Bundesländer ernsthafte außenwirtschaftliche Schwierigkeiten zu erwarten sein werden.
Schließlich heißt es:
Der Bundesrat bittet daher unter Bezugnahme auf den Beschluß der Wirtschaftsministerkonferenz vom 12. Januar 1960 die Bundesregierung, alles zu tun, um eine europäische Gesamtlösung noch vor der ersten Angleichung an den ge-

von Hassel
meinsamen Zolltarif der EWG zu finden. Er bittet insbesondere darum, daß die Bundesregierung im Ministerrat der EWG die geeigneten Schritte unternimmt, um die Aufnahme von gemeinsamen Verhandlungen mit den EFTA-Staaten zu erwirken.
Meine Damen und Herren, wenn ich hier auf die Gefahren aufmerksam mache, die aus den wirtschaftlichen Störungen auch für die politische Situation in diesen Randgebieten entstehen können, so brauche ich nicht zu betonen, daß ich weit entfernt davon hin, dabei die entscheidende Bedeutung der EWG für den mittel- und westeuropäischen Raum wie auch für die Notwendigkeit ,des europäischen Zusammenschlusses irgendwie abzuschwächen. Vor allem wurden und werden die politischen Gesichtspunkte, die zur Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft geführt haben, nach wie vor auch von den Küstenländern voll gebilligt und unterstützt.
Der Wert, der in der Beseitigung des jahrhundertealten Gegensatzes zwischen Frankreich und Deutschland liegt, ist nicht hoch genug einzuschätzen. Vertrauen und Zusammengehörigkeitsbewußtsein der beiden Völker in freiheitlichem europäischem Geist erwecken Hoffnungen und setzen weite Ziele, die erstmals in der Form der EWG möglich wurden. Die dauerhafte deutsch-französische Verständigung ist die Grundlage für die Wiedergeburt Europas aus den Trümmern des letzten Krieges und für die Sicherung von Freiheit und Frieden.
Wir wissen, daß die wirtschaftlichen Vorgänge im EWG-Bereich und des Außenhandels der EWG- Länder heute schon eine eindrucksvolle Wirtschaftskraft entfalten, ohne daß wesentliche Eingriffe oder Maßnahmen, die die Verträge vorschreiben, bereits zum Anlaufen gekommen sind. Die Auswirkungen dieses Zusammenschlusses auf das wirtschaftliche Hand-in-Hand der EWG-Partner sprechen in den Statistiken über das abgelaufene Jahr bereits eine sehr deutliche und sehr erfreuliche Sprache. Die Zuwachsraten der Grundstofferzeugung und der wichtigsten Zweige der Industrieproduktion liegen über denen vieler westlicher Länder. Das Ausmaß der Leistungen - ich denke z. B. an Rohstahlerzeugung, Zementerzeugung, Beispiele, die noch erweitert werden können — liegt zwischen den vergleichbaren Leistungen der Vereinigten Staaten und denen der Sowjetunion. Diese Entwicklung im EWG-Raum zu fördern muß angesichts der forcierten Produktionsausweitung im Ostblock, mit der wir rechnen müssen und die häufig Anlaß zu Debatten im Außenpolitischen Ausschuß auch des Bundesrates gewesen ist, als besondere Pflicht vor uns und von uns anerkannt werden.
Wir dürfen hierbei nicht einen Augenblick außer acht lassen, daß die Auseinandersetzungen in der Welt auch von der Kraft und den Leistungen der Wirtschaft mitbestimmt werden. Diese sind mitbestimmend für die Sicherung unserer Freiheit und die Begründung eines angemessenen Wohlstandes, in dem die Freiheit eine zuverlässige Heimstatt haben kann in den vielen Völkern und Gemeinschaften, die heute Gegenstand besonderer und betonter Fürsorge der westlichen Welt sind.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich aber erneut betonen: Wir in ,den Küstenländern sehen Gefahren für die Gemeinschaft, die sich aus der noch nicht wirksam gewordenen Annäherung zwischen EWG und EFTA, d. h. der Schaffung eines größeren europäischen wirtschaftlichen Zusammenschlusses ergeben könnten. Wir haben die Sorge, daß das Ziel der Gemeinschaft in Frage gestellt werden könnte, zu dem sich die betreffenden und die betroffenen Länder — auch wir, die Küstenländer — ohne Zwang von außen bekannt haben.
Wir wissen und betonen es auch hier, daß der politische Wert dieser Gemeinschaft über den rein wirtschaftlichen Effekt hinausgeht und daß wir das bei der Betrachtung und bei der Bewertung einzelner unvermeidbarer Verzichte nicht vergessen dürfen. Ich betone also noch einmal das Bekenntnis der Küstenländer zur EWG.
Aber die Küstenländer vermögen in ihrer besonderen Situation nicht einzusehen, daß die Ausgestaltung und die Stärkung der Gemeinschaft eine Vernachlässigung oder gar eine Abkehr von den Handelspartnern bedingen soll, die uns in langjähriger Zusammenarbeit zu geachteten Freunden geworden sind. Es ist für uns und die Wirtschaft der Bundesrepublik schon unerhört schwierig, sich mit einer sinnlosen Willkürgrenze quer durch Deutschland immer wieder auseinandersetzen zu müssen. Neue Trennungslinien mit neuen Schwierigkeiten müssen wir Deutschen daher angesichts unseres Schicksals unter allen Umständen vermeiden.
Wie denken wir uns nun die Beziehungen zur EFTA? Wir möchten die Warenströme von und nach den EFTA-Ländern erhalten und sie entsprechend dem Wachstum des Sozialprodukts in der EWG ausgestalten und steigern. Dazu sind Aufgeschlossenheit und Fairneß gegenüber allen unseren Handelspartnern erforderlich. Wenn gesagt wird, daß die derzeitige freundliche Konjunktur eine Eile gestatte, die beim Abschluß der Verträge nicht vorauszusehen war, so ist dem entgegenzuhalten, daß eine gleiche Konjunktur auch den EFTA-Ländern und deren Absichten auf Umlenkung der Warenströme förderlich sein könnte.
Eine nachteilige Beeinflussung unserer Handelsbeziehungen könnte auch von den stellenweise zu hohen Zöllen des gemeinsamen Tarifes ausgehen, der in der Betrachtungsweise zahlreicher Wirtschaftskreise im In- und Ausland, auch in einigen EFTA-Ländern, noch als zu proktektionistisch angesehen wird. Die bisher vorgesehene Kürzung des gemeinsamen Tarifs sollte daher und aus vielen anderen Gründen Bestandteil des Programms zur Kürzung der in der EWG vorgesehenen Übergangszeiten bleiben. Ich bin dankbar dafür, daß diese Frage auch in dem Kabinettsbeschluß, der heute morgen von Herrn Professor Erhard behandelt wurde, Gegenstandgewesen ist und in ihn Aufnahme gefunden hat.
Bei einer Erhöhung der protektonistischen Wirkung des gemeinsamen Zolltarifs und der von ihm unter Umständen hervorgerufenen Gegenwirkungen würden wir in Norddeutschland auf eine Reihe von



von Hassel
Konsequenzen gefaßt sein müssen wie auf wirtschaftliche Ausfälle bis zu ,dem Ausmaß einer Teildepression, wenn der hohe Anteil der Ausfuhr in die EFTA-Länder kurzfristig abgebaut werden müßte. Oder wir würden auf die Verlagerungen beträchtlicher Teile des Außenhandels und des Hafenumschlags zuungunsten unserer Handels- und Hafenstädte gefaßt sein müssen. Unsere Partner und unsere Freunde in der EWG mögen sich darüber im klaren sein, daß es auch nicht in ihrem eigenen Interesse liegt, wenn eine Überkonzentration in ihren Häfen stattfindet und damit unsere Häfen veröden. Wirtschaftliche Verödung führt zu unübersehbaren politischen Entwicklungen, die weiter reichen würden als nur bis 'zu den innerdeutschen Ländergrenzen. Nicht zuletzt müßten wir auf Rückschläge in den Beziehungen zu den Ländern gefaßt sein, denen im Krieg durch uns Nachteile widerfahren sind.
Skandinavien und der norddeutsche Raum ergänzen sich in vielem. Wir möchten daher, daß die Produktion insbesondere Norddeutschlands und die der Wirtschaft der benachbarten Nationen im gemeinsamen Interesse und im Sinne einer fortschreitenden Produktivitätssteigerung noch enger miteinander verflochten werden. In dieser Hinsicht ist vielleicht eine Zusammenarbeit mit dem Nordischen Rat angezeigt, dessen wirtschaftliche Organe sich gelegentlich einer Tagung vor einigen Wochen eine Koordinierung der Ausbaupolitik der Wirtschaft in den skandinavischen Ländern als Aufgabe gestellt haben.
Wir möchten in unseren Häfen — das sagte ich bereits —, aber auch auf unseren Werften jene Impulse weiter wirken lassen, die von den Freunden und den Handelspartnern ausgingen und ausgehen, die uns in der schwersten Zeit unseres Vaterlandes so sehr geholfen haben.
Ich befürchte, daß ohne den Ausgleich zwischen der EWG und der EFTA eine Desintegration der Handelspolitik der beiden Blöcke droht, die früher oder später den Handelsverkehr der Bundesrepublik mit diesen Ländern, den wir beibehalten und gefördert wissen möchten, zwangsläufig drosseln wird.
Die internationale Arbeitsteilung in Europa sollte im Zuge der Integration nicht eingeschränkt, sondern verfeinert werden. Ein allgemeines handelspolitisches Abkommen zwischen den Räumen der EWG und der EFTA muß deshalb mit Nachdruck angestrebt werden. Ein solches Abkommen könnte besonderen, Vereinbarungen über einzelne Erzeugungsgruppen und Länder Raum geben. Diese Vereinbarungen, die uns politisch vordringlich erscheinen, müssen auch wirtschaftspolitisch realisierbar sein.
Ich möchte an dieser Stelle der Hoffnung Ausdruck geben, daß auch die EFTA-Länder nunmehr konkretere Vorschläge für ihre Zusammenarbeit mit der EWG erbringen. Denn der von ihnen geäußerte Wunsch auf Angleichung der Termine der Zollermäßigung und der Kontingentbeseitigung in den beiden Bereichen kann lediglich als eine abwartende Stellungnahme gewertet werden. Die EFTA-
Länder werden sicher illusionslos erkannt haben, daß die EWG eine Realität ist und daß sie sich auf diese Realität einstellen müssen.
Kritische Stimmen in den Küstenländern berechtigen nicht zu der Hoffnung, daß etwa Chancen bestehen, daß die Gemeinschaft eines Tages wieder abgebaut werden könnte. Die Küstenländer ihrerseits lassen sicher keine Möglichkeit aus, ihre Freunde draußen in der Welt zu bitten, ihrerseits alles zu tun, was das Verhandlungsklima zwischen EWG und EFTA mit vorbereitet, so wie auch wir in den Küstenländern uns bei unseren Freunden darum bemühen.
Verschiedene Gremien sind in der letzten Zeit gebildet worden, die Ansatz- und Kristallisationspunkte für Ideen und Gespräche zur Behebung der sich abzeichnenden Spannungen ergeben könnten. Ich bin der Ansicht, daß z. B. der von der Kommission der EWG angeregte Kontaktausschuß eine wertvolle Arbeit zu leisten vermag, wenn er bei aller Fürsorge für den störenden Einzelfall eine Konzeption entwickelt, die allgemeine Vereinbarungen ermöglicht.
In diesen Tagen sind die Berichte der Wirtschaftskommission der UN für Europa, der ECE, für. das abgelaufene Jahr veröffentlicht worden. Sie lassen erkennen, daß das westliche Europa Verantwortungsbewußtsein für das Ganze bewiesen und einem wirtschaftlichen Aufschwung den Weg gebahnt hat, der in der Welt einmalig dasteht. Eine freiwillige, disziplinierte, aufgeschlossene und rücksichtsvolle Zusammenarbeit hat sich segensreich für alle beteiligten Nationen und für die Lebenshaltung ihrer Menschen ausgewirkt. Es sollte also auch möglich sein, Störungsmomente zwischen der EWG und der EFTA auszuschalten, wenn wir alle Kraft für ein gemeinsames Europa einsetzen.
Die Küstenländer unterstützen daher die Bundesregierung in dem Bemühen, Wege zu erschließen, auf denen es möglich sein wird, der Wirtschaft weiter Teile der Bundesrepublik Nachteile und Enttäuschungen sowie der jungen EWG schmerzliche Belastungen zu ersparen.

(Beifall bei den Regierungsparteien und bei der FDP.)


Dr. Richard Jaeger (CSU):
Rede ID: ID0311104300
Das Wort hat der Abgeordnete Metzger.

Ludwig Metzger (SPD):
Rede ID: ID0311104400
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Neben der Frage der Wiedervereinigung Deutschlands sind es zwei Punkte gewesen, die meine Fraktion seinerzeit dazu bewogen haben, Wünsche und Forderungen geltend zu machen, als wir dem EWG-Vertrag zustimmten. Das ist auf der einen Seite die Freihandelszone, auf der anderen Seite die Frage der assoziierten Gebiete, also die Sorge, daß die Bundesrepublik in einen neuen Kolonialismus verstrickt werden könnte.
Der Herr Bundeswirtschaftsminister hat uns heute Willenserklärungen vorgetragen, die wir gern zur Kenntnis genommen haben. Wir haben nur den Wunsch, daß das, was als Willen dokumentiert



Metzger
worden ist, auch in der Praxis durchgehalten wird, und unsere Kritik soll nicht zuletzt dazu dienen, der Bundesregierung und ihrem Bundeswirtschaftsminister in diesem Kampf um das Durchhalten des eigenen Willens den Rücken zu stärken.
Der Herr Bundeswirtschaftsminister hat gesagt, daß die Regierung der Trennung Europas keinen j Vorschub leisten wolle. Wir glauben ihm das aufs Wort, aber es kommt auch darauf an, daß man gewisse Dinge, die, ob sie gewollt sind oder nicht, in diese Richtung gehen könnten, nicht gewähren läßt. Es genügt nicht, daß man keinen Vorschub leistet, sondern man muß unter Umständen auch durch sein eigenes Tun unglückselige Entwicklungen verhindern. Wir wünschen, daß die Bundesregierung, insbesondere ihr Bundeswirtschaftsminister, dafür sorgt, daß solche Entwicklungen verhindert werden.
Wir wissen, wie viele einander zuwiderlaufende Kräfte in der EWG vorhanden sind. Man darf nicht einfach einem Kräftestrom widerstandslos gegenüberstehen, sondern man muß sich ihm so entgegenstellen, daß man die eigene Gegenkraft entwickelt. Wir wünschen, daß diese Gegenkräfte entwickelt werden.
Ich möchte mich zunächst dem Punkt der Assoziierung zuwenden. Der Herr Bundeswirtschaftsminister vertritt, wie ich mit Freuden gehört habe, die Auffassung — ich nehme an, daß es auch die Auffassung der Regierung ist —, deß die der EWG assoziierten überseeischen Gebiete auch dann das Recht behalten, in der Assoziierung zu bleiben, wenn sie ihre Souveränität erlangen. Das ist ein großes Wort, das keineswegs selbstverständlich ist. Wir haben im Europäischen Parlament erlebt, wie sehr man über diese Frage streitet und wie man auch nach Argumenten sucht, um eine gegenteilige Auffassung zu vertreten. Der EWG-Vertrag bestimmt in seinem Art. 131, daß die überseeischen Gebiete, die besondere Beziehungen zu vier Mitgliedstaaten unterhalten, der EWG assoziiert werden. An diesem Begriff der „besonderen Beziehungen" wird es sich in Zukunft entscheiden, ob in der EWG noch neokolonialistische Auffassungen vorhanden sind oder nicht. Es wird nämlich manchmal der Standpunkt vertreten — wir haben ihn gerade von französischen Abgeordneten gehört —, daß das Bestehen der „besonderen Beziehungen" Voraussetzung dafür ist, daß die assoziierten Gebiete weiterhin assoziiert bleiben. Mit anderen Worten: wenn ein Gebiet keine „besonderen Beziehungen" mehr hat, wenn es souverän wird, scheidet es damit automatisch aus der Assoziation aus.
Man versucht ein Pflästerchen zu geben, indem man sagt: Wenn dieses Gebiet ausscheidet, dann hat es ja nach Art. 238 die Möglichkeit, erneut die Assoziation zu beantragen. Dabei wird aber bewußt übersehen, daß ,diese neue Beantragung und der Erfolg, der daran geknüpft werden soll, voraussetzen, daß alle Mitgliedstaaten zustimmen. Es wäre sehr wohl möglich, daß bei einem neuen Assoziierungsverfahren gerade das ehemalige Kolonialland Bedingungen stellt, die für das souverän gewordene Land unannehmbar sind, und da würde es sich zeigen, daß man doch gewillt ist, einen gewissen Druck auszuüben. In Wirklichkeit kann es gar keinen Zweifel darüber geben, daß das Merkmal der „besonderen Beziehungen" nur ein Merkmal für die Aufnahme in die Assoziierung war, daß es aber kein konstitutives Merkmal für 'die Dauer ist und kein Merkmal dafür, daß die Länder nur unter diesen Bedingungen assoziierte Mitglieder sein können; denn der Art. 131 sieht vor, daß die EWG diesen Ländern und Hoheitsgebieten helfen soll, daß sie wirtschaftlich, sozial und kulturell gefördert werden sollen. Im Abs. 3 des Art. 131 ist ausdrücklich auf die Präambel Bezug genommen, und in der Präambel ist auf die Charta der UNO Bezug genommen, in der das Selbstbestimmungsrecht der Völker verankert ist. Damit ist in den Vertrag der Gedanke des Selbstbestimmungsrechts der Völker aufgenommen, so daß nicht nur eine Förderung in wirtschaftlicher, sozialer und kultureller Beziehung, sondern auch in staatspolitischer Beziehung in Frage kommt.
Wenn man dieses dynamische Element in dem Vertrag betrachtet, wird es klar, daß das statische Element der „besonderen Beziehungen" nicht ausschlaggebend sein kann, wenn diese besonderen Beziehungen wegfallen und wenn ein assoziiertes Gebiet souverän geworden ist. Es wird von dem Willen des souverän gewordenen Landes abhängen, ob es weiterhin die Vorteile der Assoziierung und die daraus resultierenden Rechte wahrnehmen oder ob es aus der Assoziierung ausscheiden will.
Ein zweiter Punkt, der zunächst juristisch erscheint, ist von größter politischer Tragweite. Wir müssen nämlich darauf achten, daß die überseeischen Länder und Hoheitsgebiete mit der EWG assoziiert sind; sie sind nicht etwa mit dem ehemaligen Heimatland, sondern sie sind mit der neuen völkerrechtlichen Gemeinschaft, der EWG, die ja etwas .anderes als die sechs Länder ist, assoziiert. Daraus ergeben sich erhebliche praktische Konsequenzen, die sich in praktischen Beispielen darbieten. Wenn z. B. aus dem Entwicklungsfonds Gelder gegeben werden, sei es auf Beschluß der Kommission, sei es auf Beschluß des Ministerrats — je nach den Bestimmungen des Vertrages —, dann hat die EWG selbst die Entscheidung zu treffen, denn die EWG selbst hat die Beziehungen zu diesen assoziierten Gebieten.
Wie sehen die Dinge in Wirklichkeit aus? Wir wissen, daß bei der Frage der Bewilligung von Mitteln aus dem Entwicklungsfonds an überseeische Gebiete die Heimatländer, also die ehemaligen Kolonialländer versuchen, ihren Einfluß geltend zu machen. Frankreich z. B. verlangt bei der Gewährung solcher Mittel, daß man die Durchführung der Arbeiten in die Hände von französischen Unternehmungen legt. Wenn Unternehmer aus den übrigen EWG-Ländern mitwirken wollen, müssen sie sich mit einem französischen Unternehmer assoziieren. Es besteht gar kein Zweifel, daß dieses Verfahren dem Vertrag widerspricht. Trotzdem wird es im Augenblick praktiziert. Ich weiß, daß bei den französischen Behörden eine ganze Reihe von Objekten, die für die assoziierten Gebiete seit Monaten bewilligt werden sollen, nur deshalb verzögert werden, weil man sich über diese Frage nicht einigen kann, weil Frankreich versucht, seinen Einfluß als ehemaliges



Metzger
Heimatland geltend zu machen, während in Wirklichkeit die EWG zuständig ist. Es kann gar keinen Zweifel darüber geben, daß dieses Verfahren verhängnisvolle Folgen haben kann; denn in diesen überseeischen Gebieten werden ja Hoffnungen erweckt, Hoffnungen, die erfüllt werden sollten, wenn irgendwie die sachlichen Voraussetzungen gegeben sind. In vielen Fällen sind die sachlichen Voraussetzungen gegeben, trotzdem warten diese Länder Monate um Monate und müssen von der EWG vertröstet werden, weil bei irgendeiner bürokratischen Stelle, an sehr hoher Stelle, Anträge liegen, die nicht weiterbearbeitet werden, weil man sich über diesen Punkt nicht einigen kann.
Es ist für unsere Regierung wichtig, zu sehen, daß hier ein Problem liegt, und darauf zu drängen, daß man von der juristisch richtigen Auffassung ausgeht; diese überseeischen Gebiete sind der EWG direkt assoziiert; die EWG selbst hat die Kompetenz, sei es die Kommission, sei es der Ministerrat. Diese Kompetenz sollte sie sich auch nicht nehmen lassen.
Das dritte Problem, das ja im Europäischen Parlament eine große Rolle gespielt hat, besteht darin, daß die Assoziierung allmählich aus einem einseitigen zu einem zweiseitigen Verhältnis wird. Als die Assoziierung erfolgte, waren all diese überseeischen Gebiete noch durch ihre Heimatländer vertreten. Diese Heimatländer haben also gewissermaßen mit sich selbst den Assoziierungsvertrag abgeschlossen. Inzwischen hat sich in dieser Beziehung vieles gewandelt. Ich brauche nur an die Mitgliedstaaten der französischen Gemeinschaft zu erinnern. Ich brauche an die Länder zu erinnern, die selbständig geworden sind, Guinea, Kamerun usw., oder an Belgisch-Kongo, das am 1. Juli selbständig wird, oder an Ruanda-Urundi. Da sieht man, welche Wandlung sich vollzogen hat und daß die Entwicklung dahin drängt, daß die assoziierten Gebiete nicht einfach ein Appendix der EWG bleiben, daß sie nicht einfach von der EWG gegängelt werden, sondern daß als Vertragspartner auf der einen Seite die EWG und auf der anderen Seite der geschlossene Block der assoziierten Gebiete steht. Beide Seiten müssen ihre Organe haben, die dann auf gleicher Ebene mit gleichem Recht miteinander verhandeln.
Deswegen hat das Europäische Parlament vorgeschlagen, sobald wie möglich solche Verhandlungen auf Regierungsebene und auf parlamentarischer Ebene durchzuführen. Wir haben den Wunsch an unsere Regierung, dabei zu helfen, daß diese Forderung des Europäischen Parlaments nach möglichst baldigen Verhandlungen auf gleicher Ebene, die von den Abgeordneten aller Fraktionen unterstützt worden ist, verwirklicht wird.
Es gibt da eine große Zahl von Verhandlungspunkten. Ich denke an die Frage der Assoziierung selbst, ich denke an die Frage des Entwicklungsfonds und an all die Dinge, bei denen die überseeischen Gebiete als gleichberechtigte Partner mitreden müssen. Das künftige Schicksal Europas — darüber kann es keinen Zweifel geben — hängt nicht zuletzt auch davon ab, wie das Verhältnis
zwischen Europa und Afrika sowie den überseeischen Gebieten gestaltet wird. Die Frage ist, ob es uns gelingen kann, ein Freundschaftsverhältnis zu den überseeischen Gebieten zu schaffen, oder ob wir diese überseeischen Gebiete und ihre Völker in eine Opposition gegen uns oder sogar in noch mehr hineintreiben.
Daß wir auf diesem Gebiet nicht immer sehr gut verfahren sind und daß auch die Bundesregierung keineswegs überall das getan hat, was sie hätte tun sollen — der Herr Bundeswirtschaftsminister hat hier heute morgen das Gegenteil behauptet —, kann gar nicht zweifelhaft sein. Wir haben den Probefall bei Guinea erlebt. Guinea ist auf Grund der Abstimmung, die ihm von Frankreich gewährt worden ist, souverän geworden. Frankreich hat sich zurückgezogen und hat den letzten Federhalter aus Guinea herausgeholt. Die EWG hat sich nun nicht etwa ihrer Verpflichtung erinnert, den Leuten von Guinea zu sagen, sie blieben weiterhin Mitglied des Assoziierungsverhältnisses. Man hat Guinea mehr oder weniger allein gelassen und sich dann gewundert, als alle möglichen Folgen eintraten, die niemand von uns wünschen kann, die aber letzten Endes eingetreten sind, weil auf europäischer Seite ein erhebliches Maß von Schuld vorliegt. Wir sollten dafür sorgen — und die Regierung sollte sich dafür stark machen —, daß solche Schuldkonten in Zukunft nicht mehr entstehen können. Gerade wir als Bundesrepublik sollten hier eine Vermittlerrolle übernehmen und dafür sorgen, daß der Vertrag nicht nur vernünftig ausgelegt, sondern auch in der richtigen Weise gehandhabt und ausgeführt wird.
In dem Punkt 6 unserer Großen Anfrage machen wir deutlich, daß es uns nicht nur darum gehen kann, den assoziierten Gebieten über die EWG in einer besonderen Weise Hilfe zu leisten, sondern daß wir als Europäer die Aufgabe haben, uns um die unterentwickelten Gebiete insgesamt zu kümmern, daß da also kein Unterschied gemacht werden kann. Diese Frage einer Hilfe für die unterentwickelten Gebiete insgesamt wird sehr viel leichter gelöst werden können, wenn die andere Frage, über die wir jetzt bereits den ganzen Tag gesprochen haben, mitgelöst wird, wenn also die EWG sich nicht in sich selbst abkapselt, sondern wenn es zu einer Freihandelszone kommt, in der all die europäischen Gebiete mit dabei sind, die die Verbindungen nach den anderen überseeischen Gebieten haben. Gerade von daher könnten solche Fragen in einer besseren Weise gelöst werden.
Ich will noch einmal kurz, nicht um der Geschichte willen, sondern aus psychologischen Gründen und um die Willensströmungen, die dahinterstehen, deutlich zu machen, auf einiges eingehen, das sich in der Vergangenheit ereignet hat. Nicht nur meine Fraktion hat sich für die Freihandelszone ausgesprochen. Wir wissen, daß Entschließungen vorliegen. Der Bundestag und das Europäische Parlament haben sich dafür ausgesprochen. Auch der EWG-Vertrag geht davon aus; das wird oft völlig vergessen. Dem EWG-Vertrag ist eine Absichtserklärung beigefügt, in der deutlich gesagt wird, daß



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sich die vertragschließenden Teile, nämlich die sechs EWG-Staaten, bereit erklären, alsbald nach Inkrafttreten der Verträge mit anderen Ländern, insbesondere im Rahmen der internationalen Organisationen, denen sie angehören, Abkommen zu schließen, um diese im gemeinsamen Interesse liegenden Ziele zu erreichen und die harmonische Entwicklung des gesamten Handelsverkehrs zu gewährleisten. Der Gedanke ist also bereits in der Absichtserklärung festgelegt, und er ist absolut nichts Neues.
Auch die Europäische Kommission hat bis vor kurzem in bezug auf die Freihandelszone absolut eindeutige Erklärungen abgegeben. Erst in der neuesten Zeit ist sie von diesen eindeutigen Erklärungen abgerückt. Es ist interessant, daß in dem ersten Memorandum der Kommission, das vom 26. Februar 1959 stammt — ich lege Wert auf dieses Datum; ich werde Ihnen gleich sagen, warum —, gesagt worden ist: Die europäische Wirtschaftsassoziation, also die Freihandelszone, müsse geschaffen werden; die Sechs hätten ihre Gemeinschaft niemals als einen geschlossenen Kreis angesehen; das angestrebte allgemeine Abkommen müsse soweit wie möglich multilateral sein; über diesen Punkt könnten weder Zweifel noch Unklarheiten mehr bestehen; das Ziel müsse innerhalb der OEEC erreicht werden.
Warum lege ich auf das Datum 26. Februar 1959 so großen Wert? Die EWG-Kommission kann sich nicht darauf berufen, daß sich die Verhältnisse durch die Entwicklung geändert hätten, seitdem sie das gesagt habe. Der 26. Februar lag nach dem Zeitpunkt des ersten Scheiterns der Verhandlungen zwischen den Partnern der OEEC. Im Bewußtsein des Scheiterns dieser Verhandlungen hat die Kommission diese Forderung eindeutig mit absolut klaren Worten aufgestellt.
In einer Sitzung des Politischen Ausschusses haben wir dann zu unserer großen Überraschung erlebt, daß Herr Hallstein Rückzieher macht und daß er auf Amerika hinweist. Auf dieses Problem ist heute schon hingewiesen worden. Man kann sich in der Tat des Eindrucks nicht erwehren, daß man die Vereinigten Staaten vorschützt, um eigene 'Wünsche zu rechtfertigen. Wir wissen ja, daß bei Amerika ganz andere Dinge eine Rolle spielen. Die entscheidende Rolle spielt die Frage der Wirtschaftshilfe für unterentwickelte Gebiete und die Mithilfe der europäischen Staaten. Daß mit Amerika zu reden ist, haben die Verhandlungen im Januar dieses Jahres in Paris gezeigt. Amerika kann also nicht der ausschlaggebende Grund sein, der hier angegeben wird.
Man muß sich fragen: Warum hat man noch am 26. Februar so eindeutig Stellung bezogen, und warum hat man dann so schnell die Sache über den Haufen geworfen? Ich nehme doch an, daß die Erklärung vom 26. Februar ehrlich gewesen ist. Was spielt denn sonst noch eine Rolle?
Es kommt etwas anderes hinzu. Schade, daß Herr Birrenbach nicht da ist. Ich kann ihm die Frage, die er Herrn Starke gestellt hat, mindestens teilweise beantworten.
Im Politischen Ausschuß des Europäischen Parlaments hat uns Herr Hallstein vorgetragen, warum er für die Beschleunigung ist. Ich habe ihm dabei gesagt: „Die Beschleunigung ist schön und gut; man kann im Prinzip dafür sein. Aber wie ist es mit den Ländern der EFTA? Haben Sie mit den Ländern der EFTA verhandelt, oder haben Sie die Absicht, mit den Ländern der EFTA zu verhandeln? Diese Länder haben ja ihren Vertrag so abgeschlossen, daß ihre Zollsenkungen mit den Zollsenkungen der EWG synchronisiert werden; sie haben also gezeigt, daß sie irgendwelche Vereinbarungen mit der EWG wollen."

(Abg. Dr. Löhr: Das ist ein Irrtum!)

Darauf hat Herr Hallstein geantwortet: „Wir haben mit der EFTA nicht verhandelt. Ich halte es auch nicht für richtig, mit der EFTA zu verhandeln, denn wir würden uns damit in die Abhängigkeit der EFTA begeben." Das ist die Haltung, die so außerordentlich bedenklich ist. Ich muß Ihnen sagen, meine Damen und Herren, daß ich damals erschrokken bin, als ich diese Antwort hörte. Herr Hallstein hat in einer späteren Sitzung zwar versucht, diese Außerung, die ihm entschlüpft ist, ein bißchen zu beschönigen; aber sie ist gefallen, und im Grunde genommen ist das die Meinung: „Wir wollen zunächst einmal stark werden, wir wollen die EWG aufbauen, und in fünf oder mehr Jahren" — von dieser Zahl hat Herr Hallstein auch gesprochen — „werden wir mit den anderen darüber verhandeln, in welcher Weise wir dann vielleicht eine Assoziation schaffen können." Daß in diesen fünf oder noch mehr Jahren die Dinge sich verhärtet haben werden und das, was man angeblich will, nicht mehr in dieser Weise verwirklicht werden kann, liegt klar auf der Hand.
Nachdem wir das erlebt haben, sind wir - wir machen kein Hehl daraus — in bezug auf den Willen jedenfalls der Kommission, die Wirtschaftsassoziation, die Freihandelszone anzustreben, sehr skeptisch geworden, und wir möchten auch der Regierung sagen: Seien Sie nicht einfach gutgläubig; sehen Sie, was hier gespielt wird — und Sie wissen es ja auch—, und sorgen Sie dafür, daß die Gegenkräfte auch von Ihnen entwickelt werden können.
Der Ministerrat hat am 24. November 1959 auf Vorschlag der EWG-Kommission seinen bekannten Beschluß gefaßt. Darin ist von einem Kontaktausausschuß die Rede. Herr Hallstein ist auf diesen Kontaktausschuß sehr stolz und spricht bei jeder Gelegenheit von ihm. Wenn wir uns aber einmal ansehen, welche Befugnisse dieser Kontaktausschuß hat, müssen wir feststellen: auch da kann man skeptisch werden, ob wirklich der. gute Wille dahintersteckt, zu einer Vereinbarung zu kommen, die zu einer Freihandelszone, zu einer Assoziation führt. Es ist gesagt, daß dieser Ausschuß die Sektoren ermitteln soll, in denen infolge der Entwicklungen des Handels Schwierigkeiten auftreten; es sollen konkrete Lösungen zur Behebung der Schwierigkeiten vorgeschlagen und Abkommen zwischen den Parteien angeregt werden, es sollen Vorbesprechungen geführt werden usw. Alles Dinge, ,die doch nur



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dazu angetan sind, Pflästerchen auf augenblickliche Notlagen zu kleben,. aber doch keine Dinge, die dazu führen sollen, daß man zu einer Assoziation kommt; das ist offensichtlich nicht als Aufgabe dieses Kontaktausschusses gemeint. Im Gegenteil, die Formulierungen verführen geradezu zu der Meinung, daß man gar keine multilateralen Vereinbarungen haben, sondern sich die einzelnen OEEC-Länder herauspicken und mit ihnen bilaterale Vereinbarungen schließen will. Da kann man viel besser die Politik der Stärke machen, als wenn man die EFTA-Länder oder sämtliche OEEC-Länder zusammen hat. Auch hieraus ergibt sich ein außerordentlich großes Bedenken. Wir wissen — es ist uns oft genug gesagt worden —, daß man sehr gern bereit ist, mit einzelnen Ländern bilaterale Vereinbarungen zu schließen, sie einzeln zu assoziieren, sie also nicht insgesamt als eine Gemeinschaft zu haben, mit der man natürlich in einer ganz anderen Weise reden muß, als man mit einem einzelnen reden kann.
In den Verhandlungen in Paris im Januar ist auch ein Ausschuß, der „Ausschuß der vier Weisen" beschlossen worden. Es wäre durchaus denkbar, daß da Ansatzpunkte vorhanden sind. Es ist davon die Rede gewesen, daß man in einer modifizierten OEEC zu einer europäischen Vereinbarung kommen sollte. In der Tat geht es nicht nur darum, daß die EWG mit der EFTA ins Reine kommt, sondern auch darum, daß die anderen Länder der OEEC, die ja noch viel schwächer sind, mit einbegriffen werden, daß man sie nicht einfach beiseiteschiebt und unter den Tisch fallen läßt. Deswegen ist der Gedanke, im Rahmen der OEEC zu Vereinbarungen zu kommen, die zu einer Assoziation führen, ein durchaus richtiger und guter Gedanke. Dabei ist die andere Erwägung, mit den USA und Kanada ins Reine zu kommen, gerade auch in bezug auf die Frage der Wirtschaftshilfe für unterentwickelte Gebiete und andere Fragen, durchaus ein Gedanke, der positiv zu beurteilen ist.
Aber, meine Damen und Herren, wir sollten uns sehr davor hüten, andere Träger für eine europäische Vereinbarung zu suchen. Es ist von der NATO die Rede gewesen, es ist von der WEU die Rede gewesen. Es liegt mir gerade ein Schriftchen eines deutsch-französischen Kreises vor: „Die politische Zusammenarbeit im Rahmen der NATO" von Dr. Schwarz-Liebermann, stellvertretendem Direktor der Politischen Abteilung der NATO. Da heißt es ganz frank und frei:
Und deshalb würde ich nicht unter dem Gesichtspunkt der Rüstungspolitik, sondern vielmehr unter dem Gesichtspunkt der Politik im allgemeinen sagen, daß die Schaffung eines ultramodernen Waffenproduktionszentrums in Europa eine absolute Notwendigkeit ist.
Und nun kommt des Pudels Kern:
Das Minimum, das erforderlich ist, ist die Kapazität des Gemeinsamen Marktes, und auch hier wieder sehen Sie, wie die deutsch-französischen Beziehungen als Kernfrage der Beziehungen der Sechs in Wirklichkeit Schlüsselbedeutung weit über die Sechs, ja, weit über Europa hinaus gewinnen.
Ober es ist von der WEU die Rede, die nicht leben und nicht sterben kann und die dauernd bemüht ist, neue Kompetenzen an sich heranzuziehen. Man meint, es wäre sehr schön, wenn man jetzt noch dazu überginge, der WEU etwa die Aufgabe zu übertragen, sich darum zu kümmern, daß Europa wirtschaftlich geeinigt wird. Es wäre außerordentlich schlecht und gefährlich, wenn der Gemeinsame Markt und nicht nur dieser, sondern überhaupt die Wirtschaftsassoziation Europas unter der Flagge vollzogen würde, daß man dafür sorgen will, möglichst viel für die Rüstung und für kriegerische Zwecke zu tun. Damit würden wir genau das Gegenteil von dem erreichen, was wir erreichen müssen. Die überseeischen Gebiete, die jetzt Beziehungen zu uns haben und die hoffentlich weitere Beziehungen zu uns anknüpfen werden, müßten notwendigerweise vor den Kopf gestoßen werden und zu dem Ergebnis kommen: Hier sollen wir zu etwas mißbraucht werden, was nicht unsere Sache ist. Ich warne deswegen sehr davor, daß man auf der Basis der WEU oder gar der NATO versucht, die Probleme zu lösen. Wenn es eine Basis gibt, dann ist die der OEEC — einer modifizierten OEEC — das, was sich ohne weiteres anbietet. Das wäre doch durchaus eine Möglichkeit.
Es ist interessant, daß jetzt gerade die EFTA ihren Vertrag paraphiert hat. Dabei haben sich die zuständigen Minister und Ministerpräsidenten noch einmal eindeutig geäußert. Hiermit wird es klar, daß die mißtrauische Behauptung, die gerade auch von Herrn Hallstein kommt, daß wir zunächst einmal bestrebt sein müßten, stark zu werden, um die anderen überhaupt dazu zu bewegen mitzumachen, und daß die anderen nicht so recht den guten Willen hätten, falsch ist. Der britische Schatzkanzler Amory z. B. hat es als Ziel bezeichnet, einen weiteren Schritt zu dem endgültigen Ziel einer größeren Assoziation zu machen, die alle Mitglieder der OEEC umfaßt. Der dänische Außenminister Krag — ich wähle nur einige Ausführungen aus diesen Erklärungen — sagt, daß die baldige Schaffung eines mehrseitigen Zusammenschlusses zur Beseitigung der Handelsschranken und zur Förderung einer engeren wirtschaftlichen Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedern der OEEC, hierunter die EWG, erleichtert werden soll. Und — um eine letzte Äußerung zu zitieren — der österreichische Bundeskanzler Raab sagt: Die EFTA ist nicht Selbstzweck, sie soll kein sich selbst genügender Block werden; sie soll ein Mittel zur Herbeiführung der großen europäischen Integration sein.
Also den Worten nach ist auf dieser Seite guter Wille vorhanden, und ich glaube, wir können es uns nicht leisten, wie in bezug auf Rußland zu sagen: Die erklären das zwar, aber sie meinen nicht das, was sie sagen. Hier handelt es sich schließlich um westeuropäische Länder und ihre Vertreter. Es geht nicht an, zu sagen: Die sagen das zwar, aber sie meinen etwas anderes. Wir müssen schon einmal davon ausgehen, daß sie das, was sie erklären, wirklich so meinen; und wenn das so ist, dann bedeutet das, daß wir daraus Konsequenzen zu ziehen haben, Herr Hallstein mit seiner Kommission



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sowohl als auch die einzelnen Mitgliedstaaten mit ihren Regierungen.
Daß die hier vorgetragenen Sorgen nicht ganz von der Hand zu weisen sind und daß das nicht lediglich Sorgen der deutschen Opposition sind, Herr Birrenbach, ergibt sich aus vielerlei Äußerungen. Z. B. hat der französische Abgeordnete Poher, der Vorsitzender der christlich-demokratischen Gruppe im Europäischen Parlament ist, im französischen Parlament erklärt: Deutschland und Frankreich dürfen Europa nicht ihren Willen aufzwingen. Da ist also durchaus auch die Befürchtung vorhanden, daß ein Hegemoniestreben bestehen könnte, das gefährlich ist.

(Sehr richtig! bei der SPD.)

Das sagen also nicht nur Sozialdemokraten, das sagen nicht nur Liberaldemokraten, das sagt auch ein christlich-demokratischer Franzose, und zwar der Fraktionsvorsitzende der christlich-demokratischen Gruppe im europäischen Parlament. Europa, sagt er weiter, stehe allen Ländern offen. Sicher werde auch Großbritannien bereit sein, daran teilzunehmen. Ich habe gerade zitiert, was Amory gesagt hat. Ich könnte zitieren, was Maudling bei der Paraphierung des EFTA-Vertrages gesagt hat. Wir haben also die positiven Äußerungen. Wir haben die Ansatzpunkte dafür, neue Verhandlungen zu beginnen. Man muß sie nur wollen. Es geht aber nicht, daß man nur in einem Kontaktausschuß hier mal ein Pflästerchen und dort mal ein Pflästerchen aufklebt; man muß die Dinge einmal vom Grunde her anpacken. So ist es ja nicht, meine Damen und Herren, daß man gar keine Angst davor zu haben braucht, daß Europa auseinandermanövriert wird.

(Abg. Dr. Birrenbach meldet sich zu einer Zwischenfrage.)

— Bitte schön, Herr Birrenbach!

Dr. Kurt Birrenbach (CDU):
Rede ID: ID0311104500
Herr Kollege Metzger, darf ich Sie fragen, ob nach dem Zusammenbruch der Verhandlungen über die große Freihandelszone im November des Jahres 1958 ein neues, konkreteres, die damals auftauchenden Momente praktisch berücksichtigendes Angebot durch Großbritannien vorgelegt worden ist?

Ludwig Metzger (SPD):
Rede ID: ID0311104600
Herr Kollege, ich glaube, wir
sind uns darüber im klaren: daß diese Verhandlungen gescheitert sind, liegt nicht nur an einer Seite, das liegt an zwei Seiten. Ich habe soeben mit vollem Bewußtsein vorgelesen, welche Meinung die Kommission nach dem Scheitern dieser — ich sage ausdrücklich: ersten — Verhandlungen eingenommen hat, die Meinung nämlich, daß man weiter verhandeln müsse, daß man eine europäische Wirtschaftsassoziation schaffen müsse, daß man multilaterale Verhandlungen führen und multilaterale Abmachungen schließen müsse und daß es darüber keinen Zweifel geben könne. Das steht in dem Memorandum drin; das können Sie nachlesen. Es geht nicht um die Frage: wer gibt dem anderen das erste Wort?, sondern darum, daß man hier wirklich einmal ernsthaft beginnt. Von beiden Seiten sind immerhin Erklärungen des guten Willens gegeben worden. Ich habe Ihnen gerade auch die Erklärungen verlesen, die bei der Feier anläßlich der Paraphierung des EFTA-Vertrages gegeben worden sind. Wir können doch daran nicht vorbeigehen. Ich glaube, daß Ihre Frage schon beantwortet ist, wenn Sie einfach das berücksichtigen, was an Erklärungen abgegeben worden ist.
Es gibt genügend Möglichkeiten. Man kann im Kontaktausschuß darüber reden, man kann vor allen Dingen auch in dem Gremium reden, das im Anschluß an die Verhandlungen vom Januar dieses Jahres gebildet worden ist. Hier ist der Boden, wo man miteinander reden muß. Wenn wir darauf warten, daß der andere den ersten Schritt tut, tun wir doch genau das, was man in der Politik nicht tun darf. Man muß sich vielmehr zusammensetzen und miteinander reden.
Es ist mit Recht darauf hingewiesen worden, daß Herr Hallstein gesagt hat: Die Lösung dieser Frage ist möglich, wenn man sie politisch will. — Und das ist die Frage: Wollen wir sie politisch? Der Herr Bundeswirtschaftsminister hat uns erklärt, daß wir sie politisch wollen. Auch wir wollen sie, ich glaube, auch Sie wollen sie. Wenn man sie aber will, muß man auch entsprechend handeln; dann darf man nicht nur reden, dann muß man auch etwas tun.

(Beifall bei der SPD. — Zurufe von der CDU/CSU.)


Dr. Carlo Schmid (SPD):
Rede ID: ID0311104700
Das Wort hat der Abgeordnete Löhr.

Dr. Walter Löhr (CDU):
Rede ID: ID0311104800
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich möchte an dieser Stelle der Aussprache mit Genugtuung sagen, daß wir, was ihren bisherigen Ablauf angeht, doch einen gewissen Gleichklang und ein gemeinsames Wollen feststellen können. Wir alle fragen uns: wie können wir verhindern, daß es zu einem handelspolitischen Auseinanderrücken des freien Europas kommt?
Ich sehe mich aber doch veranlaßt, im Hinblick auf die verschiedenen, ich möchte sagen, zum Teil abfälligen Urteile über die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft ein ganz klares Wort zu sagen. Ich möchte an das anknüpfen, was Herr Starke gesagt hat. Herr Kollege Starke, die EWG ist nicht nur eine Frucht wirtschaftlicher Expansion, sie ist für uns mehr. Sie ist für uns die Frucht eines gemeinschaftlichen politischen Wollens der Sechs — zunächst der Sechs — auf dem Wege, die politische Einigung Europas zu erreichen. Unsere Überzeugung ist, daß die EWG nicht nur einen wirtschaftlichen Zweck verfolgt, sondern daß sie eine Station auf dem Wege zur politischen Einigung Europas ist. Sie ist kein Kleineuropa, wie heute angedeutet wurde. Sie ist auch kein Block, sondern — lassen Sie mich die Formulierung Edgar Salins, des sicher von allen hier Anwesenden verehrten Nationalökonomen in Basel, gebrauchen — die EWG ist ein „Kerneuropa", offen für alle europäischen Staaten, die mit den Sechs eine freiheitliche politische Ge-



Löhr
meinschaft anstreben. So ist für uns die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft ein Eckpfeiler unserer Bündnispolitik mit dem Westen.
Heute wurde gesagt, die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft sei eine Sabotage an der Idee der Einigung Europas: das muß ich entschieden zurückweisen.

(Abg. Metzger: Ist gar nicht gesagt worden!)

Wenn die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft scheitern sollte, sehe ich keine Möglichkeit mehr, zu einer freiheitlich orientierten Einigung des freien Europas zu kommen. Die Mitglieder der EWG sagen nicht nur, daß sie eine europäische politische Gemeinschaft wollen, sie handeln auch danach. Ich möchte nur daran erinnern, daß sämtliche EWG-Mitglieder auf Teile ihrer Souveränitätsrechte zugunsten der EWG verzichtet haben.
Verschiedentlich wurde angedeutet, daß doch die OEEC ein brauchbarer Ersatz für die EWG sein könne. Ich muß auch dies mit aller Entschiedenheit zurückweisen. Die EWG ist mehr als eine Wirtschaftsunion. Um das einigen der geschätzten Vorredner klarzumachen, möchte ich sagen: innerhalb der Wirtschaftsunion ist die Zollunion nur ein kleines Teilchen.
Weiter wurde gesagt, die Bundesrepublik sei innerhalb der EWG ein Anhängsel an andere Partner. Ich muß auch das zurückweisen. In der EWG sind alle Partner gleichberechtigt. Es wird kein einziger Anlaß festzustellen sein, die Bundesrepublik als ein Anhängsel anderer Mächte zu deklassieren.
Es ist weiter der Bundesrepublik ein HegemonieDenken innerhalb der EWG vorgeworfen worden. Ich glaube, daß auch dies völlig illusionär ist. Meine Damen und Herren, Hegemonie-Denken haben wir Deutsche einmal wirklich sauer bezahlen müssen.

(Abg. Metzger: Sehr richtig!)

Es wird wohl in dieser Generation und in den nächsten Generationen keinen denkenden Menschen in der Bundesrepublik geben, der eine Hegemonie Deutschlands in Westeuropa herbeizuführen wünscht oder nur davon spricht.

(Abg. Metzger: Das haben Sie gar nicht verstanden; es dreht sich nicht um Deutschland!)

— Verzeihen Sie, auch das ist gesagt worden. Ich werde Ihnen aber gleich gerecht, Herr Kollege Metzger. Ich bin auch nicht der Meinung, daß ein Partner eine Hegemonie innerhalb der EWG oder gar in Westeuropa anstrebt. Meine Damen und Herren, die Früchte eines derartigen Denkens sind allen freien Ländern Europas in guter Erinnerung. Ich glaube, daß ein solches Denken ein für allemal der Vergangenheit angehört.

(Abg. Metzger: Hoffentlich!)

Ich bin als Wirtschaftspolitiker der Meinung, daß man die Folgen des Zusammenschlusses zur EFTA bei uns dramatisiert. Man spricht davon, daß eine Spaltung Europas eingetreten sei, daß da und dort
Diskriminierungen erfolgt seien, kurzum, vulgär gesagt, daß das Kind schon in den Brunnen gefallen sei. Ich muß sagen, daß von einer Spaltung Europas überhaupt keine Rede sein kann. Auch eine wirtschaftliche Diskriminierung ist nicht praktiziert worden Die von den römischen Verträgen vorgesehene erste 10%ige Zollsenkung aller Binnentarife der sechs in der EWG zusammengeschlossenen Länder ist am 1. Januar 1959 GATT-weit angewandt worden. Am 1. Juli 1960 wird die zweite vertraglich fixierte 10%ige Zollsenkung wirksam werden. Ob auch diese GATT-weit Anwendung finden wird, hat der Ministerrat zu entscheiden. Meines Wissens ist eine Entscheidung noch nicht getroffen. Man kann keinesfalls sagen, daß durch die EWG Diskriminierungen gegenüber Drittländern erfolgt seien.
Ich habe soeben gesagt, daß Gott sei Dank keine Spaltung Europas erfolgt ist. Wir wissen aber, daß es ernster Bemühungen bedarf, um eine Harmonisierung, eine gleichausgerichtete Handelspolitik herbeizuführen. Entgegen Ihrer Auffassung, Herr Kollege Metzger, bin ich der Meinung, daß in der Sitzung des Ministerrats der EWG am 12. Mai ganz klare Entscheidungen hinsichtlich der zeitlichen Beschleunigung getroffen werden müssen, da sonst in den Verhandlungen mit der EFTA die EWG überhaupt nicht ernstgenommen wird. — Herr Kollege Metzger, Sie lächeln.

(Abg. Metzger: Sie haben mich überhaupt nicht verstanden!)

Ich darf Sie an den Ausgang der letzten Handelsausschußsitzung in Paris erinnern. Da wurde von der EFTA den Vertretern der EWG entgegengehalten: „Was wollt ihr mit zeitlicher Beschleunigung, ihr habt ja noch nicht einmal einen Ministerratsbeschluß!" Wir müssen von unserer Regierung fordern, daß sie ihre Vertreter beim Ministerrat der EWG anweist, sich mit aller Entschiedenheit dafür einzusetzen, daß in der kommenden Sitzung klare Beschlüsse gefaßt werden, die der EWG-Kommission und dem Ministerrat die Möglichkeit geben, sich in den Verhandlungen mit den EFTA-Ländern auf klare Beschlüsse zu berufen.
Ich begrüße das Hinausschieben des Beginns der zeitlichen Beschleunigung zum 1. Januar 1961, weil, wie ich wenigstens hoffe, dann ausreichend Zeit bleibt, um mit den EFTA-Ländern auf dem Wege über eine Interimslösung zu einer Verständigung zu kommen, zu einer Assoziierung handelspolitischer Art; ob das jetzt in Form der Freihandelszone oder in einer anderen Form ist, wird sicher auch Ihnen gleichgültig sein. Daneben muß eine Annäherung der Außenzölle erfolgen, die auch für die Zukunft eine harmonische Handelspolitik garantiert. Daneben möchte ich, daß den übrigen Drittländern gegenüber eine vernünftige Handelspolitik getrieben wird und daß auch nach dieser Seite hin keine Diskriminierung aufkommen kann.
Meine Damen und Herren, ich habe gesagt, die Verhandlungen mit der EFTA müssen von der EWG und auch von den Partnern — sicher auch auf nationaler Ebene — vielleicht da und dort geführt wer-



Löhr
den. Sie müssen im Grundsätzlichen geführt werden auf der Basis des Handelsausschusses der 21 Mitgliedsstaaten der reformierten OEEC. Ich möchte auch hier einen Blick auf die jüngste Entwicklung der atlantischen Lösung und der reformierten OEEC hinwenden. Nach meiner Meinung ist es ein Politikum allererster Bedeutung, daß sich nunmehr auch die Vereinigten Staaten zum zweiten Mal in den letzten Jahren -- diesmal nämlich handelspolitisch, wirtschaftspolitisch -- an Europa binden. Ich glaube, daß die große Bedeutung dieser nochmaligen Bindung für unsere gemeinsame europäische Politik noch gar nicht genug in den Vordergrund getreten ist.
Vorhin ist gesagt worden, der Bundesregierung könne man nicht mehr zutrauen, daß sie mit der EFTA zu einem akzeptablen Agreement komme. Diese Bemerkung bedaure ich; denn der Bundeswirtschaftsminister hat mit allem Nachdruck darauf hingewiesen, wie emsig die Bundesregierung in der Vergangenheit versucht hat, handelspolitisch zu einem Agreement zu kommen. Ich habe das Vertrauen zu unserer Bundesregierung, daß künftighin alles getan wird, um gemeinsam zu einer Harmonisierung der Handelspolitik mit der EFTA und den übrigen OEEC-Ländern zu kommen.
Den Sprechern der Opposition, die da und dort immer wieder anklingen ließen, dem Ansehen der deutschen Bundesregierung sei dadurch Schaden zugefügt worden, daß gerade in dieser Problematik eine Meinungsdivergenz innerhalb der Bundesregierung sichtbar geworden sei, muß ich sagen, daß der Chef der Bundesregierung, unser Kanzler, diese Probleme von seinem Standort eben primär politisch sieht und danach urteilt und daß der Bundeswirtschaftsminister seiner Aufgabe entsprechend als verantwortlicher Ressortminister primär die wirtschaftspolitische Seite betrachtet. In einer Demokratie darf doch jeder Minister seiner Meinung Ausdruck verleihen, ohne daß sofort von Disharmonien oder Meinungsverschiedenheiten innerhalb der Bundesregierung gesprochen werden kann. Meine Damen und Herren, wäre es anders, würde man — Herr Kollege Metzger, ich habe das schon öfters von Ihnen gehört — sofort sagen: Der Bundeskanzler und kein anderer von der Bundesregierung kann reden; er ist ein Diktator.
Ich bin der Meinung, wenn in dieser Bundesregierung der Ressortminister freimütig seine Auffassung vertritt — der Bundeskanzler ist nach dem Grundgesetz für die Gesamtrichtlinien der Politik verantwortlich —, dann soll man diese Äußerung respektieren und sie nicht als eine Meinungsdivergenz des Kabinetts kritisieren.

(Lachen und Zurufe von der SPD.)

— Aber Herr Metzger, ich glaube das doch so klargemacht zu haben, daß es, wenn man nicht böswillig ist, auch so verstanden werden muß.
Meine Damen und Herren, wir unterscheiden uns — nun komme ich zu der rechten Seite — von den Liberalen, die, wie aus der Begründung der Großen Anfrage durch meinen sehr geschätzten Herrn Kollegen Margulies heute deutlich sichtbar geworden
ist, eben einen funktionellen Zusammenschluß für liberal und jede institutionelle Lösung für dirigistisch halten. Ich glaube, Herr Kollege Scheel, hierin liegt die grundsätzliche Bedeutung Ihrer — lassen Sie es mich einmal sagen — zeitlich begrenzten Aversion gegenüber der EWG. Meine Freunde und ich werden diesem Grundsatz nicht folgen.
Wir erkennen die EWG hinsichtlich ihrer wirtschaftlichen Zwecksetzung an, betonen aber mit Nachdruck, daß der politische Zweck die entscheidende Station auf dem Wege zur freiheitlichen Einigung eines freien Europas ist. Unter diesem Gesichtspunkt möchten wir die Redner der Opposition und ihre Kollegen bitten, unsere Meinung zu respektieren. Wir stehen zur EWG, weil wir wissen, daß ohne die EWG die Freiheit Westeuropas verloren ist.

(Beifall bei der CDU/CSU. — Oh-Rufe von der SPD.)


Dr. Carlo Schmid (SPD):
Rede ID: ID0311104900
Das Wort hat der Abgeordnete Scheel.

Walter Scheel (FDP):
Rede ID: ID0311105000
. Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich glaube, Herr Kollege Löhr, Sie haben den Sinn der Großen Anfrage der Oppositionsparteien nicht richtig verstanden.

(Abg. Metzger: Sehr gut!)

Denn eine der Oppositionsparteien hat für die EWG-Verträge gestimmt. Ich nehme nicht an, daß sie ihre Meinung geändert hat.
Aber, Herr Kollege Löhr, bei Abschluß der Verträge hat dieses ganze Haus unter Zustimmung der Bundesregierung eindeutige Entschließungen gefaßt, in denen gesagt wurde, daß die EWG sich nur dann sinnvoll entwickeln könne, wenn außerdem eine multilaterale Assoziation auf größerer europäischer Ebene zustande komme.

(Abg. Dr. Löhr: Das habe ich nicht bezweifelt!)

Die Oppositionsparteien haben nun in der jüngeren Vergangenheit mehrfach Zweifel daran gehabt, daß die Bundesregierung oder, sagen wir, Teile der Bundesregierung und Teile der Majoritätspartei, noch zu diesen Grundsätzen stehen. Mit unserer Großen Anfrage wollten wir nichts anderes als einmal feststellen, wie es damit ist.
Ich muß Ihnen freimütig gestehen, daß mich die heutige Diskussion in der Hinsicht nicht hat befriedigen können. Wiewohl ich zugestehe, daß die Ausführungen des Bundeswirtschaftsministers zu den anstehenden Fragen von unserer Auffassung gar nicht so entfernt sind, muß ich sagen: Die Ausführungen beider Sprecher der Majoritätspartei haben sich sowohl in Inhalt als auch im Ton merklich von denen des Bundeswirtschaftsministers unter' schieden. Unser Verdacht ist auch heute nicht widerlegt worden. Aus diesem Grunde werden wir wie bisher in regelmäßigen Abständen über diese Frage politische Diskussionen führen müssen. Das ist gut so. Ich wiederhole noch einmal: Wir wollen wissen, woran wir sind.
Herr Kollege Dr. Löhr, Sie haben gesagt, es sei nicht schlecht für die Bundesregierung, daß im Kabinett in diesen Fragen unterschiedliche oder di-



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vergierende Auffassungen vorhanden seien; das sei ein Zeichen für eine größere Spannweite.
Das ist eine Verkennung unserer Verfassung; denn in unserer Verfassung ist das Prinzip enthalten, daß verantwortlich gegenüber dem Parlament und natürlich auch gegenüber der Öffentlichkeit die Bundesregierung als Kollektiv ist, vertreten durch ihren Chef. Es nützt also wenig, daß eine von der Bundesregierung einmal abgegebene Stellungnahme, mit welchen Motiven auch immer, von einzelnen Mitgliedern der Bundesregierung im nachhinein wieder aufgeweicht wird. Das macht man an sich nur vor Wahlen, um unangenehme Entscheidungen ein wenig zu entkräften. Hier kommt es uns darauf an, daß die Bundesregierung als solche eine eindeutige Stellungnahme zu diesen Fragen abgibt. Das wollten wir durch unsere Große Anfrage erreichen.
Da das ganze Problem aber von meinen Kollegen eingehend diskutiert worden ist, will ich nicht weiter auf die politische Seite eingehen. Ich möchte vielmehr zu einem anderen Aspekt des Problems noch etwas sagen. Vor einigen Wochen hatten wir hier im Zuge der Haushaltsberatungen die erste Diskussion über afrikanische Fragen. Damals hat der Herr Bundesaußenminister auf unsere Diskussionsbeiträge geantwortet. Das war, glaube ich, die erste Unterhaltung über afrikanische Fragen. Sie konnte nicht sehr präzise und sehr detailliert sein. Ich hatte mir vorgestellt, daß heute bei der Aussprache über die Große Anfrage der Sozialdemokratischen Partei zu den Fragen 5 und 6 vom Herrn Wirtschaftsminister genauere Antworten gegeben werden. In dieser Beziehung bin ich etwas enttäuscht worden; denn die Antworten, die die Bundesregierung zu den Fragen 5 und 6 gegeben hat, scheinen mir nicht ausreichend zu sein.
Das erste Problem ist in der Frage 5 enthalten und betrifft die Assoziierung. Das Problem hat zunächst einen juristischen Charakter, aber es hat einen eminent politischen Hintergrund. Die vertragsrechtliche Seite ist aber im Augenblick für die Bundesregierung von einiger Bedeutung. Denn es geht darum, präzise das Verhältnis festzulegen, das die unabhängig werdenden Staaten in Afrika zur EWG einnehmen werden, ein Verhältnis, das bisher auch juristisch noch nicht präzisiert worden ist.
Bei den Juristen bestehen unterschiedliche Auffassungen. Eine dieser Auffassungen — ich muß sagen: eine politisch sehr nützliche Auffassung — vertritt unser Kollege Metzger, der sagt — ich glaube, ich zitiere ihn richtig —, daß die nach dem Art. 131 geschehene Assoziierung der Länder und Hoheitsgebiete ihre Gültigkeit behält, auch wenn diese Länder und Hoheitsgebiete im Zuge der ihnen zugedachten Entwicklung selbständig werden, es sei denn, daß sie selber die Assoziierung nicht wünschen.
Es gibt eine Gegenmeinung, zu der unter anderen der frühere Präsident des Europarates, Herr Dehousse, steht. Diese Gegenmeinung sagt, daß am Tage der Unabhängigkeit die Assoziierung erlischt, es sei denn, die Staaten wünschen ausdrücklich, sie beizubehalten.
Es gibt eine vermittelnde juristische Äußerung, die in einem Gutachten enthalten ist, das die Studienabteilung des Europäischen Parlaments angefertigt hat. In diesem Gutachten heißt es:
Der EWG-Vertrag besagt, daß die sechs Mitgliedstaaten die Assoziierungsbeziehungen auch dann fortsetzen wollen, wenn die assoziierten Länder und Gebiete ihre Unabhängigkeit erlangt haben. Die Aufrechterhaltung der Assoziierung hängt also vom Willen des selbständig gewordenen Staates ab.
Wir brauchen hier gar nicht etwa als völkerrechtlicher Gerichtshof über diese Meinungen zu entscheiden. Auf jeden Fall ist eine Seite des Problems sehr wichtig, zu der sich die Bundesregierung bald, sei es hier oder im Ministerrat, äußern muß; das ist die Frage, ob ein selbständig gewordener Staat, wenn er die Assoziierung beizubehalten wünscht, in einem direkten Kontakt mit der EWG stehen kann und soll oder ob er in diesem Fall nur über einen der beiden Partnerstaaten Mitglied des gemeinsamen Marktes werden kann.

(Abg. Metzger: Er steht ja jetzt schon in direktem Kontakt!)

— Er steht jetzt schon in direktem Kontakt. Aber, Herr Kollege Metzger, ich erwähne das noch einmal und stelle die präzise Frage an die Bundesregierung: Sollen bei der Fortführung der Assoziierung mit einem dazu bereiten, jetzt unabhängigen afrikanischen Land die Beziehungen zu der EWG auch institutionell direkt hergestellt werden oder auf dem Umweg über einen Partnerstaat? Ich stelle diese Frage, weil die Meinungen darüber innerhalb der Organe der EWG offensichtlich nicht einheitlich sind. Die Bundesregierung muß zu diesem Problem in Kürze im Ministerrat Stellung nehmen. Es wäre gut, wenn wir hier einmal ihre Auffassung zu dieser Frage hören könnten.
Der politische Gehalt des ganzen Problems ist ja jetzt schon gegeben. Es geht einfach darum, daß wir der Entwicklung in Afrika, die sich vor unseren Augen täglich abspielt, Rechnung tragen, anders ausgedrückt, daß wir das bisher einseitige Verhältnis, nämlich den den afrikanischen Ländern oktroyierten Vertrag, nunmehr zu einem bilateralen Verhältnis ausgestalten, daß wir die Afrikaner an diesen Assoziierungsverträgen auf der Ebene der Gleichberechtigung mitarbeiten lassen.
Im Sommer vergangenen Jahres hat eine Delegation des Europäischen Parlaments einen Teil der assoziierten Länder besucht. Die Meinung dieser Delegation, in der drei politische Richtungen und sechs verschiedene Länder vertreten waren, war insofern einhellig, als sie mit dem Schluß zurückkam, daß die Beziehungen zwischen der EWG und den assoziierten Ländern auf jeden Fall auf ein zweiseitiges Verhältnis hin geändert werden müßten.
Das ist der Grund gewesen, warum das Europäische Parlament — nun ebenfalls wieder einstimmig, d. h. alle politischen Richtungen und alle Nationalitäten — vor einiger Zeit eine Entschließung gefaßt hat, eine afrikanisch-europäische Parlamentarierkonferenz einzuberufen, und zwar auf der Basis



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absoluter Gleichberechtigung. Darüber hinaus hat das Parlament an den Ministerrat und an die Kommission die Bitte gerichtet, man möge in Kürze auf Regierungsebene ebenfalls eine Konferenz mit den afrikanischen Staaten zustande bringen, um auch die politischen Fragen des EWG-Vertrages ganz allgemein, vor allem aber die Assoziierungsfragen, in der Zukunft unter Beteiligung der afrikanischen Partner diskutieren zu können. Ich möchte hier an die Bundesregierung die Bitte richten, sich nicht etwa abwartend zu verhalten, sondern initiativ zu werden. Gerade in dieser Frage haben wir, glaube ich, das Recht, initiativ zu sein, und die Bundesregierung wird, davon bin ich überzeugt, von diesem Recht sehr gern Gebrauch machen.
In dem Zusammenhang wird es auch notwendig sein — ich habe vor einiger Zeit schon einmal darauf hingewiesen —, neben den Beziehungen zwischen den afrikanischen Ländern und der EWG auch jeweils zweiseitige Verbindungen zwischen den EWG-Partner-Staaten in Europa und den afrikanischen Ländern aufzubauen. Das bedeutet für die Bundesrepublik — und darüber sollten wir einmal die Meinung des Auswärtigen Amts hören — eine Verstärkung des diplomatischen Dienstes in Afrika. Bisher ist er so schwach besetzt, daß man die Bewältigung der Aufgaben, die ihm gestellt sind, in der Tat gar nicht von ihm erwarten kann. Diejenigen, die mit den afrikanischen und asiatischen Verhältnissen einigermaßen vertraut sind, vor allen Dingen mit den afrikanischen Verhältnissen gerade in den Gebieten, die noch nicht unabhängig sind, wissen, wie schwer dort die diplomatische Aufgabe ist. Es ist nun einmal, um ein Beispiel zu nehmen, viel schwieriger, Konsul in Niamey, in Bangui oder in Abidjan zu sein, als etwa Botschafter in Kopenhagen oder in Stockholm. Das sollte man bei der Besetzung berücksichtigen. Diplomatischen Dienst in einem Land zu verrichten, in dem es neben der Vertretung unseres EWG- Partners außerdem eine langsam selbständig werdende, halbsouveräne Regierung gibt, ist natürlich eine Aufgabe, der nur ein sehr befähigter und erfahrener Diplomat gewachsen sein wird.
Nun hat heute der Herr Wirtschaftsminister gesagt, daß sich die Bemühungen der Bundesregierung auch in diesen Fragen natürlich im Rahmen der Verträge halten müßten. Ich stimme dem völlig zu. Selbstverständlich muß sich das alles streng im Rahmen der Verträge halten. Ich wiederhole noch einmal die Bemerkung meines Freundes Robert Margulies, daß meine Fraktion, auch wenn sie bis zur Ratifizierung der Verträge aus guten Gründen dagegen Stellung genommen hat, mit dem Tage des Abschlusses dieser Verträge sie zur Grundlage ihrer Politik gemacht hat. Das ist ganz selbstverständlich. Aber ich habe den Eindruck — verzeihen Sie mir die Bemerkung, Herr Bundeswirtschaftsminister —, daß die Bundesregierung in ihren Äußerungen zwar in schöner Übereinstimmung mit uns allen ist, daß aber ihre praktische Politik in der Vergangenheit dem vielfach widersprochen hat. Sie haben z. B. zum Punkt 5 der Großen Anfrage gesagt, daß diesem Wunsche die Verstärkung des Handelsverkehrs zwischen der Bundesrepublik und den überseeischen
Ländern entspreche. Wenn ich an die Steuergesetzgebung in bezug auf Kaffee und Tee denke, muß ich sagen, daß die praktische Politik der Bundesregierung das Gegenteil von dem gewesen ist, was Sie uns hier platonisch erklärt haben. Auf diesen Punkt werden wir aber noch bei der Behandlung des Antrags auf Senkung der Kaffeesteuer eingehen.
Es gibt aber auch — das sollten wir hier einmal berücksichtigen — Vorschläge von Partnerstaaten der EWG, die augenblicklich bestehende Vertragssituation zu erweitern; ich denke hier an die Vorschläge des belgischen Außenministers Wigny, die er im vorigen Oktober gemacht hat und die übrigens die Grundlage des ganzen Beschleunigungsplans der EWG-Kommission gewesen sind. Mir scheinen die Teile des Vorschlages von Herrn Wigny, die sich mit der Änderung des Verhältnisses zwischen den EWG-Staaten und den afrikanischen Ländern befassen, viel bedeutsamer zu sein. Er hat in der Tat einige sehr interessante und durchführbare Vorschläge gemacht, wie man ein zweiseitiges Verhältnis zu den afrikanischen Partnerstaaten herbeiführen kann. Ich erinnere an seinen Vorschlag, einen Assoziationsrat zu schaffen. Einen ähnlichen Vorschlag hat der frühere belgische Ministerpräsident, unser Kollege Duvieusart, der mit uns in Afrika war, gemacht, der — vielleicht gar nicht abwegig — davon sprach, daß man die Schaffung eines gemeinsamen Sekretariats der afrikanischen Länder begünstigen sollte, weil ein solches gemeinsames Sekretariat — es kann noch so klein sein — unter anderem die innerafrikanische Zusammenarbeit fördern würde, eine Zusammenarbeit, die, wie ich glaube, nur nützlich sein kann.
Auf die Frage 6 hat die Bundesregierung meiner Auffassung nach nur sehr ausweichend geantwortet. Herr Minister, Sie haben die Frage 6 der SPD mit dem Hinweis beantwortet, daß die Bundesregierung durch ihre Entwicklungsförderungspolitik den Beweis erbringe, es zu keiner Diskriminierung kommen lassen zu wollen. Nun muß ich sagen, Enwicklungsförderungspolitik und das, was die Sozialdemokraten unter Diskriminierung durch den Assoziationsvertrag verstehen, sind zwei völlig verschiedene Dinge, denn die Diskriminierung durch den Assoziationsvertrag gewissen afrikanischen Ländern gegenüber entsteht ja dadurch, daß wir durch EWG und Assoziierungsvertrag ein Präferenzsystem geschaffen haben; das kann uns ja gar nicht entgangen sein.
Wir haben natürlich mit vollem Bewußtsein ein Präferenzsystem geschaffen, und das wird auch in Afrika seine Wirkung haben. Ich will gar nicht verschweigen, daß es in Afrika schon vorher ein anderes Präferenzsystem gab, nämlich das Commonwealthsystem; insoweit haben wir moralisch eine nicht besonders schlechte Position. Wir müssen uns jedoch Gedanken darüber machen, daß die gleichen Schwierigkeiten handelspolitischer Art, die sich für uns in Europa zwischen der EWG und der EFTA ergeben, in Afrika gestellt sind, allerdings für einige afrikanische Länder viel gravierender als für manche europäischen EFTA-Partner. Wir müssen in der Bundesrepublik unsere Situation genau erken-



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nen. Obgleich ich voll und ganz zur Assoziierung und Erfüllung des Vertrages in dieser Hinsicht stehe, muß ich doch abwägen, was die assoziierten Länder für uns bedeuten, die insgesamt wohl etwas über 50 Millionen Einwohner, eine gewisse Wirtschaftskraft und damit eine gewisse wirtschaftliche Bedeutung für den Handel mit Deutschland haben. Ich muß daneben aber auch sehen, welche Bedeutung für uns z. B. Nigeria hat, ein Land, das in Kürze selbständig wird, das dem Commonwealth angehört und das sich ohne Zweifel durch den EWG-Vertrag diskriminiert fühlen muß.
Das sind die Fragen, die durch die Große Anfrage der SPD aufgeworfen sind und zu denen wir, so glaube ich, hier von der Bundesregierung noch einige Erläuterungen erwarten können.
Es würde der Bundesregierung gar nicht schlecht anstehen, Herr Minister, bei diesem letzten Problemkreis den Versuch der Vermittlung zu machen. Denn das ist ja keine Frage langfristiger Afrikapolitik — über die der Herr Bundesaußenminister vor einigen Wochen natürlich noch keine Auskunft geben konnte —, sondern hier ist sofortiges Handeln notwendig.
Zwischen der EWG und dem CommonwealthGebiet ist eine Unterhaltung über die Auswirkungen der EWG-Verträge auf Afrika nötig. Eine solche Unterhaltung kann naturgemäß nur unter Hinzuziehung der Afrikaner geführt werden. Es ist auch nötig, sich über die Fragen gemeinsamer Produktionsplanungen in Afrika und die damit zusammenhängenden Probleme der Stabilisierung der Rohstoffpreise - Problemkreis Nr. 1 für die Zusammenarbeit zwischen Afrika und Europa zu unterhalten. Es wird ferner erforderlich sein, sich gemeinsam mit dem Commonwealth-Interessengebiet über etwaige Investitionsvorhaben in Afrika zu unterhalten.
Daß eine solche Diskussion im Rahmen der sich abzeichnenden atlantischen Gemeinschaft geführt werden könnte, liegt auf der Hand, zumal wir die Amerikaner und Kanadier dabei haben. Ich möchte sagen, daß die multilaterale Form der Entwicklungsförderung für Afrika — eine Form übrigens, die auch der Wissenschaftliche Beirat des Bundeswirtschaftsministeriums als die geeignete ansieht — geradezu ein Medium für idie europäische Zusammenarbeit über den EWG-Rahmen hinaus ist. An ihr könnte sich eine Art Zusammenarbeit über den EWG-Rahmen hinaus mit den Ländern der EFTA, vornehmlich aber mit England, wirklich entzünden. Diese Chance, meine sehr geehrten Damen und Herren, sollten wir uns wahrlich nicht entgehen lassen.

(Beifall bei der FDP, bei der SPD und bei Abgeordneten der CDU/CSU.)


Dr. Carlo Schmid (SPD):
Rede ID: ID0311105100
Das Wort hat der Abgeordnete Lücker.

Hans August Lücker (CSU):
Rede ID: ID0311105200
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Darf ich zunächst noch einmal auf Ihre freundschaftliche Replik in bezug auf die Linien zurückkommen, Herr
Kollege Scheel, die die Bundesregierung heute sowohl für ihre Politik in der Vergangenheit als auch für ihre Politik in der Zukunft sichtbar gemacht hat. Ich habe den Eindruck, Herr Kollege Scheel, daß Sie meinen Fraktionskollegen Dr. Löhr doch etwas stiefmütterlich interpretiert haben. Ich bin überzeugt, daß er idas, was er hier ausgeführt hat, nicht in dem Sinne gemeint hat, den Sie ihm in aller Freundschaft unterlegt haben.

(Zuruf des Abg. Scheel.)

Ich nehme übrigens an, daß Herr Minister Erhard in seiner Erwiderung noch darauf zurückkommen wird. Herr Kollege Scheel, Sie können sich doch nichts Besseres denken als das, was Herr Minister Erhard heute getan hat, als er sich zu Beginn seiner Ausführungen auf den Chef der Bundesregierung, Herrn Bundeskanzler Dr. Adenauer, als Kronzeugen berufen hat. Ich glaube, aus den ganzen Ausführungen des Herrn Ministers Erhard war doch deutlich herauszuhören, daß es in der grundsätzlichen Einstellung zur Politik hinsichtlich EWG und EFTA, die wir hier heute diskutieren, innerhalb der Bundesregierung keine Diskrepanz gibt.
Ich möchte hier noch eine zweite politische Bemerkung anschließen. Wenn man erst am Schluß einer Debatte zu Wort kommt, drängt es sich einem auf, ein wenig über den Eindruck zu meditieren, den man aus einer solchen Debatte gewonnen hat. Ich habe 'den Eindruck, daß viele Redner ein Gespenst — wenn ich so sagen darf — heraufbeschworen haben. Wir leben ja seit einiger Zeit in der internationalen Diplomatie und Politik sehr stark von den gelegentlichen Gespenstern; man feiert solche Erscheinungen zunächst als Geist, und nachher verdammt man sie als Gespenster. Ich habe den Eindruck, daß hier das Gespenst eines „europäischen Isolationismus", der durch die Gründung der EWG zu befürchten sei, allzu dramatisch heraufbeschworen worden ist. Eine solche Gefahr ist aber wirklich nicht gegeben.
Man würde den geistigen Vätern des Vertrages von Rom, man würde auch, wie ich ganz deutlich sagen möchte, dem Votum unseres Hohen Hauses, mit dem wir seinerzeit den Verträgen von Rom zugestimmt haben, doch mehr als eine bloße geistige Vergewaltigung antun, wenn man sowohl dem Vertrag als auch unserem Hohen Hause — ich möchte ausdrücklich hinzufügen: und der europäischen Exekutive — unterstellte, daß sie die EWG zu einem europäischen Isolationismus führen wollten. Wenn man das handelspolitische Konzept und die allgemeine wirtschaftspolitische Konzeption der EWG wirklich objektiv prüft und analysiert, dann stellt man fest, daß eine solche Unterstellung nicht gerechtfertigt ist. Ich bin auch der Meinung, daß die allgemeine politische Einstellung weder der Exekutive noch der sonstigen europäischen Organe einschließlich des Ministerrates Veranlassung gibt, von der Gefahr eines europäischen Isolationismus zu i eden.
Hier ist von Autarkie und Protektionismus gesprochen worden. Ich erinnere mich, daß wir über diese Fragen in Straßburg intensiv und ausführlich



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gesprochen haben. Es ist doch eine Tatsache, daß der zukünftige gemeinsame Außentarif der EWG im Schnitt — ich bitte hier um Entschuldigung, wenn ich bei meinen Ausführungen nur von der durchschnittlichen Zollbelastung spreche; das genügt aber für das, was ich hier sagen will, völlig — um ganz hohe Prozentsätze — sie liegen zwischen 30 und 45 % — niedriger liegen wird als z. B. der Außentarif des britischen Commonwealth; er wird um etwa 40 % niedriger liegen als der Außenzoll der Vereinigten Staaten von Nordamerika. Ist angesichts dieser Tatsache der Vorwurf, daß hier eine protektionistische Politik betrieben werde, auch nur noch im entferntesten gerechtfertigt?
Ich glaube, man ist durchaus berechtigt, festzustellen — ich tue das ohne Ressentiment —, daß wir uns nur wünschen könnten, im Rahmen des GATT oder auch bei sonstigen Verhandlungen würden die übrigen großen Wirtschaftsländer und Industriestaaten diesem liberalen oder weniger protektionistischen Konzept der EWG folgen. Das gilt besonders für die Industriestaaten, die doch zweifellos in ihrer ganzen Ausrüstung und Wirtschaftskraft den Staaten der EWG mindestens ebenbürtig, wenn nicht vielleicht sogar überlegen sind.
In allen Diskussionen im Parlament der EWG in Straßburg in den Erklärungen der Kommission und — soweit sich das feststellen läßt — in allen Erklärungen des Ministerrates ist immer wieder davon gesprochen worden, daß keine Abkapselung, keine Isolierung gesucht werde. Es ist ein ausdrückliches Ziel des Vertrages — diese Verpflichtung ist nicht nur in allen bisherigen Diskussionen und in den feierlichen Erklärungen der EWG-Kommission vor dem Europäischen Parlament in Straßburg ausgesprochen worden, sondern sie ist auch mit einer, wie ich sagen möchte, politischen Wärme untermauert worden —, alles zu tun, um eine Harmonisierung und Intensivierung des Welthandels und der wirtschaftlichen Zusammenarbeit in den dafür vorgesehenen internationalen Einrichtungen und Organisationen zu unterstützen und zu aktivieren. Ich glaube, es gibt bisher nicht einen einzigen Bericht des Parlaments der Europäischen Gemeinschaft, in dem nicht dieser Appell ausgesprochen worden ist; und ich kann mich nicht an eine einzige Erklärung von seiten der europäischen Exekutive im Europäischen Parlament erinnern, daß sie sich einem solchen Appell verschließen wolle oder daß sie eine andere Linie, eine andere Politik, verfolge.
Ich gebe zu, wir stehen in unserer ganzen politischen Entscheidung an einem gewissen Kreuzungspunkt, von dem zwei Wege abgehen. Zweifellos gäbe es eine Möglichkeit, von diesem Kreuzungspunkt aus zu einem europäischen Isolationismus zu gehen. Aber es gibt, glaube ich, keinen Anlaß, dies zu befürchten, und kein überzeugendes Argument — ich habe auch heute hier keines gehört —, das wirklich dafür spräche, daß ein solcher Weg gegangen werden soll. Im Gegenteil: wir haben unsere Aufgabe in der EWG doch immer — ich möchte das insbesondere auch für meine politischen Freunde sagen — so gesehen, daß wir mit diesem europäischen Zusammenschluß nichts anderes wollen,
als den Kern eines Europas schaffen, von dem wir alle sehnlichst hoffen, daß er von Jahr zu Jahr in seiner wirtschaftlichen und auch in seiner politischen Potenz wachsen möge. Ich will hier nicht zu tief in diese Probleme einsteigen. Ich glaube, die Stellung Westeuropas, die Stellung auch der EWG wird uns angesichts der Probleme, um die es in der Weltauseinandersetzung geht, gar keine andere Wahl lassen. Ich habe den Eindruck, daß wir gut beraten wären, wenn wir uns nicht mit Reserve, sondern positiv und aktiv zu dieser Aufgabe und Verpflichtung, die unserer Generation aus dem Gang der Geschichte auferlegt ist, bekennen würden. Dann würden wir wahrscheinlich sehr viel mehr Energien freilegen können, diese Aufgabe auch zu einem glücklichen Ende zu führen.

(Beifall bei der CDU/CSU.)

Es ist hier heute immer wieder davon gesprochen worden, daß man die Zeit nützen müsse, um die Verhandlungen mit den Ländern der EFTA zu führen. Ich möchte sagen: nicht nur mit den Ländern der EFTA, sondern darüber hinaus im 21er-Ausschuß; und vergessen wir nicht, daß es auch Verhandlungen im GATT zu führen gilt. Wenn wir aber mit so besonderer Verve und, ich möchte sagen, in einer fast zerfleischenden Art der Selbstanklage und -kontrolle uns selber immer wieder sagen, daß wir nicht genug getan haben, um die Verhandlungen zwischen EWG und EFTA zu intensivieren und zu fruktifizieren, dann möchte ich sagen: Im Prinzip kann keine Selbstkontrolle und keine Selbstanklage zu hart und zu intensiv sein, und es ist gut, immer wieder zu prüfen, ob man vielleicht noch mehr hätte tun können, als man getan hat. Insofern will ich das unterstützen und unterstreichen. Ich frage mich aber: Ist das nun wirklich das Alleingültige? Ist hier nur die EWG, sind hier nur die Länder der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft aufgerufen? Kann man nur an sie appellieren, die Verhandlungsbereitschaft nicht nur zu bekennen, sondern zu aktivieren und zu realisieren? Ich stelle diese Frage, ohne damit irgendwie einen Vorwurf zu erheben. Ich möchte aber meinen: das, was für uns und die EWG gilt, gilt doch sicherlich in gleichem Maße für die Länder der EFTA und für alle anderen dritten Länder, die diese Verhandlungsbereitschaft von uns erwarten. Wenn wir in den Wald hineinrufen, warten wir natürlich auf ein Echo. Ich glaube es ist, wie immer und überall im politischen Leben, notwendig, daß der Ruf auch einmal von der anderen Seite kommt und man selber in die Lage versetzt wird, darauf das Echo zu geben. Wir alle verfolgen im Hinblick auf die uns übertragene Aufgabe sehr sorgfältig alles, was in der Welt vor sich geht. Stellen wir da nicht seit geraumer Zeit Wandlungen in der geistigen Haltung fest, die in den allerjüngsten Tagen bereits zu dem Phänomen geführt haben, daß aus diesem Wandel der geistigen Haltung offensichtlich auch in den EFTA-Ländern ein Einbruch erzielt worden zu sein scheint — um mich vorsichtig auszudrücken — in die politische Haltung, die eine Folge der geistigen Haltung ist, um diesen Problemen alle dramatisierenden Effekte der Vergangenheit zu nehmen und sich sehr real und sehr intensiv zu überlegen: Was können wir tun, um nicht das Schicksal



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der Königskinder von Thule zu erleiden? Von diesen wissen wir ja aus der Sage, daß sie sich sehr geliebt haben, aber nicht zusammenkommen konnten. Die Liebe möchte ich hier unterstreichen. Aber wir sollten auch alles dafür tun, daß wir zusammenkommen.
Ich habe eben dargelegt, was alles von seiten der Organe unserer Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und auch von unserm EWG-Parlament unternommen worden ist. Ich bin sicher, solche Aussprachen, wie sie hier geführt werden, sind, mit ähnlicher Tendenz, auch in anderen Parlamenten geführt worden. In diesem Zusammenhang möchte ich noch folgende Frage aufwerfen. Ist uns denn verborgen geblieben, daß sich — ich will das nur exemplarisch zitieren — auch hinsichtlich der geistigen und politischen Haltung innerhalb des englischen. Königreiches in letzter Zeit nicht nur vereinzelte, sondern sehr zahlreiche Stimmen melden, die offensichtlich darauf schließen lassen, daß man heute gegenüber einer engeren Zusammenarbeit im institutionellen Sinne zwischen der Europäischen Gemeinschaft und der EFTA — ich will vorsichtig sein — aufgeschlossener eingestellt ist, als man es vielleicht vor längerer Zeit gewesen ist? Die Stimmen nicht nur in dem Buch des früheren Unterstaatssekretärs Nutting, sondern auch im „Observer", im „Guardian", im „Economist", in der „Times" in der letzten Zeit, sowie die politischen Gespräche, die in den letzten Wochen in offiziellen Gremien geführt worden sind, lassen darauf schließen, daß hier eine Entwicklung im Gange ist, die wir nicht — mit der uns vielleicht nachgerühmten Ungeduld — vorbelasten sollten. Wir sollten alles tun, um diese Entwicklung zu fördern, um hier etwas heranreifen zu lassen, das uns eines Tages vielleicht als Frucht unserer gegenseitigen guten politischen Absichten in den Schoß fallen kann.
Ich bin insbesondere erfreut, daß auch Herr Ministerpräsident von Hassel, der hier im Auftrage der norddeutschen Küstenländer gesprochen hat, diesen Appell an die Länder der EFTA-Zone unterstrichen hat, um von dieser Seite den gleichen guten Willen, die gleiche Verhandlungsbereitschaft und, ich möchte sagen, das gleiche gesamteuropäische Verantwortungsbewußtsein unter Beweis zu stellen. Dann fehlt ja nur noch, daß wir uns in den Verhandlungsgremien gegenseitig beim Wort nehmen. Da möchte ich meinen, daß beim Vorhandensein eines guten, positiven politischen Willens viele Dinge geregelt werden können, vor denen wir heute noch wie an der Klagemauer von Jerusalem stehen, und von denen wir noch nicht wissen, wie wir sie lösen sollen.
Ich möchte in diesem Zusammenhang der persönlichen Loyalität halber noch auf eines zu sprechen kommen. Herr Kollege Kalbitzer hat heute früh ein Wort des EWG-Präsidenten Hallstein von der friedlichen Koexistenz zwischen EWG und EFTA zitiert, und er hat auch das Wort zitiert — das Präsident Hallstein gesprochen haben soll —, daß „die Freihandelszone damals zustande gekommen wäre, wenn der politische Wille vorhanden gewesen wäre". Ich glaube, es ist ein Gebot der politischen
Fairneß und der persönlichen Loyalität, die man auch im politischen Leben gelten lassen sollte, insbesondere dann ein Wort dazu zu sagen, wenn der also Angesprochene sich hier persönlich nicht verteidigen kann. Ich glaube, es entspricht diesem Gebot der Fairneß und der Loyalität, darauf zu erwidern, daß beide Äußerungen, die inkriminierend wären, wenn sie getan worden wären, von Präsident Hallstein in sehr überzeugender und ganz klarer Weise dementiert worden sind. Das ist offiziell in Straßburg in entsprechenden Erklärungen geschehen.
Ich sage das in diesem Zusammenhang, um damit noch einmal zu unterstreichen, daß solche Zitierungen geeignet sind, direkt oder mehr noch indirekt den Eindruck zu erwecken, als ob es hier tatsächlich an dem guten Willen der einen Seite fehlte, zu einer wirklichen Verständigung, zu einer von uns allen angestrebten gesamteuropäischen und weltweiten Zusammenarbeit zu kommen, wie sie auch Minister Erhard heute früh für die Bundesregierung dargelegt hat.
Lassen Sie mich nun noch einige Worte zu den Problemen der Agrarpolitik sagen, die heute von Herrn Minister Erhard in seiner Regierungserklärung mit dem Bemerken angesprochen worden sind, daß er nur zwei Sätze dazu sagen wolle; es würden sicherlich noch andere Kollegen des Bundestages darauf eingehen. Ich glaube, daß es wohl notwendig ist, noch einiges dazu zu sagen.
Zunächst, Herr Minister Erhard, ist Ihre Darstellung nur zu unterstreichen, daß es bei dem ganzen Problem EWG—EFTA auf dem Sektor der Agrarpolitik kurzfristige und langfristige Probleme gibt. Ich möchte ausdrücklich betonen, daß sich bezüglich der kurzfristigen Probleme keine bessere Methode anbietet, als diesen Dingen „pragmatisch" näherzukommen. Worum handelt es sich dabei? Die kurzfristigen Probleme, für die Sie das Datum des 1. Januar 1961 nannten, hängen ja in einem ganz besonderen Maße mit dem Beschleunigungsplan der EWG-Kommission für die Überwindung der Übergangsfrist des Vertrages von Rom zusammen. Diese kurzfristigen Probleme sind zunächst EWG-interner Natur. Warum? Ganz einfach deswegen, weil die landwirtschaftlichen Probleme im Vertrag der EFTA-Länder ausdrücklich ausgeklammert sind.
Es ergeben sich zwar zwischen den Ländern der EWG und den Ländern der EFTA-Zone bilaterale Probleme des agrarischen Handelsaustauschs; es ergeben sich aber noch keine multilateralen Probleme, weil, wie gesagt, die EFTA-Zone nicht in der Lage war, die Agrarprobleme in ihrem Vertragsabschluß mit Erfolg anzupacken oder gar einer Lösung zuzuführen. Für diese kurzfristige Problemstellung ist es wichtig, in diesem Zusammenhang etwas auf den Beschleunigungsplan einzugehen, den die Kommission in Durchführung eines Auftrags vorgelegt hat, den der Ministerrat dieser Kommission im Herbst des vergangenen Jahres erteilt hat. In diesem Beschleunigungsplan gibt es zwei Aspekte für die Agrarpolitik. Der eine ist die Verkürzung der Übergangszeit um drei Jahre auf insgesamt noch sechs Jahre. Bestimmungen, die am 1. 1. 1970 nach



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dem Vertrag in Kraft treten sollten, sollen also auf den 1. 1. 1967 vorgezogen werden. Es erscheint auf den ersten Blick als nicht ganz logisch, wenn man das Ende der Übergangszeit auf dieses Datum festlegt, ohne daß man bereits für die Überwindung der Übergangszeit klar sieht, wie eine allseits befriedigende Lösung der zweifellos sehr vielschichtigen und schwierigen Probleme gefunden werden kann. Für die Lösung dieser Probleme ist es andererseits eine Voraussetzung, zu wissen, wie die endgültige Lösung aussehen soll; denn auf diese endgültige Lösung müssen die Lösungen für die Übergangsprobleme zugeschnitten werden. Wir haben uns mit dieser Frage sowohl hier als auch auf europäischer Ebene ausführlich befaßt. Ich will nicht sagen, daß wir den Stein der Weisen gefunden hätten, aber wir haben zumindest sehr viel Mühe und sehr viel Energie aufgewandt, um zu einer praktikablen Lösung zu kommen. Wir haben geglaubt, daß eine vernünftige Lösung darin zu sehen ist, daß wir im Prinzip einer Verkürzung der Übergangsfrist zustimmen können, wenn es im Laufe der Übergangszeit, also innerhalb von sechs Jahren, gelingt, die gemeinsame Agrarpolitik und die gemeinsame Marktordnung in Europa in Gang zu bringen. Das ist der eine Bestandteil im Beschleunigungsplan der Kommission.
Der zweite Aspekt bezieht sich auf die Vorziehung des Zollabbaus und des Kontingentabbaus. Hierzu ist zu sagen, daß in dem Beschleunigungsplan zwar der Abbau der Agrarzölle enthalten ist, der Abbau der landwirtschaftlichen Kontingente aber ausdrücklich ausgeklammert ist. Das ist schon ein Beweis dafür, daß man sich auch in der europäischen Exekutive völlig darüber im klaren ist, daß man nicht auf Grund der Formel der Aufrechterhaltung eines Gleichgewichts zwischen industrieller und landwirtschaftlicher Entwicklung, wie sie heute auch von Herrn Kollegen Starke übernommen worden ist, zu einer Schematisierung übergehen darf. Eine Gleichgewichtslage zwischen landwirtschaftlicher und industrieller Entwicklung schließt nicht aus, daß die Übergangszeit in einem anderen zeitlichen und sachlichen Stufenplan überwunden wird, als als es auf dem industriell-gewerblichen Sektor der Fall sein kann.
Die EWG-Kommission bezieht also eine Stellung, über die man zweifellos noch sprechen kann. Der Vorschlag der EWG-Kommission hat aber erst in der jüngsten Zeit durch Forderungen gewisser Länder zu jener Komplikation geführt, die seitdem Gegenstand sehr eingehender Diskussionen ist. Es gibt einige Länder der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, die gefordert haben, den Abbau der landwirtschaftlichen Kontingente im gleichen Rhythmus und im gleichen Umfang wie auf dem industriell-gewerblichen Sektor vorzunehmen. Damit ist aber noch keine Entscheidung darüber gefällt, ob und gegebenenfalls in welcher Form man sich einer solchen Forderung stellt oder wie man eine solche Forderung zu einer allgemein-verbindlichen Lösung umformen kann.
Die Forderung kann in dieser Form nicht akzeptiert werden. Ich verweise hier sowohl auf die eindeutige Stellungnahme, die das Europäische Parlament in dieser Frage abgegeben hat, als auch auf die ebenso eindeutige Stellungnahme, die der Wirtschafts- und Sozialausschuß der Europäischen Gemeinschaft abgegeben hat. Beide Gremien sind zu der Überzeugung gekommen, daß es nicht möglich ist, den Abbau der Agrarzölle und -kontingente vorzuziehen, solange nicht die entsprechenden Übergangsmaßnahmen im Zuge des Aufbaus einer gemeinsamen Agrarpolitik und einer gemeinsamen Marktordnung getroffen werden können.
Wenn nun die Beschleunigung nicht zum 1. Juli, sondern zum 1. Oktober dieses Jahres oder zum 1. Januar 1961 — ich will einmal das letzte Datum unterstellen — in Gang gesetzt wird, sollte die Gelegenheit wahrgenommen werden, in der Zwischenzeit in dieser heiklen Frage, in der die Stellungnahmen der Länder in der Gemeinschaft zum Teil voneinander abweichen, durch intensive Verhandlungen eine Klärung herbeizuführen. Ich bin nicht der Meinung, daß hier gar keine Möglichkeiten gegeben seien. Man sollte auf die ursprüngliche Fassung des Planes der Kommission zurückkommen. Ich will aber den Verhandlungen nicht vorgreifen. Auf jeden Fall kann nur in eingehenden Verhandlungen, die in der Zwischenzeit geführt werden, eine Lösung gefunden werden, die von allen angenommen werden kann. Es wäre falsch, ohne Rücksicht darauf, was in der Zwischenzeit geschieht, von vornherein zu erklären: Zu einem bestimmten Datum muß dies so und so sein. Man würde damit eine sehr unrealistische Position beziehen. In den Verhandlungen können sich gewisse Möglichkeiten zeigen, den Plan der Kommission in seiner ursprünglichen Fassung oder in modifizierter Form zu übernehmen. Auf keinen Fall kann man den Anfang und das Ende einer Entwicklung vertauschen und an den Anfang stellen, was nur am Ende stehen kann.
Nun ein Wort zu der Frage einer längerfristigen Entwicklung in den Beziehungen zwischen den Ländern der EWG und den Ländern der kleinen Freihandelszone auf dem agrarpolitischen Gebiet. Ich möchte eindeutig erklären, daß es nicht unmöglich ist, hier durch Verhandlungen zu Ergebnissen zu kommen. Ich sage das aus folgendem Grund. Man ist in den Verhandlungen im Maudling-Komitee zu dem Ergebnis gekommen, daß nicht etwa die landwirtschaftlichen Probleme ein unüberwindliches Hindernis darstellten. Aber man muß sich darüber im klaren sein, wo die Schwierigkeiten liegen. Im Landwirtschaftsausschuß des Europarates, dem die EFTA-
Länder ja angehören, muß ausgerechnet ich als Abgeordneter des Deutschen Bundestages oft zwischen den Ländern, die der EFTA-Zone angehören, vermitteln, weil die Meinungen nicht einheitlich sind, weil z. B. Osterreich und Dänemark ganz andere Auffassungen haben als Großbritannien. Ich will mich nicht in diese Angelegenheit einmischen, sondern nur sagen, daß, wenn man zu einer Klärung der landwirtschaftlichen Probleme zwischen EWG und EFTA kommen will, sie nur durch eine gewisse Harmonisierung der Agrarpolitik in den einzelnen Ländern zu erreichen ist. Das wird nicht ohne ein Mindestmaß von vertraglichen Festlegungen ge-



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schehen können und wird jedenfalls ein Minimum von supranationalen Einrichtungen erfordern.
Ich will den Verhandlungen in dieser Richtung nicht vorgreifen. Was ich dargelegt habe, ist aber nicht etwa nur meine eigene Meinung, sondern entspricht dem, was man allgemein in den agrarpolitischen Kreisen des Europäischen Parlaments denkt. Ich verrate kein Geheimnis, wenn ich sage, daß das auch die Auffassung der agrarpolitischen Kreise im Europarat ist, in dem die EFTA-Länder vertreten sind. Ich kann also nur sagen: ,die Bereitschaft zu Verhandlungen soll von unserer Seite gar nicht in Zweifel gezogen werden. Es gibt Möglichkeiten, zu Ergebnissen zu kommen. Aber das ist eben eine Aufgabe jener Verhandlungen, die in dem Zeitraum geführt werden sollen, von dem Herr Minister Erhard heute für die Bundesregierung gesprochen hat. Es sind einmal die Verhandlungen bis zum 1. Januar 1961. Damit sind wir aber nicht am Ende; denn am 1. Januar 1962 treten neue Bestimmungen des Vertrages von Rom in Kraft. In Anbetracht des allgemeinen Wandlungsprozesses in der geistigen und politischen Einstellung zu den Problemen sollte eine Möglichkeit gefunden werden, auch hier zu einer Verständigung zu kommen.
Mein sehr geschätzter Kollege Margulies hat heute vormittag davon gesprochen, daß die Tendenz der Agrarpolitik der EWG zu einer Autarkie führe. In dem Antrag der Fraktion der FDP ist das in einem Absatz sogar schriftlich verankert. Kollege Margulies hat, wenn ich es richtig in Erinnerung habe, gemeint, daß man bei dieser Tendenz in der I Agrarpolitik der EWG das Pferd von hinten aufzäume. Er meinte, man müsse mit den Preisen beginnen. Ich möchte hier ausdrücklich sagen — Herr Kollege Margulies, ich kann es mir nicht verkneifen, das auszusprechen —: ich habe heute zum ersten Mal von Ihnen in dem Zusammenhang eine Außerung gehört, die ich gern zur Kenntnis genommen habe. Sie haben nämlich die zukünftige europäische Agrarpolitik so interpretiert, als ob man im Hinblick auf die Einkommensverhältnisse der deutschen Landwirtschaft das deutsche Getreidepreisniveau aufrechterhalten müsse. Ich habe das mit großer Genugtuung zur Kenntnis genommen, muß aber sagen, daß ich es trotz unserer langjährigen Zusammenarbeit, auch im EWG-Parlament, heute leider zum ersten Mal gehört habe. Ich habe in der Vergangenheit in der Regel Tendenzen in Ihren Auffassungen festgestellt, die das Gegenteil zumindest zum Inhalt und zum Ziele hatten. Deswegen freue ich mich, positiv feststellen zu können, daß Sie heute vor dem Deutschen Bundestag eine solche Erklärung zur zukünftigen Agrarpolitik abgegeben haben. Ich hoffe, daß ,diese Meinung in Zukunft auch in den zuständigen Gremien des Europäischen Parlaments von Ihnen zu hören sein wird.
Herr Kollege Margulies, Sie sagen, man muß mit den Preisen beginnen. Ich möchte ausdrücklich feststellen, 'daß diese Bemerkung zweifellos nicht der Ausdruck dafür ist, daß Sie bereit sind, das Pferd von der richtigen Seite, nämlich von vorn aufzuzäumen; denn mit der Annäherung der Preise kann sicherlich die Synchronisation der Übergangszeit
nicht beginnen. Sie muß beginnen mit der Annäherung der wirtschaftspolitischen Wettbewerbsbedingungen. Darüber gibt es im europäischen Parlament keine Abweichungen. Sie haben sich .dazu allerdings weder im Ausschuß noch im Plenum geäußert; aber immerhin hat doch die überragende Mehrheit des Parlaments, haben alle 30 oder 35 Redner, die dort gesprochen haben, diese These gebilligt. Bezüglich der Meinung im Ausschuß bei der Billigung des Berichts, den ich dort die Ehre hatte vorzulegen, hat man eine entsprechende zeitliche und sachliche Stufenfolge für diese Synchronisierung innerhalb der EWG auf ,dem Sektor der Agrarpolitik akzeptiert.
Ich freue mich, feststellen zu können, daß der Wirtschafts- und Sozialausschuß in Brüssel, das beratende Organ der EWG-Kommission, die gleiche Haltung eingenommen hat: Wir müssen beginnen mit der Annäherung der wirtschaftspolitischen Wettbewerbsbedingungen. Wenn wir schon innerhalb der EWG den Gedanken einer natürlichen Präferenz zum Zuge kommen lassen wollen — dem wollen wir uns gar nicht widersetzen —, dann bedeutet 'das aber doch nicht, ,daß wir die künstlich „verzerrten" wirtschaftspolitischen Wettbewerbsbedingungen so lassen können, wie sie gegenwärtig auf Grund der verschiedenen agrarpolitischen Systeme sind.

(Beifall bei ,der CDU/CSU.)

Die agrarpolitischen Systeme haben ihre eigene Geschichte und ihre eigene Dynamik. Es steht mir nicht zu, mich zum Richter darüber aufzuschwingen, ob die agrarpolitischen Systeme der anderen Länder in der Vergangenheit ihre Berechtigung hatten oder nicht. Das eine steht jedenfalls fest: Wenn es darum geht, innerhalb der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft eine gemeinsame Agrarpolitik zu definieren und zu praktizieren, dann müssen wir ,diese gemeinsame Agrarpolitik mit ,den richtigen Methoden instrumentieren; denn sonst gibt es in diesem europäischen Konzert nur Disharmonien zu hören, und das bekommt uns als einzelnen und als Gemeinschaft nicht gut.
Wir müssen also mit der Annäherung der wirtschaftspolitischen Wettbewerbsbedingungen beginnen, Ich will das nicht im einzelnen darlegen, um Ihnen nicht noch länger die Mühe des Zuhörens zu machen. Aber mit dieser Annäherung muß begonnen werden. Sie ist einerster Schritt zur Inkraftsetzung einer gemeinsamen Agrarpolitik.
Mit der Einleitung einer gemeinsamen Agrarpolitik muß gleichzeitig der erste Schritt zum Aufbau einer gemeinsamen Marktordnung getan werden. Ob diese gemeinsame Marktordnung mit der Methode einer Koordinierung, die im Anfang zweifellos richtig ist, oder später mit der Methode einer auch europäisch-institutionellen Untermauerung geschieht, das ist eine völlig sekundäre Frage. Aber die Marktpolitik muß nach einheitlichen Grundsätzen und nach einheitlichen Richtlinien geführt werden, wenn es nicht zu einer Desorganisierung, zu einer Desorientierung unserer Gemeinschaft kommen soll.
Erst wenn das geschieht, wenn die Marktordnung nach innen und außen aufgebaut wird, wenn



Lücker
die Agrarpolitik nicht nur in ihren Konturen sichtbar gemacht ist, sondern wirklich die ersten Schritte und die Perspektiven für die Zukunft deutlich erkennbar gemacht sind, wird man zu einem freieren Warenverkehr übergehen können, an dessen Ende natürlich der freie Warenverkehr innerhalb unserer Gemeinschaft stehen muß. Denn an dem Prinzip, daß die EWG ein gemeinsamer Markt mit dem Charakter eines Binnenmarktes ist, können und wollen wir nichts ändern. Das heißt also insgesamt, daß man eine richtige Synchronisierung der Übergangsmaßnahmen einleiten muß.
Es ist notwendig, die Verhandlungen, die bereits geführt werden und die sehr vielschichtig und sehr subtil sind, an diesen Leitlinien zu orientieren, Leitlinien, die vom Europäischen Parlament und vom Wirtschafts- und Sozialausschuß in dieser Richtung und in dieser Kongruenz vorgeschlagen worden sind. Daran sollten sich auch die Verhandlungen auf Regierungsebene, die in nächster Zeit intensiviert werden müssen, orientieren. Wenn man sich an diese Orientierung hält, kann, dessen bin ich sicher, bei allseitig gutem Willen in diesen Fragen trotz aller Schwierigkeiten eine gemeinsame Lösung gefunden werden.
Wir haben die heutige Debatte deswegen zum Anlaß genommen, auch zu dieser speziellen Frage etwas zu sagen, weil Sie, Herr Minister Erhard, offensichtlich Wert darauf legten als Sprecher der Regierung, auch noch einmal die Meinung des Hauses zu hören. Wenn Sie alles das abwägen, wäre nach meiner Auffassung eine politische Orientierung gegeben, die in voller Übereinstimmung mit dem steht, was das Europäische Parlament und der Wirtschafts- und Sozialausschuß hierzu beigesteuert haben.
Ich gebe zu, es ist ein sehr schwieriges und ein sehr kritisches Problem. Aber es ist kein Problem, das das Zusammenwachsen der Völker unserer Gemeinschaft behindern oder unmöglich machen könnte. Es ist auch kein Problem, für das es bei einer Zusammenarbeit zwischen unserer europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und Drittländern, insbesondere den Ländern der Freihandelszone, in der Zukunft keine Lösung gäbe.
Aber diese Orientierung sollte man beherzigen. Geschieht es, so wird man sicher auch zu den richtigen Lösungen kommen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP.)


Dr. Carlo Schmid (SPD):
Rede ID: ID0311105300
Das Wort hat der Bundeswirtschaftsminister.

Dr. Ludwig Erhard (CDU):
Rede ID: ID0311105400
herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich möchte es sehr kurz machen und vor allen Dingen meiner Befriedigung darüber Ausdruck geben, daß die Diskussion über eine Frage von so schicksalhafter Bedeutung für unser ganzes Volk in einer so noblen Gesinnung geführt werden konnte.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP.)

Ich werde mich darauf beschränken, nur noch einige Nuancen zu setzen.
In der Diskussion ist einmal von der OEEC und von der Ausweitung dieser Organisation zu einer Atlantischen Gemeinschaft gesprochen worden. Ich habe heute morgen für mich und für die Bundesregierung den Wert einer atlantischen Zusammenarbeit ausdrücklich bejaht. Das kann natürlich nicht bedeuten, daß nicht auch ein Podium für die spezifischen europäischen Belange erhalten bleiben sollte.

(Sehr gut! bei der FDP.)

Ich bin persönlich — die Bundesregierung hat darüber noch nicht befunden — der Meinung, daß der Bericht der sogenannten Vier Weisen ganz bestimmt nicht der Weisheit letzten Schluß darstellt. Aber darüber werden wir uns an anderer Stelle vielleicht noch zu unterhalten haben.
Mit Bezug auf eine in mancher Rede angeklungene Frage darf ich folgendes feststellen: Was ich heute gesagt habe, war nicht nur Ausdruck meiner persönlichen Haltung, sondern entsprach der Meinung der Bundesregierung. Selbstverständlich — ich glaube, niemand wird sich darüber verwundern oder als einen Mangel empfinden — besteht manchmal eine nicht völlige Übereinstimmung zwischen den politischen Notwendigkeiten und der Beurteilung aus rein rational-ökonomischen Überlegungen. Es ist auch nicht zu verschweigen, daß ein Bundeskabinett nicht aus genormten Mitgliedern besteht. Ich habe bisher immer gemeint, das wollen Sie auch gar nicht.

(Zustimmung bei der CDU/CSU.)

Aus diesem Grunde werden Sie sicherlich nicht so indiskret sein und die letzten geistig-seelischen Schwingungen jedes einzelnen Ministers hier analysieren wollen. Ich habe durchaus Verständnis dafür, wenn Sie die Bundesregierung und ihre einzelnen Mitglieder anstrahlen und dabei gewisse Beleuchtungseffekte erzielen wollen.

(Heiterkeit in der Mitte.)

Aber im Grundsätzlichen ist das — und ich wiederhole es —, was ich vor dem Hohen Hause zum Ausdruck gebracht habe, die Haltung und die Meinung der Bundesregierung.
In einem Satz hat die Ansicht angeklungen — das scheint mir ernst zu sein und bedarf einer gewissen Richtigstellung —, daß innerhalb der EWG oder vielleicht auch in einem noch umfassenderen Verbande die großen Länder unter Umständen geneigt sein könnten, die kleineren zu majorisieren. Das ist eine sehr gefährliche Betrachtung, der ich immer entgegengetreten bin. Wir dürfen in Europa angesichts der Buntheit und der Vielschichtigkeit der uralten Kulturen, der Stammeseigenarten und alles dessen, was da an Differenzierungen lebendig ist, das Kleinere nicht geringer achten.

(Beifall bei der CDU/CSU.)

Den Wertmaßstab „groß und klein" dürfen wir dann nicht mehr anlegen, wenn es um das wirtschaftliche und soziale Sein der Menschen und der Völker geht.

(Erneuter Beifall bei der CDU/CSU.)

Ich habe immer, auch in den internationalen Gremien, Wert darauf gelegt, niemals eine Meinung



Bundeswirtschaftsminister Dr. Dr. h. c. Erhard aufkommen zu lassen, als ob eine Zusammenarbeit Platz greifen könnte, die eine solche Absicht auch nur am Rande vermuten ließe.
Es ist dann bemängelt worden, daß ich bei manchen Fragen nicht genug konkretisiert hätte. Zugegeben: Ich wollte, ich wäre in der Lage gewesen, manches sehr viel mehr zu konkretisieren, vielleicht wäre dann die Debatte überhaupt überflüssig gewesen. Ich kann hier nicht mehr tun — ich glaube, das ist auch ein Gebot der Fairneß gegenüber unseren anderen europäischen Partnern, gleich wo sie stehen —, als unseren deutschen Standpunkt zu verdeutlichen, ohne aber die Frage beantworten zu können, ob sich unser deutscher Standpunkt in den entsprechenden Bereichen wird durchsetzen lassen. Aber ich kann Sie in einem beruhigen. Das schon genannte Vier-Minister-Gremium, das im wesentlichen auch Gedanken entwickeln sollte, auf welcher Grundlage und auf welchen Gebieten man zu einer Verständigung zwischen EWG und EFTA kommen könnte, hat gewisse Vorstellungen nach dieser Richtung erarbeitet und gewisse Elemente und Wege aufgezeigt, die Gegenstand der kommenden, hoffentlich ernsten und intensiven Verhandlungen sein werden.
Ich stimme auch nicht dem Pessimismus zu, den Sie in bezug auf die bevorstehende Dillon-Runde oder, anders ausgedrückt, in bezug auf die Zollsenkungen innerhalb der EWG mit der Verkürzung zur Schau getragen haben. Vielmehr bin ich überzeugt, daß sich diese Bewegung in der freien Welt nicht mehr eindämmen lassen wird und auch in der Dillon-Runde, bei den GATT-Verhandlungen und welchen Gelegenheiten immer die Kraft zu einer Senkung der Zölle und das heißt gleichzeitig zu einem immer besseren Zusammenwachsen, zu einer immer versöhnlicheren Verschmelzung zwischen den Völkern lebendig bleibt. Es ist auch anzuerkennen, daß die Beseitigung der Kontingente, zunächst auf dem industriell-gewerblichen Sektor, als ein positives Element in dem Vorschlag der europäischen Kommission zu werten ist. Wir stehen in Brüssel und in den Verhandlungen mit der EFTA vor einer doppelten Aufgabe: wir müssen sowohl Abstimmungen nach innen finden als auch Abstimmungen nach außen erreichen. Wahrscheinlich werden diese Gespräche parallel laufen.
Auch das Problem der Diskriminierung der Entwicklungsländer durch die afrikanischen assoziierten Gebiete möchte ich nur am Rande berühren. Es ist selbstverständlich, daß jede Zollunion nach innen andere Bedingungen setzt als nach außen. Das ist unvermeidlich und liegt in der immanenten Logik der Zollunion. Aber wenn schon das Gefälle zwischen den Wirtschaftsbereichen nicht ganz zu vermeiden sein wird, dann ist es jedenfalls unsere Pflicht, danach zu streben, dieses Gefälle so gering wie möglich zu halten.

(Abg. Scheel: Sehr gut!)

Im übrigen ist es ja doch die Absicht der atlantischen Gemeinschaft, die dafür einen besonderen Ausschuß eingesetzt hat, auf der Basis einer engeren Zusammenarbeit aller hilfegebenden Länder,
d. h. solcher, die potentiell überhaupt dafür in Frage kommen, für einen besseren Ausgleich hinsichtlich der Entwicklungshilfe auch nach Wirtschaftsräumen zu sorgen; allerdings nicht in dem Sinne, daß damit neue Interessen- und Einflußsphären geschaffen werden, sondern um das, was die dazu befähigten Länder überhaupt geben können, so gerecht und nach so guten Maßstäben wie möglich anwenden zu können.
Mein besonderer Dank gilt dem Bundesrat und seinen Organen. Die Beratungen, die ich mit den Wirtschaftsministern und auch mit Ministerpräsidenten führen konnte, haben mir über alle Parteien hinweg in meiner Haltung und in der Herausarbeitung meines eigenen Standpunktes wesentliche Hilfe geleistet. Daß dies möglich ist, daß über alle Parteien hinweg in dieser schicksalhaften Frage im letzten eigentlich keine Differenzen aufgetreten sind, ist ein hoffnungsvolles Zeichen dafür, daß wir auf dem rechten Wege sind, ein glückliches Deutschland und ein befriedetes Europa zu bauen.

(Lebhafter Beifall bei den Regierungsparteien und bei der FDP.)


Dr. Carlo Schmid (SPD):
Rede ID: ID0311105500
Herr Abgeordneter Margulies hat das Wort zu einer Schlußbemerkung.

Robert Margulies (FDP):
Rede ID: ID0311105600
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Debatte über die von den Freien Demokraten gestellte Große Anfrage hat zweifellos zu einer gewissen Klärung geführt. Wir begrüßen das dankbar. Ich möchte dazu noch einige wenige Bemerkungen machen, muß aber vorher noch mit einigen Worten auf das eingehen, was vorhin Herr Lücker gesagt hat. Er hat sich mit sichtlichem Vergnügen mit meinen Ausführungen befaßt, so daß ich mich doch bei ihm revanchieren muß. Ich darf ihn zunächst daran erinnern, daß ich seinen Auffassungen über Agrarpolitik im Europäischen Parlament bzw. im Agrarpolitischen Ausschuß Punkt für Punkt widersprochen habe. Ich bin damit nicht durchgekommen; aber ich bedaure doch sehr, daß die Auffassungen, die Herr Lücker über Agrarpolitik hat, jetzt auf Europa übertragen werden. Es sind doch diese Auffassungen, über die unsere Bauern jedes Jahr mehr klagen und stöhnen, unsere Bauern, die uns beweisen, daß die Disparität immer größer wird. Offenkundig können sie also nicht richtig sein.
Nun hat Herr Lücker die Tradition einiger CDU-Redner übernommen, die sich im wesentlichen damit beschäftigt haben, an den Tatsachen vorbeizureden und nach dem Satz, daß nicht sein kann, was nicht sein darf, eben die Fakten zu übersehen. In einem Punkt kann ich Herrn Lücker jedenfalls beruhigen. Er hat gesagt, daß von den EFTA-Ländern keine Erklärungen darüber vorliegen, daß diese Länder mit der EWG oder mit uns, mit den Mitgliedsländern, verhandeln wollten. Gerade soeben habe ich eine Schrift bekommen, die Auszüge aus Parlamentsdebatten in den EFTA-Ländern enthält. Danach hat Herr Schatzkanzler Amory von Großbritannien festgestellt: Es besteht absolut kein Zweifel über den Wunsch der Sieben, mit den Sechs



Margulies
zusammenzukommen; wir sind bereit, Verhandlungen mit den Sechs zu beginnen, sobald sie dazu bereit sind. Herr Außenminister Krag (Dänemark) hat festgestellt: Das Ziel muß weiterverfolgt werden, einen europäischen Großmarkt zu schaffen, der soweit wie möglich sämtliche Mitglieder der OEEC umfaßt. Herr Handelsminister Lange (Schweden) hat daran erinnert, daß man die EFTA geschaffen habe, um die Möglichkeit zu verbessern, mit den Sechs zu wirklichen Verhandlungen zu kommen. Ich will Ihnen das nicht alles vorlesen; das Dokument steht zu Ihrer Verfügung, soweit sie es nicht selber haben.
Ich bin Herrn Bundesminister Erhard für die Aufklärung, die er uns hier gegeben hat, außerordentlich dankbar. Er hat freimütig zugestanden, daß die Politik der Bundesregierung in dem für uns entscheidenden Punkte, nämlich der multilateralen Assoziation der OEEC-Länder an die EWG, bisher erfolglos war. Er hat uns damit auch zugestanden, daß wir, die Freien Demokraten, seinerzeit recht hatten, die Verträge über die EWG abzulehnen, solange nicht gleichzeitig die Vereinbarungen über die Große Freihandelszone geschlossen worden waren. Aber das ist Vergangenheit; darüber brauchen wir heute nicht mehr zu reden.
Um so mehr habe ich mich über die Grundsatzerklärung, die er uns hier gegeben hat, und auch darüber gefreut, daß er sich selbst eine Frist gesetzt hat, nämlich bis zum 31. Dezember 1961. Ich habe mich darüber gefreut, daß er selbst erklärt hat, nach diesem Zeitpunkt werde es kaum mehr möglich sein, die beiden entstandenen Wirtschaftsblöcke zu vereinen. Ich will nun nicht auf die einzelnen Mitglieder der Bundesiegierung Reflexe ausstrahlen, wie wir eben von ihm gehört haben. Aber wir haben unsere Große Anfrage an die Bundesregierung gerichtet und wissen nun nicht ganz genau, wieviel davon uns die Bundesregierung beantwortet hat und wieviel davon uns Herr Minister Erhard beantwortet hat.
Ich will darauf nicht herumreiten; denn dazu habe ich mich über die bindenden Erklärungen des Herrn Bundesministers zu sehr gefreut. Aber es wäre natürlich der Ordnung halber richtiger, dann auch klar zu trennen zwischen dem, was die Bundesregierung meint, und dem, was Herr Minister Erhard in eigener Person erklärt. Wir wollen doch nicht verkennen, daß vermutlich — entgegen meiner sonstigen Gewohnheit spreche ich einmal eine Vermutung aus — der Mißerfolg der Bundesregierung in dieser Angelegenheit darauf zurückzuführen ist, daß immer mal wieder mehrere Meinungen bestanden.
Was ich, offen gesagt, nicht begreife, ist die Tatsache, daß alle hier in Frage kommenden Länder, Großbritannien, Frankreich, Italien usw. — ich will sie nicht alle aufzählen —, alle 17 Mitgliedsstaaten der OEEC, beschlossen haben, eine multilaterale Assoziation in Form einer Freihandelszone zu schaffen, um die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft zu ergänzen, und daß dieser Beschluß trotzdem nicht durchgeführt wird. Ich darf noch einmal darauf verweisen, daß der Herr Bundeskanzler und der französische Staatschef, Herr de Gaulle, in Bad Kreuz-
nach nochmals bekräftigt haben, daß sie sich in diesem Ziele einig sind. Ich habe Ihnen soeben die Äußerungen verantwortlicher Minister der EFTA-Länder vorgetragen, die zeigen, daß auch sie kein höheres Ziel kennen. Nun frage ich mich, warum das nicht zustande kommt, woran es liegt, daß nicht verhandelt wird, wer hier eigentlich der Sündenbock ist, an den wir uns halten können, warum diese multilaterale Assoziation zunächst einmal überhaupt nicht besprochen wird.
Ich bin weit davon entfernt, den Präsidenten der EWG-Kommission zu beschuldigen. Ich brauche ihn an sich auch nicht in Schutz zu nehmen, aber er ist ja dazu da, die EWG zu verwirklichen. Er hat kürzlich in Straßburg gesagt, von der großen Freihandelszone spreche ja wohl niemand mehr. Nun, ab heute wird er also wissen, daß er sich in diesem Punkte, wie schon häufiger geirrt hat.

(Heiterkeit bei der FDP und der SPD.)

Wir sind jedenfalls der Meinung, daß es wichtig, daß es notwendig ist — und wir freuen uns, daß der Herr Bundeswirtschaftsminister der gleichen Meinung ist —, nun mit aller Kraft danach zu streben, daß diese multilaterale Assoziation zustande kommt.
Wir haben Ihnen, um das zu bekräftigen, einen Entschließungsantrag vorgelegt, der aber auch noch einen anderen Grund hat, auf den ich besonders aufmerksam machen möchte. In unserem Entschließungsantrag haben wir formuliert:
Der Bundestag ersucht die Bundesregierung, alles zu tun, um die in der OEEC erzielten Fortschritte und gefaßten Beschlüsse in ihrem Bestande zu sichern.
Das hat schon einen sehr wesentlichen Grund; denn die vier Weisen schlagen ja vor, die OEEC zu liquidieren und an deren Stelle diese neue Gruppierung OECD zu errichten. Das würde bedeuten, daß alle in der OEEC gefaßten Beschlüsse untergehen; sie würden mit der Liquidation verschwinden. Es kann sich um die Liberalisierungsbeschlüsse handeln; das wäre eine äußerst gefährliche Sache. Es kann sich aber auch darum handeln, auf diese Weise schmerzlos den Beschluß verschwinden zu lassen, der dahin geht, eine Freihandelszone in Europa einzurichten, die ,auf multilateraler Basis den Gemeinsamen Markt der Sechs und die anderen Mitgliedsländer vereinigt.
Ich habe gehört, daß der Wunsch besteht, diesen Entschließungsentwurf weiterzuberaten. Daher möchte ich den Antrag stellen, den Entwurf dem Außenpolitischen Ausschuß — federführend — und dem Außenhandelsausschuß zur Mitberatung zu überweisen.

(Beifall bei der FDP.)


Dr. Carlo Schmid (SPD):
Rede ID: ID0311105700
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Deist.

Dr. Heinrich Deist (SPD):
Rede ID: ID0311105800
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Lücker hat die Frage aufgeworfen, ob es richtig sei, sich in Selbstanklagen



Dr. Deist
zu ergehen; ob es nicht gut wäre, auch daran zu denken, daß an Verhandlungen über größere multilaterale Assoziationen auch andere Staaten beteiligt sind. Er sprach davon, daß man auf einen Ruf in den Wald auch ein Echo bekommen müsse.
Was er dargestellt hat, ist zweifellos richtig. Die, wie ich meinen möchte, unglückliche Entwicklung bezüglich der Zusammenarbeit auf gesamteuropäischem Boden hat sicherlich nicht nur eine Ursache, sondern sie hat mehrere Ursachen. Ich möchte mich seiner Aufforderung anschließen, ,daß auch die Länder der EFTA mit einem ausreichenden Realismus an die Frage der Zusammenarbeit auf gesamteuropäischem Boden herangehen.
Aber wir haben es hier im Bundestag weder mit der britischen Regierung noch mit den Regierungen der Länder der EFTA zu tun. Es ergibt sich, daß wir uns naturgemäß zunächst einmal mit ,der Haltung der Bundesregierung hier in Deutschland, im Ministerrat und bei internationalen Konferenzen zu befassen haben. Dabei taucht eine entscheidende Frage auf. Deutschland und seine Regierung nehmen bei dieser Situation in Mitteleuropa bei 'diesen Verhandlungen eine zentrale Stellung ein. Deshalb müssen wir von der deutschen Regierung eine besondere Aktivität erwarten. Diese besondere Aktivität muß sich einmal auf die speziellen deutschen Interessen erstrecken, 'die hier auf dem Spiele stehen, aber auch auf die Verantwortung, die wir hier an dieser zentraleuropäischen Stelle für ,die gesamteuropäische Zukunft haben. Mir scheint, daß man sich aus seiner politischen und geographischen Situation nicht einfach herausreden kann; man muß sich mit ihr auseinandersetzen.
Hier scheint mir folgender Gesichtspunkt wichtig zu sein, der die besondere Verantwortung der deutschen Bundesregierung herausstellt. Deutschland liegt ebenso wie 'die skandinavischen Staaten und Österreich an der Grenze zum sowjetischen Block. Diese Staaten haben eine besondere Aufgabe zu erfüllen, und sie haben besondere Schwierigkeiten in den großen wirtschaftlichen Auseinandersetzungen zu bewältigen, die zwischen dem Ostblock und dem Westblock eine Rolle spielen. Wir wissen sehr gut, daß ,die zukünftigen Auseinandersetzungen mit dem Osten sich in starkem Umfange auf wirtschaftlichem und sozialem Gebiet abspielen werden.
Die Frage ist, ob wir in Europa in der Zusammenarbeit der europäischen Staaten die Strategie entwickeln, die uns befähigt, diese Auseinandersetzung so gut wie möglich zu bestehen. Wir wissen doch, daß der sowjetische Außenhandel ein Stück politischer Strategie ist und daß man dieser politischen Strategie entsprechend begegnen muß. Man muß sehr, sehr ernsthaft überlegen, was man konkret tun kann, um hier auf europäischem Boden in einen möglichst großen Markt die Voraussetzungen zur Erreichung einer hohen wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit zu schaffen. Durch Schaffung einer engen Zusammenarbeit der europäischen Staaten muß man darüber hinaus die Grundlage für eine einheitliche Gegenstrategie gegen die außenhandelspolitische Strategie des Ostens entwickeln. Es ist doch nicht von ungefähr, daß die 'deutsche Ausfuhr zu etwa
gleichen Teilen, nämlich mit rund je 29 Prozent der Gesamtausfuhr, in der EWG und in die EFTA geht; und es ist doch nicht von ungefähr, daß etwa 13 Prozent unserer Ausfuhr nach den nordischen Staaten und etwa 5 Prozent nach Österreich gehen. Diese Handelsströme spielen im wirtschaftlichen Verkehr und damit in der wirtschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Osten eine entscheidende Rolle. Es wäre gefährlich — ich will mich nicht stärker ausdrücken -, wenn wir die Bedeutung ,dieser engen Zusammenarbeit gerade zwischen dem deutschen Wirtschaftsraum und dem Wirtschaftsraum im Norden und dem Wirtschaftsraum in Österreich nicht sehen würden.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, das scheint mir eines der entscheidenden Probleme zu sein. Die Frage, die wir zu stellen haben, ist: Wird unsere Haltung, wird die Haltung der Regierung diesen entscheidenden gesamteuropäischen Problemen gerecht? Wir müssen zunächst einmal feststellen, daß wir einige Fakten zu verzeichnen haben, über die wir nicht hinwegsehen können.
Das erste Faktum: Wir hatten, als seinerzeit die europäischen Verträge abgeschlossen wurden, angenommen, daß es sehr bald möglich sein werde, eine allgemeine Assoziation in Form einer europäischen Freihandelszone zu schaffen. Dieser Versuch ist gescheitert.
Wir haben ein zweites Faktum zu sehen: daß die EFTA gegründet worden ist und daß die Schwierigkeiten der Zusammenarbeit eher größer als kleiner werden.
Wir haben drittens das Faktum zu sehen, daß die beiden Räume sich aus ihrer inneren Dynamik zu zwei selbständigen Wirtschaftsräumen entwickeln, mit der Folge, daß sie, wie der Herr Bundeswirtschaftsminister es darlegte, sich auseinanderleben und in die Gefahr geraten, daß sie miteinander rivalisieren, unter Umständen gegeneinander arbeiten.
In einem solchen Augenblick ist es mir zweifelhaft, ob es genügt, allgemeine Bekenntnisse abzulegen, allgemeine Deklamationen, allgemeine europäische Proklamationen zu erlassen. Ich zweifle nicht daran, daß der Herr Bundesminister, da er sich auf solche grundsätzlichen Bekenntnisse beschränkt hat, insoweit eine einheitliche Meinung der Regierung vertritt. Aber das Problem tritt doch in dem Augenblick auf, wo konkrete Schritte zu unternehmen sind. Wir sind über die Zeit der Deklamationen und Proklamationen auf dem Gebiet der europäischen Zusammenarbeit längst hinaus, und es ist notwendig, daß wirklich konkrete Schritte getan, konkrete Maßnahmen ergriffen werden.

(Beifall bei der FDP.)

Der Herr Bundeswirtschaftsminister hat gemeint, er habe vielleicht die Dinge konkretisieren können, und damit wäre die Debatte überflüssig geworden. Ich muß sagen: ich wäre glücklich gewesen, wenn der Herr Bundeswirtschaftsminister so konkret hätte sprechen können, daß wir keine Debatte mehr nötig gehabt hätten. Aber, Herr Bundeswirtschaftsminister, bei aller Loyalität: die ganze bisherige Entwicklung zeigt ja nicht allzu deutlich, daß die



Dr. Deist
Bundesregierung dann, wenn es um konkrete Dinge geht, sie wirklich ernsthaft vorwärts treibt.
In der heutigen Debatte sind mehrere Punkte aus der Vergangenheit genannt worden, auf die der Herr Bundeswirtschaftsminister dann nicht eingegangen ist, z. B. auf die Tatsache, daß im Jahre 1958 eine Aktivität der Hohen Behörde auf dem Gebiet der Kohle — eine konkrete Aufgabe, die gestellt war — auch an dem Widerspruch der deutschen Bundesregierung gescheitert ist. Es handelt sich darum — mein Freund Birkelbach hat darauf hingewiesen —, daß die Bundesregierung im Höhepunkt der Kohlenkrise im Jahre 1959 nicht nur geduldet, sondern dazu beigetragen hat, daß keine aktionsfähige europäische Instanz vorhanden war. Es ist das Beispiel unserer Reaktion auf die Senkung der Zölle für Kaffee und Tee gebracht worden. Es ist nicht gebracht worden — aber wir haben es früher sehr häufig gesagt — die merkwürdige Reaktion der Bundesregierung, als es sich darum handelte, konkret die Regelung der sogenannten Anpassungsmaßnahmen — eine große soziale Tat — in den Vertrag über die Kohle- und Stahlgemeinschaft aufzunehmen. Auch dieser konkreten europäischen Aufgabe hat sich die Bundesregierung versagt.
Schließlich ist uns gerade in diesen Tagen ein weiterer konkreter Fall vorgelegt worden. Ich spreche von dem Versuch, eine Statistik über Löhne und soziale Leistungen aufzustellen. Was lese ich da zu meinem Erstaunen? Der Bundesarbeitsminister sagt, der Bundesrepublik Deutschland sei eine Verordnung, die diese Dinge im einzelnen regle, sehr unangenehm gewesen; es hätte genügt, eine Richtlinie zu erlassen, so daß die Regierungen an das Ziel gebunden seien, aber die Durchführung jeder Regierung nach ihrem Gefallen überlassen worden wäre. Dabei wissen wir aus den Beratungen in Straßburg, wie sehr jede wirtschaftspolitische Übersicht — von Maßnahmen gar nicht zu sprechen — daran scheitert, daß wir kein konkretes Material, keine zuverlässigen, keine vergleichbaren Statistiken haben.
Jedesmal, wenn es darauf ankam, konkrete europäische Politik zu betreiben, haben wir leider feststellen müssen, daß die Energie der Bundesregierung nicht ebenso groß war wie in dem Augenblick, in dem es galt, allgemeine Bekenntnisse zur europäischen Politik abzugeben.

(Beifall bei der SPD.)

Dann, Herr Bundeswirtschaftsminister, muß ich bedenken, wie die Wirkungen gewesen sind. Mein Kollege Birkelbach hat einige Zitate — sicherlich nicht Allerweltszitate — aus englischem und aus schweizerischem Munde gebracht, Zitate darüber, wie die Dinge in anderen Ländern gesehen werden. Ich möchte wiederholen: Wir machen uns keineswegs jede Stellungnahme, die von britischer oder anderer Seite kommt, zu eigen. Aber interessant und wichtig ist das Klima, das sich hier entwickelt. Meine Damen und Herren, wer darauf nicht eingehen will, hat vielleicht doch einiges darüber gehört, wie das Klima bei dem deutsch-englischen Gespräch in Königswinter gewesen ist. Herr Bundeswirtschaftsminister, es tut mir leid, das sagen
zu müssen. Bei jeder Erörterung und Unterhaltung, die man mit offiziellen und offiziösen Stellen in den anderen europäischen Ländern hat, kommt zum Ausdruck, wie alle diese Staaten über die Diskrepanz zwischen den Erklärungen der deutschen Bundesregierung und ihrer faktischen Haltung erschüttert sind.

(Lebhafte Zustimmung bei der SPD.)

Herr Bundeswirtschaftsminister, ich fürchte, Sie werden das selber zugestehen müssen; denn soviel ich weiß, ist auch Ihnen diese Reaktion der anderen Staaten sehr deutlich zu Gemüte geführt worden.
Darum, Herr Bundeswirtschaftsminister, geht es uns! Es geht uns nicht um die allgemeinen Deklarationen — darin können wir uns ständig übersteigern und übertreffen —, sondern darum, ob eine Regierung, die die Möglichkeit dazu hat, konkrete Vorschläge zu machen, diese Möglichkeit nutzt. Wenn Sie davon sprechen, daß es Zeit ist, pragmatisch vorzugehen, dann muß ich Ihnen sagen, daß sich mit pragmatischem Vorgehen große Deklarationen schon gar nicht vertragen, sondern dann heißt es, die konkreten Tatbestände zu untersuchen. Wenn es aber so weit ist, daß wir heute eine globale Freihandelszone in Europa nicht werden erreichen können, kommt es darauf an, konkret die Handelsströme zwischen uns und den anderen europäischen Ländern zu untersuchen und festzustellen, was im Rahmen von GATT und im Rahmen der übrigen internationalen Organisationen möglich ist, um wenigstens faktisch einen europäischen Markt herbeizuführen. Hier haben wir leider, Herr Bundeswirtschaftsminister — wir wären froh, wenn wir durch die Fakten vom Gegenteil überzeugt werden könnten —, bis heute nicht den Eindruck, daß die Bundesregierung bei ihrer Gesamthaltung wirklich geneigt ist, eine solche Aktivität zuzulassen, und daß vielleicht auch die weltanschauliche Haltung des Bundeswirtschaftsministeriums für solche konkreten Maßnahmen nicht ganz prädisponiert ist.
Herr Bundeswirtschaftsminister, Sie sprachen von der Verschiebung bis zum 1. Januar 1961. Darin liegt sicher eine Chance. Ich veranschlage das nicht sehr hoch; denn wir wissen alle sehr genau, daß es der Bundesregierung leicht gewesen ist, diese Verschiebung vorzunehmen, weil die Beschleunigung in Deutschland technisch bis zum 30. Juni einfach nicht durchzubringen ist. Aber — ich glaube, es war der Herr Kollege Margulies, der schon darauf hingewiesen hat — Sie selber haben das Datum des 1. Januar 1962 als Menetekel an die Wand gemalt. Ich finde, so lang ist die Zeit nicht mehr. Wenn etwas geschehen soll, dann müssen sehr schnell konkrete Pläne vorgelegt werden —, und wenn es nur geschieht, um unsere Partner in den anderen Ländern vor eine Entscheidung zu stellen.

(Beifall bei der SPD.)

Herr Bundeswirtschaftsminister, ich möchte ein Wort zu dem Kontaktausschuß sagen. Ich werde den Eindruck nicht los, daß hier ein Spiel mit dem Schwarzen Peter beginnt, daß man versucht, sich den Schwarzen Peter zuzuschieben, indem man untersucht,, wer daran schuld ist, wenn es nicht funk-



Dr. Deist
tioniert. Das ist nicht der Sinn der Sache. Es kommt vielmehr darauf an, eine Methode zu finden, konstruktiv an der Zusammenarbeit, an der Schaffung eines faktischen gemeinsamen Marktes zu arbeiten. Herr Bundeswirtschaftsminister, Sie kennen die Aufgaben des Kontaktausschusses selber nur zu genau. Sie wissen, er soll Warenströme untersuchen, Schwierigkeiten feststellen, Vorschläge zur Behandlung von Schwierigkeiten machen. Das heißt — ich glaube, wir haben das mehrfach gesagt —, es ist eine reine Sanitätsstation, die die Verwundeten aufzusammeln und zu heilen hat, die auf dem Schlachtfeld übriggeblieben sind, Es ist nicht uninteressant -- ich werde es einmal nachzählen —: in Ihrer Rede ist das Wort „heilen" mehrfach vorgekommen.
Meine Damen und Herren, es geht nicht mehr um das Heilen, sondern es handelt sich darum, konstruktive Vorschläge zu machen, um die europäische Zusammenarbeit voranzubringen. Dazu genügt dieser Kontaktausschuß nicht. Es wäre eine schlechte Sache, wenn die EWG den Partnern der EFTA diesen Kontaktausschuß, diese Sanitätsstation — ich sage: es wäre eine schlechte Sache; es gibt Leute, die das möchten— vorschlagen würde und, wenn die Mitglieder der EFTA auf solch eine Samaritertätigkeit nicht eingehen wollen und können, ihnen den Schwarzen Peter zuschöbe und sagte, sie hätten nicht gewollt. Ich möchte dem vorbeugen und darum deutlich sagen: nach unserer Meinung könnte ein Kontaktausschuß eine gute Arbeit leisten. Er müßte aber die Aufgabe haben, konkrete Vorschläge für die Schaffung einer engeren Zusammenarbeit, für die Senkung der Zölle und die Beseitigung der sonstigen Handelsschranken in Europa auszuarbeiten. Dann hätte er eine konstruktive Aufgabe. So wie er heute vorgesehen ist, genügt der Kontaktausschuß in keiner Weise.
Eine letzte Bemerkung. Herr Bundeswirtschaftsminister, es ist immer erfreulich, wenn eine noble Haltung in einer Auseinandersetzung zum Ausdruck kommt. Wir können das alle unterstreichen. Sie haben ein zweites Wort geprägt, das in diesen Ton hineinpaßt: man dürfe die Kleinen nicht majorisieren. Das darf man aber nicht nur sagen, das muß man dort, wo es konkret darauf ankommt, auch tun; denn bei der EFTA handelt es sich mit Ausnahme von Großbritannien um die Kleinen in Europa. Bei ihnen handelt es sich um alte klassische Demokratien, Vertreter des freiheitlichen Europa; bei ihnen handelt es sich um wirtschaftlich hochentwickelte Länder, die im Handel in Europa und in der Welt eine entscheidende Rolle zu spielen haben.
Es ist mir sehr zweifelhaft, ob nicht die Tendenz der Europäischen Kommission dahin geht, zu sagen: Wir in der Position der Stärke werden mal abwarten, bis ihr einzeln zu uns kommt; ihr müßt schließlich doch bilaterale Vereinbarungen mit uns abschließen. Ich bin sehr, sehr nahe daran, zu glauben, daß das die Tendenz ist. Das würde einmal dem guten, noblen Grundsatz, die Kleinen nicht zu majorisieren, widersprechen; es würde aber auch jede Grundlage für eine gute Zusammenarbeit der demokratischen Staaten des Westens zerstören. Im
freien Westen sollte es darauf ankommen, eine in eigener Verantwortung frei gewählte Zusammenarbeit der Staaten zu haben und niemanden aus der Politik der Stärke zur Unterwerfung zu zwingen.
Ich sage das sehr deutlich, nicht weil ich meine, der Herr Bundeswirtschaftsminister wäre dieser Auffassung, sondern weil ich die Überzeugung gewonnen habe, daß solche Tendenzen in Brüssel ebenso wie bei uns in Deutschland vorhanden sind. Bei dieser Situation hat die deutsche Bundesregierung eine entscheidende und zentrale Aufgabe. Niemand ist mit dieser Aufgabe der europäischen Verflechtung so unmittelbar verbunden wie Deutschland mit seiner Wirtschaft. Darum scheint es mir wichtig zu sein, von den allgemeinen Deklarationen zu sehr ernsten, zu sehr konkreten Vorschlägen zu kommen, damit wir durch praktische Schritte in der Lösung der großen gesamteuropäischen Aufgabe vorankommen. Das konkrete Problem, um das sich niemand herumreden kann, ist das Problem, eine engere Zusammenarbeit — unter Senkung oder Aufhebung der Zölle und Beseitigung anderer Handelsschranken — zwischen der EWG und der EFTA herbeizuführen.

(Beifall bei der SPD und bei der FDP.)


Dr. Carlo Schmid (SPD):
Rede ID: ID0311105900
Das Wort hat der Abgeordnete Brand.

Peter Wilhelm Brand (CDU):
Rede ID: ID0311106000
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die heutige Debatte sehen wir als eine wichtige politische Orientierungsdebatte über den Fragenkomplex der EWG und der EFTA an. Sie hat keine neuen, überzeugenden Gesichtspunkte hervorgebracht, die uns veranlassen könnten, der Regierung im Hinblick auf die früheren Entschlüsse dieses Hohen Hauses, zu denen wir stehen, einen neuen Kurs zu empfehlen. Die Regierungserklärung gibt uns Anlaß, auszusprechen, daß wir sowohl für die Vergangenheit als auch für die Zukunft der Politik der Regierung vertrauen und ihr unsere Zustimmung geben können. Wir sind gerade nach den Ausführungen von Herrn Bundeswirtschaftsminister Professor Erhard davon überzeugt, daß die Regierung ihre Anstrengungen fortsetzen wird, eine gedeihliche Zusammenarbeit auch mit den Drittländern, insbesondere mit den Ländern der EFTA, im Sinne einer gesamteuropäischen Konzeption zu ermöglichen.
In Ansehung der zur Zeit laufenden, sehr vielschichtigen und recht subtilen Verhandlungen in den verschiedensten internationalen Gremien halten wir es für inopportun, dem Hohen Hause eine besondere Entschließung vorzulegen oder eine andere Entschließung zu unterstützen. Nach unserer Auffassung dienen im augenblicklichen Stadium der Entwicklung derartige Entschließungen nicht der Sache. Ich bitte deshalb, den Entschließungsantrag der FDP abzulehnen.

(Beifall bei der CDU/CSU.)


Dr. Carlo Schmid (SPD):
Rede ID: ID0311106100
Das Wort zu dem Entschließungsantrag hat der Abgeordnete Mommer.




Dr. Karl Mommer (SPD):
Rede ID: ID0311106200
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Vorschlag der CDU/CSU-Fraktion, diese Entschließung jetzt zur Abstimmung zu bringen, verursacht uns einige Verlegenheit. Wir möchten diese Entschließung, so wie sie ist, nicht ablehnen. Wir können ihr auch nicht zustimmen, so wie sie ist; wir müßten zu einzelnen Sätzen dieser Entschließung Änderungsanträge einbringen. Das ist uns jetzt nicht möglich. Wir müßten, wenn Sie darauf bestehen, daß jetzt abgestimmt wird, um eine Unterbrechung der Sitzung bitten. Bei der Arbeitslage des Hauses wäre das keine gute Sache.
Ich möchte deshalb an Sie appellieren, noch einmal schnell über Ihren eigenen Vorschlag nachzudenken. Wenn Ausschußüberweisung vorgeschlagen wird, ist es in diesem Hause üblich, jedem ernsten politischen Vorschlag die Ehre der Ausschußüberweisung anzutun. Ich appelliere an Sie, das auch hier zu tun und den Antrag dem Auswärtigen Ausschuß — federführend — und dem Außenhandelsausschuß — mitberatend — zu überweisen. Im anderen Falle, wenn Sie sich nicht dazu entschließen könnten, bitte ich um Unterbrechung der Sitzung für eine Stunde.

(Beifall bei der SPD.)


Dr. Carlo Schmid (SPD):
Rede ID: ID0311106300
Wird weiter das Wort gewünscht? — Herr Abgeordneter Rösing.

Josef Rösing (CDU):
Rede ID: ID0311106400
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Durch die Ausführungen von Herrn Kollegen Dr. Mommer ist eine neue Situation entstanden. Ich glaube, die Arbeitslage des Hauses läßt es nicht zu, daß wir jetzt die Sitzung noch einmal unterbrechen. Im Hinblick auf diesen Tatbestand wären wir bereit, einer Ausschußüberweisung zuzustimmen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD.)


Dr. Carlo Schmid (SPD):
Rede ID: ID0311106500
Wir kommen zur Abstimmung. Der Antrag auf Überweisung ist bekannt. Der Entschließungsentwurf soll dem Auswärtigen Ausschuß und — mitberatend — dem Ausschuß für Außenhandel überwiesen werden. Wer zustimmen will, möge die Hand erheben. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Eine Enthaltung, drei Gegenstimmen.
Damit ist dieser Punkt der Tagesordnung erledigt. Ich rufe Punkt 4 auf:
a) Erste Beratung des von der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Kaffeesteuergesetzes (Drucksache 1441)

b) Erste Beratung des von der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Teesteuergesetzes (Drucksache 1442).
Das Wort zur Begründung hat Frau Abgeordnete Beyer.

Lucie Beyer (SPD):
Rede ID: ID0311106600
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es wäre sicher zweckmäßig, erst einmal allen eine gute Tasse Kaffee zu empfehlen, damit sie für diesen Antrag überhaupt aufgeschlossen sind.

(Heiterkeit und Beifall.)

Ich könnte mir sogar vorstellen, daß dann nach den langen Bekenntnissen zur EWG dem Antrag zugestimmt würde.

(Abg. Memmel: Eine gute captatio benevolentiae!)

Die Anträge Drucksachen 1441 und 1442 enthalten bereits eine kurze Begründung. Wir haben uns darauf beschränkt, den Steuersatz zu beantragen, der galt, bevor die erste Zollsenkung nach dem EWG-Vertrag erfolgte. Ich will hier nur noch auf einige wesentliche Punkte hinweisen.
Es erscheint mir wichtig, ins Gedächtnis zurückzurufen, daß wir im Jahre 1958 deshalb zu einer Erhöhung gekommen sind, weil die Bundesregierung, vor allen Dingen das Bundesfinanzministerium, der Auffassung war, daß auf den Ausfall von etwa 110 his 120 Millionen DM Steuern nicht verzichtet werden könne. Des weiteren war das Bundesfinanzministerium der Meinung — und ich glaube, diese Meinung hat auch eine Anzahl von Mitgliedern der CDU/CSU-Fraktion unterstützt —, daß mit einer Erhöhung des Verbrauchs von Kaffee und Tee künftig nicht gerechnet werden könne, so daß der Ausfall nicht ausgeglichen werde.
Wenn wir uns aber den Entwurf des Etats für 1959 ansehen, können wir feststellen, daß das Bundesfinanzministerium von dieser Auffassung abgewichen ist und für das Jahr 1959 etwa 150 Millionen DM mehr ansetzte als im Jahre 1958. Die 150 Millionen DM setzen sich zusammen aus etwa 100 Millionen DM für Zollausfall und 50 Millionen DM für voraussichtliche Verbrauchserhöhung; das entspricht etwa einer 10%igen Steigerung. Diese Zahlen zeigen einen klaren Widerspruch zu der Argumentation anläßlich der Debatte im Bundestag im Dezember 1958. Ich finde, ein solches Verhalten ist unmöglich. Die tatsächliche Konsumausweitung im Jahre 1959 betrug nach den Angaben des Kaffeeimportkontors 13 bis 14 %, und die Mehreinnahmen des Jahres 1959 belaufen sich auf etwa 125 Millionen DM, kommen also dem von der Bundesregierung angesetzten Soll sehr nahe.
Erlauben Sie mir noch einige weitere Hinweise. Der Kaffeepreis schwankt in den Ländern zwischen 150 und 600 DM pro 50 kg. Die staatlichen Kosten auf 50 kg betragen gleichmäßig 248 DM, nämlich 50 DM Zoll, 180 DM Verbrauchsteuer und 18 DM Umsatzausgleichsteuer. Geht man nun davon aus, daß ein Zentner Kaffee 150 DM kostet, und setzt dazu die 248 DM staatliche Belastung, kommt man auf eine Besteuerung von etwa 165 %. Beträgt der Kaffeepreis 300 DM, sind es nur 80 %. Bei 600 DM sind es nur noch 45 %. Ich weise darauf besonders hin, da ich glaube, daß wir ein Interesse daran haben, nicht den billigeren Kaffee so hoch zu belasten.
Die Importeure stellen sich auf den Standpunkt, es sei praktisch ohne Interesse, einen billigeren



Frau Beyer (Frankfurt)

Kaffee einzuführen, da infolge der Kompensation durch staatliche Abgaben der niedrigere Kaffeepreis praktisch wiederum verschwindet, vor allen Dingen, wenn man daran denkt, daß der Kaffee viertelpfundweise verkauft wird. Ich bitte auch das zu berücksichtigen.
Nun kommt natürlich der Einwand, daß billige Kaffeesorten nicht so gut seien und nicht gewünscht würden. Ich darf demgegenüber darauf hinweisen, daß es noch einen großen Prozentsatz von Kaffeetrinkern gibt, die sehr wohl Bohnenkaffee trinken würden, aber heute auf Malzkaffee zurückgreifen, weil sie den hohen Preis für Bohnenkaffee nicht zahlen können.

(Beifall bei der SPD.)

Gleichzeitig darf ich darauf hinweisen, daß wir bei unseren Reisen in den Entwicklungsländern — ich bitte meine Kollegen, die in den vergangenen Jahren an der Westküste Afrikas waren, besonders zuzuhören — darauf aufmerksam gemacht wurden, wie stark sie daran interessiert sind, zu kultivieren und auch ihren Kaffee zu verbessern, um zu einem höheren Absatz zu kommen.
Ich bitte, weiter zu berücksichtigen, daß der Kaffee aus diesen Ländern sehr gut zur Herstellung von Pulverkaffee verwandt werden kann und auch verwandt wird. Hier ist noch eine große Verbrauchsausweitung möglich. Das ergäbe eine Gelegenheit, diesen Ländern zu helfen.
Man muß sich in diesem Zusammenhang die Frage stellen, ob es nicht gut wäre, überhaupt zu einer Wertsteuer zu kommen. Ich führe das nur an, weil ich annehme, daß wir auch im Ausschuß noch einmal auf diese Frage zu sprechen kommen werden. Ich bitte vor allen Dingen die Kollegen der CDU/CSU-Fraktion, das noch einmal zu überdenken.
Ich darf weiter darauf hinweisen, daß die Maßnahme der Bundesregierung und damit des Bundestages im Januar 1958 im gesamteuropäischen Wirtschaftsraum sehr umstritten gewesen ist. Deutschland wird von allen anderen Staaten heute noch als schlechtes Beispiel angeführt. Ich verweise hier auf das Straßburger Parlament, auf die Interparlamentarische Konferenz in München und auf viele Zeitungsmeldungen.
Ferner bitte ich zu berücksichtigen, daß diese Steuer auch eine unsoziale Wirkung hat. Das habe ich bereits bei der damaligen Debatte erklärt. Gleichgültig, ob man reich oder arm, ob man gesund oder krank ist, ob man also aus gesundheitlichen Rücksichten Kaffee trinken muß oder ob man ihn nur gern trinkt, man muß immer den gleichen Preis zahlen.
Eine letzte Bemerkung zu diesem Punkt. Wenn wir uns den Umsatz in den einzelnen Ländern mit Ausnahme Englands ansehen, müssen wir erkennen, daß wir in Deutschland im Verbrauch immer noch an der untersten Stelle stehen. Dänemark, das an der Spitze steht, hat einen Verbrauch von 8,473 kg pro Kopf und Jahr, Deutschland einen solchen von 2,895 kg.
Nun sagt im gleichen Zeitpunkt der Bundesfinanzminister, eine Senkung lohne sich nicht. Ich frage
mich, ob eine solche Äußerung von uns akzeptiert werden kann, wenn wir gleichzeitig wissen, daß mit einer solchen Senkung — das bestätigen alle Kaffee-Importeure — auch eine unmittelbare Wirkung für den Verbraucher eintritt. Das Kilo Kaffee würde um 80 Pf billiger werden.
Nun darf man in diesem Zusammenhang nicht vergessen, daß der EWG-Vertrag auch Belastungen für den Verbraucher bringt. Wir haben gerade in den letzten Wochen — und das ist auch heute angeklungen — in den Zeitungen eine Fülle von Ausführungen darüber gelesen, daß im Rahmen der Angleichung an die EWG-Tarife mit Erhöhungen gerechnet werden muß. Wir haben heute alle starke Bekenntnisse zum EWG-Vertrag abgelegt. Ich finde, wenn wir solche Bekenntnisse ablegen, sollten wir auch ehrlich bleiben und dem Verbraucher nicht nur Belastungen aus dem EWG-Vertrag auferlegen, sondern ihm, wenn es Vergünstigungen gibt, diese zugute kommen lassen, anstatt sie sofort durch den Staat kassieren zu lassen.

(Beifall bei der SPD.)

Wir sollten konsequent sein.
Was zur Beurteilung unserer Anträge notwendig ist, darf ich noch einmal zusammenfassen. Wir sind im Jahre 1958 auf Grund falscher Darstellungen seitens des Bundesfinanzministeriums zu diesem Beschluß gekommen. Vom Bundesfinanzministerium wurde seinerzeit bestritten, daß noch eine Verbrauchsausweitung möglich sei. Heute ist nachgewiesen, daß sie möglich war.

(Abg. Dr. Schmidt [Wuppertal]: Das ist nicht bestritten worden!)

— Das können Sie in dem Protokoll nachlesen.

(Abg. Dr. Schmidt [Wuppertal] : Ich werde dazu gleich noch sprechen!)

Zweitens haben in den letzten Jahren eine Fülle von Reisen in die Entwicklungsländer stattgefunden. Dabei haben uns deren Minister und Ministerpräsidenten immer wieder gesagt, daß es unsere erste Aufgabe sein müsse, ihrer eigenen Produktion größere Absatzmöglichkeiten zu schaffen. Auch die letzte Reise, die vom Bundestag unter Führung des Bundestagspräsidenten nach Brasilien unternommen wurde, hat das gleiche Ergebnis gebracht.
Infolgedessen sollten wir bei unserer Entscheidung ,erkennen, daß wir, wenn wir anders verfahren, unseren Ruf im Ausland nicht verbessern. Wir wollen den Entwicklungsländern helfen. Hier haben wir die Möglichkeit dazu.
Unter Berücksichtigung aller dieser Erfahrungen und unter Berücksichtigung der von mir angeführten Punkte bitte ich Sie, dem Antrag Ihre Zustimmung zu geben. Selbstverständlich muß er jetzt an den Ausschuß überwiesen werden. Ich darf aber schon heute sagen, daß wir uns im Hinblick auf die Gesamtsituation vorbehalten, über diesen Antrag hinauszugehen; denn wir können nicht immer Bekenntnisse ablegen, dann iaber zurückweichen, wenn es darum geht, auch einmal ein Opfer zu bringen.

(Beifall bei ,der SPD.)





Dr. Carlo Schmid (SPD):
Rede ID: ID0311106700
Wird auch der Antrag Drucksache 1442 begründet? —

(Abg. Frau Beyer [Frankfurt] : Ich habe beide Anträge begründet!)

— Sie haben nur den Kaffee gerühmt, nicht den Tee.

(Abg. Frau Beyer [Frankfurt] : Ich habe zu den Anträgen Drucksache 1441 und Drucksache 1442 gesprochen!)

— Sie haben beide Anträge begründet.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Schmidt (Wuppertal).

Dr. Otto Schmidt (CDU):
Rede ID: ID0311106800
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich weiß nicht, ob Ihnen bei der Durchsicht der Begründung der beiden Vorlagen aufgefallen ist, daß ein ganz neuer Stil in die Sprache unserer Begründungen gekommen ist. Unter Punkt 4 heißt es: „Allgemein: Mehr Lebensfreude für die Kaffeetrinker!" Und unter Punkt 4 der Begründung der Teevorlage heißt es: „Man soll auch den Teetrinkern etwas mehr Lebensgenuß gönnen."

(Heiterkeit. — Sehr richtig! bei der SPD.)

Als wir im Dezember 1958 hier versammelt waren, um zu einer ähnlichen Vorlage Stellung zu nehmen, hat uns Frau Beyer empfohlen, doch zu Weihnachten etwas gebefreudiger zu sein. Sie entsinnen sich, daß wir auch da eine kleine Kontrahage hatten. Ich muß sagen, gnädige Frau, wir wären gerne bereit, den Weihnachtsmann zu spielen oder in diesem Falle, da wir nicht Weihnachten haben, Freudenbringer und Sorgenbrecher zu sein.
Aber das ist leider nicht die Aufgabe des Parlamentariers, insbesondere nicht desjenigen, der auch noch die Verantwortung für die Finanzen mitträgt; denn Steuern bestehen zu lassen oder gar aufzuhalsen, das ist nun einmal keine Sache des Weihnachtsmannes und keine des Freudenbringers und des Sorgenbrechers.
Infolgedessen müssen wir doch als erstes folgende Frage stellen. Sie erlauben sich, eine Verminderung der Einnahmen vorzuschlagen, ohne zu sagen, woher die Deckung der 129 Millionen DM kommen soll, die ihr Antrag kostet.

(Zurufe von der SPD: Mehrverbrauch! — Gegenrufe von der CDU/CSU.)

— Darüber werden wir uns gleich noch unterhalten. — Hinzu kommen die anderen Anträge, die die Ausgabenseite ausweiten sollen. Darin ist Ihre Fraktion auch nicht gerade sehr zurückhaltend. Ich will nicht sagen, daß nicht auch die CDU bezüglich der Ausgabenseite noch zurückhaltender sein müßte.

(Zustimmung bei der FDP.)

Insofern ist das Haus in gleicher Verdammnis.
Aber da Sie nicht zurückhaltend sind, können diejenigen, die sich für den Haushalt in besonderer Weise verantwortlich fühlen, angesichts der wirklich angespannten Haushaltslage nicht darüber hinwegsehen, daß der Antrag rund 120 Millionen DM erfordert.
Frau Beyer, Sie haben den Bundesfinanzminister beschuldigt, er habe uns falsche Auskünfte gegeben, er habe insbesondere behauptet, eine Ausweitung des Verbrauchs werde nicht stattfinden. So ist das vom Finanzminister nie behauptet worden. Es ist behauptet worden, daß sich eine wesentliche Ausweitung des Verbrauchs dadurch, daß man die auf dem Kaffee und Tee lastende Steuer senke, nicht ergeben werde.

(Abg. Schlick: Sehr richtig!)

Wenn Sie die Entwicklung seit 1953 ansehen, stellen Sie fest, daß sich der Kaffeeverbrauch erheblich erhöht hat. Aber 1953 hatten wir einen Haushalt, der etwa 28 Milliarden DM umfaßte, und nun haben wir einen Haushalt, der 42 Milliarden DM umfaßt. Durch die Erhöhung des Bruttosozialproduktes ist der Haushalt gestiegen, aber auch die Ausgabenseite. Es ist also nicht möglich zu sagen: wir brauchten nur die Verbrauchsteuer zu senken oder gar wegfallen zu lassen, dann würde sich der Kaffeeverbrauch entsprechend erhöhen. Das wird nicht geschehen. Wir haben 1953 eine erhebliche Kaffeesteuersenkung durchgeführt. Es hat über fünf Jahre gedauert, bis — selbst unter Berücksichtigung des steigenden Verbrauchs infolge der Einkommensvermehrung — der Ausfall infolge dieser Kaffeesteuersenkung wieder hereingebracht war.
Wenn Sie hervorheben, Frau Beyer, Deutschland stehe an einer zu niedrigen Stelle im Pro-Kopf-Verbrauch, so darf ich demgegenüber auf unser Nachbarland die Niederlande verweisen. Die Niederlande haben einen Pro-Kopf-Verbrauch, der nicht wesentlich höher ist als in Deutschland, nämlich von 3,7 kg.

(Abg. Frau Beyer: 1 kg Unterschied! — Zuruf rechts: Immerhin fast das Doppelte!)

— Keine Spur! Die Niederländer haben einen Verbrauch von 3,7 kg,

(Abg. Frau Beyer: 3,8!)

— 3,7 kg pro Kopf der Bevölkerung, gegenüber 3 kg in der Bundesrepublik. Aber, Frau Beyer, die Niederlande haben überhaupt keine Kaffeesteuer. Nach Ihrer Theorie müßte also der Kaffeeverbrauch in den Niederlanden vielleicht dem amerikanischen Bedarf von 6 kg — oder was weiß ich — entsprechen. — Nein, die Argumentation ist falsch.
Großbritannien hat einen Pro-Kopf-Verbrauch von 0,85 kg.

(Zuruf von der SPD: Die trinken doch Tee!)

— Das ist gerade das, was ich sagen will. Eine ganz entscheidende Rolle spielen doch die Verbrauchsgewohnheiten. Angesichts der Verbrauchsgewohnheiten ist doch nicht eine entsprechende Steigerung des Kaffeeverbrauchs dann gewährleistet, wenn die Kaffeesteuer gesenkt wird.
Das Bundesfinanzministerium hat das IFO-Institut in München damit beauftragt, einmal genau unter allen Gesichtspunkten feststellen zu lassen, in welchem Umfange sich der Verbrauch durch eine Senkung der Kaffee- bzw. Teesteuer ausweiten würde. Das Institut kam zu dem Ergebnis — wohlgemerkt: nicht etwa unter dem Gesichtspunkt der Erhöhung

Dr. Schmidt (Wuppertal)

der Einkommen und der Ausweitung des Lebensstandards im allgemeinen, sondern unter dem Gesichtspunkt der Verbrauchsteuer —, daß bei einer Senkung um die Hälfte — nicht etwa bei einer Senkung des bescheidenen Ausmaßes, wie Sie sie hier vorschlagen — eine Ausweitung des Verbrauchs von nur etwa 4 % eintreten würde.

(Abg. Frau Beyer gar nicht sein!)

— Wir werden uns im Ausschuß mit diesen Unterlagen beschäftigen müssen und dort die angeführten Argumente nachprüfen, aber sie sind Grund genug, hier sehr vorsichtig zu sein und unter gar keinen Umständen nun unter einem mehr propagandistischen Gesichtspunkt zu einer Kaffeesteuersenkung zu kommen.
Die vorgeschlagene Senkung macht für eine Tasse Kaffee — Verbrauch 5 g die Tasse schont Herz und Kasse — einen halben Pfennig und bei der Tasse Tee etwa 1/4 Pfennig aus. Bei dem Gaststättengewerbe wird sich das selbstverständlich nicht in irgendeiner Weise für den Verbraucher auswirken.

(Zuruf von der SPD: Aber in der Qualität!)

— Möglicherweise in der Qualität.

(Erneuter Zuruf von der SPD: Das ist sehr wichtig!)

— Ich glaube das nicht.
Sie haben dann, Frau Beyer, auf die soziale Seite hingewiesen. Wenn wir die Möglichkeit hätten, im Rahmen des Haushalts Verbrauchsteuern zu senken, würden wir zunächst einmal an die Umsatzsteuer für lebensnotwendige Bedarfsgegenstände denken müssen.

(Beifall in der Mitte.)

Diese Steuersenkung würde jedenfalls bei mir vor der Senkung der Steuer für Kaffee und Tee rangieren. Dann würde man wirklich sozial denken. Wer sich aber nun einmal 9 DM pro Pfund Kaffee leisten kann, der kann auch die 40 Pf schlucken.
Wir können meines Erachtens nicht jedes Jahr dieselbe Debatte führen. Wir haben sie damals im Zusammenhang mit der vorweggenommenen Zollsenkung bis zum 1. Juli 1962 sehr eingehend und sehr gründlich geführt. Damals haben wir uns auch mit den EWG-Argumenten auseinandergesetzt. Ich darf noch einmal auf Art. 17 Abs. 3 des EWG-Vertrages verweisen. Herr Präsident Hallstein hat in der Juni-Sitzung des Parlaments in Straßburg ausdrücklich anerkannt, daß das Verhalten Deutschlands in der Frage der Umwandlung eines Finanzzolls in eine inländische Verbrauchsteuer sowohl mit dem Buchstaben als auch mit dem Geist des Vertrages zu vereinbaren war.

(Abg. Metzger: Alles, was man darf, ist deswegen noch nicht unbedingt richtig!)

— Von unserem Standpunkt aus ist es jedenfalls deshalb richtig, weil wir für die Einnahmenseite verantwortlich sind.
Das Argument der Entwicklungsländer, Frau Beyer, zieht eben leider gar nicht.

(Abg. Metzger: Da sind Sie aber sehr im Irrtum!)

— Ich werde versuchen, das Problem darzustellen, wenn Sie mir nur einen Augenblick zuhören wollen. Das IFO-Institut hat errechnet, daß 'die durch die Senkung der Verbrauchsteuer hervorgerufene Verbrauchsvermehrung tatsächlich für alle Kaffee und Tee einführenden Länder nur 30 Millionen DM ausmacht. Wenn das aber einem Ausfall von in Ihrem Falle etwa 129 Millionen, aber nach der Berechnung des IFO-Instituts einem Ausfall von etwa 450 Millionen bei der Senkung der Verbrauchsteuer gegenübersteht, dann frage ich- mich, ob es nicht klüger ist, dieses Aufkommen von 450 Millionen bei der Kaffeesteuer zur Verfügung zu haben, um es den Entwicklungsländern zuzuwenden, statt daß die Entwicklungsländer eine um 30 Millionen höhere Ausfuhr haben. Eine Erhöhung der Ausfuhr um 30 Millionen macht für die Bilanz der südamerikanischen und afrikanischen Kaffee und Tee ausführenden Länder praktisch gar nichts aus.
Wie gesagt: wir dürfen nicht dazu beitragen, daß die Konkurrenz zwischen den südamerikanischen und den afrikanischen Entwicklungsländern zu Lasten der einen oder anderen Gruppe ausgetragen wird. Das gegenwärtige System hat jedenfalls den einen Vorteil, daß alle einführenden Länder zu den gleichen Bedingungen arbeiten müssen und daß eben ein Wettbewerb im Preis und in der Qualität nach Deutschland hin darüber entscheidet, ob nun die südamerikanischen Länder im Geschäft bleiben oder ob ihnen die afrikanischen Länder einen Teil des Marktes abnehmen werden.
Wir beantragen die Überweisung der Anträge an die zuständigen Ausschüsse, also an den Finanzausschuß und an den Haushaltsausschuß.

(Beifall bei der CDU/CSU.)


Dr. Carlo Schmid (SPD):
Rede ID: ID0311106900
Meine Damen und Herren, ich habe nach den vorliegenden Wortmeldungen den Eindruck: die Kaffeeschlacht soll weitergehen. Das Wort hat der Abgeordnete Scheel.

(Abg. Frau Dr. h. c. Weber [Essen] : Ach!)


Walter Scheel (FDP):
Rede ID: ID0311107000
Gnädige Frau, ich kann Sie insofern beruhigen, als ich über Kaffee und Tee gleichzeitig sprechen will, für den Fall, daß Sie Teetrinkerin sind. Ich möchte niemanden diskriminieren und spreche über beide Dinge gleichzeitig. Ich möchte auch nicht etwa die Anbaugebiete diskriminieren.
Die Kaffeefrage hat drei Seiten. Die erste ist eine steuerliche Seite; diese hat Herr Dr. Schmidt gerade berührt. Die zweite Seite betrifft die Politik den Entwicklungsländern gegenüber. Diese Seite hat Herr Dr. Schmidt auch berührt, allerdings in einem nicht ganz richtigen Sinne. Ich komme darauf noch zu sprechen. Die dritte Seite ist eine rein menschliche Seite. Wir alle sind entweder Kaffeetrinker oder Teetrinker. Es mag auch einige unter uns ge-



Scheel
ben, die sonstige Getränke bevorzugen, aber das steht ja jetzt nicht zur Debatte.
Ich spreche zunächst zur steuerlichen Seite. Die Berechnungen des IFO-Instituts, dessen Qualität ich sonst in vielen Dingen schätze, haben einen einzigen Nachteil: sie sind falsch. Denn es hat sich das, was für die Vergangenheit berechnet worden ist, leider nicht ergeben. Es hat sich effektiv herausgestellt, daß der erwartete Ausfall nicht eingetreten wäre, sondern daß vermutlich gerade dieser Ausfall wieder aufgeholt worden wäre. Wir hätten also, wenn wir die Steuer nicht erhöht hätten, keinen Steuerausfall gehabt. Da kann ein Institut berechnen, was es will. Die harten Tatsachen sprechen nun einmal dagegen.

(Abg. Dr. Schmidt [Wuppertal] : Die Ausweitung des Sozialprodukts!)

— Das ist eine zweite Frage. Ich bezweifle, Herr Dr. Schmidt, ob jemand in der Lage ist, zu entscheiden, wodurch die Ausweitung des Verbrauchs erfolgt ist, ob durch die Ausweitung des Sozialprodukts oder durch die Zollsenkung. Das kann man nicht genau feststellen. Es ist vielmehr eine Vermutung, daß es auf die Ausweitung des Sozialprodukts zurückzuführen ist.
Gestatten Sie mir, die Hypothese aufzustellen, daß die Senkung der Steuer die gleiche Wirkung hat. Wir sollten die Dinge einmal nüchtern betrachten. Was nämlich die Ausweitungsmöglichkeit angeht, so liegen wir in der Skala des Pro-Kopf-Verbrauchs bei Würdigung unserer Gewohnheiten und der Gewohnheiten vergleichbarer Staaten außerordentlich niedrig. Sie können also niemandem erzählen, daß ein Land, in dem man gewohnt ist, Kaffee zu trinken, mit einem Pro-Kopf-Verbrauch von 2,8 kg gegenüber Belgien und Luxemburg mit 5,83 kg, Frankreich mit 4,35 kg, Dänemark, Schweden und Norwegen um 8 kg herum, der Schweiz mit 4,43 kg und den Vereinigten Staaten mit 6,94 kg — ich will jetzt einmal die Länder nehmen, die in den Gewohnheiten und im Lebensstandard vergleichbar sind — seinen Verbrauch nicht steigern kann. Dem niedrigen Verbrauch in Osterreich liegen bestimmte handelspolitische Motive zugrunde. Der Verbrauch in den vergleichbaren Ländern liegt weit über dem unsrigen. Ich bin fest davon überzeugt, daß sich allein durch steuerliche oder zollpolitische Maßnahmen — wie Sie wollen — unser Kaffeeverbrauch außerordentlich steigern ließe. Er ist noch lange nicht am Ende. Es mag sein, daß viele von uns sagen: „Ich kann nicht mehr Kaffee trinken, mir bubbert das Herz jetzt schon immer." Aber darum geht es nicht. Es geht um diejenigen, die noch nicht in der Lage sind, sich Kaffee zu kaufen.
Jetzt lassen Sie mich zur allgemein-steuerlichen Seite etwas sagen. Ich bin zufällig derjenige in diesem Hause gewesen, der im Jahre 1955 zum erstenmal, während der Konjunkturdebatte in Berlin die Abschaffung der Kaffee- und Teesteuer beantragt hat. Ich habe das jetzt noch einmal nachgelesen. Es ist also eine alte Tradition der FDP, hier gegen diese Steuer anzutreten. Das ist der Grund dafür, daß wir die Vorschläge der SPD in vollem Umfang unterstützen. Wir sind auch aus allgemein
steuerpolitischen Grundsätzen gegen diese Steuer. Wir glauben, daß wir diese Art von Verbrauchsteuern mehr und mehr abschaffen oder verringern müssen. Die Kaffee- und Teesteuer sind in der Tat ungerechte Steuern, die man, sobald es eben geht, abschaffen sollte.
Der nächste Punkt ist die Frage der Entwicklungsförderungspolitik. Dieses Problem möchte ich allerdings etwas ernster betrachten, als es vielleicht bisher geschehen ist. Dieses Problem hat zwei Seiten. Es ist einmal, was die Entwicklungsförderung angeht, ein allgemeines Problem, und es ist zum anderen ein spezifisches EWG-Problem. Ich will über das spezifische EWG-Problem .nicht eingehender sprechen, weil das hier schon einmal geschehen ist. Aber was die allgemeine Entwicklungsförderung angeht, ist es, glaube ich, doch sinnvoll, alles zu tun, was es den sogenannten Entwicklungsländern erlaubt, auf der Basis ihrer eigenen Produktionskraft die Mittel für ihr Leben zu verdienen. Es nützt diesen Ländern gar nichts, ihnen zu sagen: Ihr braucht gar nichts mehr zu tun; wir schenken euch das, was ihr zum primitivsten Leben braucht. — Glauben Sie, daß das psychologisch eine vernünftige Entwicklungspolitik ist?
Ich bin der festen Überzeugung, daß sich unser Kaffee- und Teeverbrauch sehr wohl noch steigern läßt. Es ist tausendmal besser, den Entwicklungsländern durch eine Erhöhung ,des Warenaustausches in diesen Produkten zu helfen, die ja beide in Entwicklungsländern und nur in Entwicklungsländern hergestellt werden, als ihnen zweifelhafte, möglicherweise auch ihren öffentlichen Haushalt noch belastende Geschenke zu machen. Ich kann es einfach nicht verstehen — verzeihen Sie mir das, meine Damen und Herren —, ,daß sich innerhalb einer Bundesregierung e i n Minister hinstellt und sagt: Wir brauchen ein paar Milliarden für Entwicklungsförderung, während ein anderer Minister sagt: Ja, aber wo wir ,den Entwicklungsländern wirklich helfen können, nämlich durch eine Senkung ,der Kaffee- und Teesteuer, ,da wollen wir es nicht tun. — Und das, meine Damen und Herren, wegen doch verhältnismäßig minimaler Beträge in unserem Haushalt! Aber es ist so.
Genauso wird es in diesen Ländern gewertet. Sprechen Sie einmal mit den amerikanischen Kaffeeproduzenten! Sprechen Sie mit Indien als einem Tee produzierenden Land! Sprechen Sie mit den afrikanischen Tee- und Kaffeproduzenten. Sie werden immer und bei allen die Antwort bekommen, ,daß man sehnsüchtig darauf wartet, von uns nicht etwa eine materiell groß ins Gewicht fallende Tat, aber zumindest in dieser Beziehung eine Geste zu sehen.
Was ,die Beziehungen zwischen dieser Maßnahme und dem EWG-Vertrag angeht, so lassen Sie mich schlicht sagen, daß diejenigen assoziierten Länder, ,die Tee und Kaffee produzieren, .die durch die Verträge berechtigte Hoffnung gehabt haben, daß wir, ein großer Kaffee- und Teemarkt, ihnen nunmehr nach einer Senkung des Zolls einen größeren Anteil .abnehmen würden. In dieser Hoffnung sind sie getäuscht worden, und sie empfinden diese Täuschung wirklich als eine solche.



Scheel
Nun lassen Sie mich noch zu einer letzten Frage kommen. Herr Dr. Schmidt, Sie haben so etwa gesagt, ach, diese Kaffeegeschichte sei schon wegen des neuartigen menschlichen Tones in dem Antrag, der gestellt worden ist, na, ein bißchen anrüchig, das sei mehr oder weniger eine propagandistische Angelegenheit.

(Abg. Frau Dr. h. c. Weber [Essen] : Ist sie doch!)

— Gnädige Frau, Idas mag sein. Aber mir ist es viel lieber, wir machen diese Propaganda jetzt gemeinsam, als daß Sie, gnädige Frau, es wie 1953 auch 1961 vor der Bundestagswahl allein machen, worauf ich allerdings warte.

(Heiterkeit und Beifall bei der FDP und der SPD.)


Dr. Carlo Schmid (SPD):
Rede ID: ID0311107100
Das Wort hat der Abgeordnete Metzger.

Ludwig Metzger (SPD):
Rede ID: ID0311107200
Ich will dem, was Herr Kollege Scheel über die Entwicklungsländer gesagt hat, nur ganz wenig anfügen. Wir und auch Herr Kollege Dr. Kopf haben ja der Sonderdelegation des Europäischen Parlaments angehört, die Zentralafrika besucht hat. Aus dieser persönlichen Erfahrung, die ich dort gesammelt habe, möchte ich etwas berichten.
Wenn wir den Regierungen oder den Vertretern dieser Völker da drüben klarmachen wollten, daß die Assoziierung ihnen Vorteile bringen werde, wurde uns von Kamerun bis zum Kongo und vom Kongo bis zum Tschad immer wieder vorgehalten: „Jawohl, das ist sehr schön und gut. Aber sehen Sie das Beispiel der Bundesrepublik: Was sie mit der einen Hand gibt, nimmt sie mit der anderen Hand wieder zurück." Herr Kollege Schmidt, ob der Betrag groß oder klein ist, ist in diesem Falle völlig einerlei. Das Entscheidende ist die psychologische Wirkung. Wenn man Politik machen will, muß man das mit Fingerspitzengefühl tun und auch die psychologische Wirkung berücksichtigen; das ist hier nicht getan worden.

(Abg. Dr. Schmidt [Wuppertal] meldet sich zu einer Zwischenfrage.)


Dr. Carlo Schmid (SPD):
Rede ID: ID0311107300
Gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Ludwig Metzger (SPD):
Rede ID: ID0311107400
Ja.

Dr. Otto Schmidt (CDU):
Rede ID: ID0311107500
Herr Kollege Metzger, glauben Sie wirklich, daß es in diesem Augenblick und in dieser heiklen Situation — wir beziehen doch bisher unseren Kaffee mit Vorrang aus mittel- und südamerikanischen Ländern, also auch aus Entwicklungsländern — gut und diesen Ländern gegenüber sehr geschickt wäre, wenn wir nun gewissermaßen den Marktanteil der südamerikanischen Länder zugunsten der afrikanischen Länder verkleinern wollten?

Ludwig Metzger (SPD):
Rede ID: ID0311107600
Herr Kollege, die Frage hätten Sie früher stellen müssen. Diese Frage hätten Sie stellen müssen, als wir den EWG-Vertrag abgeschlossen haben. Mit dem EWG-Vertrag haben wir nun einmal Hoffnungen erweckt. Wir sollten vertragstreu sein, auch wenn es nach dem Buchstaben des Vertrages nicht unbedingt notwendig ist. Es gibt keinen Zweifel darüber, daß die schwarze Bevölkerung drüben — das ist unsere Erfahrung; Herr Kollege Scheel und Herr Kollege Dr. Kopf werden das bestätigen können — die Sache so empfindet: Wir bekommen hier etwas versprochen, und in Wirklichkeit werden wir über den Löffel balbiert; sobald man etwas bekommt, wird mit einer Gegenmaßnahme das Geschenk wieder weggenommen.
Die psychologische Wirkung ist ernst genug — von den anderen Dingen rede ich gar nicht —, um sich zu überlegen, ob man einen politisch falschen Schritt nicht rückgängig machen sollte.

(Beifall bei der SPD.)


Dr. Carlo Schmid (SPD):
Rede ID: ID0311107700
Das Wort hat die Frau Abgeordnete Beyer.

Lucie Beyer (SPD):
Rede ID: ID0311107800
Meine Damen und Herren! Nur zwei Bemerkungen zu den Ausführungen von Herrn Dr. Schmidt! Herr Dr. Schmidt, man sollte zum Vergleich nicht Länder anführen, in denen wirklich andere Verbrauchsgewohnheiten vorliegen; ich meine hier Holland und England. Wir sollten uns mit Ländern vergleichen, die die gleichen Verbrauchsgewohnheiten wie wir haben.
Sie haben uns dann wieder einmal den Vorwurf gemacht, wir beantragten hier eine Steuersenkung, ohne gleichzeitig zu sagen, woher die Mittel zur Deckung des Ausfalls genommen werden sollen. Herr Dr. Schmidt, ich möchte darum bitten, daß Ihre Fraktion auch so empfindlich ist, wenn sie Anträge auf Steuersenkungen einbringt.

(Beifall bei der SPD.)

Ich erinnere an die Senkung der Körperschaftsteuer. Dabei ging es doch um bestimmte Interessentengruppen.

(Erneuter Beifall bei der SPD.)


Dr. Carlo Schmid (SPD):
Rede ID: ID0311107900
Keine weiteren Wortmeldungen.
Es ist beantragt, die beiden Vorlagen dem Finanzausschuß — federführend — und gemäß § 96 der Geschäftsordnung dem Haushaltsausschuß zu überweisen. Ist das Haus damit einverstanden? — Kein Widerspruch; es ist so beschlossen.
Ich rufe Punkt 14 der gedruckten Tagesordnung auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Bundessozialhilfegesetzes (BSHG) (Drucksache 1799).
Das Wort zur Einbringung der Vorlage hat der Herr Bundesinnenminister.




Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID0311108000
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Erlauben Sie mir zunächst einige wenige Worte zur Vorgeschichte der Vorlage, die zu begründen ich die Ehre habe. Das Hohe Haus hat im Januar 1957 bei der Beratung der Rentenversicherungs-Neuregelungsgesetze die Bundesregierung durch einstimmigen Beschluß ersucht, mit tunlichster Beschleunigung ein Gesetz über die Neuordnung des Fürsorgerechts vorzulegen. Dieser Beschluß kam den Absichten der Bundesregierung entgegen, im Rahmen der umfassenden Reform der Sozialleistungen auch das Fürsorgerecht neu zu regeln.
Ich habe heute die Ehre, Ihnen, meine Damen und Herren, diesen Entwurf eines Bundessozialhilfegesetzes zu unterbreiten. Der Entwurf hat zwei Ziele: er soll das Recht der öffentlichen Fürsorge auf neue gesetzliche Grundlagen stellen und es der heutigen sozialen Situation anpassen. Im Verlauf der umfangreichen Vorarbeiten haben eingehende Erörterungen mit den Ländern und den kommunalen Spitzenverbänden, dann vor allem mit den interessierten Fachkreisen, den Verbänden der freien Wohlfahrtspflege und den Kirchen stattgefunden. Das Ergebnis dieser Erörterungen ist in dem Ihnen vorliegenden Entwurf berücksichtigt. Ich glaube, daß sich diese intensive Vorbereitung gelohnt hat. Ich freue mich, sagen zu können, daß der Bundesrat der Grundkonzeption, dem Inhalt und dem Aufbau des Entwurfs zugestimmt hat.
Nach dem Grundgesetz ist die Bundesrepublik ein sozialer Rechtsstaat. Als solcher kann sie an der Not ihrer Bürger nicht vorbeigehen. Schon im 19. Jahrhundert hat der große Staatsdenker Lorenz von Stein das Wesen staatlicher Verpflichtung zur Hilfe für die Notleidenden erkannt, wenn er sagt: „Not ist nicht bloß eine Gefahr, sondern sie ist eine Unfreiheit für den, der sie leidet. Eben deshalb ist ihre Beseitigung nicht mehr bloß Sache des Einzelnen, sondern der Gemeinschaft." Ein Staat wie die Bundesrepublik, der jedem seiner Bürger das Recht auf freie Entfaltung seiner Persönlichkeit sichert, muß alles daransetzen, dem Notleidenden aus seiner Unfreiheit herauszuhelfen.
Meine Damen und Herren, Sie wissen, daß das deutsche Sozialleistungssystem auf den drei Säulen der Versicherung, der Versorgung und der Fürsorge ruht. Für Versicherung und Versorgung ist typisch, daß sie im Grundsatz einen Anspruch auf Leistungen geben, die im voraus dem Umfang nach bestimmt sind. Die Fürsorge dagegen ist in ihrer Grundform ganz auf individuelle Hilfe ausgerichtet. Sie sucht die Not an der Wurzel zu fassen und ist bestrebt, den Notleidenden in den Stand zu setzen, sein Leben aus eigener Kraft zu meistern oder, wenn das nicht mehr möglich ist, ihm wenigstens zu einem menschenwürdigen Leben zu verhelfen.
Die jetzigen gesetzlichen Grundlagen unseres Fürsorgerechts wurden im Jahre 1924 geschaffen. Sie waren zu jener Zeit fortschrittlich. Sie unternahmen es, die Grundsätze des früheren Armenwesens über Bord zu werfen. Ganz ist diese Absicht damals nicht verwirklicht worden. Das geltende Fürsorgerecht hat sich zwar in den vergangenen Notjahren als durchaus wirksam erwiesen, als es darum ging, Massen von Hilfsbedürftigen ihren täglichen Lebensunterhalt zu sichern. Und doch hat sich in den letzten Jahren zunehmend gezeigt, daß das Fürsorgerecht aus dem Jahre 1924 der heutigen sozialen Situation nicht mehr genügt. Darin sind sich Fürsorgepraxis und Sozialwissenschaft einig. Heute genügt es eben nicht mehr, Personen ohne eigenes Einkommen nur die notwendigsten Dinge des Lebensunterhalts, wie Nahrung, Kleidung und Unterkunft, zukommen zu lassen. Gewiß wird das auch künftig zu den Aufgaben der öffentlichen Fürsorge gehören. Heute, und, wie ich glaube, in der Zukunft noch viel stärker, gehört es zu den Aufgaben der Allgemeinheit, sich auch der Menschen anzunehmen, die zwar ihr tägliches Brot haben mögen, sich aber in einer sozialen Notlage anderer Art befinden, die ihnen verwehrt, ein Leben in der Gemeinschaft zu führen, wie es den Anschauungen unseres Volkes entspräche.
Hier gibt es zahlreiche Fälle, in denen weder Sozialversicherung noch Versorgung noch Entschädigungsleistungen helfen können. Denken Sie an Sieche oder sonst pflegebedürftige Personen, denen mit Zahlung einer Geldsumme allein nicht gedient ist. Denken Sie weiter an Personen aller Altersgruppen, die körperbehindert, blind, sprach- oder hörgeschädigt sind. Lassen Sie mich hier auch alte Menschen nennen, die ohne persönliche Betreuung völlig vereinsamen. Schon diese wenigen Beispiele zeigen, daß der Schwerpunkt der Fürsorge sich nach und nach verlagert auf die Hilfe bei Notlagen, die nicht allein im Mangel an Lebensunterhalt begründet sind. Damit tritt die Bedeutung des Sozialarbeiters stärker ins Licht als die des Verwaltungsmannes im Innendienst.
Den von mir skizzierten Aufgaben genügt das heutige Fürsorgerecht nicht mehr. Zwar ist in den letzten Jahren auf Teilgebieten geholfen worden. Ich darf das Hohe Haus an drei hier beschlossene Gesetze erinnern: das Fürsorgerechts-Änderungsgesetz von 1953, das Körperbehindertengesetz von 1957, das Gesetz über die Tuberkulosehilfe von 1959. Alle diese Gesetze behandeln nur Teilgebiete. Jetzt aber gilt es, das Problem in seinem ganzen Umfang anzugehen.
Es gibt doch zu denken, meine Damen und Herren, daß im Jahre 1958 immerhin 927 000 Personen — das scheint mir eine sehr wichtige und einprägsame Zahl zu sein — laufend unterstützt wurden und daneben in Anstalten und Heimen durch die öffentliche Fürsorge unmittelbar oder mit Hilfe von Pflegegeldern 311 000 Menschen betreut wurden. Die Gesamtausgaben der Träger der öffentlichen Fürsorge betrugen 1958 etwa 1,5 Milliarden DM. Diese Zahlen machen erhebliche Leistungen deutlich. Aber nicht die Größe dieser Zahlen ist für die Notwendigkeit einer umfassenden gesetzlichen Regelung der Fürsorge entscheidend, sondern die Tatsache, daß sich in unserem Staat Menschen in sozialen Notlagen befinden, in denen ihnen wirksam geholfen werden muß. Dazu ist eine ausreichende und den heutigen Zeitverhältnissen angepaßte gesetzliche Sicherung erforderlich.



Bundesminister Dr. Schröder
Ich darf, meine Damen und Herren, einen weiteren Gesichtspunkt von Bedeutung anführen. Der Ihnen vorliegende Entwurf enthält die Zusammenfassung des gesamten Leistungsrechts der öffentlichen Fürsorge in einem Gesetz. Damit soll vor allem eine weitere Aufsplitterung des Fürsorgerechts verhütet werden. Würde jetzt kein einheitliches Gesetz geschaffen werden, so wären nach Meinung der Bundesregierung weitere Sondergesetze auf dem Gebiet der öffentlichen Fürsorge nicht zu vermeiden. Die Zusammenfassung in nur einem Gesetz bedeutet jedoch eine Wohltat in erster Linie für den Hilfesuchenden, aber auch für die durchführenden Stellen, an die wir gleichfalls denken müssen.
Erlauben Sie, meine Damen und Herren, nun einige Bemerkungen zu den wichtigsten Punkten des Entwurfs.
Erstens. Der Entwurf läßt die Grundsätze unangetastet, die das Wesen der Fürsorge im Gegensatz zu anderen Sozialleistungen ausmachen, nämlich das Prinzip der Subsidiarität der Fürsorge und den Grundsatz der individuellen Bemessung der Hilfe je nach den Erfordernissen des Einzelfalles. Die Sozialhilfe, wie wir die Leistungen der Fürsorge künftig nennen wollen, soll nur gewährt werden, wenn der Hilfesuchende sich nicht selbst helfen kann und wenn er die Hilfe auch von anderen nicht erhält. Niemand, der dem Hilfesuchenden zu einer Leistung verpflichtet ist, soll sich darauf berufen können, daß auf Grund der neu geschaffenen gesetzlichen Verpflichtung nunmehr die Allgemeinheit an seine Stelle trete.
Zweitens. Das Ziel des Gesetzes ist in seinem ersten Paragraphen zum Ausdruck gebracht: Die Sozialhilfe soll es dem Empfänger der Hilfe möglich machen, ein Leben zu führen, das der Würde des Menschen entspricht; um das zu erreichen, muß er nach seinen Kräften mitwirken. Mit dieser Aufgabenstellung entspricht der Entwurf Forderungen des Grundgesetzes. Zum anderen soll Aufgabe der Sozialhilfe sein, den Hilfeempfänger so weit wie möglich zu befähigen, von der Hilfe unabhängig zu leben. Damit ist der Gedanke der Eingliederung oder Wiedereingliederung des Hilfeempfängers in Gesellschaft und Arbeit mit an die Spitze des Entwurfs gestellt und gleichzeitig jedem versorgungsstaatlichen Denken eine Absage erteilt.
Der dritte wesentliche Gesichtspunkt ist dieser: Das frühere Recht kannte, jedenfalls nach der herrschenden Lehre, keinen Rechtsanspruch auf öffentliche Fürsorge. Erst das Grundgesetz gab der Rechtsprechung eine Handhabe, den Rechtsanspruch auf das Eingreifen der Fürsorgebehörde zu entwickeln. Das Grundsatzurteil des Bundesverwaltungsgerichts aus dem Jahre 1954 stellt den Leitsatz auf: Wo das Fürsorgerecht dem Träger der Fürsorge bestimmte Pflichten auferlegt, hat der Hilfsbedürftige entsprechende Rechte.
Der vorliegende Gesetzentwurf formuliert nun eindeutig den Rechtsanspruch auf Sozialhilfe. Dieser findet seine Grenze an der Notwendigkeit, ,die Hilfe individuell zu gestalten. Daher können aus dem
Gesetz weder die Form der Hilfe — persönliche Hilfe, Geldleistung, Sachleistung — noch der Umfang der Hilfe für jeden Einzelfall abgelesen werden. Gerade weil ,die Hilfe ganz auf die Bedürfnisse des einzelnen Hilfesuchenden abgestellt sein muß, ist hier dem Ermessen der Sozialhilfeträger Raum zu lassen. Die Elastizität ,der Fürsorge muß auch dann erhalten bleiben, wenn auf ihr Tätigwerden ein Anspruch besteht. Dort, wo völlig neue Arten der Sozialhilfe Eingang in das Gesetz finden sollen, begnügt sich der Entwurf mit Soll- oder Kann-Bestimmungen; denn hier müssen erst weitere Erfahrungen gesammelt werden.
Und nun ein vierter Punkt. Ich hatte vorhin von der allmählichen Verlagerung des Schwerpunktes der öffentlichen Fürsorge auf Notlagen gesprochen, die nicht allein im Mangel an Lebensunterhalt begründet sind. Aus dieser Tendenz hat der vorliegende Entwurf die Folgerungen gezogen. Er unterscheidet nunmehr zwischen ,der Hilfe zum Lebensunterhalt und der Hilfe in besonderen Lebenslagen. Die letztere spannt sich in einem weiten Bogen von der Hilfe zum Aufbau oder zur Sicherung der Lebensgrundlage über Krankenhilfe, Eingliederungshilfe für Behinderte, Tuberkulosehilfe, Blindenhilfe bis hin zur Altenhilfe, um nur einige der Lebenslagen zu nennen, die in dem Entwurf in Betracht gezogen werden.
Dann ein fünfter Punkt. Für uns alle, meine Damen und Herren, ist mit dem Begriff der öffentlichen Fürsorge auch der Begriff der Hilfsbedürftigkeit verbunden. Der vorliegende Gesetzentwurf verwendet das Wort „Hilfsbedürftigkeit" nicht mehr. Er kann gleichwohl nicht darauf verzichten, Grenzen für das Einsetzen der Sozialhilfe abzustecken. Eindeutig muß feststehen, inwieweit etwa vorhandenes eigenes Einkommen und Vermögen eingesetzt werden muß, ehe Sozialhilfe gewährt werden kann.
Wie im bisherigen Fürsorgerecht verlangt der Gesetzentwurf den vollen Einsatz von Einkommen und Vermögen, ehe Hilfe zum Lebensunterhalt gewährt wird. Bei anderen Arten der Hilfe, die unter dem Begriff „Hilfe in besonderen Lebenslagen" zusammengefaßt werden, geht die Bundesregierung jedoch den Weg, ,der bereits durch das Körperbehindertengesetz und das Tuberkulosehilfegesetz vorgezeichnet ist. Es sind, damit der Zweck der Hilfe nicht vereitelt wird, je nach der Art der Notlage bestimmte Einkommensgrenzen vorgesehen, wodurch die Hilfesuchenden vor unzumutbaren Belastungen geschützt werden. Dieser Ausdehnung der bisherigen Fürsorge kommt im Rahmen des neuen Gesetzes besondere Bedeutung zu. Die Bundesregierung hat es begrüßt, daß der Bundesrat in dieser Hinsicht dem Regierungsentwurf nicht nur zugestimmt, sondern noch eine Verbesserung der Lage des Hilfesuchenden vorgeschlagen hat.
Hilfe der Allgemeinheit kann aber auch notwendig sein, obwohl Arbeitsfähigkeit gegeben ist, ja vielleicht Einkommen und Vermögen vorhanden sind. Der Entwurf sieht vor, ,daß Personen Hilfe erhalten, die wegen mangelnder innerer Festigkeit sich ohne die Hilfe anderer nicht in der Gemein-
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Bundesminister Dr. Schröder
schaft zurechtfinden können. Gedacht ist dabei beispielsweise an die unverhältnismäßig zahlreichen Nichtseßhaften, an die Süchtigen, also an Menschen, die vor allem persönlicher Hilfe bedürfen. Diese Hilfe soll ohne Rücksicht auf 'die wirtschaftliche Lage des einzelnen gewährt werden können. In diesem Punkt ist leider der Bundesrat der Absicht der Bundesregierung nicht gefolgt und hat ihr einstweilen widersprochen.
Ich darf einen sechsten Punkt hervorheben. Als ein Wesenszug der Fürsorge ist bisher die Pflicht zur Rückzahlung der empfangenen Leistungen angesehen worden, die dann eintritt, wenn der Unterstützte später wieder zu eigenen Mitteln gelangt. Diese Verpflichtung ist oft der Grund dafür gewesen, daß Notleidende die dringend erforderliche Hilfe nicht in Anspruch nahmen. Gerade verantwortungsbewußte Menschen, häufig Kranke und Alte, haben sich deshalb gescheut, um Hilfe zu bitten oderangebotene Hilfe anzunehmen. Die Rückzahlungspflicht hat mit dazu beigetragen, die Inanspruchnahme öffentlicher Fürsorge in den Augen der Bevölkerung als ,deklassierend erscheinen zu lassen. Der Gesetzentwurf sieht grundsätzlich von der Rückzahlung durch den Hilfeempfänger ab und beschränkt die Pflicht dazu auf zwei Sonderfälle, in denen die Allgemeinheit — jedenfalls nach der Meinung der Bundesregierung — auf den Ersatz nicht verzichten kann.
Schließlich siebentens noch ein Wort zur freien Wohlfahrtspflege. Unter den mit dein Fürsorgewesen Vertrauten gibt es wohl niemanden, der die große Bedeutung der Tätigkeit freier Wohlfahrtsverbände im Kampf gegen Not und Leid nicht anerkennen würde. Das christliche und das humanitäre Ethos, das in der Arbeit unzähliger freiwilliger oder beruflicher Helfer der freien Wohlfahrtspflege verwirklicht wird, ist eine der Grundlagen unserer freiheitlichen Gesellschaftsordnung. In dem Bemühen, den Notleidenden zu helfen, sind öffentliche Fürsorge und freie Wohlfahrtspflege Partner. Die Bundesregierung hat es sich angelegen sein lassen, in dem vorliegenden Entwurf dieses partnerschaftliche Verhältnis zwischen den Trägern der Sozialhilfe und der freien Wohlfahrtspflege zu sichern und dazu beizutragen, daß auch in Zukunft die freie Wohlfahrtspflege in der Lage bleibt, ihre so bedeutsame Tätigkeit durchzuführen.

(Abg. Horn: Sehr gut!)

Die Eigenständigkeit in Zielsetzung und Erfüllung selbstgestellter Aufgaben ist der freien Wohlfahrtspflege ausdrücklich zugesichert. Das ist in keinem bisherigen Fürsorgegesetz geschehen.

(Beifall bei der CDU/CSU.)

Der Entwurf sieht auch die Ausgliederung der Vorschriften über die soziale Fürsorge für Kriegsbeschädigte und Kriegshinterbliebene aus dem allgemeinen Fürsorgerecht vor. Diese Vorschriften sollen als Vorschriften über versorgungsrechtliche Leistungen künftig in das Bundesversorgungsgesetz eingebaut werden. Der 22. Ausschuß dieses Hohen Hauses hat sich mit diesem Teil der Regierungsvorlage bereits beschäftigt. Er hält es für richtig, daß schon jetzt bei der Verabschiedung des Kriegsopferversorgungs-Neuregelungsgesetzes auch die soziale Fürsorge für Kriegsbeschädigte und Kriegshinterbliebene unter der Bezeichnung Kriegsopferfürsorge in das Bundesversorgungsgesetz eingebaut wird. Falls sich das Hohe Haus diesen Vorschlägen anschließt, wird der Abschnitt 14 des vorliegenden Gesetzentwurfes bei der Beratung nicht mehr berücksichtigt zu werden brauchen.
Gestatten Sie mir zum Schluß noch einige wenige Sätze zu der vorgeschlagenen Bezeichnung des Gesetzes. Der Entwurf trägt die Bezeichnung „Bundessozialhilfegesetz". Wenn die Bundesregierung das Wort „Öffentliche Fürsorge" nicht übernommen hat, so geschah dies vor allem aus dem Wunsch heraus, den endgültigen Abschied vom Armenwesen vergangener Zeiten deutlich zu machen und um durch die gewählte Bezeichnung den neuen Geist und den neuen Inhalt des Gesetzes zum Ausdruck zu bringen. Die Bundesregierung hat dabei den Menschen vor Augen gehabt, der in sozialer Not ist und dem zu helfen gewiß unser aller Anliegen ist.
Ich glaube, mein Damen und Herren, daß ich mich auf diese grundsätzlichen Bemerkungen beschränken kann. Ich darf der Hoffnung Ausdruck geben, daß es gelingen wird, die Beratungen des Entwurfs so zu fördern, daß das Gesetz noch in dieser Legislaturperiode verabschiedet werden kann.

(Beifall bei der CDU/CSU.)


Dr. Eugen Gerstenmaier (CDU):
Rede ID: ID0311108100
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat Frau Abgeordnete Niggemeyer.

Maria Niggemeyer (CDU):
Rede ID: ID0311108200
Herr Präsident! Meine Herren und Damen! Ich glaube, es wird von allen Parteien des Hauses begrüßt werden, daß die Bundesregierung nach jahrelangen Vorarbeiten heute den Entwurf zum Sozialhilfegesetz vorgelegt hat. Der Herr Minister hat schon anklingen lassen, welche Gründe dafür maßgebend waren, daß seit unserem Antrag, ein solches Gesetz vorzulegen, Jahre hingegangen sind. Ich will die Gründe nicht von neuem aufzählen. Ich will hier dankbar all derer gedenken, die an den fachlichen Vorarbeiten zur Erstellung des Gesetzes beteiligt waren: die verschiedenen Gremien, angefangen vom Städtetag, dem Landkreistag über den Deutschen Verein, auch die Gremien der freien Wohlfahrtsverbände und letzten Endes die Kirchen. Wir danken diesen Stellen und den Personen, die mitgearbeitet haben. Wir danken auch den Herren der Bundesregierung, die letztlich zu diesem Entwurf gekommen sind.
Wenn wir von Dank sprechen, sollten wir, glaube ich, am heutigen Tage, den jedenfalls ich, aber wohl auch meine Freunde, als einen Markstein in der Geschichte des Fürsorgewesens ansehen, des Nestors des Fürsorgerechts gedenken, der im Jahre 1924 das damals moderne Gesetz maßgeblich mit erarbeitet hat; ich denke an Herrn Professor Dr. Polligkeit,

(Beifall in der Mitte)




Frau Niggemeyer
dessen Verlust wir in den vergangenen Tagen zu beklagen hatten. Ich glaube, es ehrt den Bundestag, wenn wir heute seiner in Dankbarkeit gedenken.

(Erneuter Beifall in der Mitte.)

Ich verzichte darauf, zu wiederholen, was etwa auf den beiden Fürsorgetagen 1955 und 1957 zu diesem Gesetz gesagt wurde. Nachdem der Herr Minister den Hauptinhalt des Entwurfs vorgetragen hat, beschränke ich mich in meinen Ausführungen auf die Darlegung des Leitgedanken, die meine Fraktion als maßgebend für das Gesetz ansieht.
Ausgangspunkt, Subjekt und Ziel der Sozialhilfe ist für uns der hilfsbedürftige Mensch. Wir glauben, daß der vorgelegte Entwurf das ernste Bemühen erkennen läßt, die soziale Stellung des hilfsbedürftigen Menschen den Grundsätzen der Verfassung entsprechend zu sichern, also der Forderung gerecht zu werden, dem Hilfsbedürftigen die öffentliche Hilfe zuteilt werden lassen. Es soll ihm durch die Gewährung der wirtschaftlichen, gesundheitlichen und kulturellen Hilfen ein menschenwürdiges Dasein garantiert werden.
Es kann kein Zweifel darüber bestehen, daß der Gesetzgeber berechtigt ist, die staatsbürgerliche Gleichheit durch Daseinsvorsorge zu einer materiellen Gleichheit innerhalb bestimmter Bereiche auszugestalten. Es geht uns in erster Linie nicht um die Verteilung sozialer Güter, sondern darum, daß der Hilfsbedürftige aus eigener Kraft und mit unserer Hilfe sowie nach Maßgabe seiner Persönlichkeit in seiner sozialen Stellung gefestigt wird. Darum sagen wir auch ja zu all den Hilfen, die fürsorgerische Maßnahmen einleiten sollen und die im Entwurf als vorbeugende Hilfen bezeichnet werden. Wir sind uns darüber klar, daß trotz der vorbeugenden Hilfen ein gewisser Prozentsatz von Hilfsbedürftigen Dauerempfänger der Sozialhilfe sein wird. Ich denke da besonders an bestimmte Altersgruppen, die nicht durch Versicherung oder Versorgung von der Sozialhilfe unabhängig gemacht werden können.
Nur wenn wir daran denken, daß die Würde des Menschen und die Persönlichkeit das Wesentliche sind, können wir echte Sozialhilfe leisten. Wir wollen aber ebenso stark in den Vordergrund stellen, daß die Selbstverantwortung dem einzelnen im Falle der Hilfsbedürftigkeit besondere Pflichten auferlegt. Die Sozialhilfe setzt den Willen des Staatsbürgers zur Selbsthilfe voraus. Sie verlangt sein ehrliches Bemühen, sich von der öffentlichen Hilfe frei zu machen. Es wäre unserem Volk ein schlechter Dienst erwiesen, wenn der ausgedehnte Katalog der Hilfen im Endergebnis etwa dazu führen sollte, daß finanzielle Berechnungen darüber angestellt würden, ob es sich mehr lohne, Dauerempfänger beim Sozialamt zu werden, als in der Arbeit zu bleiben.
Wir glauben, daß wir aus psychologischen und sozialpädagogischen Gründen hier ein Ja sagen sollten zu den Maßnahmen, die notwendig sind. Wir schätzen die Freiheit des Menschen als das Kostbarste, was wir haben. Aber Freiheit kann nicht absolut verstanden werden. Sie ist immer auf das
Allgemeinwohl bezogen. Vom Allgemeinwohl her empfängt sie ihre Bindung. Der Bürger ist ein sozialbezogenes Wesen, und darum kann er aus seinen Pflichten dem Staat gegenüber nicht entlassen werden.
Der Herr Minister sagte schon, daß im Gesetzentwurf das Prinzip der individualisierenden Hilfe verankert ist. Es bestand ja schon im geltenden Recht; aber der Entwurf verstärkt es. Wir bejahen es, wir begrüßen es, aber unter der Voraussetzung, daß nach dem Entwurf Art, Maß und Form der Sozialhilfe nach den persönlichen Verhältnissen des Einzelfalls zu regeln ist.
Der Entwurf stellt in den Formen der Sozialhilfe die persönliche Hilfe vor die Geldleistung und Sachhilfe. Auch das bejahen wir. Im ganzen gesehen stellen sich die persönlichen Hilfen als Schwerpunkt der Sozialhilfe dar. Das wird bei der Beratung der Hilfesuchenden, bei der Hilfe etwa für Gefährdete, bei bestimmten Arten der Altenhilfe, bei den Hilfsmaßnahmen zur Pflege und zur Familienpflege besonders sichtbar.
Die Ausweitung der persönlichen Hilfe ist sicher ohne jede Einschränkung zu begrüßen. Richtig durchgeführt, wird sie in einem ganz besonderen Maße dazu beitragen, den Menschen zu einer sozialen Befriedung zu führen. Wir haben hier aber auch das Problem gesehen, das bei dieser Stärkung der persönlichen Hilfe grundsätzlich auftaucht. Persönliche Hilfe, Hilfe von Mensch zu Mensch wird letztlich nur von Menschen und Institutionen geleistet werden können, die auf die Person des Hilfeempfängers eingestellt sind, die eine persönliche Hilfe solcher Art gewähren können, die den Hilfesuchenden in seiner Gesamtposition auch wirkliche Hilfe sind. Es handelt sich also im wesentlichen um seelische Hilfen.
Wir begrüßen auch die familiengerechte Hilfe. Wir begrüßen es, daß die besonderen Verhältnisse der Familie der Hilfesuchenden bei der Entscheidung über Art, Form und Maß der Hilfe zu berücksichtigen sind.
In der Formulierung des Gesetzes heißt es weiter, daß die Sozialhilfe Kräfte der Familie zu Selbsthilfe anregen soll, den Zusammenhang in der Familie festigen soll. Das ist ein wichtiges sozialpädagogisches Anliegen, zu dessen Verwirklichung der Gesetzgeber durch das Grundgesetz aufgerufen ist. Ob und inwieweit diese Anliegen des Sozialhilfegesetzes in der Praxis verwirklicht werden können, wird von dem sozialpädagogischen Geschick der Fürsorgekräfte abhängen. Sie haben sicher zunächst ihre Aufgabe darin zu sehen, zur Behebung des materiellen Notstandes beizutragen. Aber sie haben auch zu prüfen, wie die inneren Bindungen innerhalb der Familie sind und wie die inneren Bindungen gefestigt werden können.
Zum Prinzip der individualisierenden Hilfe gehört auch ihre rechte Anwendung auf Stadt und Land. Ich komme hier zu einem Problem, das gerade von den kommunalen Spitzenverbänden angeschnitten worden ist. Zunächst ist von dem Gedanken auszugehen, daß auf dem Lande die Familienbindungen vielleicht noch stärker sind, daß auf dem Lande die



Frau Niggemeyer
Familiennotgemeinschaft noch größere Geltung hat.
Aber ich sehe diesen Gedanken auch vom Materiellen her und betone ganz klar, daß es uns in den Ausschußberatungen ein Anliegen sein wird, etwa zu überlegen, ob eine Differenzierung der Hilfen materieller Art zwischen Stadt und Land denkbar ist. Schon jetzt möchte ich sagen — und diesen Gedanken dürfen wir dabei nicht außer acht lassen —, daß gerade in unseren agrarstrukturellen Landkreisen die Hilfeempfänger zur Hauptsache nicht aus der einheimischen Bevölkerung kommen, sondern sich wahrscheinlich überwiegend aus den Menschen der notleidenden Gruppen zusammensetzen: der Vertriebenen, der Sowjetzonenflüchtlinge usw. Wenn das zutrifft, werden diese Kreise, die sonst vielleicht stark belastet würden, durch Leistungen des Bundes entlastet.
Lassen Sie mich jetzt zu den Arten der Hilfe kommen. Der Entwurf unterscheidet Hilfe zum Lebensunterhalt und Hilfe in besonderen Lebenslagen. Es ist sicher verständlich, daß bei vielen zunächst Bedenken, Besorgnisse ob eines so umfassenden Katalogs der Hilfen auftauchen, Bedenken, ob sie nicht Ausdruck eines versorgungsstaatlichen Denkens seien. Ich teile diese Bedenken nicht. Durch das Gesetz werden die für bestimmte generell wiederkehrende Notstände erforderlichen Hilfen zu gesetzlichen Pflichtleistungen erklärt.
Die Hilfen, die dort genannt sind, sind zum Teil schon im bestehenden Fürsorgerecht gesetzliche Leistungen. Ich erinnere an Hilfen für die werdende Mutter, für Wöchnerinnen, Gesundheitsfürsorge, für Fürsorge für Körperbehinderte und Tbc-Kranke. Es sind vielfach weiterhin Hilfen, die in der Praxis draußen ohne gesetzliche Regelung gewährt worden sind. Dazu kommen einige neue, die wir hinzugenommen haben.
Ich bin der festen Überzeugung, daß unser Ausschuß und das Hohe Haus Verständnis dafür haben werden, daß wir Gruppen von Notleidenden mit hineinnehmen, etwa den Kreis der Behinderten erweitern und die Blinden und Gehörbeschädigten zu den Sozialhilfeempfängern zählen. Meine Fraktion und ich bedauern es, daß der Bundesrat die Hilfe für Gefährdete weitgehend gestrichen sehen möchte. Wir haben allerdings gesehen, daß die Bundesregierung dem Änderungsvorschlag des Bundesrates nicht zugestimmt hat.
Bei der vorgeschrittenen Zeit ist es kaum möglich, wenn auch noch andere Kolleginnen und Kollegen sprechen wollen, auf das Problem der Gefährdetenhilfe weiter einzugehen. Ich darf nur sagen, daß unsere Fraktion Wert darauf legt, daß die Gefährdetenhilfe im Gesetz verankert wird. Ich hoffe, wir sind uns im Ausschuß einig, daß wir nach einer Lösung suchen müssen, die die diesbezüglichen Bedenken des Bundesrates entweder ganz ausräumt oder zum mindesten mildert, so daß er dem Gesetz zustimmen kann.
Der Bundestag hat sich bereits vor Jahren bemüht, in bezug auf den genannten Personenkreis zu einem Bewahrungsgesetz zu kommen. Wer die
Geschichte der Fürsorgegesetzgebung verfolgt, weiß, daß der Gedanke an eine gesetzliche Regelung mit dem Ziel einer echten Hilfe für diese Menschen Jahrzehnte hindurch niemals aus der Diskussion verschwunden ist. Die zur Entscheidung anstehende Frage muß mit aller Gründlichkeit und mit aller Sorgfalt behandelt werden. Wir werden uns bemühen, den Ansatzpunkt zu einer auch den Bundesrat befriedigenden Lösung zu finden.
Herr Minister Schröder hat betont, daß der Entwurf des Bundessozialhilfegesetzes den Rechtsanspruch vorsieht. Ich möchte, wenn auch wiederholt, auf die Fürsorgetagungen 1955 und 1957 hinweisen, auf denen gerade das Problem des Rechtsanspruches nach jeder Richtung hin durchdiskutiert worden ist. Jemand, der mit der Materie nicht ganz vertraut ist, könnte durch das Wort „Rechtsanspruch auf Sozialhilfe" zunächst etwas schockiert sein. Trotzdem sage ich für mich und meine Fraktion, daß wir den Rechtsanspruch, wie er im Gesetzentwurf verankert ist, bejahen, natürlich mit seinen Einschränkungen; denn der Rechtsanspruch gilt nur dort, wo die Hilfe nach dem Gesetz zu gewähren ist. Über Form und Maß der Hilfe hat der Fürsorgeträger nach pflichtgemäßem Ermessen zu entscheiden. Darum sind auch bei den Vorschriften des Gesetzes über die Hilfen in besonderen Lebenslagen Kann- und Sollbestimmungen eingebaut worden. Ich bin zwar nicht sehr glücklich über die Vielzahl dieser Kann- und Sollbestimmungen. Sie erleichtern dem Menschen draußen, dem Sozialamt, dem Fürsorger, dem in der Fürsorge Tätigen weiß Gott nicht die Arbeit mit dem Gesetz. Aber ich sehe ein, daß eine unterschiedliche Regelung getroffen werden muß.
Die vorgesehene Regelung verträgt sich durchaus mit den Grundrechten der Person, auch mit der Würde des Menschen, mit der Verpflichtung der Staatsorgane, dem Hilfsbedürftigen zu helfen. In einer Zeit, in der wir aus guten Gründen die Fürsorge aus dem sogenannten Armenrecht herausnehmen wollen, sie zu einer Art von Hilfe entwikkeln wollen, die den Hilfeempfänger nicht als entwürdigt erscheinen läßt, kann man, beschränkt auf die bestimmten Tatbestände, von einem Rechtsanspruch sprechen. Die Entscheidung fällt also der Bundesgesetzgeber nach pflichtgemäßem Ermessen, nicht auf Grund einer durch die Verfassung auferlegten Verpflichtung.
Ein Wort zur Rechtsstellung des Hilfesuchenden im Gesetz. In § 3 Abs. 2 ist das Wahlrecht für den Hilfesuchenden verankert. Danach kann der Hilfsbedürftige selbst entscheiden, von welcher Fürsorgestelle aus er betreut werden will. Mehr oder weniger ist in der Praxis dieses Wahlrecht von den Fürsorgestellen aus geachtet worden. Oft aber ist man auch über die Wünsche der Hilfesuchenden, vor allem in den Fragen der Unterbringung, hinweggegangen.
Bei dem Wahlrecht geht es um eine Verwirklichung der Grundrechtsartikel unserer Verfassung. Besondere Bedeutung hat es bei der ambulanten Krankenpflege, bei der Wahl der Krankenhäuser, innerhalb der Familienfürsorge, bei allen kranken-



Frau Niggemeyer
pflegerischen Arten der Hilfe, bei der Auswahl des Altersheims und auch bei irgendwelchen Hilfeleistungen für die gefährdeten Jugendlichen. Letztlich geht es hier um ein Persönlichkeitsrecht, und das sollten wir achten.
Wir werden uns in den Ausschußberatungen zu überlegen haben, ob etwa die Soll-Bestimmung des § 3 Abs. 2 in eine Ist-Bestimmung umgewandelt werden kann. Allerdings müßte sie dann so formuliert werden, daß die Unterbringungswünsche des Hilfesuchenden angemessen sein müssen und keine unvertretbaren Mehrkosten verursachen dürfen. Das möchte ich ausdrücklich betonen. Es kann kein absolutes Wahlrecht geben, sondern nur ein aus den sachlich fürsorgerischen Gründen und durch den Gleichheitsgrundsatz begrenztes Wahlrecht. — Mir wird hier die Uhr gezeigt; ich will mich deshalb bemühen, mich kurz zu fassen, damit auch meine Kollegen und Kolleginnen noch zu Wort kommen.
Wir stehen zu den Bestimmungen über das Einkommen und das Vermögen, von deren Einsatz die Gewährung von Sozialhilfe abhängig ist. Wir bejahen den schon im Körperbehindertengesetz und im Tuberkulosehilfegesetz verankerten Grundsatz bestimmter Freigrenzen. Wir bejahen mit besonderer Freude die Einbeziehung der Blinden und Gehörbeschädigten in das Gesetz.
Ich bin dem Herrn Minister dankbar, daß er zu der Frage der Zusammenarbeit zwischen den Verbänden der freien Wohlfahrtspflege und den Trägern der Sozialhilfe sehr klar ausgedrückt hat, worin das Entscheidende der Bestimmung des § 10 liegt. Ich betone, daß meine Fraktion für diese ganz klare Grundsatzentscheidung dankbar ist.

(Beifall in der Mitte.)

Selbstverständlich ließe sich vom Rechtlichen her gesehen vieles zu diesem Problem sagen. Sie, Herr Minister, haben bereits auf die Vergangenheit der Verbände der freien Wohlfahrtspflege hingewiesen.
Ein Gedanke zum Schluß. Die freie Wohlfahrt, die Fürsorgearbeit, die Arbeit an Hilfesuchenden ist Arbeit der Gesellschaft für die Gesellschaft. Gerade darum sollte man diese Gesellschaftsarbeit der freien Verbände nicht einengen. Man sollte ihr auch die Stellung geben, die nun entscheidend in diesem Entwurf festgelegt ist.

(Beifall bei der CDU/CSU.)

Die getroffene Entscheidung bedeutet keine Konfessionalisierung der Arbeit der freien Verbände, denn alle Verbände und Organisationen sollen Mithelfer in der Sozialhilfe sein. Sie bedeutet auch kein Monopol für irgend jemanden. Wir wollen kein Monopol, wir wollen Freiheit, und weil wir die Freiheit wollen, bejahen wir die Grundsatzentscheidung im Sozialhilfegesetz.
Lassen Sie mich in der Hoffnung schließen, daß es uns im gemeinsamen Bemühen recht bald gelingt, diesen uns heute vorgelegten Gesetzentwurf in der zweiten und dritten Beratung hier im Hause behandeln zu können.

(Beifall bei der CDU/CSU.)


Dr. Eugen Gerstenmaier (CDU):
Rede ID: ID0311108300
Das Wort hat ,der Abgeordnete Könen.

Willy Könen (SPD):
Rede ID: ID0311108400
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn die Verfassungsrechtler oder der Geschäftsordnungsausschuß keine Bedenken haben, möchte ich diesen Gesetzentwurf bereits dadurch praktizieren, daß ich die zu so später Zeit zusammengeschmolzene und durch den heutigen Tag überforderte Zuhörerschaft zu dem Personenkreis rechne, der einer Hilfe in besonderer Lebenslage bedarf.

(Heiterkeit.)

Das bedeutet, meine Damen und Herren, daß ich nicht die ,Absicht habe, einen Spaziergang durch das ganze Gesetz zu machen. Ich möchte mich vielmehr so kurz fassen, wie es eben vertretbar ist.
Auch wir begrüßen es, daß der Gesetzentwurf vorliegt. Das beinhaltet aber zugleich die Kritik, daß es unseres Erachtens — trotz der sorgfältigen Vorarbeit, die notwendig und richtig war — doch ein bißchen sehr lange gedauert hat. Ich weiß nicht, ob die Tatsache, daß der Parteivorsitzende der CDU, Herr Dr. Konrad Adenauer, in Karlsruhe der Fraktion der CDU gesagt hat, sie solle ein bißchen voranmachen, dazu geführt hat, daß wir bei der Behandlung dieses Gesetzentwurfs von Freitag dieser Woche auf den Mittwoch gekommen sind.

(Zuruf von der CDU/CSU: So schnell kann er auch wieder nicht reagieren!)

— Es wäre ja möglich.
Ich will nicht rückschauend das wiederholen, was Herr Minister Schröder über diesen Gesetzentwurf gesagt hat. Es ist wirklich nicht notwendig, denn die Darstellung des Herrn Ministers Schröder war auch sachlich richtig. Er hat gesagt, damals, 1924, sei die Absicht, das Armenrecht verschwinden zu lassen, nicht verwirklicht worden. Er hat wörtlich gesagt: Ganz ist diese Absicht nicht verwirklicht worden.

(Abg. Frau Dr. h. c. Weber [Essen] : Doch!)

— Verehrte Frau Dr. Weber, setzen Sie sich bitte mit Ihrem Kollegen Schröder auseinander!
Nach sorgfältiger Lektüre des Gesetzentwurfs muß ich feststellen, daß es auch mit diesem Entwurf — wenn er nicht geändert wird — nicht gelingt, das Armenrecht völlig verschwinden zu lassen. Denn im § 8 Abs. 2 erscheint das Armenrecht ein wenig verschämt wieder. Aber darüber wollen wir uns im Ausschuß unterhalten.
Ich freue mich darüber, daß der Herr Minister Schröder gesagt hat, dieser Gesetzentwurf solle eine Sozialhilfe schaffen, die ausreichend und den heutigen Zeiten entsprechend sei. Herr Minister, nicht etwa aus Opposition, sondern aus rein sachlich fachlichen Gründen heraus muß man feststellen, daß der Entwurf, wenn er so bleibt, weder ausreichend noch den heutigen Zeiten entsprechend Hilfe bringt. Der neue Geist scheint mir an einigen Ecken etwas angeknackst zu sein.



Könen (Düsseldorf)

Dieses Gesetz bringt, was wir begrüßen, den Rechtsanspruch, das Wahlrecht. Aber, Frau Niggemeyer, es ist nicht so, daß die Bundesregierung hier im Rahmen ihres Ermessens einen Gesetzentwurf vorgelegt hat, in dem sie, ebenfalls wieder im Rahmen ihres Ermessens, diesen Rechtsanspruch festlegt. Vielmehr bedurfte es leider erst des Urteils eines Oberverwaltungsgerichts vom Juni 1954, um die Bundesregierung zu veranlassen, nun in diesem Gesetzentwurf den Rechtsanspruch festzulegen. Also so groß war die Ermessensfreiheit der Bundesregierung nach diesem Gerichtsurteil nicht mehr.
Herr Minister Schröder und Frau Niggemeyer haben dann davon gesprochen, daß dieses Gesetz die Partnerschaft aller derjenigen, die an der Sozialhilfe arbeiten, im Interesse des hilfsbedürftigen Menschen befestigen und vorantreiben solle. Ich werde darauf noch zu sprechen kommen. Aber, sehr verehrte Frau Kollegin Niggemeyer, Sie haben vom „Markstein" gesprochen. Da vorne sitzt der Kollege Dr. Willeke. Als wir den Art. 106 des Grundgesetzes änderten, Herr Dr. Willeke, sprachen Sie von der „Sternstunde". Ich darf heute feststellen: diese Sternstunde ist in einem dicken Nebel untergegangen. Wir sollten vorsichtig sein. Herr Dr. Willeke weiß, was ich meine: die Sternstunde der Gemeinden bezüglich ihrer Finanzen. Frau Niggemeyer, Sie sprachen vom Markstein. Hoffen wir, daß der „Markknochen" nicht noch mehr poröse Stellen zeigen wird, als er sie jetzt bereits enthält.

(Heiterkeit und Beifall bei der SPD.)

Sowohl der Herr Minister als auch Frau Niggemeyer haben mit Recht erklärt, das beste Sozialhilfegesetz tauge nichts, wenn man nicht den Menschen habe, der sich für dieses Gesetz in der richtigen Form einsetze. Also die berühmte Frage der Fachkräfte! Ich persönlich bedaure es außerordentlich, daß der Bundesrat mit einer Schärfe sondergleichen dafür eintritt, den nach meinem Geschmack sehr vorsichtig formulierten, sehr — ich will nicht unhöflich sein, Herr Minister; ich weiß, welche Sorgen Sie gegenüber dem Bundesrat haben — lendenlahmen § 94 aus ,diesem Gesetz wieder zu streichen, und zwar aus Angst um die föderalistischen Prinzipien, nur weil da drinsteht, es solle dafür gesorgt werden, daß richtig ausgebildete Leute diese Arbeit tun. Ich muß schon sagen, meine Damen und Herren, da kommt mein föderalistisches Herz einfach nicht mehr mit.
Und nun zu 'den CDU-Leitfäden! Ja, Frau Niggemeyer, Sie sagen, das Ziel sei, für den Menschen, der Hilfe brauche, die Hilfe so zu bringen, daß man dabei ihn als die zentrale Figur dieser Sozialhilfe ansehe. Sie stellen dann freudig fest, daß dieser Gesetzentwurf die Bemühungen dazu erkennen lasse. Frau Kollegin, das genügt der sozialdemokratischen Fraktion nicht. Wir wünschen nicht, daß dieses Gesetz Bemühungen erkennen läßt. Wir möchten in diesem Gesetz die Tatsache verankert wissen, daß der Mensch die zentrale Figur des Geschehens ist.

(Beifall bei der SPD.)

Sie sprachen von der Selbstverantwortlichkeit des Hilfeempfängers. Meine Damen und Herren, wenn
wir Sozialdemokraten einmal sagen, etwas sei auch unsere Meinung, meinen Sie — das ist in der letzten Zeit Übung geworden — immer, wir hätten das jetzt im Godesberger Programm stehen, um der CDU etwas näher zu kommen. Das, was ich jetzt sage, daß wir Sozialdemokraten nämlich schon lange für die Selbstverantwortlichkeit sind, steht nicht etwa im Godesberger Programm, sondern im Sozialplan der SPD, der überhaupt offenbar bei der Schaffung einiger fortschrittlicher Bestimmungen dieses Gesetzentwurfs ordentlich durchgelesen worden ist.
Frau Niggemeyer, ich habe mich sehr gewundert, daß Sie mit der Formulierung: „Es soll nicht einer denken, es lohnt sich nicht mehr zu arbeiten, lieber lasse ich mir Unterstützung geben" den § 20 Abs. 2 verteidigt haben, der — siehe da, alle Fachleute sind sehr erstaunt! — die berühmte Auffanggrenze wieder fröhliche Urständ feiern läßt. Ich möchte hier eine ganz klare Feststellung treffen. Nach meiner Auffassung ist es nicht die Aufgabe eines Sozialhilfegesetzes, Lohnfragen zu entscheiden. Lohnfragen zu entscheiden ist Sache der Gewerkschaften und ihrer Partner. Wenn es heute Löhne gibt, die niedriger sind, als das, was in diesem Gesetz als Regelbedarf angesehen wird, muß man sich schämen, daß so niedrige Löhne gezahlt werden. Man darf aber nicht die Richtsätze heruntersetzen.

(Beifall bei der SPD.)

Die Auffanggrenze sollte ein für allemal wegfallen. Ich hoffe, Frau Niggemeyer, daß es uns im Ausschuß gelingen wird, diesen etwas vorsintflutlichen Versuch abzubiegen.
Nun zum Rechtsanspruch! Frau Kollegin Niggemeyer, ich muß Ihnen auch hier widersprechen. Bei dem Rechtsanspruch so, wie Sie ihn sehen — in Kombination mit dem Wahlrecht und in Kombination mit den Regelungen in § 10 und in § 86 —, kann man die Sache auch negativ aufzäumen. Ich habe nicht die Absicht, heute abend mit Ihnen über diese Dinge zu diskutieren; aber wir werden sie sehr sorgfältig zu besprechen haben.
Wir werden uns überhaupt noch sehr viel zu sagen haben. Frau Kollegin Niggemeyer, wir werden Sie im übrigen beim Wort nehmen. Sie haben zum Schluß gesagt: Keine Konfessionalisierung! Das, was in dem Paragraphen vorgesehen ist, der von der freien Zusammenarbeit spricht, halten Sie und lustigerweise auch Herr Schröder für Partnerschaft. Wir werden uns darüber unterhalten müssen, was Partnerschaft ist. Wir werden sehen müssen, ob die §§ 10 und 86 wirklich Freiheit bringen, oder ob durch sie ein Monopol geschaffen wird. Darüber wollen wir uns im Ausschuß unterhalten.
Im übrigen begrüßen wir viele Bestimmungen, die auf Grund der Praxis der Wohlfahrtsverbände, die nicht irgendwie gesetzlich festgenagelt ist, in diesen Gesetzentwurf aufgenommen worden sind. Die Arbeit aller Verbände, die daran beteiligt sind, hat damit ein dankbares Echo gefunden. Wir begrüßen auch die fortschrittliche Entwicklung, die sich in einigen Paragraphen anbahnt; das ist ganz selbstverständlich.



Könen (Düsseldorf)

Übersehen Sie bitte nicht, Frau Niggemeyer, die Vorschläge, die in dem Teil des Gesetzentwurfs gemacht werden, der sich mit der Blindenhilfe und der Tuberkulosehilfe befaßt. Im Ausschuß werden wir darüber reden. Ich hätte sehr gern gehört, Frau Niggemeyer, wenn Sie diese Teile nicht nur begrüßt hätten, sondern wenn Sie auch festgestellt hätten, daß hier Verschlechterungen enthalten sind. Wir sollten alle miteinander einig sein, daß diese Verschlechterungen herausgebracht werden müssen. Es muß hier noch einiges korrigiert werden.
Wie ich gehört habe, soll beantragt werden, die Vorlage dem Ausschuß für Kommunalpolitik und öffentliche Fürsorge — federführend — und gemäß § 96 der Geschäftsordnung auch dem Haushaltsausschuß zu überweisen. Ich würde darum bitten, sie zur Mitberatung auch an den Ausschuß für Gesundheitswesen zu überweisen. Es sind hier viele Dinge drin, die gesundheitspolitisch interessant sind. Darum sollte man auch den Gesundheitsausschuß beteiligen.
Abschließend darf ich folgendes feststellen: In diesem Entwurf eines neuen Sozialhilfegesetzes wechselt man von der Fürsorge zur Sozialhilfe über: damit wird eine alte Forderung der Sozialdemokratie erfüllt.

(Beifall bei der SPD.)


Dr. Eugen Gerstenmaier (CDU):
Rede ID: ID0311108500
Herr Abgeordneter Dr. Rutschke!

Dr. Wolfgang Rutschke (FDP):
Rede ID: ID0311108600
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es ist eine schöne Sache, sehr warmherzig über die Not von Menschen zu reden und zu sagen, man wolle ihnen unbedingt helfen. Man sollte aber dabei nicht die Realitäten vergessen. Man sollte nicht vergessen, aus welchen Gründen Menschen in Not gekommen sind. Ich rede nicht von den Blinden, von den Körperbehinderten oder den schuldlos in Not Geratenen; ich spreche nicht von den Währungsgeschädigten, die aus Versehen ihre Ersparnisse nicht auf ein Sparbuch, sondern auf ein Girokonto gelegt haben und nun trotz Tausender von Mark, die sie angespart hatten, auf die Wohlfahrt und die öffentliche Fürsorge angewiesen sind.
Ich möchte von anderen reden, die aus eigener Schuld in Not geraten sind. Da sollte man doch sicherlich andere Maßstäbe anlegen als bei denen, die schuldlos in Not geraten sind. Deshalb haben wir Bedenken, wenn die Rückzahlungsverpflichtung nun nicht mehr bestehen soll, wenn auch derjenige, der dazu durchaus in der Lage ist, der später zu Geld gekommen ist, nicht für die Beträge einstehen soll, die er früher von der Gemeinschaft bekommen hat und die er an sich zurückzahlen sollte. — Nun, es mag verschiedene Gründe dafür geben, von der Rückzahlungspflicht abzukommen. Aber das, was die Frau Kollegin Niggemeyer sagte, hat mich nicht überzeugt.
Man redete soviel von der Würde des Menschen. Zur Würde ,des Menschen gehört auch seine eigene Arbeit. Das wollen wir dabei nicht vergessen. Wer nicht durch eigene Arbeit sein Brot verdienen will,
der soll ruhig dann eine Rückzahlung leisten, wenn er aus dem selbstverschuldeten Zustand in einen normalen Zustand zurückgekehrt ist.
Eine weitere Ungereimtheit scheint mir zu sein, daß man mit diesem Gesetzentwurf, mit dem Rechtsanspruch die Mildtätigkeit des Bürgers nunmehr verstaatlicht hat, daß man dem Bürger auch das Sorgen für seinen Nächsten staatlicherseits abnimmt und meint, es werde nun hier schon alles dadurch geregelt, daß der Bürger nun gar kein Gefühl mehr dafür aufzubringen habe, .daß er für seinen Mitmenschen von sich aus etwas zu tun habe. Ich glaube, wir greifen damit, daß wir diese Arbeit verstaatlichen, doch sehr tief auch in die Aufgaben der karitativen Verbände ein. Ich meine, Frau Kollegin Niggemeyer, das ist doch sicherlich nicht in Ihrem Sinne. Das soll auch nicht sein. Diese Gefahr ist, jedenfalls soweit ich das erkennen kann, bei der Fassung, die uns vorliegt, sicherlich vorhanden.
Die Subsidiarität der Fürsorgeleistungen sollte im Grundsatz erhalten bleiben. Über diese Frage werden wir uns im Ausschuß sehr eingehend unterhalten müssen. Denn es muß immerhin eine Abwägung erfolgen zwischen 'demjenigen Teil, der das zu bezahlen hat, der durch seine Arbeit diese Gelder mit seinen Steuern aufbringen muß, und dem empfangenden Teil; wir verlangen auch Verantwortung von demjenigen, der diese Gelder in Anspruch nimmt.
Meine Damen und Herren, ich möchte im Namen meiner Fraktion der Freien Demokratischen Partei folgende Erklärung zu diesem Gesetz abgeben:
Die FDP-Fraktion begrüßt es, daß 'die Bundesregierung diesen Gesetzentwurf endlich vorgelegt hat, damit eine den veränderten Verhältnissen angepaßte Regelung individueller Hilfen beraten werden kann. Der Krieg, ,die Vertreibung und die Währungsreform haben eine große Zahl alter Menschen unverschuldet in Not geraten lassen. Ihnen eine angemessene und würdige Hilfe zu geben, muß Hauptziel dieses Gesetzes sein. Die FDP-Fraktion wird aber ihr Augenmerk auch darauf richten, daß das Bundessozialhilfegesetz nicht zu einer Nivellierung zwischen 'denjenigen führt, die Zeit ihres Lebens durch Arbeit eine angemessene Vorsorge für das Alter und die Wechselfälle des Lebens getroffen haben, und denen, die vielleicht sogar eine Mitschuld an ihrer Not tragen.
Bei den Beratungen muß vermieden werden, daß in der Zeit der Hochkonjunktur eine für die Gemeinden im Augenblick finanziell eben noch tragbar erscheinende gesetzliche Regelung geschaffen wird, die schon bei einer geringfügigen Änderung der wirtschaftlichen Entwicklung zu einer finanziellen Notlage der Gemeinden führen muß. Der Gesetzentwurf belastet die Gemeinden mit einem jährlichen Mehraufwand von etwa 150 Millionen DM. Das sind 10 Prozent mehr als bisher. Andere Bundesgesetze mit neuen Lasten für die Gemeinden werden folgen. Der Bundestag muß sich hüten, mit dem Blick auf die Bundestagswahl dann etwa zugunsten anderer die zahlenmäßig schwächere Gruppe der Grund- und Gewerbesteuerpflichtigen



Dr. Rutschke
noch mehr zu belasten. Krankenhausbau, Straßenbau, Kanalisierung und Erschließung sind Aufgaben, die von den Gemeinden im wesentlichen aus eigener Kraft zu bewältigen sind.
Die Bundestagsfraktion der Freien Demokratischen Partei erinnert die Bundesregierung und die Regierungsparteien an das Versprechen, das die Bundesregierung in der Regierungserklärung vom 29. Oktober 1957 gegeben hat, es werde eine ihrer vornehmsten Aufgaben sein, zur Förderung der Gemeinden beizutragen. Die FDP-Fraktion wird die Bundesregierung auch bei der Beratung des vorliegenden Gesetzentwurfs an das in der Regierungserklärung gegebene Versprechen erinnern.

(Beifall bei der FDP.)


Dr. Eugen Gerstenmaier (CDU):
Rede ID: ID0311108700
Keine weiteren Wortmeldungen; damit ist die Aussprache geschlossen.
Es ist Überweisung an den Ausschuß für Kommunalpolitik und öffentliche Fürsorge — federführend — und den Haushaltsausschuß - mitberatend — vorgesehen. Ist das Haus damit einverstanden?

(Abg. Könen [Düsseldorf]: Und an den Gesundheitsausschuß! — Weitere Zurufe.)

– Davon steht in meinem Fahrplan nichts. Soll der Gesundheitsausschuß mitberatend sein?

(Abg. Könen [Düsseldorf]: Jawohl!)


(Abg. Dr. Mommer: Das haben wir eben vereinbart!)

Wer dagegen ist, den bitte ich jetzt um ein Handzeichen. — Das erste war die Mehrheit; Gesundheitsausschuß mitberatend. —
Ich kann nicht riskieren, daß das Haus jetzt schon nach Hause geht.

(Heiterkeit.)

Denn jetzt, meine Damen und Herren, kommen die Punkte 8 his 13 der Tagesordnung.
Punkt 8:
Beratung des Schriftlichen Berichts des Ausschusses für Verteidigung (5. Ausschuß) über den Entschließungsantrag der Fraktion der FDP zur dritten Beratung des Entwurfs des Haushaltsgesetzes 1959
hier: Einzelplan 14 (Drucksache 1784, Umdruck 281).
Ich frage ,den Herrn Berichterstatter, ob er das Wort wünscht. -- Der Herr Berichterstatter verzichtet. Ich frage, ob das Haus dem Ausschußantrag zustimmen will. — Ich höre keinen Widerspruch; es ist so beschlossen.
Punkt 9 der Tagesordnung:
Beratung der Sammelübersicht 19 des Ausschusses für Petitionen (2. Ausschuß) über
Anträge von Ausschüssen des Deutschen Bundestages zu Petitionen (Drucksache 1801).
Ich frage, ob das Haus dem Antrag des Ausschusses zustimmen will. — Kein Widerspruch; es ist so beschlossen.
Punkt 10:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Süßstoffgesetzes (Drucksache 1146) ;
Schriftlicher Bericht des Finanzausschusses (14. Ausschuß) (Drucksache 1752)

(Erste Beratung 76. Sitzung).

Ich frage ,den Herrn Berichterstatter, ob er das Wort wünscht. — Der Herr Berichterstatter verzichtet.
Ich rufe auf in zweiter Lesung Art. 1, — 2 — 3 soll gestrichen werden —, Art. 4, — Einleitung und Überschrift. Wird das Wort gewünscht? Das Wort wird nicht gewünscht. Wer .dem Antrag des Ausschusses zustimmen will, den bitte ich um das Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Einstimmig angenommen.
Dritte Lesung.
Allgemeine Aussprache. — Keine Wortmeldung. Wer dem Gesetzentwurf zustimmen will, den bitte ich, sich zu erheben. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Einstimmig angenommen.
Punkt 11:
Zweite und dritte Beratung des von ,der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Finanzstatistik (Drucksache 1367) ;
Schriftlicher Bericht des Finanzausschusses (14. Ausschuß) (Drucksache 1789)

(Erste Beratung 89. Sitzung).

Der Herr Berichterstatter verzichtet auf das Wort.
Ich eröffne die Beratung zweiter Lesung und rufe in der Ausschußfassung auf §§ 1 bis 10, — Einleitung und Überschrift. — Wird das Wort gewünscht? — Das Wort wird nicht gewünscht. Wer den Bestimmungen zustimmen will, den bitte ich um ein Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Einstimmig angenommen.
Dritte Lesung.
Allgemeine Aussprache. — Keine Wortmeldungen. Wer dem Gesetzentwurf zustimmen will, den bitte ich, sich zu erheben. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Der Gesetzentwurf ist einstimmig angenommen.
Punkt 12:
Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU, DP eingebrachten Entwurfs eines Fünften Gesetzes zur Änderung des Getreidegesetzes (Drucksache 1693).
Ich frage, ob das Wort zur Einbringung gewünscht wird. — Das Wort wird nicht gewünscht. — Allgemeine Aussprache! — Keine Wortmeldungen; die



Präsident D. Dr. Gerstenmaier
Aussprache ist geschlossen. Vorgeschlagen ist Überweisung an den Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten — federführend —, an den Wirtschaftsausschuß und den Außenhandelsausschuß - mitberatend —. Ist das Haus einverstanden? — Ich höre keinen Widerspruch; es ist so beschlossen.
Punkt 13:
Erste Beratung des von der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Berechnung strafrechtlicher Verjährungsfrist (Drucksache 1738).
Ich frage, ob das Wort zur Einbringung gewünscht wird. — Auf das Wort wird verzichtet. — Allgemeine Aussprache. — Keine Wortmeldungen; die Aussprache ist geschlossen. Überweisung an den Rechtsausschuß ist vorgesehen. Das Haus ist damit einverstanden? — Kein Widerspruch; es ist so beschlossen.
Punkt 14 ist erledigt. Die Punkte 15 und 16 werden am Freitag aufgerufen.
Punkt 17:
Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU, SPD, FDP betr. Antrag auf Normenkontrolle bei dem Bundesverfassungsgericht wegen des Sammlungsgesetzes (Drucksache 1697).
Ich frage, ob das Wort gewünscht wird. — Das Wort wird nicht gewünscht. Überweisung an den Rechtsausschuß ist vorgeschlagen. Das Haus ist einverstanden? — Ich höre keinen Widerspruch; es ist so beschlossen.
Punkt 18:
Beratung des Antrags der Fraktion der SPD betr. Beihilfe zur Beschaffung von Hausrat an Deutsche aus der Sowjetzone, die nicht die Voraussetzungen des § 3 des Bundesvertriebenengesetzes erfüllen (Drucksache 1698).
Wird das Wort zur Begründung des Antrages gewünscht? — Der Antragsteller der Fraktion verzichtet. Wird das Wort gewünscht? — Das Wort wird nicht gewünscht; die Aussprache ist geschlossen. Vorgeschlagen ist Überweisung an den Ausschuß für gesamtdeutsche und Berliner Fragen — federführend —, an den Ausschuß für Heimatvertriebene und an den Haushaltsausschuß mitberatend —. Das Haus ist einverstanden? — Kein Widerspruch; es ist so beschlossen.
Punkt 19:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Wahl, Dr. Harm, Dr. Mende und Genossen betr. Abkommen über die einheitliche Auslegung der europäischen Verträge (Drucksache 1731).
Auf das Wort zur Begründung wird verzichtet. — Keine Wortmeldungen. — Überweisung an den Ausschuß für auswärtige Angelegenheiten ist vorgesehen. — Das Haus ist einverstanden; es ist so beschlossen.
Punkt 20:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Wahl, Dr. Harm, Dr. Mende und Genossen
betr. Zusatzprotokoll zur Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (Drucksache 1732).
Das Wort zur Begründung wird nicht gewünscht. — Allgemeine Aussprache. — Keine Wortmeldungen. Überweisung an den Ausschuß für auswärtige Angelegenheiten wird vorgeschlagen. — Das Haus ist einverstanden; es ist so beschlossen.
Punkt 21:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Hilbert, Dr. Furler und Genossen
betr. Schiffbarmachung des Hochrheins (Drucksache 1786).
Auf das Wort zur Begründung wird verzichtet. — Allgemeine Aussprache. — Keine Wortmeldungen. Überweisung an den Ausschuß für Verkehr, Post und Fernmeldewesen ist vorgeschlagen. — Das Haus ist einverstanden; es ist so beschlossen.
Punkt 22:
Beratung des Schriftlichen Berichts des Außenhandelsausschusses (17. Ausschuß) über den von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf einer Zolltarif-Verordnung (Deutscher Zolltarif 1960) (Drucksachen 1797, 1815).
Ich frage den Herrn Berichterstatter, Abgeordneten Hesemann, ob er das Wort wünscht. — Der Berichterstatter verzichtet. Ich frage das Haus, ob es dem Vorschlag des Ausschusses zustimmen will. — Kein Widerspruch; es ist so beschlossen.
Punkt 23:
Beratung des Mündlichen Berichts des Ausschusses für Arbeit (21. Ausschuß) über den von der Bundesregierung zur Kenntnisnahme vorgelegten Entwurf einer Verordnung Nr. ... zur Durchführung einer Erhebung über die Löhne (Drucksachen 1809, 1818).
Ich frage, ob das Wort gewünscht wird. — Das Wort wird nicht gewünscht. Das Haus stimmt dem Ausschußantrag zu? — Ich höre keinen Widerspruch; es ist so beschlossen.
Damit, meine Damen und Herren, ist die Tagesordnung für heute erledigt. Ich gebe bekannt: Erstens. Es wird gebeten, daß alle Drucksachen zu Punkten, die heute nicht erledigt worden sind, am Freitag wieder mitgebracht werden, da sie nicht noch einmal verteilt werden. Das gilt auch für alle Umdrucke. Zweitens. Das gilt nur für die FDP, die sich jetzt nicht zum Abendessen, sondern in die Fraktionssitzung begibt.
Damit, meine Damen und Herren, ist die Sitzung für heute zu Ende. Nächste Sitzung: Donnerstag, den 5. Mai, 9 Uhr. Die Sitzung ist geschlossen.