Gesamtes Protokol
Die Sitzung ist eröffnet. Nehmen Sie bitte Platz. Gu-ten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen.Bevor ich Tagesordnungspunkt 3 aufrufe, teile ich Ih-nen mit, dass es die interfraktionelle Vereinbarung gibt,die verbundene Tagesordnung um die in der Zusatz-punktliste aufgeführten Punkte zu erweitern:ZP 1 Aktuelle Stunde auf Verlangen der FraktionBÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN:Schweigen der Bundeskanzlerin zur Sozial-politik der Bundesregierung
ZP 2 Beratung des Antrags der AbgeordnetenDr. Gerhard Schick, Fritz Kuhn, Kerstin Andreae,weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-NIS 90/DIE GRÜNENGehaltsexzesse nicht länger auf Kosten derAllgemeinheit– Drucksache 17/794 –Überweisungsvorschlag:Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieRedeZP 3 Erste Beratung des von den AbgeordnetenDr. Konstantin von Notz, Volker Beck ,Birgitt Bender, weiteren Abgeordneten und derFraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN einge-brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Aufhe-bung des Gesetzes zur Erschwerung des Zu-gangs zu kinderpornographischen Inhalten inKommunikationsnetzen und Änderung weite-rer Gesetze– Drucksache 17/772 –Überweisungsvorschlag:Rechtsausschuss
InnenausschussAusschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Ernährung, Landwirtschaft undVerbraucherschutzAusschuss für Familie, Senioren, Frauen undAusschuss für Menschenrechte und HumanitäAusschuss für Kultur und Medienzungen 25. Februar 2010.00 UhrZP 4 Beratung des Antrags der Abgeordneten AgnesKrumwiede, Undine Kurth , EkinDeligöz, weiterer Abgeordneter und der FraktionBÜNDNIS 90/DIE GRÜNENKulturelle Infrastruktur sichern – Substanz-erhaltungsprogramm Kultur auflegen– Drucksache 17/789 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Kultur und Medien
Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieHaushaltsausschussZP 5 Erste Beratung des von der Fraktion der SPD ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Um-setzung des EuGH-Urteils – Er-weiterung des Kündigungsschutzes bei unter25-Jährigen– Drucksache 17/775 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Arbeit und Soziales
RechtsausschussAusschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendZP 6 Erste Beratung des von den AbgeordnetenRüdiger Veit, Dr. Dieter Wiefelspütz, OlaftextScholz, weiteren Abgeordneten und der Fraktionder SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzeszur Änderung des Staatsangehörigkeitsrechts– Drucksache 17/773 –Überweisungsvorschlag:Innenausschuss
RechtsausschussZP 7 Weitere Überweisungen im vereinfachten Verfah-ren
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten HeikeHänsel, Sevim Dağdelen, Jan van Aken, weitererrdneter und der Fraktion DIE LINKEaltige Hilfe für Haiti: Entschuldung Süd-Süd-Kooperation stärkenJugendre HilfeAbgeoNachhjetzt –– Drucksache 17/774 –
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Präsident Dr. Norbert LammertÜberweisungsvorschlag:Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit undEntwicklung
Auswärtiger AusschussAusschuss für Menschenrechte und Humanitäre HilfeHaushaltsausschussb) Beratung des Antrags der Abgeordneten ThiloHoppe, Ute Koczy, Uwe Kekeritz, weiterer Ab-geordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIEGRÜNENHaiti entschulden und langfristig beim Wie-deraufbau unterstützen– Drucksache 17/791 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit undEntwicklung
Auswärtiger AusschussAusschuss für Menschenrechte und Humanitäre HilfeHaushaltsausschussc) Beratung des Antrags der Abgeordneten UndineKurth , Cornelia Behm, AlexanderBonde, weiterer Abgeordneter und der FraktionBÜNDNIS 90/DIE GRÜNENEuropäische Tierversuchsrichtlinie muss ethi-schem Tierschutz Rechnung tragen – Stellung-nahme des Deutschen Bundestages gemäß Ar-tikel 23 Absatz 3 Grundgesetz– Drucksache 17/792 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft undVerbraucherschutz
Ausschuss für GesundheitAusschuss für Umwelt, Naturschutz und ReaktorsicherheitAusschuss für Bildung, Forschung undTechnikfolgenabschätzungAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Uniond) Beratung des Antrags der AbgeordnetenDr. Gerhard Schick, Kerstin Andreae,Dr. Thomas Gambke, weiterer Abgeordneter undder Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENVerfahren zur Auswahl von Bundesbankvor-ständen reformieren– Drucksache 17/798 –Überweisungsvorschlag:Finanzausschuss
RechtsausschussVon der Frist für den Beginn der Beratungen soll, so-weit erforderlich, abgewichen werden.Der Tagesordnungspunkt 10 c soll abgesetzt werden.Außerdem mache ich auf eine nachträgliche Aus-schussüberweisung im Anhang zur Zusatzpunktliste auf-merksam:Der in der 19. Sitzung des Deutschen Bundestagesüberwiesene nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätz-lich dem Ausschuss für die Angelegenheiten der Euro-päischen Union zur Mitberatung über-wiesen werden.Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umset-zung steuerlicher EU-Vorgaben sowie zurÄnderung steuerlicher Vorschriften– Drucksache 17/506 –überwiesen:Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Arbeit und SozialesAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen UnionHaushaltsausschuss gemäß § 96 GODarf ich dafür jeweils Ihr Einvernehmen feststellen? –Das ist offenkundig der Fall. Dann ist das so beschlos-sen.Ich rufe Tagesordnungspunkt 3 auf:Unterrichtung durch die BundesregierungBericht über die Wohnungs- und Immobilien-wirtschaft in Deutschland– Drucksache 16/13325 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
FinanzausschussAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendAusschuss für Umwelt, Naturschutz und ReaktorsicherheitNach einer interfraktionellen Vereinbarung ist fürdiese Aussprache eine Stunde vorgesehen. – Ich hörekeinen Widerspruch. Dann verfahren wir so.Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zu-nächst dem Bundesminister Dr. Peter Ramsauer.
Dr. Peter Ramsauer, Bundesminister für Verkehr,Bau und Stadtentwicklung:Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ichbin dem Parlament ausgesprochen dankbar dafür, dassdieser Bericht über die Wohnungs- und Immobilienwirt-schaft in Deutschland an so prominenter Stelle auf dieTagesordnung gesetzt worden ist, nämlich zu Beginn derKernzeit unserer parlamentarischen Beratungen. Das istsozusagen beste Sendezeit des Parlaments.Ich betone dies vor allen Dingen aus einem Grunde.
– Das vielleicht auch. Endlich einmal ein vernünftigerZuruf von den Linken; auch das kommt einmal vor!
Nein, ich betone dies aus folgendem Grunde: Bei der öf-fentlichen Darstellung durch die Medien werden die In-halte meines Ministeriums in der Regel, aus welchenGründen auch immer, auf das Thema Verkehr verkürzt,was bisweilen dazu geführt hat, dass in Kommentierun-gen der Medien ein- oder zweimal geschrieben wordenist, bei Ramsauer komme der Bau unter die Räder.
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Bundesminister Dr. Peter RamsauerErst wird also nur über das Thema Verkehr geschrieben,und dann wird von denselben Leuten beklagt, dass derBau unter die Räder komme.Heute setzen wir ein Zeichen dafür, dass dies nichtder Fall ist, dass vielmehr die Bau- und Immobilienwirt-schaft eine ganz herausragende, bedeutende Rolle in un-serer Volkswirtschaft spielt, und zwar etwa in der Grö-ßenordnung des gesamten Gesundheitswesens. Mit einerBruttowertschöpfung von 250 Milliarden Euro und rund3,8 Millionen Beschäftigten ist sie eine der tragendenSäulen unserer Volkswirtschaft.Etwas Besonderes wohnt dieser Immobilien- undBauwirtschaft inne: Sie ist, wie wenige andere Wirt-schaftszweige, ausgesprochen mittelständisch geprägtund erweist sich in ihrem moderaten und stetigenWachstum gerade vor dem Hintergrund der Wirtschafts-und Finanzkrise als sehr stabilisierendes Element. InDeutschland gibt es keine spekulationsgetriebene Immo-bilienblase, wie sie anderswo ganze Volkswirtschaftenins Wanken bringt. Darauf sollten wir stolz sein. Dies istnicht zuletzt das Ergebnis unserer Stabilitätskultur inDeutschland, die es auch künftig gegen vielfältige Vor-stöße und Anfeindungen zu sichern gilt.
Das Wohneigentum wurde gerade in den letzten fünf,zehn Jahren von vermeintlich cleveren Finanzjongleurenüber viele Jahre hinweg als renditeschwach und konser-vativ belächelt. Ich bin froh, nunmehr feststellen zu kön-nen, dass sich gerade die Wohnimmobilie heute zu Rechtals Gewinner der Finanzkrise bezeichnen kann. Dafürgibt es Gründe. Einer der Gründe ist der stabile Rechts-rahmen, den wir mit den risikoarmen Festzinshypothe-ken sowie den bewährten Bausparverträgen haben. Dassetzt auf Solidität anstatt auf Spekulation. Die Immobiliemit ihrer nachhaltigen Wertbeständigkeit gilt mit Fugund Recht als Inbegriff konservativen Wirtschaftens.Das hat sich bewährt. Das können wir auch vor demHintergrund der Finanzkrise in aller Deutlichkeit undmit Stolz feststellen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, beim ThemaWohnen geht es jedoch um sehr viel mehr als um Wirt-schaftskraft und Anlagevermögen. Wohnen ist ein indi-viduelles und soziales Grundbedürfnis aller Bürgerin-nen und Bürger in unserem Land. Schließlich istWohnen auch ein wichtiger Teil dessen, was wir alle alsHeimat empfinden und als solche bezeichnen. Die vielzitierten eigenen vier Wände sind sozusagen der priva-teste Raum jedes Bürgers und jeder Bürgerin. Das ei-gene, vertraute Umfeld gerade auch im hohen Alter giltes unbedingt zu erhalten. Wir sollten daher vor dem Hin-tergrund des demografischen Wandels unser Bestmögli-ches tun, durch altersgerechtes Bauen und Förderung desaltersgerechten Umbaus den älteren Menschen den Ver-bleib in ihren eigenen vier Wänden zu ermöglichen, so-lange dies irgend möglich ist.
Wohneigentum bedeutet für die Bürgerinnen und Bür-ger nicht nur einfach Besitz; Eigentum hat vielmehr aucheine hohe gesellschaftliche Relevanz. Ich habe hier andieser Stelle oft schon darüber gesprochen: Wohneigen-tum gibt ein Stück individuelle Freiheit und erfordertnatürlich ebenso Eigenverantwortung. In diesem Zusam-menhang von Eigentum, Freiheit und Eigenverantwor-tung ist der Staat nicht gefragt. Dies gibt ein Stück Frei-heit vom Staat und ist gelebte freiheitliche Gesellschaftund freiheitliche Bürgerkultur.
Wir sollten deshalb alles daran setzen, dass wir dieWohneigentumsquote, die derzeit bei etwa 43 Prozentliegt, weiter erhöhen. Deshalb war es auch ein wichtigerSchritt, dass noch in der letzten Legislaturperiode dasselbstgenutzte Wohneigentum besser in die privateAltersvorsorge einbezogen worden ist. Bis Ende letztenJahres sind etwa 200 000 Verträge nach dem Eigenheim-rentengesetz abgeschlossen worden. Ich meine, das isteine gute Zahl, aber wir sollten alles daran setzen, dasssich dies noch weiter verbessert. In den Beratungen, indie der Bericht jetzt geht, sollte im Hinblick daraufKreativität entwickelt werden.Meine Damen und Herren, zum Thema Wohnen undBauen gehört untrennbar das Stichwort Klimaschutz undEnergieeinsparung. Wir wissen, dass etwa 40 Prozentdes gesamten Primärenergiebedarfs in Deutschland imBereich der Gebäude zum Heizen von Luft und Wasserverbraucht wird. Dementsprechend haben wir hier einhohes Einsparpotenzial. Mit dem CO2-Gebäudesanie-rungsprogramm haben wir einen wirklich großartigenRenner in unserem Land, und wir beraten derzeit – sogestern wieder im Verkehrs- und Bauausschuss und amNachmittag zum gleichen Thema im Haushaltsausschuss –,wie wir dieses CO2-Gebäudesanierungsprogramm ver-längern und verstetigen können.Bisher sind insgesamt 1,5 Millionen Wohnungen ge-fördert worden. Das entspricht einem Einsparvolumenvon etwa 4 Millionen Tonnen CO2-Ausstoß. Nun kannman sagen, dass das in Anbetracht der Dimensionen et-was wenig ist. Ich will Ihnen eine andere Zahl nennen:Bei der Verteilung der CO2-Emissionszertifikate gingenwir von einem Volumen von etwa 500 Millionen TonnenCO2 aus. Im Vergleich dazu scheinen 4 Millionen Ton-nen CO2 nicht viel zu sein. Aber wir müssen an allenEcken und Enden, wo es uns möglich ist, sinnvoll anset-zen, gerade auch im Baubereich, um CO2-Einsparungenzu erzielen.
Im Übrigen wissen wir alle aus den vielen Zuschriftenzur Verstetigung dieses Programms, die wir gerade indiesen Tagen bekommen, in welcher Größenordnung wirim Bereich der Bauwirtschaft und des Handwerks Ar-beitsplätze sichern. Die Rede ist von bis zu 300 000 Ar-beitsplätzen.Wir wollen hier nicht nur weitermachen, sondern wirwollen die Effizienz dieses Programms weiter verbes-sern. Wir müssen uns vor allen Dingen um den Woh-nungs- und Gebäudebestand kümmern. Natürlich bietet
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Bundesminister Dr. Peter Ramsauerder Neubau tolle Perspektiven. Was sich im Bereich desEnergie-Plus-Hauses an Möglichkeiten abzeichnet, istsensationell. Es ist nicht nur ein Haus, das unter demStrich keine Energie verbraucht, sondern auch ein Haus,das sein eigenes Kraftwerk ist. Vor zwei Tagen habe ichmir Konzepte vorlegen lassen.
Das hätte man sich vor zehn Jahren nicht träumen lassen:Ein Wohnhaus, das Energie produziert und damit seinengesamten Energiebedarf für Heizung und heißes Wasserabdeckt. Darüber hinaus erzeugt es einen Überschuss,mit dem man beispielsweise das eigene Elektroauto be-laden kann. Insgesamt kann ein Haushalt, was seineGrundbedürfnisse inklusive Mobilität angeht, seinen ge-samten Energiebedarf decken. Das sind großartige Visio-nen. Von denen müssen wir uns leiten lassen.
Zu diesem Bericht gehört auch das Thema Mietrecht.Auch das steht auf der Tagesordnung. Wir werden – dassteht im Koalitionsvertrag – das Mietrecht überprüfen.Die Federführung liegt beim Justizressort. Von mir alsWohnungsbauminister wird aber zu Recht ein klaresWort erwartet. Ich möchte ausdrücklich betonen, dassdas Mietrecht für uns eine enorme soziale Bedeutunghat. Wir werden aus tiefem Verantwortungsbewusstseinheraus die soziale Balance nicht aus den Augen verlie-ren.Ich möchte aber ein aktuelles Problem benennen– wie wir es lösen werden, wird zu beraten sein –: Wirdürfen nicht tatenlos zusehen, wenn Mieter den Vermie-ter vorsätzlich und bewusst schädigen.
Gerade wenn es um die sogenannten Mietnomaden geht– ein Phänomen, das ich mir in diesem Ausmaß noch vorwenigen Jahren nicht hätte vorstellen können –, dürfenrechtstreue Kleinvermieter und die Immobilienwirt-schaft nicht alleingelassen werden.
Herr Minister.
Dr. Peter Ramsauer, Bundesminister für Verkehr,
Bau und Stadtentwicklung:
Ich komme zum Schluss, Herr Präsident.
Ich höre aus den Reihen der Sozialdemokraten einen
tiefen Seufzer. Diesen Seufzer möchte ich nicht unkom-
mentiert lassen. Es kann nicht sein, dass Mietnomaden
Wohnungen verwüsten und unvermietbar hinterlassen
und der Vermieter auch noch monatelang auf Mietausfäl-
len sitzen bleibt.
Ich wünsche den beteiligten Ausschüssen gute Bera-
tungen.
Herzlichen Dank.
Den von der CDU/CSU-Fraktion benannten Rednern
will ich die fröhliche Zwischenbotschaft übermitteln,
dass Redezeit übrig geblieben ist.
Nun erteile ich das Wort dem Kollegen Sören Bartol
für die SPD-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damenund Herren! Der Bericht über die Wohnungs- und Immo-bilienwirtschaft in Deutschland, den die letzte Bundes-regierung in Auftrag gegeben hat, spricht eine klareSprache. Dank eines seit Jahrzehnten hohen Investitions-niveaus in den Bereichen Neubau und Bestand ist dieWohnungsversorgung in Deutschland insgesamt gut.Klimaschutz und demografischer Wandel heißen diezentralen Herausforderungen, denen sich Wohnungs-wirtschaft und Politik stellen müssen. Noch etwas betontder Bericht: Wohnen ist ein soziales Gut, Herr Minister.Die soziale Sicherung des Wohnens war, ist und mussauch in Zukunft ein zentrales Anliegen der Politik sein.Einen wichtigen Schritt haben wir mit der von uns in derGroßen Koalition durchgesetzten Wohngeldreform ge-tan.
Zurück zum Anfang. Warum ist die Wohnungsversor-gung gut? Auch das erwähnt der Bericht: Ordnungsrecht-liche Rahmenbedingungen, gezielte förderpolitische Im-pulse und wirksame soziale Sicherungsinstrumentebilden die Grundlage. Nicht zu vergessen sind – auchdas hebt der Bericht hervor – Miet- und Steuerrecht. Sie– ich zitiere – „gewährleisten gleichermaßen die Wirt-schaftlichkeit der Wohnungsvermietung wie den Schutzder Mieterinnen und Mieter.“ Um die Spannung gleichvorwegzunehmen: Entweder hat Herr Ramsauer den Be-richt nicht oder nur marginal gelesen, oder er beschloss,ihn einfach zu ignorieren; denn die neue Bundesregie-rung setzt vieles von dem, was der Bericht positiv fest-hält oder unmissverständlich empfiehlt, aufs Spiel.Punkt eins ist das Mietrecht, eine der wesentlichenBedingungen für einen funktionsfähigen Wohnungs-markt. Hier hatte sich im Koalitionsvertrag bereits ange-deutet – im Gegensatz zu vielen anderen Bereichen –,wohin die Reise gehen soll. Mit der Forderung nach glei-chen Kündigungsfristen für Mieter und Vermieter drohtMillionen Mieterinnen und Mietern eine Verschlechte-rung. Die Ausgewogenheit zwischen Mieter- und Ver-mieterinteressen wird aufgehoben. Die Mieter haben das
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Sören BartolNachsehen. Für die geplanten Änderungen gibt es über-haupt keinen Grund. Das Mietrecht hat sich bewährt.
Es ist nicht nachvollziehbar, warum die Koalition hieragitiert, andere Bereiche mit dringendem Handlungsbe-darf dagegen völlig außen vor lässt.Stichwort Neubauaktivität: Hier ist, wie der Berichtvorsichtig formuliert, bundesweit die Untergrenze desBedarfs erreicht. Zwar stagnieren die Einwohnerzahlenoder gehen insgesamt zurück, aber dennoch steigt dieZahl der Haushalte aufgrund der zunehmenden „Ver-singelung“ unserer Gesellschaft weiter an. Auf400 000 Wohnungen wird der Bedarf beziffert. Gebautwurden im letzten Jahr gerade einmal 175 000. Insbe-sondere in Ballungszentren ist der Bedarf groß. Daraufmüssen wir eine sinnvolle Antwort finden.Genauso ist es beim sozialen Wohnungsbau, der2006 im Zuge der Föderalismusreform wegen der regio-nalen Differenzierung der Wohnungsmärkte den Län-dern übertragen wurde. Zu konstatieren bleibt jedocheine Leerstelle. Fakt ist, dass der soziale Wohnungsbauin einigen Ländern zum Erliegen gekommen ist. Hiermuss man sich schon einmal die Frage stellen, was dieLänder eigentlich mit unserem Geld machen. Es gibtviele Fragen.Wir fordern von der Regierungskoalition, dass sie ei-ner sozialen, ökologisch nachhaltigen und an demografi-schen Veränderungen orientierten Wohn-, Bau- undStadtentwicklungspolitik einen größeren Stellenwerteinräumt. Die energetische Anpassung des Gebäudebe-stands und der altersgerechte Umbau von Wohnungenund Stadtquartieren verlangen weitere Maßnahmen. Sichauf dem Erreichten der Vorgängerregierungen auszuru-hen, reicht nicht, lieber Herr Minister.
Wir wollen eine Weiterentwicklung und Evaluierungdes von dem sozialdemokratisch geführten Bundes-ministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ent-wickelten CO2-Gebäudesanierungsprogramms. Schönist immerhin, dass die Bundesregierung nun doch dieNotwendigkeit der von uns geforderten Fortführung desProgramms auf bisherigem Niveau erkannt hat. Die Er-folgsgeschichte des Programms muss weitergehen. Über7 Millionen Tonnen CO2 konnten seit seiner Einführungeingespart werden. Ich sage nur: lernendes Programm,lernende Regierung.Inakzeptabel ist jedoch, dass die Bundesregierungdies durch die verlängerten Laufzeiten deutscher Kern-kraftwerke finanzieren will. Unsere Meinung: Klima-schutz ja, Risiko Atomkraft nein. Deshalb lehnen wirden Finanzierungsvorschlag der Regierung ab. Wie esauch ohne gehen kann, zeigt unser Antrag: in eine nach-haltige Verkehrs-, Bau- und Stadtentwicklungspolitik in-vestieren und für die Zukunft Transparenz und Klarheitin der Finanzierung schaffen.
Wir fordern außerdem Lösungsvorschläge zur Alt-schuldenproblematik ostdeutscher Wohnungsunterneh-men, Überlegungen dazu, wie man den auf deutschenWohnungsmärkten verstärkt agierenden internationalenInvestoren begegnen kann, und die Fortentwicklung dernationalen Stadtentwicklungspolitik. Hier tappt man,was die Pläne der Bundesregierung angeht, nach wie vorim Dunkeln.Nach dem Koalitionsvertrag ist vor dem Koalitions-vertrag. Das heißt nicht zuletzt, seiner sozialen Verant-wortung gerecht zu werden. Dort zu sparen, wo das Geldam nötigsten gebraucht wird, heißt es nun gerade nicht.Genau das aber tut die Bundesregierung, wenn sie dieMittel für ein bewährtes und von Sozialverbänden, Städ-teplanern und Wohnungswirtschaft gleichermaßen ge-schätztes Programm wie die „Soziale Stadt“ gegenüberihrem eigenen Haushaltsentwurf noch einmal um20 Millionen Euro kürzt.Gerade die Menschen in Problemquartieren brauchendie Unterstützung, und zwar nicht nur bei baulichen Ver-besserungen, sondern auch bei sozialen Projekten inSchulen, bei der Gesundheitsversorgung und bei der In-tegration von Zuwanderern. Seit über zehn Jahren leistetdie „Soziale Stadt“ einen wichtigen Beitrag zur Stabili-sierung sozialer Brennpunkte. Die Kürzungen der Mittelfür das Programm konterkarieren die Ziele nationalerStadtentwicklungspolitik, und sie zeigen die sozialeSchieflage dieser Regierung.
Das sind schlechte Nachrichten für die durch dieSteuergeschenke der Regierung an Hoteliers ohnehin ge-beutelten Kommunen, für Quartiersmanager, die in520 Quartieren in fast 330 Städten und Gemeinden dasProgramm umsetzen, und vor allem für die Menschen,die in sozialen Brennpunkten leben. Wohn-, Bau- undStadtentwicklungspolitik ist ein weites Feld, das es zubestellen gilt, in ländlichen – da haben Sie recht –, abereben auch in städtischen Räumen. Es ist ein wichtigesFeld, das Herr Minister Ramsauer nicht wirklich bestellt.
Es bleiben die sich so vordringlich stellenden Fragenhinsichtlich des Klimaschutzes im Gebäudebereich, derStädteplanung vor dem Hintergrund einer alternden Ge-sellschaft und auch hinsichtlich der gewiss nicht wenigerwerdenden sozialen Spannungen in unseren Städten. Essind Fragen, die Antworten verlangen. Diese Antwortenkonnte jedenfalls ich in der Rede des Ministers wiedereinmal nicht erkennen.Vielen Dank.
Für die FDP-Fraktion erhält jetzt die Kollegin PetraMüller das Wort.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Meine sehr verehrten Damen und Herren! 2009 wurdeerstmals der Bericht zur Lage und Entwicklung derWohnungs- und Immobilienwirtschaft vorgelegt. DieserBericht zeigt auf, wie wichtig die Herausforderungensind, vor denen wir stehen. Schrumpfende Städte sind zustabilisieren, Stadtzentren sind zu stärken, Wohnen undArbeiten in der Stadt müssen attraktiver gemacht wer-den, um nur einige Punkte zu nennen.Der Bericht macht aber auch deutlich, wie groß dieBedeutung der Wohnungs- und Immobilienwirtschaft fürunsere Volkswirtschaft ist. Da gebe ich Ihnen vollkom-men recht, Herr Minister.
Mit rund einer halben Million Erwerbstätigen besitzt siedarüber hinaus eine enorme soziale Bedeutung. Deutsch-land ist ein Mieterland. Sechs von zehn Deutschen lebenzur Miete. Eine so hohe Quote finden Sie in keinem an-deren europäischen Land. Ziel muss es jedoch sein – daswar immer unser Anliegen, das Anliegen der FDP –, dieWohneigentumsquote zu erhöhen.
Der vorgelegte Bericht bestätigt, dass die Nachfragenach Wohneigentum im Bestand stagniert. In den letzten15 Jahren hat sich die Nachfragequote um nur 3 Prozenterhöht. Das ist ein Zustand, mit dem wir nicht zufriedensein können und der den Handlungsbedarf klar aufzeigt.Wir Liberale wollen das ändern.
Im Koalitionsvertrag haben wir die Bedeutung desWohneigentums gemeinsam betont. Es stärkt die regio-nale Verbundenheit und ist Altersvorsorge zugleich.Dem Wegfall der Eigenheimzulage hat die FDP nur un-ter der Bedingung zugestimmt, dass die Altersvorsorgeeingebunden wird. Das Ergebnis ist das Eigenheimren-tengesetz. Dies ist ein Schritt in die richtige Richtung;aber es ist viel zu bürokratisch, unflexibel und kompli-ziert. Deshalb werden wir es vereinfachen.
Die Bevölkerung räumt dem mietfreien Wohnen imAlter einen sehr hohen Stellenwert ein. 70 Prozent derMenschen unseres Landes streben nach Wohneigentum,können es sich aber nicht leisten, weil am Ende des Mo-nats nicht genug Netto vom Brutto übrig bleibt. DieSteuerbelastung ist zu hoch. Wir Liberale stehen weiter-hin zu unserem Versprechen, die Bürgerinnen und Bür-ger durch Steuersenkungen zu entlasten und ihnen somehr Freiheit zu geben, ihr Leben zu gestalten.
Nur wenn wir die Steuern senken, schaffen wir finan-ziellen Spielraum und ermöglichen den Menschen, in ihreigenes Heim und in ihre Altersvorsorge zu investieren.Unsere Politik wird damit den wirtschaftlichen und densozialen Anforderungen der Wohnungs- und Immobi-lienwirtschaft gerecht.Die Bauwirtschaft ist eine Schlüsselbranche des Mit-telstandes. Wie alle anderen Wirtschaftszweige leidet sieunter der aktuellen Krise. Das im Koalitionsvertragniedergelegte Sofortprogramm setzt auf Wachstums-impulse, um den Mittelstand zu entlasten. Auch im aktu-ellen Neun-Punkte-Programm des Bundeswirtschafts-ministeriums stehen mittelständische Unternehmen imZentrum liberaler Politik.Meine sehr geehrten Damen und Herren, wie ich amAnfang bereits sagte, ist es unsere Herausforderung, dieStädte und Gemeinden für die Zukunft fit zu machen. Esgeht aber auch darum, die regionale und örtliche Wirt-schaft mit unseren Stadtentwicklungsprogrammen zufördern und zu stärken. Auf einige Programme möchteich an dieser Stelle eingehen; der Minister hat es im Vor-feld schon getan.Wohnen im Alter ist eine zentrale Herausforderung.Der demografische Wandel erfordert eine zügige Anpas-sung des Wohnungsbestandes an das grundlegende Be-dürfnis der Menschen, barrierefrei leben zu können. DasKfW-Förderprogramm „Altersgerecht Umbauen“unterstützt die Wohnungswirtschaft, aber auch die Pri-vateigentümer dabei. Viele Menschen haben denWunsch, lange in ihrer vertrauten Umgebung zu woh-nen. Das müssen wir unterstützen. Dies ist volkswirt-schaftlich wichtig. Vor allem ist es aber eines: Es ist hu-man und sozial. Außerdem ist es – auch wenn uns einigeunterstellen, es sei nicht so – zutiefst liberale Politik.
Damit noch mehr ältere Menschen dieses Programmnutzen können, sieht der Haushalt 2010 eine neue Zu-schusskomponente für selbst nutzende Eigentümer vor.Dafür nehmen wir 20 Millionen Euro in die Hand. Ichwerde mich aber auch dafür einsetzen, dass durch die ge-plante Reform der EU-Gleichbehandlungsrichtliniekeine unbilligen Härten für private Hauseigentümer ent-stehen, wenn es um den barrierefreien Umbau geht.
Nun komme ich zum Programm „Soziale Stadt“. Wirhaben große regionale Unterschiede: wachsende undschrumpfende Regionen, sozial starke und sozial schwa-che Stadtteile. Das sind Tatsachen. Das Städtebauförder-programm „Soziale Stadt“ hat zum Ziel, diese Abwärts-spirale in den benachteiligten Stadtteilen aufzuhaltenund die Lebensqualität dauerhaft zu steigern. Das Pro-gramm muss jedoch stärker ressortübergreifend umge-setzt werden. Das Hauptaugenmerk der FDP liegt da-rauf, dass die Mittel aus diesem Programm vorrangig fürinvestive Maßnahmen genutzt werden.
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Petra Müller
Das neue Förderprogramm „Kleinere Städte und Ge-meinden“ folgt genau diesem Ansatz. Hier zeigt diechristlich-liberale Koalition, wie es geht. 20 MillionenEuro werden zur öffentlichen Daseinsvorsorge in dünnbesiedelten Räumen ausgegeben. Im Mittelpunkt stehtdabei der innovative Ansatz, über Gemeindegrenzenhinweg zu kooperieren, und zwar überall dort, wo diestädtebauliche Infrastruktur – Ärztehäuser, soziale Ein-richtungen, Sportanlagen – leidet, weil die Bevölkerungausdünnt. Mit diesem Programm werden wir die Funk-tionstüchtigkeit der Kommunen als wirtschaftliche, so-ziale und kulturelle Zentren erhalten.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Pro-gramme Stadtumbau Ost und West sind eine Erfolgs-geschichte. Der Schrumpfungsprozess der Städte gehtmeist mit hoher Arbeitslosigkeit sowie geringen Steuer-einnahmen und geringer Kaufkraft einher. Deshalb ste-hen im Mittelpunkt dieser beiden Programme bedarfs-gerechter Umbau, Aufwertung der Quartiere undWohnungsrückbau. Allein der Rückbau schafft aberkeine Aufwertung der Innenstädte. Das Verhältnis derMittel für die Aufwertung gegenüber den Mitteln für denRückbau soll in Absprache mit den Ländern zugunstender Aufwertung verändert werden. Das fördert die Le-bensqualität.Das Programm „Städtebaulicher Denkmalschutz“unterstützt den Erhalt und die Erneuerung historischerInnenstädte. Als Architektin aus Aachen weiß ich: In je-der Baugrube finden wir karolingische Wasserleitungenoder römische Fundamente. In Aachen besteht auch im-mer noch die Vermutung, es gebe irgendwo Kaiser KarlsBadewanne.
Entscheidend ist aber etwas anderes: Sanierungsmaß-nahmen vor Ort stärken den örtlichen Mittelstand unddas Handwerk. Das ist der wichtige Punkt.Nun noch etwas zum CO2-Gebäudesanierungspro-gramm. Es ist in dreifacher Hinsicht ein Erfolg: Klima-schutzziele werden erreicht, Wohnen ist bezahlbar,Wachstum und Arbeit werden geschaffen. Es wird weiterausgebaut. Aber Investitionshürden müssen beseitigtwerden.Wir haben erreicht, dass in diesem Jahr 400 MillionenEuro zusätzlich in dieses Programm fließen. Allerdings– das möchte ich wirklich betonen –: Die Haushaltskon-solidierung wurde nicht vernachlässigt.
Es geht nicht um Mehrausgaben, meine sehr geehrtenDamen und Herren.
Als Abgeordnete aus Aachen habe ich meine Vorstel-lungen zur dynamisch-energetischen Stadtentwick-lung in das Landeswahlprogramm NRW eingebracht. Esliegt mir besonders am Herzen, weil ich fest daranglaube, dass man diese Pläne auch auf den Bund übertra-gen kann.Die energetische Gebäudesanierung führt über dieenergetische Quartierssanierung in der Konsequenz zurdynamisch-energetischen Stadtentwicklung. Dazu ge-hört, auf die infolge des demografischen Wandels verän-derten Ansprüche an den Wohnungsstandard zu reagie-ren. Dazu gehört der Erhalt historischer Bausubstanzund der Stadtstrukturen. Dazu gehört auch die Wieder-und Umnutzung von Brachflächen. Dazu gehört aller-dings ganz besonders eine gut vernetzte und leistungsfä-hige Verkehrs- und Energieinfrastruktur. Diesesstaatliche Maßnahmenpaket hängt erheblich von derUmsetzung auf kommunaler Ebene ab. Es muss abernoch weit darüber hinausgehen. Deshalb müssen wir imBund Innovations- und Impulsgeber sein.Meine sehr verehrten Damen und Herren, abschlie-ßend möchte ich sagen: Wohnen ist nicht nur ein Grund-bedürfnis des Menschen. Wohnen prägt unsere Kultur,bietet Schutz, gestaltet unsere Umwelt nachhaltig. Wirwerden die Städtebauförderprogramme und die KfW-Förderprogramme weiterführen, spezifizieren und flexi-bilisieren,
um diesem Grundbedürfnis einen umfassenden Rahmenzu geben.Ich freue mich auf die Zusammenarbeit mit Ihnen unddanke Ihnen, dass Sie mir zugehört haben.
Frau Kollegin Müller, das war Ihre erste Rede im
Deutschen Bundestag, zu der ich Ihnen herzlich gratu-
liere, verbunden mit allen guten Wünschen für die wei-
tere parlamentarische Arbeit.
Das gilt auch für die nächsten Rednerinnen. Es wäre
schön, wenn wir zwischen der Gratulationscour und der
nächsten Jungfernrede einen – –
– Ich behalte jetzt für mich, was mir dazu spontan ein-
fällt.
Jedenfalls ist die nächste Rednerin die Kollegin
Ingrid Remmers für die Fraktion Die Linke.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!Vorab ein kurzes Wort zum Kollegen Ramsauer: Ich binnicht der Meinung, dass Wohnen ein soziales Grundbe-
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Ingrid Remmersdürfnis ist. Ich bin der Meinung, Wohnen ist ein sozialesGrundrecht.
Im Bericht der Bundesregierung wird zu Recht fest-gestellt, dass regional große Unterschiede in der Qualitätder Wohnraumversorgung bestehen. In Boomregionenwie München, Hamburg oder Stuttgart sind die Mietenfür Normalverdiener kaum noch zu bezahlen. In anderenGegenden dagegen herrscht hoher Leerstand.In meinem Bundesland, Nordrhein-Westfalen, wur-den im Sommer 2008 gegen den öffentlichen Wider-stand die 93 000 ehemals landeseigenen Wohnungender LEG an eine Heuschrecke verkauft. Der Käufer, einImmobilienfonds der international tätigen Bank Gold-man Sachs, kaufte allerdings nur 82,7 Prozent statt100 Prozent der Anteile. Mit diesem Trick ersparte sichdie Bank nicht nur die Grunderwerbsteuer, sondern sievermied auf diesem Weg auch noch eventuelle Strafzah-lungen bei einer möglichen Verletzung der Sozialchartazum Schutz der Mieter.
Damit wurde NRW auf einen Schlag nicht nur um denGroßteil seines Wohnbestandes, sondern gleichzeitigauch um größere Steuereinnahmen erleichtert.Dass Goldman Sachs die kreative Buchführung be-herrscht, zeigt auch das aktuelle Beispiel Griechenlands.Erst mithilfe dieser Bank konnte die verheerende Ver-schuldung des Landes jahrelang vor den EU-Behördenverschleiert werden. Dass sich Goldman Sachs darüberhinaus mit der Finanzierung von US-Immobilien kräftigverspekuliert hat, ist ebenfalls hinlänglich bekannt. Dashindert die deutschen Regierungsbehörden aber offen-sichtlich nicht daran, weiterhin öffentliches Wohneigen-tum an solche Spekulanten zu verkaufen.
Zu Recht wird in dem Bericht der Bundesregierungdazu festgestellt – ich zitiere –:Die Immobilien- und Wohnungswirtschaft gerät zu-nehmend unter den Einfluss der internationalen Ka-pitalmärkte und wird zum Gegenstand globaler An-lagestrategien.Dies ist eine bemerkenswerte Erkenntnis, vor allemwenn man bedenkt, dass erst im Jahr 2007 die GroßeKoalition die gesetzliche Grundlage für die Gründungvon börsennotierten Immobilienaktiengesellschaftengelegt hat. Diese sogenannten Real Estate InvestmentTrusts bieten vor allem institutionellen Anlegern Rendi-temöglichkeiten. So heißt es in dem Bericht weiter:Deutsche Mietwohnungsbestände sind für dieseAkteure sehr attraktiv, da sie eine eigene Asset-Klasse– also eine Wertanlage –mit vergleichsweise geringen Risiken darstellen.Das Ziel dieser Anlageform, egal ob riskant oder si-cher, besteht also in erster Linie darin, hohe Renditen zuerwirtschaften, und darin, dass der Investor Steuernspart. Für die Mieter der Wohnungen hingegen bedeutetes, dass wegen der Gewinnorientierung dringend benö-tigte Instandhaltungsmaßnahmen nicht durchgeführtwerden. Die Modernisierungen erfolgen erst nach demAuslaufen der jeweiligen Sozialklausel, aber dann miterheblichen Mietsteigerungen in der Folge. Dies schadetnicht nur den Mietern, sondern auch den öffentlichenHaushalten.
Bei der daraus entstehenden allgemeinen Mietsteigerungwerden die Mieter oft abgehängt. Gleichzeitig steigenfür die öffentlichen Kassen die Kosten der Unterkunft;das Wohngeld muss erhöht werden. Mit dem Verkaufvon öffentlichem Wohneigentum berauben sich Länderund Kommunen jeglicher Gestaltungsmöglichkeiten beider Stadtentwicklung, und sie berauben sich ihrer Pla-nungshoheit im Hinblick auf die Versorgung der Bürgermit Wohnraum.
In dem Bericht wird hierzu festgestellt:Die neuen Investoren sind nur selektiv an stadtent-wicklungspolitischen und quartiersbezogenen Maß-nahmen interessiert.Ich füge kurz ein: Sie profitieren immens davon, dassalle anderen kräftig dafür zahlen. Weiter heißt es:Somit wird infolge von Transaktionen oft die lang-jährige Zusammenarbeit zwischen Kommunen undörtlichen Wohnungsunternehmen unterbrochen. Hie-raus ergeben sich für die Kommunen Risiken in Be-zug auf Stadtentwicklung und -umbau.Ich finde, dies ist deutlich.Wenn unsere Städte verhindern wollen, dass mehr be-nachteiligte Viertel entstehen, dass die Gettoisierung zu-nimmt und Stadtentwicklungskonzepte nicht mehr um-gesetzt werden können, dann müssen sie die Kontrolleüber ihren Immobilienbestand behalten.
Nur so kann auf ausgewogene Mieterstrukturen und so-zial notwendige Umbaumaßnahmen Einfluss genommenwerden. Nur so können die Kommunen weiterhin ihrerAufgabe der öffentlichen Daseinsvorsorge gerecht wer-den.In dem Bericht wird allerdings auch festgestellt, dassder Verkauf von öffentlichem Wohnungsbestand an Ge-nossenschaften, direkt an die Mieter oder auch die Über-tragung von Beständen vom Land an die Kommunenechte Alternativen zur Privatisierung sind. Mithilfedieser Alternativen, hier vor allem der des öffentlichenWohnungsbestandes, kann nicht nur sichergestellt wer-den, dass bezahlbarer Wohnraum bereitgestellt wird,sondern auch, dass die lokale Wirtschaft mit angemesse-nen Gewerbemieten rechnen kann.
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Ingrid RemmersZusätzlich bieten sie Gestaltungsspielräume für die An-passung des Wohnungsangebots an die Erfordernisse be-hindertengerechten Wohnens und der alternden Bevölke-rung. Sie bieten damit auch mehr Sicherheit für die vonAltersarmut bedrohten Rentnerinnen und Rentner derZukunft.Ausdrücklich begrüßt die Linke, dass im Rahmen desIntegrierten Energie- und Klimaprogramms notwen-dige Sanierungen im Hinblick auf Energieeffizienz undInstandhaltung gefördert werden. Dabei ist aber daraufzu achten, dass dies nicht zur Verdrängung von finanz-schwachen Mietern führt. Auch hier ist öffentliches Ei-gentum oder die Form der Genossenschaft das beste Mit-tel gegen zu hohe Mieten.
In dem Bericht wird davon ausgegangen, dass weiteTeile des Wohnungsmarktes entspannt sind. Verschwie-gen wird aber, dass es großen Bedarf an preisgünstigemWohnraum gibt. Dies gilt vor allem für Universitäts-städte und Boomregionen. Familien mit niedrigem Ein-kommen, Bezieher von BAföG oder Hartz IV tun sich invielen Städten schwer damit, bezahlbare Wohnungen zufinden. Diese Wohnungsknappheit ist eine direkteFolge davon, dass die Bautätigkeit in den letzten Jahrengesunken ist. Die deutsche Bauwirtschaft, der DeutscheMieterbund und der nordrhein-westfälische Bauminis-ter Lutz Lienenkämper schlagen daher eine Erhöhungder Abschreibungssätze für Wohnungsneubautenvor. Auch das RWI stellt in seiner Studie für Nordrhein-Westfalen fest, dass sich aus dieser Maßnahme stabilepositive gesamtwirtschaftliche Effekte ergeben würden.Die Investitionen in den Neubau wirken laut der Studiepositiv auf das Bruttoinlandsprodukt, auf die Einkom-men und auf den Konsum und schaffen neue Arbeits-plätze.Mit dieser so entstandenen positiven Wirkungskettewerden laut RWI letztlich sogar die Steuermindereinnah-men mehr als ausgeglichen. Das heißt, durch die Förde-rung der Bauwirtschaft werden die Mieten gesenkt, wirddie Konjunktur gefördert und dem Staat zu Mehreinnah-men verholfen. Die Linke wird diesen Vorschlag prüfen.
Allerdings weisen wir darauf hin, dass auch die steu-erliche Förderung unternehmerischer Neubautätigkeitdie öffentliche Hand nicht von ihrer Aufgabe der öffent-lichen Daseinsvorsorge entbindet. Die existenziellenFinanzlöcher der öffentlichen Haushalte – und hier ins-besondere die Finanznöte der Kommunen – sind nichtzuletzt eine Folge der geplatzten US-Immobilienblase.Durch diese Finanznöte wird allerdings der Grundsteinfür immer neue spekulative Attacken auf das öffentlicheEigentum gelegt, und sie führen im Endeffekt zu immerneuen Krisen.Die Bundesregierung sollte endlich aus diesen Erfah-rungen lernen, das heißt: keine weitere Privatisierung öf-fentlichen Eigentums. Stattdessen fordert die Linke dieAusweitung öffentlicher Investitionen.
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, ich sage es nocheinmal: Wohnen ist ein soziales Grundrecht. Für das Le-ben der Bürgerinnen und Bürger ist es elementar undexistenziell, und ich bin nicht der Meinung, dass diesessoziale Grundrecht durch Markt und Wettbewerb ge-währleistet werden kann. Es ist mit Rendite nicht verein-bar.Vielen Dank.
Auch Ihnen, Frau Kollegin Remmers, herzlichen
Glückwunsch zur ersten Rede im Deutschen Bundestag.
Alles Gute für die weitere parlamentarische Arbeit.
Das Wort erhält nun die Kollegin Daniela Wagner für
die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wohnen istparlamentarisch betrachtet nicht unbedingt ein Aufre-gerthema. Für viele Menschen ist es das privat allerdingsjeden Tag.Die Bundesregierung geht in ihrem Bericht davonaus, dass es insgesamt – jedenfalls rein quantitativ be-trachtet – genug Wohnraum gibt, man mithin also voneinem ausgeglichenen Wohnungsmarkt sprechen kann.Das ist als Feststellung bezogen auf die Bundesrepublikinsgesamt auch durchaus richtig. Das Kernproblem liegtdarin, dass der Wohnraum zu einem Gutteil nicht dortist, wo er nachgefragt wird.
Diese Markteigenheit wird im Bericht der Bundesregie-rung leider weitgehend ausgeblendet.
Im Bericht der Bundesregierung wird von einem ent-spannten und stabilen Wohnungsmarkt gesprochen. Ichmuss sagen: Ganz so euphorisch und positiv sehe ich dasnicht. Ich sehe sogar eher das Gegenteil. So befindet sichder Mietwohnungsneubau mit gerade einmal 24 000Mietwohnungen im Jahre 2008 auf einem vorläufigenhistorischen Tiefstand, und man kann mittlerweile sogarmit Fug und Recht von regionalem Wohnungsnotstandreden.
Im krassen Gegensatz dazu steht der Neubau von Ei-genheimen, der nahezu 80 Prozent der in 2008 gebautenNeubauten umfasst. Uns liegen beide am Herzen: dieMietwohnungsbewohner und -bewohnerinnen, aberauch die Eigenheimerinnen und Eigenheimer. Aber dasnur am Rande. Wir als Grüne konzentrieren uns woh-nungspolitisch ohnehin eher auf den Bestand und dessenSanierung und Modernisierung.
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Daniela WagnerBei der aktuellen Sanierungsgeschwindigkeit – wobeimit dem Begriff „Geschwindigkeit“ in die Irre geführtwird – wird der Gesamtbestand an Wohnungen erst in180 Jahren energetisch und altersgerecht saniert sein. Ichmeine, Herr Minister: Das ist eindeutig zu lang. Daswerden wir alle und viele unserer Nachfahren nicht mehrerleben.
Sie sagten vorhin ja selber, dass 40 Prozent des Primär-energiebedarfs allein auf das Wohnen entfallen. Ichglaube, hieran müssen wir dringend etwas ändern.
Definitiv fest steht auch, dass der Wohnraum überweite Teile nicht den heutigen Anforderungen und Be-dürfnissen entspricht. Das betrifft übrigens besonders dieBaualtersklassen der Jahre 1949 bis 1979. Diese machenetwa 10 Prozent des gesamten heutigen Wohnungsbe-standes aus. Davon sind wiederum 40 Prozent definitivabgängig. Dieser Teil hat erhebliche Mängel und ent-spricht nicht mehr den heutigen Standards bei Grundriss,Energieeffizienz und Schalldämmung.In diesem Zusammenhang wird in dem Bericht leiderGottes auch das sogenannte Investor-Nutzer-Dilemmaim Bereich energetische Sanierung nicht berücksichtigtund kein Lösungsansatz aufgezeigt. Dabei wären deut-lich höhere KfW-Fördermittel ein Weg, der warmmie-tenneutralen Sanierung näherzukommen. Eine andereMöglichkeit wäre zum Beispiel ein ökologischer Miet-spiegel, der die wärmetechnische Beschaffenheit des Ge-bäudes zum Mietpreiskriterium macht.
Zur energetischen Sanierung im Altbestand selbstnut-zender Eigenheimbesitzer bekommen diese übrigens,wie die Frau Kollegin zu Recht festgestellt hat, einenZuschuss von 2 000 Euro. Das sind 500 Euro wenigerals die Abwrackprämie, die Sie bekommen haben, wennSie Ihr intaktes Fahrzeug in die Schrottpresse gefahrenhaben. Ich kann das kaum fassen.
Angesichts der Energieeinsparpotenziale und der Lang-lebigkeit von Gebäuden ist das ein krasses Missverhält-nis und wirtschaftlich absoluter Nonsens.
Obwohl Sie das Energieeffizienzprogramm mitKfW-Fördermitteln für den Wohnungsbau als unglaub-lich wichtig bezeichnen und es über den grünen Klee lo-ben, haben Sie tatsächlich in diesem Jahr nur1,1 Milliarden Euro für dieses Programm etatisiert. Imletzten Jahr haben Sie dafür noch 2,2 Milliarden Euroausgegeben. Das ist ein Hinweis darauf, dass sich dasSanierungstempo sogar noch verringern wird.
Wir als Grüne fordern, die Mittel mindestens wieder aufden Stand des letzten Jahres zu bringen und die Förde-rung des ökologischen Bauens und Sanierens sowie dieNutzung nachwachsender Baustoffe in die KfW-Förder-programme zu integrieren.
Hinzu kommen im Wohnungsbestand unabänderlicheSchwächen zum Beispiel hinsichtlich der Lage, Archi-tektur oder Erschließung eines Wohngebiets. Sie allekennen sicherlich aus Ihrer eigenen Stadt die großenQuartiere in monotoner Bauweise, häufig in den 60er-oder 70er-Jahren im ersten Förderweg errichtet. Sie wer-den selbst dann nicht mehr zu vermieten sein, wennWohnungsämter vermitteln. Heute sind das übrigens oftStandorte des Bund-Länder-Programms „Soziale Stadt“.Gerade hier weist der Bericht der Bundesregierung Män-gel und Lücken auf. Denn er enthält keinerlei umfas-sende Betrachtungen zum sozialen Wohnungsbau auchund gerade vor dem Hintergrund einer wachsenden An-zahl von Haushalten, die an der Armutsgrenze leben.Das ist nicht hinnehmbar.An dieser Stelle sei gesagt: Es nützt nichts, wenn mansich mit diesen Menschen nur dahin gehend befasst, dassman sie zum Schneeschippen vor den Haustüren derjeni-gen reichen Berliner Hausbesitzer schicken sollte, dieselber keine Lust dazu haben, das morgens zu tun.
Allein in Darmstadt zum Beispiel stehen beim kom-munalen Wohnungsamt 2 000 Wohnungssuchende aufder Warteliste, die sozialen Wohnraum nachfragen.Dieses Problem wird verschärft – auch das ist bekannt –,weil gegenwärtig wesentlich mehr Wohnungen aus derMietpreis- und Belegungsbindung fallen als durch Neu-bau und Sanierung in die Belegungsbindung hineinkom-men.Man muss von Glück reden, dass jetzt mit demEFRE-Programm gegengesteuert wird und sich die Eu-ropäische Union an Sanierung und Neubau städtischerQuartiere beteiligen will, um so gegen Ausgrenzung an-zugehen. Ich hoffe, dass die Länder und Kommunen inder Bundesrepublik kräftig Gebrauch von diesem neuenAngebot aus Brüssel machen.
Wenn die Regierungskoalition 20 Millionen Euro fürdie Förderung von Stadtteilen mit besonderem Ent-wicklungsbedarf streichen will, dann verstärkt sie auchhier die Politik der sozialen Kälte weiter und fördertmassiv die sozialräumliche Segregation und Spaltung inder Gesellschaft. Diese Bewohnerinnen und Bewohnermüssen mitgenommen werden. Einfach nur Prachtbau-ten hinzusetzen, reicht nicht. Deswegen ist auch dieÜberlegung, das Bund-Länder-Programm „Soziale Stadt“als reines Investitionsprogramm zu gestalten, falsch. Wirbrauchen dort auch weiterhin Stadtteilmanagement.
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Daniela WagnerEin bisschen zu kurz kommt in dem Bericht die Rolleder Wohnungswirtschaft und ihre Möglichkeiten beimEinwirken auf Gentrification, soziale Segregation undandere Prozesse in den Wohnquartieren. Ich finde, hierist die Demokratisierung von Wohnen und Wohnungs-wirtschaft ein guter Ansatz. Es gibt immer mehr Men-schen, die selber mitgestalten und mitbestimmen wollen,was und wie gebaut wird. Es gibt immer mehr Genos-senschaftsmodelle, Baumodelle für Alt und Jung undÄhnliches mehr. Es gibt landauf, landab innovativeWohnprojekte. Diese müssen wir stützen; denn die Men-schen in diesen Projekten übernehmen nachher imWohnquartier Verantwortung und sind deswegen in ihrerstabilisierenden Wirkung nicht zu unterschätzen.
Mit diesen Menschen müssen wir zusammenarbeiten.Sie bedeuten ein Mehr an demokratischer Teilhabe undVerantwortung im Quartier.Nur durch massive städtebauliche Veränderungen wer-den wir Leerstandsproblematiken und anderes mehr inden Griff bekommen.
Frau Kollegin, gucken Sie gelegentlich auf die Uhr?
Ja, selbstverständlich.
– Bei der nächsten Rede gucke ich besser auf die Uhr, da
haben Sie recht, Herr Kollege.
Ich wünsche mir jedenfalls von der Bundesregierung,
dass sie in Zukunft drei Dinge ganz massiv in Augen-
schein nimmt: das Erste sind innovative Wohnprojekte,
das Zweite ist die energetische und altersgerechte Sanie-
rung, und das Dritte ist, die Quartiere mit besonderem
Entwicklungsbedarf weiter zu fördern und sie nicht ab-
kippen zu lassen.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
Frau Kollegin Wagner, das war natürlich nicht Ihre
erste parlamentarische Rede, aber Ihre erste Rede im
Deutschen Bundestag, zu der ich deswegen ganz herz-
lich gratuliere.
Sie haben natürlich den gleichen Sympathiebonus in Ge-
stalt von zusätzlicher Redezeit erhalten, den wir in ver-
gleichbaren Fällen, aber nicht für eine gesamte Legisla-
turperiode, gerne gewähren.
Nun hat das Wort der Kollege Peter Götz,
der mit einem solchen Bonus nicht mehr rechnen kann.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Meine sehr geehrten Damen und Herren! Der Bericht,den wir heute debattieren, unterstreicht die große ökono-mische Bedeutung der Wohnungs- und Immobilienwirt-schaft für die gesamtwirtschaftliche Wertschöpfung inunserem Land. Wir haben in Deutschland, wenn auchsehr differenziert, insgesamt einen intakten Immobilien-markt.Im Gegensatz zu vielen anderen Ländern um uns he-rum gehen von der Wohnungs- und Immobilienwirt-schaft gerade in der Finanzkrise stabilisierende Einflüsseaus. Der Grund liegt in den in der Regel sehr soliden Fi-nanzierungen von Immobilieninvestitionen. Das ist al-les keine Selbstverständlichkeit. Ein Blick nach Ame-rika, wo es möglich war, den Kauf eines Hauses ohneEigenkapital zu bis zu 120 Prozent fremdzufinanzieren,zeigt sehr deutlich den Unterschied der verschiedenenSysteme.Der Anteil der Immobilienwirtschaft an der gesamt-wirtschaftlichen Bruttowertschöpfung in Deutschlandbeträgt mehr als das Doppelte von Maschinen- und Fahr-zeugbau zusammen. Insofern ist es richtig und war esnur konsequent, dass auf Initiative der CDU/CSU in dervergangenen Legislaturperiode der erste Bericht derBundesregierung über die Wohnungs- und Immobilien-wirtschaft auf den Weg gebracht wurde.Angesichts der Tatsache, dass Immobilien mit rund86 Prozent den herausragenden Anteil am deutschenAnlagevermögen ausmachen, muss eine nachhaltig po-sitive Entwicklung der Branche unser gemeinsames Inte-resse sein; ein Interesse, das weit über die Ressortverant-wortung der Wohnungs- und Baupolitik hinausgeht.Neben der Wirtschaftspolitik beeinflussen Aspekte ausden Bereichen der Finanz-, der Rechts-, der Umwelt-,der Sozial- sowie der Kommunal- und Stadtentwick-lungspolitik die Immobilienmärkte.Wanderungsbewegungen quer durch Deutschland unddie demografische Entwicklung sind zusätzliche Heraus-forderungen, denen regional differenziert Rechnung ge-tragen werden muss. Deshalb brauchen wir kein Euro-päisches Parlament, das uns von Brüssel aus sagt, wiewir den sozialen Wohnungsbau in Deutschland zu ge-stalten haben.
Wachsende Regionen mit einer steigenden Zahl vonNeuvermietungen stehen schrumpfenden Regionen, diesich mit Wohnungsleerständen und mit den daraus resul-tierenden einschneidenden Auswirkungen auf die kom-munale Infrastruktur auseinanderzusetzen haben, gegen-über.
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Peter GötzNoch etwas zum Thema „Soziale Stadt“. Das wurdehier wiederholt kritisch angesprochen. Das ProgrammSoziale Stadt wird auf hohem Niveau fortgesetzt. Eswird nicht gekürzt. Die Länder haben allerdings – demstimme ich zu, weil wir diese Flexibilität von den Län-dern erwartet haben – umgeschichtet. Aber eine Um-schichtung ist nicht mit einer Kürzung gleichzusetzen.Das ist ein großer Unterschied.
Wir haben Präferenzverschiebungen der Haushaltedurch qualitative Anforderungen an die Wohnungsbe-stände wie höhere Wohnflächen, aber auch veränderteZuschnitte der Wohnungen, vor allem im Bereich der Bar-rierefreiheit von Wohnungen, die eine zunehmend wich-tigere Rolle spielen wird. Durch eine regionale Nachfra-geverschiebung entsteht trotz rückläufiger Bevölkerungs-und stagnierender Haushaltszahlen vielerorts – das ist un-bestritten – eine zusätzliche Wohnungsnachfrage. Das giltvor allen Dingen für die Ballungsräume und die Studen-tenstädte. Die regionale Differenziertheit ist ein Gut inDeutschland; deshalb haben wir im Rahmen der Födera-lismusreform dazu beigetragen, dass der soziale Woh-nungsbau nicht mehr in einer zentralen Stelle des Bundesangesiedelt ist, sondern in die Zuständigkeit der Länderübertragen worden ist. Es wäre irrsinnig, nachdem wir inDeutschland den sozialen Wohnungsbau auf die Länderübertragen haben, jetzt die Forderung zu erheben, die Eu-ropäische Kommission solle dies in Zukunft beeinflussen.Das wäre der falsche Weg.
– Die Länder müssen es tun. Es gibt Länder, die es tun,es gibt aber auch andere, die es nicht tun. Das ist ent-sprechend dem Bedarf auch richtig. – Bei Eigentümer-haushalten steigt die Wohnflächennachfrage seit Jahrenkontinuierlich. Hinzu kommen die klimapolitischen He-rausforderungen an die Wohnungswirtschaft. Die größ-ten Energieeinsparpotenziale finden wir unbestrittenim Gebäudebestand. Sie gilt es intelligent durch Anreizezu aktivieren. Wir begrüßen ausdrücklich, dass Sie, HerrMinister Ramsauer, es geschafft haben, die Akteure derImmobilienwirtschaft an einen Tisch zu holen, und dassSie den immobilienwirtschaftlichen Dialog persönlichführen.
Eine weitere wichtige Aufgabe ist und bleibt die Stär-kung des selbstgenutzten Wohneigentums. Deshalbwollen wir die Eigenheimrente einfacher machen. Es warein Fehler der damals sozialdemokratisch geführten Bun-desregierung, das selbstgenutzte Wohneigentum nichtvon Anfang an gleichwertig in die geförderte Altersvor-sorge einzubeziehen.Lassen Sie mich noch einen anderen Punkt anspre-chen, von dem auch vorhin gesprochen wurde. Mit demWohngeld und dem Mietrecht haben wir zwei gut entwi-ckelte Instrumente zur Verfügung. Das befreit aber nichtdavon, auch diese Instrumente bei neuen Entwicklungenauf ihre Wirksamkeit zu überprüfen. Um die Investitions-bereitschaft der Hauseigentümer bei der energetischenSanierung und der altersgerechten Anpassung des Woh-nungsbestandes zu erhöhen, müssen wir das Mietrechtunvoreingenommen prüfen. Das hilft dem Klima und derWirtschaft, das schafft Arbeitsplätze, senkt die Heizkos-ten der Mieter, hebt den Wohnungsstandard und damitden Wert der Immobilie, und gleichzeitig kostet es denStaatshaushalt kein Geld. Das heißt, wir brauchen part-nerschaftliche Lösungen im Interesse der Vermieter undder Mieter.Lassen Sie mich abschließend Folgendes feststellen:Immobilien prägen das Bild einer Gesellschaft. Wir ha-ben in Deutschland auch dank einer aktiven Städte-bauförderungspolitik attraktive und lebenswerte Städteund Gemeinden mit einer ausgeprägten, guten Baukul-tur. Um dies zu erhalten und positiv weiterzuentwickeln,bedarf es einer integrierten Stadtentwicklungspolitik.Unser gemeinsames Ziel muss sein, dass die gute Le-bensqualität in Deutschland auch weiterhin durch einenhohen Wohnungsstandard gekennzeichnet ist. Die Im-mobilienwirtschaft mit über 700 000 Unternehmen undmit ihren nahezu 4 Millionen Beschäftigten leistet dazueinen wichtigen Beitrag. Wir nehmen dies dankbar zurKenntnis.Vielen Dank.
Das Wort erhält nun der Kollege Michael Groß für die
SPD-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Auf die be-sondere Bedeutung der Wohnungs- und Immobilienwirt-schaft ist bereits eingegangen worden. Die Generierungund Sicherung von Arbeitsplätzen und das CO2-Gebäu-desanierungsprogramm sind hervorgehoben worden.Deswegen möchte ich auf einige andere Aspekte einge-hen.Laut Bericht steigen gerade in den Ballungsgebietendie Mieten und Eigentumspreise. Im Durchschnitt blei-ben die Ausgaben für das Wohnen der größte Einzel-posten der Konsumausgaben. Zum Vergleich: 1991betrugen die Ausgaben noch circa 19 Prozent des Fami-lieneinkommens. 2007 waren es schon 25 Prozent. DieWohngeldreform mit zusätzlich 520 Millionen Euro aufInitiative der SPD war deshalb die richtige Antwort.
Hiermit konnte die Lage der finanziell schwachen Haus-halte erheblich verbessert werden. 800 000 Haushalteprofitierten davon.Auf dem Immobilienmarkt finden jedoch große struk-turelle Veränderungen statt, wie im Bericht festgestelltwird. Zunehmende Internationalisierung und eine stär-kere Orientierung an den internationalen Kapitalmärktenstellen die Branche vor neue Herausforderungen und for-dern die Bundespolitik.
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Michael GroßSo sind die Auswirkungen für Mieter bislang wenigbetrachtet worden. Welche Auswirkung hat die Orientie-rung am Markt für den einzelnen Mieter? Gibt es nochden Gesprächspartner vor Ort? Gibt es ein Callcenter,bei dem man ständig in Warteschleifen gerät? Wer regeltdie kleinen Probleme vor Ort – die Tür, die im Winternicht schließt, die Treppenhausbeleuchtung, die ausfällt?Bei einer Umfrage zu Erreichbarkeit und Problemlösungwaren 50 Prozent der Mieter mit ihrer Situation unzu-frieden.Aber auch im Größeren darf es nicht nur um reine Ge-winnmaximierung gehen. Die Stadtteilentwicklung unddas Quartiersmanagement sind keine Sache von interna-tionalen Investoren. Wie werden Sie das unter einen Hutbringen? Die städtischen Wohnungsgesellschaften undGenossenschaften müssen unter anderem auch deshalbals Korrektiv erhalten bleiben.
In Regionen mit sinkenden Bevölkerungszahlen, wiezum Beispiel im nördlichen Ruhrgebiet und in den neuenLändern, ist die öffentliche Wohnraumversorgung zuverstärken. Hier bestehen Leerstände und Wohnungs-überangebote. Menschen mit einem geringen Einkom-men müssen Wohnungen in Anspruch nehmen, die sichin einem schlechten Umfeld befinden und nicht mehrzeitgemäß sind. Dies führt zur Bildung von benachteilig-ten Stadtteilen. An diesen Orten wird die kulturelle undsoziale Teilhabe von Familien und insbesondere vonKindern eingeschränkt.
Insoweit erscheint es dringend notwendig, nicht mehrzeitgemäße Gebäudekomplexe vom Markt zu nehmenund durch den Wohnbedürfnissen gerecht werdendeNeubauten zu ersetzen.Insgesamt sollte man überdenken, ob die Förderungvon demografisch bedingtem Neubau und Bestandser-satz nicht doch eine sinnvolle Alternative zur Sanierungist. Gerade für Häuser aus den 50er- und 70er-Jahren,deren Sanierungskosten zu hoch sind, gilt es, dies zuüberdenken.
Bestandsersatz wird bislang nicht eigenständig geför-dert, und es wäre eine Überlegung wert, dies eventuell indie KfW-Programme aufzunehmen.Die Bundesregierung strebt an, die Kündigungsfristauch für den Vermieter unabhängig von der bisherigenMietzeit auf drei Monate zu verkürzen. Die FDP schwörtgeradezu darauf, dass die Kündigungsfristen von Ver-mietern und Mietern vereinheitlicht werden.Für Familien und Einzelpersonen hängen Kindergär-ten, Schulen, Nachbarn und Freundschaften an ihremWohnort, an ihrem Wohnumfeld. Sie haben sich an die-sem Ort Netzwerke zur Unterstützung geschaffen. Woh-nen ist eben mehr als nur ein Dach über dem Kopf.
Je vertrauter dem Mieter sein Wohnumfeld ist, um soschutzwürdiger ist sein Interesse, in der Wohnung zuverbleiben oder genügend Zeit zu haben, sich in seinemvertrauten Umfeld eine neue Wohnung zu suchen.Sie haben mit dieser Forderung, sehr geehrte Damenund Herren von der Koalition, nicht einmal mehr – someine Information – die Ministerin an Ihrer Seite, die fürden Verbraucherschutz zuständig ist.Die Quartiere mit sozialer Schieflage, Brennpunkteder Stadt, werden zum Beispiel mit dem Programm „So-ziale Stadt“ nicht nur baulich verbessert, sondern auchdie Menschen werden mitgenommen, werden aktiv, egalob über Projekte an Schulen, bei der Integration von Zu-wanderern oder der Gesundheitsvorsorge. Mit diesemProgramm wird nicht nur die Wohnsituation verbessert,sondern es gibt den Menschen dort auch die Chance, ihrLeben selbst positiv zu gestalten und aktiv mitzuwirken.
Fragt man Praktiker und Akteure vor Ort, so hörtman, dass der Bund in den letzten Jahren gute Pro-gramme gestartet hat: „Stadtumbau West“ und die „So-ziale Stadt“. Allerdings ist die Situation zurzeit zynisch,insbesondere in meinem Wahlkreis. Die gesamten Pro-gramme müssen durch Eigenmittel der Kommunen mit-finanziert werden. Immer mehr Städte sind aber in einerschwierigen finanziellen Situation. Das Wachstumsbe-schleunigungsgesetz bzw. das Städtebelastungsgesetzder Bundesregierung sorgt dafür, dass den Städten regel-recht die Luft ausgeht.
Das ist nicht genug: Sie haben weitere Steuerentlas-tungen für Unternehmen angekündigt, und zwar zulastender Kommunen und der Bürger. In meinem Wahlkreiswerden seit Jahren Schwimmbäder geschlossen, Bera-tungen ausgedünnt, soziale Arbeit gekürzt, weitere wich-tige präventive Angebote zurückgefahren. 2011 sind dieersten Kommunen überschuldet, andere Städte im KreisRecklinghausen sind es etwas später, obwohl seit über20 Jahren an allen Ecken gespart wird, obwohl bereitsseit 1993 600 000 Millionen Euro konsolidiert wordensind.Doch die die Bundesregierung stellenden ParteienFDP und Union sind nicht die Einzigen, die die Städteausbluten lassen. Das beste Bundesprogramm hilftnichts, wenn die schwarz-gelbe Landesregierung seit2005 3 Milliarden Euro zulasten der Kommunen kürzt,Förderprogramme abbaut und den Städten Bundesmittelvorenthält.
Das Land NRW hat sich von der Förderung der Be-triebs- und Investitionskosten von Kindergärten – eshandelt sich um Kosten in Höhe von 87,5 MillionenEuro – zurückgezogen. Es hält Bundesmittel für Be-triebskosten der Kitas in Höhe von 17 Millionen Eurozurück, und es verdoppelt den kommunalen Anteil anKrankenhausinvestitionen in Höhe von 440 MillionenEuro. Ich könnte diese Liste weiterführen.
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2040 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 24. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Februar 2010
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Michael GroßEntscheiden sich die Kommunen trotz dieser Um-stände für die beiden Programme des Bundes, könnenandere sinnvolle Förderprogramme in der Jugendhilfe,in der Weiterbildung, in der Arbeitsmarktpolitik nichtmehr in Anspruch genommen werden, ganz schlicht undergreifend deshalb, weil man das nicht vorhandene Geldnur einmal ausgeben kann.Wenn Banken systemrelevant sind, sind es die Kom-munen schon lange. Sie verschärfen mit Ihrer Politik diesoziale Schieflage bis zur Senkrechten.
Sie betreiben Klientelpolitik für diejenigen, die sich ei-nen Ministerpräsidenten mieten können.Danke schön.
Auch Ihnen, Herr Kollege Groß, herzlichen Glück-
wunsch zur ersten Rede im Deutschen Bundestag.
Die Wahrscheinlichkeit, dass ein ganzer Tagesord-
nungspunkt zur Hälfte von Erstrednern bestritten wird,
nimmt im Laufe der Legislaturperiode übrigens auf na-
türliche Weise immer mehr ab.
Insofern sollten Sie die heutige Debatte in besonders in-
tensiver Erinnerung behalten.
Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der
Kollege Volkmar Vogel für die CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der
Wohnungsmarkt hält international – ich denke, darin
sind wir uns alle einig – jedem Vergleich stand. Alle Ak-
teure, die daran beteiligt sind, verdienen dafür Dank.
So etwas funktioniert natürlich nicht im Selbstlauf.
Deshalb werden wir in dieser Legislaturperiode gemein-
sam mit der Bundesregierung dafür sorgen, dass
Wohneigentum und vor allen Dingen Altersvorsorge in
diesem Bereich gestärkt werden, dass altersgerechtes
und auch bezahlbares Wohnen gesichert werden, dass
Klimaschutz und Nachhaltigkeit im Bauen gestärkt wer-
den und dass auch die kleinen Städte und die Kommunen
dabei nicht zu kurz kommen.
Die Eigentumsstrukturen auf dem deutschen Woh-
nungsmarkt haben sich bewährt. Kommunale Unterneh-
men, Genossenschaften und auch das weite Feld des pri-
vaten Wohneigentums werden von uns gleichberechtigt
gefördert. Wir sind nicht für Gleichmacherei, wohl aber
für Gleichbehandlung aller Akteure.
Wohnungswirtschaft und Wohnungspolitik stehen vor
zwei großen Herausforderungen: Das ist zum einen die
Strukturanpassung, vor allen Dingen durch den demo-
grafischen Wandel. Das ist zum anderen die Energieein-
sparung, damit Nebenkosten bezahlbar bleiben und Um-
welt und Klima geschützt werden.
Statistisch gesehen haben wir in Deutschland einen
ausgeglichenen Wohnungsmarkt. Regional betrachtet
sieht das natürlich ganz anders aus. Deshalb wird das
Programm Stadtumbau Ost nach den speziellen Erfor-
dernissen der ostdeutschen Bundesländer bis 2016 fort-
geschrieben. Wir werden dieses Programm 2015 evalu-
ieren, das heißt, wir werden überprüfen, in welcher Art
und Weise es fortzusetzen ist. Neben dem Abriss wird in
den nächsten Jahren vor allen Dingen die Aufwertung
der verbleibenden Innenstadtquartiere mehr an Bedeu-
tung gewinnen, als es in der Vergangenheit der Fall war.
Ich gehe auch davon aus, dass das Programm in Zukunft
nicht mehr Stadtumbau Ost oder Stadtumbau West hei-
ßen wird, sondern es wird nach und nach immer mehr zu
einem Strukturanpassungsprogramm umgestaltet wer-
den.
Wie im Koalitionsvertrag vereinbart – auch das spielt
dabei eine große Rolle –, werden wir noch in diesem
Jahr eine Regelung für die Altschulden finden. Es wird
dazu ein Gutachten geben. Wir werden überprüfen, in
welcher Art und Weise geholfen werden kann. Entschei-
dend dabei ist natürlich, den Unternehmen zu helfen, die
ohne eigenes Verschulden in wirtschaftliche Schwierig-
keiten geraten sind.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, mit zunehmender
Tendenz wird der Energieverbrauch eine wesentliche
Rolle bei der Kauf- oder Mietentscheidung spielen. Das
CO2-Gebäudesanierungsprogramm hat sich bewährt:
klimapolitisch für die Umwelt, konjunkturpolitisch für
Handwerk und Industrie und wohnungspolitisch für den
Modernisierungsgrad des Bestandes. Deshalb werden
wir für Planungssicherheit im Ordnungsrecht sorgen.
Die Realisierung der ehrgeizigen Anforderungen der
EnEV 2009 auf breiter Basis mit vielen Beteiligten
bringt aus meiner Sicht für den Klimaschutz mehr als
noch höhere Standards, die niemand bezahlen kann.
Augenmaß, Wirtschaftlichkeit und Technologieoffen-
heit muss die Devise sein beim Fordern. Einfach und
verlässlich muss die Förderung sein. Dafür werden auch
in diesem Jahr – das haben wir erreicht – zusätzlich
400 Millionen Euro im Haushalt zur Verfügung gestellt.
Lassen Sie mich zum Abschluss noch zwei Worte,
und zwar zu einem anderen Bereich, der hier eine wich-
tige Rolle spielt, sagen.
Das kann jetzt aber kein neuer Redeteil werden, son-dern zwei abschließende kurze Bemerkungen.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 24. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Februar 2010 2041
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Nein, Herr Präsident, ein Satz. – Wir müssen mehr als
bisher auch die Frage der Nachhaltigkeit beim Bauen in
den Fokus rücken. Wir müssen stärker die Art der Her-
stellung, der Herkunft und die Wieder- und Weiterver-
wendungsmöglichkeiten von Baustoffen sowie die Bau-
technologien in unsere klimapolitischen Betrachtungen
einbeziehen, um unsere Ziele zu erreichen.
Herr Präsident, gestatten Sie mir zum Abschluss noch
einen Satz zur Nachhaltigkeit.
Schauen wir uns einmal die Gründerzeithäuser in unse-
rer Heimat an, die zwei Kriege und Inflationen überstan-
den haben, die 40 Jahre Kommunismus abgeschüttelt ha-
ben und jetzt im neuen Glanz dastehen.
Vor diesem Hintergrund sage ich: Nachhaltigkeit heißt,
wenn auch in 100 Jahren über die Neubauten von heute
noch gut gesprochen wird.
Vielen Dank.
Ich registriere immer wieder mit einer Mischung aus
Bewunderung und Neid, zu welcher Großzügigkeit
heute amtierende Präsidenten bei der Bemessung von
Redezeiten in der Lage sind, während mir Ähnliches frü-
her mit einer geradezu brutalen Konsequenz verweigert
wurde.
Ich schließe die Aussprache zu diesem Tagesord-
nungspunkt.
Ich schlage Ihnen vor, der interfraktionellen Empfeh-
lung zu folgen, die Vorlage auf Drucksache 16/13325 an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu
überweisen. – Das ist offenkundig unstreitig. Dann ist
die Überweisung so beschlossen.
Wir kommen nun zu den Tagesordnungspunkten 4 a
und 4 b:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Markus
Kurth, Ekin Deligöz, Dr. Wolfgang Strengmann-
Kuhn, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Bedarfsgerechte Regelsätze für Kinder und
Erwachsene jetzt ermöglichen
– Drucksache 17/675 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Haushaltsausschuss
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Katja
Kipping, Klaus Ernst, Matthias W. Birkwald,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Weg mit Hartz IV – Für gute Arbeit und eine
sanktionsfreie, bedarfsdeckende Mindestsiche-
rung
– Drucksache 17/659 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Innenausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
diese Aussprache 90 Minuten vorgesehen. – Auch hierzu
höre ich keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlos-
sen.
Ich eröffne die Aussprache. Erster Redner ist der Kol-
lege Markus Kurth für die Fraktion Bündnis 90/Die Grü-
nen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das Bun-desverfassungsgericht hat am 9. Februar ein bemerkens-wertes Urteil gesprochen. Es stellt in bemerkenswerterKlarheit die Gewährleistung eines menschenwürdigenExistenzminimums in einen direkten Zusammenhangmit Art. 1 Abs. 1 des Grundgesetzes, der da lautet:Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zuachten und zu schützen ist Verpflichtung aller staat-lichen Gewalt.Das Bundesverfassungsgericht stellt weiterhin klar, dassdas Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwür-digen Existenzminimums eine eigenständige Bedeutunghat und dem Grunde nach unverfügbar ist.Alle, die sich an der Debatte über die Regelsätze zumArbeitslosengeld II beteiligen, sollten diese Leitsätze desBundesverfassungsgerichtes zum Ausgangspunkt ihrerÜberlegungen nehmen, wenn sie den Grundsatz derMenschenwürde nicht verächtlich machen und das So-zialstaatsprinzip nicht infrage stellen wollen.
Wer wie der FDP-Vizekanzler das menschenwürdigeExistenzminimum als leistungsloses Einkommen zu dis-kreditieren versucht, zeigt, dass er das Bundesverfas-sungsgericht und sein Urteil weder ernst noch wirklichzur Kenntnis nimmt.
Wer diejenigen, die sich seit Jahren hier im Parlamentsachlich und sehr sorgfältig mit der Bestimmung der Re-gelsätze auseinandersetzen, der Einladung zu spätrömi-scher Dekadenz bezichtigt, der verunglimpft nicht nurdie Erwerbslosen, sondern offenbart auch ein gerütteltMaß an Unverständnis für demokratisch-parlamentari-sche Prozesse.
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2042 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 24. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Februar 2010
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Markus KurthWer sich wie der FDP-Generalsekretär Lindner nicht zu-erst – von der Menschenwürde ausgehend – die Fragestellt, ob 251 Euro monatlich einem zehnjährigen Kindzu einer menschenwürdigen Existenz verhelfen, sondernstattdessen pauschal unterstellt, arme Mütter könntenvielleicht zum Zweck des Geldverdienens gebären, derbeweist sein völliges Desinteresse an den Lebensbedin-gungen von armen Kindern in diesem Land.
Mir ist es wichtig, das zu Beginn dieser Debatte zubetonen, weil ich der Auffassung bin, dass es sich ummehr handelt als um einen Fehlgriff in der Wortwahloder um eine falsche Tonlage. Hier offenbart sich eingrundlegend gestörtes Verhältnis zu den Grundlagenunseres Gemeinwesens und des Grundgesetzes.
Es tut also not, die durch die Verbalinjurien von HerrnWesterwelle entglittene Debatte über das menschenwür-dige Existenzminimum wieder mit der Ernsthaftigkeit zuführen, mit der auch das Bundesverfassungsgericht seinUrteil gesprochen und begründet hat. Deshalb hatBündnis 90/Die Grünen die heutige Debatte beantragtund einen Antrag vorgelegt, der den Grundsatz der Un-antastbarkeit der Würde des Menschen den weiteren Er-wägungen voranstellt. Gerade weil das Grundrecht aufein menschenwürdiges Existenzminimum dem Grundenach nicht verfügbar ist, halten wir es für zwingend, dassder Gesetzgeber seinen Gestaltungsspielraum wohlüber-legt nutzt. An einer plausiblen Begründung und nach-vollziehbaren Herleitung der aktuellen Regelsätze man-gelt es. Ich gebe unumwunden zu, dass wir 2004 denFehler gemacht haben, unsere bereits damals bestehen-den Einwände nicht hartnäckig genug vertreten zu ha-ben. Allerdings kann sich keine Fraktion, die in den ver-gangenen Jahren Regierungsverantwortung getragen hat,von einer Mitverantwortung freisprechen,
da die Regelsatzverordnung nicht nur von der damali-gen Bundesregierung, sondern auch vom Bundesrat ver-abschiedet wurde. Als damals Beteiligter kann ich michsehr gut erinnern, dass keine Landesregierung besondereAnstrengungen an den Tag gelegt hat, um das Verfahrenzu verändern.Umso wichtiger sollte es nun nicht nur für meineFraktion sein, beim jetzt fälligen Blick nach vorn dieKonsequenzen zu ziehen. Hierzu gehört erstens, die Be-darfsermittlung den Realitäten anzupassen. Wer glaubt,dass 15 Euro für ein Monatsticket ausreichen, der istschon lange nicht mehr mit dem öffentlichen Nahver-kehr gefahren.
Kinder dürfen bei der Bedarfsermittlung nicht mehr wiekleine Erwachsene behandelt werden. Es kann dochnicht wahr sein, dass der Bedarf eines alleinstehenden,armen Rentners als Maßstab für das herhalten muss, wasarme Kinder in diesem Land als Existenzminimum ha-ben.Zweitens brauchen wir faire und gerechte Öffnungs-klauseln für besondere Lagen und atypische Bedarfe. Esgibt auch 15-Jährige, die 1,90 Meter groß sind. Ich selbsthabe mit Eltern gesprochen, die mir ihre Notlagen etwabei Übergrößen für Kleidung geschildert haben. Nunmachen Sie aber eine engherzige und kleinmütige Rege-lung, mit der Sie erst einmal festlegen, was alles nichtgeht. Das kann nicht die Antwort sein. Vielmehr musseine gerechte Öffnungsklausel bei Beibehaltung desgrundsätzlichen Prinzips der Pauschalierung geschaffenwerden.
Drittens ist nach Auffassung von Bündnis 90/DieGrünen sofortiges Handeln erforderlich. Der ParitätischeWohlfahrtsverband hat schon vor Jahren sehr plausibeldargelegt, dass ein Regelsatz von 420 Euro unter Ver-zicht auf bestimmte Dinge angemessen wäre. In denletzten Jahren ist der ohnehin unzulängliche Regelsatzzudem weit hinter der Preisentwicklung zurückgeblie-ben. Aus diesem Grunde fordern wir die Anhebung desErwachsenenregelsatzes auf zunächst 420 Euro und derKinderregelsätze je nach Alter auf zwischen 280 und360 Euro im Monat.
Wenn es jetzt um die Umsetzung der Anforderungendes Bundesverfassungsgerichtes geht, warne ich dieBundesregierung vor Tricksereien. Es gibt leider zahlrei-che Anzeichen, dass Union und FDP versuchen, die For-derungen des Bundesverfassungsgerichtes zu umgehen.Sie sagen erstens, das Bundesverfassungsgericht habegesagt, dass die Regelsätze nicht evident unzureichendseien. Es hat aber keineswegs festgestellt, dass sie zurei-chend sind. Es hat Ihnen gerade einmal zehn Monate ge-geben, um die Regelsatzverordnung zu überarbeiten, undes hat die Regelsätze für so unzureichend gehalten, dassunabweisbare Bedarfe ab sofort, ab Urteilsverkündung,beantragt werden können und berücksichtigt werdenmüssen.
Zweitens sagen Sie, man könne für die Kinder Sach-leistungen statt Geldleistungen erbringen. Ich bin derLetzte, der infrage stellen würde – und das gilt auch fürmeine Fraktion –, dass gute Bildungsinfrastruktur, ver-bunden mit vernünftigen Sachleistungen, eine wirkungs-volle und wichtige Armutsprävention wäre. Aber mandarf Sachleistungen nicht gegen Geldleistungen ausspie-len. Musische Bildung ersetzt keinen Wintermantel.
Ich fordere Sie in diesem Zusammenhang auf, bei derBetonung von Sachleistungen endlich auf das Argument
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Markus Kurthzu verzichten, dass die Eltern das Geld ihrer Kinder ver-saufen würden. Stellen Sie nicht die Eltern von1,8 Millionen Kindern in Hartz-IV-Bezug unter den Ge-neralverdacht, ihre Kinder als Schnapslieferanten zumissbrauchen!
Drittens zum berühmten Lohnabstand: Wer arbeitet,soll mehr haben als derjenige, der nicht arbeitet. Was füreine Banalität! Es gibt, glaube ich, niemanden in diesemHause, der das nicht ebenso empfindet.
Bleiben Sie bei der Wahrheit! Wenn Sie öffentlich Lohn-abstandsrechnungen anstellen, dann unterschlagen Sieregelmäßig die vorgelagerten Sozialleistungen. Sie un-terschlagen das Kindergeld, das Wohngeld und den Kin-derzuschlag,
kommen so zu niedrigen Berechnungen und hetzenNiedrigverdiener gegen die Bezieher vonArbeitslosengeld II, die nichts lieber als einen Job hät-ten, auf.
Ich erinnere Sie gerne daran, dass das Bundesverfas-sungsgericht den Vorrang des menschenwürdigen Exis-tenzminimums definiert hat. Es hat nicht gesagt, dasLohnabstandsgebot sei unantastbar; vielmehr kommt zu-erst das Existenzminimum, und dann können wir uns na-türlich Gedanken über Anreizsysteme für eine Arbeits-aufnahme machen.
Wir halten einen Mindestlohn in Verbindung mit einerEntlastung der Sozialversicherungsabgaben im unterenEinkommensbereich für richtig, um bessere Anreize zuschaffen. Sie hingegen wollen die Regelleistung absen-ken. Ich frage Sie, ob Sie nicht zur Kenntnis genommenhaben, dass die Löhne im Niedriglohnbereich selbstwährend der Aufschwungjahre gesunken sind. DasLohnabstandsgebot alter Prägung kann auch deswegennicht mehr greifen, weil die Löhne im unteren Einkom-mensbereich sich wegen eines fehlenden Mindestlohnesvon oben den Regelsätzen annähern. Wir drohen in eineNegativspirale zu geraten.
Wenn wir jetzt in die weiteren Beratungen eintreten,sollten wir tatsächlich die Menschenwürde zum Kernund zum Ausgangspunkt nehmen. Im Grundgesetz stehtnicht, der Niedriglohnsektor ist unantastbar; außerdemist der Mensch kein Nutztier. Ersparen Sie uns und vorallem den Betroffenen eine Propaganda der Ungleichheitund nehmen Sie die Personen in ihrer Würde ernst!Vielen Dank.
Der Kollege Karl Schiewerling ist der nächste Redner
für die CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! LiebeKolleginnen und Kollegen! Das Bundesverfassungsge-richt hat in zwei Urteilen dem Gesetzgeber Aufträge er-teilt, die noch in diesem Jahr umzusetzen sind. Die Bot-schaft in beiden Urteilen ist eindeutig: Hartz IV steht aufdem Boden der Verfassung, die Organisation muss aufneue Füße gestellt werden, und die Bedarfssätze sindstringent, transparent und nachvollziehbar zu gestalten,
und zwar so, dass das physische Existenzminimum unddie Teilhabe am kulturellen Leben gesichert werden.Die Urteile und die aufgewühlte Diskussion der letz-ten Tage geben Anlass, sich an die Wurzeln des in denJahren 2004 und 2005 – hier gebe ich dem KollegenKurth recht – entstandenen gemeinsamen Gesetzes vonBundestag und Bundesrat zu erinnern. Die Wurzeln wa-ren: Wir wollten sicherstellen, dass kein Mensch in Ar-mut fällt und dass wir eine Grundsicherung für diejeni-gen bekommen, die langzeitarbeitslos sind, und ebensofür diejenigen, die von der Sozialhilfe leben. Deswegenwurde beides zusammengeführt. Aber der Sicherheit,dass niemand durch den Rost fällt, wird auf der anderenSeite die Verantwortung gegenübergestellt, dass auch je-der das tut, was er kann, um seine Familie und sich wie-der mit selbsterworbenem Geld zu finanzieren und zutragen.
Der Staat und wir alle haben die Verpflichtung unddie Aufgabe, dafür zu sorgen, dass die Brücken gebautwerden, dass dies nach und nach wieder möglich wirdund dass Menschen wieder in Beschäftigung kommen.Das ist der eigentliche Kern der gesamten Diskussion.Die Kernfrage lautet: Was ist zu tun, damit Menschenwieder in Beschäftigung kommen?Mit Verlaub, liebe Kolleginnen und Kollegen von denLinken, ich kenne aus den letzten vier Jahren – so langebegleite ich diese Diskussion auf parlamentarischerEbene – nicht einen einzigen Antrag von Ihnen, nichteinen einzigen, in dem Sie deutlich machen, wie SieMenschen wieder in Beschäftigung bringen wollen.
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2044 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 24. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Februar 2010
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Karl Schiewerling
Es gibt keinen einzigen Antrag von Ihnen, der be-schreibt, wie Sie das organisieren wollen.
Meine Damen und Herren, es geht um dieses Urteildes Bundesverfassungsgerichts, um nichts mehr und umnichts weniger. Ich empfehle allen Beteiligten, diesesUrteil tatsächlich auf dieser Grundlage zu lesen. Wennwir jetzt ohne Kenntnis der Einkommens- und Ver-braucherstichprobe 2008, deren Ergebnis erst imHerbst 2010 vorliegen wird, anfangen, darüber zu fabu-lieren, ob Sätze anzuheben oder abzusenken sind,
dann missachten wir die Urteile des Bundesverfassungs-gerichts.
Unsere Aufgabe besteht darin, jetzt zu prüfen, wie dieZusammenhänge der Einkommens- und Verbraucher-stichprobe aussehen.
Herr Kollege Schiewerling, lassen Sie eine Zwischen-
frage der Kollegin Kipping zu?
Ja.
Herr Schiewerling, Sie haben soeben behauptet, dass
Sie in den letzten Jahren keinen einzigen Antrag von uns
zur Kenntnis genommen haben, in dem wir Vorschläge
unterbreitet hätten, wie man Menschen in Arbeit bringen
kann.
Vor diesem Hintergrund frage ich Sie, ob Sie bereit sind,
zur Kenntnis zu nehmen, dass wir sehr viele Anträge
eingebracht haben, zum Beispiel zum Thema öffentliche
Beschäftigung.
Aber wir wollen gar nicht in der Vergangenheit kramen
und an Ihr schlechtes Gedächtnis erinnern.
Sind Sie bereit, unseren Antrag, den wir jetzt in die-
sem Tagesordnungspunkt behandeln und in dem wir
ganz konkrete Maßnahmen unterbreiten, wie Menschen
in Beschäftigung kommen, wenigstens einmal durchzu-
lesen? Wir sagen zum Beispiel, wir wollen, dass gute
Arbeit gefördert wird, und wir wollen ein öffentliches
Zukunftsprogramm, das 2 Millionen zusätzliche Arbeits-
plätze schaffen könnte.
Warum ignorieren Sie den hier vorliegenden Antrag?
Frau Kollegin Kipping, ich ignoriere den Antragnicht. Ich habe auch die übrigen Anträge nicht ignoriert.
Ich sprach davon, dass wir zu mehr sozialversicherungs-pflichtigen Beschäftigungsverhältnissen auf dem erstenArbeitsmarkt kommen müssen. Da schwebt mir schlichtund einfach und an erster Stelle die deutsche Wirtschaftvor und nicht der Ausbau des öffentlichen Sektors.
Auf die Frage, wie wir es erreichen können, dassBetriebe Beschäftigung schaffen, geben Sie keine Ant-wort.
Das ist mein Kritikpunkt, und bei dem bleibe ich.
Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Urteilauf die Dringlichkeit hingewiesen – das halte ich für ei-nen der wesentlichen Bestandteile dieses Urteils –, sichmit der Situation der Kinder und deren Bildungsbedarfezu beschäftigen. Das ist eine große Herausforderung füruns alle, für den Deutschen Bundestag, für den Bundes-rat und für das Gesetzgebungsverfahren, das jetzt aufden Weg gebracht wird.Es ist eine große Chance; denn es gibt viele Kinder,deren Familien bereits in der zweiten oder dritten Gene-ration von Sozialhilfe leben, deren Eltern, Großelternund Urgroßeltern davon leben. Wenn wir ihnen nichtkonsequent helfen, werden sie denselben Weg gehen.Wir dürfen kein Kind verloren gehen lassen. Es ist un-sere Verantwortung, ihnen Perspektiven zu schaffen,weil in jedem Kind Hoffnung, Begabung und Fähigkei-ten stecken.
Das Bundesverfassungsgericht hat uns darauf aufmerk-sam gemacht. Wir haben nun die Rahmenbedingungenzu setzen.
Wir werden in der christlich-liberalen Koalition das Ur-teil konsequent umsetzen. Wir haben mit dem ersten Teilangefangen, dessen Umsetzung keinen Aufschub er-laubt. Ich glaube, dass wir das Vorhaben gut miteinandergestalten werden.Es geht letztendlich darum, dass wir genau schauenmüssen, in welchen Lebenssituationen sich die einzelnen
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 24. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Februar 2010 2045
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Karl SchiewerlingMenschen befinden. Wenn eine Botschaft aus diesemUrteil zentral ist, dann ist es die Botschaft, dass wir be-rücksichtigen müssen, in welcher Lebenssituation sichdie 6,5 Millionen Menschen, darunter 1,6 MillionenKinder, die von den Regelleistungen des SGB II leben,befinden. So vielfältig unsere Gesellschaft ist, so vielfäl-tig ist die Lebenssituation der Menschen, die sich in die-sem System befinden. Deswegen müssen wir differen-ziert antworten und differenziert helfen.Aber es bleibt dabei: Im Mittelpunkt steht die Auf-gabe, dass wir die Menschen wieder in Beschäftigungbringen müssen. Die Perspektiven dafür sind nichtschlecht. Wer die Arbeitslosenzahlen von heute mitbe-kommen hat, weiß, dass der Einbruch auf dem Arbeits-markt trotz des Winters zu unserer allergrößten Freudenicht stattgefunden hat.
Es ist fast ein Jobwunder in Deutschland, dass die Ar-beitslosenzahl trotz des strengen Winters nur um 26 000gestiegen ist. Das ist die saisonbereinigte Zahl, und dasist der Konjunktur geschuldet. Wir alle haben mit vielschlimmeren Zahlen gerechnet. Wir wollen miteinanderhoffen, dass dieser Trend anhält. Dafür wollen wir allestun.Ich möchte einige wesentliche Stichworte aufgreifen,um darzustellen, um was es grundsätzlich geht. Wirbrauchen eine verfassungskonforme Lösung für die Or-ganisation des SGB II. Hierbei geht es um die Frage derVerantwortung. Verantwortung – das ist das großeStichwort. Es geht in der gesamten Grundsicherungsde-batte um Verantwortung: um die Verantwortung desStaates, dass alle Menschen ein soziales und soziokultu-relles Existenzminimum haben, außerdem um die Ver-antwortung, dass wir den Menschen helfen und sie wie-der in die Lage versetzen, mit ihrer eigenen HändeArbeit und ihres eigenen Kopfes Arbeit ihren Lebensun-terhalt für sich und ihre Familie zu verdienen, aber auchum die Verantwortung jedes Einzelnen: Jeder muss dastun, was er kann und was seinen Fähigkeiten entspricht,um seinen Beitrag für die Gesellschaft zu leisten.Weiterhin gilt das Prinzip des Forderns und Förderns.Wir garantieren ein Existenzminimum. Wir erwarten,dass jeder tut, was er kann, um immer weniger von staat-lichen Transferleistungen abhängig zu sein.
Herr Kollege.
Die Organisation und die Neugestaltung des SGB II
haben sich an diesem Maßstab auszurichten. Das Verfas-
sungsgerichtsurteil gibt uns die nötigen Rahmenbedin-
gungen an die Hand. Es ist wichtig, dass wir im Jahr
2010 die Grundsicherung für Arbeitsuchende wieder
vom Kopf auf die Füße stellen. Lassen Sie uns das ge-
meinsam anpacken!
Das Wort erhält die Kollegin Anette Kramme für die
SPD-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Sie alle kennen die klassischen Vorstellungenvon der Hölle: brodelnde Kochtöpfe und einen den Drei-zack schwingenden Teufel. Seit Kafka wissen wir aller-dings, dass die Hölle auch eine monströse und seelenloseBürokratie sein kann.Aktuell ist ein FDP-Außenminister oder – besser ge-sagt – ein Sozial-außen-vor-Minister ein angsteinflößen-des Sinnbild ewiger Folter.
Die Folter, die er uns bereitet, besteht nicht nur imschrillen, hysterischen Ton, der Glas zersprengt und densozialen Zusammenhalt gleich mit.
Die Folter, die er uns bereitet, besteht auch nicht nur imDuktus oder im Ton. Die Folter besteht im Inhalt des Ge-sagten. Es geht um Daumenschrauben, die angezogenwerden sollen. Es geht um das Öffentliche-an-den-Pran-ger-Stellen. Es geht um die Geißel, die geschwungenwird.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Beiträge vonHerrn Westerwelle zeigen, dass wir uns nicht im Zustandspätrömischer Dekadenz befinden, sondern eher im Zeit-alter spätmittelalterlicher Hexenjagd. Da werden die Ar-men gegen die Armen in Stellung gebracht,
da werden Heerscharen von Schmarotzern und Betrü-gern herbeizitiert, die heuschreckenartig über den So-zialstaat herfallen und ihn kahlfressen.Meine Damen und Herren, Florida-Rolf ist die Aus-nahme, nicht die Regel.
Auch die vom hessischen FDP-Justizminister jüngst fürseine Argumentation herangezogenen Leute, die in Talk-shows sagen, dass sie nicht arbeiten wollen, sind dieAusnahme. Es ist bezeichnend, wenn sich eine Parteivon RTL über die soziale Realität von Hartz-IV-Empfän-gern informieren lässt. Gehen Sie doch einmal zu denTafeln!
Gehen Sie doch einmal zu einer Schuldnerberatungs-stelle in Ihren Wahlkreisen! Verbringen Sie doch einmaleinen Tag in den Jobcentern! Reden Sie mit den Men-schen statt über sie!
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2046 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 24. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Februar 2010
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Anette KrammeDann, meine Damen und Herren von der FDP, werdenSie sehen, dass das Kernproblem nicht in der massenhaf-ten Verweigerung der angebotenen Arbeitsplätze be-steht, wie es immer wieder suggeriert wird. Die Regelsind Menschen, die fast alles dafür tun würden, demTrott der Arbeitslosigkeit zu entkommen. Die ganzgroße Menge der Hilfeempfänger sucht nichts sehnlicherals gute Arbeit.
Letztlich geht es doch um mehr als die reine Höhevon Hartz IV. Eine ernst gemeinte Debatte sollte sich da-rum drehen, wie man den Sozialfall vermeidet, statt da-rum, wie man die Betroffenen möglichst intensiv malträ-tiert. Das IAB wird in den nächsten Wochen eine Studieveröffentlichen, die belegt, dass die individuelle Betreu-ung bei der Arbeitsvermittlung das Wichtigste ist, dasssie dazu führt, dass Menschen wieder in Arbeit kommen.Arbeitslosigkeit ist für Menschen eine existenzielle Be-drohung. Die Menschen können verlangen, dass sie gutund umfassend beraten werden, aber auch, dass sie auf-gefangen werden durch die Arbeitsverwaltung. Stattdes-sen sperren Sie, meine Damen und Herren von Schwarz-Gelb, Stellen bei der Bundesagentur für Arbeit.
Ich sage auch: Das Einkommen der Kellnerin ist wiedas Einkommen Millionen anderer Erwerbstätiger in derBundesrepublik zu niedrig. Es ist zu niedrig, um eine an-gemessene Entlohnung für geleistete Arbeit darzustel-len, und es ist zu niedrig, um die Binnennachfrage in derBundesrepublik zu stützen.
Ginge es dieser Kellnerin aber besser, wenn die Lohn-ersatzleistungen niedriger wären, wie Sie, HerrWesterwelle, sich das offensichtlich vorstellen? Das Ge-genteil ist doch der Fall: Jeder Arbeitsmarktökonomweiß, dass sinkende Lohnersatzleistungen das gesamteTarifgefüge nach unten ziehen. Die Beschäftigten hättendann weniger Netto vom Brutto.Nun stellt man sich vielleicht die Frage, warum HerrWesterwelle solch einen Unsinn erzählt. Die Antwort isteinfach: Indem er auf die einschlägt, die von Regelsät-zen leben müssen, lenkt er von der banalen Tatsache ab,dass die Löhne und Gehälter viel zu niedrig sind. KeinWunder: Wenn er sich dafür einsetzen würde, dass alleKellnerinnen einen Mindestlohn bekommen, dann gäbees vielleicht keine Spenden mehr von der Firma Möven-pick.
Wir brauchen einen gesetzlichen Mindestlohn. HerrSchiewerling, an diesem Punkt hören wir nichts von Ih-nen. Der Umfang der Niedriglohnbeschäftigung liegtdeutlich über dem der europäischen Nachbarländer undreicht an das Niveau in den USA heran. Wir braucheneine Bekämpfung des Missbrauchs bei der Leiharbeit.Leider konnte man sich in den letzten vier Jahren nichtentscheiden, da etwas zu tun.
Wir wollen auch, dass Menschen nicht mehr jede Tätig-keit unabhängig von ihrer Bezahlung annehmen müssen.Eine Arbeit soll nach unserer Auffassung nur noch dannzumutbar sein, wenn sie dem Tariflohn oder dem ortsüb-lichen Lohn entspricht. Auf jeden Fall darf niemand ge-zwungen werden, eine Tätigkeit unterhalb eines gesetzli-chen Mindestlohns anzunehmen.
Das Parlament wird die Regelsätze neu berechnenmüssen. Wir brauchen aber auch und vor allen Dingeneine Strategie, die die Ursachen der Armut und der Ar-beitslosigkeit bekämpft.
Das Wort erhält nun der Kollege Dr. Heinrich Kolb
für die FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ichkann den bisherigen Verlauf der Debatte – ich meine denBeitrag des Kollegen Kurth, aber auch den Beitrag derKollegin Kramme – wirklich nur als unterirdisch be-zeichnen. Es ist unglaublich, was Sie hier heute Morgenabziehen.
Mit Ihren Angriffen auf den Vizekanzler versuchen Sie,davon abzulenken, dass Sie eine erhebliche Schuld andem Desaster in Karlsruhe tragen.
Denn es ist Ihr Gesetz, das in Karlsruhe gescheitert ist.Das muss man hier sehr deutlich sagen.
Der Gedächtnisverlust – auch der Gesichtsverlust –der heutigen Opposition, der in Ihren Beiträgen und auchin Ihrem Antrag, Herr Kollege Kurth, zum Ausdruckkommt, ist erschreckend. Wenn Sie sagen, das geltendeRecht, das in Karlsruhe kritisiert wurde, sei engherzigund kleinmütig, Herr Kurth, dann geht das doch an IhreAdresse, und Sie können doch nicht nach dem Motto„Haltet den Dieb, er hat mein Messer im Rücken“ hier sotun, als ob Sie frei von jeder Schuld wären.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 24. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Februar 2010 2047
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Dr. Heinrich L. Kolb
Art. 1 und Art. 20 des Grundgesetzes waren auchschon 2004 und 2005 in Kraft, Herr Kurth. Die Men-schenwürde, über die Sie heute hier so ausgiebig refe-riert haben, war damals die gleiche wie heute.
Nur, Sie haben damals andere Gestaltungsentscheidun-gen getroffen. Die müssen Sie sich heute vorhalten las-sen. Wir lassen nicht zu, Frau Kollegin Ferner und FrauKollegin Kramme, dass Sie sich hier aus der Verantwor-tung stehlen.
Kollege Schaaf möchte eine Zwischenfrage stellen,Herr Präsident.
Wenn das zu einer gewissen Beruhigung der Aufre-
gung führt, ist das besonders willkommen. Kollege
Schaaf hat jetzt Gelegenheit, eine Zwischenfrage zu stel-
len.
Herr Kollege Kolb, ich habe den Eindruck, Sie haben
die ersten beiden Reden in dieser Debatte in der Tat nicht
nachvollzogen. Hier hat sich niemand aus der Verant-
wortung gestohlen. Wir nehmen – im Gegensatz zu Ih-
nen – das Urteil des Bundesverfassungsgerichts sehr
ernst. Wir versuchen nicht, eine Debatte aufzumachen,
wie es Ihr Vorsitzender tut,
der die Menschen spaltet, die in Armut leben. Das ist der
entscheidende Unterschied.
Bei dem Vorschlag des Kollegen Kurth, die Sätze auf
420 Euro zu erhöhen – ich teile das nicht so uneinge-
schränkt –, hat eben Kollege Lindner dazwischenge-
brüllt: „Das kostet 20 Milliarden Euro!“ – Würden Sie
mir recht geben, dass das in etwa deckungsgleich ist mit
den Steuersenkungsversprechungen in Höhe von 19 Mil-
liarden Euro für das nächste Jahr, die Sie gemacht ha-
ben?
Herr Kollege Schaaf, Ihre Frage gibt mir zuerst ein-mal Gelegenheit, etwas klarzustellen, was Kollege Kurthvorhin fälschlicherweise gesagt hat. Er hat den General-sekretär der FDP, Christian Lindner, mit dem Fraktions-kollegen Martin Lindner verwechselt.
Ich will hier zunächst einmal ohne jeden Zweifel fest-halten, Herr Kollege Schaaf: Die FDP tritt nicht für Kür-zungen der Regelsätze ein.
Das steht nicht zur Debatte.
Aber wir werben dafür, dass die Leistungen, die wir de-nen gewähren, die unverschuldet in Not geraten und be-dürftig sind, in dem Bewusstsein in Anspruch genom-men werden, dass man so schnell wie möglich wiederaus dem Transferbezug herauskommen muss. Das ist derKern der Debatte.
Ich bin wirklich der Meinung – ich will Ihre Fragenoch weiter beantworten, Herr Kollege Schaaf –, dasswir dort auch sehr genau hinsehen müssen. Sie habenmir vorgeworfen, bei der Kollegin Kramme nicht hinge-hört zu haben. Ich habe hingehört. Sie hat gesagt, wirhätten in den letzten vier Jahren das Problem bei derZeitarbeit schleifen lassen und nichts getan. Wo sind wireigentlich? Wer hat denn bis zum Oktober letzten Jahresregiert? Wer hat denn bewusst die Entscheidung getrof-fen, die Zeitarbeit nicht in das Arbeitnehmer-Entsende-gesetz aufzunehmen? Das waren doch Sie.
Sie haben in dieser Zeit den federführenden Minister ge-stellt. Olaf Scholz hatte die Verantwortung. Und Sie ha-ben es nicht geschafft.
Es ist wirklich pervers, wenn Sie heute hier erklären, wirvon der FDP seien diejenigen, die daran schuld sind,dass die Zeitarbeit ungeregelt geblieben ist. Es war IhrVersagen. Das geht auch an anderer Stelle weiter.
Wir nehmen das Urteil aus Karlsruhe sehr ernst. DerAuftrag des Gerichtes lautet, den Bedarf eines Empfän-gers von Arbeitslosengeld II nicht pauschal durch pro-zentuale Berücksichtigung von verschiedenen Bedarfs-gruppen der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe zuermitteln, wie Sie es getan haben, sondern Wertungsent-scheidungen zu treffen. Das ist das Entscheidende. Wirmüssen als Gesetzgeber, nicht als Verordnungsgeber,Fall für Fall, Ausgabe für Ausgabe entscheiden: Dasdient der Deckung des sozialen Existenzminimums und
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2048 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 24. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Februar 2010
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Dr. Heinrich L. Kolbder gesellschaftlichen Teilhabe und gehört daher dazu.Darüber hinaus – –
– Herr Schaaf, ich versuche, Ihre Frage zu beantworten.
Nein, Herr Kollege Kolb. Ich bin auch nicht zum ers-
ten Mal hier. In einem gewissen Verhältnis sollte die
Dauer der Antwort nicht nur zur Dauer der Frage, son-
dern auch zur übrigen Redezeit stehen. Das habe ich
jetzt durch Einfädelung in die normale Redezeit sicher-
gestellt.
Dann will ich meine normale Redezeit gerne daraufverwenden, Ihnen das noch einmal zu erklären. Wirmüssen diese Wertungsentscheidungen treffen. Was ge-hört zum physischen Existenzminimum? Das muss so-wieso gewährt werden. Und was gehört darüber hinauszum gesellschaftlichen, politischen und kulturellen Exis-tenzminimum, also zur Teilhabe am gesellschaftlichenLeben?
Da haben Sie damals, wahrscheinlich aus Angst vor derRealität, gekniffen. Sie haben es mit prozentualen Ab-schlägen gemacht. Jetzt müssen wir das Fall für Fall ent-scheiden. Das werden wir tun. Wir nehmen diese He-rausforderung an. Es ist keine bequeme Situation, wennman sagen muss, dass eine bestimmte Leistung danneben nicht mehr dazugehört. Das werden wir aber leis-ten.
Ich will zum Schluss meiner Redezeit noch auf denauch hier immer wieder erhobenen Einwand zu sprechenkommen, Hartz IV, Niedriglöhne und Mindestlöhne ge-hörten zusammen; das müsse man in einem Zusammen-hang diskutieren. Die Entscheidung, einen Niedriglohn-sektor in Deutschland einzuführen, hat die rot-grüneBundesregierung seinerzeit bewusst getroffen.
Heute wollen Sie mit dieser Entscheidung nichtsmehr zu tun haben, Frau Ferner. Trotzdem bleibt das IhreVerantwortung. Sie wollten es damals so. Zwar warGerhard Schröder in Ihren Reihen nie sehr gelitten, amEnde sind Sie ihm aber gefolgt. Gerhard Schröder hatangesichts von 5 Millionen Arbeitslosen gesagt: Wirmüssen auch für diejenigen, die nicht in der Lage sind,einen Stundenlohn von 8 oder 9 Euro – die Linken plä-dieren jetzt für 10 Euro – zu verdienen, Arbeitsangeboteschaffen.
Ich halte es auch für richtig, dass jeder das beiträgt,was er leisten kann, und der Staat dann auf ein Min-desteinkommen aufstockt, das den Bedarf vollständigabdeckt.
Mindestlöhne sind in dieser Situation absolut ungeeig-net. Die Alleinerziehende, die 15 Stunden in der Wochearbeiten kann, kann sich mit einem Stundenlohn von7 oder 8 Euro nicht aus dem Transferbezug lösen.
In gleicher Weise gilt das für den Verheirateten mit zweioder drei Kindern. Er wird sich auch mit einem Stunden-lohn von 10 Euro nicht aus dem Transferbezug lösenkönnen. Dann muss die Gesellschaft zu Recht ergänzenddazutreten und die Lücke auffüllen. Dies ist die Syste-matik. Das hielten Sie damals für richtig. Wir halten esheute weiterhin für richtig. So wird ein Schuh daraus.
Sie dürfen sich nicht wundern, dass die Löhne auchtatsächlich gesunken sind, wenn Sie an eine Volkswirt-schaft einen Niedriglohnsektor anflanschen. In IhrenBeiträgen wird immer der Eindruck erweckt, die Unter-nehmerschaft in Deutschland hätte flächendeckendnichts anderes zu tun, als die Löhne ihrer Beschäftigtenzu drücken. Das entspricht wirklich nicht der Realität.Damit wird man auch nicht den Unternehmen und Un-ternehmern gerecht, die in der schwierigsten Wirt-schaftskrise unseres Landes große Anstrengungen unter-nehmen, um die Beschäftigung in ihren Betrieben zuerhalten.
Nachdem ich doch einen Teil meiner Redezeit für dieBeantwortung der Frage des Kollegen Schaaf einsetzenmusste, Herr Präsident – der Präsident hat gewechselt –,bin ich nun auch am Ende meiner Ausführungen ange-kommen.
Ich glaube, dass uns diese Debatte noch weiter be-schäftigen wird, und zwar aus guten Gründen; denn dievom Vizekanzler und Vorsitzenden der FDP in die Mitteder Gesellschaft gerückte Frage der Balance zwischenden Leistungen, die wir gewähren, und den Belastungenderjenigen, die diese Leistungen finanzieren, wird in die-sem Hause sicherlich noch öfter zur Sprache kommen.Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 24. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Februar 2010 2049
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Das Wort hat der Kollege Klaus Ernst von der Frak-
tion Die Linke.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Das Grundproblem der Hartz-Gesetze liegt da-rin, dass sie von Annahmen ausgehen, die nicht haltbarsind.
Die erste Annahme der Hartz-Gesetze war und ist, dassdie Menschen nicht arbeiten wollen. Dem entsprichtauch die eine oder andere Einlassung des Außenminis-ters, von dem man nicht mehr weiß, ob er Arbeits- undSozialminister werden will. Ich sage Ihnen: Alle Praxiszeigt, dass sich die Menschen bemühen, oft über das er-trägliche Maß hinaus, einen Job zu finden. Sie jetzt zuverunglimpfen, indem man sagt, sie wollten gar nicht ar-beiten und man müsse sie zur Arbeit zwingen, das ist einSkandal.
Die zweite Grundannahme der Hartz-Gesetze ist, dassdie Löhne zu hoch sind. Ein Ziel der Hartz-Gesetze be-steht deshalb darin, die Löhne zu senken; das war und istder Sinn von Hartz. Das ist Ihnen leider auch gelungen;schauen Sie sich die Lohnquote in diesem Land an. HerrKolb, ob die Unternehmerschaft dies bewusst oder unbe-wusst macht, möchte ich außen vor lassen. Fakt ist, dassdie Löhne in diesem Land, insbesondere die Nied-riglöhne, gesunken sind, auch im Aufschwung. Das istein Skandal.
Meine Damen und Herren, alle Hartz-Parteien – damöchte ich keine ausnehmen – haben vom Bundesver-fassungsgericht in Karlsruhe eine Ohrfeige gekriegt, dieman bis nach Berlin gehört hat.
Hinterher – ich habe ja gedacht, mich tritt ein Pferd –stellten sich Vertreter aller Parteien hin und sagten: DasUrteil ist klasse, wir begrüßen es. – Ich frage mich: Istdas eine Form von kollektivem Masochismus?
In diesem Urteil wurde Ihnen bescheinigt, dass Sieein verfassungswidriges Gesetz verabschiedet haben,und dabei geht es nicht um Randnotizen. Der eine oderandere, der sich jetzt aus der Verantwortung stehlen will,war übrigens im Vermittlungsausschuss dabei. Fakt ist,dass der Kern dieses Gesetzes, nämlich die Antwort aufdie Frage: „Wie viel Geld gibt es?“, verfassungswidrigist, nicht eine Randnotiz. Das müssen wir ändern.
– Doch,
der Kern des Gesetzes ist die Antwort auf die Frage: Wieviel Geld wird gezahlt? Wenn das Bundesverfassungsge-richt feststellt, dass die Sätze falsch berechnet sind, dannhaben wir den Punkt erreicht, dass das soziokulturelleExistenzminimum nicht gewährt wird.
Wenn Sie das Urteil genau lesen, stellen Sie fest, dassSie einige Dinge sofort zu ändern haben. Sie regierennämlich gerade.
Sie haben jetzt die Möglichkeit, tatsächlich Korrektu-ren vorzunehmen; dazu haben wir einen Antrag vorge-legt. Stattdessen höre ich aber etwas ganz anderes. Ichhöre, dass der Außenminister dieses Landes dieses Urteiloffensichtlich ignorieren will. Statt die Hausaufgaben zumachen, wird auf Arbeitslose und Niedriglöhner mehroder weniger eingeprügelt, und sie werden gegeneinan-der aufgehetzt. Herr Westerwelle, vielleicht habe ich andieser Stelle in der Schule nicht gut aufgepasst,
aber ich sage Ihnen: Im alten Rom waren es nicht dieSklaven, nicht die Unfreien und auch nicht die unterenSchichten der Gesellschaft, die in Dekadenz gelebt ha-ben, sondern es war die politische und wirtschaftlicheFührung.
Ich habe den Eindruck, heute ist es wieder so.Herr Westerwelle, Leistungsverweigerer leben inDeutschland nicht von Hartz IV. Die Kontrolle des Kon-tostands und die Entscheidung, wie viel Geld ins Aus-land transferiert wird, ist keine besondere Leistung.
Deshalb sage ich Ihnen: Die Leistungsverweigerer indiesem Land sind die Steuerhinterzieher und die Speku-lanten
und nicht Leute, die im Hartz-Bezug sind.
Weil ich gehört habe, dass überlegt wird, ob man inZukunft Gutscheine an Hartz-IV-Bezieher ausgibt, rate
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2050 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 24. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Februar 2010
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Klaus Ernstich Ihnen, Herr Westerwelle, künftig die Boni von Ban-kern in Gutscheinen auszugeben.
Dann würde das Geld wenigstens wieder in den Wirt-schaftskreislauf fließen und würde nicht verspekuliertwerden.
Meine Damen und Herren, statt Hartz wollen wir einewirklich repressionsfreie und bedarfsorientierte Grund-sicherung.Da momentan auch darüber diskutiert wird, ob„Hartz“ der richtige Name für diese Gesetze ist, sage ichIhnen: Ja, selbstverständlich ist „Hartz“ der richtigeName. Hartz hat sich nicht an die Gesetze gehalten, unddie Hartz-Gesetze sind grundgesetzwidrig. Das ist docheine schöne Parallele, oder nicht?
Meine Damen und Herren, die Menschen haben einProblem, nämlich dass sie keinen Job finden. DiesesProblem nimmt angesichts der Krise noch zu. Leiderhöre ich von Ihnen keine Vorschläge, wie man das ändernkann. Wir wollen – das ist der erste wichtige Punkt –, dassein Zukunftsprogramm für Arbeitsplätze aufgelegt wird.Zweitens wollen wir, dass endlich ein Mindestlohn ein-geführt wird.In der Welt vom 12. Februar 2010 liest man von HerrnWesterwelle die Aussage, zunehmend seien die, die Ar-beit haben, die „Deppen der Nation“, weil es sich auchohne Arbeit gut leben lasse. Herr Westerwelle, Sie ma-chen die Arbeitnehmer zu Deppen der Nation. Ihre Par-tei ist es nämlich, die den Arbeitnehmern den Mindest-lohn verweigert. Das ist der eigentliche Skandal in dieserGesellschaft.
Wir wollen, dass das Arbeitslosengeld I länger ge-zahlt wird. Wir wollen eine Mindestsicherung, das heißt500 Euro Regelleistung plus Kosten der Unterkunft.Dann sind wir auch im Hinblick auf das Urteil des Bun-desverfassungsgerichts auf der sicheren Seite. Und wirwollen, dass das Ganze sanktionsfrei abläuft.Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich freue mich überalle, die sich von dem, was sie gemacht haben, distanzie-ren; ich freue mich, wenn sich die Einsicht weiter ver-breitet. Sie haben heute die Möglichkeit, diesen Fehlerein Stück weit zu korrigieren. Wir brauchen eine Min-destsicherung, die verfassungskonform ist und die denMenschen die Angst vor der Arbeitslosigkeit nimmt. EinZiel der geltenden Gesetzgebung ist es nämlich, denMenschen so viel Angst vor Arbeitslosigkeit zu machen,dass sie Arbeit annehmen, egal wie diese bezahlt wird.Das müssen wir verhindern, alle miteinander.
Das Wort hat jetzt der Kollege Paul Lehrieder von der
CDU/CSU-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen!Liebe Kollegen! Ich bin gerade von meinen Fraktions-kollegen gebeten worden, nicht so laut zu schreien wiemein Vorredner. Das werde ich auch nicht tun.Ich bin betrübt über den Gang dieser Diskussion. DieProbleme der Betroffenen rechtfertigen, dass wir ge-meinsam versuchen, uns zusammenzuraufen und das Ur-teil des Bundesverfassungsgerichts konstruktiv zu be-werten.Was höre ich von der Opposition? Nur Polemik. Lie-ber Kollege Ernst, Sie haben das Urteil des Bundesver-fassungsgerichts nicht gelesen, oder Sie haben es gele-sen, es aber nicht verstanden. Sie proklamieren hier einbedingungsloses Grundeinkommen bzw. einen Mindest-satz von 500 Euro. „500 Euro“ steht nirgendwo im Ge-setz. Sie würden mit dem, was Sie in Ihrem Antrag for-dern, genau denselben Fehler machen, den dasBundesverfassungsgericht moniert hat: dass die Sätzepauschal, ohne detaillierte Berechnung festgelegt wur-den.
Lieber Kollege Ernst, es ist nicht schlimm, wenn manFehler macht; aber wenn man Fehler, die man als solcheerkannt hat, wiederholt, dann ist das bedenklich. HerrErnst, Sie kommen aus Schweinfurt; das ist nicht weitweg von Würzburg. Wir können uns gerne einmal unter-halten; vielleicht kann ich Ihr Wissen in dieser Richtungdann etwas mehren.Meine Damen und Herren, auch Ihre Behauptung,dass Hartz IV von der falschen Voraussetzung ausgehe,dass die Menschen grundsätzlich nicht arbeiten wollten,stimmt nicht. In dem Urteil des Bundesverfassungsge-richts wurde dargestellt – ich darf mit geneigter Erlaub-nis des Präsidenten zitieren –:Das Leistungskonzept des Sozialgesetzbuchs Zwei-tes Buch sei in Übereinstimmung mit Art. 1 Abs. 1GG auf Eigenverantwortung durch Einsatz der Er-werbsfähigkeit orientiert mit dem Ziel, dem Hilfe-bedürftigen schnell zur Sicherung seiner eigenenExistenz zu verhelfen. Ein Pauschbetrag förderedie Eigenverantwortung bei der Verwendung derSozialleistung.Das heißt, in seinem Urteil hat das Bundesverfassungs-gericht etwas von Hilfe zur Selbsthilfe geschrieben,nicht aber davon, zu alimentieren und ein bedingungs-loses Grundeinkommen zu gewähren, ohne Eigenverant-wortung zu fordern. Es ist doch völlig richtig: Hartz IV
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 24. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Februar 2010 2051
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Paul Lehriederzeichnet sich aus durch Fordern und Fördern. Genau diessteht in dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts.
Frau Kollegin Kramme, Sie sind heute erst nach etli-chen Minuten zu Ihrem Lieblingsthema Mindestlohn ge-langt. Dazu hat der Kollege Kolb schon Richtungswei-sendes gesagt; ich möchte es nicht noch einmalwiederholen. Auch bei einem Mindestlohn – egal ob7,50 Euro, 8,50 Euro oder, das ist die aktuelle Höhe, diedie Linkspartei fordert, 10 Euro – wird eine teilzeitbe-schäftigte Frau von ihrem Erwerbseinkommen nicht le-ben können; das gilt auch für eine Familie mit mehrerenKindern. Man muss eins und eins zusammenzählen; dieGrundrechenarten sind mit den Sozialleistungen durch-aus vereinbar.Kollege Kurth, ich kenne Sie als seriösen, ernsthaftenSozialpolitiker der Grünen. Umso enttäuschter war ich,dass Sie sich nach dem Motto verhalten haben: Haltetden Dieb! Hier ist Hartz IV; wir können nichts dafür! –
Sie sind doch gemeinsam mit der SPD die Väter desHartz-IV-Gesetzes.
Wir haben als Pate mitgewirkt. Es bedarf aber keines Va-terschaftstestes, um zu wissen, wer die Autoren desHartz-IV-Gesetzes sind.
Darum wäre es gut, wenn man nicht nur sagen würde:Dass für Kinder 60 Prozent des Hartz-IV-Satzes einesAlleinstehenden bzw. Singles vorgesehen sind, ist einSkandal. – Lassen Sie uns konstruktiv daran arbeiten,dass wir richtige und gerechte Kinderbedarfssätze errei-chen!
Herr Kollege Lehrieder, erlauben Sie eine Zwischen-
frage der Kollegin Kipping?
Natürlich, liebe Kollegin, liebe Frau Ausschussvorsit-
zende.
Bitte, Frau Kipping.
Lieber Herr Lehrieder, Sie haben meinem Kollegen
Klaus Ernst vorgeworfen, dass er sich für das bedin-
gungslose Grundeinkommen ausgesprochen hat. Ich
als bekennende und glühende Verfechterin der wunder-
baren Idee eines bedingungslosen Grundeinkommens
möchte Sie fragen, ob Sie zur Kenntnis genommen ha-
ben, dass in unserer Partei sehr heftig über diese Idee ge-
stritten wurde,
dass bisher ein Konsens über eine sanktionsfreie Min-
destsicherung erzielt worden ist, dass sich der Kollege
Ernst zu meinem großen Bedauern – das muss ich hinzu-
fügen – aber strikt gegen die Idee eines bedingungslosen
Grundeinkommens ausgesprochen hat.
Liebe Kollegin Kipping, das ehrt den Kollegen Ernstsogar einmal.In Ihrem Antrag auf Drucksache 17/659 – –
– Bleiben Sie stehen.
– Ich bin noch bei der Antwort. So kurz ist meineAntwort selten, Frau Kollegin Kipping. – In Ihrem An-trag auf Drucksache 17/659 – im Übrigen datiert auf den10. Februar 2010; ich habe gedacht, Sie haben ihn schonvor dem Urteil geschrieben – schreiben Sie:Die Regelleistung für Erwachsene im Mindestsi-cherungsbezug ist auf 500 Euro pro Monat festzule-gen. Die Regelleistung ist jährlich zumindest indem Maße anzuheben, wie die Lebenshaltungskos-ten steigen.Das habe ich gegenüber dem bedingungslosen Grund-einkommen eben ein Stück weit nicht sauber genug ge-trennt; das gebe ich zu. Es spricht für den KollegenErnst, wenn er gegen das bedingungslose Grundeinkom-men ist.Wir diskutieren auch darüber – ich denke an den frü-heren thüringischen Ministerpräsidenten, HerrnAlthaus –, ob das der richtige Weg ist, ob wir das ma-chen können oder ob das die Entwicklung von Motiva-tion und Antrieb von erwerbsfähigen Personen verhin-dert. Darüber müssen wir nachdenken. Wir sind für eineDiskussion hier und im Ausschuss durchaus aufge-schlossen.Wir werden Hartz IV fortentwickeln. Hartz IV ist einlernendes System. – Ich bin mit meiner Antwort auf IhreFrage fertig. Wenn Sie wollen, dürfen Sie sich setzen. –Das Bundesverfassungsgericht hat im selben Urteil aus-geführt:Schließlich treffe den Gesetzgeber entsprechenddem Gedanken eines „lernenden Systems“ eine Be-obachtungs- und Nachbesserungspflicht.
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2052 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 24. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Februar 2010
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Paul LehriederGenau dieser Pflicht lassen Sie uns bitte schön gemein-sam nachkommen.Wir haben in dieser Woche bereits damit begonnen.Wir werden versuchen, das Sozialversicherungsstabili-sierungsgesetz möglichst zeitnah auf den Weg zu brin-gen. Außergewöhnliche Sonderbedarfe werden ab so-fort berücksichtigt. Sehr viele von der Grundsicherungbetroffene Mitbürgerinnen und Mitbürger stellen schonzuhauf Anträge, weil sie der Auffassung sind, dass sieeinen Anspruch darauf haben. Wir müssen regeln, wasunter Sonderbedarfe zu verstehen ist und was nicht; einePositivliste ist in Vorbereitung. Dies soll im Gesetzge-bungsverfahren für das Sozialversicherungsstabilisie-rungsgesetz in den nächsten Wochen auf den Weggebracht werden, um die Forderung des Bundesverfas-sungsgerichts möglichst zeitnah umzusetzen.Für die anderen Themen, insbesondere für die Be-rechnung der Kinderbedarfssätze, biete ich ausdrücklichkonstruktive Gespräche sowohl im Ausschuss als auchin den Arbeitsgruppen an. Lieber Herr Kurth, das Themaist einfach zu ernst, als dass wir uns darüber klamaukar-tig auf die Köpfe hauen sollten. Wir sollten stattdessenkonstruktiv arbeiten, schauen, wie es weitergeht und waswir an Hartz IV verbessern können. Wir sollten nicht nurso handeln wie die Linkspartei, die schreibt: Hartz IV istnichts, es ist abzuschaffen.Meine Damen und Herren, Hartz IV ist fortzuentwi-ckeln; denn es ist durchaus geeignet – das wurde in denletzten Jahren bewiesen –, Mitbürgerinnen und Mitbür-ger, die früher nicht vermittelt werden konnten, wiederin Arbeit zu vermitteln.Wir wissen nicht, wie lang die Krise noch dauert.
Herr Kollege Lehrieder, erlauben Sie eine weitere
Zwischenfrage, und zwar des Kollegen Schaaf?
Ja, bitte.
Bitte.
Herr Kollege Lehrieder, Sie haben jetzt zum zweiten
Mal in Ihrer Rede gesagt, dass wir die Schärfe aus der
Debatte nehmen sollten. Ich gebe Ihnen ausdrücklich
recht, dass man das tun sollte. Man sollte das aber von
Anfang an machen. Der Bundesaußenminister und nicht
die Opposition in diesem Hause hat die Schärfe in die
Debatte hineingebracht. Das wollte ich einmal in aller
Deutlichkeit sagen.
Ich habe aber eine Frage. Ich kenne und schätze Sie
als engagierten Sozialpolitiker.
Sie sind stellvertretender Vorsitzender Ihrer örtlichen
CSA, der Arbeitnehmerbewegung innerhalb der Union.
Das ist auch gut so.
Heute Morgen habe ich eine Tickermeldung über die
KAB, die Katholische Arbeitnehmer-Bewegung, auf den
Tisch bekommen, die sich mit der Debatte um Hartz IV
beschäftigt. Ich will Sie um Ihre Meinung dazu fragen.
In der Tickermeldung wird die KAB zitiert, noch immer
sei die FDP eine Lobbyistenpartei für Besserverdie-
nende. Herr Westerwelle habe „Stammtischgeplappere“
betrieben. Wörtlich heißt es weiter:
Die KAB sprach von zum Teil unerträglichen Ver-
unglimpfungen in der Diskussion um Bezieher von
Hartz IV. Sie appellierte an die Politik, diese De-
batte zu beenden …
Stimmen Sie der KAB zu?
Lieber Kollege Schaaf, genau wie bei der SPD istauch bei der Union die Meinungsfreiheit ein hohes Gut,das daher völlig zu Recht im Grundgesetz verankert ist.Ich kenne meine KAB in Würzburg sehr gut und bin re-gelmäßig mit ihr im Gespräch.
Ich werde der KAB weder eine Meinung vorschreibennoch eine Meinung der KAB hier öffentlich kritisieren.
Ich sage meinen Leuten, dass ich es anders sehe; das istokay.Lassen Sie uns die Diskussion kollegial führen, wiewir es auch sonst tun. Wenn Verbände den Vizekanzleröffentlich kritisieren, dann ist das ihr gutes Recht.
Auch das gehört zur Demokratie. Das hält die Demokra-tie aus. Das hält auch Guido Westerwelle aus. Da brau-chen Sie keine Angst zu haben. Ich brauche ihn nicht inSchutz zu nehmen. Ich werde eine scharfe Rede desBundesaußenministers nicht mit der Heftigkeit abwür-gen, wie Sie es versuchen. Lassen Sie ihn das sagen, waser für richtig hält.Lassen Sie uns auf der Ebene, auf der wir miteinanderreden, lieber Kollege Schaaf, die Schärfe herausnehmen.
Dann haben wir für die Betroffenen etwas Gutes getan.In diese Richtung soll es weitergehen.Das Wesentliche dazu ist gesagt. Es folgen noch ei-nige Redner aus unserer Fraktion, die zu dem Thema er-gänzend sprechen werden. Lassen Sie uns die nächstenWochen und Monate nutzen, liebe Kollegen von der Op-
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 24. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Februar 2010 2053
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Paul Lehriederposition, etwas Gescheites daraus zu machen, um das et-was aus dem Ruder gelaufene „Kind“ SGB II bzw.Hartz IV wieder auf die richtige Bahn zu bringen und fürdie Betroffenen richtungsweisende, korrekte und guteEntscheidungen für die nächsten Jahre zu treffen.Herzlichen Dank.
Das Wort hat jetzt die Kollegin Gabriele Hiller-Ohm
von der SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Schön,dass die Regierungsbank heute nicht wieder gähnendleer ist wie in der letzten Sitzungswoche bei diesem sowichtigen Thema. Herr Minister Westerwelle hat dieDebatte um die Grundsicherung der Menschen inDeutschland lieber außerhalb des Plenums geführt.Deutschland hat keinen Vizekanzler verdient, der ar-beitslosen Menschen spätrömische Dekadenz unterstellt.
Viele der langzeitarbeitslosen Menschen finden trotzgroßer Anstrengungen keine Arbeit. Es sind vor allemdie 650 000 alleinerziehenden Frauen, die schlechte Per-spektiven auf dem Arbeitsmarkt haben. Betreuungsange-bote für Kinder fehlen, und oft sind die Jobs nicht soausgerichtet, dass Beruf und Kinder miteinander verein-bar sind.Die FDP will sich jetzt für eine Balance des So-zialstaates einsetzen, wie Fraktionschefin BirgitHomburger erklärt hat. Diese Balance ist bei der FDPmächtig ins Rutschen geraten. Warum müsste FDP-ChefWesterwelle sonst so lautstark Hartz-IV-Empfänger zurSchnee- und Eisbeseitigung anfordern?
So viele Hartz-IV-Empfänger gibt es in Deutschland garnicht, um die soziale Schieflage der FDP geradezuschip-pen.
Das Bundesverfassungsgericht hat die Bundesregie-rung verdonnert, sehr schnell, nämlich bis zum 31. De-zember dieses Jahres, verfassungsfeste Regelsätze fürdie Grundsicherung auf die Beine zu stellen. Darum gehtes heute, Herr Kolb. Außergewöhnliche Sonderbe-darfe sollen langzeitarbeitslose Menschen und derenKinder sofort erhalten, urteilte das Bundesverfassungs-gericht. Was macht die Bundesregierung? Sie verfasstmit den Agenturen ganz schnell eine Liste mit genehmi-gungsfähigen Sonderbedarfen für die Argen.
Leider ist diese Liste mit gerade mal vier Punkten ziem-lich kurz geraten. Sie wird weder den Bedürfnissen derbetroffenen Menschen noch dem Urteil des Bundesver-fassungsgerichtes gerecht. Ein sinnvolles parlamentari-sches Verfahren dazu gibt es nicht. Minister Rösler willdie verschreibungsfreien Arzneimittel jetzt wieder vonder Härtefallliste streichen.Meine Damen und Herren von der CDU/CSU und derFDP, es ist ein Skandal, dass Sie eine Selbstbefassungmit diesem so wichtigen Thema gestern im Ausschussfür Arbeit und Soziales abgelehnt haben.
Es kann doch nicht sein, dass ausschließlich vom Minis-terium definiert und festgelegt wird, was ein Härtefall istund was nicht. Warum, Frau Ministerin von der Leyen,ziehen Sie nicht wenigstens den Sachverstand von Ex-perten aus Wissenschaft sowie Sozial- und Wohlfahrts-verbänden heran? Diese können Ihnen genau sagen, wasalles auf die Härtefallliste gehört.Externen Sachverstand sollten Sie sich auch bei derÜberarbeitung der Regelsätze einholen. Die Kollegin-nen und Kollegen der Fraktion von Bündnis 90/Die Grü-nen fordern hierfür die Einsetzung einer Kommission.Wir unterstützen das und haben diese Forderung auch inunseren Antrag aufgenommen, den wir in der nächstenSitzungswoche vorlegen werden.
Leider werden viele wichtige Aspekte der Grund-sicherung im Antrag der Grünen gänzlich ausgeblendet.Wenn man über Regelsätze spricht, muss man immerauch Strategien zur Vermeidung von Armut diskutieren.Dazu gehören gute Arbeit, faire Arbeitsbedingungen,Mindestlohn, Bildung. Leider lesen wir dazu in IhremAntrag nichts.Die Kolleginnen und Kollegen der Linken sind dagründlicher. Sie haben in ihrem Antrag fast nichts ausge-lassen, was sie für Bezieherinnen und Bezieher vonGrundsicherung alles verbessern wollen. Genau wie dieGrünen wollen auch sie die Regelsätze unabhängig voneiner grundlegenden Neuberechnung erst einmal kräftigerhöhen. Ob das aber in Einklang mit dem Urteil desBundesverfassungsgerichtes zu bringen ist, wage ich zubezweifeln; denn gerade das Ins-Blaue-Hinein, das Pi-mal-Daumen-Prinzip ist es doch, was von den oberstenRichtern bemängelt wurde.
Natürlich müssen die Regelsätze angehoben werden, be-sonders die für Kinder, aber auf verfassungsfesterGrundlage.
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2054 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 24. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Februar 2010
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Gabriele Hiller-OhmAuch die Grundsicherung für Asylbewerberinnenund Asylbewerber muss reformiert werden, und zwardringend. Diese Menschen erhalten weniger als zweiDrittel des Sozialhilfeniveaus. Seit 1993, also seit17 Jahren, wurden die Leistungen nicht angehoben.Selbst eine geringe Anhebung, die die rot-grüne Bundes-regierung 2001 umsetzen wollte, ist am Widerstand derschwarz-gelb regierten Bundesländer gescheitert. ImZuge der Reform der Regelsatzbemessung muss auchdas Asylbewerberleistungsgesetz angepackt werden. Ichhoffe, mit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts imRücken kommen wir auch hier endlich ein Stück voran.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Guido
Westerwelle.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-ren! Kolleginnen und Kollegen!
Ich möchte mit ein paar kurzen Bemerkungen etwas zurDebatte beitragen, da ich mehrfach angesprochen wor-den bin.Erstens. Als das Bundesverfassungsgericht entschie-den hat, habe ich mitnichten das Bundesverfassungsge-richt und seine Entscheidung und vor allen Dingen auchnicht diejenigen kritisiert, die ein schweres Schicksal ha-ben.
Was ich kritisiert habe, sind die Debattenbeiträge, die amTag nach der Entscheidung des Bundesverfassungsge-richts erfolgt sind.
Die Tinte unter der Urteilsverkündung war noch nichtgetrocknet, da haben Sie aus den Oppositionsfraktionenerklärt,
jetzt habe sich das Thema der Entlastung der Bezieherkleinerer und mittlerer Einkommen erledigt.
Ich habe darauf aufmerksam gemacht, dass das aus unse-rer Sicht ein Fehler ist, weil man alles, was man vertei-len möchte, erst einmal erwirtschaften muss. Dabeibleibe ich auch.
Ich bleibe auch dabei: Wenn man nach einem solchenUrteil nur noch über die Verteilungsgerechtigkeit sprichtund nicht mehr über die Leistungsgerechtigkeit, dannmacht man einen Fehler in der Debatte.
Leistung muss sich lohnen, und wer arbeitet, muss mehrals derjenige haben, der nicht arbeitet. Das werde ichheute sagen und auch morgen noch.
Zweitens. Auf die Frage, was praktisch in der Politikfolgt, antworte ich:
Wir haben in der Koalition längst etwas vereinbart, wasin der alten Koalition aufgrund des anhaltenden Wider-stands der Sozialdemokratie nicht möglich gewesen ist,nämlich dass beispielsweise die Hinzuverdienstmög-lichkeiten ausgebaut werden, damit es Brücken zurückin die Arbeitswelt geben kann.
Wir haben im Sinne der Leistungsgerechtigkeit in dieserKoalition auch vereinbart und auf den Weg gebracht,dass das Schonvermögen für Hartz-IV-Empfänger, dasvon Ihnen auf 250 Euro pro Lebensjahr festgesetzt wor-den ist, verdreifacht wird,
weil wir der Überzeugung sind, dass zur Leistungsge-rechtigkeit auch zählt, dass derjenige, der ein Leben langvorgesorgt hat und dann einen Schicksalsschlag erleidet,nicht alles abgeben muss.
So viel soziale Sensibilität haben Sie in den gesamten elfJahren nicht gezeigt wie wir in den ersten Monaten unse-rer neuen Regierung.
Drittens. Die Arbeitsministerin Frau von der Leyenhat die volle Unterstützung der Koalition;
denn genau das, was ich hier gesagt habe, steht auch imKoalitionsvertrag. Wir fordern Sie auf, der Erhöhung desSchonvermögens zuzustimmen; denn eines wollen wir,um der geschichtlichen Wahrheit die Ehre zu geben, un-terstreichen: Diese Gesetze wurden von der SPD undden Grünen verabschiedet. Sie haben verfassungswid-
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 24. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Februar 2010 2055
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Dr. Guido Westerwellerige Gesetze beschlossen. Wir haben heute mit den Pro-blemen fertigzuwerden, die Sie uns hinterlassen haben.
Herr Kollege Westerwelle, erlauben Sie eine Zwi-
schenfrage des Kollegen Ernst?
Bitte sehr, Herr Kollege.
Bitte schön, Herr Ernst.
Herr Abgeordneter Westerwelle, –
Herr Kollege Ernst.
– Ihren Gedanken, dass sich Leistung lohnen muss,
teilen wir vollkommen. Sind Sie der Auffassung, dass
sich die Leistung einer Floristin in Sachsen-Anhalt, die
für eine Vollzeitbeschäftigung 4,50 Euro in der Stunde
bekommt und von diesem Lohn leben soll, lohnt? Sind
Sie der Auffassung, dass sich die Leistung der Men-
schen, die zum Beispiel im Kraftfahrzeughandwerk in
Schleswig-Holstein arbeiten, wo in der untersten Lohn-
gruppe um die 7 Euro verdient werden, lohnt? Sind Sie
mit mir der Auffassung, dass wir, wenn sich die Leistung
der Menschen lohnen soll, durch einen gesetzlichen
Mindestlohn Vorsorge dafür treffen müssen, dass sich
die Leistung nicht mehr nur für die Couponschneider
lohnt, sondern auch für diejenigen, die richtige Arbeit
leisten?
Wenn Sie, Herr Kollege Ernst, das, was ich zu diesemThema gesagt und geschrieben habe, in vollem Umfangewahrgenommen hätten, und nicht nur das gehört hätten,was Sie hören wollten, um daraus einen parteipolitischenVorteil zu ziehen, dann hätten Sie drei Punkte meinenVeröffentlichungen entnehmen können.
Erstens. Die OECD hat uns gerade vor wenigen Ta-gen bescheinigt, dass sich in Deutschland die Aufnahmevon Arbeit oft genug deshalb nicht lohnt, weil derSteuer- und Abgabenstaat zu früh und zu kräftig zulangt.
– Herr Kollege, Sie haben mir eine Frage gestellt. BevorSie eine Attacke bekommen und umfallen,
hören Sie doch einen Augenblick zu! – Wir in der Koali-tion haben deshalb vereinbart, dass die Familien gleicham Anfang entlastet werden. Wir haben die Kinderfrei-beträge erhöht, und wir haben das Kindergeld erhöht.Das ist ein wichtiger Beitrag zur sozialen Gerechtigkeit,von dieser Koalition beschlossen.
Zweitens. Was die Frage der Mindestlöhne angeht:Herr Kollege, die Koalition hat bereits im Dezembervereinbart, dass branchenspezifische Mindestlöhne,wenn sie einvernehmlich im Tarifausschuss beantragtwerden,
selbstverständlich genehmigt und eingeführt werdenkönnen. Wogegen wir uns wehren, ist, dass wir für diegesamte Republik einen einheitlichen Mindestlohn fest-setzen, unter Verkennung der völlig unterschiedlichenLebensverhältnisse. Es geht nicht um die Frage, ob es inbestimmten Branchen einen Mindestlohn geben kann;das haben wir längst in der Koalition vereinbart. Es gehtum Folgendes: Es ist ein Fehler, die Arbeitslosigkeit, ge-rade die Jugendarbeitslosigkeit, hochzutreiben,
indem man für ganz Deutschland einen flächendecken-den Mindestlohn festsetzt. Eine Steuer- und Abga-bensenkung ist aus unserer Sicht der richtige Weg.
Schließlich geht es natürlich um die Frage, was da-raus für die Steuerpolitik folgt.
Es geht um den Mittelstandsbauch. Aus unserer Sicht istes absolut notwendig, dass wir die Aufnahme von Arbeiterleichtern, indem vor allen Dingen die Bezieher kleinerund mittlerer Einkommen bei Steuern und Abgaben ent-lastet werden.
Wer das vergisst, der sorgt dafür, dass in Deutschland dieLeistungsungerechtigkeit wächst. Wenn sich Leistungs-
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2056 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 24. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Februar 2010
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Dr. Guido Westerwelleungerechtigkeit in Deutschland breitmacht, dann werdenwir das Fundament unseres Sozialstaates verlieren. WerLeistungsgerechtigkeit vergisst, wird als Erstes die so-ziale Gerechtigkeit verlieren.
Frau Kollegin Kramme und andere, Sie haben hier be-merkenswerte Beispiele erwähnt. Von Folter und Hexen-jagd war die Rede. Ich lese, das sei ein Ausflug in einerechte Politik. Ich möchte Ihnen als ein Liberaler
in aller Offenheit und mit aller Klarheit zurückgeben:Wenn man in Deutschland Leistungsgerechtigkeit alsrechtsradikal ansieht, dann zeigt das nur, welch linkesGedankengut man mittlerweile im Kopf hat.
Herr Kollege Westerwelle, erlauben Sie eine weitere
Zwischenfrage, und zwar des Kollegen Fritz Kuhn?
Bitte sehr.
Herr Kuhn, bitte schön.
Herr Westerwelle, ich möchte auf den Punkt „Arbeit
soll sich lohnen“ und darauf, ob Arbeitslose Arbeit auf-
nehmen wollen oder nicht, zurückkommen. In Ihrer
Rede haben Sie zweimal, auch im Zusammenhang mit
dem sogenannten Mittelstandsbauch, gesagt: Steuern
und Abgaben müssen gesenkt werden, damit dies leich-
ter fällt.
Meine Frage an Sie ist: Ist Ihnen eigentlich klar, dass
im Niedriglohnbereich, in dem Millionen von Leuten
bereits arbeiten oder Arbeit aufnehmen könnten, die
Senkung der Steuern überhaupt keine Rolle spielt?
Ein Ehepaar, das 1 800 Euro brutto verdient, zahlt keine
Steuern, sondern Sozialabgaben.
– So etwas kann man doch ruhig klären. Die FDP sollte
vielleicht einmal etwas für ihre Gemütsverfassung tun.
Meine Frage lautet, Herr Westerwelle: Wäre es nicht
klüger – wenn es Ihnen ein ernstes Ansinnen ist –, uns
daranzumachen, im Niedriglohnbereich die Lohnzusatz-
kosten, also die Abgaben, zu senken, weil eine Steuer-
senkung diese Leute gar nicht erreichen kann? Wer ziel-
genau helfen will, müsste doch ein Progressivmodell in
der Form einführen, dass die Sozialabgaben im unteren
Einkommensbereich niedriger sind und erst ab einer be-
stimmten Größenordnung, vielleicht bei einem Einkom-
men von 2 000 Euro, die 40 Prozent erreichen, die wir
heute haben.
Ich glaube, Herr Kollege, dass Sie einen wichtigenPunkt ansprechen. Deswegen habe ich hier übrigens im-mer von der Senkung der Steuern und der Abgaben ge-sprochen.
Beides ist Teil unserer Koalitionsvereinbarung. Beideswollen wir als christlich-liberale Koalition durchsetzen.Aber leider ist es nicht so, dass das Thema Steuern nichtmehr zu besprechen wäre. Wir haben beispielsweise beiden Kinderfreibeträgen etwas geschafft, was aus unsererSicht gerade für diejenigen wichtig ist, die Familien ge-gründet haben und dies oft genug als Armutsrisiko erle-ben mussten.
– Warten Sie doch bitte einen Augenblick! – Es ist ausunserer Sicht nicht akzeptabel, dass nach unserem deut-schen Steuerrecht für Kinder ein niedrigerer Freibetragals für Erwachsene gilt. Wir wollen, dass Kinder endlichgleich und fair behandelt werden, dass sie wie Erwach-sene behandelt werden. Das ist ein wichtiger Punkt.
Sie haben recht bezüglich der Abgaben. Eine Ände-rung ist Teil der Koalitionsvereinbarung und selbstver-ständlich auch unseres Regierungsprogramms. In diesemPunkt stimmen wir sogar ausdrücklich überein. Was dieAnalyse dessen, was zu tun ist, angeht, werden wir nochreden müssen.Herr Kollege Kuhn, Sie haben in dieser Debatte alsein wichtiger Vertreter der Grünen gesprochen. ErlaubenSie mir daher folgende Bemerkung: Was mir nicht ge-fällt – auch Sie haben diese Debatte beantragt –,
ist, wie schnell Sie vergessen haben, was Sie damals ineiner Sozialstaatsdebatte selbst gesagt haben. Ich zitiereeinmal, was Frau Künast am 21. August 2004 gesagt hat,als die Gesetze beschlossen worden sind, die jetzt inKarlsruhe kassiert wurden: Mit 1- oder 2-Euro-Jobskönnten Arbeitslose Grünflächen pflegen oder ältereMenschen betreuen.
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Dr. Guido Westerwelle
Das sagte Renate Künast. Was nehmen Sie sich heraus,dass Sie mir meine Kritik vorwerfen, liebe Frau Kolle-gin?
Zum Schluss möchte ich auf folgenden Punkt einge-hen: Ich hoffe, dass wir diese Debatte erweitern, undzwar um den wichtigsten Punkt der Sozialpolitik über-haupt, um die Bildungspolitik. Die damit verbundeneEntwicklung muss als soziale Herausforderung ernst ge-nommen werden. Hier in Berlin – da regieren SPD undLinkspartei – ist man wieder so weit, dass Gymnasiums-plätze nicht mehr nach Begabung vergeben, sondern imMangelfalle sogar verlost werden – „Lotterieglück fürAufstiegschancen“. Wir haben uns da etwas anderes vor-gestellt.
Deswegen muss diese Debatte geführt werden.Endlich ist das erreicht worden, was erreicht werdensollte. In den Mittelpunkt unserer Politik gehören nichteinige Millionäre.
In den Mittelpunkt unserer Politik gehören vor allenDingen der Mittelstand und die Mittelschicht. Sie tragendas Land; sie ziehen den Karren.
Das ist es, worauf die Bürger einen Anspruch haben:dass Leistung sich lohnt. Diese Bürger erwirtschaftennämlich, was Sie verteilen wollen, und deren Last darfnicht immer schwerer gemacht werden.
Zu einer Kurzintervention erteile ich das Wort der
Kollegin Elke Ferner von der SPD-Fraktion.
Herr Kollege Westerwelle, Sie haben Ihren Redebei-trag damit begonnen, darauf hinzuweisen, dass es Sie ge-stört hat, dass diejenigen, die in der letzten Sitzungswo-che hier gesprochen haben – sie waren teilweise bei derUrteilsverkündung in Karlsruhe dabei –, sich auch dieFrage gestellt haben, wie dieses Urteil umgesetzt wird,wenn sich die in Art. 1 Grundgesetz verankerte Maxime„Die Würde des Menschen ist unantastbar“ in den Re-gelsätzen, in einer Grundsicherung widerspiegeln soll.Das geht nach Einschätzung aller, auch der Sozialver-bände, nicht, indem das finanzielle Volumen gleichbleibt. Das Ganze wird teurer werden, es sei denn, manrechnet sich die Welt wieder schön.Ihre größte Sorge, Herr Westerwelle, ist, dass dasGeld, das für Ihre Steuerreform ohnehin nicht zur Verfü-gung steht – über 20 Milliarden Euro –, dann erst rechtnicht mehr da ist. Allein das zeigt schon, wes GeistesKind Sie sind. Sie machen eben doch Politik für dieOberen, für die Gut- und für die Bestverdienenden, undnicht für die Menschen, die in der Existenzsicherunghängen, die gerne arbeiten würden, aber aus verschiede-nen Gründen nicht arbeiten können, unter anderem des-halb, weil die Wirtschaft nicht genug Arbeitsplätze zurVerfügung stellt.
Sie haben eben den Kinderfreibetrag hervorgeho-ben. Der Kinderfreibetrag wirkt erst ab einem Einkom-men von über 60 000 Euro. So hoch ist aber noch nichteinmal das Durchschnittseinkommen in dieser Republik.
Alle, die weniger verdienen, bekommen für ihre Kinderweniger Geld vom Staat. Es ist nicht die Frage, ob ichfür Kinder den gleichen Freibetrag habe wie für Erwach-sene, sondern es ist die Frage, ob dem Staat jedes Kindgleich viel wert ist, und zwar unabhängig davon, wel-ches Einkommen seine Eltern haben.
Sie haben zum Schluss Ihrer Rede gesagt, wir müss-ten mehr in Bildung investieren. Ja, das ist richtig; dasist völlig richtig. Aber wenn Sie mehr in Bildung inves-tieren wollen, dann dürfen Sie den Ländern und denKommunen nicht die finanziellen Mittel dafür mit einerSteuerreform, mit Geschenken an Hotelketten und ande-ren Dingen entziehen. So ist mehr Bildung nicht finan-zierbar.
Ich möchte noch einen letzten Punkt ansprechen:Leistung muss sich lohnen. Wer wollte dem widerspre-chen? Aber das, was Sie als FDP, und das, was Sie alsschwarz-gelbe Koalition vorhaben, nämlich die Auswei-tung des Kombilohns ohne gleichzeitige Einführung ei-nes Mindestlohns, ist staatlich subventionierte Lohndrü-ckerei.
Sie bringen die Betriebe in Wettbewerbsschwierigkeiten,in denen die Tarifpartner gute, auskömmliche Einkom-men für die Beschäftigten ausgehandelt haben, also indenen die Beschäftigten gute Arbeit leisten und dafür gutbezahlt werden. Je mehr Sie die Löhne staatlich subven-tionieren, umso stärker wird sich die Lohnspirale nachunten drehen. Das hat nichts mit Leistungsgerechtigkeit
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Elke Fernerzu tun; das hat etwas damit zu tun, dass Sie Dum-pinglöhnen das Wort reden und nicht wollen, dass dieLeistung der Menschen auch adäquat bezahlt wird.
Frau Kollegin Ferner, bitte.
Wir brauchen ein Lohnanstandsgebot, das sich an ei-
nem menschenwürdigen Existenzminimum bemisst.
Auf diese Weise haben diejenigen – das ist nur recht und
billig –, die arbeiten, mehr Geld durch ihre Arbeit als
diejenigen, die von Grundsicherung leben.
Frau Kollegin Ferner, Ihre Redezeit ist weit überzo-
gen.
Darum geht es, und nicht um Sozialabbau, wie Sie ihn
wollen.
Kollege Westerwelle zur Erwiderung.
Dr. Guido Westerwelle (spricht von seinem
Platz aus):
Frau Kollegin Ferner,
Sie haben ja in Ihrem Beitrag durchaus wichtige Punkte
angesprochen. Ich habe vorab erst einmal eine Sache
hinzuzufügen: Sie kritisieren Zustände – Spitzensteuer-
satz, Kombilohn –, die Sie selber in Ihrer Regierungszeit
herbeigeführt haben.
Ich verstehe das nicht. Ist das nun eine Abrechnung mit
der Politik Ihrer Partei, oder was haben Sie hier gerade
veranstaltet?
Auf einen weiteren Punkt muss aufmerksam gemacht
werden: Kindergeld und Freibeträge. Ich habe übri-
gens, als ich gesprochen habe, beides auch genannt. Sie
haben völlig recht: Der Kinderfreibetrag greift erst ab ei-
nem bestimmten Einkommensniveau. Da sind wir uns
völlig einig. Deswegen hat diese Koalition zweierlei ge-
tan: Wir haben die Kinderfreibeträge erhöht, und wir ha-
ben gleichzeitig das Kindergeld erhöht.
Damit Sie einmal wissen, wie viel wofür ausgegeben
wird: 4,2 Milliarden Euro für die Erhöhung des Kinder-
geldes, 400 Millionen Euro für die Erhöhung der Freibe-
träge. Sie sehen, wie sozial ausgewogen das ist, was
diese Koalition beschlossen hat.
Schließlich sagten Sie, wir machten eine Steuerpolitik
für einige wenige. Ich glaube, es gibt Bereiche, über die
wir ruhig streiten sollten.
– Darüber können wir gerne streiten. – Aber über eine
Frage bitte ich Sie doch wirklich einmal einen Augen-
blick nachzudenken: Kennen Sie wirklich irgendeinen
Reichen in Deutschland, der der Erhöhung des Kinder-
geldes entgegengefiebert hätte? Wir haben hier eine
Politik für die Bezieher von kleinen und mittleren Ein-
kommen gemacht. Diese müssen in Deutschland ge-
stärkt und unterstützt werden. Das ist der entscheidende
Unterschied.
Nun zur Frage der Bildungspolitik und des Los-
glücks: Frau Ferner, ich selbst habe erst eine Realschule
besucht. Ich habe sehr von den Bemühungen der sozial-
liberalen Koalition, Bildung als Bürgerrecht zu veran-
kern, profitiert; denn die Durchlässigkeit des Bildungs-
systems ist in den 70er-Jahren hart errungen worden.
Als jemand, der erst auf einer Realschule war, der
dann auf das Gymnasium wechseln durfte, kann ich Ih-
nen nur ganz persönlich sagen: Niemand soll sich he-
rausreden, wenn er wie Ihre Partei in Berlin Gymnasial-
plätze per Losentscheid vergeben will.
Die Zukunftschancen von jungen Menschen von Lotte-
rieglück abhängig zu machen, das gibt es nirgendwo in
Deutschland,
nur im rot-rot regierten Berlin. Das ist unerträglich,
meine sehr geehrten Damen und Herren.
Niemand soll sich herausreden. Diese Katastrophe, die-
sen Skandal verantworten Sie von Rot-Rot.
Das Wort hat die Kollegin Katja Kipping von derFraktion Die Linke.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Mit derWortwahl „spätrömische Dekadenz“ war HerrWesterwelle möglicherweise selbstkritischer, als ihmselber bewusst ist.
Denn im späten Rom ging die Dekadenz von den Herr-schenden aus. Welche Dekadenz erleben wir heute? Mi-nister wie Westerwelle bekommen für Vorträge bei Ban-ken 7 000 Euro.
Ministerpräsidenten wie Rüttgers bekommen von Fir-men für ein Kurzgespräch, quasi für einen Gesprächs-quickie, mehrere Tausend Euro. Kurzum: Führende Poli-tiker in diesem Land werden zu Herren für gewisseMinuten,
wobei ihr Minutensatz deutlich über dem Stundensatzvon Edelprostituierten liegt.
Das ist die Dekadenz, über die wir reden müssen. WennSie hier über Leistungsgerechtigkeit reden, dann den-ken Sie daran: 7 000 Euro für einen Kurzvortrag!Vor kurzem kam ein Mann in mein Wahlkreisbüro,der halbtags für eine Hilfsorganisation arbeitet. Er istviel ehrenamtlich tätig und engagiert sich für die Kata-strophenhilfe für Haiti. Dieser Mann geht mit 1 000 Euroim Monat nach Hause. Für 7 000 Euro muss er siebenMonate arbeiten. Glaubt hier jemand ernsthaft, dass dasetwas mit Leistung zu tun hätte? Glauben Sie denn ernst-haft, dass ein Vortrag von Westerwelle dieselbe Leistungist wie sieben Monate Arbeit für eine Katastrophenhilfe?
Wer davon überzeugt ist, der möge jetzt bitte vortretenund das der geneigten Öffentlichkeit kundtun und vertre-ten.
Ich glaube, es geht hier nicht um Leistungsgerechtigkeit,sondern um ein ganz altes Prinzip der Ungerechtigkeit:Wer hat, dem wird gegeben, wer wenig hat, dem wirdauch noch das wenige genommen.
Wie ungeheuerlich die Hetze ist, die Sie vonseiten derFDP losgetreten haben, wird vor folgendem Hintergrunddeutlich: Es gibt die Studie „Deutsche Zustände“ vonProfessor Heitmeyer, der die Einstellung zu bestimmtenMenschengruppen untersucht. Er kommt zu einem er-schreckenden Ergebnis: Die Ablehnung gegenüber Men-schen, die als vermeintlich nutzlos eingestuft werden,also gegenüber Langzeiterwerbslosen und Obdachlosen,steigt extrem. Herr Heitmeyer sagt, das habe inzwischeneinen Grad an Menschenfeindlichkeit angenommen. Ichmeine sogar: Was sich hier entwickelt, ist ein neuer Ras-sismus, ein Nützlichkeitsrassismus. Das Gefährlichedaran ist: Wenn ein solcher Rassismus erst einmal einegewisse Intensität erreicht hat, dann sinkt die Hemm-schwelle für gewaltsame Übergriffe. Wir beobachten,dass die Zahl der gewaltsamen Übergriffe brauner Schlä-gertrupps gegenüber Obdachlosen deutlich zugenommenhat. Vor diesem Hintergrund müssten sich alle, die nureinen Funken Verantwortung im Leib haben, diesen Res-sentiments entgegenstellen. Wir alle müssen uns als Po-litiker und Politikerinnen dem Nützlichkeitsrassismusentgegenstellen. Doch was passiert? Sie schüren munterweiter und spielen mit dem Feuer. Das ist hochgefähr-lich.
Nun gibt es immer wieder Einwände gegen die Forde-rungen der Linken. Ein Einwand lautet, dass der von unsgeforderte Regelsatz in Höhe von 500 Euro nicht durchein Bundesverfassungsgerichtsurteil gedeckt sei. Ichweise in diesem Zusammenhang darauf hin: Das Bun-desverfassungsgericht hat deutlich gesagt, der Gesetzge-ber muss nachweisen, dass das menschenwürdige Exis-tenzminimum nicht unterschritten ist. Es hat nicht dasÜberschreiten verboten. Das Bundesverfassungsgerichtsagt ganz klar: Der Gesetzgeber hat einen politischenGestaltungsspielraum. – Dieser endet aber dort, wo dasExistenzminimum unterschritten wird. Wir berufen unsauf Berechnungen, die von vollwertiger Ernährung undpolitischer Teilhabe ausgehen.
Ein weiterer Einwand lautet, Sanktionen müssten un-bedingt bestehen und seien für die Arbeitsvermittlungnotwendig. Ich habe mich vor kurzem mit Mittelstands-vertretern unterhalten und dabei den Eindruck gewon-nen, dass es gerade aus Sicht kleiner Unternehmen totalkontraproduktiv ist, wenn man bei der Arbeitsvermitt-lung vor allen Dingen versucht, Erwerbslosen nachzu-weisen, dass sie gar nicht arbeitswillig sind, und sie ver-donnert, sich überall zu bewerben, unabhängig davon,ob die Stelle zu dem betreffenden Bewerber passt. Füreine nachhaltige Vermittlung ist notwendig, dass die An-forderungen der Stelle sowie die Fähigkeiten und dieVorstellung des Arbeitsuchenden gut zusammenpassen.Wenn nun aber die Bundesagentur für Arbeit Erwerbs-lose unter der Androhung von Sanktionen verdonnert,sich immer wieder zu bewerben, dann bedeutet das ge-rade für kleine Unternehmen jede Menge Arbeit bei denBewerbungen. Das stellt eine zusätzliche Belastung fürsie dar. Deswegen sagen wir: Im Sinne einer nachhalti-gen Arbeitsvermittlung gehören die Sanktionen abge-schafft.
Die tatsächliche Dekadenz, damals wie heute, ist dieDekadenz der Herrschenden. Doch anstatt diese Pro-bleme zu benennen, schüren Sie Sozialneid zwischen
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Katja Kippingden Armen und den ganz Armen. Das ist ein übles Ab-lenkungsmanöver.Die Linke sagt: Wir wollen etwas komplett anderes.Auch wir wollen, dass mehr Geld in die Bildung ge-steckt wird. Aber was ich sehr eigenartig finde, wenn Siehier das Hohelied der Bildung singen, Herr Westerwelle:In dem Haushalt, den Sie mit zu verantworten haben,werden gerade einmal 350 Millionen Euro für Bildungeingestellt. Die Steuerentlastung aber, die Sie vorange-trieben haben, kostet uns ab 2011 jedes Jahr 24 Milliar-den Euro. Das sind die wahren Schwerpunktsetzungen,die Sie vornehmen.
Wir als Linke hingegen wollen, dass die Schere zwi-schen Arm und Reich nicht weiter auseinandergeht. Wirwollen, dass keiner unter das Existenzminimum fällt.Wir wollen eine sanktionsfreie Mindestsicherung, einenMindestlohn von 10 Euro, gute Arbeit und eine Vertei-lung der vorhandenen Erwerbsarbeit durch Arbeitszeit-verkürzung. Kurzum: Wir wollen ein Bündnis für sozia-len Fortschritt.Besten Dank.
Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Matthias Zimmer
von der CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir habenseit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts inDeutschland eine Debatte, die manchmal seltsame Zügeannimmt. Gestern haben wir im Bundestag bereits übereinen Aspekt dieser Debatte eine Aktuelle Stunde ge-habt, heute setzen wir die Debatte fort. Manchmal habeich den Eindruck, die Schärfe der Debatte kommt eherdaher, dass sich einige in diesem Haus ein anderes Urteilerhofft hätten.
Darauf hat der FDP-Vorsitzende ja auch richtigerweisehingewiesen.Deshalb gilt es als Erstes festzuhalten: Hartz IV istnicht verfassungswidrig.
Das Bundesverfassungsgericht hat festgestellt: DieHöhe der Sätze ist nicht evident unzureichend. Aber dieRegelsätze für Kinder müssen neu berechnet werden,und das werden wir tun.Das Urteil ist in erster Linie eine Niederlage für dieSPD. Weder der damalige Arbeitsminister Münteferingnoch Olaf Scholz haben auf Bedenken bezüglich derAusgestaltung der Regelsätze reagiert. Psychologischgesehen kann ich das verstehen. Sie wollten die Büchseder Pandora nicht öffnen; denn diese Reform Ihren eige-nen Leuten zu verkaufen, war schwierig genug. Jedekleine Änderung hätte sofort an die Grundbefindlichkeitder SPD gerührt. Dann – das war Ihre Haltung – lassenwir uns lieber von Karlsruhe sagen, was zu tun ist. Das,meine Damen und Herren, spricht nicht für den Willenzu politischer Gestaltung, sondern eher für die Suchenach einem Notausgang für Helden. Das Gericht soll dieHausaufgaben machen, die Sie haben liegenlassen. Einwenig Autoritätsgläubigkeit spielt da auch mit. Karls-ruhe locuta, causa finita.
Zu den Grünen fällt mir wenig ein. Sie standen mit ander Wiege von Hartz IV und tun heute so, als ob Sie dasdamals gar nicht so gemeint hätten. Dann werden Ne-benkriegsschauplätze eröffnet: Kritik an der Kanzlerin,am FDP-Vorsitzenden, alles seltsam unsubstanziiert,aber mit bemerkenswerter Verve vorgetragen. LieberHerr Kurth, Sie haben mit ebensolcher Verve die Würdedes Menschen ins Feld geführt. Ich frage mich: HabenSie 2004 vergessen, das anzumerken,
oder haben Sie es lediglich aus Angst vor dem Basta-Kanzler unterlassen?
Nun zu den Linken. Gestern im Ausschuss haben Sieerklärt, Sie lehnen Sanktionsregime für nicht Arbeits-willige ab. Für mich ist das nichts anderes als die perma-nente Kapitulation vor dem inneren Schweinehund ande-rer, eine Extremposition, wie sie für die Linken ja nichtuntypisch ist. Ich will nur an eine andere Extrempositionerinnern, die Ihre Vorgänger als Gesetz gefasst haben,nämlich den alten § 249 des Strafgesetzbuches der DDR.Dort ging es um asoziales Verhalten. Danach wurde der-jenige, der „das gesellschaftliche Zusammenleben derBürger oder die öffentliche Sicherheit und Ordnung ge-fährdet, indem er sich aus Arbeitsscheu einer geregeltenArbeit entzieht“, mit einer Freiheitsstrafe bis zu zweiJahren belegt,
im Wiederholungsfall drohten bis zu fünf Jahre.
Dies ist ebenso eine Extremposition und ebenso falsch.Wir haben funktionierende Sanktionsregimes; sie müs-sen nur angewendet werden. Aber wir wollen die Men-schen nicht kriminalisieren.Den Kolleginnen und Kollegen von der Linken willich ein anderes Wort ins Stammbuch schreiben, dassnämlich nur das verbraucht werden kann, was auch erar-beitet wird. So weit war jedenfalls die SED bereits in
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Dr. Matthias Zimmerden 70er-Jahren, als man die Einheit von Wirtschafts-und Sozialpolitik propagiert hat. Diese Einheit hat sichallerdings nur in einem verwirklicht, nämlich darin, dassIhre Ahnen sowohl die Wirtschafts- als auch die Sozial-politik gegen die Wand gefahren haben. Die 40-jährigeWanderschaft in der Wüste des Sozialismus hat Folge-kosten hinterlassen, die wir noch heute bezahlen. Damitscheiden Sie von den Linken aus meiner Sicht als Ratge-ber für wirtschafts- und sozialpolitische Fragen aus.
Für mich ist eines klar: Wenn sich die Einheit von Wirt-schafts- und Sozialpolitik jemals verwirklicht hat, dannin unserer Idee der sozialen Marktwirtschaft.Nun will die Linke den Regelsatz auf 500 Euro erhö-hen. Begründung: Fehlanzeige. Zudem wollen Sie Ihrenausgabenintensiven Amoklauf auch an anderer Stellefortsetzen, mit 2 Millionen Arbeitsplätzen im öffentli-chen Dienst mit 50 Milliarden Euro im Jahr zusätzlich,und mit jeweils 25 Milliarden Euro in den nächsten vierJahren soll das produzierende Gewerbe auf innovativeVerfahren und Produkte umgestellt werden.Ihre Idee, Produktionsverfahren und Produkte umzu-stellen, kann ich in diesem Zusammenhang nur als Dro-hung auffassen. Die Bundesrepublik ist bereits in vielenFeldern Technologieführer. Mir fällt dazu der alte Slo-gan der SED ein: „Überholen ohne einzuholen“. Einge-holt hat Sie 1989 Ihre Unfähigkeit, Ausgaben auf ver-fügbare Mittel zu beziehen, und überholt sind Ihre Artdes planwirtschaftlichen Denkens und Ihre Annahme,das Geld wachse auf Bäumen und müsse nur ausgegebenwerden. Damals wie heute fehlen Ihnen Maß und Mitte.
Die Debatte, die wir um Hartz IV führen, ist aus mei-ner Sicht in großen Teilen eine Debatte mit verdecktenKontexten. Der SPD geht es darum, befreit von der Re-gierungsverantwortung wieder Zutritt in das folgenfreieParadies der reinen Lehre zu erlangen, wo die sozialde-mokratische Welt noch in Ordnung ist. Hier ist der Ein-fluss des Wünschens auf das Denken besonders stark.Den Grünen geht es darum, sich aus der Mitverant-wortung für das einstmals Beschlossene zu stehlen. Hiernimmt die Bewältigung der Vergangenheit das Denkenin Beschlag.Bei der Linken geht es um Systemkritik, um einegrundsätzliche Ablehnung von Hartz IV, die man mitvöllig überzogenen Vorschlägen ad absurdum führenwill. Eine Alternative ist nicht in Sicht. Darin sind Sieübrigens Ihrem Stammvater Marx gleich, der auch nurkritisieren konnte, aber niemals auch nur einen einzigenkonstruktiven Vorschlag gemacht hat.
Meine Damen und Herren, die Debatte um Hartz IVeignet sich meines Erachtens nicht, solche mitschwin-genden Befindlichkeiten therapeutisch auszuleben. Da-für ist das Thema dann doch zu ernst. Wir wollen denMenschen in der Not helfen, und wir werden bei der Be-rechnung der Sätze jene Transparenz herstellen, die dasVerfassungsgericht angemahnt hat. Das ist unsere Auf-gabe als Parlament, und wir von der Union werden unsdieser Aufgabe stellen.Vielen Dank.
Herr Kollege Zimmer, ich gratuliere Ihnen im Namen
des ganzen Hauses zu Ihrer ersten Rede im Deutschen
Bundestag.
Das Wort hat die Kollegin Angelika Krüger-Leißner
von der SPD-Fraktion.
Vielen Dank, Herr Präsident! – Liebe Kolleginnenund Kollegen! Der bisherige Verlauf unserer Debatte hatdoch deutlich gezeigt, dass einige von uns über diesesUrteil heftig überrascht sind, einige sogar so sehr, dasssie völlig orientierungslos geworden sind, hier mit irr-witzigen Forderungen antreten, seit zwei Wochen durchdie Lande ziehen und heute durch den Bundesaußenmi-nister auch wieder einen Ausschnitt aus diesem Schau-spiel aufführen. Andere haben gleich Lösungen parat,wieder andere tischen alte Kamellen auf.Dabei sollten wir es uns nicht so einfachen machen.Das Urteil hat uns ein Paket von Aufträgen auferlegt.Auftrag Nummer eins lautet, Rechtsklarheit und Trans-parenz bei der Berechnung der Regelsätze herzustellen.Auftrag Nummer zwei besteht darin, einen eigenständi-gen, bedarfsgerechten Regelsatz für Kinder zu schaffen.Beim Auftrag Nummer drei geht es darum, eine Härte-fallregelung für laufende, unabweisbare atypische Be-darfe zu schaffen, und das ab sofort.
Auch wenn keine Vorgaben zur Höhe der Regelsätze ge-macht worden sind, so bin ich mir sicher, dass es fürviele Familien Verbesserungen geben wird, sowohldurch den Regelsatz für Kinder als auch durch die Um-setzung der Sonderbedarfe. Ich warne davor – besondersangesichts dieser Debatte –, Regelungen nach Kassen-lage zu treffen.
In der gestrigen Ausschusssitzung hat uns das ziem-lich restriktive Vorgehen bei der Härtefallregelungüberrascht. Da kann das letzte Wort noch nicht gespro-chen sein.
Ich habe den Verdacht, dass dem Bundesverfassungsge-richt das Wort im Munde umgedreht werden soll.
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Angelika Krüger-LeißnerSehr geehrte Frau Ministerin, sorgen Sie dafür, dasswir eine offene, transparente Diskussion über die Neure-gelungen führen, dass wir nachvollziehbare Entscheidun-gen bekommen und dass die Jobcenter bundeseinheitli-che und möglichst unbürokratische Sachentscheidungentreffen können. Die Situation in den Jobcentern ist durchdas Vorgehen Ihrer Regierung ohnehin schon sehr ange-spannt.Dieses Urteil hat uns aber nicht nur den Auftrag zurVeränderung der Regelsätze gegeben. Es steht noch vielmehr dahinter: Uns sollte klar sein, dass uns damit derAuftrag für die Einführung eines gesetzlichen Mindest-lohns erteilt wurde.
Ja, liebe Kolleginnen und Kollegen von Schwarz-Gelb,das steht hinter dieser Regelung,
denn das ist Realität. Nur ein Narr kann jetzt noch einenniedrigeren Regelsatz fordern und auch noch ernsthaftdaran glauben. Es ist wohl eher zu erwarten, dass dieRegelleistungen steigen werden. Damit fällt das Lohn-abstandsgebot. Um das wiederherzustellen und ein ver-nünftiges „Lohnanstandsgebot“, so wie es meine Vorred-nerin gesagt hat, zu schaffen, brauchen wir dengesetzlichen Mindestlohn und keine niedrigeren Be-darfssätze.
– Herr Kolb, das ist meine Antwort auf Ihre Neuinterpre-tation des Satzes: Arbeit muss sich wieder lohnen.Im Urteil des Bundesverfassungsgerichts sehe ich vorallen Dingen den Auftrag und die Chance, Schwach-punkte im SGB II zu verbessern. Uns liegen heute zweiAnträge vor, über die wir in den nächsten Wochen redenwerden, die ich sehr unterschiedlich bewerte.Der Antrag der Grünen greift zweifellos den Auftragdes Bundesverfassungsgerichts auf. Er enthält gute An-sätze. Ich glaube, dass wir auf dieser Grundlage um Ver-besserungen ringen können. Die Kolleginnen und Kolle-gen der Linksfraktion nutzen das Urteil, um ihrepopulistische Forderung „Weg mit Hartz IV“ zu erneu-ern. Sie präsentieren einen Strauß von Maßnahmen. Umbei dem Bild „Strauß“ zu bleiben: Es sind ohne Frage einpaar schöne Blumen dabei, es sind aber auch ein paarKunstblumen dabei. Der Antrag liest sich wie einWunschzettel, der den Betroffenen eine heile Welt vor-spielt. Finanzpolitisch steht er auf sehr wackligen Bei-nen, aber das ist nicht neu. So kommen wir nicht weiter.Meine Fraktion wird in Auswertung des Urteils desBundesverfassungsgerichts einen eigenen umfassendenAntrag einbringen. Ich bin mir sicher, dass es uns danngelingt, eine Versachlichung der Debatte herbeizuführen.Es geht nicht an, dass sich einige auf Kosten der Schwa-chen in unserer Gesellschaft profilieren, wie es der am-tierende Bundesaußenminister heute wieder getan hat.Der Ruf nach strengeren Regeln und schärferen Strafenstigmatisiert die Hilfeempfänger als Arbeitsverweigererund Sozialschmarotzer. Ich sage Ihnen: Hören Sie auf,Menschen in unserer Gesellschaft so gegeneinander aus-zuspielen! Die Mehrheit der Hilfeempfänger möchte ar-beiten, und zwar zu anständigen Löhnen und zu gutenArbeitsbedingungen. Darauf sollten wir den Fokus rich-ten.
Das Bundesverfassungsgericht hat uns die Möglich-keit gegeben, unser System der sozialen Grundsicherungzu überprüfen und zu verbessern. Ausgangspunkt kanndabei nur der Hilfebedürftige und sein Anspruch aufSicherung des Existenzminimums, auf ein menschen-würdiges Leben und auf gesellschaftliche Teilhabe sein.Dazu gehören alle Angebote und jegliche Unterstützungzur Überwindung und Vermeidung von Hilfebedürftig-keit.Das gilt umso mehr für die Kinder. Ein eigenständigerRegelsatz ist ein guter Lösungsansatz, aber es gehörtnoch viel mehr dazu: eine moderne Familien- und Bil-dungspolitik, um allen Kindern gute Bildungschancen zugeben. Kinderarmut ist vermeidbar. Packen wir es an.Vielen Dank.
Das Wort hat der Kollege Johannes Vogel von der
FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Frau Krüger-Leißner, Sie haben eine angebliche Verwir-rung in der Debatte, die der Vizekanzler angestoßen hat,angesprochen. Ich glaube, die Verwirrung lag eher beiIhnen.Ich will allen den Ausgangspunkt der Debatte nocheinmal zu Gemüte führen: Vorletzte Woche, am9. Februar 2010 um 10.06 Uhr, ergriff Herr Papier inKarlsruhe das Wort und begann mit der Verkündung desUrteils. Um 10.49 Uhr, gerade einmal eine gute halbeStunde später, haben Sie, liebe Kolleginnen und Kolle-gen von der SPD, in Person von Herrn Oppermannschon erklärt, erstens sei es völlig klar, es müsse jetztmehr Geld geben, und zweitens sei die Steuerentlastungfür kleine und mittlere Einkommen obsolet. Ich glaube,es ist zynisch, wenn Sie erst ein Willkürregime bei denHartz-IV-Regelsätzen, gerade für Kinder, einführen, Ih-nen das vom Gericht in der Luft zerrissen wird und Siedas dann auch noch als Legitimation für Ihr eigenes Par-teiprogramm nutzen.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 24. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Februar 2010 2063
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Johannes Vogel
Diese Reflexe hat der Vizekanzler kritisiert, und das istvöllig richtig. Etwas für die Schwächsten zu tun, ihnenaus der Hilfsbedürftigkeit herauszuhelfen und gleichzei-tig kleine und mittlere Einkommen in unserem Land zuentlasten, das ist kein Widerspruch, sondern das sindzwei Seiten derselben Medaille.
Werfen wir jetzt doch einmal einen ganz kurzen Blickdarauf, was wir als neue Regierung im Bereich desSozialstaates genau vorhaben. Wir wollen ihn an dreiPunkten fairer machen:Erstens brauchen wir Regelsätze, die nicht willkürlichberechnet sind, sondern anhand des realen Bedarfs. Ichkann nur erkennen, dass das Urteil anscheinend nochnicht vollständig verstanden wurde, da jetzt wieder poli-tisch gesetzte Zahlen in die Debatte eingebracht werden– 420 Euro, 500 Euro –, anstatt die Einkommens- undVerbrauchsstichprobe abzuwarten, dann in Ruhe Wert-entscheidungen zu treffen und abzuleiten, wie viel Geldwir für die Regelsätze brauchen.Zweitens wollen wir die Betreuung vor Ort verbes-sern.
Wenn man ehrlich ist und in die Details geht, dann stelltman fest, dass das das Problem ist. Sie wissen so gut wieich, dass es vor Ort Licht und Schatten gibt, sowohl beider Förderung als auch bei der Verhängung von manch-mal nötigen Sanktionen.Drittens wollen wir vor allem die Anreize verbessern– die OECD ist schon angesprochen worden –, dass manaus der Hilfsbedürftigkeit wieder in Beschäftigungkommt. Das ist doch das Problem.
Wir können nicht immer nur darüber reden, was mit de-nen ist, die Hilfe brauchen. Da müssen wir solidarischsein. Aber wir müssen uns auch Gedanken darüber ma-chen, wie sie da wieder herauskommen. Da hat dieOECD der Bundesrepublik Deutschland in der Tat einArmutszeugnis ausgestellt, weil es zu wenig positiveAnreize gibt, sich wieder hervorzuarbeiten. Deshalb istes richtig, dass wir durch eine Senkung der Steuer- undAbgabenlast die Lohnnebenkosten in den Blick neh-men wollen. Ein kurzer Gruß an die Kolleginnen undKollegen von den Grünen: Wenn Sie die Abgabenlastkritisieren, wäre es schön, wenn Sie sich auch an der De-batte beteiligen würden, wie wir die Beiträge zu den So-zialversicherungen niedrig halten können. Zur Gesund-heitsreform zum Beispiel, die wir vorhaben, höre ichkeine sachdienlichen Beiträge.
Außerdem ist es richtig, die Hinzuverdienstmechanis-men zu verbessern. Gerade in diesem Bereich, durch dendie Menschen wieder in den ersten Arbeitsmarkt kom-men wollen, werden den Menschen heute Steine in denWeg gelegt, anstatt ihnen die Hand zu reichen. Wir müs-sen die positiven Anreize durch bessere Zuverdienstme-chanismen verbessern. Genau das haben wir vor, weilwir einen Sozialstaat im Blick haben, der die Menschenaktiviert und sie nicht narkotisiert und ruhigstellt.Insofern kann ich das, was Sie hier machen, nur alsGeschrei empfinden. Ich hoffe, dass Sie sich konstruktivan unseren Vorschlägen zu einem faireren Sozialstaat be-teiligen werden.Vielen Dank.
Das Wort hat jetzt die Bundesministerin Dr. Ursulavon der Leyen.
Dr. Ursula von der Leyen, Bundesministerin fürArbeit und Soziales:Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ichmöchte für die Bundesregierung zunächst einmal dreiDinge klarstellen, die vielleicht eine Selbstverständlich-keit sind. Mir liegt aber daran, sie noch einmal zu beto-nen.Die Bundesregierung steht erstens selbstverständlichfür den verlässlichen Sozialstaat, und zwar für einen le-bendigen Sozialstaat. Es ist ein Gütesiegel der sozialenMarktwirtschaft, dass wir Menschen nicht aufgeben,sondern gerade denjenigen, die in eine Notlage gekom-men sind, wieder Aufstiegsperspektiven geben. Wir wol-len ihnen die Hilfe geben, die notwendig ist, damit sieihr Leben eigenständig in die Hand nehmen können. Wirwollen sie nicht alle über einen Kamm scheren. Das se-hen wir ohne jeden Zweifel als unsere Aufgabe. Arbeits-losigkeit hat auch ihre Ursachen: oft kein Arbeitsange-bot, oft kein Berufsabschluss, keine Kinderbetreuung,manchmal auch keine Lust. Das heißt, dass wir in derkonkreten Arbeitsvermittlung konsequenter und zügigerwerden müssen. Das ist die Debatte, die wir in diesemHohen Hause führen sollten.
Zweitens. Genauso wie es Steuerhinterziehung gibt,gibt es Missbrauch bei Hartz IV. Aber deshalb sind nochlange nicht alle Steuerzahler unter Generalverdacht, unddeshalb sind selbstverständlich noch lange nicht alleLangzeitarbeitslosen unter Generalverdacht.
Es gibt diesen harten Kern; aber ich werde nicht zulas-sen, dass er unsere Debatte bestimmt. Das wird der gro-ßen Zahl der Langzeitarbeitslosen, die aus der Arbeitslo-sigkeit heraus wollen, nicht gerecht.
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2064 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 24. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Februar 2010
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Drittens möchte ich etwas klarstellen. Natürlich müs-sen wir bei dieser Debatte immer diejenigen im Blick be-halten, die arbeiten. Das Arbeitslosengeld II ist eine Ge-meinschaftsleistung. Das ist eine Selbstverständlichkeit;aber es muss offensichtlich noch einmal erwähnt wer-den. Wir müssen deshalb das richtige Maß für diejenigenfinden, die mit Arbeitslosengeld II menschenwürdig le-ben müssen, und für diejenigen, die es erarbeiten undverdienen müssen.
Das sind zwei Seiten einer Medaille. Wir sollten sienicht gegeneinander ausspielen, sondern immer im Kon-sens miteinander darüber diskutieren.
Nach diesen Vorbemerkungen möchte ich auf das Ur-teil des Bundesverfassungsgerichts – es ist Anlass die-ser Debatte – eingehen. Es ist meines Erachtens ein wei-ses Urteil.
Es hat Grundsätze markiert. Es hat auch den politischenGestaltungsspielraum vollständig klargestellt. Die Pau-schalierung ist bestätigt worden. Das heißt, die Gängeleider Einzelleistungen ist nicht wieder heraufbeschworenworden. Es ist richtig, die Regelsätze an den Ausgabender unteren 20 Prozent der Einkommen zu bemessen.Denn das ist die Lebenswirklichkeit der Menschen mitden kleinen Einkommen.Entscheidend ist der Gestaltungsspielraum, den unsdas Bundesverfassungsgericht noch einmal deutlich insStammbuch geschrieben hat.
Es hat dargelegt, dass die Regelsätze menschenwürdigeLebensverhältnisse garantieren müssen, aber dass dieLeistungen nicht nur Geldleistungen in Euro und Centsein müssen. Es geht um die Möglichkeit der Teilhabe,der sozialen Perspektive und vor allem der sozialen Be-ziehungen. Da können und da wollen wir neue Wege ge-hen.Das beziehe ich insbesondere auf das Thema der be-dürftigen Kinder, der Kinder, die von Sozialgeld leben.Da haben wir jetzt eine große Chance, tatsächlich neueWege zu gehen. „Kinder sind keine kleinen Erwachse-nen.“ Das ist ein Zitat des Gerichtes. Das sollten wirhochhalten. Grundvoraussetzung in der Kindheit sind– das sind Selbstverständlichkeiten, aber man muss sienoch einmal thematisieren – Zuwendung, frühe Förde-rung und Perspektiven. Ohne diese Grundlagen habenKinder, anders als Erwachsene, keine Chance, ihre Ta-lente, ihre Fähigkeiten und ihre Persönlichkeit so zu ent-wickeln, wie es ihr Recht ist. Hier müssen wir die Kon-sequenzen aus dem Urteil ziehen. Hier müssen wir dieAkzente setzen. Hier müssen wir nach vorne denken.
Ja, ich weiß, dass die Länder für die Schulen zustän-dig sind – das Gericht hat sehr stark auf die schulpflich-tigen Kinder Bezug genommen –, aber es geht darum,dass bedürftige Kinder, Kinder, die von Sozialgeld le-ben, überhaupt mithalten können beim Zugang zu Bil-dung in der Schule. Dafür ist der Bund zuständig. Dasist ein großes Wort gelassen ausgesprochen, aber wir allehier im Parlament sind dafür zuständig. Das ist unseregemeinsame Chance. Das Bundesverfassungsgericht hatdem Parlament hier – das ist neu – eine maßgeblicheRolle bei der Festlegung und der laufenden Anpassungder Regelsätze zugeschrieben. Es geht eben nicht nur umdie Geldleistung. Aber wenn der Bund gerade in dieserangespannten Haushaltssituation Mittel in die Handnimmt, dann müssen wir auch dafür sorgen, dass die ein-gesetzten Mittel tatsächlich bei der Förderung der be-dürftigen Kinder wirksam werden. Hier geht es um dieSachleistung und die Dienstleistung – von Mensch zuMensch. Das ist der Auftrag der Zukunft.
Wenn ein Kind in der 8. Klasse in Mathematik nichtmehr mitkommt, kann seine Versetzung nicht davon ab-hängen, ob seine Eltern das Geld haben, Nachhilfe ein-zukaufen.
Diesem Kind muss unabhängig von der Einkommenssi-tuation seiner Eltern geholfen werden. Das ist unsereGestaltungschance. Wenn es von Sozialgeld lebt, hat derBund die Verpflichtung, für diese Chance zu sorgen undkonkret vor Ort die Dienstleistung von Mensch zuMensch sicherzustellen.Mehr noch: Wenn wir Kinderleben ernst nehmen, ge-hört auch das Mitmachen in Sport, Musik und sozialenBeziehungen dazu. Wenn Kinder diese Chance nicht ha-ben, verkümmern sie.Es gibt Fälle, in denen sich die Freizeit eines Kindesin der Bahnhofsvorhalle abspielt statt im Schwimmver-ein oder im Fußballverein. Das darf nicht von einer Ge-bühr abhängen, die die Eltern nicht aufbringen.
Auch das Schulessen darf in dieser Diskussion kein Tabusein.
Frau von der Leyen, gestatten Sie eine Zwischen-frage?
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Dr. Ursula von der Leyen, Bundesministerin fürArbeit und Soziales:Ich möchte zuerst diesen Gedanken zu Ende führen;danach gerne. – Ich weiß, dass das im Moment vielleichtnoch unerhört klingt. Es ist in diesem Land aber längstüberfällig. Lassen Sie uns deshalb gemeinsam dieseChance ergreifen, meine Damen und Herren.
Frau von der Leyen, erlauben Sie jetzt eine Zwischen-
frage der Kollegin Golze von den Linken?
Dr. Ursula von der Leyen, Bundesministerin für
Arbeit und Soziales:
Ja.
Bitte schön, Frau Golze.
Vielen Dank, Frau Ministerin, dass Sie meine Zwi-
schenfrage zulassen, auch wenn Sie mich wahrschein-
lich gar nicht sehen können, weil Sie von der Sonne ge-
blendet werden. – Mir geht es ganz konkret um das
Gegeneinanderausspielen von Transferleistungen, näm-
lich Barleistungen auf der einen Seite sowie Investitio-
nen in Dienstleistungen und Sachleistungen auf der an-
deren Seite. Sie haben zu Beginn Ihrer Rede zu Recht
darauf hingewiesen, dass wir keine Pauschalverurteilung
bestimmter Gruppen von Menschen vornehmen wollen.
Dieser Aussage schließe ich mich voll an. Warum aber
kann der Regelsatz für Kinder nicht so umfassend aus-
gelegt werden, dass aus diesem Regelsatz auch Kosten
für den Zugang zu Bildung, für den Zugang zu Sportver-
einen und für den Zugang zur Musikschule bestritten
werden können? Warum wird dort in der auch von Ihnen
angeschobenen Gutscheindebatte schon wieder in die
Richtung argumentiert, dass die Eltern oder die Kinder
mit diesem Geld nicht umgehen könnten und dass es
falsch verwendet werden würde? Warum wird hier wie-
der mit einem solchen Pauschalurteil gearbeitet, statt den
Regelsatz wirklich am Bedarf der Kinder auszurichten,
sodass er dann auch die von Ihnen genannten Leistungen
umfasst?
Dr. Ursula von der Leyen, Bundesministerin für
Arbeit und Soziales:
Wir spielen nicht die Sach- und Dienstleistung gegen
die Geldleistung aus. Wir möchten aber, dass dann, wenn
wir mehr Geld einsetzen – es wird mehr Geld kosten;
das sage ich an dieser Stelle auch ganz deutlich –,
dieses Geld auch zielgerichtet in der Förderung der Kin-
der ankommt. Wir würden doch niemals den Eltern in
Deutschland Geld in die Hand geben und ihnen sagen,
sie sollten sich einmal Lehrer suchen, die dann ihre Kin-
der unterrichten. Aus gutem Grund ist Schule organi-
siert. Damit stellen wir sicher, dass die Bildung bei den
Kindern richtig ankommt.
Meine Damen und Herren, deshalb ist es auch wich-
tig, noch einmal die große Linie der Chance darzustel-
len, die dieses Land jetzt hat. – Frau Golze, Sie können
sich setzen, weil ich jetzt in meiner Rede weitermache.
Ich sage deutlich: Wenn wir diese neuen Wege gehen
und der Bund sich seiner Verantwortung für die bedürfti-
gen Kinder stellt, wie ich es eben skizziert habe, müssen
wir allen anderen verantwortlichen Akteuren in diesem
Land aber auch die Frage stellen, was mit den übrigen
Kindern ist. Das ist nämlich die Mitte, meine Damen
und Herren. Die Kinder der Geringverdiener dürfen
wir bei diesen Berechnungen nicht aus dem Blick lassen.
Hier ist nicht nur der Bund gefordert. An dieser Stelle
sind alle anderen Akteure mit gefordert. Nur wenn wir in
diesem Punkt zusammenarbeiten und alle an einem
Strang ziehen, kann der große Wurf gelingen.
Ich weiß, dass das Geld kostet. Wir müssen uns aber
auch fragen, wo wir Prioritäten setzen. Diese Rechnung
ist nämlich die beste Rechnung, die dieses Land aufma-
chen kann.
Es stimmt, dass alles, was verteilt wird, erst erarbeitet
werden muss. Weil das richtig ist, muss die nächste Ge-
neration aber ebenfalls eine Chance dazu bekommen.
Das sind doch diejenigen, die uns alle in diesem Land in
30 Jahren tragen müssen.
Deshalb, meine Damen und Herren, sollten wir die Si-
tuation nutzen, den Kindern heute eine reelle Chance zu
geben.
Frau Kollegin von der Leyen, möchten Sie noch eine
Zwischenfrage zulassen, diesmal von Frau Enkelmann?
Dr. Ursula von der Leyen, Bundesministerin für
Arbeit und Soziales:
Nein, jetzt möchte ich weiterreden.
Sie wollen keine mehr zulassen? – Gut.
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Dr. Ursula von der Leyen, Bundesministerin fürArbeit und Soziales:Ich möchte eines deutlich machen – diese Rechnungist sehr einfach; man muss sie aber auch umsetzen, unddas ist die Chance dieser Legislatur –: Ein Kind, das dasSchuljahr schafft und sich nicht schämen muss, weil esschon wieder das Frühstücksbrot schnorren musste, das,wenn es ein junger Erwachsener ist, den Abschluss, dieLehre oder den Beruf schafft, ist später ein Erwachsenerweniger, der Jahre oder Jahrzehnte von Sozialleistungenlebt.
Das ist ein Erwachsener mehr, der Verantwortung für dasGanze übernehmen kann. Für die Kinder ist das eineFrage der Lebenschancen. Aber für unser Land entschei-det sich hier der gesellschaftliche Zusammenhalt. Des-halb bitte ich auch dieses Hohe Haus, in dieser Legisla-tur die Kraft aufzubringen, die Prioritäten richtig zusetzen, damit wir diesen großen Schritt nach vorne tat-sächlich tun und uns nicht durch Streitigkeiten verstol-pern.Vielen Dank.
Zu einer Kurzintervention erteile ich das Wort der
Kollegin Dagmar Enkelmann von der Fraktion Die
Linke.
Frau Ministerin, ich hätte gerne eine Nachfrage ge-
stellt, weil bei uns eine Irritation entstanden ist. Sie ha-
ben in Ihrer Rede gerade gesagt, dass es notwendig ist,
Kindern gleiche Chancen zu geben, insbesondere dort,
wo ihnen etwas schwerer fällt, zum Beispiel im Unter-
richt, und auch Nachhilfe zu finanzieren. Die Förderung
von Nachhilfe ist im Katalog der Bundesagentur enthal-
ten, aber nur unter ganz besonderen Bedingungen, näm-
lich bei langfristiger Erkrankung oder einem Todesfall in
der Familie. In der gestrigen Fragestunde habe ich dazu
e
Das ist nur in besonderen Situationen möglich.
Ich frage Sie: Was wollen wir denn? Wollen wir tat-
sächlich Chancengleichheit für Kinder? Das würde näm-
lich bedeuten, dass Nachhilfe in jedem Fall finanziert
werden muss, gerade für Kinder aus Familien, die be-
nachteiligt sind, die zum Beispiel im Hartz-IV-Bezug
sind. Ich fordere Sie auf, hier für eine Klarstellung zu
sorgen. Für uns heißt das, dass Sie ganz deutlich sagen
sollten: Ja, Nachhilfe muss finanziert werden. Sie gehört
zum Sonderbedarf.
Frau Ministerin, zur Erwiderung. – Bitte schön.
Dr. Ursula von der Leyen, Bundesministerin für
Arbeit und Soziales:
Vielen Dank. – Das, was Sie gerade angesprochen ha-
ben, ist die Härtefallregelung. „Härtefall“ heißt: wieder-
kehrend außergewöhnlicher Bedarf. In diesem Fall, bei
der Nachhilfe, gilt diese Regelung dann, wenn ein El-
ternteil verstorben ist oder wenn es schwere Krankheiten
in der Familie gibt.
Die Härtefallregelung, die kurzfristig ausgerichtet ist,
werden wir an das Sozialversicherungsstabilisierungsge-
setz anhängen. Das wird schnell und sauber erfolgen,
weil dies im Rahmen der Sozialhilfe bereits geregelt ist
und es dazu eine umfangreiche Rechtsprechung gibt. Die
Härtefallregelung ist, wie gesagt, kurzfristig ausgerich-
tet.
Worüber ich gesprochen habe, ist ein größerer Schritt.
In diesem Jahr müssen wir nämlich eine noch größere
Frage beantworten: Wie kann allen Kindern ermöglicht
werden, in der Schule mitzukommen? Die Antwort auf
diese Frage fließt in die Regelsatzberechnung ein. Hier
kann man unterschiedlich vorgehen: Wenn Bildung als
spezifischer Bestandteil in den Kinderregelsatz aufge-
nommen wird, was bisher nicht der Fall ist, kann man
entweder eine höhere Geldleistung vorsehen – ich halte
das für nicht richtig; ich habe eben geschildert, warum –,
oder man sagt: Lasst uns dieses Mehr in kluge Netze der
Hilfe, in Dienstleistungen von Mensch zu Mensch für
die Kinder vor Ort, ganz konkret für die, die Nachhilfe
brauchen, investieren. Ich weiß, das ist neu. Ich weiß, da
ist ein großes Rad zu drehen. Aber ich glaube, wir wer-
den die Kraft haben, das umzusetzen.
Während der Rede des Kollegen Westerwelle hat sich
der Kollege Alexander Ulrich zu einem Zwischenruf
hinreißen lassen, der unserem Sprachgebrauch und unse-
rem Umgang untereinander nicht angemessen ist.
Er hat ihn „Volksverhetzer“ genannt. Ich rüge diesen
Zwischenruf.
Als nächster Redner hat der Kollege Ernst Rossmann
von der SPD-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! DasBundesverfassungsgericht hat ein wirklich bedeutsamesUrteil gesprochen. Wir sind heute hier im Parlament inder besonderen Situation, dass vonseiten der Regierungzwei Minister sprechen, und man sich fragt: Für welcheRegierung? Sprechen sie zusammen?
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 24. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Februar 2010 2067
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Dr. Ernst Dieter Rossmann
Ihnen, Frau von der Leyen, zolle ich durchaus Anerken-nung. Wir hoffen, dass Sie für die ganze Regierung ge-sprochen haben.Das Bundesverfassungsgericht hat sich mit dem Be-darf, mit der Menschenwürde und mit der Anerkennungvon Menschen in Armut, insbesondere aber von Kindernin Armut auseinandergesetzt. Eine Rückmeldung anHerrn Westerwelle: Der Unterschied zwischen Frau vonder Leyen und Ihnen ist – das merken nicht nur die Men-schen, das merken auch wir im Parlament –: Wenn Siehier sprechen, tauchen diese 6 Millionen Menschen bzw.diese 1,6 Millionen Kinder überhaupt nicht auf.
Sie können sich nicht hineinfühlen in das, was dieseMenschen, gestützt durch das Urteil des Bundesverfas-sungsgerichts, von uns, aber auch von der Regierung er-warten können. Sie sprechen immer über andere, und dasbelastet die Debatte. Frau von der Leyen hat daher vor-weg gesagt: Man führt diese Debatte besser mit Engage-ment, aber nicht mit Schaum vor dem Mund. Sie habenam Ende immer Schaum vor dem Mund.
Es ist gut, dass Sie, Frau von der Leyen, einen ande-ren Duktus, einen Duktus der Einfühlung, des Sichausei-nandersetzens mit den Lebenslagen dieser Menschen, ei-nen Duktus der Kooperation in die Debatte gebrachthaben.Für die SPD-Fraktion darf ich Ihnen sagen: Dannmuss man, wo es um eine konkrete Kooperationsauf-gabe geht, die in einem Zusammenhang steht mit der Si-tuation von Menschen in Armut, die Arbeit brauchen,zeigen, dass man wirklich kooperationsfähig ist. Wir ha-ben das Angebot gemacht, das Urteil des Bundesverfas-sungsgerichts zum Besten der Arbeitsuchenden, der El-tern und der Kinder in Richtung einer gemeinsamenAufgabenverantwortung umzusetzen. Dann müssen Sieaber auch kommen und das mit uns zusammen umsetzendürfen.
Herr Kauder ist jetzt gegangen, Herr Röttgen war garnicht hier. Sie haben da etwas wiedergutzumachen.
Sie haben hier die Möglichkeit, darüber zu sprechen,dass die Menschen schnell in Arbeit vermittelt werdenmüssen und dass wir Arbeitsfördermaßnahmen im Bil-dungsbereich brauchen. Das müssen Sie aber auch ga-rantieren. Können Sie da für die ganze Regierung spre-chen? Dies ist Ihre Bewährungsprobe: Sie müssen imZusammenhang mit dem Urteil des Bundesverfassungs-gerichts Ernsthaftigkeit zeigen. Sie dürfen nicht nur re-den, sondern müssen zu Ergebnissen kommen.
Frau von der Leyen, Sie haben zu Recht darauf hinge-wiesen, dass es um die Kinder geht. Das Bundesverfas-sungsgericht hat in seinem Urteil in der Tat herausge-stellt, dass es um Würde, Chancengerechtigkeit undGleichheit geht. Es geht aber nicht nur um die persönli-che Verantwortung der Eltern, sondern auch um gemein-schaftliche Verantwortung, um die Verantwortung derGesellschaft, des Staates, all diesen Kindern eine Per-spektive zu eröffnen. Dazu braucht es Kooperation.Wir gehen davon aus, dass der Bedarf der Kinder si-cherlich höher anzusetzen ist. Gerade wenn es um Bil-dungschancen geht, ist ein Gutschein nicht die ersteWahl. Die erste Wahl muss sein – das ist in dem Urteildes Bundesverfassungsgerichts zum Ausdruck gekom-men –, dass alle die Chance bekommen, kostenlos einenguten Kindergarten zu besuchen, kostenlos eine guteGanztagsschule zu besuchen,
kostenlos teilzuhaben: zu lesen, zum Beispiel in Biblio-theken, Sport zu treiben, Musik zu machen.
Dies bietet vielleicht eine Brücke für eine leidige De-batte, die immer wieder aufkommt und leider auch indieser Runde mitschwingt: Was ist eigentlich, wenn dieeinen durch Gutscheine unterstützt werden, andere aberkeine Gutscheine bekommen? Wenn wir starke Schulen,starke Kindertagesstätten, starke Bildungseinrichtungenfür alle haben, dann beantwortet sich diese Frage jenseitsjeder Diskriminierung. Wenn alle eine gute Schule besu-chen, wenn alle eine gute Kindertagesstätte besuchen,stellt sich diese Frage nämlich nicht mehr. Wir werbendafür, dass Sie sich dem Kooperationsgedanken ver-pflichtet fühlen und gute Bildungsinfrastruktur – imGeist des Bundesverfassungsgerichts: gebunden an dieWürde des Menschen, gebunden an die Würde des Kin-des und im Sinne seiner Entwicklungsmöglichkeiten –langfristig mit aufbauen.Es besteht gewaltiger Zeitdruck. Ein wichtiges Datumist der nächste Bildungsgipfel. Dieser Bildungsgipfeldarf kein Finanztransfergipfel werden, er muss ein Bil-dungsgipfel werden, bei dem der Bund die Länder, aberauch die Kommunen einbezieht und alle gemeinsamStandards verabreden, die von Pasewalk bis Berchtesga-den garantiert werden. Die Kinderrechte sind schließlichunteilbar, sie müssen in ganz Deutschland geachtet wer-den. Wir müssen garantieren, dass nicht nur die Bil-dungsstandards in Deutschland gleich sind, sondernauch ihre Umsetzung. Wir müssen schrittweise zu einemkostenlosen guten Angebot kommen. Das Bundesverfas-sungsgericht würde das anerkennen. Es würde sagen:Wenn die Standards umgesetzt sind, dann sieht die Frageder Bedarfssätze ganz anders aus; denn der Bildungsbe-darf wäre bei allen abgedeckt. Wir wollen Ihnen diesgerne als Kooperationsangebot unterbreiten. Wir wissen,dass Sie dafür die Kooperation von Bund, Ländern undKommunen brauchen. Nutzen Sie die Chance des Bil-dungsgipfels.
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Dr. Ernst Dieter RossmannNoch einmal: Nutzen Sie auch die Chance, dass essich diese Regierung nicht selber schwerer macht, als esja offensichtlich ist. Man muss nur in das Rund guckenund weiß nicht, wie Herr Westerwelle in dieser Debatteeigentlich mit sich umgeht. Aber auch die CDU/CSU istkeineswegs begeistert gewesen. Es ist auch anzumerken,welcher Rollenwechsel dabei stattfand. Ich will nicht po-lemisch fragen, ob Sie Herrn Westerwelle eigentlich amliebsten nicht auf der Regierungsbank sehen würden.Dies kann nicht das sein, was mit diesem ernsthaftenVerfassungsgerichtsurteil von uns allen im Interesse derKinder erwartet wird.Herr Westerwelle, denken Sie an die Kinder und diebetroffenen Menschen.
Wenn Sie diese Stärke ausdrücken könnten, dann wäredas ein guter Beitrag dafür, die Solidarität und den Zu-sammenhalt in Deutschland zu sichern. Leider schaffenSie es bisher nur, zu spalten. Das ist zu wenig.
Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat
der Kollege Peter Wichtel von der CDU/CSU-Fraktion
das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-ren! Vor 16 Tagen hat das Bundesverfassungsgericht inKarlsruhe das Urteil zum SGB II gesprochen. Wenn ichmir die Debatte von gestern und seit dem damaligen Tagin Erinnerung rufe, dann kann ich mir nicht vorstellen,dass sie bei der Bedeutung, die diese Thematik für dieBetroffenen hat, für sie in einer angemessenen sachli-chen Art und Weise geführt worden ist.Nicht zuletzt durch die beiden vorliegenden Anträgewird stattdessen verdeutlicht, dass bis heute unnötigeund unrealistische Versprechungen und ein verzerrtesBild der Sachlage übermittelt werden.
Dabei ist das Urteil zu den SGB-II-Regelsätzen ein-deutig ausgefallen, und es lässt nur wenig Spielraum fürInterpretationen zu. Lassen Sie mich daher die entschei-denden Aussagen des Urteils an dieser Stelle noch ein-mal hervorheben und unterstreichen.Sowohl die Höhe der Regelsätze als auch deren Be-rechnungsmethode sind im Grundsatz bestätigt worden.Der Präsident des Bundesverfassungsgerichts, Papier,hat verdeutlicht, dass die Beträge zur Sicherstellung desExistenzminimums nicht als evident unzureichend er-kannt werden können.
Auch für den Betrag der Regelleistung von 345 Eurokann eine evidente Unterschreitung nicht festgestelltwerden.Was ist nun festgestellt worden? Der entscheidendeAuftrag des Bundesverfassungsgerichts ist es auf der ei-nen Seite, für eine bessere und einfacher nachvollzieh-bare Begründung der Regelsätze zu sorgen. Auf der an-deren Seite geht es darum, eine transparente undnachvollziehbare Berechnungsgrundlage vorzulegen undumzusetzen.
Dieser Aufgabe wird sich die Koalition annehmen, undwir werden dies ganz besonders nachvollziehen – unddas in aller Konsequenz.Doch für die Wahrnehmung dieser Verantwortung – dieshat lebensbestimmende Bedeutung für die Betroffenen;wir haben heute schon mehrfach die Zahlen gehört, wieviele Menschen in unserem Land das sind – ist es wenighilfreich, hier vollkommen unrealistische Dinge vorzu-tragen und Erwartungen zu schüren. Das sind in meinenAugen ganz eindeutig rot-grüner Klamauk und rot-grüneStimmungsmache an der falschen Stelle.
Gott sei Dank haben die Bundesministerin für Ar-beit und einige der Redner, die heute am Ende der De-batte gesprochen haben, tatsächlich zu dem Thema undzu den Kindern, die das ja hauptsächlich betrifft, gespro-chen. Ich darf deswegen nochmals dazu aufrufen, dasswir gemeinsam bei der weiteren Bearbeitung, wie vonder Bundesministerin vorgetragen und von der christ-lich-liberalen Koalition beabsichtigt, den Blick auf dasThema Kinder richten und dieses Thema anpacken.Wichtig ist, dazu beizutragen, dass bereits bestehendeMöglichkeiten, die zum Beispiel der vorliegende Krite-rienkatalog schon jetzt für die Härtefälle vorsieht, ge-nutzt werden können, und bei Transferempfängern undbesonders bei den Kindern, die unser Lebensmittelpunktund unsere Zukunft sind, darauf zu achten, dass das, waszusätzlich benötigt wird, als Sonderbedarf geltend ge-macht werden kann und vorgehalten wird.Als Hintergrund ist aus meiner Sicht für die ZukunftFolgendes notwendig: Erstens müssen die Belange derKinder entsprechend berücksichtigt werden. Zweitensmuss der Regelsatz überprüft werden. Er muss nachvoll-ziehbar sein und darf keiner Pauschalierung unterliegen.Drittens müssen wir unbedingt die Bildungsmöglichkei-ten verbessern, und wir müssen darauf hinwirken, dassdie Kinder, die von uns zu Recht Unterstützung bekom-men, nicht später ebenfalls Hartz-IV-Empfänger bzw.SGB-II-Empfänger – der Begriff „Hartz IV“ gefällt mirnicht besonders – werden. Ich denke, wir müssen daraufachten, dass da geholfen wird, wo die Lebenslage es er-fordert.Dies bedeutet aus meiner Sicht unter anderem auch,dass darüber nachgedacht wird, wie wir helfen können.Dabei darf das Thema Sach- und Dienstleistungen nichtausgespart werden. Das heißt für mich, dass wir auch die
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 24. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Februar 2010 2069
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Peter WichtelTeilhabe an außerschulischem Sport und musischen Fä-chern sowie Nachhilfe ermöglichen müssen. Das Zur-Verfügung-Stellen von Schulmaterial, Theaterbesucheund andere Dinge gehören auch zur Teilhabe am Alltags-leben.Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir habenbei der Realisierung der Nachhaltigkeit Bildungsmög-lichkeiten für Kinder in Familien zu schaffen. Das ist einBeleg dafür, dass die christlich-liberale Koalition ihrerVerantwortung gerecht werden wird.Lassen Sie mich zu der Thematik, die der eine oderandere gerade von denjenigen angesprochen hat, die alsGesetzgeber und Mehrheitsfraktion Hartz IV eingeführthaben, ganz deutlich sagen: Den, der heute von der Men-schenwürde redet – ich fasse mich bewusst kurz, weilmir sonst die Zeit wegläuft –, frage ich, wo er sein Ge-wissen hatte, als er das Gesetz beschlossen hat.
Das sind dieselben Redner, die heute so getan haben, alshätten sie mit dem Gesetz nichts zu tun
– das ist Rot-Grün –, und nach dem Motto „Haltet denDieb! Da ist der Verbrecher!“ auf die jetzige Regierungzeigen.
Sie hatten genügend Zeit, das zu ändern. Das haben Siean keiner Stelle getan.
Lassen Sie mich zusammenfassend zum Schlusskommen. Wir, die christlich-liberale Koalition, werdenuns mit den Themen, die uns das Bundesverfassungsge-richt auferlegt hat, befassen. Wir werden uns die Kinder-regelsätze ansehen.Meine sehr geehrten Damen und Herren, wir sind unsunserer Aufgabe bewusst. Wir werden zuverlässig undrichtig handeln. Dazu laden wir auch Sie ein.Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Herr Kollege Wichtel, auch Ihnen gratuliere ich imNamen des ganzen Hauses zu Ihrer ersten Rede im Deut-schen Bundestag.
Ich schließe die Aussprache.Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen aufden Drucksachen 17/675 und 17/659 an die in der Tages-ordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. SindSie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann sinddie Überweisungen so beschlossen.Ich rufe die Tagesordnungspunkte 23 a bis 23 f sowieZusatzpunkte 7 a bis 7 d auf:23 a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ände-rung des Abkommens vom 15. Dezember 1950über die Gründung eines Rates für die Zusam-menarbeit auf dem Gebiete des Zollwesens– Drucksache 17/759 –Überweisungsvorschlag:Finanzausschussb) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zurÄnderung des Vorläufigen Tabakgesetzes– Drucksache 17/719 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft undVerbraucherschutz
RechtsausschussAusschuss für Gesundheitc) Erste Beratung des von den AbgeordnetenCornelia Behm, Undine Kurth ,Nicole Maisch, weiteren Abgeordneten und derFraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN einge-brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Regelungder Privatisierung von bundeseigenen oberir-dischen Gewässern– Drucksache 17/653 –Überweisungsvorschlag:Haushaltsausschuss
InnenausschussRechtsausschussAusschuss für Ernährung, Landwirtschaft undVerbraucherschutzAusschuss für Umwelt, Naturschutz und ReaktorsicherheitAusschuss für Tourismusd) Erste Beratung des von den Abgeordneten BirgittBender, Brigitte Pothmer, ElisabethScharfenberg, weiteren Abgeordneten und derFraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN einge-brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Abschaf-fung der Benachteiligung von privat versicher-ten Bezieherinnen und Beziehern vonArbeitslosengeld II– Drucksache 17/548 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Gesundheit
RechtsausschussAusschuss für Arbeit und SozialesAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugende) Beratung des Antrags der Abgeordneten HaraldWeinberg, Dr. Martina Bunge, Klaus Ernst, wei-terer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKEPrivate Kranken- und Pflegeversicherung –Existenzminimum zukünftig auch für Hilfebe-dürftige– Drucksache 17/780 –
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2070 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 24. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Februar 2010
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Vizepräsident Dr. Hermann Otto SolmsÜberweisungsvorschlag:Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Arbeit und SozialesAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugendf) Beratung des Antrags der Abgeordneten HaraldWeinberg, Dr. Martina Bunge, Dr. Ilja Seifert,weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIELINKEGesetzliche Krankenversicherung für Solo-Selbstständige bezahlbar gestalten– Drucksache 17/777 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Arbeit und SozialesAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendZP 7 a)Beratung des Antrags der Abgeordneten HeikeHänsel, Sevim Dağdelen, Jan van Aken, weitererAbgeordneter und der Fraktion DIE LINKENachhaltige Hilfe für Haiti: Entschuldungjetzt – Süd-Süd-Kooperation stärken– Drucksache 17/774 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit undEntwicklung
Auswärtiger AusschussAusschuss für Menschenrechte und Humanitäre HilfeHaushaltsausschussb) Beratung des Antrags der Abgeordneten ThiloHoppe, Ute Koczy, Uwe Kekeritz, weiterer Ab-geordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIEGRÜNENHaiti entschulden und langfristig beim Wie-deraufbau unterstützen– Drucksache 17/791 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit undEntwicklung
Auswärtiger AusschussAusschuss für Menschenrechte und Humanitäre HilfeHaushaltsausschussc) Beratung des Antrags der Abgeordneten UndineKurth , Cornelia Behm, AlexanderBonde, weiterer Abgeordneter und der FraktionBÜNDNIS 90/DIE GRÜNENEuropäische Tierversuchsrichtlinie muss ethi-schem Tierschutz Rechnung tragen – Stellung-nahme des Deutschen Bundestages gemäß Ar-tikel 23 Absatz 3 Grundgesetz– Drucksache 17/792 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft undVerbraucherschutz
Ausschuss für GesundheitAusschuss für Umwelt, Naturschutz und ReaktorsicherheitAusschuss für Bildung, Forschung undTechnikfolgenabschätzungAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Uniond) Beratung des Antrags der AbgeordnetenDr. Gerhard Schick, Kerstin Andreae,Dr. Thomas Gambke, weiterer Abgeordneter undder Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENVerfahren zur Auswahl von Bundesbankvor-ständen reformieren– Drucksache 17/798 –Überweisungsvorschlag:Finanzausschuss
RechtsausschussEs handelt sich um Überweisungen im vereinfach-ten Verfahren ohne Debatte.Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen andie in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zuüberweisen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist derFall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.Wir kommen zu den Tagesordnungspunkten 24 a bis24 m. Es handelt sich dabei um die Beschlussfassung zuVorlagen, zu denen keine Aussprache vorgesehen ist.Tagesordnungspunkt 24 a:Zweite Beratung und Schlussabstimmung desvon der Bundesregierung eingebrachten Entwurfseines Gesetzes zu dem ÜbereinkommenNr. 187 der Internationalen Arbeitsorganisa-tion vom 15. Juni 2006 über den Förderungs-rahmen für den Arbeitsschutz– Drucksache 17/428 –Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-ses für Arbeit und Soziales
– Drucksache 17/579 –Berichterstattung:Abgeordneter Peter Weiß
Der Ausschuss für Arbeit und Soziales empfiehlt inseiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/579,den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Druck-sache 17/428 anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die demGesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Damit ist der Gesetz-entwurf einstimmig angenommen.Tagesordnungspunkt 24 b:Beratung der Beschlussempfehlung des Rechts-ausschusses
Übersicht 2über die dem Deutschen Bundestag zugeleite-ten Streitsachen vor dem Bundesverfassungs-gericht– Drucksache 17/811 –Wer für diese Beschlussempfehlung stimmt, den bitteich um das Handzeichen. – Gegenstimmen? – Enthaltun-gen? – Die Beschlussempfehlung ist einstimmig ange-nommen.Tagesordnungspunkt 24 c:Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Rechtsausschusses
zu dem Streitverfahren vor dem Bundesver-fassungsgericht – 2 BvF 1/09– Drucksache 17/812 –
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 24. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Februar 2010 2071
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Vizepräsident Dr. Hermann Otto SolmsBerichterstattung:
Der Rechtsausschuss empfiehlt in seiner Beschluss-empfehlung, in dem Verfahren eine Stellungnahme abzu-geben und den Präsidenten zu bitten, Herrn ProfessorDr. Pünder als Bevollmächtigten zu bestellen. Wer dafürstimmt, den bitte ich um das Handzeichen. – Wer stimmtdagegen? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlungist einstimmig angenommen.Tagesordnungspunkt 24 d:Beratung des Antrags der Fraktionen CDU/CSU,SPD, FDP, DIE LINKE und BÜNDNIS 90/DIEGRÜNENErneute Überweisung von Vorlagen aus frühe-ren Wahlperioden– Drucksache 17/790 –Wer stimmt für diesen Antrag? – Gegenstimmen? –Enthaltungen? – Der Antrag ist einstimmig angenom-men.Wir kommen zu den Beschlussempfehlungen des Pe-titionsausschusses.Tagesordnungspunkt 24 e:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 31 zu Petitionen– Drucksache 17/665 –Wer stimmt dafür? – Gegenstimmen? – Enthaltun-gen? – Sammelübersicht 31 ist einstimmig angenom-men.Tagesordnungspunkt 24 f:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 32 zu Petitionen– Drucksache 17/666 –Wer stimmt dafür? – Gegenstimmen? – Enthaltun-gen? – Sammelübersicht 32 ist mit den Stimmen der Ko-alitionsfraktionen bei Gegenstimmen der Fraktion DieLinke und Enthaltung von SPD und Bündnis 90/DieGrünen angenommen.Tagesordnungspunkt 24 g:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 33 zu Petitionen– Drucksache 17/667 –Wer stimmt dafür? – Gegenstimmen? – Enthaltun-gen? – Sammelübersicht 33 ist wiederum einstimmig an-genommen.Tagesordnungspunkt 24 h:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 34 zu Petitionen– Drucksache 17/668 –Wer stimmt dafür? – Gegenstimmen? – Enthaltun-gen? – Sammelübersicht 34 ist gegen die Stimmen derFraktion Die Linke mit den Stimmen aller übrigen Frak-tionen angenommen.Tagesordnungspunkt 24 i:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 35 zu Petitionen– Drucksache 17/669 –Wer stimmt dafür? – Gegenstimmen? – Enthaltun-gen? – Sammelübersicht 35 ist gegen die Stimmen derSPD-Fraktion mit den Stimmen aller übrigen Fraktionenangenommen.Tagesordnungspunkt 24 j:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 36 zu Petitionen– Drucksache 17/670 –Wer stimmt dafür? – Gegenstimmen? – Enthaltun-gen? – Sammelübersicht 36 ist mit den Stimmen der Ko-alitionsfraktionen, der SPD-Fraktion bei Gegenstimmenvon der Fraktion Die Linke und dem Bündnis 90/DieGrünen angenommen.Tagesordnungspunkt 24 k:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 37 zu Petitionen– Drucksache 17/671 –Wer stimmt dafür? – Gegenstimmen? – Enthaltun-gen? – Sammelübersicht 37 ist mit den Stimmen der Ko-alitionsfraktionen und der Fraktion Die Linke bei Ge-genstimmen von SPD und den Grünen angenommen.Tagesordnungspunkt 24 l:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 38 zu Petitionen– Drucksache 17/672 –Wer stimmt dafür? – Gegenstimmen? – Enthaltun-gen? – Sammelübersicht 38 ist mit den Stimmen der Ko-alitionsfraktionen und der SPD-Fraktion bei Gegenstim-men der Linken und der Grünen angenommen.Tagesordnungspunkt 24 m:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 39 zu Petitionen– Drucksache 17/673 –
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2072 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 24. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Februar 2010
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Vizepräsident Dr. Hermann Otto SolmsWer stimmt dafür? – Gegenstimmen? – Enthaltun-gen? – Sammelübersicht 39 ist mit den Stimmen der Ko-alitionsfraktionen gegen die Stimmen der Oppositions-fraktionen angenommen.Wir kommen jetzt zu den Tagesordnungspunkten 5 aund 5 b:a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Ausführungsgesetzeszur Verordnung Nr. 1060/2009 des Euro-päischen Parlaments und des Rates vom16. September 2009 über Ratingagenturen
– Drucksache 17/716 –Überweisungsvorschlag:Finanzausschuss
RechtsausschussAusschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Kultur und Medienb) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Finanzausschusses
– zu der Unterrichtung der BundesregierungVorschlag für eine Entscheidung des Rateszur Übertragung besonderer Aufgaben imZusammenhang mit der Funktionsweise desEuropäischen Ausschusses für Systemrisi-
KOM 500 endg.; Ratsdok. 13645/09– zu der Unterrichtung der BundesregierungVorschlag für eine Verordnung des Europäi-schen Parlaments und des Rates über diegemeinschaftliche Finanzaufsicht auf Ma-kroebene und zur Einsetzung eines Europäi-
KOM 499 endg.; Ratsdok. 13648/09– zu der Unterrichtung der BundesregierungVorschlag für eine Verordnung des Europäi-schen Parlaments und des Rates zur Ein-richtung einer Europäischen Bankaufsichts-
KOM 501 endg.; Ratsdok. 13652/09– zu der Unterrichtung der BundesregierungVorschlag für eine Verordnung des Europäi-schen Parlaments und des Rates zur Ein-richtung einer Europäischen Aufsichtsbe-hörde für das Versicherungswesen und die
KOM 502 endg.; Ratsdok. 13653/09– zu der Unterrichtung der BundesregierungVorschlag für eine Verordnung des Europäi-schen Parlaments und des Rates zur Ein-richtung einer Europäischen Wertpapier-
KOM 503 endg.; Ratsdok. 13654/09– zu der Unterrichtung der BundesregierungArbeitsdokument der Kommissionsdienst-stellen – Zusammenfassung der Folgenab-
SEK 1235 endg.; Ratsdok. 13658/09– zu der Unterrichtung der BundesregierungVorschlag für eine Richtlinie des Europäi-schen Parlaments und des Rates zur Ände-rung der Richtlinien 1998/26/EG, 2002/87/EG, 2003/6/EG, 2003/41/EG, 2003/71/EG,2004/39/EG, 2004/109/EG, 2005/60/EG, 2006/48/EG, 2006/49/EG und 2009/65/EG im Hin-blick auf die Befugnisse der EuropäischenBankaufsichtsbehörde, der EuropäischenAufsichtsbehörde für das Versicherungswe-sen und die betriebliche Altersversorgungund der Europäischen Wertpapieraufsichts-behörde
KOM 576 endg.; Ratsdok. 15093/09– Drucksachen 17/136 Nr. A.35, 17/136 Nr. A.36,17/136 Nr. A.37, 17/136 Nr. A.38, 17/136Nr. A.39, 17/136 Nr. A.40, 17/178 Nr. A.10,17/5091) –Berichterstattung:Abgeordnete Ralph BrinkhausManfred ZöllmerFrank SchäfflerDr. Gerhard SchickNach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine Stunde vorgesehen. Gibt es Wider-spruch dagegen? – Das ist nicht der Fall. Dann ist das sobeschlossen.Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red-ner dem Parlamentarischen Staatssekretär Hartmut Koschykfür die Bundesregierung das Wort.
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Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kolle-gen! Ratingagenturen spielen eine wichtige Rolle für dasFunktionieren von Finanzmärkten. Wir mussten feststel-len, dass die Ratingagenturen im Zusammenhang mit der1) Nach einer interfraktionellen Vereinbarung wurde von der Druckle-gung der Ratsdokumente abgese-hen.
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Parl. Staatssekretär Hartmut KoschykFinanzmarktkrise, deren Auswirkungen auf die Real-wirtschaft wir überwinden müssen, ihrer Verantwortungnicht gerecht geworden sind. Im Gegenteil: Ratingagen-turen müssen als Mitverursacher und -auslöser der Kriseangesehen werden. Die Agenturen haben die verschlech-terte Marktlage ihrer Ratings nicht früh genug zum Aus-druck gebracht. Es ist aber auch nicht gelungen, Ratingsrechtzeitig anzupassen, als sich die Krisensituation zuge-spitzt hatte. Dies gilt insbesondere für die Bewertung derAgenturen im Bereich der sogenannten strukturiertenProdukte.Als ein Grund für die Fehlbewertung der Ratingagen-turen müssen zweifellos die zum Zeitpunkt der Krise be-stehenden Marktstrukturen angesehen werden. Agentu-ren berieten Emittenten zur Strukturierung von Produktenund berechneten dafür Gebühren; im Anschluss bewerte-ten dieselben Agenturen die Produkte, die sie selber mitkonzipiert hatten. Das Bestehen eines Interessenkonflik-tes bei Agenturen in einer solchen Konstellation ist offen-sichtlich.Vor diesem Hintergrund ist es erforderlich, die Rating-agenturen einer effizienten Regulierung und Beaufsichti-gung zu unterstellen. Sowohl auf nationaler als auch aufeuropäischer und internationaler Ebene wurden Defiziteerkannt und entsprechende Konsequenzen gezogen. DieG 20 haben sich bereits im April des vergangenen Jahresauf eine effektive Beaufsichtigung der Ratingagenturenverständigt. Zudem wurde der Baseler Ausschuss aufge-fordert, die Rolle der externen Ratings für regulatorischeZwecke auf mögliche Fehlanreize hin zu überprüfen.Der Baseler Ausschuss hat dann in seinem Konsulta-tionspapier vom Dezember des vergangenen JahresÜberlegungen vorgestellt. Insbesondere soll die Trans-parenz der externen Ratings erhöht werden, und die Kre-ditinstitute sollen angehalten werden, ihre Kreditrisikenunabhängig von externen Ratings selbstständig zu analy-sieren. Zudem wird der Financial Stability Board imMärz ein Diskussionspapier zu möglichen Risiken fürFinanzstabilität durch Verwendung externer Ratings fürregulatorische Zwecke vorlegen.In der Europäischen Union hat der Europäische Ratbereits im März 2008, also sehr frühzeitig, Schlussfolge-rungen formuliert, um den größten Schwächen des Fi-nanzsystems entgegenzuwirken. Zur Regulierung derRatingagenturen wurde die EU-Ratingverordnung ver-handelt, die letztlich dann am 7. Dezember 2009 in Krafttrat und Grund für das Ihnen heute vorliegende Ausfüh-rungsgesetz ist. Die wesentlichen Inhalte der Regulie-rung und operativen Aufsicht über die Agenturen sindGegenstand dieser Verordnung. Wir sind froh, dass mitder Verordnung auf europäischer Ebene auch im interna-tionalen Vergleich Maßstäbe gesetzt wurden, was Anfor-derungen an Agenturen angeht; denn Ratingagenturen,die künftig in der EU tätig werden sollen, müssen sichregistrieren lassen und strenge Vorgaben einhalten.
Zu diesen Vorgaben gehört es, dass die Agenturenihre Tätigkeit auch für die Öffentlichkeit transparentermachen müssen. Sie müssen angewandte Methoden undModelle, historische Ausfallquoten von Ratingkatego-rien oder eine Liste ihrer größten Kunden in Zukunft re-gelmäßig veröffentlichen.
Die Verordnung enthält detaillierte Regelungen für denzukünftigen Umgang der Agenturen mit Interessenkon-flikten. Beratungsleistungen für bewertete Unternehmendürfen beispielsweise nicht mehr erbracht werden.Nun handelt es sich bei der EU-Ratingverordnungzwar grundsätzlich um eine unmittelbar anwendbare eu-ropäische Verordnung. Jedoch gibt diese Verordnungden Mitgliedstaaten auf, selbst gewisse Vorkehrungen zutreffen, um die Voraussetzungen für die operative Auf-sicht über die Agenturen herzustellen. Die Zeitvorgabender Verordnung sind dabei anspruchsvoll. Schon ab7. Juni 2010 sollen die Agenturen ihre Registrierungsan-träge stellen können.Mit dem heute vorgelegten Entwurf eines Ausfüh-rungsgesetzes hat die Bundesregierung schnell auf dieseeuropäischen Vorgaben reagiert. Die Bundesanstalt fürFinanzdienstleistungsaufsicht wird als zuständige Be-hörde für die Beaufsichtigung der Ratingagenturen be-nannt.Daneben wird ein Katalog von Bußgeldtatbeständenin das Wertpapierhandelsgesetz eingefügt. Dies ist erfor-derlich, um Verstöße gegen die EU-Ratingverordnungauch ahnden zu können. Bei besonders gravierendenVerstößen, etwa wenn eine Agentur bei demselben Un-ternehmen berät und bewertet, sollen Bußgelder bis zu1 Million Euro verhängt werden können. Solch poten-ziell hohe Bußgelder sind aus Sicht der Bundesregierungangesichts der Bedeutung der Agenturen für das Ver-trauen in die Finanzmärkte voll gerechtfertigt und ver-hältnismäßig.
Schließlich wird eine Erstattung der Kosten, die derBundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht bei Prü-fungen von Ratingagenturen entstehen, durch die betrof-fenen Ratingagenturen vorgesehen. Dies entspricht denFinanzierungsregelungen der Bundesanstalt.Wir bitten um eine schnelle, konstruktive Beratungdieses Gesetzentwurfes. Wie Sie sicher wissen, sind aufeuropäischer Ebene – auch darüber berichten wir vonsei-ten der Bundesregierung – Planungen in vollem Gang,die Ratingagenturen auch auf europäischer Ebene beauf-sichtigen zu lassen. Wenn die entsprechenden europäi-schen Regelungen in Kraft sind, werden wir zu demheute zu diskutierenden und zu beratenden Ausführungs-gesetz schnell die erforderlichen Anpassungen vorneh-men müssen.Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit.
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Das Wort hat der Kollege Manfred Zöllmer von der
SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Dieentscheidende Frage, die wir im Zusammenhang mit derglobalen Finanz- und Wirtschaftskrise beantworten müs-sen, lautet: Was waren die Ursachen dieser Finanzkrise,und was müssen wir ändern, um sicherzustellen, dasssich dieses Desaster nicht wiederholt? Es gibt unbestreit-bar ein Ursachenbündel. Ein wichtiger Aspekt war dieTätigkeit der Ratingagenturen.
Die Frage lautet: Welche Rolle spielten die Ratingagen-turen bei der Entstehung der Finanzkrise?Schauen wir uns das einmal an: In Deutschland sindmit Standard & Poor’s, Moody’s, Fitch und DominionBond Rating Service insgesamt vier große Ratingagentu-ren von der Bundesbank und der Bundesanstalt für Fi-nanzdienstleistungsaufsicht aufsichtsrechtlich anerkannt.Der Markt für Ratingagenturen ist hoch konzentriert. Ba-sis ihrer Arbeit war bisher ein Verhaltenskodex der Wert-papieraufsehervereinigung IOSCO. Er sollte die Qualitätund Seriosität des Ratingprozesses sicherstellen und Inte-ressenkonflikte vermeiden.Die Finanzkrise hat in aller Schärfe deutlich gemacht:Diese Art der Selbstverpflichtung und Regulierung hatvollständig versagt. Der Präsident der BaFin, Jochen Sa-nio, hat es in der von ihm gewohnt klaren Art so be-schrieben
– ja, genau –: Viele Käufer dieser verbrieften, also inWertpapiere umgewandelten Kredite haben diese nichtnur „erworben, ohne die geringste Ahnung von den Risi-ken zu haben“. Sie haben dabei auch „blind den gutenRatings der Ratingagenturen vertraut“.Es waren relativ neue Formen von Wertpapieren, diediese Ratingagenturen geratet haben. Die Ratingagentu-ren wurden als vertrauenswürdige Experten angesehen.Etliche Investoren und viele Steuerzahlerinnen und Steu-erzahler zahlen nun horrendes Lehrgeld für diese Fehl-einschätzung.Ein gravierendes Beispiel dafür waren die US-Immo-bilienkredite, sogenannte Subprime-Hypotheken, besi-cherte, sehr komplexe Anleihen. Sie stehen im Zentrumder Kreditkrise. Sie waren hochgeratet und wurden dannbinnen weniger Tage von den gleichen Ratingagenturenzu Schrottpapieren deklariert; aber dann war es bereitszu spät. Da kann man besser gleich zu den Damen ge-hen, die auf dem Jahrmarkt vor einer Kristallkugel sitzenund eine schwarze Katze auf der Schulter haben. Ichglaube, deren Rating ist auch noch erheblich preiswerter.
Damit sind wir an einem wichtigen Punkt angelangt:Wer verdient woran? Herr Staatssekretär hat es angedeu-tet: Die Neuemissionen wurden von verschiedenen Ra-tingagenturen geprüft. Geld bekam aber nur diejenigeAgentur, die auch den Auftrag bekam. Das heißt imKlartext: Es gab einen massiven finanziellen Anreiz fürdie Agenturen, eine möglichst gute Bewertung zu verge-ben, um den Auftrag des Emittenten zu erhalten. Rating-agenturen sind nicht die Caritas; sie sind gewinnorien-tierte Unternehmen. Sie waren teilweise in beratenderFunktion für Finanzinstitute zuständig, deren Produktevon ihnen anschließend bewertet wurden, Produkte, diesie teilweise sogar selbst mitentwickelt haben. Das istungefähr so, als wenn ein Profischiedsrichter bei einemFußballspiel nur dann Geld bekommt, wenn eine be-stimmte Mannschaft gewinnt.
– Ja, wir haben darüber in der Vergangenheit schon eini-ges gehört.Wir haben es hier mit einem System zu tun, in das In-teressenkonflikte inhärent eingebaut sind. Es ist ein Sys-tem, das marktwirtschaftlichen Grundsätzen hohn-spricht. Es gibt keine Haftung für Schlechtleistung,keine Sanktionen für wirtschaftliches Versagen. Daskonnte nicht gut gehen. Mir ist es ein Rätsel, warum mandies nicht früher kritisiert und verändert hat.
– Das ist im Übrigen Ihre einzige Erklärung. Das ist einbisschen wenig.
Nun kann man Ratingagenturen aber nicht einfach ab-schaffen. Ratingagenturen sind dringend notwendig.Selbst die BaFin ist darauf angewiesen. Mit rund1 700 Mitarbeitern beaufsichtigt die BaFin 2 100 Ban-ken und über 600 Versicherungen. Sie muss die Risiko-situation dieser Institute analysieren und ist dabei auf dieArbeit der Ratingagenturen angewiesen. Sie kann dieArbeit dieser Agenturen nicht auch noch selbst überneh-men.
Die Schlussfolgerung daraus: Wir sind auf ein gutfunktionierendes Ratingwesen angewiesen und müssendaher die richtigen regulatorischen Konsequenzen zie-hen. Die EU-Kommission hat im April 2009 einen euro-päischen Regulierungsrahmen für Ratingagenturen vor-gelegt. Ziel dieses Rahmens ist es, einen gemeinsamenAnsatz einzuführen, um die Integrität, die Transparenzsowie die Verlässlichkeit von Ratingtätigkeiten zufördern und die Qualität der Arbeit insgesamt zu verbes-sern. Die Verordnung enthält unter anderem Bedingun-gen zur Abgabe von Ratings sowie weitere Organisa-tions- und Verhaltensregeln für Ratingagenturen. Siesollen deren Unabhängigkeit fördern und Interessenkon-
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Manfred Zöllmerflikte vermeiden. Die Umsetzung in deutsches Recht er-folgt nun mit der Vorlage des Gesetzentwurfs der Bun-desregierung im Wertpapierhandelsgesetz, und dasmacht Sinn.In Deutschland wird nach diesem Gesetzentwurf dieBaFin als nationale Aufsichtsbehörde tätig werden. Dieswird sicherlich dazu beitragen, die Transparenz des Ra-tings zu erhöhen. Aber sie wird natürlich nicht den kom-pletten Prozess beaufsichtigen können. Wir dürfen des-halb die Banken nicht aus ihrer Verantwortung entlassen.Es darf nicht sein, dass überforderte Vorstände alles ak-zeptieren, was Ratingagenturen vorgelegt haben, da siedie zugrunde liegenden Sachverhalte häufig nicht nach-vollziehen konnten. Es muss die Aufgabe der Bankensein und bleiben, auch beim Vorliegen externer Ratingseine eigenständige Beurteilung des Kreditrisikos durch-zuführen.
– Nur haben sie es nicht getan, wie die Krise gezeigthat. – Der Basler Ausschuss hat in seinen Vorschlägenzu Recht gefordert, dass Banken in Zukunft keine Boni-tätseinschätzungen externer Ratingagenturen mehr unge-prüft übernehmen dürfen.Liebe Kolleginnen und Kollegen, der vorgelegte Ge-setzentwurf der Bundesregierung ist ein erster Schritt indie richtige Richtung, er reicht aus unserer Sicht abernicht aus; denn es werden die notwendigen Konsequen-zen aus dem Versagen der Ratingagenturen nicht in derForm gezogen, dass Wiederholungen der Fehler ausge-schlossen sind.Dringend notwendig ist eine enge Zusammenarbeitmit den USA. Die relevantesten Agenturen sind US-Un-ternehmen. Sie dominieren den Markt. Wir brauchenaber auch eine Stärkung des Wettbewerbs auf dem Ra-tingmarkt. Er ist zu stark konzentriert. Wir brauchen soschnell wie möglich eine europäische Ratingagentur.Wir brauchen darüber hinaus Mechanismen, die das Ge-schäftsmodell des Beratens und Bewertens so verändern,dass Interessenkonflikte tatsächlich vermieden werden.Schließlich müssen Investoren zu mehr Eigenverantwor-tung bei der Bewertung von Risiken gezwungen werden.Deshalb ist aus unserer Sicht die Bundesregierung gefor-dert, weitere Vorschläge zu machen, damit diese Zieleauch erreicht werden.Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sprechen heuteaber auch über die Vorschläge für eine neue Struktur dereuropäischen Finanzaufsicht. Die Finanzkrise hat auchhier unbarmherzig deutlich gemacht, wo die Schwach-stellen liegen. In Zukunft soll es zum einen Institutionengeben, die sich auf makroökonomischer Ebene mit Sys-temrisiken beschäftigen, so eine Art systemischerWatchdog; zum anderen sollen sich verschiedene Institu-tionen auf der Mikroebene mit Banken, Börsen und Ver-sicherungen beschäftigen. Das europäische Finanzauf-sichtssystem soll eine Art Verbund nationaler undeuropäischer Aufsichtsbehörden mit geteilten und sichgegenseitig verschränkenden Zuständigkeiten sein.Konkret soll ein europäischer Ausschuss für System-risiken eingerichtet werden. Er soll die makroökonomi-sche, systemische Aufsichtskomponente abdecken. Aufder Ebene darunter soll es eine europäische Bankenauf-sichtsbehörde, eine europäische Aufsichtsbehörde fürdas Versicherungswesen und die betriebliche Altersver-sorgung sowie eine europäische Wertpapieraufsichtsbe-hörde geben. Die neuen EU-Behörden sollen schwer-punktmäßig die Harmonisierung des Aufsichtsrechtssowie verbindliche Leitlinien, zum Beispiel für die Zu-lassung und Überwachung von Finanzinstituten, erlas-sen. Ebenso sollen sie die Entwicklung verbindlichertechnischer Standards, zum Beispiel von Risikobewer-tungsmodellen, übernehmen. Die tatsächliche Aufsichtvor Ort soll den nationalen Aufsichtsbehörden überlas-sen werden. So weit eine kurze Beschreibung der neuenStrukturen.Die Neuordnung und -gestaltung der EU-Finanzauf-sicht ist sicher ein Schritt in die richtige Richtung. Wirmüssen uns aber fragen, ob dieses Modell einer sehrstark national geprägten Finanzmarktaufsicht in der EUangesichts der engen internationalen Verflechtungen denvorhandenen Risiken im globalen Finanzmarkt wirklichgerecht wird. Ich habe da Zweifel. Wenn man sich ein-mal anschaut, welche Rolle die Bundesregierung in die-ser Frage gespielt hat, dann komme ich zu dem Schluss:keine so gute. Unisono hieß es in der Wirtschaftspresse:Großbritannien und Deutschland waren die Bremser beidem Prozess, in dem es darum ging, eine wirklichschlagkräftige und handlungsfähige Aufsichtsstruktur zuimplementieren.Das Ziel, zu verhindern, dass global agierende Playersich durch eine weiterhin national zersplitterte Zuständig-keit einer wirksamen Aufsicht entziehen können, ist nichterreicht worden. EZB-Präsident Jean-Claude Trichet for-mulierte es so: Das ist sicherlich nicht die allerbeste Lö-sung. Dieser Mann weiß, wie man diplomatisch Ohrfei-gen verteilt.Es ist eine neue, sehr komplexe Struktur entwickeltworden. Aber jeder kennt das von seinem Computer da-heim: Im laufenden Betrieb fragmentiert die Festplatte.Wenn alles fragmentiert ist, läuft der Computer langsa-mer oder stürzt irgendwann ab. Eine fragmentierte Auf-sicht so vieler Nationalstaaten ist unserer Meinung nachnicht mehr die passende Antwort auf global agierendeFinanzinstitute. Es muss mehr zusammengefasst und ge-bündelt werden. Die Aufsicht braucht Zähne. Sie mussauch zubeißen können. Die neuen EU-Aufsichtsbehör-den haben selbst im Krisenfall keine Weisungsbefug-nisse gegenüber einzelnen Finanzinstituten. Solche Be-fugnisse waren im ursprünglichen Entwurf derKommission noch vorgesehen. Die Finanzminister ha-ben es dann wieder hinausgekegelt.Genau dann, wenn es ernst wird, sollen weiterhindie nationalen Aufsichtsbehörden entscheiden. Dasist genau das Gegenteil von dem, was notwendigist, wenn wir Instabilitäten künftig vermeiden wol-len.Das ist ein wörtliches Zitat von Markus Ferber, seinesZeichens Vorsitzender der CSU-Gruppe im Europaparla-
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2076 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 24. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Februar 2010
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Manfred Zöllmerment. Im Europaparlament wird es dagegen harten Wi-derstand geben; das hat er angekündigt. Das Europapar-lament hat bereits fraktionsübergreifend deutlichgemacht, dass es der geplanten EU-Finanzaufsicht deut-lich mehr Kompetenzen geben will als bisher vorgese-hen. Ich halte das für richtig. Wir müssen deswegen dasVorgeschlagene noch einmal ganz genau überprüfen.Das Beispiel Finanzkrise und auch das neue BeispielGriechenland zeigen doch eines ganz deutlich: Wir müs-sen uns von dem Gedanken lösen, dass wir die Problemedes 21. Jahrhunderts in einer globalisierten Welt und aufeinem europäischen Binnenmarkt mit einheitlicher Wäh-rung mit dem nationalstaatlichen Denken des 19. Jahr-hunderts lösen können. Wir brauchen eine europäischeAntwort auf die Krise. Wir brauchen mehr Kompetenzenin und für Europa in Wirtschaftsfragen. Wir brauchenauch hier ein neues Denken. Ich biete Ihnen dabei unsereUnterstützung an. Ein bloßes „Weiter-so“ darf es nichtgeben.Herzlichen Dank.
Das Wort hat der Kollege Björn Sänger von der FDP-
Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-ren! Die sehr zügige Vorlage dieses Gesetzentwurfszeigt, dass die Bundesregierung in einer der elementars-ten Fragen der aktuellen Politik, nämlich der Finanz-und Wirtschaftskrise, nicht nur handlungsfähig, sondernauch handlungswillig ist. Ich denke, das muss man andieser Stelle deutlich sagen.
– Richtig, handlungswillig und handlungsfähig. Inner-halb kürzester Zeit wurde dieser Gesetzentwurf vorge-legt.Es handelt sich um eine Vorlage, die auf EU-Ebeneerarbeitet wurde. Das ist vollkommen richtig, weil mandie Probleme der Ratingagenturen, die global sind, nichtnur national betrachten kann. Finanzmärkte sind global.Die Produkte sind international. Also muss auch die Re-gelung auf dieser Ebene ansetzen.
Richtig ist auch, ein neues Instrumentarium zu schaf-fen, um die Anbieter auf europäischer Ebene zu beauf-sichtigen. Das findet unsere Zustimmung, ebenso wieder Vorschlag, die BaFin so lange, bis die neuen Instru-mente auf EU-Ebene ihre Wirkung entfalten, damit zubetrauen.Die Regelungen, die auf EU-Ebene ausgehandeltwurden, sind geeignet, Vertrauen zu schaffen. Das be-trifft die Stärkung der Unabhängigkeit und das Vermei-den von Interessenkonflikten. Es ist schade, dass man soetwas gesetzlich regeln muss. Eigentlich wäre das eineSelbstverständlichkeit. Man fasst sich an den Kopf,wenn man sieht, dass ausdrücklich geregelt werdenmuss, dass nicht gleichzeitig beraten und bewertet wer-den darf. Was ist denn da passiert? Das ist so, als ob eineAutowerkstatt zugleich die TÜV-Abnahme vornähme.Dabei kann im Prinzip nicht viel Richtiges herauskom-men.
– Es ist auch gut, dass das geregelt wird. Es muss gere-gelt werden; denn es besteht Bedarf. Dementsprechendbegrüßen wir, dass wir hier so zügig vorankommen.Das Gleiche betrifft die veränderten Methoden. Hiersind vielfach noch Methoden im Einsatz gewesen, dienun wirklich in die Mottenkiste gehören. Nach diesenMethoden kann nicht mehr geratet werden; das muss an-gepasst werden.Besonders interessant ist, dass offensichtlich trotzfehlender Daten ein Rating durchgeführt wurde. Auchhier wird nachgesteuert. Das ist wichtig.Die vorgesehenen Bußgelder sind, so denke ich, inder Lage, abschreckende Wirkung zu entfalten. Eigent-lich sind das, wie gesagt, Selbstverständlichkeiten. Dashätte der Markt regulieren müssen. Aber wir haben es– das ist schon angesprochen worden – in diesem Marktnicht mit Wettbewerb zu tun. Im Prinzip gibt es nur dreiAnbieter – das ist ein sehr enges Oligopol –, die nochnicht einmal untereinander im Wettbewerb stehen; dennhäufig wird vorgeschrieben, dass zwei Ratings gemachtwerden sollen. Auch die Anbieter werden entsprechendbenannt. Deshalb können sich diese zurücklehnen undbrauchen sich nicht anzustrengen.Deswegen ist es wichtig, dass wir in diesem Marktmehr Wettbewerb schaffen.
Dazu gehört nicht nur der Versuch, eine europäische Ra-tingagentur aufzubauen. Vielmehr brauchen wir auch ei-nen nationalen Markt. Es müssen mehr kleinere Unter-nehmen in den Markt hineinkommen können, die dannwachsen und eine schlagfähige Konkurrenz darstellen.Man muss sich den vorliegenden Entwurf noch ein-mal genau daraufhin anschauen, ob er in diesem SinneWirkung entfaltet. Bei einigen darin enthaltenen Rege-lungen werden wir im Zeitablauf sehen müssen, ob da-durch Mindeststandards gesetzt werden können, was jagrundsätzlich gut ist. Aber beispielsweise die geforder-ten zwei externen unabhängigen Aufsichtsräte mit Fach-kenntnissen sind nicht so einfach zu finden, und sie sindauch nicht ganz preiswert. Das ist für die eine oder
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Björn Sängerandere kleinere Agentur, die in den Markt eintreten will,möglicherweise eine Hürde.Umso wichtiger ist es, dass die BaFin dafür sorgt,dass die Regeln sachgerecht so ausgelegt werden, dassauf der einen Seite ein Schutz besteht, sachgerecht gera-tet wird und Vertrauen entstehen kann, dass sich aber aufder anderen Seite Wettbewerb entwickeln kann, damitdas enge Oligopol aufgebrochen werden kann.Wir werden diese Entwicklung beobachten müssen.Da ist auch die Bundesregierung aufgefordert, auf euro-päischer Ebene gegebenenfalls nachzusteuern. Wir ste-hen hinter diesem Gesetzentwurf. Er ist ein erster Bau-stein zur Sicherung unserer Finanzmärkte. DerKoalitionsvertrag ist hier eindeutig. Der erste Schritt istgemacht, und wir werden die weiteren Punkte abarbei-ten.Herzlichen Dank.
Der nächste Redner ist der Kollege Dr. Axel Troost
für die Fraktion Die Linke.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Zunächst zu dem Ausführungsgesetz zur EU-Ratingver-ordnung. Hier stellen sich aus unserer Sicht zwei Fragen:Erstens. Taugt die europäische Verordnung angesichtsdes deutlich gewordenen Problems bei den Ratingagen-turen? Zweitens. Setzt das Ausführungsgesetz diese Ver-ordnung, sei sie nun mehr oder weniger geeignet, best-möglich in deutsches Recht um?Die Ratingagenturen hatten und haben bei vielenMarktteilnehmern den Status des Orakels von Delphi, al-lerdings mit dem entscheidenden und wichtigen Unter-schied, dass man dieses moderne Orakel kaufen kannund kaufen muss. Man kann es kaufen, weil man sichbisher von Ratingagenturen so lange für viel Geld bera-ten lässt, bis man das Rating bekommt, das man gernehaben möchte. Man muss es kaufen, weil Basel II undviele andere gesetzliche Regelungen es zur Auflage ge-macht haben, dass jeder eine Weissagung des Orakels inForm eines Ratings braucht, um auf dem Finanzmarktüberhaupt mitspielen zu dürfen.Laut Verordnung sollen Ratingagenturen ihre Kundennun in Zukunft nicht mehr beraten dürfen, wie sie einbesseres Rating bekommen. Aber was bedeutet das prak-tisch? Wenn ich eine Ratingagentur wäre, würde ich kur-zerhand mein Beratungs- und Bewertungsgeschäft inzwei eigenständige Töchter aufteilen und anschließendunter eine Holding hängen. Da das Gesetz gleichzeitigfordert, dass die Ratingagenturen ihre Bewertungsme-thoden offenlegen, weiß meine Beratungstochter dannhöchstoffiziell sehr genau, wie sie einen Kunden beratenmuss, damit dieser von meiner anderen Tochter ein opti-males Rating bekommt. Wie wollen Sie das verhindern,dass meine Töchter untereinander mauscheln und es amEnde genauso weitergeht wie heute?
Das Beispiel zeigt, wie schwierig es ist, mit techni-schen Verfahrensregeln die Funktionsweise des gesam-ten Ratingsystems zu verändern. Die EU-Ratingverord-nung zielt darauf, die Urteile des Orakels technisch zuverbessern. Ziel muss es aber sein, dieses Orakel zu ent-machten und die von ihm ausgehende Massenhysterieauf den Finanzmärkten zu beenden. Insofern geht dieEU-Ratingverordnung am Kern des Problems vorbei.Das Beispiel Griechenland zeigt mehr als deutlich, zuwelch einem Machtfaktor Ratingagenturen gewordensind.Kommen wir nun zur Umsetzung, zum Ausführungs-gesetz selbst. Hier zeigt sich: Die EU-Ratingverordnung,die viel zu kurz gesprungen ist, wird zu allem Überflussauch noch sehr fragwürdig umgesetzt. Jeder vernünftigeMensch würde erwarten, dass für die neu geplante Be-aufsichtigung der Ratingagenturen durch die Finanzauf-sichtsbehörden nun neue Abteilungen in den Aufsichts-behörden mit ausreichend und kompetentem Fach-personal gebildet würden. Aber Fehlanzeige! In IhremGesetzentwurf wird festgeschrieben, dass die jährlichenPrüfungen von privaten Wirtschaftsprüfungsgesellschaf-ten übernommen werden sollen. Das sind dann dieselbenKPMGs und PricewaterhouseCoopers, die seit Jahren at-testieren, dass die Banken ihre Wertpapiere solide bilan-ziert und ihre Risiken angemessen offengelegt haben,dieselben Wirtschaftsprüfer, die bei der HRE und derCommerzbank, bei der BayernLB und der IKB jahrelanggeschlafen oder sich sogar aktiv an der Verschleierungder Bilanzrisiken beteiligt haben. Ist es das, was dieBundeskanzlerin mit ihrer Aussage gemeint hat, in Zu-kunft würden kein Akteur und kein Produkt auf den Fi-nanzmärkten mehr unkontrolliert bleiben?Wenn wir eine wirkungsvolle Finanzaufsicht habenwollen – egal, ob bei Ratingagenturen, bei Banken oderbei Versicherungen –, und das wollen wir Linken, dannbrauchen wir auch kompetentes und ausschließlich demöffentlichen Auftrag verpflichtetes Personal in den Auf-sichtsbehörden.
Zum zweiten Punkt, zum Aspekt der Europäisierungder Finanzaufsicht. Wie eine Beaufsichtigung der Rating-agenturen ist selbstverständlich auch eine bessere euro-päische Vernetzung und Zusammenarbeit der Aufsichts-behörden zu begrüßen. Aber das Problem steckt auchhier im Detail.Eine europäische Finanzaufsicht kann letztlich niebesser sein als die vor Ort zusammengetragenen Er-kenntnisse. Der Fall HRE hat aufs Traurigste gezeigt,dass die Zusammenarbeit schon auf nationaler Ebenenicht funktioniert, dass relevante Erkenntnisse viel zuspät zwischen Bundesbank, BaFin und Finanzministe-rium ausgetauscht wurden und damit ungenutzt blieben.
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Dr. Axel TroostNeben den Schwächen auf nationaler Ebene ist auchsehr fraglich, ob die zu EU-Institutionen weiterentwi-ckelten Ausschüsse für Banken-, Versicherungs- undWertpapieraufsicht überhaupt wirksam kontrollierenkönnen. In den Verhandlungen über die europäische Fi-nanzaufsicht haben die alte, von der Großen Koalitiongetragene Regierung und insbesondere der damaligeSPD-Finanzminister Steinbrück immer wieder für eineVerwässerung der Eingriffsrechte dieser neuen Behördegesorgt. Die neue Bundesregierung hat diese Positionbislang nicht zurückgenommen. Noch laufen die Ver-handlungen; jetzt wäre der Moment für die neue Bundes-regierung, einen anderen Ton anzuschlagen.Abschließend noch eine Bemerkung zum neuen Aus-schuss für Systemrisiken bei der Europäischen Zentral-bank: So wichtig eine Stärkung der Aufsicht über dieStabilität des Gesamtsystems ist, so groß ist meine Be-fürchtung, dass dieser Ausschuss letztlich mit denselbenExpertinnen und Experten besetzt wird, die uns die letz-ten 15 Jahre die Segnungen deregulierter Finanzmärktegepredigt und uns genau dahin gebracht haben, wo wirjetzt sind.Liebe Kolleginnen und Kollegen, es geht nicht nurum Strukturen, sondern es geht auch um Inhalte. Ein der-artiger Ausschuss braucht klare politische Leitlinien, diebisher nicht vorgesehen sind. Das vielleicht wichtigsteLeitbild dafür müsste aus unserer Sicht sein: Lieber einpaar Regulierungen zu viel und dafür ein paar Prozenteweniger bei den Bankrenditen als umgekehrt. Die neueLosung muss deshalb heißen: In dubio contra Casino.Danke schön.
Der Kollege Dr. Gerhard Schick hat jetzt das Wort fürBündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Man könnte an den Vorschlag anknüpfen und tatsächlicheine kritische Anhörung mit den Ratingagenturen durch-führen und sie wie Angeklagte behandeln. Aber derzeitsitzt jemand anderes auf der Bank. Es geht nämlich umdas Gesetz, das Sie vorlegen.Zuerst hatte ich ein anderes Bild vor Augen. Wennman Unternehmen besucht, dann stellt sich bezüglichdes Endprodukts die Frage: Was haben sie für eine Ferti-gungstiefe? Es gibt Unternehmen, die weitgehend vorge-fertigte Produkte einkaufen. Sie bringen dann noch zweiSchrauben an, aber das Produkt sieht so aus, als hättensie sehr viel selbst gemacht. Andere Unternehmen habeneine höhere Fertigungstiefe. Handelsunternehmen ha-ben eine Fertigungstiefe von null, weil sie im Wesentli-chen Produkte ein- und verkaufen und lediglich ein biss-chen Werbung machen.Der vorliegende Gesetzentwurf hat eine sehr geringeFertigungstiefe, sie liegt quasi bei null. Sie führen einegroße Debatte über eine Sache, zu deren Klärung Sie defacto nichts Entscheidendes beigetragen haben. Viel-mehr haben wir es mit einer EU-Verordnung zu tun, dieso umgesetzt werden muss, wie es auf europäischerEbene entschieden worden ist.
Es handelt sich hierbei um einen Zwischenschritt, mitdem die Zeit überbrückt werden soll, bis eine europäi-sche Aufsicht die eigentliche Aufgabe wahrnehmenkann. Darüber gibt es jetzt eine große Debatte.Man muss feststellen: Sie lenken davon ab, dass beivielen Fragen überhaupt nicht klar ist, wohin die Reisegehen soll. Mit diesem Gesetzentwurf wird vollzogen,was der europäische Gesetzgeber vorgegeben hat. Fürunsere Debatte wäre es wichtig, zu klären, welches dienächsten Schritte sind. Darauf werde ich gleich nocheingehen.
– Hören Sie erst einmal zu.Die europäische Verordnung sieht wichtige Schrittevor. Interessenkonflikte sollen in Zukunft vermiedenwerden, zum einen durch den Ansatz der Transparenz– das heißt, sie sollen offengelegt werden –, zum ande-ren dadurch, dass man Beratung und Rating voneinandertrennt. Das sind wichtige Lehren, die man aus der derzei-tigen Krise – und auch schon aus früheren Krisen – ge-zogen hat.Die Frage ist aber: Wie gehen wir an die drei Haupt-probleme dieses Marktes heran? Diese Frage stellt sichauch in der Zukunft; denn die Umsetzung der vorliegen-den Verordnung reicht zur Beantwortung nicht aus. Indieser Debatte habe ich bisher von den Vertretern derKoalition über die weiteren Schritte noch nichts gehört.Darüber müssen wir aber diskutieren.
Lassen Sie mich auf einige Punkte eingehen. Dererste Punkt ist die Ankündigung der Bundeskanzlerinaus einer Berichterstattung vom Juni 2008: „Merkel for-dert eigene Ratingagentur für Europa“. Herr Staatssekre-tär, es würde mich interessieren – auch wenn Sie gerademit Kollegen der FDP diskutieren müssen; ich weiß ja,es gibt noch einige Dinge zu diskutieren, vielleicht hörenSie trotzdem zu –: Wie weit ist man eigentlich gekom-men? Die Bundesregierung hat es schon damals unterder Leitung von Kanzlerin Merkel in den G-8-Gipfeleingebracht. Zumindest ist es damals angekündigt wor-den. Haben wir entscheidende Entwicklungen zu ver-zeichnen? Wird das von der Bundesregierung vorange-trieben? Wir haben davon nichts gehört. Vielleichtkönnen Sie nachher etwas dazu sagen, Herr Flosbach.Das zentrale Problem dieser Marktmacht ist, dass esdrei Akteure gibt, die zudem nicht im europäischenRaum angesiedelt sind. Wir müssen überlegen, ob wirdem etwas entgegensetzen können, etwa eine öffentlich-rechtliche Agentur – wie die Grünen das vorschlagen –,
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Dr. Gerhard Schickdie einen anderen Modus hat. Der damalige Vorschlagwar gut. Ich möchte von dieser Bundesregierung abernicht nur Ankündigungen hören, sondern auch Ergeb-nisse sehen. Darüber haben Sie nichts gesagt. Da musses weitergehen.
Das zweite zentrale Problem ist, dass wir in diesemMarkt keine Möglichkeit haben, eine Haftung für falscheRatings durchzusetzen, sonst wären die Ratingagenturenfür den großen Schaden herangezogen worden, den sieangerichtet haben. Das funktioniert aber nicht. Dasheißt, wir haben an dieser Stelle grundlegende Fragen zuklären, die sich mit der jetzigen Verordnung nicht beant-worten lassen. Eine Frage ist sehr wichtig – auch HerrKoschyk hat diesen Punkt angesprochen –: Wie könnenwir die Marktmacht der Ratingagenturen reduzieren? Ichmöchte auch wissen: Wie wollen Sie das erreichen?
– Entschuldigung, zu dem, was da stattfindet, haben Siebisher nichts vorgelegt.
Das ist aber das Entscheidende. Sie müssen jetztschauen, wie wir zu Veränderungen kommen können.Was halten Sie davon, dass die Europäische Zentral-bank immer noch die Ratings dieser Agenturen als Krite-rium heranzieht,
wenn es darum geht, welche Wertpapiere von der Euro-päischen Zentralbank akzeptiert werden und welchenicht? Genau das stärkt doch die Marktmacht, die Siebeklagt haben. Also muss da an ein paar Stellen herange-gangen werden. Wie machen wir das mit der Banken-regulierung? Wie können wir die Bedeutung der Rating-agenturen herunterfahren und ihre Marktmacht reduzie-ren? Das sind die entscheidenden Fragen. Über genaudiese Aufgaben müssen wir als Parlament jetzt diskutie-ren und unsere Debattenzeit nicht im Wesentlichen dafürverwenden, über eine Verordnung zu reden, die wir um-setzen müssen und bei der der Spielraum des deutschenGesetzgebers relativ begrenzt ist.
– In den entscheidenden Debattenbeiträgen ging es ge-nau darum. Herr Schäffler, Sie können Ihre Sicht nach-her darlegen. Ich bin sehr gespannt darauf.Zum Schluss möchte ich noch eine Sache ansprechen,die jetzt gerade aktuell ist. Wir stehen vor den nächstenFragen der Regulierung. Jetzt gibt es eine interessanteDiskussion darüber, was wir mit den Credit DefaultSwaps machen. Ich möchte das hier noch einmal anspre-chen. Auf der einen Seite befinden sich wolkige Ankün-digungen des Bundesfinanzministers in der Diskussion– im Finanzausschuss konnten Sie mir nicht sagen, wasdamit konkret gemeint ist –, auf der anderen Seite sagtHerr Poß für die SPD-Fraktion, es sei höchste Zeit dafür,man hätte das schon lange machen müssen, obwohl dieSPD noch vor wenigen Monaten den Finanzminister ge-stellt hat und etwas hätte tun können.
Ich möchte, dass wir eine seriöse Debatte über die Fi-nanzmarktregulierung führen und hier konkrete Vor-schläge auf den Tisch kommen. Ich möchte, dass die De-battenzeit künftig für die Fragen, die entscheidend sind,verwendet wird und nicht für etwas, bei dem wir als na-tionaler Gesetzgeber wenig Spielraum haben.
Klaus-Peter Flosbach hat jetzt das Wort für die CDU/
CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Jeder von uns weiß, dass es nicht das Allheilmittel gibt,was die Finanzkrise betrifft.
Wir wissen, dass ein Bündel von Maßnahmen ergriffenwerden muss, nicht nur, um die jetzige Krise erst einmalin den Griff zu bekommen, sondern vor allen Dingen,um dafür zu sorgen – das ist unser politischer Auftrag –,dass eine solche Krise nicht noch einmal passiert.
Es geht nicht nur um die Frage von mehr Kontrolle,sondern vor allem um die Frage einer besseren Kon-trolle.
Dazu gehört auch die vorliegende EU-Ratingverord-nung, die der Parlamentarische Staatssekretär, HerrKoschyk, gerade vorgestellt hat.Wir alle wissen: Die Krise ist in den USA entstanden.Es gab billiges Geld. Im Grunde konnte jeder ein Hausbauen. Diese Kredite sind mit anderen Produkten zusam-mengepackt, verbrieft und weltweit gehandelt worden.Das haben nicht nur private Banken, sondern vor allenDingen auch öffentlich-rechtliche Banken getan. DieFolgen erleben wir bei den Landesbanken.Die Frage, wer diese Papiere bewertet, ist schon ange-sprochen worden. Natürlich gibt es die Vorgabe, dassRatingagenturen sie bewerten müssen. Aber warum ha-ben die deutschen Banken auf eine eigene Bewertungverzichtet? Der Vorwurf an die deutschen Banken ist,dass man Risiken eingegangen ist, die man selbst nichtbewertet hat.
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Klaus-Peter Flosbach
Die Frage ist, ob man sich allein auf Ratingagenturenverlassen kann und verlassen darf. Die Ratingagenturen– das haben einige Kollegen schon deutlich gemacht –haben diese risikoreichen Kreditpakete und damit letzt-endlich die Finanzkrise um die ganze Welt getragen. Siehaben diese Pakete viel zu lange zu gut bewertet, selbstdann noch, als die Krise sich bereits zugespitzt hatte.Deswegen wollen wir mit diesem Ausführungsgesetzzur EU-Ratingverordnung jetzt Regeln fixieren. Wirwollen Mindeststandards für die Risikobewertung. Wirwollen Mindeststandards für die Vergabe von Bonitäts-urteilen, und – auch das ist wichtig und bereits gesagtworden – wir wollen Sanktionsmöglichkeiten, wenndiese nicht eingehalten werden. Aber wir wollen nicht,dass Ratingagenturen zugleich Finanzprodukte ent-wickeln, Finanzprodukte vertreiben und Finanzproduktebewerten. Wir müssen diese Interessenkonflikte beseiti-gen. Meines Erachtens ist es unsere Aufgabe, dafür zusorgen, dass diese Interessenkonflikte erst gar nicht ent-stehen.
Wir haben im Koalitionsvertrag deutlich gemacht:Wir wollen keinen Finanzmarkt, wir wollen keine Fi-nanzmarktprodukte und wir wollen keine Finanz-marktakteure wie die Ratingagenturen, der bzw. dienicht reguliert und nicht beaufsichtigt werden.
Es ist auch angesprochen worden, dass wir ein Oligo-pol bestehend aus drei großen Ratingagenturen haben.Der Auftrag, hier für mehr Markt und mehr Wettbewerbzu sorgen, richtet sich nicht nur an die Politik. Die so-ziale Marktwirtschaft funktioniert eben nur, wenn esviele Ratingagenturen gibt, die im Wettbewerb miteinan-der stehen. Wir können nicht zulassen, dass im Grundedrei angloamerikanische Ratingagenturen den Markt be-herrschen.Es geht aber nicht nur um die Ratingagenturen, son-dern es geht auch um viele andere Einzelfragen, die mitder Finanzkrise verbunden sind und die wir beantwortenmüssen. Es geht um die Frage des Eigenkapitals beiBanken. Es geht um Transparenz. Es geht um Vergü-tungssysteme. Es geht um Verantwortlichkeiten von Vor-stand und Aufsichtsrat. Es geht auch um die Frage derBeteiligung der Finanzinstitute an den Kosten der Krise.Für uns heute geht es bei den Vorschlägen aus Europaaber auch um die Frage: Wie gestalten wir die Aufsicht?Es ist ein Phänomen in Deutschland: Je kleiner dieFinanzinstitute sind, desto besser werden sie beaufsich-tigt. Unsere Gespräche gerade mit Volksbanken undSparkassen zeigen immer wieder, dass die kleinen Ban-ken besonders intensiv beaufsichtigt werden. Die Kriseist aber nicht bei den kleinen Banken entstanden, son-dern eher bei den größeren und bei denjenigen, die sehrstark miteinander verflochten sind. Es sind also die Ver-flechtungen untereinander, die zu großen Problemen ge-führt haben. Auch die Deutsche Industriebank, die IKB,ist ja keiner der großen Spieler, es ist eher ein mittleresFinanzinstitut, das durch seine starke Verflechtung sys-temrelevant wurde. Unser Schutzschirm wurde gebildet,weil wir eben nicht die Banken in erster Linie absichernwollten, sondern die Bürger und auch die Gläubiger.Aufgrund dieser Notwendigkeit haben wir den Schutz-schirm gebildet.
Die Aufgabe jetzt lautet, dass wir und auch die Auf-sicht die gegenseitigen Abhängigkeiten erkennen. Eskann nicht sein, dass die Finanzinstitute internationaloperieren, aber die Aufsichtsbehörden nur nationalorientiert sind. Deshalb unterstützen wir seitens derUnion die Einrichtung eines Europäischen Finanzauf-sichtssystems. Es geht einerseits um Aufsichten unmit-telbar für Banken und für Versicherungen mit Blick aufdie betriebliche Altersvorsorge oder Wertpapiere. Esgeht andererseits – das ist meines Erachtens das wichti-gere Thema – um den Europäischen Rat für Systemrisi-ken bei der Europäischen Zentralbank. Es besteht dieAufgabe, die Stabilität des Finanzsystems laufend zuanalysieren.Ich selbst kritisiere die Zusammensetzung dieses Gre-miums. Es ist meines Erachtens zu stark bankenorien-tiert. Jeweils die Gouverneure der Zentralbanken undeinige weitere Banker sind darin. Die Versicherungs-branche ist in diesem Gremium unterrepräsentiert, ob-wohl ihre Bedeutung mit derjenigen der ganz großenFinanzinstitute zu vergleichen ist. Auch die Verbindungder Banken zu den Versicherungen ist sehr intensiv: überdas Eigenkapital, über Hybridkapital oder Tier-1, wiewir es nennen, über das haftende Kapital bei den Ban-ken. Deswegen sollten hier noch einige Änderungen er-folgen.
Wichtig ist in diesem Bereich, dass kooperiert wird.Herr Zöllmer, Sie haben es angesprochen, Sie haben ei-nen stärkeren Durchgriff der europäischen Behörde un-mittelbar auf deutsche Finanzinstitute gefordert. Ichhalte das für sehr problematisch. Auch der Bundesrat hatdeutlich gemacht, dass er hier keine Rechtsgrundlagesieht. Vor allen Dingen sehen wir Probleme, wenn eineuropäisches Institut ohne die nationale Aufsicht unmit-telbar in die Institute hinein regiert. Davon können deut-sche Interessen unmittelbar betroffen sein. Vor allenDingen können auch Haushaltsrisiken entstehen, die wirals nationales Parlament so nicht akzeptieren können.
Deswegen werden wir selbstverständlich noch über die-ses Thema diskutieren. Aber hier gibt es meines Erach-tens eine große Einigkeit mit den Bundesländern.Liebe Kolleginnen und Kollegen, für ein funktionie-rendes Gemeinwesen ist die Stabilität des Finanzsystemslebensnotwendig. Der Europäische Rat für Systemrisi-
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Klaus-Peter Flosbachken ist ein weiterer Schritt. Wir brauchen aber noch zu-sätzliche Schritte, insbesondere in Richtung der G 20.Eigentlich sind international gleiche Regeln notwendig.Ich fasse zusammen: Wir brauchen einen global ori-entierten Aufsichts- und Regulierungsrahmen, der nichtnur den Bedürfnissen der Wirtschaft, sondern vor allenDingen den Bedürfnissen der Bürgerinnen und Bürgerdieses Landes dient.Ich danke Ihnen.
Jetzt hat der Kollege Frank Schäffler für die FDP-
Fraktion das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Lieber Kollege Schick, Sie machen es sich hier
in der Diskussion natürlich sehr einfach. Sie greifen sich
bei einem Tagesordnungspunkt, unter dem wir acht ein-
zelne Punkte diskutieren, einen Punkt heraus und sagen,
wir würden nichts machen oder sprächen hier nur über
eine ganz kleine Nummer.
Mit ein bisschen Ehrlichkeit müssten Sie in der Diskus-
sion auch einräumen, dass wir unter diesem Tages-
ordnungspunkt sehr grundsätzliche Dinge diskutieren,
nämlich über die Frage, wie wir ein europäisches Auf-
sichtsregime organisieren wollen.
Eine der zentralen Lehren aus der Finanzkrise ist,
dass wir es in der Vergangenheit nicht geschafft haben,
grenzüberschreitend tätige Institute einigermaßen ver-
nünftig zu regulieren.
Dieser Ansatz steckt dahinter. Die Frage der Ratingagen-
turen ist nur eine von vielen Fragen.
Dass in einem oligopolistischen Markt noch stärker
reguliert werden muss, halte ich für absolut richtig. Über
die zentrale Frage, um die es hier geht, ist heute leider
noch nicht gesprochen worden. Diese Frage lautet näm-
lich: Wer bezahlt die Musik? Was passiert, wenn ein
grenzüberschreitend tätiges Institut in Schieflage gerät?
Wer trägt am Ende die in diesem Zusammenhang entste-
henden Kosten?
Nach den Vorstellungen der EU-Kommission sollen
im Europäischen Ausschuss für Systemrisiken Mehr-
heitsentscheidungen getroffen werden. Dazu stelle ich
fest: Wer die Aufgabenverantwortung und die Kosten-
verantwortung trennt, wird der ganzen Sache nicht ge-
recht. Ich möchte nicht, dass eine Mehrheit in diesem
Gremium darüber entscheidet, was wir im Deutschen
Bundestag am Ende haushaltstechnisch verarbeiten müs-
sen. Das entspricht nicht meiner Vorstellung unseres
Umgangs mit diesem Problem.
Lassen Sie mich das Ganze deswegen auch noch ein-
mal in Zahlen kleiden. Im Rahmen des SoFFin haben
wir inzwischen, wie ich den Zeitungen entnommen habe,
Hilfen in Höhe von 28 Milliarden Euro direkt ausge-
kehrt. Hier geht es also nicht um kleine Zahlen, sondern
um ganz entscheidende Größenordnungen. Auf europäi-
scher Ebene sind mittlerweile 212 Milliarden Euro an
Hilfen ausgezahlt worden. Es kommt schon sehr darauf
an, welches Mitgliedsland das am Ende bezahlen wird.
Deshalb ist es ein ganz entscheidender Punkt – da kann
ich die Bundesregierung nur unterstützen –, dass wir da-
bei mitreden wollen und dass hier keine Entscheidung in
irgendeinem Hinterzimmer getroffen wird.
Meines Erachtens ist das neben der Frage, wie wir die
Bankenaufsicht oder die Finanzaufsicht in Deutschland
organisieren, die zweite Seite derselben Medaille. Wir
müssen die Bankenaufsicht in Deutschland neu sortieren
und neu organisieren, weil sie in der Krise bewiesen hat,
dass sie nicht funktioniert hat. Keine einzige Schieflage
in Deutschland wurde durch die deutsche Bankenauf-
sicht festgestellt.
Deshalb müssen wir erstens zu einer einteiligen Ban-
kenaufsicht zurückkommen. Was Rot-Grün mit der
Zweiteilung der Bankenaufsicht in Deutschland geschaf-
fen hat, hat in der Krise eklatant versagt. Jetzt müssen
endlich die Konsequenzen gezogen und die Weichen
entsprechend gestellt werden.
Zweitens müssen wir klare Regeln aufstellen; denn
derjenige, der hier im Bundestag über Finanzhilfen zu
entscheiden hat, muss am Ende auch die Kostenverant-
wortung gegenüber dem Wähler übernehmen und seine
Entscheidung begründen. Deshalb finde ich es richtig,
der Bundesregierung mit auf den Weg zu geben, dass sie
auch die Interessen des deutschen Steuerzahlers in Brüs-
sel vertreten soll.
Vielen Dank.
Jetzt hat der Kollege Peter Aumer für die CDU/CSU-
Fraktion das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen!Liebe Kollegen!
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2082 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 24. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Februar 2010
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Peter AumerEine bessere Beaufsichtigung der grenzübergreifen-den Finanzmärkte ist aus ethischen wie ökonomi-schen Gründen unverzichtbar.So hat es José Manuel Barroso bei der Vorlage des Ent-wurfs zur europäischen Finanzaufsicht im Septemberdes vergangenen Jahres gesagt. Ich glaube, er hat recht.Das ist eine wichtige Aufgabe unserer Zeit. HerrDr. Schick, es ist, wie ich glaube, wichtig, dass wir unsauch im Deutschen Bundestag mit dem Thema der euro-päischen Finanzaufsicht befassen, weil dies eines der he-rausragenden Themen ist. Sie haben gerade allerdingsgesagt, mit Themen, bei denen man nicht viel mitredenkann, sollte man sich im Bundestag nicht befassen. Ichdenke, dass das nicht richtig ist.
Die Vorschläge der Kommission beruhen auf demLarosière-Bericht und sollen dazu beitragen, in der Eu-ropäischen Union Vertrauen wiederherzustellen, künfti-gen Krisen vorzubeugen und Wachstum und Beschäfti-gung zu sichern. Barroso stellte fest:Das … System wird der EU und ihren Mitgliedstaa-ten dabei helfen, sowohl Problemen bei grenzüber-greifend tätigen Unternehmen als auch der Akku-mulierung von Risiken im Finanzsystem insgesamtentgegenzuwirken.Die jetzige Organisation der Finanzaufsicht in der EUzeigt ein Missverhältnis zwischen dem Niveau der Inte-gration der europäischen Finanzmärkte und der nationa-len Organisation der Aufsichtspflichten auf. Die aktuelleDiskussion über Griechenland und die möglichen Aus-wirkungen auf die gesamte Eurozone sind ein Beispielfür die starken Vernetzungen und Verflechtungen geradeim Finanzbereich unserer globalen Welt.Im Grunde haben wir zwei Möglichkeiten, wieJacques de Larosière aufzeigt: entweder jeder für sich imAlleingang auf Kosten der anderen oder eine verstärkte,pragmatische und vernünftige Zusammenarbeit in Eu-ropa zugunsten aller, um eine offene Weltwirtschaft zuerhalten.
Er hat recht. Es gibt nur diese zwei Möglichkeiten. Mankann sich über die Intensität der Durchgriffsrechte, dieFestlegung der technischen Standards oder die Betrof-fenheit der nationalen Haushalte bei Entscheidungenstreiten. Aber es muss klar sein, dass wir schnell eine eu-ropäische Finanzaufsichtsstruktur brauchen, um das zuverhindern, was uns in den letzten beiden Jahren in einetiefe Krise gestürzt hat.
Die Kommission plädierte von Beginn an für ein Auf-sichtssystem, bei dem die Kontrolle auf EU-Ebene ver-stärkt wird, die nationalen Aufsichtsbehörden aber ihreSchlüsselstellung behalten sollten. Die Zweiteilung desvorgeschlagenen Finanzaufsichtssystems beruht auf denErfahrungen aus der aktuellen Situation.In Bezug auf die Aufsicht auf Mikroebene hat die EUdie Grenzen dessen erreicht, was sie mit den derzeit dieEU beratenden Ausschüssen der Aufsichtsbehörden er-zielen kann. Der europäische Binnenmarkt braucht einenMechanismus, der gewährleistet, dass die nationalenAufsichtsbehörden die bestmöglichen Entscheidungenfür grenzübergreifend tätige Finanzgruppen treffen kön-nen.Wie im Rahmen der G 20 und in den USA muss auchin der EU eine Aufsicht auf Makroebene geschaffenwerden, welche für die Erkennung von Risiken für dieFinanzstabilität in Europa verantwortlich ist und die ge-gebenenfalls auch eingreifend tätig werden kann. Derzwischen der Kommission und den Mitgliedstaaten imEcofin gefundene Kompromiss stellt einen guten Wegfür eine ausgewogene und differenzierte europäische Fi-nanzaufsicht dar.Meine Damen und Herren, erlauben Sie mir, kurz diePunkte zu nennen, die von den Ecofin-Ministern inhalt-lich geändert wurden und die aus meiner Sicht zu begrü-ßen sind: Die direkten Weisungsbefugnisse der EU-Auf-sichtsbehörden gegenüber nationalen Finanzinstituten,die sogenannten Durchgriffsrechte, wurden entschärft,ebenso die Weisungsbefugnisse der EU-Behörden gegen-über den nationalen Aufsichtsbehörden, insbesondere dasWeisungsrecht in Krisenfällen. Außerdem wurde dieAusgestaltung der sogenannten Schutzklausel zur Siche-rung der Haushaltsautonomie der Mitgliedstaaten – einganz wesentlicher Punkt – modifiziert.Es ist hervorzuheben, dass alle Mitgliedstaaten – dieja insbesondere in einer Krisensituation ihre Situationam besten einschätzen können – die Möglichkeit zumWiderspruch erhalten. In einer vernetzten EuropäischenUnion werden solche Krisen, denke ich, sicherlich an-ders bewältigt werden, als es bisher der Fall war.
Gerade einem Element unserer sozialen Marktwirt-schaft, dem Subsidiaritätsprinzip – dass derjenige dieDinge regelt, der sie am effektivsten regeln kann –, wirddurch den Kompromiss, der zwischen den europäischenStaaten und der Europäischen Kommission ausgehandeltwurde, Rechnung getragen.
Gerade Deutschland ist interessiert an einer starkeneuropäischen Finanzaufsicht. Deswegen steht im Koali-tionsvertrag der christlich-liberalen Koalition ein klaresBekenntnis zu einer europäischen Finanzaufsicht:Wir sind uns bewusst, dass es einer grundlegendenNeuordnung des Finanzsystems bedarf, die insbe-sondere die Schaffung einer einheitlichen EU-wei-ten Bankenaufsicht umfasst.Bei der heutigen Diskussion muss uns klar sein, dass wirauch die nationale Bankenaufsicht modifizieren müssen.
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Peter AumerDie Europaparlamentarier sprechen bei dem uns vor-liegenden Kompromiss von einer Verwässerung des ur-sprünglichen Vorschlages der Kommission. Herr Troost,ich glaube, Sie haben das vorhin auch so gesagt. Wir dis-kutieren heute über das in Europa Realisierbare; das istdoch das Wichtige. Wir brauchen eine europäische Fi-nanzaufsicht, und zwar schnell.Sie haben recht in Ihrer Kritik hinsichtlich der Set-zung technischer Standards; die Parlamente müssen hierein Mitspracherecht haben. Sie haben aber nicht recht,wenn es um die Entscheidungsstrukturen zwischen derEuropäischen Union und den Mitgliedstaaten geht.
Bundesfinanzminister Schäuble sieht in der vorlie-genden Ausgestaltung eine Struktur für eine leistungsfä-hige EU-Finanzaufsicht. Er hat recht.Zum Schluss möchte ich Jacques de Larosière zitie-ren: Nicht die Vision, sondern Europas Realität muss dieReform leiten – um sich auf diesem Weg der Vision an-zupassen. Larosière hat recht: Wir müssen schnell eineeuropäische Finanzaufsicht errichten. Wir brauchen eineeuropäische Struktur des Finanzmarktes; denn es darfnicht noch einmal zu einer Krise kommen wie der, diewir erlebt haben. Deswegen bitte ich Sie um Ihre Unter-stützung.Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
Damit schließe ich die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwur-
fes auf Drucksache 17/716 an die in der Tagesordnung
aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. – Damit sind
Sie einverstanden. Dann ist das so beschlossen.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Finanz-
ausschusses auf Drucksache 17/509 zu sieben Unterrich-
tungen durch die Bundesregierung über die Schaffung
eines Europäischen Ausschusses für Systemrisiken und
zur Schaffung eines europäischen Aufsichtsnetzes zur
Errichtung von drei EU-Aufsichtsbehörden für den Ban-
ken-, Versicherungs- und Wertpapierbereich.
Der Finanzausschuss empfiehlt unter den Buchsta-
ben a bis g seiner Beschlussempfehlung, die Unterrich-
tung zur Kenntnis zu nehmen und die Bundesregierung
zu bitten, mit der Berichterstattung fortzufahren. Ich
gehe davon aus, dass wir über die Buchstaben a bis g der
Beschlussempfehlung gemeinsam abstimmen können. –
Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so zu verfahren.
Wer stimmt der Beschlussempfehlung des Ausschus-
ses zu? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Damit
ist die Beschlussempfehlung angenommen bei Zustim-
mung durch die CDU/CSU, die FDP, die SPD und die
Fraktion Die Linke bei Enthaltung der Fraktion Bünd-
nis 90/Die Grünen. Gegenstimmen gab es offensichtlich
nicht.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 6 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Uwe
Beckmeyer, Sören Bartol, Martin Burkert, weite-
rer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Erhalt und Ausbau der Verkehrsinfrastruktur
sichern – Deutschland braucht eine moderne
Zukunftsstrategie zur Infrastrukturfinanzie-
rung
– Drucksache 17/782 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Haushaltsausschuss
Es ist verabredet, hierzu eine Dreiviertelstunde zu de-
battieren. – Dazu höre ich keinen Widerspruch. Dann ist
das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und gebe als Erstem dem
Kollegen Uwe Beckmeyer für die SPD-Fraktion das
Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen undHerren! Wir haben heute einen Antrag der sozialdemo-kratischen Fraktion zum Erhalt und zum Ausbau derVerkehrsinfrastruktur zu debattieren, die wir, so ist je-denfalls unsere Haltung, durch eine auskömmliche Fi-nanzierung durch den Haushalt der BundesrepublikDeutschland dringend sichern müssen.Wir fordern die Bundesregierung mit diesem Antragheute auf, im Jahre 2010 eine Zukunftsstrategie zur Si-cherung dieser Infrastrukturfinanzierung vorzulegen,wobei der Fokus unserer Meinung nach insbesondere aufdie finanzielle Absicherung umweltfreundlicher Ver-kehrsträger – dazu zählen wir auch die Schiene – zu le-gen ist. Wir wollen den ansteigenden finanziellen Bedarfbeim Erhalt und bei der Instandhaltung der vorhandenenVerkehrswege angemessen berücksichtigt wissen, undwir fordern auch, dass Parameter entwickelt werden, mitdenen der Zustand der Straße klar und transparent wie-dergegeben und damit letztendlich auch der Investi-tionsbedarf bemessen wird.Wir legen Wert darauf, dass Prioritäten beim Ausbauvon Verkehrsknotenpunkten, bei den Hafenhinterlandan-bindungen und bei den Hauptverkehrsachsen gelegt wer-den, wir legen Wert darauf, dass beachtet wird, dass dieMobilität für die Bürgerinnen und Bürger sozialverträg-lich und bezahlbar bleiben muss, und wir legen großenWert darauf, dass die Bürger vor den negativen Auswir-kungen des Verkehrs – insbesondere vor dem Lärm – ge-schützt werden.
Wir werden die Debatte über diese Themen ungeach-tet der verschiedenen Diskussionen in diesem Hausewiederholt führen, weil bei uns das Gefühl entstanden
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2084 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 24. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Februar 2010
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Uwe Beckmeyerist, dass aus diesem Ministerium in den letzten 110 Ta-gen nur wenig dazu gekommen ist.
Das Ministerium lebt eigentlich von der Substanz derletzten Legislaturperiode und von einem auskömmlichenHaushalt für 2010, es macht aber kaum erkennbare An-strengungen, auch die Finanzierung für das Haushalts-jahr 2011 auf ähnlichem Niveau zu halten.Unsere Befürchtung ist, dass hier – man kann dasheute auch lesen – letztendlich suboptimal finanziertwird. Der Minister hat heute einer Pressenotiz zufolgeausgeführt, dass er lediglich 10 Milliarden Euro fordernwill, obwohl im Grunde mindestens 11 Milliarden Euronotwendig sind. Durch die Konjunkturprogramme liegenwir zurzeit noch bei fast 12 Milliarden Euro.Meine sehr geehrten Damen und Herren, wir haben inden letzten Wochen und Monaten sowohl vom Ministerals auch von den Staatssekretären wiederholt Äußerun-gen und Ankündigungen dazu gehört, was sie alles tunwollen. Ich habe gestern im Verkehrsausschuss bei derDebatte über die Verkehrspolitik teilweise mit Staunenzur Kenntnis genommen, mit welcher Fröhlichkeit derMinister über all diese Projekte redet und sagt: Das, wasda war, war nicht so gemeint, das haben irgendwelcheJournalisten hervorgezaubert; die haben herumfabuliert.– Das hat mich geärgert.
Darum habe ich mich heute Morgen einmal hinge-setzt, und überlegt, was die Ursache dafür ist, dass wirimmer wieder diese Ankündigungen und irritierendenöffentlichen Äußerungen zu hören bekommen.
Unser erstes Lieblingsthema ist das sogenannte Auf-bauprogramm West. Der Minister sagt: Das ist eine un-ausrottbare Mär. Das habe er so nicht gesagt.
Das stimmt: „Aufbauprogramm West“ hat er nicht ge-sagt. Aber er hat von einem Aufholprogramm West ge-sprochen, wodurch klar wird, dass damit genau dasselbewie mit dem Aufbauprogramm West gemeint ist.Das alles können Sie nachlesen – das empfehle ich Ih-nen, liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU-Fraktion –, und zwar unter www.bmvbs.de; Presse/Reden & Interviews.Seine Parlamentarischen Staatssekretäre bemühensich schon seit Wochen, das wieder einzufangen, indemsie sagen, dass sie keine Investitionspolitik nach Him-melrichtungen machen, sondern nach Bedarf.
Das ist wunderbar. Der springende Punkt ist nur, dassman so etwas nicht zu Beginn einer Amtsperiode aus-plaudern darf.Das zweite Lieblingsthema ist das Denkverbot bei derPkw-Maut. In den letzten Wochen und Monaten habenwir einiges zu diesem Thema lesen müssen, weil es auchdabei um Investitionen und um die Frage geht, wie wirdie Infrastrukturmaßnahmen in den nächsten Jahren fi-nanzieren wollen. In der Passauer Neuen Presse war imNovember zu lesen:Die Diskussion ist noch am Anfang … Wir wollen,dass alle Handlungsoptionen auf den Tisch kom-men und geprüft werden. Dafür werden wir inKürze eine Expertenkommission einsetzen.Er, der Minister, wisse, dass es in Bayern eine überwälti-gende Mehrheit für die Einführung einer Pkw-Maut gibt.Dann beginnt das Zurückrudern von Ramsauer. Jetztgibt es ein neues Interview im Bonner Generalanzeigervom 10. Februar, das ebenfalls auf der genannten Inter-netseite des Ministeriums zu finden ist. Darin heißt es:Es gibt keinen aktiven Umsetzungsauftrag für eine Pkw-Maut. Was heißt denn das? Gibt es einen passiven Um-setzungsauftrag? Auch das, was wir dort lesen, ist irritie-rend.Dann sagt der Minister weiter, in seinem Ministeriumgebe es keine Denkverbote. Nachdenken ist geradezu er-wünscht. Was heißt denn das? Was signalisiert das?
Ein paar Zeilen weiter heißt es in demselben Artikel,dass die Damen und Herren der Grundsatzabteilungmehr oder weniger aufgefordert werden, nach neuenEinnahmequellen zu suchen. Sie werden auch nach denneuen Finanzierungsquellen gefragt, Herr Minister. DieAntwort darauf lautet – ich zitiere –:Ich habe meine Fachleute beauftragt, neue Finan-zierungsoptionen zu entwickeln.
Ein Beispiel: Mit unseren ersten öffentlich-privatenPartnerschaften haben wir gute Erfahrungen ge-macht. Es wird schneller gebaut, und die Straßenwerden wirtschaftlich betrieben und unterhalten.Wir gehen deshalb jetzt eine zweite Tranche mitacht Projekten an. Unser Ziel ist es, noch mehr pri-vates Kapital zu mobilisieren.Das ist die Finanzierungsoption. Die Verkehrspoliti-ker wissen, dass das keine Finanzierungsoption ist. Dennalles, was bei privaten Unternehmen bestellt wird, mussanschließend mit öffentlichen Mitteln bezahlt werden.Das sind entweder Mauteinnahmen, die wir für dienächsten 30 Jahre abtreten – dann fehlen sie direkt in un-serer Kasse –, oder Haushaltsmittel, die zugeführt wer-den. Auch das ist keine Hilfe für das, was Sie glauben,damit bewirken zu können. Auch hierauf haben Sie biszum heutigen Tage keine vernünftige Antwort gefunden.
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Uwe BeckmeyerDas dritte Lieblingsthema ist das Schienenausbaupro-gramm. Gestern haben Sie gesagt, ein solches Schienen-ausbauprogramm hätten irgendwelche Journalisten fabu-liert. Ich habe mir ein Interview des Ministers in derSüddeutschen Zeitung vom 24. Dezember 2009 aus der-selben Quelle unter www.bmbvs.de herausgesucht. Da-rin heißt es:Wer die Globalisierung will, braucht dafür auch dieVerkehrswege.So weit Peter Ramsauer über den nötigen Ausbau desSchienennetzes und die Chancen einer Pkw-Maut.
Deutschland braucht neue Schienentrassen, findet derBundesverkehrsminister. – Das ist richtig. – Denn nur soließen sich die riesigen Gütermengen transportieren, diein den nächsten Jahrzehnten auf das Land zurollen. DochBauvorhaben stießen oftmals auf Widerstände.Auch hier wird suggeriert, dass wir ein neues Schie-nenausbauprogramm bekommen. In einem Interview inTransaktuell vom 12. Februar dieses Jahres sagen Sieüber sich selbst, Sie seien ein „Überraschungsminister“.Mit Ihrer 100-Tage-Bilanz seien Sie absolut zufrieden.Das Problem ist nur, dass Sie als Überraschungsministertatsächlich für Überraschungen sorgen.
Sie kündigen gerne neue Projekte an. Wie sieht es mitdem Schienenausbau aus? Was ist mit den Lärmschutz-maßnahmen? Was wird aus dem Schienenbonus? AllesFehlanzeige! Der Schienenausbau ist nicht finanziert.Ich habe Sie im Ausschuss nach einem verkehrspoliti-schen Fahrplan gefragt. Auch hier Fehlanzeige.
Sie erklären die 500-Millionen-Euro-Rückzahlungder Mautmittel zu einer Fußnotenproblematik für denHaushalt des Bundesverkehrsministers. Im Gegensatz zuuns haben Sie die Finanzierungskreisläufe für die Straßeakzeptiert. Bis zum heutigen Zeitpunkt haben Sie unsnoch nicht erklären können, wie Sie die jeweiligeDeckungsquote von 30 Prozent für den Ausbau derSchiene und von 12 Prozent für den Ausbau der Wasser-straßen aus den Mauteinnahmen finanzieren wollen.
All das zeigt: Dieses Ressort ist zum jetzigen Zeit-punkt absolut planungslos. Es hat keinen Kompass in derFrage: Wie finanziere ich die Infrastruktur in Deutsch-land? Aus diesem Grunde ist es absolut notwendig, dassSie heute dem sozialdemokratischen Antrag hinsichtlicheiner Zukunftsstrategie für die Infrastrukturinvestitionenzustimmen.
– Gnädige Frau, Sie selbst haben als Mitglied der Koali-tion im Verkehrsausschuss vor gar nicht allzu langer Zeitbei den Haushaltsdebatten einen kleinen kurzen Antragmitbeschlossen, der danach ziemlich schnell wieder inder Versenkung verschwand. Ich hoffe, dass Sie sich da-ran erinnern werden. Ich habe ihn bei mir. Sie werdendazu noch Stellung nehmen können. Auch da zeigt sichim Grunde bei der Koalition die Enttäuschung in ihreneigenen Reihen, dass dieses Haus zurzeit nichts zustandebekommt. Ich kann Sie nur bitten: Unterstützen Sie denMinister bei der Frage einer deutlichen Verbesserung derFinanzierung der Infrastruktur in Deutschland.Herzlichen Dank.
Jetzt hat das Wort der Kollege Reinhold Sendker für
die CDU/CSU-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Um die Voraussetzungen für Wachstum undWettbewerbsfähigkeit in Deutschland zu gewährleisten,haben CDU/CSU und FDP im Verkehrsausschuss An-fang Februar im Rahmen der Etatberatung einen Antragvorgelegt, um eine bedarfsgerechte Ausstattung des Ein-zelplanes 12 im Bundeshaushalt, vor allem im Hinblickauf zukünftige Haushalte, zu erreichen.Der Substanzerhalt, ganz besonders nach diesemstrengen Winter, sowie auch Aus- und Neubau von Ver-kehrsinfrastruktur dürfen nicht hinter den bedarfsgerech-ten Erfordernissen zurückbleiben.
Mit diesem zielführenden Antrag wollen wir das Bun-desministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklungbeauftragen, ein zukunftsweisendes, nachhaltiges Ge-samtkonzept für eine auskömmliche Finanzierung zu er-arbeiten. Dieser Antrag wurde so im Ausschuss AnfangFebruar mit Mehrheit beschlossen. Deswegen, liebe Kol-leginnen und Kollegen der SPD-Fraktion, haben Sie beiall Ihren Gefühlen keine Sorge: Die von Ihnen gefor-derte Zukunftsstrategie ist bereits durch den Antrag derKoalitionsfraktionen im Fachausschuss beschlossen. Ichnenne das eine vorausschauende und verantwortlichePolitik. Genau dafür steht diese Koalition.
Sie haben unseren Antrag, Herr Beckmeyer, leider ab-gelehnt und legen nun einige Wochen später Ihre Vor-schläge in einem Antrag mit fast gleicher Überschriftvor. Ich sage nur: Diese hätten Sie schon während derAusschussberatungen zum Haushaltsplan im Ausschussvortragen können. Das haben Sie nicht getan. Ebensowäre es Ihnen in den zurückliegenden Jahren noch in derRegierungsverantwortung – hören Sie genau zu – mög-lich gewesen, vieles von dem, was Sie hier heute vor-schlagen und der Bundesregierung aufgeben wollen,
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Reinhold Sendkerselbst auf den Weg zu bringen. Auch das haben Sie ver-säumt.
In all den Jahren kam von Ihnen noch viel weniger.
Deswegen, Herr Beckmeyer, liebe Kolleginnen und Kol-legen der SPD-Fraktion, machen wir das jetzt.
CDU/CSU und FDP handeln auf der Basis des imAusschuss beschlossenen Antrags zur Erarbeitung einerGesamtkonzeption, auch vor dem Hintergrund der Ver-einbarungen im Koalitionsvertrag. Diese hätten Sie lesenkönnen. Sie sind eindeutig und auch zukunftsweisend.
Gerade weil Deutschland ein Kernland in Europa ist,werden wir dafür sorgen, dass Erhalt, Ausbau und Neu-bau der Verkehrswege gesichert werden. Dies ist undbleibt für uns in der Verkehrspolitik das wichtigste Ziel.
Hierbei dürfen wir natürlich nicht übersehen – damitkommen wir zur sachlichen Bewertung der Zahlen –,dass nach Auslaufen der Konjunkturprogramme eineAbsenkung der Mittel nach 2010 erfolgt. Es geht alsodarum, mittelfristig die Verkehrsinvestitionen auf hohemNiveau zu verstetigen. So wollen wir in diesem Zusam-menhang auch die Modelle für die Beteiligung Privater,die eben angesprochen worden sind, im Rahmen öffent-lich-privater Partnerschaften voranbringen. Der Ministerhat gestern im Verkehrsausschuss darauf hingewiesen,dass wir mit den ersten Beispielen gute Erfahrungen ge-macht haben. Herr Kollege Beckmeyer, wenn ich aufIhre Ausführungen zurückkommen darf: Wir haben inden früheren Jahren von Ihnen dazu keine Vorschlägegehört. Auch heute gab es keine weiteren Finanzierungs-vorschläge und keine Alternative. Das ist ein schwachesBild.
In Ihrem Antrag fordern Sie Prioritäten im Rahmender Infrastrukturfinanzierung. Dann nennen Sie den Ka-talog, den Sie aufgeführt haben, nämlich den Ausbauvon bedeutenden Verkehrsknotenpunkten und von wich-tigen Hafenhinterlandanbindungen sowie die Berück-sichtigung der Mobilitätsbedürfnisse der Menschen inRegionen mit geringer Bevölkerungszahl.
– Ich habe das vorgelesen, weil ich mich unwillkürlichfrage, was davon eigentlich nicht prioritär ist. – Einekonsequente Priorisierung ist doch eigentlich unerläss-lich in dieser Zeit.
Deshalb hätten Sie den Punkt wie vieles andere in IhremAntrag schon etwas konkreter gestalten können. Wir ha-ben das mit der Forderung der Weiterentwicklung derKriterien für die Priorisierung von Investitionsprojektengetan. Unser Kriterium ist das der gesamtwirtschaftli-chen Vorteilhaftigkeit; denn genau diese Ausrichtungunterstützt unser gemeinsames Ziel einer leistungsfähi-gen Verkehrsinfrastruktur als Voraussetzung für Wachs-tum, Beschäftigung und Wohlstand. Eine Zukunftsstrate-gie, wie sie hier in Rede steht, muss vor allemVerkehrsmengen und Verkehrszuwächse in Gegenwartund Zukunft berücksichtigen. Hier und heute nur einenWunschkatalog mit der Bitte an die Bundesregierung umPriorisierung anzuführen, ist wohl eindeutig zu wenig.
Ein weiteres Thema, das hier angesprochen werdenmuss, ist die Verkehrsinfrastrukturfinanzierungsgesell-schaft, die VIFG. Sie wollen die Einnahmen aus derMaut vollständig und auskömmlich für Investitionen indie gesamte Verkehrsinfrastruktur vorsehen. Demgegen-über fordern wir die Herstellung eines FinanzkreislaufsStraße
unter direkter Zuweisung der Einnahmen aus der Lkw-Maut an die VIFG und bitten das Ministerium, den Vor-schlag zu prüfen. Unser Ziel ist und bleibt es, die ent-scheidenden Schwächen der vergangenen Jahre, nämlichdie kontinuierliche Unterfinanzierung, die schwanken-den Haushaltslinien und die Transparenzdefizite bei Pla-nung, Genehmigung, Bau und Betrieb, abzubauen.Ich möchte herausstellen: Investitionen in die Ver-kehrsinfrastruktur, für Straße, Schiene und Wasserstraße,wollen wir auf einem hohen Niveau sicherstellen. Dabeihat sich die Verkehrsinfrastruktur an den Bedürfnissender Menschen und an den Erfordernissen der Volkswirt-schaft zu orientieren. Das hat auch der Verkehrsministerimmer betont. Uns ist natürlich bewusst, dass Infrastruk-turpolitik in Deutschland vor großen Herausforderungensteht. Wahr ist aber auch: Nur leistungsfähige und opti-mal vernetzte Verkehrswege schaffen die Voraussetzungfür Wachstum und Wettbewerbsfähigkeit. Die Rekordin-vestitionssumme von 12,6 Milliarden Euro für Verkehrs-investitionen im Jahr 2010 ist dafür weiß Gott ein star-kes Fundament. Ausgehend hiervon gilt es nun,zukünftig den Erhalt und den Ausbau von Verkehrsinfra-struktur in unserem Lande zu sichern. Diesem Ziel dientder Antrag der Koalitionsfraktionen. Diesem Ziel dientbesonders die vom Ministerium zu erarbeitende Gesamt-konzeption. Der SPD-Antrag hingegen stößt auf unsereKritik, die wir, wenn Sie den Antrag nicht verändernwerden, in der Ausschussberatung erneuern werden.Herzlichen Dank.
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Herr Sendker, das war Ihre erste Rede hier im Haus.
Dazu gratulieren wir Ihnen alle sehr herzlich und wün-
schen Ihnen alles Gute für die Arbeit hier.
Thomas Lutze ist der nächste Redner für die Fraktion
Die Linke.
Frau Präsidentin! Herr Minister! Sehr geehrte Damen
und Herren! Ich empfinde es als positiv, dass wir heute
relativ unaufgeregt über Grundsätzliches in der Ver-
kehrspolitik reden können. Insofern ist der Antrag der
SPD-Fraktion sehr hilfreich. Er ist in einigen Punkten in-
haltlich in Ordnung und führt durchaus in die richtige
Richtung.
Erlauben Sie mir dennoch, zu zwei, drei Punkten sehr
kritische Anmerkungen zu machen. Im vorliegenden
Antrag wird sehr viel über die Binnenschifffahrt gespro-
chen; darüber ist viel zu lesen. Ohne Zweifel gehört der
Güterverkehr auf Flüssen und Kanälen zu den umwelt-
freundlicheren Möglichkeiten, Güter von A nach B zu
transportieren. Allerdings warnen wir davor, dieses Netz
jetzt weiter ausbauen zu wollen. Durch diese Ausbau-
maßnahmen würde die Umweltverträglichkeit in Mitlei-
denschaft gezogen. Hinzu kommt, dass die Stärken des
Verkehrsmittels Binnenschiff eher beim Schüttgut liegen
und dass hier größere Kapazitäten volkswirtschaftlich
kaum notwendig sind. Im Gegensatz zur Schiene und zur
Straße hat die Binnenschifffahrt zusätzlich das Handicap
eines möglichen Hochwassers oder Niedrigwassers, je
nach Witterung.
Richtig im Antrag der SPD ist, dass der Verkehrsbe-
reich Schiene im Güterverkehr ausgebaut werden muss.
Ich darf allerdings auch erwähnen, dass gerade unter so-
zialdemokratischen Verkehrsministern – aber auch davor
– der Güterverkehr auf der Schiene sehr stiefmütterlich
behandelt wurde. Will man einen attraktiven Personen-
nah- und -fernverkehr schaffen und einen deutlich höhe-
ren Anteil des Transportaufkommens an Gütern auf der
Schiene abwickeln, dann braucht man dafür die nötige
Infrastruktur. Diese ist so in Deutschland nicht mehr vor-
handen. Wenn wir das, was die SPD vorschlägt, wollen,
dann müssen in den nächsten Jahren vergleichbare In-
vestitionen getätigt werden, wie wir sie in den letzten
20 Jahren für das ICE-Netz ermöglicht haben. Auch als
Parlamentsneuling ist mir aufgefallen, dass die Mittel
hierfür eher bescheiden sind. Umverteilen wäre nach un-
serer Sicht angebracht. Also lassen Sie bitte die Finger
von Projekten wie Stuttgart 21! Dann haben Sie 5 Mil-
liarden Euro mehr für sinnvollere Projekte und für den
Güterfernverkehr auf der Schiene.
Ein Punkt fehlt leider im Antrag der SPD: Das ist die
Verkehrsvermeidung. Müssen wir unbedingt Senf oder
Joghurt 600 Kilometer auf deutschen Autobahnen trans-
portieren? Ist es volkswirtschaftlich wirklich schlau,
dass große Industrieunternehmen keine eigenen Lager
mehr haben und ihre Lieferungen in Lkws auf Autobah-
nen zwischenlagern lassen? Ist es wirklich sinnvoll, dass
jeder dritte Lkw leer unterwegs ist und dass praktisch die
Hälfte der Ladekapazität aus Luft besteht? Verkehrspoli-
tisch muss der Schwerpunkt unserer Anstrengungen da-
rauf gerichtet sein, den Lkw-Fernverkehr auf ein sinn-
volles Maß zu begrenzen.
Wenn man die Beanspruchung der Infrastruktur be-
trachtet, so kommt man zu dem Ergebnis, dass ein Lkw
mit 40 Tonnen – es sind sogar Lkws mit bis zu 60 Ton-
nen geplant – eine Straße genauso belastet wie
60 000 Pkws. Vom Lärm und von den Abgasen, von den
Umweltgefahren und den Folgen war noch gar nicht die
Rede. Die Linke setzt sich dafür ein, dass der notwen-
dige Güterfernverkehr zukünftig mehrheitlich über die
Schiene abgewickelt wird.
Wir sind daher sehr skeptisch, dass die notwendigen
Investitionen für den Bau und den Erhalt der Infrastruk-
tur über private Partnerschaften abgewickelt werden
können. Soll ein mittelständisches Bauunternehmen jetzt
gleichzeitig den Auftrag abwickeln und ihn mitfinanzie-
ren? Bekanntlich gibt es in unserer Fraktion Bedenken,
was die Arbeit von Banken gerade im Hinblick auf die
aktuelle Krise angeht. Dass nun aber kleine und mittel-
ständische Unternehmen diesen Job übernehmen sollen,
halten wir für nicht gerade erstrebenswert. Verkehrsin-
frastruktur ist – so unsere Meinung – ein öffentlicher
Sektor. Dieser sollte nach Auffassung der Linken auch
öffentlich bleiben.
Vielen Dank.
Herr Lutze, das war auch Ihre erste Rede hier im Ho-
hen Hause. Herzlichen Glückwunsch dazu und alles
Gute für Ihre Arbeit als Abgeordneter!
Patrick Döring hat das Wort für die FDP-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Nachdem ich während der Rede des geschätzten Kolle-gen Beckmeyer fieberhaft viele Minuten auf die Begrün-dung des Antrages gewartet hatte und nachdem viele Zi-tate aus Interviews des Bundesministers vorgetragenworden waren, kam mir der Gedanke, dass ich michnicht daran erinnern kann, dass hier jemals auch nur eineinziges Interview seines Vorgängers zitiert worden ist.
Insoweit kann ich nur sagen: Der aktuelle Verkehrs-minister hat alles richtig gemacht. Sie wären doch froh,wenn von Ihren früheren Verkehrsministern – Sie habensie von 1998 bis 2009 gestellt – in diesem Hause zumin-
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Patrick Döringdest noch eine Spur wahrzunehmen wäre; aber das istganz offensichtlich nicht der Fall.
Der Antrag ist eine gute Gelegenheit, drei oder viergrundsätzliche verkehrspolitische Themen anzuspre-chen. Bei aller Wertschätzung der Ansätze, die vorgetra-gen worden sind und die sich im Antrag wiederfinden: InWahrheit werden durch diesen Antrag ein paar verkehrs-politische Irrtümer der vergangenen Zeit perpetuiert. Ichverweise zunächst auf den alten Gedanken der notwendi-gen Verlagerung der Verkehre von der Straße auf dieSchiene; auch der Kollege Lutze hat ihn eben formuliert.Es gibt die Notwendigkeit einer solchen Verlagerung– das bestreitet auch keiner –; aber wer den Eindruck er-weckt, dass die Verlagerung von Verkehren durch Politikoder ausschließlich durch Investitionsmittel zu erreichenwäre, der verkennt einfach, dass bestimmte Verkehre nieverlagerbar sind und dass unsere Infrastruktur in ihremaktuellen Zustand ein bedeutendes Verkehrsmengen-wachstum überhaupt nicht verkraften könnte. Deshalbmuss man an diesem Punkt ein Stück Realismus waltenlassen.
Die Schiene ist nicht leistungsfähig, und sie ist nichtder richtige Verkehrsträger für kurze Verkehre; vielmehrist sie der richtige Verkehrsträger für mittlere und langeVerkehre. Das weiß auch jeder Experte. Man muss sagen,wie zusätzliche Güterverkehre auf dem vorhandenenNetz – das Netz in Deutschland wird gemischt genutzt –abgewickelt werden sollen, ohne den vielgelobten Schie-nenpersonennahverkehr oder den Schienenfernverkehreinzuschränken. Auf diese Frage hatten Sie heute ge-nauso wenig wie in den vergangenen elf Jahren eine Ant-wort.
Wenn behauptet wird, Straßengüterverkehr sei für eineexportorientierte Volkswirtschaft wie Deutschland weni-ger wichtig oder für die Verkehrspolitik weniger bedeu-tend, dann kann man nur entgegnen: Das ist eine Verzer-rung der Wirklichkeit.Bemerkenswert ist auch, dass das Bild gezeichnetwird, sowohl in der rot-grünen als auch in der schwarz-roten Regierungszeit sei unheimlich viel in die Verkehrs-träger investiert worden. Wenn man die preisbereinigtenInvestitionsansätze für die Straße von Rot-Grün undauch die von Schwarz-Rot anschaut, dann ist festzustel-len, dass in all diesen Jahren für den VerkehrsträgerStraße nicht mehr und nicht weniger investiert wordenist als in den Jahren 1990 bis 1998, also zu Zeiten derKabinette Kohl III und Kohl IV. Auch das gehört zurWahrheit. Was allerdings gestiegen ist, das ist die Belas-tung des deutschen Autofahrers und des Gewerbes mitSteuern und Abgaben. Ich verweise auf zusätzliche Steu-ern wie die Ökosteuer und auf zusätzliche Abgaben wiedie Lkw-Maut. Preisbereinigt betrachtet sind die Investi-tionen in die Straße also nicht gestiegen. Das ist dieWahrheit, die die Menschen draußen wahrnehmen. Dasist das Ergebnis von Regierungen, an denen die SPD be-teiligt war.
Ich will mich dem Antrag zuwenden. Noch bemer-kenswerter finde ich, was Sie als Zukunftsstrategie zurSicherung der Infrastrukturfinanzierung beschreiben.Man könnte auf die Idee kommen – auch Herr Sendkerhat dies gesagt –, dass man, wenn man elf Jahre lang re-giert hat, eine solche Strategie politisch bereits umge-setzt hat. Sie kennen die Ursache dafür, dass es keinemittelfristige Finanzplanung gibt: Diese Regierungplant, einen soliden Haushalt vorzulegen. Wir wollennicht alles fortsetzen, was Sie fälschlicherweise in IhreHaushalte eingestellt haben; daher wollen wir in Ruhealle Ausgabepositionen prüfen. Dann werden wir das si-cherstellen, was Sie hier von uns verlangen. Aber einZukunftsprogramm von uns einzufordern, nachdem manselbst elf Jahre die Hausleitung gestellt hat, das ist nunwirklich das Einfachste, was einer Opposition einfallenkann.
In Wahrheit bleibt es dabei – das ist ja auch den Zwi-schenrufen zu entnehmen –: Sie wollen dieser Koalitiondas Etikett anheften, wir seien schienenfeindlich undstraßenfreundlich, während Ihnen alle Verkehrsträgergleich wichtig gewesen seien.Ich halte fest: Für uns ist leistungsfähiger Schienen-verkehr ein wichtiges Element der Verkehrspolitik. Wirsind aber im Gegensatz zu Ihnen bereit, anzuerkennen,dass der Verkehrsträger, auf dem die meisten Tonnen anGütern transportiert werden und auf dem die meistenMenschen jeden Tag fahren, nämlich die Straße, auf-grund seiner Bedeutung ebenso klar und deutlich finan-ziert werden muss und wir hier vor großen, zum Teil so-gar größeren Herausforderungen als beim VerkehrsträgerEisenbahn stehen.
Wes Geistes Sie in Wahrheit sind, zeigt sich doch da-ran, dass Sie mit Ihrem Haushaltsantrag im Ausschussversucht haben, einen Teil der Mittel zur Finanzierungvon Bundesstraßen und Bundesautobahnen wegzuneh-men
und zur Erhöhung der Mittel für das CO2-Gebäudesanie-rungsprogramm zu verwenden. Wer auf diese Weise Kli-mapolitik machen will, wird am Ende scheitern, liebeKolleginnen und Kollegen.
Deshalb ist dieser Antrag zu Recht abgelehnt worden.
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Patrick DöringWir werden die Straße nicht gegen die Schiene aus-spielen, genauso wenig wie Verkehrsinvestitionen gegennotwendige Investitionen für den Klimaschutz im Ge-bäudebereich.
Das wäre nämlich unverantwortlich angesichts derwahnsinnigen Herausforderungen, vor denen wir stehen:der Beseitigung der Winterschäden auf den Bundesstra-ßen und Bundesautobahnen, aber auch auf kommunalenund Landesstraßen.Deshalb gilt für die Beratung des vorliegenden Antra-ges das, was der Kollege Sendker richtigerweise gesagthat: Wir haben mit unserem Haushaltsbegleitantrag dieGrundlinien des Koalitionsvertrages deutlich gemacht.Anhand dieser Grundlinien wird das Haus und werdenwir als handlungsfähige Koalition die nächsten Jahre tä-tig werden.
Wollen Sie die Zwischenfrage des Kollegen Beckmeyer
zulassen?
Ja, bitte. Gerne.
Sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass die So-
zialdemokraten einen Haushaltsantrag gestellt haben, in
dem – im Gegensatz zu dem, was Sie behaupten – vorge-
sehen war, Mittel, die das Ressort normalerweise wieder
bei Herrn Schäuble abgeben muss, eben zur Förderung
genau des Projektes, das Sie kritisieren, zu verwenden?
Wir haben also die Absicht gehabt – Sie haben dem lei-
der nicht zustimmen wollen –, Mittel, die im Haushalt
vorgesehen waren, nicht wieder zurückzugeben, sondern
sinnvoll für Verkehrsprojekte einzusetzen.
Zweite Frage, wenn ich das darf, liebe Frau Präsiden-
tin: Wir unterscheiden uns nicht in den Perspektiven, die
wir für den Verkehrsträger Straße sehen. Der entschei-
dende Unterschied zwischen uns ist, dass Sie die inte-
grierte Verkehrspolitik nicht mehr als Kernpunkt der
Verkehrspolitik der neuen Koalition ansehen. Das ist der
gravierende Fehler Ihrer aktuellen Politik.
Herzlichen Dank.
Lieber geschätzter Kollege Beckmeyer, ich bedanke
mich ganz herzlich für die beiden Fragen.
Zunächst einmal stelle ich fest: Wir haben nicht die
Absicht, die möglicherweise nicht ausgegebenen Mittel
für den Bereich Bundesstraßen und Bundesautobahnen,
die im Konjunkturpaket für 2009 und 2010 vorgesehen
sind, zurückzugeben, sondern wir haben die Absicht,
diese Mittel dafür zu verwenden, wofür sie vorgesehen
waren, nämlich für Investitionen in den Verkehrsträger
Straße. Wir werden schon die Länder, die das umzuset-
zen haben, und auch das Bundesministerium dazu brin-
gen, dass das passiert.
Deshalb ist die Grundannahme, diese Mittel würden
nicht ausgegeben, grundfalsch und entspricht auch nicht
dem, was wir politisch wollen. Wir wollen vielmehr,
dass diese Mittel ausgegeben werden.
Zur zweiten Frage, geschätzter Kollege Beckmeyer:
Wer glaubt, integrierte Verkehrspolitik zeichne sich da-
durch aus, dass der Autofahrer die anderen Verkehrsträ-
ger finanziert, der hat ein sehr schlichtes Bild von inte-
grierter Verkehrspolitik. Wir haben ein anderes Bild. Das
setzen wir mit unserer Politik auch durch. Das ist der
Unterschied.
Abschließend, liebe Kolleginnen und Kollegen,
möchte ich festhalten: Der, wie ich finde, recht kümmer-
liche Versuch oppositionellen Handelns mit diesem An-
trag wird im Ausschuss entlarvt werden. Diese Bundes-
regierung wird in der Verkehrs- und Baupolitik die
Akzente setzen, die unsere Volkswirtschaft benötigt. Da-
bei unterstützt die FDP-Fraktion in dieser Koalition den
Bundesverkehrsminister.
Herzlichen Dank.
Der Kollege Dr. Anton Hofreiter hat jetzt das Wort fürdie Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Geschätzte Kolleginnen und Kolle-gen! Lieber Patrick Döring, es ist durchaus amüsant,wenn du dich darüber mokierst, wie Uwe Beckmeyerden Verkehrsminister zitiert hat. Aber vielleicht solltestdu zumindest ab und zu die Positionen eures Verkehrs-ministers wahrnehmen. Dann hättest du in der Zeitunglesen können, dass der Verkehrsminister vor Weihnach-ten in der Süddeutschen Zeitung gefordert hat, dass derZuwachs des Güterverkehrs auf der Schiene stattfindensoll.
Damit hat er genau das gefordert, worüber du eben ge-sagt hast, dass es nicht möglich sei. Nun kann man sa-gen: Diese schwarz-gelbe Koalition ist in fast allenPunkten zerstritten. Warum soll sie dann nicht auch imVerkehrsbereich total zerstritten sein? – Das Problemati-sche ist allerdings, dass es uns weder im Land noch inder Verkehrspolitik weiterhilft, wenn die FDP darauf be-
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Dr. Anton Hofreitersteht, dass die Mauteinnahmen komplett für die Straßeverwendet werden. Man muss sich die Dimensionen des-sen, was hier zu finanzieren ist, klarmachen. Im Jahr2009 waren Mauteinnahmen in Höhe von 5 MilliardenEuro eingestellt. Davon sollen 38 Prozent für dieSchiene verwendet werden. Über 1,5 Milliarden Eurohabt ihr dann anders zu finanzieren. Wie soll das gesche-hen?Warum hat man die Mautfinanzierung überhaupt ein-geführt? Die Mautfinanzierung hat man eingeführt, da-mit man einen soliden Grundstock für Verkehrsinfra-strukturinvestitionen hat, auf den der Finanzministerkeinen direkten Zugriff hat.
Man hat die Mautfinanzierung nicht für einen, sondernfür alle Verkehrsträger eingeführt.
Denn der rot-grünen Koalition war bewusst, dass Logis-tikunternehmer ihre Container und Waren nicht nur aufder Straße transportieren. Vielmehr kommen Waren ineinem Hafen an, werden dann in vielen Fällen auf dieSchiene verladen und legen die letzte Meile bis zum Ver-braucher auf dem Lkw zurück oder werden zum Teil aufBinnenschiffe und dann auf den Lkw verladen. Dasheißt, Logistikketten bestehen nicht nur aus dem Trans-port auf Straßen. Vielmehr wird der Transport der Warenvon verschiedenen Verkehrsträgern übernommen. LieberPatrick, du hast gesagt, der Autofahrer solle nicht dieSchiene finanzieren. Unserer Beobachtung nach werdenLkws nicht von Autofahrern gesteuert und wird die Mautnicht vom Lkw-Fahrer gezahlt, sondern von Logistikun-ternehmen. Logistikunternehmen brauchen aber alleVerkehrsträger, um ihre Geschäfte abzuwickeln.
Zur Finanzierung der Infrastruktur. Infrastruktur istetwas, das über sehr viele Jahre errichtet wird. Man bautStraßen und Schienen nicht für 10 oder 20 Jahre. Viel-mehr wird eine Straßen- und Schieneninfrastruktur fürsehr lange Zeiträume errichtet. Deshalb muss man da-rüber nachdenken, welche Trends in den nächsten Jahrenzu erwarten sind. Es gibt zwei sehr grundlegendeTrends, die im Verkehrsbereich entscheidend sind. Dereine Trend ist der Klimawandel. Der andere problemati-sche Trend ist die Endlichkeit fossiler Rohstoffe. DieVerkehrsträger sind unterschiedlich leistungsfähig.Wenn man die Schiene mit der Straße vergleicht, dannkommt man zu dem Schluss, dass die Schiene in Bezugauf die beiden Trends weitaus leistungsfähiger ist. DieSchiene weist eine funktionierende Elektromobilität auf.Wir wissen zudem, wie wir regenerative Energie für dieSchiene bereitstellen können, das heißt ohne fossileEnergieträger. Bei der Straße tun wir uns weitaus schwe-rer. Es gibt natürlich auch Ideen für Elektromobilität aufder Straße. Aber beim Lkw wird es sehr kompliziert.Beim nachhaltigen Investieren darf man also nichtstur darauf achten, ob der Anteil der Straße hoch oder obder Anteil der Schiene gering ist. Man muss vielmehr,wenn man verantwortliche Politik betreiben will, da-rüber nachdenken, was in Zukunft passiert, das antizipie-ren und dann Investitionsschwerpunkte setzen.
Die Investitionsschwerpunkte müssen in dem Bereichgesetzt werden, der zukunftsträchtig ist. Der zukunfts-trächtigere Bereich ist in diesem Fall die Schiene. Wirmüssen als bedeutende Export- und Importnation für un-sere Wirtschaft eine funktionierende Schieneninfrastruk-tur zur Verfügung stellen, die sowohl klimawandelsicherals auch ressourcensicher ist.
Beides wird durch die Politik dieser Regierung unter-graben. Sie wissen nicht, wie Sie den Ausfall der Maut-einnahmen in Höhe von 600 Millionen Euro und die38 Prozent für die Schiene finanzieren sollen. Sie wissennicht einmal, wie Sie Ihre Straßenprogramme finanzie-ren sollen. Das Einzige, was der Minister macht – des-halb sind die Zitate manchmal durchaus angebracht –,ist, im Land via Zeitung zu verkünden, was er vorhat.Aber er kann weder im Ausschuss noch hier im Plenumerklären, wie die zukünftige Verkehrspolitik aussehensoll.
Das muss sich ändern.
Jetzt hat der Kollege Patrick Schnieder das Wort für
die CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Leistungsfähige Verkehrswege und Mobilität sind Vo-raussetzung für Wachstum und Wettbewerbsfähigkeitunserer Volkswirtschaft. Die Regierungskoalition wirddies mit ihrer Verkehrspolitik sicherstellen. Wir wissenaber auch: Mobilität muss für die Menschen in unseremLande bezahlbar bleiben.Dieser Aufgabe sind wir uns in der christlich-libera-len Koalition bewusst. Eine entsprechende Ausstattungdes Bau- und Verkehrshaushaltes ist deshalb von zentra-ler Bedeutung. Der Bundeshaushalt 2010 jedenfalls er-füllt diese Aufgabe. Er sieht fast 12 Milliarden Euro anInvestitionen in Verkehrswege vor. Dabei orientieren wiruns nicht an ideologischen Grundsätzen. Unsere Leit-schnur sind die Bedürfnisse der Menschen sowie die Er-fordernisse der Wirtschaft und der Unternehmen.Klar ist aber auch: Die Investitionshöhe beizubehal-ten, wird ab 2011 angesichts der Haushaltslage, des
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Patrick SchniederWegfalls der zusätzlichen Mittel aus den Konjunkturpa-keten und der Erfordernisse der Schuldenbremse eineäußerst große Herausforderung. Unser Ziel muss daherrealistischerweise sein, über dieses Jahr hinaus dauerhaftmehr als 10 Milliarden Euro jährlich in Erhalt, Ausbauund Neubau der Verkehrsinfrastruktur zu investieren.Die Herausforderung der nächsten Jahre besteht indem Finanzrahmen, der zur Verfügung steht. Herr Kol-lege Beckmeyer, es passt nicht zusammen, wenn Sie pre-digen, 10 Milliarden Euro in den nächsten Jahren seienzu wenig, dabei aber die Haushaltslage vollkommenignorieren.
Uns geht es darum, die Ausgaben im Verkehrsbereichauf diesem Niveau zu verstetigen. Wir wollen die He-rausforderungen der Finanzlage berücksichtigen. Zu-gleich gilt aber: Die Schuldenbremse darf nicht zur Kon-junkturbremse werden. Deshalb müssen wir in dennächsten Jahren eine klare Prioritätensetzung vorneh-men. Was Sie mit Ihrem Antrag vorgelegt haben, liebeKolleginnen und Kollegen von der SPD, wird dem inkeiner Weise gerecht. Prioritäten zu setzen, heißt, eineRangfolge festzulegen; es heißt nicht, dass alles gleichwichtig ist.Wir in der Regierungskoalition nehmen eine konse-quente Schwerpunktsetzung vor: Erstens. Wir orientie-ren uns am Bedarf der einzelnen Verkehrsträger. Wirspielen die Verkehrsträger nicht gegeneinander aus. Wirwollen eine Gleichwertigkeit der Verkehrsträger herstel-len.
– Wir sind einer Meinung in dieser Koalition. Das gilt inIhrer Fraktion ja nun nicht jeden Tag.
Zweitens. Für unsere Koalition gilt in erster Linie: Er-halt geht vor Neubau. Vorrangig ist, den Substanzverlustbei der Infrastruktur zu stoppen. Denn wir können es unsnicht leisten, die Verkehrs- und Bausubstanz auf Ver-schleiß zu fahren.Drittens. Bei Neu- und Ausbauvorhaben müssen die-jenigen Projekte Vorrang haben, die gesamtwirtschaft-lich gesehen besonders vorteilhaft sind, die Impulse fürBeschäftigung und Wachstum geben. Vorrang haben dieProjekte, die bestehende Engpässe beseitigen, Unfall-schwerpunkte entschärfen und Dauerstaus vermeidenhelfen.Momentan werden die Bedarfspläne für Bundesfern-straßen und Schienenwege überprüft. Wir werden unsdeshalb auch über unsere langfristigen Prioritäten ver-ständigen müssen. Viele Rahmenbedingungen habensich seit 2003, seit der Vorlage des Bundesverkehrswe-geplans, geändert. Es geht bei der Fortschreibung, beider Neuauflage des Bundesverkehrswegeplans ab 2015,ausdrücklich nicht darum, eine Wunschliste mit neuenProjekten zu erstellen. Vielmehr brauchen wir ein Ge-samtkonzept für eine zukünftige Infrastruktur, das finan-zierbar und realistisch ist.Angesichts der Haushaltsentwicklungen brauchen wirVerlässlichkeit bei der Finanzierung unserer Verkehrs-wege und der Verkehrsinfrastruktur. Dazu müssen wirauch nach neuen Finanzierungsinstrumenten Ausschauhalten. In diesem Zusammenhang verstehe ich überhauptnicht, Herr Kollege Beckmeyer und Herr KollegeDr. Hofreiter, warum Sie hier so mautfixiert diskutieren.Unser Verkehrsminister hat eine klare und eindeutigeAussage getroffen:
Für diese Koalition ist die Pkw-Maut in dieser Periodekein Thema. Das ist so, das bleibt so, Punkt.
Zu den neuen Finanzierungsinstrumenten, mit denenwir uns auseinandersetzen müssen, gehört erstens dieWeiterentwicklung der Verkehrsinfrastrukturfinanzie-rungsgesellschaft, der VIFG, einschließlich ihrer be-grenzten Kreditfähigkeit. Ziel muss sein – dazu stehenwir –, dass die Einnahmen aus der Lkw-Maut eins zueins in die Straßeninfrastruktur fließen.Zweitens werden wir auch das Instrument der öffent-lich-privaten Partnerschaft verstärkt nutzen müssen. Dieersten Projekte, die so finanziert worden sind, habengute Erfahrungen gezeitigt. Wir sind froh darüber, dassweitere acht Projekte mit einem Volumen von etwa1,5 Milliarden Euro mittelfristig vorgesehen sind.Liebe Kolleginnen und Kollegen, Infrastruktur isteine öffentliche Aufgabe. Wir werden auch in den kom-menden Jahren mit öffentlichen Investitionen dafür sor-gen, dass diese Infrastruktur leistungsfähig ist und esbleibt, und zwar so leistungsfähig, wie es für eine guteEntwicklung unseres Landes erforderlich ist.
Herr Kollege, auch für Sie war das die erste Rede
heute hier im Hohen Haus. Herzlichen Glückwunsch al-
ler Kolleginnen und Kollegen dazu und alles Gute für
Ihre Arbeit als Abgeordneter des Deutschen Bundesta-
ges!
Der Kollege Ulrich Lange ist der nächste Redner,
ebenfalls für die CDU/CSU-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnenund Kollegen! Meine Damen und Herren von der SPD-Fraktion! Herr Beckmeyer, Ihr Antrag und Ihre Ausfüh-rungen waren erstaunlich: Deutschland braucht eine mo-derne Zukunftsstrategie zur Infrastruktur. – Diese Er-kenntnis, Herr Beckmeyer, und auch Ihr Vortrag sind
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Ulrich Langeeine Kapitulationserklärung nach elf Jahren SPD-geführ-ten Verkehrsministeriums: außer Pressemitteilungen kei-nerlei Inhalte,
nichts zu bieten, aber sich hier mit einem eigenen Antraggroß hinstellen.
– Sie haben doch das Ministerium geführt. Es warhöchste Zeit, dass nach über 4 000 Tagen wieder einUnionsmann in das Ministerium eingezogen ist. Das wardie richtige Antwort, die wir in der Verkehrspolitik inDeutschland gebraucht haben.
Jetzt werden wir die Perspektiven entwickeln, dieDeutschland braucht, und ich bin mir sicher, die christ-lich-liberale Koalition ist dazu in der Lage. Wir werdenschaffen, was Sie in über 4 000 Tagen nicht geschafft ha-ben, allerdings nicht in 100 Tagen.
Was bleibt denn in Erinnerung aus Ihren elf Jahren?Eine Zukunftsstrategie kann es ja wohl nicht sein; an-sonsten hätten Sie diesen Antrag heute nicht so einbrin-gen müssen. Sie fordern von uns eine Strategie, weil Siekeine haben. Das ist doch die Wahrheit.
– Das gilt für Sie genauso.
– Mit denen können wir umgehen.Es wird die christlich-liberale Koalition sein, die miteiner effizienten Verkehrsinfrastruktur die Mobilität, dieeine Schlüsselfunktion in unserer Gesellschaft hat, stei-gern wird.
– Herr Pronold, das kann ich schon selber.
– Nein, das erspare ich Ihnen jetzt. Im Gegensatz zu Ih-nen habe ich hier keinen Napf stehen.Wir werden in den nächsten Jahren durch massive öf-fentliche Investitionen – die beiden Kollegen haben be-reits dazu Stellung genommen – die Infrastruktur verbes-sern. Herr Beckmeyer, lassen Sie mich einige Fragenstellen – auch wenn Sie die nicht hören wollen –: Werhat denn den Investitionsstau, auch im Bereich Schiene,zu vertreten? Wer hat denn 2004 die Haushaltsmittelgekürzt? Woher kommt denn die investive Bugwelle, diewir jetzt abbauen müssen?
– Natürlich, so ist es! Dank unseres neuen Verkehrs-ministers Peter Ramsauer gibt es klare Zielvorgaben.
Sie haben heute schon etliche zitieren können.
Kollege Hofreiter, seien Sie beruhigt: Wir werden alleerdenklichen Anstrengungen unternehmen, um mehrFrachtverkehr auf die Schiene zu bekommen.
Wenn das so einfach wäre, dann frage ich mich, warumSie das in den sieben Jahren, in denen Sie an der Regie-rung waren, nicht selbst gemacht haben. Es ist nämlichnicht einfach, weil die Schienenwege nicht immer für al-les ertüchtigt sind.
– Das stimmt! Danke für die Zustimmung. Im Laufe derRede werden die Zurufe besser, Herr Kollege.Wir müssen also dafür sorgen, dass wir wieder mehrPersonen- und Güterverkehr auf die Schiene bekommen.Was wollen wir dafür tun? Wir müssen die überörtlichenund regionalen Verkehrsverbindungen besser aufeinan-der abstimmen.
Wir brauchen effektivere Bahnhöfe. Investitionsmittel inHöhe von 300 Millionen Euro stehen zur Verfügung.
Sie werden dieser Maßnahme sicher zustimmen. Wirmüssen die Bahntrassen nach Priorität ausbauen. Da-rüber haben wir gestern im Ausschuss lange beraten. Wirmüssen den „Masterplan Güterverkehr und Logistik“ ge-meinsam mit der Wirtschaft erstellen und dabei den Ver-kehrsträger Schiene entsprechend berücksichtigen. Wirmüssen auch eine Gleisanschlussförderung betreiben.Ich kann ein sehr gutes Beispiel aus meiner Region an-führen: Die Firma Henkel hat 1,4 Millionen Euro inves-tiert.Insgesamt glaube ich, dass es uns trotz schwierigerHaushaltslage gelingen wird, den Wirtschaftsmotor Ver-kehrsinfrastruktur zu fördern, damit wir eine leistungsfä-hige Verkehrsinfrastruktur bekommen. Dem messen wirhöchste Bedeutung bei.Herzlichen Dank.
Damit ist die Aussprache geschlossen.Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage aufDrucksache 17/782 an die in der Tagesordnung aufge-führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
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Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardtverstanden? – Das ist offensichtlich der Fall. Dann istdie Überweisung so beschlossen.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 7 auf:Beratung des Antrags der AbgeordnetenChristoph Poland, Rita Pawelski, WolfgangBörnsen , weiterer Abgeordneter undder Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeord-neten Helga Daub, Reiner Deutschmann, PatrickMeinhardt, weiterer Abgeordneter und der Frak-tion der FDPKulturtourismus in Deutschland stärken– Drucksache 17/676 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Kultur und Medien
Auswärtiger AusschussAusschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Verkehr, Bau und StadtentwicklungAusschuss für Bildung, Forschung undTechnikfolgenabschätzungAusschuss für TourismusHaushaltsausschussHierzu ist es verabredet, eine Dreiviertelstunde zu de-battieren. – Auch dazu höre ich keinen Widerspruch.Dann ist das so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kolle-gin Rita Pawelski für die CDU/CSU-Fraktion.
Verehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen undHerren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Deutschlandist ein schönes Land mit einer wunderschönen Natur, mitvielen sympathischen und offenen Menschen und mit ei-nem reichen kulturellen Erbe.
Unser Land verfügt über ein riesiges, facettenreichesKulturangebot. In Deutschland gibt es 33 UNESCO-Welterbestätten, 1 100 historische Stadt- und Ortskernemit besonderer Denkmalbedeutung. Hier bei uns gibt eszahlreiche Kunstschätze und einzigartige Bauwerke,6 000 Museen, 130 Berufsorchester, 180 thematischeStraßen, Kulturwege und historische Routen, 360 öf-fentliche und private Bühnen sowie 12 000 Kultur-und Volksfeste.Deutschland ist ein Kulturland und daher ein belieb-tes Reiseland für Kulturtouristen aus aller Welt. Jedersiebte ausländische Tourist kommt wegen der Kulturnach Deutschland. Seit 2000 haben die Kulturreisen derEuropäer nach Deutschland um 30 Prozent zugenom-men. Und die Deutschen selbst unternehmen pro Jahretwa 80 Millionen Kulturausflüge.Der Kultur- und Stadttourismus in Deutschland ist ineiner Hochphase. Er entwickelt sich zu einem richtigenLeuchtturm. Und er hat als Wirtschaftszweig eineenorme, leider immer noch unterschätzte Bedeutung.Der Bruttoumsatz liegt bei 82 Milliarden Euro pro Jahr.Über 1,5 Millionen Menschen erzielen ihr Einkommenin diesem Bereich. Ich sage diese Zahl so deutlich, weilandere Bereiche die Zahlen ihrer Beschäftigten immerhervorheben und sagen: Wir sind so wichtig, es muss et-was getan werden. – In diesem Bereich arbeiten1,5 Millionen Menschen. Er ist wichtig.
Zu dieser positiven Entwicklung beigetragen hat ohneZweifel die wirklich hervorragende Marketingarbeit derDeutschen Zentrale für Tourismus.
– Ja, das ist einen Applaus wert. Vielen Dank der Zen-trale! – Mit Kunst und Kultur lockt sie sehr erfolgreichzahlreiche Gäste nach Deutschland. Die Grundlage hier-für legen Bund, Länder und Kommunen. Mit großemEinsatz und Engagement fördern und erhalten sie attrak-tive kulturelle Anziehungspunkte.Ein richtig schönes Beispiel dafür ist die Kulturhaupt-stadt RUHR.2010. Das ist für unser Land, das ist fürKultur und Tourismus ein herausragendes Ereignis, daseine ganz andere Facette von Kultur in den Blickpunktrückt. Ich hoffe, sie wird uns noch viele neue, schöneImpulse geben.
Eine andere Erfolgsgeschichte wird in meiner HeimatNiedersachsen geschrieben, genauer gesagt: in Ostfries-land. Früher eher bekannt durch die Ostfriesenwitze undOtto, den Friesen, ist Ostfriesland heute die niedersäch-sische Modellregion für Kulturtourismus.
Hier gab es 2007/2008 mit dem „Garten Eden“ ein rich-tig erfolgreiches Vernetzungsprojekt. Auf dieser Grund-lage wurde im vergangenen Jahr das KulturnetzwerkOstfriesland gegründet. Dieses umfasst 32 Standorte,68 Partner aus Kultur und Tourismus sowie 77 Projekte.
In Ostfriesland boomt der Tourismus. Das zeigt, wiewichtig die Vernetzung zwischen Kultur und Tourismusist; denn dann ist sie ein Erfolgsmodell. Sie bringt Gästeins Land und Geld, was an und für sich auch nichtschlecht ist.
– Das denke ich auch.Wenn man die Zahlen hört und die Entwicklung sieht,könnte man sagen: Warum der Antrag? Es läuft doch al-les gut. – Ja, überwiegend. Trotz der zahlreichen positi-ven Beispiele gibt es bei der Zusammenarbeit zwischenKultur und Tourismus aber immer noch ungenutztePotenziale. Berührungsängste, Vorurteile, unterschiedli-
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Rita Pawelskiche Bedürfnisse und Abhängigkeiten lassen Kooperatio-nen allzu oft scheitern. Ich denke, das muss nicht sein.Wir kennen die Empfindlichkeiten, und wir müssen Lö-sungsansätze anbieten. Wir brauchen einen intensivenDialog auf Augenhöhe. Denn eines ist klar: Beide Part-ner, Kultur und Tourismus, sind gleich wichtig, sindgleich viel wert.Wir wollen den Kulturtourismus weiter stärken. Da-rum brauchen wir eine einheitliche Plattform für strate-gisches kulturtouristisches Marketing. Das ist übrigensauch eine Forderung der Enquete-Kommission „Kulturin Deutschland“. Mit Unterstützung von Bund und Län-dern sollen Kultur- und Tourismusanbieter auf freiwilli-ger Basis zusammengeführt werden, um Marketingmaß-nahmen gemeinsam zu entwickeln und umzusetzen.Diese Plattform sollte durch ein spezielles Internetange-bot ergänzt werden, sozusagen als zentrale Onlineanlauf-stelle. Frei nach dem Motto „Urlaub in Deutschland aufeinen Klick“ sollten die Gäste unser schönes Land quasiauf dem silbernen Tablett serviert bekommen. Kulturge-prägte Reiserouten sollten visuell per Computer abgeru-fen werden können, um Geschmack auf das KulturlandDeutschland zu machen.
Pläne, Hotels, Tickets und alles, was zum kulturtouristi-schen Urlaubstrip gehört, sollte dort gebündelt werden,abgerufen und bestellt werden können. Ich denke, daswäre Service aus einer Hand.
Das ist auch Grundvoraussetzung, um junge Menschenin kulturtouristische Bahnen zu lenken. So lernen sieKultur kennen und nutzen die Tourismusangebote hier inDeutschland.Gleichzeitig müssen weitere Weichen gestellt werden.Bund, Länder und Kommunen müssen ein gemeinsamesKonzept für diesen Bereich entwickeln. Kulturcluster, indenen die Kulturakteure ihre Ressourcen bündeln und soihre Attraktivität für den Tourismus steigern können,sind zu fördern. Ein regelmäßiger Wettbewerb „Kultur-region Deutschland“, mit dem das Engagement vonStädten und Regionen für ein besonderes kulturelles An-gebot gewürdigt wird, sollte eingeführt werden.
Der Kulturtourismus bietet große Chancen für Kulturund Tourismus, für Wachstum und Beschäftigung, fürLand und Leute. Er führt zusammen, er schärft das Be-wusstsein für andere Kulturen und Lebensweisen, und erstiftet Gemeinschaft zwischen Menschen unterschiedli-cher Herkunft. Lassen Sie uns deshalb die richtigen Leit-planken einziehen, um den Kulturtourismus in die richti-gen Bahnen zu lenken. Ich freue mich sehr auf dieZusammenarbeit und erinnere an den Vorgänger diesesAntrags – es war ein Antrag zur Kreativwirtschaft –,über den wir gemeinsam gut beraten haben. Vielleichtschaffen wir das auch bei diesem Antrag.Ich danke Ihnen ganz herzlich.
Ulla Schmidt ist die nächste Rednerin für die SPD-
Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Frau Pawelski, ich stimme mit Ihnen in allem überein,
was Sie über die Schönheit Deutschlands sagen,
und auch in Bezug auf die Notwendigkeit, dass Kultur
und Tourismus Partner sind. Aber wir müssen im weite-
ren Verlauf der Debatte über diesen Antrag reden, da-
rüber, wie wir es in einer gemeinsamen Anstrengung
schaffen, Kultur und Tourismus oder Kulturtourismus im
richtig verstandenen Sinne zu fördern. Das ist seit lan-
gem ein Anliegen der SPD. Wir hätten gerne mit Ihnen
in der letzten Legislaturperiode einen gemeinsamen An-
trag auf den Weg gebracht. Aber wir haben sicherlich
unterschiedliche Auffassungen über die Schwerpunkt-
setzung in diesem Bereich. Wir sollten in den kommen-
den Wochen genau darüber diskutieren. Denn für uns
war immer wichtig, dass die besonderen Anforderungen
des Kulturbereichs – –
Frau Kollegin Schmidt, möchten Sie eine Zwischen-
frage von Frau Pawelski zulassen? – Bitte schön.
Verehrte Frau Schmidt, in der letzten Legislatur-
periode gehörten Sie diesem Ausschuss verständlicher-
weise nicht an; Sie hatten ein anderes wichtiges Amt.
Ein fast wortgleicher Antrag lag in der letzten Legisla-
turperiode zur Beratung in der Großen Koalition vor. Die
Kulturpolitiker waren sich einig; aber im letzten Mo-
ment wurde dieser Antrag von Ihrer Fraktion aufgrund
der Wahlen zurückgezogen. Wir waren auf einem guten
Weg. Ich habe es sehr bedauert, dass dieser Antrag nicht
schon in der letzten Legislaturperiode beraten wurde.
Aber Sie haben jetzt alle Chancen, an diesem Antrag
mitzuarbeiten. Noch einmal: Ich freue mich auf die Zu-
sammenarbeit auch mit Ihnen.
Frau Pawelski, das in der letzten LegislaturperiodeErarbeitete basierte schon auf einem sehr ausführlichenAntrag, den SPD und Grüne entwickelt hatten
und der an einzelnen Punkten nicht so weit ging wie Ihrjetzt vorliegender Antrag. Ich hätte mir gewünscht, dass
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Ulla Schmidt
wir in der vergangenen Legislaturperiode eine Einigungerzielt hätten. Dann hätten vielleicht schon Schritte indie Wege geleitet werden können.Ich stelle aber noch einmal fest: Auch bei der Bera-tung über diesen Antrag wird es uns darauf ankommen,die besonderen Anforderungen des Kulturbereichs sowiedie besonderen Anliegen der kreativ Tätigen in den Mit-telpunkt der Debatten zu stellen und dafür zu sorgen,dass mithilfe dieses Antrags der Wert der kulturellenPluralität herausgestellt wird.Insofern hoffe ich auf gute Zusammenarbeit und aufoffene Beratungen. Man sollte nicht nur auf dem behar-ren, was man hier vorgelegt hat.
Lassen Sie mich beispielhaft einige Punkte nennen,auf die es uns ankommt.Erstens. Sie haben angesprochen, dass wir uns in derFrage der Förderung des Kulturtourismus auf einen in-tensiven Dialog mit den Kulturschaffenden in den Re-gionen, Städten und Ländern stützen sollen, dass es hierum Vermarktungsstrategien geht und dass auch die vonder Enquete-Kommission „Kultur in Deutschland“ aufden Weg gebrachte und geforderte Clusterbildung eineRolle spielt. Meines Erachtens tun wir bei der Förderungdieser auch von uns unterstützten Instrumente sehr gutdaran, genau darauf zu achten, dass bei diesen Instru-menten nicht plötzlich ein Verdrängungswettbewerb ent-steht; denn die Gefahr ist immer sehr groß – das wissenalle, die beispielsweise in der Kommunalpolitik langegearbeitet haben –, dass im Interesse der Vermarktung ineinzelnen Bereichen plötzlich sehr stark nach marktwirt-schaftlichen Kriterien gefördert wird und das, was dieKultur ausmacht, nämlich die Kulturvielfalt, dahinterverschwindet.Deswegen sollten wir bei der Debatte über die Aus-wirkungen und die Ausarbeitung dieser Instrumente sehrdeutlich machen, dass die Förderung des Kulturtouris-mus für uns mehr umfasst als die Förderung des Besuchsvon Museen, Kulturstätten oder Opern. Bei der Förde-rung des Kulturtourismus muss nämlich die gesamte kul-turelle Identität und Bedeutung einer Stadt oder einerRegion berücksichtigt werden, also auch die Angeboteder Kleinkunst und das, was vor Ort durch viele in eh-renamtlichem Engagement oder in Projekten Tätige ge-schaffen wird; denn die Vielfalt macht die kulturelleIdentität einer Region aus. Nur wenn wir das berücksich-tigen, haben wir die Chance, die gesamten kreativen Ent-wicklungspotenziale zu fördern.
Zweitens. In Bezug auf die öffentliche Kulturfinan-zierung fordern Sie vieles, was Bund, Länder und Kom-munen gemeinsam machen sollen. In Ihrem Antrag stehtallerdings, alles das dürfe den Bund nichts kosten.
Wenn man sich das vor Augen hält und auch die aktu-ellen Entwicklungen berücksichtigt, stellt man fest, dassalle frommen Wünsche zur Förderung des Kulturtouris-mus hinfällig sind; denn wegen der finanziellen Situa-tion der Kommunen – wir haben gestern darüber debat-tiert – erodiert dort die Basis, auf der Kulturpolitikgestaltet werden kann. Das ist nicht nur durch die Krisebedingt, sondern hat auch viel mit der schwarz-gelbenSteuerpolitik und den von Ihnen weiter geplanten Steu-ersenkungen zu tun.Kolleginnen und Kollegen, deswegen müssen wir diegestern im Ausschuss begonnene Diskussion weiterfüh-ren und darüber nachdenken, wie wir entsprechendeRahmenbedingungen schaffen können, damit Kultur inden Städten als eine Aufgabe der öffentlichen Daseins-vorsorge gefördert werden kann. Wenn wir das nicht tun,sorgen wir nämlich dafür, dass die Infrastruktur zurück-gebaut wird. Wir müssen sie aber ausbauen. Das istwichtig, wenn wir Kultur und Tourismus miteinanderverbinden wollen.
Wir haben den Vorschlag unterbreitet, einen Ret-tungsschirm für Kommunen aufzuspannen. Es gibt auchandere Vorschläge. Wir müssen aber eine Lösung finden.Allein mit der Aussage „Es darf uns nicht mehr kosten.“werden wir hier wahrscheinlich nicht weiterkommen.Drittens. Es fehlt jede Aussage zu den Arbeits- und Le-bensbedingungen der Kulturschaffenden. Ich habe jetzt– auch in dem neuen Amt – viele Diskussionen geführt.Es ist so – darin sind wir uns auch einig –, dass diejenigen,die Kultur schaffen, die Basis dafür sind, dass Kulturtou-rismus entstehen kann und die Städte oder Regionen ihrImage entwickeln können.Zu dieser Wahrheit gehört aber auch, dass derjenige,der seine kulturelle Vielfalt und all seine Potenziale ent-falten will, auch Sicherheit im Hinblick auf seine exis-tenzielle Absicherung haben muss. Deshalb müssen wirim Rahmen des Themas Kulturtourismus auch darüberreden, wie die Einkommensbasis der Kulturschaffendenaussieht und wie wir beispielsweise die Künstlersozial-versicherung weiterentwickeln können; denn wir wissen,dass es bei der Absicherung, bei Krankengeld und Ar-beitslosigkeit, Lücken gibt. Außerdem müssen wir be-denken, dass ein Mindestmaß an sozialer Absicherungdie Grundbedingung dafür ist, dass man den Kopf freihat, um das Potenzial, das man hat, zu entfalten.Ich bin froh, dass wir im „Deutschland-Plan“ vonFrank-Walter Steinmeier einen Zusammenhang mit die-ser Frage hergestellt haben und einen Kreativpakt vonWirtschaft, Politik und Künstlern fordern. Auch darübersollten wir einmal reden. Denn in diesen Zusammenhang– das betrifft auch die Tourismuswirtschaft – gehörenTarifverträge und soziale Standards, die auch im Kultur-und Medienbereich eingehalten werden müssen. Bei die-sen Themen müssen wir auch über den Schutz des geisti-gen Eigentums sprechen; denn das ist die Voraussetzungdafür, dass sich das vorhandene Potenzial entfalten kann.Der allerletzte Punkt. Wir werden in diesem Zusam-menhang auch über die Einbeziehung des bürgerschaftli-chen Engagements und die Rahmenbedingungen dafür
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Ulla Schmidt
reden müssen. Mit diesem Antrag zur Stärkung des Kul-turtourismus bietet sich uns die Chance, durch einebreite Debatte auch eine Antwort auf die Frage zu geben,wie wir die kulturelle Infrastruktur in 10, 20 oder 30 Jah-ren sicherstellen wollen. Denn dann werden wir es miteinem größeren Anteil älterer Menschen zu tun haben,mit älteren Menschen, die auf der einen Seite –
Frau Kollegin.
– Einwohner einer Stadt und Region sind, auf der an-
deren Seite aber Touristen, vielleicht auch Kulturschaf-
fende. Wenn es uns jetzt nicht gelingt, die Grundlagen
für soziale und kulturelle Netzwerke zu schaffen, –
Frau Kollegin!
– wird Nachhaltigkeit nicht gesichert sein.
Vielen Dank.
Helga Daub hat jetzt das Wort für die FDP-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kollegen! Liebe Kollegin-nen! In der vergangenen Woche – ab und zu hat man jaein bisschen freie Zeit; dann nimmt man auch einmal anSeminaren und ähnlichen Veranstaltungen teil – habe ichvon einer neuen gesellschaftlichen Entwicklung gehört,die sich Mediatisierung nennt. Der Vorgang, der damitgemeint ist, ist zwar nicht ganz neu, spielt in dem Be-reich, über den wir heute sprechen, aber eine zunehmendwichtige Rolle.Mit „Mediatisierung“ ist gemeint, dass sich derMensch seine Wirklichkeit immer mehr nach Medienbil-dern zusammenbastelt. Was in den Medien vorkommt,existiert; was dort nicht vorkommt, wird ignoriert. Man-che Experten fürchten daher – nicht ganz zu Unrecht –,dass die sogenannten primären Erfahrungen dadurch im-mer mehr in den Hintergrund gedrängt werden.Was meine ich damit? Es geht darum, dass wir mitt-lerweile an einem Punkt angelangt sind, an dem kultu-rell/touristisch vermeintlich weniger attraktive Orte Se-henswürdigkeiten erfinden, um im Wettbewerb um denGast mithalten zu können. Wer will es den Menschendenn verdenken, dass sie ein Stück vom Kuchen, demMedienrummel, abhaben wollen? Was ich damit nichtmeine und was auch nicht hierher gehört, ist zum Bei-spiel das Glottertal mit der Schwarzwaldklinik, auchwenn das Glottertal sehr schön ist, Herr Pfeiffer.Wer sich mit dieser Materie befasst, weiß um die altenStreitpunkte zwischen den Kulturschaffenden auf der ei-nen Seite und den Touristikern auf der anderen Seite.Das ist ein Disput, der oft genug zu einer gegenseitigenBlockade, zu einem ärgerlichen Windhundrennen um öf-fentliche Fördermittel geführt hat. Ernst genommenerKulturtourismus muss darauf bedacht sein, Berührungs-ängste und Missverständnisse abzubauen. Hier besteht inder Tat Handlungsbedarf.Wir werden uns deshalb mehr als bisher für einenDialog zwischen Kultur und Tourismus einsetzen müs-sen. Beides kann und darf nicht separat betrachtet wer-den. Im Gegenteil, beides sollte sich in hervorragenderWeise ergänzen.
Wenn wir heute über Kulturtourismus in Deutschlandsprechen, sprechen wir nicht mehr von einem zartenPflänzchen, sondern – Frau Pawelski hat die Zahlen ge-nannt – von einem Wirtschaftszweig, in dem 82 Milliar-den Euro erwirtschaftet werden und von dem in Deutsch-land inzwischen 1,5 Millionen Menschen leben. Geradeim Osten Deutschlands ist der Kulturtourismus für vieleKommunen die einzige Einkommensquelle.
Deutsche Kultur genießt weltweit einen sehr gutenRuf. Vergessen wir auch nicht die Nachkommen ehema-liger Auswanderer, die unser Land auf der Suche nachihren Wurzeln besuchen. Hier ließe sich wunderbar mitder Luther-Dekade werben.
Der Kulturtourismus spielt mittlerweile auch inner-halb Deutschlands eine wichtige Rolle. Wir leben in Zei-ten, in denen sich immer mehr Menschen vom Pauschal-tourismus abwenden und ihr eigenes Land kennenlernenwollen. Städtereisen und Kurzurlaube sind in. Immermehr Menschen nehmen kulturelle Highlights in ihreReiseplanung auf. Ich erinnere, obwohl das fast unnötigist, an die Berliner Museumsinsel oder an die Ausstel-lung des MoMA am Potsdamer Platz, bei der sich langeSchlangen bildeten. Das war übrigens ein hervorragen-des Beispiel dafür, wie man eine Ausstellung bundesweitvermarkten kann.
Hoffen wir, dass die Vermarktung „RUHR.2010 – Kul-turhauptstadt Europas“ genauso gelingt. RUHR.2010 isteine Riesenchance für das Ruhrgebiet und könnte dazubeitragen, das Image des Ruhrgebietes nachhaltig zuverändern, und zwar hin zum Image eines Kulturstand-ortes. Der Einstieg war schon sehr gut; aber auch nach2010 müssen wir dranbleiben.
– Ich komme von dort.
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Helga DaubAber auch historische Altstädte haben ihren Reiz. Alsich kürzlich durch einen Ort mit einer historischen Alt-stadt ging, hörte ich, wie eine Touristin mit unverkenn-bar amerikanischem Akzent zu ihrem Begleiter sagte:Mein Gott, zu der Zeit hatte Kolumbus uns noch nichteinmal entdeckt! – Sie meinte die Jahreszahlen auf denhistorischen, alten Häusern. Unsere historischen Kultur-güter sind ein Pfund, mit dem Deutschland wuchernkann.Übrigens gehören auch Volksfeste zum Kulturgut. Fürdas Oktoberfest werden wir nicht gesondert werbenmüssen – es ist hinreichend bekannt –, für Volksfeste inanderen Bundesländern aber durchaus.
Allein mit den unterschiedlichen Landsmannschaften hatDeutschland eine große Vielfalt zu bieten. Diese Vielfalthat die Deutsche Zentrale für Tourismus im Ausland inhervorragender Weise kommuniziert und wird dies auchweiterhin tun.Auch die Deutsche Welle spielt in diesem Zusammen-hang eine nicht unerhebliche Rolle. Sie ist ein Kommu-nikationsmittel, das gerade die jungen weltoffenen Men-schen in vielen Teilen der Welt erreichen kann.Von Bedeutung ist auch die Durchführung von Deutsch-land-Jahren im Ausland; davon konnte sich Staatsministe-rin Cornelia Pieper in Vietnam gerade überzeugen.Wir begrüßen, dass nach Jahren des Abbaus und derStagnation die auswärtige Kulturpolitik wieder eine be-deutende Rolle spielt.
Bei den genannten Punkten liegt der Schwerpunkt na-türlich auf der kulturellen Komponente. Wir hoffen, dasssie touristische Wirkung nach sich ziehen wird.Zurück nach Deutschland. Wir müssen für den Kul-turtourismus gemeinsam mit den kommunalen Spitzen-verbänden ein Konzept erarbeiten. Dazu könnte die Aus-lobung eines regelmäßigen Wettbewerbs „KulturregionDeutschland“ gehören; Sie haben es auch schon er-wähnt, Frau Pawelski. So kann es gelingen, Ressourcenzielgerichteter zu bündeln. Wenn man Ressourcen bün-delt und koordiniert, kann das die Haushalte entlasten. Invielen Kommunen geschieht das schon; aber eine natio-nale Koordinierung wäre sicherlich hilfreich.
Ich möchte hinzufügen: Um allen Menschen eineTeilhabe am Kulturtourismus zu ermöglichen, müssenwir dafür sorgen, dass möglichst viele Angebote barrie-refrei sind.
Ich hätte mir bei einem Antrag, den Sie damals mitgetra-gen haben, wenn er auch im letzten Moment nicht zumTragen kam, gewünscht, Sie hätten sich da etwas andersverhalten.
Frau Kollegin, Ihre Wünsche äußern Sie jetzt schon
außerhalb der Redezeit.
Ich komme zum Ende.
Nur so viel: Wir stehen im Wettbewerb mit anderen
Ländern in „good old Europe“, und wir müssen uns an-
strengen, um den Anschluss zu halten. Im Tourismus ist
es wie im richtigen Leben: Andere Mütter haben auch
schöne Töchter.
Ich will sagen: Andere Länder haben auch schöne Kul-
turdenkmäler, hervorragende Künstler und ein kreatives
Potenzial, um den Tourismus zu vermarkten. Deshalb
bitte ich Sie, diesem Antrag zuzustimmen.
Frau Kollegin!
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit, auch wenn sie
nicht ganz ungeteilt war.
Für die Fraktion Die Linke hat die Kollegin Kornelia
Möller das Wort.
Frau Präsidentin! Ich grüße Sie, Herr Vorsitzender!Meine Damen und Herren! Es gehört zur Tradition derTourismuspolitiker der Koalitionsfraktionen, unmittelbarvor der jährlichen ITB eine Debatte zum Stand und zuden Perspektiven des Tourismus in Deutschland auszulö-sen.
– Genau. – Diesmal geht es um die Stärkung des Kultur-tourismus. Offenbar soll es jedoch bei einer konsequen-zenlosen Debatte bleiben; denn die Koalition will keinenCent dafür ausgeben. Es ist ein Schaufensterantrag – malwieder.Mit dem vorgelegten Antrag zielen Sie vorrangig aufeine bessere Vermarktung der Kultur. CDU/CSU und
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Kornelia MöllerFDP kritisieren, dass noch nicht alle Potenziale beim Zu-sammenwirken von Kultur und Tourismus Gewinn brin-gen, das heißt, mit dem erwarteten Profit genutzt werdenkönnen. Diese einseitige Ausrichtung auf Vermarktungs-strategien lehnt die Linke ab.
Die Kultur ist vor allem ein öffentliches Gut und wesent-liches Moment von Lebensqualität und nicht ausschließ-lich ein Standortfaktor. Die Kultur hat über ihre Bedeu-tung für den Tourismus hinaus einen Wert an sich. Wirplädieren deshalb für ganzheitliche und nachhaltige Stra-tegien zur Entwicklung von Städten und Regionen alsLebensräume, in die sich auch Konzepte für Kultur undTourismus einbetten lassen. Erfolgreicher Kulturtouris-mus verlangt aus unserer Sicht über nutzerfreundlicheKultureinrichtungen und ein gemeinsames Kulturtouris-muskonzept von Ländern und kommunalen Spitzenver-bänden hinaus, dass die vorhandenen kulturellen Poten-ziale erhalten und ausgebaut werden.Deutschland hat zweifelsohne eine reiche kulturelleInfrastruktur – noch. Akut bedroht wird sie gegenwärtigdurch die Folgen der Wirtschaftskrise und die aktuellePolitik. Viele Kommunen stehen vor dem Ruin. Sie sindnicht mehr in der Lage, ihre öffentliche Infrastrukturaufrechtzuerhalten. Hier wird dann bei den freiwilligenAusgaben als Erstes im Bereich der Kultur gekürzt. Dasist bei uns in Bayern genauso wie anderswo auch. Entge-gen der Regierungspolitik, mit der den Kommunen nochhärtere finanzielle Daumenschrauben verordnet werdensollen, fordern wir als Linke ein SoforthilfeprogrammKultur zum Erhalt der Infrastruktur in den Städten undGemeinden. Das ist der beste Beitrag zur Stärkung desKulturtourismus.
Zum Nulltarif ist das allerdings nicht zu haben. Nur imZusammenwirken von Bund, Ländern und Kommunenkann über den Erhalt der baulichen Substanz hinaus dieArbeit der Kulturstätten weiterhin gesichert werden.Nehmen wir die in Ihrem Antrag und auch eben vonIhnen angesprochene Lutherdekade. Die Stadt Witten-berg in Sachsen-Anhalt kann die Lasten durch das welt-weite Interesse am Reformationsjubiläum im Jahre 2017unter keinen Umständen alleine schultern. Sie brauchtausdrücklich Bundesförderung. Die Akteure vor Ort hof-fen deshalb auf positive Bescheide all jener Ministerien,in denen über Fördermittel zu entscheiden sein wird. Wirwerden dann sehen, wie ernst Ihnen der Kulturtourismuswirklich ist.Die kulturelle Infrastruktur ist aber nicht allein durchdie knappen Kassen der Kommunen bedroht. Gefährdetwird sie auch durch eine kurzsichtige Standortpolitikund einseitige Vermarktungsstrategien, nämlich genaudie, auf die Sie mit Ihrem Antrag zielen. Paradoxerweisezerstören Sie so das Potenzial, das Sie eigentlich verwer-ten wollen. Dagegen wächst aber der Widerstand der Be-troffenen, wie zum Beispiel in Hamburg. Dort wehrensich Künstler, Bürger und Kulturschaffende gemeinsamgegen die Kürzung des Kulturhaushalts. Sie sagen klar:Das schädigt die Zukunft unserer Stadt. – Die Kulturma-cher wehren sich gegen eine Kulturpolitik als Eventisie-rungsstrategie – so heißt das –, als Teil einer einseitigenAusrichtung der Politik des Senats auf den Profit. Siewehren sich gegen eine unternehmerische Stadtpolitik,die Künstler und Bewohner aus ihren Lebensräumenverdrängt, statt sie zu fördern.Dieser sozialen Seite an der Schnittstelle von Touris-mus und Kultur widmet der Antrag der Koalitionsfrak-tionen keine Silbe, wie er insgesamt die sozialenAspekte des Tourismus fast völlig ausblendet. Auch inBezug auf die Barrierefreiheit des Tourismus bleibt erleider weit hinter unseren Erwartungen zurück.
– In einem einzigen Punkt, Punkt 8, fordern Sie die Bun-desregierung auf, auf die Barrierefreiheit hinzuwirken.Entschuldigung, aber schwammiger geht es nicht.Kulturtourismus ist ökonomisch und arbeitsmarkt-politisch bedeutsam; das ist schon angeklungen. Er istein wichtiger Faktor und muss gezielt gefördert werden.Dabei sehen wir neben den Ländern auch den Bund inder Pflicht. Insofern hat sich die Linke auch grundsätz-lich für die im Antrag genannte Initiative „Kultur- undKreativwirtschaft“ ausgesprochen. Wichtig ist uns indiesem Zusammenhang, dass die bestehenden Existenz-gründerprogramme und Beratungsangebote sowie dieMittelstandspolitik stärker auf die speziellen Anforde-rungen von Klein- und Kleinstunternehmen der Kultur-und Kreativwirtschaft ausgerichtet werden.Selbstverständlich müssen auch die sozialen Pro-bleme der Beschäftigten stärker Berücksichtigung fin-den. Da wundere ich mich etwas über die KolleginSchmidt von der SPD; denn wir haben in der letzten Le-gislaturperiode einige Anträge eingebracht und musstendann feststellen, dass Schwarz-Rot genauso agiert hat,wie Sie es jetzt Schwarz-Gelb vorwerfen.
Man kann hier also einiges tun. Wir stehen demnächstganz an Ihrer Seite und können gerne gemeinsam wei-tere Anträge einbringen.Kurzum: Ihr Antrag ist gesellschaftlich kontraproduk-tiv, weil er vorrangig und einseitig von den Profitinteres-sen einer kleinen Gruppe ausgeht. Er ist widersprüch-lich, weil Sie mit Ihrer Politik des finanziellenAusblutens den Kommunen kurz- und mittelfristig denBoden entziehen.
Kollegin Möller, achten Sie bitte auf die Redezeit!
Ja. – Er ist unglaubwürdig, weil jeder weiß, dass For-derungen und Aufgabenstellungen der finanziellen Un-termauerung bedürfen, wenn sie erfüllt werden sollen.Ich danke Ihnen.
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Das Wort hat der Kollege Markus Tressel für die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vorwegmöchte ich eines sagen: Der vorliegende Antrag hat einlobenswertes Ziel, das ich vom Grundsatz her voll undganz unterstütze.
– Klatschen Sie nicht zu früh! – Es geht um die Synergievon Kultur, Kreativökonomie und Tourismus. Da sindwir noch beieinander; da sind wir auf einer Seite. Aberich muss schon das berühmte Wasser in den Wein gie-ßen, wenn sich die Frage nach der Finanzierung stellt.Die Kollegin Schmidt hat das bereits angesprochen.Die Kollegin Pawelski hat es schon gesagt: Deutsch-land ist schön. – Im Antrag wird vieles aufgezählt. Aberman muss sich die Frage stellen, wie wir die 1 100 histo-rischen Stadt- und Ortskerne langfristig erhalten wollen,ohne dafür mehr Geld zur Verfügung zu stellen.
Wie wollen wir die 33 UNESCO-Welterbestätten erhal-ten und dauerhaft ausbauen, ohne dafür mehr Mittel zurVerfügung zu stellen?
Wie wollen wir Kulturcluster fördern, wenn wir keineMittel zur Verfügung stellen?Ich könnte diese Fragen beliebig fortführen. Die Ant-wort bleibt immer dieselbe. Sie haben einen Antrag vor-gelegt, der für die Länder und Kommunen gigantischeMehrausgaben bedeutet. Ich bin fest davon überzeugt,dass sie die notwendigen Mittel in die Hand nehmenwürden, um den Kulturtourismus zu fördern, aber siekönnen es nicht. Damit komme ich zu einem Punkt, denSie sicherlich schon erwartet haben, dem von Ihnen ver-abschiedeten Wachstumsbeschleunigungsgesetz. Mit derdarin vorgesehenen Mehrwertsteuersenkung für Hotelshaben Sie den Ländern keinen Drops, sondern einenganz dicken Brocken zum Schlucken gegeben, was diesicher gut gemeinte Intention Ihres Antrages leider kon-terkariert.
Wie sieht denn die Lage in den Kommunen und Län-dern aus? Dort werden Bäder geschlossen. Schulen ver-kommen. Im öffentlichen Sektor werden Stellen abge-baut, und im Kulturbereich wird jämmerlich entlohnt. ImKulturbetrieb wird sogar vor Theaterschließungen nichtmehr haltgemacht. Das machen die Länder und Kommu-nen aber nicht aus Verantwortungslosigkeit, sondern siewerden von der nackten Not getrieben. Dass fast alle der52 Stätten, die am Kulturhauptstadtprogramm teilneh-men – die Kulturhauptstadt RUHR.2010 ist bereits er-wähnt worden –, mit Nothaushalten leben müssen, sagtviel aus. Das ist für eine Kulturnation ein schwachesBild.
Unsere Fraktion hat deshalb jetzt einen Antrag formu-liert, in dem es darum gehen wird, die kulturelle Infra-struktur finanziell zu sichern. Wir wollen ein Substanz-erhaltungsprogramm Kultur auflegen. Ich empfehle,wenn es Ihnen wirklich um Kulturtourismus geht, die-sem Antrag zuzustimmen, wenn er in diesem Hause zurAbstimmung steht.
Wichtiger ist aber noch: Stoppen Sie die Sorglosigkeitgegenüber den Kommunen, und packen Sie Butter beidie Fische!
Mir geht es an dieser Stelle keineswegs um Pauschalkri-tik an Ihrer tourismuspolitischen Ausrichtung. Sie wis-sen, dass wir im zuständigen Ausschuss sehr gut undsehr vertrauensvoll zusammenarbeiten. Aber hier wollenSie ein – zugegebenermaßen prachtvolles – Haus bauen,ohne vorher die Fundamente zu setzen oder zu pflegen.Das kann nicht funktionieren.
Wir wollen den Kulturtourismus fördern. Bei einemBruttoumsatz von 82 Milliarden Euro und rund 1,6 Mil-lionen Beschäftigten wird schnell klar, dass dies ein för-derungswürdiger Sektor ist. Auch da sind wir auf einerLinie. Wir sind auch dafür, dass die Gespräche mit denLändern und Kommunen intensiviert werden, nicht zu-letzt vor dem Hintergrund der finanziellen Situation derKommunen. Wir sind auch für die Barrierefreiheit. Daswissen Sie; dafür haben wir uns immer eingesetzt.
Wir könnten auch dem Vorschlag eines Wettbewerbs„Kulturregion Deutschland“ und der Vernetzung der Ak-teursstrukturen oder der Bildung von Kulturclustern zu-stimmen. Voraussetzung dafür ist und bleibt aber einschlüssiges Finanzierungskonzept, und das fehlt hier.
Sie haben es in Ihrem Antrag selber herausgearbeitet:Der Ruf Deutschlands in Kulturbelangen ist herausra-gend. Wir dürfen aber genau aus diesem Grund dieKommunen und die Länder nicht im Regen stehen las-sen. Kulturtourismus lebt in erster Linie – auch das ist indiesem Antrag deutlich geworden – von diesen kommu-nalen Angeboten. Wachstumsmotor in kultureller undökonomischer Hinsicht kann er nur sein, wenn wir ihnnicht schon im Voraus abwürgen.Ich freue mich ganz besonders, dass Sie – das gilt ins-besondere für die Unionsfraktion – mit der Bildung von
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Markus TresselKulturclustern jetzt auch die zahlreichen Klubs in Berlinunterstützen wollen.
Das geht mit der Schaffung von Kulturclustern einher.Die Förderung der Kreativökonomie hat etwas mit ei-nem moderneren Verständnis von Kulturpolitik zu tun.Wir freuen uns, dass dies in diesem Antrag Eingang ge-funden hat. Wir wissen, dass durch diese Klubszeneneue Wertschöpfungsprozesse in Berlin und im Umlandentfacht werden, und sind hier sehr zuversichtlich.Ich möchte auf eine Zeitungsveröffentlichung zurück-kommen. Die Süddeutsche Zeitung hat sich in der Aus-gabe vom 19. Februar dieses Jahres mit der gravierendenFinanznot der Kommunen beschäftigt, auch der imRuhrgebiet. In diesem Artikel wird die Finanznot sehrtreffend beschrieben. Ich möchte die letzten beiden Sätzezitieren:Bisher ist die kulturelle Landschaft der Bundesre-publik weltweit einmalig. Das dürfte, wenn die Ent-wicklung so weitergeht, in zwei Jahren Geschichtesein.Dem ist eigentlich nichts hinzuzufügen.
Alles in allem kann ich sagen: Ja, die Förderung desKulturtourismus ist zwingend notwendig, dann aber aufder Basis eines Gesamtkonzepts, das den Kommunenund den Ländern zunächst den notwendigen finanziellenSpielraum lässt, Kultur zukunftsweisend betreiben zukönnen. Ihr Antrag ist keine differenzierte Grundlage füreine dezidierte Förderung des Kulturtourismus oder derKreativökonomie. Deswegen können wir diesem Antragleider nicht zustimmen.
Vielen Dank.
Kollege Tressel, das war Ihre erste Rede im Deut-
schen Bundestag. Wir wünschen Ihnen viel Erfolg auch
für Ihre weitere parlamentarische Arbeit.
Für die Unionsfraktion hat nun die Kollegin Dagmar
Wöhrl das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Angesichts der Reden in dieser Debatte freue ich mich.Ich freue mich darüber, dass die Worte „Kultur“ und„Kreativwirtschaft“ in wirklich jeder Rede vorgekom-men sind. Das war nicht immer so. Als Herr Staatsminis-ter Neumann damals mit uns im Wirtschaftsministeriumdas Baby Kulturtourismus aus der Taufe gehoben hat,war das ein Novum. Das Baby hat sich inzwischen wun-derbar entwickelt.
Wenn wir über Kulturlandschaft reden, ist immer einneuer Geist dabei, nämlich der unternehmerische Geist,den wir in den Diskussionen vorher nicht hatten. Umsomehr bedauere ich es, wenn ich von der Opposition dasWort „Kultur“ immer nur im Zusammenhang mit demWort „Zuschussbetrieb“ höre. Manchmal wird Kulturvielleicht noch als schöpferisches oder schmückendesBeiwerk wahrgenommen. Es wird jedoch nicht das im-mense ökonomische Potenzial gesehen, das in dem Be-reich der Kulturlandschaft vorhanden ist. Die Kultur-hauptstadt in diesem Jahr ist „RUHR.2010“. Im Rahmenvon „RUHR.2010“ ist die Kultur- und Kreativwirtschafteines der Hauptthemen. Das zeigt, dass erkannt wordenist, wie wichtig dieses Thema ist. Deswegen muss unserMotto sein: Die Kultur braucht Wirtschaft, und die Wirt-schaft braucht die Kultur.
Wir haben eine schwierige Haushaltslage. Das hatgestern die Debatte mit den Kommunen gezeigt. Wir se-hen ganz genau, dass wir die Finanzierung der Kulturvon der Haushaltslage abkoppeln und die Fähigkeit derKulturschaffenden und der Kreativen erhöhen müssen,damit sie sich eigenständig finanzieren können. Dasmuss unser Ziel sein. Wir sollten nicht immer darübernachdenken, ob noch ein weiterer Topf eingerichtet wer-den kann, um das Füllhorn auszuschütten.
Die Kulturschaffenden selbst wollen, dass ihr ökonomi-scher Wert in diesem Land anerkannt wird. Sie haben inder Tat einen immens großen volkswirtschaftlichenWert. Sie wollen sich nicht immer nur als Subventions-empfänger sehen, als die Sie sie, liebe Kolleginnen undKollegen von der Opposition, hinstellen.
Wir müssen aber eines sehen: Die Wirtschaft brauchtauch die Kultur. Kultur schafft Werte, aber Kultur schafftauch Arbeitsplätze. Allein in dem Bereich der Kultur-und Kreativwirtschaft sind über 1 Million Menschen be-schäftigt. Es gibt 240 000 Unternehmen in dieser Bran-che. Dieser Sektor ist nicht nur für Großstädte wie Ber-lin, sondern auch für viele andere Regionen zu einemWachstumsbeschleuniger geworden. Wie stolz war ges-tern die Stadt Berlin, als sie mitteilen konnte, dass 2009mit über 18 Millionen Übernachtungen das beste Touris-musjahr aller Zeiten für Berlin gewesen ist. Daran siehtman, dass der Tourismus eine wichtige Einnahmequellefür die Kreativen und die Kulturschaffenden ist. Auchdie Berlinale hat ein traumhaftes Ergebnis für die Stadtgebracht. Di Caprio kommt nicht, weil wir hier tolle Pal-menstrände haben, sondern er kommt wegen der Kultur.
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Dagmar WöhrlGut, die Stars kommen schon wegen Kultur und Ge-schäft, aber das gehört hier zusammen.Die Kulturreisen nach Deutschland haben letztes Jahrum 30 Prozent zugenommen. Das Ruhrgebiet erwartetdieses Jahr einen Zuwachs von 15 Prozent, mit steigen-der Tendenz. Deutschland ist inzwischen das zweitbe-liebteste Kulturreiseland in Europa. Aber das kommtnicht von ungefähr. Hinter dieser Entwicklung steckenviele kreative Köpfe. Unsere Aufgabe ist es, sie zu unter-stützen, und zwar in vielerlei Hinsicht. Das ist die Auf-gabe der Politik. Aber das muss nicht immer mit Geldgeschehen, wie gefordert wird. Das ist nicht das A und Oin diesem Zusammenhang.
– Liebe Frau Kollegin Schmidt, Sie haben vorhinvom Kreativpakt des Kollegen Steinmeier geredet. Dashabe ich damals mit Schmunzeln zur Kenntnis genom-men; das war zu Vorwahlkampfzeiten. Ich habe mir ge-dacht: Er hat noch nie etwas von der Kultur- und Krea-tivwirtschaft gehört. – Alles das, was damals gefordertworden ist, hatten wir schon längst in die Wege geleitet.
Es sind hier allein elf Branchenhearings abgehalten wor-den.Der Kulturtourismus ist eine einzige Erfolgsge-schichte. Ich nenne in diesem Zusammenhang dieMoMA-Ausstellung, die Documenta in Kassel und vieleEreignisse mehr. Wir müssen aber sehen: Es gibt immernoch Potenziale, die nicht vollständig ausgeschöpft wer-den. Der Tourismus geht zwar mit der Kultur Hand inHand – so kann man sagen –, aber sie liegen sich nicht inden Armen.
Das heißt, um den Tourismus anzukurbeln, müssen wirdie Kulturprodukte vermarkten. Diese Vermarktung er-folgt oft nicht. Oft ist weder Marketing noch Kunden-orientierung vorhanden.Jetzt könnte man sich fragen, ob die Kulturschaffen-den eine Kommerzialisierung befürchten und vielleichtgar keine Vermarktung wollen. Das Gutachten, das dieBundesregierung in der letzten Legislaturperiode in Auf-trag gegeben hat, hat uns gezeigt, dass dem nicht so ist.Vielmehr fehlt vielen Kreativen das ökonomischeKnow-how. Das hängt mit der Struktur zusammen.97 Prozent der Betriebe sind Kleinbetriebe. Deswegenist es richtig, dass wir das Kompetenzzentrum für Kul-tur- und Kreativwirtschaft ins Leben gerufen haben. Da-mit unterstützen wir diesen Bereich im Hinblick auf Pro-fessionalisierung und Dialogfähigkeit. Ich glaube, dasswir hier auf dem richtigen Weg sind.
Kollegin Wöhrl, achten Sie bitte auf das Signal!
Ich achte darauf.
Eines müssen wir aber auch sehen: Tourismusanbieter
müssen ihre Defizite in diesem Bereich aufarbeiten und
sich um künstlerisches Know-how kümmern, wenn sie
auch Kulturangebote machen wollen.
Wir müssen Brücken bauen. Dies ist die Aufgabe der
Politik.
Kollegin Wöhrl, jetzt müssen Sie das Signal bitte be-
achten.
Ich darf in diesem Zusammenhang noch einmal auf
das Motto hinweisen, das ich zu Beginn meiner Rede an-
gesprochen habe: Die Kultur braucht die Wirtschaft, und
die Wirtschaft braucht die Kultur. Dies ist der richtige
Weg.
Vielen Dank, Frau Präsidentin, dass Sie mit mir
Nachsicht hatten.
Das Wort hat der Kollege Heinz Paula für die SPD-
Fraktion.
Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen!Kultur und Tourismus sind zwei Seiten einer Me-daille geworden.Dies wird richtigerweise im Tourismuspolitischen Be-richt der letzten Bundesregierung festgestellt. Das zeigt:Wir sind auf dem richtigen Weg. Frau Wöhrl, dies gehtweit über das hinaus, was Sie gerade angesprochen ha-ben, nämlich die Verbindung von Wirtschaft und Kultur.Dieser Bereich ist Gott sei Dank viel breiter und viel fa-cettenreicher aufgestellt und ist damit auch viel interes-santer.Sie wissen, 2005 hat Rot-Grün mit dem Antrag „Dievielfältigen Potenziale des Wirtschaftsfaktors Kulturtou-rismus weiter erschließen“ einen wesentlichen Meilen-stein gesetzt. Sie greifen in Ihrem Antrag einige Punkteauf. Allerdings müssen wir leider feststellen, dass vielePunkte unter den Tisch gefallen sind.
So haben Sie zum Beispiel mit keinem Wort die Vielfäl-tigkeit und den Wert der Kultur an sich erwähnt. Sie zie-len nur auf die Vermarktung. Das ist etwas zu eng ge-dacht. Ich finde es gut, dass Sie in Ihren Ausführungen– in Ihrem Antrag findet sich dies noch nicht wieder –
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Heinz Pauladen sehr wichtigen Vermarktungsfaktor, das Internet, mitbenannt haben. Da müssen wir in der Tat noch schärferhinschauen. Es kann nicht angehen, dass nur ein Drittelder Menschen über schnelle Breitbandzugänge verfügt.
Hier muss Ihr Antrag deutlich nachgebessert werden.Stichwort Ehrenamt – Kollegin Ulla Schmidt hat da-rauf hingewiesen –: Es kann doch nicht angehen, dassSie diesen Bereich – über 2 Millionen ehrenamtlich En-gagierte leisten eine tolle Arbeit – anders als in unseremAntrag von 2005 überhaupt nicht erwähnen. Dies mussdringend korrigiert werden.Lassen Sie mich einen anderen Punkt ansprechen;hier war ich wirklich entsetzt. Wie kann Ihnen der Fehlerunterlaufen, dass Sie in dem vorliegenden Antrag dengesamten Komplex der europäischen Ebene mit keinemeinzigen Wort erwähnen? Hier muss entsprechend nach-geschärft werden; darauf müssen wir in der Diskussionachten.
Ein – Entschuldigung, dass ich es so deutlich sage –Armutszeugnis für Kultur- und Tourismuspolitiker stelltsinnigerweise die Nr. 13 Ihres Antrages dar. Sie forderndort die Bundesregierung auf,die vorgenannten Maßnahmen im Hinblick auf dieaktuelle Haushaltslage ohne zusätzliche Belastun-gen des Bundeshaushalts zu planen und durchzu-führen.Sorry, so wird es nicht funktionieren. Es funktioniert mitSicherheit auch nicht, wenn Sie die verkehrten Impulsesetzen. Das Hotelgewerbe nach dem Gießkannenprinzipmit 1 Milliarde Euro zu unterstützen, ist der verkehrteWeg.
– Frau Daub von der FDP, hören Sie auf Ihren stellver-tretenden Parteivorsitzenden! Wo der Mann recht hat,hat er recht. Dazu kann ich nur sagen: Weg mit dieserMaßnahme!
Positiv zu beurteilen ist, dass Sie – Frau Pawelski, Sieerinnern sich – im Gegensatz zu den Beratungen in derletzten Legislaturperiode die UNESCO-Welterbestättenin Ihren Antrag aufgenommen haben. Das ist sehr posi-tiv. Ich habe allerdings überhaupt kein Verständnis dafür,dass Sie gleichzeitig in den Haushaltsberatungen dieMittel für deren Erhalt und Sanierung – in Ihrem Antragverweisen Sie noch stolz auf die bereits zur Verfügunggestellten 150 Millionen Euro und eine Fortsetzung derFörderung – um 10 Millionen Euro kürzen. Welche Lo-gik steckt hinter einem solchen Vorgang?Schauen wir uns den nächsten Bereich an, der für dengesamten kulturpolitischen Tourismus von zentraler Be-deutung ist: die Städtebauförderung. Was tun Sie an die-ser Stelle? Sie kürzen um 10 Millionen Euro.
Dieser Vorgang muss schlicht und ergreifend korrigiertwerden. Das werden wir in den anschließenden Beratun-gen in aller Deutlichkeit verlangen.
Sie sprechen die Barrierefreiheit an. Gut so! Aller-dings – wir sind uns eigentlich einig; als langjährigeMitglieder in den zuständigen Ausschüssen wissen Siedas –, wir sind schon viel weiter. Sie kennen unseren ge-meinsamen Antrag „Barrierefreien Tourismus weiterfördern“. Wir haben dort eine lange Liste von Vorschlä-gen eingebracht und beschlossen, die von zentraler Be-deutung sind, zum Beispiel die Beachtung der Barriere-freiheit bei der Vergabe von öffentlichen Aufträgen usw.Unsere Meinung ist: Die Bundesregierung muss diesePunkte zügigst umsetzen, damit wir hier einen Schrittweiterkommen.Frau Wöhrl, ganz wichtig wäre es, den wirklich zen-tralen Bereich der Entwicklung des gesamten Arbeits-kräftemarktes anzusprechen. Da geht es nicht nur um dieVermarktung, sondern vor allen Dingen darum, dass wirauf einen eklatanten Fachkräftemangel zusteuern wer-den. Wir erwarten, dass dieser Punkt in diesem Antragebenfalls Berücksichtigung findet; denn dieser Mangelgefährdet die zukünftige Entwicklung des gesamten tou-rismuspolitischen Sektors.
Lassen Sie mich zum Schluss mit einem Blick auf dieRegierungsbank kurz feststellen: Im Gegensatz zur De-batte über den vorherigen Tagesordnungspunkt, als derzuständige Verkehrsminister persönlich da war, fehlt nunder zuständige Minister.
Das verwundert mich allerdings nicht weiter; denn es istin der Tat so, dass Minister Brüderle es bisher, sowohlbei der Haushaltsrede als auch bei seiner ersten Rede,wirklich geschafft hat, mit keinem einzigen Wort – manhöre und staune! – den Begriff „Tourismus“ zu nennenoder irgendwelche inhaltlichen Aussagen dazu zu täti-gen. Ich halte das für einen unmöglichen Vorgang.
Ich wünsche mir, dass Ihr Antrag schnellstmöglich anden zuständigen Minister weitergeleitet wird, damit erendlich zur Kenntnis nimmt, dass er dafür verantwort-lich ist, entsprechende Punkte umzusetzen.
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Heinz Paula– Zur Beruhigung der Gemüter, Frau Pawelski: Wir wer-den im Ausschuss sehr sachlich versuchen, Ihren Antragweiterzuentwickeln, sodass wir insgesamt zu einem gu-ten Ergebnis kommen können.Ich bedanke mich.
Das Wort hat der Kollege Christoph Poland für die
Unionsfraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Ich möchteam liebsten mein Manuskript weglegen; aber ich bin zuneu hier und kenne mich zu wenig aus, als dass ich mirdas jetzt zutraue. Herr Paula, ich kann Ihnen trotzdemsagen: Es sind zwei Staatssekretäre aus dem Wirtschafts-ministerium da, und der Kulturstaatsminister sitzt eben-falls auf der Regierungsbank.
Die Beratung dieses Antrags zur Stärkung des Kultur-tourismus hat gezeigt, dass wir in diesem Haus ein Stückweit Gemeinsamkeit hinsichtlich der Unterstützung undvor allen Dingen der Förderung von Kultur und Touris-mus haben. Ich wundere mich aber über die Haltung derLinken, die diesem Konsens nicht so ganz zuzustimmenscheinen.Wir müssen dafür sorgen, dass dieser Konsens ausge-baut wird. Deutschland hat ein hervorragendes Kultur-image mit einem großen kulturellen Erbe in vielerleiHinsicht. Dazu zählen Architektur, Kunst, Museen undAusstellungen. Lassen Sie mich hier besonders hervor-heben: Es sind die Veranstaltungen und Ereignisse, diedie Menschen in der letzten Zeit immer wieder mit Inte-resse in die Regionen locken. Ich muss Sie der Gefahraussetzen, von mir manches zu hören, was Ihnen heuteschon zu Ohren gekommen ist. Eine neue Zahl fällt mirdabei ein. Der Kulturstaatsminister hat 2008 folgendeZahlen veröffentlicht: In diesem Jahr sind 113 MillionenBürger in ein Museum gegangen; im Gegensatz dazuhatten nur 17 Millionen Bürger ein Ticket für ein Fuß-ballspiel der 1. oder 2. Bundesliga gelöst. – Ich denke,der Staatsminister konnte das als einen großen Erfolgverkünden.
Der kulturtouristische Markt gilt also zu Recht als boo-mende Branche. Sehen Sie sich nur die große Gruppe derwissensdurstigen Senioren an, die immer größer wird.Neben dem kulturorientierten Städtetourismus müssenaber auch die vielfältigen Kulturangebote im ländlichenRaum stärker vermarktet werden. Die wirtschaftliche Be-deutung für die Städte, aber auch für die ländlichen Re-gionen steigt. Hier möchte ich besonders auf den Punktim Antrag hinweisen, in dem ein Wettbewerb „Kulturre-gion Deutschland“ gefordert wird. Das ist im vereinigtenEuropa der Regionen besonders wichtig. Es gibt schongenug Modelle zur Entwicklung des regionalen Gedan-kens, Stichwort „Welcome-Center“.Seit den 90er-Jahren kennen wir den Begriff des Kul-turtourismus. Es geht dabei um die Kultivierung vonFreizeit und Tourismus und nicht nur um Basisprojekteund anderes. Dass das Aufkommen dieses Begriffs mitder Wiedervereinigung zusammenfällt, scheint mir keinZufall zu sein. Deutschland wird wieder neu entdeckt.Folgte die Bildungsreise des 19. Jahrhunderts nochGoethes Spuren, ist die Kulturreise ihr modernes Pen-dant. Auf solchen Reisen erschließen sich uns derSchlosspark von Sanssouci, die Straße der Romantik, dieFestspiele in Mecklenburg-Vorpommern, die UNESCO-Welterbestätten und weitere Erfolgsgeschichten wieThüringer Bachwochen, die Documenta in Kassel – vonder MoMa hatten wir schon gehört –, die DresdnerMusikfestspiele und auch das Netzwerk „Garten Eden“in Ostfriesland. Nehmen Sie an dieser Stelle auch die eu-ropäischen Kulturhauptstädte. Von RUHR.2010 warschon die Rede.Ich finde, jede Region muss sich kulturtouristischselbst vermarkten.
Zwei Beispiele aus meiner kulturtouristischen Praxissollen diese Wichtigkeit belegen.Ich reise mit meinem Theaterförderverein des Lan-destheaters Neustrelitz jährlich in andere Kultur- undTheaterregionen in Deutschland, um einen Blick überden Tellerrand zu erhalten. Seit 15 Jahren veranstalte ichselbst Konzerte mit Jazz- und Weltmusik auf meinemHof in Klein Trebbow. Das Dorf war vorher nahezu un-bekannt. Wir locken mittlerweile Tausende von Touris-ten in diese Region.
– Ohne staatliche Zuschüsse.
Wir haben mit kleinen kommunalen Hilfen angefangen;diese staatlichen Hilfen werden dieses Jahr eingestellt,weil die Kommune sparen muss. Wir haben als Familiedafür aber auch 15 Jahre lang auf Urlaub verzichtet. Dasmöchte ich hier einmal sagen.
In meinem Wahlkreis gibt es auch das Hans-Fallada-Haus in Carwitz. Wir haben damit ein tolles kulturellesReiseziel. Für dieses Jahr gibt es ein weiteres tolles Rei-seziel, das ich Ihnen ans Herz legen möchte, nämlich dasSterbezimmer der Königin Luise in Schloss Hohenzie-ritz, das im 200. Todesjahr von Luise zusammen mit derOperette Königin Luise – Königin der Herzen im Rah-men der Schlossgartenfestspiele in Neustrelitz als Reise-ziel lockt.
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Christoph PolandNatur, Kultur und Tourismus finden zusammen, etwamit den Buchenwäldern, die als UNESCO-Kulturerbeanerkannt sind. Die Natur als Reiseziel ist ein besonde-res Gut. So viele schöne und verschiedenartige Land-schaften haben wir mit der Wiedervereinigung in das ge-meinsame Deutschland eingebracht und müssen dies mitder dort vorhandenen oder zu entwickelnden Kultur ver-binden.Mit dem Kulturtourismus werden die regionale Kul-tur, die Sehenswürdigkeiten und die Traditionen ge-stärkt. In diesem Zusammenhang will ich noch einenweiteren Trend ansprechen: den Religionstourismus.Diesen gibt es zwar schon lange, aber er nimmt neuer-dings wieder zu. So gab es im vergangenen Jahr welt-weit über 200 Millionen Religionstouristen. Mit derLuther-Dekade, die schon vor zwei Jahren begonnen hat,bieten wir im Hinblick auf das 500-jährige Jubiläum desThesenanschlags Jahr für Jahr ein attraktives Programmfür Besucher in Deutschland.Schon immer und unverzichtbar arbeiten zahlreicheehrenamtlich Tätige im Kulturbereich. Das ist ein wich-tiges bürgerschaftliches Engagement, das ich an dieserStelle ausdrücklich hervorheben möchte. Herr Paula,auch Sie haben das ja erwähnt.
Das verdient eine außerordentliche Würdigung. Wirbrauchen in Zukunft qualifiziertes Personal – das hatteFrau Schmidt schon in ihrer Rede gesagt und Sie, HerrPaula, haben das auch noch einmal gesagt –, das sich mitKultur und Tourismus auskennt und die Besucher ent-sprechend empfangen kann.Lassen Sie mich aus Sicht eines Abgeordneten aus ei-nem attraktiven Reiseland an dieser Stelle einmal fest-halten: Mit der Absenkung der Mehrwertsteuer für Über-nachtungen zu Beginn dieses Jahres sind die finanziellenSpielräume für unsere Hoteliers und touristischen Unter-nehmen deutlich verbessert worden. Das ist erforderlichfür eine erfolgreiche Bilanz in der Zukunft.
Schließen möchte ich mit Goethe. Der hat es trefflichso ausgedrückt: „Man reist ja nicht, um anzukommen,sondern um zu reisen.“ Es ist das Reisen an sich, das Un-terwegssein, das Kennenlernen von Ländern, Regionenund Kulturen, das uns fasziniert und bildet. In der Ver-bindung von Kultur, Religion und Natur schaffen wirschöne Erlebnisse und leisten einen wichtigen Beitragzur positiven wirtschaftlichen Entwicklung in Deutsch-land.Herzlichen Dank.
Kollege Poland, das war Ihre erste Rede im Deut-
schen Bundestag. Wir wünschen Ihnen viel Erfolg in der
weiteren parlamentarischen Arbeit.
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/676 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, bevor ich den
nächsten Tagesordnungspunkt aufrufe, bitte ich Sie,
wenn Sie der folgenden Debatte nicht folgen können
oder wollen, Ihre Gespräche draußen fortzusetzen. Die-
jenigen, die neu zu uns gekommen sind, finden sicher-
lich recht bald einen Sitzplatz.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 8 sowie den Zusatz-
punkt 2 auf:
8 Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Barbara Höll, Dr. Axel Troost, Richard
Pitterle, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
DIE LINKE
Dem Vorbild Großbritanniens und Frank-
reichs folgen – Boni-Steuer für die Finanz-
branche einführen
– Drucksache 17/452 –
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss
Haushaltsausschuss
ZP 2 Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Gerhard Schick, Fritz Kuhn, Kerstin Andreae,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN
Gehaltsexzesse nicht länger auf Kosten der
Allgemeinheit
– Drucksache 17/794 –
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kolle-
gin Dr. Barbara Höll für die Fraktion Die Linke.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Von der Politik nahezu unbehelligt, konntendie Banken jahrelang ihre Profitansprüche immer höherschrauben. Das ist eine der Ursachen für die Krise. DieBankmanager wurden für die Bedienung der Profit-ansprüche exorbitant belohnt, unter anderem mittelsexzessiver Bonuszahlungen. Damit wurde die Orientie-rung an kurzfristiger Profitmaximierung noch verstärkt.Die wirksame Regulierung der Vergütungssysteme inder Finanzbranche bleibt daher eine der notwendigenMaßnahmen auf der Agenda.
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Dr. Barbara HöllDie Bundesregierung bekundete, hier aktiv sein zuwollen. Es gab Absichtserklärungen, die aber nichts wei-ter als heiße Luft sind: Man müsse prüfen und die inter-nationale Entwicklung abwarten. – Derweil kassierendie Banker kräftig weiter. Die Krise hat den Staat Mil-liarden gekostet, vor allem für die Rettung der mitver-antwortlichen Banken. Die Frage bleibt: Wer zahlt dennnun die Zeche? Heute steht im Handelsblatt – etwasüberraschend –: „Milliardenverlust bei RettungsfondsSoffin“, für das vergangene Jahr über 4 Milliarden Euro.Die Position der Linken ist klar: Die Zeche für dieseKrise haben die Verursacher zu zahlen.
Zu diesen gehören an vorderster Stelle die Banken undderen Manager. Es kann nicht sein, dass sie weiterhinunbehelligt Millionen vor allem in Form von Bonuszah-lungen kassieren.Großbritannien und Frankreich haben nun gezeigt,wie man schnell, einfach und effektiv reagieren kann,wenn man denn will. In beiden Ländern wird seit Jahres-beginn eine Sonderabgabe auf exzessive Bonuszahlun-gen in der Finanzbranche erhoben. Die Steuer wird di-rekt bei den Banken und nicht vom Einkommen derManager erhoben. Hohe Boni werden damit für die Ban-ken unattraktiv; denn sie verteuern Bonuszahlungendurch einen Steuersatz von 50 Prozent. Zudem erweistsich diese Bonisteuer als finanzieller Renner. LautFinancial Times Deutschland vom 5. Februar erwartetGroßbritannien in diesem Jahr Einnahmen in Höhe vonbis zu 4,5 Milliarden Euro allein durch diese Steuer. Ichfrage Sie angesichts klammer öffentlicher Kassen, öf-fentlicher Milliarden für die Banken, steigender Arbeits-losigkeit und vieler Probleme: Wie wollen Sie dafür sor-gen, dass diejenigen, die die Krise verursacht haben,auch die Zeche zahlen, und wie verantworten Sie, aufeine solche Einnahmequelle zu verzichten? Auf dieseFrage müssen Sie eine Antwort geben, falls Sie unserenVorschlag ablehnen.Allerdings habe ich eine gewisse Hoffnung, dass auchdie Regierungskoalition zustimmt. Immerhin hat FrauMerkel die Bonussteuer als eine „charmante Idee“ be-zeichnet.
Lassen Sie jetzt diesen Worten Taten folgen! Unser Vor-schlag liegt auf dem Tisch.
Kollegin Höll, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Volk von der FDP-Fraktion?
Ja.
Danke, Frau Präsidentin, danke, Frau Kollegin Höll. –
Eines habe ich nicht ganz verstanden. Sie sagen, Sie
wollen mit einer Bonisteuer vermeiden, dass Bonuszah-
lungen erfolgen. Andererseits wollen Sie mit der Boni-
steuer – die nicht anfällt, wenn keine Bonuszahlungen
erfolgen – die klammen öffentlichen Kassen unterstüt-
zen. Das scheint mir ein Widerspruch zu sein. Vielleicht
können Sie diesen aufklären.
Herr Kollege, danke für Ihre Frage. Ich nutze gernedie Gelegenheit, das noch einmal klarzustellen.Wir als Linke halten das System der Bonuszahlungenprinzipiell für verkehrt, da sie eine Orientierung aufkurzfristige Profitmaximierung bedeuten und perspekti-visch gedacht gesamtwirtschaftliches Interesse übermehrere Jahre verhindern. Da wir das – das ist ein Punktder Regulierung der Finanzmärkte – sicher nicht vonheute auf morgen ändern werden, ist die Idee der Besteu-erung der vorhandenen Bonuszahlungen, zu denen dieBanken sich ja gegenüber ihren Managern verpflichtethaben, als kurzfristige Maßnahme eine sehr charmanteIdee; denn damit besteht tatsächlich die Möglichkeit, daanzusetzen, wo es sich lohnt: bei den Banken selber. DieBanken müssen sich überlegen, ob es sinnvoll ist,Bonuszahlungen zu leisten; denn sie sehen, was diesekosten. In Großbritannien kosten Bonuszahlungen inHöhe von 1 Million Euro die Bank 1,5 Millionen Euro.Das heißt, es verteuert sich für sie. Dadurch ist sie pers-pektivisch nicht mehr daran interessiert, solche Bonus-zahlungen zu tätigen.Zudem gibt es einen nicht ganz unerheblichen Neben-effekt. Als in Großbritannien die Bonussteuer eingeführtwurde, ist man davon ausgegangen, vielleicht1 Milliarde Euro einzunehmen. Inzwischen geht man da-von aus, dass 4,5 Milliarden Euro gezahlt werden. Daszeigt auch, dass die Bonuszahlungen durch die Steuernicht automatisch sofort zurückgehen. Umso notwendi-ger ist eine langfristige Regelung, ein langfristiges Ver-bot dieser Zahlungen. Andererseits haben wir dadurcheine Möglichkeit, die Banken dazu zu zwingen, darübernachzudenken, wie sie weiter mit diesem Thema umge-hen. Zudem werden die öffentlichen Kassen gestärkt. Ichdenke, durch diesen unmittelbaren Effekt lohnt sich dieRegelung auf alle Fälle.Ich habe eben nicht ohne Grund das Handelsblatt zi-tiert. Beim staatlichen Rettungsfonds waren im vergan-genen Jahr Verluste in Höhe von etwa 1 Milliarde Eurogeplant. Jetzt sind wir bei 4 Milliarden Euro. Wenn mandiese Zahlen nebeneinanderstellt, erkennt man einen un-mittelbaren Zusammenhang. Man sieht, dass das, was anunmittelbarer Belastung auf den Bundeshaushalt zu-kommt, die Mitverursacher der Krise zahlen müssten.Das wollen wir als Linke.
Ich wollte mich noch bei Herrn Schäffler von derFDP bedanken. Herr Schäffler hat, da die Kanzlerin voneiner „charmanten Idee“ gesprochen hatte, den Prüfauf-trag an den Wissenschaftlichen Dienst gestellt, ob dasüberhaupt mit dem Grundgesetz vereinbar sei. Herr
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Dr. Barbara HöllSchäffler wollte damit seine Klientel bedienen. Er hatleider Pech gehabt; denn das Gutachten ergab das Ge-genteil. Es ist tatsächlich möglich. Auch in der Bundes-republik können wir eine solche Besteuerung der über-höhten Bonuszahlungen an die Manager der Bankensofort beschließen und damit wirklich steuernd eingrei-fen.
Die Bonisteuer ist verfassungsgemäß. Sie nimmt Ver-antwortliche für die Krise in die Pflicht. Sie lohnt sich.Sie ist ein Stück mehr Gerechtigkeit. Es ist dringendZeit, sie einzuführen. Ich hoffe auf Ihre Unterstützung.Danke.
Zu einer Kurzintervention hat der Kollege Schäffler
das Wort.
Frau Kollegin Höll, Sie haben mich gerade direkt an-
gesprochen; deshalb geben Sie mir bitte die Gelegenheit,
dass ich darauf antworte.
Ich bin der Auffassung, dass die Auseinandersetzung
darüber geführt werden muss – so wie wir das hier auch
tun –, wie wir diejenigen, die in dieser Schieflage vom
Staat durch einen Rettungsrahmen, durch den SoFFin,
geschützt wurden, am Ende zur Rechenschaft ziehen, gar
keine Frage. Aber ich will darüber keine juristische De-
batte führen, sondern ich will mit Ihnen eine inhaltliche
Debatte führen, wie wir das tun. Deshalb kann man mei-
nes Erachtens hierbei nicht mit verfassungsrechtlichen
Fragen kommen.
Vielmehr bin ich der Auffassung, dass wir eine inhaltli-
che Debatte über folgende Frage führen müssen: Was ist
der richtige Weg, um dieses Problem zu lösen?
Hier warte ich auf die Vorschläge der Linken dazu,
wie wir das tatsächlich tun sollen. Wir als FDP machen
uns darüber Gedanken. Ich glaube, wir müssen den
SoFFin zu einer Finanzversicherungsagentur weiterent-
wickeln, die am Ende dazu führt, dass die Branche für
die Finanzierung der Schieflage der HRE, aber auch der
Commerzbank, der WestLB und der Aareal Bank – also
derjenigen, die bisher Geld aus dem System bezogen ha-
ben – über Beiträge geradestehen muss und die Gelder
zurückgeführt werden. Das halte ich für eine marktge-
rechte Lösung.
Wenn man jetzt wie wild nach Bonisteuern oder in ei-
ner anderen Woche nach Finanztransaktionsteuern sucht,
dann wird man der Krise nicht wirklich gerecht, weil Sie
die Verursacher damit nicht wirklich treffen. Eine Steuer
greift immer sehr willkürlich. Die Finanztransaktion-
steuer trifft den kleinen Sparer; das haben wir hier schon
mehrmals diskutiert.
Die Bonisteuer trifft einen gewissen Aspekt im Banken-
bereich, aber sie trifft auch nicht jeden, sondern einige
wenige. Deshalb halte ich das, was Sie hier vorschlagen,
für den völlig falschen Ansatz. Daher bedanke ich mich
für die Gelegenheit, die Sie mir hier noch einmal gege-
ben haben.
Damit hat die Kollegin Höll ebenfalls die Gelegen-
heit, noch einmal zu sprechen.
Danke, Herr Schäffler. – Erstens stelle ich fest: Sie
haben einen Prüfauftrag an den Wissenschaftlichen
Dienst gegeben,
der lautet: „Verfassungsrechtliche Vereinbarkeit einer
Sondersteuer auf Boni von Bankmanagern“, niemand
anders aus diesem Hause. Sie wollen diese Diskussion.
Zweitens geht es um eine Regulierung der Finanz-
märkte, und dazu dient unter anderem die Finanztransak-
tionsteuer, die, wenn sie ordentlich ausgestaltet ist,
kleine Sparer überhaupt nicht trifft, sondern ein Regulie-
rungselement ist. Zudem geht es darum, dass die Verur-
sacher der Krise tatsächlich zur Kasse gebeten werden.
Dafür werden wir verschiedene Instrumente brauchen.
Wir haben von Anfang an kritisiert, dass Sie eine Be-
grenzung der Managergehälter nur bei den Banken vor-
schreiben, die staatliche Hilfen in Anspruch nehmen,
und es da nur auf die Manager beziehen, aber zum Bei-
spiel nicht auf die Investmentbanker. Sie waren auch da
schon sehr zögerlich. – Es ist doch nicht angebracht,
dass jemand, der Bankchef ist, Millionen im Jahr ver-
dient, Sie mit Ihrer Leistungsgerechtigkeit! Das ist doch
prinzipiell nicht richtig.
Die Bonisteuer ist natürlich ein Instrument, das an die
Höhe von Bonuszahlungen anknüpft, nicht aber den ein-
fachen Leistungszuschlag eines Bankangestellten be-
trifft. Sie spielt tatsächlich erst ab einer bestimmten Grö-
ßenordnung eine Rolle. Diese Steuer würde somit Geld
bringen, würde regulierend eingreifen und würde tat-
sächlich die Verursacher zur Kasse bitten. Ihren Vor-
schlag hierzu sind Sie noch schuldig.
Das Wort hat nun der Kollege Leo Dautzenberg fürdie Unionsfraktion.
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Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! LiebeKolleginnen und Kollegen! Bei der Debatte dieser Pro-blemstellungen sollten wir es so machen wie beim baye-rischen Knödelessen: eins nach dem anderen, statt dieDinge so durcheinander zu werfen, einmal davon zu re-den und dann von etwas anderem. Damit landet mandann im Grunde genommen wieder bei Betrachtungen,wie es dem SoFFin geht und wie man die Beteiligungdes Finanzsektors an den Kosten regeln will. Wir solltenuns darauf konzentrieren.Wenn Sie, Frau Kollegin Höll, allerdings eine heutigePressemeldung zum SoFFin so darstellen, als wäre dasim Grunde genommen schon ein Liquiditätsabfluss ausVerlusten, dann muss ich Ihnen sagen, dass dies einereine Bewertungsfrage und somit ein Buchverlust ist, dernoch nichts über die am Ende zu tragenden Kosten aus-sagt. Deshalb sollte man solche Szenarien nicht an dieWand malen, um einen Vergleich mit anderen Bereichenzu ziehen.
Darüber hinaus sollten wir uns in der gesamten Dis-kussion nicht ausschließlich auf den Begriff Boni kon-zentrieren. Ich frage Sie, Frau Kollegin Höll: Wenn manVergütungen an Bankmanager zahlt, die nicht mit demBegriff Boni verbunden sind, was nehmen Sie dann alsBesteuerungsgrundlage für diese Vergütung? Es wäredoch wesentlich sinnvoller, über Vergütungsstrukturengenerell zu reden und nicht über die reine Begrifflich-keit.
Man braucht die Boni einfach nur umzubenennen, undschon haben Sie die Grundlage für die Besteuerung ver-loren. Deshalb sollten wir über Vergütungsstrukturen imAllgemeinen reden.Ich glaube, nicht nur Sie haben festgestellt, dass inden Vergütungssystemen der Wirtschaft, aber auch in an-deren gesellschaftlichen Bereichen, zum Beispiel Me-dien oder Sport, die Relationen nicht mehr stimmen.Man sollte sich nicht auf einen Bereich beschränken,sondern auch im Sinne unseres Ordnungsmodells der so-zialen Marktwirtschaft, verbunden mit dem Wertebezug,Vergütungssysteme insgesamt bewerten. Unsere Kanzle-rin hat hierfür einen Grundstein gelegt, indem sie vorge-schlagen hat, dass auch Vergütungssysteme einer Über-prüfung unterliegen und an der Leistungsfähigkeitgemessen werden sollen.Ich stimme Ihnen zu, dass momentan gerade im In-vestmentbanking Vergütungsstrukturen zusätzlich hono-riert werden, die an sich mit Leistungsfähigkeit nichts zutun haben, sondern Ausfluss momentaner Marktverwer-fungen sind. Um nur ein Beispiel zu nennen: Um derzeitim Zinsarbitragegeschäft Geld zu verdienen, brauchensie keine großartigen Leistungen zu erbringen, sondernder Verdienst ergibt sich aufgrund der Marktsituation.Man kann es auch anders bezeichnen: Man muss nichtstun, und trotzdem ist ein Erfolg in diesem Bereich gege-ben. Das ist in der Tat zu kritisieren. Das sollte nichtnachhaltig in Vergütungsstrukturen einbezogen werden.Wir sind auf einem guten Weg. Ich habe eben schonausgeführt – auch unsere Kanzlerin hat das getan –, dassin der Ausgestaltung unserer sozialen MarktwirtschaftVergütungssysteme dem Wert einer Leistung entspre-chen sollten. Durch unser Vorstandsvergütungsgesetz,das auf den Weg gebracht ist, sind Vorstandsgehälterleichter zu kürzen, die Haftung des Aufsichtsrates istverschärft worden und der zwingende Selbstbehalt vonVorständen in Haftungsfällen gegeben. Im Koalitions-vertrag steht: Fehlanreize müssen beseitigt werden undVergütungssysteme müssen am langfristigen Erfolg ei-nes Unternehmens ausgerichtet und im Grunde auch miteinem Malus versehen werden. Die Auszahlung solltesich nicht am kurzfristigen Erfolg orientieren, sondernauf einen längeren Zeitraum bezogen werden und Ma-lus-Regelungen einschließen.Frau Kollegin Höll, Sie stellen darauf ab, was in Lon-don läuft. Ich frage Sie: Ist es tatsächlich eine Wirkungin Ihrem Sinne, wenn andere die Belastung durch dieSteuern bezahlen und nicht diejenigen, die sie erhalten?
Setzt es in Ihrem Sinne nicht zu spät an, wenn man nach-träglich etwas besteuert, was das Unternehmen und da-mit das Finanzinstitut bereits verlassen hat? Wesentlichbesser wäre es doch, wenn wir Vergütungssysteme hät-ten, die im Unternehmen ansetzen
und nicht erst dann, wenn die Liquidität das Unterneh-men verlässt und somit nicht mehr zur Stärkung des Ei-genkapitals zur Verfügung steht.Für meine Fraktion kann ich postulieren: Wir sähen esin manchen Bereichen lieber, wenn die Vergütungsstruk-turen so angelegt wären, dass das Eigenkapital des Un-ternehmens gestärkt wird, um in Zukunft sicherer zu ar-beiten, anstatt erhebliche Beträge auszuschütten.
Ich bin erstaunt,
dass Sie das als überraschenden Vorschlag empfinden.Sie haben anscheinend nicht nachvollzogen, was wirschon seit zwei, drei Monaten diskutieren.
Sie reagieren hier nur dann mit einem Pawlow’schen Re-flex, wenn es in Ihre Linie passt. Das zeigt, dass Sie denDiskussions- und Entwicklungsprozess nicht nachvoll-
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Leo Dautzenbergzogen haben. Die gesetzliche Grundlage ist bereits ge-legt.Die BaFin verfügt jetzt, auch das ist neu, über ge-wisse rechtliche Grundlagen für die Risikobetrachtung.Sie hat nicht nur die Möglichkeit, auf Vorstandsvergü-tungen zu achten, sondern auch die Möglichkeit, dasVergütungssystem der Banken insgesamt in die Risiko-bewertung einzubeziehen und Begrenzungen vorzuneh-men. Das trifft auch die Investmentbanker, die nicht Vor-stände sind. Hinsichtlich dieser Problemstellung sind wiralso auf einem guten Weg.Wir werden das unterstützen, was von der Regierungbisher vorgelegt worden ist.
Wir werden als Fraktion dazu beitragen, dass wir zulangfristigen, tragfähigen Vergütungssystemen kommen.Wenn man vorschnell nur an einem Ende ansetzt, ist dasder falsche Weg.Vielen Dank.
Für die SPD-Fraktion hat nun der Kollege Lothar
Binding das Wort.
Frau Präsidentin! Sehr verehrte Damen und Herren!Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich denke, der Antragvon der Linken ist ein Zeichen von Nervosität. Der An-trag von den Grünen ist auch ein Zeichen von Nervosi-tät, und der vor einigen Wochen eingebrachte Antrag derSPD mit einem ganz ähnlichen, übergreifenden Inhaltwar auch ein Zeichen von Nervosität. Warum sind wireigentlich alle so nervös? Die Regierung ist total ruhig.Die Regierung macht nichts.
Sie wollen mit uns diskutieren. Jetzt diskutieren wirschon eine ganze Weile, und wir wollen natürlich, dassjetzt etwas passiert. Ich frage: Wo ist die Kanzlerin? Woist Schäuble? Ich meine nicht, warum er nicht hier sitzt.Herr Koschyk kann ihn gut vertreten. Ich meine: Wo istSchäuble? Wo ist die Kanzlerin?Gehen wir noch einmal zurück zur Dimension der Fi-nanzkrise. Als Lehman Brothers Konkurs angemeldethat, war das ein Schock. Der ging durch die ganze Welt.Das halbe deutsche Volk saß mit bleichem Gesicht vordem Fernseher und wusste nicht, was mit seinem Spar-guthaben ist. In dieser Paniksituation, die berechtigt war,hat Peer Steinbrück ein Notprogramm entwickelt, einAd-hoc-Programm, das übrigens gut funktioniert unddas Schlimmste verhindert hat: Garantien für Sparer.
Sie brauchen gar nicht skeptisch zu gucken. Sie diskutie-ren ja noch. Ich rede von Sachen, die passiert sind:Garantien für Sparer und Arbeitsplätze, Konjunktur-programme I und II, Bürgschaften für die Banken – na-türlich zum Schutz der Einleger, Sparer und Kreditneh-mer –, Kredite zur Stabilisierung des Eigenkapitals. DieLiquiditätskrise war überwunden.
Wir sind dankbar, dass die CDU/CSU-Fraktion damalsmitgeholfen hat.
Jetzt fragt man sich, nachdem das alles so gut funktio-niert hat: Warum könnt ihr diese Arbeit nicht einfachfortsetzen? Fragt doch gelegentlich noch einmal denPeer Steinbrück. Immerhin war das die Rettung in derNot. In der Panik richtig zu reagieren, ist etwas ganz Be-sonderes. Das hat gut funktioniert.Parallel dazu haben Peer Steinbrück und unsere Frak-tion eine Ursachenanalyse betrieben. Wir haben feststel-len müssen, dass Menschen Unglaubliches veranstaltethaben. Niemand in der Welt hätte vermutet, dass Leute,die uns gegenüber so auftreten, ganz vornehm, mit einerwunderschönen Sprache und total arrogant, so etwasveranstalten. Vorstände entwickeln Produkte, die keinerbeurteilen kann. Aufsichtsräte genehmigen Geschäfts-modelle, die keiner versteht. Ratingagenturen sagen,dass dieser Mist etwas wert ist. Wirtschaftsprüfungsge-sellschaften merken nicht viel. Im kulturellen Verhaltendieser vier Gruppen haben sich Abgründe aufgetan, auchhinsichtlich des Begriffs Gier.Parallel dazu gab es wiederum eine Analyse des Sys-tems. Wir haben gelernt: Das System hat eine ganz wich-tige Funktion. Wir haben gelernt, dass es nicht unbedingtgut ist, Kreditverbriefungen zu verbieten. Wir habenaber auch gelernt, was passiert, wenn man aus Kreditver-briefungen, deren Versicherungen und der Verbriefungder Versicherung der Ursprungskredite dann eine Ver-briefung der verbrieften Verbriefung macht. Dann gibt esetwas, was die Banker toxische Produkte nennen. To-xisch heißt ja giftig. Normalerweise hätte man den Be-griff jedenfalls in einer Bilanz nicht vermutet.Es haben sich Abgründe in den Strukturen des Welt-finanzplatzes aufgetan: ein Mangel an Risikomanage-ment, mangelhafte Sicherheiten und fehlender Bezug zurRealwirtschaft. Inzwischen kennen wir die Krise ziem-lich genau. Jetzt fragen wir uns natürlich: Was machendie Menschen, die die Krise verursacht haben, mit diesenErfahrungen? Sie machen weiter wie bisher. Deshalb istjetzt erneut Eile geboten.
Wir müssen auch fragen: Was erlauben eigentlich dieStrukturen im Vergleich zu der Zeit vor der Krise? DieAntwort ist: Sie erlauben genau das Gleiche, weil wir
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Lothar Binding
hinsichtlich der Verhaltensänderung der Menschennichts getan haben, abgesehen davon, was die Große Ko-alition damals ad hoc als Lösungsvorschläge auf denWeg gebracht hat. Nach der Krise scheint es so zu sein,als ob es vor der Krise ist. Deshalb müssen wir achtge-ben, dass wir jetzt nicht ganz bestimmte gute Vorschlägefür Einzelmaßnahmen machen, die unsere Nervosität wi-derspiegeln. Vielmehr müssen wir von der Regierung er-warten, dass sie ein geschlossenes Gesamtkonzept zurVerhinderung künftiger Krisen dieser Art erarbeitet;denn sie werden kommen.Ich möchte auf die Reden von Joachim Poß undCarsten Sieling hinweisen, die schon im Januar diesesJahres erklärt haben, wie ein solches Konzept aussehenkann. Deshalb hat die SPD einen eigenen Antrag vorge-legt, der in seiner Wirkung das Gesamtsystem in denBlick nimmt und nicht nur einzelne Punkte.
– Sie lachen, aber Sie haben nichts vorgelegt; dann darfman nicht so fröhlich sein.Die Lage ist ernster, als Sie denken. Ich frage: Wo istSchäuble? Wo wurde etwas vorgelegt? Wo ist die Kanz-lerin? Gibt es Lösungskonzepte? Nein, Schäuble istnicht da, und die Kanzlerin wartet ab.Es hätte schon sehr viel passieren müssen. Wir habennämlich – jetzt komme ich noch einmal auf die GroßeKoalition zu sprechen – eine sehr gute Vorbereitung.Leo, das weißt auch du. Im Steuerhinterziehungsbe-kämpfungsgesetz gibt es die Option, dass das Ministe-rium, ohne uns zu fragen, ein sehr gutes Bündel vonMaßnahmen durch Verordnung in Kraft setzen kann.
– Ja, du kannst es ins Lächerliche ziehen; aber mir ist dasThema ernst.Man kann mit der Rechtsverordnung sehr viel errei-chen. Eine Rechtsverordnung ist Sache von Schäuble.Ich frage: Wo ist Schäuble? Wo ist die Kanzlerin? ImVerhältnis zu Steueroasen könnte er etwas tun.
Beim Betriebsausgabenabzug könnte er etwas tun. Beiden OECD-Standards hinsichtlich des Informationsaus-tauschs könnte er etwas tun. Bei der Zinsrichtlinie, beider Bargeldkontrolle und der Geldwäsche und auch beiBetriebsprüfungen von Einkommensmillionären könnteer etwas tun. All diese Maßnahmen könntet ihr machen,mindestens in der Geschwindigkeit – das würde ich er-warten –, in der ihr die Milliarde für die Hotels rausge-schmissen habt.
Um künftige Krisen zu vermeiden, muss man mehrtun, als darüber zu diskutieren, Herr Schäffler. Deshalbist es wichtig, darüber nachzudenken, die Absetzbarkeitvon Gehältern, letztendlich eine steuerliche Hilfe beiKosten, die ein Unternehmen hat – Ähnliches soll fürZuwendungen und Abfindungen für Leute, die gar keineLeistung erbracht haben, gelten –, ab bestimmten Beträ-gen auf 50 Prozent zu begrenzen.
Man kann darüber streiten, ob der Betrag 1 Million Eurozu niedrig oder zu hoch angesetzt ist. Ich sage: 1 MillionEuro ist ein Einkommen, von dem sich im Prinzip lebenlässt. Darüber müssen wir mit Westerwelle noch disku-tieren; aber eigentlich funktioniert das sehr gut.Man muss überlegen, wie die Kreditwirtschaft unddie Realwirtschaft miteinander verknüpft sind. Daraufgeht der Antrag der SPD in einer sehr geschickten Weiseein. Er geht auch darauf ein, dass die Bonizahlungen ansich ein krankes System erzeugen oder motivieren. Dennwenn ich Bonuszahlungen bekomme, unabhängig da-von, ob meine Beratung gut war oder schlecht, dann ver-kaufe ich natürlich jeden Unsinn. Ich spreche jetzt nurvon bestimmten Bankern, nicht von allen. Denn Pau-schalurteile helfen nicht weiter; das ist völlig klar.Eine allgemeine Bankenabgabe und eine Beteiligungder Banken an den öffentlichen Lasten durch die Krisesind zu prüfen. Dazu gibt es überhaupt keine Ideen. ImMoment tun wir nichts; aber wir müssen etwas tun. Wirmüssen jetzt etwas vorlegen. Das kann schnell passieren,und zwar bevor sich der neoliberale Selbstbedienungsla-den
auf die nachstaatliche Rettung der nächsten Krise vorbe-reitet. Denn das ist die Idee. Die Privaten versagen, undam Punkt des Versagens rufen sie nach dem Staat, des-sen Steuerleistungen sie zuvor kritisiert haben und derdeshalb verarmt. Das ist ein Supermodell. Ich glaube,wir alle haben gemerkt, dass die FDP das verfolgt. Dastragen wir nicht mit. Ich frage: Wo ist Schäuble? Wo istdie Kanzlerin? Vielleicht kann die FDP den beiden jahelfen.
Das Wort hat der Kollege Björn Sänger für die FDP-
Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen undHerren! Herr Kollege Binding, beruhigen Sie sich jetzterst einmal. Sie sind ja ganz aufgeregt, unglaublich.
Sie haben es angesprochen: Es werden nervöse Anträgevorgelegt, erst diese Woche wieder von den Linken.
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Björn Sänger
Ich bin gespannt, was nächste Woche kommt. Das ist einbisschen wie Murmeltiertag.
Sie sagen, diese Anträge sind nervös. Gleichzeitigmöchten Sie aber ein geschlossenes Konzept haben. Esist auch absolut notwendig, ein geschlossenes Konzeptzu haben. Sie haben gerade in Ihrem Redebeitrag fünf,sechs unterschiedliche Maßnahmen angesprochen, diealle sehr sinnvoll und notwendig sind.
Diese muss man aber vernetzt in ein geschlossenes Kon-zept, wie Sie es auch haben wollen, einfließen lassen.
Das kann man aber eben nicht mit der heißen Nadel nä-hen. Dafür braucht man Zeit und sinnvolle Vorbereitung.Wir haben das Ganze im Koalitionsvertrag vereinbartund werden es entsprechend vorlegen, und zwar so, dassdie Probleme gelöst werden.
Die Linken möchten mit der Bonisteuer das Abkas-sieren der an kurzfristiger Profitmaximierung interes-sierten Manager, die Millionen scheffeln, verhindern.
– Mit einer Steuer, genau. – Diese Steuer soll bei Bonus-zahlungen ab einer jährlichen Höhe von 27 000 Eurogreifen. Es sind 27 000 Euro – korrigieren Sie mich –,nicht ganz 1 Million Euro.
– Nicht am Tag. Es geht um Boni ab 27 000 Euro jähr-lich. Sie werden mir zustimmen, dass das keine Millionist.
Wir haben im Übrigen eine Ursachenanalyse ge-macht. Sie haben vollkommen recht: Die kurzfristigeProfitmaximierung
hat – unter anderem; im Zusammenspiel mit vielen ande-ren Faktoren – dazu geführt, dass wir uns jetzt in derKrise befinden; das ist unwidersprochen. Mit der Boni-steuer allein werden Sie es aber nicht schaffen, dass dieLeute sich kurzfristig nicht weiter an einer Profitmaxi-mierung orientieren. Denn sie bekommen weiterhin ihreBoni.
Das haben Sie gerade eben auf die Frage des KollegenDr. Volk selbst gesagt. Sie machen es für die Bankeneinfach nur teurer; denn diese werden weiter zahlen. Dasgeht zulasten des Eigenkapitals.
Das führt schlussendlich dazu, dass wir in eine Kredit-klemme geraten.
Schauen Sie sich am Beispiel Großbritannien docheinmal an, wie viele Umgehungstatbestände es gibt. Dakönnen Sie die Boni einfach über eine Tochtergesell-schaft, beispielsweise auf den Kanalinseln, auszahlen.Da sind sie wieder, die bösen Töchter.
Das können Sie nicht verhindern. Die Möglichkeitensind immer wieder da. Sie schaffen eine Menge von Be-wertungsproblemen. Was machen Sie denn beispiels-weise, wenn ein Bonus in einem Sachwert ausgezahltwird?
Den wollen Sie auch erfassen. Wie wollen Sie es aberbewerten, wenn jemand beispielsweise einen Mercedes300 SL Roadster, Baujahr 1955, als Dienstwagen be-kommt? Dafür zahlen Sie am Markt 500 000 Euro. Erhatte 1955 aber einen Listenpreis von – ich weiß es nichtgenau – 33 000 DM. Bei Dienstwagen wird nach Listen-preis besteuert. Das müssten Sie in diesem Fall auch ma-chen. Ich weiß nicht, ob Sie das Ziel, das Sie an dieserStelle verfolgen, auf diese Weise wirklich erreichen.
Die Bonisteuer hilft an dieser Stelle überhaupt nicht.Herr Kollege Dr. Schick, der Antrag von den Grünen istüberraschend gut. Das sage ich an dieser Stelle, obwohldas Wort „Gehaltsexzesse“ in der Überschrift ein biss-chen brutal klingt. Sie haben aber erkannt, dass eine Haf-tung eingeführt werden muss, wenn Boni gezahlt wer-den. Das leistungsorientierte Vergütungssystem an sichist nichts Schlimmes. Es muss aber mit einer Haftungverbunden werden. Von daher sind wir auf einer Linie.Über den langfristigen Erfolg können wir uns noch un-terhalten. Wir müssen darüber diskutieren, wie vieleJahre „langfristig“ ist. Das ist eine Diskussion über diezeitliche Dimension, in die wir da eintreten.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 24. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Februar 2010 2111
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Björn SängerAus unserer Sicht gehört auch ein Malus dazu. Wennes in die eine Richtung geht, dann geht es auch immer indie andere Richtung. Wir müssen die Rechte der Aktio-näre in der Hauptversammlung stärken und für Gehalts-transparenz sorgen. Wir brauchen in den Aufsichtsräteneffiziente Strukturen, also eine Begrenzung der Man-date, und die persönliche Haftung der Aufsichtsräte. Wirmüssen dafür sorgen – Thema persönliche Haftung –,dass dann, wenn ein Manager scheitert, nicht auch nochder Selbstbehalt im Rahmen der D&O-Versicherungvom Unternehmen gezahlt wird; dann hätte man nämlicheine Vollkaskoversicherung, und das wollen wir nicht.Wer den Karren an die Wand gefahren hat, der mussauch persönlich, am eigenen Einkommen und am eige-nen Vermögen, spüren, dass er einen Fehler gemacht hat.
Außerdem brauchen wir eine Wartezeit beim Wechselvom Vorstand in den Aufsichtsrat.All das ist grundsätzlich richtig. Aber Sie haben in Ih-rem Antrag einen kleinen Fehler gemacht, der die Zu-stimmung bedauerlicherweise unmöglich macht, näm-lich die Begrenzung des Betriebsausgabenabzugs.
Damit bekämpft man nicht die Ursachen, sondern dasführt schlussendlich dazu, dass die Kosten steigen, waszulasten des Eigenkapitals geht; das habe ich schon er-wähnt.
– Nein, ich will sie nicht gesetzlich begrenzen. – Ge-haltszahlungen sind nach wie vor Betriebsausgaben unddemzufolge auch steuerlich abzugsfähig.
Ich fasse zusammen: Von den Linken habe ich nichtsanderes erwartet. Ein ausdrückliches Lob an die Grünen,bis auf die Kleinigkeit, die ich angesprochen habe; aberdaran können wir arbeiten.Danke.
Das Wort hat der Kollege Dr. Gerhard Schick für die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es istein guter Stil, dass wir sachlich diskutieren. – Da wir ge-rade über Bonizahlungen in Millionenhöhe reden,möchte ich den Bezug zur Sozialstaatsdebatte herstellen,weil ich glaube, dass dieser Bezug wichtig ist. Wennman irgendwo von spätrömischer Dekadenz sprechenkann, dann bei den Gehaltsexzessen in den Spitzenposi-tionen unserer Wirtschaft.
Deswegen ist dieser Begriff gerechtfertigt. Es wird übri-gens auch von vielen vernünftigen Leuten in dieserBranche inzwischen so gesehen, dass es sich um Ge-haltsexzesse handelt. Deswegen sagen wir es so, wie esist.
Ich glaube, es ist wichtig, deutlich zu machen, dassdiese Zahlungen drei Probleme auslösen: Zum Erstenschaden sie dem Institut selbst, wenn viel zu riskantesGeschäft belohnt wird. Zum Zweiten destabilisierendiese Zahlungen den gesamten Finanzmarkt und könnteneine weitere Krise auslösen; deswegen muss hier schnellgehandelt werden. Das Dritte ist: Sie führen zu einerAuseinanderentwicklung in unserer Gesellschaft, die wirnicht hinnehmen dürfen. Das Schlimme daran ist, dassdurch den Betriebskostenabzug auch noch die breiteMasse der Steuerzahlerinnen und Steuerzahler belastetwird.
Deswegen setzen wir hier an.
An diesen drei Punkten muss sich jeder Vorschlag,der gemacht wird, messen lassen. Der Vorschlag derLinkspartei greift zu kurz, weil die vorgesehenen Rege-lungen leicht zu umgehen sind. Er greift nicht bei Fixge-hältern, bei denen über Aktienoptionen natürlich auchentsprechende Anreize ausgelöst werden können.
Außerdem begrenzen Sie Ihre Forderungen auf dieFinanzbranche. Dazu muss ich sagen: Porsche gehörtnicht zur Finanzbranche, aber auch dort ist heftig speku-liert worden. Auch darauf muss es eine Antwort geben.
Ich frage mich: Ist es eigentlich gerecht, bei jeman-dem, der ein geringes Fixgehalt hat und eine Bonus-
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Dr. Gerhard Schickzahlung in Höhe von 30 000 Euro erhält, auf dieseBonuszahlung eine zusätzliche Steuer zu erheben, bei je-mandem mit einem Fixgehalt von 2 Millionen Euro aberkeine zusätzliche Steuer zu erheben?Wir gehen dieses Thema systematischer an und orien-tieren uns dabei an den genannten drei Punkten: Erstensverstärken wir die Kontrollmechanismen in den Unter-nehmen, damit die Eigentümer dafür sorgen können,dass die Vorstände das Unternehmen nicht als Selbstbe-dienungsladen begreifen. Das muss über den Aufsichts-rat und die Hauptversammlung geschehen.
Das ist ein wichtiger Punkt: bessere Kontrollmechanis-men und Haftung in den Unternehmen selbst.Zweitens müssen wir dafür sorgen – jetzt gebe ich dasLob an Sie zurück; das, was Sie hierzu vorschlagen, istnämlich richtig –, dass die BaFin das besser kontrollie-ren kann.Der dritte Aspekt ist der steuerliche Ansatzpunkt.
Es gibt ein Maß, ab dem nicht mehr argumentiert werdenkann, dass es sich um eine notwendige Betriebsausgabehandelt. Das ist dann der Fall, wenn es exzessiv prakti-ziert wird und nicht mehr mit Leistung begründet wer-den kann. Deswegen wollen wir bei Abfindungen von1 Million Euro die Grenze dessen ziehen, was wir nochals notwendige Betriebsausgabe anerkennen.
Gehälter, die 500 000 Euro übersteigen, wollen wir im-merhin noch zur Hälfte als notwendige Betriebsausgabeakzeptieren. Diese Vorschläge lassen immer noch eineRiesengehaltsspanne zu; aber wir geben damit eine kon-sequente Antwort auf die Gehaltsexzesse, die es gibt,und sorgen, indem wir verhindern, dass Finanzmarkt-unternehmen, wie es zurzeit der Fall ist, in eine Fehlsteu-erung geraten, für stabilere Finanzmärkte und mehr Ge-rechtigkeit.Danke schön.
Das Wort hat der Kollege Olav Gutting für die Unions-
fraktion.
Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen!Letzte Woche hat die Linksfraktion die Einführung derTobin-Steuer bzw. Börsenumsatzsteuer gefordert, davoreine Bankensonderabgabe à la Obama, dazwischen oderdavor – ich weiß es schon gar nicht mehr so genau – Ent-eignung der Banken und Überführung der Kreditinstitutein das Eigentum der öffentlichen Hand. Jetzt fordert sieeine Bonisondersteuer. Was wollen Sie denn nun?
Wir sind uns einig: Wir müssen die Institute, die fürdiese Krise hauptverantwortlich sind, an den Kosten derKrise angemessen beteiligen. Das sind wir den Steuer-zahlerinnen und Steuerzahlern schuldig.
Was noch viel wichtiger ist: Wir müssen dafür Sorgetragen, dass eine solche Krise, wie wir sie in den letztenzwei Jahren erlebt haben, nicht mehr entstehen kann.Wir haben bereits gehandelt. Unter anderem haben wireinen Selbstbehalt bei D&O-Versicherungen eingeführt.Variable Vergütungsbestandteile müssen zukünftig einemehrjährige Bemessungsgrundlage haben. Wir habendafür gesorgt, dass Aktienoptionen frühestens nach vierJahren ausgeübt werden können. Der Aufsichtsrat mussnun für unangemessene Vergütung des Vorstandes haf-ten. Auch bei Verbriefungen bleibt nun ein Selbstbehalt.Die Vorgaben des Baseler Ausschusses für Bankenauf-sicht für eine höhere Eigenkapitalunterlegung gelten.Demnächst werden wir dafür sorgen, dass die BaFin indie Auszahlung variabler Vergütungsbestandteile ein-greifen und diese sogar untersagen kann.
Wir sorgen damit für Vergütungssysteme, die angemes-sen sind, die transparent sind und die vor allem auf einenachhaltige Entwicklung des jeweiligen Unternehmensausgerichtet sind.
Ich möchte Sie bitten, zur Kenntnis zu nehmen, dassdie allermeisten Institute in Deutschland bereits reagierthaben. Der Anteil der Bar-Boni, auf die Sie zuzugreifenbeabsichtigen, an der variablen Vergütung ist längst aufeinen Bruchteil zurückgegangen. Die Boni werden heutein der Regel auf Sperrkonten eingezahlt, auf die erstnach zwei, drei, vier Jahren zugegriffen werden kannund auch nur dann, wenn eine nachhaltige positive Ent-wicklung des Unternehmens erkennbar ist. Das ist nichtnur der richtige Weg, das ist bereits die Realität; dasmüssen Sie zur Kenntnis nehmen.
Vor diesem Hintergrund muss man sich die Frage stel-len, was Sie mit Ihrem Antrag bezwecken wollen. Wel-che Zielrichtung verfolgen Sie, wo ist bei der Besteue-rung der Boni der Lenkungszweck? Das Problemfalscher Anreizimpulse wird mit einer solchen Sonder-besteuerung jedenfalls nicht gelöst. Sie wollen dieseBoni bereits bei den Unternehmen besteuern. Die Praxisin Großbritannien zeigt – Sie haben es selbst eingeräumt –,dass die Unternehmen die Boni weiter bezahlen, nur
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Olav Guttingdass es sie nun das Doppelte kostet. Diese Besteuerunghat also letztendlich keinen greifbaren Lenkungseffektdahin gehend,
dass die Anreize, die wir als mitverantwortlich für dieKrise erkannt haben, in irgendeiner Form eingedämmtwürden.Außerdem ist da die Frage der rechtlichen Zulässig-keit. Zum einen ist der Gleichheitsgrundsatz nach Art. 3Grundgesetz zu beachten. Eine Sondersteuer für dieBoni von Bankmanagern wäre nur bei einer sachgerech-ten Begründung im Hinblick auf den Lenkungszweckmit dem Grundgesetz vereinbar. Worin soll dieser Len-kungszweck bestehen? Wir sehen an dem Beispiel Groß-britannien doch, dass es quasi keinen Lenkungseffektgibt. Zudem soll die ganze Sache auf vier Monate be-grenzt sein. Ein Lenkungseffekt ist deswegen nicht er-kennbar, und er wäre in Deutschland auch nicht vonnö-ten, weil die notwendige Lenkung bereits durch dievorhin genannten Maßnahmen der Bundesregierung ge-währleistet ist.
Was ist zum anderen mit dem Übermaßverbot nachArt. 14 Grundgesetz? Zuerst wollen Sie 50 Prozent beider Bank abschöpfen, und danach wollen Sie noch ein-mal abschöpfen, und zwar bei dem betroffenen Mitarbei-ter, der einen Grenzsteuersatz von 51 Prozent – inklusiveder Kirchensteuer – hat.Jetzt kommen wir einmal zu dem Gutachten vomWissenschaftlichen Dienst, das Sie vorhin angesprochenhaben. Sie haben es offensichtlich nicht gelesen; denn indem Gutachten des Wissenschaftlichen Dienstes steht,dass genau diese Besteuerung mit zweimal circa50 Prozent eine unzulässige Doppelbesteuerung ist.
Vor diesem Hintergrund muss man sich jetzt fragen: Wassoll diese Bonibesteuerung?Auch hier hilft ein Blick nach Großbritannien; denndadurch wird einiges erklärt. In Großbritannien gibt esdiese Strafsteuer befristet auf vier Monate. Wenn jetztirgendjemand auf die Idee kommt, einen Zusammenhangzwischen diesem kurzfristigen Aktionismus und damitzu sehen, dass in Großbritannien in drei Monaten Parla-mentswahlen stattfinden, dass dieser Aktionismus alsonur etwas mit Populismus zu tun hat, dann liegt er rich-tig.
Das Ergebnis ist: Durch die Bonibesteuerung mögenNeidkomplexe möglicherweise kurzfristig befriedigtwerden, in der Sache bringt sie uns jedenfalls nicht wei-ter. Deswegen gehen wir diesen Weg nicht mit.
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 17/452 und 17/794 an die in der Tages-
ordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind
Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann sind
die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 9 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Fünften Gesetzes zur
Änderung des Kraftfahrzeugsteuergesetzes
– Drucksache 17/717 –
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Parla-
mentarische Staatssekretär Hartmut Koschyk.
H
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Die Kraftfahrzeugsteuer ist seit dem 1. Juli 2009 eineBundessteuer, für die aufseiten der Bundesregierung derBundesminister der Finanzen zuständig ist. Im Wege ei-ner Organleihe bedienen wir uns übergangsweise, biszum 30. Juni 2014, der Landesfinanzbehörden.Es ist das Ziel der Bundesregierung, mit dem heutehier eingebrachten Gesetzentwurf bereits einen erstenwichtigen Schritt zur Vereinheitlichung und Vereinfa-chung der Normen im Kraftfahrzeugsteuergesetz vorzu-nehmen. Damit soll eine gleichmäßige und erleichterteRechtsanwendung im Bundesgebiet erreicht werden.Ich möchte auf folgende Regelungen in dem Gesetz-entwurf kurz zu sprechen kommen:Die steuerrechtlichen Hinderungsgründe bei der Zu-lassung von Kraftfahrzeugen zum Verkehr auf öffent-lichen Straßen, nämlich die Verpflichtung zur Abgabeeiner Einziehungsermächtigung des künftigen Haltersund die Prüfung der Kraftfahrzeugsteuerrückständedurch die Zulassungsbehörde, werden nun durch Bun-desgesetz geregelt. Dadurch werden, soweit dies mög-lich ist, die entsprechenden Rechtsverordnungen derLänder und Landesgesetze abgelöst. Diese Maßnahmedient der Deregulierung und Vereinfachung des Rechtsund bildet einen Schwerpunkt in dem Gesetzentwurf.Des Weiteren wollen wir die befristete Steuerbefrei-ung für Diesel-Pkw der Abgasstufe Euro 6 zur Abwen-dung eines Vertragsverletzungsverfahrens auf Erstzulas-sungen im Zeitraum vom 1. Januar 2011 bis 31. Dezember2013 beschränken. Für Erstzulassungen im Zeitraum
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Parl. Staatssekretär Hartmut Koschykvom 1. Juli 2009 bis zur Verkündung des Gesetzes isteine Vertrauensschutzregelung vorgesehen.Die anstehenden Maßnahmen zur Tierseuchenbe-kämpfung sollen nicht zu zusätzlichen finanziellen Be-lastungen der Landwirtschaft, insbesondere der Milch-wirtschaft, führen. In bestimmten Regionen wird derTransport der Gewebeproben auf dem Wege der Mit-nahme durch die Milchsammelfahrzeuge kostengünstigerfolgen. Durch eine klarstellende Erweiterung der Re-gelung über die Steuerbefreiung der Milchsammelwagenwird sichergestellt, dass diese Mitnahme der Gewebe-proben nicht zum Wegfall der Steuerbefreiung führt.Eine weitere Maßnahme in dem Gesetzentwurf, dieder Vereinheitlichung des Vollzugs des Kraftfahrzeug-steuergesetzes im Bundesgebiet dient, stellt die vorgese-hene Änderung der Verfahrensweise bei der zwangswei-sen Außerbetriebsetzung von Kraftfahrzeugen beiKraftfahrzeugsteuerrückständen dar. Diese sollen aus-schließlich von den zuständigen Zulassungsbehördendurchgeführt werden.Schließlich geht es darum, dass für zulassungspflich-tige drei- und leichte vierrädrige Kraftfahrzeuge, darun-ter die sogenannten Trikes und Quads, die Steuer nachdem Hubraum und der jeweiligen EU-Abgasstufe be-messen werden soll. Dies ist erforderlich, da keine CO2-Werte vorliegen, die in gesicherten obligatorischen Ver-fahren ermittelt wurden.Außerdem erhält der Gesetzentwurf noch klarstel-lende Regelungen zum Beispiel zu den steuerlichen Be-messungsgrundlagen bei Elektro-Pkws. Dies erleichtertdie Rechtsanwendung hinsichtlich bereits geltender Ver-günstigungen für Elektromobilität in Deutschland.Abschließend wollen wir durch das Gesetz eineRechtsgrundlage schaffen, um weiterhin die möglicheAufrechnung von Steueransprüchen zu gewährleisten.Wir bitten das Parlament um zügige Beratung des Ge-setzentwurfs der Bundesregierung.
Das Wort hat die Kollegin Ingrid Arndt-Brauer für die
SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen undHerren! Ich fand es sehr erstaunlich, Herr Staatssekretär,dass ein Gesetzentwurf praktisch komplett vorgelesenwurde; das habe ich bisher noch nicht erlebt. Aber das istin diesem Fall gut möglich; denn die Begründung um-fasst nur zwei Seiten.
Damit komme ich zum Kernproblem. Ich hatte selbervor, in meiner Redezeit den Gesetzentwurf vorzulesen.Jetzt haben Sie das schon getan, und ich will das nichtwiederholen.
Aber müssen wir eigentlich die wertvolle Zeit, die wirhier verbringen, einem solchen Gesetzentwurf widmen?Ich habe einmal nachgesehen: Vor ungefähr einemJahr hatten wir 34 Tagesordnungspunkte. Das war amEnde der Ära der Großen Koalition, und wir hatten nichtmehr viele Reformen vor uns. Aber damals musste un-heimlich viel zu Protokoll gegeben werden.Heute Morgen haben wir mit der Situation der Woh-nungswirtschaft angefangen. Das ist zwar wichtig, aberdieses Land wartet darauf, dass Sie uns endlich etwasGrundsätzliches vorlegen, damit wir in eine Reform ein-steigen können. Stattdessen ändern wir hier Marginalien.Ich habe gestern im Ausschuss gefragt, ob es Ände-rungsvorschläge geben wird oder ob wir eine Anhörungbrauchen. Darauf wurde mir gesagt, es werde nichts der-gleichen geben. Jetzt wundere ich mich; denn in dieserBundesregierung gibt es ja Ideen. Gestern Abend warHerr Pofalla im Beirat für nachhaltige Entwicklung. Erhat mir erzählt, dass die Regierung Vorreiter für Elektro-mobilität werden will, dass unheimlich viel geplant undeine entsprechende Förderung vorgesehen ist. Ich fragemich, wo es diese Förderung geben wird, wenn das beiIhnen im Ministerium nicht angekommen ist.Des Weiteren gibt es eine Wirtschaftsministerkonfe-renz, die letztes Jahr getagt, tolle Beschlüsse gefasst undtolle Berichte erstellt hat. Sie hat unter anderem den Ein-stieg in die Elektromobilität mit einer entsprechendenFörderung beschlossen.Sie hingegen fördern Elektroautos nicht mehr undnicht weniger als zuvor. Reichweitenverlängerungkommt bei Ihnen nicht vor. Ich frage mich, wie Sie inder Industrie Signale setzen wollen, ohne vorher ein paarIdeen zu entwickeln, was man machen könnte.
Eine solche Vision haben Sie nicht. Dann ändern Siewenigstens das, was den Menschen gegenwärtigSchwierigkeiten bereitet. Es gibt immer noch Menschen,die ihr Auto nicht abgewrackt haben, das aber älter alsdrei Jahre ist, und die nicht in der Lage sind, einen Ruß-partikelfilter nachzurüsten, zum Beispiel beim Audi A2oder beim Lupo. Diese Leute müssen jetzt in jeder Stadt,in die sie fahren, eine Plakette für ein Jahr kaufen. Ob inBerlin, Hannover oder in München, sie brauchen jedesMal eine neue Plakette für 50 Euro. Das ist doch furcht-bar.Hier gäbe es die Chance, das zu ändern; denn – Siehaben darauf hingewiesen – der Bund hat erstmalig diegesamte Gesetzgebung zur Mobilität in seiner Hand. Ichfinde, Sie vertun eine unheimlich große Chance, indemSie einen solchen Gesetzentwurf vorlegen, aber nichteinmal die Probleme, die die Menschen im Moment ha-ben, anpacken und lösen.
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Ingrid Arndt-BrauerIch denke, dass wir uns damit beschäftigen müssen,was wir in Zukunft im Bereich Mobilität tun wollen. Wirwürden uns sicherlich alle freuen, wenn wir CO2-armeAutos bzw. Elektroautos hätten und abgasfrei auf deut-schen Straßen fahren könnten. Sie hätten jetzt dieChance, damit anzufangen. Sie hätten die Chance, einzu-stielen, dass die Industrie entsprechende Forschung be-treibt, zum Beispiel im Batteriesektor. Die anderenMinisterien warten darauf. Ich verstehe überhaupt nicht,wieso man solch eine Chance nicht frühzeitig nutzt undeine entsprechende Förderung betreibt. Ich denke, dassind wir unseren nachfolgenden Generationen schuldig.Sie wollen all das nicht tun und sagen: Nein, wir be-schränken uns auf Regelungen – das ist so lächerlich,dass ich es kaum vorlesen kann – zur „Mitnahme vonGewebeproben zur Tierseuchenbekämpfung durchMilchsammelfahrzeuge“.
– Nein, das ist auch für Bauern lächerlich. Auch derBundesrat tritt dem Eindruck entgegen, „dass die Mit-nahme von Gewebeproben zur Tierseuchenbekämpfungin der Regel durch Milchfahrzeuge erfolgt.“ Das ist völ-lig fern der Realität. Der Bundesrat bittet darum, klarzu-stellen, dass die Regelung für alle Fahrzeuge im ländli-chen Bereich gelten sollte. Die Empfehlungen desBundesrats zeigen schon im Ansatz, dass all das, was wirhier tun, ein bisschen blödsinnig ist.
Ich möchte Sie bitten, die Situation, die wir im Mo-ment vorfinden – Stillstand in allen Bereichen, Ökono-men erwarten maues Wachstum –, zu nutzen: Steigen Sieals Erstes mit der Reform der Kfz-Steuer und später mitder Mobilität als Ganzes in neue Bereiche ein! NehmenSie etwa den Einstieg in die Elektromobilität, den die an-deren Ministerien schon vorbereiten, auch im Finanz-ministerium wahr! Betreiben Sie eine nachhaltige Poli-tik, von der wir etwas haben! Es reicht nicht, dass Siehier Gesetzesentwürfe fast komplett vorlesen und glau-ben, damit könne man vernünftige Politik betreiben.Denken Sie daran, was wir letztes Jahr zu dieser Zeit ge-macht haben! Schauen Sie in die Protokolle – ich kannsie Ihnen gern zur Verfügung stellen – und orientierenSie sich daran! Im Moment verschwenden wir unsereZeit mit Marginalien.
Das sollten wir den Steuerzahlern nicht antun.Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.
Das Wort hat die Kollegin Dr. Birgit Reinemund für
die FDP-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ob esim Deutschen Bundestag eine Debatte gibt, entscheidetdas Parlament, nicht die Regierung. Ich war erstaunt,dass man so emotional zu diesem technischen Themasprechen kann.
Es geht hier bereits um das Fünfte Gesetz zur Ände-rung des Kraftfahrzeugsteuergesetzes. Die letzte Ände-rung gab es 2009, davor 2008, 2007 usw. Es handelt sichalso um ein Gesetz, das offensichtlich jährlich angepasstwerden muss. Die Kfz-Steuer ist komplex, stark diffe-renziert, mit vielen Sondertatbeständen behaftet, ebenhoch bürokratisch.Frau Arndt-Brauer, was Sie als „blödsinnig“ und als„Marginalien“ bezeichnet haben, muss dennoch heutebesprochen werden; denn es besteht einiger Handlungs-bedarf, vor allem, um ein drohendes EU-Vertragsverlet-zungsverfahren abzuwenden. Die Große Koalition hateine deutsche Sonderregelung im Gesetz fixiert, die alsWettbewerbsverzerrung angemahnt wurde. Jetzt mussdie Geltungsdauer der befristeten Steuerbefreiung fürDiesel-Pkw der Abgasstufe 6 schnellstens an das Ge-meinschaftsrecht angepasst werden.Seit Juli 2009 ist die Kfz-Steuer Bundessache, alsonicht mehr Ländersache. Nach Übertragung der Ertrags-und Verwaltungshoheit auf den Bund müssen nun bisspätestens 30. Juni 2010 die auslaufenden Länderverord-nungen in Bundesrecht überführt werden.Ein weniger dringender, aber wichtiger Aspekt diesesGesetzentwurfs: Wer künftig ein Kraftfahrzeug zulassenwill, wird mit Inkrafttreten dieses Gesetzes bundesweitauf Steuerrückstände überprüft, nicht mehr nur im jewei-ligen Bundesland. Die bisher bei den Ländern gesam-melten Daten zur Kraftfahrzeugsteuer sollen dazu zen-tral verwaltet werden. Damit wird eine bundesweiteKraftfahrzeugsteuerrückständeprüfung – ein Wortunge-tüm – möglich. Das ist eine vernünftige Lösung zur Be-kämpfung von Steuerhinterziehung.
Hierbei handelt es sich nicht um ein Bagatellthema:Nach Angaben des Bundesministeriums der Finanzenbeliefen sich die Steuerrückstände 2008 auf immerhin194 Millionen Euro.
Die Landesfinanzbehörden verwalten die Kraftfahr-zeugsteuer für den Bund im Wege der Organleihe nochbis Mitte 2014. Das gibt uns die Möglichkeit, ohne Zeit-druck neue Strukturen aufzubauen. Allerdings kostet unsdieser Service für die Jahre 2010 bis 2013 170 Millionen
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Dr. Birgit ReinemundEuro jährlich, sodass durchaus überlegenswert ist, dieseÜbergangsfrist zu verkürzen.Ziel der Übertragung der Kfz-Steuer auf den Bundwar eine Vereinheitlichung und Deregulierung der Nor-men. In diese Richtung zielen die weiteren Definitionenund Klarstellungen dieses Entwurfs. Zum Beispiel wirddie Bemessungsgrundlage für die Besteuerung vonTrikes und Quads definiert, die nach Hubraum undSchadstoffemissionen klassifiziert werden müssen, danoch keine standardisierten CO2-Messmethoden existie-ren. Das gilt übrigens auch für alle Bestands-Pkws, dievor dem 1. Juli 2009 zugelassen wurden. Das wirft dieFrage auf, ob vorgesehen ist, diese Sonderfahrzeuge ab2013 auf eine Steuerbemessung nach Kohlendioxidemis-sion umzustellen, wie es für die Bestandsfahrzeuge be-reits gesetzlich vorgeschrieben ist.Um die Landwirtschaft finanziell zu entlasten, sollder Transport von Gewebeproben zur Tierseuchenbe-kämpfung in Milchsammelwagen steuerunschädlich er-möglicht werden. Auch das ist keine Bagatelle. Das wirddem ländlichen Raum deutlich weiterhelfen. Positiv zubeurteilen sind die Anregungen verschiedener Agrar-und Veterinärverbände, diese Steuerbefreiung auf denTransport von Laborproben allgemein auszuweiten. Wasspricht dagegen?Wie ich eingangs meiner Rede erwähnte, beraten wirhier über eine weitere Änderung des Kraftfahrzeugsteu-ergesetzes, was fast jährlich auf der Tagesordnung steht.Wäre es nicht sinnvoll, über eine Vereinfachung nachzu-denken?
Wir schlagen vor, die verkehrsbezogenen Steuern zu-sammenzufassen, zum Beispiel indem die Kraftfahr-zeugsteuer auf die Mineralölsteuer umgelegt wird. Dafürsprechen aus meiner Sicht eine Reihe guter Gründe.
Der Wegfall einer kompletten Steuerart ist ein Beitragzur Vereinfachung und zum Bürokratieabbau.
– Gerne. – Die Stärkung des Verursacherprinzips, dasheißt, dass derjenige, der mehr fährt, auch mehr bezahlt,ist ökologisch durchaus sinnvoll.
Ein Auto, das 90 Prozent der Zeit in der Garage steht,emittiert schließlich auch 90 Prozent weniger CO2.Diese Chance zur Steuervereinfachung haben wir jetzt,nachdem die Zuständigkeit auf den Bund übergegangenist. Lassen Sie uns darüber diskutieren.Vielen Dank.
Das Wort hat der Kollege Richard Pitterle für die
Fraktion Die Linke.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kol-legen! Einerseits haben Sie unsere Zustimmung, soweitSie die Milchwirtschaft bei der Bekämpfung der Tier-seuchen durch Steuerbefreiung für Milchfahrzeuge un-terstützen wollen, andererseits frage ich mich jedoch,warum die FDP Sonntagsreden über die Vereinfachungdes Steuerrechts durch die Abschaffung von Ausnahme-tatbeständen hält, wenn sie uns heute dazu anstiftet, ei-nen weiteren Ausnahmetatbestand im Steuerrecht zuschaffen. Diese Frage muss doch erlaubt sein. Vielleichtlernt die FDP jetzt in der Regierung, dass man mit Bier-deckelpopulismus keine Probleme lösen kann und Lo-sungen keine Lösungen ersetzen.
Es bleibt zu hoffen, dass auch Herr Westerwelle dasnoch lernt.Die im vorliegenden Gesetzentwurf vorgeschlagenenMaßnahmen zur Änderung des Kraftfahrzeugsteuerge-setzes lassen die wirklich wichtigen Themen außen vor.In einigen Bereichen der Kfz-Steuerregelungen bestehennämlich Verbesserungsbedarf und -potenzial. Wie wiralle wissen, erfüllt die Kfz-Steuer eine Lenkungsfunk-tion, die die Bürgerinnen und Bürger zum Handeln in so-zialem oder ökologischem Sinn veranlassen soll. Diebefristete Steuerbefreiung bei der Erstzulassung vonDieselpersonenkraftwagen der anspruchsvollsten Abgas-stufe Euro 6 lässt dies deutlich erkennen. Sie entfalteteine Anreizwirkung beim Neuwagenkauf zur frühenEinführung emissionsarmer Fahrzeuge, die wir als Linkebegrüßen. Nachdem diese nun kurzfristig ausgesetztwerden muss, bleibt die Frage, warum die Bundesregie-rung es versäumt hatte, abzuklären, ob die befristeteSteuerbefreiung mit dem EU-Recht vereinbar ist.Wir befürworten diese Steuerbefreiung und insbeson-dere die Beschränkung auf Neuwagen; denn emissions-arm bedeutet nicht notwendig klimaschonend. DieAbgasnorm Euro 6 legt nur die Grenzwerte für Kohlen-monoxid, Stickstoffoxide, Kohlenwasserstoffe und Parti-kel fest, nicht jedoch für CO2. Im Jahr 2009 lag derdurch den gesamten Verkehr verursachte prognostizierteAnteil an den CO2-Emissionen Deutschlands bei 19 Pro-zent, der allein von Pkw verursachte bei 12 Prozent. Dader von Pkw verursachte Anteil an den gesamten CO2-Emissionen beständig wächst, sind wirkungsvolle Maß-nahmen für den Personenverkehr unerlässlich.Es ist nicht hinnehmbar, dass die CO2 ausstoßendenSpritschlucker, die sich auf den Straßen tummeln, vonuns nicht zur Kasse gebeten werden.
Dies war bereits ein schwerwiegendes Versäumnis derGroßen Koalition. Als die EU-Verordnung zu CO2-
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Richard PitterleEmissionsnormen für Personenkraftwagen eine Refor-mierung des Kraftfahrzeugsteuergesetzes erforderlichmachte, hat die damalige Bundesregierung die Chancevertan, das neue Gesetz vernünftiger zu gestalten. Dieheutigen Nachbesserungen sind einfach ungenügend.So berechtigt die steuerlichen Anreize zum Kauf vonteuren Ökoautos sind, so muss auch beachtet werden,dass der klassische Kleinwagen ebenfalls wenig Spritverbraucht. Die Besitzer von großen Limousinen, Sport-und Geländewagen, die zur Kategorie der extremenSpritschlucker gehören, sollten wir aufgrund des über-mäßigen CO2-Ausstoßes steuerlich stärker belasten.
Tun wir dies nicht, schaffen wir weder Anreize zu leich-teren, langsameren und verbrauchsärmeren Fahrzeugennoch solche zum Umstieg auf öffentliche Verkehrsmittel.Gerade die Verlagerung des Verkehrs vom Individual-verkehr hin zu öffentlichen Verkehrsmitteln und auf dieSchiene muss bei der steuerlichen Lenkung mehr Beach-tung finden.Obwohl aus dem Verkehrsministerium viele Ankün-digungen kommen, lassen die Taten auf sich warten.Durch die grundlegende Reform der Kraftfahrzeugsteuersind die steuerlichen Regelungskapazitäten nun auf denBund übergegangen, was die Entscheidungsverfahrenbedeutend vereinfacht. Auf eine Blockadepolitik derLänder können Sie sich nunmehr nicht mehr berufen,wenn Sie Ihre Untätigkeit auf diesem Gebiet entschuldi-gen wollen. Nutzen Sie jetzt die Chancen für eine Poli-tik, die für ein besseres Klima sorgt! Die Umwelt mussim Mittelpunkt stehen und nicht länger die Ihnen nahe-stehende Autolobby.Danke.
Das Wort hat die Kollegin Lisa Paus für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir re-den heute – das wurde schon mehrfach erwähnt – übereine Gesetzesänderung, deren spannendste Neuerung dieerweiterte Steuerbefreiung für Fahrzeuge aus dem Be-reich der Milchwirtschaft und der Zollverwaltung ist. Soweit, so wenig. Auch ich muss mich leider in diese Mei-nung einreihen.Interessant an Ihrer Vorlage ist vor allem das, wasnicht in ihr steht. Seit 2009 ist die Kraftfahrzeugsteuerkeine Länder-, sondern eine Bundessteuer. Das habenwir Grüne damals ausdrücklich begrüßt. Wir hatten dieslange gefordert; denn damit liegt die Kompetenz für alleKfz-bezogenen Steuern endlich auf Bundesebene, und eswäre eine konsistente Steuerpolitik in diesem Bereichmöglich. Allerdings, man muss diese Chance auch er-greifen.
Stattdessen legen Sie uns einen Gesetzentwurf vor, derdas Kraftfahrzeugsteuergesetz lediglich technisch undformal in ein paar Punkten nacharbeitet, weil Sie dies imZuge der Föderalismusreform II versäumt haben oder ei-nige Dinge von der EU-Kommission bemängelt wordensind.Dabei ist eine grundlegende ökologische Reformdringend geboten. Ich sage Ihnen, warum. Der durchVerkehr bedingte CO2-Ausstoß ist seit 1990 nicht gesun-ken, sondern ist – wir alle wissen es – kontinuierlich unddramatisch gestiegen. Gleichzeitig hat sich Deutschlandauf EU-Ebene aus guten Gründen verpflichten müssen,die Emissionen im Verkehrs-, Haushalts- und Landwirt-schaftsbereich bis 2020 gegenüber 2005 um 14 Prozentzu senken. Ich frage Sie: Wie wollen Sie dieses Ziel er-reichen, wenn wir nicht endlich alle Instrumente in dieHand nehmen, die uns zur Verfügung stehen, um im Ver-kehrsbereich Fortschritte im Klimaschutz zu machen?
Es reicht eben nicht, dass wir ein paar Förderprogrammefür die Forschung an neuen Antriebssystemen auflegen.Wir müssen auch im Rahmen der Kfz-Steuer ernsthafteAnreize setzen, um den CO2-Ausstoß im Verkehr zu sen-ken.Die Signale von Schwarz-Gelb gehen aber leider– wir wissen es – in eine ganz andere Richtung. Erst ges-tern bestätigten Sie, Herr Staatssekretär Koschyk, mirzum Beispiel im Finanzausschuss, dass sich die Koali-tion nicht für CO2-basierte Steuern und Abgaben in derEU einsetzt. Ich warte schon darauf, dass Sie die Mini-reform vom vergangenen Jahr wieder rückgängig ma-chen, nach dem Motto: Mit Vollgas in die Vergangen-heit, auf der Suche nach der politisch-geistigen Wende!
Dabei sagt Verkehrsminister Ramsauer selbst, dassVerkehr und Bauen für 70 Prozent des Primärenergiever-brauchs und für 40 Prozent der Treibhausgasemissionenverantwortlich sind. Wir Grünen haben immer ange-mahnt, bei der Kfz-Steuer keine Mogelpackung zu ma-chen, sondern sie richtig zu reformieren, und das heißteben, eine vollständige Umstellung auf eine CO2-Basis.Bei einer rein CO2-orientierten Kfz-Steuer, wie wir sieuns vorstellen, wären nicht, wie bei Ihnen, die großenDieselfahrzeuge am Ende sogar die Gewinner der Re-form; vielmehr würden die Besitzer großer Spritschlu-cker tatsächlich spürbar mehr zur Kasse gebeten als dieHalter kleiner und sparsamer Fahrzeuge.Wir wollen als ersten Schritt Fahrzeuge bis zu einemCO2-Ausstoß von 120 Gramm pro Kilometer für vierJahre steuerfrei stellen und höhere CO2-Ausstöße pro-gressiv besteuern. Das ist nicht nur ökologisch, sondernauch sozial sinnvoll; denn es belastet diejenigen am
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Lisa Pausmeisten, die sich teure, schwere Karossen leisten kön-nen.
Leider sehe ich keine Anzeichen, dass Sie hier aktivwerden wollen. Stattdessen das Gegenteil: Verkehrsmi-nister Ramsauer hat etwas angekündigt, was eigentlichnur am 1. April ernst genommen werden kann: die Ein-führung von sogenannten Wechselkennzeichen, um dieBesitzer von Zweit-, Dritt- oder Viertautos steuerlich zuentlasten. Das ist nicht nur für Verkehrssünder toll undwird den Autoschiebern sicherlich in die Hände spielen,nein, es ist auch ansonsten absurd. Ich hoffe sehr, dassdas nicht das letzte Wort der Bundesregierung in SachenReform der Kfz-Steuer sein wird. Fangen Sie endlich an,Politik zu machen, die auch für die restlichen 364 Tageim Jahr taugt!
Das Wort hat die Kollegin Patricia Lips für die Uni-
onsfraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen undHerren! Ich glaube, es gibt in diesem Land kaum einThema, das derart viele Menschen beschäftigt: Poten-ziell ist nahezu jeder über 18 davon in irgendeiner Formbetroffen. Insofern kann man die eine oder andere Auf-regung in diesem Haus verstehen. Wir haben schon inden Debatten der vergangenen Jahre viele Forderungengehört. Ich sage aber auch: Wir haben in der Vergangen-heit sehr konkrete Beschlüsse gefasst und umgesetzt.Diese Beschlüsse gingen im Hinblick auf Ziele und Len-kungswirkung durchaus in Richtung dessen, was von derPolitik gestaltet werden kann.Der vorliegende Gesetzentwurf kann in der Tat nichtisoliert betrachtet werden kann. Er ist die logische undunmittelbare Folge von Beschlüssen von vor etwa einemJahr. Was war geschehen?Erstens. Die Kfz-Steuer wurde derart neu gestaltet– lassen Sie mich das an dieser Stelle noch einmal beto-nen; es hört sich immer so an, als hätten wir gar nichtsgetan; damals hatten wir noch eine Große Koalition –,dass der CO2-Ausstoß seit Juli vergangenen Jahres einebesondere Berücksichtigung erfährt. Über viele Jahrewurde dieser Schritt immer wieder beschworen, und wiralle haben ihn immer wieder vertagt. Letztes Jahr sindwir diesen Schritt gegangen.Zweitens. Die Kfz-Steuer ging mit diesem Datum– hieraus resultiert der heutige Schwerpunkt – gänzlichan den Bund über. Sie war bis dahin zwar bundesgesetz-lich geregelt, aber im Aufkommen, das heißt in den Ein-nahmen, wie in der Verwaltung eine Ländersteuer.Beides, die Änderung der Bemessungsgrundlage wieder Übergang, waren in den Augen vieler sicher überfäl-lig und dennoch ein Kraftakt. Um heute zwei Zahlen zunennen: Immerhin ging und geht es um mehr als40 Millionen Pkw und um ein Steueraufkommen von8 bis 9 Milliarden Euro, welches in der Zuständigkeitwechselte.Ich betone es gern noch einmal: Bei allem, was heutediskutiert wird, war es damals gut und richtig, diesenSchritt zu gehen. Es war ein Beitrag zum Umweltschutz,zu mehr Gerechtigkeit und zur Deregulierung an einernicht unerheblichen Stelle in diesem Land. Politik kannund soll mit Anreizen für Käufer sowie mit Impulsen fürdie Industrie Lenkungsfunktionen ausüben; wir haben esheute mehrfach gehört. Eng verbunden damit ist es unsaber ebenso wichtig – lassen Sie mich auch dies sagen –,die Arbeitsplätze in dieser Branche im Blick zu behaltenund alle Maßnahmen daraufhin zu prüfen, gerade in Zei-ten wie diesen.
Dies gilt für die großen Hersteller gleichermaßen wie fürdie zahlreichen kleinen und mittleren Betriebe im Zulie-fererbereich.Vor diesem Hintergrund ist es schon wichtig, dass wirletztes Jahr beschlossen haben – ich möchte dieses Bei-spiel an dieser Stelle doch einmal konkret nennen, da esauch einen sehr engen Bezug zum vorliegenden Gesetz-entwurf hat –, dass beispielsweise bei einem neu gekauf-ten Diesel-Pkw eine befristete Steuerbegünstigung zugewähren ist, wenn das Fahrzeug eine besondere Normerfüllt und damit den Anforderungen vorzeitig mehr alseigentlich erforderlich genügt. Auch wenn nun aufgrunddes Gemeinschaftsrechts der EU der Zeitraum für dieseSteuerbegünstigung gegenüber dem ursprünglichen Vor-haben eingegrenzt werden musste, so zeigt doch diesesBeispiel, welche Möglichkeiten Politik mit Elementender Kfz-Steuer hat, um an bestimmten Stellen gezielteinzuwirken. Gleichzeitig ist das ein Punkt, der die Not-wendigkeit der im vorliegenden Gesetzentwurf vorge-schlagenen Korrekturen aufzeigt.Das bisherige Verfahren der Erhebung dieser Steuerdurch Länderverwaltungen mit unterschiedlichstenRechtsverordnungen kann nicht ad hoc umgestellt wer-den. Es bedarf eines Prozesses, um zu einer geordnetenZusammenführung an einer Stelle zu gelangen. Deshalbwurde in der Tat vereinbart, dass sich der Bund nochüber einige Jahre der Einrichtungen der Länder bedient.Ob es um die Behandlung von Steuerrückständen geht– auch ich halte das für einen durchaus wichtigen Punkt,den man einmal benennen sollte –, um die Voraussetzun-gen zur Zulassung wie zur Abmeldung von Fahrzeugen,um die Abgabenordnung oder anderes mehr – wir allekennen es aus eigener Erfahrung –,
vieles ist dabei zu berücksichtigen und technisch anzu-passen, auch wenn es nicht immer mit Änderungen dereigentlichen Kfz-Steuer oder ihrer Bemessungsgrund-lage verbunden ist.
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Patricia LipsMeine sehr geehrten Damen und Herren, es bleibtfestzustellen: Das bisher eingeleitete Verfahren, die Ver-antwortung für die Kfz-Steuer von den Ländern auf denBund zu übertragen, ist grundsätzlich auf einem gutenWeg. Gleiches gilt für die Einführung der neuen Bemes-sungsgrundlage, die seit Mitte des vergangenen Jahresgilt. Eher geräuschlos im Gegensatz zu vielen anderenThemen werden diese Aufgabenänderungen vollzogen,obgleich der Schritt insgesamt kein kleiner war und ist.Das vorliegende Gesetz soll dazu beitragen, diesen Pro-zess zu beschleunigen, Deregulierungen herbeizuführenund Sachverhalte zu klären.Der Dialog mit den Ländern geht in der kommendenZeit wie dargelegt weiter. Sehr vielfältig waren und sinddie Verfahren über viele Jahre vor Ort gewachsen.Selbstverständlich kann man sich immer noch mehrwünschen und sagen, was man noch alles mit der Verab-schiedung dieses Gesetzentwurfes verbinden könnte. Ichnenne einmal das Stichwort „weitere Steuerbegünstigun-gen“. Wir hätten auch viele der Ideen, die heute genanntwurden, zum Teil schon im vergangenen Jahr, als diegroße Umstellung stattfand, umsetzen können. Ich binmir sicher, dass wir uns zum gegebenen Zeitpunkt mitdieser Materie wieder zu befassen haben.Es lässt sich zusammenfassend sagen, dass wir imvergangenen Jahr einen wichtigen Schritt gegangen sind.Hier und heute geht es konkret um Korrekturen und An-passungen im laufenden Verfahren der Zusammenfüh-rung. Ich hoffe, dass es zu einer konstruktiven Befassungmit diesem Thema kommt.Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf Drucksache 17/717 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
dazu anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall.
Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 10 a und 10 b so-
wie den Zusatzpunkt 3 auf:
10 a) Erste Beratung des von der Fraktion der SPD ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Aufhe-
bung des Gesetzes zur Bekämpfung der Kin-
derpornografie in Kommunikationsnetzen
– Drucksache 17/776 –
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss
Innenausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für Kultur und Medien
b) Erste Beratung des von den Abgeordneten Jörn
Wunderlich, Dr. Petra Sitte, Agnes Alpers, weite-
ren Abgeordneten und der Fraktion DIE LINKE
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Auf-
hebung von Zugangsbeschränkungen in Kom-
munikationsnetzen
– Drucksache 17/646 –
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss
Innenausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für Kultur und Medien
ZP 3 Erste Beratung des von den Abgeordneten
Dr. Konstantin von Notz, Volker Beck ,
Birgitt Bender, weiteren Abgeordneten und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN einge-
brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Aufhe-
bung des Gesetzes zur Erschwerung des Zu-
gangs zu kinderpornografischen Inhalten in
Kommunikationsnetzen und Änderung weite-
rer Gesetze
– Drucksache 17/772 –
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss
Innenausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für Kultur und Medien
Für die Aussprache ist nach einer interfraktionellen
Vereinbarung eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache.
Das Wort hat der Kollege Martin Dörmann für die
SPD-Fraktion. – Der Kollege ist offensichtlich nicht an-
wesend. Hat die SPD einen Vorschlag, wer an seiner
Stelle sprechen soll? – Das ist nicht der Fall.
Dann rufe ich jetzt erst einmal den Kollegen Ansgar
Heveling für die Unionsfraktion auf.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kol-legen! Es ist heute schon eine bemerkenswerte Debatte.Denn hier wird der Versuch unternommen, einen völlignormalen parlamentarischen Vorgang zu einem Kampf-thema zu machen. Ein Gesetz ist vom Bundestagbeschlossen worden. Anschließend hat es – den Verfah-rensvorschriften des Grundgesetzes entsprechend – sei-nen weiteren Weg genommen und ist in Kraft getreten.
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2120 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 24. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Februar 2010
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Ansgar HevelingNach Meinung der Opposition ist dies nun offensichtlichein so unerhörter Vorgang, dass von ihr nur zwei Tagenach Inkrafttreten die Aufhebung des Gesetzes beantragtwird.
Da kann man sich nur fragen: Wenn sich einige Fraktio-nen dieses Hauses als Gesetzgeber selbst nicht mehrernst nehmen wollen, wie soll es dann bitte schön dieBevölkerung tun?
Wohlgemerkt: Es geht um ein Gesetz,
von dem eine Rednerin der SPD vor einem knappen Jahrim Gesetzgebungsverfahren an dieser Stelle gesagt hat:Die Bekämpfung der Kinderpornografie durch Zu-gangssperren im Internet braucht eine klare gesetz-liche Grundlage. Ich bin froh, dass sich die SPD mitihrer Forderung durchgesetzt hat.Hört! Hört!
Weiter heißt es:Nur eine gesetzliche Regelung schafft Rechts-sicherheit und genügt verfassungsrechtlichen An-forderungen.An anderer Stelle betonte der SPD-Abgeordnete MartinDörmann, der eigentlich vor mir hätte reden sollen:Die Politik ist in der Pflicht, beiden Themen ge-recht zu werden: dem Kampf gegen die Verbreitungkinderpornografischer Inhalte im Internet und demEinsatz für ein freies Internet … Ich finde, mit die-sem Gesetzentwurf ist das gelungen.So weit die SPD vor noch nicht einmal einem Jahr.
Nun soll angeblich alles anders sein. Dabei ist es unsvon der CDU/CSU nicht ersichtlich, dass es irgendwel-che neuen Erkenntnisse gibt, die uns nun zu einer Aufhe-bung des Gesetzes veranlassen sollten. Darum geht esden Verfassern der Gesetzentwürfe auch gar nicht. Sach-lich hat sich nichts, aber auch gar nichts geändert. Nurdie politischen Konstellationen sind anders. Doch ob dasallein ein Grund ist, die Aufhebung eines Gesetzes zufordern? Wir haben noch Verständnis, wenn eine bislangfarblos gebliebene Opposition einmal Profil zeigen will.Dabei stellt sich allerdings die Frage: Ist das Gesetz zurBekämpfung der Kinderpornografie in Kommunika-tionsnetzen das taugliche Objekt für den Feuerzauber derOpposition? Die Antwort ist ein klares Nein.
Vergegenwärtigen wir uns, worum es geht. Es gehtum Kinder, viele von ihnen fast noch Babys. Sie bräuch-ten Schutz und Zuwendung. Stattdessen werden an ihnenekelerregende sexuelle Handlungen vorgenommen. Weiles Menschen gibt, die Videos und Bilder von solchen Ta-ten ins Internet stellen, und weil es andere Menschengibt, die sich solches Ekelmaterial ansehen, werden Kin-der auf grausamste Weise zu Opfern. Sie werden trauma-tisiert und stigmatisiert. Es geht also primär nicht umtechnische Fragen oder die Möglichkeiten des Internets,sondern um Kinder, die des besonderen Schutzes unddes Einsatzes des Staates bedürfen, weil sie sich selbstnicht wehren können, ja weil sie oft nicht einmal begrei-fen können, was mit ihnen geschieht.
Mit den Folgen der Verletzungen an Körper und Seelewerden sie jedoch ein Leben lang zu kämpfen haben.Deshalb und nur deshalb muss der Staat in diesem klardefinierten Bereich strafrechtlich relevanten Tuns han-deln. Wir als Gesetzgeber haben die Pflicht, ihm dazudie nötigen Instrumente an die Hand zu geben.Es geht bei solchen Bildern oder Filmen nicht um ir-gendetwas Virtuelles. Der Verbreitung im Internet gehenstets reale Taten voraus, schändliche Taten, gegen dieeingeschritten werden muss, Taten, die vielfach auch da-durch verhindert werden könnten, dass man die Verbrei-tungswege kappt.
Bei jedem anderen Medium geschieht das, etwa wenn esum Druckschriften oder DVDs kinderpornografischenInhalts geht. In diesen Fällen ist das präventive Vorgehenselbstverständlich, und niemand erhebt ernsthaft denVorwurf der Zensur. Richtig ist, dass das Internet im Ver-gleich zu anderen Medien komplexer strukturiert ist undauch an Staatsgrenzen nicht haltmacht. Dementspre-chend eröffnet es vielfältige Umgehungsmöglichkeiten,und das erschwert die Bekämpfung. Aber diese Erkennt-nis darf doch nicht zur Kapitulation des Rechtsstaatsführen.
Schon die bestehende gesetzliche Regelung steht ineinem Stufenverhältnis und geht vom Vorrang der Lö-schung vor der Sperrung aus. Das Bundesinnenministe-rium hat nun im Zuge seiner Vollzugskompetenz auf derGrundlage der gesetzlichen Regelung für die Anwen-dung von § 1 Abs. 2 des Gesetzes ermessensbindendfestgelegt, dass für die Dauer eines Jahres lediglich vonder Löschungsalternative Gebrauch gemacht werde.Auch das ist ein vollkommen normaler Vorgang. Er lässtausreichend Raum, die Wirksamkeit des Mittels der Lö-schung genau zu prüfen. Sollte sich zeigen, dass es an-dere schlagkräftige und effektive Maßnahmen gibt, dannsollte es unser gemeinsames Ziel sein, diese Möglichkei-ten rechtssicher in Anspruch zu nehmen. Solange abersolche rechtssicher nicht zur Verfügung stehen, würdeder Staat seinen Sicherheitsauftrag missachten, wenn erauf gesetzliche Schutzwerkzeuge endgültig verzichtet.
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Ansgar HevelingEine Aufhebung des Gesetzes, ohne dass zugleich al-ternative Schutzinstrumente aufgezeigt werden, ist derfalsche Weg. Hier macht es sich die Opposition zu ein-fach. Eine Aufhebung ohne Alternativen wäre jedenfallseine Bankrotterklärung im Kampf für den Schutz unsererKinder.Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
Kollege Heveling, das war Ihre erste Rede im Deut-
schen Bundestag. Wir wünschen Ihnen viel Erfolg in der
parlamentarischen Arbeit. Wenn ich das als Präsidentin
hinzufügen darf: Ich gratuliere Ihnen zu etwas, was nicht
vielen bei ihrer ersten Rede gelingt: Sie sind vorbildlich
in der Zeit geblieben.
Das Wort hat der Kollege Jörn Wunderlich für die
Fraktion Die Linke.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Nun ist es doch so weit gekommen: BundespräsidentKöhler hat das umstrittene Zugangserschwerungsgesetzunterzeichnet. Seit vorgestern ist es in Kraft.Herr Heveling sagt, für eine Aufhebung brauchten wirAlternativen. Die Bundesregierung hat in diesem Zu-sammenhang schon angekündigt, ein Löschgesetz in denparlamentarischen Geschäftsgang zu geben. Wie dasaussieht, kann ich mir allerdings nicht so richtig vorstel-len. Wozu brauchen wir ein Löschgesetz? Löschen kön-nen wir auch heute schon. Die Verbreitung von Kin-derpornografie ist strafbar. Wenn die Provider informiertwerden, dann werden die entsprechenden Seiten in allerRegel – das zeigen die Erfahrungen; wir haben das hierin der letzten Legislaturperiode rauf und runterdebattiert – sofort gelöscht. Dem Argument, internatio-nal würde das nicht funktionieren, kann ich nur entgeg-nen: Auf internationaler Ebene wird auch ein deutschesLöschgesetz nicht interessieren.
Erstaunlich ist, dass neben der Linken inzwischenauch alle übrigen Fraktionen, jedenfalls in weiten Teilen,sich offensichtlich einig sind, dass wir dieses Zugangser-schwerungsgesetz nicht brauchen. Deswegen war ichüber den Debattenbeitrag gerade ein bisschen erstaunt.Denn es hat sich allen die Frage aufgedrängt, warum die-ses Gesetz zu Wahlkampfzeiten mit einer höchst umstrit-tenen Begründung durch den Bundestag gepeitscht wer-den musste. Frau von der Leyen war – daran erinnernwir uns sicherlich alle noch – geradezu hysterisch bei derDebatte.
Nun scheint bei der Bekämpfung von Kinderporno-grafie die Argumentation von damals nicht mehr sowichtig zu sein. Das Gesetz bringt – auch das muss mansagen – bezüglich der Bekämpfung von Kinderpornogra-fie nichts. Das haben wir damals festgestellt, und daskonnten wir auch am Montag wieder feststellen. Dennim Ergebnis der Anhörung im Petitionsausschuss zu derentsprechenden Petition hieß es letztlich: Das Gesetz istergebnisunwirksam, da die Inhalte weiter vorhandensind. Es ist unnötig, da die Verfolgung der Taten möglichist. Es ist intransparent, da die Gefahr besteht, dass Sei-ten versehentlich gesperrt werden. Es ermöglicht Will-kür, weil niemand die Sperrung kontrollieren kann. Esbirgt die Gefahr, dass bei Bekanntwerden der Sperrlistendie sogenannten Gelben Seiten für Pädophile erstelltwerden.Dass die Regierung jetzt vorgibt, dieses Gesetz nichtentsprechend seiner Zielstellung anwenden zu wollen,ist zwar in der Sache erfreulich; logisch, juristisch undrechtsstaatlich ist es jedoch nicht nachzuvollziehen.
Da werden also Gesetze verabschiedet, um sie dannnicht anzuwenden. Das ist der Verkauf des Rechtsstaats,Herr Heveling; das muss man einmal sagen.Ausweislich einer Dienstanweisung des BMI vom17. Februar dieses Jahres – ich habe sie hier schwarz aufweiß – an das Bundeskriminalamt heißt es, dass die Bun-desregierung sich ausschließlich für das Löschen einset-zen wird; Zugangssperren sollen nicht erfolgen. – DasGesetz ist zum Sperren erlassen worden! – Spielräumesollen genutzt werden, „dass keine Aufnahme in Sperr-listen erfolgt“. Sperrlisten sind nicht an Internetproviderzu übermitteln, und die Erarbeitung der technischenRichtlinie bleibt ausgesetzt. Weiter heißt es in derDienstanweisung: Selbst wenn ein Versuch, das Löschenzu veranlassen, erfolglos ist, soll nicht gesperrt werden,sondern das Bundesministerium der Justiz und das Aus-wärtige Amt um Unterstützung gebeten werden. – Wiediese Unterstützung aussehen soll, weiß ich im Momentnicht so richtig. Aber immerhin bietet man etwas.Mit anderen Worten: Das ist eine Anweisung, ein er-lassenes, beschlossenes, verabschiedetes, rechtskräfti-ges, in Kraft getretenes Gesetz nicht anzuwenden. Dasist der Verkauf des Rechtsstaates.
Man stelle sich parallel dazu einmal vor, die Regie-rung verabschiedet ein Gesetz zur Erhöhung des Spit-zensteuersatzes und sagt dann anschließend: Das wen-den wir jetzt aber nicht an. – Die Bananenrepublik lässtgrüßen. Da ist doch etwas faul im Staate. Aber laut Aus-sage der CDU ist das ein völlig normales Verfahren, einvöllig normales Verhalten. Es kann doch nicht sein, dassdies das Verhältnis zum Rechtsstaat sein soll.Zur Verfassungswidrigkeit dieses Gesetzes hat dieFDP seinerzeit – ich erwähne in diesem ZusammenhangHerrn Stadler, der heute anwesend ist – sehr ausführlich
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Jörn WunderlichStellung genommen, und zwar zu der gesamten Proble-matik.
– Ja, leicht darüber.Ich freue mich jedenfalls auf die Beratungen. Um ei-nen vernünftigen Rechtszustand herzustellen, kann manim Grunde genommen nur dem Antrag der Linken zu-stimmen und dieses Gesetz aufheben. Es wird sich zei-gen, ob diese Regierung verfassungstreu und bürger-rechtsbejahend ist. Ich persönlich habe da allerdingsmeine berechtigten Zweifel.Schönen Dank.
Für die FDP-Fraktion spricht nun der Kollege
Christian Ahrendt.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen undHerren! Ich darf für meine Fraktion sagen, dass wir dieGesetzesinitiativen der Opposition begrüßen.
Das Zugangserschwerungsgesetz ist ungeeignet, umKinderpornografie im Internet erfolgreich zu bekämp-fen. Darauf haben wir als FDP immer hingewiesen.
An unserer klaren Haltung hat sich an dieser Stellenichts geändert. Wir haben immer gesagt: Löschen istbesser als Sperren.
Deswegen haben wir in den Koalitionsverhandlungenmit dem Koalitionspartner auch verabredet, dass Inter-netseiten nicht gesperrt werden.Als ich diese Rede vorbereitet habe – Herr Dörmann,insofern ist Ihr verspätetes Erscheinen zur Debatte auchein gewisses Anzeichen –, habe ich mich zunächst ge-fragt: Begrüßt du auch den Entwurf der SPD? Dann habeich über das Verfahren nachgedacht und bin zu demSchluss gekommen: Das, was Sie hier vorlegen, ist nichtzu begrüßen, sondern ist eher eine sehr bedauernswerteInitiative. Wenn man sich einmal anschaut – KollegeWunderlich hat es eben schon beschrieben –, was hier imRahmen des Gesetzgebungsverfahrens abgelaufen ist,dann muss man sagen, dass das erschreckend ist. Wennman sich anschaut, worum es eigentlich geht, dann siehtman auch, über welche bedeutenden Fragen wir hier re-den.Zunächst einmal geht es um zentrale Grundrechte. Je-der hat das Recht, sich frei und ungehindert zu informie-ren. Eine Zensur findet nicht statt. Weiter geht es um dieUnverletzlichkeit des Fernmeldegeheimnisses, und esgeht um das Grundrecht auf freie und informationelleSelbstbestimmung.
Trotz dieser sensiblen Grundrechte wurde das Zu-gangserschwerungsgesetz in sechs Wochen durch denBundestag gejagt. Niemand hat die Sachverständigenwirklich angehört, eine breite Diskussion fand nichtstatt.
Wir haben als Opposition gemahnt; aber auf diese Mah-nungen hat man nicht gehört.
Sie, Herr Dörmann, haben hier vor dem Haus für IhreFraktion vorgetragen, dass die Verbreitung kinderporno-grafischer Inhalte im Internet immer mehr zunehme unddeswegen Internetseiten gesperrt werden müssten.Jetzt ist ein Jahr vergangen, Sie sind vier Monatenicht mehr in der Regierung, und nun schreiben Sie inder Begründung Ihres Gesetzentwurfs:Zwischenzeitlich hat sich die Erkenntnis durchge-setzt, dass Internetsperren wenig effektiv, ungenauund technisch ohne größeren Aufwand zu umgehensind.Meine sehr geehrten Damen und Herren von der SPD,genau das haben wir Ihnen im letzten Jahr erklärt. Des-wegen ist es keine neue Erkenntnis, die Sie hier vortra-gen.
Sie wollen hier mit einem Heiligenschein durchs Landlaufen. Sie tragen aber keinen Heiligenschein, Sie sindverantwortungslos. So, wie beim Zugangserschwerungs-gesetz mit den Grundrechten umgegangen worden ist,war das auch verantwortungslos.Ich will jetzt auch eine Bemerkung über die Grünenmachen, damit sie sich nicht zu früh freuen. Denn imGrunde genommen planen Sie von den Grünen das Glei-che. Nächste Woche wird aus Ihren Reihen ein Antragzum Thema ELENA kommen. ELENA, von Rot-Grünverabschiedet, ist nichts anderes als ein riesiges Spiona-gegesetz gegen Arbeitnehmerrechte.
Das Manöver, sich auch hierbei aus der Opposition he-raus als Verteidiger der Grundrechte darzustellen, wer-den wir Ihnen an dieser Stelle nicht durchgehen lassen.
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Christian AhrendtMeine sehr geehrten Damen und Herren, man darf essich mit diesem Thema – das ist vorhin auch schon ange-klungen – nicht so einfach machen. Man darf den Kampfgegen Kinderpornografie und die Freiheit des Internetsdurch vordergründigen Populismus und holzschnittartigeGesetze nicht gegeneinander ausspielen. Der freie undunzensierte Zugang zum Internet ist das eine, der Kampfgegen die Kinderpornografie das andere.Die Kollegen Wunderlich und Heveling haben es be-reits angesprochen: Jedes Bild dokumentiert eine Verlet-zung. Hinter jedem kinderpornografischen Bild steht dieVerletzung eines Jungen oder eines Mädchens. In demMoment, in dem man sich das Bild anschaut, findet dieVerletzung noch einmal statt. Deshalb sagen wir: Lö-schen ist in erster Linie Opferschutz. Deswegen habenwir immer betont: Löschen geht vor Sperren.
Weil wir in den letzten Monaten bei unserem Koali-tionspartner viel Überzeugungsarbeit geleistet haben, istzwischen dem Bundesinnenminister und der Bundesjus-tizministerin verabredet worden, dass es eine Gesetzes-initiative zur Löschung kinderpornografischer Seitengeben wird. Wir haben im Rahmen dieser Gesetzesinitia-tive die Möglichkeit, das Thema in den Ausschüssen neuund in der erforderlichen Breite zu diskutieren. Ich gehedavon aus, dass wir am Ende dieses Verfahrens ein ver-nünftiges Gesetz vorweisen können. Ich lade Sie ein,sinnvoll und vernünftig mitzuberaten.Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Wort hat der Kollege Dr. Konstantin von Notz fürdie Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Sehr geehrter Herr Kollege Heveling, es ist schon er-staunlich, was sich hier abspielt. Vor wenigen Wochenstand der Kollege Uhl an dieser Stelle und erklärte, manhabe damals bei diesem Gesetz im Nebel gestochert undsei nicht so richtig unterwegs gewesen.
Parallel zu Ihrer Rede hier gibt die frischgebackene Fa-milienministerin Schröder ein Interview bei SpiegelOnline
– ja, wo ist sie eigentlich? –, in dem sie erklärt, dass esdamals ein Missverständnis gewesen sei. Sie aber halteneine Rede, in der Sie so tun, als hätte in den letzten Mo-naten keine Debatte stattgefunden. Das ist hochgradigmerkwürdig.
Es stimmt: Die Herstellung und Verbreitung von Kin-derpornografie ist ein gravierendes gesellschaftlichesProblem. Aber gerade weil das so ist, verbietet sich einerein symbolische Placebopolitik, wie sie im Zugangser-schwerungsgesetz zum Ausdruck kommt. Für Politik-simulation ist das Problem zu ernst.
Mit welcher Rhetorik dieses Gesetz eine Mehrheitfand, wollen wir auf sich beruhen lassen, aber erstaun-lich ist die jüngste Entwicklung schon. Es gab in denletzten Monaten ein allgemeines Zurückrudern durchalle Reihen, auch durch Ihre.
Die SPD hat es sich anders überlegt.
Von Herrn Uhl habe ich schon berichtet.Am Montag fand die Anhörung zur Petition „KeineIndizierung und Sperrung von Internetseiten“ statt.Franziska Heine trug das Anliegen von 134 000 Mit-zeichnerinnen und Mitzeichnern vor. Das ist die höchsteBeteiligung an einer Petition, die es bisher gegeben hat.Auch diese Anhörung hat gezeigt, dass das Zugangs-erschwerungsgesetz misslungen ist und man vor seinerVerabschiedung nicht all die kritischen Expertenmeinun-gen hätte in den Wind schreiben dürfen.
– Diese kommen gleich. Freuen Sie sich schon einmaldarauf. – Strafrechtlich relevante Seiten – seien es solchemit rechtsradikalem Inhalt,
betrügerische Internetseiten oder aber solche mit kin-derpornografischem Inhalt – können schon heute pro-blemlos gelöscht werden, was auch vielfach geschieht.Heute hat Spiegel Online eine Studie zitiert, in der dieZeit bis zum Löschen von Internetseiten untersuchtwurde. Bei Phishing-Seiten, also bei Seiten, die Bankzu-gangsdaten abfischen, dauert das Löschen einer Seitevier Stunden, bei Seiten mit kinderpornografischem In-halt dauert es über 700 Stunden. Das zeigt die Problema-tik auf: Mit Sperren ist einem nicht geholfen.
Die Sperren, die der Kern des Gesetzes sind, über daswir heute reden, sind ineffektiv, können spielend leicht
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Dr. Konstantin von Notzumgangen werden und sind der Einstieg in eine Technikfür das Internet, mit der jedweder gewünschte oder uner-wünschte Inhalt staatlicherseits und ohne Richtervorbe-halt gesperrt werden kann, was schon heute in China, imIran und in ähnlich demokratisch desorientierten Staatenpassiert.Natürlich gibt es auch bei uns Begehrlichkeiten, aufdie Sperrinstrumente, die jetzt geschaffen wurden, zu-rückzugreifen, zum Beispiel seitens der Musikindustrieoder im Rahmen eines Jugendmedienschutz-Staatsver-trages, der sein Ziel verfehlt. Das darf nicht sein. Vordiesem Hintergrund sagen weite Teile der BevölkerungNein zu diesem Gesetz.
Wir können viel gegen Kinderpornografie tun. Wirmüssen die internationale Zusammenarbeit bei den The-men Kindesmissbrauch und Verbreitung von Kinderpor-nografie verbessern. Wir brauchen eine Stärkung vonPolizei und Staatsanwaltschaft in diesem Bereich, undzwar personell und technisch.
Wir müssen den Aktionsplan zum Schutz von Kindernund Jugendlichen vor sexueller Gewalt und Ausbeutungweiter voranbringen, und wir brauchen endlich mehrfundierte, wissenschaftlich belastbare Expertisen überdie Herstellung und Verbreitung von Kinderpornografie.Aber dieses Gesetz, das Zugangserschwerungsgesetz,brauchen wir nicht.
Vor diesem Hintergrund verstehe ich am wenigstenIhr Verhalten hier und heute, sehr geehrte Kolleginnenund Kollegen von der FDP-Fraktion. Im Wahlkampfsind Sie mit dem vollmundigen Versprechen angetreten,dieses Gesetz umgehend zurückzuholen. Immerhin ha-ben Sie eine Aussetzung in den Koalitionsvertrag hinein-verhandelt.
– Genau.
Kollege von Notz, achten Sie bitte auf das Signal.
Selbstverständlich. – Wenn es also tatsächlich Koali-
tionsmeinung ist, dass das Sperren falsch ist und nichts
bringt, wenn Sie von CDU/CSU und FDP tatsächlich in
der Debatte dazugelernt haben und das alles nicht nur
Wahlkampfrhetorik war, dann nehmen Sie dieses Parla-
ment ernst und versuchen Sie nicht, ein gültiges Gesetz
mit einem Ministererlass, quasi par ordre du mufti, aus-
zuhebeln.
Kollege von Notz, ich bitte um Beachtung meines Si-
gnals.
Jawohl. – Sie haben auf die Untätigkeit des Bundes-
präsidenten gehofft. Vergeblich. Jetzt und hier müssen
Sie Farbe bekennen. Gehen Sie den ehrlichen und saube-
ren Weg! Stimmen Sie für die Aufhebung dieses Geset-
zes!
Herzlichen Dank.
Das Wort hat der Kollege Martin Dörmann für die
SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Ich bitte, zu entschuldigen, dass ich aufgrund einer miroffensichtlich falsch übermittelten Zeit zwei Minuten zuspät gekommen bin. Vielleicht lag es daran, dass es dieerste Rede des Kollegen Heveling war, zu der ich ihmnatürlich gratuliere, ohne dass ich zu den Inhalten etwassagen möchte.Zur Sache. Vor gerade einmal zwei Tagen ist das Zu-gangserschwerungsgesetz in Kraft getreten. Es regelt dasSperren von Internetseiten mit kinderpornografischenInhalten. Das Sperren soll dann erfolgen, wenn ein Lö-schen dieser Seiten nicht in angemessener Zeit erreichtwerden kann.
Ich denke, es gibt niemanden in diesem Hause, derdas Ziel nicht teilt, kinderpornografische Inhalte nach-haltig aus dem Netz zu entfernen. Wir müssen aber er-kennen: Es war ein Fehler, dass die Große Koalition da-bei im vergangenen Jahr auch auf das Instrument derInternetsperren gesetzt hat, wenn auch nur als UltimaRatio.
Solche Sperren sind technisch leicht zu umgehen.
Sie beseitigen nicht die eigentlichen Inhalte und entfal-ten in erster Linie eine symbolische Wirkung.
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Martin Dörmann
Gleichzeitig aber wecken sie bei vielen Menschen dieSorge vor einer Internetzensur.
Auch wenn gerade dies nicht beabsichtigt war, hat diePolitik insgesamt einen Verlust an Glaubwürdigkeit undAkzeptanz erlitten,
zumal selbst Unionsmitglieder hinter vorgehaltenerHand oder sogar ganz offen zugeben, dass es der damali-gen Familienministerin, Frau von der Leyen, die dieSperren auf die Tagesordnung gesetzt hatte, vor allemum ein populäres Wahlkampfthema ging.
Die SPD-Bundestagsfraktion sieht ihre Mitverantwor-tung und will hieraus die richtigen Konsequenzen zie-hen.
Politik muss sich auch korrigieren können.Aus diesen Gründen bringen wir heute einen Gesetz-entwurf in den Bundestag ein, um das Zugangserschwe-rungsgesetz aufzuheben. Es ist richtig, auf die symboli-schen Internetsperren zu verzichten und konsequent aufdas Prinzip „Löschen statt Sperren“ zu setzen;
denn nur mit dem Löschen der rechtswidrigen Seitenund der konsequenten Strafverfolgung können die kin-derpornografischen Inhalte wirksam aus dem Netz ent-fernt werden.
Die SPD hat stets deutlich gemacht, dass zu einer er-folgreichen Bekämpfung kinderpornografischer Inhalteim Internet eine Vielzahl von Maßnahmen gehören, undhierzu im letzten Jahr einen eigenen Zehn-Punkte-Planvorgelegt. Dazu gehören insbesondere eine bessere Aus-stattung der Polizei und eine intensive internationale Zu-sammenarbeit. Denn schließlich sind das Hauptproblemdie Seiten auf ausländischen Servern, die nicht direktvon Deutschland aus gelöscht werden können.
Wir erwarten von der Bundesregierung, dass sie nunzügig und konsequent entsprechende Maßnahmen er-greift. Bisher haben wir zwar viele Ankündigungen ge-hört, aber nur wenige Taten gesehen.
Immerhin ist zu begrüßen, dass auch die neue Bundesre-gierung ausdrücklich das Prinzip „Löschen statt Sper-ren“ anerkennt.
Das muss dann aber auch rechtsstaatlich sauber umge-setzt werden, also durch die Aufhebung des Sperrgeset-zes.
Nicht akzeptabel ist das – das sage ich insbesonderean die Adresse der Liberalen, die sich hier jetzt sehr auf-regen –,
worauf sich Union und FDP geeinigt haben, nämlich dasGesetz für ein Jahr faktisch nicht anzuwenden.
Der damit verbundene rechtliche und politische Wirr-warr, den Sie angerichtet haben, muss schnellstmöglichbeendet werden.
Es geht nicht, dass durch Regierungsanweisung ein Ge-setz einfach mal eben ausgesetzt wird.
Der Berliner Staatsrechtler Ulrich Battis und viele an-dere haben das bereits als verfassungswidrig bezeichnet.
Es ist beschämend, dass sich Union und FDP hierfür her-geben, letztlich nur, um einen Koalitionskompromisshinzubekommen.
Es genügt auch nicht, anzukündigen, demnächst werdeman ein Löschgesetz vorlegen. Niemand weiß heute, obund wann ein solches Gesetz tatsächlich in Kraft tretenwürde. Eines kommt hinzu: Durch die Ankündigung ei-nes Löschgesetzes und aktuelle Stellungnahmen erwecktdie Regierungskoalition den Eindruck, es brauchte einGesetz, um solche Seiten zu löschen. Das Gegenteil istder Fall.
Es ist völlig unstreitig, dass bereits nach bisherigerRechtslage und ohne ein besonderes Gesetz kinderpor-nografische Inhalte in Deutschland durch die Internet-provider vom Netz genommen werden müssen.
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Martin DörmannDas ist im Übrigen übliche Praxis. Ein einfacher Hin-weis des BKA genügt in der Regel. Ein Verbreiten sol-cher Inhalte ist bereits strafbar.Vor diesem Hintergrund fordert die SPD-Bundestags-fraktion die Koalitionsfraktionen auf, von jeglichensymbolischen und rechtsstaatlich bedenklichen Hand-lungen Abstand zu nehmen. Denn das würde den Ver-trauensschaden für die Politik nur noch vergrößern.
Mehr als 130 000 Menschen haben sich im vergange-nen Jahr der E-Petition gegen das Gesetz angeschlossen.Es hat sich gezeigt, wie gut es war, dass Rot-Grün sei-nerzeit dieses Instrument neu geschaffen hat. Erst amMontag haben wir in einer Anhörung des Petitionsaus-schusses, die ich sehr gut fand, mit Frau FranziskaHeine, die die E-Petition mit auf den Weg gebracht hat,darüber diskutiert. Der Erfolg der E-Petition hat die Poli-tik offensichtlich stark beeinflusst und insgesamt zu ei-ner neuen Sensibilität für Fragen des Internets beigetra-gen. Es ist gut, dass inzwischen alle Parteien Netzpolitikzu einem wichtigen Thema erklärt haben. In der nächs-ten Woche werden wir im Bundestag, die Regierungs-koalition zusammen mit den Fraktionen SPD undBündnis 90/Die Grünen, die Enquete-Kommission „In-ternet und digitale Gesellschaft“ auf den Weg bringen.Die E-Petition hatte übrigens bereits erheblichen Ein-fluss auf das Gesetzgebungsverfahren im vergangenenJahr. Mit ihrem Rückenwind konnte die SPD-Bundes-tagsfraktion gegen den anfänglichen Widerstand aus derUnion entscheidende Verbesserung am damaligen Ge-setzentwurf durchsetzen. So wurden wichtige Punkte ge-setzlich verankert. Ich nenne nur das Prinzip „Löschenvor Sperren“, eine strenge Kontrolle der BKA-Sperrliste,zahlreiche Datenschutzbestimmungen sowie eine Befris-tung des Gesetzes.Uns ging es dabei nicht darum, eine Sperrinfrastruk-tur aufzubauen, sondern – im Gegenteil – eine sich be-reits im Aufbau befindliche Sperrinfrastruktur zu kon-trollieren und gesetzlich einzugrenzen. Folgendes wirdbis heute in der öffentlichen Debatte viel zu wenig be-achtet: Bereits vor dem Gesetz gab es Verträge zwischendem BKA und den wichtigsten deutschen Internetprovi-dern über die Einrichtung solcher Sperren, und zwarohne jegliche Kontrolle und mit der Gefahr, dass sichauch jemand, der ungewollt auf illegale Seiten stößt, ei-nem strafrechtlichen Ermittlungsverfahren ausgesetzt se-hen konnte.Nach den uns vorliegenden Informationen wurdediese Sperrinfrastruktur bereits vor einiger Zeit umge-setzt, und zwar völlig unabhängig vom Gesetz. Zur Ver-hütung von Schlimmerem haben wir als SPD-Fraktionuns damals verpflichtet gefühlt, zahlreiche Schutzbe-stimmungen zugunsten der Internetuser gesetzlich zu re-geln.Liebe Kolleginnen und Kollegen, der SPD-Fraktiongeht es heute darum, die netzpolitische Debatte wiedervom Kopf auf die Füße zu stellen.
Deshalb fordern wir nicht nur die Aufhebung des Zu-gangserschwerungsgesetzes, sondern auch die unverzüg-liche Aufhebung aller einschlägigen BKA-Verträge, diedurchaus angekündigt wurde. Lassen Sie uns also klareVerhältnisse schaffen! Sorgen wir dafür, dass die Politikihre insgesamt verloren gegangene Glaubwürdigkeit zu-rückgewinnt! Recht und Freiheit im Internet zu sichern,sollten wir als gemeinsame Aufgabe wahrnehmen.Vielen Dank.
Das Wort hat nun Dorothee Bär für die CDU/CSU-
Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ichhatte eigentlich schon gehofft, dass das Thema von denKollegen der Fraktionen insgesamt als zu ernst betrach-tet wird, um heute eine solche Show abzuziehen. Michärgert es auch, dass es eine sehr technische Diskussionist und Vorschläge der Oppositionsfraktionen fehlen.
Wir haben hier einen gordischen Knoten zu durch-schlagen; das ist uns allen klar. Wir wollen den Kampfgegen die Kinderpornografie nicht nur aufnehmen, son-dern auch gewinnen.
Wir haben natürlich auf der anderen Seite – dieses An-liegen ist uns, denke ich, allen wichtig – ein freies Inter-net zu erhalten. Man darf über Namen keine Witze ma-chen – das mag keiner –, aber ich muss ganz ehrlichsagen, dass man sich bei manchen Reden der Linkendoch sehr stark wundert. Ich möchte die FDP zu einemkonstruktiven Dialog einladen, aber ihr gleichzeitig zu-rufen: Willkommen in der Regierungskoalition! Ichwürde mich freuen, wenn jedem Mitglied der FDP lang-sam bekannt würde, dass wir gemeinsam regieren.
Die Herausforderung, größtmöglichen Erfolg zu ha-ben, besteht darin, beide Seiten, die berechtigte Anliegenhaben, an einen Tisch zu bekommen und gemeinsamnach einer Lösung zu suchen. Wir müssen uns in dieserDebatte auf der einen Seite von dem Gedanken freima-chen, dass jeder, der für die Freiheit des Internets ist,dem schändlichen Missbrauch an Kindern das Wort re-det. Auf der anderen Seite dürfen wir nicht jedem, dersich mit Vehemenz und schützender Hand vor unsereKinder, die Schwächsten der Gesellschaft, stellt, per seunterstellen, dass er für eine Internetzensur ist.
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Dorothee Bär
– Doch, natürlich. Sie waren in der letzten Legislatur-periode noch nicht hier, Herr Kollege.
– Ja, Sie stellen sich auch vor die Kinder. Aber hören Siemir bitte zu, bevor Sie in meine Rede hineingackern.Dann wüssten Sie nämlich, dass ich genau das gesagthabe.
CDU/CSU und SPD haben in der vergangenen Legis-laturperiode gemeinsam ein Gesetz verabschiedet, einGesetz zur Bekämpfung der Kinderpornografie in Tele-kommunikationsnetzen. In dem Gesetz ging es darum– das ist bereits angesprochen worden –, kinderporno-grafische Webseiten zu löschen. Falls das nicht möglichist, wenn zum Beispiel der Server im Ausland liegt, sol-len die Seiten gesperrt werden. Jeder der damals daranBeteiligten wusste und weiß auch heute, dass das Sper-ren von Internetseiten selbstverständlich nicht der Weis-heit letzter Schluss ist, um effektiv gegen Kinderporno-grafie vorzugehen. Wir waren aber die Einzigen, diegesagt haben: Wir gehen diesen ersten Schritt in die rich-tige Richtung.
Dass da noch draufgesattelt werden muss, ist völligselbstverständlich. Wenn wir aber zum alten Gesetz zu-rückkehren würden – wie Sie es wollen –, dann würdenwir einen Schritt zurückgehen. Wir wollen einfach alletechnischen und auch alle anderen Möglichkeiten nut-zen, um diesem schändlichen Treiben ein Ende zu berei-ten.
Wir müssen uns natürlich überlegen, ob wir neue Ge-setze brauchen oder ob wir auch untergesetzliche Maß-nahmen ergreifen können. Da, wie gesagt, viele Serverim Ausland stehen, helfen uns an dieser Stelle multilate-rale und bilaterale Abkommen, beispielsweise mit denUSA, wo sehr viele Server stehen.
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen von Notz?
Der Herr Kollege von Notz hat seine Redezeit um
mehr als das Doppelte überschritten. Deswegen werde
ich seine Anliegen nachher bilateral mit ihm klären.
Zu einem Gesamtmaßnahmenpaket, das wir brau-
chen, gehört selbstverständlich auch eine effektive Straf-
verfolgung im In- und Ausland sowie natürlich eine bes-
sere Prävention. Es ist wichtig, dass wir das Thema nicht
nur ins Internet verlagern; denn dort – der Kollege
Heveling hat dies sehr richtig gesagt – geschehen die Ta-
ten nicht. Sie finden im realen Leben statt. Da muss na-
türlich zuallererst angesetzt werden. Das ist das alles
Entscheidende. Wir müssen dieses Thema gemeinsam
behandeln – mit Eltern, Erziehern und Lehrern –, um un-
sere Kinder stark zu machen, damit so etwas überhaupt
nicht mehr passieren kann.
Zum Gesamtpaket gehört auch – deswegen habe ich
eingangs gesagt, dass mir die Diskussion insgesamt zu
technisch ist – eine gesellschaftliche Ächtung der Täter,
derjenigen, die solche Bilder produzieren, aber gerade
auch derjenigen, die solche Bilder konsumieren; denn
das ist die Voraussetzung dafür, dass dies zu einem Ge-
schäftsmodell wird, mit dem man sich auf Kosten der
Schwächsten in der Gesellschaft bereichern kann.
Ich würde mir wünschen – diesen Appell habe ich in
der heutigen Debatte vermisst –, dass wir uns gemein-
sam an einen Tisch setzen, wie ich es am Anfang meiner
Rede beschrieben habe, und zwar ohne Schaum vor dem
Mund. Nicht jeder, der etwas gegen Kinderpornografie
tun möchte, ist gegen die Freiheit im Internet – ganz im
Gegenteil –, aber umgekehrt ist auch nicht jeder, der
sagt, man müsse die Freiheit aufrechterhalten, für Kin-
derpornografie.
Wir sollten uns gemeinsam an einen Tisch setzen, um
nach einer Lösung zu suchen: sowohl mit Kinderschüt-
zern als auch mit Netzaktiven, die dasselbe anstreben,
nämlich unsere Kinder vor Missbrauch zu schützen und
gleichzeitig die Freiheit im Netz zu erhalten.
Vielen Dank.
Kollege von Notz hat um eine Kurzintervention gebe-
ten. – Bitte schön.
Vielen Dank. – Frau Kollegin, wenn das Sperren von
Internetseiten so wichtig ist, wie Sie es hier darstellen,
wie erklären Sie dann den Erlass des Bundesinnenminis-
teriums, auf das Sperren zu verzichten, und wie bringen
Sie das damit in Einklang, dass dieses Haus gemäß sei-
ner Gesetzgebungskompetenz den entsprechenden Ge-
setzentwurf auch mit Ihren Stimmen verabschiedet hat?
Kollegin Bär.
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Ich hatte wirklich gehofft, dass Sie mir zuhören. Ich
habe gesagt: Wir haben einen Gesetzentwurf verabschie-
det, und das war der erste Schritt in die richtige Rich-
tung. Es wurde übrigens nicht beschlossen, dieses Ge-
setz nicht anzuwenden,
sondern es wurde entschieden, es für ein Jahr auszuset-
zen.
– Mir ist von meinen Eltern beigebracht worden: Wer
schreit, hat unrecht. Herr Kollege Wunderlich, geifern
Sie da drüben also ruhig weiter. –
Wir wollen natürlich weitere Maßnahmen ergreifen. Ich
habe jetzt das Angebot gemacht, dass wir uns noch ein-
mal überlegen sollten, welche weiteren Schritte folgen
könnten. Ich lade selbstverständlich auch die Grünen
ein, dies mit uns gemeinsam zu tun.
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Gesetzent-
würfe auf den Drucksachen 17/776, 17/646 und 17/772
an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse
vorgeschlagen. Die Vorlagen auf Drucksachen 17/646
und 17/772 sollen federführend vom Rechtsausschuss be-
raten werden. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? –
Das ist nicht der Fall. Dann sind die Überweisungen so
beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 11 auf:
Zweite und Dritte Beratung des von der Bundes-
regierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zum Vertrag über die Errichtung des IT-Pla-
nungsrats und über die Grundlagen der
Zusammenarbeit beim Einsatz der Informa-
tionstechnologie in den Verwaltungen von
Bund und Ländern – Vertrag zur Ausführung
von Artikel 91 c GG
– Drucksache 17/427 –
Beschlussempfehlung und Bericht des Innenaus-
schusses
– Drucksache 17/571 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Reinhard Grindel
Michael Hartmann
Manuel Höferlin
Jan Korte
Dr. Konstantin von Notz
Hiezu liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile dem ungedul-
digen Parlamentarischen Staatssekretär Christoph
Bergner das Wort. – Bitte schön.
D
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir bera-ten in abschließender Lesung ein Vertragsgesetz. Diessoll für die Bundesregierung Anlass sein, zunächst ein-mal den befassten Ausschüssen für die zügige Beratungdieses Gesetzentwurfes zu danken. Da bei der Einbrin-gung keine Debatte stattgefunden hat, wollen wir die ab-schließende Lesung nutzen, um die Bedeutung diesesGesetzgebungswerkes zu skizzieren.Wir wissen, dass die informationstechnischen Sys-teme längst das Rückgrat unserer Verwaltung bilden,dass durch ihren Einsatz Bürokratiekosten gesenkt unddie Serviceleistungen der Behörden verbessert werdenkonnten. Informationstechnik war in den letzten Jahren,um es genauso technisch auszudrücken, der entschei-dende Treiber für die Modernisierung unserer öffentli-chen Verwaltung. Trotzdem – das ist der Widerspruch –gibt es in unserem föderalen Staat bisher keinen verbind-lichen Rahmen für die IT-Zusammenarbeit von Bundund Ländern. Kooperationen erfolgen bisher auf freiwil-liger Basis. Das hat dazu geführt, dass Entscheidungenoftmals erschwert, Entscheidungsprozesse verlangsamtwurden und so mit dem rasanten Entwicklungstempo inder Informations- und Kommunikationstechnik nichtSchritt halten konnten.Wir wissen nur zu gut, dass eine kostengünstig arbei-tende öffentliche Verwaltung ein wichtiger Standortvor-teil ist und dass es gerade für die Wirtschaft wichtig ist,dass die Behörden bei der Erfüllung ihrer Aufgaben überLändergrenzen und Verwaltungsebenen hinweg effi-zient zusammenarbeiten. Dies setzt allerdings voraus,dass die Behörden im Rahmen der Erfüllung ihrer Auf-gaben, auch wenn sie unterschiedlichste IT-Systeme ein-setzen, Daten und Informationen problemlos austau-schen können.Damit die IT auch künftig einen Beitrag zur Moderni-sierung der öffentlichen Verwaltung leisten kann, musssie zukunftsfähig gemacht werden. Dazu muss die bisherlose Zusammenarbeit zwischen Bund und Ländern zu ei-nem dauerhaften, planvollen Zusammenwirken entwi-ckelt werden. Hier hat man sich in der Föderalismus-kommission II auf den vorliegenden Entwurf des IT-Staatsvertrages geeinigt. Dieser Entwurf steht in einerReihe mit der Einführung von Art. 91 c Grundgesetz, indessen Folge noch in der vergangenen Wahlperiode dasIT-Netzgesetz beschlossen wurde. Nun folgt das Gesetzzum Vertrag über die Errichtung des IT-Planungsrats.Zusammen führen diese drei Rechtsvorhaben ein neues,
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Parl. Staatssekretär Dr. Christoph Bergnerverbindliches System der Bund-Länder-Zusammenarbeitim Bereich der öffentlichen IT ein.Das Herzstück der neuen IT-Steuerung ist das, waswir mit dem heutigen Vertragsgesetz beschließen, näm-lich die Errichtung des IT-Planungsrats. Der IT-Pla-nungsrat bringt Bund, Länder und Kommunen in einemgemeinsamen Steuerungsgremium an einen Tisch. DieInformationstechnik bekommt somit eine einheitlicheStimme.Der Bund ist im IT-Planungsrat durch die Beauftragtedes Bundes für Informationstechnik vertreten. Die Län-der entsenden hochrangige, mit Entscheidungsbefugnis-sen ausgestattete Vertreter, in der Regel die Staatssekre-täre oder die sogenannten CIOs. Damit wird der IT-Planungsrat als politisch-strategisches Gremium etab-liert. So ist auch sichergestellt, dass die notwendige engeZusammenarbeit mit den Fachministerkonferenzen aufAugenhöhe erfolgen kann. Ebenso wichtig ist es, diekommunale Ebene einzubinden. An den Sitzungen kön-nen drei von den kommunalen Spitzenverbänden ent-sandte Vertreter beratend teilnehmen.Auch die Belange des Datenschutzes – das sage ichmit Blick auf einen der eingebrachten Entschließungsan-träge – werden im IT-Planungsrat Berücksichtigung fin-den: Der Bundesbeauftragte für den Datenschutz und dieInformationsfreiheit nimmt an den Sitzungen des IT-Pla-nungsrats beratend teil. Zudem ist vorgesehen, dass wei-tere Personen eingeladen werden können, zum BeispielVertreter der Fachministerkonferenzen oder Vertreter derLandesdatenschutzbeauftragten.Die Bandbreite der fachlichen Themen und die Viel-zahl der Abstimmungspartner zeigt, dass der IT-Pla-nungsrat ein Querschnittsgremium ist. Die enge undtransparente Zusammenarbeit mit allen Beteiligten isteine wesentliche Voraussetzung für den Erfolg diesesGremiums. Deshalb ist es wichtig, dass Transparenz her-gestellt wird, indem die Entscheidungen des IT-Pla-nungsrats im elektronischen Bundesanzeiger veröffent-licht werden.Es sei mir gestattet, einige der Neuerungen, die derIT-Planungsrat bringen wird und die aus der Sicht derBundesregierung besondere Bedeutung besitzen, kurz zuskizzieren:Erstens. In dem Staatsvertrag ist vorgesehen, dass IT-Standards im IT-Planungsrat durch Mehrheitsentschei-dungen beschlossen werden. Solche Beschlüsse des IT-Planungsrats werden in allen Behörden Bindungswir-kung entfalten. Umgekehrt kann auf Antrag des Bundesoder dreier Länder eine unabhängige Einrichtung über-prüfen, ob eine Standardisierung wirklich notwendig ist.Das ist eine Sicherung, die verhindert, dass sich in deröffentlichen Verwaltung einseitig proprietäre Standardsverfestigen.Zweitens. Der IT-Planungsrat ist eine große Chancefür den Bürokratieabbau. Die Bund-Länder-Zusammen-arbeit in diesem neuen Gremium ermöglicht es künftig,mehrere Ebenen übergreifende elektronische Verfahrenzu etablieren. Bürger und Unternehmen werden so in dieLage versetzt, ihre Informations- und Handlungspflich-ten mit möglichst geringem Kostenaufwand zu erfüllen.Drittens. Für den Bereich IT-Sicherheit gilt es im Pla-nungsrat, zur Abwehr von IT-Angriffen die Kompeten-zen der Länder und des Bundes zu bündeln. Dieses Prin-zip der Kompetenzbündelung gilt auch für den Bereichmehr Datenschutz und Datensicherheit im Internet.Auch hier gilt: Durch den übergreifenden, alles mitei-nander verbindenden Charakter des Internets wird es er-forderlich, im IT-Planungsrat gemeinsam mit den Län-dern nach Lösungen für den Datenschutz zu suchen.Meine Damen und Herren, die beratenden Aus-schüsse haben die Annahme dieses Gesetzentwurfs emp-fohlen. Ich bitte das Plenum, diesem Gesetzentwurf zu-zustimmen. Wenn Sie dies tun, dann kann sich der IT-Planungsrat bereits im April dieses Jahres zu seiner kon-stituierenden Sitzung zusammenfinden, und dann kön-nen wir bei der Modernisierung unserer Verwaltung we-sentlich vorankommen. In diesem Sinne bitte ich umUnterstützung und Befürwortung dieses Gesetzentwurfs.Danke schön.
Das Wort hat nun Gabriele Fograscher für die SPD-
Fraktion.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!Mit der heutigen Entscheidung zum Vertrag über die Er-richtung des IT-Planungsrats und über die Grundlagender Zusammenarbeit beim Einsatz der Informationstech-nologie in den Verwaltungen von Bund und Ländernschaffen wir die Voraussetzung für eine moderne, effi-ziente und bürgerfreundliche Verwaltung.Die heutige IT-Infrastruktur der öffentlichen Verwal-tung ist nicht mehr zeitgemäß. Zu diesem Ergebnis kamdas Projekt „Deutschland-Online Infrastruktur“ bei einerBestandsaufnahme der IT-Netzstruktur von Bund, Län-dern und Kommunen bereits 2006. Es gebe zu vieleNetze, es gebe keine gemeinsamen Sicherheitsstandards,und die Netze entsprächen den Anforderungen einzelnerFachabteilungen, seien für andere Abteilungen aber oft-mals nicht nutzbar.Dieses Ergebnis war Anlass für die Kommission vonBundestag und Bundesrat zur Modernisierung der Bund-Länder-Finanzbeziehungen, der sogenannten FöKo II,aktiv zu werden. In den Beschlüssen der FöKo II vomMärz 2009 wurde festgestellt – ich zitiere –:Vor dem Hintergrund moderner Verwaltungsanfor-derungen und neuer Bedrohungen ist die Sicherheitund Austauschbarkeit von Daten in den öffentli-chen IT-Netzen von herausragender Bedeutung. …Hierfür sind– so heißt es in den Beschlüssen weiter –durch Änderungen im Grundgesetz sowie durcheinfachgesetzliche und staatsvertragliche Rahmen-vorgaben die rechtlichen Voraussetzungen zu schaf-fen.
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Gabriele FograscherDie grundgesetzlichen Änderungen sind in Art. 91 cGrundgesetz vorgenommen worden. Durch diesen neuenArt. 91 c Grundgesetz, der seit Juli 2009 gilt, wird esdem Bund und den Ländern nun ermöglicht, bei Fragender Informationstechnik zusammenzuwirken.Die einfachgesetzlichen Voraussetzungen wurdendurch das sogenannte IT-Netzgesetz geschaffen. Darinwird geregelt, wie das Zusammenwirken ausgestaltetwird. Dieses Gesetz gilt seit August 2009.Nun fehlt also noch der dritte Schritt, nämlich derStaatsvertrag, um den es heute geht. Durch ihn wird derIT-Planungsrat eingerichtet. Mit diesem IT-Planungsratsoll die Koordinierung zwischen Bund und Ländern beiFragen der Informationstechnologie übersichtlicher undvor allem auch sicherer werden. Gerade die sensiblenDaten der öffentlichen Verwaltung müssen besondersgeschützt werden.Der IT-Planungsrat als neues Steuerungsgremiumzwischen Bund und Ländern setzt sich aus dem Beauf-tragten der Bundesregierung für die Informationstechnikund jeweils einem für die Informationstechnik zuständi-gen Vertreter jedes Landes zusammen. Drei Vertreter derGemeinden und Gemeindeverbände sowie der Bundes-datenschutzbeauftragte können an den Sitzungen teil-nehmen. Organisatorisch ist der Planungsrat beim Bun-desministerium des Innern angesiedelt, und dieFinanzierung der Geschäftsstelle tragen Bund und Län-der gemeinsam.Die SPD hat den Handlungsbedarf hinsichtlich derZusammenarbeit zwischen Bund und Ländern in der In-formationstechnik frühzeitig erkannt und im Rahmen derFöderalismuskommission II unter Vorsitz von PeterStruck maßgeblich vorangetrieben. Die Sorge, dass manmit dem IT-Planungsrat eine Stelle schafft, die sich wei-tere Kompetenzen aneignen will und in die Belange derLänder einzugreifen versucht, ist aufgrund des Staatsver-trages und der Zusammensetzung des Gremiums unbe-gründet.Bündnis 90/Die Grünen haben heute einen Entschlie-ßungsantrag vorgelegt. Diesen lehnen wir ab,
weil wir die darin aufgestellten Forderungen für bereitsausreichend berücksichtigt halten.
Es kann keine Alternative zu einer zeitgemäßen undvor allem sicheren IT-Infrastruktur für die öffentlicheVerwaltung geben. Deshalb halten wir die grundlegendeEntscheidung für eine Vernetzung der öffentlichen Ver-waltungen, die die FöKo II unter Peter Struck auf denWeg gebracht hat, für notwendig und richtig. Darumwird die SPD-Bundestagsfraktion dem Gesetzentwurfheute zustimmen.Vielen Dank.
Das Wort hat nun Manuel Höferlin für die FDP-Frak-
tion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrtenDamen und Herren! Neben den „technischen Hinwei-sen“ des Staatssekretärs Bergner ist mit der Errichtungdes IT-Planungsrates zur Zusammenarbeit beim Einsatzvon Informationstechnologien in den Verwaltungen vonBund und Ländern ein weiterer Grundstein für die er-folgreiche E-Government-Strategie in Deutschland ge-legt.
Mit dem IT-Planungsrat setzen wir konsequent einenweiteren Baustein der Föderalismusreform II um undfüllen Art. 91 c Grundgesetz mit Leben. Wir lösen dasNebeneinander zahlreicher IT-Gremien in Bund undLändern ein Stück weit auf, schaffen effiziente, einfacheund transparente Entscheidungsstrukturen und förderndie Kooperation zwischen Bund und Ländern wie auchder Länder untereinander.Meine Damen und Herren, die Koalition hat die kon-tinuierliche Modernisierung öffentlicher Verwaltungenund die Fortentwicklung der E-Government-Strategiedes Bundes schon im Koalitionsvertrag als gemeinsamesRegierungsziel festgeschrieben.
Die FDP sieht in den Möglichkeiten der Informa-tionstechnologie eine große Chance für die öffentlicheVerwaltung.
Wir Liberale wollen Verwaltungsprozesse einfacher,unbürokratischer und transparenter gestalten. E-Govern-ment ist kein Selbstzweck der Verwaltung. Der Bürgermuss in jedem Fall im Mittelpunkt der Bemühungen ste-hen.
Wenn es durch diese Anstrengungen gelingt, dassBürgerinnen und Bürger unnötigen Papierkrieg vermei-den können, dass ewige Wartezeiten auf Behördenflurenverkürzt werden und Parallelstrukturen in etlichen Äm-tern entfallen und damit Entlastung eintritt, dann habenwir einen Erfolg erreicht und der Politikmüdigkeit derBürger ein Stück entgegengewirkt. Denn funktionie-rende und schlüssige E-Government-Strukturen entlas-ten Bürger und Behörden gleichermaßen.
Effiziente Verwaltungsstrukturen eröffnen vor allenDingen den Kommunen in vielen Feldern neue Möglich-
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Manuel Höferlinkeiten. Wenn es uns gelingt, durch Maßnahmen im Be-reich der Verwaltungsmodernisierung die teilweise im-mensen Bürokratiekosten zu senken, verbleiben denKommunen mehr finanzielle Spielräume in anderen Be-reichen, zum Beispiel für den Ausbau der Kinderbetreu-ungsangebote oder die Senkung von Steuern und Gebüh-ren.
Auch bei der Beschaffung von Hard- und Softwarekönnen wir mit einer zwischen Bund und Ländern undden Ländern untereinander vernetzten IT-Strategie Ein-sparpotenziale realisieren. Verwaltungsmodernisierungund E-Government können sich also sprichwörtlich aus-zahlen.Den Chancen durch E-Government stehen aberdurchaus auch Herausforderungen gegenüber. Wir wer-den keine gesellschaftliche Akzeptanz für elektronischeVerwaltungsverfahren erhalten, wenn wir nicht auch diewenig technikaffinen Bürgerinnen und Bürger, die esdurchaus gibt, auf diesem Weg mitnehmen. Deshalbmüssen wir eine Spaltung der Gesellschaft in eine digi-tale und eine nichtdigitale Gesellschaft verhindern.
In der kommenden Woche werden die Fraktionen imDeutschen Bundestag über die Einsetzung einer En-quete-Kommission „Internet und digitale Gesellschaft“zu entscheiden haben. Ganz ausdrücklich wollen wir Li-berale uns in dieser Kommission auch mit Fragen vonE-Government-Dienstleistungen befassen. Wir werdenin der Enquete-Kommission auch Empfehlungen erar-beiten müssen, wie eine Teilhabe aller Bürgerinnen undBürger an der digitalen Gesellschaft und den Vorteilendes E-Governments sichergestellt werden kann.
Ich möchte es nicht auslassen, auch auf den vorlie-genden Entschließungsantrag der Grünen einzugehen.Ich freue mich, in Ihrem Antrag zu lesen, dass Sie an dieBeachtung des Grundrechts auf informationelle Selbst-bestimmung erinnern; hier sprechen Sie einem Liberalenaus der Seele. Ich begrüße auch, dass die Grünen auf dieBeteiligung der Landesdatenschutzbeauftragten an denSitzungen des IT-Planungsrats drängen, „wenn die Län-der betreffende datenschutzrelevante Fragen erörternwerden“. Auch die Forderung nach der vorrangigen Ver-wendung offener IT-Standards ist berechtigt. Die Koali-tion aus FDP und Union hat dies bereits im Koalitions-vertrag zum Thema gemacht. Es ist schön, dass Sie sichuns hier anschließen.
Die FDP steht im Deutschen Bundestag wie keine an-dere Fraktion für Wettbewerb und Mittelstandsförde-rung, sodass Sie von den Grünen mit der Forderung nachVerhinderung marktbeherrschender Positionen einzelnerAnbieter bei uns offene Türen einrennen.Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen,alle Forderungen, die Sie hier in Ihrem Entschließungs-antrag stellen, sind vor allen Dingen eines: Selbstver-ständlichkeiten.
In der Begründung Ihres Antrags schreiben Sie selbst:Die Gewährleistung des Datenschutzes ist aus-drücklich in mehreren Landesverfassungen nor-miert.Informationelle Selbstbestimmung bezeichnen Sievöllig zu Recht als Grundrecht. Sollen wir deshalb auchandere Grundrechte explizit in die Geschäftsordnung desPlanungsrates aufnehmen? Da sage ich Nein. Es istschlichtweg Schaufensterpolitik, einen Entschließungs-antrag mit diesen Selbstverständlichkeiten zu formulie-ren, betrieben von der Fraktion, die unter Rot-Grün denDatenschutz geschleift hat wie keine andere Regierungzuvor.
Werte Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, ausdiesem Grund lehnen wir Ihren Entschließungsantrag ab.Die Bürgerinnen und Bürger können sich sicher sein:Die FDP wird weiterhin in Bund und Ländern darüberwachen, dass auch bei Beratungen und Entscheidungendes IT-Planungsrates die Interessen des Datenschutzesnicht zu kurz kommen werden. Ich freue mich, dass wirheute das Gesetz zum Vertrag über die Errichtung desIT-Planungsrats verabschieden können. Ich würde michfreuen, wenn alle Fraktionen diesem Gesetzentwurf zu-stimmen würden. Sagen Sie Ja zu mehr Effizienz undTransparenz in der Verwaltung! Machen Sie mit, wennwir einen weiteren wichtigen Grundstein für einen mo-dernen Dialog zwischen Bürgern, Bürgerinnen und Ver-waltung legen!Vielen Dank.
Kollege Höferlin, dies war Ihre erste Rede im Deut-
schen Bundestag. Herzliche Gratulation und alle guten
Wünsche für die weitere Arbeit hier bei uns.
Das Wort hat nun Kollegin Halina Wawzyniak, Frak-
tion Die Linke.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-ren! Die Bundesregierung möchte die Arbeit der Verwal-
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Halina Wawzyniaktung in Bund und Ländern effizienter und effektiver ge-stalten. Das ist zu begrüßen. Auch die Linke hält den IT-Planungsrat grundsätzlich für ein taugliches Mittel, die-ses Ziel zu erreichen. Es ist sinnvoll, dass Bund undLänder bei der Planung und Errichtung von IT-Infra-strukturen zusammenarbeiten können.Allerdings muss im Staatsvertrag, der heute und hierratifiziert werden soll, hinsichtlich der Zusammenset-zung des Rates, des Zustandekommens der Beschlüsseund schließlich der Umsetzung der Ergebnisse einigesnachgebessert werden. Was kritisieren wir im Einzel-nen?Erstens. Nach unserer Ansicht fehlt dem Rat eine hin-reichende demokratische Legitimation. Der Staatsver-trag, der Grundlage der Einsetzung des IT-Planungsratessein wird, wurde von der Ministerialbürokratie formu-liert. Weder der Bundestag noch die Länderparlamenteoder aber die Gemeinden und Kommunalverbände wa-ren an der Erarbeitung des Inhalts angemessen beteiligt.Die Beschlüsse, die der Rat fassen wird, werden eine un-mittelbare Grundrechtsrelevanz haben. Daher sollte nachunserer Ansicht eine entsprechende unmittelbare demo-kratische Legitimation unabdingbare Voraussetzung derArbeit des Rates und der Umsetzung seiner Beschlüssesein.
Zweitens. Die Zusammensetzung des Rates spiegeltnicht die Bedeutung des Themas wider. Die Bürgerinnenund Bürger werden hauptsächlich in den Kommunen mitden Behörden konfrontiert. Daher sollten nach unsererAnsicht Kommunalverbände und Gemeinden angemes-sen im Rat vertreten sein. Eine nur beratende Teilnahmean den Sitzungen ist nicht hinnehmbar; denn die Kom-munen sind von den IT-Vorgaben des Planungsrates di-rekt betroffen.
Es ist absurd und zeugt von mangelndem Interesseder Regierung an einem umfassenden Datenschutz, dassausgerechnet der Bundesdatenschutzbeauftragte eben-falls nur beratend und die Landesdatenschutzbeauftrag-ten gleich gar nicht an den Sitzungen teilnehmen sollen.
Schließlich hat das Bundesverfassungsgericht die be-sondere Bedeutung des Rechts auf informationelleSelbstbestimmung und der Gewährleistung der Vertrau-lichkeit und Integrität der informationstechnischen Sys-teme jüngst wieder hervorgehoben.Drittens. Die schwammige Formulierung in § 2 desStaatsvertrages über die Unterstützung der Arbeit desRates durch etwaige Beiräte enttäuscht. Ein den Rat be-ratendes Gremium aus Experten sollte zwingend ge-schaffen werden. Insbesondere sollten nach unserer An-sicht in diesem Beirat auch die Sozialpartner vertretensein; denn schließlich müssen die Mitarbeiterinnen undMitarbeiter vor Ort das umsetzen, was der Rat be-schließt. Ein IT-gestützter Bürokratieabbau hat auch zurFolge, dass Stellen wegfallen und sich die Arbeitsbedin-gungen ändern werden. Dies sollte nur in Partnerschaftmit den Betroffenen und ihren Interessenvertretungengeschehen.
Viertens. Weitere Demokratiedefizite erkennt man,wenn man sich ansieht, wie die Beschlüsse zustandekommen sollen. Das Zustimmungsquorum für die Fas-sung verbindlicher Beschlüsse ist mit dem finanziellenBeitrag der Länder zum IT-Planungsrat kombiniert. Da-mit hängt die Möglichkeit der Einflussnahme von der fi-nanziellen Leistungsfähigkeit des jeweiligen Bundeslan-des ab. Das ist kein Föderalismus, sondern Diktatur nachKassenlage.
Die Verwendung freier Software mit offenem Quell-code wird durch die Einrichtung des IT-Planungsrats be-hindert statt ermöglicht. Es besteht weder eine hinrei-chende demokratische Legitimation des IT-Planungsratsund seiner Beschlüsse noch die Gewähr, dass bei dessenBeschlüssen datenschutzrechtliche Grundsätze gewahrtbleiben. Wir werden aus diesem Grund der Ratifizierungdieses Staatsvertrages unsere Zustimmung nicht geben.Da wir aber für Einzelfallprüfungen und nicht für allge-meine Ablehnung von Anträgen der Grünen stehen, ha-ben wir uns entschlossen, dem Entschließungsantrag derGrünen, weil er einige unserer Kritikpunkte aufgreift,unsere Zustimmung zu geben.
Das Wort hat Konstantin von Notz für die FraktionBündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Es freut mich, zu hören, dass wir auf Unter-stützung treffen. Das vorliegende Gesetz zum IT-Pla-nungsrat nimmt sich eines wichtigen Themas an, undmeine Fraktion begrüßt es ausdrücklich, dass hiermiteine Grundlage für die Zusammenarbeit der Verwaltun-gen von Bund und Ländern beim Einsatz von Informa-tionstechnologie gelegt wird; denn bisher – das wurdevielfach hier gesagt – ist die Zusammenarbeit leider un-zureichend. Die neuen Bestimmungen im Gesetz seheninsbesondere vor, dass Bund und Länder bei der Pla-nung, der Errichtung und dem Betrieb der notwendigeninformationstechnischen Systeme zusammenwirkenkönnen. Durch den Staatsvertrag wird gewährleistet,dass die IT-Planung in der öffentlichen Verwaltung nichtvorwiegend durch den Bund geprägt wird. Dafür soll derStaatsvertrag eine Kooperation zwischen Bund und Län-dern auf Augenhöhe im Sinne der im Grundgesetz be-schriebenen Gemeinschaftsaufgaben ermöglichen. Dasist alles sehr schön und zu begrüßen. Auch dass der Bun-desbeauftragte für den Datenschutz beratend an den Sit-zungen teilnehmen kann, ist ein richtiger und unterstüt-zenswerter Schritt. Überlegenswert wäre es allerdings
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 24. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Februar 2010 2133
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Dr. Konstantin von Notzauch aus unserer Sicht, dem Bundesdatenschutzbeauf-tragten ein effektives Mitbestimmungsrecht einzuräu-men.
Insgesamt fehlen dem vorliegenden Gesetz aber we-sentliche Aspekte. Erlauben Sie mir daher, einige Ergän-zungspunkte aus unserem Entschließungsantrag zu be-nennen, zu denen Herr Höferlin teilweise seineZustimmung signalisiert hat. In der noch zu beschließen-den Geschäftsordnung des IT-Planungsrats ist die beson-dere Beachtung des Grundrechts auf informationelleSelbstbestimmung ausdrücklich zu fixieren. Es gehörtdort hinein. Auch wenn dieses Recht bereits im Grund-gesetz steht, ist gerade bei einem Thema, das diesen Be-reich berührt, eine Klarstellung wichtig und richtig.
Zu den Sitzungen des IT-Planungsrats soll mindestensein Landesdatenschutzbeauftragter eingeladen werden,wenn in dem jeweiligen Land betreffende datenschutzre-levante Fragen erörtert werden. Hier geht es nicht um eineKannbestimmung, sondern um eine Institutionalisierung.Bei der im Staatsvertrag vorgesehenen vorrangigen Ver-wendung bestehender Marktstandards muss peinlich ge-nau darauf geachtet werden, dass man durch diese Vor-gabe nicht in Verfahren landet, die den rechtlicherforderlichen Datenschutz nicht gewährleisten. Ich sageIhnen voraus, Herr Höferlin: Wenn Sie dies jetzt nicht be-achten, werden Sie nachher damit Probleme haben.Es müssen aber auch Vorkehrungen getroffen werden,dass die vorrangige Verwendung der Marktstandardsnicht zu marktbeherrschenden Positionen von Anbieternder jeweiligen technischen Dienste führt. Wir wünschenuns außerdem, dass bei der Definition von technischenIT-Standards darauf hingewirkt wird, dass vorrangig of-fene IT-Standards eingesetzt werden. Und es bedarfmehr Transparenz – da stimme ich der Linken voll zu –durch eine regelmäßige Berichtspflicht. Der DeutscheBundestag und die Öffentlichkeit müssen über die Ent-scheidungen und Berichte bezüglich des IT-Planungsratszeitnah und regelmäßig informiert werden.Ich kann Sie beruhigen, meine Damen und Herrenvon der Koalition: Das alles sind echte Verbesserungen,wie sie auch von vielen Landesparlamenten, übrigensauch von dem schwarz-gelben in Sachsen, gefordertwerden. Insofern können Sie unserem Entschließungsan-trag beruhigt zustimmen.Herzlichen Dank.
Das Wort hat nun Hans-Peter Uhl für die CDU/CSU-
Fraktion.
Herr Präsident! Meine verehrten Kolleginnen undKollegen! Um seine Kernaufgaben erfüllen zu können,stützt sich der Staat auf Informationstechnologie. Steuer-verwaltung und Polizei wären heute ohne Computer un-denkbar. Umgekehrt verlangt der Bürger mit Recht, dassder Staat viele seiner Leistungen auch im Internet zurVerfügung stellt. „E-Government“ ist das Stichwort,dem wir uns auch in dieser Legislaturperiode widmen.Mit dem neuen Personalausweis, Frau KolleginFograscher, den wir gemeinsam beschlossen haben,kommen wir einen riesigen Schritt weiter. Er wird dieWelt auf diesem Gebiet verändern.18 Milliarden Euro geben der Bund, die Länder unddie Kommunen im Jahr für Informationstechnik aus. Da-mit der Einsatz dieser Schlüsseltechnologie zwischender Verwaltung von Bund, Ländern und Kommunen ko-ordiniert werden kann, richten wir den IT-Planungsratein. Mit dem Gesetzentwurf bzw. dem Vertrag, den wirheute verabschieden, sind wir an einem Meilenstein imHinblick auf die Modernisierung der Verwaltung inDeutschland angelangt.Die organisierte Kriminalität schert sich wenig um fö-derale und nationale Grenzen und Zuständigkeiten. Siehandelt grenzüberschreitend.
Die Polizeibehörden versuchen, mit verbesserter Infor-mationstechnik und einem verbesserten Informations-austausch zu reagieren. Das geht natürlich nur mit einerabgestimmten Computertechnik.Denken Sie an den neuen Versuch, Licht ins Dunkeldes Behördendickichts zu bringen: an die Behördenruf-nummer 115. Es wird möglich sein, ganz alltägliche Fra-gen nach der Steuer, der Rente, nach Schulanmeldungenoder wozu auch immer über die Nummer 115 zu klärenoder zumindest zu erfahren, an welche Anlaufstelle mansich wenden kann. Das ist ein bürgerfreundlicher Dienst,das ist Vernetzung. Das geht nur mit IT-Technologie.Natürlich ist es zum einen ungeheuer schwierig, Hun-derte von IT-Abteilungen zu koordinieren. Zum anderenfördern unsere föderalen Verwaltungsstrukturen Doppel-entwicklungen und informationelle Abschottung in denverschiedenen Kommunen und Bundesländern. Es istnicht unsere Absicht, ein zentrales System für ganzDeutschland, für Bund, Länder und Gemeinden, einzu-richten. Aber ist es denn ein Ausweis föderaler Tüchtig-keit, wenn unsere Polizeibehörden neun unterschiedlicheSysteme zur Vorgangsbearbeitung unterhalten? Brauchtwirklich jedes Bundesland ein eigenes Programm zurBerechnung und Auszahlung von Agrarsubventionen?
Braucht jedes Bundesministerium sein eigenes Systemzur Buchhaltung und zur Personalwirtschaft? Natürlichnicht.In Einzelfällen mag digitale Abschottung richtig sein.Aber ein digitales Babylon können wir uns heute nicht
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Dr. Hans-Peter Uhlmehr leisten. Ein Polizeibeamter, der einen Kriminalfallin München bearbeitet, darf die Papiere nicht ausdru-cken und nach Hamburg faxen müssen, damit die dortigePolizei den Fall übernimmt. Das alles muss koordiniertwerden. Das heißt, wir wollen das volle Potenzial der In-formationstechnik durch Vernetzung und Kooperationausschöpfen.Art. 91 c des Grundgesetzes ist die Grundlage für das,was wir heute beschließen. Es geht um zwei Aufgaben:Erstens. Dem Bund wird die Aufgabe zugewiesen, dieinformationstechnischen Netze des Bundes und der Län-der miteinander zu verbinden.Zweitens. Die verbindliche Abstimmung und gemein-same Steuerung der Informationstechnik in der Verwal-tung wird verfassungsrechtlich ausdrücklich festge-schrieben. Damit überwinden wir auf dem Gebiet derInformationstechnologie unsere föderalen Strukturen,die ohne eine solche Überwindung auf Abschottung aus-gerichtet wären.Der IT-Planungsrat ist die Lösung des Problems. Derzur Abstimmung stehende Vertrag setzt die Möglichkei-ten des Grundgesetzes um und schafft die Grundlage fürdie Errichtung eines IT-Planungsrats, in dem diejenigensitzen – es ist bereits gesagt worden –, um die es geht,also auch der Bundesdatenschutzbeauftragte. Meine lie-ben Kollegen von den Grünen, Herr von Notz, wenn imEinzelfall ein Landesdatenschutzbeauftragter benötigtwird, dann wird auch er im IT-Planungsrat seinen Platzfinden. Da habe ich überhaupt keine Sorgen. Dort müs-sen natürlich die kommunalen Spitzenverbände vertretensein; schließlich sollen die informationstechnischenNetze der Kommunen an dieses Netz angeschlossenwerden.Die Probleme bei der Vernetzung sind kein deutschesPhänomen; in jedem Land gibt es diese Probleme. Esmuss gesagt werden: Deutschland ist das erste Land, dasseine Verwaltung mit dieser modernen Technologie derVernetzung, der Vereinheitlichung und der gemeinsamenSteuerung in dieser Weise regelt. Es ist gut, dass wir hieran der Spitze des Fortschritts marschieren. Eine Grund-gesetzänderung, ein Staatsvertrag, ein hochrangiges Ab-stimmungs- und Steuerungsgremium, eben der IT-Pla-nungsrat, und die heutige Verabschiedung im Parlament –deutlicher kann man nicht zum Ausdruck bringen, fürwie wichtig man diese Aufgabe hält.Das zur Abstimmung stehende Gesetz und damit derIT-Planungsrat sind ein großer Schritt zur Modernisie-rung unserer Verwaltung. Ich wünsche daher einen IT-Planungsrat, der sich seiner Verantwortung bewusst istund mit strategischer Gestaltungskraft dafür sorgt, dassdie Informationstechnik der deutschen Verwaltung eineninternationalen Maßstab für Effektivität und Effizienzdarstellt. Die breite Zustimmung dieses Hauses – dass essie gibt, den Eindruck habe ich heute – gibt dem zukünf-tigen IT-Planungsrat für diese Aufgabe ein klares Man-dat. Daher bitte ich Sie, meine lieben Kolleginnen undKollegen, heute um Zustimmung zu dieser richtungswei-senden Entscheidung für die deutsche Verwaltung.
Ich schließe die Aussprache.Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun-desregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zumVertrag über die Errichtung des IT-Planungsrats undüber die Grundlagen der Zusammenarbeit beim Einsatzder Informationstechnologie in den Verwaltungen vonBund und Ländern – Vertrag zur Ausführung von Arti-kel 91c GG. Der Innenausschuss empfiehlt in seinerBeschlussempfehlung auf der Drucksache 17/571, denGesetzentwurf der Bundesregierung auf der Drucksache17/427 anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetz-entwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Werstimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Damit ist der Ge-setzentwurf in zweiter Beratung mit Mehrheit angenom-men.Wir kommen zurdritten Beratungund Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die demGesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetz-entwurf hat in dritter Beratung ganz offenkundig die er-forderliche Mehrheit auskömmlich erhalten und ist da-mit angenommen.Wir stimmen nun über den Entschließungsantrag derFraktion Bündnis 90/Die Grünen auf der Drucksache17/793 ab. Wer stimmt für den Entschließungsantrag? –Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Damit ist derEntschließungsantrag abgelehnt.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 12 auf:Beratung des Antrags der Abgeordneten SörenBartol, Uwe Beckmeyer, Martin Burkert, weitererAbgeordneter und der Fraktion der SPDKommunen die Einrichtung von Carsharing-Stellplätzen ermöglichen– Drucksache 17/781 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Umwelt, Naturschutz und ReaktorsicherheitNach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich hörekeinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache und erteile dem KollegenSören Bartol für die SPD-Fraktion das Wort.
Ich verbinde den Aufruf des ersten Redners mit derheimlichen Hoffnung, dass wir vielleicht schon währendder ersten Wortmeldung eine überzeugende Übertragungdes englischen Begriffs ins Deutsche erhalten
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Präsident Dr. Norbert Lammertund damit noch zutreffender über diesen Sachverhaltmiteinander debattieren können.Bitte schön, Herr Kollege Bartol.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Gleich am Anfang, wie gewünscht, ein Über-setzungsvorschlag zu Carsharing: Autoteilen.„Besser frühzeitig einsteigen“, kommentierte derFocus letzte Woche die neueste Prognose zu den Wachs-tumsaussichten von Carsharing. 1,1 Millionen Menschenwerden sich in Deutschland 2016 19 000 Autos teilen, pro-gnostiziert die Unternehmensberatung Frost & Sullivan.Die Ende Januar veröffentlichte Studie ist noch druck-frisch. Ich empfehle sie Ihnen zur Lektüre, sehr geehrteKolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU und FDP,und hoffe, dass Sie noch den rechtzeitigen Einstieg indie Zukunft der Mobilität schaffen. Ich würde michfreuen, wenn wir in dieser Legislaturperiode endlich denBeschluss des Bundestages von 2005 umsetzen könnten.Ein kleiner Rundblick; denn das Thema Carsharing-Parkplätze beschäftigt uns ja nun in der dritten Legisla-turperiode, leider bisher ohne erkennbare Fortschritte:2005 hat der Bundestag noch mit den Stimmen von SPDund Grünen beschlossen, die Rahmenbedingungen fürCarsharing zu verbessern. Ziel unserer Initative war es,dass Kommunen die Möglichkeit erhalten, Parkplätzefür Carsharing-Autos auszuweisen. Das SPD-geführteBundesverkehrsministerium hat daraufhin einen Gesetz-entwurf vorgelegt. Dieser stieß auch auf breite Zustim-mung bei den Verbänden vom Städtetag bis hin zumADAC, und auch die Mehrheit der Länder unterstützteihn. Allein das CDU-geführte Bundeswirtschaftsminis-terium witterte damals einen Angriff auf die Automobil-industrie und die Autovermietungen und verweigerteseine Zustimmung. Diese allerdings haben inzwischenlängst den Zukunftsmarkt „Carsharing“ für sich ent-deckt.Daimler hat in Ulm und Neu-Ulm sein Pilotprojekt„Car2Go“ eingeführt, eine neue und noch flexiblereForm des Carsharings: Die Autos können spontan ge-nutzt und an fast beliebigen Orten wieder abgestellt wer-den. Das Modell hat Erfolg: 200 Smarts sind dort unter-wegs, 12 000 Kundinnen und Kunden haben sichregistriert.Auch Autovermieter wie Hertz und Sixt bieten inzwi-schen eigenes Carsharing an, und auch sie nutzen gernedas Angebot von reservierten Parkplätzen, die Senat undBezirke zum Beispiel in Berlin zur Verfügung stellen.Es wird endlich Zeit, dass Sie das, was in Berlin undanderswo auf eigene Kappe ohne bundesgesetzlicheGrundlage praktiziert wird, auf eine bundesweite undauch rechtssichere Grundlage stellen. Zu Recht ist dasdeutsche Straßenverkehrsrecht restriktiv, was die Aus-weisung von Stellplätzen anbelangt. Ausnahmeregelun-gen gibt es aber nicht nur für behinderte Menschen, son-dern auch für Handwerker. Auch eine Bevorrechtigungvon Carsharing-Autos lässt sich meiner Meinung nachsehr gut begründen:Erstens. Carsharing-Parkplätze führen nicht etwadazu, dass Parkraum knapper wird. Das Gegenteil ist derFall: Sie entlasten vom Parkdruck. Das ist im Interesseder Anwohner, aber auch aller anderen Verkehrsteilneh-mer.Zweitens. Carsharing trägt dazu bei, die Klimaschutz-ziele im Verkehrsbereich zu erreichen. Eine Studie ausder Schweiz, die Vorreiter beim Carsharing ist, belegtdas: Jeder Carsharing-Nutzer emittiert jährlich 290 Kilo-gramm CO2 weniger; denn Carsharing ändert das Mobi-litätsverhalten. Carsharing-Kunden fahren seltener Auto,sie nutzen häufiger Busse und Bahnen, fahren Rad odergehen zu Fuß.Ich finde, das sind starke Argumente dafür, dass dieFörderung von Carsharing endlich auf die Agenda dieserBundesregierung kommt.
Inzwischen gibt es genügend Erfahrungen, die diepraktische Umsetzung erleichtern werden, zum Beispielbei der Frage, wie die Stellplätze gegen Falschparker zusichern sind. Im Dialog mit Ländern, Kommunen undVertretern der Branche wird sich hier sicherlich eine sehrpraktikable Lösung finden lassen. Ich bin überzeugt,dass die Kommunen die Möglichkeit – ich betone ganzbewusst: die Möglichkeit – zur Einrichtung solcherStellplätze sinnvoll nutzen werden. Denn um nichts an-deres geht es, als den Kommunen ein zusätzliches In-strument einer nachhaltigen Stadtverkehrspolitik an dieHand zu geben.Die Akzeptanz für Carsharing wächst; denn es entlas-tet die Umwelt in den Städten und verbessert die Lebens-qualität. Die geteilte Autonutzung ermöglicht bezahlbareund flexible Mobilität, und zwar ohne eigenes Auto. Wernach Feierabend mehrere Runden um den Block fahrenmuss, um einen Parkplatz zu finden, ist schnell von denVorzügen von Carsharing zu überzeugen. Wer dann nocheinen Carsharing-Parkplatz in der Nähe seiner Wohnungoder mit guter Bus- bzw. Bahnanbindung findet, wirdnoch bereitwilliger auf sein Auto oder sein Zweitautoverzichten.Beispiel Bremen: 2003 wurden im öffentlichen Stra-ßenraum zwei sogenannte „mobil.punkte“ eingerichtet.Das sind Carsharing-Stationen mit guter Anbindung andas öffentliche Verkehrsnetz und mit Informationstermi-nals. Das Ergebnis sind 170 neue Carsharing-Kunden,von denen ein Drittel das eigene Auto abgeschafft hat.Nicht nur technologische, sondern auch soziale Inno-vationen sind gefragt, wenn wir das Ziel sozial- und um-weltverträgliche Mobilität erreichen wollen. Elektromo-bilität und Carsharing sind ideale Partner auf dem Wegin die Mobilität der Zukunft. Sie sind wie geschaffen füreine Stadt der kurzen Wege und neue multimodale Nutzer-gruppen, die sogenannte „Generation ohne Golf“, wiedie Welt vorgestern schrieb. Damit Carsharing-Anbieterdie höheren Kosten für die Anschaffung von Elektroau-tos und die Erprobung neuer Fahrzeugkonzepte aufbrin-gen können, brauchen sie Förderung. Hier ist auch dieBundesregierung gefragt. „Deutschland hat das Poten-
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Sören Bartolzial, sich zu einem Schlüsselmarkt für Elektroauto-Sha-ring zu entwickeln“, heißt es in der Studie von Frost &Sullivan. Ich glaube, dass diese Chance genutzt werdenmuss. Ich fordere Sie auf, hier endlich tätig zu werden.
Gute Beispiele für Carsharing-Förderung gibt es beiunseren europäischen Nachbarn zuhauf. Italien hat einenationale Koordinierungsstelle für Carsharing eingerich-tet und eine Abwrackprämie zugunsten von Carsharinggezahlt. In den Niederlanden und Belgien können Kom-munen selbstverständlich selber darüber entscheiden,welchen Verkehrsdiensten sie Parkflächen anbieten. Wasneue Mobilitätskultur heißt, machen uns die Franzosenvor. Nach dem Erfolg von Velib, dem kostenlosen Leih-fahrradsystem, kommt jetzt Autolib: 4 000 Carsharing-Autos mit Elektroantrieb, 1 400 Leihstationen über dieStadt verteilt. Die Abkürzung Autolib steht für „automo-bile“ und „liberté“. Damit interpretieren sie in Frank-reich neu, was in Deutschland leider allzu oft noch unterdem Motto „Freie Fahrt für freie Bürger“ steht. Hoffenwir, dass Paris auch diesmal zum Trendsetter fürDeutschland wird und unser dritter Versuch, diesesThema in Ihre Köpfe zu bekommen, endlich zum Erfolgführt!Vielen Dank.
Volkmar Vogel ist der nächste Redner für die CDU/
CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Sich ein Auto zu teilen ist eine gute Sache. Deshalb be-
grüßt die CDU/CSU außerordentlich die sehr guten
Wachstumsquoten, die das Carsharing als ein wesentli-
ches Element des Individualverkehrs aufzuweisen hat.
Das bisherige Wachstum zeigt, dass sich diese Branche
kontinuierlich und eigenständig entwickeln kann, ohne
große Eingriffe von staatlicher Seite. Das Carsharing hat
im Krisenjahr 2009 sehr beachtliche Zuwachsraten von
über 15 Prozent verzeichnen können. Damit ist die Bran-
che aber nicht zufrieden. Ohne Krise und Umweltprämie
– letztere haben wir veranlasst – wäre der Zuwachs noch
höher, so die Branchenvertreter. Wir sehen beim Carsha-
ring ein gesundes Wachstum von stets zweistelligen
Prozentzahlen pro Jahr. Es kann festgestellt werden: Der
Branche geht es gut, im Vergleich zu anderen Branchen
sogar sehr gut. Daher, liebe Antragsteller, besteht nun
wirklich kein akuter Handlungsbedarf bei diesem aus
unserer Sicht wichtigen Element im Individualverkehr.
Es sollte nichts überstürzt werden.
Parkraumbewirtschaftung ist kommunale Aufgabe.
Dorthin gehört sie. Carsharing hilft, die hauptsächlich
urbane Mobilität zu sichern, und ist auch ein umweltpo-
litischer Baustein, um die ambitionierten Klimaziele zu
verwirklichen. Allerdings gibt es außer den genannten
positiven Effekten für Mobilität und Umwelt auch
Schattenseiten, die wir in den folgenden Ausschusssit-
zungen beleuchten müssen. Ein Problem ist, dass wir bei
Zustimmung zum vorliegenden Antrag in Zeiten knap-
pen Parkraums in unseren Städten einer künstlichen Ver-
knappung Vorschub leisten könnten, und zwar zulasten
anderer Verkehrsteilnehmer. Das kann zur Verdrängung
und Benachteiligung anderer Individualverkehrsträger
wie hauptsächlich der privaten Pkws, der Taxen und der
Mietwagen führen. Das kann nicht in unser aller Sinn
sein. Zurzeit ist es so, dass die erwähnten Verkehrsträger
nebeneinander den knappen Parkraum in unseren Innen-
städten nutzen und zur Belebung des Einzelhandels bei-
tragen.
Es bleibt nun an uns, in den folgenden Ausschusssit-
zungen gemeinsam mit den Verkehrsexperten und exter-
nen Sachverständigen diese Probleme zu erörtern. Die
CDU/CSU wird sich weiterhin für einen kooperativen
Stil in der Verkehrspolitik einsetzen. Dazu gehört Car-
sharing.
Carsharing wird mit Sicherheit in Ballungsräumen
immer attraktiver werden, auch ohne ein massives Ein-
greifen von staatlicher Seite. Daher möchte ich Sie,
meine liebe Kolleginnen und Kollegen, bitten, mit die-
sem Antrag ergebnisoffen umzugehen und die Beratun-
gen in den zuständigen Gremien abzuwarten. Wir sollten
nicht gesetzlich dazu beitragen, dass die einzelnen Ver-
kehrsteilnehmer gegeneinander ausgespielt werden.
Gleiches Recht für alle heißt, dass auch andere Akteure
Sonderrechte für sich in Anspruch nehmen können.
Die CDU/CSU-Fraktion lehnt den vorliegenden An-
trag nicht per se ab,
meldet aber Bedenken an, da die Umsetzung dieses An-
trags Konkurrenz statt Kooperation zwischen den Ver-
kehrsteilnehmern fördern könnte und vielleicht die kom-
munale Selbstverwaltung beschränkt.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
Nächster Redner ist der Kollege Herbert Behrens für
die Fraktion Die Linke.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Meine Damen und Herren! Das Thema „Car-sharing-Stellplätze“ auf der Tagesordnung des Bundesta-ges zu finden, war für mich zunächst überraschend. Ichbin davon ausgegangen, dass das andernorts geregeltwird, eher dort, wo es Carsharing-Angebote gibt. Ich sel-ber kenne Carsharing aus Hannover. Ich habe dort alsNutzer von diesem Angebot profitieren können.
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Herbert BehrensMich überrascht, dass es dem Bundestag seit 2004,seit dieses Projekt auf dem Tisch ist, nicht möglich ge-wesen ist, die Frage der Stellplätze für Carsharing-Autoszu regeln. Wenn man Carsharing machen will, kann manbei einer entsprechenden Stelle, zum Beispiel beiteilAuto, anrufen und nachfragen, ob noch ein Auto freiist. Egal, für welchen Anlass man ein Auto braucht, obfür eine Fahrt allein oder für einen Transport, bisher warklar: An irgendeiner Stelle in der Stadt steht ein Auto zurVerfügung. Man fährt hin und findet im Parkhaus oderauch auf reservierten Parkflächen in Anwohnerstraßenein Auto vor.
Das war bislang völlig selbstverständlich. Es war ohnegroßen Aufwand möglich und ohne dass man den Ein-druck hatte, mit seinem Carsharing-Auto einen Parkplatzzu blockieren.Mich überrascht allerdings nicht nur, dass ich diesesThema heute auf der Tagesordnung finde, sondern es är-gert mich auch. Die Vorstellung, dass wir uns im Bun-destag mit diesem Thema über Jahre beschäftigen müs-sen, will mir nicht so richtig plausibel erscheinen. Ichkann mir das eigentlich nicht vorstellen.
2007 legte das Verkehrsministerium zwar einen Ent-wurf zur Novellierung des Straßenverkehrsgesetzes vor;dieser verschwand dann allerdings irgendwo. Man sagt,er sei in die Lücke zwischen den Bundesministerien ge-rutscht; man habe sich nicht darauf einigen können, undmöglicherweise bestünden sogar verfassungsrechtlicheBedenken, Parkflächen für Carsharing-Autos einzurich-ten. Aber schließlich hieß es im März 2008, also vorknapp zwei Jahren, dann doch: Die Bundesregierung ar-beitet derzeit an einer abgestimmten Formulierung, diediese Bedenken ausräumt. – Wenn es allerdings zweiJahre dauert, diese Formulierung dem Bundestag vorzu-legen, dann vermag ich nicht einzuschätzen, wie sich dasauswirkt, wenn wir uns im Gesetzgebungsverfahrenwichtigen, vordringlichen Themen zuwenden müssen.
Die Linke macht sich beim Carsharing stark für Au-tos. Das mag Sie vielleicht überraschen, denn es ist janicht immer so. Grundsätzlich haben wir eine anderePosition zum Verkehrskonzept der Bundesregierung,aber auch mancher Oppositionspartei. In diesem Fallmachen wir uns stark fürs Auto und unterstützen deshalbden Antrag der SPD, der ermöglichen soll, dass wir inder 17. Legislaturperiode endlich eine entsprechendeRegelung herbeiführen.Jedoch weniger aufgrund meiner persönlichen Erfah-rungen, sondern eher aus grundsätzlichen Erwägungensteht die Linke dafür, dass das Carsharing verbessertwird. Wir sind dafür, weil ein Fahrzeug beim Carsharing25 Autos ersetzt. So sagen es die Experten aus der Car-sharing-Branche. Wenn Sie die Frage beantworten wol-len, ob ein Carsharing-Auto Parkplätze wegnimmt oderob es überhaupt erst wieder die Chance eröffnet, Parkflä-chen in den Städten zu finden, dann nehmen Sie sichdiese Zahlen einfach einmal vor. Allein das wäre einGrund, Carsharing zu fördern.
Es gibt weitere gute Gründe, Carsharing zu fördern; ichwill sie nicht aufführen, auch deshalb nicht, weil die Uhrhier langsam auf null geht.Im Unterschied zur Anfangszeit von Carsharing ver-zichten die heutigen Nutzerinnen und Nutzer bewusstauf das eigene Auto. Sie nutzen dabei eine Vielzahl vonunterschiedlichen Verkehrsmitteln und suchen immerdas für den entsprechenden Zweck passende Fahrzeugaus. Das ist intelligente Verkehrspolitik, das unterstützenwir, und das wollen wir auch erreichen.
Wir wollen eine linke Verkehrspolitik. Wir müssen inder Tat „anders verkehren“. Wir müssen auch Carsha-ring-Angebote in die entsprechenden Offerten einbezie-hen, die uns in der Stadt zur Verfügung stehen. MeinesErachtens können wir mit Carsharing beispielsweise dieLücke zwischen Fahrradverkehr und öffentlichem Perso-nennahverkehr schließen. Dazu gehört einfach ein Kon-zept, das Carsharing möglich macht und es nicht behin-dert. Die Frage von Stellplätzen möge doch bitte in der17. Legislaturperiode endgültig zu regeln sein.Vielen Dank.
Lieber Kollege Behrens, ich gratuliere Ihnen herzlich
zu Ihrer ersten Rede im Deutschen Bundestag,
verbunden mit allen guten Wünschen für die weitere par-
lamentarische Arbeit.
Es wird möglicherweise in der Legislaturperiode
nicht oft vorkommen, dass ein Vorredner von der CDU/
CSU-Fraktion die Redezeit einspart, die ich Ihnen dann
zu Ihrer von der Fraktion gemeldeten hinzugeben kann.
Deswegen werden Sie dies als besonderen Höhepunkt
Ihrer Laufbahn sicherlich unauslöschlich in Erinnerung
behalten.
Das Wort hat jetzt der Kollege Patrick Döring für die
FDP-Fraktion.
Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Herr Präsident!Insbesondere am Anfang hat mir die Rede des geschätz-ten Kollegen Behrens gut gefallen, denn er hat ein-drucksvoll beschrieben, was es alles schon gibt, undzwar ohne Gesetzentwurf, weil private Unternehmen,private Initiativen, Parkhausbetreiber und andere dieFlächen zur Verfügung stellen, weil sie all das ermögli-chen, was Sie und auch ich schon in Anspruch genom-
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Patrick Döringmen haben, ebenso viele andere aus meiner Fraktion,nämlich Carsharing. Niemand hier im Haus ist gegenCarsharing, unterstelle ich erst einmal, und niemand istdagegen, dass sich diese Verkehre entwickeln.
Deshalb muss man zunächst einmal anerkennen: Beidiesem Thema hat sich unheimlich viel getan, obwohl,wie Sie beklagen, der Diskussionsprozess über die Fragevon Stellplätzen im öffentlichen Straßenraum schon et-was länger andauert.
Erstens haben wir selbstverständlich – das ist ebennicht so trivial, wie es vielleicht auch der Antrag dar-stellt – auch im öffentlichen Straßenraum bei der Park-raumbewirtschaftung erhebliche Nutzungskonkurren-zen. Ich sage voraus – deshalb freue ich mich auf dieDiskussion im Ausschuss –, dass natürlich auch andeream Verkehr in der Stadt beteiligte Verkehrsteilnehmersagen werden: Einen extra markierten Parkplatz im öf-fentlichen Straßenraum für meine Zwecke fände ich ei-gentlich ganz witzig.Wir haben diese im öffentlichen Personennahverkehrfür das Taxi. Übrigens haben wir sie, geschätzter Kol-lege Bartol, für den Handwerker, der in Ihrer Rede vor-kam, nicht. Er hat eine Ausnahmegenehmigung, die hin-ter seiner Windschutzscheibe liegt und ihn in der Regelermächtigt, in die Fußgängerzone einzufahren und keineGebühren bezahlen zu müssen. Aber wenn im öffentli-chen Straßenraum kein Parkplatz da ist, dann nützt ihmauch der Schein nichts; in diesem Fall muss er genausoin der zweiten Reihe parken wie jeder andere ohneSchein.Anders ist das bei den Menschen mit Behinderungen:Sie haben extra ausgewiesene Parkräume. Wenn sie be-setzt sind, nützt ihnen dieses extra ausgewiesene Feldübrigens auch relativ wenig. Das muss man wohl hinzu-fügen.Bleibt also, dass wir für einen weiteren Nutzer, näm-lich den Benutzer eines Carsharing-Fahrzeugs, im öf-fentlichen Straßenraum – Parkhäuser, private Grund-stücke, das ist alles erledigt und machbar – spezielleParkplätze markieren oder beschildern und gleichzeitig– das gehört dann wohl dazu – die Fahrzeuge speziellkennzeichnen oder beschildern; denn mir nützt nicht al-lein die Abholstation. Vielmehr müsste ich, wenn es et-was bringen soll, in jeder Wohnsiedlung zwei, dreiPlätze entsprechend markieren und vor allem kontrollie-ren können, ob das Fahrzeug, das auf diesen Plätzensteht, auch tatsächlich ein Carsharing-Fahrzeug ist.
Nun höre ich von denen, die Carsharing-Fahrzeuge be-nutzen, dass nicht unbedingt alle wollen, dass man esdem Fahrzeug ansieht, dass es nicht dem Fahrer gehört,sondern dass es ein Fahrzeug einer Institution, die Car-sharing betreibt, ist. Damit fängt es an.
Man muss sich gut überlegen, ob man das will.Zweitens. Wir würden die Nutzungskonkurrenz inden Stadtteilen mit wenig öffentlichem Parkraum erhö-hen. Das ist keine Frage. Was nützt mir der ausgewie-sene Stellplatz, wenn am Ende großer Parkraummangelbeispielsweise in einem Wohnviertel aus der Gründerzeitherrscht?
Herr Kollege Döring, lassen Sie eine Zwischenfrage
des Kollegen Bartol zu?
Unbedingt.
Ich nehme das mit besonderem Respekt zur Kenntnis.
Als Sie ans Rednerpult schritten, kam ein von mir über-
hörter Zwischenruf aus den Reihen der SPD-Fraktion,
ob ich bei Ihnen nicht die Redezeit in dem Maße kürzen
könnte, wie ich beim Kollegen Behrens draufgelegt
habe. Jetzt wird der Zwischenruf durch den Versuch wie-
der gutgemacht, Ihre Redezeit durch eine Zwischenfrage
zu verlängern, was ich besonders sympathisch finde.
Herr Präsident, das mache ich sehr gerne. – Lieber
Patrick, nimmst du bitte zur Kenntnis, dass Folgendes
relativ logisch ist: Wenn man in einem Wohngebiet ei-
nen Carsharing-Parkplatz ausweist und sich daraufhin
Menschen für Carsharing entscheiden und sich kein
Zweitauto beschaffen, sondern Carsharing-Autos nut-
zen, dann wird der Parkraumdruck dort deutlich abneh-
men. Das heißt, ein Carsharing-Parkplatz vermindert
Parkraumdruck, weil sich mehrere Leute – das steckt
schon im Wort, ich sage es noch einmal auf Deutsch –
das Auto teilen, das heißt, es gibt weniger Autos im
Wohngebiet. Ich finde, das ist nicht so schwierig zu ver-
stehen.
Geschätzter Kollege Bartol, auch das ist ein Effekt,der eintritt. Aber auch ich habe mich vorbereitet und mitCarsharing-Unternehmen gesprochen.
Die, mit denen ich spreche, sagen: Mehr als die Hälfteihrer Mitglieder oder Nutzer hatten vorher kein Fahr-zeug. Die erhöhen den Parkdruck in einem Wohngebiet,weil sie jetzt mit einem Fahrzeug bis vor die Tür fahrenkönnen.
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Patrick Döring
Es gibt immer zwei Seiten einer Medaille.Ich akzeptiere, dass das zum Teil möglich ist, aber esgibt auch den anderen Fall. Das muss man für dicht be-baute Gründerzeitwohngebiete durchaus anmerken dür-fen. Ich bin gar nicht so skeptisch, was den Antrag an-geht, aber ich möchte deutlich machen, dass man dieBelange anderer berücksichtigen muss.Am Ende bleibt zu fragen: Was ist rechtlich zu tun?Das wird im Straßenverkehrsgesetz und in der Straßen-verkehrs-Ordnung geregelt. Wir müssen gleichzeitig da-für sorgen, dass wir nicht eine Tür öffnen, dass zum Bei-spiel Mietwagenunternehmer, sich auf eine solcheRegelung berufend, für sich eine Sonderrechtssituationin Anspruch nehmen könnten. Das will hier keiner.Drittens. Wir müssen deutlich machen: Wir wollen al-les das, was auf der privaten Ebene im Bereich Carsha-ring derzeit möglich ist, fördern und unterstützen.Wenn wir in diesem Geist den Antrag in der zweitenund dritten Beratung diskutieren, kommen wir zu einemguten Ergebnis. Dazu will die FDP-Fraktion beitragen,weil das Carsharing für die Entwicklung der Verkehre inden Städten unseres Landes ein ausgesprochen sinnvol-ler Beitrag ist. Das erkennen wir sehr wohl an. Wir wol-len alle privaten und unternehmerischen Initiativen be-fördern.Abschließend komme ich zu einem Punkt, der nichtmeine Zustimmung findet. Er steht zwar nicht im An-trag, wurde aber in der Rede angesprochen. Ich glaubenicht, dass diejenigen, die Carsharing betreiben, eine zu-sätzliche Förderung für innovative Fahrzeugkonzeptebrauchen, Stichwort: Elektromobilität.
Wir halten es für richtig, dass wir bei der Elektromo-bilität die Technologieentwicklung, zum Beispiel dieSpeichertechnologie, fördern und uns die Frage stellen:Wie organisieren wir ein effizientes Wiederaufladesys-tem in Deutschland? Für die unmittelbare Anschaffungdes Fahrzeuges macht es, glaube ich, keinen Sinn, zu-sätzliche Subventionen einzuführen. Der effiziente Ver-brennungsmotor wird genauso eine umweltpolitischeRolle und eine Rolle für die Verkehre unserer Städtespielen wie der Elektromotor. Deshalb sollten wir dasden Initiativen bzw. den Unternehmen, die Carsharingbetreiben, überlassen. Wir werden im Rahmen der Dis-kussion feststellen, ob wir das Problem lösen können.Ich bin guter Dinge, dass wir einen zusätzlichen Beitragzu einer noch stärkeren und noch besseren Entwicklungvon Carsharing leisten können.Herzlichen Dank.
Bettina Herlitzius ist die nächste Rednerin für die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Ichbin froh, dass Sie diesem SPD-Antrag durchaus aufge-schlossen gegenüberstehen. Ich möchte diese Stimmungaufnehmen. Ich freue mich über diesen Antrag. Wir wer-den ihm wahrscheinlich zustimmen. Wir hatten ja einenfast deckungsgleichen Antrag letztes Jahr im Sommereingebracht, der von der Großen Koalition leider abge-lehnt worden ist.
Aber ich sehe: Es hat sich etwas entwickelt. Insofern binich sehr optimistisch, was die Debatte angeht.Worum geht es bei Carsharing?
Man muss das wohl doch etwas ausführen. Nachdem icheinige Beiträge hier gehört habe, glaube ich, dass grund-sätzliche Missverständnisse bestehen. Wir können ruhigbei den deutschen Wörtern bleiben: Auto teilen. Men-schen teilen sich ein Auto, aber nicht mit dem Schrau-benzieher oder mit dem Schweißgerät. Nein, sie teilensich die Nutzung. Bis zu 20 Personen – teilweise sind essogar mehr – können sich durch geschicktes Zeitma-nagement ein Auto teilen. Diese 20 Personen müssennicht alle ein Auto haben. Wenn es aber auch nur zehnAutos mehr werden, entstehen genau die Probleme, dieSie gerade beschrieben haben, Herr Döring: der ver-stärkte Parkdruck und die Erhöhung des Verkehrs in denInnenstädten. Deswegen ist das ein interessantes Modell.Der Schritt zum Carsharing ist weniger in der Überle-gung begründet: „Ich habe noch nie ein Auto gehabt;jetzt probiere ich das mal aus“, sondern eher darin: Be-vor ich mir ein Auto kaufe, mache ich Carsharing; viel-leicht kann ich meinen Bedarf damit decken. – Insofernist das schon eine wichtige Variante.
Schauen wir ein bisschen weiter; betrachten wir Un-ternehmen oder Behörden. Ein Großteil der Carsharing-Fahrten sind mit fast 40 Prozent berufliche Fahrten. Wirreden hier also nicht über privaten Individualverkehr,sondern über berufsbedingte Fahrten. Wir reden darüber,dass Behörden, dass Unternehmen ihre Dienstflotte ab-bauen. Das ist wichtig und in der Innenstadt interessant.Es profitieren vor allem unsere Innenstädte: Es gibtweniger Parkplatzbedarf, der Individualverkehr wirdeingeschränkt, aber vor allen Dingen bietet das Carsha-ring eine Mobilitätsmöglichkeit für Menschen mit klei-nem Geldbeutel. Ein Carsharing-Auto zu nutzen, ist na-türlich wesentlich günstiger, als ein eigenes Auto zubesitzen. Davon profitieren unsere Innenstädte und un-sere Wohnviertel, da die Wohnqualität gesteigert wird.
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Bettina HerlitziusVor 20 Jahren entstanden die ersten Initiativen zumCarsharing, zum Stadtteilauto, zum Gemeinschaftsauto;so wurde es damals genannt. Das waren teilweise ideolo-gisch tief verwurzelte Gesellschaften. Ich kann mir vor-stellen, dass Ihre Bedenken daher rühren. Seit zehn Jah-ren ist dieser Markt aber professionell. Er hat sichentwickelt. Es bestehen Wachstumspotenziale. Hier isteine interessante ökologische Mobilitätsdienstleistungentstanden.Trotzdem ist Carsharing nach wie vor ein Nischen-produkt im Bereich der städtischen Mobilität.
Woran hapert es? Von Nutzern geteilte Autos sind Teileeiner Mobilitätskette. Das heißt, sie können den öffentli-chen Nahverkehr, auch den Individualverkehr nicht er-setzen. Da machen wir uns gar nichts vor. Die Nutzervon Carsharing brauchen den öffentlichen Nahverkehr.Sie brauchen als Grundvoraussetzung die direkte Anbin-dung an den öffentlichen Nahverkehr, an zentrale Halte-stellen, an Busse und Bahnhöfe.
– Herr Döring, schön, dass Sie zuhören. – Aber genaudas ist das Problem. Der Parkraum an zentralen Stellendes öffentlichen Nahverkehrs ist knapp und teuer.Viele Kommunen scheuen davor zurück, Parkflächenfür Carsharing-Modelle auszuweiten. Wir brauchen da-her eine klare bundesrechtliche Regelung, die den Kom-munen bei ihren nachhaltigen Mobilitätskonzepten denRücken stärkt. Das sind wichtige Rahmenbedingungen,die mit diesem Antrag gefordert werden. Wir müssen dasStraßenverkehrsrecht und die Straßenverkehrs-Ordnungändern. Es kann nicht sein, dass Taxen, für die wir extraStellflächen reservieren, gegenüber Stadtteilautos bevor-zugt werden.
Hier muss Gleichbehandlung herrschen. Hier müssenbeide Mobilitätsbranchen die gleiche Chance haben.Lassen Sie mich zum Schluss der Ehrlichkeit halbersagen: Auch wir haben diesen Antrag abgeschrieben,
zumindest zum Teil. Er ist abgeschrieben von einem imBundesrat mit Mehrheit beschlossenen Antrag. Im Ver-kehrsausschuss und im Umweltausschuss dort ist diesesThema behandelt worden.
Der Antrag ist im Bundesrat mit großer Mehrheit be-schlossen worden. CDU, CSU und SPD müssen dabeigewesen sein; denn wir sind nicht allein im Bundesrat.Insofern kann man feststellen, dass sich die Länder ei-nig sind. Umso ärgerlicher ist dieses Trauerspiel, das Siehier im Deutschen Bundestag aufführen. Lassen Sie unsbeim Thema Carsharing endlich zum letzten Akt kom-men! Treffen Sie eine fachpolitisch richtige Entschei-dung! Stärken Sie nachhaltige, kostengünstige Mobili-tätsformen in unseren Städten!Danke schön.
Nun erhält der Kollege Gero Storjohann das Wort als
letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnenund Kollegen! Carsharing, Auto teilen, das ist eigentlichein ganz altes Thema. Ich komme vom Dorf. Als dort dieersten Landwirte anfingen, sich die Mähdrescher zu tei-len, wurden sie erst belächelt; aber inzwischen ist es üb-lich. Dass man inzwischen auch die Anhänger von Tre-ckern gemeinsam nutzt, ist gang und gäbe.
Das macht man aus wirtschaftlichen Gründen und ausmarktwirtschaftlicher Vernunft. Insofern ist es wunder-bar.Dieses Modell ist inzwischen in den Städten ange-kommen. Damit kann man Geld verdienen. Denn es gibtein Angebot, das andere gern nutzen wollen. Dieses An-gebot kann man laufend hinterfragen und verbessern.Das ist, glaube ich, der Ansatz des vorliegenden An-trags. Wir als Bundespolitiker haben jetzt zu entschei-den: Was bedeutet es, wenn wir für unsere Kommuneneinen Rahmen schaffen? Hier ist viel Richtiges gesagtworden. Mein Kollege Vogel hat die Bedenken vorgetra-gen, die wir als Union bisher gehabt haben und die ausder kommunalen Familie an uns herangetragen wordensind. Patrick Döring hat hier sehr engagiert vorgetragen,dass damit auch viele freiwillige Entscheidungen zusam-menhängen.Wir sind, glaube ich, alle für Carsharing. Jetzt geht esum die Frage, inwieweit wir es vielleicht privilegieren,inwieweit wir gewisse Dinge für dieses Gewerbe er-leichtern können. Auch in meiner Familie betreiben wirCarsharing. Die Söhne möchten gerne mit dem Auto desVaters fahren. Deswegen gibt es nicht unbedingt wenigerFahrzeuge in einer Familie. Vielmehr bestehen dieSöhne selbstverständlich darauf, dass sie das Auto neh-men, das ihnen gerade für ihren Zweck gefällt. Wennman mit drei oder vier Leuten durch die Gegend fährt, ist
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Gero Storjohannes besser, ein größeres Auto zu haben. Insofern ist Car-sharing ein zusätzliches Angebot.Wir als Union haben viele neue Kollegen in unsererArbeitsgruppe. Sie hatten noch nicht die Gelegenheit,dieses Thema intensiv zu beraten. Deshalb lautet dasAngebot, dass wir sehr intensiv über die Fragen, wieman Carsharing attraktiv machen kann und inwieweit esVorgaben für die Kommunen geben soll, beraten wer-den. Das ist hier die Ansage. Ich bitte darum, dass wirdiesen Antrag in die Ausschüsse überweisen. Wir freuenuns auf eine interessante und vertiefende Debatte. Ichglaube, so werden wir allem gerecht: dem Problem derMobilität und den Verkehrskonzepten. Ich habe mich be-sonders gefreut, dass sogar von den Grünen ein Plädoyerfür das Auto kam.
Nicht ein einziges Mal wurde das Fahrrad im Stadtver-kehr erwähnt; aber auch dafür sind wir als Union.Ich freue mich auf eine spannende Debatte im Aus-schuss.
Ich schließe die Aussprache.
Ich greife die Anregung des Kollegen Storjohann auf,
die Vorlage an die in der Tagesordnung aufgeführten
Ausschüsse zu überweisen, so denn das Plenum diesem
kühnen Vorschlag folgen will. Sind Sie damit einver-
standen?
– Unbedingt. – Ist jemand anderer Meinung?
– Aha. – Unbeschadet des hilfsweise angemeldeten Be-
ratungsbedarfs
ist die Überweisung hiermit einvernehmlich beschlos-
sen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 13 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz
und Reaktorsicherheit zu der
Verordnung der Bundesregierung
Neununddreißigste Verordnung zur Durchfüh-
– Drucksachen 17/508, 17/591 Nr. 2, 17/768 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Michael Paul
Ute Vogt
Dr. Lutz Knopek
Ralph Lenkert
Dorothea Steiner
Auch hierzu soll es nach einer Vereinbarung unter den
Fraktionen eine halbstündige Aussprache geben. – Ich
höre keinen Widerspruch. Wir können also so verfahren.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zu-
nächst der Parlamentarischen Staatssekretärin Frau
Ursula Heinen-Esser. Bitte schön.
Ur
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren!Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Präsident hat denetwas sperrigen Titel der Verordnung, über die wir unsheute Abend austauschen und bei der wir hoffentlich zueiner eindeutigen Abstimmung kommen werden, bereitsvorgetragen. Es geht um die Verordnung über Luftquali-tätsstandards und Emissionshöchstmengen.Diese Verordnung dient der Umsetzung einer EU-Richtlinie, nämlich der Richtlinie über Luftqualität undsaubere Luft für Europa, in deutsches Recht. Das ist eineklare Eins-zu-eins-Umsetzung. Die neue Rechtsverord-nung fasst einige nationale Regelungen zusammen unddient damit der Verwaltungsvereinfachung. Ferner wer-den zwei Verordnungen aufgehoben. So weit zum tech-nischen Teil.Neu an dieser Verordnung ist, dass für ganz besondersgesundheitsschädliche, sehr kleine Feinstäube erstmalsLuftqualitätswerte festgelegt werden. Für diese beson-ders kleinen Stäube gilt ab dem Jahr 2010 ein Zielwert,der so weit wie möglich einzuhalten ist. Dieser Zielwertwird ab dem Jahr 2015 zum verbindlichen Grenzwert.Das heißt, er muss ab dem Jahr 2015 ganz klar eingehal-ten werden. Alle sonstigen Werte werden unverändertübernommen. Insofern gibt es keine Änderungen.Darüber hinaus wird klar geregelt, dass die natürlichvorkommende Feinstaubbelastung der Luft aus der ge-messenen Konzentration herausgerechnet werden kann.Wir haben bereits die eine oder andere Diskussion da-rüber geführt, wie wir beispielsweise mit dem Salzgehaltder Luft an der See oder mit Staub, der durch Verwehun-gen verursacht wird, umgehen sollen.Etwas anderes ist auch neu – darüber hat es im Aus-schuss recht rege Diskussionen gegeben –, nämlich: Dieneue Luftqualitätsrichtlinie gibt den Mitgliedstaatenerstmals die Möglichkeit, die Fristen zur Einhaltung be-stimmter Grenzwerte zu verlängern. Diese Neuregelungberücksichtigt die Tatsache, dass in vielen LändernEuropas zwei Grenzwerte immer noch nicht fristgerechteingehalten werden, obwohl große Anstrengungen un-ternommen werden. Es handelt sich dabei zum einen umden seit 2005 geltenden Wert für Feinstaub. Zum ande-
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Parl. Staatssekretärin Ursula Heinen-Esserren handelt es sich um den seit 1. Januar dieses Jahresgeltenden Grenzwert für Stickstoffdioxid. Diese Grenz-werte werden vor allem an sehr stark befahrenen Straßenin Innenstädten überschritten. Die Fristverlängerung fürFeinstaub ist bis 2011 und für Stickstoffdioxid bis Endedes Jahres 2014 möglich.Lassen Sie mich genauer auf die Bedeutung dieserRegelung eingehen. Maßgebend für die Fristverlänge-rung ist Art. 22 der Richtlinie. Im Ausschuss hatten wirdarüber diskutiert, dass wir Teile aus der Richtlinie indie Verordnung übernommen haben. Wir müssen aberganz klar sagen, dass dieser Artikel der Richtlinie unmit-telbar gilt. Wir haben Teile in die Verordnung übernom-men, allerdings liegt hier eine der wenigen europarecht-lichen Möglichkeiten vor, dass eine Richtlinie direktdurchschlägt.Wesentliche Voraussetzung zur Gewährung der Frist-verlängerung ist in beiden Fällen – für Feinstaub und fürStickstoffdioxid – die Vorlage eines sogenannten Luft-reinhalteplans. In der folgenden Debatte wird es nocheine Rolle spielen: In Hannover gab es eine Diskussionüber das Thema der Öffentlichkeitsbeteiligung bei derVorlage von Luftreinhalteplänen. In diesem Plan mussdargelegt werden, mit welchen Maßnahmen die Grenz-werte bis zum Ablauf der Fristverlängerung eingehaltenwerden sollen. Bei Feinstaub gilt zusätzlich, dass eineFristverlängerung nur dann gewährt werden kann, wenndie Grenzwertüberschreitungen auf standortspezifischeAusbreitungsbedingungen, ungünstige klimatische Be-dingungen oder grenzüberschreitende Einträge zurück-zuführen sind, wenn es sich um Ursachen handelt, dieman durch technologischen Fortschritt oder die Einrich-tung von Umweltzonen nicht direkt beeinflussen kann,wenn es sich also um besondere Lagen – beispielsweisevon Städten – handelt.Aber bevor diese Fristverlängerung wirksam werdenkann – auch das ist wichtig und wird in Art. 22 derRichtlinie geregelt –, prüft die EU-Kommission die Ein-haltung dieser Anforderungen durch den Mitgliedstaat.Für Feinstaub hat sie bereits zahlreichen deutschenKommunen Fristverlängerungen gewährt. Bei einigenKommunen allerdings – auch das muss man klar sagen –hat die Kommission Einwände erhoben und verlangt,dass die von den Kommunen vorgelegten Luftreinhalte-pläne überarbeitet werden bzw. nachgebessert werdenmüssen. Zusätzliche Maßnahmen zur Senkung der Fein-staubbelastung und zur termingerechten Einhaltung desGrenzwerts sind aus Sicht der Kommission noch erfor-derlich.Die Frist zur Umsetzung der Richtlinie endet im Junidieses Jahres. Das Gesetz war bereits im Bundesrat. ImBundesrat hat es einige redaktionelle Änderungen gege-ben, die wir übernehmen werden. Zu gegebener Zeitwerden wir auch im Bundestag noch darüber diskutie-ren.Jetzt richte ich mich an die Kolleginnen und Kollegenvon der Opposition. Sie haben sich im Ausschuss enthal-ten, weil Sie noch formale Fragen hatten. Meine Bitte anSie: Stimmen Sie heute Abend zu! Ich denke, dass wirIhnen mit der Umsetzung der Richtlinie einen wirklichguten Vorschlag vorlegen.In diesem Sinne herzlichen Dank fürs Zuhören.
Das Wort erhält nun die Kollegin Ute Vogt für die
SPD-Fraktion.
Vielen Dank. – Herr Präsident! Liebe Kolleginnenund Kollegen! Es gibt in diesem Hause niemanden, derder Aussage nicht zustimmt, dass die Umsetzung derRichtlinie 2008/50/EG zur Verbesserung der Luftqualitätnotwendig ist und dass es von daher durchaus sinnvollist, diese Richtlinie umzusetzen. Es war beispielsweiseüberfällig, den Grenzwert für Feinstaubpartikel weiterzu senken und dafür zu sorgen, dass nunmehr auchFeinststaubpartikel erfasst sind. Es war leider auch not-wendig, darauf zu reagieren, dass es die Mitgliedsländerder EU vor allem in Ballungsgebieten immer noch nichtschaffen, die vorgegebenen Grenzwerte einzuhalten.Aus meinem eigenen Wahlkreis, der Stadt Stuttgart,kann ich berichten: Allein im vergangenen Jahr wurdeder zulässige Feinstaubgrenzwert an der MessstationNeckartor an 112 Tagen überschritten. Im Vergleichdazu, dass eine Überschreitung an nur 35 Tagen erlaubtist, ist das eine enorm hohe Zahl. Etwas weiter entfernt,in einer anderen Straße, die von etwa 35 000 Fahrzeugenbefahren wird, ist der erlaubte Stundenmittelwert vonStickstoffoxid bereits 103 Mal überschritten worden, ob-wohl er eigentlich nur 18 Mal pro Jahr überschrittenwerden darf.Wir sehen also: Mit der Umsetzung der Richtlinie indeutsches Recht alleine ist es sicher nicht getan. Dennnahezu jede größere Stadt und viele Ballungsräume ha-ben größte Schwierigkeiten, auch nur in die Nähe dervorgegebenen Grenzwerte zu kommen, und das, obwohlvielerorts Maßnahmen eingeleitet worden sind, die zurLuftreinhaltung beitragen sollen. Häufig sind diese Maß-nahmen aber unzureichend, und die Kommunen alleinesind nicht in der Lage, dieser Problemlage Herr zu wer-den.Mit der Umsetzung dieser Richtlinie verbinden wirauch die Erwartung, dass die Bundesregierung die Initia-tive ergreift, Bund, Länder und Kommunen bei diesemThema näher zusammenzubringen. Die Kommunenbrauchen unsere Unterstützung bei der Erstellung derPläne, aber vor allem bei der Durchsetzung geeigneterMaßnahmen. Es braucht dazu auch ein Umdenken in derVerkehrspolitik des Bundes. Das Carsharing – über dieerste Initiative haben wir eben etwas gehört – ist einBaustein. Aber es geht auch um die Stärkung derSchiene und um eine ausreichende Förderung des öffent-lichen Personennahverkehrs. Es geht vor allem um großeSchritte zum Einstieg in die Elektromobilität und um dieUnterstützung von Wasserstofffahrzeugen. Die Schad-
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Ute Vogtstoffe, um die es geht, stammen nämlich im Wesentli-chen aus dem Straßenverkehr. Die Ausweisung von Um-weltzonen hilft zwar, aber nicht in dem Maße und nichtin der Geschwindigkeit, wie es notwendig wäre. Wirbrauchen daher neue Mobilitätskonzepte für die Innen-städte. Die Kommunen brauchen dabei unsere Unterstüt-zung.Vor allem darf es nicht zu weiteren Steuerausfällenkommen. Die Präsidentin des Deutschen Städtetages,Petra Roth, hat – dies wurde schon häufiger zitiert – ge-warnt, dass den kommunalen Haushalten Steuerausfällein zweistelliger Milliardenhöhe drohen. Das muss dochauch für Sie aus den Koalitionsfraktionen ein Anlasssein, Ihre Finanz- und Steuerpolitik zu überdenken.Überdenken Sie Ihre Finanz- und Steuerpolitik geradeunter dem Blickwinkel des Schutzes der Lebensqualitätund der Gesundheit der Menschen in unseren Städten!Die Kommunen sind dringend auf unsere Unterstützungangewiesen.Sorgen Sie für Klarheit und Transparenz in dieser Ge-setzgebung! Es geht bei der Umsetzung dieser EU-Richtlinie nicht nur darum, zu tun, was unabdingbar er-forderlich ist, sondern auch darum, dass diejenigen, vondenen wir erwarten, dass sie Aktivitäten entwickeln, umdiese Verordnung umzusetzen, der Verordnung das We-sentliche entnehmen können.Mit der Umsetzung der EU-Richtlinie sind wir nichtzufrieden, wo es um die Fristverlängerung geht. FrauStaatssekretärin, es ist nicht nachvollziehbar, warum inder Verordnung nicht wenigstens die wesentlichen Krite-rien aus Art. 22 der EU-Richtlinie eindeutig genanntwerden. Auch wenn die Richtlinie unmittelbare Geltungerlangt, ist es doch wichtig, dass im Gesetzestext auf ei-nen Blick transparent und nachvollziehbar erkennbar ist,worum es geht, welche Kriterien einzuhalten sind. Esgeht nicht darum, dass die Details der Anlage wiederholtwerden müssten; aber das Anliegen muss aus dem Textder Verordnung hervorgehen.Wir werden uns bei der Verabschiedung der Verord-nung der Stimme enthalten. Sie können aber in jedemFall auf uns zählen, wenn es darum geht, die Kommunenzu stärken und ihnen dabei zu helfen, Luftreinhaltepläne,die Bund, Länder und Kommunen zur Verbesserung derLebensqualität und zum Schutz der Gesundheit gemein-sam erstellen, zeitnah umzusetzen.
Nächster Redner ist der Kollege Dr. Lutz Knopek für
die FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mitder heute vorliegenden Neununddreißigsten Verordnungzur Durchführung des Bundes-Immissionsschutzgeset-zes unternimmt die Koalition aus FDP und Union einenweiteren wichtigen Schritt zu einer nachhaltigen Verbes-serung der Luftqualität in Deutschland. Bereits gültigeRegelungen werden zusammengefasst, im Kern fortge-schrieben und für die Kommunen praktikabler gemacht.Teile dieser neuen Verordnung bedeuten einen Para-digmenwechsel bei der Bewertung der Luftqualität. Esbesteht heute kein Zweifel mehr, dass von Feinstaub-emissionen ein besonderes gesundheitliches Risiko aus-geht. Bisher wurden die umweltpolitischen Maßnahmenallein an den relativ großen Schwebepartikeln, an denSchwebepartikeln mit einem Durchmesser von 10 Mi-krometern, den sogenannten PM10, ausgerichtet. Zu-künftig rücken kleinere Partikel, die sogenanntenPM2,5, in den Fokus unserer Aufmerksamkeit. Auch diePM1,0 und die PM0,1 werden längst gemessen, unter-sucht und bewertet.Das ist richtig so und konsequent; denn sowohl beikurz- als auch bei langfristiger Exposition sind nicht un-erhebliche gesundheitliche Risiken zu befürchten, wasdurch aussagekräftige amerikanische und europäischeStudien inzwischen hinreichend belegt ist. Dokumentiertsind Akuteffekte wie zum Beispiel Herz-Kreislauf- undAtemwegsbeschwerden, aber auch Langzeiteffekte. Stu-dien zur Langzeitexposition gegenüber Feinstaub zeigenein signifikant erhöhtes Mortalitätsrisiko bei kardio-pul-monalen Erkrankungen und auch bei Lungenkrebs.Wie gestern beim Deutschen Krebskongress hier inBerlin mitgeteilt wurde, nimmt die Zahl der Krebsneuer-krankungen in Deutschland zu. Es gibt nun annähernd450 000 Fälle pro Jahr. Wir können davon ausgehen,dass hier auch die Feinstaubbelastung eine Rolle spielt.Ultrafeine Partikel spielen in der Pathogenese eine be-sonders wichtige Rolle, da sie im Gegensatz zu den grö-ßeren Partikeln lungengängig sind. Nase, Mund und Ra-chen halten PM10-Teilchen noch zum großen Teilzurück. PM2,5-Teilchen dringen jedoch bis in die Lun-genbläschen vor, können hier aufgenommen werden undso bis in die Blutbahn des Menschen gelangen.Ultrafeine Partikel haben aber noch einen anderen ne-gativen Effekt. An ihrer Oberfläche lagern sich Schwer-metalle oder krebserzeugende polyzyklische aromati-sche Kohlenwasserstoffe, die sogenannten PAKs, an. Dakleinere Partikel eine größere Oberfläche im Verhältniszu ihrem Volumen haben, sind sie zudem stärker mit die-sen Stoffen belastet als größere Partikel. Außerdem stei-gen sie in die Atmosphäre auf. Sie werden dort fotoche-misch umgewandelt und können über mehrere HundertKilometer transportiert werden. Das ist ein interessanterAspekt, wenn man über die Sinnhaftigkeit von Verkehrs-zonen nachdenkt.
Eine Fokussierung auf die feinen und ultrafeinen Par-tikel ist also wichtig. Mit dem vorliegenden Entwurf ei-ner Verordnung werden die Voraussetzungen für einenbesseren Gesundheitsschutz der Menschen in unseremLand geschaffen, vor allem in den Städten und Ballungs-räumen.Mit der Einführung eines Grenzwertes für PM2,5 al-lein ist es natürlich nicht getan. Das Umweltbundesamt
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Dr. Lutz Knopekhat berechnet, welche Minderungspotenziale einzelneumweltpolitische Maßnahmen jeweils versprechen.Auf der Ebene der Einzelmaßnahmen geht es nebender Reduzierung verkehrsbedingter Partikelemissionenvor allem um die Senkung der Emissionen aus Kleinfeu-erungsanlagen in Haushalten. Dieses Themas hat sichder Bundestag gleich nach seiner Konstituierung im De-zember vergangenen Jahres angenommen.
Mit der Novellierung der 1. BImSchV – Sie erinnernsich – wurden anspruchsvolle Grenzwerte für neue Holz-öfen und andere Kleinfeuerungsanlagen eingeführt.Ein weiteres Potenzial zur Feinstaubsenkung sieht dasUmweltbundesamt in der Nachrüstung von Rußpartikel-filtern bei Dieselfahrzeugen. Die alte Regierung wolltedas erfolgreiche Programm zur Förderung von Rußparti-kelfiltern bei Pkw Ende vergangenen Jahres auslaufenlassen. Die schwarz-gelbe Koalition hat sich nun geei-nigt, dass dieses Programm 2010 nicht nur fortgesetzt,sondern auch auf leichte Nutzfahrzeuge ausgedehntwird.
Das ist sehr sinnvoll, vergegenwärtigt man sich, dassmehr als 65 Prozent der Emissionen von Dieselrußparti-keln von Nutzfahrzeugen ausgehen.Die Fortsetzung und Ausdehnung der Förderung vonRußpartikelfiltern ist aber nicht nur eine ökologischsinnvolle Maßnahme, sondern auch ein Programm zurStärkung des Mittelstands; denn ein großer Teil derleichten Nutzfahrzeuge gehört Handwerkern und kleinenGewerbetreibenden, die mit ihren Fahrzeugen oftmalsnicht in die bestehenden Umweltzonen einfahren dürfenund denen es auch aufgrund der Politik der Vorgängerre-gierung am nötigen Kapital zur Erneuerung ihrer Fahr-zeuge mangelt. Die FDP macht an dieser Stelle deutlich,dass Ökonomie und Ökologie nicht zwangsläufig Ge-gensätze darstellen müssen. Wir machen Umweltpolitikmit den Menschen und nicht gegen sie.
Zum Schluss meiner Rede will ich noch kurz auf dieunlängst von der Deutschen Umwelthilfe geäußerte Kri-tik an dem vorliegenden Verordnungsentwurf eingehen.Es geht dabei um die Regelung zur Fristverlängerung fürdie einzuhaltenden Grenzwerte. Die ParlamentarischeStaatssekretärin Frau Heinen-Esser hat im Ausschusssehr deutlich gemacht, dass sich Deutschland hierbeistrikt an EU-Recht hält. Allerdings verschärfen wir dieAnforderungen nicht auch noch im nationalen Allein-gang, wie von der Deutschen Umwelthilfe gewünscht.Im Koalitionsvertrag haben FDP und Union vereinbart,dass alle EU-Vorgaben eins zu eins in deutsches Rechtumgesetzt werden. Das machen wir auch in diesem Fall.Eine einseitige Verschärfung zulasten der deutschenKommunen lehnen wir ab.Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
Herr Kollege Dr. Knopek, das war Ihre erste Rede
hier im Deutschen Bundestag. Ich gratuliere Ihnen ganz
herzlich dazu und wünsche Ihnen für Ihre weitere Arbeit
alles Gute.
Nächster Redner ist nun für die Fraktion Die Linke
der Kollege Ralph Lenkert.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!Die Feinstaubbelastungen in der Bundesrepublik verkür-zen nach wissenschaftlichen Schätzungen von ProfessorWichmann die durchschnittliche Lebenserwartung umsechs Monate. Die gesundheitsschädigende Wirkungvon Feinstaub nimmt dabei zu, je kleiner der Partikel-durchmesser und je höher ihre Anzahl ist. Auch die che-mische und biologische Zusammensetzung und dieOberflächenstruktur entscheiden über die Gefährlichkeitder Feinstäube.Die 39. Verordnung zur Durchführung des Bundes-Immissionsschutzgesetzes soll nun entsprechend derEU-Richtlinie neue Grenzwerte für Feinstäube undUltrafeinstäube festlegen und Messpunkte und Verfahrenzur Überprüfung der Einhaltung der Grenzwerte definie-ren. Dass EU und Bundesregierung bei den Grenzwertenallein das Gewicht je Staubgrößenklasse berücksichtigenund nicht auch die Anzahl und die chemische und biolo-gische Zusammensetzung, macht sicherlich das Messenbillig. Aber ist das ein sinnvolles Sparen?
Es ist schon ein Unterschied für die Gesundheit, ob essich beim Feinstaub um Bodenstaub vom Feld oder Ver-brennungsrückstände aus der Industrie handelt.
Derzeit gibt es bei uns in Thüringen 22 Messstellenzur Luftüberwachung. Nach dem Verordnungsentwurfsoll der Feinstaub zukünftig nur noch an einer Mess-stelle, nämlich der in Erfurt, verpflichtend erfasst wer-den. Niedrige Kosten sind also auch das Kriterium fürdie in der Verordnung festgelegte Mindestanzahl derMessstellen zur Überwachung des Feinstaubes. Eine ein-zige Messstelle soll sicherstellen, dass die Grenzwerte inganz Thüringen eingehalten werden. Glauben Sie daran?Das ist, wie wenn man daran glaubt, dass ein fester Ra-darkasten, der Unter den Linden installiert wird, sicher-stellt, dass in ganz Berlin-Mitte die Geschwindigkeitsbe-grenzungen eingehalten werden.
Der Volksmund sagt: Wer billig kauft, kauft teuer.Diese billige Feinstaubüberwachung wird uns, was dieGesundheit angeht, viel kosten. Die Linke will deshalbbessere Grenz- und Messwerte, den garantierten Erhalt
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Ralph Lenkertbestehender Messstellen und zusätzliche mobile Mess-einrichtungen.
Generell gilt jedoch: So notwendig die Grenzwerte undMesswerte sind, eine bessere Luftqualität wird nicht er-messen; man muss die Luftverschmutzung verringern.
In Großbritannien ermittelte man, dass der Straßen-verkehr 30 Prozent des Feinstaubes kleiner als 2,5 Mi-krometer und sogar 50 Prozent des Ultrafeinstaubes klei-ner als 0,1 Mikrometer verursacht. Studien in derBundesrepublik belegen, dass die Feinstaubkonzentra-tionen in Wohn- und Arbeitsräumen an Hauptverkehrs-straßen deutlich über den Belastungen vergleichbarerRäume in verkehrsarmen Gebieten liegen. Schauen Sienicht weiter zu, wie die Menschen, die an Hauptstraßenleben und bzw. oder dort arbeiten, mit einem deutlich er-höhten Lungenkrebsrisiko, mehr Fällen von chronischerBronchitis und häufigeren Asthma-Attacken klarkom-men müssen.
Mit Verkehrsvermeidung, der Verlagerung von Güter-transporten von der Straße auf die Schiene sowie einemerweiterten, besseren und günstigeren öffentlichen Per-sonennahverkehr ließe sich die Feinstaubbelastung dau-erhaft verringern.
Allein dadurch würde sich die durchschnittliche Lebens-erwartung um zwei Monate erhöhen und eine Verbesse-rung der Lebensqualität erreicht werden.Die 39. BImSchV ist eine Mogelpackung. Die Linkelehnt sie deshalb ab.Danke für Ihre Aufmerksamkeit.
Nun hat die Kollegin Dorothea Steiner für die Frak-
tion Bündnis 90/Die Grünen das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wie Siegehört haben, geht es heute erneut um Luftqualität undLuftreinhaltung. Das mag sich alles sehr technisch anhö-ren, aber das Thema ist von essenzieller Bedeutung fürdie Gesundheit von Bürgerinnen und Bürgern.Die 39. BImSchV setzt die EU-Luftqualitätsrichtlinievom Juni 2008 in nationales Recht um. Auch bisher wa-ren schon feste Grenzwerte für Luftschadstoffe wieSchwefeldioxid, Stickstoffdioxid, Stickstoffoxide undFeinstäube mit einer Partikelgröße bis 10 Mikrometersowie für Blei, Benzol, Kohlenmonoxid und Ozon fest-gelegt. Anhand der Auflistung dieser Schadstoffe kön-nen Sie messerscharf erkennen, dass insbesondere derVerkehr als Schadstoffemittent im Fokus steht. DasNeue bei dieser Richtlinie ist, dass nicht nur die gebiets-bezogene Luftreinhaltung im Mittelpunkt steht, sonderndass ab jetzt in Maßnahmen zur Verbesserung der Luft-qualität auch maßgebliche Verursacher mit einbezogenwerden können. Das ist eine Verbesserung.Eine bedeutsame Veränderung ist auch, dass nun neueZiel- und Grenzwerte für Feinstaub mit einer Partikel-größe bis 2,5 Mikrometer angestrebt werden. Uns wurdemehrfach erläutert, welche Bedeutung diese Feinstaub-partikel haben und wie sie sich auswirken. Hier stimmeich – ganz anders als beim Rattengift – vollkommen mitHerrn Knopek überein. Der Zielwert soll ab 2010 gelten,der Grenzwert aber erst ab 2015, in fünf Jahren. Daskönnte schneller gehen.
Abgesehen davon, dass die Regelung sehr spät kommtund Deutschland zu Recht bereits zweimal von der EU-Kommission ermahnt wurde, ist festzustellen, dass derBund – Frau Staatssekretärin hat es gerade unterstrichen –nur den europäischen Minimalkonsens eins zu eins um-setzt. Ich würde sagen: Das ist griechisches oder italieni-sches Niveau. Kritikwürdig ist, dass die Bundesregie-rung im Rahmen ihrer Möglichkeiten nicht denbestmöglichen Schutz der Bevölkerung anstrebt.
Weitere Punkte, die in der Kritik stehen, sind diemöglichen Fristverlängerungen im Zusammenhang mitder Einhaltung der Grenzwerte in den Kommunen unddie Voraussetzungen dafür. Sie erhärten den Eindruck,dass Kommunen Fristverlängerungen eingeräumt wer-den können, ohne dass sie überhaupt die Voraussetzun-gen dafür erfüllen. Wir haben gehört: Zehn deutscheKommunen haben bereits eine Verlängerung der Frist fürdie Einhaltung des Grenzwerts für PM10-Feinstaub, alsoFeinstaub mit einer Partikelgröße bis 10 Mikrometer, be-antragt und diese eingeräumt bekommen. Gleichzeitigsagt die Staatssekretärin im Ausschuss, 2014 sei Schlussmit lustig bezogen auf die Ausnahmeregelungen. Ja, wasdenn nun? Gerade die Einhaltung der Grenzwerte, insbe-sondere bei den kleinsten Feinstaubpartikeln, ist für dieGesundheit der Menschen entscheidend.
Noch etwas: Die Rechtsetzung ist für die Anwender,die Kommunen, ziemlich intransparent. Sie müssen sichaus der Richtlinie, der Verordnung und dem Bundes-Im-missionsschutzgesetz die Voraussetzungen für die Frist-verlängerung und den Zeitpunkt zur Einhaltung derGrenzwerte zusammensuchen. Dass den Kommunen da-bei Fehler unterlaufen, ist nicht verwunderlich. Fies istnur, wenn ein FDP-Umweltminister – ich meine hier ei-nen ganz bestimmten, nämlich Herrn Sander aus Nieder-sachsen – versucht, Kommunen bei der Umsetzung vonUmweltzonen zu behindern. Schön, dass es Gerichtegibt, die das Recht angemessen auslegen und diesemUmweltminister eins auf die Mütze geben.
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Dorothea Steiner
Sie hören, dass der Fraktion der Grünen wegen derangeführten Mängel eine Zustimmung zu dieser Verord-nung nicht sinnvoll erscheint. Deswegen werden wirnicht zustimmen, sondern uns bei der Abstimmung ent-halten.Vielen Dank.
Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege
Dr. Michael Paul für die CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! SaubereLuft ist keine Selbstverständlichkeit, gerade in einem In-dustrieland wie Deutschland. Um eine gute Luftqualitätzu erreichen, brauchen wir vielmehr wirkungsvolle um-weltpolitische Instrumente.In der Vergangenheit haben wir aufgrund anspruchs-voller Umweltvorschriften bereits große Erfolge bei derLuftreinhaltung erzielen können, in Deutschland wie inEuropa. So konnte der Anteil der gefährlichen Stick-oxide in der Stadtluft in der Zeit von 1995 bis 2007 von140 auf 70 Mikrogramm pro Kubikmeter Luft reduziertund damit halbiert werden. Dies hängt auch mit der Ent-wicklung zusammen, die Anfang der 90er-Jahre mit denEuro-Normen für Fahrzeuge eingeleitet wurde. Dabei istder Grenzwert für Stickoxide in den letzten zehn Jahrenbei Pkw mit Ottomotor von 150 auf 60, bei Diesel-Pkwsogar von 500 auf 180 Milligramm pro Kilometer redu-ziert worden. Noch ein Beispiel: Bei Benzol sank dieBelastung in den Städten seit 1997 von 7,9 auf 2,0 Mi-krogramm pro Kubikmeter Luft und damit auf knapp einViertel. Auch der Anteil der Feinstaubpartikel in einerGröße unter 10 Mikrometer, die sogenannten PM10, inder Stadtluft konnte von 1995 bis 2007 von 40 auf25 Mikrogramm pro Kubikmeter Luft verringert werden.Diese Zahlen zeigen den bisherigen Erfolg der Luftrein-haltungspolitik.
Diesen Weg gehen wir konsequent weiter. Mit demheute von der Bundesregierung vorgelegten Entwurf ei-ner 39. Verordnung zur Durchführung des Bundes-Im-missionsschutzgesetzes wird zum einen europäischesRecht, insbesondere die Luftqualitätsrichtlinie aus demJahre 2008, umgesetzt; zum anderen werden damit die22. BImSchV, die sich mit den klassischen Luftschad-stoffen beschäftigt, und die 33. BImSchV, die das boden-nahe Ozon zum Gegenstand hat, zusammengefasst.Schon aus Gründen der Verwaltungsvereinfachung istdas zu begrüßen.
Die Grenzwerte der 22. und 33. BImSchV werden dabeiübernommen, ohne dass das ambitionierte Ziel, die Luft-qualität stetig zu verbessern, aus den Augen verlorenwird. Deshalb wird mit dem vorliegenden Verordnungs-entwurf erstmalig ein Grenzwert für Feinstaubpartikelmit einer Größe von 2,5 Mikrometern und weniger ein-geführt. Diese Feinstäube – wir haben es gerade er-örtert – sind wegen ihrer Lungengängigkeit besondersgesundheitsgefährdend.Die materiellen Vorgaben der europäischen Richtliniewerden durch die Verordnung eins zu eins in deutschesRecht umgesetzt. Das gilt auch für die strengen Bedin-gungen, unter denen die EG-Richtlinie Fristverlängerun-gen für die Nichteinhaltung der Grenzwerte für Benzol,PM10 und Stickstoffdioxid vorsieht. Das Instrument derFristverlängerung ist notwendig. In einzelnen Gebietenkönnen wegen der geografischen Lage die strengenGrenzwerte schlicht und ergreifend noch nicht eingehal-ten werden. Aber die Fristverlängerung ist kein Frei-fahrtschein und wird erst nach eingehender Prüfungdurch die EU-Kommission genehmigt. Vorhin wurdeausgeführt, dass es bereits allein in Deutschland zehnAusnahmen gebe. Ich lade Sie ein, bei der EuropäischenKommission nachzuschauen. Dort ist sehr transparentaufgelistet, welche anderen europäischen Städte eben-falls Ausnahmen beantragt haben und unter welchenAuflagen diese genehmigt wurden. Es ist keinesfalls so,dass blindlings jedwede Fristverlängerung gewährt wird.Vielmehr wird ein strenger Prüfungsmaßstab angelegt.Das ist natürlich im Interesse der Luftqualität sinnvoll.Wenn Sie, meine Damen und Herren von der Opposi-tion, sagen, wir hätten all das, was das europäischeRecht vorsieht, in die Verordnung schreiben müssen,dann kann ich nur entgegnen: Wir müssen doch wirklichnicht alles doppelt aufschreiben.
– Was gilt, lässt sich aus dem Bundesgesetzblatt, indem die Luftqualitätsrichtlinie mit dem Art. 22 veröf-fentlicht ist, nachlesen. Im Übrigen wissen Sie so gutwie ich – das Bundesumweltministerium hat sie uns vor-gelegt –, dass allein die Mitteilung der Kommission, inder ausgeführt wird, unter welchen Umständen eineFristverlängerung gewährt wird, mehr als 100 Seitenumfasst. Wenn es Ihr Wunsch ist, diese Verordnung da-durch aufzublähen, dann bitte schön. Ich halte das ausVerwaltungsvereinfachungsgründen und aus Verständ-lichkeitsgründen für ungeeignet.
Lassen Sie mich einen letzten Punkt anführen, näm-lich die Ausnahme für natürliche Luftgemische, die so-genannten Aerosole. Natürlich müssen gesundheitsge-fährdende Aerosole, wie sie durch Industrieanlagenentstehen, berücksichtigt werden. Natürliche Aerosole,wie zum Beispiel die Luft in den Seebädern, die sogareine gesundheitsfördernde Wirkung haben, dürfendenklogisch nicht als Schadstoffe eingeordnet werden.
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Dr. Michael PaulDeshalb ist es richtig, dass nach der vorgelegten Verord-nung nunmehr diese natürlichen Quellen herausgerech-net werden können.
Dasselbe gilt für die im Winter eingesetzten Streumitteloder Verwehungen aus der Landwirtschaft.Ich darf zusammenfassend feststellen: Mit der39. Verordnung zur Durchführung des Bundes-Immis-sionsschutzgesetzes wird ein weiteres wirksames Instru-ment zur Einhaltung der strengen Anforderungen an dieLuftqualität geschaffen. Die CDU/CSU wird deshalbdiesem Vorhaben zustimmen.Vielen Dank.
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen nun zur Beschlussempfehlung des Aus-
schusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
auf Drucksache 17/768 zu der Neununddreißigsten Ver-
ordnung der Bundesregierung zur Durchführung des
Bundes-Immissionsschutzgesetzes. Der Ausschuss emp-
fiehlt, der Verordnung auf Drucksache 17/508 zuzustim-
men. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer
ist dagegen? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfeh-
lung ist damit angenommen mit den Stimmen der Koali-
tionsfraktionen bei Gegenstimmen der Fraktion Die
Linke und Enthaltung der Fraktion der SPD und der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 14 sowie Zu-
satzpunkt 4 auf:
14 Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Lukrezia Jochimsen, Dr. Rosemarie Hein,
Kathrin Senger-Schäfer, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion DIE LINKE
„Soforthilfeprogramm Kultur“ zum Erhalt
der kulturellen Infrastruktur einrichten
– Drucksache 17/552 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Kultur und Medien
Finanzausschuss
Haushaltsausschuss
ZP 4 Beratung des Antrags der Abgeordneten Agnes
Krumwiede, Undine Kurth , Ekin
Deligöz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Kulturelle Infrastruktur sichern – Substanzer-
haltungsprogramm Kultur auflegen
– Drucksache 17/789 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Kultur und Medien
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Haushaltsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich sehe,
Sie sind damit einverstanden. Dann können wir so ver-
fahren.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erster Red-
nerin das Wort der Kollegin Dr. Lukrezia Jochimsen für
die Fraktion Die Linke.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Die Fraktion Die Linke bringt heute den Antrag „Sofort-hilfeprogramm Kultur“ ein, um den Auswirkungen derFinanz- und Wirtschaftskrise auf die kommunale Kultur-szene in Deutschland etwas entgegenzusetzen.
Das muss sofort geschehen, abgesehen davon, dass na-türlich die Finanzgrundlagen der Kommunen prinzipiellverändert werden müssen.Gestern haben uns Experten im Ausschuss für Kulturund Medien auf erschreckende Weise deutlich gemacht,
wie bedroht Bibliotheken, Museen, Musikschulen, Or-chester und Theater sind und dass Tausende Arbeits-plätze in diesem Bereich bereits abgebaut wurden undweitere Tausend zur Disposition stehen. Für die CDU/CSU beschwört die Linke hier ein Schreckensszenario.Aber dieses Schreckensszenario ist leider Wirklichkeit,in Groß- und Kleinstädten, in Ost und West. Die Exper-ten haben dies gestern im Ausschuss genauso beschrie-ben und bestätigt.
Für uns Linke gehört die Kultur zur Daseinsvorsorge.
Da diese Daseinsvorsorge bedroht ist, fordern wir Ab-hilfe, und zwar schnell und der Notsituation angemes-sen.
Außergewöhnliche Umstände fordern außergewöhnli-ches Handeln. – Damit hat die Kanzlerin die Milliarden-hilfen für Banken und Unternehmen gerechtfertigt. Wa-rum sollte das nicht auch Hilfe für Bibliotheken,Theater, Museen, Orchester, Musik- und Malschulen so-wie soziokulturelle Zentren rechtfertigen? Es geht dabeija auch um die Zukunft unserer Kinder.
Der Bund hat geholfen, die Anna-Amalia-Bibliotheknach dem Brand zu retten und wiederherzustellen. Dasist ein nationales Kulturgut. Und die Büchereien überallim Land, die schon jetzt geschlossen wurden oder baldgeschlossen werden? Der Bundespräsident spricht voneinem Bibliothekssterben. Das ist keine Erfindung der
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Dr. Lukrezia JochimsenLinken. Sind diese vielfach bedrohten Büchereien nichtauch ein nationales Kulturerbe, ein Erbe, das uns dazuverpflichtet, es an unsere Kinder weiterzugeben? Wir ha-ben es mit einer Katastrophe zu tun, die Politiker in derRegierung und auch im zustimmenden Parlament ge-macht und zu verantworten haben.
Die Bundesregierung und der Bundestag sind deshalbjetzt in der Pflicht, Katastrophenschutz zu leisten.
Vom Verfassungsrechtler Professor Meyer haben wirgestern im Ausschuss gehört: Selbst wenn ein Nothilfe-fonds des Bundes nicht verfassungskonform ist,
könnte der Bund politisch tätig werden; denn wo keinKläger, da kein Richter.
Er hat darauf hingewiesen, dass ein solcher Fonds nurnoch in diesem Jahr eingerichtet werden kann. Genaudarum geht es ja. Jetzt, in diesem Jahr, muss gerettetwerden, was sonst zerstört wird.
Wie ein Tsunami bricht die Sparwelle über die kultu-rellen Einrichtungen herein. Will man den Bürgerinnenund Bürgern vor Ort wirklich sagen: „Wir dürfen keineSandsäcke austeilen; wir dürfen keine Hilfe schicken“?Will man es wirklich dabei belassen? Klaus Staeck, derPräsident der Akademie der Künste, spricht davon, dassdie Politik jetzt gefordert sei, Opferschutz zu leisten.Besser kann man es eigentlich nicht beschreiben.Eine Momentaufnahme aus dem realen Schreckens-szenario: Am 12. Februar erreichte mich eine Nachrichtaus dem Stadtrat von Kranichfeld in Thüringen. Zitat:Der Ort mit 3 700 Einwohnern hatte im Jahr 20093 000 Euro für Kultur eingestellt. Für den Haus-haltsentwurf 2010, der aufgrund der fehlenden Mit-tel nicht ausgeglichen ist, ist dieser Betrag auf nullgesetzt worden. Wir bitten um einen Schutzschirmfür die Kultur.
Die Fraktion Die Linke bittet Sie um Zustimmung fürein Nothilfeprogramm als außergewöhnliche Über-gangsmaßnahme, um Schaden von unserem Land abzu-wenden.
Nächster Redner ist der Kollege Rüdiger Kruse für
die Fraktion CDU/CSU.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen undHerren! Ich finde die Intention hinter Ihrem Antrag sehrsympathisch. Es treibt Sie die Sorge um, dass die Kulturin den kommunalen Haushaltskrisen – was immer das imEinzelnen ausgelöst hat – letztendlich den Kürzerenzieht und unter die Räder kommt. Ihr Antrag, der ausdieser Sorge resultiert, fällt allerdings nicht in die Kate-gorie „gut“, sondern in die Kategorie „gut gemeint“. Ichwill Ihnen auch sagen, warum.In Ihrer Begründung nehmen Sie Köln als Beispiel füreine Kommune oder eine Stadt, die ihren Kulturhaushaltjetzt drastisch kürzt. Es ist richtig: Köln hat seinen Kul-turetat um 30 Prozent gekürzt. Hamburg hat das nichtgetan. Ich bin ganz stolz; ich war bis Oktober letztenJahres haushaltspolitischer Sprecher meiner Fraktion inder Hamburgischen Bürgerschaft. Wir haben gemein-schaftlich erreicht, dass unser Sparhaushalt, der wirklichwehtut, die Kultur verschont hat. Köln hat das anders ge-sehen. Ich teile Ihre Ansicht, dass Kultur ein sehr wichti-ges Gut ist und nicht irgendein Luxus. Man muss aberauch sagen: Köln liegt nicht in der Diaspora, und dieHamburger schöpfen nicht ständig Milch und Honig ausder Elbe. Das heißt, die Kürzung des Kulturhaushalts isteine Entscheidung von Politikern, wie wir es sind, diedie Kultur vor Ort leider als zweit- oder drittrangig anse-hen. Das bedeutet, dass der Kampf dafür, dass Kulturimmer ausreichende Mittel bekommt, in jeder Kom-mune, in jedem Land und auch hier im Bund geführtwerden muss.
Jetzt haben Sie die Sorge, dass dieser Kampf nichtimmer gewonnen wird, und Sie möchten hier gerne mitMitteln des Bundes für einen begrenzten Zeitraum hel-fend eingreifen. Das ist ein durchaus positiv gemeinterAnsatz. Aber er ist kontraproduktiv, und ich will Ihnensagen, warum. Dieser Ansatz ist ungerecht; denn durchihn werden diejenigen bestraft, die nicht gekürzt haben.
Man löst sofort einen Reflex aus – da sind alle Haushäl-ter gleich –, dass man sagt: Okay, auch wir machen unsjetzt förderungsfähig; unsere Ausgaben für Kultur kannja der Bund übernehmen.
– Sagen Sie doch nicht immer gleich „Quatsch!“. – AmEnde ist es doch folgendermaßen: Selbst substituierteMittel in Höhe von 1 Milliarde Euro sind irgendwannaufgebraucht. Was geschieht dann in den Kommunen?Glauben Sie denn im Ernst, dass Kultur bei einer Erho-lung der Kommunalfinanzen in gleicher Weise finanziertwird?
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Rüdiger Kruse
Es wird folgendermaßen sein: Das örtliche Theater wirddann mit der Begründung geschlossen, dass die Bundes-mittel nicht mehr vorhanden sind.
Ich will gar nicht auf die Idee „Wo kein Kläger, dakein Richter, daher kein Verfassungsverstoß“ eingehen.Man muss doch auch sehen: Es gibt viele sehr gute Ini-tiativen des Bundes, zum Beispiel das SonderprogrammDenkmalschutz. Mit 40 Millionen Euro Bundesgeldernwurden Investitionen in Höhe von insgesamt 80 Millio-nen Euro ausgelöst. Das ist ein sehr vernünftiges Pro-gramm, das den Kommunen hilft.Was wir tun müssen, ist – die Bundesregierung hat esaufgegriffen –, tatsächlich an die Wurzel des Übels undnicht an die Gemeindefinanzierung zu gehen. Es gibt seitgestern eine Gemeindefinanzkommission, die den ge-samten Bereich regeln soll.
Ihr ist die Kulturfinanzierung ausdrücklich ins Arbeits-buch geschrieben worden.
Als Ergebnis ist festzuhalten, dass wir hier nicht ak-tionistisches Strohfeuer brauchen, sondern jeder von uns– das entspricht auch der föderalen Verfassung unsererRepublik – an seiner Stelle für dieses wertvolle Gut Kul-tur kämpfen muss, wir also hier im Deutschen Bundes-tag. Das werden wir auch tun.Herzlichen Dank.
Herr Kollege Kruse, das war Ihre erste Rede in die-
sem Hause. Ich gratuliere sehr herzlich und wünsche Ih-
nen für Ihre weitere Arbeit alles Gute.
Nun hat das Wort der Kollege Dr. Wolfgang Thierse
für die SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Wenn wir heute über den Vorschlag eines Kulturhilfe-fonds debattieren, reden wir nicht nur über Maßnahmengegen die Auswirkungen der internationalen Finanz-krise, sondern auch und gerade über die Folgen der un-verantwortlichen Steuerpolitik der schwarz-gelben Bun-desregierung.
Ihre Steuerpolitik führt dazu, dass die Einnahmen derKommunen noch stärker zurückgehen als ohnehin schondurch die Finanzkrise verursacht. So hat das sogenannteWachstumsbeschleunigungsgesetz mindestens 1,6 Milliar-den Euro Einnahmeausfälle pro Jahr für die Kommunenzur Folge.
Martin Roth, Generaldirektor der Staatlichen Kunst-sammlungen Dresden, fasste die Folgen der Krise undIhrer Politik vorgestern in der Akademie der Künste ineinem bitteren Bonmot zusammen: Diesmal ist die Kriseso schlimm, dass nicht mehr nur die Kultur betroffen ist.Schwimmbäder müssen geschlossen werden, Jugend-klubs und andere soziale Einrichtungen sind gefährdet.Kurz: Viele öffentliche Güter stehen auf dem Spiel.Aber die Kultur – das wissen wir doch – ist mit einemAnteil von circa 1,8 Prozent an den öffentlichen Haushal-ten einer der schwächsten Bereiche. Gerade dieSchwächsten treffen die Einsparungen am härtesten.Auch das ist keine neue Erfahrung. Nordrhein-Westfalenzum Beispiel trifft die Finanzkrise besonders hart, weilhier die Kulturfinanzierung zu 80 Prozent durch die Kom-munen erfolgt, während im gesamtdeutschen Durch-schnitt der kommunale Anteil bei 43 Prozent liegt.Die Hiobsbotschaften aus dem Kulturbereich reißennicht ab. Egal ob Theater, Orchester, Bibliotheken oderMusikschulen in Nord-, Ost-, West- oder Süddeutsch-land – überall wird massiv gekürzt, gestrichen und ge-spart. Prominentes Beispiel dieser Sparpolitik ist dasWuppertaler Schauspielhaus, das kurz vor dem Aussteht, sollten die geplanten Kürzungen umgesetzt wer-den. Beim Schleswig-Holsteinischen Landestheater sollso stark gespart werden, dass das in Flensburg ansässigeMusiktheater, Kollege Börnsen, massiv gefährdet ist.Aus Dessau höre ich gerade, dass das dortige Theater ge-fährdet ist. Auch die geplante, glücklicherweise aber ab-gewendete Fusion zweier Orchester in Berlin war durchEinsparpläne motiviert.Das alles – wir wissen es doch – ist nur die Spitze desEisbergs. Bevor eine Stadt ein Theater schließt, sindviele kleinere Projekte längst weggebrochen. Darauf hatOlaf Zimmermann vom Deutschen Kulturrat gestern beider Anhörung zur Lage der öffentlichen Kulturfinanzie-rung im Kulturausschuss hingewiesen. Aber geradediese vielen kleinen Projekte machen die kulturelle Viel-falt in Deutschland aus. Sind diese erst einmal wegge-brochen, lassen sie sich später schwerlich wiederbele-ben.
Die Süddeutsche Zeitung vom 19. Februar fasst die Lagetreffend zusammen:Bisher ist die kulturelle Landschaft der Bundes-republik weltweit einmalig.– Wir sind zu Recht darauf stolz. –Das dürfte, wenn die Entwicklung so weitergeht, inzwei Jahren Geschichte sein.
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2150 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 24. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Februar 2010
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Dr. h. c. Wolfgang ThierseZum Glück haben viele Kultureinrichtungen großenRückhalt in der Bevölkerung, und Einsparungen werdennicht protestlos hingenommen. Morgen gibt es in Kielvor dem Landtag eine Demonstration, bei der 25 000Unterschriften für den Erhalt des Landesmusiktheatersübergeben werden. In Berlin haben Staatsminister BerndNeumann und Klaus Wowereit von der Fusion zweierOrchester Abstand genommen, nachdem innerhalb vonnur drei Tagen Tausende Unterschriften gesammelt wur-den. In meinem Wahlkreis sollte eine Stadtteilbibliothekgeschlossen werden. Dagegen hat sich massiver Bürger-protest erhoben.Was auf dem Spiel steht, hat der eben schon erwähnteKlaus Staeck an einem Beispiel erläutert: In Anklam,Mecklenburg-Vorpommern, wird die Bibliothek ge-schlossen; parallel entsteht eine sogenannte nationale Bi-bliothek der Rechtsextremisten. Das beschreibt die Ge-fährlichkeit der Situation, in der wir uns befinden.
Der Bund ist in der Pflicht, zu helfen, weil er eben ei-nen Teil der Finanzkrise selbst verursacht hat. Der vomDeutschen Kulturrat vorgeschlagene Kulturnothilfe-fonds, den die Linken in ihrem Antrag aufgegriffen ha-ben, und das „Soforthilfeprogramm Kultur“ der Grünensind ernsthaft zu diskutierende, verständliche Vor-schläge, die der Dramatik der Situation geschuldet sind.In der gestrigen Anhörung des Kulturausschusses aller-dings gab es gewichtige Argumente dagegen. Von meh-reren Experten wurde eingewendet, dass ein solcherNothilfefonds nicht mit dem Grundgesetz vereinbar sei.Auch die kommunale Selbstverwaltung ist ein so hohesGut, dass wir sie immer respektieren sollten. Vor allemaber – das scheint mir der entscheidende Gesichtspunktzu sein – sichern Notmaßnahmen nicht die dauerhafteFinanzierung und lösen keine strukturellen Probleme.All das sind ernsthafte Einwände.Was also ist zu tun? Klaus Hebborn vom DeutschenStädtetag hat es gestern bei der Anhörung auf den Punktgebracht: „Wer etwas für die Kultur tun will, muss etwasfür die kommunalen Finanzen tun.“
Das ist die Hauptaufgabe. Dieser Hauptaufgabe müssensich Bund, Länder und Gemeinden gemeinsam widmen.Die gesamte Finanzverfassung in Deutschland gehört aufden Prüfstand. Deshalb begrüße ich durchaus den gestri-gen Beschluss des Bundeskabinetts, eine entsprechendeKommission einzusetzen. Ich hoffe sehr, dass mit diesemBeschluss auch die Einsicht verbunden ist, dass die aben-teuerliche Steuersenkungspolitik, die massiven, nichtwiedergutzumachenden Schaden in Deutschland anrich-tet, beendet wird. Gerade für den Bereich Kultur ist sie sogefährlich. Besonders riskant ist der Vorschlag, die Ge-werbesteuer abzuschaffen. Auch das wurde gestern aus-drücklich betont. Das wäre eine Katastrophe für dieKommunen, warnte der eben erwähnte Klaus Hebborn.Nicht über die Streichung dieser Gemeindesteuer solltedie Kommission sprechen, sondern über deren Versteti-gung; das ist der Punkt.
– Ja. – Eine grundsätzliche Diskussion über die Finanz-verfassung ist dringend erforderlich. Sie wird aber – wirwissen es – einige Zeit in Anspruch nehmen.Deshalb müssen wir doch darüber reden, was kurz-fristig zu tun ist. Es bleibt dabei: Um eine Katastrophezu verhindern, brauchen wir eine schnelle Verbesserungder kommunalen Finanzen. Daher fordern wir Sozialde-mokraten einen Rettungsschirm für die Kommunen ins-gesamt. Wir wollen nicht einzelne Politikfelder heraus-picken und den Kommunen vorschreiben, wie sie ihreMittel verwenden sollen, gewissermaßen das alte, immerproblematische Spiel „Soziales gegen Kultur, Kultur ge-gen Soziales“. Wir wissen, wer meistens verliert. DieKommunen müssen selbst in die Lage versetzt werden,über ihre Prioritäten zu entscheiden.Kurzfristig soll der von uns vorgeschlagene Rettungs-schirm folgende Forderungen erfüllen: Erstens. Die Ein-nahmeausfälle durch das sogenannte Wachstumsbe-schleunigungsgesetz in Höhe von 1,6 Milliarden Euromüssen vom Bund vollständig ausgeglichen werden.
Zweitens. Der Bund soll seinen Anteil an den Kostender Unterkunft befristet für zwei Jahre um 3 Prozentsteigern. Das wäre eine wesentliche Entlastung derKommunen und läge auch im Interesse der Kultur. InZukunft müssen jegliche Steuersenkungspläne zulastender Kommunen unterbleiben.Diese kurzfristigen Maßnahmen, liebe Kolleginnenund Kollegen, müssen durch mittel- und langfristigeMaßnahmen ergänzt werden. Wir müssen prinzipiell undgrundsätzlich die Kommunen wieder in die Lage verset-zen, ihren Aufgaben nachzukommen. Kommunen brau-chen solide Finanzen, gerade im Interesse der Kultur.Dafür machen wir Sozialdemokraten uns stark.
Nächster Redner ist der Kollege Reiner Deutschmann
für die FDP-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrtenKolleginnen und Kollegen! Bereits im letzten Frühjahrführte der Kultur- und Medienausschuss des DeutschenBundestages ein Expertengespräch über die „Folgen derWirtschafts- und Finanzkrise für die Kultur in Deutsch-land“ durch. Der damalige Ausschussvorsitzende Hans-Joachim Otto hatte zusammenfassend festgestellt, dasssich der Kultursektor angesichts der zu erwartenden har-
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Reiner Deutschmannten Einschnitte in den nächsten Jahren „sturmfest ma-chen“ müsse.In vielen Kommunen ist der Sturm inzwischen ange-kommen; die kommunalen Kassen sind leer. Die Käm-merer setzen gerade in den Städten und Gemeinden denRotstift besonders hart an der Kultur an, die schon vorder Krise aufgrund struktureller Defizite Probleme beider Aufstellung ihrer Haushalte hatten.Die Experten des gestrigen Gesprächs im Kultur- undMedienausschuss zur Lage der öffentlichen Kulturfinan-zierung waren sich einig: Ein Kahlschlag im Kulturbe-reich muss unter allen Umständen vermieden werden.
Die Frage ist, wie wir diesen Kahlschlag vermeiden kön-nen.Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Kulturrat NRWforderte die Landesregierung in Düsseldorf schon imDezember letzten Jahres auf, den eigenen Kulturhaushaltstabil zu halten und die Kommunen nach dem Vorbildanderer Bundesländer durch höhere Landeszuweisungenim Bereich der Kulturförderung zu entlasten. Gefordertwurde ein zweckgebundener Zuschuss für die Kultur-haushalte der Kommunen durch das Land Nordrhein-Westfalen. Damit spricht der Kulturrat NRW etwas aus,was eigentlich für alle ganz selbstverständlich seinsollte: Die Kulturhoheit liegt laut Grundgesetz bei denLändern. Darum müssen die Länder darauf achten, dassdie Kommunen finanziell nicht ausbluten.Meine sehr verehrten Damen und Herren, der Deut-sche Kulturrat fordert nun von der Bundesebene die Ein-richtung eines Nothilfefonds zur Rettung der Kulturetatsder Kommunen. Die Linke unterstützt diesen Vorschlag,indem sie 1 Milliarde Euro für diesen Fonds zur Verfü-gung stellen möchte. 1 Milliarde Euro, so hoch ist fastder gesamte Kulturetat des Kulturstaatsministers.
Im Übrigen investiert der BKM in über 80 Fällen mit-hilfe des Konjunkturpakets II noch weitere 100 Millio-nen Euro in die kulturelle Infrastruktur. Auch aus dem10-Milliarden-Euro-Programm des Bundes für Zu-kunftsinvestitionen in Ländern und Kommunen wird diekulturelle Infrastruktur gefördert.Meine sehr verehrten Damen und Herren, so verlo-ckend die Auflegung eines Nothilfefonds scheinbar ist,das gestrige Expertengespräch mit den Betroffenen hatunsere Meinung bestätigt, dass der Bund ein solchesHilfspaket allein schon aus verfassungsrechtlichen Grün-den gar nicht auflegen darf.
Der Bund ist schlicht und ergreifend nicht zuständig.Kein Experte hat gestern Gegenteiliges behauptet.
– Das steht wohl infrage.Aus meiner eigenen Erfahrung als Kommunalpolitikerweiß ich, dass viele Kommunen bei der Aufstellung derHaushalte in den vergangenen Jahren durchaus Spiel-räume hatten. Im Zeitraum von 2003 bis 2008 sind dieSteuereinnahmen der Kommunen um mehr als 50 Pro-zent, nämlich um 25 Milliarden Euro, gestiegen.
Dies hätte Spielräume für die Rückzahlung vonSchulden oder für die Finanzierung von Kulturausgabeneröffnet, könnte man meinen. Die Kulturausgaben habenaber laut aktuellem Kulturfinanzbericht nur in geringemMaße von diesem Geldsegen etwas abbekommen. In zuvielen Kommunen gehört die Kulturförderung leidernicht zu den Prioritäten. Oft wurden überzogene Infra-strukturmaßnahmen umgesetzt, statt strukturelle Defiziteabzubauen und effiziente Strukturen aufzubauen.
– Da sieht es gut aus; dazu komme ich gleich.Jede Kommune muss und soll natürlich für sich selbstentscheiden. Ich bin aber der festen Überzeugung, dasssich die Vernachlässigung der Kultur durch eine ver-fehlte Prioritätensetzung gerade auf die kulturelle Bil-dung unserer Bürger negativ auswirken wird, dies insbe-sondere bei Kindern und Jugendlichen.Meine sehr verehrten Damen und Herren, der Antragder Grünen geht in Punkt II in die richtige Richtung.Hier ist die Bundesregierung gestern bereits aktiv ge-worden. Mit der Einsetzung der Kommission zur Re-form der Gemeindefinanzen hat sie einen ersten gutenSchritt zur Sicherung der Finanzen getan.
Damit wird auch der Kulturförderung geholfen. DieKommunen benötigen verlässliche, konjunkturunabhän-gige Einnahmequellen, um ihre kommunale Selbstver-waltung überhaupt noch ausüben zu können.Aus eigener Erfahrung kann ich den Verantwortlichenin den Bundesländern nur empfehlen, sich das Sächsi-sche Kulturraumgesetz zu eigen zu machen, um die Kul-turfinanzierung auf solide Füße zu stellen. Kein anderesLand gibt pro Kopf mehr für die Förderung der Kulturaus als Sachsen. Das Kulturraumgesetz lebt von einerSockelfinanzierung des Freistaates und dem Solidarge-danken der kommunalen Ebene.Liebe Kolleginnen und Kollegen, Deutschland be-greift sich als Kulturnation. Wir brauchen endlich eineplanungssichere Grundlage für die Kulturfinanzierung.Deswegen dürfen wir uns nicht damit abfinden, dass dieKultur als sogenannte freiwillige Aufgabe immer daserste Opfer von Konjunkturkrisen sein soll.
Neben der Neustrukturierung der Gemeindefinanzenmuss die Kultur flächendeckend in allen Bundesländernzur Pflichtaufgabe gemacht werden. Auch deshalb ist die
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2152 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 24. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Februar 2010
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Reiner DeutschmannVerantwortung des Staatsziels Kultur im Grundgesetzlängst überfällig.Vielen Dank.
Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen spricht nun
die Kollegin Agnes Krumwiede.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Geld fließt in unserem System immer dorthin,
wo der schnellste Profit erwartet wird: in Unternehmen
und in Banken. Nicht erst seit der Finanz- und Wirt-
schaftskrise ist dieses Prinzip ins Wanken geraten. Ich
frage mich: Wie ökonomisch ist eigentlich ein mensch-
liches Leben? Was erwirtschaftet eine Bibliothek? Keine
messbaren Werte. Aber die Werte, die von einer Speku-
lationsblase zerstört werden, sind messbar.
Wie gehen wir in Zukunft also mit dem Geld um? Set-
zen wir weiterhin ausschließlich auf alte Strukturen oder
endlich auf eine nachhaltige Zukunft unter anderen, ganz
neuen Vorzeichen? Der Deutschlandfonds stellt Milliar-
den als Überbrückung für mittelständische Unternehmen
zur Verfügung, die aufgrund der Finanz- und Wirt-
schaftskrise in ihrer Existenz bedroht sind. Eine Biblio-
thek oder ein kleines Theater können nicht ohne Weite-
res ihre Wirtschaftlichkeit nachweisen, haben aber eine
ebenso große Bedeutung für die Infrastruktur einer
Stadt.
Für Hotelübernachtungen wurde die Mehrwertsteuer
verringert, aber die Gäste werden ausbleiben, wenn
nichts mehr da ist, weshalb sich eine Reise lohnt. Unsere
tagsüber hübsch anzusehenden Städte werden abends tot
sein, weil keine Kleinkunstbühne, kein Programmkino,
kein Theater oder Festival am Leben erhalten werden
konnten. Billigere Hotelübernachtungen allein erhöhen
nicht die Attraktivität einer Stadt als Wirtschaftsstandort.
Am Neubau von kulturellen Eliteobjekten mangelt es
in Deutschland nicht. In Köln soll für 360 Millionen
Euro ein neues Schauspielhaus gebaut werden, während
im gleichen Atemzug der Kulturetat um 30 Prozent ge-
strichen wurde. Die Frage ist doch: Was passiert, nach-
dem Prominente und Politiker die neu aus dem Boden
gestampften Kulturstätten medienwirksam eingeweiht
haben? Denn der finanzielle Aufwand, diese Bauhüllen
der Kultur am Leben zu erhalten, ist ungleich höher als
die Baukosten. Ein Theater ohne Ensemble ist nur eine
leere Hülle.
Prunkbauten werden das Kultursterben nicht kaschie-
ren können und auch nicht Ihr Leugnen der Realität,
Herr Kruse. Kein Bücherbus in ländlichen Gebieten, ein
geschlossenes Programmkino oder ein fehlendes sozio-
kulturelles Zentrum bedeuten weniger Bildung, weniger
Information und einen Verlust an sozialer und kultureller
Teilhabe. Das Schlimme ist: Betroffen sind vor allem
jene, die sowieso schon zu den Verlierern der Krise zäh-
len.
Aber nicht nur sie sind die Leidtragenden. Es wird
gravierende Einschnitte geben an den Gehältern und bei
den festen Stellen für Orchestermusiker oder Schauspie-
ler, die zum Großteil bereits jetzt im Niedriglohnsektor
arbeiten. Bestehende kulturelle Strukturen zu bewahren,
heißt immer auch, Arbeitsplätze zu erhalten.
Unser Vorschlag, die Prüfung eines KfW-Sonderpro-
gramms Kulturförderung, könnte eine Symptomkur für
unser erkranktes System bedeuten.
Frau Kollegin, die Kollegin Heinen-Esser würde
gerne eine Zwischenfrage stellen.
Ja.
Verehrte Frau Kollegin, ich danke Ihnen für das Köl-
ner Beispiel, das Sie erwähnt haben. Ein kurzer Hinweis,
bevor ich zur Frage komme: Es ist noch nicht entschie-
den, ob das Schauspielhaus neu gebaut oder saniert wird.
Das wird erst in den nächsten Wochen entschieden, es
macht kostenmäßig auch keinen großen Unterschied. Es
ist allerdings notwendig, damit das Gebäude überhaupt
weiterhin bespielbar ist.
Sie haben die 30-prozentige Kürzung der Kulturaus-
gaben in Köln kritisiert. Meine Frage ist: Ist Ihnen be-
wusst, dass diese Kürzung eine Entscheidung des rot-
grün dominierten Stadtrates in Köln ist?
Ja, das ändert nichts an meiner grundsätzlichen Kri-tik.
Ich bin in erster Linie Kulturpolitikerin, deswegen habeich das Beispiel gewählt. Es gibt viele weitere Beispiele.Beispielsweise soll das Pergamonmuseum in Berlin für400 Millionen Euro erweitert werden.
– Ja und? Aber nicht unter Grün.
Es gibt unendlich viele Beispiele dafür, dass in Deutsch-land Millionen in Gebäude investiert werden, bei denenkein Mensch weiß, wovon sie eigentlich bespielt werdensollen.
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Agnes Krumwiede
– Die steht doch schon.Ich würde jetzt gerne mit meiner Rede fortfahren. DasExpertengespräch gestern im Kulturausschuss hat ge-zeigt, dass akuter Handlungsbedarf besteht. Unser Sys-tem ist erkrankt. Unzählige kommunale Haushalte habenkeinen Finanzspielraum mehr für die Kultur und andereBereiche der freiwilligen Leistungen. Wenn die Regie-rung nicht umgehend handelt, riskieren wir sehendenAuges, dass sich unsere Kulturlandschaft in ein Ruinen-feld verwandelt.Wir fordern die Regierung auf, unseren Vorschlag zuprüfen und Überbrückungsmaßnahmen für die Substanz-erhaltung kultureller Strukturen in die Tat umzusetzen.Wir werden nicht aufgeben. Eine Fortsetzung unsererForderungen und Vorschläge zur Kulturrettung folgt.Wir werden hier unermüdlich stehen und appellieren:
Geben Sie den Kommunen ihre Selbstverwaltung zu-rück! Leiten Sie eine Reform der Gemeindefinanzierungein!
Lassen Sie nicht zu, dass unsere Kulturlandschaft ver-ödet! Wir müssen dafür sorgen, dass für alle Menschen,von jung bis alt, von gering- bis besserverdienend, inStadt und Land unser kulturelles Erbe und Orte der Fan-tasie erhalten bleiben.Was wir für die Kultur tun können, ist untrennbar miteinem Bewusstsein dafür verbunden, was die Kulturnachhaltig für uns tut. Sie rüttelt uns auf aus festgefahre-nen Denkstrukturen und bereichert unsere emotionaleErlebniswelt. Kultur befriedigt das Bedürfnis des Men-schen, dass nicht ein Tag ist wie der andere.Vielen Dank.
Nächster Redner ist der Kollege Marco Wanderwitz
für die CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Der Ausschuss für Kultur und Medien hat zu diesemThemenkreis gestern ein Expertengespräch durchge-führt, in dem natürlich auch die Forderungen, die heutehier als Anträge auf dem Tisch liegen, eine Rolle ge-spielt haben. Das haben wir nicht das erste Mal getan.Als Kulturpolitiker des Bundes beschäftigen wir uns na-türlich regelmäßig mit der Länderebene und der kommu-nalen Ebene. Trotz alledem haben in unserer Kultur-nation Deutschland die drei Ebenen Bund, Länder undGemeinden ihre Aufgaben, und die kann man nur bis zueinem gewissen Punkt vermischen.Wenn ich mir anschaue, wo die KulturnationDeutschland trotz aller Schwierigkeiten im Jahr 2010steht, dann glaube ich – ich hoffe, dass wir uns darübereinig sind –, dass wir auf allen Ebenen in Europa und inder Welt keinen Vergleich zu scheuen brauchen. Man-ches der Bilder, die hier schnell an die Wand geworfenwurden, ist ein ganzes Stück zu düster. Wir sollten nichtalles kleinreden.
Auf Bundesebene erbringen wir in Form des Haushal-tes des Staatsministers und in Form der auswärtigen Kul-turpolitik einen nicht übergroßen, aber unseren Aufga-ben entsprechend sehr ordentlichen Beitrag. Wenn mansich die Bilanz der Kulturpolitik der letzten Jahre an-schaut,
die ein ganzes Stück weit die Bilanz der vormaligenGroßen Koalition ist, stellt man fest, dass sich diese Bi-lanz sehen lassen kann,
und zwar sowohl für den Bereich der auswärtigen Kul-turpolitik auf der einen Seite, aber auch für den Bereichvon Staatsminister Bernd Neumann auf der anderenSeite. Wir verzeichnen beim Haushalt des Staatsminis-ters seit fünf Jahren einen Aufwuchs. Das ist eine Sache,die ich nicht kleingeredet wissen möchte.
Nun haben wir derzeit zweifellos auf allen Ebeneneine sehr schwierige Finanzierungssituation. Diese Si-tuation ist nicht allein in Deutschland schwierig, sondernsie ist in Europa und der ganzen Welt schwierig. Das hatmit der globalen Finanz- und Wirtschaftskrise zu tun.
Bei allem Verständnis dafür, dass die Opposition dasWachstumsbeschleunigungsgesetz hier anführt, ist anzu-merken, dass die Ausgaben mit den Auswirkungen desWachstumsbeschleunigungsgesetzes im Verhältnis ste-hen, da mit dem Wachstumsbeschleunigungsgesetz aucheine Wachstumsbeschleunigung und damit wiederumEinnahmevorstellungen verbunden sind.
Da steht so viel gegen so viel. Nur damit wir die Größen-ordnung kennen: Da steht gut 1 Milliarde einem zwei-stelligen Milliardenbetrag auf allen Ebenen gegenüber.
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Marco WanderwitzDie Antwort des Bundes, die Antwort der christlich-liberalen Koalition in der Kulturpolitik ist relativ ein-fach. Man kann sie im Koalitionsvertrag nachlesen undfindet sie in der aktuellen Haushaltsdebatte. Sie lautet:Der Bund wird seine Ausgaben für Kultur nicht kürzen,sondern wiederum erhöhen.
Kollege Kruse hat, weil er Hamburger ist, das Bei-spiel Hamburg angesprochen. Kollege Deutschmannkommt wie ich aus Sachsen und hat das sächsische Bei-spiel angesprochen. Die Lage ist viel differenzierter, alssie hier gezeichnet wird. Sie hat natürlich – das hatRüdiger Kruse schon angesprochen – auch immer etwasmit den Menschen zu tun, die in den Ländern und Kom-munen politische Verantwortung tragen.
Die Haushalte sind teilweise durchaus vergleichbar;nicht in jedem Falle, aber es gibt vergleichbare Haus-halte. Politiker in Stadt A oder in Land B treffen unter-schiedliche Entscheidungen. Jeder ist ein Stück weit fürdie Entscheidungen, die er trifft, verantwortlich.Wir haben hier jetzt konkrete Forderungen auf der Ta-gesordnung. Ich will nur noch einige wenige Sätze dazusagen; ich habe gerade einen Blick auf meine verblei-bende Redezeit geworfen, Frau Präsidentin. Die Verfas-sungsrechtler sagen uns einhellig: Das, was die Linkenhier vorgelegt haben, ist verfassungswidrig.
Ich sage ganz offen: Auch Sie sind Teil dieses oberstenVerfassungsorgans Deutscher Bundestag. Da erwarte ichetwas mehr Verantwortungsbewusstsein, etwas mehr se-riöse Politik. Legen Sie wenigstens den Grundgesetzän-derungsantrag gleich daneben, damit es seriös wird.
So ist es jedenfalls nicht seriös. Sie stellen politischeForderungen auf, die – das sagt die erklärte Mehrheit derVerfassungsrechtler – verfassungswidrig sind.
Letzter Redner in dieser Debatte ist nun der Kollege
Michael Frieser für die CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Werte Kollegen! Wir sind – sowürde ich es beschreiben – in der chemischen Unterab-teilung des Projektes „Jugend forscht“: Wie viel heißeLuft passt gepresst in zwei Seiten Antrag? Das Ganzeformulieren wir so, dass es möglichst emotional und be-troffen klingt. Ich will Sie in Ihrer Betroffenheit gerneunterstützen. Aber nach der gestrigen Anhörung wäre zuerwarten gewesen – Kollege Wanderwitz hat das richtigbetont –, dass dieser Antrag zurückgezogen wird.
Insofern bleibt aus der heutigen Debatte nichts ande-res übrig als die Forderung: Irgendwie möchten wir ir-gendetwas doch ganz gerne. Glauben Sie uns – mankann nicht oft genug darauf hinweisen –: Einer Nach-hilfe in Hilfestellung und Hilfeleistung bedarf es nicht.Wenn wir die letzten Programme kurz betrachten, sehenwir, dass Mittel aus dem Konjunkturpaket I und demKonjunkturpaket II direkt in kulturelle Baulichkeiten, inkulturelle Infrastruktur geflossen sind. Das hat deutlichgezeigt, dass es funktionieren kann und dass der Bundtätige Hilfe vor Ort leistet, ohne verfassungswidrig han-deln zu müssen, so wie Sie es fordern.
Beim Zukunftsinvestitionsprogramm für Länder undKommunen hat der Bund verfassungsgemäß direkt in dieInfrastruktur vor Ort investiert.Vielleicht noch ein persönliches Wort zur Kulturstif-tung des Bundes, für die man nicht dankbar genug seinkann: Allein in Bayern – mein Geburtsort ist Nürnberg;Frau Krumwiede, Sie wissen, wovon ich rede; vielleichtlassen Sie mich einen Satz zum Thema Nürnberg sagen –hat man seit 2002 durch die Hilfe des Bundes8 Millionen Euro direkt in 70 Projekte vor Ort investiert.Strukturwandel ist dabei ein Stichwort. Sie kennen dasvielleicht: AEG-Gelände, Aufgabe „struktureller Wan-del“. Es war eine Initiative des Bundes, dort ein Theater-projekt vor Ort zu unterstützen.Es geht, wenn es richtig gemacht wird, und der Bundtut es auch. An dieser Stelle zu sagen, der Bund müssejetzt aktive Hilfe vor Ort leisten, kommt leider etwas zuspät und ist aus meiner Sicht ein Fingerzeig in die fal-sche Richtung. Deshalb kann ich nur sagen: KämpfenSie mit uns gemeinsam, diese Projekte weiterhin zu un-terstützen. Dann gehen wir in die richtige Richtung.Ich möchte nicht in die jeweilige Vita schauen, um zusehen, wie viel kommunalpolitische Erfahrung hierwirklich gegeben ist. Ich war – ich darf das betonen –13 Jahre kulturpolitischer Sprecher meiner Fraktion imNürnberger Stadtrat. Ich glaube, zu wissen, wie schwie-rig es manchmal ist, Kulturpolitik vor Ort zu organisie-ren. Der Gürtel der Kommunen ist extrem eng. Sie gebensogar Zeichen in die Richtung: Wenn der Bund einenRettungsschirm zur Verfügung stellt, dann kann sich dieKommune auf andere Institutionen und andere Einrich-tungen stützen.Die Aufforderung, die Ausgaben und Investitionen et-was zurückzuziehen, ist ein sehr gefährliches Vorhaben.Frau Kollegin Krumwiede, tun Sie mir einen Gefallen.Ich bitte Sie im Interesse der Kommunen und der Städtein Deutschland, die Tempel unserer Kultur und die Thea-ter nicht als Bauhüllen zu bezeichnen.
Das ist genau der Ausgang der ideologischen Konfronta-tion, die wir hier nicht brauchen.
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Michael FrieserIch möchte generell sagen: Ich bitte Sie, das nicht zumachen. Denn damit tun Sie auch anderen Einrichtungenkeinen Gefallen, sondern erweisen der Kultur insgesamteinen Bärendienst.
Ich glaube, es ist entscheidend, dass wir einbinden,Brücken bauen und darauf achten, Private mitzunehmen,damit die kulturelle Struktur vor Ort erhalten bleibt. Waswir nicht brauchen, ist der Hinweis darauf, dass wir dieKulturpolitik in den Kommunen mit wie auch immer ge-arteten Forderungen vor eine Zwangsverwaltung stellen.Vielen Dank.
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
Drucksache 17/552 und 17/789 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie
damit einverstanden? – Ich sehe, das ist der Fall. Dann
sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 15 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur
Änderung des Direktzahlungen-Verpflichtun-
gengesetzes
– Drucksache 17/758 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre
dazu keinen Widerspruch. Dann werden wir so verfah-
ren.
Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner hat der
Kollege Alois Gerig für die CDU/CSU-Fraktion das
Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrtenDamen und Herren! Bei oberflächlicher Betrachtung kannman zu der Meinung kommen, dass die Änderung des Di-rektzahlungen-Verpflichtungengesetzes nichts Spektaku-läres enthält. Bei näherem Hinsehen ergeben sich jedocheinige positive Aspekte, die näher zu beleuchten sind.Das Fachliche in Kürze:Erstens. Gewässerschutz und Wasserbewirtschaftungwerden Teil der Cross-Compliance-Verpflichtungen.Noch-nicht-Insidern will ich dieses neudeutsche Worterklären. Es bedeutet Überkreuzverpflichtung bzw. soviel wie: „Ich gebe dir, aber dafür musst du mir …“Zweitens. Die Umstrukturierungsbeihilfen sowie Ro-dungsprämien im Weinsektor werden in den Anwen-dungsbereich des Direktzahlungen-Verpflichtungenge-setzes einbezogen.Drittens. Nach EU-Recht ist vorgeschrieben, dass derAnteil von Dauergrünland an der gesamten landwirt-schaftlichen Nutzfläche nicht erheblich abnehmen darf.Was ist nun das Wesentliche an der Neuregelung? Be-sonders wichtig ist die Botschaft, dass für die BeteiligtenVereinfachungen und neue Perspektiven anstelle vonneuen Belastungen entstehen. Wir erreichen eine Konti-nuität des Gesetzes. Wie versprochen werden die EU-Vorgaben eins zu eins umgesetzt. Im Hinblick auf die ge-meinsame Agrarpolitik nach 2013 setzen wir mit der Zu-stimmung zum Gesetzentwurf ein deutliches, positivesZeichen für die anstehenden Verhandlungen.Lassen Sie mich das kurz erläutern: Direktzahlungs-verpflichtungen in Verbindung mit Cross Compliancebieten für den Staat ein Steuerungsinstrument für dieLandwirtschaft. Dies ist im Hinblick auf die elementarenHerausforderungen der Zukunft ganz besonders wertvollund wichtig.
Das heißt, die Landwirtschaft muss auch zukünftig dieErnährung mit sicheren, qualitativ hochwertigen und ge-sunden Lebensmitteln gewährleisten können.
Die Landwirtschaft pflegt nach den Vorgaben von CrossCompliance unsere allseits geliebte, vielfältige Kultur-landschaft. Dies ist ein unverzichtbarer Beitrag zur Öko-nomie der ländlichen Räume und ein wichtiger Beitragzur Ressourcenschonung, auch mit Blick auf die erneu-erbaren Energien.
Genauso wichtig wie der Erhalt von Direktzahlungenund Cross Compliance ist für uns der Bürokratieabbau.Auch wenn in der vergangenen Wahlperiode erste Er-folge bei der Entbürokratisierung in diesem Bereich er-zielt wurden, zum Beispiel die Einführung praxisnaherBagatellregelungen, bleibt es ein ständiger Auftrag fürdie Politik, weitere Vereinfachungen zu erreichen.Ein Pferdefuß des bestehenden Gesetzes ist zum Bei-spiel die Regelung zum Erosionsschutzkataster, nichtnur weil die Wogen – wohl nicht zu Unrecht – derzeithochgehen, sondern weil das richtige Maß in der Tatnoch nicht gefunden scheint. Deshalb sollten wir diesesThema in den Ausschussberatungen noch einmal auf-greifen.Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich begrüßees ausdrücklich, dass Frau Bundesministerin Ilse Aignerimmer wieder den Wert der Landwirtschaft für unsereGesellschaft betont.
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Alois GerigDiese Botschaft muss verstärkt in die Öffentlichkeit ge-tragen werden.
Unsere Landwirtschaft erfüllt nicht zuletzt wegenCross Compliance hohe Standards: beim Umweltschutz,beim Tierschutz und bei der Lebensmittelsicherheit.Dies wirkt sich, wie aktuell veröffentlicht wurde, bei-spielsweise dahin gehend aus, dass Pflanzenschutzmit-telrückstände in Lebensmitteln bei uns trotz sehr intensi-ver Kontrollen fast nicht mehr oder zumindest deutlichseltener die zulässigen Höchstwerte übersteigen als inNicht-EU-Ländern.
Direktzahlungen sind, ebenso wie die gesamte Förde-rung der Landwirtschaft, eine Honorierung der Leistungfür die Gesellschaft und nicht zuletzt auch eine Anerken-nung dafür, dass wir deutschen Bürger uns sehr kosten-günstig ernähren können. Hinzu kommt der Zugewinnfür die Ökologie, die Wirtschaftskraft und die Wert-schöpfung für den ländlichen Raum.Wenn man bedenkt, dass die Förderung der Landwirt-schaft in der EU im Jahr 2008 gerade einmal 0,5 Prozentdes Bruttoinlandsprodukts betragen hat, muss doch unsallen klar werden, dass wir gemeinsam – hier appelliereich besonders an die Kolleginnen und Kollegen aus denOppositionsfraktionen – und möglichst geschlossen aufeine Fortführung der Gemeinsamen Agrarpolitik mit Di-rektzahlungen aus der ersten Säule und mit einer gut aus-gestatteten zweiten Säule hinarbeiten sollten.Danke schön.
Herr Kollege Gerig, das war Ihre erste Rede im Deut-
schen Bundestag. Ich gratuliere auch Ihnen sehr herz-
lich, verbunden mit den besten Wünschen für Ihre wei-
tere Arbeit.
Nun hat die Kollegin Waltraud Wolff für die SPD-
Fraktion das Wort.
Vielen Dank. – Sehr geehrte Frau Präsidentin! LiebeKolleginnen und Kollegen! Als dieses Gesetz in unsererFraktion auf der Tagesordnung stand, sagte unser ErsterParlamentarischer Geschäftsführer: Das hört sich abersehr kompliziert an. Erklär doch bitte mal! Dann habeich erklärt, dass es hier um die technische Umsetzungvon EU-Recht in deutsches Recht geht.Ich frage mich, meine Damen und Herren, liebe Zu-schauerinnen und Zuschauer auf den Tribünen: Hat dieKoalition in dieser Zeit nichts Besseres zu tun, als übereine technische Umsetzung zu debattieren? Die Stan-dards sind inhaltlich längst im jeweiligen deutschenFachrecht geregelt. Da muss ich sagen: Meisterhaft, na-hezu heldenhaft, wie sich diese Bundesregierung und dieKoalitionsfraktionen hier zeigen!
Die parlamentarischen Beratungen im Plenum sinddas Schaufenster des Bundestages, und ich begrüße aus-drücklich, dass wir unsere Debatten öffentlich führen.Der politisch interessierte Bürger wird sich bei solch ei-ner Debatte aber fragen: Was soll das, wenn im deut-schen Fachrecht im Grunde genommen alles schon gere-gelt ist?Nun gut, meine Damen und Herren, beschäftigen wiruns damit. Die Einhaltung der Genehmigungsverfahrenfür die Verwendung von Wasser zur Bewässerung – fallsentsprechende Verfahren vorgesehen sind – ab 2010 undder Standard zur Schaffung von Pufferzonen entlang vonWasserläufen gehören nunmehr ebenfalls zur Erhaltunglandwirtschaftlicher Flächen in einem guten landwirt-schaftlichen und ökologischen Zustand.Ich sage es nicht gerne noch einmal, aber ich muss essagen: Es wird deutlich, dass weder die Regierung nochdie Koalition Sinn in vernünftiger Arbeit sieht.In Art. 6 Abs. 2 der EG-Verordnung heißt es:Die nicht zu den neuen Mitgliedstaaten zählendenMitgliedstaaten– so auch Deutschland –stellen sicher, dass Flächen, die zu dem für die Bei-hilfeanträge „Flächen“ für 2003 vorgesehenen Zeit-punkt als Dauergrünland genutzt wurden, als Dau-ergrünland erhalten bleiben.
Hier, liebe Kolleginnen und Kollegen, liebe Zuschaue-rinnen und Zuschauer, hätten wir intensiven Beratungs-bedarf; aber den greift weder die Bundesregierung nochdie Koalition auf.
Am Montag dieser Woche hatten wir im Ausschusseine Anhörung zum Thema „Klimaschutz und Landwirt-schaft“. Fakt ist, dass die Landwirtschaft nicht nur be-troffen ist, sondern mit circa 128 Megatonnen – das sind13 Prozent – an den Treibhausgasemissionen beteiligtist.Wohl wissend, dass der Umbruch von Dauergrünlandäußerst problematisch ist, gilt es, in allen Bundesländerndarauf zu achten, dass der Verlust von Grünland die5-Prozent-Grenze nicht überschreitet. Nach Zahlen desBundesministeriums für Ernährung, Landwirtschaft undVerbraucherschutz vom November 2009 verzeichnen ak-tuell drei Bundesländer, nämlich Schleswig-Holstein,Niedersachsen und Mecklenburg-Vorpommern, seit2003 einen Verlust von Grünland, der deutlich über5 Prozent liegt. Zwei weitere Länder – Rheinland-Pfalz
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Waltraud Wolff
und Nordrhein-Westfalen – stehen knapp an der 5-Pro-zent-Grenze. Die Analyse agrarstatistischer Daten zeigt,dass im Zeitraum von 2005 bis 2007 allein in vier Bundes-ländern – das muss man sich einmal deutlich machen –über 6 000 Hektar Moorboden in Ackerflächen umge-wandelt wurden.Professor Heißenhuber von der TU München, der aufunsere Einladung hin an der Anhörung teilnahm, belegtedort, dass 30 Prozent der CO2-Emissionen aus der Bewirt-schaftung von Mooren stammen. 8 Prozent der landwirt-schaftlich genutzten Fläche in Deutschland sind damit fürsage und schreibe 30 Prozent der CO2-Emissionen dergesamten landwirtschaftlich genutzten Fläche inDeutschland verantwortlich.Vor dem Hintergrund der Herausforderungen des Kli-mawandels wäre es angemessen, wenn die Bundesregie-rung und die sie tragenden Fraktionen hier einenSchwerpunkt setzten, indem sie dem Umbruch vonMooren Einhalt gebieten würden und einen Fahrplan zurVermeidung von Treibhausgasemissionen entwickelnwürden, um die Landwirtschaft aus der Kritik zu bekom-men und den Bauern in diesen Gebieten Möglichkeitenzur weiteren Arbeit zu eröffnen. Stattdessen spricht sieüber die technische Umsetzung von EU-Recht in deut-sches Recht.
Meine Damen und Herren der Koalitionsfraktionen,ich bitte Sie: Glauben Sie doch nicht, dass Sie mit demSieg bei der Bundestagswahl im vergangenen Herbst IhrZiel schon erreicht haben.Danke schön.
Nächste Rednerin ist die Kollegin Dr. Christel
Happach-Kasan für die FDP-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Liebe Kollegin Waltraud Wolff, natürlich wollen wirjetzt auch noch ordentlich regieren; denn das ist das Zielgewesen, das mit dem Gewinn der Bundestagswahl ver-bunden war. Das wollen wir jetzt machen, und damitsteigen wir ein.
Ich darf einmal ganz klar sagen: Ich bitte auch dieKolleginnen und Kollegen von der linken Seite des Hau-ses ganz herzlich, nachzulesen, was in dem Gesetzent-wurf unter „Problem und Ziel“ steht. Lesen Sie sichdoch einmal durch, weshalb wir das Ganze machen. Wirsorgen jetzt für die technische Umsetzung, weil das derschnellstmögliche Weg ist, EU-Gesetze in deutschesFachrecht umzusetzen. Ich glaube, das ist eine sinnvolleSache.
Nehmen Sie doch bitte auch einmal zur Kenntnis: Wirsind jetzt nicht in der Kernzeit am Donnerstag um 9 Uhr,sondern es ist Donnerstagabend. Ich glaube, es ist rich-tig, auch das Thema Landwirtschaft hier im Plenum desDeutschen Bundestages zu diskutieren.
Denken wir doch bitte auch einmal daran: Die Hälfteder Menschen in Deutschland lebt in ländlichen Räumenoder in kleineren Städten. Diese Menschen brauchen dieAufmerksamkeit des Deutschen Bundestages ganz ge-nauso wie die Menschen, die in größeren Städten leben.
Deswegen ist es richtig, dass wir einen solchen Gesetz-entwurf zügig verabschieden und dass wir ihn auch imDeutschen Bundestag debattieren. Ich glaube, das ist einrichtiger Weg.
Wir ändern hier das Direktzahlungen-Verpflichtun-gengesetz. Ein Kollege hat mir gesagt: Das alles soll garnicht kompliziert sein, obwohl doch allein die Gesetzes-überschrift sieben Zeilen lang ist? Es ist ja das Problemin der Agrarpolitik, dass Texte immer ein bisschen län-ger sind als in anderen Politikfeldern. Es handelt sichaber um nichts weiter als um ein Änderungsgesetz zumDirektzahlungen-Verpflichtungengesetz.In diesem Direktzahlungen-Verpflichtungengesetzaus dem Jahre 2004 ist festgestellt – mein Kollege Gerighat das in seiner Jungfernrede auch ausgeführt –, dassDirektzahlungen nur dann erfolgen, wenn die verbindli-chen Vorschriften im Bereich des Umweltschutzes, imBereich der Lebensmittel- und Futtermittelsicherheit, imBereich der Tiergesundheit und des Tierschutzes und imBereich der Erhaltung landwirtschaftlicher Flächen in ei-nem guten landwirtschaftlichen und ökologischen Zu-stand sowie die verbindlichen Vorschriften der Dünge-verordnung und der Pflanzenschutzmittelverordnungeingehalten werden.Ich erinnere hier auch gerne einmal an die Anhörungam Montag, bei der es immer wieder um die Düngemit-telanwendungsverordnung ging. Wir müssen schon fest-stellen, dass sie wohl doch sehr viel besser eingehaltenwird, als dort dargestellt wurde; denn sonst würden dieLandwirte ihre Direktzahlungen nicht bekommen.
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Dr. Christel Happach-Kasan
Dieses Gesetz von 2004 soll heute um die BereicheGewässerschutz und Wasserbewirtschaftung erweitertbzw. ergänzt werden. Ich glaube, das ist sehr richtig.Es ist ja richtig: Wir befinden uns sozusagen am Vor-abend der Diskussion über die Gemeinsame Agrarpoli-tik. Wir als FDP stehen dafür, dass wir eine starke ersteSäule haben wollen. Wir müssen sehen – das ist in derAusschussdebatte sehr deutlich geworden –, dass dieneuen Beitrittsländer gerne ein Mehr vom Kuchen desAgrarhaushaltes haben wollen, was wir ihnen nicht hun-dertprozentig verwehren können, wie ich meine.Vor diesem Hintergrund sagen wir: Wir als FDP wol-len keine Prämiengleichheit. Wir sagen aber auch: Wirwerden das nicht hundertprozentig verwehren können.Insofern sind wir mit Staatssekretär Müller einvernehm-lich der Meinung, dass wir damit rechnen müssen, dassder Umfang der Direktzahlungen für Landwirte abneh-men wird. Das ist so, und das müssen wir den Landwir-ten sagen. Wir müssen ihnen gleichzeitig aber auch Hil-fen geben, damit sie in dieser schwierigen Situationbestehen können.
„Schwierige Situation“ heißt, dass wir die starkenLandwirte weiter stärken wollen und dass wir denjeni-gen, die sich nicht am Markt behaupten können, Aus-stiegsszenarien eröffnen müssen. Das ist die Philosophieder FDP, die wir durchsetzen wollen. Wir haben ja ge-meinsam beschlossen, die GEFA zu unterstützen und da-mit auch die Exportförderung weiter zu unterstützen. Ichglaube, das ist eine weitere wichtige Maßnahme.Ein weiterer Punkt ist für uns als FDP ganz entschei-dend: Wir wollen Marktregulierungsmechanismen, diesich nicht bewährt haben, nicht wieder einführen. Wirstehen für den Ausstieg aus der Milchquote. Ich glaube,dass es gut ist, dass wir damit in 2015 durch sind.
– Kollegin Tackmann, Sie können ruhig auch einmal zu-hören. Das wäre nicht schlecht.
Wir stehen auch dazu, dass das Mittel der Interven-tion nicht mehr in dem Umfang eingesetzt wird wie bis-her. Allein 10 Prozent des Agrarhaushaltes werden fürdie Intervention aufgewendet. Wir sind der Meinung,dass wir dies zurückfahren müssen. Denn überall dort,wo Intervention zum Einsatz gekommen ist – das kannich als Schleswig-Holsteinerin gut mit Beispielen bele-gen –, müssen wir feststellen, dass in der Folge dieStruktur der Vermarktung landwirtschaftlicher Produktesich verschlechtert hat. Wir brauchen aber gute Struktu-ren für unsere Betriebe. Deswegen finden wir es richtig,die Mittel im Bereich der Intervention zurückzufahren.Wir wollen auch die Exportförderung gerade in dieLänder, die Entwicklungshilfe beziehen, zurückfahren,weil wir der Meinung sind, dass wir dort nicht in dieMärkte eingreifen dürfen. Ich glaube, das ist ein sehrwichtiges Thema. Wer weltweite Ernährungssicherheitwill, der muss den Ländern gestatten, dass sie ihre eige-nen Märkte entwickeln, und darf nicht mit deutschenProdukten, subventioniert vom deutschen Steuerzahler,dort eingreifen und dafür Mittel einsetzen. Das haltenwir nicht für richtig.
Die Welternährung ist ein sehr wichtiges Thema, demwir uns als ein Gunstland der landwirtschaftlichen Pro-duktion, wie ich meine, nicht verschließen können. Ichglaube, dass wir eine gemeinsame ethische Verpflich-tung haben, für die Menschen der Dritten Welt mitzu-denken und sie darin zu unterstützen, sich selbst ernäh-ren zu können. Das ist jedenfalls für uns als Liberale einsehr wichtiges Thema.
Kollege Gerig hatte die Frage der Erosionskatasterangesprochen. Dazu müssen wir noch einige Hausaufga-ben machen. Das werden wir im Rahmen der Gesetzes-beratungen tun.Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
Nun hat die Kollegin Dr. Kirsten Tackmann für die
Fraktion Die Linke das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Ich hoffe, ich darf jetzt reden, Frau Happach-Kasan.
– Alles klar.Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf wird eigentlichnur EU-Recht umgesetzt; Frau Kollegin hat schon daraufhingewiesen. Aber weil es um ein wichtiges Ziel geht,lohnt es sich, denke ich, darüber zu reden.Gewässerschutz und Wasserbewirtschaftung sollen inden Sanktionsrahmen der sogenannten anderweitigenVerpflichtungen oder auch Cross Compliance aufgenom-men werden. Das heißt übersetzt: Wer Agrarförderungbekommt, muss mit gezielten Kontrollen zur Einhaltungvon Gewässerschutzauflagen rechnen. Bei Verstößen er-folgen Abzüge oder auch die Streichung der Agrarförde-rung.Für die Agrarbetriebe ist das eine wichtige Konse-quenz dieses Gesetzentwurfes. Übrigens wurde das Ziel
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Dr. Kirsten Tackmannbereits im Rahmen des Gesundheitschecks der EU 2008vorgegeben.Wer also gegen geltendes Wasserrecht verstößt, wirddas demnächst schmerzlich auf dem Konto spüren. Au-ßerdem erhöht sich das Risiko, erwischt zu werden. Da-mit wird der Gewässerschutz aus unserer Sicht wirksa-mer durchgesetzt; und das ist auch gut so. Denn wer zumBeispiel zu nah an den Vorfluter heranpflügt oder werunnötige Stoffeinträge ins Wasser zu verantworten hat,kann nicht auf die volle Unterstützung der Steuerzahle-rinnen und Steuerzahler rechnen.So wird Umweltrecht an einer besonders wichtigenStelle besser und sensibler umgesetzt. Denn Wasser istneben dem Boden die kostbarste Ressource in der Land-wirtschaft.
Der Schutz des Grundwassers, der Gewässer und derMeere ist gesellschaftlicher Konsens in Europa. In denvergangenen Jahrzehnten hat sich auf diesem Gebiet ei-niges getan. Durch verbesserten technischen Gewässer-schutz, zum Beispiel Kläranlagen, sind die Flüsse undBäche sauberer geworden.Damit wächst aber gleichzeitig die Bedeutung der so-genannten diffusen Eintragsquellen von Gewässern.Dazu gehören Einträge aus der Landwirtschaft beispiels-weise durch Düngemittel.Landwirtschaftsbetriebe haben daher aus meinerSicht eine gewachsene Verantwortung für den Schutzunserer Gewässer. Das gilt besonders für die Stickstoff-und die Phosphatbelastungen aus der Düngung. Sostammten bei uns zum Beispiel zwischen 2003 und 2007über 70 Prozent der Stickstoff- und über 50 Prozent derPhosphoreinträge in die Oberflächengewässer aus derLandwirtschaft. Aktuelle Daten zeigen, dass sich die Si-tuation nicht wesentlich verbessert hat.Allerdings möchte ich an dieser Stelle auch anmer-ken, dass wir einen fairen Umgang mit der Landwirt-schaft pflegen sollten. Mich wundert schon, dass in an-deren Wirtschaftsbereichen weniger genau hingeschautwird. Selbst massive Verschmutzungen von Oberflä-chengewässern werden dort sogar mit Ausnahmegeneh-migungen geduldet. Die Versalzung der Werra hat ge-rade erst bundesweit für Schlagzeilen gesorgt.Aber auch die Belastungen der Wasserhaushaltedurch den Braunkohleabbau wie auch seine Privilegie-rung durch die Freistellung vom Wassernutzungsentgeltgehören auf den Prüfstand. Wenn konsequent gegen dieBelastung unserer Gewässer vorgegangen werden soll– das befürworten wir ausdrücklich –, dann nicht mitzweierlei Maß.
Das Fachrecht zum Gewässerschutz selbst ist inDeutschland durchaus ausreichend geregelt: Düngever-ordnung und Wasserhaushaltsgesetz bilden den gesetzli-chen Rahmen, mit dem auch die Einträge durch dieLandwirtschaft reduziert werden können. Sie müssennur konsequent angewandt werden. Das wiederum ist invielen Fällen Ländersache. Ich denke, dort sollten wirgenauer hinschauen, wie das Recht umgesetzt wird.Wenn das nicht ausreicht, muss nachjustiert werden.Aus meiner Sicht bietet die Aufnahme des Gewässer-schutzes in die Kontrollmechanismen bei der Vergabevon Agrarfördermitteln die Chance einer wirksamenDurchsetzung des Fachrechtes. Der Protest des Bauern-verbandes war aus meiner Sicht allzu kurzsichtig; dennder Gewässerschutz sollte gerade auch im Interesse vonLandwirtschaftsbetrieben sein. Deshalb sollten wir, an-statt zu mauern, gemeinsam dafür sorgen, dass der Ge-wässerschutz überall wirksam durchgesetzt wird. Dannmüssen auch keine Mittel gestrichen werden.
Die Auflagen sind für die Betriebe durchaus wirt-schaftlich leistbar. Das Umweltbundesamt hat in einersoeben erschienenen Studie bewiesen: Gewässerschutzin der Landwirtschaft ist durchaus ohne Gefährdung derwirtschaftlichen Erfolge der Landwirtschaftsbetriebemöglich. Das hilft dann der Umwelt und schont – kurz-fristig und langfristig – die Geldbeutel der Landwirtin-nen und Landwirte, die gerade sehr unter Druck stehen.In Brandenburg wurde die Entwicklung eines Moor-schutzprogramms explizit in den Koalitionsvertrag auf-genommen. Das halte ich für einen sehr wichtigenBeitrag zum Gewässerschutz. Wir werden den Gewäs-serschutz konsequent weiterverfolgen.Vielen Dank.
Nächste Rednerin ist die Kollegin Cornelia Behm für
die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Die EU hat den Geltungsbereich von Cross Compliancegeringfügig ausgeweitet. Die Bundesregierung setzt diesdurch Änderung des Direktzahlungen-Verpflichtungen-gesetzes pflichtgemäß um. Das kann aber nicht darüberhinwegtäuschen, dass Cross Compliance in vielen Berei-chen ein zahnloser Tiger bleibt.
Cross Compliance macht vor allem die Einhaltung gel-tenden Rechts zur Fördervoraussetzung, wobei Verstöße,wenn sie denn überhaupt festgestellt werden, in der Re-gel nur geringe Subventionskürzungen zur Folge haben.
Mein Kollege Friedrich Ostendorff sieht das ein biss-chen anders; er hat es gerade erlebt.Laut Gesetzesbegründung legt auch dieses Gesetz denLandwirten keinerlei neue Verpflichtungen beim Gewäs-
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Cornelia Behmserschutz und bei der Wasserbewirtschaftung auf; einüber bestehendes Recht hinausgehender neuer Umwelt-standard wird nicht eingeführt. Die Einhaltung von Ge-setzen kann aber heute nicht mehr als Rechtfertigung fürdie Direktzahlungen ausreichen. Hier muss spätestensdie Weiterentwicklung der Gemeinsamen Agrarpolitiknach 2013 einen Paradigmenwechsel bringen.
Direktzahlungen kann es nur noch geben, wenn gesell-schaftlich gewünschte Leistungen für Klima-, Umwelt-und Artenschutz erbracht werden.Das ist bisher aber kaum der Fall; denn die durchCross Compliance für einen deutschen Betrieb entste-henden Zusatzkosten liegen im Vergleich zu einem ukra-inischen Betrieb bei gerade einmal 20 Euro pro Hektar.Wissenschaftler des Johann-Heinrich-von-Thünen-Insti-tuts haben diesen Wert seriös berechnet.Ich meine, dass Cross Compliance schon vor 2014substanziell weiterentwickelt werden muss. Ich nennedrei Beispiele.Erstes Handlungsfeld ist die Düngeverordnung. Dienach wie vor zu hohen Nitratüberschüsse von mehr als100 Kilogramm pro Hektar sind ein ernstes Problem fürKlima-, Arten- und Gewässerschutz. Zwar soll dieDüngeverordnung die Überschüsse auf 60 Kilogrammpro Hektar vermindern; aber sie verfehlt ihr Ziel, da siekeine ausreichenden Sanktionsmöglichkeiten enthält.Hier bedarf es dringend der Nachbesserung.
Zweites Handlungsfeld ist der Bereich Grünland. Wirbrauchen einen deutlich besseren Schutz des Grünlan-des. Der Eingreifwert von 5 Prozent Grünlandverlust istkeine Hilfe; denn bis zu diesem Eingreifwert findet inmanchen Ländern eine regelrechte Umbruchralley statt.Wir müssen Regelungen schaffen, um insbesonderedas wertvolle Feuchtgrünland zu sichern. Dazu habenuns die Experten bei der Anhörung am vergangenenMontag ausdrücklich aufgefordert.Das dritte Handlungsfeld ist der Humus. Auch dieVerpflichtung zum Erhalt der organischen Substanz gehtvöllig ins Leere. Hier gibt es ein riesiges Schlupfloch,durch das nahezu alle, die sich am Humusgehalt ihrerBöden versündigen, passen. Die Verpflichtung kannnämlich durch eine dreigliedrige Fruchtfolge erfüllt wer-den, wobei eine Kultur 70 Prozent der Betriebsflächeeinnehmen darf. Der Landwirt darf theoretisch immerwieder drei Humuszehrer hintereinander anbauen, wo-mit der Sinn der Fruchtfolge geradezu auf den Kopf ge-stellt würde. Eine wirkliche Verpflichtung zum Erhaltder organischen Substanz sieht anders aus.
Diese Beispiele zeigen, dass Cross Compliance bishernicht das umweltpolitische Instrument ist, das es seinsollte. Die EU muss hier nachbessern. Doch unabhängigvon der EU kann und sollte Deutschland bei den Direkt-zahlungen-Verpflichtungen mehr fordern als bisher. Einebessere Klimabilanz der Landwirtschaft, ein höherer Hu-musgehalt der landwirtschaftlichen Böden und eine grö-ßere Artenvielfalt in der Agrarlandschaft werden derLohn sein. Wenn sich Deutschland im UN-Jahr der Bio-diversität hier zu einer Vorreiterrolle durchringenkönnte, wäre das ein Beitrag, der endlich einmal überviele schöne bisher gemachte Worte hinausgehen würde.
Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege
Hans-Georg von der Marwitz für die CDU/CSU-Frak-
tion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen!Liebe Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Her-ren! Die geplante Änderung des Direktzahlungen-Ver-pflichtungengesetzes bedeutet vor allem eines: dieErweiterung der sogenannten Cross-Compliance-Vorga-ben. Cross Compliance ist – wir haben es heute schonmehrfach gehört – eine Überkreuzeinhaltung von Ver-pflichtungen. Das sind Auflagen, an deren Einhaltungdie Auszahlung der Direktzahlungen aus der erstenSäule der EU-Agrarpolitik geknüpft ist.Dazu zählen bislang 18 EU-Richtlinien zum Umwelt-,Tier- und Gesundheitsschutz. Mit der Gesetzesänderungkommt künftig die Einhaltung von Genehmigungsver-fahren für die Beregnung und Bewässerung landwirt-schaftlicher Flächen zum Auflagenkatalog des Cross-Compliance-Kontroll- und -Sanktionssystems hinzu.Des Weiteren werden bestimmte Beihilfen im Weinhilfe-sektor in den Anwendungsbereich des Gesetzes einbezo-gen. Außerdem verpflichtet der Gesetzentwurf dieMitgliedstaaten, sicherzustellen, dass der Anteil desDauergrünlands an der gesamten landwirtschaftlichenFläche nicht erheblich abnimmt. Das haben wir heuteschon mehrfach gehört.Auch die neuen Auflagen zum Gewässerschutz undzur Wasserbewirtschaftung sollen dem Erhalt von Agrar-flächen in einem guten landwirtschaftlichen und ökolo-gischen Zustand dienen. Die Erfüllung der Auflagen solldeshalb durch systematische Kontrollen in Form von Ri-sikoanalysen und anlassbezogenen Kontrollen, soge-nannten Cross Checks, sichergestellt werden. So weit, sogut. Zu den Details des Gesetzentwurfes haben meinKollege Gerig und viele andere heute schon Stellung ge-nommen. Die Eins-zu-eins-Umsetzung ist eine Ver-pflichtung der EU und damit ein Muss. Gegen die Fort-schreibung und Anpassung von Cross Compliance istgrundsätzlich nichts einzuwenden. Auch die Absicht,Geld nur denjenigen Landwirten zu geben, die vernünf-tig mit der Natur umgehen, ist durchaus begrüßenswert.Aber, um im EU-Sprachgebrauch zu bleiben: Durch-kreuzen in der täglichen Praxis am Ende womöglich dieCross Checks den Sinn und Zweck der Cross Com-pliance? Längst mehren sich die kritischen Stimmen. Zugroß seien der bürokratische Aufwand und die Belastung
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Hans-Georg von der Marwitzfür den einzelnen Betrieb, zu umfangreich die Doku-mentationspflichten und Kontrollen und zu gering dietatsächlichen Risiken. Wer die 28-seitige Checkliste vonCross Compliance aus dem Jahre 2009 durchblättert,kann diese Argumentation nachvollziehen.
Sie veranschaulicht, wie breit gefächert die Kontrollver-pflichtungen sind. Um nur die wichtigsten Bereiche zunennen: Lebensmittel- und Futtermittelsicherheit, Lage-rung und Entsorgung, Erhalt landwirtschaftlicher Flä-chen, Natur- und Artenschutz, Pflanzenbau, Pflanzen-schutz und Düngung im Besonderen, Tierhaltung und daim Besonderen Haltung, Fütterung, Hygiene, tierärztli-che Behandlung, Krankheiten von Schweinen, Rindern,Schafen, Ziegen und Geflügel und last, not least Tier-kennzeichnung und -registrierung.
Kenner wie Laien wird diese Bandbreite nicht überra-schen. Die Anforderungen an die moderne Agrarwirt-schaft wachsen stetig. Für Landwirte heißt das konkret:Absatzfähig sind nur Produkte, die der zunehmend er-nährungs- und umweltbewusste Verbraucher für gesundhält. Sicher können wir dem durch die Einhaltung be-währter Produktions- oder Hygienestandards begegnen.Doch brauchen wir tatsächlich ein Konvolut von19 EU-Richtlinien mit den entsprechenden Prüfungenund Kontrollleistungen? Für jedes Futtermittel, jedeSaat, über Qualität und Menge der eingesetzten Pro-dukte, über deren Weiterverwendung sowie Lagerungund Transportbedingungen müssen Dokumentationenerstellt werden. Nicht unerheblich gestalten sich auchdie Cross-Compliance-Vorgaben zur Tierhaltung undTierkennzeichnung. Minutiös ist festzuhalten, was wiein welchem Zeitraum eingesetzt wurde und von welchenGefährdungen der Landwirt hätte Kenntnis haben kön-nen. All diese – mit Verlaub – Selbstverständlichkeitenmüssen dokumentiert werden. Respekt gilt allen, die hierden Überblick behalten, namentlich was die diversenFristen angeht. Ich erspare Ihnen die Aufzählung der imEinzelnen befassten Behörden und Ämter.Bitte verstehen Sie mich nicht falsch: Ich stelle denSinn und Zweck von Cross Compliance nicht grundsätz-lich infrage. Der Schutzgedanke steht auch aus meinerSicht im Vordergrund. Aber schießen wir mit dem Re-gelwerk für Cross Compliance nicht über das Ziel hi-naus?
Wohlgemerkt, Cross Compliance bedeutet nicht, dassder Landwirt sich an mehr oder andere Gesetze oder Ver-ordnungen halten müsste, als er es ohnehin schon tut.Cross Compliance bedeutet allerdings, dass ihm, wenner die Erfüllung dieser Vorgaben nicht nachweisen kann,die Direktzahlungen empfindlich gekürzt werden kön-nen.
Hier setzt meine Kritik an: Welche gravierenden Be-drohungen gehen denn von unserer Landwirtschaft aus,dass sie den daraus folgenden bürokratischen Aufwandfür die Betriebe und die Verwaltung rechtfertigen?
Gerade in unserem Land kann es sich ohnehin keinLandwirt leisten, geltendes Recht zu ignorieren. UnserRechtssystem sieht bei Verstößen, bezogen auf dieSchwere des Vergehens, die nötigen Sanktionen vor.
– Doch. – Aber wer möchte tagtäglich aufschreiben,dass er sich an das Gesetz hält? Wer hat schon Lustdazu? Ist es sinnvoll, dass Landwirte inzwischen einennicht unerheblichen Teil ihres Arbeitstages am Schreib-tisch mit der Dokumentation ihrer Arbeit verbringen, nurum sicherzustellen, dass sie bei der Erfüllung der Vo-raussetzungen für die Direktzahlungen keinen Fehlermachen?
Meine Damen und Herren, man kann in der Tat geteil-ter Meinung sein, ob Cross Compliance im Berufsalltagund in der Verwaltungspraxis praktikabel und zielfüh-rend ist oder ob es in einem Land mit hohen Umwelt-standards und einem umfangreichen Fachrecht wie inder Bundesrepublik überhaupt nötig ist, den Nachweisder Einhaltung von Gesetzen und Verordnungen zur Vo-raussetzung für Direktzahlungen zu machen. Ich wäredankbar, wenn wir gemeinsam in Brüssel im Zuge derVerhandlungen zur GAP-Reform 2014 den bürokrati-schen Aufwand im Rahmen der Cross Compliance deut-lich reduzieren würden.
Ich hatte es bereits eingangs erwähnt: Die Umsetzungvon EU-Recht ist ein Muss. Die Brüsseler Vorgaben sindeinzuhalten. Aber gestatten Sie mir, in diesem Zusam-menhang einen Ausblick zu wagen. Wie gesagt, befin-den wir uns im Vorfeld der Verhandlungen zur Reformder Gemeinsamen Agrarpolitik der Europäischen Unionnach 2013. In den kommenden Monaten werden ersteWeichen für die Agrarreform gestellt, um eine nachhal-tige und multifunktionale Landwirtschaft zu unter-stützen, um eine hohe Qualität landwirtschaftlicherErzeugnisse und deren Verarbeitung zu sichern, umnachwachsende Rohstoffe für die energetische und in-dustrielle Nutzung bereitzustellen, um über den Marktnicht entlohnte Gemeinwohlleistungen der Landwirt-schaft zu erhalten, um den Strukturwandel sozialverträg-lich zu begleiten und um – nicht zuletzt – vitale ländli-che Räume zu sichern. Grundpfeiler der Sicherungvitaler ländlicher Räume ist aus meiner Sicht der Erhaltder dort wirtschaftenden Landwirtschaftsbetriebe.
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Hans-Georg von der MarwitzMeine Vision gerade als ökologisch wirtschaftenderLandwirt ist eine von bäuerlichen Familienbetrieben ge-prägte Landwirtschaft, die sich am Nachhaltigkeitsprin-zip orientiert, die Kulturlandschaft erhält, regionaleProduktvielfalt hervorbringt und durch eine flächende-ckende, umweltgerechte und klimaschonende Produk-tion sowie artgerechte Tierhaltung gekennzeichnet ist,kurz: eine im besten Sinne multifunktionale Agrarwirt-schaft.Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Herr Kollege von der Marwitz, ich gratuliere Ihnen
sehr herzlich zu Ihrer ersten Rede im Deutschen Bundes-
tag und wünsche Ihnen für Ihre weitere Arbeit alles
Gute.
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf Drucksache 17/758 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie
damit einverstanden? – Ich sehe, das ist der Fall. Dann
ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 16 sowie den Zu-
satzpunkt 5 auf:
16 Erste Beratung des von den Abgeordneten Jerzy
Montag, Beate Müller-Gemmeke, Ingrid
Hönlinger, weiteren Abgeordneten und der Frak-
tion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrach-
ten Entwurfs eines … Gesetzes zur Änderung
staltung der Kündigungsfristen bei Arbeits-
verhältnissen
– Drucksache 17/657 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Federführung strittig
ZP 5 Erste Beratung des von der Fraktion der SPD ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur
Umsetzung des EuGH-Urteils –
Erweiterung des Kündigungsschutzes bei un-
ter 25-Jährigen
– Drucksache 17/775 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich sehe,
Sie sind damit einverstanden. Dann werden wir so ver-
fahren.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red-
ner das Wort dem Kollegen Jerzy Montag für die Frak-
tion Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Der Sachverhalt ist denkbar einfach: Eine Arbeitnehme-rin hat mit 18 Jahren einen Arbeitsplatz erhalten und mit28 durch Kündigung verloren. Sie hatte eine Kündi-gungsfrist von einem Monat.
Hätte sie ihren Arbeitsplatz mit 25 erhalten und mit 35verloren, hätte sie eine Kündigungsfrist von vier Mona-ten. Diese Ungerechtigkeit sieht das deutsche Bürgerli-che Gesetzbuch vor. Diese Frau hat sich aus einem, wieich finde, gesunden Verständnis dafür, dass das eine Dis-kriminierung ist, an ein deutsches Arbeitsgericht ge-wandt. Dieses Gericht sagte: Ja, auch wir sind der Mei-nung, dass dies ein Fall von Diskriminierung ist. Es legtediese Sache im Vorabentscheidungsverfahren dem Euro-päischen Gerichtshof vor. Der Europäische Gerichtshofhat entschieden, wie es das europäische Recht vorsieht:Es hat diese Regelungen für mit dem europäischen Rechtnicht vereinbar erklärt.Nun müssen wir lesen, dass die Bundesvereinigungder Deutschen Arbeitgeberverbände zu dieser Entschei-dung sagt – so zitiert im Handelsblatt vom 20. Januar2010 –:Der EuGH erfindet einfach Rechtsgrundsätze jen-seits des EU-Vertrags. Er schafft damit eine uner-trägliche Rechtsunsicherheit …
– Ich höre vonseiten der Union: „Das stimmt ja auch!“Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich will Sie an Fol-gendes erinnern: Art. 3 des Vertrages über die Europäi-sche Union, den hier alle Fraktionen bis auf die Linkegutgeheißen haben, schreibt Folgendes vor:Sie– die Europäische Union –bekämpft … Diskriminierungen und fördert sozialeGerechtigkeit …Nach Art. 10 des Lissabon-Vertrags… zielt die Union darauf ab, Diskriminierungen ausGründen … des Alters … zu bekämpfen.Art. 6 des Lissabon-Vertrags erklärt die Charta derGrundrechte für verbindlich in der Europäischen Unionund damit in Deutschland. In Art. 21 dieser Charta, diealle Fraktionen in diesem Hohen Hause begrüßt haben,heißt es:Diskriminierungen, insbesondere … wegen Alters… sind verboten.
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Jerzy MontagAngesichts dieser klaren Rechtslage ist es nicht eineUnerträglichkeit, dass der Europäische Gerichtshof soentschieden hat, wie er entschieden hat; unerträglich istvielmehr, dass es in Deutschland die Arbeitgeber sind,die das offensichtlich nicht akzeptieren wollen.
Das müssen wir an dieser Stelle heute klar und deutlichsagen.Diese Vorschrift darf nicht mehr angewendet werden.Man könnte es dabei belassen; aber das würde für uns inDeutschland einige erhebliche rechtliche Problemeaufwerfen. Solange das Gesetz so ist, wie es ist, gilt ei-nerseits das Verwerfungsmonopol des Bundesverfas-sungsgerichts und andererseits die Entscheidung desEuropäischen Gerichtshofs, dieses Gesetz nicht mehr an-zuwenden. Das ist, finde ich, für die Richterinnen undRichter in Deutschland keine gute Situation. Deswegenhaben wir vorgeschlagen, diese Vorschrift, die klar dis-kriminierend und klar europarechtswidrig ist, aus demGesetzbuch zu streichen.
Die SPD hat praktisch den gleichen Vorschlag unter-breitet. Ich denke, dass die Koalition gut daran täte, sichin den folgenden Beiträgen dieser Debatte darüber, wieman diese Diskriminierung beseitigen kann, nicht hinund her zu winden und nicht nach Schlupflöchern zu su-chen, sondern sich klar dazu zu bekennen, dass es zu ei-ner europäischen Politik der Menschenrechte auch ge-hört, Diskriminierungen im Arbeitsleben zu bekämpfen.Ein kleiner Beitrag dazu ist der von uns vorgelegte Ge-setzentwurf.Danke.
Nächste Rednerin ist die Kollegin Gitta Connemann
für die CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wirschreiben das Jahr 1926. Die Welt wird von einer Kriseerschüttert.
Millionen Menschen verlieren ihren Arbeitsplatz. DerGesetzgeber handelt. Die Kündigungsfristen werden ge-staffelt. Für Jüngere unter 25 wird die Kündigungsfristauf vier Wochen eingefroren. So soll die Einstellungsbe-reitschaft der Arbeitgeber gefördert werden. Die Reichs-regierung, übrigens unter sozialdemokratischer Beteili-gung, befindet, jüngere Menschen finden leichter wiedereinen Arbeitsplatz, sie sind flexibler und können schnel-ler reagieren.
Diese Regelung findet sich noch heute in § 622 Bür-gerliches Gesetzbuch. Sie gilt unverändert seit 1926 bisheute. Nun hat jedoch der Europäische Gerichtshof imJanuar entschieden, dass diese Regelung jüngere Arbeit-nehmer diskriminiert. Das Gericht sagt, junge Arbeitneh-mer werden generell gegenüber älteren Arbeitnehmernbenachteiligt; denn das Gesetz behandelt Personen mitgleich langer Betriebszugehörigkeit unterschiedlich, jenachdem, in welchem Alter sie in den Betrieb eingetretensind. Es benachteiligt die jungen Menschen, insbeson-dere diejenigen, die ohne oder nach nur kurzer Berufs-ausbildung eine Arbeit aufnehmen, also zum BeispielVerkäuferinnen mit Hauptschulabschluss. Wer nach lan-ger Ausbildung später den Beruf aufnimmt, ist nicht ingleicher Weise betroffen.Meine Damen und Herren, Herr Kollege Montag, ichsage sehr deutlich im Namen meiner Fraktion: Wir leh-nen jede Art der Altersdiskriminierung ab.
Dies haben wir in der Koalitionsvereinbarung mit unse-rem Koalitionspartner ausdrücklich verankert.
Deshalb werden wir das Gesetz auch ändern.Wir werden es uns dabei aber nicht so leicht machenwie Sie, werte Kolleginnen und Kollegen von der SPDund den Grünen. Ihre Anträge sind offensichtlich mit derheißen Nadel gestrickt. Sie fordern: Weg mit der Vor-schrift, und zwar ersatzlos!
Ich befürchte gerade auch nach Ihrem Beitrag, HerrKollege Montag: Sie haben das Urteil weder gelesennoch wirklich verstanden.
Eines ist das Urteil nämlich sicherlich nicht: einfach.Das aber haben Sie in Ihrer Eingangsbemerkung, mit derSie diese Debatte eröffnet haben, gesagt. Der Europäi-sche Gerichtshof fordert eben keine ersatzlose Strei-chung,
sondern er unterscheidet zwischen verbotener Diskrimi-nierung auf der einen Seite und erlaubter Differenzierungauf der anderen Seite. Die unterschiedliche Behandlungvon Arbeitnehmergruppen ist laut Europäischem Gerichts-hof gerechtfertigt, wenn rechtmäßige Ziele der Beschäfti-gungspolitik, des Arbeitsmarktes oder der beruflichen Bil-dung verfolgt werden. Kurzum: Eine Differenzierung
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Gitta Connemannallein nach dem Lebensalter ist verboten, andere Diffe-renzierungen sind erlaubt,
insbesondere wenn damit die Einstellungsbereitschaftdurch mehr Flexibilität erhöht wird.
Dies ist nach Ansicht der Luxemburger Richter ein legi-times Ziel. Deshalb sollten wir von dieser Möglichkeitauch Gebrauch machen. Denn insoweit gilt nach wie vordie Begründung von 1926. Darin heißt es – ich zitiere –:Eine allzu starke Erhöhung des Kündigungsschut-zes hätte erhebliche Nachteile für die erwerbstäti-gen … Angestellten zur Folge. Diese würde ihreUnterbringung noch schwieriger gestalten, als esschon heute der Fall ist.Schon damals erkannte also der Gesetzgeber, dass fle-xible Regelungen beschäftigungsfördernd wirken. DieseErkenntnis ist heute so richtig wie damals. In seinerjüngsten Umfrage zum Arbeitsmarkt hat der DeutscheIndustrie- und Handelskammertag ermittelt, dass bei ei-nem flexibleren Kündigungsschutz jedes zweite Unter-nehmen neue Kräfte einstellen wolle. Deshalb sollte ge-rade vor dem Hintergrund der Situation auf demArbeitsmarkt keine ersatzlose Streichung der heutigenRegelung erfolgen, sondern eine Anpassung.
Wir wollen von der Möglichkeit Gebrauch machen, dieuns der EuGH eröffnet, also differenzieren, für mehrFlexibilität und damit für mehr Beschäftigung.
Dabei kann man nicht mehr auf das Lebensalter abstellen,ohne Frage. Ein mögliches Unterscheidungsmerkmal wä-ren aber aus meiner Sicht zum Beispiel die Vorbeschäfti-gungszeiten. Bei der Ermittlung der Beschäftigungsdauerkönnten die ersten Jahre eines Arbeitsverhältnisses außerBetracht bleiben. Das Bundesministerium für Arbeit undSoziales wird dies prüfen.In den Gesetzentwürfen von Rot und Grün findet sichdazu leider kein Wort, genauso wenig wie zu der eigent-lichen Brisanz des Urteils; denn die Luxemburger Rich-ter haben die deutschen Gerichte angewiesen, die bishe-rige Vorschrift ab sofort nicht mehr anzuwenden. DiesenSachverhalt beurteile ich persönlich, Herr KollegeMontag, vollkommen anders als Sie; denn bekanntlichdarf nur das Bundesverfassungsgericht ein nationalesGesetz zu Fall bringen. Mit seinem Urteil und seiner An-weisung an nationale Gerichte greift also der Europäi-sche Gerichtshof massiv in unsere innerstaatliche Kom-petenzordnung ein.
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Montag?
Immer sehr gerne.
Frau Kollegin Connemann, ich habe Ihren Ausfüh-
rungen wirklich mit großem Interesse und genau zuge-
hört. Wir haben den Sachverhalt, dass § 622 Abs. 2
Satz 2 BGB, also die Nichtanrechnung der Zeiten der
Zugehörigkeit zum Betrieb, wenn der Arbeitnehmer un-
ter 25 ist, nicht mehr angewandt werden darf. Sie selber
sagen, dass Sie diesen Teil weghaben wollen. Sie sagen
aber gleichzeitig, wir machten es uns zu leicht, indem
wir dabei blieben. Habe ich Sie so zu verstehen, dass Sie
das, was Sie nun gezwungenermaßen zugunsten der Ar-
beitnehmer machen, nämlich diese Diskriminierung zu
streichen, im Wege des Ausgleichs an anderer Stelle
durch eine Schwächung des Kündigungsschutzes errei-
chen wollen?
Ist das so zu verstehen, dass Sie das, was Sie nun mit der
linken Hand geben müssen, mit der rechten nehmen wol-
len?
Nein, genau so ist es nicht zu verstehen. Die entschei-dende Frage ist, wie man „zugunsten“ definiert. Wir sindvollkommen beieinander – das habe ich auch im Sinne mei-ner Fraktion und der Koalition sehr deutlich gemacht –,dass eine Diskriminierung wegen Alters in keiner Weisevon uns gestattet werden kann. Das heißt, wir sind unsüber die Abschaffung des Lebensalters als Kriterium füreine Differenzierung vollkommen einig. Aber womit istletztlich dem Arbeitnehmer gedient?
Ihm ist letztlich mit einem Arbeitsplatz gedient. Esbleibt bei der Begründung des Gesetzgebers, der damals– ich betone: unter sozialdemokratischer Beteiligung –festgestellt hat: Ein zu rigider Kündigungsschutz wirktimmer beschäftigungsfeindlich.
Das heißt, wir sollten alle Möglichkeiten nutzen, Einstel-lungen zu fördern. Dazu gehört aus unserer Sicht, zuprüfen, ob wir nicht ein anderes Kriterium einführenkönnen, nämlich das Kriterium der Vorbeschäftigungs-zeit, mit dem Ziel der Beschäftigungsförderung. – Ichwar mit der Beantwortung Ihrer Zwischenfrage nochnicht ganz fertig. Es wäre daher nett gewesen, wenn Siestehen geblieben wären.
Ich komme auf die eigentliche Brisanz des Urteils zu-rück. Ich hatte auf den Eingriff hingewiesen, den der
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Gitta ConnemannEuGH in unser Recht vornimmt. Dazu haben Sie keineinziges Wort gesagt.
– Sie haben dargestellt, es sei eine unzulässige Bewer-tung durch die Arbeitgeberseite. Das zeigt deutlich, dassSie sich offensichtlich mit dem Urteil nicht auseinander-gesetzt haben.Die Folgen sind weitreichend: Zukünftig wird inRechtsstreitigkeiten zwischen zwei Personen nicht mehrallein das deutsche Recht und auch nicht mehr das euro-päische Recht maßgeblich sein, sondern eine möglichekünftige Rechtsprechung des Europäischen Gerichts-hofs. Das heißt, niemand kann sich mehr darauf verlas-sen, was in Deutschland gilt. Rechtssicherheit ade, wieübrigens in diesem Fall: Zwei Parteien schließen einenArbeitsvertrag auf der Grundlage nationalen Rechts.Zehn Jahre später befindet der EuGH und – das ist dasNeue an dieser Entscheidung – weist nationale Gerichtean, diese Vorschrift nicht mehr anzuwenden. Damitschwingt sich der Europäische Gerichtshof zu einem Er-satzgesetzgeber auf; denn er ändert unmittelbar deut-sches Recht und tut damit etwas, was normalerweise nurdem Gesetzgeber und dem Bundesverfassungsgerichtzusteht.Dies können wir – damit, liebe Kolleginnen und Kol-legen, appelliere ich an Sie alle – nicht hinnehmen. DerKern dieses Urteils ist nicht, was wir als Gesetzgeberjetzt in der Sache entscheiden. Der Kern ist, welche Be-deutung nationales Recht auf europäischer Ebene insbe-sondere im Verhältnis zum Europäischen Gerichtshofnoch hat. Ich empfehle: Lassen Sie uns darüber diskutie-ren!
Nächster Redner ist der Kollege Ottmar Schreiner für
die SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Der Sachverhalt ist vom Kollegen Montag beschriebenworden, sodass ich ihn hier nicht zu wiederholen brau-che. Es macht in der Tat einen Unterschied, ob einejunge Frau nach zehnjähriger Betriebszugehörigkeit übereine Kündigungsschutzfrist von vier Monaten oder vonnur vier Wochen verfügt. Das ist auch ein qualitativerUnterschied.Die Frage ist hier jetzt nicht, ob wir Urteilsschelte be-treiben, Frau Kollegin Connemann, sondern die Fragelautet: Ist die Regelung, wie sie in § 622 des Bürgerli-chen Gesetzbuchs seit 1926 formuliert ist, diskriminie-rend oder nicht? Der Europäische Gerichtshof kommt zudem Ergebnis, dass diese Vorschrift gegen geltendes eu-ropäisches Recht verstößt. Die Frage, die wir hier imParlament zu diskutieren hätten, wäre eher die, warumder deutsche Gesetzgeber es bis zur Stunde unterlassenhat, europäisches Recht, das auch für die nationale Ge-setzgebung zwingend ist, in nationales Recht umzuset-zen.
– Herr Kollege Kolb, Sie sind wirklich ein Dauerzwi-schenrufer. Stehen Sie auf und stellen Sie eine Zwi-schenfrage!
– Nein, dann bleiben Sie sitzen und halten den Mund.Aber dieses ständige Dazwischengeplapper bringt es nunauch nicht.
Es ist ja nicht der einzige Fall, in dem der Bundesge-setzgeber der europäischen Rahmengesetzgebung weithinterherhinkt. Ich sage Ihnen, Frau Kollegin Connemann:Ich empfinde es allmählich als höchstpeinlich und blama-bel, wenn immer erst der Europäische Gerichtshof be-müht werden muss, damit Deutschland seiner Verpflich-tung nachkommt, EU-Antidiskriminierungsregelungenordnungsgemäß in nationales Recht umzusetzen.
Es ist ein peinlicher, blamabler Vorgang, erst den Euro-päischen Gerichtshof bemühen zu müssen, um notwen-dige Umsetzungsmaßnahmen in Gang zu bringen.
Der Kern der Auseinandersetzung ist ein anderer. Siehaben die berühmte Katze aus dem Sack gelassen, indemSie gesagt haben, die unterschiedliche Behandlung ver-schiedener Altersgruppen sei sehr wohl gerechtfertigt,wenn die Einstellungsbereitschaft durch mehr Flexibili-tät erhöht wird. Das ist ein wörtliches Zitat von Ihnen.Dies ist der Kern dessen, worum es der Koalition geht:mehr Beschäftigung durch noch mehr Flexibilität.Nun sage ich Ihnen: Es gibt in Europa kaum ein ande-res Land, in dem das Arbeitsrecht in einem solchenMaße wie hier in Deutschland flexibilisiert worden ist.
– Ich kann Ihnen dazu noch ein paar Zahlen vortragen. –Meine feste Überzeugung ist, dass das deutsche Arbeits-recht nicht unterflexibilisiert, sondern weit überflexibili-siert ist.
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2166 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 24. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Februar 2010
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Ottmar SchreinerIch nenne Ihnen einmal einige Zahlen: Von den unter30-Jährigen – es wäre vielleicht ganz angebracht, dassSie gelegentlich einmal mit jungen Leuten reden – ver-fügt inzwischen deutlich über die Hälfte über keinen re-gulären, auf Dauer angelegten Arbeitsplatz. Sie werdenin wachsendem Maße in unsichere, in mehr oder wenigerungeschützte Arbeitsverhältnisse abgedrängt. Gleichzeitigverlangen wir, die Politiker, von jungen Leuten, dass siesich für Kinder entscheiden, dass sie eine vernünftigeLebensplanung haben und dass sie größere Investitionentätigen. Für jemanden, der über einen befristeten Vertragüber ein oder zwei Jahre verfügt – vielleicht ist er danacharbeitslos –, ist eine angemessene, langfristige Lebens-planung nicht möglich. Ich sage Ihnen: Auch die jungenMenschen haben genau den gleichen Anspruch wie an-dere Altersgruppen, auch sie wollen ihr Leben vernünf-tig planen können. Das ist der Kern der Debatte.
Ich habe sehr starke Zweifel an der inneren Logik, diedem § 622 BGB innewohnt. Das mag für das Jahr 1926richtig gewesen sein, aber wir haben inzwischen auf ei-ner Reihe von Rechtsfeldern andere Regelungen als imJahr 1926.
Wo wären wir eigentlich, wenn wir auf dem Stand desJahres 1926 stehen geblieben wären? Das ist doch einevöllig alberne Debatte.Ich habe große Zweifel, ob das Kernargument, näm-lich ein verkürzter Kündigungsschutz für jüngere Men-schen, wirklich zu mehr Beschäftigung führt. Im Übri-gen: Sozial ist nicht, was Arbeit schafft, sondern sozialist, was gute Arbeit schafft,
von der auch junge Leute angemessen leben und ihreKinder ernähren können.
Ich will Ihnen ein paar Daten zur Situation nennen,die sie noch verschärfen werden. Es geht nicht nur umdas eben genannte Beispiel, wo der Personenkreis eini-germaßen überschaubar ist. Sie haben in Ihren Koaliti-onsvereinbarungen eine ganze Reihe von weiteren Än-derungen, die in Richtung Flexibilisierung drängen,vorgesehen. Das gilt für die Ausweitung zeitlicher Be-fristung, für die Ausweitung von Minijobs – inzwischensind es über 7 Millionen, jedes fünfte Beschäftigungs-verhältnis in Deutschland ist ein sozial ungeschützterMinijob –, es gilt auch für die Ausweitung von Hinzu-verdiensten, die im Ergebnis auf nichts anderes hinaus-laufen als auf eine staatliche Subvention von Lohndum-ping. Das ist die Arbeitsmarktstrategie der Koalition.
Ich sage Ihnen: Der Arbeitsmarkt in Deutschland isteindeutig überflexibilisiert. Mehr als die Hälfte der jun-gen Menschen verfügt nicht mehr über ein auf Dauer an-gelegtes Arbeitsverhältnis. Weit über ein Drittel der Ar-beitnehmer werden in prekären Arbeitsverhältnissenbeschäftigt: Leiharbeit, zeitlich befristete Arbeit, Mini-jobs, Praktika usw.
Zudem weiß man, dass die Ausweitung der prekären Be-schäftigung unmittelbar mit der Ausweitung des Niedrig-lohnsektors korrespondiert.
Ich habe mir gestern Abend von einer Fachfrau erklä-ren lassen, dass inzwischen 25 Prozent der westdeut-schen Beschäftigten in einem Beschäftigungsverhältnissind, in dem sie weniger als 8,50 Euro brutto die Stundeverdienen.
Inzwischen befinden sich über 40 Prozent der ostdeut-schen Beschäftigten in einem Beschäftigungsverhältnis,
in dem sie weniger als 8,50 Euro die Stunde verdienen.
Das heißt, die Ausweitung atypischer, prekärer Beschäf-tigungsverhältnisse korrespondiert unmittelbar mit einerAusweitung des Niedriglohnsektors. Dieser Weg führtvöllig in die Irre. Wir brauchen Stoppsignale. Wir brau-chen das Zurückdrängen von prekärer und ungeschützterBeschäftigung. Was junge Leute brauchen, sind aufDauer angelegte, stabile Beschäftigungsverhältnisse.
Herr Kollege, Kollegin Connemann möchte gerne
eine Zwischenfrage stellen.
Von mir aus kann sie auch zwei stellen.
Herr Kollege Schreiner, mir reicht die eine Zwischen-frage. – Sie haben sich in Ihrer Rede zu vielem geäußert,aber leider nicht zum Gegenstand Ihres eigenen Gesetz-entwurfs,
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 24. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Februar 2010 2167
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Gitta Connemannnämlich zu der Entscheidung des Europäischen Ge-richtshofs. Sie haben sich nicht damit auseinanderge-setzt, ob und inwiefern eine Differenzierung möglich ist.
Ich möchte auf einen Satz von Ihnen eingehen. Siehaben uns aufgefordert, ein Stoppschild im Bereich derprekären Beschäftigung zu setzen. Ich möchte Sie an dieentsprechende Debatte der letzten Plenarwoche erinnern.Es ging beim Thema Zeitarbeit um den Schlecker-Ef-fekt, den sogenannten Drehtüreffekt, der in großemMaße bei Zeitungsverlagen ausgenutzt wird, die in Ver-bindung mit sozialdemokratischer Medienbeteiligungstehen. Gestern habe ich ein Schreiben vom DeutschenJournalisten-Verband bekommen, in dem genau dieserSachverhalt bestätigt wird.Da Sie den Gesetzgeber auffordern, ein Stoppsignalfür etwas zu setzen, was ich gelinde gesagt anders beur-teile, frage ich Sie, Herr Kollege Schreiner, als Mitgliedder SPD: Wann setzen Sie einen Stopp bei den tatsäch-lich skandalösen Vorgängen innerhalb Ihrer eigenen Me-dienbeteiligungen?
Die Frage habe ich Ihnen, glaube ich, vor 14 Tagen
schon einmal beantwortet.
Wer auch immer in dieser Weise Zeitarbeit einsetzt, ist
zu verurteilen. Dagegen ist vorzugehen. Ich habe übri-
gens das Schreiben, das Sie bekommen haben, ebenfalls
erhalten. Wenn ich das richtig im Kopf habe, wurden da-
rin mehr als 35 Adressaten genannt. Darunter mögen ei-
nige gewesen sein, die in die Richtung gehen, die Sie be-
nennen.
Darunter sind aber auch sehr viele andere. Nochmals ge-
sagt: Das macht die Sache um keinen Deut besser.
Deshalb brauchen wir dringend Regelungen.
Das, was bei Schlecker passiert ist, ist eine unglaubli-
che Ferkelei. Es ist bezeichnend, dass die Bundesregie-
rung und die sie tragende Koalition bis zur Stunde ihren
Prüfvorgang bei Schlecker anscheinend nicht abge-
schlossen haben. Wie lange wollen Sie eigentlich noch
prüfen? Bis die Leute in die Altersversorgung gehen?
Ich sage Ihnen: Da wird überhaupt nicht unterschie-
den. Es ist egal, ob die Träger sozialdemokratisch sind,
ob das Kirchen sind, ob das Wohlfahrtsverbände sind
oder ob das möglicherweise der Deutsche Bundestag ist;
auch hier geht es hin und wieder nicht ganz diskriminie-
rungsfrei zu. All das spielt überhaupt keine Rolle. Es
kommt entscheidend darauf an, dass dieser Missbrauch
massiv zurückgedrängt wird und der Gesetzgeber end-
lich tätig wird.
Was die Regelung anbelangt, von der Sie in Ihrer
Frage sprechen, sage ich Ihnen:
Wir haben eine ganz klare Antwort gegeben. Streichen
Sie die entsprechende Passage in § 622 BGB, und das
Thema ist geklärt. Das wäre ein kleines symbolisches Si-
gnal, dass wir es mit regulären, vernünftigen, geschütz-
ten und sicheren Beschäftigungsverhältnissen ernst mei-
nen. Diesem kleinen symbolischen Signal müssen dann
weitere dringend folgen.
Das ist vom Kollegen Montag für die Grünen erklärt
worden. Von mir ist das auch erklärt worden.
Ich sage: Das, was Sie hier treiben, passt in eine gene-
relle Strategie, die zu einer weiteren Förderung von un-
geschützten und prekären Beschäftigungsverhältnissen
führt. Das kann im Ernst nicht die Antwort auf die Be-
schäftigungslage in Deutschland sein.
Herr Kollege Schreiner, gestatten Sie eine Zwischen-
frage des Kollegen Peter Weiß?
Von mir aus. – Kommen Sie jetzt wieder mit dem
Thema Zeitung?
Herr Kollege Schreiner, nachdem Sie soeben ange-mahnt haben, dass das Bundesministerium für Arbeitund Soziales nicht schnell genug einen Prüfbericht zuden Vorgängen bei Schlecker zur Zeitarbeit vorgelegthat, frage ich Sie: Würden Sie freundlicherweise zurKenntnis nehmen, dass die Bundesministerin für Arbeitund Soziales, Frau Dr. Ursula von der Leyen, mit demVorsitzenden des Deutschen Gewerkschaftsbundes,Michael Sommer, eine Arbeitsgruppe dazu eingesetzthat? Wäre es nicht angebracht, wenn der Vorsitzende derArbeitsgemeinschaft für Arbeitnehmerfragen der SPD,also Sie, Herr Kollege Schreiner, dieser Arbeitsgruppezumindest die Chance geben würde, einen Bericht zuverfassen? Finden Sie es nicht auch bemerkenswert underfreulich, dass die Frau Bundesministerin mit demDGB-Bundesvorsitzenden zu genau dieser Frage einegemeinsame Arbeitsgruppe eingesetzt hat?
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2168 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 24. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Februar 2010
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Herr Kollege, ich habe überhaupt kein Problem da-
mit, sofort einzuräumen, dass ich das für eine vernünf-
tige Vorgehensweise halte.
Nicht alles, was die Koalition macht, ist Anlass für
Schimpf und Schande.
Das wäre ja noch schöner. Das, was Sie hin und wieder
betreiben, reicht schon aus, um Ihr Soll zu erfüllen.
Aber das, was Sie eben vorgetragen haben, ist ein außer-
ordentlich begrüßenswerter Vorgang.
Ich hoffe sehr, dass er generalisiert werden kann, mög-
lichst unter Beteiligung von Herrn Kolb.
– Ohne euch geht allerlei. Wollen wir es einmal dabei
belassen.
Ich will noch eine letzte Bemerkung zu Frau
Connemann machen. Das Argument ist immer: Wir
brauchen diese flexiblen Arbeitsverhältnisse, weil es an-
sonsten nicht mehr Beschäftigung gibt. Es wird gesagt,
das seien Zusatzarbeitsplätze. Sie haben nicht eine ein-
zige Untersuchung,
die belegt, dass die weitere Flexibilisierung der Arbeits-
verhältnisse, sei es durch Abbau des Kündigungsschut-
zes – bei dem Thema sind wir gerade –, sei es durch
Ausweitung von Leiharbeit, sei es durch Ausweitung
von zeitlichen Befristungen, zu mehr Beschäftigung
führt.
Das Generalkennzeichen des deutschen Arbeitsmark-
tes in den letzten Jahren ist: Wir haben zwar eine Zu-
nahme an Beschäftigung, aber fast ausschließlich im Be-
reich der ungeschützten Beschäftigungsverhältnisse,
und wir haben eine deutliche Abnahme regulärer, auf
Dauer angelegter Beschäftigungsverhältnisse. Das ist
genau die falsche Entwicklung. Dieser Trend muss ge-
stoppt und, wenn es geht, in Teilen wieder umgekehrt
werden.
Schönen Dank.
Nächster Redner ist der Kollege Dr. Heinrich Kolb
für die FDP-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Herr Kollege Schreiner, Sie haben jetzt viel geredet, aberwenig zum eigentlichen Gesetzentwurf gesagt. Eskommt mir so vor, als hätten Sie heute die Rede gehal-ten, die Sie seit Jahren immer wieder halten. Nach demRegierungswechsel 1998, in der Spätphase Ihrer Regie-rungsbeteiligung und jetzt in der Opposition halten Sieimmer die gleiche Rede. Das finde ich bemerkenswert;das muss ich sagen. Sie tun dabei so – ich weiß, dass Siepersönlich gar nicht für die Agenda 2010 gestimmt ha-ben –, als ob in all diesen Jahren nichts passiert wäre. Esist schon doll und dreist, wenn Sie sagen, die Regierungsei im Verzug und habe nichts umgesetzt, und wenn Siefragen, warum sie nicht gehandelt hat. Ich kann nur sa-gen: Die chtistlich-liberale Regierung ist seit gerade ein-mal drei Monaten im Amt.
Natürlich stellt sich die Frage, was in all den Jahren vor-her passiert ist. Ich weiß auch nicht, warum Ihre FraktionSie heute Abend als Redner benannt hat. Ich bin auf je-den Fall der Meinung, dass Sie nicht wirklich etwas zumThema gesagt haben.
– Genau deswegen komme ich jetzt zu Ihnen, Herr Kol-lege Montag.
Ich will Ihnen sagen: Wir, die Regierung und die Ko-alitionsfraktionen, haben das Urteil natürlich gelesen.Auch wir haben unsere Schlüsse daraus gezogen. Dererste Schluss ist, dass wir keine überstürzten Einzelent-scheidungen treffen wollen, sondern dass wir das ge-samte Arbeitsrecht auf Kollisionen mit dem EU-Rechtüberprüfen wollen und müssen. Denn sonst sagt in einpaar Monaten oder Jahren Herr Schreiner wieder: Dashättet ihr doch wissen müssen, ihr hättet doch erkennenmüssen, dass dieses oder jenes miteinander kollidiert.Der Fall an sich ist schon beschrieben worden. DerEuGH hat entschieden, dass es gegen das EU-Recht ver-stößt, dass bei den Kündigungsfristen in DeutschlandBeschäftigungszeiten erst ab dem 25. Lebensjahr be-rücksichtigt werden; das kann man so kurz beschreiben.In dem jetzt vorliegenden Gesetzentwurf, Herr KollegeMontag, fordern Sie die gänzliche Streichung des § 622Abs. 1 Satz 1 BGB.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 24. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Februar 2010 2169
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Dr. Heinrich L. Kolb– Richtig, Abs. 2 Satz 2.Natürlich kann man so etwas durchaus erwägen, HerrKollege Montag, aber es ist nicht alternativlos. Es gibtAlternativen, die wir zurzeit intensiv prüfen und ausmeiner Sicht auch prüfen müssen. Denn die Auswirkun-gen auf das Arbeitsrecht im Falle einer Streichung des§ 622 Abs. 2 Satz 2 – an der Stelle habe ich es mir rich-tig aufgeschrieben –
wären ja nicht unbeträchtlich. In etlichen Tarifverträgenwurden die Kündigungsfristen für Arbeitsverträge ana-log zum BGB festgelegt. Das gilt etwa für die Bauwirt-schaft mit ihren bundesweit rund 700 000 Beschäftigten,von denen viele schon in jungen Jahren ein Stammar-beitsverhältnis begonnen haben.Man wird sich unter Umständen auch mit der Frageauseinandersetzen müssen, ob zur Betriebszugehörigkeitauch Ausbildungszeiten gehören, die, wenn das gericht-lich so gesehen wird, zu weiteren Verlängerungen derKündigungsfristen führen würden. Wir müssen auch an-dere Stellen im geltenden Recht überprüfen, die mögli-cherweise eine Altersdiskriminierung zur Folge haben.Das betrifft einmal die Sozialauswahl insgesamt,
die eine Benachteiligung Jüngerer im Fall betriebsbe-dingter Kündigungen vorsieht. Selbst das Betriebsren-tengesetz, Frau Kramme, das in § 1 b bei der Unverfall-barkeit Zeiten vor dem 25. Lebensjahr ausblendet, würdetangiert.Herr Montag, ich will damit nur sagen: All das gilt eszu bedenken. Wir beobachten, dass nach nationalemRecht zulässige Sachverhalte zunehmend mit Vorgabendes europäischen Rechts kollidieren. Das ist auch bei derAltersdifferenzierung im deutschen Arbeitsrecht derFall. Das ist der Handlungsauftrag, den ich hier sehe undbeschreibe.Die Entscheidung des EuGH wollen wir ungeachtetder formaljuristischen Bewertung – Frau Connemann hatetwas bezüglich der Verwerfungskompetenz gesagt –zum Anlass nehmen, jetzt eine Bestandsaufnahme vor-zunehmen. Wir sind uns übrigens mit den Kolleginnenund Kollegen in der Koalition einig, dass wir europa-rechtskonforme Nachbesserungen im Arbeitsrecht prü-fen wollen. Das Ergebnis kann nicht sein – da stimmeich der Kollegin Connemann ausdrücklich zu –, dasssich Kündigungsfristen generell verlängern. Deswegenmuss man das, was Sie, Frau Connemann, vorgeschla-gen haben, diskutieren, nämlich dass man bei der Be-rechnung der Kündigungsfristen anfängliche Beschäfti-gungszeiten möglicherweise berücksichtigungsfrei lässt.Der Arbeitgeberverband hat sich für die Wahlmög-lichkeit ausgesprochen, bei Beendigung eines jeden Be-schäftigungsverhältnisses die gesetzliche Kündigungs-frist durch Abfindungsvereinbarungen zu ersetzen. Auchdas kann man in diesem Zusammenhang sicherlich dis-kutieren.Bis zu der Gesetzesnovellierung, die aktuell imBMAS vorbereitet wird – das haben Sie mittlerweile ge-hört und gelernt, Herr Schreiner –, gilt natürlich das Ur-teil, das die Arbeitgeber schon jetzt zu beachten haben.Das heißt, die Arbeitgeber dürfen § 622 Abs. 2 Satz 2 abkommendem Montag nicht mehr anwenden. Bei der Be-rechnung der Kündigungsfristen muss dann die gesamteBetriebszugehörigkeit des Arbeitnehmers berücksichtigtwerden. Wir werden diese Aufforderung beachten. Daswollte ich Ihnen heute Abend mitteilen.
– So viel Zeit wie nötig. In dem Fall geht Sorgfalt vorSchnelligkeit, Herr Kollege Montag. Das sollte uns ei-gentlich allen gemein sein.
Herr Kollege Montag, Herr Kollege Schreiner und FrauKollegin Kramme, wir sind für weitere konstruktiveVorschläge selbstverständlich offen.Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit und wün-sche noch einen schönen Abend.
Nun hat die Kollegin Jutta Krellmann für die Fraktion
Die Linke das Wort.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!Liebe Kolleginnen und Kollegen! Bemerkenswert andem hier diskutierten Sachverhalt ist, wie Verbesserun-gen für Beschäftigte heutzutage zustandekommen. Nachdem, was ich eben von Frau Connemann und von HerrnKolb gehört habe, muss ich sagen, dass es genau in dieentgegengesetzte Richtung geht. Ich vermute und be-fürchte, dass sich dahinter im Vergleich zum jetzigenZustand eher echte Verschlechterungen verbergen.Es ist auffällig, dass nach der gerichtlich bezeugten Ver-fassungswidrigkeit wesentlicher Regelungen von Hartz IVnun ein weiterer Fall auf dem Tisch liegt, bei dem ein Ge-richt den Gesetzgeber auf eine Gerechtigkeitslücke hin-weisen muss. Was sagt uns dies über die vorangehendeBundesregierung? Fehlt da nicht die gesellschaftlicheBodenhaftung, wenn Sie stets höchstrichterliche Start-hilfe benötigen, um sich überhaupt mit gesetzlich hervor-gerufener Diskriminierung und Demütigung zu befassen?Oder ist es schlichtweg Ignoranz? Um es klar zu sagen:Die Linke unterstützt die hier eingebrachten Gesetzent-würfe des Bündnisses 90/Die Grünen und der SPD. Aberum einen Satz zu streichen, braucht die Linke keinen ei-genen Antrag.
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Jutta Krellmann
Fakt ist: Die Krise in der Realwirtschaft hat junge Be-schäftigte besonders getroffen. Nach der Ausbildung be-durfte es keiner Kündigung. Man hat sie einfach nichtübernommen. Damit waren Auszubildende neben Leih-arbeitnehmerinnen und Leiharbeitnehmern sowie unbe-fristet Beschäftigten die ersten, die in der Krise gehenmussten. Die Diskriminierung bei den Kündigungsfris-ten ist also nur die Spitze der prekären Situation vielerjunger Beschäftigter. Deshalb kann die Streichung von§ 622 Abs. 2 Satz 2 BGB auch nur der Anfang dringendgebotener Reformen in dem Bereich sein.
Der nächste Schritt muss die Übernahme aller Auszu-bildenden sein, wie es bisher nur in wenigen Tarifverträ-gen geregelt ist. Jugendliche brauchen ein Recht aufAusbildung und ein Recht auf Übernahme.
Nie war der Einstieg in die Arbeitswelt mit so hohen Ri-siken versehen und so prekär gestaltet wie heute. Ich er-innere daran, dass junge Menschen unter den befristet Be-schäftigten weit überdurchschnittlich vertreten sind.30 Prozent der unter 25-Jährigen haben einen befristetenArbeitsvertrag. Die vorgeschlagene Änderung des Kün-digungsschutzes entfaltet ihre Wirksamkeit erst ab einerBetriebszugehörigkeit von sechs Monaten. Die Möglich-keit, kalendermäßige Befristungen ohne sachlichen Grundzu vereinbaren, lässt den Kündigungsschutz während derDauer der Befristung faktisch leerlaufen.Die Zukunftschancen junger Menschen in diesemLand müssen verbessert werden.
Denn was ist die Folge der prekären Situation, in der dieRegierung die Jugendlichen derzeit schutzlos zurück-lässt? Was ist die Folge, wenn viele von ihnen nur einegeringfügige Beschäftigung finden, wenn der Berufsein-stieg von Hochschulabgängern nicht selten nur über einelange Kette von Praktika funktioniert und eine unbefris-tete Übernahme nach der Ausbildung eher die Ausnahmeals die Regel ist? Die Folge ist doch, dass eine wirklicheLebensplanung oder auch eine Familienplanung fürjunge Menschen immer schwieriger oder gar unmöglichwird.Um dem entgegenzuwirken, brauchen wir mehr Si-cherheit, gute Arbeit und gute Löhne.
Hierfür gab es in den vergangenen Jahren leider keineMehrheit im Bundestag. Die Linke wird alle gesetzli-chen Initiativen, die in diese Richtung gehen, prüfen undunterstützen.
Als letzter Redner in dieser Debatte hat der Kollege
Ulrich Lange für die CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle-gen! Es ist kurz vor halb zehn, und ich freue mich übereine sehr muntere Debatte. Als ich das Thema, über daswir gerade diskutieren, gehört habe, habe ich zunächstgedacht: Um Gottes willen, worüber reden wir dennheute Abend?
– Ja, so kann man sich täuschen.
Die Frage, mit der wir uns gerade auseinandersetzen, istnämlich sehr spannend. So einfach, wie das Ganze aufden ersten Blick zu sein scheint, ist es natürlich nicht.Deswegen sage ich: Nicht schnelle Anträge sind zwin-gend die richtigen. Gut überlegte Anträge sind die richti-gen.
Die Grünen waren schnell, die SPD wie immer nachhin-kend und nicht denkend. In diesem Zusammenhang istdas nichts Neues.Ich will jetzt nicht auf den Sachverhalt der Entschei-dung eingehen; der ist klar. Genauso klar ist die Ent-scheidung des EuGH. Wir erkennen an, dass § 622Abs. 2 Satz 2 BGB vom EuGH als altersdiskriminierendeingestuft worden ist;
darüber brauchen wir überhaupt nicht zu diskutieren.Die Konsequenz ist auch klar: Dieser Richterspruch gilt.Wir brauchen keinerlei Gesetzesnovellierung – zunächst.Auch so weit sind wir uns, wie ich glaube, juristisch ei-nig.In einem Punkt kann ich Ihnen, Herr Montag, nichtrecht geben: nämlich wenn Sie sagen, wegen der Arbeit-geber soll es keine Streichung geben. Aus eigener Bera-tungspraxis weiß ich, dass wir bereits seit dem Inkraft-treten des AGG darüber beraten haben und zu demErgebnis gekommen sind, § 622 Abs. 2 Satz 2 nichtmehr anzuwenden. Die tatsächliche Zahl der noch in dergerichtlichen Schleife befindlichen Fälle dürfte sich des-halb in meinen Augen sehr in Grenzen halten.Einen anderen Punkt – Kollegin Connemann hat ihnschon ausführlich dargestellt – will ich nur ganz kurzstreifen. Natürlich ist es sehr kritisch zu beurteilen, wiesich der EuGH hier verhält, seine notwendige Zurück-
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Ulrich Langehaltung aufgibt und sich in die Umsetzung deutscherRechtsakte einschaltet.
Ich persönlich halte das für sehr bedenklich. Ich glaube,dass das Bundesverfassungsgericht und wir als nationa-ler Gesetzgeber aufgefordert sind, deutlich zu machen– das ist natürlich ein Signal in Richtung EuGH –, dasswir uns sehr genau überlegen und intensiv darüber dis-kutieren müssen, wie wir in Zukunft mit Entscheidungendes EuGH umgehen wollen und werden.
Genauso intensiv werden wir uns mit den konkretenAussagen des Urteils auseinandersetzen – das werdenwir allerdings anders tun als Herr Schreiner –; denn derEuGH hat die Beschäftigungsdauer ausdrücklich alssachlichen Differenzierungsgrund beibehalten.Herr Schreiner, „peinlich“ haben Sie genannt, dasskeine Streichung erfolgt ist, sondern dass erst der EuGHentscheiden musste. Herr Schreiner, peinlich war dieseBemerkung. Ich will Ihnen einmal ganz kurz den chro-nologischen Ablauf im Zusammenhang mit dieser EU-Richtlinie vortragen. Die Richtlinie datiert vom 27. No-vember 2000. Wer war da in der Regierung?
Das war die erste 100-Euro-Frage. Die zweite Frage: Biswann hätte die Richtlinie das erste Mal umgesetzt wer-den müssen? Bis zum 2. Dezember 2003.
Die nächste 100-Euro-Frage: Wer war da in der Regie-rung?
Herr Schreiner und Herr Montag.
– Wenn Sie etwas wissen wollen, dann fragen Sie; aberblöken Sie nicht dazwischen! Das habe ich heute Mittagschon einmal gehabt. – Wenn Sie etwas hätten ändernwollen, hätten Sie das bei Ihrem eigenen Gesetzentwurf,als Sie in der Regierungsverantwortung waren, tun kön-nen.
Denken wir einmal zu Ende, was dieses Urteil bedeu-tet: Keine Diskriminierung Jüngerer, das würde dasEnde der tariflichen Unkündbarkeit bedeuten; denn wa-rum sollte es die tarifliche Unkündbarkeit aufgrund desLebensalters geben? Das wäre das Ende von vielen Ta-rifverträgen, von Sozialplänen, von Betriebsvereinba-rungen. Das gesamte deutsche Kündigungsrecht stündeauf dem Prüfstand, einschließlich einer Sozialauswahlnach dem Alterskriterium.
Meine Damen und Herren, wenn wir diesem Urteildes EuGH folgen, geben wir unser nationales Arbeits-recht auf. Das wäre ein aufgezwungener Systemwechsel.Wir müssen uns fragen, ob wir das wollen.
Man muss sich also die gesamte Bandbreite des Arbeits-rechts und des Tarifrechts genau anschauen.Wir wollen als nationaler Gesetzgeber grundsätzlichdie Möglichkeit haben, im Rahmen der Rechtsprechungdes EuGH altersdifferenziert nationale Gesetze zu erlas-sen. Ich appelliere an Sie: Nehmen Sie diesen voreiligenGesetzentwurf zurück! Das ist das falsche Signal Rich-tung EuGH. Was Sie wollen, führt zu Rechtsunsicher-heit. Helfen Sie mit: Setzen Sie sich mit uns an einenTisch für ein Gesetz, welches allen Altersgruppen, derBeschäftigungsdauer und dem deutschen Arbeitsrechtgerecht wird!In diesem Sinne einen schönen Abend und herzlichenDank.
Bevor wir alle Feierabend haben, gebe ich zu einer
Kurzintervention dem Kollegen Jerzy Montag das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin, Sie sind zu gütig; herz-lichen Dank!Herr Kollege Lange, Sie haben in Ihrem Redebeitragmich persönlich und meine Fraktion mehrfach in einerhalb lustigen, halb süffisanten Form angesprochen. Ichgebe zu: § 622 Abs. 2 Satz 2 BGB hätte schon zu einemfrüheren Zeitpunkt ersatzlos gestrichen werden könnenund sollen.
Damit ist aber auch das Ende des Lustigen erreicht.Zur Wahrheit der Auseinandersetzung in diesem Hauseum den Kampf gegen Diskriminierung gehört – viel-leicht haben Sie das nicht mitbekommen –, dass dieUnion, insbesondere die CSU, gegen jegliche Umset-zung der europäischen AntidiskriminierungsrichtlinienWiderstand geleistet hat. Sie haben dagegen von A bis Zpolemisiert. Sie haben dagegen getan, was Sie nur konn-ten, und auch falsche Behauptungen aufgestellt, um dasErreichte zu konterkarieren.
Sie haben uns erzählt, dass das Antidiskriminierungs-gesetz zu Hunderttausenden von Arbeitsgerichtsverfah-ren führen würde. Sie haben behauptet, dass der Grund-satz der Vertragsfreiheit zur Disposition stehen würde.Sie haben nie begriffen, dass Vertragsfreiheit überhaupterst da beginnt, wo Diskriminierung endet. Sie brauchen
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2172 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 24. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Februar 2010
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Jerzy Montaguns also nicht zu erzählen, wie mühselig es ist, sich indiesem Hause gegen Diskriminierungen zu wehren. Dasind wir von Ihnen in der Vergangenheit gut beratenworden.
Zur Erwiderung Herr Kollege Lange.
Für alles gibt es ein erstes Mal. Natürlich war ich da-
mals nicht dabei, Herr Kollege Montag.
Ich habe mich aber als Anwalt viele Jahre mit dem Ar-
beitsrecht beschäftigt und die praktische Auswirkung
dieses AGG erlebt. Das AGG war für uns Arbeitsrecht-
ler geradezu ein Konjunkturprogramm – nicht dass ich
mich jetzt beschweren würde; das wäre auch nicht in
Ordnung.
– Wir teilen uns das. – Wir haben im Koalitionsvertrag
deswegen ausdrücklich festgeschrieben: In Zukunft er-
folgen die Umsetzungen eins zu eins. Das ist das Ent-
scheidende.
Ich nenne Ihnen einige Beispiele aus meiner Praxis:
Sie haben vielleicht die Problematik der AGG-Hopper
mitbekommen, die sehr massiv war. Sie haben natürlich
mitbekommen, dass Kleinbetriebe plötzlich Probleme
dabei bekamen, ihre Anzeigen in der Zeitung selbst zu
gestalten. Sie mussten bei den Anwälten anrufen, um zu
fragen: Wie darf ich denn überhaupt noch eine Anzeige
schalten, damit ich mich präsentieren und ein neuer Ar-
beitnehmer zu mir kommen kann? – So einfach ist es mit
dem AGG also nicht.
Trotzdem bleibe ich dabei: Wenn wir die Diskriminie-
rung jüngerer Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zu
Ende denken, dann stellen wir fest, dass uns bei unserem
Arbeitsrecht ein absoluter Systembruch ins Haus steht;
denn das Argument und Abwägungskriterium Alter war
im deutschen Arbeitsrecht bisher ganz wesentlich.
Das betrifft Punkteschemata, Sozialpläne, Betriebs-
vereinbarungen, Urlaub usw. Es gab Betriebsvereinba-
rungen zu zusätzlichem Urlaub, der abhängig vom Le-
bensalter war. Herr Montag, hier nur zu sagen: „Wir
streichen etwas“, greift zu kurz.
Damit werden Sie dem AGG, der Gleichberechtigung
und dem Gesamtproblem des deutschen Arbeitsrechts
nicht gerecht.
Deswegen wollen wir eine ausführliche Debatte mit
Substanz. Dieser werden wir uns hier sicherlich wieder
stellen, und zu der werden wir uns hier wieder treffen.
Schönen Abend, danke schön.
Ich schließe die Aussprache.
Tagesordnungspunkt 16. Interfraktionell wird Über-
weisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 17/657 an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge-
schlagen. Allerdings ist die Federführung strittig. Die
Fraktionen der CDU/CSU, der SPD, der FDP und Die
Linke wünschen Federführung beim Ausschuss für Ar-
beit und Soziales. Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen
wünscht Federführung beim Rechtsausschuss.
Wir stimmen nun zuerst über den Überweisungsvor-
schlag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen ab, das
heißt, Federführung beim Rechtsausschuss. Wer stimmt
für diesen Überweisungsvorschlag? – Wer stimmt dage-
gen? – Enthaltungen? – Der Überweisungsvorschlag ist
eindeutig abgelehnt.
Nun stimmen wir über den Überweisungsvorschlag
der Fraktionen der CDU/CSU, der SPD, der FDP und
Die Linke ab, das heißt also, Federführung beim Aus-
schuss für Arbeit und Soziales. Wer stimmt für diesen
Überweisungsvorschlag? – Ist jemand dagegen? – Ent-
haltungen? – Der Überweisungsvorschlag ist damit an-
genommen, das heißt, die Federführung liegt beim Aus-
schuss für Arbeit und Soziales.
Zusatzpunkt 5. Der Gesetzentwurf auf Druck-
sache 17/775 soll an die in der Tagesordnung aufgeführ-
ten Ausschüsse überwiesen werden. – Damit sind Sie
einverstanden, wie ich sehe. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Wir kommen nun zum Tagesordnungspunkt 17:
Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur
– Drucksache 17/718 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Rechtsausschuss
Ausschuss für Kultur und Medien
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen. Es handelt sich um die
Reden folgender Kolleginnen und Kollegen: Dr. Martina
Krogmann, Andreas Lämmel, Martin Dörmann, Claudia
Bögel, Kathrin Senger-Schäfer und Tabea Rößner.
(C)
(D)
Die technische Entwicklung schreitet rasant voran.
Deshalb ist es in Anbetracht der neuen Übertragungs-
techniken für audiovisuelle Mediendienste notwendig
geworden, den geltenden Rechtsrahmen den gewandel-
ten Gegebenheiten anzupassen. Das Erste Gesetz zur
Änderung des Telemediengesetzes setzt die europäische
Richtlinie über audiovisuelle Mediendienste in nationa-
les Recht um und stellt klar, welchen Pflichten die Anbie-
ter von Video-on-Demand-Diensten unterliegen.
Ziel der Richtlinie ist es, den Auswirkungen des
Strukturwandels, der Verbreitung der Informations- und
Kommunikationstechnologien und den technologischen
Entwicklungen auf die Geschäftsmodelle und insbeson-
dere auf die Finanzierung des kommerziellen Rundfunks
Rechnung zu tragen. Insbesondere sollen optimale Wett-
bewerbsbedingungen und Rechtssicherheit für die euro-
päischen Unternehmen und Dienste im Bereich der In-
formationstechnologien und der Medien gewährleistet
werden.
Da die Vorschriften für bestimmte Geschäftsmodelle,
wie zum Beispiel die audiovisuellen Mediendienste auf
Abruf, innerhalb der Mitgliedstaaten der Europäischen
Union Unterschiede aufweisen, von denen einige den
freien Dienstleistungsverkehr innerhalb der Europäi-
schen Union behindern und den Wettbewerb innerhalb
des Binnenmarkts verzerren könnten, war eine europa-
weite Lösung geboten. Es galt, auf alle audiovisuellen
Mediendienste – sowohl Fernsehprogramme, das heißt
lineare audiovisuelle Mediendienste, als auch audiovi-
suelle Mediendienste auf Abruf, das heißt nicht lineare
audiovisuelle Mediendienste – zumindest bestimmte ge-
meinsame Grundvorschriften anzuwenden.
Gerade kleinere und mittlere Unternehmen werden
von einem freien und fairen Wettbewerb in der EU profi-
tieren. Die gleichen Wettbewerbsbedingungen werden zu
einer signifikanten Zunahme von zukunftssicheren, qua-
lifizierten Arbeitsplätzen gerade auch in Deutschland
führen. Der vorliegende Gesetzentwurf regelt den Gel-
tungsbereich des Telemediengesetzes für diesen Bereich,
fügt entsprechende Definitionen in das TMG ein und sta-
tuiert den Kreis der verpflichteten Unternehmen. Her-
vorzuheben ist, dass der vorliegende Gesetzentwurf, der
sich auf die wirtschaftsbezogenen Regelungen für audio-
visuelle Mediendienste auf Abruf beschränkt, in enger
Abstimmung mit den Ländern, in deren Zuständigkeit
die linearen audiovisuellen Mediendienste, also das
Fernsehen, fallen, erfolgt ist, um eine Harmonisierung
mit dem Rundfunkstaatsvertrag sicherzustellen. So wird
eindeutig geregelt, dass die Anbieter von Video-on-De-
mand-Diensten den Regelungen des Telemediengesetzes
und nicht rundfunkrechtlichen Bestimmungen unterlie-
gen.
Da audiovisuelle Mediendienste auf Abruf sich von
Fernsehprogrammen in den Auswahl- und Steuerungs-
möglichkeiten der Nutzer unterscheiden, ist es gerecht-
fertigt, für audiovisuelle Mediendienste auf Abruf weni-
ger strenge Vorschriften zu erlassen, sodass sie nur den
Grundvorschriften der Richtlinie über audiovisuelle
Mediendienste unterliegen sollten. Der vorliegende Ge-
Zu Protokoll
setzentwurf schreibt vor, dass der Diensteanbieter, das
heißt jede natürliche oder juristische Person, die die
Auswahl und Gestaltung der angebotenen Inhalte wirk-
sam kontrolliert, für diese auch verantwortlich ist. Da-
mit wird klargestellt, dass die Anbieter von Video-on-
Demand-Diensten denselben Vorschriften unterliegen
wie die Anbieter anderer Telemedien. Erfasst werden
von dem vorliegenden Gesetzentwurf also auf Abruf be-
reitgestellte audiovisuelle Mediendienste, bei denen es
sich um Massenmedien handelt, das heißt, die für den
Empfang durch einen wesentlichen Teil der Allgemein-
heit bestimmt sind und bei dieser eine deutliche Wirkung
entfalten können.
Betroffen sind nur wirtschaftliche Tätigkeiten – auch
solche öffentlich-rechtlicher Unternehmen.
Nicht in den Geltungsbereich des Telemediengesetzes
fallen vorwiegend nicht wirtschaftliche Tätigkeiten, die
nicht mit Fernsehsendungen im Wettbewerb stehen.
Dazu gehören beispielsweise private Internetseiten und
Dienste zur Bereitstellung oder Verbreitung audiovisuel-
ler Inhalte, die von privaten Nutzern für Zwecke der ge-
meinsamen Nutzung und des Austauschs innerhalb von
Interessengemeinschaften erstellt werden.
Ferner werden auch weiterhin alle Formen privater
Korrespondenz, zum Beispiel an eine begrenzte Anzahl
von Empfängern versandte elektronische Post, oder ani-
mierte Websites nicht in den Anwendungsbereich des
Telemediengesetzes fallen, da hier die audiovisuellen
Elemente nur Nebenerscheinungen darstellen. Wir wer-
den mit dem vorliegenden Gesetzentwurf nicht nur die
Rechtssicherheit für die Unternehmen weiter erhöhen,
sondern auch einen weiteren Beitrag zum Schutz der
Verbraucher und zu mehr Transparenz leisten.
Die Anbieter audiovisueller Medien auf Abruf unter-
liegen den Publizitätspflichten des § 5 Telemedienge-
setz. Der Verbraucher weiß jetzt auch bei Video-on-
Demand-Anbietern, wer ihm die Dienste anbietet und
wie er schnell und unkompliziert mit dem Anbieter in
Kontakt treten kann.
Ferner profitiert der Verbraucher auch bei Video-on-
Demand-Diensten von den datenschutzrechtlichen Be-
stimmungen des Telemediengesetzes, sodass seine per-
sönlichen Daten auch hier umfassend geschützt sind.
Der vorliegende Gesetzentwurf leistet einen weiteren
Beitrag zur Anpassung der Rechtssicherheit, zur Stär-
kung der Wirtschaft und der Verbraucher.
Wir befassen uns heute mit der Umsetzung einerRichtlinie der Europäischen Union in deutsches Recht.Konkret geht es um die Richtlinie 2007/65/EG des Euro-päischen Parlaments und des Rates vom 11. Dezember2007 zur Änderung der Richtlinie 89/552/EWG des Rateszur Koordinierung bestimmter Rechts- und Verwaltungs-vorschriften der Mitgliedstaaten über die Ausübung der
hält das Telemediengesetz die wirtschaftsbezoge-nen Regelungen für die Telemedien. Speziell sind dies die
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gegebene Reden
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Andreas G. LämmelVorschriften, die der Umsetzung einer anderen Richtlinie
vertrag der Bundesländer beinhaltet ebenfalls Regelun-gen zum Thema Telemedien. Der Rundfunkstaatsvertragregelt speziell die inhaltsbezogenen Anforderungen unddie Fragen der Aufsicht. Das Telemediengesetz enthälthingegen die wirtschaftsbezogenen Regelungen. Diesegesetzlichen Regelungen werden durch die Vereinbarun-gen des Bundes und der Bundesländer aus dem Jahre2004 zur Fortentwicklung der Medienordnung abgerun-det.Die neue Richtlinie der Europäischen Union und de-ren rechtliche Umsetzung in das deutsche Recht erwei-tern den bestehenden Rechtsrahmen für die Branche.Gerade in einer Branche mit hohem Innovationstempoist es notwendig, die rechtlichen Rahmenbedingungenständig zu aktualisieren und den MarktteilnehmernRechtssicherheit zu gewähren. Das neue Telemedienge-setz deckt nun sämtliche audiovisuelle Mediendiensteab. Neben den bisher umfassten Fernsehdiensten sindnun auch die audiovisuellen Mediendienste auf AbrufGegenstand des Gesetzes. Die Rechts- und Verwaltungs-vorschriften der Mitgliedstaaten für audiovisuelle Me-diendienste auf Abruf hatten bisher unterschiedliche In-halte, die teilweise den freien Dienstleistungsverkehrinnerhalb der Europäischen Union zu behindern undden Wettbewerb innerhalb des EU-Binnenmarkts zu ver-zerren drohten. Bedenkt man das erhebliche Potenzialfür hochqualifizierte Arbeitsplätze, welches die neuenaudiovisuellen Mediendienste auf Abruf – gerade fürkleinere und mittlere Unternehmen – bieten, dann ist dieAbsicht der Europäischen Union, hier gleiche Wettbe-werbsbedingungen zu schaffen, zu begrüßen. Gerade diePrinzipien des Binnenmarktes, freier Wettbewerb undGleichbehandlung aller Marktteilnehmer, sind Voraus-setzungen für einen transparenten und berechenbarenMarkt sowie für einen problemlosen Zugang der Ver-braucher zu diesen Diensten.Gleiche Wettbewerbsbedingungen und Rechtssicher-heit innerhalb der Europäischen Union für die audiovi-suellen Mediendienste auf Abruf sind daher unbedingtpositiv zu bewerten. Aus marktwirtschaftlicher Perspek-tive sind aktuelle und klare rechtliche Rahmenbedingun-gen stets zu begrüßen.Es ist weiterhin positiv zu bewerten, dass der Natio-nale Normenkontrollrat im Rahmen seines gesetzlichenPrüfauftrags keine Bedenken gegen diesen Gesetzent-wurf hervorbringt. Zusätzliche Informationspflichten fürdie Unternehmen in unserem Lande werden nicht einge-führt, geändert oder aufgehoben. Folglich sind mitdiesem Gesetzentwurf auch keine zusätzlichen Bürokra-tiekosten verbunden – ein Umstand, der mir als Wirt-schaftspolitiker große Freude bereitet. Unsere Unter-nehmen, gerade die kleinen und mittelständischenUnternehmen, benötigen nicht mehr Bürokratie, son-dern weniger.Der vorliegende Gesetzentwurf ist mit den Bundes-ländern abgestimmt. Diese enge Bund-Länder-Abstim-mung wird bewirken, dass die erforderlichen Umset-Zu Protokollzungsmaßnahmen durch die Bundesländer ohneProbleme geschehen. Die Länder werden die Anforde-rungen aus der Richtlinie mit dem 13. Rundfunkände-rungsstaatsvertrag umsetzen. Ich meine, esist gut für das Ansehen des Bundestages und aller Frak-tionen, wenn Gesetzesvorhaben ohne juristische Streite-reien und rechtliche Unklarheiten umgesetzt werden.Die Bürger unseres Landes erwarten schnelles Handeln.In diesem Fall ist dies durch vorausschauendes Agierengelungen.
Es ist keine Überraschung, wenn ich Ihnen verrate,dass das Internet auch 2009 weiter gewachsen ist. Fast70 Prozent der Deutschen waren im vergangenen Jahronline. Die Bedeutung der Internetbranche als wichtigerZukunfts- und Wachstumsmarkt ist weiter gestiegen.Dies ist erfreulich und soll so bleiben.Die neuen Möglichkeiten schaffen jedoch auch viel-fältige praktische und rechtliche Problemstellungen.Neue Kommunikationsforen und Geschäftsmodelle unddie massenhafte Nutzung des Internets stellen besondereHerausforderungen dar. Wir alle wollen, dass im Inter-net kein rechtsfreier Raum entsteht und mit den von unsgewonnenen Daten sorgfältig umgegangen wird.Diesem Handlungsbedarf stellt sich das Telemedien-gesetz. Es bietet ein übergreifendes und einheitlichesDatenschutzkonzept für Rundfunk und Telemedien undschafft zusätzliche Rechtssicherheit. Für die Politik istes selbstverständlich, dass man mit der rasanten Ent-wicklung des Internets Schritt halten und der Rechtsrah-men dahin gehend angepasst werden muss. Hier habenwir in dieser Legislaturperiode Arbeit vor uns. Daraufgehe ich später noch ein.Der Gesetzentwurf, über den wir heute debattieren,ist vergleichsweise unstrittig. Die von der Bundesregie-rung geplanten Änderungen dienen zur Umsetzung derEU-Richtlinie für audiovisuelle Mediendienste in natio-nales Recht. Damit werden Telemedien, die in fernseh-ähnlicher Form audiovisuelle Inhalte anbieten, in dieVorschriften der Fernsehrichtlinie aufgenommen. DieBundesländer haben hierzu den 13. Rundfunkände-rungsstaatsvertrag beschlossen, der am 1. April in Krafttreten soll. Im Kern geht es um die Liberalisierung dereuropäischen Werberegeln, von der man sich insgesamtmehr Flexibilität erwartet. Dies wird jenen Anbieternnutzen, die von der Werbung als Refinanzierungsmodellabhängig sind.Ich will es nicht unnötig spannend machen und fest-stellen, dass wir diesem Gesetzentwurf auch als Opposi-tionsfraktion gerne zustimmen. Wenn die Bundesregie-rung sinnvolle Vorschläge macht, gibt es aus unsererSicht keinen Grund, sich zu verweigern.Es wird aber zukünftig darum gehen, das Internetge-setz auf der Höhe der Zeit zu halten. Hierzu will ich zu-nächst noch einmal die bisherige Diskussion der vergan-genen Legislaturperiode in Erinnerung rufen. Anfang2007 haben wir mit dem neuen Telemediengesetz erst-mals einen einheitlichen, entwicklungsoffenen Rechts-
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Martin Dörmannrahmen im Bereich der Tele- und Mediendienste ge-schaffen. Frühere Abgrenzungsprobleme sind entfallen.Gegenüber dem alten Rechtszustand wurde eine deutli-che Verbesserung erzielt. Damit haben wir einen wirksa-men Beitrag zur Fortentwicklung des Internets geleistet,für das das Telemediengesetz von besonderer Bedeutungist. Wir mussten damals das Gesetz zügig verabschieden,um ein zeitgleiches Inkrafttreten mit dem neunten Staats-vertrag für Rundfunk und Telemedien zum 1. März 2007zu ermöglichen. Beide Regelwerke ergänzen sich undhaben die bisherigen Bestimmungen abgelöst.Im Mai 2008 hat der Bundestag eine ausführliche De-batte über möglichen Änderungsbedarf geführt. Grund-sätzlich gibt es in diesem Hause keine Fraktion, die ei-nen solchen Bedarf nicht sehen würde, wenn auchjeweils mit unterschiedlichen Schwerpunkten.Im vergangenen Jahr hat die FDP-Fraktion einen ei-genen Gesetzentwurf zur Änderung des Telemedienge-setzes vorgelegt. Er behandelte insbesondere die Frageder Störerhaftung. Die von der FDP vorgetragenen Än-derungsvorschläge gingen bei den Regelungen zu Such-maschinen und Hyperlinks grundsätzlich in die richtigeRichtung. Andererseits enthielt der Entwurf allerdingsauch eine Reihe von Widersprüchlichkeiten und frag-würdigen Regelungsvorschlägen, insbesondere in Fra-gen der Störerhaftung. Der Gesetzentwurf war daheraus Sicht der damaligen Koalitionsfraktionen insgesamtkeine geeignete Grundlage für eine Novellierung des Te-lemediengesetzes. Dies hatte auch eine von uns durchge-führte Expertenanhörung in der vergangenen Legisla-turperiode ergeben.Ich habe bei der Plenardebatte im vergangenen Jahrbereits darauf hingewiesen, dass es dem Bundestag inder neuen Legislaturperiode vorbehalten bleibt, diesesThema erneut aufzugreifen. Das sollten wir alsbald tun.Aus unserer Sicht geht es hierbei in erster Linie umdie weitere Verbesserung der Rechtssicherheit im Be-reich der Internethaftung. Das betrifft die Klärung derStörerhaftung sowie Fragen, die von den Haftungsbe-stimmungen der einschlägigen E-Commerce-Richtlinienicht erfasst werden und die auch in Deutschland vordiesem Hintergrund ausdrücklich nicht geregelt wurden,insbesondere Suchmaschinen und Hyperlinks. Insofernhaben wir es nämlich mit einer Rechtsprechung zu tun,die in der Internetbranche für Unsicherheiten gesorgthat, die es möglichst zu beseitigen gilt.Konkret geht es etwa um die Fragestellung, inwieweitein Diensteanbieter für Inhalte haftet, die er nicht selbsteingestellt hat. Dass Rechteverletzungen beseitigt wer-den müssen, steht dabei außer Frage. Probleme bereitetallerdings die zukünftige Verhinderung einer Rechtever-letzung, insbesondere dann, wenn eine Rechteverletzungfestgestellt wurde und die Anwendung auf analoge Fällezu übertragen ist. Und wer auf seiner Homepage Linksauf andere Seiten eingestellt hat, kann diese nicht stän-dig kontrollieren.Im Kern geht es also um die Frage, inwieweit Dienste-anbieter beispielsweise im Rahmen einer Störerhaftungreguläre Überwachungspflichten übernehmen müssenZu Protokolloder nicht. Die Rechtsprechung hat hier die Unterlas-sungsansprüche in einem bestimmten Fall auf kernglei-che Rechteverletzungen ausgedehnt. Dies hat zu großerVerunsicherung geführt, weil eine weite Auslegung derKerngleichheit zu einer fast uferlosen Haftung führenkönnte. Auf der anderen Seite würde eine zu enge Ausle-gung möglicherweise zu einer Verkürzung der betroffe-nen Rechteinhaber führen. Insgesamt geht es daher vorallem um eine gerechte und praktikable Lösung, die dieunterschiedlichen Interessen von Rechteinhabern, Ver-brauchern und Internetunternehmen zu einem vernünfti-gen Ausgleich bringt.Diesen goldenen Mittelweg zu finden und mit allenBeteiligten einvernehmlich abzustimmen, hat sich alsäußerst schwierig erwiesen. Wir erwarten nun von derBundesregierung, dass sie einen weiteren Gesetzentwurfvorlegt, in dem die problematisierten Gesichtspunkte be-rücksichtigt und angemessen gelöst werden. Die He-rausforderungen und Schwierigkeiten sind bestens be-kannt. Nun sollte gehandelt werden.
Jeder von uns kennt diese Situation: Man öffnet sei-nen E-Mail-Eingang, sieht die neuen Nachrichtendurch, öffnet eine nicht eindeutig gekennzeichnete Mailund stellt dann mit Erstaunen fest, dass es sich um eineWerbebotschaft handelt. In den meisten Fällen ärgertman sich über eine solche unaufgefordert zugesandteVerbraucherinformation, zumal sie selten die eigenenBedürfnisse wirklich anspricht bzw. widerspiegelt.Diese irreführenden Angaben bei E-Mail-Werbung solldas hier zu beschließende Telemedienänderungsgesetzgenauso wie andere wesentliche Bestandteile des Um-gangs mit audiovisuellen Mediendiensten regeln.Der Entwurf des Telemedienänderungsgesetzes siehteine Eins-zu-eins-Umsetzung der europäischen Audiovi-suellen-Mediendienste-Richtlinie in deutsches Rechtvor. Im Rahmen dessen werden die Vorgaben der bishe-rigen Fernsehrichtlinie aktualisiert und auf fernsehähn-liche Online-Dienste, präzise: audiovisuelle Medien-dienste auf Abruf, ausgeweitet. Der dann umfassendeRechtsrahmen für alle audiovisuellen Mediendienste istdie Voraussetzung für eine Verbesserung der Rechtssi-cherheit und die Schaffung gleicher Wettbewerbsbedin-gungen.Besonders wichtig für ein Änderungsgesetz im Be-reich der Telemedien ist die Art der Ausgestaltung. Siemuss offen sein und bleiben, sodass neue Entwicklungenmöglich sind und mit allen Kräften unterstützt werden.Im vorliegenden Gesetzesentwurf wird diesem AnspruchRechnung getragen und die Novellierung kann somiteine ganze Reihe von Verbesserungen mit sich bringen.Vor allem die dann spezifischen Regelungen, wo einDiensteanbieter, der audiovisuelle Mediendienste in sei-nem Portfolio hat, als niedergelassen anzusehen ist,seien in dem Zusammenhang erwähnt. Diese Zuordnungverdeutlicht Zuständigkeiten und vereinfacht auf dieseWeise Prozesse.Die Branche, über die wir hier sprechen, ist eine derdynamischsten überhaupt. Die wirtschaftliche und tech-
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Claudia Bögelnologische Fortentwicklung in diesem Bereich erfordertein besonders schnelles und effizientes Aktions-Reakti-ons-Modell seitens der Politik. Steine, die im Weg liegen,müssen mit beiden Händen gleichzeitig gepackt und zurSeite gerollt werden.Wir begrüßen daher ausdrücklich, dass der rasantewirtschaftliche und technologische Fortschritt durch ge-eignete rechtliche Rahmenbedingungen für die neuenDienste und den elektronischen Geschäftsverkehr flan-kiert und gefördert wird. Als Beauftragte meiner Frak-tion für Informations- und Kommunikationstechnologienund den Mittelstand möchte ich in diesem Zusammen-hang nachdrücklich auf die besondere Verbindung derbeiden Bereiche hinweisen.Der nationale und internationale Wettbewerb in die-ser Branche ist unvergleichlich fordernd. Besonders diekleinen und mittleren Unternehmen müssen sich alltäg-lich auf neue Entwicklungen in ihrer Branche einstellen.Hier benötigen sie verlässliche und sinnige Gesetzes-vorgaben, die ihnen ihre Arbeit vereinfachen, die Bedin-gungen verbessern und dazu beitragen, der internatio-nalen Konkurrenz auf Augenhöhe zu begegnen. Denn eskann nicht oft genug betont werden: Das Rückgrat derwirtschaftlichen Leistungsfähigkeit Deutschlands ist derMittelstand! Ohne ihn geht nichts in Deutschland.Die Globalisierung aber stellt den Mittelstand vorneue gewaltige Herausforderungen. Der Unternehmerals Einzelkämpfer findet sich schnell auf verlorenemPosten wieder, gefragt sind Vernetzung und ganzheitli-ches Denken. Doch das Pferd kann eben nicht von hintenaufgezäumt werden, und Reiten ohne Sattel ist auch eineriskante Angelegenheit. Regeln, die nicht Hürden auf-bauen, sondern durch Präzisierung von Begrifflichkei-ten und Zuordnung dazu beitragen, die Arbeit zu er-leichtern, sehe ich als sehr sinnvoll an. Aus diesemGrund möchte ich Sie um Ihre Unterstützung für denEntwurf des 1. Telemedienänderungsgesetzes bitten undfreue mich, wenn dadurch auch dem Mittelstand in unse-rem Land ein Dienst erwiesen wird.
Der vorliegende Gesetzentwurf der Bundesregierungist eine Folge der Novellierung der EU-Fernsehrichtli-nie. Mit dem 1. Telemedienänderungsgesetz werden Än-derungen im Geltungsbereich, in den Begriffsbestim-mungen und Regelungen zum Sitzland für audiovisuelleMediendienste, wie sie die Richtlinie vorgibt, umgesetzt.Das alles ist kein Problem, Gesetzgebungsroutine sozu-sagen. Problematisch allerdings sind zwei Punkte, aufdie ich hinweisen möchte:Erstens. Die Bundesregierung hatte zwei Jahre Zeit,um die genannten Aspekte der EU-Fernsehrichtlinie biszum 19. Dezember 2009 in deutsches Recht umzusetzen.Jetzt ist es Ende Februar 2010. Das Bundeswirtschafts-ministerium – in der letzten Legislaturperiode von derCSU geführt, jetzt von der FDP – war zwei Jahre langaußerstande, Änderungen am Telemediengesetz vorzu-nehmen. Dort kann man quasi über Nacht ein Internet-sperrgesetz erarbeiten, das in der Ursprungsfassung jaebenfalls eine Änderung des Telemediengesetzes ent-Zu Protokollhielt. Nicht aber vorlegen kann dieses Haus die drin-gend notwendige, immer wieder eingeforderte grundle-gende Novellierung des Telemediengesetzes. Dass wirbis heute keine Novellierung des Gesetzes haben, istnicht nachvollziehbar und ein Armutszeugnis für dasBundeswirtschaftsministerium.Das Telemediengesetz in der aktuellen Fassung istniedergeschriebene Rechtsunsicherheit. In der Frageder Haftung müssen die Inhalte- und Zugangsanbieterwissen, was erlaubt und was verboten ist. Seit Inkrafttre-ten des Telemediengesetzes entscheiden die Gerichte inDeutschland in zahlreichen Urteilen in diesen und ähn-lichen Fragen völlig unterschiedlich. Eine gesetzlicheKlarstellung ist erforderlich, damit beispielsweise Web-seitenbetreiber und Inhalteanbieter künftig keinen prä-ventiven Überwachungspflichten für fremde Inhalte aus-gesetzt sind. Meine Fraktion hat dazu in der letzten Le-gislaturperiode Änderungsvorschläge gemacht. Auchdie FDP hat solche vorgelegt. Ich bin gespannt, wannsie diese als Regierungspartei umsetzen wird.Zweitens. Die EU-Fernsehrichtlinie harmonisiert zu-allererst Geschäftsbeziehungen. Für die Anbieter vonaudiovisuellen Dienstleistungen auf dem europäischenBinnenmarkt werden Werbebeschränkungen dereguliertund Bedingungen der kommerziellen Kommunikation– auch das nur ein anderer Ausdruck für Werbung – de-finiert. Es geht also ums Geldverdienen und um Rendite.Es geht nicht um Verbraucherrechte, nicht um die Be-reitstellung eines vielfältigen kulturellen Programman-gebots und schon gar nicht um die Sicherung der Auto-nomie journalistisch-redaktioneller Arbeit.Mit dem 13. Rundfunkänderungsstaatsvertrag wollendie Länder diese Deregulierungsbestimmungen für denRundfunk in deutsches Recht umsetzen. Dieser soll nachden Plänen der Ministerpräsidenten der Länder zum1. April 2010 in Kraft treten. Wir lehnen diese Änderun-gen im Rundfunkstaatsvertrag ab. Im Gegensatz zu denvorliegenden Änderungen im Telemediengesetz, dienach der EU-Richtlinie tatsächlich unausweichlich sind,lässt die Richtlinie bei der Umsetzung der Werbebestim-mungen für den Rundfunk ausdrücklich Ausnahmen zu.Die Nationalstaaten haben hier einen weiten Bemes-sungsspielraum. Um nur einige Punkte zu nennen: Dernach EU-Recht liberalisierten Möglichkeit zur Produkt-platzierung hätte durch verbindlichere Formulierungenrechtssicher Rechnung getragen werden können. Sen-dungen mit Produktplatzierungen hätten mit einem kla-ren Zusatz „Dauerwerbesendung“ versehen werdenkönnen. Die vorgesehene Erweiterung des Werbeanteilsbei den privaten Rundfunksendern durch exklusiveSponsoren- und Product-Placement-Zeiten schadet demkulturellen Auftrag des Fernsehens.Bei der Umsetzung der Vorgaben aus der neugestalte-ten EU-Fernsehrichtlinie sind nach Auffassung der Lin-ken strenge Maßstäbe anzulegen. Produktplatzierungenmüssen für private Rundfunkanbieter ausnahmslos kenn-zeichnungspflichtig sein. Um Umgehungstatbestände– zum Beispiel durch Umetikettierung von Geldzuwen-dungen – auszuschließen, sind auch solche Produktplat-zierungen zu kennzeichnen, für die kein Entgelt und
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Kathrin Senger-Schäferkeine ähnlichen Gegenleistungen bezahlt werden. Fürden öffentlich-rechtlichen Rundfunk sind Produktplatzie-rungen, darin in Einklang mit dem Ausnahmetatbestandfür kulturelle Vielfalt nach Art. 3 der Fernsehrichtlinie,ausdrücklich zu untersagen.
Bis vor kurzem kannte es keiner, spätestens seit derdurch Frau von der Leyen angezettelten Kinderporno-grafie-Sperr-Debatte ist das Telemediengesetz ein Be-griff.Weniger bekannt ist aber offenbar, was dort bishergeregelt ist – und vor allem: noch geregelt werdenmüsste!Wie sonst wären die Bundesländer beim Jugendme-dienschutz-Staatsvertrag, JMStV, auf die Idee gekom-men, Inhalteanbieter, für die die Auflagen des Jugend-medienschutzes ja richtigerweise gelten, mit Zugangs-anbietern und Inhaltevermittlern gleichzusetzen, die be-reits nach dem Telemediengesetz – abgemildert – haf-ten? Oder wollte man hier dem Bund in die Kompetenzgrätschen?Die Debatte um den Jugendmedienschutz hat das Au-genmerk in eine falsche Richtung gelenkt: Die Fragemuss nicht sein, wie wir die reinen Zugangsanbieter undInhaltevermittler stärker in die Jugendschutzpflicht neh-men können, sondern wie die bisherigen Haftungsaufla-gen innerhalb des Telemediengesetzes noch klarer for-muliert und an die Realität angepasst werden können.Inhaltliche Vorabkontrollen und -entfernungen sindauch nach bisheriger Lesart – jedenfalls einiger Ge-richte – im Telemediengesetz nicht klar ausgeschlossen.Das schafft Rechtsunsicherheit. Klar ist auch für unsGrüne: Diensteanbieter müssen rechtswidrige Links undInhalte entfernen, sobald sie davon Kenntnis erlangt ha-ben und es ihnen technisch zumutbar ist. Aber erst dannund nicht vorher. Dazu dient das sogenannte Notice-and-take-down-Verfahren, bei dem Nutzerinnen undNutzer dem Diensteanbieter rechtswidrige Inhalte mel-den können, damit dieser sie entfernt.Auch für Suchmaschinenanbieter müssen endlichklare Regelungen her. Sie sind ebenso Zugangsdienst-leister, die selbst keine Inhalte produzieren.Leider aber findet sich von diesen Punkten kein einzi-ger im vorliegenden Gesetzentwurf, und das, obwohl dieFDP mit auf der Regierungsbank sitzt, die sich die Haf-tungserleichterungen immer groß auf die Fahnen ge-schrieben hatte!Der hier zu debattierende Entwurf ist wieder nurStückwerk. Er setzt die Anforderungen der audiovisuel-len Mediendienste-Richtlinie der EU um. Das ist drin-gend notwendig, weil dadurch anerkannt wird, dass eseben nicht nur den sendenden Rundfunk auf der einenSeite und die Telemedien auf der anderen Seite gibt, un-ter die dann alles fällt, was im und um das InternetDienste anbietet. Jetzt wird endlich die europäischeDreiteilung umgesetzt: Es gibt Angebote wie herkömmli-ches Fernsehen, Webcasting oder Live-Streaming. DannZu Protokollgibt es weiterhin die klassischen Telemedienangebotewie etwa spiegel-online.de. Die dritte, nun neue Katego-rie sind Telemediendienste auf Abruf, sogenanntes On-Demand. Sie werden als „fernsehähnlich“ eingestuft, dasie durch einen wesentlichen Teil der Allgemeinheitempfangen werden können, und setzen eine wirksame re-daktionelle Verantwortung voraus. Für sie sollen nun in-nerhalb des Telemediengesetzes spezifische Regelungengelten, beispielsweise gibt es andere Anforderungen andas Sitzland als bei den anderen Telemedienanbietern.So weit, so gut. An der europäischen Umsetzung istnichts auszusetzen. Aber mehr hat man sich nicht ge-traut. Schade. Ich hätte mir gewünscht, dass die Bundes-regierung mal einen großen Wurf macht und alle seitlangem anstehenden Fragen vom Tisch räumt! Das istein Ignorieren all derer, die sich für eine vernünftigeÜberarbeitung des Gesetzes während der letzten Jahreeingesetzt haben, als da sind: Provider und Forenanbie-ter, Verbraucher- und Datenschützer und damit sämtli-che häufig in Anhörungen geladene Experten.Es wäre bitter nötig, liebe Bundesregierung, eine Ent-scheidung zu treffen, wie Social-Media-Angebote, aberauch Blogs und Foren in der Praxis für User Contenthaften sollen. Wenn Vorabkontrollen zur durch Gerichteangeordneten Pflicht werden, geht eine Szene kaputt, dieBürgerbeteiligung bedeutet, eine Alternative zum Main-stream-Journalismus darstellt und aus unserer Netzwelteinfach nicht mehr wegzudenken ist!Aber an diese Fragen traut man sich nicht heran.Stattdessen lässt man die Bundesländer mit absurdenRegelungen für sämtliche Anbieter rund ums Netz han-tieren.Wir Grünen haben bereits in der letzten Legislaturmit zwei Anträgen – 16/3499, 16/6394 – deutlich ge-macht, was uns im Telemediengesetz fehlt. Dazu gehörenneben einheitlichen und sinnvollen Datenschutzregelun-gen klarere Vorgaben zur Verfolgung von Spam ins TMG.Spam ist nicht nur nervig und zeitraubend für die Nutze-rinnen und Nutzer, sondern auch ein gewaltiger ökologi-scher Ballast: In einem Jahr fressen Spam-Mails33 Milliarden Kilowattstunden, so viel Strom wie eineganze Großstadt! Eine Spam-Mail verursacht einenCO2-Ausstoß von 0,3 Gramm. Die meiste Energie wirdbeim Sichten und Löschen verbraucht, nur ein kleinerTeil beim Senden und automatischen Filtern. Eine Bun-desregierung, die sich auch Green IT ins Programmschreibt, könnte ja im TMG mal zeigen, wie ernst sie esim Detail meint!Wir Grünen wollen in Sachen Werbemails ein gene-relles Opt-in-Verfahren. Nur wer der Zusendung vonWerbung vorher ausdrücklich zugestimmt hat, darfebensolche erhalten. Jedes Zuschicken unerwünschterWerbung muss als Ordnungswidrigkeit geahndet und mithohem Bußgeld belegt werden. Sie muss außerdemdurch die Bundesnetzagentur verfolgt werden. Nur wennes hier spürbare Sanktionen gegen die Versender gibt,kann Spam effektiv eingedämmt werden.Liebe Koalition, ich fordere Sie auf, uns so schnellwie möglich ein an die Realitäten des Internets ange-
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Tabea Rößnerpasstes Telemediengesetz vorzulegen, in dem sämtlicheHaftungsfragen klar formuliert sind, in dem sich eine ef-fektivere Verfolgung von Spam findet und in dem der di-gitale Datenschutz ernst genommen wird. Immer öftersehen sich Nutzerinnen und Nutzer damit konfrontiert,dass ihre persönlichen Daten im Internet veröffentlichtwerden.Wir Grünen fordern seit langem ein sogenanntesKopplungsverbot, das nicht nur für marktbeherrschendeUnternehmen gilt: Die Nutzung eines Onlinedienstes– egal ob soziales Netzwerk, E-Mail-Dienst oder E-Com-merce-Angebot – darf nicht an die Herausgabe perso-nenbezogener Daten geknüpft werden. Wir setzen unsaußerdem dafür ein, dass Nutzerinnen und Nutzer denVerbleib ihrer Daten regelmäßig abfragen können. Da-für soll die Weitergabe der Daten aus unserer Sicht je-weils protokolliert werden. Dies hätte zur Folge, dassjede Datenerhebung nachvollziehbar würde und rechts-widrige Erhebungspraktiken nicht länger verborgenblieben.Der vorliegende Gesetzentwurf zeigt deutlich: Sosieht eine Stärkung des Internets als dem freiheitlichstenund effizientesten Informations- und Kommunikations-forum nicht aus!
Hier wird interfraktionell die Überweisung des Ge-
setzentwurfs auf Drucksache 17/718 an die in der Tages-
ordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. –
Auch damit sind Sie am Ende des Tages einverstanden.
Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Damit sind wir auch schon am Schluss unserer heuti-
gen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun-
destages auf morgen, Freitag, den 26. Februar 2010,
9 Uhr, ein.
Ich wünsche Ihnen noch einen schönen restlichen
Abend und schließe die Sitzung.