Protokoll:
15037

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Metadaten
  • date_rangeWahlperiode: 15

  • date_rangeSitzungsnummer: 37

  • date_rangeDatum: 3. April 2003

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  • av_timerEnduhrzeit der Sitzung: 21:27 Uhr

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  • tocInhaltsverzeichnis
    Plenarprotokoll 15/37 Dr. Angela Merkel CDU/CSU . . . . . . . . . . . . Gernot Erler SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Guido Westerwelle FDP . . . . . . . . . . . . . Krista Sager BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Michael Glos CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . . . Uta Zapf SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Peter Hintze CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . . . . Claudia Roth (Augsburg) BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Heidemarie Wieczorek-Zeul, Bundesministerin BMZ . . . . . . . . . . . . . . . . . Hartmut Schauerte CDU/CSU . . . . . . . . . Petra Pau fraktionslos . . . . . . . . . . . . . . . . . . in Verbindung mit Zusatztagesordnungspunkt 2: Antrag der Abgeordneten Karl-Josef Laumann, Dagmar Wöhrl, weiterer Abge- ordneter und der Fraktion der CDU/CSU: Ausbildungsbereitschaft der Betriebe stärken – Verteuerung der Ausbildung verhindern (Drucksache 15/739) . . . . . . . . . . . . . . . . in Verbindung mit Zusatztagesordnungspunkt 3: 3001 C 3006 D 3008 C 3011 D 3015 B 3018 B 3020 A 3022 B 3024 C 3025 B 3026 D 3031 A Deutscher B Stenografisc 37. Sit Berlin, Donnerstag I n h a Nachträgliche Gratulation zum 60. Geburtstag des Abgeordneten Detlef Dzembritzki . . . . . Erweiterung der Tagesordnung . . . . . . . . . . . . Absetzung der Tagesordnungspunkte 13 und 18 a . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Begrüßung der neuen Abgeordneten Angelika Brunkhorst . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 3: Abgabe einer Erklärung durch den Bun- deskanzler zur internationalen Lage und zu den Ergebnissen des Eur opäischen Rates in Brüssel am 20./21. März 2003 Gerhard Schröder, Bundeskanzler . . . . . . . . . 2995 A 2995 A 2996 A 3001 C 2996 B 2996 B Günter Gloser SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Jörg Vogelsänger SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3027 D 3029 D undestag her Bericht zung , den 3. April 2003 l t : Tagesordnungspunkt 4: a) Antrag der Abgeordneten Katherina Reiche, Thomas Rachel, weiterer Ab- geordneter und der Fraktion der CDU/ CSU: Reformen in der beruflichen Bildung vorantreiben – Lehrstellen- mangel bekämpfen (Drucksache 15/653) . . . . . . . . . . . . . . b) Antrag der Abgeordneten Cornelia Pieper, Christoph Hartmann (Hom- burg), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Für die Stärkung der dualen Berufsausbildung in Deutschland – mehr Chancen durch Flexibilisierung und einen indivi- duellen Ausbildungspass (Drucksache 15/587) . . . . . . . . . . . . . . 3030 D 3031 A Antrag der Abgeordneten W illi Bras Jörg Tauss, weiterer Abgeordneter und d Fraktion der SPD sowie der Abgeordnete Grietje Bettin, Dr. Thea Dückert, weitere e, er n r II Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. April 2003 Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Offen- sive für Ausbildung – Modernisierung der beruflichen Bildung (Drucksache 15/741) . . . . . . . . . . . . . . . . . Edelgard Bulmahn, Bundesministerin BMBF . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Michael Kretschmer CDU/CSU . . . . . . . Dr. Michael Fuchs CDU/CSU . . . . . . . . . Katherina Reiche CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . Grietje Bettin BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Cornelia Pieper FDP . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Willi Brase SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Jörg Tauss SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Cornelia Pieper FDP . . . . . . . . . . . . . . . . Ernst Hinsken CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Thea Dückert BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Jörg Tauss SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ernst Hinsken CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . . Uwe Schummer CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . Jutta Dümpe-Krüger BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hans-Werner Bertl SPD . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Gesine Lötzsch fraktionslos . . . . . . . . . . Michael Kretschmer CDU/CSU . . . . . . . . . . Dr. Ernst Dieter Rossmann SPD . . . . . . . . . . Cornelia Pieper FDP . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 17: a) Erste Beratung des von der Bundesre- gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 31. Juli 2001 zwischen der Regie- rung der Bundesr epublik Deutsch- land und der Regierung des König- reiches Thailand über den Seeverkehr (Drucksache 15/716) . . . . . . . . . . . . . . b) Erste Beratung des von der Bundesre- gierung eingebrachten Entwurfs eines Siebenten Gesetzes zur Änderung des Gemeindefinanzreformgesetzes (Drucksache 15/510) . . . . . . . . . . . . . . Zusatztagesordnungspunkt 4: a) Antrag der Abgeordneten Maria Eichhorn, Hannelore Roedel, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der 3031 A 3031 B 3033 B 3034 C 3035 C 3037 C 3038 C 3040 B 3040 C 3041 B 3042 D 3044 D 3045 D 3046 A 3046 C 3048 A 3049 A 3050 C 3051 B 3052 D 3053 D 3055 A 3055 A CDU/CSU: Benachteiligung von Frauen wirksam bekämpfen – Kon- sequenzen ziehen aus dem CEDAW- Bericht der Bundesregierung (Drucksache 15/740) . . . . . . . . . . . . . . b) Antrag der Abgeordneten Lothar Mark, Hans Büttner (Ingolstadt), wei- terer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Hans-Christian Ströbele, Dr . Ludger Volmer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN: Wiederbelebung des Friedensprozesses in Kolumbien (Drucksache 15/742) . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 18: b) Beschlussempfehlung des Rechtsaus- schusses: Übersicht 2 über die dem Deutschen Bundestag zugeleiteten Streitsachen vor dem Bundesverfas- sungsgericht (Drucksache 15/656) . . . . . . . . . . . . . . Zusatztagesordnungspunkt 5: Beschlussempfehlung des Ausschusses nach Art. 77 des Grundgesetzes (V er- mittlungsausschuss) zu dem Ersten Ge- setz zur Änderung des Gesetzes zur Neuregelung des Energiewirtschafts- rechts (Drucksachen 15/197, 15/432, 15/657, 15/712) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 5: Unterrichtung durch den W ehrbeauftrag- ten: Jahresbericht 2002 (44. Bericht) (Drucksache 15/500) . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Willfried Penner, Wehrbeauftragter des Deutschen Bundestages . . . . . . . . . . . . . . Anita Schäfer (Saalstadt) CDU/CSU . . . . . . Walter Kolbow, Parl. Staatssekretär BMVg Helga Daub FDP . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Winfried Nachtwei BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Petra Pau fraktionslos . . . . . . . . . . . . . . . . . . Karin Evers-Meyer SPD . . . . . . . . . . . . . . . . Ursula Lietz CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . . . Rolf Kramer SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Christa Reichard (Dresden) CDU/CSU . . . . Ulrike Merten SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3055 A 3055 B 3055 C 3055 C 3055 D 3056 A 3058 A 3060 C 3062 B 3063 D 3065 B 3066 A 3067 A 3068 D 3070 A 3071 B Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. April 2003 III Tagesordnungspunkt 6: a) Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Dr . Michael Meister, Otto Bernhardt, weiteren Ab- geordneten und der Fraktion der CDU/ CSU eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Aufhebung des Vermö- gensteuergesetzes (Drucksachen 15/196, 15/436) . . . . . . b) Erste Beratung des vom Bundesrat ein- gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Aufhebung des Vermögensteuer- gesetzes (Drucksache 15/408) . . . . . . . . . . . . . . Florian Pronold SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Michael Meister CDU/CSU . . . . . . . . . . Hubert Ulrich BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Carl-Ludwig Thiele FDP . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 7: Unterrichtung durch die Bundesregierung: Waldzustandsbericht 2002 – Ergebnisse des forstlichen Umweltmonitorings – (Drucksache 15/270) . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Gerald Thalheim, Parl. Staatssekretär BMVEL . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Cajus Caesar CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . . . Cornelia Behm BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Christel Happach-Kasan FDP . . . . . . . . . Gabriele Hiller-Ohm SPD . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 8: Antrag der Abgeordneten Dirk Niebel, Dr. Heinrich L. Kolb, weiterer Abgeordne- ter und der Fraktion der FDP: Reform des Kündigungsschutzgesetzes zur Schaf- fung von me hr Arbeitsplätzen – V or- schlag des Sachverständigenrates jetzt aufgreifen (Drucksache 15/430) . . . . . . . . . . . . . . . . . Dirk Niebel FDP . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wilfried Schreck SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Rolf Bietmann CDU/CSU . . . . . . . . . . . . Fritz Kuhn BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN . . Dr. Heinrich L. Kolb FDP . . . . . . . . . . . . . . . Fritz Kuhn BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN . . Dr. Reinhard Göhner CDU/CSU . . . . . . . . . . Doris Barnett SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3072 D 3073 A 3073 A 3075 B 3078 B 3079 D 3080 D 3081 A 3081 D 3083 D 3084 D 3085 C 3086 D 3086 D 3088 C 3091 A 3093 A 3094 B 3095 A 3095 C 3097 A Tagesordnungspunkt 9: Unterrichtung durch die Bundesregierung: Sondergutachten des Rates von Sach- verständigen für Umweltfragen – Für eine Stärkung und Neuorientierung des Naturschutzes (Drucksache 14/9852) . . . . . . . . . . . . . . . Astrid Klug SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Maria Flachsbarth CDU/CSU . . . . . . . . . Jürgen Trittin, Bundesminister BMU . . . . . . . Angelika Brunkhorst FDP . . . . . . . . . . . . . . . Gabriele Lösekrug-Möller SPD . . . . . . . . . . Josef Göppel CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 10: Antrag der Abgeordneten Henry Nitzsche, Arnold Vaatz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU: Stadtent- wicklung Ost – Mehr Effizienz und Fle- xibilität, weniger Regulierung und Bü- rokratie (Drucksache 15/352) . . . . . . . . . . . . . . . . in Verbindung mit Zusatztagesordnungspunkt 6: Antrag der Abgeordneten Joachim Günther (Plauen), Horst Friedrich (Bay- reuth), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Stadtumbau Ost – ein wichtiger Beitrag zum Aufbau Ost (Drucksache 15/750) . . . . . . . . . . . . . . . . Henry Nitzsche CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . Ernst Kranz SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Joachim Günther (Plauen) FDP . . . . . . . . . . Peter Hettlich BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Manfred Grund CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . Iris Gleicke, Parl. Staatssekretärin BMVBW . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 11: Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für wirtschaftliche Zusam- menarbeit und Entwicklung – zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Christian Ruck, Dr . Friedbert Pflüger, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU: Gegen Terror, Völkermord und Hunger- katastrophe in Simbabwe, um 3099 C 3099 C 3101 A 3103 A 3104 C 3105 D 3107 C 3108 D 3109 A 3109 A 3111 A 3113 D 3114 D 3116 A 3117 B IV Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. April 2003 Destabilisierung des südlichen Af- rikas zu vermeiden – zu dem Antrag der Abgeordneten Brigitte Wimmer (Karlsruhe), W alter Riester, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeord- neten Thilo Hoppe, Hans-Christian Ströbele, weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN: Hungerkatastrophe in Simbabwe weiter bekämpfen – In- ternationalen Druck auf die Regie- rung Simbabwes aufrechterhalten – zu dem Antrag der Abgeordneten Markus Löning, Ulrich Heinrich, wei- terer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Gemeinsame europäisch- afrikanische Initiative zur Lösung der Krise in Simbabwe starten (Drucksachen 15/353, 15/428, 15/429, 15/613) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Siegmund Ehrmann SPD . . . . . . . . . . . . . . . . Rudolf Kraus CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . . . Markus Löning FDP . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hans-Christian Ströbele BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anke Eymer (Lübeck) CDU/CSU . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 12: a) Antrag der Abgeordneten Cornelia Pieper, Ulrike Flach, weiterer Abge- ordneter und der Fraktion der FDP: Die Europäische Spallations-Neutro- nenquelle (ESS) in Deutschland för- dern (Drucksache 15/472) . . . . . . . . . . . . . . b) Antrag der Abgeordneten Katherina Reiche, Thomas Rachel, weiterer Ab- geordneter und der Fraktion der CDU/ CSU: Sachgerechte Planungsent- scheidungen zum Bau einer Europäi- schen Spallations-Neutronenquelle ermöglichen (Drucksache 15/654) . . . . . . . . . . . . . . Cornelia Pieper FDP . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ulrich Kasparick SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . Cornelia Pieper FDP . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Christoph Bergner CDU/CSU . . . . . . . . . Dietmar Nietan SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3118 D 3119 B 3120 D 3122 A 3122 C 3123 C 3124 D 3124 D 3125 A 3126 A 3126 D 3127 B 3128 D Thomas Rachel CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . Jörg Tauss SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Nächste Sitzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten . . . . . Anlage 2 Anwendung des Grunds atzes der Bundes- anstalt für Arbeit für Fort- und W eiterbil- dungsmaßnahmen „Erst platzieren, dann qua- lifizieren“; Zuordnung der Arbeitssuchenden zu Personal-Service-Agenturen, Begleitung der Übernahme durch Fort- und W eiterbil- dungsmaßnahmen MdlAnfr 39, 40 (36. Sitzung) Ulrich Petzold CDU/CSU Antw PStSekr Rezzo Schlauch BMWA . . . . . Anlage 3 Kritik des BRH an der Stellenbewirtschaftung des BMVEL MdlAnfr 45 (36. Sitzung) Albert Deß CDU/CSU Antw PStSekr Dr. Gerald Thalheim BMVEL Anlage 4 Maßnahmen gegen Preisdumping im Lebens- mittelhandel; Erlass gesetzlicher Vorschriften MdlAnfr 46, 47 (36. Sitzung) Gitta Connemann CDU/CSU Antw PStSekr Dr. Gerald Thalheim BMVEL Anlage 5 Zu Protokoll gegebene Rede zur Beratung über die Anträge – Die Europäische Spallations-Neutronen- quelle (ESS) in Deutschland fördern – Sachgerechte Planungsentscheidungen zum Bau einer Europäischen Spallations- Neutronenquelle ermöglichen (Tagesordnungspunkt 12 a und b) . . . . . . . . . Hans-Josef Fell BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 3130 C 3131 A 3132 C 3133 A 3133 B 3134 A 3134 A 3135 C 3135 D Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. April 2003 2995 (A) (C) (B) (D) 37. Sit Berlin, Donnerstag Beginn: 9
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    Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. April 2003 3133 (A) (C) (B) (D) auf das Vorhandensein qualifizierter Arbeitskräfte Ansiedlun- gen befördern will? sonal-Service-Agentur betreut und eventuell auch qualifi- ziert werden. Dabei wird es sich jedoch in der Regel nicht sen einer Wirtschaftspolitik gerecht werden, die unter V erweis vice-Agentur zugewiesenen Arbeitnehmer durch die Per- Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten * für die Teilnahme an Sitzungen der Parlamentarischen V ersamm- lung des Europarates Anlage 2 Antwort des Parl. Staatssekretärs Rezzo Schlauch auf die Fragen des Abgeordneten Ulrich Petzold (CDU/CSU) (36. Sit- zung, Drucksache 15/724, Fragen 39 und 40): Inwieweit kann – aus Sicht der Bundesregierung – der Grundsatz der Bundesanstalt fü r Arbeit, BA, im Rahmen ihrer aktuellen Geschäftspolitik für Maßnahmen der Fort- und W ei- terbildung „Erst platzieren, dann qualifizieren“ den Erfordernis- Abgeordnete(r) entschuldigt bis einschließlich Bätzing, Sabine SPD 03.04.2003 Bindig, Rudolf SPD 03.04.2003* Deittert, Hubert CDU/CSU 03.04.2003* Fahrenschon, Georg CDU/CSU 03.04.2003 Götz, Peter CDU/CSU 03.04.2003* Haupt, Klaus FDP 03.04.2003 Höfer, Gerd SPD 03.04.2003* Irber, Brunhilde SPD 03.04.2003 Jäger, Renate SPD 03.04.2003* Jonas, Klaus Werner SPD 03.04.2003* Dr. Köhler, Heinz SPD 03.04.2003 Kramme, Anette SPD 03.04.2003 Leibrecht, Harald FDP 03.04.2003* Letzgus, Peter CDU/CSU 03.04.2003* Lintner, Eduard CDU/CSU 03.04.2003* Dr. Lucyga, Christine SPD 03.04.2003* Riester, Walter SPD 03.04.2003* Dr. Scheer, Hermann SPD 03.04.2003* Schmidt (Eisleben), Silvia SPD 03.04.2003 Siebert, Bernd CDU/CSU 03.04.2003* Tritz, Marianne BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 03.04.2003* Anlagen zum Stenografischen Bericht Nach welchen Gesichtspunkten sollen Arbeitsuchende den aufzubauenden Personal-Service-Agenturen zugeordnet wer- den und inwieweit soll die Übernahme in Personal-Service- Agenturen durch Maßnahmen de r Fort- und W eiterbildung flankiert werden? Zu Frage 39: Dieser Grundsatz der Bundesanstalt für Arbeit ent- spricht dem geltenden Recht. § 4 des Dritten Buches Sozialgesetzbuch regelt wörtlich: „(1) Die Vermittlung in Ausbildung und Arbeit hat Vorrang vor den Leistungen zum Ersatz des Ar- beitsentgelts bei Arbeitslosigkeit. Der Vermittlungsvorrang gilt auch im Verhältnis zu den sonstigen Leistungen der aktiven Arbeitsförde- rung, es sei denn, die Leistung ist für eine dauerhaf- tere Eingliederung erforderlich.“ Wenn die Bundesanstalt für Arbeit also die V ermitt- lung in Arbeit einer Qualifiz ierung vorzieht, entspricht sie einem gesetzlichen Auftrag. Geschäftspolitisches Ziel der Bundesanstalt für Arbeit im Bereich der beruflichen W eiterbildungsförderung ist es, nun noch die T eilnahme an solchen Maßnahmen zu fördern, die mit hoher Wahrscheinlichkeit auch zu einer beruflichen Eingliederung fü hren. Eine strengere Aus- richtung der W eiterbildungsförderung an den betrieb- lichen und arbeitsmarktlichen Erfordernissen entspricht der von vielen Seiten geforderten Effizienzverbesserung und liegt sowohl im Interesse der T eilnehmer als auch der Unternehmen. Eine frühzeitige Einbeziehung der Bundesanstalt für Arbeit in Entscheidungsprozesse zu Neuansiedlungen kann in besonderer Weise dazu beitra- gen, die berufliche W eiterbildung an einem konkreten Qualifikationsbedarf auszurichten und hohe Eingliede- rungsquoten zu realisieren. Zu Frage 40: Entsprechend den Vorschlägen der Kommission Mo- derne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt über die Nut- zung der vermittlungsorientierten Arbeitnehmerüberlas- sung sollen die Personal-Service-Agenturen zum Abbau der Arbeitslosigkeit beitragen. Ziel ist die V ermittlung von Arbeitslosen, indem die Personal-Service-Agentu- ren Arbeitslose einstellen, um diese vorrangig zu verlei- hen. Verleihfreie Zeiten sollen für die Qualifizierung und Weiterbildung genutzt werden. W elche Arbeitslosen in eine Personal-Service-Agentur einmünden, richtet sich nach den Erfordernissen und den V oraussetzungen im Einzelfall. Hierüber entscheidet das örtliche Arbeitsamt. Arbeitslose mit geringer Qualifikation und/oder indivi- duellen Vermittlungshemmnissen sollen besonders ge- fördert werden (Bundestagsdrucksache 15/25, Seite 28 zu § 37c Abs. 2). In verleihfreien Zeiten sollen die der Personal-Ser- 3134 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. April 2003 (A) (C) (B) (D) um umfassende Qualifizierungsmaßnahmen handeln, da die Arbeitnehmer vorrangig verliehen werden sollen. Daraus folgt auch, dass eine Flankierung durch eine er- gänzende, durch das Arbeitsamt geförderte W eiterbil- dung im Regelfall nicht erfolgen wird. Anlage 3 Antwort des Parl. Staatssekretärs Dr . Gerald Thalheim auf die Frage des Abgeordneten Albert Deß (CDU/CSU) (36. Sitzung, Drucksache 15/724, Frage 45): Hat die Bundesregierung Erkenntnisse darüber , dass der Bundesrechnungshof kürzlich ge gen die Stellenbewirtschaf- tung im BMVEL größte Bedenken angemeldet hat, und, wenn ja, was kritisiert der Bundesrechnungshof? Der Bundesrechnungshof prüft derzeit die V erwen- dung der neuen Stellen, die das BMVEL im Haushalt 2002 erhalten hat. Das Prüf verfahren ist noch nicht ab- geschlossen. Eine abschließende Äußerung ist daher ge- genwärtig nicht möglich. Es trifft jedoch zu, dass der Bundesrechnungshof in diesem Prüfverfahren bisher die Auffassung vertritt, BMVEL habe einen Teil dieser Stel- len nicht bestimmungsgemäß eingesetzt. Das Ministe- rium widerspricht dieser Auf fassung nachhaltig und hat ausführlich dargelegt, dass die Stellen zweckentspre- chend verwandt wurden. Anlage 4 Antwort des Parl. Staatssekretär Dr. Gerald Thalheim auf die Fra- gen der Abgeordneten Gitta Connemann (CDU/CSU) (36. Sitzung, Drucksache 15/724, Fragen 46 und 47): Trifft der Bericht in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ vom 6. Februar 2003, Seite 12 zu, demzufolge die Bundesmi- nisterin für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft, Renate Künast, trotz des W iderstandes von Bundes kanzler Gerhard Schröder weiter gegen „Preisdumping“ im Lebens- mittelhandel vorgehen wolle, und sind weitere, über die in der Antwort des Parlamentarischen Staatssekretärs bei der Bundes- ministerin für V erbraucherschutz, Ernährung und Landwirt- schaft Matthias Berninger vom 13. März 2003 auf meine schrift- liche Frage in B undestagsdrucksache 15/730, Arb.-Nr . 2/280, geschilderten Gespräche mit betrof fenen Marktbeteiligten hi- nausgehende Maßnahmen geplant? Erwägt die Bundesregierung angesichts der wiederholten Ankündigung der Bundesministe rin für V erbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft, Renate Künast, gegen Preis- dumping vor allem im Bereich des Verkaufs von Lebensmit- teln vorgehen zu wollen, den Erlass gesetzlicher Vorschriften, die über die auf Betreiben de r Fraktion der CDU/CSU 1998 eingeführte Vorschrift des § 20 Abs. 4 Satz 2 des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen – V erbot von Unter - Einstands-Verkäufen von Lebensmitteln – hinausgehen, und, wenn nein, warum nicht? Zu Frage 46: Der in der Frage genannte Bericht in der F AZ ver- deutlicht in zutreffender Weise, dass Preisdumping wei- terhin ein Thema für die Bundesministerin für V erbrau- cherschutz, Ernährung und Landwirtschaft, Renate Künast, ist. Nähere Ausführungen der Ministerin zu den in diesem Zusammenhang mö glicherweise beabsichtig- ten Maßnahmen sind in dem Bericht nicht enthalten. Die derzeit im Zusammenhang mit der Thematik des Preisdumping angedachten Maßnahmen sind Ihnen be- reits in der Antwort auf ihre schriftliche Frage am 13. März 2003 durch den Parl . Staatssekretär im Bun- desministerium für V erbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft, Matthias Berninger, mitgeteilt worden. Zu Frage 47: Die Bundesregierung erwägt nicht, gesetzliche V or- schriften zu erlassen, die über das bereits geltende Verbot des systematischen Verkaufs unter Einstandspreis hinaus- gehen. Wie die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes im Falle Wal-Mart zeigt, ist dieses Verbot durchaus geeig- net, missbräuchlichen Niedrigpreisstrategien entgegen zu wirken. Es ist Aufgabe der Kartellbehörden, auf die Ein- haltung des Verbots zu achten und Verstöße durch Miss- brauchsverfahren zu ahnden. Anlage 5 Zu Protokoll gegebene Rede zur Beratung über die Anträge: – Die Europäische Spallations-Neutronenquelle (ESS) in Deutschland fördern – Sachgerechte Planungsentscheidungen zum Bau einer Europäischen Spallatons-Neutro- nenquelle ermöglichen (Tagesordnungspunkt 12 a und b) Hans-Josef Fell (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Neutronenforschung ist unver zichtbar. Sie leistet einen wichtigen Beitrag zum Beispi el für die Biotechnologie, für die Materialforschung, für die Grundlagenforschung ganz allgemein. Eine mo derne Industrienation wie Deutschland braucht leistungsfähige Neutronenfor- schung, gerade auch für die Herausforderungen im welt- weiten Wettbewerb neuer Pr odukte. Deutschland hat eine gute Basis in der Neutronenforschung. Nach Auffassung von Bündnis 90/Die Grünen muss die Erzeugung von Neutronen in ihren gesamten gesell- schaftlichen Auswirkungen betrachtet werden. Dazu ge- hört auch die Proliferation. Eine existenzielle Vorgabe jeder Neutronenforschung muss es sein, keine Proliferationsgefahren durch hoch angereichertes Uran zu schaffen. Die momentanen weltpolitischen kriegerischen Ent- wicklungen, deren Ursache auch im V ersuch der Ein- dämmung von Massenvernichtungswaf fen liegt, zeigen die Berechtigung dieser Forderung. Aufgrund dieser Vorgabe besteht ein entsch eidender Unterschied zwi- schen den beiden Arten der Erzeugung von Forschungs- neutronen. Zunächst die Kernspaltungsreaktoren: Sie haben den Nachteil, dass zu ihrem Be trieb kernwaffentaugliches Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. April 2003 3135 (A) (C) (B) (D) Material wie hoch angereichertes Uran, HEU, besonders geeignet ist. Dieses HEU fi ndet die Begehrlichkeit von Terroristen oder Regimen, die ein Nuklearwaf fenarsenal aufbauen. Die USA haben aus diesem Grund bereits seit 1980 ein weltweit erfolgreiches Programm zur Umrüs- tung von Forschungsreakto ren auf nicht waf fentaug- liches, niedrig angereichertes Uran begonnen. Aus der Sicht der grünen Bundestagsfraktion ist es bedauerlich, dass die Bayeri sche Staatsregierung in den Verhandlungen mit der Bundes regierung sich weigerte, eine Umrüstung für den neuen Forschungsreaktor in Garching auf niedrig angereichertes Uran vor Inbetrieb- nahme durchzuführen. Eine solche Umrüstung vor Inbe- triebnahme wäre möglich gewesen. Die gerade in den USA neu in der Entwicklung be- findlichen hoch dichten ni edrig angereicherten Uran- brennstoffe eröffnen dafür eine technologische Option, die keinerlei Einschränkung für die Forschung bedeutet. Die zweite Form der Erzeugung von Neutronen ist die Spallation: Dafür sind keine waf fentauglichen Uran- brennstoffe erforderlich. Wir sehen daher in der Spalla- nal knappen Kassen lassen si ch nicht alle Projekte ver- wirklichen, die eine hohe Forschungsqualität aufweisen. Bündnis 90/Die Grünen wollen daher auch Großpro- jekte aus anderen Forschungszweigen in diese Diskussion einbeziehen. So wird beispielsweise die Fusionsforschung der Energieforschung zugeordnet. Fusionsener gie wird aber in den nächsten 50 Jahren nicht zur V erfügung ste- hen. Nach den Untersuchungen vieler W issenschaftler wird es in 50 Jahren aber möglich sein, den gesamten Energiebedarf aus erneuerbaren Energien zu decken. Die Forschung im Bereich der Fusionsener gie halten wir für überflüssig, wegen ihren hohen Kosten gar für schädlich. Wir schlagen daher vor , zur Erfüllung der Aufgaben der Grundlagenforschung die für den ITER vorgesehenen Mittel für die Erforschung von erneuerba- ren Energien sowie die Errichtung einer europäischen Spallationsquelle zu verwenden. Auch wenn die Anträge der Union und der FDP da- rauf abzielen, die Debatte über die ESS neu aufzurollen, können wir ihnen dennoch ni cht zustimmen. Union und FDP machen in ihren Anträgen – wie so oft – keinerlei tionsquelle die optimale Lösung zur Erzeugung von For- schungsneutronen. Bündnis 90/Die Grünen begrüssen daher seit langem die Entw icklung einer europäischen Spallationsquelle. Umso be dauerlich fanden wir , dass die Begutachtung des Wissenschaftsrates negativ ausfiel. Selbstverständlich akzeptieren wir dieses Votum als wis- senschaftlich fundiert. Allerdings sind wir der Meinung, dass in eine politische Entscheidung auch die nicht wis- senschaftlichen Argumente wie eben die Non-Prolifera- tion in die Entscheidungs findung einbezogen werden müssen. Wir sind uns allerdings be wusst, wie schwierig die Finanzierung wird. Sie kann nur im europäischen Kon- text stattfinden. Es ist daher erforderlich, auf nationaler und internationaler Ebene einen Abwägungsprozess über die Notwendigkeit verschie dener Formen der Grundla- genforschung voranzutreiben. Angesichts der internatio- Finanzierungsvorschläge. Wir von der grünen Bundes- tagsfraktion schlagen einen Verzicht auf den Fusions- energiereaktor ITER vor und liefern damit den Finanzie- rungsvorschlag für die ESS. Damit hätte auch der Osten Deutschland eine Chance, endlich eine Großforschungs- einrichtung zu bekommen. Auch wir halten dies zur Stärkung des Wissenschafts- und Technologiestandortes Ostdeutschland für erforderlich. Wir würden uns freuen, wenn auch die FDP diesen Vorschlag aufgreifen würde, damit eine wirkliche Reali- sierungschance entsteht. Für ITER gibt es keine realisti- sche Bewerbung eines ostdeutschen Standortes, damit gibt es auch keine V erwirklichung einer Großfor- schungseinrichtung für Ostdeutschland. Wir von Bünd- nis 90/Die Grünen dagegen haben einen konkreten V or- schlag und bitten Sie deshal b um Ihre Unterstützung in der Diskussion. 37. Sitzung Berlin, Donnerstag, den 3. April 2003 Inhalt: Redetext Anlagen zum Stenografischen Bericht Anlage 1 Anlage 2 Anlage 3 Anlage 4 Anlage 5
Gesamtes Protokol
Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1503700000


Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
Sitzung ist eröffnet.

Der Kollege Detlef Dzembritzki feierte am 23. März
seinen 60. Geburtstag. Herzlichen Glückwunsch nach-
träglich im Namen des ganzen Hauses!


(Beifall)


Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundene
Tagesordnung zu erweitern. Die Punkte sind in der Ih-
nen vorliegenden Zusatzpunktliste aufgeführt:

1 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der CDU/CSU:
Haltung der Bundesregierung zu einem drohenden zusätz-
lichen Defizit von bis zu 15 Milliarden Euro durch Ar-
beitslosigkeit und Steuerausfälle

2 Beratung des Antrags der Abgeordneten Karl-Josef Laumann,
Dagmar Wöhrl, Hartmut Schaue rte, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der CDU/CSU: Ausbildungsbereitschaft
der Betriebe stärken – V erteuerung der Ausbildung ver-
hindern – Drucksache 15/739 –

Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit (f)

Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung

Rede
Haushaltsausschuss

3 Beratung des Antrags der Ab geordneten Willi Brase, Jör g
Tauss, Doris Barnett, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der SPD sowie der Abgeordneten Grietje Bettin, Dr . Thea
Dückert, Kerstin Andreae, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Offensive
für Ausbildung – Modernisierung der beruflichen Bildung
– Drucksache 15/741 –

Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung (f)

Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und J
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicheru

4 Weitere Überweisungen im ver einfachten
gänzung zu TOP 17)
zung

, den 3. April 2003

.00 Uhr

a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Maria Eichhorn,
Hannelore Roedel, Dr. Maria Böhmer, weiterer Abgeord-
neter und der Fraktion der CDU/CSU: Benachteiligung
von Frauen wirksam bekämpfen – Konsequenzen zie-
hen aus dem CEDA W-Bericht der Bundesr egierung
– Drucksache 15/740 –

Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (f)

Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung

b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Lothar Mark,
Hans Büttner (Ingolstadt), Detlef Dzembritzki, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abge-
ordneten Hans-Christian St röbele, Dr. Ludger V olmer,
Volker Beck (Köln), weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Wiederbele-
bung des Friedensprozesses in Kolumbien – Drucksa-
che 15/742 –

Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss (f)

Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung


(Er gänzung zu T OP 18)


text

(V ermittlungsausschuss)

zes zur Neur egelung des Energiewirtschaftsr echts
– Drucksachen 15/197, 15/432, 15/657, 15/712 –

Berichterstattung:
Abgeordneter Ludwig Stiegler

6 Beratung des Antrags der Ab geordneten Joachim Günther

(Plauen), Horst Friedrich (Bayreuth), Rainer Brüderle, weite-

rer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Stadtumbau
Ost – ein wichti ger Beitrag zum Aufbau Ost – Drucksa-
che 15/750 –

Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen (f)

Rechtsausschuss
Finanzausschuss

tsausschuss

g des Antrags der Ab geordneten Thomas Dörflinger,
d Kauder (Bad Dürrheim), Hans-Peter Repnik, weite-
eordneter und der Fraktion der CDU/CSU: Rechts-
ugend
ng


(Er Haushal 7 Beratun Siegfrie rer Abg verordnung nach der Luft verkehrsordnung umgehend Präsident Wolfgang Thierse erlassen – Rückübertragung der Flugsicherung über süddeutschem Gebiet – Drucksache 15/651 – Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bauund Wohnungswesen Auswärtiger Ausschuss Rechtsausschuss Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union 8 Beratung des Antrags der Abgeordneten Karin RehbockZureich, Reinhard Weis geordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Winfried Hermann, Kerstin An dreae, Volker Beck weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN: Entlastung des süddeutschen Raumes vom Fluglärm des Flughafens Zürich dur chsetzen – Drucksache 15/744 – Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bauund Wohnungswesen Auswärtiger Ausschuss Rechtsausschuss Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union 9 Beratung des Antrags der Abgeordneten Bir git Homburger, Ernst Burgbacher, Horst Friedrich ordneter und der Fraktion der FDP: Lärmschutz durch Rechtsverordnung über süddeu tschem Raum sichern – Flugsicherheit gewährleisten – Drucksache 15/755 – Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bauund Wohnungswesen Auswärtiger Ausschuss Rechtsausschuss Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Darüber hinaus wurde vereinbart, die Tagesordnungspunkte 13 – Terrorismusbekämpfung – und 18 a – Melderechtsrahmengesetz – abzusetzen. Sind Sie damit einverstanden? – Ich höre keinen W iderspruch. Dann ist so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 3 auf: Abgabe einer Erklärung durch den Bundeskanzler zur internationalen Lage und zu den Ergebnissen des Europäischen Rates in Brüssel am 20./21. März 2003 Nach einer interfraktionellen V ereinbarung sind für die Aussprache im Anschluss an die Regierungserklärung zweieinhalb Stunden vorgesehen. – Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Das Wort zur Abgabe eine r Regierungserklärung hat der Bundeskanzler, Gerhard Schröder. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)





(A) (C)


(B) (D)



Gerhard Schröder (SPD):
Rede ID: ID1503700100

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! In ihrer Verantwortung für Frieden und Sicher-
heit hat sich die Bundesregierung stets von folgenden
Grundsätzen leiten lassen: Wir treten für die Herrschaft
und die Durchsetzung des Rech ts ein. W ir stehen für
Friedenspolitik durch Krisenprävention und kooperative
Konfliktlösung. Wir verfolgen das Ziel umfassender Si-
cherheit: durch multilaterale Zusammenarbeit, durch
Schutz vor Risiken und Bekämpfung der Ursachen von
Gewalt, durch nachhaltige Abrüstung und Entwicklung
und – wo dies unabdingbar ist – auch durch polizeiliche
und militärische Mittel. Schließlich setzen wir in den in-
ternationalen Konflikten auf das Gewaltmonopol der
Vereinten Nationen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Das ist die Grundlage, auf der Deutschland seine Ver-
antwortung wahrgenommen hat, und zwar in der Euro-
päischen Union und in der internationalen Allianz gegen
den Terror, zum Beispiel in Afghanistan und auch auf
dem Balkan. Erst zu Beginn dieser Woche hat die Euro-
päische Union mit der Miss ion „Concordia“ den Frie-
denseinsatz in Mazedonien von der NA TO übernom-
men. Das ist an sich betrachtet gewiss keine große
Mission. Vielmehr ähnelt sie eher einer Polizeiaktion.
Gleichwohl kommt es darauf an, zu erkennen, dass da-
mit ein Weg beschritten worden ist, der wichtig und rich-
tig ist und der weitergegangen werden muss.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Ich halte es für besonders bemerkenswert, dass die
Europäische Union gerade in Mazedonien auch ihre mi-
litärische Handlungsfähigkeit zum Ausdruck bringt.
Denn wir erinnern uns: Es war in Mazedonien, wo es uns
zusammen mit unseren Partnern gelungen ist, einen
schwelenden Konflikt einzudämmen und damit einem
drohenden Bürgerkrieg entgegenzutreten bzw . ihn gar
nicht erst ausbrechen zu lassen.

Das Beispiel Mazedonien – deswegen ist es so enorm
wichtig – steht für eine eu ropäische Sicherheitspolitik,
die auch militärische Mittel vorhält, um Kriege zu ver-
hindern. Ich denke, das ist di e Orientierung, die für uns
alle auch in der Zukunft wichtig ist.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Unsere Verantwortung haben wir im Weltsicherheits-
rat nachdrücklich wahrgenommen. Bis zum letzten Au-
genblick haben wir gemeinsam mit der Mehrheit der Mit-
glieder des Sicherheitsrates, mit Frankreich, Russland
und China, aber auch mit Staaten wie Mexiko und Chile


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


alle Anstrengungen unternommen, um den Irakkonflikt
im Rahmen der Vereinten Nationen, das heißt mit friedli-
chen Mitteln, zu lösen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Wir waren und sind deshalb über zeugt, dass es eine Al-
ternative zum Krieg gegeben hätte,


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


eine Alternative, die schlicht heißt: Entwaf fnung des
Iraks mit friedlichen Mitteln unter dauerhafter internati-
onaler Kontrolle. Dass dies er Weg nicht zu Ende ge-
gangen worden ist, halten wi r nach wie vor für falsch.
Aber es stimmt: W ir haben diesen Krieg nicht verhin-
dern können. Unabhängig von der inneren Einstellung






(A) (C)



(B) (D)


Bundeskanzler Gerhard Schröder
dazu, denke ich, kann ich im Namen des ganzen Hauses
sagen: Unsere Gedanken und unser Mitgefühl sind bei
den Opfern des Krieges und ihren Angehörigen, und
zwar bei den zivilen Opfern ebenso wie bei den Solda-
ten. Wir alle hoffen, dass eine möglichst rasche Beendi-
gung des Krieges die Zahl der Opfer so gering wie mög-
lich hält. Wir wünschen, dass das irakische Volk durch
die Überwindung der Diktatur seine Hof fnung auf ein
Leben in Frieden, in Freihe it und in Selbstbestimmung
so rasch wie möglich verwirklichen kann.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Natürlich ist das, womit wir uns zu beschäftigen ha-
ben, eine internationale Kr ise, mit der große Schwierig-
keiten verbunden sind. Aber jede Krise bietet auch eine
Chance. Wenn wir Entwicklungen, wie sie zu diesem
Krieg geführt haben, zukünf tig verhindern wollen, dann
müssen wir die Mechanismen der Durchsetzung unserer
Politik deutlich verbessern. Das ist ein Auftrag, der sich
insbesondere an unser gemeinsames Europa richtet. W ir
haben in Europa Krieg und Rivalität überwinden kön-
nen. Aus exakt dieser Erfahrung heraus langfristige Per-
spektiven für eine W elt der Sicherheit und der Zusam-
menarbeit zu entwickeln, aber auch zu verwirklichen,
das begreifen wir als unsere deutsche ebenso wie unsere
europäische Verpflichtung.

Die Bundesregierung hat vor diesem Hinter grund
schon frühzeitig und aus einer Vielzahl von Gründen er-
klärt: Deutschland beteiligt sich nicht an diesem Krieg.
Dabei bleibt es.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Das heißt, dass sich deutsc he Soldaten an Kampfhand-
lungen im oder gegen den Ira k nicht beteiligen werden.
Klar ist aber auch – das ist deutlich geworden –:
Deutschland steht unabhängig von dieser klaren Ent-
scheidung zu seinen Bündnisverpflichtungen. Wir dür-
fen nicht ver gessen – das darf auch in unserem Land
nicht vergessen werden –, dass es sich bei jenen Staaten,
die jetzt Krieg gegen den Irak führen, um Bündnispart-
ner und um befreundete Nationen handelt. Deshalb wer-
den wir die ihnen gegebene n Zusagen jenseits unserer
klaren Nichtbeteiligung auch einhalten. Das beinhaltet
die Gewährung der Überflug- und Nutzungsrechte sowie
den Schutz der Basen in Deutschland ebenso wie jene
Maßnahmen, die wir zum Schutz der Türkei im Bündnis
ergriffen haben.

Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Be-
schluss vom 25. März dieses Jahres die Auf fassung der
Bundesregierung bestätigt, dass es für die Beteiligung
deutscher Soldaten an diesen A WACS-Aufklärungsflü-
gen keines Bundestagsmandates bedarf. Gleichwohl hat
die Bundesregierung – wie übrigens auch andere NATO-
Bündnispartner und die Europäische Union – die Türkei
vor den Folgen einer militärischen Intervention im Nord-
irak gewarnt. Wir haben da rauf hingewiesen – wir be-
kräftigen das –, dass, sollte die Türkei Kriegspartei wer-
den, eine solche Entwicklung jedenfalls den Abzug deut-
scher Soldaten aus den A WACS-Flugzeugen zur Folge
haben müsste.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Die Türkei hat wiederholt versichert, dass sie gegen-
wärtig keine Truppenstationierungen und keine Verände-
rungen des Status quo im Nordirak beabsichtigt, die über
humanitäre Sicherungsaufgaben hinausgehen. Wir haben
keine Veranlassung, an dem Wort der türkischen Regie-
rung zu zweifeln.

Lassen Sie mich in dies em Zusammenhang ein Wort
zu einer Diskussion sagen, die im Kontext mit dem Be-
schluss des Bundesverfassungsgerichts stattgefunden
hat und weiterhin stattfinden wird; ich meine die Debatte
darüber, ob wir ein Entsendegesetz brauchen oder nicht.
Ich denke – ich habe meine Auf fassung öffentlich geäu-
ßert –, wir sollten diese De batte mit allem Ernst führen.
Die richtige Zeit dafür wi rd nach der Beendigung des
Krieges sein.

Ich will ganz klar sagen, dass jedenfalls meine Bun-
desregierung nicht beabsichtigt, aus – ich verweise auf
die Entscheidung des Bundes verfassungsgerichts – ei-
nem Parlamentsheer eine Regierungsarmee zu machen.
Ich wiederhole: Das ist nicht unsere Absicht. W ir müss-
ten darüber reden – das geht alle Fraktionen in diesem
Hohen Hause an –, ob wir – bei aller Bestätigung des
Letztentscheidungsrechts des Parlamentes, in welcher
Form auch immer – in bestimmten Fällen nicht mehr
Flexibilität für Regierungshandeln brauchen. Meine
Bitte wäre: Lassen Sie uns prüfen, ob wir miteinander in
diesem Hohen Hause eine Regelung finden können, die
diesem Gedanken gerecht wi rd. Ich jedenfalls bin dazu
bereit. Eine solche Regelung wäre auch ein Stück W ie-
dereinsetzung von Politik in Bereichen, wo sonst gele-
gentlich Gerichte tätig werden. Wenn man es verhindern
kann, dann muss das nicht immer sein.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der FDP)


Ich habe gesagt, dass die Bundesregierung mit der
Staatengemeinschaft in dem Ziel übereinstimmt, dass al-
les getan werden muss, um die Zahl der Opfer des Krieges
so gering wie möglich zu halten. Ich denke, das ist für alle
in diesem Hohen Hause eine Selbstverständlichkeit.

Vorrangig geht es also darum, eine drohende humani-
täre Katastrophe im Irak zu verhindern. Die Bundesre-
gierung unterstützt deshalb die Vereinten Nationen bei
ihren Vorbereitungen, humanitäre Nothilfe zu leisten,
wo immer das derzeit möglich ist. In der ver gangenen
Woche hat der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen
die Wiederaufnahme des Hilfsprogramms „Öl für Le-
bensmittel“ einstimmig beschlossen. Das geschah übri-
gens unter maßgeblicher deutscher Mitwirkung. Ich will
sehr deutlich sagen: Die deutschen Diplomaten, allen
voran Herr Pleuger, die daran gearbeitet haben, verdie-
nen wirklich unser aller Respekt; denn sie haben eine
gute Arbeit gemacht.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der Bundeskanzler Gerhard Schröder FDP und des Abg. Dr. Peter Gauweiler [CDU/ CSU] und des Abg. W illy Wimmer [Neuss] [CDU/CSU])





(A) (C)


(B) (D)


Die erzielte Einigung erlaubt es dem Generalsekretär
der Vereinten Nationen für zunächst 45 T age, das
Hilfsprogramm in eigener Regie und in enger Abstim-
mung mit den Verantwortlichen vor Ort weiterzuführen.
Die Bundesregierung erwartet, dass damit auch die be-
reits vom Sanktionsausschus s der V ereinten Nationen
gebilligten Lieferungen von Nahrungsmitteln und Hilfs-
gütern anderer Art die Empfänger auch wirklich errei-
chen; denn das ist die wichti gste Aufgabe. Dies – darü-
ber müssen wir uns im Klaren sein – wird jedoch bei
weitem nicht ausreichen, um die humanitäre Notlage, die
durch den Krieg hervorgerufen wird, zu bewältigen.

Generalsekretär Kofi Annan hat die Mitgliedstaaten
der Vereinten Nationen zu schneller und vor allen Din-
gen zu großzügiger Hilfe au fgerufen. Deutschland – ich
bin froh darüber, dass auch in diesem Punkt prinzipiell
Einigkeit in diesem Hohen Hause besteht – ist bereit,
sich unter dem Dach der Vereinten Nationen mit zusätz-
lichen Mitteln der humanitäre n Hilfe im Irak zu beteili-
gen. Wir haben die Mittel für humanitäre Hilfe von
40 Millionen Euro auf 80 Millionen Euro aufgestockt.
Aus den Mitteln des Bundesministeriums für wirtschaft-
liche Zusammenarbeit und En twicklung werden weitere
10 Millionen Euro für die Flüchtlings- und für die Not-
hilfe bereitgestellt.

Die Vereinten Nationen müssen die zentrale Rolle
spielen, wenn es darum ge ht, die Zukunft des Irak und
die politische Neuordnung des Landes nach dem Ende
des Krieges zu gestalten.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


So interessant es sein mag, schon jetzt über Einzelhei-
ten eines notwendigen Wiederaufbaus im Irak zu dis-
kutieren und gelegentlich au ch zu streiten – ich warne
davor, sich bereits jetzt in Details zu verlieren und über
sie zu spekulieren. W iederaufbau, meine Damen und
Herren, ist weit mehr als die Reparatur von Gebäuden,
Ölquellen und zerstörter Infrastruktur.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Wir werden nach innen wie nach außen deutlich ma-
chen müssen, dass ein wirklicher W iederaufbau der Ge-
sellschaft nicht allein mit ein paar Unternehmenskonzes-
sionen zu erreichen ist. Sc hon deshalb wird es wichtig
sein, unabhängig von der finanziellen Verantwortung die
Unterstützung der gesamten internationalen Gemein-
schaft zu mobilisieren. Das geht nur im Rahmen und
mithilfe der Vereinten Nationen; das muss in die Köpfe
aller Beteiligten hinein.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie der Abg. Sabine Leutheusser-Schnarrenberger [FDP])


Auch der Wiederaufbauprozess kann und darf nur unter
dem Dach der V ereinten Nationen or ganisiert werden.
Ich sehe nicht, wie er auf andere Weise die notwendigen
Legitimationsgrundlagen erhalten sollte. Für die Schaf-
fung einer gerechten und de mokratischen Nachkriegs-
ordnung im Irak und der gesamten Region erscheinen
mir dabei ein paar Folgerungen nötig zu sein:

Erstens. Die territoriale Integrität des Irak muss erhal-
ten bleiben. Seine Unabhängigkeit und seine politische
Souveränität müssen vollständig wiederher gestellt wer-
den.

Zweitens. Das irakische Volk muss über seine politi-
sche Zukunft selbst bestimmen können. Die Rechte der
dort lebenden Minderheiten müssen gesichert werden.

Drittens. Entscheidend ist, dass die enormen Ressour-
cen des Landes – die Ölvorkommen und die anderen na-
türlichen Ressourcen – im Besitz und unter der Kontrolle
des irakischen Volkes bleiben. Sie müssen ihm zugute
kommen und für nichts anderes als den W iederaufbau
verwendet werden.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Viertens. Im Nahen und Mittleren Osten muss ein po-
litischer Stabilisierungsprozess in Gang kommen, der al-
len in der Region lebenden Völkern eine Perspektive für
ein Leben in Frieden und W ohlstand eröffnet. Dazu ge-
hört vor allem die Lösung des Nahostkonflikts im Rah-
men einer stabilen Friedensordnung, die das Existenz-
recht des Staates Israel und die Sicherheit seiner Bürger
ebenso garantiert, wie es den Palästinensern einen unab-
hängigen, lebensfähigen und demokratischen Staat er-
möglicht. Zentrale Voraussetzung dafür ist die rasche
Veröffentlichung des vom so genannten Nahostquartett
erarbeiteten Friedensfahrplans und dessen Annahme
durch alle Konfliktparteien. Ich betone, meine Damen
und Herren: durch alle Konfliktparteien.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Dies bedeutet unmittelbar, dass die Gewalt wirksam ein-
gedämmt, Reformschritte in der palästinensischen
Selbstverwaltung vorangetrieben und auch der israeli-
sche Siedlungsbau gestoppt werden müssen.

Ich habe von unserer V erantwortung gesprochen, die
über den augenblicklichen Ko nflikt hinausweist und hi-
nausweisen muss. Auf seiner außerordentlichen T agung
nach den Terroranschlägen auf New York und Washing-
ton hat der Europäische Rat am 21. September 2001 un-
ter anderem beschlossen, die Gemeinsame Außen- und
Sicherheitspolitik weiter auszubauen und aus der euro-
päischen Sicherheits- und V erteidigungspolitik umge-
hend ein einsatzbereites Instrument zu machen. Niemand
konnte in den letzten Wochen und Monaten die Schwie-
rigkeiten übersehen, die da mit verbunden sind; das ist
keine Frage. Aber darf es angesichts der Schwierigkeiten
dazu kommen, dass das Ziel aufgegeben wird, das in die-
ser Entscheidung definiert wo rden ist? Ich meine: ganz
klar nein.

Als Ziel haben die europä ischen Staats- und Regie-
rungschefs „die Integration aller Länder in ein gerechtes
weltweites System für Sicherheit, geteilten W ohlstand
und weitere Entwicklung“ gena nnt. An diesem Ziel gilt






(A) (C)



(B) (D)


Bundeskanzler Gerhard Schröder
es festzuhalten. Jedenfalls für Deutschland kann ich sa-
gen, dass wir uns diesem Ziel in den letzten Wochen und
Monaten in besonderer Weise verpflichtet gefühlt haben
und davon auch nicht abgewichen sind.

Aber wir müssen erkennen, dass es mit der Prokla-
mation von Zielen nicht geta n ist. Weltweite und grenz-
überschreitende Risiken nehmen eher zu, als dass sie
abnehmen. Die Entwicklung und Verbreitung von Mas-
senvernichtungswaffen haben ein höheres Ausmaß an-
genommen als selbst zu den Zeiten des Kalten Krieges.
Diesen Risiken können wir eb en nicht punktuell begeg-
nen; vielmehr können wir ihnen nur multilateral begeg-
nen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Wollte man auf Dauer anders verfahren, würde dies die
Legitimationsgrundlagen vieler demokratischen Gesell-
schaften in schwerster W eise beeinträchtigen, wenn
nicht sogar auf Dauer zerstö ren. Dies muss man sehen,
wenn man über die internationale Situation diskutiert.

Wir können diesen Risiken also nur multilateral be-
gegnen, indem wir uns dem Thema Sicherheit umfas-
send nähern, als Sicherheit im politischen, im sozialen,
ebenso im militärischen – keine Frage –, aber eben auch
im kulturellen und ökologischen Sinne. Gleichzeitig
müssen wir davon abkommen, auf die Bedrohung etwa
durch Massenvernichtungswaffen stets nur punktuell zu
reagieren.

Der Konflikt um den Irak und sein mögliches Waffen-
potenzial muss der Staatengemeinschaft eine wirkliche
Lehre sein, neue Ansätze zur Stärkung multilateraler Re-
gelungen, zur Nichtverbreitung und zur Rüstungskon-
trolle und zu dazugehörenden Verifikationsmechanismen
zu entwickeln.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Übrigens mit Bezug auf ein sehr sensibles Thema
sage ich dann genauso klar : Niemand darf sich bei der
Verbreitung von Material, das zur Herstellung von Mas-
senvernichtungswaffen taugt, damit herausreden kön-
nen: Wenn wir nicht liefern , tun es andere. – Das ist
keine Logik, die dem abhilft.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Wir brauchen umgehend eine weitergehende Vereinheit-
lichung des Ausfuhrsystems innerhalb der Europäischen
Union.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Sie wissen, dass Deutschland mit diesen Ausfuhren und
mit allen, die mit W affen zu tun haben, in besonderer
Weise restriktiv umgeht. Da s ist gelegentlich, übrigens
auch intern, kritisiert worden, aber ich halte dies für den
richtigen Weg, wenn man wirklich zu einem umfassen-
den Abrüstungsregime kommen will und Zustände wie
die, die uns jetzt beschäftigen, auf Dauer vermeiden will.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Würden wir dies in Europa schaffen – daran müssen wir
arbeiten –, wäre es ein deutliches Zeichen auch für an-
dere Akteure in der W elt, vor allem aber ein deutliches
Zeichen für potenzielle Abnehmer.

Wir wissen, dass wir den Problemen der Proliferation
jedoch nicht allein mit moralischen Ar gumenten bei-
kommen, so wesentlich sie in diesem Zusammenhang
auch sind. Vielmehr brauchen wir eine umfassende mul-
tilaterale Politik für mehr Sicherheit und mehr Gerech-
tigkeit in der Welt, auch beim Freihandel, beim Klima-
schutz oder bei der T errorismusbekämpfung. Ich sage
ausdrücklich und unterstreiche dies als unsere, die deut-
sche Position: Der Multilateralismus ist eben nicht am
Ende, meine Damen und Herren, im Gegenteil.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie der Abg. Dr . Gesine Lötzsch [fraktionslos] und der Abg. Petra Pau [fraktionslos])


Wir müssen in geduldigen De batten mit unseren Part-
nern im Bündnis und außerh alb klar machen: Die Pro-
bleme des 21. Jahrhunderts sind so komplex und so um-
fassend, dass sie nur multilateral gelöst werden können.

Deutschlands Platz bei der Durchsetzung von Frieden
und Sicherheit ist in der Staa tengemeinschaft, ist in un-
seren Bündnissen und ist vo r allen Dingen in Europa.
Die Vereinten Nationen sind nicht, wie man gelegentlich
lesen und hören kann, irrele vant geworden. Nein, das
Gegenteil ist wahr. Sie werden nach den kriegerischen
Auseinandersetzungen bei der humanitären Hilfe und
beim Wiederaufbau im Irak – wir alle werden das erle-
ben – eine wichtige, eine dominierende Rolle spielen
müssen und spielen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Deshalb ist es unsere Politi k, die V ereinten Nationen
auch durch weitere und durchgreifende Reformen zu
stärken und sie dadurch in den Stand zu setzen, in den
internationalen Konflikten eine noch bedeutendere Rolle
zu spielen.

Wir stehen zu unserem Engagement im transatlanti-
schen Bündnis und wir haben das deutlich werden lassen.
Die NATO hat als Bündnis gemeinsamer V erteidigung
und gegenseitigen Beistandes eben nicht ausgedient. Es
gilt aber, dieses Bündnis den neuen Bedrohungen und
Konfliktstellungen in der W elt anzupassen, womöglich
stärker, als wir das in der Vergangenheit getan haben. In
jedem Fall muss die NATO wieder zu einem Ort intensi-
verer gegenseitiger Konsultation, gemeinsamer Analyse
und gemeinsamer Prävention werden.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Wenn ich „gemeinsam“ sage, dann meine ich das
auch. Das verträgt sich nicht – damit das klar ist – mit
der Hand an der Hosennaht.






(A) (C)



(B) (D)


Bundeskanzler Gerhard Schröder

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Eckart von Klaeden [CDU/ CSU]: Das ist billig!)


Wenn wir aber wollen, dass auch innerhalb der NATO
unsere Interessen und V orschläge mehr Gehör finden,
dann müssen wir in erster Linie Europa dazu in die
Lage versetzen, und zwar als ein Europa, das mehr und
mehr mit einer Stimme spri cht. Dabei werden wir auf
Dauer nicht zwischen unserem gemeinsamen Bemühen
um Sicherheit und unseren Anstrengungen für W achs-
tum und für W ohlstand, das heißt für Beschäftigung,
trennen können. Wir sehen schon heute, wie sehr die Un-
sicherheit durch den Krieg überall in Europa die Wachs-
tumshoffnungen dämpft, wenn nicht sogar zerstört. Na-
türlich wissen wir, dass Europa in der augenblicklichen
internationalen Krise nicht jene Einigkeit an den Tag ge-
legt hat, die für uns alle wünschenswert gewesen wäre.
Ich gebe allerdings eines zu bedenken: Die Erfahrung
dieses Konflikts ist – das ist sicher so –, dass die Regie-
rungen in dieser Frage nicht immer einer Meinung wa-
ren, die europäischen Gese llschaften indes in dieser
Frage einer Meinung sind, und zwar in sehr klarer
Weise.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der Abg. Dr . Gesine Lötzsch [fraktionslos] und der Abg. Petra Pau [fraktionslos])


Die Herausbildung einer Gemeinsamen Außen- und
Sicherheitspolitik steht erst am Anfang. Über ein wichti-
ges Datum dieses Anfangs unter dem Stichwort Mazedo-
nien habe ich geredet. W enn wir wollen, dass Europas
Stimme in der Welt vernehmlicher und damit wirkungs-
voller wird, müssen wir uns auf einen langwierigen Pro-
zess der Herausbildung einer Gemeinsamen Außen- und
Sicherheitspolitik einstellen, einen Prozess übrigens, bei
dem wir auch noch Rückschläge erleben und erleiden wer-
den. Das ändert aber nichts daran, dass es zu dieser ge-
meinsamen Politik keine wirklich vernünftige Alternative
gibt.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Die europäische Integration war die Antwort auf
Krieg und Zerstörung auf unserem Kontinent und es
wäre fatal, wenn dieses inte grierte Europa gerade ange-
sichts neuer Ungleichgewichte in der Welt seiner Verant-
wortung durch sein Beispiel nicht gerecht würde. Wir je-
denfalls werden beharrlich da ran arbeiten, dass es diese
Verantwortung wahrnimmt. Das ist der Grund dafür, dass
wir eine wirklich Gemeinsa me Außen- und Sicherheits-
politik entwickeln, die Europa auch faktisch in die Lage
versetzt, mehr V erantwortung zu übernehmen. Kein
Zweifel: Das könnte mit bald 25 Mitgliedstaaten noch
schwieriger sein, als es heut e, da wir 15 sind, schon ist.
Ich unterstreiche auch hier noch einmal: Die T atsache,
dass das angesichts unterschiedlicher Wahrnehmung von
Bedrohung und unterschiedlicher geschichtlicher Erfah-
rung mit den jetzigen Beitrittskandidaten, die dann bei-
getreten sein werden, schwieriger werden wird – diese
Tatsache ist unabweisbar –, darf jedenfalls kein Ar gu-
ment dafür sein, den Beitritt sprozess zu verzögern oder
gar länger aufzuschieben.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Vor diesem Hintergrund habe ich gemeinsam mit Prä-
sident Chirac dem Europäis chen Konvent vor geschla-
gen, das Amt eines europäischen Außenministers zu
schaffen und damit konkret die Aufgabenbereiche von
Javier Solana und Chris Patten zusammenzulegen und
einheitlich wahrnehmen zu lassen. Der europäische
Außenminister soll die gemeinsamen europäischen In-
teressen herausarbeiten und Initiativen für gemeinsames
Handeln ergreifen. Nach un seren Vorstellungen soll in
den meisten Bereichen über diese so abgestimmt wer-
den, dass auch mit qualifizierter Mehrheit Beschlüsse
gefasst werden können. Dieser deutsch-französische
Vorschlag ist im Konvent al les in allem gut aufgenom-
men worden.

Aus den Aufgaben, die uns aufgrund der Gemeinsa-
men Außen- und Sicherheits politik zufallen, ergibt sich
auch, dass wir ernsthaft üb er unsere gemeinsamen mili-
tärischen Fähigkeiten neu nachdenken müssen. Dabei
geht es nicht darum, auf die gegenwärtige Krise ein-
dimensional, mit einer bloß en Steigerung unserer Rüs-
tungshaushalte, zu antworten. Es kann auch nicht darum
gehen, nun mit Macht zu dem aufschließen zu wollen,
was an Fähigkeiten etwa in den Vereinigten Staaten vor-
handen ist. Das würde uns au ch gar nicht gelingen. Eu-
ropa muss seine militärisc hen Fähigkeiten vielmehr so
weiterentwickeln, dass sie unserem Engagement und un-
serer Verantwortung für K onfliktprävention und Frie-
denssicherung entsprechen.

Der belgische Ministerpräsident hat zu einem Treffen
eingeladen, um die Europäische Sicherheits- und Vertei-
digungspolitik weiter voranz ubringen. Auch in diesem
Bereich haben Deutschland und Frankreich dem Europäi-
schen Konvent gemeinsame V orschläge gemacht. W ir
denken an eine engere Zusammenarbeit bei der Entwick-
lung der militärischen Fähi gkeiten, an eine Verzahnung
der Planungs- und Entscheidungsstrukturen sowie an eine
sehr viel engere Zusammenarbeit der Rüstungsindustrie.
In der Perspektive wollen wi r die Europäische Sicher-
heits- und Verteidigungspolitik zu einer Europäischen
Sicherheits- und V erteidigungsunion fortentwickeln.
Denkbar ist, als einer der ersten Schritte, dass sich in Zu-
kunft etwa an Blauhelmeinsätzen im Rahmen der Verein-
ten Nationen europäische statt nationale Truppen beteili-
gen.

Mir, meine Damen und Herren, ist in der gesamten
Diskussion zweierlei wichtig:

Erstens. Von dieser Initiative des belgischen Minister-
präsidenten kann und darf niemand ausgeschlossen wer-
den.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Je mehr Mitgliedstaaten sich in der Konsequenz an der
gemeinsamen Sicherheits- und V erteidigungspolitik be-
teiligen, desto besser ist es für das Ganze. Dabei – ich






(A) (C)



(B) (D)


Bundeskanzler Gerhard Schröder
will das besonders unterstreichen – ist mir wichtig, auch
Großbritannien, das in der Vergangenheit immer wieder
wichtige Impulse für die Eu ropäische Sicherheits- und
Verteidigungspolitik gegeben hat, in diesen Prozess ein-
zubeziehen; und, meine Da men und Herren, das ge-
schieht bereits jetzt im Vorfeld des Treffens, zu dem der
belgische Ministerpräsident eingeladen hat.

Zweitens. Die Stärkung de r Europäischen Sicher-
heits- und Verteidigungspolitik richtet sich nicht gegen
die NATO, wie manche disku tieren, sondern sie dient
dem Bündnis und damit den transatlantischen Bezie-
hungen – Beziehungen, die auch künftig für uns Deut-
sche und die Europäer vo n zentraler Bedeutung sein
werden.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


So betrachtet liegt ein star kes Europa in beiderseitigem
Interesse, in unserem Interesse und in dem der transat-
lantischen Partner. Es liegt im Interesse der von uns ge-
meinsam vertretenen Werte, bei uns und weltweit.

Es ist sicher richtig, dass es auch beim Ausbau einer
Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik insbeson-
dere auf eine enge französisch-deutsche Zusammen-
arbeit ankommt. Deutschland und Frankreich – das ist
hier ja auch immer wieder betont worden – bleiben Mo-
tor der europäischen Integration. Der erreichte Grad der
Zusammenarbeit zwischen un seren beiden S taaten ge-
hört zu den wenigen wirkli ch erfreulichen Entwicklun-
gen in der internationalen Szenerie in der letzten Zeit.

Allerdings ist ebenso klar : Ohne umfassende Zusam-
menarbeit mit Großbritannien, auch mit den anderen
Mitgliedern des gemeinsamen Europa werden wir die in-
ternationale Verantwortung nicht tragen können, die von
uns allen mit Recht erwartet wird. Ebenso deutlich ist
gerade in der gegenwärtige n Krise geworden, dass der
Weg, auf der Grundlage geme insamer Prinzipien in Eu-
ropa und in den Bündnissen eine enge Zusammenarbeit
mit Russland zu suchen, richtig und auch erfolgreich war
und – dessen bin ich sicher – bleiben wird.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Europa muss dafür Sor ge tragen, dass die kriegsbe-
dingten Risiken nicht die gesamte W eltwirtschaft aus
dem Lot bringen; es muss jedenfalls mithelfen, dass das
nicht geschieht.

Der Europäische Rat hat vor zwei Wochen an diesem
Punkt ein wichtiges und richtiges Signal gesetzt. Wir ha-
ben gemeinsam mit den Beitrittsländern klar gemacht,
dass die Europäische Union im Rahmen der so genann-
ten Lissabon-Strategie ihre Wachstumskapazitäten zur
Schaffung von W ohlstand und Beschäftigung trotz
– oder sollte ich sagen: gerade wegen? – der schwierigen
ökonomischen Rahmenbedingungen nicht zurückneh-
men darf, sondern weiter er höhen muss. Dabei geht es
um Fortschritte im Binnenmarkt, vor allem bei For-
schung und Entwicklung und bei der Reform der Ar-
beitsmärkte, um Bildung und um einen effektiveren Um-
weltschutz.
Meine Damen und Herren, hi er gibt es einen Zusam-
menhang mit dem, was ich unter dem Begrif f
Agenda 2010 vorgestellt habe. Auch in der jetzigen
schwierigen internationalen Situation brauchen wir diese
Reform. Wir müssen sie zügi g umsetzen, damit wir un-
ser Gesellschaftsmodell, das auf Teilhabe und Gerechtig-
keit beruht, in schwierigen Zeiten als die wirkliche Hoff-
nung für die Menschen in Deutschland, in Europa und in
der Welt deutlich werden lassen können.

Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.


(Anhaltender Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1503700200

Bevor ich der nächsten Re dnerin das W ort erteile,

möchte ich eine neue Kollegin in unserem Hause begrü-
ßen. Es ist Angelika Brunkhorst, Mitglied der FDP-Frak-
tion, die ihr Mandat am 21. März in der Nachfolge des
Kollegen Christian Eberl angetreten hat. Herzlich will-
kommen, liebe Kollegin!


(Beifall)


Nun erteile ich Angela Merkel, CDU/CSU-Fraktion,
das Wort.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Dr. Angela Merkel (CDU):
Rede ID: ID1503700300

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die T a-

gesordnung des Europäischen Rates in Brüssel war stark
vom Beginn des Irakkrieges überschattet. V ieles von
dem, was sonst die Gemüter der Europäer bewegt hätte,
erschien plötzlich belanglos oder kleinlich. Angesichts
dieses Krieges stand umso größer das Versagen von Poli-
tik und Diplomatie auch vor den Mitgliedstaaten der Eu-
ropäischen Union.

Krieg ist eine Niederlage von Politik und Diplomatie.
Krieg ist deshalb eine Niederlage von Politik und Diplo-
matie, weil Krieg den Tod von Menschen bedeutet, von
Menschen, die mit dieser Politik und der Diplomatie
nichts zu tun haben. Es ist eine Niederlage, weil es nicht
gelungen ist, einen Diktat or durch die internationale
Staatengemeinschaft friedlich zu entwaffnen, so wie wir
es alle wollten, weil wir wussten, dass dieser Diktator
Hunderttausende von Menschen auf dem Gewissen hat.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Jetzt ist dieser Krieg traurige Realität. In dieser Situa-
tion hat mir der französische Ministerpräsident Raffarin,
der ja aus dem Land von Fr eiheit, Gleichheit und Brü-
derlichkeit kommt, aus der Seele gesprochen, als er die-
ser Tage zum Irakkrieg gesagt hat: „Ich hof fe auf den
Sieg der Demokratie über die Diktatur.“


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Ich denke, wir sind uns in diesem Hause alle einig:
Wir hoffen, dass es einen Sieg der Demokratie über die
Diktatur gibt. Wir können in dieser Auseinandersetzung






(A) (C)



(B) (D)


Dr. Angela Merkel
der alliierten Streitkräfte mit dem Diktator Saddam
Hussein nicht neutral sein, sondern wir alle stehen an der
Seite derer, die für die Demokratie kämpfen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Herr Bundeskanzler, ich habe mich gefreut, dass
heute in diesem Hause nicht weiter einer Aufteilung zwi-
schen Kriegswilligen und Friedenswilligen das Wort ge-
redet wurde. Denn alle hier wollen und werden, sofern
sie dazu beitragen können, doch alles unternehmen – ob
Regierung oder Opposition –, damit unsere politischen
Ziele mit friedlichen Mitteln durchgesetzt werden kön-
nen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Heute ist der Tag, um mit dem Blick in die Zukunft über
den eigentlichen Dissens in diesem Hause, der ja nicht
zwischen Kriegswilligen und Friedenswilligen besteht,
zu sprechen.

Im November des letzten Jahres wurde im UN-
Sicherheitsrat eine Resolution beschlossen, die auch die
Bundesregierung mitgetragen hat. Diese Resolution ist
eine Art Doppelbeschluss der UNO. Sie hat das klare
Ziel, eine friedliche Entwaf fnung durch ernst gemeinte
Drohung zu erreichen. Die Wirkung dieser Resolution
lebte von Beginn an von der Glaubwürdigkeit beider Ele-
mente dieser Resolution. Damit war weder die Position
„auf jeden Fall militärische Gewalt“ vereinbart – wie Sie
uns manchmal vielleicht unterstellt haben –, noch war
die Position „auf keinen Fa ll militärische Gewalt“ ver-
einbart. Die Mitte zu halten, Geschlossenheit zu wahren,
das wäre nach meiner fest en Überzeugung die Aufgabe
von Politik gewesen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Niemand von uns weiß, ob die Einigkeit im Druck
auf Saddam Hussein ihn wirk lich zu einer friedlichen
Entwaffnung hätte zwingen können. Aber eines weiß ich
sehr wohl: Diese Einigkeit im Druck war die einzige
Chance, die dieses Ergebnis hätte erzielen können.


(Beifall bei der CDU/CSU – Klaus Uwe Benneter [SPD]: Das hätte weiter geführt werden müssen!)


Einigkeit im Druck schließt eben auch die damit verbun-
denen Konsequenzen ein: mi litärische Mittel als Ultima
Ratio


(Winfried Nachtwei [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was war denn Ihre Ultima Ratio? – Weitere Zurufe von der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


und die Bereitschaft, eine Be fristung einer solchen letz-
ten Chance zu akzeptieren.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Nun ein Wort zum Herrn Bundesaußenminister . – Er
ist schon weg, aber das ist akzeptiert.

(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Da ist er!)


– Der Bundesaußenminister muss in absehbarer Zeit
nach Brüssel, wir unterstütz en das selbstverständlich.
Deshalb habe ich zur Regierungsbank geschaut.

Der Herr Bundesaußenminister hat angesichts der Ge-
fährdungen immer und immer wieder die richtigen Fra-
gen gestellt.


(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Sie haben ja nicht einmal Fragen gestellt!)


Natürlich sind militärische Auseinandersetzungen mit
hohen Risiken verbunden. Natürlich ist dies eine beson-
dere Region, in der man besonders aufpassen muss. Na-
türlich muss man sich mit dem Verhältnis der Religionen
befassen. Gerade deshalb war es doch so wichtig, alles
daranzusetzen, den Druck – militärisch wie auch insge-
samt – mit allen Optionen gemeinsam durchzuhalten.


(Beifall bei der CDU/CSU – Klaus Uwe Benneter [SPD]: Mit Ergebenheitsadressen!)


Ich kann mich der Einschätzung, dass alle Anstren-
gungen unternommen wurden, um eine friedliche Lö-
sung zu erreichen, nicht anschließen.


(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Was ist das für eine Logik? Das ist doch verquer!)


Auch andere können sich dieser Einschätzung nicht an-
schließen. Ich kann Ihnen daher ein Zitat aus einem
„Zeit“-Artikel der vergangenen Woche nicht ersparen,


(Zurufe von der SPD: Oh! – Franz Müntefering [SPD]: W er hat nicht alle Anstrengungen unternommen?)


wo wiedergegeben wird, was die Inspekteure zum Kurs
der Bundesregierung in der Irakfrage sagen:


(Krista Sager [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Welche Inspekteure?)


Hätte dieser Krieg verhindert werden können? Ja,
sagen einige. Aber mit einer überraschenden Be-
gründung: Deutschland, Frankreich und Russland
hätten den Kriegsausbruch mit ihrer vermeintlichen
Friedenspolitik unausweichlich gemacht.


(Widerspruch bei der SPD)


Gerhard Schröders kategorisches Nein zu einem
Militäreinsatz sei schlicht „verrückt“ gewesen.
„Vielleicht hätten wir unser Mandat erfüllen kön-
nen“ ...


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP – Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: So ein Unsinn! Sie wissen doch ganz genau, dass der Bush sich nicht hätte aufhalten lassen!)


Herr Bundeskanzler, ich denke, Sie werden sich auch
in der Folgezeit mit diesem Zitat auseinander setzen
müssen.






(A) (C)



(B) (D)


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1503700400


Kollegin Merkel, gestatten Sie eine Zwischenfrage
der Kollegin Eichstädt-Bohlig?


Dr. Angela Merkel (CDU):
Rede ID: ID1503700500


Ich gestatte keine Zwischenfragen.


(Beifall bei der CDU/CSU – Zurufe von der SPD: Oh!)


Herr Bundeskanzler, Sie werden sich mit diesem Zitat
auseinander setzen müssen.


(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Sie wissen genau, dass Hunderte andere Zitate dem entgegenstehen! – Krista Sager [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Von wem stammt das Zitat denn?)


Der in diesem Artikel wieder gegebene Gedankengang
hat mich dazu veranlasst, zu sagen: Sie haben als Bun-
desregierung mit Ihrem V erhalten den Krieg nicht un-
wahrscheinlicher, sondern wahrscheinlicher gemacht.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP – Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: So ein Unsinn! Das ist doch unglaublich! Lassen Sie diese Hetzerei! – Günter Gloser [SPD]: Sie haben nichts dazugelernt! – Weitere Zurufe von der SPD)


Für mich gibt es keinen Zw eifel daran, dass niemand
diesen Krieg gewollt hat. Aber mit Blick auf die Frage
– nicht auf die Vergangenheit bezogen; der Krieg ist Re-
alität –, was wir aus diesen V orgängen lernen müssen
und welche Lehren wir daraus ziehen müssen,


(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Sie lernen doch nichts dazu! Das ist doch nicht zu fassen!)


will ich auf etwas verweisen, was Helmut Kohl einmal
gesagt hat. Helmut Kohl hat einmal gesagt – ich stimme
dem mit allem Nachdruck und in aller Ruhe zu –, die eu-
ropäische Einigung sei letztlich eine Frage von Krieg
und Frieden.


(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Was immer das bedeutet!)


Helmut Kohl ist für diesen Satz häufig belächelt worden.
Wir alle miteinander haben in den letzten W ochen ein-
drücklich erfahren müssen, wie schnell die Frage der eu-
ropäischen Einigung zu einer Frage von Krieg und Frie-
den werden kann.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Deshalb müssen wir – das haben Sie, Herr Bundes-
kanzler, in Ihrer Regierungserklärung auch deutlich ge-
macht – die vor uns liegende n Aufgaben, die weit über
die Frage des Iraks hinausgehen, meistern. Sie haben ge-
sagt, in jeder Krise liege ei ne Chance. Jawohl, in jeder
Krise liegt eine Chance. Aber wir müssen uns sehr nüch-
tern die Realität der heutigen Tage anschauen.
Wir haben eine gravierende Spaltung der Europäi-
schen Union und der NATO sowie einen Vertrauensver-
lust in den Beziehungen zu den Vereinigten Staaten von
Amerika erlebt. W ir mussten erkennen, dass bewährte
Institutionen unserer Sicherheit im Augenblick der Krise
ausgesprochen unfähig waren, so zu handeln, wie wir es
uns alle gewünscht haben. Deshalb geht es nicht nur all-
gemein darum, ob ein Wiederaufbau des Iraks stattfindet
– natürlich muss das der Fall sein –, sondern wie dieser
Wiederaufbau vonstatten ge ht. Er muss unter Beteili-
gung der EU, der NATO und der UNO erfolgen.

Natürlich müssen wir als Bundesrepublik Deutsch-
land wieder eine verantwortliche Außen- und Sicher-
heitspolitik aufbauen.


(Gernot Erler [SPD]: Was heißt denn „wieder“?)


Die Pfeiler der Außen- und Sicherheitspolitik aus der
Vergangenheit gelten weiterhin: europäische und transat-
lantische Einigung. Diese Pfeiler müssen nach der deut-
schen Einheit, nach der Erlangung der Souveränität
Deutschlands von unserer Generation neu begründet,
neu formuliert und vor allen Dingen mit den Menschen
dieses Landes neu diskutiert und besprochen werden.

Lassen Sie mich das in sechs Punkten deutlich ma-
chen:

Erstens. Viele Bruchlinien – alte wie neue – durchlau-
fen unseren europäischen Kontinent. Um die politische
Einigung wirklich zu erre ichen, muss Deutschland eine
kluge Politik, eine Politik des Ausgleichs


(Franz Müntefering [SPD]: Dann ist es ja gut, dass Sie nicht regieren! – W ilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Das machen wir ja!)


zwischen alten und neuen sowie großen und kleinen EU-
Mitgliedstaaten machen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Herr Bundeskanzler, Sie haben eben gesagt, es sei
wahr, dass Europa in dieser Auseinandersetzung an vie-
len Stellen nicht einig gewesen sei. Dann haben Sie ge-
sagt, bei genauerem Hinseh en müsse man feststellen,
dass in der Ablehnung des Krieges zwar nicht die Regie-
rungen, aber die Gesellschaften einig gewesen seien.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Gernot Erler [SPD]: Stimmt immer noch!)


Herr Bundeskanzler, ich frage Sie: Was bedeutet das für
die Regierungen, die Ihre Meinung nicht geteilt haben?


(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Das wissen die ganz genau!)


Was bedeutet das denn für die Erfahrung, die wir im
Rahmen des Kosovo-Konfliktes gemeinsam in diesem
Hause gemacht haben, als die Gesellschaften Europas
auch die Angriffe auf Belgrad nicht wollten und wir sie
dennoch aufgrund gemeinsamer Überzeugung für richtig
gehalten haben? Ich halte Ihre Aussage an dieser Stelle
für sehr gefährlich.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)







(A) (C)



(B) (D)


Dr. Angela Merkel
Ich bin auch verunsichert,


(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das merkt man! – W ilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Schon die ganze Zeit!)


was Ihre Aussage angeht – ich sage es einmal ganz vor-
sichtig –, das Europa der 25 werde komplizierter als das
Europa der 15. Was sollen die neuen Mitgliedstaaten ge-
rade in Bezug auf den Irakkonflikt – wir sprechen jetzt
nicht über eine EU-Richtlinie zu Chemikalien – von ei-
ner solchen Feststellung halten? Alle neuen Mitglieder
der Europäischen Union sind Mitglieder der NA TO. Sie
haben mit Sicherheit keinen Beitrag zu den jetzigen
Schwierigkeiten geleistet. Vielmehr bestanden all diese
Schwierigkeiten in der EU innerhalb der alten Mit-
gliedstaaten der Europäisch en Union. Auch das gehört
zur Wahrheit.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Deutschlands Rolle muss aus geographischen und aus
historischen Gründen dergestalt sein, dass Deutschland
zum Ausgleich beiträgt und ein Anwalt der kleinen Län-
der ist.


(Katrin Dagmar Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wo leben Sie?)


Wenn in diesen Tagen viel von einer Hegemonialmacht
gesprochen wird – ich bin gegen jede Form von Hege-
monialmachtstreben –,


(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Nun wird es endgültig lächerlich! – Weitere Zurufe von der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


dann müssen wir als Deutsche aufpassen, ob die kleinen
Staaten Europas nicht auch uns Großmannssucht vor-
werfen könnten. Auch das gehört zur Realität des euro-
päischen Alltags.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Aus seiner geschichtlichen Erfahrung und aus seiner
geographischen Lage heraus hat Deutschland eine ganz
besondere Aufgabe in Europa : den Ausgleich zu schaf-
fen und die verschiedenen Interessen zu bündeln. W ir
alle wissen doch, dass es Länder gibt, die Interesse an ei-
nem großen Wirtschaftsraum Europa haben, dass es Län-
der gibt, die ein großes Interesse an der V ertiefung der
politischen Union haben, und dass es Länder gibt, die ei-
nen größeren Schwerpunkt auf die Erhaltung des Struk-
turausgleichs legen. Deutschland muss aus der von mir
genannten Verpflichtung heraus die integrative Kraft
sein, die Ausgleich schaf ft. Das hat Deutschland in den
letzten Wochen nicht ausreichend getan.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Jörg van Essen [FDP])


Deutschland darf keine Randposition und keine Maxi-
malposition vertreten und keine Sonderwege gehen.
Nach dem Ende des Kalten Kr ieges sollte es eine ge-
meinsame Verpflichtung sein – mich persönlich bewegt
das –, mit der Bevölkerung über diese Aufgaben zu spre-
chen.

Zweitens. Das Verhalten der Europäer im Irakkonflikt
bringt uns zu einer zentrale n Lehre – da stimme ich mit
Ihnen überein –: Ohne eine Gemeinsame Außen- und
Sicherheitspolitik wird es keine europäische Einigung
geben.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Was heißt das? W ir haben uns in den 90er -Jahren
ganz stark auf die Gestaltung des europäischen Binnen-
marktes konzentriert. Im Übrigen haben wir Europa
durch die Einführung des Euro irreversibel, unumkehr-
bar gemacht. Das waren mutige Entscheidungen – von
Helmut Kohl, von Theo Waigel.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Joseph Fischer, Bundesminister: Edmund Stoiber!)


Diese Entscheidung für den Euro, der von Ihnen seiner-
zeit übrigens als kränkelnde Frühgeburt disqualifiziert
wurde, ist nicht von der Mehrheit der Bevölkerung ge-
kommen; vielmehr hat es di e Führung als ihre Aufgabe
angesehen, dies der Bevölkerung nahe zu bringen. Heute
wird sie von der Bevölkerung mit Überzeugung getra-
gen. Dies wird bei wichtigen Entscheidungen immer
wieder notwendig sein.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Es geht auch um den W illen, eine Gemeinsame Au-
ßen- und Sicherheitspolitik durchzusetzen. Herr Bundes-
kanzler, ich stimme mit Ihnen völlig überein: Es wird da-
bei Fortschritte und Rückschl äge geben. Ich sage Ihnen
aber auch: Ein Erlebnis wie das der Auseinandersetzung
um den Irak verträgt die Ge meinsame Außen- und Si-
cherheitspolitik Europas nicht alle Jahre wieder . Wir
müssen Lehren ziehen und wir müssen den W illen ha-
ben, Kompromisse und Gemeinsamkeiten zu finden,


(Lothar Mark [SPD]: Das müssen Sie auch einmal lernen: Kompromisse eingehen!)


so wie sie auf dem Sonderrat der Europäischen Union im
Februar gefunden wurden. Da s war aber leider viel zu
spät, das hätte früher geschehen müssen. Dies müssen
wir in Zukunft beachten.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Jörg van Essen [FDP])


Drittens. Eine weitere Lehre aus der Spaltung Europas
muss sein: Eine Gemeinsame Außen- und Sicherheitspo-
litik in Europa wird es niemals gegen die Vereinigten
Staaten von Amerika, sondern nur mit ihnen und auf der
Basis eines entsprechenden Vertrauens geben.

Die Europäer haben spätestens – das ist eine noch nicht
weit zurückliegende gemeinsame Erfahrung – im Zusam-
menhang mit dem Kosovo-Konflikt erlebt, dass wir über-
haupt nicht in der Lage sind , die militärischen Konflikte
unseres Kontinents aus eigener Kraft zu lösen. Ich bin
froh, dass es im Zusammenhang mit Mazedonien jetzt
zum ersten europäischen Mandat gekommen ist. Das ist






(A) (C)



(B) (D)


Dr. Angela Merkel
keine Frage. Aber die eigentlichen militärischen Risiken
sind in einer Auseinandersetzung getragen worden, bei
der wir ohne die Amerikaner nicht in der Lage gewesen
wären, das von uns allen gewünschte Ziel zu erreichen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Deshalb, Herr Bundeskanzler, brauchen wir die NA TO.
Sie haben das auch gesagt. Ich hätte mir aber trotzdem
gewünscht, Sie wären in der Frage, wie das aussehen
soll, etwas konkreter geworden.

In diesen Tagen entscheiden auch die Bilder . Wir ha-
ben viele Strategietreffen des Bundesaußenministers mit
dem französischen Außenmin ister und seinem russi-
schen Kollegen erlebt. Aber wenn wir die Zukunft des
Bündnisses NATO wollen, ist es wichtig, klar und deut-
lich zu sagen, dass es eine Äquidistanz zwischen Europa
und Amerika und zwischen Europa und Russland auf ab-
sehbare Zeit nicht gibt. Di e transatlantische Partner-
schaft beruht auf einem klareren W ertegerüst als unser
Verhältnis zu Russland.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Damit spreche ich nicht gegen ein gutes V erhältnis zu
Russland. Das ist überhaupt keine Frage. Ich bin aus vol-
lem Herzen für die Kooperation der NA TO mit Russ-
land. Aber in der Stunde des Risikos kommt es schon
darauf an, dass man weiß, wo die gemeinsame Partner-
schaft liegt.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Wenn man es mit diesem transatlantischen Bündnis,
der NATO, ernst meint und es mal wieder zu einer Situa-
tion käme, in der wir mit militärischem Druck eine UN-
Resolution durchsetzen müssen, könnte – das wäre doch
durchaus denkbar – auch ein europäisches Kontingent
aus der NATO an dem Aufb au eines solchen militäri-
schen Drucks mitarbeiten, um zum Schluss eine friedli-
che Lösung dieses Konflikts zu erreichen. Ich glaube,
den Amerikanern wäre es schwerer gefallen, bei Mitwir-
kung aller europäischen NA TO-Mitglieder eine solche
Entscheidung allein zu treffen.


(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Sie sind vielleicht blauäugig! Das glauben Sie doch selbst nicht! Das ist doch naiv! – Franz Müntefering [SPD]: Der Krieg wäre vermeidbar gewesen!)


Wir müssen V erantwortung im Risiko übernehmen,
sonst wird die V erantwortungsgemeinschaft nicht zum
Leben erweckt werden können.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Viertens. Wenn wir das schaffen wollen, dann müssen
wir zuallererst zu einem gemeinsamen Verständnis kom-
men, was die Bedrohungen sind, denen wir uns in dieser
Welt gegenübersehen.


(Franz Müntefering [SPD]: Frau Sandkastenspielerin!)

Der Bundeskanzler hat hierzu – das danke ich ihm – Eini-
ges gesagt. Er hat gesagt, er unterstütze die Ansicht, dass
die Bedrohungen der heutigen Zeit zum einen vom Be-
sitz von Massenvernichtungswaffen und zum anderen
von nicht staatlichem T errorismus ausgehen. Viel-
leicht sei eine der größten Bedrohungen, der wir in Zu-
kunft gegenüberstehen, die V ermischung von beidem,
nämlich der Proliferation von Massenvernichtungswaf-
fen an terroristische Gruppen, die wiederum von staatli-
chen Strukturen unterstützt werden.

Wenn Sie sagen, wir brauch en deshalb eine gemein-
same europäische Ausfuhrpolitik und müssen bei diesem
Thema zu internationalen Standards kommen, dann
stimme ich Ihnen zu; das ist keine Frage. Aber der Si-
cherheitsbegriff ist, da er ni cht teilbar ist, nicht nur ein
politischer, ökologischer oder kultureller , sondern er
wird auch ein militärischer Begrif f bleiben. Vor dieser
Erkenntnis können wir uns nicht drücken. Wir werden
uns nicht damit herausreden, dass Blauhelme eingesetzt
werden. Die Frage lautet vielmehr: W elche Strategie
müssen wir ausarbeiten, um auf die modernen Bedro-
hungen zu reagieren, bei der politische Lösungsmöglich-
keiten und Abschreckung in adäquater Weise verbunden
werden?


(Beifall bei der CDU/CSU – Franz Müntefering [SPD]: Das können Sie alles Ihrer Fraktion erzählen, aber verschonen Sie uns damit! – Gegenruf des Abg. Dr . Peter Ramsauer [CDU/CSU]: Dann gehen Sie doch!)


Fünftens. Wenig ist gewonnen, wenn aus der gemein-
samen Bedrohungsanalyse, von der ich sagen muss,
dass wir sie nicht ausreichend durchgeführt haben, keine
Schlüsse gezogen werden. W enn wir alle davon über-
zeugt gewesen wären, dass keine Massenvernichtungs-
waffen, Pockenviren oder Milzbranderreger in der Hand
von Hussein sind, dann, Herr Bundeskanzler, hätten wir
nicht klammheimlich 80 Millionen Dosen an Impfstof f
gekauft. Wir hätten dann gemeinsam


(Widerspruch bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


und offensiv unserer Bevölkerung gesagt, welche Ge-
fährdung in diesem Lande tatsächlich für uns besteht.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP – Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Das ist doch völlig abstrus!)


Gemeinsam eine Analyse du rchzuführen ist schön und
gut, aber es muss auch der gemeinsame, der wirkliche
Wille bestehen, die notwendigen politischen und militä-
rischen Mittel bereitzustellen.

Ich hätte heute von Ihnen gerne wenigstens ein loben-
des Wort zur NATO-Response-Force gehört. Ich hätte
auch gerne gehört, dass man eine gemeinsame Politik
machen wolle. Deutsch-französische oder deutsch-belgi-
sche Initiativen sind okay, aber in diesen Tagen muss es,
wie ich glaube, vor allen Di ngen Initiativen geben, die
Brücken über die Gräben bauen. W ir brauchen deutsch-
polnische oder deutsch-britisc he Initiativen. Das ist es,






(A) (C)



(B) (D)


Dr. Angela Merkel
worauf Europa wartet, wenn Deutschland wirklich eine
ausgleichende Rolle spielen will.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP – Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Was fand denn gestern statt?)


Meine Damen und Herren, wir müssen aufpassen,
dass wir in diesem Lande fähig sind, unseren Willen, Be-
drohungen zu begegnen – so er denn besteht –, auch ma-
teriell durchzusetzen. Der Bundesaußenminister hat in
einem bemerkenswerten Interview in der „Frankfurter
Allgemeinen Zeitung“ gesagt, wir brauchten eine stär-
kere militärische Kraft. Der Bundeskanzler hat sich
dem angeschlossen. Deswegen haben wir schon erwar-
tungsvoll auf einen Nachtragshaushalt gewartet.


(Lachen bei der SPD)


Anschließend hat der Bundeskanzler dem staunenden
Publikum mitgeteilt, für die nächsten drei Jahre gelte das
nicht.


(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Wir brauchen eine Aktuelle Stunde!)


Ich frage Sie: W er glaubt un s denn ernsthaft, dass den
Bekenntnissen aus unseren Mündern wirklich Taten fol-
gen? Darauf wartet doch Europa, auf Taten und nicht nur
auf Worte.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Das ist lächerlich!)


Sechstens. Wir brauchen eine Stärkung der UNO
und eine Legitimation ihrer Mechanismen, damit sie sich
auf die neuen Bedrohungen einrichten kann. Die UNO
soll – ich bin sofort dabei; daran will ich Sie erinnern –
das Gewaltmonopol haben. W ir dürfen aber doch nicht
die Augen davor verschließen, dass nicht die gesamte
Welt demokratisch ist und es nicht gesichert ist, dass je-
der unsere Grundeinstellungen teilt.


(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Das sollten Sie jetzt noch einmal richtig nachlesen!)


– Herr Schmidt, da Sie dagegen protestieren,


(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Ich mahne Sie nur zur Vorsicht!)


erinnere ich Sie nur an die Tatsache, dass auch Sie – an-
gesichts drohender Vetos von Russland und China – den
Einsatz im Kosovo auf der Basis der NA TO für richtig
befunden haben. Dabei handelte es sich natürlich auch
um ein Versagen der UNO. Uns allen wäre es lieber ge-
wesen, wenn die UNO das getan hätte.


(Volker Kauder [CDU/CSU]: So ist es! – Dr. Wolfgang Gerhardt [FDP]: Richtig!)


Wir haben es aber trotzdem für richtig befunden. V er-
schließen wir die Augen doch nicht vor der Realität.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Deshalb wird es auch in der Zukunft ein Unterschied
sein, ob Bedrohungen von der UNO festgestellt wurden,
ob es um die Durchsetzung von Resolutionen geht oder
ob es überhaupt noch keine gemeinschaftliche internati-
onale Bedrohnungsanalyse gibt. Angesichts dessen, was
uns nach dem 1 1. September des Jahres 2001 begegnet
ist, rate ich uns allen – niemand hier im Hause hat heute
schon die fertigen Antworte n –, darüber nachzudenken,
wie die internationalen Institutionen auch auf diese He-
rausforderungen vorbereitet werden können.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Meine Damen und Herren, im Grundsatz teile ich all
das, was Sie über die Zukunft des Iraks gesagt haben. Ich
glaube, wir sollten alle Anstrengungen unternehmen, um
dies unter dem Dach der UNO zu erreichen. Es ist selbst-
verständlich, dass dem irakischen V olk, also den Men-
schen dieses Landes, mehr als das heute der Fall ist nicht
nur seine Territorien, sondern auch seine Bodenschätze
und all das, was ihm gehört, zur Verfügung gestellt wer-
den. In den nächsten Wochen werden wir uns mit dieser
Frage beschäftigen. Ich sage Ihnen aber auch voraus: Vor
allen Dingen werden wir un s viel grundsätzlicher und
weitergehend mit außen- und sicherheitspolitischen Fra-
gen beschäftigen müssen.

Nach dem heutigen T ag sehe ich durchaus Gemein-
samkeiten. Herr Bundeskanzler, wenn die Worte, die Sie
hier bezüglich der Europäis chen Union, der NATO und
der Zukunft der UNO gesagt haben, wirklich Gewicht
bekommen sollen, dann wird ein großer politischer Füh-
rungswille notwendig sein.


(Zuruf von der SPD: Hat er doch!)


Dieser politische Führungswille wird auch einschlie-
ßen, dass wir bereit sein müssen, die Umfragewerte nicht
immer und sofort auf unserer Seite haben zu wollen.


(Lachen bei der SPD)


Statt dessen müssen wir politisch verantwortlich ent-
scheiden, weil wir uns auch um den Frieden in Freiheit
und Gerechtigkeit von mor gen und übermor gen küm-
mern wollen. Das ist das Anliegen der Union. Dafür ste-
hen und arbeiten wir.

Herzlichen Dank.


(Anhaltender Beifall bei der CDU/CSU – Beifall bei der FDP)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1503700600


Ich erteile dem Kollegen Gernot Erler, SPD-Fraktion,
das Wort.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Dr. h.c. Gernot Erler (SPD):
Rede ID: ID1503700700


Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
Bilder und Nachrichten, die wir von diesem Krieg erhal-
ten, werden immer unerträglicher. Das Elend der Opfer
und der Anblick ihrer W ehr- und Schutzlosigkeit bren-
nen sich in unsere Sinne ein und begleiten uns in diesen
Tagen auf Schritt und Tritt.






(A) (C)



(B) (D)


Gernot Erler
Die Medien – so empfinde ich es – halten eine kriti-
sche Distanz zu einer offiziellen Kriegsberichterstattung,
die auch Manipulationen einschließt. Immer häufiger be-
obachten wir aber, dass zwar berechtigte und gute Fra-
gen zu diesem Krieg gestellt, darauf jedoch schlechte
oder nichtssagende Antworten gegeben werden. Es be-
steht die Gefahr, dass uns die Massivität und die W ucht
des Geschehens wegträgt und stumpf macht. Dem müs-
sen wir widerstehen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Vor allem dürfen wir nicht ver gessen, an wessen
Stelle dieser Krieg gerückt ist. Noch bis vor 14 Tagen
gab es eine Alternative, Frau Merkel. Der Begrif f
„friedliche Lösung“ ist dafür eine viel zu schwache For-
mulierung. Vor dem Krieg, zur Zeit der Inspektionen,
war das Regime von Saddam Hussein weltweit politisch
komplett isoliert. Seine Souveränität war durch Kontroll-
flüge in der Luft und ein Ko ntrollsystem am Boden mit
Durchgriffsrechten ohne Be ispiel hundertfach einge-
schränkt.

Vor diesem Hintergrund erschien der Diktator, der die
Forderungen der internationalen Gemeinschaft erfüllen
musste, immer kläglicher. Es schien eine Frage der Zeit
zu sein, bis die Entwaf fnung durch die Inspektoren und
das dann vorgesehene dauerhafte Kontrollsystem einen
faktischen Regimewechsel herbeigeführt hätten. Es
wäre ein sang- und klangloses Auslaufen dieses Regimes
gewesen, das seine Schreckenswirkung auf andere im-
mer durch die Bedrohung mit Waffen ausgeübt hat.

Was aber ist jetzt? W as außer unschuldigen Opfern
produziert dieser Krieg? Die politische Isolation des Re-
gimes ist nicht mehr vollständig: weder nach innen noch
nach außen. Erste Länder bekunden ihre Unterstützung
für dieses Regime. Amerikanische Beobachter stellen
konsterniert fest, dass Iraker aus dem In- und Ausland
angesichts des Bombenhagels zu den W affen eilen, um
ihr Land zu verteidigen. Zwar zweifelt kaum jemand am
baldigen Ende Saddams, aber jetzt kommt dieses Ende
nicht sang- und klanglos, sondern in einem Geschütz-
donner, der Saddam Hussein einen alten Traum erfüllen
könnte, nämlich in seinem Ende noch den Zugang zu je-
nem Kosmos arabischen Heldentums zu finden, von dem
er immer geträumt hat. V on den Seitenbühnen dieser
Szene hören wir immer häufiger das bedrohliche W ort
Dschihad. Plötzlich bitten die Sprecher der Krieg füh-
renden Staaten um die Geduld, die sie vorher den V er-
einten Nationen und der Me hrheit der Staaten verwehrt
haben.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Frau Merkel, auf diese Zwischenbilanz des Krieges
hätten Sie eingehen müssen. Das hätten wir von Ihnen
erwartet. Aber Sie haben es nicht getan. Nach 14 Tagen
Krieg kommen weltweit imme r mehr Menschen zu der
Erkenntnis: Dieser Krieg ist ein blutiger Irrweg, der ei-
nen kaum übersehbaren politischen Flurschaden anrich-
tet. Daran wird sich auch nichts ändern, wenn sich die
überlegenen Waffen durchgesetzt haben und dann dieser
Krieg sehr bald, wie wir hof fen, zu Ende sein wird. Ge-
rade deswegen war es wich tig, dass diese Bundesregie-
rung zusammen mit vielen anderen Ländern bis zur letz-
ten Minute alles getan und versucht hat, um diesen
Irrweg zu verhindern und eine Alternative, die Entwaf f-
nung ohne Krieg, durchzusetzen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Frau Merkel, Sie haben in Ihrer Rede wieder bewie-
sen: Sie versuchen, den Menschen bis heute einzureden,
dass es diese Alternative nicht gab. Das ist unser eigent-
licher Dissens. Sie tun das deswegen, weil Sie die Politik
der amerikanischen Regierung von Anfang bis Ende
ohne Wenn und Aber unterstützt haben, die diesen Krieg
von vornherein vorbereitet un d sich am Ende gegen die
Mehrheit der Staatengesellschaft durchgesetzt hat.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Aber Sie werden mit Ihrer Behauptung von der Un-
vermeidbarkeit des Irakkrieges nicht durchkommen,
Frau Merkel. Sie schaf fen es nicht einmal, Ihre eigene
Fraktion zu überzeugen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Angeblich hat sich diese vor gestern, bis auf den wacke-
ren Kollegen Gauweiler,


(Heiterkeit bei der SPD)


hinter Sie gestellt, aber da gibt es Erklärungsbedarf.


(Peter Hintze [CDU/CSU]: Da muss er selber schlucken, der Herr Erler!)


Ich will Ihnen ein Beispiel geben: Von einem Mitglied
Ihrer Fraktion konnte man in der regionalen Presse vor
wenigen Tagen folgende Sätze lesen:

Ich verurteile das Vorgehen der USA. Im Gegensatz
zur Mehrheit meiner Partei denke ich, dass die
friedlichen Mittel nicht ausgeschöpft wurden.

Noch am letzten Samstag war zu lesen:

Ich liege klar nicht auf der Linie der Fraktions-
chefin. Das Vorgehen der USA, ein Ultimatum zu
stellen und in den Krieg zu ziehen, finde ich falsch.

Am Dienstag war alles ganz anders, frei nach dem
Motto: Hier stehe ich, ich kann auch anders, und das bei
Fragen von Krieg und Frieden. Das ist kein Einzelfall,
viele unserer Kollegen haben das Gleiche in ihren Wahl-
kreisen erlebt. Das heißt aber: In W irklichkeit gibt es
viel mehr Gauweilers, als wir denken. Bloß sprechen ei-
nige in Berlin anders als zu Hause.


(Zuruf von der SPD: Mit gespaltener Zunge!)


Das heißt aber auch: Ihre argumentative Bindewir-
kung, Frau Merkel, endet be reits an den Türen Ihres
Fraktionssaales.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)







(A) (C)



(B) (D)


Gernot Erler
In Wirklichkeit mussten Sie schon jetzt zum letzten Mit-
tel einer informellen Vertrauensfrage greifen,


(Lachen bei der CDU/CSU)


um die vielen zum V erstummen zum bringen, die ganz
anderer Meinung in der Kriegsfrage sind als Sie.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Mit Ihrer dogmatischen Position richten S ie einen
Schaden an, der weit über Ihre Partei und Ihre Fraktion
hinausgeht.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Die Menschen merken nämlich ganz genau, wie gefähr-
lich die jetzige Diskussion ist. Frau Merkel, ich rufe Sie
auf, endlich einmal mit dieser Hetze gegen die Bundes-
regierung aufzuhören und zu behaupten,


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


dass sie eine Mitverantwortu ng für den Krieg habe. Sie
merken überhaupt nicht den W iderspruch, dass Sie ei-
nerseits den Bundeskanzler auf fordern, er solle zum
Ausgleich in Europa beitrage n, Sie aber andererseits in
der Kleinräumigkeit der Bu ndesrepublik jeden Tag aufs
Neue das T ischtuch zerschneiden. Die Leute erwarten
doch etwas völlig anderes von uns. Sie erwarten, dass
wir in diesem Augenblick gemeinsam handeln und uns
auf die Prioritäten konzentrieren.

Diese Prioritäten sind erkennbar . Die erste Priorität
heißt: Es muss zunächst einmal etwas zur Abwendung
der humanitären Katastrophe unternommen werden.


(Beifall bei der SPD)


Es wurde sogar von Amerika anerkannt, was die Bun-
desregierung in dieser Beziehung gemacht hat. Deutsch-
land hat als Vorsitzender des Sanktionsausschusses Irak
ganz wesentlich dazu beigetragen, dass die Sicherheits-
ratsresolution 1472 vom 28 . März zustande gekommen
ist. Wir gratulieren und danken unserer Delegation bei
den Vereinten Nationen unter Botschafter Pleuger für ih-
ren Anteil daran.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Es gibt noch eine zweite Priorität, diese heißt: Die
Autorität der Vereinten Nationen bei jeder Regelung
einer Friedensordnung bzw . einer Nachkriegsordnung
nicht nur im Irak, sondern in der ganzen Region, muss
wieder hergestellt werden. Wir freuen uns – das ist ein
konkreter Erfolg von Politik –, dass Großbritannien und
insbesondere Tony Blair uns in dieser Position immer
deutlicher unterstützen. Das ist der Weg zurück zu einer
gemeinsamen europäischen Position. Diese ist konkret
erreicht worden und deshalb bedarf es nicht ir gendwel-
cher Anmahnungen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Der Krieg im Irak bringt viele zum Zweifeln und zum
Verzweifeln. Wenn wir als zum Handeln Gewählte auch
noch Argumente liefern, die Defätismus, die Kleinmü-
tigkeit legitimieren, dann werden wir unserem Mandat
nicht gerecht. Es gab Alternativen und es gibt sie immer
noch zu dem, was uns jetzt al le quält. Wir müssen diese
Alternativen benennen und global durchsetzungsfähig
machen. Das und nichts anderes ist unsere Aufgabe.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1503700800

Ich erteile das W ort Herrn Kollegen Guido

Westerwelle, FDP-Fraktion.


(Beifall bei der FDP)



Dr. Guido Westerwelle (FDP):
Rede ID: ID1503700900

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-

ren! Herr Bundeskanzler, Sie haben eine Regierungser-
klärung abgegeben, bei der di ejenigen, die sich für die
Außenpolitik interessieren – das ist in diesen Zeiten je-
der in diesem Hause –, dami t gerechnet haben, Sie wür-
den heute auch weiterführend perspektivisch die Vorstel-
lungen der Bundesregierung für die Zeit nach dem Krieg
vortragen.


(Barbara Wittig [SPD]: Haben Sie nicht zugehört?)


Ich glaube, es gibt zwei Fragen, die wir uns alle stel-
len: Wie konnte es zu diesem Krieg kommen und was
kommt nach dem Krieg? Zu beiden Fragen haben Sie
sich sehr allgemein eingelassen und sich um ihre Beant-
wortung herumgedrückt. Si e haben von der Rolle der
Vereinten Nationen gesprochen, aber das war im Grunde
genommen nur eine Floskel bz w. ein rhetorisches Be-
kenntnis dazu.


(Zuruf von der SPD: Das ist eine Unterstellung!)


Denn die Vereinten Nationen als alleinige Inhaber des
Gewaltmonopols darzustellen ist zwar in der Sache rich-
tig, aber in Anbetracht des Scherbenhaufens, den die
deutsche Regierung – übrigens gemeinsam mit der Re-
gierung in Washington – in den Vereinten Nationen mit
angerichtet hat, ist das eindeutig zu wenig.


(Beifall bei der FDP – Lothar Mark [SPD]: Unverschämt! – Weiterer Zuruf von der SPD: Pubertäres Gerede!)


Diese differenzierte Haltung mag bei Ihnen von der
SPD auf Empörung stoßen; wir Freien Demokraten blei-
ben trotzdem bei unserer Ei nschätzung: Dass es zu die-
sem Krieg gekommen ist, ist auch das Ergebnis des
Versagens der Außenpolitik auf beiden Seiten des At-
lantiks. Sowohl die Regierung in W ashington als auch
die in Berlin haben die V ereinten Nationen infrage ge-
stellt und ihre Arbeit erschwert. Das war der schwere
Fehler in dieser Zeit.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)







(A) (C)



(B) (D)


Dr. Guido Westerwelle
Jetzt stellen sich folgende Fragen: Wie kann die Rolle
der Vereinten Nationen wieder ausgebaut werden? W as
müssen wir uns vornehmen? W elche Initiativen in
Europa starten Sie? Dabei reic ht es nicht aus, sich für
das Amt ein es europäischen Außenministers auszu-
sprechen. Über diese Erkenn tnis haben wir schließlich
schon oft genug gesprochen.

Die Frage, die Sie beantworten müssen, ist: W elche
Rolle soll künftig Europa in den V ereinten Nationen
wahrnehmen? Wir haben festgestellt, dass eine Struktur ,
in der die Vereinten Nationen von ihren Mitgliedstaaten
infrage gestellt werden, die sie nutzen und benutzen, bis
sie glauben, sie nicht mehr zu brauchen, auf Dauer nicht
positiv ist. Es ist die eige ntliche Aufgabe der deutschen
Politik – das er gibt sich au ch aus der Historie unserer
bisherigen Außenpolitik –, die Stärkung Europas in den
Vereinten Nationen voranzubringen,


(Beifall des Abg. Dr. Wolfgang Gerhardt [FDP])


damit dort nicht europäisch e Nationalstaaten handeln,
sondern damit Europa in den V ereinten Nationen han-
delt. Deswegen wäre es jetzt an der Zeit, dass die deut-
sche Politik die Initiative für einen Sitz der Europäischen
Union im Weltsicherheitsrat ergreift.


(Beifall bei der FDP sowie der Abg. Dr . Angela Merkel [CDU/CSU] – W ilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Sie haben Ihre Ideen immer zur falschen Zeit, Herr Westerwelle!)


Das wäre die richtige Initiative, die wir in dieser Diskus-
sion starten sollten.

Ein weiterer Punkt betrif ft den europäischen Eini-
gungsgedanken. Ich empfehle Ihnen in diesem Zusam-
menhang – das ist wichtig – ein Interview und einen Na-
mensbeitrag vom heutigen Tage, und zwar nicht wegen
der Spitzen gegen die Regierung, die beispielsweise in
dem Interview enthalten sind, sondern wegen der Souve-
ränität, mit der sich zwei große Staatsmänner zur Außen-
politik äußern. Es handelt si ch zum einen um das Inter-
view des Altbundeskanzlers, Helmut Kohl,


(Michael Glos [CDU/CSU]: Das ist ein großer Staatsmann!)


in der Zeitung „Die Welt“ und zum anderen um einen vor-
züglichen Namensbeitrag von Hans-Dietrich Genscher
im „Tagesspiegel“ vom heutigen Tage, den ich ebenfalls
Ihrer Aufmerksamkeit empfehle.


(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Das ist alles Vergangenheit!)


Wer über Außenpolitik spricht, sollte die Souveränität
und die Selbstverständlichkeit zur Kenntnis nehmen, mit
der der Altbundeskanzler, Helmut Kohl, auch auf die un-
terschiedlichen Wahrnehmungsweisen sowohl in W a-
shington als auch in Berlin hinweist. Für Helmut Kohl
ist es kein Problem, das Handeln der amerikanischen Re-
gierung namentlich zu kritisieren. Das sollte für uns alle
im Deutschen Bundestag ke in Problem sein; denn auch
als Freunde der Amerikaner mü ssen wir feststellen: Al-
leingänge dieser Art können nicht die Billigung der deut-
schen Politik finden.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Des Weiteren empfehle ich den, wie ich meine, sehr
bemerkenswerten Beitrag von Herrn Genscher im „T a-
gesspiegel“. Ich glaube, dass wir darin vor allem einen
bemerkenswerten Hinweis auf das finden, was jetzt dis-
kutiert werden muss, nämlich auf das Verhältnis zu den
künftigen osteuropäischen Mitgliedstaaten der Euro-
päischen Union. Hier wird der Eindruck erweckt, als
würden diese Staaten vielleicht eines Tages der Europäi-
schen Union beitreten.


(Günter Gloser [SPD]: Wer erweckt denn den Eindruck? – Weitere Zurufe von der SPD)


– Nicht Sie! Das ist vielmehr in der öffentlichen Diskus-
sion mehrfach erwähnt worden, gar keine Frage.


(Günter Gloser [SPD]: Wo leben Sie denn!)


– Entschuldigung, darf ich Sie auf etwas aufmerksam
machen? Wenn es darum geht, das V erhalten der Deut-
schen gegenüber Osteuropa zu würdigen, dann sage ich
in aller Ruhe – weniger im Hinblick auf das, was heute
gesagt worden ist, sondern mehr im Hinblick auf die
letzte Regierungserklärung, die der Bundeskanzler abge-
geben hat –: Ihr oberlehrerhafter Umgang mit den künf-
tigen osteuropäischen Mitg liedern der Europäischen
Union


(Widerspruch bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


ist ein dramatischer Fehler und zeugt von der Arroganz
eines großen Landes, wie Sie sie in ihren Auswirkungen
möglicherweise gar nicht verstanden haben.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Jawohl, Herr Hauptlehrer!)


Wenn Sie die Osteuropäer – erinnern wir uns nur, wie
Sie auf die Initiativen der osteuropäischen Länder rea-
giert haben, die natürlich vor einer ganz anderen Frage
stehen – vor die Alternative „Europa oder S icherheit in
einem Bündnis mit den V ereinigten Staaten“ stellen,
dann befürchte ich, dass sie sich aufgrund ihrer eigenen
Historie eher für die Sicherheit entscheiden. Das ist auch
der große Fehler der von Ihnen initiierten Achsendis-
kussion. Muss ich wirklich darauf hinweisen, welche
Bedeutung diese Diskussion für Prag oder W arschau
hat? Es ist falsch, zu glaube n, dass wir eine neue Achse
anstelle der transatlantischen Beziehungen schaffen kön-
nen. Europa und Amerika müssen zusammenbleiben.
Das ist der historische Auftrag, den wir in der jetzigen
Phase haben.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Das sage ich als jemand, der die Haltung der Amerikaner
sehr deutlich kritisiert hat.

In dem Beitrag von Herrn Genscher heißt es:






(A) (C)



(B) (D)


Dr. Guido Westerwelle
Die Enttäuschung in Paris und Berlin über das Ver-
halten einiger Beitrittsländer in der Irakfrage sollte
Anlass sein, die Beitrittsländer unverzüglich in die
außenpolitische Meinungsbildung der EU einzube-
ziehen.

Genau das ist es. Beklagen Si e sich nicht darüber , dass
andere demokratisch gewählte Regierungen anders han-
deln. Suchen Sie das Gespräch!


(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Das läuft längst, Herr Westerwelle!)


In Wahrheit sind die Probleme in den Beziehungen zwi-
schen Berlin und W ashington dadurch entstanden, dass
die demokratisch gewählten Führer zweier europäischer
Länder in den Zustand der Sprachlosigkeit – das trifft
in erster Linie auf Sie zu – verfallen sind. Das wird ein-
mal als das große Versagen der Diplomatie und der Au-
ßenpolitik in die Geschichtsbücher eingehen.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Herr Bundeskanzler, Sie haben in Ihrer Regierungser-
klärung einen bemerkenswerten Satz gesagt, nämlich
dass die jetzige Diskussion zwar – vielleicht – der Aus-
druck von Meinungsunterschieden zwischen Regierun-
gen sei, dass sich aber di e europäischen Gesellschaften
durchaus einig seien. Gemeint haben Sie damit Folgen-
des: Ich, Gerhard Schröder , Bundeskanzler der Bundes-
republik Deutschland, habe vi elleicht nicht die Zustim-
mung aller europäischen Regierungen, aber in W ahrheit
steht die Bevölkerung ganz Europas hinter mir . Genau
das ist es, was Sie gemeint haben. Dass das nicht stimmt,
werden Sie feststellen, wenn sie sich zum Beispiel die
gesellschaftliche Diskussion in Großbritannien an-
schauen. Übrigens, dort hat es eine Diskussion im Unter-
haus in einer Qualität gegeben, wie man sie sich hier
manchmal wünschen würde.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD – Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Das stimmt! Selbsterkenntnis ist der Weg zur Besserung!)


– To whom it may concern. Allein die Reaktion auf diese
Bemerkung zeigt, wie richtig mein letzter Satz ist.


(Beifall bei der FDP)


Ich möchte aber auf etwas anderes hinweisen. W as
bedeutet das Ganze denn? Da s bedeutet in W ahrheit,
dass Sie nicht alle europäischen Regierungen in der Irak-
frage hinter sich haben wollen, um gemeinsam voranzu-
gehen, sondern dass Ihnen – das ist of fensichtlich ein
wesentliches Kriterium Ihrer Außenpolitik – die Zu-
stimmung der eur opäischen Gesellschaften reicht.
Herr Bundeskanzler, Ihre Re gierungserklärung belegt,
dass Sie im Grunde genommen genau das Prinzip in der
Außenpolitik verfolgen, das Sie in Ihrer Wahlkampfrede
in Goslar dargelegt haben.


(Beifall bei Abgeordneten der FDP und der CDU/CSU)


Sie lassen Außenpolitik in weiten T eilen durch Mei-
nungsumfragen bewerten und richten sich danach. Sie
dürfen aber in Ihrer Außen politik nicht danach fragen,
wie sie auf die Menschen wirkt. Sie müssen Außenpoli-
tik vielmehr so formulieren, dass sie etwas für die Men-
schen bewirkt. Das ist die eigentliche Frage, die Sie zu
beantworten haben. Das tun Sie aber nicht.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Herr Bundeskanzler, ich möchte in den wenigen Mi-
nuten, die mir in dieser Debatte verbleiben, noch die
Frage ansprechen, wie wir un s in Deutschland im Hin-
blick auf diese Diskussion aufstellen sollten.

Erstens. Herr Bundeskanzler, kurz nachdem Sie Ihre
Regierungserklärung beendet hatten, hat die Bundesan-
stalt für Arbeit in Nürnber g ihre aktuelle Arbeitslosen-
statistik veröffentlicht. Während wir debattieren, wird
bekannt, dass die Arbeitsl osenzahlen auf dem höchsten
Märzstand seit der Wiedervereinigung sind.


(Dr. Elke Leonhard [SPD]: Es geht im Moment um Außenpolitik!)


Das ist deshalb so erwähnenswert, weil auch das ge-
samte außen- und europapo litische Gewicht der Deut-
schen davon abhängt, ob sie als starke Wirtschaftsnation
ihre innenpolitischen Hausaufgaben machen.


(Beifall bei Abgeordneten der FDP und der CDU/CSU)


Deswegen ist die wirtschaftliche Kraft Deutschlands in
Europa von den Möglichkeiten, die wir in der Außenpo-
litik einnehmen können, schl echterdings nicht zu tren-
nen. Nur wenn Sie den Weg der Erneuerung gehen – das,
was Sie bisher vor gelegt haben, ist zu wenig –, werden
Sie in der Lage sein, international Gehör zu finden.

Zweitens. Es reicht eben nicht aus – Frau Kollegin
Merkel hat darauf zu Recht hingewiesen –, in bestimm-
ten Situationen die Ankündigung, die Bundeswehr bes-
ser auszustatten, fallen zu lassen; sondern S ie müssen
dem auch Taten folgen lassen. Sie können der Bundes-
wehr nicht immer neue internationale Aufgaben übertra-
gen – ich sage Ihnen voraus, dass in der Nachkriegszeit
weitere neue Aufgaben au f uns zukommen, mindestens
humanitäre – und gleichzeitig den Etat der Bundeswehr
immer weiter kürzen.


(Dr. Elke Leonhard [SPD]: Das ist doch Quatsch!)


Wer die Bundeswehr mit neuen Aufträgen ausstattet, der
muss sie auch mit neuen Mitteln ausstatten.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Darüber werden wir gemeinsam, verehrte Kollegin-
nen und Kollegen, auch der Regierungsfraktionen – ich
habe die Worte des Bundeskanzlers, die von seinem Re-
detext abwichen, sehr genau verfolgt; ich begrüße das,
was er gesagt hat, ausdrücklich –, in diesem Haus im
Hinblick auf die künftige Rolle der Bundeswehr ent-
scheiden. Wir müssen klären, was wir wollen.

Herr Bundeskanzler, ich begrüße nachdrücklich, dass
Sie sich hier – jedenfalls den Worten nach – zu einem
Parlamentsheer, zu einer Parlamentsarmee bekannt ha-
ben. Um dem Rechnung zu tragen, müssen wir gemein-
sam im Deutschen Bundestag nicht irgendwann, sondern






(A) (C)



(B) (D)


Dr. Guido Westerwelle
von nun an zügig beraten, wie wir dem Auftrag des Bun-
desverfassungsgerichts nachkommen können. W ir müs-
sen klar machen, dass die Kultur der Zurückhaltung bei
Auslandseinsätzen der Bundeswehr auch dadurch erhal-
ten bleiben soll, dass wir die Schwelle der Einsätze nicht
senken, indem wir aus der Pa rlamentsarmee eine Regie-
rungsarmee machen.


(Beifall bei der FDP)


Wir Liberale wollen eine Parlamentsarmee und daher
treten wir dafür ein, dass wir hier, im Deutschen Bundes-
tag, ein Mitwirkungsgeset z beraten und beschließen.
Eine entsprechende Vorlage liegt seit Sommer letzten
Jahres – das war noch in de r alten Legislaturperiode –
vor. Wir haben sie wieder eingebracht. Da Sie, verehrte
Kolleginnen und Kollegen, die Geschäftsordnungsmehr-
heit in diesem Hause haben, fordere ich Sie auf: Sor gen
Sie mit dafür, dass es heute Nachmittag den Beschluss
zur Durchführung einer Anhörung gibt! Was vergeben
Sie sich denn, wenn Sie ge meinsam mit uns ein Gesetz
beschließen – am Anfang der Beratungen wird es wie
immer unterschiedliche Vorstellungen geben –, in dem
geregelt wird, was Bundesregierung und was Bundestag
künftig entscheiden dürfen und müssen? Unser Auftrag
ist, uns nicht nur in der groß en Weltpolitik zu verlieren,
sondern auch, das zu entscheiden, was wir entscheiden
müssen. Die Erfüllung dieses Auftrags steht an.

Herr Bundeskanzler, Sie haben gesagt, das Bundes-
verfassungsgericht habe Ihnen in seiner Eilentschei-
dung Bestätigung gegeben. Herr Bundeskanzler – ich
empfehle Ihnen wirklich mit großem Nachdruck die Lek-
türe der Begründung des Bu ndesverfassungsgerichts –,
das können Sie aus dieser Entscheidung wirklich nicht
herauslesen. Dort steht etwa s ganz anderes. Es heißt in
der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts wört-
lich:

In einem Hauptsacheverfahren bedarf es der Klä-
rung, wie weit der unmittelbar kraft Verfassung gel-
tende, konstitutive Parlamentsvorbehalt im W ehr-
verfassungsrecht reicht.

Das ist ein Auftrag an die Politik.

Seit Jahren diskutieren wir über ein Entsendegesetz;
wir nennen es Mitwirkungsg esetz. Dieser Auftrag ent-
hält die Auf forderung, zu handeln. Sie haben hier die
Überparteilichkeit betont und zu Recht von jedem Abge-
ordneten staatspolitische V erantwortung eingefordert.
Daher sollte Ihr Beitrag zur Überparteilichkeit und zur
staatspolitischen Verantwortung darin bestehen, den
Weg für ein gemeinsames Gesetz frei zu machen. Stim-
men Sie also heute Nachmitt ag, bitte schön, im Deut-
schen Bundestag dem Beschluss zur Durchführung einer
Anhörung zu, damit wir die entsprechenden parlamenta-
rischen Schritte gehen können.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: So ein Unsinn! Was hat denn das damit zu tun? Schon wieder die falsche Sache zur falschen Zeit!)

Herr Kollege Müntefering, am Schluss meiner Rede
möchte ich Ihnen noch vorha lten, was Sie in einem In-
terview gesagt haben. So we rden Sie jedenfalls heute
von den Agenturen zitiert. Ich freue mich, dass Herr
Kollege Erler das, was Sie gesagt haben sollen, nicht
wiedergegeben hat, und hof fe, dass Sie falsch zitiert
worden sind. Es heißt dort:

Junge Menschen erleben, dass das Recht des Stär-
keren die Stärke des Rechts ersetzt.


(Dr. Friedbert Pflüger [CDU/CSU]: Pfui!)


Meine Damen und Herren, ic h bitte Sie, dies einen
Augenblick lang zu Ende zu denken.


(Gert Weisskirchen [Wiesloch] [SPD]: Denken Sie mal!)


Wir alle sind, wie ich glaube, uns darüber einig – dies
gilt jedenfalls für die Freien Demokraten –, dass natio-
nale Alleingänge ohne Mandat der V ereinten Nationen
nicht die Billigung der deutschen Politik finden können.
Sie haben dazu unsere Erklär ung auch in diesem Hause
gehört; viele in diesem Hause haben der Erklärung unse-
res Fraktionsvorsitzenden am 21. März Beifall gespen-
det.


(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Und nun?)


Aber jetzt geht es nicht mehr um die Frage, ob wir uns
darüber unterhalten und uns gegenseitig die Verantwor-
tung zuweisen – dazu haben wir unterschiedliche V or-
stellungen –, sondern darum, dass allen Ernstes der Ein-
druck erweckt wird, im Ira kkrieg kämpfe die Stärke
gegen das Recht.


(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber so ist es doch! – Krista Sager [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Es geht um die UNO!)


Im Irak wird gegen Unrecht gekämpft. Das darf nicht
vergessen werden, meine sehr geehrten Damen und Her-
ren.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1503701000

Ich erteile Kollegin Krista Sager , Fraktion Bündnis

90/Die Grünen, das Wort.


Krista Sager (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1503701100

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kol-

lege Westerwelle, Sie hätten sich nicht so oberlehrerhaft
über die UNO äußern sollen, wie Sie es hier getan haben.
Ihre letzte Bemerkung hat nämlich gezeigt, dass Sie gar
nicht begriffen haben, was in der UNO passiert ist.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Selbstverständlich wünscht sich niemand den Sieg ei-
nes Diktators. Auch wäre selbstverständlich jeder froh
gewesen, wenn das Regime im Irak schnell zusammen-
gebrochen wäre oder aufgegeben hätte; das ist doch gar






(A) (C)



(B) (D)


Krista Sager
keine Frage. W ir alle können nur hof fen, dass dieser
Krieg bald zu Ende gehen und nicht noch mehr Opfer
fordern wird. Darüber brauchen wir uns hier nicht zu
streiten. Ich frage mich aber , ob wir uns eventuell über
das Ziel streiten müssen, dass das irakische Volk – ich
sage hier ganz bewusst: da s irakische Volk – die Mög-
lichkeit bekommt, sein Leben in Frieden, Freiheit und
Selbstbestimmung in die Hand zu nehmen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Meine Damen und Herren, es ist doch bedrückend,
dass wir jetzt feststellen müssen, dass alle beschriebenen
Risiken, die Basis unserer politischen Entscheidung ge-
wesen sind, schon jetzt eintreten und dass alle Befürch-
tungen, die wir gehabt haben, schon jetzt wahr werden.
Die Zivilbevölkerung ist real die Leidtragende. Es gibt
nicht den modernen Krieg, der sich zielgerichtet gegen ei-
nen Diktator und sein Regime wendet und die Menschen
ungeschoren lässt. Alle Ho ffnungen, die USA und ihre
Verbündeten würden als Befreier gefeiert oder es werde
in kürzester Zeit große Aufstände der Schiiten geben, sind
Täuschungen gewesen. Jetzt müssen wir befürchten, dass
sich die humanitäre Katastrophe ausweitet, die sich be-
reits deutlich zeigt. Diese T ragik belegt, dass alle W ar-
nungen vor diesem Krieg berechtigt gewesen sind.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Frau Merkel, Sie haben hier versucht, ein paar beden-
kende Worte zu finden, und geäußert, dass alles nun
doch recht traurig sei. Sie haben aber gleichzeitig gesagt,
der Krieg sei nun Realität. Damit machen Sie es sich
wirklich zu einfach, weil Sie damit auch eine Betrach-
tung der Risiken vom T isch gewischt haben. Sie haben
zwar gesagt, man müsse si ch die Risiken anschauen.
Aber genau dieser Satz ist Ihre W eise, sich die Risiken
nicht anzuschauen. Dies haben Sie hier schon die ganze
Zeit über so praktiziert.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Dr. Friedbert Pflüger [CDU/ CSU]: Es gibt auch Risiken bei Nichthandeln!)


Den Einkauf von Impfstoffen infolge der Ereignisse des
11. September hier so darzustellen, als hätte das ir gend-
etwas mit der Irakpolitik zu tun, ist wirklich perfide ge-
wesen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Dr. Friedbert Pflüger [CDU/CSU]: Natürlich! Frau Sager, die arbeiten daran! Nehmen Sie das doch mal zur Kenntnis!)


Schauen wir doch einmal auf die Risiken: Schon jetzt
steht ein laizistischer Diktator, der von den religiösen Is-
lamisten eigentlich immer nur verachtet worden ist, in
großen Teilen der arabischen und der islamischen W elt
plötzlich als Identifikationsfigur da. Das ist absurd, das
ist tragisch; aber sagen Sie doch bitte nicht, dass das
nicht vorauszusehen gewesen ist. Genau davor ist ge-
warnt worden.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Jetzt kommen Menschen aus Tschetschenien und Afgha-
nistan in den Irak, um dort zu kämpfen. Jetzt verüben
kleine islamistische kurdis che Organisationen – Grup-
pen, die bisher in Feindschaft zu Saddam Hussein gelebt
haben – Selbstmordattentate gegen amerikanische Sol-
daten. Das ist die Wahrheit.

Wir blicken mit großer Sor ge auf die Entwicklung in
Pakistan. Wir beobachten mit großer Sorge, dass Nord-
korea in seinen Formulierungen über das Glück, über
eine Atombombe zu verfügen, immer unberechenbarer ,
immer gefährlicher wird. Ge nau vor diesen Risiken ist
immer gewarnt worden. Uns droht jetzt wirklich eine
panarabische, panislamische nationalistische Bewe-
gung, die die gesamte Region immer weiter destabili-
siert. Genau davor haben de r deutsche Außenminister
und der Bundeskanzler immer gewarnt.

Aus diesem Grund hat die deutsche Bundesregierung
immer gesagt: Wenn wir die Terrorbekämpfung ernst
nehmen wollen, dann kann Irak nicht die erste Priorität
sein.


(Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Das hat doch die UNO beschlossen!)


Das ist auch die Antwort auf die angeblichen Widersprü-
che, die Sie hier aufgedeckt haben wollen, Frau Merkel.
Es sind keine Widersprüche. Die Bundesregierung hat zu
Recht immer gesagt, der Ira k könne bei der T errorbe-
kämpfung nicht die erste Priorität sein. Dies war eine
richtige Einschätzung der Lage.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Jetzt tritt das ein, was i mmer behauptet worden ist,
wofür es aber keine Beweise gegeben hat und was es so
auch bisher nicht gegeben ha t. Jetzt kommt es plötzlich
zu einer Union von islamistischen Terroristen mit Schur-
kenstaaten. Der Krieg hat im Grunde genommen erst das
geschaffen – er schafft es jeden Tag neu –, was die USA
nach ihren Behauptungen gerade verhindern wollten.
Das ist doch das Drama, vor dem wir jetzt tatsächlich
stehen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Dramatisch ist auch Folgendes: W ir wissen genau,
dass wir unsere Aufgaben in Afghanistan noch nicht zu
Ende erfüllt haben. Diese Au fgaben werden doch nicht
einfacher. Dies gilt auch für die Situation unserer Solda-
tinnen und Soldaten. Alles da s ist ebenfalls eine fatale
Folge dieses Krieges.

Frau Merkel, ich hatte wirklich gehofft, dass Sie heute
nicht noch einmal eine solche Geschichtsklitterung
versuchen würden.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Ich hatte es auch deswegen gehofft, weil ich selber eher
dafür bin, nach vorne zu diskutieren. Ich bin keine
Freundin des Nachtretens, aber Sie haben hier wieder
diese Geschichtsklitterung versucht. Deswegen kann ich
es Ihnen auch nicht ersparen, darauf einzugehen: Ihr Ja






(A) (C)



(B) (D)


Krista Sager
zum Irakkurs der US-Regierung ist ein Nein zur UNO
gewesen, es ist ein Nein zu Blix gewesen, es ist ein Nein
daran gewesen, das Arbeitsprogramm fortzusetzen, und
es ist ein Nein zur friedlichen Abrüstung gewesen. Das
ist die Wahrheit!


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Widerspruch bei der CDU)


Frau Merkel, Sie konnten vo n diesem Nein nicht da-
durch ablenken, dass Sie jetzt anonyme Zitate von ano-
nymen Waffeninspekteuren anführten. Das ist einfach zu
billig, weil zu viele Zitate von Herrn Blix selber und sei-
nen namentlich bekannten Leuten dagegenstehen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Ehrlich gesagt, finde ich es perfide, dass Sie auch
heute wieder den V ersuch unternehmen, der Bundesre-
gierung die Mitschuld für ei nen Krieg in die Schuhe zu
schieben, bei dem Sie am liebsten vorne mit dabei gewe-
sen wären. Dies entspricht doch den Tatsachen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Dr. Friedbert Pflüger [CDU/CSU]: Pfui!)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1503701200


Kollegin Sager, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Schäuble?


Krista Sager (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1503701300


Ich bin jetzt gerade so gu t in Fahrt; deswegen aus-
nahmsweise heute nicht, nächstes Mal gerne.


(Dr. Hans-Peter Friedrich [Hof] [CDU/CSU]: Unglaublich!)


Frau Merkel, einige Medien haben es so dar gestellt,
dass Sie in Ihrer eigenen Partei gewissermaßen unter
Friendly Fire geraten sind. Über Geschmack kann man
streiten. Ich halte diese Wortwahl in dieser Zeit nicht un-
bedingt für passend.


(Eckart von Klaeden [CDU/CSU]: Aber trotzdem gerade benutzt!)


Aber Tatsache ist: Ihr Kurs wird von großen Teilen Ihrer
Partei so nicht mehr für richtig gehalten. Das gilt vor al-
lem für Ihre Wählerschaft. Ich finde es gut, dass Sie da-
rüber streiten. Mein Problem ist nicht, dass Sie in der
CDU streiten; mein Problem ist, dass Sie viel zu spät
und viel zu halbherzig streiten.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Dass Sie sich jetzt so schnell wieder um Ihre Vorsitzende
scharren – manche scharren, manche scharen; das weiß
man bei Ihnen nicht so recht –, dass Sie sich so schnell
wieder um Ihre Vorsitzende versammeln


(Dr. Andreas Schockenhoff [CDU/CSU]: Das ist anders als bei euch! Da versammelt sich niemand!)

und Burgfrieden jetzt die Ansage in Ihren Reihen ist, hat
doch nur einen einzigen Grund, nämlich den: Alle wis-
sen, dass die Haltung Ihrer V orsitzenden zum Irakkrieg
für die Außenpolitik in Deutschland irrelevant ist. Das
ist der einzige Grund dafür , dass das bei Ihnen funktio-
niert.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Einige sind auch froh darüber , dass das so ist. Für Ihre
Wählerschaft und den Großteil Ihrer Mitglieder wäre es
ein Graus, wenn die Haltung von Frau Merkel zum Irak-
krieg in diesem Lande in irgendeiner Weise gestaltungs-
relevant wäre.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Dr . Friedbert Pflüger [CDU/CSU]: Dann könnt ihr uns aber nicht für den Krieg verantwortlich machen! Das passt irgendwie nicht so ganz!)


Selbst dann, wenn es mi litärisch noch zu einem
schnellen Sieg der V erbündeten kommen sollte, ist aus
meiner Sicht der Alleingang der USA schon heute als
Desaster anzusehen.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der SPD)


Ich will Ihnen eines aber ganz deutlich sagen: Ich habe
die durchaus begründete Hof fnung, dass die W elt aus
diesem Desaster lernen wird.


(Michael Glos [CDU/CSU]: Sie haben nichts gelernt!)


Es zeigt sich schon heute, dass auch die mächtigste Su-
permacht der Welt nicht in der Lage ist, in unserer immer
komplexeren Welt, in unserer Welt, in der zahlreiche Ur-
sachen und Wirkungen miteinander auf komplizierteste
Weise verschränkt sind, einfach im Alleingang eine poli-
tische Neuordnung herbeizuführen. Es ist doch so, dass
selbst in Großbritannien, aber auch in den USA die Men-
schen geradezu erschreckt reagiert haben, als Powell das
Stichwort Syrien und Iran in die Debatte gebracht hat.
Niemand glaubt doch mehr daran, dass Abrüstungs-
kriege heute die Antwort auf Massenvernichtungswaffen
sind. Alle fordern umso mehr eine Stärkung der UNO
und eine Stärkung von wirk samen Waffenkontrollregi-
men, die die V erbreitung von Massenvernichtungswaf-
fen auf andere Art unterbinden.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Ich bin ganz sicher: Die UNO wird ihre Rolle wieder
finden und sie muss sie auch wieder finden. Ich bin aus-
gesprochen froh darüber, dass auch Tony Blair die UNO
wieder ins Spiel gebracht hat. Was wir mit der UNO er-
leben, erleben wir ganz ähnlich auch mit Europa. W er
mit den Menschen in diesem Land spricht, der merkt:
Das Interesse an der UNO ist größer denn je; es ist nicht
kleiner geworden. Das Gleiche gilt auch für Europa.
Die Menschen wollen gerade vor dem Hinter grund der
Erfahrung mit dem Irakkrieg heute mehr denn je ein star-






(A) (C)



(B) (D)


Krista Sager
kes Europa. Es ist eine Riesenchance, dass die Menschen
dieses Europa endlich als ihr Europa begreifen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Wir haben doch lange die Situation gehabt, dass viele
Menschen gesagt haben: Europa ist ein Europa für die
Bürokraten und für die Dipl omaten. Es ist ein Europa,
das viel kostet und mit den Bür gerinnen und Bür gern
nicht so viel zu tun hat. – In den Gesprächen, die wir
heute führen, erleben wir, dass die Menschen jetzt sagen:
Ja, wir brauchen ein starkes Europa, und zwar als starken
Partner in multilateralen Zusammenhängen und Struktu-
ren. – Das wollen die Menschen und deswegen ist es
richtig, dass sich die Bundesregierung dafür einsetzt.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Es ist keinesfalls so, Herr Westerwelle, dass die Bun-
desregierung hier einseitig operiert. Die Gespräche mit
den osteuropäischen Staaten, mit den osteuropäischen
Außenministern werden doch längst geführt. Natürlich
ist es unsere Aufgabe als Politikerinnen und Politiker ,
den Menschen zu sagen: W ir wollen ein starkes Europa
nicht als Gegengewicht zu den USA, sondern als starken
Partner für die USA, denn wir brauchen die USA weiter-
hin, um auf der Basis der transnationalen Zusammen-
hänge auf Konflikte in dieser Welt zu reagieren und sie
friedlich zu lösen, beispiel sweise im Nahen Osten, aber
auch zwischen Indien und Pakistan. Das ist überhaupt
keine Frage.

Es ist auch überhaupt keine Frage, dass wir die osteu-
ropäischen Länder nicht vo r die Wahl zwischen NATO
und EU stellen wollen. W eil wir ihnen diesen Spagat
nicht zumuten wollen, sagen wir: Wir wollen ein starkes
Europa in einem transatlanti schen Bündnis. Das ist für
uns überhaupt keine Frage; dafür werden wir auch ein-
treten.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Aber, meine Damen und Herren von der Opposition,
in einer Frage gehen wir Ihnen nicht auf den Leim: Sie,
Frau Merkel – bei Herrn Westerwelle hat das leider auch
ein bisschen angeklungen –, versuchen uns hier einzure-
den, dass ein bedingungsloses Ja zur US-Politik, also so-
zusagen eine stillschweigende Unterstützung des ameri-
kanischen Präventivschlags gegen den Irak, der Preis für
europäische Einigkeit und für Einigkeit in der UNO sei.
Dazu sage ich Ihnen: So kann Einigkeit in Partnerschaf-
ten nicht aussehen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Auch in einer Partnerschaft ist verantwortliches Han-
deln, in diesem Fall also ei ne verantwortbare Politik,
notwendig. Das bedeutet: W enn ein Partner eine ekla-
tante Fehlentscheidung trifft, muss man zu dieser Fehl-
entscheidung Nein sagen können. Ein Europa, das darauf
basiert, dass man wegen der Einigkeit zu Dingen Ja sa-
gen muss, die für alle anderen Menschen in der W elt
hochgefährlich sind, wäre kein starkes Europa.
Herr Westerwelle, Sie haben gesagt: Die Außenpolitik
muss daran gemessen werden, wie sie sich auf die Men-
schen auswirkt. Hierbei sind aber bitte schön auch die
Auswirkungen auf die Menschen im Nahen Osten zu be-
rücksichtigen und nicht nur die auf die Menschen in Eu-
ropa.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Meine Damen und Herren, auch wir werden dazu bei-
tragen, dass es im Rahmen einer Europäischen Sicher-
heits- und Verteidigungspolitik zu einer stärkeren Zu-
sammenarbeit kommt. Dazu gehören auch gemeinsame
militärische Strukturen, aber nicht nur . Ich sage aus-
drücklich: Dazu gehört auch die Stärkung der Struktu-
ren, die die friedliche Konfliktbewältigung ertüchtigen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Wir brauchen einen ganzheitlichen, einen erweiterten Si-
cherheitsbegriff und nicht einen, der nur das Militärische
umfasst.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Natürlich ist die belgisch e Initiative, an der sich
Deutschland und Frankreich beteiligen,


(Zuruf von der CDU/CSU: Luxemburg!)


keine exklusive Veranstaltung; alle europäischen Staaten
sind eingeladen. Ich glaube, dass viele europäische Staa-
ten sehen werden, dass ihnen eine solche Initiative auch
deswegen nützt, weil sie Ressourcen sinnvoll bündelt.
Wenn in Zukunft nicht mehr jeder Nationalstaat für sich
alleine seine Militärpolitik macht, sondern man die
Kräfte bündelt, können alle europäischen Länder ihre
Ressourcen vernünftig einsetzen.

Das entbindet uns aber ni cht von der Aufgabe, die
Umstrukturierung der Bundeswehr weiter voranzutrei-
ben. Deswegen ist es wichtig, zu sagen, dass die Verab-
redungen, die wir für die näch sten drei Jahre getrof fen
haben – Herr Minister Eichel schaut schon ganz erwar-
tungsvoll –, selbstverständlich weiter gelten. Wir müssen
nämlich diese Umstrukturierung voranbringen. Natürlich
werden wir im Rahmen entsprechender innereuropä-
ischer Verständigungen auch in Zukunft einen angemes-
senen Beitrag für die Stär kung Europas leisten müssen.
Dafür werden wir auch um Verständnis bei der Bevölke-
rung werben. Das ist für mich gar keine Frage. W ir
Grüne werden aber , wenn wir in Zukunft über die
Neustrukturierung der Bundeswehr sprechen und disku-
tieren, auf die Agenda auch das Thema der W ehrpflicht
in diesem Lande setzen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Meine Damen und Herren, natürlich wird die Bundes-
wehr weiter eine Parlamentsarmee bleiben. Dafür wer-
den wir sorgen.


(Michael Glos [CDU/CSU]: Da sind Sie wieder gegen den Kanzler!)







(A) (C)



(B) (D)


Krista Sager
Wir werden gleichzeitig dafü r sorgen, dass die Bundes-
republik Deutschland ihre Handlungsfähigkeit auch in
multilateralen Zusammenhängen behält. W ir werden
aber, Herr Westerwelle, Ihnen nicht dabei behilflich sein,
wenn Sie im Schatten des Irakkrieges Ihre innenpoliti-
schen Spielchen betreiben.


(Dr. Wolfgang Gerhardt [FDP]: Dummes Geschwätz!)


Wenn Sie der Meinung sind, dass, wenn die FDP eine
Watsche vom Bundesverfassungsgericht bekommt, eine
solche Watsche zu Rechtssicherheit in diesem Lande bei-
trägt, dann ist mir um di e Rechtssicherheit in diesem
Lande gar nicht bang; das muss ich Ihnen sagen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Wir werden auf jeden Fall die Bundesregierung dabei
unterstützen, die multilateralen Strukturen auf der Basis
internationalen Rechts zu st ärken und in diesen multila-
teralen Strukturen dafür zu sorgen, dass Europa ein star-
ker und zuverlässiger Partner wird.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1503701400


Ich erteile Kollegen Michael Glos, CDU/CSU-Frak-
tion, das Wort.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Michael Glos (CSU):
Rede ID: ID1503701500


Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Wir stehen natürlich alle unter dem Eindruck
des Krieges im Irak und wir hof fen alle, dass der Krieg
schnell mit einem Sieg der Amerikaner und ihrer V er-
bündeten zu Ende geht.

Herr Bundeskanzler, ich habe eigentlich erwartet,
dass Sie dies auch bei Ihrer heutigen Regierungserklä-
rung so sagen;


(Beifall bei der CDU/CSU)


denn wir können bei diesem Krieg, auch wenn wir ihn in
der Konsequenz alle nicht gewollt haben – uns wären an-
dere Lösungen lieber gewesen –, nicht neutral sein. Inso-
fern begrüße ich das, was der SPD-Generalsekretär
Scholz gesagt hat, nämlich dass ihm an einem schnellen
Sieg der Alliierten gelegen sei, nicht zuletzt um die
Zahl der Opfer so gering wie möglich zu halten. Ich
glaube, das sollte Konsens in diesem Hause sein.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Über das Versagen der Polit ik und das Nicht-halten-
Können des Friedens ist hier viel diskutiert worden.
Auch heute hat das wieder eine Rolle gespielt. Ich
möchte nur noch einmal sagen: Der Einfluss der Parla-
mente auf die Außenpolitik der Regierungen ist an sich
gering, außer es gibt Parlam entsmehrheiten, die richtig
aufbegehren, wie es zum Beispiel in Großbritannien und
anderen Ländern geschieht.
Sie haben großes Glück: Sie haben in den Grünen im
Prinzip eine Schoßhundpartei. W enn es um die Unter-
stützung Ihrer Politik geht, sind sie so friedlich und
fromm wie Schoßhündchen. Aber nach außen gehen sie
mit verbalen Angriffen gegen die Opposition vor und tun
so, als ob wir die Kriegstreiber gewesen wären. Das
finde ich unverschämt.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Frau Sager, zu dem, was Sie soeben geboten haben,
kann man nur fragen: Soll das bedeuten, dass man sich
– der Bundeskanzler, die Bundesregierung, vielleicht das
ganze deutsche Volk – dafü r bedanken muss, dass Sie
ausnahmsweise keinen Sonderp arteitag der Grünen zu-
gelassen haben? Im Falle ei nes Sonderparteitages wüss-
ten wir nicht, wie es um di e Fähigkeit der Bundesregie-
rung stünde, das zu tun, was bündnispolitisch notwendig
ist.

Herr Bundeskanzler, wir waren unlängst, einen T ag
vor Ausbruch des Krieges, beim Bundespräsidenten
eingeladen. Ich fand das sehr gut. Es waren alle Parteien
vertreten. Außer der PDS hat sich niemand direkt gegen
das gestellt, was notwendig ist. Ich will nur daran erin-
nern: Die PDS ist in einigen Landesregierungen Bünd-
nispartner der SPD.

Es bestand dort Konsens darüber , dass die Frage der
Überflugrechte und die Frag e der Stützpunktbenutzung
nicht angezweifelt werden; denn es ist ein Stück Staats-
räson, dass wir im Bündnis nicht noch mehr zerstören,
als zerstört worden ist. Dass man sich dennoch in T alk-
shows und bei anderer Gelegenheit von führenden Mit-
gliedern nicht nur der SPD und der Grünen, sondern
auch der Bundesregierung ständig anhören muss, wir
seien diejenigen, die einen völkerrechtswidrigen Krieg
unterstützen, das finde ich den Gipfel. Lassen Sie sich
das alles einmal zeigen. Die vorhin neben Ihnen sitzende
Staatsministerin im Auswär tigen Amt, die V ertreterin
von Herrn Fischer , ist eine der Schlimmsten in dieser
Hinsicht.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Meine sehr verehrten Damen und Herren, noch ein Wort
zu schlimmem Verhalten. Frau Sager , vielleicht leihen
Sie mir einen Moment Ihr Ohr. Ich konnte Ihnen meines
nicht verweigern; denn Ihre Stimme ist ziemlich durch-
dringend. Frau Sager, wie ich weiß, sind Sie aus Ham-
burg, Sie waren früher Mitglied des Hambur ger Senats.
Wie Sie allerdings mit der führenden Hambur ger Wo-
chenzeitung „Die Zeit“ umgegangen sind, das finde ich
höchst empörend. Die „Zeit“ hat ganz klar gesagt, sie
bürge für die Seriosität der Aussagen der UN-Inspek-
teure, weil die sich namentlich nicht äußern dürfen.
Dann in dieser Art und W eise gegen die „Zeit“, deren
Herausgeber immerhin Staatsministerin Ihrer Regierung
gewesen ist, vorzugehen, finde ich ein bisschen seltsam
und sehr komisch.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich be-
schuldige die Bundesregierung nicht, an diesem Krieg
schuld zu sein. Sie ist nicht direkt schuld und trägt schon






(A) (C)



(B) (D)


Michael Glos
überhaupt keine Alleinschuld. Aber eines ist auch sicher:
Rot-Grün hat diesen Krieg nicht verhindert und hat ei-
gentlich auch nichts Entscheidendes zu seiner Verhinde-
rung beigetragen.

Ich meine, dass wir unsere Bündnisverpflichtungen
nicht in Frage stellen sollten, weil wir selbstverständlich
dieses Bündnis für die Zuku nft brauchen. Dazu war in
Ihrer Regierungserklärung, Herr Bundeskanzler , ja sehr
viel zu hören, obwohl ic h mir manches konkreter ge-
wünscht hätte.


(Vorsitz: Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms)


Die Verstöße von Saddam Hussein gegen internatio-
nales Recht sind of fenkundig und vor diesem Hinter-
grund mutet die Diskussion in den Reihen von Rot-Grün
über die rechtliche Zulässigkeit der militärischen
Intervention im Irak schon sehr seltsam an. Der Herr
Bundesaußenminister hat heute ein Interview im „Han-
delsblatt“ gegeben, das ic h zumindest eindrucksvoller
und konkreter finde als Ihre Regierungserklärung. Ich
möchte ihn aber nicht mit dem „Handelsblatt“, sondern
mit dem „Spiegel“ zitieren. Dort hat er im Dezember die
Resolution 1441 für rechtlic h ausreichend erklärt. Nun
gibt es große Völkerrechtsabteilungen im Auswärtigen
Amt und im Bundeskanzleramt. Es gibt allerdings auch
ein Gutachten des W issenschaftlichen Dienstes des
Deutschen Bundestages, das zu einer anderen Aussage
kommt. Ich habe mich gefrag t: Wie kannst du als Laie
dir eine Schneise durch di eses Dilemma schlagen? Ich
habe die Völkerrechtsabteilung des Auswärtigen Amtes
gebeten, das von Herrn Thierse vor gelegte Gutachten
des Wissenschaftlichen Dienstes des Bundestages zu be-
werten. Das wurde natürlich a bgelehnt. Also bleibt die-
ser Streit offen und – seien wir ehrlich – er ist ja auch
nicht seriös zu Ende zu führen.

Nur sollten wir uns dann keine gegenseitigen Vor-
würfe machen. Ich wehre mich dagegen, dass die Oppo-
sition, die nicht handelnd ist in diesem Land, sich stän-
dig den Vorwurf gefallen lassen muss, sie unterstütze
einen völkerrechtswidrigen Krieg. Wir haben in der Hin-
sicht nichts zu unterstützen, die Regierung ist handelnd.
Würde dieser Vorwurf, der aus Ihren Reihen immer wie-
der erhoben wird, stimmen, müssten Sie eigentlich da-
nach handeln und mit Hilfe von Müntefering und ande-
ren, die sich scharf durchz usetzen wissen, verhindern,
dass diese Vorwürfe ständig gegen uns erhoben werden.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Meine sehr verehrten Dame n und Herren, ich glaube
auch, dass die Politik der ei nseitigen Vorfestlegung der
amtierenden Bundesregierung den Scherbenhaufen, ins-
besondere in den internationalen Beziehungen, schon ein
Stück zu verantworten hat. Die UNO hat ungeachtet ih-
rer erfolgreichen Bemühungen im humanitären Bereich
als System kollektiver Sicher heit jetzt leider jegliche
Überzeugungskraft verloren. Die NATO – Sie haben das
ebenfalls beklagt – befindet sich trotz der Osterweite-
rung und der einmütigen So lidaritätsbekundungen auf
dem Gipfel in Prag in der größten Krise ihrer Ge-
schichte. Insofern ist es richtig: W ir haben nach dem
Krieg Wiederaufbauarbeiten zu leisten: Wiederaufbauar-
beiten an der UNO, Wiederaufbauarbeiten an der NATO
und auch gewaltige W iederaufbauarbeiten in der Euro-
päischen Union. Die Europä ische Union wird ja heute
im Prinzip nur noch durch die Gemeinschaftswährung
Euro zusammengehalten. Frau Merkel hat es zu Recht
gesagt, ich möchte es hier wiederholen: Wir haben nicht
vergessen, dass Sie den Euro als kränkelnde Frühgeburt
beklagt haben. Hätten wir diese kränkelnde Frühgeburt
nicht, wäre die ganze Europäische Union jetzt am Ende.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Sie haben in Ihrer Regierungserklärung den Mangel
an Einigkeit in Europa beklagt; sie wäre wünschenswert
gewesen. Ehrlicherweise hätten Sie auch zugeben müs-
sen, dass Sie zu dieser Un einigkeit entscheidend beige-
tragen haben. W enn man einen Sonderweg ankündigt
und wenn man sagt: Mit uns niemals!, dann ist man von
vornherein kein ernst zu nehmender Gesprächspartner
mehr. Diesen Vorwurf müssen Sie sich gefallen lassen.


(Beifall bei der CDU/CSU – Günter Gloser [SPD]: Nein!)


Wir müssen natürlich auch den Hinter grund in den
Vereinigten Staaten sehen. Nach dem Selbstverständnis
der Vereinigten Staaten befindet sich dieses Land seit
dem 11. September 2001 praktisch im Krieg. Herr Bun-
deskanzler, Sie haben sofort nach diesen schrecklichen
Attentaten die uneingeschränkte Solidarität verspro-
chen. Damals sind hohe Er wartungen geweckt worden.
Ich meine, dass das Durchsetzen der 17 Resolutionen
des Sicherheitsrats schon dann begonnen hatte, als sich
die Vereinigten Staaten überlegt haben, von wo Gefahren
für sie ausgehen. W ir wissen, dass aus diesem T eil der
Welt die Anschläge erfolgt sind, obwohl kein unmittel-
barer Zusammenhang zwischen al-Qaida und Saddam
Hussein nachzuweisen ist.

Wir diskutieren nach vorne. Unser Kontinent, das alte
und selbstverständlich auch das neue Europa, benötigt
ein Fundament, wenn es sich nicht im Status einer Zoll-
und Währungsunion verlieren sollte. Die Europäische
Union braucht deswegen drin gend ein neues Selbstver-
ständnis. Sie muss ihre kontinentalen und globalen Inte-
ressen genau definieren. Auch das ist eine der Lehren aus
diesem Krieg. Franz Josef Strauß hat vor mehr als 30 Jah-
ren einmal gesagt: Ohne eine gemeinsame Stimme ist Eu-
ropa auf der Bühne der W eltpolitik kein mitspielendes
Subjekt, sondern ein Objekt, mit dem gespielt wird. –
Dieses Gefühl hatten wir in dieser schwierigen Zeit wie-
der.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Dr. Wolfgang Gerhardt [FDP])


Deswegen bekennen wir uns dazu, dass Europa eine
gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik braucht. Die
früheren europäischen Großmächte sind zu klein, um
eine globale Rolle übernehmen zu können. Nur durch
ein abgestimmtes Verhalten vermag Europa im Zeitalter
der Globalisierung auch globale Verantwortung zu über-
nehmen und globalpolitisches Gewicht einzubringen.






(A) (C)



(B) (D)


Michael Glos
Deswegen muss das Misstrauen überwunden werden.
Wenn man einen Gipfel von Franzosen, Deutschen,
Belgiern und vielleicht von Luxembur gern anberaumt,
dann weckt das anderswo Misstrauen. Ich hof fe, dass
nicht dieses Sondertreffen, sondern ein Treffen der maß-
geblichen Kräfte in Europa stattfinden wird.

Die Arbeit des Reformkonvents für einen Verfas-
sungsvertrag ist weit fortgeschritten. V orhin ist wieder
die Forderung nach einem europäischen Außenminister
erhoben worden. W ir sind selbstverständlich dafür; so
steht es auch in unserem Wahlprogramm. Wie hätte aber
dieser Außenminister in der entstandenen Situation ab-
stimmen sollen, mit der einen Hand so und mit der ande-
ren Hand so? Es gehört dazu, dass der Wille zur Gemein-
samkeit vorher stärker definiert wird. Es gehört dazu,
dass wir gemeinsame Sicherheitsstrukturen schaffen.

Sie haben in Ihrer Regierungserklärung von europä-
ischen Blauhelmen gesprochen. Sie sind schon jetzt im
Einsatz. Ich finde es großartig – das hat mich bei meinen
Besuchen im Kosovo am meisten beeindruckt und nicht,
dass mir Ihr früherer V erteidigungsminister den Flieger
weggenommen hat –, dass man dort sehen konnte, dass
die europäischen Nationen bis hin zu den Ukrainern in
der Praxis zusammenarbeiten, um gemeinsam Frieden zu
schaffen und Frieden zu erhalten. Wenn das jetzt endlich
unter europäischer Führung möglich ist und wenn wir
dazu die Amerikaner nicht mehr brauchen, dann bekla-
gen wir das nicht. Aber ohne den Einsatz der Vereinigten
Staaten und ohne die NATO wäre es nicht einmal mög-
lich gewesen, terroristische Regime in Europa zu be-
kämpfen.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Wir benötigen eine abgestimmte Struktur . Wenn Eu-
ropa militärisch ernst genommen werden will, benötigen
wir eine Einsatzfähigkeit, die politisch und militärisch
– quasi unter einem Kommando – sicher gestellt ist. Wir
brauchen natürlich entsprec hende Fähigkeiten, auf Kri-
sen zu reagieren. Selbstverständlich bedarf es dazu
Mehrausgaben für die V erteidigungspolitik; anders
geht es nicht. Ansonsten wä re es eine leere und hohle
Forderung.

Je stärker und je schnelle r wir uns von den V ereinig-
ten Staaten von Amerika entfernen – ich plädiere nicht
dafür; das muss klar sein; aber viele von Rot-Grün träu-
men davon –, desto mehr Mittel werden gebraucht und
desto rascher werden sie benötigt.

Um die T agungen, die Sie, Herr Bundeskanzler , in
diesem Zusammenhang jetzt halten müssen, beneide ich
Sie nicht. Wir sehen manchmal Fernsehbilder davon, wie
Sie diese emphatisch mit „Liebe Genossinnen! Liebe
Genossen!“ eröffnen. Sie versuchen, die lieben Genos-
sinnen und Genossen davon zu überzeugen, dass wir von
vielem lieb Gewordenen Abstriche machen müssen, weil
unser Sozialstaat nicht mehr finanzierbar ist und die öf-
fentlichen Haushalte überschuldet sind.

Wenn Sie ehrlich sein woll en, sollten Sie gleichzeitig
hinzufügen, dass mehr Geld aufgebracht werden muss
und wir an anderer Stelle no ch stärker sparen müssen,
weil wir in der Sicherheit einen gemeinsamen europä-
ischen Weg gehen wollen. Das zu sagen gebietet die Ehr-
lichkeit. Es gibt hier nichts zum Nulltarif.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Dass Deutschland und Frankreich wieder besser har-
monieren, ist zunächst nicht zu beklagen. Nur darf sich
das nicht gegen das übrige Europa richten. Es hilft
nichts, wenn der Motor wied er läuft. Zweitaktmotoren
sind nicht mehr in; wir brauchen heute andere Motoren.
Aber wenn das Auto wieder fährt, da der Motor läuft,
muss es in die richtige Richtung gehen. Die richtige
Richtung ist natürlich: Gemeinsamkeit.

Wir haben heute bereits kurz über die Brüskierung
diskutiert, die gegenüber den osteuropäischen Ländern
erfolgt ist. Ich habe in de r letzten Zeit zwei Besuche in
dieser Region gemacht. Ich weiß, wie durcheinander
man dort ist. Man sagt dort: W ir hatten eigentlich das
Gefühl, einem anderen Europa beizutreten. Jetzt müssen
wir plötzlich zwischen unserer Freundschaft zu Deutsch-
land und unserer Freundschaft zu Großbritannien sortie-
ren. Wir müssen auch sortiere n, ob wir für oder gegen
die USA sind.


(Franz Müntefering [SPD]: CDU und CSU dazu!)


Ich glaube, das haben sich a lle nicht gewünscht und das
wünschen sie sich auch jetzt nicht.


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1503701600

Herr Kollege Glos, kommen Sie bitte zum Schluss.


Michael Glos (CSU):
Rede ID: ID1503701700

Meine Redezeit ist offen. Herr Parlamentarischer Ge-

schäftsführer, teilen Sie das bitte dem Präsidium mit! Es
war so ausgemacht.


(Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie haben eine of fene Redezeit? Wir sind doch nicht in Bayern! – Franz Müntefering [SPD]: Versuchen Sie nicht, Ihre CSU niederzumachen! – Dr . Peter Ramsauer [CDU/CSU]: Müntefering, wir brauchen von Ihnen keine Ratschläge!)


Zwei Dinge möchte ich noch ansprechen. Noch
schwerer als der V erlust an politischem Gewicht wirkt
natürlich in Europa – auch darauf müssen wir achten –
unser Verlust an ökonomischem Gewicht. Wir können
unsere Rolle in der Welt nur spielen und wir werden nur
ernst genommen, wenn bei uns im Land die Verhältnisse
auch ökonomisch in Ordnung sind.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Das ist für eine gemeinsame Sicherheitspolitik mindes-
tens genauso wichtig wie di e Tatsache, dass wir militä-
risch stärker werden und auf diesem Gebiet in größerer
Gemeinsamkeit vorgehen.

Dazu gehört selbstverständlich, dass wir die trans-
atlantische Partnerschaft wieder pflegen. Herausforde-






(A) (C)



(B) (D)


Michael Glos
rungen lassen sich nur meistern, wenn die USA und Eu-
ropa wieder an einem Strick ziehen. Deswegen sollten
wir das Verhältnis zu den USA wieder in Ordnung brin-
gen.


(Dr. Elke Leonhard [SPD]: Das ist längst in Ordnung!)


Ob es Rot-Grün wieder ge lingt, bei der amerikanischen
Administration Vertrauen zu bekommen, ist für mich
eine sehr offene Frage. Aber wir bieten im gemeinsamen
Interesse gerne unsere Hilfe an.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Lachen der Abg. Dr. Elke Leonhard [SPD] und der Abg. Claudia Roth [Augsbur g] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


– Frau Roth, für Sie mag das lächerlich sein. Sie nehmen
die deutschen nationalen Si cherheitsinteressen sowieso
nicht ernst. Insofern wundert mich Ihr Lachen überhaupt
nicht.

Bundesaußenminister Fischer ist heute mit schwerem
Gepäck zu Außenminister Powell geschickt worden. Er
hat nämlich unter anderem diese Regierungserklärung
dabei, die man in den USA sicher verfolgt hat. Diese
war, was das deutsch-amerikanische V erhältnis anbe-
langt, zu dürftig.

Wir alle wünschen uns, dass nach dem Krieg, der hof-
fentlich schnell zu Ende ist, nicht nur gemeinsam am
Wiederaufbau des Irak gearbeitet wird, sondern dass
wir auch gemeinsam an dem Wiederaufbau und an der
Erneuerung unserer uns sehr wichtigen Sicherheitsinsti-
tutionen arbeiten können. Dazu haben Sie ausdrücklich
die Unterstützung von CDU und CSU.

Danke schön.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1503701800


Das Wort hat jetzt die Kollegin Uta Zapf von der
SPD-Fraktion.


Uta Zapf (SPD):
Rede ID: ID1503701900


Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
möchte doch einmal aufgreifen, was Frau Merkel hier zu
der Schuld der Deutschen am Krieg gesagt hat. Auch
Herr Pflüger hat das schon einige Male gesagt. Ich finde
das unerhört. Sie haben gesagt, dass Deutschland sozu-
sagen schuld daran ist, dass dieser Krieg geführt werden
musste, weil wir Nein zu dem Krieg gesagt und damit
den Druck gemindert haben.

Sie führen dazu die Aussagen der anonymen Inspek-
toren an. Im Unterausschuss Abrüstung und Rüstungs-
kontrolle haben wir uns gestern danach erkundigt. W ir
haben bestätigt gefunden, dass nicht die Aussagen dieser
Inspektoren seriös sind, sond ern das, was Herr Blix vor
ein paar Tagen gesagt hat, als er enttäuscht aufgegeben
hat. Ich empfehle, mit so etwas sehr seriös umzugehen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Ich bin tief enttäuscht darüber, dass eine so renommierte
Zeitung wie „Die Zeit“ einen solchen Artikel bringt. Ich
denke, darüber müssen wir noch einmal reden.


(Dr. Gerd Müller [CDU/CSU]: Es darf nicht alles verschwiegen werden, was wahr ist!)


Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, nach etwa
zwei Wochen Krieg und den vielen unerträglichen Bil-
dern von verletzten und toten Soldaten, von verletzten
und toten Zivilisten sind wir alle gefühlsmäßig und emo-
tional stark belastet. Wenn wir dann von Splitterbomben
und – wenn es denn wahr ist – von der Anwendung ei-
gentlich verbotener Antipersonenminen durch die Ame-
rikaner hören, zeigt sich uns die ganze Tragik dieses
Krieges. Angesichts dessen da rf man mit dem Thema
nicht so leichtfertig umgehen, wie es die CDU/CSU hier
getan hat.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Ich finde die ganze Situation zutiefst tragisch. Warum
finde ich sie zutiefst tragis ch? Weil sich alle Erwartun-
gen, die an diesen Blitzkrieg, an den schnellen, sauberen
Krieg gestellt worden sind, al s Illusionen herausgestellt
haben, weil dieser Krieg ganz offensichtlich keine Frei-
heit und keine Demokratie brin gt, weil er sich zu einem
Albtraum zu entwickeln scheint. Ich bin von tiefer Sorge
darüber erfüllt, dass wir es bisher nicht fertig gebracht
haben, uns mit der dahinter stehenden Problematik un-
terschiedlicher Philosophien und Strategien zu beschäfti-
gen. Deshalb will ich das heute hier versuchen.

Dies ist Amerikas erster Präventivkrieg.


(Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Quatsch!)


Jedoch können wir die Legitimation eines Präventiv-
krieges nicht unterstützen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Ich zitiere jetzt den US-Beauftragten für internationale
Sicherheitsangelegenheiten, Peter Rodman. Er hat ge-
sagt, dass dieser Krieg ein V ersuchsfeld für Amerikas
neue Strategie sei – das sind nicht meine Worte, sondern
die Worte des US-Beauftragten –, eine Strategie, die von
der Androhung und Anwendung von Gewalt als Mittel
der Verhinderung von Proliferation ausgeht und dass sie
auf ihre Tauglichkeit als Standard für die zukünftige An-
tiproliferationspolitik der USA getestet werde.

Dies ist eine Entwicklung, der wir uns stellen müssen.
Was der Bundeskanzler heute hier über die Ansätze un-
serer Politik gesagt hat, steht dagegen. Es gibt einen gro-
ßen Unterschied. Wir müssen ernsthaft darüber diskutie-
ren, wie wir im transatlantischen Verhältnis den Konsens
in der Antiproliferationspoliti k, den wir in der V ergan-
genheit hatten, wieder herstellen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)







(A) (C)



(B) (D)


Uta Zapf
Was hat Rodman in diesem Zusammenhang noch ge-
sagt? Er hat gesagt, dass die künftige Außenpolitik und
internationale Politik der US A an diesem Irakkrieg ent-
schieden werde und dass die herkömmlichen internatio-
nalen Systeme zur V erhinderung der V erbreitung von
Massenvernichtungsmitteln ausgedient hätten.

Ich glaube, dass wir gemeinsam so lange für die Ent-
wicklung solcher gemeinsame r internationaler Systeme
gekämpft haben und dass uns eine solche Aussage, dass
uns eine solche Tendenz nicht kalt lassen kann. Wir müs-
sen uns wirklich dafür einsetzen, dass durch die Diskus-
sion mit unseren transatlantischen Partnern der Wert die-
ser Systeme wieder anerkannt wird. Sonst werden wir
keine Antiproliferationspolitik machen können. W ir
werden spätestens am Ende dieses Krieges sehen, dass
es keine gute Strategie ist, mit Waffengewalt gegen Mas-
senvernichtungswaffen vorzugehen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich stimme mit mei-
ner Kollegin Frau Sager überein, dass das Ziel dieses
Krieges, von dem zu dessen Beginn gesprochen worden
ist und das Bush deklariert hat, nicht erreicht werden
kann. Wir müssen vielmehr befürchten, dass es noch viel
schlimmer wird, als wir es uns im Moment vorstellen
können. Ich kann verstehen, dass die Politik, nicht zu
warten, bis wir in eine T ragödie schlittern – so hat es
Bush gesagt –, sondern die Gefahr aktiv zu bekämpfen,
ehe sie akut wird, aus dem T rauma des 11. September
entstanden ist. Damals wu rde den Amerikanern die ei-
gene Verwundbarkeit plötzlich und ziemlich abrupt vor
Augen geführt. Dies hat zu einer gewissen Radikalisie-
rung bei der Frage geführt, wie man sich vor solchen Ge-
fahren schützen muss. Ich glaube, dass wir nicht rein mi-
litärisch vorgehen dürfen, sondern dass wir auf
diplomatische Mittel und auf internationale Koalitio-
nen setzen müssen, um T error und die Verbreitung von
Massenvernichtungsmitteln zu bekämpfen. Das muss die
Politik sein, der wir uns in den nächsten Monaten und
Jahren noch intensiver widmen müssen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Frau Sager hat ausgeführt, welche antiamerikanischen
und antiwestlichen Gefühle und Koalitionen entstanden
sind. Ich füge, um diese Aussage weiter zu verstärken,
hinzu: Der T errorismus wird meiner Meinung nach
durch diesen Krieg eher gestärkt, als dass er eingedämmt
wird, so wie Bush es erwartet hat.


(Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Wenn man Sie hört, muss man diese Befürchtung haben!)


Wir müssen die neue Strategie der Amerikaner
ernsthaft betrachten, weil sich in ihr zwei Gedanken fin-
den. Die Amerikaner gehen in ihrer Strategie einmal da-
von aus, dass die bisherigen konventionellen Mittel an-
gewendet werden können. Dazu zählen Diplomatie,
Rüstungskontrolle sowie multilaterale Abkommen wie
das Chemiewaffenabkommen, das Biowaf fen-Überein-
kommen, der Nichtverbreitungsvertrag und das Regime
zur Raketentechnologiekontrolle. Aber gleichzeitig wer-
den diese Instrumente abgewertet und zu V erzierungen
von Politik erklärt. Sie werd en auch in der aktuellen
amerikanischen Politik nicht gestärkt, sondern ge-
schwächt. Wir müssen darauf hinwirken, dass diese in-
ternationalen Instrumente gestärkt werden.

Wir haben in der V ergangenheit durch die Anwen-
dung solcher Instrumente dazu beigetragen, uns sicherer
gegen die Verbreitung von Massenvernichtungswaffen
zu machen. Was jetzt hinzugekommen ist, ist die Furcht
vor Terrorismus, der auch mit Massenvernichtungswaf-
fen arbeiten kann. Es ist wich tig, zu erkennen, dass sich
Terroristen keine Atombombe von Nordkorea besor gen
werden. Es ist viel wichtiger , Materialien und Agenzien
zu sichern, die aus den Abrüstungsbeständen stammen
und relativ ungesichert sind.


(Dr. Friedbert Pflüger [CDU/CSU]: Das ist richtig!)


Deshalb ist die G-8-Initiative, die zur Sicherung des nu-
klearen und chemischen M aterials aus den Abrüstungs-
beständen Russlands unternommen worden ist, wesent-
lich wichtiger, weil meiner Überzeugung nach eine
größere Gefahr darin besteht, dass diese Agenzien in die
Hände von Terroristen gelangen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Aus diesem Grund möchte ich darauf hinweisen, dass
die Politik der Bundesregierung und der EU – im Ansatz
bestehen keine Unterschiede –, die von Prävention aus-
geht und nicht von Präemption , das heißt, mit militäri-
schen Mitteln zuzuschlagen, um vermutete Gefahren zu
bekämpfen, durchaus erfolgreich war . Das können wir
an dem Stabilitätspakt in Europa und vor allem an Maze-
donien und auch Afghanistan ablesen.

Ich befürchte aber, dass der Krieg im Irak all unsere
Anstrengungen in Afghanistan – das dortige Gebilde ist
bisher ohnehin fragil – konterkarieren könnte. Frau
Sager hat darauf hingewiesen, wie destabilisierend das
möglicherweise auch auf Pakistan wirken kann. W enn
ich daran denke, welche Gefahren aus dieser Region
möglicherweise auf uns zu kommen können, kann ich
nur sagen: Gnade uns Gott.


(Beifall bei der SPD sowie der Abg. Krista Sager [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Ich glaube, die T errorbekämpfung muss ganz woan-
ders ansetzen, nämlich bei der Armutsbekämpfung, bei
der Unterstützung von Bildung und Ausbildung,


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


bei der Stärkung der Partizipation – nur dann werden wir
Demokratisierung erreichen – und bei der Minderung
von Fluchtursachen, nämlich, wie gesagt, Armut, aber
auch ökologischen Probleme n. Wir müssen die Demo-
kratie und die Rechtsstaatlichkeit stärken und wir brau-
chend dringend einen interkulturellen Dialog.

Wenn wir uns anschauen, was dort an Optionen für ei-
nen Dialog der V ersöhnung und Verständigung zerstört
worden ist, dann wissen wir , dass wir für Prävention






(A) (C)



(B) (D)


Uta Zapf
noch sehr viel zu tun haben. Ich hoffe, dass wir uns nicht
auf eine Präemptionsstrategie einlassen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1503702000

Das Wort hat jetzt der Koll ege Peter Hintze von der

CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Peter Hintze (CDU):
Rede ID: ID1503702100

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-

ren! Die Fernsehbilder über den Krieg im Irak von CNN
und al-Dschasira beschäftigen uns stark. Ich hof fe, dass
wir über diese Bilder nicht di e Bilder vergessen, die die
Opfer des Regimes in Bagdad in ihren Herzen tragen
und von denen sie erzählen. Man kann nachlesen, wie
Menschen in Salzsäurebäder gezwungen, Frauen in Ge-
fängnissen von den Schergen erniedrigt und vergewaltigt
und Männer aus ihren Familien gerissen und nachts auf
die Straße geführt und dort erschossen werden. Das sind
schlimme Bilder. Ich finde es wichtig, dass wir auch
diese Bilder zur Kenntnis nehmen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Manche der Opfer ver gleichen das Regime im Irak
mit einer stalinistischen Hölle. Lassen Sie uns nicht da-
rüber streiten, ob der Begrif f dieses Unrechtsregime
treffsicher beschreibt oder nicht. Eines müssen wir uns
aber vor Augen führen: Die Amerikaner und Briten ver-
suchen im Irak, diese Hölle zu überwinden. Gefühls- und
gesinnungsmäßig kann es hier keine Neutralität, sondern
nur unsere Solidarität geben.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Auch Olaf Scholz, der Generalsekretär der SPD, hat dies
so gesagt; das finde ich gut. Demgegenüber finde ich es
schlecht – das haben wir vermisst –, dass dem Bundes-
kanzler in dieser Richtung heute kein Wort über die Lip-
pen gekommen ist.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Ephraim Kishon verdanken wir die Satire, in der ein
Mensch mit einem Presslufthammer mutwillig eine
Straße aufreißt.


(Dr. Wolfgang Gerhardt [FDP]: Blaumilchkanal!)


Die Stadtverwaltung findet in der Erzählung zwar keinen
Grund für diese Maßnahme, be schließt aber, daraus ei-
nen Kanal zu bauen, der zwar sinnlos ist, aber mit Pomp
eingeweiht wird. Der Politik unseres Bundeskanzlers
verdanken wir, dass diese po litische Satire Wirklichkeit
wurde. Der kishonsche Blaumilchkanal verläuft mitten
durch das Regierungsviertel. Der Bundeskanzler hat die
Grundsätze der deutschen Außen- und Europapolitik be-
schädigt und versucht im Verbund mit Moskau und Pe-
king nun, dem auch noch einen Sinn zu geben.


(Beifall bei der CDU/CSU – Gernot Erler [SPD]: Sie haben eine blühende Fantasie!)

Wir werfen ihm vor , dass er Europa erst spaltet und
dieses dann auch noch zur politischen Großtat erklärt.


(Franz Müntefering [SPD]: Schwarze Socke! – Gert Weisskirchen [Wiesloch] [SPD]: Wenn es wenigstens witzig wäre!)


Positiv haben wir zur Kennt nis genommen, dass der
Bundeskanzler die NATO wieder entdeckt hat. Dazu hat
er Interessantes und Richtiges gesagt. Er hat heute Mor-
gen erklärt, die Zusammenarbeit in der NATO solle ver-
tieft und die gemeinsame Analyse gesucht werden. Das
klingt gut und ist auch richtig. Es wäre aber noch besser
und noch richtiger gewesen, wenn sich der Bundeskanz-
ler diese Grundsätze über de n Geist, den die NATO be-
stimmen sollte, am Anfang der Irakkrise klar gemacht
hätte. Wenn sich die fünf Mitglieder des Weltsicherheits-
rates, die der NA TO angehören, zusammengesetzt hät-
ten, wenn Deutschland, das den V orsitz im Weltsicher-
heitsrat hatte, diese Aufgabe zu seiner Aufgabe gemacht
hätte, dann wäre es möglicherweise anders gekommen.


(Beifall bei der CDU/CSU)


In dieser Woche erleben wir mit der Übernahme des
Mazedonien-Mandates durch die Europäische Union
die eigentliche Geburtsstunde der Europäischen Sicher-
heits- und Verteidigungspolitik. Es ist ein kleiner Ein-
satz, aber immerhin ein guter Anfang. 350 Soldaten und
80 Zivilkräfte unter Beteiligung von 14 EU-Mitglied-
staaten sind ein schöner Beleg dafür , dass die Europä-
ische Union Verantwortung übernehmen und dazu bei-
tragen kann, vor ihrer eigenen Haustür für Frieden,
Sicherheit und politische Stabilität zu sor gen. Ich hoffe,
dass der schöne Name dieses Einsatzes, Concordia – also
Einigkeit –, in Zukunft die Leitidee der Gemeinsamen
Außen- und Sicherheitspolitik in Europa wird.

Ich hoffe und wünsche mir, dass der Verfassungskon-
vent hierzu einige Vorkehrungen trifft. Dazu möchte ich
einige Vorschläge machen. Es sollte eine Regelung in die
Verfassung der Europäischen Union aufgenommen wer-
den, nach der in zentralen außenpolitischen Fragen zu-
erst die Union Gelegenheit zu einer Meinungsbildung
bekommt, bevor sich einzelne Staaten festlegen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Das Dilemma der Irakkrise geht auf das Konto Deutsch-
lands und Großbritanniens, die sich festgelegt hatten, be-
vor überhaupt eine Beratung und Konsensfindung im eu-
ropäischen Umfeld möglich war.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Wie fatal sich diese V orfestlegungen ausgewirkt ha-
ben, haben wir heute Mor gen bereits diskutiert. Angela
Merkel hat auf den Beitrag in der „Zeit“ hingewiesen,
der für helle Aufregung gesorgt hat. Ich erlebe zum ers-
ten Mal im Deutschen Bundestag, dass ein sehr nüchter-
ner und sachlicher Beitrag in der Wochenzeitung „Die
Zeit“ so große Empörung bei Ihnen hervorruft, weil er
Sie an einem sehr wunden Punkt trifft.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)







(A) (C)



(B) (D)


Peter Hintze
Es grenzt schon an Presse zensur, was Sie dazu gesagt
haben.


(Beifall bei der CDU/CSU – W iderspruch bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Uta Zapf [SPD]: Lächerlich!)


– Sie sollten das Geld für den Kauf dieser Zeitung inves-
tieren und den Beitrag in Ruhe nachlesen.

Sie haben of fenbar mit Entsetzen den Ausdruck zur
Kenntnis genommen, es sei geradezu „verrückt“, was
der Bundeskanzler gemacht habe. W enn Sie sich aber
überlegen, was der genaue Wortsinn ist – es ist gemein-
hin nicht nur eine Polemik –, dann wird die Bedeutung
klar: dass etwas von einer auf eine andere Stelle gerückt
wird. In diesem Fall sind es die Inspektoren, die aus der
Situation der Stärke, nämlich mit der Kraft der Völker-
gemeinschaft, auf einmal abgerückt wurden. Dadurch
wusste der Diktator , dass er sein Spiel weitertreiben
kann, weil sich der deutsche Bundeskanzler so früh fest-
gelegt hat.


(Uta Zapf [SPD]: Das ist ja lächerlich!)


Ich finde es gut, dass das in der „Zeit“ dokumentiert
wurde, auch wenn Sie das nicht hören wollen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Bei der europäischen Verfassung wird es weitere Me-
chanismen und Regeln geben müssen, damit wir auch in-
stitutionell sicherstellen, in Zukunft der gemeinsamen
Aufgabe in der Sache gewachsen zu sein. Dazu gehören
die Mehrheitsentscheidungen in der Außenpolitik. Ich
bin auch dafür, dass wir eine Solidaritäts- und Beistands-
klausel in das europäische Grundgesetz aufnehmen, und
zwar nicht nur formal, sond ern auch inhaltlich, sodass
sich jeder, der an diesem Eu ropa mitarbeitet, verpflich-
tet, solidarisch für das gemeinsame Ziel einzutreten.

Nun hat der Bundeskanzler heute angekündigt, er
werde dem Deutschen Bundestag den Entwurf eines Ent-
sendegesetzes vorlegen. Wir finden das gut. W ir finden
das überfällig. W ir brauchen ein solches Entsendege-
setz.

Ich möchte aber einen Punkt in der ansonsten brillan-
ten Rede des Kollegen Westerwelle aufnehmen.


(Günter Gloser [SPD]: Was war daran brillant?)


Das Wort vom Parlamentsheer, das Sie gewählt haben,
kann ein Missverständnis auslösen. Es kann auch bei der
Regierung das Missverständnis auslösen, sie habe die
Verantwortung für die Bundeswehr , die sie tatsächlich
hat, nicht so ganz. W ir müssen immer klarstellen: Es
muss eine Kontrolle durch das Parlament geben und es
muss eine Unterrichtung de s Parlamentes geben. Nach
dem Stand der Unterrichtung können wir hier V erant-
wortung mittragen und Entscheidungen treffen, aber nur
in diesem Rahmen. Die Hauptverantwortung für das Mi-
litär, für eine vernünftige Au srüstung und für einen ver-
antwortlichen Einsatz, liegt bei der Exekutive. Das muss
auch in Zukunft so bleiben.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Wir brauchen dringend eine Lösung für die integrier-
ten Verbände. Wir wollen eine NA TO-Response-Force
aufstellen und eine schnelle Eingreiftruppe der Europä-
ischen Union. Wenn wir ke ine klare Regelung haben,
führt das direkt ins Desaster . Denn man kann nicht mit-
ten in einem möglicherweise gefährlichen Einsatz sagen:
Dieser Pilot und jener Bootsmann werden aus der inte-
grierten Einheit zurückgezogen. Dann kracht alles zu-
sammen. Insofern, Herr Bundeskanzler – er ist leider ,
wie häufig, im V erlauf der Debatten abwesend; man
kann es ihm vielleicht einmal mitteilen –, brauchen wir
rasch eine vernünftige Vorlage für ein solches Entsende-
gesetz.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Nun, meine Damen und Herren, komme ich zu
Deutschland und Frankreich. Deutschland und Frank-
reich sind und bleiben di e entscheidende Kraft und
die entscheidende Bewegung für ein Gelingen der eu-
ropäischen Integration. Di e neuen Mitglieder in Mit-
telosteuropa schauen sehr genau darauf, wie die T rä-
ger der Integration jetzt operieren. Ich schaue auf den
Miniverteidigungsgipfel am 29. April. Wer trifft sich
da? – Belgien, Luxembur g, Deutschland und Frank-
reich. Es sieht fast so aus – es mag reiner Zufall sein –,
als sei das eine V ersammlung der Kritiker der V erei-
nigten Staaten oder von Großbritannien.


(Dr. Friedbert Pflüger [CDU/CSU]: Das ist das Signal an Amerika!)


Ausgeschlossen sind die Gründungsmitglieder der
Europäischen Union Italien und die Niederlande. Ich
hörte, dass die Niederlande sogar angefragt hatten, weil
sie sich gerne an den Bemühungen beteiligen wollten.


(Dr. Wolfgang Schäuble [CDU/CSU]: Das stimmt!)


Was ist daraus geworden? Dann wird darauf verwiesen,
das sei unsere Idee vom Kern europa gewesen. Kerneu-
ropa war unsere Idee zur Stärkung der Einheit, aber nicht
die Idee zur Spaltung Europas, wie das jetzt angelegt ist.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Günter Gloser [SPD]: Sie waren gestern nicht im EU-Ausschuss, Herr Kollege!)


Es ist richtig, dass die Europäische Union ihre eigene
Stärke und ihr eigenes Selbstbewusstsein entwickeln
muss. Es ist sicherlich auch richtig, dass wir nach dem
hoffentlich glücklichen Ende der Krise und dem Nieder-
ringen des Regimes in Bagdad auch mit unseren ameri-
kanischen Freunden sprechen werden. Das ist selbstver-
ständlich. Aber ich halte es für eine blanke Illusion, zu
glauben, bloß weil der Kalte Krieg vorbei sei, könnten
wir jetzt auf die NA TO und auf die W erte-, Interessen-
und die Schicksalsgemeinsc haft von Europa und Ame-
rika verzichten. Das können wir nicht.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Wer die Europäische Sicher heits- und Verteidigungs-
politik und die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspo-
litik so anlegen würde, als sei sie eine Gegenbewegung






(A) (C)



(B) (D)


Peter Hintze
zu den Vereinigten Staaten von Amerika, der handelt tö-
richt und fehlerhaft.


(Gert Weisskirchen [Wiesloch] [SPD]: Wer will das?)


– Ich gebe zu, dass die Regierung nicht so spricht. Das
stimmt. Ich hoffe aber auch, dass sie richtig handelt. Wir
haben im Moment einen W iderspruch von Worten und
Taten.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Ich halte es für richtig, dass unsere Regierung
AWACS-Flugzeuge in die Türkei schickt. Ich halte es
auch für richtig, dass ABC-Panzer in Kuwait und unsere
Schiffe am Horn von Afrika stehen. Das finde ich erfreu-
lich. Aber die Gesinnungsneutralität unserer Regierung
in dieser Auseinandersetzung finde ich schrecklich. Des-
wegen müssen Worte und Taten wieder miteinander in
Einklang gebracht werden.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Die Bilder und Berichte, die uns aus dem Irak errei-
chen, lassen uns spüren, was in den Menschen vor geht;
sie machen ihre Ängste und Hoffnungen deutlich. Ich
wünsche mir, dass der Krieg rasch zu einem guten Ende
kommt, damit die Menschen – vielleicht zum ersten Mal
in ihrem Leben – aufatmen können und damit das Öl im
Lande allen Bevölkerungsgruppen zugute kommt, nicht
den Protzpalästen, sondern Schulen, Krankenhäusern,
Universitäten und vielen Einrichtungen, die das Regime
den Menschen so lange vorenthielt.

Man könne nicht gegen jeden Diktator vorgehen, wird
oft gesagt. Das stimmt zwar leider . Aber jeder Diktator
weniger bedeutet mehr Freiheit für die Menschen. Dafür
sollten wir einstehen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1503702200

Das Wort hat jetzt die Ko llegin Claudia Roth, Bünd-

nis 90/Die Grünen.

Claudia Roth (Augsburg) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN):

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es
gibt Situationen, in denen es bedrückend ist, wenn sich
die eigenen Befürchtungen bestätigen. Mit dem Irak-
krieg erleben wir eine solche Situation. W ir sehen fas-
sungslos die Bilder des Krie ges – auch Gernot Erler hat
davon gesprochen –, ohne zu wissen, ob sie bereits das
ganze Ausmaß des Grauens abbilden. T rotz aller Infor-
mationen über die Ereignisse in Bagdad, Basra, Mossul,
Kirkuk und in den ländlichen Regionen wissen wir das
nicht genau.

Wir sehen Bilder vom Bombenhagel, von getöteten
Zivilisten und Soldaten wi e auch von Gefangenen, die
wie Trophäen vorgeführt werden. Nein, dieser Krieg ist
nicht sauber. Die Iraker stehen nicht begeistert auf den
Straßen, um die britischen und amerikanischen Soldaten
zu begrüßen. Vor allem dauert der Krieg jetzt schon sehr
viel länger, als uns realitätsfremde Prognosen weisma-
chen wollten.

Ein Zyniker und eine Zynikerin, die daran Gefallen
finden, Recht behalten zu haben. Ich wünsche mir nichts
sehnlicher als ein sehr schnelles Ende dieses Krieges, der
zwar militärische Sieger haben wird, der aber kein politi-
scher Erfolg ist und den niemand wirklich gewinnen
wird. Ob er den Menschen in der Region tatsächlich den
Frieden garantieren wird, ist keineswegs sicher.

Unsere Hauptsorge gilt der humanitären Lage. So
klar und eindeutig wir diesen ungerechtfertigten Krieg
und eine aktive Beteiligung verneint haben, so engagiert
bestehen wir jetzt auf der Einhaltung des humanitären
Völkerrechts und so schnell und unbürokratisch werden
wir uns für die humanitäre Soforthilfe einsetzen und
diese Hilfe leisten, die für viele Menschen eine Überle-
bensfrage ist.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Auch und gerade in Kriegszeiten gelten die Men-
schenrechte. Das humanitäre Völkerrecht verpflichtet
die Angreifer zum Schutz und zur Versorgung der Zivil-
bevölkerung. Es verlangt einen die Menschenwürde ach-
tenden Umgang mit Gefangenen auf allen Seiten. Es ver-
bietet den Angrif f ziviler Ziele und deckt aus meiner
Sicht nicht den Einsatz von weltweit geächteten Waffen
wie Streubomben, die gegenwärtig im Irak abgeworfen
werden.

Die Menschen im Irak – viele von ihnen sind Binnen-
flüchtlinge – brauchen Na hrungsmittel, Trinkwasser,
Medikamente und medizinische Versorgung. Das gilt vor
allem und dringend für di e Kinder, die die Aller-
schwächsten sind.

Ich danke den vielen Mitarb eiterinnen und Mitarbei-
tern des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz und
den deutschen Hilfsorganisationen, die darauf vorberei-
tet sind, in dieser Krise zu helfen, und schon jetzt Hilfe
leisten. Sie alle werden be i voller Respektierung ihrer
Unabhängigkeit jede Unte rstützung bekommen; denn
humanitäre Hilfe darf niemals politisch instrumentali-
siert werden.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Ich danke auch dem deut schen UNO-Botschafter
Pleuger und seinem T eam – ich hätte mir gewünscht,
dass sich auch die Union diesem Dank angeschlossen
hätte –, dass er die einmü tige Zustimmung im UNO-Si-
cherheitsrat zur Wiederaufnahme des Oil-for -Food-
Programms unter Federführung von Kofi Annan errei-
chen konnte. Ich hof fe, dass dieses Programm sehr
schnell in Kraft treten wird; denn schon vor dem Krieg
waren zwei Drittel der irakischen Bevölkerung von Ver-
sorgung abhängig. Die UNO is t heute wichtiger als je-
mals zuvor. Sie jetzt zu st ärken ist unsere Aufgabe und
wird unsere Priorität sein. Nur die UNO wird die Zu-
kunftsfähigkeit und die friedliche Nachkriegsordnung
des Irak garantieren können.






(A) (C)



(B) (D)


Claudia Roth (Augsburg)

Ich unterstütze auch die Forderung des Flüchtlings-
kommissars Lubbers an die Nachbarländer , die Grenzen
für Flüchtlinge zu öf fnen, damit ihnen dort unmittelbar
Hilfe und Zuflucht gewährt werden können. Ich bin sehr
froh, dass der anfängliche W iderstand in einigen Län-
dern aufbricht und dass nun Flüchtlingslager in Syrien,
im Iran, in Jordanien und an der türkisch-irakischen
Grenze vorbereitet werden können.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Es ist bedauerlich, dass ausgerechnet die reichsten Län-
der dieser Region, Saudi-Arabien und Kuwait, die auch
den Krieg befürwortet haben, ihre Grenzen für Flücht-
linge noch nicht geöffnet haben.

Wenn es heute noch keine Fluchtbewegung gibt, dann
heißt das aber nicht, dass es keine Fluchtgründe gibt. Die
Menschen fliehen nicht, weil sie Angst vor dem Bom-
benhagel haben. Sie können ni cht fliehen, weil sie auch
mit Gewalt von irakischer Seite von der Flucht abgehal-
ten werden. Auch das ist ein zynisches Beispiel für die-
sen ungerechtfertigten Krieg.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Verantwortliche und glaubwürdige Menschenrechts-
politik beginnt immer zu Hause. Das muss und wird
auch der Umgang mit irakis chen Flüchtlingen bei uns
zeigen. Otto Schily hat ein kl ares Zeichen gesetzt, als er
die Länder aufgefordert hat, einen Abschiebestopp aus-
zusprechen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Angela Merkel hat das Ultimatum der US-Regierung
begrüßt. Sie hat außerdem explizit gesagt, dass sie alle
Konsequenzen, die damit verbunden sind, unterstützt.
Frau Merkel hat immer wieder behauptet, der Krieg sei
unvermeidbar gewesen und das Nichtstun müsse zu
Ende gehen. Ich sage: Der Krieg war vermeidbar. Es gab
eine Alternative.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Es gab die Alternative der nicht militärischen Entwaff-
nung mit einer umfassenden Kontrolle und mit einer kla-
ren Schwächung des Regimes von Saddam Hussein. Hö-
ren Sie endlich auf, zu be haupten, dass das Nein zum
Krieg nicht auch ein klares Nein zum Regime von
Saddam Hussein sei!


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Frau Merkel hat mit der falschen Reduzierung jedes
Handelns ausschließlich auf die militärische Option die
Erfolge der UNO-W affeninspektoren völlig ignoriert.
Hans Blix und Mohammed al -Baradei konnten vorrech-
nen, dass bei 200 Inspektoren die Kosten des Krieges
ausreichen würden, um 1 250 Jahre zu inspizieren und
abzurüsten, ohne M enschenleben zu opfern. Das hat
Frau Merkel nicht zitiert.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Anstatt darauf einzugehen, werden Persönlichkeiten
der deutschen Politik – für mich sind Rita Süssmuth,
Heiner Geißler und Karl La mers solche Persönlichkei-
ten – vom Parlamentarischen Geschäftsführer V olker
Kauder als Politrentner abgekanzelt und Kriegsgegner
wie wir schon einmal forsch als antiamerikanisch be-
schimpft. Volker Kauder hat of fensichtlich nicht ver-
standen – das scheint ihm entg angen zu sein –, was wir
auch Amerika zu verdanken haben, nämlich die Freiheit
des Denkens, die Freiheit der Meinung und die politi-
sche Kontroverse auch und gerade mit befreundeten
Ländern.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Angela Merkel treibt diesen bitterbösen Sprech auf
die Spitze, wenn sie behauptet, dass diejenigen, die ge-
gen den Krieg sind, den Krieg erst befördert hätten.
Diese Schamlosigkeit und, liebe Kollegen von der
Union, Ihr begleitendes rhyt hmisches Klatschen, das
mich an einen Klatschmarsch erinnert hat, beleidigen
und verachten im Übrigen M illionen von Menschen auf
den Straßen, die gegen diesen Krieg demonstrieren, für
den Frieden beten und deren Nein zum Krieg auch ein
Nein zu Saddam Hussein ist.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Dr . Peter Ramsauer [CDU/ CSU]: Sie Pseudomoralistin!)


Frau Merkel, Sie haben den Bundeskanzler und den
Außenminister in Deutschl and und im Ausland wegen
deren früher Festlegung auf eine friedliche Entwaf fnung
des Irak dif famiert. Gleichzeitig haben Sie sich selbst
ganz frühzeitig auf den Krieg festgelegt. Das ist eine
schwere Bürde. Mit den Konsequenzen Ihres Vorgehens
müssen Sie sich auseinander setzen. Sie können sie nicht
einfach totschweigen, so wi e Sie es heute wieder ver-
sucht haben.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Konsequenz, Frau Merkel: tote Zivilisten, Frauen und
Kinder erschossen, weil der Bus nicht schnell genug an-
gehalten hat. Diese Menschen sind nicht erschossen wor-
den, weil Amerikaner leichtfertig um sich schießen, son-
dern weil so etwas im Krieg geschehen kann.

Konsequenz, Frau Merkel: tote Soldatinnen und Sol-
daten – etliche von ihnen vo n Selbstmordattentätern ge-
tötet –, weil sich der Krieg nicht an Regeln hält.

Konsequenz, Frau Merkel: die weitere Eskalation des
Konflikts. Ich erinnere an die unverhohlene Drohung an
Syrien und an den Iran sowie an die harte und scharfe
Reaktion darauf.

Konsequenz, Frau Merkel: die große Gefahr , dass
dieser Krieg die W iedergeburt eines aggressiven pan-
arabischen Nationalismus mit sich bringt, der sich jetzt
mit einem militanten islamischen Fundamentalismus
verbündet.






(A) (C)



(B) (D)


Claudia Roth (Augsburg)

Konsequenz, Frau Merkel: die Schwächung der Anti-
terrorkoalition, die zum Bruc h führen kann; denn diese
Koalition beruhte gerade darauf, nicht zwischen Kultu-
ren und Religionen zu unters cheiden. Nun droht genau
das, was wir verhindern wollten: dass es zum Kampf
zwischen den Kulturen und zwischen den Religionen
kommt.

Es ist in der T at dem besonnenen und verantwortli-
chen Handeln des Papstes zu verdanken, dass sich dieser
drohende Clash nicht noch zusätzlich religiös aufgeladen
hat.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Hartmut Schauerte [CDU/ CSU]: Ihr müsst den Papst loben!)


Mit Ihrer Politik haben Sie den Boden der christlichen
Friedensethik schon sehr lange verlassen.


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1503702300

Frau Kollegin Roth, kommen Sie bitte zum Schluss.

Claudia Roth (Augsburg) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN):

Frau Merkel, nachdem Sie all diese Konsequenzen
übersehen haben, könnten Sie heute wenigstens beken-
nen, dass Sie sich mit Ihre m Ja zum Krieg geirrt haben.
Wenn Sie sie aber sehenden Auges in Kauf genommen
haben, liebe Frau Merkel, dann sollten Ihnen wenigstens
81 Prozent der Deutschen, die sich gegen den Krieg aus-
gesprochen haben, zu denken geben.

Lieber Herr Hintze, Gesinnungsneutralität ist etwas
ganz anderes. W as wir seit Monaten versuchen und
auch weiterhin versuchen werden, ist, Kriege zu verhin-
dern,


(Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Aber mit den richtigen Mitteln!)


und zwar präventiv , aber nicht mit Präventivschlägen.
Das ist ein großer und entscheidender Unterschied.

Lassen Sie mich schließen.


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1503702400

Frau Kollegin Roth, kommen Sie bitte wirklich zum

Schluss.


(Zurufe von der CDU/CSU: Das wird auch Zeit! – Es reicht!)


Claudia Roth (Augsburg) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN):

Ja, ich komme zum Schluss.

Ich möchte mit einem Zita t aus Goethes „W estöstli-
chem Diwan“ und mit einem Zitat des persischen Dich-
ters Nizami aus dem 12. Ja hrhundert schließen. Nizami
schreibt:

Mit Worten kannst du einem Heer das Genick bre-
chen, mit Schwertern aber kannst du nur ein Dut-
zend Soldaten besiegen.
Goethe schreibt:

Wer sich selbst und andere kennt
Wird auch hier erkennen:
Orient und Okzident
Sind nicht mehr zu trennen.

Vielen Dank.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1503702500

Das Wort hat jetzt die Bundesministerin Heidemarie

Wieczorek-Zeul.

Heidemarie Wieczorek-Zeul, Bundesministerin für
wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung:

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
möchte an dieser Stelle noch einmal sehr deutlich sagen
– es ist bereits mehrfach an gesprochen worden –: Die
deutsche Bevölkerung und die europäische Bevölkerung
wissen – die Opposition hat überhaupt keine Chance,
diese Einstellung in der Bevölkerung in ir gendeiner
Form zu beeinflussen –,


(Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Unsinn!)


dass unser Nein zu dem geplanten Krieg im Irak im letz-
ten Jahr dazu beigetragen hat, überhaupt erst eine öffent-
liche Diskussion zu ermöglichen und eine friedliche Lö-
sung überhaupt erst als Alternative sichtbar zu machen.


(Dr. Friedbert Pflüger [CDU/CSU]: Der Krieg ist doch da! Sie haben den Krieg doch nicht verhindert!)


Ohne dieses Nein hätte es das deutliche Votum der inter-
nationalen Gemeinschaft gegen Krieg gar nicht gegeben.

Daher muss man sich fra gen, warum von der CDU/
CSU in diesem Zusammenhang immer wieder ein V or-
wurf gegen uns erhoben wird, obwohl die Bevölkerung
so einhellig die Meinung der Bundesregierung teilt.
Nach meiner Einschätzung ist es das einzige Ziel dieser
Aktion und Diffamierung, die unrühmliche Rolle, die die
CDU/CSU in dieser Frage gespielt hat, hinter einem Vor-
hang zu verstecken.


(Dr. Christian Ruck [CDU/CSU]: Scheinheilig!)


Das wird Ihnen aber nicht gelingen, liebe Kolleginnen
und Kollegen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


In der heutigen Diskussi on haben wir immer wieder
angesprochen, dass dieser Krieg bisher schon T ausende
von Opfern forderte: Er hat Tausenden von Zivilisten das
Leben gekostet; sicherlich sind auch Hunderte Solda-
ten gestorben. An dieser Stelle erinnere ich an die Kin-
der – ich selbst bin 1942 geboren und habe als Kind
Bombardements erlebt –, die diesen Krieg erdulden und
erleiden müssen, an ihre Angst und ihre Schmerzen.
Diese Kinder sind für ihr Leben gezeichnet.






(A) (C)



(B) (D)


Bundesministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul

(Dr. Christian Ruck [CDU/CSU]: Und die Kinder unter Saddam Hussein?)


Wir müssen alles tun, damit diese Kinder eine Chance
haben. Wir wollten diesen Krieg vor allen Dingen des-
halb verhindern, um ihnen di eses Leid zu ersparen. Das
war für uns das Allerwichtigste.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Wir treten für ein schnelles Ende dieses Krieges ein, da-
mit das Leiden der Menschen ein Ende hat.


(Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Mit welchem Ausgang, bitte?)


Ich fordere alle Beteiligten auf – Frau Kollegin Roth
hat es schon angesprochen –, sich an das humanitäre
Völkerrecht zu halten. Insbesondere fordere ich die
Kriegsparteien auf, freien und ungehinderten Zugang der
humanitären Hilfe zu den Menschen zu ermöglichen,
wie es auch Kofi Annan gefordert hat.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Dies ist, wenn wir den Menschen in dieser Situation hel-
fen wollen, die wichtigste V oraussetzung – das haben
auch alle UN-Organisationen gefordert –; wie auch hu-
manitäre Hilfe nicht nach militärischen Gesichtspunkten
zu vergeben, sondern humanitäre Hilfe unabhängig hier-
von nur daran zu orientieren, den Menschen zu helfen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1503702600


Frau Kollegin W ieczorek-Zeul, erlauben Sie eine
Zwischenfrage des Kollegen Schauerte?

Heidemarie Wieczorek-Zeul, Bundesministerin für
wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung:

Gerne.


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1503702700


Herr Schauerte, bitte schön.


Hartmut Schauerte (CDU):
Rede ID: ID1503702800


Frau Ministerin, Sie haben gerade – sicherlich mit Zu-
stimmung des ganzen Hauses – erklärt, wir wollen ein
schnelles Ende dieses Krieges. In der Tat, das wollen wir
alle. Aber die Menschen interessiert abseits dieser allge-
meinen Formulierung, ob Sa ddam oder die Koalition
diesen Krieg gewinnen soll.


(Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ist das primitiv! – Dr . Angelica Schwall-Düren [SPD]: Ach nein! Also, Herr Schauerte! – W eiterer Zuruf von der SPD: Darauf würde ich gar nicht antworten!)


Um die Frage zu vertiefen: Wir wollen ganz eindeutig
ein schnelles Ende dieses Krieges und wir wollen im In-
teresse der Menschenrechte, dass die Koalition diesen
Krieg gewinnt. Unsere Aussage ist sehr klar.

Heidemarie Wieczorek-Zeul, Bundesministerin für
wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung:

Auch dies ist wieder ein Teil Ihres Versuches, die Re-
gierungsparteien als Unters tützer von Saddam Hussein
hinzustellen.


(Dr. Andreas Schockenhoff [CDU/CSU]: Stellen Sie es doch klar!)


Ich habe schon in der Debatte über den Haushalt für
wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ge-
sagt, dass wir Hussein bere its einen Gewaltverbrecher
nannten, als manche, die Ih nen durchaus nahe stehen,
noch mit ihm Geschäfte ge macht haben. Ich bin dies
wirklich leid.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Ich möchte um der Menschen willen ein Ende dieses
Krieges und ich will, dass die Menschen eine gute Zu-
kunft haben.

Herr Präsident, ich möchte nun die Hilfsmaßnahmen
ansprechen, die um der Menschen willen notwendig
sind.


(Siegfried Kauder [Bad Dürrheim] [CDU/ CSU]: Keine Antwort!)


Ich unterstütze nachdrücklich die Position der deutschen
privaten Hilfsorganisationen, die ich unterstütze und
denen ich für ihr Engagement von dieser Stelle aus aus-
drücklich danke. Sie lehnen es ab, sich von US-amerika-
nischem Militär in entsprechenden Kommunikationszen-
tren registrieren und einsetze n zu lassen. Ihre Arbeit ist
im Sinne der Hilfe für die Bevölkerung wichtig, aber sie
muss unabhängig erfolgen.

Welche unmittelbare Hilfe ist notwendig? Was haben
wir bisher getan? Es wurde heute Morgen mehrfach an-
gesprochen: Mithilfe der UN-V ertretung haben wir es
geschafft, dass die Mittel des Programms „Öl für Le-
bensmittel“ jetzt wieder fließen können und dass aus
diesen Mitteln Nothilfe zur V erfügung gestellt werden
kann.


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1503702900


Frau Kollegin W ieczorek-Zeul, erlauben Sie eine
Zwischenfrage des Kollegen Kues?

Heidemarie Wieczorek-Zeul, Bundesministerin für
wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung:

Ich denke, eine Zwischenfrage war jetzt genug.


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1503703000


Sie erlaubt keine Zwischenfrage. – Bitte schön, fahren
Sie fort.






(A) (C)



(B) (D)

Heidemarie Wieczorek-Zeul, Bundesministerin für
wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung:

An dieser Stelle erinnere ich daran, dass gestern der
Direktor des Welternährungsprogramms zu Gesprächen
über die Perspektiven dieses Programms bei uns war;
diese Institution führte und führt das Programm „Öl für
Lebensmittel“ im Irak durch. Er hat der Bundesregierung
ausdrücklich Lob und Dank des W elternährungspro-
gramms dafür ausgesprochen, dass sie diese Arbeit aktiv
unterstützt, aber vor allen Dingen dafür , dass wir es ge-
schafft haben, die Mittel des Programms „Öl für Lebens-
mittel“ wieder fließen zu lassen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Dr . Friedbert Pflüger [CDU/ CSU]: Aber Saddam Hussein macht nicht mit!)


Zweitens appelliere ich, wie es James Morris und ich
gestern gemeinsam getan haben, an alle irakischen Stel-
len, um der Menschen willen mit diesem Programm „Öl
für Lebensmittel“ zu kooperieren. Herr Morris wies ges-
tern darauf hin, dass es 44 000 solcher kleinen Einrich-
tungen gibt, bei denen Mittel für die Nahrungsmittelhilfe
zur Verfügung stehen.

Außerdem hat die Bundesregierung 50 Millionen
Euro für humanitäre Soforthilfe, für Flüchtlings- und
Nothilfe, zur Verfügung gestellt. Ich nannte eben das
Welternährungsprogramm, dessen Aufgabe die V ersor-
gung mit Nahrungsmitteln ist. Die Nahrungsmittel gehen
zur Neige. Wir unterstützen das Internationale Komitee
vom Roten Kreuz. Auch dies ist eine praktische Unter-
stützung.

Ich weiß um das Leid und den Schrecken der Angriffe
und der Kämpfe in Basra. Das Internationale Komitee
vom Roten Kreuz hat dazu be igetragen, einen Teil der
Wasserversorgung in Basra wieder sicherzustellen. Das
rettet hoffentlich vielen Tausenden von Menschen das
Leben, die ansonsten verdorbenes W asser trinken wür-
den, schreckliche Krankheiten davontrügen und sterben
müssten. Wir, die Bundesrepublik, die Bundesregierung,
unterstützen mit unseren Fina nzmitteln diese Arbeit des
Internationalen Roten Kreuzes. Ich danke den Men-
schen, die diese Arbeit leis ten. Sie retten Leben und tra-
gen dazu bei, dass mehr Menschen eine Chance haben.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie des Abg. Dr . Wolfgang Gerhardt [FDP])


Die EU stellt 100 Millionen Euro für diese humani-
täre und Nothilfe zur V erfügung. Darin ist unser Anteil
im Umfang von rund 23 Millionen Euro enthalten.

Weil ich diese Hilfe in der jetzigen Phase für das Al-
lerwichtigste halte, liebe Kolleginnen und Kollegen,
stelle ich jetzt einfach dar, welche Arbeit im Irak geleis-
tet wird; denn wenn ich den T eil der Berichterstattung
sehe, in dem es darum geht, wie viele Schritte das Mili-
tär da oder dort vorangekommen ist, erscheint es mir
wichtiger, wie wir es schaf fen, ganz schnell die Lastwa-
gen mit den Hilfsgütern zur Zivilbevölkerung zu bekom-
men, damit diese Menschen eine Chance haben, dass ih-
nen geholfen werden kann.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Die zentrale Rolle der Vereinten Nationen und eine
Entscheidung des UN-Sicherhe itsrates sind aber nicht
nur für die humanitäre Hilfe, sondern auch für die Be-
wältigung der politischen, sozialen und wirtschaftlichen
Entwicklungsaufgaben im Irak nach der Beendigung des
Krieges unabdingbar. Sie sind gleichzeitig eine unab-
dingbare Voraussetzung für das Engagement der multila-
teralen Einrichtungen.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie mich
zum Schluss etwas wiederholen, was immer wieder an-
gesprochen werden muss: Ich halte es für obszön, dass in
den USA zur weiteren Finanzierung dieses Krieges ein
Nachtragshaushalt von 75 Milliarden US-Dollar einge-
setzt wird. Das ist eineinha lbmal so viel, wie weltweit
alle Geber für of fizielle Entwicklungszusammenarbeit
zur Verfügung stellen. Wir können doch nicht auf Dauer
die Mittel für Militär und für Kriege verschwenden.
Wenn wir Gewalt und Ursachen von Gewalt wirklich be-
kämpfen wollen, dann müssen wir dazu beitragen, dass
die Mittel dieser W elt im Kampf gegen Armut, gegen
Hunger, gegen Unwissenheit und gegen Hoffnungslosig-
keit eingesetzt werden, und dafür werbe ich.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Wir dürfen nicht zulassen, dass sich die internationale
Agenda verschiebt. Eine der Lehren aus diesem Krieg,
jedenfalls für mich, ist, dass wir die Mittel für Armuts-
bekämpfung aufstocken müssen, dass wir mehr Mittel
brauchen, um die Chancen für eine gerechte W eltord-
nung zu verbessern.


(Beifall bei der SPD – Dr . Christian Ruck [CDU/CSU]: Das Gegenteil steht in Ihrem Haushalt!)


– Nein, nicht das Gegenteil. W er Ohren hatte, zu hören,
der hat gehört.

Wichtig ist: Das 21. Jahrhundert muss ein Jahrhundert
sein, in dem wir Schritte zu einer gerechteren Weltord-
nung erreichen. Deshalb bleibt die fortdauernde Auf-
gabe, auf die Verpflichtungen des Rechts zu setzen, die
Stärke des Rechts zu verankern sowie über diesen T ag
hinaus und über die Schrecken des Krieges hinaus eine
neue, gerechtere Weltordnung zu erreichen.


(Zuruf von der CDU/CSU: Sie reden so und handeln anders!)


Ich bedanke mich sehr für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1503703100

Das Wort hat jetzt die Kollegin Petra Pau.


Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1503703200

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich

habe die Rede von Frau Merkel von der Unvermeidbar-






(A) (C)



(B) (D)


Petra Pau
keit des Krieges mit all seinen Folgen und von ihrer un-
verbrüchlichen Gefolgschaft zur Allianz der Kriegswilli-
gen noch gut im Ohr – übrigens auch den lang
anhaltenden rhythmischen Beifall ihrer Kolleginnen und
Kollegen von CDU/CSU. Frau Merkel, Sie können si-
cher sein, dass Sie verstanden wurden, als S ie vor vier-
zehn Tagen hier gesprochen haben. Als am vergangenen
Sonnabend in Berlin und am Montag in Leipzig erneut
hunderttausend gegen den Krieg demonstrierten, waren
Sie nämlich in vieler Munde.

Nun höre ich heute, Sie wollten nach vorn schauen;
die Frage nach einer Gemeinsamen Außen- und Sicher-
heitspolitik der EU stelle si ch nach den Dif ferenzen in
der Irakkrise jetzt sehr viel vehementer; eine gemein-
same Politik sei aber nur denkbar , wenn sie nicht gegen
die Vereinigten Staaten von Amerika gerichtet sei. Ge-
nau zu dieser Passage habe ich drei Anmerkungen:

Zum Ersten erinnert mich das alles an den uralten
Ehespruch aus weiblicher Sicht: Sind wir uns einig, dann
gilt meine Meinung; haben wir aber eine Differenz, dann
gilt seine Meinung. – So sind die USA mit dem Völker-
recht umgesprungen, so haben Sie von der Union sich
der US-Strategie unterworfen und so sieht Ihr Blick nach
vorn aus. Die PDS im Bundestag hat einen anderen V o-
rausblick.

Zum Zweiten ist eine Politik, die sich Angriffskriegen
versagt, noch lange keine Politik gegen die V ereinigten
Staaten von Amerika,


(Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch [fraktionslos])


sondern lediglich eine Politik gegen eine auf Krieg set-
zende US-Führung. Diesen Unterschied sollten auch Sie
von der CDU/CSU endlich begreifen.

Zum Dritten heißt die Frage nicht: mit den USA oder
gegen die USA? Europa muss sich vom Kriegskurs der
USA emanzipieren. Das wäre ein Blick und wäre auch
ein Schritt nach vorn.


(Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch [fraktionslos])


Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD und
den Grünen, ich behaupte ja nicht, dass die Karre mit
einfachen Lösungen oder gar Losungen aus dem Dreck
gezogen werden könnte. W enn wir in unserem Nein
zum Irakkrieg übereinstimmten, dann hieß dass nie,
dass unsere Gründe dieselbe n waren. Rot-Grün hat die-
sen Krieg abgelehnt. Die PDS lehnt Kriege grundsätzlich
ab. Das ist der Unterschied.


(Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch [fraktionslos])


Wir alle wissen: Die Regierung verdrängt alle Fragen,
die auf eine völkerrechtliche Verdammung des Irakkrie-
ges hinauslaufen. Sie weicht allen Fragen aus, die mit ei-
ner indirekten deutschen Beteiligung zusammenhän-
gen. Ich spreche hier über Überflugrechte, über
AWACS-Flüge, über deutsche Einsatzkräfte in Kuwait
und am Horn von Afrika. Dies lehnt die PDS im Bundes-
tag seit Monaten und auch heute wieder ab.
Dass ich in den letzten T agen selbst grüne Stimmen
höre, die Europa um- und hochrüsten wollen, wundert
mich. Lassen Sie uns gemeinsam nach Auswegen su-
chen! Konfrontation, Kriege, Rüstung sind keine Krisen-
löser. Sie bieten keine Zu kunft – für niemanden, nir-
gendwo.

Ich will allerdings, liebe Kolleginnen und Kollegen,
noch eines in Erinnerung rufen: Hätten CDU und CSU
im Bunde mit der FDP die Wahlen gewonnen, dann wäre
die Bundesrepublik heute Kriegspartei, dann würden
deutsche Soldaten heute um Bagdad und den Mittleren
Osten kämpfen, mit allen Folgen.


(Dr. Christian Ruck [CDU/CSU]: So ein Schmarren!)


Auch das muss in einer solchen Debatte gesagt werden.


(Michael Glos [CDU/CSU]: W as Kommunisten alles sagen dürfen! – Dr . Wolfgang Gerhardt [FDP]: Stimmt so leider nicht!)


– Das stimmt sehr wohl, Herr Kollege Gerhardt.


(Dr. Wolfgang Gerhardt [FDP]: Nicht ohne Mandat der Vereinten Nationen!)


Frau Merkel hat ja nun mehrfa ch unterstrichen, dass sie
sich unter Inkaufnahme aller Folgen an die Politik der
USA hängen wollte.


(Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch [fraktionslos])


Ich möchte aber zum Schl uss noch zwei Sätze zur
heutigen Kanzlerrede und seinem Versuch, seine außen-
politischen Vorstellungen von einer friedlichen Welt mit
seinen innenpolitischen V orhaben, der so genannten
Agenda 2010, zu verknüpfen, sagen:

Erstens. Die Agenda 2010 zielt nicht auf mehr Ge-
rechtigkeit, mehr Stabilität und Solidarität im Inneren,
im Gegenteil: Sie entlasten mit dieser Politik die Vermö-
genden, belasten die Bedürftigen und entsorgen die Soli-
darsysteme.

Deshalb mein zweiter Satz: Eine solche Innenpolitik
taugt nicht als Leitbild für eine Außenpolitik, die auf
Recht und Gerechtigkeit, au f Frieden und Entwicklung
zielt.

Die PDS im Bundestag sagt also Ja zu Ihrem Nein
zum Irakkrieg. Aber wir sagen zugleich Nein zu Ihrem
Ja zum Sozialabbau.


(Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch [fraktionslos])



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1503703300

Das Wort hat jetzt der Kollege Günter Gloser von der

SPD-Fraktion.


Günter Gloser (SPD):
Rede ID: ID1503703400

Herr Präsident! Liebe Ko lleginnen und Kollegen!

Eine Berliner Zeitung, genauer gesagt, die „Berliner Zei-
tung“ überschreibt heute einen Kommentar mit „Die
zweite Ebene der Angela Merkel“ und ver gleicht ihre






(A) (C)



(B) (D)


Günter Gloser
Situation mit der einer Person, die versucht hat, mit ihrer
Argumentation bei den Parteimitgliedern durchzukom-
men, wobei sie aber keiner versteht, und legt ihr fol-
gende Worte in den Mund:

Okay, nochmal von vorne. Ich versuch’s nochmal,
bis ihr versteht.

Diesen Versuch haben wir heute wieder erlebt. Es hat sie
wieder niemand verstanden. Der Kommentator hat schon
gestern, vielleicht auch aufgrund von internen Informati-
onen, gesagt:

Man versteht sie und man versteht sie doch nicht.
Denn nichts bietet sie an auf „Ebene zwei“: keine
Ideen und keine Prinzipien, vor allem aber keine
Antworten auf all ihre Fragen.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, ein solches Fazit kann
man in der Tat aus der heut igen Rede von Frau Merkel
ziehen.


(Beifall bei der SPD)


In ihrer mit sechs Punkten se hr strukturiert aufgebauten
Rede hat sie hier heute keine Antwort gegeben und die
Position der CDU/CSU nicht klar bestimmt.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, traditionell
sind die Frühjahrsgipfel des Europäischen Rates in erster
Linie wirtschafts- und sozialpolitischen Themen gewid-
met. Aber dieses Mal sind die Regierungschefs unter
dem Eindruck eines Krieges und auch mit dem bedrü-
ckenden Wissen zusammengekommen, dass es eben
nicht gelungen ist, eine gemeinsame europäische Hal-
tung zum Irakkonflikt zu en twickeln. Diese bittere Er-
kenntnis prägte den Märzgipfel in der Tat.

Das überschattete den erfolgreichsten außenpoliti-
schen Akt, den die Europäische Union jemals vollzogen
hat, nämlich die Überwindung der Teilung Europas und
die Vollendung der europäischen Einigung, die jetzt in
greifbare Nähe gerückt ist. Für zwölf Beitrittsländer ist
der konkrete Zeitplan für den Weg zur Mitgliedschaft in
der EU vorgezeichnet. Mit acht mittel- und osteuropäi-
schen Kandidatenländern sowie den Mittelmeerländern
Malta und Zypern wird der Beitrittsvertrag noch in die-
sem Monat unterzeichnet. Deren Beitritt wird, wenn die
Bevölkerung dieser Länder zustimmt und die Ratifizie-
rung in den Mitgliedstaaten un d Beitrittsländern erfolg-
reich verläuft, zum 1. Mai 2004 erfolgen. Bulgarien und
Rumänien werden, wenn sie ihre Anstrengungen zur
Beitrittsvorbereitung forcieren, im Jahre 2007 folgen.
Dies alles wäre ein Grund, nach Kopenhagen im März
einen nicht minder historischen Gipfel zu feiern, der sich
der konkreten wirtschafts-, sozial- und beschäftigungs-
politischen Agenda des nun zusammenwachsenden Eu-
ropas annimmt.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich möchte aller-
dings schon auf einige Diktionen in den Stellungnahmen
vonseiten der Opposition eingehen, in denen immer so
leichtfertig von der Spaltung Europas gesprochen wird.
Wer verkennt denn das, was in den letzten Jahren, zuge-
gebenermaßen auch dank des Engagements christdemo-
kratischer und freidemokratischer Regierungen, zu-
stande gekommen ist? W er macht denn eigentlich den
Umfang der Außen- und Sicherheitspolitik in der Euro-
päischen Union kleiner, als er tatsächlich ist? Wir haben
etwas erreicht und stehen davor, ein ganz großes Projekt
zu realisieren. Das bedarf sicherlich auch des weiteren
Engagements. Wer heute bei einem sicherlich wichtigen
Thema von einer Spaltung Europas spricht, wird den Di-
mensionen der europäischen Außen- und Sicherheitspo-
litik nicht gerecht.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Lassen Sie mich auch auf einige zum T eil nicht mehr
anwesende Kolleginnen und Kollegen von der Opposi-
tion eingehen. Ich habe schon in einer früheren Debatte
– es war bereits im Jahr 1999 – gesagt, Sie strickten im-
mer an einer Legende, was das Verhältnis dieser Bundes-
regierung vor allem zu den Beitrittskandidatenländern
angehe. Wir waren von Anfang an, seit Übernahme die-
ser Bundesregierung, der Anwalt, der Fürsprecher dieser
kleinen und großen Beitrittsländer, damit sie so bald wie
möglich, sobald die V oraussetzungen vorliegen, in die
Europäische Union aufgenommen werden können. Da-
rüber gab es überhaupt keinen Dissens. Das haben wir
deutlich gemacht.

Jetzt sagen Sie wieder, wir hätten auf die kleinen Län-
der und die Beitrittskandidatenländer keine Rücksicht
genommen. Das ist einfach nicht wahr.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Zum einen gab es einen intens iven Dialog – er hätte si-
cher an der einen oder anderen Stelle vertieft werden
können – von beiden Seiten, nicht immer nur seitens der
Regierung. Zum anderen gab es auf der parlamentari-
schen Ebene eine Vielzahl von Gesprächen.

Lieber Herr Kollege Hintze, Sie hatten gestern sicher-
lich einen Grund, nicht an der Sitzung des Europaaus-
schusses teilzunehmen. Das kann und will ich Ihnen gar
nicht vorwerfen. Aber ich will Ihnen eine Information
weitergeben, weil Sie gesagt haben, Sie wollten ein
Kerneuropa, das nicht spalte. Außenminister Fischer hat
gestern noch einmal ausdrücklich festgestellt, auch in
Bezug auf die belgische Init iative, dass das Kerneuropa
kein exklusiver Klub sei. W ir wollen aber vorangehen.
Wer sich anschließen will, kann mit vorangehen. Ich
bitte auch hier , nicht wieder an einer Legende zu stri-
cken.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Gerade Sie sollten nicht fa lsch Zeugnis wider Ihren
Nächsten reden; das hat de r Außenminister auch nicht
verdient. Er hat gestern deutlich dazu Stellung genom-
men.


(Zuruf des Abg. Dr. Gerd Müller [CDU/CSU])


– Herr Kollege Müller , Sie müssten das eigentlich ver-
standen haben, denn Sie waren anwesend.

Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, las-
sen Sie mich noch auf einen Aspekt eingehen, der sicher-
lich zu Irritationen geführt hat, auch was die Beitrittskan-






(A) (C)



(B) (D)


Günter Gloser
didatenländer angeht. Natürlich hat es da verschiedene
Stimmen gegeben, weniger bei uns als vielleicht in ande-
ren europäischen Ländern. Ich sage noch einmal aus-
drücklich: Auch wenn es bei uns möglicherweise Irritatio-
nen gegeben hat, dass bei der Unterschrift der Acht oder
bei der Vilnius-Erklärung vorher nicht miteinander kom-
muniziert, geschweige denn die griechische Ratpräsi-
dentschaft konsultiert worden ist,


(Zuruf von der CDU/CSU: Oder beim deutschen Nein!)


muss man die Situation dies er Länder verstehen. Sie
wollen Mitglieder der Europäischen Union werden.

Letzte Woche haben wir ei ne Reise nach Rumänien
unternommen. Dort besteht Klarheit. Es kann aber keine
Europäische Union à la carte geben. Man kann sich nicht
das herauspicken, was einem gefällt, und sich für das,
was einem nicht gefällt, an dere Verbündete suchen.
Wenn diese Länder allerdings aufgrund ihrer Geschichte
ein großes Bedürfnis haben, Sicherheit zu erlangen, und
dabei vor der Alternative stehen, die NATO oder die Ver-
einigten Staaten oder aber ein möglicherweise zerstritte-
nes Europa als Verbündeten zu wählen, dann werden sie
in dieser Situation zunächst einmal den einen Adressaten
suchen. Deshalb ist es wich tig, gemeinsam mit den Bei-
trittskandidatenländern den Weg zu einer gemeinsamen
europäischen Außen- und Sicherheitspolitik zu su-
chen.


(Beifall bei der SPD)


Ich glaube, dass der Konvent – da sind wir uns in die-
sem Hause, zumindest im Europaausschuss, einig – in
der Tat entsprechende Instrumente schaf fen muss. Man
kann und sollte auch über das diskutieren, was Sie, Kol-
lege Hintze, vorgeschlagen haben. Instrumente sind rich-
tig und wir brauchen sie; aber es muss auch der gemein-
same politische Wille vorhanden sein, eine gemeinsame
Außen- und Sicherheitspolitik in dieser Europäischen
Union zu gestalten.

Ich möchte noch auf einen Bereich eingehen, auf den
sicherlich mein Kollege Jörg Vogelsänger noch zu spre-
chen kommen wird, nämlich au f das, was wir als Lissa-
bon-Strategie bezeichnen. Wir brauchen, um ein gewis-
ses Gewicht darzustellen, in der Europäischen Union
auch eine ökonomische Leistungsfähigkeit. Dazu kann
das Leitbild Europa Entsprechendes leisten.

Ich gehöre nicht zu der Gruppe der professionellen
Schwarzmaler, die – so höre ich es beispielsweise aus
der Opposition – Deutschla nd nur noch schlecht reden.
Dazu ein Zitat:

Es wäre völlig irreführend, Deutschland als ein
Land darzustellen, das schäbig oder erbärmlich
oder anfällig für politische Instabilität oder in der
Gefahr des endgültigen wi rtschaftlichen Nieder-
gangs sei. Im Gegenteil, es ist reich, stabil und für
die überwältigende Mehrheit seiner Menschen ist es
äußerst angenehm, dort zu leben.

So der „Economist“ im Dezember letzten Jahres.
Ich sage hier ganz bewusst, auch vor dem Hinter-
grund der aktuellen Zahlen aus Nürnber g zur Arbeitslo-
sigkeit: Wir müssen hier Anstrengungen unternehmen.
Ich glaube, dass die Agenda 2010 ein richtiger Weg ist,
um die entsprechenden W eichen zu stellen, auch im
Kontext eines Lissabon-Prozesses.

Ich meine, es ist ein Zeichen für die Stärke der Euro-
päischen Union, dass sie si ch in der W irtschaftspolitik
verständigt und gemeinsame Ziele formuliert. Aber auch
auf der nationalen Ebene sind wir gezwungen, Entspre-
chendes zu leisten. Ich glaube, die Vorschläge, die in den
nächsten Tagen vorgelegt werden, die wir erörtern und,
wie ich denke, auch beschließen werden, sind ein wichti-
ger Beitrag in diesem Bereich. Wir sagen damit: Wir ha-
ben aus dieser Europäischen Union gelernt. Wir gucken
ab, was in anderen Ländern positiv läuft, und wir versu-
chen, es umzusetzen. Wir, diese rot-grüne Koalition und
diese Bundesregierung, werden diese Reformvorhaben
durchbringen, um die Zukunft unseres Landes zu sichern,
um die weitere Integration in Europa mit zu gestalten und
um gemeinsam in Europa di e neuen Herausforderungen
der globalisierten Welt friedlich zu meistern. Auch die
Opposition sollte sich, wie es gelegentlich in der Außen-
und Sicherheitspolitik geschieht, an diesen Vorschlägen
konstruktiv beteiligen.

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1503703500

Das Wort hat jetzt der Kollege Jör g Vogelsänger von

der SPD-Fraktion.


Jörg Vogelsänger (SPD):
Rede ID: ID1503703600

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen

und Herren! Die heutige Debatte des Deutschen Bundes-
tages ist besonders gekennzeichnet von der großen Sorge
über die Entwicklung im Nahen und Mittleren Osten. Ich
glaube, diese Sorge ist parteiübergreifend. Ich hätte mir
aufgrund der dramatischen La ge im Irak allerdings die
eine oder andere Gemeinsamkeit im Parlament ge-
wünscht.


(Peter Hintze [CDU/CSU]: Wir auch!)


Ich möchte daran erinnern, dass die Politik der Bundes-
regierung von der breiten Bevölkerungsmehrheit ge-
stützt und unterstützt wird. V ielleicht ist das für den ei-
nen oder anderen ein Grund zum Nachdenken.


(Beifall bei der SPD)


Meine Damen und Herren, Europa ist ein Kontinent
des Friedens geworden. Gerade in der aktuellen Situa-
tion wird uns so richtig bewusst, welch großes Glück wir
Europäer damit haben. Mit der Erweiterung der Europäi-
schen Union wird die Teilung Europas in Blöcke endgül-
tig überwunden. Dass dies mö glich ist, daran haben wir
Deutsche und besonders die Bür ger Ostdeutschlands ei-
nen großen Anteil. Mit der friedlichen Revolution von
1989/1990 wurde der Eisern e Vorhang in Europa, der
unser Land trennte, niedergerissen. Ein besonderer Dank






(A) (C)



(B) (D)


Jörg Vogelsänger
dafür gilt den Völkern Ungarns, Tschechiens und Polens.
Der Mut der Menschen und der Politiker in diesen Staa-
ten hat gerade uns diesen friedlichen Umbruch erst er-
möglicht. Deshalb freue mich ganz besonders, dass diese
Staaten die Europäische Union bereichern werden.

In den Dokumenten des Eu ropäischen Rates anläss-
lich der jährlichen Frühjahrstagung vom März 2003 in
Brüssel spielte die Weiterentwicklung der Europäischen
Union im doppelten Sinne ei ne wichtige Rolle. Es ging
zum einen um den Erweiter ungsprozess und zum ande-
ren um die dringendsten Reformen in Europa. W ir brau-
chen Mut zur V eränderung in Deutschland und wir
brauchen diesen Mut auch in Europa.

Ein zentraler Punkt im Papier des Rates ist die Frage
von Beschäftigung und Wohlstand in Europa. In ganz
Europa gibt es wirtschaftliche Unsicherheitsfaktoren und
die aktuelle Situation im Irak wirkt sich negativ auf die
wirtschaftliche Erholung aus. Gerade wegen dieser
schwierigen Rahmenbedingungen sind wir zu entschlos-
senen Strukturreformen verpflichtet.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Das von Bundeskanzler Gerhard Schröder am
14. März vorgelegte mutige Reformprogramm ist ein
Gesamtkonzept für Deutschland. Es gilt, die Lohnneben-
kosten zu senken und die I nvestitionen zu steigern und
damit für mehr Beschäftigung zu sorgen.


(Dr. Michael Fuchs [CDU/CSU]: Da bin ich aber sehr gespannt!)


Das ist auch der Kernpunkt des Papiers des Europäi-
schen Rates. Das Lissaboner Ziel einer Beschäftigungs-
quote von 70 Prozent bis 2010 ist und bleibt eines der
Hauptanliegen der Staats- und Regierungschefs. Länder
mit einer hohen Beschäftigungsquote haben eine sehr
leistungsfähige Wirtschaftsstruktur. Eine hohe Beschäf-
tigung ist die Grundvoraussetzung für eine funktionie-
rende soziale Marktwirtschaf t mit guten sozialen Leis-
tungen für die Bür ger. Deshalb gilt es, in Deutschland
für mehr Beschäftigung zu sorgen.


(Beifall bei der SPD – Dr. Michael Fuchs [CDU/CSU]: Dann macht es doch!)


– Das machen wir auch.

Mit der Umsetzung des Hart z-Konzeptes, lieber Kol-
lege, sind wir in Deutschland auf dem richtigen W eg.
Weiterhin wird der erweitert e europäische Binnenmarkt
gerade in Deutschland für mehr Arbeit sor gen können.
Mit der Erweiterung der Europäischen Union kommen
über 70 Millionen Menschen – für mich sind die Men-
schen der wichtigste Faktor –, aber auch ein riesiger
neuer Markt für Güter und Dienstleistungen hinzu.

Selbstverständlich ist in diesem Zusammenhang die
Politik gefragt, Unternehmen durch entsprechende Rah-
menbedingungen zu unterstü tzen. Die Bundesregierung
plant eine außenwirtschaftliche Offensive mit dem Ziel
der Öffnung internationaler Märkte für kleine und mit-
telständische Unternehmen. Das geht natürlich über das
Gebiet der Beitrittsländer hinaus.
Die Erweiterung der Europäischen Union bedarf auch
bestimmter Übergangsvorschriften. Zudem stehen wir
im Verkehrsbereich vor neue n Herausforderungen. Die
Infrastruktur muss selbstverständlich ausgebaut wer-
den. Die EU-Osterweiterung ist im neuen Bundesver-
kehrswegeplan besonders zu berücksichtigen.

Neben den Brücken aus Stahl und Beton müssen wir
auch an den Brücken zwischen den Menschen weiter-
bauen. Hier sind wir alle ge fordert und jeder kann dazu
seinen Beitrag leisten.


(Beifall bei der SPD)


Beiträge zur Völkerverständigung sind aktive Frie-
denspolitik.

Was in den 50er -, 60er- und 70er-Jahren unter ande-
rem zwischen Deutschland und Frankreich gelang, wer-
den wir auch mit unseren neuen EU-Nachbarn schaf fen.
Wichtig dabei ist, dass die Politik – Frau Sager hat schon
vor einem bürokratischen Europa gewarnt – die Men-
schen und ganz besonders die Jugend mitnimmt. Ich
denke, für unsere Jugend wird die EU-Osterweiterung
richtig spannend. In diesen Prozess kann sie sich voll
einbringen.

Der erweiterten Europäischen Union wird nach mei-
ner festen Überzeugung in ei ner veränderten internatio-
nalen Situation eine noch größere Bedeutung zukom-
men. Dies kann und muss für die Sicherung des Friedens
genutzt werden. Europa steht in einer besonderen V er-
antwortung. Wir haben uns dieser V erantwortung zum
Wohl unserer Völker zu stellen.

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1503703700

Herr Kollege Vogelsänger, ich beglückwünsche Sie

im Namen des ganzen Hauses zu Ihrer ersten Rede im
Deutschen Bundestag.


(Beifall)


Ich schließe die Aussprache.

Ich rufe jetzt die Tagesordnungspunkte 4 a und 4 b so-
wie die Zusatzpunkte 2 und 3 auf:

4 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Katherina Reiche, Thomas Rachel, Dr . Maria
Böhmer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der CDU/CSU

Reformen in der beruflichen Bildung voran-
treiben – Lehrstellenmangel bekämpfen

– Drucksache 15/653 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung (f)

Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung






(A) (C)



(B) (D)


Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Cornelia
Pieper, Christoph Hartmann (Hombur g), Ulrike
Flach, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der FDP

Für die Stärkung der dualen Berufsausbildung
in Deutschland – mehr Chancen durch Flexibili-
sierung und einen individuellen Ausbildungspass

– Drucksache 15/587 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung (f)

Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend

ZP 2 Beratung des Antrags der Abgeordneten Karl-
Josef Laumann, Dagmar Wöhrl, Hartmut
Schauerte, weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion der CDU/CSU

Ausbildungsbereitschaft der Betriebe stärken
– Verteuerung der Ausbildung verhindern

– Drucksache 15/739 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit (f)

Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Haushaltsausschuss

ZP 3 Beratung des Antrags der Abgeordneten W illi
Brase, Jörg Tauss, Doris Barnett, weiterer Abge-
ordneter und der Fraktion der SPD sowie der Ab-
geordneten Grietje Bettin, Dr . Thea Dückert,
Kerstin Andreae, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN

Offensive für Ausbildung – Modernisierung
der beruflichen Bildung

– Drucksache 15/741 –
Überweisungsvorschlag:
A. f. Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung (f)

Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung

Nach einer interfraktionellen V ereinbarung sind für
die Aussprache anderthalb S tunden vorgesehen. – Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache. Als Erste hat die Bundes-
ministerin Edelgard Bulmahn das Wort.

Edelgard Bulmahn, Bundesministerin für Bildung
und Forschung:

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten
Herren und Damen! Eine qualifizierte Ausbildung für
junge Menschen sicherzustellen ist eine der wichtigsten
gesellschaftspolitischen Aufgaben,


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)

weil nur gut ausgebildete Mens chen ihre Zukunftschan-
cen, insbesondere ihre späteren Berufschancen wahr-
nehmen können.

Eine qualifizierte Ausbildung sicherzustellen ist aber
auch deshalb eine der wich tigsten gesellschaftspoliti-
schen Aufgaben, weil sich Unternehmen nur mit gut aus-
gebildeten Menschen im internationalen Wettbewerb
behaupten können.


(Beifall des Abg. Willi Brase [SPD])


Nur in wettbewerbsfähigen Unternehmen wiederum
können neue, zukunftssichere Arbeitsplätze entstehen.

Wir haben in der ver gangenen Legislaturperiode
grundlegende Reformvorhaben begonnen mit dem Ziel,
die berufliche Aus- und W eiterbildung nachhaltig zu
modernisieren und vor allem mehr Betriebe für die be-
rufliche Ausbildung zu gewinnen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Diese Politik hat in den vergangenen Jahren spürbare Er-
folge gezeigt. Deshalb werden wir diesen Kurs konse-
quent fortsetzen. Im Übrigen werden wir in dieser Legis-
laturperiode das Berufsbildungsgesetz novellieren.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


In diesem Jahr droht jedoch eine sehr schwierige
Lage.


(Michael Kretschmer [CDU/CSU]: Trotz Ihrer erfolgreichen Politik?)


Es gibt erhebliche Rückgänge bei den betrieblichen
Ausbildungsplatzangeboten: 58 000 gemeldete be-
triebliche Ausbildungsplätze weniger als im Vorjahr, da-
von allein 52 000 in den alten Ländern. Das ist wirklich
eine deutlich schwierigere Situation als im vergangenen
Jahr. Dies begründet die sehr konkrete Sor ge, dass wir
am Ende des Vermittlungsjahres 2002/2003 einer großen
Zahl von Jugendlichen kein en Ausbildungsplatz anbie-
ten können.

Ich will und werde mich damit nicht abfinden; das
sage ich ganz klar.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Es kann und darf auf Dauer nicht sein – das sage ich ge-
nauso klar –, dass nur ein Drittel der Betriebe ausbildet.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


In einem dualen System der Berufsausbildung trägt die
Wirtschaft die Hauptverantw ortung für die berufliche
Ausbildung der Jugendlichen.


(Ulrike Flach [FDP]: Das ist richtig!)


Sie trägt damit auch die Hauptverantwortung für ein aus-
reichendes Angebot an Ausbildungsplätzen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Ulrike Flach [FDP]: W as heißt das?)







(A) (C)



(B) (D)


Bundesministerin Edelgard Bulmahn
Die Wirtschaft muss deshalb in ihrem ureigensten Inte-
resse alle Anstrengungen un ternehmen, die Zahl der
Ausbildungsplätze zu erhöhen. W er sich als Unterneh-
mer heute dieser V erantwortung entzieht, sägt sprich-
wörtlich an dem Ast, auf dem er selber sitzt.


(Beifall des Abg. Hans-Werner Bertl [SPD])


Es ist ein schwerwiegender Fehler, dass Arbeitgeber ge-
nau dort sparen, wo es um ihre Zukunft geht: bei der
Ausbildung und der Qualifizierung von Menschen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Denn sie brauchen diese Me nschen zwingend, wenn sie
ihr Unternehmen erfolgreich in die Zukunft steuern wol-
len.

Es kann und darf nicht sein, dass Zehntausende von
Jugendlichen eventuell keinen Ausbildungsplatz finden.
Deshalb muss die Wirtschaft ihrer Verantwortung gegen-
über den Jugendlichen gerecht werden.


(Cornelia Pieper [FDP]: Aber auch die Politik!)


Sie muss diese Verantwortung wahrnehmen und sie darf
sich nicht davor drücken.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Ausbildungschancen dürfen auch nicht von Konjunk-
turlagen abhängig sein. Für die Stabilität und auch für
den Erfolg des dualen Systems ist es unverzichtbar, dass
Ausbildung auch in wirtscha ftlich schwierigeren Zeiten
nicht aufgegeben, sondern fort geführt wird und dass al-
len Jugendlichen, die ausgebildet werden können und
wollen, ein Ausbildungsplatz angeboten wird, so wie wir
das in der ver gangenen Legislaturperiode im Bündnis
für Arbeit vereinbart haben. Di ese Vereinbarung muss
auch dieses Jahr und für die Zukunft gelten.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Deshalb werden wir alles daransetzen, dass wieder
mehr Betriebe ausbilden un d Ausbildungsplätze nicht
abgebaut, sondern aufg ebaut werden. Das ist die Auf-
gabe in den kommenden Wochen und Monaten.

Ich führe bereits seit Ja nuar Gespräche mit den Spit-
zen der W irtschaftsverbände und den Gewerkschaften,
die im Übrigen unsere Sorge teilen. Für alle ist klar, dass
die Gewinnung von neuen Ausbildungsplätzen nur in ei-
ner gemeinsamen Aktion gelingen kann. Wir müssen ge-
meinsam dafür kämpfen, ausreichend Ausbildungsplätze
zu erhalten. Dazu gehört auch, in Tarifverträgen zusätzli-
che Ausbildungsanstrengungen zu vereinbaren, so wie
Sie das in Ihren Anträgen dargelegt haben.

Aber, meine lieben Kolleginnen und Kollegen von der
CDU/CSU, Tarifverträge werden nicht von der Bundes-
regierung abgeschlossen. Nicht die Regierung ist die
richtige Adresse, sondern die T arifvertragsparteien.
Diese Auffassung teile ich durchaus. Nicht nur ich, son-
dern die gesamte Bundesregierung einschließlich des
Bundeskanzlers sagen das klipp und klar.

(Jörg Tauss [SPD]: Aber auch Tarifverträge wollen die abschaffen!)


Wir handeln in den Punkten, in denen wir handeln
können. Die Bundesregierung tut alles dafür, die Ausbil-
dungsbereitschaft der Wirtschaft zu erhöhen und da-
mit unser Ziel zu realisieren, dass kein Jugendlicher nach
der Schule in die Arbeitslosigkeit gerät. Unser Ziel ist es,
das zu erreichen und sicherzustellen.

Dazu gehört eine V ereinfachung des Einstiegs der
ausbildungsbereiten Betriebe in die Berufsausbildung,
wie es der Bundeskanzler in seiner Regierungserklärung
vom 14. März angekündigt hat. Bereits zu Beginn des
neuen Ausbildungsjahres – das heißt im Sommer 2003 –
werden wir die Ausbilder-Eignungsverordnung für
fünf Jahre aussetzen. Damit soll Betrieben, die bereit
und in der Lage sind, auszub ilden, der Zugang zur Aus-
bildung erleichtert werden. Die Kammern werden trotz-
dem weiterhin die Aufgabe haben, sicherzustellen, dass
die sächlichen und personellen V oraussetzungen erfüllt
sind, sodass die Qualität der Ausbildung gewährleistet
bleibt.


(Beifall der Abg. Nicolette Kressl [SPD])


Es gibt konkrete Fälle wie zum Beispiel den Fall einer
Fachhochschullehrerin, die einen Betrieb gegründet hat
und an der Fachhochschule Informatik lehrt, die aber
nach der geltenden Ausbilder-Eignungsverordnung nicht
ausbilden dürfte, die sicherlich nicht im Interesse der Sa-
che sind. Deshalb setzen wi r die Geltung der Ausbilder-
Eignungsverordnung für fünf Jahre aus. Wir werden kri-
tisch beobachten, ob damit das gewünschte Ziel erreicht
wird. Ich denke, das ist ein richtiges, notwendiges und
wichtiges Signal an die Betriebe, um ihnen den Einstieg
in die Ausbildung zu erleichtern.

Wir werden weiterhin die Gründung von zusätzli-
chen Ausbildungsverbünden massiv unterstützen. Wir
haben in den neuen Bundeslä ndern sehr positive Erfah-
rungen mit der Schaf fung von Ausbildungsverbünden
gemacht. Wir wissen, dass sich immer mehr Betriebe so
spezialisiert haben, dass si e nicht mehr das volle Spek-
trum einer Ausbildung in ihrem Betrieb gewährleisten
können. Wir brauchen aber au ch diese Betriebe für die
Ausbildung. Deshalb unterstützen wir die Bildung von
Ausbildungsverbünden auch in den alten Bundesländern,
damit wir auch diese Betriebe für die Ausbildung gewin-
nen und wir damit den Jugendlichen weitere Ausbil-
dungsmöglichkeiten eröffnen können.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Ein weiterer Punkt ist die Erweiterung des Pro-
gramms „Kapital für Arbeit“ der Kreditanstalt für Wie-
deraufbau. Damit können k ünftig Betriebe und Unter-
nehmen, die zusätzliche Ausbildungsplätze bereitstellen,
einen zinsgünstigen Investitionskredit beantragen.

Auf die besonders schwierige Situation in den neuen
Bundesländern haben wir sofort reagiert. W ir haben die
zwischen Bund und Ländern vereinbarte Absenkung auf
maximal 12 000 zu fördernd e Ausbildungsplätze für
2003 ausgesetzt. Wir werden also auch in diesem Jahr






(A) (C)



(B) (D)


Bundesministerin Edelgard Bulmahn
14 000 zusätzliche Ausbildungsplätze im Rahmen dieses
Programms finanzieren.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Michael Kretschmer [CDU/ CSU]: Nach massivem Druck durch uns, Frau Ministerin!)


– Nein, sorry. Das ist bereits in den Haushaltsverhand-
lungen im Februar von mir angekündigt worden.


(Michael Kretschmer [CDU/CSU]: Wir haben im Dezember den Antrag gestellt!)


Ich hoffe, dass Ihre Kolleginnen und Kollegen damals
zugehört haben. Den Minist erpräsidenten habe ich das
bereits Ende letzten Jahres gesagt.

Ich will allerdings eines kl arstellen, lieber Kollege:
Wir können nicht auf Dauer vonseiten des Staates und
der Bundesregierung die Ausbildungsverantwortung der
Wirtschaft übernehmen. W ir können nicht ausbilden.
Wir brauchen die W irtschaft und die Betriebe. Das ist
ihre ureigenste V erantwortung. Daran lasse ich auch
nicht rütteln.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1503703800

Frau Kollegin Bulmahn, erlauben Sie eine Zwischen-

frage des Kollegen Kretschmer?

Edelgard Bulmahn, Bundesministerin für Bildung
und Forschung:

Das war ja schon eine Zwischenfrage.


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1503703900

Erlauben Sie die Zwischenfrage?

Edelgard Bulmahn, Bundesministerin für Bildung
und Forschung:

Ich erlaube noch eine Zwischenfrage.


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1503704000

Bitte schön, Herr Kretschmer.


Michael Kretschmer (CDU):
Rede ID: ID1503704100

Frau Ministerin, ich habe Sie schon das letzte Mal ge-

fragt und Sie haben nicht geantwortet. Deshalb stelle ich
die Frage noch einmal.


(Nicolette Kressl [SPD]: Kann es sein, dass Sie das nicht verstanden haben?)


– Das glaube ich nicht. Ich habe die Antwort nicht ver-
nommen.

Was ist der Grund dafür, dass die Firmen nicht ausbil-
den? Sie tun so viel. Es ist so wichtig für die Unterneh-
men. Trotzdem – das sagt uns das Arbeitsamt – brechen
in diesem Jahr 16 Prozent der Lehrstellen weg. W as ist
Ihrer Meinung nach der Gru nd dafür, dass die Firmen
nicht mehr ausbilden können?
Edelgard Bulmahn, Bundesministerin für Bildung
und Forschung:

Erster Punkt. Es gibt zu m Beispiel einen dramati-
schen Einbruch bei den Ausbildungsstellen der Banken
und in der Finanzwirtschaft. Ich halte die Entscheidung,
die von den Banken und der Fi nanzwirtschaft getroffen
worden ist, für falsch.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Denn ich erwarte von jedem kleinen Handwerksbetrieb
und appelliere auch an ihn, dass er ausbildet, und zwar
auch über den Bedarf hinaus. Genau das Gleiche erwarte
ich – das sage ich ausdrücklich – von großen Banken.


(Michael Kretschmer [CDU/CSU]: Das Handwerk minus 7 Prozent! – Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Das ist doch keine Antwort!)


Zweiter Punkt. Ich habe ausdrücklich gesagt, dass
eine duale Berufsausbildung nur dann funktioniert,
wenn man auch in wirtschaftlich schwierigen Zeiten aus-
bildet und gerade an Investitionen in die Zukunft nicht
spart.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Genauso wenig wie wir bei unseren Haushaltsentschei-
dungen nicht an Investitionen in die Zukunft sparen dür-
fen, dürfen auch Unternehmen nicht daran sparen. Des-
halb ist es falsch, wenn Unternehmen dann, wenn es
ihnen nicht so gut geht, nicht ausbilden oder wenn Unter-
nehmen, denen es wirtschaftlich durchaus gut geht – das
gibt es auch –, trotzdem nicht ausbilden, sondern versu-
chen, die ausgebildeten F achkräfte woanders herzube-
kommen.


(Michael Kretschmer [CDU/CSU]: Den Unternehmen geht es schlec ht, deshalb! – Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Geben Sie den Meistern wieder Sicherheit!)


Das ist eine Haltung, die nicht vertretbar ist. Denn wir
haben nur dann ausgebildete Fachkräfte, wenn jedes Un-
ternehmen bereit ist, seinen Beitrag dazu zu leisten.

Wenn aber nur ein Drittel der Betriebe ausbildet – ich
nenne die Zahl noch einmal –, zeigt das sehr deutlich,
dass nicht jedes Unternehmen seiner V erantwortung in
dem Umfang gerecht wird, wie es notwendig wäre.


(Beifall bei der SPD – Michael Kretschmer [CDU/CSU]: Ich habe nur nach den Gründen gefragt, Frau Ministerin!)


Ich sage ausdrücklich: Ein Unternehmen, das nicht aus-
bildet, denkt nicht an seine Zu kunft; denn es kann nicht
darauf bauen, dass andere Unternehmen für dieses Un-
ternehmen die Ausbildungsv erpflichtung und -verant-
wortung übernehmen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Zuruf von der CDU/CSU: Das war keine Antwort, sondern eine Beschimpfung!)







(A) (C)



(B) (D)


Bundesministerin Edelgard Bulmahn
Deshalb werden wir unsere Anstrengungen fortset-
zen. Wir wollen gerade Ju gendlichen mit schlechteren
Startchancen, die zum Beispiel sehr schlechte schulische
Voraussetzungen haben, durch spezielle Fördermaßnah-
men wie zum Beispiel unser BQF-Programm einen er-
folgreichen Start in das Berufsleben ermöglichen. Auch
diese Jugendlichen brauchen eine Berufsausbildung. Wir
wissen, dass wir ihnen jetzt und in Zukunft staatliche
Unterstützung anbieten müssen. Das tun wir auch, zum
Beispiel mit Hilfe dieses Programms.

Zusätzlich eröffnen wir diesen Jugendlichen durch die
Entwicklung von Qualifikationsbausteinen einen wei-
teren Weg. Das ist ein zusätzliches Angebot, um diesen
Jugendlichen den Zugang zu Ausbildung und zu Be-
schäftigung zu erleichtern. Es kommt zu keiner Absen-
kung der Ausbildungsqualität in der Breite. Aber über
den über Bausteine organisierten Zugang zu einer vollen
Berufsausbildung oder im Notfall zu anerkannten T eil-
qualifikationen bietet sich die Möglichkeit des Einstiegs
in eine Beschäftigung.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Ich bin sehr zuversichtlich, dass es uns mit diesen und
weiteren Initiativen gelingen kann, auch in diesem Jahr
eine ausgeglichene Ausbildungsplatzbilanz zu erreichen.
Entscheidend ist ein deu tlich verstärktes Engagement
der Wirtschaft selbst. Etwa s anderes werden wir nicht
akzeptieren.


(Dr. Michael Fuchs [CDU/CSU]: Planungssicherheit!)


Meine sehr geehrten Herren und Damen, wir brau-
chen natürlich auch Ausbildungsberufe, die dem Bedarf
der Wirtschaft und dem Anspruch der Jugendlichen auf
eine Ausbildung zu qualifizierten Fachkräften entspre-
chen.


(Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Wo ist denn der Wirtschaftsminister?)


Deshalb haben wir in den letzten vier Jahren
56 Ausbildungsordnungen modernisiert und 18 neue
Ausbildungsberufe geschaffen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Diesen Modernisierungsprozess werden wir so wie in
der Vergangenheit auch weiterhin mit Nachdruck voran-
treiben. Zur Modernisierung der Prüfungen erproben wir
zurzeit zweistufig gestreckte Prüfungen in einer größe-
ren Zahl von Ausbildungsberufen.

Als Antwort auf die Globalisierung muss die Berufs-
ausbildung internationaler und vor allem europäischer
werden. Ein wichtiges Ziel ist die Schaffung eines euro-
päischen Bildungsraumes. Dazu gehören die Anerken-
nung, die Anrechnung und die Transparenz von Qualifi-
kationen und Abschlüssen. Dazu gehört es aber auch, zu
mehr Mobilität zu kommen und vor allem, den Auszu-
bildenden die Möglichkeit zu geben, einen T eil ihrer
Ausbildung im Ausland absolvieren zu können und die-
sen Teil der Ausbildung anerkannt zu bekommen. Das
werden wir in der Novelle des Berufsbildungsgesetzes
entsprechend aufgreifen und gestalten.

Meine sehr geehrten Herren und Damen, die Qualität
unseres Berufsbildungssystems schneidet im internatio-
nalen Vergleich nach wie vor gut ab. Das soll auch so
bleiben. Mehr Attraktivität, höhere Qualität, höhere Aus-
bildungsbereitschaft und damit mehr Ausbildungsplätze,
das sind die Ziele, die ich bei allen Schritten verfolge.


(Abg. Dr. Michael Fuchs [CDU/CSU] meldet sich zu einer Zwischenfrage)


– Gibt es eine Wortmeldung?


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1503704200

Frau Ministerin, Sie erwart en schon fast eine Zwi-

schenfrage. Der Kollege Fuch s ist so freundlich, Ihnen
eine Zwischenfrage stellen zu wollen. – Bitte schön,
Herr Fuchs.


Dr. Michael Fuchs (CDU):
Rede ID: ID1503704300

Frau Ministerin, ist Ihnen bekannt, wie viele Unter-

nehmen in diesem Jahr in Deutschland Pleite gehen wer-
den und wie viele Ausbildungsplätze dadurch verloren
gehen?

Edelgard Bulmahn, Bundesministerin für Bildung
und Forschung:

Das ist mir bekannt. Mir is t aber auch bekannt, wie
viele Unternehmen in Deutschland gegründet werden.


(Dr. Michael Fuchs [CDU/CSU]: Ist Ihnen der Saldo auch bekannt?)


Diese Zahl übersteigt die Za hl der Insolvenzen. Damit
auch die neu gegründeten Unternehmen ausbilden kön-
nen, haben wir gerade beschlossen, die Ausbilder -Eig-
nungsordnung außer Kraft zu setzen. Ich sage ausdrück-
lich: Es ist schlichtweg zu wenig, wenn nur ein Drittel
der bestehenden Betriebe ausbildet. Wir müssen – daran
kommen wir nicht vorbei – di e Zahl der Betriebe, die
ausbilden, erhöhen, und zwar in allen Bereichen; das gilt
vor allem für den Dienstleist ungsbereich, aber auch für
das Handwerk.


(Zuruf von der CDU/CSU: Sie müssen die Betriebe wieder in die La ge versetzen, dass sie ausbilden können!)


Das muss unser gemeinsames Ziel sein und ich hof fe,
lieber Kollege, dass es ta tsächlich unser gemeinsames
Ziel ist. Jeder von uns muss in seinem V erantwortungs-
bereich alles dafür tun, dass das gelingt.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Dr . Michael Fuchs [CDU/ CSU]: Ich hätte gerne die Zahlen von Ihnen!)


Die CDU/CSU-Fraktion hat einen umfangreichen Forde-
rungskatalog vorgelegt. Das hat mich etwas erstaunt;
denn offensichtlich hat si e nicht zur Kenntnis genom-
men, dass die Bundesregierung in allen Bereichen, auf
die die CDU/CSU-Fraktion eingeht – ich habe keinen
einzigen Bereich gefunden, auf den das nicht zutrif ft –,






(A) (C)



(B) (D)


Bundesministerin Edelgard Bulmahn
längst handelt. Damit hat sie einen Katalog vor gelegt,
der beschreibt, was wir getan haben. Das freut mich. Es
würde mich aber noch mehr freuen, wenn Sie erkennen
würden, dass das bereits gewährleistet ist. Mit Ihren For-
derungen sagen Sie ja ausdrü cklich, dass es richtig war .
Ich denke, gerade die Bildungs- und Forschungspolitiker
sollten sich nicht die Blöße geben, etwas zu fordern, was
bereits geleistet worden ist.

Ich halte es wirklich für nicht verantwortbar, dass Sie
völlig falsche Zahlen in den Raum werfen; das geht
nicht.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Uwe Schummer [CDU/CSU]: Das tun Sie öfter!)


Sie wissen so gut wie ich, dass wir die Erhebungen des
BiBB heranziehen müssen, wenn wir ein realistisches
Bild über die Zahl der neu abgeschlossenen Berufsaus-
bildungsverträge gewinnen wollen, da die Zahlen der
Kammern nur in diese Erhebungen eingehen. Danach
haben bis zum 30. September des ver gangenen Jahres
572 227 Jugendliche eine Ausbildung begonnen. Da-
mit unterschlagen Sie in Ihren Presseerklärungen
230 000 Verträge.


(Jörg Tauss [SPD]: Das ist nicht viel!)


Diese lassen Sie einfach unte r den Tisch fallen, um bil-
lige Effekte zu erzielen. Ich sage ausdrücklich: Das ist
ein nicht akzeptables Verhalten.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Zuruf von der SPD: Schämen sollten die sich! – Ernst Hinsken [CDU/ CSU]: Reden Sie doch von den betrieblichen Ausbildungsstellen!)


Lassen Sie das einfach sein! Denn damit motivieren Sie
keinen einzigen Betrieb und auch die Jugendlichen nicht.
Sie sollten lieber mit Fakten argumentieren. Auch ohne
dass man so vorgeht, wie Sie es getan haben, gibt es ge-
nug für uns zu tun.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich sagte es bereits:
Wir werden die Schwerpunkte unserer Reformagenda
durch eine entsprechende Novellierung des Berufsbil-
dungsrechts flankieren. Bei allen Zielsetzungen und Re-
formen, die wir durchführen, ist es wichtig, immer die
doppelte Zielsetzung der Be rufsausbildung im Auge zu
haben, nämlich erstens, En twicklungs- und Beschäfti-
gungschancen für alle Menschen zu eröf fnen, und zwei-
tens, zugleich eine bedarfsg erechte Qualifizierung für
die Wirtschaft zu ermöglichen. Das ist die Leitlinie unse-
rer Politik. Hierfür werbe ich um Unterstützung.

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1503704400


Das Wort hat jetzt die Kollegin Katherina Reiche von
der CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Katherina Reiche (CDU):
Rede ID: ID1503704500


Herr Präsident! Meine sehr geehrten Kolleginnen und
Kollegen! In Deutschland sind 562 000 junge Menschen
ohne Arbeit. Das sind 56 700 mehr als vor einem Jahr .
Hinzu kommen noch einmal 558 000 junge Menschen in
Ersatzmaßnahmen.

Frau Ministerin Bulmahn, aufgrund Ihrer Politik er-
warten wir in diesem Jahr 42 000 Unternehmenspleiten.
Das bedeutet noch einmal ein Minus von 40 000 bis
50 000 Ausbildungsplätzen.


(Ulla Burchardt [SPD]: Grober Unfug!)


Im März standen deutschlandweit rund 541 700 Ausbil-
dungssuchenden nur rund 393 000 Ausbildungsplätze
gegenüber. Es fehlen also rund 148 700 Lehrstellen. Al-
lein in den neuen Ländern fehlen 105 000 Lehrstellen.
Die Lehrstellensituation ist so dramatisch wie nie zuvor.
Die Bundesregierung hätte längst handeln müssen.


(Ute Berg [SPD]: Die Wirtschaft hätte handeln müssen! – Gegenruf des Abg. Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Ihr macht sie doch kaputt! – W eiterer Gegenruf des Abg. Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Immer die Wirtschaft!)


Wenn ein junger Arbeitsloser auf den Internetseiten
der Bundesregierung surft, dann sieht er , dass die Bun-
desregierung mit dem Slogan „Wir sind gut“ wirbt. Dort
steht, dass wieder mehr Le hrstellen als Bewerberinnen
und Bewerber zur Verfügung stehen. Frau Bulmahn, die
heute veröffentlichte Statistik zeigt, dass das of fenbar
gelogen ist.


(Beifall bei der CDU/CSU – Ute Berg [SPD]: Unverschämtheit!)


Weiterhin steht dort: Alle J ugendlichen, die können und
wollen, bekommen einen Ausbildungsplatz. Das klingt
in den Ohren der 1,1 Millionen Jugendlichen ohne Lehr-
stelle bzw. Arbeit wirklich wie Hohn.

An dieser dramatischen La ge trägt die Bundesregie-
rung eine Mitverantwortung. Sie hat die Brisanz der Si-
tuation regelrecht verschlafen. Mit unseren Anträgen zur
Lehrstellenproblematik wollen wir die Bundesregie-
rung aufrütteln und ihr Beine machen, damit sie ihre
Aufgaben angeht und aus der Lethargie herauskommt.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Zu lange hat sich die Bundesregierung mit scheinbar po-
sitiven Statistiken geschmückt und wurden Jubelarien
gesungen und dabei dringend notwendige Maßnahmen
versäumt. Die Entwicklung war bereits im Frühjahr2002
absehbar. Das Lehrstellenproblem ist nicht über Nacht zu
uns gekommen. Es hat aber ni cht in die T aktik für den
Bundestagswahlkampf gepasst. Deshalb wurde ein
Mantel des Schweigens darü ber gebreitet. Nun werden
die Jugendlichen von den Versäumnissen rot-grüner Poli-
tik umso härter eingeholt: minus 6,5 Prozent bei den neu
abgeschlossenen Ausbildungsverträgen im deutschen
Handwerk zum 31. Dezember 2002 und minus 7 Prozent
bei neu abgeschlossenen Au sbildungsverträgen in die-
sem Jahr.






(A) (C)



(B) (D)


Katherina Reiche
Die Ausbildungsbereitschaft der Betriebe in
Deutschland – das haben Sie ausgeführt, Frau Ministerin –
ist rapide gesunken, weil die Belastungen für die Unter-
nehmen so hoch wie nie zuvor sind.


(Ulla Burchardt [SPD]: Das ist doch falsch! Sie sind niedriger als unter Ihrer Regierungszeit! – Hans-Werner Bertl [SPD]: Quatsch!)


Besonders gravierend ist die Situation in den neuen Län-
dern. Das Ausbildungsstellenangebot hat sich nochmals
deutlich verringert. Gegenüber dem V orjahr wurde jede
zehnte betriebliche Ausbildungsstelle nicht mehr gemel-
det. Hinter diesen dramatischen Zahlen verber gen sich
immer Einzelschicksale.

Nicht nur die Schere zwischen den gemeldeten freien
Ausbildungsplätzen und der Nachfrage der Jugendlichen
nach betrieblicher Ausbildung klaf ft dramatisch aus-
einander. Es kommt noch etwas hinzu: V on den
711 000 Bewerbern um einen Ausbildungsplatz schaf f-
ten am Ende des letzten Jahres nur 48,2 Prozent den
Sprung in eine reguläre Ausbildung. W eit über
50 Prozent der Jugendlichen bekamen wie schon in den
Jahren davor Ersatzmaßnahmen angeboten. Auch der öf-
fentliche Dienst bildet deutlich weniger aus.

Die rot-grüne Politik ist dafür verantwortlich, weil sie
die Rahmenbedingungen für den Lehrstellenmarkt setzt.
JUMP hat sich als Irrweg erwiesen. Jährlich 1 Milliarde
Euro wurde in das Programm gepumpt. Die Bilanz?
11,2 Prozent der Teilnehmer an JUMP sind in eine Voll-
beschäftigung gekommen, 10,2 Prozent gelangten in
eine betriebliche Ausbildung – viel Geld und wenig Wir-
kung.


(Beifall bei der CDU/CSU – Jörg Tauss [SPD]: Gestern haben Sie es noch gefordert!)


Unsere Jugendlichen brauchen betriebliche Lehrstellen.
Nur so haben sie eine wirk liche Chance, auf dem ersten
Arbeitsmarkt Arbeit zu finden.


(Klaus Barthel [Starnberg] [SPD]: Dann müssen die Betriebe eben ausbilden!)


In Anbetracht dieser sc hwierigen Situation müssen
zwei Dinge geschehen: Erstens. W ir brauchen eine Mo-
dernisierung der berufliche n Ausbildung. Hier müssen
Wege weitergegangen werden. Zweitens. W ir brauchen
durch eine steuerliche Entl astung der Ausbildungsbe-
triebe und den Abbau von Bü rokratie die Stärkung des
ersten Lehrstellenmarktes.

Zur Modernisierung der betrieblichen Ausbildung.
Wenn das System der dualen Ausbildung – Frau Minis-
terin, ich gebe Ihnen voll kommen Recht, dass dieses
System im internationalen Vergleich gut ist – in der mo-
dernen Informations- und Dienstleistungsgesellschaft at-
traktiv und wettbewerbsfähig bleiben soll, dann müssen
weitere strukturelle Veränderungen vorgenommen wer-
den. Es geht um die Ausbil dungsordnungen hinsichtlich
der Ausbildungsdauer und Praxisorientierung. Es geht
um Wahlpflichtmodule und W ahlmodule, um Inhalte,
Methoden, Ausbildungsformen und Prüfungen. Es geht
um den Ausbildungsrahmen, der regelmäßig an wirt-
schaftliche Veränderungen angepasst werden muss.
Nehmen Sie zum Beispiel das Berufsbild des Verkäu-
fers in einer Dienstleistungsg esellschaft. Es ist veraltet.
Freizeitberufe oder IT -Berufe sind ähnliche Beispiele;
denn die letzte Modernisierung liegt schon fünf Jahre zu-
rück. Ich meine damit ausdrücklich nicht die Moder-
nisierung der Aufstiegsfortbildung, sondern die erste
Berufsqualifikation. Die Ausbildungsfähigkeit und -be-
reitschaft der Unternehmen müssen gefördert werden.
Dazu gehört auch die Mode rnisierung der Ausbilder -
Eignungsverordnung. Frau Bulmahn, Sie haben am Mitt-
woch Ihre Vorschläge bekannt gegeben – unser Antrag
dazu ist schon ein bisschen länger auf dem Tisch –, die
beim DGB sofort auf W iderstand stießen, wonach all
diese Regelungen nicht machbar seien. Ich bin gespannt,
wie Sie sich in dieser Situation mit dem DGB auseinan-
der setzen.

Gewerblich-technische Berufe, wie sie zum Beispiel
im deutschen Handwerk vo rhanden sind, müssen für
Auszubildende attraktiver gestaltet werden.


(Jörg Tauss [SPD]: Durch wen?)


Für diese Berufe muss gerade wegen ihres hohen Be-
schäftigungspotenzials verstärkt geworben werden.
Ebenso benötigen wir theoriegeminderte Berufe für Ju-
gendliche ohne Schulabschluss. Vom Bundesinstitut für
Berufsbildung wird vorgeschlagen, dass ein einheitlicher
Berufsbildungspass eingeführt werden soll. Das unter-
stützen wir. Frau Ministerin , Sie sollten auch mit den
Unternehmen über die Präsenztage in den Berufsschulen
sprechen, die viele Unternehmen als Belastung empfin-
den.

Die Bundesregierung hat die jungen Menschen mit ih-
ren Sorgen allein gelassen. Das Versprechen im Bündnis
für Arbeit, dass jeder Ausbildungswillige einen Ausbil-
dungsplatz erhalten werde, wurde gebrochen. Auch von
der Ausbildungsplatzgarantie des Jahres 2002 hat sich
die Bundesregierung sang- u nd klanglos verabschiedet.
Nur noch auf den Internetseiten der Bundesregierung ist
davon die Rede.

Bislang haben wir von Ihnen kein Konzept gesehen.
Eine Lehrstellenabgabe, wie sie nun der Kanzler gefor-
dert hat, ist in unseren Augen kontraproduktiv. Betriebe,
denen dafür die Voraussetzungen fehlen, würden zusätz-
lich belastet, andere Betrie be könnten sich davon frei-
kaufen. Die Ausbildungsplatzabgabe schwebt wie ein
Damoklesschwert, wie eine immer währende Drohung
von Rot-Grün über den Unternehmen. Ich frage Sie: Wie
viele Abgaben, Steuern und Drangsalierungen wollen
Sie den Unternehmen noch zumuten?


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Nicht Bestrafung ist erfolgversprechend, sondern An-
reize zu setzen.

Auch das angekündigte Kreditprogramm ist untaug-
lich. Kredite für Lehrstelle n sind ungefähr wie Kopf-
schmerztabletten gegen Lungenentzündung.


(Zurufe von der SPD: Oh!)







(A) (C)



(B) (D)


Katherina Reiche
Wir setzen uns für eine spürbare Entlastung der Be-
triebe durch Senkung der Lohnnebenkosten ein. Der
erste Ausbildungsstellenmarkt muss gestärkt werden.


(Zuruf von der SPD: Welches Konzept haben Sie?)


Wir brauchen betriebliche Bündnisse für Ausbildung
analog denen von uns vor geschlagenen betrieblichen
Bündnissen für Arbeit. Das geht an die Adresse der T a-
rifpartner. Wir brauchen in den T arifverträgen flexible
Regelungen zur Ausbildung svergütung. Das schließt
auch Tariföffnungen ein. Manchmal ist weniger Geld
besser, als ohne Ausbildungsplatz dazustehen.


(Beifall bei der CDU/CSU – Ulla Burchardt [SPD]: Wissen Sie überh aupt, wie hoch die Ausbildungsvergütung ist?)


– Ja, weil unser Unternehmen selbst ausbildet, Frau
Burchardt.

Steuern und Sozialabgaben sind umfassend zu senken
und mit dieser Entlastung is t ein größerer wirtschaftli-
cher Spielraum für neue Au sbildungsplätze in den Un-
ternehmen zu schaffen.

Das erfolglose JUMP-Programm sollte beendet wer-
den. Die frei werdenden Mittel können direkt den Unter-
nehmen zugute kommen. Sie können sie auch verwen-
den, um den Arbeitslosenversicherungsbeitrag zu
senken. Auch damit wäre zum Beispiel personalintensi-
ven Unternehmen geholfen.

Natürlich ist das Angebot betrieblicher Ausbildungs-
plätze von der Zahl der Arbeitsplätze und von der W irt-
schaftskonjunktur abhängig. Beides ist unter Rot-Grün
auf Talfahrt. Diese Entwickl ung darf jedoch nicht auf
dem Rücken der Jugendliche n abgeladen werden. Des-
halb lautet mein dritter, grundsätzlicher Vorschlag: Klin-
ken putzen, und zwar für je den einzelnen zusätzlichen
Ausbildungsplatz.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Die Fachverbände und ihre Präsidenten, der DGB und
seine Einzelgewerkschaften mit ihren V orsitzenden und
Verantwortlichen, die Bundesregierung und die Landes-
regierungen mit ihren zuständigen Ministern sollten vor
Ort bei Betrieben und V erwaltungen um Ausbildungs-
plätze werben. Das gilt natü rlich auch für jeden einzel-
nen Abgeordneten.

Es ist höchste Zeit zum Ha ndeln. Sie verspielen die
Chancen der jungen Generation im V ergleich mit ande-
ren Volkswirtschaften. Das beginnt mit der Schulbildung
und endet mit dem ersten Arbeitsmarkt. Die Zeit der An-
kündigungen muss nun schnel lstens durch die Zeit der
Taten abgelöst werden.


(Zuruf von der SPD: Wo ist Ihr Konzept, Frau Reiche? Tragen Sie doch einmal Ihr Konzept vor!)


Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1503704600

Das Wort hat jetzt die Kollegin Grietje Bettin vom

Bündnis 90/Die Grünen.


Grietje Bettin (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1503704700

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In

einem sind wir uns hoffentlich alle einig: Wir wollen je-
dem jungen Menschen eine Ausbildung in dem Beruf er-
möglichen, den er oder sie sich wünscht.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Diesem Ziel wollen wir trotz der konjunkturellen Krise
möglichst nahe kommen. Gleichzeitig wollen wir eine
flexible Ausbildungsstruktur schaffen, die auf neue Ge-
gebenheiten, zum Beispiel auf die zunehmende Internati-
onalisierung oder den technischen Fortschritt, reagiert.


(Michael Kretschmer [CDU/CSU]: Tun Sie es!)


Dabei müssen wir gerade für benachteiligte junge Men-
schen und solche mit Lernschwierigkeiten die Chance zu
einer qualifizierten Ausbildung bewahren, zum Beispiel
durch die Schaffung von anr echenbaren Qualifizie-
rungsbausteinen. Eine solche Modularisierung, wie sie
in unserem Antrag, aber auch in den Anträgen der CDU/
CSU und der FDP angedeutet wird, ist für uns ein wich-
tiger Baustein in der beruflichen Bildung.

Trotz vieler Bemühungen drängt es junge Frauen lei-
der immer noch in die klassischen Frauenberufe. Fast
80 Prozent eines jeden Ausbildungsjahr gangs wählen
zwischen nur zehn Berufen. Ganz typisch sind hier Fri-
seurin oder Krankenschwester. Dabei gibt es fast 400 an-
dere Möglichkeiten. Wir wollen durch eine bessere Be-
ratung gezielt auf andere zukunftsfähige Berufe
hinweisen, gerade auch im naturwissenschaftlichen und
technischen Bereich.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


So viel zur Vision, nun zum Konkreten. Liebe Kolle-
ginnen und Kollegen von de r Union, Ihren Antrag habe
ich natürlich mit Interesse gelesen.


(Michael Kretschmer [CDU/CSU]: Das ist doch schon mal was!)


Sie wollen mit – ich zitiere – „vernünftigen Regelungen
zur Ausbildungsvergütung“ mehr Ausbildungsstellen
schaffen. Wollen Sie wirklich neue Ausbildungsplätze
finanzieren, indem Sie de n Jugendlichen das ohnehin
schon knappe Geld kürzen?


(Zuruf von der CDU/CSU: Wir wollen verhindern, dass noch mehr Ausbildungsplätze wegbrechen!)


Aber Sie gehen noch weiter. Sie fordern in Ihrem An-
trag ernsthaft, dass die für Jugendliche bestimmten För-
dermittel des JUMP-Pr ogramms zur Senkung der
Lohnnebenkosten genutzt werden sollen.


(Jörg Tauss [SPD]: Abgeschafft werden sollen!)







(A) (C)



(B) (D)


Grietje Bettin
So viel zum Thema Generationengerechtigkeit. Eine
solche Umverteilung zulasten der jungen Generation
machen wir jedenfalls nicht mit.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Und nun einige W orte zum Antrag der FDP . Es kann
nicht unser Ziel sein, dass die jungen Menschen unter
dem Etikett einer Ausbildung nur noch für die Bedürf-
nisse eines einzelnen Betriebes angelernt werden, wie es
Ihr Antrag zur Folge hätte. Der Arbeitnehmer, der sein
Leben lang in einer Firma arbeitet, gehört der V ergan-
genheit an. Gerade deshalb wollen wir den Jugendlichen
eine vielseitige Qualifikation an die Hand geben, die ih-
nen eine vernünftige Perspektive im Job bietet. Eine
Ausbildung muss so weit standardisiert und objektiviert
sein, dass sie auch für andere Arbeitgeber interessant ist.

Ein sehr ernst zu nehmende s Problem ist, dass laut
IHK derzeit jeder zehnte Betrieb keine qualifizierten Be-
werberinnen und Bewerber zur Ausbildung findet. Dabei
spielen die von PISA aufgezeigten Bildungsdefizite eine
Hauptrolle.


(Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: In der Tat!)


Bund und Länder müssen Hand in Hand gemeinsame
Bildungsstandards erarbeiten, damit wir das allgemeine
Bildungsniveau mittelfristig wieder auf einen akzepta-
blen Stand bringen.

Im Februar 2003 gab es mehr als 54 000 Ausbildungs-
plätze weniger als im Februar 2002. Doch was sind
wirklich die Ursachen? Nicht für alle trägt die Politik die
Hauptverantwortung. So bilden zum Beispiel nur
30 Prozent der Betriebe aus. Hier ist aus unserer Sicht
auch die Wirtschaft in die Pflicht zu nehmen. Wir müs-
sen analysieren, wie sich di e Kosten für die Ausbildung
seit 1969 immer mehr auf die öffentliche Hand verlagert
haben.


(Vorsitz: Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer)


Wir Grünen wollen weitere Anreize dafür schaf fen,
qualifizierte Ausbildungsplätze bereitzustellen. W enn
sich die Einsicht nicht durc hsetzt, dass die Ausbildung
von qualifiziertem Personal letztendlich der W irtschaft
selbst zugute kommt, müssen wir notfalls auch gesetzge-
berisch aktiv werden.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Wir wollen Betrieben aber nicht die Möglichkeit geben,
sich von ihren Ausbildungspflichten freizukaufen. Ziel
muss es bleiben, so viele betriebliche Ausbildungsstellen
wie möglich zu schaffen.

Aus grüner Sicht ist es da rüber hinaus dringend not-
wendig, den Auszubildenden auch den Weg nach Europa
zu öffnen. Dazu brauchen wir unter anderem eine Zerti-
fizierung von Ausbildungsmodulen und die Anerken-
nung von im Ausland erworbenen Qualifikationen.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie mich ab-
schließend noch eine et was versöhnlichere Bemerkung
machen: Die Unterschiede in den Anträgen scheinen mir
durchaus überbrückbar zu sein, sodass wir uns im Aus-
schuss letztendlich vielleicht doch auf eine gemeinsame
Linie für die Zukunft der beruflichen Bildung in
Deutschland einigen können.


(Michael Kretschmer [CDU/CSU]: Dann können Sie ja zustimmen!)


Im Interesse der jungen Menschen sollten wir uns in der
so wichtigen Frage der Ausbildungsreform nicht gegen-
seitig blockieren.

Danke für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1503704800

Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Cornelia Pieper.


Cornelia Pieper (FDP):
Rede ID: ID1503704900

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren!

20 Prozent der Schulabgänger in Deutschland sind nicht
ausbildungsfähig. Rund 14 Prozent haben keinen Be-
rufsabschluss. Das sind die Sozialfälle von mor gen. Ziel
der Politik muss es sein, Rahmenbedingungen dafür zu
schaffen, dass gerade junge Menschen in diesem Land
einen Ausbildungs- und Arbeitsplatz finden.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


In diesem Zusammenhang muss ich Ihnen, meine Da-
men und Herren von der Regierungsbank, bescheinigen,
dass Sie das Ausbildungs- und Arbeitsplatzdesaster in
diesem Land zu verantworten haben. Sie haben Refor-
men verschlafen, und zwar ni cht nur in der Wirtschafts-
und Steuerpolitik, sondern gerade auch in der Bildungs-
politik. Eine Reform der beruflichen Bildung ist über-
fällig. Wir reden schon seit der vorigen Legislatur-
periode davon.


(Beifall bei der FDP – René Röspel [SPD]: Sie reden schon seit 30 Jahren, aber getan haben Sie nichts! – Dr . Uwe Küster [SPD]: T uten können Sie gut, aber Sie tun nichts!)


– Wir haben bereits im Mai 2001 einen konkreten Antrag
vorgelegt. Bitte nehmen Sie das endlich zur Kenntnis!

Frau Bulmahn, wenn Sie die W irtschaft in diesem
Land anklagen, dass sie ihrer Verantwortung nicht nach-
kommt und keine Ausbildungsplätze schaf ft, dann halte
ich das für verantwortungslos von dieser Regierung.


(Jörg Tauss [SPD]: Für berechtigt!)


– Es ist nicht berechtigt, He rr Tauss. Vielmehr sind das
die Auswüchse Ihrer verfehlten rot-grünen Finanz- und
Steuerpolitik und Ihres Bürokratiewustes.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


80 Prozent aller Ausbildun gsplätze entstehen im
Handwerk bzw. in kleinen und mittelständischen Unter-
nehmen. Diese belasten Sie seit Beginn Ihrer Regierung
mit immer mehr Bürokratie und Steuern.






(A) (C)



(B) (D)


Cornelia Pieper

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Dr . Uwe Küster [SPD]: Sie können es noch so oft herauspiepen! Es wird nicht richtig! – W illi Brase [SPD]: Sie zahlen jetzt weniger als bei Ihnen!)


Zurzeit wird im V ermittlungsausschuss immer noch
über das Steuerver günstigungsabbaugesetz mit einer
Mehrbelastung der Wirtschaft in Höhe von 15 Milliarden
Euro verhandelt. Das muss endlich aufhören! Dann er-
halten junge Menschen in diesem Land auch eine
Chance auf einen Ausbildungsplatz.


(Beifall bei der FDP – Hans-W erner Bertl [SPD]: Bleiben Sie be i der Wahrheit! – Jör g Tauss [SPD]: Grober Unfug!)


– Herr T auss, das ist kein grober Unfug, sondern die
Wahrheit. Aber die wollen Sie ja nicht hören. Zurzeit
fehlen 110 000 Ausbildungsplätze. 500 000 Jugendliche
befinden sich derzeit in Er satzmaßnahmen, wie gestern
Herr Alt vom Vorstand der Bundesanstalt für Arbeit im
Ausschuss für Bildung, Fo rschung und Technikfolgen-
abschätzung mitteilte. Da Sie selbst anwesend waren,
sollten Sie sich erinnern.

Die Chancen der Hauptschulabgänger auf dem Aus-
bildungsmarkt haben sich besonders verschlechtert. Ihr
Anteil an den unvermittelten Bewerbern stieg auf nun-
mehr 39,6 Prozent. Das sind rund 2 Prozent mehr als im
Vorjahr. Die Jugendarbeitslo sigkeit – Frau Reiche hat
bereits darauf hingewiesen – stieg dreimal so stark an
wie die allgemeine Arbeitslosigkeit. Das ist das Ergebnis
Ihrer Politik. Wenn Sie in Ihrem Antrag, liebe Kollegen
von der SPD und den Grünen, für eine finanzielle Betei-
ligung nicht ausbildender Be triebe werben, also schon
wieder eine Ausbildungsplatzabgabe von mittelständi-
schen Betrieben in Erwägung ziehen, dann halte ich das
für fatal. So kommen wir in diesem Land nicht weiter.


(Beifall bei der FDP – Jörg Tauss [SPD]: Auch von Großbetrieben!)


– Herr Tauss, begreifen Sie bitte endlich, dass 80 Prozent
aller Ausbildungsplätze nicht in Konzernen und Großbe-
trieben, sondern in kleinen und mittelständischen Betrie-
ben zu finden sind.

Der Anlass unserer heutigen Debatte ist in erster Linie
ein bildungspolitischer und nicht ein wirtschaftspoliti-
scher.


(Dr. Karlheinz Guttmacher aber zusammen!)


– Genau, das hängt zusammen . Arbeit und Bildung be-
dingen in einer W issensgesellschaft einander und sind
nicht voneinander zu trennen.

Deswegen wollen wir heute über die bildungspoliti-
schen Ansätze der Anträge diskutieren. W ir haben eine
zweijährige Grundausbildung mit Qualifizierungsbau-
steinen und einen lebenslang gültigen Ausbildungspass
vorgeschlagen. Wir wollen – das haben auch Sie, Frau
Bulmahn, vorgeschlagen – die Berufsausbildung interna-
tionalisieren, indem wir bestimmte T eilqualifikationen,
so genannte Ausbildungsmodule bzw . -bausteine, im
Ausland erwerben und mit einem Credit-Point-System
für die Berufsausbildung anerkennen lassen.


(Beifall bei der FDP)


Handeln ist gefragt. Wir müssen das Berufsbildungs-
gesetz endlich reformieren und dürfen nicht länger zö-
gern. Auch Sie sind hier gefordert. Wir werden Sie gerne
dabei unterstützen, wenn es darum geht, diese bildungs-
politische Reform auf den Weg zu bringen.


(Dr. Uwe Küster [SPD]: Sie drohen mit Unterstützung! Dann wird es gefährlich!)


Bitte sagen Sie nicht wieder – ich kann mir gut vorstel-
len, dass auch Ihre Gewerkschaftskollegen diesen V or-
wurf erheben werden –, eine zweijährige Grundausbil-
dung sei eine Schmalspurausbildung. W ir diskutieren
nun schon seit Jahren mit den Wirtschaftsverbänden und
dem Mittelstand, aber auch mit dem Bundesinstitut für
Berufsbildung darüber. Professor Dr. Pütz, General-
sekretär dieses Instituts, ha t in einer Anhörung gesagt,
eine Neuordnung müsse dazu führen, dass nach zwei
Jahren ein erster theoriegem inderter Abschluss möglich
sei, der einerseits zur Gese llen- oder Facharbeiterprü-
fung befähige und der andererseits den Einstieg in einen
einfacheren Beruf ermögliche, natürlich immer verbun-
den mit der Aufforderung, sich später voll zu qualifizie-
ren. Er erklärte unter großer Zustimmung der anwesen-
den Vertreter der Handwerks- und Industrieverbände,
dass diese Aufteilung bei der überwiegenden Zahl der
Berufe möglich sei. Ich weiß nicht, warum sich die Ge-
werkschaften dagegen sperren. Es ist doch besser, mit ei-
ner zweijährigen Grundausbi ldung den Einstieg in den
Arbeitsmarkt zu erreichen, als ohne Ausbildung den Ab-
stieg in die Sozialhilfe zu erleiden. Das muss das Ziel
sein.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Es besteht also dringender Handlungsbedarf. Ich kann
Sie, meine Damen und Herren von der Regierung und
auch die Vertreter der Gewe rkschaften, nur auf fordern,
den Weg, den die FDP vor geschlagen hat, zu beschrei-
ten. Es geht uns – das wird dringend benötigt – um mehr
Attraktivität der beruflichen Bildung. Wir brauchen auch
eine Internationalisierung der Berufsausbildung. Bun-
deskanzler Schröder hat im Jahr 2002 allen Jugendlichen
eine Ausbildungsplatzgarantie gegeben. Diese werden
wir nicht einhalten können, we nn es in der beruflichen
Bildung so weitergeht. Wir brauchen eine größere Diffe-
renzierung und Flexibilisierung der Berufsausbildung.


(Beifall bei der FDP)


Wir sind mit diesem starren System nicht in der Lage,
mehr Ausbildungsplätze zu schaffen. Das muss man ein-
fach zur Kenntnis nehmen.

Zum Glück ist nicht jeder Mensch gleich gestrickt. Je-
der von ihnen ist glücklicherweise anders.


(Jörg Tauss [SPD]: Von Ihnen auch!)


Es gibt begabte junge Menschen, die in der Theorie stark
sind, und es gibt begabte junge Menschen, die in der Pra-
xis, zum Beispiel im Handwerk, stark sind – das muss
man anerkennen –, denen man die Chance geben muss,






(A) (C)



(B) (D)


Cornelia Pieper
nach einer zweijährigen Grundausbildung einen Ab-
schluss zu bekommen.


(Jörg Tauss [SPD]: Wie wollen Sie denn einen Elektriker ohne Theorie ausbilden?)


- Herr Tauss, unterstützen Sie unseren Antrag und unter-
stützen Sie endlich die Reform der beruflichen Bildung!
Hören Sie auf mit solchen unsachlichen Zwischenrufen
und hören Sie auf, die nötigen Reformen zu verhindern!


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Lassen Sie mich zum Abschluss noch eines erwähnen
– wir sind Bildungspolitiker –: Natürlich gehört auch die
Qualität der Schulausbildung in Deutschland schon
längst auf den Prüfstand. Da s wissen wir nicht erst seit
den jüngsten PISA-Studien. Wir Liberale haben immer
gesagt: Die Länder müssen ihre Verantwortung über Än-
derungen in den entsprechenden Schulgesetzen wahr-
nehmen; sie müssen die Schulgesetze modernisieren. Es
muss dabei um eine Konzentration auf traditionelle Kul-
turtechniken – Mathematik, Deutsch, Naturwissenschaf-
ten – gehen. Auch die Vermittlung von sozialen Kompe-
tenzen ist ganz wichtig.

Ich will in diesem Zusammenhang noch ein W ort an
die Kollegen von der Union ri chten. Wir haben in die-
sem Haus über bundeseinheitliche Qualitätsstandards für
Schulen diskutiert. Wir wissen dank der internationalen
Bildungsstudien, dass wir bundeseinheitliche Qualitäts-
standards dringend brauchen. Ich möchte Sie davor war-
nen, den Kurs der unionsgeführten Länder , der einen
Ausstieg aus der Bund-Länder -Vereinbarung über Bil-
dungsplanung vorsieht, zu unterstützen. W enn wir die-
sem Kurs folgen, fallen wir international wieder zurück.


(Beifall bei Abgeordneten der FDP, der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Wir brauchen die Bund-Länder -Vereinbarung über Bil-
dungsplanung. Jedenfalls wir Liberale werden dafür ein-
treten.

Vielen Dank.


(Beifall bei der FDP – Jörg Tauss [SPD]: Eine einzige richtige Aussage, Frau Pieper , und die war zitiert!)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1503705000


Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Willi Brase.


Willi Brase (SPD):
Rede ID: ID1503705100


Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kol-
legen! Sehr geehrte Damen und Herren! Die aktuelle
Ausbildungssituation


(Zuruf von der CDU/CSU: Katastrophal!)


und das, was die Bundesregierung tun kann, hat Frau
Ministerin Bulmahn eindeutig dar gestellt. Es wird Sie
nicht verwundern, dass wir ihre Aktivitäten bezüglich
der Ausbildungsoffensive sicherlich unterstützen wer-
den.
Ich möchte auf das zurü ckkommen, was in dieser
Runde teilweise dar gestellt wurde. W er in Bezug auf
JUMP so tut, als hätte dieses Programm nichts gebracht,
der hat vergessen, dass wir mit diesem zunächst steuer -
und dann über die BA in Nürnber g finanzierten Pro-
gramm weit über 500 000 Jugendliche angesprochen ha-
ben, die sonst in der Versenkung verschwunden wären.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Auch das war eine notwendige staatlich Leistung.


Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1503705200

Herr Tauss, möchten Sie eine Zwischenfrage stellen?


(Jörg Tauss [SPD]: Ja!)


Ich dachte, Sie wollten stehend klatschen.


(Heiterkeit)


Herr Brase, gestatten Sie eine Zwischenfrage von
Herrn Tauss? – Das ist der Fall.

Herr Tauss, Sie haben das W ort zu einer Zwischen-
frage.


Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1503705300

Frau Präsidentin, Standing Ovations kommen in die-

sem Hause gelegentlich vor. Auch der Kollege Brase hat
sie verdient.

Herr Kollege Brase, Sie haben gerade auf das JUMP-
Programm hingewiesen. Ic h möchte Sie gerne fragen
– ich teile Ihre Einschätzung dieses Programms –, wie
Sie den Widerspruch beurteilen, der dadurch zum Aus-
druck kommt, dass die Union in ihrem Antrag die Ab-
schaffung des JUMP-Programms verlangt, gleichzeitig
aber gestern im Gespräch mit dem V izepräsidenten der
Bundesanstalt für Arbeit kritisiert hat, dass das JUMP-
Programm nicht hinreichend ausgefüllt werde. Wie beur-
teilen Sie diesen W iderspruch im Zusammenhang mit
dem hier Ausgeführten?


Willi Brase (SPD):
Rede ID: ID1503705400

Es ist sicherlich nicht meine Aufgabe, zu klären, wel-

che Widersprüche die Union mit sich und in sich trägt.
Es fällt natürlich auf, da ss Unionspolitiker fordern,
JUMP abzuschaffen, in ihren W ahlkreisen aber gleich-
zeitig feststellen müssen, dass man aufgrund einer man-
gelnden Ausbildungsbereitschaft bestimmter Betriebe
und Branchen doch zusätzliches öf fentliches Geld
braucht, damit man einen Erfolg verkaufen kann. W er
eine solche Politik formuliert, der macht es sich, wie ich
finde, ein bisschen einfach.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Ich will in dieser Diskussion darauf eingehen, wo die
Unterschiede liegen und wo ein Systemwechsel in der
beruflichen Bildung vorbereitet werden soll. Frau Pieper,
Sie haben gesagt, Reformbedarf sei gegeben. Dem kann
ich durchaus zustimmen. Ich möchte aber darauf verwei-
sen, dass dieser Reformbedarf nicht erst seit den letzten






(A) (C)



(B) (D)


Willi Brase
fünf Jahren, sondern schon se it zehn oder 15 Jahren be-
steht. Die Einheit wäre eine gute Chance gewesen, auf
diesem Gebiet einige V erbesserungen auf den W eg zu
bringen.


(Beifall bei der SPD)


Ich möchte nun etwas deutlicher auf die Kernaussa-
gen Ihres Antrages eingehen. Die erste Aussage lautet:

Der Grundgedanke einer Reform ist die Gliederung
der Ausbildung in flexible Grund- und Qualifizie-
rungsbausteine.


(Cornelia Pieper [FDP]: Richtig!)


Dabei sollen – ich zitiere er neut – „die Ausbildungsord-
nungen auf Grundanforderungen“ beschränkt werden.

Ihre zweite Aussage macht dies noch deutlicher: Mit
dieser Neugliederung der Ausbildung werden den Unter-
nehmen „Möglichkeiten eröffnet, neue Berufsausbildun-
gen ... zu entwickeln“. Dies e Aussage, aber auch die
Diktion des Antrages im Übrigen zeigen, dass die Ge-
werkschaften als Partner bei der Neuor ganisation außen
vor bleiben.

Die Fraktion der FDP will uns hier zwei Forderungen
präsentieren: Erstens soll das auf dem Berufskonzept ba-
sierende duale System zerlegt und durch ein System von
Grund- und Qualifizierungsb austeinen ersetzt werden.
Zweitens soll diese Zerleg ung und Ersetzung allein von
den Unternehmen auf den W eg gebracht werden. Dafür
steht die Formulierung, die Neugliederung solle „in
möglichst großer Eigenverantwortung der Unternehmen
und der Sozialpartner“ stattfinden.


Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1503705500

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der

Kollegin Pieper?


Willi Brase (SPD):
Rede ID: ID1503705600

Selbstverständlich.


Cornelia Pieper (FDP):
Rede ID: ID1503705700

Herr Kollege, Sie erinnern sich sicherlich, dass ich

hier Herrn Professor Pütz, den Generalsekretär des Bun-
desinstituts für Berufsbildung, zitiert und mich auf eine
Anhörung bezogen habe, die mit dem Zentralverband
des Handwerks und anderen Wirtschaftsverbänden statt-
gefunden hat. Wenn also all diese Sachverständigen eine
Grundausbildung und Qualifizierungsbausteine – Sie
selbst haben in Ihrem Antrag formuliert, dass Sie eine
Reform in diese Richtung an streben – für richtig halten,
warum stellen Sie es dann infrage? Dies ist keine reine
FDP-Position, sondern eine Position von Bildungs- und
Wirtschaftsexperten, die international vertreten wird und
die jungen Menschen mehr Chancen auf dem Ausbil-
dungsmarkt geben wird.


Willi Brase (SPD):
Rede ID: ID1503705800

Frau Pieper, Sie sollten zur Kenntnis nehmen, dass

wir mittlerweile 28 Ausbil dungsberufe mit zwölf Ab-
schlüssen auf der ersten Stufe nach zwei Jahren und
16 Abschlüssen auf der zweiten Stufe nach drei Jahren
haben. Ich nenne Ihnen als ein Beispiel den Ausbaufach-
arbeiter mit den Ausbildungsstufen Trockenbaumonteur,
Wärme-, Kälte- und Schallschutzisolierer , Estrichleger,
Fliesen-, Platten- und Mosaikleger, Stuckateur, Zimmer-
mann/Zimmerin, Textilmaschinenführer usw. Nur bin
ich der Auffassung – ob sie auch von anderen Verbänden
getragen wird, interessiert mich an dieser Stelle nicht –,
dass wir für die jungen Leute heute eine vernünftige und
qualifizierende Berufsausbildung brauchen, die auch das
Berufskonzept beinhaltet. Sie selber schreiben in Ihrem
Antrag, dass für lernschwächere Jugendliche die Mög-
lichkeit gegeben sein müsse, über eine dreieinhalbjäh-
rige Ausbildungsphase das zu erreichen, was andere
vielleicht in drei Jahren schaffen. Diesen W iderspruch
müssen Sie also schon aufklären.


(Beifall bei der SPD)


Ich sage ganz deutlich, dass ich glaube – das ist mir
bei Ihrem Antrag klar geworden –, dass die FDP die Be-
teiligung von Gewerkschaften ein Stück weit beseitigen
will. Sie will das alleinige Unternehmerrecht. Dabei fällt
mir natürlich das ein, was Ihr Parteivorsitzender und an-
dere seit Wochen und Monaten behaupten: Die Gewerk-
schaften seien eine Plage für unserer Land. Der Kurs, der
auch in diesem Antrag zu m Ausdruck kommt, belegt,
dass nicht die Gewerkschaft en, sondern Sie die T oten-
gräber unseres Systems der beruflichen Bildung sind.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Sie haben Qualifizierungsbausteine und -module und
im Zusammenhang damit den Streitpunkt der V erkür-
zung der Ausbildungsdauer angesprochen. Darauf bin
ich eben eingegangen. Ohne Zweifel brauchen wir die
Flexibilisierung der Ausb ildungswege und die Er gän-
zung der Ausbildungsordnung durch mehr Bausteine ge-
rade für lernschwache und arbeitsmarktferne Jugend-
liche.


(Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Wie lange regieren Sie?)


Ich glaube aber , dass die Op position dies nicht richtig
wertet. Die Bundesregierung tut auf diesem Feld ihre
Pflicht. Sie will die Möglichke iten gestufter Ausbildung
ausbauen, wie sie heute sc hon nach § 26 BBiG existie-
ren; Beispiele dazu habe ich eben dargelegt.

Allerdings hat dies aus un serer Sicht innerhalb des
Systems des Berufskonzeptes stattzufinden. Diese Ab-
stufungen und Qualifizier ungsbausteine müssen genau
zu dem Ziel führen, dass am Ende die Beruflichkeit und
das Berufskonzept stehen, damit gerade jüngere Leute
mit Schwächen ebenfalls eine Chance haben, ihre Be-
schäftigungsfähigkeit langfristig auch durch lebensbe-
gleitendes Lernen zu behalten bzw. immer wieder zu er-
langen.


(Beifall bei der SPD)


Meine Damen und Herren, die CDU/CSU singt in ih-
rem Antrag unter anderem das Lied der Erprobungsver-
ordnungen nach § 28 BBiG; sie zielt auf die Möglichkeit,
Ausbildungsordnungen ohne Konsens der Sozialpartner






(A) (C)



(B) (D)


Willi Brase
zu erlassen. Dies sollten wir nur in Ausnahmefällen zu-
lassen; denn wir sind der Au ffassung, dass dadurch die
Situation auf dem Ausbildungs stellenmarkt nicht rele-
vant verändert wird. Mögliche rweise haben Sie aber et-
was anderes im Hinterkopf und wollen auch hier ein
Stück weit einen Systemw echsel auf den W eg bringen.
Ich bleibe dabei: Ein Sammelsurium von Bausteinen und
Modulen können wir nicht gebrauchen; vielmehr sollten
und müssen wir dies gemein sam mit den Sozialpartnern
– dazu gehören natürlich die Gewerkschaften – vernünf-
tig auf den W eg bringen. Dies ist notwendig und wird
auch geschehen.

Ich glaube, dass die Diskussion über die Finanzie-
rungsfrage in den nächsten W ochen und Monaten span-
nend werden wird. Wenn wir uns die vorläufigen Berech-
nungen des BIBB und des Bundesministeriums für
Bildung und Forschung zu Gemüte führen, dann stellen
wir fest, dass die Unternehme n, die derzeitig ausbilden,
dafür netto circa 14 Milliarden Euro aufwenden. Die öf-
fentliche Hand – Bund, Länder, Kommunen und die euro-
päische Ebene – ergänzt dies mit fast 6 Milliarden Euro.
Angesichts dessen kann ich nur sagen, dass dieses V er-
hältnis sehr ungesund ist und dass Unternehmen – vor
allem die, die ausbildungsfähig sind – endlich einen wei-
teren zusätzlichen Beitrag zur Schaf fung von Ausbil-
dungsplätzen leisten müssen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Man muss darüber nachdenke n, ob es hierbei nicht
Sinn macht, auch eine Bonus-Malus-Regelung auf den
Weg zu bringen. Dies bedeut ete, dass diejenigen Unter-
nehmen, die Ausbildungsplät ze zur Verfügung stellen,
unterstützt würden und sozu sagen einen Bonus hätten,
während diejenigen, die dies ebenfalls könnten und es
aber – aus welchen Gründen auch immer – nicht ma-
chen, ein Stück weit die fina nziellen Lasten mit zu tra-
gen hätten.


(Ilse Falk [CDU/CSU]: „Aus welchen Gründen auch immer“ gilt nicht!)


Wir können dies nicht einseitig nur der öf fentlichen
Hand, der Politik, den verschiedenen Ebenen aufbürden.
Das werden wir zukünftig nicht mehr mitmachen.


(Beifall bei der SPD – Hartmut Schauerte [CDU/ CSU]: Neue Lasten oben drauf!)


– Ich wäre etwas vorsichtig, von neuen Lasten zu spre-
chen. Denn ich sehe, wie dies teilweise hervorragend in
der Bauindustrie und anderen Bereichen läuft. Es gibt
also Beispiele, über die man nachdenken muss.

Lassen Sie mich noch ein, zwei Punkte ansprechen. In
der Reform der beruflichen Bildung ist wichtig, sich dar-
über zu verständigen, dass die Verantwortung und die
Möglichkeiten in den Regionen stärker beachtet werden.
Ich plädiere nachdrücklich dafür, dass wir die Rolle, die
Funktion und die Mitwirkungs- und Mitbestimmungs-
möglichkeiten der örtlichen Berufsbildungsausschüsse
erhöhen, dass wir da, wo es notwendig ist, regionale
Partner mit ins Boot nehmen. Denn ich glaube, dass sie
am besten wissen, wie berufliche Bildung umgesetzt
werden kann und wie wir es schaffen, den Menschen zu-
sätzliche Formen und Möglichkeiten anzubieten.

Meine Damen und Herren, die aktuelle Ausbildungs-
krise ist nach unserer Auf fassung im Wesentlichen kon-
junkturbedingt. Sie kann m itnichten der Bundesregie-
rung angelastet werden, wie es die Opposition gern tut.
Diese Krise sollte ein Anlass dafür sein, eine Of fensive
in der beruflichen Bildung zu führen. W ir haben den
Eindruck, dass seit längerer Zeit, seit Mitte der 90er -
Jahre, das duale System of fensichtlich an Attraktivität
eingebüßt hat. Ein wesent liches Ziel bei der Debatte
sollte sein – das werden wir auf den Weg zu bringen ha-
ben –, die Attraktivität des dualen Systems für die jun-
gen Leute zu verbessern. Wir brauchen eine Renaissance
des Facharbeiters, der im dualen Ausbildungssystem
fachlich ausgebildeten Jugendlichen. Es muss klar sein,
dass das duale Ausbildungssystem mit seiner Dif feren-
ziertheit, mit dem Berufsko nzept, mit der Übertragbar-
keit, auch hinsichtlich der europäischen Komponente,
eine echte Alternative zum Studium und zu einer rein
schulischen Laufbahn für junge Leute ist. W enn uns ge-
lingt, das umzusetzen, dann – da bin ich mir sicher –
werden wir auch wieder me hr Ausbildungsplätze erhal-
ten.


(Abg. Cornelia Pieper [FDP] meldet sich zu einer Zwischenfrage)


Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1503705900

Frau Pieper, es tut mir Leid. Es hat schon heftig ge-

blinkt. Möchten Sie eine Kurzintervention machen? –
Nein.

Dann hat der Kollege Hinsken das Wort.


Ernst Hinsken (CSU):
Rede ID: ID1503706000

Werte Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kol-

legen! Herr Kollege Brase, ich pflichte Ihnen bei, wenn
Sie sich eindeutig für das duale Berufsausbildungssys-
tem aussprechen. Da gibt es Gemeinsamkeiten. An dem
System sollte man festhalten . Verehrte Frau Ministerin
Bulmahn, es ist richtig, wenn Sie sagen, dass gerade die
Ausbildung eine der wichtigst en gesellschaftlichen He-
rausforderungen für uns ist. Auch darüber besteht Kon-
sens. Diese Debatte heute is t aber angesetzt worden, um
einmal genau zu durchleuchten, wo Fehler gemacht wor-
den sind, wo angesetzt werden muss, um wieder mehr
Ausbildungsplätze zu schaffen und vielen Jugendlichen
wieder Perspektiven zu geben, woran es momentan ja
mangelt.

Zu diesem Zeitpunkt gibt Herr Gerster im Rahmen ei-
ner Pressekonferenz die neuen Arbeitsmarktzahlen be-
kannt. Wenn wir leider fest stellen müssen, dass auch zu
Beginn des Frühjahrs die Arbe itslosigkeit fast nicht zu-
rückgeht, wenn die Zahl der Arbeitslosen insgesamt bei
über 4,6 Millionen liegt, wenn 580 000 jugendliche Ar-
beitslose unter 25 Jahren verzeichnet werden müssen,






(A) (C)



(B) (D)


Ernst Hinsken
dann stimmt das mehr als nachdenklich; es ist katastro-
phal. Es ist alles zu tun, da mit das möglichst schnell ge-
ändert wird.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Es sind 580 000 Einzelschicksale junger Men-
schen. Das sind, verehrte Frau Ministerin Bulmahn,
212 000 mehr, als es 1998 – da haben Sie die Regie-
rungsgeschäfte übernommen – waren.


(Edelgard Bulmahn, Bundesministerin: Das stimmt nun wiederum nicht!)


Das Ausbildungsstellenangebot sinkt radikal, insbe-
sondere in den neuen Bundesländern.


(Jörg Tauss [SPD]: Das stimmt nicht!)


Im Jahr 2002 gab es 6,8 Prozent weniger Ausbildungs-
verträge. Viele Jugendliche verlieren den Glauben an
den Staat, weil so viel ve rsprochen wurde und zu guter
Letzt nichts gehalten wurde.

Sie, verehrte Kolleginnen und Kollegen, ganz gleich,
von welcher Seite des Hauses, erleben sicherlich das
Gleiche wie ich, nämlich dass sich in den Sprechstun-
den, die wir immer wieder du rchführen, Eltern einfin-
den, die den Jungen oder das Mädchen dabeihaben und
händeringend darum ersuchen, man möge doch mithel-
fen, dass das Kind endlic h einen Ausbildungsplatz be-
kommt, den es dringend braucht, um für das Leben ge-
rüstet zu sein. Ihnen zu helf en ist nur zum Teil möglich,
weil nur noch 30 Prozent der Betriebe ausbilden. W a-
rum? – Weil die Lage für sie so schlecht geworden ist,


(Ulla Burchardt [SPD]: Da ist doch Unfug!)


weil viele Betriebe aufgrund verfehlter W irtschaftspoli-
tik inzwischen Bankrott gegangen sind. Daraus resul-
tiert, dass 48 Prozent der Jugendlichen keinen Ausbil-
dungsplatz mehr finden.

110 000 betriebliche Ausb ildungsplätze fehlen. Über
50 Prozent der Jugendlichen befinden sich nicht in regu-
lären Ausbildungsverhältnissen, sondern in staatlich fi-
nanzierten Ersatzmaßnahmen bzw. in der Warteschleife.
Heute ist von den verschiedensten Rednern von Ihrer
Seite, aber auch von Frau Mi nisterin herausgestellt wor-
den, dass das JUMP-Programm ein Allheilmittel für
die Jugendarbeitslosigkeit war und ist. So wurde es ein-
mal angepriesen. In der Zwischenzeit hat es Milliarden
von D-Mark, Jahr für Jahr 1 Milliarde DM, gekostet.
Jetzt stellen wir fest, dass das JUMP-Programm nicht
das bewirkt hat, was man erwartet hat, und dass die Ju-
gendarbeitslosigkeit damals, bevor das JUMP-Pro-
gramm aufgelegt worden ist, niedriger war, als sie jetzt
ist.

Gerade für Jugendliche mit Hauptschulabschluss, die
auch eine Zukunftsperspek tive wollen, haben sich die
Chancen auf dem Ausbildungsmarkt deutlich ver-
schlechtert. Die Bundesregierung liefert immer neue
Kreationen und auch in der Namensgebung für Gesetze
sind Sie sehr erfinderisch. So haben Sie ein Programm
„Kapital für Arbeit“ aufgelegt. Doch daran, dass Ausbil-
dungsplätze durch Kredite finanziert werden müssen, er-
kennt man, dass die deutschen Ausbildungslokomotiven,
Mittelstand und Handwerk, herunter gewirtschaftet wor-
den sind.


(Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Muss man sich einmal vorstellen! – Nicolette Kressl [SPD]: Der Zusammenhang ist unzulässig!)


Heute, verehrte Ministerin Bulmahn, schlagen Sie
nun vor, die Geltung der Ausbilder-Eignungsverord-
nung für fünf Jahre auszusetzen. Auf einen besonderen
Nachweis der Eignung zum Au sbilder sollte Ihrer Mei-
nung nach also verzicht et werden. Dadurch sollen
20 000 zusätzliche Ausbildun gsplätze geschaffen wer-
den. Es ist natürlich zu be grüßen, wenn dadurch zusätz-
liche Ausbildungsplätze, un d zwar auf dem ersten Ar-
beitsmarkt, entstehen. Dass sich damit allerdings die
angespannte Lehrstellensituation verbessern lässt, ist un-
wahrscheinlich, denn Lehrstellen fehlen deshalb, weil
die Unternehmen aufgrund der katastrophalen W irt-
schaftspolitik von Rot-Grün nicht mehr in dem Maße
wie früher ausbilden. Der Rückgang bei der Zahl der
Lehrstellen liegt deshalb nicht in erster Linie an der Aus-
bilder-Eignungsverordnung, sondern an den katastropha-
len Wirtschaftsbedingungen, die wir haben.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Gerade im Handwerk bringt eine solche Änderung auf
dem Lehrstellensektor keine Erleichterung, denn in allen
derzeit nicht ausbildenden Betrieben wird durch die
Meisterprüfung bereits das Erfordernis der berufs- und
arbeitspädagogischen Prüfung erfüllt und auch alle Exis-
tenzgründer im Handwerk, bei denen ein Betrieb von ei-
nem Meister bzw. von einer fachlich geeigneten Person
geleitet wird, bringen diese V oraussetzung mit. Das
Handwerk ist somit zunächst einmal dringend darauf an-
gewiesen, dass es beispiel sweise durch Reformen bei
den Sozialsystemen entlastet wird. Das ist das Gebot der
Stunde.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Andere Bereiche der W irtschaft warten nun ab, wie
sich die von Ihnen angekündigten Maßnahmen konkret
auswirken. Gerade der Mittelstand hat schlechte Erfah-
rungen mit der Ankündigungspolitik der Regierung
Schröder gemacht, die v on Ihnen, meine Damen und
Herren, gestützt wird. Mor gens ankündigen, mittags re-
lativieren und am Abend zurückziehen. Ich bin neugie-
rig, wie das bei dem, was Sie jetzt wieder angekündigt
haben, läuft. Deshalb fordere ich Sie, verehrte Frau Mi-
nisterin, auf, diesen Vorschlag umgehend zu konkretisie-
ren, damit sich die Betriebe und die einen Ausbildungs-
platz suchenden jungen Mens chen darauf einstellen
können.

Der wichtigste Ausbilder in der Bundesrepublik
Deutschland – das steht ja unbestritten fest; das wurde
öfter schon zum Ausdruck gebracht – ist und bleibt der
Mittelstand. Den aber hat man nicht gepflegt, sondern
systematisch vor die W and gefahren. Insolvenzen über
Insolvenzen.


(Willi Brase [SPD]: Quatsch! Zahlen lesen! Unglaublich!)







(A) (C)



(B) (D)


Ernst Hinsken
Ein Pleite gegangener Betrieb kann nämlich keine Aus-
bildungsplätze mehr zur Verfügung stellen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Alleine in der Baubranche sind nämlich in den beiden
letzten Jahren über 18 000 Betriebe von der Bildfläche
verschwunden.

Ich meine, die wichtigste Maßnahme zur Schaf fung
neuer Ausbildungsplätze wäre die Herbeiführung eines
Wirtschaftsaufschwungs. Denn ohne W irtschaftsauf-
schwung gibt es keinen Au fschwung auf dem Lehrstel-
lenmarkt, den wir so dringend brauchen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Darum müssen sich unsere V orstellungen durchsetzen.
Wir müssen möglichst bald das, was S ie hier aufgelegt
haben, korrigieren.


(Jörg Tauss [SPD]: Welche Vorstellungen? Die von Stoiber, die von Merkel oder die von Merz?)


– Herr Tauss, passen Sie ei nmal auf! Ich gehe ja davon
aus, dass Sie bei dem Antrag, den SPD und Grüne einge-
bracht haben, haben mitarb eiten dürfen. Da heißt es
nämlich:

In den vergangenen Jahren ist es gelungen, die Aus-
bildungschancen junger Menschen deutlich zu ver-
bessern.


(Willi Brase [SPD]: Richtig! – Zuruf von der CDU/CSU: Der blanke Hohn!)


Das Bild, das da gezeichnet wird, ist realitätsfern und
entspricht nicht der W ahrheit. Sie leben doch in einer
völlig anderen Welt und haben den Bezug zur Realität,
also zu dem, was draußen los ist, verloren.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Der Bundeskanzler hat seinerzeit gesagt: Jeder Jugend-
liche, der einen Ausbildungsplatz braucht, wird einen
Ausbildungsplatz bekommen. – Diese Blase ist geplatzt.
Die Regierung, die den Karren in den Dreck gefahren hat,
kommt mit den führenden Leuten der SPD-Fraktion daher
und droht den Unternehmen, sie hätten in Zukunft eine
Ausbildungsplatzabgabe zu bezahlen, wenn sie nicht be-
reit seien, auszubilden. So etwas Unverfrorenes ist mir
zeit meines Lebens noch nicht untergekommen.


(Lachen bei der SPD)


Ich weiß, jeder Betrieb ist be reit, auszubilden, aber er
muss diese Ausbildung auch leisten können.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Meine Damen und Herren, lassen Sie mich deshalb
kurz zusammenfassen, was meiner Meinung nach getan
werden muss; denn die Modernisierung des Systems der
beruflichen Ausbildung ist die Kernfrage für die Zukunft
der dualen Berufsausbildung in Deutschland. Um dieses
System werden wir weltweit beneidet. V iele Länder ko-
pieren es und das soll weiterhin so bleiben.

Deshalb fordern wir erstens die Umgestaltung derje-
nigen tarifrechtlichen Regelungen, die sich, weil die
Übernahmegarantie für ein Jahr nach der Ausbildung
Bedingung ist, als Hemmnis bei der Einstellung von
Auszubildenden erweisen. Die Tarifparteien sind aufge-
fordert, diese Hemmnisregelungen zu ändern.

Zweitens.


Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1503706100

Herr Kollege Hinsken, wie viele Punkte haben Sie

noch? Die Zeit ist schon um.


Ernst Hinsken (CSU):
Rede ID: ID1503706200

Nur noch neun.


(Heiterkeit bei der CDU/CSU)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1503706300

Das ist unmöglich. Sie habe n nur noch einen letzten

Satz, bitte.


Ernst Hinsken (CSU):
Rede ID: ID1503706400

Dann geht es uns darum, das erfolglose JUMP-Pro-

gramm zugunsten einer Senkung des Beitrags zur Ar-
beitslosenversicherung zu streichen und eine konse-
quente Modernisierung der Ausbildungsordnungen im
Hinblick auf Differenzierung und Flexibilisierung sowie
hinsichtlich der Ausbildungsdauer und der Praxisorien-
tierung aufzulegen.

Meine Damen und Herren, ich meine, wenn richtig
angesetzt wird, dann werden wieder Ausbildungsplätze
geschaffen. Richtig angesetzt wird dann, wenn eine ver-
nünftige Wirtschaftspolitik gemacht wird. Dazu waren
Sie bisher nicht in der Lage . Sie haben uns so weit ge-
bracht, dass wir heute leider in einem solchen Dilemma
stecken.

Lassen Sie uns – das sage ich vor allen Dingen an die
rechte Seite des Hauses gewandt – über den Bundesrat
und da, wo es sonst möglich ist, alles daransetzen, dass in
der Bundesrepublik Deutschland die Ausbildungsplatzsi-
tuation der jungen Leute in Zukunft wieder besser wird,
als es in den letzten viereinhalb Jahren der Fall war.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1503706500

Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Thea Dückert.


Dr. Thea Dückert (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1503706600

Frau Präsidentin! Sehr verehrte Kolleginnen und Kol-

legen! In einer Sache sind wir uns einig, sogar mit Herrn
Hinsken, Frau Reiche und Frau Pieper: Es ist klar , dass
ein Sinken der Zahl der Ausbildungsplätze und die ge-
ringe Zahl von Betrieben, die ausbilden, nämlich nur
30 Prozent, von uns nicht zu akzeptieren sind.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Aber ich glaube, da hört es mit der Einigkeit auch schon
auf, wie ich feststelle, wenn ich mir das zu Gemüte führe,
was Frau Reiche hier vorgetragen hat. Frau Reiche hat ge-
sagt, man solle weder in dieser Situation noch grundsätz-






(A) (C)



(B) (D)


Dr. Thea Dückert
lich Lösungen finden, die auf dem Rücken der Jugendli-
chen ausgetragen werden. Richtig, Frau Reiche! Aber im
gleichen Atemzug – das vers tehe ich überhaupt nicht –
sprechen Sie sich hier zum wiederholten Mal gegen das
Jugendsofortprogramm, das JUMP-Programm, aus. Sie
wollen das JUMP-Programm streichen, um die Lohnne-
benkosten zu senken. Ich füge in Klammern hinzu: Aber
die Ökosteuer, durch die die Lohnnebenkosten gesenkt
werden, wollen Sie abschaf fen. Wir müssen viele Wege
für die Bereitstellung von Ausbildungsplätzen finden, um
aus der momentanen S ituation herauszukommen. Aber
wenn Sie gerade jetzt den Jugendlichen, die aufgrund der
geringen Zahl von Angeboten keinen Ausbildungsplatz
finden, auch noch das JUMP-Programm streichen wollen,
ist das auf Kosten der Jugendlichen gedacht.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Mit dem JUMP-Programm sind über 500 000 Jugend-
liche erfasst und 60 000 betriebliche sowie 37 000 au-
ßerbetriebliche Ausbildungsplätze geschaffen worden.
Ich sage ausdrücklich: Die betrieblichen Ausbildungs-
plätze sind für die Jugend lichen natürlich das W ich-
tigste. Aber mit dem JUMP-Programm sind durch eine
aufsuchende Sozialarbeit auch Jugendliche erreicht wor-
den, die arbeitsmarktfern waren und die schon keinen
Ausbildungsplatz mehr gesucht haben, weil sie die Hoff-
nung aufgegeben hatten. Der Weg, den dieses Programm
geht, ist beschwerlich; deswegen sind die Erfolge, die
damit erreicht worden sind, umso wichtiger.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Wir müssen in dieser Situation alles daransetzen, da-
mit die Bundesanstalt für Arbeit die Mittel, die für das
JUMP-Programm angesetzt sind, auch wirklich einsetzt.
Die Gelder müssen voll ausg eschöpft werden, und zwar
zügig, damit an die Träger der Projekte in der Jugendar-
beit das Signal ausgesendet wird, dass sie weiterhin tätig
bleiben müssen, weil wir sie brauchen werden. Auch
wenn die vielen Maßnahmen, die die Ministerin hier
vorgeschlagen hat, greifen, werden wir angesichts der
wirtschaftlichen Situation, die durch den Irakkrieg noch
verschärft wird, weiterhin die Angebote brauchen, wel-
che über die Träger als Projekte für Jugendliche in Aus-
bildungsmaßnahmen bereitgestellt werden. Deswegen ist
für uns natürlich die derzeitige Situation nicht zu akzep-
tieren, wo zum Beispiel Modellprojekte für Jugendliche,
die gut angenommen worden sind, abgebrochen werden.
An dieser Stelle müssen wir Abhilfe schaffen.

Ein weiteres Problem besteht darin, dass sich im Mo-
ment sowohl Kommunen, die Projekte für Jugendliche
angeboten haben, als auch Länder aus der Kofinanzie-
rung zurückziehen.


(Michael Kretschmer [CDU/CSU]: W eil sie kein Geld haben, Frau Kollegin! – Gegenruf des Abg. Willi Brase [SPD]: Die kriegen doch gerade Geld!)


Baden-Württemberg zum Beispiel hat diese Projekte
vollständig gestrichen. Obwo hl alle wissen, dass wir
diese Projektangebote auch nach den Reformen in der
Arbeitsmarktpolitik weiter brauchen, wird ihnen jetzt der
Boden entzogen. Ich glaube, dass wir in der jetzigen Si-
tuation, in der wir durch ein ungeheures Reformwerk an
vielen Stellen gleichzeitig Baustellen haben, darauf ach-
ten müssen, dass nicht auf der einen Seite alte Strukturen
schon abgebaut werden, bevor die Bundesregierung auf
der anderen Seite neue Strukturen aufgebaut hat.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Wir müssen aber gleichzeitig die Voraussetzungen da-
für schaffen, dass sich der Anteil der Betriebe, die aus-
bilden, von mickerigen 30 Prozent, die im Moment er-
reicht werden, erhöht. Die Ministerin hat die ehr geizige
Zielmarke von 40 Prozent genannt. Dafür muss viel ge-
tan werden. Wir müssen die Zahl der Ausnahmegeneh-
migungen für Ausbildungsbet riebe mindestens verdop-
peln. Ich halte es zum Beispiel auch für völlig
anachronistisch, weiterhin am Meisterbrief als V oraus-
setzung für Ausbildung festzuhalten. Das alles sind Hür-
den, die Sie weiter pflege n wollen, die aber abgebaut
werden müssen, um in weit eren Betrieben Ausbildungs-
möglichkeiten zu schaffen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Wir müssen auch das Angebot der modularen Aus-
bildung ausweiten. Das ist für beide Seiten wichtig, so-
wohl für die Betriebe als auch für die Jugendlichen. In
der Biografie eines jungen Mens chen ist es sehr proble-
matisch, wenn er es nicht sc hafft, eine begonnene Aus-
bildung zu Ende zu führen . Wenn er eine Ausbildung
zum Beispiel wegen der zu hohen Anforderungen im
theoretischen Teil nach einem Jahr abbricht, steht er mit
leeren Händen da.


Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1503706700

Achten Sie bitte auf die Zeit, Frau Kollegin!


Dr. Thea Dückert (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1503706800

Ja, Frau Präsidentin, ich ende auch mit einem theoreti-

schen Teil. Ich will an dieser Stelle nur noch sagen, dass
diese Jugendlichen mit der modularen Ausbildung in ei-
nem solchen Fall etwas in die Hand bekommen sollten,
woran sie an einem späteren Punkt ihrer Lebensplanung
anknüpfen können, sodass auch eine nicht abgeschlos-
sene Ausbildung eine weitere Einstiegsmöglichkeit in die
berufliche Bildung bietet.

Schönen Dank.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1503706900

Eine Kurzintervention des Kollegen Tauss.


Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1503707000

Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Herr Kollege

Hinsken, Sie haben im Hinblick auf unseren Antragstext
behauptet, die Zahlen bez üglich der Ausbildungsjahre






(A) (C)



(B) (D)


Jörg Tauss
2000 und 2001 seien falsch. Ich will aus diesem Grunde
noch einmal ausdrücklich bekr äftigen, dass es – im Ge-
gensatz zu Ihrer Regierungszeit bis 1998 – in den Jahren
2000 und 2001 unter unser er Regierungsverantwortung
in Zusammenarbeit mit der W irtschaft tatsächlich er-
reicht werden konnte, in diesem Land eine ausreichende
Zahl von Ausbildungsplätzen zur V erfügung zu stellen.
Insofern bitte ich Sie, diese Behauptung zurückzuziehen.
Das zum Ersten.

Zum Zweiten bitte ich Sie einfach, zur Kenntnis zu
nehmen, dass allein aufgrund des JUMP-Programmes
mehr als 60 000 Ausbildungsplätze geschaf fen werden
konnten. Obwohl JUMP ke in Ausbildungsplatzpro-
gramm ist, hat sich diese W irkung ergeben. Aus diesem
Grunde habe ich einfach die Bitte, auch mit Rücksicht
auf die betroffenen Jugendlichen, endlich davon abzuse-
hen, das Programm JUMP in dieser Form zu diskreditie-
ren und mit falschen Zahlen in der Öffentlichkeit falsche
Eindrücke zu erwecken.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Ernst Hinsken (CSU):
Rede ID: ID1503707100


Herr Kollege Tauss, ich habe aus Ihrem Antrag zitiert,
der am 1. April verfasst wurd e. Seien Sie froh, dass ich
nicht noch mehr Stellen zitiert habe, sonst müssten Sie in
Sack und Asche gehen. Ich will aber noch eine Stelle
daraus vorlesen:

Erstmals seit vielen Jahr en konnte in den Jahren
2000 und 2001 ein ausrei chendes Angebot an Aus-
bildungsplätzen zur V erfügung gestellt werden.
Diese positive Entwicklung wurde entscheidend ge-
fördert durch eine Reihe von Maßnahmen, die die
Bundesregierung in Kooperation mit den Sozial-
partnern in die Wege geleitet hat.

Wie sieht das Er gebnis aus? Haben Sie mitbekom-
men, was ich Ihnen dazu gesagt habe? Sie stellen zwar
fest, dass das Jahr 2001 abgehakt ist, aber jetzt befinden
wir uns im Jahr 2003. Jetzt erst haben wir das Er gebnis
der Maßnahmen auf dem T isch, für die Sie verantwort-
lich zeichnen. Sie haben an den völlig falschen Stellen
angesetzt. Sie haben eine völlig falsche Politik aufgelegt.
Wir sollten einmal partei- und fraktionsüber greifend
über die Ursachen dieser schlechten Situation nachden-
ken, in der wir uns momentan befinden.

Es gibt viele Ansätze zur Lösung. Ich bin gerne bereit,
Ihnen meine zehn Punkte, die ich zu einem Großteil we-
gen der fehlenden Redezeit nicht mehr vortragen konnte,
zur Verfügung zu stellen.


(Lachen bei der SPD)


Sie können sie nachlesen und daraus die notwendigen
Schlüsse ziehen. Sicherlich werden Sie etwas dazuler-
nen. Wenn Sie sie befolgen, werden Sie in Zukunft auf
dem richtigen Weg sein.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1503707200


Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Uwe Schummer.


(Michael Kretschmer [CDU/CSU]: Endlich einmal einer, der etwas davon versteht!)



Uwe Schummer (CDU):
Rede ID: ID1503707300


Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Alle Jugendlichen, die könne n und wollen, erhalten ei-
nen Ausbildungsplatz. – Das war die Ausbildungsgaran-
tie der Bundesregierung.


(Ulla Burchardt [SPD]: Der Arbeitgeber, Herr Kollege!)


– Gerhard Schröder hat diese Aussage gemeinsam mit
den Arbeitgebern und den Gewerkschaften getroffen.


(Ernst Hinsken [CDU/CSU]: So ist es! Jawohl!)


Fakt ist – nach den aktuellen Zahlen der Bundesregie-
rung –, dass bis heute 30 000 Schulabgänger aus dem
laufenden Ausbildungsjahr noch nicht mit einem Ausbil-
dungsplatz versorgt sind. Das Bundesinstitut für Berufs-
bildung beziffert die latente Nachfrage nach Ausbil-
dungsstellen auf etwa 70 000. Das heißt, Sie haben Ihre
Zusage einer Ausbildungsgarantie gebrochen.


(Willi Brase [SPD]: Die Arbeitgeber haben sie gebrochen!)


Allein der Abwärtstrend be i der Zahl der Ausbildungs-
plätze bleibt ungebrochen. Die Ausbildungslücke für das
neue Ausbildungsjahr wird von Monat zu Monat größer.
So gab die Bundesanstalt für Arbeit die Ausbildungs-
lücke für das im September beginnende Ausbildungsjahr
im Januar noch mit 90 000 an. Im Februar wurde diese
Zahl bereits auf 120 000 und heute auf 150 000 ge-
schätzt. Das heißt: Die Dramatik bei der Ausbildungssi-
tuation nimmt Monat für Monat zu. – Frau Ministerin
Bulmahn, wenn Sie da von spürbaren Erfolgen Ihrer Po-
litik reden, dann halten Sie auch Gerhard Schröder für
einen guten Kanzler.


(Beifall bei der CDU/CSU – Nicolette Kressl [SPD]: Beides ist wahr!)


Wir nähern uns of fenkundig einer Ausbildungskata-
strophe; denn der Abbau der Ausbildungsplätze be-
schleunigt sich. Im letzten Jahr waren es 7 Prozent weni-
ger; in diesem Jahr werden es etwa 14 Prozent weniger
Ausbildungsplätze sein. Al lein die Nachfrage nimmt
weiter zu. 580 000 junge Arbeitslose im Alter bis
25 Jahre: Das ist Schröders Ohrfeige für die jungen
Menschen hinsichtlich ihrer Zukunftschancen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. Cornelia Pieper [FDP])


Wir haben eine Erosion der dualen beruflichen Bil-
dung. Es gibt mehr Schulabgänger in Ersatzmaßnahmen
als in der betrieblichen Ausbildung. Das Verfassungsziel
einer freien Berufswahl ist durch Ihre Politik in weite
Ferne gerückt.






(A) (C)



(B) (D)


Uwe Schummer

(Willi Brase [SPD]: Es gibt noch ein anderes Verfassungsziel!)


Qualifizierte und motivierte Arbeitnehmer sind der
wichtigste Standortfaktor Deutschlands im globalen
Wettbewerb. Die Ausbildungszahlen sind auch ein Spie-
gelbild der wirtschaftlichen Zukunft unseres Landes.
Wer keine Zukunft mehr sieh t und dessen Betrieb ums
Überleben kämpft, hat nicht die Möglichkeit, andere
Existenzen zu retten. Betriebe werden erst dann Auszu-
bildende einstellen, wenn sie für die nächsten drei Jahre
eine gute Auftragslage und zufrieden stellende Gewinne
erwarten.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Hinter 40 000 Insolvenzen verber gen sich über
400 000 Arbeitsplätze und über 40 000 Ausbildungs-
plätze, die durch Ihre Finanzpolitik vernichtet wurden.
Dies stimmt in der Tat: Der Schlüssel zur Lösung dieser
Ausbildungsmisere liegt bei Eichel, also in der Steuer -,
Finanz- und Wirtschaftspolitik.


(Hans-Werner Bertl [SPD]: W as reden Sie da für ein Zeug? Das hilft den jungen Leuten! Unglaublich! Unsinn! Unverantwortlich, was Sie da reden!)


Fragen Sie die Betriebe! Si e werden Ihnen sagen: Ohne
eine vernünftige Analyse wi rd Ihre Therapie immer
falsch sein. Deshalb helfen solche Zahlen, dass Sie end-
lich auf den richtigen Weg kommen.


(Hans-Werner Bertl [SPD]: Das ist unverantwortlich!)


Bei einer Befragung, warum Betriebe nicht ausbilden,
gab es zwei zentrale Ar gumente: erstens kein Perso-
nalbedarf, da zu wenig Aufträge, und zweitens zu hohe
Kosten der Ausbildung. Das heißt, erst wenn Sie bei den
Kosten ansetzen und die Zukunft der Betriebe sichern,
wird es wieder Betriebe geben, die bereit sind, Ausbil-
dungsplätze bereitzustellen.


(Ulla Burchardt [SPD]: Heißt das, die Jugendlichen sollen das Geld mitbringen, oder was ist Ihre Konsequenz daraus?)


Lassen Sie uns also gemein sam an die Tarifparteien,
sowohl an die Politik als auch an die Gewerkschaften
und die Arbeitgeber , appellieren, in den nächsten drei
Jahren die Ausbildungsver gütungen einzufrieren und
mithilfe des Geldes, das die Unternehmen dabei sparen,
zusätzliche Ausbildungsplätze bereitzustellen! In der
Chemiebranche gibt es in diesem Zusammenhang sehr
kreative und interessante T arif- und Betriebsvereinba-
rungen, die wir nutzen könnten,


(Jörg Tauss [SPD]: Vorsicht mit den Flächentarifverträgen!)


wenn die Politik vernünftig in einem Bündnis für Arbeit
voranmarschieren würde und es nicht gegen die W and
gesetzt hätte.

Was ist Ihr Konzept? Kapital für Ausbildung? Ich
habe mir einmal die Zahlen darüber geben lassen, wie
Ihr Konzept „Kapital für Arbeit“ derzeit läuft. Mit Stand
vom 28. März dieses Jahres wurden – dies teilt die Kre-
ditanstalt für Wiederaufbau mit –


(Zuruf von der CDU/CSU: Das ist sehr interessant, was sie hierzu sagt!)


auf diesem W ege bundesweit insgesamt 648 Arbeits-
plätze geschaffen. Dafür mu ssten 190 Millionen Euro
mobilisiert werden. Eine solche Nebelkerze gibt es kein
zweites Mal in Deutschland.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Es geht nicht um Kredite, so ndern um Aufträge für die
Wirtschaft, um die Zukunft und den richtigen Rahmen,
den Sie politisch setzen müssen.


(Willi Brase [SPD]: Merkel und Bush! Da gehen die Aufträge verloren!)


Der Mittelstand stellt 80 Prozent der Ausbildungsplätze.

Als eine weitere große Maßnahme, mit der Sie den
Mittelstand bzw. das Handwerk fördern wollen, kündigt
Herr Clement an, Existenzgründer vier Jahre von Kam-
merbeiträgen zu entlasten. Ic h habe einmal bei der In-
dustrie- und Handelskamme r Mittlerer Niederrhein
nachgefragt, was das bringen würde: 5 Euro pro Monat,
also 60 Euro pro Jahr. Mit solchen Nebelkerzen schaffen
Sie weder Ausbildungsplätze noch sichern Sie die Zu-
kunft für unsere Wirtschaft.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Solange Sie in der Steuerpolitik die Grenzen der Be-
lastbarkeit kleiner und mittlerer Unternehmen testen,
zerstören Sie jede Ausbildungsmotivation.


(Nicolette Kressl [SPD]: Das ist wirklich ein Blödsinn!)


Sie lösen kein Problem. Sie sind vielmehr das Problem.


(Beifall bei der CDU/CSU – Michael Kretschmer [CDU/CSU]: Das tut weh, stimmt aber!)


Die Bundesanstalt für Arbeit rechnet vor, dass die Re-
duzierung der Lohnnebenkosten bzw . der Sozialversi-
cherungsbeiträge um 1 Prozent dazu führt, dass etwa
80 000 bis 100 000 zusätzliche Arbeits- und Ausbil-
dungsplätze geschaffen werden können. Das wäre der
richtige Weg, um wieder Zukunft für junge Menschen
und die Wirtschaft zu erreichen.

Ihr JUMP-Programm, das Sie heute feiern, hat, wie
Sie selber im Rahmen einer parlamentarischen Anfrage
bestätigt haben, nur bei 30 Prozent der jungen Menschen
dazu geführt, dass diese an schließend eine reguläre Be-
schäftigung gefunden haben.


(Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Richtig!)


Sie selbst haben den Trägern der Weiterbildung als Qua-
litätsstandard mitgegeben, dass eine überbetriebliche
Ausbildung nur dann Sinn macht, wenn für den Arbeit-
nehmer, der ausgebildet wird, eine mindestens 70-pro-
zentige Chance besteht, dass er aus der Arbeitslosigkeit
herauskommt.


(Hans-Werner Bertl [SPD]: Sie haben überhaupt nicht begriffen, um was es da geht! Das Uwe Schummer ist unglaublich verantwortungslos, was Sie da machen!)





(A) (C)


(B) (D)


Wenn Sie Ihre im Hartz-Konzept formulierten Qualitäts-
standards auf das JUMP-Programm übertragen würden,
dann müssten Sie zu dem Er gebnis kommen, dass es
hoffnungslos gescheitert ist.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Es wäre sinnvoller, diese Gelder in eine direkte Unter-
stützung von Ausbildungsbetrieben umzulenken.


(Hans-Werner Bertl [SPD]: Das ist eine Dummheit, die Sie da provozieren!)


– Mit dem Niveau Ihrer Zurufe können Sie unter dem
Teppich laufen, ohne Wellen zu schlagen. Ein wenig Ge-
duld und Konzentration würden auch Ihnen gut tun.


(Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1503707400

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage?


Uwe Schummer (CDU):
Rede ID: ID1503707500

Ja.


Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1503707600

Bitte.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Ich möchte Sie fragen, ob Ihnen eigentlich bewusst
ist, dass gerade durch das JUMP-Programm Jugendliche
erreicht werden, die ansons ten überhaupt keine Chance
gehabt hätten, eine Stelle zu finden.


(Nicolette Kressl [SPD]: Davon weiß er nichts!)


Wenn Sie die Erfolge des JUMP-Programms berücksich-
tigen, können Sie dann vielleicht auch andere Konse-
quenzen daraus ziehen?


Uwe Schummer (CDU):
Rede ID: ID1503707700

Ich denke, auch Sie kennen Briefe von regionalen Ar-

beitsämtern, in denen darauf hingewiesen wird, dass der-
zeit aufgrund von Irritationen sämtliche Maßnahmen zur
Berufsvorbereitung gerade fü r diese Zielgruppe einge-
spart werden. Die T räger, die Maßnahmen für solche
Zielgruppen unterstützen, sind völlig irritiert, weil sie
nicht mehr wissen, ob sie entsprechende Kurse anbieten
können.


(Nicolette Kressl [SPD]: Plötzlich ist es wieder gut! Ich denke, es ist schlecht! Entscheiden Sie sich einmal!)


Von daher kann ich nur em pfehlen, diese Mittel wie-
der einzusetzen, indem man in V erbindung mit anderen
Maßnahmen, also durch eine Absenkung der Sozialver-
sicherungskosten, mehr Anreize zur Schaffung von Aus-
bildungsplätzen gibt.

(Nicolette Kressl [SPD]: Ist es jetzt gut oder schlecht?)


Die andere Möglichkeit wäre, dass man Ausbildungsbe-
triebe gezielt entlastet, indem man die Sozialversiche-
rungsbeiträge der Ausbildungsbetriebe für die Auszubil-
denden anteilig übernimmt.

Aber die Ausgaben für JUMP in Höhe von
1 Milliarde Euro sind nichts im V ergleich zu dem, was
Sie derzeit für die Berufsvo rbereitung zusammenstrei-
chen. Dorthin müssen Sie mehr Geld lenken. Dann geht
es auch den Jugendlichen wieder besser.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Herr Clement sagte am 30. Januar 2003, dass
51 Prozent der Betriebe in den neuen Bundesländern und
44 Prozent der Betriebe in den alten Bundesländern
überhaupt nicht ausbildungsberechtigt sind. Die Mehr-
zahl der Ausbildungsbetriebe darf derzeit of fenkundig
nicht ausbilden. Ich habe diesbezüglich eine Anfrage an
das Bildungsministerium gestellt, ob die Zahlen, die
Herr Clement genannt hat, stimmen. Die Antwort von

Christoph Matschie (SPD):
Rede ID: ID1503707800
Wir können diese
Zahlen weder bestätigen noch dementieren. Fakt ist also:
Zur Ausbildungsmisere kommt noch eine Informations-
misere. Es gibt nicht einmal identische Daten beim Ar-
beits- und Wirtschaftsministerium und dem Bildungsmi-
nisterium. Dort müssen Sie anfangen, damit Ihre
Therapie vernünftig ist.

Lassen Sie uns überlegen, ob wir verstärkt Stufenaus-
bildungen – wie etwa bei der Ausbildung vom Verkäufer
zum Kaufmann – möglich machen sollten. Auch theorie-
geminderte zweijährige Beru fausbildungen sind denk-
bar; diese jedoch dürfen keine Sackgasse sein, man muss
auf ihnen weiter aufbauen können. Es sind hervorra-
gende Modelle entwickelt worden, die aber von den So-
zialpartnern noch blockiert werden. Die Handelskammer
Hamburg etwa schlägt 100 neue Ausbildungsberufe vor.


(Willi Brase [SPD]: Ein Jahr Türsteher auf Sankt Pauli als neuer Ausbildungsberuf! Das kann doch wohl nicht wahr sein!)


Hierdurch würden neue Beschäftigungsmöglichkeiten
und konkrete Ausbildungsanreize geschaf fen. Sie wer-
den derzeit aber blockiert. Wenn Sie da weiterkämen,
hätten junge Menschen mehr Chancen.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Unser Antrag ist kein Gesetz, sondern ein Ge-
sprächsangebot, nachdem Ihr Bündnis für Arbeit ge-
scheitert ist. Lassen Sie uns bei aller Kritik hier im Parla-
ment ein überparteiliches Bündnis für Ausbildung
schaffen.


(Jörg Tauss [SPD]: Aber nicht auf der Basis!)


Wir sind dazu bereit. Aber ändern Sie bitte Ihren Kurs!


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1503707900

Jetzt hat der Abgeordnete Hans-W erner Bertl das

Wort.






(A) (C)



(B) (D)


Hans-Werner Bertl (SPD):
Rede ID: ID1503708000


Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Als der
Bundeskanzler in seiner Regierungserklärung an die
Verabredung mit der W irtschaft – jeder Ausbildungs-
platzsuchende muss einen Ausbildungsplatz bekommen –
erinnert und gesagt hat, we nn dies nicht eingehalten
werde, müsse es zu einer gesetzlichen Regelung kom-
men, hat es die altbekannten Proteste gegeben. Der Bun-
deskanzler hat noch etwas gesagt, was ich unterstreichen
kann: Junge Menschen haben ein Recht auf neue Chan-
cen und zu diesem Recht müssen wir ihnen immer wie-
der verhelfen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Es darf einfach nicht wahr sein, dass in einer der
reichsten Gesellschaften der Welt junge Menschen, die
in diesem Jahr aus der Schule entlassen werden, als Ers-
tes mitgeteilt bekommen: W ir brauchen euch im Mo-
ment nicht, ihr seid zu viele, ihr seid – darin gipfelt das
Ganze – zu schlecht. Daneben steht die Forderung nach
solidarischer Einbeziehung in den Generationenvertrag,
für den sie ihre Leistung erbringen sollen.

Die Verantwortung für das duale System liegt ein-
deutig bei der Wirtschaft, beim Handwerk und bei allen
anderen, die an der Ausbildung im dualen System betei-
ligt sind.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Diese Verantwortung kann und darf nicht von der
Konjunktur oder von den schlechten Schulnoten der
Schulabgänger abhängig gemacht werden. Mit
1,7 Millionen Auszubildenden im dualen System in
circa 620 000 Betrieben wird von denjenigen, die aus-
bilden, eine beachtliche Leistung erbracht. Aber nicht an
sie geht unsere Forderung, sondern an die 1,28 Millionen
Betriebe, die die Berechti gung zur Ausbildung haben,
aber derzeit nicht ausbilden, sowie an die 70 Prozent al-
ler Betriebe, die sich gar ni cht beteiligen. Hier bringen
wenige eine große Leistung für die Volkswirtschaft, die
andere abschöpfen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Zurzeit fehlen 110 000 Ausbildungsplätze. Wir müs-
sen damit rechnen, dass im August 50 000 bis
70 000 junge Menschen keinen Ausbildungsplatz be-
kommen. Dieser Fehlbestand kann nicht mit Hemmnis-
sen, Tarifen, Kündigungsschutz, Betriebsverfassungsge-
setz, Steuern, etwa Gewerbesteuern, oder mangelnden
Schulleistungen begründet werden.


(Michael Kretschmer [CDU/CSU]: Mit was denn sonst?)


Wenn dieser Ausbildungsplatzmangel eintritt, stellt
sich das duale System – eigentlich eines der beachtlichs-
ten Erfolgsmodelle für berufliche Bildung – selbst in-
frage. Auch die zunehmenden staatlichen Finanztrans-
fers in dieses System deuten an, dass das duale System
aus dem Blick und auch ei n Stück aus dem Engagement
der Verantwortlichen geraten ist.

Vor 23 Jahren haben wir in diesem Land eine heftige
Auseinandersetzung um die Frage der Zuständigkeit
bei der beruflichen Bildung geführt. Die Wirtschaft hat
das Bundesverfassungsgericht angerufen. Ich will Ihnen
einen Teil des Urteils vortragen: Am 10. Dezember 1980
haben die Verfassungsrichter unter dem großen Beifall
der Wirtschaft in Deutschland erklärt, dass die V erant-
wortung und die Zuständigkeit für die duale Ausbildung
bei der W irtschaft liege und auch weiterhin liegen
werde. Ich will einen Satz aus dem Urteil zitieren:

Wenn der Staat in Anerkennung dieser Aufgaben-
stellung den Arbeitgebern die praxisbezogene Be-
rufsausbildung der Jugendlichen überlässt, so muss
er erwarten, dass die gese llschaftliche Gruppe der
Arbeitgeber diese Aufgabe nach Maßgabe ihrer ob-
jektiven Möglichkeiten und damit so erfüllt, dass
grundsätzlich alle ausbildungswilligen Jugendli-
chen eine Chance erhalt en, einen Ausbildungsplatz
zu bekommen.

Im Urteil folgt ein weiterer ganz entscheidender Satz. Er
lautet:

Das gilt auch dann, wenn das freie Spiel der Kräfte
zur Erfüllung der übernom menen Aufgaben nicht
mehr ausreichen sollte.

Vor diesem Hintergrund können wir, wie ich glaube, die
Diskussion um die Auswir kungen der konjunkturellen
Lage und mögliche Einschränkungen daraus beenden.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Dieses Urteil gilt noch heute und führt die betriebliche
Ausbildung aus der Beliebigkeit heraus.

Es geht mir – das habe ic h bereits deutlich gesagt –
nicht so sehr um diejenigen, die ausbilden, sondern viel-
mehr um diejenigen, die ih rer Verantwortung nicht ge-
recht werden. Es gibt etwa 650 000 Betriebe, die ausbil-
den können und dürfen, dies aber nicht tun. Insgesamt
70 Prozent der Unternehmen in unserer W irtschaft be-
dienen sich weitgehend aus der Ausbildungsleistung der
anderen. Es darf nicht nur um die Frage von so genann-
ten Ausbildungshemmnissen gehen. Denn wenn die
Senkung der Belastungen und die Aussetzung der Aus-
bilder-Eignungsverordnung nicht mehr ausreichen, wie
wir das gerade erleben, dann wird die Frage nach der be-
rühmten zweiten T oilette gestellt, was letztlich das
Ganze ad absurdum führt.

Der Ausbildungsmarkt ist in einer Notsituation. Flexi-
bilität, Kreativität und Verantwortung sind gefragt. Es ist
kein Poker um Abschaf fung von Jugendarbeitsschutz-
rechten, Kündigungsschutz oder demokratische Mitbe-
stimmung. Das, was jetzt stattfindet, ist für mich ein bil-
liger Klassenkampf auf dem Rücken derjenigen, die in
diesem Jahr aus der Schule entlassen werden.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)







(A) (C)



(B) (D)


Hans-Werner Bertl
Hier ist Kreativität gefragt. Diese Kreativität müssen
wir bis August dieses Jahres bei der Klärung der Frage
an den Tag legen, wo und wie zusätzliche Ausbildungs-
stellen einzurichten sind. Die Antwort muss in den
nächsten Wochen erfolgen. Es ist zu spät, diese Antwort
erst dann zu geben, wenn wi r ausdiskutiert haben, wie
die Novellierung des Berufs bildungsgesetzes aussehen
soll.

Die Zeit der Appelle und des Bittens um Ausbildung
läuft uns davon. Gefragt ist jetzt die V erantwortung der
Unternehmen. Es bilden zum Beispiel nur 2 Prozent der
Unternehmen im Verbund aus. Alle, die sich in unserem
Land fragen, ob sie ausbild en können, ob die Belastung
für sie alleine zu hoch ist – das ist von Ihnen immer an-
gesprochen worden – oder ob sie das qualitative Spek-
trum für Ausbildung leisten können, haben die Möglich-
keit, Ausbildung im V erbund anzuleiten. Gefragt sind
aber auch diejenigen, die Verbünde organisieren können,
in den Kammern, in den Kommunen und in vielen ande-
ren Organisationen. Diese werden übrigens mit Mitteln
der Bundesanstalt für Arbeit unterstützt. In Deutschland
gibt es im Moment 350 Ausbildungsverbünde, die mit
11,6 Millionen Euro gefördert werden.

Es gibt übrigens auch überbetriebliche und außer-
betriebliche Einrichtungen für berufliche Bildung, die
durch Umlagefinanzierung von Kammern und staatliche
Zuschüsse getragen werden. Wenn es richtig ist, dass die
beste Ausbildung im Betrieb stattfindet, dann sollten die-
jenigen, die dort Verantwortung tragen, sich jetzt dieser
Verantwortung stellen, zumal Hilfen und Unterstützung
sowohl durch das Bundesministerium als auch durch die
Bundesanstalt gegeben sind.

Ich möchte einige Sätze an diejenigen richten, die von
den Schulen kommen. Ich bitte Sie: Warten Sie nicht auf
den Traumberuf. Träume erfüllen sich meist woanders.
Man wird auch nicht für eine n Beruf geboren. Aber Be-
ruf und erfolgreicher Abschl uss ermöglichen ein selbst-
bestimmtes Leben. Dann lassen sich auch viele T räume
erfüllen.

Abschließend möchte ich an die Unternehmen, die
wir nicht aus der V erantwortung für die berufliche Bil-
dung entlassen können, sa gen: Wenn wir 60 000 oder
70 000 Schulabgänger im Herbst dieses Jahres alleine
lassen, indem wir ihnen keine berufliche Perspektive ge-
ben, wird sich der Staat de r Frage der Berufsausbildung
annehmen müssen. Dann soll aber auch keiner anschlie-
ßend jammern, wenn wir einen großen Teilbereich des so
hoch gelobten dualen System s über Subvention und Er-
satz letztendlich zu einer sozialpolitischen Veranstaltung
machen müssen. Das zeigt allerdings auch, dass mögli-
cherweise das Ende dieses Systems aufgrund der man-
gelnden Verantwortung der Arbeitgeber und der fehlen-
den Mitwirkung der Betriebe gekommen ist.

Deswegen sind Anstrengungen nötig. Es dürfen nicht
nur Schuldzuweisungen gemacht und dubiose Erklärun-
gen abgegeben werden, die keinem einzigen jungen
Menschen in diesem Land helfen. Wir brauchen Ausbil-
dungsstellen! Die Wirtschaft muss sich der V erantwor-
tung stellen, die sie 1980 für sich angesichts des Urteils
des Bundesverfassungsgerichts gefordert hat.
Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1503708100

Danke schön. – Das W ort hat jetzt die Abgeordnete

Gesine Lötzsch.


Dr. Gesine Lötzsch (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1503708200

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Zur glei-

chen Zeit, zu der wir über die Situation im Bereich der
Berufsausbildung und über den Lehrstellenmangel dis-
kutieren, findet eine Pre ssekonferenz der Bundesanstalt
für Arbeit statt.

Die Arbeitsmarktzahlen sind genauso dramatisch wie
die Situation auf dem Lehrstellenmarkt. Im Februar wur-
den den Arbeitsämtern bis zu 20 Prozent weniger Lehr-
stellen gegenüber dem V orjahresmonat gemeldet, näm-
lich nur 368 000. Das sind 54 000 weniger als noch vor
einem Jahr und 1 14 000 weniger, als benötigt werden.
Die Unternehmer fordern die Regierung auf, aktiv zu
werden und mehr überbetriebliche Ausbildungsplätze zu
schaffen. Diese Ausbildungsplätze sind dann jedoch
steuerfinanziert. Die gleichen Leute, die die Regierung
auffordern, überbetriebliche Ausbildungsplätze zu schaf-
fen, fordern die Regierung au ch auf, Steuern zu senken.
Ich denke, das ist zutiefst verlogen.


(Beifall der Abg. Petra Pau [fraktionslos])


Das Bundesverfassungsgericht verwies bereits im
Jahre 1980 darauf, dass es ei ne – ich zitiere mit Geneh-
migung der Präsidentin – „V erantwortung der Arbeit-
geber für ein ausreichendes Angebot an betrieblichen
Ausbildungsplätzen“ gibt, und mahnte eine gesetzliche
Regelung an. Das war vor 23 Jahren. Wir als PDS for-
dern eine gesetzliche Ausbildungsumlage. Wer nicht
ausbildet, soll zahlen. Die Einführung einer Ausbil-
dungsumlage wurde von Rot- Grün übrigens bereits in
der Koalitionsvereinbarung im Jahre 1998 festgeschrie-
ben.

Der Bundeskanzler hat in seiner Regierungserklärung
vom 14. März dieses Jahres nur noch vage von einer ge-
setzlichen Regelung gesprochen, die man einführen
würde, wenn die Unternehmen nicht selbst aktiv werden
würden. Das alles sagte er betont im Konjunktiv . Dieser
Konjunktiv hat die Debattenb eiträge vonseiten der Re-
gierungskoalition auch heute wieder geprägt. Der vorlie-
gende Antrag der Regierungskoalition strotzt nur so von
Appellen an die Wirtschaft. Alle Ausführungen zu kon-
kreten Maßnahmen bezüglich der Unternehmen bleiben
vage. Meine Damen und Herren, wie lange wollen Sie
mit der Ausbildungsumlage noch warten?

In der letzten W oche war ich in meinem W ahlkreis
Lichtenberg im Oberstufenzentrum für Versorgungstech-
nik und habe mich vor Ort informiert. Es fehlt, so wie
überall, an betrieblichen Ausbildungsplätzen. Ein Groß-
teil der Ausbildungsplätze is t überbetrieblich. Ein Pro-
blem, das im Osten besonders häufig auftritt, finde ich
für junge Leute besonders deprimierend: Auszubildende






(A) (C)



(B) (D)


Dr. Gesine Lötzsch
verlieren ihren Ausbildungsplatz, wenn ihr Betrieb zum
Beispiel wegen der schlech ten Zahlungsmoral und der
niedrigen Kapitaldecke in Konkurs geht; denn Auf fang-
strukturen existieren nicht. Ich denke, das ist für einen
Jugendlichen eine Katastro phe: Er hat gute Leistungen
gezeigt und verliert trotz guter Arbeit und Lernerfolge
seine Lehrstelle. Wie soll ein solcher Jugendlicher noch
an die Leistungsgesellschaft glauben?

Meine Damen und Herren, der parteilose Hanauer
Stadtverordnete Jochen Dohm wies in einem Brief an die
Abgeordneten auf die dramatische Lage auf dem Lehr-
stellenmarkt in Hanau hin. Er machte besonders auf das
Problem aufmerksam, dass Jugendliche ohne Schul-
abschluss von der Hartz-Ge setzgebung besonders hart
getroffen werden. Das Arbeitsamt in Hanau hat allen
Trägern, die berufsvorbere itende Kurse anbieten, die
Verträge gekündigt.


(Uwe Schummer [CDU/CSU]: So ist es!)


Das bedeutet für Hanau den Wegfall von 466 Plätzen bei
berufsvorbereitenden Maßnahmen.

Die Bundesarbeitsgemeinschaft der Berufsbildungs-
werke, die uns Abgeordnete angeschrieben hat, verweist
in einem Brief auf die dramatischen Folgen der Arbeits-
marktpolitik für Jugendliche mit Behinderungen. Die
Bundesarbeitsgemeinschaft schreibt:

Aus jungen Leuten ohne Au sbildung oder berufs-
vorbereitenden Lehrgängen heute werden Arbeits-
lose von morgen, Sozialhilfeempfänger auf Dauer.

Ich denke, das kann nicht unser Ziel sein.

Es ist in der heutigen Debatte bereits erwähnt worden:
Nur 30 Prozent aller Betriebe bilden Jugendliche aus.
Die Bundesministerin, Frau Bu lmahn, will die Zahl der
Betriebe auf 40 Prozent erhöhen. Hierzu können wir nur
unser Einverständnis erklären; wir werden Sie unterstüt-
zen. Ich mache Ihnen konkrete V orschläge: Machen Sie
Nägel mit Köpfen! Fordern Sie von der W irtschaft, dass
40 Prozent der Betriebe im Jahre 2004 Ausbildungs-
plätze anbieten müssen! W enn die Zahl nicht erreicht
wird, dann – so sagen Si e als Regierung – kommt im
Jahre 2004 definitiv die Ausbildungsumlage.

Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.


(Beifall der Abg. Petra Pau [fraktionslos])



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1503708300

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Michael

Kretschmer.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Michael Kretschmer (CDU):
Rede ID: ID1503708400

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es ist

deprimierend, welche Geschichten zum Thema Ausbil-
dung Jugendliche zu berichten haben. Ich habe am
Montag eine zehnte Klasse einer Görlitzer Mittelschule
in meinem W ahlkreis besucht. V on den anwesenden
30 Schülern haben in den vergangenen Wochen viele 40,
50, 60 oder 70 Bewerbungen geschrieben, auf die sie
zum großen Teil keine Antwort oder eine Absage be-
kommen haben.

Viele ostdeutsche Jugendliche gehen deshalb für eine
Ausbildung schweren Herzens in die alten Bundesländer.
Aus diesem Grunde schlägt die Bundesanstalt für Arbeit
Alarm. Wir haben die Zahlen gehört: Im W esten der
Bundesrepublik sind im Mä rz bis zu 56 000 Lehrstellen
weggebrochen. Das Ausbildungsjahr 2003/2004 droht
zum schwarzen Jahr der Berufsausbildung zu wer-
den. Der DGB spricht von einem Ausbildungsplatzdefi-
zit in nicht gekanntem Ausmaß.

Angesichts der aktuellen Lage – das ist mehrfach ge-
nannt worden, aber man kann es nicht oft genug wieder-
holen – ist die Ausbildungsplatzgarantie, von der der
Bundeskanzler und die Bundesbildungsministerin immer
sprechen, der blanke Hohn.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Gestern haben wir im Aussc huss für Bildung und For-
schung einen Vortrag der Bundesanstalt gehört. Dabei ist
deutlich geworden – man hat es uns auf unsere Rück-
frage hin bestätigt –: Schon heute wird eine große An-
zahl von Jugendlichen in Scheinmaßnahmen geparkt, ein
Jahr später stehen sie wied er ohne eine Ausbildung da
und müssen sich wieder be werben. – Das ist Ihr V er-
ständnis einer Ausbildungsplatzgarantie.

Die Bugwelle aus nicht vermittelten Bewerbern und
neuen Ausbildungsplatzsuchenden wird immer größer .
In diesem Jahr droht sie endgültig über den Köpfen der
Bundesregierung zusammenzuschlagen. Davon betrof-
fen sind Tausende Jugendliche, denen der Start ins Be-
rufsleben unmöglich gemacht wird. Ausbildung ist für
Schulabgänger und für Unternehmen eine Investition in
die Zukunft. Sie können in jeder beliebigen Zeitung le-
sen, wie stark der Pessimismus in den Unternehmen ist.
Auch Wirtschaftsforschungsinstitute haben das analy-
siert.

Dem Handwerk in Deutschland, wo immerhin ein
Drittel aller Lehrlinge ausg ebildet werden, sitzt die
blanke Angst um die eigene Existenz im Nacken. Die
Probleme auf dem Ausbildungsmarkt sind hausgemacht.
Nur 50 Prozent aller Unternehmen, die ausbilden kön-
nen, bilden auch tatsächlich aus.


(Ulla Burchardt [SPD]: Wie staatsgläubig sind Sie eigentlich?)


– Nein, ich bin nicht staatsgläubig. Sie, meine Kollegin-
nen und Kollegen von der SPD , sind staatsgläubig. Sie
glauben, mit Appellen an di e Wirtschaft oder einer
Ausbildungsplatzabgabe weiterzukommen. Wir hinge-
gen wollen, dass Sie den Unternehmen die Möglichkeit
geben auszubilden. Hören Sie auf, mit milliardenschwe-
ren Programmen diese Probleme von Staats wegen lösen
zu wollen. Das ist der falsche Weg.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Steuererhöhungen, Verschärfungen im Kündigungs-
schutz, die Ebbe in den Kassen der Kommunen und Ihr






(A) (C)



(B) (D)


Michael Kretschmer
angekündigter Eingriff in die Handwerksordnungen sor-
gen für Verunsicherung und haben die wirtschaftliche
Situation in den Unternehmen massiv verschlechtert. Be-
troffen sind davon besonder s die neuen Bundesländer .
Das hochgejubelte JUMP-Programm mit 1 Milliarde
Euro im Jahr ist speziell im Osten ins Leere gelaufen.


(Ulla Burchardt [SPD]: Das stimmt doch überhaupt nicht!)


– Ich komme aus den neuen Bundesländern.


(Dr. Uwe Küster [SPD]: Das sagt noch gar nichts!)


Ich lade Sie herzlich ein, mi ch in Sachsen zu besuchen.
Sie werden in Görlitz sehen, dass das Programm dort
völlig versagt hat.


(Jörg Tauss [SPD]: Wollen Sie es abschaffen? – Dr. Uwe Küster [SPD]: Die Ausbildung der Jugendlichen ist eine Daueraufgabe, junger Mann!)


– Herr Tauss, anstatt Wirtschaftsstrukturen aufzubauen
und damit ausreichend Ausbildungsplätze in der betrieb-
lichen und gewerblichen W irtschaft zu schaffen, haben
Sie den leichteren, aber teureren Weg gewählt: Sie haben
sich für den W eg der Staatsintervention entschieden
und 500 000 Jugendliche in ein Programm der aktiven
Arbeitsmarktpolitik gesteckt. Das ist von Ihnen über-
schwänglich gelobt worden. T atsächlich sind diese
500 000 Jugendlichen in der aktiven Arbeitsmarktpolitik
ein drastisches Zeichen für Ihr V ersagen in der W irt-
schaftspolitik in diesem Land.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Dieser Wert ist im Übrigen gestern im Ausschuss von
Herrn Alt von der Bundesanstalt für Arbeit als der
höchste Wert seit der W iedervereinigung bezeichnet
worden. Auch das zeigt Ihre wirtschaftliche „Kompe-
tenz“, es zeigt, wie Sie ge denken, dieses Land aufzu-
bauen. Das ist nicht unser Weg. Unser Weg ist auch nicht
das Programm „Kapital für Arbeit“, weil Unternehmen
nicht einen Kredit aufnehme n, um jemanden einzustel-
len, sondern weil sie wachsen und ihren Umsatz steigern
wollen.

Das ist das, was wir von Ihnen erwarten. Schaffen Sie
die Rahmenbedingungen, dami t die Wirtschaft wächst,
damit Ausbildungsplätze bereitgestellt werden können
und die Leute freiwillig Auszubildende und Arbeitneh-
mer einstellen. Sie haben die Zahlen gehört: 4,6 Millio-
nen Arbeitslose, 42 000 Unternehmen, die in diesem
Jahr vermutlich in Konkurs gehen. Das ist kein Umfeld,
in dem Unternehmen ausbilden. Das ist auch der Grund
dafür, dass Unternehmen in Deutschland nicht ausbilden.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Der Wert eines Ausbildungsp latzes bemisst sich für
uns an der Qualität des vermittelten Wissens, der Praxis-
nähe der Ausbildung und de r Chance, unmittelbar nach
dem Abschluss der Lehre einen Arbeitsplatz im ersten
Arbeitsmarkt zu finden. Deswegen ist für uns ganz klar:
Die betriebliche Ausbildung hat vor jedem außerbetrieb-
lichen Bildungsprogramm Vorrang.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Wir müssen die Ausbildungsfähigkeit und Ausbil-
dungsbereitschaft der Unternehmen erhöhen. Die Zah-
len sind genannt worden, sie sind zu gering.

Lassen Sie uns die Ausbilder-Eignungsverordnung
modernisieren. Wir sind da durchaus offen. Sie haben
1972 diese Verordnung eingeführt. Sie haben sie 1999
reformiert. Warum, bitte schön, haben Sie sie nicht 1999
abgeschafft? Das ist im Übrigen überhaupt die Frage. Es
ist sehr viel von „wir woll en“, „wir könnten“ und „wir
müssten“ geredet worden. Sie regieren dieses Land seit
1998. Sie hätten seit 1998 di e Chance gehabt, etwas zu
verändern. Sie haben es nich t getan. Deshalb sind die
Zahlen, die jetzt vorliegen, ein deutliches Armutszeugnis
für Ihre Politik.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Zu der Ausbildungsplatzabgabe ist einiges gesagt
worden. Sehen Sie sich an, wie die wirtschaftliche Situa-
tion in den neuen Bundesländern, aber mittlerweile auch
in den alten Bundesländern is t! In den alten Bundeslän-
dern bricht derzeit der Ausbildungsmarkt zusammen:
51 000 Ausbildungsplätze in den alten Bundesländern,
ungefähr 6 000 in den neuen Bundesländern. Das zeigt,
dass eine Ausbildungsplatzabgabe der völlig falsche
Weg ist.

Ich komme zum Schluss und zitiere Nietzsche, der
sagte: „Der Beruf ist das Rückgrat des Lebens.“ Bewei-
sen Sie, meine Damen und Herren vom Bündnis 90/Die
Grünen und von der SPD, dass Sie Rückgrat haben. Än-
dern Sie Ihre Politik! Gehen Sie mit uns gemeinsam an
die Reform der Ausbildungsverordnung und lassen Sie
uns gemeinsam eine Zukunft für die jungen Leute in
Deutschland schaffen.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1503708500

Das war die erste Rede des Kollegen. Ich möchte Ih-

nen im Namen des ganzen Hauses dazu gratulieren. Sie
mussten sich schon richtig in einem Zwischenrufgewit-
ter bewähren. Herzlichen Glückwunsch.


(Beifall)


Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Ernst Dieter
Rossmann.


Dr. Ernst Dieter Rossmann (SPD):
Rede ID: ID1503708600

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Ich möchte in dieser Debatte der starken W orte einige
Fragen stellen. Herr Hinske n und andere sagten, dieses
Jahr sei das dramatischste Jahr, das wir in Bezug auf die
Ausbildungslücke erlebten. Ich glaube, Sie sollten auf
die Jahre 1996 bis 1998 zurückschauen. Dann wissen
Sie, wo Sie damals standen.






(A) (C)



(B) (D)


Dr. Ernst Dieter Rossmann

(Beifall bei der SPD – Cornelia Pieper [FDP]: Das Argument reicht nicht mehr! Das ist unsinnig!)


Wir haben damals hart disk utiert und Sie haben das
Recht, heute hart zu diskutieren. Aber ich möchte dafür
werben, das praxisorientiert zu tun. Ich will versuchen,
das einmal am Beispiel von JUMP mit Ihnen durchzu-
gehen.

Wir erleben, dass Sie auf der Ebene des Bundestages
JUMP vehement kritisieren. Ich erinnere mich aber da-
ran, wie der damalige CDU-Ministerpräsident Barschel
in Schleswig-Holstein auf die großen Ausbildungs- und
Vermittlungsnöte junger Menschen reagiert hat, nämlich
mit einem großartigen Landesprogramm, welches von
der Bundesebene unterstützt worden ist. Es nannte sich
damals „Arbeit für Schleswi g-Holstein“, „Ausbildungs-
bündnis“ usw. Wenn Sie die Praktiker, die Menschen, die
Verantwortung tragen, die Ministerpräsidenten, die
Oberbürgermeister, die Kommunalpolitiker und diejeni-
gen, die in den Bildungsinstitutionen und Betrieben tätig
sind, fragen würden, dann würden alle so antworten wie
derjenige, der gestern im Ausschuss ein Problem von der
Basis geschildert hat. Er hat gesagt: Die ganze Breite des
Instrumentariums muss erhalten bleiben.


(Beifall bei der SPD)


Ich garantiere Ihnen: W enn Sie ir gendwann wieder
einmal regieren sollten, dann würden auch Sie auf die
ganze Breite des Instrument ariums zurückgreifen, wel-
ches jetzt in JUMP gebündelt worden ist. Ihnen ist
schließlich aus der Praxis bekannt, dass über JUMP teil-
weise betriebliche und überbetriebliche Ausbildungsver-
hältnisse sowie V orbereitungsmaßnahmen für Men-
schen, die noch nicht in ei ne betriebliche Ausbildung
eintreten konnten, und Maßnahmen zur Motivierung für
Menschen, sich erneut zu bewerben, mit gefördert wor-
den sind.

Man sollte nicht das Porzellan zerschlagen, von dem
man vielleicht noch selbst essen will.


(Beifall bei der SPD sowie der Abg. Grietje Bettin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Deshalb bitte ich an dieser Stelle um etwas mehr Zu-
rückhaltung, selbst wenn das für Sie nicht wohlfeil sein
mag.

Lassen Sie mich einen we iteren Punkt ansprechen.
Man konnte an mancher Stelle den Eindruck gewinnen,
dass das Berufsbildungsgesetz ein schlechtes Gesetz sei.
Ich will für die SPD-Frakti on ausdrücklich festhalten,
dass das Gesetz in seiner derzeitigen Fassung sehr gut
ist.


(Beifall des Abg. Klaus Barthel [Starnberg] [SPD])


Es hat die hohe Qualität der beruflichen Bildung in
Deutschland über viele Jahre hinweg stabil gehalten. Es
wäre von Vorteil, wenn wir diesen Konsens, der auch
parteipolitische Veränderungen im Bundestag überdauert
hat, auch in Zukunft wahren könnten. Es sind durchaus
einige Veränderungen und Anpassungen nötig, die man
aber gemeinsam und zielgerichtet verwirklichen sollte.

Im Übrigen ist vielleicht ein weiterer Blick in das Be-
rufsbildungsgesetz notwendig, um festzustellen, was al-
les bereits jetzt möglich ist. Denn ein Gesetz abstrakt zu
verändern, obwohl das geltend e Gesetz allen Forderun-
gen gerecht wird, zeigt, wie wenig man sich bisher mit
dem Gesetz auseinander gesetzt hat.


(Beifall bei der SPD sowie der Abg. Grietje Bettin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Andere Kollegen haben schon ausgeführt, was das
Gesetz in Bezug auf die zweijährige Ausbildung, T eil-
qualifikation und anderes bereits ermöglicht. W ir wer-
den es Schritt für Schritt ve rbessern und dabei in seiner
Vielfalt erhalten, weil die Auseinandersetzung in der Ge-
sellschaft gezeigt hat, wie un terschiedlich die Erwartun-
gen in der betrieblichen Praxis sind.


Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1503708700

Gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin

Pieper?


Dr. Ernst Dieter Rossmann (SPD):
Rede ID: ID1503708800

Das würde ich gerne machen, aber ich habe nur noch

wenig Redezeit. Deshalb fahre ich lieber fort.


(Jörg Tauss [SPD]: Es wird nicht angerechnet!)


– Wenn es nicht angerechnet wird, ist es mir recht.


Cornelia Pieper (FDP):
Rede ID: ID1503708900

Herr Kollege Rossmann, würden Sie bitte zur Kennt-

nis nehmen, dass sich nich t nur die Politiker , sondern
auch die Bildungsexperten – ich habe das heute schon
mehrmals ausgeführt – und das zuständige Bundesinsti-
tut mit dem Berufsbildungsgesetz befassen und dass die
Experten darauf hinweisen, dass es nach der geltenden
Fassung des Berufsbildungsgesetzes nicht möglich ist,
durchgängig für alle Berufe eine zweijährige Grundaus-
bildung mit Qualifizierungsbausteinen zuzulassen? Das
ist aber der Weg, den wir beschreiten müssen, um mehr
Flexibilisierung und Dif ferenzierung der Berufsausbil-
dung zu erreichen.


Dr. Ernst Dieter Rossmann (SPD):
Rede ID: ID1503709000

Ich will Ihnen in Fortsetzung meiner Überlegungen

antworten: Wenn man mit vielen Beteiligten in der Pra-
xis spricht, dann hört man vonseiten des Handwerks:
Lasst bloß die Hände von der zweijährigen Ausbildung!


(Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Das stimmt nicht!)


Wir brauchen hinsichtlich der Qualifikation und der An-
forderungen eine dreijährige, hoch qualifizierende Aus-
bildung.


(Cornelia Pieper [FDP]: Das stimmt nicht! – Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Das war in der Vergangenheit!)







(A) (C)



(B) (D)


Dr. Ernst Dieter Rossmann
– Werfen Sie einen Blick in die Unterlagen und nehmen
Sie Kontakt zu Ihrem örtlichen Handwerk auf! Wenn Sie
denen mit der zweijährigen Ausbildung kommen, wer-
den sie Ihnen sagen, dass sie diese nicht wollen.

Andere Betriebe wünschen sich eine differenziertere
Struktur. Alles in allem lässt sich das im Berufsbil-
dungsgesetz wiederfinden. Dass es eine durchgängige
Meinung in der Theorie wie in der Praxis gäbe, dass eine
gestufte Ausbildung in zwei Jahren und eine anschlie-
ßende Weiterbildung notwendig seien, deckt sich eben-
falls nicht mit dem, was wir aus der Metallindustrie, der
Elektrobranche und anderen Bereichen hören. Im Ge-
genteil: Dort werden Forder ungen nach einer größeren
Differenzierung erhoben, denen man noch auf den
Grund gehen kann.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Erlauben Sie mir, noch einen anderen Punkt anzuspre-
chen, der vertieft werden könnte. Es wurde die Frage ge-
stellt, warum so wenig Betriebe ausbilden. Auch in dieser
Frage zeigt ein Blick in die Geschichte, dass es sich dabei
nicht um einen T rend handelt, der erst mit dem Regie-
rungswechsel 1998 begonnen hat. V ielmehr handelt es
sich um längerfristige Trends, die etwas mit veränderten
Betriebsstrukturen, dem veränderten Verhältnis von gro-
ßen und kleinen Betrieben und der zunehmenden Zahl
von Existenzgründungen – die Unternehmen beginnen
nicht unbedingt gleich mit dem Ausbildungsbetrieb – zu
tun haben.

Wenn Sie mir nicht glaube n, werfen Sie einen Blick
in den Berufsbildungsbericht 2002! Darin gibt es eine
interessante Statistik in Bezug auf die gesetzlichen Aus-
bildungsvoraussetzungen nach Betriebsgrößenklassen
und Branchen. W enn es richtig ist, dass nur rund
56 Prozent der Betriebe ausbildungsberechtigt sind,
dann zeigt diese Statistik, dass es in den Kategorien von
ein bis neun Beschäftigten, zehn bis 49, 50 bis 499 und
über 500 ein riesiges Potenzial, insbesondere bei den
kleinen Betrieben, gibt, das noch nicht entdeckt worden
ist. Dabei handelt es sich um das Potenzial der Verbund-
ausbildung in kleinen Betrieben.


(Michael Kretschmer [CDU/CSU]: Wir haben es schon entdeckt!)


51 Prozent der Betriebe mit bis zu neun Beschäftigten
erfüllen die Ausbildungsvor aussetzungen im Betrieb.
Aber im Verbund können zusätzlich 46 bis 47 Prozent
der Betriebe diese V oraussetzungen erfüllen. Nur ein
sehr kleiner Teil der Betriebe wäre also weder theore-
tisch noch praktisch in der Lage, auszubilden. Dieses Po-
tenzial müssen wir ausschöpfen, wenn wir mehr Betriebe
in Ausbildung hineinbringen wollen und mehr betriebli-
che Ausbildungschancen wollen; denn die Alternative
wäre, alles überbetrieblich zu organisieren. Wir wollen
aber, dass die Ausbildung in den Betrieben stattfindet.

Deshalb ist das, was Sie, Frau Ministerin, jetzt auf
den Weg gebracht haben, eine Hilfe. Das Programm
„Kapital für Arbeit“ ist ja vor allen Dingen etwas für
kleine Betriebe. Auch die von Ihnen veranlasste Ausset-
zung und Überprüfung der Ausbilder -Eignungsverord-
nung sind eine Erleichterung für die kleinen Betriebe.
Die Maßnahme, die Aufgaben der Lehrstellenentwick-
lung aus den neuen Bundesländern auch auf die alten zu
übertragen – das ist eine Schlüsselstelle –, wird gerade
die kleinen Betriebe in die Ausbildungsverbünde hinein-
bringen.

Das sollten wir alle gemeinsam unterstützen. Auch
Sie von der Opposition haben hier die Chance, bewusst-
seinsverändernd auf die kleinen Betriebe einzuwirken
und darauf hinzuweisen: Ausbildung kostet euch nicht
unendlich viel Geld, sonder n ist eine Chance. Ihr habt
eine gesellschaftliche Brings chuld. Nur so kann die
Wirtschaft in diesem Land wieder Vertrauen fassen. Das
ist eine spezifische Anforder ung an eine Berufsausbil-
dungsreform, bei der wir auch das Berufsbildungsgesetz
berücksichtigen müssen und die wir gemeinsam angehen
sollten.

Sie erlauben noch folgende ideologische, aber auch
zum Nachdenken anregende Bemerkung: W enn man
sich die Statistiken anschaut , aus denen hervorgeht, wie
viele Betriebe in welchen Branchen ausbilden, dann
stellt man fest, dass die Ausbildungsbereitschaft im Nah-
rungs- und Genussmittel- sowie im Baubereich überpro-
portional hoch ist. Im Baubereich wird faktisch am meis-
ten ausgebildet. Ist das so, weil er durch eine Umlage
gestört oder entlastet wird? Zumindest diese Frage
möchte ich in den Raum st ellen, bevor wir wieder zu
ideologischen Keilereien übergehen.


(Beifall bei der SPD)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1503709100

Herr Kollege, Ihre Redezeit ist bereits beendet.


Dr. Ernst Dieter Rossmann (SPD):
Rede ID: ID1503709200

Noch ein S chlussgedanke: Bei allem, was jetzt als

verbaler Schlagabtausch abläuft, müssen wir im Bundes-
tag für eine positive Stimmung zugunsten einer Berufs-
bildungsreform sorgen. Diese Reform darf nicht als stö-
rend empfunden werden. Entscheidend ist dabei auch,
wie wir darüber diskutieren und dass wir die Erwartun-
gen an diese Reform nicht zu hoch schrauben. Wir müs-
sen den Bund, die Länder, die Bundestagsfraktionen und
die Betriebe zur Zusammenarbeit motivieren. Dafür wer-
ben wir; denn das ist das W ichtigste. Das sollte es auch
für Sie sein, wenn Sie wieder einmal regieren sollten.


Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1503709300

Herr Kollege, das ist doch ein schöner Schlusssatz.


Dr. Ernst Dieter Rossmann (SPD):
Rede ID: ID1503709400

Danke schön.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1503709500

Ich schließe damit die Aussprache.

Interfraktionell wird die Überweisung der V orlagen
auf den Drucksachen 15/653, 15/587, 15/739 und 15/741






(A) (C)



(B) (D)


Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer
an die in der T agesordnung aufgeführten Ausschüsse
vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist
der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.

Ich rufe die T agesordnungspunkte 17 a und 17 b so-
wie die Zusatzpunkte 4 a und 4 b auf:

17 a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Ab-
kommen vom 31. Juli 2001 zwischen der Re-
gierung der Bundesrepublik Deutschland und
der Regierung des Königreiches Thailand
über den Seeverkehr

– Drucksache 15/716 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen (f)

Finanzausschuss
Ausschuss für Tourismus

b) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Siebenten Gesetzes
zur Änderung des Gemeindefinanzr eformge-
setzes

– Drucksache 15/510 –
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss (f)

Innenausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit

ZP 4 Weitere Überweisungen im vereinfachten Ver-
fahren (Ergänzung zu TOP 17.)


a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Maria
Eichhorn, Hannelore Roedel, Dr . Maria Böhmer,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
CDU/CSU

Benachteiligung von Frauen wirksam be-
kämpfen – Konsequenzen ziehen aus dem
CEDAW-Bericht der Bundesregierung

– Drucksache 15/740 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (f)

Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung

b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Lothar
Mark, Hans Büttner (Ingolstadt), Detlef
Dzembritzki, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Hans-
Christian Ströbele, Dr . Ludger Volmer, Volker
Beck (Köln), weiterer Abgeordneter und der
Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN

Wiederbelebung des Friedensprozesses in Ko-
lumbien

– Drucksache 15/742 –
Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss (f)

Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Es handelt sich um Überwe isungen im vereinfachten
Verfahren ohne Debatte.

Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an
die in der T agesordnung aufgeführten Ausschüsse zu
überweisen. Der Gesetzentwurf auf Drucksache 15/510
soll zusätzlich zur Mitberatung und gemäß § 96 der Ge-
schäftsordnung an den Haushaltsausschuss überwiesen
werden. Sind Sie einverstanden? – Das scheint der Fall
zu sein. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.

Ich rufe Tagesordnungspunkt 18 b auf:

Beratung der Beschlusse mpfehlung des Rechts-
ausschusses (6. Ausschuss)


Übersicht 2
über die dem Deutschen Bundestag zugeleiteten
Streitsachen vor dem Bundesverfassungsgericht

– Drucksache 15/656 –

Es handelt sich um eine Beschlussfassung, zu der
keine Aussprache vorgesehen ist. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? – Gibt es Gegenstimmen? – Ent-
haltungen? – Die Beschlusse mpfehlung ist einstimmig
angenommen worden.

Ich rufe den Zusatzpunkt 5 auf:

Beratung der Beschlussempfehlung des Aus-

(V ermittlungsausschuss)

Änderung des Gesetzes zur Neur egelung des
Energiewirtschaftsrechts

– Drucksachen 15/197, 15/432, 15/657, 15/712 –

Berichterstattung:
Abgeordneter Ludwig Stiegler

Wird das W ort zur Berichterstattung gewünscht? –
Wird das Wort zur Erklärung gewünscht? – W ir kom-
men dann unmittelbar zur Abstimmung. Der V ermitt-
lungsausschuss hat gemäß § 10 Abs. 3 Satz 1 seiner Ge-
schäftsordnung beschlossen, dass im Deutschen
Bundestag über die Änderung gemeinsam abzustim-
men ist. Wer stimmt für di e Beschlussempfehlung des
Vermittlungsausschusses auf Drucksache 15/712? – Ge-
genprobe! – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung
ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der
CDU/CSU gegen die Stimmen der FDP angenommen
worden.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 5 auf:

Beratung der Unterrichtung durch den W ehrbe-
auftragten

Jahresbericht 2002 (44. Bericht)


– Drucksache 15/500 –

Überweisungsvorschlag:
Verteidigungsausschuss

Nach einer interfraktionelle n Vereinbarung sind für
die Aussprache eineinviertel Stunden vor gesehen. – Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist auch so beschlossen.






(A) (C)



(B) (D)


Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst
der Wehrbeauftragte des Deutschen Bundestages,
Dr. Willfried Penner. Herzlich willkommen!

Dr. Willfried Penner, Wehrbeauftragter des Deut-
schen Bundestages:

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich be-
danke mich sehr für den fre undlichen Gruß, Frau Präsi-
dentin.

Heute ist Veränderung das zentrale Thema der Bun-
deswehr, ohne dass die seit langem bekannten sonstigen
Angelegenheiten des militärischen Alltags damit bewäl-
tigt seien. Veränderung, das bedeutet eine zunehmende
Anzahl von Einsätzen sowie eine zunehmend abstrakter
werdende Notwendigkeit der Landes- und Bündnisver-
teidigung. Dies hat Auswirkungen auf die Soldaten und
deren Familien und infolgedessen auf die Quantität und
Beschaffenheit der Eingaben und des mündlichen V or-
bringens. Es kommt nicht von ungefähr , dass die Einga-
ben aus dem Einsatz mit mehr als 100 Prozent die
höchste Steigerungsquote gegenüber dem V orjahr auf-
weisen. In konkreten Zahl en: Es gab 1 150 Vorgänge
dieser Art in 2002 gegenüber 570 Eingaben in 2001.

Der Einsatz ist für immer mehr Soldaten zum Be-
standteil des Dienstes geworden. Diese Einsätze funktio-
nieren teilweise vorbildlich; aber es gibt unübersehbar
Schwächen, Missstände und Fehler.

Ein Beispiel: Allein zum Auslandsverwendungszu-
schlag haben mich 450 Eingaben erreicht. Einmal wurde
eine Herabstufung generell beklagt, ein anderes Mal
wurden Umstände zur Ermittlung der Herabstufung kri-
tisiert. In anderen Fällen wurden Einwände gegen eine
zu geringe Einstufung vor gebracht. Es wurde außerdem
kritisiert, dass eine Herabs tufung nach einer Stichtags-
regelung für Soldaten eines im Einsatz befindlichen
Kontingents – trotz eines gegebenen Ministerwortes –
vorgenommen wurde.

Ein weiteres Beispiel: Immer wieder gibt es V ersor-
gungsfragen an die Adress e des Dienstherrn für den
„Fall des Falles“. Nicht zu ver gessen sind Probleme im
Zusammenhang mit der einges chränkten „Einsatztaug-
lichkeit“ des deutschen No rmen- und V orschriftenge-
flechts. In einem Fall wurden Soldaten bei einem Aus-
landseinsatz im Gebir ge die leichten Bergstiefel nicht
ausgegeben, weil diese nach dem Ausstattungssoll nur
für die Gebirgsjäger vorgesehen waren.


(Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Natürlich gibt es auch Ei ngaben, die mit der Proble-
matik der sechsmonatigen Einsatzdauer – sie hat be-
sonders herbe Auswirkungen für junge Familien – zu tun
haben. Die Eingaben aus dem Einsatz haben übrigens
nicht nur Bedingungen des Einsatzes selbst zum Gegen-
stand, sondern es geht auch um die künftige Verwendung
im Inland, um Konsequenz en aus der Auflösung der
Stammeinheit, um Umzugskosten, um Fragen zu Reich-
weite und Umfang des V ersicherungsschutzes, also um
Alltagsfragen, usw.
Ein Problem, für das inzwischen eine Lösung gefun-
den wurde, ist der mangelhafte Zustand des Feldlaza-
retts Rajlovac: Der vom Bundesministerium der Vertei-
digung favorisierte Neubau kann nun endlich beginnen;
das Bundesministerium der Finanzen hat dafür endlich
grünes Licht gegeben – und das ist gut so.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Die Eingaben bezogen auf Bundeswehr im Inland ha-
ben – neben dem Flickenteppich völlig unterschiedlicher
Problemfelder – einen herausragenden Schwerpunkt: die
Personalangelegenheiten.

Gewiss hat das auch mit den Auswirkungen des At-
traktivitätsprogramms zu tun, etwa damit, dass die
Kompaniechefs und Einheits führer nunmehr nach A 12
und nicht mehr wie bisher nach A 11 besoldet werden,
was diejenigen zu Zweifeln an der Gerechtigkeit heraus-
forderte, die sich schon au f einem A-12-Dienstposten
bewährt hatten und sich in Folgeverwendungen weiter
mit A 11 zufrieden geben mussten. Man kann den Är ger
eines Hauptmanns schon verstehen, wenn sein Nachfol-
ger auf dem Dienstposten, te ilweise im Dienstgrad nie-
driger und regelmäßig an Lebensjahren jünger , Nutznie-
ßer der Neuregelung wird und damit an ihm vorbeizieht.
Natürlich beschwert sich der Begünstigte nicht.

Auch zur Einführung der neuen Laufbahn der Fach-
unteroffiziere hat es nicht wenige kritische Stimmen ge-
geben. Fest steht, das Interesse an dieser neuen Laufbahn
ist groß. Die hohe Anzahl der Bewerber beweist dies: Im
Jahre 2001 gab es im Bereich der Unterof fiziere und
Mannschaften rund 33 000 Bewerber bei den Zentren für
Nachwuchsgewinnung; im Jahre 2002, also nach Ein-
führung der neuen Laufbahn, waren es rund 46 000. Das
bedeutet aber nicht, dass die „alten“ Unteroffiziere nicht
ihre Schwierigkeiten mit den neuen Möglichkeiten hät-
ten. Ihnen fällt es schwer , die „neuen“ Kameraden als
gleichwertig zu akzeptieren, weil sie deren militärische
Qualitäten bezweifeln und sich gegenüber den „Neuen“
zurückgesetzt fühlen.

Überhaupt lassen Unteroffiziere im unmittelbaren Ge-
spräch zunehmend Verdruss, Resignation und berufliche
Unzufriedenheit erkennen. Dies bezieht sich nicht allein
auf die geläufigen Probleme des militärischen Alltags
wie etwa die W underlichkeiten der Militärbürokratie.
Die stärker werdende Bede utung der Bundeswehr als
Einsatzarmee wirkt sich zunehmend zulasten der Solda-
ten im Inland aus. Mehrf achvertretungen können die
Folge sein und sind die Folge. Ausbilder fehlen, worun-
ter die Ausbildung leiden ka nn. Qualitativ hochwertiges
Gerät wird im Einsatz benö tigt und die Ersatzteillage
wird nach wie vor als nicht zufriedenstellend geschildert.
Es ist ja auch nicht motivierend, wenn ein Fahrzeug we-
gen Fehlens eines Dichtungsr ings, den man für 50 Cent
überall kaufen kann, wochen lang stillsteht und zugleich
ein weiteres Kraftfahrzeug abgezogen wird. Bisweilen
aber – auch dies ist wahr – lässt sich der Eindruck nicht
von der Hand weisen, dass ge rade bei den Soldaten, die
sich besonders kritisch ä ußern, falsche V orstellungen
über berufliche Chancen au f dem zivilen Arbeitsmarkt
vorherrschen.






(A) (C)



(B) (D)


Wehrbeauftragter Dr. Willfried Penner
Auch folgender Punkt gehört zum Thema Personalan-
gelegenheiten und war für die Soldaten wichtig: die ge-
setzlich eröffnete Möglichkeit des vorzeitigen Ausschei-
dens aus der Bundeswehr für insgesamt 3 000 Soldaten
der Jahrgänge 1956 und älte r bis zum Ende des Jahres
2006. Rund 5 800 Soldaten waren bisher daran interes-
siert. Sie waren teilweise enttäuscht, weil sie nicht in Be-
tracht kamen. Das dienstliche Interesse am Abbau der
Personalüberhänge ist allein ausschlaggebend dafür, ob
jemand in Betracht kommt od er nicht. Die hohe Anzahl
der vor der üblichen Zeit Ausscheidungswilligen ist al-
lerdings als Indikator im Zusammenhang mit Berufszu-
friedenheit bemerkenswert.

Frau Präsidentin, meine Damen und Herren, die Qua-
lität des Sanitätswesens ist gewiss auch für die Berufs-
zufriedenheit maßgeblich. Sie nimmt Schaden, wenn
operative Eingriffe in den Bundeswehrkrankenhäusern
nicht stattfinden können, we il Chirurgen, Anästhesisten
und Orthopäden fehlen, da sie im Einsatz unabkömmlich
sind. Noch eines muss ich be richten: Tagesantrittsstär-
ken zwischen 40 und 60 Prozent sind für T ruppenärzte
keine Seltenheit. Jüngst ist mir sogar von einer Tagesan-
trittsstärke von nur 16 Prozent berichtet worden. Damit
sind Personalprobleme im Bereich der Sanitätsof fiziere
nicht abschließend aufgezählt. Die Zahl der Berufsbe-
werber ist weiterhin rückläufig. Auf eine Stelle kommen
zwei geeignete Bewerber; die Möglichkeiten, Seitenein-
steiger zu gewinnen, sind eher mäßig.

Frauen in der Bundeswehr , das ist inzwischen ein
Kapitel des militärischen Alltags. Mit anderen W orten:
Sie gehören einfach dazu. Dies spiegelt sich auch in den
Gesprächen und Eingaben wider und unterscheidet sich
vielfach nicht vom Vorbringen ihrer männlichen Kame-
raden. Das reicht von einer zu langen Bearbeitungsdauer
von Anträgen bis hin zu unerfüllten V ersetzungswün-
schen.

Aber auch dies ist wahr: Die Zahl der Verstöße gegen
die sexuelle Selbstbestimmung von weiblichen Soldaten
ist angestiegen. Im Berichtsjahr waren es 57, im Jahre
2001 waren es 20. Regelmäßig ging es um plumpe An-
mache oder noch plumpere V erbalerotik, ergänzt durch
Betatschen und andere körperliche Kontakte. Durchweg
passt die Bundeswehr auf und reagiert richtig, was gele-
gentliche Schwächen nicht ausschließt.

Ein Beispiel für eine solche Schwäche in der Reaktion
sei hier berichtet: Ein Oberleutnant zur See betrat in
stark alkoholisiertem Zustand die Stube einer schlafen-
den Soldatin und legte sich nackt neben sie ins Bett. Als
sie aufwachte, versuchte er sie zu küssen; auf ihre Auf-
forderung hin verließ er die Stube. Gegen den Soldaten
wurde ein Verweis verhängt. Ich meine, es geht nicht,
dass eine solche Angelegenheit gewissermaßen unter
vier Augen beigelegt wird.


(Ursula Lietz [CDU/CSU]: Sehr richtig!)


Eines schätzen die Soldaten im Übrigen ganz und gar
nicht: ein angestrengtes, ja angespanntes Verhalten von
Vorgesetzten im Umgang mit ihnen bis hin zur unge-
wöhnlichen Wortwahl, und dies nur , um Fehler zu ver-
meiden.
Frau Präsidentin, meine Da men und Herren, es sieht
so aus, als werde die Phase der Veränderungen in der
Bundeswehr noch Jahre dauern. Jüngsten Äußerungen
des Bundesministers der V erteidigung zufolge werden
die diesbezüglichen Prozesse der Anpassung und Um-
steuerung bis weit in das nächste Jahrzehnt reichen und
das sind möglicherweise we itere Standortschließungen,
weniger Panzer, weniger Tiger, Außerdienstnahme von
Waffensystemen der Luftwaffe, Übernahme von Luftge-
rät und Auftrag von Marinefliegern durch die Luftwaf fe
sowie Außerdienstnahme von Schnellbooten, um die Ar-
mee im Einsatz so gut wie möglich ausstatten zu können.

Meine Damen und Herren, es besteht Veranlassung,
darauf hinzuweisen, dass solche Veränderungen nur grei-
fen können, wenn die im engeren Sinne Betrof fenen,
nämlich die Soldaten, auch mittun und sie nicht nur über
sich ergehen lassen. Die Parlamentsarmee Bundeswehr
muss gerade insoweit erfahr en, dass sie tatsächlich eine
Angelegenheit des Parlaments ist.


(Beifall bei der FDP sowie des Abg. Winfried Nachtwei [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Vielleicht gehört dazu auch die große sicherheitspoli-
tische Debatte über die Rolle des vereinigten Deutsch-
lands in der Welt. Sie hätte nach der Wende stattfinden
müssen und ist bis heute ausgeblieben. Nach meiner Ein-
schätzung ist sie für die Justierung der Bundeswehr und
die Orientierung der Soldaten weiterhin geboten.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Es ist und bleibt politisch unbefriedigend, dass das Bun-
desverfassungsgericht und nicht das Parlament oder die
Bundesregierung die entsch eidenden diesbezüglichen
politischen Markierungen gesetzt hat.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/ CSU, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der FDP)


Im Übrigen bin und bleibe ich der Überzeugung, dass
gerade eine Bundeswehr im Einsatz eine nach Ost und
West unterschiedliche Besoldung nicht verträgt.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/ CSU, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der FDP)


Frau Präsidentin, meine Damen und Herren, eine ab-
schließende Bemerkung: Di e Einsätze mit Beteiligung
deutscher Soldaten sind noch gefährlicher geworden, als
sie es ohnehin schon waren, auch wenn die Bundeswehr
und ihre Soldaten nicht am Krieg im Irak teilnehmen.
Das ist Herausforderung und Verpflichtung für politische
Verantwortung. Unbeschadet politischer Meinungsunter-
schiede und über die Parteigr enzen hinweg müssen ge-
rade Soldaten im Einsatz wissen und darauf vertrauen
können, dass ihr Dienst po litisch und gesellschaftlich
ganz breit getragen wird.

Schönen Dank fürs Zuhören.


(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der FDP)







(A) (C)



(B) (D)


Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1503709600


Lieber Herr Penner, wir haben nicht nur eine Parla-
mentsarmee, sondern auch einen Parlamentsbeauftrag-
ten. Sie tun Ihre Arbeit fü r uns alle, für das Parlament.
Dafür und auch für Ihren Be richt möchte ich mich be-
danken.


(Beifall)


Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Anita Schäfer.


Anita Schäfer (CDU):
Rede ID: ID1503709700


Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Wehrbeauftragter Dr. Penner, Sie haben in Ihrer
Rede und in Ihrem Jahresbericht 2002 auf zahlreiche De-
fizite in der Bundeswehr hi ngewiesen. Das liegt in der
Natur eines Mängelberichts. Für Ihren Bericht danke ich
Ihnen auch im Namen meiner Fraktion. Ebenso gilt un-
ser Dank natürlich auch Ihren Mitarbeitern und Mitar-
beiterinnen.

Gemessen an der Truppenstärke der Bundeswehr sind
die über 6 400 Eingaben ein Maximum. Man kann auch
sagen: Noch nie hatten so wenige Soldaten – die Bun-
deswehr hat den niedrigsten Personalbestand seit dem
Jahr 1961 – so viele Sorgen.

Eine Ursache, wenn nicht die Ursache der hohen Zahl
der Eingaben liegt gerade in der T ruppenstärke. Noch
nie hatten so wenige Soldaten so viele Aufträge zu be-
wältigen. Auslandseinsätze sind Normalität geworden
und die Aufgaben in der He imat werden nicht weniger;
ganz im Gegenteil. Ich denke nur an die Bewachung
amerikanischer Liegenschaften. Bundeswehr im Einsatz
kann aber nur gut gehen, wenn zu Hause alles in Ord-
nung ist.

Was ist nun der Kern des 44. Berichts des Wehrbeauf-
tragten? Es ist der dramatische Abstand zwischen dem
rot-grünen Anspruch und der W irklichkeit. Diese Bun-
desregierung hat einfach ke in Gesamtkonzept, weder in
der Verteidigung, noch in anderen Politikbereichen. Wir
brauchen endlich wieder eine Sicherheitspolitik nach
Bedrohungslage und nicht nach Kassenlage.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Herr Dr. Penner, leider unterlassen S ie es, aus den
Elementen Ihres Berichts ein Gesamtbild zu zeichnen.
Viele Eingaben liegen genau in diesem Problem begrün-
det. Aber Sie scheuen sich, es deutlich aufzuzeigen. In
Ihrer Pressekonferenz anlässlich der Vorstellung des Be-
richts neulich ging Ihre Kritik an der Bundesregierung
weiter. Zu Recht forderten Sie Berechenbarkeit und Füh-
rungsverantwortung von der politischen Führung der
Bundeswehr. Hier liegt der Hund begraben: Die Mehr-
zahl der Soldatinnen und Soldaten fühlt sich einer unbe-
rechenbaren und sprunghaften politischen Führung aus-
gesetzt. Das Gefühl, verantwortungsvoll und weitsichtig
geführt zu werden, fehlt vielen Soldaten. W oher soll es
auch kommen, wenn nur mit kurz- und mittelfristigen
Aktionen regiert wird? Reform über Reform verunsi-
chert die Truppe.
Genau aus diesem Klima ergeben sich die handfesten
Gründe, die zu den vielen Eingaben an den W ehrbeauf-
tragten führen. An drei Themen zeigt sich das. Ich nenne
erstens das Attraktivitätsprogramm, zweitens die Nach-
wuchswerbung und drittens die Fürsor ge des Dienst-
herrn.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, was den ersten
Punkt angeht, kann ich nur empfehlen: Zu Risiken und
Nebenwirkungen des Attraktivitätsprogramms fragen
Sie Ihren Wehrbeauftragten. – Jede dritte Eingabe be-
trifft den Bereich Personalführung. Viele der groß an-
gekündigten Maßnahmen hatten nur einen kurzfristigen
Effekt. Wer zur richtigen Zeit am richtigen Ort war, hatte
Glück. Viele andere wurden benachteiligt. Die an sich
positive Hebung der Stellen für Kompaniechefs nach
A 12 hat erhebliche Probleme mit Folgeverwendungen
gebracht. Dazu ein groteskes Beispiel: Ein Oberleutnant,
Zugführer und Vermessungsingenieur, hat zweimal die
Beförderung zum Batteriechef und damit nach A 12 aus-
geschlagen, weil er um seine Folgeverwendung nach
A 11 im Militärgeographischen Dienst fürchtete; die Er-
eignisse gaben ihm Recht. Das Attraktivitätsprogramm
hatte also zur Folge, dass Leistungsträger durch die
Übernahme von Führungsverantwortung Nachteile er-
fahren konnten.

Andere Offiziere und Feldwebel mussten erleben,
dass deutlich jüngere Soldaten an ihnen vorbeizogen und
rasant befördert wurden. Diesen Petenten geht es weni-
ger um materielle Nachteile als vielmehr um ihre Aner-
kennung und Selbstachtung. Ein Petent merkt zu Recht
an, dass solche Ungleichbe handlungen Unruhe bis auf
Kompanieebene bringen und man sich dann die Frage
stellt: Was habe ich falsch gemacht?

Fachunteroffiziere mögen ja helfen, personelle Lü-
cken zu schließen. Es muss aber auch gewährleistet sein,
dass die Seiteneinsteiger mit höherem Dienstgrad den
allgemeinen Anforderungen entsprechen. Gerade die
mangelnde Fähigkeit, Menschen zu führen, erntet aber
viele kritische Stimmen aus der Truppe. Aus Gesprächen
mit jungen Kompaniechefs sind mir deren Sor gen be-
kannt, dass Fachunterof fiziere nicht überzeugen, dass
die Truppe sie nicht anerkennt. Es ist beklagenswert,
wenn der Dienstgrad nur noch etwas über die Besol-
dungsgruppe, aber nichts me hr über die Fähigkeit zum
Führen von Soldaten aussagt. Führungskompetenz ist
immer noch das, was die So ldaten am meisten brauchen
und schätzen.

Gleichzeitig fühlen sich ab er altgediente Unterof fi-
ziere und Feldwebel degradiert, weil sie oft die Aufga-
ben von qualifizierten Ma nnschaftsdienstgraden über-
nehmen müssen. Ob sich diese Probleme auf eine
Übergangsphase beschränken lassen, bleibt zu bezwei-
feln. Das Attraktivitätsprogramm hat zu viele Nebenwir-
kungen. Die militärische Ausbildung der Fachdienst-
unteroffiziere muss deutlich verbessert werden. Die
Folgeverwendungen der Kompaniechefs müssen ange-
passt werden.

Ich komme zweitens zur Nachwuchswerbung der
Bundeswehr. Wie sehr die Nachwuchsgewinnung stockt,
zeigt das weiterhin rückläufige Bewerberaufkommen für






(A) (C)



(B) (D)


Anita Schäfer (Saalstadt)

Offizierstellen, ganz besonders für Sanitätsof fizierstel-
len. Wie nachlässig man an die Nachwuchswerbung
herangeht, zeigen zum Beispi el Fälle, in denen Zeitsol-
daten bei der Bewerbung keine V orstellung vermittelt
bekommen, was es heißt, Sold at zu sein. Das V erteidi-
gungsministerium muss hier kräftig nachbessern und den
Bewerbern mehr Informationen geben. Bei allen Äuße-
rungen, angefangen bei dene n des Ministers, muss klar
werden, dass Soldat kein Beruf wie jeder andere ist. Ein
einheitliches soldatisches Berufsbild muss vermittelt
werden.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Junge Menschen vermissen daher logischerweise eine
klare Perspektive bei der Bundeswehr. Es darf nicht vor-
kommen, dass Bewerbern nichts über die allgemeine
Grundausbildung gesagt wird. Aus den Petitionen an den
Wehrbeauftragten ergibt sich deutlich die Erkenntnis:
Auf Nachwuchswerbung legt der Verteidigungsminister
nicht seinen Schwerpunkt. Ich fordere daher mehr En-
gagement von Minister Struck in dieser Sache. Ansons-
ten hat die Bundesregierung fü r die Einsätze bald keine
Soldaten mehr.

An der Nachwuchswerbung wird aber noch etwas
deutlich: Die rot-grüne Regier ung schafft es nicht, das
Ansehen des Soldatenberufs unter Jugendlichen zu stei-
gern; vermutlich will sie das auch gar nicht. W er eine
Armee in den Einsatz schickt, muss auch hinter ihr ste-
hen. Ich glaube, viele Jugendliche spüren, dass diese Re-
gierung zwar die Bundeswehr braucht, sie aber nicht
schätzt.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Die Worte Spardiktat und Unterfinanzierung sagen viel
aus. Neben den Verdienstmöglichkeiten ist aber das An-
sehen eines Berufs für Juge ndliche der wichtigste Ent-
scheidungsfaktor.

Heute dominiert aber eine Ohne-mich-Einstellung die
Sicht der Jugend auf die Bundeswehr . Das vermeintlich
hohe Ansehen in Meinungs umfragen geht mit weit ge-
hendem Desinteresse einher, wie es der Truppe wirklich
geht. Viele Soldaten meinen auch, ein Desinteresse der
Politik zu spüren. Verteidigungspolitik wird ausschließ-
lich als Sparpolitik empfunden, ausgetragen auf dem Rü-
cken der Soldaten. Die polit ische Symbolik sowie Sinn
und Zweck der Einsätze bleiben nachrangig.

Viele Eingaben an den Wehrbeauftragten zeigen, dass
die Grenze der materiellen wie auch der ideellen Belast-
barkeit der Streitkräfte erreicht ist. Die starke Belastung
im Dienst dringt auch nach außen und wird von der Ge-
sellschaft wahrgenommen. Damit bin ich bei meinem
dritten Punkt, der Fürsorge des Dienstherrn angesichts
der starken Belastungen. Fürsor ge muss als ganzheitli-
che Aufgabe gesehen werden, als der wichtigste Faktor
eines gegenseitigen Treueverhältnisses.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Fürsorge zeigt sich in Folgendem: in der materiellen
Ausstattung, in der Or ganisation des Dienstes, in der
Rechtsklarheit im Dienst, in der sozialen Absicherung
und besonders darin, dass si ch der Dienstherr um die
menschlichen Probleme der Soldatinnen und Soldaten
kümmert.

Die angesprochene Unterfinanzierung der Bundes-
wehr hat materielle Defizite entstehen lassen. Mittler-
weile sind die Kasernen in den alten Bundesländern oft
in einem schlechteren Zustand als die Kasernen in den
neuen Ländern. Zahlreiche Eingaben beklagen Schäden
und Schimmelbefall in den Unterkünften. Übertriebene
Sparmaßnahmen bei den Heizkosten haben neue Schä-
den verursacht. Hier wird Sparen teuer und für die
Truppe nicht mehr nachvollziehbar.

Damit ist der vorliegende Be richt auch eine nachhal-
tige Aufforderung an die Bundesregierung, ihren Solda-
ten eine menschenwürdige Unterbringung bereitzustel-
len.

Das gilt auch für die Schiffe und Boote der Marine. In
tropischen Gewässern eing esetzte Einheiten können
nicht ohne Klimaanlagen operieren. Starker Schimmel-
befall in den Kajüten darf den Besatzungen nicht zuge-
mutet werden.

Wenn aus Kostengründen zu wenige gepanzerte Fahr-
zeuge im Einsatzland sind, dann werden die eingesetzten
Soldaten unnötigen Gefahren ausgesetzt. Angesichts der
Diskussion über einen Einsatz im Irak warne ich die
Bundesregierung aber, hierfür geschützte Fahrzeuge aus
anderen Einsätzen abzuziehen.

Einsätze müssen und können sich nur an den vorhan-
denen Ressourcen ausrichten. Das gilt im Besonderen
für die persönliche Ausstattung der Soldaten.

Die Versorgung mit Kleidung ist ein weiterer Punkt,
der die Stiefmütterlichkeit belegt, mit der Rot-Grün un-
sere Bundeswehr finanziert. W o, wie in meinem W ahl-
kreis, kein Geld bereitge stellt wird, um die Soldaten
rechtzeitig und ausreichend auszustatten, liegt es auf der
Hand, dass man von Ausstattungsherstellern die Produk-
tion schon mal zum Selbstko stenpreis verlangt. Das,
meine Damen und Herren, ist nun wirklich die Bankrott-
erklärung bezüglich der rot- grünen Fürsorge für unsere
Soldaten.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Eine Vielzahl von Eingaben an den Wehrbeauftragten
richtet sich gegen die Dauer des Auslandseinsatzes von
sechs Monaten. Die Folgen der Trennung von der Fami-
lie oder dem Lebenspartner sind schwerwiegend. V iele
Beziehungen geraten in Probleme. Mir persönlich ist ein Fall
bekannt, in dem der kurzfristig befohlene Anschlusse insatz
im Ausland nachweislich zu einer Frühgeburt bei der
Ehefrau des Soldaten geführt hat. Die mangelnde Ko-
ordination von Auslandseinsätzen lässt das absolut not-
wendige Mindestmaß an Fürs orge des Dienstherrn ver-
missen.


(Vorsitz: Vizepräsident Dr. Norbert Lammert)


So ist es auch kein W under, dass immer mehr Solda-
tenehen scheitern. Die dien stlichen Belastungen haben






(A) (C)



(B) (D)


Anita Schäfer (Saalstadt)

für viele Zeit- und Berufsso ldaten ein solches Ausmaß
erreicht, dass sie vor der Fr age Dienst oder Familie ste-
hen. Ich fordere daher den B undesminister der Verteidi-
gung auf, mit allen Mitteln zu verhindern, dass eine hohe
Scheidungsquote zum Berufs bild des Soldaten gehört.
Der Soldat im Auslandseins atz hat einen existenziellen
Anspruch auf Familienbetreuung. Ein Soldat, der sich
permanent Sorgen um P artner oder Familie machen
muss, ist nur teilweise einsatzfähig.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Mobilität gehört zwar zum Beruf des Soldaten, die
Stehzeiten im Ausland müssen aber besser or ganisiert
werden. Sie müssen verkürzt werden. Wer die Dauer des
Einsatzes als nebensächlich herunterspielt, verharmlost
das Problem. Für viele jung e Soldaten ist nach dem
Wegfall der traditionellen Abschreckung der sechsmona-
tige Einsatz die moderne Form der Abschreckung.

Eine weitere organisatorische Frage ist Teilzeitarbeit
für Soldatinnen und Soldaten. Neue, innovative Arbeits-
zeitmodelle können Familie und Beruf besser vereinbar
machen. Dienstposten in St abs- und Lehrverwendungen
bieten sich an, aber auch die Bereiche Nachwuchswer-
bung, Öffentlichkeitsarbeit oder Heimatschutz.

Zur Fürsorge des Dienstherrn gehört auch die Rechts-
klarheit. Es darf nicht sein, dass Soldaten ohne klare
Rechtsgrundlage in den Eins atz gehen. Es ist geradezu
beschämend für eine Regierung, wenn sie diese trotz al-
ler sich aufwerfenden Fragen stur verweigert. Ganz aktu-
ell ist das Problem der A WACS-Besatzungen. Aber es
gibt auch zahlreiche andere Beispiele. So können betrof-
fene Soldaten zum Beispiel nicht nachvollziehen, dass
die Novelle des MAD-Gesetzes, also ihre Rechtssicher-
heit, auf dem Altar des rot-grünen Koalitionsfriedens ge-
opfert wurde.

In diesem Zusammenhang ist auch die Anpassung des
Soldatenversorgungsgesetzes kein Privileg, es ist viel-
mehr eine zwingende Notw endigkeit. Die Bundesregie-
rung kann nicht Menschen nach Afghanistan in einen
lebensgefährlichen Einsatz schicken und die V ersor-
gungssicherung an den Gefahren einer deutschen Amts-
stube ausrichten. Wenn Tod und Verwundung im Ein-
satzland fast immer zum Rechtsstreit führen, dann
verliert die Truppe den letzten Rest an Vertrauen in die
politische Führung.

Zum Schluss noch ein Wort zu den Reservisten. Einga-
ben zeigen, dass sich viele Reservisten in der Schwebe
fühlen, was ihre militärisc he Zukunft angeht. Die lange
angekündigte Reservistenkonzeption steht noch immer
aus. Verbunden mit dem Mangel an Personal und Mate-
rial leiden so Ausbildung und Förderung. Gerade im
Hinblick auf den Heimatschu tz sind aber Reservisten
wichtig. Ich sage: ohne Reservisten kein Heimatschutz.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Wie dringend diese Frage für unser Land und unsere
Gesellschaft geworden ist, muss ich hier wohl keinem
mehr erklären. Das, lieber Herr Minister Struck, macht
letzten Endes auch deutlich , dass die derzeitigen Plan-
spiele der Koalition, die Wehrpflicht gegebenenfalls auf-
zugeben, nicht von Vorteil für das Land sind.


(Ursula Lietz [CDU/CSU]: Und trotzdem ist es geplant!)


Ich komme zum Schluss: Der 44. Bericht des W ehr-
beauftragten hat deutlich ge zeigt, dass die Kluft zwi-
schen dem politischem Anspruch und der Lage in der
Truppe immer größer wird . Diese Regierung hat fast
nichts unternommen, um die Lage der Streitkräfte zu
verbessern. Neben der dramatischen Unterfinanzierung
steht eine zunehmende Di stanz zwischen Bundeswehr
und Politik. Die Soldatinnen und Soldaten spüren, dass
diese Regierung sie zwar braucht, aber nicht wirklich
achtet.

Der diesjährige Bericht de s Wehrbeauftragten lässt
nur einen Schluss zu: Herr Bundeskanzler, Herr Verteidi-
gungsminister,


(Ursula Lietz [CDU/CSU]: Die sind ja beide nicht da!)


kümmern Sie sich mehr um die Bundeswehr . – Der
Kanzler braucht nicht da zu sein; der Bundesminister der
Verteidigung ist wichtig. – Sorgen Sie für eine den Auf-
trägen angemessene Finanzierung und Organisation.

Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1503709800


Ich erteile das W ort dem Parlamentarischen Staats-
sekretär Walter Kolbow.


(Manfred Grund [CDU/CSU]: Wo ist der Minister eigentlich hingegangen?)


W
Walter Kolbow (SPD):
Rede ID: ID1503709900


Herr Präsident! Liebe Ko lleginnen und Kollegen!
Herr Wehrbeauftragter, zunächst darf ich für die Exeku-
tive Ihnen, Herr Dr . Penner, und Ihren Mitarbeiterinnen
und Mitarbeitern für Ihren umfassenden Bericht herzlich
danken. Dieser dritte in Ihre r Amtszeit erstellte Bericht
zeigt: Sie haben wieder be währt über die Grundrechte
der Soldatinnen und Soldaten und die Beachtung der
Grundsätze der inneren Führung gewacht.

Sie haben betont, dass Ihr Bericht kein Zustandsbe-
richt der Bundeswehr, sondern auch, wie immer in den
vergangenen Jahren, ein Mängelbericht ist. Er ist natür-
lich eine sehr wertvolle Mo mentaufnahme. Er hat sich
mit den Sorgen und dem Ärger unserer Soldatinnen und
Soldaten, aber auch mit den Schwächen und Stärken des
Systems der Bundeswehr zu beschäftigen. Die Einlas-
sungen der höchstgeschätz ten Kollegin Schäfer haben
gezeigt, dass man, wenn einem dieser Bericht nicht
passt, die Dinge natürlich noch schlechter reden kann,
als sie im Bericht des W ehrbeauftragten beschrieben
sind.






(A) (C)



(B) (D)


Parl. Staatssekretär Walter Kolbow
Meine Damen und Herren, für uns im Bundesministe-
rium der Verteidigung ist der Jahresbericht des W ehrbe-
auftragten wieder eine bedeutsame Hilfe und Anregung.
Ich freue mich darüber und danke dem Wehrbeauftragten
dafür, dass er auch positive Seiten herausgestellt hat. Er
hat im Bericht auf die überra genden Leistungen bei der
Bewältigung der Hochwasserkatastrophe an Elbe und
Donau hingewiesen und daraus sehr zu Recht eine her-
vorragende Akzeptanz der Institution Bundeswehr in der
Gesellschaft und auch im Ausland abgeleitet. Frau
Schäfer, wir brauchen und schätzen die Soldatinnen und
Soldaten. Das gilt nicht nur für die deutsche Gesell-
schaft, sondern natürlich auch für die, die für sie verant-
wortlich sind, für die politische Leitung und die militäri-
sche Führung. Ich lade Sie herzlich ein zur V erleihung
der Verdienstorden an die Soldatinnen und Soldaten auf-
grund ihrer hervorragenden Leistungen bei der Flutkata-
strophe.

Sie werden im weiteren Verlauf meiner Ausführungen
sicherlich konstatieren k önnen, dass wir die Soldaten
nicht nur schätzen, sondern auch etwas für sie tun und
aus den aufgezeigten Mängeln Konsequenzen ziehen.
Darauf haben sie, die Soldatinnen und Soldaten, einen
Anspruch, ebenso Sie im Parlament und natürlich auch
der Herr Wehrbeauftragte, der für Sie Kontrollorgan ist.


(Beifall im ganzen Hause)


Jetzt zu den kritischen Anmerkungen des Herrn
Wehrbeauftragten: Die im Berichtszeitraum sehr hohe
Zahl der Eingaben beweist, dass die Soldatinnen und
Soldaten sich neben der laufenden Umstrukturierung
in besonderem Maße auch der Herausforderung ausge-
setzt sehen, die sich aus den umfangreichen Auslands-
einsätzen der Bundeswehr ergibt.

Die Auslandseinsätze stellen in der Tat eine enorme or-
ganisatorische, personelle und logistische Herausforde-
rung dar. Dies belastet die Soldatinnen und Soldaten so-
wie deren Angehörige aufs Äußerste. W egen dieser
großen Belastung ist die gewachsene Zahl der Eingaben,
die im Zusammenhang mit den Auslandseinsätzen stehen,
zu erklären. Am meisten wurde die Höhe des Auslands-
verwendungszuschlages und die Frage der Stehzeit im
Einsatz thematisiert. Es wurden aber auch – zu Recht –
Fragen der Betreuung sowi e des Soldatenversor gungs-
rechts angesprochen. Genau dies sind auch aus Sicht des
Verteidigungsministeriums die Themenbereiche, die der
besonderen Beachtung bedürfen und bei denen es gilt, für
weitere Verbesserungen Sorge zu tragen.

Ich will kurz fünf Schwerpunkte ansprechen.

Erstens: Familienbetreuung. Der Familienbetreuung
kommt eine große Bedeutung zu. Deshalb hat der Bun-
desminister der Verteidigung im ver gangenen Jahr die
ersten zehn Familienbetreuungszentren mit hauptamtli-
chem Personal ausgestattet und damit für eine weiter
verbesserte Betreuung der Soldatinnen und Soldaten
Sorge getragen. Unsere Absicht ist – das wissen Sie –,
31 Familienbetreuungszentren mit hauptamtlichen Mit-
arbeitern aufzubauen. Die positiven Rückmeldungen der
Teilnehmenden im Einsatz und der betroffenen Familien
machen deutlich, dass die Familienbetreuungszentren
und -stellen ihre Aufgaben mit Verantwortungsbewusst-
sein, mit fachlichem Können und Fingerspitzengefühl
wahrnehmen. An diese Erfolge gilt es anzuknüpfen.

Zweitens: Stehzeit im Einsatz. Die Initiativen im
Verteidigungsausschuss unter anderem vonseiten der
FDP-Fraktion haben dazu beigetragen, dass wir diesem
Thema eine große Beachtung schenken werden. W ir
wissen um die besondere Belastung der Soldatinnen und
Soldaten. Sie sind auch von Ihnen, Frau Kollegin
Schäfer, dargelegt worden. Wir verhehlen keinesfalls, dass
es derzeit eine Notwendigkeit für eine sechsmonatige Steh-
zeit im Einsatz gibt, die sich aus dem operationellen Bedarf
und der gegenwärtigen Struktur der Bundeswehr – wir wol-
len sie zu einer Einsatzarmee umbauen – herleitet. Bei einer
viermonatigen Stehzeit müsste der Einzelne im Durch-
schnitt bereits nach 16 Monaten wieder zu einem Einsatz
herangezogen werden. Verbunden mit der Entscheidung
für eine sechsmonatige Stehzeit wurde die Möglichkeit
der Gewährung von drei W ochen Urlaub während des
Einsatzes eröffnet. Zusätzlich wurde im Rahmen eines
Splittingmodells die flexible Festsetzung der Stehzeit im
Einsatz ermöglicht. Diese Maßnahmen sollen ab Juni
dieses Jahres im vollen Umfang erprobt werden.

Drittens: Soldatenversorgungsgesetz und Aus-
landsverwendungszuschlag. Es ist eine unserer Aufga-
ben, in diesem Bereich ständig zu V erbesserungen zu
kommen. Dies tun wir, wie Sie aus den Diskussionen ge-
rade im Verteidigungsausschuss wissen. Die einstimmige
und begrüßenswerte Entschließung des Verteidigungsaus-
schusses, die Versorgungsleistungen bei Auslandseinsät-
zen unverzüglich zu verbe ssern und auszubauen, ent-
spricht auch den Anforderungen, die sich aus dem Bericht
des Wehrbeauftragten ergeben. Wir werden zu Regelun-
gen beitragen, die besser als bisher den Gefahren im Ein-
satz Rechnung tragen. Ich rufe Ihnen das Stichwort
„Einsatzunfall“ in Erinnerung. Ein entsprechendes Kon-
zept wird derzeit im Minister ium erarbeitet. Ziel ist es,
durch Änderungen im Soldat enversorgungsgesetz unter
der Überschrift „Einsatzversorgung“ Leistungsverbesse-
rungen zu schaf fen. Unter anderem sollen die in be-
stimmten Fällen bestehenden Unterschiede zwischen der
Versorgung der Soldatinnen und Soldaten auf Zeit sowie
der Soldatinnen und Soldaten, die freiwillig zusätzlichen
Wehrdienst leisten, und der so genannten qualifizierten
Unfallversorgung der Berufssoldatinnen und -soldaten
ausgeglichen werden.

Viertens: attraktives Laufbahn- und Beförderungs-
angebot. Dies ist für die künftige Stimmungslage in der
Truppe – wer wollte das bestreiten – von erheblicher Be-
deutung. Der Wehrbeauftragte beschreibt in seinem Be-
richt sehr zutref fend, wie die Motivation durch ein at-
traktives Laufbahn- und Beförderungsangebot bestimmt
wird. Dem haben wir durch das Attraktivitätsprogramm
Rechnung getragen, dessen Nebenwirkungen nicht so
drastisch sind, wie Sie es mö glicherweise – das tun Sie
sonst nicht, Frau Kollegin – aus politischer Absicht dar-
stellen.

Denn wir haben hier spür bare Beförderungsmöglich-
keiten eingeleitet, insbesondere auch bei den Feldwebel-
dienstgraden. Sie wissen, dass wir durch die Bündelung






(A) (C)



(B)


Parl. Staatssekretär Walter Kolbow
der Dienstposten etwas W ichtiges für die Vereinbarkeit
von Familie und Beruf getan haben. Es ist beabsichtigt,
alle Oberfeldwebel, die im Zusammenhang mit den Be-
förderungen zum Haupt- oder Stabsfeldwebel nach einer
Verwendungsentscheidung vor dem 1. April 2002 im
Zuge der weiteren Bündelung noch nicht befördert wor-
den sind, im Rahmen der Planstellen des Haushaltes
2003 zu befördern.

Fünftens: Soldatengleichstellungsgesetz und T eil-
zeitarbeit. Die Erarbeitung eines Soldatengleichstel-
lungsgesetzes und das Auslot en von Möglichkeiten für
Teilzeitarbeit treiben wir mit Nachdruck voran. Der Ent-
wurf eines Soldatengleichstellungsgesetzes ist auf dem
Weg. Auch die Teilzeitarbeit ist Gegenstand ernsthafter
interministerieller Überlegungen mit dem Ziel, unver-
züglich – Frau Kollegin Wohlleben, Sie haben sich sehr
intensiv mit dieser Angelegenheit beschäftigt – eigene
und sehr konkrete Vorstellungen zur Umsetzung zu for-
mulieren.

Abschließend ist es mir ein Anliegen, nicht nur grund-
sätzlich, sondern auch aus Sicht des Bundesministeriums
der Verteidigung auf die innere Führung einzugehen:
Die innere Führung verharrt nicht im Stillstand, sondern
folgt den Forderungen des Generals de Maizière, dass –
so hat auch der Herr W ehrbeauftragte heute seinen Be-
richt eingeleitet – „der veränderte Auftrag der Bundes-
wehr, aber auch das Lebensgefühl und die Lebenswirk-
lichkeit richtungsweisend und bestimmend“ für die
Ausgestaltung der inneren Führung sind.

Das Leitbild von der Rolle des Staatsbürgers und der
Staatsbürgerin in Uniform behält auch unter den Bedin-
gungen einer Bundeswehr im Einsatz unverändert seine
zentrale Bedeutung. Soldatinnen und Soldaten sind im-
mer und gerade in diesen he rausfordernden und für sie
besonders schwierigen Zeiten als politisch denkende und
handelnde Staatsbürgerinnen und Staatsbürger gefordert.

In diesem Zusammenhang ist der herausragende Stel-
lenwert des Wehrbeauftragten des Deutschen Bundesta-
ges zu sehen. Diesen Stelle nwert haben wir in dem vor-
liegenden Bericht nachvollzi ehen können. Er ist nicht
hoch genug einzuschätzen. W ir werden den Bericht auf
der Grundlage der Debatten im V erteidigungsausschuss
und Ihrer heutigen Debattenbeiträge zeitgerecht mit unse-
ren Ergebnissen versehen und können darüber im Deut-
schen Bundestag noch vor der Sommerpause debattieren.

Ich danke Ihnen für Ihre Geduld.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1503710000


Das Wort hat die Abgeordnete Helga Daub, FDP-
Fraktion.


Helga Daub (FDP):
Rede ID: ID1503710100

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!

Herr Dr. Penner, seitdem die Bundeswehr in Auslands-
einsätzen ist, und seit de n Katastropheneinsätzen wie
seinerzeit beim Oderbruch oder im letzten Jahr bei der
Elbeflut ist die Bundeswehr wieder mehr in das Licht der
Öffentlichkeit geraten – und damit natürlich auch der
Bericht des W ehrbeauftragten. Herr Dr . Penner, ich
möchte Ihnen und Ihren Mita rbeitern für die Erstellung
dieses Berichts und auch für die Offenheit in der Bewer-
tung danken.


(Beifall bei der FDP, der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Um es vorweg zu sagen: Wie ein roter Faden zieht es
sich durch den Bericht, da ss Soldaten, Soldatinnen und
ihre Familien bei aller Notwendigkeit zu Reformen
Planungssicherheit und Verlässlichkeit – auch bezüg-
lich der Äußerungen des Bu ndeskanzlers und der Kabi-
nettsmitglieder – wollen. W as sie nicht brauchen – wir
alle übrigens nicht –, ist das System: Interview, Dementi,
Gegeninterview, so wie kürzlich beim Thema Finanzaus-
stattung geschehen.


(Günther Friedrich Nolting [FDP]: Das ist wohl wahr!)


Wenig hilfreich ist in diesem Zusammenhang auch das
Interview des Umweltministers zur Reform der Bundes-
wehr usw.; es sei denn, er will das Dosenpfand am Hin-
dukusch einführen.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Entgegen den Behauptungen mancher böser Zungen,
beim Wehrbeauftragten werde sich nur ausgeheult und
geklagt, ohne zu leiden, sehen wir eine Bestandsauf-
nahme, wie es um unsere Bu ndeswehr bestellt ist. Un-
sere Soldaten sind leistung swillig und leistungsfähig.
Wir können zu Recht stolz auf sie sein.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Umso wichtiger ist es, sich endlich den Problemen zu
stellen, die im Bericht des W ehrbeauftragten angespro-
chen werden. Seit Bestehen des Amtes hat es gemessen
an der T ruppenstärke noch ni e eine so hohe Zahl von
Eingaben gegeben.


(Winfried Nachtwei [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Bei dem traut man sich!)


Es gibt viele Gründe dafür: Die Bundeswehr befindet
sich im Wandel – das wurde schon öfter angesprochen –
und dieser Wandel mutet den Soldaten viel zu. Auch des-
halb ist es an der Zeit, dass die jetzige Reform angegan-
gen wird, damit sich endlic h jeder darauf einstellen
kann, was passieren wird, und damit nicht schon nach
kurzer Zeit eine Reform der Reform notwendig wird
oder – wie es so schön heißt – nachjustiert werden muss.
Das schulden wir unseren Soldaten.


(Beifall bei der FDP)


Der Wehrbeauftragte hat natürlich Recht: Die Bun-
deswehr ist ein Großtanker, der nicht beliebig zu manö-
vrieren ist, aber man muss ihm endlich eine Richtung ge-
ben. Bei den Auslandseinsätzen der Bundeswehr wird
der Handlungsbedarf besonders deutlich: Die Einsatz-
dauer von sechs Monaten ist zu lang, die Abstände zwi-
schen den Einsätzen sind zu kurz und der zugesagte

(D)







(A) (C)



(B) (D)


Helga Daub
Mindestabstand von zwei Ja hren zwischen zwei Aus-
landseinsätzen kann nicht eingehalten werden.

Es gibt auch etliche Beschwerden über die Höhe der
Auslandsverwendungszuschläge und über die man-
gelnde Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Hier
– wie in der Gesellschaft üb erhaupt – besteht auch bei
der Bundeswehr Handlungsbedarf; und das nicht erst seit
die Bundeswehr für Frauen geöffnet ist. Der Wehrbeauf-
tragte kommt zu Recht zu dem Schluss, es dürfe auf kei-
nen Fall eine Lage entstehe n, in der sich der einzelne
Soldat zwischen den Belang en des Dienstherren einer-
seits und seiner Familie andererseits entscheiden muss.

Natürlich weiß der Zeit- und Berufssoldat, dass er
mobil und flexibel sein muss . Dass dies jedoch nicht
überstrapaziert werden sollte , zeigt die im Bericht des
Wehrbeauftragten genannte Tendenz: Wegen der Dauer
und der zunehmenden Häufi gkeit der Auslandseinsätze
verzichten viele Soldaten nach Ablauf der V erpflich-
tungszeit auf eine W eiterverpflichtung, verkürzen die
Dienstzeit oder verzichten auf eine Übernahme als Be-
rufssoldat. Das ist ein alarmierendes Signal für die At-
traktivität der Bundeswehr.


(Beifall bei der FDP)


Hoch qualifizierte Kräfte gehen der Bundeswehr verlo-
ren, Motivation im Übrigen auch. Das ist schlecht, wenn
die Bundeswehr eine gute Zukunft haben soll.

Den größten Anstieg der Eingaben verzeichnete der
Bereich Personalfragen. Besonders hervorzuheben ist
der Beförderungsstau der Unteroffiziersdienstgrade. Es
ist natürlich löblich und vernünftig, dass jungen Feldwe-
beln und Oberfeldwebeln ein attraktiver Beförderungs-
weg gezeigt wird; solange es der Qualifikation ent-
spricht, versteht sich. Es müsste sich jedoch von selbst
erklären, dass das nicht auf Kosten der Dienstälteren ge-
schehen darf, die sich dann natürlich übergangen fühlen.
Das ist sozialer Sprengstoff in der Truppe.

Dass diese Kritik ernst zu nehmen ist, zeigen die
3 000 Soldaten, die von der Vorruhestandsregelung
schon Gebrauch gemacht haben. 7 000 weitere Anträge
konnten nicht berücksichtigt werden. Diese Zahlen las-
sen eindeutige Rückschlüsse auf die Berufsunzufrieden-
heit zu.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Es ist der frustrierte Beru fssoldat, der immer mehr an
seiner Berufung zweifelt. Hier muss sich endlich etwas
ändern. Ich zitiere aus dem Bericht:

Es sind die aktiven Soldaten, die durch ihre Einstel-
lung zum Dienst die Attraktivität der Streitkräfte aus-
machen. Zufriedene Soldaten sind gute Werbeträger.

Das gilt insbesondere für die noch ausstehende An-
gleichung der Ost- an die Westbesoldung. Mein Kollege
Günther Nolting hat die Situation in der Debatte über
den Einzelplan 14 sehr plas tisch geschildert. W ie soll
man 100 Prozent Einsatz und 100 Prozent Motivation
für nur 90 Prozent des Soldes einfordern?


(Beifall bei der FDP)

Im In- und Ausland erfülle n Soldaten aus den neuen
Bundesländern ihren Auftrag Seite an Seite mit ihren
Kameradinnen und Kameraden aus den alten Bundeslän-
dern. Die Ost-West-Besoldungsdifferenz ist durch
nichts mehr gerechtfertigt. Sie wirkt demotivierend und
diskriminierend und ist dahe r schnellstmöglich abzu-
schaffen. Für die Soldaten fordern wir dies vor 2007 und
2009.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Dem Verteidigungsminister glaube ich gerne, dass für
ihn die Unterteilung in qua lifizierte und nicht qualifi-
zierte Unfälle genauso zynisch klingt wie für mich. Alle
Fraktionen haben im Januar im Verteidigungsausschuss
festgestellt, dass das Versorgungsrecht entsprechend
den neuen Anforderungen an die Bundeswehr geändert
werden muss. Der Minister versprach, entsprechende
Maßnahmen zu tref fen. Ich bitte ihn herzlich, dies
schnell zu tun.


(Beifall bei der FDP)


Abschließend möchte ich festhalten, dass sich in dem
Bericht des W ehrbeauftragten Forderungen der FDP
wiederfinden. Die in dieser W oche geäußerte Zustim-
mung zu einem Entsendegesetz – das sagt man allge-
mein; wir meinen eher ein Mitwirkungs- oder Beteili-
gungsgesetz – ist ein guter Anfang.


(Winfried Nachtwei [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Richtig!)


– Da Sie, Herr Nachtwei, gerade „Richtig!“ gerufen ha-
ben, möchte ich Folgendes deutlich sagen: Ich meine,
heute Morgen einige seltsame Töne in der Regierungser-
klärung des Bundeskanzlers gehört zu haben. Wir möch-
ten ganz eindeutig feststellen: Für uns gilt das Primat des
Parlamentsvorbehalts, wie groß oder wie klein ein Ein-
satz auch sein mag. Das muss in der Debatte unstrittig
sein.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – W infried Nachtwei [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wieder richtig!)


– Dazu passt wunderbar mein Schlusssatz, Herr
Nachtwei: Lassen Sie uns gemeinsam Rechts-, Pla-
nungs- und politische Sicherheit für die Bundeswehr
schaffen.

Danke.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1503710200

Nun hat der gerade angesprochene Kollege W infried

Nachtwei das Wort.


Winfried Nachtwei (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1503710300

Herr Präsident! Sehr geehrter Herr W ehrbeauftragter,

lieber Herr Penner! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Der Jahresbericht des W ehrbeauftragten ist kein Zu-
standsbericht; das ist uns be kannt, aber wahrscheinlich
kaum in der Öf fentlichkeit. Er ist aber auch kein reiner






(A) (C)



(B) (D)


Winfried Nachtwei
Mängelbericht, sondern ist zugleich ein Stimmungsbaro-
meter und Problemindikator , der uns wesentliche Hin-
weise darauf gibt, was zu tun ist. Herr Penner , ich
möchte Ihnen und Ihren Mita rbeiterinnen und Mitarbei-
tern im Namen meiner Fraktion wieder herzlich für Ihre
Arbeit danken. Wenn ich das zum wiederholten Male
tue, dann ist das in keiner Weise ein Ritual, sondern ge-
schieht aus voller Überzeugung. Wir danken Ihnen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Der Bericht des Wehrbeauftragten beinhaltet auch po-
sitive Nachrichten. Vor einigen Jahren waren wir sehr
beunruhigt über die zunehm ende Zahl der Meldungen
über bestimmte besondere Vorkommnisse, nämlich über
Ereignisse mit Verdacht auf rechtsextremen oder frem-
denfeindlichen Hintergrund. Hier gibt es die erfreuli-
che Entwicklung, dass zumindest die Zahl der Meldun-
gen dieser besonderen V orkommnisse von fast 200 in
den Vorjahren auf 111 im letzten Jahr deutlich zurückge-
gangen ist.

Eine zweite gute Nachricht. Die Integration der Sol-
datinnen in die Bundeswehr ist besser gelaufen, als von
Skeptikern erwartet wurde.

Drittens. Eine weitere sehr gute Nachricht ist – das
wird von allen Kolleginnen und Kollegen so geteilt –,
dass die durchschnittlich 9 000 Soldatinnen und Solda-
ten, die sich in Auslandseinsätzen befinden, in jedem
Monat entscheidend zur Gewalteindämmung und
Kriegsverhütung beitragen. Au ch vor Ort genießen sie
zu Recht hohes Ansehen.

Schließlich ist positiv – das steht nicht im Bericht, ist
aber für das Parlament sehr interessant –, dass wir so
früh wie nie zuvor begonnen haben, diesen Bericht im
Bundestag zu debattieren.

Das Jahr 2002 war das erste Jahr der neuen großen Ein-
sätze, nämlich der Einsätze in Kabul und im Rahmen der
Bekämpfung des internationa len Terrorismus. Das ging
einher mit einer enormen Steigerung der Belastungen und
Risiken. Aber es schlug sich auch in einem enormen An-
stieg von Eingaben – die Zahl der Eingaben ist um fast
32 Prozent gestiegen – nieder. Auch wenn die gerade ge-
nannten Rahmenbedingungen sicherlich dazu beigetragen
haben, so ist dieser Anstieg dennoch beunruhigend.

Zu Zeiten des Ost-W est-Konflikts war die Motivati-
onslage für Bundeswehrange hörige noch relativ ein-
fach. Mit den neuen Aufgaben, der neuen politischen
Unübersichtlichkeit und der Einsatzrealität sind die
Rahmenbedingungen für Mo tivation und Einstellung
der Bundeswehrangehörigen zumal angesichts des ho-
hen Anspruchs von Staatsbür gern in Uniform kompli-
zierter geworden.

Der Wehrbeauftragte spricht unter anderem folgende
Problembereiche an, die di e Motivation beeinträchtigen
und Hindernisse für die Re generation und Nachwuchs-
gewinnung der Streitkräfte sein können:
Erstens geht es eben um diese Nachwuchsgewinnung.
Es gibt immer noch zu viele Klagen über die Arbeit von
Zentren für Nachwuchsgewinnung und W ehrdienstbera-
tern, zum Beispiel über zu lange Bearbeitungszeiten. Be-
werberinnen bemängeln, ihnen würden nur die positiven
Seiten des Bundeswehrdienstes dar gestellt, die beanspru-
chenden und belastenden jedoch weniger . Weiterhin wird
gesagt, die Beratung erfolge oft nur bezogen auf den Be-
darf der Truppe und es werd e zu wenig auf neigungsge-
rechte Verwendungen eingegangen.

Zweitens. Es wird immer deutlicher, dass die Verein-
barkeit von Familie und Beruf in der Bundeswehr aus
zwei Gründen auf die Tagesordnung gesetzt worden ist:

Zum einen geschah dies durch den wachsenden Anteil
von Soldatinnen und Alleinerziehenden in den Streit-
kräften. In einer Studie der Bundeswehruni in Hambur g
wurde festgestellt, dass einer familienorientierten Perso-
nalpolitik in der Bundeswehr in Zukunft eine außeror-
dentliche Bedeutung zukommt. Die Notwendigkeit der
Einsatzbereitschaft, des Dienstes in Schif fen und der
Auslandseinsätze ist unstrit tig. Trotzdem muss sich die
Bundeswehr in T eilbereichen Gedanken um flexiblere
Arbeitszeiten, Teilzeitbeschäftigung und Kinderbetreu-
ung machen.

Zum anderen beeinträchtigen vor allem die Ausland-
seinsätze das Familienleben von Bundeswehrangehöri-
gen. Gerade in Familien m it kleinen Kindern sind die
Entfremdungsprozesse erheblich. Dauer und Häufigkeit
von Auslandseinsätzen mindern inzwischen die Bereit-
schaft von Soldaten, sich weiter zu verpflichten oder gar
Berufssoldat zu werden. Die Stehzeit von sechs Monaten
ist eines der Probleme, um dessen Lösung sich die Bun-
desregierung bemüht. Ein anderes Problem sind die Fa-
milienbetreuungszentren. Von den zurzeit 19 Familien-
betreuungszentren verfügen bisher nur zehn über
hauptamtliches Personal. Nach den Angaben im Bericht
ist die technische Ausstatt ung dieser Familienbetreu-
ungszentren mit Kommunikationsmitteln usw . offen-
sichtlich unzureichend. Dies e Mängel müssen schnell
behoben werden.

Drittens nenne ich das Laufbahn- und Beförde-
rungsangebot. Ein attraktives Laufbahn- und Beförde-
rungsangebot ist entschei dend für die Motivation von
Bundeswehrangehörigen. Hier gab es etliche Attraktivi-
tätssteigerungen. Ihre W irkung ist aber of fenbar zwie-
spältig. Ich nenne ein Beispiel – andere sind vorher be-
reits genannt worden –: Bei Unteroffizieren mit Portepee
wurden die zeitlichen Mindes tvoraussetzungen für Be-
förderungen zum nächsthöheren Dienstgrad verkürzt.
Nun gibt es viel mehr Anwärter als Dienstposten. Hohe
Erwartungen wurden geweckt. Mit der Umsetzung
kommt man jedoch nicht nach.

Viertens komme ich zu den Wehrpflichtigen: Im
Berichtsjahr 2002 stellten insgesamt 189 644 W ehr-
pflichtige einen KDV-Antrag. Das waren so viele wie
noch nie zuvor seit Bestehen der Bundeswehr . Der
Wehrbeauftragte vermerkt den Zweifel von W ehrpflich-
tigen an der Wehrpflicht. Diese Zweifel werden vom rea-
len Wehrdienst offenbar noch befördert.






(A) (C)



(B) (D)


Winfried Nachtwei
Die 14. Shell-Jugendstudie brachte hierzu folgendes
Ergebnis: Junge Männer lehnen die W ehrpflicht zu
53 Prozent ab


(Ursula Lietz [CDU/CSU]: Dazu habt ihr maßgeblich beigetragen!)


– schauen Sie sich einmal die Umfragen der Jahre vor
unserer Regierungszeit an; da gibt es keinen großen Un-
terschied – und junge Männer, die den Wehrdienst abge-
leistet haben, lehnen die W ehrpflicht zu 60 Prozent ab.
Das ist ein eklatanter Beleg dafür, dass die Wehrpflicht
gerade für die betrof fene Bevölkerungsgruppe nicht
mehr verständlich und plausibel gemacht werden kann.
Ich denke, mit Behauptungen über die Alternativlosig-
keit der Wehrpflicht ist das nicht wegzuwischen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Bundeswehrsoldaten – ich glaube, darüber herrscht
wieder völliger Konsens – sind keine Söldner. Der Wehr-
beauftragte betont die Erwartung der Soldaten, dass Aus-
landseinsätze rechtlich einwan dfrei sein müssen. Diese
Erwartung wird von den Soldaten vor allem vor dem
Hintergrund der Irakkrise bzw . des jetzt stattfindenden
Irakkrieges formuliert, der ohne UN-Mandat begonnen
wurde. Weitere Zweifel ergeben sich im Zusammenhang
mit dem Afghanistan-Einsatz, bei dem Bundeswehran-
gehörige möglicherweise zur V erhaftung von Personen
beitragen, die im amerikanischen Gewahrsam of fenkun-
dig nicht strikt nach dem Völkerrecht behandelt werden.

Bundeswehrangehörige zeigen mit diesen Erwartun-
gen ein klares Rechtsstaatsbewusstsein und erweisen sich
damit als Staatsbürger in Uniform. Das gehört zu den viel
zu wenig wahrgenommenen positiven Nachrichten dieses
Berichtes. Diese Haltung ist zugleich Verpflichtung für
die Politik der Bundesregierun g und der Koalition. Der
Bundeskanzler hat heute Morgen in seiner Regierungser-
klärung dazu eindeutig Stellung genommen.

Die rot-grüne Koalition und die Bundesregierung ste-
hen für eine Politik der um fassenden, gemeinsamen und
friedlich-vorbeugenden Sicherheit, eine Politik im Rah-
men der Charta der Vereinten Nationen. Rot-Grün steht
für die Stärkung der V ereinten Nationen und die Stärke
des Rechts. Ich meine, dies ist gerade angesichts des
Irakkrieges und der gegenwärtigen Verwilderung der in-
ternationalen Sitten zu betonen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1503710400

Ich erteile das Wort der Abgeordneten Petra Pau.


Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1503710500

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich

greife zwei Aussagen aus dem Bericht des W ehrbeauf-
tragten für das Jahr 2002 heraus, und zwar nicht irgend-
welche, sondern die meines Erachtens wesentlichen:
a) Die Zahl der Beschwerden von Soldatinnen und Sol-
daten hat zugenommen; b) zugenommen hat auch die
Verunsicherung von Soldatinnen und Soldaten. Die PDS
im Bundestag findet: Das muss ernst genommen werden.
Darüber darf nicht routinemäßig debattiert werden, son-
dern das muss uns zum Na chdenken anregen. Damit
meine ich nicht nur die hier zitierten Ausstattungspro-
bleme wie Bergstiefel, Rucksäcke oder Dichtungsringe.
Bei diesen zwei Grundgedanken spielt die soziale Frage
eine große und die Sinnfrage eine noch größere Rolle.

Die soziale Frage ist immer auch eine Ost-West-
Frage. Solange Soldatinnen und Soldaten aus den neuen
schlechter als Soldatinnen und Soldaten aus den alten
Bundesländern gestellt werden , so lange geht es unge-
recht zu.


(Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch [fraktionslos])


Sie wissen, dass ich nicht über Milliardenaufwendungen
rede. Vielmehr wären mehrere Millionen Euro nötig, um
diese Gerechtigkeitslücke zu schließen. Diese ungelöste
soziale Frage hat übrigens – das ist makaber – eine Hin-
tertür: Wer in den Krieg zieht, ist plötzlich nicht nur vor
Gott, sondern auch vor dem Soldmeister gleichwertig:
gleicher Lohn für gleiche Gefahr oder gar T od? Ich
finde, das ist ein schlimmes Motto.

Damit bin ich bei der Sinnfrage. Immer mehr Wehr-
pflichtige verweigern den Zwangsdienst. Immer weni-
ger sind bereit, neuen Militär strategien zu folgen. Sie
wollen nicht im Dienste einer Politik stehen, die Kriege
im Zweifelsfall für legitim hält und das Völkerrecht für
störend. Das Machtgebaren der USA schreckt ab und
auf. Schauen Sie sich an, we r in diesen Tagen demons-
triert: Das sind jene, die Sie demnächst gerne in der Bun-
deswehr haben wollen. Dies e Jugendlichen haben gut
zugehört, als Herr Schäuble für die CDU/CSU im No-
vember im Bundestag von Pr äventivkriegen redete, die
zu führen seien. Aber sie vernehmen auch, wenn Bun-
desminister Struck verkündet, die Verteidigung der Bun-
desrepublik finde am Hinduk usch statt. Diese Jugend-
lichen merken auf, wenn se lbst Bündnis 90/Die Grünen
die Bundeswehr und Europa hochrüsten wollen.

Für die PDS im Bundestag ist die Sinnfrage der
NATO mitnichten beantwortet, jedenfalls nicht positiv .
Eine zivile Welt braucht andere, neue Instrumente, um
Konflikte zu mindern und zu lösen. Darüber ist ange-
sichts des völkerrechtswidrigen Angrif fskrieges gegen
den Irak, aber auch anhand des vorliegenden Berichts
des Wehrbeauftragten zu reden.

Nun, liebe Kolleginnen und Kollegen, wird es Sie
wundern – aber ich meine das ganz ernst –, wenn ich sage:
Herr Penner und seine Mitarbeiter haben eine gute Arbeit
gemacht; sie haben eine wichtige Aufgabe. Das ist kein
Widerspruch zu dem, was ich eben vorgetragen habe. Es
ist richtig, dass die PDS die W ehrpflicht abschaffen
möchte. Wir wollen das Militärische zurückdrängen.
Aber auch für die Soldatinnen und Soldaten gilt: Solange
es sie und ihren Beruf gibt, müssen sie gerecht behandelt
werden. Damit es gerechter zugeht, dafür leistet auch der
Wehrbeauftragte einen wichtigen Beitrag.

Danke schön.


(Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch [fraktionslos])







(A) (C)



(B) (D)


Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1503710600


Ich erteile das Wort der Kollegin Karin Evers-Meyer,
SPD-Fraktion.


Karin Evers-Meyer (SPD):
Rede ID: ID1503710700


Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Sehr verehrter Herr W ehrbeauftragter! Die öf fentliche
Debatte über den Jahresbericht des Wehrbeauftragten ist
gute Tradition in diesem Hause. Die Sor gen und Pro-
bleme unserer Soldatinnen und Soldaten gehen uns alle
an.

Ich möchte auch an dieser Stelle mit dem Dank an den
Wehrbeauftragten Willfried Penner und seine Mitarbei-
terinnen und Mitarbeiter beginnen und ihm ausdrücklich
im Namen meiner Fraktion für seine Arbeit danken.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Sie leisten einen wichtigen Beitrag für das Ansehen un-
serer Streitkräfte in der Bevölkerung. Auch international
gesehen ist die Institution des Wehrbeauftragten immer
noch einzigartig. Sie sind Ga rant dafür, dass die Sorgen
und Nöte unserer Soldatinnen und Soldaten an uns unge-
filtert herangetragen werden.

Der Bericht des W ehrbeauftragten für das Jahr 2002
gibt einen breiten Einblick sowohl in den Alltag unserer
Soldatinnen und Soldaten als auch in die innere Lage der
Bundeswehr insgesamt. In diesem Bericht ist nichts
schöngefärbt. Er ist ein Mä ngelbericht, der aber nicht
– darüber sind wir uns alle einig – auf die Bundeswehr
als Ganzes übertragen werden kann. Einigkeit sollte aber
auch darüber herrschen, dass der vor gelegte Bericht an
vielen Stellen Anlass zum Handeln gibt.

Gerade letzte Woche war ich auf einer dreitägigen In-
formationsreise bei der Marine. Dabei hatte ich die Gele-
genheit, mit Soldatinnen und Soldaten vor Ort zu spre-
chen. Ich bin auf eine hoch motivierte und gut
ausgebildete Truppe getroffen, die jedoch zu Recht er-
wartet, dass ihre Sor gen ernst genommen werden. Die
Soldatinnen und Soldaten können erwarten, dass wir uns
nach der Vorlage dieses Beri chts nicht allein in gesell-
schaftspolitischen Gesamtbetrachtungen verlieren, son-
dern alsbald auch konkrete Lösungsvorschläge auf den
Tisch legen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Die SPD hat das bis heute getan und wird das auch
weiter tun. Ich will mich hier in der Kürze der Zeit auf
ein Themenfeld beschränken, das in besonderem Maße
an mich herangetragen wurde, das aber auch im Bericht
des Wehrbeauftragten eine gewichtige Rolle spielt. Es
geht um die Vereinbarkeit von Familie und Soldaten-
beruf. Das ist ein zentrales Thema sowohl für die Moti-
vation der Truppe als auch für die Motivation derjeni-
gen, die sich einmal für den Soldatenberuf entscheiden
könnten.

In dem Bericht wird zu diesem Komplex mit Recht
festgestellt, dass sich die Bundeswehr in Zukunft noch
mehr auf die Vereinbarkeit von Familie und Beruf ein-
stellen muss. Sie wird ihr Angebot von der Teilzeitarbeit
bis hin zur Kinderbetreuun g weiter verbessern müssen.
Im Zuge der Neuausrichtu ng der Bundeswehr werden
Auslandseinsätze zunehmend das gesamte Berufsleben
der Soldaten begleiten. Diese Einsätze sind gleicherma-
ßen eine Belastung für die Fa milien daheim als auch für
die Soldaten in den Einsatzgebieten. Gerade Familien
mit kleinen Kindern haben darunter zu leiden, wie wir
gehört haben. Im Bericht lesen wir von Entfremdung,
Verlustängsten und Eifersuc ht, aber auch von zahl-
reichen zerbrochenen Partnerschaften. Natürlich weiß je-
der Soldat und jede Soldatin, worauf er bzw. sie sich bei
der Wahl dieses Berufes einlässt. Soldaten müssen flexi-
bel einsetzbar sein. Die Politik hat jedoch die unbedingte
Pflicht, auch die Belastunge n so gering wie möglich zu
halten.


(Beifall der Abg. Helga Daub [FDP])


Die SPD nimmt diese Pflicht sehr ernst. Denn zur
Fürsorgepflicht des Dienstherrn gegenüber den Soldaten
gehört auch die Betreuung ihrer Familien. Der Aufbau
der Familienbetreuungszentren muss weiter vorange-
trieben werden. Die bestehenden Betreuungseinrichtun-
gen müssen personell und materiell in ausreichender
Weise ausgestattet werden.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie der Abg. Helga Daub [FDP])


Das ist leider immer noch nicht an allen Stellen möglich.
Wir müssen an dem Ziel fest halten, dass keiner der zu
Betreuenden mehr als 100 Kilometer zu einem Familien-
betreuungszentrum zurücklegen muss. Insgesamt wer-
den 31 Familienbetreuungszentren mit jeweils fünf Mit-
arbeitern angestrebt.

Im Rahmen von Auslandseinsätzen müssen Einsatz-
dauer und Regeneration für unsere Soldatinnen und Sol-
daten in ein vertretbares Verhältnis gebracht werden. Bei
der Marine konnte ich zum Be ispiel feststellen, dass es
durchaus zu zwei sechsmon atigen Einsätzen innerhalb
von zwei Jahren kommt.

Eine Veränderung bewirken wir sicherlich nicht von
heute auf morgen. Wir werden uns daher erst einmal für
eine Zwischenlösung einsetzen. Denkbar wäre zunächst
eine Einsatzdauer von drei Monaten mit einer Ruhezeit
von einem Jahr. Mittelfristig muss die Struktur, vor al-
lem des Heeres, so geändert werden, dass die Einsatz-
dauer auf vier Monate bei ei ner zweijährigen Regenera-
tionszeit beschränkt wird.

Dies kann nur ein kleiner Ausschnitt aus dem Katalog
der Problemstellungen und Lösungsvorschläge sein. Im
Zuge der konsequenten Weiterentwicklung der Bundes-
wehrreform werden die im Bericht des Wehrbeauftragten
angesprochenen Bereiche jedoch weiter angemessene
Berücksichtigung finden.

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie der Abg. Anita Schäfer [Saalstadt] [CDU/CSU])







(A) (C)



(B) (D)


Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1503710800


Frau Kollegin Evers-Meyer, das war Ihre erste Rede
im Deutschen Bundestag, zu der ich Ihnen im Namen
des ganzen Hauses herzlich gratuliere.


(Beifall)


Ich erteile nun das W ort der Abgeordneten Ursula
Lietz, CDU/CSU-Fraktion.


Ursula Lietz (CDU):
Rede ID: ID1503710900


Herr Präsident! Sehr geehrter Herr Wehrbeauftragter!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist mittlerweile ein
guter parlamentarischer Brauch, dass wir einmal jährlich
über den Bericht des W ehrbeauftragten diskutieren und
uns mit den Nöten und Sor gen der Soldaten der Bundes-
wehr, die ja eine Parlamentsarmee ist, befassen. Wir blicken
übrigens – das erscheint mir erwähnenswert – auf eine
44-jährige Tradition zurück; denn seit 1959 gibt es das
Beschwerderecht der Soldaten und das Amt des Wehrbe-
auftragten.

Seit fünf Jahren bin ich im Bundestag und habe in
dieser Zeit festgestellt, dass es auch die eher unerfreuli-
che Tradition gibt, dass sich die Beschwerden wiederho-
len, dass sie nicht immer ernst genommen und deswegen
nicht bearbeitet werden. So gab es im Berichtsjahr
2002 – das ist schon erwähnt worden – insgesamt 6 436
gemeldete Vorgänge. Das sind 32 Prozent mehr Be-
schwerden als ein Jahr zuvor.

Ich bin im Gegensatz zu Ih nen, Herr Nachtwei, nicht
der Meinung, dass diese Zunahme nur darauf zurückzu-
führen ist, dass sich die Soldaten, wie Sie eben ausge-
führt haben, bei dem derze itigen Wehrbeauftragten eher
trauen, sich zu beschweren. Das hat andere Gründe, die
Sie teilweise auch schon selber dargelegt haben.


(Beifall der Abg. Christa Reichard [Dresden] [CDU/CSU])


Ich schlage vor, uns in Zukunft einmal im Jahr einen
Sachstandsbericht des Verteidigungsministeriums vorle-
gen zu lassen,


(Zurufe von der SPD: Den kriegen wir doch!)


in dem die Punkte, die der Wehrbeauftragte angeprangert
hat, angesprochen werden, u nd uns mitteilen zu lassen,
wie viel davon abgearbeitet worden ist. Das findet der-
zeit nicht in dem Maße statt, wie ich mir das wünsche.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Der Zustand, der hier besprochen worden ist, zeigt,
dass in der Bundeswehr einiges im Ar gen liegt. Wer das
verhehlt, nimmt die Soldaten nicht ernst, Herr Kolbow .
Sie haben eine Bundesweh rreform auf den W eg ge-
bracht. Kaum, dass sie auf den Weg gebracht worden ist,
stellt der nächste V erteidigungsminister fest, dass sie
nicht ausreicht. Er kündigt erst für Ende Februar , dann
für Ende März und nun für Ende April verteidigungspo-
litische Richtlinien an. In der Zwischenzeit fragen sich
viele Soldaten, an welchen Stellen die Kürzungen erfol-
gen werden. Weil das niemand weiß, herrscht Unsicher-
heit in der T ruppe. Deshalb fordere ich den V erteidi-
gungsminister, der leider während dieser Diskussion
nicht anwesend ist, auf, im Zusammenhang mit diesem
Thema endlich Klarheit zu schaffen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. Helga Daub [FDP])


Einer der Punkte, die sich mit schöner Regelmäßig-
keit wiederholen, ist die Kl age des W ehrbeauftragten,
dass der Zugriff auf das Intranet der Bundeswehr nicht
möglich sei. Das geht uns genauso, Herr Dr. Penner. Seit
Jahren versuchen wir, Informationen über dieses System
der Bundeswehr zu bekommen. V orschriften, die nur
noch über das Intranet verbreitet und veröf fentlicht wer-
den, stehen uns somit nicht zur V erfügung. Man fragt
sich schon, ob sie nicht zur V erfügung gestellt werden
sollen und, wenn ja, warum nicht. Allerdings haben die
meisten von uns – meine Damen und Herren Kollegen
aus dem Verteidigungsausschuss, ich denke, es geht Ih-
nen genauso – einen kleine n Dienstweg gefunden, auf
dem wir uns auf andere Art und W eise die Berichte im
Intranet verschaffen können. Trotzdem ist das nicht be-
friedigend.

Die personellen Engpässe im Sanitätswesen möchte
ich hier besonders hervorheben. Es fehlen nicht nur Sa-
nitätsoffiziere, sondern mittlerweile auch Unteroffiziere.
Dabei hat das Sanitätswesen der Bundeswehr internatio-
nal einen exzellenten Ruf. Wir sind Medical Lead Nation
in multinationalen Einsätzen . Mit diesem Pfund sollten
wir sehr viel mehr wuchern, als wir das bisher getan ha-
ben. Wir haben damit aber auch einen guten Ruf zu ver-
lieren. Wenn, wie eben besc hrieben, die Tagesantritts-
stärke zwischen 40 und 60 Prozent bzw. möglicherweise
sogar noch darunter liegt und wenn ein T ruppenarzt
heute 1 000 statt wie früher 400 Soldaten betreuen muss,
dann sind die Betreuung der T ruppe in vollem Umfang
und die Qualität der Versorgung nicht mehr gewährleis-
tet. Im Inland herrscht Facharztmangel. W ir stellen fest,
dass in Bundeswehrkrankenhäusern Operationssäle ge-
schlossen und dass Operationen sehr kurzfristig abgesagt
werden müssen. Das alles muss für uns ein böses Alarm-
zeichen sein. Es handelt sich nicht um Einzelfälle, wie
mir führende Anästhesisten, mit denen ich gesprochen
habe, bestätigt haben.

2 689 Bewerber für den Beruf des Arztes in der Bun-
deswehr gab es im Jahre 1999. Im Jahre 2002 waren es
nur noch 1 398. 50 Prozent weniger Interesse am Beruf
des Sanitätsoffiziers in der Bundeswehr in drei Jahren!
Das ist für mich eine erschreckende Zahl.


(Christian Schmidt [Fürth] [CDU/CSU]: Sehr wahr!)


Im letzten Jahr konnten zum ersten Mal nicht alle Studi-
enplätze für Medizin, die der Bundeswehr zur Verfügung
gestellt werden, besetzt werd en. Das ist ebenfalls ein
Zeichen für die sinkende Attraktivität speziell des Sani-
tätsdienstes. Auch die Anzahl der Anträge von Sanitäts-
offizieren auf Übernahme in die Laufbahn des Berufs-
soldaten ist rückläufig. Aufgrund einer völlig verfehlten
Gesundheitspolitik in diesem Land verpassen wir die
Chance, jungen Medizinern eine Perspektive in der Bun-
deswehr zu geben. Stattde ssen gehen die jungen deut-






(A) (C)



(B) (D)


Ursula Lietz
schen Ärzte ins Ausland. Man trif ft sie zum Beispiel,
wenn man große Kliniken und Universitäten in Belgien
und in den Niederlanden besucht. Wir bilden sie aus und
dann haben andere Länder den Nutzen. Ich finde das
schade; denn ein junger deutscher Arzt könnte ein gute
Perspektive in der Bundeswehr haben.

Ich wünsche mir ein wirk sames Attraktivitätspro-
gramm speziell für das Sanitätswesen, das ich gerne zu-
sammen mit dem in das neue Amt berufenen Inspekteur
des Sanitätswesens auflegen würde. Ich kann ihm nur
unsere Sympathie bezeug en und wünsche ihm eine
glückliche Hand und alles Gute für seine neue Aufgabe.

Wenn aber Fachärzte und solche, die es werden wol-
len, immer häufiger Auslandseinsätze mitmachen müs-
sen, dann ist auch die Kontinuität der Facharztausbil-
dung gefährdet, das heißt, junge Ärzte absolvieren
möglicherweise keine Facharztausbildung, weil sie zu
oft in den Einsatz müssen. Das gefährdet das System der
Ausbildung in den Bundeswe hrkrankenhäusern und da-
mit einmal mehr die Attrakti vität des Sanitätsdienstes.
Das sind die warnenden W orte, die mir bei Besuchen
von Bundeswehrkrankenhäusern immer wieder ans Herz
gelegt werden. Die Häufigkeit der Auslandseinsätze und
die Einsatzdauer im Allgemeinen sind immer wieder
Thema.

Herr Staatssekretär Kolbow hat eben gesagt, dass man
weiterhin auf sechs Monaten bestehen müsse. Herr Ver-
teidigungsminister Struck hat vor einiger Zeit gesagt, dass
er darüber nachdenke, dort, wo es möglich ist, auf eine
Einsatzzeit von vier Monaten zurückzugehen. Ich halte
eine allgemeine Flexibilisierung für die bessere Lösung.
Das tun auch die Soldaten. Man kann das Ganze – viele
Generäle im Ausland tun das bereits – sehr viel flexibler
gestalten, als es zum jetzigen Zeitpunkt geschieht.

Im Sanitätsbereich, in dem Spezialisten immer wieder
zum Einsatz kommen, hilft das allerdings nicht mehr. Ich
bin fest davon überzeugt, dass wir im Laufe der Zeit zu
der Einsicht kommen müssen, dass einfach mehr Ärzte
eingestellt werden müssen, was durch ein Attraktivitäts-
programm ermöglicht werden sollte.

Das Vertrauen verspielt man auch – ich spreche die-
sen Fall zum ersten Mal an –, wenn einem Vater falsche
und mangelhafte Berichte üb er den Tod seines Sohnes
im Kosovo vor drei Jahren gegeben werden. Ich habe
diese Familie drei Jahre lang begleitet. V or einigen Mo-
naten habe ich an Verteidigungsminister Struck in dieser
Angelegenheit einen Brief mit der Bitte um ein vertrauli-
ches Gespräch geschrieben. Von ihm persönlich habe ich
bis heute weder eine Bestä tigung des Eingangs dieses
Schreibens bekommen noch das Angebot zu einem Ge-
sprächstermin. Ich möchte dieses Gespräch führen, da-
mit diese Familie endlich zur Ruhe kommt. Ich bedaure,
dass das bis jetzt nicht der Fall ist.

Einen weiteren Beweis für die Notwendigkeit der Insti-
tution des Wehrbeauftragten ist das Lazarett in Rajlovac.
Nur weil ein vor Ort tätiger Soldat den Wehrbeauftragten
informiert hat, haben wir überhaupt von den schreckli-
chen Zuständen im dortigen Krankenhaus erfahren. Ich
habe es zuvor nicht für mög lich gehalten, dass es inner-
halb der Bundeswehr eine Einrichtung, die so verkom-
men wie dieses Krankenhaus in Rajlovac war, gibt. Wir
haben gemeinsam im Verteidigungsausschuss beschlos-
sen, einen Neubau anzuregen.

Wiederum durch den Bericht eines vor Ort tätigen
Soldaten haben wir feststellen müssen, dass der Neubau
dieses Krankenhauses stockt, und zwar aufgrund einer ,
wie ich finde, unverantwortlichen Blockade des Finanz-
ministers.


(Rainer Arnold [SPD]: Das stimmt doch nicht mehr!)


– Es ist ganz genau so. – Mittlerweile soll das Ganze auf
den Weg gebracht sein.

Lassen Sie mich zum Schluss noch kurz das Schicksal
der Soldaten ansprechen, die aufgrund ihrer früheren Tä-
tigkeit im Radarbereich einer Strahlenexposition ausge-
setzt worden sind. Dazu wird es zunächst einen Bericht
geben. Ich werde dazu hier zum entsprechenden Zeit-
punkt sicherlich noch einmal Stellung nehmen. Ich hoffe
nur, dass dieser Bericht keine Wiederholung des Berich-
tes sein wird, den wir aus dem Verteidigungsministerium
bekommen haben.

Ich bin Ihnen, Herr Dr. Penner, und Ihren Mitarbeitern
für das, was Sie geleistet haben, sehr dankbar . Ich be-
danke mich für die wirklich gute Zusammenarbeit hier
und im Verteidigungsausschuss.

Ich danke Ihnen dafür, dass Sie mir zugehört haben.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1503711000

Ich erteile das Wort dem Abgeordneten Rolf Kramer,

SPD-Fraktion.


Rolf Kramer (SPD):
Rede ID: ID1503711100

Herr Präsident! Herr W ehrbeauftragter! Meine sehr

verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Wie im Bericht des W ehrbeauftragten richti-
gerweise festgestellt wird, befindet sich die Bundeswehr
nach wie vor in einem „V eränderungsprozess, der alle
Bereiche vom Auftrag über die Struktur bis hin zur Aus-
rüstung erfasst“. Ich werde näher auf jene Passagen des
Berichts eingehen, die sich, erstens, mit dem Personal,
also mit den Soldatinnen und Soldaten, befassen und die
sich, zweitens, auf die Auslandseinsätze der Bundeswehr
beziehen.

Der grundlegende personelle Strukturwandel, den
die Bundeswehr zu bewältigen hat, wird an folgenden
Zahlen deutlich: Im Jahre 2 002 dienten durchschnittlich
295 000 Soldatinnen und Soldaten in der Bundeswehr .
Die Zielstärke nach dem Pe rsonalstrukturmodell 2000
beträgt 285 000 Dienstposten, ausgehend von 335 000 in
den 90er-Jahren.

Die besondere Dramatik des personellen Umbaus
wird an den folgenden Zahl en deutlich: Der Anteil der
Grundwehrdienstleistenden sinkt nach dem Personal-
strukturmodell von 105 000 auf 53 000 – er wird sich
also halbieren –, während es im Bereich der Unterof fi-






(A) (C)



(B) (D)


Rolf Kramer
ziere und der Of fiziere, bezogen auf den Istbestand von
Anfang 2002, eines notwendigen Aufwuchses von
20 000 Unteroffizieren und fast 1 200 Offizieren bedarf.

Die Bundeswehr benötigt gut ausgebildete, hoch mo-
tivierte Frauen und Männer in allen Tätigkeitsbereichen.
Gerade im Bereich der Zeit- und Berufssoldaten konkur-
riert die Bundeswehr mit der W irtschaft. Damit sich
Frauen und Männer für eine Tätigkeit bei der Bundes-
wehr entscheiden, muss eine besondere Attraktivität ge-
boten werden.

Das von der Bundeswehr beschlossene Programm
zur Attraktivitätssteigerung sieht unter anderem fol-
gende Einzelmaßnahmen vor: Die neue Laufbahn der
Fachunteroffiziere wurde eingeführt. Bei der Feldwebel-
laufbahn wurden die Posten eines Feldwebels des Trup-
pendienstes und eines Feldwebels des Fachdienstes ein-
gerichtet.

Bei der Laufbahn der Feld webel hat sich durch die
Verkürzung der zeitlichen Mindestvoraussetzungen um
ein Jahr und der Bündelung der meisten Dienstposten so-
wie der Anhebung von mehr als 1 400 Stellen von A 8
nach A 9 einerseits der Beförderungsstau entspannt. An-
dererseits erfüllen jetzt we sentlich mehr Oberfeldwebel
die Mindestvoraussetzungen für eine Beförderung zum
Hauptfeldwebel. Dass sich, bedingt durch diese Ände-
rungen und die damit verbunde ne Attraktivitätssteige-
rung für die Laufbahn insgesamt – dies betone ich –, in
Einzelfällen auch individu ell empfundene Benachteili-
gungen ergeben können, ist evident.

Mit der Bündelung der Dienstposten sind für die Sol-
datinnen und Soldaten sowie für ihre Familien erhebli-
che Vorteile verbunden; denn jetzt kann ein Feldwebel
auf seinem Dienstposten bis hin zum Stabsfeldwebel be-
fördert werden, ohne versetzt werden zu müssen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


In der Laufbahn der Offiziere sind durch die Weisung
des Verteidigungsministers Kompaniechefs jetzt in die
Besoldungsgruppe A 12 eingestuft. Damit waren insge-
samt 1 760 Planstellenanhebungen von A 11 nach A 12
verbunden.

Die positiven W irkungen des Attraktivitätssteige-
rungsprogramms sind unter anderem an den stark gestie-
genen Bewerberzahlen für di e Laufbahnen der Feldwe-
bel, der Unteroffiziere und der Mannschaften abzulesen.

Den Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr gilt
unser Dank für ihre aktive Mitarbeit bei den notwendi-
gen Strukturveränderungen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich komme
nun zu einem weiteren Aspe kt im Bericht des W ehrbe-
auftragten, den Auslandseinsätzen der Bundeswehr .
Gerade an diesen Auslands einsätzen wird der W andel
der Bundeswehr hin zu eine r Armee im Einsatz – ge-
nauer gesagt: im Friedenseinsatz – deutlich. Insgesamt
waren bisher fast 100 000 Soldatinnen und Soldaten im
Auslandseinsatz, im ver gangenen Jahr ungefähr 9 000
pro Monat. Auch vor dem Hi ntergrund der aktuellen Si-
tuation und Diskussion wird allein daran deutlich: W ir
leisten unseren Anteil an völkerrechtlich eindeutig legiti-
mierten Einsätzen für die friedliche Entwicklung auf die-
sem Globus. Unsere Soldatinnen und Soldaten erfüllen
ihre häufig gefährlichen Au fgaben vorbildlich und mit
hoher Professionalität.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Nimmt man alle Einsätze, die entweder durch die NATO
oder durch die Vereinten Nationen legitimiert sind, und
sieht man vom gegenwärtigen Irakkrieg einmal ab, dann
stellt die Bundeswehr weltweit das zweitgrößte Kontin-
gent.

Es ist vollkommen klar, dass sich die Soldatinnen und
Soldaten immer sicher sein müssen, dass sie ihren Dienst
auf rechtlich einwandfreien Grundlagen leisten. Dies gilt
im Inland wie im Ausland. Für diese Bringschuld des
Parlaments steht die Koali tion ein. Das Bundesverfas-
sungsgericht hat in seiner letzten Entscheidung die Posi-
tion der Regierung und der si e tragenden Parteien ge-
stützt.

Mit besonderem Interesse habe ich die Ausführungen
des Wehrbeauftragten zur inneren Führung gelesen.
Seine Schlussfolgerung, „das Prinzip der inneren Füh-
rung hat sich auch bei Auslandseinsätzen bewährt“, kann
uneingeschränkt unterstützt werden. Der Bundestag hat
durch die Einsetzung des Unterausschusses „Innere Füh-
rung“ entschieden, sich vor dem Hintergrund der gewan-
delten Aufgaben der Bundeswehr intensiv mit den
Grundlagen der inneren Führung auseinander zu setzen.
Dass auch in Zukunft die tragenden und bewährten
Grundsätze der inneren Führung weiter gelten, muss
nicht besonders betont werden.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, der W ehr-
beauftragte klassifiziert seinen Bericht folgendermaßen:

Auch dieser Bericht ist der Natur der Sache nach
ein Mängelbericht; er spiegelt also nicht den Zu-
stand der Bundeswehr insgesamt wider. Der Bericht
gibt Erkenntnisse wieder , die aus Eingaben von
Soldaten, Gesprächen mit Soldaten und anderen Er-
kenntnisquellen gewonnen wurden.

Dem ist nichts hinzuzufügen. Dieser Bericht gibt uns für
die Zukunft Handlungsanleitu ngen für die Bereiche, in
denen es Mängel zu beseitigen gilt, zeigt uns aber in ers-
ter Linie, dass die Bundeswehr auf dem richtigen W eg
ist.

Wir bedanken uns bei allen, die durch ihren Einsatz
den Frieden auf dieser Welt ein wenig sicherer machen,
und ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)







(A) (C)



(B) (D)


Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1503711200


Ich gratuliere auch Ihnen, Herr Kollege Kramer, herz-
lich zu Ihrer ersten Rede im Deutschen Bundestag und
verbinde dies mit allen guten Wünschen für Ihre weitere
parlamentarische Arbeit.


(Beifall)


Nun hat das Wort die Abgeordnete Christa Reichard,
CDU/CSU-Fraktion.


Christa Reichard (CDU):
Rede ID: ID1503711300


Herr Präsident! Herr W ehrbeauftragter! Meine sehr
verehrten Damen und Herren! Dem Dank des Hauses an
Sie, Herr W ehrbeauftragter, und an Ihre Mitarbeiter
schließe ich mich natürlich an. Ich finde es besonders
gut, dass Sie mit vielen Besuchen bei der Truppe vor Ort
in deren Situation Einblick nehmen und diese dadurch
viel besser beurteilen können, als wenn Sie nur am
Schreibtisch säßen.

Besonders interessant ist für mich und meine Fraktion
nicht nur, wie die Mängel im Einzelfall abgestellt wer-
den, sondern auch, was über den Einzelfall hinaus pas-
siert und wie den Empfehlungen der Berichte der ver-
gangenen Jahre aus Ihrem Hause Rechnung getragen
wurde. Ich stimme zu, dass es durchaus nicht nur um
eine Mängelliste geht. So un terstütze ich beispielsweise
ausdrücklich die Würdigung des Einsatzes der Solda-
ten bei der Flutkatastr ophe. Mit etwa 44 000 einge-
setzten Soldaten war dies der größte Katastropheneinsatz
der Bundeswehr. Die Klagen einiger Soldaten, daran
nicht beteiligt worden zu sein, machen die große Bereit-
schaft und den Wunsch zu helfen nur noch deutlicher.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Als Dresdnerin mit einer intensiven Erinnerung an die
Fluttage danke ich – wie ic h gehört habe, tun Sie dies
auch – den Soldaten auch von dieser Stelle aus für ihren
Einsatz noch einmal ausdrücklich und herzlich.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Meine Damen und Herren, als Berichterstatterin für
die Bereiche Betreuung und Seelsorge möchte ich mich
auf diesen Ausschnitt des Berichtes begrenzen. Ich habe
auch in den bisherigen Reden schon einige Kommentare
dazu gehört. Auf die Thematik der Auswirkungen der
Auslandseinsätze auf die So ldaten und ihre Familien
wird so umfangreich wie in keinem früheren Bericht ein-
gegangen. Das finde ich auch gut und richtig.

Vor dem Hintergrund der Ergebnisse der Studien des
Sozialwissenschaftlichen Instituts der Bundeswehr über
die Auslandseinsätze im Rahmen von KFOR halte ich
dies für besonders wichtig. Do rt heißt es, dass nur jeder
fünfte Soldat das Gefühl hat, ihm und seiner Familie
werde von den Streitkräften ausreichende Hilfe zuteil. Ist
das nicht alarmierend, meine Damen und Herren? Ich
hoffe, dass der W ehrbeauftragte zu diesen SOWI-Be-
richten – anders als zum Intr anet der Bundeswehr – Zu-
gang hat, auch wenn sie nicht veröffentlicht werden. Ge-
spräche mit Soldaten haben mir deutlich gemacht, dass
die Motivation im Einsatz ganz entscheidend von der Fa-
milienbetreuung zu Hause und den Möglichkeiten, mit-
einander zu kommunizieren, abhängt.

Ich bin froh, dass erkennbar zunehmend die Meinung
vorherrscht, dass Famili enbetreuung kein weiches
Thema ist, kein „Gedöns“, wie der Bundeskanzler zu sa-
gen pflegte, sondern ein zentrales Feld der Fürsor ge für
die Soldatinnen und Soldaten sowie ihre Familien.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Meine Damen und Herren, ha ben Sie sich schon ein-
mal klar gemacht, was die lange und häufige T rennung
gerade bei Familien mit kl einen Kindern bedeutet und
wie die Berichterstattung in den Medien auf die Angehö-
rigen der Soldatinnen und So ldaten wirkt? Viele Frauen
fühlen sich überfordert, die Kinder alleine zu erziehen;
oft tritt eine Entfremdung zwischen Vätern und Kindern
ein und es kommt zu Ess- und Schlafstörungen. Auch
die Rückkehr ist oft mit Problemen verbunden. Einige
Väter kommen mit den selbstständiger gewordenen Fa-
milien nicht mehr zurecht und flüchten sich in den
nächsten Einsatz.

Die unzureichende Information über Einsatzbeginn
und Einsatzland belastet Soldaten und ihre Familien; das
können Sie sich sicherlich vorstellen. Es soll sogar vor-
gekommen sein, dass sich So ldaten fünfmal von ihren
Lieben mit dem Hinweis ve rabschiedet haben, heute
geht es nun wirklich los, um am Abend desselben Tages
doch wieder zu den verblüf ften Angehörigen zurückzu-
kehren: Der Abmarsch hatte wieder nicht stattgefunden.
Dies ist eine Achterbahn der Emotionen nicht nur für die
Soldaten, sondern auch für ihre Partner und nicht zuletzt
für ihre Kinder.

In den vorangegangenen Berichten des W ehrbeauf-
tragten nahm Familienbetreuung weit weniger Raum ein,
aber bereits 2002 wurden flächendeckend Familienbe-
treuungszentren mit hauptamtlichem Personal gefor-
dert. 2001 wurde die Entscheidung kritisiert, zunächst
nur einen zweijährigen Probelauf mit hauptamtlichem
Personal in acht bis zehn Zentren durchzuführen. Im Be-
richt 2002, den wir heute deba ttieren, wird ausführlich
geschildert, welche besonderen Belastungen die Solda-
tenfamilien zu tragen haben und dass daran zahlreiche
Partnerschaften und Familien zerbrochen sind.

Der Wehrbeauftragte weist da rauf hin, dass eine er-
folgreiche Arbeit der Betreuungszentren von deren per-
soneller und materieller Ausstattung sowie einem zeitge-
rechten und umfassenden In formationsfluss abhängt.
Wieder wird eine schnells tmögliche Ausstattung mit
hauptamtlichem Personal gefordert. Ich frage den Herrn
Verteidigungsminister – ich hof fe, der Staatssekretär
wird ihm das ausrichten –: W arum gehen Sie mit den
Soldatenfamilien so nach lässig um? Nehmen Sie die
Alarmsignale nicht wahr?

Das Konfliktpotenzial für das Familienleben führt be-
reits jetzt dazu, dass Soldaten nach Ablauf der Verpflich-
tungszeit von einer W eiterverpflichtung Abstand neh-
men, ihre Dienstzeit verkürzen oder auf eine Übernahme






(A) (C)



(B) (D)


Christa Reichard (Dresden)

als Berufssoldat verzichten wollen. Es soll sich dabei – so
der Wehrbeauftragte – oft um die qualifiziertesten Kamera-
den handeln.

Herr Minister, es ist höchste Zeit, den Probelauf mit
Familienschicksalen zu beenden und endlich eine wirk-
lich flächendeckende professionelle hauptamtliche Fa-
milienbetreuung einzurichten. Ergänzend dazu sollen die
hervorragenden Initiativen der Soldatenfrauen durch
versicherungsrechtlichen Schutz und durch Infrastruktur
der Bundeswehr unterstützt werden. Zu Recht werden
das Forum für Soldatenfamilien sowie die Initiative
„Frau zu Frau“ besonders ge würdigt und wird ihre Ar-
beit als unverzichtbare Hilfe im Rahmen der Betreu-
ungsveranstaltungen bezeichnet.

Auch die Katholische Arbeitsgemeinschaft für Solda-
tenbetreuung widmet sich verstärkt den Soldatenfami-
lien. Die Evangelische und die Katholische Arbeitsge-
meinschaft für Soldatenbetreuung leisten darüber hinaus
einen wichtigen Beitrag für die Soldaten in Deutschland
und bei Auslandseinsätzen in den Oasen. Die Soldaten in
Kabul warten sehnsüchtig darauf, dass auch dort eine
Oase gebaut wird. Dies steht zwar nicht im Bericht, wird
aber bei den Seelsor gern vor Ort immer wieder ange-
mahnt.


Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1503711400


Frau Kollegin, denken Sie bitte an die Redezeit.


Christa Reichard (CDU):
Rede ID: ID1503711500


Bei der Neugestaltung des Heimbetreuungswesens ist
darauf zu achten, dass der bisherige Leistungsstandard
erhalten bleibt und bestehende Beteiligungsrechte nicht
verkürzt werden.

In Auswertung der Berichte des W ehrbeauftragten
und anderer Dokumente fordert die CDU/CSU-Fraktion
dringend ein neues, umfassendes Betreuungskonzept für
Soldaten und ihre Familien im Inland und im Ausland.

Ich danke Ihnen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1503711600


Letzte Rednerin in der Debatte ist die Kollegin Ulrike
Merten, SPD-Fraktion.


Ulrike Merten (SPD):
Rede ID: ID1503711700


Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr verehrter
Herr Wehrbeauftragter, auch ich möchte mich wie alle
meine Kolleginnen und Kollegen zu Beginn meiner Aus-
führungen bei Ihnen und Ih ren Mitarbeiterinnen und
Mitarbeitern für diesen aufschlussreichen Bericht bedan-
ken. Er benennt wie immer ganz konkret Beschwerden
und Beschwernisse der Sold aten. Wie wir hier schon
mehrfach gehört haben, liegt das in der Natur der Sache;
denn im Mittelpunkt steht nicht so sehr das Plus, sondern
eher das Manko.
Frau Kollegin Schäfer, ich will dann doch ein Wort zu
Ihren Ausführungen und zu dem sagen, was die Kollegin
Reichard eben vorgetragen hat. Wenn man dem Bild, das
Sie vor dem Hintergrund dessen zeichnen, was Sie dem
Bericht meinen entnehmen zu können, Glauben schen-
ken könnte, dann müssten die Bundeswehrsoldaten nicht
zuletzt in den internationa len Einsätzen mit den Fähig-
keiten von Yogis ausgestattet sein, die sich 40 Tage ein-
mauern lassen können und danach ganz fidel wieder
herauskommen. Wir wissen natürlich, dass die Bundes-
wehrsoldaten und die -soldatinnen ganz hervorragende
Leistungen erbringen und auch hohe Anerkennung finden.
Das geht nicht nur mit Motivation und guter Ausbi ldung,
sondern dazu gehört auch eine entsprechende Ausrüs-
tung und Ausstattung. Dazu ge hört schließlich eine ent-
sprechende Haltung und Fürsor gepflicht des Dienst-
herrn. Das ist gegeben. Desw egen stimmt das, was Sie
dem Bericht des W ehrbeauftragten glauben entnehmen
zu können, einfach nicht.


(Beifall bei der SPD)


Frau Kollegin Lietz, Sie sind auch schon etwas länger
dabei. Sie haben, glaube ich, auch schon mehrfach zum
Bericht des W ehrbeauftragten gesprochen. Ich weiß,
dass seitens der Bundesregierung sehr wohl eine Stel-
lungnahme zu dem abgegeben wird, was der Wehrbeauf-
tragte in seinem Bericht an Mängeln aufführt und an Er-
fordernissen in den Raum stellt. Sie müssten das
eigentlich auch wissen.

Lassen Sie mich noch eines sagen – Frau Kollegin
Lietz, es wäre schön, wenn Sie mir zuhörten, auch wenn
wir jetzt schon am Ende der Debatte sind –:


(Ursula Lietz [CDU/CSU]: Tue ich gern!)


Ich nehme es Ihnen durchaus ab, dass Sie diese Familie,
von der Sie eben gesprochen haben, intensiv begleitet
haben und davon auch tief betrof fen sind. Ich halte es
nur schlechterdings für einigermaßen ungewöhnlich, so
einen Fall hier im Plenum anzusprechen. Das gehört, wie
ich glaube, nicht hierhin, das hätte man an anderer Stelle
machen können.


(Ursula Lietz [CDU/CSU]: Das tue ich seit drei Jahren, Frau Merten!)


So viel wollte ich gerne dazu sagen.

Ich habe meine Ausführungen damit begonnen, dass
im Mittelpunkt dieses Berichts mehr das Manko als das
Plus steht. Aber gerade darin und auch im Vergleich mit
vorhergehenden Berichten liegt ja der besondere Auf-
schluss. Wenn man diesen Bericht für sich nimmt, er-
möglicht er einen Blick in das innere Gefüge und die in-
nere Ordnung der Bundeswehr . Wir als Parlament tun
gut daran, diesen jährlichen Bericht des Wehrbeauftrag-
ten nicht nur als Auftrag zur Abarbeitung einer Mängel-
oder Beschwerdeliste aufzufassen. Zugleich besteht im-
mer wieder die Chance, mit dem gesamten Parlament
über den Zustand und die innere Befindlichkeit unserer
Streitkräfte zu debattieren.

Es ist wohl wahr , dass die spezifische Aufgabe des
Wehrbeauftragten unter an derem darin besteht, V or-
gängen nachzugehen, die auf eine V erletzung von






(A) (C)



(B) (D)


Ulrike Merten
Grundrechten der Soldaten oder der Grundsätze der in-
neren Führung schließen lassen. Aber wie wir als Abge-
ordnete mit dem Bericht umgehen, gibt Zeugnis darüber,
wie ernst wir wirklich den Be griff der Parlamentsarmee
nehmen. Wir können diesen Bericht zwar mit Dankbar-
keit für die getane Arbeit und auch mit einer gewissen
Geschäftsmäßigkeit und Routine zur Kenntnis nehmen,
wir können aber auch den An lass nutzen, über die sich
abzeichnenden Veränderungen bis tief in das Berufsbild
der Soldatinnen und Soldaten hinein eine Debatte anzu-
stoßen, die in die gesamte Gesellschaft hineinwirkt.

Meine Damen und Herren, die Soldatinnen und Sol-
daten der Bundeswehr setzen ganz offensichtlich hohes
Vertrauen in die Institution des W ehrbeauftragten,
denn die gestiegene Anzahl der Eingaben im Berichts-
jahr 2002 ist ja keineswegs , wie es die Kolleginnen und
Kollegen von der Opposition hier teilweise geltend ma-
chen wollten, nur ein Beleg für bestehende Beschwer-
nisse. Hier wird doch auch deutlich, dass die Soldatinnen
und Soldaten um ihre Rechte wissen und Vertrauen nicht
nur zum Wehrbeauftragten,


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


sondern eben auch zu dieser Bundesregierung haben und
relativ sicher sind, dass ihre Beschwerden nicht ungehört
verhallen.


(Günther Friedrich Nolting [FDP]: Das glauben wir nun wirklich nicht!)


Sie wissen also um ihre Rechte – das will ich auch noch
sagen – und drängen natürlic h erst einmal darauf, dass
Abhilfe bezüglich der in ihren Beschwerden und Ein-
gaben angesprochenen Punkte geschaffen wird. Sie
drängen damit aber auch darauf, dass sich das Parlament
wirklich als Ganzes, und zwar jenseits von Truppenbesu-
chen in Wahlkreisen oder von Entsendebeschlüssen im
Bundestag, mit ihrer beruflic hen Wirklichkeit auseinan-
der setzt. Darauf haben sie, wie ich finde, auch einen
Anspruch. Wir tun gut daran, dies jenseits einer ge-
schäftsmäßigen Routine zu machen.

Es ist schon viel über di e erhöhte Anzahl von Einga-
ben gesprochen worden. W ir haben auch gehört, woran
das liegt. Ich muss all das nicht wiederholen. Die Erfor-
dernisse, die sich aus den Auslandseinsätzen er geben,
haben wir hier inzwischen wirklich eingehend erörtert.
Ich will daher noch einmal auf einen Aspekt eingehen,
der sich neben den ganz pr aktischen Anliegen, die ein-
mal mehr in dem Bericht des W ehrbeauftragten zum
Ausdruck kommen, ganz generell aufdrängt: W enn es
richtig ist, dass wir inmitten tief greifender sicherheits-
und gesellschaftspolitischer Veränderungen stehen, die
eben auch von der Bundeswehr Neuorientierungen
verlangen – wir wissen, dass das so ist –, dann müssen
wir uns auch fragen, wie wi r damit eigentlich jenseits
fachlicher und militärischer Überlegungen umgehen.
Was bedeuten zum Beispiel die veränderten Rahmenbe-
dingungen für das Prinzip der inneren Führung? Ich
nenne hier nur als Beispiel und stellvertretend den W an-
del des Konflikt- und Kriegsbildes, die Entwicklungen
in Kultur und Gesellschaft, aber auch die Kooperation
mit internationalen Partnern in multinationalen Einsät-
zen.

Als weiteres Beispiel nenne ich die Bildung; sie ist
ein Schlüsselfaktor für die Innovation der Streitkräfte
und die Weiterentwicklung der inneren Führung. Auch
hier stellt sich die Frage: En tspricht eigentlich das, was
wir an Bildung und Ausbildu ng vermitteln, noch dem
neuen Bild der Streitkräfte und den Erfordernissen?
Müssen wir uns damit nicht stärker auseinander setzen?

Was ist mit dem System der Personalauswahl und
Personalförderung? Brauchen wir nicht gerade in diesen
Zeiten Vorgesetzte, militärische Führer , die über eine
ausgeprägte politische und ethische Urteilsfähigkeit ver-
fügen?

All diesen Dingen sollten wir in dem Unterausschuss
Innere Führung, den wir angeregt haben und der sich
demnächst konstituiert, nachgehen. Das kann ganz
fruchtbar werden, wenn wir zwei Dinge tun: wenn wir
die Debatte, die wir dort führen, zum einen ins P arla-
ment tragen und es damit üb er den Bericht des Wehrbe-
auftragten hinaus mit diesen Fragen befassen und zum
anderen diese Debatte in die Gesellschaft hineintragen,
sodass sie zwischen der Bundeswehr , dem Parlament
und der Gesellschaft geführt werden kann. Damit kön-
nen wir im besten Fall de r Weiterentwicklung des
Rechtsstaats und des Gemeinwesens dienen. Ich fände es
gut, wenn wir dahin kämen.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1503711800


Ich schließe die Aussprache.

Interfraktionell wird Überweisung des Jahresberichts
des Wehrbeauftragten 2002 auf Drucksache 15/500 an
den Verteidigungsausschuss vorgeschlagen. Sind Sie da-
mit einverstanden? – Das ist ganz of fenkundig der Fall.
Dann ist die Überweisung so beschlossen.

Ich rufe nun die T agesordnungspunkte 6 a und 6 b
auf:

a) Zweite und dritte Beratung des von den Abgeord-
neten Dr. Michael Meister, Otto Bernhardt, Leo
Dautzenberg, weiteren Abgeordneten und der
Fraktion der CDU/CSU eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zur Aufhebung des V ermögen-
steuergesetzes

– Drucksache 15/196 –


(Erste Beratung 16. Sitzung)


Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzaus-
schusses (7. Ausschuss)


– Drucksache 15/436 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Florian Pronold
Dr. Michael Meister






(A) (C)



(B) (D)


Vizepräsident Dr. Norbert Lammert
b) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zur Aufh ebung des
Vermögensteuergesetzes

– Drucksache 15/408 –
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss (f)

Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vor gesehen. – Dazu höre
ich keinen W iderspruch. Dann haben wir das so be-
schlossen.

Ich eröffne die Aussprache und erteile zunächst dem
Kollegen Florian Pronold für die SPD-Fraktion das
Wort.


Florian Pronold (SPD):
Rede ID: ID1503711900

Sehr geehrte Damen und Herren! Ich gehe von einem

positiven Menschenbild aus. Deswegen glaube ich auch
an die Lernfähigkeit der Un ion und der FDP. Daher bin
ich verwundert, dass Sie in dieser Art und Weise einen
Antrag stellen.


(Lachen des Abg. Heinz Seiffert [CDU/CSU])


Ich will mich trotzdem in die sachliche Auseinanderset-
zung über den vorliegenden Entwurf begeben.

Wir halten als SPD daran fest, dass das Gesetz zur
Vermögensteuer, das derzeit keine Anwendung findet,
bestehen bleibt, und lehnen den von der Union sowie
den vom Bundesrat eingebrachten Entwurf ab, und zwar
aus mehreren Gründen.

Zunächst ist zu fragen – das ist vielleicht historisch
wichtig –: Warum ist es dazu gekommen, dass die V er-
mögensteuer nicht mehr erhoben werden kann? Die Ur-
sache fällt in Ihre Regierungszeit und damit in Ihre Ver-
antwortung. Es ist Ihr Versäumnis


(Lachen des Abg. Heinz Seiffert [CDU/CSU])


– natürlich! –, weil Sie nichts unternommen haben, um
die ungleiche Bewertung von Geldvermögen und
Grundstücksvermögen zu ändern und weil Sie das Ver-
mögensteuergesetz derzeit im Bundesrat blockieren. Sie
haben die V ermögensteuer verfassungswidrig werden
lassen.


(Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Das ist eine Ländersteuer!)


– Natürlich ist es eine Länders teuer; das ist unbestritten.
Trotzdem ist das für viele eine wichtige Frage, gerade
angesichts der Situation einiger Länderhaushalte. V iel-
leicht ist uns die Union bald dankbar , dass wir dem Ge-
setzentwurf nicht zustimmen. Ich denke da zum Beispiel
an Hessen. Sie wissen, dass der Herr M inisterpräsident
Koch seinen Haushalt nur deshalb hat verfassungskon-
form aufstellen können, weil er die Mehreinnahmen aus
dem Steuervergünstigungsabbaugesetz bereits eingestellt
hatte. Jetzt blockiert er dieses Gesetz.


(Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Er blockiert doch gar nicht!)

Wenn er damit erfolgreich ist, dann wird er einen verfas-
sungswidrigen Haushalt haben. V ielleicht wird er uns,
wenn er die V ermögensteuer doch braucht, damit sein
Haushalt verfassungsgemäß ist, dankbar sein, wenn wir
ihm dabei behilflich waren, indem wir dem vorliegenden
Entwurf nicht zugestimmt haben.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Die Bilanz Ihrer Politik lässt sich sehr schön nach
dem Matthäus-Prinzip zusammenfassen: Wer schon hat,
dem wird noch gegeben.


(Heinz Seiffert [CDU/CSU]: So macht ihr es doch mit der Körperschaftsteuer!)


Ihre Steuerpolitik in 16 Jahren Kohl war durch eine
Umverteilung von unten nach oben gekennzeichnet.
Sie haben während Ihrer Regi erungszeit die Normalver-
diener in einer W eise ausgenommen, dass der S heriff
von Nottingham vor Neid erblasst wäre.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Die Vermögensteuer, gezahlt von den oberen
5 Prozent der Gesellschaft, hat 1996 immerhin umge-
rechnet 4,5 Milliarden Euro eingebracht. Würde man die
Bewertung der Grundstück e ändern, könnte man sie
heute verfassungskonform wieder erheben. Dann wür-
den wir über einen Betrag von 20 Milliarden Euro für
die Länderhaushalte reden, die von den oberen 5 Prozent
der Gesellschaft bezahlt würden.


(Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Warum machen Sie es denn nicht?)


– Warum wir es nicht machen? Die Antwort ist relativ
einfach: weil wir derzeit dafür keine Mehrheit im Bun-
desrat finden. Sie wissen genauso wie wir, dass wir diese
Mehrheit brauchen.

Ich will Ihnen an einem Be ispiel deutlich machen,
wie sich Ihr Raubzug der Reichen auf Kosten der Armen
ausgewirkt hat.


(Lachen des Abg. Heinz Seiffert [CDU/CSU])


Es ist doch eine alte Weisheit: Das, was man den Reichen
schenkt, muss man anderen nehmen. Die Familie Quandt,
Ihnen vielleicht bekannt, besteht aus drei Personen. Als
Sie die Erhebung der Vermögensteuer haben verfassungs-
widrig werden lassen, hatte diese Familie BMW -Aktien
im Wert von damals 13,5 Milliarden DM in ihrem Besitz.
Darauf musste sie 0,5 Prozent Vermögensteuer zahlen.
Das ist, wie wenn unsereins a Fuf fzgerl aus der Tasche
fällt, sagt man in Niederbayern. Die Nichterhebung der
Vermögensteuer war für diese armen Menschen mit dem
Vermögen von 13,5 Milliarden DM ein schönes Steuer-
geschenk von immerhin 67,5 Millionen DM.

Wie es so ist, bleibt Gutes nicht lange ungestraft. Des-
wegen musste man eine Kompensation finden, um dieses
Steuergeschenk zu finanzie ren. Was hat man gemacht?
Man hat die Grunderwerbsteuer um 75 Prozent erhöht.


(Dr. Peter Ramsauer [CDU/CSU]: Schlecht informiert!)







(A) (C)



(B) (D)


Florian Pronold
– Das war damals eine de r Kompensationen für die
Nichterhebung der Vermögensteuer.


(Dr. Peter Ramsauer [CDU/CSU]: Die Erbschaftsteuer wurde erhöht! – Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Die SPD hat doch zugestimmt!)


– Das war etwas anderes. Ab er die Grunderwerbsteuer
wurde erhöht. Das bedeutete für einen Bausparer , der
sich damals für 300 000 DM eine Eigentumswohnung
gekauft hatte: Er hätte vorher 6 000 DM Grunderwerb-
steuer zahlen müssen, nac hher, als die V ermögensteuer
nicht mehr erhoben werden konnte, waren es
10 500 DM, also 4 500 DM mehr.


(Dr. Peter Ramsauer [CDU/CSU]: Die Erbschaftsteuer ist heraufgesetzt worden! Das ist Ihre sozialistische Neidhammelpolitik! So ein Quatsch!)


– Hören Sie einmal zu. – Das bedeutet: 15 000 Bauspa-
rer, die sich mühevoll ein Eigenheim ersparen, werden
von Ihnen als leistungsfähiger als die drei Mitglieder der
Familie Quandt betrachtet.


(Ute Kumpf [SPD]: Da kommt’s raus!)


Es braucht nämlich 15 000 Bausparer, um dieses Steuer-
geschenk an die Familie Quandt zu finanzieren. Und das
liegt in Ihrer Verantwortung.


(Beifall bei der SPD – Heinz Seif fert [CDU/ CSU]: Und warum habt ihr damals zugestimmt?)


Der jetzt von Ihnen vor gelegte Gesetzentwurf sieht
vor, die Vermögensteuer nicht mehr bundesweit einheit-
lich zu erheben, sondern di e Frage, ob Vermögensteuer
erhoben wird oder nicht, in die Kompetenz des einzelnen
Landes zu geben. Sie behaupten, die Vermögensteuer sei
ein bürokratisches Monstrum.


(Heinz Seiffert [CDU/CSU]: Ist sie auch!)


Es sind Gerüchte im Umlauf, die Verwaltungskosten wür-
den ein Drittel der Einnahmen aus der V ermögensteuer
ausmachen, während eine Untersuchung aus Nordrhein-
Westfalen nachweist, dass der V erwaltungsaufwand
11 Prozent beträgt. Vielleicht ist ja Nordrhein-Westfalen
besser organisiert als andere Bundesländer


(Lachen des Abg. Heinz Seiffert [CDU/CSU])


und hat deshalb einen niedrigeren Verwaltungsaufwand.
Wenn man die V ermögensteuer verfassungskonform
wieder erheben würde, wäre der Anteil im Übrigen nie-
driger.


(Elke Wülfing [CDU/CSU]: Was sind das denn für Märchen?)


– Das sind keine Märchen. Das können Sie in der „Süd-
deutschen Zeitung“ nachlesen. Ich nenne Ihnen gern die
entsprechende Stelle aus dem Jahr 1999 und wir stellen
Ihnen auch gern die entsprechende Untersuchung aus
Nordrhein-Westfalen zur Verfügung. Daraus können Sie
lernen, wie man das vernünftig macht.


(Elke Wülfing [CDU/CSU]: Danke! Ich lebe da und weiß, wie schlecht es dort ist!)

– Ach, Sie waren das, di e im Zusammenhang mit der
Dienstwagenbesteuerung von dem Mitarbeiter, der den
Rolls Royce fährt, gesprochen hat. Jetzt erinnere ich
mich wieder.


(Elke Wülfing [CDU/CSU]: Aber es war richtig!)


– Das war völlig verkehrt, aber das ist hier nicht das
Thema.

Wenn Sie die Gesetzgebungskompetenz an die Län-
der geben, haben Sie folgendes Problem: Sowohl die
Rechtseinheit als auch die Einheitlichkeit der Lebensver-
hältnisse werden natürlich infragegestellt. Das Problem
kennen wir zum Beispiel auch aus der europäischen De-
batte. Sie wollen einen St euersenkungswettbewerb in
diesem Bereich. Das Er gebnis wäre – wir alle würden
das nicht gut finden; wir diskutieren darüber gerade im
Zusammenhang mit der Zinsbesteuerung –, dass insge-
samt weniger Steuereinnahmen erzielt würden, insbe-
sondere weniger Steuereinnahmen von den oberen
5 Prozent der Gesellschaft, die besonders leistungsfähig
sind. Sie wollen, dass diese Gruppe weniger Steuern
zahlt.

Ihr Gesetzentwurf bedeutet mehr Bürokratie, weil das
Bundesland, das die V ermögensteuer einführt, das ge-
samte Vermögen des Steuerpf lichtigen zugrunde legen
muss. Wenn dieses Vermögen auf mehrere Bundesländer
verteilt ist, müssen die betreffenden anderen Bundeslän-
der mitwirken, dieses Vermögen zu ermitteln. Das ist ein
relativ kompliziertes Verfahren; denn die Länder ohne
Vermögensteuer werden wahr scheinlich die erforderli-
chen Bewertungen gar nicht mehr vornehmen. Ihr V or-
schlag bedeutet also erstens mehr Bürokratie und zwei-
tens, dass er praktisch nich t durchführbar ist. – Ihrem
Lächeln entnehme ich, dass Sie mir zustimmen, Herr
Kollege.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Heinz Seif fert [CDU/CSU]: Sie haben keine Ahnung! Das ist lächerlich, was Sie sagen! Unglaublich!)


Was Sie machen, ist typisch. Ihr V orschlag erinnert
mich an die Sache mit den Betriebsprüfern. Einige Län-
der werben offensichtlich damit, dass es bei ihnen weni-
ger Betriebsprüfungen gibt. Das bedeutet, dass die Be-
triebe in diesen Ländern real weniger Steuern zahlen
müssen. Auch diese Debatte haben wir in diesem Hause
schon des Öfteren geführt. Ich habe den Eindruck, dass
die mit Ihrem Vorschlag eröffnete Möglichkeit der Steuer-
verkürzung ein wichtiger Standortfaktor für das eine oder
andere Bundesland sein soll.


(Zuruf von der CDU/CSU: Das ist eine Verleumdung!)


– Das ist keine V erleumdung; das ist die W ahrheit. Sie
wissen ja: Eine V erleumdung ist umso schlimmer , je
mehr sie der Wahrheit entspricht. In diesem Sinne war es
eine ganz schlimme V erleumdung, weil nämlich das,
was ich gesagt habe, wahr ist.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)







(A) (C)



(B) (D)


Florian Pronold
Ein letzter Punkt. Heute Vormittag konnten wir wie-
der erkennen, dass die Union den USA in vielen Dingen
sehr nahe steht. Ich würde mich freuen, wenn dieses va-
sallenähnliche Verhalten, das die Union in der Außenpo-
litik an den T ag legt, auch bei der V ermögensbesteue-
rung Einzug finden würde.


(Beifall bei der SPD)


Die USA erzielen nämlich 3,9 Prozent ihrer Steuerein-
nahmen aus der Vermögensbesteuerung. Die Bundesre-
publik dagegen erzielt nur 0,9 Prozent ihrer Steuerein-
nahmen aus der Vermögensbesteuerung.


(Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Sie wird doch gar nicht erhoben!)


– Doch! Die Erbschaftsteuer gehört zur Vermögensteuer.
Ich nehme an, dass Sie das wi ssen und dass Sie meiner
Belehrung nicht bedürfen.

Sie jammern sonst immer da rüber – meistens unbe-
rechtigt –, dass Deutschland Schlusslicht ist. In diesem
Fall trifft es zu: Deutschl and ist zusammen mit Öster-
reich Schlusslicht bei der Vermögensbesteuerung. Aber
der Grundsatz unseres Steuersy stems ist, dass die star-
ken Schultern mehr tragen sollen als die schwachen.
Dieses Prinzip wird durch Ih ren Gesetzentwurf verletzt,
weil nämlich die Reichen außen vor bleiben und sich
arm rechnen können.


(Dr. Peter Ramsauer [CDU/CSU]: Wer ist reich?)


Deswegen werden wir Ihrem Gesetzentwurf nicht zu-
stimmen. Wir bleiben bei dem Prinzip „Robin Hood“
und gehen nicht über zu dem Prinzip „Sherif f von Not-
tingham“, dem Sie hier folgen.

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1503712000


Nächster Redner ist de r Abgeordnete Dr . Michael
Meister, CDU/CSU-Fraktion.


Dr. Michael Meister (CDU):
Rede ID: ID1503712100


Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-
ren! Angesichts des V ortrages des Kollegen Pronold
muss man sagen:


(Ute Kumpf [SPD]: Guter Vortrag!)


Man darf sich am heutigen Tage nicht wundern, dass die
Zahl der arbeitslosen Menschen auf 4,6 Millionen ge-
stiegen ist. Ihre Politik, die Sie gerade dar gestellt haben,
hat in den letzten 12 Monaten einen Anstieg der Zahl der
Arbeitslosen von über 400 000 bewirkt. Sie haben von
den Schwächsten der Gesellschaft gesprochen. In diesem
Jahr haben Sie 400 000 Menschen alleine gelassen und
in die Arbeitslosigkeit gedrängt. Das ist eine Folge Ihrer
Politik, die allein aus Ideo logie besteht und keinerlei
Sachkenntnis von den wirtschafts- und finanzpolitischen
Zusammenhängen aufweist.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Machen Sie endlich Schluss mit dieser Ideologie! Fan-
gen Sie an, Sachkenntnis in Ihre Politik einzubeziehen!

Ich will Ihnen einmal sagen, was die Bundesbank zu
dem, was Sie hier vor getragen haben, feststellt. Ich zi-
tiere den Bericht der Bundesbank aus dem März 2003:

Zudem muss Klarheit darüber bestehen, dass Pro-
duktion und Leistung, die Schaf fung von W erten
und Arbeitsplätzen Vorrang vor der Verteilungspoli-
tik haben.

Herr Pronold, das ist eine klare Antwort auf Ihre V ertei-
lungspolitik. Sie ist der fa lsche Weg. Sie richten den
Standort Deutschland, die W irtschaft und die Arbeits-
plätze, mit Ihrer Ideologie zugrunde. Hören Sie endlich
auf damit!


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Die Bundesbank sagt in ihrem Bericht noch mehr:

Die gegenwärtige Wachstums- und Vertrauenskrise
findet ihren Ausdruck in der seit Jahren schwachen
Investitionsneigung der Unternehmen. Angesichts
der hohen Unsicherheiten erscheinen die Ertrags-
aussichten als zu gering.

Deshalb wird nicht investie rt und deshalb ist dringend
Klarheit notwendig.

Ich bedanke mich herzlich dafür, dass Sie Klarheit ge-
schaffen haben. Wir wussten bis zu dieser Minute nicht,
was die SPD im Hinblick auf die V ermögensteuer will.
Es wurde laviert und gesagt, einige SPD-regierte Länder
würden sie möglicherweise wollen. Der Herr Bundes-
kanzler, der leider nicht anwe send ist – er hätte sich mit
Sicherheit über Ihre Rede gefreut –, hat gesagt, er wolle
keine Vermögensteuer.


(Florian Pronold [SPD]: Weil sie im Bundesrat nicht durchsetzbar ist!)


Seit ein paar Minuten wissen wir: Die SPD-Bundestags-
fraktion will anders als der Bundeskanzler, der in der Öf-
fentlichkeit das Gegenteil verkündet, die Einführung der
Vermögensteuer in Deutschland.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP – Elke Wülfing [CDU/CSU]: Unerhört! – Florian Pronold [SPD]: Wann habe ich das denn gesagt?)


– Sie haben eben von diesem Pult aus dar gestellt, dass
Sie die V ermögensteuer wollen. W ir haben das zur
Kenntnis genommen. Seit diesem Zeitpunkt ist klar: Die
SPD-Bundestagsfraktion will in Deutschland eine V er-
mögensteuer.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Hubert Ulrich [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Regen Sie sich nicht so auf!)


– Ich rege mich nicht auf. Ic h stelle fest: Es gibt einen
Dissens zwischen dem Bundeskanzler und der Fraktion,
die ihn angeblich unterstü tzt. Ich bin Herrn Pronold
dankbar, dass er dies hier so klar vorgetragen hat.






(A) (C)



(B) (D)


Dr. Michael Meister
Alle sieben Minuten geht in Deutschland ein Unter-
nehmen verloren. 400 000 Menschen verlieren pro Jahr
durch Ihre Politik, die zu Unternehmensinsolvenzen
führt, ihren Arbeitsplatz. Lehrstellen, die wir in Deutsch-
land dringend benötigen, können nicht geschaf fen wer-
den, da Sie mit Ihrer Politik Unternehmen zugrunde
richten. Der Ifo-Geschäftsklimaindex ist so niedrig wie
noch nie. Im Maschinenbau zu m Beispiel gibt es einen
Auftragsrückgang.


(Florian Pronold [SPD]: W ir haben seit sechs Jahren keine Vermögensteuer! Vielleicht deswegen?)


Gehen Sie einmal in die Heimatstadt Ihres Bundes-
kanzlers: Auf der Hannover -Messe in diesem Jahr wer-
den 800 Aussteller weniger sein als in den V orjahren.
Warum kommen weniger Aussteller zur Hannover -
Messe? Weil Sie eine Wirtschaftspolitik machen, die für
diesen Standort keine Perspektive bietet.

In dieser Situation kündigen Sie den Menschen in
Deutschland an: Die SPD-Bu ndestagsfraktion will wei-
tere Substanzsteuern. In dieser Situation wäre es notwen-
dig gewesen, klar zu sagen: Wir wollen keine Substanz-
steuern in Deutschland. Das ist das Signal, das gebraucht
wird. Aber nun besteht Klarheit und nun wissen wir, wo-
rüber wir mit Ihnen zu diskutieren haben und womit wir
rechnen können.

Wir brauchen dringend ein höheres Wachstum und
über das Wachstum mehr Steuereinnahmen.


(Beifall bei der CDU/CSU – Florian Pronold [SPD]: In Ihrem Gesetzentwurf steht, dass auch Sie die Vermögensteuer wollen!)


Herr Pronold, wenn ein um nur 6 Promille höheres
Wachstum gelingen würde, dann hätten wir pro Jahr
3,5 Milliarden Euro mehr Steuereinnahmen. Das ist ge-
nau das Volumen, das Sie angeblich anstreben. Machen
Sie endlich eine Politik, di e für mehr W achstum sorgt,
die diese 6 Promille herbeiführt! Dann brauchen Sie in
Deutschland keine Vermögensteuer zu aktivieren.

Wir fordern eine Politik, die endlich Perspektiven
nach vorne schafft und die dafür sor gt, Investitionsklar-
heit und vernünftige Rahmenbedingungen zu schaf fen.
Ich hätte mir gewünscht, dass wir in der heutigen Ab-
stimmung zu dem Er gebnis kommen: Der Deutsche
Bundestag stellt fest, dass die V ermögensteuer abge-
schafft wird.


(Beifall bei der CDU/CSU – Florian Pronold [SPD]: Sehen Sie doch einmal in den Gesetzentwurf! Da steht etwas anderes!)


Jetzt sagen Sie: W enn wir sie als Bundesgesetz ab-
schaffen, dann wird sie möglicherweise auf Landesebene
wieder eingeführt. Sie hätte n in der Debatte zur ersten
Lesung dieses Gesetzentwu rfes anwesend sein sollen.
Damals hatte ich Ihnen angeboten – die FDP hatte signa-
lisiert, dass sie zustimmt –,


(Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Ja!)


gemeinsam die Vermögensteuer, die als eine Steuerart
im Grundgesetz verankert ist, aus dem Grundgesetz zu
streichen. Dann wäre sie als Bundessteuer und als Lan-
dessteuer nicht mehr vorhanden und dann gäbe es keine
Vermögensteuer mehr. Stimmen Sie unserem V orschlag
zu! Dann brauchen Sie keine Angst mehr zu haben, dass
irgendein Bundesland diese Steuer einführt!


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Das ist eine Ausrede von Ihnen. Sie haben keinen Mut
zu Entscheidungen.

Meine Damen und Herren, dieselbe Substanzbesteue-
rung betreiben Sie bei der Gewerbesteuer.


(Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Oh! Oh!)


Ich bitte Sie, sich einmal anzuschauen, was momentan
bei der Gewerbesteuer passiert. Sie von den Grünen ha-
ben vielleicht nicht gelesen, was Ihre Bundestagskolle-
gen von der SPD vorhaben. Sie sollten einmal nachlesen,
was der Herr Poß dazu gesagt hat. Er hat sich im Rah-
men der Gemeindefinanzreform eindeutig für eine Reak-
tivierung der Substanzbesteuerung ausgesprochen.


(Bernd Scheelen [SPD]: Völliger Unsinn!)


Diese Vorschläge gibt es bei Ihnen.

Sie wollen den Unternehmen in der schwierigen Wirt-
schaftslage, die wir heute haben, über die Substanzbe-
steuerung Liquidität entziehen. Sie führen mit drei Bun-
desländern, mit Schleswig-Ho lstein, Berlin und Nord-
rhein-Westfalen, eine Debatte über die Erbschaftsteuer.
Sie wollen die Erbschaftste uer erhöhen und auch damit
den Unternehmen Liquidität entziehen. So vertreiben Sie
Unternehmen aus Deutschland. Sie richten Unternehmen
zugrunde und Sie betreiben damit eine Politik nicht ge-
gen die Unternehmer, sondern gegen die Arbeitnehmer ,
die dabei ihren Arbeitsplatz verlieren. Mit Ihrer Politik
treffen Sie die Schwächsten der Gesellschaft. Dafür tra-
gen Sie, Herr Pronold, und Ihre Fraktionskollegen die
Verantwortung.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Wir als Union fordern eine klare Ansage zur V ermö-
gensteuer. Wir wollen, dass sie in Deutschland gänzlich
verschwindet. Wir fordern ei ne klare Ansage zur Erb-
schaftsteuer. Wir wollen keine Erhöhung der Erbschaft-
steuer und wollen für Betriebsüber gänge Erleichterun-
gen schaffen, damit für diese Nachfolgeregelungen
möglich sind und Betriebe nicht ohne Grund zerstört
werden. Hinsichtlich der Gewerbesteuer wollen wir eine
Gemeindefinanzreform, die keine Substanzbesteuerung
kennt. Wenn wir diese klaren Ansagen machen und
keine Neiddebatte führen, wie Sie es getan haben, dann
kommen wir endlich voran.

Ich möchte Ihnen einige Punkte nennen, zu denen Sie
eine Neiddebatte führen: Mit Ihrer Unternehmensteu-
erreform 2001 haben Sie dafür gesor gt, dass Körper-
schaften keine Körperschaftsteuer mehr zahlen, dafür
aber Arbeitnehmer und der Mittelstand eine höhere Steu-
erlast zu tragen haben.






(A) (C)



(B) (D)


Dr. Michael Meister

(Bernd Scheelen [SPD]: Schwachsinn! – Hubert Ulrich [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sehen Sie sich die Zahlen doch einmal an!)


Was ist denn das für eine St euerpolitik, bei der Körper-
schaften keine Steuern zahlen, aber Arbeitnehmer und
Mittelstand herangezogen werden? Was hat das mit so-
zialer Gerechtigkeit zu tun, von der Sie immer sprechen?


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Sie legen ein Steuervergünstigungsabbaugesetz
vor. Darin steht, dass die Spekulationsfrist für private
Veräußerungsgewinne wegfällt und dass derjenige, der
als Daytrader an der Börse un terwegs ist, seinen Steuer-
satz um 200 Prozent reduziert bekommt, weil er seine
Gewinne statt mit seinem pe rsönlichen Steuersatz jetzt
nur noch mit 15 Prozent versteuern muss. Das machen
Sie! Sie treten für eine ni edrigere Besteuerung von Spe-
kulationsgewinnen ein. Ist da s eine Politik für soziale
Gerechtigkeit? Ich sage einde utig Nein. So etwas ma-
chen wir nicht mit. W ir sind für soziale Gerechtigkeit
und Sie machen Politik für Spekulanten in Deutschland.


(Beifall bei der CDU/CSU – Florian Pronold [SPD]: Manche Vorwürfe sind so absurd, da sind selbst wir sprach los! – Zuruf der Parl. Staatssekretärin Dr. Barbara Hendricks)


– Doch, so ist es, Frau Hendr icks. Lesen Sie doch nach,
was in dem Entwurf Ihres Steuerver günstigungsabbau-
gesetzes zur Besteuerung privater V eräußerungsge-
winne steht! Lesen Sie nach, was der Wegfall der Speku-
lationsfrist für den Tageshändler an der Börse bedeutet!
Dieser Wegfall bedeutet für ihn eine Steuersenkung um
200 Prozent. Das wollen wir nicht.


(Bernd Scheelen [SPD]: Was ist das denn für eine Rechnung?)


Das hat nach unserer Meinung mit sozialer Gerechtigkeit
nichts zu tun.


(Ute Kumpf [SPD]: Wo haben Sie Abitur gemacht?)


– Ich rechne es Ihnen gern vor. Dann verstehen Sie auch
einmal Ihren eigenen Gesetzentwurf.


(Lothar Binding [Heide lberg] [SPD]: Können Sie das mit der Senkung um 200 Prozent noch einmal erläutern? Das habe ich nicht verstanden!)


– Stellen Sie eine Zwischenfrage, dann bekommen Sie es
erläutert.

Sie haben die Steueramnestiepläne angesprochen.
Der Bundeskanzler hat erwartet, dass aufgrund der Am-
nestieregelung Kapital in Höhe von 100 Milliarden Euro
nach Deutschland zurückkäme. Gleichzeitig diskutieren
Sie hier – Herr Pronold kündigt das an – die W iederein-
führung der V ermögensteuer. Glauben Sie denn, dass
auch nur ein einziger Mens ch Geld nach Deutschland
zurückführt, wenn Sie ihm hier mit der Vermögensteuer
drohen? Ihr Bundesfinanzminister ist hier ein Stück weit
realistischer. Er geht nur von Steuermehreinnahmen in
Höhe von 5 Milliarden Euro aus.
Solange Sie davon ausgehen, die V ermögensteuer zu
aktivieren, solange Sie De batten über die Erbschaft-
steuer führen, solange Sie den Menschen mit Kontroll-
mitteilungen drohen, wird es keinen einzigen Menschen
geben, der sein Kapital in ei n Land transferiert und dort
anlegt, in dem das Bankgehe imnis ausgehöhlt wird, in
dem man eine riesige Bürokratie schaf ft, in dem man
plötzlich 300 Millionen Konten kontrollieren möchte.
Mit dieser Kontroll- und Bürokratiewut müssen Sie end-
lich aufhören. Ihr Wirtschaftsminister sagt, er wolle Bü-
rokratie abbauen. Sie aber tu n in Ihrer Politik genau das
Gegenteil dessen, was Sie in Ihren Sonntagsreden an-
kündigen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Diese Debatte führen wir in einer Situation, in der ein
Herr Lauterbach, der in der vom Bundeskanzler einberu-
fenen Kommission zur Reform der Gesundheitspoli-
tik sitzt, den Leuten droht, dass sie auf ihre Kapitaler-
träge auch noch eine Ges undheitsabgabe in Höhe von
nahezu 11 Prozent zahlen müssen. Das ist doch ein Witz!
Glauben Sie denn, dass Sie den Finanzmarkt Deutsch-
land mit Vermögensteuer, mit Erbschaftsteuer, mit Kon-
trollmitteilungen, mit Sozialabgaben auf Kapitalerträge
attraktiv machen können? Das ist der völlig falsche
Weg! Wenn Sie diese Debatten endlich beenden und
Klarheit schaffen würden, dass das alles nicht kommt,
wird Ihre Wirtschaftspolitik an dieser Stelle endlich ver-
nünftig.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Als das Bundesverfassungsgericht damals die V er-
mögensteuer als nicht verfa ssungsgemäß angesehen hat
und wir daraufhin diese ausg esetzt haben, haben wir
zwei Steuern erhöht, um den dadurch entstandenen Aus-
fall zu kompensieren. Das war zum Ersten die Grunder-
werbsteuer und zum Zweiten die Erbschaftsteuer. Wenn
ich sage „wir“, heißt das, Sie waren dabei und haben das
mitbeschlossen.


(Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Richtig!)


Nicht allein die Koalition, sondern Sie und auch die
SPD-regierten Länder haben dafür gestimmt.


(Heinz Seiffert [CDU/CSU]: Mit der Mehrheit der SPD!)


Herr Pronold, Sie haben von diesem Pult aus gesagt,
Sie wollten die Vermögensteuer wieder aktivieren. Dann
sollten Sie aber auch diese beiden Steuern, also die Erb-
schaftsteuer und die Grunderwerbsteuer, wieder senken.
Davon habe ich allerdings nichts gehört. Es muss eine
Korrektur erfolgen. Doch Si e denken grundsätzlich nur
an Steuererhöhungen, die zu höheren Belastungen der
Menschen in diesem Land führen. Dieses Denken ist
falsch. Das muss sich endlic h ändern. Wir müssen da-
rüber nachdenken, wie wir die Steuer - und Abgabenlast
senken, damit sich Leistung in Deutschland wieder
lohnt, und dürfen nicht das Gegenteil tun.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Zum Thema Verwaltung und Bürokratie. Wir sind
glücklich darüber, dass es in Deutschland nur noch eine






(A) (C)



(B) (D)


Dr. Michael Meister
Steuer gibt, nämlich die Grundsteuer , die von den Ein-
heitswerten abhängt und dass das bei allen anderen Steu-
ern nicht mehr der Fall ist. W ir sind auch glücklich da-
rüber, dass wir im Rahmen der Gemeindefinanzreform
die Chance haben, die Grundsteuer zu reformieren, da-
mit wir in Zukunft auch bei ihr auf Einheitswerte, Fort-
schreibungen und Bewertungen von Grundstücken in der
alten Form verzichten können. Das wäre ein großer Fort-
schritt beim Abbau von Bürokratie und Verwaltung.


(Heinz Seiffert [CDU/CSU]: Das wäre ein großer Wurf!)


Wenn Sie darüber nachdenken würden, dann würden Sie
etwas für Deutschland tun.

Stattdessen haben Sie von diesem Pult aus vorgeschla-
gen, eine Steuer einzuführen – die Vermögenssteuer –, für
die man die Einheitswerte br aucht. Das wäre eine voll-
kommen falsche Entwicklung, die dazu beiträgt, Büro-
kratie dauerhaft zu etablieren. Nein, Sie sollten Bürokra-
tie an dieser Stelle dauerhaft abbauen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Sie haben zu Recht die internationale Ebene ange-
sprochen und haben die USA ausgewählt. Ich will Sie
aber darauf hinweisen, dass es auch in der EU hinsicht-
lich der Kapitalgesellschafte n den Trend gibt, dass die
nationalen Gesetzgeber immer mehr dazu über gehen,
Substanzsteuern abzuschaffen. Wenn wir innerhalb der
EU wettbewerbsfähig sein wollen, dann müssen auch bei
uns die Substanzsteuern weg. Verlassen Sie den falschen
Weg, der die W ettbewerbsfähigkeit beeinträchtigt, und
begeben Sie sich mit uns auf den richtigen Weg!

Wenn Sie etwas weniger Ideologie im Kopf hätten
und ein bisschen mehr Sach verstand walten lassen wür-
den, dann könnten wir, wie ich glaube, in der Steuerpoli-
tik vernünftig vorankommen.


(Ute Kumpf [SPD]: Ihren Sachverstand wollen wir nicht, Herr Meister!)


Ich bedauere, dass das noch nicht gelungen ist. Ich be-
dauere auch, dass die Debatte zur ersten Lesung, in der
wir die Grundpositionen ausget auscht haben, bei Ihnen
zu keinerlei Reaktion geführt hat. Sie sind in Ihrem Vor-
trag sogar hinter das zurück gefallen, was Sie in der ers-
ten Lesung gesagt haben.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1503712200


Das Wort hat nun der Abgeordnete Hubert Ulrich,
Bündnis 90/Die Grünen.


(Heinz Seiffert [CDU/CSU]: Jetzt bin ich einmal gespannt, Herr Ulrich! Sie haben alle Chancen, sich abzugrenzen!)



Hubert Ulrich (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1503712300


Herr Meister, es tut mir Leid, das sagen zu müssen,
aber das, was Sie hier gerade abgeliefert haben,

(Elke Wülfing [CDU/CSU]: War gut!)


war eine ziemlich lächerliche Nummer . Das wissen Sie,
glaube ich, auch selber.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Sie kennen die Position der rot-grünen Koalition in der
Frage der Vermögensteuer ganz genau. Der Bundeskanz-
ler hat sie vor einigen Monaten sehr deutlich gemacht.


(Heinz Seiffert [CDU/CSU]: Er hat das Gegenteil gesagt! Das war doch deutlich!)


– Man kann immer versuchen, aus Redebeiträgen das
herauszuinterpretieren, was man gerne hätte. Das hat
aber mit dem, was wir in dieser Koalition wollen, nichts,
aber auch gar nichts zu tun.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Man kann natürlich lange über den Sinn der V ermö-
gensteuer diskutieren; darüber sind wir uns, wie ich
glaube, einig. Zunächst hört sich das Ziel, das mit der
Vermögensteuer verfolgt wird, sehr gerecht an: Durch
die Besteuerung der hohen Einkommen sollen die Rei-
chen dazu gebracht werden , sich am Steueraufkommen
des Staates zu beteiligen. Doch wenn man genau hin-
sieht, was diese Koalition in den letzten fünf Jahren an
Entlastung gerade für die Bezieher unterer Einkommen
gebracht hat,


(Lachen bei der CDU/CSU – Elke Wülfing [CDU/CSU]: Das kann nicht sein!)


dann ist das das Gegenteil von dem, was Sie eben gesagt
haben. Auch zu diesem Punkt haben Sie, Herr Meister ,
großen Unsinn erzählt.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Ich muss die Höhe der Steuersätze nicht wiederholen;
wir kennen sie mittlerweile alle. V on den Steuersätzen,
sowohl dem Eingangs- wie dem Spitzensteuersatz, hät-
ten Sie früher nur geträumt.


(Zuruf von der CDU/CSU: Fragen Sie mal die Leute!)


Gerade die Bezieher der un teren und mittleren Einkom-
men, die mit 12 bis 18 Prozent zum Einkommensteuer-
aufkommen beitragen, wurden von Rot-Grün bis zu
36 Prozent entlastet, und das ohne Vermögensteuer. Das
ist die Realität.

Die Diskussion wird aber erst durch Ihren Antrag so
richtig verrückt, durch nichts anderes.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der SPD – Heinz Seiffert [CDU/CSU]: Was?)


Wir haben in diesem Hause nicht den Antrag gestellt, die
Länder in die Lage zu versetzen, die V ermögensteuer
einzuführen. Sie haben das vor geschlagen, nicht diese
Koalition. Ich kann sehr lange darüber nachdenken, was
Sie damit eigentlich bezwecke n wollen. Wir sind nicht






(A) (C)



(B) (D)


Hubert Ulrich
für die Vermögensteuer, und zwar aus guten Gründen: Es
handelt sich bei ihr um eine Substanzsteuer . Sie würde
zur Kapitalflucht beitragen. Es gibt darüber hinaus noch
viele andere Gründe, die Vermögensteuer abzulehnen.

Zudem muss man zwischen einer privaten und einer
betrieblichen Vermögensteuer differenzieren. Die be-
triebliche Vermögensteuer wäre ganz eindeutig schäd-
lich für die Unternehmen.


(Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Ja, dann macht doch mit!)


Sie würde unserer Unternehmensteuerreform diametral
entgegenlaufen. Darum kann es wirklich nicht gehen.

Worum geht es bei Ihrem Antrag? W as hätte dieses
Land davon, wenn man eine Unternehmensteuer auf
Landesebene einführen könnte? Zum einen geht es aus
rein rechtlichen Erwägungen praktisch nicht.


(Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Warum nicht?)


Dafür gibt es eine ganze Re ihe von Gründen; das sagen
sowohl Verfassungs- als auch Steuerrechtler. Ich will es
Ihnen kurz zitieren: Der Steuerrechtler Crezelius hat ge-
sagt, dass die Länder keine eigenen V ermögensteuerge-
setze erlassen können, weil sie keine Steuer gesetzge-
bungskompetenz haben. Der V erfassungsrechtler
Siekmann hat gesagt, dass der Landesgesetzgeber nicht
berechtigt ist, Steuergesetze einzuführen, die der Bund
ersatzlos aufgehoben hat.

Zum anderen frage ich: Was würde das in der Praxis
bedeuten? Eine Person wohn t beispielsweise in Nord-
rhein-Westfalen und hat eine Immobilie in Hessen.
Nordrhein-Westfalen hat in meinem Beispiel die Vermö-
gensteuer eingeführt, Hessen aber nicht. Wie würden Sie
das voneinander abgrenzen? Es gibt eine ganze Menge
praktischer Probleme, so etwas umzusetzen.


(Norbert Schindler [CDU/CSU]: Heide Simonis und Sigmar Gabriel haben die Steuer doch gewollt!)


Viel schlimmer bei dieser Diskussion, die die CDU/
CSU hier betreibt, finde ich Folgendes: Diese Regierung
bemüht sich, durch die Abgeltungsteuer Kapital aus
dem Ausland in dieses Land zurückzuholen. Die Diskus-
sion um die Vermögensteuer, die Sie und nicht die rot-
grüne Koalition angestoßen haben,


(Heinz Seiffert [CDU/CSU]: Ihr habt sie doch ständig angesprochen, Herr Ulrich! Erzählen Sie doch nicht!)


trägt dazu bei, dass sehr viele Menschen wieder sehr zu-
rückhaltend sein werden. Da s ist schon eine Pervertie-
rung dieser Diskussion, die Sie und nicht diese Koalition
zu verantworten haben.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der SPD – Elke Wülfing [CDU/CSU]: Ich erinnere mich an den Landtagswahlkampf in Niedersachsen!)


Wenn ich böswillig wäre, könnte ich den Faden noch
ein Stück weiter spinnen.

(Norbert Schindler [CDU/CSU]: Seien Sie es doch einmal!)


Ich könnte sagen: Ihre eigentliche Hoffnung ist, dass die
Abgeltungsteuer nicht greift, weshalb Sie die Vermögen-
steuerdiskussion, die eine reine Geisterdiskussion ist,
immer noch am Leben halten.


(Heinz Seiffert [CDU/CSU]: Haben Sie nicht gehört, was Ihr Kollege vor zehn Minuten gesagt hat?)


Ich befürchte, dass das Ihre eigentliche Absicht ist.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der SPD – Heinz Seiffert [CDU/CSU]: Das ist die Meinung der SPD!)


Ihnen geht es darum, dieses Land und die Steuerpolitik
der Koalition weiter zu schädigen. Das können Sie hier
ruhig offen zugeben.

Wie gesagt: Für das Bündnis 90/Die Grünen und – so
denke ich – auch für die SPD kann ich nur sagen, dass
wir keine Vermögensteuer wollen.


(Heinz Seiffert [CDU/CSU]: Das hat sich aber anders angehört! – Norbert Schindler [CDU/ CSU]: Simonis und Gabriel wollen sie!)


Der Kanzler hat das ganz klar erklärt. W eder von der
SPD noch von den Grünen gibt es einen Antrag auf Wie-
dereinführung der Vermögensteuer; das ist Fakt. Daran
kommen Sie nicht vorbei. Das ist mit ein Grund dafür ,
dass wir Ihrem Antrag nicht zustimmen werden.

Vielen Dank.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1503712400


Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der
Kollege Carl-Ludwig Thiele, FDP-Fraktion.


Carl-Ludwig Thiele (FDP):
Rede ID: ID1503712500


Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten
Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Ulrich, es ist
schon erstaunlich: Wir debattieren hier über ein Gesetz,
welches formal noch besteht, seit dem 1. Januar 1997
aber überhaupt nicht mehr angewandt wird. Wozu haben
wir in unserem Land eigentli ch Gesetze, die nicht ange-
wandt werden und die tatsächlich auch niemand wieder-
beleben will? Das Sinnvollste wäre doch, dieses Gesetz
abzuschaffen, weil es keinen Sinn mehr hat.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Florian Pronold [SPD]: Wer war denn 1997 in der Regierung?)


Wenn der W irtschaftsminister Clement der Auf fas-
sung ist, wir müssten Bürokratie abbauen, dann kann ich
doch nur fragen: W as machen wir mit diesem Gesetz?
Entweder wird es mit Leben gefüllt oder nicht. Am
2. Februar gab es in Nieder sachsen eine Landtagswahl.






(A) (C)



(B) (D)


Carl-Ludwig Thiele
Vor den Landtagswahlen wollte Herr Gabriel es mit Le-
ben füllen.


(Elke Wülfing [CDU/CSU]: Simonis auch!)


Es hat eine lange Diskussi on gegeben, in deren An-
schluss es wieder zur Se ite genommen wurde. Nun
schlummert es weiter vor sich hin.

Herr Pronold, jetzt komme ich zu Ihnen. Diese Form
der klassenkämpferischen T öne habe ich nun wirklich
nicht erwartet. Es war wahr scheinlich gut, dass der
Kanzler bei Ihrer Rede nicht anwesend war , weil ich
nicht weiß, ob alle Kolleg innen und Kollegen der SPD
das, was Sie hier gesagt haben, teilen.


(Heinz Seiffert [CDU/CSU]: Nein! – Elke Wülfing [CDU/CSU]: Es war nicht karriereförderlich!)


Eines muss man sehen: Natürlich eignet sich die Ver-
mögensteuer hervorragend zur Polemisierung. V or der
Aussetzung der Vermögensteuer resultierten 60 Prozent
der Vermögensteuereinnahmen aus betrieblichem
Vermögen. Es kann doch keinen Sinn er geben, ein Ver-
mögen in einem Betrieb unab hängig von der Ertragsfä-
higkeit des Betriebs zu besteuern. Wenn der Betrieb leis-
tungsfähig ist, hat er die direkten Steuern zu zahlen.
Wenn er aber nicht leistungsfähig ist, möglicherweise
sogar rote Zahlen schreibt, würde die V ermögensteuer
zusätzlich obendrauf kommen und mit dazu beitragen,
dass weitere Arbeitsplätze abgebaut werden. Das kann
doch nicht der richtige Weg sein.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Insofern bitte ich in dieser Diskussion um etwas mehr
Redlichkeit, insbesondere da heute bekannt gegeben
wurde, dass die Zahl der Ar beitslosen auf 4,6 Millionen
gestiegen ist. Einige der Gründe dafür sind Rot-Grün
und das so genannte Steuervergünstigungsabbauge-
setz, das unser Land ein halbes Prozent W achstum ge-
kostet hat. Die Leute sind verunsichert; denn das Ein-
zige, was sie von Rot-Grün immer hören, ist, dass für die
Lösung eines jeden Problems eine neue Steuer erhoben
oder eine Steuer erhöht werden muss.


(Beifall bei der FDP)


Dazu sagen wir als Liberale ganz klar: Das ist der fal-
sche Weg. Wir müssen bei den Ausgaben ansetzen; denn
alles, was sich der Staat in Form von Einnahmeerhöhun-
gen nimmt,


(Jörg Tauss [SPD]: Wo denn?)


fehlt beim Konsum und im investiven Bereich.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Wir stimmen dem Gesetzentwurf der Union aus-
drücklich zu. Ich gehe davon aus, dass wir diese Diskus-
sion in dieser Legislaturperi ode leider noch häufiger zu
führen haben, weil – das hat Herr Pronold sehr deutlich
gesagt – Sie die Vermögensteuer wollen. Aus momentan
opportunistischen Gründen wollen S ie sie zurzeit nicht
wiederbeleben, aber wenn si ch die Lage wieder ändert,
dann glaube ich schon, dass Sie sich der Vermögensteuer
wieder erinnern werden.
Was wir benötigen – auch das ist einer der Gründe,
warum wir den Entwurf der Union unterstützen –, sind
Planbarkeit und Verlässlichkeit. Ein Gesetz, das seit
1997 nicht mehr angewandt wird, muss abgeschafft wer-
den,


(Dirk Niebel [FDP]: Das ist ein Zombie!)


es sei denn, man will es eventuell wiederbeleben. W ir
wollen es abschaffen. Der Weigerung von Ihrer Seite, es
abzuschaffen, entnehme ich, dass Sie es wiederbeleben
wollen. Schaffen Sie Klarheit und hören Sie auf, die
Leute zu verunsichern! Verunsicherung schadet unserem
Standort. Ich hoffe, dass Sie im Sinne der Ruck- oder Vi-
brationsrede des 14. März 2003 den Mut finden, den ei-
nen oder anderen ideologischen Ballast abzuwerfen.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1503712600


Ich schließe die Aussprache.

Wir kommen zur Abstimmung über den Gesetzent-
wurf der Fraktion der CDU/CSU zur Aufhebung des
Vermögensteuergesetzes auf Drucksache 15/196. Der Fi-
nanzausschuss empfiehlt auf Drucksache 15/436, den
Gesetzentwurf abzulehnen. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzei-
chen. – W er stimmt dagege n? – Enthaltungen? – Der
Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung abgelehnt. Damit
entfällt nach unserer Geschä ftsordnung die weitere Be-
ratung.

Zum Tagesordnungspunkt 6 b wird interfraktionell
die Überweisung des Gesetzentwurfes auf Drucksache
15/408 an die in der T agesordnung aufgeführten Aus-
schüsse vorgeschlagen. Gibt es dazu anderweitige V or-
schläge? – Das ist of fenkundig nicht der Fall. Dann ist
die Überweisung so beschlossen.

Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 7 auf:

Beratung der Unterrichtung durch die Bundes-
regierung
Waldzustandsbericht 2002
– Ergebnisse des forstlichen Umweltmoni-
torings –

– Drucksache 15/270 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft (f)

Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für Tourismus

Hierzu liegt ein Entschließungsantrag der Fraktionen
von SPD und Bündnis 90/Die Grünen vor.

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vor gesehen. – Dazu höre
ich keinen Widerspruch. Wir haben das so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Parlamen-
tarischen Staatssekretär Dr. Thalheim das Wort.






(A) (C)



(B) (D)

Dr
Dr. Gerald Thalheim (SPD):
Rede ID: ID1503712700


Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten
Kolleginnen und Kollegen! „Der Wald kehrt zurück“, so
titelte am 30. März eine große deutsche T ageszeitung.
Ich kann dem nur beipflichten , ist doch in den letzten
Jahrzehnten die bewaldete Fläche in Deutschland stetig
gewachsen, und zwar um rund 100 Quadratkilometer
jährlich.


(Jörg Tauss [SPD]: Das ist Rot-Grün!)


– Natürlich in den letzten Jahren noch mehr.

Das ist die gute Nachricht. W ie so häufig im Leben
gibt es natürlich auch beim Thema Wald eine schlechte
Nachricht. Sie lautet, dass sich der Waldzustand in den
letzten Jahren nicht mehr in dem Maße gebessert hat wie
noch vor einigen Jahren. W o liegen die Ursachen? Si-
cherlich war es leichter , die Schwefelemissionen zu re-
duzieren als die Schadstoffemissionen, die uns nach wie
vor Probleme bereiten.

Kurz einige Anmerkungen zur Situation der Wälder
in Deutschland. Wir haben nach wie vor auf 44 Prozent
der Waldfläche eine leichte Kronenverlichtung, über ein
Drittel des W aldes dagegen weist keine Schäden aus.
Nahezu unverändert weisen 26 Prozent der Fichtenflä-
che, 13 Prozent der Kiefer nfläche und 32 Prozent der
Buchenfläche deutliche Blatt- und Nadelverluste auf.
Aber auch hier ist zu dif ferenzieren: Während uns noch
in den letzten Jahren die Laubbäume, insbesondere die
Eiche, große Sorgen bereitet haben, ist hier eine Besse-
rung festzustellen. Aber die Besserung geht im Wesent-
lichen auf positive Witterungseinflüsse zurück. Die
Witterung war für die Eiche in den letzten Jahren außer-
ordentlich günstig. Wir hatten mit weniger Krankheiten
und Schädlingen zu tun und es hat auch Besserungen der
Luftqualität gegeben.

Das ist auch der Punkt, an dem wir in der Zukunft wei-
ter ansetzen müssen. Auch wenn in der Luftreinhaltung
in den letzten Jahren viel erreicht wurde – ich sprach
schon vom Schwefel –, so zählt doch jede T onne Stick-
stoff, die weniger emittiert wird. Das heißt: Die Bundes-
regierung wird ihre konsequente Politik für den Wald fort-
setzen, insbesondere bei der Luftreinhaltung. Hier ist die
Verringerung der Schadstoffemissionen aus Kraftwerken
und Industrieanlagen sowie der Tierhaltung zu nennen.

Weiter ist die Energie- und Klimaschutzpolitik auf-
zuführen. Hier sind insbesondere die Ener gieeinsparung
und die Steigerung der Energieeffizienz zu nennen. Wei-
terhin ist mit Nachdruck die Ökosteuer zu nennen sowie
die verstärkte Nutzung regenerativer Energien.

Insbesondere in Bezug auf die Nutzung von Holz – da
spielt die wirtschaftliche Seit e eine Rolle – hat die rot-
grüne Bundesregierung seit 1998 Maßstäbe gesetzt. Ich
habe selbst erlebt, dass mi r in Bayern auf Bauernver-
sammlungen, auf denen man in der Regel nicht allzu viel
Anerkennung findet, gesagt wo rden ist: Was ihr in Be-
zug auf die Nutzung von Bioenergie, was Holz und Bio-
gas anbelangt, durchgesetzt habt, verdient unsere Aner-
kennung. Wenn man das auf einer Bauernversammlung
im Bayerischen Wald hört, dann ist das für einen Sozial-
demokraten schon ein sehr schönes Erlebnis. Das zeigt,
was auf diesem Gebiet geleistet wurde.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Wir müssen beim Thema Luftreinhaltung selbstkritisch
die Agrarpolitik nennen; denn die Ammoniakemissionen
kommen zu rund 50Prozent aus der Landwirtschaft. Es ist
einer der Schwerpunkte unserer Politik, diese Emissionen
zu mindern. Damit sind wir bei der Frage, wie Tierhaltung
betrieben wird, wie Güllebehälter abgedeckt werden und
welche ähnlichen Maßnahmen ergriffen werden können,
um diese Emissionen zu reduzieren.

Natürlich muss auch die Forstwirtschaft ihren Bei-
trag leisten. Sie tut das durch die Stabilisierung der
Waldökosysteme. Hier ist das forstliche Umweltmonito-
ring zu nennen, die Bundes waldinventur, die wir ge-
meinsam mit den Ländern machen, um neue Erkennt-
nisse zu gewinnen und die Datenbasis zu verbreitern.
Wir sind auf einem guten W eg, festzustellen, wo noch
Probleme bestehen. Da sind auf alle Fälle die Waldböden
zu nennen, die über Jahrzehnte, wenn man so will, belas-
tet worden sind. Wir werden eine ebenso lange Zeit und
einen langen Atem brauchen, um die Schadstof fbelas-
tung auch der Böden zurückzu führen. Ich bin aber opti-
mistisch, dass uns das bei Fortsetzung der konsequenten
Politik der Bundesregierung auf diesem Gebiet gelingt.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1503712800

Der nächste Redner ist der Kollege Cajus Julius

Caesar, CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU – Jörg Tauss [SPD]: Nichts mies machen!)



Cajus Julius Caesar (CDU):
Rede ID: ID1503712900

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!

Wald ist mehr als die Summe aller Bäume. Er ist ein
hochkompliziertes, aber auch ein hochsensibles Ökosys-
tem. Wir von der Union setzen uns für dieses Ökosystem
ein und werden es in besonderer Weise bei unseren poli-
tischen Handlungen berücksichtigen. Es hat besondere
Bedeutung für die Erholung suchende Bevölkerung, aber
auch im Rahmen des Bodenschutzes und der Bodenero-
sion. Wir haben hier keine Gebir gszüge, die entwaldet
sind, wie etwa in Südeuropa.

Der Wald hat große Bedeutung hinsichtlich der CO 2-
Neutralität wie auch des Klimaschutzes und – nicht zu
vergessen – der immerhin 800 000 Arbeitsplätze, die im
Zusammenhang mit dem Wald stehen. Der Wald ist für
unsere Wirtschaft, insbesondere aber auch für unsere
Natur und Umwelt von großer Bedeutung und das soll-
ten wir besonders anerkennen und achten.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. Dr. Christel Happach-Kasan [FDP])







(A) (C)



(B) (D)


Cajus Caesar
Insbesondere hinsichtlich der Filterung des W assers
können wir feststellen, dass der W ald wie eine biologi-
sche Kläranlage wirkt. Das ist hinsichtlich der Hygiene,
der gesunden Ernährung und – nicht zu ver gessen – der
Speicherfunktion im Zusammenhang mit dem Hochwas-
serschutz von Bedeutung. Wenn wir über enorme Inves-
titionen für den Hochwasserschutz reden, dann sollten
wir uns insbesondere mit de r Funktion und der Bedeu-
tung des Waldes stärker befassen.

Sie als Regierung haben mit dem W aldzustandsbe-
richt und den Er gebnissen des Umweltmonitorings eine
Zustandsbeschreibung und damit eine Analyse vor ge-
legt. Uns, der Union, fehlt aber ein Handlungskonzept
der Regierung. Sie werden Ihren eigenen Ansprüchen als
Regierung in diesem Bereich wieder einmal nicht ge-
recht. Das können wir nicht hinnehmen.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Das jüngste Beispiel ist die neue W assergesetzge-
bung. Dort ist vorgesehen, dass der Waldbesitzer zusätz-
liche Abgaben zu zahlen hat. Das geht nicht an. Derje-
nige, der für sauberes Wasser sorgt und sicherstellt, dass
Wasser gespeichert wird und langsam abfließt, soll zu-
sätzliche Lasten auf sich nehmen. W ir sind dafür, dass
die Veranlagung nicht nach Flächenmaßstab, sondern
nach einem Vorteilssystem erfolgt, statt dass der W ald-
besitzer zusätzlich belastet wird.

Der Waldzustandsbericht beschreibt eindeutig, dass
beispielsweise bei der Eiche leichte V erbesserungen zu
verzeichnen sind. Das hat aber auch etwas mit den Rah-
menbedingungen, zum Beispiel mit besseren klimati-
schen Bedingungen, zu tun. Bekanntlich waren die Nie-
derschlagsmengen im Jahr 2002 besonders hoch. Das hat
aber nichts damit zu tun, dass die Bundesregierung in
besonderer Weise aktiv geworden ist.

Wir geben der Schutzgeme inschaft Deutscher Wald
Recht, die festgestellt hat, dass der Zustand der Wälder
besorgniserregend ist und blei bt. In diesem Bereich be-
steht ein dringender Handlungsbedarf. Das wird auch am
Beispiel der Kiefer ersichtlich, bei der eine deutliche Zu-
nahme der Schäden zu verzeichnen ist, weil sie auf Bö-
den wächst, die immer schlec hter mit Nährstof fen ver-
sorgt sind. Insbesondere is t anzumerken, dass vor allem
bei der Eiche mit ihren hohen Bodenansprüchen drei
Viertel des Baumbestands gesc hädigt sind. Hier besteht
dringender Handlungsbedarf seitens der Bundesregie-
rung. Wenn es darum gehen soll, den Laubwaldanteil
nicht nur zu erhalten, sondern zu vermehren, dann muss
eine Regierung auch bereit sein, etwas dafür zu tun.


(Vorsitz: Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner)


Wenn wir das forstliche Umweltmonitoring betrach-
ten und uns die Stichprobenana lyse noch einmal im De-
tail vor Augen führen, dann kö nnen wir feststellen, dass
zwar wieder eine Reihe von Statistiken, T abellen und
Daten aufgelistet wurden, da ss aber letztendlich die
Konsequenzen, die daraus gezogen werden sollten, feh-
len.
Wir haben zu Zeiten der von der Union geführten Re-
gierung einschneidende Maßnahmen auf den W eg ge-
bracht. Ich nenne das Bund es-Immissionsschutzgesetz,
die Großfeuerungsanlagenverordnung, das Ozongesetz,
die Kleinfeuerungsanlagenverordnung, die Einführung
des Katalysators und etliche Maßnahmen zur Boden-,
Luft- und insbesondere W asserverbesserung. Das hat
dazu geführt, dass die Stickoxidemissionen von 1990 bis
1998 immerhin um 34 Prozent auf 1,78 Millionen Ton-
nen abgenommen haben.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. Dr. Christel Happach-Kasan [FDP])


Bei den Schwefeldioxidemissionen ist sogar ein Rück-
gang von 76 Prozent auf nur noch 0,80 Millionen Ton-
nen zu verzeichnen gewesen. W enn Sie jetzt in Ihrem
Antrag den rapiden Rückgang der Schwefeldioxidemis-
sionen deutlich machen, dann beziehen Sie sich auf eine
Zeitspanne von 1990 bis 2000,


(Beifall bei der CDU/CSU – Ursula Heinen [CDU/CSU]: Klar! Weil das in unserer Regierungszeit geschehen ist!)


weil Sie mit den Zahlen Ihrer Regierungszeit nicht glän-
zen können. Vielmehr müssen Sie die Unionserfolge mit
einbauen.


(Beifall bei der CDU/CSU – Ursula Heinen [CDU/ CSU]: Ohne uns wären Sie gar nichts!)


Im Hinblick auf die Bodenversauerung ist festzustel-
len, dass der pH-W ert deutlich zurückgegangen ist und
auf 80 Prozent der Fläche unter fünf liegt. Ein Punkt be-
deutet eine zehnfache Versauerung; zwei Punkte bedeu-
ten eine hundertfache Versauerung. Wir haben es in den
vergangenen Jahren in Deutschland mit einer hundertfa-
chen Versauerung zu tun gehabt. Das sollte man sich vor
Augen führen. Deswegen besteht angesichts der T atsa-
che, dass dies nicht nur auf den Boden, sondern auch auf
die Vegetation, die Kleinlebewesen, die Artenvielfalt so-
wie insbesondere auf das Quell- und Grundwasser er-
hebliche Auswirkungen hat, dringender Handlungsbe-
darf. Deshalb verstehe ich überhaupt nicht, dass Sie die
Mittel auch für die Agrarstruktur und die Küstenschutz-
maßnahmen zurücknehmen; denn zu diesem Bereich ge-
hören auch Kalkungsmaßnahmen, die der Bodenver-
besserung bzw. der Bodenstabilisierung dienen. Ich
verstehe nicht, warum die Regierung nicht bereit ist, hier
mehr zu tun. Statt in eine m Entschließungsantrag allge-
mein gehaltene Punkte aufzu listen, sollte man endlich
Maßnahmen vor Ort auf den Weg bringen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Wir als Union wollen, dass Sie mehr in die For-
schung investieren. Die finanziellen Ressourcen sind
dort gut angelegt; denn sie dienen der Ursachenerkun-
dung und dazu, entspreche nde Maßnahmen abzuleiten.
Stattdessen reden Sie in Ihrem Entschließungsantrag von
einer Fortentwicklung der ökologischen Steuerreform.
Das ist weder öko noch logisc h, sondern nur belastend.
Das ist nicht die Politik der Union. Wir wollen eine prak-
tische Politik für den Wald, für die Waldbesitzer, für die
vor Ort lebenden und arbeit enden Menschen und insbe-






(A) (C)



(B) (D)


Cajus Caesar
sondere für die Artenvielfalt. Deshalb haben wir – das
sagt auch die Vielzahl unserer Anträge zu diesem Thema
aus – die Initiative er griffen und deutlich gemacht, dass
wir hier mehr Einsatz wollen, als die rot-grüne Bundes-
regierung bereit ist zu leisten .


(Beifall bei der CDU/CSU)


Ich möchte einen weiteren Punkt aus Ihrem Entschlie-
ßungsantrag ansprechen. Wenn Sie sich einseitig für ein
bestimmtes Zertifizierungssystem einsetzen, dann soll-
ten wir an einem Beispiel be trachten, wie es sich aus-
wirkt. Das FSC-Zertifizierungssystem lässt beispiels-
weise eine Bodenbearbeitung zur Erzielung einer
Laubholznaturverjüngung nicht zu. Aber wir wollen
doch den Laubholzanteil nicht nur stabilisieren, sondern
– wo möglich – noch weiter erhöhen. Insbesondere die
Buche ist auf Naturverjüngung angewiesen. Das ist Ihre
theoretische Politik. Statt zusammen mit den Waldbesit-
zern vor Ort etwas auf den W eg zu bringen, setzen Sie
sich einseitig für das FSG-Zertifizierungssystem ein, das
sicherlich für den Großwald und insbesondere für den
Tropenwald, nicht aber für den kleinen Privatwald in der
Bundesrepublik Deutschland geeignet ist.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Wir haben es in Deutschland nicht mit wenigen Groß-
waldbesitzern, sondern mit 1,3 Millionen Kleinwaldbe-
sitzern zu tun, von denen jeder im Durchschnitt
3,6 Hektar Wald sein Eigentum nennen darf und die sich
über Generationen hinweg im Schweiße ihres Angesich-
tes den jetzigen Waldbestand erst geschaffen haben. Das
sollten wir endlich auch im Deutschen Bundestag aner-
kennen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Sie wollen das Bundeswaldgesetz ändern, um wei-
tere bürokratische Hemmnisse einzubauen. Sie wollen in
dem geänderten Gesetz auf den Zentimeter genau vor-
schreiben, welches noch so kleine Pflänzchen auf wel-
chem Quadratmeter – wenn möglich, würden Sie wahr-
scheinlich auch die Himme lsrichtung vorgeben – die
Waldbesitzer auf eigene Kosten pflanzen sollen. W ir
wollen hier ein Stück mehr Freiheit. W ir wollen den
Waldbesitzer mitnehmen. Dann haben wir auch etwas
für die Waldwirtschaft, aber insbesondere auch für die
Natur erreicht. In diesem Sinne wollen wir Politik betrei-
ben. Wir wollen mehr Eigenverantwortung statt Regle-
mentierung.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Mehr Staat bedeutet nicht mehr Erfolg und schon gar
nicht mehr Umweltschutz. W enn Sie beispielsweise im
Hinblick auf die Ausweisung von FFH-Gebieten in
Deutschland – es handelt sich immerhin um
5,2 Millionen Hektar; davon sind 1,9 Millionen Hektar
Wald, von denen sich 450 000 Hektar in privatem und
kommunalem Besitz befinden – zusagen, die Bundesre-
gierung werde für Auflagen entschädigen – Ihr Staatsse-
kretär Berninger hat das auf dem 1. Deutschen Waldgip-
fel 2001 erklärt –, dann sollte n Sie sich auch an diesen
Worten messen lassen. W as ist bis jetzt geschehen?
Nichts! Man lässt die W aldbesitzer im Regen stehen.
Erst gibt es Auflagen und dann keinerlei Entschädigung.
Das kann nicht die Politik unter Einbeziehung der vor
Ort lebenden und arbeitende n Menschen sein, die mit
dem Wald ihr Einkommen erzielen. Das ist nicht die Po-
litik der Union, sondern die von Rot-Grün. Ihre Auf fas-
sung können wir nicht teilen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Wir wollen durch vertragliche Maßnahmen, durch
den Vorrang des Vertragsnaturschutzes nach vorne kom-
men. Wir wollen dem Rohsto ff Holz durch Marketing
diejenige Bedeutung beimessen, die er verdient hat. W ir
wollen, dass der Biomasse, beispielsweise im Rahmen
des Erneuerbare-Energien-Gesetzes, diejenige Bedeu-
tung beigemessen wird, die sie verdient hat. W ir wollen
eine standortgerechte W aldvermehrung in unterdurch-
schnittlich bewaldeten Bereichen. W ir wollen mehr
Kompetenzen für forstliches Personal auch im Bereich
des Naturschutzes. Wir wollen eine unbürokratische, na-
turnahe Bewirtschaftung mit dem und nicht gegen den
einzelnen Waldbesitzer. Wir setzen uns zudem für den
Erhalt des Tropenwaldes ein.

Wir wollen insbesondere durch ein Sofortprogramm
mit entsprechenden Kalkungsmaßnahmen dafür sor gen,
dass unserer Umwelt, insbesondere unserem Wald, dieje-
nige Bedeutung beigemessen wird, die sie verdient ha-
ben. Wir wollen im Verstehen von Ökonomie, Ökologie
und sozialer Komponente vorangehen und mit den vor
Ort lebenden und arbeitenden Bürgern den Wald – unter
Einbeziehung der Biomasse – erhalten, pflegen, weiter-
entwickeln und nachhaltig bewirtschaften, sodass wir
ihn unseren Kindern gesund übergeben können.

Danke schön.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)



Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1503713000

Nächste Rednerin ist die Kollegin Cornelia Behm,

Bündnis 90/Die Grünen.


(Jörg Tauss [SPD]: Fragen Sie doch einmal, ob es gerade um den W ald oder die Waldbesitzer ging!)



Cornelia Behm (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1503713100

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Erinnern Sie sich noch an die kahlen Ber g-
kämme im Erzgebirge? Dort war das W aldsterben auch
für den Laien unübersehbar . Wer heute ins Erzgebir ge
fährt, sieht, dass der W ald dort wieder wachsen kann.
Aber es sind lichte und ver graste Ersatzwälder, die von
einem naturnahen Zustand noch weit entfernt sind.

Der Zustand der Erzgebir gswälder belegt aber , dass
wir gegenüber den 80er-Jahren deutliche Fortschritte ge-
macht haben. Tote Wälder sind hierzulande glücklicher-
weise kaum noch zu finden. Doch mit den sich schlie-
ßenden Wunden verschwindet das Problem der
Umweltzerstörung aus dem Bewusstsein. So spricht
heute kaum noch jemand davon, dass mehr als
20 Prozent der Waldflächen deutlich geschädigt sind.






(A) (C)



(B) (D)


Cornelia Behm
Aber gerade deswegen, gerade wegen dieser Schäden,
ist es für eine Entwarnung leider noch zu früh. Ohne
konzentrierte Maßnahmen zum Waldschutz können un-
sere Wälder nicht gesunden. Ich bin guter Hof fnung,
dass wir hinsichtlich dieser Maßnahmen mit der Opposi-
tion trotz einiger Verbalattacken durchaus eine Einigung
erzielen.

Die Erfolge in der Luftrein haltepolitik sind durchaus
eindrucksvoll.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


So gingen die Emissionen von Stickoxid in den letzten
zehn Jahren um 41 Prozent zurück. Bei Ammoniak be-
trug der Rückgang 19 Prozent, bei Schwefeldioxid
85 Prozent.

Dennoch sind die W aldschäden seit 1995 kaum zu-
rückgegangen. Das zeigt, wie lang die W irkungszeit-
räume sind. Das zeigt aber au ch, dass vor allem die ver-
sauernden und eutrophierenden Belastungen durch
Stickoxide aus dem V erkehr und durch Ammoniak aus
der Landwirtschaft noch immer zu hoch sind. Das heißt,
wir müssen die Anstrengungen in der Luftreinhaltepoli-
tik fortsetzen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Auch die Klimaveränderungen sind eine Gefahr für
die Wälder, und zwar nicht nur weil mehr Stürme zu grö-
ßeren Windwurfschäden führen; vielmehr verschiebt
sich bei dauerhaft steigenden T emperaturen das Arten-
spektrum der Pflanzen und Tiere und damit das ökologi-
sche Gleichgewicht und der Wald verliert an ökologi-
scher Stabilität.

Wir können gegen die drohenden Klimaveränderun-
gen durchaus etwas tun. Es ist das Gebot der Stunde, den
Ausstoß von Treibhausgasen einzuschränken. Das heißt,
wir müssen die von der Bundesregierung eingeleitete
Politik der Energiewende weg vom Öl und hin zu erneu-
erbaren Energien auch im Interesse der W aldwirtschaft
konsequent vorantreiben.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Die Waldschäden und der Klimawandel machen eine
naturnahe Waldwirtschaft noch dringlicher, denn na-
turnahe Wälder sind stabil er als Monokulturen. Dieses
Ziel einer naturnahen Waldwirtschaft ist nur durch ver-
bindliche Standards zu erreichen, die wir bei der Novel-
lierung des Bundeswaldgesetzes einführen werden. Au-
ßerdem fördern wir eine W aldbewirtschaftung, die über
die gesetzlichen Mindeststandards hinausgeht, und wer-
den, auch wenn Sie es nicht hören mögen, die FSC-Zer-
tifizierung der Bundesforste n zügig umsetzen und die
Holzbeschaffung des Bundes entsprechend ausrichten.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Im Interesse derer, die den Wald bewirtschaften, und
im Interesse unserer Umwelt müssen und wollen wir die
wirtschaftlichen Rahmenbedingungen für die Forstwirt-
schaft verbessern; wir denken also durchaus auch an die
Forstwirte und Waldbesitzer. Dazu gehört es, dass mehr
Holz als Rohstof f und Ener gieträger eingesetzt wird.
Dazu gehört es, bei der Novellierung des Bundeswaldge-
setzes die Spielräume hin zu niedrigeren Kosten und ei-
ner einfacheren Verwaltung zu nutzen. Dazu gehört es
auch, mit der Novellierung de s Bundesjagdgesetzes da-
für zu sorgen, dass die Verbissschäden durch waldökolo-
gisch tragfähige Schalenwilddichten vermindert werden.

Liebe Kolleginnen und Koll egen, Sie kennen sicher
die großen Schilder mit dem Ahornblatt, die häufig von
der Autobahn aus zu sehen sind. Auf ihnen steht: „Rette
die Bäume – Schütze den Wald – Tu was!“ Das nach wie
vor hohe Schadensniveau des Waldes macht eindringlich
deutlich, dass dieser Aufruf nicht ungehört verhallen darf.
Wir haben es in der Hand, etwas zu tun: Erstens brauchen
wir eine konsequente Fortse tzung der Anstrengungen in
der Luftreinhaltepolitik. Zweitens brauchen wir eine kon-
sequente Fortsetzung der Klimapolitik. Drittens brauchen
wir eine naturnahe Waldwirtschaft. So schaffen wir wie-
der gesunde und widerstandsfähige Wälder.

Ich danke Ihnen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)



Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1503713200

Nächste Rednerin ist di e Kollegin Dr . Christel

Happach-Kasan, FDP-Fraktion.


Dr. Christel Happach-Kasan (FDP):
Rede ID: ID1503713300

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Der Waldzustandsbericht des Jahres 2002 ist kein Anlass
zum Jubeln; das haben meine Vorredner bereits deutlich
gemacht. Auch wenn den meisten Spazier gängern der
Unterschied zwischen einem geschädigten und einem ge-
sunden Baum nicht sofort au ffällt, Fachleute sehen ihn.
Auch wenn geschädigte Bäume nur schwer zu erkennen
sind, der Zusammenbruch eines Waldes bietet ein drama-
tisches Bild. Es sind Wälder im Harz und im Erzgebir ge
gestorben. Deren Anblick tut weh; aber in Deutschland ist
der Wald – anders, als es der Begrif f „Waldsterben“ vor
Jahrzehnten nahe legte – nicht gestorben.

Die Schäden beruhen wesentlich auf den Schadstoff-
einträgen aus der Luft. Im Zeitraum von 1990 bis 2000
gingen die Einträge von Schwefeldioxid um 85 Prozent,
von Stickstoffdioxid um 41 Prozent und von Ammoniak
um 19 Prozent zurück. Daran zeigt sich, dass die christ-
lich-liberale Regierung erfolgreich war.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


An diese Erfolgsgeschichte kann Rot-Grün leider nicht
anknüpfen.

Die Erfolge im Bereich der Minderung der Einträge
von Stickoxiden und Ammoniak sind noch lange nicht
zufriedenstellend. Es ist bekannt, dass die Stickoxid-
emissionen aus dem Verkehr stammen, die Ammoniak-
einträge aus der Landwirtschaft; dies ist hier gesagt wor-
den. Seltsam ist, dass de r Bericht der Minderung der






(A) (C)



(B) (D)


Dr. Christel Happach-Kasan
Einträge aus der Landwirtschaft zweieinhalb Seiten wid-
met, der Minderung der sehr viel höheren Einträge aus
dem Verkehr aber noch nicht einmal eine Spalte. Ange-
sichts dessen muss der Eindruck entstehen, dass der
Schutz der Böden vor Schadstof feinträgen für die Bun-
desregierung nur eine untergeordnete Stellung einnimmt
und die Kritik an der Landwirtschaft wie üblich im V or-
dergrund steht.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Die Schadstoffeinträge haben die Waldböden großflä-
chig verändert und in ihrer Funktionsfähigkeit stark be-
einträchtigt. Die Säureeinträge haben zur Bodenversaue-
rung, zur Auswaschung vo n Pflanzennährstoffen und
gleichzeitig auch zur Belastung des Grundwassers mit
Schwermetallen geführt. Diese Veränderungen sind alle-
samt nicht kurzfristig rückgängig zu machen. W ir wer-
den daher noch lange im Parlament über W aldzustands-
berichte diskutieren.

Aber was nützen Berichte, wenn daraus keine Konse-
quenzen gezogen werden? Als Maßnahmen gegen die
Versauerung der Waldböden empfiehlt der Bericht aus-
drücklich forstliche Bodenschutzkalkungen und Kom-
pensationsdüngungen. Dieser Empfehlung schließt sich
die FDP an.


(Beifall bei der FDP)


„Nichtstun gibt die Waldböden teilweise irreparablen
Schäden preis und gefährdet die Nachhaltigkeit der
Waldwirtschaft und die Qualität unserer W asserresour-
cen“, so die ehemalige Umweltministerin des Landes
Rheinland-Pfalz von der SPD. Doch der Entschließungs-
antrag von SPD und Grünen enthält nichts zum Thema
Kalkungen. Damit verfehlen Sie das eigentliche Thema
und die Maßnahmen, die wir tatsächlich er greifen müs-
sen. Sie konzentrieren sich auf Zertifizierungen. Sie ma-
chen, wie mein V orredner verdeutlichte, den Kleinst-
waldbesitzern das Leben schwerer; Sie verhindern, dass
diese Besitzer einen kleinen zusätzlichen Erwerb aus ih-
ren Wäldern ziehen können. Das ist der falsche Weg.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Wir müssen die vorhandenen naturwissenschaftlichen
Erkenntnisse umsetzen und sollten deshalb die Kalkung
der Wälder stärker unterstützen. W ir wissen, dass dies
wirkt. Das hat Rheinland-Pfalz in zehn Jahren deutlich
bewiesen: Die Artenzahl in de r Krautschicht steigt, die
Regenwurmbesiedlung steigt, die Feinstwurzelintensität
steigt, der Magnesiumgehalt in den Nadeln steigt, die
Verminderung der Kadmiumeinträge ist eindrucksvoll,
die Verminderung der V ergilbung der Fichtennadeln
ebenfalls. Das ist ein Erfolgsprogramm; damit könnten
wir dem Wald helfen.

Die Bundesregierung ist we iterhin aufgefordert, ihre
Politik der Bevormundung zu beenden und für keines
der Zertifikate zu werben. Das staatliche Engagement in
Bezug auf die Zertifizierung ist der falsche Politikansatz.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Die Menschen kennen die Fo rstsiegel nicht; für das Er-
reichen von Umweltzielen ha ben wir sehr viel bessere
Instrumente; die Erlössituation verschlechtert sich.


Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1503713400


Frau Kollegin, schauen Sie bitte einmal auf die Uhr
auf Ihrem Rednerpult!


Dr. Christel Happach-Kasan (FDP):
Rede ID: ID1503713500


Entschuldigung, ich bin nicht daran gewöhnt. Ich darf
meinen letzten Satz formulie ren: Die Koalition kündigt
mit ihrer Politik die jahrhundertelange Erfolgsgeschichte
der nachhaltigen Bewirtschaftung der Wälder auf.

Ich danke für die Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1503713600


Letzte Rednerin in dies er Debatte ist Kollegin
Gabriele Hiller-Ohm, SPD-Fraktion.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)



Gabriele Hiller-Ohm (SPD):
Rede ID: ID1503713700


Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Seit Ok-
tober letzten Jahres ist die Berichterstattung über die
Wälder um 30 Prozent zurückgegangen. Dies belegt eine
Analyse der Schutzgemeinschaft Deutscher W ald. Die-
ses sinkende Interesse sollte aus folgenden Gründen für
uns alarmierend sein:

Erstens konnte die Vernichtung der letzten großen Ur-
wälder nicht gestoppt werden. Zweitens ist der Zustand
unserer heimischen Wälder weiterhin kritisch; zwei von
drei Bäumen sind krank.

Deshalb braucht der W ald heute mehr denn je eine
starke Lobby, denn wir, die Industrienationen, gefährden
mit unserem enormen Holzverbrauch die Urwälder.
Holz ist nach Rohöl das in der EU zweitwichtigste Im-
portgut. Wir brauchen Holz zur Papierproduktion, als
Heizstoff und als Ener gieträger. Bei Papier können wir
sparen. Ich bedauere sehr, dass die Recyclingquoten der-
zeit rückläufig sind; das müssen wir ändern.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Als Energieträger ist Holz allemal richtig und zukunfts-
weisend. Das zeigt schon die Ökobilanz. Holz als nach-
wachsender Rohstoff ist eine wichtige Alternative zum
Öl.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Deshalb müssen wir die wirtschaftlichen Grundlagen der
Holzproduktion schützen und fördern.

Allein in Deutschland sind rund 800 000 Menschen in
der Holzwirtschaft beschäftigt, mehr als in der chemi-
schen Industrie, im Kohlebergbau und in der Stahlerzeu-
gung zusammen. Wir müssen die Rahmenbedingungen
für unsere Waldwirtschaft stärken und die Wettbewerbs-
fähigkeit langfristig sichern.






(A) (C)



(B) (D)


Gabriele Hiller-Ohm

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Wie erhalten wir Wälder und Arbeitsplätze? W ie ma-
chen wir unsere Wälder fit für die Zukunft? Die Luft-
schadstoffe müssen weiter reduziert werden, und zwar
drastisch. Wir müssen die W aldwirtschaft auf scho-
nende, nachhaltige Produktion nach den Kriterien guter
fachlicher Praxis umstellen. Zurzeit läuft in der Holz-
wirtschaft ein wichtiger gesellschaftlicher Diskurs über
diesen Begriff und über diese Kriterien. Ich bin sehr ge-
spannt darauf, was dabei herauskommt.

Wir müssen eine verlässliche Zertifizierung und
Kennzeichnung des so produz ierten Holzes mit einem
hochwertigen Ökosiegel durchsetzen. W ir brauchen
auch eine Erhöhung des Marktanteils des zertifizierten
Holzes.

SPD und Grüne haben in der letzten Legislaturperiode
die Weichen richtig gestellt. Weitreichende Gesetze, Ver-
ordnungen und Bestimmungen zum Umwelt- und Kli-
maschutz wurden in Angr iff genommen und durchge-
setzt. Diese Initiativen werd en auch für unsere Wälder
mittelfristig Wirkung zeigen.


(Beifall bei der SPD)


Es sollte möglichst nur noch zertifiziertes Holz aus
zertifizierten Betrieben in den Handel kommen. Die
Bundesregierung bemüht sich zurzeit auf EU-Ebene in-
tensiv um internationale Lösungen.

Rot-Grün hat sich auf die anerkannten Standards des
Ökosiegels FSC festgelegt. Warum haben wir das getan?
Wir haben das gemacht, weil FSC zurzeit die überzeu-
gendsten Standards sowohl in ökologischer als auch in
ökonomischer und sozialer Hinsicht bietet. Außerdem ist
FSC ein international anerkanntes Ökosiegel. W enn wir
Holz importieren, das dieses Siegel trägt, können wir
also sicher sein, dass es nicht aus Raubbau und illegalen
Holzeinschlägen stammt. So schützen wir die Urwälder.

Wir haben viel getan, besonders in den letzten vier
Jahren, Herr Kollege Caesar , aber das alles reicht noch
nicht aus; denn der Zustand unserer Wälder ist seit 1995
nicht besser geworden. W ie kommt das? Durch jahr-
zehntelange hohe Schadstoffeinträge sind die Waldbö-
den versauert. Das stresst unsere Wälder und ist eine
tickende Zeitbombe für unser Trinkwasser. Die Bundes-
regierung versucht durch gr oßflächige Kalkungen der
Wälder Schadensbegrenzung. Das ist eine Soforthilfe für
die Wälder, aber keine langfristige Lösung. Es führt kein
Weg daran vorbei, meine Damen und Herren: W ir müs-
sen die Schadstof feinträge reduzieren. Das bedeutet:
noch weniger Stickstoffoxide, noch weniger Ammoniak,
noch weniger Schwefel.


(Zuruf von der SPD: Sehr richtig!)


Wir müssen die rot-grüne Umweltpolitik vor allem in
den Bereichen Verkehr, Landwirtschaft und Energie kon-
sequent fortsetzen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Zurufe von der SPD: So soll es sein! – Das werden wir auch tun!)

– Genau. – Ihnen liegt unser Entschließungsantrag vor .
Darin ist ein umfangreicher Forderungskatalog enthal-
ten. Wir erwarten eine konsequente und zügige Umset-
zung unserer Forderungen.


(Cajus Caesar [CDU/CSU]: Sie sollen nicht fordern, Sie sollen machen!)


So machen wir den Wald fit für die Zukunft. Der nächste
Waldzustandsbericht wird mi t Sicherheit positiver aus-
fallen. Helfen Sie mit! S timmen Sie unserem Entschlie-
ßungsantrag zu!


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1503713800

Ich schließe die Aussprache.

Interfraktionell wird Überweisung des Waldzustands-
berichts 2002 auf Drucksache 15/270 an die in der T a-
gesordnung aufgeführten Ausschüsse vor geschlagen.
Der Entschließungsantrag der Fraktionen der SPD und
des Bündnisses 90/Die Gr ünen auf Drucksache 15/745
soll zur federführenden Beratung an den Ausschuss für
Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft sowie
zur Mitberatung an den Ausschuss für W irtschaft und
Arbeit, an den Ausschuss fü r Umwelt, Naturschutz und
Reaktorsicherheit und an den Ausschuss für wirtschaftli-
che Zusammenarbeit und Entwicklung überwiesen wer-
den. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall.
Dann sind die Überweisungen so beschlossen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 8 auf:

Beratung des Antrags der Abgeordneten Dirk
Niebel, Dr. Heinrich L. Kolb, Rainer Brüderle,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP

Reform des Kündigungsschutzgesetzes zur
Schaffung von mehr Arbeitsplätzen – V or-
schlag des Sachverständigenrates jetzt auf-
greifen

– Drucksache 15/430 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit (f)

Rechtsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreivierte lstunde vorgesehen, wobei
die FDP sechs Minuten erhalt en soll. – Ich höre keinen
Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Dirk Niebel, FDP-Fraktion.


Dr. h.c. Dirk Niebel (FDP):
Rede ID: ID1503713900

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Der Leitsatz Nummer eins der sozialdemokrati-
schen Arbeitsmarktphilosophie: „Einmal erreichte Be-
sitzstände sind unantastbar!“ muss am heutigen T ag
wirklich neu überdacht werden.






(A) (C)



(B) (D)


Dirk Niebel

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Heute hat der V orstandsvorsitzende der Bundesanstalt
für Arbeit die Arbeitsmarktzahlen für März vorgelegt:


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Ein Desaster!)


4,6 Millionen Menschen in diesem Land haben keinen
Job, das sind fast 500 000 mehr als im gleichen Monat
des Vorjahres. Wir aber haben es immer noch nicht ge-
schafft, einzusehen, dass arbeitsmarktpolitische Mittel in
Form von Geld einfach nicht ausreichen, um einer gro-
ßen Zahl von Menschen die Chance zu geben, wieder in
den Arbeitsprozess eintreten zu können, wir darüber hi-
naus vielmehr Rahmenbedingungen auf dem Arbeits-
markt verändern müssen.


(Beifall bei der FDP)


Der Bundeskanzler hat am 14. März eine Rede gehal-
ten, mit dem wesentlichen Tenor: Alles wird gut. Er hat
in dieser Rede aber etwas zumindest für Sozialdemokra-
ten Bemerkenswertes festgestellt.


(Zuruf des Abg. Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN])


– Herr Kuhn, Sie erinnern sich, dass die vorvorherige
Bundesregierung unter Helmut Kohl dieses Problem
schon einmal angegangen is t. Wir haben 1997 ja den
Kündigungsschutz geändert, indem wir den Schwellen-
wert von fünf auf zehn Arbeitnehmer angehoben haben.


(Doris Barnett [SPD]: Da haben Sie ja eine Menge getan! – Dr . Heinrich L. Kolb [FDP]: Allerdings! 40 000 Arbeitsplätze!)


Das hat sogar etwas bewirkt, liebe Kollegin Barnett;
denn in dem kurzen Zeitraum, in dem das Gesetz gegol-
ten hat, sind, wie uns die Kammern, die IHKs und die
Handwerkskammern, mitgeteilt haben, in den Betrieben,
die den sechsten, siebten, achten oder neunten Arbeit-
nehmer eingestellt haben, überproportional mehr Neu-
einstellungen vorgenommen worden.


(Beifall bei der FDP)


Das war ein echtes Jobprogramm – ohne einen einzigen
Cent Steuergeld, nur durch ei ne kleine Veränderung ei-
ner psychologischen Barriere. Hierdurch wurde Men-
schen die Chance gegeben, wieder in den Arbeitsprozess
einzutreten.

Mittlerweile hat auch der Bundeskanzler erkannt,
dass diese psychologische Hemmschwelle dazu führt,
dass gerade in den kleinen Betrieben nicht eingestellt
wird. Daran wollen wir anknüpfen. Wir haben deswegen
einen Vorschlag vorgelegt, der nicht nur auf einer Initia-
tive aus der letzten Legislat urperiode, sondern auch auf
den Bemerkungen Ihres Sachverständigenrates im Jah-
resgutachten 2002/03 basiert.


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Darauf hören sie ja leider nicht!)


– Leider hören sie, Herr Kollege Kolb, nicht auf ihren ei-
genen Sachverständigenrat, obwohl sie ihn eingesetzt
haben. Da die Regierung leider manchmal nicht zuhört
und es nicht selber macht, müssen wir es im Parlament
nachholen.

Wir wollen dafür sor gen, dass die Menschen die
Chance bekommen, wieder ins Berufsleben einzustei-
gen. Der Kündigungsschutz stellt tatsächlich für diejeni-
gen, die einen Arbeitsplatz haben, einen Besitzstand dar.
Er ist aber eine Barriere für diejenigen, die versuchen
wollen, wieder in Arbeit zu kommen, und führt in der
Praxis dazu, dass kleine Betriebe auf andere flexible In-
strumente wie Zeitarbeit, Überstunden und befristete
Beschäftigungsverhältnisse ausweichen. W ie wir alle
wissen, rutschen manche Bereiche auch in die Illegalität;
sonst wäre die Schattenwirtschaft nicht die einzige
Boombranche in der Bundesrepublik Deutschland.


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Leider wahr!)


Der Bundeskanzler hat nun gesagt, man müsse etwas
ändern, und ist dabei ein wenig unkonkret geblieben.
Das muss wohl so sein, wenn ihm selbst seine Mitarbei-
ter etwas Falsches aufschreiben. Er hat sich ja zum Bei-
spiel, wie wir gestern in der Fragestunde noch einmal
eindrucksvoll vom Kollegen Schlauch bestätigt bekom-
men haben, einfach geirrt, als er gesagt hat, in Zukunft
werden auch Zeitarbeitnehmer nicht mehr beim Kündi-
gungsschutz berücksichtigt; das ist nämlich schon heute
nicht der Fall. Zumindest hat er sich Gedanken gemacht,
wie man das Problem lösen kann,


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Die Richtung hat gestimmt!)


als er sagte, befristete Besc häftigungsverhältnisse sollen
in kleinen Betrieben vermehrt möglich werden.

Ich frage mich, warum wir diese von Ihnen früher im-
mer als prekär bezeichneten Beschäftigungsverhältnisse
überproportional fördern sollen, wenn wir dadurch das
Problem nur in die Zukunft verlagern. W arum soll be-
fristete Beschäftigung gefördert werden, wenn man
durch eine Veränderung beim Schwellenwert für dauer-
hafte Festanstellungen in Betrieben sorgen könnte?


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Denn nach Ablauf der Höchstbefristungszeit baut sich
doch die psychologische Barriere zur Einstellung wieder
vor dem Verantwortlichen für ein kleines Unternehmen
auf. Er steht dann nämlich vor der Frage, ob er jemanden
dauerhaft einstellt und dadu rch zeitlich verzögert den
Schwellenwert übersteigt oder ob er jemand Neuen be-
fristet beschäftigt und die eingearbeitete Arbeitskraft
freisetzt. Eine Beibehaltung dieser Regelungen erscheint
uns nicht als richtig. Deswegen schlagen wir vor , den
Schwellenwert auf 20 Arbeitnehmer pro Betrieb anzu-
heben und, weil ja befristete Beschäftigungsverhältnisse
schon für zwei Jahre möglich sind, festzulegen, dass der
Kündigungsschutz erst nach Ablauf von zwei Jahren ein-
setzt. Damit erreichen wir eine rechtliche Gleichstellung.


(Beifall bei der FDP)


Wir wollen darüber hinaus die Option schaf fen, beim
Abschluss des Arbeitsvertrages auf den besonderen
Kündigungsschutz zu verzichten, zugunsten entweder






(A) (C)



(B) (D)


Dirk Niebel
einer Abfindung oder einer Qualifizierungsabrede, was
im Falle einer Entlassung dazu führt, dass derjenige, der
den Arbeitsplatz verliert, bessere Chancen hat, einen
neuen Arbeitsplatz zu bekommen und wieder am Ar-
beitsprozess teilzuhaben. Da durch würde auch die Zeit
der Arbeitslosigkeit insgesamt verkürzt.

Wir wollen dafür sor gen, dass die Sozialauswahl
nicht, wie es der Kollege S tiegler gefordert hat, abge-
schafft wird, sondern so gestaltet wird, dass Arbeitneh-
mer und Arbeitgeber etwas davon haben. Denn wir sind
durchaus der Überzeugung, dass Arbeitgeber eine sozi-
ale Verpflichtung gegenüber ihren Mitarbeiterinnen und
Mitarbeitern haben. Wir wollen nur die jetzige Situation
beenden, in der oftmals die Luschen bleiben können und
die Leistungsträger gehen müssen.

Deswegen brauchen wir hinsichtlich der Sozialaus-
wahl im Gesetz drei klar definierte Kriterien: die Dauer
der Betriebszugehörigkeit, das Lebensalter und die An-
zahl der unterhaltspflichtigen Personen. Das war schon
Gesetz, als wir es 1997 geän dert haben. 1999 ist es von
Rot-Grün mit einem der ersten Korrektur gesetze wieder
abgeschafft worden.


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Sehen Sie jetzt endlich ein, dass das ei n Fehler war? – Zuruf des Abg. Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


– Da waren Sie, Herr Kuhn , noch nicht Mitglied dieses
Hauses; deswegen können Sie das nicht wissen, wenn
Sie sich nicht eingelesen haben.


(Zuruf des Abg. Peter Dreßen [SPD])


– Herr Dreßen, schreien Sie in Ihren DGB-Veranstaltun-
gen, aber nicht hier.


(Beifall bei der FDP)


Diese drei Kriterien mit der klaren Maßgabe, dass die
Leistungsträger ausgenommen werden können und der
Betrieb definiert, wer der Leistungsträger ist, führen
dazu, dass die sozialen Notwendigkeiten, die der Arbeit-
geber zu gewährleisten hat, berücksichtigt werden, dass
aber der Betrieb keine Schädigung dadurch erleidet, dass
die falschen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter gehen.


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das gibt Rechtssicherheit!)


Wir wollen mehr Rechtssicherheit für die Menschen
in diesem Land. Wir wollen mehr Chancen auf Teilhabe
für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer auf der ei-
nen Seite und die Arbeit Suchenden und Arbeitslosen
auf der anderen Seite.

Ein Ammenmärchen wollen wir von Anfang an been-
den: Wer nicht dem besonderen Kündigungsschutz des
Kündigungsschutzgesetzes unterliegt, ist nicht rechtlos
in diesem Land.


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: So ist das!)


Es gelten noch immer die Re gelungen des Bürgerlichen
Gesetzbuches gegen willkürliche Kündigung und gegen
sachfremde Erwägung. V on daher: Kommen Sie mir
nicht mit solchen Geschichten, machen Sie das, was Ihr
Kanzler andeutungsweise gesagt hat, ohne gleich zu wi-
dersprechen, ohne sofort in die Betonbarrieren zurückzu-
kehren.


(Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Es reicht!)


Machen Sie das schon jetzt und nicht erst am Ende der
Debatte; denn Sie werden es im Endeffekt doch tun.


(Dr. Uwe Küster [SPD]: Kommen Sie mal zum Ende! – Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Die brauchen immer so lange, bis sie das Richtige tun!)


Die SPD und ganz besonders die Grünen haben sich zu
einem Kanzlerwahlverein entwickelt. Wir werden es am
Ende dieser Diskussion sehen, wenn wir die gesetzlichen
Rahmenbedingungen auch beim Kündigungsschutz än-
dern.

Vielen Dank.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Christine Scheel [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Sie hatten 29 Jahre Zeit!)



Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1503714000

Nächster Redner ist der Kollege W ilfried Schreck,

SPD-Fraktion.


Wilfried Schreck (SPD):
Rede ID: ID1503714100

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Arbeitsrecht und T arifverträge ergänzen sich in
Deutschland zu einem dichten Netzwerk geregelter
Arbeitsbeziehungen. Das schafft Sicherheit.

Mit diesen W orten hat der Bundeskanzler in seiner
Grundsatzrede zur Agenda 2010 am 14. März verdeut-
licht, worauf der soziale Frieden in unserem Land be-
ruht. Dabei ist das Thema Kündigungsschutz von zentra-
ler Bedeutung.

Als Gesamtbetriebsratsvorsitzender einer Firma, die
vor zwölf Jahren circa 30 000 Mitarbeiter hatte und
heute weniger als 5 000 hat, weiß ich, wovon ich spre-
che. Wir sind zurzeit nach einer weiteren Fusion zum
dritten Mal in zwölf Jahren dabei, über einen Interessen-
ausgleich und Sozialpläne zu verhandeln.

Gerade der Kündigungsschutz stellt die Betriebspar-
teien immer wieder vor die Aufgabe, nach Lösungen zu
suchen und diese gemeinsam zu verantworten.


(Zuruf des Abg. Dr. Reinhard Göhner [CDU/CSU])


– Kommt gleich. – Wir haben zum Beispiel Teilzeitmodelle
entwickelt nach der Faustformel: 10 Prozent weniger Ar-
beitszeit – das ist noch leicht zu vermitteln –, 10 Prozent we-
niger Gehalt – das ist schon sc hwieriger vermittelbar – und
10 Prozent mehr Beschäftigung, für die sich, denke ich, die
Mühe solcher Diskussionen lohnt. I n bestehenden Betrie-
ben hat das zu weniger Entlassungen geführt, in Neubau-
kraftwerken zu den berühmten 10 Prozent mehr Einstel-






(A) (C)



(B) (D)


Wilfried Schreck
lungen. Damit haben wir für über 300 Kolleginnen und
Kollegen Arbeit erhalten bzw . geschaffen. Übrigens ist
das alles passiert in Ausgestaltung bestehender Tarifver-
träge und mit ausdrücklicher Billigung unserer Gewerk-
schaft, der IG BCE. – Das wollten Sie doch hören, Herr
Kollege?! So viel kurz zum praktischen Kündigungs-
schutz.

Wie Sie wissen, hat der Bundeskanzler am 14. März
aber auch auf die Notwen digkeit von Reformen beim
Kündigungsschutz hingewiesen. Heute stehen wir vor
der Frage: Wer hat dazu das bessere Konzept?


(Dirk Niebel [FDP]: Wir!)


Wir wollen eine Regelung, di e gleichermaßen die Inte-
ressen der Arbeitnehmer un d Arbeitgeber wahrt, aber
auch Neueinstellungen, in erster Linie in Kleinbetrieben,
fördert.


(Dirk Niebel [FDP]: Dann stimmen Sie doch zu!)


Was schlagen S ie dazu vor? Nehmen wir zum Bei-
spiel Ihre Forderung, den Schwellenwert für die An-
wendung des Kündigungsschu tzgesetzes von derzeit
fünf Arbeitnehmern auf 20 Arbeitnehmer anzuheben.
Nach derzeitiger Rechtslage gilt das Kündigungsschutz-
gesetz erst für Firmen mit mindestens sechs Beschäftig-
ten, das heißt, nur in jede m dritten Betrieb; denn zwei
Drittel aller Unternehmen beschäftigen weniger als
sechs Mitarbeiter.


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Warum wohl, Herr Schreck? Woran mag das wohl liegen?)


Um diese vermeintliche ode r echte Schwellenangst zu
beseitigen, sehen wir vor , dass neu eingestellte Arbeit-
nehmer mit befristeten Arbeitsverträgen nicht auf den
Schwellenwert von fünf Ar beitnehmern angerechnet
werden.


(Dirk Niebel [FDP]: Und was ist nach Ende der Befristung?)


Gerade kleine Unternehmen, die die Basis unserer
Volkswirtschaft bilden, können damit mehr Einstellun-
gen vornehmen, ohne in den Geltungsbereich des ver-
meintlichen Schreckgespenstes Kündigungsschutz zu
kommen.

Interessant ist in diesem Zusammenhang sicherlich
der Vergleich mit unseren europäischen Nachbarn. In
den Niederlanden benötigen die Arbeitgeber für jede
Kündigung eine staatliche Genehmigung, in Österreich
und Italien ist auch bei gerechtfertigter Kündigung im-
mer eine Abfindung zu zahlen, in Frankreich beginnt der
Kündigungsschutz schon beim ersten Arbeitnehmer. Un-
ser Kündigungsschutz könnte somit für multinationale
Unternehmen geradezu ein Anreiz sein, hier zu investie-
ren. Leider ist das Thema komplexer.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Und warum kommen die nicht?)


Im Gegensatz zu der oft gezeichneten Horrorvision
des Kündigungsschutzgesetzes ist das juristische Risiko
eines Unternehmens, einen se chsten Mitarbeiter einzu-
stellen, eher gering.


(Dr. Reinhard Göhner [CDU/CSU]: Die Unternehmen sind aber anderer Meinung!)


Eine Kündigung muss nur ei ne Bedingung erfüllen: Sie
muss begründet sein. Das ist sie, wenn sie als betriebs-,
personen- oder verhaltensbedingt gelten kann. Der of-
fenbar tief verwurzelten Hemmung können wir begeg-
nen, ohne die Angst vor dem V erlust des Arbeitsplatzes
für Millionen von Arbeitnehmern zu schüren, wie Sie es
mit Ihrem Vorschlag zur Anhebung des Schwellenwertes
auf 20 Beschäftigte tun würden. W ir hingegen werden,
wie gesagt, neu eingestellte Arbeitnehmer mit befristeten
Arbeitsverträgen aus der Schwellenwertberechnung her-
ausnehmen.

Was den Wirkungsgrad der von Ihnen beabsichtigten
Anhebung auf 20 Arbeitnehmer angeht, empfehle ich Ih-
nen Ziffer 470 des von Ihnen angeführten Jahresgutach-
tens des Sachverständigenrats zur Lektüre. Dort ist zu le-
sen, dass verschiedene zur Fragestellung des Einflusses
des Kündigungsschutzgesetzes auf die Arbeitslosen-
quote durchgeführte Untersuchungen zu teilweise recht
unterschiedlichen Ergebnissen führten. Zusammenfas-
send wird festgestellt:

Der Gesamteindruck ist jedoch, dass sich in diesen
Studien ein verstärkender Einfluss des Kündigungs-
schutzes auf die Höhe der Arbeitslosigkeit nicht be-
legen lässt.

Ich komme nicht umhin, im Zusammenhang mit Ihrem
ersten Änderungsversuch aus dem Jahre 1996 – Herr Kol-
lege Niebel, Sie haben darauf hingewiesen – auf den da-
maligen Bundesarbeitsminister Norbert Blüm zu verwei-
sen, der auf die Frage, was er von der Änderung des
Kündigungsschutzgesetzes halte, antwortete:

Wir haben damals den Schwellenwert von fünf auf
zehn angehoben. Ich habe noch das Handwerk im
Ohr, das 300 000 Arbeitsplätze versprochen hat.
Auf die warte ich heute noch.

Zitat aus der „Lausitzer Rundschau“ vom 7. März 2003.


(Beifall bei der SPD – Dirk Niebel [FDP]: Sie dürfen nicht ver gessen, dass Herr Blüm ein schwarz lackierter Gewerkschafter ist!)


Wenn ich Sie, meine Damen und Herren der FDP-
Fraktion, bzw. Ihren arbeit smarktpolitischen Sprecher,
Kollegen Niebel, beim Wort nehmen darf, so werden Sie
uns, wenn unser Gesetzentw urf eingebracht sein wird,
beim Punkt Sozialauswahl voll und ganz unterstützen.
Denn neben starren Kriterien wie Lebensalter, Dauer der
Betriebszugehörigkeit und Unterhaltspflichten des Ar-
beitnehmers sollen Prioritäten auch direkt zwischen Ar-
beitnehmervertretern und Arbeitgebern erarbeitet wer-
den können. Das müsste Ih rem Flexibilisierungsdrang
doch entgegenkommen.

Zu Ihrer Forderung, Arbeitnehmer, deren weitere Be-
schäftigung im betrieblichen Interesse liegt, explizit aus
der Sozialauswahl herauszunehmen, kann ich nur sagen,
dass dies nach § 1 Abs. 3 Satz 2 Kündigungsschutzgesetz






(A) (C)



(B) (D)


Wilfried Schreck
schon heute möglich ist. Wenn es zurzeit nicht praktika-
bel ist, muss man es im Gesetz klarstellen bzw . verbes-
sern.


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Dann machen Sie mal! – Dr . Rolf Bietmann [CDU/CSU]: Dann mal ran!)


Liebe Kolleginnen und Kollegen der FDP, Sie wollen,
dass Arbeitnehmer mit Absc hluss des Arbeitsvertrages
zwischen der Anwendung des Kündigungsschutzgeset-
zes und der Zahlung einer Abfindung durch den Arbeit-
geber wählen können.


(Dirk Niebel [FDP]: Das schafft Rechtssicherheit und Planungssicherheit!)


Glauben Sie allen Ernstes, dass ein Arbeit Suchender
sich für eine dieser Optionen wirklich frei entscheiden
könnte?


(Dirk Niebel [FDP]: Selbstverständlich!)


Ihr Vorschlag lässt dem Arbe itnehmer faktisch nur die
Wahl zwischen dem Verzicht auf den Kündigungsschutz
und dem Verzicht auf die Einstellung.

Wir halten es für sinnvoller , dass erst im Fall der be-
triebsbedingten Kündigung die Wahlmöglichkeit zwi-
schen einem Abfindungsanspru ch in gesetzlich festge-
legter Höhe und einer Klage auf Bestandsschutz zum
Tragen kommt. Zum einen gibt diese Regelung dem Ar-
beitnehmer die Möglichkeit, in Kenntnis der Umstände
und der Auswirkung der Kü ndigung gleichberechtigt,
sozusagen auf Augenhöhe, mit dem Arbeitgeber zwi-
schen Abfindung und Klage zu wählen. Zum anderen
werden damit Kündigungen für den Arbeitgeber bere-
chenbar und Prozesse vermieden,


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Eben nicht!)


wo es von vornherein nur um die Abfindung geht.

Im Zusammenhang mit der Einführung der Abfin-
dungsoption müssen wir au ch über die notwendigen
Konsequenzen hinsichtlich des Anspruches auf Arbeits-
losengeld entscheiden, wo wir wieder auf Sie zählen
dürfen. Aber die Umsetzung Ihrer Forderung, dass sich
Arbeitnehmer und Arbeitgeber bei Vertragsabschluss auf
die Übernahme von Qualifizierungskosten durch den Ar-
beitgeber anstelle einer Abfindungszahlung einigen kön-
nen sollen,


(Dirk Niebel [FDP]: Das ist sehr vernünftig!)


ist, mit Verlaub, nicht nur nicht praktikabel, sondern geht
auch völlig an der Realität vorbei. W eder der Arbeitge-
ber noch der Arbeitnehmer wissen bei Abschluss des Ar-
beitsvertrages, ob und welche Qualifizierungsmaßnah-
men bei einem Ausscheiden des Arbeitnehmers not-
wendig und möglich sind und welche Kosten dann ent-
stehen.

Ihre Forderung, die Frist in § 1 Abs. 1 des Kündi-
gungsschutzgesetzes auf zwei Jahre anzuheben, um sie
mit den gesetzlichen Regelungen für befristete Arbeits-
verträge zu harmonisieren, würde alle Arbeitnehmer bis
zum Ablauf der Zweijahresfrist vor noch größere Unsi-
cherheiten stellen, als sie sich im heutigen Erwerbsleben
schon ergeben können. Wenn sich Arbeitnehmer und Ar-
beitgeber darauf verständigt haben, dass das Arbeitsver-
hältnis auf zwei Jahre befristet ist, so ist beiden Beteilig-
ten der rechtliche Status von vornherein klar.

Die Verlängerung der Probezeit auf zwei Jahre – das
beinhaltet Ihr Vorschlag doch –


(Dirk Niebel [FDP]: Nein, überhaupt nicht! Das wird gar nicht gefordert!)


lässt Menschen zu lange im Ungewissen. Dies ist der Ar-
beitsmotivation auf Dauer wenig dienlich.


(Dirk Niebel [FDP]: Dann müssten Mitarbeiter in einem V iermannbetrieb völlig unmotiviert sein!)


Die Unterscheidung zwischen befristeten und unbefriste-
ten Arbeitsverträgen ist sachlich richtig. Wir planen aber,
Existenzgründern die Möglichkeit einzuräumen, die be-
fristete Beschäftigung von Arbeitnehmern zu erweitern.
In den neu gegründeten Unternehmen können dann be-
fristete Arbeitsverträge mit einer Dauer bis zu vier Jah-
ren abgeschlossen werden. Das erleichtert Existenzgrün-
dern in der schwierigen Aufbauphase des Unternehmens
die Entscheidung für Einstellungen.

Die von Ihnen geforderte dreiwöchige Ausschluss-
frist für alle arbeitsrechtlichen Ansprüche lehnen wir ab.
Einerseits müssen Arbeitnehm er nicht erfüllte Entgelt-
und andere Ansprüche im Rahmen der allgemeinen Ver-
jährungsfristen geltend machen können; andererseits
wollen Arbeitgeber sicherlich nicht auf Lohnrückforde-
rungs- und Schadensersatz ansprüche verzichten. Hier
obliegt es den Tarifparteien, Ausschlussfristen zu verein-
baren, die hinter den allgemeinen Verjährungsfristen zu-
rückbleiben.

Unser Modell des Sozialstaates hat entscheidend zum
Erfolg der deutschen W irtschaft beigetragen und ist ein
Fundament unserer demokratischen Entwicklung. Der
Zusammenhalt einer Gesellschaft ist nicht das Er gebnis
ökonomischer Prozesse, sondern Ergebnis gemeinsamer
Wertvorstellungen.

Sichere Arbeitnehmerrechte wie die im Kündigungs-
schutzgesetz sind elementare Bestandteile unseres Sozial-
staates und damit auch unserer W ettbewerbsfähigkeit.
Dies darf nicht leichtfertig aufs Spiel gesetzt werden. Ich
kann daher nur empfehlen, den Antrag der FDP abzuleh-
nen.


(Dirk Niebel [FDP]: Schlechte Empfehlung!)


Danke.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1503714200


Herr Kollege Schreck, ich gratuliere Ihnen sehr herz-
lich zu Ihrer ersten Rede in diesem Hohen Hause und
wünsche Ihnen persönlich und politisch alles Gute.


(Beifall)







(A) (C)



(B) (D)


Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
Nächster Redner in der Debatte ist der Kollege
Dr. Rolf Bietmann, CDU/CSU-Fraktion.


Dr. Rolf Bietmann (CDU):
Rede ID: ID1503714300


Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Der Ruf nach einer Reform des Kündigungs-
schutzgesetzes wird immer lauter . Verbände von Indus-
trie, Handel, Handwerk und freien Berufen beklagen die
mangelnde Flexibilität des Arbeitsrechts. Zwischenzeit-
lich sehen sich sogar einzelne Gewerkschafter ebenso
wie der von der rot-grünen Bundesregierung als Sach-
verständiger ausgewählte VW-Vorstand Hartz die unbe-
streitbare Notwendigkeit, das zum T eil weit verstreute
und komplizierte Recht des Kündigungsschutzes zu ver-
einfachen.

In den von der Regierun g immer wieder gelobten
Hartz-Vorschlägen wird richtig erkannt, dass der Kündi-
gungsschutz in seiner jetzigen Form ein Einstellungshin-
dernis ist.


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das steht in jedem Sachverständigenbericht!)


Angesichts einer Massenarbe itslosigkeit von mehr als
4,7 Millionen Menschen können wir uns in Deutschland
Gesetze, die als Einstellungshindernis erkannt worden
sind, nicht länger erlauben.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Doch statt auf der Grundlage dieser allgemeinen Er-
kenntnis schnell zu handeln, verzögert die SPD-geführte
Bundesregierung die überfällige Diskussion um die Re-
form des Kündigungsschutzr echts und beschränkt sich
auf vage Ankündigungen möglicher Veränderungen.


(Dirk Niebel [FDP]: Sie will den 1. Mai abwarten!)


Angesichts der in Deutschland herrschenden Massen-
arbeitslosigkeit wird die Wirkung des Gewerkschaftsrats
der SPD deutlich, der zwar , wie man liest, zunehmend
häufiger tagt, aber unfähig ist, notwendige Reforment-
scheidungen zu treffen, und der damit das Problem der
Massenarbeitslosigkeit in Deutschland verfestigt.


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Leider wahr! – Dirk Niebel [FDP]: Der ist ja auch nicht wirklich legitimiert dafür!)


Es ist überfällig, die Diskussion um die Reform des
deutschen Arbeitsrechts au s den Hinterzimmern dieses
Gewerkschaftsrats herauszuholen und darüber endlich so
wie heute in öffentlicher Sitzung zu diskutieren.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Die gewerkschaftlich organisierte Hinhaltetaktik ist ge-
rade bei der Reform des Kündigungsschutzes weder aus
Gründen des Sozialschutzes der Arbeitnehmer gerecht-
fertigt noch angesichts st eigender Massenarbeitslosig-
keit politisch vertretbar. Es muss gehandelt werden, und
zwar jetzt.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU sowie der FDP)

Die Union ist sich ihrer besonderen V erantwortung
gegenüber Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern be-
wusst. Kündigungsrecht und Kündigungsschutzrecht be-
treffen schließlich verfassungsrechtlich geschützte Posi-
tionen beider Vertragspartner. Es entspricht dem Gebot
des sozialen Staates nach Art. 20 und Art. 28 des
Grundgesetzes, dass die Arbeitnehmer gegen grundlose
oder willkürliche Kündigungen des Arbeitgebers ge-
schützt sind. Beliebige Kündigungen im Sinne einer un-
begrenzten Kündigungsfreiheit der Arbeitgeberseite sind
verfassungsrechtlich nicht gedeckt und werden von der
Union nicht akzeptiert.


(Dirk Niebel [FDP]: Von der FDP auch nicht!)


Andererseits ergibt sich aus der unternehmerischen Ent-
scheidungsfreiheit für die Arbeitgeberseite ein verfas-
sungsrechtlich geschütztes Mindestmaß an Kündigungs-
freiheit, wiederum gewährleistet durch Art. 2, Art. 12
und Art. 14 des Grundgesetzes.

Das Kündigungsschutzrecht hat daher immer die Auf-
gabe, einen verfassungsgemä ßen Interessenausgleich
zwischen der Arbeitgeberse ite und der Arbeitnehmer-
seite zu gewährleisten. Dieser verfassungsgemäße Inte-
ressenausgleich wird angesichts der weit gefassten
Generalklauseln des Kündi gungsschutzrechts heute
überwiegend zum Richterrecht, welches das Geschehen
auf dem Arbeitsmarkt in Deutschland maßgeblich mit-
steuert.

Dieses Richterrecht ist au ch für den interessierten
Laien kaum mehr zu überblicken und führt zur Undurch-
schaubarkeit bei einer Vielzahl formeller und materieller
Rechtsfragen. Die Rechtsunsicherheit gerade beim Kün-
digungsschutz ist kaum noch steigerungsfähig, zumal die
Rechtsprechung häufigen Schwankungen unterliegt. Das
Ergebnis sind beispielswei se zwei vorhandene Groß-
kommentare zum deutschen Kündigungsschutzrecht mit
bis zu 34 verschiedenen Gese tzesmaterien auf mehr als
3 300 Seiten kommentiert.


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das schafft Arbeitsplätze! Leider nur im Buchdruck!)


In diesem Dickicht von ju ristischen und richterrecht-
lichen Regelungen finden sich Unternehmer – Kleinun-
ternehmer schon gar nicht – nicht mehr zurecht.


(Johannes Singhammer [CDU/CSU]: So ist es! Genau!)


Wissenschaftliche Studien haben gezeigt, dass es
durch die richterrechtliche Ausprägung des Kündigungs-
schutzes in Deutschland zeitraubender und schwieriger
ist, einen Arbeitsvertrag aufz ulösen als eine Ehe. Dies
gilt besonders für personen- und verhaltensbedingte
Kündigungen. Das gegenwärtige System des gerichtli-
chen Kündigungsschutzes ist zeitraubend, kostenträchtig
und ineffizient.

Der Deutsche Arbeitsgerichtstag hat vor einiger Zeit
Aufwand und Praxis der arbeitsgerichtlichen Überprüf-
barkeit von Kündigungen gegenübergestellt. In Deutsch-
land werden pro Jahr rund 350 000 Kündigungsschutz-
prozesse geführt. Zwischen 80 und 90 Prozent dieser
Kündigungsschutzprozesse enden im Er gebnis ohne






(A) (C)



(B) (D)


Dr. Rolf Bietmann
streitiges Urteil mit eine r Abfindungszahlung für den
Arbeitnehmer. Daraus folgt, dass der Kündigungsschutz
heute in ein Abfindungsverfahren verwandelt worden
ist.


(Dirk Niebel [FDP]: Richtig! Genau!)


Kritiker sprechen nicht ganz ohne Zynismus vom Abfin-
dungshandel.

Die Ineffizienz dieses Sy stems hat verhängnisvolle
Wirkungen auf den Arbeitsmarkt, weil es im derzeitigen
Zustand die Einstellung von Arbeitslosen massiv behin-
dert. Ich sage es noch mal: Auch der von Ihnen immer
wieder zitierte Herr Hartz kommt genau zu dieser Er-
kenntnis und fordert von den politisch V erantwortlichen
eine Reform, die zu mehr Rechtsklarheit und mehr Flexi-
bilität im Kündigungsschutzrecht führt.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Die CDU/CSU-Fraktion hat zur Reform des Kündi-
gungsschutzes und wichtiger arbeitsrechtlicher Regelun-
gen ein eigenes Reformwerk entwickelt, welches mit den
Vorstellungen der FDP teilwe ise übereinstimmt, in ein-
zelnen Teilen aber auch abwe icht. Im Kern geht es da-
rum, den Sozialschutz des Arbeitnehmers zu sichern und
gleichzeitig die unternehmerische Entscheidungskompe-
tenz zu konkretisieren.

Vor diesem Hintergrund erscheint der Vorschlag, den
Kündigungsschutz erst ab einer Betriebszugehörigkeit
von mehr als zwei Jahren greifen zu lassen, als nicht un-
problematisch. Die hier von vielen vertretene Auf fas-
sung, es könne ohnehin über einen Zweijahreszeitraum
befristet werden, geht nach meiner Ansicht in die falsche
Richtung. Zum einen wäre ei n Arbeitnehmer mit einem
unbefristeten Arbeitsvertrag in den ersten zwei Jahren
seiner Tätigkeit schlechter ge stellt als mit einem befris-
teten Arbeitsvertrag – im Rahmen der Befristung ist im
Regelfall keine ordentliche Kündigung möglich –, zum
anderen, dies ist der maßge bliche Arbeitsmarktaspekt,
erschwert der Ausschluss des Sozialschutzes von zwei
Jahren die Bereitschaft zum Wechsel von Arbeitsplätzen.
Arbeitnehmer, die einmal dem Kündigungsschutzgesetz
unterfallen, dürften kaum noch bereit sein, dieses Privi-
leg zugunsten einer neuen An stellung aufzugeben. Das
schadet der Fluktuation im Arbeitsmarkt.

Dagegen ist die von der FDP und auch von der CSU
angestoßene Schwellenwertdiskussion zu begrüßen. Ge-
rade Kleinbetriebe mit wenigen Mitarbeitern und regel-
mäßig ohne größere Kapitala usstattung sind durch das
Kündigungsschutzgesetz erheblichen finanziellen Risi-
ken ausgesetzt. Die jetzige Regelung verhindert vielfach
Neueinstellungen in den innovativen kleinen und mittle-
ren Unternehmen.

Die von der FDP geforderte Einführung enumerativer
Kriterien in der Sozialauswahl bei betriebsbedingten
Kündigungen ist richtig. Hierdurch werden klare Rege-
lungen geschaffen, die die Akzeptanz des Rechts erhö-
hen. Problematisch ist allerd ings die im Antrag enthal-
tene Einschränkung der Sozialauswahl, die wiederum zu
rechtlicher Unklarheit bei der Auswahl führt und deswe-
gen – jedenfalls in dieser Form – besser weggelassen
werden sollte; diese Einschränkung der Sozialauswahl
öffnet nämlich Willkür Tür und Tor.


(Dirk Niebel [FDP]: Das hatten wir bis 1999 schon einmal gesetzlich geregelt!)


Wir begrüßen die von Ihnen und von uns ebenfalls ge-
forderte Einführung des Optionsmodells. Hierdurch
wird das Arbeitsrecht um ei n flexibel anwendbares In-
strument erweitert, was der Kalkulierbarkeit der Arbeits-
kosten und vor allem der zügigeren Rechtssicherheit
dient.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Dieses Modell kann greife n, wenn Arbeitnehmer und
Arbeitgeber es vertraglich vereinbaren. Ich will nicht
verschweigen, dass man dabei noch einmal gesondert
prüfen sollte, ob es richtig ist, dieses Modell auch in den
Fällen der verhaltensbedi ngten Kündigungen anzuwen-
den; denn bei schuldhaften Arbeitsvertragsverstößen des
Arbeitnehmers kann die Of ferierung von Abfindungs-
leistungen natürlich geradezu die Provokation des ver-
tragswidrigen Verhaltens beinhalten.


(Dirk Niebel [FDP]: Auch nicht vorgesehen in unserem Optionsmodell!)


Deswegen sollte man dies, meine ich, noch einmal prü-
fen und das Modell bei verh altensbedingten Kündigun-
gen nicht anwenden, wohl aber bei betriebsbedingten
Kündigungen und natürlich auch bei personenbedingten
Kündigungen.


(Dirk Niebel [FDP]: Genau so ist es vorgesehen!)


Im Ergebnis kann ich feststellen, dass mit dem Antrag
der FDP die dringend notwendige Debatte um die Re-
form des Kündigungsschutzes im Parlament eröf fnet
worden ist. CDU und CSU werden insoweit mit eigenen
Vorschlägen zur Flexibilisierung des deutschen Arbeits-
rechts über das Kündigungsschutzrecht hinaus vorstellig
werden;


(Dirk Niebel [FDP]: Haben wir schon längst eingebracht! Stimmen Sie einfach unserem Antrag zu!)


denn Veränderungen am Arbeitsmarkt werden wir nur
durch mutige Reformen erzielen. W er heute glaubt, er
könne alles belassen, wie es ist, versündigt sich an den
Millionen Menschen, die in unserem Land auch bei gu-
ter Ausbildung nach Arbeit suchen und sie einfach nicht
finden. Wer wie der SPD-Gewerkschaftsrat Neuregelun-
gen blockiert, handelt nicht sozial; er schadet vielmehr
den Massen von Menschen, di e in dieser Republik mit
Recht den Anspruch auf Arbeit erheben.


Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1503714400

Herr Kollege, Ihre Redezeit ist deutlich überschritten.


Dr. Rolf Bietmann (CDU):
Rede ID: ID1503714500

Frau Präsidentin, ich komme zum Schluss.

Hier haben Rot-Grün und die Bundesregierung kläg-
lich versagt. CDU und CSU we rden nicht ruhen, diesen






(A) (C)



(B) (D)


Dr. Rolf Bietmann
Missstand aufzuzeigen und die Regierung zum Handeln
im Interesse der Menschen dieses Landes zu zwingen.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1503714600


Nächster Redner ist der Kollege Fritz Kuhn, Bündnis 90/
Die Grünen.


Fritz Kuhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1503714700


Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich will zunächst einmal für meine Fraktion klar zum
Ausdruck bringen: W ir sehen einen Unterschied zwi-
schen einem Marktfundamentalismus ohne soziale Rah-
menbedingungen und der sozialen Marktwirtschaft.
Marktfundamentalismus, wie Sie von der FDP ihn oft
predigen, ist nicht unser Ding. W ir haben eine soziale
Marktwirtschaft und der Kündigungsschutz – der Kol-
lege von der Union hat es schon angeführt – ist elemen-
tarer Bestandteil der sozialen Marktwirtschaft.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Dirk Niebel [FDP]: Wir wollen es ja nur richtig machen!)


Wir streiten also nicht darüber, ob wir Kündigungsschutz
wollen, sondern darüber, wie er richtig gefasst ist, damit
auf der einen Seite die Mens chen geschützt werden und
auf der anderen Seite das nötig e Maß an Flexibilität ge-
währt wird. Das ist die Basis, von der wir ausgehen müs-
sen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD – Dirk Niebel [FDP]: Genauso wie wir! Hätten Sie den Antrag gelesen, dann hätten Sie gesehen, dass es bei uns auch so ist!)


– Sie müssen mir nicht mit solchen Zwischenrufen kom-
men, Herr Kollege. Gegen Ihr Problem hilft im Übrigen
Baldrian. Den gibt es in jeder Apotheke.

Ich will nun etwas dazu sa gen, wie die Flexibilisie-
rung ausgestaltet sein muss. Das richte ich vor allem an
diejenigen, die Skepsis gegenüber den V orschlägen der
Agenda 2010 zum Kündigungsschutz haben. Mir
scheint der Hauptpunkt zu sein, dass die Betriebe, die
sich im Aufbau befinden – dazu zählen vor allem inno-
vative Betriebe, bei denen ma n noch nicht weiß, ob die
innovative Idee des Betriebes in einigen Jahren trägt –,
zögern, ob sie über die Gren ze von fünf Beschäftigten
gehen können und sollen. Ich glaube, dass es aus diesem
Grund richtig ist, einen be stimmten Maßnahmenkatalog
von Flexibilisierungsmöglichkeiten aufzubauen, wie es
der Kanzler in seiner Regi erungserklärung vorgeschla-
gen hat. Ob man eine Gleitz one einrichtet, wie wir vor-
geschlagen haben, oder be fristete Beschäftigungsver-
hältnisse nicht dazu rechnet, wird man im Einzelnen zu
prüfen haben. Ich glaube, dass beide Möglichkeiten
funktionieren würden und so die starre Grenze, die wir
heute haben, im richtigen Umfang flexibilisiert würde.

Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1503714800

Herr Kollege Kuhn, darf Kollege Kolb eine Zwi-

schenfrage stellen?


Fritz Kuhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1503714900

Nein, das möchte ich nicht.


(Dirk Niebel [FDP]: Das ist schade! Er traut sich nicht! – Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Er hätte eine gute Frage gestellt!)


– Das macht nichts.

Ich finde es aber sehr wichtig, überhaupt etwas zu
tun, weil es Betriebe gibt , die wegen des Kündigungs-
schutzes Probleme haben, über die Anzahl von fünf Be-
schäftigten hinauszugehen. In diesem Zusammenhang ist
anzumerken, dass wir mit der Verbesserung und der Ver-
stärkung der Leiharbeit durch Hartz ein wichtiges In-
strument geschaffen haben, das es dem zögernden Fir-
meninhaber ermöglicht, intelligente Lösungen zu finden,
wenn er nicht weiß, wie sich das Geschäft entwickeln
wird. Er lernt so die Mitarb eiterinnen und Mitarbeiter
kennen und kann, besser als aus jeder Bewerbung, ein-
schätzen, was sie im Betrieb können. W enn sich zeigt,
dass das Geschäft läuft und das Unternehmen wächst,
sind die Mitarbeiter schon vo rhanden, die dann fest in
dem Betrieb eingestellt werden können. Dann wagt man
es auch leichter, die Grenze von fünf Beschäftigten zu
überschreiten. Man muss also den Gesamtkontext sehen.
Hier hat Hartz sicherlich vi el geholfen. Das haben wir
mit Hilfe der Union schon beschlossen.


(Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Das war richtig!)


Wenn ich mit Unternehmern vor allem kleinerer Be-
triebe spreche und sie frage, welche Probleme sie mit
dem Kündigungsschutz haben, dann nennen sie oft – das
sind die Kernargumente –, dass es im Streitfall zu einem
Prozess vor dem Arbeitsgericht kommt und es ein langes
Verfahren mit einem erheblic hen Prozessrisiko für die
Betriebsinhaber gibt. In der Regel kommt es aus diesem
Grund am Schluss zu einem V ergleich mit einer Abfin-
dung.

Wir haben vorgeschlagen, das vorher durch eine Ver-
einbarung über die Höhe de r Abfindung zu regeln. Das
ist eine kluge Lösung; denn dadurch wird das Prozessri-
siko gemindert. Außerdem wird verhindert, dass die Ar-
beitnehmer weiterhin so tun, als würden sie auf V erlän-
gerung des Arbeitsverhältnisses klagen, in W irklichkeit
aber eine Abfindung bekommen wollen. Das ist Unsinn,
das unterbinden wir. Es wird manchen Ärger, den es bei
den Unternehmern wegen des Kündigungsschutzes gibt,
reduzieren.

Herr Niebel, ich glaube aber, dass man eine solche Ver-
einbarung nicht beim Einstieg in eine Firma treffen kann,
da keine Waffengleichheit herrscht. Die Position desjeni-
gen, der einsteigt, ist sehr schwach. Deswegen muss man
eine solche Vereinbarung tatsächlich nach der Kündigung
treffen. Der Gesetzgeber hat nur die Aufgabe, den Rah-
men zu definieren, in dem das Ganze ablaufen soll.


(Dirk Niebel [FDP]: Dann machen Sie das doch!)







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(B) (D)


Fritz Kuhn
Wir halten Ihren V orschlag, die Grenze auf 20 Be-
schäftigte zu erhöhen, für ni cht richtig, weil wir bei der
bestehenden Regelung mit fünf Beschäftigten die Flexi-
bilität, die wir brauchen, bekommen können. Deswegen
werden wir Ihrem Vorschlag nicht zustimmen.


(Dirk Niebel [FDP]: Das ist ein großer Fehler!)


Ich will zum Abschluss ei nen Punkt ansprechen, der
mir wichtig erscheint. Es gibt manchmal eine Diskus-
sion, ob die Vorbehalte bei den Unternehmern gegen die
Kündigungsschutzregelung symbolisch sind oder tat-
sächlich bestehen. Gibt es also nur einen gefühlten V or-
behalt oder einen tatsächlichen? Dazu habe ich eine ganz
klare Meinung: Die Frage ist völlig irrelevant, weil ge-
fühlte Vorbehalte tatsächliche empirische Wirkungen ha-
ben können.

Wer glaubt, der Kündigungsschutz behindere ihn, wird
tatsächlich so handeln, als würde er durch ihn behindert.
Der richtige Weg ist deshalb ein klares Bekenntnis zum
Kündigungsschutz als zentralem Element der sozialen
Marktwirtschaft. Man muss pragmatisch an die Flexibili-
sierung herangehen. Das tut die Bundesregierung. Des-
wegen sind wir auf dem richtigen Weg.

Wenn Sie noch die eine oder andere gute Idee haben,
dann bringen Sie sie ein; das wäre natürlich willkom-
men. Ich glaube aber, dass der Laden auch so läuft. W ir
werden den Kündigungsschutz in Deutschland verbes-
sern.

Vielen Dank.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Dirk Niebel [FDP]: Alles wird gut!)



Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1503715000


Das Wort zu einer Kurzintervention hat der Kollege
Kolb.


Dr. Heinrich L. Kolb (FDP):
Rede ID: ID1503715100


Schönen Dank, Frau Präsidentin. – Herr Kollege
Kuhn, ich hätte mir natürlich gewünscht, dass Sie eine
Zwischenfrage zulassen. So sehe ich mich veranlasst,
das als Kurzintervention hier anzubringen.


(Dr. Uwe Küster [SPD]: Das ist aber keine gute Begründung! Die Präsidentin freut sich darüber!)


Sie sagen, dass man irgendetwas tun muss, und stellen
es so dar, als sei es kein richtiges Problem, sondern nur
gefühlt. Außerdem sagen Si e, Sie wissen noch nicht so
recht, was Sie tun wollen. Stimmen Sie mir denn zu,
dass es letztlich entscheide nd darauf ankommt, wie die
Sicht desjenigen ist, der ein neues Arbeitsverhältnis be-
gründen soll? Dabei geht es in entscheidender Weise um
den Arbeitgeber, der Ja oder Nein sagt.

Stimmen Sie mir außerdem zu, dass wir bei der Lö-
sung, die wir anstreben, i mmer im Auge behalten müs-
sen, wie wir in einer möglichst großen Zahl von Fällen
die Dinge so gestalten könn en, dass der Arbeitgeber Ja
sagt?

Herr Kuhn, der Kollege Schr eck hat zu Recht darauf
hingewiesen, dass zwei Drittel aller Betriebe in Deutsch-
land fünf oder weniger als fü nf Beschäftigte haben. Ich
sage Ihnen: Es ist kein Zufa ll. Es ist eben nicht nur das
Gefühl, sondern es ist tatsächlich eine sehr rigide
Schwelle, die im deutschen Arbeitsrecht eingezogen
wurde. Es gibt Untersuchu ngen bezüglich der W irkun-
gen der Änderung des Kündigungsschutzes im Jahr
1997. Die Handwerkskammer Oberbayern sagt zum Bei-
spiel, dass es deutliche Beschäftigungsef fekte gegeben
hat. Diese wären natürlich um so stärker gewesen, wenn
diese Änderung bestehen geblieben wäre. Leider waren
Sie hier beratungsresistent und haben die Änderung des
Kündigungsschutzes aus dem Jahre 1997 entgegen allen
Warnungen wieder zurückgenommen.

Ich möchte Sie noch auf einen Punkt hinweisen: Es
wäre auf jeden Fall falsch, mit dieser befristeten Lösung
zu arbeiten. Als kleines Unternehmen bekommen Sie
keinen qualifizierten Mitarb eiter, wenn Sie ihm sagen
müssen, dass sie ihn zwar befristet einstellen – gegebe-
nenfalls für die Höchstdauer der Befristung, die jetzt ge-
setzlich möglich ist –, ihn danach aber nicht übernehmen
können, weil dann der Kündigungsschutz greifen würde.
Mit dieser Perspektive können Sie keinen qualifizierten
Mitarbeiter für Ihr Unternehmen gewinnen. Darauf
kommt es letztlich an.

Letzter Punkt: Wir müssen immer auch die Sicherheit
der verbleibenden Arbeitsplätze in einem Unternehmen
sehen. Gerade wenn es um betriebsbedingte Kündi-
gungen geht, ist es sehr wichtig, dass die Kostenent-
wicklung, die sich aus der unvermeidlichen Auflösung
von Arbeitsplätzen ergibt, so verläuft, dass der Bestand
der verbleibenden Arbeitsver hältnisse auf Dauer gesi-
chert werden kann. Der Kollege Schreck hat ja gesagt, in
welchem Umfang Anpassungsmaßnahmen teilweise er-
forderlich sind. Auch von daher ist aus meiner Sicht vom
Beginn des Arbeitsverhältnisses an eine Kalkulierbarkeit
unabdingbar, wenn man zu einer modernen und zu-
kunftsgerichteten Lösung des Kündigungsschutzes kom-
men will.

Eiern Sie also nicht herum, sondern sagen Sie klar ,
was Sie wollen. Halten Sie bi tte auch im Auge, was für
die Arbeitnehmer letztendlich am besten ist, nämlich
klare und berechenbare Verhältnisse bei der Begründung
des Arbeitsverhältnisses.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1503715200


Herr Kollege Kuhn, Sie haben das Recht, zu antwor-
ten.


(Abg. Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] begibt sich zum Rednerpult – Dirk Niebel [FDP]: Frau Präsidentin, gehen wir jetzt immer nach vorne? – Dr . Heinrich L. Kolb [FDP]: Keine Frage zulassen, aber nach vorne marschieren! Das haben wir gerne!)







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Fritz Kuhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1503715300

Machen Sie mal halblang! – Bei dem ersten Punkt,

den Sie angesprochen haben, haben Sie wirklich nicht
zugehört. Ich habe argumentiert, dass aus dem Gefühlten
das Tatsächliche resultiert. In Richtung derjenigen, die
sagen, dass es nur eine symbolische Diskussion ist, sage
ich: Es reicht aus, dass ein Unternehmer einen Hinde-
rungsgrund für eine Einstellung fühlt, um nicht einzu-
stellen.


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Aber die Wirkung ist da, das geben Sie zu!)


– Ich glaube, Sie haben jetzt verstanden, was ich sagen
will.


(Beifall des Abg. Albert Schmidt [Ingolstadt] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] – Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Nein, nein!)


– Dann kann ich Ihnen nicht mehr helfen. Es ist doch lo-
gisch, oder?


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Zwei Drittel der Unternehmen in Deutschland haben fünf oder weniger als fünf Beschäftigte! Das ist Fakt!)


– Also, ich habe es jetzt zweimal gesagt.

Zweiter Punkt. Sie sagen, man würde für befristete
Stellen keine qualifizierten Mitarbeiter finden.


(Dirk Niebel [FDP]: Das ist schwierig!)


Ich glaube, dass Sie in vielen Bereichen unserer W irt-
schaft die tatsächliche – –


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das gilt nicht, wenn sie unbefristet eingestellt werden!)


– Interessiert Sie die Antwort eigentlich?


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Doch, aber ich bin gerne im Dialog mit Ihnen!)


– Ah ja, wir müssten dann nach draußen gehen und Sie
könnten mir einen Kaffee zahlen. So wäre es möglich.


(Dirk Niebel [FDP]: Gute Idee! Tschüss!)


– Jetzt hören Sie mal zu, dam it wir vernünftig miteinan-
der reden können.

Zu Ihrer These sage ich Ihnen: In ungeheuer vielen
Bereichen unserer W irtschaft ist die Arbeitsmarktlage
so, dass sich auch für befristete Stellen qualifizierte Mit-
arbeiter finden lassen – das ist doch logisch –, weil die
Arbeitnehmer wissen, dass ein befristetes Arbeitsver-
hältnis die Chance bietet, dauerhaft in einem Betrieb zu
arbeiten.


(Dirk Niebel [FDP]: Das sollten Sie mal dem Kollegen Dreßen sagen!)


Die Realität in den Betriebe n ist so, dass die Unter-
nehmer aufgrund der wirtsc haftlichen Situation nicht
wissen, ob sie ein kurzfrist iges Wachstum mit der Ein-
stellung neuer Mitarbeiter auf fangen sollen oder nicht.
Sowohl die Leiharbeit als auch die befristeten Arbeits-
verhältnisse bieten hier gute Chancen. Schauen Sie sich
doch einmal die Zahlen zur Leiharbeit an. In Deutsch-
land liegt die Quote bei Leiharbeit bei 1 Prozent, in ver-
gleichbaren Volkswirtschaften sind es 5 Prozent.


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Woran liegt denn das?)


Das müssen wir ändern, damit mehr Leute in Arbeit
kommen. Dadurch gewinnt der Unternehmer Sicherheit;
denn er kann bei einem größeren Auftragsvolumen
Leute einstellen, die nach unserem Modell bereits zwei
Jahre im Betrieb gearbeitet haben, die er kennt und die
hoch qualifiziert sind.

Wenn man sich bemüht, die Grundsätze der sozialen
Marktwirtschaft zu wahren, dann werden wir eine prag-
matische Lösung finden. Üb er die Details können wir
uns noch unterhalten. Dabei können Sie sich einbringen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD – Dr . Heinrich L. Kolb [FDP]: Sehr gern!)



Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1503715400


Nächster Redner ist der Kollege Dr . Göhner, CDU/
CSU-Fraktion.


Dr. Reinhard Göhner (CDU):
Rede ID: ID1503715500


Frau Präsidentin! Liebe Kollegen! Bei allem Streit
über Ideen zur V eränderung des Arbeitsrechtes gibt es
seit wenigen W ochen erstmals einen Konsens: Of fen-
sichtlich ist die Erkenntnis, dass das geltende Arbeits-
recht, insbesondere das Kündigungsschutzrecht, in
Deutschland ein zunehmendes Beschäftigungshemmnis
ist, Grundlage dieses neue n Wettbewerbs auf allen Sei-
ten, Vorschläge zur Veränderung des Arbeitsrechtes zu
machen.

Dieses Beschäftigungshemmnis hat sich durch eine
ausufernde, rechtschöpfende, zum Teil geradezu recht-
gestaltende Rechtsprechung der Arbeitsgerichte, die der
Gesetzgeber durch seinen Gestaltungsraum ermöglicht
hat, und durch zahlreiche Ne uregelungen in den letzten
vier Jahren entwickelt.


(Doris Barnett [SPD]: Und durch die FDP!)


Es ist natürlich zu begrüßen, wenn jetzt zum Teil eine
Umkehr dieses Prozesses stat tfindet. Erster Schritt ist
übrigens die am 1. April dieses Jahres in Kraft getretene
gesetzliche Neuregelung zu Minijobs.


(Klaus Brandner [SPD]: Gute Lösung!)


Das war ein Schritt, um die Verriesterung des Arbeits-
rechtes wieder zurückzuführen. Die Vorschläge, die der
Bundeskanzler zur Veränderung beim Thema Sozialaus-
wahl gemacht hat, entsprechen übrigens weit gehend
dem Programm der CDU/CSU und auch dem vor geleg-
ten Antrag der FDP. Er läuft auf den Rechtszustand von
vor 1998 hinaus.


(Dirk Niebel [FDP]: Richtig!)


Ich halte es für richtig, auch in diesem Punkt die Verries-
terung des Arbeitsrechtes zurückzunehmen. Übrigens
wäre es für die Bundesregi erung einfach, ein schnelles






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Dr. Reinhard Göhner
Ergebnis zu liefern: Sie braucht wirklich nur den Rechts-
zustand von vor 1998 herzustellen.

Ich finde es sehr bemerkenswert, was schon an weite-
ren Änderungen im Arbeitsre cht beschlossen ist und im
Bundesgesetzblatt steht. Das erwähne ich deshalb, Herr
Kuhn, weil man jetzt keinen Popanz aufbauen und sich
als Hüter der sozialen Marktwirtschaft und der Rechte
der Arbeitnehmer darstellen sollte. Es ist nicht so, als ob
wir diejenigen seien, die all das aufgeben wollten.


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das macht er immer!)


Die Tatsache, dass seit Anfang dieses Jahres Arbeitsver-
hältnisse für Arbeitnehmer ab 52 Jahren ohne Begren-
zung sachgrundlos zumindest bis 2006 befristet werden
können, halte ich für richtig. Dies war T eil des Pro-
gramms der CDU/CSU, dem die SPD im W ahlkampf
heftig widersprochen hat. Die FDP war immer dieser
Meinung; das weiß ich. Imme rhin ist auch dies ein
Schritt, um die Verriesterung des Arbeitsrechtes zurück-
zunehmen.

Ich muss allerdings sagen, dass Sie mit einem Ihrer
Vorschläge all das wieder konterkarieren könnten, näm-
lich dem vom Bundeskanzler eingebrachten V orschlag
eines Wahlrechtes für die Arbeitnehmer , bei betriebsbe-
dingten Kündigungen künftig zwischen Abfindung oder
Kündigungsschutzprozess wählen zu können.


Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1503715600

Herr Kollege Göhner , gestatten Sie eine Zwischen-

frage des Kollegen Dreßen?


Dr. Reinhard Göhner (CDU):
Rede ID: ID1503715700

Nein. – Das würde zu einer nachhaltigen Verteue-

rung des Kündigungsschutzes in Deutschland und zu
noch mehr Rechtsunsicherheit führen.

Nach geltendem Recht erfo lgen etwa 60 Prozent der
betriebsbedingten Kündigungen in Deutschland ohne
Abfindung. Es gibt übrigens Untersuchungen, zum Bei-
spiel von der Hans-Böckler -Stiftung, die besagen, dass
diese Zahl noch höher sei. 75 Prozent der Kündigungen
werden ohne Kündigungsschutzprozess abgewickelt.
Nach dem Vorschlag des Bundeskanzlers gäbe es dem-
gegenüber immer entweder eine gesetzlich geregelte Ab-
findung für den Arbeitnehmer oder einen Kündigungs-
schutzprozess, der im Übrigen, wie Herr Kuhn richtig
sagt, in aller Regel auch eine Abfindung regeln würde.

Denken Sie beispielsweise einmal an einen Hand-
werksbetrieb mit zehn Arbe itnehmern. Wenn der plötz-
lich keinen Auftrag mehr hat oder nur noch Aufträge, die
nur für die Beschäftigung von zwei oder drei Arbeitneh-
mern reichen – leider ist das keine theoretische Konstel-
lation, sondern etwas, was wir in der Praxis massenhaft
bei der katastrophalen wirtschaftlichen Lage feststellen –,
dann würde der Betrieb nach diesem V orschlag Abfin-
dungen zu zahlen haben. Da s würde die Existenz dieses
Betriebes massiv gefährden und zusätzlich zu den un-
streitig fortgeltenden Kündigungsschutzfristen bis zu sie-
ben Monaten – zum Teil sind sie sogar noch länger – und
zusätzlich zu der von den Arbeitgebern zur Hälfte mitge-
tragenen Arbeitslosenversicherung eine weitere Verteue-
rung von Arbeit bedeuten. Sie sollten sich überlegen, ob
Sie tatsächlich an dieser Stelle ein solches Wahlrecht vor-
legen können.

Der Vorschlag der FDP und der CDU/CSU zu einer
Optionslösung ist demgegenüber ein vollständig ande-
rer. Er bedeutet durchaus mehr Flexibilität, mehr Rechts-
sicherheit und vor allem eine Verbesserung von Einstel-
lungschancen. Wenn Arbeitnehmer und Arbeitgeber bei
Abschluss eines Arbeitsvertr ages künftig vereinbaren
können, anstelle des Kündigungsschutzes bei betriebsbe-
dingten Kündigungen eine gesetzlich geregelte Min-
destabfindung vorzusehen, da nn beseitigt das eben die
heute bestehende Unkalkul ierbarkeit des Kündigungs-
schutzes, die S ie beim Vorschlag der Bundesregierung
behalten.


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das ist der Unterschied!)


Der Vorteil ist: In diesen Fällen weiß der Arbeitneh-
mer, welche Abfindung er bekommt, und der Arbeitge-
ber weiß, dass er sich nicht auf einen unkalkulierbaren
langen Rechtsstreit einlassen muss, falls er keine Arbeit
mehr hat, und er kennt die Kosten dieser Lösung.


(Dirk Niebel [FDP]: Und Willkür ist trotzdem ausgeschlossen!)


Diese Optionslösung hat den Vorteil, dass in allen
Fällen, in denen sich der Kündigungsschutz als Beschäf-
tigungshemmnis auswirkt, Arbeitnehmer und Arbeitge-
ber eine arbeitsvertragliche Vereinbarung treffen kön-
nen, die dieses Beschäftigungshindernis beseitigt. Das
nutzt also denjenigen, die keine Arbeit haben, und be-
deutet für alle, die heute Arbeit mit Bestandsschutz und
Kündigungsschutz haben, kein e Beeinträchtigung ihrer
Rechte.

Zum hier vorliegenden Antrag der FDP für eine sol-
che Optionsregelung habe ich allerdings einen zentralen
Einwand. Herr Bietmann hat es eben angedeutet. Nach
dem eindeutigen Wortlaut Ihres Antrags würde Ihre Op-
tionsregelung auch bei einer verhaltens- oder personen-
bedingten Kündigung, die eindeutig der Arbeitnehmer
zu vertreten hätte, von ihm verschuldet, sogar provoziert
wäre, greifen. Das können Sie nicht ernsthaft meinen.


(Dirk Niebel [FDP]: Das ist auch nicht so!)


Deshalb rege ich an, dass Si e Ihren Antrag in diesem
Punkt korrigieren.

Ich glaube, dass wir vor dem Hintergrund des Kon-
senses, dass das Arbeitsrecht heute ein weitgehendes
Beschäftigungshemmnis darstellt, wirklich überlegen
müssen, wie wir eine Forten twicklung des Kündigungs-
schutzes und des Arbeitsrechts – übrigens auf mehr Fel-
dern als nur dem Kündigungsschutz – hinbekommen, bei
der nicht die V erteuerung von Arbeit die Folge ist und
bei der Sicherheit und Flexib ilität für Arbeitnehmer und
Betriebe miteinander verb unden werden können. Ich
sehe bei den Vorschlägen der Bundesregierung kein hin-
reichendes Konzept, mit de m diese Ziele verwirklicht
würden, weil sie gerade das Gegenteil, nämlich eine Ver-






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Dr. Reinhard Göhner
teuerung des Kündigungsschu tzes bewirken. Das kann
eigentlich nicht Ihre Absicht sein. Deshalb appelliere ich
an Sie, Ihre Vorstellungen in diesem Punkt zu überden-
ken.


(Dirk Niebel [FDP]: Das steht hier drin!)


Ich glaube, dass die Optionslösung im Sinne einer arbeits-
vertraglichen Vereinbarung für den Fall einer nur be-
triebsbedingten Kündigung der richtige Weg wäre. Um es
noch einmal den Kollegen der FDP zu sagen: Das geht
nicht bei allen Kündigungen von Arbeitgeberseite. Aber
für betriebsbedingte Kündigungen sollte es einen solchen
Weg geben. Wir brauchen be i der Fortentwicklung des
Arbeitsrechts die Mischung von mehr Flexibilität und
Sicherheit. Die ist möglich, deshalb verabschieden Sie
sich von Ihrem Vorschlag des Kündigungsschutzrechts.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Dirk Niebel [FDP]: Ich mu ss bis auf eine Einschränkung klatschen!)



Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1503715800


Letzte Rednerin in dieser Debatte ist die Kollegin
Doris Barnett, SPD-Fraktion.


Doris Barnett (SPD):
Rede ID: ID1503715900


Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Es geht doch nichts über gepflegte V orurteile, Herr
Niebel und meine Damen und Herren von der CDU/
CSU. Eines der zumindest v on Ihnen gepflegten Vorur-
teile scheint zu sein, dass das Kündigungsschutzrecht
unbedingt abzuschaffen sei.

Sie beschweren sich auch ständig, dass es in unserem
Land an Investitionen, Aufträgen, Fachkräften und Be-
triebsmitteln fehle.


(Dr. Rolf Bietmann [CDU/CSU]: Das stimmt doch auch! Das ist unstreitig!)


Arbeit sei zwar vorhanden, aber nicht für den erwarteten
Lohn. Die Arbeitskosten seien zu hoch, die Lohnneben-
kosten müssten gesenkt werden und die Arbeitnehmer
sollten viel mehr selbst in ihre soziale Sicherheit inves-
tieren.

Gleichzeitig soll die Inlandsnachfrage kräftig steigen.
Der Arbeitnehmer von heute soll flexibel, hoch moti-
viert, bestens ausgebildet – die Ausbildungskosten sollen
am besten von Dritten getragen werden –, höchst verant-
wortungsbewusst, spendabel für Sicherungssysteme und
höchst spendabel für eine florierende Inlandsnachfrage,


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Jetzt pflegen Sie aber Ihre Vorurteile!)


aber recht bescheiden sein, wenn es um Lohnforderun-
gen und Schutzrechte geht.

Deswegen greift die FDP wieder einmal den Kündi-
gungsschutz auf: Wenn der abgeräumt ist, dann gibt es
auch mehr Arbeitsplätze. Die FDP beruft sich dabei auf
den Sachverständigenrat.


(Dirk Niebel [FDP]: Ihren!)

– Was heißt „Ihren“? Er berät uns alle.


(Dr. Reinhard Göhner [CDU/CSU]: Nein! Es ist ein Sachverständigenrat der Bundesregierung!)


Sie berufen sich, wie gesagt, auf die Er gebnisse des
Sachverständigenrats und picken sich Ihre Ar gumente
heraus. Erlauben Sie mir an dieser Stelle eine Frage: Sind
Sachverständige und Weise nicht in Wirklichkeit – wir
haben selbst auch leidige Erfahrungen damit gemacht –
wie Wegweiser? Sie weisen den W eg, sind ihn aber nie
selbst gegangen und merken deswegen vielleicht nicht,
dass in der Zwischenzeit Um leitungen oder auch andere
Hindernisse aufgetreten sind.


(Dr. Uwe Küster [SPD]: Wie Eunuchen! Die wissen, wie es geht!)


Ist das Kündigungsschutzgesetz abgesehen von aller
Psychologie und Symb olik wirklich ein Beschäfti-
gungshemmnis? Schrecken kleine Betriebe in Wirklich-
keit vor möglichen Einstellungen zurück?


(Dirk Niebel [FDP]: Sonst hätte es der Kanzler doch nicht gesagt! Es ist Ihr Kanzler , der das gesagt hat!)


– Hören Sie doch auf! – Sie können das nicht mit seriö-
sen Zahlen belegen. Das zeigt doch Ihr Feldversuch. Der
Kollege Schreck hat vorhin sogar den ehemaligen Ar-
beitsminister Blüm zitiert. Welchen besseren Zeugen da-
für könnte man denn sonst noch bringen?


(Dr. Reinhard Göhner [CDU/CSU]: Aber Sie wollen ihn doch selbst einschränken!)


Es gibt 3,5 Millionen Beendigungen von Arbeitsver-
trägen pro Jahr. Ungefähr die Hälfte davon wird in Form
von Kündigungen von den Arbeitnehmern selbst veran-
lasst. Das zeigt doch, dass der Arbeitsmarkt in stetiger
Bewegung ist. Es herrscht eine erhebliche Fluktuation.
Entlassungen und Einstellunge n finden täglich in Grö-
ßenordnungen von Zigtausende n statt. Dabei stellt der
Kündigungsschutz offenbar doch kein so großes Hemm-
nis dar. Dass die Zahl der Einstellungen bei Betrieben
mit sechs bis neun Beschäftig ten, die Sie derzeit beson-
ders im Blick haben, höher ist als in Kleinstbetrieben
oder in Großbetrieben, ist sicherlich auch bekannt.


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das liegt aber an der Zahl der Betriebe!)


Viele Tarifverträge sorgen für passgenaue Arbeitsver-
hältnisse. Diese Tarifverträge wurden auch von den Ar-
beitgebern unterschrieben, Herr Niebel und Herr
Göhner. Oder wollen Sie vielleicht behaupten, die Ar-
beitgeber seien dazu von de n Gewerkschaften, von de-
nen Sie behaupten, dass niemand mehr hinter ihnen
steht, erpresst worden? Sie sollten einmal Ihre Argumen-
tation auf ihre Stichhaltigkeit überprüfen.


(Dirk Niebel [FDP]: Si e sind hier nicht der Vertreter der Arbeitgeber! W ir sind, glaube ich, die einzigen Vertreter der Arbeitslosen, die es noch gibt!)







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(B) (D)


Doris Barnett
Nur gegen 11 Prozent der Kündigungen durch die Ar-
beitgeber wurde mit Klagen vor gegangen. In der Hälfte
dieser Fälle wurde geklagt, weil bereits vorher der Be-
triebsrat der Kündigung widersprochen hat. Insofern war
das doch für den Arbeitgeber ein deutliches Zeichen da-
für, dass die betriebsbedingte Kündigung vielleicht doch
nicht gerechtfertigt war. Dieses Risiko war dem Arbeit-
geber bekannt, als er trotzdem auf der Kündigung be-
standen hat. So viel zur Rechtssicherheit.


(Dirk Niebel [FDP]: Dann hat sich der Kanzler am 14. März wohl geirrt!)


Lassen Sie uns trotzdem die Ziffern II.3 und II.4 Ihres
Antrags näher betrachten, Herr Niebel. W er das Recht
der Überprüfung der ordnungsgemäßen oder rechtmäßi-
gen Auswahl zur Disposition st ellt – das tun Sie –, weil
der Arbeitnehmer beim Unterschreiben des Arbeitsver-
trags auf sein Klagerecht verz ichten und stattdessen Er-
satz erhalten soll – entweder in Form einer Abfindung
oder einer Weiterbildung, wobei gegenwärtig niemand
absehen kann, wie sich die Situation nach 15 Jahren dar-
stellt und ob der Arbeitgeber dann noch solvent ist –,


(Dirk Niebel [FDP]: Dann muss man darüber reden! Die Option müssen wir einbauen!)


schafft die Sozialauswahl letztendlich ab. Da können
Sie sagen, was Sie wollen.


(Dirk Niebel [FDP]: Das hat nur Herr Stiegler gefordert! Daran erinnere ich mich!)


Bisher gilt: Klagen gegen betriebsbedingte Kündigun-
gen sind nur erfolgreich – ich hoffe, Sie geben mir darin
Recht –, wenn die Sozialauswahl nicht stimmt. In dem
Fall entsteht auch ein Abfindungsanspruch. Solche Kla-
gen – das ist richtig – kosten Zeit und Geld und beinhal-
ten ein gewisses Risiko.


(Dr. Reinhard Göhner [CDU/CSU]: Das ist falsch, was Sie sagen!)


Klagen gegen sozial gerechtfertigte betriebsbedingte
Kündigungen – wenn die Sozi alauswahl stimmt – lösen
keinen Kündigungsschutz un d auch keinen möglichen
Anspruch auf Abfindung aus.

Das FDP-Modell sieht dagegen Abfindungen bzw. ei-
nen Weiterbildungsanspruch bei jeder – wahrscheinlich
meinen Sie: betriebsbedingten – Kündigung vor . Haben
Sie sich jemals wirklich ernsthaft mit Arbeitgebern darü-
ber auseinander gesetzt, wie hoch dann das Kostenrisiko
für sie wird? Hier wird – man stelle sich das vor – die
FDP plötzlich zu einem unkalk ulierbaren Risiko für die
deutsche Wirtschaft.


(Beifall bei der SPD – Dirk Niebel [FDP]: Das ist teilweise existenzbedrohend! Das ist so!)


Oder sollen Abfindungsansprüche doch wieder ge-
richtlich überprüft werden?


(Dirk Niebel [FDP]: Mit einem Annahmeverzug von drei Jahren!)


Den Salto mortale, den Sie, Herr Göhner , eben vollführt
haben, kann ich, ehrlich ge sagt, nicht nachvollziehen.
Sie haben nämlich behauptet, das FDP-Modell sei so
viel besser als unser Vorschlag bzw. als der des Bundes-
kanzlers.


(Dirk Niebel [FDP]: Das ist so!)


Mir ist klar: Die FDP will die Sozialauswahl durch
ein Abfindungsrecht ersetzen.


(Dirk Niebel [FDP]: Nein!)


– Das ist so, ganz egal, was Sie, Herr Niebel, auch be-
haupten.


(Dirk Niebel [FDP]: Wir glauben im Gegensatz zu Ihnen an den mündigen Arbeitnehmer!)


– Da haben Sie aber die Re chnung ohne den W irt ge-
macht. Beim Lesen Ihres An trags ist mir ein weiterer
Punkt aufgefallen. Dort heißt unter Ziffer II.3:

Die Arbeitnehmer, deren W eiterbeschäftigung im
berechtigten betrieblichen Interesse liegt, werden
aus der Sozialwahl ausgenommen werden. Wer das
ist, entscheidet die Betriebsleistung.

Ist „Betriebsleistung“ richtig?


(Dirk Niebel [FDP]: Nein, die Betriebsleitung!)


Der vom Bundeskanzler unterbreitete V orschlag
schafft die Sozialauswahl dagegen nicht ab, sondern
macht sie rechtssicher. Es gibt drei leicht nachprüfbare
Kriterien – Sie haben schon darauf hingewiesen –: Alter,
Dauer der Betriebszugehörigkeit und Unterhaltsver-
pflichtungen.


(Dirk Niebel [FDP]: Warum haben Sie das 1999 eigentlich abgeschafft?)


Der Bundeskanzler hat außerdem vor geschlagen, dass
sich die Arbeitnehmervertreter mit dem Arbeitgeber ei-
nigen, was – daran hat er wohl gedacht – dem Gedanken
des § 125 der Insolvenzordnung entspricht. Das ist,
denke ich, ein gangbarer Weg. Das schafft auf jeden Fall
Rechtssicherheit für alle Beteiligten.


(Dirk Niebel [FDP]: Dann können wir es ja gleich wieder einführen!)


Die Arbeitnehmer sollen nach unseren V orstellungen
nach betriebsbedingten Kündigungen das Recht haben,
zwischen Abfindung und Klageweg zu wählen. Ich weiß
nicht, was daran so schlimm sein soll, Herr Göhner;


(Dr. Reinhard Göhner [CDU/CSU]: Mehr Unsicherheit, mehr Kosten!)


denn das heißt ja nicht, dass es einen Abfindungsan-
spruch bei einer berechtigten Kündigung gibt. Über die
Hälfte der von Arbeitgebern ausgesprochenen Kündi-
gungen – darauf habe ich schon vorhin hingewiesen –
haben den Mangel, dass der Betriebsrat nicht zuge-
stimmt hat. In solchen Fällen besteht für den Arbeitgeber
ein großes Risiko. Wenn der Arbeitnehmer aber mit ei-
ner Abfindung einverstanden ist, dann hat der Arbeitge-
ber nicht mehr das Risiko, ev entuell viel Geld zahlen zu
müssen. Eine solche Regelung ist eine große Erleichte-
rung für die Arbeitgeber. Wenn wir das im Gesetz veran-
kern, dann müssen wir auch keine Sperrzeiten aufheben,






(A) (C)



(B) (D)


Doris Barnett
Herr Niebel; denn wer sich gesetzeskonform verhält,
kann später auch nicht bestraft werden.

Die FDP und Ministerpräs ident Stoiber versuchen
jetzt, eine zweite Variante ins Spiel zu bringen. Danach
soll der Kündigungsschutz erst für Betriebe mit mehr als
20 bzw. 80 Mitarbeitern – das will Herr Gillo aus Sach-
sen – gelten.


(Dirk Niebel [FDP]: Herr Milbradt ist nicht in der FDP!)


Dazu kann ich nur sagen: T olle Sache! Damit würden
über 4,5 Millionen bzw. fast 11 Millionen Beschäftigte
ihres Rechts beraubt; denn sie unterlägen nicht mehr
dem Kündigungsschutz, wenn man dem folgen würde.


(Dirk Niebel [FDP]: Reden Sie doch über unseren Antrag!)


Der Vorschlag des Bundeskanzlers greift dagegen über-
haupt nicht in bestehende Schutzrechte ein; denn für
Betriebe mit weniger als fünf Mitarbeitern gilt das Kün-
digungsschutzgesetz weiterhin nicht, und zwar auch
dann nicht, wenn sie befristet Beschäftigte zum Bei-
spiel für die Bewältigung von Auftragsspitzen oder für
die Eroberung neuer Märkte einstellen. Das ist für ei-
nen atmenden Betrieb viel ve rnünftiger und besser als
die von Ihnen vor geschlagene zweijährige Probezeit,
die sich außerdem konträr zur bisherigen Rechtspre-
chung verhält.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Die Vorschläge des Bundeskanzlers er gänzen dies in
zumutbarer Weise, ohne in die Grundstruktur des Kündi-
gungsschutzgesetzes einzugreifen, das dem Schutz vor
Willkür dient. Der geforderte Interessenausgleich wird
verwirklicht und das Vertrauen nicht verletzt. W er aber
an die Substanz des Kündigungsschutzrechts geht, der
will Willkür im Betrieb. Ge nau das ist es, was Sie wol-
len; denn Sie fordern in Ihrem Antrag, dass die Betriebs-
leitung entscheiden müsse, wer herausfliegt.

Hören Sie mit Ihren überzogenen Forderungen an die
Arbeitnehmer auf. Sägen Sie nicht den Ast ab, auf dem
Sie sitzen. Auch Sie werden froh sein, wenn es bald wie-
der genügend Arbeitnehmer gibt. Schließen Sie sich un-
serer Politik mit Augenmaß an und erarbeiten Sie ge-
meinsam mit uns ein vernün ftiges Kündigungsschutz-
gesetz. Das würde allen dienen.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1503716000


Ich schließe die Aussprache.

Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 15/430 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vor geschlagen. Sind Sie damit
einverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überwei-
sung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 9 auf:

Beratung der Unterrichtung durch die Bundesre-
gierung

Sondergutachten des Rates von Sachverstän-
digen für Umweltfragen
Für eine Stärkung und Neuorientierung des
Naturschutzes

– Drucksache 14/9852 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (f)

Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Ausschuss für Tourismus

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreivierte lstunde vorgesehen. – Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin
Astrid Klug, SPD-Fraktion.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Dr. Uwe Küster [SPD]: Das wird eine kluge Rede!)



Astrid Klug (SPD):
Rede ID: ID1503716100

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!

Liebe Kolleginnen und Kollegen! W ir diskutieren jetzt
über neue strategische Ansätze im Naturschutz für
Deutschland. Das ist ein sp annendes Thema; denn der
Reichtum eines Landes bemisst sich nicht nur an mate-
riellen Gütern, den wahren Reichtum eines Landes er-
kennt man vielmehr an der Schönheit und an der Vielfalt
seiner Naturgüter.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Wenn ich im Frühling bei mir zu Hause im wunder-
schönen Bliesgau im Südosten des Saarlandes – das Na-
turschutzgroßvorhaben Saar-Bliesgau/Auf der Lohe ist
ein tolles, aber, wie im Naturschutz üblich, auch ein um-
strittenes Naturschutzprojekt – unterwegs bin, die blü-
henden Bäume genieße – seit ich den Job hier habe,
kommt das leider selten genug vor –, die ersten Mai-
glöckchen entdecke und das mor gendliche Zwitschern
der Vögel höre, dann ist da s ein Stück Lebensqualität,
die auch die nächsten Generationen noch verdient haben.
Wir müssen heute etwas dafü r tun, dass auch sie die
Möglichkeit haben werden, das zu genießen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Eine lebendige, eine lebe nsfähige Natur und die bio-
logische Vielfalt sind die V oraussetzungen für unsere
Existenz, für unsere Zukunft und auch für die Lebens-
qualität, von der ich eben gesprochen habe. Das wissen
wir alle. Trotzdem befinden wir uns in einer ständigen
Spannung – auch das kennen wir alle –: Naturschutz
kontra Wirtschaftsansiedelung, Naturschutz kontra Stra-
ßenbau, Naturschutz kontra Landwirtschaft, Naturschutz
kontra Arbeitsplätze. Damit verbunden sind Konflikte,
die vor allem vor Ort ausg etragen werden. Der Natur-
schutz zieht dabei noch immer zu oft den Kürzeren.






(A) (C)



(B) (D)


Astrid Klug
Das Sondergutachten für eine Stärkung und Neuori-
entierung des Naturschutzes, das wir heute diskutieren,
versucht, diese Spannung aufzulösen. Dieses Gutachten
benennt offen Hemmnisse und Konflikte, die die Durch-
setzung von Naturschutzinteressen behindern, und es
enthält einige sehr intellig ente und sehr pfif fige Vor-
schläge, wie der Naturschutz stärker strategisch und stär-
ker erfolgsorientiert ausgerichtet werden kann.


(Heinrich-Wilhelm Ronsöhr [CDU/CSU]: Na, na, na!)


Der Dank der SPD-Bundestagsfraktion gilt ausdrück-
lich allen Mitgliedern und Mitarbeitern des Rates von
Sachverständigen für Umwelt fragen, die uns eine gute
Arbeitsgrundlage und wichtige Bausteine für eine natio-
nale Naturschutzstrategie übergeben haben.

Wir fangen in Sachen Na turschutz zum Glück nicht
bei null an. W ir haben 2002 das Bundesnaturschutz-
gesetz novelliert, was von den Sachverständigen aus-
drücklich als Fortschritt begrüßt wird. Bundesregierung
und Bundestag haben im letzten Jahr die Nachhaltig-
keitsstrategie für Deutschland beschlossen, welche die
Indikatoren definiert und Ziele festschreibt, auch für den
Naturschutz. Wir haben die Bürgerbeteiligung verbessert
und die Rolle der Naturschutzverbände als Anwälte der
Natur gestärkt, auch in dem Wissen, dass die frühzeitige
Einbindung der Öffentlichkeit der Akzeptanz des Natur-
schutzes dient. Gesetze und hoheitliches Handeln sind
ohne Zweifel notwendig; ab er Überzeugung, Einsicht
und Verhaltensänderung sind noch immer erfolgreicher ,
sinnvoller und im Sinne des Naturschutzes besser.


(Beifall bei der SPD)


Es ist erfreulich, dass dieser Bereich im Gutachten ei-
nen breiten Raum einnimmt. W ir müssen diese V or-
schläge aufgreifen und in diesem Parlament zum Thema
machen, um sie später in konkretes politisches Handeln
umzusetzen.

Wir haben praktische Erfolge erzielt, die Mut ma-
chen: Von 1990 bis 2001 ist es gelungen, die Fläche der
Naturschutzgebiete zu verd oppeln. Die W asserqualität
der großen Fließgewässer hat sich erheblich verbessert.
Der Bestand einzelner schutzwürdiger Pflanzen- und
Tierarten konnte in den letzten Jahren stabilisiert und
ihre Population konnte sogar ausgebaut werden.

Aber trotz aller großen und kleinen Erfolge bleibt
noch mehr zu tun. W er das Gutachten liest, kann davor
die Augen nicht verschließen. Zwei Drittel aller in
Deutschland vorkommenden Biotoptypen werden als ge-
fährdet eingestuft, 15 Prozent sind sogar von völliger
Vernichtung bedroht. Fast 40 Prozent der in Deutschland
vorkommenden Tierarten und 28 Prozent der Pflanzen-
arten sind in ihrem Bestand gefährdet oder sogar schon
ausgestorben. Der Umweltrat legt den Finger in die
Wunde, benennt die Ursachen und formuliert ehr geizige
Ziele.

Das größte Problem ist der Flächenverbrauch. In
den letzten zehn Jahren wurden bundesweit an jedem
Tag zwischen 120 und 130 Hektar Fläche versiegelt; das
sind bis zu 175 Fußballfelder . Die Fläche, die wir in je-
dem Jahr neu der Natur und damit auch unseren natürli-
chen Lebensgrundlagen entziehen, entspricht der Hälfte
der Fläche Berlins. Der Sachverständigenrat setzt in sei-
nem Gutachten beim Thema Flächenverbrauch und Flä-
chenzerschneidung einen deutlichen Schwerpunkt. Dies
begrüßen wir ausdrücklich. Wir sehen uns ebenfalls dem
ehrgeizigen Ziel verpflichtet, die Flächeninanspruch-
nahme bis zum Jahr 2020 auf 30 Hektar zu senken.

Das Gutachten schlägt eine Reform der Wohnbauför-
derung vor, damit in Zukunft Altbausanierungen, die
städtebauliche Verdichtung und die Umnutzung ehemali-
ger Industriebrachen Vorrang vor Neubauten auf der grü-
nen Wiese haben. Die von uns, der rot-grünen Koalition,
angestrebte Neugestaltung der Eigenheimzulage gibt
darauf eine erste wichtige Antwort.

Auch die Idee des Umweltrates, mit handelbaren Flä-
chenausweisungsrechten und einem ökologischen kom-
munalen Finanzausgleich vor Ort Naturschutz und Flä-
chenschonung ökonomisch attraktiv zu machen, hat
einen echten Reiz; denn auch im Naturschutz gilt: Ohne
Moos nix los. Je stärker das ökonomische Gewicht des
Naturschutzes ist, desto größ er ist auch seine Durchset-
zungsfähigkeit.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Dr . Peter Paziorek [CDU/ CSU]: Das werden wir mal der Frau Höhn in Nordrhein-Westfalen schicken!)


Sehr geehrte Damen und Herren, die Nachhaltigkeits-
strategie, die wir im letzten Jahr beschlossen haben, war
und ist die Grundlage, der rote Faden unserer Politik.
Eine Naturschutzstrategie, für die das Gutachten Bau-
steine liefert, ist die fach liche Konkretisierung und Er-
weiterung für den Bereich Naturschutz, die wir brau-
chen, weil Nachhaltigkeit ke in Zustand, sondern ein
dynamischer Prozess ist, um den wir ständig und perma-
nent ringen müssen und den wir ständig und permanent
weiterentwickeln müssen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bin vor sechs
Monaten mit dem Anspruch in dieses Haus gekommen,
dass Politik für heute nur gut ist, wenn sie auch mor gen
noch richtig ist, und dass si ch alle unsere Diskussionen
und Entscheidungen daran messen lassen müssen, ob sie
nachhaltig und auch morgen und übermorgen noch trag-
fähig sind. Ich freue mich, da ss ich meine erste Rede in
diesem Parlament zu einem Thema halten durfte, das
diesem Anspruch gerecht wird. Die Natur braucht uns
Menschen nicht, aber wir brauchen die Natur. Sägen wir
also nicht den Ast ab, auf dem wir sitzen, sondern sorgen
wir gemeinsam dafür, dass die Empfehlungen des Son-
dergutachtens für eine Stärkung und Neuorientierung
des Naturschutzes kein Papiertiger , sondern politische
Realität werden.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)







(A) (C)



(B) (D)


Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1503716200


Frau Kollegin Klug, Sie habe n es gerade selber ge-
sagt: Es war Ihre erste Re de in diesem Hohen Hause.
Auch Ihnen gratuliere ich dazu recht herzlich und wün-
sche Ihnen politisch und persönlich alles Gute.


(Beifall)


Nächste Rednerin ist die Kollegin Dr . Maria
Flachsbarth, CDU/CSU-Fraktion.


Dr. Maria Flachsbarth (CDU):
Rede ID: ID1503716300


Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das vorgelegte
Sondergutachten ist ein sowohl umfangreicher als auch
inhaltsschwerer Bericht, der zahlreiche gute V orschläge
zur Verbesserung des Naturschutzes in Deutschland ent-
hält. Leider – diese kleine Kritik sei mir erlaubt – ist der
Bericht insbesondere in seinen Eingangskapiteln so sehr
mit Fachbegriffen gespickt, dass er ohne Spezialwissen
gar nicht ohne weiteres lesbar ist.


(Dr. Peter Paziorek [CDU/CSU]: Sehr gut!)


Oder wissen Sie, meine se hr geehrten Kolleginnen und
Kollegen, welche Bedeutung eudaimonistische Ar gu-
mentationen gegenüber einer holistischen oder sentien-
tistischen haben?

Bei allen Versuchen des Gutachtens, den Naturschutz
nicht nur rechtlich, sondern auch ethisch-philosophisch
zu begründen, sollten seine Verständlichkeit und Lesbar-
keit darunter nicht zu sehr leiden, insbesondere dann,
wenn die Gutachterkommissio n es als wichtige Forde-
rung erachtet, die Akzeptanz für den Naturschutz in der
Bevölkerung durch bessere Information und Kommuni-
kation zu verbessern. Schade also, dass der vorliegende
Bericht weite Kreise der interessierten Bevölkerung
nicht erreichen kann.

Bitte erlauben Sie mir noch eine V orbemerkung. Als
Christdemokratin, die aus einigen Richtungen dieses
Hauses in den letzten Wochen häufig und vehement auf
das „C“ im Namen ihrer Partei hingewiesen wurde,
möchte ich es im Rahmen der ethisch-philosophischen
Grundlegung des Naturschutzes nicht versäumen, den
Begriff der Schöpfung in diese Diskussion einzuführen.
Die Bewahrung der Schöpfun g ist ein christliches und
genuin konservatives Anliegen. Der alttestamentliche
Auftrag „Macht euch die Erde untertan“ fordert den
Menschen dazu auf, die Natu r und ihre Ressourcen ver-
antwortlich zu nutzen, das heißt, für sie Sorge zu tragen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der FDP)


Meine Damen und Herren, die Natur ist ohne direkten
Bezug zum Menschen in den dicht besiedelten Regionen
Europas bzw. Deutschlands, in denen wir leben, nicht
vorstellbar, unberührte Natur in Nationalparks nach US-
amerikanischem Vorbild bei uns daher fast nicht darstell-
bar. Zudem geht der Naturschutz, wie in § 1 des Bundes-
naturschutzgesetzes neuerer Fassung definiert, auch weit
über den Schutz seltener oder vom Aussterben bedrohter
Tier- und Pflanzenarten und deren Lebensräume hinaus,
denn er bezieht sich – so das Gesetz – auf die Leistungs-
fähigkeit des gesamten Naturhaushaltes, die Nutzungsfä-
higkeit der Natur güter und die V ielfalt, Eigenart und
Schönheit der Landschaft. Unserer Meinung nach muss
sich der Naturschutz in Deutschland daher am Leitbild
der Nachhaltigkeit orientieren.

Mit dem Begrif f Sustainable Development, nachhal-
tige Entwicklung, machte di e so genannte Brundtland-
Kommission auf die Herausforderungen einer globalen
Umwelterhaltung und einer gerechten Ressourcenbe-
wirtschaftung aufmerksam und beschloss ein Hand-
lungskonzept, die Agenda 21, als Leitprinzip der Politik.
Gleichzeitig wurde deutlich , dass nachhaltige Politik
nicht allein ökologische Aspekte beinhalten darf, son-
dern gleichberechtigt und gleichgewichtig ökonomische
und soziale Aspekte berücksichtigen muss.

Da mehr als die Hälfte de s Bundesgebietes landwirt-
schaftlich und fast ein Drittel forstwirtschaftlich genutzt
werden, kommt der Einbeziehung der Land- und Forst-
wirtschaft in den Naturschutz eine herausragende Be-
deutung zu.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Zudem ist ein großer T eil der biologischen Vielfalt in
Mitteleuropa erst durch Zurückdrängung des Waldes und
die Schaffung unserer offenen Kulturlandschaften durch
die landwirtschaftliche Nutzung entstanden. Daher sind
auch viele Arten an agrarisc h genutzte Ökosysteme ge-
bunden. Bei einer Verbuschung landwirtschaftlicher Flä-
chen durch Nutzungsaufgabe geht die erwünschte Arten-
vielfalt verloren.

Die CDU/CSU-Fraktion orientiert sich deshalb am
europäischen Agrarmodell, das eine multifunktionelle
Land- und Forstwirtschaft m it dem Ziel einer wettbe-
werbsfähigen Erzeugung und Entwicklung der Leistun-
gen in der Landschaftspflege und im Naturschutz sowie
der ländlichen Räume in Einklang zu bringen sucht. Die
effizienteste Form der Pflege ist eine Verbindung der na-
turschutzfachlichen Anforderungen mit der Nutzung.


(Dr. Peter Paziorek [CDU/CSU]: Sehr wahr!)


Vertragsnaturschutz und der Einsatz moderner Landtech-
nik im Rahmen der Präzisionslandwirtschaft ermögli-
chen unter anderem die Wahrnehmung dieser Aufgabe.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Doch das Umweltgutachten stellt fest:

Vorbehalte gegen Ziele des Naturschutzes können
nicht verwundern, wenn die betrof fenen Personen
… finanzielle Einbußen oder ähnliche Nachteile
wie etwa Bewirtschaftu ngserschwernisse in Kauf
nehmen müssen.

Und weiter:

Derzeit reicht die Gesamt finanzierung der Agrar-
umweltmaßnahmen nicht aus ...

Umso verwunderlicher, ja sogar schädlich im Sinne
des Naturschutzes erscheint es, wenn die Mittel der
Gemeinschaftsaufgabe „Agrarstruktur und Küsten-






(A) (C)



(B) (D)


Dr. Maria Flachsbarth
schutz“ im Haushalt 2003 um 107 Millionen Euro auf
764 Millionen Euro gekürzt wurden. Auch Umweltver-
bände wie der BUND, der NABU, der WWF und andere
fordern den Erhalt der Gemeinschaftsaufgabe und deren
langfristige Absicherung.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Meine Damen und Herren, noch ein Detail: Die Bun-
desmittel müssen durch di e Länder mit 60 Prozent ko-
finanziert werden. Bei der Förderung der Länder für
Agrarumweltmaßnahmen gibt es übrigens gravierende
Unterschiede. Laut Agrarb ericht der Bundesregierung
förderten 2001/02 Baden-Württember g diese Maßnah-
men mit 104 Euro je Hektar, Bayern mit 64 Euro je Hek-
tar, Nordrhein-Westfalen mit ganzen 1 1, Niedersachsen
mit 4 und Schleswig-Holstein mit lediglich 1 Euro je
Hektar.


(Dr. Peter Paziorek [CDU/CSU]: Sehr wahr!)


Die drei letztgenannten Lä nder hatten zum Zeitpunkt
der Untersuchung sozialdemokratische bzw . rot-grüne
Regierungen. Bezüglich des Zugrif fs auf Agrarum-
weltprogramme der EU hat die Bundesregierung den
deutschen Landwirten mit der Novelle des Bundesna-
turschutzgesetzes eine neue nationale Hürde aufgebaut:
Durch die Ausweitung der gu ten fachlichen Praxis in
Deutschland werden Fördermöglichkeiten der EU bei
zahlreichen Umweltprogrammen in den Ländern aufs
Spiel gesetzt. In anderen eu ropäischen Staaten mit ge-
ringeren nationalen Standards sind dieselben Maßnah-
men der vor Ort wirtschaft enden Landwirte dann aber
förderfähig. Dies ist ein we iteres Mal ein Stück Wettbe-
werbsverzerrung durch deutsche Sonderwege.

Ich will einen weiteren Aspekt ansprechen, der zur-
zeit in einem ganz anderen Zusammenhang diskutiert
wird, jedoch auch in dire ktem Zusammenhang mit der
Thematik Landwirtschaft und Naturschutz steht. Ich
denke an die ener getische Nutzung von Biomasse. Ihre
gezielte Förderung würde eine zusätzliche Einnahme-
quelle für die Landwirtschaft eröffnen und bei entspre-
chender Auswahl der Ener giepflanzen eine extensivere
Bewirtschaftung der Nutzflächen ermöglichen. Rasch
wachsende Pflanzen verminde rn zudem die Gefahr der
Bodenerosion. Die Nutzung von Abfallprodukten aus
der Tierhaltung in Biomasseanlagen bringt zudem hygie-
nische Vorteile, senkt die Geruchsbelästigung und er-
möglicht eine verbesserte Verfügbarkeit von Pflanzennähr-
stoffen. Das Klimagas Methan wird zur Energieproduktion
genutzt und der CO 2-Ausstoß wird insgesamt vermin-
dert. Die Bündelung der Fördermittel im Rahmen des
EEG und im Rahmen von Agrarumweltprogrammen
wäre daher sinnvoll und würde eine Ef fizienzsteigerung
der Fördermaßnahmen zur Folge haben.

Der Ausbau der ökologisch so vorteilhaften Biomas-
sekraftwerke darf unserer Meinung nach nicht durch die
weit überzogene Verschärfung der Grenzwerte im Rah-
men der neuen Kompost- bzw . Klärschlammverordung
behindert werden, die das Verbringen der Reststoffe aus
Biokraftwerken als Dünger auf landwirtschaftlich ge-
nutzte Flächen nämlich unmöglich machen würde.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Lassen Sie mich noch ein paar W orte zum Vertrags-
naturschutz sagen. Naturschutz ist nicht an öffentliches
Eigentum gebunden. So kann zum Beispiel das europäi-
sche Biotopverbundsystem „Natura 2000“ nicht allein
auf Flächen der öf fentlichen Hand verwirklicht werden.
Naturschutz ist Aufgabe aller und kann nur durch maß-
gebliche Beteiligung aller Betroffenen an einer eigenver-
antwortlichen Naturschutzarbeit erreicht werden.

Ein aus der Sicht der CDU/CSU besonders geeignetes
Instrument ist der V ertragsnaturschutz. Er genießt V or-
rang vor dem hoheitlichen Instrumentarium der Auswei-
sung von Schutzgebieten mit Ge- und V erboten, wenn
die naturschutzrechtliche Zi elsetzung auch auf diesem
Weg zu erreichen ist. Durch freiwillige V ereinbarungen
und Selbstverpflichtung kann der Eigentümer von
Schutzgebietsflächen dazu beitragen, besonders wichtige
Kleinstrukturelemente wie Hecken, W iesen, Raine und
Äcker mit Wildkräutern zu erhalten. Die Akzeptanz für
den Naturschutz wird durch diese Maßnahmen, wie auch
im Sachverständigenratsgutachten gefordert, höher, weil
die Menschen vor Ort mitgenommen werden und auch
ehrenamtliches Engagement entsprechend gewürdigt
wird. Dazu ist es allerdings notwendig, dass Haushalts-
mittel für ganz konkrete Pr ojektarbeit vorgesehen wer-
den.


(Dr. Peter Paziorek [CDU/CSU]: Genau!)


Leider weist der ohnehin sc hon reduzierte Haushalt des
BMU für 2003 über die Hälfte seiner Mittel für den Ver-
waltungshaushalt aus.

In diesem Zusammenhang geht die Empfehlung der
Sachverständigen, die person ellen Kapazitäten in den
Naturschutzbehörden auszubauen, an der finanziellen
Wirklichkeit von Bund, Lä ndern und Kommunen leider
völlig vorbei. Den Vorschlag, Arbeitsfelder, die kein ho-
heitliches Vorgehen erfordern, auszulagern, unterstützen
wir allerdings nachdrücklich.


(Beifall des Abg. Dr. Peter Paziorek [CDU/ CSU])


Als mögliche Partner sind W asserversorger, der ehren-
amtliche Naturschutz, zum Beispiel die Naturschutzsta-
tionen in Niedersachsen, oder auch die Landwirtschafts-
kammern zu nennen.

Lassen Sie mich zum Ende meiner Ausführungen
noch ein zentrales Anliegen der Sachverständigen nach-
haltig unterstützen: die Erar beitung wissenschaftlicher
Grundlagen bzw. Grunddaten. Die Sachverständigen
stellen fest, dass im Bere ich von Natur und Landschaft
die Datenlage uneinheitlich und lückenhaft ist und zu-
dem allgemein anerkannte Erhebungs- und Auswer-
tungsmethoden fehlen. Dies betrif ft insbesondere die
Umsetzung der V ogelschutz- und der FFH-Richtlinie.
Ohne diese Daten ist die Erarbeitung und Überwachung
konkreter regionaler und üb erregionaler Umweltschutz-
ziele aber nicht möglich. Die Erhebung und Bewertung
dieser Daten könnte zuglei ch mit einer Förderung der
mit dieser Aufgabe betraute n Universitäten und Hoch-
schulen verbunden werden. Aber wenn denn diese Daten
vorliegen, dann lassen Sie uns bitte auch seriös mit ihnen
umgehen, meine Damen und Herren.






(A) (C)



(B) (D)


Dr. Maria Flachsbarth
Die von den Sachverständigen im Sonder gutachten
vielfach aufgestellte Forderung, den Landverbrauch
unter den Wert von 130 Hektar pro Tag zu senken, ist
nur zu unterstützen. Allerdin gs sollte auch nicht ver-
schwiegen werden, dass der Landverbrauch durch Ver-
siegelung längst auf 70 Hektar pro Tag gesenkt werden
konnte. Der höhere Wert ergibt sich nur dann, wenn die
bei Bauvorhaben erforderlichen Ausgleichsflächen in
den Gesamtlandverbrauch einbezogen werden. Dies ist
allerdings keine seriöse Argumentation und fördert eben
nicht die Transparenz und damit die Akzeptanz des Na-
turschutzes, die wir doch alle gemeinsam wollen.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)



Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1503716400


Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir haben in dieser
Debatte einige Jungfernreden in diesem Hohen Haus er-
lebt. Auch für Sie, Frau Kollegin Flachsbarth, war es die
erste Rede. Herzlichen Glückwunsch, verbunden mit den
besten Wünschen für Sie persönlich und politisch!


(Beifall)


Nächster Redner ist der Bundesminister für Umwelt,
Naturschutz und Reaktorsicherheit, Jürgen Trittin.

Jürgen Trittin, Bundesminister für Umwelt, Natur-
schutz und Reaktorsicherheit:

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich
glaube – das ist das Erfreuliche an der hohen Beteiligung
von Niedersachsen, die hi er schon geredet haben und
noch reden werden –, dass wir uns in einem Punkt par-
tei- und fraktionsübergreifend einig sind: Der Sachver-
ständigenrat für Umweltfrage n hat mit seinem Sonder-
gutachten gute Arbeit gele istet. Ich will, liebe Frau
Flachsbarth, damit aber nicht in Abrede stellen, dass das
Gutachten, auch wenn es im W esentlichen unter Feder-
führung einer Hannoveranerin, nämlich von Frau Profes-
sor von Haaren von der Universität Hannover , erstellt
wurde, in der Tat verständlicher hätte formuliert werden
können. Wir haben das in den Vorgesprächen auch ange-
merkt, aber Sie wissen ja, wie das mit den Wissenschaft-
lerinnen und W issenschaftlern ist: Sie legen W ert auf
ihre Fachsprache.

Ich freue mich vor allen Dingen deswegen über dieses
Gutachten, weil es wesentliche Eckpunkte unserer Na-
turschutzpolitik bestätigt. Sie haben einen angesprochen,
nämlich die Reduzierung des Flächenverbrauchs auf
30 Hektar pro Tag. Dieser Punkt ist bereits Bestandteil
der Nachhaltigkeitsstrategie, die diese Bundesregierung
entwickelt hat. Auf diesem W eg können wir auch die
vorgeschlagene Naturschutzstrategie umsetzen, nämlich
im Rahmen der Fortentwicklung der von uns erarbeite-
ten Nachhaltigkeitsstrategie.

Meine Damen und Herren, der Sachverständigenrat
prangert auch in anderen Bereichen genau dieselben
Punkte an, die auch wir immer angeprangert haben. Er
sagt: Wir müssen uns darum bemühen, den Naturschutz
in alle Politikbereiche ei nzubringen. Ich werde darauf
noch aus aktuellem Grund zurückkommen. Ferner sagt
er, es sei notwendig, das Bundesnaturschutzgesetz jetzt
auch tatsächlich umzusetzen . Außerdem fordert er die
Länder nachdrücklich auf, über Nachmeldungen für eine
vollständige Meldung von FFH-Gebieten – übrigens
auch ein Fachterminus – zu sorgen. Schließlich fordert er
nachdrücklich, an der Möglichkeit von V erbandsklagen
festzuhalten. Das alles bestätigt in der Summe zu
100 Prozent die Politik dieser Bundesregierung und der
sie tragenden Koalition von SPD und Grünen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Ich freue mich, dass auch diejenigen, die aus den Rei-
hen der Opposition hier gesp rochen haben, dazu positiv
Stellung bezogen haben. Zugleich bitte ich Sie aber auch,
sich einmal in den Ländern umzuschauen, die sich zurzeit
bei der Naturschutzpolitik positionieren. Anstatt alles da-
ranzusetzen, das Bundesnaturs chutzgesetz, das nur ein
Rahmengesetz ist – die eigentliche Kompetenz liegt hier-
für bei den Ländern –, bis zum Frühjahr 2005 umzusetzen
– da läuft die Frist nämlich ab –, will die neue CDU-FDP-
Koalition in Hannover, wie ich in der Koalitionsverein-
barung gelesen habe, nicht etwa für eine schnelle Umset-
zung sorgen, sondern eine Initiative starten, damit einige
Regelungen aus der gerade novellierten Fassung des Bun-
desnaturschutzgesetzes zurückgenommen werden. Das
finde ich doch sehr merkwürdig, wie Sie, meine Damen
und Herren von der Opposition , sich vor diesem Hinter-
grund zu dem Gutachten positiv äußern.

Es geht aber noch weiter : Das Gutachten hat gerade
die Rolle der mündigen Bürgerinnen und Bürger im Na-
turschutz unterstrichen, indem in ihm festgestellt wurde:
Naturschutz kann man nur mit den Menschen machen.
Das heißt aber auch, dass di e Natur an bestimmten Stel-
len einen Anwalt braucht. Gerade die naturschutzrechtli-
chen Regelungen, für deren Rücknahme Ihre Landesre-
gierung in Hannover sich ei nsetzen will, greifen ja den
christlichen Gedanken der Schöpfung auf, indem erstma-
lig – Herr Göppel wird das wissen, er hat uns ja ordent-
lich gedrängt – darin enthalten ist,


(Michael Müller [Düsseldorf] [SPD]: Aber leider nicht in der Bibel!)


dass die Natur auch um ihrer selbst willen zu schützen ist.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Wir haben dazu gesagt, dass solche Aussagen nichts nüt-
zen, wenn die Natur keinen Anwalt hat. Deswegen ha-
ben wir in das Naturschutzrecht eingefügt, dass die aner-
kannten Naturschutzverbände, also diejenigen, die sich
bei Planverfahren für die von Ihnen ja genannten Nut-
zungen als Anwalt der Natur betätigen, auch Rechte er-
halten. Was aber beschließt der Bundesrat unter dem
Vorwand der Planbeschleunigung? Man wolle genau
diese Möglichkeit von Verbandsklagen wieder rück-
gängig machen, also weniger statt mehr Bür gerbeteili-
gung im Naturschutz.


(Dr. Peter Paziorek [CDU/CSU]: Verbandsklage hat doch nichts mit Bürgerbeteiligung zu tun!)







(A) (C)



(B) (D)


Bundesminister Jürgen Trittin
– Lieber Herr Paziorek, Sie sagen, die CDU wolle Natur-
schutz mit den Menschen machen, und wissen, dass die
von der CDU mit unterzeichnete Aarhus-Konvention,
die übernächstes Jahr in Deutschland bindendes Recht
wird, ein umfassendes Verbandsklagerecht vorsieht. Da
ist es doch nicht konsistent, sondern eher verrückt, wenn
nun CDU/CSU-regierte Bu ndesländer den Bundestag
mit dem Vorschlag behelligen, wir sollten diese Rege-
lung für zwei Jahre wieder aussetzen.

Sie wissen doch, dass die Verbandsklage ausweislich
aller Untersuchungen, zum Beis piel in der Schweiz, die
dieses Instrument länger hat, und in den Bundesländern,
die es haben, nicht etwa zu einer V erlängerung, sondern
zu einer Beschleunigung vo n Planverfahren, aber auch
zu einer verbesserten Abwägung geführt hat.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Deswegen sollten wir uns bei aller Freude über das,
was hier gesagt worden ist, darüber im Klaren sein, dass
im Naturschutz mehr als in allen anderen Bereichen gilt:
Es nützt nichts, sich nur in Sonntagsreden darauf zu be-
ziehen; man muss ihn im Alltag wirklich praktizieren
und auch die W idersprüche, die sich daraus er geben,
aushalten.

Ein anderes Beispiel, das ich ebenfalls der Koalitions-
vereinbarung der CDU und der FDP in Niedersachsen
entnommen habe. Dort steht, man wolle bei Umwelt-
schutzmaßnahmen künftig eine Wettbewerbsverträg-
lichkeitsprüfung einführen.


(Lachen des Abg. Albert Schmidt [Ingolstadt] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Das ist genau das Gegenteil von dem, was Sie hier eben
gesagt haben. Sie haben gesagt, der Naturschutz müsse
Bestandteil aller Politikbereiche werden. W enn Sie eine
Wettbewerbsverträglichkeitsprüfung einführen, dann
kommen Sie genau an den Punkt, an dem wir in den
Auseinandersetzungen über die Naturschutzgebiete wa-
ren. Damals hieß es: Ihr sc hafft hier ein Naturschutzge-
biet, das aber gefährlich für die touristische Nutzung ist,
denn es verzerrt den W ettbewerb. Deswegen kommt es
nicht infrage.

Die Erfahrung mit dem Naturschutz ist in W irklich-
keit eine andere, wie ich am Beispiel des Nationalparks
Bayerischer Wald und des Nationalparks Harz – ich
könnte das aber auch an anderen Beispielen deutlich ma-
chen – zeigen kann: Am Ende hat sich diese
Wettbewerbsverträglichkeitsbetrachtung als eine kurz-
sichtige Betrachtung herausgestellt; denn es hat sich ge-
zeigt, dass der Nationalpark Bayerischer W ald allein im
Landkreis Freyung 30 000 neue Arbeitsplätze geschaf-
fen hat und der Nationalpark Harz inzwischen mit Zu-
stimmung der Gemeinden erweitert wird, weil er sich zu
einem Touristenmagnet entwickelt hat.

Deswegen ist unser Weg, der Weg, den die Sachver-
ständigen an dieser Stelle vorschlagen, nämlich Natur-
schutz in alle Politikbereiche zu integrieren, einen inte-
grierten Ansatz gerade in der Nachhaltigkeitsstrategie zu
finden, der richtige Weg. Es ist der Weg dieser Koalition.
Wir gehen ihn und wir würd en uns freuen, wenn mehr
Kollegen so mutig wären, di esen Weg im Alltag mitzu-
gehen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Lassen Sie mich zum Schl uss eine Bemerkung ma-
chen, weil Herr Paziorek da sitzt und die ganze Zeit dar-
auf wartet. Sie haben mir neulich gesagt, ich hätte mich
in der Umweltpolitik verha lten wie Richard Kimble auf
der Flucht. Das hat mich nachdenklich gemacht. Sie ha-
ben in diesen Tagen an einer Reihe von Dingen gesehen,
dass ich alles andere als auf der Flucht bin. Darüber hin-
aus sollten Sie bei diesem V ergleich eines berücksichti-
gen: Vielleicht haben Sie gedacht, Sie seien der Marshal,
der Herrn Kimble nachstellt. Wenn Sie sich den Film an-
schauen, werden Sie feststellen: Richard Kimble


(Helga Daub [FDP]: Sah klasse aus!)


ist unschuldig, er ist der Gute; der Marshal ist der Böse.
In diesem Sinne haben Sie si ch die falsche Rolle ausge-
sucht, Herr Paziorek.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)



Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1503716500

Nächste Rednerin ist die Kollegin Angelika Brunk-

horst, FDP-Fraktion.


Angelika Brunkhorst (FDP):
Rede ID: ID1503716600

Frau Präsidentin! Sehr verehrte Kolleginnen und Kol-

legen! Der Erfolg von Naturschutzmaßnahmen hängt
nicht zuletzt von der Akzeptanz des Bürgers ab. Von da-
her steht für uns Liberale der Mensch im Mittelpunkt al-
ler Überlegungen zum Naturschutz.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Das hier vorliegende Sondergutachten macht deutlich,
welche Erfolge im Naturschutz schon erzielt worden
sind. Die Kollegin hat bereits einige genannt; ich will sie
nicht wiederholen. Aber der Sachverständigenrat hat den
Teilerfolgen die zugegebenermaßen größeren Defizite,
die es noch gibt, gegenüber gestellt. Er schlägt einen
Maßnahmenkatalog unter dem Oberbegrif f „nationale
Naturschutzstrategie“ vor. Ich erkenne darin diverse Ver-
schärfungen sowohl im Pla nungs- als auch im Natur-
schutzrecht.


(Vorsitz: Vizepräsident Dr. Norbert Lammert)


Dem können wir so nicht uneingeschränkt folgen. Natur-
schutz wird von den Bür gern in der Regel schon heute
als restriktive und bürokratische Ordnungspolitik wahr-
genommen. Das ist häufig so. W ir Liberalen meinen,
dass die verschiedenen Interessenlagen eine ausbalan-
ciertere Gewichtung haben müssen. Zum einen muss die
Lebensqualität durch den Erha lt der Naturhaushalte und
der Vielfalt der Arten gesichert werden. Natürlich müs-
sen auch sozioökonomische Interessen gewahrt werden,
zum Beispiel die Interessen des T ourismus und des
Sports. Die Erfüllung der Anforderungen an die Raum-






(A) (C)



(B) (D)


Angelika Brunkhorst
ordnung muss berücksichtigt werden und, ganz wichtig,
das Recht des ländlichen Raumes auf Entwicklung muss
gewahrt bleiben.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Gerade die quantitativen V orgaben für Biotopver-
bünde lassen den Eindruck zu, dass der ländliche Raum
peu à peu zum ökologischen Reserveraum werden soll.
Naturschutz ist aber eine Aufgabe, die gesamtgesell-
schaftlichen Nutzen erbringt. Die derzeitige Lastenver-
teilung ist jedoch in einer Schieflage. Ich will insbeson-
dere auf die Land- und Forstwirte eingehen, die durch
die Einschränkung ihrer Nu tzungsrechte auch wirt-
schaftliche Einbußen hinneh men. Sie werden im Mo-
ment über Gebühr in die V erpflichtung genommen und
in ihren Eigentumsrechten beschnitten.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Der Vertragsnaturschutz war ein gutes Instrument,
um den Naturschutz einerseits und eine anteilige Exis-
tenzsicherung in der Land- und Forstwirtschaft anderer-
seits unter einen Hut zu bekommen. Ich bedauere sehr ,
dass in der Novelle des B undesnaturschutzgesetzes der
Vertragsnaturschutz quasi ausgehebelt worden ist. Herr
Minister Trittin, hier muss ich leider sagen: Das haben
Ihre Regierungsfraktionen bewirkt.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Naturschutz ist nur in der Allianz mit der Land- und
Forstwirtschaft möglich. Daher brauchen wir dringend
die auch vom Sachverständigenrat geforderten Agrarum-
weltprogramme auf nationaler und europäischer Ebene,
in denen vor allen Dingen die Aufträge klar umrissen
werden und für ihre Ausführung eine angemessene Ent-
lohnung vorgesehen wird.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


In diesem Punkt gehen wir ebenfalls mit dem Umweltrat
konform.

Meine Damen und Herren, der Umweltrat geht in sei-
nem Gutachten weiter auf das Problem des Flächenver-
brauchs ein, das hier schon angesprochen worden ist.
Der vorgeschlagenen Begrenzung der Flächenversiege-
lung auf 30 Hektar pro Jahr und im Endef fekt vielleicht
dem völligen Verzicht auf Versiegelung können wir aber
nicht folgen. Ein Flächenver brauch von 130 Hektar pro
Tag ist natürlich völlig unakzeptabel. Aber lassen Sie
mich, genau wie die Kollegin vorhin, auch den Unter-
schied deutlich machen: Besiedelt ist nicht gleich versie-
gelt. Da muss man schon noch ein wenig differenzieren.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Vielmehr sollen die Gemeinden vor Ort eine ökolo-
gisch sinnvolle Flächenausweisungspolitik betreiben,
immer Hand in Hand mit de m Bürger vor Ort. Der Bür-
ger, der in der Gemeinde le bt, soll für uns Liberale das
Sagen haben. Das Signal da rf nicht lauten: mehr Ge-
setze; das Signal muss lauten: mehr Selbstverpflichtung
für den ressourcenschonend en Umgang mit der Natur .
Dahin wollen wir.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Die FDP ist der Meinung, dass die Fachgesetzgebung
in der V ergangenheit dem Naturschutz schon ausrei-
chend Instrumente in die Hand gegeben hat. Wie auch in
anderen Politikfeldern liegt jedoch – darin stimmen wir
mit dem Sachverständigenrat überein – ein Umset-
zungsdefizit vor. Daher begrüßen wir den Vorschlag, die
Umweltbeobachtung zu syst ematisieren und besser zu
koordinieren.

Allerdings muss ich dazu sagen: Die FDP hat bereits
in der letzten Legislaturpe riode Anstrengungen unter-
nommen, ein biogeografisches regional orientiertes Um-
weltmonitoring durchzusetzen, das satellitenunterstützt
betrieben werden sollte. Die Vertreter der Regierungsko-
alition haben das Projekt leid er nicht mitgetragen; des-
halb war ein so exzellenter Vorschlag nicht umzusetzen.

Für die Zukunft wünsche ich mir eine sehr gute fach-
liche Zusammenarbeit, die sich insbesondere an den Be-
dürfnissen der Regionen und der Bürger, die darin leben,
ausrichtet.

Ich möchte zum Schluss sagen: Bei der V erwirkli-
chung aller gesellschaftlichen Prozesse, Projekte, Ziele
und Werte wünsche ich mir neben einer Überprüfung der
Umweltverträglichkeit und der Sozialverträglichkeit
auch eine Überprüfung der Wettbewerbsverträglich-
keit.

Ich danke Ihnen vielmals für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1503716700

Frau Kollegin Brunkhorst, ich gratuliere Ihnen zu Ih-

rer ersten Rede im Deutschen Bundestag, verbunden mit
allen guten Wünschen für Ih re weitere parlamentarische
Arbeit.


(Beifall)


Nun hat die Abgeordnete Gabriele Lösekrug-Möller
das Wort für die SPD-Fraktion.


Gabriele Lösekrug-Möller (SPD):
Rede ID: ID1503716800

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Hätte

nicht Frau Klug aus dem Saarland hier geredet, hätten
wir die Debatte glatt nach Hannover verlegen können.
Ich halte meine Rede aber lieber hier.

Es ist wieder so weit. Die Lu ft ist lauer, selbst hier in
Berlin. Bei mir zuhause bl ühen die Märzenbecher und
ganze Völkerscharen sind au f den Beinen, um den Blü-
tenteppich am Schweineber g – so heißt dieser Ort bei
uns – anzuschauen. Mor gens – vielleicht tun das einige
von Ihnen – können wir uns von Vogelzwitschern wecken
lassen. Kraniche und Gänse – das haben Sie hof fentlich
alle gemerkt – sind auch schon vorbeigezogen. Kein
Zweifel: Der Frühling ist da. Eigentlich können wir mehr
als froh sein, dass unsere Natur uns immer noch so reich
beschenkt. Denn wir – in diesem Punkt ist das Sondergut-
achten des Sachverständigenrates für Umweltfragen ganz
klar – könnten für die Natur entschieden mehr tun.






(A) (C)



(B) (D)


Gabriele Lösekrug-Möller
Naturschutzpolitik in Deutschland kann auf Erfolge in
den letzten Jahren zurückblicken; das stimmt. Viele gute
Beispiele wurden von meinen Vorrednerinnen und auch
von dem Minister genannt. Aber leider ist genauso rich-
tig: Wir haben immer noch viele Defizite im Natur-
schutz.

Frau Klug und andere Vorrednerinnen haben zu Recht
als eines der großen Probleme den Flächenverbrauch
herausgestellt. Die Inanspruchnahme von Flächen ist ein
gigantischer naturzerstörerischer Vorgang. Genauso pro-
blematisch ist allerdings di e Flächenzerschneidung, die
wir Tag für Tag erleben. Wir alle wissen um den entste-
henden Schaden und scheinen ihn locker in Kauf zu neh-
men. Solange Kommunen durch die Ausweisung neuer
Baugebiete und Flächen miteinander konkurrieren – teil-
weise konkurrieren müssen –, solange Gesteinsabbau
sehr lukrativ ist, weil Ersatzmaterial teuer und nicht weit
genug entwickelt ist, so lange werden die Naturschützer
wie Sisyphus Stück für Stück kleine Flächen zurückero-
bern und gleichzeitig große verlieren – mit Streit und Är-
ger, mit Nutzungs- und Interessenkonflikten. W eil ich
aus dem Weserbergland komme, kann ich in Sachen Ge-
steinsabbau viel dazu erzäh len. Insbesondere wenn es
darum geht, Aspekten des Wettbewerbs den Vorrang ein-
zuräumen, ahne ich, was uns in nächster Zeit droht.

Dabei sind wir alle eigentlich einer Meinung: dass die
Bedeutung der Natur für unsere Lebensqualität gar nicht
hoch genug einzuschätzen ist. Obwohl dies allenthalben
bekräftigt wird, gilt für den Naturschutz das so genannte
NIMBY-Problem. Dies ist ein Begrif f aus dem Gutach-
ten. Ich erkläre ihn gerne: NIMBY ist die Schwester von
TINA. Die kennen wir alle, sie heißt auf Deutsch: Da
ist keine Alternative. NIMBY – englisch: not in my
backyard – heißt: Überall, aber nicht bei mir. Dieses Pro-
blem treffen wir im Naturschutz häufiger an. Je konkre-
ter Naturschutzmaßnahmen der Entfaltung menschli-
cher Wünsche entgegenstehen, desto schneller sinkt die
Akzeptanz für diese Regelung.

Das Gutachten zeigt fünf Gruppen von Gründen für
diese Akzeptanzdefizite auf. Ich skizziere sie kurz. Zu-
nächst sind ökonomische Nachteile und ungünstige Rah-
menbedingungen finanzieller und or ganisatorischer Art
zu nennen. Dazu gehören allerdings auch – das sollte uns
zu denken geben – eine ma ngelnde Vertrautheit mit
Naturschutzzielen. Zu diesen Gründen zählen ferner
konträre Werthaltungen und Überzeugungen sowie
Kommunikationsformen, die von den Beteiligten als un-
befriedigend oder als autoritär erlebt werden. Schließlich
ist noch die Angst vor V erhaltenseinschränkungen, Be-
vormundung und Fremdbestimmung zu nennen. Allein
diese Aufzählung lässt erkennen, wie weit der Weg sein
wird.

Ich zitiere kurz aus dem Gutachten:

Es muss ein Mindestmaß an Problemdruck und Lö-
sungswillen bei den Akteuren vorhanden sein.

Ein für die Naturschutzprojekte förderlicher Pro-
blemdruck entsteht nicht durch einen kritischen Zu-
stand von Natur und Landschaft.

– Das sollte uns zu denken geben. –
Vielmehr spielen die vo n den Akteuren subjektiv
wahrgenommenen ökonomischen, sozialen oder
politischen Problemlagen eine entscheidende Rolle.

Wir werden sicher im Ausschuss die Gelegenheit ha-
ben, über Lösungsansätze zu diskutieren – sie sind in
diesem Gutachten in Fülle enthalten – und Möglich-
keiten zur Akzeptanzverbesserung zu besprechen. Sie
reichen von ökonomischen An reizen – zum Glück be-
schränken sie sich aber nicht darauf – über die Einfüh-
rung diskursiver Kommunikationsverfahren bis hin zur
Erhaltung von Rechtsmitteln der Verbände.

Ich bin dem Minister dankba r dafür, dass er deutlich
angesprochen hat, welche Gegenbewegung hier am
Werke ist. Es kann nicht sein, dass wir das Verbands-
klagerecht, das endlich im Bundesnaturschutzgesetz ge-
regelt worden ist, zurücken twickeln. Allen Ernstes: Das
nimmt uns niemand ab. Wir würden in Europa wieder ei-
nen Sonderweg gehen; das wird hier als Argument stra-
paziert. Das ist mit uns nicht zu machen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Ich möchte dem Hause nicht vorenthalten, dass man
dann dem Muster folgt: Die pralle Natur soll auf alle
Fälle bis dicht an die Leitplanken funktionieren. Dann
haben wir auf der Überholspur freie Fahrt. Ich denke, so
kann man allen Ernstes keine Naturschutzpolitik betrei-
ben.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Schon die „Daten zur Natu r 2002“ zeigten, dass wir
nach wie vor auch auf nationaler Ebene Handlungsbe-
darf im Hinblick auf den Erhalt der biologischen Viel-
falt haben. Aus naturschutzfachlicher Sicht schlägt zum
Beispiel der Sachverständigenrat vor, rote Listen so wei-
terzuentwickeln, dass sie nicht an politisch-administrati-
ven Grenzen orientiert werden, sondern stärker an bio-
geographischen Regionen. Das ist der richtige W eg. Ich
denke, in dieser Hinsicht haben wir noch viele Verbesse-
rungen vor uns.

Ich wünsche mir, dass der Naturschutz in Deutschland
auch im Rahmen der Nachha ltigkeitsdebatte einen pro-
minenten Platz einnimmt. Im Sondergutachten wird eine
eigenständige nationale Naturschutzstrategie vorge-
schlagen und es werden gute Gründe dafür geliefert. Ob
eigenständige Strategie oder nicht: Das soll so oder so
nicht zur Glaubensfrage werd en. Gerade aber in Bezug
auf den Naturschutz, für den bei den Bundesländern
weitreichende Zuständigkeiten bestehen, müssen wir
sehr sorgfältig prüfen, ob unsere Verantwortung fachlich
ausreichend und politisch zufriedenstellend in der unbe-
stritten sinnvollen nationalen Nachhaltigkeitsstrategie
aufgehoben sein wird. Sicher wird die heute hieran an-
knüpfende parlamentarische Arbeit dazu interessant
werden.

Aber wenn ich hier schon einmal stehe und zum Na-
turschutz spreche, möchte ich auf zwei Projekte hinwei-
sen, die von allen Naturschützern begrüßt wurden und
dennoch in ihrer Umsetzung weit hinter unseren Erwar-






(A) (C)



(B) (D)


Gabriele Lösekrug-Möller
tungen zurückgeblieben sind – zumindest bis jetzt; ich
hoffe, es gibt einen weiter en Impuls –: Das sind die
BVVG-Flächen, circa 100 000 Hektar, deren Übertra-
gung aus dem Eigentum des Bundes in Naturschutz-
hände ins Stocken geraten ist. Hier muss es vorangehen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Und das ist das „grüne Band“. Für diejenigen, die nicht
wissen, was das ist: Das ist jener Streifen, der ehedem
Ost und West trennte und nun als einzigartiges Natur-
schutzprojekt im besten Sinne Geschichte machen
könnte, gäbe es eine größere Bereitschaft, diese Flächen
für den Naturschutz zu erwe rben. Beide Projekte sind
einzigartige Chancen für den Naturschutz.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Natürlich haben wir auch Schönes: unsere Groß-
schutzgebiete; sie wurden schon angesprochen. Wir ha-
ben mit ihnen die Möglichkeit, zu zeigen, dass es geht:
Mensch und Natur in einem jeweils balancierten Verhält-
nis Raum zu geben. Der vor kurzem vor gelegte Bericht
„Tourismus in Großschutzgebieten“ zeigt diese Chancen
auf und zeigt auch, dass na turschutzkonforme Angebote
für Menschen möglich und für die regionale Entwick-
lung vorteilhaft sind. Da ist die Gewichtung von Ökono-
mie und Ökologie sicher richtig angelegt.

Ich muss zum Schluss kommen, wie ich sehe. Ich habe
eine Aufforderung an Sie alle – denn ich frage mich, ob
wir gute Beispiele sind, was den Naturschutz anbelangt –:
Geben wir uns die Chance, Natur zu erleben! Wie gesagt,
mein Appell ist: Die Märzenb echer blühen, die Luft ist
lau, seien Sie mutig und gehen Sie raus aus dem Bau! Las-
sen Sie uns nicht immer nur hier sitzen und über Dinge re-
den, sondern lassen Sie uns etwas tun: die Natur erleben,
wie das Kinder in Waldkindergärten und in grünen Klas-
senzimmern machen, und das junge Leute ein Jahr lang in
ökologischen Projekten tun! Ich denke, das ist der richtige
Weg. Wenn wir als Mitglieder dieses Parlamentes öfter
nach draußen gingen und nicht nur das im Kopfe hätten,
was wir jeden Tag an Politik machen, sondern auch offen
für die Natur wären, –


Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1503716900


Frau Kollegin!


Gabriele Lösekrug-Möller (SPD):
Rede ID: ID1503717000


– ginge es dem Naturschut z besser. Das sehe ich so
wie TINA. Das ist für mich ohne Alternative.

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1503717100


Ich bitte die anwesenden Kolleginnen und Kollegen
gleichwohl darum, der gut gemeinten Empfehlung, sich
in der freien Natur aufzuhalten, erst nach Ende der heuti-
gen Sitzung nachzukommen, um eine ordnungsgemäße
Abwicklung unserer Tagesordnung zu ermöglichen.

Nun hat als letzter Redner zu diesem T agesordnungs-
punkt der Kollege Josef Göppel für die CDU/CSU-Frak-
tion das Wort.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Josef Göppel (CSU):
Rede ID: ID1503717200

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die De-

batte begann heute mit dem Zitat, dass sich der Reichtum
eines Landes auch nach se inem Naturvermögen bemisst
– ungewohnte Töne in eine r Zeit, die vom Kriegslärm
und vom Klagen über schlechte ökonomische Daten er-
füllt ist. Wir sehen ja: Hier versammelt ist der positive
harte Kern der Naturliebhaber. Naturschutz ist aber zur-
zeit ein Thema irgendwo am Rande. Es ist vielleicht in-
teressant zu fragen: W ie kommen wir wieder in die
Mitte?

Wir haben gewaltige Erfolge gehabt. Diese Erfolge
hatten wir aber vor allem dort, wo wir mit technischen
Mitteln Probleme beheben konnten, zum Beispiel bei
der Luftreinhaltung und der W asserreinhaltung. Beim
Naturschutz ist aber nicht in erster Linie neue T echnik
gefordert, sondern Behutsamkeit im Zugriff und Zurück-
haltung. Da stecken wir in den Anfängen.

Genau da ist die Debatte fä llig. Herr Kollege Trittin,
die Frage nach einer Naturschutzstrategie stellen die
Gutachter in den Mittelpunkt. Natürlich ist es zweitran-
gig, ob man eine eigenständige Naturschutzstrategie be-
treibt oder ob man sie integr iert in die Nachhaltigkeits-
konzepte. Eines ist aber sicher: Sie sind in der Regierung
und Sie müssen das jetzt umsetzen. Wir sind uns doch in
den Grundsätzen schnell einig; das haben wir an den bis-
herigen Reden sofort gemerkt. Es geht jetzt um die kon-
kreten Schritte.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Ich möchte den Vorschlag machen, alle zu integrieren,
die guten Willens sind. Ob sie Jäger, Kanuten, Sportklet-
terer, Landschaftsschützer oder wie auch immer heißen:
Es gibt überall gut Gesinnte. Es geht darum, im Rahmen
der Strategieallianzen für den Naturschutz Strukturen
zu finden, um diese Leute einzubinden.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Sie sind nicht unmittelbar verantwortlich für die Ge-
setzesvorhaben: neues Waldgesetz, neues Jagdgesetz. Ich
greife da aber eines heraus: Ich hielte es nicht für gut,
wenn man mit diesen Gesetzen Regelungen schüfe, die
bestimmte Gruppen eher zurückdrängen und einengen,
anstatt sie heranzuführen und mehr in die Verantwortung
zu nehmen. Die Menschen, die in die Verantwortung ge-
nommen werden, sind in der Re gel auch bereit, mehr zu
tun. Das steht auch ganz kl ar im Gutachten: Unter dem
Punkt 125 loben die Gutachte r zum Beispiel die Kon-
struktion der deutschen Landschaftspflegeverbände. In
diesen Verbänden arbeiten Landwirte, Naturschützer und
Kommunalpolitiker gleichberechtigt zusammen, auch






(A) (C)



(B) (D)


Josef Göppel
wenn nicht alle gegensätzlic hen Interessen sofort über-
wunden werden können. Wir müssen aber die Strukturen
dafür schaffen. Das ist Ihre Verantwortung. An der kon-
kreten Tat werden wir Sie auch messen.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Die Frage der Grundsätze is t natürlich auch wichtig.
Ich darf aber daran erinnern, dass der Eigenwert der
Natur zuerst im bayerischen Naturschutzgesetz formu-
liert und von uns eingebracht wurde. Es freut uns als
CSU-Mandatsträger natürlich sehr, dass das jetzt auch
im Bundesnaturschutzgesetz steht. Das soll Folgerungen
haben. Wenn in einer großen V olkspartei Dinge formu-
liert werden, über die wir noch diskutieren müssen, dann
werden Kollege Paziorek und die anderen aus der CDU/
CSU das mit großer Freude t un; darauf können Sie sich
verlassen. Für uns und auch für mich gibt es in diesen
Dingen kein Zurück. Eine gute Entwicklung gibt es nur
in der Zusammenschau von intakter Natur und intak-
ter Wirtschaftsentwicklung, aber nicht im Entweder -
oder. Das ist unsere Position.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, beim Thema
Flächenverbrauch wurde von allen Rednern darauf hin-
gewiesen, dass wir eine Trendwende brauchen. Ich sitze
seit 30 Jahren im Stadtrat einer Wachstumsgemeinde. Ge-
rade deswegen habe ich große Sympathie für den V or-
schlag der Gutachter zu handelbaren Flächeninanspruch-
nahmerechten. Das ist eine Idee, die es wert ist, diskutiert
zu werden. Ich bin sehr dafür, dass wir dies tun. Ob es der
Weisheit letzter Schluss ist, werden wir dann im Detail se-
hen. Klar ist: Wir müssen Wege finden, um den Trend zu
durchbrechen und die Fläche ninanspruchnahme dorthin
zu lenken, wo der ökonomis che Nutzen am größten ist.
Dazu würde dieses Modell beitragen.

Keine Generation vor uns is t mit den Flächen so ver-
schwenderisch umgegangen un d hat so viele Flächen
überbaut wie unsere Generation. Das ist wahr . Vor
30 Jahren, als ich meine Ausbildung zum Förster begon-
nen habe, betrug der Anteil der überbauten Fläche in
Deutschland 7 Prozent. Selbst wenn nicht alles endgültig
zubetoniert ist, so ist der Anteil der überbauten Fläche
doch auf 12 Prozent gestiegen. Das ist nahezu eine V er-
doppelung. Deswegen brauchen wir eine T rendwende.
Diese wird nicht einfach zu erreichen sein. Ich denke nur
an Kommunalpolitiker auch in meinem W ahlkreis, die
glauben, sie könnten die Güter der Erde – das sind in
diesem Fall die Flächen, die ihnen in ihrem Gemeinde-
bereich zur Verfügung stehen – in einer Generation ver-
brauchen. Das ist nicht nachhaltig.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei der FDP – Beifall des Abg. Dr . Peter Ramsauer [CDU/CSU] – Ute Kumpf [SPD]: Ein guter Mann!)


Deswegen ist klar: Gute kons ervative Politik ist auf das
Bewahren gerichtet. Im Naturschutz zeigt sich das schö-
ner als in allen anderen Bereichen.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Ein letzter Gedanke. W ir müssen darüber nachden-
ken, wie wir es schaffen, den Naturschutz wieder mitten
in der gesellschaftlichen Diskussion zu platzieren.


(Ulrike Mehl [SPD]: Das ist eine gute Frage!)


Natürlich berührt es nicht jeden, wenn die Stimme eines
Vogels nicht mehr zu hören oder ein Stück W iese nicht
mehr zu sehen ist. Aber ich denke, jeder wird letztlich
einsehen, dass der Mensch auch im Internetzeitalter ohne
die elementaren Dinge Boden, Wasser, Luft und die Le-
bewelt, die uns umgibt, nicht in W ohlbefinden leben
kann und dass ohne diese elementaren Dinge auch eine
gute Wirtschaftsentwicklung nicht möglich ist. W ir als
Verantwortliche haben die allererste Pflicht, daran ge-
meinsam zu wirken. Deswegen freue ich mich sehr, dass
diese Debatte an der Sache orientiert geführt wurde. Ab-
schließend sage ich noch einmal: Herr Kollege T rittin,
Sie sind der zum Handeln V erpflichtete. Sie haben die
Hauptverantwortung. Wir werden das, was Sie tun, mit
Sympathie, aber auch mit kritischem Augenmaß beglei-
ten.


(Beifall im ganzen Hause – Ute Kumpf [SPD]: Schwarz-rot-grüne Koalition!)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1503717300


Herr Kollege Göppel, auch Ihnen darf ich herzlich zu
Ihrer ersten Rede im Deutschen Bundestag gratulieren.


(Beifall)


Dem amtierenden Präsidenten steht selbstverständlich
kein Kommentar zum Inhalt einer hier gehaltenen Rede
zu, aber dass es Ihnen gleich bei Ihrer ersten Rede gelun-
gen ist, frei zu reden und dennoch die Redezeit einzuhal-
ten, verdient besonderen Respekt.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der FDP)


Ich schließe die Aussprac he. Interfraktionell wird
Überweisung der V orlage auf Drucksache 14/9852 an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge-
schlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der
Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.

Ich rufe Tagesordnungspunkt 10 sowie Zusatzpunkt 6
auf:

10 Beratung des Antrags der Abgeordneten Henry
Nitzsche, Arnold Vaatz, Dr. Michael Luther, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/
CSU

Stadtentwicklung Ost – Mehr Effizienz und
Flexibilität, weniger Regulierung und Bür o-
kratie

– Drucksache 15/352 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen (f)

Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Tourismus
Haushaltsausschuss






(A) (C)



(B) (D)


Vizepräsident Dr. Norbert Lammert
ZP 6 Beratung des Antrags der Abgeordneten Joachim
Günther (Plauen), Horst Friedrich (Bayreuth),
Rainer Brüderle, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der FDP

Stadtumbau Ost – ein wichtiger Beitrag zu m
Aufbau Ost

– Drucksache 15/750 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen (f)

Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Haushaltsausschuss

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vor gesehen. – Dazu
höre ich keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlos-
sen.

Ich eröffne die Aussprache und erteile das W ort zu-
nächst dem Kollegen Henry Nitzsche für die CDU/CSU-
Fraktion.


Henry Nitzsche (Plos):
Rede ID: ID1503717400

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die W oh-

nungswirtschaft in den neuen Bundesländern befindet
sich in einer dramatischen Krise. Während unmittelbar
nach der Wende ein sensationeller Aufbruch durch Neu-
bau sowie durch Modernisierung und Instandsetzung der
maroden Wohnungssubstanz zu spüren war, ziehen seit
Ende der 90er-Jahre die Reiter der Apokalypse durch un-
sere mitteldeutschen Lande. Auf ihrer Spur hinterließen
sie unter den wehenden Fahnen der Arbeitslosigkeit ge-
plünderte Stadtkassen, bettelarme Rathäuser und Geis-
terstädte, wie Halle-Neustadt mit 90 000 Wegzügen,
Hoyerswerda mit 30 000 Wegzügen sowie Frankfurt/
Oder, Schwedt, Weißwasser und viele andere mehr.

Was tat die Bundesregierung? – Sie tat das Übliche
und setzte eine Kommission, nämlich die Lehmann-
Grube-Kommission, ein.


(Renate Blank [CDU/CSU]: W enn man nicht mehr weiter weiß, setzt man eine Kommission ein!)


Das Ergebnis war für die Fachwelt nicht überraschend:
Sie stellte fest, dass es mindestens 1 Million leer stehen-
der Wohnungen gibt, wobei die Tendenz steigend ist. Es
wurde ein Maßnahmenkatalog vor geschlagen, der von
der Bundesregierung teilweise umgesetzt wurde. Das
Schwert, mit dem man den drei unheimlichen Reitern
begegnen wollte, hieß Stadtumbau Ost. Es wurde he-
rumgereicht, man durfte es bestaunen und man sagte, es
sei bis 2009 1,2 Milliarden Euro schwer.

Am 18. März dieses Jahres nahm ich am Leerstands-
kongress des GdW in Halle teil. Das Er gebnis war
schockierend: Der Leerstand hat in den letzten Jahren
nochmals zugenommen. Der Präsident des GdW, Lutz
Freitag, sprach bereits von 1,3 Millionen leer stehenden
Wohnungen. Wörtlich sagte er: Die Probleme wachsen
schneller, als die Lösungen wirken.

Viele private Vermieter, aber auch kommunale Unter-
nehmer und Genossenschaften stehen vor der Insolvenz.
Einigkeit besteht bei allen dar über, dass eine solche In-
solvenz die Probleme nicht lö st, da nur ein Eigentümer-
wechsel stattfindet, ohne da ss auch nur eine einzige
Wohnung vom Markt genommen wird. Eine besondere
Dramatik liegt bei den privaten Vermietern. In vielen
Fällen haben sie ihr Eigentum über die DDR-Zeit hin-
weggerettet oder danach zurückbekommen. Im V er-
trauen auf eine positive Entwicklung haben sie sich hoch
verschuldet, um ihren W ohnungsbestand zu sanieren.
Das jetzige Überangebot an Wohnungen führt aber nicht
nur zu Vermietungsschwierigkeiten, auch lässt sich von
einem Mieter keine rentierl iche Miete mehr am M arkt
erzielen. Vielen solchen pr ivaten Eigentümern droht
ebenfalls die Insolvenz.


(Zuruf von der CDU/CSU: Hier spricht der Fachmann!)


Aber nicht nur das: Die ro t-grüne Regierung hat den
Bestandserwerb mit dem Ersa tz der Investitionszulage
für selbst genutzte W ohnungen durch eine bislang wir-
kungslos gebliebene Innenstadtzulage eher erschwert.
Die jährlichen Förderfälle liegen in den betroffenen Län-
dern – so muss man sie nenn en – zum Teil im einstelli-
gen Bereich. Den Spitzenplatz nimmt hier der Freistaat
Sachsen mit sage und schreibe 14 Förderfällen – das ist
der Stand vom 1 1. März – ein; das war vorauszusehen.
Frau Gleicke, es wurden sage und schreibe 2 465 Euro
ausgezahlt. Das ist fürwahr ein hervorragendes Förder-
programm. Mit ihm wird die Eigentumsbildung im Be-
stand mit Sicherheit ein Flop bleiben.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Meine Damen und Herren, wir müssen hier dringend
handeln. Das gilt natürlich ebenso für die FDP . Ich be-
grüße den Antrag, der gestern eingetrudelt ist: Spät
kommt er, doch er kommt.


(Jörg van Essen [FDP]: Dafür ist er umso besser!)


– Umso besser. – Der Wohnungsmarkt muss schleunigst
wieder funktionieren. Eine Marktbereinigung, die im In-
teresse aller Beteiligten – sowohl der Vermieter als auch
der Mieter und der Bauwirtschaft – liegt, ist unverzüg-
lich erforderlich.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Es müssen jährlich nicht nur 30 000 bis 40 000 Wohnun-
gen vom Markt, wie dies die Lehmann-Grube-Kommis-
sion vorgeschlagen hat, sondern die doppelte Zahl ist er-
forderlich. Allein im Freist aat Sachsen müssen jährlich
20 000 Wohnungen vom Markt genommen werden, um
nur den Zuwachs an Leerstand zu kompensieren.


(Beifall bei der CDU/CSU – Dr. Christoph Bergner [CDU/CSU]: Wenn es reicht!)


Nun zu unseren Einzelforder ungen. Die einzelnen För-
derelemente müssen stärker verzahnt werden.

Eine Schlüsselposition bei der Klärung der Marktbe-
reinigung nimmt das Altschuldenhilfe-Gesetz ein. Ich
erinnere daran, welche Ge schäftsgrundlage dem Gesetz
zugrunde liegt. Die nunmehr gekappten Altschulden






(A) (C)



(B) (D)


Henry Nitzsche
sollten aus den Mieteinnahme n gedeckt werden. In der
Verordnung der Bundesregi erung zur Umsetzung des
§ 6 a AHG wird neben wirtschaftlichen Schwierigkeiten
ein Mindestleerstand von 15 Prozent des jeweiligen Un-
ternehmens gefordert, um ei ne Entlastung der Altschul-
den von abgerissenen Wohnungen in Aussicht zu stellen.
Diese Verordnung braucht gar nicht erst auf den Prüf-
stand gestellt zu werden. Nach Ansicht des GdW muss
sie geändert werden. Er erwartet, dass für jede abgeris-
sene Wohnung die Altschulden übernommen werden.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Joachim Günther [Plauen] [FDP])


Die Entschuldung war bisl ang an eine Landesförde-
rung in mindestens gleicher Höhe geknüpft. In der
Verwaltungsvereinbarung 2002 hat der Bund die Aner-
kennung der Komplementärmittel der Länder aus dem
Programm „Stadtumbau Ost T eil Rückbau“ definitiv
ausgeschlossen. Der Nachweis dieser Mittel war nicht
nur bürokratisch; er hat auch den Einstieg in die Markt-
bereinigung im Jahr 2002 unnötig erschwert.

Unsere Fraktion hat mit dem vorliegenden Antrag das
von der Wohnungswirtschaft und den Ostbauministern
aufgezeigte Problem aufgegriffen. Frau Gleicke, Sie ha-
ben nunmehr den Bauministern die Anerkennung der
Rückbaumittel für das Programmjahr 2003 angekündigt.
Ich zitiere Ihr Schreiben vom 20. Februar, also knapp ei-
nen Monat nach Erscheinen unseres Antrages:

Es hat sich gezeigt, da ss beide Instrumente noch
besser miteinander verzahnt werden müssen, um
den Stadtumbauprozess zu beschleunigen.

Das, Frau Gleicke, ist richtige und konstruktive Opposi-
tion. Sie haben sogar eine Formulierung aus unserem
Antrag gewählt. Dazu beglückwünsche ich Sie.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Joachim Günther [Plauen] [FDP])


Frau Gleicke, ich hoffe, dass Sie uns auch bei den weite-
ren Punkten folgen; denn der Stadtumbau kennt keine
Gewinner und keine Verlierer. Gelingt er nicht, saufen in
den neuen Bundesländern ganze Regionen ab!

Die Bundesregierung hat sich beim Stadtumbaupro-
gramm für eine Abwicklung nach den Regularien der
traditionellen städtebaulichen Erneuerung entschie-
den. Ob diese Entscheidung dem Problem des Stadtum-
baus gerecht wird, bezweifelt zumindest die unterneh-
merische Wohnungswirtschaft. Der Leerstandskongress
des GdW hat dies klar zum Ausdruck gebracht. Nach-
dem aber die Entscheidung gefallen ist, muss dafür
Sorge getragen werden, den Programmvollzug reibungs-
los abzusichern. Richtig Geld steht damit jedoch erst im
vierten Programmjahr zur Verfügung. Bis dahin gibt es
Verpflichtungsermächtigungen, aber wenig Kassenmit-
tel. Die Wohnungswirtschaft wird aber Wohnungen nur
dann abreißen, wenn tatsäc hlich Geld fließt, und zwar
schnell und ohne unnötige Papierchen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

Aus diesem Grunde haben wir im Freistaat Sachsen
seit zwei Jahren ein eigenes Landesabrissprogramm. Mit
diesem Programm wird für jährlich 25 Millionen Euro
nicht mehr benötigte W ohnungssubstanz abgerissen –
ohne Verwendungsnachweis, unbürokratisch, schnell,
70 Euro je Quadratmeter Wohnfläche.

Der Stadtumbau darf nicht als alleiniges Interesse der
Wohnungswirtschaft dastehen. Mit dem Stadtumbau
setzt sich eine Kommune mit ihrer derzeitigen Situation
auseinander und sucht nach Strukturen, die der künftigen
demographischen Entwicklung Rechnung tragen. Die
Wohnungswirtschaft hat natürlich ein ureigenes Inte-
resse, möglichst viele Miet er zu behalten. Aber der
Rückbau nicht mehr benötigter Wohnungssubstanz setzt
ein Freilenken von Wohnraum voraus.

Die derzeitige Rechtslage hingegen unterstützt kei-
neswegs das gezielte Freile nken von Wohnungen. Die
Urteile von Halle und Jena kommen nur in dem Fall zur
Anwendung, wenn einzelne Mieter das Auflösen ihres
Mietvertrages bis zum Schluss immer noch nicht akzep-
tieren wollen. Die W ohnungswirtschaft braucht eine
Kündigungsmöglichkeit bei stadtumbaubedingten Ab-
brüchen. Es ist nicht hinnehmbar , dass Einzelne den
Stadtumbau nach dem Motto verzögern: Wir warten auf
den goldenen Handschlag.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Joachim Günther [Plauen] [FDP])


Ich komme zu einem weiteren Punkt des vorliegenden
Antrages. Dazu möchte ich aus einer aktuellen Presse-
mitteilung zitieren:

Stadtumbau Ost – Hemmnisse und Hindernisse be-
seitigen. Zahlreichen ostdeutschen Wohnungsunter-
nehmen droht die Pleite. Zur Abwendung von In-
solvenzen kommen Fusionen der Unternehmer als
denkbare Alternative in Betracht. Diese dürfen
nicht durch 3,5 Prozent Grunderwerbsteuer er-
schwert oder praktisch unmöglich gemacht werden.
Hier besteht Reformbedarf.

Das sind nicht unsere Hilfst ruppen, sondern das ist eine
Meinung von Ihrer Seite, nä mlich vom Mieterbund. Sie
werden die Präsidentin kenn en, Anke Fuchs. Sie bestä-
tigt den Inhalt unserer Anträge. Der Stadtumbau kann
einzelne Eigentümer so stark tref fen, dass ihre Existenz
infrage gestellt wird. Fusionen sind deshalb dringend er-
forderlich. Aber die Bereitschaft zum Helfen wird natür-
lich nicht ziehen, wenn das aufstrebende Unternehmen
für seine finanziellen Bemü hungen zusätzlich mit der
Grunderwerbsteuer belastet wird. W ir reden dabei nicht
von Steuerausfällen. Bleibt es bei der derzeitigen Rechts-
lage, dann fallen Fusionen aus. Ich bin dem Freistaat
Sachsen dafür dankbar, dass er eine gleichlautende Bun-
desratsinitiative eingebracht hat. Meine Damen und Her-
ren, Sie haben am nächsten Freitag Gelegenheit, diese
im Bundesrat zu unterstützen.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Ich komme zum letzten Satz, Herr Präsident. Meine
Damen und Herren der rot-grünen Regierungspartei, for-
dern Sie mit uns gemeinsam die Bundesregierung auf,






(A) (C)



(B) (D)


Henry Nitzsche
im Sinne unseres Antrags Veränderungen beim Stadtum-
bau vorzunehmen. Je eher Sie sich unseren Forderungen
anschließen und diese umgesetzt werden, desto schneller
g
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1503717500
Nicht weil die
Dinge schwierig sind, wagen wir sie nicht, sondern weil
wir sie nicht wagen, sind sie so schwierig.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1503717600

Auch Ihnen, Herr Kollege Nitzsche, herzlichen

Glückwunsch zur ersten Rede im Deutschen Bundestag.
Alle guten Wünsche für die weitere Arbeit.


(Beifall)


Ich erteile das W ort dem Abgeordneten Ernst Kranz
für die SPD-Fraktion.


Ernst Kranz (SPD):
Rede ID: ID1503717700

Sehr geehrter Herr Präsident! V erehrte Kolleginnen

und Kollegen! Herr Nitzsche, wir sind uns darin einig,
dass die Situation der ostdeutschen Länder nach wie vor
unserer besonderen Aufmerks amkeit bedarf. Dies be-
trifft vor allem auch die Wohnungswirtschaft.

Neben den ganz Deutschlan d betreffenden sich än-
dernden demographischen, gesellschaftlichen und wirt-
schaftlichen Rahmenbedingungen ist die ostdeutsche
Wohnungswirtschaft nach wie vor durch eine dramati-
sche Höhe der W ohnungsleerstände geprägt. Die Leer-
stände haben historische und auch aktuelle Ursachen.
Diese sind zum einen die Wohnungspolitik zu Zeiten der
DDR, als Wohnungen in den Neubaugebieten, den Plat-
tenbausiedlungen, sehr begehrt waren und die Neubau-
gebiete fast die einzige Möglichkeit boten, eine Miet-
wohnung mit Komfort zu be kommen, ohne dafür selbst
sehr umständlich und mühsam durch Um- und Ausbau
sorgen zu müssen.

Ein weiterer schwerwiegender Fehler in der W oh-
nungspolitik bestand darin, dass der in den Innenstädten
vorhandene Altbauwohnungsbestand aufgrund der be-
grenzten finanziellen Möglichkeiten nicht saniert und
damit dem V erfall weitgehend preisgegeben wurde.
Nach der Wende versuchten deshalb viele Mieter, diese
beiden Wohnbereiche zu verlassen und sich entspre-
chend ihren finanziellen Möglichkeiten anderen bzw .
neuen Wohnraum zu suchen und zu schaffen.

Dies löste zu Beginn und in der Mitte der 90er -Jahre
die erste Auszugswelle aus den beiden gerade genannten
Wohnbereichen aus. Verstärkt wurde dies durch die bis
heute anhaltende Abwanderungswelle derjenigen, die in
den westlichen Bundesländern ihre größeren Zukunfts-
chancen sehen.

Gerade dieser Fakt führt uns am deutlichsten vor Au-
gen, in welch hohem Maße wi r auch weiterhin verstärkt
Verantwortung für die ostdeutschen Bundesländer wahr-
zunehmen haben. In der W ohnungspolitik hat deshalb
die Bundesregierung mit wohnungs- und städtebaupoliti-
schen Programmen und Fördermaßnahmen wichtige
Sanierungs- und Entwicklungsmaßnahmen eingeleitet.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Für die spezifischen Probleme der ostdeutschen
Städte und Kommunen ist da her primär das Programm
„Stadtumbau Ost“ konzipiert worden. Für den Stadtum-
bau Ost werden wir mit den Ländern und Gemeinden bis
2009 zusammen rund 2,7 Milliarden Euro bereitstellen.
Das Programm geht jedoch weit über die Bekämpfung
des reinen Wohnungsleerstandes hinaus. Darauf werde
ich im weiteren Teil meiner Rede noch eingehen.

Meine Damen und Herren von der CDU/CSU-Frak-
tion, es ist schon eine sehr kühne Unterstellung – die Sie
in Ihrem Antrag formuliert haben –, dass das Programm
„Stadtumbau Ost“ nicht wirke bzw . die Probleme nicht
lösen könne. 197 Kommunen wurden in das Programm
„Stadtumbau Ost“ im Jahr 2002 aufgenommen.


(Henry Nitzsche [CDU/CSU]: Und weiter?)


Sie erhalten vom Bund und den Ländern 153 Millionen
Euro für den Rückbau von mindestens 45 000 Wohnun-
gen. Bis Ende letzten Jahres wurden 75 Prozent der Bun-
desmittel und sogar 83 Prozent der Rückbaumittel abge-
rufen. Dieses Geld kann kurzfristig ausgegeben werden.

Zu einigen Themen im Antrag der CDU/CSU wurden
durch Minister Stolpe am 18. März zum 3. Leerstands-
kongress des GdW bereits Lösungen präsentiert. Deswe-
gen hinken Sie ein klein bisschen nach.

Gerade auf diesem Kongress wurde im Gegensatz zu
Ihren Ausführungen noch einmal deutlich, dass das Inte-
resse von Wohnungsunternehmen, Kommunen und der
Politik am Stadtumbau Ost stärker denn je ist.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Dr . Michael Luther [CDU/ CSU]: Das hat er auch nicht bestritten! Er hat doch nichts anderes gesagt!)


Niemand hat auf diesem Kongress bestritten, dass das
Programm „Stadtumbau Ost“ als gesamtgesellschaftli-
che Aufgabe ganz Deutschlands ein Kernelement des
Aufbaus Ost darstellt.

Der Minister führte des Weiteren aus, dass gerade das
Stadtumbauprogramm als ein lernendes Programm von
besonderer Qualität ist. Mit der V erwaltungsvereinba-
rung 2003 werden Anregungen zur V erbesserung des
Programms aufgenommen. Die Forderung, Rückbaumit-
tel – hören Sie genau zu! – als Komplementärmittel an-
zuerkennen, ist erfüllt.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Das war doch Ihre Forderung, nicht wahr?

Eine zeitgerechte Zurverfü gungstellung der Bundes-
mittel im Rahmen des Programms kann durch die Län-
der selbst entschieden beeinflusst werden. Es liegt an ih-
nen, eigene Fördermittel und Bundesmittel geschickt zu
bündeln und zeitnah mit mö glichst geringem bürokrati-
schen Aufwand an die betrof fenen Wohnungsunterneh-






(A) (C)



(B) (D)


Ernst Kranz
men weiterzuleiten. Denn di e Anträge laufen alle über
die Länder und nicht über den Bund.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Reinhard W eis [Stendal] [SPD]: Vielleicht ist es ja erfüllt, wenn wir den Antrag im Ausschuss beraten! Dann wird es vielleicht schon erledigt sein!)


Auch die von Ihnen angemahnte flexiblere Handha-
bung des Förderelements W ohneigentumsbildung im
Bestand wird im Rahmen der Verwaltungsvereinbarung
2003 zum Städtebaurecht einfacher und großzügiger ge-
staltet.


(Zuruf von der SPD: Sehr richtig!)


Eine weitere wichtige Änderung besteht darin, dass
die Länder ermächtigt werden, in der Startphase nicht
mehr wie bisher genau 50 Prozent, sondern mehr als
50 Prozent der Mittel für den Rückbau einzusetzen.


(Henry Nitzsche [CDU/CSU]: Das ist ja im Ausschuss gefordert worden!)


Dies entspricht zum Beispi el auch einer Forderung im
Antrag der FDP.

Bei der V ergabe der Fördermittel sollen die W oh-
nungsunternehmen bevorzugt werden, die Unterstützung
nach der Härtefallregelung beantragt haben; denn sie ha-
ben es am nötigsten. Es soll auch dafür gesor gt werden,
dass im Rahmen der V erwaltungsvereinbarung die Alt-
schuldenhilfe und der Stadtu mbau Ost wirksam mitein-
ander verzahnt werden können.

Zu begrüßen ist auch der Gesetzentwurf der neuen
Bundesländer – und zwar nicht nur Sachsens – zur
Grunderwerbsteuerbefreiung bei Fusionen von W oh-
nungsunternehmen und W ohnungsgenossenschaften in
den neuen Ländern für die Jahre 2004 bis 2006.

Das Programm „Stadtumbau Ost“ ist seit einem Jahr
in seiner Umsetzungsphase. Es hat sich sehr viel getan
und es ist bereits viel erre icht worden. Dies ist meiner
Meinung nach vor allem auch Resultat des vorgeschalte-
ten Wettbewerbs, als dessen Ergebnis die Stadtentwick-
lungskonzepte mit einem integrierten wohnungswirt-
schaftlichen Teil erstellt wurden.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Die Initiierung und Durchführung des Wettbewerbs zum
Stadtumbau Ost ist eines der besten Beispiele, wie Kom-
munen durch den Bund schnell, ef fektiv und unbürokra-
tisch in der für ihre Entwicklung notwendigen Grund-
satzarbeit unterstützt und angeregt werden können.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


261 Städte und Gemeinden haben Stadtentwicklungs-
konzepte mit einem integrie rten wohnungswirtschaft-
lichen Teil erarbeitet und eingereicht. Mehr als 300 hat-
ten sich zum W ettbewerb angemeldet. Die Qualität der
Arbeiten und Konzepte hängt selbstverständlich wie im-
mer von den handelnden Pe rsonen und ihrem Engage-
ment und dem Willen zur Mitarbeit ab.
Einige Probleme möchte ich noch kurz ansprechen.
Dabei geht es zum einen um die Zusammenarbeit und
Mitarbeit der Wohnungsgesellschaften selber. Sie sind
auf dem örtlichen W ohnungsmarkt Konkurrenten. Die
sie alle betreffenden Probleme können aber nur gemein-
sam gelöst werden. Das ist ei n Widerspruch in sich, den
es aber letztendlich in der Praxis zu lösen gilt. Hierbei
gibt es ein unterschiedlic hes Engagement. Für die Ge-
meinden ist es besonders schwierig, neben den hauptbe-
teiligten kommunalen Wohnungsunternehmen und den
Genossenschaften auch die privatwirtschaftlichen W oh-
nungsvermieter sowie Zwis chenerwerber und leider
auch die TLG in die Abstimmung einzubeziehen.

Ein wesentliches Hindernis für einen zügigen Pla-
nungsverlauf bilden auch Unklarheiten aufgrund be-
triebswirtschaftlicher und finanzieller Belastungen bzw .
der notwendige Ausgleich zwischen Wohnungsunterneh-
men beim Abbruch von W ohnungen oder beim Umbau
im Wohngebiet. Ich meine, das ist ein Aspekt, der bei der
Umsetzung dieser Konzepte gegenwärtig weiter große
Schwierigkeiten bereitet. Er findet zwar genügend Be-
achtung, muss aber noch verstärkt beachtet werden.

Genau diese Ursachen und Zeiterscheinungen werden
durch die Antwort der Thür inger Landesregierung auf
eine Große Anfrage der SPD bestätigt. Etwas kritikwür-
dig ist die nur sehr zögerliche und nur ansatzweise V er-
öffentlichung der konkreten Er gebnisse des W ettbe-
werbs. In Kürze soll es jedoch eine Dokumentation
geben, in der die 34 ausgezeichneten Konzepte präsen-
tiert werden sollen.

Sowohl das Programm „Stadtumbau Ost“ als auch die
vorliegenden Stadtentwicklungskonzepte der einzelnen
Städte und Gemeinden – das wurde schon betont – sind
nicht statisch. Das Programm wie die Konzepte müssen
ständig weiterentwickelt werden. So hat auch der
3. Leerstandskongress des GdW im letzten Monat einige
neue Tendenzen beraten und aufgezeigt. Wichtig war da-
bei der Hinweis, dass kleine re Städte nicht ver gessen
werden dürften und dass man sich nicht nur auf Städte
und Mittelzentren konzentrieren sollte.

Positiv und wichtig ist die Erkenntnis, dass gerade in
den kleinen Städten die Zusammenarbeit vor Ort funk-
tionieren muss. Es ist notwendig, Regionalkonzepte aus-
zuarbeiten, in denen auch wohnungswirtschaftliche Fra-
gen eine wichtige Rolle spie len; denn gerade in diesen
Bereichen ist ein Zusammenschluss von kleinen W oh-
nungsunternehmen oder als er ster Schritt eine gemein-
same Verwaltung wichtig für die weitere wirtschaftliche
Sanierung und Stabilisierung der Unternehmen.

Die Frage, wie die Wohnungsunternehmen mit dauer-
haftem Leerstand und abzureißenden W ohnungen von
den Altverbindlichkeiten en tlastet werden können, ist
nochmals ernsthaft zu prüfen; denn mit dem Abriss wird
de facto auch V ermögen der Gesellschaften vernichtet
und es bleiben oft nicht kurzfristig oder mittelfristig zu
verwertende Grundstücke übrig. Die Bundesregierung
hat im Rahmen der Haushaltsverhandlungen 2003 trotz
der Notwendigkeit zur Haushaltskonsolidierung die
Mittel für Härtefälle nach § 6 a des Altschuldenhilfe-






(A) (C)



(B) (D)


Ernst Kranz
Gesetzes um 300 Millionen Euro auf 658 Millionen Euro
aufgestockt.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Das ist ein sehr positives Zeichen für die Wohnungswirt-
schaft. Für das Haushaltsjahr 2004 werden vom Bundes-
ministerium für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen Mit-
tel in der gleichen Größenordnung beantragt. Damit
beweist der Bund, dass er sich der Situation der W oh-
nungsunternehmen in den neuen Ländern bewusst ist
und dass er, soweit es in seinen Möglichkeiten steht, im-
mer bereit ist, auf veränder te Bedarfslagen flexibel und
engagiert zu reagieren.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Die meisten Städte und Ge meinden der ostdeutschen
Bundesländer stehen mitten in einem neuartigen, tief
greifenden Wandel in ihrer Stadtentwicklung. Es geht
dabei nahezu ausschließlich um die Bewältigung vielfäl-
tiger demographischer, ökonomischer und struktureller
Prozesse. Wegen der Komplexität müssen wir besonders
darauf achten, dass das Programm „Stadtentwicklung
Ost“ nicht als reines Abrissprogramm gesehen wird bzw.
dazu verkommt. Auch Arch itektur und Baukultur müs-
sen in unserer Gesellschaft und im Stadtumbauprozess
einen höheren Stellenwert erhalten, damit sich das
Bauen bzw. das Umbauen in den ostdeutschen Städten
nicht nur auf technische und betriebswirtschaftliche As-
pekte beschränkt.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1503717800


Herr Kollege, denken Sie bitte an Ihre Redezeit.


Ernst Kranz (SPD):
Rede ID: ID1503717900


Jawohl, nur noch zwei Sätze.

Die sich wegen der ständigen Entwicklung der gesell-
schaftlichen Rahmenbedingungen wandelnden Anforde-
rungen an Stadt- und Gebäudestrukturen erfordern einen
permanenten Stadtumbau. Um die Stadtentwicklung Ost
auch weiterhin erfolgreich fortzuführen und als echte
Stadtentwicklung auch wirksam werden zu lassen, gilt es
noch einige wichtige Rahm enbedingungen zu verbes-
sern. Die Kommunen, in denen zum größten T eil erar-
beitete Stadtentwicklungskonzepte vorliegen, die aber
ständig an die aktuellen Entwicklungen angepasst wer-
den müssen, sind aufgrund ihrer extrem angespannten
Haushalte nur eingeschränkt handlungsfähig. V iele
Kommunen können ihren Anteil an der Finanzierung der
Aufwertungsmaßnahmen nicht oder nur eingeschränkt
aufbringen. Hier ist die Verknüpfung verschiedener Pro-
gramme auf Bundes- und Landesebene notwendig.

Auch über die von mir schon angesprochene Alt-
schuldenhilfe muss noch einmal diskutiert werden.

Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1503718000

Herr Kollege, diese können Sie nun wirklich nicht ein

zweites Mal ansprechen.


(Heiterkeit)



Ernst Kranz (SPD):
Rede ID: ID1503718100

Alles klar. Noch zwei Sätze:


(Heiterkeit)


Die Wohnungsunternehmen brauchen Rechtssicherheit
bei den Grundstücken. Ich verweise in diesem Zusam-
menhang nur auf die Proble matik des Wiederauflebens
alter Ansprüche.


Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1503718200

Herr Kollege, Sie haben ein außer gewöhnlich gnädi-

ges Präsidium. Nur, nach der Ankündigung eines letzten
Satzes und nach fünf weiteren Sätzen nun die beiden ab-
schließenden anzukündigen ist schon ein bisschen
forsch.


Ernst Kranz (SPD):
Rede ID: ID1503718300

Vielen Dank, Herr Präsident.
Ich schließe ab:


(Heiterkeit)


Die erfolgreiche Fortsetzung des Stadtumbaus Ost ver-
langt auch in Zukunft von uns allen wichtige politische
Entscheidungen, die diesen Prozess begünstigen und
weiterhin befördern.

Vielen Dank, Herr Präsident, für die Nachsicht.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1503718400

Herr Kollege, das war auch Ihre erste Rede im Deut-

schen Bundestag. Ich habe eine grobe Erinnerung daran,
dass auch ich hier einmal ei ne erste Rede gehalten habe
und dass es einfachere Übungen als diese gibt, vor allen
Dingen, was die Gnadenlosi gkeit des Zeitmanagements
angeht. Deswegen bitte ich um Nachsicht für ein gewis-
ses Maß an unvermeidlicher Intervention. Vonseiten des
Präsidiums alle guten Wünsche für die Arbeit.

Nun hat das W ort der Kollege Joachim Günther für
die FDP-Fraktion.


Joachim Günther (FDP):
Rede ID: ID1503718500

Herr Präsident! Meine se hr verehrten Damen und

Herren! Ich glaube, dass wir in der Analyse des Berei-
ches Stadtentwicklung, Stadtumbau, fraktionsübergrei-
fend im Wesentlichen übereinstimmen. Im Osten gibt es
1,3 Millionen leer stehende Wohnungen. Mit anderen
Worten – vielleicht kann sich der eine oder andere das so
besser vorstellen –: Jede sechste W ohnung dort steht
leer.


(Werner Kuhn [Zingst] [CDU/CSU]: Man kann ja mal abzählen!)







(A) (C)



(B) (D)


Joachim Günther (Plauen)

Meine beiden Vorredner haben einige wesentliche Ur-
sachen dafür genannt, dass jede sechste W ohnung leer
steht. Meiner Ansicht nach – ich sage das, obwohl es
hier um Wohnungsbau geht – sind die fehlenden Arbeits-
plätze in den neuen Bundesländern die Hauptursache für
den dortigen Wohnungsleerstand. Wenn wir dieses Pro-
blem nicht lösen, dann brau chen wir über andere Pro-
bleme, zum Beispiel Abwanderung – es geht vor allem
um den Wegzug der jungen Generation –, nicht mehr zu
sprechen.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Im Zusammenhang mit dem W egzug der jungen Ge-
neration – auch das war ein Thema der Vorredner – muss
man über die Geburtenrate in Ostdeutschland reflektie-
ren. Sie ist entschieden nied riger als in den alten Bun-
desländern. Wer einer Statistik – Statistiken sind immer
mit Vorsicht zu genießen – glaubt, der weiß, dass sich
der Umfang der Bevölkerung im Osten bis zum Jahr
2050 doppelt so schnell wie in den alten Bundesländern
zurückentwickeln wird. Vor dieser Situation stehen wir.

Angesichts dessen gilt es, das Übel an seiner W urzel
zu packen. Dieses Übel sind die fehlenden Reformen in
der Wirtschafts- und in der Arbeitsmarktpolitik. W enn
diese Reformen nicht erfo lgreich umgesetzt werden,
dann können wir noch so oft und noch so viel über Städ-
teplanung sprechen, ohne dass es etwas bringt. V erlan-
gen Sie doch von einem Stadtplaner einmal, über eine
Stadt zu sprechen, deren Abwanderungsraten so hoch
wie die von Halle-Neustadt oder Hoyerswerda – davon
war zuvor die Rede – sind! Was soll ein solcher Stadtpla-
ner denn für einen Zeitraum von 20 Jahren planen? Dazu
ist er im Endeffekt gar nicht in der Lage.

Heute geht es darum, wie wir auf die große Anzahl an
Leerständen von W ohnungen von Gesellschaften, Ge-
nossenschaften, aber auch von vielen Privateigentümern
im Endeffekt so reagieren, dass diesen geholfen wird.
Die Anträge von CDU/CSU und FDP enthalten dazu
meines Erachtens viele Ansätze, die ich hier nicht wie-
derholen muss.

Ich unterstütze ausdrücklich das, was Herr Stolpe auf
dem 3. Leerstandskongress in Halle gesagt hat: Der
Stadtumbau Ost ist eine wichtige Voraussetzung für den
Aufbau Ost insgesamt.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des Abg. Reinhard W eis [Stendal] [SPD])


Auf dieser Grundlage muss man auf der einen Seite die
Lösung des Problems des Üb erangebots, also der Leer-
stände, angehen und auf der anderen Seite dafür sorgen,
dass nicht ganze Landstri che verschwinden. Ich habe
langsam das Gefühl, dass dies in Hoyerswerda der Fall
ist.

Wir müssen die Probleme also gesamtgesellschaftlich
betrachten. Wir müssen denjenigen Gesellschaften, Un-
ternehmen und Privateigentümern helfen, die aufgrund
fehlender Ertragskraft nicht mehr in der Lage sind, die
nötigen Investitionen vorzun ehmen. Schon jetzt ist die
Bauindustrie sehr gebeutelt; viele, die dort beschäftigt
waren, stehen auf der Straße und warten darauf, dass sie
wieder in Arbeit kommen.

Frau Staatssekretärin, das P ositive am P rogramm
„Stadtumbau Ost“ ist, dass die Anzahl der Städte, die un-
ter einem gewissen Druck – anders kann man das nicht
bezeichnen – endlich ein Stadtentwicklungskonzept er-
arbeitet haben, groß ist. V iele Städte haben versucht, in
dieser Richtung voranzuko mmen, und sie haben zum
Teil bis zum Jahr 2030 geplant. Das sind positive Ergeb-
nisse dieses Programms.

Dieses Programm könnte noch zu einem anderen Pro-
blem führen – Stichwort „wohnungspolitische Gerech-
tigkeit“, wenn es so etwas überhaupt gibt –, nämlich zum
Mikadoeffekt. Wir müssen dafür sorgen, dass diejenigen
Unternehmen, die ihre Wohnungen als erste vom Markt
nehmen, hierfür nicht bestra ft werden und diejenigen
Unternehmen, die damit länger warten, davon profitie-
ren. Das stellt zumindest ein Problem dar . Vielleicht
kann man es in Form eines Lastenausgleichs lösen; wir
können im Ausschuss gern darüber sprechen.

Mit den heute vor gelegten Anträgen werben wir da-
für, dass eine flexiblere Gestaltung bei der Inanspruch-
nahme der Fördermittel ermöglicht wird, dass man sich
etwas vom klassischen Finanzierungsmodus entfernt und
dass starre Aufteilungen aufgeknackt werden, ohne dass
man mit starren Prozentzahlen arbeitet. Die Menschen
vor Ort können am besten en tscheiden, wer auf Abriss,
auf Stadtsanierung und auf Stadtumbau setzen sollte.
Wir müssen drohende Insolvenzen verhindern. Das be-
deutet die Mitarbeit der Bu ndesländer. Deshalb werden
wir auch den Antrag der Bundesländer auf Entlastung
von Altschulden unterstützen. Auch hier können wir si-
cherlich noch darüber reden, wie wir einen Schritt wei-
terkommen.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Die FDP wird sich auf jeden Fall strikt dafür einset-
zen, dass die privaten Hauseigentümer, die schon den Os-
ten überstanden haben, nicht wieder die Leidtragenden
sind, dass also auch andere Themen wie die W iederein-
führung der Vermögensteuer, die Änderung der Bemes-
sungsgrundlage und die Erbschaft- und Schenkungsteuer
aufgegriffen werden. Ich hoffe, wir werden im Ausschuss
eine interessante Diskussion darüber führen und dann zu
schnellem und flexiblem Handeln kommen. W enn ich
Sie alle richtig verstanden habe, sind wir uns einig. Wenn
wir den Bürokraten eine Absage erteilen, kommen wir
auch voran.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1503718600

Ich erteile das Wort dem Abgeordneten Peter Hettlich,

Bündnis 90/Die Grünen.


Peter Hettlich (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1503718700

Sehr geehrter Herr P räsident! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! In der Beschreibung der Situation sind wir uns
einig. Der Wohnungsleerstand in den neuen Ländern von






(A) (C)



(B) (D)


Peter Hettlich
circa 1,3 Millionen Wohnungen bedroht nicht nur W oh-
nungsunternehmen und -genossenschaften, sondern auch
private Haus- und W ohnungseigentümer in ihrer Exis-
tenz. An dieser Stelle erinne re ich daran, dass auch im
Gewerbe- und Bürobau erhebliche Leerstände auf den
Markt und die Mietpreise drücken. So gibt es allein in
Leipzig immer noch über 800 000 Quadratmeter unver-
mieteten Büroraum.

Die Ursache hierfür liegt ei nzig und allein in dem
enormen Überangebot auf den Immobilienmärkten seit
Mitte der 90er-Jahre. Bei den Wohnungen liegt die Ursa-
che interessanterweise noch nicht an der demographi-
schen Entwicklung und de m Wegzug vieler junger
Leute; denn sowohl die Anzahl der Haushalte als auch
die durchschnittliche W ohnfläche je Einwohner sind
zum Beispiel in Sachsen in den letzten Jahren immer
noch gestiegen, was ja eige ntlich zu einer Entspannung
auf dem Wohnungsmarkt hätte führen müssen. Diese ist
aber nicht eingetreten.

Die verfehlte, weil bedarfsunabhängige Förderpolitik
der Kohl-Regierung führte dazu, dass immer mehr sa-
nierte und vor allen Dingen neu gebaute Wohnungen auf
den Markt geworfen wurden.


(Dr. Michael Luther [CDU/CSU]: Das ist falsch!)


– Ich habe es ja selbst mitgemacht. –


(Lachen bei der CDU/CSU)


Die ersten Leidtragenden waren die kommunalen W oh-
nungsbaugesellschaften und -genossenschaften; denn in
ihren Beständen befand sich der Wohnraum mit schlech-
ter Grundsubstanz, dazu noch an marginalen Standorten.
Sie hatten das Problem, dass sie im Wettbewerb mit den
besseren Wohnlagen nur den Kürzeren ziehen konnten.

Dass zudem auch private Haus- und Wohnungseigen-
tümer in Schwierigkeiten ge raten würden, war nur eine
Frage der Zeit. Mancher hatte nämlich die 50-prozentige
Sonderabschreibung gern mitgenommen, dann aber ent-
gegen allen guten Ratschlägen mit Kaltmieten zwischen
15 und 16 DM je Quadratmeter kalkuliert. Für mich ist bis
heute nicht nachvollziehbar, wie man von den Bürgerin-
nen und Bürgern in den neuen Bundesländern erwarten
konnte, dass sie bei Einkommen Ost Mieten West bezah-
len sollten. Für derartiges wirtschaftliches Fehlverhalten
ist die Verantwortung bei diesen Menschen zu suchen. Ich
bin auch der Meinung, dass sie daraus die Konsequenzen
selbst zu tragen haben.

Aufgrund der Befristung der Sonderabschreibungen
konnte ja gar nicht schnel l genug gebaut werden, was
dazu führte, dass der Aufschwung der Bauwirtschaft im
Osten nur über eine kurzfristige Ausweitung der heimi-
schen Kapazitäten und eine erhebliche Auftragsver gabe
an Westfirmen erfolgte. Schon seit Jahren ist im Osten
im Baugewerbe nichts mehr zu holen und die W estfir-
men sind schon lange wieder zu Hause. Aber der heimi-
schen Bauwirtschaft hat man in Sachsen dann noch vor-
geworfen, sie sei schuld an den Überkapazitäten. An
einem weiteren Abbau der Überkapazitäten werden wir
gar nicht vorbeikommen. Ich kann jedenfalls im Augen-
blick keine andere Lösung erkennen. Wir können diesen
Abbau allenfalls durch gezielte Fördermaßnahmen zum
Beispiel im Rahmen der Altbausanierungsprogramme
abmildern.

Angesichts dessen frage ich mich allerdings, warum sich
die verehrten Kolleginnen und Kollegen der CDU/CSU
und der FDP so vehement ge gen die geplante Änderung
der Eigenheimzulage wehren. Gerade dadurch nehmen
wir einen Druck vom Wohnungsmarkt, werten insbeson-
dere die Bestandserhaltung auf und entlasten zusätzlich
noch die Haushalte der Länder und Kommunen. Die
Kommunen können mit den dadurch eingesparten Gel-
dern wieder entsprechende Maßnahmen durchführen.
Das hat offensichtlich auch der sächsische Ministerpräsi-
dent Milbradt erkannt. Er sagte vor einigen Tagen in der
Presse, dass er im Bereic h der Eigenheimzulage Ände-
rungsbedarf sehe.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der SPD)


Die Maßnahmen im Rahmen des Stadtumbaus Ost
und die Altschuldenhilfe leisten einen unverzichtba-
ren und erheblichen Beitrag zur Marktentlastung sowie
zur Erhaltung der Wohnungsbauunternehmen und -ge-
nossenschaften und erhalten zudem dringend benötigte
Arbeitsplätze im Baugewerbe. Auch wenn in 2002
noch nicht die angepeilten 40 000 Wohnungen vom
Markt genommen werden konnten, so werden wir die-
ses Ziel in diesem Jahr sicherlich erreichen und viel-
leicht sogar übertref fen. In den nächsten acht Jahren
werden wir – wie angestrebt – 350 000 Wohnungen
vom Markt nehmen.

Es gibt nichts, was man nicht noch verbessern könnte.
Im Antrag der Kolleginnen u nd Kollegen gibt es durch-
aus Punkte, über die wir uns unterhalten können. Das ha-
ben Sie eben vor geschlagen, Herr Günther , und ich
stimme Ihnen hier auf jeden Fall zu.

Meine persönlichen Erfahrungen mit Verwaltungs-
vorschriften haben gezeigt, dass diese nicht unbedingt
mit den Zielen der ihnen zugrunde liegenden Gesetze
deckungsgleich sind. Dies gilt sowohl für den Bund als
auch für die Länder . Ich erinnere mich noch an das
Aufbaubeschleunigungsgesetz in Sachsen von 1994 als
eine Fortschreibung der damaligen Landesbauord-
nung. Die Verwaltungsvorschrift war viel dicker als das
Gesetz und konterkarierte viele der guten Intentionen
des damaligen Aufbaubeschleunigungsgesetzes. Daher
sollten Schwachstellen durchaus genannt und gegebe-
nenfalls bereinigt werden. In dieser Hinsicht sind wir
für Vorschläge sehr offen.

Wir sollten uns Gedanken darüber machen, ob und
wie wir parallel zum Rückbau der Wohnungen auch den
Rückbau der kommunalen Infrastruktur finanzieren. Wir
müssen uns wirklich Gedanken machen in Bezug auf die
Bereiche Gas, Wasser, Abwasser und Fernwärme. Dort
gibt es gewaltige Probleme.


(Henry Nitzsche [CDU/CSU]: Das steht im Auswertungsteil!)







(A) (C)



(B) (D)


Peter Hettlich
– Ich wollte nur darauf hinweisen, dass wir dazu wirk-
lich Überlegungen anstellen müssen. Es steht im Aus-
wertungsteil, aber nicht in dem anderen Teil. Über dieses
Thema müssen wir uns einfach einmal unterhalten. Das
ist ein großes Problem.

Wir haben noch eine ganze Menge zu tun. Die rot-
grüne Regierungskoalition ha t die ersten und richtigen
großen Schritte gemacht. Es liegt an Ihnen, ob Sie uns
bei diesem Handeln weiterhin unterstützen. Dazu stehe
ich Ihnen gern zur Verfügung.

Danke schön.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1503718800

Nächster Redner ist Kolle ge Manfred Grund, CDU/

CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Manfred Grund (CDU):
Rede ID: ID1503718900

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Der Stadtumbau Ost braucht einen langen Atem.
Das haben wir nicht nur an der Rede des Kollegen Ernst
Kranz gemerkt. Kollege Kranz, glauben Sie uns: Auch
uns ist am Gelingen des Stadtumbaus Ost gelegen. Wenn
er allerdings gelingen soll, dann muss er wesentlich
schneller, effizienter und besser werden.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Ein Gelingen des Stadtumbaus Ost setzt einen Struktur-
wandel in der ostdeutschen Wohnungswirtschaft voraus,
weil 1,3 Millionen leer stehende W ohnungen bedeuten,
dass Angebot und Nachfrage auf dem Immobilienmarkt
einander überhaupt nicht entsprechen.

Wenn wir analysieren, warum der notwendige Struk-
turwandel in der Wohnungswirtschaft bislang noch nicht
geklappt hat, dann stellen wir fest: Wir haben einerseits
strukturell bedingte Leerstände, also Leerstände auf-
grund struktureller Probleme in der V ergangenheit. An-
dererseits versuchen wir vonseiten der Politik zum T eil
ein bisschen halbherzig, diesen Prozess mit Programmen
zu begleiten.

Alle vorhandenen Programme, die wir auch akzeptie-
ren und anerkennen, schieben diesen Strukturwandel an.
Solange wir jedoch keine se lbstständig handelnden Ak-
teure am ostdeutschen Wohnungsmarkt haben, geht das
Ganze etwas ins Leere. Ich werbe daher nicht nur für un-
seren Antrag, sondern auch für das, was ich dann noch
im Einzelnen vortragen möchte: dass wir versuchen,
selbstständig handelnde Akteure am W ohnungsmarkt in
den neuen Bundesländern zu bekommen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Warum ist ein schnellerer , besserer und ef fizienterer
Stadtumbau Ost so wichtig für den Aufbau Ost? W ir
sprechen sehr viel von den weichen Standortbedingun-
gen. Dazu gehören natürlich das W ohnumfeld und das
Vorhandensein von Städten, in denen man sich wohlfühlt
und angenommen fühlt, aus denen man nicht gern weg-
geht, sondern von denen man sagt, das ist meine Heimat,
hier möchte ich bleiben. Aufwertung der Städte, verbes-
serte Lebensqualität und damit verbesserte Standortbe-
dingungen sind nicht nur fü r den Stadtumbau Ost, son-
dern für den Aufschwung Ost insgesamt sehr wichtig.
Deswegen wurde dieses Thema auch im 13. Jahr der
deutschen Einheit zu dieser späten Stunde noch einmal
auf die Tagesordnung gesetzt. Ich glaube, wir sind gut
beraten, weiter an diesem Thema dranzubleiben.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Ich möchte etwas zu den Akteuren sagen, die wir vor-
finden, so etwa Stadtplane r und Kommunen. Sie allein
können die Verbesserung der Standortstrukturen in den
neuen Bundesländern nicht aus eigener Kraft leisten. Sie
bemühen sich, viele auch mit sichtbaren Erfolgen. Dort,
wo sie erfolgreich arbeiten, merken wir: Wirtschaft und
Infrastruktur kumulieren um diese lebenswerten Städte
herum und der Wegzug hält sich in Grenzen. V on dort,
wo strukturelle Probleme vorhanden sind, wo es nicht
gelingt, sie aus eigenen Kräf ten zu lösen, ziehen die
Menschen weg. Die Probleme, die sie dann hinterlassen,
sind wesentlich größer. Jetzt können wir als Bund und
Länder noch einigermaßen ha ndeln und versuchen eini-
ges anzupacken.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Ich möchte in diesem Zu sammenhang etwas zu den
Wohnungsbaugesellschaften und zu den Wohnungs-
baugenossenschaften sagen. Diese haben noch keine
marktfähigen Strukturen gefunden. Sie sind noch nicht
zu handlungsfähigen Akte uren geworden. Bei einem
Leerstand von zum T eil 30 Prozent werden wir wohl
auch über Fusionen nachdenken müssen, damit diese
Wohnungsbaugesellschaften und W ohnungsbaugenos-
senschaften zu wirklich ha ndlungsfähigen Akteuren
werden.

Das Problem dabei ist folgendes: Wenn sich zwei Ge-
sellschaften dieser Art zu sammenschließen, müssen sie
Grunderwerbsteuer zahlen und genau das verhindert
solche Zusammenschlüsse. Die Grunderwerbsteuer kann
pro Quadratmeter Wohnfläche durchaus bei 15 Euro lie-
gen. Das summiert sich zu einer Größenordnung, die sol-
che Gesellschaften oder Genossenschaften allein nicht
tragen können.

Die Lösung wäre aus unserer Sicht eine befristete Be-
freiung von der Pflicht zu r Zahlung der Grunderwerb-
steuer. Da die neuen Bundeslä nder das nicht selbst re-
geln können, haben wir da s zum Gegenstand unseres
Antrags gemacht. Wir werben für eine solche Öffnungs-
oder Experimentierklausel. Das kostet nicht großartig
Geld. Das hält sich alles in Grenzen. Wir wollen keine
Steuererleichterungen schaffen und auch nicht wesent-
lich mehr Geld hineingeben, sondern durch den befriste-
ten Verzicht auf die Erhebung der Grunderwerbsteuer
wirklich nur die Möglichkeit schaf fen, dass sich zwei
Genossenschaften oder Gesellschaften zusammenschlie-
ßen, damit sie effizienter werden, größere Strukturen be-
kommen, einen höheren W ohnungsbestand verwalten
und das Management qualifizieren können.






(A) (C)



(B) (D)


Manfred Grund

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Ich habe bewusst von einer Experimentierklausel
gesprochen. Das ist etwas, was die Bundesregierung, na-
mentlich Bundesminister Stolpe und Bundesminister
Clement, in den letzten Wochen sehr oft an uns herange-
tragen und auch in die Öf fentlichkeit gebracht hat, ohne
es allerdings im Detail zu unterlegen. Ich werbe dafür ,
dass wir die Möglichkeit bekommen, in den neuen Bun-
desländern zeitlich befristet von der Erhebung der
Grunderwerbsteuer abzusehen, damit es uns gelingt, in
diesem Bereich Fusionen voranzutreiben, damit wir das,
was ich bereits aufgezählt habe, erreichen: zum Beispiel
überzähligen Wohnraum vom Markt nehmen, leistungs-
schwache Wohnungsunternehmen von Risiken befreien,
die letztlich auf die Kommunen, Städte und Gemeinden
durchschlagen, die ohnehin große finanzielle Probleme
haben, oder auch auf diejenigen, die Kredite ausgereicht
haben, nämlich Sparkassen und Genossenschaftsbanken.
Von daher werbe ich für diesen Vorschlag.

Ich denke, dass die Stabil isierung der ostdeutschen
Wohnungsunternehmen auch zu einem Stück mehr Nor-
malität in Ostdeutschland beitragen kann. Deswegen
sollte uns allen daran gelegen sein, mit diesem Antrag,
der von der Union gestellt worden ist, oder auch mit dem
von der FDP oder gar mit einem gemeinsamen weiterzu-
kommen. Wir sind da im Interesse der neuen Bundeslän-
der sehr offen.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1503719000


Der Kollege Grund hat von der Zeitüberschreitung
zweieinhalb Minuten wieder hereingeholt. Das ist von
einem Parlamentarischen Geschäftsführer vorbildlich.
Dafür möchte ich mich bedanken.


(Beifall)


Mit einer leichten Erwartung im Hinterkopf erteile ich
nun der Parlamentarischen Staa tssekretärin Iris Gleicke
das Wort.


(Manfred Grund [CDU/CSU]: Sie muss nur Ja sagen, dann ist alles gut!)


I
Iris Gleicke (SPD):
Rede ID: ID1503719100


Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen
und Kollegen! W ir alle wissen: Die Ursachen für die
Wohnungsleerstände im Osten sind vielfältig. Es geht
darum, dass unbewohnbare Wohnungen, die noch aus
DDR-Zeiten stammen, vorhanden sind. Es geht auch da-
rum, dass Menschen abgewa ndert, der Arbeit hinterher-
gezogen sind. Es geht darum, dass Stadt-Umland-W an-
derungen stattgefunden haben und viele Neubaugebiete
entstanden sind. Es geht na türlich auch darum – das ge-
hört zur Wahrheit dazu –, dass es eine viel zu lange wäh-
rende sehr üppige steuerliche Förderung für den Neubau
gegeben hat.
Unsere Antwort auf die Le erstandskrise im Osten
heißt: Stadtumbau Ost. Wir wollen den notwendigen
Rückbau von Wohnungen nutzen, um die Städte aufzu-
werten, um sie attraktiver zu machen und um sie als
Wohn- und Wirtschaftsstandorte nachhaltig zu stärken.


(Beifall des Abg. Reinhard Weis [Stendal] [SPD])


Wir müssen verhindern, dass der Leerstand selbst Ursa-
che für weitere Abwanderung wird. Es geht also um
mehr Lebensqualität. Es geht – ich glaube, da sind wir
uns einig – um viel mehr als nur um die Marktbereini-
gung zugunsten der Wohnungswirtschaft.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Das Programm „Stadtumbau Ost“ ist jetzt ein Jahr alt.
In den letzten Wochen hat es manch harsche Kritik gege-
ben. Sehr geehrter Herr Kolle ge Nitzsche, ich halte Ihre
Kritik, die Sie hier geäußert haben, für überzogen. Sie ist
in einigen Punkten auch sc hlichtweg falsch. Es stimmt
nämlich einfach nicht, dass die Leerstände trotz des Pro-
gramms „Stadtumbau Ost“ angewachsen sind. Das ist
einfach nicht wahr. Das sagt auch der GdW.

Trotzdem begrüßen wir selbstverständlich, dass Sie
einen Antrag vor gelegt haben, denn das gibt uns die
Chance, im Ausschuss weiter über den Stadtumbau zu
reden und die Diskussionen zu versachlichen. Ich darf
mich auch ausdrücklich, Herr Kollege Günther , bei der
FDP bedanken, die gestern m it ihrem Antrag schon zur
Versachlichung beigetragen hat. Der FDP-Antrag unter-
streicht nämlich die Notwendigkeit des Programms
„Stadtumbau Ost“.


(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der FDP)


Meine Damen und Herren von der Opposition, wir
haben ja schon die meisten Ihrer Forderungen erfüllt.


(Henry Nitzsche [CDU/CSU]: So?)


Ich möchte hier dazu einiges anmerken: Wir haben es er-
möglicht, dass die Bundesmittel für den Rückbau bzw .
für den Abriss auf den nach den Härtefallregeln in § 6 a
des Altschuldenhilfe-Gesetzes erforderlichen Landesbei-
trag anrechnungsfähig sind.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Trotz aller Sparanstrengungen haben wir für diese Härte-
fallregelung 300 Millionen Euro zusätzlich zur V erfü-
gung gestellt; das ist fast eine Verdopplung. Es stehen
jetzt 658 Millionen Euro für Härtefälle zur V erfügung.
Dieser Beitrag wird auch der Wohnungswirtschaft hel-
fen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Wir wissen selber, dass die Förderung von Wohnei-
gentum im Bestand im Rahmen des Programms „Stadt-
umbau Ost“ nicht gut vorangekommen ist. Deshalb wer-
den wir hier V ereinfachungen vornehmen: W ir heben






(A) (C)



(B) (D)


Parl. Staatssekretärin Iris Gleicke
einige Beschränkungen auf und wollen eine pauscha-
lierte Förderung einführen.


(Henry Nitzsche [CDU/CSU]: Das haben wir ja vorgeschlagen!)


Auch das wird dazu führen, dass sich zunehmend Er-
folge einstellen werden. Außerdem ermöglichen wir den
Ländern, mehr als 50 Prozent der Mittel für den Rück-
bau einzusetzen. Wir sind der Meinung, dass auch dieses
dazu führt, dass der Abriss schneller vonstatten geht.


(Henry Nitzsche [CDU/CSU]: Das war unsere Forderung im Ausschuss!)


Das alles zeigt, dass es Ihrer Forderung eigentlich gar
nicht bedurft hätte. Wir beobachten die Wirkung unseres
Programms selbstverständlich sehr genau. W ir haben
von Anfang an gesagt, dass wir ein „lernendes Pro-
gramm“ wollten; das ist es auch.


(Dr. Michael Luther [CDU/CSU]: Wir freuen uns, dass Sie uns folgen!)


Dieses Programm existiert – ich sage es noch einmal,
Herr Kollege Nitzsche – erst seit einem Jahr und wir ha-
ben damit Neuland betreten, denn Abriss war vorher nie
ein Thema für uns. Wir haben hier dennoch viel erreicht.
Ich habe zwar nichts gegen Kritik, aber es är gert mich
dann doch, wenn sich jemand hierher stellt und das
ganze Programm locker floc kig als Flop bezeichnet;
denn der zieht damit auch die Arbeit der Kommunen, der
Stadtplaner und der W ohnungsunternehmen in den
Dreck.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Meine Damen und Herren, ich bleibe dabei: W ir ha-
ben mit der ersten Etappe einiges erreicht. Herr Kollege
Kranz hat schon den W ettbewerb und die vielen Stadt-
umbaukonzepte angesprochen, die entwickelt worden
sind und einen W eg zum Stadtumbau im Osten aufzei-
gen, denn ohne Zielbestimmung einen Weg zu beschrei-
ten ist nicht möglich. Wir wollten ja nicht frei nach dem
Motto agieren: Wir bauen auf und reißen nieder , Arbeit
gibt es immer wieder . Gemäß diesem alten S pruch aus
DDR-Zeiten wollten wir die Sa che nicht angehen. Inso-
fern sind integrierte Konzepte wichtig. Mit dem W ett-
bewerb „Stadtumbau Ost“ haben wir 260 Kommunen
sozusagen angefeuert, solche Konzepte zu erstellen. Die
Auszeichnungen zeigen, dass hi er sehr erfolgreiche Ar-
beit geleistet wurde. Es ist nun nicht fair, sich hinzustel-
len und zu sagen: Jetzt sind die Konzepte da, aber wa-
rum sind sie noch nicht umgesetzt? – Liebe Leute, es
dauert einfach eine Weile. Natürlich haben wir hier eine
Aufgabe zu bewältigen, die längere Zeit in Anspruch
nimmt.

Wir haben das Programm sehr zügig umgesetzt.
197 Gemeinden wurden in das Stadtumbauprogramm
2002 aufgenommen; sie erhalten von Bund und Ländern
153 Millionen Euro für den Rückbau von mindestens
45 000 Wohnungen. Das ist übrigens etwas mehr als ein
Achtel der 350 000 abzureißenden Wohnungen. Somit
liegen wir vollständig im Plan, da wir in diesem Jahr ein
Achtel abreißen und das Programm auf acht Jahre ange-
legt ist. Wer kann denn vor diesem Hintergrund behaup-
ten, dass der Stadtumbau nicht in Gang käme? Er kommt
in Gang und das ist auch gut so.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Wir gehen darüber hinaus davon aus, dass mit zuneh-
mender Abarbeitung auch der Abriss billiger wird, weil
man neue T echnologien finden wird. Auf dem Leer-
standskongress, den Sie angesprochen haben, gab es
durchaus interessante Beiträg e, in denen erläutert wor-
den ist, wie man auch billig er abreißen kann. Insofern
gehen wir davon aus, dass im V erlauf des Vollzugs die-
ses Programms immer mehr W ohnungen abgerissen
werden können.

Neben den Punkten, die wir schon abgearbeitet haben
– zum Beispiel die Bevorz ugung der Wohnungsunter-
nehmen bei der V ergabe von Abrissmitteln, die Härte-
fallmittel in Anspruch nehmen, oder dass wir uns nicht
mehr so eng auf Förder gebiete begrenzen, sondern im
Einzelfall auch woanders ei nen Abriss ermöglichen –,
will ich hier sehr deutlich sagen: W ir werden Lösungen
finden, die verhindern, dass die Bereitstellung der Kas-
senmittel in Jahresraten den Rückbau unnötig verzögert.
Wir prüfen derzeit gemeinsam mit den Ländern, wie wir
das Problem lösen können, ohne die öf fentlichen Haus-
halte zusätzlich zu belasten. Wir wollen praktikable Zwi-
schenfinanzierungen ermöglichen. Ich denke, das ist
ganz wichtig; die Wohnungswirtschaft braucht das. Wir
kommen da auch gut voran.

Meine Damen und Herren, ich bitte Sie wirklich ganz
herzlich, den Stadtumbau mit uns gemeinsam als Chance
zu nutzen und sich dem Th ema sachlich zu nähern.
Ebenso herzlich bitte ich Sie, mit der gleichen Vehemenz
auch die anderen Akteure, nämlich die Länder und Kom-
munen, aufzufordern, sich dem Stadtumbau zu widmen,
sodass wir vorankommen.


(Henry Nitzsche [CDU/CSU]: Das machen wir!)


Schönen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1503719200


Ich schließe die Aussprache.

Interfraktionell wird Überweisung der V orlagen auf
den Drucksachen 15/352 und 15/750 an die in der Tages-
ordnung aufgeführten Ausschüsse vor geschlagen. Sind
Sie damit einverstanden? – Das ist of fensichtlich der
Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.

Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 11 auf:

Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für wirtschaftliche Zu-
sammenarbeit und Entwicklung (18. Ausschuss)


– zu dem Antrag der Abgeordneten
Dr. Christian Ruck, Dr . Friedbert Pflüger,






(A) (C)



(B) (D)


Vizepräsident Dr. Norbert Lammert
Hermann Gröhe, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der CDU/CSU

Gegen Terror, Völkermord und Hunger-
katastrophe in Simbabwe, um Destabilisie-
rung des südlichen Afrikas zu vermeiden

– zu dem Antrag der Abgeordneten Brigitte
Wimmer (Karlsruhe), W alter Riester, Karin
Kortmann, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten
Thilo Hoppe, Hans-Christian Ströbele, Katrin
Dagmar Göring-Eckardt, Krista Sager und der
Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ-
NEN

Hungerkatastrophe in Simbabwe weiter
bekämpfen – Internationalen Druck auf
die Regierung Simbabwes aufrechterhalten

– zu dem Antrag der Abgeordneten Markus
Löning, Ulrich Heinrich, Rainer Brüderle,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
FDP

Gemeinsame europäisch-afrikanische Ini-
tiative zur Lösung der Krise in Simbabwe
starten

– Drucksachen 15/353, 15/428, 15/429, 15/613 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Rudolf Kraus
Brigitte Wimmer (Karlsruhe)

Hans-Chistian Ströbele
Markus Löning

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stun de vorgesehen. – Dazu höre
ich keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.

Ich erteile zunächst dem Abgeordneten Siegmund
Ehrmann für die SPD-Fraktion das Wort.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Siegmund Ehrmann (SPD):
Rede ID: ID1503719300


Herr Präsident! Meine Da men und Herren! In der
Mitte Februar geführten Debatte über die bedrückende
Situation in Simbabwe stimmten alle Fraktionen in der
Analyse der Ursachen, ihrer Bewertung und den notwen-
digen Schlussfolgerungen weit gehend überein. Dass wir
uns nunmehr auf einen gemeinsamen Antrag verständi-
gen können, unterstreicht, dass der Deutsche Bundestag
geschlossen dazu beitragen will, den Druck auf Mugabe
und seine Komplizen zu verstärken.


(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der FDP)


Die jüngste Entwicklung zeigt, dass in Simbabwe und
seinem Umfeld offenkundig einiges in Bewegung gera-
ten ist. Gerade dieser aktu elle Kontext muss uns darin
bestärken, die mit dem vor liegenden Antrag verbunde-
nen Forderungen umso deutlicher zu erheben. Es geht im
Einzelnen um Folgendes:
Die Regierungen der Entwicklungsgemeinschaft des
Südlichen Afrika müssen gedrängt werden, den Kurs-
wechsel zu flankieren, um Rechtsstaatlichkeit und De-
mokratie, letztendlich aber auch die W iederherstellung
der landwirtschaftlichen Infrastruktur zu gewährleisten.


(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


In der Entwicklungsgemeinschaft des Südlichen Afrika
liegt auch der Schlüssel dazu , dass der Konflikt in Sim-
babwe bewältigt und nicht darüber hinaus getragen wird.

Eine besondere Verantwortung für die Befriedung
– auch das haben wir in der Februardebatte festgestellt –
kommt der südafrikanischen Regierung und den
NEPAD-Partnerstaaten zu.

Wir haben festgestellt und das in unserem Antrag als
Forderung erhoben, dass es weiterhin richtig ist, die bi-
laterale Entwicklungszusammenarbeit ruhen zu las-
sen.

Bei der desaströsen Ernährungslage ist es aber uner-
lässlich, humanitäre Sofort maßnahmen der Nichtregie-
rungsorganisationen und der Kirchen zu fördern. Das
versteht sich von selbst.


(Beifall bei der SPD und der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Wir machen aber zugleich deutlich: Sobald rechts-
staatliche demokratische V erhältnisse hergestellt sind,
wird sich unser Angebot der Entwicklungszusammen-
arbeit vornehmlich auf die Förderung einer funktions-
tüchtigen Landwirtschaft und auf die Stabilisierung des
Rechtsstaates und der Zivilg esellschaft erstrecken müs-
sen. Schließlich entspricht es unserem geopolitischen
Grundverständnis und ist es nur allzu logisch, die Forde-
rung zu erheben, dass die Situation in Simbabwe auf die
Tagesordnung des UN-Sicherheitsrates gehört.


(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Staatsminister Bury hat in diesem Hause über die darauf
ausgerichteten Konsultationen der europäischen Staaten
berichtet. Ich hoffe, dass es gelingt, die Vorbehalte Chi-
nas und der afrikanischen Staaten aufzulösen.

Die EU hat zwischenzeitlic h, nämlich Mitte Februar ,
ihre Sanktionen gegen Simbabwe verlängert. Davon
sind Gelder, Vermögenswerte und wirtschaftliche Res-
sourcen der Regierungsmitglieder und der ihnen nahe
stehenden Personen betroffen. Überdies besteht ein Aus-
fuhrverbot für Ausrüstungen, die dem Repressionsappa-
rat nützen könnten. Dass di rekte oder indirekte Militär-
hilfe untersagt bleibt, versteht sich von selbst. Dies ist
sicherlich ein gutes Signal aus Europa, auch wenn es aus
meiner Sicht durch die Plattform, die Mugabe auf dem
französischen Afrika-Gipfel in Paris geboten bekam, ge-
trübt wird.

Gleichwohl haben sich die innenpolitische Situation
und die Ernährungslage in Simbabwe weiter verschärft.
Der Oppositionsbewegung wurde von so manchem






(A) (C)



(B) (D)


Siegmund Ehrmann
Beobachter nicht mehr allzu viel zugetraut, aber sie ent-
faltet offenbar neue Kraft und Energie. Ihr Streikaufruf
zum Jahrestag der manipulierten W ahlen wurde landes-
weit befolgt und hatte ei ne enorme Resonanz. Dem
zweitägigen Streik am 18. und 19. März 2003 folgten in
den großen Städten Harare u nd Bulawayo so viele Be-
schäftigte, dass nahezu alle Betriebe lahm gelegt waren.

In dieser Situation ist es ein gutes Zeichen, dass die
Oppositionspartei Bewegung für den demokratischen
Wandel trotz der von Mugabes Regime or ganisierten
Gewalt bei den Nachwahlen zum Parlament Ende März
beide neu zu besetzenden Wahlkreise deutlich gewonnen
hat.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN, der CDU/CSU und der FDP)


Das verleiht im Übrigen auch dem Ende März ausgelau-
fenen MDC-Ultimatum an die Regierung Nachdruck.
Die darin erhobenen Forderungen zielten darauf ab, die
politischen Gefangenen freiz ulassen, die Bür gerrechte
wiederherzustellen und die Milizen aufzulösen. Das Ul-
timatum ist inzwischen abge laufen, ohne dass Mugabe
reagiert hat. Die politische Atmosphäre ist of fenbar ex-
trem angespannt. Es hat al lerdings den Anschein, dass
die Oppositionellen äußerst besonnen agieren.

Dass die Regierung zu allem fähig ist, hat sich in den
letzten Wochen erneut gezeigt. Auf den Streik von Mitte
März reagierte das Regime mit einem brutalen Rache-
feldzug. 400 Anhänger der Opposition wurden verhaftet,
davon etwa 250 schwer misshandelt und mit zerschunde-
nen Körpern in Krankenhäuse r eingeliefert. Berichten
zufolge sind die Zustände in den Krankenhäusern, Poli-
zeizellen und Foltercamps unsäglich.

Menschen, die ganz nah dran sind, beobachten eine
neue Qualität von Gewalt. In der V ergangenheit gingen
die Anhänger der Regierungsparteien und die Veteranen
des Buschkrieges eher unkontrolliert und willkürlich vor.
Jetzt sind es Polizeikräfte und Armeeangehörige, die
systematisch agieren und Oppositionelle stellen. Es wird
berichtet, in Bulawayo seien Soldaten anhand von Listen
mit den Namen und Adressen der Oppositionspolitiker
von Tür zu Tür gegangen. Di e Verhafteten wurden so-
dann auf dem Weg zu den Polizeizellen schwer misshan-
delt.

Die Ereignisse der letzten W ochen passen zu den
Drohungen von Mugabe. Jene, so Mugabe, die mit dem
Feuer spielten, würden sich nicht nur ihre Finger ver-
brennen, sondern sogar riskieren, von den Flammen ver-
schlungen zu werden. V ieles deutet darauf hin, dass
Mugabe im W indschatten des Irakkrieges mit denen
Rechnungen begleicht, die sich seinem Machtanspruch
entgegenstellen.

Umso wichtiger ist es, dass nicht nur die Europäische
Union ihre Möglichkeiten wirksam nutzt. Nachhaltig
muss deshalb auch von de n südafrikanischen Staaten,
insbesondere von der NEP AD-Initiative, ein wider-
spruchsfreies Verhalten erwartet werden. Ich persönlich
werte es als wenig hilfreich, wenn der südafrikanische
Präsident Mbeki apelliert, Simbabwe nach einjähriger
Suspendierung als vermeintlich normalisierten Staat
wieder in den Commonwealth aufzunehmen.

Doch offenbar ist Südafrika zu neuen Positionierun-
gen gegenüber Simbabwe bere it. In der jüngsten Parla-
mentsdebatte, so wird berich tet, hat Ministerpräsident
Mbeki deutliche Worte gegen die Unterwanderung des
Rechts in Simbabwe formulie rt. Ob Südafrika nicht nur
verbal, sondern auch ökonomisch reagiert, muss sich
noch herausstellen. Es ist richtig, dass die Republik Süd-
afrika aufgrund ihrer hervor gehobenen ökonomischen
und politischen Stellung im südlichen Afrika in besonde-
rer Weise an ihre V erantwortung erinnert und in die
Pflicht genommen wird.


(Beifall im ganzen Hause)


Ziel der internationalen Staatengemeinschaft muss
sein, den Druck auf Mugabe so zu erhöhen, dass in Sim-
babwe die Menschen- und Bür gerrechte wiederher-
gestellt werden und dass sich demokratische Strukturen
entwickeln können.


(Beifall im ganzen Hause)


Wir können nicht hinnehmen, dass sich despotische
Regime im W indschatten des Irakkonfliktes brachial
durchsetzen. Gelingt es nicht, die Krise in Simbabwe zu
bändigen, wird sich ein daue rhafter regionaler Krisen-
herd entwickeln, der wie ein Geschwür alle Ansätze für
eine breite politische, ökonomische und soziale Emanzi-
pation zerstört. In diesem Sinne bitte ich, dem Antrag
zuzustimmen.

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall im ganzen Hause)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1503719400


Herr Kollege Ehrmann, auch Ihnen möchte ich im
Namen des Hauses zu Ihrer ersten Rede im Deutschen
Bundestag herzlich gratulieren und wünsche Ihnen alles
Gute für die weitere Arbeit.


(Beifall)


Nun erteile ich dem Kollegen Rudolf Kraus für die
CDU/CSU-Fraktion das Wort.


(Beifall des Abg. Dr. Ralf Brauksiepe [CDU/ CSU])



Rudolf Kraus (CSU):
Rede ID: ID1503719500


Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-
ren! Das Interesse der Weltöffentlichkeit richtet sich der-
zeit fast ausnahmslos auf den Krieg im Irak. Kriegeri-
sche Auseinandersetzungen und Notsituationen vor
allem in Afrika bleiben deshalb weit gehend unbemerkt.
Das kann uns aber nicht daran hindern, von unserer Seite
auf diese Situation hinzuweise n. Es ist notwendig, dass
wenigstens wir die Notsituation dieser Länder weiter be-
obachten.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)







(A) (C)



(B) (D)


Rudolf Kraus
Der weltweite Druck auf das Regime in Simbabwe
darf keinesfalls nachlassen. Der Irakkrieg hat die jüngste
gewaltsame Auseinandersetzung zwischen Opposition
und Präsident Mugabe überschattet. Am 18. und 19.März
dieses Jahres legte ein Stre ik das gesamte Land lahm.
BBC-Berichten zufolge – mein Vorredner hat es bereits
erwähnt – wurden 400 oder 500 Menschen inhaftiert und
mehrere Hundert verletzt. Menschenrechtsbeobachter be-
richten von grausamen Misshandlungen. Dass dieser
Streik trotz der Terrorherrschaft Mugabes überhaupt zu-
stande kam, lässt auf die verzweifelte Lage der Bevölke-
rung schließen.

Simbabwe war früher die Perle Afrikas und hinter Süd-
afrika die stärkste V olkswirtschaft Afrikas. Außerdem
exportierte das Land Nahrungsmittel. Seit nunmehr
23 Jahren regiert Präsident Robert Mugabe. Er hat das
Land mit Korruption, W illkür und Diktatur in ein wirt-
schaftliches und humanitäre s Desaster gestürzt. W egen
der Enteignung der weißen Farmer ist die Landwirt-
schaft praktisch zusammengebrochen. Eigenartigerweise
fragt man in der Öf fentlichkeit kaum nach dem Schick-
sal dieser Farmer. Auch das sollte einmal von uns aufge-
griffen werden.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD)


Nach Angaben des Welternährungsprogramms der
Vereinten Nationen müssten monatlich 200 000 Tonnen
Weizen oder Mais geliefert werden, um die Bevölkerung
zu versorgen. Die Regierung und die Hilfsorganisationen
zusammen können aber höchste ns ein Drittel davon be-
reitstellen.

Gestern war der Direktor des W elternährungspro-
gramms bei uns zu Gast im Ausschuss für wirtschaftli-
che Zusammenarbeit und Entwicklung, im A wZ. Er
sprach im Zusammenhang mit Simbabwe von einer hu-
manitären Katastrophe außerhalb jeder V orstellung.
7,2 Millionen von 13 Millionen Einwohnern sind vom
Hunger bedroht. 75 Prozent der Bevölkerung leben un-
terhalb der Armutsgrenze. Es gibt 780 000 Aidswaisen.
34 Prozent der erwachsenen Bevölkerung sind HIV-infi-
ziert. Dies ist eine grauenvolle Zahl. Man kann sich vor-
stellen, dass damit natürlich der Ausfall großer Teile der
arbeitsfähigen Bevölkerung verbunden ist. Die Arbeits-
losenquote beträgt 80 Prozent. Nach Angaben des IWF
wird die Inflationsrate heuer etwa 500 Prozent betragen.
Die Auslandsschulden des Landes liegen bei circa
5 Milliarden Dollar.

Es gibt Berichte, wonach die Zuteilungen, die von au-
ßen in das Land kommen, zwar durch die Regierung ver-
teilt, aber häufig im Zusammenhang mit der Frage, wer
zur Staatspartei gehört und wer nicht, manipuliert wer-
den.

Deutschland, die Bundesrepublik, hat die bilaterale
staatliche Entwicklungszusammenarbeit mit Sim-
babwe im Mai 2000 weitest ge hend und seit Juni 2002
vollständig eingestellt. Um das Leid der Bevölkerung zu
lindern, unterstützt die Bundesrepublik jedoch Nichtre-
gierungsorganisationen und Kirchen sowie humanitäre
Hilfsprojekte und Nahrungsmittelprogramme. Damit ist
natürlich eine indirekte Hilfe für das Regime selber ver-
bunden. Aber man sollte, so glaube jedenfalls ich, auf-
grund des Schicksals der Be völkerung diese unliebsame
Nebenwirkung in Kauf nehmen.

Seit Februar 2002 be stehen außerdem Sanktionen,
die die Europäische Union gegen führende Mitglieder
der Regierung Simbabwes verhängt hat. Diese Sanktio-
nen wurden nun bis Februar 2004 verlängert. Im März
vergangenen Jahres wurde Simbabwe die Mitgliedschaft
im Commonwealth aufgekündigt. Dennoch haben Nige-
ria und Südafrika die W iederaufnahme Simbabwes ge-
fordert. Das zeigt, dass Mugabe immer noch mit der Un-
terstützung einiger Staaten im südlichen Afrika rechnen
kann.

Hier ist natürlich insbesondere Südafrika zu nennen.
Dieses Land stellt Simbabwe T reibstoff, Energie und
Kredite zur Verfügung. Der südafrikanische Staatschef
Mbeki nennt seine Politik „sti lle Diplomatie“. Es ist zu
hoffen, dass die auf den Streik folgende W elle der
Gewalt den Präsidenten Mbeki veranlassen könnte, diese
Politik zu überdenken.

Die Konzentration auf die humanitäre Situation im
Irak darf den Blick auf die ka tastrophale Lage in Sim-
babwe nicht verstellen. Mit dem gemeinsamen Antrag
aller Fraktionen unterstreicht der Bundestag nachdrück-
lich, dass alle im deutschen Parlament vertretenen Frak-
tionen in dieser Frage gleicher Auffassung sind.


(Beifall im ganzen Hause)


Simbabwe braucht einen Kurswechsel in Richtung
Rechtsstaatlichkeit und Demokratie. Außerdem muss die
landwirtschaftliche Infrastruktur wiederher gestellt wer-
den. Wie sonst könnten Armut und Arbeitslosigkeit be-
kämpft werden?

Die Regierungen der Entwic klungsgemeinschaft des
südlichen Afrika tragen eine besondere V erantwortung.
Sie sollten mithelfen, den Druck auf Mugabe zu verstär-
ken. Der von Südafrikas Staa tschef propagierte Weg der
„stillen Diplomatie“ unterstützt Simbabwes Weg in das
Chaos. Die Bundesregierung sollte alles in ihren Kräften
Stehende tun, damit Südafrika seine Haltung gegenüber
diesem korrupten Regime in Simbabwe umgehend über-
denkt.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Der AwZ begrüßt, dass die Bundesregierung ange-
sichts der drohenden Hunger katastrophe die Initiativen
der Kirchen und der Nichtregierungsor ganisationen wie
auch Nahrungsmittelprogramme und humanitäre Hilfs-
maßnahmen verstärkt fördern will.

Ich bedanke mich.


(Beifall im ganzen Hause)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1503719600


Nächster Redner ist der Abgeordnete Markus Löning
für die FDP-Fraktion.






(A) (C)



(B) (D)


Markus Löning (FDP):
Rede ID: ID1503719700


Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Situa-
tion in Simbabwe hat sich se it unserer Debatte im Fe-
bruar leider kein Stück verbessert. Im Gegenteil: W ir
müssen feststellen, dass sich sowohl die Menschen-
rechtssituation als auch di e Ernährungslage weiter ver-
schlimmert haben.

Die Opposition in Simbabwe hat Mitte März einen
Generalstreik organisiert, an dem sich zwischen 70 und
100 Prozent der Bevölkerung beteiligt haben. Ich glaube,
das ist ein deutliches Signal dafür , wie wenig Rückhalt
Robert Mugabe noch in seinem eigenen Land hat. Ich
glaube auch, dass es ein deutlicher Appell an die interna-
tionale Staatengemeinschaft und damit auch an uns ist,
die Bevölkerung in Simbabwe in ihrem Kampf für einen
friedlichen Wandel zu unterstützen.


(Beifall im ganzen Hause)


Während des Streiks hat es Hunderte von Festnahmen
gegeben; das ist hier scho n erwähnt worden. Unter den
Festgenommenen waren übrigens auch Abgeordneten-
kollegen vom MDC. Es gibt Berichte über Misshandlun-
gen an Demonstranten. Es gibt Berichte über Grausam-
keiten der Sicherheitsbehörden an Festgenommenen. Es
ist schon schlimm genug, dass dies passiert, und zwar
schon seit Monaten. Was das Ganze noch verschlimmert,
ist, dass das ganz of fensichtlich systematisch betrieben
wird, auf Druck und auf direkten Befehl von Robert
Mugabe. Das müssen wir mit aller Entschiedenheit zu-
rückweisen, meine Damen und Herren.


(Beifall im ganzen Hause)


Der Prozess gegen den Oppositionsführer wird fort-
geführt. Es werden nur Be lastungszeugen gehört. Der
stellvertretende Vorsitzende des MDC ist inzwischen
verhaftet. Auch der Oppositi onsführer selber wird offen
und öffentlich mit Verhaftung bedroht. Das können wir
nicht hinnehmen. W ir können auch nicht die Art und
Weise hinnehmen, wie Mugabe sich schon fast stolz als
Hitler Afrikas bezeichnet. Da s ist unerträglich, meine
Damen und Herren.


(Beifall im ganzen Hause)


Auch bei der Ernährungslage gibt es leider kein ver-
bessertes Bild. Herr Kraus hat es schon geschildert: Ges-
tern war der Direktor des UN-W elternährungsprogram-
mes bei uns. Er hat uns ein dramatisches Bild von der
Situation gezeichnet. Die Kornkammer Afrikas, bei der
das Welternährungsprogramm früher selber Getreide
eingekauft hat, ist nicht einmal mehr in der Lage, ein
Drittel ihrer Bevölkerung zu ernähren. Auch die Miss-
stände bei der Verteilung der Nahrungsmittel wurden an-
gesprochen. Die Wirtschaft ist zerschlagen. Es gibt eine
Hyperinflation. Diese Aufzählu ng ließe sich noch fort-
führen. Es ist wirklich Zeit, das sich in Simbabwe etwas
ändert.

Daher möchte ich noch einmal ausdrücklich begrü-
ßen, dass wir uns hier auf einen gemeinsamen Text geei-
nigt haben;


(Beifall im ganzen Hause)

denn es ist aus unserer Si cht wichtig, dass vom Deut-
schen Bundestag das Signal ausgeht: Wir, das deutsche
Parlament, unterstützen den friedlichen W andel in Sim-
babwe. Wir unterstützen die Opposition bei ihrem fried-
lichen Kampf für die Durchsetzung von Menschenrech-
ten, für eine V erbesserung der Ernährungslage, für ein
menschenwürdiges Leben in Simbabwe.

Vielen Dank.


(Beifall im ganzen Hause)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1503719800


Ich erteile das W ort dem Abgeordneten Christian
Ströbele, Bündnis 90/Die Grünen.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Der Kollege Ehrmann, der Ausschussvorsitzende und
auch der Kollege Löning ha ben die Situation, wie sie
derzeit in Simbabwe ist, ge schildert. Ich will gar nicht
viel hinzufügen; ich will nu r ein paar persönliche Be-
merkungen dazu machen.

Für mich ist dieser Anlass , über Simbabwe zu reden,
auch ganz persönlich – ich gl aube, das geht auch ande-
ren aus meiner Fraktion so – eine sehr traurige, schmerz-
liche Angelegenheit. Es macht uns aber auch wütend,
und zwar nicht nur, weil Simbabwe, das frühere Rhode-
sien, einmal eines der fort schrittlichsten Länder Afrikas
gewesen ist mit einer funkti onierenden Landwirtschaft
und blühenden Landschaften – es war die Kornkammer
Afrikas –, dem wir jetzt Hilfe geben müssen, weil die
Menschen hungern; Sie haben auf die Einzelheiten hin-
gewiesen. Es macht uns auch wütend, weil der jetzige
Staatspräsident Mugabe früher von uns, von Deutsch-
land aus, mit großer Solidarität und Hilfsbereitschaft be-
gleitet worden ist, als er im Befreiungskampf von der
britischen Kolonialherrschaft als Befreiungskämpfer und
Mitorganisator der Befreiungsbewegung Großes geleis-
tet hat.

Das hat uns zu ungeheuren Hof fnungen Anlass gege-
ben, weil er nach der Befreiung einen scheinbar vernünf-
tigen Kurs gefahren hat. Er war derjenige, der den Briten
und den englischen Landbesitzern in Rhodesien bzw. im
späteren Simbabwe eine Zukunft zugesagt hat, sie im
Land gelassen hat und versucht hat, das Land gemein-
sam mit den ehemaligen Kolo nialherren zu entwickeln.
Mugabe war für mich und andere eine Figur in der Ge-
schichte Afrikas, die – man traut sich das heute fast nicht
mehr zu sagen – eine ähnlic he Signalwirkung hatte wie
Nelson Mandela und andere Persönlichkeiten im südli-
chen Afrika.

Umso schmerzlicher und trauriger ist es, jetzt feststel-
len zu müssen, dass viele Ländereien, die nicht mehr den
weißen Farmern gehören, sondern schwarzen Groß-
grundbesitzern aus der Machtclique von Mugabe, brach-
liegen. Diese Situation besteht nicht erst seit wenigen
Monaten, sondern schon seit längerer Zeit. Ich war wäh-
rend der Phase der ersten Landbesetzung mit meinem






(A) (C)



(B) (D)


Hans-Christian Ströbele
Ausschuss in Simbabwe. Dort haben wir uns die Lage
angesehen und haben mit den Leuten gesprochen.

Ich sage das alles jetzt aber auch deshalb, weil ich da-
von ausgehe, dass uns die Botschaft Simbabwes zusieht.
Sie hat sich an den Deutschen Bundestag, vor allem an
die CDU/CSU-Fraktion, gewendet und in einem frechen
Brief anlässlich des ersten An trags, den Sie hier gestellt
haben, Empörendes mitgeteilt: Diese Hungerkatastrophe
und die Zustände, die in Simbabwe herrschen, seien Fol-
gen einer Naturkatastrophe, eines Klimawechsels, einer
Dürre oder einer Regenkatast rophe. Ich kann dieser Re-
gierung nur sagen: Das alles, was sie nach außen verkün-
det hat, ist nicht wahr.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/ CSU und der FDP)


Sie versucht, das der W eltgemeinschaft zu verkaufen,
um von dem abzulenken, was Mugabe mit seiner Regie-
rungsmannschaft angerichtet hat. Im Deutschen Bundes-
tag haben wir festgestellt, dass sie durch das, was sie ge-
macht hat, frühere Sympathie für den neu an die
Regierung gekommen Mugabe und seine Leute, die in
Europa, in Afrika und in de r Welt sehr lange angehalten
hat, verspielt hat.

Heute stellen wir fest – so schmerzlich es auch ist –:
Es gibt keinen anderen Weg, als zu versuchen, dass dor-
tige Regime zu isolieren. Ic h verspreche mir nicht, dass
das Regime nur deshalb in die Knie geht, weil wir die
staatliche Entwicklungszusammenarbeit eingestellt ha-
ben. Dieses Vorgehen ist aber ein wichtiges Zeichen für
Afrika und für Europa, das zeigt, dass wir das durchhal-
ten und konsequent betreiben. Das, was der französische
Staatspräsident auf dem Empfang praktiziert hat, muss
ein Ausrutscher bleiben. Ich glaube, der Deutsche Bun-
destag tut gut daran, das zu kritisieren, bei aller Freund-
schaft zu Frankreich und zum französischen Staatspräsi-
denten. Das war nicht richtig. Das kritisieren wir heftig.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Wenn wir uns fragen, wie es weiter geht, dann muss
klar sein – das er gibt sich auch aus dem gemeinsamen
Antrag –, dass der Schlüssel für den Wechsel dieses Re-
gimes ganz unzweifelhaft be i den Nachbarländern liegt.
Die Verantwortung liegt in erster Linie bei Südafrika.
Südafrika ist das mit Abstand größte und einflussreichste
Land, dessen Staatspräsident nach wie vor sehr enge Be-
ziehungen zu Simbabwe hat. W ir gehen deshalb davon
aus, dass er seinen Einfluss dort geltend machen kann.
Er muss ihn auch geltend machen. Er trägt eine hohe
Verantwortung dafür, dass sich die Verhältnisse dort än-
dern.

Lassen Sie mich eine le tzte persönliche Bemerkung
machen. Ich bin nach wie vor der Meinung, auch nach
meinem Besuch mit dem Ausschuss in Simbabwe, dass
eine Landreform, eine gerechte Landverteilung in die-
sem Land notwendig ist. Bei aller Kritik sowie bei allen
Forderungen nach einer grundlegenden Veränderung der
gesellschaftlichen Verhältnisse und der Rücknahme der
Repressionen fordere ich noch immer eine gerechte
Landverteilung.


Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1503719900


Herr Kollege, Sie müssten jetzt wirklich zum Ende
kommen.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Diese muss aber dazu führen – das ist mein letzter Satz –,
dass die neuen Farmer die Ländereien in den Stand ver-
setzen, dass sie diese Ländereien nachhaltig und ertrag-
bringend bewirtschaften können. Das heißt: W enn sich
die Verhältnisse dort geändert haben, brauchen sie in der
Entwicklungszusammenarbeit unsere finanzielle Unter-
stützung, aber auch unsere Unterstützung beim Know-
how. Diese sagen wir ihnen zu. Wir werden sie unterstüt-
zen, sobald sich die Verhältnisse dort demokratisiert und
rechtsstaatlich gestaltet haben.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1503720000


Letzte Rednerin zu diesem T agesordnungspunkt ist
die Kollegin Anke Eymer, CDU/CSU-Fraktion.


Anke Eymer (CDU):
Rede ID: ID1503720100


Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-
ren! Liebe Kollegen und Koll eginnen! Wir wissen, dass
die politische Situation in Simbabwe destabil und be-
denklich ist. Fortgesetzt fi nden Menschenrechtsverlet-
zungen statt. Millionen von Menschen in Simbabwe sind
durch Hunger und Gewalt gefährdet. Das macht ein
deutlicheres internationales Handeln notwendig.

Es ist begrüßenswert, dass sich die Fraktionen diesbe-
züglich zu einem gemeinsa men Antrag entschließen
konnten. Bedauerlich ist, da ss der für diesen Monat ge-
plante EU-Afrika-Gipfel in Lissabon nicht stattfinden
kann. Wir erleben in Simbabwe eine politische und hu-
manitäre Katastrophe. Dies geht Hand in Hand mit dem
Niedergang eines noch vor wenigen Jahren wirtschaft-
lich blühenden Landes. Um einen Regierungswechsel in
Simbabwe zu erreichen, ist die Geschlossenheit der in-
ternationalen Staatengemeinschaft unverzichtbar.

Zusätzlich muss den gemeinsamen politischen Aktio-
nen ein nachhaltiges Konzept zugrunde gelegt werden.
Dabei sollten wir auf die Ansätze und Strukturen
schauen, die im südlichen Afrika schon bestehen. Unsere
Bemühungen dürfen aber nich t über den afrikanischen
Anstrengungen stehen. Das könnte als neokoloniale Be-
vormundung missverstanden werden. Bei der Konflikt-
lösung und bei der Entwicklung der gesamten Region ist
Afrika in seiner führenden Verantwortungsposition an-
zuerkennen. Jene Prinzipien des demokratischen Auf-
bruchs, die im südlichen A frika schon bestehen, gilt es
zu beachten und zu unterstützen. Nur so kann die Afri-
kanische Union zu einer politisch handlungsfähigen






(A) (C)



(B) (D)


Anke Eymer (Lübeck)

Organisation werden, die letztlich auf dem gesamten
Kontinent für eine politische und wirtschaftliche Renais-
sance eintreten kann.

Für die Stabilität und die Akzeptanz ist es wichtig,
Afrika zu einem Produkt seiner eigenen Bevölkerung
und Gesellschaft und damit zu einem gleichberechtigten
Partner für die übrige Welt zu machen.


(Beifall im ganzen Hause)


Bei der Kardinalfrage geht es darum, dass das aufzubau-
ende Programm ein afrikanisches Programm sein muss.
Die für seine Umsetzung erforderlichen Beziehungen
müssen auf dem Gleichheitsgrundsatz und auf gegensei-
tigem Respekt beruhen. Das is t die klare Vision, die Af-
rika für den ef fektiven Umgang mit seinen Problemen
und für seine Entwicklung braucht.

Die Afrikanische Union und die NEPAD sind die ge-
eigneten Instrumente für die praktische Umsetzung des
afrikanischen Potenzials. Im Zeitalter des globalen Wett-
bewerbs kann Afrika so Einf luss auf der Weltbühne ge-
winnen. Die Entwicklung, die wir in Deutschland und
Europa unterstützen können, zielt auf eine Verbesserung
der Qualität des Lebens der Menschen. Dabei gilt, dass
die Vorbedingung für die Qualität und die Nachhaltigkeit
der Lebensbedingungen die Qualität der jeweiligen Re-
gierung ist.

Konzeptionell zusammengefasst heißt das interafrika-
nisch: Afrika muss in die La ge versetzt werden, die Le-
bensqualität seiner Völker selbst erhalten und fördern zu
können.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Afrikanische Charakteristika in Kultur und Se lbst-
bewusstsein sind zu fördern und zu schützen.


(Jörg van Essen [FDP]: Sehr richtig!)


Auf dem W eg zu einer supranationalen und politisch
handlungsfähigen Vereinigung der afrikanischen Staa-
ten ist es für Afrika notwendig, die wirtschaftlichen, ge-
sellschaftlichen und politisch en Prozesse selbst in die
Hand nehmen zu können.

Global heißt das, dass eine Modernisierung der Pro-
duktionssysteme der Regionen und des Kontinents zu ei-
ner Wettbewerbsfähigkeit auf dem W eltmarkt führen
muss. Das darf nicht nur für einzelne Staaten gelten, son-
dern muss für den gesamten Kontinent gelten. Es bein-
haltet die Anerkennung Afrikas als gleichberechtigten
und verlässlichen Partner.

Dies entspricht Überlegungen und Prinzipien, die in
der südafrikanischen Fort-Hare-Universität, der Univer-
sität der Schwarzen in Afrika, entwickelt wurden. Es
gilt, diesen Prinzipien durch eine europäische Afrikapo-
litik zum politischen Erfolg zu verhelfen. Das Ziel einer
solch afrikanischen Entwicklung, die auch bei der kon-
kreten Behandlung der Krise in Simbabwe nicht aus den
Augen verloren werden darf, kann nur im Sinne
Deutschlands und Europas liegen.
Schließen möchte ich mit einem Wort des ehemaligen
Präsidenten der Republik Botsuana, Sir Ketumile
Masire:

Niemand hat jemals wirklich Gewinne, die durch
das Blut und Elend Unschuldiger errungen wurden,
dauerhaft behalten, ohne sein Leben durch das glei-
che Schwert zu verlieren, das er selbst geführt hat.

Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall im ganzen Hause)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1503720200

Ich schließe die Aussprache.

Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschus-
ses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung
auf Drucksache 15/613. Der Ausschuss empfiehlt, die
Anträge auf den Drucksachen 15/353, 15/428 und 15/429
zusammenzuführen und unter der Überschrift „Interna-
tionalen Druck auf die Regierung Simbabwes aufrecht-
erhalten, um eine Destabilisierung des südlichen Afrikas
zu vermeiden“ in der Ausschussfassung anzunehmen.
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – W er
stimmt gegen diese Beschlussempfehlung? – Enthaltun-
gen? – Damit ist diese Beschlussempfehlung einstimmig
angenommen.


(Beifall im ganzen Hause)


Ich rufe nun die T agesordnungspunkte 12 a und 12 b
auf:

a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Cornelia

(Homburg)

der FDP

Die Europäische Spallations-Neutronenquelle

(ESS) in Deutschland fördern


– Drucksache 15/472 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung (f)

Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss

b) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Katherina Reiche, Thomas Rachel, Dr. Christoph
Bergner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der CDU/CSU

Sachgerechte Planungsentscheidungen zum
Bau einer Eur opäischen Spallations-Neutro-
nenquelle ermöglichen

– Drucksache 15/654 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung (f)

Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss






(A) (C)



(B) (D)


Vizepräsident Dr. Norbert Lammert
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stun de vorgesehen. – Dazu höre
ich keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache und erteile der Kollegin
Cornelia Pieper für die FDP-Fraktion das Wort.


Cornelia Pieper (FDP):
Rede ID: ID1503720300


Sehr verehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen!

Die Europäische Spallations-Neutronenquelle ist
weltweit das ehr geizigste Projekt für eine neue
Neutronenquelle. Der Weg von der Kernspaltung in
Reaktoren hin zur Neutronenspallation wird eine
Revolution in der Neutronenforschung erzeugen.

Das ist ein Zitat des W issenschaftlichen Direktors des
ESS, Professor Dieter Richter aus Jülich.


(Ute Kumpf [SPD]: Was ist denn Spallation? – René Röspel [SPD]: Können Sie das mal erklären?)


– Meine Damen und Herren von der SPD, da Sie gefragt
haben: Neutronen werden zur Untersuchung der Struktur
unterschiedlichster Materialien verwendet. Diese For-
schungsergebnisse sind von enormem wirtschaftlichen
Nutzen.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Es gibt weltweit zu weni g Neutronenquellen. Ihre
Zahl nimmt im nächsten Jahrzehnt drastisch ab. Von den
derzeit weltweit in Betrieb befindlichen 25 Neutronen-
quellen werden aus Altersgründen in zehn bis 15 Jahren
etwa zwei Drittel abgeschaltet werden. In Erkenntnis
dieser Situation hat die OECD 1998 empfohlen, nicht
Kernreaktoren, sondern je eine leistungsfähige Spal-
lations-Neutronenquelle in den USA, in Japan und in
Europa zu bauen; denn moderne Spallations-Neutronen-
quellen können Probleme, die mit Kernreaktoren zusam-
menhängen, lösen. Eine Spal lations-Neutronenquelle ist
im Gegensatz zu einem Kernreaktor durch Abschalten
des zugehörigen Protonenbe schleunigers einfach und
vollständig abschaltbar. Im Gegensatz zu einem Kern-
reaktor gibt es keine langle bigen radioaktiven Spaltpro-
dukte. In einer Spallations-Neutronenquelle werden pro
Elementarprozess etwa zehnmal mehr nutzbare Neutro-
nen als in einem Kernreaktor erzeugt.

Die weltweit vor geschlagenen neuen Spallations-
Neutronenquellen würden natürlich das Problem des Zu-
gangs zu ausreichend vielen Neutronenquellen lösen.
Auch das ist ein Grund, warum diese hervorragende wis-
senschaftliche Forschungsleistung auch deutscher W is-
senschaftler von vielen Experten, aber auch Politikern
unterstützt wird.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Jörg Tauss [SPD]: Ich bin beeindruckt!)


Wir haben gerade mit der Neutronenspallation Spit-
zenforschungsleistung erreicht. Aber Frau Bulmahn hat
sich zunächst,

(Thomas Rachel [CDU/CSU]: Wo ist sie denn?)


als es um den Antrag für ESS ging, nebulös und zurück-
haltend geäußert. Als dann der Wissenschaftsrat im
letzten Jahr eine Förderung nicht empfohlen hatte,
schien sie geradezu erleichtert darüber zu sein, dass das
Projekt vom T isch ist. Frau Bulmahn gab in einem
Schreiben an den W irtschaftsminister von Sachsen-An-
halt, einem der Bewerberländer um den Standort, be-
kannt:

Die ESS im Kontext aller vorgeschlagenen Großge-
räte gesehen ist zwar sehr wertvoll, aber angesichts
der hohen Investitionskosten können nicht alle Pro-
jekte realisiert werden, die der Wissenschaftsrat be-
reits jetzt zur Förderung empfohlen hat. Eine er-
neute Befassung des W issenschaftsrates mit den
Projektvorschlägen wird an dieser Situation nichts
ändern.

Das werfen wir Ihnen vor , meine Damen und Herren
von der Koalition.


(Jörg Tauss [SPD]: Den Wissenschaftsrat werfen Sie uns vor?)


– Nein. Wir werfen Ihnen vor, dass Ihre Ministerin – Sie
unterstützten ja wohl diese Position – vorzeitig, vor der
Evaluierung im W issenschaftsrat, eine Standort-
entscheidung für ESS ablehnt. Das ist im Zusammen-
hang mit den W eichenstellungen zu sehen, die wir ge-
rade auch für die neuen Bu ndesländer in Forschung und
Entwicklung brauchen. Denn Sie wissen ganz genau,
dass laut Bericht der Bundesregierung über die Entschei-
dung über die Großgeräte von den 975 Millionen Euro
gerade einmal 25 Millionen Euro in den neuen Bundes-
ländern landen,


(Thomas Rachel [CDU/CSU]: Das ist unglaublich!)


obwohl Sie im Koalitionsve rtrag deutlich gemacht ha-
ben, dass Sie die neuen Bundesländer mit einem Groß-
forschungsgerät unterstützen wollen. Diese Politik ist
unglaubwürdig, meine Damen und Herren von der Re-
gierungskoalition.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Deswegen fordern wir Sie heute mit diesem Antrag,
der auch von Nordrhein-W estfalen und Sachsen unter-
stützt wird, auf, dass sich auch Deutschland für ESS be-
wirbt. Die Ministerin hat das aus unterschiedlichen
Gründen in Europa abgelehnt. Wir fordern Sie auf, Ihre
Haltung zu überdenken und die Weichenstellung vorzu-
nehmen, damit die Spitzenforschung nicht nur nach Eu-
ropa – da wird sie sowies o hinkommen, denn andere
Länder Europas bewerben si ch darum –, sondern nach
Deutschland und möglichst in eine strukturschwache Re-
gion kommt. Das muss das Ziel sein.

Vielen Dank.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)







(A) (C)



(B) (D)


Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1503720400

Das Wort hat nun der Kollege Ulrich Kasparick für

die SPD-Fraktion.


Ulrich Kasparick (SPD):
Rede ID: ID1503720500

Herr Präsident! Meine verehrten Damen und Herren!

Im Februar 2000 war ich im Rahmen meiner Institutsbe-
suche im Hahn-Meitner -Institut in Berlin. Sie wissen,
dass ich mittlerweile fast a lle ostdeutschen Institute be-
sucht


(Michael Kretschmer [CDU/CSU]: Hat es was gebracht?)


und über 500 Interviews gefü hrt habe. Ich weiß allmäh-
lich, wie die Situation der W issenschaft im Osten ist.
Das Ergebnis dieses Termins war, dass ich mit Minister-
präsident Höppner diskutiert habe, dass sich mehrere
ostdeutsche Länder um die ESS bewerben sollten.


(Thomas Rachel [CDU/CSU]: Das ist ja wunderbar!)


Das Ergebnis war, dass es sogar eine parteiüber grei-
fende, gemeinsame Bewerbung des sozialdemokratisch
regierten Landes Sachsen-Anhalt mit dem CDU-regier-
ten Land Sachsen gab. Das Projekt haben wir im Februar
2000 auf den Weg gebracht. Damals haben Sie noch gar
nicht gewusst, dass es die ESS-Projekte überhaupt gibt.


(Thomas Rachel [CDU/CSU]: Aber durchgesetzt habt ihr euch nicht!)


Außerdem haben wir es hi nbekommen, den wichtigen
Satz in den Koalitionsvertrag aufzunehmen, dass wir
bei der Ansiedlung von ne uen Großforschungsprojekten
vorrangig Ostdeutschland be rücksichtigen wollen, und
zwar aus einem einfachen Gr und: Jeder, der sich mit
Förderprogrammen in Ostdeutschland ein bisschen in-
tensiver beschäftigt und ein bisschen genauer hinschaut,
der sieht, dass wir nur noch eine Chance in Ostdeutsch-
land haben. Die Chance heißt: Ausbau der Forschungs-
infrastruktur.


(Thomas Rachel [CDU/CSU]: Regierungswechsel heißt die Chance!)


Deswegen sind diese Großforschungsprojekte so
wichtig.

Den von Ihnen eingebrachten Antrag halte ich für ei-
nen Showantrag. Ich will Ih nen auch erklären, warum:
Sie verlangen von der Bundesrepublik Deutschland, sich
auf eine Technologie festzulegen.


(Cornelia Pieper [FDP]: Quatsch! – Thomas Rachel [CDU/CSU]: Das ist doch gar nicht wahr! Sie haben unseren Antrag nicht gelesen!)


Damit mischen wir uns in einen wissenschaftlichen
Streit über TESLA in Hamb urg und das Hahn-Meitner -
Institut in Berlin ein, den aber nicht das Parlament, son-
dern die Wissenschaft entscheiden sollte.


(Thomas Rachel [CDU/CSU]: Das verhindern Sie ja gerade, weil Sie keine zweite Begutachtung zulassen!)

Wir sollten hier nicht den Streit des W issenschaftsra-
tes weiterführen. Dafür gibt es dieses Gremium schließ-
lich.

Wenn wir uns als Parlamentarier für Deutschland auf
diese Technologie festlegen,


(Thomas Rachel [CDU/CSU]: Der Wissenschaftsrat soll entscheiden!)


dann bewegen wir uns auf einem politischen Handlungs-
feld, das uns zum einen nicht zusteht und auf dem wir
zum anderen nur verlieren können, weil das eigentlich in
die Zuständigkeit des Wissenschaftsrates fällt.


(Abg. Cornelia Pieper [FDP] meldet sich zu einer Zwischenfrage)


Lassen Sie mich deshalb drei Punkte ausführen. Ich
freue mich über jeden Unterstützer , der sich am Kampf
für die Ansiedlung neuer Forschungseinrichtungen in
Ostdeutschland beteiligt.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1503720600

Herr Kollege Kasparick, gestatten Sie eine Zwischen-

frage der Kollegin Pieper?


Ulrich Kasparick (SPD):
Rede ID: ID1503720700

Ja, gerne.


Cornelia Pieper (FDP):
Rede ID: ID1503720800

Ich mache es auch kurz. Außerdem weiß der Kollege

Kasparick sicherlich noch, da ss er mir im ver gangenen
Jahr im Mai im neu gewählten Landtag schon einmal
ähnliche Fragen gestellt hat.

Heißt das mit anderen W orten, dass Sie die Position
Ihrer Ministerin, die sich gegen die Förderung der ESS
in Deutschland ausgesprochen hat und auch die Bewer-
bung von Sachsen und Sachsen-Anhalt nicht unterstützt,
nicht teilen? Denn die Länder sind selbst Antragsteller
und werden das Projekt im W issenschaftsrat erneut vor-
stellen. Es handelt sich inso fern nicht um eine Initiative
der Bundesregierung, sondern der Länder.


Ulrich Kasparick (SPD):
Rede ID: ID1503720900

Dazu habe ich selber die Länder extra ermutigt. Nach

unserer Diskussion im Wissenschaftsausschuss habe ich
sofort per E-Mail Professor Pobell ausdrücklich ermu-
tigt, sich erneut zu bewerben,


(Michael Kretschmer [CDU/CSU]: Er hat Sie gestern im Gespräch vermisst!)


weil der Ball nicht bei uns im Parlament, sondern bei
den beiden Bewerberprojekte n in Jülich und in Halle-
Leipzig liegt.

Ich halte es für richtig, das Handlungsfenster , über
das wir in Bezug auf den W issenschaftsrat noch verfü-
gen, zu nutzen und ihm eine zweite Bewerbung zur Prü-
fung vorzulegen. Ihre wi ederholte Behauptung, Frau






(A) (C)



(B) (D)


Ulrich Kasparick
Pieper, dass die Ministerin das gesamte Projekt und ins-
besondere einen bestimmten Standort ausgeschlossen
habe, ist falsch.


(Beifall bei der SPD – Thomas Rachel [CDU/ CSU]: Frau Bulmahn hat das ganze Projekt abgelehnt!)


Mein Votum ist: Weil es sich um eine gesamtdeutsche
Aufgabe handelt, müssen wir uns hinsichtlich der Frage,
wie wir die Ansiedlung von Großforschungseinrichtun-
gen in Ostdeutschland erreichen können, verbünden. Das
bedeutet, dass wir auch noch einmal über die Konkur-
renz der Standorte reden müssen. Es geht nämlich um
eine gesamtdeutsche Aufgabe, und zwar die Entwick-
lung von fünf Bundesländern.


(Cornelia Pieper [FDP]: Richtig!)


Ich werbe sehr dafür, dass das Projekt, das ich im Fe-
bruar 2000 auf den W eg gebracht habe, weiter verfolgt
wird. Aber der Ball liegt zurzeit nicht im Parlament, son-
dern bei der Wissenschaft. Erst dann, wenn der W issen-
schaftsrat votiert hat, liegt der Ball wieder im Parlament.

Ich heiße jeden Unterstützer herzlich willkommen.
Aber Ihr Antrag geht am Ziel vorbei.


(Beifall bei der SPD)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1503721000

Das Wort hat nun der Kollege Dr . Christoph Bergner

für die CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU – Jörg Tauss [SPD]: Wir erwarten jetzt eine ganz besondere Rede!)



Dr. Christoph Bergner (CDU):
Rede ID: ID1503721100

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr

Tauss, mir war es wichtig, dass meine Rede zu einem
Thema, das eine Zukunftsentscheidung markiert, nicht
einfach zu Protokoll gegeben wird, sondern dass wir
– auch in der Hof fnung, dass sich die Regierung dazu
äußert – eine Debatte führ en, die der W ichtigkeit des
Themas angemessen ist. Denn Ihnen, Herr Kollege,
muss ich sicherlich nicht erklären, dass es sich bei Ent-
scheidungen über wissenschaftliche Großgeräte um Zu-
kunftsentscheidungen für unser Land handelt.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Wenn wir uns darüber einig sind, würde ich gerne
noch einmal den Bericht über die Investitionen in Groß-
geräte der naturwissenschaftlichen Grundlagenfor-
schung, den die Ministerin bzw. das zuständige Ministe-
rium dem Ausschuss vorgelegt hat, in Erinnerung rufen.
Neun Projekte standen zur Prüfung an. Eine einzige Ent-
scheidung hat nicht nur in den Oppositionsfraktionen,
sondern auch in den Regierungsfraktionen W iderspruch
gefunden. Das war die Mitteilung des Ministeriums, dass
der Antrag zum Bau der Sp allations-Neutronenquelle
nicht befürwortet wird.


(Thomas Rachel [CDU/CSU]: So ist es!)


Weil ich mich etwas wundere, dass Herr Kasparick
die Fronten ein bisschen verwischt, möchte ich auf den
Inhalt des Berichts aufmerksam machen. Die Ministerin
lehnt dieses Projekt ab.


(Thomas Rachel [CDU/CSU]: Das ist die Wahrheit!)


Das, was ich hieran zu kritisieren habe, ist der Umstand,
dass diese Ablehnung aus unserer Sicht nicht mit schlüs-
sigen Argumenten begründet wird.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Erstens. Bei der Ablehnung wird nicht berücksichtigt,
dass es sich bei der Neutronenforschung um ein Gebiet
handelt, auf dem Europa und insbesondere Deutschland
weltweit führend sind und dass die Gefahr besteht, dass
wir dann, wenn wir in Zukunft unseren Forschern nicht
die erforderliche Infrastrukt ur bieten können, dieses
Stück Zukunftsfähigkeit und W ettbewerbsfähigkeit
preisgeben. Ich finde, dass dies ein gewichtiges Ar gu-
ment sein sollte; denn wir sollten bedenken, dass die
USA und Japan in Hochleistungsanlagen, die sich in der
Bauweise sogar an dem europäischen Vorhaben orientie-
ren, investieren wollen. Wir nehmen also ein Stück Wett-
bewerbsnachteil wissentlich in Kauf.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Dies alles spielt aber aus un serer Sicht bei der Entschei-
dung des Ministeriums nur eine unter geordnete Rolle
und muss deshalb unbedingt neu gewichtet werden.

Zweitens. Die Ablehnung ist auch vom Ministerium
unzureichend begründet worden; denn der Wissen-
schaftsrat – ich kann nur auf fordern, dessen Votum ge-
nau zu lesen – gibt in der Sache kein grundsätzlich ab-
lehnendes Votum gegen de n Bau einer Spallations-
Neutronenquelle ab. Der Hinweis, den Hamburger Ring-
beschleuniger PETRA zu einer Synchrotronstrahlen-
quelle auszubauen, macht nach Meinung aller Fachleute
die Option auf ESS nicht überflüssig.


Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1503721200

Herr Kollege Ber gner, gestatten Sie eine Zwischen-

frage des Kollegen Kasparick?


Dr. Christoph Bergner (CDU):
Rede ID: ID1503721300

Darf ich sie bis zum Schluss meiner Rede zurückstel-

len, um meinen Gedankengang nicht zu unterbrechen?


Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1503721400

Aber gerne.


Dr. Christoph Bergner (CDU):
Rede ID: ID1503721500

Ich finde es lächerlich, wenn – wohlgemerkt nicht in

den Papieren des Wissenschaftsrates, wohl aber in denen
des Ministeriums – auf Neut ronenquellen hingewiesen
wird, die zwar den gegenwär tigen Kenntnisstand reflek-
tieren, die aber – zu diesem Schluss kommt man, wenn
man die internationale Entwicklung betrachtet – ab 2010
mit Sicherheit als veraltet gelten werden. Insofern ist die
Begründung der Ablehnung, die uns das Ministerium ge-
geben hat, nicht schlüssig.






(A) (C)



(B) (D)


Dr. Christoph Bergner
Herr Kollege Kasparick, es geht uns nicht darum
– um das an dieser Stelle deutlich zu sagen –, politisch
ein Projekt durchzuboxen, das aus wissenschaftlicher
Perspektive womöglich nicht als förderwürdig betrachtet
wird. Das heißt, am Anfang muss ein zustimmendes Vo-
tum des W issenschaftsrates stehen. Nur , der W issen-
schaftsrat hat den antragstellenden Ländern – darauf hat
schon Kollegin Pieper hingewiesen – eine weitere Prü-
fung in Aussicht gestellt. Die Bundesregierung sollte
erstens das zweite Antragsverfahren gegenüber dem
Wissenschaftsrat unterstützen – das sehe ich bisher als
nicht gegeben an; hier sollten wir als Parlament ein Wort
mitreden und dafür sollten wir eintreten –


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


und sollte zweitens – Sie können sich darauf verlassen,
dass wir hier sehr wachsam sein werden – nicht versu-
chen, den Wissenschaftsrat politisch zu beeinflussen. Ich
möchte auf Folgendes aufmerksam machen: Ich habe in
meiner landespolitischen La ufbahn genügend Beispiele
erfahren, auf welch subtile Weise die Politik versucht
hat, Gremien wie den W issenschaftsrat, der ja nur wis-
senschaftsinterne Maßstäbe anlegen soll, zu beeinflus-
sen. Herr Kasparick, wenn wir uns einmal über unser
Bundesland unterhalten sollten, dann könnte ich eine
Menge Dinge aus der Frühzeit der Hochschulstandort-
festlegungen erzählen.

Wenn ich einige Einzelhe iten und Randbeobachtun-
gen richtig registriert habe – Herr Parlamentarischer
Staatssekretär, im Moment möchte ich noch nicht zu
sehr ins Detail gehen –, dann komme ich zu dem
Schluss: Das Ministerium läuf t auch in diesem Fall Ge-
fahr, das unabhängige Votum des Wissenschaftsrates zu
unterlaufen. Davor kann ic h nur warnen. Auch deshalb
ist das die Stunde des Parlaments.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Ich habe von der Notwendigkeit dieser Investition ge-
sprochen. Ich habe es bewusst vermieden – Kollege
Kasparick, Sie wissen, dass wir beide gemeinsam mit der
Kollegin Pieper für dasselbe Bundesland reden –, hier ei-
nen bestimmten Standort zur Sprache zu bringen; denn
die antragstellenden Länder haben sich darauf verstän-
digt, erst die wissenschaftsinterne Sachentscheidung zu
treffen und dann – ich finde das sehr vernünftig – in einem
zweiten Prüfungsverfahren die Frage der Finanzierung
und des Standortes zu klären.


(Thomas Rachel [CDU/CSU]: Sehr richtig!)


Diesem Verfahren sollten wi r uns verpflichtet fühlen,
auch wenn wir wissen, wofür unser Herz jeweils schlägt.
Kollege Rachel wird gleich seine Sicht hier darstellen.

Mein eigentliches Anliegen ist, dazu beizutragen,
dass wir, die Parlamentarier, die Bundesregierung an die-
ser Stelle vor einem Irrtum bewahren. Ich bin fest davon
überzeugt, dass die Bundesregierung Opfer einer kurz-
sichtigen Politik wird und ei nem Irrtum unterliegt, den
ich im Interesse der Zukunft der Forschungslandschaft
Deutschland verhindern möchte.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Um diesen Irrtum zu verm eiden, sollten wir zunächst
unter Zurückstellung aller Standortwünsche dafür eintre-
ten, dass es zu einem fairen V erfahren des W issen-
schaftsrates kommt und dass der W issenschaftsrat eine
entsprechende Prüfung vornimmt. Ich bin sicher: Die
Politik wird hinterher genug Weisheit an den Tag legen,
wenn es darum geht, die Finanzierung zu klären und den
Standort zu bestimmen. Zunächst brauchen wir ein vor-
urteilsfreies Votum des Wissenschaftsrates.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Jörg Tauss [SPD]: Ein massiver V orwurf an den Wissenschaftsrat!)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1503721600

Herr Bergner, Sie stehen noch ganz erwartungsvoll

am Rednerpult.


(Dr. Christoph Bergner [CDU/CSU]: Weil eine Frage zurückgestellt war! Eine Frage war zurückgestellt!)


– Ich möchte nur ungern die Praxis fördern, dass man
erst seine Redezeit ausschöpft, um anschließend durch
die Beantwortung eingesa mmelter Zwischenfragen zu
zusätzlicher Redezeit zu kommen.


(Beifall des Abg. Jörg van Essen [FDP] sowie des Abg. Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN])


Gerade bei erfahrenen Parl amentariern will ich keine
Absicht unterstellen; aber ich will auch keinen Anlass
für Nachahmungstäter schaf fen. Da ich den Eindruck
habe, dass Sie sich mit diesem Thema innerhalb wie au-
ßerhalb der Parlamentsdebatten intensiv beschäftigen,
kann das vielleicht auch bilateral geklärt werden.


(Ulrich Kasparick [SPD]: Nein, ich würde das gern als Kurzintervention machen!)


– Das habe ich zur Kenntnis genommen; aber ich bin
hier jetzt der V erwalter der vereinbarten Redezeiten.
Diese Zeiten sind nicht nur erschöpft, sondern über-
schritten.


(Ulla Burchardt [SPD]: Aber eine Kurzintervention muss doch möglich sein! – Ulrich Kasparick [SPD]: Eine Kurzintervention muss doch möglich sein!)


Nun hat der Kollege Dietmar Nietan für die SPD-
Fraktion das Wort.


(Ulrich Kasparick [SPD]: Das ist ja unglaublich! – Dr. Christoph Bergner [CDU/CSU]: Ich wäre gern dienlich gewesen!)



Dietmar Nietan (SPD):
Rede ID: ID1503721700

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Am

Montag der vergangenen Woche hat die Kollegin Flach
als Vorsitzende des Ausschusses für Bildung, Forschung
und Technikfolgenabschätzung das Forschungszentrum
in Jülich besucht. Sie hat dort gesagt, die ESS müsse
langfristig auf der politisch en Agenda bleiben. Ich






(A) (C)



(B) (D)


Dietmar Nietan
glaube, alle Wortbeiträge, die wir bis jetzt gehört haben,
zeigen, dass wir uns in diesem Ziel einig sind.

Für mich ist die F rage entscheidend, was wir als Par-
lamentarierinnen und Parlamentarier tun können, damit
das ehrgeizige Vorhaben ESS wirklich auf der for-
schungspolitischen Agenda in Deutschland bleibt. Auch
wenn ich viele Ansichten und Forderungen in den Anträ-
gen der FDP und der CDU/CS U durchaus unterstützen
kann, glaube ich nicht – das muss ich hier sehr deutlich
sagen –, dass sie letztlich zielführend sind.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Ich will das auch begründen. Wenn wir die Kräfte da-
hin gehend bündeln wollen, dass der Standort der ESS,
wenn sie nach Europa kommt , in Deutschland ist – der
Kollege Bergner hat das eben sehr deutlich gesagt –,
dann dürfen wir die Kräfte jetzt nicht aufsplitten. Ich
glaube, dass die ziemlich ei ndeutige Festlegung auf ei-
nen Standort in den neuen Ländern im FDP-Antrag für
unser gemeinsames Ziel zum jetzigen Zeitpunkt nicht
hilfreich ist. Deshalb ist es sinnvoll, diesen Antrag nicht
zu unterstützen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Michael Kretschmer [CDU/CSU]: Bitte?)


Ich will aber auch etwas zum CDU/CSU-Antrag sa-
gen. Die Überschrift dieses Antrags „Sachgerechte Pla-
nungsentscheidungen zum Bau einer Europäischen Spal-
lations-Neutronenquelle ermöglichen“ ist – damit Sie
mich richtig verstehen – angemessen. Der Schwerpunkt
Ihres Antrags liegt auf dem zweiten Gutachten. Auch
ich habe bisher die Position vertreten – das sage ich un-
umwunden –, dass ein zweites Gutachten erstellt werden
muss, und zwar möglichst schnell.


(Thomas Rachel [CDU/CSU]: Dann ändern Sie Ihre Politik!)


– Bitte, hören Sie mir zu! – Ist es aber , da wir wissen,
wie und in welchem Rahmen die erste Empfehlung des
Wissenschaftsrates im November zustande gekommen
ist, realistisch, davon auszugehen, dass ein neues Gut-
achten kurz danach wirklich grundlegend neue und ab-
weichende Empfehlungen enthält? Das sollte sich jeder
überlegen, der dieses Gutach ten zum jetzigen Zeitpunkt
fordert.

Wir haben festgestellt, dass die Bundesregierung bei
den Großforschungseinrichtungen die Prioritätensetzung
aktualisiert hat. Auch ein zweites Gutachten wird an die-
ser Prioritätensetzung nichts ändern, wobei ich, damit
keine Legenden gebildet werd en, an dieser Stelle unter-
streiche, dass die gegenwärti ge Prioritätensetzung nie
eine endgültige Ablehnung aller anderen noch nicht ge-
förderten Großforschungsprojekte darstellt.

Ein Weiteres zur Frage der wissenschaftlichen Not-
wendigkeit eines zweiten Gutachtens: Wenn Mitte diese
Jahrzehnts – auch das hat Kollege Ber gner angespro-
chen – in Japan und in den USA starke neue Neutronen-
quellen in Betrieb genommen werden, dann stellt sich
für mich nicht mehr die Notwendigkeit, wissenschaftlich
zu ergründen, ob es forschungspolitisch notwendig ist, in
Europa eine Neutronenquelle aufzubauen. Das ist evi-
dent. Wir sind uns sicherlich darin einig, dass Europa
langfristig – –


(Thomas Rachel [CDU/CSU]: Die Ministerin ist aber genau anderer Auffassung! – Zuruf der Abg. Cornelia Pieper [FDP])


– Ich stelle fest, dass ich mit diesen Worten bei Ihnen im-
mer große Emotionen auslöse. Lassen Sie es mich doch
zu Ende bringen.

Es ist doch wirklich eviden t, dass wir, wissenschaft-
lich gesehen, langfristig in Europa eine Spallations-Neu-
tronenquelle brauchen. Wenn wir uns darin einig sind,
dann sollten wir den Schwerpunkt anders legen. Es ist
sicherlich auch Ihnen, li ebe Kolleginnen und Kollegen
von der CDU/CSU und der FD P, nicht entgangen, dass
viele Wissenschaftlerinnen und W issenschaftler der
ESS-Gemeinde auch in Jülich mittlerweile aus genau
diesen Gründen sagen, ein zweites Gutachten sei zum
jetzigen Zeitpunkt nicht mehr erforderlich, viel wichtiger
sei die klare Aussage für eine langfristige Perspektive
für eine Neutronenquelle in Europa. Wenn wir uns darin
einig sind, sollten wir dies auch gemeinsam betonen.


(Beifall bei der SPD)


Ich sage aber auch sehr deutlich, dass wir uns auf dem
Weg dorthin die Chancen hier nicht verbauen sollten.
Deshalb wäre für mich die en tscheidende Frage, die wir
parlamentarisch diskutieren müssen: W as machen wir
mit den drei bestehenden Neutronenquellen sowie dem
hinzukommenden Standort in München?


(Dr. Christoph Bergner [CDU/CSU]: Ganz anderer Art!)


– Nein, das ist nichts anderes. Ich will Ihnen das erklä-
ren; hören Sie mir doch zu.

Wenn wir hier die ESS weiterhin theoretisch diskutie-
ren und nicht überlegen, wie wir in Zukunft die vorhan-
denen Kompetenzzentren für Neutr onenforschung
stärken, wenn wir vielleicht sogar eine Diskussion da-
rüber führen, den einen oder anderen Standort zu schlie-
ßen, weil es ja vier Neutronenquellen gibt, verbauen wir
die Zukunft aller in Deut schland bestehenden Kompe-
tenzzentren.


(Cornelia Pieper [FDP]: Das ist doch etwas ganz anderes! – Zurufe von der CDU/CSU)


Es wäre eine viel sinnvollere parlamentarische Initiative,
darüber nachzudenken, wie wir die derzeitigen Kompe-
tenzzentren stärken können.


(Thomas Rachel [CDU/CSU]: Wenn das alles nichts Neues wäre, bräuchten wir dieses Projekt nicht! – Zuruf der Abg. Cornelia Pieper [FDP])


– Sehr geehrte Frau Kollegin Pieper , sehr geehrter Herr
Präsident, ich sehe mich im Moment nicht mehr in der
Lage, in meiner Rede fort zufahren, weil hier nur noch
dazwischengeredet wird.


(Cornelia Pieper [FDP]: Wenn Sie so viel falsches Zeug reden, muss ich doch dazwischenrufen!)







(A) (C)



(B) (D)


Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1503721800


Wir haben hier schon Schlimmeres erlebt.


(Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)



Dietmar Nietan (SPD):
Rede ID: ID1503721900


Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich halte es für
wichtig, sich darüber zu unterhalten, wie wir die Kompe-
tenzzentren für Neutronenforschung stärken und erhal-
ten. Ich halte es auch für wichtiger, in diesem Hause ge-
meinsam die Position zu formulieren, dass wir die
langfristige Perspektive ESS für Europa und letztlich
auch für den Standort Deutsc hland erhalten wollen. Da-
für brauchen wir eine Strate gie. Es ist aber auch eine
Strategie der Bundesregierung zur Neutronenforschung
erforderlich. Dazu merke ich kritisch an, dass wir eine
solche Strategie im Fachauss chuss rechtzeitig diskutie-
ren und als Parlamentarier in den Bundestag einbringen
sollten,


(Michael Kretschmer [CDU/CSU]: Reden Sie doch mal mit Ihrer Ministerin darüber!)


damit uns nicht das passiert , was uns bei der Entschei-
dung über die Großforschungsgeräte passierte, als wir
Parlamentarier am Ende nur noch mitgeteilt bekommen
haben, wozu sich die Regierung entschieden hat.


Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1503722000


Möchten Sie eine Sekunde vor Ende Ihrer Redezeit
noch eine Zwischenfrage de s Kollegen Kretschmer zu-
lassen?


Dietmar Nietan (SPD):
Rede ID: ID1503722100


Nein, damit ich jetzt zu Ende komme, lasse ich sie
nicht mehr zu.


(Michael Kretschmer [CDU/CSU]: Das ist vielleicht auch besser so!)


Liebe Kolleginnen und Kollegen, trotz der emotiona-
len Aufwallungen auf der rechten Seite des Hauses bitte
ich Sie: Lassen Sie uns gemeinsam den richtigen W eg
für eine Strategie finden, di e langfristig die Option ESS
offen hält. Wenn uns dies gemeinsam gelingt, tun wir der
Sache den größten Gefallen.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der SPD)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1503722200


Nun hat Herr Kollege Kasparick um das Wort zu einer
Kurzintervention gebeten.


(Ulrich Kasparick [SPD]: Nein, vorhin! – Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Jetzt will er nicht mehr! – Zuruf von der CDU/CSU: Schnell weiter, Herr Präsident!)


Dann hat als letzter Redner in dieser Debatte der Kol-
lege Thomas Rachel, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.

Thomas Rachel (CDU):
Rede ID: ID1503722300

Sehr geehrter Herr Präsident! Ich freue mich über die

sehr sachliche Diskussion hier im Parlament auch zu
später Stunde. Frau Ministerin Bulmahn hat ohne Not
und ohne Rücksicht auf die fo rtdauernde Debatte in der
Wissenschaft Ende letzten Jahres bekannt gegeben, dass
die Europäische Spallations-Neutronenquelle ESS
nicht zu finanzieren sei u nd Deutschland sich nicht um
eine Ansiedlung bewerben we rde. Es ist eine rückwärts
gewandte Entscheidung der rot-grünen Bundesregie-
rung, der ESS keine Chance mehr zu geben.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Nachdem das erste Beurteilungsverfahren des W is-
senschaftsrates auch in der Wissenschaft selber umstrit-
ten war, sollte nach unserer Auf fassung eine zweite
Begutachtung stattfinden. Im Rahmen einer zweiten Prü-
fung könnte die Forschu ngs-Community die vom W is-
senschaftsrat aufgeworfenen Fragen beantworten und
die angesprochenen Kritikpunkte ausräumen.

Zwischen den Ländern Nordrhein-Westfalen, Sachsen
und Sachsen-Anhalt sowie dem Wissenschaftsrat ist
bereits verabredet worden, ein neues Begutachtungsver-
fahren durchführen zu wollen. Dabei sollen die Frage
der Finanzierung, aber auch di e Standortfrage erst in ei-
ner zweiten Stufe erörtert werden. Die CDU/CSU-Frak-
tion unterstützt nachdrücklich ein solches Verfahren. Wir
erwarten aber von der Bundesregierung, dass sie diese
zweite Begutachtung ermöglicht.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Jörg Tauss [SPD]: Wer hindert denn den W issenschaftsrat daran?)


Es ist uns vollkommen unverständlich, dass diese Woche
die Abgeordneten von SPD und Grünen sich dem V er-
such, zu einem überparteilichen Antrag zu kommen, ver-
weigert haben und nicht einmal zu dem von Liberalen
und Christdemokraten angebotenen Gespräch erschienen
sind.


(Cornelia Pieper [FDP]: Gut, dass Sie das noch einmal sagen! – Eckart von Klaeden [CDU/ CSU]: Politik des leeren Stuhls! – Gegenruf des Abg. Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Wenn man sich auf eure Stühle setzt ... !)


Deutschland darf nicht fahrlässig seine führende
Rolle in der Spallationsforschung an die USA und Japan
verlieren.

Die voreilige Entscheidung von Ministerin Bulmahn
hat sogar die eigenen Parteifreunde verblüf ft und verär-
gert. Der SPD-Forschungspolitiker T auss ist nach eige-
nen Angaben in den „Jülicher Nachrichten“ vom
26. Februar 2003 – ich zitiere – „von der Entwicklung
im Forschungsausschuss des Deutschen Bundestages
überrascht worden“.


(Jörg Tauss [SPD]: Was habe ich gesagt? – Cornelia Pieper [FDP]: Was?)


Offensichtlich hat die SPD-Bundestagsfraktion keinen
Informationsfluss aus dem Ministerium, geschweige
denn Einfluss auf die Pol itik der SPD-Forschungsminis-






(A) (C)



(B) (D)


Thomas Rachel
terin. Das ist ein Armutszeugnis, meine Damen und Her-
ren.


Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1503722400

Nun hat sich erwartungsgemäß Kollege T auss zu ei-

ner Zwischenfrage gemeldet,


(Eckart von Klaeden [CDU/CSU]: Völlig unerwartet, dass das kein Zwischenruf ist!)


die Kollege Rachel vermutlich zulassen wird.


Thomas Rachel (CDU):
Rede ID: ID1503722500

Mit besonderer Freude, Herr Präsident.


Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1503722600

Bitte schön.


Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1503722700

Da ich den Artikel leider nicht gelesen habe, bitte ich

Sie, ihn mir freundlicherweise zukommen zu lassen. –
Ich frage Sie: Geht aus di esem Artikel möglicherweise
auch hervor, dass ich gesagt habe, ich wunderte mich
über die Entscheidung des Wissenschaftsrates und über
die Tatsache, dass an der Entscheidung des W issen-
schaftsrates wissenschaftliche Zweifel aus der Commu-
nity angemeldet werden,


(Cornelia Pieper [FDP]: Er hat gar nicht wissenschaftlich entschieden!)


dass sich aber diese V erwunderung wiederum nicht auf
die Bundesregierung bezog? Denn über die Politik der
Bundesregierung braucht man sich nicht zu wundern; sie
ist so klar, dass ein Wunder damit nicht verbunden wäre.


(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Sie ist wunderbar!)



Thomas Rachel (CDU):
Rede ID: ID1503722800

Das war leider eine typische Vernebelungstaktik vom

Abgeordneten Tauss, denn ich habe Sie mit dem Zitat
konfrontiert, dass Sie gemäß den „Jülicher Nachrichten“
gesagt haben, Sie seien vo n der Entwicklung im For-
schungsausschuss des Deutschen Bundestages über-
rascht worden. Ihre gerade getane Äußerung zeigt, dass
dies die Wahrheit ist.


(Michael Kretschmer [CDU/CSU]: Er ist immer noch überrascht!)


Es zeigt, dass die SPD-Fraktio n in dieser Sache auf die
Forschungsministerin keinen Einfluss mehr hat.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Herr Kollege Tauss, ich bedauere dies übrigens, weil
ich eigentlich von einer Regierungsfraktion – Sie können
übrigens stehen bleiben, weil ich Ihnen noch antworte –
erwartet hätte,


(Heiterkeit bei der CDU/CSU und der FDP)


dass sie frühzeitig auf dies e Frage Einfluss nimmt. Fak-
tum ist, dass der gesamte Fo rschungsausschuss von der
Entscheidung Frau Bulmahns erst im Nachhinein infor-
miert wurde und wir alle keine Gelegenheit hatten, auf
die forschungs- und haushalt spolitische Prioritätenset-
zung Einfluss zu nehmen. Dies darf das gesamte Parla-
ment nicht ruhig lassen.


(Beifall bei der CD U/CSU und der FDP – Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Das merkt man! Immerhin sind fünf Leute bei Ihnen anwesend!)


Enttäuscht ist auch die nordrhein-westfälische For-
schungsministerin Hannelore Kraft, übrigens auch SPD.
In einem Brief an die Forschungsministerin schrieb sie:

Ich halte es nicht für angemessen, zum jetzigen
Zeitpunkt abschließende Finanzierungsentschei-
dungen zu tref fen, die wissenschaftliche Optionen
„erledigen“ und damit Zukunftschancen für den
Wissenschafts- und W irtschaftsstandort Deutsch-
land verspielen.

In diesem Punkt hat Frau Kraft Recht, meine Damen und
Herren. Ich fordere Sie deshalb sehr nachdrücklich auf,
dass Sie den Chancen Rechnung tragen. Frau Kraft hat
auch gesagt – ich zitiere –:

Die Diskussion in unse ren Nachbarländern zur
Neutronenstrahlung und Spallationstechnik scheint
keineswegs so eindeutig zu sein, wie das BMBF be-
hauptet.

Auch die Länder, die den Antrag stellen, glauben, dass
wir europäische Partner für das Projekt finden.


(Jörg Tauss [SPD]: Dann nennen Sie sie!)


Deshalb fordere ich die Bundesregierung auf, dafür
Sorge zu tragen, dass im Sinne des W issenschaftsstand-
orts Deutschland ein zwei tes Begutachtungsverfahren
für die ESS durchgeführt wird, was nur mit Zustimmung
der Bundesregierung erfolgen kann. V or einer erneuten
Entscheidung des Ministeriums müssen die Er gebnisse
dann im Ausschuss erörtert werden.


(Cornelia Pieper [FDP]: Richtig!)


Es wäre doch eine schrec kliche Entwicklung, wenn
zu dem Zeitpunkt, zu dem in Amerika die Entscheidung
getroffen wird, die Leistung des betref fenden Projekts
von 1,4 auf 4 Megawatt zu verdreifachen, in Europa das
Aus für ein derart zukunftsträchtiges Projekt kommt.


(Cornelia Pieper [FDP]: Richtig!)


Europa ist – wie auch die amerikanischen Dokumente
belegen – in der Neutronenforschung weltweit führend.
Mit dem Aus für die ESS würde Europa diese Führung
mit Sicherheit an die Japaner und Amerikaner verlieren.
Das wollen wir nicht. Desh alb wollen wir eine vorur-
teilsfreie Prüfung durch den Wissenschaftsrat.

Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1503722900


Ich schließe die Aussprache.






(A) (C)



(B) (D)


Vizepräsident Dr. Norbert Lammert

Interfraktionell wird die Überweisung der V orlagen
auf den Drucksachen 15/472 und 15/654 an die in der
Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Ich vermute, dass das trotz der Meinungsverschiedenhei-
ten in der Sache einvernehm lich so beschlossen werden
kann. – Dagegen erhebt sich kein W iderspruch. Dann
darf ich das Einvernehmen feststellen. Die Überweisun-
gen sind so beschlossen.

Wir sind damit am Schlus s unserer heutigen T ages-
ordnung.

Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundes-
tages auf morgen, Freitag, den 4. April 2003, 9 Uhr, ein.

Die Sitzung ist geschlossen.