Gesamtes Protokol
Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! DieSitzung ist eröffnet.Der Kollege Detlef Dzembritzki feierte am 23. Märzseinen 60. Geburtstag. Herzlichen Glückwunsch nach-träglich im Namen des ganzen Hauses!
Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundeneTagesordnung zu erweitern. Die Punkte sind in der Ih-nen vorliegenden Zusatzpunktliste aufgeführt:1 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der CDU/CSU:Haltung der Bundesregierung zu einem drohenden zusätz-lichen Defizit von bis zu 15 Milliarden Euro durch Ar-beitslosigkeit und Steuerausfälle2 Beratung des Antrags der Abgeordneten Karl-Josef Laumann,Dagmar Wöhrl, Hartmut Schaue rte, weiterer Abgeordneterund der Fraktion der CDU/CSU: Ausbildungsbereitschaftder Betriebe stärken – V erteuerung der Ausbildung ver-hindern – Drucksache 15/739 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendAusschuss für Gesundheit und Soziale SicherungAusschuss für Bildung, Forschung undTechnikfolgenabschätzungRedeHaushaltsausschuss3 Beratung des Antrags der Ab geordneten Willi Brase, Jör gTauss, Doris Barnett, weiterer Abgeordneter und der Fraktionder SPD sowie der Abgeordneten Grietje Bettin, Dr . TheaDückert, Kerstin Andreae, weiterer Abgeordneter und derFraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Offensivefür Ausbildung – Modernisierung der beruflichen Bildung– Drucksache 15/741 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Bildung, Forschung undTechnikfolgenabschätzung
RechtsausschussFinanzausschussAusschuss für Wirtschaft und ArbeitAusschuss für Verbraucherschutz, Ernährung undLandwirtschaftAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JAusschuss für Gesundheit und Soziale Sicheru4 Weitere Überweisungen im ver einfachtengänzung zu TOP 17)zung, den 3. April 2003.00 Uhra) Beratung des Antrags der Abgeordneten Maria Eichhorn,Hannelore Roedel, Dr. Maria Böhmer, weiterer Abgeord-neter und der Fraktion der CDU/CSU: Benachteiligungvon Frauen wirksam bekämpfen – Konsequenzen zie-hen aus dem CEDA W-Bericht der Bundesr egierung– Drucksache 15/740 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
InnenausschussRechtsausschussAusschuss für Menschenrechte und Humanitäre HilfeAusschuss für Bildung, Forschung undTechnikfolgenabschätzungAusschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit undEntwicklungb) Beratung des Antrags der Abgeordneten Lothar Mark,Hans Büttner , Detlef Dzembritzki, weitererAbgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abge-ordneten Hans-Christian St röbele, Dr. Ludger V olmer,Volker Beck , weiterer Abgeordneter und der Frak-tion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Wiederbele-bung des Friedensprozesses in Kolumbien – Drucksa-che 15/742 –Überweisungsvorschlag:Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre HilfeAusschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit undEntwicklung
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zes zur Neur egelung des Energiewirtschaftsr echts– Drucksachen 15/197, 15/432, 15/657, 15/712 –Berichterstattung:Abgeordneter Ludwig Stiegler6 Beratung des Antrags der Ab geordneten Joachim Günther
, Horst Friedrich (Bayreuth), Rainer Brüderle, weite-
rer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: StadtumbauOst – ein wichti ger Beitrag zum Aufbau Ost – Drucksa-che 15/750 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
RechtsausschussFinanzausschusstsausschussg des Antrags der Ab geordneten Thomas Dörflinger,d Kauder , Hans-Peter Repnik, weite-eordneter und der Fraktion der CDU/CSU: Rechts-ugendng
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2996 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. April 2003
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Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undHerren! In ihrer Verantwortung für Frieden und Sicher-heit hat sich die Bundesregierung stets von folgendenGrundsätzen leiten lassen: Wir treten für die Herrschaftund die Durchsetzung des Rech ts ein. W ir stehen fürFriedenspolitik durch Krisenprävention und kooperativeKonfliktlösung. Wir verfolgen das Ziel umfassender Si-cherheit: durch multilaterale Zusammenarbeit, durchSchutz vor Risiken und Bekämpfung der Ursachen vonGewalt, durch nachhaltige Abrüstung und Entwicklungund – wo dies unabdingbar ist – auch durch polizeilicheund militärische Mittel. Schließlich setzen wir in den in-ternationalen Konflikten auf das Gewaltmonopol derVereinten Nationen.
Das ist die Grundlage, auf der Deutschland seine Ver-antwortung wahrgenommen hat, und zwar in der Euro-päischen Union und in der internationalen Allianz gegenden Terror, zum Beispiel in Afghanistan und auch aufdem Balkan. Erst zu Beginn dieser Woche hat die Euro-päische Union mit der Miss ion „Concordia“ den Frie-denseinsatz in Mazedonien von der NA TO übernom-men. Das ist an sich betrachtet gewiss keine großeMission. Vielmehr ähnelt sie eher einer Polizeiaktion.Gleichwohl kommt es darauf an, zu erkennen, dass da-mit ein Weg beschritten worden ist, der wichtig und rich-tig ist und der weitergegangen werden muss.
Ich halte es für besonders bemerkenswert, dass dieEuropäische Union gerade in Mazedonien auch ihre mi-litärische Handlungsfähigkeit zum Ausdruck bringt.Denn wir erinnern uns: Es war in Mazedonien, wo es unszusammen mit unseren Partnern gelungen ist, einenschwelenden Konflikt einzudämmen und damit einemdrohenden Bürgerkrieg entgegenzutreten bzw . ihn garnicht erst ausbrechen zu lassen.Das Beispiel Mazedonien – deswegen ist es so enormwichtig – steht für eine eu ropäische Sicherheitspolitik,die auch militärische Mittel vorhält, um Kriege zu ver-hindern. Ich denke, das ist di e Orientierung, die für unsalle auch in der Zukunft wichtig ist.
Unsere Verantwortung haben wir im Weltsicherheits-rat nachdrücklich wahrgenommen. Bis zum letzten Au-genblick haben wir gemeinsam mit der Mehrheit der Mit-glieder des Sicherheitsrates, mit Frankreich, Russlandund China, aber auch mit Staaten wie Mexiko und Chile
alle Anstrengungen unternommen, um den Irakkonfliktim Rahmen der Vereinten Nationen, das heißt mit friedli-chen Mitteln, zu lösen.
Wir waren und sind deshalb über zeugt, dass es eine Al-ternative zum Krieg gegeben hätte,
eine Alternative, die schlicht heißt: Entwaf fnung desIraks mit friedlichen Mitteln unter dauerhafter internati-onaler Kontrolle. Dass dies er Weg nicht zu Ende ge-gangen worden ist, halten wi r nach wie vor für falsch.Aber es stimmt: W ir haben diesen Krieg nicht verhin-dern können. Unabhängig von der inneren Einstellung
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Bundeskanzler Gerhard Schröderdazu, denke ich, kann ich im Namen des ganzen Hausessagen: Unsere Gedanken und unser Mitgefühl sind beiden Opfern des Krieges und ihren Angehörigen, undzwar bei den zivilen Opfern ebenso wie bei den Solda-ten. Wir alle hoffen, dass eine möglichst rasche Beendi-gung des Krieges die Zahl der Opfer so gering wie mög-lich hält. Wir wünschen, dass das irakische Volk durchdie Überwindung der Diktatur seine Hof fnung auf einLeben in Frieden, in Freihe it und in Selbstbestimmungso rasch wie möglich verwirklichen kann.
Natürlich ist das, womit wir uns zu beschäftigen ha-ben, eine internationale Kr ise, mit der große Schwierig-keiten verbunden sind. Aber jede Krise bietet auch eineChance. Wenn wir Entwicklungen, wie sie zu diesemKrieg geführt haben, zukünf tig verhindern wollen, dannmüssen wir die Mechanismen der Durchsetzung unsererPolitik deutlich verbessern. Das ist ein Auftrag, der sichinsbesondere an unser gemeinsames Europa richtet. W irhaben in Europa Krieg und Rivalität überwinden kön-nen. Aus exakt dieser Erfahrung heraus langfristige Per-spektiven für eine W elt der Sicherheit und der Zusam-menarbeit zu entwickeln, aber auch zu verwirklichen,das begreifen wir als unsere deutsche ebenso wie unsereeuropäische Verpflichtung.Die Bundesregierung hat vor diesem Hinter grundschon frühzeitig und aus einer Vielzahl von Gründen er-klärt: Deutschland beteiligt sich nicht an diesem Krieg.Dabei bleibt es.
Das heißt, dass sich deutsc he Soldaten an Kampfhand-lungen im oder gegen den Ira k nicht beteiligen werden.Klar ist aber auch – das ist deutlich geworden –:Deutschland steht unabhängig von dieser klaren Ent-scheidung zu seinen Bündnisverpflichtungen. Wir dür-fen nicht ver gessen – das darf auch in unserem Landnicht vergessen werden –, dass es sich bei jenen Staaten,die jetzt Krieg gegen den Irak führen, um Bündnispart-ner und um befreundete Nationen handelt. Deshalb wer-den wir die ihnen gegebene n Zusagen jenseits unsererklaren Nichtbeteiligung auch einhalten. Das beinhaltetdie Gewährung der Überflug- und Nutzungsrechte sowieden Schutz der Basen in Deutschland ebenso wie jeneMaßnahmen, die wir zum Schutz der Türkei im Bündnisergriffen haben.Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Be-schluss vom 25. März dieses Jahres die Auf fassung derBundesregierung bestätigt, dass es für die Beteiligungdeutscher Soldaten an diesen A WACS-Aufklärungsflü-gen keines Bundestagsmandates bedarf. Gleichwohl hatdie Bundesregierung – wie übrigens auch andere NATO-Bündnispartner und die Europäische Union – die Türkeivor den Folgen einer militärischen Intervention im Nord-irak gewarnt. Wir haben da rauf hingewiesen – wir be-kräftigen das –, dass, sollte die Türkei Kriegspartei wer-den, eine solche Entwicklung jedenfalls den Abzug deut-scher Soldaten aus den A WACS-Flugzeugen zur Folgehaben müsste.
Die Türkei hat wiederholt versichert, dass sie gegen-wärtig keine Truppenstationierungen und keine Verände-rungen des Status quo im Nordirak beabsichtigt, die überhumanitäre Sicherungsaufgaben hinausgehen. Wir habenkeine Veranlassung, an dem Wort der türkischen Regie-rung zu zweifeln.Lassen Sie mich in dies em Zusammenhang ein Wortzu einer Diskussion sagen, die im Kontext mit dem Be-schluss des Bundesverfassungsgerichts stattgefundenhat und weiterhin stattfinden wird; ich meine die Debattedarüber, ob wir ein Entsendegesetz brauchen oder nicht.Ich denke – ich habe meine Auf fassung öffentlich geäu-ßert –, wir sollten diese De batte mit allem Ernst führen.Die richtige Zeit dafür wi rd nach der Beendigung desKrieges sein.Ich will ganz klar sagen, dass jedenfalls meine Bun-desregierung nicht beabsichtigt, aus – ich verweise aufdie Entscheidung des Bundes verfassungsgerichts – ei-nem Parlamentsheer eine Regierungsarmee zu machen.Ich wiederhole: Das ist nicht unsere Absicht. W ir müss-ten darüber reden – das geht alle Fraktionen in diesemHohen Hause an –, ob wir – bei aller Bestätigung desLetztentscheidungsrechts des Parlamentes, in welcherForm auch immer – in bestimmten Fällen nicht mehrFlexibilität für Regierungshandeln brauchen. MeineBitte wäre: Lassen Sie uns prüfen, ob wir miteinander indiesem Hohen Hause eine Regelung finden können, diediesem Gedanken gerecht wi rd. Ich jedenfalls bin dazubereit. Eine solche Regelung wäre auch ein Stück W ie-dereinsetzung von Politik in Bereichen, wo sonst gele-gentlich Gerichte tätig werden. Wenn man es verhindernkann, dann muss das nicht immer sein.
Ich habe gesagt, dass die Bundesregierung mit derStaatengemeinschaft in dem Ziel übereinstimmt, dass al-les getan werden muss, um die Zahl der Opfer des Kriegesso gering wie möglich zu halten. Ich denke, das ist für allein diesem Hohen Hause eine Selbstverständlichkeit.Vorrangig geht es also darum, eine drohende humani-täre Katastrophe im Irak zu verhindern. Die Bundesre-gierung unterstützt deshalb die Vereinten Nationen beiihren Vorbereitungen, humanitäre Nothilfe zu leisten,wo immer das derzeit möglich ist. In der ver gangenenWoche hat der Sicherheitsrat der Vereinten Nationendie Wiederaufnahme des Hilfsprogramms „Öl für Le-bensmittel“ einstimmig beschlossen. Das geschah übri-gens unter maßgeblicher deutscher Mitwirkung. Ich willsehr deutlich sagen: Die deutschen Diplomaten, allenvoran Herr Pleuger, die daran gearbeitet haben, verdie-nen wirklich unser aller Respekt; denn sie haben einegute Arbeit gemacht.
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Die erzielte Einigung erlaubt es dem Generalsekretärder Vereinten Nationen für zunächst 45 T age, dasHilfsprogramm in eigener Regie und in enger Abstim-mung mit den Verantwortlichen vor Ort weiterzuführen.Die Bundesregierung erwartet, dass damit auch die be-reits vom Sanktionsausschus s der V ereinten Nationengebilligten Lieferungen von Nahrungsmitteln und Hilfs-gütern anderer Art die Empfänger auch wirklich errei-chen; denn das ist die wichti gste Aufgabe. Dies – darü-ber müssen wir uns im Klaren sein – wird jedoch beiweitem nicht ausreichen, um die humanitäre Notlage, diedurch den Krieg hervorgerufen wird, zu bewältigen.Generalsekretär Kofi Annan hat die Mitgliedstaatender Vereinten Nationen zu schneller und vor allen Din-gen zu großzügiger Hilfe au fgerufen. Deutschland – ichbin froh darüber, dass auch in diesem Punkt prinzipiellEinigkeit in diesem Hohen Hause besteht – ist bereit,sich unter dem Dach der Vereinten Nationen mit zusätz-lichen Mitteln der humanitäre n Hilfe im Irak zu beteili-gen. Wir haben die Mittel für humanitäre Hilfe von40 Millionen Euro auf 80 Millionen Euro aufgestockt.Aus den Mitteln des Bundesministeriums für wirtschaft-liche Zusammenarbeit und En twicklung werden weitere10 Millionen Euro für die Flüchtlings- und für die Not-hilfe bereitgestellt.Die Vereinten Nationen müssen die zentrale Rollespielen, wenn es darum ge ht, die Zukunft des Irak unddie politische Neuordnung des Landes nach dem Endedes Krieges zu gestalten.
So interessant es sein mag, schon jetzt über Einzelhei-ten eines notwendigen Wiederaufbaus im Irak zu dis-kutieren und gelegentlich au ch zu streiten – ich warnedavor, sich bereits jetzt in Details zu verlieren und übersie zu spekulieren. W iederaufbau, meine Damen undHerren, ist weit mehr als die Reparatur von Gebäuden,Ölquellen und zerstörter Infrastruktur.
Wir werden nach innen wie nach außen deutlich ma-chen müssen, dass ein wirklicher W iederaufbau der Ge-sellschaft nicht allein mit ein paar Unternehmenskonzes-sionen zu erreichen ist. Sc hon deshalb wird es wichtigsein, unabhängig von der finanziellen Verantwortung dieUnterstützung der gesamten internationalen Gemein-schaft zu mobilisieren. Das geht nur im Rahmen undmithilfe der Vereinten Nationen; das muss in die Köpfealler Beteiligten hinein.
Auch der Wiederaufbauprozess kann und darf nur unterdem Dach der V ereinten Nationen or ganisiert werden.Ich sehe nicht, wie er auf andere Weise die notwendigenLegitimationsgrundlagen erhalten sollte. Für die Schaf-fung einer gerechten und de mokratischen Nachkriegs-ordnung im Irak und der gesamten Region erscheinenmir dabei ein paar Folgerungen nötig zu sein:Erstens. Die territoriale Integrität des Irak muss erhal-ten bleiben. Seine Unabhängigkeit und seine politischeSouveränität müssen vollständig wiederher gestellt wer-den.Zweitens. Das irakische Volk muss über seine politi-sche Zukunft selbst bestimmen können. Die Rechte derdort lebenden Minderheiten müssen gesichert werden.Drittens. Entscheidend ist, dass die enormen Ressour-cen des Landes – die Ölvorkommen und die anderen na-türlichen Ressourcen – im Besitz und unter der Kontrolledes irakischen Volkes bleiben. Sie müssen ihm zugutekommen und für nichts anderes als den W iederaufbauverwendet werden.
Viertens. Im Nahen und Mittleren Osten muss ein po-litischer Stabilisierungsprozess in Gang kommen, der al-len in der Region lebenden Völkern eine Perspektive fürein Leben in Frieden und W ohlstand eröffnet. Dazu ge-hört vor allem die Lösung des Nahostkonflikts im Rah-men einer stabilen Friedensordnung, die das Existenz-recht des Staates Israel und die Sicherheit seiner Bürgerebenso garantiert, wie es den Palästinensern einen unab-hängigen, lebensfähigen und demokratischen Staat er-möglicht. Zentrale Voraussetzung dafür ist die rascheVeröffentlichung des vom so genannten Nahostquartetterarbeiteten Friedensfahrplans und dessen Annahmedurch alle Konfliktparteien. Ich betone, meine Damenund Herren: durch alle Konfliktparteien.
Dies bedeutet unmittelbar, dass die Gewalt wirksam ein-gedämmt, Reformschritte in der palästinensischenSelbstverwaltung vorangetrieben und auch der israeli-sche Siedlungsbau gestoppt werden müssen.Ich habe von unserer V erantwortung gesprochen, dieüber den augenblicklichen Ko nflikt hinausweist und hi-nausweisen muss. Auf seiner außerordentlichen T agungnach den Terroranschlägen auf New York und Washing-ton hat der Europäische Rat am 21. September 2001 un-ter anderem beschlossen, die Gemeinsame Außen- undSicherheitspolitik weiter auszubauen und aus der euro-päischen Sicherheits- und V erteidigungspolitik umge-hend ein einsatzbereites Instrument zu machen. Niemandkonnte in den letzten Wochen und Monaten die Schwie-rigkeiten übersehen, die da mit verbunden sind; das istkeine Frage. Aber darf es angesichts der Schwierigkeitendazu kommen, dass das Ziel aufgegeben wird, das in die-ser Entscheidung definiert wo rden ist? Ich meine: ganzklar nein.Als Ziel haben die europä ischen Staats- und Regie-rungschefs „die Integration aller Länder in ein gerechtesweltweites System für Sicherheit, geteilten W ohlstandund weitere Entwicklung“ gena nnt. An diesem Ziel gilt
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Bundeskanzler Gerhard Schröderes festzuhalten. Jedenfalls für Deutschland kann ich sa-gen, dass wir uns diesem Ziel in den letzten Wochen undMonaten in besonderer Weise verpflichtet gefühlt habenund davon auch nicht abgewichen sind.Aber wir müssen erkennen, dass es mit der Prokla-mation von Zielen nicht geta n ist. Weltweite und grenz-überschreitende Risiken nehmen eher zu, als dass sieabnehmen. Die Entwicklung und Verbreitung von Mas-senvernichtungswaffen haben ein höheres Ausmaß an-genommen als selbst zu den Zeiten des Kalten Krieges.Diesen Risiken können wir eb en nicht punktuell begeg-nen; vielmehr können wir ihnen nur multilateral begeg-nen.
Wollte man auf Dauer anders verfahren, würde dies dieLegitimationsgrundlagen vieler demokratischen Gesell-schaften in schwerster W eise beeinträchtigen, wennnicht sogar auf Dauer zerstö ren. Dies muss man sehen,wenn man über die internationale Situation diskutiert.Wir können diesen Risiken also nur multilateral be-gegnen, indem wir uns dem Thema Sicherheit umfas-send nähern, als Sicherheit im politischen, im sozialen,ebenso im militärischen – keine Frage –, aber eben auchim kulturellen und ökologischen Sinne. Gleichzeitigmüssen wir davon abkommen, auf die Bedrohung etwadurch Massenvernichtungswaffen stets nur punktuell zureagieren.Der Konflikt um den Irak und sein mögliches Waffen-potenzial muss der Staatengemeinschaft eine wirklicheLehre sein, neue Ansätze zur Stärkung multilateraler Re-gelungen, zur Nichtverbreitung und zur Rüstungskon-trolle und zu dazugehörenden Verifikationsmechanismenzu entwickeln.
Übrigens mit Bezug auf ein sehr sensibles Themasage ich dann genauso klar : Niemand darf sich bei derVerbreitung von Material, das zur Herstellung von Mas-senvernichtungswaffen taugt, damit herausreden kön-nen: Wenn wir nicht liefern , tun es andere. – Das istkeine Logik, die dem abhilft.
Wir brauchen umgehend eine weitergehende Vereinheit-lichung des Ausfuhrsystems innerhalb der EuropäischenUnion.
Sie wissen, dass Deutschland mit diesen Ausfuhren undmit allen, die mit W affen zu tun haben, in besondererWeise restriktiv umgeht. Da s ist gelegentlich, übrigensauch intern, kritisiert worden, aber ich halte dies für denrichtigen Weg, wenn man wirklich zu einem umfassen-den Abrüstungsregime kommen will und Zustände wiedie, die uns jetzt beschäftigen, auf Dauer vermeiden will.
Würden wir dies in Europa schaffen – daran müssen wirarbeiten –, wäre es ein deutliches Zeichen auch für an-dere Akteure in der W elt, vor allem aber ein deutlichesZeichen für potenzielle Abnehmer.Wir wissen, dass wir den Problemen der Proliferationjedoch nicht allein mit moralischen Ar gumenten bei-kommen, so wesentlich sie in diesem Zusammenhangauch sind. Vielmehr brauchen wir eine umfassende mul-tilaterale Politik für mehr Sicherheit und mehr Gerech-tigkeit in der Welt, auch beim Freihandel, beim Klima-schutz oder bei der T errorismusbekämpfung. Ich sageausdrücklich und unterstreiche dies als unsere, die deut-sche Position: Der Multilateralismus ist eben nicht amEnde, meine Damen und Herren, im Gegenteil.
Wir müssen in geduldigen De batten mit unseren Part-nern im Bündnis und außerh alb klar machen: Die Pro-bleme des 21. Jahrhunderts sind so komplex und so um-fassend, dass sie nur multilateral gelöst werden können.Deutschlands Platz bei der Durchsetzung von Friedenund Sicherheit ist in der Staa tengemeinschaft, ist in un-seren Bündnissen und ist vo r allen Dingen in Europa.Die Vereinten Nationen sind nicht, wie man gelegentlichlesen und hören kann, irrele vant geworden. Nein, dasGegenteil ist wahr. Sie werden nach den kriegerischenAuseinandersetzungen bei der humanitären Hilfe undbeim Wiederaufbau im Irak – wir alle werden das erle-ben – eine wichtige, eine dominierende Rolle spielenmüssen und spielen.
Deshalb ist es unsere Politi k, die V ereinten Nationenauch durch weitere und durchgreifende Reformen zustärken und sie dadurch in den Stand zu setzen, in deninternationalen Konflikten eine noch bedeutendere Rollezu spielen.Wir stehen zu unserem Engagement im transatlanti-schen Bündnis und wir haben das deutlich werden lassen.Die NATO hat als Bündnis gemeinsamer V erteidigungund gegenseitigen Beistandes eben nicht ausgedient. Esgilt aber, dieses Bündnis den neuen Bedrohungen undKonfliktstellungen in der W elt anzupassen, womöglichstärker, als wir das in der Vergangenheit getan haben. Injedem Fall muss die NATO wieder zu einem Ort intensi-verer gegenseitiger Konsultation, gemeinsamer Analyseund gemeinsamer Prävention werden.
Wenn ich „gemeinsam“ sage, dann meine ich dasauch. Das verträgt sich nicht – damit das klar ist – mitder Hand an der Hosennaht.
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Bundeskanzler Gerhard Schröder
Wenn wir aber wollen, dass auch innerhalb der NATOunsere Interessen und V orschläge mehr Gehör finden,dann müssen wir in erster Linie Europa dazu in dieLage versetzen, und zwar als ein Europa, das mehr undmehr mit einer Stimme spri cht. Dabei werden wir aufDauer nicht zwischen unserem gemeinsamen Bemühenum Sicherheit und unseren Anstrengungen für W achs-tum und für W ohlstand, das heißt für Beschäftigung,trennen können. Wir sehen schon heute, wie sehr die Un-sicherheit durch den Krieg überall in Europa die Wachs-tumshoffnungen dämpft, wenn nicht sogar zerstört. Na-türlich wissen wir, dass Europa in der augenblicklicheninternationalen Krise nicht jene Einigkeit an den Tag ge-legt hat, die für uns alle wünschenswert gewesen wäre.Ich gebe allerdings eines zu bedenken: Die Erfahrungdieses Konflikts ist – das ist sicher so –, dass die Regie-rungen in dieser Frage nicht immer einer Meinung wa-ren, die europäischen Gese llschaften indes in dieserFrage einer Meinung sind, und zwar in sehr klarerWeise.
Die Herausbildung einer Gemeinsamen Außen- undSicherheitspolitik steht erst am Anfang. Über ein wichti-ges Datum dieses Anfangs unter dem Stichwort Mazedo-nien habe ich geredet. W enn wir wollen, dass EuropasStimme in der Welt vernehmlicher und damit wirkungs-voller wird, müssen wir uns auf einen langwierigen Pro-zess der Herausbildung einer Gemeinsamen Außen- undSicherheitspolitik einstellen, einen Prozess übrigens, beidem wir auch noch Rückschläge erleben und erleiden wer-den. Das ändert aber nichts daran, dass es zu dieser ge-meinsamen Politik keine wirklich vernünftige Alternativegibt.
Die europäische Integration war die Antwort aufKrieg und Zerstörung auf unserem Kontinent und eswäre fatal, wenn dieses inte grierte Europa gerade ange-sichts neuer Ungleichgewichte in der Welt seiner Verant-wortung durch sein Beispiel nicht gerecht würde. Wir je-denfalls werden beharrlich da ran arbeiten, dass es dieseVerantwortung wahrnimmt. Das ist der Grund dafür, dasswir eine wirklich Gemeinsa me Außen- und Sicherheits-politik entwickeln, die Europa auch faktisch in die Lageversetzt, mehr V erantwortung zu übernehmen. KeinZweifel: Das könnte mit bald 25 Mitgliedstaaten nochschwieriger sein, als es heut e, da wir 15 sind, schon ist.Ich unterstreiche auch hier noch einmal: Die T atsache,dass das angesichts unterschiedlicher Wahrnehmung vonBedrohung und unterschiedlicher geschichtlicher Erfah-rung mit den jetzigen Beitrittskandidaten, die dann bei-getreten sein werden, schwieriger werden wird – dieseTatsache ist unabweisbar –, darf jedenfalls kein Ar gu-ment dafür sein, den Beitritt sprozess zu verzögern odergar länger aufzuschieben.
Vor diesem Hintergrund habe ich gemeinsam mit Prä-sident Chirac dem Europäis chen Konvent vor geschla-gen, das Amt eines europäischen Außenministers zuschaffen und damit konkret die Aufgabenbereiche vonJavier Solana und Chris Patten zusammenzulegen undeinheitlich wahrnehmen zu lassen. Der europäischeAußenminister soll die gemeinsamen europäischen In-teressen herausarbeiten und Initiativen für gemeinsamesHandeln ergreifen. Nach un seren Vorstellungen soll inden meisten Bereichen über diese so abgestimmt wer-den, dass auch mit qualifizierter Mehrheit Beschlüssegefasst werden können. Dieser deutsch-französischeVorschlag ist im Konvent al les in allem gut aufgenom-men worden.Aus den Aufgaben, die uns aufgrund der Gemeinsa-men Außen- und Sicherheits politik zufallen, ergibt sichauch, dass wir ernsthaft üb er unsere gemeinsamen mili-tärischen Fähigkeiten neu nachdenken müssen. Dabeigeht es nicht darum, auf die gegenwärtige Krise ein-dimensional, mit einer bloß en Steigerung unserer Rüs-tungshaushalte, zu antworten. Es kann auch nicht darumgehen, nun mit Macht zu dem aufschließen zu wollen,was an Fähigkeiten etwa in den Vereinigten Staaten vor-handen ist. Das würde uns au ch gar nicht gelingen. Eu-ropa muss seine militärisc hen Fähigkeiten vielmehr soweiterentwickeln, dass sie unserem Engagement und un-serer Verantwortung für K onfliktprävention und Frie-denssicherung entsprechen.Der belgische Ministerpräsident hat zu einem Treffeneingeladen, um die Europäische Sicherheits- und Vertei-digungspolitik weiter voranz ubringen. Auch in diesemBereich haben Deutschland und Frankreich dem Europäi-schen Konvent gemeinsame V orschläge gemacht. W irdenken an eine engere Zusammenarbeit bei der Entwick-lung der militärischen Fähi gkeiten, an eine Verzahnungder Planungs- und Entscheidungsstrukturen sowie an einesehr viel engere Zusammenarbeit der Rüstungsindustrie.In der Perspektive wollen wi r die Europäische Sicher-heits- und Verteidigungspolitik zu einer EuropäischenSicherheits- und V erteidigungsunion fortentwickeln.Denkbar ist, als einer der ersten Schritte, dass sich in Zu-kunft etwa an Blauhelmeinsätzen im Rahmen der Verein-ten Nationen europäische statt nationale Truppen beteili-gen.Mir, meine Damen und Herren, ist in der gesamtenDiskussion zweierlei wichtig:Erstens. Von dieser Initiative des belgischen Minister-präsidenten kann und darf niemand ausgeschlossen wer-den.
Je mehr Mitgliedstaaten sich in der Konsequenz an dergemeinsamen Sicherheits- und V erteidigungspolitik be-teiligen, desto besser ist es für das Ganze. Dabei – ich
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Bundeskanzler Gerhard Schröderwill das besonders unterstreichen – ist mir wichtig, auchGroßbritannien, das in der Vergangenheit immer wiederwichtige Impulse für die Eu ropäische Sicherheits- undVerteidigungspolitik gegeben hat, in diesen Prozess ein-zubeziehen; und, meine Da men und Herren, das ge-schieht bereits jetzt im Vorfeld des Treffens, zu dem derbelgische Ministerpräsident eingeladen hat.Zweitens. Die Stärkung de r Europäischen Sicher-heits- und Verteidigungspolitik richtet sich nicht gegendie NATO, wie manche disku tieren, sondern sie dientdem Bündnis und damit den transatlantischen Bezie-hungen – Beziehungen, die auch künftig für uns Deut-sche und die Europäer vo n zentraler Bedeutung seinwerden.
So betrachtet liegt ein star kes Europa in beiderseitigemInteresse, in unserem Interesse und in dem der transat-lantischen Partner. Es liegt im Interesse der von uns ge-meinsam vertretenen Werte, bei uns und weltweit.Es ist sicher richtig, dass es auch beim Ausbau einerGemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik insbeson-dere auf eine enge französisch-deutsche Zusammen-arbeit ankommt. Deutschland und Frankreich – das isthier ja auch immer wieder betont worden – bleiben Mo-tor der europäischen Integration. Der erreichte Grad derZusammenarbeit zwischen un seren beiden S taaten ge-hört zu den wenigen wirkli ch erfreulichen Entwicklun-gen in der internationalen Szenerie in der letzten Zeit.Allerdings ist ebenso klar : Ohne umfassende Zusam-menarbeit mit Großbritannien, auch mit den anderenMitgliedern des gemeinsamen Europa werden wir die in-ternationale Verantwortung nicht tragen können, die vonuns allen mit Recht erwartet wird. Ebenso deutlich istgerade in der gegenwärtige n Krise geworden, dass derWeg, auf der Grundlage geme insamer Prinzipien in Eu-ropa und in den Bündnissen eine enge Zusammenarbeitmit Russland zu suchen, richtig und auch erfolgreich warund – dessen bin ich sicher – bleiben wird.
Europa muss dafür Sor ge tragen, dass die kriegsbe-dingten Risiken nicht die gesamte W eltwirtschaft ausdem Lot bringen; es muss jedenfalls mithelfen, dass dasnicht geschieht.Der Europäische Rat hat vor zwei Wochen an diesemPunkt ein wichtiges und richtiges Signal gesetzt. Wir ha-ben gemeinsam mit den Beitrittsländern klar gemacht,dass die Europäische Union im Rahmen der so genann-ten Lissabon-Strategie ihre Wachstumskapazitäten zurSchaffung von W ohlstand und Beschäftigung trotz– oder sollte ich sagen: gerade wegen? – der schwierigenökonomischen Rahmenbedingungen nicht zurückneh-men darf, sondern weiter er höhen muss. Dabei geht esum Fortschritte im Binnenmarkt, vor allem bei For-schung und Entwicklung und bei der Reform der Ar-beitsmärkte, um Bildung und um einen effektiveren Um-weltschutz.Meine Damen und Herren, hi er gibt es einen Zusam-menhang mit dem, was ich unter dem Begrif fAgenda 2010 vorgestellt habe. Auch in der jetzigenschwierigen internationalen Situation brauchen wir dieseReform. Wir müssen sie zügi g umsetzen, damit wir un-ser Gesellschaftsmodell, das auf Teilhabe und Gerechtig-keit beruht, in schwierigen Zeiten als die wirkliche Hoff-nung für die Menschen in Deutschland, in Europa und inder Welt deutlich werden lassen können.Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
Bevor ich der nächsten Re dnerin das W ort erteile,
möchte ich eine neue Kollegin in unserem Hause begrü-
ßen. Es ist Angelika Brunkhorst, Mitglied der FDP-Frak-
tion, die ihr Mandat am 21. März in der Nachfolge des
Kollegen Christian Eberl angetreten hat. Herzlich will-
kommen, liebe Kollegin!
Nun erteile ich Angela Merkel, CDU/CSU-Fraktion,
das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die T a-gesordnung des Europäischen Rates in Brüssel war starkvom Beginn des Irakkrieges überschattet. V ieles vondem, was sonst die Gemüter der Europäer bewegt hätte,erschien plötzlich belanglos oder kleinlich. Angesichtsdieses Krieges stand umso größer das Versagen von Poli-tik und Diplomatie auch vor den Mitgliedstaaten der Eu-ropäischen Union.Krieg ist eine Niederlage von Politik und Diplomatie.Krieg ist deshalb eine Niederlage von Politik und Diplo-matie, weil Krieg den Tod von Menschen bedeutet, vonMenschen, die mit dieser Politik und der Diplomatienichts zu tun haben. Es ist eine Niederlage, weil es nichtgelungen ist, einen Diktat or durch die internationaleStaatengemeinschaft friedlich zu entwaffnen, so wie wires alle wollten, weil wir wussten, dass dieser DiktatorHunderttausende von Menschen auf dem Gewissen hat.
Jetzt ist dieser Krieg traurige Realität. In dieser Situa-tion hat mir der französische Ministerpräsident Raffarin,der ja aus dem Land von Fr eiheit, Gleichheit und Brü-derlichkeit kommt, aus der Seele gesprochen, als er die-ser Tage zum Irakkrieg gesagt hat: „Ich hof fe auf denSieg der Demokratie über die Diktatur.“
Ich denke, wir sind uns in diesem Hause alle einig:Wir hoffen, dass es einen Sieg der Demokratie über dieDiktatur gibt. Wir können in dieser Auseinandersetzung
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Dr. Angela Merkelder alliierten Streitkräfte mit dem Diktator SaddamHussein nicht neutral sein, sondern wir alle stehen an derSeite derer, die für die Demokratie kämpfen.
Herr Bundeskanzler, ich habe mich gefreut, dassheute in diesem Hause nicht weiter einer Aufteilung zwi-schen Kriegswilligen und Friedenswilligen das Wort ge-redet wurde. Denn alle hier wollen und werden, sofernsie dazu beitragen können, doch alles unternehmen – obRegierung oder Opposition –, damit unsere politischenZiele mit friedlichen Mitteln durchgesetzt werden kön-nen.
Heute ist der Tag, um mit dem Blick in die Zukunft überden eigentlichen Dissens in diesem Hause, der ja nichtzwischen Kriegswilligen und Friedenswilligen besteht,zu sprechen.Im November des letzten Jahres wurde im UN-Sicherheitsrat eine Resolution beschlossen, die auch dieBundesregierung mitgetragen hat. Diese Resolution isteine Art Doppelbeschluss der UNO. Sie hat das klareZiel, eine friedliche Entwaf fnung durch ernst gemeinteDrohung zu erreichen. Die Wirkung dieser Resolutionlebte von Beginn an von der Glaubwürdigkeit beider Ele-mente dieser Resolution. Damit war weder die Position„auf jeden Fall militärische Gewalt“ vereinbart – wie Sieuns manchmal vielleicht unterstellt haben –, noch wardie Position „auf keinen Fa ll militärische Gewalt“ ver-einbart. Die Mitte zu halten, Geschlossenheit zu wahren,das wäre nach meiner fest en Überzeugung die Aufgabevon Politik gewesen.
Niemand von uns weiß, ob die Einigkeit im Druckauf Saddam Hussein ihn wirk lich zu einer friedlichenEntwaffnung hätte zwingen können. Aber eines weiß ichsehr wohl: Diese Einigkeit im Druck war die einzigeChance, die dieses Ergebnis hätte erzielen können.
Einigkeit im Druck schließt eben auch die damit verbun-denen Konsequenzen ein: mi litärische Mittel als UltimaRatio
und die Bereitschaft, eine Be fristung einer solchen letz-ten Chance zu akzeptieren.
Nun ein Wort zum Herrn Bundesaußenminister . – Erist schon weg, aber das ist akzeptiert.
– Der Bundesaußenminister muss in absehbarer Zeitnach Brüssel, wir unterstütz en das selbstverständlich.Deshalb habe ich zur Regierungsbank geschaut.Der Herr Bundesaußenminister hat angesichts der Ge-fährdungen immer und immer wieder die richtigen Fra-gen gestellt.
Natürlich sind militärische Auseinandersetzungen mithohen Risiken verbunden. Natürlich ist dies eine beson-dere Region, in der man besonders aufpassen muss. Na-türlich muss man sich mit dem Verhältnis der Religionenbefassen. Gerade deshalb war es doch so wichtig, allesdaranzusetzen, den Druck – militärisch wie auch insge-samt – mit allen Optionen gemeinsam durchzuhalten.
Ich kann mich der Einschätzung, dass alle Anstren-gungen unternommen wurden, um eine friedliche Lö-sung zu erreichen, nicht anschließen.
Auch andere können sich dieser Einschätzung nicht an-schließen. Ich kann Ihnen daher ein Zitat aus einem„Zeit“-Artikel der vergangenen Woche nicht ersparen,
wo wiedergegeben wird, was die Inspekteure zum Kursder Bundesregierung in der Irakfrage sagen:
Hätte dieser Krieg verhindert werden können? Ja,sagen einige. Aber mit einer überraschenden Be-gründung: Deutschland, Frankreich und Russlandhätten den Kriegsausbruch mit ihrer vermeintlichenFriedenspolitik unausweichlich gemacht.
Gerhard Schröders kategorisches Nein zu einemMilitäreinsatz sei schlicht „verrückt“ gewesen.„Vielleicht hätten wir unser Mandat erfüllen kön-nen“ ...
Herr Bundeskanzler, ich denke, Sie werden sich auchin der Folgezeit mit diesem Zitat auseinander setzenmüssen.
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. April 2003 3003
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Kollegin Merkel, gestatten Sie eine Zwischenfrage
der Kollegin Eichstädt-Bohlig?
Ich gestatte keine Zwischenfragen.
Herr Bundeskanzler, Sie werden sich mit diesem Zitatauseinander setzen müssen.
Der in diesem Artikel wieder gegebene Gedankenganghat mich dazu veranlasst, zu sagen: Sie haben als Bun-desregierung mit Ihrem V erhalten den Krieg nicht un-wahrscheinlicher, sondern wahrscheinlicher gemacht.
Für mich gibt es keinen Zw eifel daran, dass niemanddiesen Krieg gewollt hat. Aber mit Blick auf die Frage– nicht auf die Vergangenheit bezogen; der Krieg ist Re-alität –, was wir aus diesen V orgängen lernen müssenund welche Lehren wir daraus ziehen müssen,
will ich auf etwas verweisen, was Helmut Kohl einmalgesagt hat. Helmut Kohl hat einmal gesagt – ich stimmedem mit allem Nachdruck und in aller Ruhe zu –, die eu-ropäische Einigung sei letztlich eine Frage von Kriegund Frieden.
Helmut Kohl ist für diesen Satz häufig belächelt worden.Wir alle miteinander haben in den letzten W ochen ein-drücklich erfahren müssen, wie schnell die Frage der eu-ropäischen Einigung zu einer Frage von Krieg und Frie-den werden kann.
Deshalb müssen wir – das haben Sie, Herr Bundes-kanzler, in Ihrer Regierungserklärung auch deutlich ge-macht – die vor uns liegende n Aufgaben, die weit überdie Frage des Iraks hinausgehen, meistern. Sie haben ge-sagt, in jeder Krise liege ei ne Chance. Jawohl, in jederKrise liegt eine Chance. Aber wir müssen uns sehr nüch-tern die Realität der heutigen Tage anschauen.Wir haben eine gravierende Spaltung der Europäi-schen Union und der NATO sowie einen Vertrauensver-lust in den Beziehungen zu den Vereinigten Staaten vonAmerika erlebt. W ir mussten erkennen, dass bewährteInstitutionen unserer Sicherheit im Augenblick der Kriseausgesprochen unfähig waren, so zu handeln, wie wir esuns alle gewünscht haben. Deshalb geht es nicht nur all-gemein darum, ob ein Wiederaufbau des Iraks stattfindet– natürlich muss das der Fall sein –, sondern wie dieserWiederaufbau vonstatten ge ht. Er muss unter Beteili-gung der EU, der NATO und der UNO erfolgen.Natürlich müssen wir als Bundesrepublik Deutsch-land wieder eine verantwortliche Außen- und Sicher-heitspolitik aufbauen.
Die Pfeiler der Außen- und Sicherheitspolitik aus derVergangenheit gelten weiterhin: europäische und transat-lantische Einigung. Diese Pfeiler müssen nach der deut-schen Einheit, nach der Erlangung der SouveränitätDeutschlands von unserer Generation neu begründet,neu formuliert und vor allen Dingen mit den Menschendieses Landes neu diskutiert und besprochen werden.Lassen Sie mich das in sechs Punkten deutlich ma-chen:Erstens. Viele Bruchlinien – alte wie neue – durchlau-fen unseren europäischen Kontinent. Um die politischeEinigung wirklich zu erre ichen, muss Deutschland einekluge Politik, eine Politik des Ausgleichs
zwischen alten und neuen sowie großen und kleinen EU-Mitgliedstaaten machen.
Herr Bundeskanzler, Sie haben eben gesagt, es seiwahr, dass Europa in dieser Auseinandersetzung an vie-len Stellen nicht einig gewesen sei. Dann haben Sie ge-sagt, bei genauerem Hinseh en müsse man feststellen,dass in der Ablehnung des Krieges zwar nicht die Regie-rungen, aber die Gesellschaften einig gewesen seien.
Herr Bundeskanzler, ich frage Sie: Was bedeutet das fürdie Regierungen, die Ihre Meinung nicht geteilt haben?
Was bedeutet das denn für die Erfahrung, die wir imRahmen des Kosovo-Konfliktes gemeinsam in diesemHause gemacht haben, als die Gesellschaften Europasauch die Angriffe auf Belgrad nicht wollten und wir siedennoch aufgrund gemeinsamer Überzeugung für richtiggehalten haben? Ich halte Ihre Aussage an dieser Stellefür sehr gefährlich.
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3004 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. April 2003
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Dr. Angela MerkelIch bin auch verunsichert,
was Ihre Aussage angeht – ich sage es einmal ganz vor-sichtig –, das Europa der 25 werde komplizierter als dasEuropa der 15. Was sollen die neuen Mitgliedstaaten ge-rade in Bezug auf den Irakkonflikt – wir sprechen jetztnicht über eine EU-Richtlinie zu Chemikalien – von ei-ner solchen Feststellung halten? Alle neuen Mitgliederder Europäischen Union sind Mitglieder der NA TO. Siehaben mit Sicherheit keinen Beitrag zu den jetzigenSchwierigkeiten geleistet. Vielmehr bestanden all dieseSchwierigkeiten in der EU innerhalb der alten Mit-gliedstaaten der Europäisch en Union. Auch das gehörtzur Wahrheit.
Deutschlands Rolle muss aus geographischen und aushistorischen Gründen dergestalt sein, dass Deutschlandzum Ausgleich beiträgt und ein Anwalt der kleinen Län-der ist.
Wenn in diesen Tagen viel von einer Hegemonialmachtgesprochen wird – ich bin gegen jede Form von Hege-monialmachtstreben –,
dann müssen wir als Deutsche aufpassen, ob die kleinenStaaten Europas nicht auch uns Großmannssucht vor-werfen könnten. Auch das gehört zur Realität des euro-päischen Alltags.
Aus seiner geschichtlichen Erfahrung und aus seinergeographischen Lage heraus hat Deutschland eine ganzbesondere Aufgabe in Europa : den Ausgleich zu schaf-fen und die verschiedenen Interessen zu bündeln. W iralle wissen doch, dass es Länder gibt, die Interesse an ei-nem großen Wirtschaftsraum Europa haben, dass es Län-der gibt, die ein großes Interesse an der V ertiefung derpolitischen Union haben, und dass es Länder gibt, die ei-nen größeren Schwerpunkt auf die Erhaltung des Struk-turausgleichs legen. Deutschland muss aus der von mirgenannten Verpflichtung heraus die integrative Kraftsein, die Ausgleich schaf ft. Das hat Deutschland in denletzten Wochen nicht ausreichend getan.
Deutschland darf keine Randposition und keine Maxi-malposition vertreten und keine Sonderwege gehen.Nach dem Ende des Kalten Kr ieges sollte es eine ge-meinsame Verpflichtung sein – mich persönlich bewegtdas –, mit der Bevölkerung über diese Aufgaben zu spre-chen.Zweitens. Das Verhalten der Europäer im Irakkonfliktbringt uns zu einer zentrale n Lehre – da stimme ich mitIhnen überein –: Ohne eine Gemeinsame Außen- undSicherheitspolitik wird es keine europäische Einigunggeben.
Was heißt das? W ir haben uns in den 90er -Jahrenganz stark auf die Gestaltung des europäischen Binnen-marktes konzentriert. Im Übrigen haben wir Europadurch die Einführung des Euro irreversibel, unumkehr-bar gemacht. Das waren mutige Entscheidungen – vonHelmut Kohl, von Theo Waigel.
Diese Entscheidung für den Euro, der von Ihnen seiner-zeit übrigens als kränkelnde Frühgeburt disqualifiziertwurde, ist nicht von der Mehrheit der Bevölkerung ge-kommen; vielmehr hat es di e Führung als ihre Aufgabeangesehen, dies der Bevölkerung nahe zu bringen. Heutewird sie von der Bevölkerung mit Überzeugung getra-gen. Dies wird bei wichtigen Entscheidungen immerwieder notwendig sein.
Es geht auch um den W illen, eine Gemeinsame Au-ßen- und Sicherheitspolitik durchzusetzen. Herr Bundes-kanzler, ich stimme mit Ihnen völlig überein: Es wird da-bei Fortschritte und Rückschl äge geben. Ich sage Ihnenaber auch: Ein Erlebnis wie das der Auseinandersetzungum den Irak verträgt die Ge meinsame Außen- und Si-cherheitspolitik Europas nicht alle Jahre wieder . Wirmüssen Lehren ziehen und wir müssen den W illen ha-ben, Kompromisse und Gemeinsamkeiten zu finden,
so wie sie auf dem Sonderrat der Europäischen Union imFebruar gefunden wurden. Da s war aber leider viel zuspät, das hätte früher geschehen müssen. Dies müssenwir in Zukunft beachten.
Drittens. Eine weitere Lehre aus der Spaltung Europasmuss sein: Eine Gemeinsame Außen- und Sicherheitspo-litik in Europa wird es niemals gegen die VereinigtenStaaten von Amerika, sondern nur mit ihnen und auf derBasis eines entsprechenden Vertrauens geben.Die Europäer haben spätestens – das ist eine noch nichtweit zurückliegende gemeinsame Erfahrung – im Zusam-menhang mit dem Kosovo-Konflikt erlebt, dass wir über-haupt nicht in der Lage sind , die militärischen Konflikteunseres Kontinents aus eigener Kraft zu lösen. Ich binfroh, dass es im Zusammenhang mit Mazedonien jetztzum ersten europäischen Mandat gekommen ist. Das ist
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Dr. Angela Merkelkeine Frage. Aber die eigentlichen militärischen Risikensind in einer Auseinandersetzung getragen worden, beider wir ohne die Amerikaner nicht in der Lage gewesenwären, das von uns allen gewünschte Ziel zu erreichen.
Deshalb, Herr Bundeskanzler, brauchen wir die NA TO.Sie haben das auch gesagt. Ich hätte mir aber trotzdemgewünscht, Sie wären in der Frage, wie das aussehensoll, etwas konkreter geworden.In diesen Tagen entscheiden auch die Bilder . Wir ha-ben viele Strategietreffen des Bundesaußenministers mitdem französischen Außenmin ister und seinem russi-schen Kollegen erlebt. Aber wenn wir die Zukunft desBündnisses NATO wollen, ist es wichtig, klar und deut-lich zu sagen, dass es eine Äquidistanz zwischen Europaund Amerika und zwischen Europa und Russland auf ab-sehbare Zeit nicht gibt. Di e transatlantische Partner-schaft beruht auf einem klareren W ertegerüst als unserVerhältnis zu Russland.
Damit spreche ich nicht gegen ein gutes V erhältnis zuRussland. Das ist überhaupt keine Frage. Ich bin aus vol-lem Herzen für die Kooperation der NA TO mit Russ-land. Aber in der Stunde des Risikos kommt es schondarauf an, dass man weiß, wo die gemeinsame Partner-schaft liegt.
Wenn man es mit diesem transatlantischen Bündnis,der NATO, ernst meint und es mal wieder zu einer Situa-tion käme, in der wir mit militärischem Druck eine UN-Resolution durchsetzen müssen, könnte – das wäre dochdurchaus denkbar – auch ein europäisches Kontingentaus der NATO an dem Aufb au eines solchen militäri-schen Drucks mitarbeiten, um zum Schluss eine friedli-che Lösung dieses Konflikts zu erreichen. Ich glaube,den Amerikanern wäre es schwerer gefallen, bei Mitwir-kung aller europäischen NA TO-Mitglieder eine solcheEntscheidung allein zu treffen.
Wir müssen V erantwortung im Risiko übernehmen,sonst wird die V erantwortungsgemeinschaft nicht zumLeben erweckt werden können.
Viertens. Wenn wir das schaffen wollen, dann müssenwir zuallererst zu einem gemeinsamen Verständnis kom-men, was die Bedrohungen sind, denen wir uns in dieserWelt gegenübersehen.
Der Bundeskanzler hat hierzu – das danke ich ihm – Eini-ges gesagt. Er hat gesagt, er unterstütze die Ansicht, dassdie Bedrohungen der heutigen Zeit zum einen vom Be-sitz von Massenvernichtungswaffen und zum anderenvon nicht staatlichem T errorismus ausgehen. Viel-leicht sei eine der größten Bedrohungen, der wir in Zu-kunft gegenüberstehen, die V ermischung von beidem,nämlich der Proliferation von Massenvernichtungswaf-fen an terroristische Gruppen, die wiederum von staatli-chen Strukturen unterstützt werden.Wenn Sie sagen, wir brauch en deshalb eine gemein-same europäische Ausfuhrpolitik und müssen bei diesemThema zu internationalen Standards kommen, dannstimme ich Ihnen zu; das ist keine Frage. Aber der Si-cherheitsbegriff ist, da er ni cht teilbar ist, nicht nur einpolitischer, ökologischer oder kultureller , sondern erwird auch ein militärischer Begrif f bleiben. Vor dieserErkenntnis können wir uns nicht drücken. Wir werdenuns nicht damit herausreden, dass Blauhelme eingesetztwerden. Die Frage lautet vielmehr: W elche Strategiemüssen wir ausarbeiten, um auf die modernen Bedro-hungen zu reagieren, bei der politische Lösungsmöglich-keiten und Abschreckung in adäquater Weise verbundenwerden?
Fünftens. Wenig ist gewonnen, wenn aus der gemein-samen Bedrohungsanalyse, von der ich sagen muss,dass wir sie nicht ausreichend durchgeführt haben, keineSchlüsse gezogen werden. W enn wir alle davon über-zeugt gewesen wären, dass keine Massenvernichtungs-waffen, Pockenviren oder Milzbranderreger in der Handvon Hussein sind, dann, Herr Bundeskanzler, hätten wirnicht klammheimlich 80 Millionen Dosen an Impfstof fgekauft. Wir hätten dann gemeinsam
und offensiv unserer Bevölkerung gesagt, welche Ge-fährdung in diesem Lande tatsächlich für uns besteht.
Gemeinsam eine Analyse du rchzuführen ist schön undgut, aber es muss auch der gemeinsame, der wirklicheWille bestehen, die notwendigen politischen und militä-rischen Mittel bereitzustellen.Ich hätte heute von Ihnen gerne wenigstens ein loben-des Wort zur NATO-Response-Force gehört. Ich hätteauch gerne gehört, dass man eine gemeinsame Politikmachen wolle. Deutsch-französische oder deutsch-belgi-sche Initiativen sind okay, aber in diesen Tagen muss es,wie ich glaube, vor allen Di ngen Initiativen geben, dieBrücken über die Gräben bauen. W ir brauchen deutsch-polnische oder deutsch-britisc he Initiativen. Das ist es,
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3006 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. April 2003
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Dr. Angela Merkelworauf Europa wartet, wenn Deutschland wirklich eineausgleichende Rolle spielen will.
Meine Damen und Herren, wir müssen aufpassen,dass wir in diesem Lande fähig sind, unseren Willen, Be-drohungen zu begegnen – so er denn besteht –, auch ma-teriell durchzusetzen. Der Bundesaußenminister hat ineinem bemerkenswerten Interview in der „FrankfurterAllgemeinen Zeitung“ gesagt, wir brauchten eine stär-kere militärische Kraft. Der Bundeskanzler hat sichdem angeschlossen. Deswegen haben wir schon erwar-tungsvoll auf einen Nachtragshaushalt gewartet.
Anschließend hat der Bundeskanzler dem staunendenPublikum mitgeteilt, für die nächsten drei Jahre gelte dasnicht.
Ich frage Sie: W er glaubt un s denn ernsthaft, dass denBekenntnissen aus unseren Mündern wirklich Taten fol-gen? Darauf wartet doch Europa, auf Taten und nicht nurauf Worte.
Sechstens. Wir brauchen eine Stärkung der UNOund eine Legitimation ihrer Mechanismen, damit sie sichauf die neuen Bedrohungen einrichten kann. Die UNOsoll – ich bin sofort dabei; daran will ich Sie erinnern –das Gewaltmonopol haben. W ir dürfen aber doch nichtdie Augen davor verschließen, dass nicht die gesamteWelt demokratisch ist und es nicht gesichert ist, dass je-der unsere Grundeinstellungen teilt.
– Herr Schmidt, da Sie dagegen protestieren,
erinnere ich Sie nur an die Tatsache, dass auch Sie – an-gesichts drohender Vetos von Russland und China – denEinsatz im Kosovo auf der Basis der NA TO für richtigbefunden haben. Dabei handelte es sich natürlich auchum ein Versagen der UNO. Uns allen wäre es lieber ge-wesen, wenn die UNO das getan hätte.
Wir haben es aber trotzdem für richtig befunden. V er-schließen wir die Augen doch nicht vor der Realität.
Deshalb wird es auch in der Zukunft ein Unterschiedsein, ob Bedrohungen von der UNO festgestellt wurden,ob es um die Durchsetzung von Resolutionen geht oderob es überhaupt noch keine gemeinschaftliche internati-onale Bedrohnungsanalyse gibt. Angesichts dessen, wasuns nach dem 1 1. September des Jahres 2001 begegnetist, rate ich uns allen – niemand hier im Hause hat heuteschon die fertigen Antworte n –, darüber nachzudenken,wie die internationalen Institutionen auch auf diese He-rausforderungen vorbereitet werden können.
Meine Damen und Herren, im Grundsatz teile ich alldas, was Sie über die Zukunft des Iraks gesagt haben. Ichglaube, wir sollten alle Anstrengungen unternehmen, umdies unter dem Dach der UNO zu erreichen. Es ist selbst-verständlich, dass dem irakischen V olk, also den Men-schen dieses Landes, mehr als das heute der Fall ist nichtnur seine Territorien, sondern auch seine Bodenschätzeund all das, was ihm gehört, zur Verfügung gestellt wer-den. In den nächsten Wochen werden wir uns mit dieserFrage beschäftigen. Ich sage Ihnen aber auch voraus: Vorallen Dingen werden wir un s viel grundsätzlicher undweitergehend mit außen- und sicherheitspolitischen Fra-gen beschäftigen müssen.Nach dem heutigen T ag sehe ich durchaus Gemein-samkeiten. Herr Bundeskanzler, wenn die Worte, die Siehier bezüglich der Europäis chen Union, der NATO undder Zukunft der UNO gesagt haben, wirklich Gewichtbekommen sollen, dann wird ein großer politischer Füh-rungswille notwendig sein.
Dieser politische Führungswille wird auch einschlie-ßen, dass wir bereit sein müssen, die Umfragewerte nichtimmer und sofort auf unserer Seite haben zu wollen.
Statt dessen müssen wir politisch verantwortlich ent-scheiden, weil wir uns auch um den Frieden in Freiheitund Gerechtigkeit von mor gen und übermor gen küm-mern wollen. Das ist das Anliegen der Union. Dafür ste-hen und arbeiten wir.Herzlichen Dank.
Ich erteile dem Kollegen Gernot Erler, SPD-Fraktion,
das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! DieBilder und Nachrichten, die wir von diesem Krieg erhal-ten, werden immer unerträglicher. Das Elend der Opferund der Anblick ihrer W ehr- und Schutzlosigkeit bren-nen sich in unsere Sinne ein und begleiten uns in diesenTagen auf Schritt und Tritt.
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Gernot ErlerDie Medien – so empfinde ich es – halten eine kriti-sche Distanz zu einer offiziellen Kriegsberichterstattung,die auch Manipulationen einschließt. Immer häufiger be-obachten wir aber, dass zwar berechtigte und gute Fra-gen zu diesem Krieg gestellt, darauf jedoch schlechteoder nichtssagende Antworten gegeben werden. Es be-steht die Gefahr, dass uns die Massivität und die W uchtdes Geschehens wegträgt und stumpf macht. Dem müs-sen wir widerstehen.
Vor allem dürfen wir nicht ver gessen, an wessenStelle dieser Krieg gerückt ist. Noch bis vor 14 Tagengab es eine Alternative, Frau Merkel. Der Begrif f„friedliche Lösung“ ist dafür eine viel zu schwache For-mulierung. Vor dem Krieg, zur Zeit der Inspektionen,war das Regime von Saddam Hussein weltweit politischkomplett isoliert. Seine Souveränität war durch Kontroll-flüge in der Luft und ein Ko ntrollsystem am Boden mitDurchgriffsrechten ohne Be ispiel hundertfach einge-schränkt.Vor diesem Hintergrund erschien der Diktator, der dieForderungen der internationalen Gemeinschaft erfüllenmusste, immer kläglicher. Es schien eine Frage der Zeitzu sein, bis die Entwaf fnung durch die Inspektoren unddas dann vorgesehene dauerhafte Kontrollsystem einenfaktischen Regimewechsel herbeigeführt hätten. Eswäre ein sang- und klangloses Auslaufen dieses Regimesgewesen, das seine Schreckenswirkung auf andere im-mer durch die Bedrohung mit Waffen ausgeübt hat.Was aber ist jetzt? W as außer unschuldigen Opfernproduziert dieser Krieg? Die politische Isolation des Re-gimes ist nicht mehr vollständig: weder nach innen nochnach außen. Erste Länder bekunden ihre Unterstützungfür dieses Regime. Amerikanische Beobachter stellenkonsterniert fest, dass Iraker aus dem In- und Auslandangesichts des Bombenhagels zu den W affen eilen, umihr Land zu verteidigen. Zwar zweifelt kaum jemand ambaldigen Ende Saddams, aber jetzt kommt dieses Endenicht sang- und klanglos, sondern in einem Geschütz-donner, der Saddam Hussein einen alten Traum erfüllenkönnte, nämlich in seinem Ende noch den Zugang zu je-nem Kosmos arabischen Heldentums zu finden, von demer immer geträumt hat. V on den Seitenbühnen dieserSzene hören wir immer häufiger das bedrohliche W ortDschihad. Plötzlich bitten die Sprecher der Krieg füh-renden Staaten um die Geduld, die sie vorher den V er-einten Nationen und der Me hrheit der Staaten verwehrthaben.
Frau Merkel, auf diese Zwischenbilanz des Kriegeshätten Sie eingehen müssen. Das hätten wir von Ihnenerwartet. Aber Sie haben es nicht getan. Nach 14 TagenKrieg kommen weltweit imme r mehr Menschen zu derErkenntnis: Dieser Krieg ist ein blutiger Irrweg, der ei-nen kaum übersehbaren politischen Flurschaden anrich-tet. Daran wird sich auch nichts ändern, wenn sich dieüberlegenen Waffen durchgesetzt haben und dann dieserKrieg sehr bald, wie wir hof fen, zu Ende sein wird. Ge-rade deswegen war es wich tig, dass diese Bundesregie-rung zusammen mit vielen anderen Ländern bis zur letz-ten Minute alles getan und versucht hat, um diesenIrrweg zu verhindern und eine Alternative, die Entwaf f-nung ohne Krieg, durchzusetzen.
Frau Merkel, Sie haben in Ihrer Rede wieder bewie-sen: Sie versuchen, den Menschen bis heute einzureden,dass es diese Alternative nicht gab. Das ist unser eigent-licher Dissens. Sie tun das deswegen, weil Sie die Politikder amerikanischen Regierung von Anfang bis Endeohne Wenn und Aber unterstützt haben, die diesen Kriegvon vornherein vorbereitet un d sich am Ende gegen dieMehrheit der Staatengesellschaft durchgesetzt hat.
Aber Sie werden mit Ihrer Behauptung von der Un-vermeidbarkeit des Irakkrieges nicht durchkommen,Frau Merkel. Sie schaf fen es nicht einmal, Ihre eigeneFraktion zu überzeugen.
Angeblich hat sich diese vor gestern, bis auf den wacke-ren Kollegen Gauweiler,
hinter Sie gestellt, aber da gibt es Erklärungsbedarf.
Ich will Ihnen ein Beispiel geben: Von einem MitgliedIhrer Fraktion konnte man in der regionalen Presse vorwenigen Tagen folgende Sätze lesen:Ich verurteile das Vorgehen der USA. Im Gegensatzzur Mehrheit meiner Partei denke ich, dass diefriedlichen Mittel nicht ausgeschöpft wurden.Noch am letzten Samstag war zu lesen:Ich liege klar nicht auf der Linie der Fraktions-chefin. Das Vorgehen der USA, ein Ultimatum zustellen und in den Krieg zu ziehen, finde ich falsch.Am Dienstag war alles ganz anders, frei nach demMotto: Hier stehe ich, ich kann auch anders, und das beiFragen von Krieg und Frieden. Das ist kein Einzelfall,viele unserer Kollegen haben das Gleiche in ihren Wahl-kreisen erlebt. Das heißt aber: In W irklichkeit gibt esviel mehr Gauweilers, als wir denken. Bloß sprechen ei-nige in Berlin anders als zu Hause.
Das heißt aber auch: Ihre argumentative Bindewir-kung, Frau Merkel, endet be reits an den Türen IhresFraktionssaales.
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3008 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. April 2003
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Gernot ErlerIn Wirklichkeit mussten Sie schon jetzt zum letzten Mit-tel einer informellen Vertrauensfrage greifen,
um die vielen zum V erstummen zum bringen, die ganzanderer Meinung in der Kriegsfrage sind als Sie.
Mit Ihrer dogmatischen Position richten S ie einenSchaden an, der weit über Ihre Partei und Ihre Fraktionhinausgeht.
Die Menschen merken nämlich ganz genau, wie gefähr-lich die jetzige Diskussion ist. Frau Merkel, ich rufe Sieauf, endlich einmal mit dieser Hetze gegen die Bundes-regierung aufzuhören und zu behaupten,
dass sie eine Mitverantwortu ng für den Krieg habe. Siemerken überhaupt nicht den W iderspruch, dass Sie ei-nerseits den Bundeskanzler auf fordern, er solle zumAusgleich in Europa beitrage n, Sie aber andererseits inder Kleinräumigkeit der Bu ndesrepublik jeden Tag aufsNeue das T ischtuch zerschneiden. Die Leute erwartendoch etwas völlig anderes von uns. Sie erwarten, dasswir in diesem Augenblick gemeinsam handeln und unsauf die Prioritäten konzentrieren.Diese Prioritäten sind erkennbar . Die erste Prioritätheißt: Es muss zunächst einmal etwas zur Abwendungder humanitären Katastrophe unternommen werden.
Es wurde sogar von Amerika anerkannt, was die Bun-desregierung in dieser Beziehung gemacht hat. Deutsch-land hat als Vorsitzender des Sanktionsausschusses Irakganz wesentlich dazu beigetragen, dass die Sicherheits-ratsresolution 1472 vom 28 . März zustande gekommenist. Wir gratulieren und danken unserer Delegation beiden Vereinten Nationen unter Botschafter Pleuger für ih-ren Anteil daran.
Es gibt noch eine zweite Priorität, diese heißt: DieAutorität der Vereinten Nationen bei jeder Regelungeiner Friedensordnung bzw . einer Nachkriegsordnungnicht nur im Irak, sondern in der ganzen Region, musswieder hergestellt werden. Wir freuen uns – das ist einkonkreter Erfolg von Politik –, dass Großbritannien undinsbesondere Tony Blair uns in dieser Position immerdeutlicher unterstützen. Das ist der Weg zurück zu einergemeinsamen europäischen Position. Diese ist konkreterreicht worden und deshalb bedarf es nicht ir gendwel-cher Anmahnungen.
Der Krieg im Irak bringt viele zum Zweifeln und zumVerzweifeln. Wenn wir als zum Handeln Gewählte auchnoch Argumente liefern, die Defätismus, die Kleinmü-tigkeit legitimieren, dann werden wir unserem Mandatnicht gerecht. Es gab Alternativen und es gibt sie immernoch zu dem, was uns jetzt al le quält. Wir müssen dieseAlternativen benennen und global durchsetzungsfähigmachen. Das und nichts anderes ist unsere Aufgabe.Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Ich erteile das W ort Herrn Kollegen Guido
Westerwelle, FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-ren! Herr Bundeskanzler, Sie haben eine Regierungser-klärung abgegeben, bei der di ejenigen, die sich für dieAußenpolitik interessieren – das ist in diesen Zeiten je-der in diesem Hause –, dami t gerechnet haben, Sie wür-den heute auch weiterführend perspektivisch die Vorstel-lungen der Bundesregierung für die Zeit nach dem Kriegvortragen.
Ich glaube, es gibt zwei Fragen, die wir uns alle stel-len: Wie konnte es zu diesem Krieg kommen und waskommt nach dem Krieg? Zu beiden Fragen haben Siesich sehr allgemein eingelassen und sich um ihre Beant-wortung herumgedrückt. Si e haben von der Rolle derVereinten Nationen gesprochen, aber das war im Grundegenommen nur eine Floskel bz w. ein rhetorisches Be-kenntnis dazu.
Denn die Vereinten Nationen als alleinige Inhaber desGewaltmonopols darzustellen ist zwar in der Sache rich-tig, aber in Anbetracht des Scherbenhaufens, den diedeutsche Regierung – übrigens gemeinsam mit der Re-gierung in Washington – in den Vereinten Nationen mitangerichtet hat, ist das eindeutig zu wenig.
Diese differenzierte Haltung mag bei Ihnen von derSPD auf Empörung stoßen; wir Freien Demokraten blei-ben trotzdem bei unserer Ei nschätzung: Dass es zu die-sem Krieg gekommen ist, ist auch das Ergebnis desVersagens der Außenpolitik auf beiden Seiten des At-lantiks. Sowohl die Regierung in W ashington als auchdie in Berlin haben die V ereinten Nationen infrage ge-stellt und ihre Arbeit erschwert. Das war der schwereFehler in dieser Zeit.
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Dr. Guido WesterwelleJetzt stellen sich folgende Fragen: Wie kann die Rolleder Vereinten Nationen wieder ausgebaut werden? W asmüssen wir uns vornehmen? W elche Initiativen inEuropa starten Sie? Dabei reic ht es nicht aus, sich fürdas Amt ein es europäischen Außenministers auszu-sprechen. Über diese Erkenn tnis haben wir schließlichschon oft genug gesprochen.Die Frage, die Sie beantworten müssen, ist: W elcheRolle soll künftig Europa in den V ereinten Nationenwahrnehmen? Wir haben festgestellt, dass eine Struktur ,in der die Vereinten Nationen von ihren Mitgliedstaateninfrage gestellt werden, die sie nutzen und benutzen, bissie glauben, sie nicht mehr zu brauchen, auf Dauer nichtpositiv ist. Es ist die eige ntliche Aufgabe der deutschenPolitik – das er gibt sich au ch aus der Historie unsererbisherigen Außenpolitik –, die Stärkung Europas in denVereinten Nationen voranzubringen,
damit dort nicht europäisch e Nationalstaaten handeln,sondern damit Europa in den V ereinten Nationen han-delt. Deswegen wäre es jetzt an der Zeit, dass die deut-sche Politik die Initiative für einen Sitz der EuropäischenUnion im Weltsicherheitsrat ergreift.
Das wäre die richtige Initiative, die wir in dieser Diskus-sion starten sollten.Ein weiterer Punkt betrif ft den europäischen Eini-gungsgedanken. Ich empfehle Ihnen in diesem Zusam-menhang – das ist wichtig – ein Interview und einen Na-mensbeitrag vom heutigen Tage, und zwar nicht wegender Spitzen gegen die Regierung, die beispielsweise indem Interview enthalten sind, sondern wegen der Souve-ränität, mit der sich zwei große Staatsmänner zur Außen-politik äußern. Es handelt si ch zum einen um das Inter-view des Altbundeskanzlers, Helmut Kohl,
in der Zeitung „Die Welt“ und zum anderen um einen vor-züglichen Namensbeitrag von Hans-Dietrich Genscherim „Tagesspiegel“ vom heutigen Tage, den ich ebenfallsIhrer Aufmerksamkeit empfehle.
Wer über Außenpolitik spricht, sollte die Souveränitätund die Selbstverständlichkeit zur Kenntnis nehmen, mitder der Altbundeskanzler, Helmut Kohl, auch auf die un-terschiedlichen Wahrnehmungsweisen sowohl in W a-shington als auch in Berlin hinweist. Für Helmut Kohlist es kein Problem, das Handeln der amerikanischen Re-gierung namentlich zu kritisieren. Das sollte für uns alleim Deutschen Bundestag ke in Problem sein; denn auchals Freunde der Amerikaner mü ssen wir feststellen: Al-leingänge dieser Art können nicht die Billigung der deut-schen Politik finden.
Des Weiteren empfehle ich den, wie ich meine, sehrbemerkenswerten Beitrag von Herrn Genscher im „T a-gesspiegel“. Ich glaube, dass wir darin vor allem einenbemerkenswerten Hinweis auf das finden, was jetzt dis-kutiert werden muss, nämlich auf das Verhältnis zu denkünftigen osteuropäischen Mitgliedstaaten der Euro-päischen Union. Hier wird der Eindruck erweckt, alswürden diese Staaten vielleicht eines Tages der Europäi-schen Union beitreten.
– Nicht Sie! Das ist vielmehr in der öffentlichen Diskus-sion mehrfach erwähnt worden, gar keine Frage.
– Entschuldigung, darf ich Sie auf etwas aufmerksammachen? Wenn es darum geht, das V erhalten der Deut-schen gegenüber Osteuropa zu würdigen, dann sage ichin aller Ruhe – weniger im Hinblick auf das, was heutegesagt worden ist, sondern mehr im Hinblick auf dieletzte Regierungserklärung, die der Bundeskanzler abge-geben hat –: Ihr oberlehrerhafter Umgang mit den künf-tigen osteuropäischen Mitg liedern der EuropäischenUnion
ist ein dramatischer Fehler und zeugt von der Arroganzeines großen Landes, wie Sie sie in ihren Auswirkungenmöglicherweise gar nicht verstanden haben.
Wenn Sie die Osteuropäer – erinnern wir uns nur, wieSie auf die Initiativen der osteuropäischen Länder rea-giert haben, die natürlich vor einer ganz anderen Fragestehen – vor die Alternative „Europa oder S icherheit ineinem Bündnis mit den V ereinigten Staaten“ stellen,dann befürchte ich, dass sie sich aufgrund ihrer eigenenHistorie eher für die Sicherheit entscheiden. Das ist auchder große Fehler der von Ihnen initiierten Achsendis-kussion. Muss ich wirklich darauf hinweisen, welcheBedeutung diese Diskussion für Prag oder W arschauhat? Es ist falsch, zu glaube n, dass wir eine neue Achseanstelle der transatlantischen Beziehungen schaffen kön-nen. Europa und Amerika müssen zusammenbleiben.Das ist der historische Auftrag, den wir in der jetzigenPhase haben.
Das sage ich als jemand, der die Haltung der Amerikanersehr deutlich kritisiert hat.In dem Beitrag von Herrn Genscher heißt es:
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Dr. Guido WesterwelleDie Enttäuschung in Paris und Berlin über das Ver-halten einiger Beitrittsländer in der Irakfrage sollteAnlass sein, die Beitrittsländer unverzüglich in dieaußenpolitische Meinungsbildung der EU einzube-ziehen.Genau das ist es. Beklagen Si e sich nicht darüber , dassandere demokratisch gewählte Regierungen anders han-deln. Suchen Sie das Gespräch!
In Wahrheit sind die Probleme in den Beziehungen zwi-schen Berlin und W ashington dadurch entstanden, dassdie demokratisch gewählten Führer zweier europäischerLänder in den Zustand der Sprachlosigkeit – das trifftin erster Linie auf Sie zu – verfallen sind. Das wird ein-mal als das große Versagen der Diplomatie und der Au-ßenpolitik in die Geschichtsbücher eingehen.
Herr Bundeskanzler, Sie haben in Ihrer Regierungser-klärung einen bemerkenswerten Satz gesagt, nämlichdass die jetzige Diskussion zwar – vielleicht – der Aus-druck von Meinungsunterschieden zwischen Regierun-gen sei, dass sich aber di e europäischen Gesellschaftendurchaus einig seien. Gemeint haben Sie damit Folgen-des: Ich, Gerhard Schröder , Bundeskanzler der Bundes-republik Deutschland, habe vi elleicht nicht die Zustim-mung aller europäischen Regierungen, aber in W ahrheitsteht die Bevölkerung ganz Europas hinter mir . Genaudas ist es, was Sie gemeint haben. Dass das nicht stimmt,werden Sie feststellen, wenn sie sich zum Beispiel diegesellschaftliche Diskussion in Großbritannien an-schauen. Übrigens, dort hat es eine Diskussion im Unter-haus in einer Qualität gegeben, wie man sie sich hiermanchmal wünschen würde.
– To whom it may concern. Allein die Reaktion auf dieseBemerkung zeigt, wie richtig mein letzter Satz ist.
Ich möchte aber auf etwas anderes hinweisen. W asbedeutet das Ganze denn? Da s bedeutet in W ahrheit,dass Sie nicht alle europäischen Regierungen in der Irak-frage hinter sich haben wollen, um gemeinsam voranzu-gehen, sondern dass Ihnen – das ist of fensichtlich einwesentliches Kriterium Ihrer Außenpolitik – die Zu-stimmung der eur opäischen Gesellschaften reicht.Herr Bundeskanzler, Ihre Re gierungserklärung belegt,dass Sie im Grunde genommen genau das Prinzip in derAußenpolitik verfolgen, das Sie in Ihrer Wahlkampfredein Goslar dargelegt haben.
Sie lassen Außenpolitik in weiten T eilen durch Mei-nungsumfragen bewerten und richten sich danach. Siedürfen aber in Ihrer Außen politik nicht danach fragen,wie sie auf die Menschen wirkt. Sie müssen Außenpoli-tik vielmehr so formulieren, dass sie etwas für die Men-schen bewirkt. Das ist die eigentliche Frage, die Sie zubeantworten haben. Das tun Sie aber nicht.
Herr Bundeskanzler, ich möchte in den wenigen Mi-nuten, die mir in dieser Debatte verbleiben, noch dieFrage ansprechen, wie wir un s in Deutschland im Hin-blick auf diese Diskussion aufstellen sollten.Erstens. Herr Bundeskanzler, kurz nachdem Sie IhreRegierungserklärung beendet hatten, hat die Bundesan-stalt für Arbeit in Nürnber g ihre aktuelle Arbeitslosen-statistik veröffentlicht. Während wir debattieren, wirdbekannt, dass die Arbeitsl osenzahlen auf dem höchstenMärzstand seit der Wiedervereinigung sind.
Das ist deshalb so erwähnenswert, weil auch das ge-samte außen- und europapo litische Gewicht der Deut-schen davon abhängt, ob sie als starke Wirtschaftsnationihre innenpolitischen Hausaufgaben machen.
Deswegen ist die wirtschaftliche Kraft Deutschlands inEuropa von den Möglichkeiten, die wir in der Außenpo-litik einnehmen können, schl echterdings nicht zu tren-nen. Nur wenn Sie den Weg der Erneuerung gehen – das,was Sie bisher vor gelegt haben, ist zu wenig –, werdenSie in der Lage sein, international Gehör zu finden.Zweitens. Es reicht eben nicht aus – Frau KolleginMerkel hat darauf zu Recht hingewiesen –, in bestimm-ten Situationen die Ankündigung, die Bundeswehr bes-ser auszustatten, fallen zu lassen; sondern S ie müssendem auch Taten folgen lassen. Sie können der Bundes-wehr nicht immer neue internationale Aufgaben übertra-gen – ich sage Ihnen voraus, dass in der Nachkriegszeitweitere neue Aufgaben au f uns zukommen, mindestenshumanitäre – und gleichzeitig den Etat der Bundeswehrimmer weiter kürzen.
Wer die Bundeswehr mit neuen Aufträgen ausstattet, dermuss sie auch mit neuen Mitteln ausstatten.
Darüber werden wir gemeinsam, verehrte Kollegin-nen und Kollegen, auch der Regierungsfraktionen – ichhabe die Worte des Bundeskanzlers, die von seinem Re-detext abwichen, sehr genau verfolgt; ich begrüße das,was er gesagt hat, ausdrücklich –, in diesem Haus imHinblick auf die künftige Rolle der Bundeswehr ent-scheiden. Wir müssen klären, was wir wollen.Herr Bundeskanzler, ich begrüße nachdrücklich, dassSie sich hier – jedenfalls den Worten nach – zu einemParlamentsheer, zu einer Parlamentsarmee bekannt ha-ben. Um dem Rechnung zu tragen, müssen wir gemein-sam im Deutschen Bundestag nicht irgendwann, sondern
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Dr. Guido Westerwellevon nun an zügig beraten, wie wir dem Auftrag des Bun-desverfassungsgerichts nachkommen können. W ir müs-sen klar machen, dass die Kultur der Zurückhaltung beiAuslandseinsätzen der Bundeswehr auch dadurch erhal-ten bleiben soll, dass wir die Schwelle der Einsätze nichtsenken, indem wir aus der Pa rlamentsarmee eine Regie-rungsarmee machen.
Wir Liberale wollen eine Parlamentsarmee und dahertreten wir dafür ein, dass wir hier, im Deutschen Bundes-tag, ein Mitwirkungsgeset z beraten und beschließen.Eine entsprechende Vorlage liegt seit Sommer letztenJahres – das war noch in de r alten Legislaturperiode –vor. Wir haben sie wieder eingebracht. Da Sie, verehrteKolleginnen und Kollegen, die Geschäftsordnungsmehr-heit in diesem Hause haben, fordere ich Sie auf: Sor genSie mit dafür, dass es heute Nachmittag den Beschlusszur Durchführung einer Anhörung gibt! Was vergebenSie sich denn, wenn Sie ge meinsam mit uns ein Gesetzbeschließen – am Anfang der Beratungen wird es wieimmer unterschiedliche Vorstellungen geben –, in demgeregelt wird, was Bundesregierung und was Bundestagkünftig entscheiden dürfen und müssen? Unser Auftragist, uns nicht nur in der groß en Weltpolitik zu verlieren,sondern auch, das zu entscheiden, was wir entscheidenmüssen. Die Erfüllung dieses Auftrags steht an.Herr Bundeskanzler, Sie haben gesagt, das Bundes-verfassungsgericht habe Ihnen in seiner Eilentschei-dung Bestätigung gegeben. Herr Bundeskanzler – ichempfehle Ihnen wirklich mit großem Nachdruck die Lek-türe der Begründung des Bu ndesverfassungsgerichts –,das können Sie aus dieser Entscheidung wirklich nichtherauslesen. Dort steht etwa s ganz anderes. Es heißt inder Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts wört-lich:In einem Hauptsacheverfahren bedarf es der Klä-rung, wie weit der unmittelbar kraft Verfassung gel-tende, konstitutive Parlamentsvorbehalt im W ehr-verfassungsrecht reicht.Das ist ein Auftrag an die Politik.Seit Jahren diskutieren wir über ein Entsendegesetz;wir nennen es Mitwirkungsg esetz. Dieser Auftrag ent-hält die Auf forderung, zu handeln. Sie haben hier dieÜberparteilichkeit betont und zu Recht von jedem Abge-ordneten staatspolitische V erantwortung eingefordert.Daher sollte Ihr Beitrag zur Überparteilichkeit und zurstaatspolitischen Verantwortung darin bestehen, denWeg für ein gemeinsames Gesetz frei zu machen. Stim-men Sie also heute Nachmitt ag, bitte schön, im Deut-schen Bundestag dem Beschluss zur Durchführung einerAnhörung zu, damit wir die entsprechenden parlamenta-rischen Schritte gehen können.
Herr Kollege Müntefering, am Schluss meiner Redemöchte ich Ihnen noch vorha lten, was Sie in einem In-terview gesagt haben. So we rden Sie jedenfalls heutevon den Agenturen zitiert. Ich freue mich, dass HerrKollege Erler das, was Sie gesagt haben sollen, nichtwiedergegeben hat, und hof fe, dass Sie falsch zitiertworden sind. Es heißt dort:Junge Menschen erleben, dass das Recht des Stär-keren die Stärke des Rechts ersetzt.
Meine Damen und Herren, ic h bitte Sie, dies einenAugenblick lang zu Ende zu denken.
Wir alle sind, wie ich glaube, uns darüber einig – diesgilt jedenfalls für die Freien Demokraten –, dass natio-nale Alleingänge ohne Mandat der V ereinten Nationennicht die Billigung der deutschen Politik finden können.Sie haben dazu unsere Erklär ung auch in diesem Hausegehört; viele in diesem Hause haben der Erklärung unse-res Fraktionsvorsitzenden am 21. März Beifall gespen-det.
Aber jetzt geht es nicht mehr um die Frage, ob wir unsdarüber unterhalten und uns gegenseitig die Verantwor-tung zuweisen – dazu haben wir unterschiedliche V or-stellungen –, sondern darum, dass allen Ernstes der Ein-druck erweckt wird, im Ira kkrieg kämpfe die Stärkegegen das Recht.
Im Irak wird gegen Unrecht gekämpft. Das darf nichtvergessen werden, meine sehr geehrten Damen und Her-ren.
Ich erteile Kollegin Krista Sager , Fraktion Bündnis
90/Die Grünen, das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kol-lege Westerwelle, Sie hätten sich nicht so oberlehrerhaftüber die UNO äußern sollen, wie Sie es hier getan haben.Ihre letzte Bemerkung hat nämlich gezeigt, dass Sie garnicht begriffen haben, was in der UNO passiert ist.
Selbstverständlich wünscht sich niemand den Sieg ei-nes Diktators. Auch wäre selbstverständlich jeder frohgewesen, wenn das Regime im Irak schnell zusammen-gebrochen wäre oder aufgegeben hätte; das ist doch gar
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3012 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. April 2003
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Krista Sagerkeine Frage. W ir alle können nur hof fen, dass dieserKrieg bald zu Ende gehen und nicht noch mehr Opferfordern wird. Darüber brauchen wir uns hier nicht zustreiten. Ich frage mich aber , ob wir uns eventuell überdas Ziel streiten müssen, dass das irakische Volk – ichsage hier ganz bewusst: da s irakische Volk – die Mög-lichkeit bekommt, sein Leben in Frieden, Freiheit undSelbstbestimmung in die Hand zu nehmen.
Meine Damen und Herren, es ist doch bedrückend,dass wir jetzt feststellen müssen, dass alle beschriebenenRisiken, die Basis unserer politischen Entscheidung ge-wesen sind, schon jetzt eintreten und dass alle Befürch-tungen, die wir gehabt haben, schon jetzt wahr werden.Die Zivilbevölkerung ist real die Leidtragende. Es gibtnicht den modernen Krieg, der sich zielgerichtet gegen ei-nen Diktator und sein Regime wendet und die Menschenungeschoren lässt. Alle Ho ffnungen, die USA und ihreVerbündeten würden als Befreier gefeiert oder es werdein kürzester Zeit große Aufstände der Schiiten geben, sindTäuschungen gewesen. Jetzt müssen wir befürchten, dasssich die humanitäre Katastrophe ausweitet, die sich be-reits deutlich zeigt. Diese T ragik belegt, dass alle W ar-nungen vor diesem Krieg berechtigt gewesen sind.
Frau Merkel, Sie haben hier versucht, ein paar beden-kende Worte zu finden, und geäußert, dass alles nundoch recht traurig sei. Sie haben aber gleichzeitig gesagt,der Krieg sei nun Realität. Damit machen Sie es sichwirklich zu einfach, weil Sie damit auch eine Betrach-tung der Risiken vom T isch gewischt haben. Sie habenzwar gesagt, man müsse si ch die Risiken anschauen.Aber genau dieser Satz ist Ihre W eise, sich die Risikennicht anzuschauen. Dies haben Sie hier schon die ganzeZeit über so praktiziert.
Den Einkauf von Impfstoffen infolge der Ereignisse des11. September hier so darzustellen, als hätte das ir gend-etwas mit der Irakpolitik zu tun, ist wirklich perfide ge-wesen.
Schauen wir doch einmal auf die Risiken: Schon jetztsteht ein laizistischer Diktator, der von den religiösen Is-lamisten eigentlich immer nur verachtet worden ist, ingroßen Teilen der arabischen und der islamischen W eltplötzlich als Identifikationsfigur da. Das ist absurd, dasist tragisch; aber sagen Sie doch bitte nicht, dass dasnicht vorauszusehen gewesen ist. Genau davor ist ge-warnt worden.
Jetzt kommen Menschen aus Tschetschenien und Afgha-nistan in den Irak, um dort zu kämpfen. Jetzt verübenkleine islamistische kurdis che Organisationen – Grup-pen, die bisher in Feindschaft zu Saddam Hussein gelebthaben – Selbstmordattentate gegen amerikanische Sol-daten. Das ist die Wahrheit.Wir blicken mit großer Sor ge auf die Entwicklung inPakistan. Wir beobachten mit großer Sorge, dass Nord-korea in seinen Formulierungen über das Glück, übereine Atombombe zu verfügen, immer unberechenbarer ,immer gefährlicher wird. Ge nau vor diesen Risiken istimmer gewarnt worden. Uns droht jetzt wirklich einepanarabische, panislamische nationalistische Bewe-gung, die die gesamte Region immer weiter destabili-siert. Genau davor haben de r deutsche Außenministerund der Bundeskanzler immer gewarnt.Aus diesem Grund hat die deutsche Bundesregierungimmer gesagt: Wenn wir die Terrorbekämpfung ernstnehmen wollen, dann kann Irak nicht die erste Prioritätsein.
Das ist auch die Antwort auf die angeblichen Widersprü-che, die Sie hier aufgedeckt haben wollen, Frau Merkel.Es sind keine Widersprüche. Die Bundesregierung hat zuRecht immer gesagt, der Ira k könne bei der T errorbe-kämpfung nicht die erste Priorität sein. Dies war einerichtige Einschätzung der Lage.
Jetzt tritt das ein, was i mmer behauptet worden ist,wofür es aber keine Beweise gegeben hat und was es soauch bisher nicht gegeben ha t. Jetzt kommt es plötzlichzu einer Union von islamistischen Terroristen mit Schur-kenstaaten. Der Krieg hat im Grunde genommen erst dasgeschaffen – er schafft es jeden Tag neu –, was die USAnach ihren Behauptungen gerade verhindern wollten.Das ist doch das Drama, vor dem wir jetzt tatsächlichstehen.
Dramatisch ist auch Folgendes: W ir wissen genau,dass wir unsere Aufgaben in Afghanistan noch nicht zuEnde erfüllt haben. Diese Au fgaben werden doch nichteinfacher. Dies gilt auch für die Situation unserer Solda-tinnen und Soldaten. Alles da s ist ebenfalls eine fataleFolge dieses Krieges.Frau Merkel, ich hatte wirklich gehofft, dass Sie heutenicht noch einmal eine solche Geschichtsklitterungversuchen würden.
Ich hatte es auch deswegen gehofft, weil ich selber eherdafür bin, nach vorne zu diskutieren. Ich bin keineFreundin des Nachtretens, aber Sie haben hier wiederdiese Geschichtsklitterung versucht. Deswegen kann iches Ihnen auch nicht ersparen, darauf einzugehen: Ihr Ja
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Krista Sagerzum Irakkurs der US-Regierung ist ein Nein zur UNOgewesen, es ist ein Nein zu Blix gewesen, es ist ein Neindaran gewesen, das Arbeitsprogramm fortzusetzen, undes ist ein Nein zur friedlichen Abrüstung gewesen. Dasist die Wahrheit!
Frau Merkel, Sie konnten vo n diesem Nein nicht da-durch ablenken, dass Sie jetzt anonyme Zitate von ano-nymen Waffeninspekteuren anführten. Das ist einfach zubillig, weil zu viele Zitate von Herrn Blix selber und sei-nen namentlich bekannten Leuten dagegenstehen.
Ehrlich gesagt, finde ich es perfide, dass Sie auchheute wieder den V ersuch unternehmen, der Bundesre-gierung die Mitschuld für ei nen Krieg in die Schuhe zuschieben, bei dem Sie am liebsten vorne mit dabei gewe-sen wären. Dies entspricht doch den Tatsachen.
Kollegin Sager, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Schäuble?
Ich bin jetzt gerade so gu t in Fahrt; deswegen aus-nahmsweise heute nicht, nächstes Mal gerne.
Frau Merkel, einige Medien haben es so dar gestellt,dass Sie in Ihrer eigenen Partei gewissermaßen unterFriendly Fire geraten sind. Über Geschmack kann manstreiten. Ich halte diese Wortwahl in dieser Zeit nicht un-bedingt für passend.
Aber Tatsache ist: Ihr Kurs wird von großen Teilen IhrerPartei so nicht mehr für richtig gehalten. Das gilt vor al-lem für Ihre Wählerschaft. Ich finde es gut, dass Sie da-rüber streiten. Mein Problem ist nicht, dass Sie in derCDU streiten; mein Problem ist, dass Sie viel zu spätund viel zu halbherzig streiten.
Dass Sie sich jetzt so schnell wieder um Ihre Vorsitzendescharren – manche scharren, manche scharen; das weißman bei Ihnen nicht so recht –, dass Sie sich so schnellwieder um Ihre Vorsitzende versammeln
und Burgfrieden jetzt die Ansage in Ihren Reihen ist, hatdoch nur einen einzigen Grund, nämlich den: Alle wis-sen, dass die Haltung Ihrer V orsitzenden zum Irakkriegfür die Außenpolitik in Deutschland irrelevant ist. Dasist der einzige Grund dafür , dass das bei Ihnen funktio-niert.
Einige sind auch froh darüber , dass das so ist. Für IhreWählerschaft und den Großteil Ihrer Mitglieder wäre esein Graus, wenn die Haltung von Frau Merkel zum Irak-krieg in diesem Lande in irgendeiner Weise gestaltungs-relevant wäre.
Selbst dann, wenn es mi litärisch noch zu einemschnellen Sieg der V erbündeten kommen sollte, ist ausmeiner Sicht der Alleingang der USA schon heute alsDesaster anzusehen.
Ich will Ihnen eines aber ganz deutlich sagen: Ich habedie durchaus begründete Hof fnung, dass die W elt ausdiesem Desaster lernen wird.
Es zeigt sich schon heute, dass auch die mächtigste Su-permacht der Welt nicht in der Lage ist, in unserer immerkomplexeren Welt, in unserer Welt, in der zahlreiche Ur-sachen und Wirkungen miteinander auf kompliziertesteWeise verschränkt sind, einfach im Alleingang eine poli-tische Neuordnung herbeizuführen. Es ist doch so, dassselbst in Großbritannien, aber auch in den USA die Men-schen geradezu erschreckt reagiert haben, als Powell dasStichwort Syrien und Iran in die Debatte gebracht hat.Niemand glaubt doch mehr daran, dass Abrüstungs-kriege heute die Antwort auf Massenvernichtungswaffensind. Alle fordern umso mehr eine Stärkung der UNOund eine Stärkung von wirk samen Waffenkontrollregi-men, die die V erbreitung von Massenvernichtungswaf-fen auf andere Art unterbinden.
Ich bin ganz sicher: Die UNO wird ihre Rolle wiederfinden und sie muss sie auch wieder finden. Ich bin aus-gesprochen froh darüber, dass auch Tony Blair die UNOwieder ins Spiel gebracht hat. Was wir mit der UNO er-leben, erleben wir ganz ähnlich auch mit Europa. W ermit den Menschen in diesem Land spricht, der merkt:Das Interesse an der UNO ist größer denn je; es ist nichtkleiner geworden. Das Gleiche gilt auch für Europa.Die Menschen wollen gerade vor dem Hinter grund derErfahrung mit dem Irakkrieg heute mehr denn je ein star-
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Krista Sagerkes Europa. Es ist eine Riesenchance, dass die Menschendieses Europa endlich als ihr Europa begreifen.
Wir haben doch lange die Situation gehabt, dass vieleMenschen gesagt haben: Europa ist ein Europa für dieBürokraten und für die Dipl omaten. Es ist ein Europa,das viel kostet und mit den Bür gerinnen und Bür gernnicht so viel zu tun hat. – In den Gesprächen, die wirheute führen, erleben wir, dass die Menschen jetzt sagen:Ja, wir brauchen ein starkes Europa, und zwar als starkenPartner in multilateralen Zusammenhängen und Struktu-ren. – Das wollen die Menschen und deswegen ist esrichtig, dass sich die Bundesregierung dafür einsetzt.
Es ist keinesfalls so, Herr Westerwelle, dass die Bun-desregierung hier einseitig operiert. Die Gespräche mitden osteuropäischen Staaten, mit den osteuropäischenAußenministern werden doch längst geführt. Natürlichist es unsere Aufgabe als Politikerinnen und Politiker ,den Menschen zu sagen: W ir wollen ein starkes Europanicht als Gegengewicht zu den USA, sondern als starkenPartner für die USA, denn wir brauchen die USA weiter-hin, um auf der Basis der transnationalen Zusammen-hänge auf Konflikte in dieser Welt zu reagieren und siefriedlich zu lösen, beispiel sweise im Nahen Osten, aberauch zwischen Indien und Pakistan. Das ist überhauptkeine Frage.Es ist auch überhaupt keine Frage, dass wir die osteu-ropäischen Länder nicht vo r die Wahl zwischen NATOund EU stellen wollen. W eil wir ihnen diesen Spagatnicht zumuten wollen, sagen wir: Wir wollen ein starkesEuropa in einem transatlanti schen Bündnis. Das ist füruns überhaupt keine Frage; dafür werden wir auch ein-treten.
Aber, meine Damen und Herren von der Opposition,in einer Frage gehen wir Ihnen nicht auf den Leim: Sie,Frau Merkel – bei Herrn Westerwelle hat das leider auchein bisschen angeklungen –, versuchen uns hier einzure-den, dass ein bedingungsloses Ja zur US-Politik, also so-zusagen eine stillschweigende Unterstützung des ameri-kanischen Präventivschlags gegen den Irak, der Preis füreuropäische Einigkeit und für Einigkeit in der UNO sei.Dazu sage ich Ihnen: So kann Einigkeit in Partnerschaf-ten nicht aussehen.
Auch in einer Partnerschaft ist verantwortliches Han-deln, in diesem Fall also ei ne verantwortbare Politik,notwendig. Das bedeutet: W enn ein Partner eine ekla-tante Fehlentscheidung trifft, muss man zu dieser Fehl-entscheidung Nein sagen können. Ein Europa, das daraufbasiert, dass man wegen der Einigkeit zu Dingen Ja sa-gen muss, die für alle anderen Menschen in der W elthochgefährlich sind, wäre kein starkes Europa.Herr Westerwelle, Sie haben gesagt: Die Außenpolitikmuss daran gemessen werden, wie sie sich auf die Men-schen auswirkt. Hierbei sind aber bitte schön auch dieAuswirkungen auf die Menschen im Nahen Osten zu be-rücksichtigen und nicht nur die auf die Menschen in Eu-ropa.
Meine Damen und Herren, auch wir werden dazu bei-tragen, dass es im Rahmen einer Europäischen Sicher-heits- und Verteidigungspolitik zu einer stärkeren Zu-sammenarbeit kommt. Dazu gehören auch gemeinsamemilitärische Strukturen, aber nicht nur . Ich sage aus-drücklich: Dazu gehört auch die Stärkung der Struktu-ren, die die friedliche Konfliktbewältigung ertüchtigen.
Wir brauchen einen ganzheitlichen, einen erweiterten Si-cherheitsbegriff und nicht einen, der nur das Militärischeumfasst.
Natürlich ist die belgisch e Initiative, an der sichDeutschland und Frankreich beteiligen,
keine exklusive Veranstaltung; alle europäischen Staatensind eingeladen. Ich glaube, dass viele europäische Staa-ten sehen werden, dass ihnen eine solche Initiative auchdeswegen nützt, weil sie Ressourcen sinnvoll bündelt.Wenn in Zukunft nicht mehr jeder Nationalstaat für sichalleine seine Militärpolitik macht, sondern man dieKräfte bündelt, können alle europäischen Länder ihreRessourcen vernünftig einsetzen.Das entbindet uns aber ni cht von der Aufgabe, dieUmstrukturierung der Bundeswehr weiter voranzutrei-ben. Deswegen ist es wichtig, zu sagen, dass die Verab-redungen, die wir für die näch sten drei Jahre getrof fenhaben – Herr Minister Eichel schaut schon ganz erwar-tungsvoll –, selbstverständlich weiter gelten. Wir müssennämlich diese Umstrukturierung voranbringen. Natürlichwerden wir im Rahmen entsprechender innereuropä-ischer Verständigungen auch in Zukunft einen angemes-senen Beitrag für die Stär kung Europas leisten müssen.Dafür werden wir auch um Verständnis bei der Bevölke-rung werben. Das ist für mich gar keine Frage. W irGrüne werden aber , wenn wir in Zukunft über dieNeustrukturierung der Bundeswehr sprechen und disku-tieren, auf die Agenda auch das Thema der W ehrpflichtin diesem Lande setzen.
Meine Damen und Herren, natürlich wird die Bundes-wehr weiter eine Parlamentsarmee bleiben. Dafür wer-den wir sorgen.
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Krista SagerWir werden gleichzeitig dafü r sorgen, dass die Bundes-republik Deutschland ihre Handlungsfähigkeit auch inmultilateralen Zusammenhängen behält. W ir werdenaber, Herr Westerwelle, Ihnen nicht dabei behilflich sein,wenn Sie im Schatten des Irakkrieges Ihre innenpoliti-schen Spielchen betreiben.
Wenn Sie der Meinung sind, dass, wenn die FDP eineWatsche vom Bundesverfassungsgericht bekommt, einesolche Watsche zu Rechtssicherheit in diesem Lande bei-trägt, dann ist mir um di e Rechtssicherheit in diesemLande gar nicht bang; das muss ich Ihnen sagen.
Wir werden auf jeden Fall die Bundesregierung dabeiunterstützen, die multilateralen Strukturen auf der Basisinternationalen Rechts zu st ärken und in diesen multila-teralen Strukturen dafür zu sorgen, dass Europa ein star-ker und zuverlässiger Partner wird.
Ich erteile Kollegen Michael Glos, CDU/CSU-Frak-
tion, das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Wir stehen natürlich alle unter dem Eindruckdes Krieges im Irak und wir hof fen alle, dass der Kriegschnell mit einem Sieg der Amerikaner und ihrer V er-bündeten zu Ende geht.Herr Bundeskanzler, ich habe eigentlich erwartet,dass Sie dies auch bei Ihrer heutigen Regierungserklä-rung so sagen;
denn wir können bei diesem Krieg, auch wenn wir ihn inder Konsequenz alle nicht gewollt haben – uns wären an-dere Lösungen lieber gewesen –, nicht neutral sein. Inso-fern begrüße ich das, was der SPD-GeneralsekretärScholz gesagt hat, nämlich dass ihm an einem schnellenSieg der Alliierten gelegen sei, nicht zuletzt um dieZahl der Opfer so gering wie möglich zu halten. Ichglaube, das sollte Konsens in diesem Hause sein.
Über das Versagen der Polit ik und das Nicht-halten-Können des Friedens ist hier viel diskutiert worden.Auch heute hat das wieder eine Rolle gespielt. Ichmöchte nur noch einmal sagen: Der Einfluss der Parla-mente auf die Außenpolitik der Regierungen ist an sichgering, außer es gibt Parlam entsmehrheiten, die richtigaufbegehren, wie es zum Beispiel in Großbritannien undanderen Ländern geschieht.Sie haben großes Glück: Sie haben in den Grünen imPrinzip eine Schoßhundpartei. W enn es um die Unter-stützung Ihrer Politik geht, sind sie so friedlich undfromm wie Schoßhündchen. Aber nach außen gehen siemit verbalen Angriffen gegen die Opposition vor und tunso, als ob wir die Kriegstreiber gewesen wären. Dasfinde ich unverschämt.
Frau Sager, zu dem, was Sie soeben geboten haben,kann man nur fragen: Soll das bedeuten, dass man sich– der Bundeskanzler, die Bundesregierung, vielleicht dasganze deutsche Volk – dafü r bedanken muss, dass Sieausnahmsweise keinen Sonderp arteitag der Grünen zu-gelassen haben? Im Falle ei nes Sonderparteitages wüss-ten wir nicht, wie es um di e Fähigkeit der Bundesregie-rung stünde, das zu tun, was bündnispolitisch notwendigist.Herr Bundeskanzler, wir waren unlängst, einen T agvor Ausbruch des Krieges, beim Bundespräsidenteneingeladen. Ich fand das sehr gut. Es waren alle Parteienvertreten. Außer der PDS hat sich niemand direkt gegendas gestellt, was notwendig ist. Ich will nur daran erin-nern: Die PDS ist in einigen Landesregierungen Bünd-nispartner der SPD.Es bestand dort Konsens darüber , dass die Frage derÜberflugrechte und die Frag e der Stützpunktbenutzungnicht angezweifelt werden; denn es ist ein Stück Staats-räson, dass wir im Bündnis nicht noch mehr zerstören,als zerstört worden ist. Dass man sich dennoch in T alk-shows und bei anderer Gelegenheit von führenden Mit-gliedern nicht nur der SPD und der Grünen, sondernauch der Bundesregierung ständig anhören muss, wirseien diejenigen, die einen völkerrechtswidrigen Kriegunterstützen, das finde ich den Gipfel. Lassen Sie sichdas alles einmal zeigen. Die vorhin neben Ihnen sitzendeStaatsministerin im Auswär tigen Amt, die V ertreterinvon Herrn Fischer , ist eine der Schlimmsten in dieserHinsicht.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, noch ein Wortzu schlimmem Verhalten. Frau Sager , vielleicht leihenSie mir einen Moment Ihr Ohr. Ich konnte Ihnen meinesnicht verweigern; denn Ihre Stimme ist ziemlich durch-dringend. Frau Sager, wie ich weiß, sind Sie aus Ham-burg, Sie waren früher Mitglied des Hambur ger Senats.Wie Sie allerdings mit der führenden Hambur ger Wo-chenzeitung „Die Zeit“ umgegangen sind, das finde ichhöchst empörend. Die „Zeit“ hat ganz klar gesagt, siebürge für die Seriosität der Aussagen der UN-Inspek-teure, weil die sich namentlich nicht äußern dürfen.Dann in dieser Art und W eise gegen die „Zeit“, derenHerausgeber immerhin Staatsministerin Ihrer Regierunggewesen ist, vorzugehen, finde ich ein bisschen seltsamund sehr komisch.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich be-schuldige die Bundesregierung nicht, an diesem Kriegschuld zu sein. Sie ist nicht direkt schuld und trägt schon
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Michael Glosüberhaupt keine Alleinschuld. Aber eines ist auch sicher:Rot-Grün hat diesen Krieg nicht verhindert und hat ei-gentlich auch nichts Entscheidendes zu seiner Verhinde-rung beigetragen.Ich meine, dass wir unsere Bündnisverpflichtungennicht in Frage stellen sollten, weil wir selbstverständlichdieses Bündnis für die Zuku nft brauchen. Dazu war inIhrer Regierungserklärung, Herr Bundeskanzler , ja sehrviel zu hören, obwohl ic h mir manches konkreter ge-wünscht hätte.
Die Verstöße von Saddam Hussein gegen internatio-nales Recht sind of fenkundig und vor diesem Hinter-grund mutet die Diskussion in den Reihen von Rot-Grünüber die rechtliche Zulässigkeit der militärischenIntervention im Irak schon sehr seltsam an. Der HerrBundesaußenminister hat heute ein Interview im „Han-delsblatt“ gegeben, das ic h zumindest eindrucksvollerund konkreter finde als Ihre Regierungserklärung. Ichmöchte ihn aber nicht mit dem „Handelsblatt“, sondernmit dem „Spiegel“ zitieren. Dort hat er im Dezember dieResolution 1441 für rechtlic h ausreichend erklärt. Nungibt es große Völkerrechtsabteilungen im AuswärtigenAmt und im Bundeskanzleramt. Es gibt allerdings auchein Gutachten des W issenschaftlichen Dienstes desDeutschen Bundestages, das zu einer anderen Aussagekommt. Ich habe mich gefrag t: Wie kannst du als Laiedir eine Schneise durch di eses Dilemma schlagen? Ichhabe die Völkerrechtsabteilung des Auswärtigen Amtesgebeten, das von Herrn Thierse vor gelegte Gutachtendes Wissenschaftlichen Dienstes des Bundestages zu be-werten. Das wurde natürlich a bgelehnt. Also bleibt die-ser Streit offen und – seien wir ehrlich – er ist ja auchnicht seriös zu Ende zu führen.Nur sollten wir uns dann keine gegenseitigen Vor-würfe machen. Ich wehre mich dagegen, dass die Oppo-sition, die nicht handelnd ist in diesem Land, sich stän-dig den Vorwurf gefallen lassen muss, sie unterstützeeinen völkerrechtswidrigen Krieg. Wir haben in der Hin-sicht nichts zu unterstützen, die Regierung ist handelnd.Würde dieser Vorwurf, der aus Ihren Reihen immer wie-der erhoben wird, stimmen, müssten Sie eigentlich da-nach handeln und mit Hilfe von Müntefering und ande-ren, die sich scharf durchz usetzen wissen, verhindern,dass diese Vorwürfe ständig gegen uns erhoben werden.
Meine sehr verehrten Dame n und Herren, ich glaubeauch, dass die Politik der ei nseitigen Vorfestlegung deramtierenden Bundesregierung den Scherbenhaufen, ins-besondere in den internationalen Beziehungen, schon einStück zu verantworten hat. Die UNO hat ungeachtet ih-rer erfolgreichen Bemühungen im humanitären Bereichals System kollektiver Sicher heit jetzt leider jeglicheÜberzeugungskraft verloren. Die NATO – Sie haben dasebenfalls beklagt – befindet sich trotz der Osterweite-rung und der einmütigen So lidaritätsbekundungen aufdem Gipfel in Prag in der größten Krise ihrer Ge-schichte. Insofern ist es richtig: W ir haben nach demKrieg Wiederaufbauarbeiten zu leisten: Wiederaufbauar-beiten an der UNO, Wiederaufbauarbeiten an der NATOund auch gewaltige W iederaufbauarbeiten in der Euro-päischen Union. Die Europä ische Union wird ja heuteim Prinzip nur noch durch die GemeinschaftswährungEuro zusammengehalten. Frau Merkel hat es zu Rechtgesagt, ich möchte es hier wiederholen: Wir haben nichtvergessen, dass Sie den Euro als kränkelnde Frühgeburtbeklagt haben. Hätten wir diese kränkelnde Frühgeburtnicht, wäre die ganze Europäische Union jetzt am Ende.
Sie haben in Ihrer Regierungserklärung den Mangelan Einigkeit in Europa beklagt; sie wäre wünschenswertgewesen. Ehrlicherweise hätten Sie auch zugeben müs-sen, dass Sie zu dieser Un einigkeit entscheidend beige-tragen haben. W enn man einen Sonderweg ankündigtund wenn man sagt: Mit uns niemals!, dann ist man vonvornherein kein ernst zu nehmender Gesprächspartnermehr. Diesen Vorwurf müssen Sie sich gefallen lassen.
Wir müssen natürlich auch den Hinter grund in denVereinigten Staaten sehen. Nach dem Selbstverständnisder Vereinigten Staaten befindet sich dieses Land seitdem 11. September 2001 praktisch im Krieg. Herr Bun-deskanzler, Sie haben sofort nach diesen schrecklichenAttentaten die uneingeschränkte Solidarität verspro-chen. Damals sind hohe Er wartungen geweckt worden.Ich meine, dass das Durchsetzen der 17 Resolutionendes Sicherheitsrats schon dann begonnen hatte, als sichdie Vereinigten Staaten überlegt haben, von wo Gefahrenfür sie ausgehen. W ir wissen, dass aus diesem T eil derWelt die Anschläge erfolgt sind, obwohl kein unmittel-barer Zusammenhang zwischen al-Qaida und SaddamHussein nachzuweisen ist.Wir diskutieren nach vorne. Unser Kontinent, das alteund selbstverständlich auch das neue Europa, benötigtein Fundament, wenn es sich nicht im Status einer Zoll-und Währungsunion verlieren sollte. Die EuropäischeUnion braucht deswegen drin gend ein neues Selbstver-ständnis. Sie muss ihre kontinentalen und globalen Inte-ressen genau definieren. Auch das ist eine der Lehren ausdiesem Krieg. Franz Josef Strauß hat vor mehr als 30 Jah-ren einmal gesagt: Ohne eine gemeinsame Stimme ist Eu-ropa auf der Bühne der W eltpolitik kein mitspielendesSubjekt, sondern ein Objekt, mit dem gespielt wird. –Dieses Gefühl hatten wir in dieser schwierigen Zeit wie-der.
Deswegen bekennen wir uns dazu, dass Europa einegemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik braucht. Diefrüheren europäischen Großmächte sind zu klein, umeine globale Rolle übernehmen zu können. Nur durchein abgestimmtes Verhalten vermag Europa im Zeitalterder Globalisierung auch globale Verantwortung zu über-nehmen und globalpolitisches Gewicht einzubringen.
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Michael GlosDeswegen muss das Misstrauen überwunden werden.Wenn man einen Gipfel von Franzosen, Deutschen,Belgiern und vielleicht von Luxembur gern anberaumt,dann weckt das anderswo Misstrauen. Ich hof fe, dassnicht dieses Sondertreffen, sondern ein Treffen der maß-geblichen Kräfte in Europa stattfinden wird.Die Arbeit des Reformkonvents für einen Verfas-sungsvertrag ist weit fortgeschritten. V orhin ist wiederdie Forderung nach einem europäischen Außenministererhoben worden. W ir sind selbstverständlich dafür; sosteht es auch in unserem Wahlprogramm. Wie hätte aberdieser Außenminister in der entstandenen Situation ab-stimmen sollen, mit der einen Hand so und mit der ande-ren Hand so? Es gehört dazu, dass der Wille zur Gemein-samkeit vorher stärker definiert wird. Es gehört dazu,dass wir gemeinsame Sicherheitsstrukturen schaffen.Sie haben in Ihrer Regierungserklärung von europä-ischen Blauhelmen gesprochen. Sie sind schon jetzt imEinsatz. Ich finde es großartig – das hat mich bei meinenBesuchen im Kosovo am meisten beeindruckt und nicht,dass mir Ihr früherer V erteidigungsminister den Fliegerweggenommen hat –, dass man dort sehen konnte, dassdie europäischen Nationen bis hin zu den Ukrainern inder Praxis zusammenarbeiten, um gemeinsam Frieden zuschaffen und Frieden zu erhalten. Wenn das jetzt endlichunter europäischer Führung möglich ist und wenn wirdazu die Amerikaner nicht mehr brauchen, dann bekla-gen wir das nicht. Aber ohne den Einsatz der VereinigtenStaaten und ohne die NATO wäre es nicht einmal mög-lich gewesen, terroristische Regime in Europa zu be-kämpfen.
Wir benötigen eine abgestimmte Struktur . Wenn Eu-ropa militärisch ernst genommen werden will, benötigenwir eine Einsatzfähigkeit, die politisch und militärisch– quasi unter einem Kommando – sicher gestellt ist. Wirbrauchen natürlich entsprec hende Fähigkeiten, auf Kri-sen zu reagieren. Selbstverständlich bedarf es dazuMehrausgaben für die V erteidigungspolitik; andersgeht es nicht. Ansonsten wä re es eine leere und hohleForderung.Je stärker und je schnelle r wir uns von den V ereinig-ten Staaten von Amerika entfernen – ich plädiere nichtdafür; das muss klar sein; aber viele von Rot-Grün träu-men davon –, desto mehr Mittel werden gebraucht unddesto rascher werden sie benötigt.Um die T agungen, die Sie, Herr Bundeskanzler , indiesem Zusammenhang jetzt halten müssen, beneide ichSie nicht. Wir sehen manchmal Fernsehbilder davon, wieSie diese emphatisch mit „Liebe Genossinnen! LiebeGenossen!“ eröffnen. Sie versuchen, die lieben Genos-sinnen und Genossen davon zu überzeugen, dass wir vonvielem lieb Gewordenen Abstriche machen müssen, weilunser Sozialstaat nicht mehr finanzierbar ist und die öf-fentlichen Haushalte überschuldet sind.Wenn Sie ehrlich sein woll en, sollten Sie gleichzeitighinzufügen, dass mehr Geld aufgebracht werden mussund wir an anderer Stelle no ch stärker sparen müssen,weil wir in der Sicherheit einen gemeinsamen europä-ischen Weg gehen wollen. Das zu sagen gebietet die Ehr-lichkeit. Es gibt hier nichts zum Nulltarif.
Dass Deutschland und Frankreich wieder besser har-monieren, ist zunächst nicht zu beklagen. Nur darf sichdas nicht gegen das übrige Europa richten. Es hilftnichts, wenn der Motor wied er läuft. Zweitaktmotorensind nicht mehr in; wir brauchen heute andere Motoren.Aber wenn das Auto wieder fährt, da der Motor läuft,muss es in die richtige Richtung gehen. Die richtigeRichtung ist natürlich: Gemeinsamkeit.Wir haben heute bereits kurz über die Brüskierungdiskutiert, die gegenüber den osteuropäischen Ländernerfolgt ist. Ich habe in de r letzten Zeit zwei Besuche indieser Region gemacht. Ich weiß, wie durcheinanderman dort ist. Man sagt dort: W ir hatten eigentlich dasGefühl, einem anderen Europa beizutreten. Jetzt müssenwir plötzlich zwischen unserer Freundschaft zu Deutsch-land und unserer Freundschaft zu Großbritannien sortie-ren. Wir müssen auch sortiere n, ob wir für oder gegendie USA sind.
Ich glaube, das haben sich a lle nicht gewünscht und daswünschen sie sich auch jetzt nicht.
Herr Kollege Glos, kommen Sie bitte zum Schluss.
Meine Redezeit ist offen. Herr Parlamentarischer Ge-schäftsführer, teilen Sie das bitte dem Präsidium mit! Eswar so ausgemacht.
Zwei Dinge möchte ich noch ansprechen. Nochschwerer als der V erlust an politischem Gewicht wirktnatürlich in Europa – auch darauf müssen wir achten –unser Verlust an ökonomischem Gewicht. Wir könnenunsere Rolle in der Welt nur spielen und wir werden nurernst genommen, wenn bei uns im Land die Verhältnisseauch ökonomisch in Ordnung sind.
Das ist für eine gemeinsame Sicherheitspolitik mindes-tens genauso wichtig wie di e Tatsache, dass wir militä-risch stärker werden und auf diesem Gebiet in größererGemeinsamkeit vorgehen.Dazu gehört selbstverständlich, dass wir die trans-atlantische Partnerschaft wieder pflegen. Herausforde-
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Michael Glosrungen lassen sich nur meistern, wenn die USA und Eu-ropa wieder an einem Strick ziehen. Deswegen solltenwir das Verhältnis zu den USA wieder in Ordnung brin-gen.
Ob es Rot-Grün wieder ge lingt, bei der amerikanischenAdministration Vertrauen zu bekommen, ist für micheine sehr offene Frage. Aber wir bieten im gemeinsamenInteresse gerne unsere Hilfe an.
– Frau Roth, für Sie mag das lächerlich sein. Sie nehmendie deutschen nationalen Si cherheitsinteressen sowiesonicht ernst. Insofern wundert mich Ihr Lachen überhauptnicht.Bundesaußenminister Fischer ist heute mit schweremGepäck zu Außenminister Powell geschickt worden. Erhat nämlich unter anderem diese Regierungserklärungdabei, die man in den USA sicher verfolgt hat. Diesewar, was das deutsch-amerikanische V erhältnis anbe-langt, zu dürftig.Wir alle wünschen uns, dass nach dem Krieg, der hof-fentlich schnell zu Ende ist, nicht nur gemeinsam amWiederaufbau des Irak gearbeitet wird, sondern dasswir auch gemeinsam an dem Wiederaufbau und an derErneuerung unserer uns sehr wichtigen Sicherheitsinsti-tutionen arbeiten können. Dazu haben Sie ausdrücklichdie Unterstützung von CDU und CSU.Danke schön.
Das Wort hat jetzt die Kollegin Uta Zapf von der
SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ichmöchte doch einmal aufgreifen, was Frau Merkel hier zuder Schuld der Deutschen am Krieg gesagt hat. AuchHerr Pflüger hat das schon einige Male gesagt. Ich findedas unerhört. Sie haben gesagt, dass Deutschland sozu-sagen schuld daran ist, dass dieser Krieg geführt werdenmusste, weil wir Nein zu dem Krieg gesagt und damitden Druck gemindert haben.Sie führen dazu die Aussagen der anonymen Inspek-toren an. Im Unterausschuss Abrüstung und Rüstungs-kontrolle haben wir uns gestern danach erkundigt. W irhaben bestätigt gefunden, dass nicht die Aussagen dieserInspektoren seriös sind, sond ern das, was Herr Blix vorein paar Tagen gesagt hat, als er enttäuscht aufgegebenhat. Ich empfehle, mit so etwas sehr seriös umzugehen.
Ich bin tief enttäuscht darüber, dass eine so renommierteZeitung wie „Die Zeit“ einen solchen Artikel bringt. Ichdenke, darüber müssen wir noch einmal reden.
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, nach etwazwei Wochen Krieg und den vielen unerträglichen Bil-dern von verletzten und toten Soldaten, von verletztenund toten Zivilisten sind wir alle gefühlsmäßig und emo-tional stark belastet. Wenn wir dann von Splitterbombenund – wenn es denn wahr ist – von der Anwendung ei-gentlich verbotener Antipersonenminen durch die Ame-rikaner hören, zeigt sich uns die ganze Tragik diesesKrieges. Angesichts dessen da rf man mit dem Themanicht so leichtfertig umgehen, wie es die CDU/CSU hiergetan hat.
Ich finde die ganze Situation zutiefst tragisch. Warumfinde ich sie zutiefst tragis ch? Weil sich alle Erwartun-gen, die an diesen Blitzkrieg, an den schnellen, sauberenKrieg gestellt worden sind, al s Illusionen herausgestellthaben, weil dieser Krieg ganz offensichtlich keine Frei-heit und keine Demokratie brin gt, weil er sich zu einemAlbtraum zu entwickeln scheint. Ich bin von tiefer Sorgedarüber erfüllt, dass wir es bisher nicht fertig gebrachthaben, uns mit der dahinter stehenden Problematik un-terschiedlicher Philosophien und Strategien zu beschäfti-gen. Deshalb will ich das heute hier versuchen.Dies ist Amerikas erster Präventivkrieg.
Jedoch können wir die Legitimation eines Präventiv-krieges nicht unterstützen.
Ich zitiere jetzt den US-Beauftragten für internationaleSicherheitsangelegenheiten, Peter Rodman. Er hat ge-sagt, dass dieser Krieg ein V ersuchsfeld für Amerikasneue Strategie sei – das sind nicht meine Worte, sonderndie Worte des US-Beauftragten –, eine Strategie, die vonder Androhung und Anwendung von Gewalt als Mittelder Verhinderung von Proliferation ausgeht und dass sieauf ihre Tauglichkeit als Standard für die zukünftige An-tiproliferationspolitik der USA getestet werde.Dies ist eine Entwicklung, der wir uns stellen müssen.Was der Bundeskanzler heute hier über die Ansätze un-serer Politik gesagt hat, steht dagegen. Es gibt einen gro-ßen Unterschied. Wir müssen ernsthaft darüber diskutie-ren, wie wir im transatlantischen Verhältnis den Konsensin der Antiproliferationspoliti k, den wir in der V ergan-genheit hatten, wieder herstellen.
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Uta ZapfWas hat Rodman in diesem Zusammenhang noch ge-sagt? Er hat gesagt, dass die künftige Außenpolitik undinternationale Politik der US A an diesem Irakkrieg ent-schieden werde und dass die herkömmlichen internatio-nalen Systeme zur V erhinderung der V erbreitung vonMassenvernichtungsmitteln ausgedient hätten.Ich glaube, dass wir gemeinsam so lange für die Ent-wicklung solcher gemeinsame r internationaler Systemegekämpft haben und dass uns eine solche Aussage, dassuns eine solche Tendenz nicht kalt lassen kann. Wir müs-sen uns wirklich dafür einsetzen, dass durch die Diskus-sion mit unseren transatlantischen Partnern der Wert die-ser Systeme wieder anerkannt wird. Sonst werden wirkeine Antiproliferationspolitik machen können. W irwerden spätestens am Ende dieses Krieges sehen, dasses keine gute Strategie ist, mit Waffengewalt gegen Mas-senvernichtungswaffen vorzugehen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich stimme mit mei-ner Kollegin Frau Sager überein, dass das Ziel diesesKrieges, von dem zu dessen Beginn gesprochen wordenist und das Bush deklariert hat, nicht erreicht werdenkann. Wir müssen vielmehr befürchten, dass es noch vielschlimmer wird, als wir es uns im Moment vorstellenkönnen. Ich kann verstehen, dass die Politik, nicht zuwarten, bis wir in eine T ragödie schlittern – so hat esBush gesagt –, sondern die Gefahr aktiv zu bekämpfen,ehe sie akut wird, aus dem T rauma des 11. Septemberentstanden ist. Damals wu rde den Amerikanern die ei-gene Verwundbarkeit plötzlich und ziemlich abrupt vorAugen geführt. Dies hat zu einer gewissen Radikalisie-rung bei der Frage geführt, wie man sich vor solchen Ge-fahren schützen muss. Ich glaube, dass wir nicht rein mi-litärisch vorgehen dürfen, sondern dass wir aufdiplomatische Mittel und auf internationale Koalitio-nen setzen müssen, um T error und die Verbreitung vonMassenvernichtungsmitteln zu bekämpfen. Das muss diePolitik sein, der wir uns in den nächsten Monaten undJahren noch intensiver widmen müssen.
Frau Sager hat ausgeführt, welche antiamerikanischenund antiwestlichen Gefühle und Koalitionen entstandensind. Ich füge, um diese Aussage weiter zu verstärken,hinzu: Der T errorismus wird meiner Meinung nachdurch diesen Krieg eher gestärkt, als dass er eingedämmtwird, so wie Bush es erwartet hat.
Wir müssen die neue Strategie der Amerikanerernsthaft betrachten, weil sich in ihr zwei Gedanken fin-den. Die Amerikaner gehen in ihrer Strategie einmal da-von aus, dass die bisherigen konventionellen Mittel an-gewendet werden können. Dazu zählen Diplomatie,Rüstungskontrolle sowie multilaterale Abkommen wiedas Chemiewaffenabkommen, das Biowaf fen-Überein-kommen, der Nichtverbreitungsvertrag und das Regimezur Raketentechnologiekontrolle. Aber gleichzeitig wer-den diese Instrumente abgewertet und zu V erzierungenvon Politik erklärt. Sie werd en auch in der aktuellenamerikanischen Politik nicht gestärkt, sondern ge-schwächt. Wir müssen darauf hinwirken, dass diese in-ternationalen Instrumente gestärkt werden.Wir haben in der V ergangenheit durch die Anwen-dung solcher Instrumente dazu beigetragen, uns sicherergegen die Verbreitung von Massenvernichtungswaffenzu machen. Was jetzt hinzugekommen ist, ist die Furchtvor Terrorismus, der auch mit Massenvernichtungswaf-fen arbeiten kann. Es ist wich tig, zu erkennen, dass sichTerroristen keine Atombombe von Nordkorea besor genwerden. Es ist viel wichtiger , Materialien und Agenzienzu sichern, die aus den Abrüstungsbeständen stammenund relativ ungesichert sind.
Deshalb ist die G-8-Initiative, die zur Sicherung des nu-klearen und chemischen M aterials aus den Abrüstungs-beständen Russlands unternommen worden ist, wesent-lich wichtiger, weil meiner Überzeugung nach einegrößere Gefahr darin besteht, dass diese Agenzien in dieHände von Terroristen gelangen.
Aus diesem Grund möchte ich darauf hinweisen, dassdie Politik der Bundesregierung und der EU – im Ansatzbestehen keine Unterschiede –, die von Prävention aus-geht und nicht von Präemption , das heißt, mit militäri-schen Mitteln zuzuschlagen, um vermutete Gefahren zubekämpfen, durchaus erfolgreich war . Das können wiran dem Stabilitätspakt in Europa und vor allem an Maze-donien und auch Afghanistan ablesen.Ich befürchte aber, dass der Krieg im Irak all unsereAnstrengungen in Afghanistan – das dortige Gebilde istbisher ohnehin fragil – konterkarieren könnte. FrauSager hat darauf hingewiesen, wie destabilisierend dasmöglicherweise auch auf Pakistan wirken kann. W ennich daran denke, welche Gefahren aus dieser Regionmöglicherweise auf uns zu kommen können, kann ichnur sagen: Gnade uns Gott.
Ich glaube, die T errorbekämpfung muss ganz woan-ders ansetzen, nämlich bei der Armutsbekämpfung, beider Unterstützung von Bildung und Ausbildung,
bei der Stärkung der Partizipation – nur dann werden wirDemokratisierung erreichen – und bei der Minderungvon Fluchtursachen, nämlich, wie gesagt, Armut, aberauch ökologischen Probleme n. Wir müssen die Demo-kratie und die Rechtsstaatlichkeit stärken und wir brau-chend dringend einen interkulturellen Dialog.Wenn wir uns anschauen, was dort an Optionen für ei-nen Dialog der V ersöhnung und Verständigung zerstörtworden ist, dann wissen wir , dass wir für Prävention
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Uta Zapfnoch sehr viel zu tun haben. Ich hoffe, dass wir uns nichtauf eine Präemptionsstrategie einlassen.
Das Wort hat jetzt der Koll ege Peter Hintze von der
CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-ren! Die Fernsehbilder über den Krieg im Irak von CNNund al-Dschasira beschäftigen uns stark. Ich hof fe, dasswir über diese Bilder nicht di e Bilder vergessen, die dieOpfer des Regimes in Bagdad in ihren Herzen tragenund von denen sie erzählen. Man kann nachlesen, wieMenschen in Salzsäurebäder gezwungen, Frauen in Ge-fängnissen von den Schergen erniedrigt und vergewaltigtund Männer aus ihren Familien gerissen und nachts aufdie Straße geführt und dort erschossen werden. Das sindschlimme Bilder. Ich finde es wichtig, dass wir auchdiese Bilder zur Kenntnis nehmen.
Manche der Opfer ver gleichen das Regime im Irakmit einer stalinistischen Hölle. Lassen Sie uns nicht da-rüber streiten, ob der Begrif f dieses Unrechtsregimetreffsicher beschreibt oder nicht. Eines müssen wir unsaber vor Augen führen: Die Amerikaner und Briten ver-suchen im Irak, diese Hölle zu überwinden. Gefühls- undgesinnungsmäßig kann es hier keine Neutralität, sondernnur unsere Solidarität geben.
Auch Olaf Scholz, der Generalsekretär der SPD, hat diesso gesagt; das finde ich gut. Demgegenüber finde ich esschlecht – das haben wir vermisst –, dass dem Bundes-kanzler in dieser Richtung heute kein Wort über die Lip-pen gekommen ist.
Ephraim Kishon verdanken wir die Satire, in der einMensch mit einem Presslufthammer mutwillig eineStraße aufreißt.
Die Stadtverwaltung findet in der Erzählung zwar keinenGrund für diese Maßnahme, be schließt aber, daraus ei-nen Kanal zu bauen, der zwar sinnlos ist, aber mit Pompeingeweiht wird. Der Politik unseres Bundeskanzlersverdanken wir, dass diese po litische Satire Wirklichkeitwurde. Der kishonsche Blaumilchkanal verläuft mittendurch das Regierungsviertel. Der Bundeskanzler hat dieGrundsätze der deutschen Außen- und Europapolitik be-schädigt und versucht im Verbund mit Moskau und Pe-king nun, dem auch noch einen Sinn zu geben.
Wir werfen ihm vor , dass er Europa erst spaltet unddieses dann auch noch zur politischen Großtat erklärt.
Positiv haben wir zur Kennt nis genommen, dass derBundeskanzler die NATO wieder entdeckt hat. Dazu hater Interessantes und Richtiges gesagt. Er hat heute Mor-gen erklärt, die Zusammenarbeit in der NATO solle ver-tieft und die gemeinsame Analyse gesucht werden. Dasklingt gut und ist auch richtig. Es wäre aber noch besserund noch richtiger gewesen, wenn sich der Bundeskanz-ler diese Grundsätze über de n Geist, den die NATO be-stimmen sollte, am Anfang der Irakkrise klar gemachthätte. Wenn sich die fünf Mitglieder des Weltsicherheits-rates, die der NA TO angehören, zusammengesetzt hät-ten, wenn Deutschland, das den V orsitz im Weltsicher-heitsrat hatte, diese Aufgabe zu seiner Aufgabe gemachthätte, dann wäre es möglicherweise anders gekommen.
In dieser Woche erleben wir mit der Übernahme desMazedonien-Mandates durch die Europäische Uniondie eigentliche Geburtsstunde der Europäischen Sicher-heits- und Verteidigungspolitik. Es ist ein kleiner Ein-satz, aber immerhin ein guter Anfang. 350 Soldaten und80 Zivilkräfte unter Beteiligung von 14 EU-Mitglied-staaten sind ein schöner Beleg dafür , dass die Europä-ische Union Verantwortung übernehmen und dazu bei-tragen kann, vor ihrer eigenen Haustür für Frieden,Sicherheit und politische Stabilität zu sor gen. Ich hoffe,dass der schöne Name dieses Einsatzes, Concordia – alsoEinigkeit –, in Zukunft die Leitidee der GemeinsamenAußen- und Sicherheitspolitik in Europa wird.Ich hoffe und wünsche mir, dass der Verfassungskon-vent hierzu einige Vorkehrungen trifft. Dazu möchte icheinige Vorschläge machen. Es sollte eine Regelung in dieVerfassung der Europäischen Union aufgenommen wer-den, nach der in zentralen außenpolitischen Fragen zu-erst die Union Gelegenheit zu einer Meinungsbildungbekommt, bevor sich einzelne Staaten festlegen.
Das Dilemma der Irakkrise geht auf das Konto Deutsch-lands und Großbritanniens, die sich festgelegt hatten, be-vor überhaupt eine Beratung und Konsensfindung im eu-ropäischen Umfeld möglich war.
Wie fatal sich diese V orfestlegungen ausgewirkt ha-ben, haben wir heute Mor gen bereits diskutiert. AngelaMerkel hat auf den Beitrag in der „Zeit“ hingewiesen,der für helle Aufregung gesorgt hat. Ich erlebe zum ers-ten Mal im Deutschen Bundestag, dass ein sehr nüchter-ner und sachlicher Beitrag in der Wochenzeitung „DieZeit“ so große Empörung bei Ihnen hervorruft, weil erSie an einem sehr wunden Punkt trifft.
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Peter HintzeEs grenzt schon an Presse zensur, was Sie dazu gesagthaben.
– Sie sollten das Geld für den Kauf dieser Zeitung inves-tieren und den Beitrag in Ruhe nachlesen.Sie haben of fenbar mit Entsetzen den Ausdruck zurKenntnis genommen, es sei geradezu „verrückt“, wasder Bundeskanzler gemacht habe. W enn Sie sich aberüberlegen, was der genaue Wortsinn ist – es ist gemein-hin nicht nur eine Polemik –, dann wird die Bedeutungklar: dass etwas von einer auf eine andere Stelle gerücktwird. In diesem Fall sind es die Inspektoren, die aus derSituation der Stärke, nämlich mit der Kraft der Völker-gemeinschaft, auf einmal abgerückt wurden. Dadurchwusste der Diktator , dass er sein Spiel weitertreibenkann, weil sich der deutsche Bundeskanzler so früh fest-gelegt hat.
Ich finde es gut, dass das in der „Zeit“ dokumentiertwurde, auch wenn Sie das nicht hören wollen.
Bei der europäischen Verfassung wird es weitere Me-chanismen und Regeln geben müssen, damit wir auch in-stitutionell sicherstellen, in Zukunft der gemeinsamenAufgabe in der Sache gewachsen zu sein. Dazu gehörendie Mehrheitsentscheidungen in der Außenpolitik. Ichbin auch dafür, dass wir eine Solidaritäts- und Beistands-klausel in das europäische Grundgesetz aufnehmen, undzwar nicht nur formal, sond ern auch inhaltlich, sodasssich jeder, der an diesem Eu ropa mitarbeitet, verpflich-tet, solidarisch für das gemeinsame Ziel einzutreten.Nun hat der Bundeskanzler heute angekündigt, erwerde dem Deutschen Bundestag den Entwurf eines Ent-sendegesetzes vorlegen. Wir finden das gut. W ir findendas überfällig. W ir brauchen ein solches Entsendege-setz.Ich möchte aber einen Punkt in der ansonsten brillan-ten Rede des Kollegen Westerwelle aufnehmen.
Das Wort vom Parlamentsheer, das Sie gewählt haben,kann ein Missverständnis auslösen. Es kann auch bei derRegierung das Missverständnis auslösen, sie habe dieVerantwortung für die Bundeswehr , die sie tatsächlichhat, nicht so ganz. W ir müssen immer klarstellen: Esmuss eine Kontrolle durch das Parlament geben und esmuss eine Unterrichtung de s Parlamentes geben. Nachdem Stand der Unterrichtung können wir hier V erant-wortung mittragen und Entscheidungen treffen, aber nurin diesem Rahmen. Die Hauptverantwortung für das Mi-litär, für eine vernünftige Au srüstung und für einen ver-antwortlichen Einsatz, liegt bei der Exekutive. Das mussauch in Zukunft so bleiben.
Wir brauchen dringend eine Lösung für die integrier-ten Verbände. Wir wollen eine NA TO-Response-Forceaufstellen und eine schnelle Eingreiftruppe der Europä-ischen Union. Wenn wir ke ine klare Regelung haben,führt das direkt ins Desaster . Denn man kann nicht mit-ten in einem möglicherweise gefährlichen Einsatz sagen:Dieser Pilot und jener Bootsmann werden aus der inte-grierten Einheit zurückgezogen. Dann kracht alles zu-sammen. Insofern, Herr Bundeskanzler – er ist leider ,wie häufig, im V erlauf der Debatten abwesend; mankann es ihm vielleicht einmal mitteilen –, brauchen wirrasch eine vernünftige Vorlage für ein solches Entsende-gesetz.
Nun, meine Damen und Herren, komme ich zuDeutschland und Frankreich. Deutschland und Frank-reich sind und bleiben di e entscheidende Kraft unddie entscheidende Bewegung für ein Gelingen der eu-ropäischen Integration. Di e neuen Mitglieder in Mit-telosteuropa schauen sehr genau darauf, wie die T rä-ger der Integration jetzt operieren. Ich schaue auf denMiniverteidigungsgipfel am 29. April. Wer trifft sichda? – Belgien, Luxembur g, Deutschland und Frank-reich. Es sieht fast so aus – es mag reiner Zufall sein –,als sei das eine V ersammlung der Kritiker der V erei-nigten Staaten oder von Großbritannien.
Ausgeschlossen sind die Gründungsmitglieder derEuropäischen Union Italien und die Niederlande. Ichhörte, dass die Niederlande sogar angefragt hatten, weilsie sich gerne an den Bemühungen beteiligen wollten.
Was ist daraus geworden? Dann wird darauf verwiesen,das sei unsere Idee vom Kern europa gewesen. Kerneu-ropa war unsere Idee zur Stärkung der Einheit, aber nichtdie Idee zur Spaltung Europas, wie das jetzt angelegt ist.
Es ist richtig, dass die Europäische Union ihre eigeneStärke und ihr eigenes Selbstbewusstsein entwickelnmuss. Es ist sicherlich auch richtig, dass wir nach demhoffentlich glücklichen Ende der Krise und dem Nieder-ringen des Regimes in Bagdad auch mit unseren ameri-kanischen Freunden sprechen werden. Das ist selbstver-ständlich. Aber ich halte es für eine blanke Illusion, zuglauben, bloß weil der Kalte Krieg vorbei sei, könntenwir jetzt auf die NA TO und auf die W erte-, Interessen-und die Schicksalsgemeinsc haft von Europa und Ame-rika verzichten. Das können wir nicht.
Wer die Europäische Sicher heits- und Verteidigungs-politik und die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspo-litik so anlegen würde, als sei sie eine Gegenbewegung
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Peter Hintzezu den Vereinigten Staaten von Amerika, der handelt tö-richt und fehlerhaft.
– Ich gebe zu, dass die Regierung nicht so spricht. Dasstimmt. Ich hoffe aber auch, dass sie richtig handelt. Wirhaben im Moment einen W iderspruch von Worten undTaten.
Ich halte es für richtig, dass unsere RegierungAWACS-Flugzeuge in die Türkei schickt. Ich halte esauch für richtig, dass ABC-Panzer in Kuwait und unsereSchiffe am Horn von Afrika stehen. Das finde ich erfreu-lich. Aber die Gesinnungsneutralität unserer Regierungin dieser Auseinandersetzung finde ich schrecklich. Des-wegen müssen Worte und Taten wieder miteinander inEinklang gebracht werden.
Die Bilder und Berichte, die uns aus dem Irak errei-chen, lassen uns spüren, was in den Menschen vor geht;sie machen ihre Ängste und Hoffnungen deutlich. Ichwünsche mir, dass der Krieg rasch zu einem guten Endekommt, damit die Menschen – vielleicht zum ersten Malin ihrem Leben – aufatmen können und damit das Öl imLande allen Bevölkerungsgruppen zugute kommt, nichtden Protzpalästen, sondern Schulen, Krankenhäusern,Universitäten und vielen Einrichtungen, die das Regimeden Menschen so lange vorenthielt.Man könne nicht gegen jeden Diktator vorgehen, wirdoft gesagt. Das stimmt zwar leider . Aber jeder Diktatorweniger bedeutet mehr Freiheit für die Menschen. Dafürsollten wir einstehen.
Das Wort hat jetzt die Ko llegin Claudia Roth, Bünd-nis 90/Die Grünen.Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN):Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Esgibt Situationen, in denen es bedrückend ist, wenn sichdie eigenen Befürchtungen bestätigen. Mit dem Irak-krieg erleben wir eine solche Situation. W ir sehen fas-sungslos die Bilder des Krie ges – auch Gernot Erler hatdavon gesprochen –, ohne zu wissen, ob sie bereits dasganze Ausmaß des Grauens abbilden. T rotz aller Infor-mationen über die Ereignisse in Bagdad, Basra, Mossul,Kirkuk und in den ländlichen Regionen wissen wir dasnicht genau.Wir sehen Bilder vom Bombenhagel, von getötetenZivilisten und Soldaten wi e auch von Gefangenen, diewie Trophäen vorgeführt werden. Nein, dieser Krieg istnicht sauber. Die Iraker stehen nicht begeistert auf denStraßen, um die britischen und amerikanischen Soldatenzu begrüßen. Vor allem dauert der Krieg jetzt schon sehrviel länger, als uns realitätsfremde Prognosen weisma-chen wollten.Ein Zyniker und eine Zynikerin, die daran Gefallenfinden, Recht behalten zu haben. Ich wünsche mir nichtssehnlicher als ein sehr schnelles Ende dieses Krieges, derzwar militärische Sieger haben wird, der aber kein politi-scher Erfolg ist und den niemand wirklich gewinnenwird. Ob er den Menschen in der Region tatsächlich denFrieden garantieren wird, ist keineswegs sicher.Unsere Hauptsorge gilt der humanitären Lage. Soklar und eindeutig wir diesen ungerechtfertigten Kriegund eine aktive Beteiligung verneint haben, so engagiertbestehen wir jetzt auf der Einhaltung des humanitärenVölkerrechts und so schnell und unbürokratisch werdenwir uns für die humanitäre Soforthilfe einsetzen unddiese Hilfe leisten, die für viele Menschen eine Überle-bensfrage ist.
Auch und gerade in Kriegszeiten gelten die Men-schenrechte. Das humanitäre Völkerrecht verpflichtetdie Angreifer zum Schutz und zur Versorgung der Zivil-bevölkerung. Es verlangt einen die Menschenwürde ach-tenden Umgang mit Gefangenen auf allen Seiten. Es ver-bietet den Angrif f ziviler Ziele und deckt aus meinerSicht nicht den Einsatz von weltweit geächteten Waffenwie Streubomben, die gegenwärtig im Irak abgeworfenwerden.Die Menschen im Irak – viele von ihnen sind Binnen-flüchtlinge – brauchen Na hrungsmittel, Trinkwasser,Medikamente und medizinische Versorgung. Das gilt vorallem und dringend für di e Kinder, die die Aller-schwächsten sind.Ich danke den vielen Mitarb eiterinnen und Mitarbei-tern des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz undden deutschen Hilfsorganisationen, die darauf vorberei-tet sind, in dieser Krise zu helfen, und schon jetzt Hilfeleisten. Sie alle werden be i voller Respektierung ihrerUnabhängigkeit jede Unte rstützung bekommen; dennhumanitäre Hilfe darf niemals politisch instrumentali-siert werden.
Ich danke auch dem deut schen UNO-BotschafterPleuger und seinem T eam – ich hätte mir gewünscht,dass sich auch die Union diesem Dank angeschlossenhätte –, dass er die einmü tige Zustimmung im UNO-Si-cherheitsrat zur Wiederaufnahme des Oil-for -Food-Programms unter Federführung von Kofi Annan errei-chen konnte. Ich hof fe, dass dieses Programm sehrschnell in Kraft treten wird; denn schon vor dem Kriegwaren zwei Drittel der irakischen Bevölkerung von Ver-sorgung abhängig. Die UNO is t heute wichtiger als je-mals zuvor. Sie jetzt zu st ärken ist unsere Aufgabe undwird unsere Priorität sein. Nur die UNO wird die Zu-kunftsfähigkeit und die friedliche Nachkriegsordnungdes Irak garantieren können.
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Ich unterstütze auch die Forderung des Flüchtlings-kommissars Lubbers an die Nachbarländer , die Grenzenfür Flüchtlinge zu öf fnen, damit ihnen dort unmittelbarHilfe und Zuflucht gewährt werden können. Ich bin sehrfroh, dass der anfängliche W iderstand in einigen Län-dern aufbricht und dass nun Flüchtlingslager in Syrien,im Iran, in Jordanien und an der türkisch-irakischenGrenze vorbereitet werden können.
Es ist bedauerlich, dass ausgerechnet die reichsten Län-der dieser Region, Saudi-Arabien und Kuwait, die auchden Krieg befürwortet haben, ihre Grenzen für Flücht-linge noch nicht geöffnet haben.Wenn es heute noch keine Fluchtbewegung gibt, dannheißt das aber nicht, dass es keine Fluchtgründe gibt. DieMenschen fliehen nicht, weil sie Angst vor dem Bom-benhagel haben. Sie können ni cht fliehen, weil sie auchmit Gewalt von irakischer Seite von der Flucht abgehal-ten werden. Auch das ist ein zynisches Beispiel für die-sen ungerechtfertigten Krieg.
Verantwortliche und glaubwürdige Menschenrechts-politik beginnt immer zu Hause. Das muss und wirdauch der Umgang mit irakis chen Flüchtlingen bei unszeigen. Otto Schily hat ein kl ares Zeichen gesetzt, als erdie Länder aufgefordert hat, einen Abschiebestopp aus-zusprechen.
Angela Merkel hat das Ultimatum der US-Regierungbegrüßt. Sie hat außerdem explizit gesagt, dass sie alleKonsequenzen, die damit verbunden sind, unterstützt.Frau Merkel hat immer wieder behauptet, der Krieg seiunvermeidbar gewesen und das Nichtstun müsse zuEnde gehen. Ich sage: Der Krieg war vermeidbar. Es gabeine Alternative.
Es gab die Alternative der nicht militärischen Entwaff-nung mit einer umfassenden Kontrolle und mit einer kla-ren Schwächung des Regimes von Saddam Hussein. Hö-ren Sie endlich auf, zu be haupten, dass das Nein zumKrieg nicht auch ein klares Nein zum Regime vonSaddam Hussein sei!
Frau Merkel hat mit der falschen Reduzierung jedesHandelns ausschließlich auf die militärische Option dieErfolge der UNO-W affeninspektoren völlig ignoriert.Hans Blix und Mohammed al -Baradei konnten vorrech-nen, dass bei 200 Inspektoren die Kosten des Kriegesausreichen würden, um 1 250 Jahre zu inspizieren undabzurüsten, ohne M enschenleben zu opfern. Das hatFrau Merkel nicht zitiert.
Anstatt darauf einzugehen, werden Persönlichkeitender deutschen Politik – für mich sind Rita Süssmuth,Heiner Geißler und Karl La mers solche Persönlichkei-ten – vom Parlamentarischen Geschäftsführer V olkerKauder als Politrentner abgekanzelt und Kriegsgegnerwie wir schon einmal forsch als antiamerikanisch be-schimpft. Volker Kauder hat of fensichtlich nicht ver-standen – das scheint ihm entg angen zu sein –, was wirauch Amerika zu verdanken haben, nämlich die Freiheitdes Denkens, die Freiheit der Meinung und die politi-sche Kontroverse auch und gerade mit befreundetenLändern.
Angela Merkel treibt diesen bitterbösen Sprech aufdie Spitze, wenn sie behauptet, dass diejenigen, die ge-gen den Krieg sind, den Krieg erst befördert hätten.Diese Schamlosigkeit und, liebe Kollegen von derUnion, Ihr begleitendes rhyt hmisches Klatschen, dasmich an einen Klatschmarsch erinnert hat, beleidigenund verachten im Übrigen M illionen von Menschen aufden Straßen, die gegen diesen Krieg demonstrieren, fürden Frieden beten und deren Nein zum Krieg auch einNein zu Saddam Hussein ist.
Frau Merkel, Sie haben den Bundeskanzler und denAußenminister in Deutschl and und im Ausland wegenderen früher Festlegung auf eine friedliche Entwaf fnungdes Irak dif famiert. Gleichzeitig haben Sie sich selbstganz frühzeitig auf den Krieg festgelegt. Das ist eineschwere Bürde. Mit den Konsequenzen Ihres Vorgehensmüssen Sie sich auseinander setzen. Sie können sie nichteinfach totschweigen, so wi e Sie es heute wieder ver-sucht haben.
Konsequenz, Frau Merkel: tote Zivilisten, Frauen undKinder erschossen, weil der Bus nicht schnell genug an-gehalten hat. Diese Menschen sind nicht erschossen wor-den, weil Amerikaner leichtfertig um sich schießen, son-dern weil so etwas im Krieg geschehen kann.Konsequenz, Frau Merkel: tote Soldatinnen und Sol-daten – etliche von ihnen vo n Selbstmordattentätern ge-tötet –, weil sich der Krieg nicht an Regeln hält.Konsequenz, Frau Merkel: die weitere Eskalation desKonflikts. Ich erinnere an die unverhohlene Drohung anSyrien und an den Iran sowie an die harte und scharfeReaktion darauf.Konsequenz, Frau Merkel: die große Gefahr , dassdieser Krieg die W iedergeburt eines aggressiven pan-arabischen Nationalismus mit sich bringt, der sich jetztmit einem militanten islamischen Fundamentalismusverbündet.
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Claudia Roth
Konsequenz, Frau Merkel: die Schwächung der Anti-terrorkoalition, die zum Bruc h führen kann; denn dieseKoalition beruhte gerade darauf, nicht zwischen Kultu-ren und Religionen zu unters cheiden. Nun droht genaudas, was wir verhindern wollten: dass es zum Kampfzwischen den Kulturen und zwischen den Religionenkommt.Es ist in der T at dem besonnenen und verantwortli-chen Handeln des Papstes zu verdanken, dass sich dieserdrohende Clash nicht noch zusätzlich religiös aufgeladenhat.
Mit Ihrer Politik haben Sie den Boden der christlichenFriedensethik schon sehr lange verlassen.
Frau Kollegin Roth, kommen Sie bitte zum Schluss.
Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN):
Frau Merkel, nachdem Sie all diese Konsequenzen
übersehen haben, könnten Sie heute wenigstens beken-
nen, dass Sie sich mit Ihre m Ja zum Krieg geirrt haben.
Wenn Sie sie aber sehenden Auges in Kauf genommen
haben, liebe Frau Merkel, dann sollten Ihnen wenigstens
81 Prozent der Deutschen, die sich gegen den Krieg aus-
gesprochen haben, zu denken geben.
Lieber Herr Hintze, Gesinnungsneutralität ist etwas
ganz anderes. W as wir seit Monaten versuchen und
auch weiterhin versuchen werden, ist, Kriege zu verhin-
dern,
und zwar präventiv , aber nicht mit Präventivschlägen.
Das ist ein großer und entscheidender Unterschied.
Lassen Sie mich schließen.
Frau Kollegin Roth, kommen Sie bitte wirklich zum
Schluss.
Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN):
Ja, ich komme zum Schluss.
Ich möchte mit einem Zita t aus Goethes „W estöstli-
chem Diwan“ und mit einem Zitat des persischen Dich-
ters Nizami aus dem 12. Ja hrhundert schließen. Nizami
schreibt:
Mit Worten kannst du einem Heer das Genick bre-
chen, mit Schwertern aber kannst du nur ein Dut-
zend Soldaten besiegen.
Goethe schreibt:
Wer sich selbst und andere kennt
Wird auch hier erkennen:
Orient und Okzident
Sind nicht mehr zu trennen.
Vielen Dank.
Das Wort hat jetzt die Bundesministerin HeidemarieWieczorek-Zeul.Heidemarie Wieczorek-Zeul, Bundesministerin fürwirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung:Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ichmöchte an dieser Stelle noch einmal sehr deutlich sagen– es ist bereits mehrfach an gesprochen worden –: Diedeutsche Bevölkerung und die europäische Bevölkerungwissen – die Opposition hat überhaupt keine Chance,diese Einstellung in der Bevölkerung in ir gendeinerForm zu beeinflussen –,
dass unser Nein zu dem geplanten Krieg im Irak im letz-ten Jahr dazu beigetragen hat, überhaupt erst eine öffent-liche Diskussion zu ermöglichen und eine friedliche Lö-sung überhaupt erst als Alternative sichtbar zu machen.
Ohne dieses Nein hätte es das deutliche Votum der inter-nationalen Gemeinschaft gegen Krieg gar nicht gegeben.Daher muss man sich fra gen, warum von der CDU/CSU in diesem Zusammenhang immer wieder ein V or-wurf gegen uns erhoben wird, obwohl die Bevölkerungso einhellig die Meinung der Bundesregierung teilt.Nach meiner Einschätzung ist es das einzige Ziel dieserAktion und Diffamierung, die unrühmliche Rolle, die dieCDU/CSU in dieser Frage gespielt hat, hinter einem Vor-hang zu verstecken.
Das wird Ihnen aber nicht gelingen, liebe Kolleginnenund Kollegen.
In der heutigen Diskussi on haben wir immer wiederangesprochen, dass dieser Krieg bisher schon T ausendevon Opfern forderte: Er hat Tausenden von Zivilisten dasLeben gekostet; sicherlich sind auch Hunderte Solda-ten gestorben. An dieser Stelle erinnere ich an die Kin-der – ich selbst bin 1942 geboren und habe als KindBombardements erlebt –, die diesen Krieg erdulden underleiden müssen, an ihre Angst und ihre Schmerzen.Diese Kinder sind für ihr Leben gezeichnet.
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. April 2003 3025
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Bundesministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul
Wir müssen alles tun, damit diese Kinder eine Chancehaben. Wir wollten diesen Krieg vor allen Dingen des-halb verhindern, um ihnen di eses Leid zu ersparen. Daswar für uns das Allerwichtigste.
Wir treten für ein schnelles Ende dieses Krieges ein, da-mit das Leiden der Menschen ein Ende hat.
Ich fordere alle Beteiligten auf – Frau Kollegin Rothhat es schon angesprochen –, sich an das humanitäreVölkerrecht zu halten. Insbesondere fordere ich dieKriegsparteien auf, freien und ungehinderten Zugang derhumanitären Hilfe zu den Menschen zu ermöglichen,wie es auch Kofi Annan gefordert hat.
Dies ist, wenn wir den Menschen in dieser Situation hel-fen wollen, die wichtigste V oraussetzung – das habenauch alle UN-Organisationen gefordert –; wie auch hu-manitäre Hilfe nicht nach militärischen Gesichtspunktenzu vergeben, sondern humanitäre Hilfe unabhängig hier-von nur daran zu orientieren, den Menschen zu helfen.
Frau Kollegin W ieczorek-Zeul, erlauben Sie eine
Zwischenfrage des Kollegen Schauerte?
Heidemarie Wieczorek-Zeul, Bundesministerin für
wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung:
Gerne.
Herr Schauerte, bitte schön.
Frau Ministerin, Sie haben gerade – sicherlich mit Zu-
stimmung des ganzen Hauses – erklärt, wir wollen ein
schnelles Ende dieses Krieges. In der Tat, das wollen wir
alle. Aber die Menschen interessiert abseits dieser allge-
meinen Formulierung, ob Sa ddam oder die Koalition
diesen Krieg gewinnen soll.
Um die Frage zu vertiefen: Wir wollen ganz eindeutig
ein schnelles Ende dieses Krieges und wir wollen im In-
teresse der Menschenrechte, dass die Koalition diesen
Krieg gewinnt. Unsere Aussage ist sehr klar.
Heidemarie Wieczorek-Zeul, Bundesministerin für
wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung:
Auch dies ist wieder ein Teil Ihres Versuches, die Re-
gierungsparteien als Unters tützer von Saddam Hussein
hinzustellen.
Ich habe schon in der Debatte über den Haushalt für
wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ge-
sagt, dass wir Hussein bere its einen Gewaltverbrecher
nannten, als manche, die Ih nen durchaus nahe stehen,
noch mit ihm Geschäfte ge macht haben. Ich bin dies
wirklich leid.
Ich möchte um der Menschen willen ein Ende dieses
Krieges und ich will, dass die Menschen eine gute Zu-
kunft haben.
Herr Präsident, ich möchte nun die Hilfsmaßnahmen
ansprechen, die um der Menschen willen notwendig
sind.
Ich unterstütze nachdrücklich die Position der deutschen
privaten Hilfsorganisationen, die ich unterstütze und
denen ich für ihr Engagement von dieser Stelle aus aus-
drücklich danke. Sie lehnen es ab, sich von US-amerika-
nischem Militär in entsprechenden Kommunikationszen-
tren registrieren und einsetze n zu lassen. Ihre Arbeit ist
im Sinne der Hilfe für die Bevölkerung wichtig, aber sie
muss unabhängig erfolgen.
Welche unmittelbare Hilfe ist notwendig? Was haben
wir bisher getan? Es wurde heute Morgen mehrfach an-
gesprochen: Mithilfe der UN-V ertretung haben wir es
geschafft, dass die Mittel des Programms „Öl für Le-
bensmittel“ jetzt wieder fließen können und dass aus
diesen Mitteln Nothilfe zur V erfügung gestellt werden
kann.
Frau Kollegin W ieczorek-Zeul, erlauben Sie eine
Zwischenfrage des Kollegen Kues?
Heidemarie Wieczorek-Zeul, Bundesministerin für
wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung:
Ich denke, eine Zwischenfrage war jetzt genug.
Sie erlaubt keine Zwischenfrage. – Bitte schön, fahrenSie fort.
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3026 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. April 2003
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Heidemarie Wieczorek-Zeul, Bundesministerin fürwirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung:An dieser Stelle erinnere ich daran, dass gestern derDirektor des Welternährungsprogramms zu Gesprächenüber die Perspektiven dieses Programms bei uns war;diese Institution führte und führt das Programm „Öl fürLebensmittel“ im Irak durch. Er hat der Bundesregierungausdrücklich Lob und Dank des W elternährungspro-gramms dafür ausgesprochen, dass sie diese Arbeit aktivunterstützt, aber vor allen Dingen dafür , dass wir es ge-schafft haben, die Mittel des Programms „Öl für Lebens-mittel“ wieder fließen zu lassen.
Zweitens appelliere ich, wie es James Morris und ichgestern gemeinsam getan haben, an alle irakischen Stel-len, um der Menschen willen mit diesem Programm „Ölfür Lebensmittel“ zu kooperieren. Herr Morris wies ges-tern darauf hin, dass es 44 000 solcher kleinen Einrich-tungen gibt, bei denen Mittel für die Nahrungsmittelhilfezur Verfügung stehen.Außerdem hat die Bundesregierung 50 MillionenEuro für humanitäre Soforthilfe, für Flüchtlings- undNothilfe, zur Verfügung gestellt. Ich nannte eben dasWelternährungsprogramm, dessen Aufgabe die V ersor-gung mit Nahrungsmitteln ist. Die Nahrungsmittel gehenzur Neige. Wir unterstützen das Internationale Komiteevom Roten Kreuz. Auch dies ist eine praktische Unter-stützung.Ich weiß um das Leid und den Schrecken der Angriffeund der Kämpfe in Basra. Das Internationale Komiteevom Roten Kreuz hat dazu be igetragen, einen Teil derWasserversorgung in Basra wieder sicherzustellen. Dasrettet hoffentlich vielen Tausenden von Menschen dasLeben, die ansonsten verdorbenes W asser trinken wür-den, schreckliche Krankheiten davontrügen und sterbenmüssten. Wir, die Bundesrepublik, die Bundesregierung,unterstützen mit unseren Fina nzmitteln diese Arbeit desInternationalen Roten Kreuzes. Ich danke den Men-schen, die diese Arbeit leis ten. Sie retten Leben und tra-gen dazu bei, dass mehr Menschen eine Chance haben.
Die EU stellt 100 Millionen Euro für diese humani-täre und Nothilfe zur V erfügung. Darin ist unser Anteilim Umfang von rund 23 Millionen Euro enthalten.Weil ich diese Hilfe in der jetzigen Phase für das Al-lerwichtigste halte, liebe Kolleginnen und Kollegen,stelle ich jetzt einfach dar, welche Arbeit im Irak geleis-tet wird; denn wenn ich den T eil der Berichterstattungsehe, in dem es darum geht, wie viele Schritte das Mili-tär da oder dort vorangekommen ist, erscheint es mirwichtiger, wie wir es schaf fen, ganz schnell die Lastwa-gen mit den Hilfsgütern zur Zivilbevölkerung zu bekom-men, damit diese Menschen eine Chance haben, dass ih-nen geholfen werden kann.
Die zentrale Rolle der Vereinten Nationen und eineEntscheidung des UN-Sicherhe itsrates sind aber nichtnur für die humanitäre Hilfe, sondern auch für die Be-wältigung der politischen, sozialen und wirtschaftlichenEntwicklungsaufgaben im Irak nach der Beendigung desKrieges unabdingbar. Sie sind gleichzeitig eine unab-dingbare Voraussetzung für das Engagement der multila-teralen Einrichtungen.Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie michzum Schluss etwas wiederholen, was immer wieder an-gesprochen werden muss: Ich halte es für obszön, dass inden USA zur weiteren Finanzierung dieses Krieges einNachtragshaushalt von 75 Milliarden US-Dollar einge-setzt wird. Das ist eineinha lbmal so viel, wie weltweitalle Geber für of fizielle Entwicklungszusammenarbeitzur Verfügung stellen. Wir können doch nicht auf Dauerdie Mittel für Militär und für Kriege verschwenden.Wenn wir Gewalt und Ursachen von Gewalt wirklich be-kämpfen wollen, dann müssen wir dazu beitragen, dassdie Mittel dieser W elt im Kampf gegen Armut, gegenHunger, gegen Unwissenheit und gegen Hoffnungslosig-keit eingesetzt werden, und dafür werbe ich.
Wir dürfen nicht zulassen, dass sich die internationaleAgenda verschiebt. Eine der Lehren aus diesem Krieg,jedenfalls für mich, ist, dass wir die Mittel für Armuts-bekämpfung aufstocken müssen, dass wir mehr Mittelbrauchen, um die Chancen für eine gerechte W eltord-nung zu verbessern.
– Nein, nicht das Gegenteil. W er Ohren hatte, zu hören,der hat gehört.Wichtig ist: Das 21. Jahrhundert muss ein Jahrhundertsein, in dem wir Schritte zu einer gerechteren Weltord-nung erreichen. Deshalb bleibt die fortdauernde Auf-gabe, auf die Verpflichtungen des Rechts zu setzen, dieStärke des Rechts zu verankern sowie über diesen T aghinaus und über die Schrecken des Krieges hinaus eineneue, gerechtere Weltordnung zu erreichen.
Ich bedanke mich sehr für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Wort hat jetzt die Kollegin Petra Pau.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ichhabe die Rede von Frau Merkel von der Unvermeidbar-
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Petra Paukeit des Krieges mit all seinen Folgen und von ihrer un-verbrüchlichen Gefolgschaft zur Allianz der Kriegswilli-gen noch gut im Ohr – übrigens auch den langanhaltenden rhythmischen Beifall ihrer Kolleginnen undKollegen von CDU/CSU. Frau Merkel, Sie können si-cher sein, dass Sie verstanden wurden, als S ie vor vier-zehn Tagen hier gesprochen haben. Als am vergangenenSonnabend in Berlin und am Montag in Leipzig erneuthunderttausend gegen den Krieg demonstrierten, warenSie nämlich in vieler Munde.Nun höre ich heute, Sie wollten nach vorn schauen;die Frage nach einer Gemeinsamen Außen- und Sicher-heitspolitik der EU stelle si ch nach den Dif ferenzen inder Irakkrise jetzt sehr viel vehementer; eine gemein-same Politik sei aber nur denkbar , wenn sie nicht gegendie Vereinigten Staaten von Amerika gerichtet sei. Ge-nau zu dieser Passage habe ich drei Anmerkungen:Zum Ersten erinnert mich das alles an den uraltenEhespruch aus weiblicher Sicht: Sind wir uns einig, danngilt meine Meinung; haben wir aber eine Differenz, danngilt seine Meinung. – So sind die USA mit dem Völker-recht umgesprungen, so haben Sie von der Union sichder US-Strategie unterworfen und so sieht Ihr Blick nachvorn aus. Die PDS im Bundestag hat einen anderen V o-rausblick.Zum Zweiten ist eine Politik, die sich Angriffskriegenversagt, noch lange keine Politik gegen die V ereinigtenStaaten von Amerika,
sondern lediglich eine Politik gegen eine auf Krieg set-zende US-Führung. Diesen Unterschied sollten auch Sievon der CDU/CSU endlich begreifen.Zum Dritten heißt die Frage nicht: mit den USA odergegen die USA? Europa muss sich vom Kriegskurs derUSA emanzipieren. Das wäre ein Blick und wäre auchein Schritt nach vorn.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD undden Grünen, ich behaupte ja nicht, dass die Karre miteinfachen Lösungen oder gar Losungen aus dem Dreckgezogen werden könnte. W enn wir in unserem Neinzum Irakkrieg übereinstimmten, dann hieß dass nie,dass unsere Gründe dieselbe n waren. Rot-Grün hat die-sen Krieg abgelehnt. Die PDS lehnt Kriege grundsätzlichab. Das ist der Unterschied.
Wir alle wissen: Die Regierung verdrängt alle Fragen,die auf eine völkerrechtliche Verdammung des Irakkrie-ges hinauslaufen. Sie weicht allen Fragen aus, die mit ei-ner indirekten deutschen Beteiligung zusammenhän-gen. Ich spreche hier über Überflugrechte, überAWACS-Flüge, über deutsche Einsatzkräfte in Kuwaitund am Horn von Afrika. Dies lehnt die PDS im Bundes-tag seit Monaten und auch heute wieder ab.Dass ich in den letzten T agen selbst grüne Stimmenhöre, die Europa um- und hochrüsten wollen, wundertmich. Lassen Sie uns gemeinsam nach Auswegen su-chen! Konfrontation, Kriege, Rüstung sind keine Krisen-löser. Sie bieten keine Zu kunft – für niemanden, nir-gendwo.Ich will allerdings, liebe Kolleginnen und Kollegen,noch eines in Erinnerung rufen: Hätten CDU und CSUim Bunde mit der FDP die Wahlen gewonnen, dann wäredie Bundesrepublik heute Kriegspartei, dann würdendeutsche Soldaten heute um Bagdad und den MittlerenOsten kämpfen, mit allen Folgen.
Auch das muss in einer solchen Debatte gesagt werden.
– Das stimmt sehr wohl, Herr Kollege Gerhardt.
Frau Merkel hat ja nun mehrfa ch unterstrichen, dass siesich unter Inkaufnahme aller Folgen an die Politik derUSA hängen wollte.
Ich möchte aber zum Schl uss noch zwei Sätze zurheutigen Kanzlerrede und seinem Versuch, seine außen-politischen Vorstellungen von einer friedlichen Welt mitseinen innenpolitischen V orhaben, der so genanntenAgenda 2010, zu verknüpfen, sagen:Erstens. Die Agenda 2010 zielt nicht auf mehr Ge-rechtigkeit, mehr Stabilität und Solidarität im Inneren,im Gegenteil: Sie entlasten mit dieser Politik die Vermö-genden, belasten die Bedürftigen und entsorgen die Soli-darsysteme.Deshalb mein zweiter Satz: Eine solche Innenpolitiktaugt nicht als Leitbild für eine Außenpolitik, die aufRecht und Gerechtigkeit, au f Frieden und Entwicklungzielt.Die PDS im Bundestag sagt also Ja zu Ihrem Neinzum Irakkrieg. Aber wir sagen zugleich Nein zu IhremJa zum Sozialabbau.
Das Wort hat jetzt der Kollege Günter Gloser von der
SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Ko lleginnen und Kollegen!Eine Berliner Zeitung, genauer gesagt, die „Berliner Zei-tung“ überschreibt heute einen Kommentar mit „Diezweite Ebene der Angela Merkel“ und ver gleicht ihre
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3028 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. April 2003
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Günter GloserSituation mit der einer Person, die versucht hat, mit ihrerArgumentation bei den Parteimitgliedern durchzukom-men, wobei sie aber keiner versteht, und legt ihr fol-gende Worte in den Mund:Okay, nochmal von vorne. Ich versuch’s nochmal,bis ihr versteht.Diesen Versuch haben wir heute wieder erlebt. Es hat siewieder niemand verstanden. Der Kommentator hat schongestern, vielleicht auch aufgrund von internen Informati-onen, gesagt:Man versteht sie und man versteht sie doch nicht.Denn nichts bietet sie an auf „Ebene zwei“: keineIdeen und keine Prinzipien, vor allem aber keineAntworten auf all ihre Fragen.Liebe Kolleginnen und Kollegen, ein solches Fazit kannman in der Tat aus der heut igen Rede von Frau Merkelziehen.
In ihrer mit sechs Punkten se hr strukturiert aufgebautenRede hat sie hier heute keine Antwort gegeben und diePosition der CDU/CSU nicht klar bestimmt.Meine sehr verehrten Damen und Herren, traditionellsind die Frühjahrsgipfel des Europäischen Rates in ersterLinie wirtschafts- und sozialpolitischen Themen gewid-met. Aber dieses Mal sind die Regierungschefs unterdem Eindruck eines Krieges und auch mit dem bedrü-ckenden Wissen zusammengekommen, dass es ebennicht gelungen ist, eine gemeinsame europäische Hal-tung zum Irakkonflikt zu en twickeln. Diese bittere Er-kenntnis prägte den Märzgipfel in der Tat.Das überschattete den erfolgreichsten außenpoliti-schen Akt, den die Europäische Union jemals vollzogenhat, nämlich die Überwindung der Teilung Europas unddie Vollendung der europäischen Einigung, die jetzt ingreifbare Nähe gerückt ist. Für zwölf Beitrittsländer istder konkrete Zeitplan für den Weg zur Mitgliedschaft inder EU vorgezeichnet. Mit acht mittel- und osteuropäi-schen Kandidatenländern sowie den MittelmeerländernMalta und Zypern wird der Beitrittsvertrag noch in die-sem Monat unterzeichnet. Deren Beitritt wird, wenn dieBevölkerung dieser Länder zustimmt und die Ratifizie-rung in den Mitgliedstaaten un d Beitrittsländern erfolg-reich verläuft, zum 1. Mai 2004 erfolgen. Bulgarien undRumänien werden, wenn sie ihre Anstrengungen zurBeitrittsvorbereitung forcieren, im Jahre 2007 folgen.Dies alles wäre ein Grund, nach Kopenhagen im Märzeinen nicht minder historischen Gipfel zu feiern, der sichder konkreten wirtschafts-, sozial- und beschäftigungs-politischen Agenda des nun zusammenwachsenden Eu-ropas annimmt.Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich möchte aller-dings schon auf einige Diktionen in den Stellungnahmenvonseiten der Opposition eingehen, in denen immer soleichtfertig von der Spaltung Europas gesprochen wird.Wer verkennt denn das, was in den letzten Jahren, zuge-gebenermaßen auch dank des Engagements christdemo-kratischer und freidemokratischer Regierungen, zu-stande gekommen ist? W er macht denn eigentlich denUmfang der Außen- und Sicherheitspolitik in der Euro-päischen Union kleiner, als er tatsächlich ist? Wir habenetwas erreicht und stehen davor, ein ganz großes Projektzu realisieren. Das bedarf sicherlich auch des weiterenEngagements. Wer heute bei einem sicherlich wichtigenThema von einer Spaltung Europas spricht, wird den Di-mensionen der europäischen Außen- und Sicherheitspo-litik nicht gerecht.
Lassen Sie mich auch auf einige zum T eil nicht mehranwesende Kolleginnen und Kollegen von der Opposi-tion eingehen. Ich habe schon in einer früheren Debatte– es war bereits im Jahr 1999 – gesagt, Sie strickten im-mer an einer Legende, was das Verhältnis dieser Bundes-regierung vor allem zu den Beitrittskandidatenländernangehe. Wir waren von Anfang an, seit Übernahme die-ser Bundesregierung, der Anwalt, der Fürsprecher dieserkleinen und großen Beitrittsländer, damit sie so bald wiemöglich, sobald die V oraussetzungen vorliegen, in dieEuropäische Union aufgenommen werden können. Da-rüber gab es überhaupt keinen Dissens. Das haben wirdeutlich gemacht.Jetzt sagen Sie wieder, wir hätten auf die kleinen Län-der und die Beitrittskandidatenländer keine Rücksichtgenommen. Das ist einfach nicht wahr.
Zum einen gab es einen intens iven Dialog – er hätte si-cher an der einen oder anderen Stelle vertieft werdenkönnen – von beiden Seiten, nicht immer nur seitens derRegierung. Zum anderen gab es auf der parlamentari-schen Ebene eine Vielzahl von Gesprächen.Lieber Herr Kollege Hintze, Sie hatten gestern sicher-lich einen Grund, nicht an der Sitzung des Europaaus-schusses teilzunehmen. Das kann und will ich Ihnen garnicht vorwerfen. Aber ich will Ihnen eine Informationweitergeben, weil Sie gesagt haben, Sie wollten einKerneuropa, das nicht spalte. Außenminister Fischer hatgestern noch einmal ausdrücklich festgestellt, auch inBezug auf die belgische Init iative, dass das Kerneuropakein exklusiver Klub sei. W ir wollen aber vorangehen.Wer sich anschließen will, kann mit vorangehen. Ichbitte auch hier , nicht wieder an einer Legende zu stri-cken.
Gerade Sie sollten nicht fa lsch Zeugnis wider IhrenNächsten reden; das hat de r Außenminister auch nichtverdient. Er hat gestern deutlich dazu Stellung genom-men.
– Herr Kollege Müller , Sie müssten das eigentlich ver-standen haben, denn Sie waren anwesend.Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, las-sen Sie mich noch auf einen Aspekt eingehen, der sicher-lich zu Irritationen geführt hat, auch was die Beitrittskan-
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. April 2003 3029
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Günter Gloserdidatenländer angeht. Natürlich hat es da verschiedeneStimmen gegeben, weniger bei uns als vielleicht in ande-ren europäischen Ländern. Ich sage noch einmal aus-drücklich: Auch wenn es bei uns möglicherweise Irritatio-nen gegeben hat, dass bei der Unterschrift der Acht oderbei der Vilnius-Erklärung vorher nicht miteinander kom-muniziert, geschweige denn die griechische Ratpräsi-dentschaft konsultiert worden ist,
muss man die Situation dies er Länder verstehen. Siewollen Mitglieder der Europäischen Union werden.Letzte Woche haben wir ei ne Reise nach Rumänienunternommen. Dort besteht Klarheit. Es kann aber keineEuropäische Union à la carte geben. Man kann sich nichtdas herauspicken, was einem gefällt, und sich für das,was einem nicht gefällt, an dere Verbündete suchen.Wenn diese Länder allerdings aufgrund ihrer Geschichteein großes Bedürfnis haben, Sicherheit zu erlangen, unddabei vor der Alternative stehen, die NATO oder die Ver-einigten Staaten oder aber ein möglicherweise zerstritte-nes Europa als Verbündeten zu wählen, dann werden siein dieser Situation zunächst einmal den einen Adressatensuchen. Deshalb ist es wich tig, gemeinsam mit den Bei-trittskandidatenländern den Weg zu einer gemeinsameneuropäischen Außen- und Sicherheitspolitik zu su-chen.
Ich glaube, dass der Konvent – da sind wir uns in die-sem Hause, zumindest im Europaausschuss, einig – inder Tat entsprechende Instrumente schaf fen muss. Mankann und sollte auch über das diskutieren, was Sie, Kol-lege Hintze, vorgeschlagen haben. Instrumente sind rich-tig und wir brauchen sie; aber es muss auch der gemein-same politische Wille vorhanden sein, eine gemeinsameAußen- und Sicherheitspolitik in dieser EuropäischenUnion zu gestalten.Ich möchte noch auf einen Bereich eingehen, auf densicherlich mein Kollege Jörg Vogelsänger noch zu spre-chen kommen wird, nämlich au f das, was wir als Lissa-bon-Strategie bezeichnen. Wir brauchen, um ein gewis-ses Gewicht darzustellen, in der Europäischen Unionauch eine ökonomische Leistungsfähigkeit. Dazu kanndas Leitbild Europa Entsprechendes leisten.Ich gehöre nicht zu der Gruppe der professionellenSchwarzmaler, die – so höre ich es beispielsweise ausder Opposition – Deutschla nd nur noch schlecht reden.Dazu ein Zitat:Es wäre völlig irreführend, Deutschland als einLand darzustellen, das schäbig oder erbärmlichoder anfällig für politische Instabilität oder in derGefahr des endgültigen wi rtschaftlichen Nieder-gangs sei. Im Gegenteil, es ist reich, stabil und fürdie überwältigende Mehrheit seiner Menschen ist esäußerst angenehm, dort zu leben.So der „Economist“ im Dezember letzten Jahres.Ich sage hier ganz bewusst, auch vor dem Hinter-grund der aktuellen Zahlen aus Nürnber g zur Arbeitslo-sigkeit: Wir müssen hier Anstrengungen unternehmen.Ich glaube, dass die Agenda 2010 ein richtiger Weg ist,um die entsprechenden W eichen zu stellen, auch imKontext eines Lissabon-Prozesses.Ich meine, es ist ein Zeichen für die Stärke der Euro-päischen Union, dass sie si ch in der W irtschaftspolitikverständigt und gemeinsame Ziele formuliert. Aber auchauf der nationalen Ebene sind wir gezwungen, Entspre-chendes zu leisten. Ich glaube, die Vorschläge, die in dennächsten Tagen vorgelegt werden, die wir erörtern und,wie ich denke, auch beschließen werden, sind ein wichti-ger Beitrag in diesem Bereich. Wir sagen damit: Wir ha-ben aus dieser Europäischen Union gelernt. Wir guckenab, was in anderen Ländern positiv läuft, und wir versu-chen, es umzusetzen. Wir, diese rot-grüne Koalition unddiese Bundesregierung, werden diese Reformvorhabendurchbringen, um die Zukunft unseres Landes zu sichern,um die weitere Integration in Europa mit zu gestalten undum gemeinsam in Europa di e neuen Herausforderungender globalisierten Welt friedlich zu meistern. Auch dieOpposition sollte sich, wie es gelegentlich in der Außen-und Sicherheitspolitik geschieht, an diesen Vorschlägenkonstruktiv beteiligen.Vielen Dank.
Das Wort hat jetzt der Kollege Jör g Vogelsänger von
der SPD-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damenund Herren! Die heutige Debatte des Deutschen Bundes-tages ist besonders gekennzeichnet von der großen Sorgeüber die Entwicklung im Nahen und Mittleren Osten. Ichglaube, diese Sorge ist parteiübergreifend. Ich hätte miraufgrund der dramatischen La ge im Irak allerdings dieeine oder andere Gemeinsamkeit im Parlament ge-wünscht.
Ich möchte daran erinnern, dass die Politik der Bundes-regierung von der breiten Bevölkerungsmehrheit ge-stützt und unterstützt wird. V ielleicht ist das für den ei-nen oder anderen ein Grund zum Nachdenken.
Meine Damen und Herren, Europa ist ein Kontinentdes Friedens geworden. Gerade in der aktuellen Situa-tion wird uns so richtig bewusst, welch großes Glück wirEuropäer damit haben. Mit der Erweiterung der Europäi-schen Union wird die Teilung Europas in Blöcke endgül-tig überwunden. Dass dies mö glich ist, daran haben wirDeutsche und besonders die Bür ger Ostdeutschlands ei-nen großen Anteil. Mit der friedlichen Revolution von1989/1990 wurde der Eisern e Vorhang in Europa, derunser Land trennte, niedergerissen. Ein besonderer Dank
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3030 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. April 2003
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Jörg Vogelsängerdafür gilt den Völkern Ungarns, Tschechiens und Polens.Der Mut der Menschen und der Politiker in diesen Staa-ten hat gerade uns diesen friedlichen Umbruch erst er-möglicht. Deshalb freue mich ganz besonders, dass dieseStaaten die Europäische Union bereichern werden.In den Dokumenten des Eu ropäischen Rates anläss-lich der jährlichen Frühjahrstagung vom März 2003 inBrüssel spielte die Weiterentwicklung der EuropäischenUnion im doppelten Sinne ei ne wichtige Rolle. Es gingzum einen um den Erweiter ungsprozess und zum ande-ren um die dringendsten Reformen in Europa. W ir brau-chen Mut zur V eränderung in Deutschland und wirbrauchen diesen Mut auch in Europa.Ein zentraler Punkt im Papier des Rates ist die Fragevon Beschäftigung und Wohlstand in Europa. In ganzEuropa gibt es wirtschaftliche Unsicherheitsfaktoren unddie aktuelle Situation im Irak wirkt sich negativ auf diewirtschaftliche Erholung aus. Gerade wegen dieserschwierigen Rahmenbedingungen sind wir zu entschlos-senen Strukturreformen verpflichtet.
Das von Bundeskanzler Gerhard Schröder am14. März vorgelegte mutige Reformprogramm ist einGesamtkonzept für Deutschland. Es gilt, die Lohnneben-kosten zu senken und die I nvestitionen zu steigern unddamit für mehr Beschäftigung zu sorgen.
Das ist auch der Kernpunkt des Papiers des Europäi-schen Rates. Das Lissaboner Ziel einer Beschäftigungs-quote von 70 Prozent bis 2010 ist und bleibt eines derHauptanliegen der Staats- und Regierungschefs. Ländermit einer hohen Beschäftigungsquote haben eine sehrleistungsfähige Wirtschaftsstruktur. Eine hohe Beschäf-tigung ist die Grundvoraussetzung für eine funktionie-rende soziale Marktwirtschaf t mit guten sozialen Leis-tungen für die Bür ger. Deshalb gilt es, in Deutschlandfür mehr Beschäftigung zu sorgen.
– Das machen wir auch.Mit der Umsetzung des Hart z-Konzeptes, lieber Kol-lege, sind wir in Deutschland auf dem richtigen W eg.Weiterhin wird der erweitert e europäische Binnenmarktgerade in Deutschland für mehr Arbeit sor gen können.Mit der Erweiterung der Europäischen Union kommenüber 70 Millionen Menschen – für mich sind die Men-schen der wichtigste Faktor –, aber auch ein riesigerneuer Markt für Güter und Dienstleistungen hinzu.Selbstverständlich ist in diesem Zusammenhang diePolitik gefragt, Unternehmen durch entsprechende Rah-menbedingungen zu unterstü tzen. Die Bundesregierungplant eine außenwirtschaftliche Offensive mit dem Zielder Öffnung internationaler Märkte für kleine und mit-telständische Unternehmen. Das geht natürlich über dasGebiet der Beitrittsländer hinaus.Die Erweiterung der Europäischen Union bedarf auchbestimmter Übergangsvorschriften. Zudem stehen wirim Verkehrsbereich vor neue n Herausforderungen. DieInfrastruktur muss selbstverständlich ausgebaut wer-den. Die EU-Osterweiterung ist im neuen Bundesver-kehrswegeplan besonders zu berücksichtigen.Neben den Brücken aus Stahl und Beton müssen wirauch an den Brücken zwischen den Menschen weiter-bauen. Hier sind wir alle ge fordert und jeder kann dazuseinen Beitrag leisten.
Beiträge zur Völkerverständigung sind aktive Frie-denspolitik.Was in den 50er -, 60er- und 70er-Jahren unter ande-rem zwischen Deutschland und Frankreich gelang, wer-den wir auch mit unseren neuen EU-Nachbarn schaf fen.Wichtig dabei ist, dass die Politik – Frau Sager hat schonvor einem bürokratischen Europa gewarnt – die Men-schen und ganz besonders die Jugend mitnimmt. Ichdenke, für unsere Jugend wird die EU-Osterweiterungrichtig spannend. In diesen Prozess kann sie sich volleinbringen.Der erweiterten Europäischen Union wird nach mei-ner festen Überzeugung in ei ner veränderten internatio-nalen Situation eine noch größere Bedeutung zukom-men. Dies kann und muss für die Sicherung des Friedensgenutzt werden. Europa steht in einer besonderen V er-antwortung. Wir haben uns dieser V erantwortung zumWohl unserer Völker zu stellen.Vielen Dank.
Herr Kollege Vogelsänger, ich beglückwünsche Sieim Namen des ganzen Hauses zu Ihrer ersten Rede imDeutschen Bundestag.
Ich schließe die Aussprache.Ich rufe jetzt die Tagesordnungspunkte 4 a und 4 b so-wie die Zusatzpunkte 2 und 3 auf:4 a) Beratung des Antrags der AbgeordnetenKatherina Reiche, Thomas Rachel, Dr . MariaBöhmer, weiterer Abgeordneter und der Fraktionder CDU/CSUReformen in der beruflichen Bildung voran-treiben – Lehrstellenmangel bekämpfen– Drucksache 15/653 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Bildung, Forschung undTechnikfolgenabschätzung
RechtsausschussFinanzausschussAusschuss für Wirtschaft und ArbeitAusschuss für Verbraucherschutz, Ernährung undLandwirtschaftAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendAusschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. April 2003 3031
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Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solmsb) Beratung des Antrags der Abgeordneten CorneliaPieper, Christoph Hartmann , UlrikeFlach, weiterer Abgeordneter und der Fraktionder FDPFür die Stärkung der dualen Berufsausbildungin Deutschland – mehr Chancen durch Flexibili-sierung und einen individuellen Ausbildungspass– Drucksache 15/587 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Bildung, Forschung undTechnikfolgenabschätzung
Ausschuss für Wirtschaft und ArbeitAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendZP 2 Beratung des Antrags der Abgeordneten Karl-Josef Laumann, Dagmar Wöhrl, HartmutSchauerte, weiterer Abgeordneter und der Frak-tion der CDU/CSUAusbildungsbereitschaft der Betriebe stärken– Verteuerung der Ausbildung verhindern– Drucksache 15/739 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendAusschuss für Gesundheit und Soziale SicherungAusschuss für Bildung, Forschung undTechnikfolgenabschätzungHaushaltsausschussZP 3 Beratung des Antrags der Abgeordneten W illiBrase, Jörg Tauss, Doris Barnett, weiterer Abge-ordneter und der Fraktion der SPD sowie der Ab-geordneten Grietje Bettin, Dr . Thea Dückert,Kerstin Andreae, weiterer Abgeordneter und derFraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNENOffensive für Ausbildung – Modernisierungder beruflichen Bildung– Drucksache 15/741 –Überweisungsvorschlag:A. f. Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung
RechtsausschussFinanzausschussAusschuss für Wirtschaft und ArbeitAusschuss für Verbraucherschutz, Ernährung undLandwirtschaftAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendAusschuss für Gesundheit und Soziale SicherungNach einer interfraktionellen V ereinbarung sind fürdie Aussprache anderthalb S tunden vorgesehen. – Ichhöre keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache. Als Erste hat die Bundes-ministerin Edelgard Bulmahn das Wort.Edelgard Bulmahn, Bundesministerin für Bildungund Forschung:Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrtenHerren und Damen! Eine qualifizierte Ausbildung fürjunge Menschen sicherzustellen ist eine der wichtigstengesellschaftspolitischen Aufgaben,
weil nur gut ausgebildete Mens chen ihre Zukunftschan-cen, insbesondere ihre späteren Berufschancen wahr-nehmen können.Eine qualifizierte Ausbildung sicherzustellen ist aberauch deshalb eine der wich tigsten gesellschaftspoliti-schen Aufgaben, weil sich Unternehmen nur mit gut aus-gebildeten Menschen im internationalen Wettbewerbbehaupten können.
Nur in wettbewerbsfähigen Unternehmen wiederumkönnen neue, zukunftssichere Arbeitsplätze entstehen.Wir haben in der ver gangenen Legislaturperiodegrundlegende Reformvorhaben begonnen mit dem Ziel,die berufliche Aus- und W eiterbildung nachhaltig zumodernisieren und vor allem mehr Betriebe für die be-rufliche Ausbildung zu gewinnen.
Diese Politik hat in den vergangenen Jahren spürbare Er-folge gezeigt. Deshalb werden wir diesen Kurs konse-quent fortsetzen. Im Übrigen werden wir in dieser Legis-laturperiode das Berufsbildungsgesetz novellieren.
In diesem Jahr droht jedoch eine sehr schwierigeLage.
Es gibt erhebliche Rückgänge bei den betrieblichenAusbildungsplatzangeboten: 58 000 gemeldete be-triebliche Ausbildungsplätze weniger als im Vorjahr, da-von allein 52 000 in den alten Ländern. Das ist wirklicheine deutlich schwierigere Situation als im vergangenenJahr. Dies begründet die sehr konkrete Sor ge, dass wiram Ende des Vermittlungsjahres 2002/2003 einer großenZahl von Jugendlichen kein en Ausbildungsplatz anbie-ten können.Ich will und werde mich damit nicht abfinden; dassage ich ganz klar.
Es kann und darf auf Dauer nicht sein – das sage ich ge-nauso klar –, dass nur ein Drittel der Betriebe ausbildet.
In einem dualen System der Berufsausbildung trägt dieWirtschaft die Hauptverantw ortung für die beruflicheAusbildung der Jugendlichen.
Sie trägt damit auch die Hauptverantwortung für ein aus-reichendes Angebot an Ausbildungsplätzen.
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Bundesministerin Edelgard BulmahnDie Wirtschaft muss deshalb in ihrem ureigensten Inte-resse alle Anstrengungen un ternehmen, die Zahl derAusbildungsplätze zu erhöhen. W er sich als Unterneh-mer heute dieser V erantwortung entzieht, sägt sprich-wörtlich an dem Ast, auf dem er selber sitzt.
Es ist ein schwerwiegender Fehler, dass Arbeitgeber ge-nau dort sparen, wo es um ihre Zukunft geht: bei derAusbildung und der Qualifizierung von Menschen.
Denn sie brauchen diese Me nschen zwingend, wenn sieihr Unternehmen erfolgreich in die Zukunft steuern wol-len.Es kann und darf nicht sein, dass Zehntausende vonJugendlichen eventuell keinen Ausbildungsplatz finden.Deshalb muss die Wirtschaft ihrer Verantwortung gegen-über den Jugendlichen gerecht werden.
Sie muss diese Verantwortung wahrnehmen und sie darfsich nicht davor drücken.
Ausbildungschancen dürfen auch nicht von Konjunk-turlagen abhängig sein. Für die Stabilität und auch fürden Erfolg des dualen Systems ist es unverzichtbar, dassAusbildung auch in wirtscha ftlich schwierigeren Zeitennicht aufgegeben, sondern fort geführt wird und dass al-len Jugendlichen, die ausgebildet werden können undwollen, ein Ausbildungsplatz angeboten wird, so wie wirdas in der ver gangenen Legislaturperiode im Bündnisfür Arbeit vereinbart haben. Di ese Vereinbarung mussauch dieses Jahr und für die Zukunft gelten.
Deshalb werden wir alles daransetzen, dass wiedermehr Betriebe ausbilden un d Ausbildungsplätze nichtabgebaut, sondern aufg ebaut werden. Das ist die Auf-gabe in den kommenden Wochen und Monaten.Ich führe bereits seit Ja nuar Gespräche mit den Spit-zen der W irtschaftsverbände und den Gewerkschaften,die im Übrigen unsere Sorge teilen. Für alle ist klar, dassdie Gewinnung von neuen Ausbildungsplätzen nur in ei-ner gemeinsamen Aktion gelingen kann. Wir müssen ge-meinsam dafür kämpfen, ausreichend Ausbildungsplätzezu erhalten. Dazu gehört auch, in Tarifverträgen zusätzli-che Ausbildungsanstrengungen zu vereinbaren, so wieSie das in Ihren Anträgen dargelegt haben.Aber, meine lieben Kolleginnen und Kollegen von derCDU/CSU, Tarifverträge werden nicht von der Bundes-regierung abgeschlossen. Nicht die Regierung ist dierichtige Adresse, sondern die T arifvertragsparteien.Diese Auffassung teile ich durchaus. Nicht nur ich, son-dern die gesamte Bundesregierung einschließlich desBundeskanzlers sagen das klipp und klar.
Wir handeln in den Punkten, in denen wir handelnkönnen. Die Bundesregierung tut alles dafür, die Ausbil-dungsbereitschaft der Wirtschaft zu erhöhen und da-mit unser Ziel zu realisieren, dass kein Jugendlicher nachder Schule in die Arbeitslosigkeit gerät. Unser Ziel ist es,das zu erreichen und sicherzustellen.Dazu gehört eine V ereinfachung des Einstiegs derausbildungsbereiten Betriebe in die Berufsausbildung,wie es der Bundeskanzler in seiner Regierungserklärungvom 14. März angekündigt hat. Bereits zu Beginn desneuen Ausbildungsjahres – das heißt im Sommer 2003 –werden wir die Ausbilder-Eignungsverordnung fürfünf Jahre aussetzen. Damit soll Betrieben, die bereitund in der Lage sind, auszub ilden, der Zugang zur Aus-bildung erleichtert werden. Die Kammern werden trotz-dem weiterhin die Aufgabe haben, sicherzustellen, dassdie sächlichen und personellen V oraussetzungen erfülltsind, sodass die Qualität der Ausbildung gewährleistetbleibt.
Es gibt konkrete Fälle wie zum Beispiel den Fall einerFachhochschullehrerin, die einen Betrieb gegründet hatund an der Fachhochschule Informatik lehrt, die abernach der geltenden Ausbilder-Eignungsverordnung nichtausbilden dürfte, die sicherlich nicht im Interesse der Sa-che sind. Deshalb setzen wi r die Geltung der Ausbilder-Eignungsverordnung für fünf Jahre aus. Wir werden kri-tisch beobachten, ob damit das gewünschte Ziel erreichtwird. Ich denke, das ist ein richtiges, notwendiges undwichtiges Signal an die Betriebe, um ihnen den Einstiegin die Ausbildung zu erleichtern.Wir werden weiterhin die Gründung von zusätzli-chen Ausbildungsverbünden massiv unterstützen. Wirhaben in den neuen Bundeslä ndern sehr positive Erfah-rungen mit der Schaf fung von Ausbildungsverbündengemacht. Wir wissen, dass sich immer mehr Betriebe sospezialisiert haben, dass si e nicht mehr das volle Spek-trum einer Ausbildung in ihrem Betrieb gewährleistenkönnen. Wir brauchen aber au ch diese Betriebe für dieAusbildung. Deshalb unterstützen wir die Bildung vonAusbildungsverbünden auch in den alten Bundesländern,damit wir auch diese Betriebe für die Ausbildung gewin-nen und wir damit den Jugendlichen weitere Ausbil-dungsmöglichkeiten eröffnen können.
Ein weiterer Punkt ist die Erweiterung des Pro-gramms „Kapital für Arbeit“ der Kreditanstalt für Wie-deraufbau. Damit können k ünftig Betriebe und Unter-nehmen, die zusätzliche Ausbildungsplätze bereitstellen,einen zinsgünstigen Investitionskredit beantragen.Auf die besonders schwierige Situation in den neuenBundesländern haben wir sofort reagiert. W ir haben diezwischen Bund und Ländern vereinbarte Absenkung aufmaximal 12 000 zu fördernd e Ausbildungsplätze für2003 ausgesetzt. Wir werden also auch in diesem Jahr
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Bundesministerin Edelgard Bulmahn14 000 zusätzliche Ausbildungsplätze im Rahmen diesesProgramms finanzieren.
– Nein, sorry. Das ist bereits in den Haushaltsverhand-lungen im Februar von mir angekündigt worden.
Ich hoffe, dass Ihre Kolleginnen und Kollegen damalszugehört haben. Den Minist erpräsidenten habe ich dasbereits Ende letzten Jahres gesagt.Ich will allerdings eines kl arstellen, lieber Kollege:Wir können nicht auf Dauer vonseiten des Staates undder Bundesregierung die Ausbildungsverantwortung derWirtschaft übernehmen. W ir können nicht ausbilden.Wir brauchen die W irtschaft und die Betriebe. Das istihre ureigenste V erantwortung. Daran lasse ich auchnicht rütteln.
Frau Kollegin Bulmahn, erlauben Sie eine Zwischen-
frage des Kollegen Kretschmer?
Edelgard Bulmahn, Bundesministerin für Bildung
und Forschung:
Das war ja schon eine Zwischenfrage.
Erlauben Sie die Zwischenfrage?
Edelgard Bulmahn, Bundesministerin für Bildung
und Forschung:
Ich erlaube noch eine Zwischenfrage.
Bitte schön, Herr Kretschmer.
Frau Ministerin, ich habe Sie schon das letzte Mal ge-fragt und Sie haben nicht geantwortet. Deshalb stelle ichdie Frage noch einmal.
– Das glaube ich nicht. Ich habe die Antwort nicht ver-nommen.Was ist der Grund dafür, dass die Firmen nicht ausbil-den? Sie tun so viel. Es ist so wichtig für die Unterneh-men. Trotzdem – das sagt uns das Arbeitsamt – brechenin diesem Jahr 16 Prozent der Lehrstellen weg. W as istIhrer Meinung nach der Gru nd dafür, dass die Firmennicht mehr ausbilden können?Edelgard Bulmahn, Bundesministerin für Bildungund Forschung:Erster Punkt. Es gibt zu m Beispiel einen dramati-schen Einbruch bei den Ausbildungsstellen der Bankenund in der Finanzwirtschaft. Ich halte die Entscheidung,die von den Banken und der Fi nanzwirtschaft getroffenworden ist, für falsch.
Denn ich erwarte von jedem kleinen Handwerksbetriebund appelliere auch an ihn, dass er ausbildet, und zwarauch über den Bedarf hinaus. Genau das Gleiche erwarteich – das sage ich ausdrücklich – von großen Banken.
Zweiter Punkt. Ich habe ausdrücklich gesagt, dasseine duale Berufsausbildung nur dann funktioniert,wenn man auch in wirtschaftlich schwierigen Zeiten aus-bildet und gerade an Investitionen in die Zukunft nichtspart.
Genauso wenig wie wir bei unseren Haushaltsentschei-dungen nicht an Investitionen in die Zukunft sparen dür-fen, dürfen auch Unternehmen nicht daran sparen. Des-halb ist es falsch, wenn Unternehmen dann, wenn esihnen nicht so gut geht, nicht ausbilden oder wenn Unter-nehmen, denen es wirtschaftlich durchaus gut geht – dasgibt es auch –, trotzdem nicht ausbilden, sondern versu-chen, die ausgebildeten F achkräfte woanders herzube-kommen.
Das ist eine Haltung, die nicht vertretbar ist. Denn wirhaben nur dann ausgebildete Fachkräfte, wenn jedes Un-ternehmen bereit ist, seinen Beitrag dazu zu leisten.Wenn aber nur ein Drittel der Betriebe ausbildet – ichnenne die Zahl noch einmal –, zeigt das sehr deutlich,dass nicht jedes Unternehmen seiner V erantwortung indem Umfang gerecht wird, wie es notwendig wäre.
Ich sage ausdrücklich: Ein Unternehmen, das nicht aus-bildet, denkt nicht an seine Zu kunft; denn es kann nichtdarauf bauen, dass andere Unternehmen für dieses Un-ternehmen die Ausbildungsv erpflichtung und -verant-wortung übernehmen.
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Bundesministerin Edelgard BulmahnDeshalb werden wir unsere Anstrengungen fortset-zen. Wir wollen gerade Ju gendlichen mit schlechterenStartchancen, die zum Beispiel sehr schlechte schulischeVoraussetzungen haben, durch spezielle Fördermaßnah-men wie zum Beispiel unser BQF-Programm einen er-folgreichen Start in das Berufsleben ermöglichen. Auchdiese Jugendlichen brauchen eine Berufsausbildung. Wirwissen, dass wir ihnen jetzt und in Zukunft staatlicheUnterstützung anbieten müssen. Das tun wir auch, zumBeispiel mit Hilfe dieses Programms.Zusätzlich eröffnen wir diesen Jugendlichen durch dieEntwicklung von Qualifikationsbausteinen einen wei-teren Weg. Das ist ein zusätzliches Angebot, um diesenJugendlichen den Zugang zu Ausbildung und zu Be-schäftigung zu erleichtern. Es kommt zu keiner Absen-kung der Ausbildungsqualität in der Breite. Aber überden über Bausteine organisierten Zugang zu einer vollenBerufsausbildung oder im Notfall zu anerkannten T eil-qualifikationen bietet sich die Möglichkeit des Einstiegsin eine Beschäftigung.
Ich bin sehr zuversichtlich, dass es uns mit diesen undweiteren Initiativen gelingen kann, auch in diesem Jahreine ausgeglichene Ausbildungsplatzbilanz zu erreichen.Entscheidend ist ein deu tlich verstärktes Engagementder Wirtschaft selbst. Etwa s anderes werden wir nichtakzeptieren.
Meine sehr geehrten Herren und Damen, wir brau-chen natürlich auch Ausbildungsberufe, die dem Bedarfder Wirtschaft und dem Anspruch der Jugendlichen aufeine Ausbildung zu qualifizierten Fachkräften entspre-chen.
Deshalb haben wir in den letzten vier Jahren56 Ausbildungsordnungen modernisiert und 18 neueAusbildungsberufe geschaffen.
Diesen Modernisierungsprozess werden wir so wie inder Vergangenheit auch weiterhin mit Nachdruck voran-treiben. Zur Modernisierung der Prüfungen erproben wirzurzeit zweistufig gestreckte Prüfungen in einer größe-ren Zahl von Ausbildungsberufen.Als Antwort auf die Globalisierung muss die Berufs-ausbildung internationaler und vor allem europäischerwerden. Ein wichtiges Ziel ist die Schaffung eines euro-päischen Bildungsraumes. Dazu gehören die Anerken-nung, die Anrechnung und die Transparenz von Qualifi-kationen und Abschlüssen. Dazu gehört es aber auch, zumehr Mobilität zu kommen und vor allem, den Auszu-bildenden die Möglichkeit zu geben, einen T eil ihrerAusbildung im Ausland absolvieren zu können und die-sen Teil der Ausbildung anerkannt zu bekommen. Daswerden wir in der Novelle des Berufsbildungsgesetzesentsprechend aufgreifen und gestalten.Meine sehr geehrten Herren und Damen, die Qualitätunseres Berufsbildungssystems schneidet im internatio-nalen Vergleich nach wie vor gut ab. Das soll auch sobleiben. Mehr Attraktivität, höhere Qualität, höhere Aus-bildungsbereitschaft und damit mehr Ausbildungsplätze,das sind die Ziele, die ich bei allen Schritten verfolge.
– Gibt es eine Wortmeldung?
Frau Ministerin, Sie erwart en schon fast eine Zwi-
schenfrage. Der Kollege Fuch s ist so freundlich, Ihnen
eine Zwischenfrage stellen zu wollen. – Bitte schön,
Herr Fuchs.
Frau Ministerin, ist Ihnen bekannt, wie viele Unter-nehmen in diesem Jahr in Deutschland Pleite gehen wer-den und wie viele Ausbildungsplätze dadurch verlorengehen?Edelgard Bulmahn, Bundesministerin für Bildungund Forschung:Das ist mir bekannt. Mir is t aber auch bekannt, wieviele Unternehmen in Deutschland gegründet werden.
Diese Zahl übersteigt die Za hl der Insolvenzen. Damitauch die neu gegründeten Unternehmen ausbilden kön-nen, haben wir gerade beschlossen, die Ausbilder -Eig-nungsordnung außer Kraft zu setzen. Ich sage ausdrück-lich: Es ist schlichtweg zu wenig, wenn nur ein Drittelder bestehenden Betriebe ausbildet. Wir müssen – darankommen wir nicht vorbei – di e Zahl der Betriebe, dieausbilden, erhöhen, und zwar in allen Bereichen; das giltvor allem für den Dienstleist ungsbereich, aber auch fürdas Handwerk.
Das muss unser gemeinsames Ziel sein und ich hof fe,lieber Kollege, dass es ta tsächlich unser gemeinsamesZiel ist. Jeder von uns muss in seinem V erantwortungs-bereich alles dafür tun, dass das gelingt.
Die CDU/CSU-Fraktion hat einen umfangreichen Forde-rungskatalog vorgelegt. Das hat mich etwas erstaunt;denn offensichtlich hat si e nicht zur Kenntnis genom-men, dass die Bundesregierung in allen Bereichen, aufdie die CDU/CSU-Fraktion eingeht – ich habe keineneinzigen Bereich gefunden, auf den das nicht zutrif ft –,
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Bundesministerin Edelgard Bulmahnlängst handelt. Damit hat sie einen Katalog vor gelegt,der beschreibt, was wir getan haben. Das freut mich. Eswürde mich aber noch mehr freuen, wenn Sie erkennenwürden, dass das bereits gewährleistet ist. Mit Ihren For-derungen sagen Sie ja ausdrü cklich, dass es richtig war .Ich denke, gerade die Bildungs- und Forschungspolitikersollten sich nicht die Blöße geben, etwas zu fordern, wasbereits geleistet worden ist.Ich halte es wirklich für nicht verantwortbar, dass Sievöllig falsche Zahlen in den Raum werfen; das gehtnicht.
Sie wissen so gut wie ich, dass wir die Erhebungen desBiBB heranziehen müssen, wenn wir ein realistischesBild über die Zahl der neu abgeschlossenen Berufsaus-bildungsverträge gewinnen wollen, da die Zahlen derKammern nur in diese Erhebungen eingehen. Danachhaben bis zum 30. September des ver gangenen Jahres572 227 Jugendliche eine Ausbildung begonnen. Da-mit unterschlagen Sie in Ihren Presseerklärungen230 000 Verträge.
Diese lassen Sie einfach unte r den Tisch fallen, um bil-lige Effekte zu erzielen. Ich sage ausdrücklich: Das istein nicht akzeptables Verhalten.
Lassen Sie das einfach sein! Denn damit motivieren Siekeinen einzigen Betrieb und auch die Jugendlichen nicht.Sie sollten lieber mit Fakten argumentieren. Auch ohnedass man so vorgeht, wie Sie es getan haben, gibt es ge-nug für uns zu tun.Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich sagte es bereits:Wir werden die Schwerpunkte unserer Reformagendadurch eine entsprechende Novellierung des Berufsbil-dungsrechts flankieren. Bei allen Zielsetzungen und Re-formen, die wir durchführen, ist es wichtig, immer diedoppelte Zielsetzung der Be rufsausbildung im Auge zuhaben, nämlich erstens, En twicklungs- und Beschäfti-gungschancen für alle Menschen zu eröf fnen, und zwei-tens, zugleich eine bedarfsg erechte Qualifizierung fürdie Wirtschaft zu ermöglichen. Das ist die Leitlinie unse-rer Politik. Hierfür werbe ich um Unterstützung.Vielen Dank.
Das Wort hat jetzt die Kollegin Katherina Reiche von
der CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Kolleginnen undKollegen! In Deutschland sind 562 000 junge Menschenohne Arbeit. Das sind 56 700 mehr als vor einem Jahr .Hinzu kommen noch einmal 558 000 junge Menschen inErsatzmaßnahmen.Frau Ministerin Bulmahn, aufgrund Ihrer Politik er-warten wir in diesem Jahr 42 000 Unternehmenspleiten.Das bedeutet noch einmal ein Minus von 40 000 bis50 000 Ausbildungsplätzen.
Im März standen deutschlandweit rund 541 700 Ausbil-dungssuchenden nur rund 393 000 Ausbildungsplätzegegenüber. Es fehlen also rund 148 700 Lehrstellen. Al-lein in den neuen Ländern fehlen 105 000 Lehrstellen.Die Lehrstellensituation ist so dramatisch wie nie zuvor.Die Bundesregierung hätte längst handeln müssen.
Wenn ein junger Arbeitsloser auf den Internetseitender Bundesregierung surft, dann sieht er , dass die Bun-desregierung mit dem Slogan „Wir sind gut“ wirbt. Dortsteht, dass wieder mehr Le hrstellen als Bewerberinnenund Bewerber zur Verfügung stehen. Frau Bulmahn, dieheute veröffentlichte Statistik zeigt, dass das of fenbargelogen ist.
Weiterhin steht dort: Alle J ugendlichen, die können undwollen, bekommen einen Ausbildungsplatz. Das klingtin den Ohren der 1,1 Millionen Jugendlichen ohne Lehr-stelle bzw. Arbeit wirklich wie Hohn.An dieser dramatischen La ge trägt die Bundesregie-rung eine Mitverantwortung. Sie hat die Brisanz der Si-tuation regelrecht verschlafen. Mit unseren Anträgen zurLehrstellenproblematik wollen wir die Bundesregie-rung aufrütteln und ihr Beine machen, damit sie ihreAufgaben angeht und aus der Lethargie herauskommt.
Zu lange hat sich die Bundesregierung mit scheinbar po-sitiven Statistiken geschmückt und wurden Jubelariengesungen und dabei dringend notwendige Maßnahmenversäumt. Die Entwicklung war bereits im Frühjahr2002absehbar. Das Lehrstellenproblem ist nicht über Nacht zuuns gekommen. Es hat aber ni cht in die T aktik für denBundestagswahlkampf gepasst. Deshalb wurde einMantel des Schweigens darü ber gebreitet. Nun werdendie Jugendlichen von den Versäumnissen rot-grüner Poli-tik umso härter eingeholt: minus 6,5 Prozent bei den neuabgeschlossenen Ausbildungsverträgen im deutschenHandwerk zum 31. Dezember 2002 und minus 7 Prozentbei neu abgeschlossenen Au sbildungsverträgen in die-sem Jahr.
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Katherina ReicheDie Ausbildungsbereitschaft der Betriebe inDeutschland – das haben Sie ausgeführt, Frau Ministerin –ist rapide gesunken, weil die Belastungen für die Unter-nehmen so hoch wie nie zuvor sind.
Besonders gravierend ist die Situation in den neuen Län-dern. Das Ausbildungsstellenangebot hat sich nochmalsdeutlich verringert. Gegenüber dem V orjahr wurde jedezehnte betriebliche Ausbildungsstelle nicht mehr gemel-det. Hinter diesen dramatischen Zahlen verber gen sichimmer Einzelschicksale.Nicht nur die Schere zwischen den gemeldeten freienAusbildungsplätzen und der Nachfrage der Jugendlichennach betrieblicher Ausbildung klaf ft dramatisch aus-einander. Es kommt noch etwas hinzu: V on den711 000 Bewerbern um einen Ausbildungsplatz schaf f-ten am Ende des letzten Jahres nur 48,2 Prozent denSprung in eine reguläre Ausbildung. W eit über50 Prozent der Jugendlichen bekamen wie schon in denJahren davor Ersatzmaßnahmen angeboten. Auch der öf-fentliche Dienst bildet deutlich weniger aus.Die rot-grüne Politik ist dafür verantwortlich, weil siedie Rahmenbedingungen für den Lehrstellenmarkt setzt.JUMP hat sich als Irrweg erwiesen. Jährlich 1 MilliardeEuro wurde in das Programm gepumpt. Die Bilanz?11,2 Prozent der Teilnehmer an JUMP sind in eine Voll-beschäftigung gekommen, 10,2 Prozent gelangten ineine betriebliche Ausbildung – viel Geld und wenig Wir-kung.
Unsere Jugendlichen brauchen betriebliche Lehrstellen.Nur so haben sie eine wirk liche Chance, auf dem erstenArbeitsmarkt Arbeit zu finden.
In Anbetracht dieser sc hwierigen Situation müssenzwei Dinge geschehen: Erstens. W ir brauchen eine Mo-dernisierung der berufliche n Ausbildung. Hier müssenWege weitergegangen werden. Zweitens. W ir brauchendurch eine steuerliche Entl astung der Ausbildungsbe-triebe und den Abbau von Bü rokratie die Stärkung desersten Lehrstellenmarktes.Zur Modernisierung der betrieblichen Ausbildung.Wenn das System der dualen Ausbildung – Frau Minis-terin, ich gebe Ihnen voll kommen Recht, dass diesesSystem im internationalen Vergleich gut ist – in der mo-dernen Informations- und Dienstleistungsgesellschaft at-traktiv und wettbewerbsfähig bleiben soll, dann müssenweitere strukturelle Veränderungen vorgenommen wer-den. Es geht um die Ausbil dungsordnungen hinsichtlichder Ausbildungsdauer und Praxisorientierung. Es gehtum Wahlpflichtmodule und W ahlmodule, um Inhalte,Methoden, Ausbildungsformen und Prüfungen. Es gehtum den Ausbildungsrahmen, der regelmäßig an wirt-schaftliche Veränderungen angepasst werden muss.Nehmen Sie zum Beispiel das Berufsbild des Verkäu-fers in einer Dienstleistungsg esellschaft. Es ist veraltet.Freizeitberufe oder IT -Berufe sind ähnliche Beispiele;denn die letzte Modernisierung liegt schon fünf Jahre zu-rück. Ich meine damit ausdrücklich nicht die Moder-nisierung der Aufstiegsfortbildung, sondern die ersteBerufsqualifikation. Die Ausbildungsfähigkeit und -be-reitschaft der Unternehmen müssen gefördert werden.Dazu gehört auch die Mode rnisierung der Ausbilder -Eignungsverordnung. Frau Bulmahn, Sie haben am Mitt-woch Ihre Vorschläge bekannt gegeben – unser Antragdazu ist schon ein bisschen länger auf dem Tisch –, diebeim DGB sofort auf W iderstand stießen, wonach alldiese Regelungen nicht machbar seien. Ich bin gespannt,wie Sie sich in dieser Situation mit dem DGB auseinan-der setzen.Gewerblich-technische Berufe, wie sie zum Beispielim deutschen Handwerk vo rhanden sind, müssen fürAuszubildende attraktiver gestaltet werden.
Für diese Berufe muss gerade wegen ihres hohen Be-schäftigungspotenzials verstärkt geworben werden.Ebenso benötigen wir theoriegeminderte Berufe für Ju-gendliche ohne Schulabschluss. Vom Bundesinstitut fürBerufsbildung wird vorgeschlagen, dass ein einheitlicherBerufsbildungspass eingeführt werden soll. Das unter-stützen wir. Frau Ministerin , Sie sollten auch mit denUnternehmen über die Präsenztage in den Berufsschulensprechen, die viele Unternehmen als Belastung empfin-den.Die Bundesregierung hat die jungen Menschen mit ih-ren Sorgen allein gelassen. Das Versprechen im Bündnisfür Arbeit, dass jeder Ausbildungswillige einen Ausbil-dungsplatz erhalten werde, wurde gebrochen. Auch vonder Ausbildungsplatzgarantie des Jahres 2002 hat sichdie Bundesregierung sang- u nd klanglos verabschiedet.Nur noch auf den Internetseiten der Bundesregierung istdavon die Rede.Bislang haben wir von Ihnen kein Konzept gesehen.Eine Lehrstellenabgabe, wie sie nun der Kanzler gefor-dert hat, ist in unseren Augen kontraproduktiv. Betriebe,denen dafür die Voraussetzungen fehlen, würden zusätz-lich belastet, andere Betrie be könnten sich davon frei-kaufen. Die Ausbildungsplatzabgabe schwebt wie einDamoklesschwert, wie eine immer währende Drohungvon Rot-Grün über den Unternehmen. Ich frage Sie: Wieviele Abgaben, Steuern und Drangsalierungen wollenSie den Unternehmen noch zumuten?
Nicht Bestrafung ist erfolgversprechend, sondern An-reize zu setzen.Auch das angekündigte Kreditprogramm ist untaug-lich. Kredite für Lehrstelle n sind ungefähr wie Kopf-schmerztabletten gegen Lungenentzündung.
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Katherina ReicheWir setzen uns für eine spürbare Entlastung der Be-triebe durch Senkung der Lohnnebenkosten ein. Dererste Ausbildungsstellenmarkt muss gestärkt werden.
Wir brauchen betriebliche Bündnisse für Ausbildunganalog denen von uns vor geschlagenen betrieblichenBündnissen für Arbeit. Das geht an die Adresse der T a-rifpartner. Wir brauchen in den T arifverträgen flexibleRegelungen zur Ausbildung svergütung. Das schließtauch Tariföffnungen ein. Manchmal ist weniger Geldbesser, als ohne Ausbildungsplatz dazustehen.
– Ja, weil unser Unternehmen selbst ausbildet, FrauBurchardt.Steuern und Sozialabgaben sind umfassend zu senkenund mit dieser Entlastung is t ein größerer wirtschaftli-cher Spielraum für neue Au sbildungsplätze in den Un-ternehmen zu schaffen.Das erfolglose JUMP-Programm sollte beendet wer-den. Die frei werdenden Mittel können direkt den Unter-nehmen zugute kommen. Sie können sie auch verwen-den, um den Arbeitslosenversicherungsbeitrag zusenken. Auch damit wäre zum Beispiel personalintensi-ven Unternehmen geholfen.Natürlich ist das Angebot betrieblicher Ausbildungs-plätze von der Zahl der Arbeitsplätze und von der W irt-schaftskonjunktur abhängig. Beides ist unter Rot-Grünauf Talfahrt. Diese Entwickl ung darf jedoch nicht aufdem Rücken der Jugendliche n abgeladen werden. Des-halb lautet mein dritter, grundsätzlicher Vorschlag: Klin-ken putzen, und zwar für je den einzelnen zusätzlichenAusbildungsplatz.
Die Fachverbände und ihre Präsidenten, der DGB undseine Einzelgewerkschaften mit ihren V orsitzenden undVerantwortlichen, die Bundesregierung und die Landes-regierungen mit ihren zuständigen Ministern sollten vorOrt bei Betrieben und V erwaltungen um Ausbildungs-plätze werben. Das gilt natü rlich auch für jeden einzel-nen Abgeordneten.Es ist höchste Zeit zum Ha ndeln. Sie verspielen dieChancen der jungen Generation im V ergleich mit ande-ren Volkswirtschaften. Das beginnt mit der Schulbildungund endet mit dem ersten Arbeitsmarkt. Die Zeit der An-kündigungen muss nun schnel lstens durch die Zeit derTaten abgelöst werden.
Vielen Dank.
Das Wort hat jetzt die Kollegin Grietje Bettin vom
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ineinem sind wir uns hoffentlich alle einig: Wir wollen je-dem jungen Menschen eine Ausbildung in dem Beruf er-möglichen, den er oder sie sich wünscht.
Diesem Ziel wollen wir trotz der konjunkturellen Krisemöglichst nahe kommen. Gleichzeitig wollen wir eineflexible Ausbildungsstruktur schaffen, die auf neue Ge-gebenheiten, zum Beispiel auf die zunehmende Internati-onalisierung oder den technischen Fortschritt, reagiert.
Dabei müssen wir gerade für benachteiligte junge Men-schen und solche mit Lernschwierigkeiten die Chance zueiner qualifizierten Ausbildung bewahren, zum Beispieldurch die Schaffung von anr echenbaren Qualifizie-rungsbausteinen. Eine solche Modularisierung, wie siein unserem Antrag, aber auch in den Anträgen der CDU/CSU und der FDP angedeutet wird, ist für uns ein wich-tiger Baustein in der beruflichen Bildung.Trotz vieler Bemühungen drängt es junge Frauen lei-der immer noch in die klassischen Frauenberufe. Fast80 Prozent eines jeden Ausbildungsjahr gangs wählenzwischen nur zehn Berufen. Ganz typisch sind hier Fri-seurin oder Krankenschwester. Dabei gibt es fast 400 an-dere Möglichkeiten. Wir wollen durch eine bessere Be-ratung gezielt auf andere zukunftsfähige Berufehinweisen, gerade auch im naturwissenschaftlichen undtechnischen Bereich.
So viel zur Vision, nun zum Konkreten. Liebe Kolle-ginnen und Kollegen von de r Union, Ihren Antrag habeich natürlich mit Interesse gelesen.
Sie wollen mit – ich zitiere – „vernünftigen Regelungenzur Ausbildungsvergütung“ mehr Ausbildungsstellenschaffen. Wollen Sie wirklich neue Ausbildungsplätzefinanzieren, indem Sie de n Jugendlichen das ohnehinschon knappe Geld kürzen?
Aber Sie gehen noch weiter. Sie fordern in Ihrem An-trag ernsthaft, dass die für Jugendliche bestimmten För-dermittel des JUMP-Pr ogramms zur Senkung derLohnnebenkosten genutzt werden sollen.
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Grietje BettinSo viel zum Thema Generationengerechtigkeit. Einesolche Umverteilung zulasten der jungen Generationmachen wir jedenfalls nicht mit.
Und nun einige W orte zum Antrag der FDP . Es kannnicht unser Ziel sein, dass die jungen Menschen unterdem Etikett einer Ausbildung nur noch für die Bedürf-nisse eines einzelnen Betriebes angelernt werden, wie esIhr Antrag zur Folge hätte. Der Arbeitnehmer, der seinLeben lang in einer Firma arbeitet, gehört der V ergan-genheit an. Gerade deshalb wollen wir den Jugendlicheneine vielseitige Qualifikation an die Hand geben, die ih-nen eine vernünftige Perspektive im Job bietet. EineAusbildung muss so weit standardisiert und objektiviertsein, dass sie auch für andere Arbeitgeber interessant ist.Ein sehr ernst zu nehmende s Problem ist, dass lautIHK derzeit jeder zehnte Betrieb keine qualifizierten Be-werberinnen und Bewerber zur Ausbildung findet. Dabeispielen die von PISA aufgezeigten Bildungsdefizite eineHauptrolle.
Bund und Länder müssen Hand in Hand gemeinsameBildungsstandards erarbeiten, damit wir das allgemeineBildungsniveau mittelfristig wieder auf einen akzepta-blen Stand bringen.Im Februar 2003 gab es mehr als 54 000 Ausbildungs-plätze weniger als im Februar 2002. Doch was sindwirklich die Ursachen? Nicht für alle trägt die Politik dieHauptverantwortung. So bilden zum Beispiel nur30 Prozent der Betriebe aus. Hier ist aus unserer Sichtauch die Wirtschaft in die Pflicht zu nehmen. Wir müs-sen analysieren, wie sich di e Kosten für die Ausbildungseit 1969 immer mehr auf die öffentliche Hand verlagerthaben.
Wir Grünen wollen weitere Anreize dafür schaf fen,qualifizierte Ausbildungsplätze bereitzustellen. W ennsich die Einsicht nicht durc hsetzt, dass die Ausbildungvon qualifiziertem Personal letztendlich der W irtschaftselbst zugute kommt, müssen wir notfalls auch gesetzge-berisch aktiv werden.
Wir wollen Betrieben aber nicht die Möglichkeit geben,sich von ihren Ausbildungspflichten freizukaufen. Zielmuss es bleiben, so viele betriebliche Ausbildungsstellenwie möglich zu schaffen.Aus grüner Sicht ist es da rüber hinaus dringend not-wendig, den Auszubildenden auch den Weg nach Europazu öffnen. Dazu brauchen wir unter anderem eine Zerti-fizierung von Ausbildungsmodulen und die Anerken-nung von im Ausland erworbenen Qualifikationen.Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie mich ab-schließend noch eine et was versöhnlichere Bemerkungmachen: Die Unterschiede in den Anträgen scheinen mirdurchaus überbrückbar zu sein, sodass wir uns im Aus-schuss letztendlich vielleicht doch auf eine gemeinsameLinie für die Zukunft der beruflichen Bildung inDeutschland einigen können.
Im Interesse der jungen Menschen sollten wir uns in derso wichtigen Frage der Ausbildungsreform nicht gegen-seitig blockieren.Danke für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Cornelia Pieper.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren!20 Prozent der Schulabgänger in Deutschland sind nichtausbildungsfähig. Rund 14 Prozent haben keinen Be-rufsabschluss. Das sind die Sozialfälle von mor gen. Zielder Politik muss es sein, Rahmenbedingungen dafür zuschaffen, dass gerade junge Menschen in diesem Landeinen Ausbildungs- und Arbeitsplatz finden.
In diesem Zusammenhang muss ich Ihnen, meine Da-men und Herren von der Regierungsbank, bescheinigen,dass Sie das Ausbildungs- und Arbeitsplatzdesaster indiesem Land zu verantworten haben. Sie haben Refor-men verschlafen, und zwar ni cht nur in der Wirtschafts-und Steuerpolitik, sondern gerade auch in der Bildungs-politik. Eine Reform der beruflichen Bildung ist über-fällig. Wir reden schon seit der vorigen Legislatur-periode davon.
– Wir haben bereits im Mai 2001 einen konkreten Antragvorgelegt. Bitte nehmen Sie das endlich zur Kenntnis!Frau Bulmahn, wenn Sie die W irtschaft in diesemLand anklagen, dass sie ihrer Verantwortung nicht nach-kommt und keine Ausbildungsplätze schaf ft, dann halteich das für verantwortungslos von dieser Regierung.
– Es ist nicht berechtigt, He rr Tauss. Vielmehr sind dasdie Auswüchse Ihrer verfehlten rot-grünen Finanz- undSteuerpolitik und Ihres Bürokratiewustes.
80 Prozent aller Ausbildun gsplätze entstehen imHandwerk bzw. in kleinen und mittelständischen Unter-nehmen. Diese belasten Sie seit Beginn Ihrer Regierungmit immer mehr Bürokratie und Steuern.
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Cornelia Pieper
Zurzeit wird im V ermittlungsausschuss immer nochüber das Steuerver günstigungsabbaugesetz mit einerMehrbelastung der Wirtschaft in Höhe von 15 MilliardenEuro verhandelt. Das muss endlich aufhören! Dann er-halten junge Menschen in diesem Land auch eineChance auf einen Ausbildungsplatz.
– Herr T auss, das ist kein grober Unfug, sondern dieWahrheit. Aber die wollen Sie ja nicht hören. Zurzeitfehlen 110 000 Ausbildungsplätze. 500 000 Jugendlichebefinden sich derzeit in Er satzmaßnahmen, wie gesternHerr Alt vom Vorstand der Bundesanstalt für Arbeit imAusschuss für Bildung, Fo rschung und Technikfolgen-abschätzung mitteilte. Da Sie selbst anwesend waren,sollten Sie sich erinnern.Die Chancen der Hauptschulabgänger auf dem Aus-bildungsmarkt haben sich besonders verschlechtert. IhrAnteil an den unvermittelten Bewerbern stieg auf nun-mehr 39,6 Prozent. Das sind rund 2 Prozent mehr als imVorjahr. Die Jugendarbeitslo sigkeit – Frau Reiche hatbereits darauf hingewiesen – stieg dreimal so stark anwie die allgemeine Arbeitslosigkeit. Das ist das ErgebnisIhrer Politik. Wenn Sie in Ihrem Antrag, liebe Kollegenvon der SPD und den Grünen, für eine finanzielle Betei-ligung nicht ausbildender Be triebe werben, also schonwieder eine Ausbildungsplatzabgabe von mittelständi-schen Betrieben in Erwägung ziehen, dann halte ich dasfür fatal. So kommen wir in diesem Land nicht weiter.
– Herr Tauss, begreifen Sie bitte endlich, dass 80 Prozentaller Ausbildungsplätze nicht in Konzernen und Großbe-trieben, sondern in kleinen und mittelständischen Betrie-ben zu finden sind.Der Anlass unserer heutigen Debatte ist in erster Linieein bildungspolitischer und nicht ein wirtschaftspoliti-scher.
– Genau, das hängt zusammen . Arbeit und Bildung be-dingen in einer W issensgesellschaft einander und sindnicht voneinander zu trennen.Deswegen wollen wir heute über die bildungspoliti-schen Ansätze der Anträge diskutieren. W ir haben einezweijährige Grundausbildung mit Qualifizierungsbau-steinen und einen lebenslang gültigen Ausbildungspassvorgeschlagen. Wir wollen – das haben auch Sie, FrauBulmahn, vorgeschlagen – die Berufsausbildung interna-tionalisieren, indem wir bestimmte T eilqualifikationen,so genannte Ausbildungsmodule bzw . -bausteine, imAusland erwerben und mit einem Credit-Point-Systemfür die Berufsausbildung anerkennen lassen.
Handeln ist gefragt. Wir müssen das Berufsbildungs-gesetz endlich reformieren und dürfen nicht länger zö-gern. Auch Sie sind hier gefordert. Wir werden Sie gernedabei unterstützen, wenn es darum geht, diese bildungs-politische Reform auf den Weg zu bringen.
Bitte sagen Sie nicht wieder – ich kann mir gut vorstel-len, dass auch Ihre Gewerkschaftskollegen diesen V or-wurf erheben werden –, eine zweijährige Grundausbil-dung sei eine Schmalspurausbildung. W ir diskutierennun schon seit Jahren mit den Wirtschaftsverbänden unddem Mittelstand, aber auch mit dem Bundesinstitut fürBerufsbildung darüber. Professor Dr. Pütz, General-sekretär dieses Instituts, ha t in einer Anhörung gesagt,eine Neuordnung müsse dazu führen, dass nach zweiJahren ein erster theoriegem inderter Abschluss möglichsei, der einerseits zur Gese llen- oder Facharbeiterprü-fung befähige und der andererseits den Einstieg in eineneinfacheren Beruf ermögliche, natürlich immer verbun-den mit der Aufforderung, sich später voll zu qualifizie-ren. Er erklärte unter großer Zustimmung der anwesen-den Vertreter der Handwerks- und Industrieverbände,dass diese Aufteilung bei der überwiegenden Zahl derBerufe möglich sei. Ich weiß nicht, warum sich die Ge-werkschaften dagegen sperren. Es ist doch besser, mit ei-ner zweijährigen Grundausbi ldung den Einstieg in denArbeitsmarkt zu erreichen, als ohne Ausbildung den Ab-stieg in die Sozialhilfe zu erleiden. Das muss das Zielsein.
Es besteht also dringender Handlungsbedarf. Ich kannSie, meine Damen und Herren von der Regierung undauch die Vertreter der Gewe rkschaften, nur auf fordern,den Weg, den die FDP vor geschlagen hat, zu beschrei-ten. Es geht uns – das wird dringend benötigt – um mehrAttraktivität der beruflichen Bildung. Wir brauchen aucheine Internationalisierung der Berufsausbildung. Bun-deskanzler Schröder hat im Jahr 2002 allen Jugendlicheneine Ausbildungsplatzgarantie gegeben. Diese werdenwir nicht einhalten können, we nn es in der beruflichenBildung so weitergeht. Wir brauchen eine größere Diffe-renzierung und Flexibilisierung der Berufsausbildung.
Wir sind mit diesem starren System nicht in der Lage,mehr Ausbildungsplätze zu schaffen. Das muss man ein-fach zur Kenntnis nehmen.Zum Glück ist nicht jeder Mensch gleich gestrickt. Je-der von ihnen ist glücklicherweise anders.
Es gibt begabte junge Menschen, die in der Theorie starksind, und es gibt begabte junge Menschen, die in der Pra-xis, zum Beispiel im Handwerk, stark sind – das mussman anerkennen –, denen man die Chance geben muss,
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Cornelia Piepernach einer zweijährigen Grundausbildung einen Ab-schluss zu bekommen.
- Herr Tauss, unterstützen Sie unseren Antrag und unter-stützen Sie endlich die Reform der beruflichen Bildung!Hören Sie auf mit solchen unsachlichen Zwischenrufenund hören Sie auf, die nötigen Reformen zu verhindern!
Lassen Sie mich zum Abschluss noch eines erwähnen– wir sind Bildungspolitiker –: Natürlich gehört auch dieQualität der Schulausbildung in Deutschland schonlängst auf den Prüfstand. Da s wissen wir nicht erst seitden jüngsten PISA-Studien. Wir Liberale haben immergesagt: Die Länder müssen ihre Verantwortung über Än-derungen in den entsprechenden Schulgesetzen wahr-nehmen; sie müssen die Schulgesetze modernisieren. Esmuss dabei um eine Konzentration auf traditionelle Kul-turtechniken – Mathematik, Deutsch, Naturwissenschaf-ten – gehen. Auch die Vermittlung von sozialen Kompe-tenzen ist ganz wichtig.Ich will in diesem Zusammenhang noch ein W ort andie Kollegen von der Union ri chten. Wir haben in die-sem Haus über bundeseinheitliche Qualitätsstandards fürSchulen diskutiert. Wir wissen dank der internationalenBildungsstudien, dass wir bundeseinheitliche Qualitäts-standards dringend brauchen. Ich möchte Sie davor war-nen, den Kurs der unionsgeführten Länder , der einenAusstieg aus der Bund-Länder -Vereinbarung über Bil-dungsplanung vorsieht, zu unterstützen. W enn wir die-sem Kurs folgen, fallen wir international wieder zurück.
Wir brauchen die Bund-Länder -Vereinbarung über Bil-dungsplanung. Jedenfalls wir Liberale werden dafür ein-treten.Vielen Dank.
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Willi Brase.
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kol-
legen! Sehr geehrte Damen und Herren! Die aktuelle
Ausbildungssituation
und das, was die Bundesregierung tun kann, hat Frau
Ministerin Bulmahn eindeutig dar gestellt. Es wird Sie
nicht verwundern, dass wir ihre Aktivitäten bezüglich
der Ausbildungsoffensive sicherlich unterstützen wer-
den.
Ich möchte auf das zurü ckkommen, was in dieser
Runde teilweise dar gestellt wurde. W er in Bezug auf
JUMP so tut, als hätte dieses Programm nichts gebracht,
der hat vergessen, dass wir mit diesem zunächst steuer -
und dann über die BA in Nürnber g finanzierten Pro-
gramm weit über 500 000 Jugendliche angesprochen ha-
ben, die sonst in der Versenkung verschwunden wären.
Auch das war eine notwendige staatlich Leistung.
Herr Tauss, möchten Sie eine Zwischenfrage stellen?
Ich dachte, Sie wollten stehend klatschen.
Herr Brase, gestatten Sie eine Zwischenfrage von
Herrn Tauss? – Das ist der Fall.
Herr Tauss, Sie haben das W ort zu einer Zwischen-
frage.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Präsidentin, Standing Ovations kommen in die-
sem Hause gelegentlich vor. Auch der Kollege Brase hat
sie verdient.
Herr Kollege Brase, Sie haben gerade auf das JUMP-
Programm hingewiesen. Ic h möchte Sie gerne fragen
– ich teile Ihre Einschätzung dieses Programms –, wie
Sie den Widerspruch beurteilen, der dadurch zum Aus-
druck kommt, dass die Union in ihrem Antrag die Ab-
schaffung des JUMP-Programms verlangt, gleichzeitig
aber gestern im Gespräch mit dem V izepräsidenten der
Bundesanstalt für Arbeit kritisiert hat, dass das JUMP-
Programm nicht hinreichend ausgefüllt werde. Wie beur-
teilen Sie diesen W iderspruch im Zusammenhang mit
dem hier Ausgeführten?
Es ist sicherlich nicht meine Aufgabe, zu klären, wel-che Widersprüche die Union mit sich und in sich trägt.Es fällt natürlich auf, da ss Unionspolitiker fordern,JUMP abzuschaffen, in ihren W ahlkreisen aber gleich-zeitig feststellen müssen, dass man aufgrund einer man-gelnden Ausbildungsbereitschaft bestimmter Betriebeund Branchen doch zusätzliches öf fentliches Geldbraucht, damit man einen Erfolg verkaufen kann. W ereine solche Politik formuliert, der macht es sich, wie ichfinde, ein bisschen einfach.
Ich will in dieser Diskussion darauf eingehen, wo dieUnterschiede liegen und wo ein Systemwechsel in derberuflichen Bildung vorbereitet werden soll. Frau Pieper,Sie haben gesagt, Reformbedarf sei gegeben. Dem kannich durchaus zustimmen. Ich möchte aber darauf verwei-sen, dass dieser Reformbedarf nicht erst seit den letzten
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Willi Brasefünf Jahren, sondern schon se it zehn oder 15 Jahren be-steht. Die Einheit wäre eine gute Chance gewesen, aufdiesem Gebiet einige V erbesserungen auf den W eg zubringen.
Ich möchte nun etwas deutlicher auf die Kernaussa-gen Ihres Antrages eingehen. Die erste Aussage lautet:Der Grundgedanke einer Reform ist die Gliederungder Ausbildung in flexible Grund- und Qualifizie-rungsbausteine.
Dabei sollen – ich zitiere er neut – „die Ausbildungsord-nungen auf Grundanforderungen“ beschränkt werden.Ihre zweite Aussage macht dies noch deutlicher: Mitdieser Neugliederung der Ausbildung werden den Unter-nehmen „Möglichkeiten eröffnet, neue Berufsausbildun-gen ... zu entwickeln“. Dies e Aussage, aber auch dieDiktion des Antrages im Übrigen zeigen, dass die Ge-werkschaften als Partner bei der Neuor ganisation außenvor bleiben.Die Fraktion der FDP will uns hier zwei Forderungenpräsentieren: Erstens soll das auf dem Berufskonzept ba-sierende duale System zerlegt und durch ein System vonGrund- und Qualifizierungsb austeinen ersetzt werden.Zweitens soll diese Zerleg ung und Ersetzung allein vonden Unternehmen auf den W eg gebracht werden. Dafürsteht die Formulierung, die Neugliederung solle „inmöglichst großer Eigenverantwortung der Unternehmenund der Sozialpartner“ stattfinden.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Pieper?
Selbstverständlich.
Herr Kollege, Sie erinnern sich sicherlich, dass ich
hier Herrn Professor Pütz, den Generalsekretär des Bun-
desinstituts für Berufsbildung, zitiert und mich auf eine
Anhörung bezogen habe, die mit dem Zentralverband
des Handwerks und anderen Wirtschaftsverbänden statt-
gefunden hat. Wenn also all diese Sachverständigen eine
Grundausbildung und Qualifizierungsbausteine – Sie
selbst haben in Ihrem Antrag formuliert, dass Sie eine
Reform in diese Richtung an streben – für richtig halten,
warum stellen Sie es dann infrage? Dies ist keine reine
FDP-Position, sondern eine Position von Bildungs- und
Wirtschaftsexperten, die international vertreten wird und
die jungen Menschen mehr Chancen auf dem Ausbil-
dungsmarkt geben wird.
Frau Pieper, Sie sollten zur Kenntnis nehmen, dasswir mittlerweile 28 Ausbil dungsberufe mit zwölf Ab-schlüssen auf der ersten Stufe nach zwei Jahren und16 Abschlüssen auf der zweiten Stufe nach drei Jahrenhaben. Ich nenne Ihnen als ein Beispiel den Ausbaufach-arbeiter mit den Ausbildungsstufen Trockenbaumonteur,Wärme-, Kälte- und Schallschutzisolierer , Estrichleger,Fliesen-, Platten- und Mosaikleger, Stuckateur, Zimmer-mann/Zimmerin, Textilmaschinenführer usw. Nur binich der Auffassung – ob sie auch von anderen Verbändengetragen wird, interessiert mich an dieser Stelle nicht –,dass wir für die jungen Leute heute eine vernünftige undqualifizierende Berufsausbildung brauchen, die auch dasBerufskonzept beinhaltet. Sie selber schreiben in IhremAntrag, dass für lernschwächere Jugendliche die Mög-lichkeit gegeben sein müsse, über eine dreieinhalbjäh-rige Ausbildungsphase das zu erreichen, was anderevielleicht in drei Jahren schaffen. Diesen W iderspruchmüssen Sie also schon aufklären.
Ich sage ganz deutlich, dass ich glaube – das ist mirbei Ihrem Antrag klar geworden –, dass die FDP die Be-teiligung von Gewerkschaften ein Stück weit beseitigenwill. Sie will das alleinige Unternehmerrecht. Dabei fälltmir natürlich das ein, was Ihr Parteivorsitzender und an-dere seit Wochen und Monaten behaupten: Die Gewerk-schaften seien eine Plage für unserer Land. Der Kurs, derauch in diesem Antrag zu m Ausdruck kommt, belegt,dass nicht die Gewerkschaft en, sondern Sie die T oten-gräber unseres Systems der beruflichen Bildung sind.
Sie haben Qualifizierungsbausteine und -module undim Zusammenhang damit den Streitpunkt der V erkür-zung der Ausbildungsdauer angesprochen. Darauf binich eben eingegangen. Ohne Zweifel brauchen wir dieFlexibilisierung der Ausb ildungswege und die Er gän-zung der Ausbildungsordnung durch mehr Bausteine ge-rade für lernschwache und arbeitsmarktferne Jugend-liche.
Ich glaube aber , dass die Op position dies nicht richtigwertet. Die Bundesregierung tut auf diesem Feld ihrePflicht. Sie will die Möglichke iten gestufter Ausbildungausbauen, wie sie heute sc hon nach § 26 BBiG existie-ren; Beispiele dazu habe ich eben dargelegt.Allerdings hat dies aus un serer Sicht innerhalb desSystems des Berufskonzeptes stattzufinden. Diese Ab-stufungen und Qualifizier ungsbausteine müssen genauzu dem Ziel führen, dass am Ende die Beruflichkeit unddas Berufskonzept stehen, damit gerade jüngere Leutemit Schwächen ebenfalls eine Chance haben, ihre Be-schäftigungsfähigkeit langfristig auch durch lebensbe-gleitendes Lernen zu behalten bzw. immer wieder zu er-langen.
Meine Damen und Herren, die CDU/CSU singt in ih-rem Antrag unter anderem das Lied der Erprobungsver-ordnungen nach § 28 BBiG; sie zielt auf die Möglichkeit,Ausbildungsordnungen ohne Konsens der Sozialpartner
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Willi Brasezu erlassen. Dies sollten wir nur in Ausnahmefällen zu-lassen; denn wir sind der Au ffassung, dass dadurch dieSituation auf dem Ausbildungs stellenmarkt nicht rele-vant verändert wird. Mögliche rweise haben Sie aber et-was anderes im Hinterkopf und wollen auch hier einStück weit einen Systemw echsel auf den W eg bringen.Ich bleibe dabei: Ein Sammelsurium von Bausteinen undModulen können wir nicht gebrauchen; vielmehr solltenund müssen wir dies gemein sam mit den Sozialpartnern– dazu gehören natürlich die Gewerkschaften – vernünf-tig auf den W eg bringen. Dies ist notwendig und wirdauch geschehen.Ich glaube, dass die Diskussion über die Finanzie-rungsfrage in den nächsten W ochen und Monaten span-nend werden wird. Wenn wir uns die vorläufigen Berech-nungen des BIBB und des Bundesministeriums fürBildung und Forschung zu Gemüte führen, dann stellenwir fest, dass die Unternehme n, die derzeitig ausbilden,dafür netto circa 14 Milliarden Euro aufwenden. Die öf-fentliche Hand – Bund, Länder, Kommunen und die euro-päische Ebene – ergänzt dies mit fast 6 Milliarden Euro.Angesichts dessen kann ich nur sagen, dass dieses V er-hältnis sehr ungesund ist und dass Unternehmen – vorallem die, die ausbildungsfähig sind – endlich einen wei-teren zusätzlichen Beitrag zur Schaf fung von Ausbil-dungsplätzen leisten müssen.
Man muss darüber nachdenke n, ob es hierbei nichtSinn macht, auch eine Bonus-Malus-Regelung auf denWeg zu bringen. Dies bedeut ete, dass diejenigen Unter-nehmen, die Ausbildungsplät ze zur Verfügung stellen,unterstützt würden und sozu sagen einen Bonus hätten,während diejenigen, die dies ebenfalls könnten und esaber – aus welchen Gründen auch immer – nicht ma-chen, ein Stück weit die fina nziellen Lasten mit zu tra-gen hätten.
Wir können dies nicht einseitig nur der öf fentlichenHand, der Politik, den verschiedenen Ebenen aufbürden.Das werden wir zukünftig nicht mehr mitmachen.
– Ich wäre etwas vorsichtig, von neuen Lasten zu spre-chen. Denn ich sehe, wie dies teilweise hervorragend inder Bauindustrie und anderen Bereichen läuft. Es gibtalso Beispiele, über die man nachdenken muss.Lassen Sie mich noch ein, zwei Punkte ansprechen. Inder Reform der beruflichen Bildung ist wichtig, sich dar-über zu verständigen, dass die Verantwortung und dieMöglichkeiten in den Regionen stärker beachtet werden.Ich plädiere nachdrücklich dafür, dass wir die Rolle, dieFunktion und die Mitwirkungs- und Mitbestimmungs-möglichkeiten der örtlichen Berufsbildungsausschüsseerhöhen, dass wir da, wo es notwendig ist, regionalePartner mit ins Boot nehmen. Denn ich glaube, dass sieam besten wissen, wie berufliche Bildung umgesetztwerden kann und wie wir es schaffen, den Menschen zu-sätzliche Formen und Möglichkeiten anzubieten.Meine Damen und Herren, die aktuelle Ausbildungs-krise ist nach unserer Auf fassung im Wesentlichen kon-junkturbedingt. Sie kann m itnichten der Bundesregie-rung angelastet werden, wie es die Opposition gern tut.Diese Krise sollte ein Anlass dafür sein, eine Of fensivein der beruflichen Bildung zu führen. W ir haben denEindruck, dass seit längerer Zeit, seit Mitte der 90er -Jahre, das duale System of fensichtlich an Attraktivitäteingebüßt hat. Ein wesent liches Ziel bei der Debattesollte sein – das werden wir auf den Weg zu bringen ha-ben –, die Attraktivität des dualen Systems für die jun-gen Leute zu verbessern. Wir brauchen eine Renaissancedes Facharbeiters, der im dualen Ausbildungssystemfachlich ausgebildeten Jugendlichen. Es muss klar sein,dass das duale Ausbildungssystem mit seiner Dif feren-ziertheit, mit dem Berufsko nzept, mit der Übertragbar-keit, auch hinsichtlich der europäischen Komponente,eine echte Alternative zum Studium und zu einer reinschulischen Laufbahn für junge Leute ist. W enn uns ge-lingt, das umzusetzen, dann – da bin ich mir sicher –werden wir auch wieder me hr Ausbildungsplätze erhal-ten.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Frau Pieper, es tut mir Leid. Es hat schon heftig ge-
blinkt. Möchten Sie eine Kurzintervention machen? –
Nein.
Dann hat der Kollege Hinsken das Wort.
Werte Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kol-legen! Herr Kollege Brase, ich pflichte Ihnen bei, wennSie sich eindeutig für das duale Berufsausbildungssys-tem aussprechen. Da gibt es Gemeinsamkeiten. An demSystem sollte man festhalten . Verehrte Frau MinisterinBulmahn, es ist richtig, wenn Sie sagen, dass gerade dieAusbildung eine der wichtigst en gesellschaftlichen He-rausforderungen für uns ist. Auch darüber besteht Kon-sens. Diese Debatte heute is t aber angesetzt worden, umeinmal genau zu durchleuchten, wo Fehler gemacht wor-den sind, wo angesetzt werden muss, um wieder mehrAusbildungsplätze zu schaffen und vielen Jugendlichenwieder Perspektiven zu geben, woran es momentan jamangelt.Zu diesem Zeitpunkt gibt Herr Gerster im Rahmen ei-ner Pressekonferenz die neuen Arbeitsmarktzahlen be-kannt. Wenn wir leider fest stellen müssen, dass auch zuBeginn des Frühjahrs die Arbe itslosigkeit fast nicht zu-rückgeht, wenn die Zahl der Arbeitslosen insgesamt beiüber 4,6 Millionen liegt, wenn 580 000 jugendliche Ar-beitslose unter 25 Jahren verzeichnet werden müssen,
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Ernst Hinskendann stimmt das mehr als nachdenklich; es ist katastro-phal. Es ist alles zu tun, da mit das möglichst schnell ge-ändert wird.
Es sind 580 000 Einzelschicksale junger Men-schen. Das sind, verehrte Frau Ministerin Bulmahn,212 000 mehr, als es 1998 – da haben Sie die Regie-rungsgeschäfte übernommen – waren.
Das Ausbildungsstellenangebot sinkt radikal, insbe-sondere in den neuen Bundesländern.
Im Jahr 2002 gab es 6,8 Prozent weniger Ausbildungs-verträge. Viele Jugendliche verlieren den Glauben anden Staat, weil so viel ve rsprochen wurde und zu guterLetzt nichts gehalten wurde.Sie, verehrte Kolleginnen und Kollegen, ganz gleich,von welcher Seite des Hauses, erleben sicherlich dasGleiche wie ich, nämlich dass sich in den Sprechstun-den, die wir immer wieder du rchführen, Eltern einfin-den, die den Jungen oder das Mädchen dabeihaben undhänderingend darum ersuchen, man möge doch mithel-fen, dass das Kind endlic h einen Ausbildungsplatz be-kommt, den es dringend braucht, um für das Leben ge-rüstet zu sein. Ihnen zu helf en ist nur zum Teil möglich,weil nur noch 30 Prozent der Betriebe ausbilden. W a-rum? – Weil die Lage für sie so schlecht geworden ist,
weil viele Betriebe aufgrund verfehlter W irtschaftspoli-tik inzwischen Bankrott gegangen sind. Daraus resul-tiert, dass 48 Prozent der Jugendlichen keinen Ausbil-dungsplatz mehr finden.110 000 betriebliche Ausb ildungsplätze fehlen. Über50 Prozent der Jugendlichen befinden sich nicht in regu-lären Ausbildungsverhältnissen, sondern in staatlich fi-nanzierten Ersatzmaßnahmen bzw. in der Warteschleife.Heute ist von den verschiedensten Rednern von IhrerSeite, aber auch von Frau Mi nisterin herausgestellt wor-den, dass das JUMP-Programm ein Allheilmittel fürdie Jugendarbeitslosigkeit war und ist. So wurde es ein-mal angepriesen. In der Zwischenzeit hat es Milliardenvon D-Mark, Jahr für Jahr 1 Milliarde DM, gekostet.Jetzt stellen wir fest, dass das JUMP-Programm nichtdas bewirkt hat, was man erwartet hat, und dass die Ju-gendarbeitslosigkeit damals, bevor das JUMP-Pro-gramm aufgelegt worden ist, niedriger war, als sie jetztist.Gerade für Jugendliche mit Hauptschulabschluss, dieauch eine Zukunftsperspek tive wollen, haben sich dieChancen auf dem Ausbildungsmarkt deutlich ver-schlechtert. Die Bundesregierung liefert immer neueKreationen und auch in der Namensgebung für Gesetzesind Sie sehr erfinderisch. So haben Sie ein Programm„Kapital für Arbeit“ aufgelegt. Doch daran, dass Ausbil-dungsplätze durch Kredite finanziert werden müssen, er-kennt man, dass die deutschen Ausbildungslokomotiven,Mittelstand und Handwerk, herunter gewirtschaftet wor-den sind.
Heute, verehrte Ministerin Bulmahn, schlagen Sienun vor, die Geltung der Ausbilder-Eignungsverord-nung für fünf Jahre auszusetzen. Auf einen besonderenNachweis der Eignung zum Au sbilder sollte Ihrer Mei-nung nach also verzicht et werden. Dadurch sollen20 000 zusätzliche Ausbildun gsplätze geschaffen wer-den. Es ist natürlich zu be grüßen, wenn dadurch zusätz-liche Ausbildungsplätze, un d zwar auf dem ersten Ar-beitsmarkt, entstehen. Dass sich damit allerdings dieangespannte Lehrstellensituation verbessern lässt, ist un-wahrscheinlich, denn Lehrstellen fehlen deshalb, weildie Unternehmen aufgrund der katastrophalen W irt-schaftspolitik von Rot-Grün nicht mehr in dem Maßewie früher ausbilden. Der Rückgang bei der Zahl derLehrstellen liegt deshalb nicht in erster Linie an der Aus-bilder-Eignungsverordnung, sondern an den katastropha-len Wirtschaftsbedingungen, die wir haben.
Gerade im Handwerk bringt eine solche Änderung aufdem Lehrstellensektor keine Erleichterung, denn in allenderzeit nicht ausbildenden Betrieben wird durch dieMeisterprüfung bereits das Erfordernis der berufs- undarbeitspädagogischen Prüfung erfüllt und auch alle Exis-tenzgründer im Handwerk, bei denen ein Betrieb von ei-nem Meister bzw. von einer fachlich geeigneten Persongeleitet wird, bringen diese V oraussetzung mit. DasHandwerk ist somit zunächst einmal dringend darauf an-gewiesen, dass es beispiel sweise durch Reformen beiden Sozialsystemen entlastet wird. Das ist das Gebot derStunde.
Andere Bereiche der W irtschaft warten nun ab, wiesich die von Ihnen angekündigten Maßnahmen konkretauswirken. Gerade der Mittelstand hat schlechte Erfah-rungen mit der Ankündigungspolitik der RegierungSchröder gemacht, die v on Ihnen, meine Damen undHerren, gestützt wird. Mor gens ankündigen, mittags re-lativieren und am Abend zurückziehen. Ich bin neugie-rig, wie das bei dem, was Sie jetzt wieder angekündigthaben, läuft. Deshalb fordere ich Sie, verehrte Frau Mi-nisterin, auf, diesen Vorschlag umgehend zu konkretisie-ren, damit sich die Betriebe und die einen Ausbildungs-platz suchenden jungen Mens chen darauf einstellenkönnen.Der wichtigste Ausbilder in der BundesrepublikDeutschland – das steht ja unbestritten fest; das wurdeöfter schon zum Ausdruck gebracht – ist und bleibt derMittelstand. Den aber hat man nicht gepflegt, sondernsystematisch vor die W and gefahren. Insolvenzen überInsolvenzen.
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Ernst HinskenEin Pleite gegangener Betrieb kann nämlich keine Aus-bildungsplätze mehr zur Verfügung stellen.
Alleine in der Baubranche sind nämlich in den beidenletzten Jahren über 18 000 Betriebe von der Bildflächeverschwunden.Ich meine, die wichtigste Maßnahme zur Schaf fungneuer Ausbildungsplätze wäre die Herbeiführung einesWirtschaftsaufschwungs. Denn ohne W irtschaftsauf-schwung gibt es keinen Au fschwung auf dem Lehrstel-lenmarkt, den wir so dringend brauchen.
Darum müssen sich unsere V orstellungen durchsetzen.Wir müssen möglichst bald das, was S ie hier aufgelegthaben, korrigieren.
– Herr Tauss, passen Sie ei nmal auf! Ich gehe ja davonaus, dass Sie bei dem Antrag, den SPD und Grüne einge-bracht haben, haben mitarb eiten dürfen. Da heißt esnämlich:In den vergangenen Jahren ist es gelungen, die Aus-bildungschancen junger Menschen deutlich zu ver-bessern.
Das Bild, das da gezeichnet wird, ist realitätsfern undentspricht nicht der W ahrheit. Sie leben doch in einervöllig anderen Welt und haben den Bezug zur Realität,also zu dem, was draußen los ist, verloren.
Der Bundeskanzler hat seinerzeit gesagt: Jeder Jugend-liche, der einen Ausbildungsplatz braucht, wird einenAusbildungsplatz bekommen. – Diese Blase ist geplatzt.Die Regierung, die den Karren in den Dreck gefahren hat,kommt mit den führenden Leuten der SPD-Fraktion daherund droht den Unternehmen, sie hätten in Zukunft eineAusbildungsplatzabgabe zu bezahlen, wenn sie nicht be-reit seien, auszubilden. So etwas Unverfrorenes ist mirzeit meines Lebens noch nicht untergekommen.
Ich weiß, jeder Betrieb ist be reit, auszubilden, aber ermuss diese Ausbildung auch leisten können.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich deshalbkurz zusammenfassen, was meiner Meinung nach getanwerden muss; denn die Modernisierung des Systems derberuflichen Ausbildung ist die Kernfrage für die Zukunftder dualen Berufsausbildung in Deutschland. Um diesesSystem werden wir weltweit beneidet. V iele Länder ko-pieren es und das soll weiterhin so bleiben.Deshalb fordern wir erstens die Umgestaltung derje-nigen tarifrechtlichen Regelungen, die sich, weil dieÜbernahmegarantie für ein Jahr nach der AusbildungBedingung ist, als Hemmnis bei der Einstellung vonAuszubildenden erweisen. Die Tarifparteien sind aufge-fordert, diese Hemmnisregelungen zu ändern.Zweitens.
Herr Kollege Hinsken, wie viele Punkte haben Sie
noch? Die Zeit ist schon um.
Nur noch neun.
Das ist unmöglich. Sie habe n nur noch einen letzten
Satz, bitte.
Dann geht es uns darum, das erfolglose JUMP-Pro-
gramm zugunsten einer Senkung des Beitrags zur Ar-
beitslosenversicherung zu streichen und eine konse-
quente Modernisierung der Ausbildungsordnungen im
Hinblick auf Differenzierung und Flexibilisierung sowie
hinsichtlich der Ausbildungsdauer und der Praxisorien-
tierung aufzulegen.
Meine Damen und Herren, ich meine, wenn richtig
angesetzt wird, dann werden wieder Ausbildungsplätze
geschaffen. Richtig angesetzt wird dann, wenn eine ver-
nünftige Wirtschaftspolitik gemacht wird. Dazu waren
Sie bisher nicht in der Lage . Sie haben uns so weit ge-
bracht, dass wir heute leider in einem solchen Dilemma
stecken.
Lassen Sie uns – das sage ich vor allen Dingen an die
rechte Seite des Hauses gewandt – über den Bundesrat
und da, wo es sonst möglich ist, alles daransetzen, dass in
der Bundesrepublik Deutschland die Ausbildungsplatzsi-
tuation der jungen Leute in Zukunft wieder besser wird,
als es in den letzten viereinhalb Jahren der Fall war.
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Thea Dückert.
Frau Präsidentin! Sehr verehrte Kolleginnen und Kol-legen! In einer Sache sind wir uns einig, sogar mit HerrnHinsken, Frau Reiche und Frau Pieper: Es ist klar , dassein Sinken der Zahl der Ausbildungsplätze und die ge-ringe Zahl von Betrieben, die ausbilden, nämlich nur30 Prozent, von uns nicht zu akzeptieren sind.
Aber ich glaube, da hört es mit der Einigkeit auch schonauf, wie ich feststelle, wenn ich mir das zu Gemüte führe,was Frau Reiche hier vorgetragen hat. Frau Reiche hat ge-sagt, man solle weder in dieser Situation noch grundsätz-
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Dr. Thea Dückertlich Lösungen finden, die auf dem Rücken der Jugendli-chen ausgetragen werden. Richtig, Frau Reiche! Aber imgleichen Atemzug – das vers tehe ich überhaupt nicht –sprechen Sie sich hier zum wiederholten Mal gegen dasJugendsofortprogramm, das JUMP-Programm, aus. Siewollen das JUMP-Programm streichen, um die Lohnne-benkosten zu senken. Ich füge in Klammern hinzu: Aberdie Ökosteuer, durch die die Lohnnebenkosten gesenktwerden, wollen Sie abschaf fen. Wir müssen viele Wegefür die Bereitstellung von Ausbildungsplätzen finden, umaus der momentanen S ituation herauszukommen. Aberwenn Sie gerade jetzt den Jugendlichen, die aufgrund dergeringen Zahl von Angeboten keinen Ausbildungsplatzfinden, auch noch das JUMP-Programm streichen wollen,ist das auf Kosten der Jugendlichen gedacht.
Mit dem JUMP-Programm sind über 500 000 Jugend-liche erfasst und 60 000 betriebliche sowie 37 000 au-ßerbetriebliche Ausbildungsplätze geschaffen worden.Ich sage ausdrücklich: Die betrieblichen Ausbildungs-plätze sind für die Jugend lichen natürlich das W ich-tigste. Aber mit dem JUMP-Programm sind durch eineaufsuchende Sozialarbeit auch Jugendliche erreicht wor-den, die arbeitsmarktfern waren und die schon keinenAusbildungsplatz mehr gesucht haben, weil sie die Hoff-nung aufgegeben hatten. Der Weg, den dieses Programmgeht, ist beschwerlich; deswegen sind die Erfolge, diedamit erreicht worden sind, umso wichtiger.
Wir müssen in dieser Situation alles daransetzen, da-mit die Bundesanstalt für Arbeit die Mittel, die für dasJUMP-Programm angesetzt sind, auch wirklich einsetzt.Die Gelder müssen voll ausg eschöpft werden, und zwarzügig, damit an die Träger der Projekte in der Jugendar-beit das Signal ausgesendet wird, dass sie weiterhin tätigbleiben müssen, weil wir sie brauchen werden. Auchwenn die vielen Maßnahmen, die die Ministerin hiervorgeschlagen hat, greifen, werden wir angesichts derwirtschaftlichen Situation, die durch den Irakkrieg nochverschärft wird, weiterhin die Angebote brauchen, wel-che über die Träger als Projekte für Jugendliche in Aus-bildungsmaßnahmen bereitgestellt werden. Deswegen istfür uns natürlich die derzeitige Situation nicht zu akzep-tieren, wo zum Beispiel Modellprojekte für Jugendliche,die gut angenommen worden sind, abgebrochen werden.An dieser Stelle müssen wir Abhilfe schaffen.Ein weiteres Problem besteht darin, dass sich im Mo-ment sowohl Kommunen, die Projekte für Jugendlicheangeboten haben, als auch Länder aus der Kofinanzie-rung zurückziehen.
Baden-Württemberg zum Beispiel hat diese Projektevollständig gestrichen. Obwo hl alle wissen, dass wirdiese Projektangebote auch nach den Reformen in derArbeitsmarktpolitik weiter brauchen, wird ihnen jetzt derBoden entzogen. Ich glaube, dass wir in der jetzigen Si-tuation, in der wir durch ein ungeheures Reformwerk anvielen Stellen gleichzeitig Baustellen haben, darauf ach-ten müssen, dass nicht auf der einen Seite alte Strukturenschon abgebaut werden, bevor die Bundesregierung aufder anderen Seite neue Strukturen aufgebaut hat.
Wir müssen aber gleichzeitig die Voraussetzungen da-für schaffen, dass sich der Anteil der Betriebe, die aus-bilden, von mickerigen 30 Prozent, die im Moment er-reicht werden, erhöht. Die Ministerin hat die ehr geizigeZielmarke von 40 Prozent genannt. Dafür muss viel ge-tan werden. Wir müssen die Zahl der Ausnahmegeneh-migungen für Ausbildungsbet riebe mindestens verdop-peln. Ich halte es zum Beispiel auch für völliganachronistisch, weiterhin am Meisterbrief als V oraus-setzung für Ausbildung festzuhalten. Das alles sind Hür-den, die Sie weiter pflege n wollen, die aber abgebautwerden müssen, um in weit eren Betrieben Ausbildungs-möglichkeiten zu schaffen.
Wir müssen auch das Angebot der modularen Aus-bildung ausweiten. Das ist für beide Seiten wichtig, so-wohl für die Betriebe als auch für die Jugendlichen. Inder Biografie eines jungen Mens chen ist es sehr proble-matisch, wenn er es nicht sc hafft, eine begonnene Aus-bildung zu Ende zu führen . Wenn er eine Ausbildungzum Beispiel wegen der zu hohen Anforderungen imtheoretischen Teil nach einem Jahr abbricht, steht er mitleeren Händen da.
Achten Sie bitte auf die Zeit, Frau Kollegin!
Ja, Frau Präsidentin, ich ende auch mit einem theoreti-
schen Teil. Ich will an dieser Stelle nur noch sagen, dass
diese Jugendlichen mit der modularen Ausbildung in ei-
nem solchen Fall etwas in die Hand bekommen sollten,
woran sie an einem späteren Punkt ihrer Lebensplanung
anknüpfen können, sodass auch eine nicht abgeschlos-
sene Ausbildung eine weitere Einstiegsmöglichkeit in die
berufliche Bildung bietet.
Schönen Dank.
Eine Kurzintervention des Kollegen Tauss.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Herr KollegeHinsken, Sie haben im Hinblick auf unseren Antragstextbehauptet, die Zahlen bez üglich der Ausbildungsjahre
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3046 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. April 2003
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Jörg Tauss2000 und 2001 seien falsch. Ich will aus diesem Grundenoch einmal ausdrücklich bekr äftigen, dass es – im Ge-gensatz zu Ihrer Regierungszeit bis 1998 – in den Jahren2000 und 2001 unter unser er Regierungsverantwortungin Zusammenarbeit mit der W irtschaft tatsächlich er-reicht werden konnte, in diesem Land eine ausreichendeZahl von Ausbildungsplätzen zur V erfügung zu stellen.Insofern bitte ich Sie, diese Behauptung zurückzuziehen.Das zum Ersten.Zum Zweiten bitte ich Sie einfach, zur Kenntnis zunehmen, dass allein aufgrund des JUMP-Programmesmehr als 60 000 Ausbildungsplätze geschaf fen werdenkonnten. Obwohl JUMP ke in Ausbildungsplatzpro-gramm ist, hat sich diese W irkung ergeben. Aus diesemGrunde habe ich einfach die Bitte, auch mit Rücksichtauf die betroffenen Jugendlichen, endlich davon abzuse-hen, das Programm JUMP in dieser Form zu diskreditie-ren und mit falschen Zahlen in der Öffentlichkeit falscheEindrücke zu erwecken.
Herr Kollege Tauss, ich habe aus Ihrem Antrag zitiert,
der am 1. April verfasst wurd e. Seien Sie froh, dass ich
nicht noch mehr Stellen zitiert habe, sonst müssten Sie in
Sack und Asche gehen. Ich will aber noch eine Stelle
daraus vorlesen:
Erstmals seit vielen Jahr en konnte in den Jahren
2000 und 2001 ein ausrei chendes Angebot an Aus-
bildungsplätzen zur V erfügung gestellt werden.
Diese positive Entwicklung wurde entscheidend ge-
fördert durch eine Reihe von Maßnahmen, die die
Bundesregierung in Kooperation mit den Sozial-
partnern in die Wege geleitet hat.
Wie sieht das Er gebnis aus? Haben Sie mitbekom-
men, was ich Ihnen dazu gesagt habe? Sie stellen zwar
fest, dass das Jahr 2001 abgehakt ist, aber jetzt befinden
wir uns im Jahr 2003. Jetzt erst haben wir das Er gebnis
der Maßnahmen auf dem T isch, für die Sie verantwort-
lich zeichnen. Sie haben an den völlig falschen Stellen
angesetzt. Sie haben eine völlig falsche Politik aufgelegt.
Wir sollten einmal partei- und fraktionsüber greifend
über die Ursachen dieser schlechten Situation nachden-
ken, in der wir uns momentan befinden.
Es gibt viele Ansätze zur Lösung. Ich bin gerne bereit,
Ihnen meine zehn Punkte, die ich zu einem Großteil we-
gen der fehlenden Redezeit nicht mehr vortragen konnte,
zur Verfügung zu stellen.
Sie können sie nachlesen und daraus die notwendigen
Schlüsse ziehen. Sicherlich werden Sie etwas dazuler-
nen. Wenn Sie sie befolgen, werden Sie in Zukunft auf
dem richtigen Weg sein.
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Uwe Schummer.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Alle Jugendlichen, die könne n und wollen, erhalten ei-nen Ausbildungsplatz. – Das war die Ausbildungsgaran-tie der Bundesregierung.
– Gerhard Schröder hat diese Aussage gemeinsam mitden Arbeitgebern und den Gewerkschaften getroffen.
Fakt ist – nach den aktuellen Zahlen der Bundesregie-rung –, dass bis heute 30 000 Schulabgänger aus demlaufenden Ausbildungsjahr noch nicht mit einem Ausbil-dungsplatz versorgt sind. Das Bundesinstitut für Berufs-bildung beziffert die latente Nachfrage nach Ausbil-dungsstellen auf etwa 70 000. Das heißt, Sie haben IhreZusage einer Ausbildungsgarantie gebrochen.
Allein der Abwärtstrend be i der Zahl der Ausbildungs-plätze bleibt ungebrochen. Die Ausbildungslücke für dasneue Ausbildungsjahr wird von Monat zu Monat größer.So gab die Bundesanstalt für Arbeit die Ausbildungs-lücke für das im September beginnende Ausbildungsjahrim Januar noch mit 90 000 an. Im Februar wurde dieseZahl bereits auf 120 000 und heute auf 150 000 ge-schätzt. Das heißt: Die Dramatik bei der Ausbildungssi-tuation nimmt Monat für Monat zu. – Frau MinisterinBulmahn, wenn Sie da von spürbaren Erfolgen Ihrer Po-litik reden, dann halten Sie auch Gerhard Schröder füreinen guten Kanzler.
Wir nähern uns of fenkundig einer Ausbildungskata-strophe; denn der Abbau der Ausbildungsplätze be-schleunigt sich. Im letzten Jahr waren es 7 Prozent weni-ger; in diesem Jahr werden es etwa 14 Prozent wenigerAusbildungsplätze sein. Al lein die Nachfrage nimmtweiter zu. 580 000 junge Arbeitslose im Alter bis25 Jahre: Das ist Schröders Ohrfeige für die jungenMenschen hinsichtlich ihrer Zukunftschancen.
Wir haben eine Erosion der dualen beruflichen Bil-dung. Es gibt mehr Schulabgänger in Ersatzmaßnahmenals in der betrieblichen Ausbildung. Das Verfassungszieleiner freien Berufswahl ist durch Ihre Politik in weiteFerne gerückt.
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Uwe Schummer
Qualifizierte und motivierte Arbeitnehmer sind derwichtigste Standortfaktor Deutschlands im globalenWettbewerb. Die Ausbildungszahlen sind auch ein Spie-gelbild der wirtschaftlichen Zukunft unseres Landes.Wer keine Zukunft mehr sieh t und dessen Betrieb umsÜberleben kämpft, hat nicht die Möglichkeit, andereExistenzen zu retten. Betriebe werden erst dann Auszu-bildende einstellen, wenn sie für die nächsten drei Jahreeine gute Auftragslage und zufrieden stellende Gewinneerwarten.
Hinter 40 000 Insolvenzen verber gen sich über400 000 Arbeitsplätze und über 40 000 Ausbildungs-plätze, die durch Ihre Finanzpolitik vernichtet wurden.Dies stimmt in der Tat: Der Schlüssel zur Lösung dieserAusbildungsmisere liegt bei Eichel, also in der Steuer -,Finanz- und Wirtschaftspolitik.
Fragen Sie die Betriebe! Si e werden Ihnen sagen: Ohneeine vernünftige Analyse wi rd Ihre Therapie immerfalsch sein. Deshalb helfen solche Zahlen, dass Sie end-lich auf den richtigen Weg kommen.
Bei einer Befragung, warum Betriebe nicht ausbilden,gab es zwei zentrale Ar gumente: erstens kein Perso-nalbedarf, da zu wenig Aufträge, und zweitens zu hoheKosten der Ausbildung. Das heißt, erst wenn Sie bei denKosten ansetzen und die Zukunft der Betriebe sichern,wird es wieder Betriebe geben, die bereit sind, Ausbil-dungsplätze bereitzustellen.
Lassen Sie uns also gemein sam an die Tarifparteien,sowohl an die Politik als auch an die Gewerkschaftenund die Arbeitgeber , appellieren, in den nächsten dreiJahren die Ausbildungsver gütungen einzufrieren undmithilfe des Geldes, das die Unternehmen dabei sparen,zusätzliche Ausbildungsplätze bereitzustellen! In derChemiebranche gibt es in diesem Zusammenhang sehrkreative und interessante T arif- und Betriebsvereinba-rungen, die wir nutzen könnten,
wenn die Politik vernünftig in einem Bündnis für Arbeitvoranmarschieren würde und es nicht gegen die W andgesetzt hätte.Was ist Ihr Konzept? Kapital für Ausbildung? Ichhabe mir einmal die Zahlen darüber geben lassen, wieIhr Konzept „Kapital für Arbeit“ derzeit läuft. Mit Standvom 28. März dieses Jahres wurden – dies teilt die Kre-ditanstalt für Wiederaufbau mit –
auf diesem W ege bundesweit insgesamt 648 Arbeits-plätze geschaffen. Dafür mu ssten 190 Millionen Euromobilisiert werden. Eine solche Nebelkerze gibt es keinzweites Mal in Deutschland.
Es geht nicht um Kredite, so ndern um Aufträge für dieWirtschaft, um die Zukunft und den richtigen Rahmen,den Sie politisch setzen müssen.
Der Mittelstand stellt 80 Prozent der Ausbildungsplätze.Als eine weitere große Maßnahme, mit der Sie denMittelstand bzw. das Handwerk fördern wollen, kündigtHerr Clement an, Existenzgründer vier Jahre von Kam-merbeiträgen zu entlasten. Ic h habe einmal bei der In-dustrie- und Handelskamme r Mittlerer Niederrheinnachgefragt, was das bringen würde: 5 Euro pro Monat,also 60 Euro pro Jahr. Mit solchen Nebelkerzen schaffenSie weder Ausbildungsplätze noch sichern Sie die Zu-kunft für unsere Wirtschaft.
Solange Sie in der Steuerpolitik die Grenzen der Be-lastbarkeit kleiner und mittlerer Unternehmen testen,zerstören Sie jede Ausbildungsmotivation.
Sie lösen kein Problem. Sie sind vielmehr das Problem.
Die Bundesanstalt für Arbeit rechnet vor, dass die Re-duzierung der Lohnnebenkosten bzw . der Sozialversi-cherungsbeiträge um 1 Prozent dazu führt, dass etwa80 000 bis 100 000 zusätzliche Arbeits- und Ausbil-dungsplätze geschaffen werden können. Das wäre derrichtige Weg, um wieder Zukunft für junge Menschenund die Wirtschaft zu erreichen.Ihr JUMP-Programm, das Sie heute feiern, hat, wieSie selber im Rahmen einer parlamentarischen Anfragebestätigt haben, nur bei 30 Prozent der jungen Menschendazu geführt, dass diese an schließend eine reguläre Be-schäftigung gefunden haben.
Sie selbst haben den Trägern der Weiterbildung als Qua-litätsstandard mitgegeben, dass eine überbetrieblicheAusbildung nur dann Sinn macht, wenn für den Arbeit-nehmer, der ausgebildet wird, eine mindestens 70-pro-zentige Chance besteht, dass er aus der Arbeitslosigkeitherauskommt.
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Wenn Sie Ihre im Hartz-Konzept formulierten Qualitäts-standards auf das JUMP-Programm übertragen würden,dann müssten Sie zu dem Er gebnis kommen, dass eshoffnungslos gescheitert ist.
Es wäre sinnvoller, diese Gelder in eine direkte Unter-stützung von Ausbildungsbetrieben umzulenken.
– Mit dem Niveau Ihrer Zurufe können Sie unter demTeppich laufen, ohne Wellen zu schlagen. Ein wenig Ge-duld und Konzentration würden auch Ihnen gut tun.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Ja.
Bitte.
Ich möchte Sie fragen, ob Ihnen eigentlich bewusst
ist, dass gerade durch das JUMP-Programm Jugendliche
erreicht werden, die ansons ten überhaupt keine Chance
gehabt hätten, eine Stelle zu finden.
Wenn Sie die Erfolge des JUMP-Programms berücksich-
tigen, können Sie dann vielleicht auch andere Konse-
quenzen daraus ziehen?
Ich denke, auch Sie kennen Briefe von regionalen Ar-
beitsämtern, in denen darauf hingewiesen wird, dass der-
zeit aufgrund von Irritationen sämtliche Maßnahmen zur
Berufsvorbereitung gerade fü r diese Zielgruppe einge-
spart werden. Die T räger, die Maßnahmen für solche
Zielgruppen unterstützen, sind völlig irritiert, weil sie
nicht mehr wissen, ob sie entsprechende Kurse anbieten
können.
Von daher kann ich nur em pfehlen, diese Mittel wie-
der einzusetzen, indem man in V erbindung mit anderen
Maßnahmen, also durch eine Absenkung der Sozialver-
sicherungskosten, mehr Anreize zur Schaffung von Aus-
bildungsplätzen gibt.
Die andere Möglichkeit wäre, dass man Ausbildungsbe-
triebe gezielt entlastet, indem man die Sozialversiche-
rungsbeiträge der Ausbildungsbetriebe für die Auszubil-
denden anteilig übernimmt.
Aber die Ausgaben für JUMP in Höhe von
1 Milliarde Euro sind nichts im V ergleich zu dem, was
Sie derzeit für die Berufsvo rbereitung zusammenstrei-
chen. Dorthin müssen Sie mehr Geld lenken. Dann geht
es auch den Jugendlichen wieder besser.
Herr Clement sagte am 30. Januar 2003, dass
51 Prozent der Betriebe in den neuen Bundesländern und
44 Prozent der Betriebe in den alten Bundesländern
überhaupt nicht ausbildungsberechtigt sind. Die Mehr-
zahl der Ausbildungsbetriebe darf derzeit of fenkundig
nicht ausbilden. Ich habe diesbezüglich eine Anfrage an
das Bildungsministerium gestellt, ob die Zahlen, die
Herr Clement genannt hat, stimmen. Die Antwort von
Wir können diese
Zahlen weder bestätigen noch dementieren. Fakt ist also:
Zur Ausbildungsmisere kommt noch eine Informations-
misere. Es gibt nicht einmal identische Daten beim Ar-
beits- und Wirtschaftsministerium und dem Bildungsmi-
nisterium. Dort müssen Sie anfangen, damit Ihre
Therapie vernünftig ist.
Lassen Sie uns überlegen, ob wir verstärkt Stufenaus-
bildungen – wie etwa bei der Ausbildung vom Verkäufer
zum Kaufmann – möglich machen sollten. Auch theorie-
geminderte zweijährige Beru fausbildungen sind denk-
bar; diese jedoch dürfen keine Sackgasse sein, man muss
auf ihnen weiter aufbauen können. Es sind hervorra-
gende Modelle entwickelt worden, die aber von den So-
zialpartnern noch blockiert werden. Die Handelskammer
Hamburg etwa schlägt 100 neue Ausbildungsberufe vor.
Hierdurch würden neue Beschäftigungsmöglichkeiten
und konkrete Ausbildungsanreize geschaf fen. Sie wer-
den derzeit aber blockiert. Wenn Sie da weiterkämen,
hätten junge Menschen mehr Chancen.
Unser Antrag ist kein Gesetz, sondern ein Ge-
sprächsangebot, nachdem Ihr Bündnis für Arbeit ge-
scheitert ist. Lassen Sie uns bei aller Kritik hier im Parla-
ment ein überparteiliches Bündnis für Ausbildung
schaffen.
Wir sind dazu bereit. Aber ändern Sie bitte Ihren Kurs!
Jetzt hat der Abgeordnete Hans-W erner Bertl dasWort.
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Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Als derBundeskanzler in seiner Regierungserklärung an dieVerabredung mit der W irtschaft – jeder Ausbildungs-platzsuchende muss einen Ausbildungsplatz bekommen –erinnert und gesagt hat, we nn dies nicht eingehaltenwerde, müsse es zu einer gesetzlichen Regelung kom-men, hat es die altbekannten Proteste gegeben. Der Bun-deskanzler hat noch etwas gesagt, was ich unterstreichenkann: Junge Menschen haben ein Recht auf neue Chan-cen und zu diesem Recht müssen wir ihnen immer wie-der verhelfen.
Es darf einfach nicht wahr sein, dass in einer derreichsten Gesellschaften der Welt junge Menschen, diein diesem Jahr aus der Schule entlassen werden, als Ers-tes mitgeteilt bekommen: W ir brauchen euch im Mo-ment nicht, ihr seid zu viele, ihr seid – darin gipfelt dasGanze – zu schlecht. Daneben steht die Forderung nachsolidarischer Einbeziehung in den Generationenvertrag,für den sie ihre Leistung erbringen sollen.Die Verantwortung für das duale System liegt ein-deutig bei der Wirtschaft, beim Handwerk und bei allenanderen, die an der Ausbildung im dualen System betei-ligt sind.
Diese Verantwortung kann und darf nicht von derKonjunktur oder von den schlechten Schulnoten derSchulabgänger abhängig gemacht werden. Mit1,7 Millionen Auszubildenden im dualen System incirca 620 000 Betrieben wird von denjenigen, die aus-bilden, eine beachtliche Leistung erbracht. Aber nicht ansie geht unsere Forderung, sondern an die 1,28 MillionenBetriebe, die die Berechti gung zur Ausbildung haben,aber derzeit nicht ausbilden, sowie an die 70 Prozent al-ler Betriebe, die sich gar ni cht beteiligen. Hier bringenwenige eine große Leistung für die Volkswirtschaft, dieandere abschöpfen.
Zurzeit fehlen 110 000 Ausbildungsplätze. Wir müs-sen damit rechnen, dass im August 50 000 bis70 000 junge Menschen keinen Ausbildungsplatz be-kommen. Dieser Fehlbestand kann nicht mit Hemmnis-sen, Tarifen, Kündigungsschutz, Betriebsverfassungsge-setz, Steuern, etwa Gewerbesteuern, oder mangelndenSchulleistungen begründet werden.
Wenn dieser Ausbildungsplatzmangel eintritt, stelltsich das duale System – eigentlich eines der beachtlichs-ten Erfolgsmodelle für berufliche Bildung – selbst in-frage. Auch die zunehmenden staatlichen Finanztrans-fers in dieses System deuten an, dass das duale Systemaus dem Blick und auch ei n Stück aus dem Engagementder Verantwortlichen geraten ist.Vor 23 Jahren haben wir in diesem Land eine heftigeAuseinandersetzung um die Frage der Zuständigkeitbei der beruflichen Bildung geführt. Die Wirtschaft hatdas Bundesverfassungsgericht angerufen. Ich will Ihneneinen Teil des Urteils vortragen: Am 10. Dezember 1980haben die Verfassungsrichter unter dem großen Beifallder Wirtschaft in Deutschland erklärt, dass die V erant-wortung und die Zuständigkeit für die duale Ausbildungbei der W irtschaft liege und auch weiterhin liegenwerde. Ich will einen Satz aus dem Urteil zitieren:Wenn der Staat in Anerkennung dieser Aufgaben-stellung den Arbeitgebern die praxisbezogene Be-rufsausbildung der Jugendlichen überlässt, so musser erwarten, dass die gese llschaftliche Gruppe derArbeitgeber diese Aufgabe nach Maßgabe ihrer ob-jektiven Möglichkeiten und damit so erfüllt, dassgrundsätzlich alle ausbildungswilligen Jugendli-chen eine Chance erhalt en, einen Ausbildungsplatzzu bekommen.Im Urteil folgt ein weiterer ganz entscheidender Satz. Erlautet:Das gilt auch dann, wenn das freie Spiel der Kräftezur Erfüllung der übernom menen Aufgaben nichtmehr ausreichen sollte.Vor diesem Hintergrund können wir, wie ich glaube, dieDiskussion um die Auswir kungen der konjunkturellenLage und mögliche Einschränkungen daraus beenden.
Dieses Urteil gilt noch heute und führt die betrieblicheAusbildung aus der Beliebigkeit heraus.Es geht mir – das habe ic h bereits deutlich gesagt –nicht so sehr um diejenigen, die ausbilden, sondern viel-mehr um diejenigen, die ih rer Verantwortung nicht ge-recht werden. Es gibt etwa 650 000 Betriebe, die ausbil-den können und dürfen, dies aber nicht tun. Insgesamt70 Prozent der Unternehmen in unserer W irtschaft be-dienen sich weitgehend aus der Ausbildungsleistung deranderen. Es darf nicht nur um die Frage von so genann-ten Ausbildungshemmnissen gehen. Denn wenn dieSenkung der Belastungen und die Aussetzung der Aus-bilder-Eignungsverordnung nicht mehr ausreichen, wiewir das gerade erleben, dann wird die Frage nach der be-rühmten zweiten T oilette gestellt, was letztlich dasGanze ad absurdum führt.Der Ausbildungsmarkt ist in einer Notsituation. Flexi-bilität, Kreativität und Verantwortung sind gefragt. Es istkein Poker um Abschaf fung von Jugendarbeitsschutz-rechten, Kündigungsschutz oder demokratische Mitbe-stimmung. Das, was jetzt stattfindet, ist für mich ein bil-liger Klassenkampf auf dem Rücken derjenigen, die indiesem Jahr aus der Schule entlassen werden.
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3050 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. April 2003
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Hans-Werner BertlHier ist Kreativität gefragt. Diese Kreativität müssenwir bis August dieses Jahres bei der Klärung der Fragean den Tag legen, wo und wie zusätzliche Ausbildungs-stellen einzurichten sind. Die Antwort muss in dennächsten Wochen erfolgen. Es ist zu spät, diese Antworterst dann zu geben, wenn wi r ausdiskutiert haben, wiedie Novellierung des Berufs bildungsgesetzes aussehensoll.Die Zeit der Appelle und des Bittens um Ausbildungläuft uns davon. Gefragt ist jetzt die V erantwortung derUnternehmen. Es bilden zum Beispiel nur 2 Prozent derUnternehmen im Verbund aus. Alle, die sich in unseremLand fragen, ob sie ausbild en können, ob die Belastungfür sie alleine zu hoch ist – das ist von Ihnen immer an-gesprochen worden – oder ob sie das qualitative Spek-trum für Ausbildung leisten können, haben die Möglich-keit, Ausbildung im V erbund anzuleiten. Gefragt sindaber auch diejenigen, die Verbünde organisieren können,in den Kammern, in den Kommunen und in vielen ande-ren Organisationen. Diese werden übrigens mit Mittelnder Bundesanstalt für Arbeit unterstützt. In Deutschlandgibt es im Moment 350 Ausbildungsverbünde, die mit11,6 Millionen Euro gefördert werden.Es gibt übrigens auch überbetriebliche und außer-betriebliche Einrichtungen für berufliche Bildung, diedurch Umlagefinanzierung von Kammern und staatlicheZuschüsse getragen werden. Wenn es richtig ist, dass diebeste Ausbildung im Betrieb stattfindet, dann sollten die-jenigen, die dort Verantwortung tragen, sich jetzt dieserVerantwortung stellen, zumal Hilfen und Unterstützungsowohl durch das Bundesministerium als auch durch dieBundesanstalt gegeben sind.Ich möchte einige Sätze an diejenigen richten, die vonden Schulen kommen. Ich bitte Sie: Warten Sie nicht aufden Traumberuf. Träume erfüllen sich meist woanders.Man wird auch nicht für eine n Beruf geboren. Aber Be-ruf und erfolgreicher Abschl uss ermöglichen ein selbst-bestimmtes Leben. Dann lassen sich auch viele T räumeerfüllen.Abschließend möchte ich an die Unternehmen, diewir nicht aus der V erantwortung für die berufliche Bil-dung entlassen können, sa gen: Wenn wir 60 000 oder70 000 Schulabgänger im Herbst dieses Jahres alleinelassen, indem wir ihnen keine berufliche Perspektive ge-ben, wird sich der Staat de r Frage der Berufsausbildungannehmen müssen. Dann soll aber auch keiner anschlie-ßend jammern, wenn wir einen großen Teilbereich des sohoch gelobten dualen System s über Subvention und Er-satz letztendlich zu einer sozialpolitischen Veranstaltungmachen müssen. Das zeigt allerdings auch, dass mögli-cherweise das Ende dieses Systems aufgrund der man-gelnden Verantwortung der Arbeitgeber und der fehlen-den Mitwirkung der Betriebe gekommen ist.Deswegen sind Anstrengungen nötig. Es dürfen nichtnur Schuldzuweisungen gemacht und dubiose Erklärun-gen abgegeben werden, die keinem einzigen jungenMenschen in diesem Land helfen. Wir brauchen Ausbil-dungsstellen! Die Wirtschaft muss sich der V erantwor-tung stellen, die sie 1980 für sich angesichts des Urteilsdes Bundesverfassungsgerichts gefordert hat.Vielen Dank.
Danke schön. – Das W ort hat jetzt die Abgeordnete
Gesine Lötzsch.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Zur glei-chen Zeit, zu der wir über die Situation im Bereich derBerufsausbildung und über den Lehrstellenmangel dis-kutieren, findet eine Pre ssekonferenz der Bundesanstaltfür Arbeit statt.Die Arbeitsmarktzahlen sind genauso dramatisch wiedie Situation auf dem Lehrstellenmarkt. Im Februar wur-den den Arbeitsämtern bis zu 20 Prozent weniger Lehr-stellen gegenüber dem V orjahresmonat gemeldet, näm-lich nur 368 000. Das sind 54 000 weniger als noch voreinem Jahr und 1 14 000 weniger, als benötigt werden.Die Unternehmer fordern die Regierung auf, aktiv zuwerden und mehr überbetriebliche Ausbildungsplätze zuschaffen. Diese Ausbildungsplätze sind dann jedochsteuerfinanziert. Die gleichen Leute, die die Regierungauffordern, überbetriebliche Ausbildungsplätze zu schaf-fen, fordern die Regierung au ch auf, Steuern zu senken.Ich denke, das ist zutiefst verlogen.
Das Bundesverfassungsgericht verwies bereits imJahre 1980 darauf, dass es ei ne – ich zitiere mit Geneh-migung der Präsidentin – „V erantwortung der Arbeit-geber für ein ausreichendes Angebot an betrieblichenAusbildungsplätzen“ gibt, und mahnte eine gesetzlicheRegelung an. Das war vor 23 Jahren. Wir als PDS for-dern eine gesetzliche Ausbildungsumlage. Wer nichtausbildet, soll zahlen. Die Einführung einer Ausbil-dungsumlage wurde von Rot- Grün übrigens bereits inder Koalitionsvereinbarung im Jahre 1998 festgeschrie-ben.Der Bundeskanzler hat in seiner Regierungserklärungvom 14. März dieses Jahres nur noch vage von einer ge-setzlichen Regelung gesprochen, die man einführenwürde, wenn die Unternehmen nicht selbst aktiv werdenwürden. Das alles sagte er betont im Konjunktiv . DieserKonjunktiv hat die Debattenb eiträge vonseiten der Re-gierungskoalition auch heute wieder geprägt. Der vorlie-gende Antrag der Regierungskoalition strotzt nur so vonAppellen an die Wirtschaft. Alle Ausführungen zu kon-kreten Maßnahmen bezüglich der Unternehmen bleibenvage. Meine Damen und Herren, wie lange wollen Siemit der Ausbildungsumlage noch warten?In der letzten W oche war ich in meinem W ahlkreisLichtenberg im Oberstufenzentrum für Versorgungstech-nik und habe mich vor Ort informiert. Es fehlt, so wieüberall, an betrieblichen Ausbildungsplätzen. Ein Groß-teil der Ausbildungsplätze is t überbetrieblich. Ein Pro-blem, das im Osten besonders häufig auftritt, finde ichfür junge Leute besonders deprimierend: Auszubildende
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. April 2003 3051
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Dr. Gesine Lötzschverlieren ihren Ausbildungsplatz, wenn ihr Betrieb zumBeispiel wegen der schlech ten Zahlungsmoral und derniedrigen Kapitaldecke in Konkurs geht; denn Auf fang-strukturen existieren nicht. Ich denke, das ist für einenJugendlichen eine Katastro phe: Er hat gute Leistungengezeigt und verliert trotz guter Arbeit und Lernerfolgeseine Lehrstelle. Wie soll ein solcher Jugendlicher nochan die Leistungsgesellschaft glauben?Meine Damen und Herren, der parteilose HanauerStadtverordnete Jochen Dohm wies in einem Brief an dieAbgeordneten auf die dramatische Lage auf dem Lehr-stellenmarkt in Hanau hin. Er machte besonders auf dasProblem aufmerksam, dass Jugendliche ohne Schul-abschluss von der Hartz-Ge setzgebung besonders hartgetroffen werden. Das Arbeitsamt in Hanau hat allenTrägern, die berufsvorbere itende Kurse anbieten, dieVerträge gekündigt.
Das bedeutet für Hanau den Wegfall von 466 Plätzen beiberufsvorbereitenden Maßnahmen.Die Bundesarbeitsgemeinschaft der Berufsbildungs-werke, die uns Abgeordnete angeschrieben hat, verweistin einem Brief auf die dramatischen Folgen der Arbeits-marktpolitik für Jugendliche mit Behinderungen. DieBundesarbeitsgemeinschaft schreibt:Aus jungen Leuten ohne Au sbildung oder berufs-vorbereitenden Lehrgängen heute werden Arbeits-lose von morgen, Sozialhilfeempfänger auf Dauer.Ich denke, das kann nicht unser Ziel sein.Es ist in der heutigen Debatte bereits erwähnt worden:Nur 30 Prozent aller Betriebe bilden Jugendliche aus.Die Bundesministerin, Frau Bu lmahn, will die Zahl derBetriebe auf 40 Prozent erhöhen. Hierzu können wir nurunser Einverständnis erklären; wir werden Sie unterstüt-zen. Ich mache Ihnen konkrete V orschläge: Machen SieNägel mit Köpfen! Fordern Sie von der W irtschaft, dass40 Prozent der Betriebe im Jahre 2004 Ausbildungs-plätze anbieten müssen! W enn die Zahl nicht erreichtwird, dann – so sagen Si e als Regierung – kommt imJahre 2004 definitiv die Ausbildungsumlage.Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Michael
Kretschmer.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es istdeprimierend, welche Geschichten zum Thema Ausbil-dung Jugendliche zu berichten haben. Ich habe amMontag eine zehnte Klasse einer Görlitzer Mittelschulein meinem W ahlkreis besucht. V on den anwesenden30 Schülern haben in den vergangenen Wochen viele 40,50, 60 oder 70 Bewerbungen geschrieben, auf die siezum großen Teil keine Antwort oder eine Absage be-kommen haben.Viele ostdeutsche Jugendliche gehen deshalb für eineAusbildung schweren Herzens in die alten Bundesländer.Aus diesem Grunde schlägt die Bundesanstalt für ArbeitAlarm. Wir haben die Zahlen gehört: Im W esten derBundesrepublik sind im Mä rz bis zu 56 000 Lehrstellenweggebrochen. Das Ausbildungsjahr 2003/2004 drohtzum schwarzen Jahr der Berufsausbildung zu wer-den. Der DGB spricht von einem Ausbildungsplatzdefi-zit in nicht gekanntem Ausmaß.Angesichts der aktuellen Lage – das ist mehrfach ge-nannt worden, aber man kann es nicht oft genug wieder-holen – ist die Ausbildungsplatzgarantie, von der derBundeskanzler und die Bundesbildungsministerin immersprechen, der blanke Hohn.
Gestern haben wir im Aussc huss für Bildung und For-schung einen Vortrag der Bundesanstalt gehört. Dabei istdeutlich geworden – man hat es uns auf unsere Rück-frage hin bestätigt –: Schon heute wird eine große An-zahl von Jugendlichen in Scheinmaßnahmen geparkt, einJahr später stehen sie wied er ohne eine Ausbildung daund müssen sich wieder be werben. – Das ist Ihr V er-ständnis einer Ausbildungsplatzgarantie.Die Bugwelle aus nicht vermittelten Bewerbern undneuen Ausbildungsplatzsuchenden wird immer größer .In diesem Jahr droht sie endgültig über den Köpfen derBundesregierung zusammenzuschlagen. Davon betrof-fen sind Tausende Jugendliche, denen der Start ins Be-rufsleben unmöglich gemacht wird. Ausbildung ist fürSchulabgänger und für Unternehmen eine Investition indie Zukunft. Sie können in jeder beliebigen Zeitung le-sen, wie stark der Pessimismus in den Unternehmen ist.Auch Wirtschaftsforschungsinstitute haben das analy-siert.Dem Handwerk in Deutschland, wo immerhin einDrittel aller Lehrlinge ausg ebildet werden, sitzt dieblanke Angst um die eigene Existenz im Nacken. DieProbleme auf dem Ausbildungsmarkt sind hausgemacht.Nur 50 Prozent aller Unternehmen, die ausbilden kön-nen, bilden auch tatsächlich aus.
– Nein, ich bin nicht staatsgläubig. Sie, meine Kollegin-nen und Kollegen von der SPD , sind staatsgläubig. Sieglauben, mit Appellen an di e Wirtschaft oder einerAusbildungsplatzabgabe weiterzukommen. Wir hinge-gen wollen, dass Sie den Unternehmen die Möglichkeitgeben auszubilden. Hören Sie auf, mit milliardenschwe-ren Programmen diese Probleme von Staats wegen lösenzu wollen. Das ist der falsche Weg.
Steuererhöhungen, Verschärfungen im Kündigungs-schutz, die Ebbe in den Kassen der Kommunen und Ihr
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3052 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. April 2003
(C)
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Michael Kretschmerangekündigter Eingriff in die Handwerksordnungen sor-gen für Verunsicherung und haben die wirtschaftlicheSituation in den Unternehmen massiv verschlechtert. Be-troffen sind davon besonder s die neuen Bundesländer .Das hochgejubelte JUMP-Programm mit 1 MilliardeEuro im Jahr ist speziell im Osten ins Leere gelaufen.
– Ich komme aus den neuen Bundesländern.
Ich lade Sie herzlich ein, mi ch in Sachsen zu besuchen.Sie werden in Görlitz sehen, dass das Programm dortvöllig versagt hat.
– Herr Tauss, anstatt Wirtschaftsstrukturen aufzubauenund damit ausreichend Ausbildungsplätze in der betrieb-lichen und gewerblichen W irtschaft zu schaffen, habenSie den leichteren, aber teureren Weg gewählt: Sie habensich für den W eg der Staatsintervention entschiedenund 500 000 Jugendliche in ein Programm der aktivenArbeitsmarktpolitik gesteckt. Das ist von Ihnen über-schwänglich gelobt worden. T atsächlich sind diese500 000 Jugendlichen in der aktiven Arbeitsmarktpolitikein drastisches Zeichen für Ihr V ersagen in der W irt-schaftspolitik in diesem Land.
Dieser Wert ist im Übrigen gestern im Ausschuss vonHerrn Alt von der Bundesanstalt für Arbeit als derhöchste Wert seit der W iedervereinigung bezeichnetworden. Auch das zeigt Ihre wirtschaftliche „Kompe-tenz“, es zeigt, wie Sie ge denken, dieses Land aufzu-bauen. Das ist nicht unser Weg. Unser Weg ist auch nichtdas Programm „Kapital für Arbeit“, weil Unternehmennicht einen Kredit aufnehme n, um jemanden einzustel-len, sondern weil sie wachsen und ihren Umsatz steigernwollen.Das ist das, was wir von Ihnen erwarten. Schaffen Siedie Rahmenbedingungen, dami t die Wirtschaft wächst,damit Ausbildungsplätze bereitgestellt werden könnenund die Leute freiwillig Auszubildende und Arbeitneh-mer einstellen. Sie haben die Zahlen gehört: 4,6 Millio-nen Arbeitslose, 42 000 Unternehmen, die in diesemJahr vermutlich in Konkurs gehen. Das ist kein Umfeld,in dem Unternehmen ausbilden. Das ist auch der Grunddafür, dass Unternehmen in Deutschland nicht ausbilden.
Der Wert eines Ausbildungsp latzes bemisst sich füruns an der Qualität des vermittelten Wissens, der Praxis-nähe der Ausbildung und de r Chance, unmittelbar nachdem Abschluss der Lehre einen Arbeitsplatz im erstenArbeitsmarkt zu finden. Deswegen ist für uns ganz klar:Die betriebliche Ausbildung hat vor jedem außerbetrieb-lichen Bildungsprogramm Vorrang.
Wir müssen die Ausbildungsfähigkeit und Ausbil-dungsbereitschaft der Unternehmen erhöhen. Die Zah-len sind genannt worden, sie sind zu gering.Lassen Sie uns die Ausbilder-Eignungsverordnungmodernisieren. Wir sind da durchaus offen. Sie haben1972 diese Verordnung eingeführt. Sie haben sie 1999reformiert. Warum, bitte schön, haben Sie sie nicht 1999abgeschafft? Das ist im Übrigen überhaupt die Frage. Esist sehr viel von „wir woll en“, „wir könnten“ und „wirmüssten“ geredet worden. Sie regieren dieses Land seit1998. Sie hätten seit 1998 di e Chance gehabt, etwas zuverändern. Sie haben es nich t getan. Deshalb sind dieZahlen, die jetzt vorliegen, ein deutliches Armutszeugnisfür Ihre Politik.
Zu der Ausbildungsplatzabgabe ist einiges gesagtworden. Sehen Sie sich an, wie die wirtschaftliche Situa-tion in den neuen Bundesländern, aber mittlerweile auchin den alten Bundesländern is t! In den alten Bundeslän-dern bricht derzeit der Ausbildungsmarkt zusammen:51 000 Ausbildungsplätze in den alten Bundesländern,ungefähr 6 000 in den neuen Bundesländern. Das zeigt,dass eine Ausbildungsplatzabgabe der völlig falscheWeg ist.Ich komme zum Schluss und zitiere Nietzsche, dersagte: „Der Beruf ist das Rückgrat des Lebens.“ Bewei-sen Sie, meine Damen und Herren vom Bündnis 90/DieGrünen und von der SPD, dass Sie Rückgrat haben. Än-dern Sie Ihre Politik! Gehen Sie mit uns gemeinsam andie Reform der Ausbildungsverordnung und lassen Sieuns gemeinsam eine Zukunft für die jungen Leute inDeutschland schaffen.Vielen Dank.
Das war die erste Rede des Kollegen. Ich möchte Ih-
nen im Namen des ganzen Hauses dazu gratulieren. Sie
mussten sich schon richtig in einem Zwischenrufgewit-
ter bewähren. Herzlichen Glückwunsch.
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Ernst Dieter
Rossmann.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Ich möchte in dieser Debatte der starken W orte einigeFragen stellen. Herr Hinske n und andere sagten, diesesJahr sei das dramatischste Jahr, das wir in Bezug auf dieAusbildungslücke erlebten. Ich glaube, Sie sollten aufdie Jahre 1996 bis 1998 zurückschauen. Dann wissenSie, wo Sie damals standen.
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Dr. Ernst Dieter Rossmann
Wir haben damals hart disk utiert und Sie haben dasRecht, heute hart zu diskutieren. Aber ich möchte dafürwerben, das praxisorientiert zu tun. Ich will versuchen,das einmal am Beispiel von JUMP mit Ihnen durchzu-gehen.Wir erleben, dass Sie auf der Ebene des BundestagesJUMP vehement kritisieren. Ich erinnere mich aber da-ran, wie der damalige CDU-Ministerpräsident Barschelin Schleswig-Holstein auf die großen Ausbildungs- undVermittlungsnöte junger Menschen reagiert hat, nämlichmit einem großartigen Landesprogramm, welches vonder Bundesebene unterstützt worden ist. Es nannte sichdamals „Arbeit für Schleswi g-Holstein“, „Ausbildungs-bündnis“ usw. Wenn Sie die Praktiker, die Menschen, dieVerantwortung tragen, die Ministerpräsidenten, dieOberbürgermeister, die Kommunalpolitiker und diejeni-gen, die in den Bildungsinstitutionen und Betrieben tätigsind, fragen würden, dann würden alle so antworten wiederjenige, der gestern im Ausschuss ein Problem von derBasis geschildert hat. Er hat gesagt: Die ganze Breite desInstrumentariums muss erhalten bleiben.
Ich garantiere Ihnen: W enn Sie ir gendwann wiedereinmal regieren sollten, dann würden auch Sie auf dieganze Breite des Instrument ariums zurückgreifen, wel-ches jetzt in JUMP gebündelt worden ist. Ihnen istschließlich aus der Praxis bekannt, dass über JUMP teil-weise betriebliche und überbetriebliche Ausbildungsver-hältnisse sowie V orbereitungsmaßnahmen für Men-schen, die noch nicht in ei ne betriebliche Ausbildungeintreten konnten, und Maßnahmen zur Motivierung fürMenschen, sich erneut zu bewerben, mit gefördert wor-den sind.Man sollte nicht das Porzellan zerschlagen, von demman vielleicht noch selbst essen will.
Deshalb bitte ich an dieser Stelle um etwas mehr Zu-rückhaltung, selbst wenn das für Sie nicht wohlfeil seinmag.Lassen Sie mich einen we iteren Punkt ansprechen.Man konnte an mancher Stelle den Eindruck gewinnen,dass das Berufsbildungsgesetz ein schlechtes Gesetz sei.Ich will für die SPD-Frakti on ausdrücklich festhalten,dass das Gesetz in seiner derzeitigen Fassung sehr gutist.
Es hat die hohe Qualität der beruflichen Bildung inDeutschland über viele Jahre hinweg stabil gehalten. Eswäre von Vorteil, wenn wir diesen Konsens, der auchparteipolitische Veränderungen im Bundestag überdauerthat, auch in Zukunft wahren könnten. Es sind durchauseinige Veränderungen und Anpassungen nötig, die manaber gemeinsam und zielgerichtet verwirklichen sollte.Im Übrigen ist vielleicht ein weiterer Blick in das Be-rufsbildungsgesetz notwendig, um festzustellen, was al-les bereits jetzt möglich ist. Denn ein Gesetz abstrakt zuverändern, obwohl das geltend e Gesetz allen Forderun-gen gerecht wird, zeigt, wie wenig man sich bisher mitdem Gesetz auseinander gesetzt hat.
Andere Kollegen haben schon ausgeführt, was dasGesetz in Bezug auf die zweijährige Ausbildung, T eil-qualifikation und anderes bereits ermöglicht. W ir wer-den es Schritt für Schritt ve rbessern und dabei in seinerVielfalt erhalten, weil die Auseinandersetzung in der Ge-sellschaft gezeigt hat, wie un terschiedlich die Erwartun-gen in der betrieblichen Praxis sind.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin
Pieper?
Das würde ich gerne machen, aber ich habe nur noch
wenig Redezeit. Deshalb fahre ich lieber fort.
– Wenn es nicht angerechnet wird, ist es mir recht.
Herr Kollege Rossmann, würden Sie bitte zur Kennt-
nis nehmen, dass sich nich t nur die Politiker , sondern
auch die Bildungsexperten – ich habe das heute schon
mehrmals ausgeführt – und das zuständige Bundesinsti-
tut mit dem Berufsbildungsgesetz befassen und dass die
Experten darauf hinweisen, dass es nach der geltenden
Fassung des Berufsbildungsgesetzes nicht möglich ist,
durchgängig für alle Berufe eine zweijährige Grundaus-
bildung mit Qualifizierungsbausteinen zuzulassen? Das
ist aber der Weg, den wir beschreiten müssen, um mehr
Flexibilisierung und Dif ferenzierung der Berufsausbil-
dung zu erreichen.
Ich will Ihnen in Fortsetzung meiner Überlegungenantworten: Wenn man mit vielen Beteiligten in der Pra-xis spricht, dann hört man vonseiten des Handwerks:Lasst bloß die Hände von der zweijährigen Ausbildung!
Wir brauchen hinsichtlich der Qualifikation und der An-forderungen eine dreijährige, hoch qualifizierende Aus-bildung.
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Dr. Ernst Dieter Rossmann– Werfen Sie einen Blick in die Unterlagen und nehmenSie Kontakt zu Ihrem örtlichen Handwerk auf! Wenn Siedenen mit der zweijährigen Ausbildung kommen, wer-den sie Ihnen sagen, dass sie diese nicht wollen.Andere Betriebe wünschen sich eine differenziertereStruktur. Alles in allem lässt sich das im Berufsbil-dungsgesetz wiederfinden. Dass es eine durchgängigeMeinung in der Theorie wie in der Praxis gäbe, dass einegestufte Ausbildung in zwei Jahren und eine anschlie-ßende Weiterbildung notwendig seien, deckt sich eben-falls nicht mit dem, was wir aus der Metallindustrie, derElektrobranche und anderen Bereichen hören. Im Ge-genteil: Dort werden Forder ungen nach einer größerenDifferenzierung erhoben, denen man noch auf denGrund gehen kann.
Erlauben Sie mir, noch einen anderen Punkt anzuspre-chen, der vertieft werden könnte. Es wurde die Frage ge-stellt, warum so wenig Betriebe ausbilden. Auch in dieserFrage zeigt ein Blick in die Geschichte, dass es sich dabeinicht um einen T rend handelt, der erst mit dem Regie-rungswechsel 1998 begonnen hat. V ielmehr handelt essich um längerfristige Trends, die etwas mit verändertenBetriebsstrukturen, dem veränderten Verhältnis von gro-ßen und kleinen Betrieben und der zunehmenden Zahlvon Existenzgründungen – die Unternehmen beginnennicht unbedingt gleich mit dem Ausbildungsbetrieb – zutun haben.Wenn Sie mir nicht glaube n, werfen Sie einen Blickin den Berufsbildungsbericht 2002! Darin gibt es eineinteressante Statistik in Bezug auf die gesetzlichen Aus-bildungsvoraussetzungen nach Betriebsgrößenklassenund Branchen. W enn es richtig ist, dass nur rund56 Prozent der Betriebe ausbildungsberechtigt sind,dann zeigt diese Statistik, dass es in den Kategorien vonein bis neun Beschäftigten, zehn bis 49, 50 bis 499 undüber 500 ein riesiges Potenzial, insbesondere bei denkleinen Betrieben, gibt, das noch nicht entdeckt wordenist. Dabei handelt es sich um das Potenzial der Verbund-ausbildung in kleinen Betrieben.
51 Prozent der Betriebe mit bis zu neun Beschäftigtenerfüllen die Ausbildungsvor aussetzungen im Betrieb.Aber im Verbund können zusätzlich 46 bis 47 Prozentder Betriebe diese V oraussetzungen erfüllen. Nur einsehr kleiner Teil der Betriebe wäre also weder theore-tisch noch praktisch in der Lage, auszubilden. Dieses Po-tenzial müssen wir ausschöpfen, wenn wir mehr Betriebein Ausbildung hineinbringen wollen und mehr betriebli-che Ausbildungschancen wollen; denn die Alternativewäre, alles überbetrieblich zu organisieren. Wir wollenaber, dass die Ausbildung in den Betrieben stattfindet.Deshalb ist das, was Sie, Frau Ministerin, jetzt aufden Weg gebracht haben, eine Hilfe. Das Programm„Kapital für Arbeit“ ist ja vor allen Dingen etwas fürkleine Betriebe. Auch die von Ihnen veranlasste Ausset-zung und Überprüfung der Ausbilder -Eignungsverord-nung sind eine Erleichterung für die kleinen Betriebe.Die Maßnahme, die Aufgaben der Lehrstellenentwick-lung aus den neuen Bundesländern auch auf die alten zuübertragen – das ist eine Schlüsselstelle –, wird geradedie kleinen Betriebe in die Ausbildungsverbünde hinein-bringen.Das sollten wir alle gemeinsam unterstützen. AuchSie von der Opposition haben hier die Chance, bewusst-seinsverändernd auf die kleinen Betriebe einzuwirkenund darauf hinzuweisen: Ausbildung kostet euch nichtunendlich viel Geld, sonder n ist eine Chance. Ihr habteine gesellschaftliche Brings chuld. Nur so kann dieWirtschaft in diesem Land wieder Vertrauen fassen. Dasist eine spezifische Anforder ung an eine Berufsausbil-dungsreform, bei der wir auch das Berufsbildungsgesetzberücksichtigen müssen und die wir gemeinsam angehensollten.Sie erlauben noch folgende ideologische, aber auchzum Nachdenken anregende Bemerkung: W enn mansich die Statistiken anschaut , aus denen hervorgeht, wieviele Betriebe in welchen Branchen ausbilden, dannstellt man fest, dass die Ausbildungsbereitschaft im Nah-rungs- und Genussmittel- sowie im Baubereich überpro-portional hoch ist. Im Baubereich wird faktisch am meis-ten ausgebildet. Ist das so, weil er durch eine Umlagegestört oder entlastet wird? Zumindest diese Fragemöchte ich in den Raum st ellen, bevor wir wieder zuideologischen Keilereien übergehen.
Herr Kollege, Ihre Redezeit ist bereits beendet.
Noch ein S chlussgedanke: Bei allem, was jetzt als
verbaler Schlagabtausch abläuft, müssen wir im Bundes-
tag für eine positive Stimmung zugunsten einer Berufs-
bildungsreform sorgen. Diese Reform darf nicht als stö-
rend empfunden werden. Entscheidend ist dabei auch,
wie wir darüber diskutieren und dass wir die Erwartun-
gen an diese Reform nicht zu hoch schrauben. Wir müs-
sen den Bund, die Länder, die Bundestagsfraktionen und
die Betriebe zur Zusammenarbeit motivieren. Dafür wer-
ben wir; denn das ist das W ichtigste. Das sollte es auch
für Sie sein, wenn Sie wieder einmal regieren sollten.
Herr Kollege, das ist doch ein schöner Schlusssatz.
Danke schön.
Ich schließe damit die Aussprache.Interfraktionell wird die Überweisung der V orlagenauf den Drucksachen 15/653, 15/587, 15/739 und 15/741
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Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmeran die in der T agesordnung aufgeführten Ausschüssevorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Das istder Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.Ich rufe die T agesordnungspunkte 17 a und 17 b so-wie die Zusatzpunkte 4 a und 4 b auf:17 a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Ab-kommen vom 31. Juli 2001 zwischen der Re-gierung der Bundesrepublik Deutschland undder Regierung des Königreiches Thailandüber den Seeverkehr– Drucksache 15/716 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
FinanzausschussAusschuss für Tourismusb) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Siebenten Gesetzeszur Änderung des Gemeindefinanzr eformge-setzes– Drucksache 15/510 –Überweisungsvorschlag:Finanzausschuss
InnenausschussAusschuss für Wirtschaft und ArbeitZP 4 Weitere Überweisungen im vereinfachten Ver-fahren
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten MariaEichhorn, Hannelore Roedel, Dr . Maria Böhmer,weiterer Abgeordneter und der Fraktion derCDU/CSUBenachteiligung von Frauen wirksam be-kämpfen – Konsequenzen ziehen aus demCEDAW-Bericht der Bundesregierung– Drucksache 15/740 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
InnenausschussRechtsausschussAusschuss für Menschenrechte und humanitäre HilfeAusschuss für Bildung, Forschung undTechnikfolgenabschätzungAusschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit undEntwicklungb) Beratung des Antrags der Abgeordneten LotharMark, Hans Büttner , DetlefDzembritzki, weiterer Abgeordneter und derFraktion der SPD sowie der Abgeordneten Hans-Christian Ströbele, Dr . Ludger Volmer, VolkerBeck , weiterer Abgeordneter und derFraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNENWiederbelebung des Friedensprozesses in Ko-lumbien– Drucksache 15/742 –Überweisungsvorschlag:Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre HilfeAusschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit undEntwicklungEs handelt sich um Überwe isungen im vereinfachtenVerfahren ohne Debatte.Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen andie in der T agesordnung aufgeführten Ausschüsse zuüberweisen. Der Gesetzentwurf auf Drucksache 15/510soll zusätzlich zur Mitberatung und gemäß § 96 der Ge-schäftsordnung an den Haushaltsausschuss überwiesenwerden. Sind Sie einverstanden? – Das scheint der Fallzu sein. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.Ich rufe Tagesordnungspunkt 18 b auf:Beratung der Beschlusse mpfehlung des Rechts-ausschusses
Übersicht 2über die dem Deutschen Bundestag zugeleitetenStreitsachen vor dem Bundesverfassungsgericht– Drucksache 15/656 –Es handelt sich um eine Beschlussfassung, zu derkeine Aussprache vorgesehen ist. Wer stimmt für dieseBeschlussempfehlung? – Gibt es Gegenstimmen? – Ent-haltungen? – Die Beschlusse mpfehlung ist einstimmigangenommen worden.Ich rufe den Zusatzpunkt 5 auf:Beratung der Beschlussempfehlung des Aus-
Änderung des Gesetzes zur Neur egelung desEnergiewirtschaftsrechts– Drucksachen 15/197, 15/432, 15/657, 15/712 –Berichterstattung:Abgeordneter Ludwig StieglerWird das W ort zur Berichterstattung gewünscht? –Wird das Wort zur Erklärung gewünscht? – W ir kom-men dann unmittelbar zur Abstimmung. Der V ermitt-lungsausschuss hat gemäß § 10 Abs. 3 Satz 1 seiner Ge-schäftsordnung beschlossen, dass im DeutschenBundestag über die Änderung gemeinsam abzustim-men ist. Wer stimmt für di e Beschlussempfehlung desVermittlungsausschusses auf Drucksache 15/712? – Ge-genprobe! – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlungist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und derCDU/CSU gegen die Stimmen der FDP angenommenworden.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 5 auf:Beratung der Unterrichtung durch den W ehrbe-auftragtenJahresbericht 2002
– Drucksache 15/500 –Überweisungsvorschlag:VerteidigungsausschussNach einer interfraktionelle n Vereinbarung sind fürdie Aussprache eineinviertel Stunden vor gesehen. – Ichhöre keinen Widerspruch. Dann ist auch so beschlossen.
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Vizepräsidentin Dr. Antje VollmerIch eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächstder Wehrbeauftragte des Deutschen Bundestages,Dr. Willfried Penner. Herzlich willkommen!Dr. Willfried Penner, Wehrbeauftragter des Deut-schen Bundestages:Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich be-danke mich sehr für den fre undlichen Gruß, Frau Präsi-dentin.Heute ist Veränderung das zentrale Thema der Bun-deswehr, ohne dass die seit langem bekannten sonstigenAngelegenheiten des militärischen Alltags damit bewäl-tigt seien. Veränderung, das bedeutet eine zunehmendeAnzahl von Einsätzen sowie eine zunehmend abstrakterwerdende Notwendigkeit der Landes- und Bündnisver-teidigung. Dies hat Auswirkungen auf die Soldaten undderen Familien und infolgedessen auf die Quantität undBeschaffenheit der Eingaben und des mündlichen V or-bringens. Es kommt nicht von ungefähr , dass die Einga-ben aus dem Einsatz mit mehr als 100 Prozent diehöchste Steigerungsquote gegenüber dem V orjahr auf-weisen. In konkreten Zahl en: Es gab 1 150 Vorgängedieser Art in 2002 gegenüber 570 Eingaben in 2001.Der Einsatz ist für immer mehr Soldaten zum Be-standteil des Dienstes geworden. Diese Einsätze funktio-nieren teilweise vorbildlich; aber es gibt unübersehbarSchwächen, Missstände und Fehler.Ein Beispiel: Allein zum Auslandsverwendungszu-schlag haben mich 450 Eingaben erreicht. Einmal wurdeeine Herabstufung generell beklagt, ein anderes Malwurden Umstände zur Ermittlung der Herabstufung kri-tisiert. In anderen Fällen wurden Einwände gegen einezu geringe Einstufung vor gebracht. Es wurde außerdemkritisiert, dass eine Herabs tufung nach einer Stichtags-regelung für Soldaten eines im Einsatz befindlichenKontingents – trotz eines gegebenen Ministerwortes –vorgenommen wurde.Ein weiteres Beispiel: Immer wieder gibt es V ersor-gungsfragen an die Adress e des Dienstherrn für den„Fall des Falles“. Nicht zu ver gessen sind Probleme imZusammenhang mit der einges chränkten „Einsatztaug-lichkeit“ des deutschen No rmen- und V orschriftenge-flechts. In einem Fall wurden Soldaten bei einem Aus-landseinsatz im Gebir ge die leichten Bergstiefel nichtausgegeben, weil diese nach dem Ausstattungssoll nurfür die Gebirgsjäger vorgesehen waren.
Natürlich gibt es auch Ei ngaben, die mit der Proble-matik der sechsmonatigen Einsatzdauer – sie hat be-sonders herbe Auswirkungen für junge Familien – zu tunhaben. Die Eingaben aus dem Einsatz haben übrigensnicht nur Bedingungen des Einsatzes selbst zum Gegen-stand, sondern es geht auch um die künftige Verwendungim Inland, um Konsequenz en aus der Auflösung derStammeinheit, um Umzugskosten, um Fragen zu Reich-weite und Umfang des V ersicherungsschutzes, also umAlltagsfragen, usw.Ein Problem, für das inzwischen eine Lösung gefun-den wurde, ist der mangelhafte Zustand des Feldlaza-retts Rajlovac: Der vom Bundesministerium der Vertei-digung favorisierte Neubau kann nun endlich beginnen;das Bundesministerium der Finanzen hat dafür endlichgrünes Licht gegeben – und das ist gut so.
Die Eingaben bezogen auf Bundeswehr im Inland ha-ben – neben dem Flickenteppich völlig unterschiedlicherProblemfelder – einen herausragenden Schwerpunkt: diePersonalangelegenheiten.Gewiss hat das auch mit den Auswirkungen des At-traktivitätsprogramms zu tun, etwa damit, dass dieKompaniechefs und Einheits führer nunmehr nach A 12und nicht mehr wie bisher nach A 11 besoldet werden,was diejenigen zu Zweifeln an der Gerechtigkeit heraus-forderte, die sich schon au f einem A-12-Dienstpostenbewährt hatten und sich in Folgeverwendungen weitermit A 11 zufrieden geben mussten. Man kann den Är gereines Hauptmanns schon verstehen, wenn sein Nachfol-ger auf dem Dienstposten, te ilweise im Dienstgrad nie-driger und regelmäßig an Lebensjahren jünger , Nutznie-ßer der Neuregelung wird und damit an ihm vorbeizieht.Natürlich beschwert sich der Begünstigte nicht.Auch zur Einführung der neuen Laufbahn der Fach-unteroffiziere hat es nicht wenige kritische Stimmen ge-geben. Fest steht, das Interesse an dieser neuen Laufbahnist groß. Die hohe Anzahl der Bewerber beweist dies: ImJahre 2001 gab es im Bereich der Unterof fiziere undMannschaften rund 33 000 Bewerber bei den Zentren fürNachwuchsgewinnung; im Jahre 2002, also nach Ein-führung der neuen Laufbahn, waren es rund 46 000. Dasbedeutet aber nicht, dass die „alten“ Unteroffiziere nichtihre Schwierigkeiten mit den neuen Möglichkeiten hät-ten. Ihnen fällt es schwer , die „neuen“ Kameraden alsgleichwertig zu akzeptieren, weil sie deren militärischeQualitäten bezweifeln und sich gegenüber den „Neuen“zurückgesetzt fühlen.Überhaupt lassen Unteroffiziere im unmittelbaren Ge-spräch zunehmend Verdruss, Resignation und beruflicheUnzufriedenheit erkennen. Dies bezieht sich nicht alleinauf die geläufigen Probleme des militärischen Alltagswie etwa die W underlichkeiten der Militärbürokratie.Die stärker werdende Bede utung der Bundeswehr alsEinsatzarmee wirkt sich zunehmend zulasten der Solda-ten im Inland aus. Mehrf achvertretungen können dieFolge sein und sind die Folge. Ausbilder fehlen, worun-ter die Ausbildung leiden ka nn. Qualitativ hochwertigesGerät wird im Einsatz benö tigt und die Ersatzteillagewird nach wie vor als nicht zufriedenstellend geschildert.Es ist ja auch nicht motivierend, wenn ein Fahrzeug we-gen Fehlens eines Dichtungsr ings, den man für 50 Centüberall kaufen kann, wochen lang stillsteht und zugleichein weiteres Kraftfahrzeug abgezogen wird. Bisweilenaber – auch dies ist wahr – lässt sich der Eindruck nichtvon der Hand weisen, dass ge rade bei den Soldaten, diesich besonders kritisch ä ußern, falsche V orstellungenüber berufliche Chancen au f dem zivilen Arbeitsmarktvorherrschen.
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. April 2003 3057
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Wehrbeauftragter Dr. Willfried PennerAuch folgender Punkt gehört zum Thema Personalan-gelegenheiten und war für die Soldaten wichtig: die ge-setzlich eröffnete Möglichkeit des vorzeitigen Ausschei-dens aus der Bundeswehr für insgesamt 3 000 Soldatender Jahrgänge 1956 und älte r bis zum Ende des Jahres2006. Rund 5 800 Soldaten waren bisher daran interes-siert. Sie waren teilweise enttäuscht, weil sie nicht in Be-tracht kamen. Das dienstliche Interesse am Abbau derPersonalüberhänge ist allein ausschlaggebend dafür, objemand in Betracht kommt od er nicht. Die hohe Anzahlder vor der üblichen Zeit Ausscheidungswilligen ist al-lerdings als Indikator im Zusammenhang mit Berufszu-friedenheit bemerkenswert.Frau Präsidentin, meine Damen und Herren, die Qua-lität des Sanitätswesens ist gewiss auch für die Berufs-zufriedenheit maßgeblich. Sie nimmt Schaden, wennoperative Eingriffe in den Bundeswehrkrankenhäusernnicht stattfinden können, we il Chirurgen, Anästhesistenund Orthopäden fehlen, da sie im Einsatz unabkömmlichsind. Noch eines muss ich be richten: Tagesantrittsstär-ken zwischen 40 und 60 Prozent sind für T ruppenärztekeine Seltenheit. Jüngst ist mir sogar von einer Tagesan-trittsstärke von nur 16 Prozent berichtet worden. Damitsind Personalprobleme im Bereich der Sanitätsof fizierenicht abschließend aufgezählt. Die Zahl der Berufsbe-werber ist weiterhin rückläufig. Auf eine Stelle kommenzwei geeignete Bewerber; die Möglichkeiten, Seitenein-steiger zu gewinnen, sind eher mäßig.Frauen in der Bundeswehr , das ist inzwischen einKapitel des militärischen Alltags. Mit anderen W orten:Sie gehören einfach dazu. Dies spiegelt sich auch in denGesprächen und Eingaben wider und unterscheidet sichvielfach nicht vom Vorbringen ihrer männlichen Kame-raden. Das reicht von einer zu langen Bearbeitungsdauervon Anträgen bis hin zu unerfüllten V ersetzungswün-schen.Aber auch dies ist wahr: Die Zahl der Verstöße gegendie sexuelle Selbstbestimmung von weiblichen Soldatenist angestiegen. Im Berichtsjahr waren es 57, im Jahre2001 waren es 20. Regelmäßig ging es um plumpe An-mache oder noch plumpere V erbalerotik, ergänzt durchBetatschen und andere körperliche Kontakte. Durchwegpasst die Bundeswehr auf und reagiert richtig, was gele-gentliche Schwächen nicht ausschließt.Ein Beispiel für eine solche Schwäche in der Reaktionsei hier berichtet: Ein Oberleutnant zur See betrat instark alkoholisiertem Zustand die Stube einer schlafen-den Soldatin und legte sich nackt neben sie ins Bett. Alssie aufwachte, versuchte er sie zu küssen; auf ihre Auf-forderung hin verließ er die Stube. Gegen den Soldatenwurde ein Verweis verhängt. Ich meine, es geht nicht,dass eine solche Angelegenheit gewissermaßen untervier Augen beigelegt wird.
Eines schätzen die Soldaten im Übrigen ganz und garnicht: ein angestrengtes, ja angespanntes Verhalten vonVorgesetzten im Umgang mit ihnen bis hin zur unge-wöhnlichen Wortwahl, und dies nur , um Fehler zu ver-meiden.Frau Präsidentin, meine Da men und Herren, es siehtso aus, als werde die Phase der Veränderungen in derBundeswehr noch Jahre dauern. Jüngsten Äußerungendes Bundesministers der V erteidigung zufolge werdendie diesbezüglichen Prozesse der Anpassung und Um-steuerung bis weit in das nächste Jahrzehnt reichen unddas sind möglicherweise we itere Standortschließungen,weniger Panzer, weniger Tiger, Außerdienstnahme vonWaffensystemen der Luftwaffe, Übernahme von Luftge-rät und Auftrag von Marinefliegern durch die Luftwaf fesowie Außerdienstnahme von Schnellbooten, um die Ar-mee im Einsatz so gut wie möglich ausstatten zu können.Meine Damen und Herren, es besteht Veranlassung,darauf hinzuweisen, dass solche Veränderungen nur grei-fen können, wenn die im engeren Sinne Betrof fenen,nämlich die Soldaten, auch mittun und sie nicht nur übersich ergehen lassen. Die Parlamentsarmee Bundeswehrmuss gerade insoweit erfahr en, dass sie tatsächlich eineAngelegenheit des Parlaments ist.
Vielleicht gehört dazu auch die große sicherheitspoli-tische Debatte über die Rolle des vereinigten Deutsch-lands in der Welt. Sie hätte nach der Wende stattfindenmüssen und ist bis heute ausgeblieben. Nach meiner Ein-schätzung ist sie für die Justierung der Bundeswehr unddie Orientierung der Soldaten weiterhin geboten.
Es ist und bleibt politisch unbefriedigend, dass das Bun-desverfassungsgericht und nicht das Parlament oder dieBundesregierung die entsch eidenden diesbezüglichenpolitischen Markierungen gesetzt hat.
Im Übrigen bin und bleibe ich der Überzeugung, dassgerade eine Bundeswehr im Einsatz eine nach Ost undWest unterschiedliche Besoldung nicht verträgt.
Frau Präsidentin, meine Damen und Herren, eine ab-schließende Bemerkung: Di e Einsätze mit Beteiligungdeutscher Soldaten sind noch gefährlicher geworden, alssie es ohnehin schon waren, auch wenn die Bundeswehrund ihre Soldaten nicht am Krieg im Irak teilnehmen.Das ist Herausforderung und Verpflichtung für politischeVerantwortung. Unbeschadet politischer Meinungsunter-schiede und über die Parteigr enzen hinweg müssen ge-rade Soldaten im Einsatz wissen und darauf vertrauenkönnen, dass ihr Dienst po litisch und gesellschaftlichganz breit getragen wird.Schönen Dank fürs Zuhören.
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3058 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. April 2003
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Lieber Herr Penner, wir haben nicht nur eine Parla-
mentsarmee, sondern auch einen Parlamentsbeauftrag-
ten. Sie tun Ihre Arbeit fü r uns alle, für das Parlament.
Dafür und auch für Ihren Be richt möchte ich mich be-
danken.
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Anita Schäfer.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Herr Wehrbeauftragter Dr. Penner, Sie haben in IhrerRede und in Ihrem Jahresbericht 2002 auf zahlreiche De-fizite in der Bundeswehr hi ngewiesen. Das liegt in derNatur eines Mängelberichts. Für Ihren Bericht danke ichIhnen auch im Namen meiner Fraktion. Ebenso gilt un-ser Dank natürlich auch Ihren Mitarbeitern und Mitar-beiterinnen.Gemessen an der Truppenstärke der Bundeswehr sinddie über 6 400 Eingaben ein Maximum. Man kann auchsagen: Noch nie hatten so wenige Soldaten – die Bun-deswehr hat den niedrigsten Personalbestand seit demJahr 1961 – so viele Sorgen.Eine Ursache, wenn nicht die Ursache der hohen Zahlder Eingaben liegt gerade in der T ruppenstärke. Nochnie hatten so wenige Soldaten so viele Aufträge zu be-wältigen. Auslandseinsätze sind Normalität gewordenund die Aufgaben in der He imat werden nicht weniger;ganz im Gegenteil. Ich denke nur an die Bewachungamerikanischer Liegenschaften. Bundeswehr im Einsatzkann aber nur gut gehen, wenn zu Hause alles in Ord-nung ist.Was ist nun der Kern des 44. Berichts des Wehrbeauf-tragten? Es ist der dramatische Abstand zwischen demrot-grünen Anspruch und der W irklichkeit. Diese Bun-desregierung hat einfach ke in Gesamtkonzept, weder inder Verteidigung, noch in anderen Politikbereichen. Wirbrauchen endlich wieder eine Sicherheitspolitik nachBedrohungslage und nicht nach Kassenlage.
Herr Dr. Penner, leider unterlassen S ie es, aus denElementen Ihres Berichts ein Gesamtbild zu zeichnen.Viele Eingaben liegen genau in diesem Problem begrün-det. Aber Sie scheuen sich, es deutlich aufzuzeigen. InIhrer Pressekonferenz anlässlich der Vorstellung des Be-richts neulich ging Ihre Kritik an der Bundesregierungweiter. Zu Recht forderten Sie Berechenbarkeit und Füh-rungsverantwortung von der politischen Führung derBundeswehr. Hier liegt der Hund begraben: Die Mehr-zahl der Soldatinnen und Soldaten fühlt sich einer unbe-rechenbaren und sprunghaften politischen Führung aus-gesetzt. Das Gefühl, verantwortungsvoll und weitsichtiggeführt zu werden, fehlt vielen Soldaten. W oher soll esauch kommen, wenn nur mit kurz- und mittelfristigenAktionen regiert wird? Reform über Reform verunsi-chert die Truppe.Genau aus diesem Klima ergeben sich die handfestenGründe, die zu den vielen Eingaben an den W ehrbeauf-tragten führen. An drei Themen zeigt sich das. Ich nenneerstens das Attraktivitätsprogramm, zweitens die Nach-wuchswerbung und drittens die Fürsor ge des Dienst-herrn.Liebe Kolleginnen und Kollegen, was den erstenPunkt angeht, kann ich nur empfehlen: Zu Risiken undNebenwirkungen des Attraktivitätsprogramms fragenSie Ihren Wehrbeauftragten. – Jede dritte Eingabe be-trifft den Bereich Personalführung. Viele der groß an-gekündigten Maßnahmen hatten nur einen kurzfristigenEffekt. Wer zur richtigen Zeit am richtigen Ort war, hatteGlück. Viele andere wurden benachteiligt. Die an sichpositive Hebung der Stellen für Kompaniechefs nachA 12 hat erhebliche Probleme mit Folgeverwendungengebracht. Dazu ein groteskes Beispiel: Ein Oberleutnant,Zugführer und Vermessungsingenieur, hat zweimal dieBeförderung zum Batteriechef und damit nach A 12 aus-geschlagen, weil er um seine Folgeverwendung nachA 11 im Militärgeographischen Dienst fürchtete; die Er-eignisse gaben ihm Recht. Das Attraktivitätsprogrammhatte also zur Folge, dass Leistungsträger durch dieÜbernahme von Führungsverantwortung Nachteile er-fahren konnten.Andere Offiziere und Feldwebel mussten erleben,dass deutlich jüngere Soldaten an ihnen vorbeizogen undrasant befördert wurden. Diesen Petenten geht es weni-ger um materielle Nachteile als vielmehr um ihre Aner-kennung und Selbstachtung. Ein Petent merkt zu Rechtan, dass solche Ungleichbe handlungen Unruhe bis aufKompanieebene bringen und man sich dann die Fragestellt: Was habe ich falsch gemacht?Fachunteroffiziere mögen ja helfen, personelle Lü-cken zu schließen. Es muss aber auch gewährleistet sein,dass die Seiteneinsteiger mit höherem Dienstgrad denallgemeinen Anforderungen entsprechen. Gerade diemangelnde Fähigkeit, Menschen zu führen, erntet aberviele kritische Stimmen aus der Truppe. Aus Gesprächenmit jungen Kompaniechefs sind mir deren Sor gen be-kannt, dass Fachunterof fiziere nicht überzeugen, dassdie Truppe sie nicht anerkennt. Es ist beklagenswert,wenn der Dienstgrad nur noch etwas über die Besol-dungsgruppe, aber nichts me hr über die Fähigkeit zumFühren von Soldaten aussagt. Führungskompetenz istimmer noch das, was die So ldaten am meisten brauchenund schätzen.Gleichzeitig fühlen sich ab er altgediente Unterof fi-ziere und Feldwebel degradiert, weil sie oft die Aufga-ben von qualifizierten Ma nnschaftsdienstgraden über-nehmen müssen. Ob sich diese Probleme auf eineÜbergangsphase beschränken lassen, bleibt zu bezwei-feln. Das Attraktivitätsprogramm hat zu viele Nebenwir-kungen. Die militärische Ausbildung der Fachdienst-unteroffiziere muss deutlich verbessert werden. DieFolgeverwendungen der Kompaniechefs müssen ange-passt werden.Ich komme zweitens zur Nachwuchswerbung derBundeswehr. Wie sehr die Nachwuchsgewinnung stockt,zeigt das weiterhin rückläufige Bewerberaufkommen für
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Offizierstellen, ganz besonders für Sanitätsof fizierstel-len. Wie nachlässig man an die Nachwuchswerbungherangeht, zeigen zum Beispi el Fälle, in denen Zeitsol-daten bei der Bewerbung keine V orstellung vermitteltbekommen, was es heißt, Sold at zu sein. Das V erteidi-gungsministerium muss hier kräftig nachbessern und denBewerbern mehr Informationen geben. Bei allen Äuße-rungen, angefangen bei dene n des Ministers, muss klarwerden, dass Soldat kein Beruf wie jeder andere ist. Eineinheitliches soldatisches Berufsbild muss vermitteltwerden.
Junge Menschen vermissen daher logischerweise eineklare Perspektive bei der Bundeswehr. Es darf nicht vor-kommen, dass Bewerbern nichts über die allgemeineGrundausbildung gesagt wird. Aus den Petitionen an denWehrbeauftragten ergibt sich deutlich die Erkenntnis:Auf Nachwuchswerbung legt der Verteidigungsministernicht seinen Schwerpunkt. Ich fordere daher mehr En-gagement von Minister Struck in dieser Sache. Ansons-ten hat die Bundesregierung fü r die Einsätze bald keineSoldaten mehr.An der Nachwuchswerbung wird aber noch etwasdeutlich: Die rot-grüne Regier ung schafft es nicht, dasAnsehen des Soldatenberufs unter Jugendlichen zu stei-gern; vermutlich will sie das auch gar nicht. W er eineArmee in den Einsatz schickt, muss auch hinter ihr ste-hen. Ich glaube, viele Jugendliche spüren, dass diese Re-gierung zwar die Bundeswehr braucht, sie aber nichtschätzt.
Die Worte Spardiktat und Unterfinanzierung sagen vielaus. Neben den Verdienstmöglichkeiten ist aber das An-sehen eines Berufs für Juge ndliche der wichtigste Ent-scheidungsfaktor.Heute dominiert aber eine Ohne-mich-Einstellung dieSicht der Jugend auf die Bundeswehr . Das vermeintlichhohe Ansehen in Meinungs umfragen geht mit weit ge-hendem Desinteresse einher, wie es der Truppe wirklichgeht. Viele Soldaten meinen auch, ein Desinteresse derPolitik zu spüren. Verteidigungspolitik wird ausschließ-lich als Sparpolitik empfunden, ausgetragen auf dem Rü-cken der Soldaten. Die polit ische Symbolik sowie Sinnund Zweck der Einsätze bleiben nachrangig.Viele Eingaben an den Wehrbeauftragten zeigen, dassdie Grenze der materiellen wie auch der ideellen Belast-barkeit der Streitkräfte erreicht ist. Die starke Belastungim Dienst dringt auch nach außen und wird von der Ge-sellschaft wahrgenommen. Damit bin ich bei meinemdritten Punkt, der Fürsorge des Dienstherrn angesichtsder starken Belastungen. Fürsor ge muss als ganzheitli-che Aufgabe gesehen werden, als der wichtigste Faktoreines gegenseitigen Treueverhältnisses.
Fürsorge zeigt sich in Folgendem: in der materiellenAusstattung, in der Or ganisation des Dienstes, in derRechtsklarheit im Dienst, in der sozialen Absicherungund besonders darin, dass si ch der Dienstherr um diemenschlichen Probleme der Soldatinnen und Soldatenkümmert.Die angesprochene Unterfinanzierung der Bundes-wehr hat materielle Defizite entstehen lassen. Mittler-weile sind die Kasernen in den alten Bundesländern oftin einem schlechteren Zustand als die Kasernen in denneuen Ländern. Zahlreiche Eingaben beklagen Schädenund Schimmelbefall in den Unterkünften. ÜbertriebeneSparmaßnahmen bei den Heizkosten haben neue Schä-den verursacht. Hier wird Sparen teuer und für dieTruppe nicht mehr nachvollziehbar.Damit ist der vorliegende Be richt auch eine nachhal-tige Aufforderung an die Bundesregierung, ihren Solda-ten eine menschenwürdige Unterbringung bereitzustel-len.Das gilt auch für die Schiffe und Boote der Marine. Intropischen Gewässern eing esetzte Einheiten könnennicht ohne Klimaanlagen operieren. Starker Schimmel-befall in den Kajüten darf den Besatzungen nicht zuge-mutet werden.Wenn aus Kostengründen zu wenige gepanzerte Fahr-zeuge im Einsatzland sind, dann werden die eingesetztenSoldaten unnötigen Gefahren ausgesetzt. Angesichts derDiskussion über einen Einsatz im Irak warne ich dieBundesregierung aber, hierfür geschützte Fahrzeuge ausanderen Einsätzen abzuziehen.Einsätze müssen und können sich nur an den vorhan-denen Ressourcen ausrichten. Das gilt im Besonderenfür die persönliche Ausstattung der Soldaten.Die Versorgung mit Kleidung ist ein weiterer Punkt,der die Stiefmütterlichkeit belegt, mit der Rot-Grün un-sere Bundeswehr finanziert. W o, wie in meinem W ahl-kreis, kein Geld bereitge stellt wird, um die Soldatenrechtzeitig und ausreichend auszustatten, liegt es auf derHand, dass man von Ausstattungsherstellern die Produk-tion schon mal zum Selbstko stenpreis verlangt. Das,meine Damen und Herren, ist nun wirklich die Bankrott-erklärung bezüglich der rot- grünen Fürsorge für unsereSoldaten.
Eine Vielzahl von Eingaben an den Wehrbeauftragtenrichtet sich gegen die Dauer des Auslandseinsatzes vonsechs Monaten. Die Folgen der Trennung von der Fami-lie oder dem Lebenspartner sind schwerwiegend. V ieleBeziehungen geraten in Probleme. Mir persönlich ist ein Fallbekannt, in dem der kurzfristig befohlene Anschlusse insatzim Ausland nachweislich zu einer Frühgeburt bei derEhefrau des Soldaten geführt hat. Die mangelnde Ko-ordination von Auslandseinsätzen lässt das absolut not-wendige Mindestmaß an Fürs orge des Dienstherrn ver-missen.
So ist es auch kein W under, dass immer mehr Solda-tenehen scheitern. Die dien stlichen Belastungen haben
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für viele Zeit- und Berufsso ldaten ein solches Ausmaßerreicht, dass sie vor der Fr age Dienst oder Familie ste-hen. Ich fordere daher den B undesminister der Verteidi-gung auf, mit allen Mitteln zu verhindern, dass eine hoheScheidungsquote zum Berufs bild des Soldaten gehört.Der Soldat im Auslandseins atz hat einen existenziellenAnspruch auf Familienbetreuung. Ein Soldat, der sichpermanent Sorgen um P artner oder Familie machenmuss, ist nur teilweise einsatzfähig.
Mobilität gehört zwar zum Beruf des Soldaten, dieStehzeiten im Ausland müssen aber besser or ganisiertwerden. Sie müssen verkürzt werden. Wer die Dauer desEinsatzes als nebensächlich herunterspielt, verharmlostdas Problem. Für viele jung e Soldaten ist nach demWegfall der traditionellen Abschreckung der sechsmona-tige Einsatz die moderne Form der Abschreckung.Eine weitere organisatorische Frage ist Teilzeitarbeitfür Soldatinnen und Soldaten. Neue, innovative Arbeits-zeitmodelle können Familie und Beruf besser vereinbarmachen. Dienstposten in St abs- und Lehrverwendungenbieten sich an, aber auch die Bereiche Nachwuchswer-bung, Öffentlichkeitsarbeit oder Heimatschutz.Zur Fürsorge des Dienstherrn gehört auch die Rechts-klarheit. Es darf nicht sein, dass Soldaten ohne klareRechtsgrundlage in den Eins atz gehen. Es ist geradezubeschämend für eine Regierung, wenn sie diese trotz al-ler sich aufwerfenden Fragen stur verweigert. Ganz aktu-ell ist das Problem der A WACS-Besatzungen. Aber esgibt auch zahlreiche andere Beispiele. So können betrof-fene Soldaten zum Beispiel nicht nachvollziehen, dassdie Novelle des MAD-Gesetzes, also ihre Rechtssicher-heit, auf dem Altar des rot-grünen Koalitionsfriedens ge-opfert wurde.In diesem Zusammenhang ist auch die Anpassung desSoldatenversorgungsgesetzes kein Privileg, es ist viel-mehr eine zwingende Notw endigkeit. Die Bundesregie-rung kann nicht Menschen nach Afghanistan in einenlebensgefährlichen Einsatz schicken und die V ersor-gungssicherung an den Gefahren einer deutschen Amts-stube ausrichten. Wenn Tod und Verwundung im Ein-satzland fast immer zum Rechtsstreit führen, dannverliert die Truppe den letzten Rest an Vertrauen in diepolitische Führung.Zum Schluss noch ein Wort zu den Reservisten. Einga-ben zeigen, dass sich viele Reservisten in der Schwebefühlen, was ihre militärisc he Zukunft angeht. Die langeangekündigte Reservistenkonzeption steht noch immeraus. Verbunden mit dem Mangel an Personal und Mate-rial leiden so Ausbildung und Förderung. Gerade imHinblick auf den Heimatschu tz sind aber Reservistenwichtig. Ich sage: ohne Reservisten kein Heimatschutz.
Wie dringend diese Frage für unser Land und unsereGesellschaft geworden ist, muss ich hier wohl keinemmehr erklären. Das, lieber Herr Minister Struck, machtletzten Endes auch deutlich , dass die derzeitigen Plan-spiele der Koalition, die Wehrpflicht gegebenenfalls auf-zugeben, nicht von Vorteil für das Land sind.
Ich komme zum Schluss: Der 44. Bericht des W ehr-beauftragten hat deutlich ge zeigt, dass die Kluft zwi-schen dem politischem Anspruch und der Lage in derTruppe immer größer wird . Diese Regierung hat fastnichts unternommen, um die Lage der Streitkräfte zuverbessern. Neben der dramatischen Unterfinanzierungsteht eine zunehmende Di stanz zwischen Bundeswehrund Politik. Die Soldatinnen und Soldaten spüren, dassdiese Regierung sie zwar braucht, aber nicht wirklichachtet.Der diesjährige Bericht de s Wehrbeauftragten lässtnur einen Schluss zu: Herr Bundeskanzler, Herr Verteidi-gungsminister,
kümmern Sie sich mehr um die Bundeswehr . – DerKanzler braucht nicht da zu sein; der Bundesminister derVerteidigung ist wichtig. – Sorgen Sie für eine den Auf-trägen angemessene Finanzierung und Organisation.Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
Ich erteile das W ort dem Parlamentarischen Staats-
sekretär Walter Kolbow.
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Herr Präsident! Liebe Ko lleginnen und Kollegen!Herr Wehrbeauftragter, zunächst darf ich für die Exeku-tive Ihnen, Herr Dr . Penner, und Ihren Mitarbeiterinnenund Mitarbeitern für Ihren umfassenden Bericht herzlichdanken. Dieser dritte in Ihre r Amtszeit erstellte Berichtzeigt: Sie haben wieder be währt über die Grundrechteder Soldatinnen und Soldaten und die Beachtung derGrundsätze der inneren Führung gewacht.Sie haben betont, dass Ihr Bericht kein Zustandsbe-richt der Bundeswehr, sondern auch, wie immer in denvergangenen Jahren, ein Mängelbericht ist. Er ist natür-lich eine sehr wertvolle Mo mentaufnahme. Er hat sichmit den Sorgen und dem Ärger unserer Soldatinnen undSoldaten, aber auch mit den Schwächen und Stärken desSystems der Bundeswehr zu beschäftigen. Die Einlas-sungen der höchstgeschätz ten Kollegin Schäfer habengezeigt, dass man, wenn einem dieser Bericht nichtpasst, die Dinge natürlich noch schlechter reden kann,als sie im Bericht des W ehrbeauftragten beschriebensind.
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Parl. Staatssekretär Walter KolbowMeine Damen und Herren, für uns im Bundesministe-rium der Verteidigung ist der Jahresbericht des W ehrbe-auftragten wieder eine bedeutsame Hilfe und Anregung.Ich freue mich darüber und danke dem Wehrbeauftragtendafür, dass er auch positive Seiten herausgestellt hat. Erhat im Bericht auf die überra genden Leistungen bei derBewältigung der Hochwasserkatastrophe an Elbe undDonau hingewiesen und daraus sehr zu Recht eine her-vorragende Akzeptanz der Institution Bundeswehr in derGesellschaft und auch im Ausland abgeleitet. FrauSchäfer, wir brauchen und schätzen die Soldatinnen undSoldaten. Das gilt nicht nur für die deutsche Gesell-schaft, sondern natürlich auch für die, die für sie verant-wortlich sind, für die politische Leitung und die militäri-sche Führung. Ich lade Sie herzlich ein zur V erleihungder Verdienstorden an die Soldatinnen und Soldaten auf-grund ihrer hervorragenden Leistungen bei der Flutkata-strophe.Sie werden im weiteren Verlauf meiner Ausführungensicherlich konstatieren k önnen, dass wir die Soldatennicht nur schätzen, sondern auch etwas für sie tun undaus den aufgezeigten Mängeln Konsequenzen ziehen.Darauf haben sie, die Soldatinnen und Soldaten, einenAnspruch, ebenso Sie im Parlament und natürlich auchder Herr Wehrbeauftragte, der für Sie Kontrollorgan ist.
Jetzt zu den kritischen Anmerkungen des HerrnWehrbeauftragten: Die im Berichtszeitraum sehr hoheZahl der Eingaben beweist, dass die Soldatinnen undSoldaten sich neben der laufenden Umstrukturierungin besonderem Maße auch der Herausforderung ausge-setzt sehen, die sich aus den umfangreichen Auslands-einsätzen der Bundeswehr ergibt.Die Auslandseinsätze stellen in der Tat eine enorme or-ganisatorische, personelle und logistische Herausforde-rung dar. Dies belastet die Soldatinnen und Soldaten so-wie deren Angehörige aufs Äußerste. W egen diesergroßen Belastung ist die gewachsene Zahl der Eingaben,die im Zusammenhang mit den Auslandseinsätzen stehen,zu erklären. Am meisten wurde die Höhe des Auslands-verwendungszuschlages und die Frage der Stehzeit imEinsatz thematisiert. Es wurden aber auch – zu Recht –Fragen der Betreuung sowi e des Soldatenversor gungs-rechts angesprochen. Genau dies sind auch aus Sicht desVerteidigungsministeriums die Themenbereiche, die derbesonderen Beachtung bedürfen und bei denen es gilt, fürweitere Verbesserungen Sorge zu tragen.Ich will kurz fünf Schwerpunkte ansprechen.Erstens: Familienbetreuung. Der Familienbetreuungkommt eine große Bedeutung zu. Deshalb hat der Bun-desminister der Verteidigung im ver gangenen Jahr dieersten zehn Familienbetreuungszentren mit hauptamtli-chem Personal ausgestattet und damit für eine weiterverbesserte Betreuung der Soldatinnen und SoldatenSorge getragen. Unsere Absicht ist – das wissen Sie –,31 Familienbetreuungszentren mit hauptamtlichen Mit-arbeitern aufzubauen. Die positiven Rückmeldungen derTeilnehmenden im Einsatz und der betroffenen Familienmachen deutlich, dass die Familienbetreuungszentrenund -stellen ihre Aufgaben mit Verantwortungsbewusst-sein, mit fachlichem Können und Fingerspitzengefühlwahrnehmen. An diese Erfolge gilt es anzuknüpfen.Zweitens: Stehzeit im Einsatz. Die Initiativen imVerteidigungsausschuss unter anderem vonseiten derFDP-Fraktion haben dazu beigetragen, dass wir diesemThema eine große Beachtung schenken werden. W irwissen um die besondere Belastung der Soldatinnen undSoldaten. Sie sind auch von Ihnen, Frau KolleginSchäfer, dargelegt worden. Wir verhehlen keinesfalls, dasses derzeit eine Notwendigkeit für eine sechsmonatige Steh-zeit im Einsatz gibt, die sich aus dem operationellen Bedarfund der gegenwärtigen Struktur der Bundeswehr – wir wol-len sie zu einer Einsatzarmee umbauen – herleitet. Bei einerviermonatigen Stehzeit müsste der Einzelne im Durch-schnitt bereits nach 16 Monaten wieder zu einem Einsatzherangezogen werden. Verbunden mit der Entscheidungfür eine sechsmonatige Stehzeit wurde die Möglichkeitder Gewährung von drei W ochen Urlaub während desEinsatzes eröffnet. Zusätzlich wurde im Rahmen einesSplittingmodells die flexible Festsetzung der Stehzeit imEinsatz ermöglicht. Diese Maßnahmen sollen ab Junidieses Jahres im vollen Umfang erprobt werden.Drittens: Soldatenversorgungsgesetz und Aus-landsverwendungszuschlag. Es ist eine unserer Aufga-ben, in diesem Bereich ständig zu V erbesserungen zukommen. Dies tun wir, wie Sie aus den Diskussionen ge-rade im Verteidigungsausschuss wissen. Die einstimmigeund begrüßenswerte Entschließung des Verteidigungsaus-schusses, die Versorgungsleistungen bei Auslandseinsät-zen unverzüglich zu verbe ssern und auszubauen, ent-spricht auch den Anforderungen, die sich aus dem Berichtdes Wehrbeauftragten ergeben. Wir werden zu Regelun-gen beitragen, die besser als bisher den Gefahren im Ein-satz Rechnung tragen. Ich rufe Ihnen das Stichwort„Einsatzunfall“ in Erinnerung. Ein entsprechendes Kon-zept wird derzeit im Minister ium erarbeitet. Ziel ist es,durch Änderungen im Soldat enversorgungsgesetz unterder Überschrift „Einsatzversorgung“ Leistungsverbesse-rungen zu schaf fen. Unter anderem sollen die in be-stimmten Fällen bestehenden Unterschiede zwischen derVersorgung der Soldatinnen und Soldaten auf Zeit sowieder Soldatinnen und Soldaten, die freiwillig zusätzlichenWehrdienst leisten, und der so genannten qualifiziertenUnfallversorgung der Berufssoldatinnen und -soldatenausgeglichen werden.Viertens: attraktives Laufbahn- und Beförderungs-angebot. Dies ist für die künftige Stimmungslage in derTruppe – wer wollte das bestreiten – von erheblicher Be-deutung. Der Wehrbeauftragte beschreibt in seinem Be-richt sehr zutref fend, wie die Motivation durch ein at-traktives Laufbahn- und Beförderungsangebot bestimmtwird. Dem haben wir durch das AttraktivitätsprogrammRechnung getragen, dessen Nebenwirkungen nicht sodrastisch sind, wie Sie es mö glicherweise – das tun Siesonst nicht, Frau Kollegin – aus politischer Absicht dar-stellen.Denn wir haben hier spür bare Beförderungsmöglich-keiten eingeleitet, insbesondere auch bei den Feldwebel-dienstgraden. Sie wissen, dass wir durch die Bündelung
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Parl. Staatssekretär Walter Kolbowder Dienstposten etwas W ichtiges für die Vereinbarkeitvon Familie und Beruf getan haben. Es ist beabsichtigt,alle Oberfeldwebel, die im Zusammenhang mit den Be-förderungen zum Haupt- oder Stabsfeldwebel nach einerVerwendungsentscheidung vor dem 1. April 2002 imZuge der weiteren Bündelung noch nicht befördert wor-den sind, im Rahmen der Planstellen des Haushaltes2003 zu befördern.Fünftens: Soldatengleichstellungsgesetz und T eil-zeitarbeit. Die Erarbeitung eines Soldatengleichstel-lungsgesetzes und das Auslot en von Möglichkeiten fürTeilzeitarbeit treiben wir mit Nachdruck voran. Der Ent-wurf eines Soldatengleichstellungsgesetzes ist auf demWeg. Auch die Teilzeitarbeit ist Gegenstand ernsthafterinterministerieller Überlegungen mit dem Ziel, unver-züglich – Frau Kollegin Wohlleben, Sie haben sich sehrintensiv mit dieser Angelegenheit beschäftigt – eigeneund sehr konkrete Vorstellungen zur Umsetzung zu for-mulieren.Abschließend ist es mir ein Anliegen, nicht nur grund-sätzlich, sondern auch aus Sicht des Bundesministeriumsder Verteidigung auf die innere Führung einzugehen:Die innere Führung verharrt nicht im Stillstand, sondernfolgt den Forderungen des Generals de Maizière, dass –so hat auch der Herr W ehrbeauftragte heute seinen Be-richt eingeleitet – „der veränderte Auftrag der Bundes-wehr, aber auch das Lebensgefühl und die Lebenswirk-lichkeit richtungsweisend und bestimmend“ für dieAusgestaltung der inneren Führung sind.Das Leitbild von der Rolle des Staatsbürgers und derStaatsbürgerin in Uniform behält auch unter den Bedin-gungen einer Bundeswehr im Einsatz unverändert seinezentrale Bedeutung. Soldatinnen und Soldaten sind im-mer und gerade in diesen he rausfordernden und für siebesonders schwierigen Zeiten als politisch denkende undhandelnde Staatsbürgerinnen und Staatsbürger gefordert.In diesem Zusammenhang ist der herausragende Stel-lenwert des Wehrbeauftragten des Deutschen Bundesta-ges zu sehen. Diesen Stelle nwert haben wir in dem vor-liegenden Bericht nachvollzi ehen können. Er ist nichthoch genug einzuschätzen. W ir werden den Bericht aufder Grundlage der Debatten im V erteidigungsausschussund Ihrer heutigen Debattenbeiträge zeitgerecht mit unse-ren Ergebnissen versehen und können darüber im Deut-schen Bundestag noch vor der Sommerpause debattieren.Ich danke Ihnen für Ihre Geduld.
Das Wort hat die Abgeordnete Helga Daub, FDP-
Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!Herr Dr. Penner, seitdem die Bundeswehr in Auslands-einsätzen ist, und seit de n Katastropheneinsätzen wieseinerzeit beim Oderbruch oder im letzten Jahr bei derElbeflut ist die Bundeswehr wieder mehr in das Licht derÖffentlichkeit geraten – und damit natürlich auch derBericht des W ehrbeauftragten. Herr Dr . Penner, ichmöchte Ihnen und Ihren Mita rbeitern für die Erstellungdieses Berichts und auch für die Offenheit in der Bewer-tung danken.
Um es vorweg zu sagen: Wie ein roter Faden zieht essich durch den Bericht, da ss Soldaten, Soldatinnen undihre Familien bei aller Notwendigkeit zu ReformenPlanungssicherheit und Verlässlichkeit – auch bezüg-lich der Äußerungen des Bu ndeskanzlers und der Kabi-nettsmitglieder – wollen. W as sie nicht brauchen – wiralle übrigens nicht –, ist das System: Interview, Dementi,Gegeninterview, so wie kürzlich beim Thema Finanzaus-stattung geschehen.
Wenig hilfreich ist in diesem Zusammenhang auch dasInterview des Umweltministers zur Reform der Bundes-wehr usw.; es sei denn, er will das Dosenpfand am Hin-dukusch einführen.
Entgegen den Behauptungen mancher böser Zungen,beim Wehrbeauftragten werde sich nur ausgeheult undgeklagt, ohne zu leiden, sehen wir eine Bestandsauf-nahme, wie es um unsere Bu ndeswehr bestellt ist. Un-sere Soldaten sind leistung swillig und leistungsfähig.Wir können zu Recht stolz auf sie sein.
Umso wichtiger ist es, sich endlich den Problemen zustellen, die im Bericht des W ehrbeauftragten angespro-chen werden. Seit Bestehen des Amtes hat es gemessenan der T ruppenstärke noch ni e eine so hohe Zahl vonEingaben gegeben.
Es gibt viele Gründe dafür: Die Bundeswehr befindetsich im Wandel – das wurde schon öfter angesprochen –und dieser Wandel mutet den Soldaten viel zu. Auch des-halb ist es an der Zeit, dass die jetzige Reform angegan-gen wird, damit sich endlic h jeder darauf einstellenkann, was passieren wird, und damit nicht schon nachkurzer Zeit eine Reform der Reform notwendig wirdoder – wie es so schön heißt – nachjustiert werden muss.Das schulden wir unseren Soldaten.
Der Wehrbeauftragte hat natürlich Recht: Die Bun-deswehr ist ein Großtanker, der nicht beliebig zu manö-vrieren ist, aber man muss ihm endlich eine Richtung ge-ben. Bei den Auslandseinsätzen der Bundeswehr wirdder Handlungsbedarf besonders deutlich: Die Einsatz-dauer von sechs Monaten ist zu lang, die Abstände zwi-schen den Einsätzen sind zu kurz und der zugesagte
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Helga DaubMindestabstand von zwei Ja hren zwischen zwei Aus-landseinsätzen kann nicht eingehalten werden.Es gibt auch etliche Beschwerden über die Höhe derAuslandsverwendungszuschläge und über die man-gelnde Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Hier– wie in der Gesellschaft üb erhaupt – besteht auch beider Bundeswehr Handlungsbedarf; und das nicht erst seitdie Bundeswehr für Frauen geöffnet ist. Der Wehrbeauf-tragte kommt zu Recht zu dem Schluss, es dürfe auf kei-nen Fall eine Lage entstehe n, in der sich der einzelneSoldat zwischen den Belang en des Dienstherren einer-seits und seiner Familie andererseits entscheiden muss.Natürlich weiß der Zeit- und Berufssoldat, dass ermobil und flexibel sein muss . Dass dies jedoch nichtüberstrapaziert werden sollte , zeigt die im Bericht desWehrbeauftragten genannte Tendenz: Wegen der Dauerund der zunehmenden Häufi gkeit der Auslandseinsätzeverzichten viele Soldaten nach Ablauf der V erpflich-tungszeit auf eine W eiterverpflichtung, verkürzen dieDienstzeit oder verzichten auf eine Übernahme als Be-rufssoldat. Das ist ein alarmierendes Signal für die At-traktivität der Bundeswehr.
Hoch qualifizierte Kräfte gehen der Bundeswehr verlo-ren, Motivation im Übrigen auch. Das ist schlecht, wenndie Bundeswehr eine gute Zukunft haben soll.Den größten Anstieg der Eingaben verzeichnete derBereich Personalfragen. Besonders hervorzuheben istder Beförderungsstau der Unteroffiziersdienstgrade. Esist natürlich löblich und vernünftig, dass jungen Feldwe-beln und Oberfeldwebeln ein attraktiver Beförderungs-weg gezeigt wird; solange es der Qualifikation ent-spricht, versteht sich. Es müsste sich jedoch von selbsterklären, dass das nicht auf Kosten der Dienstälteren ge-schehen darf, die sich dann natürlich übergangen fühlen.Das ist sozialer Sprengstoff in der Truppe.Dass diese Kritik ernst zu nehmen ist, zeigen die3 000 Soldaten, die von der Vorruhestandsregelungschon Gebrauch gemacht haben. 7 000 weitere Anträgekonnten nicht berücksichtigt werden. Diese Zahlen las-sen eindeutige Rückschlüsse auf die Berufsunzufrieden-heit zu.
Es ist der frustrierte Beru fssoldat, der immer mehr anseiner Berufung zweifelt. Hier muss sich endlich etwasändern. Ich zitiere aus dem Bericht:Es sind die aktiven Soldaten, die durch ihre Einstel-lung zum Dienst die Attraktivität der Streitkräfte aus-machen. Zufriedene Soldaten sind gute Werbeträger.Das gilt insbesondere für die noch ausstehende An-gleichung der Ost- an die Westbesoldung. Mein KollegeGünther Nolting hat die Situation in der Debatte überden Einzelplan 14 sehr plas tisch geschildert. W ie sollman 100 Prozent Einsatz und 100 Prozent Motivationfür nur 90 Prozent des Soldes einfordern?
Im In- und Ausland erfülle n Soldaten aus den neuenBundesländern ihren Auftrag Seite an Seite mit ihrenKameradinnen und Kameraden aus den alten Bundeslän-dern. Die Ost-West-Besoldungsdifferenz ist durchnichts mehr gerechtfertigt. Sie wirkt demotivierend unddiskriminierend und ist dahe r schnellstmöglich abzu-schaffen. Für die Soldaten fordern wir dies vor 2007 und2009.
Dem Verteidigungsminister glaube ich gerne, dass fürihn die Unterteilung in qua lifizierte und nicht qualifi-zierte Unfälle genauso zynisch klingt wie für mich. AlleFraktionen haben im Januar im Verteidigungsausschussfestgestellt, dass das Versorgungsrecht entsprechendden neuen Anforderungen an die Bundeswehr geändertwerden muss. Der Minister versprach, entsprechendeMaßnahmen zu tref fen. Ich bitte ihn herzlich, diesschnell zu tun.
Abschließend möchte ich festhalten, dass sich in demBericht des W ehrbeauftragten Forderungen der FDPwiederfinden. Die in dieser W oche geäußerte Zustim-mung zu einem Entsendegesetz – das sagt man allge-mein; wir meinen eher ein Mitwirkungs- oder Beteili-gungsgesetz – ist ein guter Anfang.
– Da Sie, Herr Nachtwei, gerade „Richtig!“ gerufen ha-ben, möchte ich Folgendes deutlich sagen: Ich meine,heute Morgen einige seltsame Töne in der Regierungser-klärung des Bundeskanzlers gehört zu haben. Wir möch-ten ganz eindeutig feststellen: Für uns gilt das Primat desParlamentsvorbehalts, wie groß oder wie klein ein Ein-satz auch sein mag. Das muss in der Debatte unstrittigsein.
– Dazu passt wunderbar mein Schlusssatz, HerrNachtwei: Lassen Sie uns gemeinsam Rechts-, Pla-nungs- und politische Sicherheit für die Bundeswehrschaffen.Danke.
Nun hat der gerade angesprochene Kollege W infried
Nachtwei das Wort.
Herr Präsident! Sehr geehrter Herr W ehrbeauftragter,lieber Herr Penner! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Der Jahresbericht des W ehrbeauftragten ist kein Zu-standsbericht; das ist uns be kannt, aber wahrscheinlichkaum in der Öf fentlichkeit. Er ist aber auch kein reiner
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Winfried NachtweiMängelbericht, sondern ist zugleich ein Stimmungsbaro-meter und Problemindikator , der uns wesentliche Hin-weise darauf gibt, was zu tun ist. Herr Penner , ichmöchte Ihnen und Ihren Mita rbeiterinnen und Mitarbei-tern im Namen meiner Fraktion wieder herzlich für IhreArbeit danken. Wenn ich das zum wiederholten Maletue, dann ist das in keiner Weise ein Ritual, sondern ge-schieht aus voller Überzeugung. Wir danken Ihnen.
Der Bericht des Wehrbeauftragten beinhaltet auch po-sitive Nachrichten. Vor einigen Jahren waren wir sehrbeunruhigt über die zunehm ende Zahl der Meldungenüber bestimmte besondere Vorkommnisse, nämlich überEreignisse mit Verdacht auf rechtsextremen oder frem-denfeindlichen Hintergrund. Hier gibt es die erfreuli-che Entwicklung, dass zumindest die Zahl der Meldun-gen dieser besonderen V orkommnisse von fast 200 inden Vorjahren auf 111 im letzten Jahr deutlich zurückge-gangen ist.Eine zweite gute Nachricht. Die Integration der Sol-datinnen in die Bundeswehr ist besser gelaufen, als vonSkeptikern erwartet wurde.Drittens. Eine weitere sehr gute Nachricht ist – daswird von allen Kolleginnen und Kollegen so geteilt –,dass die durchschnittlich 9 000 Soldatinnen und Solda-ten, die sich in Auslandseinsätzen befinden, in jedemMonat entscheidend zur Gewalteindämmung undKriegsverhütung beitragen. Au ch vor Ort genießen siezu Recht hohes Ansehen.Schließlich ist positiv – das steht nicht im Bericht, istaber für das Parlament sehr interessant –, dass wir sofrüh wie nie zuvor begonnen haben, diesen Bericht imBundestag zu debattieren.Das Jahr 2002 war das erste Jahr der neuen großen Ein-sätze, nämlich der Einsätze in Kabul und im Rahmen derBekämpfung des internationa len Terrorismus. Das gingeinher mit einer enormen Steigerung der Belastungen undRisiken. Aber es schlug sich auch in einem enormen An-stieg von Eingaben – die Zahl der Eingaben ist um fast32 Prozent gestiegen – nieder. Auch wenn die gerade ge-nannten Rahmenbedingungen sicherlich dazu beigetragenhaben, so ist dieser Anstieg dennoch beunruhigend.Zu Zeiten des Ost-W est-Konflikts war die Motivati-onslage für Bundeswehrange hörige noch relativ ein-fach. Mit den neuen Aufgaben, der neuen politischenUnübersichtlichkeit und der Einsatzrealität sind dieRahmenbedingungen für Mo tivation und Einstellungder Bundeswehrangehörigen zumal angesichts des ho-hen Anspruchs von Staatsbür gern in Uniform kompli-zierter geworden.Der Wehrbeauftragte spricht unter anderem folgendeProblembereiche an, die di e Motivation beeinträchtigenund Hindernisse für die Re generation und Nachwuchs-gewinnung der Streitkräfte sein können:Erstens geht es eben um diese Nachwuchsgewinnung.Es gibt immer noch zu viele Klagen über die Arbeit vonZentren für Nachwuchsgewinnung und W ehrdienstbera-tern, zum Beispiel über zu lange Bearbeitungszeiten. Be-werberinnen bemängeln, ihnen würden nur die positivenSeiten des Bundeswehrdienstes dar gestellt, die beanspru-chenden und belastenden jedoch weniger . Weiterhin wirdgesagt, die Beratung erfolge oft nur bezogen auf den Be-darf der Truppe und es werd e zu wenig auf neigungsge-rechte Verwendungen eingegangen.Zweitens. Es wird immer deutlicher, dass die Verein-barkeit von Familie und Beruf in der Bundeswehr auszwei Gründen auf die Tagesordnung gesetzt worden ist:Zum einen geschah dies durch den wachsenden Anteilvon Soldatinnen und Alleinerziehenden in den Streit-kräften. In einer Studie der Bundeswehruni in Hambur gwurde festgestellt, dass einer familienorientierten Perso-nalpolitik in der Bundeswehr in Zukunft eine außeror-dentliche Bedeutung zukommt. Die Notwendigkeit derEinsatzbereitschaft, des Dienstes in Schif fen und derAuslandseinsätze ist unstrit tig. Trotzdem muss sich dieBundeswehr in T eilbereichen Gedanken um flexiblereArbeitszeiten, Teilzeitbeschäftigung und Kinderbetreu-ung machen.Zum anderen beeinträchtigen vor allem die Ausland-seinsätze das Familienleben von Bundeswehrangehöri-gen. Gerade in Familien m it kleinen Kindern sind dieEntfremdungsprozesse erheblich. Dauer und Häufigkeitvon Auslandseinsätzen mindern inzwischen die Bereit-schaft von Soldaten, sich weiter zu verpflichten oder garBerufssoldat zu werden. Die Stehzeit von sechs Monatenist eines der Probleme, um dessen Lösung sich die Bun-desregierung bemüht. Ein anderes Problem sind die Fa-milienbetreuungszentren. Von den zurzeit 19 Familien-betreuungszentren verfügen bisher nur zehn überhauptamtliches Personal. Nach den Angaben im Berichtist die technische Ausstatt ung dieser Familienbetreu-ungszentren mit Kommunikationsmitteln usw . offen-sichtlich unzureichend. Dies e Mängel müssen schnellbehoben werden.Drittens nenne ich das Laufbahn- und Beförde-rungsangebot. Ein attraktives Laufbahn- und Beförde-rungsangebot ist entschei dend für die Motivation vonBundeswehrangehörigen. Hier gab es etliche Attraktivi-tätssteigerungen. Ihre W irkung ist aber of fenbar zwie-spältig. Ich nenne ein Beispiel – andere sind vorher be-reits genannt worden –: Bei Unteroffizieren mit Portepeewurden die zeitlichen Mindes tvoraussetzungen für Be-förderungen zum nächsthöheren Dienstgrad verkürzt.Nun gibt es viel mehr Anwärter als Dienstposten. HoheErwartungen wurden geweckt. Mit der Umsetzungkommt man jedoch nicht nach.Viertens komme ich zu den Wehrpflichtigen: ImBerichtsjahr 2002 stellten insgesamt 189 644 W ehr-pflichtige einen KDV-Antrag. Das waren so viele wienoch nie zuvor seit Bestehen der Bundeswehr . DerWehrbeauftragte vermerkt den Zweifel von W ehrpflich-tigen an der Wehrpflicht. Diese Zweifel werden vom rea-len Wehrdienst offenbar noch befördert.
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Winfried NachtweiDie 14. Shell-Jugendstudie brachte hierzu folgendesErgebnis: Junge Männer lehnen die W ehrpflicht zu53 Prozent ab
– schauen Sie sich einmal die Umfragen der Jahre vorunserer Regierungszeit an; da gibt es keinen großen Un-terschied – und junge Männer, die den Wehrdienst abge-leistet haben, lehnen die W ehrpflicht zu 60 Prozent ab.Das ist ein eklatanter Beleg dafür, dass die Wehrpflichtgerade für die betrof fene Bevölkerungsgruppe nichtmehr verständlich und plausibel gemacht werden kann.Ich denke, mit Behauptungen über die Alternativlosig-keit der Wehrpflicht ist das nicht wegzuwischen.
Bundeswehrsoldaten – ich glaube, darüber herrschtwieder völliger Konsens – sind keine Söldner. Der Wehr-beauftragte betont die Erwartung der Soldaten, dass Aus-landseinsätze rechtlich einwan dfrei sein müssen. DieseErwartung wird von den Soldaten vor allem vor demHintergrund der Irakkrise bzw . des jetzt stattfindendenIrakkrieges formuliert, der ohne UN-Mandat begonnenwurde. Weitere Zweifel ergeben sich im Zusammenhangmit dem Afghanistan-Einsatz, bei dem Bundeswehran-gehörige möglicherweise zur V erhaftung von Personenbeitragen, die im amerikanischen Gewahrsam of fenkun-dig nicht strikt nach dem Völkerrecht behandelt werden.Bundeswehrangehörige zeigen mit diesen Erwartun-gen ein klares Rechtsstaatsbewusstsein und erweisen sichdamit als Staatsbürger in Uniform. Das gehört zu den vielzu wenig wahrgenommenen positiven Nachrichten diesesBerichtes. Diese Haltung ist zugleich Verpflichtung fürdie Politik der Bundesregierun g und der Koalition. DerBundeskanzler hat heute Morgen in seiner Regierungser-klärung dazu eindeutig Stellung genommen.Die rot-grüne Koalition und die Bundesregierung ste-hen für eine Politik der um fassenden, gemeinsamen undfriedlich-vorbeugenden Sicherheit, eine Politik im Rah-men der Charta der Vereinten Nationen. Rot-Grün stehtfür die Stärkung der V ereinten Nationen und die Stärkedes Rechts. Ich meine, dies ist gerade angesichts desIrakkrieges und der gegenwärtigen Verwilderung der in-ternationalen Sitten zu betonen.
Ich erteile das Wort der Abgeordneten Petra Pau.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ichgreife zwei Aussagen aus dem Bericht des W ehrbeauf-tragten für das Jahr 2002 heraus, und zwar nicht irgend-welche, sondern die meines Erachtens wesentlichen:a) Die Zahl der Beschwerden von Soldatinnen und Sol-daten hat zugenommen; b) zugenommen hat auch dieVerunsicherung von Soldatinnen und Soldaten. Die PDSim Bundestag findet: Das muss ernst genommen werden.Darüber darf nicht routinemäßig debattiert werden, son-dern das muss uns zum Na chdenken anregen. Damitmeine ich nicht nur die hier zitierten Ausstattungspro-bleme wie Bergstiefel, Rucksäcke oder Dichtungsringe.Bei diesen zwei Grundgedanken spielt die soziale Frageeine große und die Sinnfrage eine noch größere Rolle.Die soziale Frage ist immer auch eine Ost-West-Frage. Solange Soldatinnen und Soldaten aus den neuenschlechter als Soldatinnen und Soldaten aus den altenBundesländern gestellt werden , so lange geht es unge-recht zu.
Sie wissen, dass ich nicht über Milliardenaufwendungenrede. Vielmehr wären mehrere Millionen Euro nötig, umdiese Gerechtigkeitslücke zu schließen. Diese ungelöstesoziale Frage hat übrigens – das ist makaber – eine Hin-tertür: Wer in den Krieg zieht, ist plötzlich nicht nur vorGott, sondern auch vor dem Soldmeister gleichwertig:gleicher Lohn für gleiche Gefahr oder gar T od? Ichfinde, das ist ein schlimmes Motto.Damit bin ich bei der Sinnfrage. Immer mehr Wehr-pflichtige verweigern den Zwangsdienst. Immer weni-ger sind bereit, neuen Militär strategien zu folgen. Siewollen nicht im Dienste einer Politik stehen, die Kriegeim Zweifelsfall für legitim hält und das Völkerrecht fürstörend. Das Machtgebaren der USA schreckt ab undauf. Schauen Sie sich an, we r in diesen Tagen demons-triert: Das sind jene, die Sie demnächst gerne in der Bun-deswehr haben wollen. Dies e Jugendlichen haben gutzugehört, als Herr Schäuble für die CDU/CSU im No-vember im Bundestag von Pr äventivkriegen redete, diezu führen seien. Aber sie vernehmen auch, wenn Bun-desminister Struck verkündet, die Verteidigung der Bun-desrepublik finde am Hinduk usch statt. Diese Jugend-lichen merken auf, wenn se lbst Bündnis 90/Die Grünendie Bundeswehr und Europa hochrüsten wollen.Für die PDS im Bundestag ist die Sinnfrage derNATO mitnichten beantwortet, jedenfalls nicht positiv .Eine zivile Welt braucht andere, neue Instrumente, umKonflikte zu mindern und zu lösen. Darüber ist ange-sichts des völkerrechtswidrigen Angrif fskrieges gegenden Irak, aber auch anhand des vorliegenden Berichtsdes Wehrbeauftragten zu reden.Nun, liebe Kolleginnen und Kollegen, wird es Siewundern – aber ich meine das ganz ernst –, wenn ich sage:Herr Penner und seine Mitarbeiter haben eine gute Arbeitgemacht; sie haben eine wichtige Aufgabe. Das ist keinWiderspruch zu dem, was ich eben vorgetragen habe. Esist richtig, dass die PDS die W ehrpflicht abschaffenmöchte. Wir wollen das Militärische zurückdrängen.Aber auch für die Soldatinnen und Soldaten gilt: Solangees sie und ihren Beruf gibt, müssen sie gerecht behandeltwerden. Damit es gerechter zugeht, dafür leistet auch derWehrbeauftragte einen wichtigen Beitrag.Danke schön.
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Ich erteile das Wort der Kollegin Karin Evers-Meyer,
SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Sehr verehrter Herr W ehrbeauftragter! Die öf fentlicheDebatte über den Jahresbericht des Wehrbeauftragten istgute Tradition in diesem Hause. Die Sor gen und Pro-bleme unserer Soldatinnen und Soldaten gehen uns allean.Ich möchte auch an dieser Stelle mit dem Dank an denWehrbeauftragten Willfried Penner und seine Mitarbei-terinnen und Mitarbeiter beginnen und ihm ausdrücklichim Namen meiner Fraktion für seine Arbeit danken.
Sie leisten einen wichtigen Beitrag für das Ansehen un-serer Streitkräfte in der Bevölkerung. Auch internationalgesehen ist die Institution des Wehrbeauftragten immernoch einzigartig. Sie sind Ga rant dafür, dass die Sorgenund Nöte unserer Soldatinnen und Soldaten an uns unge-filtert herangetragen werden.Der Bericht des W ehrbeauftragten für das Jahr 2002gibt einen breiten Einblick sowohl in den Alltag unsererSoldatinnen und Soldaten als auch in die innere Lage derBundeswehr insgesamt. In diesem Bericht ist nichtsschöngefärbt. Er ist ein Mä ngelbericht, der aber nicht– darüber sind wir uns alle einig – auf die Bundeswehrals Ganzes übertragen werden kann. Einigkeit sollte aberauch darüber herrschen, dass der vor gelegte Bericht anvielen Stellen Anlass zum Handeln gibt.Gerade letzte Woche war ich auf einer dreitägigen In-formationsreise bei der Marine. Dabei hatte ich die Gele-genheit, mit Soldatinnen und Soldaten vor Ort zu spre-chen. Ich bin auf eine hoch motivierte und gutausgebildete Truppe getroffen, die jedoch zu Recht er-wartet, dass ihre Sor gen ernst genommen werden. DieSoldatinnen und Soldaten können erwarten, dass wir unsnach der Vorlage dieses Beri chts nicht allein in gesell-schaftspolitischen Gesamtbetrachtungen verlieren, son-dern alsbald auch konkrete Lösungsvorschläge auf denTisch legen.
Die SPD hat das bis heute getan und wird das auchweiter tun. Ich will mich hier in der Kürze der Zeit aufein Themenfeld beschränken, das in besonderem Maßean mich herangetragen wurde, das aber auch im Berichtdes Wehrbeauftragten eine gewichtige Rolle spielt. Esgeht um die Vereinbarkeit von Familie und Soldaten-beruf. Das ist ein zentrales Thema sowohl für die Moti-vation der Truppe als auch für die Motivation derjeni-gen, die sich einmal für den Soldatenberuf entscheidenkönnten.In dem Bericht wird zu diesem Komplex mit Rechtfestgestellt, dass sich die Bundeswehr in Zukunft nochmehr auf die Vereinbarkeit von Familie und Beruf ein-stellen muss. Sie wird ihr Angebot von der Teilzeitarbeitbis hin zur Kinderbetreuun g weiter verbessern müssen.Im Zuge der Neuausrichtu ng der Bundeswehr werdenAuslandseinsätze zunehmend das gesamte Berufslebender Soldaten begleiten. Diese Einsätze sind gleicherma-ßen eine Belastung für die Fa milien daheim als auch fürdie Soldaten in den Einsatzgebieten. Gerade Familienmit kleinen Kindern haben darunter zu leiden, wie wirgehört haben. Im Bericht lesen wir von Entfremdung,Verlustängsten und Eifersuc ht, aber auch von zahl-reichen zerbrochenen Partnerschaften. Natürlich weiß je-der Soldat und jede Soldatin, worauf er bzw. sie sich beider Wahl dieses Berufes einlässt. Soldaten müssen flexi-bel einsetzbar sein. Die Politik hat jedoch die unbedingtePflicht, auch die Belastunge n so gering wie möglich zuhalten.
Die SPD nimmt diese Pflicht sehr ernst. Denn zurFürsorgepflicht des Dienstherrn gegenüber den Soldatengehört auch die Betreuung ihrer Familien. Der Aufbauder Familienbetreuungszentren muss weiter vorange-trieben werden. Die bestehenden Betreuungseinrichtun-gen müssen personell und materiell in ausreichenderWeise ausgestattet werden.
Das ist leider immer noch nicht an allen Stellen möglich.Wir müssen an dem Ziel fest halten, dass keiner der zuBetreuenden mehr als 100 Kilometer zu einem Familien-betreuungszentrum zurücklegen muss. Insgesamt wer-den 31 Familienbetreuungszentren mit jeweils fünf Mit-arbeitern angestrebt.Im Rahmen von Auslandseinsätzen müssen Einsatz-dauer und Regeneration für unsere Soldatinnen und Sol-daten in ein vertretbares Verhältnis gebracht werden. Beider Marine konnte ich zum Be ispiel feststellen, dass esdurchaus zu zwei sechsmon atigen Einsätzen innerhalbvon zwei Jahren kommt.Eine Veränderung bewirken wir sicherlich nicht vonheute auf morgen. Wir werden uns daher erst einmal füreine Zwischenlösung einsetzen. Denkbar wäre zunächsteine Einsatzdauer von drei Monaten mit einer Ruhezeitvon einem Jahr. Mittelfristig muss die Struktur, vor al-lem des Heeres, so geändert werden, dass die Einsatz-dauer auf vier Monate bei ei ner zweijährigen Regenera-tionszeit beschränkt wird.Dies kann nur ein kleiner Ausschnitt aus dem Katalogder Problemstellungen und Lösungsvorschläge sein. ImZuge der konsequenten Weiterentwicklung der Bundes-wehrreform werden die im Bericht des Wehrbeauftragtenangesprochenen Bereiche jedoch weiter angemesseneBerücksichtigung finden.Vielen Dank.
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Frau Kollegin Evers-Meyer, das war Ihre erste Rede
im Deutschen Bundestag, zu der ich Ihnen im Namen
des ganzen Hauses herzlich gratuliere.
Ich erteile nun das W ort der Abgeordneten Ursula
Lietz, CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Sehr geehrter Herr Wehrbeauftragter!Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist mittlerweile einguter parlamentarischer Brauch, dass wir einmal jährlichüber den Bericht des W ehrbeauftragten diskutieren unduns mit den Nöten und Sor gen der Soldaten der Bundes-wehr, die ja eine Parlamentsarmee ist, befassen. Wir blickenübrigens – das erscheint mir erwähnenswert – auf eine44-jährige Tradition zurück; denn seit 1959 gibt es dasBeschwerderecht der Soldaten und das Amt des Wehrbe-auftragten.Seit fünf Jahren bin ich im Bundestag und habe indieser Zeit festgestellt, dass es auch die eher unerfreuli-che Tradition gibt, dass sich die Beschwerden wiederho-len, dass sie nicht immer ernst genommen und deswegennicht bearbeitet werden. So gab es im Berichtsjahr2002 – das ist schon erwähnt worden – insgesamt 6 436gemeldete Vorgänge. Das sind 32 Prozent mehr Be-schwerden als ein Jahr zuvor.Ich bin im Gegensatz zu Ih nen, Herr Nachtwei, nichtder Meinung, dass diese Zunahme nur darauf zurückzu-führen ist, dass sich die Soldaten, wie Sie eben ausge-führt haben, bei dem derze itigen Wehrbeauftragten ehertrauen, sich zu beschweren. Das hat andere Gründe, dieSie teilweise auch schon selber dargelegt haben.
Ich schlage vor, uns in Zukunft einmal im Jahr einenSachstandsbericht des Verteidigungsministeriums vorle-gen zu lassen,
in dem die Punkte, die der Wehrbeauftragte angeprangerthat, angesprochen werden, u nd uns mitteilen zu lassen,wie viel davon abgearbeitet worden ist. Das findet der-zeit nicht in dem Maße statt, wie ich mir das wünsche.
Der Zustand, der hier besprochen worden ist, zeigt,dass in der Bundeswehr einiges im Ar gen liegt. Wer dasverhehlt, nimmt die Soldaten nicht ernst, Herr Kolbow .Sie haben eine Bundesweh rreform auf den W eg ge-bracht. Kaum, dass sie auf den Weg gebracht worden ist,stellt der nächste V erteidigungsminister fest, dass sienicht ausreicht. Er kündigt erst für Ende Februar , dannfür Ende März und nun für Ende April verteidigungspo-litische Richtlinien an. In der Zwischenzeit fragen sichviele Soldaten, an welchen Stellen die Kürzungen erfol-gen werden. Weil das niemand weiß, herrscht Unsicher-heit in der T ruppe. Deshalb fordere ich den V erteidi-gungsminister, der leider während dieser Diskussionnicht anwesend ist, auf, im Zusammenhang mit diesemThema endlich Klarheit zu schaffen.
Einer der Punkte, die sich mit schöner Regelmäßig-keit wiederholen, ist die Kl age des W ehrbeauftragten,dass der Zugriff auf das Intranet der Bundeswehr nichtmöglich sei. Das geht uns genauso, Herr Dr. Penner. SeitJahren versuchen wir, Informationen über dieses Systemder Bundeswehr zu bekommen. V orschriften, die nurnoch über das Intranet verbreitet und veröf fentlicht wer-den, stehen uns somit nicht zur V erfügung. Man fragtsich schon, ob sie nicht zur V erfügung gestellt werdensollen und, wenn ja, warum nicht. Allerdings haben diemeisten von uns – meine Damen und Herren Kollegenaus dem Verteidigungsausschuss, ich denke, es geht Ih-nen genauso – einen kleine n Dienstweg gefunden, aufdem wir uns auf andere Art und W eise die Berichte imIntranet verschaffen können. Trotzdem ist das nicht be-friedigend.Die personellen Engpässe im Sanitätswesen möchteich hier besonders hervorheben. Es fehlen nicht nur Sa-nitätsoffiziere, sondern mittlerweile auch Unteroffiziere.Dabei hat das Sanitätswesen der Bundeswehr internatio-nal einen exzellenten Ruf. Wir sind Medical Lead Nationin multinationalen Einsätzen . Mit diesem Pfund solltenwir sehr viel mehr wuchern, als wir das bisher getan ha-ben. Wir haben damit aber auch einen guten Ruf zu ver-lieren. Wenn, wie eben besc hrieben, die Tagesantritts-stärke zwischen 40 und 60 Prozent bzw. möglicherweisesogar noch darunter liegt und wenn ein T ruppenarztheute 1 000 statt wie früher 400 Soldaten betreuen muss,dann sind die Betreuung der T ruppe in vollem Umfangund die Qualität der Versorgung nicht mehr gewährleis-tet. Im Inland herrscht Facharztmangel. W ir stellen fest,dass in Bundeswehrkrankenhäusern Operationssäle ge-schlossen und dass Operationen sehr kurzfristig abgesagtwerden müssen. Das alles muss für uns ein böses Alarm-zeichen sein. Es handelt sich nicht um Einzelfälle, wiemir führende Anästhesisten, mit denen ich gesprochenhabe, bestätigt haben.2 689 Bewerber für den Beruf des Arztes in der Bun-deswehr gab es im Jahre 1999. Im Jahre 2002 waren esnur noch 1 398. 50 Prozent weniger Interesse am Berufdes Sanitätsoffiziers in der Bundeswehr in drei Jahren!Das ist für mich eine erschreckende Zahl.
Im letzten Jahr konnten zum ersten Mal nicht alle Studi-enplätze für Medizin, die der Bundeswehr zur Verfügunggestellt werden, besetzt werd en. Das ist ebenfalls einZeichen für die sinkende Attraktivität speziell des Sani-tätsdienstes. Auch die Anzahl der Anträge von Sanitäts-offizieren auf Übernahme in die Laufbahn des Berufs-soldaten ist rückläufig. Aufgrund einer völlig verfehltenGesundheitspolitik in diesem Land verpassen wir dieChance, jungen Medizinern eine Perspektive in der Bun-deswehr zu geben. Stattde ssen gehen die jungen deut-
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Ursula Lietzschen Ärzte ins Ausland. Man trif ft sie zum Beispiel,wenn man große Kliniken und Universitäten in Belgienund in den Niederlanden besucht. Wir bilden sie aus unddann haben andere Länder den Nutzen. Ich finde dasschade; denn ein junger deutscher Arzt könnte ein gutePerspektive in der Bundeswehr haben.Ich wünsche mir ein wirk sames Attraktivitätspro-gramm speziell für das Sanitätswesen, das ich gerne zu-sammen mit dem in das neue Amt berufenen Inspekteurdes Sanitätswesens auflegen würde. Ich kann ihm nurunsere Sympathie bezeug en und wünsche ihm eineglückliche Hand und alles Gute für seine neue Aufgabe.Wenn aber Fachärzte und solche, die es werden wol-len, immer häufiger Auslandseinsätze mitmachen müs-sen, dann ist auch die Kontinuität der Facharztausbil-dung gefährdet, das heißt, junge Ärzte absolvierenmöglicherweise keine Facharztausbildung, weil sie zuoft in den Einsatz müssen. Das gefährdet das System derAusbildung in den Bundeswe hrkrankenhäusern und da-mit einmal mehr die Attrakti vität des Sanitätsdienstes.Das sind die warnenden W orte, die mir bei Besuchenvon Bundeswehrkrankenhäusern immer wieder ans Herzgelegt werden. Die Häufigkeit der Auslandseinsätze unddie Einsatzdauer im Allgemeinen sind immer wiederThema.Herr Staatssekretär Kolbow hat eben gesagt, dass manweiterhin auf sechs Monaten bestehen müsse. Herr Ver-teidigungsminister Struck hat vor einiger Zeit gesagt, dasser darüber nachdenke, dort, wo es möglich ist, auf eineEinsatzzeit von vier Monaten zurückzugehen. Ich halteeine allgemeine Flexibilisierung für die bessere Lösung.Das tun auch die Soldaten. Man kann das Ganze – vieleGeneräle im Ausland tun das bereits – sehr viel flexiblergestalten, als es zum jetzigen Zeitpunkt geschieht.Im Sanitätsbereich, in dem Spezialisten immer wiederzum Einsatz kommen, hilft das allerdings nicht mehr. Ichbin fest davon überzeugt, dass wir im Laufe der Zeit zuder Einsicht kommen müssen, dass einfach mehr Ärzteeingestellt werden müssen, was durch ein Attraktivitäts-programm ermöglicht werden sollte.Das Vertrauen verspielt man auch – ich spreche die-sen Fall zum ersten Mal an –, wenn einem Vater falscheund mangelhafte Berichte üb er den Tod seines Sohnesim Kosovo vor drei Jahren gegeben werden. Ich habediese Familie drei Jahre lang begleitet. V or einigen Mo-naten habe ich an Verteidigungsminister Struck in dieserAngelegenheit einen Brief mit der Bitte um ein vertrauli-ches Gespräch geschrieben. Von ihm persönlich habe ichbis heute weder eine Bestä tigung des Eingangs diesesSchreibens bekommen noch das Angebot zu einem Ge-sprächstermin. Ich möchte dieses Gespräch führen, da-mit diese Familie endlich zur Ruhe kommt. Ich bedaure,dass das bis jetzt nicht der Fall ist.Einen weiteren Beweis für die Notwendigkeit der Insti-tution des Wehrbeauftragten ist das Lazarett in Rajlovac.Nur weil ein vor Ort tätiger Soldat den Wehrbeauftragteninformiert hat, haben wir überhaupt von den schreckli-chen Zuständen im dortigen Krankenhaus erfahren. Ichhabe es zuvor nicht für mög lich gehalten, dass es inner-halb der Bundeswehr eine Einrichtung, die so verkom-men wie dieses Krankenhaus in Rajlovac war, gibt. Wirhaben gemeinsam im Verteidigungsausschuss beschlos-sen, einen Neubau anzuregen.Wiederum durch den Bericht eines vor Ort tätigenSoldaten haben wir feststellen müssen, dass der Neubaudieses Krankenhauses stockt, und zwar aufgrund einer ,wie ich finde, unverantwortlichen Blockade des Finanz-ministers.
– Es ist ganz genau so. – Mittlerweile soll das Ganze aufden Weg gebracht sein.Lassen Sie mich zum Schluss noch kurz das Schicksalder Soldaten ansprechen, die aufgrund ihrer früheren Tä-tigkeit im Radarbereich einer Strahlenexposition ausge-setzt worden sind. Dazu wird es zunächst einen Berichtgeben. Ich werde dazu hier zum entsprechenden Zeit-punkt sicherlich noch einmal Stellung nehmen. Ich hoffenur, dass dieser Bericht keine Wiederholung des Berich-tes sein wird, den wir aus dem Verteidigungsministeriumbekommen haben.Ich bin Ihnen, Herr Dr. Penner, und Ihren Mitarbeiternfür das, was Sie geleistet haben, sehr dankbar . Ich be-danke mich für die wirklich gute Zusammenarbeit hierund im Verteidigungsausschuss.Ich danke Ihnen dafür, dass Sie mir zugehört haben.
Ich erteile das Wort dem Abgeordneten Rolf Kramer,
SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Herr W ehrbeauftragter! Meine sehrverehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen undKollegen! Wie im Bericht des W ehrbeauftragten richti-gerweise festgestellt wird, befindet sich die Bundeswehrnach wie vor in einem „V eränderungsprozess, der alleBereiche vom Auftrag über die Struktur bis hin zur Aus-rüstung erfasst“. Ich werde näher auf jene Passagen desBerichts eingehen, die sich, erstens, mit dem Personal,also mit den Soldatinnen und Soldaten, befassen und diesich, zweitens, auf die Auslandseinsätze der Bundeswehrbeziehen.Der grundlegende personelle Strukturwandel, dendie Bundeswehr zu bewältigen hat, wird an folgendenZahlen deutlich: Im Jahre 2 002 dienten durchschnittlich295 000 Soldatinnen und Soldaten in der Bundeswehr .Die Zielstärke nach dem Pe rsonalstrukturmodell 2000beträgt 285 000 Dienstposten, ausgehend von 335 000 inden 90er-Jahren.Die besondere Dramatik des personellen Umbauswird an den folgenden Zahl en deutlich: Der Anteil derGrundwehrdienstleistenden sinkt nach dem Personal-strukturmodell von 105 000 auf 53 000 – er wird sichalso halbieren –, während es im Bereich der Unterof fi-
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Rolf Kramerziere und der Of fiziere, bezogen auf den Istbestand vonAnfang 2002, eines notwendigen Aufwuchses von20 000 Unteroffizieren und fast 1 200 Offizieren bedarf.Die Bundeswehr benötigt gut ausgebildete, hoch mo-tivierte Frauen und Männer in allen Tätigkeitsbereichen.Gerade im Bereich der Zeit- und Berufssoldaten konkur-riert die Bundeswehr mit der W irtschaft. Damit sichFrauen und Männer für eine Tätigkeit bei der Bundes-wehr entscheiden, muss eine besondere Attraktivität ge-boten werden.Das von der Bundeswehr beschlossene Programmzur Attraktivitätssteigerung sieht unter anderem fol-gende Einzelmaßnahmen vor: Die neue Laufbahn derFachunteroffiziere wurde eingeführt. Bei der Feldwebel-laufbahn wurden die Posten eines Feldwebels des Trup-pendienstes und eines Feldwebels des Fachdienstes ein-gerichtet.Bei der Laufbahn der Feld webel hat sich durch dieVerkürzung der zeitlichen Mindestvoraussetzungen umein Jahr und der Bündelung der meisten Dienstposten so-wie der Anhebung von mehr als 1 400 Stellen von A 8nach A 9 einerseits der Beförderungsstau entspannt. An-dererseits erfüllen jetzt we sentlich mehr Oberfeldwebeldie Mindestvoraussetzungen für eine Beförderung zumHauptfeldwebel. Dass sich, bedingt durch diese Ände-rungen und die damit verbunde ne Attraktivitätssteige-rung für die Laufbahn insgesamt – dies betone ich –, inEinzelfällen auch individu ell empfundene Benachteili-gungen ergeben können, ist evident.Mit der Bündelung der Dienstposten sind für die Sol-datinnen und Soldaten sowie für ihre Familien erhebli-che Vorteile verbunden; denn jetzt kann ein Feldwebelauf seinem Dienstposten bis hin zum Stabsfeldwebel be-fördert werden, ohne versetzt werden zu müssen.
In der Laufbahn der Offiziere sind durch die Weisungdes Verteidigungsministers Kompaniechefs jetzt in dieBesoldungsgruppe A 12 eingestuft. Damit waren insge-samt 1 760 Planstellenanhebungen von A 11 nach A 12verbunden.Die positiven W irkungen des Attraktivitätssteige-rungsprogramms sind unter anderem an den stark gestie-genen Bewerberzahlen für di e Laufbahnen der Feldwe-bel, der Unteroffiziere und der Mannschaften abzulesen.Den Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr giltunser Dank für ihre aktive Mitarbeit bei den notwendi-gen Strukturveränderungen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich kommenun zu einem weiteren Aspe kt im Bericht des W ehrbe-auftragten, den Auslandseinsätzen der Bundeswehr .Gerade an diesen Auslands einsätzen wird der W andelder Bundeswehr hin zu eine r Armee im Einsatz – ge-nauer gesagt: im Friedenseinsatz – deutlich. Insgesamtwaren bisher fast 100 000 Soldatinnen und Soldaten imAuslandseinsatz, im ver gangenen Jahr ungefähr 9 000pro Monat. Auch vor dem Hi ntergrund der aktuellen Si-tuation und Diskussion wird allein daran deutlich: W irleisten unseren Anteil an völkerrechtlich eindeutig legiti-mierten Einsätzen für die friedliche Entwicklung auf die-sem Globus. Unsere Soldatinnen und Soldaten erfüllenihre häufig gefährlichen Au fgaben vorbildlich und mithoher Professionalität.
Nimmt man alle Einsätze, die entweder durch die NATOoder durch die Vereinten Nationen legitimiert sind, undsieht man vom gegenwärtigen Irakkrieg einmal ab, dannstellt die Bundeswehr weltweit das zweitgrößte Kontin-gent.Es ist vollkommen klar, dass sich die Soldatinnen undSoldaten immer sicher sein müssen, dass sie ihren Dienstauf rechtlich einwandfreien Grundlagen leisten. Dies giltim Inland wie im Ausland. Für diese Bringschuld desParlaments steht die Koali tion ein. Das Bundesverfas-sungsgericht hat in seiner letzten Entscheidung die Posi-tion der Regierung und der si e tragenden Parteien ge-stützt.Mit besonderem Interesse habe ich die Ausführungendes Wehrbeauftragten zur inneren Führung gelesen.Seine Schlussfolgerung, „das Prinzip der inneren Füh-rung hat sich auch bei Auslandseinsätzen bewährt“, kannuneingeschränkt unterstützt werden. Der Bundestag hatdurch die Einsetzung des Unterausschusses „Innere Füh-rung“ entschieden, sich vor dem Hintergrund der gewan-delten Aufgaben der Bundeswehr intensiv mit denGrundlagen der inneren Führung auseinander zu setzen.Dass auch in Zukunft die tragenden und bewährtenGrundsätze der inneren Führung weiter gelten, mussnicht besonders betont werden.Meine sehr verehrten Damen und Herren, der W ehr-beauftragte klassifiziert seinen Bericht folgendermaßen:Auch dieser Bericht ist der Natur der Sache nachein Mängelbericht; er spiegelt also nicht den Zu-stand der Bundeswehr insgesamt wider. Der Berichtgibt Erkenntnisse wieder , die aus Eingaben vonSoldaten, Gesprächen mit Soldaten und anderen Er-kenntnisquellen gewonnen wurden.Dem ist nichts hinzuzufügen. Dieser Bericht gibt uns fürdie Zukunft Handlungsanleitu ngen für die Bereiche, indenen es Mängel zu beseitigen gilt, zeigt uns aber in ers-ter Linie, dass die Bundeswehr auf dem richtigen W egist.Wir bedanken uns bei allen, die durch ihren Einsatzden Frieden auf dieser Welt ein wenig sicherer machen,und ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit.
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Ich gratuliere auch Ihnen, Herr Kollege Kramer, herz-
lich zu Ihrer ersten Rede im Deutschen Bundestag und
verbinde dies mit allen guten Wünschen für Ihre weitere
parlamentarische Arbeit.
Nun hat das Wort die Abgeordnete Christa Reichard,
CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Herr W ehrbeauftragter! Meine sehrverehrten Damen und Herren! Dem Dank des Hauses anSie, Herr W ehrbeauftragter, und an Ihre Mitarbeiterschließe ich mich natürlich an. Ich finde es besondersgut, dass Sie mit vielen Besuchen bei der Truppe vor Ortin deren Situation Einblick nehmen und diese dadurchviel besser beurteilen können, als wenn Sie nur amSchreibtisch säßen.Besonders interessant ist für mich und meine Fraktionnicht nur, wie die Mängel im Einzelfall abgestellt wer-den, sondern auch, was über den Einzelfall hinaus pas-siert und wie den Empfehlungen der Berichte der ver-gangenen Jahre aus Ihrem Hause Rechnung getragenwurde. Ich stimme zu, dass es durchaus nicht nur umeine Mängelliste geht. So un terstütze ich beispielsweiseausdrücklich die Würdigung des Einsatzes der Solda-ten bei der Flutkatastr ophe. Mit etwa 44 000 einge-setzten Soldaten war dies der größte Katastropheneinsatzder Bundeswehr. Die Klagen einiger Soldaten, darannicht beteiligt worden zu sein, machen die große Bereit-schaft und den Wunsch zu helfen nur noch deutlicher.
Als Dresdnerin mit einer intensiven Erinnerung an dieFluttage danke ich – wie ic h gehört habe, tun Sie diesauch – den Soldaten auch von dieser Stelle aus für ihrenEinsatz noch einmal ausdrücklich und herzlich.
Meine Damen und Herren, als Berichterstatterin fürdie Bereiche Betreuung und Seelsorge möchte ich michauf diesen Ausschnitt des Berichtes begrenzen. Ich habeauch in den bisherigen Reden schon einige Kommentaredazu gehört. Auf die Thematik der Auswirkungen derAuslandseinsätze auf die So ldaten und ihre Familienwird so umfangreich wie in keinem früheren Bericht ein-gegangen. Das finde ich auch gut und richtig.Vor dem Hintergrund der Ergebnisse der Studien desSozialwissenschaftlichen Instituts der Bundeswehr überdie Auslandseinsätze im Rahmen von KFOR halte ichdies für besonders wichtig. Do rt heißt es, dass nur jederfünfte Soldat das Gefühl hat, ihm und seiner Familiewerde von den Streitkräften ausreichende Hilfe zuteil. Istdas nicht alarmierend, meine Damen und Herren? Ichhoffe, dass der W ehrbeauftragte zu diesen SOWI-Be-richten – anders als zum Intr anet der Bundeswehr – Zu-gang hat, auch wenn sie nicht veröffentlicht werden. Ge-spräche mit Soldaten haben mir deutlich gemacht, dassdie Motivation im Einsatz ganz entscheidend von der Fa-milienbetreuung zu Hause und den Möglichkeiten, mit-einander zu kommunizieren, abhängt.Ich bin froh, dass erkennbar zunehmend die Meinungvorherrscht, dass Famili enbetreuung kein weichesThema ist, kein „Gedöns“, wie der Bundeskanzler zu sa-gen pflegte, sondern ein zentrales Feld der Fürsor ge fürdie Soldatinnen und Soldaten sowie ihre Familien.
Meine Damen und Herren, ha ben Sie sich schon ein-mal klar gemacht, was die lange und häufige T rennunggerade bei Familien mit kl einen Kindern bedeutet undwie die Berichterstattung in den Medien auf die Angehö-rigen der Soldatinnen und So ldaten wirkt? Viele Frauenfühlen sich überfordert, die Kinder alleine zu erziehen;oft tritt eine Entfremdung zwischen Vätern und Kindernein und es kommt zu Ess- und Schlafstörungen. Auchdie Rückkehr ist oft mit Problemen verbunden. EinigeVäter kommen mit den selbstständiger gewordenen Fa-milien nicht mehr zurecht und flüchten sich in dennächsten Einsatz.Die unzureichende Information über Einsatzbeginnund Einsatzland belastet Soldaten und ihre Familien; daskönnen Sie sich sicherlich vorstellen. Es soll sogar vor-gekommen sein, dass sich So ldaten fünfmal von ihrenLieben mit dem Hinweis ve rabschiedet haben, heutegeht es nun wirklich los, um am Abend desselben Tagesdoch wieder zu den verblüf ften Angehörigen zurückzu-kehren: Der Abmarsch hatte wieder nicht stattgefunden.Dies ist eine Achterbahn der Emotionen nicht nur für dieSoldaten, sondern auch für ihre Partner und nicht zuletztfür ihre Kinder.In den vorangegangenen Berichten des W ehrbeauf-tragten nahm Familienbetreuung weit weniger Raum ein,aber bereits 2002 wurden flächendeckend Familienbe-treuungszentren mit hauptamtlichem Personal gefor-dert. 2001 wurde die Entscheidung kritisiert, zunächstnur einen zweijährigen Probelauf mit hauptamtlichemPersonal in acht bis zehn Zentren durchzuführen. Im Be-richt 2002, den wir heute deba ttieren, wird ausführlichgeschildert, welche besonderen Belastungen die Solda-tenfamilien zu tragen haben und dass daran zahlreichePartnerschaften und Familien zerbrochen sind.Der Wehrbeauftragte weist da rauf hin, dass eine er-folgreiche Arbeit der Betreuungszentren von deren per-soneller und materieller Ausstattung sowie einem zeitge-rechten und umfassenden In formationsfluss abhängt.Wieder wird eine schnells tmögliche Ausstattung mithauptamtlichem Personal gefordert. Ich frage den HerrnVerteidigungsminister – ich hof fe, der Staatssekretärwird ihm das ausrichten –: W arum gehen Sie mit denSoldatenfamilien so nach lässig um? Nehmen Sie dieAlarmsignale nicht wahr?Das Konfliktpotenzial für das Familienleben führt be-reits jetzt dazu, dass Soldaten nach Ablauf der Verpflich-tungszeit von einer W eiterverpflichtung Abstand neh-men, ihre Dienstzeit verkürzen oder auf eine Übernahme
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Christa Reichard
als Berufssoldat verzichten wollen. Es soll sich dabei – soder Wehrbeauftragte – oft um die qualifiziertesten Kamera-den handeln.Herr Minister, es ist höchste Zeit, den Probelauf mitFamilienschicksalen zu beenden und endlich eine wirk-lich flächendeckende professionelle hauptamtliche Fa-milienbetreuung einzurichten. Ergänzend dazu sollen diehervorragenden Initiativen der Soldatenfrauen durchversicherungsrechtlichen Schutz und durch Infrastrukturder Bundeswehr unterstützt werden. Zu Recht werdendas Forum für Soldatenfamilien sowie die Initiative„Frau zu Frau“ besonders ge würdigt und wird ihre Ar-beit als unverzichtbare Hilfe im Rahmen der Betreu-ungsveranstaltungen bezeichnet.Auch die Katholische Arbeitsgemeinschaft für Solda-tenbetreuung widmet sich verstärkt den Soldatenfami-lien. Die Evangelische und die Katholische Arbeitsge-meinschaft für Soldatenbetreuung leisten darüber hinauseinen wichtigen Beitrag für die Soldaten in Deutschlandund bei Auslandseinsätzen in den Oasen. Die Soldaten inKabul warten sehnsüchtig darauf, dass auch dort eineOase gebaut wird. Dies steht zwar nicht im Bericht, wirdaber bei den Seelsor gern vor Ort immer wieder ange-mahnt.
Frau Kollegin, denken Sie bitte an die Redezeit.
Bei der Neugestaltung des Heimbetreuungswesens ist
darauf zu achten, dass der bisherige Leistungsstandard
erhalten bleibt und bestehende Beteiligungsrechte nicht
verkürzt werden.
In Auswertung der Berichte des W ehrbeauftragten
und anderer Dokumente fordert die CDU/CSU-Fraktion
dringend ein neues, umfassendes Betreuungskonzept für
Soldaten und ihre Familien im Inland und im Ausland.
Ich danke Ihnen.
Letzte Rednerin in der Debatte ist die Kollegin Ulrike
Merten, SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr verehrterHerr Wehrbeauftragter, auch ich möchte mich wie allemeine Kolleginnen und Kollegen zu Beginn meiner Aus-führungen bei Ihnen und Ih ren Mitarbeiterinnen undMitarbeitern für diesen aufschlussreichen Bericht bedan-ken. Er benennt wie immer ganz konkret Beschwerdenund Beschwernisse der Sold aten. Wie wir hier schonmehrfach gehört haben, liegt das in der Natur der Sache;denn im Mittelpunkt steht nicht so sehr das Plus, sonderneher das Manko.Frau Kollegin Schäfer, ich will dann doch ein Wort zuIhren Ausführungen und zu dem sagen, was die KolleginReichard eben vorgetragen hat. Wenn man dem Bild, dasSie vor dem Hintergrund dessen zeichnen, was Sie demBericht meinen entnehmen zu können, Glauben schen-ken könnte, dann müssten die Bundeswehrsoldaten nichtzuletzt in den internationa len Einsätzen mit den Fähig-keiten von Yogis ausgestattet sein, die sich 40 Tage ein-mauern lassen können und danach ganz fidel wiederherauskommen. Wir wissen natürlich, dass die Bundes-wehrsoldaten und die -soldatinnen ganz hervorragendeLeistungen erbringen und auch hohe Anerkennung finden.Das geht nicht nur mit Motivation und guter Ausbi ldung,sondern dazu gehört auch eine entsprechende Ausrüs-tung und Ausstattung. Dazu ge hört schließlich eine ent-sprechende Haltung und Fürsor gepflicht des Dienst-herrn. Das ist gegeben. Desw egen stimmt das, was Siedem Bericht des W ehrbeauftragten glauben entnehmenzu können, einfach nicht.
Frau Kollegin Lietz, Sie sind auch schon etwas längerdabei. Sie haben, glaube ich, auch schon mehrfach zumBericht des W ehrbeauftragten gesprochen. Ich weiß,dass seitens der Bundesregierung sehr wohl eine Stel-lungnahme zu dem abgegeben wird, was der Wehrbeauf-tragte in seinem Bericht an Mängeln aufführt und an Er-fordernissen in den Raum stellt. Sie müssten daseigentlich auch wissen.Lassen Sie mich noch eines sagen – Frau KolleginLietz, es wäre schön, wenn Sie mir zuhörten, auch wennwir jetzt schon am Ende der Debatte sind –:
Ich nehme es Ihnen durchaus ab, dass Sie diese Familie,von der Sie eben gesprochen haben, intensiv begleitethaben und davon auch tief betrof fen sind. Ich halte esnur schlechterdings für einigermaßen ungewöhnlich, soeinen Fall hier im Plenum anzusprechen. Das gehört, wieich glaube, nicht hierhin, das hätte man an anderer Stellemachen können.
So viel wollte ich gerne dazu sagen.Ich habe meine Ausführungen damit begonnen, dassim Mittelpunkt dieses Berichts mehr das Manko als dasPlus steht. Aber gerade darin und auch im Vergleich mitvorhergehenden Berichten liegt ja der besondere Auf-schluss. Wenn man diesen Bericht für sich nimmt, er-möglicht er einen Blick in das innere Gefüge und die in-nere Ordnung der Bundeswehr . Wir als Parlament tungut daran, diesen jährlichen Bericht des Wehrbeauftrag-ten nicht nur als Auftrag zur Abarbeitung einer Mängel-oder Beschwerdeliste aufzufassen. Zugleich besteht im-mer wieder die Chance, mit dem gesamten Parlamentüber den Zustand und die innere Befindlichkeit unsererStreitkräfte zu debattieren.Es ist wohl wahr , dass die spezifische Aufgabe desWehrbeauftragten unter an derem darin besteht, V or-gängen nachzugehen, die auf eine V erletzung von
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Ulrike MertenGrundrechten der Soldaten oder der Grundsätze der in-neren Führung schließen lassen. Aber wie wir als Abge-ordnete mit dem Bericht umgehen, gibt Zeugnis darüber,wie ernst wir wirklich den Be griff der Parlamentsarmeenehmen. Wir können diesen Bericht zwar mit Dankbar-keit für die getane Arbeit und auch mit einer gewissenGeschäftsmäßigkeit und Routine zur Kenntnis nehmen,wir können aber auch den An lass nutzen, über die sichabzeichnenden Veränderungen bis tief in das Berufsbildder Soldatinnen und Soldaten hinein eine Debatte anzu-stoßen, die in die gesamte Gesellschaft hineinwirkt.Meine Damen und Herren, die Soldatinnen und Sol-daten der Bundeswehr setzen ganz offensichtlich hohesVertrauen in die Institution des W ehrbeauftragten,denn die gestiegene Anzahl der Eingaben im Berichts-jahr 2002 ist ja keineswegs , wie es die Kolleginnen undKollegen von der Opposition hier teilweise geltend ma-chen wollten, nur ein Beleg für bestehende Beschwer-nisse. Hier wird doch auch deutlich, dass die Soldatinnenund Soldaten um ihre Rechte wissen und Vertrauen nichtnur zum Wehrbeauftragten,
sondern eben auch zu dieser Bundesregierung haben undrelativ sicher sind, dass ihre Beschwerden nicht ungehörtverhallen.
Sie wissen also um ihre Rechte – das will ich auch nochsagen – und drängen natürlic h erst einmal darauf, dassAbhilfe bezüglich der in ihren Beschwerden und Ein-gaben angesprochenen Punkte geschaffen wird. Siedrängen damit aber auch darauf, dass sich das Parlamentwirklich als Ganzes, und zwar jenseits von Truppenbesu-chen in Wahlkreisen oder von Entsendebeschlüssen imBundestag, mit ihrer beruflic hen Wirklichkeit auseinan-der setzt. Darauf haben sie, wie ich finde, auch einenAnspruch. Wir tun gut daran, dies jenseits einer ge-schäftsmäßigen Routine zu machen.Es ist schon viel über di e erhöhte Anzahl von Einga-ben gesprochen worden. W ir haben auch gehört, worandas liegt. Ich muss all das nicht wiederholen. Die Erfor-dernisse, die sich aus den Auslandseinsätzen er geben,haben wir hier inzwischen wirklich eingehend erörtert.Ich will daher noch einmal auf einen Aspekt eingehen,der sich neben den ganz pr aktischen Anliegen, die ein-mal mehr in dem Bericht des W ehrbeauftragten zumAusdruck kommen, ganz generell aufdrängt: W enn esrichtig ist, dass wir inmitten tief greifender sicherheits-und gesellschaftspolitischer Veränderungen stehen, dieeben auch von der Bundeswehr Neuorientierungenverlangen – wir wissen, dass das so ist –, dann müssenwir uns auch fragen, wie wi r damit eigentlich jenseitsfachlicher und militärischer Überlegungen umgehen.Was bedeuten zum Beispiel die veränderten Rahmenbe-dingungen für das Prinzip der inneren Führung? Ichnenne hier nur als Beispiel und stellvertretend den W an-del des Konflikt- und Kriegsbildes, die Entwicklungenin Kultur und Gesellschaft, aber auch die Kooperationmit internationalen Partnern in multinationalen Einsät-zen.Als weiteres Beispiel nenne ich die Bildung; sie istein Schlüsselfaktor für die Innovation der Streitkräfteund die Weiterentwicklung der inneren Führung. Auchhier stellt sich die Frage: En tspricht eigentlich das, waswir an Bildung und Ausbildu ng vermitteln, noch demneuen Bild der Streitkräfte und den Erfordernissen?Müssen wir uns damit nicht stärker auseinander setzen?Was ist mit dem System der Personalauswahl undPersonalförderung? Brauchen wir nicht gerade in diesenZeiten Vorgesetzte, militärische Führer , die über eineausgeprägte politische und ethische Urteilsfähigkeit ver-fügen?All diesen Dingen sollten wir in dem UnterausschussInnere Führung, den wir angeregt haben und der sichdemnächst konstituiert, nachgehen. Das kann ganzfruchtbar werden, wenn wir zwei Dinge tun: wenn wirdie Debatte, die wir dort führen, zum einen ins P arla-ment tragen und es damit üb er den Bericht des Wehrbe-auftragten hinaus mit diesen Fragen befassen und zumanderen diese Debatte in die Gesellschaft hineintragen,sodass sie zwischen der Bundeswehr , dem Parlamentund der Gesellschaft geführt werden kann. Damit kön-nen wir im besten Fall de r Weiterentwicklung desRechtsstaats und des Gemeinwesens dienen. Ich fände esgut, wenn wir dahin kämen.Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Ich schließe die Aussprache.Interfraktionell wird Überweisung des Jahresberichtsdes Wehrbeauftragten 2002 auf Drucksache 15/500 anden Verteidigungsausschuss vorgeschlagen. Sind Sie da-mit einverstanden? – Das ist ganz of fenkundig der Fall.Dann ist die Überweisung so beschlossen.Ich rufe nun die T agesordnungspunkte 6 a und 6 bauf:a) Zweite und dritte Beratung des von den Abgeord-neten Dr. Michael Meister, Otto Bernhardt, LeoDautzenberg, weiteren Abgeordneten und derFraktion der CDU/CSU eingebrachten Entwurfseines Gesetzes zur Aufhebung des V ermögen-steuergesetzes– Drucksache 15/196 –
Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzaus-schusses
– Drucksache 15/436 –Berichterstattung:Abgeordnete Florian PronoldDr. Michael Meister
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Vizepräsident Dr. Norbert Lammertb) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachtenEntwurfs eines Gesetzes zur Aufh ebung desVermögensteuergesetzes– Drucksache 15/408 –Überweisungsvorschlag:Finanzausschuss
RechtsausschussAusschuss für Wirtschaft und ArbeitNach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine halbe Stunde vor gesehen. – Dazu höreich keinen W iderspruch. Dann haben wir das so be-schlossen.Ich eröffne die Aussprache und erteile zunächst demKollegen Florian Pronold für die SPD-Fraktion dasWort.
Sehr geehrte Damen und Herren! Ich gehe von einempositiven Menschenbild aus. Deswegen glaube ich auchan die Lernfähigkeit der Un ion und der FDP. Daher binich verwundert, dass Sie in dieser Art und Weise einenAntrag stellen.
Ich will mich trotzdem in die sachliche Auseinanderset-zung über den vorliegenden Entwurf begeben.Wir halten als SPD daran fest, dass das Gesetz zurVermögensteuer, das derzeit keine Anwendung findet,bestehen bleibt, und lehnen den von der Union sowieden vom Bundesrat eingebrachten Entwurf ab, und zwaraus mehreren Gründen.Zunächst ist zu fragen – das ist vielleicht historischwichtig –: Warum ist es dazu gekommen, dass die V er-mögensteuer nicht mehr erhoben werden kann? Die Ur-sache fällt in Ihre Regierungszeit und damit in Ihre Ver-antwortung. Es ist Ihr Versäumnis
– natürlich! –, weil Sie nichts unternommen haben, umdie ungleiche Bewertung von Geldvermögen undGrundstücksvermögen zu ändern und weil Sie das Ver-mögensteuergesetz derzeit im Bundesrat blockieren. Siehaben die V ermögensteuer verfassungswidrig werdenlassen.
– Natürlich ist es eine Länders teuer; das ist unbestritten.Trotzdem ist das für viele eine wichtige Frage, geradeangesichts der Situation einiger Länderhaushalte. V iel-leicht ist uns die Union bald dankbar , dass wir dem Ge-setzentwurf nicht zustimmen. Ich denke da zum Beispielan Hessen. Sie wissen, dass der Herr M inisterpräsidentKoch seinen Haushalt nur deshalb hat verfassungskon-form aufstellen können, weil er die Mehreinnahmen ausdem Steuervergünstigungsabbaugesetz bereits eingestellthatte. Jetzt blockiert er dieses Gesetz.
Wenn er damit erfolgreich ist, dann wird er einen verfas-sungswidrigen Haushalt haben. V ielleicht wird er uns,wenn er die V ermögensteuer doch braucht, damit seinHaushalt verfassungsgemäß ist, dankbar sein, wenn wirihm dabei behilflich waren, indem wir dem vorliegendenEntwurf nicht zugestimmt haben.
Die Bilanz Ihrer Politik lässt sich sehr schön nachdem Matthäus-Prinzip zusammenfassen: Wer schon hat,dem wird noch gegeben.
Ihre Steuerpolitik in 16 Jahren Kohl war durch eineUmverteilung von unten nach oben gekennzeichnet.Sie haben während Ihrer Regi erungszeit die Normalver-diener in einer W eise ausgenommen, dass der S heriffvon Nottingham vor Neid erblasst wäre.
Die Vermögensteuer, gezahlt von den oberen5 Prozent der Gesellschaft, hat 1996 immerhin umge-rechnet 4,5 Milliarden Euro eingebracht. Würde man dieBewertung der Grundstück e ändern, könnte man sieheute verfassungskonform wieder erheben. Dann wür-den wir über einen Betrag von 20 Milliarden Euro fürdie Länderhaushalte reden, die von den oberen 5 Prozentder Gesellschaft bezahlt würden.
– Warum wir es nicht machen? Die Antwort ist relativeinfach: weil wir derzeit dafür keine Mehrheit im Bun-desrat finden. Sie wissen genauso wie wir, dass wir dieseMehrheit brauchen.Ich will Ihnen an einem Be ispiel deutlich machen,wie sich Ihr Raubzug der Reichen auf Kosten der Armenausgewirkt hat.
Es ist doch eine alte Weisheit: Das, was man den Reichenschenkt, muss man anderen nehmen. Die Familie Quandt,Ihnen vielleicht bekannt, besteht aus drei Personen. AlsSie die Erhebung der Vermögensteuer haben verfassungs-widrig werden lassen, hatte diese Familie BMW -Aktienim Wert von damals 13,5 Milliarden DM in ihrem Besitz.Darauf musste sie 0,5 Prozent Vermögensteuer zahlen.Das ist, wie wenn unsereins a Fuf fzgerl aus der Taschefällt, sagt man in Niederbayern. Die Nichterhebung derVermögensteuer war für diese armen Menschen mit demVermögen von 13,5 Milliarden DM ein schönes Steuer-geschenk von immerhin 67,5 Millionen DM.Wie es so ist, bleibt Gutes nicht lange ungestraft. Des-wegen musste man eine Kompensation finden, um diesesSteuergeschenk zu finanzie ren. Was hat man gemacht?Man hat die Grunderwerbsteuer um 75 Prozent erhöht.
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Florian Pronold– Das war damals eine de r Kompensationen für dieNichterhebung der Vermögensteuer.
– Das war etwas anderes. Ab er die Grunderwerbsteuerwurde erhöht. Das bedeutete für einen Bausparer , dersich damals für 300 000 DM eine Eigentumswohnunggekauft hatte: Er hätte vorher 6 000 DM Grunderwerb-steuer zahlen müssen, nac hher, als die V ermögensteuernicht mehr erhoben werden konnte, waren es10 500 DM, also 4 500 DM mehr.
– Hören Sie einmal zu. – Das bedeutet: 15 000 Bauspa-rer, die sich mühevoll ein Eigenheim ersparen, werdenvon Ihnen als leistungsfähiger als die drei Mitglieder derFamilie Quandt betrachtet.
Es braucht nämlich 15 000 Bausparer, um dieses Steuer-geschenk an die Familie Quandt zu finanzieren. Und dasliegt in Ihrer Verantwortung.
Der jetzt von Ihnen vor gelegte Gesetzentwurf siehtvor, die Vermögensteuer nicht mehr bundesweit einheit-lich zu erheben, sondern di e Frage, ob Vermögensteuererhoben wird oder nicht, in die Kompetenz des einzelnenLandes zu geben. Sie behaupten, die Vermögensteuer seiein bürokratisches Monstrum.
Es sind Gerüchte im Umlauf, die Verwaltungskosten wür-den ein Drittel der Einnahmen aus der V ermögensteuerausmachen, während eine Untersuchung aus Nordrhein-Westfalen nachweist, dass der V erwaltungsaufwand11 Prozent beträgt. Vielleicht ist ja Nordrhein-Westfalenbesser organisiert als andere Bundesländer
und hat deshalb einen niedrigeren Verwaltungsaufwand.Wenn man die V ermögensteuer verfassungskonformwieder erheben würde, wäre der Anteil im Übrigen nie-driger.
– Das sind keine Märchen. Das können Sie in der „Süd-deutschen Zeitung“ nachlesen. Ich nenne Ihnen gern dieentsprechende Stelle aus dem Jahr 1999 und wir stellenIhnen auch gern die entsprechende Untersuchung ausNordrhein-Westfalen zur Verfügung. Daraus können Sielernen, wie man das vernünftig macht.
– Ach, Sie waren das, di e im Zusammenhang mit derDienstwagenbesteuerung von dem Mitarbeiter, der denRolls Royce fährt, gesprochen hat. Jetzt erinnere ichmich wieder.
– Das war völlig verkehrt, aber das ist hier nicht dasThema.Wenn Sie die Gesetzgebungskompetenz an die Län-der geben, haben Sie folgendes Problem: Sowohl dieRechtseinheit als auch die Einheitlichkeit der Lebensver-hältnisse werden natürlich infragegestellt. Das Problemkennen wir zum Beispiel auch aus der europäischen De-batte. Sie wollen einen St euersenkungswettbewerb indiesem Bereich. Das Er gebnis wäre – wir alle würdendas nicht gut finden; wir diskutieren darüber gerade imZusammenhang mit der Zinsbesteuerung –, dass insge-samt weniger Steuereinnahmen erzielt würden, insbe-sondere weniger Steuereinnahmen von den oberen5 Prozent der Gesellschaft, die besonders leistungsfähigsind. Sie wollen, dass diese Gruppe weniger Steuernzahlt.Ihr Gesetzentwurf bedeutet mehr Bürokratie, weil dasBundesland, das die V ermögensteuer einführt, das ge-samte Vermögen des Steuerpf lichtigen zugrunde legenmuss. Wenn dieses Vermögen auf mehrere Bundesländerverteilt ist, müssen die betreffenden anderen Bundeslän-der mitwirken, dieses Vermögen zu ermitteln. Das ist einrelativ kompliziertes Verfahren; denn die Länder ohneVermögensteuer werden wahr scheinlich die erforderli-chen Bewertungen gar nicht mehr vornehmen. Ihr V or-schlag bedeutet also erstens mehr Bürokratie und zwei-tens, dass er praktisch nich t durchführbar ist. – IhremLächeln entnehme ich, dass Sie mir zustimmen, HerrKollege.
Was Sie machen, ist typisch. Ihr V orschlag erinnertmich an die Sache mit den Betriebsprüfern. Einige Län-der werben offensichtlich damit, dass es bei ihnen weni-ger Betriebsprüfungen gibt. Das bedeutet, dass die Be-triebe in diesen Ländern real weniger Steuern zahlenmüssen. Auch diese Debatte haben wir in diesem Hauseschon des Öfteren geführt. Ich habe den Eindruck, dassdie mit Ihrem Vorschlag eröffnete Möglichkeit der Steuer-verkürzung ein wichtiger Standortfaktor für das eine oderandere Bundesland sein soll.
– Das ist keine V erleumdung; das ist die W ahrheit. Siewissen ja: Eine V erleumdung ist umso schlimmer , jemehr sie der Wahrheit entspricht. In diesem Sinne war eseine ganz schlimme V erleumdung, weil nämlich das,was ich gesagt habe, wahr ist.
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Florian PronoldEin letzter Punkt. Heute Vormittag konnten wir wie-der erkennen, dass die Union den USA in vielen Dingensehr nahe steht. Ich würde mich freuen, wenn dieses va-sallenähnliche Verhalten, das die Union in der Außenpo-litik an den T ag legt, auch bei der V ermögensbesteue-rung Einzug finden würde.
Die USA erzielen nämlich 3,9 Prozent ihrer Steuerein-nahmen aus der Vermögensbesteuerung. Die Bundesre-publik dagegen erzielt nur 0,9 Prozent ihrer Steuerein-nahmen aus der Vermögensbesteuerung.
– Doch! Die Erbschaftsteuer gehört zur Vermögensteuer.Ich nehme an, dass Sie das wi ssen und dass Sie meinerBelehrung nicht bedürfen.Sie jammern sonst immer da rüber – meistens unbe-rechtigt –, dass Deutschland Schlusslicht ist. In diesemFall trifft es zu: Deutschl and ist zusammen mit Öster-reich Schlusslicht bei der Vermögensbesteuerung. Aberder Grundsatz unseres Steuersy stems ist, dass die star-ken Schultern mehr tragen sollen als die schwachen.Dieses Prinzip wird durch Ih ren Gesetzentwurf verletzt,weil nämlich die Reichen außen vor bleiben und sicharm rechnen können.
Deswegen werden wir Ihrem Gesetzentwurf nicht zu-stimmen. Wir bleiben bei dem Prinzip „Robin Hood“und gehen nicht über zu dem Prinzip „Sherif f von Not-tingham“, dem Sie hier folgen.Vielen Dank.
Nächster Redner ist de r Abgeordnete Dr . Michael
Meister, CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-ren! Angesichts des V ortrages des Kollegen Pronoldmuss man sagen:
Man darf sich am heutigen Tage nicht wundern, dass dieZahl der arbeitslosen Menschen auf 4,6 Millionen ge-stiegen ist. Ihre Politik, die Sie gerade dar gestellt haben,hat in den letzten 12 Monaten einen Anstieg der Zahl derArbeitslosen von über 400 000 bewirkt. Sie haben vonden Schwächsten der Gesellschaft gesprochen. In diesemJahr haben Sie 400 000 Menschen alleine gelassen undin die Arbeitslosigkeit gedrängt. Das ist eine Folge IhrerPolitik, die allein aus Ideo logie besteht und keinerleiSachkenntnis von den wirtschafts- und finanzpolitischenZusammenhängen aufweist.
Machen Sie endlich Schluss mit dieser Ideologie! Fan-gen Sie an, Sachkenntnis in Ihre Politik einzubeziehen!Ich will Ihnen einmal sagen, was die Bundesbank zudem, was Sie hier vor getragen haben, feststellt. Ich zi-tiere den Bericht der Bundesbank aus dem März 2003:Zudem muss Klarheit darüber bestehen, dass Pro-duktion und Leistung, die Schaf fung von W ertenund Arbeitsplätzen Vorrang vor der Verteilungspoli-tik haben.Herr Pronold, das ist eine klare Antwort auf Ihre V ertei-lungspolitik. Sie ist der fa lsche Weg. Sie richten denStandort Deutschland, die W irtschaft und die Arbeits-plätze, mit Ihrer Ideologie zugrunde. Hören Sie endlichauf damit!
Die Bundesbank sagt in ihrem Bericht noch mehr:Die gegenwärtige Wachstums- und Vertrauenskrisefindet ihren Ausdruck in der seit Jahren schwachenInvestitionsneigung der Unternehmen. Angesichtsder hohen Unsicherheiten erscheinen die Ertrags-aussichten als zu gering.Deshalb wird nicht investie rt und deshalb ist dringendKlarheit notwendig.Ich bedanke mich herzlich dafür, dass Sie Klarheit ge-schaffen haben. Wir wussten bis zu dieser Minute nicht,was die SPD im Hinblick auf die V ermögensteuer will.Es wurde laviert und gesagt, einige SPD-regierte Länderwürden sie möglicherweise wollen. Der Herr Bundes-kanzler, der leider nicht anwe send ist – er hätte sich mitSicherheit über Ihre Rede gefreut –, hat gesagt, er wollekeine Vermögensteuer.
Seit ein paar Minuten wissen wir: Die SPD-Bundestags-fraktion will anders als der Bundeskanzler, der in der Öf-fentlichkeit das Gegenteil verkündet, die Einführung derVermögensteuer in Deutschland.
– Sie haben eben von diesem Pult aus dar gestellt, dassSie die V ermögensteuer wollen. W ir haben das zurKenntnis genommen. Seit diesem Zeitpunkt ist klar: DieSPD-Bundestagsfraktion will in Deutschland eine V er-mögensteuer.
– Ich rege mich nicht auf. Ic h stelle fest: Es gibt einenDissens zwischen dem Bundeskanzler und der Fraktion,die ihn angeblich unterstü tzt. Ich bin Herrn Pronolddankbar, dass er dies hier so klar vorgetragen hat.
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Dr. Michael MeisterAlle sieben Minuten geht in Deutschland ein Unter-nehmen verloren. 400 000 Menschen verlieren pro Jahrdurch Ihre Politik, die zu Unternehmensinsolvenzenführt, ihren Arbeitsplatz. Lehrstellen, die wir in Deutsch-land dringend benötigen, können nicht geschaf fen wer-den, da Sie mit Ihrer Politik Unternehmen zugrunderichten. Der Ifo-Geschäftsklimaindex ist so niedrig wienoch nie. Im Maschinenbau zu m Beispiel gibt es einenAuftragsrückgang.
Gehen Sie einmal in die Heimatstadt Ihres Bundes-kanzlers: Auf der Hannover -Messe in diesem Jahr wer-den 800 Aussteller weniger sein als in den V orjahren.Warum kommen weniger Aussteller zur Hannover -Messe? Weil Sie eine Wirtschaftspolitik machen, die fürdiesen Standort keine Perspektive bietet.In dieser Situation kündigen Sie den Menschen inDeutschland an: Die SPD-Bu ndestagsfraktion will wei-tere Substanzsteuern. In dieser Situation wäre es notwen-dig gewesen, klar zu sagen: Wir wollen keine Substanz-steuern in Deutschland. Das ist das Signal, das gebrauchtwird. Aber nun besteht Klarheit und nun wissen wir, wo-rüber wir mit Ihnen zu diskutieren haben und womit wirrechnen können.Wir brauchen dringend ein höheres Wachstum undüber das Wachstum mehr Steuereinnahmen.
Herr Pronold, wenn ein um nur 6 Promille höheresWachstum gelingen würde, dann hätten wir pro Jahr3,5 Milliarden Euro mehr Steuereinnahmen. Das ist ge-nau das Volumen, das Sie angeblich anstreben. MachenSie endlich eine Politik, di e für mehr W achstum sorgt,die diese 6 Promille herbeiführt! Dann brauchen Sie inDeutschland keine Vermögensteuer zu aktivieren.Wir fordern eine Politik, die endlich Perspektivennach vorne schafft und die dafür sor gt, Investitionsklar-heit und vernünftige Rahmenbedingungen zu schaf fen.Ich hätte mir gewünscht, dass wir in der heutigen Ab-stimmung zu dem Er gebnis kommen: Der DeutscheBundestag stellt fest, dass die V ermögensteuer abge-schafft wird.
Jetzt sagen Sie: W enn wir sie als Bundesgesetz ab-schaffen, dann wird sie möglicherweise auf Landesebenewieder eingeführt. Sie hätte n in der Debatte zur erstenLesung dieses Gesetzentwu rfes anwesend sein sollen.Damals hatte ich Ihnen angeboten – die FDP hatte signa-lisiert, dass sie zustimmt –,
gemeinsam die Vermögensteuer, die als eine Steuerartim Grundgesetz verankert ist, aus dem Grundgesetz zustreichen. Dann wäre sie als Bundessteuer und als Lan-dessteuer nicht mehr vorhanden und dann gäbe es keineVermögensteuer mehr. Stimmen Sie unserem V orschlagzu! Dann brauchen Sie keine Angst mehr zu haben, dassirgendein Bundesland diese Steuer einführt!
Das ist eine Ausrede von Ihnen. Sie haben keinen Mutzu Entscheidungen.Meine Damen und Herren, dieselbe Substanzbesteue-rung betreiben Sie bei der Gewerbesteuer.
Ich bitte Sie, sich einmal anzuschauen, was momentanbei der Gewerbesteuer passiert. Sie von den Grünen ha-ben vielleicht nicht gelesen, was Ihre Bundestagskolle-gen von der SPD vorhaben. Sie sollten einmal nachlesen,was der Herr Poß dazu gesagt hat. Er hat sich im Rah-men der Gemeindefinanzreform eindeutig für eine Reak-tivierung der Substanzbesteuerung ausgesprochen.
Diese Vorschläge gibt es bei Ihnen.Sie wollen den Unternehmen in der schwierigen Wirt-schaftslage, die wir heute haben, über die Substanzbe-steuerung Liquidität entziehen. Sie führen mit drei Bun-desländern, mit Schleswig-Ho lstein, Berlin und Nord-rhein-Westfalen, eine Debatte über die Erbschaftsteuer.Sie wollen die Erbschaftste uer erhöhen und auch damitden Unternehmen Liquidität entziehen. So vertreiben SieUnternehmen aus Deutschland. Sie richten Unternehmenzugrunde und Sie betreiben damit eine Politik nicht ge-gen die Unternehmer, sondern gegen die Arbeitnehmer ,die dabei ihren Arbeitsplatz verlieren. Mit Ihrer Politiktreffen Sie die Schwächsten der Gesellschaft. Dafür tra-gen Sie, Herr Pronold, und Ihre Fraktionskollegen dieVerantwortung.
Wir als Union fordern eine klare Ansage zur V ermö-gensteuer. Wir wollen, dass sie in Deutschland gänzlichverschwindet. Wir fordern ei ne klare Ansage zur Erb-schaftsteuer. Wir wollen keine Erhöhung der Erbschaft-steuer und wollen für Betriebsüber gänge Erleichterun-gen schaffen, damit für diese Nachfolgeregelungenmöglich sind und Betriebe nicht ohne Grund zerstörtwerden. Hinsichtlich der Gewerbesteuer wollen wir eineGemeindefinanzreform, die keine Substanzbesteuerungkennt. Wenn wir diese klaren Ansagen machen undkeine Neiddebatte führen, wie Sie es getan haben, dannkommen wir endlich voran.Ich möchte Ihnen einige Punkte nennen, zu denen Sieeine Neiddebatte führen: Mit Ihrer Unternehmensteu-erreform 2001 haben Sie dafür gesor gt, dass Körper-schaften keine Körperschaftsteuer mehr zahlen, dafüraber Arbeitnehmer und der Mittelstand eine höhere Steu-erlast zu tragen haben.
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. April 2003 3077
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Dr. Michael Meister
Was ist denn das für eine St euerpolitik, bei der Körper-schaften keine Steuern zahlen, aber Arbeitnehmer undMittelstand herangezogen werden? Was hat das mit so-zialer Gerechtigkeit zu tun, von der Sie immer sprechen?
Sie legen ein Steuervergünstigungsabbaugesetzvor. Darin steht, dass die Spekulationsfrist für privateVeräußerungsgewinne wegfällt und dass derjenige, derals Daytrader an der Börse un terwegs ist, seinen Steuer-satz um 200 Prozent reduziert bekommt, weil er seineGewinne statt mit seinem pe rsönlichen Steuersatz jetztnur noch mit 15 Prozent versteuern muss. Das machenSie! Sie treten für eine ni edrigere Besteuerung von Spe-kulationsgewinnen ein. Ist da s eine Politik für sozialeGerechtigkeit? Ich sage einde utig Nein. So etwas ma-chen wir nicht mit. W ir sind für soziale Gerechtigkeitund Sie machen Politik für Spekulanten in Deutschland.
– Doch, so ist es, Frau Hendr icks. Lesen Sie doch nach,was in dem Entwurf Ihres Steuerver günstigungsabbau-gesetzes zur Besteuerung privater V eräußerungsge-winne steht! Lesen Sie nach, was der Wegfall der Speku-lationsfrist für den Tageshändler an der Börse bedeutet!Dieser Wegfall bedeutet für ihn eine Steuersenkung um200 Prozent. Das wollen wir nicht.
Das hat nach unserer Meinung mit sozialer Gerechtigkeitnichts zu tun.
– Ich rechne es Ihnen gern vor. Dann verstehen Sie aucheinmal Ihren eigenen Gesetzentwurf.
– Stellen Sie eine Zwischenfrage, dann bekommen Sie eserläutert.Sie haben die Steueramnestiepläne angesprochen.Der Bundeskanzler hat erwartet, dass aufgrund der Am-nestieregelung Kapital in Höhe von 100 Milliarden Euronach Deutschland zurückkäme. Gleichzeitig diskutierenSie hier – Herr Pronold kündigt das an – die W iederein-führung der V ermögensteuer. Glauben Sie denn, dassauch nur ein einziger Mens ch Geld nach Deutschlandzurückführt, wenn Sie ihm hier mit der Vermögensteuerdrohen? Ihr Bundesfinanzminister ist hier ein Stück weitrealistischer. Er geht nur von Steuermehreinnahmen inHöhe von 5 Milliarden Euro aus.Solange Sie davon ausgehen, die V ermögensteuer zuaktivieren, solange Sie De batten über die Erbschaft-steuer führen, solange Sie den Menschen mit Kontroll-mitteilungen drohen, wird es keinen einzigen Menschengeben, der sein Kapital in ei n Land transferiert und dortanlegt, in dem das Bankgehe imnis ausgehöhlt wird, indem man eine riesige Bürokratie schaf ft, in dem manplötzlich 300 Millionen Konten kontrollieren möchte.Mit dieser Kontroll- und Bürokratiewut müssen Sie end-lich aufhören. Ihr Wirtschaftsminister sagt, er wolle Bü-rokratie abbauen. Sie aber tu n in Ihrer Politik genau dasGegenteil dessen, was Sie in Ihren Sonntagsreden an-kündigen.
Diese Debatte führen wir in einer Situation, in der einHerr Lauterbach, der in der vom Bundeskanzler einberu-fenen Kommission zur Reform der Gesundheitspoli-tik sitzt, den Leuten droht, dass sie auf ihre Kapitaler-träge auch noch eine Ges undheitsabgabe in Höhe vonnahezu 11 Prozent zahlen müssen. Das ist doch ein Witz!Glauben Sie denn, dass Sie den Finanzmarkt Deutsch-land mit Vermögensteuer, mit Erbschaftsteuer, mit Kon-trollmitteilungen, mit Sozialabgaben auf Kapitalerträgeattraktiv machen können? Das ist der völlig falscheWeg! Wenn Sie diese Debatten endlich beenden undKlarheit schaffen würden, dass das alles nicht kommt,wird Ihre Wirtschaftspolitik an dieser Stelle endlich ver-nünftig.
Als das Bundesverfassungsgericht damals die V er-mögensteuer als nicht verfa ssungsgemäß angesehen hatund wir daraufhin diese ausg esetzt haben, haben wirzwei Steuern erhöht, um den dadurch entstandenen Aus-fall zu kompensieren. Das war zum Ersten die Grunder-werbsteuer und zum Zweiten die Erbschaftsteuer. Wennich sage „wir“, heißt das, Sie waren dabei und haben dasmitbeschlossen.
Nicht allein die Koalition, sondern Sie und auch dieSPD-regierten Länder haben dafür gestimmt.
Herr Pronold, Sie haben von diesem Pult aus gesagt,Sie wollten die Vermögensteuer wieder aktivieren. Dannsollten Sie aber auch diese beiden Steuern, also die Erb-schaftsteuer und die Grunderwerbsteuer, wieder senken.Davon habe ich allerdings nichts gehört. Es muss eineKorrektur erfolgen. Doch Si e denken grundsätzlich nuran Steuererhöhungen, die zu höheren Belastungen derMenschen in diesem Land führen. Dieses Denken istfalsch. Das muss sich endlic h ändern. Wir müssen da-rüber nachdenken, wie wir die Steuer - und Abgabenlastsenken, damit sich Leistung in Deutschland wiederlohnt, und dürfen nicht das Gegenteil tun.
Zum Thema Verwaltung und Bürokratie. Wir sindglücklich darüber, dass es in Deutschland nur noch eine
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3078 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. April 2003
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Dr. Michael MeisterSteuer gibt, nämlich die Grundsteuer , die von den Ein-heitswerten abhängt und dass das bei allen anderen Steu-ern nicht mehr der Fall ist. W ir sind auch glücklich da-rüber, dass wir im Rahmen der Gemeindefinanzreformdie Chance haben, die Grundsteuer zu reformieren, da-mit wir in Zukunft auch bei ihr auf Einheitswerte, Fort-schreibungen und Bewertungen von Grundstücken in deralten Form verzichten können. Das wäre ein großer Fort-schritt beim Abbau von Bürokratie und Verwaltung.
Wenn Sie darüber nachdenken würden, dann würden Sieetwas für Deutschland tun.Stattdessen haben Sie von diesem Pult aus vorgeschla-gen, eine Steuer einzuführen – die Vermögenssteuer –, fürdie man die Einheitswerte br aucht. Das wäre eine voll-kommen falsche Entwicklung, die dazu beiträgt, Büro-kratie dauerhaft zu etablieren. Nein, Sie sollten Bürokra-tie an dieser Stelle dauerhaft abbauen.
Sie haben zu Recht die internationale Ebene ange-sprochen und haben die USA ausgewählt. Ich will Sieaber darauf hinweisen, dass es auch in der EU hinsicht-lich der Kapitalgesellschafte n den Trend gibt, dass dienationalen Gesetzgeber immer mehr dazu über gehen,Substanzsteuern abzuschaffen. Wenn wir innerhalb derEU wettbewerbsfähig sein wollen, dann müssen auch beiuns die Substanzsteuern weg. Verlassen Sie den falschenWeg, der die W ettbewerbsfähigkeit beeinträchtigt, undbegeben Sie sich mit uns auf den richtigen Weg!Wenn Sie etwas weniger Ideologie im Kopf hättenund ein bisschen mehr Sach verstand walten lassen wür-den, dann könnten wir, wie ich glaube, in der Steuerpoli-tik vernünftig vorankommen.
Ich bedauere, dass das noch nicht gelungen ist. Ich be-dauere auch, dass die Debatte zur ersten Lesung, in derwir die Grundpositionen ausget auscht haben, bei Ihnenzu keinerlei Reaktion geführt hat. Sie sind in Ihrem Vor-trag sogar hinter das zurück gefallen, was Sie in der ers-ten Lesung gesagt haben.Vielen Dank.
Das Wort hat nun der Abgeordnete Hubert Ulrich,
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Meister, es tut mir Leid, das sagen zu müssen,aber das, was Sie hier gerade abgeliefert haben,
war eine ziemlich lächerliche Nummer . Das wissen Sie,glaube ich, auch selber.
Sie kennen die Position der rot-grünen Koalition in derFrage der Vermögensteuer ganz genau. Der Bundeskanz-ler hat sie vor einigen Monaten sehr deutlich gemacht.
– Man kann immer versuchen, aus Redebeiträgen dasherauszuinterpretieren, was man gerne hätte. Das hataber mit dem, was wir in dieser Koalition wollen, nichts,aber auch gar nichts zu tun.
Man kann natürlich lange über den Sinn der V ermö-gensteuer diskutieren; darüber sind wir uns, wie ichglaube, einig. Zunächst hört sich das Ziel, das mit derVermögensteuer verfolgt wird, sehr gerecht an: Durchdie Besteuerung der hohen Einkommen sollen die Rei-chen dazu gebracht werden , sich am Steueraufkommendes Staates zu beteiligen. Doch wenn man genau hin-sieht, was diese Koalition in den letzten fünf Jahren anEntlastung gerade für die Bezieher unterer Einkommengebracht hat,
dann ist das das Gegenteil von dem, was Sie eben gesagthaben. Auch zu diesem Punkt haben Sie, Herr Meister ,großen Unsinn erzählt.
Ich muss die Höhe der Steuersätze nicht wiederholen;wir kennen sie mittlerweile alle. V on den Steuersätzen,sowohl dem Eingangs- wie dem Spitzensteuersatz, hät-ten Sie früher nur geträumt.
Gerade die Bezieher der un teren und mittleren Einkom-men, die mit 12 bis 18 Prozent zum Einkommensteuer-aufkommen beitragen, wurden von Rot-Grün bis zu36 Prozent entlastet, und das ohne Vermögensteuer. Dasist die Realität.Die Diskussion wird aber erst durch Ihren Antrag sorichtig verrückt, durch nichts anderes.
Wir haben in diesem Hause nicht den Antrag gestellt, dieLänder in die Lage zu versetzen, die V ermögensteuereinzuführen. Sie haben das vor geschlagen, nicht dieseKoalition. Ich kann sehr lange darüber nachdenken, wasSie damit eigentlich bezwecke n wollen. Wir sind nicht
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Hubert Ulrichfür die Vermögensteuer, und zwar aus guten Gründen: Eshandelt sich bei ihr um eine Substanzsteuer . Sie würdezur Kapitalflucht beitragen. Es gibt darüber hinaus nochviele andere Gründe, die Vermögensteuer abzulehnen.Zudem muss man zwischen einer privaten und einerbetrieblichen Vermögensteuer differenzieren. Die be-triebliche Vermögensteuer wäre ganz eindeutig schäd-lich für die Unternehmen.
Sie würde unserer Unternehmensteuerreform diametralentgegenlaufen. Darum kann es wirklich nicht gehen.Worum geht es bei Ihrem Antrag? W as hätte diesesLand davon, wenn man eine Unternehmensteuer aufLandesebene einführen könnte? Zum einen geht es ausrein rechtlichen Erwägungen praktisch nicht.
Dafür gibt es eine ganze Re ihe von Gründen; das sagensowohl Verfassungs- als auch Steuerrechtler. Ich will esIhnen kurz zitieren: Der Steuerrechtler Crezelius hat ge-sagt, dass die Länder keine eigenen V ermögensteuerge-setze erlassen können, weil sie keine Steuer gesetzge-bungskompetenz haben. Der V erfassungsrechtlerSiekmann hat gesagt, dass der Landesgesetzgeber nichtberechtigt ist, Steuergesetze einzuführen, die der Bundersatzlos aufgehoben hat.Zum anderen frage ich: Was würde das in der Praxisbedeuten? Eine Person wohn t beispielsweise in Nord-rhein-Westfalen und hat eine Immobilie in Hessen.Nordrhein-Westfalen hat in meinem Beispiel die Vermö-gensteuer eingeführt, Hessen aber nicht. Wie würden Siedas voneinander abgrenzen? Es gibt eine ganze Mengepraktischer Probleme, so etwas umzusetzen.
Viel schlimmer bei dieser Diskussion, die die CDU/CSU hier betreibt, finde ich Folgendes: Diese Regierungbemüht sich, durch die Abgeltungsteuer Kapital ausdem Ausland in dieses Land zurückzuholen. Die Diskus-sion um die Vermögensteuer, die Sie und nicht die rot-grüne Koalition angestoßen haben,
trägt dazu bei, dass sehr viele Menschen wieder sehr zu-rückhaltend sein werden. Da s ist schon eine Pervertie-rung dieser Diskussion, die Sie und nicht diese Koalitionzu verantworten haben.
Wenn ich böswillig wäre, könnte ich den Faden nochein Stück weiter spinnen.
Ich könnte sagen: Ihre eigentliche Hoffnung ist, dass dieAbgeltungsteuer nicht greift, weshalb Sie die Vermögen-steuerdiskussion, die eine reine Geisterdiskussion ist,immer noch am Leben halten.
Ich befürchte, dass das Ihre eigentliche Absicht ist.
Ihnen geht es darum, dieses Land und die Steuerpolitikder Koalition weiter zu schädigen. Das können Sie hierruhig offen zugeben.Wie gesagt: Für das Bündnis 90/Die Grünen und – sodenke ich – auch für die SPD kann ich nur sagen, dasswir keine Vermögensteuer wollen.
Der Kanzler hat das ganz klar erklärt. W eder von derSPD noch von den Grünen gibt es einen Antrag auf Wie-dereinführung der Vermögensteuer; das ist Fakt. Darankommen Sie nicht vorbei. Das ist mit ein Grund dafür ,dass wir Ihrem Antrag nicht zustimmen werden.Vielen Dank.
Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der
Kollege Carl-Ludwig Thiele, FDP-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrtenKolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Ulrich, es istschon erstaunlich: Wir debattieren hier über ein Gesetz,welches formal noch besteht, seit dem 1. Januar 1997aber überhaupt nicht mehr angewandt wird. Wozu habenwir in unserem Land eigentli ch Gesetze, die nicht ange-wandt werden und die tatsächlich auch niemand wieder-beleben will? Das Sinnvollste wäre doch, dieses Gesetzabzuschaffen, weil es keinen Sinn mehr hat.
Wenn der W irtschaftsminister Clement der Auf fas-sung ist, wir müssten Bürokratie abbauen, dann kann ichdoch nur fragen: W as machen wir mit diesem Gesetz?Entweder wird es mit Leben gefüllt oder nicht. Am2. Februar gab es in Nieder sachsen eine Landtagswahl.
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Carl-Ludwig ThieleVor den Landtagswahlen wollte Herr Gabriel es mit Le-ben füllen.
Es hat eine lange Diskussi on gegeben, in deren An-schluss es wieder zur Se ite genommen wurde. Nunschlummert es weiter vor sich hin.Herr Pronold, jetzt komme ich zu Ihnen. Diese Formder klassenkämpferischen T öne habe ich nun wirklichnicht erwartet. Es war wahr scheinlich gut, dass derKanzler bei Ihrer Rede nicht anwesend war , weil ichnicht weiß, ob alle Kolleg innen und Kollegen der SPDdas, was Sie hier gesagt haben, teilen.
Eines muss man sehen: Natürlich eignet sich die Ver-mögensteuer hervorragend zur Polemisierung. V or derAussetzung der Vermögensteuer resultierten 60 Prozentder Vermögensteuereinnahmen aus betrieblichemVermögen. Es kann doch keinen Sinn er geben, ein Ver-mögen in einem Betrieb unab hängig von der Ertragsfä-higkeit des Betriebs zu besteuern. Wenn der Betrieb leis-tungsfähig ist, hat er die direkten Steuern zu zahlen.Wenn er aber nicht leistungsfähig ist, möglicherweisesogar rote Zahlen schreibt, würde die V ermögensteuerzusätzlich obendrauf kommen und mit dazu beitragen,dass weitere Arbeitsplätze abgebaut werden. Das kanndoch nicht der richtige Weg sein.
Insofern bitte ich in dieser Diskussion um etwas mehrRedlichkeit, insbesondere da heute bekannt gegebenwurde, dass die Zahl der Ar beitslosen auf 4,6 Millionengestiegen ist. Einige der Gründe dafür sind Rot-Grünund das so genannte Steuervergünstigungsabbauge-setz, das unser Land ein halbes Prozent W achstum ge-kostet hat. Die Leute sind verunsichert; denn das Ein-zige, was sie von Rot-Grün immer hören, ist, dass für dieLösung eines jeden Problems eine neue Steuer erhobenoder eine Steuer erhöht werden muss.
Dazu sagen wir als Liberale ganz klar: Das ist der fal-sche Weg. Wir müssen bei den Ausgaben ansetzen; dennalles, was sich der Staat in Form von Einnahmeerhöhun-gen nimmt,
fehlt beim Konsum und im investiven Bereich.
Wir stimmen dem Gesetzentwurf der Union aus-drücklich zu. Ich gehe davon aus, dass wir diese Diskus-sion in dieser Legislaturperi ode leider noch häufiger zuführen haben, weil – das hat Herr Pronold sehr deutlichgesagt – Sie die Vermögensteuer wollen. Aus momentanopportunistischen Gründen wollen S ie sie zurzeit nichtwiederbeleben, aber wenn si ch die Lage wieder ändert,dann glaube ich schon, dass Sie sich der Vermögensteuerwieder erinnern werden.Was wir benötigen – auch das ist einer der Gründe,warum wir den Entwurf der Union unterstützen –, sindPlanbarkeit und Verlässlichkeit. Ein Gesetz, das seit1997 nicht mehr angewandt wird, muss abgeschafft wer-den,
es sei denn, man will es eventuell wiederbeleben. W irwollen es abschaffen. Der Weigerung von Ihrer Seite, esabzuschaffen, entnehme ich, dass Sie es wiederbelebenwollen. Schaffen Sie Klarheit und hören Sie auf, dieLeute zu verunsichern! Verunsicherung schadet unseremStandort. Ich hoffe, dass Sie im Sinne der Ruck- oder Vi-brationsrede des 14. März 2003 den Mut finden, den ei-nen oder anderen ideologischen Ballast abzuwerfen.Herzlichen Dank.
Ich schließe die Aussprache.Wir kommen zur Abstimmung über den Gesetzent-wurf der Fraktion der CDU/CSU zur Aufhebung desVermögensteuergesetzes auf Drucksache 15/196. Der Fi-nanzausschuss empfiehlt auf Drucksache 15/436, denGesetzentwurf abzulehnen. Ich bitte diejenigen, die demGesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzei-chen. – W er stimmt dagege n? – Enthaltungen? – DerGesetzentwurf ist in zweiter Beratung abgelehnt. Damitentfällt nach unserer Geschä ftsordnung die weitere Be-ratung.Zum Tagesordnungspunkt 6 b wird interfraktionelldie Überweisung des Gesetzentwurfes auf Drucksache15/408 an die in der T agesordnung aufgeführten Aus-schüsse vorgeschlagen. Gibt es dazu anderweitige V or-schläge? – Das ist of fenkundig nicht der Fall. Dann istdie Überweisung so beschlossen.Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 7 auf:Beratung der Unterrichtung durch die Bundes-regierungWaldzustandsbericht 2002– Ergebnisse des forstlichen Umweltmoni-torings –– Drucksache 15/270 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung undLandwirtschaft
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und ReaktorsicherheitAusschuss für Bildung, Forschung undTechnikfolgenabschätzungAusschuss für TourismusHierzu liegt ein Entschließungsantrag der Fraktionenvon SPD und Bündnis 90/Die Grünen vor.Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine halbe Stunde vor gesehen. – Dazu höreich keinen Widerspruch. Wir haben das so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Parlamen-tarischen Staatssekretär Dr. Thalheim das Wort.
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Dr
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten
Kolleginnen und Kollegen! „Der Wald kehrt zurück“, so
titelte am 30. März eine große deutsche T ageszeitung.
Ich kann dem nur beipflichten , ist doch in den letzten
Jahrzehnten die bewaldete Fläche in Deutschland stetig
gewachsen, und zwar um rund 100 Quadratkilometer
jährlich.
– Natürlich in den letzten Jahren noch mehr.
Das ist die gute Nachricht. W ie so häufig im Leben
gibt es natürlich auch beim Thema Wald eine schlechte
Nachricht. Sie lautet, dass sich der Waldzustand in den
letzten Jahren nicht mehr in dem Maße gebessert hat wie
noch vor einigen Jahren. W o liegen die Ursachen? Si-
cherlich war es leichter , die Schwefelemissionen zu re-
duzieren als die Schadstoffemissionen, die uns nach wie
vor Probleme bereiten.
Kurz einige Anmerkungen zur Situation der Wälder
in Deutschland. Wir haben nach wie vor auf 44 Prozent
der Waldfläche eine leichte Kronenverlichtung, über ein
Drittel des W aldes dagegen weist keine Schäden aus.
Nahezu unverändert weisen 26 Prozent der Fichtenflä-
che, 13 Prozent der Kiefer nfläche und 32 Prozent der
Buchenfläche deutliche Blatt- und Nadelverluste auf.
Aber auch hier ist zu dif ferenzieren: Während uns noch
in den letzten Jahren die Laubbäume, insbesondere die
Eiche, große Sorgen bereitet haben, ist hier eine Besse-
rung festzustellen. Aber die Besserung geht im Wesent-
lichen auf positive Witterungseinflüsse zurück. Die
Witterung war für die Eiche in den letzten Jahren außer-
ordentlich günstig. Wir hatten mit weniger Krankheiten
und Schädlingen zu tun und es hat auch Besserungen der
Luftqualität gegeben.
Das ist auch der Punkt, an dem wir in der Zukunft wei-
ter ansetzen müssen. Auch wenn in der Luftreinhaltung
in den letzten Jahren viel erreicht wurde – ich sprach
schon vom Schwefel –, so zählt doch jede T onne Stick-
stoff, die weniger emittiert wird. Das heißt: Die Bundes-
regierung wird ihre konsequente Politik für den Wald fort-
setzen, insbesondere bei der Luftreinhaltung. Hier ist die
Verringerung der Schadstoffemissionen aus Kraftwerken
und Industrieanlagen sowie der Tierhaltung zu nennen.
Weiter ist die Energie- und Klimaschutzpolitik auf-
zuführen. Hier sind insbesondere die Ener gieeinsparung
und die Steigerung der Energieeffizienz zu nennen. Wei-
terhin ist mit Nachdruck die Ökosteuer zu nennen sowie
die verstärkte Nutzung regenerativer Energien.
Insbesondere in Bezug auf die Nutzung von Holz – da
spielt die wirtschaftliche Seit e eine Rolle – hat die rot-
grüne Bundesregierung seit 1998 Maßstäbe gesetzt. Ich
habe selbst erlebt, dass mi r in Bayern auf Bauernver-
sammlungen, auf denen man in der Regel nicht allzu viel
Anerkennung findet, gesagt wo rden ist: Was ihr in Be-
zug auf die Nutzung von Bioenergie, was Holz und Bio-
gas anbelangt, durchgesetzt habt, verdient unsere Aner-
kennung. Wenn man das auf einer Bauernversammlung
im Bayerischen Wald hört, dann ist das für einen Sozial-
demokraten schon ein sehr schönes Erlebnis. Das zeigt,
was auf diesem Gebiet geleistet wurde.
Wir müssen beim Thema Luftreinhaltung selbstkritisch
die Agrarpolitik nennen; denn die Ammoniakemissionen
kommen zu rund 50Prozent aus der Landwirtschaft. Es ist
einer der Schwerpunkte unserer Politik, diese Emissionen
zu mindern. Damit sind wir bei der Frage, wie Tierhaltung
betrieben wird, wie Güllebehälter abgedeckt werden und
welche ähnlichen Maßnahmen ergriffen werden können,
um diese Emissionen zu reduzieren.
Natürlich muss auch die Forstwirtschaft ihren Bei-
trag leisten. Sie tut das durch die Stabilisierung der
Waldökosysteme. Hier ist das forstliche Umweltmonito-
ring zu nennen, die Bundes waldinventur, die wir ge-
meinsam mit den Ländern machen, um neue Erkennt-
nisse zu gewinnen und die Datenbasis zu verbreitern.
Wir sind auf einem guten W eg, festzustellen, wo noch
Probleme bestehen. Da sind auf alle Fälle die Waldböden
zu nennen, die über Jahrzehnte, wenn man so will, belas-
tet worden sind. Wir werden eine ebenso lange Zeit und
einen langen Atem brauchen, um die Schadstof fbelas-
tung auch der Böden zurückzu führen. Ich bin aber opti-
mistisch, dass uns das bei Fortsetzung der konsequenten
Politik der Bundesregierung auf diesem Gebiet gelingt.
Herzlichen Dank.
Der nächste Redner ist der Kollege Cajus Julius
Caesar, CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!Wald ist mehr als die Summe aller Bäume. Er ist einhochkompliziertes, aber auch ein hochsensibles Ökosys-tem. Wir von der Union setzen uns für dieses Ökosystemein und werden es in besonderer Weise bei unseren poli-tischen Handlungen berücksichtigen. Es hat besondereBedeutung für die Erholung suchende Bevölkerung, aberauch im Rahmen des Bodenschutzes und der Bodenero-sion. Wir haben hier keine Gebir gszüge, die entwaldetsind, wie etwa in Südeuropa.Der Wald hat große Bedeutung hinsichtlich der CO 2-Neutralität wie auch des Klimaschutzes und – nicht zuvergessen – der immerhin 800 000 Arbeitsplätze, die imZusammenhang mit dem Wald stehen. Der Wald ist fürunsere Wirtschaft, insbesondere aber auch für unsereNatur und Umwelt von großer Bedeutung und das soll-ten wir besonders anerkennen und achten.
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Cajus CaesarInsbesondere hinsichtlich der Filterung des W asserskönnen wir feststellen, dass der W ald wie eine biologi-sche Kläranlage wirkt. Das ist hinsichtlich der Hygiene,der gesunden Ernährung und – nicht zu ver gessen – derSpeicherfunktion im Zusammenhang mit dem Hochwas-serschutz von Bedeutung. Wenn wir über enorme Inves-titionen für den Hochwasserschutz reden, dann solltenwir uns insbesondere mit de r Funktion und der Bedeu-tung des Waldes stärker befassen.Sie als Regierung haben mit dem W aldzustandsbe-richt und den Er gebnissen des Umweltmonitorings eineZustandsbeschreibung und damit eine Analyse vor ge-legt. Uns, der Union, fehlt aber ein Handlungskonzeptder Regierung. Sie werden Ihren eigenen Ansprüchen alsRegierung in diesem Bereich wieder einmal nicht ge-recht. Das können wir nicht hinnehmen.
Das jüngste Beispiel ist die neue W assergesetzge-bung. Dort ist vorgesehen, dass der Waldbesitzer zusätz-liche Abgaben zu zahlen hat. Das geht nicht an. Derje-nige, der für sauberes Wasser sorgt und sicherstellt, dassWasser gespeichert wird und langsam abfließt, soll zu-sätzliche Lasten auf sich nehmen. W ir sind dafür, dassdie Veranlagung nicht nach Flächenmaßstab, sondernnach einem Vorteilssystem erfolgt, statt dass der W ald-besitzer zusätzlich belastet wird.Der Waldzustandsbericht beschreibt eindeutig, dassbeispielsweise bei der Eiche leichte V erbesserungen zuverzeichnen sind. Das hat aber auch etwas mit den Rah-menbedingungen, zum Beispiel mit besseren klimati-schen Bedingungen, zu tun. Bekanntlich waren die Nie-derschlagsmengen im Jahr 2002 besonders hoch. Das hataber nichts damit zu tun, dass die Bundesregierung inbesonderer Weise aktiv geworden ist.Wir geben der Schutzgeme inschaft Deutscher WaldRecht, die festgestellt hat, dass der Zustand der Wälderbesorgniserregend ist und blei bt. In diesem Bereich be-steht ein dringender Handlungsbedarf. Das wird auch amBeispiel der Kiefer ersichtlich, bei der eine deutliche Zu-nahme der Schäden zu verzeichnen ist, weil sie auf Bö-den wächst, die immer schlec hter mit Nährstof fen ver-sorgt sind. Insbesondere is t anzumerken, dass vor allembei der Eiche mit ihren hohen Bodenansprüchen dreiViertel des Baumbestands gesc hädigt sind. Hier bestehtdringender Handlungsbedarf seitens der Bundesregie-rung. Wenn es darum gehen soll, den Laubwaldanteilnicht nur zu erhalten, sondern zu vermehren, dann musseine Regierung auch bereit sein, etwas dafür zu tun.
Wenn wir das forstliche Umweltmonitoring betrach-ten und uns die Stichprobenana lyse noch einmal im De-tail vor Augen führen, dann kö nnen wir feststellen, dasszwar wieder eine Reihe von Statistiken, T abellen undDaten aufgelistet wurden, da ss aber letztendlich dieKonsequenzen, die daraus gezogen werden sollten, feh-len.Wir haben zu Zeiten der von der Union geführten Re-gierung einschneidende Maßnahmen auf den W eg ge-bracht. Ich nenne das Bund es-Immissionsschutzgesetz,die Großfeuerungsanlagenverordnung, das Ozongesetz,die Kleinfeuerungsanlagenverordnung, die Einführungdes Katalysators und etliche Maßnahmen zur Boden-,Luft- und insbesondere W asserverbesserung. Das hatdazu geführt, dass die Stickoxidemissionen von 1990 bis1998 immerhin um 34 Prozent auf 1,78 Millionen Ton-nen abgenommen haben.
Bei den Schwefeldioxidemissionen ist sogar ein Rück-gang von 76 Prozent auf nur noch 0,80 Millionen Ton-nen zu verzeichnen gewesen. W enn Sie jetzt in IhremAntrag den rapiden Rückgang der Schwefeldioxidemis-sionen deutlich machen, dann beziehen Sie sich auf eineZeitspanne von 1990 bis 2000,
weil Sie mit den Zahlen Ihrer Regierungszeit nicht glän-zen können. Vielmehr müssen Sie die Unionserfolge miteinbauen.
Im Hinblick auf die Bodenversauerung ist festzustel-len, dass der pH-W ert deutlich zurückgegangen ist undauf 80 Prozent der Fläche unter fünf liegt. Ein Punkt be-deutet eine zehnfache Versauerung; zwei Punkte bedeu-ten eine hundertfache Versauerung. Wir haben es in denvergangenen Jahren in Deutschland mit einer hundertfa-chen Versauerung zu tun gehabt. Das sollte man sich vorAugen führen. Deswegen besteht angesichts der T atsa-che, dass dies nicht nur auf den Boden, sondern auch aufdie Vegetation, die Kleinlebewesen, die Artenvielfalt so-wie insbesondere auf das Quell- und Grundwasser er-hebliche Auswirkungen hat, dringender Handlungsbe-darf. Deshalb verstehe ich überhaupt nicht, dass Sie dieMittel auch für die Agrarstruktur und die Küstenschutz-maßnahmen zurücknehmen; denn zu diesem Bereich ge-hören auch Kalkungsmaßnahmen, die der Bodenver-besserung bzw. der Bodenstabilisierung dienen. Ichverstehe nicht, warum die Regierung nicht bereit ist, hiermehr zu tun. Statt in eine m Entschließungsantrag allge-mein gehaltene Punkte aufzu listen, sollte man endlichMaßnahmen vor Ort auf den Weg bringen.
Wir als Union wollen, dass Sie mehr in die For-schung investieren. Die finanziellen Ressourcen sinddort gut angelegt; denn sie dienen der Ursachenerkun-dung und dazu, entspreche nde Maßnahmen abzuleiten.Stattdessen reden Sie in Ihrem Entschließungsantrag voneiner Fortentwicklung der ökologischen Steuerreform.Das ist weder öko noch logisc h, sondern nur belastend.Das ist nicht die Politik der Union. Wir wollen eine prak-tische Politik für den Wald, für die Waldbesitzer, für dievor Ort lebenden und arbeit enden Menschen und insbe-
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Cajus Caesarsondere für die Artenvielfalt. Deshalb haben wir – dassagt auch die Vielzahl unserer Anträge zu diesem Themaaus – die Initiative er griffen und deutlich gemacht, dasswir hier mehr Einsatz wollen, als die rot-grüne Bundes-regierung bereit ist zu leisten .
Ich möchte einen weiteren Punkt aus Ihrem Entschlie-ßungsantrag ansprechen. Wenn Sie sich einseitig für einbestimmtes Zertifizierungssystem einsetzen, dann soll-ten wir an einem Beispiel be trachten, wie es sich aus-wirkt. Das FSC-Zertifizierungssystem lässt beispiels-weise eine Bodenbearbeitung zur Erzielung einerLaubholznaturverjüngung nicht zu. Aber wir wollendoch den Laubholzanteil nicht nur stabilisieren, sondern– wo möglich – noch weiter erhöhen. Insbesondere dieBuche ist auf Naturverjüngung angewiesen. Das ist Ihretheoretische Politik. Statt zusammen mit den Waldbesit-zern vor Ort etwas auf den W eg zu bringen, setzen Siesich einseitig für das FSG-Zertifizierungssystem ein, dassicherlich für den Großwald und insbesondere für denTropenwald, nicht aber für den kleinen Privatwald in derBundesrepublik Deutschland geeignet ist.
Wir haben es in Deutschland nicht mit wenigen Groß-waldbesitzern, sondern mit 1,3 Millionen Kleinwaldbe-sitzern zu tun, von denen jeder im Durchschnitt3,6 Hektar Wald sein Eigentum nennen darf und die sichüber Generationen hinweg im Schweiße ihres Angesich-tes den jetzigen Waldbestand erst geschaffen haben. Dassollten wir endlich auch im Deutschen Bundestag aner-kennen.
Sie wollen das Bundeswaldgesetz ändern, um wei-tere bürokratische Hemmnisse einzubauen. Sie wollen indem geänderten Gesetz auf den Zentimeter genau vor-schreiben, welches noch so kleine Pflänzchen auf wel-chem Quadratmeter – wenn möglich, würden Sie wahr-scheinlich auch die Himme lsrichtung vorgeben – dieWaldbesitzer auf eigene Kosten pflanzen sollen. W irwollen hier ein Stück mehr Freiheit. W ir wollen denWaldbesitzer mitnehmen. Dann haben wir auch etwasfür die Waldwirtschaft, aber insbesondere auch für dieNatur erreicht. In diesem Sinne wollen wir Politik betrei-ben. Wir wollen mehr Eigenverantwortung statt Regle-mentierung.
Mehr Staat bedeutet nicht mehr Erfolg und schon garnicht mehr Umweltschutz. W enn Sie beispielsweise imHinblick auf die Ausweisung von FFH-Gebieten inDeutschland – es handelt sich immerhin um5,2 Millionen Hektar; davon sind 1,9 Millionen HektarWald, von denen sich 450 000 Hektar in privatem undkommunalem Besitz befinden – zusagen, die Bundesre-gierung werde für Auflagen entschädigen – Ihr Staatsse-kretär Berninger hat das auf dem 1. Deutschen Waldgip-fel 2001 erklärt –, dann sollte n Sie sich auch an diesenWorten messen lassen. W as ist bis jetzt geschehen?Nichts! Man lässt die W aldbesitzer im Regen stehen.Erst gibt es Auflagen und dann keinerlei Entschädigung.Das kann nicht die Politik unter Einbeziehung der vorOrt lebenden und arbeitende n Menschen sein, die mitdem Wald ihr Einkommen erzielen. Das ist nicht die Po-litik der Union, sondern die von Rot-Grün. Ihre Auf fas-sung können wir nicht teilen.
Wir wollen durch vertragliche Maßnahmen, durchden Vorrang des Vertragsnaturschutzes nach vorne kom-men. Wir wollen dem Rohsto ff Holz durch Marketingdiejenige Bedeutung beimessen, die er verdient hat. W irwollen, dass der Biomasse, beispielsweise im Rahmendes Erneuerbare-Energien-Gesetzes, diejenige Bedeu-tung beigemessen wird, die sie verdient hat. W ir wolleneine standortgerechte W aldvermehrung in unterdurch-schnittlich bewaldeten Bereichen. W ir wollen mehrKompetenzen für forstliches Personal auch im Bereichdes Naturschutzes. Wir wollen eine unbürokratische, na-turnahe Bewirtschaftung mit dem und nicht gegen deneinzelnen Waldbesitzer. Wir setzen uns zudem für denErhalt des Tropenwaldes ein.Wir wollen insbesondere durch ein Sofortprogrammmit entsprechenden Kalkungsmaßnahmen dafür sor gen,dass unserer Umwelt, insbesondere unserem Wald, dieje-nige Bedeutung beigemessen wird, die sie verdient ha-ben. Wir wollen im Verstehen von Ökonomie, Ökologieund sozialer Komponente vorangehen und mit den vorOrt lebenden und arbeitenden Bürgern den Wald – unterEinbeziehung der Biomasse – erhalten, pflegen, weiter-entwickeln und nachhaltig bewirtschaften, sodass wirihn unseren Kindern gesund übergeben können.Danke schön.
Nächste Rednerin ist die Kollegin Cornelia Behm,
Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Erinnern Sie sich noch an die kahlen Ber g-kämme im Erzgebirge? Dort war das W aldsterben auchfür den Laien unübersehbar . Wer heute ins Erzgebir gefährt, sieht, dass der W ald dort wieder wachsen kann.Aber es sind lichte und ver graste Ersatzwälder, die voneinem naturnahen Zustand noch weit entfernt sind.Der Zustand der Erzgebir gswälder belegt aber , dasswir gegenüber den 80er-Jahren deutliche Fortschritte ge-macht haben. Tote Wälder sind hierzulande glücklicher-weise kaum noch zu finden. Doch mit den sich schlie-ßenden Wunden verschwindet das Problem derUmweltzerstörung aus dem Bewusstsein. So sprichtheute kaum noch jemand davon, dass mehr als20 Prozent der Waldflächen deutlich geschädigt sind.
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3084 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. April 2003
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Cornelia BehmAber gerade deswegen, gerade wegen dieser Schäden,ist es für eine Entwarnung leider noch zu früh. Ohnekonzentrierte Maßnahmen zum Waldschutz können un-sere Wälder nicht gesunden. Ich bin guter Hof fnung,dass wir hinsichtlich dieser Maßnahmen mit der Opposi-tion trotz einiger Verbalattacken durchaus eine Einigungerzielen.Die Erfolge in der Luftrein haltepolitik sind durchauseindrucksvoll.
So gingen die Emissionen von Stickoxid in den letztenzehn Jahren um 41 Prozent zurück. Bei Ammoniak be-trug der Rückgang 19 Prozent, bei Schwefeldioxid85 Prozent.Dennoch sind die W aldschäden seit 1995 kaum zu-rückgegangen. Das zeigt, wie lang die W irkungszeit-räume sind. Das zeigt aber au ch, dass vor allem die ver-sauernden und eutrophierenden Belastungen durchStickoxide aus dem V erkehr und durch Ammoniak ausder Landwirtschaft noch immer zu hoch sind. Das heißt,wir müssen die Anstrengungen in der Luftreinhaltepoli-tik fortsetzen.
Auch die Klimaveränderungen sind eine Gefahr fürdie Wälder, und zwar nicht nur weil mehr Stürme zu grö-ßeren Windwurfschäden führen; vielmehr verschiebtsich bei dauerhaft steigenden T emperaturen das Arten-spektrum der Pflanzen und Tiere und damit das ökologi-sche Gleichgewicht und der Wald verliert an ökologi-scher Stabilität.Wir können gegen die drohenden Klimaveränderun-gen durchaus etwas tun. Es ist das Gebot der Stunde, denAusstoß von Treibhausgasen einzuschränken. Das heißt,wir müssen die von der Bundesregierung eingeleitetePolitik der Energiewende weg vom Öl und hin zu erneu-erbaren Energien auch im Interesse der W aldwirtschaftkonsequent vorantreiben.
Die Waldschäden und der Klimawandel machen einenaturnahe Waldwirtschaft noch dringlicher, denn na-turnahe Wälder sind stabil er als Monokulturen. DiesesZiel einer naturnahen Waldwirtschaft ist nur durch ver-bindliche Standards zu erreichen, die wir bei der Novel-lierung des Bundeswaldgesetzes einführen werden. Au-ßerdem fördern wir eine W aldbewirtschaftung, die überdie gesetzlichen Mindeststandards hinausgeht, und wer-den, auch wenn Sie es nicht hören mögen, die FSC-Zer-tifizierung der Bundesforste n zügig umsetzen und dieHolzbeschaffung des Bundes entsprechend ausrichten.
Im Interesse derer, die den Wald bewirtschaften, undim Interesse unserer Umwelt müssen und wollen wir diewirtschaftlichen Rahmenbedingungen für die Forstwirt-schaft verbessern; wir denken also durchaus auch an dieForstwirte und Waldbesitzer. Dazu gehört es, dass mehrHolz als Rohstof f und Ener gieträger eingesetzt wird.Dazu gehört es, bei der Novellierung des Bundeswaldge-setzes die Spielräume hin zu niedrigeren Kosten und ei-ner einfacheren Verwaltung zu nutzen. Dazu gehört esauch, mit der Novellierung de s Bundesjagdgesetzes da-für zu sorgen, dass die Verbissschäden durch waldökolo-gisch tragfähige Schalenwilddichten vermindert werden.Liebe Kolleginnen und Koll egen, Sie kennen sicherdie großen Schilder mit dem Ahornblatt, die häufig vonder Autobahn aus zu sehen sind. Auf ihnen steht: „Rettedie Bäume – Schütze den Wald – Tu was!“ Das nach wievor hohe Schadensniveau des Waldes macht eindringlichdeutlich, dass dieser Aufruf nicht ungehört verhallen darf.Wir haben es in der Hand, etwas zu tun: Erstens brauchenwir eine konsequente Fortse tzung der Anstrengungen inder Luftreinhaltepolitik. Zweitens brauchen wir eine kon-sequente Fortsetzung der Klimapolitik. Drittens brauchenwir eine naturnahe Waldwirtschaft. So schaffen wir wie-der gesunde und widerstandsfähige Wälder.Ich danke Ihnen.
Nächste Rednerin ist di e Kollegin Dr . Christel
Happach-Kasan, FDP-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Der Waldzustandsbericht des Jahres 2002 ist kein Anlasszum Jubeln; das haben meine Vorredner bereits deutlichgemacht. Auch wenn den meisten Spazier gängern derUnterschied zwischen einem geschädigten und einem ge-sunden Baum nicht sofort au ffällt, Fachleute sehen ihn.Auch wenn geschädigte Bäume nur schwer zu erkennensind, der Zusammenbruch eines Waldes bietet ein drama-tisches Bild. Es sind Wälder im Harz und im Erzgebir gegestorben. Deren Anblick tut weh; aber in Deutschland istder Wald – anders, als es der Begrif f „Waldsterben“ vorJahrzehnten nahe legte – nicht gestorben.Die Schäden beruhen wesentlich auf den Schadstoff-einträgen aus der Luft. Im Zeitraum von 1990 bis 2000gingen die Einträge von Schwefeldioxid um 85 Prozent,von Stickstoffdioxid um 41 Prozent und von Ammoniakum 19 Prozent zurück. Daran zeigt sich, dass die christ-lich-liberale Regierung erfolgreich war.
An diese Erfolgsgeschichte kann Rot-Grün leider nichtanknüpfen.Die Erfolge im Bereich der Minderung der Einträgevon Stickoxiden und Ammoniak sind noch lange nichtzufriedenstellend. Es ist bekannt, dass die Stickoxid-emissionen aus dem Verkehr stammen, die Ammoniak-einträge aus der Landwirtschaft; dies ist hier gesagt wor-den. Seltsam ist, dass de r Bericht der Minderung der
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Dr. Christel Happach-KasanEinträge aus der Landwirtschaft zweieinhalb Seiten wid-met, der Minderung der sehr viel höheren Einträge ausdem Verkehr aber noch nicht einmal eine Spalte. Ange-sichts dessen muss der Eindruck entstehen, dass derSchutz der Böden vor Schadstof feinträgen für die Bun-desregierung nur eine untergeordnete Stellung einnimmtund die Kritik an der Landwirtschaft wie üblich im V or-dergrund steht.
Die Schadstoffeinträge haben die Waldböden großflä-chig verändert und in ihrer Funktionsfähigkeit stark be-einträchtigt. Die Säureeinträge haben zur Bodenversaue-rung, zur Auswaschung vo n Pflanzennährstoffen undgleichzeitig auch zur Belastung des Grundwassers mitSchwermetallen geführt. Diese Veränderungen sind alle-samt nicht kurzfristig rückgängig zu machen. W ir wer-den daher noch lange im Parlament über W aldzustands-berichte diskutieren.Aber was nützen Berichte, wenn daraus keine Konse-quenzen gezogen werden? Als Maßnahmen gegen dieVersauerung der Waldböden empfiehlt der Bericht aus-drücklich forstliche Bodenschutzkalkungen und Kom-pensationsdüngungen. Dieser Empfehlung schließt sichdie FDP an.
„Nichtstun gibt die Waldböden teilweise irreparablenSchäden preis und gefährdet die Nachhaltigkeit derWaldwirtschaft und die Qualität unserer W asserresour-cen“, so die ehemalige Umweltministerin des LandesRheinland-Pfalz von der SPD. Doch der Entschließungs-antrag von SPD und Grünen enthält nichts zum ThemaKalkungen. Damit verfehlen Sie das eigentliche Themaund die Maßnahmen, die wir tatsächlich er greifen müs-sen. Sie konzentrieren sich auf Zertifizierungen. Sie ma-chen, wie mein V orredner verdeutlichte, den Kleinst-waldbesitzern das Leben schwerer; Sie verhindern, dassdiese Besitzer einen kleinen zusätzlichen Erwerb aus ih-ren Wäldern ziehen können. Das ist der falsche Weg.
Wir müssen die vorhandenen naturwissenschaftlichenErkenntnisse umsetzen und sollten deshalb die Kalkungder Wälder stärker unterstützen. W ir wissen, dass dieswirkt. Das hat Rheinland-Pfalz in zehn Jahren deutlichbewiesen: Die Artenzahl in de r Krautschicht steigt, dieRegenwurmbesiedlung steigt, die Feinstwurzelintensitätsteigt, der Magnesiumgehalt in den Nadeln steigt, dieVerminderung der Kadmiumeinträge ist eindrucksvoll,die Verminderung der V ergilbung der Fichtennadelnebenfalls. Das ist ein Erfolgsprogramm; damit könntenwir dem Wald helfen.Die Bundesregierung ist we iterhin aufgefordert, ihrePolitik der Bevormundung zu beenden und für keinesder Zertifikate zu werben. Das staatliche Engagement inBezug auf die Zertifizierung ist der falsche Politikansatz.
Die Menschen kennen die Fo rstsiegel nicht; für das Er-reichen von Umweltzielen ha ben wir sehr viel bessereInstrumente; die Erlössituation verschlechtert sich.
Frau Kollegin, schauen Sie bitte einmal auf die Uhr
auf Ihrem Rednerpult!
Entschuldigung, ich bin nicht daran gewöhnt. Ich darf
meinen letzten Satz formulie ren: Die Koalition kündigt
mit ihrer Politik die jahrhundertelange Erfolgsgeschichte
der nachhaltigen Bewirtschaftung der Wälder auf.
Ich danke für die Aufmerksamkeit.
Letzte Rednerin in dies er Debatte ist Kollegin
Gabriele Hiller-Ohm, SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Seit Ok-tober letzten Jahres ist die Berichterstattung über dieWälder um 30 Prozent zurückgegangen. Dies belegt eineAnalyse der Schutzgemeinschaft Deutscher W ald. Die-ses sinkende Interesse sollte aus folgenden Gründen füruns alarmierend sein:Erstens konnte die Vernichtung der letzten großen Ur-wälder nicht gestoppt werden. Zweitens ist der Zustandunserer heimischen Wälder weiterhin kritisch; zwei vondrei Bäumen sind krank.Deshalb braucht der W ald heute mehr denn je einestarke Lobby, denn wir, die Industrienationen, gefährdenmit unserem enormen Holzverbrauch die Urwälder.Holz ist nach Rohöl das in der EU zweitwichtigste Im-portgut. Wir brauchen Holz zur Papierproduktion, alsHeizstoff und als Ener gieträger. Bei Papier können wirsparen. Ich bedauere sehr, dass die Recyclingquoten der-zeit rückläufig sind; das müssen wir ändern.
Als Energieträger ist Holz allemal richtig und zukunfts-weisend. Das zeigt schon die Ökobilanz. Holz als nach-wachsender Rohstoff ist eine wichtige Alternative zumÖl.
Deshalb müssen wir die wirtschaftlichen Grundlagen derHolzproduktion schützen und fördern.Allein in Deutschland sind rund 800 000 Menschen inder Holzwirtschaft beschäftigt, mehr als in der chemi-schen Industrie, im Kohlebergbau und in der Stahlerzeu-gung zusammen. Wir müssen die Rahmenbedingungenfür unsere Waldwirtschaft stärken und die Wettbewerbs-fähigkeit langfristig sichern.
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Gabriele Hiller-Ohm
Wie erhalten wir Wälder und Arbeitsplätze? W ie ma-chen wir unsere Wälder fit für die Zukunft? Die Luft-schadstoffe müssen weiter reduziert werden, und zwardrastisch. Wir müssen die W aldwirtschaft auf scho-nende, nachhaltige Produktion nach den Kriterien guterfachlicher Praxis umstellen. Zurzeit läuft in der Holz-wirtschaft ein wichtiger gesellschaftlicher Diskurs überdiesen Begriff und über diese Kriterien. Ich bin sehr ge-spannt darauf, was dabei herauskommt.Wir müssen eine verlässliche Zertifizierung undKennzeichnung des so produz ierten Holzes mit einemhochwertigen Ökosiegel durchsetzen. W ir brauchenauch eine Erhöhung des Marktanteils des zertifiziertenHolzes.SPD und Grüne haben in der letzten Legislaturperiodedie Weichen richtig gestellt. Weitreichende Gesetze, Ver-ordnungen und Bestimmungen zum Umwelt- und Kli-maschutz wurden in Angr iff genommen und durchge-setzt. Diese Initiativen werd en auch für unsere Wäldermittelfristig Wirkung zeigen.
Es sollte möglichst nur noch zertifiziertes Holz auszertifizierten Betrieben in den Handel kommen. DieBundesregierung bemüht sich zurzeit auf EU-Ebene in-tensiv um internationale Lösungen.Rot-Grün hat sich auf die anerkannten Standards desÖkosiegels FSC festgelegt. Warum haben wir das getan?Wir haben das gemacht, weil FSC zurzeit die überzeu-gendsten Standards sowohl in ökologischer als auch inökonomischer und sozialer Hinsicht bietet. Außerdem istFSC ein international anerkanntes Ökosiegel. W enn wirHolz importieren, das dieses Siegel trägt, können wiralso sicher sein, dass es nicht aus Raubbau und illegalenHolzeinschlägen stammt. So schützen wir die Urwälder.Wir haben viel getan, besonders in den letzten vierJahren, Herr Kollege Caesar , aber das alles reicht nochnicht aus; denn der Zustand unserer Wälder ist seit 1995nicht besser geworden. W ie kommt das? Durch jahr-zehntelange hohe Schadstoffeinträge sind die Waldbö-den versauert. Das stresst unsere Wälder und ist einetickende Zeitbombe für unser Trinkwasser. Die Bundes-regierung versucht durch gr oßflächige Kalkungen derWälder Schadensbegrenzung. Das ist eine Soforthilfe fürdie Wälder, aber keine langfristige Lösung. Es führt keinWeg daran vorbei, meine Damen und Herren: W ir müs-sen die Schadstof feinträge reduzieren. Das bedeutet:noch weniger Stickstoffoxide, noch weniger Ammoniak,noch weniger Schwefel.
Wir müssen die rot-grüne Umweltpolitik vor allem inden Bereichen Verkehr, Landwirtschaft und Energie kon-sequent fortsetzen.
– Genau. – Ihnen liegt unser Entschließungsantrag vor .Darin ist ein umfangreicher Forderungskatalog enthal-ten. Wir erwarten eine konsequente und zügige Umset-zung unserer Forderungen.
So machen wir den Wald fit für die Zukunft. Der nächsteWaldzustandsbericht wird mi t Sicherheit positiver aus-fallen. Helfen Sie mit! S timmen Sie unserem Entschlie-ßungsantrag zu!
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung des Waldzustands-
berichts 2002 auf Drucksache 15/270 an die in der T a-
gesordnung aufgeführten Ausschüsse vor geschlagen.
Der Entschließungsantrag der Fraktionen der SPD und
des Bündnisses 90/Die Gr ünen auf Drucksache 15/745
soll zur federführenden Beratung an den Ausschuss für
Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft sowie
zur Mitberatung an den Ausschuss für W irtschaft und
Arbeit, an den Ausschuss fü r Umwelt, Naturschutz und
Reaktorsicherheit und an den Ausschuss für wirtschaftli-
che Zusammenarbeit und Entwicklung überwiesen wer-
den. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall.
Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 8 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Dirk
Niebel, Dr. Heinrich L. Kolb, Rainer Brüderle,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Reform des Kündigungsschutzgesetzes zur
Schaffung von mehr Arbeitsplätzen – V or-
schlag des Sachverständigenrates jetzt auf-
greifen
– Drucksache 15/430 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Rechtsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreivierte lstunde vorgesehen, wobei
die FDP sechs Minuten erhalt en soll. – Ich höre keinen
Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Dirk Niebel, FDP-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Der Leitsatz Nummer eins der sozialdemokrati-schen Arbeitsmarktphilosophie: „Einmal erreichte Be-sitzstände sind unantastbar!“ muss am heutigen T agwirklich neu überdacht werden.
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Dirk Niebel
Heute hat der V orstandsvorsitzende der Bundesanstaltfür Arbeit die Arbeitsmarktzahlen für März vorgelegt:
4,6 Millionen Menschen in diesem Land haben keinenJob, das sind fast 500 000 mehr als im gleichen Monatdes Vorjahres. Wir aber haben es immer noch nicht ge-schafft, einzusehen, dass arbeitsmarktpolitische Mittel inForm von Geld einfach nicht ausreichen, um einer gro-ßen Zahl von Menschen die Chance zu geben, wieder inden Arbeitsprozess eintreten zu können, wir darüber hi-naus vielmehr Rahmenbedingungen auf dem Arbeits-markt verändern müssen.
Der Bundeskanzler hat am 14. März eine Rede gehal-ten, mit dem wesentlichen Tenor: Alles wird gut. Er hatin dieser Rede aber etwas zumindest für Sozialdemokra-ten Bemerkenswertes festgestellt.
– Herr Kuhn, Sie erinnern sich, dass die vorvorherigeBundesregierung unter Helmut Kohl dieses Problemschon einmal angegangen is t. Wir haben 1997 ja denKündigungsschutz geändert, indem wir den Schwellen-wert von fünf auf zehn Arbeitnehmer angehoben haben.
Das hat sogar etwas bewirkt, liebe Kollegin Barnett;denn in dem kurzen Zeitraum, in dem das Gesetz gegol-ten hat, sind, wie uns die Kammern, die IHKs und dieHandwerkskammern, mitgeteilt haben, in den Betrieben,die den sechsten, siebten, achten oder neunten Arbeit-nehmer eingestellt haben, überproportional mehr Neu-einstellungen vorgenommen worden.
Das war ein echtes Jobprogramm – ohne einen einzigenCent Steuergeld, nur durch ei ne kleine Veränderung ei-ner psychologischen Barriere. Hierdurch wurde Men-schen die Chance gegeben, wieder in den Arbeitsprozesseinzutreten.Mittlerweile hat auch der Bundeskanzler erkannt,dass diese psychologische Hemmschwelle dazu führt,dass gerade in den kleinen Betrieben nicht eingestelltwird. Daran wollen wir anknüpfen. Wir haben deswegeneinen Vorschlag vorgelegt, der nicht nur auf einer Initia-tive aus der letzten Legislat urperiode, sondern auch aufden Bemerkungen Ihres Sachverständigenrates im Jah-resgutachten 2002/03 basiert.
– Leider hören sie, Herr Kollege Kolb, nicht auf ihren ei-genen Sachverständigenrat, obwohl sie ihn eingesetzthaben. Da die Regierung leider manchmal nicht zuhörtund es nicht selber macht, müssen wir es im Parlamentnachholen.Wir wollen dafür sor gen, dass die Menschen dieChance bekommen, wieder ins Berufsleben einzustei-gen. Der Kündigungsschutz stellt tatsächlich für diejeni-gen, die einen Arbeitsplatz haben, einen Besitzstand dar.Er ist aber eine Barriere für diejenigen, die versuchenwollen, wieder in Arbeit zu kommen, und führt in derPraxis dazu, dass kleine Betriebe auf andere flexible In-strumente wie Zeitarbeit, Überstunden und befristeteBeschäftigungsverhältnisse ausweichen. W ie wir allewissen, rutschen manche Bereiche auch in die Illegalität;sonst wäre die Schattenwirtschaft nicht die einzigeBoombranche in der Bundesrepublik Deutschland.
Der Bundeskanzler hat nun gesagt, man müsse etwasändern, und ist dabei ein wenig unkonkret geblieben.Das muss wohl so sein, wenn ihm selbst seine Mitarbei-ter etwas Falsches aufschreiben. Er hat sich ja zum Bei-spiel, wie wir gestern in der Fragestunde noch einmaleindrucksvoll vom Kollegen Schlauch bestätigt bekom-men haben, einfach geirrt, als er gesagt hat, in Zukunftwerden auch Zeitarbeitnehmer nicht mehr beim Kündi-gungsschutz berücksichtigt; das ist nämlich schon heutenicht der Fall. Zumindest hat er sich Gedanken gemacht,wie man das Problem lösen kann,
als er sagte, befristete Besc häftigungsverhältnisse sollenin kleinen Betrieben vermehrt möglich werden.Ich frage mich, warum wir diese von Ihnen früher im-mer als prekär bezeichneten Beschäftigungsverhältnisseüberproportional fördern sollen, wenn wir dadurch dasProblem nur in die Zukunft verlagern. W arum soll be-fristete Beschäftigung gefördert werden, wenn mandurch eine Veränderung beim Schwellenwert für dauer-hafte Festanstellungen in Betrieben sorgen könnte?
Denn nach Ablauf der Höchstbefristungszeit baut sichdoch die psychologische Barriere zur Einstellung wiedervor dem Verantwortlichen für ein kleines Unternehmenauf. Er steht dann nämlich vor der Frage, ob er jemandendauerhaft einstellt und dadu rch zeitlich verzögert denSchwellenwert übersteigt oder ob er jemand Neuen be-fristet beschäftigt und die eingearbeitete Arbeitskraftfreisetzt. Eine Beibehaltung dieser Regelungen erscheintuns nicht als richtig. Deswegen schlagen wir vor , denSchwellenwert auf 20 Arbeitnehmer pro Betrieb anzu-heben und, weil ja befristete Beschäftigungsverhältnisseschon für zwei Jahre möglich sind, festzulegen, dass derKündigungsschutz erst nach Ablauf von zwei Jahren ein-setzt. Damit erreichen wir eine rechtliche Gleichstellung.
Wir wollen darüber hinaus die Option schaf fen, beimAbschluss des Arbeitsvertrages auf den besonderenKündigungsschutz zu verzichten, zugunsten entweder
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Dirk Niebeleiner Abfindung oder einer Qualifizierungsabrede, wasim Falle einer Entlassung dazu führt, dass derjenige, derden Arbeitsplatz verliert, bessere Chancen hat, einenneuen Arbeitsplatz zu bekommen und wieder am Ar-beitsprozess teilzuhaben. Da durch würde auch die Zeitder Arbeitslosigkeit insgesamt verkürzt.Wir wollen dafür sor gen, dass die Sozialauswahlnicht, wie es der Kollege S tiegler gefordert hat, abge-schafft wird, sondern so gestaltet wird, dass Arbeitneh-mer und Arbeitgeber etwas davon haben. Denn wir sinddurchaus der Überzeugung, dass Arbeitgeber eine sozi-ale Verpflichtung gegenüber ihren Mitarbeiterinnen undMitarbeitern haben. Wir wollen nur die jetzige Situationbeenden, in der oftmals die Luschen bleiben können unddie Leistungsträger gehen müssen.Deswegen brauchen wir hinsichtlich der Sozialaus-wahl im Gesetz drei klar definierte Kriterien: die Dauerder Betriebszugehörigkeit, das Lebensalter und die An-zahl der unterhaltspflichtigen Personen. Das war schonGesetz, als wir es 1997 geän dert haben. 1999 ist es vonRot-Grün mit einem der ersten Korrektur gesetze wiederabgeschafft worden.
– Da waren Sie, Herr Kuhn , noch nicht Mitglied diesesHauses; deswegen können Sie das nicht wissen, wennSie sich nicht eingelesen haben.
– Herr Dreßen, schreien Sie in Ihren DGB-Veranstaltun-gen, aber nicht hier.
Diese drei Kriterien mit der klaren Maßgabe, dass dieLeistungsträger ausgenommen werden können und derBetrieb definiert, wer der Leistungsträger ist, führendazu, dass die sozialen Notwendigkeiten, die der Arbeit-geber zu gewährleisten hat, berücksichtigt werden, dassaber der Betrieb keine Schädigung dadurch erleidet, dassdie falschen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter gehen.
Wir wollen mehr Rechtssicherheit für die Menschenin diesem Land. Wir wollen mehr Chancen auf Teilhabefür die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer auf der ei-nen Seite und die Arbeit Suchenden und Arbeitslosenauf der anderen Seite.Ein Ammenmärchen wollen wir von Anfang an been-den: Wer nicht dem besonderen Kündigungsschutz desKündigungsschutzgesetzes unterliegt, ist nicht rechtlosin diesem Land.
Es gelten noch immer die Re gelungen des BürgerlichenGesetzbuches gegen willkürliche Kündigung und gegensachfremde Erwägung. V on daher: Kommen Sie mirnicht mit solchen Geschichten, machen Sie das, was IhrKanzler andeutungsweise gesagt hat, ohne gleich zu wi-dersprechen, ohne sofort in die Betonbarrieren zurückzu-kehren.
Machen Sie das schon jetzt und nicht erst am Ende derDebatte; denn Sie werden es im Endeffekt doch tun.
Die SPD und ganz besonders die Grünen haben sich zueinem Kanzlerwahlverein entwickelt. Wir werden es amEnde dieser Diskussion sehen, wenn wir die gesetzlichenRahmenbedingungen auch beim Kündigungsschutz än-dern.Vielen Dank.
Nächster Redner ist der Kollege W ilfried Schreck,
SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Arbeitsrecht und T arifverträge ergänzen sich inDeutschland zu einem dichten Netzwerk geregelterArbeitsbeziehungen. Das schafft Sicherheit.Mit diesen W orten hat der Bundeskanzler in seinerGrundsatzrede zur Agenda 2010 am 14. März verdeut-licht, worauf der soziale Frieden in unserem Land be-ruht. Dabei ist das Thema Kündigungsschutz von zentra-ler Bedeutung.Als Gesamtbetriebsratsvorsitzender einer Firma, dievor zwölf Jahren circa 30 000 Mitarbeiter hatte undheute weniger als 5 000 hat, weiß ich, wovon ich spre-che. Wir sind zurzeit nach einer weiteren Fusion zumdritten Mal in zwölf Jahren dabei, über einen Interessen-ausgleich und Sozialpläne zu verhandeln.Gerade der Kündigungsschutz stellt die Betriebspar-teien immer wieder vor die Aufgabe, nach Lösungen zusuchen und diese gemeinsam zu verantworten.
– Kommt gleich. – Wir haben zum Beispiel Teilzeitmodelleentwickelt nach der Faustformel: 10 Prozent weniger Ar-beitszeit – das ist noch leicht zu vermitteln –, 10 Prozent we-niger Gehalt – das ist schon sc hwieriger vermittelbar – und10 Prozent mehr Beschäftigung, für die sich, denke ich, dieMühe solcher Diskussionen lohnt. I n bestehenden Betrie-ben hat das zu weniger Entlassungen geführt, in Neubau-kraftwerken zu den berühmten 10 Prozent mehr Einstel-
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Wilfried Schrecklungen. Damit haben wir für über 300 Kolleginnen undKollegen Arbeit erhalten bzw . geschaffen. Übrigens istdas alles passiert in Ausgestaltung bestehender Tarifver-träge und mit ausdrücklicher Billigung unserer Gewerk-schaft, der IG BCE. – Das wollten Sie doch hören, HerrKollege?! So viel kurz zum praktischen Kündigungs-schutz.Wie Sie wissen, hat der Bundeskanzler am 14. Märzaber auch auf die Notwen digkeit von Reformen beimKündigungsschutz hingewiesen. Heute stehen wir vorder Frage: Wer hat dazu das bessere Konzept?
Wir wollen eine Regelung, di e gleichermaßen die Inte-ressen der Arbeitnehmer un d Arbeitgeber wahrt, aberauch Neueinstellungen, in erster Linie in Kleinbetrieben,fördert.
Was schlagen S ie dazu vor? Nehmen wir zum Bei-spiel Ihre Forderung, den Schwellenwert für die An-wendung des Kündigungsschu tzgesetzes von derzeitfünf Arbeitnehmern auf 20 Arbeitnehmer anzuheben.Nach derzeitiger Rechtslage gilt das Kündigungsschutz-gesetz erst für Firmen mit mindestens sechs Beschäftig-ten, das heißt, nur in jede m dritten Betrieb; denn zweiDrittel aller Unternehmen beschäftigen weniger alssechs Mitarbeiter.
Um diese vermeintliche ode r echte Schwellenangst zubeseitigen, sehen wir vor , dass neu eingestellte Arbeit-nehmer mit befristeten Arbeitsverträgen nicht auf denSchwellenwert von fünf Ar beitnehmern angerechnetwerden.
Gerade kleine Unternehmen, die die Basis unsererVolkswirtschaft bilden, können damit mehr Einstellun-gen vornehmen, ohne in den Geltungsbereich des ver-meintlichen Schreckgespenstes Kündigungsschutz zukommen.Interessant ist in diesem Zusammenhang sicherlichder Vergleich mit unseren europäischen Nachbarn. Inden Niederlanden benötigen die Arbeitgeber für jedeKündigung eine staatliche Genehmigung, in Österreichund Italien ist auch bei gerechtfertigter Kündigung im-mer eine Abfindung zu zahlen, in Frankreich beginnt derKündigungsschutz schon beim ersten Arbeitnehmer. Un-ser Kündigungsschutz könnte somit für multinationaleUnternehmen geradezu ein Anreiz sein, hier zu investie-ren. Leider ist das Thema komplexer.
Im Gegensatz zu der oft gezeichneten Horrorvisiondes Kündigungsschutzgesetzes ist das juristische Risikoeines Unternehmens, einen se chsten Mitarbeiter einzu-stellen, eher gering.
Eine Kündigung muss nur ei ne Bedingung erfüllen: Siemuss begründet sein. Das ist sie, wenn sie als betriebs-,personen- oder verhaltensbedingt gelten kann. Der of-fenbar tief verwurzelten Hemmung können wir begeg-nen, ohne die Angst vor dem V erlust des Arbeitsplatzesfür Millionen von Arbeitnehmern zu schüren, wie Sie esmit Ihrem Vorschlag zur Anhebung des Schwellenwertesauf 20 Beschäftigte tun würden. W ir hingegen werden,wie gesagt, neu eingestellte Arbeitnehmer mit befristetenArbeitsverträgen aus der Schwellenwertberechnung her-ausnehmen.Was den Wirkungsgrad der von Ihnen beabsichtigtenAnhebung auf 20 Arbeitnehmer angeht, empfehle ich Ih-nen Ziffer 470 des von Ihnen angeführten Jahresgutach-tens des Sachverständigenrats zur Lektüre. Dort ist zu le-sen, dass verschiedene zur Fragestellung des Einflussesdes Kündigungsschutzgesetzes auf die Arbeitslosen-quote durchgeführte Untersuchungen zu teilweise rechtunterschiedlichen Ergebnissen führten. Zusammenfas-send wird festgestellt:Der Gesamteindruck ist jedoch, dass sich in diesenStudien ein verstärkender Einfluss des Kündigungs-schutzes auf die Höhe der Arbeitslosigkeit nicht be-legen lässt.Ich komme nicht umhin, im Zusammenhang mit Ihremersten Änderungsversuch aus dem Jahre 1996 – Herr Kol-lege Niebel, Sie haben darauf hingewiesen – auf den da-maligen Bundesarbeitsminister Norbert Blüm zu verwei-sen, der auf die Frage, was er von der Änderung desKündigungsschutzgesetzes halte, antwortete:Wir haben damals den Schwellenwert von fünf aufzehn angehoben. Ich habe noch das Handwerk imOhr, das 300 000 Arbeitsplätze versprochen hat.Auf die warte ich heute noch.Zitat aus der „Lausitzer Rundschau“ vom 7. März 2003.
Wenn ich Sie, meine Damen und Herren der FDP-Fraktion, bzw. Ihren arbeit smarktpolitischen Sprecher,Kollegen Niebel, beim Wort nehmen darf, so werden Sieuns, wenn unser Gesetzentw urf eingebracht sein wird,beim Punkt Sozialauswahl voll und ganz unterstützen.Denn neben starren Kriterien wie Lebensalter, Dauer derBetriebszugehörigkeit und Unterhaltspflichten des Ar-beitnehmers sollen Prioritäten auch direkt zwischen Ar-beitnehmervertretern und Arbeitgebern erarbeitet wer-den können. Das müsste Ih rem Flexibilisierungsdrangdoch entgegenkommen.Zu Ihrer Forderung, Arbeitnehmer, deren weitere Be-schäftigung im betrieblichen Interesse liegt, explizit ausder Sozialauswahl herauszunehmen, kann ich nur sagen,dass dies nach § 1 Abs. 3 Satz 2 Kündigungsschutzgesetz
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3090 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. April 2003
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Wilfried Schreckschon heute möglich ist. Wenn es zurzeit nicht praktika-bel ist, muss man es im Gesetz klarstellen bzw . verbes-sern.
Liebe Kolleginnen und Kollegen der FDP, Sie wollen,dass Arbeitnehmer mit Absc hluss des Arbeitsvertrageszwischen der Anwendung des Kündigungsschutzgeset-zes und der Zahlung einer Abfindung durch den Arbeit-geber wählen können.
Glauben Sie allen Ernstes, dass ein Arbeit Suchendersich für eine dieser Optionen wirklich frei entscheidenkönnte?
Ihr Vorschlag lässt dem Arbe itnehmer faktisch nur dieWahl zwischen dem Verzicht auf den Kündigungsschutzund dem Verzicht auf die Einstellung.Wir halten es für sinnvoller , dass erst im Fall der be-triebsbedingten Kündigung die Wahlmöglichkeit zwi-schen einem Abfindungsanspru ch in gesetzlich festge-legter Höhe und einer Klage auf Bestandsschutz zumTragen kommt. Zum einen gibt diese Regelung dem Ar-beitnehmer die Möglichkeit, in Kenntnis der Umständeund der Auswirkung der Kü ndigung gleichberechtigt,sozusagen auf Augenhöhe, mit dem Arbeitgeber zwi-schen Abfindung und Klage zu wählen. Zum anderenwerden damit Kündigungen für den Arbeitgeber bere-chenbar und Prozesse vermieden,
wo es von vornherein nur um die Abfindung geht.Im Zusammenhang mit der Einführung der Abfin-dungsoption müssen wir au ch über die notwendigenKonsequenzen hinsichtlich des Anspruches auf Arbeits-losengeld entscheiden, wo wir wieder auf Sie zählendürfen. Aber die Umsetzung Ihrer Forderung, dass sichArbeitnehmer und Arbeitgeber bei Vertragsabschluss aufdie Übernahme von Qualifizierungskosten durch den Ar-beitgeber anstelle einer Abfindungszahlung einigen kön-nen sollen,
ist, mit Verlaub, nicht nur nicht praktikabel, sondern gehtauch völlig an der Realität vorbei. W eder der Arbeitge-ber noch der Arbeitnehmer wissen bei Abschluss des Ar-beitsvertrages, ob und welche Qualifizierungsmaßnah-men bei einem Ausscheiden des Arbeitnehmers not-wendig und möglich sind und welche Kosten dann ent-stehen.Ihre Forderung, die Frist in § 1 Abs. 1 des Kündi-gungsschutzgesetzes auf zwei Jahre anzuheben, um siemit den gesetzlichen Regelungen für befristete Arbeits-verträge zu harmonisieren, würde alle Arbeitnehmer biszum Ablauf der Zweijahresfrist vor noch größere Unsi-cherheiten stellen, als sie sich im heutigen Erwerbslebenschon ergeben können. Wenn sich Arbeitnehmer und Ar-beitgeber darauf verständigt haben, dass das Arbeitsver-hältnis auf zwei Jahre befristet ist, so ist beiden Beteilig-ten der rechtliche Status von vornherein klar.Die Verlängerung der Probezeit auf zwei Jahre – dasbeinhaltet Ihr Vorschlag doch –
lässt Menschen zu lange im Ungewissen. Dies ist der Ar-beitsmotivation auf Dauer wenig dienlich.
Die Unterscheidung zwischen befristeten und unbefriste-ten Arbeitsverträgen ist sachlich richtig. Wir planen aber,Existenzgründern die Möglichkeit einzuräumen, die be-fristete Beschäftigung von Arbeitnehmern zu erweitern.In den neu gegründeten Unternehmen können dann be-fristete Arbeitsverträge mit einer Dauer bis zu vier Jah-ren abgeschlossen werden. Das erleichtert Existenzgrün-dern in der schwierigen Aufbauphase des Unternehmensdie Entscheidung für Einstellungen.Die von Ihnen geforderte dreiwöchige Ausschluss-frist für alle arbeitsrechtlichen Ansprüche lehnen wir ab.Einerseits müssen Arbeitnehm er nicht erfüllte Entgelt-und andere Ansprüche im Rahmen der allgemeinen Ver-jährungsfristen geltend machen können; andererseitswollen Arbeitgeber sicherlich nicht auf Lohnrückforde-rungs- und Schadensersatz ansprüche verzichten. Hierobliegt es den Tarifparteien, Ausschlussfristen zu verein-baren, die hinter den allgemeinen Verjährungsfristen zu-rückbleiben.Unser Modell des Sozialstaates hat entscheidend zumErfolg der deutschen W irtschaft beigetragen und ist einFundament unserer demokratischen Entwicklung. DerZusammenhalt einer Gesellschaft ist nicht das Er gebnisökonomischer Prozesse, sondern Ergebnis gemeinsamerWertvorstellungen.Sichere Arbeitnehmerrechte wie die im Kündigungs-schutzgesetz sind elementare Bestandteile unseres Sozial-staates und damit auch unserer W ettbewerbsfähigkeit.Dies darf nicht leichtfertig aufs Spiel gesetzt werden. Ichkann daher nur empfehlen, den Antrag der FDP abzuleh-nen.
Danke.
Herr Kollege Schreck, ich gratuliere Ihnen sehr herz-lich zu Ihrer ersten Rede in diesem Hohen Hause undwünsche Ihnen persönlich und politisch alles Gute.
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Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne KastnerNächster Redner in der Debatte ist der KollegeDr. Rolf Bietmann, CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen undHerren! Der Ruf nach einer Reform des Kündigungs-schutzgesetzes wird immer lauter . Verbände von Indus-trie, Handel, Handwerk und freien Berufen beklagen diemangelnde Flexibilität des Arbeitsrechts. Zwischenzeit-lich sehen sich sogar einzelne Gewerkschafter ebensowie der von der rot-grünen Bundesregierung als Sach-verständiger ausgewählte VW-Vorstand Hartz die unbe-streitbare Notwendigkeit, das zum T eil weit verstreuteund komplizierte Recht des Kündigungsschutzes zu ver-einfachen.In den von der Regierun g immer wieder gelobtenHartz-Vorschlägen wird richtig erkannt, dass der Kündi-gungsschutz in seiner jetzigen Form ein Einstellungshin-dernis ist.
Angesichts einer Massenarbe itslosigkeit von mehr als4,7 Millionen Menschen können wir uns in DeutschlandGesetze, die als Einstellungshindernis erkannt wordensind, nicht länger erlauben.
Doch statt auf der Grundlage dieser allgemeinen Er-kenntnis schnell zu handeln, verzögert die SPD-geführteBundesregierung die überfällige Diskussion um die Re-form des Kündigungsschutzr echts und beschränkt sichauf vage Ankündigungen möglicher Veränderungen.
Angesichts der in Deutschland herrschenden Massen-arbeitslosigkeit wird die Wirkung des Gewerkschaftsratsder SPD deutlich, der zwar , wie man liest, zunehmendhäufiger tagt, aber unfähig ist, notwendige Reforment-scheidungen zu treffen, und der damit das Problem derMassenarbeitslosigkeit in Deutschland verfestigt.
Es ist überfällig, die Diskussion um die Reform desdeutschen Arbeitsrechts au s den Hinterzimmern diesesGewerkschaftsrats herauszuholen und darüber endlich sowie heute in öffentlicher Sitzung zu diskutieren.
Die gewerkschaftlich organisierte Hinhaltetaktik ist ge-rade bei der Reform des Kündigungsschutzes weder ausGründen des Sozialschutzes der Arbeitnehmer gerecht-fertigt noch angesichts st eigender Massenarbeitslosig-keit politisch vertretbar. Es muss gehandelt werden, undzwar jetzt.
Die Union ist sich ihrer besonderen V erantwortunggegenüber Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern be-wusst. Kündigungsrecht und Kündigungsschutzrecht be-treffen schließlich verfassungsrechtlich geschützte Posi-tionen beider Vertragspartner. Es entspricht dem Gebotdes sozialen Staates nach Art. 20 und Art. 28 desGrundgesetzes, dass die Arbeitnehmer gegen grundloseoder willkürliche Kündigungen des Arbeitgebers ge-schützt sind. Beliebige Kündigungen im Sinne einer un-begrenzten Kündigungsfreiheit der Arbeitgeberseite sindverfassungsrechtlich nicht gedeckt und werden von derUnion nicht akzeptiert.
Andererseits ergibt sich aus der unternehmerischen Ent-scheidungsfreiheit für die Arbeitgeberseite ein verfas-sungsrechtlich geschütztes Mindestmaß an Kündigungs-freiheit, wiederum gewährleistet durch Art. 2, Art. 12und Art. 14 des Grundgesetzes.Das Kündigungsschutzrecht hat daher immer die Auf-gabe, einen verfassungsgemä ßen Interessenausgleichzwischen der Arbeitgeberse ite und der Arbeitnehmer-seite zu gewährleisten. Dieser verfassungsgemäße Inte-ressenausgleich wird angesichts der weit gefasstenGeneralklauseln des Kündi gungsschutzrechts heuteüberwiegend zum Richterrecht, welches das Geschehenauf dem Arbeitsmarkt in Deutschland maßgeblich mit-steuert.Dieses Richterrecht ist au ch für den interessiertenLaien kaum mehr zu überblicken und führt zur Undurch-schaubarkeit bei einer Vielzahl formeller und materiellerRechtsfragen. Die Rechtsunsicherheit gerade beim Kün-digungsschutz ist kaum noch steigerungsfähig, zumal dieRechtsprechung häufigen Schwankungen unterliegt. DasErgebnis sind beispielswei se zwei vorhandene Groß-kommentare zum deutschen Kündigungsschutzrecht mitbis zu 34 verschiedenen Gese tzesmaterien auf mehr als3 300 Seiten kommentiert.
In diesem Dickicht von ju ristischen und richterrecht-lichen Regelungen finden sich Unternehmer – Kleinun-ternehmer schon gar nicht – nicht mehr zurecht.
Wissenschaftliche Studien haben gezeigt, dass esdurch die richterrechtliche Ausprägung des Kündigungs-schutzes in Deutschland zeitraubender und schwierigerist, einen Arbeitsvertrag aufz ulösen als eine Ehe. Diesgilt besonders für personen- und verhaltensbedingteKündigungen. Das gegenwärtige System des gerichtli-chen Kündigungsschutzes ist zeitraubend, kostenträchtigund ineffizient.Der Deutsche Arbeitsgerichtstag hat vor einiger ZeitAufwand und Praxis der arbeitsgerichtlichen Überprüf-barkeit von Kündigungen gegenübergestellt. In Deutsch-land werden pro Jahr rund 350 000 Kündigungsschutz-prozesse geführt. Zwischen 80 und 90 Prozent dieserKündigungsschutzprozesse enden im Er gebnis ohne
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3092 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. April 2003
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Dr. Rolf Bietmannstreitiges Urteil mit eine r Abfindungszahlung für denArbeitnehmer. Daraus folgt, dass der Kündigungsschutzheute in ein Abfindungsverfahren verwandelt wordenist.
Kritiker sprechen nicht ganz ohne Zynismus vom Abfin-dungshandel.Die Ineffizienz dieses Sy stems hat verhängnisvolleWirkungen auf den Arbeitsmarkt, weil es im derzeitigenZustand die Einstellung von Arbeitslosen massiv behin-dert. Ich sage es noch mal: Auch der von Ihnen immerwieder zitierte Herr Hartz kommt genau zu dieser Er-kenntnis und fordert von den politisch V erantwortlicheneine Reform, die zu mehr Rechtsklarheit und mehr Flexi-bilität im Kündigungsschutzrecht führt.
Die CDU/CSU-Fraktion hat zur Reform des Kündi-gungsschutzes und wichtiger arbeitsrechtlicher Regelun-gen ein eigenes Reformwerk entwickelt, welches mit denVorstellungen der FDP teilwe ise übereinstimmt, in ein-zelnen Teilen aber auch abwe icht. Im Kern geht es da-rum, den Sozialschutz des Arbeitnehmers zu sichern undgleichzeitig die unternehmerische Entscheidungskompe-tenz zu konkretisieren.Vor diesem Hintergrund erscheint der Vorschlag, denKündigungsschutz erst ab einer Betriebszugehörigkeitvon mehr als zwei Jahren greifen zu lassen, als nicht un-problematisch. Die hier von vielen vertretene Auf fas-sung, es könne ohnehin über einen Zweijahreszeitraumbefristet werden, geht nach meiner Ansicht in die falscheRichtung. Zum einen wäre ei n Arbeitnehmer mit einemunbefristeten Arbeitsvertrag in den ersten zwei Jahrenseiner Tätigkeit schlechter ge stellt als mit einem befris-teten Arbeitsvertrag – im Rahmen der Befristung ist imRegelfall keine ordentliche Kündigung möglich –, zumanderen, dies ist der maßge bliche Arbeitsmarktaspekt,erschwert der Ausschluss des Sozialschutzes von zweiJahren die Bereitschaft zum Wechsel von Arbeitsplätzen.Arbeitnehmer, die einmal dem Kündigungsschutzgesetzunterfallen, dürften kaum noch bereit sein, dieses Privi-leg zugunsten einer neuen An stellung aufzugeben. Dasschadet der Fluktuation im Arbeitsmarkt.Dagegen ist die von der FDP und auch von der CSUangestoßene Schwellenwertdiskussion zu begrüßen. Ge-rade Kleinbetriebe mit wenigen Mitarbeitern und regel-mäßig ohne größere Kapitala usstattung sind durch dasKündigungsschutzgesetz erheblichen finanziellen Risi-ken ausgesetzt. Die jetzige Regelung verhindert vielfachNeueinstellungen in den innovativen kleinen und mittle-ren Unternehmen.Die von der FDP geforderte Einführung enumerativerKriterien in der Sozialauswahl bei betriebsbedingtenKündigungen ist richtig. Hierdurch werden klare Rege-lungen geschaffen, die die Akzeptanz des Rechts erhö-hen. Problematisch ist allerd ings die im Antrag enthal-tene Einschränkung der Sozialauswahl, die wiederum zurechtlicher Unklarheit bei der Auswahl führt und deswe-gen – jedenfalls in dieser Form – besser weggelassenwerden sollte; diese Einschränkung der Sozialauswahlöffnet nämlich Willkür Tür und Tor.
Wir begrüßen die von Ihnen und von uns ebenfalls ge-forderte Einführung des Optionsmodells. Hierdurchwird das Arbeitsrecht um ei n flexibel anwendbares In-strument erweitert, was der Kalkulierbarkeit der Arbeits-kosten und vor allem der zügigeren Rechtssicherheitdient.
Dieses Modell kann greife n, wenn Arbeitnehmer undArbeitgeber es vertraglich vereinbaren. Ich will nichtverschweigen, dass man dabei noch einmal gesondertprüfen sollte, ob es richtig ist, dieses Modell auch in denFällen der verhaltensbedi ngten Kündigungen anzuwen-den; denn bei schuldhaften Arbeitsvertragsverstößen desArbeitnehmers kann die Of ferierung von Abfindungs-leistungen natürlich geradezu die Provokation des ver-tragswidrigen Verhaltens beinhalten.
Deswegen sollte man dies, meine ich, noch einmal prü-fen und das Modell bei verh altensbedingten Kündigun-gen nicht anwenden, wohl aber bei betriebsbedingtenKündigungen und natürlich auch bei personenbedingtenKündigungen.
Im Ergebnis kann ich feststellen, dass mit dem Antragder FDP die dringend notwendige Debatte um die Re-form des Kündigungsschutzes im Parlament eröf fnetworden ist. CDU und CSU werden insoweit mit eigenenVorschlägen zur Flexibilisierung des deutschen Arbeits-rechts über das Kündigungsschutzrecht hinaus vorstelligwerden;
denn Veränderungen am Arbeitsmarkt werden wir nurdurch mutige Reformen erzielen. W er heute glaubt, erkönne alles belassen, wie es ist, versündigt sich an denMillionen Menschen, die in unserem Land auch bei gu-ter Ausbildung nach Arbeit suchen und sie einfach nichtfinden. Wer wie der SPD-Gewerkschaftsrat Neuregelun-gen blockiert, handelt nicht sozial; er schadet vielmehrden Massen von Menschen, di e in dieser Republik mitRecht den Anspruch auf Arbeit erheben.
Herr Kollege, Ihre Redezeit ist deutlich überschritten.
Frau Präsidentin, ich komme zum Schluss.Hier haben Rot-Grün und die Bundesregierung kläg-lich versagt. CDU und CSU we rden nicht ruhen, diesen
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Dr. Rolf BietmannMissstand aufzuzeigen und die Regierung zum Handelnim Interesse der Menschen dieses Landes zu zwingen.Vielen Dank.
Nächster Redner ist der Kollege Fritz Kuhn, Bündnis 90/
Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich will zunächst einmal für meine Fraktion klar zum
Ausdruck bringen: W ir sehen einen Unterschied zwi-
schen einem Marktfundamentalismus ohne soziale Rah-
menbedingungen und der sozialen Marktwirtschaft.
Marktfundamentalismus, wie Sie von der FDP ihn oft
predigen, ist nicht unser Ding. W ir haben eine soziale
Marktwirtschaft und der Kündigungsschutz – der Kol-
lege von der Union hat es schon angeführt – ist elemen-
tarer Bestandteil der sozialen Marktwirtschaft.
Wir streiten also nicht darüber, ob wir Kündigungsschutz
wollen, sondern darüber, wie er richtig gefasst ist, damit
auf der einen Seite die Mens chen geschützt werden und
auf der anderen Seite das nötig e Maß an Flexibilität ge-
währt wird. Das ist die Basis, von der wir ausgehen müs-
sen.
– Sie müssen mir nicht mit solchen Zwischenrufen kom-
men, Herr Kollege. Gegen Ihr Problem hilft im Übrigen
Baldrian. Den gibt es in jeder Apotheke.
Ich will nun etwas dazu sa gen, wie die Flexibilisie-
rung ausgestaltet sein muss. Das richte ich vor allem an
diejenigen, die Skepsis gegenüber den V orschlägen der
Agenda 2010 zum Kündigungsschutz haben. Mir
scheint der Hauptpunkt zu sein, dass die Betriebe, die
sich im Aufbau befinden – dazu zählen vor allem inno-
vative Betriebe, bei denen ma n noch nicht weiß, ob die
innovative Idee des Betriebes in einigen Jahren trägt –,
zögern, ob sie über die Gren ze von fünf Beschäftigten
gehen können und sollen. Ich glaube, dass es aus diesem
Grund richtig ist, einen be stimmten Maßnahmenkatalog
von Flexibilisierungsmöglichkeiten aufzubauen, wie es
der Kanzler in seiner Regi erungserklärung vorgeschla-
gen hat. Ob man eine Gleitz one einrichtet, wie wir vor-
geschlagen haben, oder be fristete Beschäftigungsver-
hältnisse nicht dazu rechnet, wird man im Einzelnen zu
prüfen haben. Ich glaube, dass beide Möglichkeiten
funktionieren würden und so die starre Grenze, die wir
heute haben, im richtigen Umfang flexibilisiert würde.
Herr Kollege Kuhn, darf Kollege Kolb eine Zwi-
schenfrage stellen?
Nein, das möchte ich nicht.
– Das macht nichts.Ich finde es aber sehr wichtig, überhaupt etwas zutun, weil es Betriebe gibt , die wegen des Kündigungs-schutzes Probleme haben, über die Anzahl von fünf Be-schäftigten hinauszugehen. In diesem Zusammenhang istanzumerken, dass wir mit der Verbesserung und der Ver-stärkung der Leiharbeit durch Hartz ein wichtiges In-strument geschaffen haben, das es dem zögernden Fir-meninhaber ermöglicht, intelligente Lösungen zu finden,wenn er nicht weiß, wie sich das Geschäft entwickelnwird. Er lernt so die Mitarb eiterinnen und Mitarbeiterkennen und kann, besser als aus jeder Bewerbung, ein-schätzen, was sie im Betrieb können. W enn sich zeigt,dass das Geschäft läuft und das Unternehmen wächst,sind die Mitarbeiter schon vo rhanden, die dann fest indem Betrieb eingestellt werden können. Dann wagt manes auch leichter, die Grenze von fünf Beschäftigten zuüberschreiten. Man muss also den Gesamtkontext sehen.Hier hat Hartz sicherlich vi el geholfen. Das haben wirmit Hilfe der Union schon beschlossen.
Wenn ich mit Unternehmern vor allem kleinerer Be-triebe spreche und sie frage, welche Probleme sie mitdem Kündigungsschutz haben, dann nennen sie oft – dassind die Kernargumente –, dass es im Streitfall zu einemProzess vor dem Arbeitsgericht kommt und es ein langesVerfahren mit einem erheblic hen Prozessrisiko für dieBetriebsinhaber gibt. In der Regel kommt es aus diesemGrund am Schluss zu einem V ergleich mit einer Abfin-dung.Wir haben vorgeschlagen, das vorher durch eine Ver-einbarung über die Höhe de r Abfindung zu regeln. Dasist eine kluge Lösung; denn dadurch wird das Prozessri-siko gemindert. Außerdem wird verhindert, dass die Ar-beitnehmer weiterhin so tun, als würden sie auf V erlän-gerung des Arbeitsverhältnisses klagen, in W irklichkeitaber eine Abfindung bekommen wollen. Das ist Unsinn,das unterbinden wir. Es wird manchen Ärger, den es beiden Unternehmern wegen des Kündigungsschutzes gibt,reduzieren.Herr Niebel, ich glaube aber, dass man eine solche Ver-einbarung nicht beim Einstieg in eine Firma treffen kann,da keine Waffengleichheit herrscht. Die Position desjeni-gen, der einsteigt, ist sehr schwach. Deswegen muss maneine solche Vereinbarung tatsächlich nach der Kündigungtreffen. Der Gesetzgeber hat nur die Aufgabe, den Rah-men zu definieren, in dem das Ganze ablaufen soll.
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Fritz KuhnWir halten Ihren V orschlag, die Grenze auf 20 Be-schäftigte zu erhöhen, für ni cht richtig, weil wir bei derbestehenden Regelung mit fünf Beschäftigten die Flexi-bilität, die wir brauchen, bekommen können. Deswegenwerden wir Ihrem Vorschlag nicht zustimmen.
Ich will zum Abschluss ei nen Punkt ansprechen, dermir wichtig erscheint. Es gibt manchmal eine Diskus-sion, ob die Vorbehalte bei den Unternehmern gegen dieKündigungsschutzregelung symbolisch sind oder tat-sächlich bestehen. Gibt es also nur einen gefühlten V or-behalt oder einen tatsächlichen? Dazu habe ich eine ganzklare Meinung: Die Frage ist völlig irrelevant, weil ge-fühlte Vorbehalte tatsächliche empirische Wirkungen ha-ben können.Wer glaubt, der Kündigungsschutz behindere ihn, wirdtatsächlich so handeln, als würde er durch ihn behindert.Der richtige Weg ist deshalb ein klares Bekenntnis zumKündigungsschutz als zentralem Element der sozialenMarktwirtschaft. Man muss pragmatisch an die Flexibili-sierung herangehen. Das tut die Bundesregierung. Des-wegen sind wir auf dem richtigen Weg.Wenn Sie noch die eine oder andere gute Idee haben,dann bringen Sie sie ein; das wäre natürlich willkom-men. Ich glaube aber, dass der Laden auch so läuft. W irwerden den Kündigungsschutz in Deutschland verbes-sern.Vielen Dank.
Das Wort zu einer Kurzintervention hat der Kollege
Kolb.
Schönen Dank, Frau Präsidentin. – Herr Kollege
Kuhn, ich hätte mir natürlich gewünscht, dass Sie eine
Zwischenfrage zulassen. So sehe ich mich veranlasst,
das als Kurzintervention hier anzubringen.
Sie sagen, dass man irgendetwas tun muss, und stellen
es so dar, als sei es kein richtiges Problem, sondern nur
gefühlt. Außerdem sagen Si e, Sie wissen noch nicht so
recht, was Sie tun wollen. Stimmen Sie mir denn zu,
dass es letztlich entscheide nd darauf ankommt, wie die
Sicht desjenigen ist, der ein neues Arbeitsverhältnis be-
gründen soll? Dabei geht es in entscheidender Weise um
den Arbeitgeber, der Ja oder Nein sagt.
Stimmen Sie mir außerdem zu, dass wir bei der Lö-
sung, die wir anstreben, i mmer im Auge behalten müs-
sen, wie wir in einer möglichst großen Zahl von Fällen
die Dinge so gestalten könn en, dass der Arbeitgeber Ja
sagt?
Herr Kuhn, der Kollege Schr eck hat zu Recht darauf
hingewiesen, dass zwei Drittel aller Betriebe in Deutsch-
land fünf oder weniger als fü nf Beschäftigte haben. Ich
sage Ihnen: Es ist kein Zufa ll. Es ist eben nicht nur das
Gefühl, sondern es ist tatsächlich eine sehr rigide
Schwelle, die im deutschen Arbeitsrecht eingezogen
wurde. Es gibt Untersuchu ngen bezüglich der W irkun-
gen der Änderung des Kündigungsschutzes im Jahr
1997. Die Handwerkskammer Oberbayern sagt zum Bei-
spiel, dass es deutliche Beschäftigungsef fekte gegeben
hat. Diese wären natürlich um so stärker gewesen, wenn
diese Änderung bestehen geblieben wäre. Leider waren
Sie hier beratungsresistent und haben die Änderung des
Kündigungsschutzes aus dem Jahre 1997 entgegen allen
Warnungen wieder zurückgenommen.
Ich möchte Sie noch auf einen Punkt hinweisen: Es
wäre auf jeden Fall falsch, mit dieser befristeten Lösung
zu arbeiten. Als kleines Unternehmen bekommen Sie
keinen qualifizierten Mitarb eiter, wenn Sie ihm sagen
müssen, dass sie ihn zwar befristet einstellen – gegebe-
nenfalls für die Höchstdauer der Befristung, die jetzt ge-
setzlich möglich ist –, ihn danach aber nicht übernehmen
können, weil dann der Kündigungsschutz greifen würde.
Mit dieser Perspektive können Sie keinen qualifizierten
Mitarbeiter für Ihr Unternehmen gewinnen. Darauf
kommt es letztlich an.
Letzter Punkt: Wir müssen immer auch die Sicherheit
der verbleibenden Arbeitsplätze in einem Unternehmen
sehen. Gerade wenn es um betriebsbedingte Kündi-
gungen geht, ist es sehr wichtig, dass die Kostenent-
wicklung, die sich aus der unvermeidlichen Auflösung
von Arbeitsplätzen ergibt, so verläuft, dass der Bestand
der verbleibenden Arbeitsver hältnisse auf Dauer gesi-
chert werden kann. Der Kollege Schreck hat ja gesagt, in
welchem Umfang Anpassungsmaßnahmen teilweise er-
forderlich sind. Auch von daher ist aus meiner Sicht vom
Beginn des Arbeitsverhältnisses an eine Kalkulierbarkeit
unabdingbar, wenn man zu einer modernen und zu-
kunftsgerichteten Lösung des Kündigungsschutzes kom-
men will.
Eiern Sie also nicht herum, sondern sagen Sie klar ,
was Sie wollen. Halten Sie bi tte auch im Auge, was für
die Arbeitnehmer letztendlich am besten ist, nämlich
klare und berechenbare Verhältnisse bei der Begründung
des Arbeitsverhältnisses.
Herr Kollege Kuhn, Sie haben das Recht, zu antwor-ten.
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. April 2003 3095
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Machen Sie mal halblang! – Bei dem ersten Punkt,
den Sie angesprochen haben, haben Sie wirklich nicht
zugehört. Ich habe argumentiert, dass aus dem Gefühlten
das Tatsächliche resultiert. In Richtung derjenigen, die
sagen, dass es nur eine symbolische Diskussion ist, sage
ich: Es reicht aus, dass ein Unternehmer einen Hinde-
rungsgrund für eine Einstellung fühlt, um nicht einzu-
stellen.
– Ich glaube, Sie haben jetzt verstanden, was ich sagen
will.
– Dann kann ich Ihnen nicht mehr helfen. Es ist doch lo-
gisch, oder?
– Also, ich habe es jetzt zweimal gesagt.
Zweiter Punkt. Sie sagen, man würde für befristete
Stellen keine qualifizierten Mitarbeiter finden.
Ich glaube, dass Sie in vielen Bereichen unserer W irt-
schaft die tatsächliche – –
– Interessiert Sie die Antwort eigentlich?
– Ah ja, wir müssten dann nach draußen gehen und Sie
könnten mir einen Kaffee zahlen. So wäre es möglich.
– Jetzt hören Sie mal zu, dam it wir vernünftig miteinan-
der reden können.
Zu Ihrer These sage ich Ihnen: In ungeheuer vielen
Bereichen unserer W irtschaft ist die Arbeitsmarktlage
so, dass sich auch für befristete Stellen qualifizierte Mit-
arbeiter finden lassen – das ist doch logisch –, weil die
Arbeitnehmer wissen, dass ein befristetes Arbeitsver-
hältnis die Chance bietet, dauerhaft in einem Betrieb zu
arbeiten.
Die Realität in den Betriebe n ist so, dass die Unter-
nehmer aufgrund der wirtsc haftlichen Situation nicht
wissen, ob sie ein kurzfrist iges Wachstum mit der Ein-
stellung neuer Mitarbeiter auf fangen sollen oder nicht.
Sowohl die Leiharbeit als auch die befristeten Arbeits-
verhältnisse bieten hier gute Chancen. Schauen Sie sich
doch einmal die Zahlen zur Leiharbeit an. In Deutsch-
land liegt die Quote bei Leiharbeit bei 1 Prozent, in ver-
gleichbaren Volkswirtschaften sind es 5 Prozent.
Das müssen wir ändern, damit mehr Leute in Arbeit
kommen. Dadurch gewinnt der Unternehmer Sicherheit;
denn er kann bei einem größeren Auftragsvolumen
Leute einstellen, die nach unserem Modell bereits zwei
Jahre im Betrieb gearbeitet haben, die er kennt und die
hoch qualifiziert sind.
Wenn man sich bemüht, die Grundsätze der sozialen
Marktwirtschaft zu wahren, dann werden wir eine prag-
matische Lösung finden. Üb er die Details können wir
uns noch unterhalten. Dabei können Sie sich einbringen.
Nächster Redner ist der Kollege Dr . Göhner, CDU/
CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kollegen! Bei allem Streitüber Ideen zur V eränderung des Arbeitsrechtes gibt esseit wenigen W ochen erstmals einen Konsens: Of fen-sichtlich ist die Erkenntnis, dass das geltende Arbeits-recht, insbesondere das Kündigungsschutzrecht, inDeutschland ein zunehmendes Beschäftigungshemmnisist, Grundlage dieses neue n Wettbewerbs auf allen Sei-ten, Vorschläge zur Veränderung des Arbeitsrechtes zumachen.Dieses Beschäftigungshemmnis hat sich durch eineausufernde, rechtschöpfende, zum Teil geradezu recht-gestaltende Rechtsprechung der Arbeitsgerichte, die derGesetzgeber durch seinen Gestaltungsraum ermöglichthat, und durch zahlreiche Ne uregelungen in den letztenvier Jahren entwickelt.
Es ist natürlich zu begrüßen, wenn jetzt zum Teil eineUmkehr dieses Prozesses stat tfindet. Erster Schritt istübrigens die am 1. April dieses Jahres in Kraft getretenegesetzliche Neuregelung zu Minijobs.
Das war ein Schritt, um die Verriesterung des Arbeits-rechtes wieder zurückzuführen. Die Vorschläge, die derBundeskanzler zur Veränderung beim Thema Sozialaus-wahl gemacht hat, entsprechen übrigens weit gehenddem Programm der CDU/CSU und auch dem vor geleg-ten Antrag der FDP. Er läuft auf den Rechtszustand vonvor 1998 hinaus.
Ich halte es für richtig, auch in diesem Punkt die Verries-terung des Arbeitsrechtes zurückzunehmen. Übrigenswäre es für die Bundesregi erung einfach, ein schnelles
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3096 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. April 2003
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Dr. Reinhard GöhnerErgebnis zu liefern: Sie braucht wirklich nur den Rechts-zustand von vor 1998 herzustellen.Ich finde es sehr bemerkenswert, was schon an weite-ren Änderungen im Arbeitsre cht beschlossen ist und imBundesgesetzblatt steht. Das erwähne ich deshalb, HerrKuhn, weil man jetzt keinen Popanz aufbauen und sichals Hüter der sozialen Marktwirtschaft und der Rechteder Arbeitnehmer darstellen sollte. Es ist nicht so, als obwir diejenigen seien, die all das aufgeben wollten.
Die Tatsache, dass seit Anfang dieses Jahres Arbeitsver-hältnisse für Arbeitnehmer ab 52 Jahren ohne Begren-zung sachgrundlos zumindest bis 2006 befristet werdenkönnen, halte ich für richtig. Dies war T eil des Pro-gramms der CDU/CSU, dem die SPD im W ahlkampfheftig widersprochen hat. Die FDP war immer dieserMeinung; das weiß ich. Imme rhin ist auch dies einSchritt, um die Verriesterung des Arbeitsrechtes zurück-zunehmen.Ich muss allerdings sagen, dass Sie mit einem IhrerVorschläge all das wieder konterkarieren könnten, näm-lich dem vom Bundeskanzler eingebrachten V orschlageines Wahlrechtes für die Arbeitnehmer , bei betriebsbe-dingten Kündigungen künftig zwischen Abfindung oderKündigungsschutzprozess wählen zu können.
Herr Kollege Göhner , gestatten Sie eine Zwischen-
frage des Kollegen Dreßen?
Nein. – Das würde zu einer nachhaltigen Verteue-rung des Kündigungsschutzes in Deutschland und zunoch mehr Rechtsunsicherheit führen.Nach geltendem Recht erfo lgen etwa 60 Prozent derbetriebsbedingten Kündigungen in Deutschland ohneAbfindung. Es gibt übrigens Untersuchungen, zum Bei-spiel von der Hans-Böckler -Stiftung, die besagen, dassdiese Zahl noch höher sei. 75 Prozent der Kündigungenwerden ohne Kündigungsschutzprozess abgewickelt.Nach dem Vorschlag des Bundeskanzlers gäbe es dem-gegenüber immer entweder eine gesetzlich geregelte Ab-findung für den Arbeitnehmer oder einen Kündigungs-schutzprozess, der im Übrigen, wie Herr Kuhn richtigsagt, in aller Regel auch eine Abfindung regeln würde.Denken Sie beispielsweise einmal an einen Hand-werksbetrieb mit zehn Arbe itnehmern. Wenn der plötz-lich keinen Auftrag mehr hat oder nur noch Aufträge, dienur für die Beschäftigung von zwei oder drei Arbeitneh-mern reichen – leider ist das keine theoretische Konstel-lation, sondern etwas, was wir in der Praxis massenhaftbei der katastrophalen wirtschaftlichen Lage feststellen –,dann würde der Betrieb nach diesem V orschlag Abfin-dungen zu zahlen haben. Da s würde die Existenz diesesBetriebes massiv gefährden und zusätzlich zu den un-streitig fortgeltenden Kündigungsschutzfristen bis zu sie-ben Monaten – zum Teil sind sie sogar noch länger – undzusätzlich zu der von den Arbeitgebern zur Hälfte mitge-tragenen Arbeitslosenversicherung eine weitere Verteue-rung von Arbeit bedeuten. Sie sollten sich überlegen, obSie tatsächlich an dieser Stelle ein solches Wahlrecht vor-legen können.Der Vorschlag der FDP und der CDU/CSU zu einerOptionslösung ist demgegenüber ein vollständig ande-rer. Er bedeutet durchaus mehr Flexibilität, mehr Rechts-sicherheit und vor allem eine Verbesserung von Einstel-lungschancen. Wenn Arbeitnehmer und Arbeitgeber beiAbschluss eines Arbeitsvertr ages künftig vereinbarenkönnen, anstelle des Kündigungsschutzes bei betriebsbe-dingten Kündigungen eine gesetzlich geregelte Min-destabfindung vorzusehen, da nn beseitigt das eben dieheute bestehende Unkalkul ierbarkeit des Kündigungs-schutzes, die S ie beim Vorschlag der Bundesregierungbehalten.
Der Vorteil ist: In diesen Fällen weiß der Arbeitneh-mer, welche Abfindung er bekommt, und der Arbeitge-ber weiß, dass er sich nicht auf einen unkalkulierbarenlangen Rechtsstreit einlassen muss, falls er keine Arbeitmehr hat, und er kennt die Kosten dieser Lösung.
Diese Optionslösung hat den Vorteil, dass in allenFällen, in denen sich der Kündigungsschutz als Beschäf-tigungshemmnis auswirkt, Arbeitnehmer und Arbeitge-ber eine arbeitsvertragliche Vereinbarung treffen kön-nen, die dieses Beschäftigungshindernis beseitigt. Dasnutzt also denjenigen, die keine Arbeit haben, und be-deutet für alle, die heute Arbeit mit Bestandsschutz undKündigungsschutz haben, kein e Beeinträchtigung ihrerRechte.Zum hier vorliegenden Antrag der FDP für eine sol-che Optionsregelung habe ich allerdings einen zentralenEinwand. Herr Bietmann hat es eben angedeutet. Nachdem eindeutigen Wortlaut Ihres Antrags würde Ihre Op-tionsregelung auch bei einer verhaltens- oder personen-bedingten Kündigung, die eindeutig der Arbeitnehmerzu vertreten hätte, von ihm verschuldet, sogar provoziertwäre, greifen. Das können Sie nicht ernsthaft meinen.
Deshalb rege ich an, dass Si e Ihren Antrag in diesemPunkt korrigieren.Ich glaube, dass wir vor dem Hintergrund des Kon-senses, dass das Arbeitsrecht heute ein weitgehendesBeschäftigungshemmnis darstellt, wirklich überlegenmüssen, wie wir eine Forten twicklung des Kündigungs-schutzes und des Arbeitsrechts – übrigens auf mehr Fel-dern als nur dem Kündigungsschutz – hinbekommen, beider nicht die V erteuerung von Arbeit die Folge ist undbei der Sicherheit und Flexib ilität für Arbeitnehmer undBetriebe miteinander verb unden werden können. Ichsehe bei den Vorschlägen der Bundesregierung kein hin-reichendes Konzept, mit de m diese Ziele verwirklichtwürden, weil sie gerade das Gegenteil, nämlich eine Ver-
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. April 2003 3097
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Dr. Reinhard Göhnerteuerung des Kündigungsschu tzes bewirken. Das kanneigentlich nicht Ihre Absicht sein. Deshalb appelliere ichan Sie, Ihre Vorstellungen in diesem Punkt zu überden-ken.
Ich glaube, dass die Optionslösung im Sinne einer arbeits-vertraglichen Vereinbarung für den Fall einer nur be-triebsbedingten Kündigung der richtige Weg wäre. Um esnoch einmal den Kollegen der FDP zu sagen: Das gehtnicht bei allen Kündigungen von Arbeitgeberseite. Aberfür betriebsbedingte Kündigungen sollte es einen solchenWeg geben. Wir brauchen be i der Fortentwicklung desArbeitsrechts die Mischung von mehr Flexibilität undSicherheit. Die ist möglich, deshalb verabschieden Siesich von Ihrem Vorschlag des Kündigungsschutzrechts.
Letzte Rednerin in dieser Debatte ist die Kollegin
Doris Barnett, SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Es geht doch nichts über gepflegte V orurteile, HerrNiebel und meine Damen und Herren von der CDU/CSU. Eines der zumindest v on Ihnen gepflegten Vorur-teile scheint zu sein, dass das Kündigungsschutzrechtunbedingt abzuschaffen sei.Sie beschweren sich auch ständig, dass es in unseremLand an Investitionen, Aufträgen, Fachkräften und Be-triebsmitteln fehle.
Arbeit sei zwar vorhanden, aber nicht für den erwartetenLohn. Die Arbeitskosten seien zu hoch, die Lohnneben-kosten müssten gesenkt werden und die Arbeitnehmersollten viel mehr selbst in ihre soziale Sicherheit inves-tieren.Gleichzeitig soll die Inlandsnachfrage kräftig steigen.Der Arbeitnehmer von heute soll flexibel, hoch moti-viert, bestens ausgebildet – die Ausbildungskosten sollenam besten von Dritten getragen werden –, höchst verant-wortungsbewusst, spendabel für Sicherungssysteme undhöchst spendabel für eine florierende Inlandsnachfrage,
aber recht bescheiden sein, wenn es um Lohnforderun-gen und Schutzrechte geht.Deswegen greift die FDP wieder einmal den Kündi-gungsschutz auf: Wenn der abgeräumt ist, dann gibt esauch mehr Arbeitsplätze. Die FDP beruft sich dabei aufden Sachverständigenrat.
– Was heißt „Ihren“? Er berät uns alle.
Sie berufen sich, wie gesagt, auf die Er gebnisse desSachverständigenrats und picken sich Ihre Ar gumenteheraus. Erlauben Sie mir an dieser Stelle eine Frage: SindSachverständige und Weise nicht in Wirklichkeit – wirhaben selbst auch leidige Erfahrungen damit gemacht –wie Wegweiser? Sie weisen den W eg, sind ihn aber nieselbst gegangen und merken deswegen vielleicht nicht,dass in der Zwischenzeit Um leitungen oder auch andereHindernisse aufgetreten sind.
Ist das Kündigungsschutzgesetz abgesehen von allerPsychologie und Symb olik wirklich ein Beschäfti-gungshemmnis? Schrecken kleine Betriebe in Wirklich-keit vor möglichen Einstellungen zurück?
– Hören Sie doch auf! – Sie können das nicht mit seriö-sen Zahlen belegen. Das zeigt doch Ihr Feldversuch. DerKollege Schreck hat vorhin sogar den ehemaligen Ar-beitsminister Blüm zitiert. Welchen besseren Zeugen da-für könnte man denn sonst noch bringen?
Es gibt 3,5 Millionen Beendigungen von Arbeitsver-trägen pro Jahr. Ungefähr die Hälfte davon wird in Formvon Kündigungen von den Arbeitnehmern selbst veran-lasst. Das zeigt doch, dass der Arbeitsmarkt in stetigerBewegung ist. Es herrscht eine erhebliche Fluktuation.Entlassungen und Einstellunge n finden täglich in Grö-ßenordnungen von Zigtausende n statt. Dabei stellt derKündigungsschutz offenbar doch kein so großes Hemm-nis dar. Dass die Zahl der Einstellungen bei Betriebenmit sechs bis neun Beschäftig ten, die Sie derzeit beson-ders im Blick haben, höher ist als in Kleinstbetriebenoder in Großbetrieben, ist sicherlich auch bekannt.
Viele Tarifverträge sorgen für passgenaue Arbeitsver-hältnisse. Diese Tarifverträge wurden auch von den Ar-beitgebern unterschrieben, Herr Niebel und HerrGöhner. Oder wollen Sie vielleicht behaupten, die Ar-beitgeber seien dazu von de n Gewerkschaften, von de-nen Sie behaupten, dass niemand mehr hinter ihnensteht, erpresst worden? Sie sollten einmal Ihre Argumen-tation auf ihre Stichhaltigkeit überprüfen.
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3098 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. April 2003
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Doris BarnettNur gegen 11 Prozent der Kündigungen durch die Ar-beitgeber wurde mit Klagen vor gegangen. In der Hälftedieser Fälle wurde geklagt, weil bereits vorher der Be-triebsrat der Kündigung widersprochen hat. Insofern wardas doch für den Arbeitgeber ein deutliches Zeichen da-für, dass die betriebsbedingte Kündigung vielleicht dochnicht gerechtfertigt war. Dieses Risiko war dem Arbeit-geber bekannt, als er trotzdem auf der Kündigung be-standen hat. So viel zur Rechtssicherheit.
Lassen Sie uns trotzdem die Ziffern II.3 und II.4 IhresAntrags näher betrachten, Herr Niebel. W er das Rechtder Überprüfung der ordnungsgemäßen oder rechtmäßi-gen Auswahl zur Disposition st ellt – das tun Sie –, weilder Arbeitnehmer beim Unterschreiben des Arbeitsver-trags auf sein Klagerecht verz ichten und stattdessen Er-satz erhalten soll – entweder in Form einer Abfindungoder einer Weiterbildung, wobei gegenwärtig niemandabsehen kann, wie sich die Situation nach 15 Jahren dar-stellt und ob der Arbeitgeber dann noch solvent ist –,
schafft die Sozialauswahl letztendlich ab. Da könnenSie sagen, was Sie wollen.
Bisher gilt: Klagen gegen betriebsbedingte Kündigun-gen sind nur erfolgreich – ich hoffe, Sie geben mir darinRecht –, wenn die Sozialauswahl nicht stimmt. In demFall entsteht auch ein Abfindungsanspruch. Solche Kla-gen – das ist richtig – kosten Zeit und Geld und beinhal-ten ein gewisses Risiko.
Klagen gegen sozial gerechtfertigte betriebsbedingteKündigungen – wenn die Sozi alauswahl stimmt – lösenkeinen Kündigungsschutz un d auch keinen möglichenAnspruch auf Abfindung aus.Das FDP-Modell sieht dagegen Abfindungen bzw. ei-nen Weiterbildungsanspruch bei jeder – wahrscheinlichmeinen Sie: betriebsbedingten – Kündigung vor . HabenSie sich jemals wirklich ernsthaft mit Arbeitgebern darü-ber auseinander gesetzt, wie hoch dann das Kostenrisikofür sie wird? Hier wird – man stelle sich das vor – dieFDP plötzlich zu einem unkalk ulierbaren Risiko für diedeutsche Wirtschaft.
Oder sollen Abfindungsansprüche doch wieder ge-richtlich überprüft werden?
Den Salto mortale, den Sie, Herr Göhner , eben vollführthaben, kann ich, ehrlich ge sagt, nicht nachvollziehen.Sie haben nämlich behauptet, das FDP-Modell sei soviel besser als unser Vorschlag bzw. als der des Bundes-kanzlers.
Mir ist klar: Die FDP will die Sozialauswahl durchein Abfindungsrecht ersetzen.
– Das ist so, ganz egal, was Sie, Herr Niebel, auch be-haupten.
– Da haben Sie aber die Re chnung ohne den W irt ge-macht. Beim Lesen Ihres An trags ist mir ein weitererPunkt aufgefallen. Dort heißt unter Ziffer II.3:Die Arbeitnehmer, deren W eiterbeschäftigung imberechtigten betrieblichen Interesse liegt, werdenaus der Sozialwahl ausgenommen werden. Wer dasist, entscheidet die Betriebsleistung.Ist „Betriebsleistung“ richtig?
Der vom Bundeskanzler unterbreitete V orschlagschafft die Sozialauswahl dagegen nicht ab, sondernmacht sie rechtssicher. Es gibt drei leicht nachprüfbareKriterien – Sie haben schon darauf hingewiesen –: Alter,Dauer der Betriebszugehörigkeit und Unterhaltsver-pflichtungen.
Der Bundeskanzler hat außerdem vor geschlagen, dasssich die Arbeitnehmervertreter mit dem Arbeitgeber ei-nigen, was – daran hat er wohl gedacht – dem Gedankendes § 125 der Insolvenzordnung entspricht. Das ist,denke ich, ein gangbarer Weg. Das schafft auf jeden FallRechtssicherheit für alle Beteiligten.
Die Arbeitnehmer sollen nach unseren V orstellungennach betriebsbedingten Kündigungen das Recht haben,zwischen Abfindung und Klageweg zu wählen. Ich weißnicht, was daran so schlimm sein soll, Herr Göhner;
denn das heißt ja nicht, dass es einen Abfindungsan-spruch bei einer berechtigten Kündigung gibt. Über dieHälfte der von Arbeitgebern ausgesprochenen Kündi-gungen – darauf habe ich schon vorhin hingewiesen –haben den Mangel, dass der Betriebsrat nicht zuge-stimmt hat. In solchen Fällen besteht für den Arbeitgeberein großes Risiko. Wenn der Arbeitnehmer aber mit ei-ner Abfindung einverstanden ist, dann hat der Arbeitge-ber nicht mehr das Risiko, ev entuell viel Geld zahlen zumüssen. Eine solche Regelung ist eine große Erleichte-rung für die Arbeitgeber. Wenn wir das im Gesetz veran-kern, dann müssen wir auch keine Sperrzeiten aufheben,
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Doris BarnettHerr Niebel; denn wer sich gesetzeskonform verhält,kann später auch nicht bestraft werden.Die FDP und Ministerpräs ident Stoiber versuchenjetzt, eine zweite Variante ins Spiel zu bringen. Danachsoll der Kündigungsschutz erst für Betriebe mit mehr als20 bzw. 80 Mitarbeitern – das will Herr Gillo aus Sach-sen – gelten.
Dazu kann ich nur sagen: T olle Sache! Damit würdenüber 4,5 Millionen bzw. fast 11 Millionen Beschäftigteihres Rechts beraubt; denn sie unterlägen nicht mehrdem Kündigungsschutz, wenn man dem folgen würde.
Der Vorschlag des Bundeskanzlers greift dagegen über-haupt nicht in bestehende Schutzrechte ein; denn fürBetriebe mit weniger als fünf Mitarbeitern gilt das Kün-digungsschutzgesetz weiterhin nicht, und zwar auchdann nicht, wenn sie befristet Beschäftigte zum Bei-spiel für die Bewältigung von Auftragsspitzen oder fürdie Eroberung neuer Märkte einstellen. Das ist für ei-nen atmenden Betrieb viel ve rnünftiger und besser alsdie von Ihnen vor geschlagene zweijährige Probezeit,die sich außerdem konträr zur bisherigen Rechtspre-chung verhält.
Die Vorschläge des Bundeskanzlers er gänzen dies inzumutbarer Weise, ohne in die Grundstruktur des Kündi-gungsschutzgesetzes einzugreifen, das dem Schutz vorWillkür dient. Der geforderte Interessenausgleich wirdverwirklicht und das Vertrauen nicht verletzt. W er aberan die Substanz des Kündigungsschutzrechts geht, derwill Willkür im Betrieb. Ge nau das ist es, was Sie wol-len; denn Sie fordern in Ihrem Antrag, dass die Betriebs-leitung entscheiden müsse, wer herausfliegt.Hören Sie mit Ihren überzogenen Forderungen an dieArbeitnehmer auf. Sägen Sie nicht den Ast ab, auf demSie sitzen. Auch Sie werden froh sein, wenn es bald wie-der genügend Arbeitnehmer gibt. Schließen Sie sich un-serer Politik mit Augenmaß an und erarbeiten Sie ge-meinsam mit uns ein vernün ftiges Kündigungsschutz-gesetz. Das würde allen dienen.Herzlichen Dank.
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 15/430 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vor geschlagen. Sind Sie damit
einverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überwei-
sung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 9 auf:
Beratung der Unterrichtung durch die Bundesre-
gierung
Sondergutachten des Rates von Sachverstän-
digen für Umweltfragen
Für eine Stärkung und Neuorientierung des
Naturschutzes
– Drucksache 14/9852 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Ausschuss für Tourismus
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreivierte lstunde vorgesehen. – Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin
Astrid Klug, SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!Liebe Kolleginnen und Kollegen! W ir diskutieren jetztüber neue strategische Ansätze im Naturschutz fürDeutschland. Das ist ein sp annendes Thema; denn derReichtum eines Landes bemisst sich nicht nur an mate-riellen Gütern, den wahren Reichtum eines Landes er-kennt man vielmehr an der Schönheit und an der Vielfaltseiner Naturgüter.
Wenn ich im Frühling bei mir zu Hause im wunder-schönen Bliesgau im Südosten des Saarlandes – das Na-turschutzgroßvorhaben Saar-Bliesgau/Auf der Lohe istein tolles, aber, wie im Naturschutz üblich, auch ein um-strittenes Naturschutzprojekt – unterwegs bin, die blü-henden Bäume genieße – seit ich den Job hier habe,kommt das leider selten genug vor –, die ersten Mai-glöckchen entdecke und das mor gendliche Zwitschernder Vögel höre, dann ist da s ein Stück Lebensqualität,die auch die nächsten Generationen noch verdient haben.Wir müssen heute etwas dafü r tun, dass auch sie dieMöglichkeit haben werden, das zu genießen.
Eine lebendige, eine lebe nsfähige Natur und die bio-logische Vielfalt sind die V oraussetzungen für unsereExistenz, für unsere Zukunft und auch für die Lebens-qualität, von der ich eben gesprochen habe. Das wissenwir alle. Trotzdem befinden wir uns in einer ständigenSpannung – auch das kennen wir alle –: Naturschutzkontra Wirtschaftsansiedelung, Naturschutz kontra Stra-ßenbau, Naturschutz kontra Landwirtschaft, Naturschutzkontra Arbeitsplätze. Damit verbunden sind Konflikte,die vor allem vor Ort ausg etragen werden. Der Natur-schutz zieht dabei noch immer zu oft den Kürzeren.
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Astrid KlugDas Sondergutachten für eine Stärkung und Neuori-entierung des Naturschutzes, das wir heute diskutieren,versucht, diese Spannung aufzulösen. Dieses Gutachtenbenennt offen Hemmnisse und Konflikte, die die Durch-setzung von Naturschutzinteressen behindern, und esenthält einige sehr intellig ente und sehr pfif fige Vor-schläge, wie der Naturschutz stärker strategisch und stär-ker erfolgsorientiert ausgerichtet werden kann.
Der Dank der SPD-Bundestagsfraktion gilt ausdrück-lich allen Mitgliedern und Mitarbeitern des Rates vonSachverständigen für Umwelt fragen, die uns eine guteArbeitsgrundlage und wichtige Bausteine für eine natio-nale Naturschutzstrategie übergeben haben.Wir fangen in Sachen Na turschutz zum Glück nichtbei null an. W ir haben 2002 das Bundesnaturschutz-gesetz novelliert, was von den Sachverständigen aus-drücklich als Fortschritt begrüßt wird. Bundesregierungund Bundestag haben im letzten Jahr die Nachhaltig-keitsstrategie für Deutschland beschlossen, welche dieIndikatoren definiert und Ziele festschreibt, auch für denNaturschutz. Wir haben die Bürgerbeteiligung verbessertund die Rolle der Naturschutzverbände als Anwälte derNatur gestärkt, auch in dem Wissen, dass die frühzeitigeEinbindung der Öffentlichkeit der Akzeptanz des Natur-schutzes dient. Gesetze und hoheitliches Handeln sindohne Zweifel notwendig; ab er Überzeugung, Einsichtund Verhaltensänderung sind noch immer erfolgreicher ,sinnvoller und im Sinne des Naturschutzes besser.
Es ist erfreulich, dass dieser Bereich im Gutachten ei-nen breiten Raum einnimmt. W ir müssen diese V or-schläge aufgreifen und in diesem Parlament zum Themamachen, um sie später in konkretes politisches Handelnumzusetzen.Wir haben praktische Erfolge erzielt, die Mut ma-chen: Von 1990 bis 2001 ist es gelungen, die Fläche derNaturschutzgebiete zu verd oppeln. Die W asserqualitätder großen Fließgewässer hat sich erheblich verbessert.Der Bestand einzelner schutzwürdiger Pflanzen- undTierarten konnte in den letzten Jahren stabilisiert undihre Population konnte sogar ausgebaut werden.Aber trotz aller großen und kleinen Erfolge bleibtnoch mehr zu tun. W er das Gutachten liest, kann davordie Augen nicht verschließen. Zwei Drittel aller inDeutschland vorkommenden Biotoptypen werden als ge-fährdet eingestuft, 15 Prozent sind sogar von völligerVernichtung bedroht. Fast 40 Prozent der in Deutschlandvorkommenden Tierarten und 28 Prozent der Pflanzen-arten sind in ihrem Bestand gefährdet oder sogar schonausgestorben. Der Umweltrat legt den Finger in dieWunde, benennt die Ursachen und formuliert ehr geizigeZiele.Das größte Problem ist der Flächenverbrauch. Inden letzten zehn Jahren wurden bundesweit an jedemTag zwischen 120 und 130 Hektar Fläche versiegelt; dassind bis zu 175 Fußballfelder . Die Fläche, die wir in je-dem Jahr neu der Natur und damit auch unseren natürli-chen Lebensgrundlagen entziehen, entspricht der Hälfteder Fläche Berlins. Der Sachverständigenrat setzt in sei-nem Gutachten beim Thema Flächenverbrauch und Flä-chenzerschneidung einen deutlichen Schwerpunkt. Diesbegrüßen wir ausdrücklich. Wir sehen uns ebenfalls demehrgeizigen Ziel verpflichtet, die Flächeninanspruch-nahme bis zum Jahr 2020 auf 30 Hektar zu senken.Das Gutachten schlägt eine Reform der Wohnbauför-derung vor, damit in Zukunft Altbausanierungen, diestädtebauliche Verdichtung und die Umnutzung ehemali-ger Industriebrachen Vorrang vor Neubauten auf der grü-nen Wiese haben. Die von uns, der rot-grünen Koalition,angestrebte Neugestaltung der Eigenheimzulage gibtdarauf eine erste wichtige Antwort.Auch die Idee des Umweltrates, mit handelbaren Flä-chenausweisungsrechten und einem ökologischen kom-munalen Finanzausgleich vor Ort Naturschutz und Flä-chenschonung ökonomisch attraktiv zu machen, hateinen echten Reiz; denn auch im Naturschutz gilt: OhneMoos nix los. Je stärker das ökonomische Gewicht desNaturschutzes ist, desto größ er ist auch seine Durchset-zungsfähigkeit.
Sehr geehrte Damen und Herren, die Nachhaltigkeits-strategie, die wir im letzten Jahr beschlossen haben, warund ist die Grundlage, der rote Faden unserer Politik.Eine Naturschutzstrategie, für die das Gutachten Bau-steine liefert, ist die fach liche Konkretisierung und Er-weiterung für den Bereich Naturschutz, die wir brau-chen, weil Nachhaltigkeit ke in Zustand, sondern eindynamischer Prozess ist, um den wir ständig und perma-nent ringen müssen und den wir ständig und permanentweiterentwickeln müssen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bin vor sechsMonaten mit dem Anspruch in dieses Haus gekommen,dass Politik für heute nur gut ist, wenn sie auch mor gennoch richtig ist, und dass si ch alle unsere Diskussionenund Entscheidungen daran messen lassen müssen, ob sienachhaltig und auch morgen und übermorgen noch trag-fähig sind. Ich freue mich, da ss ich meine erste Rede indiesem Parlament zu einem Thema halten durfte, dasdiesem Anspruch gerecht wird. Die Natur braucht unsMenschen nicht, aber wir brauchen die Natur. Sägen wiralso nicht den Ast ab, auf dem wir sitzen, sondern sorgenwir gemeinsam dafür, dass die Empfehlungen des Son-dergutachtens für eine Stärkung und Neuorientierungdes Naturschutzes kein Papiertiger , sondern politischeRealität werden.Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
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Frau Kollegin Klug, Sie habe n es gerade selber ge-
sagt: Es war Ihre erste Re de in diesem Hohen Hause.
Auch Ihnen gratuliere ich dazu recht herzlich und wün-
sche Ihnen politisch und persönlich alles Gute.
Nächste Rednerin ist die Kollegin Dr . Maria
Flachsbarth, CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen undHerren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das vorgelegteSondergutachten ist ein sowohl umfangreicher als auchinhaltsschwerer Bericht, der zahlreiche gute V orschlägezur Verbesserung des Naturschutzes in Deutschland ent-hält. Leider – diese kleine Kritik sei mir erlaubt – ist derBericht insbesondere in seinen Eingangskapiteln so sehrmit Fachbegriffen gespickt, dass er ohne Spezialwissengar nicht ohne weiteres lesbar ist.
Oder wissen Sie, meine se hr geehrten Kolleginnen undKollegen, welche Bedeutung eudaimonistische Ar gu-mentationen gegenüber einer holistischen oder sentien-tistischen haben?Bei allen Versuchen des Gutachtens, den Naturschutznicht nur rechtlich, sondern auch ethisch-philosophischzu begründen, sollten seine Verständlichkeit und Lesbar-keit darunter nicht zu sehr leiden, insbesondere dann,wenn die Gutachterkommissio n es als wichtige Forde-rung erachtet, die Akzeptanz für den Naturschutz in derBevölkerung durch bessere Information und Kommuni-kation zu verbessern. Schade also, dass der vorliegendeBericht weite Kreise der interessierten Bevölkerungnicht erreichen kann.Bitte erlauben Sie mir noch eine V orbemerkung. AlsChristdemokratin, die aus einigen Richtungen diesesHauses in den letzten Wochen häufig und vehement aufdas „C“ im Namen ihrer Partei hingewiesen wurde,möchte ich es im Rahmen der ethisch-philosophischenGrundlegung des Naturschutzes nicht versäumen, denBegriff der Schöpfung in diese Diskussion einzuführen.Die Bewahrung der Schöpfun g ist ein christliches undgenuin konservatives Anliegen. Der alttestamentlicheAuftrag „Macht euch die Erde untertan“ fordert denMenschen dazu auf, die Natu r und ihre Ressourcen ver-antwortlich zu nutzen, das heißt, für sie Sorge zu tragen.
Meine Damen und Herren, die Natur ist ohne direktenBezug zum Menschen in den dicht besiedelten RegionenEuropas bzw. Deutschlands, in denen wir leben, nichtvorstellbar, unberührte Natur in Nationalparks nach US-amerikanischem Vorbild bei uns daher fast nicht darstell-bar. Zudem geht der Naturschutz, wie in § 1 des Bundes-naturschutzgesetzes neuerer Fassung definiert, auch weitüber den Schutz seltener oder vom Aussterben bedrohterTier- und Pflanzenarten und deren Lebensräume hinaus,denn er bezieht sich – so das Gesetz – auf die Leistungs-fähigkeit des gesamten Naturhaushaltes, die Nutzungsfä-higkeit der Natur güter und die V ielfalt, Eigenart undSchönheit der Landschaft. Unserer Meinung nach musssich der Naturschutz in Deutschland daher am Leitbildder Nachhaltigkeit orientieren.Mit dem Begrif f Sustainable Development, nachhal-tige Entwicklung, machte di e so genannte Brundtland-Kommission auf die Herausforderungen einer globalenUmwelterhaltung und einer gerechten Ressourcenbe-wirtschaftung aufmerksam und beschloss ein Hand-lungskonzept, die Agenda 21, als Leitprinzip der Politik.Gleichzeitig wurde deutlich , dass nachhaltige Politiknicht allein ökologische Aspekte beinhalten darf, son-dern gleichberechtigt und gleichgewichtig ökonomischeund soziale Aspekte berücksichtigen muss.Da mehr als die Hälfte de s Bundesgebietes landwirt-schaftlich und fast ein Drittel forstwirtschaftlich genutztwerden, kommt der Einbeziehung der Land- und Forst-wirtschaft in den Naturschutz eine herausragende Be-deutung zu.
Zudem ist ein großer T eil der biologischen Vielfalt inMitteleuropa erst durch Zurückdrängung des Waldes unddie Schaffung unserer offenen Kulturlandschaften durchdie landwirtschaftliche Nutzung entstanden. Daher sindauch viele Arten an agrarisc h genutzte Ökosysteme ge-bunden. Bei einer Verbuschung landwirtschaftlicher Flä-chen durch Nutzungsaufgabe geht die erwünschte Arten-vielfalt verloren.Die CDU/CSU-Fraktion orientiert sich deshalb ameuropäischen Agrarmodell, das eine multifunktionelleLand- und Forstwirtschaft m it dem Ziel einer wettbe-werbsfähigen Erzeugung und Entwicklung der Leistun-gen in der Landschaftspflege und im Naturschutz sowieder ländlichen Räume in Einklang zu bringen sucht. Dieeffizienteste Form der Pflege ist eine Verbindung der na-turschutzfachlichen Anforderungen mit der Nutzung.
Vertragsnaturschutz und der Einsatz moderner Landtech-nik im Rahmen der Präzisionslandwirtschaft ermögli-chen unter anderem die Wahrnehmung dieser Aufgabe.
Doch das Umweltgutachten stellt fest:Vorbehalte gegen Ziele des Naturschutzes könnennicht verwundern, wenn die betrof fenen Personen… finanzielle Einbußen oder ähnliche Nachteilewie etwa Bewirtschaftu ngserschwernisse in Kaufnehmen müssen.Und weiter:Derzeit reicht die Gesamt finanzierung der Agrar-umweltmaßnahmen nicht aus ...Umso verwunderlicher, ja sogar schädlich im Sinnedes Naturschutzes erscheint es, wenn die Mittel derGemeinschaftsaufgabe „Agrarstruktur und Küsten-
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Dr. Maria Flachsbarthschutz“ im Haushalt 2003 um 107 Millionen Euro auf764 Millionen Euro gekürzt wurden. Auch Umweltver-bände wie der BUND, der NABU, der WWF und anderefordern den Erhalt der Gemeinschaftsaufgabe und derenlangfristige Absicherung.
Meine Damen und Herren, noch ein Detail: Die Bun-desmittel müssen durch di e Länder mit 60 Prozent ko-finanziert werden. Bei der Förderung der Länder fürAgrarumweltmaßnahmen gibt es übrigens gravierendeUnterschiede. Laut Agrarb ericht der Bundesregierungförderten 2001/02 Baden-Württember g diese Maßnah-men mit 104 Euro je Hektar, Bayern mit 64 Euro je Hek-tar, Nordrhein-Westfalen mit ganzen 1 1, Niedersachsenmit 4 und Schleswig-Holstein mit lediglich 1 Euro jeHektar.
Die drei letztgenannten Lä nder hatten zum Zeitpunktder Untersuchung sozialdemokratische bzw . rot-grüneRegierungen. Bezüglich des Zugrif fs auf Agrarum-weltprogramme der EU hat die Bundesregierung dendeutschen Landwirten mit der Novelle des Bundesna-turschutzgesetzes eine neue nationale Hürde aufgebaut:Durch die Ausweitung der gu ten fachlichen Praxis inDeutschland werden Fördermöglichkeiten der EU beizahlreichen Umweltprogrammen in den Ländern aufsSpiel gesetzt. In anderen eu ropäischen Staaten mit ge-ringeren nationalen Standards sind dieselben Maßnah-men der vor Ort wirtschaft enden Landwirte dann aberförderfähig. Dies ist ein we iteres Mal ein Stück Wettbe-werbsverzerrung durch deutsche Sonderwege.Ich will einen weiteren Aspekt ansprechen, der zur-zeit in einem ganz anderen Zusammenhang diskutiertwird, jedoch auch in dire ktem Zusammenhang mit derThematik Landwirtschaft und Naturschutz steht. Ichdenke an die ener getische Nutzung von Biomasse. Ihregezielte Förderung würde eine zusätzliche Einnahme-quelle für die Landwirtschaft eröffnen und bei entspre-chender Auswahl der Ener giepflanzen eine extensivereBewirtschaftung der Nutzflächen ermöglichen. Raschwachsende Pflanzen verminde rn zudem die Gefahr derBodenerosion. Die Nutzung von Abfallprodukten ausder Tierhaltung in Biomasseanlagen bringt zudem hygie-nische Vorteile, senkt die Geruchsbelästigung und er-möglicht eine verbesserte Verfügbarkeit von Pflanzennähr-stoffen. Das Klimagas Methan wird zur Energieproduktiongenutzt und der CO 2-Ausstoß wird insgesamt vermin-dert. Die Bündelung der Fördermittel im Rahmen desEEG und im Rahmen von Agrarumweltprogrammenwäre daher sinnvoll und würde eine Ef fizienzsteigerungder Fördermaßnahmen zur Folge haben.Der Ausbau der ökologisch so vorteilhaften Biomas-sekraftwerke darf unserer Meinung nach nicht durch dieweit überzogene Verschärfung der Grenzwerte im Rah-men der neuen Kompost- bzw . Klärschlammverordungbehindert werden, die das Verbringen der Reststoffe ausBiokraftwerken als Dünger auf landwirtschaftlich ge-nutzte Flächen nämlich unmöglich machen würde.
Lassen Sie mich noch ein paar W orte zum Vertrags-naturschutz sagen. Naturschutz ist nicht an öffentlichesEigentum gebunden. So kann zum Beispiel das europäi-sche Biotopverbundsystem „Natura 2000“ nicht alleinauf Flächen der öf fentlichen Hand verwirklicht werden.Naturschutz ist Aufgabe aller und kann nur durch maß-gebliche Beteiligung aller Betroffenen an einer eigenver-antwortlichen Naturschutzarbeit erreicht werden.Ein aus der Sicht der CDU/CSU besonders geeignetesInstrument ist der V ertragsnaturschutz. Er genießt V or-rang vor dem hoheitlichen Instrumentarium der Auswei-sung von Schutzgebieten mit Ge- und V erboten, wenndie naturschutzrechtliche Zi elsetzung auch auf diesemWeg zu erreichen ist. Durch freiwillige V ereinbarungenund Selbstverpflichtung kann der Eigentümer vonSchutzgebietsflächen dazu beitragen, besonders wichtigeKleinstrukturelemente wie Hecken, W iesen, Raine undÄcker mit Wildkräutern zu erhalten. Die Akzeptanz fürden Naturschutz wird durch diese Maßnahmen, wie auchim Sachverständigenratsgutachten gefordert, höher, weildie Menschen vor Ort mitgenommen werden und auchehrenamtliches Engagement entsprechend gewürdigtwird. Dazu ist es allerdings notwendig, dass Haushalts-mittel für ganz konkrete Pr ojektarbeit vorgesehen wer-den.
Leider weist der ohnehin sc hon reduzierte Haushalt desBMU für 2003 über die Hälfte seiner Mittel für den Ver-waltungshaushalt aus.In diesem Zusammenhang geht die Empfehlung derSachverständigen, die person ellen Kapazitäten in denNaturschutzbehörden auszubauen, an der finanziellenWirklichkeit von Bund, Lä ndern und Kommunen leidervöllig vorbei. Den Vorschlag, Arbeitsfelder, die kein ho-heitliches Vorgehen erfordern, auszulagern, unterstützenwir allerdings nachdrücklich.
Als mögliche Partner sind W asserversorger, der ehren-amtliche Naturschutz, zum Beispiel die Naturschutzsta-tionen in Niedersachsen, oder auch die Landwirtschafts-kammern zu nennen.Lassen Sie mich zum Ende meiner Ausführungennoch ein zentrales Anliegen der Sachverständigen nach-haltig unterstützen: die Erar beitung wissenschaftlicherGrundlagen bzw. Grunddaten. Die Sachverständigenstellen fest, dass im Bere ich von Natur und Landschaftdie Datenlage uneinheitlich und lückenhaft ist und zu-dem allgemein anerkannte Erhebungs- und Auswer-tungsmethoden fehlen. Dies betrif ft insbesondere dieUmsetzung der V ogelschutz- und der FFH-Richtlinie.Ohne diese Daten ist die Erarbeitung und Überwachungkonkreter regionaler und üb erregionaler Umweltschutz-ziele aber nicht möglich. Die Erhebung und Bewertungdieser Daten könnte zuglei ch mit einer Förderung dermit dieser Aufgabe betraute n Universitäten und Hoch-schulen verbunden werden. Aber wenn denn diese Datenvorliegen, dann lassen Sie uns bitte auch seriös mit ihnenumgehen, meine Damen und Herren.
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Dr. Maria FlachsbarthDie von den Sachverständigen im Sonder gutachtenvielfach aufgestellte Forderung, den Landverbrauchunter den Wert von 130 Hektar pro Tag zu senken, istnur zu unterstützen. Allerdin gs sollte auch nicht ver-schwiegen werden, dass der Landverbrauch durch Ver-siegelung längst auf 70 Hektar pro Tag gesenkt werdenkonnte. Der höhere Wert ergibt sich nur dann, wenn diebei Bauvorhaben erforderlichen Ausgleichsflächen inden Gesamtlandverbrauch einbezogen werden. Dies istallerdings keine seriöse Argumentation und fördert ebennicht die Transparenz und damit die Akzeptanz des Na-turschutzes, die wir doch alle gemeinsam wollen.Herzlichen Dank.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir haben in dieserDebatte einige Jungfernreden in diesem Hohen Haus er-lebt. Auch für Sie, Frau Kollegin Flachsbarth, war es dieerste Rede. Herzlichen Glückwunsch, verbunden mit denbesten Wünschen für Sie persönlich und politisch!
Nächster Redner ist der Bundesminister für Umwelt,Naturschutz und Reaktorsicherheit, Jürgen Trittin.Jürgen Trittin, Bundesminister für Umwelt, Natur-schutz und Reaktorsicherheit:Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ichglaube – das ist das Erfreuliche an der hohen Beteiligungvon Niedersachsen, die hi er schon geredet haben undnoch reden werden –, dass wir uns in einem Punkt par-tei- und fraktionsübergreifend einig sind: Der Sachver-ständigenrat für Umweltfrage n hat mit seinem Sonder-gutachten gute Arbeit gele istet. Ich will, liebe FrauFlachsbarth, damit aber nicht in Abrede stellen, dass dasGutachten, auch wenn es im W esentlichen unter Feder-führung einer Hannoveranerin, nämlich von Frau Profes-sor von Haaren von der Universität Hannover , erstelltwurde, in der Tat verständlicher hätte formuliert werdenkönnen. Wir haben das in den Vorgesprächen auch ange-merkt, aber Sie wissen ja, wie das mit den Wissenschaft-lerinnen und W issenschaftlern ist: Sie legen W ert aufihre Fachsprache.Ich freue mich vor allen Dingen deswegen über diesesGutachten, weil es wesentliche Eckpunkte unserer Na-turschutzpolitik bestätigt. Sie haben einen angesprochen,nämlich die Reduzierung des Flächenverbrauchs auf30 Hektar pro Tag. Dieser Punkt ist bereits Bestandteilder Nachhaltigkeitsstrategie, die diese Bundesregierungentwickelt hat. Auf diesem W eg können wir auch dievorgeschlagene Naturschutzstrategie umsetzen, nämlichim Rahmen der Fortentwicklung der von uns erarbeite-ten Nachhaltigkeitsstrategie.Meine Damen und Herren, der Sachverständigenratprangert auch in anderen Bereichen genau dieselbenPunkte an, die auch wir immer angeprangert haben. Ersagt: Wir müssen uns darum bemühen, den Naturschutzin alle Politikbereiche ei nzubringen. Ich werde daraufnoch aus aktuellem Grund zurückkommen. Ferner sagter, es sei notwendig, das Bundesnaturschutzgesetz jetztauch tatsächlich umzusetzen . Außerdem fordert er dieLänder nachdrücklich auf, über Nachmeldungen für einevollständige Meldung von FFH-Gebieten – übrigensauch ein Fachterminus – zu sorgen. Schließlich fordert ernachdrücklich, an der Möglichkeit von V erbandsklagenfestzuhalten. Das alles bestätigt in der Summe zu100 Prozent die Politik dieser Bundesregierung und dersie tragenden Koalition von SPD und Grünen.
Ich freue mich, dass auch diejenigen, die aus den Rei-hen der Opposition hier gesp rochen haben, dazu positivStellung bezogen haben. Zugleich bitte ich Sie aber auch,sich einmal in den Ländern umzuschauen, die sich zurzeitbei der Naturschutzpolitik positionieren. Anstatt alles da-ranzusetzen, das Bundesnaturs chutzgesetz, das nur einRahmengesetz ist – die eigentliche Kompetenz liegt hier-für bei den Ländern –, bis zum Frühjahr 2005 umzusetzen– da läuft die Frist nämlich ab –, will die neue CDU-FDP-Koalition in Hannover, wie ich in der Koalitionsverein-barung gelesen habe, nicht etwa für eine schnelle Umset-zung sorgen, sondern eine Initiative starten, damit einigeRegelungen aus der gerade novellierten Fassung des Bun-desnaturschutzgesetzes zurückgenommen werden. Dasfinde ich doch sehr merkwürdig, wie Sie, meine Damenund Herren von der Opposition , sich vor diesem Hinter-grund zu dem Gutachten positiv äußern.Es geht aber noch weiter : Das Gutachten hat geradedie Rolle der mündigen Bürgerinnen und Bürger im Na-turschutz unterstrichen, indem in ihm festgestellt wurde:Naturschutz kann man nur mit den Menschen machen.Das heißt aber auch, dass di e Natur an bestimmten Stel-len einen Anwalt braucht. Gerade die naturschutzrechtli-chen Regelungen, für deren Rücknahme Ihre Landesre-gierung in Hannover sich ei nsetzen will, greifen ja denchristlichen Gedanken der Schöpfung auf, indem erstma-lig – Herr Göppel wird das wissen, er hat uns ja ordent-lich gedrängt – darin enthalten ist,
dass die Natur auch um ihrer selbst willen zu schützen ist.
Wir haben dazu gesagt, dass solche Aussagen nichts nüt-zen, wenn die Natur keinen Anwalt hat. Deswegen ha-ben wir in das Naturschutzrecht eingefügt, dass die aner-kannten Naturschutzverbände, also diejenigen, die sichbei Planverfahren für die von Ihnen ja genannten Nut-zungen als Anwalt der Natur betätigen, auch Rechte er-halten. Was aber beschließt der Bundesrat unter demVorwand der Planbeschleunigung? Man wolle genaudiese Möglichkeit von Verbandsklagen wieder rück-gängig machen, also weniger statt mehr Bür gerbeteili-gung im Naturschutz.
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Bundesminister Jürgen Trittin– Lieber Herr Paziorek, Sie sagen, die CDU wolle Natur-schutz mit den Menschen machen, und wissen, dass dievon der CDU mit unterzeichnete Aarhus-Konvention,die übernächstes Jahr in Deutschland bindendes Rechtwird, ein umfassendes Verbandsklagerecht vorsieht. Daist es doch nicht konsistent, sondern eher verrückt, wennnun CDU/CSU-regierte Bu ndesländer den Bundestagmit dem Vorschlag behelligen, wir sollten diese Rege-lung für zwei Jahre wieder aussetzen.Sie wissen doch, dass die Verbandsklage ausweislichaller Untersuchungen, zum Beis piel in der Schweiz, diedieses Instrument länger hat, und in den Bundesländern,die es haben, nicht etwa zu einer V erlängerung, sondernzu einer Beschleunigung vo n Planverfahren, aber auchzu einer verbesserten Abwägung geführt hat.
Deswegen sollten wir uns bei aller Freude über das,was hier gesagt worden ist, darüber im Klaren sein, dassim Naturschutz mehr als in allen anderen Bereichen gilt:Es nützt nichts, sich nur in Sonntagsreden darauf zu be-ziehen; man muss ihn im Alltag wirklich praktizierenund auch die W idersprüche, die sich daraus er geben,aushalten.Ein anderes Beispiel, das ich ebenfalls der Koalitions-vereinbarung der CDU und der FDP in Niedersachsenentnommen habe. Dort steht, man wolle bei Umwelt-schutzmaßnahmen künftig eine Wettbewerbsverträg-lichkeitsprüfung einführen.
Das ist genau das Gegenteil von dem, was Sie hier ebengesagt haben. Sie haben gesagt, der Naturschutz müsseBestandteil aller Politikbereiche werden. W enn Sie eineWettbewerbsverträglichkeitsprüfung einführen, dannkommen Sie genau an den Punkt, an dem wir in denAuseinandersetzungen über die Naturschutzgebiete wa-ren. Damals hieß es: Ihr sc hafft hier ein Naturschutzge-biet, das aber gefährlich für die touristische Nutzung ist,denn es verzerrt den W ettbewerb. Deswegen kommt esnicht infrage.Die Erfahrung mit dem Naturschutz ist in W irklich-keit eine andere, wie ich am Beispiel des NationalparksBayerischer Wald und des Nationalparks Harz – ichkönnte das aber auch an anderen Beispielen deutlich ma-chen – zeigen kann: Am Ende hat sich dieseWettbewerbsverträglichkeitsbetrachtung als eine kurz-sichtige Betrachtung herausgestellt; denn es hat sich ge-zeigt, dass der Nationalpark Bayerischer W ald allein imLandkreis Freyung 30 000 neue Arbeitsplätze geschaf-fen hat und der Nationalpark Harz inzwischen mit Zu-stimmung der Gemeinden erweitert wird, weil er sich zueinem Touristenmagnet entwickelt hat.Deswegen ist unser Weg, der Weg, den die Sachver-ständigen an dieser Stelle vorschlagen, nämlich Natur-schutz in alle Politikbereiche zu integrieren, einen inte-grierten Ansatz gerade in der Nachhaltigkeitsstrategie zufinden, der richtige Weg. Es ist der Weg dieser Koalition.Wir gehen ihn und wir würd en uns freuen, wenn mehrKollegen so mutig wären, di esen Weg im Alltag mitzu-gehen.
Lassen Sie mich zum Schl uss eine Bemerkung ma-chen, weil Herr Paziorek da sitzt und die ganze Zeit dar-auf wartet. Sie haben mir neulich gesagt, ich hätte michin der Umweltpolitik verha lten wie Richard Kimble aufder Flucht. Das hat mich nachdenklich gemacht. Sie ha-ben in diesen Tagen an einer Reihe von Dingen gesehen,dass ich alles andere als auf der Flucht bin. Darüber hin-aus sollten Sie bei diesem V ergleich eines berücksichti-gen: Vielleicht haben Sie gedacht, Sie seien der Marshal,der Herrn Kimble nachstellt. Wenn Sie sich den Film an-schauen, werden Sie feststellen: Richard Kimble
ist unschuldig, er ist der Gute; der Marshal ist der Böse.In diesem Sinne haben Sie si ch die falsche Rolle ausge-sucht, Herr Paziorek.
Nächste Rednerin ist die Kollegin Angelika Brunk-
horst, FDP-Fraktion.
Frau Präsidentin! Sehr verehrte Kolleginnen und Kol-legen! Der Erfolg von Naturschutzmaßnahmen hängtnicht zuletzt von der Akzeptanz des Bürgers ab. Von da-her steht für uns Liberale der Mensch im Mittelpunkt al-ler Überlegungen zum Naturschutz.
Das hier vorliegende Sondergutachten macht deutlich,welche Erfolge im Naturschutz schon erzielt wordensind. Die Kollegin hat bereits einige genannt; ich will sienicht wiederholen. Aber der Sachverständigenrat hat denTeilerfolgen die zugegebenermaßen größeren Defizite,die es noch gibt, gegenüber gestellt. Er schlägt einenMaßnahmenkatalog unter dem Oberbegrif f „nationaleNaturschutzstrategie“ vor. Ich erkenne darin diverse Ver-schärfungen sowohl im Pla nungs- als auch im Natur-schutzrecht.
Dem können wir so nicht uneingeschränkt folgen. Natur-schutz wird von den Bür gern in der Regel schon heuteals restriktive und bürokratische Ordnungspolitik wahr-genommen. Das ist häufig so. W ir Liberalen meinen,dass die verschiedenen Interessenlagen eine ausbalan-ciertere Gewichtung haben müssen. Zum einen muss dieLebensqualität durch den Erha lt der Naturhaushalte undder Vielfalt der Arten gesichert werden. Natürlich müs-sen auch sozioökonomische Interessen gewahrt werden,zum Beispiel die Interessen des T ourismus und desSports. Die Erfüllung der Anforderungen an die Raum-
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Angelika Brunkhorstordnung muss berücksichtigt werden und, ganz wichtig,das Recht des ländlichen Raumes auf Entwicklung mussgewahrt bleiben.
Gerade die quantitativen V orgaben für Biotopver-bünde lassen den Eindruck zu, dass der ländliche Raumpeu à peu zum ökologischen Reserveraum werden soll.Naturschutz ist aber eine Aufgabe, die gesamtgesell-schaftlichen Nutzen erbringt. Die derzeitige Lastenver-teilung ist jedoch in einer Schieflage. Ich will insbeson-dere auf die Land- und Forstwirte eingehen, die durchdie Einschränkung ihrer Nu tzungsrechte auch wirt-schaftliche Einbußen hinneh men. Sie werden im Mo-ment über Gebühr in die V erpflichtung genommen undin ihren Eigentumsrechten beschnitten.
Der Vertragsnaturschutz war ein gutes Instrument,um den Naturschutz einerseits und eine anteilige Exis-tenzsicherung in der Land- und Forstwirtschaft anderer-seits unter einen Hut zu bekommen. Ich bedauere sehr ,dass in der Novelle des B undesnaturschutzgesetzes derVertragsnaturschutz quasi ausgehebelt worden ist. HerrMinister Trittin, hier muss ich leider sagen: Das habenIhre Regierungsfraktionen bewirkt.
Naturschutz ist nur in der Allianz mit der Land- undForstwirtschaft möglich. Daher brauchen wir dringenddie auch vom Sachverständigenrat geforderten Agrarum-weltprogramme auf nationaler und europäischer Ebene,in denen vor allen Dingen die Aufträge klar umrissenwerden und für ihre Ausführung eine angemessene Ent-lohnung vorgesehen wird.
In diesem Punkt gehen wir ebenfalls mit dem Umweltratkonform.Meine Damen und Herren, der Umweltrat geht in sei-nem Gutachten weiter auf das Problem des Flächenver-brauchs ein, das hier schon angesprochen worden ist.Der vorgeschlagenen Begrenzung der Flächenversiege-lung auf 30 Hektar pro Jahr und im Endef fekt vielleichtdem völligen Verzicht auf Versiegelung können wir abernicht folgen. Ein Flächenver brauch von 130 Hektar proTag ist natürlich völlig unakzeptabel. Aber lassen Siemich, genau wie die Kollegin vorhin, auch den Unter-schied deutlich machen: Besiedelt ist nicht gleich versie-gelt. Da muss man schon noch ein wenig differenzieren.
Vielmehr sollen die Gemeinden vor Ort eine ökolo-gisch sinnvolle Flächenausweisungspolitik betreiben,immer Hand in Hand mit de m Bürger vor Ort. Der Bür-ger, der in der Gemeinde le bt, soll für uns Liberale dasSagen haben. Das Signal da rf nicht lauten: mehr Ge-setze; das Signal muss lauten: mehr Selbstverpflichtungfür den ressourcenschonend en Umgang mit der Natur .Dahin wollen wir.
Die FDP ist der Meinung, dass die Fachgesetzgebungin der V ergangenheit dem Naturschutz schon ausrei-chend Instrumente in die Hand gegeben hat. Wie auch inanderen Politikfeldern liegt jedoch – darin stimmen wirmit dem Sachverständigenrat überein – ein Umset-zungsdefizit vor. Daher begrüßen wir den Vorschlag, dieUmweltbeobachtung zu syst ematisieren und besser zukoordinieren.Allerdings muss ich dazu sagen: Die FDP hat bereitsin der letzten Legislaturpe riode Anstrengungen unter-nommen, ein biogeografisches regional orientiertes Um-weltmonitoring durchzusetzen, das satellitenunterstütztbetrieben werden sollte. Die Vertreter der Regierungsko-alition haben das Projekt leid er nicht mitgetragen; des-halb war ein so exzellenter Vorschlag nicht umzusetzen.Für die Zukunft wünsche ich mir eine sehr gute fach-liche Zusammenarbeit, die sich insbesondere an den Be-dürfnissen der Regionen und der Bürger, die darin leben,ausrichtet.Ich möchte zum Schluss sagen: Bei der V erwirkli-chung aller gesellschaftlichen Prozesse, Projekte, Zieleund Werte wünsche ich mir neben einer Überprüfung derUmweltverträglichkeit und der Sozialverträglichkeitauch eine Überprüfung der Wettbewerbsverträglich-keit.Ich danke Ihnen vielmals für Ihre Aufmerksamkeit.
Frau Kollegin Brunkhorst, ich gratuliere Ihnen zu Ih-
rer ersten Rede im Deutschen Bundestag, verbunden mit
allen guten Wünschen für Ih re weitere parlamentarische
Arbeit.
Nun hat die Abgeordnete Gabriele Lösekrug-Möller
das Wort für die SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Hättenicht Frau Klug aus dem Saarland hier geredet, hättenwir die Debatte glatt nach Hannover verlegen können.Ich halte meine Rede aber lieber hier.Es ist wieder so weit. Die Lu ft ist lauer, selbst hier inBerlin. Bei mir zuhause bl ühen die Märzenbecher undganze Völkerscharen sind au f den Beinen, um den Blü-tenteppich am Schweineber g – so heißt dieser Ort beiuns – anzuschauen. Mor gens – vielleicht tun das einigevon Ihnen – können wir uns von Vogelzwitschern weckenlassen. Kraniche und Gänse – das haben Sie hof fentlichalle gemerkt – sind auch schon vorbeigezogen. KeinZweifel: Der Frühling ist da. Eigentlich können wir mehrals froh sein, dass unsere Natur uns immer noch so reichbeschenkt. Denn wir – in diesem Punkt ist das Sondergut-achten des Sachverständigenrates für Umweltfragen ganzklar – könnten für die Natur entschieden mehr tun.
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Gabriele Lösekrug-MöllerNaturschutzpolitik in Deutschland kann auf Erfolge inden letzten Jahren zurückblicken; das stimmt. Viele guteBeispiele wurden von meinen Vorrednerinnen und auchvon dem Minister genannt. Aber leider ist genauso rich-tig: Wir haben immer noch viele Defizite im Natur-schutz.Frau Klug und andere Vorrednerinnen haben zu Rechtals eines der großen Probleme den Flächenverbrauchherausgestellt. Die Inanspruchnahme von Flächen ist eingigantischer naturzerstörerischer Vorgang. Genauso pro-blematisch ist allerdings di e Flächenzerschneidung, diewir Tag für Tag erleben. Wir alle wissen um den entste-henden Schaden und scheinen ihn locker in Kauf zu neh-men. Solange Kommunen durch die Ausweisung neuerBaugebiete und Flächen miteinander konkurrieren – teil-weise konkurrieren müssen –, solange Gesteinsabbausehr lukrativ ist, weil Ersatzmaterial teuer und nicht weitgenug entwickelt ist, so lange werden die Naturschützerwie Sisyphus Stück für Stück kleine Flächen zurückero-bern und gleichzeitig große verlieren – mit Streit und Är-ger, mit Nutzungs- und Interessenkonflikten. W eil ichaus dem Weserbergland komme, kann ich in Sachen Ge-steinsabbau viel dazu erzäh len. Insbesondere wenn esdarum geht, Aspekten des Wettbewerbs den Vorrang ein-zuräumen, ahne ich, was uns in nächster Zeit droht.Dabei sind wir alle eigentlich einer Meinung: dass dieBedeutung der Natur für unsere Lebensqualität gar nichthoch genug einzuschätzen ist. Obwohl dies allenthalbenbekräftigt wird, gilt für den Naturschutz das so genannteNIMBY-Problem. Dies ist ein Begrif f aus dem Gutach-ten. Ich erkläre ihn gerne: NIMBY ist die Schwester vonTINA. Die kennen wir alle, sie heißt auf Deutsch: Daist keine Alternative. NIMBY – englisch: not in mybackyard – heißt: Überall, aber nicht bei mir. Dieses Pro-blem treffen wir im Naturschutz häufiger an. Je konkre-ter Naturschutzmaßnahmen der Entfaltung menschli-cher Wünsche entgegenstehen, desto schneller sinkt dieAkzeptanz für diese Regelung.Das Gutachten zeigt fünf Gruppen von Gründen fürdiese Akzeptanzdefizite auf. Ich skizziere sie kurz. Zu-nächst sind ökonomische Nachteile und ungünstige Rah-menbedingungen finanzieller und or ganisatorischer Artzu nennen. Dazu gehören allerdings auch – das sollte unszu denken geben – eine ma ngelnde Vertrautheit mitNaturschutzzielen. Zu diesen Gründen zählen fernerkonträre Werthaltungen und Überzeugungen sowieKommunikationsformen, die von den Beteiligten als un-befriedigend oder als autoritär erlebt werden. Schließlichist noch die Angst vor V erhaltenseinschränkungen, Be-vormundung und Fremdbestimmung zu nennen. Alleindiese Aufzählung lässt erkennen, wie weit der Weg seinwird.Ich zitiere kurz aus dem Gutachten:Es muss ein Mindestmaß an Problemdruck und Lö-sungswillen bei den Akteuren vorhanden sein.Ein für die Naturschutzprojekte förderlicher Pro-blemdruck entsteht nicht durch einen kritischen Zu-stand von Natur und Landschaft.– Das sollte uns zu denken geben. –Vielmehr spielen die vo n den Akteuren subjektivwahrgenommenen ökonomischen, sozialen oderpolitischen Problemlagen eine entscheidende Rolle.Wir werden sicher im Ausschuss die Gelegenheit ha-ben, über Lösungsansätze zu diskutieren – sie sind indiesem Gutachten in Fülle enthalten – und Möglich-keiten zur Akzeptanzverbesserung zu besprechen. Siereichen von ökonomischen An reizen – zum Glück be-schränken sie sich aber nicht darauf – über die Einfüh-rung diskursiver Kommunikationsverfahren bis hin zurErhaltung von Rechtsmitteln der Verbände.Ich bin dem Minister dankba r dafür, dass er deutlichangesprochen hat, welche Gegenbewegung hier amWerke ist. Es kann nicht sein, dass wir das Verbands-klagerecht, das endlich im Bundesnaturschutzgesetz ge-regelt worden ist, zurücken twickeln. Allen Ernstes: Dasnimmt uns niemand ab. Wir würden in Europa wieder ei-nen Sonderweg gehen; das wird hier als Argument stra-paziert. Das ist mit uns nicht zu machen.
Ich möchte dem Hause nicht vorenthalten, dass mandann dem Muster folgt: Die pralle Natur soll auf alleFälle bis dicht an die Leitplanken funktionieren. Dannhaben wir auf der Überholspur freie Fahrt. Ich denke, sokann man allen Ernstes keine Naturschutzpolitik betrei-ben.
Schon die „Daten zur Natu r 2002“ zeigten, dass wirnach wie vor auch auf nationaler Ebene Handlungsbe-darf im Hinblick auf den Erhalt der biologischen Viel-falt haben. Aus naturschutzfachlicher Sicht schlägt zumBeispiel der Sachverständigenrat vor, rote Listen so wei-terzuentwickeln, dass sie nicht an politisch-administrati-ven Grenzen orientiert werden, sondern stärker an bio-geographischen Regionen. Das ist der richtige W eg. Ichdenke, in dieser Hinsicht haben wir noch viele Verbesse-rungen vor uns.Ich wünsche mir, dass der Naturschutz in Deutschlandauch im Rahmen der Nachha ltigkeitsdebatte einen pro-minenten Platz einnimmt. Im Sondergutachten wird eineeigenständige nationale Naturschutzstrategie vorge-schlagen und es werden gute Gründe dafür geliefert. Obeigenständige Strategie oder nicht: Das soll so oder sonicht zur Glaubensfrage werd en. Gerade aber in Bezugauf den Naturschutz, für den bei den Bundesländernweitreichende Zuständigkeiten bestehen, müssen wirsehr sorgfältig prüfen, ob unsere Verantwortung fachlichausreichend und politisch zufriedenstellend in der unbe-stritten sinnvollen nationalen Nachhaltigkeitsstrategieaufgehoben sein wird. Sicher wird die heute hieran an-knüpfende parlamentarische Arbeit dazu interessantwerden.Aber wenn ich hier schon einmal stehe und zum Na-turschutz spreche, möchte ich auf zwei Projekte hinwei-sen, die von allen Naturschützern begrüßt wurden unddennoch in ihrer Umsetzung weit hinter unseren Erwar-
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Gabriele Lösekrug-Möllertungen zurückgeblieben sind – zumindest bis jetzt; ichhoffe, es gibt einen weiter en Impuls –: Das sind dieBVVG-Flächen, circa 100 000 Hektar, deren Übertra-gung aus dem Eigentum des Bundes in Naturschutz-hände ins Stocken geraten ist. Hier muss es vorangehen.
Und das ist das „grüne Band“. Für diejenigen, die nichtwissen, was das ist: Das ist jener Streifen, der ehedemOst und West trennte und nun als einzigartiges Natur-schutzprojekt im besten Sinne Geschichte machenkönnte, gäbe es eine größere Bereitschaft, diese Flächenfür den Naturschutz zu erwe rben. Beide Projekte sindeinzigartige Chancen für den Naturschutz.
Natürlich haben wir auch Schönes: unsere Groß-schutzgebiete; sie wurden schon angesprochen. Wir ha-ben mit ihnen die Möglichkeit, zu zeigen, dass es geht:Mensch und Natur in einem jeweils balancierten Verhält-nis Raum zu geben. Der vor kurzem vor gelegte Bericht„Tourismus in Großschutzgebieten“ zeigt diese Chancenauf und zeigt auch, dass na turschutzkonforme Angebotefür Menschen möglich und für die regionale Entwick-lung vorteilhaft sind. Da ist die Gewichtung von Ökono-mie und Ökologie sicher richtig angelegt.Ich muss zum Schluss kommen, wie ich sehe. Ich habeeine Aufforderung an Sie alle – denn ich frage mich, obwir gute Beispiele sind, was den Naturschutz anbelangt –:Geben wir uns die Chance, Natur zu erleben! Wie gesagt,mein Appell ist: Die Märzenb echer blühen, die Luft istlau, seien Sie mutig und gehen Sie raus aus dem Bau! Las-sen Sie uns nicht immer nur hier sitzen und über Dinge re-den, sondern lassen Sie uns etwas tun: die Natur erleben,wie das Kinder in Waldkindergärten und in grünen Klas-senzimmern machen, und das junge Leute ein Jahr lang inökologischen Projekten tun! Ich denke, das ist der richtigeWeg. Wenn wir als Mitglieder dieses Parlamentes öfternach draußen gingen und nicht nur das im Kopfe hätten,was wir jeden Tag an Politik machen, sondern auch offenfür die Natur wären, –
Frau Kollegin!
– ginge es dem Naturschut z besser. Das sehe ich so
wie TINA. Das ist für mich ohne Alternative.
Vielen Dank.
Ich bitte die anwesenden Kolleginnen und Kollegen
gleichwohl darum, der gut gemeinten Empfehlung, sich
in der freien Natur aufzuhalten, erst nach Ende der heuti-
gen Sitzung nachzukommen, um eine ordnungsgemäße
Abwicklung unserer Tagesordnung zu ermöglichen.
Nun hat als letzter Redner zu diesem T agesordnungs-
punkt der Kollege Josef Göppel für die CDU/CSU-Frak-
tion das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die De-batte begann heute mit dem Zitat, dass sich der Reichtumeines Landes auch nach se inem Naturvermögen bemisst– ungewohnte Töne in eine r Zeit, die vom Kriegslärmund vom Klagen über schlechte ökonomische Daten er-füllt ist. Wir sehen ja: Hier versammelt ist der positiveharte Kern der Naturliebhaber. Naturschutz ist aber zur-zeit ein Thema irgendwo am Rande. Es ist vielleicht in-teressant zu fragen: W ie kommen wir wieder in dieMitte?Wir haben gewaltige Erfolge gehabt. Diese Erfolgehatten wir aber vor allem dort, wo wir mit technischenMitteln Probleme beheben konnten, zum Beispiel beider Luftreinhaltung und der W asserreinhaltung. BeimNaturschutz ist aber nicht in erster Linie neue T echnikgefordert, sondern Behutsamkeit im Zugriff und Zurück-haltung. Da stecken wir in den Anfängen.Genau da ist die Debatte fä llig. Herr Kollege Trittin,die Frage nach einer Naturschutzstrategie stellen dieGutachter in den Mittelpunkt. Natürlich ist es zweitran-gig, ob man eine eigenständige Naturschutzstrategie be-treibt oder ob man sie integr iert in die Nachhaltigkeits-konzepte. Eines ist aber sicher: Sie sind in der Regierungund Sie müssen das jetzt umsetzen. Wir sind uns doch inden Grundsätzen schnell einig; das haben wir an den bis-herigen Reden sofort gemerkt. Es geht jetzt um die kon-kreten Schritte.
Ich möchte den Vorschlag machen, alle zu integrieren,die guten Willens sind. Ob sie Jäger, Kanuten, Sportklet-terer, Landschaftsschützer oder wie auch immer heißen:Es gibt überall gut Gesinnte. Es geht darum, im Rahmender Strategieallianzen für den Naturschutz Strukturenzu finden, um diese Leute einzubinden.
Sie sind nicht unmittelbar verantwortlich für die Ge-setzesvorhaben: neues Waldgesetz, neues Jagdgesetz. Ichgreife da aber eines heraus: Ich hielte es nicht für gut,wenn man mit diesen Gesetzen Regelungen schüfe, diebestimmte Gruppen eher zurückdrängen und einengen,anstatt sie heranzuführen und mehr in die Verantwortungzu nehmen. Die Menschen, die in die Verantwortung ge-nommen werden, sind in der Re gel auch bereit, mehr zutun. Das steht auch ganz kl ar im Gutachten: Unter demPunkt 125 loben die Gutachte r zum Beispiel die Kon-struktion der deutschen Landschaftspflegeverbände. Indiesen Verbänden arbeiten Landwirte, Naturschützer undKommunalpolitiker gleichberechtigt zusammen, auch
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Josef Göppelwenn nicht alle gegensätzlic hen Interessen sofort über-wunden werden können. Wir müssen aber die Strukturendafür schaffen. Das ist Ihre Verantwortung. An der kon-kreten Tat werden wir Sie auch messen.
Die Frage der Grundsätze is t natürlich auch wichtig.Ich darf aber daran erinnern, dass der Eigenwert derNatur zuerst im bayerischen Naturschutzgesetz formu-liert und von uns eingebracht wurde. Es freut uns alsCSU-Mandatsträger natürlich sehr, dass das jetzt auchim Bundesnaturschutzgesetz steht. Das soll Folgerungenhaben. Wenn in einer großen V olkspartei Dinge formu-liert werden, über die wir noch diskutieren müssen, dannwerden Kollege Paziorek und die anderen aus der CDU/CSU das mit großer Freude t un; darauf können Sie sichverlassen. Für uns und auch für mich gibt es in diesenDingen kein Zurück. Eine gute Entwicklung gibt es nurin der Zusammenschau von intakter Natur und intak-ter Wirtschaftsentwicklung, aber nicht im Entweder -oder. Das ist unsere Position.
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, beim ThemaFlächenverbrauch wurde von allen Rednern darauf hin-gewiesen, dass wir eine Trendwende brauchen. Ich sitzeseit 30 Jahren im Stadtrat einer Wachstumsgemeinde. Ge-rade deswegen habe ich große Sympathie für den V or-schlag der Gutachter zu handelbaren Flächeninanspruch-nahmerechten. Das ist eine Idee, die es wert ist, diskutiertzu werden. Ich bin sehr dafür, dass wir dies tun. Ob es derWeisheit letzter Schluss ist, werden wir dann im Detail se-hen. Klar ist: Wir müssen Wege finden, um den Trend zudurchbrechen und die Fläche ninanspruchnahme dorthinzu lenken, wo der ökonomis che Nutzen am größten ist.Dazu würde dieses Modell beitragen.Keine Generation vor uns is t mit den Flächen so ver-schwenderisch umgegangen un d hat so viele Flächenüberbaut wie unsere Generation. Das ist wahr . Vor30 Jahren, als ich meine Ausbildung zum Förster begon-nen habe, betrug der Anteil der überbauten Fläche inDeutschland 7 Prozent. Selbst wenn nicht alles endgültigzubetoniert ist, so ist der Anteil der überbauten Flächedoch auf 12 Prozent gestiegen. Das ist nahezu eine V er-doppelung. Deswegen brauchen wir eine T rendwende.Diese wird nicht einfach zu erreichen sein. Ich denke nuran Kommunalpolitiker auch in meinem W ahlkreis, dieglauben, sie könnten die Güter der Erde – das sind indiesem Fall die Flächen, die ihnen in ihrem Gemeinde-bereich zur Verfügung stehen – in einer Generation ver-brauchen. Das ist nicht nachhaltig.
Deswegen ist klar: Gute kons ervative Politik ist auf dasBewahren gerichtet. Im Naturschutz zeigt sich das schö-ner als in allen anderen Bereichen.
Ein letzter Gedanke. W ir müssen darüber nachden-ken, wie wir es schaffen, den Naturschutz wieder mittenin der gesellschaftlichen Diskussion zu platzieren.
Natürlich berührt es nicht jeden, wenn die Stimme einesVogels nicht mehr zu hören oder ein Stück W iese nichtmehr zu sehen ist. Aber ich denke, jeder wird letztlicheinsehen, dass der Mensch auch im Internetzeitalter ohnedie elementaren Dinge Boden, Wasser, Luft und die Le-bewelt, die uns umgibt, nicht in W ohlbefinden lebenkann und dass ohne diese elementaren Dinge auch einegute Wirtschaftsentwicklung nicht möglich ist. W ir alsVerantwortliche haben die allererste Pflicht, daran ge-meinsam zu wirken. Deswegen freue ich mich sehr, dassdiese Debatte an der Sache orientiert geführt wurde. Ab-schließend sage ich noch einmal: Herr Kollege T rittin,Sie sind der zum Handeln V erpflichtete. Sie haben dieHauptverantwortung. Wir werden das, was Sie tun, mitSympathie, aber auch mit kritischem Augenmaß beglei-ten.
Herr Kollege Göppel, auch Ihnen darf ich herzlich zuIhrer ersten Rede im Deutschen Bundestag gratulieren.
Dem amtierenden Präsidenten steht selbstverständlichkein Kommentar zum Inhalt einer hier gehaltenen Redezu, aber dass es Ihnen gleich bei Ihrer ersten Rede gelun-gen ist, frei zu reden und dennoch die Redezeit einzuhal-ten, verdient besonderen Respekt.
Ich schließe die Aussprac he. Interfraktionell wirdÜberweisung der V orlage auf Drucksache 14/9852 andie in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge-schlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist derFall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.Ich rufe Tagesordnungspunkt 10 sowie Zusatzpunkt 6auf:10 Beratung des Antrags der Abgeordneten HenryNitzsche, Arnold Vaatz, Dr. Michael Luther, wei-terer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSUStadtentwicklung Ost – Mehr Effizienz undFlexibilität, weniger Regulierung und Bür o-kratie– Drucksache 15/352 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
RechtsausschussFinanzausschussAusschuss für TourismusHaushaltsausschuss
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Vizepräsident Dr. Norbert LammertZP 6 Beratung des Antrags der Abgeordneten JoachimGünther , Horst Friedrich (Bayreuth),Rainer Brüderle, weiterer Abgeordneter und derFraktion der FDPStadtumbau Ost – ein wichtiger Beitrag zu mAufbau Ost– Drucksache 15/750 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
RechtsausschussFinanzausschussHaushaltsausschussNach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine Dreiviertelstunde vor gesehen. – Dazuhöre ich keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlos-sen.Ich eröffne die Aussprache und erteile das W ort zu-nächst dem Kollegen Henry Nitzsche für die CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die W oh-nungswirtschaft in den neuen Bundesländern befindetsich in einer dramatischen Krise. Während unmittelbarnach der Wende ein sensationeller Aufbruch durch Neu-bau sowie durch Modernisierung und Instandsetzung dermaroden Wohnungssubstanz zu spüren war, ziehen seitEnde der 90er-Jahre die Reiter der Apokalypse durch un-sere mitteldeutschen Lande. Auf ihrer Spur hinterließensie unter den wehenden Fahnen der Arbeitslosigkeit ge-plünderte Stadtkassen, bettelarme Rathäuser und Geis-terstädte, wie Halle-Neustadt mit 90 000 Wegzügen,Hoyerswerda mit 30 000 Wegzügen sowie Frankfurt/Oder, Schwedt, Weißwasser und viele andere mehr.Was tat die Bundesregierung? – Sie tat das Üblicheund setzte eine Kommission, nämlich die Lehmann-Grube-Kommission, ein.
Das Ergebnis war für die Fachwelt nicht überraschend:Sie stellte fest, dass es mindestens 1 Million leer stehen-der Wohnungen gibt, wobei die Tendenz steigend ist. Eswurde ein Maßnahmenkatalog vor geschlagen, der vonder Bundesregierung teilweise umgesetzt wurde. DasSchwert, mit dem man den drei unheimlichen Reiternbegegnen wollte, hieß Stadtumbau Ost. Es wurde he-rumgereicht, man durfte es bestaunen und man sagte, essei bis 2009 1,2 Milliarden Euro schwer.Am 18. März dieses Jahres nahm ich am Leerstands-kongress des GdW in Halle teil. Das Er gebnis warschockierend: Der Leerstand hat in den letzten Jahrennochmals zugenommen. Der Präsident des GdW, LutzFreitag, sprach bereits von 1,3 Millionen leer stehendenWohnungen. Wörtlich sagte er: Die Probleme wachsenschneller, als die Lösungen wirken.Viele private Vermieter, aber auch kommunale Unter-nehmer und Genossenschaften stehen vor der Insolvenz.Einigkeit besteht bei allen dar über, dass eine solche In-solvenz die Probleme nicht lö st, da nur ein Eigentümer-wechsel stattfindet, ohne da ss auch nur eine einzigeWohnung vom Markt genommen wird. Eine besondereDramatik liegt bei den privaten Vermietern. In vielenFällen haben sie ihr Eigentum über die DDR-Zeit hin-weggerettet oder danach zurückbekommen. Im V er-trauen auf eine positive Entwicklung haben sie sich hochverschuldet, um ihren W ohnungsbestand zu sanieren.Das jetzige Überangebot an Wohnungen führt aber nichtnur zu Vermietungsschwierigkeiten, auch lässt sich voneinem Mieter keine rentierl iche Miete mehr am M arkterzielen. Vielen solchen pr ivaten Eigentümern drohtebenfalls die Insolvenz.
Aber nicht nur das: Die ro t-grüne Regierung hat denBestandserwerb mit dem Ersa tz der Investitionszulagefür selbst genutzte W ohnungen durch eine bislang wir-kungslos gebliebene Innenstadtzulage eher erschwert.Die jährlichen Förderfälle liegen in den betroffenen Län-dern – so muss man sie nenn en – zum Teil im einstelli-gen Bereich. Den Spitzenplatz nimmt hier der FreistaatSachsen mit sage und schreibe 14 Förderfällen – das istder Stand vom 1 1. März – ein; das war vorauszusehen.Frau Gleicke, es wurden sage und schreibe 2 465 Euroausgezahlt. Das ist fürwahr ein hervorragendes Förder-programm. Mit ihm wird die Eigentumsbildung im Be-stand mit Sicherheit ein Flop bleiben.
Meine Damen und Herren, wir müssen hier dringendhandeln. Das gilt natürlich ebenso für die FDP . Ich be-grüße den Antrag, der gestern eingetrudelt ist: Spätkommt er, doch er kommt.
– Umso besser. – Der Wohnungsmarkt muss schleunigstwieder funktionieren. Eine Marktbereinigung, die im In-teresse aller Beteiligten – sowohl der Vermieter als auchder Mieter und der Bauwirtschaft – liegt, ist unverzüg-lich erforderlich.
Es müssen jährlich nicht nur 30 000 bis 40 000 Wohnun-gen vom Markt, wie dies die Lehmann-Grube-Kommis-sion vorgeschlagen hat, sondern die doppelte Zahl ist er-forderlich. Allein im Freist aat Sachsen müssen jährlich20 000 Wohnungen vom Markt genommen werden, umnur den Zuwachs an Leerstand zu kompensieren.
Nun zu unseren Einzelforder ungen. Die einzelnen För-derelemente müssen stärker verzahnt werden.Eine Schlüsselposition bei der Klärung der Marktbe-reinigung nimmt das Altschuldenhilfe-Gesetz ein. Icherinnere daran, welche Ge schäftsgrundlage dem Gesetzzugrunde liegt. Die nunmehr gekappten Altschulden
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Henry Nitzschesollten aus den Mieteinnahme n gedeckt werden. In derVerordnung der Bundesregi erung zur Umsetzung des§ 6 a AHG wird neben wirtschaftlichen Schwierigkeitenein Mindestleerstand von 15 Prozent des jeweiligen Un-ternehmens gefordert, um ei ne Entlastung der Altschul-den von abgerissenen Wohnungen in Aussicht zu stellen.Diese Verordnung braucht gar nicht erst auf den Prüf-stand gestellt zu werden. Nach Ansicht des GdW musssie geändert werden. Er erwartet, dass für jede abgeris-sene Wohnung die Altschulden übernommen werden.
Die Entschuldung war bisl ang an eine Landesförde-rung in mindestens gleicher Höhe geknüpft. In derVerwaltungsvereinbarung 2002 hat der Bund die Aner-kennung der Komplementärmittel der Länder aus demProgramm „Stadtumbau Ost T eil Rückbau“ definitivausgeschlossen. Der Nachweis dieser Mittel war nichtnur bürokratisch; er hat auch den Einstieg in die Markt-bereinigung im Jahr 2002 unnötig erschwert.Unsere Fraktion hat mit dem vorliegenden Antrag dasvon der Wohnungswirtschaft und den Ostbauministernaufgezeigte Problem aufgegriffen. Frau Gleicke, Sie ha-ben nunmehr den Bauministern die Anerkennung derRückbaumittel für das Programmjahr 2003 angekündigt.Ich zitiere Ihr Schreiben vom 20. Februar, also knapp ei-nen Monat nach Erscheinen unseres Antrages:Es hat sich gezeigt, da ss beide Instrumente nochbesser miteinander verzahnt werden müssen, umden Stadtumbauprozess zu beschleunigen.Das, Frau Gleicke, ist richtige und konstruktive Opposi-tion. Sie haben sogar eine Formulierung aus unseremAntrag gewählt. Dazu beglückwünsche ich Sie.
Frau Gleicke, ich hoffe, dass Sie uns auch bei den weite-ren Punkten folgen; denn der Stadtumbau kennt keineGewinner und keine Verlierer. Gelingt er nicht, saufen inden neuen Bundesländern ganze Regionen ab!Die Bundesregierung hat sich beim Stadtumbaupro-gramm für eine Abwicklung nach den Regularien dertraditionellen städtebaulichen Erneuerung entschie-den. Ob diese Entscheidung dem Problem des Stadtum-baus gerecht wird, bezweifelt zumindest die unterneh-merische Wohnungswirtschaft. Der Leerstandskongressdes GdW hat dies klar zum Ausdruck gebracht. Nach-dem aber die Entscheidung gefallen ist, muss dafürSorge getragen werden, den Programmvollzug reibungs-los abzusichern. Richtig Geld steht damit jedoch erst imvierten Programmjahr zur Verfügung. Bis dahin gibt esVerpflichtungsermächtigungen, aber wenig Kassenmit-tel. Die Wohnungswirtschaft wird aber Wohnungen nurdann abreißen, wenn tatsäc hlich Geld fließt, und zwarschnell und ohne unnötige Papierchen.
Aus diesem Grunde haben wir im Freistaat Sachsenseit zwei Jahren ein eigenes Landesabrissprogramm. Mitdiesem Programm wird für jährlich 25 Millionen Euronicht mehr benötigte W ohnungssubstanz abgerissen –ohne Verwendungsnachweis, unbürokratisch, schnell,70 Euro je Quadratmeter Wohnfläche.Der Stadtumbau darf nicht als alleiniges Interesse derWohnungswirtschaft dastehen. Mit dem Stadtumbausetzt sich eine Kommune mit ihrer derzeitigen Situationauseinander und sucht nach Strukturen, die der künftigendemographischen Entwicklung Rechnung tragen. DieWohnungswirtschaft hat natürlich ein ureigenes Inte-resse, möglichst viele Miet er zu behalten. Aber derRückbau nicht mehr benötigter Wohnungssubstanz setztein Freilenken von Wohnraum voraus.Die derzeitige Rechtslage hingegen unterstützt kei-neswegs das gezielte Freile nken von Wohnungen. DieUrteile von Halle und Jena kommen nur in dem Fall zurAnwendung, wenn einzelne Mieter das Auflösen ihresMietvertrages bis zum Schluss immer noch nicht akzep-tieren wollen. Die W ohnungswirtschaft braucht eineKündigungsmöglichkeit bei stadtumbaubedingten Ab-brüchen. Es ist nicht hinnehmbar , dass Einzelne denStadtumbau nach dem Motto verzögern: Wir warten aufden goldenen Handschlag.
Ich komme zu einem weiteren Punkt des vorliegendenAntrages. Dazu möchte ich aus einer aktuellen Presse-mitteilung zitieren:Stadtumbau Ost – Hemmnisse und Hindernisse be-seitigen. Zahlreichen ostdeutschen Wohnungsunter-nehmen droht die Pleite. Zur Abwendung von In-solvenzen kommen Fusionen der Unternehmer alsdenkbare Alternative in Betracht. Diese dürfennicht durch 3,5 Prozent Grunderwerbsteuer er-schwert oder praktisch unmöglich gemacht werden.Hier besteht Reformbedarf.Das sind nicht unsere Hilfst ruppen, sondern das ist eineMeinung von Ihrer Seite, nä mlich vom Mieterbund. Siewerden die Präsidentin kenn en, Anke Fuchs. Sie bestä-tigt den Inhalt unserer Anträge. Der Stadtumbau kanneinzelne Eigentümer so stark tref fen, dass ihre Existenzinfrage gestellt wird. Fusionen sind deshalb dringend er-forderlich. Aber die Bereitschaft zum Helfen wird natür-lich nicht ziehen, wenn das aufstrebende Unternehmenfür seine finanziellen Bemü hungen zusätzlich mit derGrunderwerbsteuer belastet wird. W ir reden dabei nichtvon Steuerausfällen. Bleibt es bei der derzeitigen Rechts-lage, dann fallen Fusionen aus. Ich bin dem FreistaatSachsen dafür dankbar, dass er eine gleichlautende Bun-desratsinitiative eingebracht hat. Meine Damen und Her-ren, Sie haben am nächsten Freitag Gelegenheit, dieseim Bundesrat zu unterstützen.
Ich komme zum letzten Satz, Herr Präsident. MeineDamen und Herren der rot-grünen Regierungspartei, for-dern Sie mit uns gemeinsam die Bundesregierung auf,
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Henry Nitzscheim Sinne unseres Antrags Veränderungen beim Stadtum-bau vorzunehmen. Je eher Sie sich unseren Forderungenanschließen und diese umgesetzt werden, desto schnellerg
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Nicht weil die
Dinge schwierig sind, wagen wir sie nicht, sondern weil
wir sie nicht wagen, sind sie so schwierig.
Herzlichen Dank.
Auch Ihnen, Herr Kollege Nitzsche, herzlichen
Glückwunsch zur ersten Rede im Deutschen Bundestag.
Alle guten Wünsche für die weitere Arbeit.
Ich erteile das W ort dem Abgeordneten Ernst Kranz
für die SPD-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! V erehrte Kolleginnenund Kollegen! Herr Nitzsche, wir sind uns darin einig,dass die Situation der ostdeutschen Länder nach wie vorunserer besonderen Aufmerks amkeit bedarf. Dies be-trifft vor allem auch die Wohnungswirtschaft.Neben den ganz Deutschlan d betreffenden sich än-dernden demographischen, gesellschaftlichen und wirt-schaftlichen Rahmenbedingungen ist die ostdeutscheWohnungswirtschaft nach wie vor durch eine dramati-sche Höhe der W ohnungsleerstände geprägt. Die Leer-stände haben historische und auch aktuelle Ursachen.Diese sind zum einen die Wohnungspolitik zu Zeiten derDDR, als Wohnungen in den Neubaugebieten, den Plat-tenbausiedlungen, sehr begehrt waren und die Neubau-gebiete fast die einzige Möglichkeit boten, eine Miet-wohnung mit Komfort zu be kommen, ohne dafür selbstsehr umständlich und mühsam durch Um- und Ausbausorgen zu müssen.Ein weiterer schwerwiegender Fehler in der W oh-nungspolitik bestand darin, dass der in den Innenstädtenvorhandene Altbauwohnungsbestand aufgrund der be-grenzten finanziellen Möglichkeiten nicht saniert unddamit dem V erfall weitgehend preisgegeben wurde.Nach der Wende versuchten deshalb viele Mieter, diesebeiden Wohnbereiche zu verlassen und sich entspre-chend ihren finanziellen Möglichkeiten anderen bzw .neuen Wohnraum zu suchen und zu schaffen.Dies löste zu Beginn und in der Mitte der 90er -Jahredie erste Auszugswelle aus den beiden gerade genanntenWohnbereichen aus. Verstärkt wurde dies durch die bisheute anhaltende Abwanderungswelle derjenigen, die inden westlichen Bundesländern ihre größeren Zukunfts-chancen sehen.Gerade dieser Fakt führt uns am deutlichsten vor Au-gen, in welch hohem Maße wi r auch weiterhin verstärktVerantwortung für die ostdeutschen Bundesländer wahr-zunehmen haben. In der W ohnungspolitik hat deshalbdie Bundesregierung mit wohnungs- und städtebaupoliti-schen Programmen und Fördermaßnahmen wichtigeSanierungs- und Entwicklungsmaßnahmen eingeleitet.
Für die spezifischen Probleme der ostdeutschenStädte und Kommunen ist da her primär das Programm„Stadtumbau Ost“ konzipiert worden. Für den Stadtum-bau Ost werden wir mit den Ländern und Gemeinden bis2009 zusammen rund 2,7 Milliarden Euro bereitstellen.Das Programm geht jedoch weit über die Bekämpfungdes reinen Wohnungsleerstandes hinaus. Darauf werdeich im weiteren Teil meiner Rede noch eingehen.Meine Damen und Herren von der CDU/CSU-Frak-tion, es ist schon eine sehr kühne Unterstellung – die Siein Ihrem Antrag formuliert haben –, dass das Programm„Stadtumbau Ost“ nicht wirke bzw . die Probleme nichtlösen könne. 197 Kommunen wurden in das Programm„Stadtumbau Ost“ im Jahr 2002 aufgenommen.
Sie erhalten vom Bund und den Ländern 153 MillionenEuro für den Rückbau von mindestens 45 000 Wohnun-gen. Bis Ende letzten Jahres wurden 75 Prozent der Bun-desmittel und sogar 83 Prozent der Rückbaumittel abge-rufen. Dieses Geld kann kurzfristig ausgegeben werden.Zu einigen Themen im Antrag der CDU/CSU wurdendurch Minister Stolpe am 18. März zum 3. Leerstands-kongress des GdW bereits Lösungen präsentiert. Deswe-gen hinken Sie ein klein bisschen nach.Gerade auf diesem Kongress wurde im Gegensatz zuIhren Ausführungen noch einmal deutlich, dass das Inte-resse von Wohnungsunternehmen, Kommunen und derPolitik am Stadtumbau Ost stärker denn je ist.
Niemand hat auf diesem Kongress bestritten, dass dasProgramm „Stadtumbau Ost“ als gesamtgesellschaftli-che Aufgabe ganz Deutschlands ein Kernelement desAufbaus Ost darstellt.Der Minister führte des Weiteren aus, dass gerade dasStadtumbauprogramm als ein lernendes Programm vonbesonderer Qualität ist. Mit der V erwaltungsvereinba-rung 2003 werden Anregungen zur V erbesserung desProgramms aufgenommen. Die Forderung, Rückbaumit-tel – hören Sie genau zu! – als Komplementärmittel an-zuerkennen, ist erfüllt.
Das war doch Ihre Forderung, nicht wahr?Eine zeitgerechte Zurverfü gungstellung der Bundes-mittel im Rahmen des Programms kann durch die Län-der selbst entschieden beeinflusst werden. Es liegt an ih-nen, eigene Fördermittel und Bundesmittel geschickt zubündeln und zeitnah mit mö glichst geringem bürokrati-schen Aufwand an die betrof fenen Wohnungsunterneh-
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Ernst Kranzmen weiterzuleiten. Denn di e Anträge laufen alle überdie Länder und nicht über den Bund.
Auch die von Ihnen angemahnte flexiblere Handha-bung des Förderelements W ohneigentumsbildung imBestand wird im Rahmen der Verwaltungsvereinbarung2003 zum Städtebaurecht einfacher und großzügiger ge-staltet.
Eine weitere wichtige Änderung besteht darin, dassdie Länder ermächtigt werden, in der Startphase nichtmehr wie bisher genau 50 Prozent, sondern mehr als50 Prozent der Mittel für den Rückbau einzusetzen.
Dies entspricht zum Beispi el auch einer Forderung imAntrag der FDP.Bei der V ergabe der Fördermittel sollen die W oh-nungsunternehmen bevorzugt werden, die Unterstützungnach der Härtefallregelung beantragt haben; denn sie ha-ben es am nötigsten. Es soll auch dafür gesor gt werden,dass im Rahmen der V erwaltungsvereinbarung die Alt-schuldenhilfe und der Stadtu mbau Ost wirksam mitein-ander verzahnt werden können.Zu begrüßen ist auch der Gesetzentwurf der neuenBundesländer – und zwar nicht nur Sachsens – zurGrunderwerbsteuerbefreiung bei Fusionen von W oh-nungsunternehmen und W ohnungsgenossenschaften inden neuen Ländern für die Jahre 2004 bis 2006.Das Programm „Stadtumbau Ost“ ist seit einem Jahrin seiner Umsetzungsphase. Es hat sich sehr viel getanund es ist bereits viel erre icht worden. Dies ist meinerMeinung nach vor allem auch Resultat des vorgeschalte-ten Wettbewerbs, als dessen Ergebnis die Stadtentwick-lungskonzepte mit einem integrierten wohnungswirt-schaftlichen Teil erstellt wurden.
Die Initiierung und Durchführung des Wettbewerbs zumStadtumbau Ost ist eines der besten Beispiele, wie Kom-munen durch den Bund schnell, ef fektiv und unbürokra-tisch in der für ihre Entwicklung notwendigen Grund-satzarbeit unterstützt und angeregt werden können.
261 Städte und Gemeinden haben Stadtentwicklungs-konzepte mit einem integrie rten wohnungswirtschaft-lichen Teil erarbeitet und eingereicht. Mehr als 300 hat-ten sich zum W ettbewerb angemeldet. Die Qualität derArbeiten und Konzepte hängt selbstverständlich wie im-mer von den handelnden Pe rsonen und ihrem Engage-ment und dem Willen zur Mitarbeit ab.Einige Probleme möchte ich noch kurz ansprechen.Dabei geht es zum einen um die Zusammenarbeit undMitarbeit der Wohnungsgesellschaften selber. Sie sindauf dem örtlichen W ohnungsmarkt Konkurrenten. Diesie alle betreffenden Probleme können aber nur gemein-sam gelöst werden. Das ist ei n Widerspruch in sich, denes aber letztendlich in der Praxis zu lösen gilt. Hierbeigibt es ein unterschiedlic hes Engagement. Für die Ge-meinden ist es besonders schwierig, neben den hauptbe-teiligten kommunalen Wohnungsunternehmen und denGenossenschaften auch die privatwirtschaftlichen W oh-nungsvermieter sowie Zwis chenerwerber und leiderauch die TLG in die Abstimmung einzubeziehen.Ein wesentliches Hindernis für einen zügigen Pla-nungsverlauf bilden auch Unklarheiten aufgrund be-triebswirtschaftlicher und finanzieller Belastungen bzw .der notwendige Ausgleich zwischen Wohnungsunterneh-men beim Abbruch von W ohnungen oder beim Umbauim Wohngebiet. Ich meine, das ist ein Aspekt, der bei derUmsetzung dieser Konzepte gegenwärtig weiter großeSchwierigkeiten bereitet. Er findet zwar genügend Be-achtung, muss aber noch verstärkt beachtet werden.Genau diese Ursachen und Zeiterscheinungen werdendurch die Antwort der Thür inger Landesregierung aufeine Große Anfrage der SPD bestätigt. Etwas kritikwür-dig ist die nur sehr zögerliche und nur ansatzweise V er-öffentlichung der konkreten Er gebnisse des W ettbe-werbs. In Kürze soll es jedoch eine Dokumentationgeben, in der die 34 ausgezeichneten Konzepte präsen-tiert werden sollen.Sowohl das Programm „Stadtumbau Ost“ als auch dievorliegenden Stadtentwicklungskonzepte der einzelnenStädte und Gemeinden – das wurde schon betont – sindnicht statisch. Das Programm wie die Konzepte müssenständig weiterentwickelt werden. So hat auch der3. Leerstandskongress des GdW im letzten Monat einigeneue Tendenzen beraten und aufgezeigt. Wichtig war da-bei der Hinweis, dass kleine re Städte nicht ver gessenwerden dürften und dass man sich nicht nur auf Städteund Mittelzentren konzentrieren sollte.Positiv und wichtig ist die Erkenntnis, dass gerade inden kleinen Städten die Zusammenarbeit vor Ort funk-tionieren muss. Es ist notwendig, Regionalkonzepte aus-zuarbeiten, in denen auch wohnungswirtschaftliche Fra-gen eine wichtige Rolle spie len; denn gerade in diesenBereichen ist ein Zusammenschluss von kleinen W oh-nungsunternehmen oder als er ster Schritt eine gemein-same Verwaltung wichtig für die weitere wirtschaftlicheSanierung und Stabilisierung der Unternehmen.Die Frage, wie die Wohnungsunternehmen mit dauer-haftem Leerstand und abzureißenden W ohnungen vonden Altverbindlichkeiten en tlastet werden können, istnochmals ernsthaft zu prüfen; denn mit dem Abriss wirdde facto auch V ermögen der Gesellschaften vernichtetund es bleiben oft nicht kurzfristig oder mittelfristig zuverwertende Grundstücke übrig. Die Bundesregierunghat im Rahmen der Haushaltsverhandlungen 2003 trotzder Notwendigkeit zur Haushaltskonsolidierung dieMittel für Härtefälle nach § 6 a des Altschuldenhilfe-
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Ernst KranzGesetzes um 300 Millionen Euro auf 658 Millionen Euroaufgestockt.
Das ist ein sehr positives Zeichen für die Wohnungswirt-schaft. Für das Haushaltsjahr 2004 werden vom Bundes-ministerium für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen Mit-tel in der gleichen Größenordnung beantragt. Damitbeweist der Bund, dass er sich der Situation der W oh-nungsunternehmen in den neuen Ländern bewusst istund dass er, soweit es in seinen Möglichkeiten steht, im-mer bereit ist, auf veränder te Bedarfslagen flexibel undengagiert zu reagieren.
Die meisten Städte und Ge meinden der ostdeutschenBundesländer stehen mitten in einem neuartigen, tiefgreifenden Wandel in ihrer Stadtentwicklung. Es gehtdabei nahezu ausschließlich um die Bewältigung vielfäl-tiger demographischer, ökonomischer und strukturellerProzesse. Wegen der Komplexität müssen wir besondersdarauf achten, dass das Programm „StadtentwicklungOst“ nicht als reines Abrissprogramm gesehen wird bzw.dazu verkommt. Auch Arch itektur und Baukultur müs-sen in unserer Gesellschaft und im Stadtumbauprozesseinen höheren Stellenwert erhalten, damit sich dasBauen bzw. das Umbauen in den ostdeutschen Städtennicht nur auf technische und betriebswirtschaftliche As-pekte beschränkt.
Herr Kollege, denken Sie bitte an Ihre Redezeit.
Jawohl, nur noch zwei Sätze.
Die sich wegen der ständigen Entwicklung der gesell-
schaftlichen Rahmenbedingungen wandelnden Anforde-
rungen an Stadt- und Gebäudestrukturen erfordern einen
permanenten Stadtumbau. Um die Stadtentwicklung Ost
auch weiterhin erfolgreich fortzuführen und als echte
Stadtentwicklung auch wirksam werden zu lassen, gilt es
noch einige wichtige Rahm enbedingungen zu verbes-
sern. Die Kommunen, in denen zum größten T eil erar-
beitete Stadtentwicklungskonzepte vorliegen, die aber
ständig an die aktuellen Entwicklungen angepasst wer-
den müssen, sind aufgrund ihrer extrem angespannten
Haushalte nur eingeschränkt handlungsfähig. V iele
Kommunen können ihren Anteil an der Finanzierung der
Aufwertungsmaßnahmen nicht oder nur eingeschränkt
aufbringen. Hier ist die Verknüpfung verschiedener Pro-
gramme auf Bundes- und Landesebene notwendig.
Auch über die von mir schon angesprochene Alt-
schuldenhilfe muss noch einmal diskutiert werden.
Herr Kollege, diese können Sie nun wirklich nicht ein
zweites Mal ansprechen.
Alles klar. Noch zwei Sätze:
Die Wohnungsunternehmen brauchen Rechtssicherheit
bei den Grundstücken. Ich verweise in diesem Zusam-
menhang nur auf die Proble matik des Wiederauflebens
alter Ansprüche.
Herr Kollege, Sie haben ein außer gewöhnlich gnädi-
ges Präsidium. Nur, nach der Ankündigung eines letzten
Satzes und nach fünf weiteren Sätzen nun die beiden ab-
schließenden anzukündigen ist schon ein bisschen
forsch.
Vielen Dank, Herr Präsident.
Ich schließe ab:
Die erfolgreiche Fortsetzung des Stadtumbaus Ost ver-
langt auch in Zukunft von uns allen wichtige politische
Entscheidungen, die diesen Prozess begünstigen und
weiterhin befördern.
Vielen Dank, Herr Präsident, für die Nachsicht.
Herr Kollege, das war auch Ihre erste Rede im Deut-
schen Bundestag. Ich habe eine grobe Erinnerung daran,
dass auch ich hier einmal ei ne erste Rede gehalten habe
und dass es einfachere Übungen als diese gibt, vor allen
Dingen, was die Gnadenlosi gkeit des Zeitmanagements
angeht. Deswegen bitte ich um Nachsicht für ein gewis-
ses Maß an unvermeidlicher Intervention. Vonseiten des
Präsidiums alle guten Wünsche für die Arbeit.
Nun hat das W ort der Kollege Joachim Günther für
die FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Meine se hr verehrten Damen undHerren! Ich glaube, dass wir in der Analyse des Berei-ches Stadtentwicklung, Stadtumbau, fraktionsübergrei-fend im Wesentlichen übereinstimmen. Im Osten gibt es1,3 Millionen leer stehende Wohnungen. Mit anderenWorten – vielleicht kann sich der eine oder andere das sobesser vorstellen –: Jede sechste W ohnung dort stehtleer.
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Joachim Günther
Meine beiden Vorredner haben einige wesentliche Ur-sachen dafür genannt, dass jede sechste W ohnung leersteht. Meiner Ansicht nach – ich sage das, obwohl eshier um Wohnungsbau geht – sind die fehlenden Arbeits-plätze in den neuen Bundesländern die Hauptursache fürden dortigen Wohnungsleerstand. Wenn wir dieses Pro-blem nicht lösen, dann brau chen wir über andere Pro-bleme, zum Beispiel Abwanderung – es geht vor allemum den Wegzug der jungen Generation –, nicht mehr zusprechen.
Im Zusammenhang mit dem W egzug der jungen Ge-neration – auch das war ein Thema der Vorredner – mussman über die Geburtenrate in Ostdeutschland reflektie-ren. Sie ist entschieden nied riger als in den alten Bun-desländern. Wer einer Statistik – Statistiken sind immermit Vorsicht zu genießen – glaubt, der weiß, dass sichder Umfang der Bevölkerung im Osten bis zum Jahr2050 doppelt so schnell wie in den alten Bundesländernzurückentwickeln wird. Vor dieser Situation stehen wir.Angesichts dessen gilt es, das Übel an seiner W urzelzu packen. Dieses Übel sind die fehlenden Reformen inder Wirtschafts- und in der Arbeitsmarktpolitik. W enndiese Reformen nicht erfo lgreich umgesetzt werden,dann können wir noch so oft und noch so viel über Städ-teplanung sprechen, ohne dass es etwas bringt. V erlan-gen Sie doch von einem Stadtplaner einmal, über eineStadt zu sprechen, deren Abwanderungsraten so hochwie die von Halle-Neustadt oder Hoyerswerda – davonwar zuvor die Rede – sind! Was soll ein solcher Stadtpla-ner denn für einen Zeitraum von 20 Jahren planen? Dazuist er im Endeffekt gar nicht in der Lage.Heute geht es darum, wie wir auf die große Anzahl anLeerständen von W ohnungen von Gesellschaften, Ge-nossenschaften, aber auch von vielen Privateigentümernim Endeffekt so reagieren, dass diesen geholfen wird.Die Anträge von CDU/CSU und FDP enthalten dazumeines Erachtens viele Ansätze, die ich hier nicht wie-derholen muss.Ich unterstütze ausdrücklich das, was Herr Stolpe aufdem 3. Leerstandskongress in Halle gesagt hat: DerStadtumbau Ost ist eine wichtige Voraussetzung für denAufbau Ost insgesamt.
Auf dieser Grundlage muss man auf der einen Seite dieLösung des Problems des Üb erangebots, also der Leer-stände, angehen und auf der anderen Seite dafür sorgen,dass nicht ganze Landstri che verschwinden. Ich habelangsam das Gefühl, dass dies in Hoyerswerda der Fallist.Wir müssen die Probleme also gesamtgesellschaftlichbetrachten. Wir müssen denjenigen Gesellschaften, Un-ternehmen und Privateigentümern helfen, die aufgrundfehlender Ertragskraft nicht mehr in der Lage sind, dienötigen Investitionen vorzun ehmen. Schon jetzt ist dieBauindustrie sehr gebeutelt; viele, die dort beschäftigtwaren, stehen auf der Straße und warten darauf, dass siewieder in Arbeit kommen.Frau Staatssekretärin, das P ositive am P rogramm„Stadtumbau Ost“ ist, dass die Anzahl der Städte, die un-ter einem gewissen Druck – anders kann man das nichtbezeichnen – endlich ein Stadtentwicklungskonzept er-arbeitet haben, groß ist. V iele Städte haben versucht, indieser Richtung voranzuko mmen, und sie haben zumTeil bis zum Jahr 2030 geplant. Das sind positive Ergeb-nisse dieses Programms.Dieses Programm könnte noch zu einem anderen Pro-blem führen – Stichwort „wohnungspolitische Gerech-tigkeit“, wenn es so etwas überhaupt gibt –, nämlich zumMikadoeffekt. Wir müssen dafür sorgen, dass diejenigenUnternehmen, die ihre Wohnungen als erste vom Marktnehmen, hierfür nicht bestra ft werden und diejenigenUnternehmen, die damit länger warten, davon profitie-ren. Das stellt zumindest ein Problem dar . Vielleichtkann man es in Form eines Lastenausgleichs lösen; wirkönnen im Ausschuss gern darüber sprechen.Mit den heute vor gelegten Anträgen werben wir da-für, dass eine flexiblere Gestaltung bei der Inanspruch-nahme der Fördermittel ermöglicht wird, dass man sichetwas vom klassischen Finanzierungsmodus entfernt unddass starre Aufteilungen aufgeknackt werden, ohne dassman mit starren Prozentzahlen arbeitet. Die Menschenvor Ort können am besten en tscheiden, wer auf Abriss,auf Stadtsanierung und auf Stadtumbau setzen sollte.Wir müssen drohende Insolvenzen verhindern. Das be-deutet die Mitarbeit der Bu ndesländer. Deshalb werdenwir auch den Antrag der Bundesländer auf Entlastungvon Altschulden unterstützen. Auch hier können wir si-cherlich noch darüber reden, wie wir einen Schritt wei-terkommen.
Die FDP wird sich auf jeden Fall strikt dafür einset-zen, dass die privaten Hauseigentümer, die schon den Os-ten überstanden haben, nicht wieder die Leidtragendensind, dass also auch andere Themen wie die W iederein-führung der Vermögensteuer, die Änderung der Bemes-sungsgrundlage und die Erbschaft- und Schenkungsteueraufgegriffen werden. Ich hoffe, wir werden im Ausschusseine interessante Diskussion darüber führen und dann zuschnellem und flexiblem Handeln kommen. W enn ichSie alle richtig verstanden habe, sind wir uns einig. Wennwir den Bürokraten eine Absage erteilen, kommen wirauch voran.Herzlichen Dank.
Ich erteile das Wort dem Abgeordneten Peter Hettlich,
Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrter Herr P räsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! In der Beschreibung der Situation sind wir unseinig. Der Wohnungsleerstand in den neuen Ländern von
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Peter Hettlichcirca 1,3 Millionen Wohnungen bedroht nicht nur W oh-nungsunternehmen und -genossenschaften, sondern auchprivate Haus- und W ohnungseigentümer in ihrer Exis-tenz. An dieser Stelle erinne re ich daran, dass auch imGewerbe- und Bürobau erhebliche Leerstände auf denMarkt und die Mietpreise drücken. So gibt es allein inLeipzig immer noch über 800 000 Quadratmeter unver-mieteten Büroraum.Die Ursache hierfür liegt ei nzig und allein in demenormen Überangebot auf den Immobilienmärkten seitMitte der 90er-Jahre. Bei den Wohnungen liegt die Ursa-che interessanterweise noch nicht an der demographi-schen Entwicklung und de m Wegzug vieler jungerLeute; denn sowohl die Anzahl der Haushalte als auchdie durchschnittliche W ohnfläche je Einwohner sindzum Beispiel in Sachsen in den letzten Jahren immernoch gestiegen, was ja eige ntlich zu einer Entspannungauf dem Wohnungsmarkt hätte führen müssen. Diese istaber nicht eingetreten.Die verfehlte, weil bedarfsunabhängige Förderpolitikder Kohl-Regierung führte dazu, dass immer mehr sa-nierte und vor allen Dingen neu gebaute Wohnungen aufden Markt geworfen wurden.
– Ich habe es ja selbst mitgemacht. –
Die ersten Leidtragenden waren die kommunalen W oh-nungsbaugesellschaften und -genossenschaften; denn inihren Beständen befand sich der Wohnraum mit schlech-ter Grundsubstanz, dazu noch an marginalen Standorten.Sie hatten das Problem, dass sie im Wettbewerb mit denbesseren Wohnlagen nur den Kürzeren ziehen konnten.Dass zudem auch private Haus- und Wohnungseigen-tümer in Schwierigkeiten ge raten würden, war nur eineFrage der Zeit. Mancher hatte nämlich die 50-prozentigeSonderabschreibung gern mitgenommen, dann aber ent-gegen allen guten Ratschlägen mit Kaltmieten zwischen15 und 16 DM je Quadratmeter kalkuliert. Für mich ist bisheute nicht nachvollziehbar, wie man von den Bürgerin-nen und Bürgern in den neuen Bundesländern erwartenkonnte, dass sie bei Einkommen Ost Mieten West bezah-len sollten. Für derartiges wirtschaftliches Fehlverhaltenist die Verantwortung bei diesen Menschen zu suchen. Ichbin auch der Meinung, dass sie daraus die Konsequenzenselbst zu tragen haben.Aufgrund der Befristung der Sonderabschreibungenkonnte ja gar nicht schnel l genug gebaut werden, wasdazu führte, dass der Aufschwung der Bauwirtschaft imOsten nur über eine kurzfristige Ausweitung der heimi-schen Kapazitäten und eine erhebliche Auftragsver gabean Westfirmen erfolgte. Schon seit Jahren ist im Ostenim Baugewerbe nichts mehr zu holen und die W estfir-men sind schon lange wieder zu Hause. Aber der heimi-schen Bauwirtschaft hat man in Sachsen dann noch vor-geworfen, sie sei schuld an den Überkapazitäten. Aneinem weiteren Abbau der Überkapazitäten werden wirgar nicht vorbeikommen. Ich kann jedenfalls im Augen-blick keine andere Lösung erkennen. Wir können diesenAbbau allenfalls durch gezielte Fördermaßnahmen zumBeispiel im Rahmen der Altbausanierungsprogrammeabmildern.Angesichts dessen frage ich mich allerdings, warum sichdie verehrten Kolleginnen und Kollegen der CDU/CSUund der FDP so vehement ge gen die geplante Änderungder Eigenheimzulage wehren. Gerade dadurch nehmenwir einen Druck vom Wohnungsmarkt, werten insbeson-dere die Bestandserhaltung auf und entlasten zusätzlichnoch die Haushalte der Länder und Kommunen. DieKommunen können mit den dadurch eingesparten Gel-dern wieder entsprechende Maßnahmen durchführen.Das hat offensichtlich auch der sächsische Ministerpräsi-dent Milbradt erkannt. Er sagte vor einigen Tagen in derPresse, dass er im Bereic h der Eigenheimzulage Ände-rungsbedarf sehe.
Die Maßnahmen im Rahmen des Stadtumbaus Ostund die Altschuldenhilfe leisten einen unverzichtba-ren und erheblichen Beitrag zur Marktentlastung sowiezur Erhaltung der Wohnungsbauunternehmen und -ge-nossenschaften und erhalten zudem dringend benötigteArbeitsplätze im Baugewerbe. Auch wenn in 2002noch nicht die angepeilten 40 000 Wohnungen vomMarkt genommen werden konnten, so werden wir die-ses Ziel in diesem Jahr sicherlich erreichen und viel-leicht sogar übertref fen. In den nächsten acht Jahrenwerden wir – wie angestrebt – 350 000 Wohnungenvom Markt nehmen.Es gibt nichts, was man nicht noch verbessern könnte.Im Antrag der Kolleginnen u nd Kollegen gibt es durch-aus Punkte, über die wir uns unterhalten können. Das ha-ben Sie eben vor geschlagen, Herr Günther , und ichstimme Ihnen hier auf jeden Fall zu.Meine persönlichen Erfahrungen mit Verwaltungs-vorschriften haben gezeigt, dass diese nicht unbedingtmit den Zielen der ihnen zugrunde liegenden Gesetzedeckungsgleich sind. Dies gilt sowohl für den Bund alsauch für die Länder . Ich erinnere mich noch an dasAufbaubeschleunigungsgesetz in Sachsen von 1994 alseine Fortschreibung der damaligen Landesbauord-nung. Die Verwaltungsvorschrift war viel dicker als dasGesetz und konterkarierte viele der guten Intentionendes damaligen Aufbaubeschleunigungsgesetzes. Dahersollten Schwachstellen durchaus genannt und gegebe-nenfalls bereinigt werden. In dieser Hinsicht sind wirfür Vorschläge sehr offen.Wir sollten uns Gedanken darüber machen, ob undwie wir parallel zum Rückbau der Wohnungen auch denRückbau der kommunalen Infrastruktur finanzieren. Wirmüssen uns wirklich Gedanken machen in Bezug auf dieBereiche Gas, Wasser, Abwasser und Fernwärme. Dortgibt es gewaltige Probleme.
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Peter Hettlich– Ich wollte nur darauf hinweisen, dass wir dazu wirk-lich Überlegungen anstellen müssen. Es steht im Aus-wertungsteil, aber nicht in dem anderen Teil. Über diesesThema müssen wir uns einfach einmal unterhalten. Dasist ein großes Problem.Wir haben noch eine ganze Menge zu tun. Die rot-grüne Regierungskoalition ha t die ersten und richtigengroßen Schritte gemacht. Es liegt an Ihnen, ob Sie unsbei diesem Handeln weiterhin unterstützen. Dazu steheich Ihnen gern zur Verfügung.Danke schön.
Nächster Redner ist Kolle ge Manfred Grund, CDU/
CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Der Stadtumbau Ost braucht einen langen Atem.Das haben wir nicht nur an der Rede des Kollegen ErnstKranz gemerkt. Kollege Kranz, glauben Sie uns: Auchuns ist am Gelingen des Stadtumbaus Ost gelegen. Wenner allerdings gelingen soll, dann muss er wesentlichschneller, effizienter und besser werden.
Ein Gelingen des Stadtumbaus Ost setzt einen Struktur-wandel in der ostdeutschen Wohnungswirtschaft voraus,weil 1,3 Millionen leer stehende W ohnungen bedeuten,dass Angebot und Nachfrage auf dem Immobilienmarkteinander überhaupt nicht entsprechen.Wenn wir analysieren, warum der notwendige Struk-turwandel in der Wohnungswirtschaft bislang noch nichtgeklappt hat, dann stellen wir fest: Wir haben einerseitsstrukturell bedingte Leerstände, also Leerstände auf-grund struktureller Probleme in der V ergangenheit. An-dererseits versuchen wir vonseiten der Politik zum T eilein bisschen halbherzig, diesen Prozess mit Programmenzu begleiten.Alle vorhandenen Programme, die wir auch akzeptie-ren und anerkennen, schieben diesen Strukturwandel an.Solange wir jedoch keine se lbstständig handelnden Ak-teure am ostdeutschen Wohnungsmarkt haben, geht dasGanze etwas ins Leere. Ich werbe daher nicht nur für un-seren Antrag, sondern auch für das, was ich dann nochim Einzelnen vortragen möchte: dass wir versuchen,selbstständig handelnde Akteure am W ohnungsmarkt inden neuen Bundesländern zu bekommen.
Warum ist ein schnellerer , besserer und ef fizientererStadtumbau Ost so wichtig für den Aufbau Ost? W irsprechen sehr viel von den weichen Standortbedingun-gen. Dazu gehören natürlich das W ohnumfeld und dasVorhandensein von Städten, in denen man sich wohlfühltund angenommen fühlt, aus denen man nicht gern weg-geht, sondern von denen man sagt, das ist meine Heimat,hier möchte ich bleiben. Aufwertung der Städte, verbes-serte Lebensqualität und damit verbesserte Standortbe-dingungen sind nicht nur fü r den Stadtumbau Ost, son-dern für den Aufschwung Ost insgesamt sehr wichtig.Deswegen wurde dieses Thema auch im 13. Jahr derdeutschen Einheit zu dieser späten Stunde noch einmalauf die Tagesordnung gesetzt. Ich glaube, wir sind gutberaten, weiter an diesem Thema dranzubleiben.
Ich möchte etwas zu den Akteuren sagen, die wir vor-finden, so etwa Stadtplane r und Kommunen. Sie alleinkönnen die Verbesserung der Standortstrukturen in denneuen Bundesländern nicht aus eigener Kraft leisten. Siebemühen sich, viele auch mit sichtbaren Erfolgen. Dort,wo sie erfolgreich arbeiten, merken wir: Wirtschaft undInfrastruktur kumulieren um diese lebenswerten Städteherum und der Wegzug hält sich in Grenzen. V on dort,wo strukturelle Probleme vorhanden sind, wo es nichtgelingt, sie aus eigenen Kräf ten zu lösen, ziehen dieMenschen weg. Die Probleme, die sie dann hinterlassen,sind wesentlich größer. Jetzt können wir als Bund undLänder noch einigermaßen ha ndeln und versuchen eini-ges anzupacken.
Ich möchte in diesem Zu sammenhang etwas zu denWohnungsbaugesellschaften und zu den Wohnungs-baugenossenschaften sagen. Diese haben noch keinemarktfähigen Strukturen gefunden. Sie sind noch nichtzu handlungsfähigen Akte uren geworden. Bei einemLeerstand von zum T eil 30 Prozent werden wir wohlauch über Fusionen nachdenken müssen, damit dieseWohnungsbaugesellschaften und W ohnungsbaugenos-senschaften zu wirklich ha ndlungsfähigen Akteurenwerden.Das Problem dabei ist folgendes: Wenn sich zwei Ge-sellschaften dieser Art zu sammenschließen, müssen sieGrunderwerbsteuer zahlen und genau das verhindertsolche Zusammenschlüsse. Die Grunderwerbsteuer kannpro Quadratmeter Wohnfläche durchaus bei 15 Euro lie-gen. Das summiert sich zu einer Größenordnung, die sol-che Gesellschaften oder Genossenschaften allein nichttragen können.Die Lösung wäre aus unserer Sicht eine befristete Be-freiung von der Pflicht zu r Zahlung der Grunderwerb-steuer. Da die neuen Bundeslä nder das nicht selbst re-geln können, haben wir da s zum Gegenstand unseresAntrags gemacht. Wir werben für eine solche Öffnungs-oder Experimentierklausel. Das kostet nicht großartigGeld. Das hält sich alles in Grenzen. Wir wollen keineSteuererleichterungen schaffen und auch nicht wesent-lich mehr Geld hineingeben, sondern durch den befriste-ten Verzicht auf die Erhebung der Grunderwerbsteuerwirklich nur die Möglichkeit schaf fen, dass sich zweiGenossenschaften oder Gesellschaften zusammenschlie-ßen, damit sie effizienter werden, größere Strukturen be-kommen, einen höheren W ohnungsbestand verwaltenund das Management qualifizieren können.
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Manfred Grund
Ich habe bewusst von einer Experimentierklauselgesprochen. Das ist etwas, was die Bundesregierung, na-mentlich Bundesminister Stolpe und BundesministerClement, in den letzten Wochen sehr oft an uns herange-tragen und auch in die Öf fentlichkeit gebracht hat, ohnees allerdings im Detail zu unterlegen. Ich werbe dafür ,dass wir die Möglichkeit bekommen, in den neuen Bun-desländern zeitlich befristet von der Erhebung derGrunderwerbsteuer abzusehen, damit es uns gelingt, indiesem Bereich Fusionen voranzutreiben, damit wir das,was ich bereits aufgezählt habe, erreichen: zum Beispielüberzähligen Wohnraum vom Markt nehmen, leistungs-schwache Wohnungsunternehmen von Risiken befreien,die letztlich auf die Kommunen, Städte und Gemeindendurchschlagen, die ohnehin große finanzielle Problemehaben, oder auch auf diejenigen, die Kredite ausgereichthaben, nämlich Sparkassen und Genossenschaftsbanken.Von daher werbe ich für diesen Vorschlag.Ich denke, dass die Stabil isierung der ostdeutschenWohnungsunternehmen auch zu einem Stück mehr Nor-malität in Ostdeutschland beitragen kann. Deswegensollte uns allen daran gelegen sein, mit diesem Antrag,der von der Union gestellt worden ist, oder auch mit demvon der FDP oder gar mit einem gemeinsamen weiterzu-kommen. Wir sind da im Interesse der neuen Bundeslän-der sehr offen.Herzlichen Dank.
Der Kollege Grund hat von der Zeitüberschreitung
zweieinhalb Minuten wieder hereingeholt. Das ist von
einem Parlamentarischen Geschäftsführer vorbildlich.
Dafür möchte ich mich bedanken.
Mit einer leichten Erwartung im Hinterkopf erteile ich
nun der Parlamentarischen Staa tssekretärin Iris Gleicke
das Wort.
I
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnenund Kollegen! W ir alle wissen: Die Ursachen für dieWohnungsleerstände im Osten sind vielfältig. Es gehtdarum, dass unbewohnbare Wohnungen, die noch ausDDR-Zeiten stammen, vorhanden sind. Es geht auch da-rum, dass Menschen abgewa ndert, der Arbeit hinterher-gezogen sind. Es geht darum, dass Stadt-Umland-W an-derungen stattgefunden haben und viele Neubaugebieteentstanden sind. Es geht na türlich auch darum – das ge-hört zur Wahrheit dazu –, dass es eine viel zu lange wäh-rende sehr üppige steuerliche Förderung für den Neubaugegeben hat.Unsere Antwort auf die Le erstandskrise im Ostenheißt: Stadtumbau Ost. Wir wollen den notwendigenRückbau von Wohnungen nutzen, um die Städte aufzu-werten, um sie attraktiver zu machen und um sie alsWohn- und Wirtschaftsstandorte nachhaltig zu stärken.
Wir müssen verhindern, dass der Leerstand selbst Ursa-che für weitere Abwanderung wird. Es geht also ummehr Lebensqualität. Es geht – ich glaube, da sind wiruns einig – um viel mehr als nur um die Marktbereini-gung zugunsten der Wohnungswirtschaft.
Das Programm „Stadtumbau Ost“ ist jetzt ein Jahr alt.In den letzten Wochen hat es manch harsche Kritik gege-ben. Sehr geehrter Herr Kolle ge Nitzsche, ich halte IhreKritik, die Sie hier geäußert haben, für überzogen. Sie istin einigen Punkten auch sc hlichtweg falsch. Es stimmtnämlich einfach nicht, dass die Leerstände trotz des Pro-gramms „Stadtumbau Ost“ angewachsen sind. Das isteinfach nicht wahr. Das sagt auch der GdW.Trotzdem begrüßen wir selbstverständlich, dass Sieeinen Antrag vor gelegt haben, denn das gibt uns dieChance, im Ausschuss weiter über den Stadtumbau zureden und die Diskussionen zu versachlichen. Ich darfmich auch ausdrücklich, Herr Kollege Günther , bei derFDP bedanken, die gestern m it ihrem Antrag schon zurVersachlichung beigetragen hat. Der FDP-Antrag unter-streicht nämlich die Notwendigkeit des Programms„Stadtumbau Ost“.
Meine Damen und Herren von der Opposition, wirhaben ja schon die meisten Ihrer Forderungen erfüllt.
Ich möchte hier dazu einiges anmerken: Wir haben es er-möglicht, dass die Bundesmittel für den Rückbau bzw .für den Abriss auf den nach den Härtefallregeln in § 6 ades Altschuldenhilfe-Gesetzes erforderlichen Landesbei-trag anrechnungsfähig sind.
Trotz aller Sparanstrengungen haben wir für diese Härte-fallregelung 300 Millionen Euro zusätzlich zur V erfü-gung gestellt; das ist fast eine Verdopplung. Es stehenjetzt 658 Millionen Euro für Härtefälle zur V erfügung.Dieser Beitrag wird auch der Wohnungswirtschaft hel-fen.
Wir wissen selber, dass die Förderung von Wohnei-gentum im Bestand im Rahmen des Programms „Stadt-umbau Ost“ nicht gut vorangekommen ist. Deshalb wer-den wir hier V ereinfachungen vornehmen: W ir heben
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Parl. Staatssekretärin Iris Gleickeeinige Beschränkungen auf und wollen eine pauscha-lierte Förderung einführen.
Auch das wird dazu führen, dass sich zunehmend Er-folge einstellen werden. Außerdem ermöglichen wir denLändern, mehr als 50 Prozent der Mittel für den Rück-bau einzusetzen. Wir sind der Meinung, dass auch diesesdazu führt, dass der Abriss schneller vonstatten geht.
Das alles zeigt, dass es Ihrer Forderung eigentlich garnicht bedurft hätte. Wir beobachten die Wirkung unseresProgramms selbstverständlich sehr genau. W ir habenvon Anfang an gesagt, dass wir ein „lernendes Pro-gramm“ wollten; das ist es auch.
Dieses Programm existiert – ich sage es noch einmal,Herr Kollege Nitzsche – erst seit einem Jahr und wir ha-ben damit Neuland betreten, denn Abriss war vorher nieein Thema für uns. Wir haben hier dennoch viel erreicht.Ich habe zwar nichts gegen Kritik, aber es är gert michdann doch, wenn sich jemand hierher stellt und dasganze Programm locker floc kig als Flop bezeichnet;denn der zieht damit auch die Arbeit der Kommunen, derStadtplaner und der W ohnungsunternehmen in denDreck.
Meine Damen und Herren, ich bleibe dabei: W ir ha-ben mit der ersten Etappe einiges erreicht. Herr KollegeKranz hat schon den W ettbewerb und die vielen Stadt-umbaukonzepte angesprochen, die entwickelt wordensind und einen W eg zum Stadtumbau im Osten aufzei-gen, denn ohne Zielbestimmung einen Weg zu beschrei-ten ist nicht möglich. Wir wollten ja nicht frei nach demMotto agieren: Wir bauen auf und reißen nieder , Arbeitgibt es immer wieder . Gemäß diesem alten S pruch ausDDR-Zeiten wollten wir die Sa che nicht angehen. Inso-fern sind integrierte Konzepte wichtig. Mit dem W ett-bewerb „Stadtumbau Ost“ haben wir 260 Kommunensozusagen angefeuert, solche Konzepte zu erstellen. DieAuszeichnungen zeigen, dass hi er sehr erfolgreiche Ar-beit geleistet wurde. Es ist nun nicht fair, sich hinzustel-len und zu sagen: Jetzt sind die Konzepte da, aber wa-rum sind sie noch nicht umgesetzt? – Liebe Leute, esdauert einfach eine Weile. Natürlich haben wir hier eineAufgabe zu bewältigen, die längere Zeit in Anspruchnimmt.Wir haben das Programm sehr zügig umgesetzt.197 Gemeinden wurden in das Stadtumbauprogramm2002 aufgenommen; sie erhalten von Bund und Ländern153 Millionen Euro für den Rückbau von mindestens45 000 Wohnungen. Das ist übrigens etwas mehr als einAchtel der 350 000 abzureißenden Wohnungen. Somitliegen wir vollständig im Plan, da wir in diesem Jahr einAchtel abreißen und das Programm auf acht Jahre ange-legt ist. Wer kann denn vor diesem Hintergrund behaup-ten, dass der Stadtumbau nicht in Gang käme? Er kommtin Gang und das ist auch gut so.
Wir gehen darüber hinaus davon aus, dass mit zuneh-mender Abarbeitung auch der Abriss billiger wird, weilman neue T echnologien finden wird. Auf dem Leer-standskongress, den Sie angesprochen haben, gab esdurchaus interessante Beiträg e, in denen erläutert wor-den ist, wie man auch billig er abreißen kann. Insoferngehen wir davon aus, dass im V erlauf des Vollzugs die-ses Programms immer mehr W ohnungen abgerissenwerden können.Neben den Punkten, die wir schon abgearbeitet haben– zum Beispiel die Bevorz ugung der Wohnungsunter-nehmen bei der V ergabe von Abrissmitteln, die Härte-fallmittel in Anspruch nehmen, oder dass wir uns nichtmehr so eng auf Förder gebiete begrenzen, sondern imEinzelfall auch woanders ei nen Abriss ermöglichen –,will ich hier sehr deutlich sagen: W ir werden Lösungenfinden, die verhindern, dass die Bereitstellung der Kas-senmittel in Jahresraten den Rückbau unnötig verzögert.Wir prüfen derzeit gemeinsam mit den Ländern, wie wirdas Problem lösen können, ohne die öf fentlichen Haus-halte zusätzlich zu belasten. Wir wollen praktikable Zwi-schenfinanzierungen ermöglichen. Ich denke, das istganz wichtig; die Wohnungswirtschaft braucht das. Wirkommen da auch gut voran.Meine Damen und Herren, ich bitte Sie wirklich ganzherzlich, den Stadtumbau mit uns gemeinsam als Chancezu nutzen und sich dem Th ema sachlich zu nähern.Ebenso herzlich bitte ich Sie, mit der gleichen Vehemenzauch die anderen Akteure, nämlich die Länder und Kom-munen, aufzufordern, sich dem Stadtumbau zu widmen,sodass wir vorankommen.
Schönen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Ich schließe die Aussprache.Interfraktionell wird Überweisung der V orlagen aufden Drucksachen 15/352 und 15/750 an die in der Tages-ordnung aufgeführten Ausschüsse vor geschlagen. SindSie damit einverstanden? – Das ist of fensichtlich derFall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 11 auf:Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für wirtschaftliche Zu-sammenarbeit und Entwicklung
– zu dem Antrag der AbgeordnetenDr. Christian Ruck, Dr . Friedbert Pflüger,
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Vizepräsident Dr. Norbert LammertHermann Gröhe, weiterer Abgeordneter undder Fraktion der CDU/CSUGegen Terror, Völkermord und Hunger-katastrophe in Simbabwe, um Destabilisie-rung des südlichen Afrikas zu vermeiden– zu dem Antrag der Abgeordneten BrigitteWimmer , W alter Riester, KarinKortmann, weiterer Abgeordneter und derFraktion der SPD sowie der AbgeordnetenThilo Hoppe, Hans-Christian Ströbele, KatrinDagmar Göring-Eckardt, Krista Sager und derFraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ-NENHungerkatastrophe in Simbabwe weiterbekämpfen – Internationalen Druck aufdie Regierung Simbabwes aufrechterhalten– zu dem Antrag der Abgeordneten MarkusLöning, Ulrich Heinrich, Rainer Brüderle,weiterer Abgeordneter und der Fraktion derFDPGemeinsame europäisch-afrikanische Ini-tiative zur Lösung der Krise in Simbabwestarten– Drucksachen 15/353, 15/428, 15/429, 15/613 –Berichterstattung:Abgeordnete Rudolf KrausBrigitte Wimmer
Hans-Chistian StröbeleMarkus LöningNach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine halbe Stun de vorgesehen. – Dazu höreich keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.Ich erteile zunächst dem Abgeordneten SiegmundEhrmann für die SPD-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Meine Da men und Herren! In derMitte Februar geführten Debatte über die bedrückendeSituation in Simbabwe stimmten alle Fraktionen in derAnalyse der Ursachen, ihrer Bewertung und den notwen-digen Schlussfolgerungen weit gehend überein. Dass wiruns nunmehr auf einen gemeinsamen Antrag verständi-gen können, unterstreicht, dass der Deutsche Bundestaggeschlossen dazu beitragen will, den Druck auf Mugabeund seine Komplizen zu verstärken.
Die jüngste Entwicklung zeigt, dass in Simbabwe undseinem Umfeld offenkundig einiges in Bewegung gera-ten ist. Gerade dieser aktu elle Kontext muss uns darinbestärken, die mit dem vor liegenden Antrag verbunde-nen Forderungen umso deutlicher zu erheben. Es geht imEinzelnen um Folgendes:Die Regierungen der Entwicklungsgemeinschaft desSüdlichen Afrika müssen gedrängt werden, den Kurs-wechsel zu flankieren, um Rechtsstaatlichkeit und De-mokratie, letztendlich aber auch die W iederherstellungder landwirtschaftlichen Infrastruktur zu gewährleisten.
In der Entwicklungsgemeinschaft des Südlichen Afrikaliegt auch der Schlüssel dazu , dass der Konflikt in Sim-babwe bewältigt und nicht darüber hinaus getragen wird.Eine besondere Verantwortung für die Befriedung– auch das haben wir in der Februardebatte festgestellt –kommt der südafrikanischen Regierung und denNEPAD-Partnerstaaten zu.Wir haben festgestellt und das in unserem Antrag alsForderung erhoben, dass es weiterhin richtig ist, die bi-laterale Entwicklungszusammenarbeit ruhen zu las-sen.Bei der desaströsen Ernährungslage ist es aber uner-lässlich, humanitäre Sofort maßnahmen der Nichtregie-rungsorganisationen und der Kirchen zu fördern. Dasversteht sich von selbst.
Wir machen aber zugleich deutlich: Sobald rechts-staatliche demokratische V erhältnisse hergestellt sind,wird sich unser Angebot der Entwicklungszusammen-arbeit vornehmlich auf die Förderung einer funktions-tüchtigen Landwirtschaft und auf die Stabilisierung desRechtsstaates und der Zivilg esellschaft erstrecken müs-sen. Schließlich entspricht es unserem geopolitischenGrundverständnis und ist es nur allzu logisch, die Forde-rung zu erheben, dass die Situation in Simbabwe auf dieTagesordnung des UN-Sicherheitsrates gehört.
Staatsminister Bury hat in diesem Hause über die daraufausgerichteten Konsultationen der europäischen Staatenberichtet. Ich hoffe, dass es gelingt, die Vorbehalte Chi-nas und der afrikanischen Staaten aufzulösen.Die EU hat zwischenzeitlic h, nämlich Mitte Februar ,ihre Sanktionen gegen Simbabwe verlängert. Davonsind Gelder, Vermögenswerte und wirtschaftliche Res-sourcen der Regierungsmitglieder und der ihnen nahestehenden Personen betroffen. Überdies besteht ein Aus-fuhrverbot für Ausrüstungen, die dem Repressionsappa-rat nützen könnten. Dass di rekte oder indirekte Militär-hilfe untersagt bleibt, versteht sich von selbst. Dies istsicherlich ein gutes Signal aus Europa, auch wenn es ausmeiner Sicht durch die Plattform, die Mugabe auf demfranzösischen Afrika-Gipfel in Paris geboten bekam, ge-trübt wird.Gleichwohl haben sich die innenpolitische Situationund die Ernährungslage in Simbabwe weiter verschärft.Der Oppositionsbewegung wurde von so manchem
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Siegmund EhrmannBeobachter nicht mehr allzu viel zugetraut, aber sie ent-faltet offenbar neue Kraft und Energie. Ihr Streikaufrufzum Jahrestag der manipulierten W ahlen wurde landes-weit befolgt und hatte ei ne enorme Resonanz. Demzweitägigen Streik am 18. und 19. März 2003 folgten inden großen Städten Harare u nd Bulawayo so viele Be-schäftigte, dass nahezu alle Betriebe lahm gelegt waren.In dieser Situation ist es ein gutes Zeichen, dass dieOppositionspartei Bewegung für den demokratischenWandel trotz der von Mugabes Regime or ganisiertenGewalt bei den Nachwahlen zum Parlament Ende Märzbeide neu zu besetzenden Wahlkreise deutlich gewonnenhat.
Das verleiht im Übrigen auch dem Ende März ausgelau-fenen MDC-Ultimatum an die Regierung Nachdruck.Die darin erhobenen Forderungen zielten darauf ab, diepolitischen Gefangenen freiz ulassen, die Bür gerrechtewiederherzustellen und die Milizen aufzulösen. Das Ul-timatum ist inzwischen abge laufen, ohne dass Mugabereagiert hat. Die politische Atmosphäre ist of fenbar ex-trem angespannt. Es hat al lerdings den Anschein, dassdie Oppositionellen äußerst besonnen agieren.Dass die Regierung zu allem fähig ist, hat sich in denletzten Wochen erneut gezeigt. Auf den Streik von MitteMärz reagierte das Regime mit einem brutalen Rache-feldzug. 400 Anhänger der Opposition wurden verhaftet,davon etwa 250 schwer misshandelt und mit zerschunde-nen Körpern in Krankenhäuse r eingeliefert. Berichtenzufolge sind die Zustände in den Krankenhäusern, Poli-zeizellen und Foltercamps unsäglich.Menschen, die ganz nah dran sind, beobachten eineneue Qualität von Gewalt. In der V ergangenheit gingendie Anhänger der Regierungsparteien und die Veteranendes Buschkrieges eher unkontrolliert und willkürlich vor.Jetzt sind es Polizeikräfte und Armeeangehörige, diesystematisch agieren und Oppositionelle stellen. Es wirdberichtet, in Bulawayo seien Soldaten anhand von Listenmit den Namen und Adressen der Oppositionspolitikervon Tür zu Tür gegangen. Di e Verhafteten wurden so-dann auf dem Weg zu den Polizeizellen schwer misshan-delt.Die Ereignisse der letzten W ochen passen zu denDrohungen von Mugabe. Jene, so Mugabe, die mit demFeuer spielten, würden sich nicht nur ihre Finger ver-brennen, sondern sogar riskieren, von den Flammen ver-schlungen zu werden. V ieles deutet darauf hin, dassMugabe im W indschatten des Irakkrieges mit denenRechnungen begleicht, die sich seinem Machtanspruchentgegenstellen.Umso wichtiger ist es, dass nicht nur die EuropäischeUnion ihre Möglichkeiten wirksam nutzt. Nachhaltigmuss deshalb auch von de n südafrikanischen Staaten,insbesondere von der NEP AD-Initiative, ein wider-spruchsfreies Verhalten erwartet werden. Ich persönlichwerte es als wenig hilfreich, wenn der südafrikanischePräsident Mbeki apelliert, Simbabwe nach einjährigerSuspendierung als vermeintlich normalisierten Staatwieder in den Commonwealth aufzunehmen.Doch offenbar ist Südafrika zu neuen Positionierun-gen gegenüber Simbabwe bere it. In der jüngsten Parla-mentsdebatte, so wird berich tet, hat MinisterpräsidentMbeki deutliche Worte gegen die Unterwanderung desRechts in Simbabwe formulie rt. Ob Südafrika nicht nurverbal, sondern auch ökonomisch reagiert, muss sichnoch herausstellen. Es ist richtig, dass die Republik Süd-afrika aufgrund ihrer hervor gehobenen ökonomischenund politischen Stellung im südlichen Afrika in besonde-rer Weise an ihre V erantwortung erinnert und in diePflicht genommen wird.
Ziel der internationalen Staatengemeinschaft musssein, den Druck auf Mugabe so zu erhöhen, dass in Sim-babwe die Menschen- und Bür gerrechte wiederher-gestellt werden und dass sich demokratische Strukturenentwickeln können.
Wir können nicht hinnehmen, dass sich despotischeRegime im W indschatten des Irakkonfliktes brachialdurchsetzen. Gelingt es nicht, die Krise in Simbabwe zubändigen, wird sich ein daue rhafter regionaler Krisen-herd entwickeln, der wie ein Geschwür alle Ansätze füreine breite politische, ökonomische und soziale Emanzi-pation zerstört. In diesem Sinne bitte ich, dem Antragzuzustimmen.Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
Herr Kollege Ehrmann, auch Ihnen möchte ich im
Namen des Hauses zu Ihrer ersten Rede im Deutschen
Bundestag herzlich gratulieren und wünsche Ihnen alles
Gute für die weitere Arbeit.
Nun erteile ich dem Kollegen Rudolf Kraus für die
CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-ren! Das Interesse der Weltöffentlichkeit richtet sich der-zeit fast ausnahmslos auf den Krieg im Irak. Kriegeri-sche Auseinandersetzungen und Notsituationen vorallem in Afrika bleiben deshalb weit gehend unbemerkt.Das kann uns aber nicht daran hindern, von unserer Seiteauf diese Situation hinzuweise n. Es ist notwendig, dasswenigstens wir die Notsituation dieser Länder weiter be-obachten.
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Rudolf KrausDer weltweite Druck auf das Regime in Simbabwedarf keinesfalls nachlassen. Der Irakkrieg hat die jüngstegewaltsame Auseinandersetzung zwischen Oppositionund Präsident Mugabe überschattet. Am 18. und 19.Märzdieses Jahres legte ein Stre ik das gesamte Land lahm.BBC-Berichten zufolge – mein Vorredner hat es bereitserwähnt – wurden 400 oder 500 Menschen inhaftiert undmehrere Hundert verletzt. Menschenrechtsbeobachter be-richten von grausamen Misshandlungen. Dass dieserStreik trotz der Terrorherrschaft Mugabes überhaupt zu-stande kam, lässt auf die verzweifelte Lage der Bevölke-rung schließen.Simbabwe war früher die Perle Afrikas und hinter Süd-afrika die stärkste V olkswirtschaft Afrikas. Außerdemexportierte das Land Nahrungsmittel. Seit nunmehr23 Jahren regiert Präsident Robert Mugabe. Er hat dasLand mit Korruption, W illkür und Diktatur in ein wirt-schaftliches und humanitäre s Desaster gestürzt. W egender Enteignung der weißen Farmer ist die Landwirt-schaft praktisch zusammengebrochen. Eigenartigerweisefragt man in der Öf fentlichkeit kaum nach dem Schick-sal dieser Farmer. Auch das sollte einmal von uns aufge-griffen werden.
Nach Angaben des Welternährungsprogramms derVereinten Nationen müssten monatlich 200 000 TonnenWeizen oder Mais geliefert werden, um die Bevölkerungzu versorgen. Die Regierung und die Hilfsorganisationenzusammen können aber höchste ns ein Drittel davon be-reitstellen.Gestern war der Direktor des W elternährungspro-gramms bei uns zu Gast im Ausschuss für wirtschaftli-che Zusammenarbeit und Entwicklung, im A wZ. Ersprach im Zusammenhang mit Simbabwe von einer hu-manitären Katastrophe außerhalb jeder V orstellung.7,2 Millionen von 13 Millionen Einwohnern sind vomHunger bedroht. 75 Prozent der Bevölkerung leben un-terhalb der Armutsgrenze. Es gibt 780 000 Aidswaisen.34 Prozent der erwachsenen Bevölkerung sind HIV-infi-ziert. Dies ist eine grauenvolle Zahl. Man kann sich vor-stellen, dass damit natürlich der Ausfall großer Teile derarbeitsfähigen Bevölkerung verbunden ist. Die Arbeits-losenquote beträgt 80 Prozent. Nach Angaben des IWFwird die Inflationsrate heuer etwa 500 Prozent betragen.Die Auslandsschulden des Landes liegen bei circa5 Milliarden Dollar.Es gibt Berichte, wonach die Zuteilungen, die von au-ßen in das Land kommen, zwar durch die Regierung ver-teilt, aber häufig im Zusammenhang mit der Frage, werzur Staatspartei gehört und wer nicht, manipuliert wer-den.Deutschland, die Bundesrepublik, hat die bilateralestaatliche Entwicklungszusammenarbeit mit Sim-babwe im Mai 2000 weitest ge hend und seit Juni 2002vollständig eingestellt. Um das Leid der Bevölkerung zulindern, unterstützt die Bundesrepublik jedoch Nichtre-gierungsorganisationen und Kirchen sowie humanitäreHilfsprojekte und Nahrungsmittelprogramme. Damit istnatürlich eine indirekte Hilfe für das Regime selber ver-bunden. Aber man sollte, so glaube jedenfalls ich, auf-grund des Schicksals der Be völkerung diese unliebsameNebenwirkung in Kauf nehmen.Seit Februar 2002 be stehen außerdem Sanktionen,die die Europäische Union gegen führende Mitgliederder Regierung Simbabwes verhängt hat. Diese Sanktio-nen wurden nun bis Februar 2004 verlängert. Im Märzvergangenen Jahres wurde Simbabwe die Mitgliedschaftim Commonwealth aufgekündigt. Dennoch haben Nige-ria und Südafrika die W iederaufnahme Simbabwes ge-fordert. Das zeigt, dass Mugabe immer noch mit der Un-terstützung einiger Staaten im südlichen Afrika rechnenkann.Hier ist natürlich insbesondere Südafrika zu nennen.Dieses Land stellt Simbabwe T reibstoff, Energie undKredite zur Verfügung. Der südafrikanische StaatschefMbeki nennt seine Politik „sti lle Diplomatie“. Es ist zuhoffen, dass die auf den Streik folgende W elle derGewalt den Präsidenten Mbeki veranlassen könnte, diesePolitik zu überdenken.Die Konzentration auf die humanitäre Situation imIrak darf den Blick auf die ka tastrophale Lage in Sim-babwe nicht verstellen. Mit dem gemeinsamen Antragaller Fraktionen unterstreicht der Bundestag nachdrück-lich, dass alle im deutschen Parlament vertretenen Frak-tionen in dieser Frage gleicher Auffassung sind.
Simbabwe braucht einen Kurswechsel in RichtungRechtsstaatlichkeit und Demokratie. Außerdem muss dielandwirtschaftliche Infrastruktur wiederher gestellt wer-den. Wie sonst könnten Armut und Arbeitslosigkeit be-kämpft werden?Die Regierungen der Entwic klungsgemeinschaft dessüdlichen Afrika tragen eine besondere V erantwortung.Sie sollten mithelfen, den Druck auf Mugabe zu verstär-ken. Der von Südafrikas Staa tschef propagierte Weg der„stillen Diplomatie“ unterstützt Simbabwes Weg in dasChaos. Die Bundesregierung sollte alles in ihren KräftenStehende tun, damit Südafrika seine Haltung gegenüberdiesem korrupten Regime in Simbabwe umgehend über-denkt.
Der AwZ begrüßt, dass die Bundesregierung ange-sichts der drohenden Hunger katastrophe die Initiativender Kirchen und der Nichtregierungsor ganisationen wieauch Nahrungsmittelprogramme und humanitäre Hilfs-maßnahmen verstärkt fördern will.Ich bedanke mich.
Nächster Redner ist der Abgeordnete Markus Löningfür die FDP-Fraktion.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Situa-
tion in Simbabwe hat sich se it unserer Debatte im Fe-
bruar leider kein Stück verbessert. Im Gegenteil: W ir
müssen feststellen, dass sich sowohl die Menschen-
rechtssituation als auch di e Ernährungslage weiter ver-
schlimmert haben.
Die Opposition in Simbabwe hat Mitte März einen
Generalstreik organisiert, an dem sich zwischen 70 und
100 Prozent der Bevölkerung beteiligt haben. Ich glaube,
das ist ein deutliches Signal dafür , wie wenig Rückhalt
Robert Mugabe noch in seinem eigenen Land hat. Ich
glaube auch, dass es ein deutlicher Appell an die interna-
tionale Staatengemeinschaft und damit auch an uns ist,
die Bevölkerung in Simbabwe in ihrem Kampf für einen
friedlichen Wandel zu unterstützen.
Während des Streiks hat es Hunderte von Festnahmen
gegeben; das ist hier scho n erwähnt worden. Unter den
Festgenommenen waren übrigens auch Abgeordneten-
kollegen vom MDC. Es gibt Berichte über Misshandlun-
gen an Demonstranten. Es gibt Berichte über Grausam-
keiten der Sicherheitsbehörden an Festgenommenen. Es
ist schon schlimm genug, dass dies passiert, und zwar
schon seit Monaten. Was das Ganze noch verschlimmert,
ist, dass das ganz of fensichtlich systematisch betrieben
wird, auf Druck und auf direkten Befehl von Robert
Mugabe. Das müssen wir mit aller Entschiedenheit zu-
rückweisen, meine Damen und Herren.
Der Prozess gegen den Oppositionsführer wird fort-
geführt. Es werden nur Be lastungszeugen gehört. Der
stellvertretende Vorsitzende des MDC ist inzwischen
verhaftet. Auch der Oppositi onsführer selber wird offen
und öffentlich mit Verhaftung bedroht. Das können wir
nicht hinnehmen. W ir können auch nicht die Art und
Weise hinnehmen, wie Mugabe sich schon fast stolz als
Hitler Afrikas bezeichnet. Da s ist unerträglich, meine
Damen und Herren.
Auch bei der Ernährungslage gibt es leider kein ver-
bessertes Bild. Herr Kraus hat es schon geschildert: Ges-
tern war der Direktor des UN-W elternährungsprogram-
mes bei uns. Er hat uns ein dramatisches Bild von der
Situation gezeichnet. Die Kornkammer Afrikas, bei der
das Welternährungsprogramm früher selber Getreide
eingekauft hat, ist nicht einmal mehr in der Lage, ein
Drittel ihrer Bevölkerung zu ernähren. Auch die Miss-
stände bei der Verteilung der Nahrungsmittel wurden an-
gesprochen. Die Wirtschaft ist zerschlagen. Es gibt eine
Hyperinflation. Diese Aufzählu ng ließe sich noch fort-
führen. Es ist wirklich Zeit, das sich in Simbabwe etwas
ändert.
Daher möchte ich noch einmal ausdrücklich begrü-
ßen, dass wir uns hier auf einen gemeinsamen Text geei-
nigt haben;
denn es ist aus unserer Si cht wichtig, dass vom Deut-
schen Bundestag das Signal ausgeht: Wir, das deutsche
Parlament, unterstützen den friedlichen W andel in Sim-
babwe. Wir unterstützen die Opposition bei ihrem fried-
lichen Kampf für die Durchsetzung von Menschenrech-
ten, für eine V erbesserung der Ernährungslage, für ein
menschenwürdiges Leben in Simbabwe.
Vielen Dank.
Ich erteile das W ort dem Abgeordneten ChristianStröbele, Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!Der Kollege Ehrmann, der Ausschussvorsitzende undauch der Kollege Löning ha ben die Situation, wie siederzeit in Simbabwe ist, ge schildert. Ich will gar nichtviel hinzufügen; ich will nu r ein paar persönliche Be-merkungen dazu machen.Für mich ist dieser Anlass , über Simbabwe zu reden,auch ganz persönlich – ich gl aube, das geht auch ande-ren aus meiner Fraktion so – eine sehr traurige, schmerz-liche Angelegenheit. Es macht uns aber auch wütend,und zwar nicht nur, weil Simbabwe, das frühere Rhode-sien, einmal eines der fort schrittlichsten Länder Afrikasgewesen ist mit einer funkti onierenden Landwirtschaftund blühenden Landschaften – es war die KornkammerAfrikas –, dem wir jetzt Hilfe geben müssen, weil dieMenschen hungern; Sie haben auf die Einzelheiten hin-gewiesen. Es macht uns auch wütend, weil der jetzigeStaatspräsident Mugabe früher von uns, von Deutsch-land aus, mit großer Solidarität und Hilfsbereitschaft be-gleitet worden ist, als er im Befreiungskampf von derbritischen Kolonialherrschaft als Befreiungskämpfer undMitorganisator der Befreiungsbewegung Großes geleis-tet hat.Das hat uns zu ungeheuren Hof fnungen Anlass gege-ben, weil er nach der Befreiung einen scheinbar vernünf-tigen Kurs gefahren hat. Er war derjenige, der den Britenund den englischen Landbesitzern in Rhodesien bzw. imspäteren Simbabwe eine Zukunft zugesagt hat, sie imLand gelassen hat und versucht hat, das Land gemein-sam mit den ehemaligen Kolo nialherren zu entwickeln.Mugabe war für mich und andere eine Figur in der Ge-schichte Afrikas, die – man traut sich das heute fast nichtmehr zu sagen – eine ähnlic he Signalwirkung hatte wieNelson Mandela und andere Persönlichkeiten im südli-chen Afrika.Umso schmerzlicher und trauriger ist es, jetzt feststel-len zu müssen, dass viele Ländereien, die nicht mehr denweißen Farmern gehören, sondern schwarzen Groß-grundbesitzern aus der Machtclique von Mugabe, brach-liegen. Diese Situation besteht nicht erst seit wenigenMonaten, sondern schon seit längerer Zeit. Ich war wäh-rend der Phase der ersten Landbesetzung mit meinem
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. April 2003 3123
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Hans-Christian StröbeleAusschuss in Simbabwe. Dort haben wir uns die Lageangesehen und haben mit den Leuten gesprochen.Ich sage das alles jetzt aber auch deshalb, weil ich da-von ausgehe, dass uns die Botschaft Simbabwes zusieht.Sie hat sich an den Deutschen Bundestag, vor allem andie CDU/CSU-Fraktion, gewendet und in einem frechenBrief anlässlich des ersten An trags, den Sie hier gestellthaben, Empörendes mitgeteilt: Diese Hungerkatastropheund die Zustände, die in Simbabwe herrschen, seien Fol-gen einer Naturkatastrophe, eines Klimawechsels, einerDürre oder einer Regenkatast rophe. Ich kann dieser Re-gierung nur sagen: Das alles, was sie nach außen verkün-det hat, ist nicht wahr.
Sie versucht, das der W eltgemeinschaft zu verkaufen,um von dem abzulenken, was Mugabe mit seiner Regie-rungsmannschaft angerichtet hat. Im Deutschen Bundes-tag haben wir festgestellt, dass sie durch das, was sie ge-macht hat, frühere Sympathie für den neu an dieRegierung gekommen Mugabe und seine Leute, die inEuropa, in Afrika und in de r Welt sehr lange angehaltenhat, verspielt hat.Heute stellen wir fest – so schmerzlich es auch ist –:Es gibt keinen anderen Weg, als zu versuchen, dass dor-tige Regime zu isolieren. Ic h verspreche mir nicht, dassdas Regime nur deshalb in die Knie geht, weil wir diestaatliche Entwicklungszusammenarbeit eingestellt ha-ben. Dieses Vorgehen ist aber ein wichtiges Zeichen fürAfrika und für Europa, das zeigt, dass wir das durchhal-ten und konsequent betreiben. Das, was der französischeStaatspräsident auf dem Empfang praktiziert hat, mussein Ausrutscher bleiben. Ich glaube, der Deutsche Bun-destag tut gut daran, das zu kritisieren, bei aller Freund-schaft zu Frankreich und zum französischen Staatspräsi-denten. Das war nicht richtig. Das kritisieren wir heftig.
Wenn wir uns fragen, wie es weiter geht, dann mussklar sein – das er gibt sich auch aus dem gemeinsamenAntrag –, dass der Schlüssel für den Wechsel dieses Re-gimes ganz unzweifelhaft be i den Nachbarländern liegt.Die Verantwortung liegt in erster Linie bei Südafrika.Südafrika ist das mit Abstand größte und einflussreichsteLand, dessen Staatspräsident nach wie vor sehr enge Be-ziehungen zu Simbabwe hat. W ir gehen deshalb davonaus, dass er seinen Einfluss dort geltend machen kann.Er muss ihn auch geltend machen. Er trägt eine hoheVerantwortung dafür, dass sich die Verhältnisse dort än-dern.Lassen Sie mich eine le tzte persönliche Bemerkungmachen. Ich bin nach wie vor der Meinung, auch nachmeinem Besuch mit dem Ausschuss in Simbabwe, dasseine Landreform, eine gerechte Landverteilung in die-sem Land notwendig ist. Bei aller Kritik sowie bei allenForderungen nach einer grundlegenden Veränderung dergesellschaftlichen Verhältnisse und der Rücknahme derRepressionen fordere ich noch immer eine gerechteLandverteilung.
Herr Kollege, Sie müssten jetzt wirklich zum Ende
kommen.
Diese muss aber dazu führen – das ist mein letzter Satz –,
dass die neuen Farmer die Ländereien in den Stand ver-
setzen, dass sie diese Ländereien nachhaltig und ertrag-
bringend bewirtschaften können. Das heißt: W enn sich
die Verhältnisse dort geändert haben, brauchen sie in der
Entwicklungszusammenarbeit unsere finanzielle Unter-
stützung, aber auch unsere Unterstützung beim Know-
how. Diese sagen wir ihnen zu. Wir werden sie unterstüt-
zen, sobald sich die Verhältnisse dort demokratisiert und
rechtsstaatlich gestaltet haben.
Letzte Rednerin zu diesem T agesordnungspunkt ist
die Kollegin Anke Eymer, CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-ren! Liebe Kollegen und Koll eginnen! Wir wissen, dassdie politische Situation in Simbabwe destabil und be-denklich ist. Fortgesetzt fi nden Menschenrechtsverlet-zungen statt. Millionen von Menschen in Simbabwe sinddurch Hunger und Gewalt gefährdet. Das macht eindeutlicheres internationales Handeln notwendig.Es ist begrüßenswert, dass sich die Fraktionen diesbe-züglich zu einem gemeinsa men Antrag entschließenkonnten. Bedauerlich ist, da ss der für diesen Monat ge-plante EU-Afrika-Gipfel in Lissabon nicht stattfindenkann. Wir erleben in Simbabwe eine politische und hu-manitäre Katastrophe. Dies geht Hand in Hand mit demNiedergang eines noch vor wenigen Jahren wirtschaft-lich blühenden Landes. Um einen Regierungswechsel inSimbabwe zu erreichen, ist die Geschlossenheit der in-ternationalen Staatengemeinschaft unverzichtbar.Zusätzlich muss den gemeinsamen politischen Aktio-nen ein nachhaltiges Konzept zugrunde gelegt werden.Dabei sollten wir auf die Ansätze und Strukturenschauen, die im südlichen Afrika schon bestehen. UnsereBemühungen dürfen aber nich t über den afrikanischenAnstrengungen stehen. Das könnte als neokoloniale Be-vormundung missverstanden werden. Bei der Konflikt-lösung und bei der Entwicklung der gesamten Region istAfrika in seiner führenden Verantwortungsposition an-zuerkennen. Jene Prinzipien des demokratischen Auf-bruchs, die im südlichen A frika schon bestehen, gilt eszu beachten und zu unterstützen. Nur so kann die Afri-kanische Union zu einer politisch handlungsfähigen
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3124 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. April 2003
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Anke Eymer
Organisation werden, die letztlich auf dem gesamtenKontinent für eine politische und wirtschaftliche Renais-sance eintreten kann.Für die Stabilität und die Akzeptanz ist es wichtig,Afrika zu einem Produkt seiner eigenen Bevölkerungund Gesellschaft und damit zu einem gleichberechtigtenPartner für die übrige Welt zu machen.
Bei der Kardinalfrage geht es darum, dass das aufzubau-ende Programm ein afrikanisches Programm sein muss.Die für seine Umsetzung erforderlichen Beziehungenmüssen auf dem Gleichheitsgrundsatz und auf gegensei-tigem Respekt beruhen. Das is t die klare Vision, die Af-rika für den ef fektiven Umgang mit seinen Problemenund für seine Entwicklung braucht.Die Afrikanische Union und die NEPAD sind die ge-eigneten Instrumente für die praktische Umsetzung desafrikanischen Potenzials. Im Zeitalter des globalen Wett-bewerbs kann Afrika so Einf luss auf der Weltbühne ge-winnen. Die Entwicklung, die wir in Deutschland undEuropa unterstützen können, zielt auf eine Verbesserungder Qualität des Lebens der Menschen. Dabei gilt, dassdie Vorbedingung für die Qualität und die Nachhaltigkeitder Lebensbedingungen die Qualität der jeweiligen Re-gierung ist.Konzeptionell zusammengefasst heißt das interafrika-nisch: Afrika muss in die La ge versetzt werden, die Le-bensqualität seiner Völker selbst erhalten und fördern zukönnen.
Afrikanische Charakteristika in Kultur und Se lbst-bewusstsein sind zu fördern und zu schützen.
Auf dem W eg zu einer supranationalen und politischhandlungsfähigen Vereinigung der afrikanischen Staa-ten ist es für Afrika notwendig, die wirtschaftlichen, ge-sellschaftlichen und politisch en Prozesse selbst in dieHand nehmen zu können.Global heißt das, dass eine Modernisierung der Pro-duktionssysteme der Regionen und des Kontinents zu ei-ner Wettbewerbsfähigkeit auf dem W eltmarkt führenmuss. Das darf nicht nur für einzelne Staaten gelten, son-dern muss für den gesamten Kontinent gelten. Es bein-haltet die Anerkennung Afrikas als gleichberechtigtenund verlässlichen Partner.Dies entspricht Überlegungen und Prinzipien, die inder südafrikanischen Fort-Hare-Universität, der Univer-sität der Schwarzen in Afrika, entwickelt wurden. Esgilt, diesen Prinzipien durch eine europäische Afrikapo-litik zum politischen Erfolg zu verhelfen. Das Ziel einersolch afrikanischen Entwicklung, die auch bei der kon-kreten Behandlung der Krise in Simbabwe nicht aus denAugen verloren werden darf, kann nur im SinneDeutschlands und Europas liegen.Schließen möchte ich mit einem Wort des ehemaligenPräsidenten der Republik Botsuana, Sir KetumileMasire:Niemand hat jemals wirklich Gewinne, die durchdas Blut und Elend Unschuldiger errungen wurden,dauerhaft behalten, ohne sein Leben durch das glei-che Schwert zu verlieren, das er selbst geführt hat.Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
Ich schließe die Aussprache.Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschus-ses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklungauf Drucksache 15/613. Der Ausschuss empfiehlt, dieAnträge auf den Drucksachen 15/353, 15/428 und 15/429zusammenzuführen und unter der Überschrift „Interna-tionalen Druck auf die Regierung Simbabwes aufrecht-erhalten, um eine Destabilisierung des südlichen Afrikaszu vermeiden“ in der Ausschussfassung anzunehmen.Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – W erstimmt gegen diese Beschlussempfehlung? – Enthaltun-gen? – Damit ist diese Beschlussempfehlung einstimmigangenommen.
Ich rufe nun die T agesordnungspunkte 12 a und 12 bauf:a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Cornelia
der FDPDie Europäische Spallations-Neutronenquelle
in Deutschland fördern
– Drucksache 15/472 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Bildung, Forschung undTechnikfolgenabschätzung
Ausschuss für Wirtschaft und ArbeitAusschuss für Verkehr, Bau- und WohnungswesenAusschuss für Umwelt, Naturschutz und ReaktorsicherheitAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen UnionHaushaltsausschussb) Beratung des Antrags der AbgeordnetenKatherina Reiche, Thomas Rachel, Dr. ChristophBergner, weiterer Abgeordneter und der Fraktionder CDU/CSUSachgerechte Planungsentscheidungen zumBau einer Eur opäischen Spallations-Neutro-nenquelle ermöglichen– Drucksache 15/654 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Bildung, Forschung undTechnikfolgenabschätzung
Ausschuss für Wirtschaft und ArbeitAusschuss für Verkehr, Bau- und WohnungswesenAusschuss für Umwelt, Naturschutz und ReaktorsicherheitAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen UnionHaushaltsausschuss
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Vizepräsident Dr. Norbert LammertNach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine halbe Stun de vorgesehen. – Dazu höreich keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache und erteile der KolleginCornelia Pieper für die FDP-Fraktion das Wort.
Sehr verehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen!Die Europäische Spallations-Neutronenquelle istweltweit das ehr geizigste Projekt für eine neueNeutronenquelle. Der Weg von der Kernspaltung inReaktoren hin zur Neutronenspallation wird eineRevolution in der Neutronenforschung erzeugen.Das ist ein Zitat des W issenschaftlichen Direktors desESS, Professor Dieter Richter aus Jülich.
– Meine Damen und Herren von der SPD, da Sie gefragthaben: Neutronen werden zur Untersuchung der Strukturunterschiedlichster Materialien verwendet. Diese For-schungsergebnisse sind von enormem wirtschaftlichenNutzen.
Es gibt weltweit zu weni g Neutronenquellen. IhreZahl nimmt im nächsten Jahrzehnt drastisch ab. Von denderzeit weltweit in Betrieb befindlichen 25 Neutronen-quellen werden aus Altersgründen in zehn bis 15 Jahrenetwa zwei Drittel abgeschaltet werden. In Erkenntnisdieser Situation hat die OECD 1998 empfohlen, nichtKernreaktoren, sondern je eine leistungsfähige Spal-lations-Neutronenquelle in den USA, in Japan und inEuropa zu bauen; denn moderne Spallations-Neutronen-quellen können Probleme, die mit Kernreaktoren zusam-menhängen, lösen. Eine Spal lations-Neutronenquelle istim Gegensatz zu einem Kernreaktor durch Abschaltendes zugehörigen Protonenbe schleunigers einfach undvollständig abschaltbar. Im Gegensatz zu einem Kern-reaktor gibt es keine langle bigen radioaktiven Spaltpro-dukte. In einer Spallations-Neutronenquelle werden proElementarprozess etwa zehnmal mehr nutzbare Neutro-nen als in einem Kernreaktor erzeugt.Die weltweit vor geschlagenen neuen Spallations-Neutronenquellen würden natürlich das Problem des Zu-gangs zu ausreichend vielen Neutronenquellen lösen.Auch das ist ein Grund, warum diese hervorragende wis-senschaftliche Forschungsleistung auch deutscher W is-senschaftler von vielen Experten, aber auch Politikernunterstützt wird.
Wir haben gerade mit der Neutronenspallation Spit-zenforschungsleistung erreicht. Aber Frau Bulmahn hatsich zunächst,
als es um den Antrag für ESS ging, nebulös und zurück-haltend geäußert. Als dann der Wissenschaftsrat imletzten Jahr eine Förderung nicht empfohlen hatte,schien sie geradezu erleichtert darüber zu sein, dass dasProjekt vom T isch ist. Frau Bulmahn gab in einemSchreiben an den W irtschaftsminister von Sachsen-An-halt, einem der Bewerberländer um den Standort, be-kannt:Die ESS im Kontext aller vorgeschlagenen Großge-räte gesehen ist zwar sehr wertvoll, aber angesichtsder hohen Investitionskosten können nicht alle Pro-jekte realisiert werden, die der Wissenschaftsrat be-reits jetzt zur Förderung empfohlen hat. Eine er-neute Befassung des W issenschaftsrates mit denProjektvorschlägen wird an dieser Situation nichtsändern.Das werfen wir Ihnen vor , meine Damen und Herrenvon der Koalition.
– Nein. Wir werfen Ihnen vor, dass Ihre Ministerin – Sieunterstützten ja wohl diese Position – vorzeitig, vor derEvaluierung im W issenschaftsrat, eine Standort-entscheidung für ESS ablehnt. Das ist im Zusammen-hang mit den W eichenstellungen zu sehen, die wir ge-rade auch für die neuen Bu ndesländer in Forschung undEntwicklung brauchen. Denn Sie wissen ganz genau,dass laut Bericht der Bundesregierung über die Entschei-dung über die Großgeräte von den 975 Millionen Eurogerade einmal 25 Millionen Euro in den neuen Bundes-ländern landen,
obwohl Sie im Koalitionsve rtrag deutlich gemacht ha-ben, dass Sie die neuen Bundesländer mit einem Groß-forschungsgerät unterstützen wollen. Diese Politik istunglaubwürdig, meine Damen und Herren von der Re-gierungskoalition.
Deswegen fordern wir Sie heute mit diesem Antrag,der auch von Nordrhein-W estfalen und Sachsen unter-stützt wird, auf, dass sich auch Deutschland für ESS be-wirbt. Die Ministerin hat das aus unterschiedlichenGründen in Europa abgelehnt. Wir fordern Sie auf, IhreHaltung zu überdenken und die Weichenstellung vorzu-nehmen, damit die Spitzenforschung nicht nur nach Eu-ropa – da wird sie sowies o hinkommen, denn andereLänder Europas bewerben si ch darum –, sondern nachDeutschland und möglichst in eine strukturschwache Re-gion kommt. Das muss das Ziel sein.Vielen Dank.
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Das Wort hat nun der Kollege Ulrich Kasparick für
die SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine verehrten Damen und Herren!
Im Februar 2000 war ich im Rahmen meiner Institutsbe-
suche im Hahn-Meitner -Institut in Berlin. Sie wissen,
dass ich mittlerweile fast a lle ostdeutschen Institute be-
sucht
und über 500 Interviews gefü hrt habe. Ich weiß allmäh-
lich, wie die Situation der W issenschaft im Osten ist.
Das Ergebnis dieses Termins war, dass ich mit Minister-
präsident Höppner diskutiert habe, dass sich mehrere
ostdeutsche Länder um die ESS bewerben sollten.
Das Ergebnis war, dass es sogar eine parteiüber grei-
fende, gemeinsame Bewerbung des sozialdemokratisch
regierten Landes Sachsen-Anhalt mit dem CDU-regier-
ten Land Sachsen gab. Das Projekt haben wir im Februar
2000 auf den Weg gebracht. Damals haben Sie noch gar
nicht gewusst, dass es die ESS-Projekte überhaupt gibt.
Außerdem haben wir es hi nbekommen, den wichtigen
Satz in den Koalitionsvertrag aufzunehmen, dass wir
bei der Ansiedlung von ne uen Großforschungsprojekten
vorrangig Ostdeutschland be rücksichtigen wollen, und
zwar aus einem einfachen Gr und: Jeder, der sich mit
Förderprogrammen in Ostdeutschland ein bisschen in-
tensiver beschäftigt und ein bisschen genauer hinschaut,
der sieht, dass wir nur noch eine Chance in Ostdeutsch-
land haben. Die Chance heißt: Ausbau der Forschungs-
infrastruktur.
Deswegen sind diese Großforschungsprojekte so
wichtig.
Den von Ihnen eingebrachten Antrag halte ich für ei-
nen Showantrag. Ich will Ih nen auch erklären, warum:
Sie verlangen von der Bundesrepublik Deutschland, sich
auf eine Technologie festzulegen.
Damit mischen wir uns in einen wissenschaftlichen
Streit über TESLA in Hamb urg und das Hahn-Meitner -
Institut in Berlin ein, den aber nicht das Parlament, son-
dern die Wissenschaft entscheiden sollte.
Wir sollten hier nicht den Streit des W issenschaftsra-
tes weiterführen. Dafür gibt es dieses Gremium schließ-
lich.
Wenn wir uns als Parlamentarier für Deutschland auf
diese Technologie festlegen,
dann bewegen wir uns auf einem politischen Handlungs-
feld, das uns zum einen nicht zusteht und auf dem wir
zum anderen nur verlieren können, weil das eigentlich in
die Zuständigkeit des Wissenschaftsrates fällt.
Lassen Sie mich deshalb drei Punkte ausführen. Ich
freue mich über jeden Unterstützer , der sich am Kampf
für die Ansiedlung neuer Forschungseinrichtungen in
Ostdeutschland beteiligt.
Herr Kollege Kasparick, gestatten Sie eine Zwischen-
frage der Kollegin Pieper?
Ja, gerne.
Ich mache es auch kurz. Außerdem weiß der Kollege
Kasparick sicherlich noch, da ss er mir im ver gangenen
Jahr im Mai im neu gewählten Landtag schon einmal
ähnliche Fragen gestellt hat.
Heißt das mit anderen W orten, dass Sie die Position
Ihrer Ministerin, die sich gegen die Förderung der ESS
in Deutschland ausgesprochen hat und auch die Bewer-
bung von Sachsen und Sachsen-Anhalt nicht unterstützt,
nicht teilen? Denn die Länder sind selbst Antragsteller
und werden das Projekt im W issenschaftsrat erneut vor-
stellen. Es handelt sich inso fern nicht um eine Initiative
der Bundesregierung, sondern der Länder.
Dazu habe ich selber die Länder extra ermutigt. Nachunserer Diskussion im Wissenschaftsausschuss habe ichsofort per E-Mail Professor Pobell ausdrücklich ermu-tigt, sich erneut zu bewerben,
weil der Ball nicht bei uns im Parlament, sondern beiden beiden Bewerberprojekte n in Jülich und in Halle-Leipzig liegt.Ich halte es für richtig, das Handlungsfenster , überdas wir in Bezug auf den W issenschaftsrat noch verfü-gen, zu nutzen und ihm eine zweite Bewerbung zur Prü-fung vorzulegen. Ihre wi ederholte Behauptung, Frau
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Ulrich KasparickPieper, dass die Ministerin das gesamte Projekt und ins-besondere einen bestimmten Standort ausgeschlossenhabe, ist falsch.
Mein Votum ist: Weil es sich um eine gesamtdeutscheAufgabe handelt, müssen wir uns hinsichtlich der Frage,wie wir die Ansiedlung von Großforschungseinrichtun-gen in Ostdeutschland erreichen können, verbünden. Dasbedeutet, dass wir auch noch einmal über die Konkur-renz der Standorte reden müssen. Es geht nämlich umeine gesamtdeutsche Aufgabe, und zwar die Entwick-lung von fünf Bundesländern.
Ich werbe sehr dafür, dass das Projekt, das ich im Fe-bruar 2000 auf den W eg gebracht habe, weiter verfolgtwird. Aber der Ball liegt zurzeit nicht im Parlament, son-dern bei der Wissenschaft. Erst dann, wenn der W issen-schaftsrat votiert hat, liegt der Ball wieder im Parlament.Ich heiße jeden Unterstützer herzlich willkommen.Aber Ihr Antrag geht am Ziel vorbei.
Das Wort hat nun der Kollege Dr . Christoph Bergner
für die CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr
Tauss, mir war es wichtig, dass meine Rede zu einem
Thema, das eine Zukunftsentscheidung markiert, nicht
einfach zu Protokoll gegeben wird, sondern dass wir
– auch in der Hof fnung, dass sich die Regierung dazu
äußert – eine Debatte führ en, die der W ichtigkeit des
Themas angemessen ist. Denn Ihnen, Herr Kollege,
muss ich sicherlich nicht erklären, dass es sich bei Ent-
scheidungen über wissenschaftliche Großgeräte um Zu-
kunftsentscheidungen für unser Land handelt.
Wenn wir uns darüber einig sind, würde ich gerne
noch einmal den Bericht über die Investitionen in Groß-
geräte der naturwissenschaftlichen Grundlagenfor-
schung, den die Ministerin bzw. das zuständige Ministe-
rium dem Ausschuss vorgelegt hat, in Erinnerung rufen.
Neun Projekte standen zur Prüfung an. Eine einzige Ent-
scheidung hat nicht nur in den Oppositionsfraktionen,
sondern auch in den Regierungsfraktionen W iderspruch
gefunden. Das war die Mitteilung des Ministeriums, dass
der Antrag zum Bau der Sp allations-Neutronenquelle
nicht befürwortet wird.
Weil ich mich etwas wundere, dass Herr Kasparick
die Fronten ein bisschen verwischt, möchte ich auf den
Inhalt des Berichts aufmerksam machen. Die Ministerin
lehnt dieses Projekt ab.
Das, was ich hieran zu kritisieren habe, ist der Umstand,
dass diese Ablehnung aus unserer Sicht nicht mit schlüs-
sigen Argumenten begründet wird.
Erstens. Bei der Ablehnung wird nicht berücksichtigt,
dass es sich bei der Neutronenforschung um ein Gebiet
handelt, auf dem Europa und insbesondere Deutschland
weltweit führend sind und dass die Gefahr besteht, dass
wir dann, wenn wir in Zukunft unseren Forschern nicht
die erforderliche Infrastrukt ur bieten können, dieses
Stück Zukunftsfähigkeit und W ettbewerbsfähigkeit
preisgeben. Ich finde, dass dies ein gewichtiges Ar gu-
ment sein sollte; denn wir sollten bedenken, dass die
USA und Japan in Hochleistungsanlagen, die sich in der
Bauweise sogar an dem europäischen Vorhaben orientie-
ren, investieren wollen. Wir nehmen also ein Stück Wett-
bewerbsnachteil wissentlich in Kauf.
Dies alles spielt aber aus un serer Sicht bei der Entschei-
dung des Ministeriums nur eine unter geordnete Rolle
und muss deshalb unbedingt neu gewichtet werden.
Zweitens. Die Ablehnung ist auch vom Ministerium
unzureichend begründet worden; denn der Wissen-
schaftsrat – ich kann nur auf fordern, dessen Votum ge-
nau zu lesen – gibt in der Sache kein grundsätzlich ab-
lehnendes Votum gegen de n Bau einer Spallations-
Neutronenquelle ab. Der Hinweis, den Hamburger Ring-
beschleuniger PETRA zu einer Synchrotronstrahlen-
quelle auszubauen, macht nach Meinung aller Fachleute
die Option auf ESS nicht überflüssig.
Herr Kollege Ber gner, gestatten Sie eine Zwischen-
frage des Kollegen Kasparick?
Darf ich sie bis zum Schluss meiner Rede zurückstel-
len, um meinen Gedankengang nicht zu unterbrechen?
Aber gerne.
Ich finde es lächerlich, wenn – wohlgemerkt nicht inden Papieren des Wissenschaftsrates, wohl aber in denendes Ministeriums – auf Neut ronenquellen hingewiesenwird, die zwar den gegenwär tigen Kenntnisstand reflek-tieren, die aber – zu diesem Schluss kommt man, wennman die internationale Entwicklung betrachtet – ab 2010mit Sicherheit als veraltet gelten werden. Insofern ist dieBegründung der Ablehnung, die uns das Ministerium ge-geben hat, nicht schlüssig.
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Dr. Christoph BergnerHerr Kollege Kasparick, es geht uns nicht darum– um das an dieser Stelle deutlich zu sagen –, politischein Projekt durchzuboxen, das aus wissenschaftlicherPerspektive womöglich nicht als förderwürdig betrachtetwird. Das heißt, am Anfang muss ein zustimmendes Vo-tum des W issenschaftsrates stehen. Nur , der W issen-schaftsrat hat den antragstellenden Ländern – darauf hatschon Kollegin Pieper hingewiesen – eine weitere Prü-fung in Aussicht gestellt. Die Bundesregierung sollteerstens das zweite Antragsverfahren gegenüber demWissenschaftsrat unterstützen – das sehe ich bisher alsnicht gegeben an; hier sollten wir als Parlament ein Wortmitreden und dafür sollten wir eintreten –
und sollte zweitens – Sie können sich darauf verlassen,dass wir hier sehr wachsam sein werden – nicht versu-chen, den Wissenschaftsrat politisch zu beeinflussen. Ichmöchte auf Folgendes aufmerksam machen: Ich habe inmeiner landespolitischen La ufbahn genügend Beispieleerfahren, auf welch subtile Weise die Politik versuchthat, Gremien wie den W issenschaftsrat, der ja nur wis-senschaftsinterne Maßstäbe anlegen soll, zu beeinflus-sen. Herr Kasparick, wenn wir uns einmal über unserBundesland unterhalten sollten, dann könnte ich eineMenge Dinge aus der Frühzeit der Hochschulstandort-festlegungen erzählen.Wenn ich einige Einzelhe iten und Randbeobachtun-gen richtig registriert habe – Herr ParlamentarischerStaatssekretär, im Moment möchte ich noch nicht zusehr ins Detail gehen –, dann komme ich zu demSchluss: Das Ministerium läuf t auch in diesem Fall Ge-fahr, das unabhängige Votum des Wissenschaftsrates zuunterlaufen. Davor kann ic h nur warnen. Auch deshalbist das die Stunde des Parlaments.
Ich habe von der Notwendigkeit dieser Investition ge-sprochen. Ich habe es bewusst vermieden – KollegeKasparick, Sie wissen, dass wir beide gemeinsam mit derKollegin Pieper für dasselbe Bundesland reden –, hier ei-nen bestimmten Standort zur Sprache zu bringen; denndie antragstellenden Länder haben sich darauf verstän-digt, erst die wissenschaftsinterne Sachentscheidung zutreffen und dann – ich finde das sehr vernünftig – in einemzweiten Prüfungsverfahren die Frage der Finanzierungund des Standortes zu klären.
Diesem Verfahren sollten wi r uns verpflichtet fühlen,auch wenn wir wissen, wofür unser Herz jeweils schlägt.Kollege Rachel wird gleich seine Sicht hier darstellen.Mein eigentliches Anliegen ist, dazu beizutragen,dass wir, die Parlamentarier, die Bundesregierung an die-ser Stelle vor einem Irrtum bewahren. Ich bin fest davonüberzeugt, dass die Bundesregierung Opfer einer kurz-sichtigen Politik wird und ei nem Irrtum unterliegt, denich im Interesse der Zukunft der ForschungslandschaftDeutschland verhindern möchte.
Um diesen Irrtum zu verm eiden, sollten wir zunächstunter Zurückstellung aller Standortwünsche dafür eintre-ten, dass es zu einem fairen V erfahren des W issen-schaftsrates kommt und dass der W issenschaftsrat eineentsprechende Prüfung vornimmt. Ich bin sicher: DiePolitik wird hinterher genug Weisheit an den Tag legen,wenn es darum geht, die Finanzierung zu klären und denStandort zu bestimmen. Zunächst brauchen wir ein vor-urteilsfreies Votum des Wissenschaftsrates.Herzlichen Dank.
Herr Bergner, Sie stehen noch ganz erwartungsvoll
am Rednerpult.
– Ich möchte nur ungern die Praxis fördern, dass man
erst seine Redezeit ausschöpft, um anschließend durch
die Beantwortung eingesa mmelter Zwischenfragen zu
zusätzlicher Redezeit zu kommen.
Gerade bei erfahrenen Parl amentariern will ich keine
Absicht unterstellen; aber ich will auch keinen Anlass
für Nachahmungstäter schaf fen. Da ich den Eindruck
habe, dass Sie sich mit diesem Thema innerhalb wie au-
ßerhalb der Parlamentsdebatten intensiv beschäftigen,
kann das vielleicht auch bilateral geklärt werden.
– Das habe ich zur Kenntnis genommen; aber ich bin
hier jetzt der V erwalter der vereinbarten Redezeiten.
Diese Zeiten sind nicht nur erschöpft, sondern über-
schritten.
Nun hat der Kollege Dietmar Nietan für die SPD-
Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! AmMontag der vergangenen Woche hat die Kollegin Flachals Vorsitzende des Ausschusses für Bildung, Forschungund Technikfolgenabschätzung das Forschungszentrumin Jülich besucht. Sie hat dort gesagt, die ESS müsselangfristig auf der politisch en Agenda bleiben. Ich
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. April 2003 3129
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Dietmar Nietanglaube, alle Wortbeiträge, die wir bis jetzt gehört haben,zeigen, dass wir uns in diesem Ziel einig sind.Für mich ist die F rage entscheidend, was wir als Par-lamentarierinnen und Parlamentarier tun können, damitdas ehrgeizige Vorhaben ESS wirklich auf der for-schungspolitischen Agenda in Deutschland bleibt. Auchwenn ich viele Ansichten und Forderungen in den Anträ-gen der FDP und der CDU/CS U durchaus unterstützenkann, glaube ich nicht – das muss ich hier sehr deutlichsagen –, dass sie letztlich zielführend sind.
Ich will das auch begründen. Wenn wir die Kräfte da-hin gehend bündeln wollen, dass der Standort der ESS,wenn sie nach Europa kommt , in Deutschland ist – derKollege Bergner hat das eben sehr deutlich gesagt –,dann dürfen wir die Kräfte jetzt nicht aufsplitten. Ichglaube, dass die ziemlich ei ndeutige Festlegung auf ei-nen Standort in den neuen Ländern im FDP-Antrag fürunser gemeinsames Ziel zum jetzigen Zeitpunkt nichthilfreich ist. Deshalb ist es sinnvoll, diesen Antrag nichtzu unterstützen.
Ich will aber auch etwas zum CDU/CSU-Antrag sa-gen. Die Überschrift dieses Antrags „Sachgerechte Pla-nungsentscheidungen zum Bau einer Europäischen Spal-lations-Neutronenquelle ermöglichen“ ist – damit Siemich richtig verstehen – angemessen. Der SchwerpunktIhres Antrags liegt auf dem zweiten Gutachten. Auchich habe bisher die Position vertreten – das sage ich un-umwunden –, dass ein zweites Gutachten erstellt werdenmuss, und zwar möglichst schnell.
– Bitte, hören Sie mir zu! – Ist es aber , da wir wissen,wie und in welchem Rahmen die erste Empfehlung desWissenschaftsrates im November zustande gekommenist, realistisch, davon auszugehen, dass ein neues Gut-achten kurz danach wirklich grundlegend neue und ab-weichende Empfehlungen enthält? Das sollte sich jederüberlegen, der dieses Gutach ten zum jetzigen Zeitpunktfordert.Wir haben festgestellt, dass die Bundesregierung beiden Großforschungseinrichtungen die Prioritätensetzungaktualisiert hat. Auch ein zweites Gutachten wird an die-ser Prioritätensetzung nichts ändern, wobei ich, damitkeine Legenden gebildet werd en, an dieser Stelle unter-streiche, dass die gegenwärti ge Prioritätensetzung nieeine endgültige Ablehnung aller anderen noch nicht ge-förderten Großforschungsprojekte darstellt.Ein Weiteres zur Frage der wissenschaftlichen Not-wendigkeit eines zweiten Gutachtens: Wenn Mitte dieseJahrzehnts – auch das hat Kollege Ber gner angespro-chen – in Japan und in den USA starke neue Neutronen-quellen in Betrieb genommen werden, dann stellt sichfür mich nicht mehr die Notwendigkeit, wissenschaftlichzu ergründen, ob es forschungspolitisch notwendig ist, inEuropa eine Neutronenquelle aufzubauen. Das ist evi-dent. Wir sind uns sicherlich darin einig, dass Europalangfristig – –
– Ich stelle fest, dass ich mit diesen Worten bei Ihnen im-mer große Emotionen auslöse. Lassen Sie es mich dochzu Ende bringen.Es ist doch wirklich eviden t, dass wir, wissenschaft-lich gesehen, langfristig in Europa eine Spallations-Neu-tronenquelle brauchen. Wenn wir uns darin einig sind,dann sollten wir den Schwerpunkt anders legen. Es istsicherlich auch Ihnen, li ebe Kolleginnen und Kollegenvon der CDU/CSU und der FD P, nicht entgangen, dassviele Wissenschaftlerinnen und W issenschaftler derESS-Gemeinde auch in Jülich mittlerweile aus genaudiesen Gründen sagen, ein zweites Gutachten sei zumjetzigen Zeitpunkt nicht mehr erforderlich, viel wichtigersei die klare Aussage für eine langfristige Perspektivefür eine Neutronenquelle in Europa. Wenn wir uns darineinig sind, sollten wir dies auch gemeinsam betonen.
Ich sage aber auch sehr deutlich, dass wir uns auf demWeg dorthin die Chancen hier nicht verbauen sollten.Deshalb wäre für mich die en tscheidende Frage, die wirparlamentarisch diskutieren müssen: W as machen wirmit den drei bestehenden Neutronenquellen sowie demhinzukommenden Standort in München?
– Nein, das ist nichts anderes. Ich will Ihnen das erklä-ren; hören Sie mir doch zu.Wenn wir hier die ESS weiterhin theoretisch diskutie-ren und nicht überlegen, wie wir in Zukunft die vorhan-denen Kompetenzzentren für Neutr onenforschungstärken, wenn wir vielleicht sogar eine Diskussion da-rüber führen, den einen oder anderen Standort zu schlie-ßen, weil es ja vier Neutronenquellen gibt, verbauen wirdie Zukunft aller in Deut schland bestehenden Kompe-tenzzentren.
Es wäre eine viel sinnvollere parlamentarische Initiative,darüber nachzudenken, wie wir die derzeitigen Kompe-tenzzentren stärken können.
– Sehr geehrte Frau Kollegin Pieper , sehr geehrter HerrPräsident, ich sehe mich im Moment nicht mehr in derLage, in meiner Rede fort zufahren, weil hier nur nochdazwischengeredet wird.
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3130 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. April 2003
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Wir haben hier schon Schlimmeres erlebt.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich halte es für
wichtig, sich darüber zu unterhalten, wie wir die Kompe-
tenzzentren für Neutronenforschung stärken und erhal-
ten. Ich halte es auch für wichtiger, in diesem Hause ge-
meinsam die Position zu formulieren, dass wir die
langfristige Perspektive ESS für Europa und letztlich
auch für den Standort Deutsc hland erhalten wollen. Da-
für brauchen wir eine Strate gie. Es ist aber auch eine
Strategie der Bundesregierung zur Neutronenforschung
erforderlich. Dazu merke ich kritisch an, dass wir eine
solche Strategie im Fachauss chuss rechtzeitig diskutie-
ren und als Parlamentarier in den Bundestag einbringen
sollten,
damit uns nicht das passiert , was uns bei der Entschei-
dung über die Großforschungsgeräte passierte, als wir
Parlamentarier am Ende nur noch mitgeteilt bekommen
haben, wozu sich die Regierung entschieden hat.
Möchten Sie eine Sekunde vor Ende Ihrer Redezeit
noch eine Zwischenfrage de s Kollegen Kretschmer zu-
lassen?
Nein, damit ich jetzt zu Ende komme, lasse ich sie
nicht mehr zu.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, trotz der emotiona-
len Aufwallungen auf der rechten Seite des Hauses bitte
ich Sie: Lassen Sie uns gemeinsam den richtigen W eg
für eine Strategie finden, di e langfristig die Option ESS
offen hält. Wenn uns dies gemeinsam gelingt, tun wir der
Sache den größten Gefallen.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Nun hat Herr Kollege Kasparick um das Wort zu einer
Kurzintervention gebeten.
Dann hat als letzter Redner in dieser Debatte der Kol-
lege Thomas Rachel, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Ich freue mich über diesehr sachliche Diskussion hier im Parlament auch zuspäter Stunde. Frau Ministerin Bulmahn hat ohne Notund ohne Rücksicht auf die fo rtdauernde Debatte in derWissenschaft Ende letzten Jahres bekannt gegeben, dassdie Europäische Spallations-Neutronenquelle ESSnicht zu finanzieren sei u nd Deutschland sich nicht umeine Ansiedlung bewerben we rde. Es ist eine rückwärtsgewandte Entscheidung der rot-grünen Bundesregie-rung, der ESS keine Chance mehr zu geben.
Nachdem das erste Beurteilungsverfahren des W is-senschaftsrates auch in der Wissenschaft selber umstrit-ten war, sollte nach unserer Auf fassung eine zweiteBegutachtung stattfinden. Im Rahmen einer zweiten Prü-fung könnte die Forschu ngs-Community die vom W is-senschaftsrat aufgeworfenen Fragen beantworten unddie angesprochenen Kritikpunkte ausräumen.Zwischen den Ländern Nordrhein-Westfalen, Sachsenund Sachsen-Anhalt sowie dem Wissenschaftsrat istbereits verabredet worden, ein neues Begutachtungsver-fahren durchführen zu wollen. Dabei sollen die Frageder Finanzierung, aber auch di e Standortfrage erst in ei-ner zweiten Stufe erörtert werden. Die CDU/CSU-Frak-tion unterstützt nachdrücklich ein solches Verfahren. Wirerwarten aber von der Bundesregierung, dass sie diesezweite Begutachtung ermöglicht.
Es ist uns vollkommen unverständlich, dass diese Wochedie Abgeordneten von SPD und Grünen sich dem V er-such, zu einem überparteilichen Antrag zu kommen, ver-weigert haben und nicht einmal zu dem von Liberalenund Christdemokraten angebotenen Gespräch erschienensind.
Deutschland darf nicht fahrlässig seine führendeRolle in der Spallationsforschung an die USA und Japanverlieren.Die voreilige Entscheidung von Ministerin Bulmahnhat sogar die eigenen Parteifreunde verblüf ft und verär-gert. Der SPD-Forschungspolitiker T auss ist nach eige-nen Angaben in den „Jülicher Nachrichten“ vom26. Februar 2003 – ich zitiere – „von der Entwicklungim Forschungsausschuss des Deutschen Bundestagesüberrascht worden“.
Offensichtlich hat die SPD-Bundestagsfraktion keinenInformationsfluss aus dem Ministerium, geschweigedenn Einfluss auf die Pol itik der SPD-Forschungsminis-
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. April 2003 3131
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Thomas Rachelterin. Das ist ein Armutszeugnis, meine Damen und Her-ren.
Nun hat sich erwartungsgemäß Kollege T auss zu ei-
ner Zwischenfrage gemeldet,
die Kollege Rachel vermutlich zulassen wird.
Mit besonderer Freude, Herr Präsident.
Bitte schön.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Da ich den Artikel leider nicht gelesen habe, bitte ich
Sie, ihn mir freundlicherweise zukommen zu lassen. –
Ich frage Sie: Geht aus di esem Artikel möglicherweise
auch hervor, dass ich gesagt habe, ich wunderte mich
über die Entscheidung des Wissenschaftsrates und über
die Tatsache, dass an der Entscheidung des W issen-
schaftsrates wissenschaftliche Zweifel aus der Commu-
nity angemeldet werden,
dass sich aber diese V erwunderung wiederum nicht auf
die Bundesregierung bezog? Denn über die Politik der
Bundesregierung braucht man sich nicht zu wundern; sie
ist so klar, dass ein Wunder damit nicht verbunden wäre.
Das war leider eine typische Vernebelungstaktik vom
Abgeordneten Tauss, denn ich habe Sie mit dem Zitat
konfrontiert, dass Sie gemäß den „Jülicher Nachrichten“
gesagt haben, Sie seien vo n der Entwicklung im For-
schungsausschuss des Deutschen Bundestages über-
rascht worden. Ihre gerade getane Äußerung zeigt, dass
dies die Wahrheit ist.
Es zeigt, dass die SPD-Fraktio n in dieser Sache auf die
Forschungsministerin keinen Einfluss mehr hat.
Herr Kollege Tauss, ich bedauere dies übrigens, weil
ich eigentlich von einer Regierungsfraktion – Sie können
übrigens stehen bleiben, weil ich Ihnen noch antworte –
erwartet hätte,
dass sie frühzeitig auf dies e Frage Einfluss nimmt. Fak-
tum ist, dass der gesamte Fo rschungsausschuss von der
Entscheidung Frau Bulmahns erst im Nachhinein infor-
miert wurde und wir alle keine Gelegenheit hatten, auf
die forschungs- und haushalt spolitische Prioritätenset-
zung Einfluss zu nehmen. Dies darf das gesamte Parla-
ment nicht ruhig lassen.
Enttäuscht ist auch die nordrhein-westfälische For-
schungsministerin Hannelore Kraft, übrigens auch SPD.
In einem Brief an die Forschungsministerin schrieb sie:
Ich halte es nicht für angemessen, zum jetzigen
Zeitpunkt abschließende Finanzierungsentschei-
dungen zu tref fen, die wissenschaftliche Optionen
„erledigen“ und damit Zukunftschancen für den
Wissenschafts- und W irtschaftsstandort Deutsch-
land verspielen.
In diesem Punkt hat Frau Kraft Recht, meine Damen und
Herren. Ich fordere Sie deshalb sehr nachdrücklich auf,
dass Sie den Chancen Rechnung tragen. Frau Kraft hat
auch gesagt – ich zitiere –:
Die Diskussion in unse ren Nachbarländern zur
Neutronenstrahlung und Spallationstechnik scheint
keineswegs so eindeutig zu sein, wie das BMBF be-
hauptet.
Auch die Länder, die den Antrag stellen, glauben, dass
wir europäische Partner für das Projekt finden.
Deshalb fordere ich die Bundesregierung auf, dafür
Sorge zu tragen, dass im Sinne des W issenschaftsstand-
orts Deutschland ein zwei tes Begutachtungsverfahren
für die ESS durchgeführt wird, was nur mit Zustimmung
der Bundesregierung erfolgen kann. V or einer erneuten
Entscheidung des Ministeriums müssen die Er gebnisse
dann im Ausschuss erörtert werden.
Es wäre doch eine schrec kliche Entwicklung, wenn
zu dem Zeitpunkt, zu dem in Amerika die Entscheidung
getroffen wird, die Leistung des betref fenden Projekts
von 1,4 auf 4 Megawatt zu verdreifachen, in Europa das
Aus für ein derart zukunftsträchtiges Projekt kommt.
Europa ist – wie auch die amerikanischen Dokumente
belegen – in der Neutronenforschung weltweit führend.
Mit dem Aus für die ESS würde Europa diese Führung
mit Sicherheit an die Japaner und Amerikaner verlieren.
Das wollen wir nicht. Desh alb wollen wir eine vorur-
teilsfreie Prüfung durch den Wissenschaftsrat.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Ich schließe die Aussprache.
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3132 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. April 2003
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Vizepräsident Dr. Norbert LammertInterfraktionell wird die Überweisung der V orlagenauf den Drucksachen 15/472 und 15/654 an die in derTagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.Ich vermute, dass das trotz der Meinungsverschiedenhei-ten in der Sache einvernehm lich so beschlossen werdenkann. – Dagegen erhebt sich kein W iderspruch. Danndarf ich das Einvernehmen feststellen. Die Überweisun-gen sind so beschlossen.Wir sind damit am Schlus s unserer heutigen T ages-ordnung.Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundes-tages auf morgen, Freitag, den 4. April 2003, 9 Uhr, ein.Die Sitzung ist geschlossen.