Gesamtes Protokol
Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! DieSitzung ist eröffnet.Der Kollege Klaus Lippold feiert heute seinen 60. Ge-burtstag. Ich gratuliere im Namen des Hauses ganz herzlich.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 2 a und 2 b auf:a)Beratung der Unterrichtung durch die Bundes-regierungJahreswirtschaftsbericht 2003 der Bundes-regierung: Allianz für Erneuerung – Reformengemeinsam voranbringen– Drucksache 15/372 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
FinanzausschussAusschuss für Verbraucherschutz, Ernährung undLandwirtschaftAusschuss für Gesundheit und Soziale SicherungAusschuss für Verkehr, Bau- und WohnungswesenAusschuss für Umwelt, Naturschutz und ReaktorsicherheitAusschuss für TourismusHaushaltsausschussb) Beratung der Unterrichtung durch die Bundes-regierungJahresgutachten 2002/03 des Sachverständi-genrates zur Begutachtung der gesamtwirt-schaftlichen Entwicklung– Drucksache 15/100 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
FinanzausschussAusschuss für Verbraucherschutz, Ernährung undLandwirtschaftAusschuss für Gesundheit und Soziale SicherungAusschuss für Verkehr, Bau- und WohnungswesenAusschuss für Umwelt, Naturschutz und ReaktorsicherheitAusschuss für Bildung, Forschung undTechnikfolgenabschätzungAusschuss für TourismusHaushaltsausschussNach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für dieAussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. – Ich hörekeinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Bundes-minister Wolfgang Clement das Wort.Wolfgang Clement, Bundesminister für Wirtschaftund Arbeit:Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Her-ren! Der Jahreswirtschaftsbericht, über den wir heute be-raten, ist in einer Zeit außerordentlicher Prognoseunsi-cherheit entstanden. Die Gründe für diese Unsicherheithaben sich bis heute noch verstärkt. Die weitere Erholungder Weltwirtschaft und die Beschleunigung des Welthan-dels sind durchaus nicht gesichert. Dabei können von ei-ner möglichen militärischen Intervention im MittlerenOsten nachhaltige negative Effekte auf internationaleFinanzmärkte, Ölpreise sowie Konsumenten- und Inves-torenvertrauen ausgehen. – So steht es im Jahreswirt-schaftsbericht. Weiter heißt es dort:EinKrieg stellt einunkalkulierbaresEreignisdar, das inder Jahresprojektion nicht berücksichtigtwerden kann.Dieser Auffassung ist offenkundig auch die amerika-nische Notenbank. Alan Greenspan jedenfalls sieht inden wachsenden geopolitischen Risiken, wie er gesagthat, eine starke Belastung für die ohnehin verunsicherteamerikanische Wirtschaft und damit, wie wir aus unsererSicht hinzufügen müssen, auch für die Weltwirtschaft.Weder die Geld- noch die Fiskalpolitik, so Greenspan,können etwas gegen die derzeitige geopolitische Unsi-cherheit tun. Dem ist ausdrücklich zuzustimmen.Die Zukunftssorgen, die durch die Irakkrise ausgelöstwerden, überlagern alle positiven Entwicklungen. Obwohlsich die Auftragsbücher der Unternehmen in den Eurolän-dern langsam wieder füllen, schrauben die Unternehmerihre Produktionserwartungen zurück. Ein drohender Irak-krieg hat sich wie Mehltau über die Wirtschaft und den Ar-beitsmarkt gelegt. Auch deshalb müssen wir jede Chanceergreifen, um die Kriegsgefahr zu verringern.
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 26. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. Februar 2003
Bundesminister Wolfgang ClementMeine Damen und Herren, um es pointiert zu sagen: Eswäre das beste Konjunkturprogramm, wenn dieser Kriegnicht stattfände und wenn wieder alle mit mehr Klarheit undmehr Zuversicht nach vorn blicken könnten. Im schlimms-ten aller Fälle allerdings werden wir im europäischen Rah-men das Notwendige tun müssen, um die nationale Kon-junktur so gut wie möglich vor Kriegsfolgen zu schützen.Dass der europäische Stabilitäts- und Wachstums-pakt im Falle außergewöhnlicher Ereignisse, die sich derKontrolle des Mitgliedstaates entziehen, die erforderlicheFlexibilität bietet, steht außer Zweifel. Genauso unzwei-felhaft muss aber sein, dass die Verpflichtung, das struk-turelle Defizit systematisch zurückzuführen, nicht infragegestellt wird. Nur über den Abbau des strukturellen Defi-zits werden wir mittel- und längerfristig zu den konjunk-turpolitischen Handlungsspielräumen zurückfinden, diewir brauchen und wollen.
Meine Damen und Herren, schon seit mehreren Legis-laturperioden ist die wirtschaftliche Entwicklung in unse-rem Land unbefriedigend. Die Wachstumsdynamik ist zuschwach und der Beschäftigungsaufbau kommt nichtvoran. Nach nur 0,2 Prozent realem Wachstum des In-landsprodukts im vergangenen Jahr erwarten wir für die-ses Jahr unter den genannten Voraussetzungen eine ver-haltene Belebung des Wachstums auf real rund 1 Prozent.Für diese Erwartung spricht einiges. So kann die welt-wirtschaftliche Entwicklung nach Einschätzung der inter-nationalen Experten wieder an Dynamik gewinnen. Diekurz- und langfristigen Nominalzinsen bleiben niedrig.Dafür war die Lockerung der Geldpolitik in Europa An-fang Dezember letzten Jahres ein positives Signal.Die Lohnstückkosten sind in Deutschland sehr verhal-ten gewachsen und nehmen weiter nur moderat zu, wasdie Wettbewerbspositionen deutscher Exporteure in Eu-ropa und am Weltmarkt verbessert.Zu den günstigen Rahmenbedingungen gehört auch diegeringe Inflation. Sie hat sich in Deutschland merklichzurückgebildet und ist mit Raten von nur wenig über1 Prozent am niedrigsten in der Eurozone. Im Jahres-durchschnitt 2002 stiegen die Lebenshaltungskosten nurum 1,3 Prozent. Wir haben damit wesentlich zur Preissta-bilität in Europa beigetragen.
Wir erwarten in Übereinstimmung mit nahezu allen na-tionalen Experten ein Wiederanziehen des Wachstums imzweiten Halbjahr. Eine Reihe von konjunkturellenFrühindikatoren bestätigen unsere Prognose. Eine Um-frage der Kreditanstalt für Wiederaufbau im deutschenMittelstand zeigt ebenfalls erste Stabilisierungstendenzenan. Interessant ist auch, dass entgegen der öffentlichenbzw. veröffentlichten Stimmung der Drang zur Selbst-ständigkeit in Deutschland stärker ist als angenommenund dass wir immer noch eine deutlich höhere Zahl an Un-ternehmensgründungen haben als an Insolvenzen.
Insgesamt deuten die Frühindikatoren eine moderate kon-junkturelle Erholung in den nächsten Monaten an.
– Jawohl, die Ich-AG gehört selbstverständlich dazu, HerrKollege. Sie müssen den Menschen die Chance geben,sich – auch aus der Arbeitslosigkeit heraus – selbstständigzu machen. Das werden wir weiterhin tun.
Das Jahr 2003 ist für Deutschland das Jahr der ent-scheidenden wirtschafts- und finanzpolitischen Weichen-stellungen. Im Steuerrecht haben wir die nächsten Stufender Steuerreform 2004 und 2005 gesetzlich verankert. ZurAbsenkung der Lohnnebenkosten werden wir noch vorder Sommerpause vor allem die Gesundheitsreform aufden Weg bringen. Wenn ich das richtig beobachte, bestehthier ein gemeinsames Interesse am Erfolg einer solchenReform. Mit der Zinsabgeltungsteuer stärken wir dieSteuerbasis und unterbinden unfairen Steuerwettbewerb.In diesem Jahr müssen wir die Voraussetzungen schaf-fen, um endlich aus einem wirtschaftlichen Teufelskreisauszubrechen, in dem sich unser Land seit fast zwei Jahr-zehnten bewegt.
Ich meine den Teufelskreis eines zu schwachen und lang-fristig zurückgehenden Wachstums einerseits und der da-mit einhergehenden Arbeitsplatzverluste andererseits, diewiederum die Wachstumsschwäche vertiefen. Im Ergebnisist die Wachstumsdynamik unserer Volkswirtschaft mitdurchschnittlich 1,5 Prozent seit 1995 unzureichend; sie istrückläufig. Nach Auffassung vieler Experten liegt das nichtzuletzt an der langfristigen Unterauslastung des Faktors Ar-beit, die viele Gründe hat. Der wichtigste ist zweifellos,dass die hohe und verhärtete Arbeitslosigkeit zu einerWachstumsbremse aus sich selbst heraus geworden ist.Deshalb geht es jetzt darum, den Zugang zum Arbeits-markt, zu regulärer und ehrlicher Arbeit, mit allen Mittelnder Arbeitsmarkt-, der Wirtschafts-, der Finanz-, der Sozial-und nicht zuletzt der Bildungspolitik wieder zu erweitern.
Im Klartext heißt das: Stetiges und höheres Wachstum istohne einen besseren Zugang zu den Arbeits- und den Gü-termärkten nicht möglich, ein spürbarer Abbau der Arbeits-losigkeit auch nicht. Deshalb gehört alles auf den Prüfstand,was den Zugang zur Erwerbstätigkeit behindern könnte. Biszum Sommer werden wir deshalb ein umfassendes Maß-nahmenpaket auf den Weg bringen, das unter anderem denUmbau derArbeitsverwaltung zu der deutschen Agenturfür Arbeit, die Zusammenlegung von Arbeitslosen- undSozialhilfe und die Ausbildungs- und Beschäftigungssitua-tion Jugendlicher einschließt. Dazu gehört selbstverständ-lich eine gründliche, aber – dafür verbürge ich mich – faireAnalyse der Beschäftigungswirkungen unseres Arbeits- undSozialrechts, aus der es dann Konsequenzen zu ziehen gilt.
2014
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 26. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. Februar 2003 2015
Dass Gewerkschaften und Arbeitgeber der Einladungdes Bundeskanzlers ohne Tagesordnung und Tabus folgenwollen, finde ich gut. Ich habe Verständnis dafür, dassbeide Seiten in den vergangenen Tagen und Wochen ihrePositionen deutlich gemacht haben. Ich bin überzeugt:Keine Seite wird sich entziehen. Entscheidend ist, dasswir in diesem Jahr die großen Reformen aufs Gleis setzen.Deshalb habe ich auch mit sehr großem Interessedie jüngsten Hinweise des DGB-Vorsitzenden MichaelSommer aufgenommen, die die Bereitschaft auch für Re-formen des Arbeitsrechts signalisieren. Wie er bin ich derÜberzeugung, dass wir vorurteilsfrei der Frage nachzuge-hen haben, was in diesem Land Beschäftigung hemmt. Mirgeht es in der Diskussion etwa um den Kündigungsschutzoder das Abfindungsrecht nicht um eine Deregulierungoder gar Aushöhlung des entwickelten Arbeitsrechts, son-dern um eine beschäftigungsfördernde Erneuerung. Esgibt deshalb auch nicht den geringsten Grund, die Ge-werkschaften in einer Weise anzugreifen und auszugren-zen, wie das seit neuerem aus den Reihen der Oppositionheraus versucht wird.
Wer dies tut, Herr Kollege Merz, der hat die Geschichteder industriellen Beziehungen und die Bedeutung der So-zialpartnerschaft – dies ist übrigens auch für die Arbeits-produktivität in den Betrieben wichtig – nicht verstanden.
Meine Damen und Herren, wir haben in Deutschlandkeinen Bedarf an markigen Worten; derer sind genug ge-wechselt. Es besteht vielmehr Bedarf an konkreten Tatenund konkreten Reformen.
– Sehen Sie, Sie sind doch in Bewegung zu bringen. Es istein Vergnügen, das zu erleben. Glauben Sie mir: Es wirdnoch spannender. – Deshalb werden wir den Kurs konse-quent fortsetzen, den wir mit den ersten beiden Hartz-Ge-setzen und mit unserer Mittelstandsoffensive einge-schlagen haben.
Dem Arbeitsmarkt kommt bei der Entfesselung derWachstumskräfte eine Schlüsselrolle zu. Die Verabschie-dung der Gesetze zur Umsetzung der Empfehlung derHartz-Kommission Ende letzten Jahres hat gezeigt, dasseine Einigung über Parteigrenzen hinweg gelingen kann.Zukünftig – das gilt ab dem 1. Juli dieses Jahres – müssensich Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer nach einerKündigung unmittelbar beim Arbeitsamt melden, damitwir den Prozess der Vermittlung in Arbeit spürbar be-schleunigen können.Wir haben die Spielräume für Zeitarbeit deutlicherweitert. Ich kann begründet davon ausgehen, dass es indiesem Rahmen alsbald auch zu tarifvertraglichen Ver-einbarungen zwischen Gewerkschaften und Zeitarbeitsun-ternehmen für bestimmte Gruppen, wie etwa die Langzeit-arbeitslosen, kommen wird, sodass deren Wiedereingliede-rung in den Arbeitsmarkt besser gelingen kann als bisher.Die Fördermöglichkeiten bei Existenzgründung durchArbeitslose wurden, Herr Kollege Michelbach, durch dieIch-AG und die Familien-AG sehr wohl ausgebaut. Mitden Minijobs erschließen wir neue Marktpotenziale unteranderem im Bereich der haushaltsnahen Dienstleistungen.An den nächsten Reformschritten wird intensiv gefeilt.Diese betreffen den Umbau der Bundesanstalt für Arbeitzu dem modernen Vermittlungsunternehmen und die Be-seitigung von Doppelstrukturen und Verschiebebahnhö-fen durch die Zusammenführung von Arbeitslosenhilfeund Sozialhilfe.Nach Vorlage des Berichts der Kommission zur Re-form der Gemeindefinanzen wird die Bundesregierungohne Verzögerung die entsprechenden Gesetzentwürfevorlegen. Es wäre gut, wenn wir diese zu Beginn desnächsten Jahres im Gesetzblatt lesen könnten.Meine Damen und Herren, unser Land braucht dieMenschen, die Verantwortung übernehmen und unterneh-merische Ideen verwirklichen. Sie schaffen die Arbeits-plätze. Der Mittelstand ist der Beschäftigungsmotor inDeutschland. Deshalb haben wir eine weit reichende Mit-telstandsoffensive auf den Weg gebracht. Wir fördernExistenzgründungen und Kleinstunternehmen durch at-traktive Besteuerung, einfachste Buchführungspflichtenund durch Öffnungen im Handwerksrecht. Ich bin über-zeugt, dass wir dabei eine Übereinstimmung mit demHandwerk erzielen können.
Mit der neuen Mittelstandsbank bündeln wir die Res-sourcen für die Finanzierung des Mittelstands. Wir befreiendie Unternehmen von überflüssiger Bürokratie. Wir wer-den voraussichtlich noch in diesem Monat erste Stufen desMasterplans Bürokratieabbau im Kabinett beschließen.Wir modernisieren die Berufsausbildung durch dieStraffung von Verfahren. Die Erweiterung der Ausbil-dungsbefugnis liegt mir dabei besonders am Herzen. Esist absolut inakzeptabel, dass heute 44 Prozent der Be-triebe im Westen und 51 Prozent der Betriebe im OstenDeutschlands nicht über eine Ausbildereignung entspre-chend der einschlägigen Verordnung verfügen. Das müs-sen wir ändern. Wir brauchen mehr Betriebe, die jungeMenschen ausbilden können und wollen.
Wenn es um die Stärkung der Wachstumspotenziale un-serer Volkswirtschaft geht, dann darf eine strategischeIndustriepolitik nicht fehlen. Durch ihre hohe Produk-tivität und starke Exportorientierung bildet die Industriedas Fundament der deutschen Wirtschaft. Die Sicherungund Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit der Industriesteht daher ganz oben auf der wirtschaftspolitischen Agen-da der Bundesregierung.Wir haben das Thema industrielle Wettbewerbsfähig-keit deshalb auch wieder auf die europäische Tagesord-nung gesetzt. Europas Industrie steht heute für ein ViertelBundesminister Wolfgang Clement
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 26. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. Februar 2003
Bundesminister Wolfgang Clementder Wirtschaftskraft des Binnenmarktes und gibt etwa45 Millionen Menschen Beschäftigung. Das zeigt – sohoffe ich – unmissverständlich, dass industriefreundlicheRahmenbedingungen einen großen Beitrag zur Verbesse-rung der Arbeitsmarktsituation leisten können. Das gilt innoch höherem Maße für uns in Deutschland, weil das ge-samtwirtschaftliche Gewicht der Industrie hierzulande stär-ker ist als bei den meisten unserer europäischen Nachbarn.Umso wichtiger ist es, die Stärkung der industriellenWettbewerbsfähigkeit in Europa mit Nachdruck voranzu-treiben. Wir müssen das ehrgeizige Ziel, das die Staats-und Regierungschefs in Lissabon vereinbart haben, näm-lich die Europäische Union innerhalb von zehn Jahrenzum wettbewerbsfähigsten Wirtschaftsraum der Welt zumachen, mit aller Kraft weiterverfolgen.Meine Damen und Herren, in diesen Tagen wird unsvielleicht bewusster als sonst, wie wichtig eine selbstbe-wusste, eine kräftige europäische Rolle gerade auch in derWeltwirtschaft ist.
Ich freue mich deshalb sehr, dass der Bundeskanzler zu-sammen mit Präsident Chirac und Premierminister Blairin einem gemeinsamen Brief angeregt hat, die Wettbe-werbsfähigkeit der Wirtschaft insgesamt sowie der Indus-trie zum Schwerpunkt des Frühjahrsgipfels der Euro-päischen Union zu machen. In diesem Schreiben heißt es,die Industrie dürfe nicht zum Feld von Regulierungsex-perimenten gemacht werden, die höhere Kosten oder Be-lastungen für die Unternehmen bedeuteten. – Das kannich nur nachdrücklich unterstreichen.
Wenn es uns gelingt, die internationale Wettbewerbs-fähigkeit unserer Wirtschaft auf hohem Niveau zu halten– dazu gehört insbesondere eine starke und nachdrückli-che Technologiepolitik –, wenn es uns gelingt, das Rück-grat unserer Volkswirtschaft, den Mittelstand, spürbar zukräftigen, wenn wir den Arbeitsmarkt gelenkiger machen,wenn wir die neuen Instrumente der Beschäftigungs- undder Vermittlungspolitik, die die Hartz-Gesetze uns an dieHand geben, einsetzen und wenn wir schließlich die Mit-tel und Instrumente nicht zuletzt in den strukturschwa-chen Regionen unseres Landes, namentlich in Ost-deutschland, konzentriert einsetzen, dann habe ich keinenZweifel daran, dass sich die ökonomischen und die Be-schäftigungsperspektiven in unserem Land sehr bald wie-der aufhellen können. Daran gemeinsam zu arbeiten unddabei auch aufeinander zuzugehen, das sollte unser allerStreben sein.Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
Ich erteile das Wort Kollegen Friedrich Merz, CDU/
CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-ren! Offen gestanden, bin ich etwas überrascht darübergewesen, dass der Bundeswirtschaftsminister seine Redezu einem so wichtigen Thema schon nach 13Minuten Re-dezeit abgeschlossen hat.
Die Vorlage des Jahreswirtschaftsberichtes – so steht esjedenfalls, wenn ich es richtig im Kopf habe, im Stabilitäts-und Wachstumsgesetz der Bundesrepublik Deutschland –ist Anlass für die zentrale Aussprache im Bundestag über dieWirtschaftspolitik der Bundesregierung. Dabei richten wirden Blick sowohl zurück in das vergangene Jahr als auchnach vorn in das bereits begonnene Jahr.Herr Bundeswirtschaftsminister, was Sie heute ge-bracht haben, das war zu wenig.
Wenn Sie angesichts der schweren wirtschaftlichen Krise,in der sich die Volkswirtschaft der BundesrepublikDeutschland ja nun ohne Zweifel befindet, Ihrer Aufgabegerecht werden wollen, dann müssen Sie zunächst einmaleine nüchterne und zutreffende Analyse der Lage derWirtschaft zu Beginn des Jahres 2003 vornehmen.
Es kann ja kein Zweifel daran bestehen, dass wir in diesemJahr mit Wachstumsaussichten rechnen müssen, die erneutam untersten Ende der Skala der Länder der gesamten Eu-ropäischen Union sind. Es lässt sich doch nicht bezwei-feln, dass unser Land in einer tiefen, strukturell begründe-ten Wachstums- und Beschäftigungskrise steckt. MeineDamen und Herren von der sozialdemokratischen Frak-tion, dies hat nun mit dem drohenden Konflikt im Iraküberhaupt nichts zu tun. Das ist vielmehr das Ergebnis derWirtschaftspolitik von Rot und Grün seit vier Jahren.
Gestern Abend hat der Zentralverband des Deut-schen Handwerks die Ergebnisse des Jahres 2002 be-kannt gegeben. Vor einem Jahr hat Ihr Vorgänger, HerrClement, den Zentralverband massiv kritisiert, ja ihn per-sönlich beschimpft und diffamiert und gesagt, dies seiparteipolitisch motivierte Schwarzmalerei,
als von diesem Verband vor einem Jahr gesagt wurde, dassdie Politik der rot-grünen Bundesregierung zum Verlustvon 200 000 Arbeitsplätzen führen werde. Am Ende desJahres 2002 waren es 300 000 Arbeitsplätze, die verlorengegangen sind, und die Perspektiven für das Jahr 2003sind noch einmal schlechter geworden.
2016
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 26. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. Februar 2003 2017
Herr Bundeswirtschaftsminister, warum sagen Sie keinWort zu der großen Zahl der Unternehmenskonkurse imJahr 2002? 38 000 Unternehmen sind in den Konkurs ge-gangen; Creditreform und andere, die sehr marktnah be-obachten, welche Entwicklung sich in den ersten Wochendes Jahres 2003 abzeichnet, weisen darauf hin, dass wirbei den Unternehmenskonkursen erneut mit einem Zu-wachs von 10 bis 15 Prozent rechnen müssen. Eine Zahlvon 42 000 oder vielleicht 44 000 Unternehmenskonkur-sen in diesem Jahr würde einen erneuten Rekord in derdeutschen Nachkriegsgeschichte bedeuten. Dazu müssenSie, Herr Bundeswirtschaftsminister, etwas sagen, wennSie an diesem Pult stehen und über den Jahreswirt-schaftsbericht der Bundesregierung sprechen.
Sie haben zu Recht darauf hingewiesen, dass die Indus-trie nach wie vor – trotz des berechtigten Blicks auf denMittelstand – eine tragende Säule unserer Volkswirtschaftist. Herr Clement, die deutschen Industrieunternehmen ha-ben im Jahr 2002 überproportional an Wert verloren. Über-all auf dieser Welt – der Hinweis ist gar nicht falsch – hates Probleme gegeben. Wenn Sie die Entwicklung der Un-ternehmen beispielsweise in Amerika, Japan – das Landsteckt seit zehn Jahren in einer schweren Strukturkrise –und Europa mit der Entwicklung der Unternehmen inDeutschland vergleichen, dann müssen Sie zu der Fest-stellung gelangen, dass der Wert der börsennotiertenAktiengesellschaften in keinem Land auf dieser Welt sodramatisch zurückgegangen ist wie in Deutschland.
– Entschuldigung, ich will Ihnen die Zahlen nennen: DerDow Jones ist um 17 Prozent, der Nikkei-Index um20 Prozent und der Deutsche Aktienindex, also der DAX30, um 44 Prozent gesunken.Meine Damen und Herren auf der Regierungsbank, diedeutschen Industrieunternehmen haben unter Ihrer Ver-antwortung in einem Jahr fast die Hälfte ihres Börsen-wertes verloren. Das hat nun wahrlich nichts mit der Welt-konjunktur zu tun. Das hat im Wesentlichen etwas mit derWirtschaftspolitik der rot-grünen Bundesregierung zutun.
Das, was dort geschieht, hat nicht nur auf die – richti-gerweise – durch die Riester-Rente etablierte zusätzlicheprivate Altersversorgung Auswirkungen. Die Alters-versorgung der Menschen wird durch diesen Kursverlustder deutschen Aktiengesellschaften massiv geschädigt.Dies hat Auswirkungen auf die Eigenkapitalausstattungder Unternehmen und massive Auswirkungen auf dasKreditgeschäft der Unternehmen, weil die Sicherheitenplötzlich nicht mehr im erforderlichen Umfang vorhan-den sind.
Alles in allem – Herr Bundeswirtschaftsminister, dasWort ist nicht erwähnt worden – hat das Auswirkungenauf die Eigenkapitalausstattung der deutschen Unterneh-men.
– Herr Poß, ich werde auf meine Vorschläge zu sprechenkommen.
Bevor man hier in einem gewissen politischen Prag-matismus, den ich Herrn Clement gar nicht absprechenwill, auf alle möglichen Einzelvorschläge zu sprechenkommt, muss man zunächst einmal die Lage zutreffendanalysieren. Wer die Lage nicht richtig analysiert, kannauch nicht die richtigen Konsequenzen ziehen.
Deswegen müssen wir über die gesamtökonomischenBedingungen des Jahres 2003 anders miteinander spre-chen, als Sie das als Bundeswirtschaftsminister seit eini-gen Wochen tun. Ich sage Ihnen: Wenn wir über dieGrundlagen unserer Volkswirtschaft nur diskutieren undsie nicht nachhaltig verbessern, dann werden sämtlicheAktionsprogramme, die Sie in dieser Bundesregierungbeschließen, an der tatsächlichen Lage von Wachstum undBeschäftigung in Deutschland nichts ändern.Ich werde eine Reihe von konkreten Vorschlägen ma-chen und Ihnen eine Reihe von konkreten Fragen stellen.Meine erste Frage: Herr Bundeswirtschaftsminister, wasist Ihr Kurs?
Meine zweite Frage – diese wiederhole ich heute zumzweiten oder dritten Mal – lautet: Welches langfristigeZiel hat die Bundesregierung hinsichtlich der Staats-quote? Sie bleiben die Antwort auf diese zentrale wirt-schaftspolitische Frage erneut schuldig. Herr Bundeswirt-schaftsminister, Ihr Vorgänger im Amt, von dem wir mitKonzepten hier nun wahrlich nicht verwöhnt worden sind,hat wenigstens zu Beginn seiner Amtszeit den Mut ge-habt, in einem Wirtschaftsbericht des Bundeswirtschafts-ministeriums – den Jahreswirtschaftsbericht durfte er janicht erstellen – zu schreiben, dass er es für richtig hält,die Staatsquote langfristig auf 40 Prozent abzusenken. Istdas die Politik der Bundesregierung, ja oder nein? Ist dasIhr Ziel? Wenn es Ihr Ziel ist: Ist es auch das Ziel des Bun-deskanzlers der Bundesrepublik Deutschland, GerhardSchröder? Wohin soll sich der Anteil des Staatsverbrauchsam Sozialprodukt der Bundesrepublik Deutschland ent-wickeln? Diese Frage müssen Sie beantworten, wenn Siedie richtige Wirtschaftspolitik in diesem Lande machenwollen.
Herr Bundeskanzler, wenn Sie es – das wurde von Ih-nen in einem Interview bestätigt – unverändert für richtighalten, dass sich die Staatsquote in diese Richtung ent-wickelt, dann sollten Sie sich klar machen, dass dasFriedrich Merz
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 26. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. Februar 2003
Friedrich Merzerhebliche Auswirkungen auf die Zukunft der sozialenSicherungssysteme und auf die Struktur unseres Steuersys-tems hat. Jenseits aller Mittelstandsoffensiven, Program-me, Ich-AGs, Familien-AGs und wie die Dinge alle heißen:Dies sind die zentralen makroökonomischen Stellschrau-ben, die die Bundesregierung der Bundesrepublik Deutsch-land drehen oder so lassen kann, wie sie heute stehen. Wennsie so bleiben, wie sie heute sind, Herr Clement, dannwerden Sie mit noch so viel Pragmatismus und noch sovielen Programmen an der Lage unserer Volkswirtschaftnichts zum Besseren ändern. Diese Fragen müssen beant-wortet werden.
Nun sind wir in den letzten Tagen Zeugen einer anhal-tenden Diskussion in der Sozialdemokratischen Parteiund auch in der SPD-Bundestagsfraktion mit Reaktionenauf die Vorschläge, die Sie zum Thema Kündigungs-schutz gemacht haben, geworden. Dazu hat es auch indieser Woche in der Bundestagsfraktion der SPD offen-sichtlich eine kontroverse Auseinandersetzung gegeben,nachdem Sie zu Beginn des Jahres zu dieser Frage richti-gerweise einen Vorschlag gemacht haben. Bei Licht be-trachtet ist die Auseinandersetzung, die Sie zu diesemThema führen, eine profunde Debatte über den richtigenKurs in der Wirtschaftspolitik, die die SPD in den mehrals vier Jahren ihrer Regierungsverantwortung bis zumheutigen Tag nicht ausgetragen hat.Dahinter verbirgt sich mehr als die Frage, ob man amKündigungsschutz, am Arbeitsrecht oder an den sonstigenRigiditäten unseres Arbeitsmarktes etwas verändern soll.Dahinter verbirgt sich in großen Teilen der Sozialdemo-kratischen Partei Deutschlands ein tief greifender Mei-nungsstreit über den richtigen Weg in der Wirtschaftspo-litik und der Sozialpolitik schlechthin.
Sie, Herr Bundeskanzler, haben im Juni 1999 mit Ihrembritischen Amtskollegen Tony Blair ein gemeinsames Pa-pier veröffentlicht.
Damals haben Sie dieses Schröder-Blair-Papier als dasrichtungweisende Papier Ihrer Regierungspolitik übereine im Wesentlichen angebotsorientierte Wirtschafts-politik, also über den Weg bezeichnet, den Sie mit IhrerRegierung beschreiten wollen.In diesem Zusammenhang ist sehr viel über das ThemaNeue Mitte gesprochen worden. Kurz vor Weihnachtendes letzten Jahres haben Sie aus dem Kanzleramt wie-derum ein Papier an die Öffentlichkeit lanciert, das an dieStrategie anknüpft, die Sie im Sommer 1999 verfolgenwollten. Dieses Papier enthielt erneut eine im Wesent-lichen angebotsorientierte Wirtschaftspolitik. Was ist da-raus geworden?
Es fällt auf, dass das Wort Neue Mitte in Ihrem Sprachge-brauch praktisch überhaupt nicht mehr auftaucht. Die ge-samten alten sozialdemokratischen Hüte werden jetzt alsowieder ins Schaufenster gelegt.Sie müssen uns nicht unbedingt glauben, wenn wir dasso bewerten. Ich empfehle Ihnen, Herr Clement, die Lek-türe eines Beitrages eines sehr jungen Professors fürNeuere Geschichte, der gestern in der Zeitung „Die Zeit“eine Analyse über diesen Befund in der Sozialdemokrati-schen Partei Deutschlands gemacht hat. Professor PaulNolte, der schon in sehr jungen Jahren national und inter-national hohes Ansehen genießt, schreibt dazu:Die Neue Mitte hat keine eigene kulturelle Präge-kraft entwickelt und es herrscht in der SPD die Rat-losigkeit darüber vor, welche kulturelle Orientierungman dem sozialen Wandel geben soll.Er führt aus:Das zeigt sich plastisch in der habituellen Unsicher-heit sozialdemokratischer Politiker in ihremSchwanken zwischen dem anbiedernden, neuprole-tarischen Gestus eines Olaf Scholz und dem neurei-chen Gehabe, das man in mancherlei Varianten vonSchröder oder Scharping kennt.
Genau um diesen Befund geht es. Es geht nicht umwirtschaftspolitischen Pragmatismus. Es geht um die Rat-losigkeit in der rot-grünen Bundesregierung, wie sie aufdie Herausforderungen des 21. Jahrhunderts reagierensoll. Sie fallen im Grunde in die Zeit vor dem Godes-berger Parteitag der SPD im Jahre 1959 zurück.
Das, was Sie in Bezug auf die Wirtschaftspolitik in die-ser SPD-Bundestagsfraktion für richtig halten, entsprichtim Wesentlichen dem, was Sie aus dem 19. Jahrhundertbis heute in Ihren Köpfen haben. Das hat mit einer mo-dernen Wirtschafts- und Sozialpolitik praktisch nichts zutun.
Herr Clement, wenn wir heute eine zutreffende Ant-wort auf die Frage geben wollen, wie man die Arbeitsweltdes 21. Jahrhunderts neu ordnet, wie man in einem Landwie der Bundesrepublik Deutschland zu einem hohenMaß an Beschäftigung, vielleicht sogar zu Vollbeschäfti-gung und einem kräftigen wirtschaftlichen Wachstumzurückkommt, dann sind aus meiner Sicht zunächst ein-mal ein paar Vorbedingungen zu akzeptieren.
Erstens. Sie müssen, ob Sie wollen oder nicht, die Glo-balisierung anerkennen, akzeptieren, respektieren undversuchen, sie mit Ihrer Politik im Inland zu gestalten.
Wer sich gegen die Globalisierung wendet, wer glaubt,dass man aus der Globalisierung der Volkswirtschaften
2018
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aussteigen kann, der wird sich selbst isolieren und wirt-schaftspolitisch marginalisieren.
Zweitens. Es führt kein Weg daran vorbei, dass Sie eineGrundentscheidung darüber treffen müssen, ob Sie eineim Wesentlichen angebotsorientierte oder nachfrageorien-tierte Wirtschaftspolitik betreiben wollen.
Sie können sich nicht um diese Frage herummogeln. Auchmit der Antwort, Sie würden als intelligenten Policy Mixbeides machen –
wie Sie nicht müde werden zu behaupten –, drücken Siesich in Wahrheit um die Entscheidung in dieser Frageherum, die Sie aber beantworten müssen, wenn Sie überdie Wettbewerbsfähigkeit der Volkswirtschaft der Bun-desrepublik Deutschland sprechen.
Wenn Sie diese beiden Fragen so beantworten wie wir– was Ihnen wie uns nicht schwer fallen sollte –, dann er-gibt sich daraus eine Reihe von logischen Antworten. Wirmüssen dafür sorgen – das haben Sie zu Beginn des Jah-res mit Recht festgestellt, Herr Clement –, dass auf demArbeitsmarkt mehr Mobilität und Flexibilität entstehen.Ich möchte Ihnen zwei Vorschläge zum Kündigungs-schutz und zur Betriebsverfassung machen, die wir in die-ser Woche – ich gebe zu: auch kontrovers – in den eige-nen Reihen diskutiert haben. Herr Clement, wir bietenIhnen an, dass wir bei diesem Thema über die Partei- undFraktionsgrenzen hinweg zusammenarbeiten. Wir ma-chen Ihnen Vorschläge und sind auch offen für anderebzw. bessere Vorschläge. Wichtig ist, dass in diesem Be-reich etwas unternommen wird.Wir schlagen Ihnen vor, das Kündigungsschutzrechtso zu ändern, dass diejenigen, die neu eingestellt werden– wohlgemerkt; es geht nicht um eine Verschlechterungder Rechtslage der Beschäftigten –, das Recht bekommen– ich betone: sie werden nicht dazu verpflichtet –, einenArbeitsvertrag abzuschließen, in dem auf das Kündi-gungsschutzrecht verzichtet und gleichzeitig für den Fall,dass der Arbeitsplatz nicht erhalten werden kann, eine Op-tion auf eine Abfindung eröffnet wird. Ich meine, es istbesser, mit einem etwas geringeren Kündigungsschutz be-schäftigt zu sein, als mit dem derzeit bestehenden hohenKündigungsschutz arbeitslos zu bleiben. Das ist unserAngebot an Sie.
Wir machen Ihnen ein zweites Angebot. Wir sind be-reit, mit Ihnen die Betriebs- und die Tarifverfassung zuändern. Dies ist ein schwieriges Thema. Ich gebe zu, ichkann – teilweise jedenfalls – verstehen, dass sich die Ge-werkschaften dagegen wehren. Weil Sie das angespro-chen haben, will ich an dieser Stelle deutlich machen, dassniemand von uns – auch ich nicht – irgendetwas gegen dieGewerkschaften einzuwenden hat.
Die Gewerkschaften haben über viele Jahrzehnte ein ho-hes Maß an sozialem Frieden in Deutschland ermöglichtund sie stehen mit in der Verantwortung für soziale Part-nerschaft in den Betrieben.Nicht Sie, sondern wir haben nach dem Zweiten Welt-krieg in der Bundesrepublik Deutschland das Betriebs-verfassungsgesetz auf den Weg gebracht. Diese Betriebs-verfassung hat sich im Kern bewährt, und zwar nichtgegen die Gewerkschaften, sondern mit ihnen.
Meine Kritik – auch das möchte ich betonen – richtetsich gegen den Macht- und Gestaltungsanspruch einerHandvoll von Gewerkschaftsfunktionären in diesemLande, die sich anmaßen, praktisch in allen politischenFragen an die Stelle der Parlamente zu treten und ihre Ent-scheidung mit einer Vetoposition durchzusetzen, die zumStillstand in diesem Lande führen wird. Dagegen wehreich mich mit Nachdruck.
Es geht im Kern um die Frage, ob wir es zulassen, dassin diesem Land weiter eine Funktionärsherrschaft eta-bliert wird,
oder ob wir das Primat der Politik gemeinsam zurückge-winnen, Herr Clement. Über diese Fragen, die wir ge-meinsam entscheiden müssen, kann an keiner anderenStelle als im Deutschen Bundestag entschieden werden.
Deswegen mache ich Ihnen in diesem Zusammenhangunseren zweiten Vorschlag.
Wir möchten mit Ihnen zusammen die Betriebsverfas-sung und die Tarifverfassung ändern. Wir sind der Mei-nung, dass die Betriebe innerhalb der fortbestehendenFlächentarifverträge – dabei sind wir übrigens anders alsdie FDP der Auffassung, dass die Flächentarifverträgeihre befriedende überbetriebliche Funktion nicht nur ge-habt haben, sondern auch behalten sollen – das Recht be-kommen sollten,
ohne Interventionsrechte der Funktionäre in den Arbeit-geberverbänden und Gewerkschaften eigenständige be-triebliche Regelungen zu treffen, wenn die Beteiligten inFriedrich Merz
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 26. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. Februar 2003
Friedrich Merzden Betrieben übereinstimmend der Auffassung sind, dasshieran etwas geändert werden soll.Dieser Vorschlag hat einen sehr konkreten Hintergrund.Sie kennen die Fälle Burda, Viessmann, Mohndruck undeine Reihe anderer, die Rechtsgeschichte in Deutschlandgeschrieben haben. Wir wollen nicht die befriedendeFunktion der überbetrieblichen Tarifverträge infrage stel-len. Wir wollen vielmehr, dass innerhalb der Tarifverträgedie Tarifpartner in den Betrieben das Recht haben, entwe-der betriebliche Bündnisse für Arbeit nach dem Betriebs-verfassungsgesetz gemeinsam auszuhandeln oder abernach dem Günstigkeitsprinzip des Tarifvertragsgesetzeseigenständige Regelungen mit Abweichungen von den Ta-rifverträgen gemeinsam zu verabreden, wenn dies den Be-schäftigungsaussichten in den Betrieben nützt.
Ich sage nicht nur an die Adresse der Kolleginnen undKollegen, sondern auch an die Adresse der Gewerkschaf-ten: Wer die Flächentarifverträge in Deutschland aufDauer retten will, der darf sich dieser Flexibilität und die-ser Autonomie in den Betrieben nicht in den Weg stellen.Wer dies heute tut, wird morgen vor dem Trümmerhaufender gesamten Tarifpolitik in Deutschland stehen.
Unser Angebot steht, Herr Clement. Ich bin mir ziem-lich sicher, dass wir gemeinsam im Deutschen Bundestagfür eine solche Öffnung unseres Arbeitsmarktes eineMehrheit haben. CDU/CSU, FDP, der größere Teil – wieich vermute – der Grünen-Fraktion und auch beträchtlicheTeile der sozialdemokratischen Bundestagsfraktion sindder Auffassung, dass die Dinge so, wie sie heute sind,nicht bleiben können. Da wir über Vernunft in Deutsch-land reden und darüber, dass wir gemeinsam aus dieserWachstums- und Beschäftigungskrise herausfinden wol-len, lassen Sie uns im Deutschen Bundestag um den Wegringen, wie wir dies schaffen können.Unser Angebot steht. Aber Sie, Herr Clement, müssenunabhängig von Ihrer Rhetorik Konzepte auf den Tischlegen, die in Fortsetzung der langen Linien unserer Wirt-schaftspolitik einen Weg aus der Krise aufzeigen. Prag-matismus allein reicht nicht. 100 Baustellen und kein Richt-fest, Herr Clement, das ist noch keine Wirtschaftspolitik.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Ich erteile das Wort dem Kollegen Werner Schulz,Bündnis 90/Die Grünen.Werner Schulz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN):Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Im Zen-trum der heutigen Debatte steht der Jahreswirtschafts-bericht. Das war nicht in jedem Punkt der Rede meinesVorredners zu erkennen. Ich kann mich des Eindrucksnicht erwehren, dass Sie dem gestern blamabel geschei-terten Angriff in der Außenpolitik einen weiteren in derWirtschaftspolitik folgen lassen wollen.
Wir liegen doch in der Analyse der angespannten Wirt-schaftssituation gar nicht so weit auseinander. Herr Kol-lege Merz, das Wirtschaftswachstum der 90er-Jahre warinsgesamt mäßig. In zwei Jahren Ihrer Regierungszeit gabes sogar ein Schrumpfen der Wirtschaft. Angesichts einergesättigten und hoch entwickelten Volkswirtschaft müs-sen wir alles daransetzen, dass wir trotz geringer Wachs-tumsraten eine hohe Beschäftigung erreichen. Das wirddie Aufgabe in den nächsten Jahren sein; das müssen wirschaffen.Ich kann bei Ihnen das alte Bewertungsmuster heraus-hören: Alles, was schief läuft und was danebengeht, lastenSie der Bundesregierung an.
Ob es gescheiterte Unternehmenskonzepte sind, ob esSchwierigkeiten aufgrund von Börsenspekulationen sind,ob sich Firmen verkalkuliert haben, das alles lasten Sieder Bundesregierung an. So geht es nicht. Das ist das alteMuster.
Damit kann man Stimmungen verstärken und Landtags-wahlen gewinnen.Man kann auch – wir akzeptieren das – durch politi-sche Zurückhaltung dem anderen einen Denkzettel ver-passen. Wir werden – das werden Sie noch merken – un-sere Reformanstrengungen dagegensetzen. Aber auch fürSie ist eine neue Situation entstanden. Sie müssen jetztnämlich endlich Antworten geben und mitarbeiten. Siesind in eine neue Verantwortung gekommen.
Das bedeutet nicht große Konfrontation, die Sie gele-gentlich suchen, oder große Koalition, sondern Koopera-tion. Wir brauchen eine Kraftanstrengung von Schwarz-Rot-Grün. Das Gold müssen wir uns in diesem Land,glaube ich, erst wieder erarbeiten. Wir müssen für einenmentalen Umschwung sorgen. Darüber können Sie ruhiglachen. Aber die Rezession beginnt im Kopf, vor allem inIhrem.
Ihr Schlechtreden – Sie behaupten zum Beispiel, die Bun-desregierung habe kein Konzept und keinen Entwurf –kann ich nicht mehr hören, Kollege Merz.
2020
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 26. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. Februar 2003 2021
Schauen Sie sich doch den Jahreswirtschaftsbericht2003 einmal genau an! Ich stimme Ihnen ja zu, dass diedort enthaltene Projektion optimistisch ist und dass wiruns anstrengen müssen, wenn wir sie erreichen wollen.Daran werden Sie sich jetzt beteiligen müssen. So einfachwie bisher können Sie es sich jetzt nicht mehr machen.
Aber neben dieser Projektion ist auf 50 Seiten des Jahres-wirtschaftsberichts die Konzeption der Bundesregierungniedergeschrieben, die unter dem Motto „Modernisierungund Erneuerung“ steht. Ich weiß nicht, welche anderenBerichte Sie sonst noch lesen. Ich möchte Ihren Dreistu-fenplan nicht in Bausch und Bogen verdammen, auchwenn er das dürftigste Ergebnis dieser Woche ist.
Aber ich bin froh, dass von Ihrer Seite überhaupt etwasgekommen ist, worüber wir reden können. Daran könnenwir immerhin anknüpfen. Reden wir also über das, worumes geht!
Wir halten an der Haushaltskonsolidierung fest.Schließlich waren wir es, die das Nachhaltigkeitsprinzipin die Finanzpolitik eingeführt haben.
– Ich verstehe nicht, warum Sie lachen. Was haben Siegegen Nachhaltigkeit? Auf Ihren Abgeordnetenbänkenherrscht vielleicht nachhaltige Komik.Wir haben, wie gesagt, das Nachhaltigkeitsprinzip indie Finanzpolitik eingeführt. Für uns ist dieses Prinzipkeine vorübergehende Modeerscheinung; denn wir wis-sen, dass wir nur so aus der Schuldenspirale herauskom-men. Im Unterschied zu Ihnen hat die Bundesregierung inder letzten Legislaturperiode mit der Haushaltskonsoli-dierung begonnen. Sie haben uns ja einen riesigen Schul-denberg hinterlassen, der die heutigen Probleme erst ge-schaffen hat. Wir halten jedenfalls am Wachstums- undStabilitätspakt fest.
Ich sage Ihnen aber auch: Wer das Steuervergünsti-gungsabbaugesetz in Bausch und Bogen ablehnt und dif-famiert, indem er so tut, als ob Subventionsabbau eineSteuererhöhung ist, der muss jetzt, bitte schön, auch sa-gen, wie er einsparen möchte. Ich bin auf Ihre Vorschlägegespannt. Herr Kollege Merz, mich interessiert es sehr– darauf hätten Sie in Ihrer Rede eingehen sollen –, wieSie das strukturelle Defizit, von dem Sie gesprochen ha-ben, beseitigen wollen.
Wir sind dabei, die Vorschläge der Hartz-Kommissionumzusetzen. Das wird Dynamik und Flexibilität auf demArbeitsmarkt schaffen. Es wird eine bessere Vermittlungund auch mehr Arbeitsplätze geben. Wir können auch ei-nen Schritt weiter gehen und über den Kündigungs-schutz reden. Wir müssen schauen, was die Praxis der Ab-findungsregelungen gebracht hat. Möglicherweise ist esbesser, auf Optionsmodelle zu setzen, als an starren Re-gelungen festzuhalten; denn es ist sicherlich besser, Men-schen in Beschäftigung zu bringen, als wenn der Rationa-lisierungsdruck auf dem Faktor Arbeit lastet und zuweiteren Entlassungen führt.Ich bin auch dafür, dass sich der Flächentarif dem Wett-bewerb stellt. Wir haben das Betriebsverfassungsgesetzgeändert und den Betriebsräten mehr Mitbestimmung ge-geben. Das muss natürlich in betrieblichen Bündnissenfür Arbeit zum Tragen kommen. Wir haben damit Erfah-rungen im Osten, wo etliches in dieser Richtung ge-schieht.Ich glaube, auch die Gewerkschaften stehen – ich habedas heute von IG-Metall-Bezirkschef Huber gehört –Modernisierungen aufgeschlossen gegenüber. Die Ge-werkschaften erkennen nämlich, dass ihre Chance nichtallein im Armdrücken in Verhandlungsrunden zur Lohn-gestaltung, sondern auch in der Qualifizierung und derWeiterbildung ihrer Mitglieder sowie im Coaching vonBetriebsräten besteht. Bloß, Kollege Merz – das kritisiereich an Ihnen –, das alles müssen wir mit den Gewerk-schaften erreichen. Mit Ihren halbstarken Tönen verprel-len Sie die Gewerkschaften. Ich habe manchmal den Ein-druck, dass Sie mit Ihrem alten Mofa in die DGB-Zentralebrettern wollen, um die Sommer-Zeit zu beenden.
Sie sollten nicht vergessen: Der Ton macht die Musik. Ichweiß, dass Sie Polemik nicht vertragen können, wenn sienicht gerade von Ihrer Seite kommt.
Wir wollen die sozialen Sicherungssysteme reformie-ren. Das ist auch Ihre Absicht und da können wir uns tref-fen. Die Lohnnebenkosten unter 40 Prozent zu senken,das ist Ihre Absicht und das ist auch unsere Absicht. Inso-fern können wir da zusammenarbeiten. Ich staune nur da-rüber. Sie haben die Kommission zur nachhaltigen Finan-zierung der sozialen Sicherungssysteme heftig kritisiert.Jetzt wollen Sie der Rürup-Kommission eine Ruck-zuck-Kommission folgen lassen. Bitte schön, dann treten wir ineinen Ideenwettbewerb! Legen wir die Vorschläge zu-sammen und versuchen, etwas Vernünftiges daraus zumachen!Sie wollen die Sozialkassen von den versicherungs-fremden Leistungen entlasten. Ich verstehe nur nicht,warum Sie ausgerechnet bei der Arbeitslosenversicherunganfangen wollen und das JUMP-Programm oder bei ABMund SAM kürzen wollen, wie das in dieser Woche durcheinen Antrag zum Ausdruck gekommen ist. Ich habe Ih-nen in der letzten Sitzungswoche angeboten, das Systemvon den versicherungsfremden Kosten der deutschen Ein-heit zu entlasten.
Werner Schulz
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 26. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. Februar 2003
Werner Schulz
Es sind 3 Prozentpunkte, die wir noch heute dafür auf-wenden und um die wir die Lohnnebenkosten mit einemSchlag drücken könnten. Das würde sowohl auf der Ar-beitnehmer- als auch auf der Arbeitgeberseite zu Bucheschlagen und wäre auch ein substanzieller Beitrag für einBündnis für Arbeit, damit sich diese ergebnislose Rundeendlich Bündnis für Arbeit nennen kann.Und ich sage Ihnen: Das wird heute im Bundesrat IhreNagelprobe werden, was die Modernisierung der Wirt-schaft anbelangt. Zu einer modernisierten Wirtschaftgehört auch ein modernes Zuwanderungsrecht. DieserFrage müssen Sie sich stellen. Sie wissen, hier sind dieForderungen der Wirtschaftsverbände an Sie ganz klar,nicht nur aus demographischen Gründen,
sondern auch deshalb, weil Zuwanderung natürlich Zu-gang, Neugründung, Flexibilität und Dynamik in einerVolkswirtschaft auslösen. Heute werden Sie zeigen müs-sen, ob Sie die Blockadehaltung wirklich überwunden ha-ben und ob Sie konstruktiv mitarbeiten werden.
– Nein,
aber in dieser Frage sind sich alle gesellschaftlichenKräfte bis auf die Union einig, Herr Kauder. Nur dieUnion verweigert sich bei der Zuwanderungsfrage.
Sowohl die Kirchen als auch die Wirtschaftsverbände undandere große Interessenverbände in unserem Land sindder Zuwanderung gegenüber aufgeschlossen, währenddie Union an dieser Stelle absolut blockiert.
Da werden wir Ihre Reformbereitschaft heute noch er-kennen können.Ich glaube, dass die Reformbereitschaft in unseremLand weit größer ist als jene, welche die Politik derzeitabruft.
Viele könnten die Wahrheit vertragen, wenn man ihnendie Probleme vernünftig erklärt und eine Perspektive fürLösungen nennt. Nur dann, wenn wir die Chancen und dieErfolgsaussichten herausarbeiten – nicht nur immerzu dieProbleme aufwerfen und das Haar in der Suppe suchen,wie Sie, Kollege Merz, das tun; das dann möglichst auchnoch spalten wollen –, werden wir Kräfte gewinnen undden mentalen Schub bekommen, den wir für den robustenWandel, der in unserem Land abläuft, benötigen.Wir brauchen keine weiteren Kommissionen, um zu er-kennen, dass für die Reformen nicht viel Zeit bleibt. Wirhaben dieses Jahr für Reformen, damit das, was wir in die-sem Jahr beschließen, im nächsten Jahr zur vollen Wir-kung kommt. Das heißt, wir haben ein kleines Zeitfensterzum Handeln. Insofern haben wir nicht mehr allzu vielZeit, uns über diese Probleme zu streiten; wir müssen echtzusammenarbeiten. Wie gesagt, Ihr Dreistufenplan bedarfder Nachbesserung. Da ist noch einiges auszufüllen bzw.zu konkretisieren.Es bedarf auch keiner weiteren Kommission, um dieLegitimation der Politik klar zu machen. Wir sollten unsals Parlament dazu aufraffen – das muss die Leitlinie dernächsten Monate sein –, uns gegenüber Interessenverbän-den und gegenüber Bremsern durchzusetzen und das zuentscheiden und zu verantworten, was politisch notwen-dig und geboten ist.
Das ist die Aufforderung an Sie. Solch eine Politik ist keinSelbstzweck, sondern die Voraussetzung für die soziale,ökologische und demokratische Stabilität. Nur so könnenwir die Reformvorhaben verwirklichen und nur so werdenwir auch wieder die finanziellen Spielräume bekommen,die wir brauchen, um die notwendigen Veränderungen zurealisieren.Ich danke Ihnen.
Ich erteile das Wort dem Kollegen Rainer Brüderle,
FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Jah-reswirtschaftbericht trägt die Überschrift „Allianz für Er-neuerung“. Wir haben in der Debatte gestern erlebt, dassman sehr Acht geben muss und dass es gefährlich wird,wenn diese Regierung von Allianz spricht.
Die Wirtschaftslage ist sehr ernst. Wir befinden uns inder dramatischsten Wachstums- und Wirtschaftskrise derNachkriegsgeschichte. Die Wirtschaft stagniert im drittenJahr hintereinander. Die Gefahr eines so genanntenDouble Dip, also eines nochmaligen Abgleitens in der Re-zession, besteht auch ohne einen Irakkrieg ganz konkret.Herr Clement, es hilft nichts, auf die geopolitische Si-tuation zu verweisen. Diese Situation ist, wie sie ist. Dieanderen haben unter ihr genauso zu leiden. Deutschlandbefindet sich also nicht in einer Sonderlage. Daran, dasswir deutlich schlechter als andere dastehen, obwohl dieanderen die gleichen geopolitischen und weltwirtschaftli-chen Rahmenbedingungen haben, zeigt sich, dass hier, indiesem Land, etwas falsch gemacht wird. Anders ist un-sere Krise logisch nicht zu erklären.
2022
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 26. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. Februar 2003 2023
Die Grundachsen der Wirtschaftspolitik sind nichtrichtig ausgerichtet. Wir brauchen eine Wirtschaftspolitikmit Charakter. Unsere Wirtschaftspolitik muss sich wie-der auf ordnungspolitische Grundsätze besinnen und siekonsequent umsetzen. Der Staatsanteil in Deutschlandliegt bei fast 50 Prozent. Das ist eine der Ursachen für Ef-fizienzverluste bei uns. Konkret: 48,5 Prozent dessen, wasin diesem Land erarbeitet wird, fließt in den Staatssektor,der von seiner Struktur her eine schlechtere Effizienz alsdie Unternehmen in einer freien Markwirtschaft – Steue-rung der Ressourcen und der Dienstleistungen, Produk-tionsmöglichkeiten – hat.Bevor die jetzige geopolitische Situation – so nennenSie es – eingetreten ist, hat die Regierung die Chance lei-der nicht genutzt, die Wachstumskräfte zu stärken. DieRegierung hat es versäumt, eine Steuerreform durchzu-führen, die den Bürgern mehr Möglichkeiten, zu kon-sumieren, und dem Mittelstand mehr Möglichkeiten, zuinvestieren, gibt. In der Wirtschaftspolitik dieser Regie-rung sind keine klaren Linien zu erkennen. Ständig gibt esDiskussionen über Erbschaftsteuer, Vermögensteuer,Mehrwertsteuer und anderes. Wie soll man da vernünftigrechnen? Wie soll zum Beispiel ein Handwerksmeisterentscheiden können, ob er sich eine neue Maschine an-schafft, wenn ständig Unsicherheit herrscht? SeinenMarkt kennt er in etwa, aber die Unsicherheiten einernicht kalkulierbaren Politik stellen ein Risiko dar, das ernicht kennt und das er nicht beherrschen kann. Dafür sindSie verantwortlich.
Die Reglementierung in Deutschland ist überdreht.Das ist zwar nicht allein Ihre Schuld, aber auch Ihre. DieRegelungsdichte hat sich unter Rot-Grün erhöht; siewurde nicht geringer. Es ist immer wieder schön, wennSie tolle Begriffe wie Masterplan oder Bürokratieabbaubenutzen. An Luftblasen, die Sie produzieren, fehlt esnicht. Geben Sie den Ländern und den Kommunen dochdie Möglichkeit, Gesetze für ein paar Jahre außer Kraft zusetzen! Wenn Sie das getan haben, dann werden Sie fest-stellen: Es passiert gar nichts. Die meisten merken näm-lich gar nicht, wie viel Unsinn hier reglementiert ist. Ge-ben Sie doch den Menschen die Chance, mit ihrer Arbeiterfolgreich zu sein!
Der Mittelstand ist der eigentliche Hoffnungsträger.Bei den großen Konzernen wird es nicht zu einem nen-nenswerten Zuwachs an Arbeitsplätzen kommen. Auto-matisierungsprozesse wie Robotik werden weiterhin dazuführen, dass Arbeitsplätze dort eher verloren gehen.Außerdem werden die großen Konzerne die Produktionbestimmter Komponenten in andere, kostengünstigereRegionen Europas und der Welt verlagern.Sie haben Recht: Für die kleinen Betriebe ist der über-drehte Kündigungsschutz ein Einstellungshemmnis. Esgeht nicht darum, den Arbeitnehmern etwas wegzuneh-men, sondern darum, den Arbeitslosen etwas zu geben,nämlich die Chance, wieder eine Arbeit zu bekommen.Genauso geht es darum, den kleinen und mittleren Betrie-ben die Chance zu geben, mehr Leute einzustellen, ummehr produzieren und leisten zu können. Das ist der ei-gentliche Grund, warum Sie Änderungen vornehmenmüssen. Das haben Sie richtig erkannt. Leider bringen Sieaber nichts zustande.
Kaum hatten Sie einige relativ mutige Sätze gesagt,kam Herr Müntefering und widersprach Ihnen. Ich weißnicht, ob es aus gemeinsamen Zeiten in NRW noch Rech-nungen zwischen Ihnen zu begleichen gab. Die neuesteIdee des Kanzlers war, den Kündigungsschutz zu lockern,wenn es im Gegenzug eine Beschäftigungsgarantie gibt.Der Kanzler möchte also, dass sich ein Handwerksmeisterim Kanzleramt meldet, um dort mitzuteilen, dass er sichvon einem seiner Angestellten trennen muss; im Gegen-zug garantiert er, andere Angestellte nicht zu entlassen.Was Sie veranstalten, das ist doch alles absurdes Theater!Richtig wäre Folgendes: Für Betriebe, die bis zu 20 Be-schäftigte haben, muss die Regelung deutlich vereinfachtwerden. Es darf doch nicht sein, dass ein Metzgermeistererst Jura studiert haben muss, wenn er jemanden einstel-len möchte. Ein Metzgermeister soll Wurst produzierenund nicht Gesetzestexte studieren müssen.
Herr Kollege Merz, Sie bleiben auf halbem Weg ste-hen. Ich sehe die große Koalition, die sich im Hinblick aufeine Neuregelung der Minijobs gebildet hat, mit großemMissbehagen.
– Auch da fliegen Sie heraus, Herr Kuhn; Sie sind ja schonaus dem Vorsitzendenamt herausgeflogen.Wir müssen das Tarifkartell öffnen. Im Osten Deutsch-lands – das weiß jeder hier im Raum – unterliegen 70 Pro-zent aller Beschäftigungsverhältnisse nicht dem gelten-den Tarifvertragsrecht. Diese sind, wenn Sie so wollen,alle rechtswidrig. Keiner rührt daran: keine Gewerk-schaft, keine Regierung. Es handelt sich um eine Not-reaktion, damit Beschäftigung überhaupt in dem bisheri-gen Umfang dort erhalten werden kann. Aber dieseErkenntnis muss uns doch zu der Einsicht verhelfen, dasswir Spielräume öffnen müssen.Deshalb sagen wir, Herr Kollege Merz, dass Mitarbei-ter, wenn 75 Prozent eines Betriebs in freier Abstimmungeine andere Regelung als die, die die Gewerkschaftsfunk-tionäre ausgehandelt haben, haben wollen, auch das Rechtbekommen sollen, hier eigene Entscheidungen zu treffen.Es ist ihr Arbeitsplatz, es handelt sich um ihre Lebensper-spektiven. Deshalb muss das Tarifvertragsrecht geändertwerden und müssen den betroffenen Arbeitnehmern mehrFreiheit und mehr Mitbestimmungsmöglichkeiten gege-ben werden.
Verweigert ihnen doch nicht die Entscheidungsmöglich-keit; ein Quorum von 75 Prozent ist eine hohe Hürde.
Rainer Brüderle
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 26. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. Februar 2003
Rainer BrüderleBesonders scheinheilig sind bei diesen Fragen die Grü-nen. Sie fordern zwar Flexibilität im Arbeitsmarkt undeine Lockerung des Kündigungsschutzes, doch zugleichist ihr Parteifreund Bsirske der schlimmste Betonmischer,den wir haben.
Ist es mit Ihrem Demokratie- und Wirtschaftsverständnisvereinbar, dass jemand, der stellvertretender Aufsichts-ratsvorsitzender der Lufthansa AG ist und damit eine hoheVerantwortung für ein großes Unternehmen hat – dafürbekommt er ja auch anständig Geld –, gleichzeitig der An-führer der Streikmaßnahmen gegen dasselbe Unterneh-men ist?
Wie gespalten muss dessen Seele sein? Einerseits ist ernach dem Aktiengesetz verpflichtet, für das Unternehmeneinzutreten und sein Wohl zu fördern, andererseits ist erderjenige, der mit Lohnforderungen in Höhe von bis zu20 Prozent die Axt an das Unternehmen legt. Wissen Sienicht, wie die Luftfahrtgesellschaften in der Welt draußendastehen?
Man muss darüber reden können, ob bestimmte Vari-anten von Mitbestimmung, die sich im Laufe der Zeit aus-geprägt haben und auf der Illusion beruhen, parlamentari-sche Mechanismen auf Unternehmen übertragen zukönnen, noch zeitgemäß sind oder ob sich hier etwas än-dern muss. Ich bin dafür, dass Gewerkschaftsführer keinAufsichtsratsmandat mehr bekleiden dürfen,
weil sie damit in Interessenskonflikte geraten. Entwedernehmen sie das Interesse ihrer Mitglieder nicht richtigwahr, sodass ihnen die Mitglieder weglaufen – der Deut-sche Gewerkschaftsbund verliert ja jedes Jahr zwischen300 000 und 500 000 Mitglieder – und sie wie ÖTV, DAGund HBV zu Verdi und nächstes Jahr vielleicht Verdi mitIG Metall zu Puccini usw. fusionieren müssen
– das ist die Konsequenz, weil sie die Mitglieder nichtmehr ansprechen und ihre Interessen nicht mehr wahrneh-men –, oder sie treten für die Interessen der Mitglieder einund können die Interessen der Unternehmen nicht mehrunbefangen wahrnehmen. Man sollte in Ruhe darübernachdenken, ob ein solcher Zielkonflikt hingenommenwerden kann oder ob sich hier nicht vielmehr eine Bonzo-kratie entwickelt hat, die ein Stück weit Mitschuld daranhat, dass unsere Wirtschaft nicht richtig funktioniert.Worum geht es im Kern? Wir müssen die Kraft auf-bringen, die Grundachsen neu auszurichten. Wir müssenuns auf das Erfolgsgeheimnis der sozialen Marktwirt-schaft zurückbesinnen:
durch Berechenbarkeit, Vertrauen und Gestaltungsfrei-räume der Wirtschaft die Möglichkeit geben, in einenWettbewerb einzutreten, der den Namen verdient. Siemisstrauen dem Wettbewerb. Deshalb versuchen Sie im-mer neue Ansätze der Industriepolitik. Sie wissen dochnicht besser als die Unternehmen, wie es laufen soll.Wenn Ihre Ordnungspolitik nun auch noch auf europä-ischer Ebene durchgesetzt wird, bekommt man ja eineGänsehaut, denn dabei kann nichts Vernünftiges heraus-kommen. Die Europäische Union ist sicherheitspolitischja kaum handlungsfähig und bekommt viele Reformennicht hin. Wenn die noch festlegt, in welchen Sektoren inEuropa investiert und welche gefördert und entwickeltwerden sollen, dann kann das nur schief gehen. Deshalbfordern wir Rückbesinnung auf Normalität.
Sie kommen doch an Adam Riese nicht vorbei: Auchin Zukunft wird zwei plus zwei vier sein, auch wenn Ih-nen das nicht passt. Haben Sie doch die Kraft, endlich denUmbau vorzunehmen! Die Statik des Gebäudes der deut-schen Gesellschaft und Wirtschaft stimmt nicht mehr.Hier haben Sie in den letzten Jahren Fehlentwicklungenforciert. Deshalb sind wir falsch aufgestellt. Das ist dieUrsache dafür, dass die Veränderungen in der Weltwirt-schaft, die geostrategischen Veränderungen Deutschlandstärker treffen als andere Staaten. Sie können nichts dafür,wenn sich in der Weltwirtschaft etwas verändert; aber Siekönnen etwas dafür, dass wir in Deutschland so schlechtaufgestellt sind und dass sich solche Veränderungen des-halb bei uns doppelt und dreifach auswirken.Aus diesem Grund brauchen wir wieder eine Rückbe-sinnung auf die Prinzipien der Wirtschaftspolitik, denCharakter der Wirtschaftspolitik. Wir müssen wegkom-men von kurzatmigen Teillösungen, die es nicht bringen.Ein Heftpflaster hier und da und homöopathische Dosensind nicht die Lösung. Sie müssen jetzt den Mut haben,konsequent Schnitte vorzunehmen, um etwas zu verän-dern, sonst wirkt sich Ihre Wirtschaftspolitik auch staats-politisch aus: Die Menschen wenden sich ab, sie vollzie-hen die innere Kündigung einem Staat gegenüber, dernicht in der Lage ist, die Weichen so zu stellen, dass siewieder eine Chance haben. Darum geht es: Gebt den Men-schen endlich eine Chance!
Ich erteile das Wort dem Kollegen Franz Müntefering,
SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Her-ren! Wirtschaftsminister Wolfgang Clement hat heuteMorgen sehr praktisch und konkret deutlich gemacht, wasin diesem Jahr in der Politik in Deutschland geschehenwird. Er hat noch einmal die Mittelstandsoffensive erläu-tert. Er hat darauf hingewiesen, was im Bereich der Hartz-
2024
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 26. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. Februar 2003 2025
Vorschläge beschlossen worden ist und was noch kom-men wird. Diese Maßnahmen sind für das Wirtschafts-wachstum und die Arbeitsplätze in unserem Lande außer-ordentlich wichtig.Der Supervize Merz hat darauf mit einer angeblichenAnalyse geantwortet; er hat gesagt, man müsse die Lageerst einmal analysieren.
Er hat all die tatsächlichen oder angeblichen Probleme indiesem Lande auf die Formel konzentriert: Das ist Schuldder SPD.
Das ist die alte Melodie, die schon Rudi Carrell gesungenhat. Sie haben nur nicht begriffen, Herr Merz, dass daseine Satire und nicht ernst gemeint war.
Sie haben heute viele dünne Bretter gebohrt. Ich wunderemich, wie intensiv Ihre Kollegen klatschen, wenn Sie hierIhre Analysen vorbringen.Zur Staatsquote:Wir haben 1998 eine Staatsquote von49,3 Prozent übernommen. In der vergangenen Legis-laturperiode haben wir sie auf 48,5 Prozent abgesenkt; dasbedeutet eine Absenkung um 20 Milliarden Euro.
Unser Ziel ist, sie auch weiter abzusenken. Man muss da-bei aber realistisch bleiben.
– Hören Sie erst einmal zu und lesen Sie das noch einmalnach! Vielleicht können Sie dann einen Teil Ihrer Vorur-teile überdenken.Die Staatsquote hat etwas mit der Zinslast und derSchuldenlast des Staates zu tun. Die über 40 Milliar-den Euro Zinsen, die wir auf Bundesebene Jahr für Jahrzu bezahlen haben, sind so viel wie 2 Prozent Staatsquote.Wir haben von Ihnen eine Schuldenlast geerbt,
die dazu geführt hat, dass von jeder Mark Steuern 22 Pro-zent für die Zinszahlungen aufgewandt werden mussten.
Wir haben in den vergangenen vier Jahren mit der Politikvon Hans Eichel erreicht, dass die Schuldenlast des Bun-des so weit gesunken ist,
dass wir nicht mehr 22 Prozent, sondern nur noch 19 Pro-zent der Steuereinnahmen für die Zinszahlungen benö-tigen.Wer die Staatsquote senken will, Herr Merz, muss be-greifen, dass diese Politik der Haushaltskonsolidierungein ganz wichtiger und richtiger Schritt ist, den wir auchin Zukunft tun werden.
Sie mahnen beim Wirtschaftsminister an, die Steuer-und Abgabenlast unter 40 Prozent zu senken. Das stehtals mittelfristiges Ziel in seinem Wirtschaftsbericht. DieSteuerquote ist niedriger, als sie in diesem Lande jemalswar. An der Abgabenquote werden wir zu arbeiten haben.
– Sie müssen sich Ihre alten Papiere noch einmal an-schauen, Herr Merz. Es kann ja sein, dass Sie in IhrerFraktion für alles, was Sie sagen, leichtfertig Beifall be-kommen. Aber wenn man sich die Zahlen, die Realitätenanschaut, kann man nur feststellen: Sie haben ein Wol-kenkuckucksheim aufgebaut und behaupten, das sei eineAnalyse. Aber das ist keine Analyse, sondern Ideologie.
Herr Kollege Müntefering, gestatten Sie eine Zwi-
schenfrage?
Gleich. Ich möchte noch einen Punkt dazu sagen.
Ich wundere mich über die Ignoranz gegenüber den
weltwirtschaftlichen Risiken, mit denen wir es zu tun
haben. Wir werden im Lande selbst das tun müssen, was
möglich ist, um Wachstum und Arbeit zu schaffen sowie
Wohlstand zu garantieren; das tun wir auch. Aber nicht
zur Kenntnis zu nehmen, dass weltwirtschaftlich etwas in
Bewegung war und ist und dass ein Konflikt im Nahen
Osten auch für den Wohlstand bei uns im Land eine hohe
Belastung wäre, ist blanke Ignoranz. Das ist zwar nicht
das Thema heute Morgen; aber die Art und Weise, wie Sie,
Herr Merz, und Herr Brüderle darauf reagiert haben,
zeigt, dass Sie nicht begriffen haben, welche ökonomi-
schen Risiken mit Blick auf den Irak und den Nahen Osten
es gibt. Darüber darf man sehr wohl sprechen.
Jetzt Kollege Singhammer.
Herr Müntefering, bei dieser Debatte geht es entschei-dend auch um das Vertrauen. Dies spielt in der Wirt-schaftspolitik eine große Rolle. Nehmen Sie eigentlich dieFranz Müntefering
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 26. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. Februar 2003
Johannes SinghammerFeststellung Ihres früheren Parteivorsitzenden Herrn La-fontaine ernst, der vor kurzem in der „Bild“-Zeitung for-muliert hat: „Wer das Kainsmal der Unzuverlässigkeitund Unglaubwürdigkeit auf der Stirn trägt, wird abge-wählt“?
Da haben Sie sich den falschen Zeugen gewählt. Ich
kommentiere Oskar Lafontaine weder öffentlich noch in-
tern.
Herr Merz, Sie haben konkret zwei Punkte angespro-
chen: den Kündigungsschutz und den Flächentarif.
Während Sie den Kündigungsschutz offensichtlich zer-
schlagen wollen, haben wir – Minister Clement ganz vor-
nean – Entscheidendes getan: Wir haben die Bedingungen
für befristete Arbeitsverhältnisse neu formuliert und deut-
lich erweitert, insbesondere für die 50-Jährigen und Älte-
ren. Wir haben im Hartz-Konzept die Basis dafür ge-
schaffen, dass die Leiharbeit sehr viel stärker genutzt
werden kann, als das bisher der Fall war. Wir haben mit
den Ich-AGs die Möglichkeit eröffnet, auch in Zukunft
eine Zusammenarbeit zwischen Unternehmen und Sub-
unternehmen zu organisieren.
Zum Flächentarif: Er ist in weiten Teilen Deutsch-
lands – das wissen Sie – nicht tatsächlich in Wirkung. In
Ostdeutschland ist der Flächentarif in den allermeisten
Firmen faktisch nicht gültig.
Weil das so ist, sage ich Ihnen: Sie reiten an dieser Stelle
auf Punkten herum, die für die Entwicklung bei uns im
Land nicht gut sind. Denn das, was Sie in Ihrer Formulie-
rung zum Kündigungsschutz und zum Flächentarif sagen,
hat ein Ziel: Sie wollen die Handlungsstärke und die
Handlungskraft der Gewerkschaften fundamental treffen.
Das ist Ihr Ziel; darauf richten Sie Ihre Politik.
Sie wollen auf dem Arbeitsmarkt die totale Individuali-
sierung haben.
Dazu sage ich Ihnen: Darüber kann man streiten. Das
sind aber zwei unterschiedliche Richtungen der Politik
und der gesellschaftlichen Organisation. Dass wir in
Deutschland so starke Arbeitgeberverbände und so
starke Gewerkschaften haben, war eine der Grundlagen
dafür, dass wir in Deutschland Wohlstand erreicht haben
und ihn auch behalten werden. Man kann sich das alles
anders wünschen.
Ich sage Ihnen: Eine Wirtschaft bzw. ein Arbeitsmarkt, die
bzw. der total individualisiert ist und wo die Ideologie der
totalen Privatisierung herrscht, wird anders aussehen als
die derzeitige Gesellschaft der Bundesrepublik Deutsch-
land.
Ich möchte auch in Zukunft in einem Lande leben, in dem
starke Arbeitgeber – auch diese nenne ich ausdrücklich –
und starke Arbeitnehmer ihre Interessen sinnvoll bündeln,
sie organisieren und sie auch erstreiten können. Das ist de-
mokratische Kultur. Die muss es auch in der Wirtschaft
geben. Deshalb lassen wir an der Mitbestimmung und an
all dem, was damit zusammenhängt, nicht rütteln. Das ist
sicher.
Kollege Müntefering, gestatten Sie eine Zwischen-
frage?
Nein.Wir wissen, dass die Erneuerung der Hauptimpuls inunserem Lande sein muss. Und so handeln wir. Dafürsteht der Wirtschafts- und Arbeitsminister WolfgangClement in besonderer Weise. Wenn Sie soeben zugehörthätten, hätten Sie mitbekommen, was er im Hinblick aufden Bereich Handwerk plant.Im Übrigen möchte ich ein Dankeschön in RichtungHandwerk sagen. Das ist der Bereich unserer Wirtschaft,der am intensivsten ausbildet. Er erreicht eine 10-Prozent-Quote. Wenn das alle anderen Bereiche in gleicher Weisetun würden, sähe die Situation sehr viel besser aus. MeineBitte an das Handwerk in Deutschland: Macht das weiterso mit der Ausbildung! Das ist gut für die jungen Men-schen und im Übrigen die Voraussetzung dafür, dass dasHandwerk auch in Zukunft meisterlich bleiben kann.
Das Problem, das der Mittelstand hat, ist ein ganz an-deres. Wenn man mit den Betroffenen spricht, sagen sie:Unser größtes Problem ist, dass die Banken – auch diedem Gemeinwohl verpflichteten Banken, die Sparkassen –vor Ort die Kreditlinien auch der gewinnträchtigen klei-nen und mittleren Unternehmen rabiat zusammengestri-chen haben.
Sie haben keine Chance mehr, Investitionen vernünftigfinanziert zu bekommen; manche werden geradezu in dieIlliquidität getrieben. Deshalb sage ich an dieser Stelle: Hierist nicht primär unser Handeln gefragt, sondern das liegt inder Verantwortung derer, die in diesem Lande in Geldinsti-
2026
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 26. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. Februar 2003 2027
tuten Einfluss auf die wirtschaftliche Entwicklung haben.Sie müssen dafür sorgen, dass die kleinen und mittleren Un-ternehmen vernünftige Finanzierungskonditionen bekom-men. Dies ist eine der wichtigsten Voraussetzungen dafür,dass die Wirtschaft handlungsfähig ist und vorankommt.
Unsere Erwartung an die Banken und Sparkassen ist da-her: Schalten Sie von Kleinmut auf Mut um! Es wäreschon gut, wenn man nicht immer versuchte, alles der Po-litik hinzuschieben.
Kollege Müntefering, gestatten Sie eine Zwischen-
frage des Kollegen Hinsken?
Herrn Hinsken kann ich das nicht verwehren. Übrigens
noch herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag!
Herr Müntefering, die Debatte dauert bereits 70 Mi-
nuten. Ist Ihnen bewusst, dass in dieser Zeit – wenn man
den Durchschnittswert zugrunde legt – neun Betriebe in der
Bundesrepublik Deutschland in Konkurs gegangen sind?
Weder Sie noch Minister Clement haben dazu auch nur
ein Wort gesagt. Was wollen Sie tun, damit die Konkurs-
zahlen nicht noch weiter steigen, sondern endlich nach
unten gedrückt werden? Dahinter stehen schließlich
menschliche Schicksale!
Herr Hinsken, das ist unsere gemeinsame Sorge. Das,was Sie sagen, wissen wir und das nehmen wir ernst. Ichweiß, dass Sie im Bereich des Handwerks in besondererWeise engagiert sind. Wir sind ganz nahe beieinander: Esgeht um die Frage, was man an dieser Stelle tun kann.Ich sage noch einmal: Das, was Wolfgang Clement ge-tan hat, nämlich durch eine besondere Initiative mit derKreditanstalt für Wiederaufbau und der Deutschen Aus-gleichsbank zumindest partiell Hilfestellung zu geben, istsehr viel besser und für die Unternehmen hilfreicher alsdie großen Reden, die Ihr Kollege Merz hier führt. Dassollten Sie zur Kenntnis nehmen.
Es gibt in Deutschland Arbeit, auch für das Handwerkund die kleinen und mittleren Unternehmen. Die Frage istnur, wie wir sie mobilisieren. Es gibt Arbeit im produzie-renden Bereich, es gibt Arbeit im Dienstleistungsbereich,es gibt Arbeit in der Baubranche. Wir müssen auch denKommunen die Chance geben, wieder stärker zu inves-tieren: in die Infrastruktur, in Gebäude. Die Arbeit liegt inDeutschland doch wirklich auf der Straße; sie muss nurmobilisiert werden. Die Kommunen fragen uns händerin-gend, wie das zu finanzieren ist, und die Handwerker fra-gen händeringend, wie das in Bewegung zu setzen ist.Wir haben ein Gesetz zur Steuerehrlichkeit vorgelegt.Uns geht es unter anderem darum, dass die großen Unter-nehmen, die in den vergangenen Jahren keine oder fastkeine Körperschaftsteuer mehr gezahlt haben,
so sie denn Gewinne machen, in Zukunft wieder Körper-schaftsteuer zahlen müssen – wenn auch nur noch 25 Pro-zent. An dieser Stelle aber – immerhin geht es darum, ob imVerlauf der Legislatur 8 bis 9 Milliarden Euro zusätzlich indie Kassen der Kommunen in Deutschland fließen – sagtdie CDU/CSU: Abgelehnt! Die Bürgermeister und dieOberbürgermeister der CDU und der CSU haben die durchdas Steuervergünstigungsabbaugesetz zu erwartendenMehreinnahmen längst in ihre Haushalte eingestellt, weilsie dieses Geld dringend brauchen. Sie aber verweigernsich.
Deshalb noch einmal die Bitte an Sie, Herr Hinsken, undan alle bei Ihnen, die klaren Verstand haben und nicht soideologisch herangehen, wie das Herr Merz tut:
Sorgen Sie dafür, dass das Steuervergünstigungsabbauge-setz beschlossen wird! Sie tragen sonst die Verantwortungdafür, dass die Kommunen auch in Zukunft die Investi-tionen, die dringend erforderlich wären, nicht finanzierenkönnen. Es liegt an Ihnen! Sie haben die Chance, demHandwerk zu Arbeit zu verhelfen. Von der FDPwill ich indiesem Zusammenhang gar nicht sprechen.
Über illegale Beschäftigung und Schwarzarbeit redenSie nicht – das passt in das Schema von Herrn Merz nichthinein –, obwohl dies eines der größten Probleme über-haupt ist und diese „Branche“ so schnell wächst wie keineandere. Wo aber sind sie denn, diese Leute? Viele der Un-ternehmen sind in den Arbeitgeberverbänden organisiert.Deshalb sage ich an dieser Stelle den Herren Rogowskiund Hundt: Wenn ihr über die hohen Lohnnebenkostenklagt, dann seht doch bitte ein, dass ihr selbst etwas dafürtun müsst! Auch Mitglieder eurer Organisationen tun ihreArbeit am Finanzminister und am Sozialsystem vorbei;der ehrliche Handwerker, der ehrliche Unternehmer ist derDumme, während sich die anderen ins Fäustchen lachen.
Franz Müntefering
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 26. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. Februar 2003
Franz MünteferingWir haben in der letzten Legislaturperiode in Bezug aufdas Tariftreuegesetz und das Arbeitnehmer-Entsende-gesetz sowie die Regelungen zum Lohndumping im Bau-gewerbe Gesetzesinitiativen ergriffen,
die von Ihnen alle bekämpft worden sind. Deshalb lautetmeine Aufforderung an Sie: Wer über die Senkung derLohnnebenkosten spricht –
– Herr Schauerte, lassen Sie das! –, der muss auch im Blickhaben, dass es ganz wichtig ist, die illegale Beschäftigungund die Schwarzarbeit in Deutschland einzudämmen! Daswissen Sie doch auch, Sie tun nur nichts dagegen.
Kollege Müntefering, gestatten Sie eine Zwischen-
frage des Kollegen Michelbach?
Nein, es tut mir Leid, ich habe nur noch eine Minute
Redezeit.
Ich will noch zwei Bereiche ansprechen, die für die
Binnennachfrage in unserem Land ganz wichtig sind.
Wir wissen: Der Export läuft. Wir hoffen, dass das so wei-
tergeht. Deutschland ist als Industrieland exportfähig und
die großen Unternehmen sind gut drauf. Aber wir wissen
auch, dass die Binnennachfrage nicht so groß ist, wie sie
sein sollte. Woran liegt das?
– Herr Schauerte sagt natürlich, das liegt daran, dass die
Sozis regieren.
– Jetzt klatschen Sie auch noch.
– Wer es so billig erklären will, der soll das doch tun.
Wenn Sie es jedoch genau ansehen, werden Sie feststel-
len, dass die Zurückhaltung beim Kaufverhalten während
der 90er-Jahre gewachsen ist. Im Jahre 2001 betrug die
Sparquote 140 Milliarden DM.
In welchen Bereichen können wir die Binnennachfrage
anstoßen? Wir können zu Investitionen in den Kommunen
beitragen, aber auch im Bau- und Gesundheitsbereich. In
der Gesundheitspolitikmüssen wir in diesem Jahr große
Reformen anpacken und zu Entscheidungen kommen.
Das Gesundheitswesen ist eine der größten Branchen in
unserem Land; dort sind viele Menschen beschäftigt und
werden in Zukunft noch mehr Menschen beschäftigt sein.
Dies ist nicht die Stunde, über Gesundheitsreformen zu
sprechen, aber für die Debatte, die wir darüber führen
werden, kündige ich schon jetzt an, dass wir gemeinsam
darauf achten müssen – das werden wir auch tun –, die
Existenzfähigkeit dieser Branche – ich sage das mit Blick
auf die Arbeitsplätze – zu erhalten; denn das Gesund-
heitswesen ist ein ganz wichtiger Aspekt für die Entwick-
lung der Binnennachfrage.
Abschließend möchte ich nur noch stichwortartig den
Bereich der Energiepolitik nennen. Hier geht es darum
zu prüfen, ob mit der energetischen Gebäudesanierung
– 160Millionen Euro sind dafür in den Haushalt 2003 ein-
gestellt – zwei Dingen gleichzeitig Genüge getan werden
kann:
dem der Schutz unserer Umwelt und der Schaffung von
Arbeitsplätzen. Sie von der Opposition haben sich in der
Energiepolitik in der vergangenen Legislaturperiode ver-
weigert. Wir haben 15 Gesetzentwürfe in den Bundestag
eingebracht, Sie haben 13 Mal dagegen gestimmt.
Wir haben die Verwendung der erneuerbaren Energien
aus ökologischen Gründen gestärkt, wir haben das aber
auch getan, um Arbeitsplätze zu schaffen. Die Energiepo-
litik muss auch bei der Verbesserung des Gebäudebestan-
des in der Bundesrepublik Deutschland eine Rolle spie-
len. Hier liegt eine große Chance für die kleinen und
mittleren Unternehmen; hier können wir etwas am Ar-
beitsmarkt bewegen.
Ich verstehe natürlich, dass Sie jetzt ungläubig schauen
und nicht klatschen; denn Sie wissen, dass ich Recht habe.
Mein Angebot und meine Bitte lauten: Wir müssen in den
nächsten Wochen und Monaten im Bundestag darüber
sprechen, wie wir den Arbeitnehmern und Unternehmen
konkret helfen können; denn wir brauchen mehr Arbeits-
plätze in diesem Land. Wir müssen aber endlich aufhören,
in Schlagworten die großen makroökonomischen Dinge
anzusprechen, wie es Herr Merz tut; sie sind nämlich bei
ihm nichts anderes als Luftschlösser.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
Das Wort zu einer Kurzintervention erteile ich dem
Kollegen Hans Michelbach.
Herr Müntefering, Sie haben die Chuzpe gehabt, diedeutsche Wirtschaft mit einer Globalschelte zu belegen.Ich muss diese Schelte, die Sie gegenüber den Verbands-vertretern und der gesamten deutschen Wirtschaft betrie-ben haben, strikt zurückweisen. Allein die deutsche Wirt-schaft zahlt 600 Milliarden Euro im Jahr anSozialabgaben. Es gibt also keinen Grund, die deutscheWirtschaft in dieser Form in die Ecke zu stellen. HerrMüntefering, das muss ich Ihnen ganz deutlich sagen.
2028
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 26. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. Februar 2003 2029
Sie haben gerade versäumt, Rezepte zur Bekämpfungder Schattenwirtschaft vorzulegen. Im Bereich der Schat-tenwirtschaft sind im letzten Jahr 370 Milliarden Euro er-wirtschaftet worden. Das war der einzige Bereich, in demes einen Zuwachs gegeben hat. Inzwischen beträgt sein An-teil 17,5 Prozent des Bruttoinlandsproduktes. Das ist Re-kordniveau! Dagegen haben Sie kein Rezept. Sie habenpauschal die deutsche Wirtschaft angegriffen, statt dieSchattenwirtschaft gezielt zu bekämpfen.Noch ein Wort zur Schuldenentwicklung: Sie habengesagt, die Entwicklung der Staatsquote hänge mit derSchuldenentwicklung zusammen. Das ist zwar richtig, aberSie dürfen nicht nur in eine Richtung schauen, sondernmüssen sich selbst die Frage stellen: Was haben Sie zurKonsolidierung und zur Rückführung der Verschuldunggemacht? In den Jahren Ihrer Regierungsverantwortung istdie Neuverschuldung um über 100 Milliarden Euro gestie-gen. Das haben Sie zu verantworten. Lassen Sie die Fingervom Stabilitäts- und Wirtschaftspakt und nehmen Sie dieseSituation wahr! Dazu fordere ich Sie herzlich auf.
Kollege Müntefering, Sie haben das Wort zur Erwide-
rung.
Sehr geehrter Kollege, wenn ich hier Herrn Merz in
Person kritisiere, meine ich nicht die ganze Fraktion der
CDU/CSU. Wenn ich Herrn Rogowski kritisiere, meine
ich nicht die ganze Wirtschaft in Deutschland.
Dass wir in Deutschland tüchtige Unternehmer haben,
müssen Sie uns nicht sagen. Dass Unternehmen schwarze
Zahlen schreiben müssen, wissen auch wir Sozialdemo-
kraten. In diesem Zusammenhang ist Schwarz ausnahms-
weise einmal eine schöne Farbe. Dazu wollen wir auch
gern unseren Teil beitragen.
Unsere Wirtschaft ist global tätig und das ist gut für
uns; denn wir gewinnen durch die Globalisierung, das ist
überhaupt keine Frage. Wir haben der deutschen Wirt-
schaft in den vergangenen Jahren geholfen, wettbewerbs-
fähig zu werden.
– Es kann sein, dass Herr Merz Ihnen immer etwas ande-
res erzählt, aber hören Sie einfach mal zu.
Wir haben in den vergangen Jahren dafür gesorgt, dass
ein Großteil dieser Unternehmen keine oder fast keine
Steuern mehr zahlen musste. Sprechen Sie einmal mit
Herrn Hinsken, er wird Ihnen das bestätigen!
Die Handwerksbetriebe sowie die kleinen und mittleren
Unternehmen beklagen doch, dass wir die großen Unter-
nehmen in solcher Weise hofieren und die kleinen Unter-
nehmen im Grunde angeblich verkümmern lassen.
Herr Kollege, wir haben kein Problem damit, eine ver-
nünftige Industriepolitik zu machen. Wir bleiben Indus-
trieland. Die großen Industriebetriebe bleiben die Lokomo-
tive für unsere Wirtschaft. Hier machen wir keine Abstriche.
An dieser Stelle muss man aber auch klipp und klar sagen:
Vorwürfe aus dieser Richtung an uns und den Versuch, die
Handlungsmöglichkeiten der Gewerkschaften zu zerschla-
gen, halte ich für nicht vernünftig. Wir wenden uns dagegen;
denn dies kann keine vernünftige Entwicklung sein.
Nun zu Ihrer Anmerkung zur Staatsquote: Sie können
es wenden, wie Sie wollen, aber die Zinsen in Höhe von
circa 40 Milliarden Euro, die wir pro Jahr auf Bundes-
ebene zahlen müssen, stellen eine Belastung für den Staat
dar. Jedes Prozent Staatsquote macht ungefähr 20 Milliar-
den Euro aus. Unsere Zinsschuld macht also allein 2 Pro-
zent der Staatsquote aus. Ich habe nicht behauptet – keiner
von uns sagt das –, dass wir die Schulden gesenkt haben.
– Das ist doch billig, hört doch auf! Ihr wisst doch ganz
genau, dass es anders ist.
Es geht nicht darum, ob die Schulden gesenkt worden
sind. Es geht darum, dass die Nettokreditaufnahme redu-
ziert worden ist. Das ist geschehen und darauf sind wir
stolz. Das war schon schwer genug.
Die Leistung, die Hans Eichel in den letzten vier Jahren
erbracht hat
– die Schulden sind immer in Relation zu den Einnahmen
zu sehen, Herr Kauder –,
ist die: 1998 wurden von jeder Mark, die an Steuern ein-
genommen wurde, 22 Prozent für Zinszahlungen aufge-
wandt. Heute beträgt diese Quote 19 Prozent. 19 Prozent
sind deutlich weniger als 22 Prozent. Wir haben die Hand-
lungsfähigkeit des Staates verbessert. Darauf sind wir
stolz und diesen Weg gehen wir weiter.
Ich erteile das Wort dem Kollegen Heinz Riesenhuber,CDU/CSU-Fraktion.
Hans Michelbach
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 26. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. Februar 2003
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Her-ren! Die Argumentation von Herrn Müntefering ist in ei-ner raffinierten Weise darauf angelegt, die Menschen zuverwirren. Erst hat er hier dargestellt, die jetzige Form derKörperschaftsteuer sei verhängnisvoll, man müsse sieerhöhen und die Union müsse das mittragen.
In Ihrer Antwort auf die Kurzintervention des KollegenMichelbach haben Sie dagegen mit großer Begeisterungdargestellt, dass Sie mit dieser Körperschaftsteuer eineLeistung vollbracht und zur Entlastung der Industrie bei-getragen haben.Der Hintergrund ist aber doch der: Herr Eichel hatteden Auftrag, den Körperschaftsteuersatz zu halbieren.Ihm ist damit gelungen, von Einnahmen aus der Körper-schaftsteuer in Höhe von 23Milliarden Euro zu Ausgabenvon knapp 2 Milliarden Euro pro Jahr zu kommen. DieserEinbruch ist auf den Fehler von Herrn Eichel bei seinerArbeit zurückzuführen. Er hat seine Probleme nicht lösenkönnen. Wenn Sie das, was Herr Eichel in den Sand ge-setzt hat und wodurch er uns in eine steuerliche Falle hattappen lassen – dies bringt uns in eine überaus kritischeSituation –, als Triumph der Weisheit und der überlegenenStrategie der SPD darstellen wollen, dann ist das wirklichein Hochmaß an Raffinement, an intellektueller Akroba-tik, das man schon fast bewundern muss.
Zum Thema Schwarzarbeit hat Ihnen der KollegeMichelbach in schlichten Worten einige relevante Punktemitgeteilt. Die Frage ist doch: Warum steigt die Schwarz-arbeit, wenn Sie regieren? Wenn Sie anfangen, die Mini-jobs sozusagen zu kriminalisieren,
dann bekommen Sie natürlich Probleme. Und von derUnion haben Sie verlangt, dies wieder ins Lot zu bringen.Wir haben die Minijobs in eine vernünftige Form ge-bracht. Die konstruktive Arbeit der Union im Bundesratwar hilfreich für die Zukunft Deutschlands. Wir habendieses unsägliche und abstruse Gesetz zur Bekämpfungder Scheinselbstständigkeit de facto abgeschafft. Sie soll-ten sich bei uns herzlich bedanken und nicht solch auf-sässige Bemerkungen machen.
Mir ist die Debattenstrategie, die Sie an den Tag gelegthaben, nicht vollkommen klar.
Herr Clement hat gerade eine faszinierende Rede gehalten.
Er hat im Grunde im Einzelnen dargestellt, dass, warumund wie die Reformen durchgeführt werden müssen unddass die konstruktive Zusammenarbeit mit der Union ge-fordert sei. Herr Müntefering dagegen hält eine Rede, alshabe er die Absicht, die Opposition zu stürzen. Das istkeine besonders intelligente Strategie.
Herr Schulz hat auf konstruktive Weise, die wir von unse-ren Freunden bei den Grünen gewöhnt sind, darauf hinge-wiesen, dass wir Vorschläge machen sollen. Das heißt also:Ihr braucht uns! Lieber Herr Müntefering, warum kommenSie nicht mit Liebe und Demut auf uns zu und bitten unsum brüderlichen Rat, der Ihnen helfen soll, eine verfahreneSituation halbwegs wieder in Ordnung zu bringen?
Wir machen – Herr Friedrich Merz hat darauf hinge-wiesen – konkrete Vorschläge. Wir haben, obwohl diesalles schwierige Bereiche sind, Vorschläge zu den be-trieblichen Bündnissen für Arbeit, zur Gesundheitspolitikund zu der Frage des Kündigungsschutzes vorgelegt.
Wenn Sie weise wären, sehr geehrter Herr KollegeMüntefering, dann müssten Sie in den nächsten eineinhalbJahren mit Sorgsamkeit vorgehen, als ob Sie einen großenSchatz beschützen müssten. Denn jetzt sind die Wahlen inHessen und Niedersachsen gelaufen. Das Ergebnis ist zumeinen sicher der großartigen Leistung von Christian Wulffzu verdanken. Der Erfolg ist auch der hervorragenden Re-gierungsarbeit von Roland Koch mit Ruth Wagner zu ver-danken. Das Ergebnis war aber auch eine massive Ohr-feige für die Bundesregierung, weil es die Leute nichtmehr ausgehalten haben, was hier gelaufen ist.
Sie haben nun 18Monate Zeit bis zu den nächsten großenWahlen, die die Mehrheit im Bundesrat verändern könn-ten. Diese Zeit müssten Sie, wenn Sie ein Minimum anWeisheit haben, so nutzen, dass Sie das Land voranbrin-gen. Und wie sieht es aus? Die Mehrheiten sind klar: Siehaben im Bundestag – wie auch immer – die Mehrheit.Wir haben im Bundesrat die Mehrheit; diese ist stark. Siebrauchen für die relevanten Punkte bei dem, was Sie vor-haben, auch den Bundesrat.
Dabei kann die Arbeitsteilung nicht so aussehen, dass wirsagen, was alles getan werden soll, und Sie uns erläutern,warum dies alles Käse sei. Herr Müntefering, dies istkeine geschickte Strategie; das ist einfach schlechtesHandwerk.
2030
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 26. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. Februar 2003 2031
Sie müssten mit handfesten und konkreten Vorschlägenkommen und müssten sagen, was Sie jetzt wirklich wol-len.
– Schauen Sie, eine solch konstruktive, in die Zukunftweisende Opposition machen wir nicht aus Liebe zu Ih-nen, sondern aus Liebe zu Deutschland. So etwas kannsich ja jede Regierung nur wünschen.
Wenn ich an 1996, die Petersberger Beschlüsse und diedamalige Steuergesetzgebung, zurückdenke, dann mussich sagen: Ihre Strategie bestand in nichts anderem, alsdiese ganze Sache blindlings zu blockieren, obwohl sichdas verheerend für die Zukunft Deutschlands ausgewirkthat.
Wir sind jetzt in der Situation, die beschrieben wordenist und die Friedrich Merz analysiert hat: Es ist im Grundealles verkorkst. Unsere Chance besteht eigentlich nurdarin, dass wir im europäischen Vergleich so schlechtsind. Wenn wir so schlecht sind, dann heißt das doch, dasswir ein gewisses Potenzial haben. Dann können wir bes-ser werden; darauf können wir aufbauen. Und dann brin-gen Sie solche Vorschläge!Der Sachverständigenrat hat uns handfeste Vor-schläge gemacht. Sein erster Punkt ist: Steuern senken,erst Recht in dieser Situation.
Was machen Sie? Die Steuerreform mit der Entlastung fürden Mittelstand stand im Gesetzblatt. Das nehmen Siejetzt erst einmal wieder heraus. Ferner sagen Sie, die Ban-ken seien des Teufels, weil sie für den Mittelstand den Zu-gang zu den Krediten erschweren. Dazu meine ich: GebenSie doch dem Mittelstand die Chance, Geld zu verdienenund somit Eigenkapital aufzubauen. Dann kann er auch zuden Banken gehen.
Die Banken haben kein eigenes Geld; es ist das Geld derBürger. Der typische kleine Sparer, der sein Geld einerBank anvertraut, stellt das Geld zur Verfügung, mit demder Mittelstand arbeiten soll. Mit diesem Geld muss dieBank verantwortlich umgehen. Welche Vorstellung vonWirtschaft haben Sie eigentlich?
Der Kollege Brüderle hat mit der Dynamik, die ihm ei-gen ist und die wir alle sehr bewundern,
darauf hingewiesen, dass wir nur mithilfe des Mittel-stands eine Chance haben, das Problem der Arbeitslosig-keit zu überwinden.
Natürlich ist dies die einzige Chance. Und dann frustrie-ren Sie den Mittelstand mit 48 Steuererhöhungsgesetzen.Wenn ich mir eine Strategie überlegen sollte, wie man dieLeute verrückt machen und sie so beschäftigen könnte,dass sie keine Lust mehr zur Arbeit haben, dann würde ichsagen: Ich mache 48 Gesetze. Deutschland steckt in einerKrise und Sie reden über die Mehrwertsteuer auf Schnitt-blumen und Katzenfutter. Das ist doch wirklich ein Witz.
Was ist denn das für ein Weltbild, das dahinter steckt?Herr Minister Clement hat mit markigen Worten ge-sagt: Die Zeit der markigen Worte ist vorbei. Jetzt geht esdarum, Taten sehen zu lassen. – Jawohl! Sie haben bisjetzt in eindrucksvollen und majestätischen Worten dieVorschläge genannt, die gemacht worden sind. Die Vor-schläge des Sachverständigenrates gefallen mir besser alsjene, die im Jahreswirtschaftsbericht enthalten sind. DieVorschläge des Sachverständigenrates sind konkreter undhandfester; der Sachverständigenrat spricht über dieStaatsquote in einer sehr viel konkreteren Weise als Sie.Aber wie dem auch sei: Jetzt leisten Sie mal etwas!In der Tat, Herr Müntefering, Sie haben Recht – ichfreue mich, auch Ihnen einmal zustimmen zu können; hiersehen wir ja, wie die Liebe unter den Menschen wächst –:
Im Jahreswirtschaftsbericht findet sich eine Passage, inder es heißt, das schrittweise zu erreichende, mittelfristigeZiel bei der Steuer- und Abgabenlast seien 40 Prozent.Dazu sage ich: Prima! Aber das steht am Schluss eineskleinen Abschnittes über die Rürup-Kommission, sodassman sich wundert. Das ist ungefähr so, wie der Pilatus insCredo kommt: Zufällig steht es da drin. Dabei ist das dochder zentrale Punkt, von dem aus Sie ableiten müssten, wasSie wollen, von dem aus Sie Ihre Strategie entwickelnmüssten, von dem aus man aufbauen müsste, was inDeutschland sein soll. Unter diesem Titel wären alle ein-zelnen Maßnahmen zu fassen: Wirtschaftswachstum,Bürokratieabbau. Den Bürokratieabbau machen, bitteschön, Sie; Bürokratieabbau ist exekutives Handeln. Da-bei kann Ihnen die Opposition selbst bei all ihrer brillan-ten Intelligenz und ihrer überlegenen Konzeptionskraftnur begrenzt helfen. Wie wir das machen, haben wir inHessen gezeigt. Von Hessen lernen heißt, wie Sie einmalgesagt haben, siegen lernen.
Wir haben dort 39 Prozent der Verwaltungsvorschriftenund 15 Prozent der Rechtsverordnungen abgebaut. DieMenschen haben dabei keine Schmerzen erlitten, sondernsind glücklicher geworden. Das heißt: Tun Sie etwas!Bringen Sie etwas voran!Dr. Heinz Riesenhuber
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 26. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. Februar 2003
Dr. Heinz RiesenhuberHerr Clement, wir sehen mit Freuden, dass Sie mitgroßer Dynamik und Tatkraft gestartet sind.
Kollege Riesenhuber, ich muss Sie leider daran erin-
nern, dass Sie Ihre Redezeit deutlich überschritten haben.
Ich bitte um Nachsicht und komme zum Schluss. –
Herr Bundesminister Clement, ich freue mich über jeden
Wirtschaftsminister, der als Tiger startet. Wir hoffen sehr,
dass Sie nicht als Bettvorleger landen. Es ist nicht nur eine
Frage des persönlichen Geschicks des hochverehrten
Herrn Bundesministers, sondern auch eine Frage, ob die
begrenzte Zeit genutzt wird, Deutschland voranzubrin-
gen, ob Sie mit den markigen Reden aufhören und zu den
Taten, die Sie so mannhaft in Ihren markigen Reden ver-
langt haben, schreiten. Hier bauen wir auf Ihre konstruk-
tive Tatkraft. Sie können sich darauf verlassen, dass die
Opposition Sie konzeptionell so begleiten und immer
wieder herausfordern wird, dass all Ihre intellektuellen
Fähigkeiten in hinreichendem Maße entwickelt werden.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich glaube, wir wer-
den vor Herrn Riesenhubers Auftritten zukünftig links
und rechts noch zwei Standmikrofone installieren müs-
sen.
Nun erteile ich Kollegin Gesine Lötzsch das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kol-lege Riesenhuber, auch ich muss sagen, dass ich vor allenDingen von den sportlichen Leistungen, die Sie hier voll-bracht haben, begeistert bin. Das ist eine tolle Sache.Ich denke, der vorliegende Jahreswirtschaftsberichtist ein Dokument, das bisher für einen Jahreswirtschafts-bericht einmalig ist; denn es ist von sehr viel Pessimismusgeprägt. Die Arbeitslosenzahlen bleiben hoch und diePrognosen für das Wirtschaftswachstum sind minimal; sieliegen inzwischen bei unter 1 Prozent. Das ist tatsächlicheine denkbar schlechte Ausgangslage für eine wirtschaft-liche Stabilisierung.Die Bundesregierung macht die schlechte Weltwirt-schaftslage etwas zu einseitig für diese Situation verant-wortlich. Ich glaube, es ist ein Fehler, darauf zu vertrauen,dass die Wirtschaft nur über ständig steigende Export-überschüsse wieder angekurbelt werden könnte. Anknüp-fend an die gestrige Debatte möchte ich den Einfluss derinternationalen Lage selbstverständlich nicht vernachläs-sigen. Wir als PDS lehnen einen Krieg gegen den Irak ab,weil wir Krieg für kein Mittel der Politik halten.
Aber auch für die Wirtschaft in Europa hätte ein Krieg ge-gen den Irak verheerende Folgen.Meine Damen und Herren, zur Bekämpfung der Ar-beitslosigkeit und zur Ankurbelung der Wirtschaft setztdie Bundesregierung auf alte Rezepte, deren Unwirksam-keit längst nachgewiesen ist. Dabei muss man nur nachOstdeutschland schauen. Weder die weitere Flexibilisie-rung des Arbeitsmarktes noch Billiglohnstrategien wer-den zu Erfolgen führen. Würden niedrigere Löhne wirk-lich Arbeitsplätze in Deutschland schaffen, müssten wirim Osten die niedrigsten Arbeitslosenzahlen in der Bun-desrepublik haben. Flexible Arbeitszeiten, untertariflicheBezahlung und unregelmäßige Lohnzahlungen sind dortkeine Seltenheit. Ich frage mich häufig, wie die Menschenihre Existenz mit derart niedrigen Löhnen überhaupt si-chern können.Trotz Investitionen in die Infrastruktur verpuffte derGründungsboom in Ostdeutschland Anfang der 90er-Jah-re. Das Gegenteil ist eingetreten: Durch die sinkendeKaufkraft wird auch noch die Binnennachfrage lahm ge-legt. Solange das Wirtschaftswachstum unter 2 Prozentliegt, werden auch keine neuen Arbeitsplätze entstehen.Anstatt aber die Beschäftigung über wirksame Arbeits-marktprogramme zu fördern, zielt die Politik der Bundes-regierung im Augenblick weiter darauf ab, die Arbeitslo-sen loszuwerden. Ich halte das weder wirtschaftlich nochsozial für vernünftig.Die Bundesanstalt für Arbeit – so sagte der Ministergestern im Ausschuss – soll sich von einer Anstalt zu ei-ner Agentur wandeln. Das hört sich als Schlagwort ersteinmal sehr gut an. Aber der Paradigmenwechsel, für denFlorian Gerster stehen will, hat sich auf die Lage der Ar-beitslosen bisher noch nicht positiv ausgewirkt. Bemer-kenswert finde ich, dass Gerster gegenüber den Landes-arbeitsministern erklärt hat, für ihn stünden die Interessender Beitragszahler im Vordergrund. Das ist aus meinerSicht zwar richtig, aber nur so lange, wie die Bedürfnisseder Arbeitslosen dabei nicht aus dem Blick geraten.Die Koalition hat sich nun vorgenommen, die Zuschüssefür die Bundesanstalt für Arbeit auf null zu reduzieren. Be-kanntlich haben die ostdeutschen SPD-Abgeordneten da-gegen protestiert und die Einstellung von über 800 Milli-onen Euro in den Haushalt gefordert. Damit konnten siesich in ihrer Fraktion nicht durchsetzen. Ich würde Ihnenaber empfehlen, verehrte Kolleginnen und Kollegen vonder SPD, die konkreten Erfahrungen Ihrer Abgeordnetenaus dem Osten ernster zu nehmen. Die Ostdeutschen sindzwar in diesem Land die Minderheit. Ihren Wahlsieg vomSeptember 2002 hat die SPD aber den Ostdeutschen zu ver-danken. Dass die Wählerinnen und Wähler mit ihrerStimmabgabe konkrete Erwartungen verbinden, ist keinGeheimnis. Das sollten Sie nicht vergessen.Die Mittelstandsförderung, die sich die Bundesregie-rung auf die Fahnen geschrieben hat, nimmt im Wirt-schaftsbericht nur einen kleinen Raum ein. Qualität mussnicht mit Quantität gleichgesetzt werden, aber bemer-kenswert ist diese Zurückhaltung schon. Ich denke, eineneue Mittelstandspolitik ist dringend erforderlich. DieBedeutung kleiner und mittelständischer Unternehmenwird nicht nur gesamtwirtschaftlich, sondern auch gesell-
2032
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 26. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. Februar 2003 2033
schaftlich unterschätzt. Der Mittelstand schafft zwar diemeisten Arbeitsplätze, erhält aber die wenigsten Subven-tionen. Das ist nicht nur ungerecht, sondern auch ökono-misch bedenklich.Werden Großprojekte wie Cargolifter oder Lausitzring– salopp gesprochen – in den Sand gesetzt, ist das ganzeGeld verloren und die Folgekosten sind groß. Werdenaber vergleichsweise geringe Subventionen an mehrerekleine und mittlere Unternehmen vergeben, so ist die Er-folgswahrscheinlichkeit rein statistisch höher. Das bedeu-tet allerdings mehr Arbeit für diejenigen, die die Gelderverwalten. Auch bringt es nicht so schicke Politikerfotosvon geretteten Großbetrieben. Dass diese Rettungsaktio-nen – siehe Holzmann – oft nicht von Dauer sind, sei hiernur am Rande erwähnt.
Ich denke, dass wir in der Mittelstandspolitik – HerrPräsident, ich bin gleich fertig – den Bedürfnissen ost-deutscher Betriebe gerecht werden müssen. Diese Be-triebe sind oft sehr klein. Ihr Problem ist das fehlende Ei-genkapital. Im Osten gibt es nun einmal nicht die vielbeschworene Erbengeneration. Dort sind keine Erbtantenoder reichen Eltern, die ihrer Verwandtschaft mit um-fangreichen Immobilien Sicherheit bieten können. Vonden Banken werden die zahlreichen jungen Unternehmerin den neuen Ländern oft wie die letzten Löffel behandelt.Jede Wirtschafts- und Arbeitsmarktförderung wird nurdann funktionieren, wenn es keinen Krieg geben wird.Alle Bemühungen der Bundesregierung, den drohendenKrieg gegen den Irak zu verhindern, finden unsere volleUnterstützung. In dieser wichtigen Frage hat die Bundes-republik die Mehrheit der Bevölkerung hinter sich. Gutwäre, wenn die Regierung endlich zu einer Wirtschafts-und Arbeitsmarktpolitik finden könnte, die ebenfalls dieMehrheit der Bevölkerung hinter sich hat.Danke schön.
Ich erteile Kollegen Joachim Poß, SPD-Fraktion, das
Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! HerrRiesenhuber hat hier – das hat sicherlich einigen gefallen –im Stile eines überdynamisierten Managementgurus agiert.
– Ich meine das wirklich lieb. – Wenn man seine Aussa-gen auf den Kern zurückführt, hat er Steuersenkungengefordert. Das war seine Aussage in dieser Sache. Steuer-senkungen sind also der einzige Vorschlag der Union indieser Debatte.
Herr Merz hat zwei Anmerkungen zum Arbeitsrechtgemacht. Das ist alles, was die Opposition – die FDP fälltgeistig sowieso aus –
in einer Debatte über den Jahreswirtschaftsbericht zu-stande bringt! Der Bundeswirtschaftsminister konnte inseiner Rede aus zeitlichen Gründen nicht auf alles einge-hen. Den Menschen in der Bundesrepublik Deutschlandmuss klar sein, auf welch geistigem Niveau Sie sich in-zwischen befinden. Darum geht es im Kern.
Im Parlament muss deutlich gemacht werden, wer kon-krete, vernünftige und realistische Lösungskonzepte fürdie anstehenden Probleme anbietet und wer nicht. Es gehtnicht um das Schwarze-Peter-Spiel.Herr Merz, die Art und Weise, wie Sie die Gewerk-schaften bzw. die Kolleginnen und Kollegen, die sich fürandere Arbeitnehmer und deren Interessen einsetzen, dis-kreditieren und teilweise verleumden, ist für unseren So-zialstaat erbärmlich. Dass muss man ganz deutlich sagen.
Herr Göhner, der gerade den Saal verlassen hat, ist docheiner Ihrer engsten Berater. Er ist Hauptgeschäftsführerder Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberver-bände. Herr Michelbach, der dort sitzt, ist Vizepräsidentdieses Verbands. Das sind die Funktionäre, die in diesemLande Fortschritte verhindern. Sie sitzen in Ihren Reihen.
So kann die Diskussion nicht geführt werden. Wir soll-ten sie auch nicht auf einem solchen Niveau führen, indemnur mit dem Finger auf andere gezeigt und gefragt wird,welche Funktionäre die anderen in ihren Reihen haben.
– Ich wollte damit nur deutlich machen, dass die Diskus-sion, die Sie losgetreten haben, Herr Merz, und in der dieArbeitnehmerinteressen verleumdet werden, Ihnen nichtaus Ihrer Verlegenheit heraushilft. Diese Verlegenheit,Herr Merz, haben Sie kürzlich in einem Interview in der„Welt am Sonntag“ deutlich gemacht.
Darin haben Sie nämlich Ihr zentrales Wahlkampfver-sprechen der Steuersenkungen – Herr Riesenhuber hat dasnicht richtig mitbekommen; das verstehe ich nach seinemAuftritt auch –
wieder kassiert, Herr Merz, weil Sie die Fakten ein wenigkennen.
Sie haben keine Steuersenkungen mehr versprochen, sehrwahrscheinlich aus guten Gründen. Denn Sie wissen umDr. Gesine Lötzsch
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 26. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. Februar 2003
Joachim Poßdie Widersprüche. Der saarländische MinisterpräsidentMüller hat sogar festgestellt, dass Steuererhöhungen not-wendig sind, vielleicht noch nicht 2003, aber dann 2004.Herr Böhmer hat sich in ähnlicher Weise eingelassen. Dasist die Situation. Sie werden von den Realitäten diesesLandes eingeholt, meine Damen und Herren von der Op-position. Darüber werden wir in den nächsten Tagen undWochen ringen. Darum geht es nämlich.
Kollege Poß, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Fischer?
Gerne.
Herr Poß, können Sie sich vorstellen, dass sich jemand,
der elfeinhalb Jahre Betriebsratsvorsitzender war und seit
über 30 Jahren in der Gewerkschaft ist, von manchen
Funktionären dieser Gewerkschaft nicht mehr vertreten
fühlt so wie ich?
Entschuldigen Sie, aber bei aller Sachlichkeit: Das ist
Ihr Problem.
Es ist Ihr Problem, wie Sie das wahrnehmen, weil Sie als
Betriebsratsvorsitzender möglicherweise eine Politik un-
terstützen, die in einem diametralen Gegensatz zu den Ar-
beitnehmerinteressen steht. Da müssen Sie sich Ihre ei-
gene Befindlichkeit klar machen.
Herr Merz hat in der „Welt am Sonntag“ festgestellt:
Die Finanzpolitik kann derzeit angesichts der de-
saströsen Lage der öffentlichen Haushalte keinen
konstruktiven Beitrag zur Lösung der Wirtschafts-
krise mehr leisten.
Ich finde es beachtlich, wenn Herr Merz nur wenige Tage
nach den Landtagswahlen in Hessen und Niedersachsen
zugibt, dass die riesigen Steuersenkungsforderungen der
Union, die noch in dieser Woche von Herrn Glos und Frau
Merkel wiederholt wurden, kassiert werden.
Damit wurde den Menschen Sand in die Augen gestreut.
Das war nichts anderes als Augenwischerei und
Schwindel. So viel zum Thema Glaubwürdigkeit und
Lügen.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen
Laumann?
Natürlich. Das ist ja für die Redezeit günstig.
Herr Kollege Poß, Sie haben meinen stellvertretenden
Fraktionsvorsitzenden Friedrich Merz wegen einiger Äu-
ßerungen über die Gewerkschaften angegriffen. Ich will
noch einmal klarstellen: Der Kollege Merz hat nichts an-
deres gesagt,
als dass die Entscheidungen in diesem Land im Parlament
und nicht in den Vorständen welchen Verbands auch im-
mer fallen müssen. Bestätigen Sie das?
Ich möchte Ihnen noch eine zweite Frage stellen. Sie
kommen ja aus dem Ruhrgebiet, in dem es eine starke ge-
werkschaftliche Tradition gibt.
Würden Sie mir nicht Recht geben, dass es leider in den
vergangenen Jahren bei vielen DGB-Gewerkschaften die
Entwicklung gegeben hat, dass das Prinzip der Einheits-
gewerkschaften nicht mehr gelebt wurde
und dass gerade im Ruhrgebiet auf Gewerkschafts- und
SPD-Versammlungen kaum noch ein Unterschied in der
Rhetorik erkennbar war?
Könnten Sie sich vorstellen, dass sich die 50 Prozent Ar-
beitnehmer, die bei den letzten beiden Landtagswahlen
die CDU gewählt haben, durch diese Rhetorik nicht mehr
angesprochen fühlen?
Herr Laumann, ich glaube, dass Sie wirklich ein auf-rechter Mensch sind. Das will ich ausdrücklich konstatie-ren. Aber Sie haben ein Problem. Sie als Arbeitnehmer-vertreter müssen im Zweifel immer die Interessen desWirtschaftsflügels Ihrer Fraktion im Deutschen Bundes-tag vertreten. Das ist Ihr Problem, obwohl Sie versuchen,diesen Interessenkonflikt abzumildern. Ich schätze Siepersönlich. Dennoch muss ich Ihnen sagen, dass Sie imZweifel auf eine Politik setzen, die sich gegen die Arbeit-nehmerschaft richtet.
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 26. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. Februar 2003 2035
Die Konzepte, bei denen Sie konkret werden, wie zumBeispiel bei den Konzepten zur Gesundheitsreform, rich-ten sich gegen die Arbeitnehmerschaft. Das ist Ihr per-sönliches Problem, Herr Laumann. Davon kann ich Sie– mit welcher Antwort auch immer – nicht befreien.
Ich stelle fest: Wir bleiben berechenbar für Arbeitneh-mer, für die mittelständischen Unternehmen und für Fa-milien mit Kindern. Wir senken in den Jahren 2004 und2005 weiter die Steuern.
Wir sind also berechenbar. Wir hatten im letzten Jahr dieniedrigste Steuerquote innerhalb der OECD. Die Minis-terpräsidenten der Union bekommen einer nach dem an-deren kalte Füße, weil sie wissen, dass die Finanzpro-bleme in erster Linie auf eine unzureichende Steuerbasiszurückzuführen sind. Darüber werden wir uns in dennächsten Wochen auseinander setzen müssen.Monatelang haben Sie, wie gesagt, die Senkung des Ein-kommensteuerspitzensatzes auf unter 40 Prozent und an-deres mehr gefordert. Wo aber bleiben Ihre konkreten Vor-schläge? Sie haben doch immer den Eindruck erweckt, Siehätten Konzepte. Jetzt sagt Frau Merkel, dass Sie noch et-was Zeit brauchen, um Konzepte vorzulegen. Wo ist denndas Sparpaket von Herrn Stoiber? Die „Rheinische Post“,die sich nicht beleidigt fühlt, wenn man feststellt, dass sieunionsnah ist, schrieb, dieses Sparpaket sei ein Phantom.Mit diesem Phantom können wir nicht länger Politik ma-chen. Die Menschen in der Bundesrepublik Deutschlandverlangen konkrete Antworten. Wir geben sie ihnen.
Sie haben Ihre eigene Klientel über die tatsächlichenVerhältnisse getäuscht. Es wird für viele Menschen einschmerzhafter Prozess werden. Aber auch für Sie wird esschmerzhaft werden, wenn Sie jetzt in die Realität eintau-chen müssen.Wir warten auf Ihre Vorschläge. Herr Stoiber hat dochjeden Tag mit vibrierender Stimme gesagt, dass dieGroßunternehmen, die von den Sozis so begünstigt wür-den, keine Steuern mehr zahlen würden und dass dies einesoziale Schieflage sei. Diese Meinung hat er schon imFernsehduell mit dem Bundeskanzler vertreten. Wo istdenn Ihr Vorschlag zur Reform der Körperschaftsteuer?Sie sind doch gar nicht in der Lage, einen solchen Vor-schlag zu machen.
Herr Meister sagt, dass Sie in diesem Punkt nichts verän-dern wollen. Andere wiederum äußern sich anders. DieWahrheit ist, dass Sie für die Auseinandersetzung mit derRealität in diesem Lande nicht aufgestellt sind.
Sie betreiben nur Augenwischerei. Immer wenn eskonkret wird, tauchen Sie weg. Es ist eine Schande, dasseine Volkspartei, die so viel Zustimmung in den Umfra-gen findet, nicht in der Lage ist, auch nur eine konkreteAntwort auf die Sorgen der Menschen in diesem Land zugeben.
Wir warten auf Ihre Vorschläge. In der Finanzpolitikhandeln Sie nach der Devise: nicht konkret werden undunpräzise bleiben, mit anderen Worten: wegtauchen. Aberdas reicht nicht.
– Ich bin doch überhaupt nicht giftig.
Herr Merz hat in einem Interview mit der „Welt amSonntag“ gesagt: Konkreter war noch nie eine Oppositionim Bundestag. – Die Wahrheit aber ist: Noch nie war eineOpposition im Deutschen Bundestag in der Sachaus-einandersetzung so weggetaucht wie Sie.
Das gilt auch für Ihren so genannten Strategiegipfel vonletzter Woche, der ohne Ergebnis blieb.
– Herr Schauerte, pflegen Sie doch nicht Ihre Vorurteile.Pflegen Sie endlich etwas Sachverstand, den Sie offen-kundig nicht haben.
Sie sind doch auch ein Interessenvertreter. Sie sind einFunktionär der Volksbanken. Immer wenn es um deren In-teressen geht, verschließen Sie sich den notwendigen Er-kenntnissen.
Viele Unternehmen leiden darunter, dass sich die Bankenfalsch verhalten. Das wissen wir doch.
Sorgen Sie dafür, dass es besser wird!Die Unionsspitzen saßen stundenlang zusammen. Aberkein einziger vernünftiger, konkreter Sparvorschlag hatdas Licht der Welt erblickt. Der Berg kreißte und gebarnoch nicht einmal ein Mäuschen. So viel zur Durchset-zungskraft von Herrn Stoiber, dem ehemaligen Spitzen-kandidaten, der von Ihnen jetzt sozusagen zur Seite ge-drängt wird.
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 26. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. Februar 2003
Ich fasse zusammen. Es gibt keine konkreten Vor-schläge der Union zur unabdingbaren Verbesserung derSituation der öffentlichen Haushalte, keine konkretenVorstellungen zur Fortentwicklung des deutschen Steuer-rechts. Ebenso gibt es, wie die gestrige Debatte gezeigthat, keine einheitlichen, sondern lediglich widersprüchli-che Vorstellungen der Union über die Gemeindefinanz-reform.Sie müssen jetzt Farbe bekennen, weil wir in diesemJahr Entscheidungen für die weitere Entwicklung unseresLandes treffen müssen. Das werden wir Ihnen abverlan-gen. Sie haben es in der Hand, mit uns zusammen dafürzu sorgen, dass es zu wichtigen finanziellen Entlastungenfür Bund, Länder und Kommunen kommt, dass in diesemJahr – auch daran müssen Sie mitwirken – das 3-Prozent-Defizit-Kriterium wieder eingehalten wird und dass wir– auch das geht nur mit Ihrer Mitarbeit – einen großenSchritt hin zu einem einheitlicheren und gerechteren Steu-ersystem machen. Sie müssen sich entscheiden.
Herr Schauerte, in einer dpa-Meldung ist zu lesen – ichhabe vergessen, sie mit an das Rednerpult zu nehmen; sieliegt aber an meinem Platz –: Schauerte: Es wird Zeit,dass wir uns mit den Realitäten auseinander setzen.
– Genau: Schluss mit den taktischen Spielchen. HerrSchauerte, obwohl ich Ihnen sehr wahrscheinlich noch niezugestimmt habe, stimme ich Ihnen hier ausdrücklich zu.Setzen Sie sich in der Union durch.
Machen Sie Schluss mit den taktischen Spielchen undkümmern Sie sich stattdessen um die Sorgen und die Pro-bleme der Menschen in diesem Land!
Ich erteile das Wort Kollegen Max Straubinger, CDU/
CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!Herr Kollege Poß, wir diskutieren heute über den Jahres-wirtschaftsbericht des Bundeswirtschaftsministers. Erist an Traurigkeit nicht zu überbieten. Er geht nämlich vonder Prognose aus, dass es im Jahr 2003 im Durchschnitt4,2 Millionen Arbeitslose in unserem Land geben wirdund dass sich die Jugendarbeitslosigkeit auf dem höchstenNiveau zementieren wird, das sie jemals in der Bundesre-publik erreicht hat. Das ist traurig für die Menschen inDeutschland.
Unsere Kollegen Friedrich Merz und Heinz Riesenhuberhaben heute sehr viele Vorschläge gemacht, wie wirzukünftig unsere Wirtschaft wieder besser in Fahrt brin-gen können.
Herr Kollege Poß, Ihnen, der Sie angeblich nicht feststel-len konnten, dass Vorschläge gemacht wurden, muss ichentgegenhalten, dass Sie zwar ständig von den Interessender Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, nicht aber vonden Interessen der arbeitslosen Menschen in unseremLand reden, die dringend Arbeit suchen. Das ist das FataleIhrer Politik.
Herr Poß, Sie haben Berechenbarkeit angemahnt. Ich sageIhnen: Letztendlich sind Sie und die SPD berechenbar,wenn es um die Konservierung der Arbeitslosigkeit in un-serer Gesellschaft geht. Das ist das traurige Ergebnis Ih-rer Politik.
Im Januar 2003 gab es fast 4,7 Millionen Arbeitsloseund fast 500 000 arbeitslose Jugendliche. Diese dramati-sche Entwicklung in Deutschland ist das Ergebnis vonvier Jahren Politik der rot-grünen Bundesregierung. Be-gonnen hat sie mit Lafontaine und möglicherweise wirdsie auch mit ihm enden. Er soll ja in der SPD wieder zuneuen Ehren kommen. Begonnen hat sie mit Lafontaine,
weil damals der Bundeshaushalt um 12 Prozent aufge-bläht wurde und die Grundlage für die schlechte wirt-schaftliche Entwicklung in Deutschland gelegt wurde.Ein weiterer Grund ist natürlich die massive Verteuerungder Energie in unserem Land. Die Ökosteuer führt in ers-ter Linie – der Fraktionsvorsitzende Müntefering ist lei-der nicht mehr da; er ist ja der Spezialist für Konsumver-zicht in unserer Gesellschaft – zu einer Verringerung derFreiräume, die benötigt werden, um Investitionen zu täti-gen bzw. die private Kaufkraft zu stärken; denn hierwurde maßlos überzogen.Der Kollege Müntefering hat von der Wettbewerbs-fähigkeit der deutschen Wirtschaft gesprochen. Ich emp-fehle ihm, die Wettbewerbsfähigkeit der Tankstellenbesit-zer an der österreichischen Grenze etwas genauer zuuntersuchen. Wenn er das täte, dann würde er wahr-scheinlich zu einer völlig anderen Meinung von der Wett-bewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft kommen.
Mit entscheidend war, glaube ich, dass Rot-Grün keineReformen vorgenommen hat und dass man auf so ge-nannten Besitzständen hocken bleibt. Ich kann nicht ver-stehen, dass es ein großartiges Arbeitnehmerrecht ist,
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wenn durch einen falschen Kündigungsschutz heuteArbeitsplätze vor die Hunde gehen. Ich kann dies an ei-nem praktischen Beispiel darlegen. Es geht um die Haus-haltsberatungen in unserem Kreistag Dingolfing-Landau.Vor zwei Jahren wurde extra ein Programm zur Integra-tion von Aussiedlern und ausländischen Bürgerinnen undBürgern eingerichtet. Zwei Personen wurden mit Zeitar-beitsverträgen eingestellt. Jetzt kam der Vorschlag desLandrats und der Verwaltung, diese Arbeit einzustellen,obwohl sie weiterhin nötig ist. Begründung: Wenn wir diebeiden gut qualifizierten Personen weiterhin beschäfti-gen, werden wir sie später, wenn die Aufgabe einmal weg-fällt, nicht mehr entlassen können.
– Das wollte ich noch sagen: Es war nicht ein Landrat vonder CSU, sondern der stellvertretende Bezirksvorsitzendeder SPD in Niederbayern. – Das zeigt sehr deutlich,wie der Kündigungsschutz für Arbeitsplatzverluste inDeutschland mit verantwortlich ist.Ich habe den Jahreswirtschaftsbericht natürlich mit In-teresse gelesen. Ich bin genau der Meinung, die der Kol-lege Riesenhuber vorhin schon vorgetragen hat, nämlichdass wir in der dramatischen Lage, in der wir sind, we-sentlich größere Würfe machen müssen, bessere Kon-zepte zur Umsetzung bringen müssen und uns nicht stän-dig in Klein-Klein üben dürfen.
Die SPD hat entdeckt, dass der Mittelstand der Be-schäftigungsmotor schlechthin in der Bundesrepublik ist,und führt dies auch aus: 70 Prozent der Arbeitnehmerin-nen und Arbeitnehmer sind in mittelständischen Betrie-ben. Sie wollen besonders den Mittelstand fördern. Ichwar völlig überrascht und von den Socken, als ich an ers-ter Stelle las: Minimalbesteuerung und einfachste Buch-führungspflichten. – Das klingt gut, Herr Bundeswirt-schaftsminister. Ich möchte Sie dabei auch unterstützen.Aber glauben Sie, dass sich jemand dann, wenn ab derGrenze von 17 500 Euro sofort wieder alle Mechanismender Entbürokratisierung entfallen – unterstellt, 50 Prozentdavon sind Kosten –, mit 8 750 Euro – im Jahr, wohlge-merkt! – eine Existenz als Selbstständiger aufbauenmöchte, dann möglicherweise nicht mit 35, sondern mit50 oder 60 Stunden Arbeitszeit in der Woche? Ich bin da-von überzeugt, dass Sie da Schiffbruch erleiden werden.Ich hätte mich unter diesen Umständen 1984 nicht selbst-ständig gemacht, Herr Bundeswirtschaftsminister. Das istKlein-Klein. Wenn man sich in Ihrem Hause um solcheGrenzen und die Frage, wie man die ins Gesetzblatt hin-einbringen kann, Gedanken macht, ist das eigentlich ver-taner Beamtenschweiß. Deshalb: große Würfe, Herr Bun-deswirtschaftsminister!
Die Opposition, Friedrich Merz an der Spitze, hat heuteverschiedenste Vorschläge unterbreitet. Wir sind bereit,sie in eine gemeinsame Gesetzgebungsarbeit zum Wohleder Menschen in Deutschland mit einzubringen. Das undnicht das parteipolitisch Kleinkarierte ist unser Ziel.
Die Wirtschaft Deutschlands muss wieder vorankommen.Wir als Opposition sind bereit, gute Vorschläge bis ins Ge-setzblatt zu bringen. Bei der Hartz-II-Gesetzgebung sindauf unseren Druck hin die Minijobs wieder entbürokrati-siert und handhabbar gemacht worden.
Wir haben erreicht, dass die Menschen in Deutschland,die auf dieser Basis arbeiten wollen, auch wieder dieMöglichkeit dazu haben, nachdem SPD und Grüne das imJahr 1999 abgeschafft hatten.
Herr Kollege Straubinger, kommen Sie bitte zum
Schluss.
Ja, Herr Präsident. – Das, was ich beschrieben habe, ist
letztendlich das Ergebnis Ihrer Wirtschaftspolitik. Wir
werden Sie mit unseren Vorschlägen garantiert in eine
gute Richtung lenken. Wenn die Vorschläge der Bundes-
regierung uns die Zustimmung erlauben, dann hat sie un-
sere Unterstützung.
Besten Dank für die Aufmerksamkeit.
Zu einer Kurzintervention erteile ich dem Kollegen
Schauerte das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Her-ren! Der Kollege Poß – nachdem er uns fürchterlich be-schimpft hatte, hat er die Debatte mittlerweile verlassen –hat mich angegriffen, indem er darauf verwiesen hat, dassich gesagt habe, der Dachstuhl in Deutschland brenne unddie Zeit für taktische Spielchen sei vorbei.
Auf welches Niveau wir in Deutschland mittlerweilegesunken sind, kann man daran erkennen, dass eine sol-che Äußerung als kritikwürdig angesehen wird. Wer indiesem Saal will denn behaupten, wir hätten nicht allzu oftund viel zu lange taktische Spielchen miteinander betrie-ben? Wer will das ernsthaft behaupten, ohne zu lügen?Warum ist es angesichts dessen zu rügen, dass ein Abge-ordneter in einer Situation wie der jetzigen – die Sorgenim Lande nehmen täglich zu – sagt: Wir müssen mit die-ser Art von Grabenkämpfen aufhören, wir müssen endlichvorangehen und Gemeinsamkeiten herausarbeiten.Max Straubinger
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 26. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. Februar 2003
Hartmut SchauerteDas hat Herr Poß offensichtlich überhaupt noch nichtverstanden. Sein Beitrag – er bestand im Prinzip nur ausBeschimpfungen; das kann der Wirtschaftsminister nunüberhaupt nicht gebrauchen, wenn er Koalitionen schmie-den will, um in Deutschland etwas zu bewegen – hat dasin dramatischer und beklagenswerter Weise bestätigt. Ichkann eine solche Verhaltensweise nur auf das Tiefste be-dauern. Sie entspricht nicht dem, was in Deutschland imMoment wirtschaftspolitisch und gesellschaftspolitischerforderlich ist.Herzlichen Dank.
Da Herr Poß nicht mehr anwesend ist, gebe ich dem
Kollegen Schmidt die Gelegenheit, zu erwidern.
Herr Schauerte, mit der Art von Reflex, den Sie gerade
wieder einmal gezeigt haben, dokumentieren Sie auch,
dass Sie diejenigen sind, die ständig Grabenkämpfe be-
trieben haben. Ich weise die von Ihnen hier in den Raum
gestellten Vorwürfe schärfstens zurück, auch im Namen
von Herrn Poß, der jetzt nicht mehr hier sein kann.
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 15/372 und 15/100 an die in der Tages-
ordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind
Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann sind die
Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 11 auf:
Erste Beratung des von den Abgeordneten Dirk
Fischer , Eduard Oswald, Georg
Brunnhuber, weiteren Abgeordneten und der Frak-
tion der CDU/CSU eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zur Änderung des Gesetzes zur Ein-
führung von streckenbezogenen Gebühren für
die Benutzung von Bundesautobahnen mit
schweren Nutzfahrzeugen
– Drucksache 15/355 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Tourismus
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre kei-
nen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner hat der
Kollege Georg Brunnhuber von der CDU/CSU-Fraktion
das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!Die CDU/CSU-Fraktion bringt heute den Entwurf einesGesetzes zur Änderung des Gesetzes zur Einführung vonstreckenbezogenen Gebühren für die Benutzung vonBundesautobahnen mit schweren Nutzfahrzeugen ein.Der Volksmund nennt diese Gebühren LKW-Maut; alssolche sind sie auch hier allgemein bekannt.Dieser Gesetzentwurf sorgt für Klarheit. Seine Sub-stanz spricht für Intelligenz; denn er wird dem gerecht,was Gebühr im Grundsatz bedeutet. Leider Gottes hat dieBundesregierung nie bedacht, dass das Erheben einer Ge-bühr mit dem Rückfluss des eingenommenen Geldes inden Bereich, wo es gezahlt worden ist, einhergehen sollte.
Die LKW-Maut wird praktisch zu 100 Prozent von denjeni-gen vereinnahmt, die die Autobahn benutzen. Deshalb be-greifen wir nicht, dass die Bundesregierung und die sie tra-gende Koalition nicht bereit ist zu sagen: Jawohl, dieseGebühr muss auch denen zu 100 Prozent zugute kommen,von denen wir sie einkassieren, damit derjenige, der mit sei-nem LKW die Autobahn benutzt, nicht von vornherein denEindruck hat, dass es sich hier um eine zusätzliche Besteue-rung und damit um ein zusätzliches Abkassieren handelt.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, machen Siees sich da nicht zu leicht. Wir hatten mehrere Anhörungenzu all diesen Fragen. Bei der letzten Anhörung im Früh-jahr des vergangenen Jahres haben einige Rechtsprofes-soren darauf hingewiesen, dass es verfassungsrechtlichzumindest nicht eindeutig als sauber zu bezeichnen ist,wenn diese Gebühr so aufgeteilt wird, wie Sie es vorha-ben. Das Allerschlimmste ist meiner Meinung nach, dassder Finanzminister einen höheren Anteil, nämlich über700 Millionen Euro, für sich vereinnahmt und nur600 Millionen Euro für den Ausbau derAutobahnen imRahmen des Anti-Stau-Programms vorgesehen sind.Damit legen Sie jetzt schon die Fallstricke für das Schei-tern Ihrer Verkehrspolitik.
Denn da, wo der Verkehr am stärksten zunimmt, nämlichauf der Straße, da tun Sie am wenigsten. Dass die Schienevon Ihnen aus den Einnahmen aus der LKW-Maut nochbesser bedient wird als die Straße, halten wir schlichtwegfür eine falsche Entscheidung, weil sie auch zu falschenpolitischen Schlüssen führt.
Sie alle kennen die verschiedenen Prognosen: Der Gü-terkraftverkehr soll bis zum Jahr 2015, also in dennächsten 13 Jahren, um etwa 64 Prozent zunehmen. Derüberwiegende Anteil dieses Wachstums wird auf denVerkehrsträger Straße entfallen. Wir sind gerade dabei,mehr wirtschaftliche Kontakte nach Osteuropa zu knüp-fen. Das führt zwangsläufig wieder zu mehr Güter-verkehr. Deshalb müsste man, wenn man eine intelligenteVerkehrspolitik machen will, zunächst einmal den Ver-
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kehrsträger Straße ertüchtigen. Wir haben in Deutsch-land noch viele Autobahnen – das haben Sie ja nun imAnti-Stau-Programm selber erkannt –,
wo durch einen Ausbau von zwei auf drei Streifen die Ver-kehrsfrequenz erhöht werden kann. Eine Ertüchtigungkann aber auch in Form anderer Maßnahmen erfolgen.Dafür benötigen wir unwahrscheinlich hohe Summen.In diesen Wochen werden ja in den Landesparlamentendie Anmeldungen entsprechender Vorhaben für den Bun-desverkehrswegeplan vorbereitet. Man hört, dass dieMaßnahmen, die dem vordringlichen Bedarf zugerechnetwerden, etwa 60 bis 70 Milliarden Euro kosten; insgesamtgeht es wohl um ein Volumen von weit über 100MilliardenEuro, das in den nächsten zehn bis 15 Jahren, je nach Lauf-zeit des Verkehrswegeplans, aufgebracht werden muss. Da-mit handelt es sich nicht um eine theoretische Diskussionüber den Bedarf des Straßenbaus in Deutschland, sondernum pragmatische Feststellungen, welche Maßnahmen imStraßenbau in Deutschland notwendig sind.Sie können sich da auch nicht herausreden und sagen, eshandele sich nur um Anträge von CDU- und CSU-Abge-ordneten. In vielen Landkreisen – ich kann das für Baden-Württemberg bestätigen – sind auch Ihre Parteifreunde imAnmelden ziemlich spitze. Es herrscht offensichtlich zwi-schen Rot und Grün Übereinstimmung, dass man noch vieleStraßen bauen müsse. Wenn Sie berücksichtigen, welch un-wahrscheinlich große Summe aufgebracht werden muss,müssten Sie doch von sich aus zu der Einsicht kommen, dassmehr Geld in den Straßenbau gesteckt werden muss.
Ich mache Ihnen jetzt einmal die Rechnung auf: Bisjetzt sind pro Haushaltsjahr Investitionen von etwa5 Milliarden Euro für die Straße vorgesehen. Wenn wirvon den 3,4 Milliarden Euro, die durch die LKW-Mauteingenommen werden, die Systemkosten in Höhe voncirca 1,2 Milliarden und die Kosten für die Kompensationbzw. Harmonisierung abziehen, dann verbleiben insge-samt 2,1 Milliarden Euro für Investitionen. Wenn man diezu den im Haushalt vorgesehenen 5 Milliarden Euro ad-diert, kommt man auf über 7 Milliarden Euro für Investi-tionen in die Straße. Damit könnten wir in zehn Jahren ge-nau das abarbeiten, was als vordringlicher Bedarfangemeldet wird, nämlich etwa 70 Milliarden Euro. Weilwir damit nicht nur dafür sorgen, dass der Verkehr ohneStau besser läuft, sondern auch eine enorme Investitionfür die Bauwirtschaft tätigen, müsste eine intelligenteVerkehrspolitik geradezu dankbar sein, wenn eine Oppo-sition solche Vorschläge macht.
Damit hätten Sie nämlich das, was Sie dringend benöti-gen, um den Wirtschaftsstandort Deutschland zu stärken.Wenn die Wirtschaft wieder stärker wachsen soll,brauchen wir eine verbesserte Verkehrsinfrastrukturauf der Straße. Pro 1 Milliarde Euro Investition in dieStraße könnten etwa 20 000 Arbeitsplätze gesichert oderneu geschaffen werden.
Bedenken Sie einmal, was das für ein Investitionspro-gramm für Deutschland wäre! Leider Gottes sind Sie un-fähig, in diesen Kategorien zu denken.
In diesem Zusammenhang ist auch die Frage zu erör-tern: Warum finanziert ihr aus diesen Mitteln nicht auchden Schienenausbau? Ich will es Ihnen sagen: DieSchiene bekommt nach wie vor, obwohl sie privatisiertwurde, insgesamt ein Vielfaches dessen aus dem Bundes-haushalt, was die Straße erhält.
Gleichzeitig prüft niemand von Ihnen nach – weder dieVertreter auf der Regierungsbank, die verantwortlichwären, noch die Mitglieder aus den Reihen von Rot-Grün –, wie effizient diese Mittel ausgegeben werden,
was mit diesen Mitteln geschieht und ob auf der Schienemit diesen Mitteln tatsächlich ein verbessertes Angebotgeschaffen wird. Albert Schmidt ist doch deswegen ausdem Bahn-Aufsichtsrat ausgetreten, weil er nicht mehrmitmachen wollte.
Das ehrt ihn bei dem, was dort an Lug und Betrug zulas-ten des Bundeshaushaltes organisiert wird. Das ist docheine Tatsache.
– Ich nehme „Lug und Betrug“ zurück und sage: Trickse-rei zulasten des Bundes. Das ist sicherlich das Gleiche.
Wenn heute, etwa acht Jahre nach der Bahnreform, dieBahn AG schon wieder 20 Milliarden Euro an Verschul-dung aufweist, obwohl wir sie 1994 mit 70Milliarden DMkomplett entschuldet haben,
zeigt das doch, dass hier etwas nicht stimmt. Wir kritisie-ren nicht die Verantwortlichen der Bahn, sondern die Bun-desregierung. Warum halten Sie die Verantwortlichennicht auf und sagen: Dort, wo so viel Geld fließt, müssenauch effizient Güter befördert werden,
Georg Brunnhuber
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Georg Brunnhuberstatt dass ständig Anschlussstellen und Nebenstrecken ge-strichen werden und am Ende trotz erhöhtem Mittelzu-fluss weniger auf der Schiene befördert wird als vorher.Ihre Politik für die Schiene ist gescheitert; das kannman im Februar 2003 feststellen. Sie haben auch in die-sem Bereich der Verkehrspolitik keine Konzeption mehr.
Unser Antrag enthält schlicht den Hinweis, dass dieBetroffenen, nämlich die Zahlenden, sprich: die Unter-nehmer im Güterkraftverkehr, von der Politik unterstütztwerden müssen; denn sie bezahlen die Maut und habendeshalb die Erwartungshaltung, dass mit diesem Geld et-was für sie getan wird, also auf der Straße.Die Pressemeldungen und die Verhandlungen der ver-gangenen Jahre zeigen, dass Sie das Güterkraftver-kehrsgewerbe ganz schön an der Nase herumgeführt ha-ben. Sie haben in allen Besprechungen zunächst gesagt,die LKW-Maut solle ganz niedrig sein. Dann haben Sieden Leuten erklärt, je höher die LKW-Maut pro Kilome-ter sei, umso mehr Harmonisierung schaffe das. Als mandann im Verkehrsministerium kalte Füße wegen der Zu-sagen bekommen hat, sind die Verhandlungen ins Kanz-leramt verlegt worden. Von dort wurde den Leuten biszum Wahltag am 22. September ständig erklärt, manstrebe einen größtmöglichen Harmonisierungsschritt undeine Kompensation an.Heute waschen Sie Ihre Hände in Unschuld und sagenden Leuten: Da können wir nichts machen; mehr als300Millionen Euro können wir nicht ausgeben. Sie sagendas wohl wissend, dass ein Großteil des deutschen Güter-kraftverkehrsgewerbes die LKW-Maut, wenn sie in diesergeringen Harmonisierung kommt, nicht überleben wird.Bei dieser Maut wird nicht ein Kilogramm mehr auf derSchiene befördert. Vielmehr werden leider Gottes Billig-unternehmen aus dem Ausland auf deutschen Straßen un-terwegs sein. Die deutschen Arbeitgeber werden keineAufträge mehr erhalten und die Arbeitnehmer werden ar-beitslos. Diese Situation haben Sie mit Ihrer Verkehrs-politik geschaffen.
Mit Ihrer Verkehrspolitik geht es auf den Straßen so zu:immer mehr Stau. Das Einzige, was an Tempo zunimmt,ist Ihr Versagen.
Das Wort hat jetzt der Kollege Uwe Beckmeyer von
der SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-ren! Herr Brunnhuber, Ihre Rede war laut und teilweiseabenteuerlich. Mein Eindruck ist: Die Verkehrspolitik ansich und das, was Sie darüber berichten, stimmen nichtüberein.Ich habe mich gefragt: Was will die Union mit diesemEntwurf eines Gesetzes zur Änderung des bestehendenGesetzes zur Einführung einer Maut eigentlich erreichen?
Der Deutsche Bundestag hat dieses Gesetz in der letztenLegislaturperiode beschlossen. Es ist verkündet und esharrt der Anwendung.
Es hat sogar ein Vermittlungsverfahren gegeben. Insbe-sondere die Punkte der Zweckbindung und der Harmoni-sierung sind dort erörtert worden. Das Ergebnis war über-zeugend: Es gab ein hohes Maß an Übereinstimmungauch mit den Ländern, die am besten wissen, welche Maß-nahmen mit der Maut möglich werden oder, anders ge-sagt, welche Maßnahmen nicht realisiert werden können,wenn die Maut nicht kommt.In dem beschlossenen Gesetz ist ein Mautaufkommenvorgesehen, das zum überwiegenden Teil zweckgebundenfür die Verbesserung der Verkehrsinfrastruktur ver-wendet werden soll.
Hier besteht also eine ganz klare Zweckbindung, abereben nicht, wie die Union es vorsieht, ausschließlich fürdie Straße. Wir wissen doch: Wer in der Verkehrspolitikerfolgreich sein und keine Steinzeitpolitik machen will,der hat am Ende alle Verkehrsträger an den Finan-zierungsquellen zu beteiligen.
Wir alle sind dafür, von einer alleinigen Haushaltsfinan-zierung wegzukommen. Ich glaube, da sind wir uns allehier in diesem Hause einig. Wir sind an einer teilweisenNutzerfinanzierung interessiert; das ist richtig. Dies wareines der wichtigsten Argumente, geradezu der Motor fürdie Einführung einer Maut.Warum nun der Unionsgesetzentwurf? Die Antwort ist:Die Union hat ein Problem. Das Problem ist: Sie mussbzw. sie will versuchen, ihre etwas breitmäuligen Ver-sprechen aus der Vorwahlkampfzeit gegenüber derLogistikbranche einzulösen. Gemeint ist das Stoiber-Ver-sprechen, den Harmonisierungsbeitrag zu verdoppeln,also für die Branche statt 300 Millionen Euro 600 Milli-onen Euro auszuschütten.Doch jeder Kundige weiß, dass das finanzpolitisch undverkehrspolitisch zu einem Nullsummenspiel verkommenkann. Wegekosten entstehen. Sie müssen von den Nutzerngetragen werden.
Ein entsprechender angemessener Harmonisierungsbei-trag ist zweifelsohne notwendig. Aber die Union weiß ge-nau, dass seit der Wissmann-Waigel-Ära, seit 1995, dieEinnahmen aus der Eurovignette in Höhe von 800 Mil-
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lionen an den Finanzminister abgeführt werden müssen,Stichwort: Gesamtdeckungsprinzip. Das ist in diesem Zu-sammenhang Ihre Erfindung.
Sie weiß aber auch, dass Toll-Collect-Dienstleistungen inHöhe von 640 Millionen Euro und Kontrollaufwendun-gen für das BAG in Köln in Höhe von 90 Millionen Eurobezahlt werden müssen. Wenn wir dann einen Harmoni-sierungsbeitrag à la Stoiber in Höhe von 600 MillionenEuro in Rechnung bringen, ergibt das eine Teilsumme vongut 2,13 Milliarden Euro – und das bei Gesamteinnahmenin 2004 in Höhe von 3,4 Milliarden Euro.Was ist das Ergebnis? Am Ende steht für die Finanzie-rung von Verkehrsinfrastruktur nur noch weniger als dieHälfte zur Verfügung, nämlich 1,27 Milliarden Euro.Wenn man die Verteilung so vornimmt, wie Sie es vor-schlagen, ist das ein desaströses Ergebnis.
Denn Bund und Länder brauchen für die Infrastruktur-investitionen deutlich mehr Geld aus den Mauteinnah-men, als ihnen die aktuelle Opposition
zubilligen will. Man erkennt die Absicht und ist ver-stimmt. Die Branche soll einen doppelt so hohen Harmo-nisierungsbeitrag bekommen, am Ende aber bleibt viel zuwenig übrig für die dringend notwendigen verkehrs-systemübergreifenden Investitionen. Damit kann mander verkehrspolitischen Problematik in Deutschland nichtgerecht werden.Die Union versucht mit ihrem Antrag, diesen schäd-lichen Tatbestand zu kaschieren, was sträflich, kurzatmigund grundsätzlich von Übel ist.
Herr Fischer und Herr Brunnhuber, aus der Entfernungeines Landes betrachtet, glaubte ich, die Union in diesemHause betreibe zumindest handwerklich eine saubere Ver-kehrspolitik. Doch, so muss ich sagen, ich habe mich ge-irrt. Dieser Antrag ist eindeutig unter Niveau.
So geht es nicht. Ich warne davor, dass Sie von der Uniondiesen eingeschlagenen Weg gehen. Sie werden den An-forderungen der deutschen Verkehrspolitik mit diesemVorschlag in gar keiner Weise gerecht. Er ist falsch undträgt nicht.
Ich habe acht Jahre lang als Vorsitzender im Verkehrsaus-schuss des Bundesrates erlebt: Die Länder überlegen essich genau – und sie werden es auch hier tun –, ob sie ei-nen solchen Weg mitgehen. Denn es sind ihre Projekte, dievor dem Hintergrund Ihrer Vorschläge zu kurz kommen.
Auch wir Sozialdemokraten halten einen ordentlichenBeitrag zur Harmonisierung der Wettbewerbsbedingun-gen im europäischen Güterverkehr für erforderlich. Aberauch der Schwerlastverkehr mit einem zulässigen Ge-samtgewicht von mehr als 12 Tonnen muss an der Finan-zierung der Wegekosten beteiligt werden, wie dies bei derSchiene durch die Trassenpreise schon der Fall ist. Aus-ländische LKWs werden für die Nutzung der Autobahnenmit den vollen Wegekosten belastet. Das führt zu einemfairen Wettbewerb.Die Zweckbindung nur an ein Verkehrssystem zu kop-peln ist falsch. Wir haben in Deutschland ein integriertesVerkehrssystem und deshalb müssen wir uns an der Ge-samtheit aller Personen- und Gütertransporte in der Re-publik orientieren. Wir müssen alle ineffizienten Investi-tionen vermeiden und innerhalb dieser Republik alle dreiVerkehrsträger berücksichtigen.Ein Wort zum Schluss: Wir alle haben die Schreckens-szenarien aus der Feder der einschlägigen Branchenver-bände gelesen
und festgestellt, dass vieles aufgeschrieben wurde, wasnur auf den ersten Augenblick beeindruckt. Schauen wirin die Schweiz: Dort ist die leistungsabhängige Schwer-lastabgabe inzwischen Alltag,
die elektronische Erfassung klappt. Auch dort hat man vorderen Einführung ein Verwaltungschaos vorhergesagt. Esist offensichtlich ausgeblieben.Wir in der Koalition bleiben zuversichtlich. Wir sindmit dem Mautgesetz auf dem verkehrspolitisch richtigenWeg
und wir lassen uns durch kurzsichtige Ablenkungs-manöver nicht irritieren.Herzlichen Dank.
Herr Kollege Beckmeyer, ich beglückwünsche Sie zuIhrer ersten Rede in diesem Hause.
Das Wort hat jetzt der Kollege Horst Friedrich von derFDP-Fraktion.Uwe Beckmeyer
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 26. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. Februar 2003
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr
Kollege Beckmeyer, dass ausgerechnet Sie bei dieser Ge-
setzgebung anderen handwerkliche Fehler vorwerfen,
zeigt, dass Sie eigentlich gar nicht wissen, was für ein Ge-
setz Sie abgeliefert haben.
Dass es im Vermittlungsausschuss an dem denkwürdigen
Tag war, als das Zuwanderungsgesetz behandelt worden
ist, das nun von Karlsruhe aufgehoben wurde, ist nur
kennzeichnend für die ganze Gesetzgebung. Sie haben es
bis heute nicht geschafft, dem Gewerbe verlässlich, in ge-
setzgeberischer Form, zu signalisieren, wie Sie die Kom-
pensation – die zugegebenermaßen nicht ausreichend ist –
gesetzlich umsetzen wollen.
Bis heute ist nichts Belastbares im Hause angekommen.
Herr Steinmeier, der Kanzleramtschef, hat schon vor
zwei Jahren bei der Einführung der Maut größtmögliche
Harmonisierung auf europäischem Niveau verspro-
chen. Schauen Sie sich die Zahlen an: Wenn Sie den aus-
ländischen LKW-Anteil abziehen, belasten Sie das deut-
sche Gewerbe mit der Maut im Jahr mit ungefähr
2,7 Milliarden Euro, während Sie nur um 300 Millionen
Euro entlasten. Wenn das Ihre Kompensation ist, kann ich
nur sagen: Sie haben sich schwer verrechnet.
Dass Sie den Finanzminister loben, verstehe ich nicht.
Sein Einnahmeausfall aus derLKW-Vignette beträgt im
Jahr 2001 – in DM gerechnet – etwa 900 Millionen DM.
Er will sich dafür aber auf einmal 1,5 Milliarden DM er-
setzen lassen.
Er tut das mit einer aus meiner Sicht sehr fadenscheinigen
Begründung.
– Ach, Herr Kollege Schmidt, diese Behauptung wird
auch durch Wiederholung nicht richtig. Sie können das so
oft behaupten, wie Sie wollen, es bleibt falsch.
Fakt ist, der Finanzminister hat 900 Millionen DM an
Einnahmen aus der Eurovignette verloren, die man kom-
pensieren kann. Es bleibt das Fragezeichen, warum er sich
1,5 Milliarden kompensieren will.
Sie haben in Ihrer Maut-Verordnung einen weiteren
Punkt offen gelassen. Das ist die Fälligkeit der Gebüh-
ren. Sie ist insbesondere für die mittelständischen Unter-
nehmer wichtig, deren Gebühren automatisch abgebucht
werden sollen. Die automatische Abbuchung funktioniert
aber nur dann, wenn die Banken die Kreditlinien entspre-
chend erhöhen.
Hier fragen sich nicht nur Neugierige, was es bedeutet,
wenn diejenigen, die nicht abbuchen können, Einzelver-
fahren vornehmen müssen. Dann stehen Sie wirklich vor
dem Chaos und es wird deutlich größer sein, Herr Kollege
Beckmeyer, als in der Schweiz, weil wir mehr Autobahn-
kilometer und deutlich mehr Ausfahrten haben.
Die Union konzentriert ihren Antrag jetzt auf ein weite-
res Kriterium: die Zweckbindung.Darüber ist schon nach-
gedacht worden. Im Sinne einer echten Gebühr muss die
volle Zweckbindung möglich sein. Auch hier sind wir un-
terschiedlicher Meinung; denn das, was Sie als Zweckbin-
dung bezeichnen, ist nicht abgesegnet, hängt vom Willen
des Finanzministers ab und wird auch den Unternehmen
keine Vorteile bringen. Mehr Straßenbau werden Sie damit
nicht erreichen, weil 50 Prozent aller Einnahmen der Maut
bereits durch die Kompensation für den Finanzminister und
die Systemkosten verbraucht worden sind. Erst der Rest
kann verteilt werden. Das ist aus meiner Sicht zu wenig und
rechtfertigt nicht den Aufwand, den Sie betreiben.
Danke sehr.
Das Wort hat jetzt der Kollege Albert Schmidt, Bünd-nis 90/Die Grünen.Albert Schmidt (BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN):Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Auch der heutige Antrag der CDU/CSU-Fraktion zur Ver-änderung eines wichtigen Punktes des kürzlich verab-schiedeten LKW-Maut-Gesetzes kann nicht darüber hin-wegtäuschen, dass das Thema LKW-Maut in Deutschland– ich behaupte, auch hier im Haus – überwiegend im Kon-sens diskutiert wird.Ich will versuchen, darzustellen, worin sich alle Exper-ten und vor allem die Verkehrsverbände einig sind. Dassoll nicht in Vergessenheit geraten. Der erste Punkt ist: Wirsind uns einig – die Union erkennt das in ihrem Antrag aus-drücklich an –, dass wir den Erhalt und die Verbesserungunseres Verkehrssystems nicht bewältigen werden, wennwir nicht neben der reinen Haushaltsfinanzierung für denBau, den Unterhalt und den Betrieb von Straßen undSchiene auch die Nutzerfinanzierung verstärkt einsetzen.Diesen Paradigmenwechsel haben wir mit dem LKW-Maut-Gesetz vollzogen, nachdem er auf der Schieneschon viel früher – im Zuge der Bahnreform – vollzogenworden ist. Denn das, was dort Trassenpreis heißt, istnichts anderes als eine Schienenmaut.
– In diesem wesentlichen Punkt sind wir uns also einig. Dasfreut uns Grüne deshalb ganz besonders, weil dies ein Bei-
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trag zu mehr Verursachergerechtigkeit ist: Derjenige, derSchäden und damit Kosten verursacht, muss nachher perLKW-Maut seinen Beitrag leisten, damit diese Kostenvolkswirtschaftlich sinnvoll gedeckt werden. Das ist richtig.
Ein zweiter Punkt: Mich überrascht ein bisschen, dassdie Union in einem zweiten Punkt Konsens signalisiert,allerdings ohne dies auszusprechen, nämlich in der Höheder LKW-Maut.Alle Berechnungen, die ich in den letz-ten Wochen und Monaten und auch heute aus Ihrem Mundgehört habe, gehen von dem Einnahmevolumen aus, dasauch die Bundesregierung angepeilt hat. Dies erzielt manaber nur, wenn man pro Fahrzeug und pro Kilometer eineNutzungsgebühr von im Schnitt 15 Cent einnimmt. DieGebühr ist für den schweren LKW etwas höher und fürden leichteren LKW etwas niedriger.
Dies finde ich sehr erfreulich, denn dadurch ist die Wege-kostendeckung ungefähr 15-mal höher als durch die alteVignettenregelung. Dies ist in der Tat ein Quantensprungin der verkehrspolitischen Erkenntnis auf der rechtenSeite dieses Hauses.
Offenbar besteht auch noch in einem dritten PunktKonsens: Wir wollen gemeinsam die Wettbewerbsbedin-gungen für das spedierende Gewerbe, also für die LKW-Wirtschaft, auf europäischer Ebene möglichst harmonischgestalten. Wir wollen und müssen bestehende Harmoni-sierungsdefizite Stück für Stück abbauen. Insoweit sindwir uns einig.Jetzt komme ich zum Dissens, verehrter, geschätzterHerr Kollege Brunnhuber.
– Das ist einfach die süddeutsche Sympathie. – An einerStelle beginnt der Widerspruch. Sie sagen doch, wir müss-ten der spedierenden Wirtschaft viel mehr Einnahmenzurückerstatten, zugleich aber viel mehr investieren. Wasdenn nun? Entweder wollen Sie die Kompensation er-höhen und haben damit weniger zum Reinvestieren oderSie wollen die Kompensation nicht erhöhen und habendann mehr zum Investieren. Ihre Argumentation ist wi-dersprüchlich. Das ist in einer Debatte immer schlecht.
Der Weg, den wir eingeschlagen haben, ist sehr vernünf-tig, nämlich die wirklich bestehenden Harmonisierungs-defizite anzupacken und zu beseitigen.Gestatten Sie mir hier eine Randbemerkung: Wenn dieGerüchte, die in diesen Tagen durchsickern, zutreffen,dass nämlich unsere Nachbarländer Frankreich, Italienund die Niederlande daran denken, die Dieselsubventio-nierungmöglicherweise über das vereinbarte Zeitmaß hi-naus fortzuschreiben, sollten wir gemeinsam dafür eintre-ten, dass es in Europa nicht zu einem Subventionswettlaufkommt. Es kann nicht darum gehen, wer den Diesel fürseine Spediteure am stärksten subventioniert. Dann sindam Schluss alle Verlierer und niemand ist der Gewinner.Dies war aber nur eine Randbemerkung.
– Herr Kollege, nehmen Sie es mir nicht übel, aber ichhabe um 12 Uhr meinen nächsten Termin. Ein anderesMal lasse ich Ihre Frage gerne zu.
– Das hat mit Feigheit nichts zu tun. Diejenigen, die ichdamit angesprochen habe, haben sehr genau verstanden,dass sie gemeint sind.Nun zurück zur Kompensation:Wir sind alle gut be-raten, wenn wir diese Harmonisierung angehen, damitErnst machen, zugleich aber den Zweck der Einnahmennicht vernebeln. Es kann und soll hier nicht um Belas-tungsneutralität gehen, denn sonst können wir uns dasSpiel sparen. Wenn wir die Infrastruktur verbessern wol-len, müssen wir zusätzliche Einnahmen erzielen.Jetzt komme ich zu dem eigentlichen Dissens, der inIhrem Antrag zum Vorschein kommt. Wir müssen bei derReinvestition darauf achten, das gesamte Verkehrssys-tem zu verbessern. Inzwischen weiß sogar der ADAC-Autofahrer, dass wir ohne eine Verlagerung von LKWsvon der Straße auf die Schiene und das Binnenschiffüberhaupt keine Chance mehr haben,
den Verkehr auf der Straße in Zukunft zu bewältigen. Des-wegen ist es richtig, sich nicht nur auf das Anti-Stau-Pro-gramm zur Straßenengpassbeseitigung zu konzentrieren,sondern im gleichen Umfang auch auf die Engpassbesei-tigung im Schienennetz. Nur dann haben wir eine Chance,den LKW-Güterverkehr wenigstens in nennenswertemUmfang von der Straße auf die Schiene zu verlagern.
Dieses Ziel würden wir nicht erreichen, wenn wir heuteIhrem Antrag folgen würden, wonach die Einnahmen le-diglich für den Straßenbau verwendet würden.
Herr Kollege Schmidt, kommen Sie bitte zum Schluss.Albert Schmidt (BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN):Deswegen, Herr Kollege Brunnhuber, können wirIhrem Antrag leider nicht näher treten. Wir empfehlenAlbert Schmidt
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Albert Schmidt
Ihnen aber abschließend zum Trost: Schauen Sie sich ein-mal an, was Sie übersehen haben.
Nein, Herr Kollege Schmidt, Sie haben Ihre Redezeit
schon weit überschritten.
Albert Schmidt (BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN):
Schauen Sie sich einmal das Betreibermodell an. Darin
sind dynamische Investitionsreserven enthalten, die Sie
nicht unterschlagen sollten.
Danke schön.
Zu einer Kurzintervention erteile ich dem Kollegen
Horst Friedrich das Wort.
Frau Kollegin Hustedt, ich habe, vielleicht im Gegen-
satz zu Ihnen, in Oberfranken ein sehr schönes Zuhause.
Ich möchte den Kollegen Schmidt, da er meine Zwi-
schenfrage nicht zugelassen hat, auf diesem Wege daran
erinnern, dass wir ihn sehr unterstützen, wenn er seine
Vorstellungen zur Subventionierung von Diesel, die er
eben vorgestellt hat, durchsetzen will.
Er ist aber mitsamt den Kollegen der SPD im Wort.
Ich erinnere an das, was Bundesverkehrsminister
a. D. Bodewig bei der Jahresversammlung des BGL in
Berlin gesagt hat. Seine klare Aussage lautete: Wenn die
Nachbarländer am Jahresende 2002 aus der Subventio-
nierung des Diesels nicht ausstiegen, würden wir diese
Subventionierung einführen. Wenn Sie sich an diesen
Worten messen lassen, dann haben Sie uns auf Ihrer Seite.
Wollen Sie erwidern? – Bitte schön, Herr Schmidt.
Albert Schmidt (BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN):
Ich mache es kurz. Ich kann nur wiederholen, was ich
vorhin gesagt habe; denn genauso habe ich das gemeint.
Wenn wir anfangen, in einen Subventionswettlauf darum
einzutreten, wer sein Gewerbe am meisten subventioniert,
dann sind am Schluss die Finanzminister und die Volks-
wirtschaften aller Länder die Verlierer. Deshalb kann ich
vor diesem Weg nur warnen. Wir müssen auf dem Stopp
der Subventionierung in den anderen Ländern, so wie er
vereinbart worden ist, bestehen. Alles andere halte ich für
falsch.
Das Wort hat jetzt die Parlamentarische Staatssekretä-
rin Angelika Mertens.
A
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kolle-gen! Zunächst bitte ich alle Redner, nicht von Kompensa-tion zu reden; denn Kompensation ist nicht EU-fest. Es istbesser, von Harmonisierung zu sprechen.
Ein Wort an Herrn Brunnhuber: Der BGL ist nie im Un-klaren gelassen worden – jedenfalls von mir nicht –, wasdiese 300 Millionen Euro angeht.Ich bedanke mich für die Unterstützung, die uns dieCDU/CSU-Fraktion gegeben hat. So ist in dem von ihrvorgelegten Entwurf zu lesen, die Finanzierung stoße anGrenzen und wir brauchten ein zweites Standbein. Dafürherzlichen Dank. Über Plagiate soll man sich nicht ärgern.Sie sind wahrscheinlich die aufrichtigsten aller Kompli-mente. Das hat schon Theodor Fontane gesagt, der ja im19. Jahrhundert gelebt hat. Alles andere in Ihrem Antragwürde sehr gut in diese Zeit passen.Mit Ihrer Haltung sind Sie völlig isoliert, nicht nur inEuropa, sondern auch in der Wirtschaft. Das DeutscheVerkehrsforum spricht sich in diesem Zusammenhangfür Preise im Verkehr aus, die aus Sicht der Nutzer, derVerkehrsträger und des Staates fair sind;
das heißt, eine Wegekostenanlastung nach dem Verur-sacherprinzip und Zweckbindung der daraus erwirt-schafteten Mittel für Ausbau und Erhalt der Verkehrsin-frastruktur.
Das Verkehrsforum ist nicht irgendein Verein, sondernzählt zu der Crème de la Crème der Verkehrswirtschaft.Dass einige Mitglieder das unterschreiben, aber anders re-den, ist letztlich deren Problem und nicht unseres.Ich hatte das Vergnügen, an einem Mobilitätsforumteilnehmen zu können, auf dem ein Vertreter der Automo-
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bilwirtschaft – er kam übrigens aus dem Süden – geforderthat, 50 Milliarden Euro zusätzlich in Straßen zu investie-ren. Selbst die Vertreter des ADAC haben kurz vor einemOhnmachtsanfall gestanden, als sie das gehört haben.
So kann man, wie ich denke, keine seriöse Diskussionführen; vielleicht ist das auch nicht gewollt. Das wäre al-lerdings bedauerlich. Wir stellen uns der nationalen undder europäischen Verantwortung. Dies bedeutet noch im-mer: nachhaltige Mobilität und Miteinander von wirt-schaftlicher, ökologischer und sozialer Verantwortung.Wir brauchen also eine integrierte Verkehrspolitik. AlleVerkehrsträger müssen ihre Stärken optimieren und ihreSchwächen minimieren.
Wir werden die Verkehrsprobleme der Zukunft nichtlösen können, wenn wir nicht zu einer deutlichen Verla-gerung besonders beim Güterverkehr auf Schiene undWasserwege kommen. Dazu sind durch die Umsetzungder Bahnreform, den qualifizierten Ausbau bei Schieneund Wasserweg, der besseren Vernetzung der Verkehrs-träger, zum Beispiel durch Investitionen in den kombi-nierten Verkehr, die Weichen gestellt.Der überwiegende Teil der Einnahmen aus der LKW-Maut werden in den nächsten Jahren gezielt für die größ-ten Probleme eingesetzt, nämlich zur Beseitigung der Ka-pazitätsengpässe bei Straße, Schiene und Wasserweg.Bei der Straße kommen wir zum Beispiel auf Lücken-schlüsse von 250 km. Die Mauteinnahmen geben unsauch die Möglichkeit, erstmals das Betreibermodell zurealisieren, also den Ausbau auf sechs bzw. acht Streifenbei Autobahnen, finanziert, erhalten und betrieben durchdie private Bauindustrie.Die Anschubfinanzierung des Bundes stellt sozusa-gen die Ablösesumme für die Nutzung durch den privatenPKW-Verkehr dar. Wir werden wegen dieses Modells vonder Wirtschaft, vor allen Dingen von der Bauindustrie, ge-lobt. Ich denke, das haben wir auch verdient. DiesenSchritt, der lange überfällig war, haben wir gewagt. Daszeigt, dass wir eine mutige Verkehrspolitik machen.
Ihr Antrag, Frau Blank, zeigt letztlich die Rückschritt-lichkeit Ihrer Politik. Ich kann nur sagen: Bleiben Sie da-bei! Das wird uns unser Geschäft eindeutig erleichtern.Unser Geschäft ist, eine vernünftige, moderne und inte-grierte Verkehrspolitik zu machen. Das haben wir in denletzten vier Jahren bewiesen und das werden wir auch inden kommenden vier Jahren beweisen.
Angesichts des Lobes, das wir für unsere Verkehrspo-litik bekommen, können wir selbstbewusst sein; mit derKritik können wir leben.
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf Drucksache 15/355 an die in der Tagesordnung
aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es dazu an-
derweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. Dann ist
die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 12 auf:
Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen
der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ-
NEN eingebrachten Entwurfs eines Ersten Geset-
zes zur Änderung des Gesetzes zur Neurege-
lung des Energiewirtschaftsrechts
– Drucksache 15/197 –
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-
ses für Wirtschaft und Arbeit
– Drucksache 15/432 –
Berichterstattung:
Abgeordneter Dr. Joachim Pfeiffer
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. – Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner hat der
Parlamentarische Staatssekretär Staffelt für die Bundesre-
gierung das Wort.
D
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Her-ren! Wir beraten heute abschließend den Gesetzentwurfder Fraktionen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen zurNovellierung des Energiewirtschaftsrechts. Dieses Ge-setzgebungsverfahren konnte, wie Sie sich vielleicht erin-nern, in der vergangenen Legislaturperiode nach einemEinspruch des Bundesrates nicht mehr zum Abschluss ge-bracht werden. Der Gesetzentwurf ist jetzt erneut einge-bracht worden – er ist mit dem früheren identisch –, damitdie vorgesehenen und vor allem die dringend notwendi-gen Ergänzungen des Energiewirtschaftsrechts umgesetztwerden können.Über den Inhalt des Gesetzentwurfs im Einzelnen ha-ben wir ja bereits in der ersten Lesung am 19. Dezemberletzten Jahres miteinander debattiert. Deshalb will ich Sienicht mit Wiederholungen langweilen, sondern nur kurzauf zwei wichtige Punkte im Zusammenhang mit demEnergiewirtschaftsrecht hinweisen.Erstens. Wir wollen mit der Novelle die Regeln für dieMarktöffnung im Gasbereich ergänzen und so vor allemdas Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschlandwegen nicht vollständiger Umsetzung der EU-Gasrichtli-nie stoppen. Sie werden sich erinnern, dass es im Grundeseit dem Jahr 2000 eine solche Regelung hätte geben sol-len und es aufgrund der Debatten, die es in diesem Hause,aber auch mit den Verbänden gegeben hat, und aufgrundunseres Wunsches, eine Regelung zu finden, die ohne eineParl. Staatssekretärin Angelika Mertens
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Parl. Staatssekretär Dr. Ditmar StaffeltRegulierungsbehörde auskommt, zu einem gewissen zeit-lichen Verzug gekommen ist. Ich sage daher: Wer Wett-bewerb im Gasbereich will, darf diesen Gesetzentwurfnicht weiter blockieren.Zweitens. Der Gesetzentwurf verbessert insgesamt dengesetzlichen Rahmen für die leitungsgebundene Energie-wirtschaft. Dazu gehört, dass die Novelle für eine größereSchlagkraft der Kartellbehörde sorgt. Dies geschiehtdurch den Sofortvollzug ihrer Netzzugangsverfügungen.Dazu gehört ferner, das die Novelle auch weiterhin denWeg für Verbändelösungen in der Energiewirtschaft ins-gesamt offen hält. Dies geschieht durch die vorgesehenegrößere rechtliche Verbindlichkeit der Verbändevereinba-rungen für den Netzzugang bei Strom und Gas.Schließlich sorgt der Gesetzentwurf zum Beispiel mitder Ermächtigungsgrundlage für eine Netzzugangsver-ordnung Gas auch dafür, dass wir handlungsfähig sind,falls die Verhandlungen zur Weiterentwicklung der Ver-bändevereinbarung Gas nicht erfolgreich verlaufen sollten.Meine Damen und Herren, die Bundesregierung hälteine rasche Verabschiedung dieses Gesetzentwurfs derRegierungsfraktionen für dringend geboten. Unserer Auf-fassung nach gibt es dazu keine Alternative. Wir brauchendie im Gesetzentwurf vorgeschlagenen Regelungen, umunser Netzzugangssystem ohne Brüche weiterentwickelnzu können. Daher gilt es, diesen Gesetzentwurf jetzt soumzusetzen, wie er ist. Ich denke, wir alle sind uns überdie Ziele im Wesentlichen einig.Im Sommer hatte ich das Vergnügen, mit den Kolle-ginnen und Kollegen aus den Bundesländern im Vermitt-lungsausschuss darüber zu debattieren. Nachhaltige in-haltliche Probleme waren im Grunde genommen nichtfestzustellen. Von daher appelliere ich an alle Kolleginnenund Kollegen in diesem Hause, speziell auch an die derOpposition, ausdrücklich: Lassen Sie uns das Gesetz-gebungsverfahren gemeinsam zügig abschließen.
Es liegt ein Gesetzentwurf vor, der eine Vielzahl wich-tiger und völlig unstrittiger Regelungen zur Weiterent-wicklung des Wettbewerbs auf dem Strom- und Gasmarktenthält. Wenn wir das bei uns praktizierte Netzzugangs-modell, das auf eine staatliche Rahmensetzung mit ergän-zender Selbstregulierung durch Verbändevereinbarungensetzt, beibehalten wollen, sehe ich zu einem solchen Ge-setzentwurf keine Alternative.Ich wiederhole an dieser Stelle: Es kann in einer Zeit, inder wir über die Fragen von Deregulierung und Entbüro-kratisierung reden, nicht sein, dass wir Regulierungs-behörden provozieren und nicht darauf setzen, dass alle,die im Zusammenhang mit Strom und Gas, als ein Wirt-schaftskomplex miteinander verbunden sind – die Kundengenauso wie die Hersteller und Lieferanten –, eine Lösungfinden, in die alle eingebunden sind und aufgrund derer dieSchwierigkeiten eigenständig gelöst werden können. WieSie wissen, haben wir durch das Kartellamt die Möglich-keit, in schwierige Fragen einzugreifen und durch denSofortvollzug reagieren zu können. Ich denke, das ist eineAustarierung der Interessen und entspricht damit auchdem, was alle Beteiligten erwarten dürfen.Wir stehen mit unserem System der Verbändeverein-barungen an einer Weichenstellung.Zum einen müssen die Verbändevereinbarungen insbe-sondere im Gasbereich natürlich auch zukünftig weiter-entwickelt werden. Mit der vorgesehenen Befristung derVerrechtlichung tragen wir dem im Gesetzentwurf Rech-nung. Denken Sie bitte daran: Was wir heute beschließen,gilt bis zum 31. Dezember dieses Jahres. Wir werden unssehr schnell in eine erneute Novellierungsdebatte hinein-begeben müssen. Wir haben dann aber eine Grundlage,auf der wir vernünftig weiterentwickeln können.Zum anderen müssen wir den Partnern der Verbände-vereinbarungen bei dieser Fortentwicklung ein positivesSignal geben, indem wir den Verhandlungsergebnisseneine größere rechtliche Relevanz als bisher verschaffen.Geschieht dies nicht, droht das Instrument der Verbände-vereinbarungen insgesamt zu scheitern.Auf dem Energierat am 25. November 2002 ist es derBundesregierung gelungen, dem System der Verbände-vereinbarungen – auch in den Rahmenbedingungen neuereuropäischer Binnenmarktrichtlinien für Strom und Gas –Raum zu verschaffen. Nach diesem Erfolg hielte ich esnicht für klug, die Tür zu diesem Gestaltungsspielraumauf nationaler Ebene jetzt zuzuschlagen. Die für nächstesJahr anstehende Umsetzung der neuen EU-Binnenmarkt-richtlinie wird es ohnehin erforderlich machen, dass wirgemeinsam weitere Anpassungen am Energiewirtschafts-recht vornehmen. Wir werden in diesem Hause also spä-testens im nächsten Winter gemeinsam über das Energie-recht diskutieren.Für heute gilt: Bringen wir nunmehr den notwendigenersten Schritt zu Ende. Lassen Sie uns dann gemeinsamden zweiten Schritt sorgfältig vorbereiten. Meine Bitte andie Kollegen von CDU/CSU und FDP: Helfen Sie mit,dass auch in den von Ihnen regierten Bundesländern einWeg für die Verabschiedung gefunden wird. Meine Er-fahrungen aus Gesprächen vom Frühsommer des vergan-genen Jahres waren, dass die Unterschiede gering und dieChancen für eine Einigung gut sind. Wir sollten uns des-halb auf den Weg machen, diesen Gesetzentwurf in dervorliegenden Fassung zu verabschieden.Danke.
Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Joachim Pfeiffer von
der CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-ren! Die Novellierung des Energiewirtschaftsgesetzes istin der Tat nicht nur für die Energiewirtschaft, sondernauch für die gesamte gewerbliche Wirtschaft und die pri-vaten Kunden wichtig. Die Energiewirtschaft benötigtPlanungs- und Investitionssicherheit. Wenn die Netz-betreiber – das gilt für den Strom- und den Gasbereichgleichermaßen – nicht wissen, was auf sie zukommt, dann
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ist das ein Investitionshemmnis ersten Grades. Auch diekommunalen Energieversorger wissen nicht, wie es wei-tergeht. Neue Energieanbieter haben keine Klarheit überdie Markteintrittsbedingungen. Was sind die Folgen? – In-vestitionszurückhaltung, Investitionsvermeidung odergar Investitionsverlagerung.He
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Soweit ich es beurteilen kann, sind wir unsüber die Ziele nicht nur weitestgehend, sondern über alleFraktionen hinweg einig. Aber die Wahl der Instrumenteund der Weg zum Ziel trennen uns. Deshalb finde ich esbedauerlich und nicht nachvollziehbar, weshalb Sie in denvergangenen Wochen nicht die Gelegenheit genutzt ha-ben, zu einem Kompromiss zu kommen. Ich sehe nachwie vor die Möglichkeit zu einem Kompromiss. Dashabe ich diese Woche im Ausschuss wiederholt.Wie ist die wirkliche Lage? Sie haben in der vergange-nen Legislaturperiode diesen Gesetzentwurf – aus wel-chen Gründen auch immer – vertrödelt oder verschleppt.Sie haben ihn dann im Frühjahr des letzten Jahres einge-bracht und sind damit im Bundesrat gegen die Wand ge-fahren. Danach hatten Sie in der alten Legislaturperiodenicht mehr die Kraft – es wird darüber gestritten, ob es einEinspruchsgesetz oder ein zustimmungsbedürftiges Ge-setz ist –, den Gesetzentwurf erneut in den Bundestag ein-zubringen. So weit, so schlecht.Im Dezember 2002 haben Sie diesen Gesetzentwurfmit zwei Marginalien, aber sonst unverändert wieder ein-gebracht. Wir haben signalisiert, dass wir zu einem Kom-promiss bereit sind. Diesen Kompromiss haben wir in derSache konkretisiert. Ich will ihn in aller Kürze anschnei-den: Er dient den Interessen der Netzbetreiber, weil er In-vestitions- und Planungssicherheit bietet, und ermöglichteine Nettosubstanzerhaltung der Netze. Wir alle habennichts davon, wenn die Netzbetreiber nicht mehr in dieNetze investieren, sondern von der Substanz leben und esdann in einigen Jahren zu ernsthaften Schwierigkeiten inder Versorgungssicherheit kommt. Andererseits müssenwir sicherstellen, dass der Wettbewerb wirklich greift.Auf diesem Gebiet sind die letzten Liberalisierungs- undRationalisierungserfolge mit Sicherheit noch nicht er-reicht.Unstrittig ist, dass Quersubventionen in der Größen-ordnung von mindestens 270Millionen Euro pro Jahr vonden Netzbetreibern in den Erzeugungsbereich fließen,womit die Wettbewerbsfähigkeit an dieser Stelle beein-flusst wird. Deshalb ist es für mich nicht nachvollzieh-bar – ich muss es leider so sagen: Im besten Fall ist esnaiv, im mittleren Fall dilettantisch und im schlechtestenFall wirtschaftsfeindlich –, wenn Sie jetzt unser Ge-sprächsangebot nicht nutzen, um zu einem Kompromisszu kommen. Es ist absehbar, dass Sie mit diesem Gesetz-entwurf im Bundesrat – Herr Staffelt, Sie haben das an-ders dargestellt – wieder massiv gegen die Wand fahren.
Zuletzt haben sich die Wirtschaftsminister am 12. und13. Dezember mit diesem Thema beschäftigt und sie ha-ben damals einstimmig die Verrechtlichung in Form einerVermutungsregelung abgelehnt. Nach unseren Informa-tionen wird sie – nicht nur was die unionsregiertenLänder, sondern auch Länder wie Rheinland-Pfalz undSchleswig-Holstein betrifft – im Bundesrat nicht realisiert.Deshalb ist es um so unverständlicher, dass Sie nicht be-reits jetzt in den Gremien des Bundestages die Gelegen-heit zum Kompromiss nutzen, um damit schneller zu ei-ner Lösung zu kommen. Wir haben Ihnen am Mittwochund auch bereits im vergangenen Jahr in Aussicht gestellt,wie wir zu einem Kompromiss gelangen könnten.Was aber ist die Folge? Auf der einen Seite verhindernSie Rationalisierungs- und Liberalisierungsfortschritte,das heißt, für die gewerbliche Wirtschaft und die Ver-braucher steigen die Kosten. Die Rationalisierungs- undLiberalisierungsfortschritte werden durch Ihre Politikder Steuererhöhungen konterkariert. Herr Merz hat vorzwei Wochen die absoluten Zahlen genannt. Danach istdie Belastung durch Energiesteuern in Deutschland in denvergangenen vier Jahren von 2 Milliarden auf 12 Milliar-den angestiegen. Für einen privaten Haushalt mit drei Per-sonen ist die steuerliche Belastung von 28 Prozent im Jahr1998 auf 41 Prozent 2002 angestiegen und hat dadurch dieRationalisierungs- und Liberalisierungseffekte mehr alsüberkompensiert. Das heißt, der private Haushalt behältderzeit nichts mehr übrig.Für die gewerbliche Wirtschaft sieht es nicht anders aus.In diesem Bereich kommt es zu einem Investitionsstau, zurInvestitionsvermeidung oder gar zur Investitionsverlage-rung, weil die Unternehmen durch die Ökosteuer und dieanderen damit verbundenen Kostensteigerungen immerstärker in ihrer Wettbewerbsfähigkeit eingeschränkt wer-den. Insofern ist es in der Tat dringend notwendig, zu ei-ner Lösung zu kommen.Sie haben die EU-Problematik angesprochen. Es ist be-reits ein Vertragsverletzungsverfahren eingeleitet worden.Auch deshalb verstehe ich nicht, dass Sie nicht versuchen,zu einer Lösung zu kommen bzw. einen Kompromiss zuerzielen.Sie haben diesen Weg beschritten. Wir haben Ihnendiese Woche das Angebot gemacht, die heutige Beratungdes Gesetzentwurfs abzusetzen und in der nächsten Wo-che unter Einbeziehung der Bundesländer zu einer Lö-sung zu kommen. Dann hätte das Thema nächste Wocheim Bundestag behandelt und vielleicht auch eine Lösungerzielt werden können. Damit hätte viel Zeit gespart wer-den können. Bei dem jetzt eingeschlagenen Weg bestehtdie Gefahr, dass gar nichts geschieht, dass der von uns al-len gewünschte verhandelte Netzzugang in Deutschlandnicht geschaffen wird und dass vielleicht nichts anderesübrig bleibt als die Regulierung, die ohnehin von einigenvon Ihnen gewünscht zu werden scheint.In der Handelsblatt-Konferenz hat Herr Clement kürz-lich die Position der Regierungsfraktionen vorgetragen.Frau Hustedt hat – wenn ich das richtig verstanden habe –wenige Minuten später inhaltlich etwas anderes vorgetra-gen, nämlich dass sie sich eine Regulierung vorstellenkönnte, die sie für wünschenswert halte.Dieses Tohuwabohu führt im Ergebnis leider nicht zu derdringend notwendigen Rechts- und Planungssicherheitfür die Energiewirtschaft und die Unternehmen, sondern zuDr. Joachim Pfeiffer
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 26. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. Februar 2003
Dr. Joachim PfeifferVerzögerungen. Im Ergebnis können wir, wie gesagt,nicht mehr den deutschen Weg, den wir eigentlich als ge-meinsames Ziel verfolgen, beschreiten. Das wäre bedau-erlich.Ich darf noch einmal unsere Gesprächsbereitschaft an-bieten, wie es Herr Adamowitsch bereits vor zwei Wo-chen getan hat. Leider sind bisher Ihrerseits keine kon-kreten Gesprächsangebote gefolgt. Auch wenn Sie esvielleicht mittlerweile selber nicht mehr glauben: Sie sindnoch an der Regierung und wir hoffen, dass Sie, währendSie sich auf dem Fahrersitz befinden – –
– Frau Barnett, wenn Sie mit Ihrem Dilettantenstadel soweitermachen, werden Sie in der Tat die SPD dort hin-bringen, wo Möllemann die FDP nicht hingebracht hat:auf 18 Prozent.
Ich möchte zum Thema zurückkehren. Das Energie-wirtschaftsrecht ist wirklich kein Feld, auf dem man ideo-logische Grundsatzstreitigkeiten austragen sollte, wennman sich über das Ziel einig ist. Lassen Sie uns also zu ei-ner Verständigung kommen und die nächste Woche nut-zen, ohne Vermittlungsausschuss, aber unter Einbezie-hung der Bundesländer zu einem Ergebnis zu kommen.Vielen Dank.
Das Wort hat jetzt die Kollegin Michaele Hustedt vom
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Dem Pati-enten Wettbewerb im Strom- und Gasbereich geht es ausmeiner Sicht schlecht. Junge mittelständische Unterneh-men, die hoffnungsvoll in den Wettbewerb gestartet sind,wie zum Beispiel ares, und VASA, mussten inzwischenInsolvenz anmelden, weil sie gegen die alteingesessenenUnternehmen keine Chance hatten. Der Kampf um denEndverbraucher wurde aufgegeben. So hat zum BeispielYello die Preise um 20 Prozent erhöht. Die Stadtwerke,die noch die Interessen der Kunden vertreten können,werden Schritt für Schritt aufgekauft. Sie sind nicht mehrunabhängig und können also nicht mehr im Namen derKunden verhandeln.Die großen Unternehmen teilen sich die Gebiete wie-der auf. Das heißt, Stadtwerke, die noch unabhängig sind,bekommen kein alternatives Angebot mehr, weil dieGroßen nicht mehr in Konkurrenz zueinander treten. Da-her ist es ein relativ düsteres Bild, das ich vom Zustanddes Wettbewerbs im Strom- und Gasbereich in diesemLande zeichnen muss.Vor diesem Hintergrund muss man diesen Gesetzent-wurf sehen. Wir setzen damit die EU-Gasrichtlinie um.Dies geschieht relativ spät. Deshalb stehen wir auch unterZeitdruck. Wir wollen mit diesem Gesetz einige Verbes-serungen für den Gas- und Strombereich durchsetzen. DieFrage stellt sich, ob dieses Gesetz ausreicht, um die Miss-stände im Wettbewerb tatsächlich zu beheben. Daraufmuss ich mit Nein antworten.
Auf die Frage, ob dieses Gesetz ein Fortschritt ist, mussich antworten: Ja, es bedeutet durchaus einen kleinenSchritt vorwärts. Aber es müssen noch weitere Schrittefolgen.Absolut positiv ist die Möglichkeit des Sofortvollzugsdurch das Kartellamt zu bewerten. Das stärkt seine Stel-lung und gibt ihm die Möglichkeit, einzugreifen und mitdem Sofortvollzug die Probleme zügig zu beheben. DiePraxis sieht im Moment so aus, dass bei Streitigkeiten dreiJahre lang vor Gericht gezogen wird. In der Zwischenzeitsind aber die Kunden weg. Unter Umständen sind kleineUnternehmen dann vom Markt verschwunden. Die neueRegelung ist also ein echter Fortschritt.
Herr Kollege Pfeiffer, wenn man die Diskussion überden verhandelten oder regulierten Netzzugang unideo-logisch führt, dann muss man sagen, dass dies ein Schrittin Richtung stärker regulierter Netzzugang ist. Eine un-abhängige staatliche Instanz wird in ihrer Position alsSchiedsrichter gestärkt. Sie kann damit wirkungsvollereingreifen, um den Wettbewerb zu fördern. Wir diskutie-ren schon lange nicht mehr darüber, ob wir einen regu-lierten oder einen verhandelten Netzzugang haben wol-len. Das Element des verhandelten Netzzuganges gibt esbereits. Nun werden Schritt für Schritt und so unbürokra-tisch wie nur möglich stärkere Regulierungen durch denStaat als Schiedsrichter eingeführt, um einen fairen Netz-zugang sicherzustellen.
Ich glaube, es ist richtig, dass wir diese Diskussionführen.Es gibt einen zweiten wichtigen Punkt, nämlich dieVerrechtlichung der Verbändevereinbarung.Wer wei-terhin auf den verhandelten Netzzugang setzt, der mussdiesen Weg mitgehen. Durch den Antrag der FDP, aberauch durch unsere Vorschläge wurde die Diskussion aus-gelöst, ob wir in diesem Zusammenhang den Ermessens-spielraum des Kartellamtes größer machen sollten, als esbis jetzt im Gesetz vorgesehen ist. Ich verfolge diese Dis-kussion durchaus mit Sympathie. Wir stehen allerdingssehr stark unter Zeitdruck – das wurde heute schon ge-sagt –, weil wir die Gasrichtlinie umsetzen müssen. Ichhoffe, dass im Bundesrat in diesem Punkt eine Einigungmöglich ist. In den anderen Kernfragen sind wir uns einig.Ich glaube, dass diese Novellierung ein erster Schrittist. Er ist aber kein ausreichender Schritt, um wieder mehrWettbewerbsintensität zu erzeugen. Es steht in dieser Le-gislaturperiode eine zweite Novellierung an. Wir werden
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uns dabei insbesondere mit der Umsetzung der neuen EU-Richtlinie hinsichtlich des Wettbewerbs beschäftigenmüssen. Dabei stehen zwei Themen im Mittelpunkt. Esgibt nach wie vor die Diskussion, ob nicht die Stellung desStaates als Schiedsrichter, also die Stellung des Kartell-amtes oder welcher Behörde auch immer, gestärkt werdenmuss, um hier größeren Einfluss zu nehmen.Es steht auch die Frage an, ob wir ein stärkeres Un-bundling brauchen, also eine noch deutlichere Trennungvon Netz, Stromerzeugung und Stromhandel, um das Netzvon den Interessen der Stromerzeuger unabhängig zu ma-chen.Das werden die Themen sein, die bei der Umsetzungder neuen EU-Richtlinie angeschnitten werden und mitdenen wir uns folglich beschäftigen müssen.Abschließend möchte ich feststellen: Ich erwarte, dassdie Verbände zügig die neuen Verbändevereinbarungenaushandeln. Nicht erst im Herbst, sondern schon im Apriloder im Mai muss es zu Ergebnissen kommen, die deut-lich besser sind als das, was zurzeit auf dem Tisch liegt.Das gilt nicht nur für den Gasbereich. Auch im Strombe-reich brauchen wir Verbesserungen. Ich erwarte auch,dass die neuen Anbieter und die Verbraucher stärker alsbisher in die Verhandlungen einbezogen werden; denn eskann nicht angehen, dass bei den Verhandlungen nur dieStadtwerke, die EVUs und die Großindustrie am Tisch sit-zen und sich zulasten von Verbrauchern und Neuanbieterneinigen. Auch deren Interessen müssen bei den Verbände-vereinbarungen deutlich berücksichtigt werden.Wenn das Ergebnis nicht ausreichend ist – das sage ichsehr deutlich –, dann müssen wir über eine stärkere Re-gulierung diskutieren. Das, Herr Pfeiffer, hat nichts mitWunschdenken zu tun. Ich wünsche mir zwar, dass es ei-nen staatlichen Rahmen gibt und dass sich die Verbändeselber Regeln geben, an die sie sich halten und die einenfairen Netzzugang gewährleisten. Man muss aber fest-stellen, dass das zurzeit nicht der Fall ist, obwohl schonvier, fünf Jahre ins Land gegangen sind. Wenn jetzt nichtder entscheidende Schritt gemacht wird, dann ist derStaat, ob er will oder nicht, ob er es sich wünscht odernicht, in der Pflicht, hier den Schiedsrichter zu spielen undim Bereich des natürlichen Monopols Netz für einen fai-ren Netzzugang zu sorgen. Das ist meine Position. Ich binüberzeugt, dass die unseres Koalitionspartners nicht weitdavon entfernt ist.Danke.
Das Wort hat jetzt die Kollegin Gudrun Kopp von der
FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Sehr geehrte Herren und Damen! Ichglaube, wir sind uns einig darüber, dass wir in Deutsch-land den Wettbewerb im Strom- und Gasbereich stärkenwollen. Frau Kollegin Hustedt, zu Ihrer Definition derAufgaben des Bundeskartellamts möchte ich ganz klarsagen: Dieses Amt hat nicht die Funktion eines Regulier-ers, sondern ist – das ist ein ganz großer Unterschied – dieInstanz der Missbrauchskontrolle. Das muss man klarauseinander halten.
Die Neuauflage des Energiewirtschaftsgesetzes enthältim Vergleich zum ersten Entwurf lediglich eine Neuerung,nämlich die des Sofortvollzugs. Das ist richtig und drin-gend notwendig; das unterstützen wir auch. Aber ansons-ten enthält der Gesetzentwurf keine weiteren Neuerun-gen. Herr Staatssekretär Staffelt, Sie haben auch währendder Beratungen keinerlei Vorschläge aufgenommen. Dasbedauern wir sehr; denn die FDP-Bundestagsfraktion hateinen dezidierten Änderungsantrag vorgelegt.
– Vor zwei Wochen! Bitte erkundigen Sie sich noch ein-mal. – Wir hätten in der Tat – hier bin ich mit dem Kolle-gen Dr. Pfeiffer einer Meinung – mit ein bisschen gutemWillen zu einem Konsens kommen können.Ich möchte noch einmal darstellen, worauf wir Wertlegen.
Wir als FDP-Fraktion wollen mit den beantragten Ände-rungen erreichen, dass die Kartellaufsicht über die Nut-zungspreise voll wirksam bleibt, also nicht nur jenseitsder Reichweite der Verbändevereinbarungen wirkt. Wirmöchten, dass zur Klärung von Streitigkeiten im Zusam-menhang mit Netzzugangsvereinbarungen und Netz-zugangsverweigerungen eine Streitschlichtungsstellebeim Bundeskartellamt eingerichtet wird, und nicht, dasswie derzeit eine kleine Task Force, die beim Bundeswirt-schaftsministerium angesiedelt ist, an ein paar Stell-schrauben dreht. Uns als FDP-Fraktion reicht die Formu-lierung „gute fachliche Praxis“ nicht aus, weil sie zuunbestimmt ist.
Wir erwarten leider, dass dadurch Tür und Tor für Rechts-streitigkeiten in erheblichem Umfang geöffnet werden.Auch das sollten wir vermeiden. Deshalb schlagen wireine Verrechtlichung der Verbändevereinbarung „Strom IIplus“ unter Verzicht auf die „gute fachliche Praxis“, wiesie im Gesetzentwurf genannt wird, mit einer dynami-schen Verweisung und einer Berücksichtigungsregelungvor. Das halten wir für absolut notwendig. Eine Verrecht-lichung der Verbändevereinbarung Gas II vom 3. Mai desletzten Jahres ist nicht beabsichtigt. Wir sind uns, glaubeich, auch darüber einig, dass die Vereinbarung in der jet-zigen Form den wettbewerblichen Anforderungen absolutnicht genügt. Daran müssen wir noch arbeiten.Wir als FDP sind der Meinung, dass Deutschland faireWettbewerbspreise für Strom und Gas dringend braucht.Solche wettbewerbsfähigen Preise sind nämlich dasFundament einer gut funktionierenden Wirtschaft an un-serem Standort Deutschland. Vergessen Sie nicht, liebeKollegen und Kolleginnen von Rot-Grün, dass gerade dieVerbraucher durch die Ökosteuer und andere Abgaben be-reits über Gebühr belastet sind!Michaele Husted
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Gudrun KoppNoch ein Wort zum Schluss. Ich finde es bedauerns-wert, dass wir nicht zu Verhandlungen kommen konnten.Den Gesetzentwurf werden wir heute ablehnen, weil kei-ner unserer Änderungswünsche berücksichtigt wurde.Das kommt in den Bundesrat und – davon können wir,glaube ich, ausgehen – dann auch in den Vermittlungs-ausschuss. Es wird also weitere Zeit ins Land gehen, eswird wertvolle Zeit, wertvolle Energie benötigt werden,die wir in einen Konsens hätten investieren können. Vondaher kann ich nur sagen: Schade drum! Wir als Opposi-tionsfraktion haben hier versucht, einen konstruktivenBeitrag zu leisten. Wir werden das weiterhin tun und sa-gen: Sie haben zu verantworten, was jetzt weiter ge-schieht.Vielen Dank.
Das Wort hat jetzt der Kollege Rolf Hempelmann von
der SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kolle-gen! Es ist zu Recht festgestellt worden: Mit der Novellezum Energiewirtschaftsgesetz verabschieden wir heuteetwas, was für die Gesamtgesellschaft in Deutschlandwichtig ist; denn jeder ist in irgendeiner Weise Teilnehmeram Strom- oder Gasmarkt und soll letztlich vom fairenund chancengleichen Wettbewerb, den wir mit diesemGesetz begünstigen wollen, profitieren.Es ist darauf hingewiesen worden, welch langen Vor-lauf dieses Gesetz hat. Wir haben in der Tat in der letztenLegislaturperiode relativ früh begonnen, an der Entwick-lung dieses Gesetzes zu arbeiten. Wir haben das in einerForm getan, die möglichst viele in dieser Gesellschaft undin der Energiewirtschaft mitnehmen sollte, nämlich in derForm der Verbändevereinbarung, an der die Politikdurchaus beteiligt war. Das war gut so, denke ich, und derPreis, den wir gezahlt haben – das Ganze hat eben gedau-ert –, war die Sache wert. Wenn man deswegen von Ver-schleppung redet, Herr Kollege Dr. Pfeiffer, dann trifft dasdie Sache überhaupt nicht. Wenn Sie es als Verschleppungbegreifen, dass wir den Versuch unternehmen, einen brei-ten Dialog zu einem Thema zu organisieren, zu dem wirauch einen breiten Konsens haben wollen,
dann ist das Ihre Sache und spricht für ein Demokratie-verständnis, das wir jedenfalls nicht teilen.
Ein wesentliches Ziel dieses Gesetzes ist, die Verbän-devereinbarung, die, wie gesagt, nach langem Vorlauf undeinem schwierigen Interessenausgleich zustande gekom-men ist, zu verrechtlichen. Darüber ist jedenfalls eineganze Zeit lang der Streit entbrannt. Deswegen will ich fürdie SPD-Fraktion – ich denke, das gilt für unseren Koali-tionspartner gleichermaßen – noch einmal ganz deutlichsagen: Wir wollen diese Verrechtlichung.Wir wollen sievor allem deshalb, weil dies die einzige Chance ist, um aufDauer unser deutsches System einer freiwilligen Verbän-devereinbarung zu stabilisieren und in Brüssel langfristigAkzeptanz für diesen Weg zu finden.Wir müssen uns im Übrigen klar darüber sein: Dies istein Weg, der in keinem anderen der Mitgliedstaaten ge-gangen wird. Die anderen 14 haben den Regulierer. Wirhaben die freiwillige Verbändevereinbarung. Wenn manso will, ist dies ein deutscher Sonderweg. In diesem Fallstören Sie sich ja auch nicht an der Vokabel – bei anderenThemen sind Sie bei diesem Begriff ein bisschen sensi-bler –, sondern sagen: Es ist in Ordnung, dass wir diesenSonderweg gehen.Wenn wir diesen „deutschen Sonderweg“ weiterhin ge-hen wollen, wenn wir den Erfolg der Bundesregierungvom November letzten Jahres, für den ich ausdrücklichdanke, nicht gefährden wollen – ich erinnere daran, dassfür diesen Weg auch ein Stück Akzeptanz geschaffenworden ist –, dann müssen wir diese Verrechtlichung jetztvollziehen.Andererseits muss die Verbändevereinbarung – ichgebe denjenigen durchaus Recht, die da noch Verbesse-rungsmöglichkeiten sehen – selbstverständlich weiterent-wickelt werden. Wir haben die Verrechtlichung zunächstbis zum 31. Dezember 2003 begrenzt; denn es ist völligklar: Der Wettbewerb in unserem Land hat noch nicht dasAusmaß, das wir uns wünschen. Auch bei den Verbänden,die beim Zustandekommen der Vereinbarung am Tischsaßen, gibt es noch Vorbehalte und Bedenken, ob derWettbewerb auf diese Weise tatsächlich in dem erhofftenMaße etabliert werden kann. An der Vereinbarung mussweiter gearbeitet werden. Sie muss mehr Transparenz ent-halten. Letztlich wird sich die Verbändevereinbarung ander Antwort auf die Frage „Gibt es sowohl im Strom- alsauch im Gasbereich tatsächlich einen fairen und chancen-gleichen Netzzugang?“ messen lassen müssen. Ich wie-derhole: Wir fordern eine Weiterentwicklung der Verbän-devereinbarung.Wichtig ist aber auch die Verordnungsermächtigungfür den Bundeswirtschaftsminister; schließlich müssenwir uns auch darüber Gedanken machen, was sein wird,wenn es keine optimierte Verbändevereinbarung und da-her keinen faireren Wettbewerb in den Bereichen vonStrom und Gas gibt. Wenn das der Fall ist, ist der Wirt-schaftsminister ermächtigt, die notwendigen Maßnahmenzu ergreifen. Am Ende der Entwicklung kann es natürlichauch dazu kommen, dass es einen Regulierer gibt.Es wird immer so getan, als gäbe es in Europa den Re-gulierer. In Wirklichkeit gibt es 14 unterschiedliche Mit-gliedstaaten und 14 unterschiedliche Systeme. Es gibtgroße und es gibt kleine Behörden. Es gibt Beamtenappa-rate; es gibt aber auch sehr flexible GmbHs. Wir werdenuns die unterschiedlichen Verhältnisse in den einzelneneuropäischen Staaten sehr genau anschauen. Es gibt auchauf diesem Gebiet durchaus die Chance, von anderen zu
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lernen und, wenn es sein muss, ein System zu entwickeln,das viele der Befürchtungen, die jedenfalls hier immerwieder geäußert werden, nicht rechtfertigt. Damit keinMissverständnis entsteht: Das, was ich gerade beschrie-ben habe, ist eine Not- oder Auffangsituation; was wirwollen, ist die Verbändevereinbarung. Alle Teilnehmersind aufgefordert, ihren Beitrag zu leisten.Das Kartellamt ist hier mehrfach erwähnt worden.Das Kartellamt hat in der Vergangenheit in der Tat einigeKritik geübt. Das Kartellamt hatte beispielsweise die Auf-fassung vertreten, die Unterstellung einer guten fachli-chen Praxis bei Einhaltung der Verbändevereinbarunggrenze seinen Handlungsrahmen ein. Dazu sage ich: Dasspricht nicht gegen die Verrechtlichung und das sprichtauch nicht gegen die Etablierung des Systems der gutenfachlichen Praxis, sondern das spricht dafür, dass dieVerbändevereinbarung weiterentwickelt werden muss,sodass die Befolgung der Verbändevereinbarung mit einerguten fachlichen Praxis letztlich identisch ist. Dieser Ge-danke zeigt den Weg auf, den wir gehen wollen.Ich möchte noch ein paar Worte zu dem sagen, was dieOpposition hier gesagt hat. Die FDP hat in der Tat vorzwei Wochen einen Antrag eingebracht. Aber was ist dieSubstanz dieses Antrages?
Im Grunde genommen geht aus diesem Antrag doch her-vor, dass wir wesentliche Bestandteile der Verbändever-einbarung aufgeben sollen. Das heißt, in diesem Antragkommt keine Bestätigung des Systems der Verbändever-einbarung, sondern eine Absage zum Ausdruck. Wenn wirIhren Weg gingen, dann würden sich große Teile der Wirt-schaft von der Teilnahme an der Verbändevereinbarungverabschieden und dann hätten wir ein – diesen Begriff ha-ben Sie, Herr Dr. Pfeiffer, hier eben benutzt – Tohuwa-bohu. Genau das wollen wir nicht und deswegen gehen wirnicht den Weg, den die FDP vorschlägt.Dr. Pfeiffer hat einerseits von Kompromissvorschlägengesprochen und andererseits hat er auf uns eingeschlagen,indem er das, was wir hier vorgetragen und vorgeschlagenhaben, „Dilettantenstadel“ genannt hat. Es tut mir Leid,sagen zu müssen: Das ist nicht die Sprache des Kompro-misses, sondern die Sprache der Verweigerung.
Wir gehen hier, im Bundestag, unseren Weg. Wir for-mulieren eine klare Position auf der Basis eines langenDialoges mit den Marktteilnehmern in diesem Bereich.Wir zeigen, dasswir regieren–Siehabendas eingefordert –,indem wir diese Position klar machen.Jetzt geht das Ganze in den Bundesrat. Es ist in Ord-nung, dass im Bundesrat die Länder ihre Interessen vor-tragen und es gegebenenfalls dann im Vermittlungsaus-schuss auch zu Veränderungen kommt. Ich nehme, wennes ernst gemeint ist, gerne Ihr Angebot an, weitere Ge-spräche zu führen. Wir als Parlamentarier können die Ge-spräche im Bundesrat begleiten und mithelfen, dass hierzeitnah vernünftige Ergebnisse erzielt werden und es zueinem Interessenausgleich zwischen Bund und Ländernkommt. Die Länder haben in dieser Sache natürlich in derTat – ich nenne nur die Stichworte Preisaufsicht und Lan-deskartellbehörden – eigene Überlegungen angestellt undeigene Interessen.Ich lade Sie also alle ein: Nehmen Sie, wenn Sie esernst meinen, weiter konstruktiv an der Entwicklung die-ses Gesetzes sozusagen in der nächsten Instanz teil. Wirjedenfalls werden diesem Gesetzentwurf heute zustim-men, weil wir der Auffassung sind, dass dies der Ab-schluss eines langen Prozesses ist. Die nächste Rundewird zeigen, wie wir gemeinsam zu einem vielleicht nochbreiteren Konsens kommen können.Herzlichen Dank.
Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Rolf Bietmann von
der CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Her-ren! Hier war gerade von Dialog und breitem Konsens dieRede, aber Herr Kollege Hempelmann, Sie wissen, es gibtweder diesen Dialog noch Konsens. Es gibt nicht einmalinnerhalb der rot-grünen Koalitionäre Konsens in dieserFrage. Es war für mich ein sehr interessantes Erlebnis, alsich im Umwelt- und Wirtschaftsausschuss mit ansehenkonnte, wie Ihnen die Grünen klar gesagt haben, dass sieeigentlich nicht hinter den Inhalten dieses Gesetzes stehenund vor allen Dingen in der Frage der Bewertung der wett-bewerbsrechtlichen Regelungen zu ganz anderen Ergeb-nissen als die SPD kommen und am liebsten mit CDU undFDPgegen dieses Gesetz gestimmt hätten. Deswegen gibtes heute im Deutschen Bundestag eigentlich eine Mehr-heit für mehr Wettbewerb im Energiewirtschaftsrecht.
Es ist bedauerlich, dass aus Gründen des Koalitions-zwanges heute etwas von SPD und Grünen beschlossenwird, hinter dem die Grünen als Regierungsfraktion ei-gentlich gar nicht stehen und das keine Chance hat, beiden Bundesländern im Bundesrat auf Zustimmung zustoßen. Ein solches Verfahren und Vorgehen ist eigentlichfür den Gesetzgeber beschämend. Hinzu kommt, dass die-ses Energiewirtschaftsgesetz in der Tat eine Vielzahl vonFehlern enthält. Dabei geht es nicht nur um die Frage derVerrechtlichung der Verbändevereinbarung.In diesem Zusammenhang lohnt es sich auch, einigeGedanken zur Situation der Energiepolitik überhaupt zuformulieren, denn der von früheren Regierungen einge-schlagene Weg der Liberalisierung des Energiemarktes iststräflich vernachlässigt worden. Die rot-grüne Energie-politik zeichnet sich heute im Wesentlichen durch Steuer-erhöhungen, Subventionen und Marktabschottung aus.Das führte in den letzten Jahren trotz Senkung von Pro-duktionskosten bei den Energieversorgern wieder zu ei-nem Anstieg der Energiepreise für Industrie und Ver-braucher. In diesen Preisen dokumentiert sich dasSubventionsproblem bei den erneuerbaren Energien. Ins-besondere weisen die Preise für Endverbraucher undRolf Hempelmann
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 26. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. Februar 2003
Dr. Rolf BietmannIndustrie die unerträgliche Wirkung der Ökosteuer aus. Sotreibt Rot-Grün die Energiekosten in einer Weise in dieHöhe, die der Wettbewerbsfähigkeit des StandortesDeutschland nachhaltig schadet.
Die Preise für Industriestrom sind in Deutschland nichtgefallen. Sie haben wieder das Niveau zu Monopolzeitenvor der Marktöffnung erreicht. Der Industriestrompreis– auch das muss man hier einmal sagen, weil das im EEG-Bericht der Bundesregierung anders steht – befindet sichnicht im europäischen Mittelfeld, sondern fast an obersterStelle. Nur in Italien und Irland liegen die Preise nochhöher, während sie in den anderen EU-Ländern deutlichdarunter liegen. Energiekosten sind aber ein bedeutenderStandortfaktor bei Investitionsentscheidungen. So gefähr-det rot-grüne Energiepolitik Investitionen und damit wirt-schaftliches Wachstum in Deutschland.Mit der Verabschiedung des heutigen Entwurfs wirdsich die Preisschraube erneut drehen. Ein Preisanstieg istaber für unseren Standort völlig unverantwortbar. Wirbrauchen mit Blick auf die Preisentwicklung endlich denvon allen gewünschten Wettbewerb im Energiemarkt. Ge-nau dem wird der vorliegende Entwurf nicht gerecht.Dabei liegen die Vorschläge für die Novellierung be-reits seit der letzten Legislaturperiode auf dem Tisch. ImNovember 2001 hat die Union dazu einen Antrag einge-bracht und die Bundesregierung aufgefordert, die Novel-lierung so vorzunehmen, dass der Wettbewerb erhaltenbleibt und weiter ausgebaut werden kann.Unser Ziel ist die Schaffung und nachhaltige Etablie-rung des Wettbewerbs sowohl im Strom- als auch im Gas-bereich. Dabei setzen wir unverändert auf freie Verhand-lungen zwischen Netzbetreibern, Energielieferanten und-abnehmern anstelle staatlich regulierter Zugangsregeln.Diesen Rahmen gewährleisten die Verbändevereinba-rungen. Das System der Verbändevereinbarungen dientdem Wettbewerb und muss weiterentwickelt werden. Al-lerdings darf die mit dem hier vorliegenden Gesetzentwurfgeplante Verrechtlichung der Verbändevereinbarungennicht dazu führen, dass die Missbrauchskontrolle der Kar-tellbehörden tatsächlich ausgehebelt wird. Den Kartell-behörden sollen nach dem Text des Gesetzes nämlichdurch Vermutungsregeln die Hände gebunden werden. Eserfolgt eine einseitige Stärkung der jetzigen Betreiber derGas- und Stromnetze. Daher wird diese Regelung zu einerAbschottung der Netze, zu weniger Wettbewerb und damitzur Stärkung von Monopolen führen. Eine solche Stärkungvon Monopolen wollen wir gerade nicht.
Die Verrechtlichungslösung der Verbändevereinbarun-gen im Gesetz hat den Fehler, dass die Netzbetreiber in diekomfortable Lage versetzt werden, ihre Interessen in denVerbändevereinbarungen aufgrund ihrer herrschendenStellung am Markt maximal durchzusetzen, ohne die Kar-tellaufsicht fürchten zu müssen. Das, meine Damen undHerren, ist die klassische Rückkehr zur Monopolwirt-schaft. Wettbewerb und damit verbundene Preissenkun-gen sind so ausgeschlossen.Darum schlagen wir ein anderes System vor. Wir schla-gen vor, die Verbändevereinbarungen unter Beibehaltungeiner effektiven Kartellkontrolle insoweit zu verrechtli-chen, als die Kartellaufsicht die Einhaltung der Verbände-vereinbarungen in jedem Einzelfall angemessen berück-sichtigen muss. Mit einer gesetzlich vorgegebenenBerücksichtigungsklausel kann eine juristische Wertungs-vorgabe formuliert werden, die einerseits den Interessender Netzbetreiber an Planungs- und Investitionssicherheitgerecht wird, andererseits aber auch das Interesse an Miss-brauchskontrolle durch die Wettbewerber berücksichtigt.Mit dieser Position – das haben die Erörterungen in denFachausschüssen gezeigt – können sich auch die FDP und– das betone ich – die Grünen anfreunden. Darum wie-derhole ich, meine Damen und Herren: Es gibt in diesemHaus eine politische Mehrheit für Wettbewerb. Deshalbist es unverantwortlich, dass die Grünen heute aufgrunddes Koalitionszwanges mit der SPD gegen mehr Wettbe-werb in der Energiewirtschaft in Deutschland stimmen.Aber, meine Damen und Herren, es gibt auch einigeweitere Kritikpunkte. Ich will sie nur kurz skizzieren. Esgeht um die Verweigerung einer Beweislastumkehr zu-gunsten von Unternehmen, die den Netzzugang begehren.Außerdem geht es um die fehlende Transparenz der Re-gelungen im Gesetz.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Richtig ist,
dass das vorläufige Eingreifen des Kartellamtes ein Fort-
schritt ist. Aber Sie haben den Gesetzentwurf nicht weiter-
gedacht. Sie haben nicht daran gedacht, dass das geltende
Recht zum Tragen kommt, wenn möglicherweise nach drei
oder vier Jahren durch ein deutsches Gericht festgestellt
wird, dass diese vorläufige Regelung falsch war, und dass
insoweit beachtliche Schadenersatzansprüche drohen. Wer
soll denn für diese Schadenersatzansprüche das Geld
zurückstellen? Da geht es ja nicht um Peanuts, sondern um
Hunderte Millionen Euro. Das hat niemand bedacht. Diese
Fragen müssen unbedingt geklärt werden.
Deswegen steht bei kritischer Betrachtung des Gesetz-
entwurfes fest, dass dieser Entwurf für den Standort
Deutschland die unabdingbar notwendige preisgünstige
und umweltverträgliche Versorgung mit Elektrizität und
Gas nicht garantiert und den Weg der eingeschlagenen Li-
beralisierung des Energiemarktes verlässt.
Die Union dagegen tritt für mehr Wettbewerb ein. Eine
Rückkehr zu Monopolstrukturen ist mit uns nicht zu ma-
chen. Sie nützen niemandem, am wenigsten der Industrie
und dem privaten Verbraucher. Darum sage ich noch ein-
mal: Die Politik von Rot-Grün wird weiter steigende
Energiepreise nach sich ziehen und damit den Wirt-
schaftsstandort Deutschland schwächen. Diese Politik
machen wir nicht mit.
Vielen Dank.
Ich schließe die Aussprache.Wir kommen zur Abstimmung über den von den Frak-tionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen ein-
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gebrachten Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Ge-setzes zur Neuregelung des Energiewirtschaftsrechts,Drucksache 15/197. Der Ausschuss für Wirtschaft und Ar-beit empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Druck-sache 15/432, den Gesetzentwurf anzunehmen. Wer stimmtdem Gesetzentwurf zu? – Wer stimmt dagegen? – Werenthält sich? – Dann ist der Gesetzentwurf in zweiter Be-ratung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegendie Stimmen von CDU/CSU und FDP angenommen.Dritte Beratungund Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die demGesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Ge-genstimmen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf istdamit in dritter Lesung mit dem gleichen Quorum ange-nommen.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 13 auf:Beratung des Antrags der Abgeordneten RainerBrüderle, Dirk Niebel, Birgit Homburger, weitererAbgeordneter und der Fraktion der FDPAbbau von Bürokratie sofort einleiten– Drucksache 15/65 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
InnenausschussRechtsausschussFinanzausschussAusschuss für Gesundheit und Soziale SicherungAusschuss für Umwelt, Naturschutz und ReaktorsicherheitHaushaltsausschussNach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. – Ich hörekeinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache. Als erste Rednerin sprichtfür den Antragsteller, die FDP-Fraktion, die KolleginBirgit Homburger.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! HerrKollege Kubatschka, ich freue mich immer, wenn Sie sichsolche Sorgen um mich machen. Ich kann Ihnen aber ver-sichern: Das ist vollkommen überflüssig.Kommen wir nun zu unserem Antrag zum Bürokra-tieabbau. Der Abbau von Bürokratie ist eine der zentralenAufgaben der Politik. Längst ist Bürokratie zu einer mas-siven Belastung in allen Lebensbereichen geworden. Des-wegen kämpft die FDP für den Abbau von unsinnigen undüberflüssigen Vorschriften und für mehr Freiheit für dieBürgerinnen und Bürger.
Das hat – das muss ich Ihnen sagen – Ihr Wirtschafts-minister, Herr Clement, längst begriffen; jedenfalls er-weckt er nach draußen diesen Eindruck. Ihr Bundeskanzler,Herr Schröder, hat sogar in seiner Regierungserklärung da-von gesprochen, dass der Abbau unnötiger Bürokratie eineSäule seiner Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik sei. Undwas macht die SPD-Bundestagsfraktion? Sie betätigtsich in dieser Frage als Chefbremser, was das BeispielKündigungsschutz in der letzten Woche wieder bewiesenhat.
Wir reden nicht über Bürokratieabbau, sondern wirhandeln. Wir haben bereits im November letzten Jahres,also in dieser Legislaturperiode, einen ersten Antrag ein-gebracht.
Ich möchte Ihnen deutlich machen, dass Sie darübernachdenken sollten, ob jetzt nicht auch Sie langsam ein-mal handeln wollen.
70 000 Gesetze, Verordnungen und Rechtsvorschriftenhaben wir in diesem Land zu beachten. Jährlich werden esmehr. Dadurch fallen allein für die Wirtschaft rund30 Milliarden Euro Kosten an. Wenn man sich die Kos-tenbelastung anschaut, dann stellt man fest, dass ein Ar-beitsplatz in der Großindustrie mit rund 150 Euro proJahr belastet wird, während in einem kleinen oder mittel-ständischen Betrieb eine Belastung von rund 3 500 Europro Arbeitsplatz und Jahr entsteht. Das ist ein Ausmaß,das längst einer Existenzbedrohung der kleinen und mitt-leren Betriebe gleichkommt. Dieser Unsinn muss jetztendlich aufhören!
– Wir sagen nicht, dass das alles in den letzten vier Jahrenpassiert ist.Aber ich danke Ihnen für diesen Einwurf: Sie habenschon in der letzten Legislaturperiode, also vor vier Jah-ren, in Ihrem Koalitionsvertrag festgeschrieben, die Büro-kratie und Vorschriften abbauen zu wollen. Sie wolltenderegulieren. Das war ein Hauptpunkt.
– Ja, das haben Sie wunderbar gemacht. Sie haben in ei-ner Antwort auf eine Anfrage mitgeteilt, dass Sie ein paarVorschriften abgeschafft hätten. Aber eine ganze Reiheneuer haben Sie beschlossen, sodass in der letzten Legis-laturperiode unter Ihrer Führung im Saldo bzw. netto, alsodas abgezogen, was Sie abgeschafft haben, 300 neue Ge-setze und über 1 000 neue Verordnungen beschlossenworden sind. Das ist das Ergebnis Ihrer Art von Bürokra-tieabbau: mehr Bürokratie, mehr Regulierung. Aus unse-rer Sicht ist das der falsche Weg.
Deswegen fordern wir in unserem Antrag ein Bürokra-tieabbaugesetz. Ein solches kann – wenn Sie wollen –noch vor der Sommerpause 2003 im Deutschen Bundes-tag beschlossen werden. Wir haben in unserem Antrag27 konkrete Vorschläge für Bürokratieabbau gemacht,Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 26. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. Februar 2003
Birgit Homburgerzum Beispiel im Bereich der Statistiken, im Bereich desSozialversicherungsrechts, im Bereich des Steuerrechts,im Bereich des Betriebsverfassungsgesetzes
oder im Bereich des Kündigungsschutzgesetzes.Ihre Minister sprechen doch zwischenzeitlich selbstvon Bürokratieabbau, nur umgesetzt wird nichts. HerrEichel beispielsweise hat gerade vorgestern angekündigt,er wolle Überregulierungen im Steuerrecht beseitigen undin dessen Zuge die Lohnsteuerkarte abschaffen. Da mussman Sie doch fragen: Warum, um Himmels willen, habenSie dann den Anträgen der FDP-Bundestagsfraktion zurVereinfachung des Steuerrechts in diesem Hause nicht zu-gestimmt?
Oder nehmen wir das Beispiel der Umsatzsteuervor-anmeldungen:Wir fordern, dass diese Meldungen künf-tig nur noch vierteljährlich abgegeben werden müssen. Sokönnten im Jahr 12 Millionen Formulare eingespart wer-den. Das entspricht einer geschätzten Entlastung von min-destens 0,5Milliarden Euro, im Übrigen für Unternehmenund Finanzverwaltungen. Anders ausgedrückt: Das er-sparte 36 Millionen Blatt Papier – 12 Millionen Formu-lare à drei Blatt –, gestapelt ein Berg von etwa 4 000 Me-ter Höhe; das liegt irgendwo zwischen Großglockner undMatterhorn. Warum stimmen Sie dem nicht zu? Warumwehren Sie sich dagegen, dass diese Meldungen künftigstatt monatlich nur noch vierteljährlich abgegeben wer-den müssen?
– Entschuldigung, Frau Kollegin, aber dieser Zwi-schenruf ist Unsinn. Durch diese Maßnahme würde mandoch keine Steuern verlieren. Wir wollen lediglich dieUmsatzsteuervoranmeldungen derart vereinfachen, dassstatt monatlich nur noch vierteljährlich ein Formular ab-gegeben werden muss. Dadurch verliert man doch keineSteuern. Reden Sie doch nicht so ein Zeug daher!
Minister Clement ist geradezu das Kontrastprogrammzu dem, was Sie machen: Er kündigt einen MasterplanBürokratieabbau an und will diesen hier im Bundestagvorlegen. Ich habe den Eindruck, da verhält es sich einbisschen wie mit dem Ungeheuer von Loch Ness: Alle re-den von Nessi; aber keiner hat sie je gesehen. So ist dasauch mit dem Masterplan.
Wir wollen ernst machen mit dem Bürokratieabbau.Hören Sie endlich auf mit Ihrer Bürokratieabbaurhetorik!Das ist unanständig angesichts der wirtschaftlichen Lage,in der wir uns befinden. Wir werden Sie in jedem einzel-nen Punkt mit einem Lösungsvorschlag konfrontieren. ImJanuar haben wir damit angefangen, in jeder Sitzungswo-che des Deutschen Bundestages hierzu Vorschläge einzu-reichen. Wir geben Ihnen damit die Gelegenheit, zu be-weisen, dass es Ihnen mit dem Bürokratieabbau ernst ist.
Oder um es anders auszudrücken – das ist mein letzterSatz Herr Präsident –: Die FDP eröffnet Ihnen, meine sehrverehrten Kolleginnen und Kollegen, eine riesige Chance.
Wenn Sie schon selber nichts zuwege bringen, können Sieunserem Antrag zustimmen und damit das wahr machen,was Sie sonst nur ankündigen. Das ist unser Angebot anSie. Stimmen Sie dem FDP-Antrag zu!Vielen Dank.
Das Wort hat jetzt der Kollege Walter Hoffmann von
der SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Her-ren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Homburger,ein bisschen mehr Nachdenklichkeit hätte Ihrem forschenAuftreten gut getan, gerade angesichts dieses wichtigenThemas.Es ist wohl völlig unstrittig, dass ein Großteil – ich willdas jetzt nicht mit Prozentwerten totschlagen – der büro-kratischen Regelungen, mit denen wir uns alle herumzu-schlagen haben, auf europarechtliche Regelungen zurück-geht. Jeder Kollege, der im Ausschuss für Wirtschaft undArbeit oder im Auswärtigen Ausschuss tätig ist, weiß, dassdie Hälfte der Tagesordnungspunkte – das habe ich imwahrsten Sinne des Wortes noch geschönt – europarechtli-che Regelungen behandelt. – Das ist mein erster Punkt.Zweiter Punkt: Ich will versuchen, es mit einer Zahl zuverdeutlichen; es ist eine rein mathematische Angelegen-heit. Sie waren 16 Jahre lang – ob ich es gut finde odernicht, spielt keine Rolle – für die Gesetzgebung verant-wortlich.
Sie haben 16 Jahre lang eine Unmenge an Vorschriften aufBundes- und Länderebene produziert.
– Ich muss das jetzt anführen. Ich neige nicht zum Rück-blick, denn wir müssen unumstritten nach vorn schauen.
Aber man kann nicht so tun, als sei die Bürokratie in denletzten vier Jahren entstanden. Das ist in der Tat nicht derFall.
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 26. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. Februar 2003 2055
Lassen Sie mich jetzt zum Thema zurückkommen. DieZielsetzung ist klar: Wir wollen Bürokratie abbauen. Daswollen wir nicht nur ankündigen, sondern ernsthaft um-setzen.
Es ist ja nicht so, als ob nichts geschehen wäre. Hier müs-sen wir die Tassen im Schrank lassen.Ich möchte Ihnen den Fall eines Rechtsanwaltes schil-dern, der mich schriftlich aufgefordert hat, mit dafür zusorgen, die Formulare der Krankenkassen zu verein-heitlichen und eine einzige Anlaufstelle im Internet zuschaffen. Ich musste ihm mitteilen, dass dies bereits seitNovember 2001 geltende Rechtslage ist. Ich musste ihmweiterhin mitteilen, dass die Personalabrechnungsformu-lare der Krankenkassen nicht nur vereinheitlicht wurden,sondern dass die Informationstechnische Servicestelle derGKV ihre Dienste im Internet sogar kostenlos anbietet.Ein dritter Punkt, bei dem ich mich relativ gut aus-kenne, sind die Unfallverhütungsvorschriften. Da gab esein völlig unübersichtliches Regelwerk. Wir sind stolz da-rauf, dass seit Oktober vergangenen Jahres die Flut derUnfallverhütungsvorschriften für die Hersteller und Be-treiber technischer Geräte zusammengefasst, vereinheit-licht und vereinfacht worden ist. Das ist eine gute Sache.
Der vierte Punkt: Die Menschen quälen sich durch ihreSteuererklärungen; sie sind absolut undurchschaubar,schwierig und zeitaufwendig. Der einzige Berufsstand, derdavon profitiert, ist der der Steuerberater. Deswegen findeich es gut, dass die Bundestagsfraktion eine Initiativegestartet hat – Sie haben davon sicher in der Zeitung gele-sen –, um die Lohnsteuerkarte ab 2005 abzuschaffen, dieSteuererklärung soweitwiemöglich zuvereinfachenunddieVordrucke bundesweit zu vereinheitlichen. Dabeiwill ich esbelassen, auchwenn es noch eineFülleweiter gehender For-derungen gibt. Auch das ist ein guter Ansatz. Ich hoffe, wirhaben alle zusammen die Kraft, das durchzustehen.
Frau Homburger, Sie müssen noch ein paar Tage war-ten, dann wird das positive Ungeheuer herauskrabbeln undden Masterplan vorlegen. Sie werden an jedem einzelnenPunkt gefordert sein. Dann müssen Sie sich auch bekennenund Position beziehen; denn dann ist die Zeit der Sprüche-klopferei im wahrsten Sinne des Wortes vorbei.
Wir sollten aufhören, das als einmalige Sache oder alsBeschränkung auf eine Legislaturperiode zu betrachten.Das ist unsinnig. Wir sind uns doch darüber einig, dassBürokratieabbau ein Prozess sein muss, der sich überviele Jahre hinweg vollzieht. Bei alldem, was wir be-schließen, sollten wir daran denken, welche Schwierig-keiten und bürokratischen Regelungen das möglicher-weise mit sich bringen wird.Auch in Ihrem Antrag gibt es Maßnahmen, die unstrit-tig, ja sogar sinnvoll sind. Das ist überhaupt kein Thema.Wir werden sie im Rahmen des Masterplans sicherlich auchumsetzen. Es gibt aber auch Konfliktpunke, bei denen ichsicher bin, dass wir zu keiner Einigung kommen werden.Eines sage ich ganz deutlich: Mit demjenigen, der un-ter dem Etikett des Bürokratieabbaus Positionen durch-setzen will, die er bisher im Parlament nicht durchsetzenkonnte, werden wir nicht übereinstimmen. Dabei werdenwir nicht mitmachen.Ich will ein Beispiel aus Ihrem Antrag nennen. Sie ver-langen, dass die Pflicht des Arbeitgebers, über beschäfti-gungspolitische Vorschläge des Betriebsrates zu beraten,abgeschafft wird. Frau Homburger, das hat nichts mitBürokratie zu tun, sondern schlicht und ergreifend mitdem Abbau von Arbeitnehmerschutzrechten, mit Mit-bestimmung und innerbetrieblicher Demokratie. Um nichtsanderes geht es Ihnen bei diesem Punkt.Dazu sage ich Ihnen ganz deutlich: Dieser Vorschlagist unsinnig und kontraprodutiv. Jeder, der betrieblicheRealitäten kennt, weiß, dass es Betriebsräte mit ihremKnow-how, ihrem Ideenreichtum und ihrer Fantasie häu-fig geschafft haben – in Kooperation, oft aber auch gegenArbeitgeber –, ihre Betriebe, die in massiven Schwierig-keiten steckten, zu retten. Ich habe in meinem beruflichenLeben viele solcher positiven Erfahrungen gemacht.Diese Forderung ist also unsinnig und hat auch nichtsmit Bürokratieabbau zu tun.
Es handelt sich hierbei schlicht und ergreifend um eineForderung nach dem Abbau von Arbeitnehmerrechten.Dabei werden wir nicht mitmachen. Das sage ich klar unddeutlich.Frau Homburger, ich bin sehr gespannt – ich sage diesnicht arrogant –, wie Sie reagieren werden, wenn es beider Forderung nach Bürokratieabbau an die BesitzständeIhrer Klientel gehen wird. Und das wird kommen.
– Das haben wir doch. Ich habe meine Zweifel, ob Sieauch dann noch weiter mitmachen werden, wenn es an dieStandesprivilegien Ihrer Klientel geht.Ich bin auch für eine ehrliche Diskussion mit den Ver-bänden; Herr Staffelt wird dies nachher sicherlich nochausführlich schildern. Alle Verbände sind aufgefordertworden, ihre Vorschläge – bis zum November des letztenJahres – zu präsentieren. Ich habe nun meine Zweifel, obdiese Vorschläge mit den betrieblichen Realitäten in Ein-klang zu bringen sind. Ich habe dies bewusst als Zweifelformuliert.Ich bin auch der Auffassung, dass die Wirtschaftsver-bände erst einmal ihre eigenen Hausaufgaben zu machenhaben. Es ist bekannt, dass sie einerseits für ihre unmit-telbare Arbeit eine Unmenge an Statistiken benötigen undsich daher mit Händen und Füßen gegen die Abschaffungwehren, dass sie dies aber andererseits in ihren Forde-rungskatalog hineinschreiben. Diese Doppelzüngigkeitwird bei dieser Diskussion nicht aufrechtzuerhalten sein.Walter Hoffmann
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Walter Hoffmann
Lassen Sie mich noch etwas zu den Ländern sagen, indenen Sie von der CDU/CSU Regierungsverantwortungtragen. Ich habe einen relativ guten Überblick darüber,was dort im Bereich des Bürokratieabbaus geschieht. Ichhabe mich häufig gefragt, weshalb es immer noch so ist,dass ein in Mainz zugelassener Architekt keine Aufträgein Wiesbaden, also auf der anderen Seite des Rheins, aus-führen kann.
Ich habe mich auch häufig gefragt, warum es immernoch so ist, dass ein in Hessen vereidigter Vermessungs-ingenieur in Rheinland-Pfalz nicht tätig sein darf. Daskann doch nicht sein. Ich habe es nicht geglaubt, als manmir dies erzählt hat. Dort, wo Sie in den Landesregierun-gen Verantwortung tragen, sind Sie aufgefordert, hier Ab-hilfe zu schaffen.
Herr Kollege Hoffmann, erlauben Sie eine Zwi-
schenfrage der Kollegin Homburger?
Natürlich.
Bitte.
Herr Kollege Hoffmann, ich möchte Sie nur fragen, ob
Sie bereit sind, zur Kenntnis zu nehmen, dass es auch auf
Landesebene sicherlich immer noch Möglichkeiten für ei-
nen Bürokratieabbau bzw. den Abbau überflüssiger Vor-
schriften gibt. Sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen,
dass in Hessen unter liberaler Regierungsbeteiligung in
den letzten Jahren 39 Prozent der Verwaltungsvorschriften
und 15 Prozent der Rechtsverordnungen zurückgenom-
men worden sind? Insgesamt waren dies circa 5 000 Vor-
schriften.
Sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass bei-
spielsweise in Baden-Württemberg im Jahre 2000
26 Prozent und im Jahre 2001 weitere 11 Prozent der
Verwaltungsvorschriften zurückgenommen worden sind?
Die Zahlen für das Jahr 2002 habe ich noch nicht vorlie-
gen; aber diese Entwicklung ging weiter.
Sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass in den
Ländern, in denen die FDP Regierungsverantwortung
trägt, der Bürokratieabbau auch tatsächlich erfolgt?
Frau Homburger, ich nehme diese Zahlen in der Tat zur
Kenntnis.
Ich sage Ihnen dazu aufgrund interner Informationen: Die
Zahlen sagen relativ wenig aus. Die Hessische Landes-
regierung hat unter Führung der FDP
im Baurecht eine ganze Reihe von Änderungen vorge-
nommen. Schauen Sie sich diese Änderungen einmal an.
Dann werden Sie feststellen, dass alle Verbände, die von
der Sache wirklich etwas verstehen, gegen diese Ände-
rungen sind. Ich behaupte auch, dass ein Großteil dieser
Änderungen absolut kontraproduktiv ist.
Wenn ich noch Zeit hätte – ich habe leider nur noch we-
nige Sekunden –, würde ich Ihnen anhand mehrerer Bei-
spiele verdeutlichen,
wie sich ein positiver Ansatz bei der Umsetzung in das
Gegenteil verkehren kann. Dies gilt gerade für das Bau-
recht.Wir werden eine Unmenge von Klagen bekommen,
weil die Vorschläge nicht durchdacht, nicht abgestimmt
und wirklichkeitsfremd sind. Die Regierung aber kann
aufzeigen, sie habe das und das gemacht. Ich sage Ihnen
dies nicht arrogant oder überheblich, sondern nur, um auf-
zuzeigen, dass hier der Teufel im Detail steckt.
Wenn der Masterplan in wenigen Tagen hier auf den
Tisch kommt, werden wir sehen, ob Sie bereit sind, sich
Ihrer Verantwortung konkret zu stellen.
Zum Abschluss fordere ich Sie noch einmal auf. Ma-
chen Sie konkrete Vorschläge, über die wir diskutieren
können und die uns weiterbringen! Verschonen Sie uns
aber bitte mit Ihren Versuchen, durch die Hintertür Mitbe-
stimmungsrechte und andere Schutzrechte auszuhebeln!
Dazu ist uns das Ziel des Bürokratieabbaus zu wichtig.
Vielen Dank.
Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Michael Fuchs von
der CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren!Lieber Kollege Hoffmann, vielen Dank für diese markigenWorte. Einem Kreisvorsitzenden a. D. des DGB hört manbei einem solchen Thema besonders gerne zu. Sie sprachendavon, dass der Teufel im Detail stecke. Der Teufel stecktnicht im Detail, sondern in Ihrer Fraktion, die nicht fähig ist,diese Dinge umzusetzen. Das ist das Problem.
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Ich will Ihnen ein Beispiel nennen. Wir diskutieren seitJahren über den unsäglichen Ladenschluss. Wir hattendie Hoffnung, dass Sie in diesem Bereich endlich etwastun würden; der Bundeskanzler und der Bundeswirt-schaftsminister haben das ja mit großen Worten angekün-digt. Wie wir von Ihren Kollegen aber hören mussten, ha-ben Sie, wenn es darum geht, die Öffnungszeiten umgerade einmal vier Stunden zu verlängern, eine Mehrheitvon nur 60 Prozent in Ihrer Fraktion. 40 Prozent stellensich noch immer dagegen. Es ist doch ein Drama, wennman bei solchen Lächerlichkeiten nicht weiterkommt.
Wir haben eine wahrhaft gewaltige Regulierungswut indiesem Staat. Es wurden Anmeldungs-, Aufzeichnungs-,Berechnungs-, Erklärungs-, Ermittlungs-, Nachweis- undAbführungspflichten geschaffen. Es gibt 2 200 Gesetze mit47000 Einzelvorschriften und 3 000 Rechtsverordnungenmit 40000 Einzelvorschriften. Ich finde, da ist genug Platz.Gerhard Schröder hat in seiner ersten Regierungser-klärung gesagt – ich zitiere –:Wir werden die Verwaltung schlanker und effizientermachen, wir werden hemmende Bürokratie rasch be-seitigen.Was haben Sie an hemmender Bürokratie in der letztenLegislaturperiode denn beseitigt?
Was haben Sie geschafft? – Im OECD-Bürokratie-vergleich ist zu lesen, dass Deutschland unter den euro-päischen Ländern Platz 16 einnimmt.
Ich weiß, dass Sie es schaffen, dass wir auf Plätze, dienoch weiter hinten liegen, kommen. Darin sind Sie gut.Bei E-Government zum Beispiel liegen wir europaweitauf dem drittletzten Platz.
Beim Wirtschaftswachstum haben Sie es nun geschafft,dass wir Schlusslicht sind. Da haben Sie für dieses Landdie rote Laterne geholt. Das hat es in Deutschland nochnie gegeben.
Der FDP-Antrag hat Recht und enthält Punkte, die be-weisen, dass Sie Mut haben. Diese haben Sie vorgetragen,Frau Homburger. Allerdings fehlt mir der Glaube, dass dieFraktionen von Rot-Grün irgendetwas davon umsetzenwerden. Ich glaube nicht, dass dieser dringend benötigteBefreiungsschlag kommen wird. Ich erwarte, dass IhrenWorten endlich Taten folgen.
Diese großartig angekündigten Reformen müssen mehrwerden als nur Luftblasen.Wir hören von dem Masterplan; alle Tage wird mitgroßen Worten ein Splitter aus ihm verkündet. Aber all dieAnkündigungen – der Ankündigungsminister ist heuteleider nicht hier – zerplatzen wie Seifenblasen. Wird derMasterplan insgesamt etwa ebenfalls großartig angekün-digt und dann von den Gewerkschaften ideologiegerechtweichgespült? Kommt auch er auf das Abstellgleis wieder Ladenschluss? 40Prozent Ihrer Fraktion wollen nichtsändern. Das kann ich nicht mehr nachvollziehen. Das tutmir wirklich Leid, Frau Barnett; denn hier müssten wirendlich zu einem Anschluss an die europäischen Verhält-nisse kommen.Herr Staatssekretär Staffelt, ist es für den Bundeswirt-schaftsminister eigentlich befriedigend, dass dann, wenner die Gedanken, die er sich immer wieder macht – diesesind manchmal gar nicht so falsch –, veröffentlicht, dieHerren Bsirske und Zwickel umgehend das Kanzleramtstürmen und ein führungsstarker Kanzler sofort eineRückrufaktion startet? So kann es nicht gehen. Ich seheaber leider nicht, dass sich das ändern wird.Der Bundeswirtschaftsminister strampelt sich ab – dasgeben wir durchaus anerkennend zu –, bekommt in derFraktion aber nichts Vernünftiges durch. Wir haben einArbeitspapier der Projektgruppe „Masterplan Büro-kratieabbau“ des BMWAerhalten. Dieses enthält 33 zumTeil weit reichende Vorschläge. Vielleicht ist diesmal so-gar der große Wurf darunter. Sie gehen so weit, dass dieZwangsmitgliedschaft in der IHK abgeschafft werden sollund dass der Meisterbrief im Handwerk zur Dispositiongestellt werden soll. Auch die Arbeitsstättenverordnungwollen Sie verändern. Die Pflichten zur Führung von Sta-tistiken sollen geändert werden.
– Herr Kollege Stiegler, ich kann Ihnen das Papier gernegeben. Es stammt aus dem BMWA. Ich gebe es Ihnen so-gar mit dem Rubrum des BMWA.
– Herr Stiegler, ich fälsche nicht! Ich bin nur sehr ge-spannt, wie Sie darauf reagieren und was daraus wird.Oder sind das nur die üblichen Ankündigungen, die wirvon Ihnen gewöhnt sind?
Die Regierung hat in der letzten Wahlperiode 391 Gesetzeund sage und schreibe 973 Rechtsverordnungen erlassen.Das war Ihr Programm zum Bürokratieabbau. Ich habenicht das Gefühl, als hätten Sie bis jetzt irgendetwas da-zugelernt.
So wird es jedenfalls nicht weitergehen können.Es gibt eine sieben Jahre alte Untersuchung des Institutsfür Mittelstandsforschung in Bonn, in der nachgewiesenDr. Michael Fuchs
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Dr. Michael Fuchswurde, dass wir zu viel Bürokratie haben. Warum habenSie eigentlich nicht eine neue Untersuchung in Auftrag ge-geben? Der Bundeswirtschaftsminister verfügt in seinemEtat für Öffentlichkeitsarbeit über 13 Millionen Euro. Ichmeine, damit könnte er etwas Sinnvolles anfangen undeine solche Untersuchung in Auftrag geben. Ich schlageIhnen das vor.
Wenn es Ihnen damit wirklich Ernst ist, dann tun Sie dochetwas!
Frau Homburger hat vollkommen Recht: Jeder Ar-beitsplatz im Mittelstand ist mit 3 500 Euro Bürokratie-kosten belastet. Das muss doch Grund genug sein, soschnell wie möglich etwas zu ändern.
Herr Hoffmann, es geht nicht darum, nur ein bisschenan den Statistiken herumzuschnipseln. Nein, wir müssenschon an das Eingemachte gehen; es müssen Dinge in An-griff genommen werden, die für die Bürgerinnen und Bür-ger und die Unternehmen spürbar sind.
Ein Mitarbeiter benötigt durchschnittlich 62 Stunden fürdie bürokratische Pflicht.
– Wenn Sie es wissen, ist es ja gut. Aber dann tun Sie dochetwas! Fangen Sie endlich einmal an
und warten Sie nicht immer nur ab, bis Ihnen irgendwel-che Vorschläge gemacht werden.Wir müssen auch in den Gesetzen die Folgekosten-abschätzung etwas anders definieren.
Auch in dieser Hinsicht erwarte ich etwas Initiative vonIhnen. Aber Initiativen von Ihnen finden wir allenfalls inZeitungen und nicht hier im Parlament, wo sie hin-gehören. Das wäre mir wesentlich lieber.
Ich will mich jetzt gar nicht mit den einzelnen Para-graphen beschäftigen; dazu bräuchte ich drei Stunden Re-dezeit, die ich leider nicht habe. Wir haben es mit einemFlächenbrand zu tun, den Ihre Bürokratie verursacht hat.Sie können sich nicht mehr damit herausreden, HerrHoffmann – es tut mir Leid –, dass Bundeskanzler Kohl16 Jahre lang regiert hat. Das waren 16 gute Jahre fürDeutschland.
Aber was wir jetzt erlebt haben, sind fünf schlechte Jahrefür Deutschland gewesen.
Es hat noch nie in Deutschland eine Situation gegeben,in der die Wirtschaft so sehr am Boden lag wie jetzt. Ichbin Unternehmer. Ich habe im Zeitraum von Januar bisheute bereits 25 Unternehmerkunden verloren; sie sindPleite gegangen. Das sind die Folgen Ihrer Politik. Wasanderes sollte es denn sonst sein?
– Ich denke nicht, dass das etwas mit Staatskommunismuszu tun hat. Aber Sie haben so viele Gesetze gemacht, diedie Unternehmen immer weiter belastet und die dazu ge-führt haben, dass heute keiner mehr richtig durchatmenkann. Das sind die Folgen Ihrer Politik.
Alle sieben Minuten geht in Deutschland ein Unter-nehmen Pleite. Das finde ich nicht zum Lachen, FrauBarnett. Da gehen Arbeitsplätze verloren; das sollte Ihnengenauso weh tun, wie es uns weh tut.
Herr Kollege Fuchs, gestatten Sie eine Zwischenfrage
des Kollegen Bürsch?
Gerne.
Herr Kollege, ist Ihnen bewusst oder bekannt, dass in den90er-Jahren die Sachverständigenkommission „SchlankerStaat“ unter der Leitung Ihres früheren Kollegen RupertScholz einen umfänglichen Bericht geschrieben hat, derviele Forderungen zum Bürokratieabbau enthielt? Damalslag die Zahl der Gesetze, die in einer Legislaturperiodeverabschiedet wurden, zwischen 500 und 600; es warenfast doppelt so viel wie jetzt. Ist Ihnen ferner bekannt, dassaus diesen Forderungen von Professor Rupert Scholz undder Sachverständigenkommission nichts hervorgegangenist, was einen Abbau von Bürokratie und Vorschriften be-wirkt hat?
Ist Ihnen schließlich bekannt, dass Herr Scholz damalsschon darauf hingewiesen hat, dass wir bei der Forderungnach Bürokratieabbau immer darauf achten müssen, dassdie Gesetze den Rechtsstaat sichern? Wenn Sie Unterneh-mer fragen, ob sie diese Gesetze brauchen, dann werden
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sie Ihnen antworten: Natürlich brauchen wir Richtlinien,die unser Handeln mit einem Maßstab versehen.Die Forderung nach Bürokratieabbau gibt es, solangees Gesetze gibt.
Insofern stellen Sie jetzt eine etwas populistische Forde-rung auf.Ich möchte Sie fragen: Kennen Sie die Forderungender Sachverständigenkommission „Schlanker Staat“?
Wenn ja: Können Sie mir sagen, was davon umgesetztworden ist? Wenn man nämlich den Vergleich zu den Jah-ren 1990 bis 1998 zieht, bekommt man einen etwas reale-ren Hintergrund, was Ihre Forderungen angeht.
Herr Kollege, ich darf Ihnen berichten, dass Professor
Scholz eine sehr gute Arbeit geleistet hat. Diese führen
wir heute immer noch weiter.
Leider sind wir seit 1998 nicht mehr an der Regierung,
sonst hätten wir die Forderungen von Herrn Scholz um-
gesetzt.
Ich empfehle Ihnen diesen Bericht zur Lektüre; denn er
stellt den Handlungsrahmen dar, den Sie brauchen, um
jetzt Bürokratie abzubauen.
Eine Menge davon ist umgesetzt worden. Unsere Frak-
tion wird Forderungen aus dem Scholz-Papier einbringen.
Machen Sie sich keine Sorgen: Wir werden Sie beim
Thema Bürokratie treiben. Ich bin der Meinung, dass wir
über einen solchen Befreiungsschlag sprechen müssen.
Anders werden wir mit dem Moloch Bürokratie nicht fer-
tig werden.
Meine Damen und Herren, zum Abschluss möchte ich
noch eines sagen: Ludwig Erhard kann man immer zitie-
ren. Herr Brandner, ich weiß, dass Sie von ihm nichts hal-
ten; das bekommen wir jeden Tag zu hören.
Sie wissen wahrscheinlich nicht, was er wollte. Ich sage
Ihnen, was er gesagt hat: Jede Ausgabe des Staates stellt
einen Verzicht des Bürgers dar. Darüber sollten Sie einmal
dringend nachdenken; denn Ihr Fraktionsvorsitzender
Müntefering will die Bürger zusätzlich belasten, weil es
immer noch nicht genug ist. Die Bürger sollen zugunsten
des Staates verzichten. Das ist nicht meine Vorstellung
vom Staat. Ich bin der Meinung, dass der Staat für den
Bürger da ist und nicht der Bürger für den Staat.
Vielen Dank.
Nächster Redner ist der Kollege Fritz Kuhn, Bündnis 90/
Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Ich kann den Grundton in der Debatte nicht ganz verste-hen, und zwar aus folgendem Grund nicht: Es ist dochvöllig logisch, dass es eine Aufgabe staatlicher Politik aufallen Ebenen ist – in den Gemeinden, den Ländern unddem Bund –, überflüssige Bürokratie abzubauen. Darübermuss es einen Konsens geben.Zunächst einmal geht es darum, wie die Bürger denStaat empfinden. Ein nicht unerheblicher Teil der Poli-tikverdrossenheit kommt daher, dass die Bürger die Büro-kratie nicht durchschauen und oft negative Erfahrungengemacht haben. Das betrifft übrigens vor allem die kom-munale Ebene. Zweitens ist zu beachten, dass zu vielBürokratie auch eine wirtschaftliche Dimension hat. Es istauf jeden Fall ein Mittelstandsthema, weil die relativeKostenbelastung für den Mittelstand höher als für Groß-betriebe ist, die das natürlich leichter bewältigen können.Frau Homburger, das Gutachten, das Sie anfordern– Sie haben ja die alte Studie zitiert –, ist auf dem Weg.Das Wirtschaftsministerium hat ein neues Gutachten inAuftrag gegeben, sodass wir im Herbst neue Zahlen vor-legen können.Ich will zunächst einmal festhalten: Bürokratieab-bau ist notwendig. Hierbei muss es einen konstruktivenWettbewerb geben. In den letzten Jahren habe ich vieleGeschichtenerzähler, die darüber berichteten, wo dieBürokratie am schlimmsten ist, erlebt, die beim Bürokra-tieabbau völlig gescheitert sind. Der beste Geschichten-erzähler war sicherlich Herr Späth, der im WahlkampfBürokratiegeschichten erzählt hat. Er sprach vom Hand-werksbetrieb, der niemanden mehr einstellen konnte, weilkeine zweite Toilette vorhanden war, und von anderenDingen. Als Ministerpräsident in Baden-Württemberg ister aber gigantisch gescheitert.
Dr. Michael Bürsch
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Fritz KuhnEs gab viele Kommissionen, eine zweijährige Untersu-chung und einen Abschlussbericht in fünf Bänden. Ergeb-nis null! So einfach kann es also nicht gehen.Vielleicht ist das Maulen über Bürokratie so etwas wieein Bürgerrecht. Max Weber hat die Bürokratie ja als dasWesen staatlicher Herrschaft bezeichnet. Deshalb ist es si-cher auch das Recht des Bürgers, zu sagen, dass ihm dasauf den Geist geht.
Machen wir uns jetzt aber ernsthaft Gedanken darüber,was passieren muss. Ich finde es richtig, dass das Wirt-schaftsministerium jetzt die Vorschläge derWirtschafts-verbände sammelt. Sie wurden gefragt, welche konkre-ten Vorschläge sie zum Abbau von Bürokratie haben.Diese Vorschläge muss man durchgehen und auflisten.Eine ganze Reihe davon wird man umsetzen können. Da-mit wurde übrigens bereits in der letzten Legislaturpe-riode begonnen.Nicht jeder Vorschlag wird umsetzbar sein, weil dieVerbände natürlich auch Punkte in die Liste aufnehmenwerden, gegen die sie aus anderen Gründen schon immerwaren. Man wird aber auf eine ganze Reihe von Punktenstoßen, die man sofort und einfach umsetzen kann. Dassind die Teile der Bürokratie, die dadurch entstanden sind,dass sich die Verwaltung verselbstständigt hat. Trotzguten Willens der Verwaltung entstanden absurde, über-bürokratische Regelungen. Diesen Teil kann man leichtererfassen. Einiges davon kann zum Wohle der mittelstän-dischen Wirtschaft abgeschafft werden.In anderen Bereichen ist das aber nicht so einfach. Dortmuss man die Frage stellen: Wie ist das Ziel, das bishermit einer bürokratischen Regelung umgesetzt wird, ohnediese Regelung zu erreichen? Frau Homburger, was mirbei Ihrer Rede nicht gefallen hat, war, dass Sie ausschließ-lich quantitativ argumentiert haben. Sie haben als Beispieldie Menge an einzusparendem Papier genannt, das sich zueiner Höhe von etwa 4 000 Metern stapeln ließe. Sie nann-ten in diesem Zusammenhang den Großglockner. Wiraber brauchen eine qualitative Diskussion.Wenn wir Deutschland wirklich entbürokratisierenwollen, müssen wir eine Aufgabenkritik des Staatesvornehmen.
Mit dem Einsammeln von Strichlisten ist es nicht getan.Vielmehr müssen wir uns fragen: Was ist die Kernaufgabedes Staates? Wenn man ein Ziel, zum Beispiel im Um-weltschutz, ohne Bürokratie verwirklichen will, dannmuss man klären, mit welcher anderen Methode man die-ses Ziel erreichen kann. Vieles, was Sie in Ihrem Antragfordern – ich habe ihn mir genau angeschaut –, ist nichtmachbar, zum Beispiel bei der Mitbestimmung. Sie ver-weigern sich da einer inhaltlichen Diskussion, weil Siedas Ziel nicht wollen.
Daher können Sie fröhlich und herzhaft die Streichungvon Regelungen fordern.
Wir in der Koalition haben den Masterplan beschlos-sen.
– Man muss nicht alles in den ersten vier Monaten ma-chen. Ansonsten werfen Sie der Regierung wieder vor, al-les in den ersten Monaten umsetzen zu wollen.
Frau Homburger, auch diese Legislaturperiode wird – zuIhrem Bedauern – vier Jahre dauern. In dieser Zeit wer-den wir sehr sorgfältig und gründlich die Bürokratie ab-bauen. Ohne einen Masterplan wird dies aber nicht gelin-gen. Mithilfe dieses Masterplans wollen wir in allenBereichen des Regierungshandelns eine Aufgabenkritikvornehmen, um festzustellen, welche Regelungen gestri-chen werden können, welche notwendig sind und welcheWege noch zum Ziel führen. Dabei sind vier Fragestel-lungen zu beachten, auf die ich kurz eingehen will.Erstens. Welche Aufgaben übernimmt der Staat? Wenndiese Aufgaben festgelegt sind, muss er Regelungen tref-fen, um eine Verselbstständigung der Bürokratie zu ver-meiden.Zweitens. Welche Aufgaben kann der Markt besserübernehmen? Ich bin der felsenfesten Überzeugung, dassmarktwirtschaftliche Regeln in vielen Bereichen desstaatlichen Handelns mehr als das reine Ordnungsrechtbringen. Das gilt auch für Teile der Umweltpolitik, um einureigenes Thema der Grünen anzusprechen.Drittens. Welche Aufgaben können besser von der Zi-vilgesellschaft übernommen werden? In vielen Bereichender Sozialpolitik kann vieles auf andere Art als durch einestaatliche Behörde erreicht werden.Viertens – das sollte man nicht vergessen –: Gibt esneue intelligente Kombinationen? Ich meine das Zusam-menwirken von einem Minimum an staatlicher Hilfe unddem gesellschaftlichen Engagement von Bürgerinnen undBürgern. Damit würde man sicherlich ein besseres Ergeb-nis als durch rein staatliches Handeln erzielen.Liebe Kollegin Homburger, das ist der Grund, warumwir für die Umsetzung dieses Masterplans ein wenig Zeitbenötigen, um unsere Ziele gründlich zu realisieren.Manche Maßnahmen kann man sofort umsetzen. Ich fürmeine Fraktion kann bei Ihnen allen in diesem Haus nurdafür werben. Wenn wir es mit unseren Bemühungenwirklich ernst meinen, dann ist dieses Thema für Partei-enhickhack und wechselseitige Polemik nicht geeignet.
Wir können ein Beispiel nennen, bei dem die Schwarzenetwas nicht geschafft haben. Dafür können auch dieSchwarzen einen Fall nennen, bei dem wir etwas nicht er-reicht haben.Bürokratie gibt es auf allen Ebenen. Der Bürger unter-scheidet ja nicht zwischen Bürokratie der Kommunen, derLänder, des Bundes oder der Europas. Massiven Bürokra-tieabbau schaffen wir nur, wenn wir gut zusammenarbei-ten. Ihr Antrag ist ein wertvoller Anstoß, der in unserer
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Fraktion diskutiert werden wird. Ich glaube, dass in die-ser Legislaturperiode unser Masterplan zum Bürokra-tieabbau ein guter Anfang ist.Ich danke Ihnen.
Nächster Redner ist der Kollege Stephan Mayer,
CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen undHerren! Beim Wetterbericht ist heutzutage häufig von dergefühlten Temperatur die Rede. Was hat es damit auf sich?Bei der gefühlten Temperatur handelt es sich um die Tem-peratur, die subjektiv wahrgenommen wird und die vor al-lem dann, wenn einem der Wind eisig ins Gesicht bläst,als wesentlich schmerzhafter und niedriger wahrgenom-men wird als die tatsächliche Temperatur.In Deutschland ist derzeit die gefühlte Bürokratie be-sonders dramatisch, sowohl für Unternehmen als auch fürjede Privatperson. Denn gerade in der heutigen, wirt-schaftlich außerordentlich schwierigen Zeit – einer Zeit dra-matischer Auftragseinbrüche, rekordverdächtiger Lohn-nebenkosten, einer rigiden Arbeitsgesetzgebung und zulanger Genehmigungsverfahren – wird die überbordendeBürokratie als besonders schmerzhaft und belastend emp-funden. Dabei wäre es ein großer Fehler der Politik, denschwarzen Peter der Verwaltung und den Mitarbeiterin-nen und Mitarbeitern im öffentlichen Dienst in dieSchuhe zu schieben.
Herr Kuhn, diesen Fehler dürfen wir als Politiker nichtmachen. Denn jeder von uns hat sicherlich schon mehr-mals die positive Erfahrung gemacht, dass sich ein Be-amter oder Angestellter im öffentlichen Dienst bürgernahund unkompliziert gezeigt hat. Ich möchte daher alles an-dere, als über Verwaltung, Behörden und öffentlichenDienst den Stab zu brechen. Denn eines muss uns in die-sem Hause klar sein: Wir sind diejenigen, die vom Volkgewählt wurden und die das Mandat erhalten haben, zumWohle der Bürgerinnen und Bürger die GeschickeDeutschlands zu lenken. Es ist daher die Aufgabe der Po-litiker, die entsprechenden Vorgaben zu machen und denUmdenkungsprozess in Richtung Entbürokratisierungeinzuleiten.Das eminent wichtige Thema Entbürokratisierung be-steht nicht nur in der Abschaffung von Normen und Ge-setzen oder in der Vereinfachung von Genehmigungsver-fahren, sondern es bedarf zunächst eines deutlichenBewusstseinswandels in der Politik, im Staat und in derBevölkerung. Entbürokratisierung sollte daher in derstaatlichen Hierarchie ganz oben angesiedelt sein.Meines Erachtens wäre ein „Mister Entbürokratisie-rung“, ein Experte mit einem schlagkräftigen und kompe-tenten Mitarbeiterstab, der unabhängig von politischerEinflussnahme ist, am besten geeignet, dem staatlichenApparat auf die Finger zu schauen und das gesamte Nor-menwerk – sprich: alle Gesetze, Verordnungen und Ver-waltungsvorschriften – darauf zu überprüfen, ob sie ver-einfacht oder möglicherweise völlig abgeschafft werdenkönnen.Es gibt das geflügelte Wort: Wer einen Sumpf trocken-legen will, darf nicht die Frösche fragen. Ich möchte die-sen Satz umformulieren: Wer Deutschland reformierenund nach vorne bringen will, der darf dies nicht Rot-Grünüberlassen. Denn die von Ihnen, meine Damen und Her-ren von der SPD, geprägte Forderung, wir bräuchten denaktivierenden Staat, offenbart in verräterischer Art undWeise Ihr eigentliches Ziel und Ansinnen. Sie trauen esden Bürgerinnen und Bürgern in Deutschland nicht zu, fürsich selbst Verantwortung zu tragen. Sie wollen immermehr Macht und Kompetenzen an den Staatsapparat her-anziehen und haben nicht den Mut, mehr Rechte und Ver-antwortung in private Hände zu geben.Wir von der CDU/CSU setzen unser Modell von deraktiven Bürgergesellschaft dagegen. Wir haben denMut, einen deutlichen Schritt zu gehen und den Bürgerin-nen und Bürgern mehr Freiheit und Selbstverantwortungeinzuräumen. Wir haben auch das Vertrauen in die Men-schen, dass sie ihr Leben eigenverantwortlich besser ge-stalten. Die Bürgerinnen und Bürger sind in diesem Punktbereits wesentlich weiter und aufgeschlossener, als Sievon Rot-Grün nur zu denken wagen. Unter den wenigenStellenanzeigen, die heutzutage trotz Ihrer fatalen Wirt-schafts- und Arbeitsmarktpolitik noch veröffentlicht wer-den, werden Sie keine finden, in der von der Bewerberinoder dem Bewerber nicht höchste Flexibilität, die Fähig-keit zu eigenverantwortlichem Arbeiten und überdurch-schnittliche Motivation erwartet wird.Was man im Kleinen voraussetzt, sollte man auch imGroßen erwarten können. Die Politik muss dann aber auchso ehrlich sein, den Menschen offen und ungeschminkt zusagen, dass mit diesem Mehr an Freiheit und Rechtenauch ein Mehr an Pflichten verbunden ist. Sicherlich istein Großteil der Bevölkerung pauschal für die Entbüro-kratisierung, aber den Einzelfall, der einen persönlich be-trifft, möchte dann doch jeder genauestens im Gesetz ge-regelt haben.
Hier ist mehr Mut zur Lücke gefordert. Diesen Mut musszum einen die Politik zeigen, aber zum anderen müssenletztendlich wir alle in Deutschland diesen Mut haben, in-dem wir akzeptieren, dass nicht alles bis ins letzte Detaildurch Gesetze, Verordnungen oder Verwaltungsvorschrif-ten geregelt werden kann.
Deshalb muss der Grundsatz jeglicher Entbürokratisie-rungsbemühungen sein: Die beste Bürokratie ist die, dieüberhaupt nicht entsteht. Der Staat muss sich auf seineKernaufgaben und Kompetenzen konzentrieren. Fernermuss die Aufgabenverteilung zwischen den einzelnenstaatlichen Ebenen neu überdacht werden, damit Flexi-bilität und Eigenverantwortung gewährleistet werdenFritz Kuhn
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Stephan Mayer
können. Beispielsweise ist es meines Erachtens ein Un-ding, dass mehr als 70 Prozent der Weltliteratur in deut-scher Sprache auf dem Gebiet des Steuerrechts verfasst ist.Vor allem der Subsidiaritätsgedanke sollte im Hin-blick auf bürokratische Anforderungen stärker zum Zugekommen. Statt einer Vielzahl von detaillierten gesetzli-chen und rechtlichen Vorschriften sollte der Gesetzgeberseine konkreten Ziele definieren. Die Unternehmer hättendann die Pflicht, zur Realisierung dieser Ziele betriebsbe-zogen optimierte Lösungen zu entwickeln und selbst aus-zuwählen. Solche Regelungen könnten gegebenenfalls inbetrieblichen Bündnissen getroffen werden. Eine Subsi-diaritätsregelung wäre insbesondere für Kleinbetriebe zufordern. Sie wäre aber auch auf alle Unternehmen aus-weitungsfähig.Erfolgreiche Beispiele für die Umsetzung dieses Ge-dankens waren in den letzten Jahren Selbstverpflichtun-gen der Wirtschaft in der Umweltpolitik, Herr Kuhn. Hierist der Umweltpakt Bayern, der am 23. Oktober 2000 un-ter dem Titel „Nachhaltiges Wirtschaften im 21. Jahrhun-dert“ neu aufgelegt wurde, vorbildlich. Bayern ist mitdem Umweltpakt von 1995 als erstes Bundesland inDeutschland den neuen Weg der Kooperation von Staatund Wirtschaft gegangen. Bayern hat Betriebe, die durchein Ökoaudit Eigenverantwortung für den betrieblichenUmweltschutz übernommen haben, mit Erleichterungenbeim Verwaltungsschutz belohnt.Dieser Weg hat in Deutschland und darüber hinausSchule gemacht. Der Umweltpakt Bayern stand Pate fürähnliche Vereinbarungen in vielen Bundesländern, unab-hängig von der jeweiligen politischen Couleur. Das Ziel,im Oktober 2005 die Marke von 3 000 Teilnehmern zu er-reichen, ist mit der aktuellen Zahl von 3 290 Teilnehmernbereits heute bei weitem übertroffen.Viele Unternehmer klagen mir regelmäßig ihr Leid da-rüber, dass in besonders eilbedürftigen Fällen das derzeitgültige Genehmigungsrecht noch immer ein großes Inves-titionshemmnis darstellt. Für den Bau von Anlagen wärees daher unter dem Gesichtspunkt des Subsidiaritätsge-dankens sinnvoll, das Instrument der Rahmengenehmi-gung bundesweit einzuführen. Dieses Instrument räumtden Unternehmen das Recht ein, auf Basis vereinfachterUnterlagen in einem festgelegten Rahmen mit dem Baueiner Anlage zu beginnen und erst kurz vor Betriebsbe-ginn die Detailprüfung und die Genehmigung durch-führen zu lassen. Die Genehmigungsverfahren nach demBundes-Immissionsschutzgesetz sind hier als vorbildlichanzuführen.Zudem sollten für die Bearbeitung von Genehmi-gungsverfahren zwischen und innerhalb der Behördeninsgesamt Fristen festgelegt werden, die bei Überschrei-tung eine automatische Genehmigung in Form einer Ge-nehmigungsfiktion zur Folge haben. Hierfür wären ein-heitliche gesetzgeberische Maßnahmen auf Bundes- undLänderebene erforderlich.Wenn man in der Politik die Grundauffassung vertritt,dass es notwendig ist, mehr Zutrauen und Vertrauen in dieBürger und in die Unternehmen zu setzen, sollte man ver-stärkt zu Erlaubnissen mit Verbotsvorbehalt übergehen.Im Freistaat Bayern wurde dies beispielsweise durchweitreichende und grundlegende Novellierungen derbayerischen Bauordnung erreicht.Des Weiteren sind die übertriebenen Anforderungen anStatistiken sowie Mitteilungs- und Meldepflichten zunennen. Hier entsteht in manchen Bereichen die groteskeSituation, dass Daten mehrfach erhoben werden. So gibtes beispielsweise bei den Lohn- und Gehaltskosten alleinvier Kostenstrukturerhebungen: Verdienst-, Arbeitskos-ten-, Gehalts- und Lohnstrukturerhebung. Viele andereErhebungen sind unnötig, weil sie wegen der Auswahl derBefragten nicht repräsentativ sein können. Ich nenne bei-spielsweise die Güterkraftverkehrsstatistik.Wirklich gespannt bin ich auf den Masterplan Büro-kratieabbau, den Herr Bundesminister Clement alsbaldvorlegen will. Aber mehr als einen Desasterplan erwarteich davon nicht. Ich räume durchaus ein, dass Sie es gutmeinen. Aber gut gemeint ist noch lange nicht gut ge-macht, wie man unschwer an dem Beispiel des in derAmtszeit von Herrn Clement zentralen Vorhabens –
Herr Kollege, Ihre Redezeit ist schon deutlich über-
schritten.
– ich komme zum Ende, Frau Präsidentin – einer Ver-
waltungsstrukturreform erkennen kann. Der von Herrn
Clement vorgelegte Gesetzentwurf hatte mit einer Ver-
waltungsstrukturreform nichts mehr zu tun.
Kurzum, meine Damen und Herren von Rot-Grün, Sie
können es nicht und Sie werden es auch nicht lernen. Das
ist aber auch nicht schlimm, weil es sich angesichts der
kurzen Restlaufzeit, in der Sie noch Verantwortung für
Deutschland tragen, für Sie nicht mehr lohnt, noch hinzu-
zulernen.
Das Wort hat jetzt der Parlamentarische Staatssekretär
Ditmar Staffelt.
D
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Ich habe den Ausführungen des Kollegen Mayerphasenweise sehr interessiert zugehört. Dass Sie zumSchluss sozusagen noch Ihre Pflichtrunde gedreht haben,indem Sie die übliche Polemik eingebracht haben, sollmich nicht daran hindern, mich mit der Sache konstruktivauseinander zu setzen.Herr Kollege Fuchs, Sie entbürokratisieren sich sozu-sagen selbst, wenn Sie jetzt schon gehen und nicht mehr
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den Beitrag der Bundesregierung anhören wollen. Auchdas entspricht übrigens dem, was Sie hier vorgetragen ha-ben. Herr Fuchs, Sie haben leider Gottes eine sehr rück-wärts gewandte Rede gehalten. Sie haben überhaupt nichtnach vorne diskutiert.
Sie müssen sich auch die Feststellung gefallen lassen,dass es sich bei dem Thema Bürokratie leider nicht nur umein parteipolitisches oder koalitionäres Problem, sondernauch um ein Strukturproblem unserer Gesellschafthandelt, das über Jahrzehnte gewachsen ist. Man mussdoch zugeben, dass wir alle über viele Jahrzehnte zumAufbau von Bürokratie in Bund, Ländern und Gemein-den, wenn auch aus sehr unterschiedlichen Motiven, bei-getragen haben, weil wir Gesetze gemacht haben, die wirfür notwendig und richtungsweisend erachtet haben, aberauch weil wir aufgrund bestimmter Ereignisse und Um-stände Regulierungsbedarf gesehen haben, dem wir durchentsprechende Gesetze und Verordnungen nachgekom-men sind. Die sollten letztendlich helfen, das staatlicheMiteinander zu organisieren.Ich möchte in diesem Zusammenhang auch darauf hin-weisen, dass es nicht nur Forderungen von Unternehmennach Entbürokratisierung, sondern auch nach mehrRegulierung gibt, und zwar immer dann, wenn in einembestimmten Bereich Bedrohungen entstehen, die mögli-cherweise nichts mit vernünftigen und rechtlich einwand-freien Wettbewerbsbedingungen zu tun haben. Ich erin-nere mich – ich darf das deshalb anführen, weil dies auchTeil des Antrags der FDP-Fraktion ist – an unsere Dis-kussion über die Tariftreue. Wer hat denn dieses Themainitiiert? Es waren doch die Vertreter der deutschenBauindustrie, die zu uns gekommen sind und geklagt ha-ben: Wenn wir uns die Tarifstruktur und die Bezahlungder Arbeitskräfte anschauen, dann müssen wir feststellen,dass die Situation in der Bauwirtschaft katastrophal ist.Die ehrlichen Handwerker und die ehrlichen Bauunter-nehmer, die sich an Recht und Gesetz sowie an die Tarifehalten, haben Wettbewerbsnachteile gegenüber denje-nigen, die schlicht und einfach außerhalb des Gesetzesagieren.Wie sollen wir uns nun verhalten? Sollen wir dasGanze dem Markt überlassen, und zwar auch dem Teil desMarktes, den wir für rechtlich nicht abgesichert halten?Oder sollen wir den ehrlichen Kaufleuten, den ehrlichenHandwerkern und den ehrlichen Unternehmern helfen,indem wir an dieser Stelle ein bisschen eingreifen, damitwieder reguläre Wettbewerbsverhältnisse am Markt herr-schen? Ich finde, das ist auch ein Teil der Wahrheit, mitder wir uns auseinander setzen müssen.
Im Handwerk ist die Situation ähnlich. Wir diskutie-ren heute doch auch über die Frage, inwieweit wir Exis-tenzgründungen im Bereich des Handwerks erleichternkönnen. Dagegen stehen natürlich die bisherigen Rege-lungen der Handwerksordnung, die sehr viele Vorteilebietet, der es aber auch gut täte – das darf man nicht ver-gessen –, wenn sie mehr Freiräume zuließe. In unserenGesprächen, die wir im Augenblick mit den Vertreterndes Zentralverbandes des Deutschen Handwerks führen,geht es um die Frage, wie sich das organisieren lässt.Auch das ist ein Thema, bei dem aus der Sicht eines Ver-bandes eher der Erhalt des Status quo als das Aufbrechenvorhandener Strukturen erstrebenswert erscheint. Auchdas gibt es. Ich sage deshalb noch einmal: Wenn man sichdiesem Thema inhaltlich vernünftig nähern will, danndarf man es nicht parteipolitisch, sondern nur strukturelltun.Die Bundesregierung hat – Sie wissen, dass das eingroßer Komplex ist – mit der Entbürokratisierung begon-nen. Bei der Mittelstandsoffensive ist sozusagen einSmall Business Act in der Pipeline. Die entsprechendenGesetze und Verordnungen sind in der Mache.
– Ja natürlich, Sie werden das alles erleben. Es brauchtseine Zeit. Sie können ja einmal in unsere Abteilung VIII,die Mittelstandsabteilung, schauen. Die Leute da ackernvon morgens bis abends, weil all das, was wir machen,natürlich auch in vernünftige gesetzliche Formen gegos-sen werden muss.
Sie wissen auch sehr wohl, dass wir natürlich bereitwilligdie gesellschaftlich notwendigen Gespräche führen, um dassattelfest zu machen und in die Praxis umsetzen zu können.Ich füge hinzu, dass wir beim Thema Masterplan Büro-kratieabbau – das ist von Ihnen hier ein wenig polemischdargestellt worden – auf dem Weg sind. Ende Februarwird es einen Kabinettsbeschluss dazu geben und dannwerden wir über die Details reden müssen. Dann wird imEinzelnen festzustellen sein: An welchen Stellen kannman an Stellschrauben drehen und an welchen kann manes nicht?Wir als Bundeswirtschaftsministerium jedenfalls ha-ben klargelegt: Alle Vorschläge, die uns aus den Unter-nehmen, aus den Verbänden, aus den Gewerkschaften,von einzelnen Bürgerinnen und Bürgern erreichen, wer-den evaluiert und in entsprechender Weise ihre Berück-sichtigung finden, wenn es um die Betrachtung dessengeht, was in unserem Land gemeinhin an Forderungen inSachen Bürokratieabbau besteht.Ich bitte Sie allerdings, in einem Punkt aufzupassen;der Kollege Kuhn hat das zu Recht gesagt. Ich weigeremich, zum Beispiel einen Komplex wie das Betriebsver-fassungsgesetz mal schnell unter dem Thema Bürokra-tieabbau abzuhandeln und abzuhaken. Da sollten wirschon offen über die Frage des Betriebsverfassungsgeset-zes miteinander debattieren.
Das können wir ja tun, das wäre dann ehrlich. Es gibt ebensubstanzielle Gesetze, die etwas anderes beinhalten als nurBürokratie, die auch etwas mit Gesellschaftspolitik undauch etwas mit dem Wohl und Wehe von UnternehmernParl. Staatssekretär Dr. Ditmar Staffelt
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Parl. Staatssekretär Dr. Ditmar Staffeltauf der einen Seite und Arbeitnehmern auf der anderenSeite zu tun haben.Ich sage noch einmal: Wir werden alles prüfen. Wirwerden alle Evaluierungen, die von uns vorgenommenwerden, vorlegen. Das ist eine ganze Menge.Die Themen dabei sind – Sie haben es angesprochen –:Handwerksordnung – Ziel ist übrigens die Abschaffungder Inländerdiskriminierung und die Erleichterung vonExistenzgründungen –, Zwangsmitgliedschaften, Vergabe-recht, Honorarordnung für Architekten und Ingenieure,Arbeitsstättenverordnung, Unfallversicherung und alles,was damit zu tun hat, Modernisierung der beruflichen Bil-dung. Es ist eine lange Reihe von Themen, denen wir unsstellen müssen. Wir sind allesamt gehalten, glaube ich, diePolemik an der Stelle zu lassen.Herr Fuchs, Ihre Anmerkung war überhaupt nicht hilf-reich. Sie müssten es eigentlich besser wissen. Wenn Sieim politischen Prozess beheimatet sind, dann müssten Siewissen, dass der Prozess hin zu einem Kabinettsbeschlussweit fortgeschritten ist. Sie tun hier so, als würden wirnoch Monate oder Jahre ins Land gehen lassen, bevor wirirgendetwas vorlegen. Dies wird mitnichten der Fall sein.Ich sage in Ihre Richtung, Herr Mayer: Wenn es guteVorschläge aus dem Freistaat Bayern gibt, bitte schön! Siesind eingeladen, sie einzubringen! Ich füge hinzu: DasThema Entbürokratisierung erschöpft sich nicht allein miteinem solchen Prozess auf Bundesebene. Es ist auch einThema der Länder und Gemeinden.
– Das glaube ich Ihnen ja. Kommissionen zu diesemThema gibt es wohl in ziemlich allen Bundesländern. DieFrage ist: Was kommt dabei heraus?Wie gesagt: Gute Ideen sind willkommen. Gute Ideenwerden übernommen, zumindest evaluiert werden. Wenndie Evaluierung zu einem positiven Ergebnis führt, dannwerden die Ideen auch übernommen. Insofern hoffe ichauf weniger Polemik und mehr Sachorientierung. Dannwerden wir in den kommenden Monaten in der Sacheselbst einen gewaltigen Schritt vorankommen.Danke.
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 15/65 an die in der Tagesordnung aufgeführ-
ten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einver-
standen? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so
beschlossen.
Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesord-
nung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundes-
tages auf Mittwoch, den 19. Februar 2003, 13 Uhr, ein.
Die Sitzung ist geschlossen.