Gesamtes Protokol
Die Sitzung ist eröffnet.
Meine Damen und Herren! Nach einer interfraktionellen Vereinbarung soll die verbundene Tagesordnung erweitert werden. Die Punkte sind in der Ihnen vorliegenden Zusatzpunktliste aufgeführt:
1. Aktuelle Stunde: Neue Chemie-Unfälle am Rhein — Nichteinhaltung von Versprechen der Chemischen Industrie
2. Aktuelle Stunde: Lage der deutschen Stahlindustrie nach der Stillegungsentscheidung in Rheinhausen
3. Erste Beratung des von der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zum Ausbau und zur Sicherung der betrieblichen Mitbestimmung im öffentlichen Dienst
4. Beratung des Antrags der Fraktion der SPD: Fortentwicklung des Bundespersonalvertretungsgesetzes
5. Beratung des Antrags der Abgeordneten Urbaniak, Daubertshäuser, Amling, Andres, Antretter, Bamberg, Becker , Dr. Böhme (Unna), Brück, Buschfort, Dr. Ehrenberg, Ewen, Frau Faße, Frau Fuchs (Verl), Dr. Glotz, Dr. Haack, Haar, Hasenfratz, Heistermann, Horn, Ibrügger, Dr. Jens, Dr. Klejdzinski, Koltzsch, Koschnick, Kretkowski, Lohmann (Witten), Menzel, Dr. Mertens (Bottrop), Meyer, Müntefering, Nehm, Dr. Niese, Dr. Nöbel, Pauli, Peter (Kassel), Pfuhl, Purps, Reschke, Reuter, Rixe, Schanz, Schluckebier, Sieler (Amberg), Frau Seuster, Frau Steinhauer, Toetemeyer, Walther, Weiermann, Westphal, Wiefelspütz, von der Wiesche, Wischnewski, Wittich, Zeitler, Dr. Vogel und der Fraktion der SPD: Schnellbahnverbindung Dortmund—Kassel (Drucksache 11/1414)
6. Beratung des Antrags der Abgeordneten Frau Unruh und der Fraktion DIE GRÜNEN: Sofortprogramm für eine Alters-Grundsicherung
7. Beratung des Antrags der Abgeordneten Frau Unruh, Frau Trenz, Hoss, Frau Beck-Oberdorf, Frau Rust und der Fraktion DIE GRÜNEN: Aufhebung der Stufenregelung
8. Beratung des Antrags der Abgeordneten Frau Dr. Vollmer und der Fraktion DIE GRÜNEN: Verleihung einer kommunalen Ehrenbürgerschaft an Verfolgte des Nationalsozialismus
9. Beratung des Antrags der Fraktion der SPD: Richtlinien der Bundesregierung für die Vergabe von Mitteln an Opfer von NS-Unrecht
10. Beratung des Antrags der Abgeordneten Frau Dr. Vollmer und der Fraktion DIE GRÜNEN: Änderung des Bundessozialhilfegesetzes
Zugleich soll mit der Aufsetzung der Zusatzpunkte — soweit erforderlich — von der Frist für den Beginn der Beratungen abgewichen werden.
Da die Fragestunde entfällt'), werden die Tagesordnungspunkte ab 14 Uhr in folgender Reihenfolge aufgerufen: Punkte 19, 21, 17, 3, 4, 18, 20 und 22. Sind Sie damit einverstanden? — Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich rufe den Zusatztagesordnungspunkt 2 auf: Aktuelle Stunde
Lage der deutschen Stahlindustrie nach der
Stillegungsentscheidung in Rheinhausen
Meine Damen und Herren, die Fraktion der SPD hat nach Nr. 1 c der Anlage 5 unserer Geschäftsordnung eine Aktuelle Stunde zu diesem Thema verlangt.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat Herr Abgeordneter Wieczorek .
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Meine Fraktion hat diese Aktuelle Stunde beantragt, weil die große Sorge um die Menschen in Duisburg, in Rheinhausen, im Ruhrgebiet und in der gesamten Bundesrepublik uns dazu zwingt.
Ich bin, wenn ich dieses Plenum sehe, etwas traurig darüber, daß es so linkslastig ist, was die Präsenz angeht.
* ) Die Fragen aus den Geschäftsbereichen Post- und Fernmeldewesen, Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit sowie des Bundesministers des Auswärtigen sind schriftlich beantwortet. Die Antworten sind als Anlagen abgedruckt.
3126 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 46. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. Dezember 1987
Wieczorek
Die FDP ist mit zwei Abgeordneten vertreten — allerdings sind es zwei sehr gewichtige Herren — , vor allen Dingen mit zwei Herren, mit denen das Schicksal der Eisen- und Stahlindustrie im Bundesgebiet eng verbunden ist. Ich habe Herrn Dr. Lambsdorff schon vor drei Jahren prophezeit, was kommen würde. Das, was jetzt von Rheinhausen aus seinen Anfang in der Bundesrepublik nimmt, Herr Dr. Lambsdorff, ist von Ihnen und Ihrem Nachfolger in Europa verursacht worden.
Was hier seinen Anfang nimmt, wird wie ein Flächenbrand über die Bundesrepublik gehen. Wenn in Duisburg Stahl zu günstigen Konditionen nicht mehr erschmolzen werden kann, gibt es keinen Platz in der Bundesrepublik, an dem das noch möglich sein wird.
Darüber, meine Damen und Herren, müssen wir uns klar sein, wenn wir über das Schicksal der deutschen Eisen- und Stahlindustrie diskutieren. Wir diskutieren hier nicht nur über Rheinhausen, aber an Rheinhausen wird es so sinnfällig. Hier wird ein komplettes, funktionierendes Hüttenwerk mit bester Infrastruktur, mit hervorragend ausgebildeten Arbeitern, zugunsten irgendeines Werkes irgenwo in Europa stillgelegt, ohne daß dafür eine Notwendigkeit besteht. Die deutsche Stahlindustrie wird von dieser Regierung geopfert.
— Herr Dr. Bangemann, ich möchte Sie wirklich gerne nach Rheinhausen mitnehmen. Ich möchte Sie den Hüttenarbeitern gern gegenüberstellen und Ihnen gern zeigen, wie es in diesen Menschen aussieht.
Ich rufe auch Ihrem Kollegen, Herrn Dr. Blüm, zu: Es kommt hier nicht darauf an, Almosen und Beerdigungshilfen für die Stahlindustrie zu geben, sondern darauf, die Arbeitsplätze zu erhalten.
Wenn wir von Arbeitsplätzen reden, dann meinen wir die Arbeitsplätze für die jetzt Beschäftigten. Aber wir meinen auch die Arbeitsplätze für diejenigen, die in Zukunft darauf beschäftigt werden sollen.
Die sind nicht mit Sozialplänen abzufedern und abzufangen.
In der Ära der sozialliberalen Koalition, Herr Dr. Lambsdorff, hat es schon große Probleme mit der Stahlindustrie gegeben. Aber es hat nie dazu geführt, ein komplettes, funktionierendes Stahlwerk stillzulegen. In der ganzen Zeit, als Helmut Schmidt Bundeskanzler war, hat es keine Stillegung eines kompletten Stahlwerks gegeben. Aber da waren auch Manager, die sich mit einem Bundeskanzler mit Kompetenz in Wirtschaftsfragen adäquat unterhalten und hier ihre Probleme mit lösen konnten. Heute ist der Herr Bundeskanzler nicht hier. Ich will nicht sagen, daß ihn die Probleme nicht interessieren. Vielleicht kann er ihnen nicht so folgen, wie wir es für nötig halten.
Ich bin auch etwas traurig darüber — das sage ich ganz offen als ein Mann, der seit 30 Jahren in der Stahlindustrie gearbeitet hat —, daß wir heute eine Managergeneration haben, die zum Teil mehr bei Herrn Bangemann Diener macht, um Stillegungsprämien zu bekommen,
als daß sie ohne Arroganz hier die Interessen ihrer Unternehmen weiträumig und weitläufig vertritt.
— Herr Beckmann, wenn Sie das als billig ansehen, dann lade ich Sie herzlich ein,
mit mir nach Rheinhausen zu gehen. Der Betriebsratsvorsitzende ist hier.
Wir bemühen uns sehr — darauf können Sie sich verlassen — , die aufgestauten Emotionen nicht zu einem Flächenbrand werden zu lassen.
Das heißt aber nicht, daß wir die Probleme unter den Tisch kehren sollten. Und das heißt nicht, daß man mit Almosen Arbeitsplätze hier erhalten kann. Damit kann man sie höchstens zudecken.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Günther.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich bin nicht sehr zufrieden, Kollege Wieczorek, wenn Sie hier — —
— Nehmen Sie das mal ernst! Ich kenne die Probleme
dort. Ich war auch dort. Dies ist mein Wahlkreis. Ich
Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 46. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. Dezember 1987 3127
Günther
mache mir ernste Sorgen um die Menschen. Ich habe nicht vor — —
— Ja; das ist in meinem Wahlkreis, in dem ich kandidiere.
— Wollen Sie bei all der Polemik, die hier schon gekommen ist, jetzt auch noch darüber reden, wer den gewonnen hat?
Wir müssen den Menschen helfen, die da oben sitzen
und sich von einer Unternehmensführung verraten fühlen, die sie über Nacht überrascht hat. Darüber müssen wir doch mal reden.
Wie ist denn die Situation gekommen? Da stimmt sogar Herr Vogel zu.
Wir haben doch gemeinsam, die IG Metall — von der in den letzten Tagen herzlich wenig zu hören ist; auch das ist bemerkenswert —,
die Wirtschaftsvereinigung Eisen und Stahl in Zusammenarbeit mit der Bundesregierung, ein Programm entwickelt, das zwar — das wissen auch Sie; da haben Sie nicht widersprochen — bundesweit zum Verlust von 35 000 Arbeitsplätzen in der Stahlindustrie führt, das aber — und das ist begrüßt worden — so sozial flankiert werden sollte, daß man damit schlecht und recht, aber immerhin einigermaßen leben konnte. Dies ist die Voraussetzung.
Dann haben wir noch eine Spezialität für Mannesmann gemacht. Hier wurde noch um diese Sache gebuhlt. Wir haben das erfolgreich abgeschlossen. Da wurden schon hinter dem Rücken von Betriebsräten und uns Politikern die neuen Pläne zur Stillegung von Rheinhausen geschmiedet. Dies ist in erster Linie zu kritisieren.
Wir alle sind hintergangen worden. Das ist die Tatsache, die man hier einmal vermelden muß.
Hier helfen Schuldzuweisungen überhaupt nichts. Beteiligen Sie sich bitte daran, wie man die Probleme lösen kann! Das ist viel wichtiger. Die Menschen interessiert es überhaupt nicht, ob Sie sagen, die Bundesregierung sei schuld. Kollege Reimann, auch Sie können als Arbeitnehmervertreter helfen. Es nutzt nichts, zu sagen, die Bundesregierung oder wer auch immer sei schuld. Kommen Sie vielmehr mit Konzepten! Konzepte vermisse ich bei der Landesregierung von Nordrhein-Westfalen überhaupt.
Ich bin gespannt, Herr Ministerpräsident, was Sie heute aus der regionalen Sicht für die regionale Wirtschaftsförderung dieses Standorts Rheinhausen und Duisburg und ihr ganzes Land hier zu bieten haben.
— Dies müssen wir, Herr Dreßler, einmal bringen. Sie sollten auch nicht falsche Interviews geben wie heute morgen im Rundfunk. Ich will das noch einmal sehr deutlich sagen.
Damit auch das klar ist: Ich spreche mich hier ganz deutlich für die Erhaltung des Stahlstandortes Rheinhausen aus und nicht nur für die Einschränkung Duisburg, wie Sie, Herr Ministerpräsident, dies gestern, wenn die Presse das richtig zitiert hat, getan haben. Ich nehme an, Sie wissen, warum Sie dies gesagt haben und warum Sie sich so eingelassen haben.
Meine Damen und Herren, es ist in der Tat so, daß wir darauf bestehen müssen, daß das Frankfurter Abkommen eingehalten wird. Dort geht es nicht um 37 000, Herr Roth, wie Sie veröffentlicht haben, sondern um zirka 34 000 bis 35 000 Arbeitsplätze.
Ich gehe davon aus — dies müssen wir von der Wirtschaft einfordern — , daß, wie auch immer die Abbaupläne kommen, dies darin eingeschlossen ist und nicht aufgepfropft werden kann. Es ist eine billige Tour, meine Damen und Herren, jetzt neue Konzepte vorzulegen und zunächst einmal die Hand aufzuhalten und zu sagen: Andere müssen dies jetzt erneut bezahlen. So geht es nicht, meine Damen und Herren.
Ich kann nur an die Unternehmen appellieren, sich hier mit Vernunft und Besonnenheit an den Tisch zu setzten wie versprochen — versprochen den Betriebsräten und versprochen der Bundesregierung — und ernsthaft neue Konzepte zu überprüfen, die zur Erhaltung dieses Stahlstandortes Rheinhausen führen. Dies ist das Wichtigste für die Menschen dort. Denn die Infrastruktur geht dort mit kaputt; das wissen wir alle. Dies können und sollten wir uns, meine Damen und Herren, in dieser Situation nicht leisten. Ablenkungsmanöver sind völlig unangebracht.
Polemisieren Sie nicht, und machen Sie keine Schuldzuweisungen, sondern arbeiten Sie mit an einem Konzept, das den Menschen hilft!
Ich stimme ausnahmsweise Herrn Jochimsen zu, der über den Rundfunk heute morgen hat erklären lassen: Dies ist ein langfristiges Versäumnis der Bundesregierung. Ich stimme ihm zu, daß Herr Schmidt mit seiner Bundesregierung die Grundübel gelegt hat,
indem er in den 70er Jahren die Subventionen zuließ, die letztlich zur Misere in der Stahlindustrie führen. Das wollen Sie nicht wahrhaben, aber das ist die Wahrheit.
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Hillerich.
3128 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 46. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. Dezember 1987
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kollegen Betriebsräte von Krupp Rheinhausen! Weil ich weiß, daß diese Aktuelle Stunde auch in Duisburg-Rheinhausen am Bildschirm verfolgt wird, möchte ich auch die Rheinhausener Kollegen, Bürgerinnen und Bürger und Schülerinnen und Schüler begrüßen, die heute am Tag der Schulen in dieser Woche der Unruhe in Rheinhausen dabei sind.
Frau Kollegin, Sie sprechen hier im Deutschen Bundestag und sind nicht auf einer Versammlung.
Hier werden so viele Fensterreden gehalten; heute lohnt es sich.
Anlaß für die heutige Aktuelle Stunde sind die vor einer Woche durch eine Indiskretion zu früh bekanntgewordenen Pläne des Krupp-Vorstandes, die Krupp-Stahlwerke in Rheinhausen stillzulegen. Die Nachricht vom vergangenen Donnerstag — in Rheinhausen heißt dieser Tag „Schwarzer Donnerstag" — brachte die Belegschaft und den ganzen Stadtteil in Aufruhr. Warum? Vielleicht haben Sie es heute schon gehört, aber ich möchte es noch einmal sagen. Ich zitiere aus einem Flugblatt des Bürgerkomitees und des Betriebsrats der Krupp-Stahlwerke:
Über 16 % Arbeitslose in dieser Stadt, über 32 000 Einzelschicksale, 19 000 Sozialhilfeempfänger, leere Stadtkassen; als Folge Schließung von Büchereien und Schulen.
Das ist die Situation jetzt. Seit wenigen Tagen wissen wir: Jetzt soll der völlige Kahlschlag erfolgen. Krupp-Stahl will sein Werk in Rheinhausen mit über 6 000 Beschäftigten schließen. Das bedeutet nicht nur: In Rheinhausen gehen die Lichter aus; das bedeutet: Duisburg wird zum Armenhaus der Republik.
Gestern abend war ich Zuhörerin bei einer Podiumsdiskussion in Rheinhausen, die wegen des zahlreichen Publikums von sicher gut 2 000 Menschen in einer Kirche stattfand. Auf dem Podium saßen vier Betriebsräte bzw. Betriebsratsvorsitzende jeweils von Krupp, Mannesmann und Thyssen in Duisburg und von der Maxhütte aus der Oberpfalz, Minister Farthmann von der nordrhein-westfälischen Landesregierung und Herr Kollege Lammert, dem ich hiermit meine persönliche Hochachtung für seine Teilnahme aussprechen möchte und für seine offenen und ehrlichen Worte in einer für ihn als Mitglied einer Regierungspartei sehr schwierigen Stimmung.
Es ging um zwei Fragen. Erstens: Wie kann das Stahlwerk in Rheinhausen erhalten werden? Zweitens: Wie können — ohne Filibusterei — Ersatzarbeitsplätze geschaffen werden?
Zur ersten Frage schlug Herr Farthmann für die nordrhein-westfälische Landesregierung vor, eine nationale Stahl-AG zu gründen. Sie kennen wahrscheinlich das Konzept: Sie soll einen Gesamtplan für Kapazitätsabbau und Stillegungen in der bundesdeutschen Stahlindustrie erarbeiten, und dann werde sich Krupp-Rheinhausen als günstigster Stahlstandort herausstellen. Das hörte sich für Rheinhausen gut an; der Applaus war Herrn Farthmann sicher.
Aber: Erstens ist auch das bloße Spekulation. Und zweitens: Was geschieht mit den ungünstigen Standorten?
Der Betriebsratsvorsitzende von Thyssen bezweifelte diesen Vorschlag zu Recht, als er sagte: Die Arbeitgeber sind nicht bereit mitzumachen. Bei allen bisherigen Vereinbarungen, ob Frankfurter Erklärung vom Sommer dieses Jahres zwischen Stahlunternehmen, IG Metall und Bundesregierung, ob die Betriebsvereinbarung von September zwischen Gesamtbetriebsrat und Vorstand der Krupp-Stahlwerke in Rheinhausen über Kapazitätsabbau und Standortsicherung, Verzicht auf Massenentlassungen und Schaffung von Arbeitsplätzen haben sich die Stahlunternehmer nur an eines gehalten: an den Kapazitätsabbau; den weiten sie in der Regel aus. Alles andere sind für die Stahlunternehmer unverbindliche Erklärungen; denn ihr Interesse in der Stahlerzeugung ist der Profit. Der geht für sie vor Sozialverträglichkeit oder gar Verantwortung für die ökonomische Lebensfähigkeit einer Stadt und einer ganzen Region.
Zu Recht hat Herr Kollege Lammert gestern abend nach verläßlichen Daten und Fakten der Stahlunternehmer gefragt, womit diese ihre neuerlichen Pläne für Stillegungen, Produktionsverlagerungen und massiven Arbeitsplatzabbau ökonomisch rechtfertigen. Aber Sie und Ihre Kolleginnen und Kollegen von der CDU, insbesondere im Wirtschaftsausschuß, wissen doch auch, daß die Stahlunternehmer diese Zahlen und Fakten nicht freiwillig auf den Tisch legen. Das ist auch der Grund, weshalb beim Gerede von Überkapazitäten beim Stahl niemand wirklich überprüfen kann, was daran ist. Auf EG-Ebene sollen es 20 Millionen t Überkapazitäten vor einem Dreivierteljahr gewesen sein. Jetzt sind es plötzlich 30 Millionen t. Sie wissen doch, daß die Stahlkonzerne — ganz gleich, ob verstaatlichte oder private — in allen Mitgliedsländern, auch in der Bundesrepublik, ihre Kapazitäten möglichst hoch angeben, um bei der Quotenregelung günstig wegzukommen.
Auch wir sind für die Verlängerung des Produktionsquotensystems, allerdings nicht um den Marktanteil des bundesdeutschen Stahlkapitals auf Kosten anderer zu erweitern, sondern um dem ruinösen Wettbewerb, der bei Wegfall des Quotensystems einsetzen würde, vorzubeugen. Aber wir GRÜNEN warnen vor jeder sozialpartnerschaftlichen Vereinbarung über Kapazitätsabbau. Bevor die Stahlunternehmen nicht ihre Gesamtbilanzen offenlegen und diese von den Belegschaften, die am besten dazu in der Lage sind, kontrollieren lassen, gibt es keinen Grund, irgendeinem Kapazitätsabbau zuzustimmen.
Deshalb wehrte sich auch gestern abend ein Kollege gegen den Begriff „Ersatz " arbeitsplätze, womit er sich nicht gegen neue Arbeitsplätze in Rheinhausen aussprach, wohl aber dagegen, einem Stahlkapazitätsabbau ungeprüft und stillschweigend zuzustimmen.
Damit komme ich zur zweiten Frage, um die es gestern abend ging: Wie können neue Arbeitsplätze geschaffen werden?
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Frau Kollegin, ich bitte, jetzt zum Schluß zu kommen. Die Redezeit ist abgelaufen.
Dann sage ich noch einen Satz: Gute Vorschläge gibt es mehr als genug, in welchen Bereichen dies nötig ist. Wir haben in unserem Umbauprogramm dazu viele Vorschläge geliefert. Auch in der Zukunftsinitiative Montanregion gibt es gute Vorschläge dazu. Der Betriebsrat von Krupp-Rheinhausen hat selber an Qualifizierungsmodellen für Stahlarbeiter mitgewirkt, um sie in Umweltschutztechnologien ausbilden zu lassen und um sie z. B. im Bereich der Altlastensanierung in Duisburg, die dringend nötig ist, einsetzen zu können.
Kommen Sie jetzt bitte zum Schluß. Sie haben Ihre Redezeit um mehr als eine Minute überzogen.
Einen Satz noch.
Thyssen selbst besitzt unter seinem Dach Umweltschutztechnologien, die sie aber nicht vor Ort in Investitionen und Arbeitsplätze umsetzen, sondern mit denen Thyssen einen schwunghaften Handel im Ausland betreibt. Nötig ist — —
Frau Abgeordnete, bitte beenden Sie jetzt Ihre Rede; ich kann das nicht zulassen. Ich bitte um Verständnis.
Wir kommen gleich noch einmal dran.
Meine Damen und Herren, ich bitte alle Rednerinnen und Redner, sich wirklich an die vorgegebene Zeit von fünf Minuten zu halten.
Das Wort hat der Abgeordnete Graf Lambsdorff.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Zwei Bemerkungen zuvor: Es gibt in unseren Augen keine Entschuldigungen für nicht eingehaltene Zusagen der beteiligten Firmen und vor allem nicht für eine jeder Mitbestimmungsregelung zuwiderlaufende Informationspolitik, die die Arbeitnehmervertretungen vor vollendete Tatsachen stellt.
Zweitens. Es ist selbstverständlich, daß auch den Stahlwerkern in Rheinhausen, die keine Arbeitsplätze in Huckingen oder Ruhrort bekommen können, die soziale Absicherung zur Verfügung steht, die Bund, Land, EG und Stahlfirmen finanzieren.
Nebenbei: Technisch und rechtlich mag das dann wohl heißen: keine Massenentlassungen. Aber die Arbeitsplätze sind weg.
In meinen Augen ist das genau wie bei dem Wort „freisetzen" ein verschleiernder Mißbrauch der deutschen Sprache.
Wer mit Rheinhausen persönlich verbunden ist
— ich bin das in meiner Eigenschaft als Kurator des dortigen Johanniterkrankenhauses seit 30 Jahren —, der kann ermessen, was die Schließung der Hütte für die Stadt und ihre Menschen weit über die unmittelbar Betroffenen hinaus bedeutet. Er weiß aber auch, daß die drei Betriebe in Rheinhausen, Huckingen und Ruhrort nur wenige Kilometer auseinanderliegen. Und alle sollen nur zu 50 % ausgelastet sein. Wenn das fortgesetzt wird, sind sie in berechenbarer Zeit alle drei pleite und alle Arbeitsplätze verloren.
Das liegt nicht an den Unternehmen. Es liegt an einer weltweit veränderten Stahllandschaft. Wir wissen das doch. Wir wollen internationale Arbeitsteilung. Wir haben die Stahlanlagen in die Entwicklungsländer geliefert, auf denen Stahl produziert wird, derentwegen die Exportmärkte fehlen. Es liegt am rückläufigen Verbrauch. Es liegt an der Seuche der Stahlsubventionen in Europa. Es liegt aber auch an hohen Energiekosten
und an einer falschen Tarifpolitik.
Herr Kollege Wieczorek, zu drei Bemerkungen eine Stellungnahme. Sie haben gesagt, dies sei vor drei Jahren von mir und von Herrn Bangemann in Europa verschuldet worden. Der erste Aufruf und die erste Feststellung der manifesten Krise nach dem Montanunionsvertrag mit der Einführung der Quoten erfolgte im Jahre 1980, zu der Zeit, als wir noch gemeinsam in der Regierung waren. Zur sozialliberalen Regierungszeit ist der Subventionskodex in Brüssel akzeptiert worden — auch von uns; nicht mit Begeisterung; wir haben ihn für ungenügend gehalten, wir waren unzufrieden. Aber, meine Damen und Herren, wir haben uns dann darum bemüht, die Subventionen auf der Basis des Kodex zu verhindern. Aber ich habe schon damals gesagt und wiederhole es — ich bin dafür kritisiert worden — : Weder ich konnte noch der Bundeswirtschaftsminister Bangemann kann die GSG 9 an die Kassen der Finanzminister der Europäischen Gemeinschaft schicken, die unerlaubterweise subventionieren.
Der Herr Wieczorek sagt: Kein Stillegen eines Stahlwerkes zu Zeiten der sozialliberalen Regierung.
— 1979 ist das gesamte Stahlwerk Neunkirchen an der Saar stillgelegt worden.
— Aber es ist ein volles Stahlwerk, lieber Herr Urbaniak. — Sie, meine Damen und Herren, haben damals gesagt, das Moderatorengutachten soll beachtet und angewandt werden. Das Moderatorengutachten hat die Fusion, die Zusammenarbeit an der Rheinschiene zwischen Krupp und Thyssen vorgeschlagen. Dies
3130 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 46. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. Dezember 1987
Dr. Graf Lambsdorff
heute ist präzise ein Vorgang, der auf der Basis des Moderatorengutachtens erfolgt wäre — mit Ihrer Zustimmung; Sie haben es gefordert.
Nationale Stahl AG — die nächste Ruhrkohle? Natürlich sagt Herr Jochimsen: ohne die Nachteile der Ruhrkohle. — Ich möchte sehen, wie das gelingen soll. Das haben auch wir damals geglaubt.
Meine Damen und Herren, so bitter es ist: Der Strukturwandel muß durchgestanden werden. Neue Arbeitsplätze müssen her. Politische Aktionen vor den Hochöfen, die Stimmen fangen, werden das verhindern. Am Beispiel Rheinhausen wird das überdeutlich. Die Stadt ist ein erstklassiger industrieller Standort. Das Aufheizen von Stimmungen über alle Medien hat nur zur Folge, daß künftige Investoren sich dreimal überlegen werden, dorthin zu gehen.
Sie erzeugen im übrigen mit dieser ganzen Polemik — ich verstehe alle Besorgnis — den Mausefalleneffekt, daß Leute sich sagen: Hier kann ich nicht mehr investieren; ich darf, wenn es schiefgeht, überhaupt nicht mehr heraus, ohne einen riesigen politischen Krach zu bekommen.
In Dortmund hat man es gelernt, sich nach den schlechten Erfahrungen des schlechten Klimas, des schlechten Image inzwischen herauszuarbeiten. Das ist vernünftig.
Machen Sie nicht mit allen zusammen in Rheinhausen denselben Fehler noch einmal! Helfen Sie den Betroffenen, aber denken und handeln Sie für die Zukunft von Rheinhausen und des Ruhrgebiets!
Ich erteile das Wort dem Herrn Ministerpräsidenten des Landes Nordrhein-Westfalen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich bin Graf Lambsdorff dankbar für die ersten Sätze, in denen er seine Betroffenheit gemeinsam mit den Menschen in Rheinhausen ausgedrückt hat. Sowenig ich seine Schlußfolgerungen im einzelnen akzeptieren kann, so deutlich möchte ich hier sagen: In Nordrhein-Westfalen gibt es gegenwärtig nichts anderes als Betroffenheit, als Wut, als Enttäuschung, als Verbitterung. Ich bin der Auffassung, daß wir den Weg suchen müssen aus dieser Betroffenheit, aus dieser Verbitterung zu neuer Hoffnung für die Menschen im Ruhrgebiet. Aber das kann wohl nur gelingen, wenn Glaubwürdigkeit der Politik wiederhergestellt wird. Aber die ist in Zweifel geraten.
Da gibt es einen Urheberrechtsstreit, wer das zustande gebracht hat, was man die Frankfurter Vereinbarung nennt, die soziale Flankierung für ausscheidende Stahlarbeitnehmer, in einem Katalog aufgezeichnet — 35 000 werden es sein, und 2 000 bei der
Maxhütte noch dazu. Da streiten wir darüber, wer diesen Erfolg zustande gebracht hat . . .
— Moment, Sie haben mich ja noch gar nicht angehört.
— Nein, ich stimme dem nicht zu, sondern ich versuche, Gedanken zu äußern.
Und noch während des Urheberrechtsstreits, wer das zustande gebracht hat, kommen weitere 5 000 dazu, wird die Grenze von 40 000 überschritten. Mehr als die Hälfte dessen, was nach europäischer Übereinstimmung an Stahlarbeitsplätzen wegfallen soll, wird in der Bundesrepublik abgebaut.
Das ist ein europapolitischer Offenbarungseid, meine Damen und Herren.
Da gibt es die Aussage, es werde nicht zu Massenentlassungen kommen. Das ist erfreulich, wenn man bedenkt, daß die, die ihren Arbeitsplatz verlieren werden, sozial abgesichert werden sollen. Aber das ist eine ganz gefährliche semantische Spielerei. Es wird der Eindruck erweckt, Massenentlassungen würden vermieden, d. h. Menschen behielten ihre Arbeit. Das Gegenteil ist richtig. Hier werden Menschen Arbeitsplätze verlieren, und Hoffnung für die nächste Generation geht verloren, die am gleichen Ort — in der dritten und vierten Generation — Arbeit haben will.
Die wollen nicht woandershin, die wollen da leben, wo sie sind.
Nun sage ich: Die Tinte über der Frankfurter Vereinbarung ist noch nicht trocken,
da wird sie schon gebrochen. Da wird gleichzeitig der Geist von Frankfurt beschworen und gesagt: Die müßten jetzt genauso behandelt werden wie die 35 000, die 37 000.
Man kann sich darüber freuen, daß soziale Flankierung erreicht sei. Aber, meine Damen und Herren, soziale Flankierung ist nötig, aber soziale Flankierung ist nicht Ziel von Politik, sondern Mittel auf dem Weg. Wir brauchen Wirtschaftspolitik, brauchen Arbeitsplatzpolitik.
Die Frankfurter Vereinbarungen sind ohne Beteiligung der Länder zustande gekommen. Wir werden an anderer Stelle darüber zu reden haben. Ich klage da nicht, sondern ich sage: Die Landesregierung von Nordrhein-Westfalen wird ihren Beitrag leisten. Sie
Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 46. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. Dezember 1987 3131
Ministerpräsident Rau
hat das schon im Juli erklärt. Aber sie fragt: Ist die jetzige Lage nicht eine Folge verfehlter Stahlpolitik in Europa? Hat die Bundesregierung ihren europapolitischen Kredit nicht verspielt, indem sie einseitig — ich bin gestern im Landtag für einen Satz kritisiert worden — für Interessen von Großbauern, von Agrarfabriken eingetreten ist und keine Durchsetzungskraft für die Stahlarbeiter mehr hat?
— Was ich sage, gilt völlig ohne Ansehen der einzelnen Regionen und der einzelnen Standorte.
Ich fordere seit langem, daß in der Bundesrepublik endlich alle an einen Tisch kommen, daß eine nationale Stahlrunde, die der Kanzler immer noch verweigert, zustande kommt, damit wir endlich von der Gefahr wegkommen, Stahlstandorte gegeneinander auszuspielen.
Es ist nämlich der nächste Schritt, daß das geschieht. Das Motto „Jeder stirbt für sich allein" darf doch nicht wahr werden.
Es darf doch nicht ein Transportband der Angst von Rheinhausen über Hamborn nach Huckingen, über Bochum und Witten nach Siegen gehen, von anderen Ländern jetzt ganz zu schweigen. Wir brauchen — darin stimme ich Graf Lambsdorff zu — den Strukturwandel. Wir brauchen ihn auch in Nordrhein-Westfalen. Wir sind auf diesem Weg. Wir haben ein Konzept vorgelegt. Wir wollen eine Zukunftsinitiative Montanregionen, damit auch der Teil der Frankfurter Vereinbarung eingehalten wird, in dem sich Europa, die Bundesregierung, die Stahlunternehmen, die Länder, die Gewerkschaften zu einem gemeinsamen Aktionsprogramm für neue Arbeitsplätze verpflichten. Das steht auch in der Frankfurter Vereinbarung. Stünde es nicht drin, wäre es eine reine Sterbehilfe und nicht der Weg nach vorn, den wir gehen müssen.
Wir verlangen vom Bund Mittel nach Artikel 104 a Abs. 4 des Grundgesetzes.
Nordrhein-Westfalen verlangt nicht, daß sich die Bundesregierung ihm gnädig zuwendet, sondern verlangt sein Recht für die Menschen, die die Bundesrepublik nach dem Krieg aufgebaut haben.
Das sogenannte Konjunkturprogramm, das das Bundeskabinett gestern beschlossen hat, mag man parteipolitisch so oder so bewerten; aber eines sage ich Ihnen: es taugt nicht für die Montanregionen,
es ist nach unserer Überzeugung ein Südprogramm. Es nützt Böblingen und Freiburg und München — die haben auch gute sozialdemokratische Oberbürgermeister — , aber Duisburg und Oberhausen und Hattingen haben das Geld nicht, um die Mittel anzufordern, die der Bund bereitzustellen bereit ist. Darum sage ich, machen Sie endlich Politik für das größte Bundesland — —
— Ich mache sie auch, Herr Kollege Wissmann. Ich mache sie seit 17 Jahren, und ich mache sie, immer wieder bestätigt vom Wähler.
Wenn wir sie gemeinsam im Interesse der Menschen machen könnten, vor denen ich da gestern gestanden habe, dann wäre das gut. Denn ich frage nicht danach: Wer hat es zustande gebracht, sondern ich frage danach, ob wir gemeinsam Menschen Hoffnung geben können.
Ich erteile das Wort dem Herrn Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren!
Die Stahlarbeiter in Rheinhausen bangen um ihre Arbeitsplätze. Es ist gut, wenn der Deutsche Bundestag durch alle seine Fraktionen heute deutlich macht, wir stehen an ihrer Seite, wir lassen sie nicht allein.
Richtig ist, Strukturwandel muß sein. Es gibt keine Zukunft ohne Strukturwandel. Aber wo alte Arbeitsplätze abgebaut werden, dort müssen neue entstehen. Die Menschen müssen nicht den Maschinen nachlaufen, die Arbeitsplätze müssen dort sein, wo Menschen ihre Heimat gefunden haben.
Ich teile auch ihre Ansicht: Unterstützung für Arbeit ist besser als jede Arbeitslosenunterstützung.
Erste und wichtigste Voraussetzung ist Arbeit. Keine noch so hohe Arbeitslosenunterstützung macht das wett. Der Auftrag, neue Arbeitsplätze zu schaffen, ist ein Teil der Frankfurter Vereinbarung. Der zweite Teil lautet: Massenentlassungen müssen verhindert werden.
Meine Damen und Herren, ich wundere mich, wie salopp Sie heute morgen darüber hinweggehen. „Beerdigungshilfe" sagt Herr Wieczorek. Lieber Johannes Rau, ich würde das auch nicht als eine semantische Spielerei bezeichnen, wenn darin steht: Massenentlassungen müssen verhindert werden.
Es besteht ein elementarer Unterschied zwischen Arbeitslosengeld und Sozialplan. Wenn man ins Arbeitslosengeld fällt, wird ein Jahr später für die Arbeitslosenhilfe die Bedürftigkeit geprüft. Eine sozial flankierte Überführung aus der Arbeit ist zwar nicht
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Bundesminister Dr. Blüm
die beste Lösung, ist aber elementar besser als jede Arbeitslosigkeit.
Wer diesen Unterschied zwischen Entlassung und Sozialplan nicht kennt, der macht die ganzen Anstrengungen von Betriebsräten und IG Metall überflüssig.
— Ich habe ausdrücklich gesagt, daß die Sorge um den Arbeitsplatz,
die Schaffung von Arbeitsplätzen das Wichtigste ist. Aber ich füge hinzu: Das Zweitwichtigste ist, daß niemand ins Bodenlose fällt. Wer das gering achtet, als Beerdigungshilfe bezeichnet, als semantische Spielerei, Johannes Rau, der macht — ich wiederhole — die Anstrengung von Betriebsräten, ordentliche Sozialpläne zu finden, geradezu lächerlich. Hier muß ich die IG Metall gegen diese Angriffe schützen.
Laßt uns gemeinsame Anstrengungen unternehmen, Entlassungen zu vermeiden, Arbeitsplätze zu schaffen.
Nur, Johannes Rau, Arbeitsplätze werden nicht geschaffen, indem man sich in der Staatskanzlei Düsseldorf überlegt, wie die Proteste nach Bonn gelenkt werden können. Das ist nicht die Hilfe für die Stahlarbeiter. Das ist kleinkarierte Parteipolitik, nichts anderes als kleinkarierte Parteipolitik!
Die Arbeiter — hier gebe ich Ihnen völlig recht — fragen nicht nach Patentrezepten, die Arbeiter interessiert nicht, wer welchen Vorschlag gemacht hat oder wer schuld ist. Die wollen wissen, wie ihnen jetzt geholfen wird. Darüber laßt uns nachdenken.
Hier soll jeder auf den Tisch legen, was er — außer Worten — gemacht hat.
Ja, damit fangen wir jetzt einmal an. Anschließend
bitte ich die SPD, besonders die nordrhein-westfälische Landesregierung, ebenfalls hier anzutreten und zu sagen, was sie gemacht hat.
Wir haben seit 1983 2,6 Milliarden DM, mehr als jede Bundesregierung vorher, dem Stahl zur Verfügung gestellt. Das begründet im übrigen auch einen Anspruch, an die Stahlarbeitgeber zu appellieren, daß sie jetzt Anstrengungen unternehmen, Arbeitsplätze zu erhalten und neue zu schaffen.
Von 1987 bis 1991 geben wir mehr als 1 Milliarde DM an sozialen Hilfen für den Strukturwandel. Wir haben die Kurzarbeitergeldregelung verlängert, das Wartegeld angepaßt und die Umschulungsbeihilfen angehoben. Wer behauptet, das wäre nichts, soll sich bei den Arbeitern erkundigen, die beispielsweise durch die Verlängerung der Kurzarbeitergeldregelung vor der Entlassung bewahrt wurden.
Erfülle jeder seine Pflicht. Jeder kann besser werden. Wo bleibt die Wirtschaftspolitik?, fragt Johannes Rau. Ich frage: Wo bleibt beispielsweise der regionale Beitrag Nordrhein-Westfalens?
Wir brauchen auch unternehmensübergreifende Kooperation. Zusammen überleben ist besser, als einzeln zu sterben. Ich verlange nur, daß die betriebswirtschaftlichen Effekte, die sich aus dieser Kooperation ergeben, in Arbeitsplätze investiert werden. Das ist der Sinn der Kooperation. Sonst gibt es keine Rechtfertigung für Kooperation.
Ich schließe mich ausdrücklich der Kritik an dem Vorgehen der Arbeitgeber an. Das widerspricht dem Geist der Mitbestimmung. Die Mitbestimmung ist nämlich nicht nur für gute Zeiten gedacht. Die Mitbestimmung muß sich gerade in schlechten Zeiten bewähren. Deshalb laßt uns aus Rheinhausen auch den Auftrag entnehmen, daß alle Beteiligten mehr Gemeinsamkeit zustande bringen.
Die Opposition in Düsseldorf, Johannes Rau, ist in Sachen Kooperation besser als die Opposition in Bonn. Aber das kann ja auch noch werden.
Ich biete ausdrücklich unsere Zusammenarbeit an. Die Stahlarbeiter haben unsere Solidarität.
— Das ist kein Jahrmarkt.
Die Anstrengungen der Bundesregierung sind als „Beerdigungshilfen" bezeichnet worden. Das weise ich zurück. Das ist das Ergebnis einer großen Anstren-
Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 46. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. Dezember 1987 3133
Bundesminister Dr. Blüm
gung, mit der IG Metall, mit den Arbeitgebern. Da hat sich lange Zeit die SPD zurückgehalten, unsere Anstrengungen attackiert. Jetzt muß sich auch die Frankfurter Erklärung bewähren. Auch jetzt wird sie ihren Auftrag erfüllen müssen, Arbeitsplätze zu sichern, Massenentlassungen zu vermeiden.
Laßt uns mehr zusammenarbeiten, weniger Konfrontation, Bonn und Düsseldorf, Arbeitgeber und Gewerkschaften.
Auch ich biete die Unterstützung unseren Kollegen, den Betriebsräten von Rheinhausen, an.
Das Wort hat der Abgeordnete Weiermann.
Her Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Blüm, ich kann an dieser Stelle nur sagen: Reden Sie nicht immer darüber, was Sie tun wollen. Handeln Sie im Interesse der Arbeitnehmer, endlich.
Ich kann an dieser Stelle sagen: Es ist sicherlich eine Katastrophe. Das, was da in Rheinhausen mit einem Abbau von 5 300 Arbeitsplätzen passiert, ist eine Schweinerei des Unternehmens — um es deutlich zu sagen.
Aber schuld hat auch die Bundesregierung mit einer verfehlten Stahlpolitik.
Die Zeche zahlen wieder einmal die Arbeitnehmer. Auf ihrem Rücken wird alles ausgetragen, und sie haben den Druck einer ungewissen Zukunft.
Die Menschen in Rheinhausen sind mit Recht nicht gewillt, sich einfach das Fell über die Ohren ziehen zu lassen. Sie wollen den Erhalt ihrer Arbeitsplätze. Und dafür kämpfen sie. Deshalb hat die Bundesregierung die Verantwortung, ihnen zu helfen und diese Dinge nicht auszusitzen.
Ich kenne Aussagen von betroffenen Stahlarbeitern, die da heißen: Wir können gar nicht so viel essen, wie wir kotzen möchten. — Die drücken die ganze innere Unruhe und die Sorgen dieser Menschen aus, die unter der gegenwärtigen Situation leben müssen.
Ich darf hier feststellen: Die Bundesregierung hat aus den Stillegungsabsichten von Oberhausen und auch von Hattingen absolut nichts gelernt. Eine Region wird fahrlässig zum Armenhaus der Nation abgestempelt. Deswegen: Schaffen Sie endlich den von uns geforderten nationalen Stahlausschuß,
bevor an weiteren Stahlstandorten das Licht ausgeht. Ich sage, meine Damen und Herren: Allen Sach- und Fachkennern müßte eigentlich klar sein, daß nur eine Fortsetzung der Stahlmarktordnung über drei bis vier Jahre hinaus einen Preiskrieg und einen Verdrängungswettbewerb verhindern kann.
Ohne diese Stahlmarktordnung wird das Sterben ganzer Stahlstandorte vorprogrammiert sein.
Die Aussichten für eine Fortsetzung der Stahlmarktordnung sind düster. Die EG-Kommission hält an ihren Vorstellungen fest,
den Stahlmarkt so schnell wie nur eben möglich in die Freiheit zu überführen.
Das heißt nun wirklich klar und deutlich, die Interessen der Arbeitnehmer auf dem Altar der freien Marktwirtschaft zu opfern.
Die von der EG-Kommission eingesetzten Drei Weisen haben bei ihren Untersuchungen in der Stahlindustrie grobe Wettbewerbsverzerrungen und -verfälschungen festgestellt. In einigen Ländern geben staatliche Banken fast uneingeschränkt Kredite und scheinen sich um ihre Außenstände nicht zu sorgen, heißt es in der Aussage der Drei Weisen. Und der Bundeswirtschaftsminister verneinte in der jüngsten Vergangenheit ständig einen Handlungsbedarf. Damit handelte die Bundesregierung unverantwortlich. Sie trägt Mitschuld an diesen Wettbewerbsverzerrungen und am Verlust von Arbeitsplätzen.
Gleichzeitig, meine Damen und Herren, muß doch die Tatsache, daß der italienische Stahlkonzern Finsider gegenwärtig Regierungszuschüsse von 4,3 Milliarden DM beantragt hat, nachdenklich stimmen. British Steel hat insgesamt rund 27 Milliarden DM bekommen, und es kann doch nicht angehen, daß man die deutsche Stahlindustrie bis auf Trostpflästerchen ausbluten läßt, die Arbeitnehmerschaft somit erheblich belastet, draußen aber stillschweigend dem illegalen Subventionswettbewerb zusieht. Das ist doch ein Skandal, meine Damen und Herren.
Die IG Metall — ich sage das hier, weil sie eben angegriffen wurde, sonst kann sie das selbst viel besser sagen, nur nicht an dieser Stelle — hat sich immer wieder für Stahl, für den Erhalt von Stahlarbeitsplätzen eingesetzt, und sie hat sich in der Frankfurter Vereinbarung für die Schaffung von Ersatzarbeits-
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Weiermann
plätzen eingesetzt. Aber wahr ist doch, Herr Blüm, Herr Bangemann: Inzwischen macht der Vorsitzende der Wirtschaftsvereinigung Eisen und Stahl, Herr Kriwet, sowohl die soziale Flankierung bei unvermeidbaren Personalreduzierungen als auch die Schaffung von Ersatzarbeitsplätzen davon abhängig, daß das Stahlquotensystem weit über das Jahr 1987 aufrechterhalten bleibt.
Müssen wir — das ist die Frage, die sich auch dem Bundestag stellt — diese Aussage nicht als einen Hinweis werten, daß es zu harten Entlassungen kommen kann, ohne die Absicherung von Sozialplänen, daß es keine Ersatzarbeitsplätze gibt? Das wäre doch in der Tat eine Bankrotterklärung für eines der reichsten Länder dieser Erde.
Die Arbeitslosenquote in Duisburg, bedingt durch die Krise bei Montan, beträgt 16,5 %. 14,9 % der Frauen und Männer unter 20 Jahren sind ohne Arbeit, ein Viertel der Arbeitslosen hier ist jünger als 25 Jahre, rund 1 000 Jugendliche haben keine Lehrstelle. Deswegen Schluß mit der ungenügenden Interessenvertretung in Brüssel, Schluß mit einer Stahlpolitik der Bundesregierung, die diesen Namen nicht verdient!
Ich erteile dem Herrn Bundesminister für Wirtschaft das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wenn wir die Situation bewältigen wollen, sollten wir uns zunächst einmal über die Voraussetzungen einigen, die wir bestehen müssen, um überhaupt etwas tun zu können. Ich knüpfe an das an, was gerade zur europäischen Stahlpolitik gesagt worden ist. Da muß ich Ihnen zunächst sagen — ich nehme an, Sie wissen das — , daß Sie trotzdem solche Äußerungen hier machen, ist gefährlich; denn wenn Sie es wissen, müßten Sie eigentlich versuchen, der Bundesregierung zu helfen.
— Ich hoffe, daß Sie es wissen.
Ich will Ihnen sagen, wie die Ausgangslage ist. Die Kommission hat bereits erklärt, sie werde keinen Vorschlag unterbreiten, der eine Verlängerung der Quotenregelung für drei Jahre enthält, was wir gefordert haben, wofür wir beim letzten Stahlrat auch eine informelle Mehrheit hatten, allerdings unter der Voraussetzung, daß das von einer Reduzierung der Kapazitäten begleitet wird, um die Kapazitäten der Nachfrage anzupassen. Nun sage ich Ihnen, das hat alles gar keinen Sinn. Ich finde, wenn Sie diese Aktuelle Stunde im Interesse der Betroffenen wirklich nutzen wollen, dann sollten wir uns jetzt mal ruhig über die Voraussetzungen unterhalten, die bestehen, damit man zu Hilfe kommt.
Wenn die Kommission keinen Vorschlag zur Verlängerung der Quotenregelung macht — das wird sie nicht machen, wie sie bereits angekündigt hat —, dann brauchen Sie im Ministerrat, wenn Sie eine andere Entscheidung haben wollen, die gegen diese Haltung der Kommission durchgesetzt werden kann, nicht nur eine Mehrheit, dann brauchen Sie Einstimmigkeit. Ich muß alle zwölf Regierungen zusammenbringen; die müssen einstimmig die Verlängerung der Quotenregelung beschließen. Das ist die Ausgangslage. Es hat gar keinen Sinn, daß wir uns daran vorbeimogeln.
— Herr Vogel, ich beschreibe das nicht, weil mich das freut; denn das macht meine Aufgabe sehr schwer.
Wir haben mindestens zwei Mitgliedsländer, die durch eigene erhebliche Anstrengungen die Kapazitäten in ihrem Land so reduziert haben, daß ihre Stahlindustrie so wie die unsrige heute — jedenfalls in weiten Teilen — wettbewerbsfähig ist. Diese beiden Mitgliedsländer werden niemals einer Verlängerung der Quotenregelung zustimmen,
wenn wir nicht gleichzeitig auch ein Gesamtkonzept zur Reduzierung von Kapazitäten woanders zustandebringen. Darum bemühen wir uns. Wir haben bei der letzten Sitzung des Stahlrats in dieser Beziehung schon ganz entscheidende Fortschritte erzielt.
Ich will Ihnen noch einmal vortragen, was nötig ist; nicht deshalb, weil die Bundesregierung oder irgendeiner hier in diesem Hause das will, sondern weil sich die Nachfrage verändert hat. Nach einer Prognose des Internationalen Eisen- und Stahlinstituts wird der Stahlverbrauch in der Europäischen Gemeinschaft bis 1995 auf 92 Millionen Tonnen zurückgehen. Das sind innerhalb von zehn Jahren zehn Millionen Tonnen weniger. In den Vereinigten Staaten wird zur gleichen Zeit ein Rückgang um 12 Millionen Tonnen und in Japan um 8 Millionen Tonnen stattfinden. Die Schwellenländer bauen ihre Kapazitäten auf.
Herr Ministerpräsident Rau war vor kurzem in Indien und hat sich dort ein Stahlwerk angesehen, das mit deutscher Hilfe gebaut worden ist und jetzt mit deutscher Hilfe, mit der Hilfe von deutschen Anlagenbauern, die auch aus Nordrhein-Westfalen kommen, modernisiert werden soll. Herr Ministerpräsident Rau, Sie haben das unterstützt, wenn ich den Presseberichten glauben darf. Man kann doch nicht erwarten, daß das, was wir dort auch mit deutscher Hilfe machen, die Stahlproduktionsmengen nicht vergrößert. Das ist doch wohl logisch und selbstverständlich.
Wir haben weltweit einen Rückgang der Stahlproduktion in den klassischen Stahlländern, weil in den Schwellenländern neue Produktionskapazitäten aufgebaut werden. Warum ist das so? Weil dort die Produktionskosten geringer sind. Ich sage das nicht anklagend.
Ich nehme ein anderes Beispiel, das niemand bestreiten kann, nämlich die Energiekosten. Wir haben
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Bundesminister Dr. Bangemann
hohe Energiekosten. Das ist übrigens, wenn ich das nebenbei erwähnen darf, auch deshalb so, weil wir den Versuch machen, die Energieerzeugung bei uns gegen die Produktionskosten in anderen Ländern zu unterstützen. Deswegen sind unsere Energiekosten hoch. Das macht sich bei der Stahlproduktion bemerkbar. Wir haben wegen der Energiekosten beispielsweise nicht mehr die gleiche Nachfrage nach Stahlrohren wie früher. Die Stahlrohre sind ein besonders düsteres Kapitel, weil dort die Nachfrage zurückgegangen ist.
Meine Damen und Herren, wir müssen von diesen unbezweifelbaren Tatsachen ausgehen. Es nützt niemandem etwas, wenn Sie jetzt den Versuch unternehmen, die Regierung an den Pranger zu stellen, schon gar nicht den betroffenen Arbeitern.
— Sehen Sie, das ist es ja, was ich an Ihren ganzen politischen Aktivitäten so fürchterlich erschütternd finde: Sie stellen sich hier hin, im Brustton der Überzeugung, mit einem Pathos, das man kaum anhören kann, wecken Sie Hoffnungen, und Sie unterstützen die Regierung nicht, sondern Sie zeigen durch Ihre Zwischenrufe, daß Sie einzig und allein daran interessiert sind, das zu einer parteipolitischen Auseinandersetzung zu machen. Das ist das Erschütternde daran.
Es ist auch nicht wahr — ich sage das auch im Interesse der Kollegen in der Europäischen Gemeinschaft, die zu Ihrer Partei oder jedenfalls Ihrer Parteifamilie gehören — , daß diese Stahlkrise in Europa ausschließlich auf dem Rücken der deutschen Stahlindustrie ausgetragen worden ist.
— Auch nicht überproportional. Ich sage Ihnen noch einmal die Zahlen. In Großbritannien hat seit Beginn der Krise Anfang 1975 bis heute die Stahlindustrie 71 % der Arbeitsplätze verloren. Das waren in Großbritannien 134 000 Arbeitsplätze.
In Frankreich waren es 60 %, in Belgien und Luxemburg 55 % und bei uns 41 % — das entspricht 95 000 Arbeitsplätzen.
Das ist schwer genug. Aber die Behauptung, hier bei uns in Deutschland werde stillgelegt, damit anderswo die Stahlarbeiter ihre unrentablen Arbeitsplätze behalten können, ist schlicht falsch. Es liegt auch im Interesse der europäischen Solidarität mit diesen Stahlarbeitern, daß Sie die Verbreitung dieser Unwahrheiten endlich einmal einstellen.
Was werden wir jetzt machen, und was müssen wir machen?
— Ja es tut mir leid. Ich hätte auch allein das vortragen können, wenn Sie hier nicht ständig Unwahrheiten behaupteten. Das ist das Problem.
Ich werde mich beim Stahlrat am 8. Dezember dafür einsetzen, daß wir eine gemeinsame Konzeption erarbeiten, die die Fortführung des Quotensystems über drei Jahre erlaubt. Ich sage Ihnen aber: Diese Konzeption wird nicht erreichbar sein — aus Gründen, die ich hier vorhin angeführt habe —, wenn nicht alle Länder bereit sind, Kapazitäten stillzulegen, weil wir auf andere Weise das Problem nicht lösen können.
Diese Stillegung von Kapazitäten muß nach zwei Prinzipien vor sich gehen: erstens nach der Wettbewerbsfähigkeit — es ist wahr, daß die Wettbewerbsfähigkeit bei einer Stillegung ausschlaggebend sein muß — , zweitens aber auch nach einer gerechten Verteilung zwischen den einzelnen stahlproduzierenden Ländern. Es kann niemand erwarten, daß ein Land allein die Stillegungen auf sich nimmt.
Wenn wir das geschafft haben, dann brauchen wir in der Tat Ersatzarbeitsplätze, diese Ersatzarbeitsplätze können wir schaffen, wenn wir das zusammen mit den Ländern in Angriff nehmen. Meine Damen und Herren, ich kann nur doppelt unterstreichen, was Graf Lambsdorff hier gesagt hat. Mit dem Ton, in dem Sie diese Debatte führen, hier in diesem Hause und im nordrhein-westfälischen Landtag, mit dem Ton, mit dem Sie auch dazu beitragen, daß diese Schaffung von Ersatzarbeitsplätzen eben nicht stattfindet,
laden Sie eine Verantwortung auf sich, die ich nicht auf mich laden würde.
Wir können den Strukturwandel nur bestehen, wenn wir das gemeinsam anpacken, so wie das in der Frankfurter Erklärung gemeinsam mit der IG Metall, mit der Wirtschaftsvereinigung, also der Industrie, angegangen worden ist. Da hilft — das sage ich hier auch im Interesse von Managern, die den Mut haben, einmal zu sagen, was notwendig ist — keine billige Polemik gegen solche Leute; denn die brauchen Sie auch zum Strukturwandel.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. Lammert.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn die Politik bei einer Frage wie der, die wir heute morgen ganz konkret diskutieren sollen, wirklich helfen will — was schwierig genug ist — , dann müssen wir allesamt die Abteilung Polemik, die uns ungemein liegt, auf ein Minimum reduzieren,
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Dr. Lammert
und das, was an gutem Willen, wie ich denke, auf allen Seiten des Hauses vorhanden ist, bündeln, um uns gemeinsam mit der Frage zu beschäftigen, ob überhaupt und wenn ja in welcher Weise wir den Erwartungen genügen können, die die Betroffenen in diesen Tagen vor allen Dingen an die Politik herantragen.
Vor ein paar Tagen hat ein Kommmentator im Westdeutschen Rundfunk zu den Ereignissen in Rheinhausen bemerkt:
Allmählich stellt sich allen Ernstes die Vertrauensfrage. Die Art und Weise, wie die Stahlarbeiter in Rheinhausen erfahren haben, daß ihr Standort dichtgemacht werden soll, kann nicht als Panne angesehen werden. Dahinter steckt eine gute Portion sozialer Brutalität, die nicht hingenommen werden darf.
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, man muß sich diese Formulierung nicht unbedingt zu eigen machen. Aber jeder, der in Rheinhausen gewesen ist, der wird bestätigen müssen, daß das ziemlich präzise die Stimmung, die Einschätzung, die Betroffenheit der Leute wiedergibt. Ich will Ihnen sagen, was ich in dieser Situation am bedrückendsten und auch am schwierigsten finde. Man kann da die Verbitterung, die Enttäuschung, die Angst und die Wut spüren. Ich frage mich, und ich frage auch jeden, der in der Stahlindustrie Verantwortung trägt, was er eigentlich ernsthaft anderes erwartet, wenn wenige Wochen, nachdem eine Vereinbarung zustande gekommen und von der Unternehmensleitung sowie dem Betriebsrat unterschrieben worden ist, in der Anpassungsmaßnahmen mit dem erklärten Ziel der Standortsicherung festgelegt worden sind,
dies alles plötzlich Makulatur sein soll.
Machen wir uns nichts vor, meine lieben Kolleginnen und Kollegen. In Rheinhausen ist manches kaputtgegangen, bevor der erste Ofen kalt geworden ist: Vertrauen, der Glaube an ein gegebenes Wort und an geltende Verträge. Deswegen sage ich: Jetzt wird an die Politik ein Ausmaß an Erwartungen und an Hoffnungen herangetragen, dem wir nicht ausweichen dürfen, bei dem wir aber gleichzeitig das im Auge behalten müssen, was der Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen vorhin mit dem Stichwort Glaubwürdigkeit bezeichnet hat.
Die für mich deprimierendste Erfahrung ist genau die: Hier wird an die Politik eine Erwartung herangetragen, und man sucht geradezu nach demjenigen, der neue Hoffnung vermittelt. Wenn wir wirklich Blauwürdig bleiben wollen, können wir genau das nicht sagen, was die Leute von uns erwarten: daß die Politik diesen Standort sichern könne. Genau dies gehört zur Ehrlichkeit und zur Aufrichtigkeit einer solchen Debatte, wenn sie denn überhaupt Sinn machen soll.
Ich füge hinzu — ich habe das gestern abend auch in Rheinhausen gesagt — : Ich bin bereit, jeden beliebigen ernstgemeinten Vorschlag zur Lösung dieser Probleme auch ernsthaft zu prüfen. Aber wir müssen auch der Versuchung widerstehen, hier Illusionen zu wecken, die mit manchem flott gemachten Vorschlag verbunden sind, was meiner Einschätzung nach sowohl für die Überlegung gilt, eine nationale Stahl AG zu gründen, wie für die Forderung der IG Metall nach Vergesellschaftung. Weder die eigenen Erfahrungen noch die im Ausland geben wirklich hinreichenden Anlaß zu der Vermutung, daß auf diese Weise Anpassungsdruck vermieden, Rationalisierungszwänge ausgesetzt und damit all die Schwierigkeiten überwunden werden können, über die wir hier auch am Beispiel Rheinhausen reden.
Meine lieben Kollegen, meine Damen und Herren, gerade in der nächsten Woche steht eine Debatte auf der Tagesordnung, in der über eine Beschlußempfehlung zu reden sein wird, die der Wirtschaftsausschuß auf der Basis der Anträge beraten hat, die alle Fraktionen zur Lage der Stahlindustrie eingereicht hatten.
— Ein letzter Satz, Herr Präsident. — Ich möchte an den Schluß meiner Bemerkungen nur den Hinweis setzen, der in dieser Beschlußempfehlung des Deutschen Bundestages, die hier in der nächsten Woche zur Abstimmung steht, enthalten ist:
Der Deutsche Bundestag unterstreicht die Notwendigkeit und die eigene Bereitschaft, daran mitzuwirken, daß in den vom Strukturwandel besonders betroffenen Regionen eine hinreichende Zahl von neuen zukunftssicheren Arbeitsplätzen geschaffen werden kann. Der Deutsche Bundestag erwartet insbesondere von den Stahlunternehmen und ihren Muttergesellschaften, die in der Frankfurter Vereinbarung eingegangene Verpflichtung zügig und überzeugend einzulösen, eigene Investitionen vorrangig an den vom Anpassungsprozeß betroffenen Standorten durchzuführen, um neue Arbeitsplätze zu schaffen.
Dies, meine Damen und Herren, sollten wir gemeinsam unpolemisch, aber mit Engagement betreiben. Dann helfen wir den Kollegen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Hillerich. — Frau Kollegin Hillerich, ich kann Ihnen nur eine Minute Redezeit zur Verfügung stellen. Das entspricht unserer Vereinbarung.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Um gleich an die Ausführungen von Herrn Lammert anzuknüpfen: Die Stahlkonzerne haben gezeigt, daß sie nicht bereit sind, sich durch Investitionen am ökologischen Strukturwandel in den Stahlregionen zu beteiligen und für neue Arbeitsplätze zu sorgen. Dies wissen auch die Kollegen in Duisburg. Deswegen tauchte auf den Belegschafts-
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Frau Hillerich
versammlungen und auch auf dem Unterbezirksparteitag der SPD in Duisburg die Frage nach den Grenzen der Marktwirtschaft und die Forderung nach Vergesellschaftung der Stahlunternehmen auf.
Wenn wir GRÜNEN diese Forderung aus den Stahlbelegschaften und von der IG Metall verbreiten, dann wird uns Traumtänzerei vorgewofen. Es wäre Traumtänzerei, wenn wir die einzigen wären, die sie stellen. Deshalb sage ich ausdrücklich an die Adresse der Kollegen in den Stahlunternehmen und an die Adresse der IG Metall: Sorgt dafür, daß die Forderung nach Vergesellschaftung keine Traumtänzerei bleibt! Sorgt dafür, daß auch die gewinnbringenden Teile der Stahlkonzerne aus Weiterverarbeitung und Veredelung einbezogen werden, damit es keine Verlustsozialisierung gibt! Und sorgt dafür, daß ihr mit den Standortkommunen und mit Umweltverbänden den beherrschenden Einfluß auf die Unternehmenspolitik bekommt!
Frau Kollegin, Ihre Redezeit ist zu Ende; tut mir leid.
Ich habe das gemerkt.
Das Wort hat der Abgeordnete Beckmann.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich hätte es wirklich sehr begrüßt, wenn die Arbeitnehmer nicht durch eine — wie auch immer zu verantwortende — Indiskretion vor vollendete Tatsachen gestellt worden wären. Es handelt sich bei den drei Unternehmen Thyssen, Krupp, Mannesmann um mitbestimmte Unternehmen. Unser Verständnis von Montan-Mitbestimmung ist es, daß Entscheidungen in Unternehmen von den zuständigen Gremien und unter Information und Beteiligung der Arbeitnehmervertreter, insbesondere bei den letzten Entscheidungen im Aufsichtsrat, getroffen werden.
Wir bedauern, daß durch die Art der Bekanntgabe von Unternehmensplänen Verunsicherung und Resignation oder, wie eine Zeitung es geschrieben hat, die „eiskalte Wut" ins Revier einzieht. Dies ist nicht der Weg, aus dem Revier eine zukunftsträchtige Industrie- und Dienstleistungsregion, wie wir sie gern realisieren möchten, zu machen. Horrormeldungen über die Stillegung ganzer Industriestandorte, ohne daß ein endgültiges Konzept vorliegt, erschweren auch die Diskussion über betriebswirtschaftliche Notwendigkeiten.
Wir, die Bundesregierung, diese Koalition, machen alle Anstrengungen, um den notwendigen Strukturwandel in der Stahlindustrie zu begleiten. Erst im Monat Oktober hat die Bundesregierung gemeinsam mit den betroffenen Ländern die Bereitstellung weiterer 450 Millionen DM zur sozialen Flankierung der Anpassungsprobleme in der Stahlindustrie in den Jahren 1987 bis 1989 beschlossen. Wir haben die Bezugsdauer für das Wartegeld, mit dem das gesetzliche Arbeitslosengeld auf 85 % des früheren Nettoverdienstes aufgestockt wird, auf bis zu 32 Monate verlängert; der Bundesarbeitsminister hat hier soeben mit Recht darauf hingewiesen. Arbeitslose Arbeitnehmer in der Schuhindustrie, in der Bauindustrie würden von solchen großzügigen Regelungen, meine Damen und Herren, nur träumen.
Die ständigen Klagerufe der SPD nach einem nationalen Stahlkonzept sind nur ein Ablenkungsmanöver.
Ich erinnere einmal an die Vorschläge der Stahlmoderatoren. Alle Ideen einer unternehmensübergreifenden Zusammenarbeit sind seinerzeit nicht realisiert worden.
Es wäre auch damals nicht ohne Stillegung ganzer Betriebsbereiche abgegangen. Was soll es also machen, wenn sich der Staat zum Notar solcher Beschlüsse macht? Nichts, aber auch gar nichts würde ein solches Konzept ändern.
Meine Damen und Herren, wir können uns den unternehmerischen Notwendigkeiten nicht entziehen. Allerdings wollen wir die unternehmerische Verantwortung auch da belassen, wo sie hingehört: in die Vorstände und in die Aufsichtsräte dieser mitbestimmten Unternehmen. Der Staat kann nicht zum Auffangbecken der Montanindustrie werden.
Wir sollten — statt vieler Aufregungen und statt politischem Aktionismus — jetzt zur Sache kommen.
Erstens. Duisburg bleibt auch im europäischen Maßstab ein überaus konkurrenzfähiger Stahlstandort.
Zweitens. Die geographische Nähe der drei Stahlunternehmen im Stadtbereich Duisburg läßt selbst für den Laien den Sinn einer Zusammenlegung unterbeschäftigter Produktionsbereiche erkennen.
Drittens. Es fehlen bisher alle genauen Angaben darüber, in welchem Maße Freisetzungen von Arbeitskräften zu erwarten sind und wie die Sozialplanregelungen aussehen sollen.
Viertens. Nach Aussagen des Vorstandsvorsitzenden der Krupp AG soll kein Gramm Stahlproduktion in Duisburg verlorengehen. Die geplante Umlegung und Zusammenlegung von Rohstahlproduktion können dazu führen, verlustbringende Anlagen besser auszulasten und die Wettbewerbsfähigkeit der dort ansässigen Unternehmen insgesamt zu stärken.
Fünftens. Die Unternehmen haben bisher verlautbart, daß es Massenentlassungen nicht geben wird. Der Deutsche Bundestag — also wir alle — ist außerstande, zu erkennen, ob und wieweit das Frankfurter Abkommen zwischen der IG Metall und den Stahlunternehmen auch für diesen Fall greift. Darüber müssen die Sozialpartner entscheiden. Wir erwarten jetzt von den betreffenden Unternehmen ein Konzept, in dem offengelegt wird, welche Maßnahmen im einzel-
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Beckmann
nen getroffen werden und welche Lösung für die betroffenen Arbeitnehmer vorgesehen wird.
Dazu sage ich ganz deutlich, daß wir uns um den notwendigen Strukturwandel auch in der Stahlindustrie nicht herummogeln können. In dem Gutachten der drei Stahl-Weisen ist ausdrücklich davon die Rede, daß die Stahlindustrie den nötigen Anpassungsprozeß eher unter- als überschätzt. Das Quotensystem hat diese ökonomischen Zusammenhänge eher verschleiert als beschleunigt. Wir sollten uns nicht täuschen: Der weltweite und damit der deutsche Strukturwandel in der Stahlindustrie gehen weiter.
Vielen Dank.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Jens.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich stelle zunächst fest: Auch wir Sozialdemokraten wissen, daß es Strukturwandel gibt und daß es Strukturwandel geben muß. Aber mit diesen Platitüden von Herrn Bangemann ist den Stahlarbeitern in Rheinhausen überhaupt nicht geholfen.
Nach Oberhausen, Hattingen jetzt auch Rheinhausen! 80 000 Menschen in diesem Ort Rheinhausen fürchten um ihre Zukunft. Die Menschen haben keine Zukunftschancen mehr. Was nützt da der Hinweis auf soziale Abfindung, mit der sie ein Jahr, zwei Jahre leben können, wenn sie danach arbeitslos sein müssen? Damit können sie sich überhaupt nicht begnügen.
Ich habe extra Hattingen, Oberhausen, Rheinhausen genannt, weil ich befürchte, daß sich diese Tendenz auf eine Region, auf ein Land, Nordrhein-Westfalen, leider kumuliert. Das Land Nordrhein-Westfalen ist von dieser Entwicklung besonders betroffen. Kein Land hat übrigens so viel für Kohle und Stahl getan wie dieses Land Nordrhein-Westfalen. Auch das muß man hier einmal festhalten.
Während Herr Bangemann verkündet, Subventionen würden in Europa nicht mehr gezahlt, spricht Graf Lambsdorff vom Subventions-Unwesen. In der Tat, das ist die Hauptursache für die Probleme der deutschen Stahlindustrie, besonders in Duisburg, einem an sich hervorragenden Standort. 1986 und 1987 — ich wiederhole immer wieder, was die Wirtschaftsvereinigung Eisen und Stahl festgestellt hat — sind etwa 31 Milliarden DM Subventionen in Frankreich, Italien und Belgien geflossen. Aber die deutsche Stahlindustrie hat nichts mehr bekommen. Ich verweise auf das Gutachten der drei Moderatoren, nach dem es noch immer öffentliche Unternehmen gibt, die von öffentlichen Banken massiv subventioniert werden. Und diese Regierung tut so gut wie nichts dagegen.
Die deutschen Arbeitnehmer sind ganz zweifellos von den Problemen der europäischen Stahlindustrie besonders betroffen. Wir sind einmal davon ausgegangen, daß etwa 30 Millionen t Stahlkapazität in Europa abgebaut werden müßten. Das bedeutet 80 000 Menschen, die, wie es so schön heißt, freigesetzt werden müßten. Jetzt haben die Moderatoren festgestellt: Es geht nur noch um 16 Millionen t Überkapazität, also etwa um 40 000 Menschen. Also 40 000 Menschen werden nach der Vereinbarung — Maxhütte eingerechnet und Rheinhausen addiert — allein in der Bundesrepublik Deutschland entlassen werden und keinen Arbeitsplatz mehr in diesem Bereich haben.
Das ist eine schreiende Ungerechtigkeit. Auf dem Buckel der deutschen Stahlarbeiter werden die europäischen Stahlprobleme gelöst. Das können wir nicht hinnehmen.
Die Sozialdemokraten fordern erstens: Das Produktionsquotensystem ist zu verlängern. Darüber waren sich sogar SPD und CDU/CSU vor kurzem noch im Wirtschaftsausschuß einig.
Zweitens. Der Subventionskodex ist strikt einzuhalten. Verstöße gegen den Kodex, wie es sie jetzt schon gibt, müssen mit allen Mitteln bekämpft werden. Leider tut das Wirtschaftsministerium viel zu wenig.
Ich verweise außerdem auf die Vereinbarung zwischen der IG Metall und den vier Stahlkonzernen. Hier wird deutlich gemacht, daß in erster Linie die Stahlunternehmen gefordert sind, Ersatzarbeitsplätze zu schaffen. Auf diesem Gebiet wird leider viel zu wenig getan. In dieser Vereinbarung steht auch: Die Bundesregierung muß dem Land Nordrhein-Westfalen und muß den Stahlregionen nach Art. 104 a des Grundgesetzes zwingend Finanzhilfen geben, damit die Strukturprobleme besser bewältigt werden können.
Meine Damen und Herren, es darf einfach nicht sein, daß in unserem Lande viel mehr Arbeitsplätze vernichtet werden, als es bei einer gerechten und ausgeglichenen europäischen Stahlpolitik unbedingt notwendig ist.
Die Arbeitnehmer in Rheinhausen kämpfen mit Recht und mit guten Argumenten für den Erhalt ihrer Arbeitsplätze. Wir werden sie dabei mit den uns zur Verfügung stehenden Mitteln unterstützen. Ich füge hinzu: Bedenken Sie — das ist keine Panikmache — : „Wenn es an der Ruhr brennt, dann reicht das Wasser im Rhein nicht aus, um das Feuer zu löschen."
Das Wort hat der Abgeordnete Wissmann.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich meine, es ist vorhin das richtige Stichwort gefallen, das eigentlich über dieser Debatte stehen sollte und zwar vom Ministerpräsidenten von Nordrhein-Westfalen. Dieses Stichwort hieß Glaubwürdigkeit. Ich meine aber, der Redner, der diese
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Wissmann
Konsequenz am konsequentesten gezogen hat, war unter anderem der Kollege Lammert,
der deutlich gesagt hat: Glaubwürdigkeit heißt in dieser Debatte, zwei Dinge auf jeden Fall zu vermeiden, erstens, daß wir uns wechselseitig mit Schuldzuweisungen für Dinge überhäufen, bei denen die Verantwortung eben nicht in erster Linie in der Politik liegt, und zweitens, daß wir den falschen — vielleicht taktisch, kurzfristig scheinbar sinnvollen, aber langfristig falschen — Eindruck erwecken, als habe die Politik Möglichkeiten, einzelne Standorte zu garantieren, die sie, wie wir alle wissen, in Wirklichkeit nicht hat.
Ich glaube, das muß hier deutlich gesagt werden: Die Verantwortung für den Aufbau und für den Bestand von Produktionsstätten liegt in einer marktwirtschaftlichen Ordnung bei den Unternehmen. Wir können sie weder von dieser Verantwortung freisprechen noch von der Verantwortung, Ersatzarbeitsplätze zu schaffen.
Meine Damen und Herren, die drei Konzerne Thysssen, Mannesmann und Krupp haben einen so hohen Grad an Diversifizierung, daß ich finde, die wichtigste Herausforderung, der sie sich in der Verantwortung für die Menschen gerade an der Ruhr zu stellen haben, besteht in der Verpflichtung, den Arbeitnehmern Ersatzarbeitsplätze anzubieten, und
in der Verpflichtung in Bereichen — im traditionellen Stahlbereich, aber eben auch und gerade in neuen Produktionsentwicklungen — , in denen Arbeitsplatzchancen liegen, diese in erster Linie an den Standorten wahrzunehmen, an denen die Sorge der Menschen für jedermann hier im Hause, dem es nicht um reine Taktik geht, doch wohl spürbar ist.
Meine Damen und Herren, wenn wir im Wirtschaftsausschuß des Bundestages über solche Fragen sprechen, dann gibt es zwar über Einzelheiten unterschiedliche Meinungen, aber interessanterweise gibt es hinter verschlossenen Türen über Schwerpunkte dessen, was aktuell getan werden muß, eben keinen tiefgreifenden Streit zwischen SPD, CDU/CSU und FDP. Dann sind wir uns dort einig, daß es vor allem um folgende Punkte geht:
Erstens. Wir müssen in der Europäischen Gemeinschaft mit aller Kraft dafür sorgen und den Wirtschaftsminister am 8. Dezember in Brüssel unterstützen, daß dort, wo der Beihilfekodex unterlaufen wird — ich denke etwa an Finsider und andere — alle Mittel genutzt werden, um nicht mehr akzeptable Subventionen in anderen Mitgliedsländern der Europäischen Gemeinschaft wirksam zu unterbinden.
Zweitens. Wir müssen dafür sorgen, daß es in dem Maße, in dem es gelingt, den Subventionskodex durchzusetzen, gleichzeitig zu einer schrittweisen Liberalisierung des europäischen Stahlmarktes kommt. Denn wir wissen doch, daß die deutschen Unternehmen, die in der Regel wettbewerbsfähiger sind, sich in einem liberalisierten Stahlmarkt in der Europäischen Gemeinschaft eher behaupten können als beispielsweise Unternehmen wie Finsider, von dem allein in letzten überschaubaren Zeiträumen Verluste von 7 Milliarden DM von Kennern angenommen werden.
Durchsetzung des endgültigen Endes des Subventionswettlaufs, Schaffung von Ersatzarbeitsplätzen: Das sind die Dinge,
über die wir uns hinter verschlossenen Türen in Wirklichkeit einig sind. Deswegen sollten wir nicht durch polemische Reden den falschen Eindruck erwecken, als ginge es hier im Bundestag um Schuldzuweisungen zwischen Düsseldorf und Bonn und wieder zurück,
sondern es geht um die gemeinsame Verantwortung, die wir über Parteigrenzen hinweg für eine vernünftige, sinnvolle Stahlpolitik in der Zukunft haben.
Das Wort hat der Abgeordnete Roth.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Wissmann, hätten die beiden Bundesminister den Stil der Rede des Kollegen und Ministerpräsidenten Rau oder jenen Stil der Rede des Kollegen Lammert übernommen und statt zu polemisieren zur Sache und zur Perspektive für Rheinhausen geredet, dann hätten wir eine andere Debatte gehabt. Das ist die Wahrheit.
Am 16. Oktober 1987 haben Sie, Herr Bangemann, hier eine Regierungserklärung zum Stahl abgegeben. Wir waren damals überrascht. Sie haben wörtlich gesagt:
In jedem Fall wird es nicht zu Massenentlassungen in der Stahlindustrie kommen. Das ist ein Ergebnis, daß wenige erwartet haben und über das wir uns alle freuen sollten, wie ich meine.
Meine Damen und Herren, stellen Sie sich vor, wie dieses Zitat, das Sie heute wiederholt haben — wenn auch verkürzt: „freuen" war nicht mehr dabei — , in Rheinhausen an diesem Stahlstandort wirkt!
Nun reden Sie sich mit verbaler Akrobatik heraus. Sie behaupten, es gebe keine Massenentlassungen. Entschuldigen Sie: Wenn 5 300 Menschen durch Indiskretionen hintenherum erfahren, daß ihr Arbeitsplatz weg ist, was ist das anderes als Massenentlassungen?
Meine Damen und Herren, ich habe in diesem Zusammenhang eine Frage: Hat uns damals der Bundeswirtschaftsminister die Unwahrheit gesagt, oder ist er
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Roth
von Krupp, Thyssen und Mannesmann hereingelegt worden? Das sind die zwei Alternativen.
Sollte das letztere richtig sein, daß der Herr Bundeswirtschaftsminister von den Konzernen hereingelegt worden ist, dann, finde ich, zeigt das auch etwas, nämlich den Funktions- und Bedeutungsverlust des Bundeswirtschaftsministeriums in der gesamten Stahlpolitik.
Aber die Frage wird doch wohl erlaubt sein: Gab es vielleicht ein stillschweigendes Übereinkommen, daß man das macht? Wußte das Bundeswirtschaftministerium Bescheid? Ich sage nicht,
daß ich das vertreten kann, aber ich kann doch die Frage stellen. Die Frage ist mir gestern gekommen: Während Ihre Fraktion und unsere Fraktion im Landtag von Nordrhein-Westfalen nein zu den Konzernplänen gesagt haben, ist die FDP im Landtag von NRW gestern auf die Pläne aufgesprungen. Da werde ich mißtrauisch, meine Damen und Herren, und Herr Lammert und Sie alle sollten es auch sein.
Der entscheidende Punkt ist nicht der Anpassungsprozeß; den tragen wir mit. Wir wissen auch, daß nicht alle Stahlarbeitsplätze in der Zukunft zu halten sind. Zum entscheidenden Punkt haben weder Herr Blüm noch Herr Bangemann etwas gesagt. Der entscheidene Punkt ist: Wo kommen die neuen Arbeitsplätze her, und was tut der Bund für die Montanregion?
Herr Lammert, wir werden in den nächsten Wochen hier im Deutschen Bundestag eine Zukunftsinitiative Montanregion und ein Zukunftsprogramm Küste — das zweite diskutieren wir nicht heute — einbringen. Das wird die Meßlatte sein, ob etwas für neue Arbeitsplätze für die nächste Generation an diesen Standorten getan wird, ob hier geholfen wird oder ob aus parteipolitischer Klüngelei, weil man dem Herrn Blüm helfen will, boykottiert wird. Das ist die Alternative.
Das Wort hat der Abgeordnete Scharrenbroich.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist richtig, daß vor allen Dingen Politiker der Arbeitnehmergruppe der CDU/CSU-Bundestagsfraktion das Wort ergreifen,
weil wir diese Aktuelle Stunde nicht zu parteipolitischer Polemik mißbrauchen wollen, wie es leider seitens der SPD geschehen ist,
sondern weil uns die Probleme der Arbeitnehmer sehr
am Herzen liegen. Ich danke dem Bundeswirtschaftsminister ausdrücklich, daß er sich in dieser sachlichen
Form genauso wie der Kollege Lammert bemüht hat, das Problem wieder so in den Raum zu stellen, daß man gemeinsam nach einer Lösung suchen kann.
Ich hin schon berührt, daß hier seitens der SPD soviel von der Gefahr des Flächenbrandes gesprochen wird, gleichzeitig aber nur parteipolitische Polemik entwickelt wird. Ich muß mich schon fragen, warum man sich so bemüht, die Schuld nur der Bundesregierung in die Schuhe zu schieben,
und warum man sich überhaupt nicht mit der Unternehmensleitung auseinandersetzt, die nämlich den Stahlpakt gebrochen hat. Nein, Sie haben es nur in einem kurzen Anflug, Herr Roth, einmal angesprochen, um direkt wieder dem Bundeswirtschaftsminister etwas zu unterstellen. Nur aus diesem Grund haben Sie eine einzige kritische Anmerkung zur Unternehmensleitung gemacht.
Wir fordern für die Politik, daß vertrauensvolle Verhandlungen Glaubwürdigkeit voraussetzen. Wir fordern für die Politik, daß dann auch Konsequenzen gezogen werden. Ich glaube, es hätte einer ehemaligen Arbeiterpartei
gut angestanden, dies auch einmal von der Unternehmensleitung zu fordern. Das Problem ist nicht, daß nach Lösungen gesucht wird, sondern daß das Instrument Mitbestimmung, das uns aus vielen Krisen geholfen hat, so mit Füßen getreten worden ist und damit praktisch funktionsunfähig gemacht worden ist. Das ist eines der großen Probleme, vor denen wir hier stehen.
Wenn wir den Flächenbrand vermeiden wollen, so ist, glaube ich, es wichtig, daß wir hier nicht parteipolitische Polemik entwickeln, sondern die Unternehmensleitungen auffordern, den Stahlpakt zu erfüllen.
Zweitens. Da der Herr Kollege Weiermann so mächtig wieder gefragt hat, „Was macht denn die Bundesregierung?", möchte ich, damit das Vertrauen der Bevölkerung in die Bundesregierung weiter gestärkt wird,
einmal sehr deutlich und ganz ruhig, einfach zur Information, wiederholen, was inzwischen gemacht worden ist.
Erstens. Zwischen 1983 und 1985 hat der Bund für das Stahlprogramm etwa 2,6 Milliarden DM aufgebracht. Das ist kein Almosen. Das sind wichtige Hilfen für die Arbeitnehmer.
Zweitens. Der Bund hat für die bereits laufenden Fälle der sozialen Anpassungshilfe nach dem Montanunionsvertrag beschlossen, daß bis 1991 eine weitere Milliarde DM aufgebracht wird, wovon der Bund rund 70 % trägt. Für zusätzliche Freisetzungen ist si-
Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 46. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. Dezember 1987 3141
Scharrenbroich
chergestellt, daß entsprechende Mittel im Haushalt bereitstehen.
Drittens. Als weitere Leistungen hat die Bundesregierung die Aufstockung der Bezugsdauer für das Wartegeld, die Verbesserung der Umschulungszulage und die Erhöhung des Einkommenshöchstbetrages für die Übergangsbeihilfe durchgesetzt. Das kostet von 1987 bis 1991 rund 60 Millionen DM. Ich sage das nicht, um hier Reklame zu machen, sondern um deutlich zu machen, daß diese Bundesregierung nicht redet, sondern handelt und wichtige Hilfen gegeben hat.
Viertens. Im Programm „Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur" werden dem Land Nordrhein-Westfalen 90 Millionen DM zusätzliche Haushaltsmittel zur Verfügung gestellt.
Fünftens. Das Stahlstandorte-Programm wurde um drei Jahre bis Ende 1990 verlängert. Kosten 1988 bis 1990: rund 80 Millionen DM.
Sechstens. Für alle Stahlarbeitnehmer wurde die Bezugsfrist für Kurzarbeitergeld auf 36 Monate verlängert.
Für uns ist klar, daß es darum geht, Arbeitsplätze zu sichern. Darauf müssen wir uns konzentrieren. Aber wir können deswegen Hilfen, die bei der Anpassung notwendig sind, nicht unterlassen. Das ist der doppelte Weg, den wir gehen: Wir helfen bei der Arbeitsplatzsicherung und begleiten den schmerzhaften Prozeß sozial.
Das Wort hat Herr Abgeordneter Dr. Schwörer.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Als Abgeordneter, der nicht aus dem Revier kommt, möchte ich sagen, daß ich Verständnis für die Sorgen und die Nöte unserer Stahlarbeiter habe. Ich möchte aber auch sagen, daß es nichts nützt, wenn wir uns hier in Polemik ergehen. Wir müssen uns vielmehr bemühen, einen Weg zu finden, wie wir diese Sorgen beseitigen können.
Meine Damen und Herren, wir haben gehört, daß der Bundeswirtschaftsminister mit Recht betont hat, wie stark die Stellung der Europäischen Kommission auf diesem schwierigen Gebiet ist. Deshalb möchte ich ihm für den Stahlrat, der am 8. Dezember tagt, doch noch einige Gedanken mitgeben.
Zunächst einmal: Die erste Forderung muß bleiben, daß nicht wieder neue Subventionen gewährt werden. Das ist auch bei Ihnen angeklungen. Finsider und solche Beispiele dürfen sich nicht mehr wiederholen. Es darf nicht mehr geschehen, daß Staaten bzw. staatliche Banken den Wettbewerb verfälschen und unrentable Produktionen aufrechterhalten.
Das zweite: Die EG muß gemeinsam einen Weg finden, die überhöhten Kapazitäten, die wir heute haben und die den Preis zerstören, abzubauen. Hier sind wir für eine beschränkte Fortführung des Krisenmechanismus, auch des Quotensystems, aber nicht als Dauereinrichtung, sondern für eine beschränkte Zeit, bis es möglich ist, damit noch weitere Kapazitäten abzubauen. Wir wollen auch nicht, daß sich die Stahlindustrie an diese Quoten gewöhnt und damit vielleicht Maßnahmen unterläßt, die notwendig sind, um zu einer rentablen Produktion zu kommen. Dabei sind die Vorschläge der drei Weisen, Herr Bundeswirtschaftsminister, eine gute Beratungsgrundlage.
Drittens. Für die Zeit nach Ende des Quotensystems muß die Kommission heute schon ein Mittel in die Hand bekommen, das neue Subventionen verhindert, und zwar nicht nur ein Mittel, das in langjährigen Gerichtsverfahren besteht, sondern eines, das schnell wirkende Maßnahmen ermöglicht, damit nicht von neuem ein Subventionswettlauf beginnt.
Viertens. Wir wissen, daß auch von außerhalb der EG von neuen Stahlproduzenten Dumpingangebote kommen. Hier muß schneller gehandelt werden. Hier hat sich die Kommission bis jetzt vielleicht nicht mit dem nötigen Nachdruck dagegen gewandt, daß neue Produzenten Preise unterbieten können, weil sie mit staatlichen Hilfen arbeiten. Wir wollen aber nicht, wie uns nachgesagt wird, nur die Stahlwerke liefern, sondern wir wollen diesen Ländern auch die Möglichkeit geben, ihre Produkte zu liefern, aber nicht zu vom Staat subventionierten Preisen.
Ein Letztes, meine lieben Kolleginnen und Kollegen: Eine konzertierte europäische Aktion muß für mehr Wirtschaftswachstum in allen europäischen Staaten sorgen; denn wir wissen, ein verstärktes Wachstum ist die beste Förderung des Stahlabsatzes, und ein verstärktes Wachstum ist auch die beste Möglichkeit, Ersatzarbeitsplätze zu schaffen. Die Schaffung von Ersatzarbeitsplätzen, die Schaffung neuer Arbeitsplätze — ich glaube, darin sind wir uns einig, und dabei haben auch die Arbeitgeber in der Stahlindustrie eine große Verantwortung; ich beziehe mich auf das, was der Kollege Wissmann gesagt hat — ist das einzige Mittel, daß wir die Stahlkrise langfristig lösen. Und das wollen wir doch alle gemeinsam.
Danke schön.
Meine Damen und Herren, die Aktuelle Stunde ist beendet.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 2 sowie die Zusatztagesordnungspunkte 3 und 4 auf:
a) Erste Beratung des von den Abgeordneten Dr. Miltner, Gerster , Regenspurger, Fellner, Dr. Blank, Dr. Blens, Clemens, Dr. Hüsch, Kalisch, Dr. Kappes, Krey, Neumann (Bremen), Dr. Olderog, Weiß (Kaiserslautern), Frau Dr. Wisniewski, Zeitlmann und Genossen und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Dr. Hirsch, Richter, Lüder und der Fraktion der FDP eingebrachten Entwurfs eines Geset-
3142 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 46. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. Dezember 1987
Präsident Dr. Jenninger
zes zur Änderung des Bundespersonalvertretungsgesetzes
— Drucksache 11/1190 —
Überweisungsvorschlag des Ältestenrates:
Innenausschuß
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuß für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit
b) Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Bildung von Jugend- und Auszubildendenvertretungen in den Betrieben
— Drucksache 11/1134 —
Überweisungsvorschlag des Ältestenrates:
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Innenausschuß
Ausschuß für Wirtschaft
Ausschuß für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit
ZP 3 Erste Beratung des von der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zum Ausbau und zur Sicherung der betrieblichen Mitbestimmung im öffentlichen Dienst
— Drucksache 11/1411 —
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuß
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Ausschuß für das Post- und Fernmeldewesen
ZP 4 Beratung des Antrags der Fraktion der SPD Fortentwicklung des Bundespersonalvertretungsgesetzes
— Drucksache 11/1412 —
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuß
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Verteidigungsausschuß
Ausschuß für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit Ausschuß für Post- und Fernmeldewesen
Meine Damen und Herren, nach einer Vereinbarung im Ältestenrat sind für die Beratung 30 Minuten vorgesehen. — Ich sehe keinen Widerspruch; dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache erst dann, wenn die Kolleginnen und Kollegen sich entweder setzen und die Gespräche einstellen oder den Saal verlassen. —
Ich darf die Kolleginnen und Kollegen noch einmal ermahnen, entweder Platz zu nehmen und die Gespräche einzustellen oder den Saal zu verlassen. Das gilt für alle Mitglieder des Hauses. —
Ich habe nicht die Absicht, die Beratungen fortzusetzen, wenn meinen Anweisungen nicht Folge geleistet wird. Meine Damen und Herren, ich möchte einmal deutlich sagen, wir bekommen von den Besuchern und Beobachtern unserer Debatten draußen pausenlos Anrufe, auch Kritik an der Führung des Amtes der Präsidenten, weil sie nicht für Ordnung im Hause sorgen. Ich bitte einfach um Verständnis dafür im Interesse des Ansehens des Parlaments, daß man wenigstens den Anweisungen folgt.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Kappes.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Koalitionsfraktionen von CDU/ CSU und FDP legen Ihnen eine Initiative zur Änderung des Bundespersonalvertretungsgesetzes vor, die drei Ziele verfolgt: Erstens eine Neuregelung des Wahlvorschlagsrechts für die Wahl zur Personalvertretung, zweitens eine Änderung des Verfahrens zur Freistellung von Personalratsmitgliedern von dienstlichen Aufgaben, drittens eine Verlängerung der Amtszeit der derzeitigen Jugendvertretung.
Lassen Sie mich diese vorgesehenen Änderungen des geltenden Rechts kurz erläutern und zugleich begründen.
Das Bundesverfassungsgericht hat in einer Entscheidung vom 16. Oktober 1984 festgestellt, daß das bis dahin geltende Unterschriftenquorum für die Gültigkeit von Wahlvorschlägen in Höhe eines Zehntels, also von 10 % der wahlberechtigten Gruppenangehörigen mit Art. 3 Abs. 1 des Grundgesetzes, also mit dem Gleichheitssatz, unvereinbar und damit nichtig sei. In der Folge — dieser Zustand gilt bis heute — reichten die Unterschriften von drei Wahlberechtigten aus, um einen gültigen Wahlvorschlag einzureichen. Der darin liegenden Gefahr der Stimmenzersplitterung, der Gefahr einer Auflösung der Personalvertretung in Zirkel und Grüppchen, die weniger das gemeinsame Interesse der Beschäftigten als das ihrer eigenen Klientel vertreten, muß nach unserer Auffassung begegnet werden. Deshalb sollen künftig Wahlvorschläge von Beschäftigten grundsätzlich von mindestens einem Zwanzigstel der wahlberechtigten Gruppenangehörigen unterzeichnet sein. In jedem Falle aber wird die Unterzeichnung durch 50 Wahlberechtigte ausreichen.
Die Wahlvorschläge der Gewerkschaften, meine Damen und Herren, sollen allerdings von einem derartigen Quorum befreit sein. Sie sollen lediglich der Unterschrift von zwei Beauftragten bedürfen, die Beschäftigte der Dienststelle sein und einer in der Dienststelle vertretenen Gewerkschaft angehören müssen. Dadurch stärken wir die Stellung der Gewerkschaften bei den Personalratswahlen. Uns würde daher wundern, wenn dieser Änderungsvorschlag vielleicht ausgerechnet von Gewerkschaften als „diskriminierend" oder als „Zersplitterung der Personalratsinteressen" oder ähnlich betrachtet würde. Im übrigen besteht dieses Wahlvorschlagsrecht der Gewerkschaften bereits in zehn von elf Bundesländern seit langem ohne jede Beanstandung. Wir leisten also auch einen Beitrag zur Rechtsvereinheitlichung in Bund und Ländern.
Wer hinter diese Regelung zurück will, d. h. alle Wahlvorschläge von Gewerkschaften und von Beschäftigten wieder an ein Quorum binden will, sollte ehrlich bekennen, daß er durch Sammlung möglichst aller Unterschriften der Wahlberechtigten für seinen Vorschlag verhindern möchte, daß es überhaupt kon-
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Dr. Kappes
kurrierende Listen gibt. Er sollte also unmißverständlich erklären, daß er für seine Gewerkschaft eine Monopolstellung will.
Insoweit schützt unser Entwurf Minderheiten bei den Wahlvorschlägen. Die freie Entscheidung des Wählers, der auch bei den Personalratswahlen der Souverän ist, bleibt nicht nur unangetastet, sie wird sogar besonders geschützt.
Minderheiten schützen wir auch, wenn künftig für Freistellungen von Personalratsmitgliedern von ihren dienstlichen Aufgaben für die Arbeit im Personalrat der Grundsatz der Verhältniswahl gilt. Schließlich kann ja nicht richtig sein, daß z. B. der Wahlvorschlag einer Gewerkschaft 51 % der Stimmen, die Gewerkschaft aber 100 % der Freistellungen erhält. Dieses Verfahren entspricht nicht unseren Vorstellungen von Demokratie oder Gleichbehandlung im Betrieb oder in der Verwaltung. Im übrigen wird auch die Sitzverteilung im Personalrat nach den Grundsätzen der Verhältniswahl errechnet. Es ist also kein Grund ersichtlich, bei der Freistellung von Personalratsmitgliedern anders zu verfahren, es sei denn, jemand wollte eine den Wettbewerb ausschließende Alleinvertretung.
Meine Damen und Herren, nicht zuletzt wollen wir auch, wie im Bereich der Betriebsverfassung, für die Bundesverwaltungen die Amtszeit der gewählten Jugendvertretungen bis längstens zum 30. November 1988 verlängern. Bis zu diesem Zeitpunkt werden wir einen Gesetzentwurf zur Bildung von Jugend- und Auszubildendenvertretungen in den Verwaltungen einbringen. Danach sollen die Jugendvertretungen in Jugend- und Auszubildendenvertretungen umgewandelt werden, die sowohl die Belange der jugendlichen Beschäftigten als auch die der volljährigen, aber noch in der Ausbildung befindlichen Beschäftigten gegenüber dem Personalrat vertreten.
Zusammenfassend möchte ich feststellen, daß unser Entwurf für eine Änderung des Bundespersonalvertretungsgesetzes die Personalvertretungen stärkt. Wir hoffen auf eine zügige Beratung, damit die Änderungen des Rechts noch für die Personalratswahl 1988 wirksam werden können.
Zum Schluß noch ein Wort an die SPD zu ihrem als Zusatzpunkt eingebrachten Entschließungsantrag zur Fortentwicklung des Bundespersonalvertretungsgesetzes. Über einiges werden wir, jedenfalls nach meiner Auffassung, sicher noch miteinander zu reden haben. Aber natürlich können wir einem so weitgehenden Papier nicht kurzerhand zustimmen. Wir werden diesen Antrag also ablehnen. Der Überweisung Ihres Gesetzentwurfs in die zuständigen Ausschüsse werden wir natürlich zustimmen.
Vielen Dank.
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Hämmerle.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die SPD-Bundestagsfraktion bringt hier und heute erneut ihren Gesetzentwurf zum Ausbau und zur Sicherung der betrieblichen Mitbestimmung im öffentlichen Dienst ein. Fortschreitende Rationalisierungsbestrebungen auch im Bereich des öffentlichen Dienstes, die verstärkte Einführung und Anwendung neuer Techniken einschließlich der Personaldatenverarbeitung werden nur unzureichend durch die bisherigen Mitbestimmungs- und Mitwirkungsrechte erfaßt. Eine gesetzliche Regelung zur Erweiterung der Mitbestimmungsrechte der Personalräte besonders in diesen Bereichen ist daher vordringlich.
Nicht nur im Bereich der privaten Wirtschaft, sondern auch im öffentlichen Dienst ist eine Entwicklung im Gange, durch einen kapitalintensiven Einsatz von Technik Personal einzusparen und Arbeitsprozesse durchzurationalisieren. Tendenzen, Arbeitnehmer noch besser zu überwachen und zu kontrollieren, gibt es auch hier.
Es wäre der falsche Weg, die modernen technologischen Entwicklungen als Teufelswerk pauschal zu verdammen. Im Gegenteil, wer sich in einer Phase raschen wirtschaftlichen und technischen Wandels den Blick für die Proportionen frei hält, muß feststellen, daß die Technik auch weiterhin die Voraussetzungen für die Existenzfähigkeit unserer Gesellschaft schaffen muß. Aber sie darf — und darauf kommt es uns an — aus ihrer dienenden Funktion nicht in eine herrschende treten.
Wir müssen immer wieder versuchen, die technisch, politisch, kulturell und menschlich gewollten Ziele miteinander in Einklang zu bringen.
Besondere Bedeutung hat in diesem Zusammenhang die Mitbestimmung. Mitbestimmung ist auch im öffentlichen Dienst ein Stück Verwirklichung des demokratischen Sozialstaatsprinzips.
Mitbestimmung lähmt die Verwaltung nicht. Im Gegenteil, qualifizierte Mitbestimmung der Beschäftigten und ihrer Personalräte ist eine Garantie dafür, daß der gesamte öffentliche Dienst seine dienende Funktion gegenüber der Allgemeinheit leistungsstark erfüllt.
Mitbestimmung muß beispielsweise ausgebaut werden in den Fragen der Arbeitsorganisation und der Gestaltung des Arbeitsplatzes sowie bei allen sozialen und personellen Maßnahmen.
Unser Gesetzentwurf trägt Grundpositionen der SPD Rechnung. Wir vertreten die Auffassung, daß Demokratie nicht lediglich ein Organisationsprinzip des Staates ist, das auf die Gesellschaft nicht übertragbar sei. Demokratie ist vielmehr eine Lebensform, die die Eigenverantwortung des einzelnen und sein Recht auf persönliche Entfaltung in den Mittelpunkt aller menschlichen Beziehungen stellt. Das Berufsleben darf nicht außerhalb dieses Grundsatzes bleiben. Wir wollen daher mehr Demokratie in Gesellschaft und Betrieb, damit in unserem Staat die Demokratie verankert bleibt und lebendiger wird. Wir sind überzeugt, daß in einer Welt des wachsenden Wandels zunehmend mehr Mitverantwortung und Mitbestimmung erforderlich ist und verwirklicht werden wird.
3144 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 46. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. Dezember 1987
Frau Hämmerle
Dieser Grundsatz gilt auch für die Einführung der elektronischen Datenverarbeitung; denn die elektronische Datenverarbeitung ist ein Mittel, um eine Aufgabe zu erledigen, aber sie ist nicht die Aufgabe an sich. Die Art und Weise der Erledigung der zugewiesenen Aufgaben ist die Domäne der Mitbestimmung. Es ist daher konsequent, wenn die Einführung der elektronischen Datenverarbeitung in die Mitbestimmung einbezogen wird. Wir lehnen es ab, die Beteiligung der Personalräte zu einer bloßen Alibifunktion herabzuwürdigen und sie zu einer sozialen Feuerwehr zu machen.
Selbstverständlich, Herr Kollege Kappes, haben wir keine Einwände, daß alle mit unserem Gesetzentwurf zusammenhängenden verfassungsrechtlichen Fragen nochmals gründlich geprüft werden. Unser Gesetzentwurf enthält aber auch Konsequenzen aus der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 16. Oktober 1984; denn nach unserem Entwurf soll geregelt werden, daß jeder Wahlvorschlag künftig von mindestens einem Zwanzigstel der wahlberechtigten Gruppenangehörigen, jedoch von mindestens drei und höchstens hundert Wahlberechtigten unterzeichnet sein muß. Damit wird den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts Rechnung getragen.
Der Koalitionsentwurf enthält allerdings nach unserer Auffassung demgegenüber einen überzogenen Minderheitenschutz, der die einheitliche Interessenvertretung schwächen und die Arbeitsfähigkeit der Personalräte beeinträchtigen kann. Ich erinnere Sie in diesem Zusammenhang daran, daß Regelungen aus dem Betriebsverfassungsgesetz, die von der Koalition zur Verstärkung der Minderheitenrechte in den Betrieben angestrebt wurden, bereits in der vergangenen Wahlperiode in einer Anhörung des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung in seltener Einmütigkeit von Wissenschaftlern, DGB, DAG und anderen als überflüssig und mißlungen abgelehnt worden sind.
Wir halten es aber für gut und vernünftig, daß die Koalition bereit ist, die beiden Gesetzentwürfe in aller Ruhe und entsprechend ihrer Bedeutung in den Ausschüssen zu beraten, und deshalb beantragen wir hier zu beiden Gesetzentwürfen eine Anhörung.
Zur Jugend- und Auszubildendenvertretung: Wie bereits am 13. November dieses Jahres durch den Kollegen Andres hier im Plenum dargelegt wurde, sind wir mit einer Verlängerung der Amtszeit, wie Sie sie eben angeführt haben, auf November 1988 einverstanden. Die SPD-Fraktion hat bereits in der letzten Legislaturperiode und erneut mit Datum vom 14. Oktober 1987 einen Gesetzentwurf vorgelegt, in dem alle Probleme, die mit der Schaffung der Jugend- und Auszubildendenvertretung zusammenhängen, in ausgezeichneter Weise geregelt sind. Ich nenne zur Erinnerung nur kurz die wesentlichsten Punkte: Die Jugendvertretung wird zu einer Jugend- und Auszubildendenvertretung ausgeweitet. Dies ist deshalb notwendig, weil durch Verlängerung der allgemeinen Schulpflicht, durch den Ausbau der Vollzeitberufsschulen, durch das Berufsgrundbildungsjahr und andere Gegebenheiten das Alter, in dem eine Ausbildung begonnen wird, häufig über dem 18. Lebensjahr liegt. Jugend- und Auszubildendenvertretungen sollen in allen Betrieben mit mindestens fünf jugendlichen Arbeitnehmern gewählt werden, die das 18. Lebensjahr noch nicht erreicht haben oder die sich als Auszubildende in einer beruflichen Ausbildung befinden und noch nicht 25 Jahre alt sind. Außerdem wollen wir, daß die Jugend- und Auszubildendenvertretung weiterhin dem Betriebsrat bzw. Personalrat bei der Vertretung ihrer Belange untergeordnet bleibt. Die übrigen Inhalte können Sie unserem Gesetzentwurf entnehmen; ich habe nicht genügend Zeit, sie hier auszuführen.
Neben den bereits angesprochenen Gesetzentwürfen bringen wir heute einen Antrag zur Fortentwicklung des Bundespersonalvertretungsgesetzes ein. Wir sind der Meinung, daß das Personalvertretungsrecht wie das Betriebsverfassungsrecht umfassend fortzuentwickeln sind. Mit diesem Antrag soll die Bundesregierung gebeten werden, bis zum 1. Juni 1988 einen Bericht über die Erfahrungen mit dem Bundespersonalvertretungsgesetz sowie Vorschläge zur Fortentwicklung vorzulegen. Wir beantragen — wir hoffen, daß Sie da mitgehen können —, auch diesen Antrag in die Ausschüsse zu überweisen.
Danke schön.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Richter.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zur Debatte stehen Gesetzentwürfe der CDU/ CSU und der FDP einerseits und der SPD andererseits. Beide Gesetzentwürfe zum Bundespersonalvertretungsgesetz sehen erhebliche Veränderungen des am 1. April 1974 in Kraft getretenen Gesetzes vor, mit dem im wesentlichen die Beteiligungsrechte der Personalvertretung in personellen und sozialen Angelegenheiten erweitert wurden und die Stellung der Jugendvertretung und des Vertrauensmannes der Schwerbehinderten gestärkt wurde. Außerdem wurden Vertrauensmänner von ausländischen Bediensteten eingeführt und der Kündigungsschutz für Personalvertretungsmitglieder verstärkt. Mit diesem Gesetz haben die Gewerkschaften eine stärkere Bedeutung, zugleich aber auch eine höhere Verantwortung erhalten.
Die FDP hat bei der Verabschiedung des Gesetzes besonderen Wert darauf gelegt, daß Minderheiten geschützt werden und der öffentliche Dienst in seiner Handlungsfähigkeit nicht eingeschränkt wird. Deshalb haben wir auch damals darauf hingewiesen, daß das Bundespersonalvertretungsgesetz nicht am Betriebsverfassungsgesetz gemessen werden kann. Öffentliche Verwaltungen sind nicht mit wirtschaftlichen Unternehmen vergleichbar. Ihre besondere Aufgabenstellung, aber auch das besondere dienstrechtliche Verhältnis von Fürsorgepflicht des Dienstherrn einerseits und Treuepflicht des Beamten andererseits gebieten hier eine Unterscheidung. Deshalb wird die FDP auch diesmal wie schon 1974 das Ansinnen der SPD ablehnen, die Mitbestimmung im öffentlichen
Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 46. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. Dezember 1987 3145
Richter
Bereich möglichst genauso zu regeln wie die Mitbestimmung im privaten Bereich.
Der von der SPD vorgelegte Gesetzentwurf ist wortgleich mit dem, den die SPD bereits in der vergangenen Legislaturperiode vorgelegt hatte. Der Entwurf erinnert in einer Vielzahl von Punkten auch an das hessische Personalvertretungsgesetz vom 11. Juni 1984, das der rechtlichen Prüfung durch das Bundesverfassungsgericht nicht standgehalten hat, weil alle Mitwirkungs- und Mitbestimmungstatbestände letztlich zu einem Verlust der Verantwortungsfähigkeit des Behördenleiters und zu einer Einschränkung der Befugnisse der gewählten Volksvertreter bei ihren Entscheidungen geführt hätten.
Der Ausbau der Mitbestimmung der Personalvertretung findet seine Grenze im Demokratie- und Gewaltenteilungsgrundsatz. Er darf deshalb nicht dazu führen, daß den politisch Verantwortlichen solche Befugnisse entzogen werden, die sie haben müssen, um selbständig und in eigener Verantwortung gegenüber der Bevölkerung und dem Parlament ihre Funktion erfüllen zu können.
So sieht etwa der SPD-Entwurf eine Mitbestimmung — zwar eingeschränkt, aber immerhin — bei der Vergabe oder Privatisierung von Arbeiten oder Aufgaben vor, die bisher durch die Beschäftigten der Dienststelle wahrgenommen werden. Art und Umfang der staatlichen Aufgabenerfüllung gehören aber zum Kernbereich der Staatsgewalt. Hier geht es um eine zentrale Frage des Berufsbeamtentums.
Das Bundesverfassungsgericht hat in seiner Entscheidung vom 16. Oktober 1984 die Wahlvorschriften von § 19 Abs. 4 Satz 2 und Abs. 5 für unvereinbar mit Art. 3 Abs. 1 des Grundgesetzes erklärt. Die Vorschriften, daß ein Zehntel der Wahlberechtigten die Wahlvorschläge unterzeichnen mußten, waren damit nichtig.
Der Gesetzgeber ist also aufgefordert, eine verfassungskonforme Neuregelung vorzunehmen. Die Fraktionen von FDP und CDU/CSU legen einen Gesetzentwurf vor, wonach nunmehr ein Quorum von 5 % für Wahlvorschläge der wahlberechtigten Beschäftigten verlangt wird.
Bei den Personalratswahlen, die nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts stattgefunden haben, wurde § 19 des Bundespersonalvertretungsgesetzes bereits in der Form angewendet, die er durch den Beschluß des Bundesverfassungsgerichts erhalten hat.
Durch die Gesetzesinitiative der Koalitionsfraktionen wird das Bundespersonalvertretungsgesetz noch rechtzeitig vor den nächsten Personalratswahlen, die von März bis Mai 1988 stattfinden, geändert.
Das Bundespersonalvertretungsgesetz von 1974 hat zum Leitmotiv das Gebot der vertrauensvollen Zusammenarbeit zwischen Dienststelle und Personalvertretung im Zusammenwirken mit den in der Dienststelle vertretenen Organisationen. Der Gesetzgeber hat also deutlich zum Ausdruck gebracht, daß er keine einseitigen Interessenvertretungen will, daß er aber auch keine einseitige, nur die Interessen der Dienststelle berücksichtigende Vorgehensweise wünscht.
Das Verhältnis zwischen Personalvertretung und Dienststelle bedarf auch in Anbetracht der Tatsache, daß öffentliche Verwaltungen vermehrt neue Technologien anwenden, der ständigen Überprüfung. Dabei muß immer wieder geprüft werden, ob und wie die Beteiligungsverfahren effektiver gestaltet werden können.
Abschließend noch eine kurze Bemerkung zum Gesetzentwurf zur Verlängerung der Amtszeit der Jugendvertretungen. Von seiten der Koalitionsfraktionen ist deutlich gemacht worden, daß eine langfristige Regelung notwendig ist. Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf wird die bisherige Jugendvertretung in eine Jugend- und Auszubildendenvertretung umgewandelt. Damit wird sichergestellt, daß alle Auszubildenden, also auch alle Anlernlinge, Praktikanten, Umschüler und Volontäre, im Gegensatz zum bisherigen Recht bis zum Alter von 24 Jahren nicht nur das passive, sondern auch das aktive Wahlrecht zu den Jugend- und Auszubildendenvertretungen besitzen.
Trotz der damit verbundenen Kosten für die Betriebe und trotz der Bedenken, daß ein Teil der Arbeitnehmer sowohl zum Betriebsrat wahlberechtigt bleibt als auch zur Jugend- und Auszubildendenvertretung wahlberechtigt wird, haben wir dem Gesetzentwurf zugestimmt. Damit ist es für uns allerdings unerläßlich, daß es — im Gegensatz zum SPD-Entwurf — ansonsten bei der bewährten Regelung des Betriebsverfassungsgesetzes und der darin enthaltenen Aufgabenverteilung zwischen Betriebsrat und Jugend- und Auszubildendenvertretung bleibt.
Im Interesse der Absicherung von Minderheiten sollen künftig die Jugend- und Auszubildendenvertretungen wie bisher schon der Betriebsrat nach den Grundsätzen der Verhältniswahl gewählt werden.
Vielen Dank.
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Krieger.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es hat lange genug gedauert, bis CDU/CSU und FDP ihren Gesetzentwurf zur Bildung von Jugend- und Auszubildendenvertretungen vorgelegt haben. Nun besteht dieses gloriose Werk fast ausschließlich aus redaktionellen Änderungen. Dafür wäre es nun wirklich nicht notwendig gewesen, daß wir vor einigen Wochen die Amtszeit der bestehenden Jugendvertretungen eigens verlängert haben.
Daß die Jugendvertretungen in Jugend- und Auszubildendenvertretungen umgewandelt werden sollen, darüber besteht seit geraumer Zeit Einvernehmen unter den Fraktionen. Aber mindestens ebenso wichtig ist die damit verbundene Ausweitung der Mitwirkungs- und Beteiligungsrechte der Jugend- und Auszubildendenvertretungen. Genau dies fehlt aber in
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Frau Krieger
Ihrem Entwurf. Die Jugend- und Auszubildendenvertreter und -vertreterinnen brauchen das Recht, Arbeits- und Ausbildungsplätze zu begehen und zu besichtigen. Der Kündigungsschutz für Jugend- und Auszubildendenvertreter muß verbessert werden. Beides fehlt in Ihrem Entwurf.
Weiterhin: Eine Herabsetzung der Mindestzahl der in einem Betrieb notwendigen jugendlichen Arbeitnehmer bzw. Auszubildenden für die Einrichtung einer Auszubildendenvertretung von fünf auf drei ist notwendig, damit auch in kleinen Betrieben eine entsprechende Interessenvertretung von Jugendlichen und Auszubildenden ermöglicht wird. Dieser Vorschlag fehlt bei Ihnen. Nebenbei bemerkt fehlt er auch im Gesetzentwurf der SPD-Fraktion. Ich frage Sie: Warum eigentlich?
Noch ein Punkt: Warum folgen Sie nicht der Forderung des DGB, die Wahl von Jugend- und Auszubildendenvertretungen nicht an die Existenz eines Betriebsrats zu koppeln? Es gibt überhaupt keinen Grund für eine solche Koppelung, es sei denn, man möchte die Bildung von Jugend- und Auszubildendenvertretungen erschweren. Diesen Vorwurf müssen Sie sich dann allerdings auch gefallenlassen.
Die notwendige Ausweitung der Mitbestimmungsrechte fällt bei Ihnen also völlig unter den Tisch. Statt dessen wollen Sie das Verhältniswahlrecht einführen. Das ist ja auch ein zentraler Punkt bei Ihren Änderungsvorschlägen zum Personalvertretungsgesetz. Ihre Vorstellungen von der CDU/CSU und der FDP lassen sich unter dem Motto zusammenfassen: Die gelben, die Spaltergewerkschaften sollen kräftig gefördert werden, und eine wirksame Interessenvertretung der Beschäftigten soll nach Möglichkeit erschwert werden, das alles dann unter dem Deckmäntelchen des Minderheitenschutzes. Diese Absicht lehnen wir GRÜNEN ab.
Allerdings muß ich in diesem Zusammenhang auch noch etwas zu den Praktiken einiger Gewerkschaften sagen. Bei einigermaßen fortschrittlichen Gewerkschaften ist es in der Regel ja kein Problem, daß bei der Listenaufstellung auch unterschiedliche Positionen berücksichtigt werden. Aber bei einigen — ich nenne z. B. einmal die IG Chemie — gibt es auch durchaus sehr undemokratische Praktiken. Aus diesem Grund sind auch wir GRÜNEN dafür, Minderheitenschutz zu verstärken. Allerdings möchte ich betonen: Mit denjenigen, deren Hauptinteresse es offensichtlich ist, gewerkschaftliche Rechte und gewerkschaftliche Kampfkraft zu destruieren, haben wir nichts gemeinsam.
Bei Ihrem Gesetzentwurf zum Personalvertretungsgesetz besteht ganz ähnlich wie bei dem zu den Jugend- und Auszubildendenvertretungen der eigentliche Skandal in dem, was nicht darin steht. Da ist nämlich vor allem die Ausweitung von Mitbestimmungsrechten dringend notwendig. Statt dessen zielen Sie nur auf die Schwächung gewerkschaftlicher Interessenvertretung. Beide vorliegende Gesetzentwürfe von Ihnen sind für uns deshalb nicht akzeptabel.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Müller .
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Am 13. November hatte ich Ihnen anläßlich der Verabschiedung des Gesetzes zur Verlängerung der Amtszeit der Jugendvertretungen in den Betrieben einen Gesetzentwurf der Koalitionsfraktionen zur Umwandlung der Jugendvertretungen in Jugend- und Auszubildendenvertretungen angekündigt.
Heute, drei Wochen später, Herr Kollege Andres, beraten wir in erster Lesung diesen Entwurf, der den veränderten Bedingungen der Arbeitswelt Rechnung trägt und der die Vertretung der Jugendlichen und Auszubildenden stärken soll.
In der Debatte am 13. November sind die wesentlichsten Gründe, die eine Umwandlung der Jugendvertretungen in Jugend- und Auszubildendenvertretungen erfordern, von mir vorgetragen worden. Ich brauche diese nicht mehr im einzelnen zu wiederholen und sage nur: Es besteht eindeutig Handlungsbedarf. Wenn wir nichts tun, drohen die derzeitigen Jugendvertretungen auszutrocknen.
Ihre Zahl ist ohnehin rückläufig. Diesen Trend müssen wir stoppen.
Im Entwurf meiner Fraktion gibt es jedoch in der Sache einige entscheidende Unterschiede zum Entwurf der SPD. Ich möchte in wenigen Thesen unsere Position verdeutlichen.
Erstens. Wir wollen die Auszubildenden bis zum vollendeten 24. Lebensjahr einbeziehen, da immer mehr Auszubildende bereits über 18 Jahre alt sind, wenn sie in die Arbeitswelt eintreten.
Zweitens. Nach unseren Vorstellungen sollen auch die volljährigen Auszubildenden bis zum 24. Lebensjahr das Wahlrecht zum Betriebsrat behalten. Sie sind sowohl für die neue Jugend- und Auszubildendenvertretung als auch für den Betriebsrat wahlberechtigt und wählbar. Sie bekommen ein Doppelwahlrecht.
Drittens. Wir halten fest an der Einheit von Betriebsrat und Jugend- und Auszubildendenvertretung. Das heißt, dort, wo es keinen Betriebsrat gibt, kann es auch keine eigenständige Jugend- und Auszubildendenvertretung geben.
Die Philosophie des Betriebsverfassungsgesetzes von
1972 besagt: Die Jugendvertretung ist ein unselbstän-
Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 46. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. Dezember 1987 3147
Müller
diges vom Betriebsrat abhängiges Gremium ohne eigene Beteiligungsrechte gegenüber dem Arbeitgeber.
Viertens. Zur Verbesserung der Chancen von Minderheiten unter den jugendlichen Arbeitnehmern und Auszubildenden soll die Jugend- und Auszubildendenvertretung nach den Grundsätzen der Verhältniswahl gewählt werden. Meine Damen und Herren, wir lehnen das Festhalten am Mehrheitswahlrecht ab. Nach unseren Vorstellungen dürfen qualifizierte Minderheiten von der Mitwirkung in den Betrieben nicht ausgeschlossen bleiben. Das widerspricht unserem Demokratieverständnis.
Fünftens. Beim Ausbau von Einzelrechten der Jugend- und Auszubildendenvertretung und ihrer Mitglieder wollen wir streng in der Systematik des Betriebsverfassungsgesetzes bleiben. So lehnen wir die von der SPD geforderte generelle Abkoppelung der Jugend- und Auszubildendenversammlung von der Betriebsversammlung und ein selbständiges Einberufungsrecht der Jugend- und Auszubildendenvertretung ab. Das kann nach geltendem Recht nur vor und nach der Betriebsversammlung und nur im Einvernehmen mit dem Betriebsrat möglich sein.
Meine Damen und Herren, wir werden in den Ausschußberatungen sorgfältig zu überlegen haben, wie künftig das Abhalten von Sprechstunden und wie eine Erweiterung des Arbeitsplatzbegehungsrechts geregelt werden können. Ein für uns noch ungelöstes Problem sind die vielen Ein-Personen-Jugendvertreter, die in ihrer Mehrfachbelastung als Arbeitnehmer, Auszubildender und Jugendvertreter oft überfordert sind.
Sechstens. Wir verlegen den Zeitraum für die Wahl vom Frühjahr auf den Herbst. Der Wahltermin wird künftig zwischen dem 1. Oktober und dem 30. November liegen.
Meine Damen und Herren, nachdem wir mit dem Vorschaltgesetz vom 13. November 1987 den nahtlosen Übergang von der Jugendvertretung zur Jugend-und Auszubildendenvertretung gesichert haben, wollen wir nunmehr in einem zweiten Schritt die materiellen Rechte der Jugend- und Auszubildendenvertretungen stärken und ausbauen. Unsere Vorschläge stehen in Einklang mit der bewährten Konzeption des Betriebsverfassungsgesetzes. Die von der SPD angestrebten Ansätze zur Verselbständigung der Jugend- und Auszubildendenvertretung lehnen wir eindeutig ab.
Vielen Dank.
Meine Damen und Herren, ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Weiterhin soll der bereits in der 33. Sitzung am 15. Oktober 1987 behandelte Gesetzentwurf auf Drucksache 11/955 nachträglich noch dem Ausschuß für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit zur Mitberatung überwiesen werden. Gibt es anderweitige Vorschläge? — Das ist nicht der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Nachdem wir wohl schon mitgeteilt bekommen haben, daß die Tagesordnungspunkte 3 und 4 nach Tagesordnungspunkt 17 zur Beratung aufgerufen werden, rufe ich nun Punkt 5 der Tagesordnung auf:
a) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Raumordnungsbericht 1986
— Drucksachen 10/6027, 11/1173 —
Berichterstatter:
Abgeordnete Pesch Großmann
b) Beratung des Antrags der Fraktion der SPD Bauschäden
— Drucksache 11/343 —
Überweisungsvorschlag des Altestenrates:
Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau
Innenausschuß
Ausschuß für Wirtschaft
Ausschuß für Verkehr
Ausschuß für Forschung und Technologie
Ausschuß für Bildung und Wissenschaft
Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Haushaltsausschuß
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr.-Ing. Kansy, Ruf, Dr. Vondran, Schwarz, Pfeffermann, Sauer , Dr. Schroeder (Freiburg), Dörflinger, Ganz (St. Wendel), Dr. Stark (Nürtingen), Magin, Fuchtel, Seehofer, Dr. Hüsch, Dr. Möller, Dr. Götz, Oswald, Deres, Bayha, Börnsen (Bönstrup), Krey, Höffkes, Dr. Grünewald, Schemken, Schreiber, Müller (Wadern), Hinsken, Herkenrath, Wilz, Frau Geiger, Weiß (Kaiserslautern), Biehle, Nelle, Schulze (Berlin), Glos, Frau Dr. Wisniewski, Dr. Kunz (Weiden), Graf von Waldburg-Zeil, Müller (Wesseling), Kalisch, Doss, Hauser (Esslingen), Zierer, Carstensen (Nordstrand), Pesch, Link (Frankfurt), Dr. Schwörer, Niegel, Spilker, Reddemann, Dr. Czaja, Maaß, Werner (Ulm) und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Grünbeck, Nolting, Zywietz, Frau Dr. Segall, Dr. Feldmann und der Fraktion der FDP
Bauwerksschäden
— Drucksache 11/798 —
Überweisungsvorschlag des Altestenrates:
Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau
Ausschuß für Wirtschaft
Ausschuß für Verkehr
Ausschuß für Forschung und Technologie
Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Haushaltsausschuß
d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr.-Ing. Kansy, Frau Rönsch , Dr. Da-
3148 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 46. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. Dezember 1987
Vizepräsident Westphal
niels , Dörflinger, Niegel, Dr. Friedrich, Geis, Link (Frankfurt), Magin, Dr. Möller, Oswald, Pesch, Ruf, Dr. Schroeder (Freiburg), Seesing, Weiß (Kaiserslautern), Sauer (Stuttgart) und Genossen und der Fraktion der CDU/ CSU sowie der Abgeordneten Grünbeck, Nolting, Zywietz, Frau Dr. Segall, Dr. Feldmann und der Fraktion der FDP
Probleme hochverdichteter Neubausiedlungen aus den 60er und 70er Jahren
— Drucksache 11/813 —
Überweisungsvorschlag des Ältestenrates:
Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau
e) Beratung des Antrags der Abgeordneten Frau Oesterle-Schwerin, Frau Teubner und der Fraktion DIE GRÜNEN
Situation der Mieterinnen und Mieter in den Großsiedlungen der 60er und 70er Jahre
— Drucksache 11/1186 —
Überweisungsvorschlag des Ältestenrates:
Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau
Zu Tagesordnungspunkt 5 a — Raumordnungsbericht 1986 — liegen ein Änderungsantrag der Fraktion der SPD und ein Änderungsantrag der Fraktion DIE GRÜNEN vor, und zwar auf Drucksachen 11/1390 und 11/1393. Zu dem Änderungsantrag auf Drucksache 11/1393 — das ist der Änderungsantrag der Fraktion DIE GRÜNEN — ist namentliche Abstimmung verlangt worden.
Meine Damen und Herren, nach einer Vereinbarung im Ältestenrat ist für die gemeinsame Beratung dieses Tagesordnungspunktes eine Stunde vorgesehen. — Ich sehe dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Abgeordnete Pesch.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Im Raumordnungsbericht 1986 werden die im Bericht 1982 aufgezeigten Tendenzen im wesentlichen bestätigt. Der Raumordnungsbericht 1986 ist aktuell, und — das ist besonders hervorzuheben — er ist keine bloße Fortschreibung seiner Vorgänger. Dank an alle, die am Bericht 1986 mitgewirkt haben. Er beinhaltet eine exakte Bestandsaufnahme und zeigt klar Entwicklungstendenzen auf, die für die weitere Raumordnungspolitik von eminenter Bedeutung sind.
Schwerpunktartig werden die wirtschaftliche Situation und die Umweltproblematik analysiert. Hier spielt vor allem die unterschiedliche Entwicklung auf den regionalen Arbeitsmärkten eine große Rolle. Während in einigen Regionen, wie in Nordrhein-Westfalen, diese Entwicklung besonders ungünstig verläuft, konnte in anderen Regionen, nicht zuletzt durch die Nutzung der Förderpolitik des Bundes, ein Arbeitsplatzwachstum von bis zu 6 % erreicht werden.
Wir müssen aber leider feststellen, daß regionale Disparitäten eher größer denn geringer geworden sind. Wertschöpfungsintensivere Produktionsstätten werden nun einmal mehr im Süden der Bundesrepublik errichtet. Hier wäre eine Analyse der Ursachen gerade für das Land Nordrhein-Westfalen sehr entlarvend.
Hier pauschal von einem Süd-Nord-Gefälle zu sprechen, wäre zu undifferenziert, da sich auch innerhalb der einzelnen Regionen bzw. Bundesländer erhebliche Unterschiede feststellen lassen. Es geht hier sicherlich um sehr vielschichtige Zusammenhänge. Aber wohl niemand kann bestreiten, daß die jeweilige Landespolitik nicht aus der Verantwortung entlassen werden kann,
sondern gerade die Landespolitik ist einer der wichtigsten Faktoren für positive Entwicklungen.
Der Raumordnungsbericht zeigt die umfangreichen Leistungen des Bundes auf, die in den letzten Jahren erbracht worden sind, um den unterschiedlichen Entwicklungen in den einzelnen Regionen entgegenzuwirken. Ich nenne die Maßnahmen Stahlstandorte, die Maßnahmen für die berufliche Bildung oder die Förderung der regionalen Wirtschaftsstruktur.
Nun gibt es Bundesländer, die mit diesen Hilfen mehr anzufangen wissen, und Länder, die mit diesen Hilfen weniger anzufangen wissen. Zu den letzteren zählt leider Nordrhein-Westfalen. Wenn es schon herausragende Aufgabe der Raumordnung bedeutet, daß die Förderung der regionalen Wirtschaftsstruktur und auch die direkte Projektförderung im Bereich der Forschungs- und Technologiepolitik gerade den strukturschwachen Räumen in verstärktem Maße zugute kommen sollen, so werden gerade diese Möglichkeiten in Nordrhein-Westfalen nicht nur nicht wahrgenommen, sondern technologische Entwicklungsmöglichkeiten durch Ausstiegsszenarien in vielen Bereichen von vornherein verbaut.
Der Bund hat eine wichtige Komplementärfunktion: durch gezielte Finanzbeiträge — auf die spezifischen Entwicklungsbedürfnisse der Fördergebiete abgestellt — Ungleichgewichte innerhalb der einzelnen Regionen und zwischen den einzelnen Regionen auszugleichen.
Der Geburtenrückgang bzw. der Bevölkerungsrückgang verschärft die Konkurrenz zwischen Verdichtungsräumen und ländlichen Räumen um das Bevölkerungspotential. Von großer Bedeutung für die Raumordnungspolitik sind die Auswirkungen in den Veränderungen der Altersstruktur und deren Verteilung auf die einzelnen Regionen.
Mit der Bodenschutzkonzeption ist eine wichtige Grundlage zum Schutz des Bodens geschaffen worden, die dazu beitragen wird, die Siedlungsentwicklung stärker mit dem Ressourcenschutz in Einklang zu bringen.
Hier einige Stichworte: Innenentwicklung der Städte schützt naturnahe Flächen in den Außenbereichen; Integration des Städtebauförderungsgesetzes in das Bundesbaugesetz, hier: gesetzliche Grundlagen
Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 46. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. Dezember 1987 3149
Pesch
zur Beschränkung der Landschaftsinanspruchnahme; Grundsätze der Bauleitplanung; Stadt- und Dorferneuerung unter Umweltgesichtspunkten; flächensparende Bauweise.
Umweltschutz und Landschaftsinanspruchnahme können immer weniger isoliert voneinander betrachtet werden. Das eine darf ohne das andere nicht mehr möglich sein. Hier hat für den Umweltschutz Vorrang zu gelten, wenn wesentliche Beeinträchtigungen der Lebensverhältnisse der Bevölkerung drohen oder auch die langfristige Sicherung der natürlichen Lebensgrundlagen gefährdet ist.
Mögliche Anzeichen einer einseitigen Konzentration auf bestimmte, wachstumsstarke Verdichtungsräume sind sehr genau zu beobachten, weil eine solche Entwicklung siedlungsstrukturellen, regionalwirtschaftlichen und bevölkerungsmäßigen Ausgleichszielen entgegenstehen, aber auch dem Boden- und Ressourcenschutz zuwiderlaufen würde.
Hervorzuheben ist, daß gegenwärtig mehr als 1 000 Städte und Gemeinden nach dem Städtebauförderungsgesetz gefördert werden. In 1986 konnten mehr als 500 Gemeinden neu in das Programm auf genommen werden. Trotz mancher Unkenrufe werden die Städtebauförderungsmittel weiter fließen.
Der Bundesverkehrswegeplan hat drei Kriterien in den Vordergrund gestellt: a) die Standortverbesserung strukturschwacher und peripherer Gebiete, b) die bessere Anbindung und Verbindung bestimmter Mittel- und Oberzentren, c) die Entlastung von Verdichtungsräumen, z. B. durch großräumige Umfahrungen.
Von entscheidender Bedeutung ist die Versorgung der Bevölkerung mit Infrastrukturleistungen, zum Beispiel durch den Ausbau der neuen Informations-und Kommunikationstechniken. Die Individualkommunikation der Wirtschaft — gerade in ländlichen Räumen — spielt in der Zukunft eine immer größere Rolle.
Ich glaube, in einem Punkt sind wir uns alle einig: Angesichts zukünftiger Herausforderungen und zu deren Bewältigung ist es dringlicher denn je, konkurrierende Raumnutzungsansprüche aufeinander abzustimmen und im Sinne eines vorbeugenden Umweltschutzes die Wirksamkeit der Raumordnungsinstanzen auf allen Ebenen zu stärken.
Der neue raumordnungspolitische Handlungsbedarf besteht für sechs wesentliche Aufgabenfelder: erstens bei der räumlichen Verteilung der Bevölkerung, zweitens in der Siedlungs- und Städtebaupolitik, drittens in der Umweltpolitik, viertens in der Wirtschafts- und Beschäftigungspolitik, fünftens in der Agrarpolitik, sechstens in der Infrastrukturpolitik.
Wir haben in unserem Entschließungsantrag vier Punkte aufgelistet, wo nach unserer Meinung besonderer Handlungsbedarf besteht:
Erstens. Novellierung des Raumordnungsgesetzes. Hier stehen insbesondere zwei Fragen an: Wie sind die raumwirksamen Fachplanungen stärker in die Programme und Pläne der Raumordnungs- und Landesplanungen einzubinden? Wie kann der Bund, ohne Zuständigkeiten für den jeweiligen Verwaltungsvollzug, der Raumordnungspolitik organisatorisch und inhaltlich verbesserten Stellenwert durch Konkretisierung, Umsetzung und Weiterentwicklung der programmatischen Schwerpunkte der Raumordnungspolitik einräumen?
Zweitens. Politik für den ländlichen Raum. Herr Kollege Kansy wird nachher ausführlicher als ich darauf eingehen. Der ländliche Raum muß ökonomisch und kulturell gesichert bleiben und dort, wo er es nicht mehr ist, gesichert werden. Wir wollen und werden uns nicht mit leergeräumten Räumen abfinden.
Drittens. Regionale Strukturpolitik. Diese Politik muß den Sorgenkindern der Republik gelten: den ländlichen Regionen, dem Zonenrandgebiet, den altindustrialisierten Räumen. Hier müssen wir uns doch fragen: Gehen die unterschiedlichsten Förderprogramme noch Hand in Hand? Hier müßten doch die einzelnen Instrumentarien der Förderung einmal überprüft werden. Hier ist nach der Effektivität sowie den räumlichen Auswirkungen dieser Instrumentarien zu fragen. Hier fordern auch wir eine wirkungsvollere Mitwirkung des Raumordnungsministers bei den raumbedeutsamen Maßnahmen der Bundesregierung.
Viertens. Forschungs- und Technologiepolitik. Unsere Forderung: Alle Regionen müssen Zugang zu modernen Kommunikationstechnologien erhalten. Dies gilt auch für die regional gleichberechtigte Versorgung, Bedienung und Tarifstruktur im Bereich des Post- und Fernmeldewesens. Dies sind die Rahmenbedingungen, um einen raschen wirtschaftlichen Strukturwandel in den betroffenen Regionen voranzutreiben.
Unsere Forderungen an zukünftige Raumordnungsberichte, vor allem an den Bericht 1990 sind, ausführlich und mit besonderer Aufmerksamkeit das Zonenrandgebiet zu begleiten und in der Beurteilung der Situation in den ländlichen Räumen noch stärker zu differenzieren und die grenzüberschreitende Zusammenarbeit ihrer immer größer werdenden Bedeutung entsprechend zu beachten.
Wir erwarten im Bericht 1990 eine ausführliche Berichterstattung über Tendenzen und Auswirkungen des großräumigen Gefälles zwischen den einzelnen Regionen, aber auch über die Verwerfungen innerhalb von einzelnen Regionen, verbunden mit einer Analyse der Bevölkerungsentwicklung.
Der im Grundgesetz vorgesehene Auftrag der Sicherung und Herstellung gleichwertiger Lebens- und Arbeitsbedingungen kann nur dann erfüllt werden, wenn raumbedeutsame Maßnahmen exakt abgestimmt und dafür vorgesehene Mittel zielgerecht eingesetzt werden.
Ständig sich verändernde Rahmenbedingungen sind eine stete Herausforderung an die Raumordnungspolitik.
Ich danke Ihnen.
Das Wort hat der Abgeordnete Großmann.
3150 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 46. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. Dezember 1987
Herr Präsident! Meine Kolleginnen und Kollegen! Der von der Bundesregierung vorgelegte Raumordnungsbericht 1986 gibt in der Tat ein umfangreiches und detailliertes Bild der verschiedenen Berichtsbereiche während der letzten Jahre.
Oberstes Leitziel von Raumordnungspolitik — darin erinnere ich — ist die Herstellung gleichwertiger Lebensbedingungen in allen Regionen. An diesem hohen Ziel gemessen, kann nach der Lektüre dieses Berichts nur ein Urteil möglich bleiben: Eine verantwortliche Raumordnungspolitik findet unter dieser Bundesregierung nicht mehr statt.
Die Beweise dafür sind erdrückend. Die Disparitäten in vielen Bereichen nehmen zu. Das Süd-NordGefälle verstärkt sich besorgniserregend. Die Lebensbedingungen im städtischen Raum einerseits und den peripher ländlichen Regionen andererseits driften immer weiter auseinander. Die altindustriellen Räume und Regionen sind besonders betroffen.
Außer dem Bundesbauminister haben sich auch mehrere Kabinettsmitglieder aus der aktiven Raumordnungspolitik verabschiedet.
Die verschiedenen Fachpolitiken versäumen nicht nur ihre Chance, sondern sie vernachlässigen ihre Pflicht.
Das kann man an einigen Beispielen nachweisen. Wir wissen ja sowieso, daß der Bundesbauminister lieber die Werke der Weltliteratur liest als seinen Kabinettskollegen die raumordnungspolitischen Leviten.
— Zur Zeit liest er Zeitung.
Ich will einmal einige Beispiele nennen, die beweisen, in welcher Form die einzelnen Fachpolitiken hier versagen. Im Bereich Forschung und Technologie heißt es — ich zitiere wörtlich — :
Hingegen ist sowohl der absolute wie auch der relative Rückgang der Fördermittel in den altindustrialisierten Regionen sehr ausgeprägt.
Damit verfestigt sich der Eindruck, daß politische Entscheidungen oft nicht nach objektiven Kriterien, erst recht nicht nach raumordnungspolitischen Erwägungen getroffen werden, sondern mehr oder weniger nach dem Zufallsprinzip oder vielleicht frei nach dem Motto: Welchem Ministerpräsidenten müssen wir denn die Wiederwahl ermöglichen? Wer soll ein Bonbon dafür kriegen, daß er mit der Steuerreform doch Vorlieb nimmt?
Welcher Ministerpräsident paßt uns nicht in den politischen Kramladen?
Im Bereich der Landwirtschaft — ich zitiere jetzt noch einmal wörtlich — „wachsen die interregionalen Einkommensdisparitäten weiter" . Auf gut Deutsch heißt das: Die Bauern einer Region werden reicher; die Bauern in anderen Regionen werden ärmer.
— Das steht im Raumordnungsbericht. Sie können es gerne nachlesen.
Die Bundesregierung doktert am Symptom herum. Ergebnislose Nachtsitzungen in Brüssel verkleinern keineswegs die Probleme unserer Bauern. Sie vergrößern allenfalls die Ringe unter den Augen unseres Landwirtschaftsministers.
Im Bereich Umwelt stößt man auf zunehmende Probleme bei der Belastung des Bodens, der Luft und des Wassers. Schleichende Grundwasserbelastungen, fortschreitendes Waldsterben, zunehmender ungezügelter Landschaftsverbrauch sind die Stichworte dazu.
In der Verkehrspolitik wird die Erschließung in der Fläche immer problematischer. Die Bundesbahnplanung findet überhaupt nicht unsere Zustimmung.
Am schlimmsten aber wiegen die Versäumnisse der Bundesregierung in den Bereichen der Beschäftigungspolitik, der Finanz- und der Wirtschaftspolitik.
Über zwei Millionen Arbeitslose warten vergeblich auf wirkungsvolle Maßnahmen zur Bekämpfung ihrer Arbeitslosigkeit. Die Städte und Gemeinden in altindustriellen Regionen werden mit ihren Problemen alleine gelassen. Das Wort Arbeitslosigkeit, meine Kolleginnen und Kollegen von der Koalition — wen wundert es —, kommt in Ihrem Antrag überhaupt nicht vor. Die altindustriellen Regionen werden nur in einem Nebensatz erwähnt.
Wie wenig die Bundesregierung aus den Fehlern und Versäumnissen der letzten Jahre gelernt hat, zeigen die jüngsten Beschlüsse. Noch in der Haushaltswoche sind hier eine Reihe von prominenten Regierungsmitgliedern vor das Mikrofon getreten und haben flammende Reden über die Richtigkeit der Tatsache gehalten, daß sie nichts tun. Wenige Tage danach schustern dieselben ein Investitionsprogramm — ich möchte sagen: ein sogenanntes Investitionsprogramm — zusammen. Ich habe an dieses Programm einmal die Maßstäbe angelegt, die der Bundesbauminister selber formuliert hat.
Am 25. Juni habe ich den Bundesbauminister gefragt:
In welcher Form will die Bundesregierung der Forderung des Bundesministers für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau ... entsprechen, der Raumordnung einen verstärkten Zugriff auf investive Mittel zu ermöglichen?
Die Antwort interessiert Sie bestimmt alle sehr. Denn da heißt es:
Es ging und es geht darum, daß bei den investiven Entscheidungen, die die Bundesregierung
Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 46. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. Dezember 1987 3151
Großmann
trifft, die raumwirksamen Konsequenzen dieser Entscheidungen im Hinblick auf regionale Ungleichgewichte besonders bedacht werden.
Der Bundesraumordnungsminister wird deshalb den Gesichtspunkt der Raumwirksamkeit von Investitionen künftig verstärkt in den Entscheidungsprozeß einbringen.
Jetzt bitte ich Sie: Schauen Sie sich einmal das neue sogenannte Investitionsprogramm an. Nichts von dem, was der Herr Minister Schneider dort formuliert hat, wird umgesetzt. Im Gegenteil: Die nach dem Gießkannenprinzip verteilten Mittel werden die räumlichen und regionalen Disparitäten weiter verstärken.
Dazu schreibt die „Westfälische Rundschau" vom gestrigen Tage — ich zitiere — :
Das Kreditprogramm soll bei den Kommunen jene Gelder lockermachen, die eben diesen Kommunen ab 1988 und 1990 durch die Steuerreform entzogen werden.
Diese Politik ist nicht nur widersprüchlich, sie hat auch alle Aussicht, konjunkturpolitisch zum Rohrkrepierer zu werden. Denn jene Städte, die finanzielle Hilfen am dringendsten benötigen, sind so ausgelaugt, daß sie sich auch einen zinsverbilligten Kredit gar nicht mehr leisten können.
Die besser ausgestatteten Gemeinden hingegen, die Umweltschutz auch aus eigener Kraft betreiben können, erhalten von Bonn auch noch stattliche Zinssubventionen.
— Soweit das Zitat der „Westfälischen Rundschau".
Wir von der SPD fragen Sie, Herr Bundesbauminister: An welcher Stelle findet man in diesem neuen sogenannten Investitionsprogramm die von Ihnen genannte Raumwirksamkeit dieser Investitionen? Ist der Bundesbauminister vielleicht gar nicht gefragt worden? Was hält er von dem Gießkannenprinzip, das erneut die bessergestellten Städte und Gemeinden bevorzugt?
So beweist nicht nur der Raumordnungsbericht über die letzten vier Jahre, sondern gerade auch das aktuelle politische Handeln der Bundesregierung, daß die oft formulierten hehren Ziele der Raumordnungspolitik nur Muster ohne Wert sind. So wird der Raumordnungsbericht zu einem Dokument unsolidarischer Politik, die eher Räume gegeneinander ausspielt, als dafür sorgt, daß benachteiligte Regionen durch gezielte Politik die Chance bekommen, wirklich gleichwertige Lebensbedingungen zu schaffen.
Der Änderungsantrag der SPD zeigt unter Punkt 2 die Schritte einzeln auf, die nötig wären, um Raumordnungsziele an diesem Leitziel „gleichwertige Lebensbedingungen" wirklich zu orientieren und damit wirklich Instrumente zu schaffen, die dies realistisch ermöglichen.
Ihrer besonderen Aufmerksamkeit empfehle ich schließlich den letzten Spiegelstrich unter Punkt 3 unseres Änderungsantrages. Dort sind Forderungen zusammengetragen, die darauf hinzielen, daß man die Mitwirkung des Raumordnungsministers im Kabinett verbessert, damit er seinem gesetzlichen Koordinierungsauftrag wirkungsvoller nachkommen kann. Weiterhin ist dort angesprochen, daß wir dafür sind, daß er eine volle Mitgliedschaft im Planungsausschuß bekommt, wo über die Gemeinschaftsaufgaben debattiert wird. Dieser Satz stammt wortwörtlich aus dem ersten Antrag der Koalition, also der CDU/CSU und der FDP. Diese Forderung bedeutet aber nichts anderes, als daß man den Wachhund zum Einbrecher tragen muß, damit er bellt. Die Koalition hat den Text denn auch sehr schnell kassiert und durch eine wachsweiche Formulierung ersetzt.
Zweifel an der inhaltlichen Kompetenz des Bundesbauministers hatte ich bereits angemeldet. Ob er seinem jetzigen gesetzlichen Koordinierungsauftrag nachkommt oder nachgekommen ist, muß nach dem Studium des Raumordnungsberichtes zumindest bezweifelt werden. Daß aber die Raumordnungspolitik im gesamten Bundeskabinett nicht ernstgenommen wird, zeigt der Vorgang, daß selbst leichte Positionsverbesserungen eines Ministers bei der Durchsetzung seines politischen Auftrags abgeblockt werden.
Wir bieten da als SPD unsere Hilfe an und haben deshalb gerne den Satz aus Ihrem ersten Antrag übernommen. Das ist ein Grund mehr für Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen der Koalition, unserem Änderungsantrag zuzustimmen. Besonders werden wir dabei natürlich auf das Votum des Bundesbauministers achten.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
Bevor ich das Wort weitergebe, möchte ich mitteilen, daß der Antrag auf namentliche Abstimmung über den Antrag auf Drucksache 11/1393 zurückgezogen worden ist.
Jetzt hat der Abgeordnete Grünbeck das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wenn man die Reden unserer Opposition über die Struktur unserer Raumordnung hört, dann könnte man meinen: Dieses Land ist in einem einzigen elenden Zustand, und wir müssen nichts anderes als beklagen. Sie verkennen dabei zwei Dinge:
Erstens haben Sie sehr lange, 13 Jahre lang, den Raumordnungsminister gestellt. Sie würden Ihrer eigenen Geschichte ein schlechtes Zeugnis ausstellen, wenn Sie weiter so demagogisch in der Landschaft
3152 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 46. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. Dezember 1987
Grünbeck
herumpolemisierten, wie Sie das bisher gemacht haben.
Zweitens empfehle ich Ihnen einmal, durch die Landschaft zu fahren. Fahren Sie einmal über unsere Grenzen hinaus, und suchen Sie sich einmal ein Land, das von der Raumordnung und von der Baupolitik her so in Ordnung ist wie diese Bundesrepublik Deutschland. Das muß man doch einmal herausstellen.
Dennoch verkennen wir nicht die Ziele der Raumordnung, nämlich gleichrangige und gesunde Lebensbedingungen anzustreben. Daß dabei der strukturelle Wandel eine große Rolle spielt, wissen wir. Die Kriterien sind, daß wir in der Bundesrepublik ein Nord-Süd-Gefälle haben und daß wir ein starkes Gefälle zwischen den Ballungsräumen und den ländlichen Räumen haben bei einer rückläufigen Bevölkerungszahl. Daß diese Probleme nicht einfach zu bewältigen sind und daß die Freien Demokraten einer Novelle zum Raumordnungsgesetz zustimmen, bedarf keiner Überlegungen.
Nur eines hätte ich gern heute einmal — über alle Parteigrenzen hinweg — erwähnt. Wann immer wir Raumordnungsprogramme machen und sie dann in tatsächliche Standorte umsetzen wollen, sobald es zu Entscheidungen vor Ort über eine Kläranlage, eine Deponie oder eine Umgehungsstraße oder was auch immer kommt, dann fangen wir an — —
— Wenn Sie wüßten, wieviel Unordnung in Ihrer Fraktion ist! Ich würde Sie bitten, einmal Ihre eigenen Papiere zu studieren, aber doch nicht die Raumordnung in Frage zu stellen. Sie, die GRÜNEN, sind nämlich die ersten, die sich dann, wenn es zu einer Entscheidung über irgendeinen Standort kommen soll, an die Spitze der Protestaktion stellen und sagen: Hier nicht. Aber Sie sagen nicht wo.
Das ist, glaube ich, keine Verantwortung für eine demokratische Mehrheitsfindung. Die demokratische Mehrheitsfindung müßte endlich einmal so stattfinden — aber wir wissen, daß wir dabei auf die GRÜNEN nicht zählen können; ich zähle jedoch auf die anderen demokratischen Parteien — , daß wir uns bei Standortplänen nicht auseinandertricksen lassen und nicht gegeneinander, sondern miteinander die Sachargumente abwägen und dann zu einer gemeinsamen Entscheidung stehen. Sonst werden wir mit verschiedenen Programmen und insbesondere mit Raumordnungsprogrammen nicht nach vorne kommen. Das ist eine entscheidende Frage.
Die Länder haben Rechte, aber auch Pflichten, die Kommunen ebenso. Wir werden diese Dinge mit Ihnen gemeinsam abwägen.
Ich möchte noch einen zweiten Schwerpunkt erwähnen. Das ist die immer bedeutender werdende Frage der Verkehrspolitik. Ich glaube nicht, daß mit der augenblicklichen Politik der Deutschen Bundesbahn die ländlichen Räume in ihrer Funktion überhaupt gestärkt oder gar erhalten werden können.
Ich muß Ihnen ehrlich gestehen: Es kann nicht wahr sein, daß wir Güterbahnhöfe und Stückgutstützpunkte in den ländlichen Räumen gefährden, denn dann sind die Ansiedlungschancen für bestimmte Industriebereiche, die auf Gleisanschlüsse oder Stückgutverkehr angewiesen sind, gleich Null. Diese Ansiedlungsstandorte scheiden von vornherein aus dem Wettbewerb für neue Arbeitsplätze aus. Wir können auf die Dauer gesehen die Ballungsräume nicht ständig stärken und auf der anderen Seite den ländlichen Raum austrocknen. Das wäre dann wirklich eine schlechte Raumordnungspolitik.
Ich kann eines überhaupt nicht verstehen. Es gibt in allen Parteien Leute, die reden z. B. dem Transrapidsystem das Wort. Wenn wir das in Deutschland einführen, dann würden nur noch die Ballungsräume miteinander verbunden, und die Anschlußbedingungen der ländlichen Räume könnten gar nicht mehr hergestellt werden. Sie werden dann schneller von München nach Hamburg kommen, aber Sie werden keine Reisenden mehr darin haben, weil die Menschen aus den ländlichen Räumen den Anschluß an dieses System nicht bekommen.
Wir brauchen eine eindeutige Konzeption in der Verkehrspolitik zur Erhaltung der Struktur in den ländlichen Räumen. Ich hoffe, daß alle Fraktionen daran mitwirken.
— Ich rede für meine Fraktion und maße mir nicht immer an, daß ich für die Bundesregierung zu reden habe.
In diesem Zusammenhang ist auch die Bedeutung eines geordneten Flugverkehrs hervorzuheben. Ich glaube nach wie vor, daß der Flugverkehr der entscheidende Faktor für die Verbindung von Ballungsräumen ist. Das funktioniert auch. Allerdings bekomme ich bei den Raumfahrtprogrammen manches Bauchweh. Wenn es da oben im Weltraum so weitergeht, dann werden wir eines Tages aus dem Raumordnungsbericht herausgehen und einen Weltraumordnungsbericht erstellen müssen. Aber das ist ein anderes Gebiet.
Ich möchte ein Wort noch zu Forschung und Technologie sagen. Herr Minister, ich bin Ihnen dankbar, daß Sie im Raumordnungsbericht das Kapitel über Forschung und Technologie mit aufgenommen haben, insbesondere weil ich glaube, daß in allen Räumen — in den Ballungsräumen und in den ländlichen Räumen — die Zusammenarbeit zwischen Wis-
Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 46. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. Dezember 1987 3153
Grünbeck
senschaft und Wirtschaft, zwischen Schule und Betrieb, zwischen Berufsfindung und Berufsberatung und Berufsvermittlung besser funktionieren muß. Denn eines müssen wir wissen: Jeder Raumordnungsbericht wird überflüssig, wenn wir nicht zu einer ausgewogenen Struktur der Beschäftigung kommen. Wir brauchen in allen Räumen die Chancen zur Arbeit. Daran sollte sich unser Ziel eigentlich ausrichten.
Noch ein Wort zum kommunalen Umweltschutz. Ich hätte die große Bitte, daß wir auch beim kommunalen Umweltschutz den Mut zu privatisierten Lösungen haben. Wir müssen weg von den Großtechnologien, wir müssen zu einer Verzahnung von großen und kleinen Technologien kommen, die im ländlichen Raum ganz anders strukturiert sein müssen als etwa in den Ballungsräumen.
Im Grundsatz steht die FDP-Fraktion zu den Zielen des Raumordnungsberichtes, nämlich die Lebensbedingungen überall gleichrangig und gesund zu gestalten.
Das ist eine zentrale Aufgabe der Raumordnung, das bedingt eine große Verantwortung. Aber wir alle übernehmen wohl gern die Verpflichtung, auch gegenüber der jungen Generation, die Raumordnung so zu gestalten, daß die Zukunftserwartungen unserer jungen Generation insoweit gefestigt werden, daß wir ihre Lebensgrundlagen nicht jetzt plündern, sondern auch für die nächsten Generationen erhalten.
Herzlichen Dank.
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Teubner.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Eine Vorbemerkung zu dem Topf, der in dieser Stunde hier zusammengemischt worden ist, wo wieder einmal das Ressort des Herrn Schneider beraten wird. Herr Westphal hat ja selbst etwas Probleme, zu glauben, daß heute hier über den Raumordnungsbericht — 150 Seiten — , Bauwerksschäden, Probleme der hochverdichteten Neubausiedlungen und die Situation der Mieterinnen und Mieter in den Trabantenstädten insgesamt beraten werden soll. Das geht einfach nicht.
Ich finde es auch schon eine Zumutung, es sich von den Mitgliedern des Ältestenrats bieten zu lassen, hier so etwas zusammenzumischen und dann hier in 60 Minuten insgesamt abzuhandeln.
— Wir werden dafür sorgen, daß beim nächsten Mal genügend Zeit für jedes dieser wichtigen Themen eingeräumt wird.
Ich beschränke mich deshalb auch auf den Raumordnungsbericht.
Der Maßstab der künftigen Raumordnung ist das Fahrrad.
Dies ist, meine Damen und Herren, nicht, wie Sie jetzt vielleicht meinen, einer von den erzfundamentalgrünradikalen Sprüchen, nein, „Der Maßstab der künftigen Raumordnung ist das Fahrrad", das war das Motto des Raumordnungsberichts in unserem Nachbarland Holland vor knapp zehn Jahren, 1978.
Vordergründig mag dies vielleicht als reichlich verkürzte Sichtweise erscheinen, geht es bei der Raumordnung doch letztlich um die Gestaltung, zumindest die Mitgestaltung und Entwicklung der wirtschaftlichen, ökologischen, sozialen und politischen Rahmenbedingungen des Lebens in allen Räumen eines Landes, in städtischen Ballungsgebieten ebenso wie in dünnbesiedelten, schwach strukturierten Regionen abseits der wirtschaftlichen Zentren des Bundesgebietes.
Für alle diese unterschiedlichen Räume soll das Fahrrad zum Maßstab werden? — Ich will das erklären.
— Das Fahrrad. — Ich will nur noch einmal an den schönen Auftrag des Raumordnungsgesetzes von 1965 erinnern. Demnächst kriegen wir ja ein noch schöneres, ein neues Raumordnungsgesetz. In allen Teilen der Bundesrepublik seien gesunde und gleichwertige Lebensbedingungen zu schaffen und zu erhalten, hieß es damals. Wäre dieser Auftrag erfüllt worden, müßte ich heute — gleich ob ich in Tuttlingen, Mannheim oder Freiburg wohne — Lebensbedingungen vorfinden, die in einem für mich überschaubaren — ich komme auf das Fahrrad zurück —, also mit dem Fahrrad erreichbaren Bereich es mir ermöglichen, an meinen Arbeitsplatz zu kommen und mich mit dem zu versorgen, was ich zum Leben brauche.
Dazu gehören neben gesunder Nahrung und Kleidung auch Kultur-, Bildungs-, Freizeit- und Erholungsangebote sowie soziale Einrichtungen. Nicht nur die, die in Tuttlingen, Mannheim oder Freiburg wohnen, wissen, daß dem so nicht ist.
Die Raumordnungspolitik in der Bundesrepublik hat ihr zentrales Ziel verfehlt. Was wir feststellen — das stellt auch dieser Bericht fest — , ist die Aufteilung des Raumes in attraktive Zentren mit sogenannter hochwertiger Infrastruktur und vielseitigen Arbeitsplätzen einerseits und andererseits Regionen, die von diesen Zentren abhängig sind, in denen die Menschen immer schwerer Möglichkeiten zum Leben und Arbeiten finden, Regionen, die zur „Provinz" im römischen Sinn geworden sind. Sie sind Nahrungs- und Rohstofflieferanten für die Metropolen und gleichzeitig Schuttplatz der Industriegesellschaft geworden.
3154 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 46. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. Dezember 1987
Frau Teubner
Sie sind gut für die Ansiedlung von Giftindustrien, von Mülldeponien, von Flugplätzen, von Teststrecken, von Truppenübungsplätzen, von Raketendepots, für die AKWs und für die WAA.
Zwischendrin
gibt es vielleicht noch ein paar Reservate für Feuchtwiesen oder andere schöne Biotope für die bedrohte Tier- und Pflanzenwelt, zur Erbauung der erholungssuchenden Touristen aus der Stadt. Diese Funktionstrennung, meine Damen und Herren, erinnert mich doch stark an Kolonialismus.
Auf die Ursachen der Raumordnungspolitik kann ich wegen der Kürze der Zeit nicht eingehen. Der industrielle Wachstumswahn hat auch hier einen erheblichen Teil beigetragen.
Das Spannende ist nun aber die Frage: Warum hat dieses Thema auf einmal Konjunktur? Was ist auf einmal daran so interessant, daß der Europarat eine Zweijahreskampagne zum „Ländlichen Raum" macht, daß in Baden-Württemberg der ländliche Raum zu d e m Wahlkampfschlager geworden ist?
Nun, wann wachen Politiker meist erst richtig auf? Wenn man sie kräftig in den Allerwertesten tritt oder — um es gewaltfreier auszudrücken — wenn es plötzlich Akzeptanzprobleme für ihre Politik gibt.
Gott sei Dank sind die Zeiten vorbei, endgültig vorbei, wo man sich erlauben konnte, die Probleme der Verdichtungsräume einfach in solche Gebiete auslagern zu können, von denen man meinte, die Menschen dort würden sich nicht wehren. Nein, heute wehren sie sich. Die Bauern wollen ihren Minister Kiechle nicht mehr sehen; sie wollen ihre Felder weder von der Teststrecke in Boxberg zerstören lassen noch vom Flughafen in Stuttgart auffressen lassen.
Und endlich, endlich, klingelt es bei den hohen Herren. Besonders spannend wird es jetzt natürlich, wenn diese Leute nicht nur nein sagen, sondern auch beschreiben, wie sie sich denn ganz konkret eine lebenswerte Zukunft für ihre „Provinz" vorstellen, so wie es die Vertreter von über tausend baden-württembergischen Gemeinden getan haben, die sich im Gemeindetag Baden-Württemberg einen Forderungskatalog ausdachten, in dem sie sehr genau u. a. auch beschreiben, was sie denn von dieser Bundesregierung erwarten, wenn die es wirklich ernst meint mit den gleichwertigen Lebensbedingungen in Stadt und Land.
Ich gehe mal optimistisch davon aus, daß hier unter Ihnen, meine Damen und Herren, viele sind, die es mit diesen gleichwertigen Lebensbedingungen auch ernst meinen. Sie haben jetzt die Chance, diesen guten Worten auch die Tat folgen zu lassen. Wir haben diese Forderungen des Gemeindetags übernommen. Wir haben sie nicht grün umgeschrieben und ihnen, abgesehen von Einleitung und Schluß, nichts hinzugefügt. Wir haben diese Forderungen mit einigen Kürzungen und ganz, ganz wenigen geringfügigen Änderungen übernommen und legen sie hier zur Abstimmung vor. Wir ersparen Ihnen die namentliche Abstimmung. Ich kann mir gut vorstellen, Herr Magin und Herr Kansy und die andern, daß Sie das sehr beruhigt. Es wäre sehr peinlich geworden, festzustellen, daß Sie hier die Forderungen dieser baden-württembergischen Kommunalvertreterinnen und -vertreter abschmettern. Vielleicht tun Sie es aber nicht. Sie haben es jetzt in der Hand, Kolleginnen und Kollegen. Enttäuschen Sie Ihre Basis nicht! Greifen Sie zu und stimmen Sie unserem Änderungsantrag zu.
Bevor ich das Wort weitergebe, muß ich noch ein bißchen politische Bildungsarbeit machen. Hier in diesem Saal können die Zuhörer durchaus gern einen Standpunkt haben und sich auch für diese oder jene Auffassung begeistern; aber das Beifallgeben ist uns hier unten vorbehalten.
Jetzt kommt Herr Dr. Kansy dran.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Frau Teubner, eine kollegiale Zwischenbemerkung: Wenn Sie hier schon wie vor drei Wochen Debatten für geschlechtsneutrale Formulierungen veranstalten, dann bitte ich doch darum, wenn Sie Politikern in den Allerwertesten treten wollen, daß Sie das auch mit Politikerinnen machen. Bei solchen Gelegenheiten können Sie diese Sachen dann einmal praktisch umsetzen.
— Und von hohen Damen, Herr Kollege Bötsch, Sie haben vollkommen recht.
Ich habe mich hier zu Wort gemeldet, um speziell noch einmal auf das Thema ländlicher Raum und auf Ihren Antrag einzugehen. Frau Kollegin, es ist tatsächlich so, daß diese Raumordnungsdebatte — auch für uns in der CDU/CSU-Fraktion in unverständlicher Weise — mit Bauschäden und Mieten und allem möglichen anderen vermixt wird, obwohl es ein elementares Thema ist. Schon zwanzigmal haben wir über Nicaragua und fünfzehnmal über Südafrika diskutiert; aber wenn es mal um solche zentralen Themen wie die Raumordnung geht, dann ist angeblich keine Zeit. Das Thema ländlicher Raum kommt zu kurz. Es ist uns nicht gelungen, die Aufmerksamkeit, die wir ihm geben wollten, dafür auch in unserem Ältestenrat zu wecken.
Aber auf der anderen Seite erweisen Sie uns, Frau Kollegin Teubner, einen Bärendienst, wenn Sie diese Thema so behandeln, daß Sie in aller Eile einen Entschließungsantrag zusammenmixen,
— Sie denken an 16 Seiten. Das ist unmöglich. — Ich freue mich, daß das zurückgezogen ist. Denn keiner kann über 15 Seiten namentlich abstimmen, egal, welcher inhaltliche Standpunkt vertreten wird. Das, glaube ich, sollten wir hier nie machen.
Jetzt kommt der Abgeordnete Müntefering.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich kritisiere die Reihenfolge der Redner hier heute morgen. Es scheint ein Problem zu sein, das sich in der letzten Zeit auch in anderen Fachbereichen einfrißt, daß die Bundesminister hier immer zum Schluß der Veranstaltung auftreten. Es wäre schon gut, wenn sich der Minister, wenn man hier über den Raumordnungsbericht der Bundesregierung spricht, vorher dazu geäußert hätte und man vielleicht auf das eine oder andere Argument eingehen könnte. Meine Empfehlung also an das Präsidium und alle, die da Einfluß nehmen können, und natürlich die Regierung, sich zukünftig ein bißchen anders in die Debatte einzumischen und nicht zum Schluß die Weisheit verkünden zu wollen.
3156 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 46. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. Dezember 1987
Müntefering
Es wäre wirklich an der Zeit, daß sich der Raumordnungsminister, der ein wichtiger Minister der Regierung sein sollte, äußerte. Die Entwicklungen in den verschiedenen Regionen der Bundesrepublik verlaufen erheblich unterschiedlich. Die Ungleichheiten nehmen zu. Die Zukunftschancen der Regionen sind unterschiedlich. Die Lebensbedingungen in den verschiedenen Regionen — ihre Gleichwertigkeit herzustellen, ist die Aufgabe der Raumordnung — entwikkelt sich unterschiedlich. Die schwache Konjunkturlage verschärft dieses Problem. — Der Raumordnungsminister müßte eigentlich in die Speichen greifen, z. B. bei dem Thema, das wir heute morgen in der Aktuellen Stunde behandelt haben, aber auch bei den Sorgen des ländlichen Raumes.
Die Regionen mit den hohen Beschäftigungsanteilen bei Landwirten und Werften, bei Stahl und Kohle haben Not, und sie müssen ankämpfen gegen die drohende weitere Zunahme der Arbeitslosigkeit. Bangemanns Marktphilosophie hilft da weiß Gott nicht weiter.
Das gilt für die altindustriellen Regionen, und das gilt für die ländlichen Regionen.
Zu diesen ländlichen Regionen ein paar Anmerkungen: Es klingt in den Reden des Raumordnungsministers manchmal so, als ob Raumordnung etwas sei, was sich ausschließlich mit den ländlichen Regionen befasse. Das ist falsch. Aber wir dürfen andererseits auch nicht die besonderen Probleme dieser Regionen vergessen. Ich meine damit auch nicht die ländlich strukturierten Regionen im Umfeld der großen Städte, sondern die wirklich großflächigen peripheren Bereiche, die aus eigener Kraft und auf sich allein gestellt handeln und bestehen müssen.
Was sind deren Probleme? Das sind einmal die hohe Arbeitslosigkeit und die besonders schwierigen Bedingungen, die die Unternehmer in diesen Regionen vorfinden. Es gibt dort tüchtige Unternehmer, kleine und große. Ich denke, manchmal haben die sich in der vergangenen Zeit der Konjunkturflauten sogar flexibler und ideenreicher erwiesen als die großen Kollegen Wirtschaftskapitäne bei den Konzernen.
Manchmal ist es sogar so, daß da sozialer reagiert und wirklich alles versucht wird, Entlassungen zu vermeiden, ehe man wirklich entläßt. Man kennt sich, und man entscheidet nicht vom grünen Tisch, über Vorstände und Aufsichtsräte. Das ist etwas, was uns in den ländlichen Regionen in den vergangenen Jahren bei den Problemen, die es zu bewältigen gab, geholfen hat und sicher auch weiter helfen wird.
Aber die Unternehmer in den ländlichen Regionen haben besonders schwierige Bedingungen. Sie haben — klein, mittel, groß, wie sie sind — kein Geld für teure und kontinuierliche Forschung, sie sind oft abgehängt von den neuen Entwicklungen, sie haben oft nicht einmal Gelegenheit zu Marktforschung und modernem Marketing.
Da ist keine Universität in der Nähe, mit der sie kooperieren können. Die Kommunikationstechnologien werden in diesen Regionen zuletzt zur Verfügung gestellt. Die Autobahn liegt nicht nebenan, trotzdem wird Zug um Zug die Bundesbahn ausgedünnt. Und nun die Pläne des Postministers. — Bisher ist es ja noch so, daß es, wenn es um Postzustellung geht, einigermaßen unerheblich ist, ob man nun in Düsseldorf oder Winterberg, in München oder Tirschenreuth seinen Betrieb hat. Aber das wird nicht so bleiben, wenn der gelbe Dienst der Post separiert wird.
Insgesamt gilt für die wirtschaftliche Zukunft der ländlichen Regionen: Sie werden nicht von irgendwelchen Töchtern großer Mütter gerettet werden, sondern sie müssen sich aus eigener Kraft helfen — zumal wir mit den großen Töchtern an vielen Orten schlechte Erfahrungen gemacht haben.
Da wollen wir unseren Beitrag leisten. Eine solche Hilfe zur Selbsthilfe wäre, wenn Sie, die Koalition, dem Antrag der Opposition, hier: der SPD, zustimmten, eine steuerfreie Investitionsrücklage in Kraft zu setzen. Das würde kleinen und mittleren Unternehmern helfen. Wir müssen Initiativen ergreifen, um einen Aufbau leistungsfähiger Technologiebanken für kleine und mittlere Unternehmen möglich zu machen.
Auch die Beratung der Unternehmen, wo man oft Tüftler und Macher, Finanz- und Verkaufsfachmann und -frau gleichzeitig sein muß, muß verbessert werden.
Existenzförderung bleibt nötig, nicht allein um solche Existenzen dort in den ländlichen Regionen möglich zu machen, sondern auch — das ist ein besonders wichtiger Aspekt für diese Regionen — um die jungen, innovativen und kreativen Menschen in diesen Räumen zu belassen,
um denen zu zeigen: Ihr habt auch in der Region, in der ihr geboren und aufgewachsen seid, eine Chance, euch beruflich zu betätigen und gute Dinge aufzubauen; denn zu viele von den jungen Menschen ziehen weg. Es ist nicht so, daß all die klugen Leute in München, Hamburg, Köln und Frankfurt auch dort geboren werden. Wenn diese jungen Leute und die, die in diesen großen Städten erfolgreich sind, bessere Rahmenbedingungen in den ländlichen Räumen gefunden hätten, hätten die auch da Gutes auf die Beine stellen können.
Zweites großes Problem der ländlichen Räume: Hier wird weniger verdient, die Erwerbsquote ist zumal niedriger, und dementsprechend niedrig ist der Anteil der Städte und Gemeinden an der Einkommensteuer. Deshalb haben wir in unserem Programm „Arbeit, Umwelt, Investitionen", das wir in dieser Woche vorgestellt haben, vorgeschlagen, generell einen höheren Anteil für die Gemeinden an der Einkommensteuer vorzusehen, aber so, daß in besonderer Weise diejenigen berücksichtigt werden, die auf Grund der hohen Arbeitslosigkeit besondere Lasten zu tragen haben. Das kann doch nicht so weitergehen, daß ge-
Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 46. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. Dezember 1987 3157
Müntefering
nau die Gemeinden mit den größten Sorgen im Bereich der Arbeitslosigkeit auch noch das meiste Geld, das sie eigentlich für Investitionen brauchten, aufwenden müssen, um sich dieser Aufgabe zu stellen. Deshalb unser Vorschlag, da etwas zu bewegen.
Wir schlagen vor, daß mehr Städtebauförderungsmittel gegeben werden, Herr Minister. Es ist wirklich blanker Unsinn, daß die Bundesregierung für das Jahr 1988 die Städtebauförderungsmittel um 340 Millionen DM kürzt, während wir alle wissen: Die Programme waren überzeichnet, die Programme sind überzeichnet, es gibt in den Städten und Gemeinden riesig viel zu tun, auch in den Dörfern.
Diese Mittel sollten also — bitte schön — auch in den Dörfern eingesetzt werden können. Wir wissen, daß im nächsten Jahr 50 000 oder 70 000 weitere Arbeitsplätze in diesem Bereich in Gefahr sind. Stimmen Sie doch um Gottes Willen unserem Antrag zu, diese Förderungsmittel für die Städte, aber auch außerhalb der förmlich festgelegten Sanierungsgebiete für die Dörfer aufzustocken.
Drittes großes Problem: Die Krise der Landwirtschaftspolitik treibt die ländlichen Räume in die Krise. Hier ist nicht Zeit für die Fachdebatte, aber klar ist doch wohl folgendes: Noch schlimmer als die akute Sorge um den einzelnen Betrieb ist die Wut vieler Landwirte, nun immer und immer wieder konzeptionsloses Geschachere an den grünen Tischen in Bonn und in Brüssel zu erleben und nicht zu wissen, wie es eigentlich weitergeht. Gerade auch im Bereich der Landwirtschaft haben wir festzustellen: Die jungen Leute gehen aus dem Beruf, aus der Region heraus, weil sie keine Perspektive mehr sehen.
Vierter Punkt: Der ländliche Raum hat viele natürliche Vorzüge und er ist damit ein Bereich, der als Naherholungs- und Urlaubsgebiet geeignet ist. Es ist klar, es gibt Grenzen der Belastung, die nicht überschritten werden dürfen. Es kann nicht um Zubau gehen, es muß um Nutzung der vorhandenen Kapazitäten gehen; aber die könnten besser genutzt werden, als es heute der Fall ist, und da kann auch die Politik helfen, da kann auch Bonn helfen. Bei Konzentration der Mittel, die für den deutschen Fremdenverkehr und Tourismus sowie für die Naherholung eingesetzt werden und bei einem zeitgemäßeren Marketing, als es heute der Fall ist, könnte der ländliche Raum nicht von der weißen Industrie leben, aber er könnte sein Standbein, das er da bisher hat, ein Stück verbessern.
Zum Schluß das Resümee — skeptisch, kritisch, aber nicht resignativ — : Die ländlichen Räume haben ausreichende Substanz für eine gute Zukunft aus eigener Kraft. Dabei muß die Politik ihnen helfen. Wir dürfen nicht nichts tun, so wie es der Raumordnungsminister in den letzten Jahren gehalten hat, der bei allen raumordnungspolitisch relevanten Entscheidungen nicht gehört und nicht gesehen worden ist. Da liegt der Hase im Pfeffer. Herr Kollege Kansy und liebe Kollegen von den GRÜNEN, der Raumordnungsminister muß stärker als bisher in die Entscheidung einbezogen werden — da unterstützen wir ihn — , aber er muß sein Wort sagen und seine Möglichkeiten nutzen, um auf die besonderen Probleme der Raumordnung hinzuweisen. Das ist die Erwartung, die wir an ihn richten.
Herzlichen Dank.
Das Wort hat der Herr Bundesminister für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich bedanke mich für die sorgfältige Lektüre des Raumordnungsberichts, ich bedanke mich für die Besorgnisse, die darauf gerichtet sind, der Raumordnungsminister müsse mehr Kompetenz erhalten, und ich bedanke mich auch dafür, daß man doch wesentliche Teile des Raumordnungsberichts sorgfältig studiert hat. In der Tat: Der Raumordnungsbericht mit 201 Druckseiten ist ein Zeitdokument, dem durchaus eine geschichtliche Aussagekraft zukommt. Hätte bereits der große Cäsar einen Raumordnungsbericht für das Römische Reich publiziert, könnten wir uns die Lektüre vieler römischer Schriftsteller ersparen; denn wir hätten aus einem solchen Raumordnungsbericht alles entnehmen können, was wir über die wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse in Rom vor 2000 Jahren erfahren wollten.
Raumordnungsbericht heißt Bericht über die Ordnung der Räume. Ordnung bedeutet ja bekanntlich Einheit in wohlgegliederter Vielheit. Der Raumordnungsbericht bedeutet also auch eine analytische Beschreibung dessen, was in den einzelnen Bundesländern, in den einzelnen Regionen und in den einzelnen Städten und Gemeinden vor sich geht.
Der Raumordnungsbericht muß natürlich berücksichtigen, daß dem Raumordnungsminister nur eine Rahmenkompetenz zusteht. Das ist so aus wohlverstandenem Interesse und mit Rücksicht auf unsere föderale Verfassungsstruktur. Man muß berücksichtigen — das ist in den bisherigen Ausführungen leider nicht geschehen; das kam auch heute morgen, als es um den Stahlstandort Nordrhein-Westfalen ging, nicht ausreichend zum Ausdruck — : Es gibt natürlich eine Rahmenverantwortung des Bundes. Der Bund ist dieser seiner Verantwortung nachgekommen, auch der Raumordnungsminister. Ich bin der erste Raumordnungsminister, der programmatische Schwerpunkte der Raumordnung vorgelegt hat. Dies wurde bereits am 30. Januar 1985 durch das Kabinett beschlossen.
Das Bundeskabinett hat sich damals in allen Einzelheiten mit diesen Fragen befaßt. Dort hat man den Raumordnungsminister durchaus angehört. Vieles, was er angeregt hat, ist in die einzelnen Ressortpoliti-
3158 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 46. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. Dezember 1987
Bundesminister Dr. Schneider
ken eingegangen, ist dort berücksichtigt worden und ist damit sichtbar.
Was haben wir denn damals gewollt? Ihnen ist ja dieser Brief zugestellt worden. Wir dürfen heute nicht nur an den Raumordnungsbericht denken, sondern müssen auch die Programmatischen Schwerpunkte der Raumordnung mit bedenken, mit berücksichtigen, mit bewerten.
Ich habe damals gesagt:
Wir haben drei Akzente gesetzt. Sie beschreiben die Räume, in denen in besonderem Maße Bemühungen um gesunde und gleichwertige Lebensbedingungen notwendig sind.
Zweitens. Sie enthalten Hinweise zur frühzeitigen Analyse und Bewertung der Auswirkungen von Planungen und Maßnahmen auf den Raum und ihre Verzahnung mit Umweltfragen.
Drittens. Die Schwerpunkte zeigen die konkreten Aufgaben, die sich für die Abstimmung der verschiedenen Fachpolitiken, also Umweltvorsorge, regionale Wirtschaftsförderung, Verkehr, Kommunikationstechnik, Städtebau- und Wohnungswesen, Bildung und Forschung, Landwirtschaft und Forschung, ergeben.
Niemand kann also sagen, man sei untätig gewesen. Wer diese 201 Seiten sorgfältig studiert hat, müßte ein ganz beachtliches Wissen, ein Problembewußtsein haben, das es ihm ermöglicht, tatsächlich ohne jede Polemik darüber zu reden.
Ich gehe jetzt im einzelnen darauf ein. Natürlich besteht ein großräumiges wirtschaftliches Entwicklungsgefälle, das aus Gründen der Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse nicht hingenommen werden kann. Natürlich haben wir ein Süd-Nord-Gefälle. Die wirtschaftliche Entwicklungsdynamik der letzten Jahre hat sich eindeutig auf bestimmte Verdichtungsräume der Mitte und des Südens konzentriert. Die Steuerkraft liegt in den dynamischen Verdichtungsräumen der Mitte und des Südens wesentlich über der vergleichbarer Räume in anderen Teilen des Bundesgebiets.
In den Bundesländern der Mitte und des Südens ist die Arbeitslosigkeit etwa halb so hoch wie im Westen und im Norden des Bundesgebiets.
Ich frage: Warum ist das so? Auch diese Frage hätte heute morgen gestellt werden müssen. Alle Leute wußten das doch. Gelegentlich darf man auch auf die Soziologen hören. Auch die Professoren soll man hier durchaus ernst nehmen. Sie haben uns vor 40 Jahren gesagt: Wir werden eine gewaltige, eine revolutionäre Verwandlung der einzelnen Tätigkeitsbereiche erleben. Es wurde vorausgesagt: Um die Jahrtausendwende werden 80 % aller Menschen im tertiären, im Dienstleistungsbereich beschäftigt sein. Es werden nur etwa noch 15 % im produktiven, im Sekundärbereich tätig sein, nur etwa 5 % im Primärbereich, in der Land- und Forstwirtschaft, auch im Bergbau und so fort. Wo sind denn also die Politiker in den Ländern und Gemeinden gewesen, die auf diese Prognosen, auf diese wirtschaftlichen Analysen, auf diese Leitbilder künftiger Entwicklungen achtgegeben haben?
Ich darf Ihnen sagen, es hat Bundesländer gegeben — eines kenne ich nun ganz besonders, ohne den Freistaat Bayern in besonderer Weise apostrophieren zu müssen — , da hat es rechtzeitig eine regionale Strukturpolitik gegeben. Da gab es eine Landesentwicklungspolitik.
Da gab es auch in den Großstädten eine kommunale Wirtschaftsförderung. Da gab es tüchtige Landräte und Bürgermeister, die rechtzeitig gesagt haben: Wir müssen uns umstellen.
Jawohl!
Warum glauben Sie denn, daß wir im Bayerischen Wald, in Westmittelfranken und anderswo mit unseren Problemen, die wir durchaus haben, fertig werden? Weil wir rechtzeitig regionale Strukturpolitik betrieben haben. In Nordrhein-Westfalen scheint dies nicht der Fall gewesen zu sein. Die haben geglaubt, die Schlote werden weiter so rauchen. Die haben nicht erlebt, was sich in Japan tut. Die haben nicht erlebt, was in Südkorea geschieht. Die haben nicht beachtet, was in Indien geschieht, daß dort neue Stahlwerke, die wir exportiert haben, gebaut werden und produzieren.
Meine Damen und Herren, ich weise darauf hin: 16 Jahre lang haben sozialdemokratische Kollegen die Verantwortung für die Bundesraumordnung getragen. Ich frage mich: Welche Akzente haben Sie gesetzt? Welche Anstöße gingen von Ihnen aus?
Welche Leitbilder haben Sie entworfen? Welche Ziele haben Sie formuliert? Was haben Sie getan, und was haben Sie unterlassen? Da treten die Herren hier auf
in der Robe, in der Toga des Anklägers. Sie müßten hier im Sündenkittel auftreten!
Meine Herren, wenn Sie es wollen, polemisch kann auch ich werden. Ich will aber zur Sache zurückkommen.
Meine Damen und Herren, es kann nicht Aufgabe des Bundes sein, einen gesunden Wettbewerb der Länder untereinander zu unterbinden. Erfolge und Mißerfolge der Länder werden gerade in der regionalen Strukturpolitik besonders deutlich. Daß wir in Baden-Württemberg und Bayern erfreuliche Verhältnisse haben,
Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 46. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. Dezember 1987 3159
Bundesminister Dr. Schneider
kommt doch nicht von ungefähr.
Da gab es doch rechtzeitige Planungen. Nordrhein-Westfalen, das Herzland der deutschen Industrialisierung, das Mutterland des sozialen Wohlstandes, hat beispielsweise lange Zeit als das Land gegolten, wo der Volkswagen schon ein Mercedes war. Da haben wir in Bayern noch rostige Fahrräder gehabt.
Da haben wir zu arbeiten begonnen. Heute ist es umgekehrt.
Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich bin gleich am Ende.
Meine Damen und Herren, die Bundesregierung tut auch etwas. Der Kabinettsbeschluß von gestern, beinhaltet ein Kreditvolumen von 21 Milliarden DM.
— Sie haben 17 Konjunkturprogramme gemacht
und 50 Milliarden DM Schulden. Am Ende hatten Sie 2 Millionen Arbeitslose.
Wir werden gezielte Maßnahmen, abgestimmt auf die internationalen währungs- und geldpolitischen Vorgänge, ergreifen.
Glauben Sie, unsere Dosis ist richtig gesetzt!
Unser Zinsverbilligungsprogramm wird seine Wirkung tun.
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, als ich das Amt angetreten habe vor fünf Jahren wieviel war da in der Kasse?
Null!
Und an Verpflichtungsermächtigungen? 220 Millionen DM! 1988 haben wir das Dreifache.
— Meine Damen und Herren, wir haben eine Sättigung. Wir bauen nicht deswegen weniger Wohnungen, weil wir dazu kein Geld mehr hätten, sondern
wir bauen deswegen weniger Wohnungen, weil die Nachfrage nicht mehr gegeben ist.
Wir müssen modernisieren, sanieren, wir müssen Stadt- und Dorferneuerung betreiben. Die Bundesregierung betreibt eine bedarfsbezogene Wohnungs-und Städtebaupolitik.
Meine Damen und Herren, alles in allem: Lesen Sie den Raumordnungsbericht. Studieren Sie ihn. Lesen Sie die programmatischen Schwerpunkte der zukünftigen Raumordnung. Studieren Sie aber nicht nur, sondern ziehen Sie daraus auch die richtigen Schlüsse.
Wir werden dann einen raumordnungspolitischen Pakt zwischen den Fraktionen haben, was uns allen, unseren Bürgern und den Arbeitnehmern, zugute kommen wird.
Meine Damen und Herren ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zunächst zur Abstimmung über Tagesordnungspunkt 5 a — Raumordnungsbericht 1986 — , und zwar zur Abstimmung über die hierzu vorliegenden Änderungsanträge. Wer stimmt für den Änderungsantrag der SPD auf Drucksache 11/1390?
— Wer stimmt dagegen?
— Eine knappe Mehrheit ist gegen den Antrag. Der Antrag ist abgelehnt. — Hier oben hat ein Präsident sogar schon gezählt.
Wer stimmt für den Änderungsantrag der Fraktion DIE GRÜNEN auf Drucksache 11/1393? Ich bitte um das Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Dann ist dieser Änderungsantrag mit großer Mehrheit abgelehnt.
Wir kommen nunmehr zur Abstimmung über die Beschlußempfehlung des Ausschusses für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau auf Drucksache 11/1173. Wer stimmt für die Beschlußempfehlung des Ausschusses? — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Dann ist diese Beschlußempfehlung mit Mehrheit angenommen.
Zu den Tagesordnungspunkten 5 b bis 5 e schlägt der Ältestenrat die Überweisung der Anträge an die in der gedruckten Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vor. Sind Sie damit einverstanden? — Die Überweisungen sind so beschlossen.
Meine Damen und Herren, ich darf Ihnen noch mitteilen, daß wir uns darauf geeinigt haben, vor der Mittagspause nicht mehr den Tagesordnungspunkt betreffend die Änderung des Gesetzes zur Errichtung einer Stiftung „Mutter und Kind — Schutz des ungeborenen Lebens" zu behandeln, sondern direkt nach der Mittagspause, aber über die Anträge und Tagesordnungspunkte, zu denen keine Debatte vorgesehen ist, noch vor der Mittagspause zu entscheiden.
3160 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 46. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. Dezember 1987
Vizepräsident Westphal
Ich rufe Punkt 6 der Tagesordnung auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Frau
Saibold und der Fraktion DIE GRÜNEN Reduzierung der gesundheitlichen Gefahren durch Tabakrauch
— Drucksache 11/563 —
Überweisungsvorschlag des Ältestenrats:
Ausschuß für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit
Ausschuß für Wirtschaft
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Im Ältestenrat ist für die Beratung ein Beitrag bis zu zehn Minuten für jede Fraktion vereinbart worden. — Ich sehe dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Frau Saibold hat als erste das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Erst heute, im Dezember, findet die erste Debatte in dieser Legislaturperiode zum Thema Rauchen statt, obwohl es in der Öffentlichkeit hohe Wellen schlägt. Im Spätsommer wurde die Zigarettenindustrie arg aufgeschreckt, wurden doch Teile eines Aktionsprogramms von Frau Süssmuth bekannt. Was aber ist daraus geworden?
Einige Hintergrundfakten sollen die Vorgänge verständlich machen.
Es ist bekannt, daß nicht nur Flick an die Nationalsozialisten gespendet hat; auch z. B. der Zigarettenhersteller Reemtsma hat den Aufstieg seiner Firma zum größten deutschen Zigarettenkonzern durch großzügige Spenden in die Parteikassen der NSDAP und von über 7 Millionen Reichsmark an Hermann Göring persönlich ermöglicht. Dies ist in Gerichtsakten festgestellt. 1948 erhielt er dafür eine Geldstrafe von 10 Millionen DM bzw. zehn Monaten Gefängnis.
Damit aber war die Sache nicht erledigt. Im August 1985 meldete das „Hamburger Abendblatt" , daß die Staatsanwaltschaft gegen leitende Mitarbeiter der Firma Reemtsma wegen Verdachts der Steuerhinterziehung ermittle. Nicht weniger als 6 Millionen DM soll diese Firma in den Jahren 1965 bis 1980 an — man höre — alle drei Bundestagsparteien gespendet haben. Daran lag es offensichtlich, daß z. B. 1973 eine geplant gewesene parlamentarische Anfrage zur Raucherproblematik der damaligen CDU/CSU-Gesamtfraktion plötzlich unterblieb. Auch keine der anderen Parteien machte jemals den ernsthaften Versuch, den Absatz von Tabakprodukten einzugrenzen, obwohl die gravierenden negativen Auswirkungen längst bekannt waren.
Hier wird wieder einmal ganz deutlich, wer Gesetze und Verordnungen bei uns bestimmt. Nichts ist offensichtlich so wirksam wie die Drohung einer Zuweisungskürzung. Diese Einnahmen der Parteien sind offensichtlich ein noch wichtigeres Argument für die Untätigkeit als die Steuereinnahmen von immerhin 15 Milliarden DM im Jahr.
Doch auch nach 1980 brachen die guten Beziehungen nicht ab. Denn die Firmensprecherin der Firma Reemtsma erklärte 1985 — ich zitiere — :
Seit Jahren erhalten Organisationen, die den staatstragenden Parteien nahestehen, Zuwendungen von uns. Gesellschaftliche Verantwortung hat bei uns Tradition.
Dieser „gesellschaftlichen Verantwortung" ist sicherlich der Mißerfolg jahrelanger, ernsthafter Bemühungen des ärztlichen Arbeitskreises „Rauchen und Gesundheit" und vieler anderer Gruppen zuzuschreiben, die einschränkende Verordnungen und Gesetze zu erreichen versuchten.
Im Sommer dieses Jahres jedoch trauten Gutinformierte kaum ihren Augen, als die Forderungen der streitbaren Gesundheitsministerin Süssmuth durch die Zeitungen geisterten. Vom Schutz der Jugendlichen, von Werbebeschränkungen, Rauchverboten in öffentlichen Räumen, Automatenabbau und ähnlichem war plötzlich die Rede.
All diese Forderungen stammten aus einem 51seitigen Aktionskatalog des Bundesministeriums, den die Mitglieder des Gesundheitsausschusses — trotz meines Antrages — übrigens bis heute nicht erhalten haben.
Besonders aufschlußreich ist aber bei dieser Gelegenheit, daß u. a. der Wirtschaftsrat der CDU e. V. dieses Aktionsprogramm schon Anfang Oktober an alle seine Mitgliedsverbände gesandt hat.
Erwartungsgemäß erhielt Frau Süssmuth dann gewaltigen Druck von Kohl und Geißler, der ja um die Stimmen seiner Tabakanbauer in der Pfalz fürchtet, bis hin zu Ferdinand Breidbach, ehemaliger CDU-Abgeordneter und jetziger PR-Mann bei Philipp Morris, dem Marlboro-Hersteller.
Wen wundert es denn dann noch, daß die für den Weltnichtrauchertag angekündigte große PR-Kampagne der Bundesregierung zu einer bescheidenen gesundheitspolitischen Pflichtübung degenerierte? Die Sache mit der Fluppe war ein Flop.
Die Zigarettenindustrie jedoch ging in die Gegenoffensive. Ihre großen Plakate mit dem Lambsdorff-Zitat waren am 16. November nicht zu übersehen: „Werbeverbote sind Ohrfeigen für die Verbraucher. " So also geht das politisch unverantwortliche Spiel weiter.
Die Werbetrommel wird auch in Zukunft kräftig gerührt. Kein Weg ist schließlich zu weit. Denn Freiheit, Abenteuer, Emanzipation und Streßbefreiung versprechen die Verkäufer des blauen Dunstes. Wer aber zum Glimmstengel greift, kommt dann so schnell nicht wieder davon los — viele hier werden mir das sicherlich bestätigen können —, weil wir nämlich nikotinsüchtig werden. Damit aber bleiben wir treue Kunden der Zigarettenindustrie, und die Steuereinnahmen, aber auch die Parteispenden rollen weiter.
Die Kosten der gesundheitlichen Schäden veranlassen dann die verantwortlichen Politiker zu gebetsmühlenhaften Wiederholungen der Schuldzuweisun-
Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 46. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. Dezember 1987 3161
Frau Saibold
gen an die oder den einzelnen. Damit ist dann der Schwarze Peter wieder einmal verteilt, die Verantwortlichen sind aus dem Schneider und die sogenannte freie Marktwirtschaft wieder einmal gerettet.
Gesellschaftliche und politische Ursachenzusammenhänge werden jedoch in dreister Weise ignoriert. Ein Beispiel in dieser Richtung ist dann auch die geplante, haarsträubende Erhöhung der Selbstbeteiligung bei den Krankheitskosten.
Wer krank wird soll dafür auch noch bestraft werden. Bei solchen unsozialen Schuldzuweisungen spielen die GRÜNEN nicht mit.
Der vorliegende Antrag der GRÜNEN ist im gesamtpolitischen Zusammenhang zu sehen. Er ist in umfassende Konzepte der Gesundheits-, Umwelt- und Arbeitsschutzpolitik eingebettet und damit nur ein Baustein für einen verbesserten Gesundheitsschutz. Ziel dieses Antrags ist in erster Linie, durch konkrete Maßnahmen den Nichtraucherschutz zu stärken. Auf Grund der Tatsache, daß einerseits Raucher und Raucherinnen süchtig sind und viele gesellschaftliche, soziale, aber auch persönliche Veränderungen nötig sind, um von diesem Laster herunterzukommen, andererseits auch die Nichtraucher und Nichtraucherinnen durch Tabakrauch geschädigt werden, müssen zumindest folgende Punkte erreicht werden:
Erstens. Die gesellschaftliche Akzeptanz der Nikotinsucht muß durch Aufklärung über Gesundheitsschäden abgebaut und das Nichtrauchen positiv dargestellt werden.
Deshalb ist in unserem Antrag die Forderung nach einem Fonds für Nichtraucherinitiativen enthalten, da die Bundesregierung aus den vorher dargestellten Gründen ihren Aufgaben sicher nicht entsprechend nachkommen wird.
Zweitens. Die Rechte der Nichtraucher und Nichtraucherinnen müssen gestärkt werden. Deshalb fordern wir speziell ausgewiesene Raucherzonen in öffentlichen Gebäuden, Rauchverbot am Arbeitsplatz, wenn Raucherinnen und Nichtraucherinnen in einem Raum arbeiten, und räumliche Trennung beim Essen und in Gaststätten.
— Aber selbstverständlich, Herr Bötsch.
Drittens. Der Kreis der Nikotinsüchtigen darf sich nicht vergrößern. Deshalb ist dafür zu sorgen, daß Kindern und Jugendlichen, aber auch den Erwachsenen die Zigaretten nicht noch förmlich durch die Automaten angedient werden.
Unser jetzt vorliegender Antrag enthält kein Werbeverbot, weil wir aus abstimmungstechnischen Gründen hierzu einen gesonderten Antrag einreichen werden.
Unser Antrag stimmt größtenteils mit den Forderungen des erwähnten ominösen Aktionsprogramms überein. Damit bestätigt er die Richtigkeit von Frau Süssmuths Forderungen und stärkt ihr wenigstens in dieser Angelegenheit vielleicht auch etwas den Rükken.
Zum Schluß ein Argument, besonders für Frau Süssmuth, aber auch für viele andere, denen das Wehgeschrei der Automatenhersteller entgegenschlägt. Sie sollten doch, bitte schön, ihre Zigarettenautomaten auf Kondome umrüsten. Dann haben sie etwas Sinnvolles zu verkaufen und liegen außerdem im Trend.
Ich bin sicher: Sie werden bestimmt interessante Diskussionen bei der Beratung unseres Antrags führen.
Vielen Dank.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Sauer .
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich möchte mich mit dem Thema sachlich und nicht polemisch auseinandersetzen.
Wir sprechen heute über ein sehr wichtiges Problem, weil die gesundheitlichen Schädigungen, die durch das Rauchen entstehen, leider bei vielen unserer Mitbürger noch sehr unterschätzt werden. Dabei geht es — das sage ich gleich an dieser Stelle — nicht um einen Feldzug gegen die Raucher. Die Raucher sollen nicht an den Pranger gestellt werden. Wir wollen einen effizienten Schutz für Nichtraucher erreichen und sinnvoll aufklären, gerade die junge Generation. Denn das Gesundheitsrisiko ist sehr, sehr hoch, wenn die Jugend zu früh mit dem Rauchen beginnt. Das sagen auch Mediziner und Wissenschaftler.
Die CDU/CSU-Fraktion ist im Augenblick in der Diskussion über ein Grundprogramm zum Schutz der Nichtraucher. Die Meinungsbildung ist noch nicht abgeschlossen. Aber wir werden unser Programm in absehbarer Zeit zu den Ausschußberatungen vorlegen. Ich hoffe, wir werden uns im Ausschuß dann auf eine gemeinsame Linie verständigen können.
Frau Bundesministerin Süssmuth verdient Lob, weil sie durch ihre mutigen Vorstöße und Denkanregungen dieses Thema weit vorangebracht hat.
Nun gilt es die Ressortabstimmung zu beschleunigen, damit bald ein umfassendes Nichtraucherschutz-
3162 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 46. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. Dezember 1987
Sauer
programm vorliegt. Ich appelliere in diesem Zusammenhang an die beteiligten Ressorts, sich endlich nicht länger gesundheitspolitischen Aspekten zu verschließen.
Die Gesundheitsschädlichkeit des Rauchens ist unbestritten. Darum müssen jetzt Konsequenzen gezogen werden.
Leider gibt es noch viel zu viele Widerstände gegen wirksame Maßnahmen. Ich erwähne besonders die Tabakwarenindustrie, aber auch sehr viele Raucher.
Wir werden in der nächsten Zeit unseren Katalog vorlegen. Denn die Devise lautet nun: Jetzt muß gehandelt werden.
Ich darf Ihnen einmal ein paar Fakten nennen, die wichtig sind und klarmachen, warum gehandelt werden muß.
Die Wissenschaftler sagen: Es sterben in der Bundesrepublik auf Grund der Hauptursache Rauchen im Jahr 140 000 Menschen. Das sind Zahlen der Wissenschaftler. 30 % der jährlich über 160 000 Krebstoten sind auf das Rauchen zurückzuführen. Wir haben bei den Lungenkrebstoten einen Raucheranteil von nahezu 90 %. Wir haben bei den Früh- und Fehlgeburten 10 %, die auf Rauchen in der Schwangerschaft zurückzuführen sind, nicht nur auf das Aktivrauchen, sondern auch auf das Passivrauchen, d. h. das unfreiwillige Mitrauchen gerade in der Schwangerschaft.
Ein letzter Punkt, der wichtig ist: Wir haben eine verkürzte Lebenserwartung von 8,5 bis 12 Jahren bei starken, exzessiven Rauchern. Ich glaube, diese Fakten müssen wir als Gesundheitspolitiker, aber auch als Jugendpolitiker zur Kenntnis nehmen.
Wir kommen auch an den wissenschaftlichen Erkenntnissen über das Passivrauchen nicht mehr vorbei. Die Gesundheitsschädlichkeit des Passivrauchens ist wissenschaftlich nachgewiesen. Ich glaube, wir müssen in diesem Bereich ebenfalls Konsequenzen ziehen. Dies hat vor kurzem der Tübinger Toxikologe Professor Remmer wieder ganz klar bestätigt. Dies deckt auch die Aussage des Bundesgesundheitsamts über die Schädigungen des Passivrauchens. Sie wissen ja, daß auch auf internationaler Ebene die WHO schon mehrfach die gleichen Schlußfolgerungen in bezug auf Aktivrauchen, aber auch in bezug auf Passivrauchen gezogen hat.
Ich habe deshalb meiner Arbeitsgruppe in unserer Fraktion ein Grundprogramm in sieben Punkten vorgelegt; darüber diskutieren wir im Moment.
Wir müssen erstens die Aufklärung über die Gefahren des Rauchens verstärken. Hier könnte eine positive Werbung für die Vorteile des Nichtrauchens sehr am Platze sein.
Es geht nicht um die Stigmatisierung des Rauchers, sondern es geht um die positive Herausstellung des Nichtrauchens: Nichtraucher leben gesünder; Nichtrauchen hält fit. Ich glaube, die Aktion, die in Frankfurt von Frau Süssmuth begonnen wurde, ist richtig und zeigt genau den richtigen Weg, den wir in Richtung Aufklärung und Information gerade der jungen Generation gehen müssen. In der Kindheit findet die entscheidende Prägung für das spätere Rauchverhalten statt. Wer zu früh mit dem Rauchen anfängt, wird sich später nur schwer von dieser Nikotinabhängigkeit lösen können.
Entscheidend für das Rauchverhalten von Kindern und Jugendlichen ist nach wie vor das Vorbild der Eltern und der Erzieher in Familie, Schule und Verein. Daran führt kein Weg vorbei. Andererseits müssen wir auch auf die Gefahren des Rauchens hinweisen. Darum muß eine verstärkte gesundheitliche Aufklärung Platz greifen.
Die Medien, insbesondere das Fernsehen, haben die Aufgabe, Informationen und Vorbilder zu vermitteln. Ich meine, diejenigen, die im Fernsehen auftreten, haben eine Vorbildfunktion. Deswegen — ich sage dies ganz offen — muß man auch an Politiker, Künstler und andere appellieren, bei Fernsehauftritten auf die Zigarette und — wenn Sie wollen — auch auf die Pfeife zu verzichten. Denn dieses Vorbild ist wichtig. Ein zigaretten- oder pfeifenrauchender Politiker im Fernsehen sollte der Vergangenheit angehören.
Zweitens. Wir müssen einen besseren Schutz der Nichtraucher gewährleisten. Darum müssen wir in öffentlichen Gebäuden Nichtraucherzonen ausweisen, wobei sicherlich auch Rauchern die Möglichkeit gegeben werden muß, ihrem Rauchbedürfnis nachzukommen; man muß hier ja tolerant sein. Aber wir müssen die Nichtraucher in öffentlichen Gebäuden schützen.
Drittens. Wir müssen auch zu raucherfreien Zonen in ärztlichen Praxen, in Krankenhäusern, in Kindergärten, in Schulen und Jugendheimen kommen. Dies müssen gänzlich raucherfreie Zonen werden.
Viertens müssen wir in öffentlichen Verkehrsmitteln das Rauchen untersagen, falls es keine speziellen Raucherabteile gibt.
Lassen Sie mich einen fünften Punkt ansprechen. In den Betrieben sind freiwillige — ich betone freiwillige —
Vereinbarungen zum Schutze der Nichtraucher vorzusehen.
Ein sechster wichtiger Punkt: Die Warnhinweise auf allen Zigarettenpackungen müssen ausgeweitet werden, und hier insbesondere in bezug auf Jugendliche und Schwangere. Denn — dies möchte ich nochmals betonen — die Gefährdungen von Schwangeren durch das Rauchen sind eminent groß, aber nicht nur die der Frauen, sondern auch die der ungeborenen Kinder.
Lassen Sie mich einen letzten, den siebten Punkt ansprechen: Die Tabakwerbung sollte zu einer reinen Produktwerbung werden. Man darf sich nicht weiterhin auf die situative Werbung konzentrieren, wo be-
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Sauer
sonders jungen Menschen falsche Vorbilder vorgegaukelt werden.
Es ist der Konferenz der Gesundheitsminister der Länder zuzustimmen, die in ihrer Entschließung vom 20. November 1987 die freiwilligen Werbeselbstbeschränkungen der Tabakwarenindustrie als völlig unzureichend bezeichnet hat. Es darf nicht länger bei der Werbung der Eindruck entstehen, als würde Rauchen zum körperlichen Wohlbefinden, zur Gesundheit notwendig sein. Es ist eine verlogene Werbung, wenn sie suggeriert, junge, aktive und sportliche Menschen wie der Drachenflieger, wie der Skifahrer, wie der Westernheld, wie der Abenteuerurlauber müßten zur Zigarette greifen, um dadurch gestärkt zu werden. Genau das Gegenteil ist der Fall.
Diese sieben Punkte stellen einen ersten Schritt dar, wie wir als Gesetzgeber in Zusammenarbeit mit den Ländern das berechtigte Interesse von Nichtrauchern auch auf körperliche Unversehrtheit schützen können.
Als Berichterstatter meiner Fraktion hätte ich mir sicher noch weitere Maßnahmen vorstellen können, aber ich glaube, wir müssen zuerst einmal für weitere Maßnahmen das notwendige Problembewußtsein schärfen. Es geht nicht um die Durchsetzung eines unerfüllbaren Maximalprogramms, sondern um die Umsetzung konsensfähiger Schritte. Wir wollen diesen Weg mit einer realistischen Jugendschutz- und Gesundheitspolitik gehen. Wir werden, wie gesagt, schon in den nächsten Wochen einen praktizierbaren Katalog vorlegen.
Lassen Sie mich zum Schluß kommen: Wir lassen uns von einer gegenseitigen Rücksichtnahme sowie von dem Vorrang freiwilliger Maßnahmen leiten, denn die freiwilligen Maßnahmen sind die besten Lösungen. Aber ich befürchte, wir werden doch in einigen Bereichen an gewissen Geboten und Verboten nicht vorbeikommen. Niemand will dem mündigen Bürger das Rauchen verbieten; es geht vielmehr darum, den Nichtraucher wirksam zu schützen und besonders die jungen Menschen vor dem Rauchen und den daraus resultierenden Krankheiten zu bewahren.
Herzlichen Dank.
Das Wort hat der Abgeordnete Gilges.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Sauer, Sie haben gesagt, das Rauchen sei ein Bedürfnis. Sie wissen genausogut wie ich, daß Rauchen kein Bedürfnis ist, sondern schlicht und einfach eine Sucht. Da ich mir seit rund drei Jahren auch im Rahmen dieser Diskussion im Ausschuß das Rauchen abgewöhnt habe, weiß ich noch mehr, daß es eine Sucht ist und daß es auch unsere Aufgabe ist, das Rauchen als Sucht zu deklarieren; das sollte man auch öffentlich tun.
— Gut, wenn wir einer Meinung sind, dann sagen wir nicht mehr: Rauchen ist ein Bedürfnis wie Essen, Trinken oder sonstige Bedürfnisse, sondern es ist eine Sucht. Gegen diese Sucht müssen wir kämpfen. Ich komme nachher noch einmal darauf zurück, weshalb ich das für notwendig halte. Ich sage das, damit das hier nicht falsch stehenbleibt.
Wir Sozialdemokraten begrüßen, daß hier heute Gelegenheit gegeben wird, über die Frage des Tabakrauchens und seiner gesundheitlichen Schäden zu diskutieren. Wir begrüßen das deswegen, weil das an die Arbeit der sozialliberalen Koalition anschließt.
Wenn hier schon ein Lob in Richtung einer Ministerin ausgesprochen wird, dann wäre zuerst die Frau Focke zu nennen; denn Frau Focke hat es wirklich fertiggebracht, im Rahmen ihrer Regierungszeit zwei entscheidende Maßnahmen durchzusetzen, nämlich gesetzgeberisch die Kennzeichnung der Schädlichkeit der Zigaretten auf der Tabakschachtel und zweitens die Vereinbarung eines Gebots zur Begrenzung der Werbung. Deshalb: Wenn wir schon loben, dann loben wir Frau Focke und warten einmal ab, ob Frau Süssmuth in der Lage ist, über ihre Appelle hinaus auch etwas Praktisches gesetzgeberisch durchzusetzen.
— Moment, ich habe gesagt: wenn, dann. Das haben Sie ja mitbekommen.
Es macht mir ein bißchen Schwierigkeiten und
— ich muß es Ihnen ehrlich gestehen — ich bin es schon fast leid, Herr Sauer, daß wir seit vielen Jahren im Ausschuß für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit über dieses Thema diskutieren. Wir haben Anhörungen gemacht. Dieses Thema stand, glaube ich, mindestens schon fünf- oder sechsmal auf der Tagesordnung dieses Ausschusses. Wir tauschen da immer wieder Noten über das aus, was Sie wollen, und das, was wir wollen, usw., usf. Wir haben auch im Rahmen des Jugendschutzgesetzes darüber geredet. Heute sagen Sie wieder, nächste Woche werden Sie einen Aktionskatalog der CDU vorlegen. Ich glaube Ihnen das mittlerweise nicht mehr.
— Oder in absehbarer Zeit.
Nehmen wir absehbare Zeit. Auch das glaube ich Ihnen mittlerweise nicht mehr. Ich sage Ihnen das ganz ehrlich.
Auch als Kollege glaube ich nicht mehr, daß Sie in der Lage sein werden, in absehbarer Zeit einen Katalog vorzulegen, der etwas gegen die Sucht Rauchen tut.
Ich möchte etwas zu dem sagen, was in den letzten Wochen geschehen ist. Wir Sozialdemokraten bedauern sehr und beklagen es auch, daß die Frau Ministerin nicht in der Lage war, sich mit Ihrem Aktionspro-
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Gilges
gramm durchzusetzen. Dieses Aktionsprogramm ist ja öffentlich gemacht worden. Es ist eigentlich sehr wenig übriggeblieben, außer einem Appell in Frankfurt, der auf Freiwilligkeit beruht. Aber nirgendwo werden konkrete Maßnahmen der Bundesregierung eingeleitet.
Ich will ein Zweites sagen. Uns Sozialdemokraten wird immer vorgehalten, wir wären für Verbote oder wollten den Bürger bevormunden. Das ist dummes Zeug, das ist schlicht und einfach falsch.
Wir sind im Zusammenhang mit dem Rauchen der Meinung, daß es im Interesse des Bürgers notwendig ist, ihn vor Krankheiten zu schützen,
und Rauchen ist, ob passiv oder aktiv, ein Verursacher von Krankheiten. Die „Gewerkschaftlichen Monatshefte" haben — gerade heute habe ich das gelesen — in einem wissenschaftlichen Beitrag aufgelistet, welche Krankheiten alle durch das Rauchen verursacht werden oder durch das Rauchen verstärkt auftreten. Krankheiten werden also durch das Rauchen nicht nur verursacht, sondern treten auch verstärkt auf. Das sind Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Krebserkrankungen — in erheblichem Maß Magenkrebs, Speiseröhrenkrebs — , Erkrankungen der Atmungsorgane und schließlich die Frage der Unfruchtbarkeit. Ich habe Ihnen hier nur vier Krankheitsbereiche genannt, die aufzeigen, wo Rauchen der Verursacher von Krankheiten ist. Deshalb liegt es in unserer Verantwortung, etwas gegen das Rauchen zu tun, um die Menschen vor diesen Krankheiten zu schützen.
Wer einmal miterlebt hat, welches menschliche Schicksal es bedeutet, an Lungenkrebs zu erkranken, der ist wirklich schockiert und irritiert, daß es dann noch Leute gibt, die die Behauptung aufstellen, das Rauchen mache nicht krank oder sei unter Umständen auch kein Verursacher. Es ist nicht wahr und wir sollten es immer wiederholen, daß Rauchen der Verursacher für eine große Anzahl von Krankheiten ist.
Ich will mich da überhaupt nicht auf Zahlen festlegen. Es geht nicht um tausend oder hunderttausend. Die Anzahl reicht aus, um sich dagegen einzusetzen.
Ich wollte noch etwas zu der Bundesministerin sagen. Frau Saibold hat das auch schon gesagt. Wir haben im Frühjahr oder Sommer durch die Zeitung einen Katalog, Herr Parlamentarischer Staatssekretär, zur Kenntnis genommen. Wir haben dann durch die Buschtrommel erfahren, daß dieser Katalog oder dieses Aktionsprogramm — das ich hier jetzt auch vorliegen habe — an die anderen Bundesministerien verschickt und vom Bundeswirtschaftsminister an — so wurde uns erzählt — die Tabakindustrie, an die Interessenverbände weitergegeben worden ist. Dann hat die Tabakindustrie die nötige Kampagne entwickelt, um dieses Aktionsprogramm zum Scheitern zu bringen.
Ich muß Ihnen sagen: Ich finde es wirklich schlimm, daß es der Tabakindustrie in dieser Republik möglich ist, eine Ministerin, ein Mitglied einer Bundesregierung, in die Knie zu zwingen.
Diese Frage bleibt, Herr Parlamentarischer Staatssekretär, bei aller Rabulistik, die uns Herr Sauer in dieser Frage immer wieder vorführt,
immer noch im Raum. Wir bedauern das gerade nicht, weil wir uns darüber freuen, sondern wir bedauern es im Interesse der Gesundheit der Bürger, die durch das Rauchen als Nichtraucher oder als Raucher betroffen sind, daß die Bundesministerin sich hier nicht durchsetzen konnte. Es gibt hier bei uns keine Schadenfreude, sondern ein großes Bedauern.
Ich hoffe, daß Sie in der Zukunft mehr in der Lage sein werden, solchen Kampagnen der Tabakindustrie zu begegnen, die von ihrer Betrachtungsweise her berechtigt sind. Ich verrate Ihnen kein Geheimnis, daß uns auch die Gewerkschaft Nahrung-Genuß-Gaststätten angeschrieben hat. Der Herr Döding — mein Kollege — hat gesagt, wir sollten bei dieser ganzen Geschichte nicht übertreiben. Ich weiß auch, daß an dieser Frage Arbeitsplätze hängen und daß es ein Bündnis gibt. Aber dem gesundheitlichen Interesse ist Vorrang vor dem Interesse der Industrie einzuräumen,
das auf Gewinn geht. Ich will das zwar gelten lassen, aber man muß der Gesundheit den Vorrang geben.
Ich will zum Schluß kommen. Was ist heute zu tun? — Wir haben überhaupt keinen Streit darüber, daß der Nichtraucherschutz verstärkt werden muß. Dazu wurden Beispiele genannt, darüber müssen wir in den Ausschüssen debattieren. Ich glaube, daß wir dabei zu einer einvernehmlichen Regelung kommen können. Ich glaube, daß das zwar nicht über gesetzgeberische Maßnahmen möglich ist, aber durch bestimmte freiwillige Vereinbarungen und durch bestimmte Maßnahmen und Appelle ist da etwas zu regeln.
Ich bin mit Ihnen der Meinung, daß die Aufklärung über die Krankheitsgefährdungen verstärkt werden muß.
Nicht einig sind wir in der Frage der Verstärkung der Werbebeschränkungen. Ich gehe davon aus, Herr Sauer, daß es notwendig ist, über gesetzgeberische Maßnahmen die Werbung für Tabakwaren einzuschränken.
— Einzuschränken. Ich will nicht sagen: total abzuschaffen, aber einzuschränken. Ich betrachte es als Zumutung, in Kinos, wo insbesondere Jugendliche hingehen — das ist heutzutage nun einmal so — , im Vorspann sechs, sieben Zigarettenwerbungen oder Tabakwerbungen zu zeigen. Das ist eine Zumutung für jeden Bürger und auch für Politiker. Dagegen soll-
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Gilges
ten wir wirklich einmal etwas tun und eine Einschränkung vornehmen.
Das kann man eben nur über den gesetzgeberischen Weg. Ich habe nur ein Beispiel genannt, aber es gäbe noch einige andere Beispiele.
Wir sind nach wie vor der Meinung, daß das Gesetz zum Schutze der Jugend in der Öffentlichkeit geändert werden muß. Es ist unglaubwürdig, wenn wir zwar für Alkohol ein Abgabeverbot haben, aber kein Abgabeverbot bei Tabakwaren. Das ist unglaubwürdig.
Kein Jugendlicher und kein Kind versteht, daß er für den Vater zwar keine Flasche Bier kaufen darf, aber so viele Zigaretten, wie er will, sogar für sich selbst, sie nur in der Öffentlichkeit nicht rauchen darf. Das ist für jeden Gesetzgeber unglaubwürdig. Deshalb ist es notwendig, dieses Gesetz an dieser Stelle zu ändern — auch mit der notwendigen Konsequenz, daß alle öffentlich aufgestellten Zigarettenautomaten unter Umständen abgebaut oder so umgebaut werden müssen, daß der Zugang für Kinder ausgeschlossen ist. Wir bleiben dabei und lassen uns von dieser Forderung nicht abbringen. Ich hoffe, daß FDP, CDU/CSU und GRÜNE mit uns gemeinsam in der Lage sind, in diesem Bereich etwas zu tun, auch im Sinne der Maßnahmen, die Frau Focke in den 70er Jahren ergriffen hat. Ich fordere Sie dazu auf und bitte Sie darum.
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Würfel.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Herren! Sehr geehrte Damen! Es war ein Franzose Namens Jean Nicot, der 1560 die Tabakpflanze in Europa in größerem Rahmen anbaute, gemäß dem damaligen Erkenntnisstand, daß die Tabakpflanze eine gewisse Heilwirkung haben sollte.
In den verschiedensten Kulturen unseres Erdballes hatte, wie Sie wissen, das Rauchen rituelle Bedeutung. Denken Sie nur an die Friedenspfeife der Indianer.
Tabak war und ist allerorten ein geschätztes Kraut. Daß die von Kennern besonders gepriesene schwarze Havanna auf den Oberschenkeln braunhäutiger Schönen zu Zigarren gerollt wird, mag ein Gerücht sein, jedoch findet das Kraut in den Mündern tatkräftiger Seeleute und wackerer Bergleute Verwendung, weil das Rauchen auf See und unter Tage zu ungemütlichen Folgen führen kann und dieser Personenkreis auch nicht meilenweit für eine, sagen wir einmal, „Dingsbums" gehen könnte.
Heutzutage verschaffen sich nicht nur Jünglinge mit erstem Bartwuchs durch das mit ruhigen Handbewegungen ausgeführte Anzünden einer Pfeife ein
Fluidum von Selbstsicherheit, Gelassenheit und männlicher Stärke. Die dazu gehörenden Partnerinnen schwärmen in der Regel von dem besonders angenehmen Aroma, möglichst sherry-flavoured, das beim genüßlichen Paffen der blauweißen Wölkchen in die Atmosphäre abgegeben wird.
Nicht nur, daß das Anzünden einer Pfeife ein gewisses Ritual verlangt, auch die Kultur des Pfeiferauchens kann man sich aus Büchern eineignen. Selbstverständlich gelten nicht nur gewisse Uhrenmarken als bestimmtes Erkennungszeichen unter der High-Society, sondern auch der richtige Punkt an der richtigen Stelle auf der entsprechenden Pfeife zeigt Insidern die Qualität und den Preis dieses Instrumentes an und trägt somit zur Imagegestaltung des Rauchers bei.
Während es zu einer gewissen Zeit in Deutschland durchaus hieß, eine deutsche Frau raucht nicht, und sie statt dessen für andere lebensnahe Ereignisse mit dem Mutterkreuz ausgezeichnet wurde, erhielt der deutsche Soldat seine wöchentliche Zigarettenration. Für Nichtraucher wurden somit Zigaretten zu einer begehrten Tauschwährung.
Was ich mit diesem kleinen Rückblick sagen will, ist, daß das Rauchen in allen Nationen Tradition hat und daß es deshalb schon sehr schwer ist, auf langwährende Gewohnheiten Einfluß nehmen zu wollen, auch wenn von dem einzelnen Raucher durchaus erkannt worden ist, daß die gewünschte Erhöhung des persönlichen Lebensgefühls oder die damit möglicherweise verbundene kurzfristige Steigerung der Selbstsicherheit und der Gelassenheit unter Umständen zu schweren gesundheitlichen Beeinträchtigungen und Schädigungen, ja sogar zu Todesfällen führen kann. Aber wie bei den Autofahrern mit den Autounfällen glauben die Raucher in der Regel, daß der Nachbar von Bronchialkrebs erwischt wird und nicht sie selbst.
Die Bestrebungen, unsere Bevölkerung zu einer Abkehr vom bisherigen Rauchverhalten zu bewegen, waren seit mehreren Jahren sehr vielfältig und ebenso wirkungslos. Bereits 1980 stand der Weltgesundheitstag unter dem Motto „Rauchen oder Gesundheit — Deine Wahl" . Mildred Scheel zeigte damals in einem Aufsatz diese Alternative auf und kündigte bundesweit Aufklärungskampagnen über die Folgen starken Tabakmißbrauchs an. Der Verbrauch stieg jedoch. Immer mehr Raucher wollten meilenweit gehen und rauchend die große weite Welt erleben und dem Aufruf „Go West" folgen, anstatt gleich in die Luft gehen zu wollen wie ein gewisses Männchen.
Inzwischen haben wir neuere Erkenntnisse, daß es bei der Schädigung der Gesundheit nicht mehr unbedingt auf die eigene Wahl ankommt, sondern daß das Rauchen unter Umständen ganz besonders die davon mitbetroffenen Nichtraucher schädigen kann. Das ist natürlich eine neue Grundlage für weitere Überlegungen. Bei allem Verständnis für den sogenannten Genußraucher, der raucht, weil es ihm Spaß macht und dem wir die Befriedigung seiner Bedürfnisse durchaus
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Frau Würfel
gönnen, und bei allem Verständnis für den Gewohnheitsraucher, der immer bei bestimmten Beschäftigungen automatisch zur Zigarette greifen muß, oder auch bei allem Wohlwollen für den gestreßten und überforderten Entlastungsraucher, der rauchen muß, um mit unangenehmen Situationen fertigzuwerden, können wir dennoch nicht übersehen, daß die Folgen dieses Mißbrauchsverhaltens im Hinblick auf die eigene Gesundheit und die Gesundheit von zwangsweise mitrauchenden Mitmenschen tatsächlich gravierend sind.
Wenn nach offizieller Schätzung der AOK in der Bundesrepublik jährlich mehr als 200 000 Menschen vorzeitig an den Folgen des Rauchens sterben und weitere 100 000 als Frühinvaliden aus dem Arbeitsleben ausscheiden müssen und man demnach jeden sechsten Krankheitsfall als durch das Rauchen verursacht ansehen muß, dann kann das natürlich keinen von uns unberührt lassen.
Ein weiterer Gesichtspunkt, den es noch zu beleuchten gilt, meine Damen und Herren: Frauen, Gott sei Dank, erobern allerorten verstärkt männliche Domänen. Aber keinesfalls ist dies immer zu ihrem eigenen Vorteil. Offensichtlich bedingt durch den Nachahmungstrieb auch beim Rauchen, verbunden mit Situationen und Belastungen, in die sich die Frauen inzwischen gewollt begeben und in denen sie dann ebenso wie die Männer nach einer Zigarette verlangen, steigt der Anteil rauchender Frauen rapide.
— Jetzt ein Wort zu Ihnen. Gerade unsere Kolleginnen von den GRÜNEN scheinen sich auffallend oft in so vielen Belastungssituationen zu befinden,
so daß Ihr Antrag, was Ihr eigenes Rauchverhalten angeht, offensichtlich ein Appell an Sie selbst ist. Innerhalb von zehn Jahren hat sich bei Frauen die Zahl von Todesfällen durch Lungenkrebs verdoppelt;
das ist der Preis für diese besondere Art von Emanzipation.
Ein anderer Trend gibt darüber hinaus ebenfalls zur Besorgnis Anlaß. Immer mehr Jugendliche greifen in immer früherem Alter zu ihrer ersten Zigarette. Bereits 29 % der 12- bis 17jährigen bezeichnen sich in unserer Gesellschaft als ständige Raucher. Diese Entwicklung ist deshalb so alarmierend, weil mit der Vorverlegung des Rauchbeginns die Gesundheitsschäden noch eher und in verstärktem Maße bei den Betreffenden zu erwarten sind.
Wenn man nun sagen könnte, daß in unserer Gesellschaft jeder für sein persönliches Verhalten geradesteht und daß er für die Folgen seines Tuns haftet, so hätten wir nicht so sehr Anlaß, uns mit den Folgen des Rauchens auseinanderzusetzen. Nachdem jedoch die Solidargemeinschaft der Krankenversicherten für das Lungenkarzinom, das abgetrennte Raucherbein und die Schädigung des Herz-Kreislauf-Systems bei den einzelnen Rauchern aufzukommen hat und die Rentenversicherung für die durch exzessives Rauchen verursachte Frühinvalidität, sieht die Sache allerdings anders aus.
Der Antrag der Fraktion der GRÜNEN zur Reduzierung der gesundheitlichen Gefahren durch Tabakrauch ist insofern inhaltlich sicherlich gut gemeint. Aber es ist ja bekannt, daß sich die Frau Ministerin Süssmuth mit ihrem Ministerium mit allen Aspekten des Rauchens auseinandersetzt. Wir werden selbstverständlich warten, bis alle Bereiche durchleuchtet sind
und ein fundiertes Maßnahmenbündel zur Eindämmung übermäßigen Rauchens gemeinsam verabschiedet werden kann. Aus diesem Grunde stimmen wir Ihrem Antrag im Moment nicht zu.
Meine Damen und Herren, nach dieser Rede ist uns vereinigten Nichtrauchern aller Fraktionen irgendein Erfolg zu gönnen.
Dann wollen wir einmal sehen, was die Bundesregierung dazu sagt.
Herr Staatssekretär Pfeifer.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das ist die erste Debatte in dieser Legislaturperiode des Bundestages zu diesem Thema. Ich denke, daß es zunächst einmal richtig ist, festzustellen, daß sie in einer ganzen Reihe von Punkten konsensfähige Grundlagen gebracht hat. Das betrachte ich als ein wichtiges Faktum.
Zur gesundheitsgefährdenden Wirkung des Rauchens gibt es heute eine Vielzahl wissenschaftlich sorgfältig belegter Erkenntnisse. Ich verweise beispielsweise auf das Votum einer Expertengruppe im Gesamtprogramm zur Krebsbekämpfung, die wir über den Stand der Forschung nochmals befragt haben. Diese Gruppe hielt in ihrem Votum als wissenschaftlich belegt fest, daß ein erheblicher Teil des koronaren Gesamtrisikos dem Aktivrauchen zuzuschreiben ist, daß Aktivrauchen bei der chronischen Bronchitis von allen Einflußfaktoren mit Abstand die wichtigste Ursache ist und vor allem, daß auch Krebs häufig als wissenschaftlich begründet dem Aktivrauchen angelastet werden muß. Meine Damen und Herren, wo der einzelne auch stehen mag in dieser Debatte: Das sind in meinen Augen Aussagen, die niemand vom Tisch wischen kann.
Auch bezüglich des Passivrauchens stellt das Votum fest, daß es wie auch andere Umweltfaktoren als ernstzunehmendes Gesundheitsrisiko betrachtet werden muß.
Nun weiß ich sehr wohl, meine Damen und Herren, daß auch wissenschaftlich belegte Aussagen in ihren Details immer wieder hinterfragt werden. Dennoch
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Parl. Staatssekretär Pfeifer
kann es heute insgesamt an der gesundheitsgefährdenden Wirkung des Rauchens keinen vernünftigen Zweifel mehr geben. Ich denke, das ist der eine Konsens, der in dieser Debatte sichtbar geworden ist.
Daraus muß sich logischerweise ein zweiter Konsens ergeben, nämlich: Wenn an der gesundheitsgefährdenden Wirkung des Rauchens kein vernünftiger Zweifel mehr möglich ist, dann liegt es auf der Hand, daß hier auch gesundheitspolitischer Handlungsbedarf besteht.
Gesundheitspolitischen Handlungsbedarf — das ist der dritte Punkt, bei dem ich hier Konsens festgestellt habe — gibt es in erster Linie in der Förderung des Nichtrauchens. Hier geht es einmal um gesundheitliche Aufklärung. Herr Kollege Gilges, ich bin mit Ihnen völlig einer Meinung, daß wir hier ein Stück vorangekommen sind. Die Bundesregierung hat jetzt eine mehrjährige Aufklärungskampagne eingeleitet, die Mitte November von Frau Süssmuth in Gang gesetzt worden ist,
für die uns 1988 und in den kommenden Jahren mehr Geld zur Verfügung steht als in den Jahren davor.
Unser Ziel ist es jetzt, in diesem Programm neben der Aufklärung eine Reihe flankierender Maßnahmen in einem Aktionsprogramm zur Förderung des Nichtrauchens zusammenzufassen, wobei es uns in der Tat vor allem auch um den Jugendschutz geht. Wir wollen langfristig den Trend zum Nichtrauchen in der jungen Generation festigen und verstärken. Wir wollen den Trend in der jungen Generation fördern, der für Jugendliche das Nichtrauchen interessant und ihnen klarmacht, daß der Rauch vernebelt. Ob uns das allerdings in erster Linie durch eine breite Verbotspalette die erwünschte Wirkung bringt, da habe ich meine Zweifel. Erfolgreich ist aller Erfahrung nach gerade bei jungen Leuten eher, daß man bei ihnen entsprechende Einsichten begründet. Das ist für uns im Augenblick der wichtigere Ansatzpunkt. Wir werden hierzu mit allen in Betracht kommenden Organisationen und Verbänden, auch mit der Zigarettenindustrie, immer wieder jede realistische Möglichkeit zu mehr Jugendschutz ausloten und in die Tat umsetzen.
Förderung des Nichtrauchens schließt auch Maßnahmen des Nichtraucherschutzes ein. Auch hier stelle ich Konsens fest. Wir stehen hier nicht am Anfang — das ist gesagt worden — , wir haben seit Jahren eine Reihe gesetzlicher Vorschriften. Wir haben eine Reihe anderer Regelungen. Vor allem entwickelt die Rechtsprechung immer deutlicher Ansätze für den Nichtraucherschutz. Ich glaube, daß es deshalb sicher im Trend dieser Entwicklung ist, wenn wir uns in einigen Bereichen, also z. B. im Bereich des Nichtraucherschutzes am Arbeitsplatz, in öffentlichen Verkehrsmitteln, in Schulen und Krankenhäusern und öffentlichen Gebäuden, um bessere Regelungen bemühen. Der Schutz des Nichtrauchers in der Öffentlichkeit und am Arbeitsplatz hat einen höheren Rang als die Interessen der Raucher am Rauchen. Aber manches läßt sich vielleicht auch hier mit der notwendigen Toleranz zwischen Rauchern und Nichtrauchern dezentral und vor allem innerbetrieblich wirkungsvoller weiterentwickeln als durch Gebots- und Verbotsregelungen, was nicht heißen soll, daß man diese generell ausschließen sollte.
Der Bundesgesundheitsminister hält deshalb an seiner Absicht fest,
dies alles in einem Aktionsprogramm zur Förderung des Nichtrauchens zusammenzufassen. Wir werden ein solches Programm vorlegen. Wir lassen uns da von niemandem, Herr Kollege, Gilges, in die Knie zwingen. Für uns wird ein wichtiger Grundsatz dieses Programmes sein, im Verhältnis zwischen Rauchern und Nichtrauchern jegliche Polarisierung zu vermeiden. Deshalb entwickeln wir auch bewußt keinen Feldzug gegen die Raucher, sondern ein Programm zur Förderung des Nichtrauchens.
Meine Damen und Herren, dieses Programm braucht noch einige Zeit zur Abstimmung innerhalb der Ressorts. Es braucht aber vor allem Unterstützung der Beteiligten und der Betroffenen. Ich habe gerade deswegen Wert darauf gelegt, immer wieder diese Konsenspunkte zu betonen, die sich in dieser Debatte ergeben haben, weil ich glaube, daß wir nur, wenn wir beispielsweise bei den Ausschußberatungen auch bei diesem Antrag eine möglichst breite Zustimmung der Kollegen bekommen, die sich mit dieser Sache in einer besonderen Weise befassen, am Ende auch den Erfolg mit einem Aktionsprogramm haben werden, das ich gesundheitspolitisch für notwendig erachte.
Vielen Dank.
Meine Damen und Herren, ich schließe die Aussprache.
Der Ältestenrat schlägt vor, den Antrag zur Reduzierung der gesundheitlichen Gefahren durch Tabakrauch an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Sind Sie damit einverstanden? — Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Jetzt brauche ich Sie noch für eine Reihe von Abstimmungen über Tagesordnungspunkte, zu denen keine Aussprache vorgesehen ist.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 8 und 9 auf:
8. Zweite Beratung und Schlußabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 18. September 1985 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Argentinien über die Wehrpflicht von Doppelstaatern
— Drucksache 11/356 —
Beschlußempfehlung und Bericht des Verteidigungsausschusses
— Drucksache 11/1342 —
3168 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 46. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. Dezember 1987
Vizepräsident Westphal
Berichterstatter:
Abgeordnete Hauser Koschnick
9. Zweite Beratung und Schlußabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 10. Oktober 1985 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Königreich Dänemark über die Wehrpflicht deutsch-dänischer Doppelstaater
— Drucksache 11/357 —
Beschlußempfehlung und Bericht des Verteidigungsausschusses
— Drucksache 11/1343 —
Berichterstatter:
Abgeordnete Hauser Koschnick
Eine Aussprache ist nicht vorgesehen.
Wir kommen zunächst zur Abstimmung über das Vertragsgesetz mit der Republik Argentinien. Der Ausschuß empfiehlt, den Gesetzentwurf unverändert anzunehmen. Ich rufe das Gesetz mit seinen Art. 1 und 2, Einleitung und Überschrift auf. Wer dem Gesetz als Ganzem zuzustimmen wünscht, den bitte ich, sich zu erheben. — Wer stimmt dagegen? —
Wer enthält sich der Stimme? — Dann ist dieses Gesetz mit Mehrheit angenommen.
Wir stimmen jetzt über das Vertragsgesetz mit dem Königreich Dänemark ab. Der Ausschuß empfiehlt, den Gesetzentwurf unverändert anzunehmen. Ich rufe das Gesetz mit seinen Art. 1 und 2, Einleitung und Überschrift auf. Wer dem Gesetz als Ganzem zuzustimmen wünscht, den bitte ich, sich zu erheben. —
Wer stimmt dagegen? —
Wer enthält sich? — Dieses Gesetz ist mit Mehrheit angenommen worden.
Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 10 auf:
Beratung der Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung Überplanmäßige Ausgabe bei Kapitel 11 11 Titel 682 01
— Erstattung von Fahrgeldausfällen —
— Drucksachen 10/6648, 11/1090 — Berichterstatter:
Abgeordnete Sieler Strube
Zywietz
Frau Rust
Auch hier ist eine Aussprache nicht vorgesehen.
Wir kommen zur Abstimmung. Wer stimmt für die Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses? — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Die Beschlußempfehlung ist einstimmig angenommen worden.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 11 auf:
Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung Änderung der Immunitätsvorschriften (§ 107 GO-BT; Beschluß des Deutschen Bundestages betreffend Aufhebung der Immunität von Mitgliedern des Bundestages gemäß Anlage 6 GO-BT)
— Drucksache 11/1207 —
Berichterstatter: Abgeordneter Buschbom
Auch hier ist eine Aussprache nicht vorgesehen.
Wir kommen zur Abstimmung. Wer stimmt für die Beschlußempfehlung des Ausschusses? Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Auch diese Beschlußempfehlung ist einstimmig angenommen worden.
Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 12 auf:
Beratung der Sammelübersicht 31 des Petitionsauschusses über Anträge zu Petitionen
— Drucksache 11/1145 — Auch hier ist eine Aussprache nicht vorgesehen.
Wer stimmt für die Beschlußempfehlung des Ausschusses? — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Bei Enthaltung der Fraktion DIE GRÜNEN ist die Beschlußempfehlung angenommen worden.
Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 13 bis 16 und die Zusatztagesordnungspunkte 5 bis 7 auf:
13. Beratung des Antrags des Abgeordneten Weiss und der Fraktion DIE GRÜNEN Ehemaliges Columbia-Hotel in MünchenNeuhausen
— Drucksache 11/1197 —
Überweisungsvorschlag des Altestenrates: Haushaltsausschuß
14. Beratung des Antrags der Abgeordneten Frau Brahmst-Rock, Weiss und der Fraktion DIE GRÜNEN
Abkoppelung Wiesbadens vom IC-Netz der Deutschen Bundesbahn
— Drucksache 11/1124 —
Überweisungsvorschlag des Altestenrates: Ausschuß für Verkehr
Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 46. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. Dezember 1987 3169
Vizepräsident Westphal
15. Beratung des Antrags der Abgeordneten Frau Brahmst-Rock und der Fraktion DIE GRÜNEN
Schienenausbaustrecke Dortmund—Kassel
— Drucksache 11/1154 —
Überweisungsvorschlag des Ältestenrates:
Ausschuß für Verkehr
Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau Ausschuß für innerdeutsche Beziehungen Haushaltsausschuß
16. Beratung des Antrags des Abgeordneten Weiss und der Fraktion DIE GRÜNEN Bewerbung der Bundesrepublik Deutschland für das Europäische Markenamt mit Standort in München-Haidhausen
— Drucksache 11/1011 —
Überweisungsvorschlag des Ältestenrates:
Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau
Haushaltsausschuß
ZP 5 Beratung des Antrags der Abgeordneten Urbaniak, Daubertshäuser, Amling, Andres, Antretter, Bamberg, Becker , Dr. Böhme (Unna), Brück, Buschfort, Dr. Ehrenberg, Ewen, Frau Faße, Frau Fuchs (Verl), Dr. Glotz, Dr. Haack, Haar, Hasenfratz, Heistermann, Horn, Ibrügger, Dr. Jens, Dr. Klejdzinski, Koltzsch, Koschnick, Kretkowski, Lohmann (Witten), Menzel, Dr. Mertens (Bottrop), Meyer, Müntefering, Nehm, Dr. Niese, Dr. Nöbel, Pauli, Peter (Kassel), Pfuhl, Purps, Reschke, Reuter, Rixe, Schanz, Schluckebier, Sieler (Amberg), Frau Seuster, Frau Steinhauer, Toetemeyer, Walther, Weiermann, Westphal, Wiefelspütz, von der Wiesche, Wischnewski, Wittich, Zeitler, Dr. Vogel und der Fraktion der SPD
Schnellbahnverbindung Dortmund—Kassel
— Drucksache 11/1414 —
Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Verkehr
Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau Ausschuß für innerdeutsche Beziehungen Haushaltsausschuß
ZP 6 Beratung des Antrags der Abgeordneten Frau
Unruh und der Fraktion DIE GRÜNEN
Sofortprogramm für eine Alters-Grundsicherung
— Drucksache 11/1401 —
Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Ausschuß für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit Haushaltsausschuß
ZP 7 Beratung des Antrags der Abgeordneten Frau Unruh, Frau Trenz, Hoss, Frau Beck-Oberdorf, Frau Rust und der Fraktion DIE GRÜNEN
Aufhebung der Stufenregelung
— Drucksache 11/1402 —
Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Ausschuß für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit Haushaltsausschuß
Auch hier ist eine Aussprache nicht vorgesehen.
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Anträge an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Der Antrag der Fraktion DIE GRÜNEN auf Drucksache 11/1197 unter Tagesordnungspunkt 13 soll gemäß einer auch hierzu getroffenen interfraktionellen Vereinbarung zusätzlich an den Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau überwiesen werden. Sind Sie mit diesen Überweisungen einverstanden? — Das scheint der Fall zu sein. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Nun können wir befriedigt in die Mittagspause eintreten. Die Sitzung beginnt um 14 Uhr mit dem vorhin verschobenen Tagesordnungspunkt 7 betreffend die Stiftung „Mutter und Kind — Schutz des ungeborenen Lebens".
Ich unterbreche die Sitzung.
Die Sitzung ist wieder eröffnet.
Ich rufe Punkt 7 der Tagesordnung auf:
Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes zur Errichtung einer Stiftung „Mutter und Kind — Schutz des ungeborenen Lebens"
— Drucksache 11/1136 —
a) Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit
— Drucksache 11/1434 —
Berichterstatter: Abgeordnete Frau Männle
b) Bericht des Haushaltsausschusses gemäß § 96 der Geschäftsordnung
— Drucksache 11/1435 —
Berichterstatter:
Abgeordnete Waltemathe Frau Rust
Rossmanith
Zywietz
Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat sind für die Beratung 30 Minuten vorgesehen. Ist das Haus damit einverstanden? — Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat Frau Professor Männle.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Verantwortung des an Werte gebundenen Staates, Stärkung des Rechtsbewußtseins, aber Hilfe statt undifferenzierter Verurteilung — so lautet der Tenor des Bundesverfassungsgerichtsurteils aus dem Jahre 1975 zu § 218. Der Schutz des ungeborenen Lebens müsse unter den Leitgedanken des Vorrangs der Prävention gestellt werden. Ich zitiere:
3170 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 46. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. Dezember 1987
Frau Männle
Es ist daher Aufgabe des Staates, in erster Linie sozialpolitische und fürsorgerische Mittel zur Sicherung des werdenden Lebens einzusetzen.
Eine dieser sozialpolitischen Maßnahmen ist die Stiftung „Mutter und Kind — Schutz des ungeborenen Lebens". Sie hat seit ihrer Errichtung 1984 weit mehr als 100 000 Frauen in konkreten finanziellen Notsituationen geholfen. Überwiegend alleinstehende Frauen, Arbeitslosengeld- und Sozialhilfeempfängerinnen erhielten von der Stiftung zusätzliche Hilfen.
Betrachtet man die Zahlen von 1984 bis heute, so zeigt sich, unter anderem auch durch den größeren Bekanntheitsgrad der Stiftung bedingt, ein erheblicher Anstieg der Zahl der Hilfesuchenden. Die gegenwärtig zur Verfügung stehenden Mittel reichen daher nicht mehr aus.
Die Koalitionsfraktionen haben deshalb einen Gesetzentwurf mit dem Ziel eingebracht, die Stiftungsmittel um jährlich mindestens 30 Millionen DM anzuheben. Alle Antragstellerinnen sollen notwendige Hilfen zur Erleichterung der Schwangerschaftsfortsetzung erhalten.
Wir behaupten nicht, daß mit den Mitteln der Bundesstiftung die Schwangerschaftskonflikte aufgehoben werden, denn die Gründe für einen Schwangerschaftsabbruch sind zweifelsohne vielfältiger Natur. Aber die Gewährung finanzieller Hilfen, vor allem dann, wenn sie — wie bei der Stiftung — schnell und unbürokratisch vollzogen wird, kann die positive Einstellung zum ungeborenen Leben wesentlich fördern.
Hier gilt vor allem unser Dank den Beraterinnen in jenen Beratungsstellen, die in ihrer ohnehin schwierigen psychischen Beratungsarbeit auf die umfangreichen sozialstaatlichen Angebote verweisen. Sich auf verbales Bestätigen von unbestreitbar schwierigen finanziellen Konfliktsituationen, sich auf Bekräftigung von Lamenti zurückzuziehen, heißt für mich nicht Beratung, auch nicht Hilfe, sondern Vermittlung des Gefühls von Ausweglosigkeit. Der Schritt zur Abtreibung erscheint dann als logische Folge einer desolaten finanziellen Situation.
Hier zeigt sich die Perversität unseres Denkens, die, von den Linken natürlich perspektivisch verengt, nur bei der Rüstungsdebatte beklagt wird. Sozial indizierte, in vielen Fällen vorwiegend finanziell begründete Abtreibung im modernen Sozialstaat sollte als erstes Beispiel in den Katalog der Grundwidersprüche aufgenommen werden.
Finanzielle Hilfen der Stiftung „Mutter und Kind" reichen natürlich nicht aus, um den wirksamen Schutz ungeborenen und geborenen Lebens zu gewährleisten. Verwiesen werden muß auf familienpolitische Leistungen wie Kindergeld, Kinderfreibetrag, Kinderbetreuungskosten, Haushaltsfreibetrag für Alleinerziehende und insbesondere Erziehungsgeld.
Unser gesetzgeberisches Handeln muß in Zukunft darauf gerichtet sein, dem Bedürfnis nach finanzieller und sozialer Sicherheit von Müttern, Vätern und Kindern besser gerecht zu werden. Die Ausdehnung des Erziehungsgeldes, des Erziehungsurlaubs, insbesondere während der ersten drei Lebensjahre des Kindes, die für seine Persönlichkeitsentwicklung entscheidend sind, dient auch dem oben angesprochenen Prinzip der Prävention.
Wir wissen aber auch, daß ohne einen Einstellungswandel in der Bevölkerung der Schutz des Lebens nicht gesichert werden kann. Wir brauchen Väter, die zu ihren Kindern stehen, Arbeitgeber, die Frauen mit Kindern in Voll- oder Teilzeit beschäftigen, Vertreter öffentlicher Verwaltungen, die alleinerziehende Frauen nicht diskriminieren und sie nicht herablassend behandeln, Wohnungsvermieter, die Familien mit mehreren Kindern Vorrang geben. Wir alle sind gefordert, in Kindern nicht eine Belastung und Störung, sondern eine Bereicherung und einen wesentlichen Sinn unseres Lebens zu sehen.
Eine wertgebundene Verfassung wird zum Papiertiger, wenn sie nicht von einer wertorientierten Bevölkerung getragen wird. Geschriebenes Gesetz und gelebte Wertordnung sind zwei Seiten einer Medaille. Zum Schutz des ungeborenen Lebens sollten wir die Kluft zwischen Verfassungstheorie und Verfassungswirklichkeit überwinden. Wagen wir dieses Experiment!
Das Wort hat Frau Abgeordnete Dr. Götte.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wer könnte etwas dagegen haben, daß schwangeren Frauen aus einer Notlage geholfen wird!
Schon gar nicht die Sozialdemokraten, die sich schon zu Zeiten um Hilfen für Schwangere gekümmert haben, als dieses Thema für andere Parteien und sogar für die Kirchen noch weitgehend tabu war.
Einigkeit in der Hilfsbereitschaft zwischen den Fraktionen hier im Bundestag muß aber nicht auch Einigkeit über die Wahl der richtigen Maßnahmen bedeuten. Die Stiftung „Mutter und Kind" ist sicherlich gut gemeint, aber sie kann den Zweck, der ihr zugedacht war, nämlich die Zahl der Schwangerschaftsabbrüche zu senken, nicht erfüllen, weil ihre Begründer von einem falschen Grundgedanken ausgehen. Die schwere Notlage, von der im § 218 die Rede ist, besteht nämlich nicht darin, daß einer schwangeren Frau 1 600 DM oder 1 800 DM fehlen.
„Schwere Notlage " entsteht im Blick auf eine ungewisse Zukunft, wo nach zwölf Monaten Erziehungsgeld 50 DM Kindergeld warten, die zudem noch auf die Sozialhilfe angerechnet werden.
„Schwere Notlage" kann heißen, einfach nicht mehr die Kraft zu haben für ein weiteres Kind, nachdem man schon eine ganze Reihe von Kindern unter schwierigsten Bedingungen großgezogen hat.
Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 46. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. Dezember 1987 3171
Frau Dr. Götte
„Schwere Notlage" kann auch bedeuten — ich bin dankbar, daß Frau Männle auch darauf hingewiesen hat —, vom Partner vor die Entscheidung: „Kind oder ich" gestellt zu werden,
kann Abhängigkeit von einem zerrütteten Elternhaus auf unbestimmte Zeit bedeuten, kann Abbruch der Ausbildung oder Verlust des Arbeitsplatzes beinhalten. Alle diese und viele andere schwere Notlagen können durch die Stiftung „Mutter und Kind" nicht beseitigt, noch nicht einmal wesentlich gemildert werden.
Wir haben in der SPD-Fraktion eine ganze Reihe von Maßnahmen vorgeschlagen, die notwendig sind. Wenn Sie die Rede von Frau Männle noch genauer nachlesen, werden Sie merken, daß eine ganze Reihe von Übereinstimmungen darin stehen. Sie hat nur keine Schlüsse daraus gezogen. Sie hat aber die Punkte aufgezeigt, auf die auch wir mit dem Finger weisen, was getan werden muß, um diesen Frauen besser zu helfen. Da meine Kollegin Renate Schmidt das hier zum gleichen Thema schon ausführlich dargestellt hat, möchte ich wegen der Kürze der Zeit darauf jetzt nicht noch einmal im einzelnen eingehen.
Nun weist die Bundesregierung ja auch immer gerne darauf hin, daß die Stiftung „Mutter und Kind" und die Landesstiftungen „Familie in Not" nicht die einzigen familienpolitischen Maßnahmen seien;
denn schließlich habe die Bundesregierung ein 10Milliarden-DM-Paket an zusätzlichen Finanzhilfen zur Verfügung gestellt.
— „Genau", sagen Sie, meine Damen und Herren von der CDU, und nicken begeistert mit dem Kopf. Sie sind da leider — ich wäre dankbar, wenn Sie mir jetzt einmal zuhören würden; denn es ist mir sehr wichtig — einem Märchen aufgesessen.
Auch wenn der Arbeitsminister in seiner bekannt unbekümmerten Art im Plenum vom 16. Oktober ausgerufen hat:
In welchem Jahr wurden jemals 10 Milliarden für die Familie ausgegeben? Es ist das Jahr 1986.
entspricht das leider nicht der Wahrheit.
Die familienpolitischen Leistungen für dieses Jahr, für 1986, das auch Sie, Herr Zwischenrufer, gerade noch einmal gerühmt haben, betragen einschließlich des Erziehungsgeldes nämlich genau 7,35 Milliarden DM, denen aber Kürzungen und Streichungen von nicht weniger als 4,452 Milliarden DM gegenüberstehen. Das heißt: Das sogenannte 10-Milliarden-DM-Paket besteht in Wirklichkeit aus genau 2,883 Milliarden DM für das Jahr 1986. Wenn man von diesem Betrag nun noch die Minderausgaben abzieht, die dadurch
entstanden sind, daß weniger Kindergeld für weniger Kinder bezahlt werden muß, dann bleiben von dem angekündigten 10-Milliarden-DM-Paket für 1986 noch genau 1,308 Milliarden DM übrig. Das ist die Wahrheit.
Für das Jahr 1984, in dem neben der Stiftung „Mutter und Kind" auch der Mythos ins Leben gerufen wurde, die CDU sei besonders familienfreundlich, sah es noch viel schlimmer aus. Einzige zusätzliche Ausgabe in diesem Jahr für den Bereich Familie war die Ausstattung der Stiftung „Mutter und Kind" mit 25 Millionen DM. Dem standen Einsparungen in der Familienpolitik von genau 3,087 Milliarden DM gegenüber, d. h. es wurden Leistungen eingespart, die die sozialliberale Koalition geschaffen hatte, und Sie haben sie nun wieder zurückgenommen.
— Ja, ja, aber dann dürfen Sie nicht solche Märchen verbreiten, Sie hätten ein 10-Milliarden-DM-Paket für die Familien geschnürt, jetzt gehe die Familienpolitik erst los, nachdem die Wende in Wirklichkeit auch eine Abkehr von der Familienpolitik war.
Ich will nur einige dieser Einsparungen nennen: Kinderfreibetrag statt Kinderbetreuungskosten, Einsparung: 470 Millionen DM; Reduzierung des Kindergeldes: 980 Millionen DM; Einsparungen beim Schüler-BAföG: 600 Millionen DM; Kürzung des Mutterschaftsurlaubs: 310 Millionen DM; Halbierung des Ausbildungsfreibetrages: 300 Millionen DM; Ersetzung des Kinderzuschusses in der Rentenversicherung durch das Kindergeld: 48 Millionen DM usw. So kommt dieser Betrag allein für das Jahr 1984 zustande, in dem Sie die Stiftung „Mutter und Kind" ins Leben gerufen haben, womit Sie den Eindruck erwekken wollten, nun beginne die familienfreundliche Zeit. Das ist durch und durch einfach nicht wahr.
Ich würde Ihnen, liebe Kollegen von der CDU, raten, in Zukunft etwas bescheidenere Töne anzuschlagen, wenn von Familienpolitik die Rede ist.
Die Stiftung „Mutter und Kind" und die Tatsache, daß die vorhandenen Mittel in keinem Jahr ausgereicht haben, um alle berechtigten Anträge zu bewilligen, machen eines deutlich: Es gibt in unserem Land viel zu viele arme Mütter, und es gibt viel zu viele arme Familien, die von der Stiftung „Mutter und Kind" überhaupt nicht und von der Stiftung „Familie in Not" nur in Ausnahmefällen profitieren.
3172 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 46. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. Dezember 1987
Frau Dr. Götte
Dazu würde ich gern ein Beispiel aus meinem Bürgerbüro anführen, das ich selber erlebt habe: Eine Mutter von vier kleinen Kindern hat bei mir angerufen. Ich merkte am Telefon schon am Ton der Stimme, daß diese Frau am Ende ihrer Kräfte war. Ich konnte sie dann mit Mühe dazu bewegen, ins Bürgerbüro zu kommen. Dort zeigte sie mir den Gehaltsstreifen ihres Mannes, aus dem ersichtlich war, daß ein Großteil des Lohns gepfändet wurde, weil die Familie bis über beide Ohren verschuldet war. Es blieben der sechsköpfigen Familie noch knapp 1 000 DM zur Deckung des laufenden Lebensunterhalts. Ich begleitete diese Frau, die nervlich auch völlig am Ende war, dann zu „Pro familia". Dort fand ein längeres Gespräch mit einer Mitarbeiterin statt, die dann auch einen Antrag — gerichtet an die Stiftung „Familie in Not" — ausgestellt und ein zweiseitiges Begleitschreiben dazugelegt hat, um den Fall zu begründen. Von der Stiftung „Mutter und Kind" konnte die Frau leider nichts bekommen, weil sie ja zur Zeit nicht schwanger war.
Einige Wochen darauf bekam die Frau den Bescheid: „Ihr Antrag wurde dem Vergabeausschuß in seiner Sitzung vom 24. März vorgelegt. Die Mitglieder sehen sich nicht in der Lage, aus der Stiftung ,Familie in Not' oder aus der Stiftung ,Mutter und Kind' einen finanziellen Zuschuß zu bewilligen. " Das wurde damit begründet, daß die Stiftung in solchen Fällen, in denen die Verarmung durch Verschuldung herbeigeführt wurde, nicht helfen kann. „Wir bedauern, keine andere Entscheidung mitteilen zu können. " Die Mutter hat inzwischen einen Selbstmordversuch hinter sich und befindet sich zur Zeit in einer psychiatrischen Klinik.
An dieser Stelle sollten wir auch einmal über die Belastungen der Beratungsstellen sprechen, die nun die Anträge alle bewilligen sollen. Ich finde es nicht in Ordnung, daß die Sorgen der Beratungsstellen, zuviel Zeit für das Aufstellen von Verträgen aufwenden zu müssen und deshalb zuwenig Zeit für die eigentliche Beratung zu haben, einfach vom Tisch gewischt werden. Es kommen zu diesen Beratungsstellen ja unglaublich viele Frauen, die gar keinen Anspruch auf Mittel aus der Bundesstiftung haben und trotzdem nach einem Weg suchen, wie sie aus ihren Schwierigkeiten herauskommen. Diese Art von Beratung, die sich nur um die Frage dreht: „Sind Sie berechtigt, einen Antrag zu stellen? Hat es einen Sinn, einen Antrag zu stellen, oder nicht?", geht in die Statistik der Beratungsstellen gar nicht ein und schon gar nicht in die Statistik der Bundesstiftung, weil die Beratungsstellen ja nur die Anträge, die Aussicht auf Erfolg haben, überhaupt weiterleiten.
Höhere Stiftungsmittel, die der Stiftung nun zugebilligt werden sollen, bedeuten auch eine größere Zahl von Anträgen. Es wäre deshalb nur recht und billig, wenn sich der Bund mit diesen Mitteln auch an den Verwaltungskosten der Beratungsstellen beteiligen würde.
Sie wollen die Mittel für die Stiftung „Mutter und Kind" um 30 Millionen DM erhöhen.
Wir werden nicht dagegenstimmen. Aber hüten Sie sich, in diesen 30 Millionen DM ein neues Ruhmesblatt im Lorbeerkranz familienpolitischer Leistungen zu sehen, den Sie sich so gern aufsetzen.
— Das Erziehungsgeld war in all diesen Berechnungen, die ich vorgelegt habe, mit enthalten. Eine Woche nachdem Sie beschlossen haben, die Mittel um 30 Millionen DM zu senken, hat der Finanzausschuß bereits beschlossen, daß Ihre Planungen mittelfristig schon wieder über den Haufen geworfen werden.
— Ja, das können Sie hier gern einmal öffentlich sagen, daß Sie die Mittel mittelfristig erhöhen wollen. Wir nehmen das dann zur Kenntnis und zu Protokoll.
— Wie schwierig das Geben und Nehmen bei dieser Regierung ist . . .
Frau Kollegin, Sie müssen zum Ende kommen.
— ja, ich bin sofort am Ende — . . ., haben wir ja in den Beratungen zum Bundeshaushalt festgestellt. Hier sieht es so aus, daß nach den Plänen zur Senkung der Kosten im Gesundheitswesen, die der Sozialminister jetzt vorgelegt hat, bei der Geburt eines Kindes in Zukunft keine Entbindungspauschale mehr bezahlt wird. Das bedeutet für die Krankenkassen eine Einsparung anläßlich von Geburten von 50 Millionen DM.
Frau Kollegin, Sie müssen Ihre Rede jetzt beenden.
Ja. — So bleibt die Bundesregierung auch hier ihrem alten Grundsatz treu: mit der einen Hand geben, mit der anderen doppelt wieder nehmen.
Alle Fraktionen haben die Möglichkeit, hier ihre Meinung zu sagen. Angesichts der kurzen Redezeit ist es manchmal wirklich schwierig, bei den vielen Zwischenrufen den Faden nicht zu verlieren.
Der Herr Abgeordnete Eimer hat jetzt das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wieder einmal stehen wir vor der Tatsache, daß bei der Stiftung „Mutter und Kind" das Geld nicht reicht. Wieder einmal müssen wir zulegen, diesmal 30 Millionen DM. Bei all dem, was man in
Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 46. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. Dezember 1987 3173
Eimer
diesem Zusammenhang kritisch sagen kann — ich will mich davor später nicht drücken — , muß man feststellen: Die Stiftung kommt an. Und wenn man die ursprünglichen Intentionen und auch den heutigen Stiftungszweck betrachtet, können wir ebenfalls feststellen: Das Geld kommt auch bei der richtigen Personengruppe an. Es sind die Frauen aus den unteren Einkommensschichten, vor allem Sozialhilfeempfängerinnen, die die Stiftung „Mutter und Kind" erreicht.
Da frage ich nicht, ob auch Mitnahmeeffekte da sind. Sie sind natürlich da. Nicht jede Frau, die sich beraten läßt, ist in dem Zwiespalt, stellt sich die Frage, ob sie abtreiben soll oder nicht. Aber auch wenn sie von vornherein weiß, daß sie das nicht tun will und Geld von der Stiftung begehrt, trifft das — ich sage es noch einmal — keine Verkehrten.
Ungeachtet all der positiven Bewertungen der Stiftung, zu denen man kommen muß, wenn man objektiv ist, muß man aber auch zugeben: Sie ist ein Reparaturbetrieb für persönliche Notfälle, in die Menschen in unserem reichen Land kommen können.
Ich will deshalb zwei Aspekte der Stiftung betrachten. Da ist zum einen der Ursprung, die Frage: Warum ist diese Stiftung so entstanden? Und da ist die zweite Frage nach der Zukunft der Stiftung: Wo soll es enden, wenn Jahr für Jahr mehr Geld bereitgestellt wird, neu aufgestockt werden muß?
Diese Stiftung entstand als eine der flankierenden Maßnahmen zu § 218 StGB. Liberale konnten und können nicht dem Drängen aus Teilen der Union nachgeben, den § 218 zurückzunehmen.
Aber ich sage diesen Kollegen aus der Union, denen die hohe Zahl der Abtreibung ein Ärgernis ist: Das ist auch für uns ein Ärgernis. Abtreibung ist für Liberale kein Mittel der Geburtenkontrolle.
Wir haben nie zu denen gehört, die mit der Parole „Mein Bauch gehört mir" auf die Straße gingen.
Aber auch wenn wir persönlich strenge Vorstellungen haben, haben wir eine Scheu, Frauen moralisch und strafrechtlich zu verurteilen, wo sie in Abwägung persönlicher Notsituationen anders entscheiden, als es vielleicht wünschenswert wäre. Wir sind nicht für Abtreibung. Aber wir müssen in aller Bescheidenheit zugeben, daß es Dinge gibt, die sich einem menschlichen Richterspruch entziehen. Ich wage nicht, zu urteilen.
So war es nur folgerichtig, daß Liberale in der Stiftung eine willkommene Gelegenheit sahen und sehen, Frauen in Not schnell und unbürokratisch Hilfe zukommen zu lassen.
Aber ich komme zu der Frage: Wie soll es weitergehen? Diese Stiftung erreicht allmählich eine Höhe, bei der wir uns fragen müssen, ob es so weitergehen kann und ob nicht strengere Kriterien eines Leistungsgesetzes notwendig werden.
Erinnern wir uns: Weil die soziale Wirklichkeit nicht so ist, wie wir sie uns wünschen, ist die Stiftung notwendig. Die Daueraufgabe, ein gerechtes Sozialsystem zu schaffen, darf neben der Stiftung nicht vergessen werden.
In dieser Woche erschien in der „Süddeutschen Zeitung" eine Graphik, die einen internationalen Vergleich der Familienpolitik zeigte. Danach gibt es ein einziges Land, in dem der Familienlastenausgleich besser als bei uns organisiert ist. Nun weiß ich allerdings nicht, ob wir so gut oder die anderen Länder so schlecht sind.
— Das ist Österreich. Ich habe die Statistik hier und kann sie Ihnen dann zeigen.
Wir haben, seit es diese Stiftung gibt, eine Reihe von Verbesserungen für die Familie verwirklichen können, wenn auch noch nicht so weit, wie es wünschenswert wäre. Ich meine, das Parlament, diese Regierung, die vergangenen Regierungen, wir alle haben für die Familie schon eine ganze Menge erreicht. Ich wäre froh, wenn wir das gemeinsam hier zugeben könnten und wenn wir nicht versuchen würden, einander zu diffamieren.
Da komme ich auf Ihre Äußerungen zurück, Frau Dr. Götte. Sie haben hier eine Statistik aufgestellt. Es wäre ganz gut, wenn Sie diese Rechnung hier nicht nur verbal aufmachen, sondern uns vorlegen würden.
Denn Sie haben mit Sicherheit nicht alles berücksichtigt, was gemacht wurde. Ich habe — das wissen Sie nicht — gegen dieses 10-Milliarden-Projekt gesprochen und gestimmt, weil ich es für bürokratisch nicht für zweckmäßig gehalten habe. Aber man muß, wenn man ehrlich ist, zugeben, daß hier 10 Milliarden für die Familie ausgegeben worden sind.
Sie sind tatsächlich ausgegeben worden; das ist im Haushalt nachgewiesen.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage der Frau Abgeordneten Schmidt?
Ja, bitte.
Frau Abgeordnete Schmidt.
Herr Kollege Eimer, ist Ihnen die Untersuchung des Rheinisch-Westfälischen Instituts für Wirtschaftsforschung vom April oder Mai dieses Jahres bekannt, das unter Berücksichtigung all der Leistungen, die Sie jetzt genannt haben, und der Abzüge, die Frau Götte aufgeführt hat, und ohne Berücksichtigung des BAföG zu dem Ergebnis kommt, daß die Leistungen für die Familie inzwischen noch nicht wieder den Stand von 1981 erreicht haben?
3174 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 46. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. Dezember 1987
Frau Kollegin, ich kenne eine Reihe solcher Äußerungen aus unterschiedlichen Quellen.
Aber jedesmal, wenn ich die Zahlen zu bekommen versuche, stelle ich fest: Entweder sind sehr einseitige Berechnungen da, oder es wurden nicht alle Maßnahmen einbezogen.
— Ich bin sehr dankbar, wenn wir so etwas bekommen. Denn im Endeffekt kann man nur anhand von Zahlen diskutieren.
Ich meine jedoch: Wenn uns diese Frage ernst ist, können wir sie nicht so abhandeln, wie Sie, Frau Dr. Götte, es teilweise getan haben.
Ich möchte für die Familie gern mehr erreichen. Aber das darf man nicht so machen, daß sich ausgerechnet die, die sich um Familienpolitik kümmern, hier im Plenum und im Ausschuß in die Wolle kriegen, sondern dann müssen wir versuchen, zumindest einigermaßen sachlich und gut zusammenzuarbeiten.
Ich jedenfalls habe die Hoffnung, daß wir in der Verbesserung des Familienlastenausgleichs einmal so weit kommen, daß diese Stiftung nicht mehr oder, wenn doch, nur in einem sehr viel kleineren Umfang notwendig ist.
Vielen Dank.
Das Wort hat Frau Abgeordnete Schoppe.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir haben ja von Anfang an gegen diese Stiftung gewettert, und wir sind mit dieser Stiftung auch heute noch nicht zufrieden, selbst wenn wir von einer Summe von 50 Millionen DM, mit der die Stiftung einmal begonnen hat, inzwischen auf 110 Millionen DM gekommen sind.
Man muß einmal in Ruhe über den Charakter dieser Stiftung nachdenken. Was wir von Anfang kritisiert haben, kritisieren wir auch noch heute. Es gibt keinen Rechtsanspruch für die Frauen, Geld aus der Stiftung zu bekommen. Das muß hier einfach noch einmal betont werden. Das bedeutet nämlich für die Frauen, die in Not geraten sind, einen Bittgang zu machen.
Wenn Sie sich die Gelder anschauen, die ausgeschüttet werden, dann stellen Sie fest, daß die Höchstsumme, die ausgeschüttet werden kann, 6 000 DM beträgt. Aber nennen Sie mir einmal eine Frau, die 6 000 DM bekommt. Ich weiß, daß in Bayern mit der Landesstiftung im Durchschnitt über 2 000 DM gezahlt werden. Ich weiß, daß aber z. B. in Hamburg, im Durchschnitt 800 DM gezahlt werden.
— Herr Kollege, ich weiß, daß Sie sagen wollen, daß es in Hamburg keine Länderstiftung gibt. Das ist wahrscheinlich Ihre Frage. Aber ich lasse Ihre Frage zu. Frau Präsidentin, Sie ziehen mir das bitte nicht ab, weil ich sowieso wenig Zeit habe.
Nein, ich ziehe Ihnen das auf gar keinen Fall ab.
Bitte, Herr Kollege.
Frau Kollegin, sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, daß diese Stiftung mit den Geldern, die sie vermittelt, allein darauf zielt, in unbürokratischer und schneller Weise zu helfen, und daß, wenn wir einen Anspruch einräumen und es über ein Anspruchsverfahren regeln würden, das eben gerade wiederum Bürokratie verursachen würde, und daß darüber hinaus auf andere Weise den Frauen geholfen wird wie beispielsweise über das Erziehungsgeld?
Ist jetzt die Frage zu Ende? — Herr Kollege, ich sage Ihnen dazu folgendes: Mein Eindruck ist, daß Frauen, die schwanger sind und sich in einer finanziellen Notlage befinden, nicht damit abgespeist werden können, daß sie eine einmalige Zahlung bekommen. Denn wir wissen von den Frauen, die in Notlagen sind, daß die finanziellen Mittel, die ihnen fehlen, Monat für Monat fehlen. Deswegen reicht die einmalige Zahlung nicht. Die einmalige Zahlung gaukelt — das sage ich auch noch zu Frau Männle — die Fürsorge des Staates nur vor. Eine wirkliche Fürsorge ist es nicht.
Ich möchte noch einmal zu einem Argument etwas sagen, das hier immer wieder in die Debatte kommt. Das ist das Argument, daß man die Frauen mit dieser Stiftung und mit der Zahlung, die daraus geleistet wird — das stand ja damals im ersten Entwurf — davon abbringen kann, einen Schwangerschaftsabbruch vorzunehmen. Ich sage Ihnen: Überlegen Sie sich einmal genau, was eigentlich für ein Frauenbild dahintersteckt, wenn man sich vorstellt, daß man Frauen, die in ihrem Kopf und in ihrem Herzen bewegen, ob sie ein Kind austragen können oder nicht, sozusagen mit einer einmaligen Zahlung überreden kann, doch dann das Kind auszutragen. Was für ein Bild steckt dahinter?
Ich sage Ihnen einmal, meine Herren: Nennen Sie mir einmal eine Maßnahme des Bundestages, die hauptsächlich die Männer trifft, wie dies eine Maßnahme für Frauen ist! Würden Sie sich, meine Herren, gefallen lassen, daß Sie einen nicht rechtlich abgesicherten Anspruch haben? Würden Sie sich gefallen
Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 46. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. Dezember 1987 3175
Frau Schoppe
lassen, daß Sie mit so wenig Geld abgespeist werden?
Das kann man in dieser Gesellschaft wirklich nur mit Frauen machen,
weil zuwenig Frauen im Bundestag sind, die hier anders abstimmen würden, und weil einfach in einer patriarchalischen Gesellschaft die Frauen mit ihren Bedürfnissen immer an den Rand der Gesellschaft gedrängt werden.
Sehen Sie sich doch die Situation von Alleinerziehenden an; das sind hauptsächlich Frauen. Die Situation der Alleinerziehenden ist katastrophal. Wenn, wie Sie sagen, Frau Männle, immer mehr Frauen von der Stiftung Gebrauch machen, dann tun sie das nicht deshalb, weil es sich herumgesprochen hat, daß man dort Geld bekommt, sondern das ist ein Ausdruck davon, daß mehr und mehr Frauen in dieser Gesellschaft verarmen.
Das Wort hat der Herr Parlamentarische Staatssekretäre Pfeifer.
Frau Präsident! Meine Damen und Herren! Ich möchte, Frau Götte und auch Frau Schoppe, am Anfang eines feststellen: Ich glaube, alles, was Sie hier ausgeführt haben, kann einen Punkt nicht wegdiskutieren, nämlich daß seit 1984, also seit es diese Stiftung gibt, mehr als 100 000 Frauen durch diese Stiftung eine wirksame Hilfe bekommen haben.
Diese Hilfe — das sage ich im Hinblick auf das, was Sie, Frau Schoppe, zum Schluß gesagt haben — kommt zu einem ganz erheblichen Prozentsatz Frauen zugute, die alleinerziehende oder alleinstehende Mütter sind.
Ich glaube, daß deswegen zunächst einmal festgehalten werden muß: Wenn die Mittel für diese Stiftung jetzt erhöht werden, dann heißt das, daß wir im Jahre 1987 und in den kommenden Jahren diese Hilfe ausbauen können. Deswegen ist dieses Gesetz notwendig.
Zweiter Punkt: Für uns ist diese Stiftung immer eine zusätzliche Hilfe neben den gesetzlich begründeten Leistungen gewesen — und das bleibt auch so — , beispielsweise dem Erziehungsgeld, das wir verbessert haben, dem Wohngeld, das wir verbessert haben, den Leistungen im Bereich des Kindergeldes, die wir vor allem durch den Kindergeldzuschlag für viele Familien verbessert haben, der zweimaligen Erhöhung des Kinderfreibetrages, der Verbesserung der Sozialhilfe, der Verbesserung der Hilfe zur Pflege und Betreuung des Kindes.
Meine Damen und Herren, wenn Sie das für das Jahr 1986 vergleichen mit der Situation, die wir vorher gehabt haben, erkennen Sie, daß 10 Milliarden DM mehr für die Familien ausgegeben werden.
Ich halte nichts davon, wenn diese Dinge herunterdiskutiert werden, anstatt zunächst einmal froh darüber zu sein, daß hier ein wirklicher Schritt nach vorne getan worden ist.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Nein, wegen der nur fünfminütigen Redezeit möchte ich keine Zwischenfrage zulassen.
Meine Damen und Herren, der zweite Punkt, den ich festhalten will, ist folgender: 97 % aller Anspruchsberechtigten nehmen heute das Erziehungsgeld in Anspruch. Dieses Erziehungsgeld wird nicht auf andere Sozialleistungen angerechnet. Wir haben für die alleinerziehenden Mütter in der Sozialhilfe einen beachtlichen Mehrbedarfszuschlag eingeführt. Es kann doch nicht bestritten werden, daß dies alles mit Sicherheit die Lebenssituation vieler Mütter und Kinder nach der Geburt entscheidend verbessert hat.
Nun sagen Sie — da widerspreche ich Ihnen nicht — , Ihnen reicht das nicht.
Okay, das ist das Recht der Opposition. Aber gerade deswegen möchte ich hier keinen Zweifel daran lassen, auch wenn dieser Gesetzentwurf heute verabschiedet wird: Wir werden natürlich im Rahmen dessen, was möglich ist, auch diese Leistungsgesetze und die Ansprüche, die auf diese Leistungen bestehen, verbessern. Auch dazu gibt es Aussagen in der Regierungserklärung und in der Koalitionsvereinbarung.
Dennoch bleibt diese Stiftung notwendig. Sie bleibt vor allem deswegen notwendig, weil es immer Konfliktsituationen gibt, die sich mit Hilfe gesetzlich normierter und damit auch typisierter Anspruchsgrundlagen alleine nicht lösen lassen. Wer in einem solchen Fall von den Möglichkeiten dieser Stiftung Gebrauch macht, Frau Schoppe, der nimmt nicht irgendwo ein Almosen in Empfang, sondern der bekommt in einer Situation, wo die Typisierung, die mit Anspruchsgrundlagen verbunden ist, nicht die notwendige Hilfe gibt, die Solidarität dieser Gesellschaft zu spüren.
3176 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 46. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. Dezember 1987
Parl. Staatssekretär Pfeifer
Deswegen bin ich nicht dafür, daß wir hier von Almosen oder dergleichen sprechen.
Diese Stiftung bietet die Möglichkeit, in solchen Fällen, in denen diese Anspruchsgrundlagen alleine nicht ausreichen, differenziert, individuell und unbürokratisch zu helfen. Wir als Abgeordnete sind doch häufig genug in der Situation, wo wir uns wünschen würden, daß man individuell, unbürokratisch und effizient helfen könnte. Da ist eine solche Möglichkeit geschaffen.
Bitte sehen Sie doch auch wie der Herr Kollege Hoffacker den humanen Hintergrund, der gerade in einer solchen Situation damit verbunden ist. Auch deshalb ist dieser Gesetzentwurf richtig.
Diese Stiftung macht ein Stück der Solidarität unserer Gesellschaft für ungeborene Kinder und ihre Mütter deutlich. Bei der Neufassung der gesetzlichen Regelung des Schwangerschaftsabbruchs in den 70er Jahren haben alle Fraktionen die Zusage zum Ausbau der Beratungen und zu stärkeren Hilfen für schwangere Frauen gegeben. Diese Zusage ist für unsere Politik verpflichtend. Unsere Politik bleibt dem Leben verpflichtet. Leben hat Anspruch auf Schutz. Gerade das ungeborene Leben hat Anspruch auf Schutz. Ich bin sicher, daß die erneute Erhöhung der Mittel für die Bundesstiftung eine Voraussetzung dafür schaffen wird, um in vielen Einzelfällen einen konkreten Beitrag zum Schutz ungeborenen Lebens leisten zu können. Deshalb bitte ich Sie, daß Sie diesem Gesetzentwurf zustimmen.
Meine Damen und Herren, weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Einzelberatung und Abstimmung. Der Ausschuß empfiehlt, den Gesetzentwurf unverändert anzunehmen.
Ich rufe die Art. 1 bis 3, Einleitung und Überschrift auf. Wer den aufgerufenen Vorschriften zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Bei Enthaltungen angenommen.
Wir treten in die
dritte Beratung
ein und kommen zur Schlußabstimmung. Wer dem Gesetzentwurf als Ganzem zuzustimmen wünscht, den bitte ich, sich zu erheben. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Ebenfalls bei Enthaltung von SPD und GRÜNEN angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 19 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Scheer, Vosen, Dr. Hauff, Roth, Jung , Andres, Bachmaier, Dr. Böhme (Unna), Börnsen (Ritterhude), Frau Bulmahn, Catenhusen, Fischer (Homburg), Frau Ganseforth, Grunenberg, Frau Dr. Hartenstein, Dr. Hauchler, Lennartz, Lohmann (Witten), Nagel, Meyer, Müller (Düsseldorf), Reschke, Reuter, Seidenthal, Frau Simonis, Schäfer (Offenburg), Schreiner, Stahl (Kempen), Stiegler, Vahlberg, Dr. Klejdzinski, Dr. Soell, Dr. Vogel und der Fraktion der SPD
Forschungs- und Entwicklungsprogramm Solarenergie und Wasserstoff
— Drucksache 11/1175 —
Überweisungsvorschlag des Ältestenrates:
Ausschuß für Forschung und Technologie Ausschuß für Wirtschaft
Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat ist für die Beratung eine Stunde vorgesehen. — Kein Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Abgeordnete Jung .
Frau Präsident! Meine Damen und Herren! Der Weltenergieverbrauch wird weiter wachsen. Daran kann es kaum einen Zweifel geben. Die Brundtland-Kommission, die Weltkommission für Umwelt und Energie, hat kürzlich darauf hingewiesen, daß sich der Energieverbrauch auf der Welt bis zum Jahr 2030 mehr als verdreifachen kann, wenn man die bekannten Wachstumsraten der Weltbevölkerung unterstellt, wenn man außerdem davon ausgeht, daß das Pro-Kopf-Einkommen in den Ländern der Dritten Welt mindestens so viel wächst, daß die Grundbedürfnisse der Bevölkerung befriedigt werden, und wenn man schließlich unterstellt, daß die Art und Weise, wie wir mit Energie umgehen, sich nicht wesentlich ändern wird.
In diesem Fall müßten wir davon ausgehen, daß 1,6mal so viel Öl, 3,4mal so viel Erdgas und fast 5mal so viel Kohle wie im Jahre 1980 produziert werden. Die Kapazitäten der Atomenergie müßten 30mal so groß sein. Dies entspricht der Errichtung eines neuen Atomkraftwerkes mit einer Kapazität von 1 Gigawatt elektrischer Leistung alle drei Tage, so die Brundtland-Kommission.
Dabei wissen wir, daß die Vorräte an fossilen Energieträgern begrenzt sind, am stärksten beim Öl und Gas, weniger stark bei der Kohle, und daß ihre Preise in dem Maße steigen werden, wie sie knapper werden.
Wir wissen auch, daß das Verbrennen der fossilen Energieträger Gefahren heraufbeschwört. Es ist völlig unbestritten: Bei der umweltfreundlichen Nutzung dieser Energieträger haben wir gerade in unserem Land beträchtliche Fortschritte erzielt. Aber die globale Gefahr, daß durch eine unbedachte Verbrennung dieser Energieträger der Treibhauseffekt verstärkt wird und eine Klimakatastrophe droht, wird täglich offenkundiger.
Aber ich betone hier den globalen Effekt. Jedem, der meint, daraus einen Widerspruch zu unserer Kohlevorrangpolitik konstruieren zu können, muß man sagen: Die Nutzung der heimischen Steinkohle, die wir zur Sicherung unserer Energieversorgung noch für lange Zeit brauchen werden, macht nur einen Bruchteil hinter dem Komma dieses Problems aus.
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Jung
Aber allgemein gilt: Wir müssen alle Anstrengungen unternehmen, um diese Energieträger — solange wir nicht über alternative Energiequellen verfügen — so umweltfreundlich und so sparsam wie nur möglich zu nutzen, um sie langfristig als wertvollen Rohstoff der Veredelung vorzubehalten.
Sie, meine Damen und Herren, von der Regierungskoalition, argumentieren doch immer, aus eben diesem Grund müßte die Kernenergie ausgebaut werden. Wir halten dies für einen verhängnisvollen Weg. Die Kernenergie ist keine Alternative, sie bietet keine Perspektive — nicht in unserem Land und schon gar nicht in der Dritten Welt.
Das räumlich und zeitlich nicht eingrenzbare Restrisiko, das trotz der anerkannt hohen Sicherheitsstandards unserer Kernkraftwerke ja im Grunde überhaupt nicht geleugnet wird, macht diese Technik nur noch für eine Übergangszeit verantwortbar. Ich meine, diesem Konsensus waren wir schon einmal ein wesentliches Stück näher, nämlich kurz nach Tschernobyl.
Wenn Sie auf die langfristige Nutzung der Kernenergie setzen, meine Damen und Herren, dann ist es nur konsequent, daß Sie die Projekte des Schnellen Brüters und der Wiederaufarbeitungsanlage betreiben. Wenn Sie sie allerdings als Übergangstechnologie betrachten, wie ja einige führende Repräsentanten von Ihnen schon zum Ausdruck gebracht haben, dann machen weder Kalkar noch Wackersdorf einen Sinn.
Es gibt überhaupt keinen einsehbaren Grund, auf die Nutzung und Weiterentwicklung einer hochkomplizierten, extrem gefährlichen umwelt- und sozialunverträglichen Technologie zu setzen, die im übrigen ja immer teurer wird, wenn sich eine einfach zu handhabende, umwelt- und sozialfreundliche, universell anwendbare Alternative bietet, nämlich die solare Wasserstofftechnologie.
Meine Damen und Herren, wir brauchen eine Energiepolitik, die Umweltbelastungen verringert, die alle Möglichkeiten der Energieeinsparung und rationeller Energienutzung ausschöpft sowie regenerative Energieträger erforscht, entwickelt und in den Markt einführt. Experten sagen uns, daß bis zum Jahr 2000 zwischen 5 und 10 % des Energiebedarfs durch regenerative Energien gedeckt werden können. Das sind im günstigsten Fall rund 40 Millionen Tonnen Steinkohleeinheiten — so viel, wie die Kernenergie heute zu unserer Energieversorgung beiträgt.
Daß der Bundesforschungsminister in diesem Punkt dazugelernt hat, meine ich, belegen seine offiziellen Äußerungen. Vor einem Jahr sprach er in seinem Bericht „Erneuerbare Energien" noch von einem Potential von höchstens 2 bis 4 % im Jahr 2000, und in einer kürzlichen Antwort auf eine schriftliche Frage hat er sich offensichtlich die Annahme des DIW und des Fraunhofer-Instituts zu eigen gemacht, die von einem Potential von immerhin schon 4 bis 7 % regenerativer Energien im Jahre 2000 ausgehen.
Konsequenzen zieht er allerdings daraus nicht. Herr Riesenhuber hat zwar erklärt, jedes vernünftige Projekt regenerativer Energien fördern zu wollen, die Wirklichkeit sieht aber anders aus. Während die Aufwendungen für die Kernenergie mit jährlich 1,5 Milliarden im Forschungsetat fortgeschrieben werden, nachdem sie insgesamt schon rund 30 Milliarden DM betragen, sollen die Aufwendungen für regenerative Energien, die im nächsten Jahr bei knapp 230 Millionen DM liegen, nach der mittelfristigen Finanzplanung abgesenkt werden. Meine Damen und Herren, das ist nicht nur phantasielos, das ist vor allem kurzsichtig.
Einer der Gründe liegt offenbar darin, daß die Bundesregierung als energiepolitische Zukunftsperspektiven den Fusionsreaktor favorisiert, von dem heute niemand weiß, ob er überhaupt jemals technisch funktionieren wird, ganz zu schweigen von der Frage, zu welchen Kosten.
Meine Damen und Herren, einen hervorragenden Beitrag für die zukünftige weltweite Energieversorgung verspricht nach unserer Auffassung die Nutzung von Solarenergie und Wasserstoff zu werden. Die Attraktivität einer Kombination dieser beiden Technologien liegt darin, daß sie nach unserem heutigen Wissensstand sehr umweltverträglich ist. Die Beeinflussung natürlicher Kreisläufe ist gering, Schädigungen der Natur sind nicht zu erwarten, Sonnenenergie und Wasserstoff bergen keine außergewöhnlichen Risiken für Mensch und Natur.
Wir wissen natürlich: Die Solarenergie ist heute noch nicht wettbewerbsfähig. Wenn man sich aber die technologischen Fortschritte und die mit ihnen verbundenen Kostendegressionen anschaut, die in den letzten Jahren erreicht wurden, dann ist die Hoffnung keineswegs abwegig, daß wir mit einer gezielten Forschungsförderung, mit Entwicklungshilfen und Demonstrationsanlagen die solare Wasserstofftechnologie bis zur Jahrhundertwende konkurrenzfähig machen können. Die technischen Probleme sind ja im Grunde gelöst. Die Technologie ist auch im wesentlichen erprobt; sie muß nicht erst entwickelt werden. Was wir brauchen, sind erhebliche Fortschritte bei der kostengünstigen Herstellung von Solarzellen und bei den Anwendungsmöglichkeiten des Wasserstoffs. Wir wollen die zahlreichen Projekte in der Photovoltaik, bei Solarkraftwerken, in der Wasserstofftechnologie unterstützen. Solche Projekte müssen nach unserer Auffassung schnell umgesetzt werden, um die vorhandenen Marktchancen zu nutzen, um sie vor allem nicht allein den Amerikanern und den Japanern zu überlassen.
Die Industrie hat sich ja inzwischen zu einem erheblichen Teil engagiert; aber im Grundsatz wartet sie ab. Alle haben das Ohr auf der Schiene; so hat das der „Spiegel" kürzlich beschrieben. Die Industrie will wissen: Was macht Bonn? Und Bonn will wissen: Was macht die Industrie? Deswegen ist es notwendig, jetzt ein deutliches Signal zu setzen, das für die Zukunft Orientierung gibt.
Wir wollen mit unserem Antrag, ein Forschungs- und Entwicklungsprogramm Solarenergie und Wasserstoff aufzulegen, diese Initiative ergreifen. Mit einem verhältnismäßig geringen Finanzvolumen kön-
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Jung
nen wir uns in der Energiepolitik eine Perspektive eröffnen, die uns nicht nur eine umweltfreundliche und sozialverträgliche, eine tatsächlich regenerative Energieversorgung zur Verfügung stellt, sondern uns außerdem ein industriepolitisch sinnvolles Betätigungsfeld eröffnet, das nicht zuletzt zukünftige Beschäftigungsmöglichkeiten eröffnet.
Schönen Dank.
Das Wort hat der Abgeordnete Lenzer.
Frau Präsident! Meine Damen und Herren! Zunächst möchte ich mich bei dem führenden Initiator dieses Antrags, dem Kollegen Scheer, für die Überreichung dieses Buches bedanken. Wir hätten uns eigentlich die Debatte ersparen können. Er hat ja alles schon gedruckt niedergelegt. Das können wir alles schön durchlesen, und das wollen wir dann in der Ausschußsitzung tun. Haben Sie Verständnis dafür, daß ich den Namen des Verlags und den Preis jetzt allerdings nicht nenne; sonst könnte das Schleichwerbung sein.
— Das kriegen Sie demnächst wahrscheinlich im Antiquariat.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich weiß, daß es in einer solchen ersten Beratung natürlich nur darum gehen kann, zu einem solchen Antrag, der einen sehr komplexen Sachverhalt zum Inhalt hat, nur holzschnittartig und sehr oberflächlich Stellung zu nehmen. Das kann man auch nicht anders erwarten. Der Kollege Engelsberger wird sich nachher noch mit dem einen oder anderen konkreten Projekt beschäftigen, z. B. mit diesem Solarwasserstoffprojekt, das ja im Freistaat Bayern durchgeführt wird.
Ich bedaure es eigentlich ein bißchen, daß die Initiatoren dieses Antrages — und Herr Kollege Jung, das kam in Ihrer Rede zum Ausdruck — wiederum ein an sich seriöses Thema, das noch einer erheblichen Beratung bedarf, weil viele, viele Fragen ungeklärt sind, sich immer wieder insbesondere die eiserne Frage der Wirtschaftlichkeit stellt, dazu benutzt haben, nach einer vermeintlichen Neuorientierung der Energiepolitik zu verlangen. Sie haben wiederum Ihre Angriffe gegen die friedliche Nutzung der Kernenergie vorgebracht. Sie haben — und das ist für mich allerdings neu und erstaunlich — diesmal plötzlich auch einen anderen Punkt angesprochen, nämlich eine Abkehr von der Fusionsforschung. Ich war eigentlich immer der Auffassung — deswegen ist es sehr erstaunlich —, daß das Konsens in der energie- und forschungspolitischen Diskussion sei. Ich brauche mich hier auch nur auf eine Erklärung des sozialdemokratischen Pressedienstes „Europa" zu beziehen, wo der Kollege Linkohr, Mitglied des Europäischen Parlaments, von einem Symposium berichtet und eigentlich in sehr deutlichen Worten nicht nur über das forschungs- und entwicklungspolitische Potential, sondern auch über die europäische Dimension dieses gemeinsamen, sehr breit angelegten Forschungsprogramms berichtet.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage vom Abgeordneten Vosen?
Herr Kollege Lenzer, halten Sie die Fusionsforschung für eine Art der Grundlagenforschung? Oder glauben Sie daran, daß die Fusionsforschung tatsächlich einen wirklichen Beitrag zur Energieversorgung in Zukunft leisten kann?
Herr Kollege Vosen, das kommt ganz darauf an, von welchem zeitlichen Horizont ich ausgehe. Die Fusionsforschung ist ebensowenig eine Möglichkeit, die Energieprobleme von morgen zu lösen, wie etwa die in Ihrem Antrag angesprochene Solar-Wasserstoff-Forschung.
Aber wenn Sie davon ausgehen, daß hier eine Option ist, die der Erforschung, der Entwicklung und der Betrachtung bedarf, dann gebe ich Ihnen zu: Beides ist gleichwertig zu behandeln. Wir beschäftigen uns seit Jahren mit dieser Thematik. Und was jahrelang gegolten hat, kann nicht plötzlich falsch sein, nur weil man in der SPD durch die Parteitage eine andere Beschlußlage herbeigeführt hat. Lassen Sie uns doch bitte in Zukunft alle diese Optionen in aller Ruhe betrachten, und lassen Sie uns dann sehen und auf der Basis gesicherter Erkenntnisse urteilen, was dabei herauskommt.
Deswegen — ich bitte um Verständnis, daß ich nicht sehr viel Zeit zur Verfügung habe — zum Stichwort: Neuorientierung der Energiepolitik. Wir sind der Auffassung, es besteht keine Veranlassung dazu, weil die Energiepolitik all die Jahre immer wieder einer kritischen Prüfung unterzogen worden ist. Zu Ihrer Regierungszeit war es richtig, wenn man sagte: Wir müssen alle möglichen Optionen ausschöpfen und weiterverfolgen. Wir müssen weiterhin — worauf Sie in Ihrem Antrag mit Recht hinweisen — die Umweltverträglichkeit mit ganz hoher Priorität betrachten. Wir müssen schließlich auch Energierohstoffe sparsam einsetzen. Das ist alles richtig. An der damaligen Betrachtung hat sich bis heute nichts geändert.
— Herr Kollege Stahl, Sie wissen das doch sehr gut. Es wäre gut, wenn wir wieder zu diesem Konsens zurückkehren könnten, der da lautet: Nicht alle Risiken konzentrieren, sondern das Risiko möglichst breit streuen und versuchen, einen Energiemix im Angebot darzustellen,
der sowohl preisgünstig als auch realistisch, sparsam und umweltverträglich die Energieversorgung sichert.
Ich sehe die Gefahr, daß durch diesen Antrag hier der Eindruck erweckt wird, man könne die Energieprobleme von morgen mit diesem Deus ex machina, den man quasi aus dem Zylinder zieht, dem SolarWasserstoff-Komplex, lösen und könne damit einen der großen — ich nenne es einmal so — klassischen Primärenergieträger — etwa einen fossilen Primärenergieträger: Kohle, Öl — oder die friedliche Nutzung der Kernenergie ersetzen. Das — Sie wissen es
Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 46. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. Dezember 1987 3179
Lenzer
selbst — mag vielleicht einmal in ferner Zukunft möglich sein. Aber dazu müssen Sie schon in sehr weiten Zeithorizonten denken. Eine Antwort auf die Probleme von morgen, Herr Daniels, werden Sie mit dieser Option nicht geben können. Das dürfen wir nie vergessen. Denn wir haben Politik unter realistischen Bedingungen und in der Verantwortung für einen ganz klaren Auftrag zu machen.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage, Herr Kollege Lenzer?
Bitte.
Herr Stahl, bitte.
Herr Kollege Lenzer, wenn Sie davon sprechen, daß das Thema, über das wir heute reden — die Wasserstofftechnologie —, in 30 oder erst in 40 Jahren — hoffentlich — zur Energieversorgung entscheidend beitragen kann, dann würde ich Sie fragen, ob es richtig war, daß der Forschungsminister z. B. die Forschungsmittel vor allen Dingen für den nichtnuklearen Energiebereich sehr stark eingeschränkt hat, und ob Sie mir zustimmen, daß unter diesem Gesichtspunkt der Antrag der sozialdemokratischen Bundestagsfraktion
unter hauptsächlicher Ausarbeitung von Herrn Scheer gerade das Richtige ist,
um — wie auch Sie vorhin gesagt haben — die Energieträger langfristig breiter streuen zu können.
Darf ich ganz schnell etwas sagen. Die Frau Kollegin Unruh wollte Sie in meinem Auftrag rügen, weil Sie beide Hände in den Hosentaschen haben.
Oh, Entschuldigung, Frau Präsidentin.
Sie haben das Wort, Herr Kollege Lenzer.
Ich bitte um Entschuldigung, daß ich mir ein Schmunzeln nicht verkneifen kann. Ich kenne den Kollegen Stahl als einen sehr höflichen und angenehmen Kollegen. Ich hätte mich nicht daran gestört.
Lieber Herr Stahl, das soll nicht heißen, daß zu diesem Thema nichts gemacht werden soll. Nennen Sie mir bitte ein einziges sinnvolles Projekt in diesem Bereich, das nicht gefördert worden wäre.
Ich glaube, ich kann für alle Kollegen von der Koalition sprechen —, wenn ich sage, daß es kein einziges
sinnvolles Projekt gibt, für das bisher noch keine Fördermittel bewilligt worden sind. Herr Kollege Becker, da können Sie uns beim Wort nehmen. Wir können im Dialog mit der Bundesregierung dafür fast garantieren. Man kann ja immer nur sagen: Durchsage erfolgt ohne Gewähr.
— Lassen Sie mich dazu gleich ganz konkret etwas sagen. Ich habe Ihnen die Zahlen mitgebracht.
Zunächst zurück zur Fusion: Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen von der SPD-Fraktion, sind Sie sich eigentlich bewußt, was Sie da verlangen, wenn Sie in diesem Antrag den Ausstieg aus der Fusionsforschung postulieren?
— Doch, lieber Herr Vosen. Es steht darin — soll ich Ihnen das noch mal vorlesen? — :
Auch die bisher in der Forschungs- und Entwicklungspolitik als künftige neue Großquelle angestrebte Fusionsenergie ist keine Alternative.
Meine Damen und Herren, wissen Sie eigentlich, daß in der KFA Jülich 144, im Kernforschungszentrum Kalrsruhe 206, im Max-Planck-Institut für Plasmaphysik in Garching 523, d. h. 873, jetzt nicht gerechnet die Forscher an den Universitäten und Hochschulen, qualifizierte Wissenschaftler auf diesem Gebiet tätig sind? Die lassen Sie alle grüßen. Von denen werden Sie Bescheid bekommen.
Wollen Sie die Leute alle brotlos machen?
Haben Sie — weil gerade von Jülich die Rede ist — das eigentlich mit dem Ministerpräsidenten des Landes Nordrhein-Westfalen, Ihrem Parteifreund Johannes Rau, abgestimmt, der sich auf der anderen Seite durchaus bemüht, das Land Nordrhein-Westfalen immer wieder als Standort auch für Hochtechnologie anzupreisen? Das können Sie nicht, hier aussteigen und dort, auf der anderen Seite, Rosinenpickerei betreiben. Bitte bedenken Sie, was Sie hier fordern.
Der Auftrag an die Bundesregierung — und damit komme ich zu der Frage des Kollegen Stahl — kommt ganz einfach zu spät. In einer Antwort auf Anfragen, die Sie, Herr Scheer, im Parlament eingebracht hatten
— ich kann Ihnen auch sagen, wo und wann: Es steht in der Drucksache 10/6785 — , nimmt die Bundesregierung, am 7. Januar 1987, umfassend zu diesem Komplex Stellung. Dort erfahren Sie, daß die Bundesregierung im Bereich solarthermischer Kraftwerke 216,9 Millionen DM, Photovoltaik 524,9 Millionen DM, Photochemie 11 Millionen DM, Brennstoffzellen 33,9 Millionen DM, Wasserstoffauto 39,5 Millionen DM, Systemprojekte 55,3 Millionen DM, also 882 Mil-
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Lenzer
lionen DM, ausgibt. Dafür muß eine alte Frau lange stricken.
— Verzeihen Sie, Frau Unruh. Es sollte ein Scherz sein.
— Seien Sie doch nicht so verbissen.
Ich empfehle Ihnen die Lektüre dieses Ausdrucks aus dem Förderungskatalog des Forschungsministeriums. Und ich wiederhole das Angebot: Nennen Sie ein einziges sinnvolles Projekt in diesem Bereich — ich hätte fast gesagt: Bittet, so wird euch gegeben — —
Es gibt ja auch eine ganze Reihe von Projekten, die mittlerweile in Angriff genommen worden sind. Ich hatte bereits gesagt, daß sich der Kollege Engelsberger u. a. mit dem Solar-Wasserstoff-Bayern-Projekt, das unter starkem Engagement der Wirtschaft dort verfolgt wird, beschäftigt. Wie Sie sehen, ist also durchaus auch privates Interesse vorhanden.
Wir sind alle der Meinung, daß es sich um eine wichtige, später mögliche Option handelt. Wir sind weiter der Meinung, daß wir uns das genau anzusehen haben. Sie werden auch nicht gehört haben, daß ich hier irgend jemandem einen Vorwurf wegen dieses Antrags gemacht hätte.
Aber ich muß rügen, Herr Vosen, daß immer wieder der Eindruck erweckt wird, als ob man hier eine Patentlösung zur Überwindung aller Energieprobleme, und zwar schon für morgen, gefunden habe. Dies ist einfach objektiv nicht richtig. Wir werden noch lange Zeit mit diesem Energiemix, mit diesem Setzen auf die verschiedensten Primärenergieoptionen leben müssen, ob uns das schmeckt oder nicht. Ich empfehle uns, daß wir zu einer realistischen Betrachtung zurückkehren.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich habe noch etwas Zeit, ich will sie aber im Interesse meines Freundes Engelsberger gar nicht ausschöpfen. — Eines muß ich natürlich noch loswerden: Ich möchte meinen Beitrag nicht schließen, ohne auf das Projekt in Pellworm hinzuweisen, das ja in dem Wahlkreis unseres allseits geschätzten und beliebten, von Film, Funk und Fernsehen bekannten Kollegen Peter Harry Carstensen liegt. Das hatte ich ihm vorher versprochen, und das bin ich nun losgeworden. Ich bitte um Verständnis.
Vielen Dank.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. Daniels.
Lieber Herr Lenzer, mit solchen Mätzchen werden Sie der Problematik der Nutzung der erneuerbaren Energien sicher nicht gerecht.
Meine Damen und Herren, liebe Kollegen von der SPD, die GRÜNEN wollen eine andere Energiepolitik. Wir wollen den Ausstieg aus der Atomenergie. Wir haben bewiesen, daß das kurzfristig umwelt- und sozialverträglich möglich und wirtschaftlich machbar ist.
Wir wollen eine sparsame und umweltschonende Nutzung der fossilen Brennstoffe. Die Schonung begrenzter Vorräte, sowie die weitestgehende Vermeidung umweltschädigender Emissionen. Das müssen die Prämissen für eine vernünftige Energiepolitik sein. Dies kann letztlich nur durch den Einstieg in die erneuerbaren Energiequellen, den Einstieg in die Nutzung der Kraft aus Sonne, Wind und Wasser gewährleistet werden.
Angesichts dieser energiepolitischen Grundsätze müßten die GRÜNEN mit fliegenden Fahnen auf Ihren Antrag, liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, zueilen. Wir würden dies auch tun, wenn mit Ihrem Antrag eine grundlegende Änderung der Energieversorgung möglich wäre, wenn mit Ihrem Antrag ein Beitrag zur Verbesserung der Chancen der Sonnenenergie verbunden wäre. Ihr Antrag ist jedoch unpräzise und damit politisch wirkungslos, ja er bewirkt sogar das Gegenteil dessen, was Sie wollen, wenn Sie zwar alle Anwendungsfelder von Sonnenenergie und Solarwasserstoff benennen, Forschungsförderung verlangen, aber konkrete Umsetzungsschritte vergessen.
Ich frage Sie: Worin unterscheiden Sie sich bei diesem Antrag eigentlich von der Regierung, die, wie wir gerade gehört haben, schließlich auch auf den Einsatz von Finanzmitteln für den Forschungsbereich der Alternativenergien setzt? Darüber hinaus gibt es weitere gewichtige Mängel im SPD-Antrag, auf die ich im folgenden eingehen möchte.
Sie benennen in Ihrem Antrag zwar auch Energie-einsparen und Markteinführung aller regenerativen Energieträger als notwendige Maßnahmen, richten den Antrag aber ausschließlich auf die Forschungsförderung aus. Es ist doch blauäugig, Energieeinsparung und Markteinführung zu meinen und Forschungsförderung zu sagen.
In der gegenwärtigen sogenannten Vorsorgepolitik ist es doch gerade das Verhängnis, daß überall dort, wo konkrete Maßnahmen angesagt werden, die Politik aus Angst vor konkretem Handeln sich in die Forschungsförderung flüchtet. Ich muß hier feststellen, daß nicht nur die Praxis der Regierung, sondern auch die Vorstellung der Sozialdemokraten sich an dieser unverantwortlichen Handlungsweise orientieren.
Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 46. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. Dezember 1987 3181
Dr. Daniels
Notwendig und vordringlich wäre es, das bereits vorhandene Wissen umzusetzen. Es ist bekannt, daß Investitionen in Energiesparmaßnahmen weitgehend billiger sind als die Bereitstellung neuer Energieanlagen.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage, Herr Kollege Daniels?
: Er soll erst mal zuhören.
Bekannt ist auch das Energiesparpotential. Es beträgt in allen Verbrauchssektoren rund 50 %. Wir alle wissen, daß sich die Sonnenenergie nur dann bezahlt macht, wenn sie mit konsequenter Energieeinsparung gekoppelt wird.
Was die Markteinführung angeht, schauen Sie doch mal nach Japan! Dort wird im Vergleich zur Bundesrepublik wesentlich stärker in die angewandte Forschung, in Produktionsverfahren und in die Markteinführung investiert. Mit einer Jahresproduktion von 9 Megawatt von amorphen Sonnenzellen haben die Japaner längst alle Länder abgehängt. Statt dessen werden in der Bundesrepublik Milliarden in die Atomenergie, Milliarden in die Kohlebeihilfen staatlicherseits investiert, alles Markthilfen für die konventionellen Energieträger. Da erscheint es geradezu lächerlich, daß die gering geförderte Sonnenenergie den verzerrten Marktkräften preisgegeben werden soll.
Auf eine weitere Gefahr in Ihrem Antrag möchte ich Sie hinweisen. Die indirekte Nutzung der Sonnenenergie mit solarerzeugtem Wasserstoff kann nicht durch ein Forschungsprogramm zur Förderung der Wasserstofftechnologie erreicht werden.
Sind Sie vielleicht jetzt bereit, eine Zwischenfrage zuzulassen, oder sind Sie generell dazu nicht bereit?
Ich bin im Augenblick dazu nicht bereit.
Sehr unfreundlich, wie Sie hier antworten.
Die Wasserstoff-Förderung, wie sie in Ihrem Antrag gefordert wird, kann zwar im Windschatten der Sonnenenergienutzung mitsegeln. Ohne eine Strategie zur Umsetzung der Forschungsergebnisse, ohne eine Strategie zur Nutzung der Sonnenenergie werden die Ergebnisse der Wasserstofforschung jedoch dazu dienen, die absehbaren Überkapazitäten der Atomstromwirtschaft aufzufangen.
Das ist in Frankreich geplant. Aus propagiertem Solarwasserstoff wird so unversehens Atomwasserstoff.
Aus diesem Grunde stehen die GRÜNEN auch dem Solarwasserstoffprojekt in der Oberpfalz sehr kritisch gegenüber. Es könnte aus diesem Engagement für die Sonnenenergie sehr rasch ein Instrument werden, um der Atomindustrie aus der Klemme zu helfen.
Wie sieht die Realität der Energieversorgung aus, meine Damen und Herren? Die großen Energieversorgungsunternehmen haben in erster Linie ein Interesse daran, Produktionskapazitäten mit gesichertem Absatz zu schaffen. Die konventionellen Stromproduzenten mit den großen Überkapazitäten im Kraftwerksbereich haben kein Interesse an den erneuerbaren Energien. Trotzdem schöpfen sie die Forschungsmittel für erneuerbare Energie ab: das RWE mit dem Photovoltaik-Projekt an der Mosel, das Bayernwerk für das Solarwasserstoffprojekt in der Nähe der Wiederaufarbeitungsanlage in Wackersdorf, das Baden-werk für die Weiterentwicklung von Wasserkraftnutzungsanlagen und die Preag für die Windenergie.
Die Großverbundunternehmen wollen mit diesen Maßnahmen die Entwicklung der erneuerbaren Energien für sich kontrollierbar machen. Sie wollen die breite Nutzung bis auf das Jahr 2050 verschieben, den Schwerpunkt auf den Export legen und die Anwendung im Inland verhindern. Allerdings kann man aus den Aktivitäten nach Tschernobyl entnehmen, daß die großen Energieversorgungsunternehmen für einen, von ihnen selbst einkalkulierten weiteren Katastrophenfall in einem Atomkraftwerk die erneuerbaren Energieträger dann aus der Schublade ziehen wollen.
Was sind denn nun die eigentlichen Hindernisse? Erstens. Wenn heute Kommunen in die Photovoltaik oder die Windenergie einsteigen — —
Herr Kollege, damit ist Ihre Redezeit zu Ende.
Sie werden sie zu Dumpingpreisen — —
Herr Kollege, Ihre Redezeit ist zu Ende, bitte reden Sie nicht weiter.
Ich habe noch einen Satz.
Nein, Sie haben keinen Satz mehr. Sie verlassen bitte das Podium.
Meine Damen und Herren, das Wort hat der Abgeordnete Professor Laermann.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich möchte eine Bemerkung machen, die sicher nicht ganz freundlich ist. Wenn das die Präsentation der jungen Generation deutscher Physiker ist, dann sieht es eigentlich arm aus. Ich bin mir allerdings bewußt, daß das ein völlig atypischer Fall ist. Deswegen versage ich es mir auch, auf diese unsachlichen Äußerungen im einzelnen einzugehen.
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Dr.-Ing. Laermann
Wir haben es hier mit einem Antrag der SPD-Fraktion „Forschungs- und Entwicklungsprogramm Solarenergie und Wasserstoff" zu tun. Um es vorweg zu sagen, damit es hier kein Mißverständnis gibt: Ich kann dem grundsätzlich zustimmen, auch in einer ganzen Reihe von Einzelheiten, wenn auch bei weitem nicht in allen Punkten. Was die Ansätze betrifft
— ja; was die Vorstellung über die Wege angeht — nein.
Der Antrag bestätigt nämlich die bisherige Politik der Bundesregierung, genauer gesagt: der Bundesregierungen seit den frühen 70er Jahren. Ich erinnere mich daran, daß ich, als ich 1974 in dieses Parlament kam, als erste Amtshandlung einen Brief an den damaligen Forschungsminister Matthöfer geschrieben habe mit der Bitte, zu prüfen, ob es nicht notwendig sei, ein Solarforschungsprogramm aufzulegen. Er hat mir mehr oder weniger freundlich geantwortet. 1975/76 hatten wir dieses Programm dann mit steigenden Förderzahlen.
Seit dieser Zeit sind die Haushaltsansätze für nichtnukleare Energieforschung und insbesondere für die Erforschung und Entwicklung neuer Techniken zur Erschließung erneuerbarer Energiequellen kontinuierlich gesteigen. Wir haben weiterhin eine steigende Tendenz zu verzeichnen, im Verhältnis zu den Aufwendungen für den Bereich der nuklearen Energieforschung. Diese Zahlen können Sie ja der mittelfristigen Finanzplanung entnehmen, Herr Kollege Stahl. Ich gehe davon aus, daß auf unsere Bemühungen, nämlich des Parlamentes, hin diese Zahlen zunehmen und auch weiter steigen werden.
— Nein, sie sind gestiegen.
— Ja, bei Ihnen in der Optik, aber nicht in den Zahlen.
Betrug das Verhältnis der Forschungsförderung nuklear — einschließlich Fusionsforschung — zu nichtnuklear 1982 noch 2,3 : 1, waren es 1987 1,5 : 1. Berücksichtigt man den Anteil der Großforschungseinrichtungen entsprechend ihren tatsächlichen Aktivitäten in der nuklearen Energieforschung — sie sind ja deutlich zurückgegangen, zum Teil sogar auf null, und ihre Aktivitäten liegen vorwiegend im Bereich der Sicherheitsforschung — , dann sind wir für 1988 schon bei einem Verhältnis von 1,2 : 1 angekommen. Dabei habe ich auch die Aufwendungen und die Beiträge der Bundesrepublik zu den internationalen Organisationen einbezogen.
Ich denke, wir sind allesamt einverstanden, daß wir das tun, daß wir uns nämlich um die internationale Absicherung und Sicherung und die Entwicklung von Standards und Prüfverfahren bemühen. Die Beiträge zu internationalen Organisationen in Wien und auch zu EURATOM werden ja wohl nicht in Frage gestellt werden.
Herr Professor Laermann, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Vosen?
Bitte.
Herr Kollege Laermann, da ich Sie als Fachmann kenne, bezweifle ich Ihre Verhältniszahlen nicht. Diese aber drücken trotzdem nicht den tatsächlichen absoluten Rückgang der Forschungsförderung aus — —
Sie wollten eine Frage stellen.
— ja, ich stelle sofort die Frage — , weil ja die Großprojekte Schneller Brüter und Hochtemperaturreaktor in der Finanzierung zurückgegangen sind. In absoluten Zahlen ist die Förderung der nichtnuklearen Energieforschung, besonders der regenerativen Energieforschung — das ist meine Frage: Können Sie das bestätigen? — doch wirklich zurückgegangen.
Die Frage ist zu Ende. Bitte, Herr Professor.
Herr Kollege Vosen, wollen Sie dann bitte auch zur Kenntnis nehmen, daß auf Grund unserer langjährigen interfraktionellen Bemühungen die Förderungsinstrumente des Forschungsministeriums auch verändert worden sind und daß sich, was die direkte Förderung in Programmen angeht, natürlich das Verhältnis von Industrieaufwendungen zu Aufwendungen der öffentlichen Hand verändert hat. Deswegen sage ich: Auf eine Förderquote von 50 % bezogen, sind wir in der Bilanz wesentlich höher als wir früher je gewesen sind. Wir haben einen kontinuierlich steigenden Anteil.
— Ich gebe Ihnen gerne Rechennachhilfe, Herr Kollege Stahl. Ich glaube aber nicht, daß Sie die nötig haben. Sie tun hier nur so.
Ich verhehle auch nicht — damit Sie ein Bonbon bekommen —, daß die FDP eine raschere Umorientierung sehr begrüßt hätte. Die aus den frühen 70er Jahren herrührenden langfristigen vertraglichen Verpflichtungen in der nuklearen Entwicklung aber haben den Handlungsspielraum doch über die Maßen
— nach unserem Verständnis — eingeschränkt. Sie haben Brüter und Hochtemperaturreaktor genannt. Ich will das den Kollegen von der SPD-Fraktion nur noch einmal in Erinnerung rufen. Ich will Ihnen daraus keinen Vorwurf machen — damit wir uns da nicht mißverstehen —, aber ich meine, Sie sollten sich daran erinnern, woher denn diese Verpflichtungen rühren. Wir sind sicherlich darin einig, daß wir solche eingegangenen Verpflichtungen und Verträge einhalten und abwickeln müssen. In dem gebotenen Rahmen haben wir versucht die Dinge umzuorientieren und umzuschichten. Ansichten und Einsichten können und müssen sich gewiß ändern. Aber daß Regierungsverantwortung auch beinhaltet, von vorherigen Regierungen eingegangene Verträge zu erfüllen, darüber sind wir uns doch sicherlich einig.
Wir sind uns aber auch darin einig — das sage ich ganz deutlich und nachdrücklich und nicht erst hier
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Dr.-Ing. Laermann
und heute; das wissen Sie sicher sehr genau, Sie erinnern sich — , daß die Verminderung der Umweltbelastungen, daß rationelle Energieverwendung in Umwandlungsprozessen wie in der Energienutzung und die Erforschung und Entwicklung von Techniken zur Nutzung erneuerbarer Energiequellen zu einem zentralen Anliegen der Forschungs- und Technologiepolitik gemacht werden müssen und es ja auch sind. Es wird ja so verfahren, wenn das einigen auch nicht schnell genug geht. Dabei sollten wir die wirtschaftlichen Aspekte und auch die Auffassungen und Interessen anderer Länder der Welt nicht außer acht lassen.
Verehrte Kollegen von der SPD, Sie haben recht, wenn Sie auf die zu befürchtenden langfristigen globalen Auswirkungen einer intensiven weltweiten Energieversorgung auf der Grundlage fossiler Energieträger — sprich: u. a. auch das CO2-Problem —, auf die Begrenztheit der Ressourcen und den steigenden Weltenergiebedarf infolge wirtschaftlicher Entwicklung der Länder der Dritten Welt und der zunehmenden Weltbevölkerung hinweisen. Wir werden davon auszugehen haben — auch wenn die Industriestaaten bei der weiteren Einsparung von Energie noch so erfolgreich sind — , daß wir weltweit einen steigenden Energiebedarf haben. Es liegt in unserer Verantwortung, Lösungen zu finden.
Es stellt sich die Frage, wie wir diesen Bedarf dekken können. Diese Betrachtung im Zeitrahmen sagt mir ganz deutlich, daß wir ohne die Nutzung der Kernenergie vorläufig nicht werden auskommen können und daß wir auch nicht auf mögliche Optionen einer eventuellen Nutzung der Kernfusion verzichten können. Da hat der Kollege Lenzer recht.
In Ihrem Antrag steht in der Tat: Die vorhandenen Forschungs- und Entwicklungskapazitäten für Fusionsenergie in Europa sind umzuwidmen. — Sie haben dann gesagt, wohin. Das heißt doch Aussteigen aus der Fusionsenergie. Aber wir sind ja nicht allein in Europa. Wir sind sogar internationale Verpflichtungen eingegangen. Ich denke an das ITER-Projekt, das eine Kooperation zwischen der Sowjetunion, den USA, Japan und Europa — sprich: der EG — vorsieht. Ich meine, daß wir langfristig gesehen hier in der Tat auch weiter werden forschen müssen. Ich bin auch nicht sicher, ob das zu einem Ergebnis führt, ob wir das jemals zur Deckung des Energiebedarfs werden nutzen können, aber wir sind dennoch aus dem Aspekt der Vorsorge heraus verpflichtet, dies zu tun.
Aus der Überlegung heraus, daß wir den Weltenergiebedarf nicht durch Kernenergie und nicht durch fossile Energieträger werden decken können, bin ich mit Ihnen darin einig, daß alle erneuerbaren Energiequellen — Sonne, Wind, Biomasse, Geothermik oder was immer es gibt — im kleinen, dezentral genutzt werden müssen. Wenn die Energiedichte auch gering ist, so werden die erneuerbaren Energiequellen in der Summe doch einen wichtigen Beitrag zur Deckung des Energiebedarfs leisten können, auch in unseren Breiten. Da gibt es gar kein Vertun. Die Frage der Wirtschaftlichkeit will ich hier nicht ansprechen, aber rein technisch gesehen besteht die Möglichkeit. Wir sollten diese Entwicklungen kontinuierlich, in aller
Behutsamkeit und nicht im Hauruck-Verfahren — das sage ich an die GRÜNEN gerichtet, denn damit schaden Sie mehr als Sie nutzen — fördern.
— Ich weiß, daß ich bei Ihnen damit nicht ankomme, aber lassen wir es. Dann brauchen wir uns auch nicht weiter darüber zu unterhalten.
Darüber hinaus — auch dies dürfte unstrittig sein — müssen aber auch die Voraussetzungen für eine zukünftige großtechnische Nutzung von Solarenergie und Wasserstofftechnik geschaffen werden. Es erscheint mir vom heutigen Stand der Erkenntnisse aus gesehen möglich, dazu, wie gesagt, vor allem auf Photovoltaik in Verbindung mit der Erzeugung von Wasserstoff zu setzen, was nach meiner Kenntnis derzeit die einzige sinnvolle wirtschaftliche Möglichkeit eröffnet, kurz- und längerfristig auch elektrische Überschußenergie zu speichern. Vielleicht können wir damit auch dezentral der Sonnenenergienutzung und der Windenergienutzung zum Durchbruch verhelfen. Auf Ihre Spekulationen gehe ich jedoch nicht weiter ein.
Nun muß ich allerdings die Frage stellen, ob nicht aus unseren bisherigen Erfahrungen heraus bezüglich der Akzeptanzproblematik auch die Wirkung einer solchen Technik auf die Umwelt und die Sicherheit beim Umgang mit Wasserstoff von Anfang an begleitend mit untersucht werden muß. Stellen wir uns nur einmal die großtechnische Nutzung vor. Wenn Sie 1 000 Megawatt Nennleistung über Solarzellen gewinnen wollen, dann brauchen Sie nach dem heutigen Erkenntnisstand schon bei polykristallinem Silizium eine Fläche von etwa 65 Quadratkilometern. Wenn dies in großtechnische Nutzung überführt wird, können Sie sich vorstellen, was dies für Akzeptanzprobleme gibt? Sie sagen in Ihrem Antrag: Es ist nicht erkennbar, daß es hier Naturbeschädigungen gibt. Wie verändern denn solche Solarfarmen in der Sahara — um einmal die Vision von Herrn Dr. Dahlberg aufzunehmen — mit solchen riesigen Flächen etwa das Klima im Mittelmeerraum? Ich denke, wir sind richtig beraten, wenn wir auch an dieser Stelle zunehmend begleitende Forschungsaktivitäten unternehmen. Ich jedenfalls halte das für unverzichtbar.
— Ich halte es für unverzichtbar; ich möchte noch einmal betonen, daß ich das für notwendig halte.
Ich sehe, wie gesagt, auch hier einen erheblichen Bedarf an Begleitforschung. Wir sollten aus den Erfahrungen der Vergangenheit lernen und denselben Fehler nicht ein wiederholtes Mal machen.
Lassen Sie mich auch noch anmerken, daß Fragen der Wirtschaftlichkeit, der Optimierung der Herstellungs- und Nutzungsprozesse eine bedeutende Rolle spielen und ganz entscheidend für die Umsetzungsgeschwindigkeit neuer Energietechniken sind.
Ich möchte hier jetzt — die Zeit ist abgelaufen — nicht weiter auf Einzelheiten des vorliegenden Antrags eingehen. Dazu sollte in den Beratungen der Ausschüsse hinreichend Gelegenheit gegeben sein. Ich würde es begrüßen, wenn wir eine sehr gründliche Beratung in den Ausschüssen vornehmen könnten:
3184 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 46. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. Dezember 1987
Dr.-Ing. Laermann
nicht nur im Forschungsausschuß, sondern eben auch — hier haben wir wirklich wieder ein interdisziplinäres Problem, das wir als Querschnittsaufgabe betrachten müssen — in anderen Ausschüssen, und zwar wegen der nationalen wie der internationalen Bedeutung der Erschließung und Nutzung erneuerbarer Energien. Denn damit erfüllen wir, das Parlament, einen Teil unserer Verpflichtung, einer Verpflichtung gegenüber nachfolgenden Generationen, auch gegenüber Ländern der Dritten Welt.
Ich meine, daß wir, in diesem wohlverstandenen Sinne auch zu einer Formulierung von forschungs- und energiepolitischen Zielen über Parteigrenzen hinweg kommen sollten. Das müßte, meine ich, möglich sein. Denn das ist ein Gebiet, das sich für kurzfristige parteipolitische Profilierungsakrobatik nicht eignet. Wenn wir uns im Grundsätzlichen einig werden können, dann sollten wir, denke ich, auch unterschiedliche Auffassungen über den richtigen Weg zu diesem grundsätzlichen Übereinkommen und zu den gemeinsam formulierten Zielen ausräumen können und Schwierigkeiten überwinden können. Das wäre jedenfalls mein Anliegen für die zukünftigen Ausschußberatungen.
Wir stimmen der Überweisung an die Ausschüsse zu.
Danke schön.
Das Wort hat Herr Abgeordneter Dr. Scheer.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir wollen uns an der teilweise unsachlichen Polemik, die in manchen Bemerkungen zum Ausdruck kam, nicht beteiligen. Es geht um den Versuch der Herstellung eines neuen energiepolitischen Konsenses. Denn niemand wird doch wohl im Ernst unterstellen, daß in bezug auf die Kernenergie je wieder ein energiepolitischer Konsens wie in den 50er, 60er und frühen 70er Jahren hergestellt werden könnte. Und die tatsächlichen Gefahren der Verbrennung fossiler Energien sind so dramatisch, daß wir uns alle keinen Gefallen tun, dies herunterzuspielen. Es gilt, Alternativen frühzeitig, so früh wie möglich zu entwickeln.
Es geht bei diesem Solar-Wasserstoff-Konzept nicht allein um die Nutzung der solaren Strahlungsenergie, also um Sonnenkraftwerke, Sonnenstrom, sondern es geht, wie es auch im Antrag zum Ausdruck kommt, auch um die breitere Ausschöpfung der vorhandenen Wasserkraft
und der Windkraft. Dies ist von großer Bedeutung, wenn man bedenkt, daß mehr als 95 % der verfügbaren Wasserkraft noch nicht ausgeschöpft sind
und wahrscheinlich nur auf diesem Wege ausschöpfbar gemacht werden können, nämlich indem dieser Wasserstrom gespeichert und damit transportiert werden kann. Das heißt: Es geht um die Nutzung sämtlicher regenerativen, unerschöpflichen Energiequellen für die Herstellung eines umweltneutralen Energieträgers — das ist das Grundkonzept — , eines Energieträgers, der universell zur Verfügung stehen würde und uns auf diesem Wege — mit der Koppelung der Erzeugung von regenerativem Strom mit Wasserstoffproduktion — die Möglichkeit vermittelt, alle diese regenerativen Energiepotentiale voll auszuschöpfen — einschließlich der ganzen Schwankungsbreiten; das alles kann berücksichtigt werden — und dabei gleichzeitig die Wirtschaftlichkeit dieser regenerativen Energiequellen zu verbessern.
An der Stelle ist es notwendig, einige Maßstäbe zurechtzurücken. Denn die Aufgabe, um die es hier geht, wird in einer Weise heruntergespielt, daß dies den Problemen, denen wir politisch gegenüberstehen, ökologisch nicht mehr gerecht wird. Ich nenne die Wirtschaftlichkeit: Da werden Kernenergiekosten den jetzigen Wasserstoffkosten gegenübergestellt. Bei den Kernenergiekosten wird dabei geflissentlich verschwiegen, daß hier allein in der Bundesrepublik mehr als 30 Milliarden DM öffentliche Vorinvestitionen getätigt worden sind; die Entsorgungskosten sind noch nicht in Rechnung gestellt. Dies alles, was an Vorinvestitionen bzw. noch nicht vorhandenen, noch nicht aufzurechnenden Kosten gegeben ist, wird einem Energieträger gegenübergestellt, in den bisher verhältnismäßig sehr geringe Mittel hineingesteckt worden sind. Das ist unverhältnismäßig.
Wie unverhältnismäßig das ist, kann man auch an einem anderen Beispiel sehen. Die Fusionsenergie ist genannt worden, Herr Kollege Lenzer. Für die Fusionsenergie — bei uns liegen schon Mittel in Höhe von 2 Milliarden DM drin — ist die Frage des Ob bis heute nicht geklärt. Das wissen wir alle. Als frühester Termin wird das Jahr 2050 unterstellt. Die Frage, ob es geht, ist beim solaren Wasserstoff schon geklärt. Bei der Fusionsenergie spielen Wirtschaftlichkeitsüberlegungen überhaupt keine Rolle. Bei der solaren Wasserstoffenergie wird ständig mit mangelnder Wirtschaftlichkeit operiert. Das ist angesichts der Probleme, die wir haben, nicht verhältnismäßig.
Sie sagten, Herr Kollege Lenzer, das könne vielleicht einmal in ferner Zukunft sein. Angesichts der dramatischen CO2-Probleme in der Welt können wir ein längeres Warten nicht verantworten. Keiner unterstellt, wir könnten von heute auf morgen die gesamte Energieversorgung auf Wasserstoff umstellen. Aber je länger wir mit großen politischen Anstrengungen warten, desto länger, mehr und gravierender haben wir es mit dem CO2-Klimaproblem zu tun.
Ich wage vorauszusagen, daß angesichts dessen, was es an wissenschaftlichen Untersuchungen gibt, in den nächsten anderthalb bis zwei Jahren die Frage ganz anders diskutiert wird, als es gegenwärtig noch der Fall ist.
Ich gehe auf die Argumente der GRÜNEN nicht ein. Sie waren zu unsachlich. Hätten Sie den Antrag besser durchgelesen, dann wäre manche Ihrer Fragen erledigt gewesen.
Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 46. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. Dezember 1987 3185
Dr. Scheer
Aber ich gehe noch einmal auf die Maßstäbe ein. Völlig selbstverständlich weiß bei der Kernenergie jeder: Wären nicht 30 Milliarden Forschungsmittel hineingesteckt worden, dann wäre sie nie zu dem Preis gekommen, zu dem man sie heute hat.
Genau das gleiche gilt natürlich für einen Energieträger, der unglaubliche und geradezu phantastische ökologische Chancen verspricht. Wie selbstverständlich — ich will doch gar nicht polemisieren — diskutieren wir über 7 Milliarden Entwicklungskosten für ein neues Jagdflugzeug — und knausern um 10, 15, 20 Milliarden, wenn es um die Solarenergie geht. Was sind das für politische Maßstäbe? Das frage ich.
Das ist eine Frage nicht nur an die deutsche Politik. Es ist eine Frage an die europäische Politik. Wir haben in Europa eine gemeinsame Grundlage, nämlich die Montanunion, für den Kohlebereich. Wir haben eine gemeinsame Grundlage für den EURATOM-Bereich. Wo ist die gemeinsame Grundlage — oder der Versuch dazu — für ein Euro-Solarprogramm angesichts der Möglichkeiten, die sich hier ergeben, angesichts auch der wirtschaftlichen Effekte, die das mit sich bringt? Ich nenne ein paar Beispiele: neben den Umweltchancen, die das Luftverschmutzungsproblem für uns lösbar machen könnten — 48 Milliarden DM volkswirtschaftliche Schäden im Jahr allein durch Luftverschmutzung! — , gleichzeitig wirtschaftliche Effekte, Automobilbau, Motorenbau für wasserstoffgetriebene Antriebsaggregate, Stahlindustrie, Röhrenbau, Solarzellen, Halbleiterindustrie, Kraftwerksbau für Solar-, Wind- und Wasserkraftwerke, elektronische Industrie für die Halbleiter, chemischer Anlagen- und Apparatebau und nicht zuletzt der Schiffbau, was Wasserstofftanker betrifft — dies vielleicht vor allem im Zusammenhang mit dem, was an Wasserstoff vielleicht bereits Anfang des nächsten Jahrtausends zur Verfügung steht, aus Kanada geliefert, mit Hilfe der dortigen Wasserkraft erzeugt. Das sind doch alles Dinge, vor denen wir nicht die Augen verschließen können.
Da wird dann immer gesagt — heute ist das Argument nicht gekommen — , unsere Energieabhängigkeit würde erhöht werden. Ich halte das für falsch. Wenn man es mit Wasserkraft, Windkraft und Sonnenkraft koppelt, würde sich unsere Energieabhängigkeit mittelfristig reduzieren. Es gibt doch gar keinen Zweifel, daß die erste Generation einer Wasserstoffnutzung zunächst dazu führen würde, daß man das Öl ersetzt, weil der Treibstoff- und der Wärmemarkt die erste große Nutzungsmöglichkeit des Wasserstoffs ist. Das heißt, es ist in erster Linie eine AntiÖl-Strategie. Da muß man unsere jetzige Energieabhängigkeit zu dem ins Verhältnis setzen, was es dann an Verbindungen im Zusammenhang mit einer Wasserstoffnutzung gäbe.
Das heißt, es geht im Grunde und im wesentlichen darum, die Hürden der Wirtschaftlichkeit nicht zuletzt durch staatliche Vorinvestitionen und durch enge Zusammenarbeit mit der hier schon engagierten Industrie zu überwinden. Diese Hürden der Wirtschaftlichkeit will ich kurz benennen. Wir haben einen zu kleinen Markt für Wasserstoff, und dieser zu kleine Markt verhindert die Senkung der Herstellungskosten. Das ist ein einfacher ökonomischer Zusammenhang.
Wir haben eine noch zu teure Speicherung, weil die bisherigen Speichertechniken noch nicht wirtschaftlich sind. Hier setzen unsere Entwicklungsaufgaben auch in der Forschungs- und Entwicklungspolitik an.
Wir haben bisher keine ausreichende und gezielte Materialforschung für die Entwicklung von neuen Solarzellen. Die bisherigen Solarzellen sind Abfallprodukte der Computerwirtschaft und der elektronischen Industrie. Diese ausreichende und gezielte Materialforschung ist eine Aufgabe der Forschungspolitik.
Wir haben zu kleine Leistungseinheiten für den Verbrauch von Wasserstoff, weil die Anlagekosten auf Grund zu geringer Nachfrage noch zu hoch sind. Das heißt, es geht um Forschungspolitik, Entwicklungspolitik und selbstverständlich um Markteinführungshilf en.
Hier ist zunächst einmal von uns der Versuch gemacht worden, einen Antrag einzubringen, der dem Forschungs- und Technologieausschuß und dann dem Bundestag die Chance bieten soll, alles, was hier getan werden kann — es ist sehr, sehr viel mehr, als viele denken — , auf den Weg zu bringen. Das wollen wir möglichst gemeinsam tun, denn die Probleme — ich wiederhole es noch einmal — , die in ökologischer Hinsicht und in energiepolitischer Hinsicht auf uns zukommen, sind zu groß, als daß wir uns hier Halbherzigkeit leisten könnten.
Vielen Dank.
Das Wort hat der Abgeordnete Engelsberger.
Frau Präsident! Meine Damen und Herren! Zunächst möchte ich zu den Ausführungen von Herrn Kollegen Scheer sagen, daß die Zeit, die mir zur Verfügung steht, oder überhaupt die Stunde, die für die Debatte über die Wasserstofftechnologie angesetzt worden ist, eigentlich zu kurz sind, um die Themen ausgiebig und erschöpfend zu behandeln.
Deshalb sind wir alle mehr oder minder gehalten gewesen, uns auf wenige Ausführungen und Tatsachen zu beschränken, die anzusprechen uns der Zeitraum erlaubt. Ich werde auf Ihre Ausführungen im Rahmen meiner Rede noch zurückkommen.
Meine Damen und Herren, jede Energieform ist geschichtlich gesehen eine Übergangsenergie. Auch wir wissen um die Begrenztheit der heute nutzbaren fossilen Energiereserven der Welt. Wir wissen vor allem um die damit verbundenen ökologischen Pro-
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Engelsberger
bleme, die ja auch von Ihnen angesprochen worden sind. Hier stehen wir möglicherweise vor einer dramatischen Entwicklung, die in ihren Auswirkungen alles in den Schatten stellen könnte, was wir bisher zum Thema Kernenergie gehört haben. Ich denke hier an das Kohlendioxidproblem und die damit verbundene Klimaveränderung, die nach Aussagen von Experten dazu führen kann, daß schon in der ersten Hälfte des nächsten Jahrhunderts Mitteleuropa möglicherweise nicht mehr bewohnbar sein wird. Damit ist alles ausgedrückt.
Somit ergibt sich für die fortgeschrittenen Industrienationen die verpflichtende Aufgabe, energiepolitische Alternativen aufzuzeigen und in der sehr aufwendigen energiepolitischen Forschung und Entwicklung möglichst viele Optionen offenzuhalten. Denn nach allen hinter uns liegenden Erfahrungen wäre es vermessen, wollten wir heute energiepolitisch schon wieder alles auf eine Karte setzen. Vor einer solchen Strategie, meine Damen und Herren, möchte ich vor allem die SPD warnen, die ja bekanntlich in den fünfziger und sechziger Jahren geradezu euphorisch auf die Kernenergie gesetzt hat,
aus der sie heute genauso emotional Hals über Kopf wieder aussteigen möchte. Das ist der Unterschied zwischen Ihnen und uns, daß wir zunächst an unseren früheren Aussagen festhalten.
Auf der Suche nach der Energie von morgen brauchen wir vor allem Gelassenheit und Stetigkeit. Denn selbst einer der größten Protagonisten der Solarwasserstofftechnik, Ludwig Bölkow, rechnet bei der Umstellung auf die Sonnenenergie und die Wasserstoffwirtschaft mit einem Zeithorizont von zunächst 60 bis 70 Jahren. Ich glaube, Herr Scheer, wir unterscheiden uns etwas in der Einschätzung der Verwirklichung, wann es tatsächlich möglich sein wird, die Wasserstofftechnik in der Praxis durchzusetzen.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Wenn sie nicht auf die Zeit angerechnet wird.
Nein, wir rechnen sie Ihnen nicht an. Dann lassen Sie sie zu? — Dr. Scheer.
Herr Kollege, würden Sie bestätigen, daß auch Herr Bölkow damit nicht sagt, daß erst in 60, 70 Jahren mit der Wasserstoffnutzung begonnen werden könnte, sondern daß bis dahin die breite Nutzung der Wasserstoffenergie möglich sein kann, d. h. daß man sehr, sehr viel früher damit anfangen kann und muß?
Herr Kollege Scheer, Sie haben sich sehr vorsichtig ausgedrückt und haben gesagt: „die Nutzung möglich sein kann". Die Frage ist damit offen. Ich möchte Ihnen sagen, weil Sie Fachmann und Experte sind — ich habe Ihr Buch gelesen — , daß es doch daran liegt, ob wir vernünftige Wirkungsgrade gerade bei der Elektrolyse bekommen werden. Mit heutigen Wirkungsgraden von etwa 50 To können wir wirtschaftlich diese solare Wasserstofftechnik nicht verwirklichen. Wenn Sie sich vorstellen, daß wir bei der Umwandlung des Wassers in Wasserstoff und Sauerstoff 50 % Verlust haben, daß wir weiterhin das Transportproblem haben, den Wasserstoff in großen Gasleistungen von Afrika nach Europa zu bringen und daß wir dann bei der Umsetzung des Wasserstoffs in elektrische Energie wieder einen Wirkungsgrad von 40 % haben, wird deutlich, daß nur ein ganz geringer Prozentsatz dieser Energie bei uns in der Bundesrepublik ankommt.
Meine Damen und Herren, ich könnte noch viel dazu sagen. Ich möchte Sie noch darauf aufmerksam machen, daß gestern abend Herr Professor Bednorz hier in Bonn in einem Vortrag eine sehr bedeutende Äußerung im Hinblick auf die Supraleitung gemacht hat. Er hat gesagt, daß möglicherweise schon in den 90er Jahren die Stromübertragung durch Supraleitfähigkeit realisiert werden kann. Meine Damen und Herren, dann brauchen wir keinen Wasserstoff mehr und keine Umwandlung in den Wasserstoff, dann können wir die Solarenergie oder die Wasserkraftenergie direkt in die Industrieländer überführen.
— Ich habe leider nicht die Zeit, Herr Scheer, darauf genauer einzugehen. Es würde mich freuen, ich könnte das.
Meine Damen und Herren, es wäre eine Illusion zu glauben, diese Zeitspanne könnte durch zusätzliche Finanzmittel beliebig verkürzt werden. Deshalb hätte Ihr Antrag nur dann einen Sinn, wenn man der Bundesregierung vorwerfen könnte, sie würde auf dem Gebiet der Solarenergie und der Wasserstoffwirtschaft zu wenig tun. Ein solcher Vorwurf wäre aber angesichts der vorliegenden Fakten und Aktivitäten absurd.
Wenn Sie sich beispielsweise die Ausarbeitung des BMFT „Wasserstoff — Energieträger mit Zukunft", Ausschußdrucksache 009, ansehen, werden Sie auf eine Fülle von Forschungs- und Entwicklungsprogrammen stoßen, die fast nahtlos mit den von Ihnen erhobenen Forderungen übereinstimmen. Sie fordern also gerade im Bereich der Forschung und Entwicklung Initiativen und Projekte, die vom BMFT längst geleistet werden.
In dem uns ebenfalls zugegangenen Förderungskatalog des BMFT sind nach dem Stand vom 28. Februar 1987 allein 190 Projekte auf dem Gebiet der solarthermischen Kraftwerke, der Photovoltaik, der Brennstoffzellen sowie unterschiedlicher Wasserstoffsysteme mit einem Gesamtaufwand von 880 Millionen DM enthalten. Wer deshalb den Eindruck vermittelt, die Forschungs- und Entwicklungsarbeiten auf dem Gebiet der Solar- und Wasserstofftechnik würden bei uns vernachlässigt, ist entweder inkompetent oder er ist böswillig. Aber vermutlich handelt es sich hier nur um ein Ablenkungsmanöver der SPD.
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Engelsberger
Meine Damen und Herren, nachdem die SPD vor den energiepolitischen Realitäten der Gegenwart kapituliert hat, träumt sie wieder einmal von der alle Probleme lösenden Energie von morgen. Solarenergie und Wasserstoff sind für die SPD sozusagen als Kontrastprogramm zu ihren kernenergiepolitischen Schreckens- und Ausstiegsszenarien der Stoff, aus dem die Träume sind.
Herr Kollege Scheer, ich möchte Ihnen sagen, es wäre höchst an der Zeit, daß wir auch hier im Deutschen Bundestag zu einem Konsens in der Energiepolitik, wie er vorhanden war, zurückkehren. Ich glaube, wir werden unsere Kohleprobleme nicht lösen können, wenn der Einsatz von Kernenergie in der Bundesrepublik uns nicht letzten Endes einen Preis garantiert, zu dem unsere Wirtschaft und unsere Industrie noch exportfähig bleibt. Das wollte ich dazu sagen.
Im Freistaat Bayern haben wir übrigens schon vor Tschernobyl ein Projekt der Solar-Wasserstoff-Technik zwischen Herrn Dr. Bölkow und der Bayernwerk AG vereinbart. Ziel dieses Projektes ist es, die praktische Stromgewinnung aus verschiedenen Solarzellen, die Einspeisung dieses Stromes in das öffentliche Netz und die Möglichkeit der Gewinnung eines speicherfähigen Energieträgers zu erproben. Ich kann mir nicht vorstellen, wie der Herr Kollege von den GRÜNEN zu der dubiosen Vorstellung kommen kann, daß das hier etwas mit der Kernfusion zu tun hat. Vielmehr ist hier der günstigste Standpunkt im Bayerischen Wald gefunden worden, an dem man dieses Projekt erfolgversprechend verwirklichen kann.
Die vielfältigen Aktivitäten der in Bayern ansässigen Wirtschaft auf diesem Gebiet — von der Halbleiterproduktion über die Photovoltaik bis hin zur Herstellung und Montage von Solarkollektoren —, die Vielfalt der bayerischen Forschungsstätten, in denen auch auf diesem Spezialgebiet Ergebnisse mit internationaler Anerkennung erarbeitet werden, der traditionell hohe Anteil des aus Wasserkraft erzeugten Stromes ebenso wie der Bau von Solarhäusern zeigen beispielhaft, daß man diesem Grundsatz unserer Politik auch in der Praxis Rechnung getragen hat.
Herr Kollege Scheer, ich möchte mich bei Ihnen besonders bedanken, daß Sie sich sehr stark gerade für die Wasserkraft einsetzen. Mir scheint nämlich die Möglichkeit, eine Wasserstoff-Technologie zu verwirklichen, viel eher unter dem Einsatz der Wasserkräfte in den Kontinenten gegeben zu sein, in denen die Wasserkraft erst zu nur etwa zwei oder drei Prozent ausgebaut ist. Wir wissen, daß in Kanada vier Großprojekte von Wasserkraftwerken mit je 5 000 Megawatt geplant und im Bau sind. Das sind also riesige Dimensionen. Sie kennen aus der Presse auch die Vorstellung, daß man den Wasserstoff dort erzeugt, mit Transportern in die Industrieländer überführt und wieder in Energie zurückverwandelt. Der Wasserstoff hat einfach das Bestechende, daß er letzten Endes schadstofffrei verbrennt, daß er praktisch zu Wasser verbrennt. Das könnte langfristig unsere Umweltbelastung entspannen und ein Szenario sein, das für Jahrhunderte Gültigkeit hat. Aber leider sind wir bis jetzt noch nicht so weit.
Meine Damen und Herren, so wichtig politische Phantasien und technologische Träume bisweilen sein können, sie dürfen uns aber nicht zur Flucht aus der politischen Realität verleiten. Zumindest für eine Regierungspartei sind Träume oder Phantasien gerade im Energiebereich deshalb kein Politikersatz. Wie ich schon gesagt habe, müssen wir ja die Sicherheit der Versorgung der Bundesrepublik Deutschland mit ausreichender Energie und zu bezahlbaren Preisen letzten Endes verantwortlich gewährleisten.
Nehmen Sie bitte zur Kenntnis, daß die Sechste Weltwasserstoff-Konferenz vor Jahresfrist in Wien im Gegensatz zu Ihren Forderungen im Wasserstoff ausdrücklich keine Alternative zur Kernenergie gesehen hat. Man hat sich auf dieser Wiener Tagung ganz im Gegenteil von der Kernenergie wichtige Schrittmacherdienste für die Wasserstoff-Wirtschaft erhofft, weil man nämlich den billigen Kernenergiestrom in Zeiten geringeren Bedarfes für die Elektrolyse nutzen kann. Sie sehen also, daß Sie sich auch in dieser energiepolitischen Sachfrage einmal mehr ins internationale Abseits gestellt haben; denn Sie wissen ja, die UNO-Konferenz mit 142 Nationen hat sich einstimmig weiter für den Einsatz der Kernenergie auch nach Tschernobyl ausgesprochen. Wir können immer darüber reden, daß wir aus der Kernenergie aussteigen, wenn wir eine vernünftige Ersatzenergie haben. Die steht uns heute natürlich nicht zur Verfügung.
Meine Damen und Herren, gerade in der Energiepolitik müssen wir immer wieder mit Enttäuschungen und Rückschlägen rechnen. Immerhin konnte selbst Israel — Israel verfügt, wie Sie wissen, über kochentwickelte technische Intelligenz und industrielle Fertigungsfähigkeiten — trotz bester klimatischer Bedingungen den Anteil der Solarenergie an der gesamten Primärenergie bis heute nur auf 2 % bringen. Es sind lediglich 2 % trotz Einsatz höchstmöglicher Summen. Frankreich hat bekanntlich seine Versuchsanlage am Nordrand der Pyrenäen vor Jahresfrist wegen Unwirtschaftlichkeit stillgelegt. Ich darf Ihnen auch sagen, daß unser deutsches Projekt in Pellworm erst in 30 Jahren die Energie wieder zurückbringen wird, die eingesetzt werden mußte, um diese Anlage zu bauen. Sie bringt bei 4 700 Quadratmeter Solarfläche lediglich 270 000 Kilowattstunden im Jahr. Das sind noch keine Ergebnisse, die man in das Großtechnische umsetzen könnte.
Es kann deshalb auch nicht damit getan sein, daß wir in der Bundesrepublik immer wieder neue, aufwendige Solarprojekte rund um den Erdball entwikkeln und erproben, wenn dabei am Ende nicht auch greifbare und verwertbare Ergebnisse herauskommen; denn mit Solartourismus allein werden wir die Probleme unserer künftigen Energieversorgung mit Sicherheit nicht lösen können.
Es wäre im übrigen auch unzulässig, so zu tun, als wäre mit der Solartechnologie verbundene Wasserstofftechnik gänzlich unproblematisch. Herr Scheer, Sie wissen, das Wasserstoff mit Sauerstoff das hochexplosive sogenannte Knallgas ergibt. Derartige Gasexplosionen könnten die Sozialverträglichkeit dieser
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Engelsberger
Energieform zwar nicht in Frage stellen, aber zumindest tangieren.
— Wir haben auch bei Stadtgas leider immer wieder Explosionen gehabt, die zu Verlusten von Menschenleben führten. Das ist ganz klar, Herr Stahl. Leider ist das so.
Meine Damen und Herren, wir werden selbstverständlich zustimmen, daß Ihr Antrag an die entsprechenden Ausschüsse verwiesen wird und dort sachgerecht und noch tiefschürfender behandelt werden kann. Aber wir müssen feststellen, daß wir dem Antrag zunächst nicht zustimmen können, weil er einerseits Maßnahmen fordert, die von der Bundesregierung seit Jahren in ausreichendem Maße gefördert werden, und weil er andererseits energiepolitisch wieder einmal alles auf eine Karte setzt, und zwar diesmal auf die Solarenergie und die Wasserstofftechnik.
Ihre Redezeit ist zu Ende.
Ich habe es gesehen, Frau Präsident. Ich werde zum Schluß kommen.
Mit einem Satz?
Ich versuche es mit einem Satz.
Meine Damen und Herren, aus all' diesen Gründen, die ich darzulegen versucht habe, sollten wir in der Diskussion im Ausschuß und bei der Weiterbehandlung dieses wirklich interessanten Projekts uns zu einer Einigung entschließen können; denn ich darf abschließend feststellen: Wir haben in den Jahren 1983 bis 1986 320 Millionen DM für die Förderung der Wasserstoff- und Solarenergietechnik ausgegeben. Sie haben von 1979 bis 1982, also auch in drei Jahren, dafür 260 Millionen DM ausgegeben. Sie können feststellen oder an den Fingern abzählen, was mehr ist, 320 oder 260 Millionen.
Ich hoffe, meine Damen und Herren, daß wir in dieser Frage noch einen Konsens erreichen können.
Ich danke Ihnen.
Meine Damen und Herren, weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die Aussprache.
Der Ältestenrat schlägt vor, den Antrag der Fraktion der SPD — Forschungs- und Entwicklungsprogramm Solarenergie und Wasserstoff — an die in der gedruckten Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Erhebt sich dagegen Widerspruch? — Das ist nicht der Fall. Dann ist das so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 21 auf:
a) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über die Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der Agrarstruktur und des Küstenschutzes"
— Drucksache 11/675 —
Überweisungsvorschlag des Ältestenrates:
Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten
Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Haushaltsausschuß
b) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Bericht der Bundesregierung über die künftige Gestaltung der Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der Agrarstruktur und des Küstenschutzes"
hier: Rahmenplan 1988 bis 1991 und nachträgliche Änderung des Rahmenplans 1986 bis 1989
— Drucksache 11/841 —
Überweisunrgsvorschlag des Ältestenrates:
Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten
Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Haushaltsausschuß
Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat sind für diese gemeinsame Beratung 30 Minuten vorgesehen. — Auch hier ist das Haus einverstanden.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat Herr Abgeordneter Herkenrath.
Frau Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wenn sich vorhin die Energiepolitiker beklagt haben, daß sie zur Erörterung einer wichtigen Frage nur eine Stunde Zeit hatten, so möchte ich feststellen: Wir Agrarpolitiker beklagen uns nicht, daß wir jetzt eine im Rahmen der europäischen Agrarpolitik auch ganz wichtige Frage im Plenum in einer halben Stunde ansprechen müssen; denn wir wollen, daß die beiden Drucksachen, die Grundlage dieser Debatte sind, möglichst schnell an die Ausschüsse — zur Federführung an den Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten — kommen und dort dann gemeinsam im Sinne der Gemeinschaftsaufgabe beraten werden.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich plädiere also für eine schnelle und schwungvolle Überweisung an die Ausschüsse, wie sie auf der Drucksache aufgeführt sind.
Wir haben hier, wie ich meine, wieder einen Schritt im Bereich der europäischen Agrarpolitik weiterzumachen, wissend, daß wir da einen Politikbereich ansprechen, der für die Mehrheit der Bürger derzeit ja ziemlich unverständlich ist und deshalb von der Mehrheit der Bürger auch ablehnend behandelt wird, obwohl die Sachverhalte eigentlich ziemlich einfach sind.
Der Hauptknackpunkt in der europäischen Agrarpolitik ist die Überschußproduktion. Immer weniger
Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 46. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. Dezember 1987 3189
Herkenrath
Menschen produzieren immer mehr. Seit Jahren wird dann auch noch überflüssige Produktion staatlicherseits subventioniert. Dies versucht man nun seit einiger Zeit zu ändern. Man stellt fest, daß eine fast 30jährige Entwicklung einer formulierten Agrarpolitik nicht von heute auf morgen umgestellt und geändert werden kann. Es ist ein schwieriger Prozeß, Schritt für Schritt. Hier ist wieder ein Schritt vorgesehen, der in diesen Drucksachen beschrieben wird. Denn die bisherige Agrarstrukturpolitik hat dazu beigetragen, daß die Landwirtschaft ihre Produktivität und damit auch ihre Produktionsbedingungen deutlich steigern konnte. Die Produktions- und Arbeitsbedingungen auf dem Lande sind ständig verbessert worden. Als Ergebnis der Strukturpolitik der vergangenen Jahre in Verbindung mit dem technischen Fortschritt und unterstützt durch eine einkommensorientierte Markt- und Preispolitik der Europäischen Gemeinschaft haben sich die agrarpolitischen Rahmenbedingungen heute gegenüber denen der 70er und auch der 60er Jahre grundlegend verändert. Deswegen muß dieses Gesetz, das in den 70er Jahren formuliert worden ist, fortgeschrieben werden.
Heute sind erhebliche strukturelle Überschüsse auf nahezu allen Märkten vorhanden, die durch den damit verbundenen Preisdruck die Einkommen unserer Landwirte und ihre Existenz gefährden. Deshalb ist vorrangiges Ziel der Agrarpolitik heute der Abbau der Überschüsse und die Wiederherstellung eines Marktgleichgewichtes.
Gleichzeitig muß stärker als in den vergangenen Jahren auf die Umweltverträglichkeit der landwirtschaftlichen Produktion und die Erhaltung der Kultur-und Erholungslandschaft geachtet werden. Da kommt der Landwirtschaft nach wie vor eine bedeutende Rolle zu.
Es muß auch angestrebt werden, daß möglichst viele bäuerliche Betriebe existieren und zur Erhaltung unserer Kultur- und Erholungslandschaft beitragen können.
Sie sehen, das sind große Aufgaben, die man hier so gelassen ausspricht. Die Neuausrichtung der Agrarpolitik, die gleichermaßen von der Europäischen Gemeinschaft, vom Bund und von den Ländern zu tragen ist, soll deshalb über die Marktentlastung die Produktions- und Arbeitsbedingungen der bäuerlichen Betriebe sichern helfen und gleichzeitig zum Schutz und zur Erhaltung der ländlichen Umwelt beitragen.
Die Verantwortung für diese Aufgaben haben Bund und Länder nach meiner Meinung in gleicher Weise; sie soll nun durch Anpassung des Gesetzes über die Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der Agrarstruktur und des Küstenschutzes" an die geänderte agrarpolitische Zielsetzung dokumentiert und auch gesetzlich festgelegt werden.
So sind hier neue oder teilweise auch geänderte Förderungsmaßnahmen einzuleiten. Es ist alles zu fördern, was geeignet ist, die Produktion zu beschränken, statt sie zu vergrößern, um es den land- und forstwirtschaftlichen Betrieben in erster Linie zu ermöglichen, sich an die Marktentwicklung anzupassen. Außerdem müssen wir auch Vorhaben nach dem Flurbereinigungsgesetz stärker als bisher an der ökologischen Ausgleichsfunktion des ländlichen Raums orientieren.
— Das Gesetz über die Gemeinschaftsaufgabe läßt bisher nur die Finanzierung von Maßnahmen zur Verbesserung der Produktions- und Arbeitsbedingungen zu, Frau Flinner.
Die veränderten ökonomischen und umweltpolitischen Rahmenbedingungen werden — da werden Sie mir sicher zustimmen — zur Zeit nur unzureichend berücksichtigt. Der hier zur Beratung vorgelegte Gesetzentwurf — ähnliches können wir ja auch dem Bericht der Bundesregierung über die künftige Gestaltung der Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der Agrarstruktur und des Küstenschutzes" entnehmen — will den bisherigen Zielkatalog des Gemeinschaftsaufgabengesetzes erweitern.
Ich kann hier im Rahmen der mir zur Verfügung stehenden Zeit nicht — ich will es auch nicht, weil das im Grunde dann nur oberflächlich wäre — auf Einzelheiten eingehen. Ich kann auch nicht auf die Argumente eingehen, die voraussichtlich nachher noch gebracht werden. Wir werden dies ja in der bewährten Praxis des Agrarausschusses ausführlich, aber, ich hoffe, auch zügig und gründlich behandeln. Wir könnten nämlich in diesem Gesetzentwurf Maßnahmen zur Existenzsicherung der Betriebe wieder fördern, die mit den derzeit auf der europäischen Ebene verhandelten Maßnahmen in Verbindung stehen, als da sind Extensivierungsbestrebungen, Extensivierung der landwirtschaftlichen Bodennutzung oder sogar Herausnahme landwirtschaftlicher Flächen aus der Produktion; all dies könnte in diesen Katalog mit aufgenommen werden.
Im Bereich wasserwirtschaftlicher und kulturbautechnischer Maßnahmen sollte auch den ökologischen Erfordernissen des ländlichen Raumes und damit dem Umweltschutzgedanken — auch durch finanzielle Förderung — stärker Rechnung getragen werden.
Ich erhoffe mir sehr, daß die Bundesregierung bei diesen Aufgaben mit den Ländern zu einem Konsens kommt, zumal der Gesetzentwurf, der uns vorliegt, aus dem Bundesrat zu uns gekommen ist.
Ich erhoffe mir auch die angesichts der Bedeutung notwendige breite Unterstützung hier in unserem Hause. An der Finanzierung dieser Aufgaben sollten Bund und Länder in gleicher Weise beteiligt sein.
Das ist ein interessantes Beispiel dafür, daß es zwischen dem Bund und den Ländern Gemeinschaftsaufgaben gibt. Und dafür ist eine abgestimmte Finanzierung notwendig. Ich werde in der Kürze der Zeit nicht auf irgendwelche Zahlenbeispiele abstellen. Ich möchte nur die Hoffnung zum Ausdruck bringen, daß auf diesem schwierigen Feld, wo ein Prozeß zur Verbesserung der Situation der Landwirtschaft unter Beachtung der ökologischen Zielvorgaben, die wir heute in der Politik haben, stattzufinden hat, ein Schritt nach dem anderen vorwärtsgegangen wird, und daß dabei soziale Probleme im Agrarbereich vielleicht vermieden oder doch gelöst werden.
3190 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 46. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. Dezember 1987
Herkenrath
So ist dieser Gesetzentwurf ein notwendiger Schritt
auf dem Weg zur Änderung und zur Weiterentwicklung der europäischen Agrarpolitik. Er gibt uns Spielraum — zusätzlich zu dem, was in Brüssel in diesen Dingen zu beschließen ist — , national eigenständige Maßnahmen zu treffen. Das ist etwas, so meine ich, was wir begrüßen und nutzen sollten.
In diesem Sinne plädiere ich dafür, daß der Gesetzentwurf zusammen mit dem Bericht der Bundesregierung an die Ausschüsse überwiesen und dort sehr schnell und sehr zügig behandelt wird. Denn wir brauchen die Ausweitung des Aufgabenkatalogs für die Gemeinschaftsaufgabe.
Danke schön.
Das Wort hat der Abgeordnete Koltzsch.
Frau Präsidentin! Meine Damen! Meine Herren! Seit langem ist eine grundsätzliche Aussprache über die Agrarstrukturpolitik und den ländlichen Raum überfällig. Angesichts des gravierenden Überschusses und der Finanzprobleme konzentriert sich die Agrardiskussion vorrangig auf die Preis- und Marktpolitik, nach meinem Dafürhalten zu Unrecht. Denn einige der Hauptursachen der Existenznot vieler deutscher Bauern ist die miserable Agrarstruktur in der Bundesrepublik. Die deutsche Landwirtschaft liegt am Ende der Strukturtabelle in der EG, die Mittelmeerländer ausgenommen. Wenn die deutsche Landwirtschaft im Konkurrenzkampf mit den Partnerländern überleben will, müssen große Anstrengungen zur Verbesserung ihrer Produktions- und Vermarktungsstruktur unternommen werden.
Die Bundesregierung aber hat offenbar kein Interesse an der Diskussion dieses brisanten Themas. Der Bundeslandwirtschaftsminister verschleißt sich in seinem unsinnigen Abwehrkampf gegen die notwendige Sanierung der Agrarmärkte.
Die Strukturpolitik wird dabei zum Nachteil der deutschen Landwirtschaft stark vernachlässigt.
So haben Bundesregierung und Regierungsfraktionen nach unserem Dafürhalten grundlos die Chance einer Grundaussprache über die Strukturpolitik vertan, als sie ihre eigene Große Anfrage „Ländlicher Raum und Landwirtschaft" ohne Aussprache zum Ende der vorigen Legislaturperiode zu den Akten legten.
Angesichts des dürftigen Inhalts der Regierungsantwort fürchtete man offensichtlich eine Blamage. Auch die Tatsache, daß für die breit angelegte Kampagne für den ländlichen Raum des Europarats der Bundeslandwirtschaftsminister die Zuständigkeit an den Bauminister abgegeben hat, zeigt, welchen Stellenwert er der Strukturpolitik beimißt.
Nicht anders sieht es bei der Gemeinschaftsaufgabe aus, Herr Eigen.
— Kann sein. Darauf werden wir in den Ausschüssen noch zurückkommen.
Seit Jahren setzen wir uns dafür ein, den Maßnahmenkatalog an die geänderten ökonomischen und ökologischen Rahmenbedingungen anzupassen. Seit Jahren sind wir gescheitert,
weil Bundesregierung und Mehrheitsfraktionen das mit verfassungsrechtlichen Bedenken blockiert haben. Dies geschah, obwohl die FDP zuvor vergleichbare Forderungen gestellt hatte. Hier wurde falsch verstandener Koalitionsloyalität der Vorzug vor notwendigen Reformen gegeben.
Mit der Gesetzesinitiative des Bundesrates — es ist bezeichnend, daß nicht die Bundesregierung initiativ geworden ist — soll nun die Gemeinschaftsaufgabe erweitert werden. Dabei stehen Vorhaben der betrieblichen Anpassung an die Marktentwicklung und zum Ausgleich natürlicher Standortnachteile sowie Maßnahmen zur Sicherung eines nachhaltig leistungsfähigen Naturhaushalts im Vordergrund.
Der Gesetzentwurf ist grundsätzlich zu begrüßen. Es ist jedoch nur ein erster unvollständiger Schritt. Der entscheidende Mangel des Entwurfs liegt darin, daß noch immer Umwelterfordernisse nur am Rande berücksichtigt werden. Es ist daher zu bedauern, daß bei der Ausgleichszulage keine produktionsneutrale Ausgestaltung an die Stelle der Produktionsbezogenheit getreten ist. Der Umweltausschuß hat sich einmütig in dieser Richtung geäußert. Hier bedarf es in den Beratungen dringend einer Änderung.
Zu fragen ist allerdings, wie die Finanzierung der zusätzlichen Förderungsmaßnahmen erfolgen soll. Ein Blick in die mittelfristige Finanzplanung zeigt nämlich, daß die Bundesregierung dieses bis 1991 drastisch zurückfahren will.
Besondere Brisanz erhält der Gesetzentwurf durch das Problem der Finanzierung des EG-Extensivierungsprogramms. Durch dieses von den EG-Agrarministern im März dieses Jahres beschlossene Vorhaben soll die Produktion von Getreide, Rindfleisch und Wein innerhalb von fünf Jahren um 20 % gegen Ausgleichszahlungen vermindert werden. Dieses Programm muß spätestens bis April 1988 in den Mitgliedstaaten umgesetzt werden.
Die Bundesregierung geht nun davon aus, daß Extensivierung und Flächenstillegung unter die Gemeinschaftsaufgabe fallen und damit entsprechend von den Ländern mit zu finanzieren sind. Alle Bundesländer verweigern strikt jede Beteiligung mit dem Hinweis, daß diese Maßnahmen allein der globalen Verringerung der Überschüsse dienten und damit vollständig von der EG bzw. dem Bund zu bezahlen
Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 46. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. Dezember 1987 3191
Koltzsch
seien. Die Regierungschefs der Bundesländer wollen in ihrem Gespräch beim Bundeskanzler am 17. Dezember eine endgültige Entscheidung herbeiführen.
Wir wollen und können uns hier in diesen Grundsatzstreit nicht einmischen. Entscheidend für uns ist allein, daß die deutschen Landwirte fristgerecht die Chance der Beteiligung an einem derartigen Programm bekommen.
Hier ist schon allzuviel Zeit vertan worden. Bei Getreide wäre ohne weiteres eine frühere Anwendung durchführbar gewesen, wenn die Bundesregierung ernsthaft gewollt hätte.
Herr Kiechle hörte diesen Vorwurf zwar nicht gern, doch wäre nach den umfangreichen Erfahrungen mit dem Großversuch „Grünbrache" eine bundesweite Anwendung heute möglich gewesen.
Eine Entscheidung über die Finanzierungszuständigkeit ist auch deshalb dringlich, weil sich bei den jüngsten Verhandlungen im EG-Ministerrat die Möglichkeit zu einer Verbesserung des ursprünglichen Extensivierungsprogramms, insbesondere im Hinblick auf eine Erhöhung der Ausgleichszahlungen, abzeichnete. Damit werden die Kosten aber entsprechend steigen.
Bisher hat die Bundesregierung für 1989 250 Millionen DM veranschlagt; jetzt sind die Kosten von 1 Milliarde DM nicht ausgeschlossen. Angesichts dieser Unsicherheiten über Ausmaß und Finanzierung der Maßnahme zur Marktentlastung erscheint die Zahlungsverweigerung der Bundesländer verständlich, zumal sie am Brüsseler Entscheidungsverfahren praktisch nicht beteiligt sind.
Es ist zu wünschen, daß zwischen Bund und Ländern noch rechtzeitig ein brauchbarer Kompromiß gefunden wird. Keinesfalls darf dieser Streit aber auf dem Rücken der Landwirte ausgetragen werden. Bleiben nämlich Unsicherheiten bei der Durchführung der Extensivierung und Flächenstillegung bestehen, kann der Erfolg des ganzen Vorhabens gefährdet sein.
Ich danke Ihnen.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Bredehorn.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Bei den Haushaltsberatungen der letzten Woche haben wir bereits um den Finanzierungsrahmen der Gemeinschaftsaufgabe gerungen; denn es ist noch nicht sichergestellt, durch welche Umschichtungen beispielsweise das Ziel, die Ausgleichszulage innerhalb der Gemeinschaftsaufgabe erheblich aufzustocken, erreicht werden kann. Die Ausgleichszulage ist durch ihre großzügige finanzielle Ausstattung inzwischen in den Mittelpunkt der Maßnahmen der Gemeinschaftsaufgabe gerückt.
Mittelfristig stehen über eine halbe Milliarde DM Bundes- und Landesmittel für die Ausgleichszulage zur Verfügung. Eine Summe dieser Größenordnung muß meines Erachtens sinnvoll und zielgerichtet ausgegeben werden. Ich habe allerdings erhebliche Zweifel, ob die Ausgleichszulage die optimale Maßnahme für die Unterstützung des Strukturwandels in den benachteiligten Gebieten und für die Verbesserung der schwierigen Situation in den Betrieben in diesen Gebieten ist. Davon spricht ja die Bundesregierung in der Zielsetzung der Gemeinschaftsaufgabe und Ausgleichszulage in der Drucksache 11/841.
Der Planungsausschuß, der wohl in der nächsten Woche tagen wird, sollte sich wirklich einmal mit der Frage auseinandersetzen, ob die für die Ausgleichszulage verwendeten Mittel wirklich diesen Zielen entsprechen.
Herr Koltzsch hat hier Produktneutralität gefordert. Ich meine, die Ausgleichszulage ist durchaus produktneutral. Nur müßte sie nach meinen Empfindungen viel zielgerichteter eingesetzt werden.
Die FDP hat sich nicht immer gegen die Verteilung von Geldmitteln nach dem Gießkannenprinzip ausgesprochen. Ich glaube nicht, daß die Ausgleichszulage den Einkommensverlust der Landwirtschaft auf Grenzstandorten dauerhaft ausgleicht und einer Verödung benachteiligter Gebiete entgegenwirkt.
Von dem Ziel einer Unterstützung des Strukturwandels kann nun doch überhaupt nicht die Rede sein, da die Ausgleichszulage höchstens kontraproduktiv wirkt; denn sie bewirkt, daß notwendige betriebliche Entscheidungen hinausgezögert werden. Durch die starke finanzielle Aufstockung für die Ausgleichszulage wird natürlich der Handlungsspielraum für die Förderung in anderen Bereichen eingeschränkt, oder einzelne Förderungsmaßnahmen müssen ganz ausgesetzt werden.
Mit großer Sorge sehe ich, daß angestrebt wird, Entwässerungsmaßnahmen und Meliorationen so weit wie möglich nicht mehr zu fördern. Es gibt nämlich in Norddeutschland noch genügend Gebiete, wo es zur Existenzsicherung der dort wirtschaftenden Landwirte notwendig ist, diese Maßnahmen fortzuführen. Das sind im übrigen diejenigen Landwirte, die seit 40 Jahren solidarisch ihre Beiträge zu Entwässerungs- und Meliorationsverbänden zahlen. Diese Landwirte haben jetzt, wie ich meine, auch einen Anspruch auf die Solidarität der Gemeinschaft und des Staates.
Grundsätzlich befürwortet die FDP die Änderung des Gesetzes über die Gemeinschaftsaufgabe mit der neuen Ausrichtung auf Maßnahmen zur Verbesserung und nicht zur Ausweitung der Produktion, zur Förderung produktionsvermindernder Maßnahmen und eine stärkere Beachtung ökologischer Erfordernisse. Herr Koltzsch, nur so können die Märkte wieder in Ordnung gebracht werden, wie Sie das hier fordern. Nur so ist es möglich, eine Produktionsanpassung an den Markt zu bewirken.
Beihilfen zur Förderung der Extensivierung der Erzeugung bei Getreide, Rindfleisch und Wein wollen wir ja zahlen. Hier wenden wir die sogenannte Extensivierungsrichtlinie der EG an, die es ermöglicht, daß EG, Bund und Länder diese Maßnahme gemeinschaftlich finanzieren.
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Bredehorn
Es ist mir nicht verständlich, daß sich die Bundesländer bis jetzt gegen diese Mitfinanzierung und damit gegen ihre Mitverantwortung wehren. Ich möchte hier an die Länder appellieren, nicht nur ständig neue Geldmittel und eine stärkere Regionalisierung der Agrarpolitik zu fordern, sondern den ihnen gerade in der Agrarstrukturpolitik gegebenen Gestaltungsrahmen zu nutzen, mitzufinanzieren und so ihren Landwirten zu helfen, die anhaltende Agrarkrise durchzustehen.
Richtig sind auch die erweiterten Förderungsmaßnahmen für Junglandwirte. Gerade unsere gut ausgebildeten, leistungsbereiten und tüchtigen jungen Landwirte brauchen ein positives Signal. Hier müssen wir in Zukunft noch mehr tun.
Im Bereich der Molkereistrukturverbesserung werden jetzt erstmalig wieder Mittel für die Stillegung von Molkereikapazitäten und für Arbeitnehmerabfindungen im Molkereibereich bereitgestellt. Hierdurch werden die negativen Auswirkungen der Milchkontingentierung für die Auslastung der Molkereien aufgefangen. Hierbei wäre allerdings eine etwas großzügigere Handhabung notwendig, damit auch Zweigbetriebe bzw. stillzulegende Betriebsteile von Molkereien mit in die Förderung einbezogen würden.
Ganz ausdrücklich begrüße ich die stärkere Berücksichtigung des Umweltschutzes und der ökologischen Belange im Rahmen der Gemeinschaftsaufgabe. Die Verbesserung der Förderung bei forstwirtschaftlichen Maßnahmen oder z. B. der Erwerb von Schutzstreifen zeigen, daß die Beachtung ökologischer Erfordernisse zunehmen wird und in den nächsten Jahren gerade in der Agrarpolitik zu einem zentralen Anliegen werden wird.
Allerdings kann der Bund nicht die Maßnahmen des Naturschutzes mitfinanzieren; denn dies bleibt auch in Zukunft — das ist vom Grundgesetz so vorgeschrieben — Aufgabe der Bundesländer.
Meine Damen und Herren, abschließend stelle ich fest, daß wir als Agrarpolitiker über alle politischen Einzelmaßnahmen hinaus, die die Gemeinschaftsaufgabe ausmachen, nie die Gesamtsituation des ländlichen Raumes aus dem Blickfeld verlieren sollten. Eine bessere Verzahnung zwischen Raumordnungspolitik, regionaler Wirtschaftspolitik und Agrarstrukturpolitik und mehr Wissen um die gesellschaftlichen Konsequenzen einer falschen politischen Weichenstellung für den ländlichen Raum sind notwendig.
Schönen Dank.
Das Wort hat Frau Abgeordnete Flinner.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zuallererst möchte ich zu Ihrer Rede, Herr Herkenrath, bemerken: Genau diese CDU-Politik hat für viele, viele kleine und mittlere landwirtschaftliche Betriebe das Aus bedeutet. Das wollen Sie hier fortführen.
Die inhaltliche Ausgestaltung der Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der Agrarstruktur und des Küstenschutzes" in der geltenden und in der vom Bundesrat entworfenen Fassung ist abzulehnen. Insbesondere die zur Zeit geübte Praxis der Flurbereinigung hat schwerwiegende nachteilige Folgen.
Wenn im Entwurf des Bundesrats nach dem derzeitigen Flurbereinigungsgesetz der ländliche Raum neu gestaltet und der ländliche Grundbesitz neu geordnet werden soll, dann fürchte ich, daß das erstgenannte Ziel in dieser Reihe, die Sicherung eines nachhaltig leistungsfähigen Naturhaushaltes, vernachlässigt und über die Köpfe der meisten ländlichen Grundbesitzer, nämlich der kleinen Landwirte, hinweg entschieden wird. Zahlreiche Briefe aus Regionen, wo Flurbereinigung stattfindet, zeigen mir das.
Die heutige Praxis der Flurbereinigung ist undemokratisch. Betroffene Bauern und der Naturschutz haben in wichtigen Planungsteilen keinerlei Rechte, um ihre berechtigten Anliegen einzubringen.
Die Flurbereinigung vernachlässigt meistens ökologische Erfordernisse und berücksichtigt nicht die natürlich gewachsene Landschaft. Für die meisten Bauern stehen die Kosten der Flurbereinigung in keinem Verhältnis zu dem Nutzen.
Es ist nicht zu erwarten, daß die Flurbereinigungsbehörden, deren Arbeit in der Vergangenheit immer die Verarmung der ökologischen Situation bewirkte, dringend nötige ökologische Verbesserungen erreichen werden. Der Naturhaushalt wird nicht wiederhergestellt durch Flurbereinigungen, die am grünen Tisch geplant werden, sondern durch bäuerliche Landwirtschaften, die die Naturgegebenheiten berücksichtigen. Ich weiß, wovon ich rede.
Frau Abgeordnete, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Nein. Herr Eigen, im Ausschuß haben wir Zeit zum Streiten.
Im Gegensatz zur herkömmlichen Flurbereinigung, die im Rahmen der Gemeinschaftsaufgabe nicht gefördert werden sollte, ist der freiwillige Landtausch zu ermöglichen. Dafür sollten mehr Mittel zur Verfügung gestellt werden, ebenso zum Schutze des Bodens und des Grundwassers vor Verunreinigungen durch Pestizide und Düngemittel. Wenn jetzt als Maßnahme zur Verbesserung der Produktions- und Arbeitsbedingungen auf dem Lande die betriebliche Anpassung an die Marktentwicklung und der Ausgleich natürlicher Standortnachteile vorgesehen sind, so habe ich Bedenken, daß durch die Nivellierung der Standorte die ländliche Vielfalt zerstört wird.
Die sogenannte Anpassung an die Marktentwicklung beschleunigt den Strukturwandel im ländlichen Raum, wie wir ihn mit seinen nachteiligen Folgen bereits zur Genüge kennen. Eine sogenannte Agrarstrukturverbesserung führt beispielsweise zu Fusio-
Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 46. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. Dezember 1987 3193
Frau Flinner
nen bei Molkereien und Schlachthöfen mit einer drastischen Verschärfung der Abhängigkeit der Bauern. Wenn im Bericht der Bundesregierung zu lesen ist, daß es notwendig ist, die Stillegung von Molkereikapazitäten noch stärker zu fördern, dann ist dies eine Politik gegen die Bauern, für den Abbau der Arbeitsplätze auf dem Lande und für die Verödung des ländlichen Raumes.
Immer werden die Bauern untergeordnet bis hin zur Förderung von Betriebsstillegungen und Rentenprogrammen. Wenn wir mit den Mitteln der Regierung, nämlich Flächen- und Betriebsstillegungen, unsere Getreidekapazitäten abbauen, dann wird es uns genauso gehen wie bei der Milch. Herr Gallus sagte gestern:
Die von uns freigemachten Kapazitäten werden von den anderen Ländern übernommen.
Statt der — wie ich soeben zeigte — nicht geeigneten Maßnahmen sollte im Rahmen der Gemeinschaftsaufgabe ein Programm für den Erhalt der ökologischen und wirtschaftlichen Lebensfähigkeit des ländlichen Raumes aufgenommen werden. Bei den schon bestehenden Maßnahmen der Gemeinschaftsaufgabe sind weitere Änderungen nötig: wasserwirtschaftliche Baumaßnahmen usw.
Auch im Küstenschutz sollte mehr für den Erhalt der ökologischen Vielfalt und des natürlichen Gleichgewichts getan werden. Es ist doch unglaubwürdig, wenn man für den Erhalt des Wattenmeeres Anstrengungen unternimmt und gleichzeitig nebenan mit Ölförderungsanlagen die Küste zerstört wird.
Andererseits haben die bisherigen Maßnahmen der Bundesregierung keine Entlastung für den erkrankten und abgestorbenen Wald gebracht. Der alarmierende Zustand des Waldbestandes erfordert große Anstrengungen und hohen Finanzeinsatz. Deshalb ist es unumgänglich, ein Programm gegen das Waldsterben in die Gemeinschaftsaufgabe aufzunehmen.
Insgesamt sind die Ziele der Gemeinschaftsaufgabe in der bestehenden wie in der vom Bundesrat entworfenen Form abzulehnen. Statt dessen sollten Maßnahmen gegen das Waldsterben und für den Erhalt der ökologischen und wirtschaftlichen Lebensfähigkeit des ländlichen Raumes im Rahmen der Gemeinschaftsaufgabe gefördert werden.
Danke schön.
Meine Damen und Herren, ich schließe die Aussprache.
Der Ältestenrat schlägt vor, die Vorlagen an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Gibt es dazu weitere Vorschläge? — Das ist nicht der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe Punkt 17 der Tagesordnung sowie die Zusatzpunkte 8 bis 10 der Tagesordnung auf:
17. a) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Innenausschusses zu dem Antrag der Abgeordneten Frau Dr. Vollmer und der Fraktion DIE GRÜNEN
Gesetzentwurf zur Regelung einer angemessenen Versorgung für alle Opfer nationalsozialistischer Verfolgung in der Zeit von 1933 bis 1945
— Drucksachen 11/141, 11/1392 —
Berichterstatter:
Abgeordnete Frau Dr. Wisniewski Lüder
Schröer
Frau Dr. Vollmer
Bericht des Haushaltsausschusses gemäß § 96 der Geschäftsordnung
— Drucksache 11/1407 —
Berichterstatter:
Abgeordnete Deres Kühbacher
Frau Seiler-Albring Kleinert
b) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Innenausschusses zu dem Antrag der Abgeordneten Schily, Frau Dr. Vollmer und der Fraktion DIE GRÜNEN Entschädigung für Zwangsarbeit während der Nazi-Zeit
— Drucksachen 11/142, 11/1392 —
Berichterstatter:
Abgeordnete Frau Dr. Wisniewski Lüder
Schröer
Frau Dr. Vollmer
Bericht des Haushaltsausschusses gemäß § 96 der Geschäftsordnung
— Drucksache 11/1407 —
Berichterstatter:
Abgeordnete Deres Kühbacher
Frau Seiler-Albring Kleinert
c) Zweite und dritte Beratung des von der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Errichtung einer Stiftung „Entschädigung für NS-Unrecht"
— Drucksache 11/223 —
aa) Beschlußempfehlung und Bericht des Innenausschusses
— Drucksache 11/1392 —
Berichterstatter:
Abgeordnete Frau Dr. Wisniewski Lüder
Schröer
Frau Dr. Vollmer
3194 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 46. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. Dezember 1987
Vizepräsident Stücklen
bb) Bericht des Haushaltsausschusses gemäß § 96 der Geschäftsordnung
— Drucksache 11/1408 —
Berichterstatter:
Abgeordnete Deres Kühbacher
Frau Seiler-Albring Kleinert
ZP 8 Beratung des Antrags der Abgeordneten Frau Dr. Vollmer und der Fraktion DIE GRÜNEN Verleihung einer kommunalen Ehrenbürgerschaft an Verfolgte des Nationalsozialismus
— Drucksache 11/1395 —
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuß Rechtsausschuß
ZP 9 Beratung des Antrags der Fraktion der SPD Richtlinien der Bundesregierung für die Vergabe von Mitteln an Opfer von NS-Unrecht
— Drucksache 11/1413 —
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuß
Rechtsausschuß
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuß für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit Haushaltsausschuß
ZP 10 Beratung des Antrags der Abgeordneten Frau Dr. Vollmer und der Fraktion DIE GRÜNEN Änderung des Bundessozialhilfegesetzes
— Drucksache 11/1396 —
Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit
Innenausschuß
Haushaltsausschuß
Hierzu liegen Änderungs- und Entschließungsanträge der Fraktionen DIE GRÜNEN, der Fraktionen der CDU/CSU und FDP sowie der Fraktion der SPD auf den Drucksachen 11/1397 , 11/1415, 11/1426 und 11/1427 vor.
Meine Damen und Herren, nach einer Vereinbarung im Ältestenrat sind für die gemeinsame Beratung dieser Tagesordnungspunkte zwei Stunden vorgesehen. Ist das Haus damit einverstanden? — Ich höre keinen Widerspruch. Es ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat Frau Abgeordnete Schmidt .
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Herren und Damen! Ralph Giordano hält uns in seinem letzten Buch „Die zweite Schuld — Von der Last, ein Deutscher zu sein" voll Zorn, voll Emotionen und doch belegt durch zahlreiche Quellen den Spiegel vor, auch in der Frage der Wiedergutmachung. Wir sehen hinein, und — wenn wir nicht blind sind — sehen wir uns auch aus der Sicht der Betroffenen. Das ist oft kein schöner Anblick, das ist unangenehm, es verletzt und es tut weh, vor allem, wenn man sich keiner persönlichen Schuld bewußt ist und — wie z. B. viele Beamte — versucht hat zu helfen, im Rahmen des Möglichen „wiedergutzumachen". Aber ich sehe nicht nur, ich höre auch, habe noch die beeindruckenden und quälenden Beiträge der Opfer im Ohr, die uns in unserer Anhörung im Innenausschuß im Juni erzählt haben. Wenn je Menschen das Recht hatten, uns Politikern und Politikerinnen den Spiegel vorzuhalten, uns zu zeigen, wie unsere gut gemeinten Absichten nicht ausreichten, dann doch diese geschundenen und gequälten Menschen, die überlebt haben.
Was weh tut, ist nicht nur, feststellen zu müssen, wie viele Opfer bis heute nicht anerkannt wurden, wie viele von ihnen noch keine Entschädigung erhalten haben, was weh tut, ist auch zu sehen, wie wenig diejenigen, die an der Wiedergutmachung beteiligt waren — ob Politiker oder Beamte — fähig sind, die Hinweise der Opfer auf die Unzulänglichkeiten der bisherigen Wiedergutmachungspraxis zu ertragen, wie diejenigen, die den Opfern doch helfen sollen und wohl auch wollen, deren Fragen, Forderungen und Bitterkeiten, aber auch ihrem Schweigen, ihren Vorwürfen begegnen: Sie fühlen sich persönlich angegriffen, herabgesetzt, sie sehen ihren Einsatz nicht richtig gewürdigt, „und wir haben doch soviel gezahlt" . Ist das im Prinzip nicht widersinnig? Wie kann man angesichts des Entsetzens von Auschwitz meinen, daß ein überlebendes Opfer die Wiedergutmachungspraxis der Bundesrepublik würdigen muß? Wie kann man verlangen, daß eine zwangssterilisierte Frau oder ein Mann, denen es versagt blieb, Kinder zu bekommen, die sich schämten und erst heute den Mut finden, darüber zu reden, was ihnen angetan wurde, die Wiedergutmachungspraxis der Bundesregierung loben?
Alle diese Opfer, ob Zwangssterilisierte, Fahnenflüchtige, Kommunisten, sogenannte Wehrkraftzersetzer, Homosexuelle, Sinti und Roma, alle haben das Recht, zornig, ungeduldig, verbittert, ungerecht zu sein.
Auch wenn wir es nicht wahrhaben wollen: Es liegt an uns, richtig zu hören, richtig zu sehen, das Richtige zu tun. Wir haben viel getan, doch es reicht nicht.
Liest man alte Debatten nach, dann begegnet einem in allen Debatten als eines der tragenden Argumente das Finanzargument. Letztendlich erschlägt es jedesmal die hehren Worte. Sicher, an Finanzierung muß gedacht werden. Doch können Argumente des Jahres 1952, also kurz nach dem Krieg, die Argumente eines armen Landes heute noch genauso gelten? Ist es nicht so, daß wir das Ausmaß des Vernichtungskriegs nach innen und nach außen in all seinen Einzelheiten erst heute zu verstehen beginnen?
Gibt es nicht andere Entscheidungen, die deutlich machen, daß das Finanzargument nicht immer gelten muß, daß sich der politische Wille gegen das Finanzargument durchaus durchsetzen kann?
: Sehr
wahr!)
Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 46. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. Dezember 1987 3195
Frau Schmidt
Nehmen wir die Teilentscheidung für die bemannte Weltraumfahrt: Die Industrie sieht sich nicht in der Lage, das Projekt kostenmäßig auch nur annähernd zu beziffern. Aber wir lassen uns im Interesse der europäischen Zusammenarbeit darauf ein.
Oder nehmen wir das Historische Museum in Berlin: Auch hier ist noch nicht klar, was es kosten wird. Aber dafür, dem deutschen Volk eine Identität zu geben, ist kein Preis zu hoch. Doch welche Identität sollen wir denn erhalten? Gewinnen wir nicht vielleicht auch gerade dadurch Identität, daß wir endlich lernen, nicht zu verdrängen, daß wir endlich lernen, zu trauern, daß wir den Opfern, die noch nicht anerkannt sind, endlich Gerechtigkeit widerfahren lassen, sie anerkennen und ihnen eine Entschädigung zugestehen?
Ich möchte Ihnen, die Sie ja nicht alle dabei waren, einiges aus der Anhörung des Innenausschusses vergegenwärtigen: Da wurde ein Tscheche nach einjähriger Haft im KZ umgebracht. Entschädigungsanträge seiner Witwe wurden abgelehnt — mit der Begründung, daß die Verurteilung des Mannes wegen Heimtücke erfolgt sein müsse. Das Urteil war unauffindbar. Die Frau lebt heute von 720 DM. Währenddessen bekommen die Witwen von Freisler und Heydrich Entschädigungen und Pensionen von weit mehr als 1 800 DM oder 2 000 DM monatlich.
Oder ein anderes Beispiel, das Beispiel eines polnischen Zwangsarbeiters, der nach der Befreiung hiergeblieben ist und in Dieburg lebt. Ihm fehlen vier Jahre, um eine vernünftige Rente zu bekommen. Die Firma Daimler-Benz, bei der er Zwangsarbeit leistete, weiß angeblich von nichts. Er hat in einem unterirdischen Werk bei Neckarelz Stollen gebaut und schildert seine Arbeit:
Wir waren mit 100 Mann in einem Klassenraum untergebracht. Unser Essen bestand aus Wassersuppe und einem Stück Brot. Zu diesem Zeitpunkt waren wir mit dem Ausbau des Stollens bereits so weit, daß dort die ersten Flugzeugmotoren gebaut werden konnten. Wir mußten aber immer weitere Seitenstollen brechen. An einem Tag kam beim Brechen des Stollens die Decke herab und begrub etwa dreißig Männer unter sich. Ich selbst wurde am Kopf verletzt. Diese Leute liegen noch heute unter diesem Schutt begraben, weil diese Stelle — wie ich mit eigenen Augen gesehen habe — zubetoniert wurde.
Auch dieser Mann hat keine Entschädigung erhalten, wartet noch immer auf eine anständige Rente.
Nicht warten mußte dagegen der NS-Staatssekretär im Reichsluftfahrtministerium, zuständig für die Bereitstellung von jüdischen Zwangsarbeitern für unterirdische Flugzeugwerke, in Nürnberg zu lebenslänglichem Gefängnis verurteilt, Anfang der 50er Jahre freigelassen. Er erhielt eine Heimkehrerentschädigung und damals, 1952, eine jährliche Pension von 15 372 DM.
Oder nehmen Sie die Sinti und Roma, die vor Gericht mit ihren Verfolgern konfrontiert wurden, wenn sie abgewiesene Entschädigungsansprüche einklagen wollten, konfrontiert mit den Menschen, die sie in die KZs eingewiesen hatten und die jetzt als Gutachter vor Gericht auftraten.
Da hatte es der NS-Staatssekretär im Reichsjustizministerium besser, der 1950 aus der Haft entlassen wurde und eine Nachzahlung von 190 000 DM und eine monatliche Pension von mehr als 2 000 DM bekam.
Auch für einen KZ-Arzt aus Buchenwald, zum Tode verurteilt und 1952 begnadigt, war es mit einer Spätheimkehrerhilfe von 3 000 DM, einer Existenzaufbauhilfe von 25 000 DM und einer Zulassung als Kassenarzt einfacher als für Verfolgte wie Dr. Garai. Ihn möchte ich zitieren, ihm meine Stimme im Parlament leihen, da er — wie alle anderen Opfer — hier nicht zu uns reden kann. Er sagte:
Später hatte ich Stubendienst in einer Baracke, wo meine guten Freunde eingesperrt waren. Dort haben sie zwei Tage kein Essen bekommen, und wir haben eiserne Stöcke bekommen und mußten auf sie aufpassen. Ich kann nicht erzählen, was dort geschehen ist, aber nach zwei Tagen hat man sie in der Nacht weggenommen, uns nicht. In der Frühe haben wir die Baracke so gefunden, daß die Mauern bemalt waren — wie Steine auf einem Friedhof —, und es waren dort mit Kohle Namen aufgeschrieben. Die haben gesagt: Ihr sollt uns nicht vergessen, und an unser Blut sollt ihr euch erinnern, solange ihr lebt. Das haben wir abwaschen müssen. Ich kann nicht weiter erzählen was dort war.
Von dort bin ich mit 1 500 Juden aus Theresienstadt nach Dachau gekommen. In Dachau, im Waldlager Kaufering 4, war ich einige Monate. Ich habe bei der Firma Holzmann & Moll als Sklave gearbeitet und bin dann von den Amerikanern befreit worden. Da wog ich 23 kg. Ich war 17 Jahre alt.
Und er sagt weiter:
Jetzt zum Spätschaden: Was kommt mir jeden Tag vor? Ich bin jetzt 59 Jahre alt. Als ich noch jung war, haben die normalen Abwehrmechanismen der Persönlichkeit geholfen. Jetzt fängt es an, daß sie nicht mehr helfen, und diese Sachen, die einmal waren, kommen zurück. Jeden Tag, jede Nacht träume ich von etwas. Aber es ist nicht dasselbe, was dort gewesen ist. Ich träume, daß ich meine Kinder auf Eisenbahngleise binde und sie überfahren muß. Man drängt mich dazu, daß ich mit einem Auto meine eigene Familie überfahre. Es kommen Zwangsgedanken, und ich kann sie nicht beherrschen. Ich wache auf, und ich weiß nicht, was zu machen ist. Ich habe Angst davor zu schlafen, denn wenn es zum Schlafen kommt, kommen diese Gedanken; wenn es finster wird, kommen diese Gedanken. Es ist nichts zu machen! Jeden Tag überlebt man dieselben Sachen, die nicht aufhaltbar sind; das ist ein Wiederüberleben. Das nennt man Spätschaden. Das ist vorher nie gewesen; es ist in den letzten fünf Jahren erschienen. Das habe ich nie gehabt; es ist
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Frau Schmidt
jetzt gekommen, und es wird immer schlimmer. Ich war schon in einer Therapie, aber das hilft nicht. Ich habe schon alles gemacht: Medikamente genommen, Schlafmittel genommen, aber es hilft nicht. Ich sehe diese Sachen Tag und Nacht.
Mit der Schildung dieser wenigen Fälle aus der Anhörung, die sich um Angehörige aller Gruppen erweitern ließe, die wir in unserem Stiftungsgesetz aufgeführt haben, die Zwangssterilisierten, die sogenannten Asozialen, die Edelweißpiraten, die Swing-Boys, um nur einige zu nennen, möchte ich keine Emotionen wecken. Karl Jaspers hat in seinem „Spiegel" -Gespräch mit Rudolf Augstein zur Verjährungsdebatte 1965 gesagt:
Blinde Gefühle, gedankenlose Emotionen taugen allerdings nichts. Aber ohne Leidenschaft in der hellen Vernunft ist keine menschliche Wahrheit möglich ... Die rationale Abstraktheit und Zweckhaftigkeit ... ist der heimliche Todfeind der Wahrheit.
Ich möchte Ihnen diese „Leidenschaft in der hellen Vernunft", die uns alle nach der Anhörung gepackt hatte, erhalten. Damit meine ich alle Fraktionen in diesem Haus.
Die Vernunft gebietet uns, nicht die gesamte Entschädigungsregelung erneut zu öffnen, weil wir mit dem damit verbundenen Instanzenweg den betagten Opfern nicht helfen würden.
Aber die Leidenschaft gebietet uns, mehr zu tun als bisher und uns nicht der Kritik zu verschließen, die es an bisher gültigen Regelungen gegeben hat. Diese Kritik war berechtigt und vielfältig. Sie betraf auch und gerade die in der sozialliberalen Koalition eingerichteten Härtefonds, vor allem den für die nichtjüdischen Verfolgten, aber auch Vorschriften des Bundesentschädigungsgesetzes, auch die Praxis der Gerichte.
Die Leidenschaft gebietet uns auch, vor lauter Finanz- und Bürokratieargumenten, vor lauter hehren Worten nicht die entscheidende Frage aus den Augen zu verlieren: Sollen die Forderungen der vergessenen und ausgegrenzten Opfer des nationalsozialistischen Unrechts nach Anerkennung und Entschädigung weiterhin einfach nur mit juristischen und finanzpolitischen Erwägungen beantwortet werden;
oder sind wir aufgefordert, hier auch in erster Linie eine politisch-moralische Entscheidung zu treffen?
Da wahrscheinlich von niemanden bestritten wird, daß das zweite zutrifft, kommen wir zu dem Schluß, daß das von uns vorgeschlagene Stiftungsgesetz die beste Lösung wäre, weil sie die Möglichkeit bietet, vielen noch nicht entschädigten Opfern zu helfen, auch denen, an die wir vielleicht auch in dieser Anhörung noch nicht gedacht haben; weil sie die Forderung nach weniger Bürokratie erfüllen würde; weil die Vertreter und Organisationen der Verfolgten über die Vergabe der Mittel mitentscheiden könnten; weil sichergestellt ist, daß nicht die gleichen Ablehnungsgründe für eine Entschädigung nach dem Bundesentschädigungsgesetz oder den bestehenden Härtefonds erneut zur Ablehnung führen; weil ausgeschlossen wird, daß regelmäßige Beihilfen vollständig auf Sozialhilfe angerechnet werden, was den Opfern wie ein Hohn vorkommen müßte; weil sich an der Finanzierung einer Stiftung die Länder beteiligen können, aber auch Privatpersonen und Firmen — im Falle der Zwangsarbeiter eine dringende Notwendigkeit —; weil die sich abzeichnende Zersplitterung in vielen Einzelstiftungen vermieden würde.
Wir fühlen uns in unserer Forderung nach einer Stiftung bestätigt von beinahe allen Sachverständigen, von den Organisationen der Verfolgten, von den Kirchen und von vielen namhaften Einzelpersönlichkeiten. Wir sehen uns bestätigt durch die Länder Berlin und Hamburg, die mit den Stimmen aller Fraktionen die Bundesregierung aufgefordert haben, eine Bundesstiftung für vergessene Opfer der Nationalsozialisten einzurichten. Wenn Sie heute behaupten, eine Stiftung wäre bürokratisch, bitte ich Sie, Ihre Argumentationen aufeinander abzustimmen. Vor ungefähr anderthalb Stunden haben wir von Ihnen genau das Gegenteil in Zusammenhang mit der Stiftung „Mutter und Kind" gehört.
Nun schätzen wir aber nicht gering, daß nach der Ablehnung in der vorigen Legislaturperiode, materiell überhaupt noch etwas zu tun, nach einem Bericht des Finanzministers, der nicht nur in der Sprache, sondern auch in seinen Wertungen jegliche Sensibilität vermissen ließ, nach vielen großen Worten der Unverbindlichkeit Taten folgen. Ich glaube Ihnen selbst heute noch zumindest zum Teil Ihre guten Absichten. Aber ich bitte Sie zu bedenken: Haben Sie mit Ihrem Antrag die Gewähr dafür? Müssen wir nicht aus dem Bisherigen den Schluß ziehen, daß die alltägliche Praxis unseren guten Absichten zum Teil zuwiderläuft?
Sie erklären: Letztmalig gibt es einen Betrag von 300 Millionen DM. Damit ist das Problem abgeschlossen. Ist es abgeschlossen? Kann es denn abgeschlossen sein? Ich meine nein. Denn es geht um Menschen, die als Opfer endlich anerkannt werden wollen, um ihre konkrete materielle und seelische Not, um Menschen, die gedemütigt wurden, stumm geworden sind, unter Alpträumen leiden, von Sozialhilfe leben. Das ist nicht abgeschlossen, solange sie und ihre nächsten Angehörigen leben.
Nun müssen wir leider davon ausgehen, daß Sie unser Gesetz ablehnen. Wir möchten dann, solange es eine solche Stiftung nicht gibt, mit Ihnen gemeinsam dafür sorgen, daß die Richtlinien für die von Ihnen vorgeschlagenen Härteregelungen so gefaßt werden, daß niemand ausgegrenzt wird, die Verfolgtenorganisationen mitentscheiden können und Sozialhilfe nicht uneingeschränkt angerechnet wird.
Für uns sind das Mindestforderungen, und wir hoffen, daß wir in den Ausschußberatungen dazu kommen und Einfluß auf die Richtlinien des Härtefonds der Regierung nehmen können.
Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 46. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. Dezember 1987 3197
Frau Schmidt
Wenn wir nun heute erfahren, daß Sie verhindern wollen, daß unser Antrag überhaupt in den Ausschüssen beraten wird — —
— Wenn das vorbei ist, dann freue ich mich, dann bin ich höchst glücklich,
und dann können wir uns nur gemeinsam darüber freuen, daß vielleicht in dieser Sache doch noch etwas gelingt.
Carlo Schmid hat in seiner Rede in der Wiedergutmachungsdebatte von 1951 gesagt:
Wenn man den Run der Gläubiger des Reiches fürchtet, ... kann man denn dann nicht eine Rangordnung unter den Gläubigern ... aufstellen? Und darin haben jene, die in besonderem Maße gelitten haben, jene, die keine Schuld hatten, auch nicht die Schuld des Gewährenlassens, eine Priorität zu beanspruchen! ... Man kann das spüren, daß sich, wenn man von diesen Dingen redet, da und dort schon Unwille und Unmut regen, und daß man sich entrüstet abwendet, wenn sich die besonderen Opfer des NS überhaupt zu melden wagen.
Diesen Unmut — da hat Herr Gerster recht — gibt es auch heute noch und immer wieder neu, geschürt auch von unverantwortlichen, auf Zustimmung schielenden Äußerungen einzelner. Es gibt aber nicht nur diesen Unmut; es gibt auch den Unmut und den Zorn der Jüngeren, unserer Kinder, den Zorn über Ungerechtigkeit und zugefügtes Leid.
Lassen Sie uns gemeinsam auf diesen Zorn und damit auf eine von unserer Geschichte getragene Zukunft bauen.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Gerster.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Auch 42 Jahre nach der nationalsozialistischen Tyrannei ist es nicht leichter geworden, über das damalige Unrecht, die millionenfachen Opfer und über Wege zu sprechen, wie man Unrecht wenigstens teilweise gutmachen könnte. Ganz gleich, welcher Generation wir als Deutsche angehören: Wir stehen zunächst einmal hilflos und fast ohnmächtig dem Leiden und den Qualen gegenüber, die die Menschen erleiden mußten. Keine ärztliche Behandlung, keine Therapie und Pflege, keine berufliche Rehabilitation, kein Geldbetrag und auch keine Ehrenerklärung vermögen auszugleichen, was die Opfer erlitten haben, was Opfern medizinischer Versuche zugefügt wurde, wenn Menschen zwangssterilisiert oder in grenzenloser Hybris als unwert gezeichnet wurden.
Nur eines steht für mich dauerhaft fest: Alle, die den schlimmen Verlockungen der Diktatur widerstanden haben, alle die leiden mußten, waren und bleiben das moralische Fundament unserer freiheitlichen Demokratie, die seit 1949 die Würde des Menschen in das Zentrum jedweden Handelns gestellt hat.
Sie bleiben aber auch ständige Warnung und Mahnung, jedwedem totalitären Denken in unserer Gesellschaft jederzeit und mit allen unseren Möglichkeiten zu begegnen.
Wir zollen daher den Opfern des Nationalsozialismus nicht nur unsere Anerkennung und unseren Respekt; nein, wir haben Grund, ihnen dauerhaft in Dankbarkeit verbunden zu bleiben.
Wenn wir heute zur Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts weitere 300 Millionen DM zur Verfügung stellen, werden wir uns der Kritik aus zwei sehr unterschiedlichen Richtungen zu stellen haben. Die einen werden sagen: Wir haben genug wiedergutgemacht; es ist ungerecht, daß 42 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges einer Generation, die mit dem NS-Terror nichts mehr zu tun hatte, immer noch finanzielle Lasten aufgeladen werden. Die anderen werden sagen, es ist ungerecht, daß ihr so wenig gebt, wo das Leid so groß war und die Not immer noch so erdrückend bleibt.
Den Kritikern jedweder Neuregelungen möchte ich entgegenhalten: Kann der millionenfache Tod von Menschen überhaupt wiedergutgemacht werden? Kann man die physischen und psychischen Schäden derjenigen, denen die Nazi-Schergen Unmenschliches angetan haben, überhaupt jemals gutmachen? Kann es also je genug sein mit der Wiedergutmachung? Die Antwort lautet schlicht: nein.
Tote sind mit Geld nicht wieder zum Leben zu erwecken. Das Leid der überlebenden Opfer ist nicht zu ermessen, ist mit Geld nicht aufzuwiegen. Staatliche Wiedergutmachung hat ihre natürlichen, vielleicht sogar grausamen Grenzen. Sie kann zugefügtes Unrecht und Leid nicht abgelten, sie hat aber die Folgen erlittenen Unrechts und entstandener Schäden zu mildern, soweit dies noch möglich ist. Daß Lücken zu schließen und Härtefälle auch heute noch zu regeln sind, hat die Anhörung in diesem Sommer eindrucksvoll und schmerzlich bewiesen.
Aber dann heißt es: Diejenigen, die heute Steuern zahlen, waren doch nicht schuld. Warum sollen sie finanzielle Opfer bringen? Hier halten wir es mit dem Herrn Bundespräsidenten, der am 8. Mai 1985 in diesem Hause klargestellt hat: Kollektive Schuld gibt es nicht, es gibt nur individuelle Schuld. Es gibt aber eine kollektive Verantwortung, und der stellen wir uns.
Was wir heute und in Zukunft an finanziellen Leistungen für Opfer des Nationalsozialismus und darüber hinaus an Lastenausgleich zahlen, erarbeiten Generationen, die Hitlers Gewaltherrschaft allenfalls als Jugendliche und Kinder erlebt haben oder erst nach Kriegsende geboren wurden. Sie sind daher frei von individueller Schuld. Sie beweisen aber zugleich die kollektive Verantwortung, die ihnen, die uns aus unserer nationalen Geschichte erwächst.
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Gerster
Wiedergutmachungsleistungen sind weiterhin notwendig, um ganz konkret zu helfen. Sie sind aber auch aus moralischer Verantwortung geboten.
Wir beschließen heute die Bereitstellung von weiteren 300 Millionen DM und die Forderung zur Erweiterung der bisher geltenden Richtlinien. Mit Restmitteln aus bestehenden Härtefonds werden ab Januar für die nächste Zeit etwas über 400 Millionen DM zusätzlich zur Verfügung stehen. Man kann diesen Beschluß nur im Zusammenhang mit den bisherigen Leistungen im Rahmen der Wiedergutmachungsgesetzgebung gewichten und werten.
Der 8. Mai 1945 war der Tag der Befreiung für uns Deutsche, aber auch für die vom NS-Terror geschändeten, gequälten und geknechteten Menschen und Völker. Es war nicht die Stunde Null, die anbrach, es war, wie es Heinrich Böll ausdrückte, die Stunde Nichts. Deutschland stand rechtlos in Ruinen, ein Trümmerhaufen, und die Menschen standen vor der Aufgabe, mit einem bitterschweren Erbe, einem verfluchten Erbe fertig zu werden.
Obwohl die blanke Not der meisten Menschen, vor allem auch von 12 Millionen Deutschen, die ihre Heimat verlassen und in unserem Land Wohnung, Arbeit und Brot finden mußten, noch weit in die 50er Jahre und darüber hinaus anhielt, wurde bereits drei Jahre nach Gründung der Bundesrepublik Deutschland mit der Wiedergutmachung begonnen.
Mit dem Abkommen zwischen der Bundesrepublik und dem Staate Israel begann der Versuch, wenigstens einen Teil der Schäden materiell auszugleichen, die das perverse System des Nationalsozialimus Millionen von Menschen zugefügt hatte. Es folgten zahlreiche weitere zwischenstaatliche Abkommen mit Staaten, die von Hitlers Armeen überfallen und verwüstet wurden.
Ich möchte nur eine Zahl nennen: Zur Liquidation der Kriegs- und NS-Folgen hatte die Bundesrepublik Deutschland allein bis 1965 rund 350 Milliarden DM aufgebracht. Dabei handelte es sich um Leistungen im Rahmen der Wiedergutmachung, des Lastenausgleichs und um solche, die sich an die Kriegsfolgengesetzgebung anschlossen.
Wir im freien Teil Deutschlands haben uns — ich sage dies bei aller Bescheidenheit, die uns Deutschen gut ansteht — vor dem schlimmen Erbe, das uns die Nazidiktatur hinterließ, nicht gedrückt. Wir unterscheiden uns damit von der DDR, welche diese Wiedergutmachung bis heute ablehnt. Alle in diesem Hause jeweils vertretenen demokratischen Parteien haben sich von der Gründung der Bundesrepublik Deutschland an uneingeschränkt zur moralischen Verpflichtung der Deutschen bekannt, den Opfern des Nationalsozialismus materielle Wiedergutmachung zu gewähren. Alle Parteien waren sich jedoch auch stets einig, daß es bei allem Bemühen um materielle Wiedergutmachung auch Grenzen gibt, die kaum zu überwinden sind.
Ich möchte hier zitieren:
Finanzielle Entschädigung aber konnte es immer nur für diejenigen geben, die einen Schaden erlitten haben. Wir haben viele, die großen Schaden erlitten haben, nicht befriedigen können, weil unser Geldsäckel nicht ausreicht oder weil es nicht mehr praktikabel ist. Um so weniger können wir irgendwelche Schmerzensgelder jemanden geben, der doch letzten Endes das Glück hatte, durch die Schergen Hitlers nicht ertappt zu werden und eben nicht geschädigt zu werden.
Diesen Hinweis machte in der Bundestagsdebatte am 26. Mai 1965 der SPD-Abgeordnete Martin Hirsch, ein Mann, der sich seinerzeit große Verdienste um die Wiedergutmachung erworben hat.
Hirsch machte in dieser Rede eine weitere Grenze deutlich, als er sagte:
So gibt es viele Probleme, die sicherlich der gesamte Ausschuß im Einvernehmen mit dem Ministerium gern gelöst hätte, die heute einfach nicht mehr lösbar sind, weil die Zeit über sie hinweggegangen ist.
Hirsch meinte nicht nur Fälle, in denen die Opfer bereits verstorben waren. Er meinte vor allem auch Fälle, die bereits 1965 nicht mehr hinreichend nachprüfbar waren. Wenn dies schon vor 22 Jahren galt — ich habe keinen Grund, an der Ehrlichkeit des Herrn Hirsch zu zweifeln — so gilt dies heute, 22 Jahre nach der erwähnten Rede und 42 Jahre nach Kriegsende, leider erst recht.
Meine Damen und Herren, die Grenzen der Wiedergutmachung deutlich zu machen, heißt nicht — ich bitte, mich da nicht mißzuverstehen — , sich um die materiellen Pflichten der Wiedergutmachung herum-mogeln zu wollen. Ich glaube, dieser Vorwurf kann den Deutschen in der Bundesrepublik Deutschland auch nicht gemacht werden; denn wir haben redlich versucht, auch den materiellen Teil unseres Erbes zu tragen und den daraus erwachsenen Verpflichtungen im Rahmen der uns verfügbaren Möglichkeiten gerecht zu werden. Dies gilt auch noch für die Zukunft, denn noch über 20 Milliarden DM für die Wiedergutmachung — übrigens auch die etwa gleiche Summe für den Lastenausgleich — werden auf Grund bereits geltenden Rechtes noch zu leisten sein. Für die Wiedergutmachung allein werden dann über 100 Milliarden DM aufgewandt sein.
Heute wollen wir über weitere Leistungen beschließen, über die Bereitstellung von Geldern für die Opfer des Nationalsozialismus, die aus verschiedensten Gründen bisher keine Wiedergutmachung erhalten haben. Wir wollen noch bestehende Härten mildern und weitere Opfer des Nationalsozialismus in die Wiedergutmachung einbeziehen. Wir werden, meine Damen, meine Herren, wieder keine perfekte Lösung beschließen. Eine solche wird es nie geben. Wir — CDU/CSU und FDP — haben uns aber bemüht, eine gerechte Lösung zu finden. Dabei gebietet es der Respekt vor den Opfern nationalsozialistischer Gewalttaten und die Ehrlichkeit gegenüber allen Bürgern, klarzumachen, daß die Koalition der Mitte diesen Beschluß nun wirklich endgültig als das Ende der Wiedergutmachungsregelungen ansieht; eine Art Schlußregelung, die übrigens nach Meinung aller Parteien bereits 1965 erreicht worden war.
Ich möchte ausdrücklich den Kolleginnen und Kollegen von der FDP danken, mit denen wir in den vorausgegangenen Diskussionen ernst und fair gerungen
Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 46. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. Dezember 1987 3199
Gerster
haben. Gemeinsam haben wir eine Lösung erarbeitet, die unserer Verantwortung gegenüber den Opfern des Nationalsozialismus gerecht wird, soweit der Staat hier überhaupt Gerechtigkeit schaffen kann. Unser Dank gilt aber auch den beteiligten Verbänden und Organisationen, die sich kritisch, konstruktiv und mit großem Ernst um Lösungen mit bemüht haben und noch bemühen. Wir danken auch dem Bundesfinanzminister und seinen Mitarbeitern für die sachverständige Beratung und Unterstützung.
Die Fraktion DIE GRÜNEN fordert eine, wie es heißt, angemessene Versorgung aller Opfer nationalsozialistischer Verfolgung. Aus ihrem Entwurf wird aber nicht deutlich, nach welchen Kriterien sie die Entschädigung vornehmen will.
Meine Damen und Herren von den GRÜNEN, ich halte Ihren Antrag für nicht sehr seriös.
Private Wiedergutmachung kann grenzenlos und willkürlich sein. Staatliche Wiedergutmachung muß sich an Gesetzen, an klaren Kriterien und an den finanziellen Möglichkeiten orientieren. Sie weigern sich, diesen elementaren Grundsatz staatlichen Handelns überhaupt zur Kenntnis zu nehmen. Sie versprechen und Sie fordern Unmögliches.
Ich kann Ihnen den folgenden Vorwurf nicht ersparen: Wer wie Ihre Fraktion nicht willens ist, sich eindeutig von Gewalt zu distanzieren,
der sollte seine Rolle als Anwalt für die Opfer von Gewalt einmal sehr selbstkritisch überprüfen.
Wer, wie aus Ihrer Fraktion geschehen, die bisherigen Wiedergutmachungsleistungen mit mehreren hundert Milliarden DM
als „zweite Phase der Verfolgung" bezeichnet, der versucht nicht, die durch den NS-Terror aufgerissenen Gräben zu schließen, sondern der reißt neue Gräben auf.
Ich möchte Ihnen ein Zitat entgegenhalten, das lautet:
Die Wiedergutmachungs- und Entschädigungsgesetzgebung der deutschen Bundesrepublik ist eine einzigartige Leistung sowohl vom juridischen, moralischen wie — realistisch gesehenen — finanziellen Standpunkt.
Dies sagt nicht irgendwer, dies schrieb Nahum Goldmann, der damalige, inzwischen verstorbene Präsident des Jüdischen Weltkongresses bereits 1981 in der Festschrift für den bereits zitierten SPD-Abgeordneten Martin Hirsch.
Die Fraktion der SPD fordert die Errichtung einer Stiftung „Entschädigung für NS-Unrecht". Auf den ersten Blick scheint vieles für eine solche Stiftung zu sprechen, und auch ich selbst habe lange mit dem Gedanken einer derartigen Stiftung gespielt. Bei näherem Hinsehen erweist sich, daß eine solche Stiftung aber nicht leisten kann, was sie leisten soll. Sie müßten eine neue Bürokratie aufbauen, die sich erst einspielen muß. Dies kostet Zeit, die wir nicht haben. Gerade das Alter der Opfer und das Maß des Leides fordern vielmehr schnelle und unbürokratische Hilfe — übrigens, Frau Kollegin Schmidt, eine schnelle und unbürokratische Hilfe, die alle Sachverständigen in dem Hearing gefordert haben. Und genau darin sehe ich einen Widerspruch zu der Idee der Stiftung.
— Frau Schmidt, ich weiß nicht, ob alle Sachverständigen das Problem einer Stiftung übersehen haben. Sie wollen eine Stiftung mit den Ländern zusammen bilden und daran sogar die Privatwirtschaft beteiligen.
Ich darf daran erinnern, daß der Bundeskanzler Willy Brandt 1972 eine Nationalstiftung angekündigt hat, und es hat 15 Jahre gedauert, bis eine Kulturstiftung zwischen Bund und Ländern zustande kam.
— Herr Baum, Sie haben recht, so toll ist die wirklich nicht. — Nehmen Sie uns bitte ab, daß für uns allein die Erwägung, die Wiedergutmachung nicht in das Gerangel zwischen Bund und Ländern hineinziehen zu wollen, Veranlassung ist, das an sich zunächst bestechende Modell der Stiftung abzulehnen.
Überdies würde eben eine neue Bürokratie einer derartigen Stiftung Geld kosten, das den Opfern fehlen würde, das wir aber unmittelbar und schnell schon Anfang 1988 zur Entschädigung einsetzen wollen.
Meine Kolleginnen und Kollegen von der SPD-Fraktion, Sie verfolgen das gleiche Ziel wie wir, aber Sie beschreiten den falschen Weg. Wenn ich sehe, wie Sie Ihr Stiftungsmodell inzwischen aus- und nachgebessert haben, kann ich mich des Eindrucks nicht erwehren, daß Sie das inzwischen auch selbst merken.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Wenn es auf meine Redezeit nicht angerechnet wird, gerne. Bitte schön, Herr Kollege Koschnick.
Ich unterbreche ungerne, Herr Abgeordneter. Aber sind Sie nicht mit mir der Meinung, daß ein Verfassungsstreit über kulturelle Zu-
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Koschnick
ständigkeiten nicht identisch ist mit der Diskussion, wie man Verfolgten wirklich helfen kann?
Ja, das ist richtig. Aber an den Problemen einer Abstimmung zwischen Bund und Ländern ändert das leider nichts. Ich empfehle Ihnen, Herr Kollege Koschnick, sich einmal die Berliner Stiftung zur Wiedergutmachung zu betrachten und die Schwierigkeiten zu sehen, denen gerade diese Stiftung unterliegt, die viel vor sich hin arbeitet und größte Schwierigkeiten hat, wirklich zur Auszahlung der Mittel zu kommen.
Ich glaube, die Regelung der Koalition, die heute hier zur Abstimmung steht, wird unserem gemeinsamen Ziel am ehesten gerecht. Sie ist geeignet, den Opfern rasch zu helfen. Es handelt sich um eine Regelung, die von Verwaltungen ausgeführt wird, die bereits bestehen und bereits Erfahrungen gesammelt haben. Wir werden uns gerade vor der Verabschiedung der Richtlinien Mühe geben, darauf hinzuwirken, daß diese Verwaltungen unbürokratisch, human und den Einzelschicksalen wirklich entsprechend gut und in Zukunft noch besser ihre Arbeit leisten werden.
Wir schließen mit dieser Regelung an die großen Wiedergutmachungsgesetze an, die allesamt unter CDU-Bundeskanzlern zustande kamen. Das waren in schlechteren Zeiten große und mutige Vorhaben, gegen die sich die einzige Wiedergutmachungstat unter SPD-Bundeskanzlern zu Beginn der 80er Jahre ja wirklich mehr als bescheiden ausmacht. So wie wir Ihrer Nachbesserung damals zugestimmt haben, bitten wir Sie heute, sich im Interesse einer schnellen Hilfe für Verfolgte unserem Modell anzuschließen.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Wort hat Frau Abgeordnete Vollmer.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der tschechische Schriftsteller Milan Kundera hat in seinem Buch „Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins " einen Gedanken formuliert, der mich schon lange sehr beunruhigt hat und der mir zur Rede von Herrn Gerster zu passen scheint, obwohl ich nicht weiß, ob Herr Gerster ein Mensch ist, den man überhaupt beunruhigen kann. Er spricht da über den Gegensatz von Kulturen, die an die ewige Wiederkehr glauben, zu den westlichen Kulturen, die davon ausgehen, daß Vergangenes sich nie wiederholen wird. Er schreibt — und ich bitte Sie jetzt, bei dem, was er da über die Zeit der Französischen Revolution sagt, immer in Klammern die Zeit des Nationalsozialismus zu ergänzen — :
Wenn sich die Französische Revolution ewig wiederholen müßte, wäre die französische Geschichtsschreibung nicht so stolz auf Robbespierre. Da sie aber von einem Ereignis spricht, das nicht wiederkehren wird, haben sich die blutigen Jahre in Worte verwandelt, in Theorien und Diskussionen; sie sind leichter geworden als Federn und flößen niemandem mehr Angst ein. Es besteht ein gewaltiger Unterschied zwischen einem Robbespierre,
— und, so wollen wir ergänzen, einem Hitler —
der in der Geschichte nur ein einziges Mal aufgetreten ist, und einem Robbespierre,
— und einem Hitler —
der ewig wiederkehrt, um den Franzosen den Kopf abzuhacken.
Sagen wir also, daß der Gedanke der ewigen Wiederkehr eine Perspektive bezeichnet, aus der die Dinge uns anders erscheinen, als wir sie kennen: sie erscheinen ohne den mildernden Umstand ihrer Vergänglichkeit. Dieser mildernde Umstand hindert uns nämlich daran, ein Urteil zu fällen. Wie kann man etwas verurteilen, das vergänglich ist? Im Abendrot leuchtet alles im verführerischen Licht der Nostalgie, sogar die Guillotine.
— Ich merke, daß Sie da wegen des Vergleichs unruhig sind.
— Es gibt keinen Vergleich in diesem Fall. Ich wollte den Gedanken als Bezug aufnehmen, daß betont wird, daß etwas, was auf jeden Fall vergänglich ist, eine merkwürdige Art von Versöhnung mit dem Vergänglichen ermöglicht.
Nur der Gedanke, daß wir nicht an die Wiederkehr glauben, hilft uns, uns mit unerträglichen Ereignissen in der Vergangenheit auf merkwürdige Art und Weise zu versöhnen. Auf diesen Gedanken kam es mir an, und ich bitte Sie, ihn zu verfolgen.
„Diese Aussöhnung mit Hitler" — das schreibt Milan Kundera; der hat nämlich selber den Vergleich gemacht — „verrät die tiefliegende moralische Perversion einer Welt, die wesentlich auf dem Nichtvorhandensein der Wiederkehr begründet ist, weil in einer solchen Welt alles von vornherein verziehen ist und folglich alles auf zynische Weise erlaubt. "
Wie anders müßten wir uns mit der Vergangenheit auseinandersetzen, wenn sie uns gleichzeitig als mögliche Zukunft bevorstünde!
Eine schreckliche Vorstellung. In der Welt der ,Ewigen Wiederkehr' lastet auf jeder Geste der Gegenwart die Schwere einer unerträglichen Verantwortung.
Was haben diese Gedanken mit unserem Thema zu tun? Ich komme damit auf unsere Ausschußberatungen und auf einen Satz in der Beschlußempfehlung der Mehrheit des Ausschusses, der heißt — so hat es Herr Gerster wiederholt —, daß der vorliegende Entwurf „eine endgültige Abschlußregelung " jener Wiedergutmachungsleistungen beinhaltet. Nur „in Einzelfällen" seien in der Vergangenheit „Härten verblieben", die „nicht vermieden werden konnten".
Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 46. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. Dezember 1987 3201
Frau Dr. Vollmer
Die Absicht dieser Passage ist auch nach Ihrer Rede, Herr Gerster, eindeutig. Sie soll besagen: Im wesentlichen ist dieser Punkt der Vergangenheit einigermaßen befriedigend abgeschlossen worden. Sogar die Betroffenen hätten das anerkannt. Es ginge nur um eine letzte endgültige Reparatur der verbliebenen unvermeidlichen Härtefälle.
In eben dieser Formulierung steckt jene Absicht,
die wir von Anfang an in den drei Jahren, die wir darüber verhandelt haben, immer so heftig und so leidenschaftlich, und, wie ich weiß, auch mit gegenseitigen Verletzungen attackiert haben. Es gilt eben das nicht, was diese Entschließung vortäuscht: einen endgültigen Abschluß der Frage, wie mit den Opfern der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft umzugehen sei und welcher Platz ihnen in unserer Gesellschaft zukommt.
Wenn wir irgend etwas eben nicht in jenem „verführerischen Licht der Nostalgie", durch historischen Abstand gemildert, betrachten dürfen, so ist es gerade diese Zeit des Nationalsozialismus. Es stimmt auch nicht, daß alles, was damals getan und gedacht wurde, nicht wiederkehrt. Es stimmt nicht für die Opfer. Es stimmt auch nicht für die Täter. Es stimmt auch nicht für die, die nichts getan haben, um dem zu widerstehen.
Mit dem Abstand einer Generation — genau das merken wir zur Zeit — brechen alle diese Fragen vehement mitten in dieser bundesrepublikanischen Gesellschaft teilweise gespenstisch auf. Und es ist unsere Verantwortung, uns ihnen zu stellen, als wären die damaligen Gefahren noch immer heutige oder noch immer zukünftige.
Gegen uns ist eingewandt worden: Es ist aber doch viel geschehen; es hat ernsthafte Versuche zu einer — sogenannten — Wiedergutmachung gegeben. Auch Zahlen sind genannt worden, auch heute wieder: 80 Milliarden DM, die bisher dafür ausgegeben worden sind, 100 Milliarden DM, die es bis zum Jahre 2020 sein werden. Und dann sind da diese 300 Millionen DM, mit denen auch die Mitglieder der Koalitionsfraktionen tatsächlich ihr Wort wahrgemacht haben, das sie gegeben haben, nämlich daß in diesem Jahr, in diesem Haushalt noch etwas vorgesehen wäre. Ich erkenne das an. Tatsächlich: Sie haben Ihr Wort gehalten. Aber Sie haben es auf dem niedrigsten Level gehalten, der denkbar war, wenn man etwas mehr als nichts tun wollte.
In den letzten Tagen stand eine Notiz in der Zeitung, die mir wegen der Zahlengleichheit auffiel. Da heißt es: Zur Rettung des Projektes des Schnellen Brüters in Kalkar werde Minister Riesenhuber 300 Millionen DM zur Verfügung stellen. — Da haben wir sie also wieder, diese „unerträgliche Leichtigkeit des Seins " : daß für ein Projekt, das mit uns nicht nur die SPD und die nordrhein-westfälische Landesregierung, sondern auch gewichtige Mitglieder der FDP ablehnen, ebensoviel Geld zur Verfügung gestellt wird wie für die sogenannte Wiedergutmachung für die Menschen, die in Konzentrations- und Vernichtungslagern gewesen sind und deren Leben heute oft von schlichter materieller Not, ganz abgesehen von den psychischen Schäden, gequält wird.
Natürlich bin auch ich — wie Sie — der Meinung, daß sich nicht entschädigen läßt, was damals gelitten worden ist. Wie soll man überhaupt Leiden messen können? Trotzdem müssen wir uns den elenden Maßstab des Geldes vor Augen halten, der in der bisherigen Wiedergutmachungspraxis angelegt worden ist. Für einen Tag, der im Konzentrationslager verbracht worden ist, hat die bisherige Wiedergutmachungspraxis 5 DM Entschädigung zugestanden. Das gilt übrigens nur für voll abgeleistete Monate und nur bei Beweisen, daß diese Tage und Monate auch tatsächlich dort verbracht worden sind.
Auch ich möchte dazu einen Zeugen zitieren — da sind wir uns ganz ähnlich, Renate Schmidt — , der im Wiedergutmachungs-Hearing gesprochen hat. Auch ich meine, daß das Privileg, in diesem Parlament reden zu dürfen, dazu benutzt werden sollte, diesen Zeugen unsere Stimme zu leihen. Auch ich zitiere aus der Rede des ungarischen Juden Dr. Garai. Sie war für mich bei diesem Hearing etwas vom Intensivsten, vielleicht auch wegen der Bitterkeit, mit der er dieses Messen in Geldkategorien aufgegriffen hat. Er hat dort gesagt:
Unsere Familie hatte eine Lederfabrik mit zweieinhalbtausend Arbeitern. Die wurde weggenommen, und nach dem 19. März 1944, als die deutsche Armee Ungarn besetzt hat, wurden wir ins Getto und nachher, am 7. Juli, nach Auschwitz eingerollt.
Als das geschah, war ich 16 Jahre alt, wurde mit der Familie — mehrere zehn Leute — in Auschwitz selektiert, blieb allein, und nachher, als ich gelernt hatte, was es bedeutet, tagsüber der Rauch und nachts die Flammenzeichen, hatten wir alle einen Schock. Wenn es
— nach der Wiedergutmachung —
einen Tag fünf Mark kostet, einen solchen Juden zu erhalten, sollten wir sagen, das soll eine Deutsche Mark wert sein.
Nachher gingen wir über eine Selektion bei Dr. Mengele, der eben gesagt hat: links oder rechts. Wir sind nach dem bewußten System in die Baracken gelangt . . ., 2 000 in einer Baracke, wo wir keine Pritschen hatten, sondern am Boden gelegen sind, und unsere Kleider — es waren keine Kleider, sondern ein Hemd, eine Hose und Holzschuhe — waren naß vom Regen, als wir dort gelegen haben. Der Dampf von unseren Kleidern hat uns geheizt. Um vier Uhr früh wurden wir unter die Sterne der polnischen Nacht hinausgejagt, es war gefroren, und wir haben so gestanden, einer sehr eng zu dem anderen, daß der eine den anderen erwärmen kann . . ., dann hieß es: los, los! Es gab einen Appell mit 2 000 Leuten von halb fünf bis sieben oder acht Uhr. Wir haben keine Zeit und keine Möglichkeit gehabt, unsere Sachen zu erledigen; viele haben sich angenäßt oder angeschmutzt. Sagen wir also: noch eine halbe Deutsche Mark.
3202 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 46. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. Dezember 1987
Frau Dr. Vollmer
Nachher kam wieder eine Selektion mit Dr. Mengele. Zwei oder drei von den fünf wurden weggenommen — zum Gas. Da können wir anderthalb Mark nehmen.
— Für das Gas!
Dann haben wir etwas Essen bekommen: Dörrgemüse hauptsächlich mit Wasser, aus großen Fässern ausgeteilt, um die herum zehn oder fünfzehn Leute gestanden haben und zwei oder drei Schluck getrunken haben, bis es wiederkommt und bis das Lavor leer ist. Sagen wir, wir sollen eine halbe Mark zahlen, weil wir Essen bekommen haben.
— Die ziehen wir davon ab!
Nachher kommt eine kleine Arbeit. Man schlägt herum, und zwei, drei Leute werden in die RoteKreuz-Baracke geschleppt. Sagen wir, auch eine halbe Mark .. .
Das war so bis Oktober. Im Oktober wurde ein Zaun, ein Brett angenagelt und alle mußten darunter herlaufen. Alle, die klein waren, wurden vergast. Das Brett wurde immer höher gezogen, denn es mußten 600 oder 700 Leute herauskommen. Solange diese 700 Leute nicht herausgekommen waren,
— zum Verbrennen — wurde das Brett immer weiter heraufgezogen.
Und dann erzählt er die Szene, die Frau Schmidt schon erwähnt hat: daß sie die Nachrichten ihrer Freunde an den Wänden abwaschen mußten und daß er am Ende bei der Firma Holzmann & Moll als Sklave gearbeitet hat.
... und bin dann von den Amerikanern befreit worden. Da wog ich 23 kg. Ich war 17 Jahre alt.
... vorher, damit wir nicht befreit werden sollten, beschossen worden und (ich bin) von zwei Kugeln getroffen worden ... Dort hat man mich also operiert.
Als ich nach Hause gekommen bin — nicht nach Hause, sondern nach Palästina — , habe ich um Wiedergutmachung gebeten.
Man hat mich einige Male abgelehnt, bis ich an die Alliierten geschrieben habe. Dort habe ich dann einen Ausweis vom Lazarett Holzhausen bekommen .. .
Dort ist bestätigt, daß ich dort operiert worden bin. Die Nummer, mit der ich aus Auschwitz kam, war angegeben. Nur weil ich dieses Glück hatte, ... habe ich eine Mindestrente bekommen, nachdem ich fünfmal zurückgeschoben wurde, weil etwas nicht in Ordnung war. Hätte ich diese Bestätigung nicht gehabt, hätte ich diese andere Karte als „displaced person" nicht gehabt, hätte ich auch keine Wiedergutmachung bekommen ... Für den richtigen Weg
— um Wiedergutmachung zu bekommen — gab es nämlich nicht genug Beweise. So weit dieser Zeuge.
Ich habe ihn bis hierher zitiert, um zu einem Satz Stellung zu nehmen, der in der Ausschußdebatte so viel böses Blut verursacht hat, auch gegen mich. Wir hatten nämlich gesagt: Für viele der Verfolgten war der Prozeß der Beglaubigung ihrer Leiden, der Prozeß der Anerkennung als Wiedergutmachungsberechtigter, so etwas wie eine zweite Phase der Verfolgung. — Ich möchte auch hier noch mal klarstellen: Ich wollte damit niemanden angreifen, der sich nach Kräften bemüht hat, diese Frage der Wiedergutmachung in einer Gesellschaft zu diskutieren, die alles andere — das weiß ich — im Kopf hatte als die Beschäftigung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit.
Ich möchte auch ausdrücklich betonen, daß sich einige gerade gegen den allgemeinen Trend des Vergessens — weil es ja Vergangenheit sei, die nicht wiederkommt — , um diese Frage bemüht hatten. Das heißt aber nicht, daß dieser Prozeß für die Betroffenen so gewesen wäre, daß sie sich als Mitglieder einer demokratischen Gesellschaft wertgeachtet und anerkannt gefühlt hätten. Nein, dieser und viele andere Berichte zeigen: Die Prozesse der Wiedergutmachung — um sie zu bekommen — waren oft demütigend, langwierig, die Bürokratien waren unverständlich, und das ganze Verfahren war für sie von Grund auf unbegreiflich. Viele waren auch zu stolz, Geld anzunehmen, das sie als Blutgeld betrachteten. Viele empfanden auch diese merkwürdige Scham, zu den Überlebenden zu gehören, wo so viele, die sie geliebt und gekannt hatten, in Auschwitz verbrannt waren.
Das eben war der Anlaß, warum wir eine ganz neue, eine andere Gesetzgebung wollten. Wir wollten damit erstens, daß alle Verfolgten, ohne Ausnahme, einen Rechtsanspruch auf Wiedergutmachung haben. Wir wollten zweitens, daß sie diesen Anspruch nicht mehr durch unauffindbare Dokumente oder durch Beweise belegen mußten. Wir wollten eine Umkehr der Beweislast. Wir wollten drittens, daß keine Gruppe mehr ausgeschlossen wird, nicht die Kommunisten, nicht die Homosexuellen, nicht die Sinti und Roma, nicht die Kriegsdienstverweigerer, die sogenannten Asozialen, die Zwangssterilisierten, die Zwangsarbeiter, die Mitglieder des Jugendwiderstandes und alle, an die wir nicht mal gedacht hatten. Wir wollten viertens, daß gerade alle diese Verfolgtengruppen wesentlich an der Vergabe der Gelder beteiligt werden, durch ihre Interessenvertretungen, und daß die Verteilung der Gelder endlich von einem Finanzministerium wegkommt, das natürlich ganz anderen Gesetzmäßigkeiten folgt, nämlich denen der Sparsamkeit, und gerade die durfte in diesem Fall nicht angewandt werden.
Wir wollten fünftens, daß auch die nicht mehr ausgeschlossen werden, die aus guten Gründen nicht Bürger der Bundesrepublik Deutschland geblieben oder geworden sind und trotzdem Opfer deutscher Politik waren. Und wir wollten sechstens, daß auch die ganz große Gruppe der Zwangsarbeiter als Opfer des Nationalsozialismus anerkannt wird und daß dafür auch die Firmen mit zur Kasse gebeten werden, die heute noch weltweit große Profite machen und deren Welt-
Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 46. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. Dezember 1987 3203
Frau Dr. Vollmer
größe nicht zuletzt mit ihren damaligen Gewinnen zusammenhängt.
Meine Damen und Herren, weil wir nicht wollen, daß diese Frage zur Ruhe kommt, legen wir Ihnen heute gleichzeitig einen Antrag vor, die Kommunen zu bitten, ihrerseits Ehrenbürgerschaften an die Verfolgten zu verleihen, die in den Orten, den Dörfern und Städten der Bundesrepublik verfolgt wurden. Wir wenden uns damit an den Ort, von dem aus das nationalsozialistische Unrecht im Alltagsleben seinen Ausgang nahm. Weil es in jeder Kommune Kommunisten und Zwangsarbeiter gab, weil überall Homosexuelle, Sinti und Roma und wer immer gelebt haben, kann keiner sagen: Wir haben von allem nichts gewußt.
Wir wollen diese Frage nicht zur Ruhe kommen lassen, und zwar auch aus dem Grund, daß sie auch für die Verfolgten nicht zur Ruhe kommt. Auch da möchte ich wieder aus den Erklärungen von Dr. Garai zitieren. Er sagte: Für uns hört die Verfolgung nie auf. Er hat das beschrieben; Sie, Frau Schmidt, haben das schon erzählt. Er ist jetzt 59 Jahre alt und sagt, allmählich brechen die Schutzgrenzen in einer Persönlichkeit, die diese Erinnerung abhält, daß ihm das früher nie passiert ist, daß er aber seit fünf Jahren Nacht für Nacht seine Familie zusammengebunden auf Eisenbahnstränge legen und drüberfahren muß, daß das Nacht für Nacht kommt und für ihn zwanghaft und unausweichlich ist.
Dann sagt er:
Vor zwei Wochen habe ich ein Lastauto mit Käfigen voller Hühner, die man zum Schlachten fährt, gesehen. Das erste, was mir in den Sinn gekommen ist, war, daß dieses Lastauto die jüdischen Hühner zum Abschlachten fährt. So waren wir auch — wie in diesem Lastauto! Alles, was eingesperrt ist, geht in diese Zeit zurück; alle Assoziationen, alle Gedanken gehen ... zu dieser Zeit zurück, als diese Dinge geschahen. Ich war nur zehn Monate im Lager. Was kann mit den Leuten sein, die fünf Jahre dort waren? Nach zehn Monaten wog ich 23 Kilo. Ich war 17 Jahre alt. Was wäre geschehen, wenn ich noch drei Wochen hätte dort sein müssen? Das hätte ich bestimmt nicht überlebt, und dann hätte keiner das erzählen können. Noch etwas: Die Firmen Moll und Holzmann existieren, und ich weiß bestimmt, daß man sie finden könnte und vielleicht dort etwas erledigen könnte.
Weil wir es nicht den Opfern überlassen können, diese Verfolgung immer wieder durchzumachen, muß es auch für uns so etwas wie eine Konfrontation auch mit dieser zweiten Phase der Verfolgung geben, weil es auch mit uns zu tun hat. Deswegen werden wir in dieser Frage immer weitermachen müssen, ob wir es wollen oder nicht, vielleicht so, wie die Bremer Bürger weitergemacht haben, die heute hier auf dem Platz vor dem Langen Eugen ein Denkmal enthüllt haben. Für dieses Denkmal hat der Deutsche Bundestag noch keinen Platz gefunden. Aber vielleicht ist es möglich, daß wir in Absprache mit dem Präsidenten diesen Platz noch finden.
Ich danke Ihnen.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Lüder.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Vor einer Woche standen die Zahlen zum Haushalt im Mittelpunkt unserer Beratungen. Eine für den Gesamtetat unscheinbar kleine Summe fiel da kaum auf. Heute reden wir von den Menschen, von den Betroffenen, von den Opfern der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft, für die diese Summe zur Verfügung gestellt wurde und wird. Für diese Menschen ist es ungeheuer wichtig, daß wir dies taten und tun.
Ich bin mehrfach und von verschiedenen Seiten gefragt worden, ob es denn noch notwendig sei, noch einmal ein Thema aufzurollen, das viele abgeschlossen zu haben glaubten. Ich habe all denen gesagt — ich wiederhole es hier — : Solange noch Opfer der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft unter uns leben, bleibt die schreckliche Vergangenheit Gegenwart. Solange noch Opfer unter uns leben, die nicht als Opfer respektiert und anerkannt wurden, werden wir dem Anspruch und Maßstab nicht gerecht, den der erste Bundespräsident, der Liberale Theodor Heuss, setzte, als er von der Verantwortung sprach, die sich aus der Kollektivscham der Deutschen gegenüber ihrer Vergangenheit ergibt. Diese Scham darf nicht verjähren.
Ich weiß um die Schwierigkeiten, die es insbesondere in der letzten Legislaturperiode gegeben hat, den nahezu vergessenen Opfern des NS-Terrors wenn schon nicht Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, so doch Anerkennung und Hilfe zu geben. Deswegen möchte ich einer Kollegin danken, daß sie mit ihrer bekannten Energie und Zähigkeit begann, allzu dick erscheinende Bretter zu bohren, unserer Kollegin Hildegard Hamm-Brücher.
Auf ihren Vorarbeiten konnten wir in diesem Jahr aufbauen. Ich bin dankbar, daß ich die Vorarbeiten meiner Kollegin nutzen konnte, um weiterzumachen.
Ich möchte auch einen Dank an Johannes Gerster geben, der als der Verantwortliche in der großen Koalitionsfraktion tatkräftig mitgeholfen hat, daß wir das erreichen, was heute kommt.
In der Anhörung des Innenausschusses am 24. Juni konnte etwas bewirkt werden, was viele für nicht möglich gehalten hatten: Die Betroffenen lehrten uns, die Aufgaben zu verstehen, die aus der deutschen Nachkriegszeit nachgeholt werden müssen. Betroffene, die Opfer des NS-Terrors, machten uns, die Parlamentarier, betroffen. Viele zeigten uns, daß nicht das Geld im Vordergrund der Erwartungen steht, sondern die moralisch-politische Bewertung dessen, was ihnen angetan worden ist. Die Koalitionsfraktionen haben daraus die Konsequenz gezogen, im heutigen Entschließungsantrag nicht nur zu sagen, wem und
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Lüder
nach welchen Kriterien was gezahlt werden soll, sondern die politische Aussage voranzustellen, mit der wir Anerkennung und Respekt den Opfern des NS-Terrors bezeugen. Opfer des NS-Terrors sind die noch heute mitten unter uns Lebenden. Das sind die jüdischen Mitbürger; ich nenne sie auch in Anbetracht der Anhörung an erster Stelle. Der Vorsitzende der jüdischen Gemeinde zu Berlin, Heinz Galinski, der sich so große Verdienste um die Wiederrespektierung Deutschlands, um die Integration der jüdischen Mitbürger in unseren Staat und auch um die Wiedergutmachung für nicht-jüdische Opfer erworben hat, hat nicht ohne Grund am letzten Sonntag anläßlich seines 75. Geburtstages daran erinnert, daß es auch eine Frage der politischen Kultur in Deutschland ist, wie wir mit Juden und ihren Gemeinden umgehen. Da sind aber auch diejenigen Mitbürger, die sich als Sinti und Roma organisiert haben, ja, ich sage: deren guter Name „Zigeuner" nicht nur von Nationalsozialisten pervertiert worden ist. Da sind diejenigen, die als Opfer der von uns absolut nicht akzeptierbaren Erbgesundheitsgesetze Schäden an Leib und Leben erlitten, noch verstärkt durch die psychischen Auswirkungen dessen, was ihnen angetan wurde. Da gibt es die Homosexuellen, deren Lebensweise erst viel zu spät straffrei gestellt wurde, die unter dem NS-Regime Terror und Verfolgung erlitten haben und sich wegen der auch nach dem Krieg bestehenden Kriegsgesetze nicht als Opfer melden wollten. Da gibt es die Zwangsarbeiter. Da gibt es die Gruppe der Menschen, die als „Mengele-Zwillinge" das schändliche Geschichtsbuch des NS-Regimes füllen. Da gab es politischen Widerstand gegen das NS-Regime auch aus politischen Richtungen, die etwa als Kommunisten von uns in diesem Staat bekämpft werden. Unser politischer Kampf in demokratischer Auseinandersetzung darf aber doch nicht das gemeinsame Leiden im KZ vergessen machen.
Wir ehren die Opfer des NS-Terrors und respektieren den Widerstand auch dann, wenn wir ihre politische Meinung bekämpfen. Wir Liberale zollen dem Respekt, der verfolgt wurde, ganz gleich ob Feind, ob Gegner oder Freund.
Wir Liberale sehen auch und würdigen die große Leistung der Bundesrepublik Deutschland, die auf Grund früherer Entscheidungen des Deutschen Bundestages als Wiedergutmachung erbracht worden ist. Herr Gerster hat mit Recht daran erinnert. Wir lassen diese Leistung nicht in Vergessenheit geraten.
Die Bundesrepublik Deutschland hat mit den Leistungen nach den Wiedergutmachungsgesetzen nicht wiedergutmachen können, was geschehen ist. Sie hat aber gezeigt, zu welcher moralischen Kraft ein demokratischer Staat in der Lage ist. Daran lassen wir auch dann nicht rütteln, wenn sich jetzt zeigt, daß weitere Härteregelungen notwendig sind.
Meine Damen und Herren, wir danken auch den vielen, durch deren verständnisvolle Begleitung der Wiedergutmachungsgesetzgebung und Wiedergutmachungspraxis Wege geebnet wurden, den Weg zwischen politischer Verantwortung und finanzieller Leistungsfähigkeit des Staates zu finden. Ich möchte hier stellvertretend für die vielen, auch aus den großen Kirchen, einen erwähnen, Werner Nachmann, den Vorsitzenden des Zentralrates der Juden, der Augenmaß der Forderung und Realisierbarkeit finanzieller Wünsche gleichermaßen berücksichtigte und ohne den das Wiedergutmachungswerk der Bundesrepublik so nicht hätte durchgeführt werden können.
Meine Damen und Herren, die Koalitionsfraktionen lehnen die Anträge der GRÜNEN ab, weil sie in nicht begründbare finanzielle Forderungen ausufern. Wir konnten auch dem SPD-Antrag mit dem Wunsch nach Errichtung einer Stiftung nicht zustimmen, weil wir uns von Kriterien leiten lassen mußten, die ich, wie folgt, kurz erwähnen will. Niemand wird verantworten können, daß eine neue Gesetzgebung als Kriegsfolgengesetz oder als Novelle zum Wiedergutmachungsgesetz entsteht. Darüber waren wir uns, mit der SPD jedenfalls, einig; denn dabei würden zugleich Fragen aufgegriffen, die sich aus den abertausend abgeschlossenen Fällen ergeben. Wir können aber auch die bisherigen Kriterien, die wir ja gemeinsam 1980/81 in den Härtefonds gefunden haben, nicht einfach aufgeben. Wir lassen uns an diesen Kriterien messen.
Wir lassen uns auch daran messen — das haben wir in den Antrag hineingeschrieben —: Weder das Territorialitätsprinzip noch das Londoner Schuldenabkommen sind Daten, die wir verändern können. Die Härteregelungen der existierenden Fonds, der Claims-Conference und des Regierungspräsidenten in Köln, sowie des Finanzministers bleiben für uns Grundlagen weiterer Planungen. Wir orientieren uns an den Kriterien dieser Regelungen.
Wir sagen auch mit Nachdruck: Hier ist nicht bürokratische Sparsamkeit gefordert, sondern schnelle Entschädigung. Wir wollen aber auch, daß das Geld, das jetzt zur Verfügung gestellt worden ist, nicht in irgendwelchen Töpfen gehortet wird, wie es in Köln geschehen sein soll. Es soll den Opfern schnell zugute kommen.
Die Schnelligkeit erreichen wir mit unserer Regelung. Ich bin Frau Vollmer dankbar, daß sie darauf hingewiesen hat, daß wir von Anfang an gesagt haben: Wir wollen eine schnelle Regelung, weil die Opfer in ihrem Alter schnell Geld brauchen. Wenn man mit Geld schon keine Gerechtigkeit schaffen kann, dann muß man es aber doch wenigstens schnell zur Verfügung stellen können.
Meine Damen und Herren, wir werden auch in den ersten Beratungen des Innenausschusses im nächsten Jahr darauf bestehen, daß durch Neufassung der Richtlinien ein Abfluß der Mittel an die Opfer wirksam erfolgt. Wir haben zusätzlich zu dem, was gewährt worden ist, 300 Millionen DM zur Verfügung gestellt. Wir haben gesagt: 300 Millionen DM reichen nach unseren Berechnungen für alle Fälle aus, die wir an den Kriterien, die wir für notwendig halten, messen. Weil wir dies sagen, sagen wir auch: Das ist die Schlußregelung. Wir sagen dies auch aus Gründen der Ehrlichkeit. Ich bin auch manchmal gefragt worden, ob wir es denn vertreten können, jetzt die Aus-
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Lüder
stattung der Fonds zu erhöhen, wenn dann die Betroffenen meinten, die Zahlungsbeträge würden erhöht. Nein, wir kommen an den Beträgen — so niedrig sie sein mögen — pro Opfer nicht vorbei. Wir haben hier Maßstäbe zu respektieren. Und wir werden mit den 300 Millionen DM auskommen. Ich vertraue auf die Zuverlassigkeit der Berechnungen, die dazu angestellt worden sind.
Aber wir werden auch sehr gründlich prüfen, daß der Wunsch der Koalitionsfraktionen nach Verbesserung der Richtlinien ebenso umgesetzt wird wie der Wunsch der Koalitionsfraktionen, daß die Länder die Zweitregelung nach dem BEG flexibler und leichter ausgestalten als bisher.
Wir werden die Bundesregierung daran messen, ob eingehalten wird, was wir hier in dem Antrag fordern. Das ist kein Antrag, der nur heute auf den Tisch kommt. Das ist vielmehr ein Antrag, dessen Umsetzung laufend kontrolliert und beobachtet wird. Ich verstehe es auch als Aufgabe eines Koalitionspolitikers, hier darauf zu achten, daß das, was wir wollen, auch wirklich umgesetzt wird. Ich habe keinen Zweifel daran, daß das geschieht, aber ich sage dies hier, weil das ein bißchen deutlich machen soll, warum wir so lange zögerten — denn wir hatten Zweifel — ob wir den SPD-Antrag wegen der Richtlinien überhaupt brauchen.
Wir sind der Meinung — wir werden dies im Ausschuß deutlich machen — , daß wir mit dem hinkommen, was uns vorschwebt. Wir wollen die Regierung nicht aus der Verantwortung für ihre eigenen Richtlinien entlassen, aber wir wollen sie kontrollieren. Deswegen soll uns die Regierung vorlegen, was sie will, und wir sagen dazu, was wir damit machen wollen.
Meine Damen und Herren, wir brauchen auch ein Mitberatungsgremium. Ich verwende diese Formulierung bewußt, und die Kollegen aus dem Ausschuß wissen, warum. Sosehr ich Einspruch dagegen einlege, die Entscheidung über die Vergabe von Geldern als Mitbestimmungsaufgabe an Betroffene zu übertragen, so sehr werde ich darauf drängen, daß Information und Konsultation der Betroffenen gewährleistet sein werden. Wir brauchen ein alle Betroffenen einbeziehendes Mitberatungsgremium, kein Mitentscheidungsgremium. Diesem Mitberatungsgremium soll Rechenschaft über die Mittel gegeben werden, die abgeflossen sind, sowie über die Art, wie Wiedergutmachung geleistet wird. Ich bin auch dankbar, daß wir bei der Bundesregierung eine Beratungsstelle für diejenigen bekommen, die nicht organisiert sind; denn auch an diejenigen Mitbürger wollen wir denken.
Meine Damen und Herren, die FDP-Fraktion wird dem vorliegenden Entschließungsantrag der Koalitionsfraktionen zustimmen. Den SPD-Weg zu einer Stiftung gehen wir nicht mit, weil nur auf dem von uns jetzt gewählten Weg gesichert ist, daß den Opfern des NS-Terrors schnell und unbürokratisch geholfen wird, so daß sie schon im nächsten Jahr erste Zahlungen erwarten können. Nicht spätere Erben der Opfer, sondern die Überlebenden selbst sind diejenigen, an die wir uns wenden.
Meine Damen und Herren, wir werden die beiden neuen Anträge der GRÜNEN hinsichtlich der Ehrenbürgerschaft und hinsichtlich der Änderung des Sozialhilfegesetzes — ohne daß ich jetzt in der Sache dazu Stellung nehmen möchte — an die Ausschüsse überweisen, weil wir meinen, daß ein solches Thema beraten werden muß. Wir wollen es nicht abwürgen, sondern wir wollen die Beratung in den Ausschüssen offen führen, so offen, wie wir auch die Beratungen im Innenausschuß geführt haben. Nach ersten Kämpfen untereinander haben wir es mit dem, was hier vorgelegt wird, glaube ich, geschafft, uns wenigstens offen und ehrlich in die Augen sehen zu können. Ich glaube, wir können uns vor den Opfern sehen lassen.
Danke schön.
Das Wort hat Frau Abgeordnete Wisniewski.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wann immer man sich mit den Folgen der nationalsozialistischen Herrschaft in Deutschland beschäftigt, wird eine unheilvolle Vergangenheit zur Gegenwart; denn viele der Geschädigten leben noch unter uns, und viele Angehörige von getöteten oder mißhandelten Opfern tragen noch heute schwer an den Erlebnissen. Es ist bedrückend, zu sehen, wie ein Volk und seine führenden Personen durch eine Ideologie irregeleitet werden können und welch unermeßliches Unrecht und Leid dadurch entstehen kann.
Das gilt, meine Damen und Herren, für alle. Das gilt auch für die, die durch den Krieg und seine Folgen schwere Leiden zu ertragen hatten. Ich denke an die Heimatvertriebenen, die Soldaten, die Kriegsgefangenen, die Opfer der Bombenangriffe. Das gilt aber in besonderer Weise für diejenigen, die auf Grund der nationalsozialistischen Ideologie verfolgt und geschädigt wurden; denn sie wurden von den Vertretern des eigenen Volkes verfolgt.
Deshalb wollen wir heute hier im Deutschen Bundestag in unserer historischen Verantwortung allen Verfolgten und Geschädigten des Dritten Reiches noch einmal versichern, daß diese Zeit mit der Herrschaft der nationalsozialistischen Ideologie vorbei ist und daß damit auch die Unterscheidung von angeblich höherwertigem und angeblich minderwertigem Leben aufgehört hat. Das gilt nicht nur für die Angehörigen von verfolgten Rassen und Volksgruppen wie den Juden und den Sinti und Roma, sondern das gilt genauso für alle, die aus sozialen Gründen verfolgt oder durch rechtsstaatswidrige Maßnahmen geschädigt oder die, wie es damals hieß, aus „Sicherheitsgründen" in ein Konzentrationslager oder eine Haftanstalt verbracht oder die zwangssterilisiert wurden. Das betraf vor allem geistig Gestörte, homosexuelle Männer und Frauen, sogenannte Asoziale, Prostituierte, Süchtige, Zwangsarbeiter, aber auch solche, die an erblicher Blindheit, Taubheit oder körperlicher Mißbildung litten. Viele von ihnen wurden Opfer — ich wiederhole es — einer Ideologie, — einer Ideologie, die lehrte, daß die Welt durch Züchtung einer sogenannten Herrenrasse und durch Ausmerzen von Menschen, die diesem Trugbild nicht entsprachen,
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Frau Dr. Wisniewski
verbessert werden könne. Dies muß für uns eine stete Warnung sein.
Ich darf für die Christlich Demokratische und die Christlich-Soziale Union feststellen: Es gibt für uns und für alle, die in der abendländischen, weitgehend christlich begründeten Tradition stehen, kein lebensunwertes oder minderwertiges Leben und keine minderwertige Rasse oder Volksgruppe. Dieser Tradition der Ehrfurcht vor dem menschlichen Leben haben wir nach dem Ende des Dritten Reiches wieder zur Geltung in unserem Staat verholfen; sie werden wir auch in Zukunft verteidigen.
Natürlich ist dieser Grundsatz in der Geschichte bisweilen vergessen worden. Aber wann immer es Verirrungen gab, standen auch Menschen auf, die für das Recht jedes Menschen auf Leben und Unversehrtheit eintraten. Wiedergutmachung, Frau Vollmer, ist der Ausdruck des Willens, sich von der nationalsozialistischen Ideologie und den aus ihr entstandenen Unrechtstaten zu distanzieren, sie zu verurteilen und den Opfern und den Geschädigten dieser Ideologie zu helfen. Man sollte diesen Willen nicht verunglimpfen.
Menschliche Hilfe ist immer nur begrenzt möglich, sei sie persönlich, sei sie staatlich. Die bisherigen Bundesregierungen und der Bundestag haben ein allgemein anerkanntes Wiedergutmachungswerk geschaffen. Der vorliegende Antrag der Koalitionsfraktionen soll es fortsetzen. Trotz der nicht leichten finanziellen Situation werden weitere 300 Millionen DM zusätzlich zu den laufenden Wiedergutmachungszahlungen, die in einigen Jahren 100 Milliarden DM betragen werden, zur Verfügung gestellt. Dieses Geld soll — es ist schon mehrfach gesagt worden — dazu verwendet werden, in immer noch bestehenden und neu bekannt werdenden Härtefällen zu helfen. Die Berechnungen haben ergeben, daß eben dieser Betrag von 300 Millionen DM erforderlich ist.
Es trifft zwar nicht zu, was in der öffentlichen Diskussion immer wieder behauptet wird, daß ganze Gruppen von NS-Opfern aus der Wiedergutmachung „ausgegrenzt" wurden — das zeigt bereits ein Blick in den Bericht der Bundesregierung — , aber es gibt tatsächlich manche Geschädigte, die z. B. ihre Ansprüche zu spät geltend gemacht haben; es gibt Härtefälle. Das alles trifft weniger für jene zu, denen eine effektive Organisation zur Seite steht. Hier sind die Claims Conference, der Zentralrat der Juden und — jüngeren Datums — der Zentralrat Deutscher Sinti und Roma zu nennen. Ihnen ist für ihre hilfreiche Arbeit sehr zu danken.
Aber es gibt andere Geschädigte, etwa die Zwangssterilisierten, die eine solche Organisation nicht zur Verfügung haben. Gerade ihnen wollen wir durch die Einrichtung einer Beratungsstelle Hilfe bieten, damit sie nicht angesichts des weit verzweigten Wiedergutmachungsapparats die Orientierung und den Mut zur Antragsstellung verlieren.
Wir sind der Meinung, daß es gerade dieses zuletzt genannte Anliegen war, das die SPD-Fraktion veranlaßte, die Einrichtung einer Stiftung zu beantragen. Wir sind überzeugt, daß unsere Lösung diesem von uns mitgetragenen Petitum nach möglichst flexibler Einzelfallbehandlung entspricht. Wir meinen, daß die jetzt vorgeschlagene Lösung der Stiftungs-Lösung sehr nahekommt.
Die vorliegenden Anträge aller Fraktionen — das will ich nicht verkennen — haben das gemeinsame Ziel, die noch bestehenden Härten zu mildern und weitere Opfer des Nationalsozialismus, die durch rechtsstaatswidrige Maßnahmen des Dritten Reiches geschädigt wurden, in die Wiedergutmachung einzubeziehen.
Dabei gehen freilich die Vorschläge der Oppositionsfraktionen zum Teil weit über das hinaus, was wir im Rahmen unserer besonderen Verantwortung gegenüber den Opfern des Nationalsozialismus in dieser späten Phase der Korrektur von gesetzlichen Maßnahmen noch vertreten zu können glauben.
Die Koalitionsfraktionen der CDU/CSU und der FDP sind im Einvernehmen mit der Bundesregierung der Überzeugung, daß mit den materiellen Verbesserungen in der Ihnen vorliegenden Beschlußempfehlung des Innenausschusses die finanziellen Möglichkeiten für heute und in Zukunft ausgeschöpft sind.
Dabei sind wir uns bewußt, daß auch diese Vorschläge ungeachtet der vielen materiellen Verbesserungen, die sie bringen, der Kritik ausgesetzt sein werden. Denn es liegt nicht im Bereich des finanziell Möglichen, alle Erwartungen der Opfer nationalsozialistischer Verfolgung in vollem Umfang zu erfüllen.
Unsere Vorschläge sehen im Rahmen des schon erwähnten neuen Finanzvolumens von 300 Millionen DM im einzelnen folgende Maßnahmen vor:
1. Die Schaffung einer neuen Härteregelung für die von nationalsozialistischen Unrechtsmaßnahmen Betroffenen, die unter das Allgemeine Kriegsfolgengesetz fallen, Leistungen daraus jedoch nicht erhalten konnten, da sie die Antragsfristen des Gesetzes versäumt haben. Neben Einmalzahlungen bis zu 5 000 DM sollen in besonderen Fällen auch laufende Leistungen gewährt werden.
2. Ergänzung der bestehenden Leistungen an Zwangssterilisierte durch Gewährung laufender Beihilfen an solche Sterilisationsopfer, die als Folge der Unfruchtbarmachung einen nachhaltigen Gesundheitsschaden erlitten haben.
3. Verbesserung der Leistungsvoraussetzungen nach dem Wiedergutmachungsdispositionsfonds für die Gewährung laufender Beihilfen an nichtjüdische Verfolgte.
4. Lockerung der Fristen für Zweitverfahren im Rahmen des Bundesentschädigungsgesetzes.
5. Verbesserung der Spätschädenregelung nach dem Bundesentschädigungsgesetz. Hierdurch können solche Entscheidungen korrigiert werden, in denen gesundheitliche Spätschäden erst nach Abschluß des Entschädigungsverfahrens eingetreten sind. Darauf wurde vorhin an einem Beispiel hingewiesen.
6. Fortsetzung der Härtefonds für jüdische und nichtjüdische Verfolgte.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Einrichtung einer zentralen Auskunftsstelle, die die Betroffenen über ihre Antragsmöglichkeiten berät.
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Frau Dr. Wisniewski
Schließlich ersuchen wir die Bundesregierung, unverzüglich die erforderlichen Richtlinien für die Durchführung der neuen Härteregelungen zu erlassen und für eine schnelle und unbürokratische Durchführung der zusätzlich beschlossenen Maßnahmen zu sorgen. Die Regierung soll dem Bundestag in geeigneter Form bis zum Ende des Jahres 1987 hierüber berichten.
Lassen Sie mich zu den einzelnen Punkten sowie zu den Lösungsvorschlägen der Oppositionsfraktionen einige kurze Anmerkungen machen.
Durch die Schaffung einer neuen Härteregelung in Anlehnung an die Vorschriften des Allgemeinen Kriegsfolgengesetzes werden solche Personen erfaßt, die durch nationalsozialistische Unrechtshandlungen einen Schaden an Leben, Körper, Gesundheit oder Freiheit erlitten haben, ohne daß insoweit Verfolgungsmaßnahmen im Sinn des Bundesentschädigungsgesetzes vorlagen.
Da die Verletzung dieser Rechtsgüter quasi im Sinne einer Generalklausel nunmehr für alle Personen und Personengruppen, die von solchen Unrechtsmaßnahmen betroffen sind, eine Entschädigungsmöglichkeit eröffnet, bedarf es in dem Antrag der Koalitionsfraktionen auch keiner Einzelaufzählung all der geschädigten Gruppen, also z. B. der Zwangssterilisierten, Homosexuellen, der sogenannten Asozialen oder auch der Wehrkraftzersetzer, so wie sie in den vorliegenden Anträgen der Fraktionen der GRÜNEN und der SPD im einzelnen aufgeführt ist, wobei die Gefahr besteht, daß man Gruppen vergißt; und sie sind hier in den Aufzählungen auch vergessen worden.
— Es ist so formuliert, daß es leider nicht nur beispielhaft aussieht; aber wir wollen darüber nicht streiten. Wichtig ist: In einer Aufzählung liegt die Gefahr der Ausschließung.
Bei der Schaffung der vorgeschlagenen Härteregelung im Bereich des Allgemeinen Kriegsfolgengesetzes besteht daher auch kein Anlaß zu der Sorge, daß die eine oder andere Gruppe von NS-Opfern von der insoweit gegebenen Entschädigungsmöglichkeit ausgeschlossen wird. Die vermeintliche Befürchtung, daß dies geschehen könne, ist wohl der tiefere Grund dafür, daß die SPD-Fraktion mit ihrem Gesetzentwurf eine umfassende Lösung, die alle Betroffenen erfaßt, im Rahmen einer Stiftung anstrebt.
Dieser Stiftungsgedanke hat, meine Damen und Herren, eine lange Geschichte. Er wurde im Jahre 1978 von den Sozialdemokraten erstmalig entwickelt. Damals fand er durch denen eigenen Kanzler keine Unterstützung. Das Projekt, das übrigens nur mit 150 Millionen DM ausgestattet werden sollte, scheiterte. In der Folge hat die damalige Bundesregierung mit breiter Zustimmung aller Fraktionen dieses Hauses 1980 eine Härteregelung für die Zwangssterilisierten im Rahmen des Allgemeinen Kriegsfolgengesetzes geschaffen, auf Grund deren den Betroffenen ein Regelbetrag von 5 000 DM gewährt wurde.
Als weitere Maßnahme wurde ein Härtefonds für jüdische Verfolgte zur Abgeltung von Härten in Einzelfällen geschaffen. 1981 wurde für nichtjüdische Verfolgte ein Härtefonds eingerichtet, der dem Regierungspräsidenten in Köln zur Abwicklung unterstellt ist. Die damalige SPD-geführte Bundesregierung war es, die sagte, daß die Abwicklung dieser Entschädigungsregelung über eine große Verwaltungsbehörde laufen solle, weil deren Verwaltungserfahrungen unverzichtbar dafür seien, daß die Härtemaßnahmen in einem überschaubaren Zeitraum abgewickelt werden könnten.
Die Gesamtsumme der Mittel für diese Härteregelungen war damals mit rund 600 Millionen DM bereits weit über der für die Stiftung ursprünglich veranschlagten Summe von 150 Millionen DM angesetzt.
Es ist nach dieser Vorgeschichte einigermaßen unverständlich, daß die SPD-Fraktion jetzt erneut einen Stiftungsvorschlag eingebracht hat. Der Entwurf, der vorliegt, geht über eine Härteregelung, die den bereits früher zum Ausdruck gebrachten Willen des Gesetzgebers für atypische, im Gesetz nicht bereits berücksichtigte Fälle verwirklichen soll, weit hinaus.
Frau Abgeordnete, gestatten Sie bitte eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Waltemathe?
Bitte. Vizepräsident Stücklen: Bitte sehr.
Frau Wisniewski, abgesehen davon, daß die SPD-Bundestagsfraktion seinerzeit einen einstimmigen Beschluß gefaßt hatte und zu der Fraktion auch der Bundeskanzler gehörte,
wollte ich Sie jetzt fragen: Wenn Sie die damalige Summe von 600 Millionen DM für den Härtefonds mit den 150 Millionen DM für ein Stiftungsgesetz vergleichen und berücksichtigen, daß es sich bei dem Betrag für das Stiftungsgesetz um eine jährliche Summe handelt, sehen Sie dann, daß Sie einen unzulässigen Vergleich ziehen?
Vielen Dank für den Hinweis, Herr Waltemathe. Wenn ich es recht sehe, liegt aber die Gesamtsumme von 600 Millionen DM tatsächlich über dem Betrag von 150 Millionen DM.
— Ob er jährlich vorgesehen war oder nicht, weiß ich jetzt im Moment nicht zu sagen. Wir wollen es gerne nachprüfen.
Entscheidend ist, daß dieser Stiftungsvorschlag von der eigenen Regierung abgelehnt worden ist.
Der Entwurf sieht insbesondere Leistungen für Tatbestände vor, die bereits im Bundesentschädigungsgesetz und im Allgemeinen Kriegsfolgengesetz geregelt sind. Er bestimmt außerdem, daß die Stiftung bei der Leistungsvergabe — das ist entscheidend — nicht
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Frau Dr. Wisniewski
an frühere Entscheidungen in anderen Entschädigungsverfahren gebunden sein soll. Die Stiftung soll somit, ohne daß der Gesetzgeber insoweit eine eigene abschließende Entscheidung trifft, ermächtigt werden, Leistungen zu gewähren, die über die in den bestehenden Regelungen vorgesehenen Leistungen hinausgehen. Im Hinblick auf den aus dem Rechtsstaats- und Demokratieprinzip von Art. 20 des Grundgesetzes folgenden Vorbehalt des Gesetzes erscheint der Entwurf daher verfassungsrechtlich bedenklich.
21 Jahre nach Abschluß der Wiedergutmachungsgesetzgebung kann es nicht Aufgabe einer neuen Stiftung sein, die vom Gesetzgeber getroffenen Grundsatzentscheidungen zu korrigieren, indem sowohl vom Verfolgtenbegriff, als auch vom Schadensprinzip abgegangen wird.
Wie der Begründung zu § 4 des Gesetzentwurfes zu entnehmen ist, soll es der Stiftung möglich sein, nicht nur Verfolgten im Sinne des Bundesentschädigungsgesetzes, sondern auch sonstigen durch NS-Unrechtsmaßnahmen geschädigten Personen unabhängig von Art und Umfang ihres Schadens allein im Hinblick auf den heute bestehenden Bedarf zur Sicherung ihres Lebensunterhalts laufende, über dem Sozialhilfesatz liegende Leistungen von derzeit monatlich 1 000 DM zu garantieren. Selbst wenn solche Leistungen nur an Personen, die älter als 50 Jahre sind, zu erbringen wären, würden damit Kosten in Höhe von jährlich über 6 Milliarden DM entstehen. Das würde den finanziellen Ausstattungsrahmen der Stiftung völlig sprengen. Der stiftungsrechtlichen Lösung stehen damit nicht unbeträchtliche rechtliche und sachliche Bedenken entgegen.
Offensichtlich ist aber selbst die sozialdemokratische Fraktion im Zweifel darüber, ob die von ihr nun erneut angestrebte Stiftung wirklich die einzige und richtige Lösungsalternative ist; denn sie ist jetzt zu einem neuen Entschließungsantrag gekommen, in dem sie gleichzeitig eine Überprüfung der bestehenden Richtlinien anregt. Konkret schlägt die SPD-Fraktion nunmehr vor, die alten Richtlinien für die Mittelvergabe an nichtjüdische Verfolgte inhaltlich zu erweitern. Entsprechende Vorgaben will sie gleichzeitig auch beantragen für die nach dem Vorschlag der Koalitionsfraktionen zu erlassenden Richtlinien für die neue Härteregelung nach dem Allgemeinen Kriegsfolgegesetz. Darüber hinaus fordert sie für beide Härteregelungen ein weit größeres Finanzvolumen, nämlich mindestens jährlich 100 Millionen DM, wohl wissend, daß eine solche unbegrenzte Forderung für die Koalitionsfraktionen, die die Regierung tragen, unannehmbar ist.
Mit ihren Vorschlägen macht die SPD-Fraktion, wie ich fürchte, gemeinsames Handeln unmöglich. Das ist in diesem empfindlichen Politikbereich besonders bedauerlich und wenig verantwortungsvoll. Meine Damen und Herren, wir sind der Meinung, daß alle Parteien dieses Hohen Hauses die Wiedergutmachung und das ihr zugrundeliegende Gesetzgebungswerk in seinen Grundprinzipien einvernehmlich weiterhin gestalten sollten. Wir stehen heute vor der Aufgabe, im Interesse der Opfer des Nationalsozialismus, die bisher durch die Maschen der Gesetze gefallen sind, Regelungen zu finden, die mit den grundlegenden Prinzipien dieses Gesetzgebungswerks in Einklang stehen. Das Bestreben aller sollte dabei sein, den Konsens, der in den vergangenen Jahrzehnten bei der Gestaltung der Wiedergutmachung bestanden hat, auch in der jetzigen Schlußphase zu erhalten. Ich fordere daher alle Fraktionen dieses Hohen Hauses auf, der vorgeschlagenen Lösung in der Beschlußempfehlung des Innenausschusses zuzustimmen.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Schröer.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Diesen 24. Juni, den Tag der Anhörung im Innenausschuß, werde ich so bald nicht vergessen; denn da ist etwas passiert, was ich in sieben Jahren Parlamentszugehörigkeit nicht erlebt habe. Daß nämlich angesichts der Schilderungen von Betroffenen bei Kolleginnen und Kollegen quer durch die Fraktionen Betroffenheit einkehrte, die sich in Verstummen äußerte. Und stumm zu sein, gehört nicht zu den üblichen Tätigkeiten eines Abgeordneten. Meine Hoffnung war, daß sich dieses gemeinsame Verstummen in gemeinsamer Sprache lösen würde; soll sagen: in gemeinsamer Übereinkunft, was man denn aus dieser Anhörung, aus dem, was die Betroffenen uns zu sagen hatten, nun für Konsequenzen ziehen wolle.
Es hätte die Chance gegeben, ein Stück historischer Schuld gemeinsam abzubauen. Ich denke, dies hätte unserer politischen Kultur, dem Ansehen unseres Parlamentes, es hätte uns selber gedient. Dieser Versuch ist gescheitert.
Daß er gescheitert ist, liegt daran, daß die Koalitionsfraktionen einen eigenen Antrag vorgelegt haben, dem vor allen Dingen eines anzumerken ist, nämlich die Hast, mit der er zusammengeschustert worden ist. Das ist ein Antrag, der über Nacht zusammengeschrieben worden ist.
Er wirft mehr Fragen auf, Herr Gerster, als daß er Antworten, geschweige denn Lösungen anbietet.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Gerster?
Bitte schön.
Herr Kollege Schröer, wären Sie denn nicht bereit, hier zuzugestehen, daß wir nach der Anhörung vereinbart hatten, bis Oktober solle ein Bericht des Ministeriums vorliegen, und daß wir uns verständigt hatten, dann bis zu den Haushaltsberatungen wenigstens die finanziellen Rahmendaten klarzuziehen — was jetzt geschehen ist — , und daß erst danach über inhaltliche Dinge geredet werden muß? Finden Sie nicht, daß angesichts dieser Vereinbarungen Ihr Vorwurf, hier sei ein Schnellschuß gemacht worden, nicht zutreffend und nicht fair ist?
Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 46. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. Dezember 1987 3209
Herr Gerster, ein finanzieller Rahmen ist eines, aber die inhaltliche Ausgestaltung dessen: Wem gibt man welches Geld zu welchen Konditionen auf welchem Wege? ist das andere. An diesem Punkte haben Sie völlig versagt. Sie haben eine Summe in die Welt gesetzt. Darüber hinaus haben Sie nichts gesagt.
Dazu werde ich, wenn Sie gestatten, gleich noch einiges ausführen.
Ich wiederhole: Ihr Antrag wirft mehr Fragen auf, als daß er Antworten gibt. Sicher — das ist gerade noch einmal deutlich geworden — , Sie wollen 300 Millionen DM bereitstellen. Das ist wirklich das einzig Konkrete in Ihrem Antrag. Wer Entschädigung erhalten soll, in welcher Höhe, auf welchem Wege, diese Fragen bleiben alle unbeantwortet. Es bleibt unklar, ob Zahlungen auf Sozialhilfeleistungen angerechnet werden sollen. Es bleibt unklar, wo, bei wem, mit welcher Funktion die von Ihnen gewünschte zentrale Beratungsstelle, die Auskunftsstelle eingerichtet werden soll. Sie verweisen auf Richtlinien, die demnächst von der Bundesregierung vorzulegen seien. Damit muten Sie uns zu, über etwas abzustimmen, was wir gar nicht kennen. Dem werden wir nicht folgen.
— Herr Gerster, jetzt bin ich dran. — Schlimmer aber ist: Sie wecken mit Ihrem Antrag Erwartungen und zugleich Zweifel bei den Betroffenen, weil keiner sicher sein kann: Bin ich denn nun gemeint, oder bin ich nicht gemeint?
Sie geben diesen Menschen nicht das, worauf sie vor allen Dingen Anspruch haben, nämlich Sicherheit.
Was mir zunehmend deutlicher geworden ist: Sie wollen eine materielle Einzelfallösung, und Sie wollen einen Schlußstrich unter die historische Schuld unseres Volkes ziehen; und dies wird, nein, dies darf nicht geschehen.
Denn wer glaubt, sich mit 300 Millionen DM von unserer Vergangenheit loskaufen zu können, der irrt.
Was wir heute tun, bedeutet keinen Schlußstrich. Es kann nur der Versuch sein — Herr Gerster, lassen Sie mich diesen Satz sagen —,
zu tun, was jetzt notwendig und möglich ist.
— Das überlasse ich gern Ihrer Bewertung.
Aber vielleicht sind Sie bei dem nächsten Absatz etwas nachdenklicher.
Was mich bedrückt — Sie sollten Ihren Antrag noch einmal daraufhin durchsehen: Sie haben sich nicht getraut, die betroffenen Gruppen beim Namen zu nennen. Alle Ehre beginnt aber damit, daß man jemanden bei seinem Namen nennt. In Ihrem Antrag werden allein die Zwangssterilisierten erwähnt. Aber warum nicht auch die anderen Gruppen: Zwangsarbeiter, Kommunisten, Homosexuelle, Sinti und Roma, die sogenannten Wehrkraftzersetzer?
Wenn die Anhörung des Innenausschusses eines erwiesen hat, dann doch dieses: Es geht den meisten dieser Menschen gar nicht um materielle Entschädigung, es geht ihnen zunächst und vor allem darum, endlich als Opfer des Faschismus anerkannt zu werden.
Eben nicht am Rande unserer Gesellschaft stehen zu müssen, nicht ausgegrenzt zu werden, das war die Bitte, die während dieser Anhörung so massiv an uns herangetragen worden ist.
Damit, denke ich, wird diese Debatte nicht nur zur Aufarbeitung von Vergangenem, sondern damit gewinnt sie aktuellen Bezug. Unsere Gesellschaft hat das Barbarische abgestreift, das diese Menschen, über die wir heute reden, erfahren mußten. Aber wir haben noch immer, wenn auch in subtileren Formen, Diskriminierung bestimmter sozialer Gruppen. Aber auch diese ist für die Betroffenen schmerzhaft. Was ich sagen will, ist dies: Wir arbeiten heute nicht nur die Schrecknisse des Faschismus auf, wir haben auch Abbitte zu leisten für manche Diskriminierung, die diesen Menschen noch in dieser zweiten deutschen Republik widerfahren ist.
Ich denke, ohne dieses Bekenntnis zu eigener Schuld wird es uns nicht möglich sein, den Opfern von damals aufrecht zu begegnen.
Dabei dürfen wir nicht vergessen: Die meisten der Menschen, über die wir reden, haben sich ihre Art zu leben nicht gesucht, es hat sie gesucht.
Deshalb macht diese Debatte Sinn, wenn sie uns über den konkreten Anlaß hinaus neu darüber nachdenken ließe, wie wir es schaffen können, auch heute noch sogenannten Randgruppen in unserer Gesellschaft ein Zuhause zu geben, wenn sie uns neu darüber nachdenken ließe, wie wir es schaffen können, zu mehr Solidarität mit Menschen zu finden, die es sich selbst, aber auch anderen schwerer machen als andere, so wie es uns —unvergessen — Gustav Heinemann als Auftrag mit auf den Weg gegeben hat, nämlich, „daß die demokratische Qualität einer Gesellschaft sich daran erweist, wie sie mit ihren Minderheiten umgeht" .
Ich erteile das Wort dem Herrn Parlamentarischen Staatssekretär Voss.
3210 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 46. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. Dezember 1987
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Bundesregierung spricht allen Opfern der NS-Gewaltherrschaft ihr Mitgefühl aus und ist sich bewußt, daß keine finanzielle Entschädigung menschliches Leid ungeschehen machen kann, daß aber das Mögliche getan werden muß, um entstandene Schäden zu mildern. Das war von Anfang an die Leitlinie und die Leitidee für die Wiedergutmachung. Auf der Grundlage eines innen- und außenpolitischen Konsenses sind die Eckpfeiler der Wiedergutmachung festgelegt worden. Sie sind auch heute noch tragfähig. Die Kollegen Gerster und Lüder haben dankenswerterweise darauf hingewiesen.
In ihrem Kern muß die Wiedergutmachung als abgeschlossen angesehen werden. Auch die in letzter Zeit wieder aufgelebte Diskussion über die Neubelebung der Wiedergutmachungsgesetzgebung kann nicht dazu führen, daß es zu einer Neuauflage kommt. Heutige Überlegungen müssen sich daher darauf beschränken, noch bestehen Härten zu mildern. Auch dürfen die tragenden Grundsätze des Entschädigungsrechts, wozu insbesondere das Territorialitätsprinzip gehört, nicht angetastet werden. Es muß der Leitgedanke gelten, daß weitere Leistungen mit dem System des bestehenden Wiedergutmachungs- und Kriegsfolgenrechts vereinbar sein müssen. Insbesondere der durch das Londoner Schuldenabkommen von 1953 verbindlich vorgegebene Rahmen muß strikt eingehalten werden. Auch darauf hat Kollege Lüder bereits dankenswerterweise hingewiesen. Das bedeutet, daß die Bundesregierung gehindert ist, an ausländische Zwangsarbeiter Entschädigungen zu zahlen.
Die Bundesregierung sieht die einzige praktikable Möglichkeit, in diesem Bereich noch bestehende Härten zu mildern, außerhalb des Bundesentschädigungsgesetzes.
Die Bundesregierung begrüßt daher den von den Fraktionen der CDU/CSU und der FDP eingebrachten Entschließungsantrag, der als Schwerpunkt die Schaffung einer neuen Härteregelung für die von nationalsozialistischen Unrechtshandlungen Betroffenen vorsieht, die die Antragsfristen des Allgemeinen Kriegsfolgengesetzes versäumt haben. In besonders schweren Fällen soll auch die Gewährung laufender Beihilfen möglich sein. Auch sollen in Ergänzung der schon bestehenden Härteregelungen für Zwangssterilisierte diejenigen Betroffenen ebenfalls eine laufende Beihilfe erhalten können, die als Folge der Sterilisation einen nachhaltigen Gesundheitsschaden erlitten haben.
Frau Kollegin Wisniewski hat die weiteren Einzelheiten schon genannt. Diesen stimmt die Bundesregierung ebenfalls ausdrücklich zu.
Die Bundesregierung erwartet allerdings, daß mit der Gesamtheit der vorgeschlagenen ergänzenden Maßnahmen und der Bereitstellung der dafür insgesamt vorgesehen Mittel von bis zu 300 Millionen DM die Entschädigung für Opfer nationalsozialistischer Gewalt- und Unrechtsmaßnahmen endgültig abgeschlossen ist. Der Bundestag hat die für die Durchführung der Entschließung im Haushalt 1988 erforderlichen zusätzlichen Mittel von rund 50 Millionen DM bereits bereitgestellt.
Im Gegensatz zu dem Entschließungsantrag der Koalitionsparteien, halte ich den Entwurf der SPD-Fraktion zur Errichtung einer Stiftung „Entschädigung für NS-Unrecht" für bedenklich. Es wäre rechtspolitisch und entschädigungspolitisch verfehlt, den persönlichen Bedarf des vom NS-Unrecht Betroffenen zum Maßstab der Entschädigung zu machen. Das hieße nämlich, daß Wiedergutmachungsleistungen die Aufgabe der Sozialhilfe übernähmen. Der SPD-Entwurf läßt außerdem wesentliche Grundsätze des gesamten Wiedergutmachungs- und Kriegsfolgenrechts außer acht und würde auch den tragbaren finanziellen Rahmen sprengen.
Im übrigen ist auch nicht zu erwarten, daß die Länder über einen Staatsvertrag eine Stiftung paritätisch mitfinanzieren würden.
Ich möchte hier außerdem nicht verschweigen, daß eine Stiftung, wie sie die SPD-Fraktion anstrebt, nur mit einem unvertretbar großen Verwaltungsaufwand arbeitsfähig gemacht werden könnte. Auch das notwendige sachkundige Personal würde fehlen. Dies würde unvermeidlich für viele der etwa 200 000 zu erwartenden Antragsteller, die verständlicherweise an schneller Hilfe interessiert sind, zu unzumutbaren und unvertretbaren Wartezeiten führen. All diese Gründe haben im Jahre 1980 die SPD-Fraktion veranlaßt, auf eine Stiftungslösung zu verzichten.
Die Bundesregierung ist nach alledem der Meinung, daß der Entschließungsantrag der Koalitionsfraktionen geeignet ist, noch bestehende Härten zu mildern und den endgültigen Abschluß der Wiedergutmachung herbeizuführen. — Ich danke Ihnen.
Herr Abgeordneter Waltemathe hat das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich möchte mit einem sehr persönlichen Wort beginnen. Seit etwa neun bis zehn Jahren beschäftige ich mich intensiv mit den Problemen der sogenannten vergessenen Opfer des Nationalsozialismus. Auch ich habe bis zu jenem Zeitpunkt nicht von allem gewußt, was Erbgesundheitsgesetzgebung in Wahrheit bedeutet hat.
In diesen neun bis zehn Jahren habe ich sehr viele Briefe von Menschen erhalten, die mich um Hilfe baten, von Menschen, die auch nach dem Krieg und nach dem Nationalsozialismus von unseren staatlichen Stellen einschließlich dem Petitionsausschuß des Deutschen Bundestages bescheinigt bekamen, sie seien keine Opfer von NS-Unrecht. Ich habe Briefe von Menschen erhalten, die, körperlich und seelisch gebrochen, die Nachkriegszeit in bitterer Armut überleben mußten. Einigen konnte später geholfen wer-
Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 46. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. Dezember 1987 3211
Waltemathe
den: seit 1980 durch Härtefonds. Anderen mußte man antworten: Es tut mir leid, aber es gibt keine gesetzliche Grundlage, Ihnen Hilfe zukommen zu lassen. — Das war brutal und für die Leute oft erschütternd.
Meine Damen und Herren, worüber debattieren wir heute? Im Prinzip geht es darum, drei Tatbestände festzustellen.
Erstens. Die Bundesrepublik Deutschland hat sich bemüht, gegenüber denjenigen, die ganz offensichtlich aus rassischen, aus politischen, aus religiösen Gründen von den Nationalsozialisten verfolgt worden sind, Entschädigung im Rahmen der Wiedergutmachungsgesetzgebung zu leisten. Es geht also nicht darum, noch einmal von vorne anzufangen, obwohl auch das Bundesentschädigungsgesetz Mängel aufweist, die im Einzelfall zu gravierenden Härten führen. Ich denke etwa an Kommunisten, die zu ihrer politischen Überzeugung standen, in der Nazizeit und auch nach der Nazizeit, und denen man diese Tatsache in § 6 des Bundesentschädigungsgesetzes entgegenhielt, um ihnen eine Entschädigung gegebenenfalls zu verweigern, eine Entschädigung für Verbrechen, die in der Nazizeit an ihnen begangen worden waren. Ich denke an Homosexuelle, die einen Entschädigungsanspruch hatten, z. B. für KZ-Aufenthalt, ihn aber innerhalb der Fristen des Bundesentschädigungsgesetzes tatsächlich gar nicht geltend machen konnten, weil sie der § 175 des Strafgesetzbuches in unveränderter Form einer Strafverfolgung ausgesetzt hätte. Ich denke an weitere Gruppen, die aus subjektiven oder aus objektiven Gründen die Fristen der Antragstellung versäumen mußten und somit leer ausgegangen sind, obwohl sie in einem materiellrechtlichen Sinne durchaus Entschädigungsanspruch gehabt hätten.
Zweitens. Das Bundesentschädigungsgesetz hat aber bewußt und teilweise unbewußt andere von Entschädigungsansprüchen ausgeschlossen, z. B. diejenigen, die nicht politische, weltanschauliche, religiöse oder rassische Gegner des Hitler-Regimes waren. Dazu gehören u. a. die Opfer der Erbgesundheitsgesetzgebung.
Drittens. Auch der Tatbestand der Zwangsarbeit ist nicht als Entschädigungstatbestand gesetzlich erfaßt worden. Dabei sind auch die Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter vielfach in Arbeitslagern, in Nebenlagern von Konzentrationslagern gehalten worden. Ihnen ist Lohn und ihnen ist Rentenanspruch für ihre Zwangseinsätze bis heute vorenthalten worden, und zwar von Unternehmen wie Bosch, Siemens, MAN, Daimler-Benz, VW, BMW, den damals in der IG Farben zusammengeschlossenen chemischen Industrien, von Krupp, bei den norddeutschen Werften, bei Kommunen, in denen sie eingesetzt waren, usw.
Kein Zweifel, meine Damen und Herren: In diesem Falle ist es nicht nur Sache des Staates, Entschädigung zu leisten, sondern auch Sache derjenigen, die ihren Profit aus der Ausbeutung menschlicher Arbeitskraft gezogen haben und in deren Vermögensbeständen der Ertrag dieser Ausbeutung noch heute einbezogen ist.
Der Antrag der Fraktion der GRÜNEN zu diesem Punkt ist in unseren Augen allerdings zu pauschal angelegt, obwohl er einige Ansätze enthält, denen wir nicht widersprechen. Wir werden uns bei diesem Antrag deshalb der Stimme enthalten, zumal wir auch nach dem Ergebnis der Anhörung meinen, daß unser Stiftungsgesetzentwurf eine bessere Lösung darstellt. Ich gebe allerdings zu, daß die sozialversicherungsrechtlichen Fragen auch in unserem Entwurf nicht gelöst sind.
Heute bin ich enttäuscht, daß nun doch auf eine ziemlich banale Art und Weise mit einem weiteren Härtefonds ein Schlußstrich gezogen werden soll. Der Gedanke der Gründung einer öffentlich-rechtlichen Stiftung würde dem Bundestag insgesamt gut zu Gesichte stehen. Das hat die umfangreiche Anhörung am 24. Juni ergeben. Eine Stiftung würde zu später Gerechtigkeit beitragen und unser Bemühen unterstreichen, diejenigen überhaupt zu sehen, die allzulange übersehen worden sind. Sie würde in finanzieller Hinsicht weder den öffentlichen Haushalt oder die öffentlichen Haushalte noch, im Falle der Zwangsarbeiter, etwaige Industriefirmen überfordern.
Es ist zu befürchten, daß bei einem Härtefonds die gleichen Beamten, die in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten Anträge ablehnen mußten und abgelehnt haben, auch die neuen Anträge zurückweisen werden. — Das war es nicht, was die Opfer immer noch geduldig warten ließ. Und das ist es auch nicht, was die SPD fordert.
Da wartet der Mann, der seit einigen Jahren unter Spätfolgen zu leiden hat, unter Alpträumen, Schweißausbrüchen, schweren Depressionen, dem grauenhafte Vergangenheitsbilder ständig vor Augen sind, ihn nicht mehr zur Ruhe kommen lassen. Er braucht dringend psychosoziale Betreuung.
Da wartet die stark sehbehinderte Frau, die sich 1945 noch, im siebenten Monat schwanger, auf ihr Kind freute. Sie hatte bereits eine Fehlgeburt hinter sich. Nach einer zwangsweisen Einweisung in ein Krankenhaus wurde dieses Kind gegen ihren Willen abgetrieben, und sie selbst wurde zwangssterilisiert. Diese Frau ist heute 64 Jahre alt und wartet in einem Blindenheim. Wäre es wirklich nicht möglich, ihr einmal eine Kur zu bezahlen, ihr kleine Annehmlichkeiten im Alter zukommen zu lassen?
Da wartet der Kommunist, der fast die gesamte Zeit des Dritten Reiches im Konzentrationslager verbrachte. Nach dem Krieg weitgehend arbeitsunfähig, ernährte ihn seine Frau durch Putzarbeiten.
Da wartet der ehemalige Zwangsarbeiter oder die ehemalige Zwangsarbeiterin, die als 13jährige Schwerstarbeit im Baugewerbe leisten mußten. Zwölfstundenschichten, auch an Sonn- und Feiertagen.
Und da warten die anderen, die Homosexuellen, die damals als asozial Eingestuften, die noch lebenden
3212 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 46. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. Dezember 1987
Waltemathe
Mitglieder der Edelweiß-Piraten, der Swing-Jugend und und und.
Sie warten schon viel zu lange. Viele sind bereits verstorben. Und wir haben immer noch nicht zugegeben, daß das Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses vom 14. Juli 1933 auf rassistischer Ideologie beruhte.
Die Ideologie lautete — ich zitiere — :
Der Stärkere hat zu herrschen und sich nicht mit den Schwächeren zu verschmelzen, um so die eigene Größe zu opfern.
Das verbreitete Adolf Hitler. Aber man muß nicht „Mein Kampf" zitieren, um den Rassismus offenzulegen. Es läuft mir schaudernd den Rücken hinunter, wenn ich in der damaligen amtlichen Begründung zum Erbgesundheitsgesetz von „Minderwertigen" lese, von der „Reinigung des Volkskörpers", von der „Ausmerzung". Aus diesem Gesetz der Ausmerzung von krankhaften Erbanlagen ließ sich die Euthanasie, die Tötung psychisch Kranker, als Folgeschritt direkt ableiten.
Aus der Nazi-Ideologie einer reinarischen Rasse, mit der Ausmerzung von Andersrassigen und nicht voll Leistungsfähigen, also Minderwertigen, ergibt sich eine sehr gerade Linie: Erbgesundheitsgesetzgebung 1933, Nürnberger Gesetze 1935, EuthanasieProgramm um 1940, Wannsee-Konferenz zur Endlösung der Juden-Frage 1941, Holocaust an den Zigeunern.
Manchmal, meine Damen und Herren, wird der Eindruck erweckt, daß erst viel Geld klimpern muß, um unser Unrechtsbewußtsein und unser Schamgefühl zu demonstrieren. Es geht aber gar nicht darum, sondern es geht darum, endlich eine Bescheinigung unserer Demokratie gegenüber den Opfern beispielsweise der Erbgesundheitsgesetzgebung zu geben, daß Unrecht war, was damals in den Gesetzen stand.
Bei vielen Zwangssterilisierten wird es auch nach unseren Vorstellungen dabei bleiben können, daß diese Bescheinigung durch eine einmalige Entschädigungszahlung gegenüber den Betroffenen dokumentiert wird.
Aber laufende Zahlungen in Form einer Rente sollten insbesondere für die Fälle vorgesehen werden, in denen Frauen schon entstandene Leibesfrucht zwangsweise abgetrieben worden ist. Es dürfte nach den eigenen Zahlen der Bundesregierung allerhöchstens um etwa 3 000 noch lebende weibliche Personen gehen.
Darüber hinaus wäre der Vorteil einer Stiftung, daß die nunmehr schon sehr alten Menschen, die in den meisten Fällen nicht auf Rosen gebettet sind und die infolge ihrer Erfassung durch die Nazis Lücken im Berufsleben, also auch in ihren Rentenansprüchen haben, wenigstens heute einmal eine Heilkur oder eine Erholungskur finanziert bekommen.
Meine Damen und Herren, ich bin ganz sicher, daß solche Gesten unserer sehr späten Solidarität mit den Opfern die Glaubwürdigkeit unserer an Gerechtigkeit zu orientierenden demokratischen Gesinnung besserzum Ausdruck bringen würden als kleinliche Feilschereien in bürokratischen Lösungen. Wir müssen aufpassen, daß das, was klimpert, nicht politische Kleinmünzerei ist.
Ich kann nur noch einmal betonen: Die materielle und die immaterielle Entschädigung aller Opfer des Nationalsozialismus ist ein Gradmesser unseres demokratischen und unseres humanitären Selbstverständnisses. Wir beweisen damit, ob wir fähig und willens sind, für Menschen einzutreten, die heute am Rande unserer Wohlstandsgesellschaft leben — so sie denn noch leben — , und ihnen nach so langer Zeit endlich Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Arm, unterprivilegiert und diskriminiert wurden sie die ersten Opfer des Rassismus und des Faschismus, und sie sind die letzten Opfer, denen bis heute eine Entschädigung für begangenes Unrecht vorenthalten wurde. Wir müssen uns alle eingestehen, daß die bisherige Praxis der Wiedergutmachung nicht frei von Vorurteilen war und nicht ohne Diskriminierung erfolgt ist. Auf dieser Erkenntnis beruht der Stiftungsantrag der SPD.
Da die Wiedergutmachungsgesetzgebung vor über dreieinhalb Jahrzehnten nur zustande gekommen ist, weil auch die SPD als Opposition Adenauer zu den entsprechenden parlamentarischen Mehrheiten verholfen hat, wäre es gut, wenn der Bundestag heute ebenfalls zu einer gemeinsamen Lösung im Sinne des Stiftungsgesetzes käme, das alle Betroffenen einbezieht und ihnen Mitwirkungsrechte bei der Vergabe von Mitteln eröffnet. Ich hoffe, Sie können sich doch noch zu einer entsprechenden Annahme durchringen.
Das Wort hat Frau Abgeordnete Dr. Hamm-Brücher.
Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Erlauben Sie mir als letzter Rednerin in einer Debatte, die alle Kolleginnen und Kollegen aus allen Fraktionen, die sich in den letzten Monaten mit dieser immer noch sehr drückenden Erblast aus der Zeit des Nationalsozialismus beschäftigt haben, sehr bewegt hat — mir ist es jedenfalls so gegangen — , zu versuchen, am Schluß ein versöhnendes Wort zu sagen.
Wenn wir uns als Parlament erinnern, wie beinahe hoffnungslos es vor zweieinhalb Jahren, vor zwei Jahren, vor einem Jahr, ja noch vor einem halben Jahr ausgesehen hat, diese Thematik überhaupt noch einmal aufzugreifen und zur notwendigen Hilfe eine einigermaßen konstruktive Lösung zu finden, dann schulden wir uns heute doch alle gegenseitig ein bißchen Dank; denn jeder hat dem anderen geholfen, daß es heute so weit gekommen ist. Ich möchte das wirklich ausdrücklich sagen.
Es ist eine der ganz wenigen Gelegenheiten, liebe
Kolleginnen und Kollegen, daß sich das Parlament
Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 46. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. Dezember 1987 3213
Frau Dr. Hamm-Brücher
quer durch die Fraktionen gegen die anderslautende Absicht des Finanzministeriums durchgesetzt hat.
Auch das müssen wir uns selber einmal sagen dürfen. Wir sollten dieses Ergebnis bei allen Einwendungen, für die ich sehr viel Verständnis habe, in dieser Stunde nicht zerreden.
Ich möchte nichts wiederholen, was gesagt worden ist, sondern nur noch folgendes nachtragen: Alle, die diese Anhörung miterlebt haben, haben auch noch einmal mit erlitten, was da geschehen ist. Ich möchte stellvertretend auch einigen Mitbürgern danken, die dazu beigetragen haben, daß dieses Thema in die öffentliche Diskussion gelangt ist und die Gewissen wieder geschärft hat.
Ich will nur drei Namen nennen: Das ist Professor Klaus Dörner, der die Problematik der Zwangssterilisierten aufgearbeitet hat; das ist Ernst Klee, der in einer Sisyphusarbeit die ganzen Schandtaten der Euthanasie — der Verantwortlichen, der Mittäter — dokumentiert hat — etwas, was wir bis dahin nicht gewußt haben — , und das ist ein Journalist wie Franz Alt, der mit großem Verantwortungsbewußtsein uns allen gezeigt hat, daß wir hier Handlungsbedarf haben;
es sind die ungezählten Synoden, Akademien, Jugendorganisationen — das hat mich besonders gefreut — , die nicht locker gelassen haben, bis wir nun den Handlungsbedarf erkannt haben.
Frau Kollegin, einen Moment bitte.
Meine Damen und Herren! Ich bitte doch wirklich um Ruhe! Das Thema ist nicht dazu angetan, daß im Hintergrund laut geredet wird.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. Das sind eben die Kolleginnen und Kollegen, die das alles, was wir in der letzten Stunde noch einmal ausgebreitet haben, nicht mitvollzogen haben. Es tut mir leid.
Auch für mich fallen bei aller Genugtuung Wermutstropfen und — das muß ich gestehen — auch noch ein gerüttelt Maß an Skepsis in das heutige Ergebnis hinein. Auch ich hätte eine Stiftungslösung bevorzugt, wie auch viele Kollegen in meiner Fraktion. Wir haben uns aber einfach der pragmatischen Einsicht gebeugt, daß dieses Gesetz zu lange Zeit benötigen würde und daß wir keine Mittel erhalten, bevor ein Stiftungsgesetz verabschiedet ist. Wir wollten für den nächsten Haushalt diese Mittel haben. Ich glaube, diese Einsicht war auch vernünftig, denn es ist uns ja auch nicht 1980/1981 gelungen, eine Lösung herbeizuführen; das müssen wir uns doch einmal eingestehen. Die hundert Millionen, die wir damals für den Härtefonds zur Verfügung gestellt haben, sind ja wesentlich weniger als die 300 Millionen DM, die wir im Augenblick ganz sicher haben. Ich garantiere Ihnen heute schon: Wenn es nicht genügen sollte, sind wir noch einmal frau und manns genug, eben doch noch einmal nachzufordern. Das sage ich hier zu Protokoll.
Weiter möchte ich sagen, daß es wichtig ist, daß die Ausführungsbestimmungen und Verordnungen genauestens geprüft werden. Ich möchte nicht noch einmal erleben, daß Betroffene und Berechtigte so bei ihrer Antragstellung behandelt werden, wie das bisher beim Härtefonds leider oft gelaufen ist.
Ich schäme mich, wenn Frauen, die weit über die 60 sind, heute noch ihre Narben nachweisen sollen, damit man wirklich beweisen kann, daß sie zwangssterilisiert worden sind. Das ist beschämend. Ich möchte so etwas nicht noch einmal erleben. Das möchte ich mit allem Nachdruck den Herrn des Finanzministeriums und der zuständigen Behörden auch einmal sagen.
Die Auskunfts- und Beratungsstelle hat eine ganz gewichtige Funktion, denn wir haben es ja bei der Anhörung erlebt, wie hilflos und hilfsbedürftig diese Menschen sind, die immer im Schatten gestanden haben, die heute noch irgendwie stigmatisiert sind und immer noch das Gefühl haben, sie trügen einen Makel mit sich herum. Da waren mir Ihre Worte zu dieser Materie, Herr Staatssekretär Voss, doch ein bißchen zu kühl.
Das Parlament wird also ein wachsames Auge auf den weiteren Gang der Dinge richten. Wir werden das hoffentlich gemeinsam tun. Ich bitte, bei der Abwicklung mehr menschliche Anteilnahme denen zuteil werden zu lassen, denen wir jetzt nur ein kleines Scherflein zur Hilfe zukommen lassen können.
Ich habe mir einmal in den Sommerferien die Mühe gemacht, Kolleginnen und Kollegen, alle Protokolle des Deutschen Bundestages zur Wiedergutmachungsgesetzgebung nachzulesen.
Es sind zwar am Ende gewaltige und beträchtliche Summen zusammengekommen. Die Art und Weise aber, wie die Gesetze zustande gekommen sind, die vielen Widerstände auch hier aus diesem Hause oder die Zurückhaltung bzw. die Kühle, mit denen dieses Thema immer wieder angefaßt wurde, das alles ist nicht ein großes Ruhmesblatt des Deutschen Bundestags.
Ich muß es wirklich einmal sagen: Zum ersten Wiedergutmachungsvertrag mit Israel, den Konrad Adenauer — eines seiner großen Verdienste — 1952 ausgehandelt und dem Parlament unterbreitet hat, gab es eine namentliche Abstimmung, bei der dieser Vertrag von
3214 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 46. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. Dezember 1987
Frau Dr. Hamm-Brücher
den Koalitionsfraktionen niemals eine Mehrheit bekommen hätte, weil so viel Neinstimmen da waren. Nur weil die SPD dem Vertrag einstimmig zugestimmt hat, ist er 1952 überhaupt zustande gekommen.
Auch das soll noch einmal ehrend erwähnt werden.
Ich komme noch zu einer letzten Bemerkung. Wir müssen zur Frage der politischen Bewertung des Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses unbedingt eine politische Erklärung abgeben. Das muß geschehen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich meine, unser aller Gedanken wandern doch an diesem Nachmittag zu den ungezählten hunderttausenden von Menschen, denen wir über 40 Jahre jedenfalls materielle Hilfe schuldig geblieben sind, oft auch das nötige Mitleid und Mitgefühl; denn wir schulden ihnen beides. Ich glaube, wir müssen uns bewußt sein, daß wir auch mit unseren heutigen Beschlüssen unsere Schuld nur mit einem ganz bescheidenen Beitrag wieder einlösen können.
Vielen Dank.
Meine Damen und Herren, weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen nun zuerst zur Abstimmung über den Tagesordnungspunkt 17 a. Der Ausschuß empfiehlt, den Antrag der Fraktion DIE GRÜNEN auf Drucksache 11/141 abzulehnen. Die Fraktion DIE GRÜNEN verlangt zu ihrem Antrag namentliche Abstimmung.
Wer dem Antrag der Frakion DIE GRÜNEN auf Drucksache 11/141 zuzustimmen wünscht, den bitte ich, die Abstimmungskarte mit „Ja", wer dagegen stimmen oder sich der Stimme enthalten will, den bitte ich, die entsprechende Abstimmungskarte in die hier vorne aufgestellten Urnen zu legen.
Ich eröffne die namentliche Abstimmung.
Meine Damen und Herren, haben alle Mitglieder des Hauses ihre Stimmkarte abgegeben? — Ich schließe die Abstimmung. *)
Wir kommen zur zweiten namentlichen Abstimmung. Wir stimmen über Tagesordnungspunkt 17 b ab. Der Ausschuß empfiehlt, den Antrag der Fraktion DIE GRÜNEN auf Drucksache 11/142 abzulehnen. Die Fraktion DIE GRÜNEN hat auch zu diesem Antrag namentliche Abstimmung verlangt.
Wer dem Antrag der Fraktion DIE GRÜNEN auf Drucksache 11/142 zuzustimmen wünscht, den bitte ich, die Abstimmungskarte mit „Ja", wer dagegen stimmen oder sich der Stimme enthalten will, den bitte ich, die entsprechende Abstimmungskarte in die hier vorne aufgestellten Urnen zu legen.
Ich eröffne die namentliche Abstimmung.
Meine Damen und Herren, haben alle Mitglieder des Hauses ihre Stimmkarte abgegeben? — Ich schließe die Abstimmung. * * )
*) Ergebnis Seite 3214 D * *) Ergebnis Seite 3216 A
Wir kommen jetzt zur Einzelberatung und Abstimmung über den Gesetzentwurf der Fraktion der SPD zur Errichtung einer Stiftung „Entschädigung für NS-Unrecht" .
Hierzu liegt ein Änderungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 11/1426 vor. Die Fraktion der SPD verlangt hierzu namentliche Abstimmung.
Ich eröffne die namentliche Abstimmung.
Haben alle Mitglieder des Hauses ihre Stimmkarte abgegeben? — Ich schließe die dritte namentliche Abstimmung und bitte um Auszählung. * )
Wir haben weitere Abstimmungen vorzunehmen. Wir müssen aber erst die Auszählung der Abstimmung abwarten, für die wir soeben die Stimmkarten abgegeben haben. **)
Meine Damen und Herren, ich gebe die von den Schriftführern ermittelten Ergebnisse der namentlichen Abstimmungen bekannt.
In der ersten namentlichen Abstimmung über den Antrag der Fraktion DIE GRÜNEN auf Drucksache 11/141 wurden 356 Stimmen abgegeben. Es gibt keine ungültigen Stimmen. Mit Ja haben 29, mit Nein 327 Mitglieder des Hauses gestimmt. Es gab keine Enthaltungen.
Endgültiges Ergebnis
Abgegebene Stimmen 355; davon
ja: 29
nein: 326
Ja
DIE GRÜNEN
Frau Beck-Oberdorf Frau Beer
Brauer
Dr. Daniels Frau Eid
Frau Flinner Frau Garbe
Häfner
Frau Hensel Hüser
Frau Kelly
Dr. Knabe
Frau Krieger Frau Nickels
Frau Oesterle-Schwerin Frau Olms
Frau Saibold Frau Schilling Frau Schoppe Sellin
Frau Teubner Frau Trenz
Frau Unruh
Frau Dr. Vollmer Volmer
Wetzel
Frau Wilms-Kegel Frau Wollny
Wüppesahl
Nein
CDU/CSU
Bauer
Bayha
Dr. Becker
Frau Berger
Dr. Biedenkopf
Biehle
Dr. Blank Dr. Blens Dr. Bötsch Bohl
Bohlsen
Breuer
Buschbom
*) Ergebnis Seite 3217 B
**) Erklärung nach § 31 GO siehe Anlage 2
Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 46. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. Dezember 1987 3215
Vizepräsident Frau Renger
Carstensen Clemens
Dr. Czaja
Dr. Daniels
Frau Dempwolf
Dörflinger
Dr. Dollinger
Doss
Echternach
Eigen
Engelsberger
Eylmann
Dr. Faltlhauser
Feilcke Dr. Fell
Fischer Francke (Hamburg)
Dr. Friedrich
Fuchtel
Ganz
Frau Geiger
Geis
Dr. von Geldern
Gerstein Gerster
Gröbl
Dr. Grünewald
Günther Harries Frau Hasselfeldt
Haungs
Hauser
Hauser
Hedrich Helmrich Herkenrath
Hinrichs Hinsken Höffkes Höpfinger
Hörster
Dr. Hoffacker
Dr. Hornhues
Dr. Jahn
Dr. Jenninger
Dr. Jobst
Jung
Jung
Kalb
Kalisch Dr.-Ing. Kansy
Dr. Kappes
Klein
Kolb
Kossendey
Kraus
Krey
Kroll-Schlüter
Dr. Kronenberg
Dr. Kunz
Lamers
Dr. Lammert
Lattmann
Dr. Laufs
Frau Limbach
Link
Link
Linsmeier
Lintner
Dr. Lippold Louven
Lummer Maaß
Frau Männle
Magin Marschewski
Dr. Meyer zu Bentrup Michels
Dr. Miltner
Nelle
Neumann Niegel
Dr. Olderog
Oswald
Pesch
Pfeffermann Dr. Pohlmeier
Dr. Probst Rauen
Rawe
Repnik
Dr. Riesenhuber
Frau Rönsch Frau Roitzsch (Quickborn) Rühe
Dr. Rüttgers Ruf
Sauer
Sauer
Sauter
Sauter Scharrenbroich
Schemken Scheu
Schmidbauer
Dr. Schneider Freiherr von Schorlemer Schreiber
Schulhoff Dr. Schulte
Schulze (Berlin)
Schwarz
Dr. Schwarz-Schilling
Dr. Schwörer Seehofer
Seesing
Seiters
Spilker
Spranger Dr. Sprung Dr. Stark
Dr. Stavenhagen Straßmeir Stücklen
Frau Dr. Süssmuth
Susset
Tillmann
Dr. Uelhoff Dr. Unland Frau Verhülsdonk
Vogel
Vogt
Dr. Voigt
Dr. Voss
Dr. Waffenschmidt
Dr. Waigel
Graf von Waldburg-Zeil Dr. Warrikoff
Dr. von Wartenberg Weirich
Weiß Werner (Ulm)
Frau Will-Feld
Wilz
Wimmer
Frau Dr. Wisniewski
Dr. Wittmann Dr. Wörner Würzbach Zeitlmann Dr. Zimmermann
Zink
SPD
Frau Adler Andres
Bachmaier Bamberg
Becker
Frau Becker-Inglau Bernrath
Bindig
Dr. Böhme
Brandt
Brück
Frau Bulmahn
Buschfort Catenhusen
Conradi Daubertshäuser
Frau Dr. Dobberthien
Dr. Ehrenberg
Dr. Emmerlich
Erler
Esters
Ewen
Frau Faße
Fischer
Frau Fuchs
Frau Ganseforth
Gansel
Dr. Gautier
Gerster
Gilges
Frau Dr. Götte
Graf
Großmann Grunenberg
Dr. Haack
Frau Hämmerle
Frau Dr. Hartenstein Hasenfratz Heistermann
Heyenn
Hiller
Huonker Ibrügger Jahn
Jung Jungmann Kastning
Kiehm
Kirschner Kißlinger Kolbow Koltzsch Koschnick Kretkowski
Kuhlwein Lambinus Leonhart Lutz
Frau Dr. Martiny-Glotz Meyer
Dr. Mitzscherling
Müller Müller (Pleisweiler) Müller (Schweinfurt) Müntefering
Nagel
Frau Dr. Niehuis
Dr. Niese Niggemeier
Frau Odendahl Oesinghaus
Oostergetelo
Pauli
Dr. Penner Peter
Dr. Pick Porzner Purps
Reimann Frau Renger
Reuter
Rixe
Roth
Schäfer Schluckebier
Frau Schmidt Schmidt (Salzgitter)
Dr. Schmude Schreiner
Schröer
Schütz
Seidenthal Frau Seuster Sielaff
Singer
Frau Dr. Skarpelis-Sperk Dr. Sperling
Dr. Spöri
Stahl
Frau Steinhauer
Dr. Struck Frau Terborg Frau Dr. Timm
Toetemeyer Frau Traupe Urbaniak
Vahlberg
Verheugen Dr. Vogel
Waltemathe Wartenberg Weiermann
Frau Weiler Weisskirchen Dr. Wernitz
Westphal
Frau Weyel Wiefelspütz von der Wiesche
Wimmer
Dr. de With Wittich
Zeitler
Zumkley
FDP
Frau Dr. Adam-Schwaetzer Dr. Bangemann
Baum
Beckmann Bredehorn Eimer
Engelhard
Frau Folz-Steinacker Funke
Gallus
Gries
Grünbeck Grüner
Frau Dr. Hamm-Brücher Dr. Haussmann
Dr. Hirsch Dr. Hoyer Irmer
Kleinert
Kohn
Dr.-Ing. Laermann
Dr. Graf Lambsdorff
Lüder
Mischnick Möllemann Neuhausen Nolting
Paintner
Richter
Rind
Schäfer
Frau Dr. Segall
Dr. Sohns Dr. Thomae Timm
Wolfgramm Frau Würfel
Der Antrag ist abgelehnt.
Zur zweiten namentlichen Abstimmung über den Antrag der Fraktion DIE GRÜNEN auf Drucksache
3216 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 46. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. Dezember 1987
Vizepräsident Frau Renger
11/142. Abgegebene Stimmen: 356. Es gab keine ungültigen Stimmen. Mit Ja haben 29, mit Nein 202 Mitglieder des Hauses gestimmt. Enthaltungen: 125.
Endgültiges Ergebnis
Abgegebene Stimmen 355; davon
ja: 29
nein: 201
enthalten: 125
Ja
DIE GRÜNEN
Frau Beck-Oberdorf
Frau Beer
Dr. Daniels Frau Eid
Frau Flinner Frau Garbe Häfner
Frau Hensel Hüser
Frau Kelly
Dr. Knabe
Frau Krieger Frau Nickels
Frau Oesterle-Schwerin Frau Olms
Frau Saibold Frau Schilling Frau Schoppe Sellin
Stratmann
Frau Teubner Frau Trenz Frau Unruh
Frau Dr. Vollmer
Volmer
Wetzel
Frau Wilms-Kegel
Frau Wollny Wüppesahl
Nein
CDU/CSU
Bauer
Bayha
Dr. Becker Frau Berger (Berlin)
Dr. Biedenkopf
Biehle
Dr. Blank Dr. Blens Dr. Bötsch Bohl
Bohlsen
Breuer
Buschbom
Carstensen Clemens
Dr. Czaja
Dr. Daniels
Frau Dempwolf Dörflinger
Dr. Dollinger Doss
Echternach Eigen
Engelsberger
Eylmann
Dr. Faltlhauser
Feilcke Dr. Fell
Fischer Francke (Hamburg)
Dr. Friedrich
Fuchtel
Ganz
Frau Geiger
Geis
Dr. von Geldern Gerstein
Gerster
Gröbl
Dr. Grünewald
Günther Harnes
Frau Hasselfeldt Haungs
Hauser Hauser (Krefeld) Hedrich
Helmrich
Herkenrath
Hinrichs Hinsken Höffkes Höpfinger
Hörster
Dr. Hoffacker
Dr. Hornhues
Dr. Jahn
Dr. Jenninger
Dr. Jobst
Jung
Jung
Kalb
Kalisch Dr.-Ing. Kansy
Dr. Kappes
Klein
Kolb
Kossendey
Kraus
Krey
Kroll-Schlüter
Dr. Kronenberg
Dr. Kunz Lamers
Dr. Lammert
Lattmann
Dr. Laufs
Frau Limbach
Link
Link Linsmeier
Lintner
Dr. Lippold Louven
Lummer Maaß
Frau Männle
Magin
Marschewski
Dr. Meyer zu Bentrup Michels
Dr. Miltner Nelle
Neumann Niegel
Dr. Olderog Oswald
Pesch
Pfeffermann Dr. Pohlmeier
Dr. Probst Rauen
Rawe
Repnik
Dr. Riesenhuber
Frau Rönsch Frau Roitzsch (Quickborn) Rühe
Dr. Rüttgers Ruf
Sauer
Sauer
Sauter
Sauter Scharrenbroich
Schemken Scheu
Schmidbauer
Dr. Schneider Freiherr von Schorlemer Schreiber
Schulhoff Dr. Schulte
Schulze (Berlin)
Schwarz
Dr. Schwarz-Schilling
Dr. Schwörer Seehofer
Seesing
Seiters
Spilker
Spranger
Dr. Sprung
Dr. Stark
Dr. Stavenhagen Straßmeir Stücklen
Frau Dr. Süssmuth
Susset
Tillmann
Dr. Uelhoff Dr. Unland Frau Verhülsdonk
Vogel
Vogt
Dr. Voigt
Dr. Voss
Dr. Waffenschmidt
Graf von Waldburg-Zeil Dr. Warrikoff
Dr. von Wartenberg Weirich
Weiß Werner (Ulm)
Frau Will-Feld
Wilz
Wimmer
Frau Dr. Wisniewski
Dr. Wittmann Dr. Wörner Würzbach Zeitlmann
Dr. Zimmermann
Zink
SPD Nagel
FDP
Frau Dr. Adam-Schwaetzer Dr. Bangemann
Baum
Beckmann Bredehorn Eimer
Engelhard
Frau Folz-Steinacker Funke
Gallus
Gries
Grünbeck Grüner
Dr. Haussmann
Dr. Hirsch Dr. Hoyer Irmer
Kleinert
Kohn
Dr.-Ing. Laermann
Dr. Graf Lambsdorff
Lüder
Mischnick Möllemann Neuhausen Nolting
Paintner
Richter
Rind
Schäfer
Frau Dr. Segall
Dr. Sohns Dr. Thomae Timm
Wolfgramm Frau Würfel
Enthalten
SPD
Frau Adler Andres
Bachmaier Bamberg Becker
Frau Becker-Inglau Bernrath
Bindig
Dr. Böhme
Brandt
Brück
Frau Bulmahn
Buschfort Catenhusen Conradi
Daubertshäuser
Frau Dr. Dobberthien
Dr. Ehrenberg
Dr. Emmerlich
Erler
Esters
Ewen
Frau Faße
Fischer
Frau Fuchs
Frau Ganseforth
Gansel
Dr. Gautier Gerster
Gilges
Frau Dr. Götte
Graf
Großmann Grunenberg Dr. Haack Frau Hämmerle
Frau Dr. Hartenstein
Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 46. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. Dezember 1987 3217
Vizepräsident Frau Renger
Hasenfratz Heistermann
Heyenn
Hiller
Huonker Ibrügger Jahn
Jung Jungmann Kastning
Kiehm
Kirschner Kißlinger Kolbow
Koltzsch Koschnick Kretkowski Kuhlwein Lambinus Leonhart Lutz
Frau Dr. Martiny-Glotz Meyer
Dr. Mitzscherling
Müller
Müller
Müller Müntefering
Frau Dr. Niehuis
Dr. Niese Niggemeier
Frau Odendahl Oesinghaus
Oostergetelo
Pauli
Dr. Penner Peter
Dr. Pick
Porzner
Purps
Reimann Frau Renger
Reuter
Rixe
Roth
Schäfer Schluckebier
Frau Schmidt
Schmidt
Dr. Schmude Schreiner
Schröer Schütz
Seidenthal Frau Seuster Sielaff
Singer
Frau Dr. Skarpelis-Sperk Dr. Sperling
Dr. Spöri
Stahl
Frau Steinhauer
Dr. Struck Frau Terborg Frau Dr. Timm Toetemeyer Frau Traupe Urbaniak
Vahlberg
Verheugen Dr. Vogel
Waltemathe Wartenberg Weiermann
Frau Weiler Weisskirchen Dr. Wernitz
Westphal
Frau Weyel Wiefelspütz
von der Wiesche Wimmer
Dr. de With Wittich
Zeitler
Zumkley
FDP
Frau Dr. Hamm-Brücher
DIE GRÜNEN
Brauer
Der Antrag ist abgelehnt.
Ich gebe jetzt das Ergebnis der dritten namentlichen Abstimmung über den Änderungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 11/1426 bekannt. Abgegebene Stimmen: 357. Es gab keine ungültigen Stimmen. Mit Ja haben 154, mit Nein 203 Mitglieder des Hauses gestimmt. Es gab keine Enthaltungen.
Endgültiges Ergebnis
Abgegebene Stimmen 357; davon
ja: 154
nein: 203
Ja
SPD
Frau Adler Andres Bachmaier
Bamberg
Becker Frau Becker-Inglau Bernrath
Bindig
Dr. Böhme Brandt
Brück
Frau Bulmahn Buschfort
Catenhusen Conradi
Daubertshäuser
Frau Dr. Dobberthien
Dr. Ehrenberg Dr. Emmerlich Erler
Esters
Ewen
Frau Faße
Fischer
Frau Fuchs
Frau Ganseforth
Gansel
Dr. Gautier Gerster
Gilges
Frau Dr. Götte Graf
Großmann
Grunenberg Dr. Haack
Frau Hämmerle Frau Dr. Hartenstein Hasenfratz Heistermann
Heyenn
Hiller Huonker
Ibrügger
Jahn Jung (Düsseldorf) Jungmann
Kastning
Kiehm
Kirschner
Kißlinger
Kolbow
Koltzsch
Koschnick
Kretkowski Kuhlwein
Lambinus
Leonhart
Lutz
Frau Dr. Martiny-Glotz Meyer
Dr. Mitzscherling
Müller Müller (Pleisweiler) Müller (Schweinfurt) Müntefering
Nagel
Frau Dr. Niehuis
Dr. Niese
Niggemeier Frau Odendahl Oesinghaus Oostergetelo Pauli
Dr. Penner Peter Dr. Pick
Porzner
Purps
Reimann
Frau Renger Reuter
Rixe
Roth
Schäfer Schluckebier
Frau Schmidt Schmidt (Salzgitter)
Dr. Schmude Schreiner
Schröer Schütz
Seidenthal
Frau Seuster Sielaff
Singer
Frau Dr. Skarpelis-Sperk
Dr. Sperling Dr. Spöri
Stahl
Frau Steinhauer
Dr. Struck Frau Terborg Frau Dr. Timm Toetemeyer Frau Traupe Urbaniak
Vahlberg
Verheugen Dr. Vogel
Waltemathe Wartenberg Weiermann
Frau Weiler Weisskirchen
Dr. Wernitz Westphal
Frau Weyel Wiefelspütz von der Wiesche
Wimmer
Dr. de With Wittich
Zeitler
Zumkley
DIE GRÜNEN
Frau Beck-Oberdorf
Frau Beer
Brauer
Dr. Daniels Frau Eid
Frau Flinner Frau Garbe Häfner
Frau Hensel Hüser
Frau Kelly Dr. Knabe Frau Krieger Frau Nickels
Frau Oesterle-Schwerin
Frau Olms Frau Saibold Frau Schilling Frau Schoppe Sellin
Stratmann Frau Teubner Frau Trenz Frau Unruh
Frau Dr. Vollmer
Volmer
Wetzel
Frau Wilms-Kegel
Frau Wollny Wüppesahl
Nein
CDU/CSU
Bauer Bayha Dr. Becker
Frau Berger
Dr. Biedenkopf
Biehle
Dr. Blank
Dr. Blens
Dr. Bötsch
3218 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 46. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. Dezember 1987
Vizepräsident Frau Renger
Bohl
Bohlsen Breuer Buschbom
Carstensen Clemens
Dr. Czaja
Dr. Daniels
Frau Dempwolf
Dörflinger
Dr. Dollinger
Doss
Echternach
Eigen
Engelsberger
Eylmann
Dr. Faltlhauser
Feilcke Dr. Fell Fischer
Francke
Dr. Friedrich
Fuchtel
Ganz
Frau Geiger
Geis
Dr. von Geldern
Gerstein Gerster
Gröbl
Dr. Grünewald
Günther Harnes Frau Hasselfeldt
Haungs
Hauser
Hauser
Hedrich Helmrich
Herkenrath
Hinrichs Hinsken Höffkes Höpfinger
Hörster
Dr. Hoffacker
Dr. Hornhues
Dr. Jahn
Dr. Jenninger
Dr. Jobst
Jung
Jung
Kalb
Kalisch Dr.-Ing. Kansy
Dr. Kappes
Klein
Kolb
Kossendey
Kraus
Krey
Kroll-Schlüter
Dr. Kronenberg
Dr. Kunz
Lamers
Dr. Lammert
Lattmann
Dr. Laufs
Frau Limbach
Link
Link
Linsmeier
Lintner
Dr. Lippold Louven
Lummer Maaß
Frau Männle
Magin Marschewski
Dr. Meyer zu Bentrup Michels
Dr. Miltner
Nelle
Neumann
Niegel
Dr. Olderog Oswald
Pesch
Pfeffermann Dr. Pohlmeier
Dr. Probst Rauen
Rawe
Repnik
Dr. Riesenhuber
Frau Rönsch Frau Roitzsch (Quickborn) Rühe
Dr. Rüttgers Ruf
Sauer
Sauer
Sauter
Sauter Scharrenbroich
Schemken Scheu
Schmidbauer
Dr. Schneider Freiherr von Schorlemer Schreiber
Schulhoff Dr. Schulte
Schulze (Berlin)
Schwarz
Dr. Schwarz-Schilling
Dr. Schwörer Seehofer
Seesing
Seiters
Spilker
Spranger
Dr. Sprung
Dr. Stark
Dr. Stavenhagen
Straßmeir Stücklen
Frau Dr. Süssmuth
Susset
Tillmann
Dr. Uelhoff Dr. Unland Frau Verhülsdonk
Vogel
Vogt
Dr. Voigt
Dr. Voss
Dr. Waffenschmidt
Dr. Waigel
Graf von Waldburg-Zeil Dr. Warrikoff
Dr. von Wartenberg Weirich
Weiß Werner (Ulm)
Frau Will-Feld
Wilz
Wimmer
Frau Dr. Wisniewski
Dr. Wittmann Dr. Wörner Würzbach Zeitlmann
Dr. Zimmermann
Zink
FDP
Frau Dr. Adam-Schwaetzer Dr. Bangemann
Baum
Beckmann
Bredehorn Eimer
Engelhard
Frau Folz-Steinacker Funke
Gallus
Gries
Grünbeck Grüner
Frau Dr. Hamm-Brücher Dr. Haussmann
Heinrich Dr. Hirsch Dr. Hoyer Irmer
Kleinert
Kohn Dr.-Ing. Laermann
Dr. Graf Lambsdorff Lüder
Mischnick Möllemann Neuhausen Nolting
Paintner
Richter
Rind
Schäfer
Frau Dr. Segall
Dr. Solms
Dr. Thomae Timm
Wolfgramm Frau Würfel
Der Antrag ist abgelehnt.
Meine Damen und Herren, wir stimmen jetzt über den Gesetzentwurf der Fraktion der SPD ab. Der Ausschuß empfiehlt, diesen Gesetzentwurf abzulehnen.
Ich rufe die §§ 1 bis 17, Einleitung und Überschrift auf. Wer den aufgerufenen Vorschriften zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Der Gesetzentwurf ist abgelehnt.
Da der Gesetzentwurf in zweiter Beratung abgelehnt ist, unterbleibt nach § 83 Abs. 3 unserer Geschäftsordnung die weitere Beratung.
Meine Damen und Herren, es ist nunmehr — ich bitte, das zur Hand zu nehmen — über Nr. 2 Ziff. I der Beschlußempfehlung des Innenausschusses auf Drucksache 11/1392 abzustimmen.
Zu Nr. 2 Ziff. I der Beschlußempfehlung liegt ein Änderungsantrag der Fraktionen der CDU/CSU und der FDP auf Drucksache 11/1415 vor. Wer stimmt diesem Änderungsantrag zu? — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Bei einigen Enthaltungen ist dieser Änderungsantrag angenommen.
Wer nun Nr. 2 Ziffer I der Beschlußempfehlung in der soeben geänderten Fassung zustimmt, den bitte ich, die Hand zu erheben. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Bei Gegenstimmen der GRÜNEN angenommen.
Wir stimmen jetzt über Nr. 2 Ziffer II der Beschlußempfehlung des Ausschusses ab. Hierzu ist von den Fraktionen der CDU/CSU und der FDP sowie von der Fraktion der SPD getrennte Abstimmung verlangt worden. Wir stimmen jetzt getrennt nach Nummern ab.
Wer Ziffer II Nr. 1 bis 4 der Beschlußempfehlung zustimmt, den bitte ich um ein Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Das erste war die Mehrheit. Die Beschlußempfehlung ist angenommen.
Wer Ziffer II Nr. 5 und 6 der Beschlußempfehlung zustimmt, den bitte ich um ein Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Bei Gegenstimmen der GRÜNEN angenommen.
Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 46. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. Dezember 1987 3219
Vizepräsident Frau Renger
Wer Ziffer II Nr. 7 und 8 der Beschlußempfehlung zustimmt, den bitte ich um ein Handzeichen? — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Die Beschlußempfehlung ist angenommen.
Damit ist Ziffer II der Beschlußempfehlung insgesamt angenommen.
Wir kommen nunmehr zur Abstimmung über die Entschließungsanträge. Wer dem Entschließungsantrag der Fraktion DIE GRÜNEN auf Drucksache 11/1397 zustimmt, den bitte ich um ein Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Mit den Stimmen der Koalitionsmehrheit abgelehnt.
Wer stimmt für den Entschließungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 11/1427? — Gegenstimmen! — Enthaltungen? — Der Entschließungsantrag ist abgelehnt.
Wir kommen nunmehr zu den Zusatztagesordnungspunkten: Meine Damen und Herren, interfraktionell wird vorgeschlagen, die Anträge der Fraktion DIE GRÜNEN und den Antrag der Fraktion der SPD auf den Drucksachen 11/1395, 11/1396 und 11/1413 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Ist das Haus damit einverstanden?
— Hervorragend, das ist der Fall. Ich bedanke mich, meine Damen und Herren.
Damit ist dieser Tagesordnungspunkt erledigt.
Interfraktionell ist vereinbart worden, jetzt zunächst den Tagesordnungspunkt 18 aufzurufen. Hierzu sind Abstimmungen vorgesehen, meine Damen und Herren.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 18 hiermit auf:
Beratung der Sammelübersicht 30 des Petitionsausschusses über Anträge zu Petitionen
— Drucksache 11/1085 —
Hierzu liegt auf Drucksache 11/1416 ein Änderungsantrag der Fraktion der SPD vor. Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat sind für die Beratung 30 Minuten vorgesehen. Ist das Haus damit einverstanden? Oder will es weniger reden? — Letzteres ist nicht der Fall. Dann sind 30 Minuten so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat Frau Abgeordnete Seuster.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Wir entscheiden hier heute über die Beschwerde eines Petenten, der sich wegen seines Geschlechts benachteiligt fühlt und sich deswegen an den Deutschen Bundestag gewandt hat.
Der Sachverhalt ist wie folgt: Aus der Heimatzeitung erfährt der Petent, daß eine Hilfsorganisation einen Kursus für Schwesternhelferinnen durchführt. Er meldet sich bei der Organisation als Teilnehmer an und wird mit der Begründung abgewiesen, die Ausbildung zur Schwesternhelferin sei allein weiblichen Bewerbern vorbehalten. Der Petent wundert sich über die Abweisung und fühlt sich als Mann diskriminiert. Trotzdem ist die Auskunft des Verbandes absolut korrekt.
Die vom Bund finanzierte Ausbildung zur Schwesternhelferin erfolgt im Rahmen des erweiterten Katastrophenschutzes und schließt männliche Teilnehmer ausdrücklich aus. Die Ausbildung dauert etwa vier Wochen und umfaßt eine 14tägige theoretische und eine 14tägige praktische Unterweisung im Krankenhaus. Im Kriegsfall sind die so ausgebildeten Hilfskräfte verpflichtet, in den Krankenhäusern, Hilfskrankenhäusern und Reservelazaretten der Bundeswehr Dienst zu tun.
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, ich bin nicht sicher, ob sich alle Frauen, die diese Ausbildung mitgemacht haben, der Tragweite der Verpflichtung bewußt sind, die sie da eingegangen sind. Zwar sind die Hilfsorganisationen verpflichtet, die Kursusteilnehmer auf die Konsequenzen hinzuweisen. Ob dies allerdings überall mit der nötigen Sorgfalt geschieht, vermag ich nicht zu beurteilen. Doch das ist ein Aspekt, auf den ich unbedingt hinweisen wollte, wenn er auch nicht Gegenstand der Petition ist. Hier geht es um die Frage: Warum werden Männer von diesen Kursen ausgeschlossen?
Liebe Kolleginnen und Kollegen, allein die Tatsache, daß sich der abgewiesene Mann an den Deutschen Bundestag, an den Petitionsausschuß wendet, zeigt, wie selten und damit für den Betroffenen unverständlich die Ablehnung eines männlichen Bewerbers allein auf Grund seines Geschlechts ist. Junge Frauen wenden sich in solchen Situationen wesentlich häufiger an uns, an den Petitionsausschuß.
Die jungen Frauen haben es in der Regel aber auch viel schwerer, diese Diskriminierung nachzuweisen. Hier ist das anders. Den männlichen Schwesternhelferaspiranten lehnte man nicht mit fadenscheinigen Begründungen ab, sondern mit der direkten Begründung, sein Geschlecht sei bei dieser Ausbildung nicht gefragt.
Das Bundesministerium für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit begründet das folgendermaßen: Männer unterliegen im überwiegenden Teil der Wehr- und Zivildienstpflicht und stehen somit im Verteidigungsfall für den Dienst in den Krankenhäusern nicht zur Verfügung. Weiter heißt es wörtlich:
Da der Ernstfalleinsatz der Schwesternhelferinnen als Hilfskräfte in der Krankenpflege, im Krankenhaus, Hilfskrankenhaus, Reservelazarett schwerste körperliche Arbeit bedeutet , ist davon auszugehen, daß Männer, die aus Alters- oder Krankheitsgründen vom Wehroder Zivildienst befreit sind, diese schwere körperliche Tätigkeit nicht leisten können.
Meine Damen und Herren, vergessen wird dabei wohl, daß es auch noch eine Gruppe von Männern gibt, die weder Zivildienst noch Wehrdienst ableisten, die also körperlich sicherlich genauso fähig wären wie weibliche Teilnehmer.
3220 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 46. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. Dezember 1987
Frau Seuster
Auch meine Fraktion will den Wehr- oder Zivildienst natürlich nicht durch eine Schwesternhelferinnenausbildung ersetzen. Wir sehen darin aber eine sinnvolle Ergänzung, möglicherweise sinnvoller als manche Reserveübung.
Wir möchten den Männern zumindest die Möglichkeit einer Schwesternhelferausbildung im Rahmen des Katastrophenschutzes eröffnen. Schließlich sollten überkommene Rollenvorstellungen weder Männern noch Frauen von Amts wegen verordnet werden.
Huldigt die Bundesregierung noch immer dem Grundsatz, der Mann müsse hinaus ins feindliche Leben, und überläßt es den Frauen, hinterher den Dreck wegzuräumen? Meine Fraktion und ich können und wollen das nicht glauben. Ebenso können und wollen wir nicht glauben, daß der Teil der männlichen Bevölkerung, der im Verteidigungsfall nicht der Wehr- oder Zivildienstpflicht unterliegt, also die älteren und körperlich nicht ganz einsatzfähigen Männer, nur — Sie verzeihen mir den Ausdruck — Tattergreise sind, die sich kaum selbst helfen können. Wir sind der Meinung, daß auch ein großer Teil der nicht im Wehr- und Zivildienst eingesetzten Männer durchaus in der Lage wäre, den Anforderungen, die an die kleine, zierliche Krankenschwester gestellt werden, zu genügen.
Sicher erfordern Krankenpflegeberufe hohen körperlichen Einsatz. Aber erstens gibt es den von der Bundesregierung so gerne beschworenen technischen Fortschritt, und zweitens ist mir nicht bekannt, daß Schwesternhelferinnenkurse, die mit Bundesmitteln gefördert werden, nur jungen Frauen mit Gardemaß offenstehen. Ich lasse mich da aber gerne belehren.
Außerdem, liebe Kolleginnen und Kollegen: Wir gehen doch sicher alle davon aus — ich schließe hier ausdrücklich alle Fraktionen ein — , daß der Ernstfall Gott sei Dank eine sehr weit entfernte und abstrakte Drohung ist. Wir alle werden mit allen Kräften dafür kämpfen, daß er nie eintritt.
Aber jede Fähigkeit, die eine Person — Mann oder Frau — erworben hat, sei es auch für den Ernstfall, kann in der täglichen Arbeit, im täglichen Leben, im privaten wie im gesellschaftlichen, miteinander vielfältig genutzt werden. Gerade im pflegerischen Bereich sehe ich da für die Männer einen großen Nachholbedarf.
Die Mithilfe und das Verständnis der Männer für die Probleme bei der Pflege kranker, insbesondere älterer pflegebedürftiger Familienangehöriger wäre für viele Familien eine große Entlastung. Wenn ich „Familien" sage, so müßte es eigentlich „Frauen" heißen; denn 95 % der Pflegenden sind Frauen.
Die Bundesregierung kennt diese Sachverhalte. Der Vierte Familienbericht zeigt all diese Tatbestände auf. Die Bundesregierung kennt auch — so liest man — die allmähliche Abkehr der jungen Mitbürger von den tradierten Rollen der Geschlechter. Im Vierten Familienbericht ist zu lesen:
Für die meisten jungen Frauen ist der Beruf ein selbstverständlicher Bestandteil ihrer Lebensplanung. Diese jungen Frauen wollen Familie und Beruf miteinander in Einklang bringen. Das Streben der Frau nach stärkerer Teilhabe im Berufsleben trifft auf eine größer werdende Bereitschaft der jungen Männer, sich ihrerseits an Familienaufgaben zu beteiligen, vor allem an der Erziehung der Kinder. Vereinzelt
— und ich meine, das könnten mehr werden —
übernehmen heute Männer auch die Pflege ihrer alten Eltern, wenn dies erforderlich ist. In der überwiegenden Zahl der Fälle jedoch bleibt die Pflege der Eltern die Aufgabe der Töchter beziehungsweise der Schwiegertöchter.
— So der Familienbericht.
Warum tut die Bundesregierung angesichts dieser Erkenntnisse nicht einen ersten Schritt und eröffnet den jungen Männern die Möglichkeit, sich auf Staatskosten zum Krankenschwesternhelfer ausbilden zu lassen? Sie hätte damit den pflegerischen Berufen auch das Stigma der Frauenarbeit genommen; denn immer noch wird ja in unserer Gesellschaft das, was Frauen tun, eben für ein bißchen weniger wichtig gehalten und meistens auch geringer bezahlt.
Gleichzeitig wäre ein Anfang zur Entlastung der überlasteten Familienmitglieder gemacht, die häufig auf Kosten der eigenen Gesundheit versuchen — und hier sind es die Mütter — , allen Anforderungen, die die Familie an sie stellt, gerecht zu werden, häufig genug, weil kein anderes Familienmitglied in der Lage ist, das Richtige zu tun, nicht aus Mangel an gutem Willen, sondern aus Mangel an erworbenen Fähigkeiten.
Meines Erachtens wäre mit dieser kleinen Maßnahme der Öffnung der Schwesternhelferinnenkurse für Männer, die zudem billig zu haben ist — es werden keine Ströme kommen; das versichere ich — , mehr für die Situation der Frauen getan als durch manche Forschungsaufgabe.
Die SPD-Fraktion schließt sich deshalb dem Anliegen des Petenten an. Sie stellt den Antrag:
Der Bundestag wolle beschließen,
die Petition der Bundesregierung als Material zu überweisen.
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Limbach.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Bei der Petition, über die wir heute im Plenum zu entscheiden haben, geht es — das ist schon kurz dargestellt worden — um den Wunsch eines jungen Mannes, an einem Kurs zur Ausbildung von Schwesternhelferinnen teilnehmen zu können. Solche Kurse, die in der Regel mehrere Wochen dauern, weil 28 Ausbildungstage Vorschrift sind, werden vorwiegend von den Hilfsorganisationen angeboten, vom Roten Kreuz, vom Malteserhilfsdienst und von der Johanniterhilfe.
Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 46. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. Dezember 1987 3221
Frau Limbach
Der Petent wendet sich nun dagegen, daß solche Kurse männlichen Bewerbern nicht offenstünden. Grundsätzlich ist gegen einen solchen Wunsch überhaupt nichts einzuwenden. Da stimme ich auch der Kollegin Seuster zu. Im Gegenteil, es ist sogar zu begrüßen, daß junge Männer Interesse an helfenden Tätigkeiten zeigen, was ja auch die wachsende Zahl von männlichen Bewerbern zeigt, die sich zum Krankenpfleger ausbilden lassen wollen. Soweit die Hilfsorganisationen oder auch Krankenhäuser entsprechende Kurse aus eigenen Mitteln finanzieren oder der Interessent bereit ist, einen eigenen finanziellen Beitrag zu leisten, steht diesem Wunsch des jungen Mannes überhaupt nichts entgegen. Dazu kommt, daß anfallende Kursgebühren — die betragen so um die 300 DM, wenn man das richtig rechnet, so sagen die Hilfsorganisationen — in der Regel von den Hilfsorganisationen selbst getragen werden, den Bewerbern also tatsächlich gar nicht in Rechnung gestellt werden, allerdings in der Erwartung, daß der so Ausgebildete dann auch die Bereitschaft zur Mitarbeit in diesem Verband, der ihn ausgebildet hat, erkennen läßt.
Anders verhält es sich bei den Kursen, die ganz oder überwiegend aus Mitteln des Innen- und des Verteidigungsministeriums finanziert werden; denn die Finanzierungszuständigkeit des Bundes und damit die legale Verwendung der Mittel ergibt sich eben nur im Zusammenhang mit den Aufgaben des Zivilschutzes, hier mit dem sogenannten erweiterten Katastrophenschutz. Wie wir alle wissen, wäre sonst diese Ausbildung Ländersache. Das bedeutet natürlich auch, daß in solchen Kursen ausgebildete Schwesternhelferinnen in einem möglichen Spannungsoder Verteidigungsfall auch nur eine Tätigkeit als Hilfskraft in einem Krankenhaus oder Reservelazarett ausfüllen können, wenn sie auch tatsächlich zur Verfügung stehen. Dieses tatsächliche Zurverfügungstehen ist eben hier nur bei jungen Frauen der Fall.
— Das werde ich Ihnen sofort erläutern.
Nun sind wir uns sicher darin einig, daß alle Anstrengungen der Sicherheitspolitik darauf gerichtet sind, einen solchen Fall nie eintreten zu lassen. Dennoch bleibt, daß in einem eventuellen Verteidigungsfall Männer für diesen erweiterten Katastrophenschutz nicht zur Verfügung stünden, da sie ja der Wehr- oder Zivildienstpflicht unterliegen und gegebenenfalls im Rahmen dieser Dienstpflicht entsprechende Aufgaben erfüllen müssen. Die Schwesternhelferinnenausbildung im Rahmen der Bundesfinanzierung kann daher nur Frauen offenstehen.
Bei dieser Sachlage kann dem Petenten nur empfohlen werden, die angestrebte Ausbildung zum Schwesternhelfer eben in einem frei finanzierten Kurs zu suchen. Dort kann er sie auch finden; ich habe mir das von den Hilfsorganisationen noch einmal ausdrücklich bestätigen lassen. Deshalb muß die Petition an sich als erledigt angesehen werden.
Frau Präsidentin, ich weiß, daß ich noch mehr Redezeit habe; aber ich halte es nicht für nützlich, über den
Sachvortrag hinaus das Parlament länger zu beschäftigen.
Herzlichen Dank, Frau Kollegin.
Jetzt hat das Wort Frau Abgeordnete Nickels.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Worum es hier geht, ist schon von meinen Vorrednerinnen erklärt worden. Ich muß sagen, ich kann weder dem Votum des Ausschusses folgen — wir werden das ablehnen — noch dem Vorschlag der SPD folgen; wir werden auch das ablehnen. Das hat folgende Gründe.
Hier ist gerade von Frau Limbach schon dargestellt worden, daß die Schwesternhelferinnenausbildung, um die es hier geht, ganz eng in den sogenannten erweiterten Katastrophenschutz eingebunden ist. Ich will zugespitzt sagen: Diese Ausbildung dient militärischen Zwecken, sie dient auch dem Schutz und dem Aufbau von Verteidigungsdingen im Kriegsfall, und sie ist sonst überhaupt für niemanden zugänglich.
Ich finde es auch sehr interessant, daß hier zugegeben wurde — es ist öffentlich nicht bekannt — : Sehr viele Frauen, die diese Ausbildung aus sozialen Gründen machen, weil sie Hilfe geben wollen oder vielleicht auch irgendwo arbeiten wollen, wissen nicht, was sie da unterschreiben. Wir haben auch schon Frauen erlebt, die sagten, sie wollten die Ausbildung gerne machen, aber wollen nicht diese Verpflichtung, die mit drinsteckt, mit eingehen, im Kriegsfall hier solche Dienste leisten und damit auch Hilfskräfte des Krieges sein zu müssen, ob sie wollen oder nicht. Diese Frauen dürfen dann auch die Ausbildung nicht machen, genausowenig, wie Männer diese Ausbildung machen dürfen, weil sie als Soldaten eingeplant sind. Frauen, die diese Kriegsdienstleistungen im Verteidigungsfall nicht machen wollen, dürfen diese Ausbildung auch nicht machen.
Darum handelt es sich hier: nicht um eine Diskriminierung der Männer, sondern um eine Diskriminierung aller Kriegsdienstverweigerinnen und -verweigerer. Das muß man sagen.
— Es geht hier um die Problematik generell. Es ist so, daß mittlerweile über 250 000 Frauen diese Ausbildung gemacht haben und diese Verpflichtung eingegangen sind und damit auch für den Kriegsfall zur Verfügung stehen.
Ich unterstelle hier niemandem etwas. Hier ist eben ein Zwischenruf gekommen: Wann war der letzte V-Fall? Frau Seuster, Sie haben gesagt: Das wollen wir alle nicht. Das ist völlig klar. Aber eines ist genauso klar: Man kann Krieg nicht führen, wenn man nicht die sogenannte Heimatfront gesichert hat.
Im Augenblick gibt es in unserer aktuellen Politik sehr viele Bemühungen, die sogenannte erweiterte zivile Verteidigung aufzubauen. Die Debatte über
3222 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 46. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. Dezember 1987
Frau Nickels
„Frauen in die Bundeswehr" kennen wir ja. Wir wissen, daß hier das Kriegsdienstverweigerungs-Neuordnungsgesetz sehr starke Beschränkungen auferlegt hat. Wir haben zunehmend eine Tendenz der Vermischung von sozialen und militärischen Angelegenheiten. Das muß man sagen. Das halten wir für eine sehr große Gefahr. Die muß man sehen. Wir sind absolut gegen eine solche Vermischung und gegen eine Militarisierung des Gesundheitswesens, weil die Weltgesundheitsorganisation und auch sehr viele Ärzte und Krankenschwestern in der Vergangenheit immer wieder erklärt haben: Im Falle eines zukünftigen Krieges werden wir nicht helfen können; das ist absolut ausgeschlossen. Darum darf man das auch nicht machen.
Aus diesem Grunde unterstützen wir weder das eine noch das andere Votum. Wenn man keine Diskriminierung von friedenswilligen Männern und Frauen haben will, die sagen, daß sie für jeden Kriegsfall die Mitarbeit ablehnen, dann muß man die Schwesternhelferinnenausbildung zivilisieren. Das heißt, die Mittel, die vom Verteidigungsministerium und vom Innenministerium zur Verfügung gestellt werden, müssen gestrichen werden. Wenn man tatsächlich soziale Fähigkeiten der Männer fördern möchte, dann muß man Mittel z. B. auf Landesebene oder aus dem Haushalt von Frau Süssmuth bereitstellen. Dagegen haben wir gar nichts. Hier werden wir sofort mit Ihnen stimmen. Aber in diesem Fall sind wir dagegen. Das können wir nicht unterstützen.
Das Wort hat Frau Abgeordnete Dr. Segall.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Mit der vorliegenden Petition erstrebt der Petent seine Zulassung zu Schwesternhelferinnenkursen. Er bemängelt, daß nach den „Grundsätzen für die Aus- und Fortbildung von Schwesternhelferinnen" nur weibliche Personen zu Schwesternhelferinnenkursen zugelassen werden können. Seiner Ansicht nach liegt darin eine Ungleichbehandlung von Männern und Frauen. Aus diesem Grunde hält er es erforderlich, daß auch Männer in Schwesternhelferinnenkursen aufgenommen werden. Sofern dies nicht möglich ist, meint der Petent, daß es gleiche Kurse für Männer geben müßte.
Vordergründig betrachtet scheint diese Ungleichbehandlung nicht verständlich. Sie beruht aber auf sachlichen Gründen, die ich nun schildern möchte.
Die Aus- und Fortbildung von Schwesternhelferinnen dient dem Zivilschutz. Im Verteidigungsfalle sollen diese Hilfskräfte das Personal von zu errichtenden Hilfskrankenhäusern und Reservelazaretten der Bundeswehr bilden. Schon daraus ergibt sich, daß Personen, die im Spannungs- bzw. Verteidigungsfall anderweitigen Verpflichtungen nachkommen müssen, für einen Einsatz im Bereich der Schwesternhelferinnen ausfallen und daher eine entsprechende Ausbildung sinnlos ist.
Männer unterliegen, wie Sie alle wissen, der Wehr- bzw. Dienstpflicht. Sie kommen deshalb nicht für eine Schwesterhelferinnenausbildung in Betracht.
Neben dieser Einschränkung gibt es noch ein anderes Kriterium, das es verbietet, im konkreten Fall dem Petenten eine Schwesternhelferinnenausbildung zukommen zu lassen. Nach den „Grundsätzen für die Aus- und Fortbildung von Schwesternhelferinnen" ist es nämlich nicht nur eine anderweitige Verpflichtung, die einer Schwesternhelferinnenausbildung entgegensteht, sondern auch das Lebensalter ist zu berücksichtigen. Das heißt, daß Personen, die wegen des Lebensalters wehrpflichtig oder zivildienstpflichtig wären, nicht in Betracht kommen.
Auch andere Gründe sprechen gegen eine positive Bescheidung der Petition. Die staatlichen Schwesternhelferinnenausbildungen werden vom Bund finanziert. Diese Finanzierungspflicht muß zur Schonung der Haushaltsmittel begrenzt bleiben. Darum werden wehr- bzw. zivildienstpflichtige Personen nicht bei der Schwesternhelferinnenausbildung berücksichtigt.
Wie kann dennoch versucht werden, auch Männern solche Ausbildungen zukommen zu lassen? Mit dem Bundesminister für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit teile ich die Ansicht, daß im Bereich der privaten Schwesternhelferinnenlehrgänge Männer berücksichtigt werden müssen. Anders als bei der Ausbildung, die durch Bundesmittel finanziert wird, bilden diese Organisationen im eigenen Interesse und auf eigene Kosten aus. Insoweit gelten die Grundsätze für die Aus- und Fortbildung von Schwesternhelferinnen nicht. Von dieser Stelle aus appelliere ich daher an die privaten Hilfsorganisationen mitzuhelfen, die Gleichheit der Geschlechter herzustellen, indem auch Männer zur Schwesternhelferinnenausbildung zugelassen werden.
Meine Damen und Herren, weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen jetzt zur Abstimmung über den Änderungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 11/1416.
Wer diesem Antrag zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Dieser Antrag ist abgelehnt.
Wer der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses auf Drucksache 11/1085 zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Die Beschlußempfehlung ist angenommen.
Ich rufe den Punkt 3 der Tagesordnung auf:
a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Sicherung und Nutzung von Archivgut des Bundes
— Drucksache 11/498 —
Beschlußempfehlung und Bericht des Innenausschusses
— Drucksache 11/1215 —
Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 46. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. Dezember 1987 3223
Vizepräsident Frau Renger
Berichterstatter:
Abgeordnete Frau Hämmerle Neumann
Dr. Hirsch
Frau Schmidt-Bott
b) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die zentrale Archivierung von Unterlagen aus dem Bereich des Kriegsfolgenrechts
— Drucksache 11/642 —
aa) Beschlußempfehlung und Bericht des Innenausschusses
— Drucksache 11/1214 —
Berichterstatter:
Abgeordnete Dr. Nöbel Neumann
Dr. Hirsch
Frau Schmidt-Bott
bb) Bericht des Haushaltsausschusses gemäß § 96 der Geschäftsordnung
— Drucksache 11/1306 —
Berichterstatter:
Abgeordnete Deres Kühbacher
Frau Seiler-Albring Kleinert
Hierzu liegen Änderungsanträge der Fraktion DIE GRÜNEN auf den Drucksachen 11/1436 bis 11/1440 vor.
Nach einer Verabredung im Ältestenrat sind für die gemeinsame Beratung dieser Tagesordnungspunkte 30 Minuten vorgesehen. Ist das Haus damit einverstanden? — Ich hoffe immer, einer sagt: nur 15. — Aber schade, nein. — 30 Minuten sind angenommen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Herr Abgeordnete Neumann .
Meine Damen und Herren! Das heute zu verabschiedende Archivgesetz des Bundes betrifft Akten, Schriftstücke, Karten, Pläne sowie Träger von Daten-, Bild-, Film- und Tonbandaufzeichnungen, die bei den Stellen des Bundes, des Deutschen Reiches oder des Deutschen Bundes erwachsen oder diesen zur Nutzung überlassen worden sind. Diese Unterlagen sollen vor Vernichtung, Zersplitterung, Veruntreuung gesichert werden, und es sollen befriedigende Möglichkeiten geschaffen werden, dieses Archivgut zu nutzen.
Das Gesetz soll sicherstellen, daß alle bei den Verfassungsorganen und Dienststellen des Bundes anfallenden Unterlagen von bleibendem Wert dem Bundesarchiv übergeben werden. Damit wird für jedermann erkennbar, daß der jetzige Tagesordnungspunkt für Wissenschaft und Forschung, ja für die gesamte deutsche Geschichte, von hoher Bedeutung ist.
Dieses Bundesarchivgesetz wird auch eine Pilotfunktion für die Bundesländer haben, die ebenfalls vor der Notwendigkeit stehen, Archivgesetze zu erlassen. Mit Ausnahme Baden-Württembergs sind das alle anderen.
Worin liegt die Notwendigkeit für dieses Gesetz? Nach dem Volkszählungsurteil des Bundesverfassungsgerichts vom 15. Dezember 1983 kann jeder Betroffene grundsätzlich selbst über die Weitergabe und Verwendung seiner persönlichen Daten bestimmen. Eine Beschränkung des damit postulierten Grundrechts auf informationelle Selbstbestimmung, die eine archivische Verwahrung und Nutzung entsprechender Daten für Forschungszwecke ermöglicht, bedarf daher einer gesetzlichen Grundlage.
Der heute zu verabschiedende Gesetzestext geht auf einen Gesetzentwurf der Bundesregierung vom 24. August 1984 zurück, der dann in dieser Legislaturperiode noch einmal in den Bundestag eingebracht wurde. Dieser Entwurf hatte damals hohe politische Wellen geschlagen. Im „Spiegel" 1984, Ausgabe 44, lautete dazu eine Überschrift „Datenschutz für die Nazis". In der „Frankfurter Rundschau", ebenfalls 1984, wird vom „Vertuschungsparagraphen" gesprochen.
Der Chefarchivar der Friedrich-Ebert-Stiftung sprach im Hinblick auf den Gesetzentwurf sogar von der „neuen Form der Endlösung für unerwünschte Archivalien" . Die „Zeit" vom 1. November 1985 schreibt: „Anonymisierung ist eine Art Urkundenfälschung." Und der SPD-Abgeordnete Duve, der heute leider fehlt, formulierte damals:
Aktenklitterung und Geschichtsklitterung liegen dicht beieinander. Wir werden höllisch aufpassen müssen.
Auffällig, meine Damen und Herren, bei der damaligen Diskussion war, daß die Vertreter aus der linken Ecke, die sonst den Datenschutz immer sehr hoch hängen, bei diesem Gesetz den Datenschutz am liebsten völlig eliminiert hätten.
In der Zwischenzeit erfolgten zu dem Gesetzentwurf Stellungnahmen des Bundesrates, Beratungen im Bundestag, eine öffentliche Anhörung und viele Beratungen im Innenausschuß. Der Innenausschuß hat Ihnen zu dem Entwurf eine Reihe wichtiger Korrekturen vorgeschlagen. Wenn heute wie auch im Innenausschuß dieser geänderte Gesetzentwurf mit den Stimmen von CDU/CSU, SPD und FDP — wenn Herr Duve hier wäre, einschließlich des Kollegen Duve — verabschiedet wird, zeigt dies, daß solide Arbeit gelei-
3224 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 46. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. Dezember 1987
Neumann
stet worden ist, wofür ich mich bei den Kollegen im Innenausschuß herzlich bedanke.
Meine Damen und Herren, mit diesem Gesetz wird erstmals in der deutschen Geschichte ein Recht des Bürgers auf Nutzung von Archivbeständen begründet. Es ist gelungen, den Konflikt zwischen den Grundrechten der Informations- und Wissenschaftsfreiheit einerseits und des Persönlichkeitsschutzes bzw. Datenschutzes andererseits austariert und abgewogen zu lösen. Der im ursprünglichen Entwurf enthaltene sehr vage Begriff der Anonymisierung bei Archivgut, das sich auf natürliche Personen bezieht, zu Recht in der Öffentlichkeit kritisiert, soll entfallen. Die Geschichtsforschung ist auf personenbezogenes Material angewiesen, um Ereignisse zu ordnen, Verknüpfungen herzustellen. Archivgut soll eben nicht kastriert, sondern als authentische Quelle im Archiv erhalten werden, d. h. nur das Archiv soll gegebenenfalls auf Kopien anonymisieren, keinesfalls die abgebenden Stellen.
Meine Damen und Herren, der Ausschuß ist der Auffassung, daß sich nach Möglichkeit auch Privatarchive den Kriterien des Archivgesetzes unterwerfen. Hier konnten wir aus rechtlichen Gründen keine gesetzlich verbindliche, sondern nur eine empfehlende Regelung schaffen. Wen das mehr interessiert, der kann das im Bericht des Ausschusses weiter lesen.
Lassen Sie mich zusammenfassen: Der Ihnen heute vorliegende Entwurf eines Archivgesetzes mit den vorgeschlagenen Änderungen des Innenausschusses ist zweckmäßig, durchdacht und zukunftsweisend, und er hat deshalb, wie zu erwarten, eine breite Zustimmung verdient.
Nun zu dem zweiten Gesetz — wir haben das ja verbunden — , zu dem Lastenausgleichsarchiv. Hier ist es so, daß ein Teil der im Lastenausgleich anfallenden Akten und die Heimatortskarteien des kirchlichen Suchdienstes ein unersetzliches Material zur Dokumentation der gesellschaftlichen, sozialen und kulturellen Verhältnisse in den Ostgebieten des Deutschen Reiches und anderen ost- und südeuropäischen Siedlungsgebieten darstellen. Dieses Material soll erhalten bleiben und zentral archiviert werden, nicht alles, aber das, was von Bedeutung ist.
Mit dem Entwurf wird dem Bund die Zuständigkeit für zentrale Archivierung übertragen und unter dem Dach des Bundesarchivs ein Lastenausgleichsarchiv eingerichtet.
— Herr Kollege Gerster, ich komme gleich darauf.
Bei den Beratungen des Gesetzentwurfs im Innenausschuß ist eingehend erwogen worden, das Lastenausgleichsarchiv als selbständige Behörde neben dem Bundesarchiv zu errichten. Dies haben wir aus Gründen der Rechtssystematik und Einheitlichkeit nicht gemacht, aber wir sehen innerhalb dieses Bundesarchivs für das Lastenausgleichsarchiv eine besondere eigenständige Rolle vor — dies ist auch im Bericht des Innenausschusses dokumentiert — , so daß wir auch der besonderen Aufgabe dieses Archivs Rechnung tragen.
Das Gesetz, das heute verabschiedet wird, kann über den Standort keine besonderen Aussagen machen. Dies bleibt dem Innenminister vorbehalten, der jetzt sehr zügig und mit Sachverstand, Herr Kollege Waffenschmidt, entscheiden sollte. Es gibt mehrere brauchbare Alternativen, und es ist auch bekannt, wofür der eine oder andere Kollege ist. Ich wünsche eine alsbaldige Entscheidung und daß Sie, meine Damen und Herren, diesem Gesetzentwurf zustimmen.
Vielen Dank.
Das Wort hat Frau Abgeordnete Hämmerle.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lieber Herr Kollege Neumann, gerade weil es so ist, wie Sie zutreffend geschildert haben, daß die Fraktionen — mit Ausnahme der GRÜNEN, wenn ich mich richtig erinnere — im Innenausschuß zu einer einheitlichen Lösung gefunden haben, wäre es für meinen Geschmack entbehrlich gewesen, daß Sie hier einen Rundumschlag nach allen möglichen Seiten veranstaltet haben.
Das ist auch überhaupt kein Thema, das sich zu einer solchen Auseinandersetzung eignet.
Und es ist in der Tat richtig, was Sie gesagt haben, Herr Kollege Neumann,
es ist ein sehr wichtiges Gesetz, und ich bin eigentlich ein wenig traurig darüber, daß wir in diesem Haus so wenig Resonanz haben, wenn wir in die zweite und dritte Beratung dieses Gesetzes eintreten.
Gerade weil ich Ihnen gesagt habe, daß ich das nicht besonders schön gefunden habe, möchte ich mich nun befleißigen, diese Sache noch einmal ganz sachlich und in aller Kürze zu schildern.
Am 17. September diesen Jahres haben wir die erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfes durchgeführt. Es handelte sich um einen Entwurf aus der 10. Legislaturperiode. Wir waren uns schon damals alle einig, daß es sich um ein wichtiges Gesetz handelt, nämlich darum, endlich die technischen und administrativen Regeln für die „Speicherung des Gedächtnisses unseres Volkes", wie Novalis es nannte, zu beschließen. Einigkeit herrschte auch damals schon über die Wichtigkeit und Richtigkeit der Absicht, die bei den Verfassungsorganen und Dienststellen des Bundes anfallenden, historisch bedeutsamen Unterlagen vor der Vernichtung, der Zersplitterrung oder gar dem Reißwolf zu bewahren.
Unterschiedliche Auffassungen gab es in der Tat über einige wesentliche Punkte, die wir dann im Innenausschuß weitgehend geklärt haben. Die SPD hat
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Frau Hämmerle
damals erklärt — dazu stehen wir heute, und wir sind ja übereingekommen, daß wir das so machen — : Wir wollen keine Anonymisierung von Unterlagen, da Geschichtsforschung von Personen nicht zu trennen ist und Anonymisierung in sehr vielen Fällen eine Geschichtsverfälschung darstellen würde.
Zur Herstellung des Datenschutzes soll aber eine vorübergehende Unkenntlichmachung in der dem Benutzer überlassenen Kopie möglich sein. Außerdem — das ist sehr wichtig — müssen Betroffene das Recht haben, eine Gegendarstellung abzugeben. Diese Gegendarstellung muß dann zu den Akten genommen werden.
Der Beauftragte für Datenschutz hat im Innenausschuß mit uns diskutiert. Die Bundesregierung hat eine Formulierung zum Datenschutz vorgeschlagen, der wir uns anschließen. Wir halten sie für ausreichend. Ich möchte nur einen Satz zitieren: „Das Bundesarchiv hat von der Übergabe an genauso wie die abgebende Stelle die schutzwürdigen Belange Betroffener zu berücksichtigen." Ich möchte wegen der Kürze der Zeit das Zitat nicht weiter fortführen.
Ein weiterer Punkt, für den Klärungsbedarf bestand, ist der Schutz der Daten bereits verstorbener Personen. Wir hatten ursprünglich eine andere Vorstellung von den Fristen. Wir schließen uns aber der Schutzfrist von 30 Jahren nach dem Tode und 110 Jahren nach der Geburt des Betroffenen an, wenn das Todesdatum nicht genau festgestellt werden kann.
Bei der Frage der Anwendung des Bundesarchivgesetzes auf Privatarchive, die öffentliche Mittel in Anspruch nehmen, schließen wir uns der Regelung an, die da aussagt, daß im Bewilligungsverfahren geprüft wird, ob und inwieweit die Vorschriften des Bundesarchivgesetzes entsprechend angewendet werden.
Die im Innenausschuß aufgestellte Forderung, daß das Auswärtige Amt ein eigenes Archiv führen kann, tragen wir mit, wenn die Nutzungsbedingungen des Bundesarchivgesetzes entsprechend angewandt werden.
Unter Berücksichtigung dieser im Innenausschuß diskutierten und erarbeiteten Vorschläge, von denen wesentliche Teile von uns eingebracht wurden, stimmen wir heute dem Bundesarchivgesetz zu.
Zum Gesetz über die zentrale Archivierung von Unterlagen aus dem Bereich des Kriegsfolgenrechtes: Mit dem Gesetzentwurf ist beabsichtigt — das halten wir für richtig — , einen Teil der im Lastenausgleich anfallenden Akten und die Heimatortskarteien des kirchlichen Suchdienstes zentral im Zuständigkeitsbereich des Bundesarchivs zu archivieren. Dieses Material stellt eine unersetzliche Dokumentation der gesellschaftlichen, sozialen und kulturellen Verhältnisse in den Ostgebieten des ehemaligen Deutschen Reiches und anderen ost- und südosteuropäischen Siedlungsgebieten dar. Dafür soll nun im Bundesarchiv ein Lastenausgleichsarchiv eingerichtet werden, in welches die Länder ihr Material in aufbereiteter Form abzugeben haben. Für die Heimatortskarteien des kirchlichen Suchdienstes soll diese Regelung dann zutreffen, wenn die ihm übertragenen Aufgaben abgeschlossen sind.
Der Sinn und die Aufgaben dieses neu zu bildenden Archivs gehen aus der Begründung des Gesetzentwurfes hervor. Da ich davon ausgehe, daß ich Ihnen das nicht vorlesen muß, möchte ich nur die Wichtigkeit dieses Gesetzentwurfes in wenigen Sätzen zusammenfassen. In der Spätphase des Lastenausgleiches gilt es, diese historisch beispiellose Solidarität zur Bewältigung der Folgen des Zweiten Weltkrieges und der Integration von Millionen Vertriebener nicht in Vergessenheit geraten zu lassen. Dieses Archiv stellt eine umfangreiche Dokumentation des im Rahmen des Lastenausgleichs erfaßten Gesamtschadens dar, ebenso eine Dokumentation des Vertreibungs- und Aussiedlerschicksals und einen Überblick über die Tätigkeit und Wirkungsweise der gesamten Ausgleichsverwaltung.
Ein Punkt erscheint mir zum Schluß noch wichtig. Im Rahmen der Diskussion um dieses zweite Gesetz kam uns, Ihnen allen, ein Brief der kommunalen Spitzenverbände auf den Tisch, in dem uns geschildert wird, daß die kommunalen Spitzenverbände befürchten, daß durch die Aufbereitung und die Abgabe dieses Materials erhebliche Kosten auf die Kommunen zukommen.
Auch an diesem Beispiel wird wieder einmal deutlich, was ich immer sage, und was die SPD-Fraktion hier immer gesagt hat, daß viele gesetzliche Regelungen des Bundes die Gemeinden zum Teil erheblich belasten. Wir nehmen also auch dieses Gesetz zum Anlaß, erneut zu fordern, daß die Haushalte der Kommunen von solchen zusätzlichen Ausgaben entlastet werden müssen.
Der Bericht des Haushaltsauschusses sagt uns, daß dieses Lastenausgleichsarchiv erhebliche Kosten verursachen wird, nämlich 70 Millionen DM Erstkosten und 5 Millionen Folgekosten. Er sagt aber auch, daß diese Aufwendungen im Haushalt gedeckt sind.
Nicht zuletzt aus diesem Grunde und wegen der Wichtigkeit, die ich bereits angeführt habe, stimmt die SPD-Fraktion auch dem zweiten Gesetzentwurf, der hier zur Debatte steht, nämlich der zentralen Archivierung der Unterlagen aus dem Kriegsfolgenrecht, zu.
Das Wort — gleichzeitig als Berichterstatter — hat der Herr Abgeordnete Dr. Hirsch.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich hoffe, daß die wenigen Bemerkungen, die ich als Berichterstatter machen muß, auf die Redezeit nicht angerechnet werden. Ich kann es Ihnen nicht ersparen, ich muß ein paar Dinge aus den Ihnen vorliegenden Drucksachen richtigstellen, und zwar einige redaktionelle Änderungen, die sich ergeben haben.
In § 2 Abs. 1 muß es statt „in Fällen des Absatzes 2" heißen „in Fällen des Absatzes 3"
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Dr. Hirsch
In § 2 Abs. 3 des vom Innenausschuß beschlossenen Textes muß es statt „im Sinne des Absatzes 3" heißen „im Sinne des Absatzes 4".
In § 8 muß es statt „im Sinne des § 2 Absatz 3 Nr. 1" heißen „im Sinne des § 2 Absatz 4 Nr. 1" .
Das hat sich ergeben, weil ein neuer Absatz eingefügt worden ist.
In dem Bericht sind bei den Erläuterungen zu § 2 Abs. 4 Satz 2 im Anschluß an den zweiten Absatz dieser Erläuterungen die beiden letzten Sätze der Erläuterungen zu § 4 Abs. 2 einzufügen. Diese sind bei § 4 Abs. 2 zu streichen.
Ich kann Ihnen versichern, daß es sich um redaktionelle Änderungen handelt, so daß Sie trotz der Länge dieser zusätzlichen Berichterstattung zustimmen können, ohne sich dadurch irritiert zu fühlen; denn ich gebe diesen Text zu Protokoll.
Meine Damen und Herren, das Gesetz hat uns ja schon mehrfach beschäftigt. Ich halte es zwar für ein sehr ordentliches Gesetz, aber nicht für ein Gesetz von so epochaler Bedeutung, wie es dargestellt worden ist. Wenn Novalis gesagt hat, gesagt haben soll, ich weiß es nicht, die Archive seien das Gedächtnis der Nation, halte ich das für eine ungeheuere Übertreibung; denn das Leben der Nation verwirklicht sich doch nicht in amtlich oder öffentlich erstellten Dokumenten, sondern ebenso in den Gegenständen des täglichen Lebens, in der Kunst, in der Musik, in der Malerei, in der Architektur; alles Dinge, die in Archiven nichts zu suchen haben. Das „Gedächtnis der Nation" verwirklicht sich auch in den Verbrechen, die begangen worden sind.
Hier möchte ich auf einen Gedanken zurückkommen, den Frau Vollmer in einer vorhergehenden Debatte eingeführt hat, als sie gefragt hat, ob man sich mit Dingen vielleicht eher anfreunden oder sie eher verarbeiten oder verkraften könne, wenn man weiß, daß sie nicht wiederkommen, daß sie Vergangenheit sind, daß sie sozusagen archiviert, abgelegt, abgeheftet sind; die Tinte ist getrocknet, es ist Vergangenheit. Ich glaube jedoch, man muß sagen, daß das, was in der Natur des Menschen liegt, nicht vergangen ist, nicht vergangen sein kann
und daß wir nichts von dem, was in der Natur des Menschen liegt, archivieren können. Wir müssen uns vielmehr ständig mit unserer Natur auseinandersetzen, und zwar nicht wie mit einem philosophischen Gedanken. Wiedergutmachung ist nicht nur eine Auseinandersetzung mit den Betroffenen, es ist nicht nur eine Aufrechnung, eine finanzielle Frage, sondern das ist auch ein Problem, wie wir selbst damit umgehen. Viele der Betroffenen sagen uns: Im Grunde genommen ist es ein Problem, das in erster Linie euch angeht. Es geht um euer Verhalten uns gegenüber. Ich denke, daß wir sehr darauf achten müssen, daß wir in der Wirklichkeit Dämme dagegen aufbauen, daß sich solche Verbrechen nicht wiederholen, daß wir sie
nicht nur als Vergangenheit betrachten. Darum ist es, glaube ich, wichtig, diesen Gedanken aufzunehmen.
Angesichts der Unmengen von Papier, die wir erzeugen, habe ich im übrigen nicht die Sorge, daß künftige Generationen zu wenig von unseren Heldentaten erfahren, auch wenn es kein Archivgesetz geben würde. Aber auf der anderen Seite gibt es eine Reihe sinnvoller Regelungen, um das Spannungsverhältnis zwischen der Lust, in alten Akten Interessantes über Mitmenschen und Zeitgenossen zu finden, also zeitgenössische Forschung zu betreiben, auf der einen Seite und auf der anderen Seite dem Interesse, die Privatsphäre der Betroffenen in dem erforderlichen Umfang zu schützen, auszugleichen. So überzeugend zunächst der Gedanke war, bestimmte Akten einfach zu schwärzen, um Mißbrauch damit zu vermeiden, haben wir uns dann doch davon überzeugen lassen, daß es nicht der richtige Weg ist, sondern daß man dieses Ziel mit entsprechenden Schutzfristen von 20, 30 Jahren nach dem Tod des Betroffenen, in bestimmten Fällen 80 Jahre nach dem Entstehen der Dokumente erreichen muß, was aber auch ergänzt wird durch das Recht der Gegendarstellung, die mit der beanstandeten Akte archiviert werden muß.
Auf der anderen Seite haben wir für wissenschaftliche Arbeiten und zu Lasten von Amtsträgern in ihrer amtlichen Tätigkeit und zu Lasten von Personen der Zeitgeschichte eine leichtere Einsichtnahme als für den Regelfall zugelassen, soweit das nach Lage des Einzelfalles überhaupt möglich ist.
Wichtig ist auch die schon genannte Vorschrift, daß nach Ablauf einer bestimmten Zeit die gesamten archivierten Unterlagen — jedenfalls grundsätzlich — jedem Interessierten zur Einsichtnahme zur Verfügung stehen. Ich hoffe, daß wir uns, wenn wir noch einmal über ein Archivgesetz reden,
einmal Gedanken darüber machen, ob diese Frist von 30 Jahren nicht verkürzt werden kann, um eine zeitnähere Einsicht zu ermöglichen.
Wir hoffen, daß sich die Bundesländer den Regelungen dieses Gesetzes anpassen werden, so daß wir nach einer bestimmten Zeit ein übereinstimmendes Archivrecht in Bund und Ländern haben.
Bei dem ebenfalls behandelten Gesetz über die zentrale Archivierung von Unterlagen aus dem Bereich des Kriegsfolgenrechts ging es weniger um inhaltliche Abweichungen als vielmehr um die organisatorische Struktur.
Mich hat bei den früheren Beratungen insbesondere die Verpflichtung für alle Behörden geschreckt, den Archiven jedes Fitzelchen amtliches Papier anzubieten. Seit dem ersten Reichsarchivgesetz im 15. Jahrhundert hat sich die Menge des beschriebenen Papiers ins ungeheure vervielfacht. Wenn das alles in die Archive schwemmt, dann wird das sogenannte „Gedächtnis der Nation" zusammenbrechen. Ein Abgeordneter, der alles liest, was ihm vorgelegt wird,
Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 46. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. Dezember 1987 3227
Dr. Hirsch
hätte keine Zeit mehr, über irgend etwas nachzudenken.
Ich kann die späteren Historiker, die sich durch diese Papierberge hindurchfressen müssen und trotzdem noch die Übersicht behalten und etwas Vernünftiges daraus folgern sollen, nur bedauern.
Ich hoffe daher, daß sich schon nach kurzer Zeit herausstellen wird, daß die Regelungen, die wir hier nun treffen, vernünftiger angewendet werden, als man sie nach ihrem Wortlaut anwenden könnte. In diesem Sinne empfehlen wir diese Gesetze der Vernunft aller Beteiligten. Wir werden ihnen zustimmen.
Das Wort hat der Abgeordnete Wüppesahl.
Wüppesahl (GRÜNE]: Ich denke, Herr Hirsch hat bereits deutlich gemacht, daß dieses Gesetz auch nach der zweiten Lesung noch überarbeitungsbedürftig ist, und zwar nicht nur redaktionell — dafür hat er Beispiele gegeben — , sondern vor allen Dingen auch, was viel gravierender ist, hinsichtlich seiner inhaltlichen Abfassung.
Dazu möchte ich einige Beispiele geben: Wir haben in § 2 Abs. 1 dieses Gesetzes die Formulierung, daß die entsprechenden staatlichen Stellen Unterlagen, die sie zur Erfüllung ihrer öffentlichen Aufgaben nicht mehr benötigen, dem Bundesarchiv bzw. dem zuständigen Landesarchiv überreichen sollen. Das bedeutet: Wenn wir so beschließen, wie es jetzt in der Gesetzesvorlage enthalten ist, schließen wir aus, daß die nichtöffentlichen Teile in die Archive gehen. Und genau diese nichtöffentlichen Teile interessieren uns im besonderen. Denken Sie nur an die Praktiken der Sicherheitsbehörden, daran, was dort alles — und nicht nur vor den GRÜNEN — unter Verschluß gehalten wird. Denken Sie an die Dokumentationen nach dem G-10Gesetz oder nach § 100a StPO. Auch da möchten wir gewährleistet sehen, daß Forschung darüber stattfinden kann.
Zu diesem Bereich ein kurzes Zitat von Professor Podlech aus seiner Stellungnahme während der Anhörung des Innenausschusses:
Datenschutzüberlegungen zum Archivwesen müssen ausgehen von der Funktion öffentlich oder privat unterhaltener Archive als Gedächtnis eines Volkes oder einer Gesellschaft und ihrer Institutionen.
Deshalb einer von sechs Änderungsanträgen unserer Fraktion, daß die Formulierung „öffentlichen Aufgaben" durch die Worte „amtlichen Aufgaben " ersetzt wird. Damit wären dann auch die nichtöffentlichen Teile abgedeckt.
Zweites Beispiel: In § 2 — also im gleichen Paragraphen — Abs. 2 wird formuliert: „Die gesetzgebenden Körperschaften entscheiden in eigener Zuständigkeit, ob Unterlagen anzubieten und zu übergeben sind." Meine Damen und Herren, das kann doch nicht wahr sein! Das ist doch die gleiche Selbstbedienungsmentalität, die in der Öffentlichkeit im materiellen Bereich angeprangert wird, die sich das Parlament hiermit leistet, in diesem Fall lediglich in Form der Eigenprivilegierung: daß wir darüber entscheiden, worüber spätere Generationen von Forschern arbeiten können,
wenn sie über unsere Tätigkeit forschen möchten.
Das ist nichts anderes als Zensur der Archivarbeit. Es darf einfach keine Vorkontrolle hinsichtlich der Gegenstände der Forschung gemacht werden. Deshalb plädieren wir für eine ersatzlose Streichung des Abs. 2 des § 2. Sie sehen, so könnten wir jeden Paragraphen einzeln durchgehen.
Ich möchte abschließend — wir haben leider nur fünf Minuten Zeit — noch ein von seiner Qualität besonders gravierendes Beispiel anführen. In § 5 Abs. 2 wird die Schutzfrist angesprochen. Sie feiern es als Erfolg, daß die Schutzfrist nicht mehr 120 Jahre, sondern 110 Jahre nach der Geburt des Betroffenen endet.
Es gibt nach wie vor kein vernünftiges Argument, das dagegenspricht, die Nutzung des Archivguts bereits 10 Jahre nach Ableben der Person bzw. 90 Jahre nach der Geburt in den Fällen zuzulassen, in denen man das Todesjahr nicht mehr genau ermitteln kann.
Hinsichtlich dieses Bereichs sind natürlich noch viele Details und Facetten von Interesse, z. B., daß die Amtsträger ausgenommen werden müssen. Das korrespondiert praktisch mit § 2 Abs. 2. Weshalb sollen Amtsträger, die in ihrer dienstlichen Eigenschaft — also nicht als Staatsbürger, sondern geschützt durch das Beamtengesetz — irgendwelche Handlungen vornehmen, nicht ebenfalls mit aufgenommen werden? Dafür gibt es aus unserer Sicht keinen vernünftigen Grund. Gleichfalls ist in Frage zu stellen, weshalb die Funktionsträger der NSDAP, der SA und der SS, soweit nicht Betroffene, überhaupt noch einen Schutz genießen sollen. Durch diese Gesetzesabfassung verschieben Sie die Aufarbeitung der NS-Zeit in vielen Einzelfällen um mehrere Jahrzehnte.
Auch unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist es rechtlich möglich, die Schutzfrist bei personenbezogenem Archivgut mit dem Tode des Betroffenen enden zu lassen. Das Gründgens-Urteil steht dem nicht im Wege. Im Gründgens-Urteil hat das Bundesverfassungsgericht nicht gesagt, daß über eine tote Persönlichkeit nichts veröffentlicht oder geforscht werden dürfe oder nur
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Wüppesahl
nach einer bestimmten Zeit, sondern nur, daß dies nicht in diskriminierender Art und Weise erfolgen darf. Das Recht auf informationelle Selbstbestimmung endet mit dem Tod, da die Entfaltungschancen des Betroffenen dann nicht mehr bedroht werden. Der verfassungsrechtliche Datenschutz endet damit also exakt nach dem Tod. An die Stelle des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung können nach dem Tod nur andere, aber schwächere Gesichtspunkte treten.
— Sie wollen den Schutz Ihrer Machenschaften im G10-Ausschuß und in anderen Bereichen haben, Herr Gerster!
Solche über den Tod hinausgeltenden Rechte sind zum Beispiel der soziale Geltungsanspruch der Verwandten des Verstorbenen und die Schutzpflicht des Staates für ein unverfälschtes Andenken des Verstorbenen. Diese Rechte sind aber zweifelsfrei gegenüber dem Grundrecht des Art. 5 auf Forschungsfreiheit in jedem Fall nachrangig.
Ich bedaure, daß wir abbrechen müssen; das rote Licht ist zu sehen und die Glocke ist schon ertönt.
Ich meine, das sind nur drei Beispiele — und recht gut dargestellt—, weshalb es für mich ein Unding ist, wie die SPD-Fraktion einem solchen Gesetz ihre Zustimmung erteilen kann. Ich hoffe auf die Beratungszeit bis zur dritten Lesung, damit wir zumindest einige Verbesserungen hineinbekommen.
Das Wort hat der Herr Parlamentarische Staatssekretär Dr. Waffenschmidt.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Zu Beginn meines kurzen Beitrags danke ich dem Innenausschuß sehr herzlich für die gute Beratung und die gute Zusammenarbeit zwischen dem Ausschuß und der Regierung, die ein gutes Gesetzgebungswerk zustande gebracht haben. Herr Kollege von den GRÜNEN, wir sollten dieses gute Ergebnis nicht durch völlig unbegründete, unsachgerechte Bemerkungen diskreditieren.
Die Besonderheit dieser zu regelnden Rechtsmaterie besteht in der Abwägung zwischen Informations- und Wissenschaftsfreiheit einerseits und dem Persönlichkeitsschutz und Datenschutz andererseits. Dieses rechtliche Neuland ist durch den Gesetzentwurf der Bundesregierung mit den vom Innenausschuß empfohlenen Änderungen sachgerecht geregelt.
Auch ich will ein Beispiel für die abgewogene Lösung dieses Zielkonflikts nennen. Es sind die Entscheidungen, die den Kern der in den Beratungen erarbeiteten Änderungen betreffen. So sollen einerseits künftig alle archivwürdigen Unterlagen des Bundes, auch wenn sie Geheimhaltungsvorschriften des Bundes unterliegen, unverändert dem Bundesarchiv übergeben werden. Das heißt, eine Anonymisierung von Originalunterlagen gibt es nicht mehr. Weiter kann die abgebende Stelle die Übergabe nicht mehr mit dem Einwand verweigern, schutzwürdige Belange Betroffener könnten nicht angemessen berücksichtigt werden. Andererseits wird gleichzeitig durch den neuen § 2 Abs. 4 Satz 2 dem Bundesarchiv bei Unterlagen, die der Geheimhaltung unterliegen, auferlegt, ab der Übergabe ebenso wie die abgebende Stelle die schutzwürdigen Belange Betroffener zu berücksichtigen. Das Bundesarchiv muß insbesondere bei Unterlagen mit personenbezogenen Daten bei Erfüllung seiner Aufgaben all die Vorschriften über die Sicherung dieser Unterlagen beachten, die auch für die abgebende Stelle gelten. Hiermit wurde übrigens — das sage ich ausdrücklich — eine Forderung des Bundesbeauftragten für den Datenschutz erfüllt. Zusätzlich wurde die Schutzfrist für die Nutzung von Unterlagen — das klang schon an; ich betone es noch einmal — für die Unterlagen, die der Geheimhaltung unterliegen, von 60 auf 80 Jahre verlängert.
Ich finde, diese nach intensiven Beratungen gefundenen ausgewogenen Entscheidungen berücksichtigen die wissenschaftlichen und auch die archivfachlichen Belange ebenso wie das Nutzungsrecht des Bürgers, ohne die schutzwürdigen Interessen der Betroffenen und des Staates zu beeinträchtigen.
Zusammengefaßt: Ich finde, das Bundesarchivgesetz kann in der durch die Beratung erarbeiteten Fassung richtungsweisend für die Archivgesetzte der Länder sein. Wir bitten sie, diese Orientierung bei ihren Aufgaben mit aufzunehmen.
Das Bundesarchiv wird damit für seine künftige Arbeit eine gute und praktikable Grundlage erhalten.
Zum Abschluß ein paar Worte zu dem anderen Gesetzentwurf: Die Bundesregierung begrüßt es, daß der Innenausschuß dem Deutschen Bundestag die Annahme des Entwurfs eines Gesetzes über die zentrale Archivierung von Unterlagen aus dem Bereich des Kriegsfolgenrechts empfiehlt. Mit der Annahme dieses Entwurfs bestätigt der Deutsche Bundestag die Bedeutung der Archivierung des Aktenmaterials aus dem Lastenausgleich für die wissenschaftliche Forschung. In diesen Akten sind die gesellschaftlichen, sozialen und kulturellen Verhältnisse in den Ostgebieten des Deutschen Reiches sowie in den ost- und südosteuropäischen Siedlungsgebieten in den Jahrzehnten bis zum Beginn der Vertreibungsmaßnahmen in einzigartiger Weise dokumentiert, desgleichen die Lebensumstände der Deutschen in den Aussiedlungsgebieten.
Meine Damen und Herren, ich finde, wir würden ein großes Versäumnis begehen, wenn wir dies nicht sammeln und für die Zukunft aufbewahren würden. Dies muß der Forschung erhalten bleiben. Der Gesetzentwurf schafft dafür die notwendigen rechtlichen Voraussetzungen.
Ich danke noch einmal für die gute Zusammenarbeit mit dem Parlament und hoffe, daß beide Gesetze eine breite Mehrheit finden werden.
Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 46. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. Dezember 1987 3229
Parl. Staatssekretär Dr. Waffenschmidt
Herzlichen Dank.
Meine Damen und Herren, weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zuerst zur Einzelberatung und Abstimmung über den Entwurf des Bundesarchivgesetzes in der Ausschußfassung mit den dazugehörigen Änderungen, die vorgetragen worden sind.
Ich rufe den § 1 auf. Wer diesem Paragraphen in der Ausschußfassung zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — § 1 in der Ausschußfassung ist angenommen.
Ich rufe § 2 auf. Hierzu liegen auf den Drucksachen 11/1436 und 11/1437 Änderungsanträge der Fraktion DIE GRÜNEN vor. Wer für den Änderungsantrag auf Drucksache 11/1436 stimmt, den bitte ich um ein Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Der Antrag ist abgelehnt.
Wer stimmt für den Änderungsantrag auf Drucksache 11/1437? — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Der Antrag ist abgelehnt.
Wer für den § 2 in der Ausschußfassung stimmt, den bitte ich um ein Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Der § 2 in der Ausschußfassung ist angenommen.
Ich rufe die §§ 3 und 4 auf. Wer den aufgerufenen Vorschriften zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Die §§ 3 und 4 sind angenommen.
Ich rufe den § 5 auf. Hierzu liegen auf den Drucksachen 11/1438 bis 11/1440 Änderungsanträge der Fraktion DIE GRÜNEN vor. Können wir über die Anträge zusammen abstimmen, Frau Schoppe?
Wer den Anträgen auf den Drucksachen 11/1438 bis 11/1440 zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Die Anträge sind abgelehnt.
Wer dem § 5 in der Ausschußfassung zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — § 5 in der Ausschußfassung ist angenommen.
Ich rufe die §§ 6 bis 13, Einleitung und Überschrift in der Ausschußfassung mit den vom Berichterstatter vorgetragenen Ergänzungen auf. Wer den aufgerufenen Vorschriften zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Die aufgerufenen Vorschriften sind bei Gegenstimmen der GRÜNEN angenommen.
Wir treten in die
dritte Beratung
ein und kommen zur Schlußabstimmung. Wer dem
Gesetzentwurf als Ganzem zuzustimmen wünscht,
den bitte ich, sich zu erheben. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Dann ist der Gesetzentwurf bei Gegenstimmen der GRÜNEN angenommen.
Wir kommen jetzt zur Einzelberatung und Abstimmung über den Entwurf eines Gesetzes über die zentrale Archivierung von Unterlagen aus dem Bereich des Kriegsfolgenrechts. Der Ausschuß empfiehlt, diesen Gesetzentwurf unverändert anzunehmen.
Ich rufe die §§ 1 bis 4, Einleitung und Überschrift auf. Wer dem zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Der Gesetzentwurf ist bei Gegenstimmen der GRÜNEN angenommen. Wir treten in die
dritte Beratung
ein und kommen zur Schlußabstimmung. Wer dem Gesetzentwurf als Ganzem zuzustimmen wünscht, den bitte ich, sich zu erheben. — Gegenprobe! — Enthaltungen? —
Bei Gegenstimmen der GRÜNEN ist der Gesetzentwurf angenommen.
Meine Damen und Herren, ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 4 auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Benzinbleigesetzes
— Drucksache 11/1005 —
Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
— Drucksache 11/1341 —
Berichterstatter:
Abgeordnete Schmidbauer Frau Dr. Hartenstein
Dr. Knabe
Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat sind für die Beratung 30 Minuten vorgesehen. Stimmen Sie zu? — Das ist der Fall. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Herr Kollege Schmidbauer.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Die Koalitionsfraktionen CDU/CSU und FDP haben gemeinsam mit der Bundesregierung Schritt für Schritt eine nationale und europaweite Luftreinhaltepolitik durchgesetzt. Wer die Schadstoffbelastung unserer Luft kennt, weiß, wie notwendig eine solche Politik war und ist.
Einer unserer Schwerpunkte mußte es sein, die Verkehrsemissionen zu reduzieren. Denn sie haben bei der Luftbelastung einen überaus großen Anteil.
Beispiele: 1984 betrugen die Emissionen der Kohlenwasserstoffe insgesamt 1,8 Millionen t pro Jahr, davon im Verkehrsbereich 830 000 t. Die Stickoxidemissionen betrugen zum damaligen Zeitpunkt 3 Millionen t im Jahr, davon im Verkehrsbereich
3230 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 46. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. Dezember 1987
Schmidbauer
1,75 Millionen t; das ist also ein erheblicher Anteil. Jährlich werden 3 600 t Blei aus dem Auspuff geblasen. Deshalb mußten alle unsere Maßnahmen darauf abzielen, diese Emissionen drastisch zu reduzieren, und zwar, wie ich sagte, nicht nur national, sondern EG-weit.
Dies war — das wissen alle, die sich damit beschäftigt haben — in den vergangenen Jahren nicht immer sehr einfach. Viele Widerstände mußten überwunden werden. Jeder, der sich mit der Materie intensiv beschäftigt hat, weiß, daß wir wiederum ein gutes Stück vorangekommen sind. Heute können wir feststellen: Wir haben das schadstoffarme Auto und das unverbleite Benzin im Grundsatz EG-weit durchgesetzt. Dies hat sich gerade heute wieder in Brüssel bestätigt.
— Herr Kollege Schäfer, Sie werden es vielleicht morgen aus der Zeitung entnehmen —,
wo sich die Minister geeinigt haben, auch im wichtigen Bereich der Mittelklassewagen. Ich denke, dies ist schon eine gute Bilanz, auch in der bekannten Situation, wo wir denken, das geht nicht so schnell. Ich finde aber, das war wieder ein ganz gewaltiges Stück nach vorne.
Die Bilanz des Jahres 1987 sieht folgendermaßen aus: über 3,6 Millionen schadstoffreduzierter Personenwagen im Verkehr, davon über 3,3 Millionen schadstoffarm, über 1,6 Millionen mit Katalysator und über 900 000 mit einem geregelten Katalysator.
Wir haben uns — das ist auch deutlich geworden — im nächsten Jahr zu dem weiteren Schritt EG-weit verpflichtet, für alle Fahrzeuge über zwei Liter europaweit einen Dreiwegekatalysator einzubauen.
Wir haben in der Bundesrepublik Deutschland ein flächendeckendes Netz an Tankstellen mit bleifreiem Benzin, insgesamt 14 500, und zwar in beiden Qualitäten: Normal- und Superbenzin. Unsere Autofahrer nehmen dieses Angebot immer stärker wahr. Heute liegt bereits der Anteil an bleifreiem Benzin bei ca. 30 %.
Der EG-Umweltministerrat hat am 21. Juli 1987 den Richtlinienvorschlag der EG-Kommission für die Herausnahme von bleihaltigem Normalbenzin aus dem Markt beschlossen. Dies war auch eine Initiative der Bundesrepublik Deutschland. Unmittelbar danach haben wir unser neues Benzinbleigesetz auf den Weg gebracht. Dieses Gesetz, das heute verabschiedet wird, bedeutet, daß ab 1. Februar 1988 das verbleite Normalbenzin verboten wird; d. h., wir haben nur noch das unverbleite Normalbenzin am Markt.
Dies hat zur Folge, daß das Tankstellennetz weiter ausgebaut wird. Diese Maßnahme ist aber gleichzeitig ein Signal für unsere Partner in der Europäischen Gemeinschaft und darüber hinaus, auch dort das Tankstellennetz entsprechend flächendeckend aufzubauen.
Während der Beratungen im Ausschuß haben wir einige Punkte geändert, dies vor allem im Bereich der
Zulassung neuer Zusatzstoffe. Wir wollten, daß es nicht zu neuen Problemen kommt. Wir wollten nicht, daß ein Zusatzstoff herausgenommen wird und ein anderer vielleicht hineinkommt. Wir wollten Hürden aufbauen für die Zulassung solcher neuer Zusatzstoffe. Wir haben deshalb das Einvernehmen mehrerer Behörden wie z. B. des Umweltbundesamts und des Bundesgesundheitsamts vorgesehen, damit sichergestellt wird, daß die Belange des Umweltschutzes sowie der Gesundheit ausreichend Berücksichtigung finden.
Ich habe bereits bei der Einbringung des Gesetzes gesagt, daß es keine Befürchtungen geben wird, daß das Verbot verbleiten Normalbenzin zu Härten führt. Das zu meinen, ist sicher nicht gerechtfertigt. Die Mehrzahl der Fahrzeuge, die mit Normalbenzin betrieben werden, vertragen auch das unverbleite Benzin. Ich habe damals gesagt: Es gibt Schätzungen, daß zwischen einer und drei Millionen Fahrzeuge nicht Normalbenzin tanken können und deshalb auf das verbleite Superbenzin ausweichen müssen. Dies aber kann im Intervalltanken geschehen, und dies bedeutet, daß es unter dem Strich finanziell keine negativen Auswirkungen haben wird.
Wir wollen — damit komme ich zum Schluß — einen europaweit normierten bleifreien Kraftstoff, der verhindert, daß in der Zukunft Schadstoffpartikel in dieser Fülle ausgestoßen werden. Dieses Gesetz, das wir heute verabschieden, ist ein weiterer Schritt zu diesem Ziel, europaweit bleifreies Benzin einzuführen.
Herzlichen Dank.
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Dr. Hartenstein.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Am 5. November dieses Jahres wurde der Gesetzentwurf zur Änderung des Benzinbleigesetzes hier in erster Lesung beraten; heute, am 3. Dezember dieses Jahres, kann das Gesetz bereits in zweiter und dritter Lesung verabschiedet werden. Meine Damen und Herren, allein diese Tatsache zeigt, daß wir alle an einem Strang gezogen haben, sonst wäre dies nicht möglich gewesen.
Das Verbot bleihaltigen Normalbenzins ab 1. Februar nächsten Jahres ist eine notwendige Maßnahme. Es ist eine längst fällige Maßnahme. Es ist eine Maßnahme, die in die richtige Richtung führt. Weil die SPD-Fraktion von der umweltpolitischen Notwendigkeit dieses Verbots überzeugt war, haben wir dies schon seit zwei Jahren gefordert. Heute ist es soweit.
Wir haben also Anlaß, auf diesen gemeinsamen Erfolg ein Glas Sekt zu trinken, aber wir haben keinen Anlaß, daraus gleich ein üppiges Festival zu machen; denn im Grund ist dieser Schritt doch nur ein Schrittchen. Die Riesenaufgabe der Abgasentgiftung im Kraftfahrzeugbereich, liebe Kolleginnen und Kolle-
Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 46. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. Dezember 1987 3231
Frau Dr. Hartenstein
gen, ist damit noch lange nicht gelöst. Machen wir uns nichts vor!
Die Bundesregierung bewegt sich bei der Durchsetzung des umweltfreundlichen Autos weiterhin nur im Schneckentempo voran, während sie für 25 Millionen DM nicht entgifteter, luftverpestender Kraftahrzeuge immer noch Hochgeschwindigkeiten zuläßt. Das ist bedauerlich.
Lieber Kollege Schmidbauer, es gibt einen dummen Spruch, der lautet: „Mein Auto fährt auch ohne Wald. " Erfreulicherweise ist dies nicht die Mehrheitsmeinung der Bevölkerung.
Dennoch muß festgestellt werden, daß das Rasen auf der Autobahn wieder an der Tagesordnung ist, und dagegen sollte dringend etwas getan werden.
Das Katalysatorkonzept, meine Damen und Herren, verdient den Namen Konzept nicht, denn es hat nicht gegriffen. Bis heute sind erst knappe 3 % der zugelassenen Pkw mit geregeltem Dreiwegekatalysator ausgestattet — eine Folge der Pleite von Luxemburg, die sich der damalige Umweltminister Zimmermann eingehandelt hat. Diese Pleite hinterläßt immer noch tiefe Schleifspuren.
Es fehlt immer noch — wir werden nicht nachlassen, darauf zu drängen — ein Schadstoffminderungskonzept für Nutzfahrzeuge, also für Lkw und für Busse. Wir haben gestern bei einer Anhörung im Umweltausschuß gehört, daß 460 000 Tonnen Schadstoffe jährlich allein von den Lastkraftwagen ausgestoßen werden.
Das ist mehr als ein Viertel der gesamten Abgasgifte aus dem Straßenverkehr.
— Nein. — Es fehlt weiter ein Umrüstungskonzept für Altfahrzeuge. 1984 hatte die baden-württembergische Landesregierung uns vorgerechnet, daß durch die — damals! — erwartete Umrüstung von 7 Millionen Altwagen mehr Stickoxide eingespart würden als mit einem Tempolimit. Meine Damen und Herren von der Koalition, ich frage Sie: Wo sind denn die 7 Millionen umgerüsteter Altwagen? Wir stehen heute bei bescheidenen 600 000 Stück, nicht bei 3,3 Millionen,
wie Sie gesagt haben. Der Rest ist nämlich nur „umgeschrieben" , wie wir hier schon öfter betont haben.
Es fehlt schließlich auch an der nötigen Aufklärung. Das muß man der Bundesregierung ins Stammbuch schreiben. Sie haben es versäumt, eine breitgestreute und allgemein verständliche Werbung für das schadstoffarme Auto zu machen. Hier besteht enormer Nachholbedarf.
Interessanterweise bietet jetzt der „Schwarzwälder Bote" eine Telefonaktion an, für die er zwei Experten vom TÜV und vom ADAC engagiert hat, die über KatNachrüstung, über Kfz-Steuerbefreiung und über die Verwendung bleifreien Benzins informieren. Ihre Informationsbroschüren — da möchte ich Herrn Staatssekretär Grüner ganz besonders ansprechen — sind leider nicht bürgerfreundlich; sie können es auch nicht sein, weil nämlich das System viel zu kompliziert ist, das Sie da vor zwei Jahren ausgeknobelt haben. Man bräuchte eigentlich für jede Werkstatt einen KatBerater, liebe Kolleginnen und Kollegen, genauso wie man heute einen Steuerberater braucht.
Zum gleichen Zeitpunkt übrigens, an dem das Verbot bleihaltigen Normalbenzins einen Push für das umweltfreundliche Auto bringen könnte, bauen Sie leider die Steueranreize für die Schadstoffreduzierung schon wieder gewaltig ab, nämlich ab Jahresende 1987. Die Tabelle in Ihrer eigenen Broschüre beweist dies ja.
Auch die Steuerspreizung zugunsten des bleifreien Benzins ist schon ab 1. April 1987 wieder eingeengt worden und wird weiter eingeengt werden. Wir vermögen darin keine umweltpolitische Konsequenz zu erkennen.
Dennoch, lieber Kollege Schmidbauer, sind wir der Auffassung, daß der jetzt zu beschließende Schritt richtig ist. Wir stimmen deshalb dem Gesetz zu. Aber weitere Schritte müssen folgen, und zwar rasch. Wir ziehen mit, meine Damen und Herren, wenn Sie bei der Luftreinhaltepolitik Vollgas geben, nicht aber auf der Autobahn. — Danke schön.
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Dr. Segall.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren!
In zweiter und dritter Lesung beschäftigen wir uns heute mit dem Benzinbleigesetz, durch das verbleites Normalbenzin verboten wird.
Zu diesem Verbot gibt es keinen Diskussionsbedarf mehr, meine ich jedenfalls. Mir ist aufgefallen, daß die Kollegin Hartenstein trotz großer Mühe bereits in der ersten Lesung nichts Negatives am Verbot verbleiten Normalbenzins finden konnte. Und wenn die Damen und Herren von der Opposition uns in dieser Angelegenheit den Vorwurf machen, das Verbot werde zu spät realisiert, so ist dies ein völlig vordergründiges Argument, weil sich der Zeitpunkt des Verbotes insbesondere wegen der komplizierten rechtlichen Einbindung auf EG-Ebene verzögerte.
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Frau Dr. Segall
Da es also zum Verbot des verbleiten Normalbenzins nichts Neues zu sagen gibt, möchte ich dieses Gesetz zum Anlaß nehmen, der Öffentlichkeit die Vorhaben näherzubringen, die in Zukunft im Bereich der durch Kraftstoffe verursachten Emissionen Verbesserungen bringen werden.
Um auf EG-Ebene zu beginnen, möchte ich erwähnen, daß die Reduzierung von Schadstoffen aus Kraftfahrzeugen u. a. durch eine Änderung der Straßenverkehrszulassungsordnung realisiert werden wird. So beabsichtigt die Bundesregierung die Umsetzung der EG-Richtlinien zur Herabsetzung des Schwefelgehalts im leichten Heizöl und im Dieselkraftstoff. Ab 1. Oktober 1988 wird für Dieselkraftfahrzeuge ein Grenzwert eingeführt, der den US-Anforderungen entspricht, und auch bei den Nutzfahrzeugen wird sich einiges ändern. Eine Schadstoffminderung für Lkw und eine spätere Verschärfung der Grenzwerte für gasförmige Schadstoffe und Partikelemissionen sowie die Prüfung steuerlicher Förderung für schadstoffarme Lkw und die Einführung von Rußfiltern bei Stadtlinienbussen sind hier zu nennen.
Konkret zum Benzinbleigesetz möchte ich noch einmal von dieser Stelle aus der Bevölkerung die Angst nehmen, daß sich der Anteil schädlicher Komponenten des Benzins, insbesondere des Benzols, bei bleifreiem Normalbenzin erhöhen wird. Während verbleites Superbenzin einen durchschnittlichen Benzolgehalt von 2,9 Volumenprozent hat, hat demgegenüber bleifreies Superbenzin nur einen durchschnittlichen Benzolgehalt von 2,25 Volumenprozent. Wichtiger ist es aber, darauf hinzuweisen, daß lediglich 2 % der Benzolemissionen an den Tankstellen beim Betanken in die Atmosphäre gelangen. Auch hier wird die Bundesregierung nicht untätig bleiben; denn das BMU beabsichtigt, ein verbessertes Betankungssystem für die Rückhaltung von Kraftstoffdämpfen einzuführen.
Meine Damen und Herren, so wie wir beim Benzinbleigesetz eine effektive Maßnahme schnellstmöglich eingeführt haben, so werden wir im Bereich der erläuterten Reduzierungsvorhaben von Schadstoffen aus Kraftfahrzeugen verfahren. Wenn schon nicht die Opposition, so wird es uns doch die Umwelt danken.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Knabe.
Der lange Abschied vom Blei im Benzin! Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Insbesondere meine Herren, fünf Abgeordnete der CDU/CSU.
Ade sagen wir heute, „Ade, geliebtes Blei", das unsere Automotoren kraftvoll schlagen ließ und das von den Technikfans gefürchtete Klopfen verhinderte.
Nun ja, es ist nur ein halbes Ade, im Super können wir
es ja noch fahren. Manche Autos gieren danach, weil
ihre Konstrukteure das Gift mit eingeplant hatten —
als selbstverständliche Zugabe gegen den Verschleiß der Ventile.
Damit wir uns nicht mißverstehen: Das ist eine lange Geschichte. 1923 hat man es wohl erstmals dem Kraftstoff beigemischt. Dann experimentierte man lange herum, wie man die Klopffestigkeit des Benzins erhöhen könne. „Klopffestigkeit", wie hört sich das an! Da steckt Power dahinter. Wenn sich der Zündfunke im hochkomprimierten Gas-Luft-Gemisch entlädt, wird der Schlag kräftiger, die Umdrehung schneller, das Auto rast über die Bahn,
und kein Klingeln stört mehr, wie es bei minderen Kraftstoffsorten durch Selbstzündung des Gemisches entsteht. Bleitetraäthyl war das Billigste, und so fiel im Mai 1939 schon im Vorgriff auf den kommenden Krieg die Entscheidung, es dem Kraftstoff überall zuzusetzen. Die deutschen Autos sollten rollen für den Sieg. Und auch wenn das nicht gelang, das Blei blieb.
Natürlich wußte man, daß Blei gesundheitsschädlich war, aber man verdrängte diese Erkenntnis. Immerhin, in den 50er Jahren gab es schon einen Ansatz, mit Zweitaktern bleifrei zu fahren, und Aral lockte sogar Viertakter mit dieser Aussicht. Nur, Benzol als Ersatz war nicht haltbar, nachdem man erkannt hatte, daß es Krebs auslösen könne.
Und nun begann ein zäher Kampf: 0,42 g pro Liter bis 1973, dann 0,3 g und schließlich ab 1976 0,15 g pro Liter. Jetzt wollen die Väter des Gesetzes in die schwindelnde Tiefe von 0,013 g pro Liter hinabsteigen. So viel Mut hätte man der Koalition wirklich nicht zugetraut! Aber man darf sie nicht unterschätzen; es sind schon tolle Burschen. — Oh, Verzeihung, es sind ja auch Frauen dabei, vor denen ich alle Hochachtung empfinde.
Ja, vor so viel Wagemut können die GRÜNEN nicht zurückstehen. Schließlich haben wir ja schon vor drei Jahren den Antrag eingebracht, verbleites Normalbenzin zu verbieten. Aber was zählt ein läppischer Antrag unqualifizierter Grüner in diesem Hause! Den mußte man ja ablehnen, selbstverständlich, um ihn dann drei Jahre später aus der eigenen Tasche herausholen zu können.
Weniger Blei ist gut, aber wir fordern klar von der Bundesregierung, daß sie sich damit nicht begnügt. Wir müssen auch das verbleite Super abschaffen. Tag für Tag atmen noch Millionen Autofahrer die bleihaltigen Abgasfahnen der vor ihnen Fahrenden ein, und die Nichtautofahrer in den Städten, die Pflanzen und Tiere müssen das Blei mitschlucken. Nein, es ist gut, daß es weniger wird, auch wenn es drei Jahre zu spät kommt.
Die GRÜNEN sagen ja, eindeutig ja. So werden wir das denkwürdige Ereignis erleben, daß alle Parteien einem Gesetzentwurf der Regierung zustimmen. Unwahrscheinlich dieser Sieg, so viel geballte Vernunft in diesem Saal versammelt!
Doch noch eins. Bleifreies Benzin ist nur die Voraussetzung für einen Dreiwegekatalysator, der Stickoxide und Kohlenwasserstoffe drastisch reduziert. Bleifreies Benzin ist nur die Vorstufe für eine Minderung der Waldschäden. Wir lassen deshalb mit unse-
Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 46. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. Dezember 1987 3233
Dr. Knabe
rer Forderung nicht nach, den Dreiwegekatalysator zwingend einzuführen, im nächsten Jahr jedenfalls die finanzielle Förderung durch Steuererleichterung weiterlaufen zu lassen, aber nur für Fahrzeuge, die der US-Norm genügen.
Danach folgt die Forderung eines neuen Verkehrskonzeptes, das Fußgängern und Radfahrern Priorität gibt in den Städten und der Bahn auf der Strecke. Wir brauchen Städte und Gemeinden — hört mal zu —, wo man sich wohlfühlt und trotzdem Arbeit findet. Dann würden die Straßen und die Luft entlastet, und es wäre weniger Lärm zu hören.
Ich wiederhole den Ausspruch des Altvaters der Verkehrswissenschaften: Der beste Verkehr ist der, der gar nicht erst entsteht.
Ich danke Ihnen.
Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär beim Bundesminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Wir stehen heute vor einem weiteren wesentlichen Schritt zur breiten Durchsetzung bleifreien Benzins, und ich mache gar kein Hehl daraus, daß ich mich über diese Stunde freue. Ich möchte auch feststellen, daß dieses Ziel vom ganzen Deutschen Bundestag angestrebt worden ist. Alle Fraktionen dieses Hauses haben das unterstützt. Wir haben es jetzt durchgesetzt.
Es war ein schwieriger Weg. Alle wissen, daß wir eben in der Europäischen Gemeinschaft einen sehr, sehr schwierigen Kampf durchgestanden haben und daß schon bei den Luxemburger Verhandlungen, bei dem Luxemburger Kompromiß die Bundesregierung vorgeschlagen hatte, das Drei-Säulen-Konzept einzuführen, um bleihaltiges Benzin herausnehmen zu können. Das ist uns damals nicht gelungen. Jetzt ist erreicht worden, daß bleihaltiges Normalbenzin aus dem Markt genommen werden kann. Aber ich füge auch hinzu, damit wir uns keine Illusionen machen: Alle anderen Mitgliedstaaten sind der Meinung, daß sie in ihrem Bereich diesen Schritt nicht nachvollziehen sollten und könnten.
Wichtig ist allerdings, daß sich die Europäische Gemeinschaft im Luxemburger Kompromiß verpflichtet hat, daß auch in den anderen Mitgliedstaaten bleifreies Benzin angeboten wird, und zwar so, daß ab 1989 für die Autofahrer eine Möglichkeit zum Tanken besteht, nicht flächendeckend, aber immerhin mit Schwerpunkten. Ich meine, daß wir alles daransetzen sollten, daß diese Zielsetzung in den übrigen Mitgliedstaaten vorab erfüllt wird.
Es ist in diesem Zusammenhang daran zu erinnern, daß der Rat in seinem Beschluß vom 9. März 1987 bei der Verabschiedung der Richtlinie zum Ausdruck gebracht hat: Ernsthafte Schädigungen der Umwelt und der menschlichen Gesundheit sind beobachtet und dem Blei zugeschrieben worden, wobei verbleites Benzin eine der Hauptquellen dieser Verschmutzung darstellt. Deshalb muß den Mitgliedstaaten die Ermächtigung gegeben werden, die Vermarktung von bleifreiem Normalbenzin zu verbieten. — Wenn wir diesen Grundgedanken aufgreifen und ihn auch in den anderen Mitgliedstaaten stärker propagieren, dann muß es doch möglich sein, die Verbreitung von bleifreiem Benzin zu erreichen.
Ich halte das deshalb für wichtig, weil wir alle wissen, daß die Durchsetzung des Katalysatorautos, das auf bleifreies Benzin angewiesen ist, auch deshalb auf Schwierigkeiten stößt, weil viele Autofahrer nicht ohne Grund sagen: Ich habe mit meinem Auto nicht die uneingeschränkte Möglichkeit, etwa in Spanien, in Italien oder in Frankreich zu fahren. Einer der Gründe, warum wir mit dem Katalysatorauto zwar gute Erfolge erreichen, aber doch nicht eine Bilanz vorlegen können, die uns voll befriedigt, hängt mit diesen Hemmnissen bei der Benutzung eines Katalysatorautos in unseren Nachbarstaaten zusammen.
Trotzdem hätte selbst bei optimistischer Einschätzung wohl niemand mit den Ergebnissen gerechnet, die wir in kürzester Zeit sowohl national als auch auf europäischer Ebene erreicht haben. Bei uns in der Bundesrepublik Deutschland bieten etwa 16 500 Stationen — das sind über 80 % des gesamten Tankstellennetzes — inzwischen bleifreies Benzin an. 13 000 Tankstellen bieten auch bleifreies Superbenzin an.
Ich möchte darauf hinweisen, daß die Information der Mitbürger auch in Zukunft eine zentrale Bedeutung hat.
Frau Dr. Hartenstein, Sie haben recht, daß wir komplizierte Regelungen haben, die allerdings ganz einfach werden, wenn die Informationen konkret für das einzelne Fahrzeug gegeben wird.
Was uns auch fehlt, ist — das möchte ich hinzufügen — , daß auf der kommunalen Ebene, auf der örtlichen Ebene dafür geworben wird, daß schadstoffarm getankt wird und daß schadstoffarme Fahrzeuge gefahren werden. Wir müssen sehr viel mehr in den Mittelpunkt stellen, daß gerade in unseren Innenstädten die Luftverbesserung durch schadstoffarmes Tanken ein entscheidender Faktor ist. Ich freue mich über die Aktivität des „Schwarzwälder Boten", den Sie hier zitiert haben. Ich freue mich auch über die Aktivität der Landeshauptstadt Stuttgart, die in einer großen Werbeaktion auf diese Zusammenhänge aufmerksam gemacht hat.
Der vorliegende Entwurf zur Änderung des Benzinbleigesetzes soll außerdem die Zulassung von Benzinadditiven erleichtern. Denn bestimmte Benzinzusätze sind in der Lage, das Blei in seiner ventilschützenden Funktion zu ersetzen. Ich unterstreiche, was Herr Kollege Schmidbauer hier gesagt hat, daß wir natürlich nicht Additive haben wollen, die andere Nachteile haben. Aber in diesen Additiven liegt eine zusätzliche Chance, mit schadstoffarmen Benzin voranzukommen.
3234 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 46. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. Dezember 1987
Parl. Staatssekretär Grüner
Generell werden wir unsere Politik fortsetzen, auch EG-weit harmonisierte Umweltstandards auf hohem Niveau durchzusetzen. Der heutige Beschluß, Frau Kollegin Hartenstein, im Umweltrat, bei schweren Nutzfahrzeugen eine Reduzierung der NOX um 20 und der Kohlenwasserstoffe um 30 % vorzusehen, ist auch ein Zeichen dafür, daß wir vorankommen. Das sind Werte, die ab 1988 für neue Lastkraftwagen gelten sollen. Ab 1990 für alle, wobei die deutsche Automobilindustrie die Einhaltung dieser Werte ab sofort zugesagt hat.
Ich meine also, daß es richtig ist, auch die Fortschritte, die wir in der Europäischen Gemeinschaft gemacht haben, anzuerkennen, und daß wir uns gegenseitig bestätigen sollten, daß es der Anstrengungen aller bedarf, auf diesem Wege fortzuschreiten.
Ich füge hinzu, daß uns Steuervergünstigungen außerordentlich geholfen haben, diesen Fortschritt beim bleifreien Bezin hier in der Bundesrepublik zu erreichen, und daß es auch in Zukunft wichtig sein wird, Differenzen im Preis zwischen bleifreiem und bleihaltigem Benzin zu haben. Wir sollten uns als Energiepolitiker allerdings darüber einig sein, daß dies nicht die Stunde ist, wo etwa durch Ermäßigung des Preises über Steuern ein zusätzlicher Anreiz zum Mehrverbrauch gegeben werden sollte. Auch darüber sollte man nachdenken, wenn man über eine künftige weitere Spreizung der Preise von bleihaltigem Benzin und bleifreiem Benzin nachdenkt. Energieeinsparung auch in diesem Bereich bleibt das Gebot der Stunde. Der Preis spielt dabei eine entscheidende Rolle, wie wir alle wissen.
Zu der Zeit, Herr Kollege, als Sie eine Zwischenfrage stellen wollten, war die Redezeit schon abgelaufen.
Ich war bloß in der Verlegenheit, daß vor mir ein Mitglied der Regierung stand und ich dem so schlecht das Wort entziehen kann.
Meine Damen und Herren, wir sind am Ende dieser Aussprache. Ich schließe diese.
Wir kommen jetzt zur Einzelberatung und Abstimmung. Ich rufe die §§ 1 bis 3, Einleitung und Überschrift in der Ausschußfassung auf. Wer den aufgerufenen Vorschriften zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Dann sind die aufgerufenen Vorschriften einstimmig angenommen worden.
Wir treten in die
dritte Beratung
ein und kommen zur Schlußabstimmung.
Wer dem Gesetzentwurf als Ganzem zuzustimmen wünscht, den bitte ich, sich zu erheben. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Das ist nicht der Fall. Dann ist der Gesetzentwurf einstimmig angenommen worden.
Ich rufe nun den Punkt 20 der Tagesordnung auf:
a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Elften Gesetzes zur Änderung des Bundesausbildungsförderungsgesetzes
— Drucksache 11/1315 —
Überweisungsvorschlag des Ältestenrates:
Ausschuß für Bildung und Wissenschaft Ausschuß für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit Haushaltsausschuß mitberatend und gemäß § 96 GO
b) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung Siebter Bericht nach § 35 des Bundesausbildungsförderungsgesetzes zur Oberprüfung der Bedarfssätze, Freibeträge sowie Vomhundertsätze und Höchstbeträge nach § 21 Abs. 2
— Drucksache 11/877 —
Überweisungsvorschlag des Ältestenrates:
Ausschuß für Bildung und Wissenschaft Ausschuß für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit Haushaltsausschuß
Meine Damen und Herren, nach einer Vereinbarung im Ältestenrat sind für die gemeinsame Beratung dieses Tagesordnungspunktes 30 Minuten vorgesehen. — Ich sehe dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. — Keine Einbringungsrede, Herr Minister? — Dann kommt als erster der Abgeordnete von Waldburg-Zeil an die Reihe.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Ein unpassende Bemerkung vorweg: Die Finanzminister der Länder, sparsam und tüchtig, hätten die elfte BAföG-Anpassung, von der wir hier reden, gerne um ein Jahr verschoben. Der Bundesrat hat sich, inspiriert von den Kultusministern der Länder, dieser Auffassung nicht angeschlossen, und ich begrüße dies.
Leistungsgesetze, deren realer Wert erhalten werden und deren Gefördertenquote konstant bleiben soll, bedürfen der Stetigkeit, der Verläßlichkeit und der Pünktlichkeit.
Dies ist der Kern der Novelle: Anhebung der Bedarfssätze für Schüler und Studenten um 2 %, Anhebung der Elternfreibeträge für 1988 und 1989 um je 3 %. Dazu kommen Vereinfachungen beim Darlehenserlaß und die Gleichstellung der verbleibensberechtigten EG-Ausländer.
Damit könnte ich im Grunde bereits schließen und auf die parlamentarische Tradition verzichten, selbst kleine Gerichte als kulinarische Köstlichkeiten auszugeben oder vorweg den Oppositionsversuch zu verdammen, die Suppe vor lauter Haaren nicht mehr zu sehen.
Ich möchte nur ganz kurz zumindest versuchen, etwas Gemeinsamkeit zu fixieren, einige Probleme zu beschreiben und — das sollten wir vielleicht öfter machen — die Lösungswege so darzustellen, daß sie nicht konfrontativ sind; denn ich glaube, daß wir uns
Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 46. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. Dezember 1987 3235
Graf von Waldburg-Zeil
hier oft gemeinsam um Wege bemühen, um ein Problem lösen zu können.
Wir alle sind uns einig, daß Bildung eine der wichtigsten Voraussetzungen nicht nur für ein erfolgreiches Berufsleben, sondern für ein selbstverantwortetes und erfülltes Leben schlechthin darstellt.
Zu dieser Investition muß deshalb jeder Zugang haben, völlig unabhängig vom Einkommen des Elternhauses.
Die Ausbildungsförderung, mit Schwerpunkt im Hochschulbereich deshalb, weil durch den fast immer notwendigen Wegzug aus dem Elternhaus hohe Kosten der Haushaltsführung der Studierenden entstehen, ohne daß es eine Ausbildungsvergütung gibt, die dem gegenübersteht, löst derzeit das Problem durch einen zinslosen und sozial abgesicherten Vorgriff auf künftiges eigenes Einkommen.
Ich lasse nun die Fragen außer Ansatz, inwieweit auch schon beim zu Hause wohnenden Schüler wieder etwas geleistet werden sollte, ob Zuschuß eine bessere Lösung darstellen würde als Darlehen beim Studierenden
und ob höhere Bedarfssätze angebracht wären; denn darüber haben wir schon oft diskutiert. Auffassungsunterschiede liegen hier weniger im Prinzipiellen als in der Frage der Finanzierbarkeit, der Prioritätssetzung unter den Bedingungen beengter Staatsfinanzen. Ich stelle die Frage, die ins Herz der Übereinstimmung, in die Garantie der Chancengleichheit zielt: Gibt es oberhalb der Bedürftigkeitsgrenze Situationen, bei denen bei mehreren studierfähigen und -willigen Kindern ein mittleres Einkommen nicht ausreicht, die Finanzierung aus versteuertem Elterneinkommen zu leisten?
Die Bundesregierung hat im sogenannten Mittelstandslochbericht — lassen Sie es mich so sagen — die besorgte Frage des Parlaments bejaht. Sie hat auch Lösungsmodelle vorgestellt, von denen eines, das Ausbildungsdarlehensmodell, den Vorteil besitzt, Spitzenbelastungen zu entzerren, bei — im Verhältnis der Zahl von entlasteten Studierenden — verschwindend geringen Kosten. Wir sollten rasch die damit verbundenen Einzelprobleme diskutieren und dann Nägel mit Köpfen machen, eben nicht dadurch, daß ein weiteres Drittel der Studenten für hilfsbedürftig erklärt wird, sondern durch einen Ansatz ganz eigener Art.
Ein weiteres Thema wird uns ebenfalls bald beschäftigen: Welche Auswirkungen wird die Schwerpunktverschiebung von Erstausbildung zu Weiterbildung auf die Ausbildungsförderung haben? Das ist eine der Fragen, die eine Bildungsenquete durch den Bundestag rechtfertigt. Ich freue mich, daß inzwischen Kompetenzmißverständnisse mit den Ländern ausgeräumt scheinen, und ich glaube, daß hierfür all denjenigen Dank gebührt, die sich als Berichterstatter darum bemüht haben, insbesondere Herrn Kollegen
Kuhlwein, Herrn Daweke, Herrn Neuhausen und Frau Hillerich.
— Ich habe ihn genannt.
Schließlich lugt ein Problem bereits hinter den Wolken der 11. Novelle hervor: die Internationalisierung von Chancengleichheitsproblemen. Wir werden uns stärker als bisher nicht nur auf die Angleichungen in der EG, sondern auf weltweite bildungspolitische Gesamtzusammenhänge einzustellen haben.
Herr Präsident, meine sehr verehrten Damen und Herren, wir haben in unserem Ausschuß immer ein sehr gutes und angenehmes Klima. Ich wollte im gleichen Geiste vortragen. Ich glaube, das darf man auch im Plenum tun.
Herzlichen Dank.
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Odendahl.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir hätten ja eigentlich erwartet, daß ein Gesetzentwurf und ein Bericht, den die Regierung verfaßt hat, auch von der Regierung vorgetragen wird. Aber bitte, das ist eine Stilfrage.
An Regierungsberichten zum BAföG gibt es in der Tat keinen Mangel. Dies ist schon der zweite Bericht, den wir in diesem Jahr diskutieren. die Beamten haben auch sehr sorgfältige Arbeit geleistet. Man muß anerkennen, daß die Berichte — sowohl der Siebte Bericht nach § 35 BAföG wie auch der Bericht zur Ausbildungsfinanzierung für Familien mit mittlerem Einkommen — den schlechten Zustand des BAföG nicht verschleiern.
Das Problem aber ist, daß die Bundesregierung und der zuständige Bundesbildungsminister offensichtlich nicht bereit sind, die in den Berichten niedergelegten Tatsachen zur Kenntnis zu nehmen und daraus dann auch die politischen Konsequenzen zu ziehen.
Das wissen Sie doch noch gar nicht! Nun warten Sie doch, Herr Daweke!
Nach fünf Jahren Wendepolitik befindet sich das BAföG, einst als die zentrale materielle Voraussetzung zur Ermöglichung von Chancengleichheit im Bildungswesen von allen Parteien gewollt und einstimmig verabschiedet, in einem erschreckenden Zustand. Die Zahlen belegen das: Der Kahlschlag beim Schüler-BAföG ist bekannt, aber auch die Quote der durch BAföG geförderten Studentinnen und Studenten ist inzwischen auf unter 20 % abgesunken. Das heißt, über 80 % aller Studentinnen und Studenten
3236 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 46. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. Dezember 1987
Frau Odendahl
müssen ihr Studium durch Zuschüsse der Eltern und/ oder durch eigene Arbeit finanzieren.
Daß die BAföG-Sätze zur vollen Finanzierung des Studiums nicht ausreichen, ist ebenfalls bekannt. Diese Tatsachen sollten zur Kenntnis genommen werden, bevor man, wie kürzlich auch der Bundesbildungsminister, zu lange Studienzeiten beklagt. Wer arbeiten muß — das ist das Problem —, kann bekanntlich nicht gleichzeitig studieren. Ich meine, daß der Bund hier kein Recht hat, auf rückläufige Leistungen der Länder hinzuweisen. Hier bewahrheitet sich das Sprichwort: Schlechte Beispiele verderben die Sitten.
Der Rückzug des Bundes aus dem Schüler-BAföG hat diese Entwicklung erst möglich gemacht.
Die in Zahlen ausgewiesene BAföG-Bilanz macht möglich, daß der Kahlschlag auch beim StudentenBAföG andauert: 1982 brachte der Bund dafür 2,3 Milliarden DM auf. 1986 war dieser Betrag auf 1,449 Milliarden DM abgesunken. Das waren noch einmal 57 Millionen DM weniger als im Jahr vorher trotz noch einmal angestiegener Zahl der Studentinnen und Studenten. In der mittelfristigen Finanzplanung sind für die Jahre 1989 bis 1991 1,5 Milliarden DM angesetzt. Die Ausgaben stagnieren also langfristig. Da kann der Bundesbildungsminister so viele BAföG-Kommissionen ankündigen, wie er will: Die Entwicklung der Ausgaben in den letzten Jahren und die Zahlen der mittelfristigen Finanzplanung beweisen, daß sich der Zustand nicht nur laufend verschlechtert hat, sondern sich auch weiter verschlechtern wird. Die Immatrikulationen zu diesem Wintersemester machen deutlich, daß mit einem Rückgang der Zahl der Studierenden in den nächsten Jahren nicht gerechnet werden kann.
Wenn also Herr Möllemann jetzt behauptet, ab 1989 würde es völlig neue Möglichkeiten und Finanzierungsspielräume für das BAföG geben,
widerlegen ihn die eigenen Planungsdaten. Ob und auf wen dieser Rückzug aus der Ausbildungsförderung abschreckend wirkt, haben wir hier sehr oft diskutiert. Die neuesten Zahlen von HIS über die Schulabgänger mit Hochschulreife des Jahres 1986 geben darauf eine klare Antwort: Junge Frauen verzichten heute immer häufiger auf ein Studium. Von den Abiturientinnen des Jahres 1986 nahmen nur noch 59 % ein Studium auf
— wenn Ihnen das reicht, Herr Eigen; das kann sein — oder äußerten die feste Absicht, in den nächsten Jahren zu studieren. Von den jungen Männern entschieden sich dagegen 81 % für ein Studium. Vor zehn Jahren wollten noch 77 % der Frauen und 88 % der Männer studieren. Die Tatsache, daß die Studentinnen und Studenten inzwischen mit rund 11 Milliarden
beim Bund verschuldet sind, wirkt offenbar auf Frauen abschreckender als auf Männer.
Sie sehen gemeinsame Schulden nach Beendigung eines Studiums auf Volldarlehen in Höhe von 40 000 DM wohl eher als familienfeindlich an und nicht als ein Mittel zur Stärkung des Zusammenhalts, wie es dem Bundesbildungsminister bei der Werbung für Bildungskredite einmal eingefallen ist.
Frau Abgeordnete, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Gallus?
Ja, wenn sie nicht auf die Redezeit angerechnet wird.
Ja, das geht in Ordnung.
Frau Kollegin, können Sie sich vorstellen, daß ein junger Mann, der nicht studiert, aber einen Beruf gelernt hat und danach selbständig ein Unternehmen beginnt, auch mit Schulden beginnen muß?
Herr Kollege Gallus, da ich als Frau diesen Weg gewählt habe, kann ich das sehr wohl beurteilen. Ich habe Ihnen nur die Schere geschildert, die zwischen 1976 und 1986 im Studierverhalten entstanden ist.
Die Haushaltsdebatte in der vergangenen Woche hat überdies gezeigt, daß der Bundesbildungsminister die BAföG-Mittel offensichtlich als willkommene Füllmasse betrachtet, um die Löcher in seinem eigenen Haushalt zu stopfen. So soll die für 1988 auferlegte globale Minderausgabe von 45 Millionen DM im Bildungshaushalt ausschließlich aus BAföG-Mitteln erwirtschaftet werden. Woher denn auch sonst? Ist ja klar.
Auch die Verwendung der Darlehensrückflüsse — jetzt wird es interessant — entlarvt die BAföG-Politik dieser Regierung. Obwohl allein der Bund im Jahr 1986 über 216 Millionen DM aus Darlehensrückflüssen eingenommen hat und in diesem Jahr vermutlich rund 250 Millionen DM einnehmen wird, wird keine müde Mark zur strukturellen Verbesserung der BAföG-Leistungen verwandt, sondern diese Millionen wandern schlicht und einfach in Stoltenbergs Topf, der durch die unsinnige sogenannte Steuerreform immer notleidender, also sozusagen zum Salatsieb wird.
— Salatsieb, Herr Kollege Gallus! So ist es! Mit Löchern!
Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 46. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. Dezember 1987 3237
Frau Odendahl
Jede fünfte Mark der BAföG-Ausgaben finanziert die Regierung also bereits aus der Tilgung der BAföG-Darlehen.
Dabei wären hier die Mittel, die notwendig sind, um das zu verwirklichen, was die SPD-Fraktion seit langem fordert, nämlich mit einem Stufenplan dafür zu sorgen, daß das BAföG nicht weiter verkümmert und verkommt, sondern die Zahl der geförderten Studentinnen und Studenten wieder auf über 40 % steigt durch eine gezielte Anhebung der Elternfreibeträge.
Nur so kann sinnvoll und sozial gerecht das von der Regierung ja so beklagte sogenannte Mittelstandsloch in der Förderung beseitigt werden. Dazu bedarf es keiner Kommissionen oder neuer Modelle, die dem Parlament und den Betroffenen als Spielmaterial vorgeworfen werden, sondern schlicht und einfach der Ausschöpfung der durch das BAföG gegebenen Möglichkeiten.
Der Bildungsminister darf sich nicht laufend finanzielle Mittel wegnehmen lassen und anschließend sagen: Zwar habe ich kein Geld mehr, dafür aber phantastische Ideen, die alle leider den Nachteil haben, daß die Betroffenen sie selber bezahlen müssen. Oder in seine Sprache übersetzt: eine Fülle wichtiger Überlegungen, zahlreiche Prüfungsaufträge, viel Trost nach allen Seiten, Verständnis, aber keine neuen Leistungsgesetze vor 1989. Viel Zuversicht ist da übrigens sowieso nicht am Platze, denn die Bundesregierung macht im Bericht über die Ausbildungsfinanzierung für Familien mit mittleren Einkommen nur sehr vage Andeutungen. Sie sagt, sie werde zu Beginn der zweiten Hälfte der Legislaturperiode unter Berücksichtigung der finanzwirtschaftlichen Gesamtsituation von Bund und Ländern
und dem Ergebnis der weiteren Meinungsbildung prüfen,
ob sie die Realisierung eines Modells vorschlagen kann
— sie will es nicht — , das der Entlastung der Familien im mittleren Einkommensbereich bei der Ausbildungsfinanzierung dient.
Deshalb wird sich die SPD-Bundestagsfraktion nicht mit dem Bildungsminister in den Sandkasten setzen und Modellspielchen machen,
sondern den Bildungsminister und die Bundesregierung an ihre Pflicht erinnern, durch BAföG die materielle Chancengleichheit in der Bildung sicherzustellen. Das wäre übrigens ein Grund, Herr Minister Möllemann, den Rücktritt als Bildungsminister zu erwägen. —
Das bedeutet: Wiederherstellung der Schülerförderung, ausreichende Förderung für die Studierenden und eine Anhebung der Gefördertenquote auf über 40 %, was bei Einführung der Förderung durch BAföG eine ganz unbestrittene Größenordnung war.
Meine Damen und Herren, wir werden unsere Vorschläge zur 11. BAföG-Novelle unter diesem Gesichtspunkt erarbeiten.
Ich danke Ihnen.
Das Wort hat der Abgeordnete Neuhausen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Um nach dieser Abschweifung endlich zum Thema des heutigen Abends zu kommen:
Ich finde, daß sowohl die pünktliche Vorlage des Berichts nach § 35 BAföG als auch der Entwurf des Elften Gesetzes zur Änderung des Bundesausbildungsförderungsgesetzes nachdrücklich zu begrüßen sind,
denn — ich sage das einmal sehr positiv, Herr Vorsitzender unseres Ausschusses — damit wird sichergestellt, daß die notwendigen Anpassungen der Bedarfssätze und Freibeträge fristgerecht erfolgen — das ist sehr wichtig — und die Entwicklung, insbesondere der Lebenshaltungskosten, berücksichtigt wird.
Das mag natürlich für den einen kein Grund zum Jubeln sein, und für den anderen — vor allen Dingen für den Betroffenen — mag es fast eine Selbstverständlichkeit sein, aber ich meine, daß die Tatsache der seit einigen Jahren kontinuierlichen Regelmäßigkeit — früher gab es auch etwas anderes — der Anpassungen zum Ausgleich der Teuerung eine ebenso nachdrückliche Hervorhebung verdient wie die Vorlage heute abend zum frühestmöglichen Zeitpunkt. Nun leiden wir alle — das gebe ich ja zu; wir sind hier in kleiner Runde und dürfen deswegen ehrlich sein —
an dem Phänomen der selektiven Wahrnehmung und der selektiven Gedankenführung. Das hat uns Frau Odendahl ja soeben vorgeführt und Graf Waldburg bestätigt, der vermutete, daß sie vor lauter Haaren die Suppe nicht mehr sehen werde. Meine Damen und Herren, es ist ja der Vorzug der Opposition, daß alles Irdische unvollkommen und fehlbar ist; davon leben Oppositionen. Regierungen müssen dieses Fehlbare und Unvollkommene manchmal verteidigen.
— Es ist ja schon gesagt worden, lieber Klaus Daweke, worin das Unvollkommene, aber Wünschenswerte und zu Begrüßende besteht, nämlich in der Erhöhung der Bedarfssätze zum Herbst 1988 um durchschnittlich 2 % sowie in der Erhöhung der Freibeträge um durchschnittlich 3 % zum Herbst 1988 und zum Herbst 1989.
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Neuhausen
Ein weiteres Ziel der Novelle ist es — Sie haben es erwähnt — , die seit dem 1. Januar 1986 geltenden Verbesserungen des Familienlastenausgleichs im BAföG abzusichern. Außerdem werden das Auswahlverfahren beim leistungsabhängigen Darlehensteilerlaß und auch der studienzeitabhängige Darlehnsteilerlaß neugeordnet.
Meine Damen und Herren, wer sich nicht erst seit heute um eine verantwortliche Behandlung des Themas BAföG bemüht, der wird selbstverständlich eine Reihe von Punkten nennen können, die er darüber hinaus für reformbedürftig, verbesserungsbedürftig hält. Die FDP hat in ihrem Wahlprogramm eine Neuordnung und Verbesserung der individuellen Ausbildungsförderung gefordert. Der Bundesminister für Bildung und Wissenschaft hat sich für eine grundsätzliche Überprüfung und Verbesserung der Förderung ausgesprochen. Die in bezug auf den Zeitrahmen im Wege stehenden Koalitionsvereinbarungen wurden ja schon erwähnt. — Herr Kuhlwein, eine Sekunde bitte. Sie haben letztes Mal kritisiert, daß ich nicht Demokrit zitiere. — Sie hier zu erwähnen, gebietet die Ehrlichkeit, denn so entgehen wir der Gefahr leichtfertiger Versprechungen, von denen Demokrit sagte: Eide, die sie in Nöten schwören, halten die Niedrigen nicht, sobald sie durchgekommen sind. — Das sollte man im politischen Raum besonders beachten. Manche Erfahrung lehrt die Richtigkeit dieser Feststellung.
Wenn mit dieser Novelle auch keine strukturellen Veränderungen eingeleitet werden können, so hat die Bundesregierung mit dem schon andiskutierten Bericht über das sogenannte Mittelstandsloch doch einen Weg aufgewiesen, mit dem wir uns im Ausschuß ja schon in einer ersten Beratung beschäftigt haben.
Ich finde, man sollte die Beauftragung des BAföG-Beirates mit einer grundsätzlichen Evaluierung auch nicht zu geringschätzen. Meine Damen und Herren, das, was wir heute in erster Linie beraten, war ja schon im Finanzausschuß des Bundesrates — Graf Waldburg hat es gesagt — nicht unumstritten. Der Herr bayerische Ministerpräsident hat mir aber — als Niedersachse mußte ich mich an ihn wenden —
in diesem Zusammenhang vor einigen Tagen geschrieben, wörtlich zitiert:
Die bayerische Staatsregierung wird auch weiterhin alles tun, damit die ungerechte Behandlung mittlerer Einkommen im Bundesausbildungsförderungsgesetz beseitigt wird.
Ich begrüße die Unterstützung durch diesen mächtigen Verbündeten,
wenn ich auch mit einigen anderen Anmerkungen in diesem Schriftwechsel nicht im gleichen Maße einverstanden bin.
Aber abgesehen vom Problem der mittleren Einkommen bleiben die oben schon angedeuteten Punkte, z. B. im Zusammenhang mit der Frage der relativen Freibeträge, auch der statistischen Grundlage zur Ermittlung der Gefördertenquote, die Fragen, die sich aus der Volldarlehensförderung ergeben, die grundsätzlichen und praktischen Probleme etwa hinsichtlich des Wohngeldes usw. auf der Prüfliste, wenn auch unter den erwähnten Vorbehalten und deshalb mühevoll.
Aber da hilft — Herr Präsident, ich komme zum Schluß — auch wieder ein Ausspruch von Demokrit, der nämlich sagte, daß fortgesetzte Mühen durch Gewöhnung immer leichter werden. Das wünsche ich uns für unsere Beratungen im Ausschuß. Aber dieser Novelle wünsche ich eine sehr schnelle Verabschiedung im Interesse der Betroffenen, damit sie in den Genuß der vorgesehenen Verbesserungen kommen.
Vielen Dank.
Herr Kollege Neuhausen, war Demokrit vor Sisyphus oder danach?
Jetzt kommt der Abgeordnete Wetzel dran.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich kann die Frage beantworten. —
Meine Damen und Herren! Herr Präsident! Wir sind an Widersprüchen bei der Bundesregierung zwischen öffentlichen Erklärungen und tatsächlichem Handeln ja schon einiges gewöhnt. Aber Sie, Herr Minister, haben dieser Tage auf Ihrem Gebiet schon einen neuen Gipfel, wenn ich das einmal so sagen darf, erklommen, einen Gipfel, rundheraus gesagt, an Scheinheiligkeit.
Sie haben vor der Mitgliederversammlung des Deutschen Studentenwerks erklärt, und zwar wörtlich:
Der Anspruch auf individuelle Ausbildungsförderung ist ein Grundbestandteil unserer sozialstaatlichen Ordnung.
Sie verpflichtet den Staat zur Fürsorge für jene gesellschaftlichen Gruppen, die auf Grund ihrer Lebensumstände in ihrer persönlichen und sozialen Entfaltung beeinträchtigt sind.
— Herr Minister, ich klatsche auch Beifall. Nur, das Gesetz, der Gesetzentwurf, den Sie uns heute vorgelegt haben, widerspricht all dem, was Sie in dieser Rede gesagt haben, die ich nur als Fensterrede bezeichnen kann. Dieses Gesetz ändert rein gar nichts daran, daß die Ausbildungsförderung auch weiterhin ein bevorzugtes Abbruchunternehmen der Bundesregierung bleibt.
Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 46. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. Dezember 1987 3239
Wetzel
Hierzu einige Tatsachen — einiges hat die Kollegin Odendahl vorhin schon ausgeführt. — Erste Tatsache: Inzwischen ist jeder Dritte der Geförderten seit 1981 aus dem BAföG herausgefallen.
Zweite Tatsache: Diejenigen der heute Studierenden, die aus einkommenschwachen Familien kommen und daher BAföG beanspruchen müssen, werden bis zu ihrem Studienabschluß einen Schuldenberg in Höhe von sage und schreibe 10 Milliarden DM auf sich geladen haben.
Wen wundert es dann noch — und das ist statistisch und durch Umfragen belegbar —, daß Verschuldungsangst viele junge Leute aus einkommenschwachen Familien davon abhält, überhaupt zu studieren?
Drittens. Die Förderungshöchstdauer entspricht schon längst nicht mehr der realen Studiendauer. Das bedeutet: Gerade in der Phase eines Studiums, in der konzentriertes Arbeiten besonders dringlich und erforderlich ist, nämlich in der Abschlußphase, müssen die Studierenden, weil die Förderungshöchstdauer so vorgesehen ist, neben der Examensvorbereitung häufig genug arbeiten. Das alles kann bildungspolitisch nicht hingenommen werden.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Graf von Waldburg-Zeil?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ja, bitte.
Herr Kollege, sehen Sie das, was man einem Arbeitnehmer, der als Geselle einen Meisterkurs macht, ganz selbstverständlich zumutet, daß er nämlich ein Darlehen aufnimmt und zurückzahlt, für einen Studenten als gänzlich unzumutbar an?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich sehe es als unzumutbar an, Graf Waldburg, daß ein Teil der Studierenden, weil sie aus vermögenden Familien kommen, die Möglichkeit haben, unbelastet und konzentriert zu studieren, und ein anderer Teil bei der Wahrnehmung seines Rechts auf Bildung materiell benachteiligt wird. Wenn wir uns zu diesem sozialstaatlichen Prinzip bekennen, muß der Zugang zu den Bildungseinrichtungen unabhängig von der materiellen Lage der Familien gewährleistet sein.
— Bitte schön.
Augenblick, Herr Kollege!
Ich finde es sehr nett, daß Sie das so schnell und eilig
machen. Bloß, ich muß auch merken, was hier passiert, und muß daran beteiligt sein. Also der Herr Kollege Gallus möchte gern eine Zwischenfrage stellen, Es ist ihm erlaubt.
Herr Kollege, können Sie sich vorstellen, daß die, die aus ärmeren Familien kommen und härter durchs Leben gehen müssen, auch wenn sie beim Studium Schulden machen müssen, unter Umständen mehr Erfolg im Leben haben können als die, die ins gut gemachte Bett hineingeboren werden?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Gallus, ich sehe jetzt nicht genau den Zusammenhang mit unserem Problem. Aber soweit ich Sie verstanden habe, kann ich Ihnen da zustimmen.
— Herr Kollege Gallus, ich verstehe jetzt, warum Sie Mitglied einer Regierungspartei sind.
— Ja, ja.
Einen letzten Punkt, einfach um diese Tatbestandsbeschreibung ein bißchen abzurunden: Wir wissen aus Erhebungen, daß sich an den Universitäten und Hochschulen inzwischen eine erschreckende neue Armut ausbreitet. Auch das ist nicht hinzunehmen. Denn die Folgen sind hinreichend bekannt. Der Zwang vieler Studenten zum permanenten Jobben ist mit den Aufgaben, die heute ein systematisches Studium stellt, nicht vereinbar.
All diese Probleme werden mit dem vorgelegten BAföG-Änderungsgesetz nicht einmal im Ansatz angegangen. Dieses Gesetz schreibt einen Zustand fest, von dem selbst Vertreter der Regierungsparteien sagen, daß er bildungs- und sozialpolitisch eigentlich unerträglich ist. Aber diese Kolleginnen und Kollegen und auch der Minister nehmen ihre Zuflucht zu einer fragwürdigen Ausrede: sie könnten Ihre derzeitige Politik nicht ändern, denn es gebe den Koalitionsvertrag, der vorsieht, daß bis 1989 keine neuen kostenwirksamen Leistungsgesetze verabschiedet werden sollen.
Ich muß eine Frage an den Herr Präsidenten stellen. Ich glaube, Sie haben diese Zwischenfrage nicht bei meiner Redezeit berücksichtigt.
Ihr Glaube ist widerlegbar.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Also, Herr Präsident, ein Glaube ist nie widerlegbar.
Aber ich will mir nicht anmaßen, Sie zu korrigieren.
3240 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 46. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. Dezember 1987
Ich muß Ihnen schon sagen: Durch Tatsachen ist er widerlegbar. Und ich habe hier ordnungsgemäß gestoppt. Wohl oder übel: Ihre Redezeit nähert sich kräftig dem Ende.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Das ist bei einem so wichtigen Thema sehr unangenehm.
Aber ich weise noch auf einen Punkt hin, und zwar ohne jede Polemik. Ausbildungsförderung ist ein unverzichtbarer Beitrag — das sollten wir beherzigen — zu dem offenen Prozeß der Demokratisierung unserer Gesellschaft. Ich stimme Graf Waldburg ausdrücklich zu: Sie trägt dazu bei, ein selbstverantwortetes erfülltes Leben zu ermöglichen. Zu diesen Chancen, die das ermöglichen, muß jeder Zugang haben, unabhängig von der materiellen Lage der Eltern. Auf diesen Beitrag zur Ausbildungsförderung dürfen wir nicht aus engstirnigsten haushaltspolitischen Erwägungen verzichten. Das wird in den Beratungen im nächsten Jahr, wenn wir über eine strukturelle Reform von BAföG reden, ausdrücklich im Gedächtnis bleiben müssen.
Also, lieber Kollege, nun ist aber wirklich der letzte Satz dran.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Wenn sich Bildungspolitik ihre wesentlichen Zielvorgaben, wie es derzeit der Fall ist, nur noch vom Beschäftigungssystem geben läßt, steht ein Stück Demokratie auf dem Spiel.
Der vorliegende Gesetzentwurf ist weitab von dieser Einsicht. Deswegen können wir ihm keinesfalls zustimmen.
Danke.
Das Wort hat der Herr Bundesminister für Bildung und Wissenschaft.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Bedarfssätze werden nach dem vorgelegten Gesetzentwurf um durchschnittlich 2 %, die Freibeträge zweimal, also pro Jahr jeweils um 3 %, erhöht. Das Auswahlverfahren beim leistungsabhängigen Darlehensteilerlaß wird leistungsgerechter und einfacher gestaltet. Der studienzeitabhängige Darlehensteilerlaß wird durch einen zweiten Stichtag modifiziert. Kinder von Staatsangehörigen aus den EG-Mitgliedstaaten, denen nach dem Aufenthaltsgesetz/EWG Freizügigkeit gewährt wird, werden bei der Auslandsförderung nach dem BAföG grundsätzlich gleichgestellt. Das sind die nüchternen Fakten, und diese entsprechen dem gesetzlichen Tatbestand, an den ich mich zu halten habe und an den sich jeder andere auch zu halten hat. Sie kennen die Kriterien und Parameter.
Wenn man das ändern will, muß man das Gesetz ändern, und zwar in einer Weise, die in der Tat nicht mit der getroffenen Koalitionsvereinbarung vereinbar ist; da gibt es nichts drumherum zu reden. Wir haben festgelegt, daß wir zum Zwecke der Haushaltskonsolidierung in den beiden ersten Jahren der Legislatur periode kostenwirksame neue Leistungsgesetze nicht verabschieden. Ich halte mich daran.
— Wir versuchen jedenfalls, das in den Griff zu bekommen. Ich komme darauf gleich zurück.
— Die Frage war im Blick auf Sie, Herr Kuhlwein, eher ironisch gemeint. Denn darin sind Sie ja Weltmeister.
— Ja, leider zu lange.
Ich will hier sagen: Der Höchstfördersatz für Studenten wird nach dieser Entscheidung, wenn sie denn so getroffen wird, auf 845 DM monatlich erhöht. Ich halte das für angemessen und vertretbar.
Ich halte es auch für angemessen und vertretbar, daß jemand, dem durch die Mittel von Steuerzahlern ein akademisches Studium ermöglicht wird, mindestens Teile davon und dann, wenn es ihm finanziell gut geht, auch einen beachtlichen Teil davon zurückzahlt.
Nun kommen wir zu der Art und Weise, wie Sie mit Zahlen umgehen. Ich habe wirklich das Gefühl, daß Sie da ein bißchen das Zahlenzerrsyndrom, das der Popper-Schüler Blieshaimer ja eindrucksvoll beschrieben hat, wieder zeigen.
Sie reden von 11,4 Milliarden DM Schulden, die die Studenten auf sich genommen hätten. Es handelt sich um 1,5 Millionen Darlehensnehmer, die die Schulden haben. Das sind 7 000 DM pro Kopf. Wenn Sie diese Zahl von 11,4 Milliarden DM so erwähnen, dann hat man fast das Gefühl, als ob jeder von denen 11 Milliarden DM Schulden hätte. Es sind aber umgerechnet nur 7 000 DM. Ich kann Ihnen sagen: Das halte ich für zumutbar, für wirklich zumutbar.
— Nein, ich lasse jetzt keine Zwischenfragen zu.
Ich will noch einmal sagen: Die Bestimmungen besagen: Man zahlt das, was man an Darlehen bekommen hat, in 20 Jahren zurück.
Man zahlt es zinsfrei zurück. Man zahlt mit Nachlässen zurück, von denen ich hier gesprochen habe. Man zahlt nur zurück, wenn man in Arbeit ist — sonst wird die Rückzahlung ausgesetzt —, und nur, wenn man mehr als 2 400 DM brutto pro Monat verdient. Ja, ich würde einen solchen Kredit auch aufnehmen, selbst
Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 46. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. Dezember 1987 3241
Bundesminister Möllemann
wenn ich ihn nicht bräuchte. Zu solchen Konditionen können Sie eine Anlage machen.
Mir kann wirklich keiner einreden, Frau Timm, daß das unzumutbare Konditionen seien.
Ein weiterer Punkt, den ich erwähnen wollte: Ich finde, der Umgang mit Zahlen wird bei uns mittlerweile manchmal zu einer fast schon belustigenden Disziplin.
Da hat — aufgerufen durch manche auch von Ihnen — am letzten Wochenende hier eine Veranstaltung stattgefunden, von der die Veranstalter vorher sagten, es kämen wohl 100 000 Teilnehmer. Anwesend waren bestenfalls 15 000. Das ist eindrucksvoll bei einer Stadt, in der schon 40 000 studieren. Herr Kuhlwein, Ihr Koalitionspartner im Sinne des gemeinsamen Aufrufs, der Spartakusbund, spricht von 80 000.
Wenn ich so mit Zahlen umgehe, dann kann ich natürlich mit dem Problem, um das es hier geht, auch nicht fertigwerden.
Der nächste Punkt, den ich ansprechen will, meine Damen und Herren, ist folgender: Wenn es so wäre, wie Sie sagen, daß diese BAföG-Regelung ach so inhuman und fatal wäre — ich sage Ihnen hier, und ich habe das nun schon fünfmal nacheinander erklärt, daß ich Ihre Einwände insgesamt für nicht stichhaltig halte; es gibt eine Menge Schwachstellen im System der individuellen Ausbildungsförderung; aber ich kann sie nicht so negativ beurteilen wie Sie — , wenn die BAföG-Regelung also so fatal wäre, dann erklären Sie mir doch einmal, weshalb wir nicht nur mit 1,37 Millionen Studenten derzeit die höchste Studentenzahl haben, die es je gab, sondern warum wir mit Beginn dieses Semesters entgegen all unseren Annahmen wahrscheinlich eine Steigerungsrate bei den Studierenden von noch einmal 10 % haben werden.
— Sehen Sie, das sind offenbar Leute, die ganz nüchtern abwägen und sagen: Es ist eine Investition, die sich lohnen kann.
Ich will Ihnen zum guten Schluß hier folgendes sagen.
Ich habe mir einmal den Ablauf dieser Woche angeschaut. Es gibt hier keine Sitzung, in der Sie nicht Ausgaben in Milliardenhöhe verlangen,
heute morgen mit Stahl: Wir sollen Herrn Rau aus seiner kaputten Situation retten und die Arbeitnehmer dort unterstützen. Sie kommen jeden Tag mit Millionen- und Milliardenausgaben. Wie wollen Sie das eigentlich machen?
Liebe Freunde, glauben Sie mir: Sie können den Menschen mit einer solchen Politik nicht die Überzeugung vermitteln, daß das seriös sein könnte.
Ich kann auf Dauer nicht mehr ausgeben — das wissen Sie sehr genau — , als ich einnehme. Schon die derzeit in Kauf genommene Verschuldungsrate ist hoch — sehr hoch! Daher versuchen wir, mit Augenmaß das zu tun, was wir vertreten können, aber nicht mehr. Leere Versprechungen können wir nicht eingehen.
Vielen Dank.
Meine Damen und Herren, ich schließe die Aussprache.
Der Ältestenrat schlägt vor, die Vorlagen an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Gibt es dazu andere Vorschläge? — Das ist nicht der Fall. Dann sind die Überweisungen beschlossen.
Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 22 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Frau Flinner, Kreuzeder und der Fraktion DIE GRÜNEN
Einführung eines 50%igen Beimischzwangs von Getreide für die Mischfutterindustrie
— Drucksache 11/580 —
Überweisungsvorschlag des Altestenrates:
Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Ausschuß für Wirtschaft
Im Ältestenrat ist für die Beratung ein Beitrag bis zu fünf Minuten für jede Fraktion vereinbart worden. — Ich sehe dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Abgeordnete Frau Flinner.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren — sehr wenige an der Zahl! Nach Milchsee und Butterberg gibt es in der EG das Problem mit der Überschußproduktion von Getreide. Hier haben sich die Schwierigkeiten drastisch verschärft. Durch den von uns geforderten 50 %igen Beimischzwang von Getreide für die Mischfutterindustrie könnte dieses Problem gelöst werden.
Bisher zwangen die Überschüsse zu gewaltigen Marktordnungskosten. Die Mitverantwortungsabgabe wurde eingeführt als ungerechte Strafe für die
3242 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 46. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. Dezember 1987
Frau Flinner
überhöhte Erzeugung. Herr Kiechle gibt selbst zu, daß die Mitverantwortungsabgabe anstelle einer offiziellen Getreidepreissenkung eingeführt wurde. Andererseits werden gewaltige Mengen von Getreide zu Spottpreisen nach Rußland exportiert.
Trotz der EG-weiten Getreideüberschüsse werden jährlich etwa 15 Millionen t Importfuttermittel in die EG eingeführt. Die niedrigen Preise dieser importierten Eiweißfuttermittel und -substitute lassen für die Getreidebauern hierzulande Preisdruck und Einkommensverluste entstehen. Ohne diese Importe gäbe es hier nämlich überhaupt keine Überschußproblematik.
Andererseits entstehen in den Herkunftsländern der Futtermittel durch den Anbau dort und die Ausfuhr erhebliche nachteilige Folgen. Beispielsweise bewirkt der Soja-Anbau in Brasilien erhebliche unsoziale ökologische Folgen, ebenso der Tapioka-Anbau in Ländern der Dritten Welt, der nicht nur verheerende Bodenerosionen verursacht, sondern durch schwerwiegende Strukturveränderungen des dortigen ländlichen Raumes die Landflucht begünstigt und das Elend in den Städten vergrößert.
Aber nicht nur im Ausland, sondern auch hier sind die langfristigen Folgen des Futtermittelimports unübersehbar; denn der Einsatz des importierten Futters verschärft bei uns die Wettbewerbsverzerrung. Betriebsstandorte in der Nähe von Anlieferhäfen können günstiger mit Importfuttermitteln versorgt werden als solche, die weiter entfernt liegen. Die küstennahen Regionen sind im Vorteil. Nicht mehr die aus naturgegebenen Gründen zur Viehhaltung bevorzugten Gebiete sind günstig, sondern mehr und mehr schwindet der wirkliche Bezug zwischen Tierhaltung und Bodennutzung. Gleichzeitig fördert die Verfügbarkeit des Importfutters die Industrialisierung und Spezialisierung der Landwirtschaft. Damit steigt der wirtschaftliche Druck auf die bäuerliche Landwirtschaft, die naturgemäß unspezialisiert in überschaubaren Betriebsgrößen wirtschaftet. Der Strukturwandel in seiner negativen, gegen die gewachsenen ländlichen Strukturen gerichteten Ausprägung wird vorangetrieben.
Außerdem schafft die durch Importe begünstigte industrialisierte und spezialisierte Massentierhaltung gewaltige Gülleprobleme. Während die herkömmlichen Landwirtschaftsbetriebe jeweils nur geringere Mengen Festmist produzierten, entstehen in den Massentierhaltungsbetrieben riesige Güllemengen, die im weiten Umkreis des Betriebes nicht nur zu einer starken Geruchsbelästigung führen, sondern auch mit schuld an der Nitratbelastung des Grundwassers sind. Die Massentierhaltung ist keineswegs tier- oder artgerecht.
Ein weiterer Nachteil der Importfuttermittel besteht darin, daß ihr Anbau und ihre Verarbeitung nicht den hier gültigen Auflagen und Kontrollen unterliegen. Spritzmittel werden benutzt, die hier überhaupt nicht oder nur in geringerer Dosis erlaubt sind. Daher kommt es, daß die Tiere, die mit solchen Mitteln behandeltes Futter bekommen, in der Milch oder im Fleisch beängstigende Rückstandswerte aufweisen. Die Gesundheit von Tieren und Verbrauchern wird gefährdet. Letzte Woche war ich bei Landwirten zu
Gast. Da hat mir ein Landwirt erzählt, daß in seiner Milch Lindan festgestellt wurde. Er konnte sich nicht erklären, woher. Es wurden dann Untersuchungen angestellt, und es war im zugekauften Sojafuttermittel enthalten.
Insgesamt verursachen die Futtermittelimporte so weitreichende negative Folgen, daß ihre Einschränkung im Sinne unseres Antrags dringend notwendig ist, denn ohne die Importe hätten wir in der EG nicht mit der Überschußproblematik zu kämpfen. Der Preisdruck und die Mitverantwortungsabgabe hätten keinerlei Grundlage.
Unser Antrag ist als Teil einer Agrarpolitik zu verstehen, die für die klein- und mittelbäuerlichen Betriebe eine Existenzgrundlage sichern will und die sich gegen die unnatürlichen Agrarfabriken mit allen ihren schädlichen Auswirkungen auf Tiere, Menschen und Landschaft wendet.
Danke schön.
Das Wort hat der Abgeordnete Michels.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Vor dem Hintergrund der europäischen Getreideüberschüsse ist die Forderung, das Getreide in größerem Umfang direkt in den Futtertrog zu bringen, naheliegend und verständlich. Allein 15 Millionen Tonnen stärkehaltige Futtermittel werden zur Zeit in die EG importiert. Diese ersetzen Getreide im Verhältnis von 1 : 1. Dies wiederum entspricht einer Getreideproduktion von 3,5 Millionen Hektar.
Der hier zur Diskussion stehende Antrag sieht die Einführung eines Getreidebeimischungszwangs vor. Hier müssen erstens Eingriffe, welcher Art auch immer, EG-weit und in gleicher Form und Festigkeit erfolgen. Zweitens sind die GATT-rechtlichen und somit weltweiten vertraglichen Gegebenheiten dabei zu beachten. Von der EG-weiten Getreideernte, die auf ca. 160 Millionen Tonnen beziffert werden kann, sind auch im letzten Jahr etwa 92 Millionen Tonnen über den Futtertrog verwertet worden. Richtig ist auch, daß 27 Millionen Tonnen mit hohen Subventionen exportiert wurden mußten. Wenn ich alle Substitute, ob stärke- oder eiweißhaltig, zusammen nehme, komme ich in etwa auf eine Menge, die unseren Getreideüberschüssen entspricht.
Es liegt nahe, zu prüfen, ob es wirtschaftliche und rechtliche Wege gibt, mit Hilfe derer wir die Substitute draußen lassen und dafür unser Getreide ohne Umwege in den Futtertrog leiten können. Innerhalb der EG sind die Niederlande mit 33 %, die Bundesrepublik mit 16 % und Belgien mit 13 % die Hauptsubstitutimport- und -verbrauchsländer. Die EG hat auf Drängen der Bundesrepublik mit den Hauptlieferländern wohl eine Mengenbegrenzung erreichen können. Die Mischfutterhersteller bieten — das läßt sich heute immer wieder verfolgen — heute zu einem steigenden Anteil Mischfutter an, in dem sich überhaupt kein Getreide mehr befindet. Innerhalb von zehn Jahren sank der Getreideanteil in Mischfutter im Durchschnitt von 33 auf 23 % ab.
Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 46. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. Dezember 1987 3243
Michels
Ich fordere die EG-Kommission auf, neue Anstrengungen zu unternehmen, um im Rahmen der GATT-Verhandlungen, die bei uns real nicht mehr notwendigen Abfallfuttermittel draußen zu lassen.
Niemand kann von uns verlangen, daß wir auf der einen Seite Abfallfuttermittel kaufen und im Gegenzug hochwertiges Getreide mit viel Aufwand nach jahrelanger Lagerzeit fast verschenken. Während die Landwirtschaft zur Zeit etwa 380 DM je Tonne Weizen erlöst, müssen von der EG etwa 300 DM aufgewendet werden, um den Weizen auf dem Weltmarkt wieder loszuwerden. Dafür holen wir dann wieder Substitute herein. Unsere vielbesprochenen Überschüsse bestehen de facto nicht, sondern sie sind das Ergebnis der Einfuhr von Abfallfuttermitteln. Hiergegen zu konkurrieren ist eigenlich unmöglich.
Deshalb ist auch das Vorhaben der EG-Kommission falsch, mit immer weiter gedrücktem Getreidepreis eine Konkurrenzfähigkeit herzustellen.
Diese Abfallfuttermittel können für lange Zeit sogar nur gegen Erstattung der Frachtkosten bereitgestellt werden.
Die Forderung lautet: Einführung eines Getreidebeimischungszwangs. Das bedeutet: Sicherstellung der Durchführung nicht nur bei den Mischfutterherstellern, sondern bei jedem Landwirt, der eine eigene Mahl- und Mischanlage hat. Das sind zirka 2,5 Millionen Betriebe in der EG. Sie merken, dies ist zwar ein verständlicher Wunsch, leider aber wohl kaum so durchführbar.
Aber das Thema ist so wichtig, daß wir uns im Ausschuß damit noch sehr gründlich beschäftigen werden. — Schönen Dank.
Das Wort hat jetzt Herr Abgeordneter Müller .
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Das Thema Beimischungszwang — und die Betonung liegt auf „Zwang" — wird seit langem immer wieder in die agrarpolitische Diskussion gebracht. Der eine oder andere Vertreter des Berufsstandes fordert diese Maßnahme mit gleichem Nachdruck, zumindest vor Getreidebauern, wie die GRÜNEN. Eine eindeutige Stellungnahme des Bundeslandwirtschaftsministers kenne ich nicht. Die Haltung der CDU/CSU ist leider auch nicht eindeutig auszumachen. Auch jetzt nach Herrn Michels weiß ich nicht, was die CDU/CSU nun will.
Um es vorwegzunehmen: Wir Sozialdemokraten lehnen einen Zwang zur Beimischung von EG-Getreide zu Futtermitteln ab.
Das gilt gleichermaßen für eine nationale wie für eine EG-weite Anwendung.
Wir sagen das, Herr Kollege Eigen, in voller Kenntnis der besonderen Schwierigkeiten auf dem Getreidesektor, weil wir beim Abwägen aller Möglichkeiten den Zwang für den falschen Weg halten.
Wir wissen, daß die Getreideerzeugung zur Zeit den Verbrauch um etwa 40 Millionen Tonnen übersteigt, was einem Selbstversorgungsgrad von etwa 130 % entspricht — mit steigender Tendenz. Uns ist bekannt, daß sich die Kosten auf dem Getreidesektor seit 1984 auf 7 Milliarden DM verdoppelt haben.
Wir halten es auch für bedenklich — Herr Michels, Sie haben es angesprochen —, daß im Durchschnitt der zwölf Mitgliedsländer der Getreideanteil in Futtermitteln nur noch 30 bis 40 % beträgt. Es ist richtig, daß eine Erhöhung des Getreideanteils in Futtermitteln mehr Getreide in die Futtertröge lenken, die Exportmenge vermindern und den Import von Substituten entsprechend zurückdrängen würde.
Trotzdem sind wir dagegen.
Wir sind erstens dagegen, weil ein Beimischungszwang nichts anderes ist als eine Quotenregelung und eine Kontingentierung. Das bedeutete zwangsläufig mehr Dirigismus und Bürokratie. Die Erfahrungen, die wir gerade in der Agrarpolitik mit solchen Regelungen gemacht haben, sind nicht angetan, diesen Weg fortzusetzen.
Der zweite Grund: Ein Beimischungszwang ist mit den Regelungen des GATT nicht vereinbar; das wissen Sie genausogut wie ich. Wir in der Bundesrepublik können nicht lautstark den Abbau von Handelsbeschränkungen und den Abbau von Protektionismus bei anderen fordern und dann selber zu Maßnahmen greifen, die zu einem zwangsweisen Zurückdrängen der Futtermittelimporte führen.
— Ich weiß, ich sage genau das gleiche bei den Bauern. Ich hoffe, die anderen tun das auch.
Im übrigen würde die, die von einer solchen Maßnahme am meisten betroffen sind, vor allem die Vereinigten Staaten, die Futtermittel im Gesamtwert von 2,5 Milliarden Dollar in die EG exportieren, unweigerlich zu drastischen Gegenmaßnahmen zu Lasten unserer exportorientierten Wirtschaft und der damit verbundenen Arbeitsplätze greifen. Andere Lieferländer würden sich sicher ähnlich verhalten.
Drittens: Bereits 1966 hat das Bundesverfassungsgericht jeden Beimischungszwang für verfassungswidrig erklärt.
Viertens: Der Europäische Gerichtshof hat einen vergleichbaren Tatbestand ebenfalls für mit dem EG-Vertrag unvereinbar gehalten. Erinnern Sie sich an
3244 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 46. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. Dezember 1987
Müller
die Milchgeschichte, Frau Flinner. Aber da waren Sie noch nicht im Bundestag; wir wissen das. Eine Lösung der Probleme — —
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Eigen?
Immer, natürlich.
Herr Kollege, ist Ihnen klar, daß die damalige Beimischung von Magermilchpulver mit einem Kautionssystem verbunden war? Dieses Kautionssystem wurde vom EuGH in Luxemburg abgeleht, nicht die Beimischung selbst.
Herr Kollege Eigen, das stimmt nicht. Es ging dort um den Beimischungszwang. Das wurde verboten; tut mir leid. Aber wir beide können es hier nicht klären. Schauen Sie sich das bitte noch einmal an. Ich habe es mir nämlich angeguckt.
Eine Lösung der Probleme, meine sehr verehrten Damen und Herren, auf dem Getreidemarkt kann deshalb nur erreicht werden, wenn es gelingt, die Produktion durch Extensivierung und Umwidmung von Nutzflächen zu verringern. Daneben ist erforderlich, nicht durch einseitige Regelung, die die Lieferländer vor den Kopf stößt und zu Gegenreaktionen herausfordert, sondern durch Verhandlungen im GATT und/ oder mit den betroffenen Ländern, die wünschenswerte und notwendige Verminderung der Substitutimporte durchzusetzen. Den Überweisungsvorschlägen stimmen wir zu.
Ich bedanke mich.
Das Wort hat der Abgeordnete Paintner.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich will nicht gehässig sein, aber wenn man den Beitrag gerade von der Opposition gehört hat, muß man sagen, daß dahinter sehr viel Wahrheitsgehalt ist, der sicherlich beinahe auch unsere Überlegungen mit abdeckt.
Der Antrag der GRÜNEN zur Einführung eines Zwangs zu einer 50 %igen Beimischung für Getreide geht wie üblich an einigen Tatsachen vorbei, die die GRÜNEN entweder nicht wissen oder bewußt verschweigen.
Es gibt wichtige Gründe, die gegen die Beimischung als Maßnahme zur Beseitigung der Getreideüberschüsse sprechen. Diese sind vornehmlich rechtlicher Natur.
Erstens. Auf nationaler Ebene stößt sich die von den GRÜNEN geforderte Regelung an Art. 12 des Grundgesetzes, der nur unter bestimmten Voraussetzungen eine Einschränkung der Berufsausübung vorsieht. Auf keinen Fall ist es verfassungsrechtlich zulässig, durch die Feststellung eines Mindestanteils in die Berufsfreiheit der Futtermittelhersteller einzugreifen.
Es kann nicht angehen, daß gerade die, die für die Überschußproduktion eigentlich nichts können, durch diese Maßnahme bestraft würden.
Zweitens. Das EG-Recht steht dem Anliegen der GRÜNEN entgegen. Die GRÜNEN müssen sich fragen lassen, ob sie ignorieren, daß der Europäische Gerichtshof die Verwendungspflicht von Magermilchpulver abgelehnt hat. Oder meinen sie vielleicht, daß der Beimischungszwang für Getreide etwa eine andere rechtliche Qualität hat? Die Richter lehnten die Magermilchpulverausgabepflicht damals ab, weil ihrer Ansicht nach der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit nicht beachtet worden war. Danach müssen vorrangig andere Instrumente zur Beseitigung der Überschüsse zum Tragen kommen.
Ob es sich dabei um Magermilchpulver oder Getreideüberschüsse handelt, ist nebensächlich.
Drittens. Lassen Sie mich auf ein weiteres rechtliches Handicap hinweisen, nämlich auf die GATT-Vereinbarungen.
— Wissen Sie, Frau Kollegin, wenn Sie hier sagen, daß dies das große Übel ist, dann haben Sie nämlich recht; aber Sie müssen dann zugleich auch eine Antwort darauf geben, nachdem Sie wissen, daß jeder dritte Arbeitsplatz vom Export abhängt, was ein Handelskrieg für Deutschland bedeuten würde.
— Reden Sie doch nicht so laut.
— Das müssen gerade Sie sagen. Wir haben für die Bauern schon mehr getan, als Sie überhaupt tun wollen.
Mit der Festlegung von Getreideanteilen für Mischfutter würde einheimischem Getreide vor Importwaren der Vorzug gegeben und ausländisches Getreide quasi zurückgedrängt. Das möchte ich natürlich auch, selbstverständlich. Das wäre in meinem Sinne. Aber wissen Sie: Zwischen wollen und können ist natürlich ein großer Unterschied.
Den Bauern etwas vorgaukeln, das ist wieder etwas anderes.
Eine solche günstige Behandlung unseres eigenen Getreides widerspricht den GATT-Grundsätzen, obwohl für mich bei der Verwendung von einheimischem Getreide im Futtertrog ein Vorteil sichtbar
Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 46. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. Dezember 1987 3245
Paintner
wird: Das wäre ein Beitrag zur Entlastung des Weltgetreidemarktes. Wir können nun einmal nicht weltwirtschaftliche Verpflichtungen, die wir eingegangen sind — und diese sind wir eingegangen — ,
wegkehren.
Ich meine, daß wir gerade in dieser Richtung große Hoffnungen auf den Kopenhagener Gipfel setzen sollten.
Denkbar wäre auch, Getreide entsprechend zu verbilligen — das heißt nicht, den Getreidepreis zu senken — , damit es gewissermaßen von selbst in den Futtertrog fließt. Das ist sowohl von der finanziellen Seite als auch von der verwaltungsmäßigen Durchführbarkeit her eine Frage, die die Kommission zu beantworten hat. Auf jeden Fall wäre das billiger, als pro Tonne Getreide rund 300 DM Exportausgleich zu zahlen.
Den Antrag der GRÜNEN — jetzt muß ich leider aufhören —
werden wir im Ausschuß sicherlich auseinanderpflükken. Dann werden wir uns ganz genau in der Sache unterhalten.
Wir werden auch Ihnen einmal beweisen, daß Sie hier viel zur Debatte stellen, was so nicht durchführbar ist.
Obwohl ich bis vor kurzem glaubte, wir wären jetzt am Schluß, hat sich jetzt noch der Vertreter der Bundesregierung gemeldet.
Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär im Bundesministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren Kollegen! Ich will hier keine lange Rede halten. Eines möchte ich aber feststellen. Wunsch und Wirklichkeit sind eben auch hier zwei paar Stiefel. Ich möchte ausdrücklich — ausdrücklich! — dem Vorsitzenden des Ernährungsausschusses dafür danken, daß er hier die Auffassung der Bundesregierung im wesentlichen vorgetragen hat.
Danke schön.
Das war also eine Regierungserklärung aus einem dafür unzuständigen Munde.
Meine Damen und Herren, ich schließe die Aussprache. Der Ältestenrat schlägt vor, den Antrag an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Weiterhin soll der Antrag zur Mitberatung an den Ausschuß für Wirtschaft überwiesen werden. — Ich sehe, Sie sind damit einverstanden. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Meine Damen und Herren, wir sind damit am Schluß unserer heutigen Tagesordnung. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Freitag, den 4. Dezember 1987, 8 Uhr ein.
Die Sitzung ist geschlossen.