Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Auch 42 Jahre nach der nationalsozialistischen Tyrannei ist es nicht leichter geworden, über das damalige Unrecht, die millionenfachen Opfer und über Wege zu sprechen, wie man Unrecht wenigstens teilweise gutmachen könnte. Ganz gleich, welcher Generation wir als Deutsche angehören: Wir stehen zunächst einmal hilflos und fast ohnmächtig dem Leiden und den Qualen gegenüber, die die Menschen erleiden mußten. Keine ärztliche Behandlung, keine Therapie und Pflege, keine berufliche Rehabilitation, kein Geldbetrag und auch keine Ehrenerklärung vermögen auszugleichen, was die Opfer erlitten haben, was Opfern medizinischer Versuche zugefügt wurde, wenn Menschen zwangssterilisiert oder in grenzenloser Hybris als unwert gezeichnet wurden.
Nur eines steht für mich dauerhaft fest: Alle, die den schlimmen Verlockungen der Diktatur widerstanden haben, alle die leiden mußten, waren und bleiben das moralische Fundament unserer freiheitlichen Demokratie, die seit 1949 die Würde des Menschen in das Zentrum jedweden Handelns gestellt hat.
Sie bleiben aber auch ständige Warnung und Mahnung, jedwedem totalitären Denken in unserer Gesellschaft jederzeit und mit allen unseren Möglichkeiten zu begegnen.
Wir zollen daher den Opfern des Nationalsozialismus nicht nur unsere Anerkennung und unseren Respekt; nein, wir haben Grund, ihnen dauerhaft in Dankbarkeit verbunden zu bleiben.
Wenn wir heute zur Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts weitere 300 Millionen DM zur Verfügung stellen, werden wir uns der Kritik aus zwei sehr unterschiedlichen Richtungen zu stellen haben. Die einen werden sagen: Wir haben genug wiedergutgemacht; es ist ungerecht, daß 42 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges einer Generation, die mit dem NS-Terror nichts mehr zu tun hatte, immer noch finanzielle Lasten aufgeladen werden. Die anderen werden sagen, es ist ungerecht, daß ihr so wenig gebt, wo das Leid so groß war und die Not immer noch so erdrückend bleibt.
Den Kritikern jedweder Neuregelungen möchte ich entgegenhalten: Kann der millionenfache Tod von Menschen überhaupt wiedergutgemacht werden? Kann man die physischen und psychischen Schäden derjenigen, denen die Nazi-Schergen Unmenschliches angetan haben, überhaupt jemals gutmachen? Kann es also je genug sein mit der Wiedergutmachung? Die Antwort lautet schlicht: nein.
Tote sind mit Geld nicht wieder zum Leben zu erwecken. Das Leid der überlebenden Opfer ist nicht zu ermessen, ist mit Geld nicht aufzuwiegen. Staatliche Wiedergutmachung hat ihre natürlichen, vielleicht sogar grausamen Grenzen. Sie kann zugefügtes Unrecht und Leid nicht abgelten, sie hat aber die Folgen erlittenen Unrechts und entstandener Schäden zu mildern, soweit dies noch möglich ist. Daß Lücken zu schließen und Härtefälle auch heute noch zu regeln sind, hat die Anhörung in diesem Sommer eindrucksvoll und schmerzlich bewiesen.
Aber dann heißt es: Diejenigen, die heute Steuern zahlen, waren doch nicht schuld. Warum sollen sie finanzielle Opfer bringen? Hier halten wir es mit dem Herrn Bundespräsidenten, der am 8. Mai 1985 in diesem Hause klargestellt hat: Kollektive Schuld gibt es nicht, es gibt nur individuelle Schuld. Es gibt aber eine kollektive Verantwortung, und der stellen wir uns.
Was wir heute und in Zukunft an finanziellen Leistungen für Opfer des Nationalsozialismus und darüber hinaus an Lastenausgleich zahlen, erarbeiten Generationen, die Hitlers Gewaltherrschaft allenfalls als Jugendliche und Kinder erlebt haben oder erst nach Kriegsende geboren wurden. Sie sind daher frei von individueller Schuld. Sie beweisen aber zugleich die kollektive Verantwortung, die ihnen, die uns aus unserer nationalen Geschichte erwächst.
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Gerster
Wiedergutmachungsleistungen sind weiterhin notwendig, um ganz konkret zu helfen. Sie sind aber auch aus moralischer Verantwortung geboten.
Wir beschließen heute die Bereitstellung von weiteren 300 Millionen DM und die Forderung zur Erweiterung der bisher geltenden Richtlinien. Mit Restmitteln aus bestehenden Härtefonds werden ab Januar für die nächste Zeit etwas über 400 Millionen DM zusätzlich zur Verfügung stehen. Man kann diesen Beschluß nur im Zusammenhang mit den bisherigen Leistungen im Rahmen der Wiedergutmachungsgesetzgebung gewichten und werten.
Der 8. Mai 1945 war der Tag der Befreiung für uns Deutsche, aber auch für die vom NS-Terror geschändeten, gequälten und geknechteten Menschen und Völker. Es war nicht die Stunde Null, die anbrach, es war, wie es Heinrich Böll ausdrückte, die Stunde Nichts. Deutschland stand rechtlos in Ruinen, ein Trümmerhaufen, und die Menschen standen vor der Aufgabe, mit einem bitterschweren Erbe, einem verfluchten Erbe fertig zu werden.
Obwohl die blanke Not der meisten Menschen, vor allem auch von 12 Millionen Deutschen, die ihre Heimat verlassen und in unserem Land Wohnung, Arbeit und Brot finden mußten, noch weit in die 50er Jahre und darüber hinaus anhielt, wurde bereits drei Jahre nach Gründung der Bundesrepublik Deutschland mit der Wiedergutmachung begonnen.
Mit dem Abkommen zwischen der Bundesrepublik und dem Staate Israel begann der Versuch, wenigstens einen Teil der Schäden materiell auszugleichen, die das perverse System des Nationalsozialimus Millionen von Menschen zugefügt hatte. Es folgten zahlreiche weitere zwischenstaatliche Abkommen mit Staaten, die von Hitlers Armeen überfallen und verwüstet wurden.
Ich möchte nur eine Zahl nennen: Zur Liquidation der Kriegs- und NS-Folgen hatte die Bundesrepublik Deutschland allein bis 1965 rund 350 Milliarden DM aufgebracht. Dabei handelte es sich um Leistungen im Rahmen der Wiedergutmachung, des Lastenausgleichs und um solche, die sich an die Kriegsfolgengesetzgebung anschlossen.
Wir im freien Teil Deutschlands haben uns — ich sage dies bei aller Bescheidenheit, die uns Deutschen gut ansteht — vor dem schlimmen Erbe, das uns die Nazidiktatur hinterließ, nicht gedrückt. Wir unterscheiden uns damit von der DDR, welche diese Wiedergutmachung bis heute ablehnt. Alle in diesem Hause jeweils vertretenen demokratischen Parteien haben sich von der Gründung der Bundesrepublik Deutschland an uneingeschränkt zur moralischen Verpflichtung der Deutschen bekannt, den Opfern des Nationalsozialismus materielle Wiedergutmachung zu gewähren. Alle Parteien waren sich jedoch auch stets einig, daß es bei allem Bemühen um materielle Wiedergutmachung auch Grenzen gibt, die kaum zu überwinden sind.
Ich möchte hier zitieren:
Finanzielle Entschädigung aber konnte es immer nur für diejenigen geben, die einen Schaden erlitten haben. Wir haben viele, die großen Schaden erlitten haben, nicht befriedigen können, weil unser Geldsäckel nicht ausreicht oder weil es nicht mehr praktikabel ist. Um so weniger können wir irgendwelche Schmerzensgelder jemanden geben, der doch letzten Endes das Glück hatte, durch die Schergen Hitlers nicht ertappt zu werden und eben nicht geschädigt zu werden.
Diesen Hinweis machte in der Bundestagsdebatte am 26. Mai 1965 der SPD-Abgeordnete Martin Hirsch, ein Mann, der sich seinerzeit große Verdienste um die Wiedergutmachung erworben hat.
Hirsch machte in dieser Rede eine weitere Grenze deutlich, als er sagte:
So gibt es viele Probleme, die sicherlich der gesamte Ausschuß im Einvernehmen mit dem Ministerium gern gelöst hätte, die heute einfach nicht mehr lösbar sind, weil die Zeit über sie hinweggegangen ist.
Hirsch meinte nicht nur Fälle, in denen die Opfer bereits verstorben waren. Er meinte vor allem auch Fälle, die bereits 1965 nicht mehr hinreichend nachprüfbar waren. Wenn dies schon vor 22 Jahren galt — ich habe keinen Grund, an der Ehrlichkeit des Herrn Hirsch zu zweifeln — so gilt dies heute, 22 Jahre nach der erwähnten Rede und 42 Jahre nach Kriegsende, leider erst recht.
Meine Damen und Herren, die Grenzen der Wiedergutmachung deutlich zu machen, heißt nicht — ich bitte, mich da nicht mißzuverstehen — , sich um die materiellen Pflichten der Wiedergutmachung herum-mogeln zu wollen. Ich glaube, dieser Vorwurf kann den Deutschen in der Bundesrepublik Deutschland auch nicht gemacht werden; denn wir haben redlich versucht, auch den materiellen Teil unseres Erbes zu tragen und den daraus erwachsenen Verpflichtungen im Rahmen der uns verfügbaren Möglichkeiten gerecht zu werden. Dies gilt auch noch für die Zukunft, denn noch über 20 Milliarden DM für die Wiedergutmachung — übrigens auch die etwa gleiche Summe für den Lastenausgleich — werden auf Grund bereits geltenden Rechtes noch zu leisten sein. Für die Wiedergutmachung allein werden dann über 100 Milliarden DM aufgewandt sein.
Heute wollen wir über weitere Leistungen beschließen, über die Bereitstellung von Geldern für die Opfer des Nationalsozialismus, die aus verschiedensten Gründen bisher keine Wiedergutmachung erhalten haben. Wir wollen noch bestehende Härten mildern und weitere Opfer des Nationalsozialismus in die Wiedergutmachung einbeziehen. Wir werden, meine Damen, meine Herren, wieder keine perfekte Lösung beschließen. Eine solche wird es nie geben. Wir — CDU/CSU und FDP — haben uns aber bemüht, eine gerechte Lösung zu finden. Dabei gebietet es der Respekt vor den Opfern nationalsozialistischer Gewalttaten und die Ehrlichkeit gegenüber allen Bürgern, klarzumachen, daß die Koalition der Mitte diesen Beschluß nun wirklich endgültig als das Ende der Wiedergutmachungsregelungen ansieht; eine Art Schlußregelung, die übrigens nach Meinung aller Parteien bereits 1965 erreicht worden war.
Ich möchte ausdrücklich den Kolleginnen und Kollegen von der FDP danken, mit denen wir in den vorausgegangenen Diskussionen ernst und fair gerungen
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haben. Gemeinsam haben wir eine Lösung erarbeitet, die unserer Verantwortung gegenüber den Opfern des Nationalsozialismus gerecht wird, soweit der Staat hier überhaupt Gerechtigkeit schaffen kann. Unser Dank gilt aber auch den beteiligten Verbänden und Organisationen, die sich kritisch, konstruktiv und mit großem Ernst um Lösungen mit bemüht haben und noch bemühen. Wir danken auch dem Bundesfinanzminister und seinen Mitarbeitern für die sachverständige Beratung und Unterstützung.
Die Fraktion DIE GRÜNEN fordert eine, wie es heißt, angemessene Versorgung aller Opfer nationalsozialistischer Verfolgung. Aus ihrem Entwurf wird aber nicht deutlich, nach welchen Kriterien sie die Entschädigung vornehmen will.
Meine Damen und Herren von den GRÜNEN, ich halte Ihren Antrag für nicht sehr seriös.
Private Wiedergutmachung kann grenzenlos und willkürlich sein. Staatliche Wiedergutmachung muß sich an Gesetzen, an klaren Kriterien und an den finanziellen Möglichkeiten orientieren. Sie weigern sich, diesen elementaren Grundsatz staatlichen Handelns überhaupt zur Kenntnis zu nehmen. Sie versprechen und Sie fordern Unmögliches.
Ich kann Ihnen den folgenden Vorwurf nicht ersparen: Wer wie Ihre Fraktion nicht willens ist, sich eindeutig von Gewalt zu distanzieren,
der sollte seine Rolle als Anwalt für die Opfer von Gewalt einmal sehr selbstkritisch überprüfen.
Wer, wie aus Ihrer Fraktion geschehen, die bisherigen Wiedergutmachungsleistungen mit mehreren hundert Milliarden DM
als „zweite Phase der Verfolgung" bezeichnet, der versucht nicht, die durch den NS-Terror aufgerissenen Gräben zu schließen, sondern der reißt neue Gräben auf.
Ich möchte Ihnen ein Zitat entgegenhalten, das lautet:
Die Wiedergutmachungs- und Entschädigungsgesetzgebung der deutschen Bundesrepublik ist eine einzigartige Leistung sowohl vom juridischen, moralischen wie — realistisch gesehenen — finanziellen Standpunkt.
Dies sagt nicht irgendwer, dies schrieb Nahum Goldmann, der damalige, inzwischen verstorbene Präsident des Jüdischen Weltkongresses bereits 1981 in der Festschrift für den bereits zitierten SPD-Abgeordneten Martin Hirsch.
Die Fraktion der SPD fordert die Errichtung einer Stiftung „Entschädigung für NS-Unrecht". Auf den ersten Blick scheint vieles für eine solche Stiftung zu sprechen, und auch ich selbst habe lange mit dem Gedanken einer derartigen Stiftung gespielt. Bei näherem Hinsehen erweist sich, daß eine solche Stiftung aber nicht leisten kann, was sie leisten soll. Sie müßten eine neue Bürokratie aufbauen, die sich erst einspielen muß. Dies kostet Zeit, die wir nicht haben. Gerade das Alter der Opfer und das Maß des Leides fordern vielmehr schnelle und unbürokratische Hilfe — übrigens, Frau Kollegin Schmidt, eine schnelle und unbürokratische Hilfe, die alle Sachverständigen in dem Hearing gefordert haben. Und genau darin sehe ich einen Widerspruch zu der Idee der Stiftung.
— Frau Schmidt, ich weiß nicht, ob alle Sachverständigen das Problem einer Stiftung übersehen haben. Sie wollen eine Stiftung mit den Ländern zusammen bilden und daran sogar die Privatwirtschaft beteiligen.
Ich darf daran erinnern, daß der Bundeskanzler Willy Brandt 1972 eine Nationalstiftung angekündigt hat, und es hat 15 Jahre gedauert, bis eine Kulturstiftung zwischen Bund und Ländern zustande kam.
— Herr Baum, Sie haben recht, so toll ist die wirklich nicht. — Nehmen Sie uns bitte ab, daß für uns allein die Erwägung, die Wiedergutmachung nicht in das Gerangel zwischen Bund und Ländern hineinziehen zu wollen, Veranlassung ist, das an sich zunächst bestechende Modell der Stiftung abzulehnen.
Überdies würde eben eine neue Bürokratie einer derartigen Stiftung Geld kosten, das den Opfern fehlen würde, das wir aber unmittelbar und schnell schon Anfang 1988 zur Entschädigung einsetzen wollen.
Meine Kolleginnen und Kollegen von der SPD-Fraktion, Sie verfolgen das gleiche Ziel wie wir, aber Sie beschreiten den falschen Weg. Wenn ich sehe, wie Sie Ihr Stiftungsmodell inzwischen aus- und nachgebessert haben, kann ich mich des Eindrucks nicht erwehren, daß Sie das inzwischen auch selbst merken.