Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Vor einer Woche standen die Zahlen zum Haushalt im Mittelpunkt unserer Beratungen. Eine für den Gesamtetat unscheinbar kleine Summe fiel da kaum auf. Heute reden wir von den Menschen, von den Betroffenen, von den Opfern der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft, für die diese Summe zur Verfügung gestellt wurde und wird. Für diese Menschen ist es ungeheuer wichtig, daß wir dies taten und tun.
Ich bin mehrfach und von verschiedenen Seiten gefragt worden, ob es denn noch notwendig sei, noch einmal ein Thema aufzurollen, das viele abgeschlossen zu haben glaubten. Ich habe all denen gesagt — ich wiederhole es hier — : Solange noch Opfer der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft unter uns leben, bleibt die schreckliche Vergangenheit Gegenwart. Solange noch Opfer unter uns leben, die nicht als Opfer respektiert und anerkannt wurden, werden wir dem Anspruch und Maßstab nicht gerecht, den der erste Bundespräsident, der Liberale Theodor Heuss, setzte, als er von der Verantwortung sprach, die sich aus der Kollektivscham der Deutschen gegenüber ihrer Vergangenheit ergibt. Diese Scham darf nicht verjähren.
Ich weiß um die Schwierigkeiten, die es insbesondere in der letzten Legislaturperiode gegeben hat, den nahezu vergessenen Opfern des NS-Terrors wenn schon nicht Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, so doch Anerkennung und Hilfe zu geben. Deswegen möchte ich einer Kollegin danken, daß sie mit ihrer bekannten Energie und Zähigkeit begann, allzu dick erscheinende Bretter zu bohren, unserer Kollegin Hildegard Hamm-Brücher.
Auf ihren Vorarbeiten konnten wir in diesem Jahr aufbauen. Ich bin dankbar, daß ich die Vorarbeiten meiner Kollegin nutzen konnte, um weiterzumachen.
Ich möchte auch einen Dank an Johannes Gerster geben, der als der Verantwortliche in der großen Koalitionsfraktion tatkräftig mitgeholfen hat, daß wir das erreichen, was heute kommt.
In der Anhörung des Innenausschusses am 24. Juni konnte etwas bewirkt werden, was viele für nicht möglich gehalten hatten: Die Betroffenen lehrten uns, die Aufgaben zu verstehen, die aus der deutschen Nachkriegszeit nachgeholt werden müssen. Betroffene, die Opfer des NS-Terrors, machten uns, die Parlamentarier, betroffen. Viele zeigten uns, daß nicht das Geld im Vordergrund der Erwartungen steht, sondern die moralisch-politische Bewertung dessen, was ihnen angetan worden ist. Die Koalitionsfraktionen haben daraus die Konsequenz gezogen, im heutigen Entschließungsantrag nicht nur zu sagen, wem und
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nach welchen Kriterien was gezahlt werden soll, sondern die politische Aussage voranzustellen, mit der wir Anerkennung und Respekt den Opfern des NS-Terrors bezeugen. Opfer des NS-Terrors sind die noch heute mitten unter uns Lebenden. Das sind die jüdischen Mitbürger; ich nenne sie auch in Anbetracht der Anhörung an erster Stelle. Der Vorsitzende der jüdischen Gemeinde zu Berlin, Heinz Galinski, der sich so große Verdienste um die Wiederrespektierung Deutschlands, um die Integration der jüdischen Mitbürger in unseren Staat und auch um die Wiedergutmachung für nicht-jüdische Opfer erworben hat, hat nicht ohne Grund am letzten Sonntag anläßlich seines 75. Geburtstages daran erinnert, daß es auch eine Frage der politischen Kultur in Deutschland ist, wie wir mit Juden und ihren Gemeinden umgehen. Da sind aber auch diejenigen Mitbürger, die sich als Sinti und Roma organisiert haben, ja, ich sage: deren guter Name „Zigeuner" nicht nur von Nationalsozialisten pervertiert worden ist. Da sind diejenigen, die als Opfer der von uns absolut nicht akzeptierbaren Erbgesundheitsgesetze Schäden an Leib und Leben erlitten, noch verstärkt durch die psychischen Auswirkungen dessen, was ihnen angetan wurde. Da gibt es die Homosexuellen, deren Lebensweise erst viel zu spät straffrei gestellt wurde, die unter dem NS-Regime Terror und Verfolgung erlitten haben und sich wegen der auch nach dem Krieg bestehenden Kriegsgesetze nicht als Opfer melden wollten. Da gibt es die Zwangsarbeiter. Da gibt es die Gruppe der Menschen, die als „Mengele-Zwillinge" das schändliche Geschichtsbuch des NS-Regimes füllen. Da gab es politischen Widerstand gegen das NS-Regime auch aus politischen Richtungen, die etwa als Kommunisten von uns in diesem Staat bekämpft werden. Unser politischer Kampf in demokratischer Auseinandersetzung darf aber doch nicht das gemeinsame Leiden im KZ vergessen machen.
Wir ehren die Opfer des NS-Terrors und respektieren den Widerstand auch dann, wenn wir ihre politische Meinung bekämpfen. Wir Liberale zollen dem Respekt, der verfolgt wurde, ganz gleich ob Feind, ob Gegner oder Freund.
Wir Liberale sehen auch und würdigen die große Leistung der Bundesrepublik Deutschland, die auf Grund früherer Entscheidungen des Deutschen Bundestages als Wiedergutmachung erbracht worden ist. Herr Gerster hat mit Recht daran erinnert. Wir lassen diese Leistung nicht in Vergessenheit geraten.
Die Bundesrepublik Deutschland hat mit den Leistungen nach den Wiedergutmachungsgesetzen nicht wiedergutmachen können, was geschehen ist. Sie hat aber gezeigt, zu welcher moralischen Kraft ein demokratischer Staat in der Lage ist. Daran lassen wir auch dann nicht rütteln, wenn sich jetzt zeigt, daß weitere Härteregelungen notwendig sind.
Meine Damen und Herren, wir danken auch den vielen, durch deren verständnisvolle Begleitung der Wiedergutmachungsgesetzgebung und Wiedergutmachungspraxis Wege geebnet wurden, den Weg zwischen politischer Verantwortung und finanzieller Leistungsfähigkeit des Staates zu finden. Ich möchte hier stellvertretend für die vielen, auch aus den großen Kirchen, einen erwähnen, Werner Nachmann, den Vorsitzenden des Zentralrates der Juden, der Augenmaß der Forderung und Realisierbarkeit finanzieller Wünsche gleichermaßen berücksichtigte und ohne den das Wiedergutmachungswerk der Bundesrepublik so nicht hätte durchgeführt werden können.
Meine Damen und Herren, die Koalitionsfraktionen lehnen die Anträge der GRÜNEN ab, weil sie in nicht begründbare finanzielle Forderungen ausufern. Wir konnten auch dem SPD-Antrag mit dem Wunsch nach Errichtung einer Stiftung nicht zustimmen, weil wir uns von Kriterien leiten lassen mußten, die ich, wie folgt, kurz erwähnen will. Niemand wird verantworten können, daß eine neue Gesetzgebung als Kriegsfolgengesetz oder als Novelle zum Wiedergutmachungsgesetz entsteht. Darüber waren wir uns, mit der SPD jedenfalls, einig; denn dabei würden zugleich Fragen aufgegriffen, die sich aus den abertausend abgeschlossenen Fällen ergeben. Wir können aber auch die bisherigen Kriterien, die wir ja gemeinsam 1980/81 in den Härtefonds gefunden haben, nicht einfach aufgeben. Wir lassen uns an diesen Kriterien messen.
Wir lassen uns auch daran messen — das haben wir in den Antrag hineingeschrieben —: Weder das Territorialitätsprinzip noch das Londoner Schuldenabkommen sind Daten, die wir verändern können. Die Härteregelungen der existierenden Fonds, der Claims-Conference und des Regierungspräsidenten in Köln, sowie des Finanzministers bleiben für uns Grundlagen weiterer Planungen. Wir orientieren uns an den Kriterien dieser Regelungen.
Wir sagen auch mit Nachdruck: Hier ist nicht bürokratische Sparsamkeit gefordert, sondern schnelle Entschädigung. Wir wollen aber auch, daß das Geld, das jetzt zur Verfügung gestellt worden ist, nicht in irgendwelchen Töpfen gehortet wird, wie es in Köln geschehen sein soll. Es soll den Opfern schnell zugute kommen.
Die Schnelligkeit erreichen wir mit unserer Regelung. Ich bin Frau Vollmer dankbar, daß sie darauf hingewiesen hat, daß wir von Anfang an gesagt haben: Wir wollen eine schnelle Regelung, weil die Opfer in ihrem Alter schnell Geld brauchen. Wenn man mit Geld schon keine Gerechtigkeit schaffen kann, dann muß man es aber doch wenigstens schnell zur Verfügung stellen können.
Meine Damen und Herren, wir werden auch in den ersten Beratungen des Innenausschusses im nächsten Jahr darauf bestehen, daß durch Neufassung der Richtlinien ein Abfluß der Mittel an die Opfer wirksam erfolgt. Wir haben zusätzlich zu dem, was gewährt worden ist, 300 Millionen DM zur Verfügung gestellt. Wir haben gesagt: 300 Millionen DM reichen nach unseren Berechnungen für alle Fälle aus, die wir an den Kriterien, die wir für notwendig halten, messen. Weil wir dies sagen, sagen wir auch: Das ist die Schlußregelung. Wir sagen dies auch aus Gründen der Ehrlichkeit. Ich bin auch manchmal gefragt worden, ob wir es denn vertreten können, jetzt die Aus-
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stattung der Fonds zu erhöhen, wenn dann die Betroffenen meinten, die Zahlungsbeträge würden erhöht. Nein, wir kommen an den Beträgen — so niedrig sie sein mögen — pro Opfer nicht vorbei. Wir haben hier Maßstäbe zu respektieren. Und wir werden mit den 300 Millionen DM auskommen. Ich vertraue auf die Zuverlassigkeit der Berechnungen, die dazu angestellt worden sind.
Aber wir werden auch sehr gründlich prüfen, daß der Wunsch der Koalitionsfraktionen nach Verbesserung der Richtlinien ebenso umgesetzt wird wie der Wunsch der Koalitionsfraktionen, daß die Länder die Zweitregelung nach dem BEG flexibler und leichter ausgestalten als bisher.
Wir werden die Bundesregierung daran messen, ob eingehalten wird, was wir hier in dem Antrag fordern. Das ist kein Antrag, der nur heute auf den Tisch kommt. Das ist vielmehr ein Antrag, dessen Umsetzung laufend kontrolliert und beobachtet wird. Ich verstehe es auch als Aufgabe eines Koalitionspolitikers, hier darauf zu achten, daß das, was wir wollen, auch wirklich umgesetzt wird. Ich habe keinen Zweifel daran, daß das geschieht, aber ich sage dies hier, weil das ein bißchen deutlich machen soll, warum wir so lange zögerten — denn wir hatten Zweifel — ob wir den SPD-Antrag wegen der Richtlinien überhaupt brauchen.
Wir sind der Meinung — wir werden dies im Ausschuß deutlich machen — , daß wir mit dem hinkommen, was uns vorschwebt. Wir wollen die Regierung nicht aus der Verantwortung für ihre eigenen Richtlinien entlassen, aber wir wollen sie kontrollieren. Deswegen soll uns die Regierung vorlegen, was sie will, und wir sagen dazu, was wir damit machen wollen.
Meine Damen und Herren, wir brauchen auch ein Mitberatungsgremium. Ich verwende diese Formulierung bewußt, und die Kollegen aus dem Ausschuß wissen, warum. Sosehr ich Einspruch dagegen einlege, die Entscheidung über die Vergabe von Geldern als Mitbestimmungsaufgabe an Betroffene zu übertragen, so sehr werde ich darauf drängen, daß Information und Konsultation der Betroffenen gewährleistet sein werden. Wir brauchen ein alle Betroffenen einbeziehendes Mitberatungsgremium, kein Mitentscheidungsgremium. Diesem Mitberatungsgremium soll Rechenschaft über die Mittel gegeben werden, die abgeflossen sind, sowie über die Art, wie Wiedergutmachung geleistet wird. Ich bin auch dankbar, daß wir bei der Bundesregierung eine Beratungsstelle für diejenigen bekommen, die nicht organisiert sind; denn auch an diejenigen Mitbürger wollen wir denken.
Meine Damen und Herren, die FDP-Fraktion wird dem vorliegenden Entschließungsantrag der Koalitionsfraktionen zustimmen. Den SPD-Weg zu einer Stiftung gehen wir nicht mit, weil nur auf dem von uns jetzt gewählten Weg gesichert ist, daß den Opfern des NS-Terrors schnell und unbürokratisch geholfen wird, so daß sie schon im nächsten Jahr erste Zahlungen erwarten können. Nicht spätere Erben der Opfer, sondern die Überlebenden selbst sind diejenigen, an die wir uns wenden.
Meine Damen und Herren, wir werden die beiden neuen Anträge der GRÜNEN hinsichtlich der Ehrenbürgerschaft und hinsichtlich der Änderung des Sozialhilfegesetzes — ohne daß ich jetzt in der Sache dazu Stellung nehmen möchte — an die Ausschüsse überweisen, weil wir meinen, daß ein solches Thema beraten werden muß. Wir wollen es nicht abwürgen, sondern wir wollen die Beratung in den Ausschüssen offen führen, so offen, wie wir auch die Beratungen im Innenausschuß geführt haben. Nach ersten Kämpfen untereinander haben wir es mit dem, was hier vorgelegt wird, glaube ich, geschafft, uns wenigstens offen und ehrlich in die Augen sehen zu können. Ich glaube, wir können uns vor den Opfern sehen lassen.
Danke schön.