Rede von
Maria Luise
Teubner
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (DIE GRÜNEN/BÜNDNIS 90)
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Eine Vorbemerkung zu dem Topf, der in dieser Stunde hier zusammengemischt worden ist, wo wieder einmal das Ressort des Herrn Schneider beraten wird. Herr Westphal hat ja selbst etwas Probleme, zu glauben, daß heute hier über den Raumordnungsbericht — 150 Seiten — , Bauwerksschäden, Probleme der hochverdichteten Neubausiedlungen und die Situation der Mieterinnen und Mieter in den Trabantenstädten insgesamt beraten werden soll. Das geht einfach nicht.
Ich finde es auch schon eine Zumutung, es sich von den Mitgliedern des Ältestenrats bieten zu lassen, hier so etwas zusammenzumischen und dann hier in 60 Minuten insgesamt abzuhandeln.
— Wir werden dafür sorgen, daß beim nächsten Mal genügend Zeit für jedes dieser wichtigen Themen eingeräumt wird.
Ich beschränke mich deshalb auch auf den Raumordnungsbericht.
Der Maßstab der künftigen Raumordnung ist das Fahrrad.
Dies ist, meine Damen und Herren, nicht, wie Sie jetzt vielleicht meinen, einer von den erzfundamentalgrünradikalen Sprüchen, nein, „Der Maßstab der künftigen Raumordnung ist das Fahrrad", das war das Motto des Raumordnungsberichts in unserem Nachbarland Holland vor knapp zehn Jahren, 1978.
Vordergründig mag dies vielleicht als reichlich verkürzte Sichtweise erscheinen, geht es bei der Raumordnung doch letztlich um die Gestaltung, zumindest die Mitgestaltung und Entwicklung der wirtschaftlichen, ökologischen, sozialen und politischen Rahmenbedingungen des Lebens in allen Räumen eines Landes, in städtischen Ballungsgebieten ebenso wie in dünnbesiedelten, schwach strukturierten Regionen abseits der wirtschaftlichen Zentren des Bundesgebietes.
Für alle diese unterschiedlichen Räume soll das Fahrrad zum Maßstab werden? — Ich will das erklären.
— Das Fahrrad. — Ich will nur noch einmal an den schönen Auftrag des Raumordnungsgesetzes von 1965 erinnern. Demnächst kriegen wir ja ein noch schöneres, ein neues Raumordnungsgesetz. In allen Teilen der Bundesrepublik seien gesunde und gleichwertige Lebensbedingungen zu schaffen und zu erhalten, hieß es damals. Wäre dieser Auftrag erfüllt worden, müßte ich heute — gleich ob ich in Tuttlingen, Mannheim oder Freiburg wohne — Lebensbedingungen vorfinden, die in einem für mich überschaubaren — ich komme auf das Fahrrad zurück —, also mit dem Fahrrad erreichbaren Bereich es mir ermöglichen, an meinen Arbeitsplatz zu kommen und mich mit dem zu versorgen, was ich zum Leben brauche.
Dazu gehören neben gesunder Nahrung und Kleidung auch Kultur-, Bildungs-, Freizeit- und Erholungsangebote sowie soziale Einrichtungen. Nicht nur die, die in Tuttlingen, Mannheim oder Freiburg wohnen, wissen, daß dem so nicht ist.
Die Raumordnungspolitik in der Bundesrepublik hat ihr zentrales Ziel verfehlt. Was wir feststellen — das stellt auch dieser Bericht fest — , ist die Aufteilung des Raumes in attraktive Zentren mit sogenannter hochwertiger Infrastruktur und vielseitigen Arbeitsplätzen einerseits und andererseits Regionen, die von diesen Zentren abhängig sind, in denen die Menschen immer schwerer Möglichkeiten zum Leben und Arbeiten finden, Regionen, die zur „Provinz" im römischen Sinn geworden sind. Sie sind Nahrungs- und Rohstofflieferanten für die Metropolen und gleichzeitig Schuttplatz der Industriegesellschaft geworden.
3154 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 46. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. Dezember 1987
Frau Teubner
Sie sind gut für die Ansiedlung von Giftindustrien, von Mülldeponien, von Flugplätzen, von Teststrecken, von Truppenübungsplätzen, von Raketendepots, für die AKWs und für die WAA.
Zwischendrin
gibt es vielleicht noch ein paar Reservate für Feuchtwiesen oder andere schöne Biotope für die bedrohte Tier- und Pflanzenwelt, zur Erbauung der erholungssuchenden Touristen aus der Stadt. Diese Funktionstrennung, meine Damen und Herren, erinnert mich doch stark an Kolonialismus.
Auf die Ursachen der Raumordnungspolitik kann ich wegen der Kürze der Zeit nicht eingehen. Der industrielle Wachstumswahn hat auch hier einen erheblichen Teil beigetragen.
Das Spannende ist nun aber die Frage: Warum hat dieses Thema auf einmal Konjunktur? Was ist auf einmal daran so interessant, daß der Europarat eine Zweijahreskampagne zum „Ländlichen Raum" macht, daß in Baden-Württemberg der ländliche Raum zu d e m Wahlkampfschlager geworden ist?
Nun, wann wachen Politiker meist erst richtig auf? Wenn man sie kräftig in den Allerwertesten tritt oder — um es gewaltfreier auszudrücken — wenn es plötzlich Akzeptanzprobleme für ihre Politik gibt.
Gott sei Dank sind die Zeiten vorbei, endgültig vorbei, wo man sich erlauben konnte, die Probleme der Verdichtungsräume einfach in solche Gebiete auslagern zu können, von denen man meinte, die Menschen dort würden sich nicht wehren. Nein, heute wehren sie sich. Die Bauern wollen ihren Minister Kiechle nicht mehr sehen; sie wollen ihre Felder weder von der Teststrecke in Boxberg zerstören lassen noch vom Flughafen in Stuttgart auffressen lassen.
Und endlich, endlich, klingelt es bei den hohen Herren. Besonders spannend wird es jetzt natürlich, wenn diese Leute nicht nur nein sagen, sondern auch beschreiben, wie sie sich denn ganz konkret eine lebenswerte Zukunft für ihre „Provinz" vorstellen, so wie es die Vertreter von über tausend baden-württembergischen Gemeinden getan haben, die sich im Gemeindetag Baden-Württemberg einen Forderungskatalog ausdachten, in dem sie sehr genau u. a. auch beschreiben, was sie denn von dieser Bundesregierung erwarten, wenn die es wirklich ernst meint mit den gleichwertigen Lebensbedingungen in Stadt und Land.
Ich gehe mal optimistisch davon aus, daß hier unter Ihnen, meine Damen und Herren, viele sind, die es mit diesen gleichwertigen Lebensbedingungen auch ernst meinen. Sie haben jetzt die Chance, diesen guten Worten auch die Tat folgen zu lassen. Wir haben diese Forderungen des Gemeindetags übernommen. Wir haben sie nicht grün umgeschrieben und ihnen, abgesehen von Einleitung und Schluß, nichts hinzugefügt. Wir haben diese Forderungen mit einigen Kürzungen und ganz, ganz wenigen geringfügigen Änderungen übernommen und legen sie hier zur Abstimmung vor. Wir ersparen Ihnen die namentliche Abstimmung. Ich kann mir gut vorstellen, Herr Magin und Herr Kansy und die andern, daß Sie das sehr beruhigt. Es wäre sehr peinlich geworden, festzustellen, daß Sie hier die Forderungen dieser baden-württembergischen Kommunalvertreterinnen und -vertreter abschmettern. Vielleicht tun Sie es aber nicht. Sie haben es jetzt in der Hand, Kolleginnen und Kollegen. Enttäuschen Sie Ihre Basis nicht! Greifen Sie zu und stimmen Sie unserem Änderungsantrag zu.