Rede von
Dr.
Burkhard
Hirsch
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(FDP)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (FDP)
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich hoffe, daß die wenigen Bemerkungen, die ich als Berichterstatter machen muß, auf die Redezeit nicht angerechnet werden. Ich kann es Ihnen nicht ersparen, ich muß ein paar Dinge aus den Ihnen vorliegenden Drucksachen richtigstellen, und zwar einige redaktionelle Änderungen, die sich ergeben haben.
In § 2 Abs. 1 muß es statt „in Fällen des Absatzes 2" heißen „in Fällen des Absatzes 3"
3226 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 46. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. Dezember 1987
Dr. Hirsch
In § 2 Abs. 3 des vom Innenausschuß beschlossenen Textes muß es statt „im Sinne des Absatzes 3" heißen „im Sinne des Absatzes 4".
In § 8 muß es statt „im Sinne des § 2 Absatz 3 Nr. 1" heißen „im Sinne des § 2 Absatz 4 Nr. 1" .
Das hat sich ergeben, weil ein neuer Absatz eingefügt worden ist.
In dem Bericht sind bei den Erläuterungen zu § 2 Abs. 4 Satz 2 im Anschluß an den zweiten Absatz dieser Erläuterungen die beiden letzten Sätze der Erläuterungen zu § 4 Abs. 2 einzufügen. Diese sind bei § 4 Abs. 2 zu streichen.
Ich kann Ihnen versichern, daß es sich um redaktionelle Änderungen handelt, so daß Sie trotz der Länge dieser zusätzlichen Berichterstattung zustimmen können, ohne sich dadurch irritiert zu fühlen; denn ich gebe diesen Text zu Protokoll.
Meine Damen und Herren, das Gesetz hat uns ja schon mehrfach beschäftigt. Ich halte es zwar für ein sehr ordentliches Gesetz, aber nicht für ein Gesetz von so epochaler Bedeutung, wie es dargestellt worden ist. Wenn Novalis gesagt hat, gesagt haben soll, ich weiß es nicht, die Archive seien das Gedächtnis der Nation, halte ich das für eine ungeheuere Übertreibung; denn das Leben der Nation verwirklicht sich doch nicht in amtlich oder öffentlich erstellten Dokumenten, sondern ebenso in den Gegenständen des täglichen Lebens, in der Kunst, in der Musik, in der Malerei, in der Architektur; alles Dinge, die in Archiven nichts zu suchen haben. Das „Gedächtnis der Nation" verwirklicht sich auch in den Verbrechen, die begangen worden sind.
Hier möchte ich auf einen Gedanken zurückkommen, den Frau Vollmer in einer vorhergehenden Debatte eingeführt hat, als sie gefragt hat, ob man sich mit Dingen vielleicht eher anfreunden oder sie eher verarbeiten oder verkraften könne, wenn man weiß, daß sie nicht wiederkommen, daß sie Vergangenheit sind, daß sie sozusagen archiviert, abgelegt, abgeheftet sind; die Tinte ist getrocknet, es ist Vergangenheit. Ich glaube jedoch, man muß sagen, daß das, was in der Natur des Menschen liegt, nicht vergangen ist, nicht vergangen sein kann
und daß wir nichts von dem, was in der Natur des Menschen liegt, archivieren können. Wir müssen uns vielmehr ständig mit unserer Natur auseinandersetzen, und zwar nicht wie mit einem philosophischen Gedanken. Wiedergutmachung ist nicht nur eine Auseinandersetzung mit den Betroffenen, es ist nicht nur eine Aufrechnung, eine finanzielle Frage, sondern das ist auch ein Problem, wie wir selbst damit umgehen. Viele der Betroffenen sagen uns: Im Grunde genommen ist es ein Problem, das in erster Linie euch angeht. Es geht um euer Verhalten uns gegenüber. Ich denke, daß wir sehr darauf achten müssen, daß wir in der Wirklichkeit Dämme dagegen aufbauen, daß sich solche Verbrechen nicht wiederholen, daß wir sie
nicht nur als Vergangenheit betrachten. Darum ist es, glaube ich, wichtig, diesen Gedanken aufzunehmen.
Angesichts der Unmengen von Papier, die wir erzeugen, habe ich im übrigen nicht die Sorge, daß künftige Generationen zu wenig von unseren Heldentaten erfahren, auch wenn es kein Archivgesetz geben würde. Aber auf der anderen Seite gibt es eine Reihe sinnvoller Regelungen, um das Spannungsverhältnis zwischen der Lust, in alten Akten Interessantes über Mitmenschen und Zeitgenossen zu finden, also zeitgenössische Forschung zu betreiben, auf der einen Seite und auf der anderen Seite dem Interesse, die Privatsphäre der Betroffenen in dem erforderlichen Umfang zu schützen, auszugleichen. So überzeugend zunächst der Gedanke war, bestimmte Akten einfach zu schwärzen, um Mißbrauch damit zu vermeiden, haben wir uns dann doch davon überzeugen lassen, daß es nicht der richtige Weg ist, sondern daß man dieses Ziel mit entsprechenden Schutzfristen von 20, 30 Jahren nach dem Tod des Betroffenen, in bestimmten Fällen 80 Jahre nach dem Entstehen der Dokumente erreichen muß, was aber auch ergänzt wird durch das Recht der Gegendarstellung, die mit der beanstandeten Akte archiviert werden muß.
Auf der anderen Seite haben wir für wissenschaftliche Arbeiten und zu Lasten von Amtsträgern in ihrer amtlichen Tätigkeit und zu Lasten von Personen der Zeitgeschichte eine leichtere Einsichtnahme als für den Regelfall zugelassen, soweit das nach Lage des Einzelfalles überhaupt möglich ist.
Wichtig ist auch die schon genannte Vorschrift, daß nach Ablauf einer bestimmten Zeit die gesamten archivierten Unterlagen — jedenfalls grundsätzlich — jedem Interessierten zur Einsichtnahme zur Verfügung stehen. Ich hoffe, daß wir uns, wenn wir noch einmal über ein Archivgesetz reden,
einmal Gedanken darüber machen, ob diese Frist von 30 Jahren nicht verkürzt werden kann, um eine zeitnähere Einsicht zu ermöglichen.
Wir hoffen, daß sich die Bundesländer den Regelungen dieses Gesetzes anpassen werden, so daß wir nach einer bestimmten Zeit ein übereinstimmendes Archivrecht in Bund und Ländern haben.
Bei dem ebenfalls behandelten Gesetz über die zentrale Archivierung von Unterlagen aus dem Bereich des Kriegsfolgenrechts ging es weniger um inhaltliche Abweichungen als vielmehr um die organisatorische Struktur.
Mich hat bei den früheren Beratungen insbesondere die Verpflichtung für alle Behörden geschreckt, den Archiven jedes Fitzelchen amtliches Papier anzubieten. Seit dem ersten Reichsarchivgesetz im 15. Jahrhundert hat sich die Menge des beschriebenen Papiers ins ungeheure vervielfacht. Wenn das alles in die Archive schwemmt, dann wird das sogenannte „Gedächtnis der Nation" zusammenbrechen. Ein Abgeordneter, der alles liest, was ihm vorgelegt wird,
Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 46. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. Dezember 1987 3227
Dr. Hirsch
hätte keine Zeit mehr, über irgend etwas nachzudenken.
Ich kann die späteren Historiker, die sich durch diese Papierberge hindurchfressen müssen und trotzdem noch die Übersicht behalten und etwas Vernünftiges daraus folgern sollen, nur bedauern.
Ich hoffe daher, daß sich schon nach kurzer Zeit herausstellen wird, daß die Regelungen, die wir hier nun treffen, vernünftiger angewendet werden, als man sie nach ihrem Wortlaut anwenden könnte. In diesem Sinne empfehlen wir diese Gesetze der Vernunft aller Beteiligten. Wir werden ihnen zustimmen.