Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich kritisiere die Reihenfolge der Redner hier heute morgen. Es scheint ein Problem zu sein, das sich in der letzten Zeit auch in anderen Fachbereichen einfrißt, daß die Bundesminister hier immer zum Schluß der Veranstaltung auftreten. Es wäre schon gut, wenn sich der Minister, wenn man hier über den Raumordnungsbericht der Bundesregierung spricht, vorher dazu geäußert hätte und man vielleicht auf das eine oder andere Argument eingehen könnte. Meine Empfehlung also an das Präsidium und alle, die da Einfluß nehmen können, und natürlich die Regierung, sich zukünftig ein bißchen anders in die Debatte einzumischen und nicht zum Schluß die Weisheit verkünden zu wollen.
3156 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 46. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. Dezember 1987
Müntefering
Es wäre wirklich an der Zeit, daß sich der Raumordnungsminister, der ein wichtiger Minister der Regierung sein sollte, äußerte. Die Entwicklungen in den verschiedenen Regionen der Bundesrepublik verlaufen erheblich unterschiedlich. Die Ungleichheiten nehmen zu. Die Zukunftschancen der Regionen sind unterschiedlich. Die Lebensbedingungen in den verschiedenen Regionen — ihre Gleichwertigkeit herzustellen, ist die Aufgabe der Raumordnung — entwikkelt sich unterschiedlich. Die schwache Konjunkturlage verschärft dieses Problem. — Der Raumordnungsminister müßte eigentlich in die Speichen greifen, z. B. bei dem Thema, das wir heute morgen in der Aktuellen Stunde behandelt haben, aber auch bei den Sorgen des ländlichen Raumes.
Die Regionen mit den hohen Beschäftigungsanteilen bei Landwirten und Werften, bei Stahl und Kohle haben Not, und sie müssen ankämpfen gegen die drohende weitere Zunahme der Arbeitslosigkeit. Bangemanns Marktphilosophie hilft da weiß Gott nicht weiter.
Das gilt für die altindustriellen Regionen, und das gilt für die ländlichen Regionen.
Zu diesen ländlichen Regionen ein paar Anmerkungen: Es klingt in den Reden des Raumordnungsministers manchmal so, als ob Raumordnung etwas sei, was sich ausschließlich mit den ländlichen Regionen befasse. Das ist falsch. Aber wir dürfen andererseits auch nicht die besonderen Probleme dieser Regionen vergessen. Ich meine damit auch nicht die ländlich strukturierten Regionen im Umfeld der großen Städte, sondern die wirklich großflächigen peripheren Bereiche, die aus eigener Kraft und auf sich allein gestellt handeln und bestehen müssen.
Was sind deren Probleme? Das sind einmal die hohe Arbeitslosigkeit und die besonders schwierigen Bedingungen, die die Unternehmer in diesen Regionen vorfinden. Es gibt dort tüchtige Unternehmer, kleine und große. Ich denke, manchmal haben die sich in der vergangenen Zeit der Konjunkturflauten sogar flexibler und ideenreicher erwiesen als die großen Kollegen Wirtschaftskapitäne bei den Konzernen.
Manchmal ist es sogar so, daß da sozialer reagiert und wirklich alles versucht wird, Entlassungen zu vermeiden, ehe man wirklich entläßt. Man kennt sich, und man entscheidet nicht vom grünen Tisch, über Vorstände und Aufsichtsräte. Das ist etwas, was uns in den ländlichen Regionen in den vergangenen Jahren bei den Problemen, die es zu bewältigen gab, geholfen hat und sicher auch weiter helfen wird.
Aber die Unternehmer in den ländlichen Regionen haben besonders schwierige Bedingungen. Sie haben — klein, mittel, groß, wie sie sind — kein Geld für teure und kontinuierliche Forschung, sie sind oft abgehängt von den neuen Entwicklungen, sie haben oft nicht einmal Gelegenheit zu Marktforschung und modernem Marketing.
Da ist keine Universität in der Nähe, mit der sie kooperieren können. Die Kommunikationstechnologien werden in diesen Regionen zuletzt zur Verfügung gestellt. Die Autobahn liegt nicht nebenan, trotzdem wird Zug um Zug die Bundesbahn ausgedünnt. Und nun die Pläne des Postministers. — Bisher ist es ja noch so, daß es, wenn es um Postzustellung geht, einigermaßen unerheblich ist, ob man nun in Düsseldorf oder Winterberg, in München oder Tirschenreuth seinen Betrieb hat. Aber das wird nicht so bleiben, wenn der gelbe Dienst der Post separiert wird.
Insgesamt gilt für die wirtschaftliche Zukunft der ländlichen Regionen: Sie werden nicht von irgendwelchen Töchtern großer Mütter gerettet werden, sondern sie müssen sich aus eigener Kraft helfen — zumal wir mit den großen Töchtern an vielen Orten schlechte Erfahrungen gemacht haben.
Da wollen wir unseren Beitrag leisten. Eine solche Hilfe zur Selbsthilfe wäre, wenn Sie, die Koalition, dem Antrag der Opposition, hier: der SPD, zustimmten, eine steuerfreie Investitionsrücklage in Kraft zu setzen. Das würde kleinen und mittleren Unternehmern helfen. Wir müssen Initiativen ergreifen, um einen Aufbau leistungsfähiger Technologiebanken für kleine und mittlere Unternehmen möglich zu machen.
Auch die Beratung der Unternehmen, wo man oft Tüftler und Macher, Finanz- und Verkaufsfachmann und -frau gleichzeitig sein muß, muß verbessert werden.
Existenzförderung bleibt nötig, nicht allein um solche Existenzen dort in den ländlichen Regionen möglich zu machen, sondern auch — das ist ein besonders wichtiger Aspekt für diese Regionen — um die jungen, innovativen und kreativen Menschen in diesen Räumen zu belassen,
um denen zu zeigen: Ihr habt auch in der Region, in der ihr geboren und aufgewachsen seid, eine Chance, euch beruflich zu betätigen und gute Dinge aufzubauen; denn zu viele von den jungen Menschen ziehen weg. Es ist nicht so, daß all die klugen Leute in München, Hamburg, Köln und Frankfurt auch dort geboren werden. Wenn diese jungen Leute und die, die in diesen großen Städten erfolgreich sind, bessere Rahmenbedingungen in den ländlichen Räumen gefunden hätten, hätten die auch da Gutes auf die Beine stellen können.
Zweites großes Problem der ländlichen Räume: Hier wird weniger verdient, die Erwerbsquote ist zumal niedriger, und dementsprechend niedrig ist der Anteil der Städte und Gemeinden an der Einkommensteuer. Deshalb haben wir in unserem Programm „Arbeit, Umwelt, Investitionen", das wir in dieser Woche vorgestellt haben, vorgeschlagen, generell einen höheren Anteil für die Gemeinden an der Einkommensteuer vorzusehen, aber so, daß in besonderer Weise diejenigen berücksichtigt werden, die auf Grund der hohen Arbeitslosigkeit besondere Lasten zu tragen haben. Das kann doch nicht so weitergehen, daß ge-
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nau die Gemeinden mit den größten Sorgen im Bereich der Arbeitslosigkeit auch noch das meiste Geld, das sie eigentlich für Investitionen brauchten, aufwenden müssen, um sich dieser Aufgabe zu stellen. Deshalb unser Vorschlag, da etwas zu bewegen.
Wir schlagen vor, daß mehr Städtebauförderungsmittel gegeben werden, Herr Minister. Es ist wirklich blanker Unsinn, daß die Bundesregierung für das Jahr 1988 die Städtebauförderungsmittel um 340 Millionen DM kürzt, während wir alle wissen: Die Programme waren überzeichnet, die Programme sind überzeichnet, es gibt in den Städten und Gemeinden riesig viel zu tun, auch in den Dörfern.
Diese Mittel sollten also — bitte schön — auch in den Dörfern eingesetzt werden können. Wir wissen, daß im nächsten Jahr 50 000 oder 70 000 weitere Arbeitsplätze in diesem Bereich in Gefahr sind. Stimmen Sie doch um Gottes Willen unserem Antrag zu, diese Förderungsmittel für die Städte, aber auch außerhalb der förmlich festgelegten Sanierungsgebiete für die Dörfer aufzustocken.
Drittes großes Problem: Die Krise der Landwirtschaftspolitik treibt die ländlichen Räume in die Krise. Hier ist nicht Zeit für die Fachdebatte, aber klar ist doch wohl folgendes: Noch schlimmer als die akute Sorge um den einzelnen Betrieb ist die Wut vieler Landwirte, nun immer und immer wieder konzeptionsloses Geschachere an den grünen Tischen in Bonn und in Brüssel zu erleben und nicht zu wissen, wie es eigentlich weitergeht. Gerade auch im Bereich der Landwirtschaft haben wir festzustellen: Die jungen Leute gehen aus dem Beruf, aus der Region heraus, weil sie keine Perspektive mehr sehen.
Vierter Punkt: Der ländliche Raum hat viele natürliche Vorzüge und er ist damit ein Bereich, der als Naherholungs- und Urlaubsgebiet geeignet ist. Es ist klar, es gibt Grenzen der Belastung, die nicht überschritten werden dürfen. Es kann nicht um Zubau gehen, es muß um Nutzung der vorhandenen Kapazitäten gehen; aber die könnten besser genutzt werden, als es heute der Fall ist, und da kann auch die Politik helfen, da kann auch Bonn helfen. Bei Konzentration der Mittel, die für den deutschen Fremdenverkehr und Tourismus sowie für die Naherholung eingesetzt werden und bei einem zeitgemäßeren Marketing, als es heute der Fall ist, könnte der ländliche Raum nicht von der weißen Industrie leben, aber er könnte sein Standbein, das er da bisher hat, ein Stück verbessern.
Zum Schluß das Resümee — skeptisch, kritisch, aber nicht resignativ — : Die ländlichen Räume haben ausreichende Substanz für eine gute Zukunft aus eigener Kraft. Dabei muß die Politik ihnen helfen. Wir dürfen nicht nichts tun, so wie es der Raumordnungsminister in den letzten Jahren gehalten hat, der bei allen raumordnungspolitisch relevanten Entscheidungen nicht gehört und nicht gesehen worden ist. Da liegt der Hase im Pfeffer. Herr Kollege Kansy und liebe Kollegen von den GRÜNEN, der Raumordnungsminister muß stärker als bisher in die Entscheidung einbezogen werden — da unterstützen wir ihn — , aber er muß sein Wort sagen und seine Möglichkeiten nutzen, um auf die besonderen Probleme der Raumordnung hinzuweisen. Das ist die Erwartung, die wir an ihn richten.
Herzlichen Dank.