Rede von
Ernst
Waltemathe
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(SPD)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich möchte mit einem sehr persönlichen Wort beginnen. Seit etwa neun bis zehn Jahren beschäftige ich mich intensiv mit den Problemen der sogenannten vergessenen Opfer des Nationalsozialismus. Auch ich habe bis zu jenem Zeitpunkt nicht von allem gewußt, was Erbgesundheitsgesetzgebung in Wahrheit bedeutet hat.
In diesen neun bis zehn Jahren habe ich sehr viele Briefe von Menschen erhalten, die mich um Hilfe baten, von Menschen, die auch nach dem Krieg und nach dem Nationalsozialismus von unseren staatlichen Stellen einschließlich dem Petitionsausschuß des Deutschen Bundestages bescheinigt bekamen, sie seien keine Opfer von NS-Unrecht. Ich habe Briefe von Menschen erhalten, die, körperlich und seelisch gebrochen, die Nachkriegszeit in bitterer Armut überleben mußten. Einigen konnte später geholfen wer-
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Waltemathe
den: seit 1980 durch Härtefonds. Anderen mußte man antworten: Es tut mir leid, aber es gibt keine gesetzliche Grundlage, Ihnen Hilfe zukommen zu lassen. — Das war brutal und für die Leute oft erschütternd.
Meine Damen und Herren, worüber debattieren wir heute? Im Prinzip geht es darum, drei Tatbestände festzustellen.
Erstens. Die Bundesrepublik Deutschland hat sich bemüht, gegenüber denjenigen, die ganz offensichtlich aus rassischen, aus politischen, aus religiösen Gründen von den Nationalsozialisten verfolgt worden sind, Entschädigung im Rahmen der Wiedergutmachungsgesetzgebung zu leisten. Es geht also nicht darum, noch einmal von vorne anzufangen, obwohl auch das Bundesentschädigungsgesetz Mängel aufweist, die im Einzelfall zu gravierenden Härten führen. Ich denke etwa an Kommunisten, die zu ihrer politischen Überzeugung standen, in der Nazizeit und auch nach der Nazizeit, und denen man diese Tatsache in § 6 des Bundesentschädigungsgesetzes entgegenhielt, um ihnen eine Entschädigung gegebenenfalls zu verweigern, eine Entschädigung für Verbrechen, die in der Nazizeit an ihnen begangen worden waren. Ich denke an Homosexuelle, die einen Entschädigungsanspruch hatten, z. B. für KZ-Aufenthalt, ihn aber innerhalb der Fristen des Bundesentschädigungsgesetzes tatsächlich gar nicht geltend machen konnten, weil sie der § 175 des Strafgesetzbuches in unveränderter Form einer Strafverfolgung ausgesetzt hätte. Ich denke an weitere Gruppen, die aus subjektiven oder aus objektiven Gründen die Fristen der Antragstellung versäumen mußten und somit leer ausgegangen sind, obwohl sie in einem materiellrechtlichen Sinne durchaus Entschädigungsanspruch gehabt hätten.
Zweitens. Das Bundesentschädigungsgesetz hat aber bewußt und teilweise unbewußt andere von Entschädigungsansprüchen ausgeschlossen, z. B. diejenigen, die nicht politische, weltanschauliche, religiöse oder rassische Gegner des Hitler-Regimes waren. Dazu gehören u. a. die Opfer der Erbgesundheitsgesetzgebung.
Drittens. Auch der Tatbestand der Zwangsarbeit ist nicht als Entschädigungstatbestand gesetzlich erfaßt worden. Dabei sind auch die Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter vielfach in Arbeitslagern, in Nebenlagern von Konzentrationslagern gehalten worden. Ihnen ist Lohn und ihnen ist Rentenanspruch für ihre Zwangseinsätze bis heute vorenthalten worden, und zwar von Unternehmen wie Bosch, Siemens, MAN, Daimler-Benz, VW, BMW, den damals in der IG Farben zusammengeschlossenen chemischen Industrien, von Krupp, bei den norddeutschen Werften, bei Kommunen, in denen sie eingesetzt waren, usw.
Kein Zweifel, meine Damen und Herren: In diesem Falle ist es nicht nur Sache des Staates, Entschädigung zu leisten, sondern auch Sache derjenigen, die ihren Profit aus der Ausbeutung menschlicher Arbeitskraft gezogen haben und in deren Vermögensbeständen der Ertrag dieser Ausbeutung noch heute einbezogen ist.
Der Antrag der Fraktion der GRÜNEN zu diesem Punkt ist in unseren Augen allerdings zu pauschal angelegt, obwohl er einige Ansätze enthält, denen wir nicht widersprechen. Wir werden uns bei diesem Antrag deshalb der Stimme enthalten, zumal wir auch nach dem Ergebnis der Anhörung meinen, daß unser Stiftungsgesetzentwurf eine bessere Lösung darstellt. Ich gebe allerdings zu, daß die sozialversicherungsrechtlichen Fragen auch in unserem Entwurf nicht gelöst sind.
Heute bin ich enttäuscht, daß nun doch auf eine ziemlich banale Art und Weise mit einem weiteren Härtefonds ein Schlußstrich gezogen werden soll. Der Gedanke der Gründung einer öffentlich-rechtlichen Stiftung würde dem Bundestag insgesamt gut zu Gesichte stehen. Das hat die umfangreiche Anhörung am 24. Juni ergeben. Eine Stiftung würde zu später Gerechtigkeit beitragen und unser Bemühen unterstreichen, diejenigen überhaupt zu sehen, die allzulange übersehen worden sind. Sie würde in finanzieller Hinsicht weder den öffentlichen Haushalt oder die öffentlichen Haushalte noch, im Falle der Zwangsarbeiter, etwaige Industriefirmen überfordern.
Es ist zu befürchten, daß bei einem Härtefonds die gleichen Beamten, die in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten Anträge ablehnen mußten und abgelehnt haben, auch die neuen Anträge zurückweisen werden. — Das war es nicht, was die Opfer immer noch geduldig warten ließ. Und das ist es auch nicht, was die SPD fordert.
Da wartet der Mann, der seit einigen Jahren unter Spätfolgen zu leiden hat, unter Alpträumen, Schweißausbrüchen, schweren Depressionen, dem grauenhafte Vergangenheitsbilder ständig vor Augen sind, ihn nicht mehr zur Ruhe kommen lassen. Er braucht dringend psychosoziale Betreuung.
Da wartet die stark sehbehinderte Frau, die sich 1945 noch, im siebenten Monat schwanger, auf ihr Kind freute. Sie hatte bereits eine Fehlgeburt hinter sich. Nach einer zwangsweisen Einweisung in ein Krankenhaus wurde dieses Kind gegen ihren Willen abgetrieben, und sie selbst wurde zwangssterilisiert. Diese Frau ist heute 64 Jahre alt und wartet in einem Blindenheim. Wäre es wirklich nicht möglich, ihr einmal eine Kur zu bezahlen, ihr kleine Annehmlichkeiten im Alter zukommen zu lassen?
Da wartet der Kommunist, der fast die gesamte Zeit des Dritten Reiches im Konzentrationslager verbrachte. Nach dem Krieg weitgehend arbeitsunfähig, ernährte ihn seine Frau durch Putzarbeiten.
Da wartet der ehemalige Zwangsarbeiter oder die ehemalige Zwangsarbeiterin, die als 13jährige Schwerstarbeit im Baugewerbe leisten mußten. Zwölfstundenschichten, auch an Sonn- und Feiertagen.
Und da warten die anderen, die Homosexuellen, die damals als asozial Eingestuften, die noch lebenden
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Mitglieder der Edelweiß-Piraten, der Swing-Jugend und und und.
Sie warten schon viel zu lange. Viele sind bereits verstorben. Und wir haben immer noch nicht zugegeben, daß das Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses vom 14. Juli 1933 auf rassistischer Ideologie beruhte.
Die Ideologie lautete — ich zitiere — :
Der Stärkere hat zu herrschen und sich nicht mit den Schwächeren zu verschmelzen, um so die eigene Größe zu opfern.
Das verbreitete Adolf Hitler. Aber man muß nicht „Mein Kampf" zitieren, um den Rassismus offenzulegen. Es läuft mir schaudernd den Rücken hinunter, wenn ich in der damaligen amtlichen Begründung zum Erbgesundheitsgesetz von „Minderwertigen" lese, von der „Reinigung des Volkskörpers", von der „Ausmerzung". Aus diesem Gesetz der Ausmerzung von krankhaften Erbanlagen ließ sich die Euthanasie, die Tötung psychisch Kranker, als Folgeschritt direkt ableiten.
Aus der Nazi-Ideologie einer reinarischen Rasse, mit der Ausmerzung von Andersrassigen und nicht voll Leistungsfähigen, also Minderwertigen, ergibt sich eine sehr gerade Linie: Erbgesundheitsgesetzgebung 1933, Nürnberger Gesetze 1935, EuthanasieProgramm um 1940, Wannsee-Konferenz zur Endlösung der Juden-Frage 1941, Holocaust an den Zigeunern.
Manchmal, meine Damen und Herren, wird der Eindruck erweckt, daß erst viel Geld klimpern muß, um unser Unrechtsbewußtsein und unser Schamgefühl zu demonstrieren. Es geht aber gar nicht darum, sondern es geht darum, endlich eine Bescheinigung unserer Demokratie gegenüber den Opfern beispielsweise der Erbgesundheitsgesetzgebung zu geben, daß Unrecht war, was damals in den Gesetzen stand.
Bei vielen Zwangssterilisierten wird es auch nach unseren Vorstellungen dabei bleiben können, daß diese Bescheinigung durch eine einmalige Entschädigungszahlung gegenüber den Betroffenen dokumentiert wird.
Aber laufende Zahlungen in Form einer Rente sollten insbesondere für die Fälle vorgesehen werden, in denen Frauen schon entstandene Leibesfrucht zwangsweise abgetrieben worden ist. Es dürfte nach den eigenen Zahlen der Bundesregierung allerhöchstens um etwa 3 000 noch lebende weibliche Personen gehen.
Darüber hinaus wäre der Vorteil einer Stiftung, daß die nunmehr schon sehr alten Menschen, die in den meisten Fällen nicht auf Rosen gebettet sind und die infolge ihrer Erfassung durch die Nazis Lücken im Berufsleben, also auch in ihren Rentenansprüchen haben, wenigstens heute einmal eine Heilkur oder eine Erholungskur finanziert bekommen.
Meine Damen und Herren, ich bin ganz sicher, daß solche Gesten unserer sehr späten Solidarität mit den Opfern die Glaubwürdigkeit unserer an Gerechtigkeit zu orientierenden demokratischen Gesinnung besserzum Ausdruck bringen würden als kleinliche Feilschereien in bürokratischen Lösungen. Wir müssen aufpassen, daß das, was klimpert, nicht politische Kleinmünzerei ist.
Ich kann nur noch einmal betonen: Die materielle und die immaterielle Entschädigung aller Opfer des Nationalsozialismus ist ein Gradmesser unseres demokratischen und unseres humanitären Selbstverständnisses. Wir beweisen damit, ob wir fähig und willens sind, für Menschen einzutreten, die heute am Rande unserer Wohlstandsgesellschaft leben — so sie denn noch leben — , und ihnen nach so langer Zeit endlich Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Arm, unterprivilegiert und diskriminiert wurden sie die ersten Opfer des Rassismus und des Faschismus, und sie sind die letzten Opfer, denen bis heute eine Entschädigung für begangenes Unrecht vorenthalten wurde. Wir müssen uns alle eingestehen, daß die bisherige Praxis der Wiedergutmachung nicht frei von Vorurteilen war und nicht ohne Diskriminierung erfolgt ist. Auf dieser Erkenntnis beruht der Stiftungsantrag der SPD.
Da die Wiedergutmachungsgesetzgebung vor über dreieinhalb Jahrzehnten nur zustande gekommen ist, weil auch die SPD als Opposition Adenauer zu den entsprechenden parlamentarischen Mehrheiten verholfen hat, wäre es gut, wenn der Bundestag heute ebenfalls zu einer gemeinsamen Lösung im Sinne des Stiftungsgesetzes käme, das alle Betroffenen einbezieht und ihnen Mitwirkungsrechte bei der Vergabe von Mitteln eröffnet. Ich hoffe, Sie können sich doch noch zu einer entsprechenden Annahme durchringen.