Rede von
Rolf
Rau
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(CDU)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CDU)
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich bin Graf Lambsdorff dankbar für die ersten Sätze, in denen er seine Betroffenheit gemeinsam mit den Menschen in Rheinhausen ausgedrückt hat. Sowenig ich seine Schlußfolgerungen im einzelnen akzeptieren kann, so deutlich möchte ich hier sagen: In Nordrhein-Westfalen gibt es gegenwärtig nichts anderes als Betroffenheit, als Wut, als Enttäuschung, als Verbitterung. Ich bin der Auffassung, daß wir den Weg suchen müssen aus dieser Betroffenheit, aus dieser Verbitterung zu neuer Hoffnung für die Menschen im Ruhrgebiet. Aber das kann wohl nur gelingen, wenn Glaubwürdigkeit der Politik wiederhergestellt wird. Aber die ist in Zweifel geraten.
Da gibt es einen Urheberrechtsstreit, wer das zustande gebracht hat, was man die Frankfurter Vereinbarung nennt, die soziale Flankierung für ausscheidende Stahlarbeitnehmer, in einem Katalog aufgezeichnet — 35 000 werden es sein, und 2 000 bei der
Maxhütte noch dazu. Da streiten wir darüber, wer diesen Erfolg zustande gebracht hat . . .
— Moment, Sie haben mich ja noch gar nicht angehört.
— Nein, ich stimme dem nicht zu, sondern ich versuche, Gedanken zu äußern.
Und noch während des Urheberrechtsstreits, wer das zustande gebracht hat, kommen weitere 5 000 dazu, wird die Grenze von 40 000 überschritten. Mehr als die Hälfte dessen, was nach europäischer Übereinstimmung an Stahlarbeitsplätzen wegfallen soll, wird in der Bundesrepublik abgebaut.
Das ist ein europapolitischer Offenbarungseid, meine Damen und Herren.
Da gibt es die Aussage, es werde nicht zu Massenentlassungen kommen. Das ist erfreulich, wenn man bedenkt, daß die, die ihren Arbeitsplatz verlieren werden, sozial abgesichert werden sollen. Aber das ist eine ganz gefährliche semantische Spielerei. Es wird der Eindruck erweckt, Massenentlassungen würden vermieden, d. h. Menschen behielten ihre Arbeit. Das Gegenteil ist richtig. Hier werden Menschen Arbeitsplätze verlieren, und Hoffnung für die nächste Generation geht verloren, die am gleichen Ort — in der dritten und vierten Generation — Arbeit haben will.
Die wollen nicht woandershin, die wollen da leben, wo sie sind.
Nun sage ich: Die Tinte über der Frankfurter Vereinbarung ist noch nicht trocken,
da wird sie schon gebrochen. Da wird gleichzeitig der Geist von Frankfurt beschworen und gesagt: Die müßten jetzt genauso behandelt werden wie die 35 000, die 37 000.
Man kann sich darüber freuen, daß soziale Flankierung erreicht sei. Aber, meine Damen und Herren, soziale Flankierung ist nötig, aber soziale Flankierung ist nicht Ziel von Politik, sondern Mittel auf dem Weg. Wir brauchen Wirtschaftspolitik, brauchen Arbeitsplatzpolitik.
Die Frankfurter Vereinbarungen sind ohne Beteiligung der Länder zustande gekommen. Wir werden an anderer Stelle darüber zu reden haben. Ich klage da nicht, sondern ich sage: Die Landesregierung von Nordrhein-Westfalen wird ihren Beitrag leisten. Sie
Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 46. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. Dezember 1987 3131
Ministerpräsident Rau
hat das schon im Juli erklärt. Aber sie fragt: Ist die jetzige Lage nicht eine Folge verfehlter Stahlpolitik in Europa? Hat die Bundesregierung ihren europapolitischen Kredit nicht verspielt, indem sie einseitig — ich bin gestern im Landtag für einen Satz kritisiert worden — für Interessen von Großbauern, von Agrarfabriken eingetreten ist und keine Durchsetzungskraft für die Stahlarbeiter mehr hat?
— Was ich sage, gilt völlig ohne Ansehen der einzelnen Regionen und der einzelnen Standorte.
Ich fordere seit langem, daß in der Bundesrepublik endlich alle an einen Tisch kommen, daß eine nationale Stahlrunde, die der Kanzler immer noch verweigert, zustande kommt, damit wir endlich von der Gefahr wegkommen, Stahlstandorte gegeneinander auszuspielen.
Es ist nämlich der nächste Schritt, daß das geschieht. Das Motto „Jeder stirbt für sich allein" darf doch nicht wahr werden.
Es darf doch nicht ein Transportband der Angst von Rheinhausen über Hamborn nach Huckingen, über Bochum und Witten nach Siegen gehen, von anderen Ländern jetzt ganz zu schweigen. Wir brauchen — darin stimme ich Graf Lambsdorff zu — den Strukturwandel. Wir brauchen ihn auch in Nordrhein-Westfalen. Wir sind auf diesem Weg. Wir haben ein Konzept vorgelegt. Wir wollen eine Zukunftsinitiative Montanregionen, damit auch der Teil der Frankfurter Vereinbarung eingehalten wird, in dem sich Europa, die Bundesregierung, die Stahlunternehmen, die Länder, die Gewerkschaften zu einem gemeinsamen Aktionsprogramm für neue Arbeitsplätze verpflichten. Das steht auch in der Frankfurter Vereinbarung. Stünde es nicht drin, wäre es eine reine Sterbehilfe und nicht der Weg nach vorn, den wir gehen müssen.
Wir verlangen vom Bund Mittel nach Artikel 104 a Abs. 4 des Grundgesetzes.
Nordrhein-Westfalen verlangt nicht, daß sich die Bundesregierung ihm gnädig zuwendet, sondern verlangt sein Recht für die Menschen, die die Bundesrepublik nach dem Krieg aufgebaut haben.
Das sogenannte Konjunkturprogramm, das das Bundeskabinett gestern beschlossen hat, mag man parteipolitisch so oder so bewerten; aber eines sage ich Ihnen: es taugt nicht für die Montanregionen,
es ist nach unserer Überzeugung ein Südprogramm. Es nützt Böblingen und Freiburg und München — die haben auch gute sozialdemokratische Oberbürgermeister — , aber Duisburg und Oberhausen und Hattingen haben das Geld nicht, um die Mittel anzufordern, die der Bund bereitzustellen bereit ist. Darum sage ich, machen Sie endlich Politik für das größte Bundesland — —
— Ich mache sie auch, Herr Kollege Wissmann. Ich mache sie seit 17 Jahren, und ich mache sie, immer wieder bestätigt vom Wähler.
Wenn wir sie gemeinsam im Interesse der Menschen machen könnten, vor denen ich da gestern gestanden habe, dann wäre das gut. Denn ich frage nicht danach: Wer hat es zustande gebracht, sondern ich frage danach, ob wir gemeinsam Menschen Hoffnung geben können.