Protokoll:
18067

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Metadaten
  • date_rangeWahlperiode: 18

  • date_rangeSitzungsnummer: 67

  • date_rangeDatum: 14. November 2014

  • access_timeStartuhrzeit der Sitzung: 09:00 Uhr

  • av_timerEnduhrzeit der Sitzung: 15:10 Uhr

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  • tocInhaltsverzeichnis
    Plenarprotokoll 18/67 Deutscher Bundestag Stenografischer Bericht 67. Sitzung Berlin, Freitag, den 14. November 2014 I n h a l t : Begrüßung der Abgeordneten Angelika Glöckner . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6337 A Tagesordnungspunkt 5: a) – Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und SPD eingebrachten Entwurfs eines … Gesetzes zur Änderung des Straf- gesetzbuches – Umsetzung europäi- scher Vorgaben zum Sexualstraf- recht Drucksachen 18/2601, 18/3202 (neu) . 6337 B – Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Ent- wurfs eines … Gesetzes zur Ände- rung des Strafgesetzbuches – Umset- zung europäischer Vorgaben zum Sexualstrafrecht Drucksachen 18/2954, 18/3202 (neu) . 6337 B b) Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- schusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend zu dem Antrag der Abgeord- neten Dr. Franziska Brantner, Katja Dörner, Tabea Rößner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN: Kinder schützen – Prävention stärken Drucksachen 18/2619, 18/3201 . . . . . . . . 6337 C Dr. Johannes Fechner (SPD) . . . . . . . . . . . . . 6337 D Jörn Wunderlich (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . 6338 D Anja Hajduk (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (zur Geschäftsordnung). . . . . . . . . . . . . . . . 6340 C Elisabeth Winkelmeier-Becker (CDU/CSU) . 6341 A Katja Keul (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6343 B Susanne Mittag (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6345 A Alexander Hoffmann (CDU/CSU) . . . . . . . . . 6346 A Katja Keul (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6347 C Renate Künast (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6348 A Dirk Wiese (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6348 C Christina Schwarzer (CDU/CSU) . . . . . . . . . 6349 C Tagesordnungspunkt 22: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur besseren Vereinbarkeit von Familie, Pflege und Beruf Drucksachen 18/3124, 18/3157 . . . . . . . . . . . 6351 D Manuela Schwesig, Bundesministerin BMFSFJ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6352 A Pia Zimmermann (DIE LINKE) . . . . . . . . . . 6354 B Marcus Weinberg (Hamburg) (CDU/CSU) . . 6355 D Pia Zimmermann (DIE LINKE) . . . . . . . . 6356 B Elisabeth Scharfenberg (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6358 C Dr. Carola Reimann (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . 6359 C Jörn Wunderlich (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . 6361 A Astrid Timmermann-Fechter (CDU/CSU) . . . 6362 A Katja Dörner (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6363 C Paul Lehrieder (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . 6364 D Pia Zimmermann (DIE LINKE) . . . . . . . . 6365 C Petra Crone (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6367 C Inhaltsverzeichnis II Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 67. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. November 2014 Antje Lezius (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . 6368 D Erwin Rüddel (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . 6370 B Tagesordnungspunkt 23: Erste Beratung des von den Abgeordneten Dr. Konstantin von Notz, Luise Amtsberg, Volker Beck (Köln), weiteren Abgeordneten und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN sowie den Abgeordneten Halina Wawzyniak, Herbert Behrens, Dr. Petra Sitte, weiteren Abgeordneten und der Fraktion DIE LINKE eingebrachten Entwurfs eines Geset- zes zur Änderung des Telemediengesetzes – Störerhaftung Drucksache 18/3047 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6371 C Dr. Konstantin von Notz (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6371 D Hansjörg Durz (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . 6373 B Thomas Jarzombek (CDU/CSU) . . . . . . . . 6374 D Halina Wawzyniak (DIE LINKE) . . . . . . . . . 6375 B Marcus Held (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6376 C Axel Knoerig (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . 6377 C Dr. Konstantin von Notz (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6379 B Christian Flisek (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6379 D Tagesordnungspunkt 24: a) Erste Beratung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- zes zur Umsetzung von Empfehlungen des NSU-Untersuchungsausschusses des Deutschen Bundestages Drucksache 18/3007 . . . . . . . . . . . . . . . . . 6380 D b) Antrag der Abgeordneten Volker Beck (Köln), Luise Amtsberg, Kai Gehring, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Hasskri- minalität wirkungsvoll statt symbolisch verfolgen Drucksache 18/3150 . . . . . . . . . . . . . . . . . 6381 A Heiko Maas, Bundesminister BMJV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6381 A Martina Renner (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . 6382 A Dr. Volker Ullrich (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . 6383 B Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6384 B Monika Lazar (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6385 A Dr. Eva Högl (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6386 B Tankred Schipanski (CDU/CSU) . . . . . . . . . . 6387 C Martina Renner (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . 6388 D Tankred Schipanski (CDU/CSU) . . . . . . . . . . 6389 B Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6389 C Tankred Schipanski (CDU/CSU) . . . . . . . . . . 6389 D Tagesordnungspunkt 25: a) Erste Beratung des von der Bundesre- gierung eingebrachten Entwurfs eines Fünften Gesetzes zur Verbesserung rehabilitierungsrechtlicher Vorschrif- ten für Opfer der politischen Verfol- gung in der ehemaligen DDR Drucksache 18/3120 . . . . . . . . . . . . . . . . . 6390 B b) Erste Beratung des von den Abgeordneten Halina Wawzyniak, Dr. Dietmar Bartsch, Jan Korte, weiteren Abgeordneten und der Fraktion DIE LINKE eingebrachten Entwurfs eines Fünften Gesetzes zur Verbesserung rehabilitierungsrechtlicher Vorschriften für Opfer der politischen Verfolgung in der ehemaligen DDR Drucksache 18/3145 . . . . . . . . . . . . . . . . . 6390 C Heiko Maas, Bundesminister BMJV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6390 D Halina Wawzyniak (DIE LINKE) . . . . . . . . . 6391 B Arnold Vaatz (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . 6392 B Dr. Stefan Heck (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . 6393 A Katja Keul (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6394 D Dr. Matthias Bartke (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . 6395 D Dr. Volker Ullrich (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . 6396 D Tagesordnungspunkt 26: Antrag der Abgeordneten Ralph Lenkert, Eva Bulling-Schröter, Caren Lay, weiterer Abge- ordneter und der Fraktion DIE LINKE: Bun- deseinheitliche Netzentgelte für Strom Drucksache 18/3050 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6397 C Ralph Lenkert (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . 6397 C Thomas Bareiß (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . 6398 D Ralph Lenkert (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . 6400 C Thomas Bareiß (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . 6401 A Oliver Krischer (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6401 B Dirk Becker (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6402 B Dr. Herlind Gundelach (CDU/CSU) . . . . . . . 6403 B Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 67. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. November 2014 III Johann Saathoff (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6404 D Nächste Sitzung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6405 D Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten . . . . . . 6407 A Anlage 2 Erklärung nach § 31 GO des Abgeordneten Sönke Rix (SPD) zur namentlichen Abstim- mung über den Änderungsantrag des Abge- ordneten Kai Gehring, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN zu dem von der Bundesregierung einge- brachten Entwurf eines Fünfundzwanzigsten Gesetzes zur Änderung des Bundesausbil- dungsförderungsgesetzes (25. BAföGÄndG) Drucksache 18/3182 (66. Sitzung, Tagesord- nungspunkt 13a) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6407 D Anlage 3 Amtliche Mitteilungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6407 D Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 67. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. November 2014 6337 (A) (C) (D)(B) 67. Sitzung Berlin, Freitag, den 14. November 2014 Beginn: 9.00 Uhr
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    Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 67. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. November 2014 6407 (A) (C) (B) Anlagen zum Stenografischen Bericht Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten (D) Abgeordnete(r) entschuldigt bis einschließlich Alpers, Agnes DIE LINKE 14.11.2014 Andreae, Kerstin BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 14.11.2014 Behrens, Herbert DIE LINKE 14.11.2014 Bülow, Marco SPD 14.11.2014 Dağdelen, Sevim DIE LINKE 14.11.2014 Hänsel, Heike DIE LINKE 14.11.2014 Helfrich, Mark CDU/CSU 14.11.2014 Henn, Heidtrud SPD 14.11.2014 Höhn, Bärbel BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 14.11.2014 Klein-Schmeink, Maria BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 14.11.2014 Koenigs, Tom BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 14.11.2014 Kömpel, Birgit SPD 14.11.2014 Dr. Launert, Silke CDU/CSU 14.11.2014 Dr. Merkel, Angela CDU/CSU 14.11.2014 Dr. Nick, Andreas CDU/CSU 14.11.2014 Ostendorff, Friedrich BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 14.11.2014 Özdemir, Cem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 14.11.2014 Pau, Petra DIE LINKE 14.11.2014 Pronold, Florian SPD 14.11.2014 Dr. Riesenhuber, Heinz CDU/CSU 14.11.2014 Roth, Michael SPD 14.11.2014 Schlecht, Michael DIE LINKE 14.11.2014 Schön (St. Wendel), Nadine CDU/CSU 14.11.2014 Steinbach, Erika CDU/CSU 14.11.2014 Strässer, Christoph SPD 14.11.2014 Strobl (Heilbronn), Thomas CDU/CSU 14.11.2014 Tack, Kerstin SPD 14.11.2014 Dr. Terpe, Harald BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 14.11.2014 Trittin, Jürgen BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 14.11.2014 Werner, Katrin DIE LINKE 14.11.2014 Wöllert, Birgit DIE LINKE 14.11.2014 Zypries, Brigitte SPD 14.11.2014 Anlage 2 Erklärung nach § 31 GO des Abgeordneten Sönke Rix (SPD) zur na- mentlichen Abstimmung über den Änderungs- antrag des Abgeordneten Kai Gehring, weiterer Abgeordneter und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen zu dem von der Bundesregierung einge- brachten Entwurf eines Fünfundzwanzigsten Gesetzes zur Änderung des Bundesausbildungs- förderungsgesetzes (25. BAföGÄndG) Druck- sache 18/3182 (66. Sitzung, Tagesordnungs- punkt 13a) Mein Name ist in der Abstimmungsliste nicht da- bei. Mein Votum zum Änderungsantrag der Drucksache 18/3182 ist „Nein“. Anlage 3 Amtliche Mitteilungen Der Bundesrat hat in seiner 927. Sitzung am 7. No- vember 2014 beschlossen, den nachstehenden Gesetzen zuzustimmen bzw. einen Antrag gemäß Artikel 77 Ab- satz 2 des Grundgesetzes nicht zu stellen: – Gesetz zum Erlass und zur Änderung von Vor- schriften zur Durchführung unionsrechtlicher Vorschriften über Agrarzahlungen und deren Kontrollen in der Gemeinsamen Agrarpolitik Abgeordnete(r) entschuldigt bis einschließlich Anlagen 6408 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 67. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. November 2014 (A) (C) (D)(B) – Gesetz zur Teilauflösung des Sondervermögens „Aufbauhilfe“ und zur Änderung der Aufbauhil- feverordnung – Erstes Gesetz zur Stärkung der pflegerischen Ver- sorgung und zur Änderung weiterer Vorschriften (Erstes Pflegestärkungsgesetz – PSG I) – Bundesbesoldungs- und -versorgungsanpassungs- gesetz 2014/2015 (BBVAnpG 2014/2015) – Sechstes Gesetz zur Änderung des Verwaltungs- Vollstreckungsgesetzes – Gesetz zur Änderung des Antiterrordateigesetzes und anderer Gesetze – Gesetz zu dem Vertrag vom 14. April 2014 zwi- schen der Bundesrepublik Deutschland und der Weltgemeinschaft Reformierter Kirchen – Kör- perschaft des öffentlichen Rechts – – Gesetz zur Erleichterung der Umsetzung der Grundbuchamtsreform in Baden-Württemberg sowie zur Änderung des Gesetzes betreffend die Einführung der Zivilprozessordnung und des Wohnungseigentumsgesetzes – Zwölftes Gesetz zur Änderung des Bundes-Im- missionsschutzgesetzes – Gesetz zur Änderung des Umweltstatistikgesetzes und des Wasserhaushaltsgesetzes – Gesetz zur Änderung des Straßenverkehrsgeset- zes, der Gewerbeordnung und des Bundeszentral- registergesetzes – Zweites Gesetz zur Änderung des Bundesfern- straßenmautgesetzes – Gesetz über die Feststellung des Wirtschaftsplans des ERP-Sondervermögens für das Jahr 2015 (ERP-Wirtschaftsplangesetz 2015) – Gesetz zu dem Vorschlag für eine Verordnung des Rates zur Änderung der Verordnung (EWG, EURATOM) Nr. 354/83 im Hinblick auf die Hin- terlegung der historischen Archive der Organe beim Europäischen Hochschulinstitut in Florenz – Gesetz zu dem Abkommen vom 13. Februar 2014 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Costa Rica zur Vermeidung der Doppelbesteuerung auf dem Gebiet der Steuern vom Einkommen und vom Vermögen – Gesetz zu dem Protokoll vom 24. Juni 2013 zur Änderung des Abkommens vom 4. Oktober 1991 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Königreich Norwegen zur Vermeidung der Doppelbesteuerung und über gegenseitige Amts- hilfe auf dem Gebiet der Steuern vom Einkom- men und vom Vermögen sowie des dazugehörigen Protokolls – Gesetz zu dem Protokoll vom 11. März 2014 zur Änderung des Abkommens vom 1. Juni 2006 zwi- schen der Bundesrepublik Deutschland und Georgien zur Vermeidung der Doppelbesteuerung auf dem Gebiet der Steuern vom Einkommen und vom Vermögen – Gesetz zu dem Zweiten Zusatzprotokoll vom 8. November 2001 zum Europäischen Überein- kommen vom 20. April 1959 über die Rechtshilfe in Strafsachen – Gesetz zu dem Abkommen vom 22. Juni 2010 zur zweiten Änderung des Partnerschaftsabkom- mens zwischen den Mitgliedern der Gruppe der Staaten in Afrika, im Karibischen Raum und im Pazifischen Ozean einerseits und der Europäi- schen Gemeinschaft und ihren Mitgliedstaaten andererseits (Zweites Änderungsabkommen zum AKP-EG-Partnerschaftsabkommen) – Gesetz zu dem Internen Abkommen vom 24. Juni 2013 zwischen den im Rat vereinigten Vertretern der Regierungen der Mitgliedstaaten der Euro- päischen Union über die Finanzierung der im mehrjährigen Finanzrahmen für den Zeitraum 2014 bis 2020 vorgesehenen Hilfe der Europäi- schen Union im Rahmen des AKP-EU-Partner- schaftsabkommens und über die Bereitstellung von finanzieller Hilfe für die überseeischen Län- der und Gebiete, auf die der vierte Teil des Ver- trags über die Arbeitsweise der Europäischen Union Anwendung findet (Internes Abkommen) – Gesetz über Maßnahmen im Bauplanungsrecht zur Erleichterung der Unterbringung von Flücht- lingen Die folgenden Ausschüsse haben mitgeteilt, dass sie gemäß § 80 Absatz 3 Satz 2 der Geschäftsordnung von einer Berichterstattung zu den nachstehenden Vorlagen absehen: Auswärtiger Ausschuss – Unterrichtung durch die Bundesregierung Vierter Bericht der Bundesregierung über Maßnahmen zur Umsetzung von Resolution 1325 des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen zu Frauen, Frieden und Sicher- heit im Zeitraum August 2010 bis Dezember 2013 Drucksachen 18/1003, 18/1702 Nr. 1.1 Innenausschuss – Unterrichtung durch die Bundesregierung Zwischenbericht des Staatssekretärsausschusses zu Rechtsfragen und Herausforderungen bei der Inan- spruchnahme der sozialen Sicherungssysteme durch Angehörige der EU-Mitgliedstaaten Drucksache 18/960 – Unterrichtung durch die Bundesregierung Abschlussbericht des Staatssekretärsausschusses zu „Rechtsfragen und Herausforderungen bei der Inan- spruchnahme der sozialen Sicherungssysteme durch Angehörige der EU-Mitgliedstaaten“ Drucksache 18/2470 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 67. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. November 2014 6409 (A) (C) (B) Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur – Unterrichtung durch die Bundesregierung Bericht über Maßnahmen auf dem Gebiet der Unfall- verhütung im Straßenverkehr 2012 und 2013 (Unfallverhütungsbericht Straßenverkehr 2012/2013) Drucksachen 18/2420, 18/2530 Nr. 11 Die Vorsitzenden der folgenden Ausschüsse haben mitgeteilt, dass der Ausschuss die nachstehenden Unionsdokumente zur Kenntnis genommen oder von ei- ner Beratung abgesehen hat. Auswärtiger Ausschuss Drucksache 18/2533 Nr. A.1 EuB-BReg 56/2014 Drucksache 18/2533 Nr. A.2 EuB-BReg 60/2014 Drucksache 18/2533 Nr. A.7 Ratsdokument 7224/14 Drucksache 18/2845 Nr. A.1 EuB-BReg 72/2014 Drucksache 18/2935 Nr. A.1 EuB-BReg 73/2014 Drucksache 18/2935 Nr. A.2 Ratsdokument 13519/14 Innenausschuss Drucksache 18/419 Nr. A.30 Ratsdokument 15369/13 Drucksache 18/2533 Nr. A.15 Ratsdokument 11260/14 Drucksache 18/2533 Nr. A.19 Ratsdokument 11970/14 Drucksache 18/3110 Nr. A.6 Ratsdokument 13680/14 Drucksache 18/3110 Nr. A.7 Ratsdokument 13683/14 Haushaltsausschuss Drucksache 18/2055 Nr. A.5 KOM(2014)300 endg. Drucksache 18/2055 Nr. A.6 Ratsdokument 10340/14 Drucksache 18/2055 Nr. A.7 Ratsdokument 10341/14 Drucksache 18/2533 Nr. A.35 Ratsdokument 11775/14 Drucksache 18/2677 Nr. A.5 Ratsdokument 12621/14 Drucksache 18/2677 Nr. A.6 Ratsdokument 12659/14 Drucksache 18/2677 Nr. A.7 Ratsdokument 12698/14 Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft Drucksache 18/2935 Nr. A.3 Ratsdokument 13426/14 Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur Drucksache 18/1935 Nr. A.11 Ratsdokument 10070/14 Drucksache 18/1935 Nr. A.12 Ratsdokument 10201/14 Drucksache 18/2533 Nr. A.53 Ratsdokument 12370/14 (D) 67. Sitzung Inhaltsverzeichnis TOP 5 Umsetzung europäischer Vorgaben zum Sexualstrafrecht TOP 22 Vereinbarkeit von Familie, Pflege und Beruf TOP 23 Telemediengesetz – Störerhaftung TOP 24 Empfehlungen des NSU-Untersuchungsausschusses TOP 25 Rehabilitierung politisch Verfolgter der DDR TOP 26 Bundeseinheitliche Netzentgelte für Strom Anlagen
Gesamtes Protokol
Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1806700000

Die Sitzung ist eröffnet. Nehmen Sie bitte Platz.

Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
begrüße Sie alle herzlich und darf vor Eintritt in unsere
Tagesordnung einige Mitteilungen machen:

Die Kollegin Sabine Bätzing-Lichtenthäler hat ihr
Bundestagsmandat bedauerlicherweise niedergelegt.
Für sie ist am 12. November 2014 die Kollegin
Angelika Glöckner nachgerückt, die ich im Namen des
Hauses herzlich begrüße und mit der wir uns eine gute
Zusammenarbeit wünschen. Herzlich willkommen!


(Beifall)


Der Ältestenrat hat sich in seiner gestrigen Sitzung
darauf verständigt, dass während der Haushaltsbera-
tungen in unserer nächsten Sitzungswoche, also ab dem
25. November, wie in Haushaltswochen üblich keine Be-
fragung der Bundesregierung, keine Fragestunde und
auch keine Aktuellen Stunden durchgeführt werden. Als
Präsenztage sind die Tage von Montag, dem 24. Novem-
ber, bis Freitag, dem 28. November, festgelegt worden.
Ich vermute, dass Sie damit einverstanden sind. – Das ist
der Fall. Dann verfahren wir so.

Ich rufe unsere Tagesordnungspunkte 5 a und 5 b auf:

a) – Zweite und dritte Beratung des von den Frak-
tionen der CDU/CSU und SPD eingebrach-
ten Entwurfs eines … Gesetzes zur Ände-
rung des Strafgesetzbuches – Umsetzung
europäischer Vorgaben zum Sexualstraf-
recht

Drucksache 18/2601

– Zweite und dritte Beratung des von der Bun-
desregierung eingebrachten Entwurfs eines
… Gesetzes zur Änderung des Strafgesetz-
buches – Umsetzung europäischer Vorga-
ben zum Sexualstrafrecht

Drucksache 18/2954
Beschlussempfehlung und Bericht des Aus-
schusses für Recht und Verbraucherschutz

(6. Ausschuss)


Drucksache 18/3202 (neu)

b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-

richts des Ausschusses für Familie, Senioren,
Frauen und Jugend (13. Ausschuss) zu dem An-
trag der Abgeordneten Dr. Franziska Brantner,
Katja Dörner, Tabea Rößner, weiterer Abgeord-
neter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN

Kinder schützen – Prävention stärken
Drucksachen 18/2619, 18/3201

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 60 Minuten vorgesehen. – Auch dazu
kann ich Einvernehmen feststellen. Dann können wir so
verfahren.

Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem
Kollegen Johannes Fechner für die SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. Johannes Fechner (SPD):
Rede ID: ID1806700100

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Kolleginnen und

Kollegen! Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer! Ich bin sehr
froh, dass wir heute diesen Gesetzentwurf verabschieden
können, weil wir damit eine EU-Richtlinie umsetzen
– das ist der Anlass für dieses Gesetz –, was bei der Vor-
gängerregierung liegen geblieben war. Sie sehen also:
Wir reden nicht nur vom Schutz von Kindern, sondern
wir handeln auch, und wir schließen mit diesem Gesetz
zum Schutz der Kinder wichtige Strafbarkeitslücken in
Deutschland.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Dabei sind wir uns bewusst, dass wir mit dem Straf-
recht allein den Missbrauch von Kindern sicherlich nicht
verhindern können. Dazu brauchen wir Präventionspro-
jekte wie das Projekt „Kein Täter werden“ in Berlin oder





Dr. Johannes Fechner


(A) (C)



(D)(B)

ein ähnliches Projekt in Baden-Württemberg. Wir unter-
stützen das Projekt „Kein Täter werden“ in diesem
Haushaltsjahr mit zusätzlichen 150 000 Euro.

Natürlich, die besten und strengsten Gesetze helfen
nichts, wenn wir bei den Ermittlungsbehörden, etwa bei
der Polizeidienststelle vor Ort, nicht die technische und
auch nicht die personelle Ausstattung haben, die für die
Verbrechensbekämpfung benötigt werden.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der LINKEN)


Ich bin gespannt, was zu diesem für mich wesentlichen
Aspekt im Untersuchungsausschuss zum BKA heraus-
kommt; denn die entscheidende Frage ist: Was können
wir hier verbessern?

Es gibt in Deutschland Strafbarkeitslücken im Straf-
gesetzbuch, die wir mit diesem Gesetz schließen wollen.
Wichtig ist mir, dass wir das Strafmaß für den Besitz von
Kinderpornografie von zwei auf drei Jahre erhöhen; das
halte ich für eine wichtige Maßnahme. Das Erstellen, das
Verbreiten und der Besitz sogenannter Posingbilder wer-
den zukünftig nach dem StGB explizit als Kinderporno-
grafie strafbar sein. Ich halte es für ganz wichtig, dass
wir hier ein klares Kriterium gefunden haben und im Ge-
setz definiert haben, wann etwas als Kinderpornografie
strafbar sein soll.

Wir haben klar definiert, wann ein Bild eines nackten
Kindes oder eines Jugendlichen als pornografisch und
damit strafbar einzuschätzen ist, nämlich dann, wenn das
Bild oder das Video die unbekleideten Genitalien oder
das unbekleidete Gesäß eines Kindes zeigt oder wenn
ein Kind bzw. ein Jugendlicher in unnatürlicher, ge-
schlechtsbetonter Körperhaltung abgebildet ist. Zudem
macht sich nach unserer Neuregelung strafbar, wer mit
kommerziellen Absichten Nacktbilder von Jugendli-
chen, die die Schwelle zur Pornografie, die ich gerade
beschrieben habe, nicht erreichen, herstellt oder anbietet.

Wir beschließen noch viele weitere wichtige Maßnah-
men. Da möchte ich dem Kollegen Wiese allerdings
nicht vorgreifen. Ich will nur benennen, dass wir das
Cybergrooming zukünftig explizit unter Strafe stellen.
Ich finde, eine wichtige Maßnahme ist auch, dass wir die
Verjährungsfrist deutlich verlängern. Sie sehen also: Wir
nehmen den Schutz der Kinder sehr ernst. Wir schließen
Strafbarkeitslücken im Gesetz zum Wohle der Kinder in
Deutschland.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Aber auch den höchstpersönlichen Lebensbereich von
Erwachsenen schützen wir zukünftig besser, etwa indem
wir die Personen, die in einer hilflosen Situation fotogra-
fiert und dadurch zur Schau gestellt werden, strafrecht-
lich schützen. Strafbar macht sich zukünftig auch, wer
unbefugt ein Bild – das Wort „unbefugt“ ist ein ganz
wichtiges Korrektiv im Gesetzestext – herstellt und da-
bei dem Ansehen der fotografierten Person erheblich
schadet. Wir haben ja heute die Situation, dass Smart-
phones und damit Kameras und Videokameras allgegen-
wärtig sind. Sofort ist jemand da, der auf den Auslöser
drücken und knipsen kann. Ich finde, angesichts dieser
technischen Entwicklung müssen wir den höchstpersön-
lichen Lebensbereich, nicht nur der Kinder, sondern
auch der Erwachsenen besser schützen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Sie sehen also: Wir haben in Umsetzung der EU-
Richtlinie präzise Regelungen für das Strafgesetzbuch
zum Schutz der Kinder in Deutschland getroffen. Da in
manchen Medien anscheinend noch Unklarheiten be-
standen, möchte ich ausdrücklich auf Folgendes hinwei-
sen: Die Sorge, dass die journalistische Bildberichter-
stattung durch dieses Gesetz in irgendeiner Form
eingeschränkt werden könnte, ist unbegründet. Wir ha-
ben in einer Vorschrift explizit geregelt, dass die journa-
listische Bildberichterstattung und wissenschaftliche Tä-
tigkeiten von der Strafbarkeit ausgeschlossen sind. Da
auch viele Eltern nach Medienberichten Sorge hatten, ist
es mir ebenso wichtig, zu sagen: Wenn Eltern ihre klei-
nen Kinder im Familienurlaub nackt am Strand spielend
fotografieren, dann ist das nicht strafbar, auch dann
nicht, wenn solche Fotos verbreitet werden. Es war uns
ganz wichtig, dass solche privaten Fotos nicht kriminali-
siert werden.

Zusammengefasst: Wann sind Nacktfotos von Kin-
dern strafrechtlich problematisch? Das ist bei der Her-
stellung, beim Besitz oder beim Erwerb von Nacktbil-
dern von Kindern und Jugendlichen der Fall, wenn das
Bild vom Täter mit der Absicht, es zu verkaufen, also ei-
nem Dritten gegen Entgelt zugänglich zu machen, herge-
stellt wurde oder wenn es sich um pornografische Bilder
handelt, wobei wir im Gesetz ganz klar definiert haben,
wann diese Schwelle erreicht ist.

Meine Damen und Herren, mit diesem Gesetz verbes-
sern wir den Schutz der Kinder vor Missbrauch, und wir
schützen den höchstpersönlichen Lebensbereich von
Bürgerinnen und Bürgern, ganz unabhängig vom Alter.
Es ist deshalb ein wichtiges und sinnvolles Gesetz, dem
wir alle einvernehmlich zustimmen sollten.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1806700200

Nächster Redner ist der Kollege Jörn Wunderlich für

die Fraktion Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Jörn Wunderlich (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1806700300

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Liebe Zuhörer und Zuschauer! Zunächst möchte ich
mich bei allen Kollegen für die sachliche Beratung in
den Ausschüssen bedanken. Es ist ein heikles Thema. Es
ist ein schwieriges Thema. Ich denke, da sollte man
Emotionen oder irgendwelche wie auch immer geartete
Parteivorbehalte und Ähnliches beiseitelassen.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)






Jörn Wunderlich


(A) (C)



(D)(B)

Es geht hier um Kinderschutz. Ich denke, ich spreche für
alle Mitglieder des Hauses, wenn ich sage, dass es für je-
den von uns ein Herzensanliegen ist, unsere Kinder zu
schützen.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Der Gesetzentwurf, so wie er vorliegt, hat ein hehres
Ziel, wie der Kollege Fechner eben ausgeführt hat,
schießt aber nach Überzeugung der Linken weit über
dieses Ziel hinaus. Er wurde von den Koalitionsfraktio-
nen anlässlich der sogenannten Edathy-Affäre erarbeitet.
In der sich aus dieser Affäre ergebenden emotional hoch
aufgeladenen Debatte kamen die verstärkten Rufe nach
Strafverschärfung. Bundesminister Maas kündigte da-
raufhin einen Gesetzentwurf zur Schließung der Lücken
und zur Umsetzung der Richtlinie an. Dieser liegt uns
nun vor.

In der Form, wie er uns vorliegt, kann ihm aber nicht
zugestimmt werden; denn es ist unsere Überzeugung: Er
missachtet die Maßgabe des Strafrechts als Ultima Ra-
tio, indem er Verhaltensweisen unter Strafe stellt, die
moralisch verwerflich sein mögen, aber keine Kriminal-
strafe rechtfertigen. Nicht jedes moralisch verwerfliche
Verhalten muss unter Strafe gestellt werden.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Der Gesetzentwurf trägt darüber hinaus den Anforde-
rungen des Bestimmtheitsgebots nicht ausreichend
Rechnung, und er sieht Strafrahmenerhöhungen vor, ob-
wohl durch verschiedene kriminologische Studien im-
mer wieder belegt worden ist, dass das Strafmaß als
solches keine abschreckende Wirkung hat. Das Ent-
deckungsrisiko schreckt potenzielle Täter ab, aber kein
wie auch immer gearteter Strafrahmen.


(Beifall bei der LINKEN)


Ich möchte im Rahmen der mir gegebenen Zeit auf ei-
nige Punkte eingehen. Zunächst das Positive: § 174
StGB – Missbrauch von Schutzbefohlenen – wird ange-
messen dahin gehend ergänzt und erweitert, dass nun ne-
ben die leiblichen oder angenommenen Kinder auch die
leiblichen oder angenommenen Kinder von Ehepartnern
oder Lebensgefährten treten, um etwaige diesbezügliche
Abhängigkeitsverhältnisse zu erfassen. Des Weiteren
wurde in Absatz 2 der sogenannte Vertretungslehrerfall
ergänzt. Wir hätten uns zwar noch eine sachgerechtere
Differenzierung gewünscht, aber es ist eine sinnvolle Er-
gänzung.

Beim sexuellen Missbrauch von Kindern, § 176
StGB, wird das sogenannte Cybergrooming – das ist
auch schon angesprochen worden – einbezogen, also das
gezielte Ansprechen von Kindern und Jugendlichen im
Internet mit dem Ziel, sexuelle Kontakte anzubahnen.
Die Regelung ist problematisch, da sie bereits die erste
Kontaktaufnahme mit „bösen Hintergedanken“ erfasst,
ohne dass es zu weiteren Handlungen oder Kontaktauf-
nahmen kommt. Die EU-Richtlinie sieht allerdings eine
Strafbarkeit nur vor, wenn auf einen per Telekommuni-
kation erfolgten Vorschlag eines Treffens weitere, auf
ein solches Treffen hinführende konkrete Handlungen
erfolgt sind. Hier stellt sich die Frage, wie bei dieser
Vorverlagerung der Strafbarkeit der Nachweis der Täter-
motivation geführt werden soll. Im Zweifel wird das
nicht gelingen, da die „bösen Hintergedanken“ nachzu-
weisen sind.

Hinsichtlich der Änderungen zur Kinderpornografie,
§ 184 b, soll nun die „unnatürlich geschlechtsbetonte
Körperhaltung“ strafbar sein. Dies wurde bereits durch
die BGH-Rechtsprechung zum Posing erfasst. Danach
waren Handlungen erfasst, bei denen das Kind vor dem
Fotografieren aufgefordert wurde, sich zu entblößen und
Stellungen einzunehmen, die seine Genitalien zeigen.
Nun sollen auch Handlungsweisen erfasst werden, bei
denen das Kind keine aktive Rolle spielt, wenn zum Bei-
spiel ein schlafendes, teilweise entblößtes Kind fotogra-
fiert wird. Allerdings ist die Ergänzung um „unnatürlich
geschlechtsbetonte Haltung“ zu unbestimmt, was im Üb-
rigen auch von den Sachverständigen in der Anhörung
bemängelt wurde. Daran ändert auch nichts die Ergän-
zung um das unbekleidete Gesäß oder die Geschlechts-
teile eines Kindes. Außerdem bleibt fraglich, was die
Versuchsstrafbarkeit an Zugewinn bringt, da die Vor-
schrift als Unternehmensdelikt ausgelegt ist. Bereits jetzt
ist die erfolglose Suche nach kinderpornografischem
Bildmaterial als Unternehmensdelikt strafbar.

In § 184 d Strafgesetzbuch soll nun der wissentliche
Abruf von kinder- und jugendpornografischem Inhalt
explizit unter Strafe gestellt werden. Hier entsteht eine
Rechtsunsicherheit; denn: Wie soll ohne Zwischenspei-
cherung ein Abruf nachgewiesen werden? Hier scheint
die Überprüfung und Verfolgung jedenfalls äußerst pro-
blematisch und öffnet der Vorratsspeicherung oder gar
der Onlineüberwachung Tür und Tor.


(Beifall bei der LINKEN)


Wie soll sichergestellt werden, dass es sich nicht um ei-
nen versehentlichen Abruf handelt?

Zuletzt möchte ich einen Punkt dieses Gesetzes be-
sonders erwähnen: den von Anfang an heftig kritisierten
Entwurf für einen ausgeweiteten § 201 a Strafgesetz-
buch. Schon die Änderungen in Absatz 2 stoßen auf er-
hebliche Bedenken. Er soll nun heißen:

Ebenso wird bestraft, wer unbefugt von einer ande-
ren Person eine Bildaufnahme, die geeignet ist, dem
Ansehen der abgebildeten Person erheblich zu
schaden … einer dritten Person … zugänglich
macht.

Es reicht also aus, das einer dritten Person zugänglich zu
machen, von „verbreiten“ ist keine Rede. Daraus erge-
ben sich nun alle möglichen Fallkonstellationen: ein
Foto am FKK-Strand oder eines angetrunkenen Party-
gastes, das Foto eines CSU-Politikers gemeinsam mit ei-
nem Politiker der Linken bei einem Bier an der Spree.


(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Und zwar während der Plenarsitzung!)


All das kann zur Strafbarkeit führen, sobald dieses Bild
einer dritten Person, auch im Familienkreis, zugänglich
gemacht wird. In der Begründung des Gesetzentwurfs





Jörn Wunderlich


(A) (C)



(D)(B)

wird primär auf Bildaufnahmen von unbekleideten Kin-
dern abgestellt. Das war letztlich ja auch Grundlage für
diese Gesetzesänderung. Tatsächlich werden aber auch
Erwachsene von dieser Regelung erfasst, und um die
wird es in der Praxis dann wohl auch vorrangig gehen.


(Dirk Wiese [SPD]: Aber nur bei erheblichem Schaden!)


Das Ganze ist geändert worden von einem Antragsde-
likt in ein relatives Antragsdelikt, und zwar auch bei den
Bildern, die ich gerade erwähnt habe. So weit, so gut.
Aber jetzt kann, wie gesagt, jeder Strafanzeige erstatten.
Das heißt jeder, der ein Bild sieht und sagt: „Die abgebil-
dete Person könnte in ihrem Ansehen erheblich geschä-
digt sein“, kann einen Strafantrag stellen.


(Dirk Wiese [SPD]: „Erheblich“! – Halina Wawzyniak [DIE LINKE]: Da freut sich die Strafverteidigerin!)


Damit kann, wie gesagt, jeder Anzeige erstatten. Das
kann für den betroffenen Fotografen eine mindestens un-
angenehme, wenn nicht sogar eine existenzvernichtende
Strafverfolgung auslösen, obwohl zivilrechtlich alles
rechtmäßig ist und bleibt.

Wie gesagt, es gibt alle möglichen Fallkonstellatio-
nen. Und es gibt gute Gründe, warum alle Sachverstän-
digen in der Anhörung des Ausschusses diesen Entwurf
zur Änderung von § 201 a StGB abgelehnt haben.


(Beifall bei der LINKEN sowie der Abg. Katja Keul [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Es bedarf an dieser Stelle keines entsprechenden neuen
Straftatbestandes. Das ist alles bereits durch die Straf-
vorschriften und das Urhebergesetz unter Strafe gestellt.

Zuletzt noch zwei Sätze zur Verlängerung der Verjäh-
rungsfrist. Jeder Praktiker kann bestätigen, dass nach
Bekanntwerden einer möglicherweise Jahrzehnte zu-
rückliegenden Tat, zu welcher es zudem keine objekti-
ven Beweismittel gibt, eine Verurteilung unter rechts-
staatlichen Gesichtspunkten wegen mangelnder
Beweismittel und Erinnerungsverlusten der Zeugen sehr,
sehr unwahrscheinlich ist. Hier wird den Opfern wider
besseres Wissen suggeriert, eine Bestrafung der Täter sei
möglich. Das Strafrecht ist aber nicht das primäre Instru-
ment, um den Opfern Genugtuung oder Wiedergutma-
chung zu gewähren. Wiedergutmachung kann man in
diesen Fällen eh nicht leisten. Es geht um den Strafan-
spruch des Staates. Bei allem Verständnis für die Opfer
solcher Taten – da spreche ich als ehemaliger Staatsan-
walt und Richter, der auch mit solchen Fällen befasst
war – dürfen nicht Hoffnungen geweckt werden, die im
Ergebnis nicht zu erfüllen sind.


(Beifall bei der LINKEN)


Alles in allem kann dieser Gesetzentwurf in der Ge-
samtschau daher nur abgelehnt werden. Mit dem Antrag
der Grünen, über den wir heute auch debattieren, liegt
ein Vorschlag auf dem Tisch, wie unabhängig von Straf-
rechtsverschärfungen der Kinderschutz durch Prävention
auf verschiedenen Ebenen verbessert werden kann. Der
Antrag ist zumindest ein großer Schritt in die richtige
Richtung. Diesem ist daher zuzustimmen.

Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1806700400

Das Wort erhält nun die Kollegin Winkelmeier-

Becker.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD – Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ein GO-Antrag!)


– Entschuldigung, das ist hier nicht klar angekommen.
Ich habe mich extra noch einmal erkundigt. Wir bekom-
men das aber geregelt auf die Reihe. Wenn Sie einen Ge-
schäftsordnungsantrag stellen möchten, können Sie
das gerne tun. Das können Sie auch vom Platz tun.


Anja Hajduk (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1806700500

Ich kann den Antrag vom Platz aus stellen. So habe

ich das verstanden. – Es tut mir leid, dass es zu einem
Missverständnis gekommen ist, Herr Präsident.

Ich möchte gerne für meine Fraktion und für das Haus
den Antrag stellen, dass wir ein Mitglied der Bundesre-
gierung, und zwar den Justizminister Heiko Maas, her-
beirufen. Es ist für mich völlig unverständlich, dass
diese Debatte ohne ihn stattfindet. Diese Debatte führen
wir schon lange miteinander, und es soll jetzt sehr kurz-
fristig auf Wunsch der Regierungsfraktionen zum Ab-
schluss dieser Beratungen kommen. Es gab viele
Diskussionen über das Verfahren. Jenseits von Verfah-
rensfragen ist zu sagen: Die Diskussionen über das
Sexualstrafrecht, insbesondere in diesem Fall, in dem es
um Nacktbilder von Kindern und deren Veröffentlichung
geht, bewegen uns alle sehr. Das ist von hoher Relevanz.

Ich habe mich erkundigt. Der Minister ist nicht ent-
schuldigt, weder vorher bei den Fraktionen noch hier
vorne. Es gibt für mich keinerlei Begründung, dass er
nicht hier ist. Ich finde, wir dürfen erwarten – das betrifft
nicht nur die Oppositionsfraktionen, sondern das ganze
Haus –, dass er an unseren Beratungen hier, an dieser
Debatte teilnimmt. Deswegen bitte ich sehr um Unter-
stützung der Großen Koalition, die diesen Debattenplatz
haben wollte. Er wurde wegen der Fraktionsberatungen
kurzfristig verlegt. Ich bitte Sie, uns und unser Interesse
an der Beratung dieses Punktes ernst zu nehmen und un-
serem Antrag zuzustimmen.

Schönen Dank.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1806700600

Frau Kollegin Hajduk, ich mache einen Verfahrens-

vorschlag. Den Antrag, den Sie gestellt haben, halte ich
nicht nur für zulässig, sondern auch für begründet. Ich
höre, dass der Minister auf dem Weg ist. Mein Vorschlag
lautet: Wenn er bis zum Ende des Beitrags, der jetzt ge-





Präsident Dr. Norbert Lammert


(A) (C)



(D)(B)

rade aufgerufen wurde, nicht im Plenum erschienen sein
sollte, stimmen wir über Ihren Antrag ab. Vielleicht hat
sich das aber bis dahin im Sinne Ihrer Antragstellung er-
ledigt. – Okay, ich stelle dazu Einvernehmen fest. – Frau
Winkelmeier-Becker, bitte.


Elisabeth Winkelmeier-Becker (CDU):
Rede ID: ID1806700700

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es

ist eigentlich schade: Auch ich hätte den Minister gerne
als Zuhörer gehabt.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie können ja auch warten mit dem Redebeitrag!)


Es wäre aber, glaube ich, nicht kollegial, wenn wir jetzt
alle warten lassen würden. Deshalb werde ich jetzt gerne
die Gelegenheit nutzen, Ihnen unsere Gedanken zu die-
sem Gesetzentwurf darzulegen.

Rechtspolitik in dieser Woche ist nun wirklich nicht
langweilig. Wir haben sehr viele verschiedene Themen
zu behandeln. Gestern waren es die Mietpreisbremse
und die Sterbehilfe. Die Diskussion darüber betrifft letzt-
endlich eine Kernfrage der Rechtspolitik. Es kommen
noch die Hasskriminalität – NSU-Ausschuss – dazu.
Trotzdem ist es mir wichtig, zu zeigen: Das alles sind
nicht Themen, die unverbunden nebeneinander stehen,
sondern da gibt es rote Linien.

Ich habe von diesem Platz aus schon einmal unsere
rote Linie der mittelstandsunterstützenden Rechtspolitik
dargelegt. Heute geht es hier um einen anderen, ganz
wichtigen roten Faden, nämlich um den Opferschutz,
den wir verbessern wollen. Dazu haben wir mehrere Pro-
jekte – auch im Koalitionsvertrag – vereinbart. Ich denke
dabei an unsere wichtige Diskussion über Menschenhan-
del und Zwangsprostitution, aber auch an solche Dinge
wie zivilrechtliche Schäden, die demnächst in Annex-
verfahren einfacher geltend gemacht werden sollen. Da-
bei geht es darum, dass nahe Angehörige beim Tod eines
Opfers Schmerzensgeld erhalten sollen. All das sind
wichtige Punkte.

Das aber, was heute hier diskutiert wird, nämlich der
Schutz von Kindern vor Übergriffen bzw. Verletzung ih-
rer Intimsphäre oder sexuellen Selbstbestimmung, steht
ganz stark im Mittelpunkt unserer Rechtspolitik.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Bereits im Koalitionsvertrag haben wir, wie gesagt,
angesprochen, dass die Verjährung von Taten in der
Kindheit bis zum 30. Lebensjahr ruhen soll. Aus meiner
Sicht ist das eine wichtige Erweiterung des Rechtsschut-
zes, weil es eben oft lange dauert, bis man sprechfähig
ist, das verarbeitet hat und sich dem noch einmal stellen
kann. Natürlich kann es auch zu Enttäuschungen führen.
Deshalb ist es, glaube ich, wichtig und unsere Aufgabe,
hier noch einmal darauf hinzuweisen, dass es trotzdem
möglichst früh gemacht werden sollte, um hinterher
auch zum Erfolg zu kommen. Trotzdem denke ich aber,
dass diese Möglichkeit, nach längerer Zeit im weiteren
Leben darauf zurückzukommen, doch ein Gewinn für
die Opfer ist.

Ich möchte nun vor allem auf die Regelungen im Be-
reich der Kinderpornografie eingehen, welche die Öf-
fentlichkeit am meisten interessieren. Im Frühjahr dieses
Jahres gab es einen prominenten Fall, der uns aufgezeigt
hat, dass wir da Schutzlücken haben. Wenn gegen Ent-
gelt schwunghafter Handel mit Bildern von unschuldi-
gen nackten bzw. entblößten Kindern, die davon nichts
mitbekommen, getätigt wird, die ins Internet gesetzt
werden, nicht mehr einholbar und überall auf der Welt
abrufbar sind, dann ist das unerträglich. Das geht nicht.
Wir müssen das absolut unter Strafe stellen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Ein Zitat des römischen Kaisers Mark Aurel lautet
wie folgt:

Oft tut auch der Unrecht, der nichts tut. Wer das
Unrecht nicht verbietet …, der befiehlt es.

Das ist ein Aspekt, der dazu führt, dass wir schnell arbei-
ten müssen. Wir dürfen hier nicht mehr lange warten,
sondern müssen handeln, damit diese Schutzlücke im
Gesetz geschlossen wird.

Die Richtlinie, die wir gleichzeitig umsetzen, sollte
außerdem bereits zum Ende des vergangenen Jahres um-
gesetzt werden. Sie ist liegen geblieben. Auch das ist ein
Grund, jetzt schnell voranzugehen. Wir wollen diese
Frist nicht um mehr als ein Jahr reißen und dazu kom-
men, das Gesetz an dieser Stelle nachzubessern.

Der Minister hatte zu all dem einen Entwurf vorge-
legt, der in einigen Punkten noch nicht optimal war,
nicht so richtig treffsicher bei dem, was wir als strafwür-
diges Unrecht erkennen. Auf der anderen Seite ging er in
einigen Punkten zu weit. Auch der Bundesrat hat das
geltend gemacht, einerseits unter dem Begriff „Be-
stimmtheitsgebot“ – dem genügt es nicht – und anderer-
seits unter dem Begriff „Angemessenheit“; der Entwurf
ging an einigen Stellen weit über das Ziel hinaus. Des-
halb bin ich froh, dass wir eine kritische Diskussion ge-
führt haben. Sie hat dem Verfahren gutgetan. Wir haben
jetzt ein Ergebnis, das deutlich besser ist. Daher danke
ich an dieser Stelle allen, mit denen wir gut zusammen-
gearbeitet haben, allen, die gute Ideen eingebracht ha-
ben. Ich denke, wir dürfen unsere Teams und auch die
Mitarbeiter im Ministerium in diesen Dank einschließen.
Wir haben in den letzten Tagen auf der Strecke noch ei-
niges Gutes bewirkt.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD – Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist jetzt absurd! Wo Sie uns nicht einmal Zeit für Beratungen gelassen haben!)


– Ich finde, auch Sie können sich im Gesetz wiederfin-
den.


(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Noch lieber wäre mir eine ordentliche Beratung! – Beifall bei Abgeordneten des Elisabeth Winkelmeier-Becker BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der LINKEN)





(A) (C)


(D)(B)


Auf der einen Seite haben wir jetzt das, was strafwür-
diges Unrecht sein soll, viel besser gefasst. Auf der an-
deren Seite haben wir klargestellt, dass niemand in Be-
zug auf sein privates Fotoalbum Sorge haben muss,
wenn sich darin normale Urlaubsfotos von den Kindern
am Strand befinden, auch wenn einmal Nachbarskinder
dabei sind. Es zieht nicht die Anstandsdame ein. Es gibt
keine verordnete Prüderie im privaten Bereich, aber
eben Schutz, wo er nötig ist.

Zunächst zu den Bildern, auf denen Kinder nackt po-
sieren. Mit der Formulierung „unnatürlich geschlechts-
betonte Körperhaltung“ schließen wir die Schutzlücke in
Bezug auf das Posing. Das wird jetzt klargestellt. Aber
wir haben in der Diskussion auch gemerkt, dass das
nicht alle strafwürdigen Fälle erfasst. Das Kind, das im
Schlaf entblößt ist und fotografiert wird, befindet sich
eben gerade nicht in einer unnatürlichen Haltung, auch
nicht, wenn es sich spielerisch bewegt. Wenn dann Nah-
aufnahmen der Genitalien in sexuell aufreizender Weise
gemacht werden, wäre das bisher nicht unter die Posing-
und Pornografievorschriften gefallen. Das haben wir
jetzt klargestellt. Auch da ist jetzt die Strafbarkeit nach
§ 184 b StGB gesichert.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Wir haben den Strafrahmen von zwei auf drei Jahre
erhöht. An diesem Punkt sind wir im Dissens auseinan-
dergegangen. Wir hätten den Strafrahmen gern auf fünf
Jahre erhöht, zum Beispiel in Anlehnung an die Strafbar-
keit von Diebstahl. Wir hören aus der Praxis, dass die
Darstellung des echten Missbrauchs – also nicht die
Posingfälle, sondern anderes – sehr brutal geworden ist.
Der Gedanke, dass das nur deshalb passiert, weil am an-
deren Ende ein Käufer dafür zahlt, war für uns Grund
genug, auf fünf Jahre gehen zu wollen. Heute bleibt es
allerdings bei drei Jahren. Vielleicht setzen wir das bei
anderer Gelegenheit noch einmal auf die Tagesordnung.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Bei den jugendpornografischen Schriften haben wir
davon abgesehen, die Regelungen komplett parallel zur
Kinderpornografie zu gestalten. Denn wir sehen natür-
lich, dass die sexuelle Selbstbestimmung und auch das,
was die Jugendlichen selber tun und entscheiden kön-
nen, ein ganz anderes Maß hat als das, was bei Kindern
möglich ist. Hier haben wir ganz klare Ausnahmen für
das private Fotoalbum gemacht. Wer Aufnahmen von
sich und seinem Partner mit allseitiger Einwilligung
macht, der bleibt straflos, wenn er diese nur für den eige-
nen Gebrauch macht und in diesem Kreis behält. Das ha-
ben wir, solange es den privaten Gebrauch nicht über-
steigt, nicht unter das Verdikt der Strafe gestellt.

Bei den Kindernacktbildern der sogenannten Katego-
rie 2 haben wir aber die klare Auffassung, dass es gegen
die Würde der Kinder verstößt, wenn mit solchen Bil-
dern ihr Recht auf Intimsphäre und Persönlichkeitsent-
wicklung verletzt wird, wenn sie zu Zwecken und als
Objekt der Wünsche von Erwachsenen dargestellt wer-
den und diese Bilder ins weltweite Netz gestellt werden.
Das wollten wir ganz klar unter Strafe stellen.

Der Befürchtung, dass das vielfach auch im privaten
Bereich zu strafwürdigem Verhalten führt, sind wir mit
einer ganz einfachen Grenzziehung entgegengetreten.
Die Nacktheit von Kindern und Jugendlichen auf Bil-
dern ist nur dann strafwürdig, wenn dies im Rahmen ei-
nes entgeltlichen Austauschs geschieht – Entgelt mit t,
also nicht nur für Geld, sondern auch im Rahmen eines
Tauschs –; denn das geht nicht, das ist nicht tolerabel.

Davon abzugrenzen sind allerdings all die Fälle im
privaten Bereich. Natürlich denkt niemand daran, mit
Bildern der eigenen Kinder gegen Entgelt einen Tausch-
handel zu betreiben; diese sind natürlich nur für das pri-
vate Album gedacht. Aber der unsägliche massenhafte
Handel mit solchen Bildern wird von der geplanten Re-
gelung erfasst.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Nun haben Sie gefragt, wie das mit den Bildern in der
Bravo ist.


(Zuruf von der LINKEN: Ja! Wichtige Frage!)


Hier gelten die ganz normalen Einwilligungs- und Ein-
verständnisvorschriften des Allgemeinen Teils des BGB.
Es ist ganz einfach: Wenn die Eltern eines Jugendlichen
im Rahmen ihres Sorgerechts ihre Einwilligung dazu er-
teilen, dort entsprechende Bilder zu veröffentlichen, ist
eine Strafbarkeit natürlich auszuschließen. Das ist der
ganz normale Fall der Formulierung eines Tatbestandes
im Besonderen Teil des StGB. Die Tatsache, dass wir an
dieser Stelle nicht das Wörtchen „unbefugt“ finden, hat
also nicht die Auswirkung, die Sie hier hineininterpretie-
ren wollen. Vielmehr ist ganz klar: Hier gelten, wie auch
sonst überall, die allgemeinen Rechtfertigungs- und Ein-
willigungsgrundsätze.

Strafwürdiges Verhalten haben wir unter Strafe ge-
stellt. Aber wir haben viele Korrektive installiert, die da-
für sorgen, dass die vorgesehenen Regelungen an dieser
Stelle nicht zu weit gehen. Die Aufnahme von Bildern,
die die Hilflosigkeit einer dritten Person zur Schau stel-
len, und von Bildern, die das Ansehen einer anderen Per-
son erheblich schädigen, ist strafbar. Es gibt allerdings
weitreichende Gründe, die eine Strafbarkeit entfallen
lassen können. So können überwiegende Interessen von
Presse, Wissenschaft und Kunst und auch private Inte-
ressen hier eine Rolle spielen. Es ist also sichergestellt,
dass sich die geplante Regelung nur auf das Verhalten
bezieht, das wir für strafwürdig halten, und nicht darüber
hinausgeht. Wer sich sozial adäquat verhält, ist absolut
im grünen Bereich.


Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1806700800

Frau Kollegin.


Elisabeth Winkelmeier-Becker (CDU):
Rede ID: ID1806700900

Models, die in der Bravo abgebildet werden oder bei

Germany’s next Topmodel auftreten, brauchen also keine
Angst zu haben.

Vielen Dank.





Elisabeth Winkelmeier-Becker


(A) (C)



(D)(B)


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD – Dr. Petra Sitte [DIE LINKE]: Oh ja! Das ist wichtig!)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1806701000

Frau Kollegin Hajduk, der Parlamentarische Staatsse-

kretär hat mir zugesichert, dass der Minister jeden Au-
genblick eintreffen müsse.


(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dann warten wir! – Petra Ernstberger [SPD]: In zwei Minuten ist er hier! – Dr. Petra Sitte [DIE LINKE]: Dann unterbrechen wir die Sitzung doch für fünf Minuten!)


– Das halte ich für gar keinen schlechten Einfall. Jeden-
falls erscheint mir das klüger als eine Abstimmung mit
unvernünftigem Ergebnis.


(Heiterkeit und Beifall beim BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD und der LINKEN)


Dann unterbreche ich die Sitzung bis zum Eintreffen
des Bundesministers der Justiz.


(Unterbrechung von 9.32 bis 9.34 Uhr)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1806701100

Die unterbrochene Sitzung ist wieder eröffnet.

Wir setzen die Debatte über diesen Tagesordnungs-
punkt nun in Anwesenheit des federführend zuständigen
Ministers fort. Ich erteile das Wort der Kollegin Katja
Keul für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.


Katja Keul (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1806701200

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Guten Morgen, Herr Maas!


(Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Obwohl Sie es bis zur letzten Minute spannend gemacht
haben, hat die Zeit offensichtlich nicht gereicht, die Sa-
che zu Ende zu denken. Am Dienstagnachmittag um-
fangreiche Änderungen vorzulegen, die Mittwochmor-
gen im Ausschuss beschlossen werden, ist nicht nur kein
guter parlamentarischer Umgang mit der Opposition,
sondern führt auch zu miserablen Gesetzen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Das Ganze konnte schon deswegen nicht gelingen,
weil Sie zwei völlig verschiedene Strafrechtsbereiche
miteinander vermengt haben und den Persönlichkeits-
schutz so zu einer Art Auffangtatbestand für all das ma-
chen wollen, was nicht unter den Schutz der sexuellen
Selbstbestimmung fällt.

Ich will im Gegensatz zu Ihnen die Dinge klar ausei-
nanderhalten. Die gute Nachricht zuerst: das Sexual-
strafrecht. Hier kann ich Sie ausnahmsweise einmal lo-
ben. Sie sind unserem Hinweis gefolgt und haben den
Fehler im Tatbestand der Jugendpornografie korrigiert,
der dazu geführt hätte, dass sich ein Volljähriger, der
seine 17-jährige Freundin beim Posieren am Pool foto-
grafiert, strafbar gemacht hätte. Auf unsere Anregung
hin haben Sie die Einwilligung der Jugendlichen in den
Ausschlusstatbestand des Absatzes 4 aufgenommen. Da-
mit ist jetzt klar, dass sich Jugendliche von ihren volljäh-
rigen Freunden fotografieren lassen dürfen, sodass wir
dem sexualstrafrechtlichen Teil Ihres Gesetzes gerade so
zustimmen können.

Bei der Definition der Kinderpornografie in § 184 b
StGB konnten Sie sich leider nicht entscheiden und ha-
ben jetzt die SPD-Version und den bayerischen Vor-
schlag als Alternative ins Gesetz geschrieben. So kann
man die Große Koalition künftig direkt im Gesetzes-
wortlaut ablesen.


(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber nicht, welcher Teil von wem ist!)


Da aber die Konkretisierung hinsichtlich der Darstellung
der Genitalien sinnvoll ist, tragen wir das mit.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Die Klarstellungen beim Grooming und bei den soge-
nannten Livedarbietungen – dabei geht es um die Umset-
zung der EU-Richtlinie – hatten wir bereits in der ersten
Lesung begrüßt. Die Verlängerung der Verjährungshem-
mung bis zum 30. Lebensjahr ist unter rechtspolitischen
Gesichtspunkten durchaus umstritten. Da es aber tat-
sächlich vor allem den Opfern zugutekommt, den Ent-
scheidungsdruck von ihnen zu nehmen, stimmen wir
auch dieser nicht unproblematischen Regelung zu.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Aber jetzt zur schlechten Nachricht. Der neue § 201 a
StGB ist und bleibt irreparabel misslungen und unver-
hältnismäßig. Für die Strafbarkeit von Fotos, die geeig-
net sind, dem Ansehen einer Person zu schaden, haben
Sie bereits herbe Kritik nicht nur von uns als Opposition
einstecken müssen, sondern auch aus der versammelten
Fachwelt und von Ihren eigenen Experten in der Anhö-
rung. Was geeignet ist, dem Ansehen zu schaden, bleibt
ein subjektiver und damit unbestimmter Rechtsbegriff.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)


Es ist also vorprogrammiert, dass die Frage, ob ein Foto
geeignet ist, dem Ansehen zu schaden, von dem Fotogra-
fen und der abgebildeten Person regelmäßig unterschied-
lich beantwortet wird.

Immerhin haben Sie erkannt, dass die Strafbarkeit der
reinen Herstellung dieser Bilder zu weit geht. Strafbar
macht sich künftig dann, wer solch ein peinliches Foto
einem Dritten zugänglich macht. Das ist aber immer
noch viel weniger als etwa die Verbreitung oder Veröf-
fentlichung eines Fotos, was bereits nach bisheriger
Rechtslage strafbar ist.

Zur Verdeutlichung möchte ich auf meinen Beispiel-
fall aus der ersten Lesung zurückkommen. Sie machen
einen Ausflug auf der Reeperbahn in Hamburg und ma-
chen dabei touristische Fotos von interessanten Fassa-
den, als just in dem Moment ein bundesweit bekannter
Bundestagsabgeordneter aus einem einschlägigen Eta-





Katja Keul


(A) (C)



(D)(B)

blissement kommt und Ihnen direkt ins Bild läuft. Sie
machen sich jetzt zwar nicht mehr in dem Moment straf-
bar, in dem Sie auf den Auslöser drücken – so war das
noch im Kabinettsentwurf vorgesehen –, aber spätestens
dann, wenn Sie zu Hause am Küchentisch Ihren Freun-
den die Hamburg-Fotos zeigen und einer erfreut ausruft:
„Mensch, das ist doch der Abgeordnete XY! Was macht
der denn da?“. Ob dem Ansehen tatsächlich geschadet
wird, spielt dabei gar keine Rolle. Es reicht, dass das
Foto dazu geeignet ist, was bei einem Bordellbesuch im
Regelfall zu bejahen wäre.


(Dr. Johannes Fechner [SPD]: Dabei fehlt doch der Vorsatz!)


Nach wie vor greift das Strafrecht hier ohne jede Not
in den rein privaten Bereich ein. Die unbefugte Veröf-
fentlichung und Verbreitung ist hingegen jetzt schon
vom Straftatbestand im Kunsturhebergesetz ausreichend
erfasst. Hier gibt es weder eine Lücke noch sonst einen
Bedarf, die Strafbarkeit auszuweiten.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)


Nachdem Sie jetzt die reine Herstellung von peinli-
chen Bildern als Straftat herausgenommen haben, ver-
fassen Sie kurzfristig einen neuen Absatz, in dem Sie
den alten Fehler wieder einbauen. Danach soll künftig
strafbar sein, ein Foto, welches die Hilflosigkeit einer
Person zur Schau stellt, zu machen. Vielleicht war das ja
der Versuch, sich ausnahmsweise an dem Kunsturheber-
gesetz zu orientieren, wonach Bildnisse nur mit Einwilli-
gung des Abgebildeten verbreitet oder öffentlich zur
Schau gestellt werden dürfen. Sie haben aber das Wort
„öffentlich“ vergessen und stellen damit wieder die reine
Herstellung unter Strafe.

Was heißt das? Wenn ein Jugendlicher seinen betrun-
kenen Kumpel fotografiert, ist er bereits straffällig, ohne
dass er dieses Foto überhaupt weitergibt oder ins Netz
stellt.


(Dr. Johannes Fechner [SPD]: Nein!)


Es reicht, wenn das Bild die Hilflosigkeit des Betrunke-
nen zur Schau stellt. Das geht zu weit.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)


Wenn überhaupt, dann ist doch ausschließlich die
Verbreitung und Veröffentlichung eines solchen Bildes
strafwürdig. Das aber ist bereits heute strafbar, sodass
Ihre ganze Ausweitung des § 201 a StGB schlicht über-
flüssig ist.


(Beifall der Abg. Halina Wawzyniak [DIE LINKE])


Wer nämlich unfreiwillig in hilfloser Lage Hauptdarstel-
ler eines YouTube-Videos werden sollte, kann bereits
heute nach dem Kunsturhebergesetz einen Strafantrag
stellen. Das halte ich auch für sinnvoll und ausreichend.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)

Beim Strafrahmen passt jetzt auch nichts mehr zu-
sammen. Das öffentliche Zurschaustellen soll nach dem
Kunsturhebergesetz mit bis zu einem Jahr geahndet wer-
den, die bloße Herstellung des Fotos aber nach dem neu
gefassten § 201 a StGB mit bis zu zwei Jahren. Das
kommt davon, wenn man einen Straftatbestand doppelt
regelt und das dann nicht einmal aufeinander abstimmt.

Im neuen Absatz 3 haben Sie auf die Kritik bei der
Strafbarkeit von Nacktbildern reagiert und diese auf Bil-
der von Minderjährigen beschränkt. Strafbar soll jetzt
die Herstellung sein, wenn sie erfolgt, um dieses Bild ei-
ner dritten Person gegen Entgelt zu verschaffen. Strafbar
ist auch der Bezug eines solchen Bildes. Jeder hat hier
den Fall vor Augen, an den Sie dabei gedacht haben. Das
Problem ist aber, dass Sie nur noch an diesen Fall ge-
dacht haben, und das ist beim Verfassen von Gesetzes-
texten verheerend.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Zunächst einmal versuchen Sie hier beim Persönlich-
keitsschutz eine Lücke im Sexualstrafrecht zu schließen,
die es gar nicht gibt. Jemand, der im Internet Aufnahmen
nackter Minderjähriger erwirbt, verfügt – das belegt die
Erfahrung der Ermittler – in 90 Prozent der Fälle auch
über strafbares Material. In der Regel reicht es für einen
Anfangsverdacht und eine Durchsuchung, bei der sich
der Rest dann findet. Das haben die Staatsanwälte in der
Anhörung und die Gerichte im Fall Edathy bestätigt.

Wer darüber hinaus die Begründung des Bundesver-
fassungsgerichts zu der Beschwerde des ehemaligen
Kollegen liest, wird feststellen, dass der Fall Edathy
schon deswegen keine Strafbarkeitslücke offenbart hat,
weil bereits das Ausgangsmaterial nicht legal war. Letzte
Zweifel an der Strafbarkeit wären spätestens mit der er-
gänzten Definition der Kinderpornografie ausgeräumt,
die wir heute verabschieden.

Wenn es also aus diesem Zusammenhang heraus
keine Notwendigkeit für eine weitere Strafvorschrift
gibt, sollten wir die Finger davon lassen, um zu vermei-
den, dass wir im Zweifelsfall auch Jugendliche erfassen,
die es aus unerfindlichen Gründen cool finden, sich ge-
genseitig Nacktfotos zu schicken. Denn immerhin ist der
Begründung zu entnehmen, dass mit Entgelt auch der
Tausch von Bildern gemeint sein soll.

Ein klassischer Flüchtigkeitsfehler dürfte Ihnen unter-
laufen sein, als Sie in der Eile am Wochenende das
Wörtchen „unbefugt“ aus Absatz 3 herausgestrichen ha-
ben. Sie haben dabei wieder nur an den Fall Edathy ge-
dacht und wollten verhindern, dass die Einwilligung der
Eltern der rumänischen Jungs eine Rolle spielt. Das ist
Ihnen auch gelungen. Jetzt kann niemand mehr einwilli-
gen: weder die Minderjährigen noch deren Eltern.


(Dr. Johannes Fechner [SPD]: Ein einziger Quatsch!)


Man kann zwar, wie die Union im Ausschuss, der Mei-
nung sein, dass 17-jährige Models auch mit Einverständ-
nis ihrer Eltern in Dessous-Katalogen oder in der Bravo
nichts zu suchen haben. Künftig machen sich aber nicht





Katja Keul


(A) (C)



(D)(B)

nur die Fotografen dabei strafbar, sondern auch jeder,
der ein solches Heft erwirbt.


(Dr. Johannes Fechner [SPD]: Nein! Das stimmt nicht!)


Hier hätte eine ordentliche Beratung sicherlich gutgetan.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Wir werden sämtliche Änderungen des § 201 a StGB
heute in getrennter Abstimmung ablehnen. Gleiches gilt
für die Ausweitung der Volksverhetzung nach § 130
StGB, mit der Sie eine neue Versuchsstrafbarkeit einfüh-
ren, für die es keine hinreichend plausible Notwendig-
keit gibt. Den Änderungen im Sexualstrafrecht hingegen
stimmen wir zu.

Vielen Dank.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1806701300

Für die SPD-Fraktion hat nun die Kollegin Susanne

Mittag das Wort.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Susanne Mittag (SPD):
Rede ID: ID1806701400

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Wir haben in der laufenden Debatte über die
Reform des Sexualstrafrechts viele rechtliche Einschät-
zungen gehört. Ob ein bestimmter Aspekt des Gesetzent-
wurfs gerechtfertigt ist, ob der Entwurf über das Ziel hi-
nausschießt oder ob er verhältnismäßig ist, wurde
dargelegt. Das ist eine wichtige und richtige Diskussion,
die wir zurzeit noch führen und die die Redner, die nach
mir sprechen, fortsetzen werden. Als gelernte Polizistin
möchte ich mich aber nicht an der juristischen Debatte
beteiligen. Ich möchte lieber darüber sprechen, was es in
der Ermittlungspraxis bedeutet, das Sexualstrafrecht zu
reformieren.

In der Arbeit der Polizei gab es in der Vergangenheit
immer wieder Probleme, zum Beispiel Bilder von Kin-
dern klar in „erlaubt“ und „verboten“ zu unterscheiden.
Da unterscheiden die Polizei und die Ermittlungsbehör-
den zwischen Kategorie-1-Bildern, klar kinderpornogra-
fisch, und Kategorie-2-Bildern, den sogenannten Posing-
bildern. Je nach Rechtsauffassung des bearbeitenden
Staatsanwalts konnte der Besitz von Kategorie-2-Bildern
dazu führen, dass ein Ermittlungsverfahren eingeleitet
wurde, oder nicht. Diese Ermessenslücke schließen wir
nun endlich und stellen klar, dass die Herstellung, die
Verbreitung und der Besitz von Posingbildern verboten
sind.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


Über den derzeitigen 2. Untersuchungsausschuss und
ein laufendes Ermittlungsverfahren ist in den Medien
viel berichtet worden. Da es sich um ein laufendes Ver-
fahren handelt, möchte ich mich nicht näher dazu äu-
ßern, auch wenn es hier schon erwähnt wurde. Nur so
viel: Die Reform des Sexualstrafrechts führt nicht zu ei-
nem Amnestiegesetz, wie es eine etwas größere, polemi-
sierende Zeitung öffentlich dargelegt hat. Das trifft nicht
zu. Wir verschärfen das Sexualstrafrecht. Wir haben das
Strafmaß heraufgesetzt. Wir haben Verjährungsfristen
verlängert. Wir haben bestehende Straftatbestände er-
weitert und neue Straftatbestände aufgenommen, um
Schutzlücken zu schließen, zum Beispiel beim sexuellen
Missbrauch von Schutzbefohlenen – da fehlte einiges –,
beim Cybergrooming und auch beim Thema Genitalver-
stümmelung, das bislang hier noch gar nicht erwähnt
wurde, obwohl es recht wichtig ist. All diese Punkte ha-
ben wir, SPD und CDU/CSU, schon im letzten Jahr im
Koalitionsvertrag verankert und setzen das nun um. Das
ist gut so; denn das erleichtert die Arbeit von Polizei und
Ermittlungsbehörden.

Hier kommen wir allerdings zu einem kritischen
Punkt. Sicherheit können wir hier im Deutschen Bundes-
tag nicht beschließen. Kein Paragraf im Strafgesetzbuch
klärt eine Straftat auf. Wir dürfen uns heute nicht zufrie-
den auf die Schulter klopfen, weil wir das Sexualstraf-
recht reformiert haben, und das war es dann. Nein, da-
nach geht die Arbeit erst richtig los, nämlich die Arbeit
für Polizei und Justiz. Aber diese kommen leider ihren
Aufgaben teilweise schon jetzt nicht mehr in adäquater
Weise nach.

Wenn wir die Verjährungsfristen anheben, dann be-
deutet das auch, dass mehr Straftaten bei den Behörden
angezeigt werden. Dabei handelt es sich nicht um einfa-
che Ermittlungen. Tatortspuren gibt es in der Regel
kaum noch. Erinnerungen von Zeugen verblassen oder
verändern sich. Ermittlungen, die auch den Opfern ge-
recht werden sollen, sind schwierig und nicht schnell ab-
zuschließen. Das ist sicherlich kein Grund, auf derartige
Ermittlungen zu verzichten. Aber das heißt, wir brau-
chen in diesem Bereich erheblich mehr Ermittler.

Wenn wir die Herstellung, die Verbreitung und den
Besitz von Kinderpornografie bekämpfen wollen, dann
brauchen wir auch dort mehr Ermittler. Die Beamten des
BKA haben uns im Innenausschuss berichtet, dass sie
über zwei Jahre gebraucht haben, um die Daten der Ope-
ration „Spade“ auszuwerten. Zwei Jahre! Das ist zu
lange und darf eigentlich gar nicht sein. Das hat so lange
gedauert, nicht weil die Beamten des BKA langsam ge-
arbeitet hätten, sondern weil es zu wenige Beamte wa-
ren. Es sind zu wenige Ermittlungsbeamte für die rasant
ansteigenden Fallzahlen gerade im Internet. Oft müssen
sich die Beamten durch ein Terabyte von Daten arbeiten.
Das sind 1 000 Gigabyte voll mit schrecklichen Bildern,
Videos und Texten. Das alles muss gesichtet, bewertet
und in Akten angelegt werden.

Wenn wir als Parlamentarier den Polizistinnen und
Polizisten beim BKA, bei der Bundespolizei, aber auch
bei den Landespolizeien mehr Aufgaben übertragen,
dann müssen wir sie auch personell und materiell gut
ausstatten, damit sie ihre Arbeit machen können.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten CDU/CSU und der LINKEN)


Das ist unsere Arbeit in den Haushaltsberatungen. Es
gibt leicht positive Signale aus dem Haushaltsausschuss.





Susanne Mittag


(A) (C)



(D)(B)

Das ist sehr schön. Aber ich sage ganz deutlich: Das
reicht noch nicht, nicht für diesen hier beschriebenen
Bereich.

Ich bin mir sicher, dass wir gemeinsam als Parlament
einen Weg finden können, um den Sicherheitsbehörden
die notwendige Ausstattung für ihre Arbeit zu geben, da-
mit wir nicht nur Gesetze beschließen, sondern damit
diese dann auch umgesetzt werden können. Es wird sich
zeigen, wie ernst wir es damit meinen. Das sind wir den
vielen Opfern dieser Straftaten schuldig; denn diese tra-
gen ein ganzes Leben an der Tat.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1806701500

Alexander Hoffmann ist der nächste Redner für die

CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Alexander Hoffmann (CSU):
Rede ID: ID1806701600

Sehr geehrter Herr Präsident! Geschätzte Kolleginnen

und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren!
Adrian P. war ein fröhliches Kind. Er ist groß geworden
in der Region um Satu Mare in Rumänien. Eines Tages
kommt in sein Dorf ein Deutscher, der sich das Ver-
trauen der Eltern und der Kinder erschleicht. Das tut er
über Wochen hinweg, indem er Süßigkeiten verteilt,
Ausflüge organisiert und durch andere Großzügigkeiten.
Ohne das Wissen der Eltern bewegt er dann die Knaben
dazu, bei ihm nackt zu baden, sich gegenseitig mit Öl
einzureiben oder nackt miteinander zu raufen, und er
filmt das Ganze.

Diese Filme vertreibt er dann und findet als Abneh-
mer zum Beispiel ein Unternehmen wie Azov Films,
eine Firma, die in drei Jahren mit Material dieser Art
über 4 Millionen Euro umsetzt. Da möchte ich schon
einhaken, weil es immer heißt, wir hätten nur einen be-
stimmten Fall im Auge. Meine Damen und meine Her-
ren, wir haben diesen Markt im Auge. Wir alle waren er-
schrocken, als im Zusammenhang mit der Edathy-Affäre
zutage gefördert worden ist, dass eine ganze Branche
entstanden ist, die mit gerade noch legalem Material
Millionenumsätze macht. Darauf haben wir uns bei die-
sem Gesetzentwurf konzentriert, nicht auf diesen einzel-
nen Fall.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Wir waren uns damals in einer gemeinsamen Kampf-
ansage alle einig, dass es uns darum gehen muss, diesen
Markt trockenzulegen. Ich sage Ihnen heute: Das wird
uns mit diesem Gesetzentwurf gelingen.

Ganz kurz – es ist schon viel dargestellt worden –
zwei, drei wichtige Argumente und Elemente aus meiner
Sicht. So wurde der Begriff der Kinderpornografie er-
weitert. Dazu zählen nicht mehr nur Bilder mit sexuellen
Handlungen an und von Kindern oder auch Bilder von
unbekleideten Kindern in unnatürlich geschlechtsbeton-
ter Körperhaltung – das ist das, was die ganze Zeit schon
im Bereich des Posings Rechtsprechung war –, sondern
jetzt auch die sexuell aufreizende Wiedergabe der unbe-
kleideten Genitalien und des Gesäßes eines Kindes. Das
ist eine ganz wichtige Ergänzung, die zum einen damit
einen Gleichlauf zur Lanzarote-Konvention herstellt,
zum anderen einem Vorstoß der Bundesländer Bayern
und Hessen im Bundesrat gerecht wird, für den wir im
Laufe der Beratungen sehr dankbar waren.

Dennoch ist es uns gelungen – auch das ist vorhin an-
geklungen –, den Begriff der Jugendpornografie davon
trennscharf abzugrenzen, weil Jugendliche einfach eine
andere Sexualität haben. Da passiert es schon einmal,
dass sich ein jugendliches Pärchen Posingbilder per
MMS hin- und herschickt. Durch die Möglichkeit der
Einwilligungsfähigkeit für den höchstpersönlichen Ge-
brauch haben wir hier eine trennscharfe Formulierung
gefunden.

Im Hinblick auf den Fall, den ich vorhin geschildert
habe, ist es uns eben auch gelungen, Schlupflöcher zu
schließen. Oft kam die platte Behauptung, man habe nur
legales Material bezogen, und das waren dann 5 000
oder 10 000 einzelne Bilder. Oder es kam das Argument,
man sei Liebhaber der Landschaft und der Kunst. Straf-
bar ist nunmehr die Herstellung von Nacktbildern von
Personen unter 18 Jahren in der Absicht – das ist wichtig –,
diese einem Dritten entgeltlich zu verschaffen; strafbar
macht sich auch derjenige, der sich solche Bilder ent-
geltlich verschafft.

Jetzt haben wir im Rahmen der Kritik in dieser Woche
Beispiele gehört: das Nacktbild der 17-Jährigen in der
Bravo. Aber vergessen wir eines nicht: Die Institution
der rechtfertigenden Einwilligung gibt es nach wie vor.
Bei einem solchen Bild können die Eltern selbstver-
ständlich im Rahmen ihres Sorgerechts einwilligen.
Bitte denken Sie daran – der Kollege Dr. Fechner hat es
vorhin dargestellt –: Es gibt Ausnahmen in § 201 a Ab-
satz 4 StGB. Auch hier können wir die Strafbarkeit sehr
trennscharf regulieren.

Jetzt ein zweites Beispiel, das ich persönlich als eher
skurril empfinde: die 17-Jährige im Dessouskatalog. Es
müsste also die Nacktheit der 17-Jährigen Gegenstand
des Dessouskatalogs sein. Da muss ich ganz ehrlich sa-
gen – das ist meine persönliche Auffassung –, dass ich
mich dann schon wundere. Eine nackte 17-Jährige hat
für mich in einem Dessouskatalog nichts zu suchen.
Aber wenn man nicht prüde sein will, so ist es auch hier
möglich, dass die Eltern einwilligen, solange das unter
das Sorgerecht der Eltern fällt.

Wir haben die ganze Woche die Kritik vernommen,
das Gesetz sei zu unbestimmt, man müsse vorsichtig
sein, und man verstehe nicht, was gemeint sei. Auch da-
rüber wundere ich mich. Überlegen wir einmal, welche
Anträge und Gesetzentwürfe uns teilweise hier vorgelegt
werden. Oft strotzen Gesetzentwürfe nur so vor unbe-
stimmten Rechtsbegriffen, und es wird ganz schnell ein-
mal mit einem Federstrich ein Ordnungswidrigkeitentat-
bestand formuliert, zum Beispiel für den Fall, dass ein
Unternehmer nicht rechtzeitig ein Gleichstellungskon-
zept erstellt. In diesem wichtigen Fall hören wir die





Alexander Hoffmann


(A) (C)



(D)(B)

ganze Zeit: Das ist nicht bestimmt genug. Da müssen wir
vorsichtig sein. Das ist unverständlich. – Ich will das gar
nicht weiter werten. Aber man merkt – auch in der Dis-
kussion –, wie die Gewichtigkeit dieses Themas in den
unterschiedlichen Gruppierungen ausfällt.


(Katja Keul [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist eine Frechheit!)


Es ist, meine Damen, meine Herren, ein guter Gesetz-
entwurf. Ich möchte an dieser Stelle dem Ministerium,
dem Minister und auch den Kolleginnen und Kollegen
danken, weil es uns gerade in den letzten Wochen gelun-
gen ist, viele neue Regelungen zu erarbeiten, die letzt-
endlich eine trennscharfe Abgrenzung ermöglichen.

Aber es gibt für mich persönlich – das sage ich ganz
offen – auch einen Wermutstropfen: Wir von der Union
hätten sehr gerne die Strafbarkeit des Cybergrooming si-
chergestellt. Worum es dabei geht, ist ganz einfach er-
zählt: Erwachsene gehen ins Internet – das geschieht tau-
sendfach; das muss man so sagen –, um in Chatrooms
mit Mädchen, mit Kindern sexuellen Kontakt anzubah-
nen. Das große Problem in der Praxis ist – das wurde
auch in den Anhörungen ganz deutlich zutage gefördert –,
dass die einzige Möglichkeit der Polizei, solcher Täter
habhaft zu werden, ist, dass sich Ermittlungsbeamte in
solchen Chatrooms als Kinder ausgeben, um so an
potenzielle Täter heranzukommen.

Auch an dieser Stelle ein Dankeschön; denn das
Ministerium hat angeboten, dass wir in einem weiteren
Fachgespräch etwas über die Praxis erfahren. So hoffen
wir, dass wir hier die Impulse aus der Praxis aufnehmen
können. Ich kann hier für meine Fraktion sprechen: Wir
sind bei der Beurteilung der Notwendigkeit noch lange
nicht am Ende der Beratungen angelangt.


(Beifall der Abg. Elisabeth WinkelmeierBecker [CDU/CSU])


Am Ende, meine Damen, meine Herren, noch ein
Punkt, der mich bewegt – auch das wurde als Kritik ge-
äußert –: Es hieß, dieser Gesetzentwurf komme zu
schnell, er sei mit heißer Nadel gestrickt, man habe kei-
nerlei Beteiligungsmöglichkeit gehabt. – Das ist nicht
richtig. Kollegin Keul, Sie haben vorhin gesagt, am
Dienstagnachmittag seien noch umfassende Änderungen
vorgelegt worden. Das stimmt einfach nicht. Das waren
redaktionelle Änderungen, die wirklich in einem über-
schaubaren Rahmen stattgefunden haben.


(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was?)


Wir hatten insgesamt ein sehr fruchtbares Beteili-
gungsverfahren. Wir hatten eine gute Anhörung. Kolle-
gin Keul, auch wir beide hatten ein sehr gutes Gespräch
– das können Sie nicht bestreiten –, und Anregungen von
Ihnen aus diesem Gespräch habe ich in die weitere Bera-
tung einfließen lassen.


Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1806701700

Darf die Kollegin Keul eine Zwischenbemerkung ma-

chen oder eine Zwischenfrage stellen?

Alexander Hoffmann (CSU):
Rede ID: ID1806701800

Aber sehr gerne.


Katja Keul (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1806701900

Sie zwingen mich jetzt geradezu, mich noch einmal

zu melden und eine Zwischenbemerkung zu machen. Es
ist völlig unstreitig, dass wir über den Kabinettsentwurf,
wie er vorlag, Gespräche geführt haben, dass wir ihn be-
raten haben – auch wir beide –, was zu dem Ergebnis ge-
führt hat, dass tatsächlich Fehler beseitigt wurden. Mei-
nes Erachtens zeigt das, dass ein parlamentarisches
ordnungsgemäßes Verfahren seinen Sinn hat und dass
wir uns daran auch halten sollten.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Freitagmittag um 12 Uhr war die Frist abgelaufen, bis
zu der dem Rechtsausschuss die Änderungen am Kabi-
nettsentwurf hätten vorliegen müssen; wir haben sie am
Dienstagnachmittag bekommen. Diese Änderungen sind
umfangreich und komplex. Ich habe zu § 201 a StGB
viel gesagt. Sämtliche Änderungen sind über das Wo-
chenende, also in letzter Minute, gestrickt worden, und
wir mussten am Mittwoch beschließen. Das ist kein ord-
nungsgemäßes parlamentarisches Verfahren.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Ich gehe davon aus, dass der eine oder andere Fehler
möglicherweise hätte korrigiert werden können, wenn
wir uns gründlich und vernünftig über diese Änderungs-
vorschläge unterhalten hätten.


Alexander Hoffmann (CSU):
Rede ID: ID1806702000

Danke für dieses Statement. – Es war im Kern doch

so – Sie haben es gerade angesprochen –, dass am Frei-
tagnachmittag der Gesetzentwurf vorlag. Die umfas-
sende Änderung, von der Sie vorhin gesprochen haben,
war die Streichung des Wortes „unbefugt“. Ich denke,
wir haben mit Hilfestellung des Kommentars dargelegt,
was die Begrifflichkeit „unbefugt“ bedeutet. – Ich habe
befürchtet, dass die Ausschussvorsitzende auch noch
eine Frage hat, Herr Präsident.


Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1806702100

Nein. Sie wollte nur hilfreich sein, um darauf hinzu-

weisen, dass sich Frau Keul zur Entgegennahme der Be-
antwortung ihrer Zwischenfrage vielleicht freundlicher-
weise von ihrem Platz erhebt.


(Heiterkeit – Renate Künast [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Nein, ich wollte schon eine Zwischenfrage stellen!)



Alexander Hoffmann (CSU):
Rede ID: ID1806702200

Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich komme zum

Ende.


(Abg. Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] meldet sich erneut zu einer Zwischenfrage)






Alexander Hoffmann


(A) (C)



(D)(B)

– Herr Präsident, Frau Künast möchte doch eine Zwi-
schenfrage stellen.


Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1806702300

Und Sie machen den Eindruck, als wollten Sie die

auch zulassen.


(Heiterkeit)



Alexander Hoffmann (CSU):
Rede ID: ID1806702400

Sehr gerne.


Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1806702500

Bitte schön.


Renate Künast (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1806702600

Also, da Sie jetzt gesagt haben, am Freitag seien den

Mitgliedern Unterlagen zugegangen, frage ich jetzt:
Trifft es zu, dass die Ausschussvorsitzende am Freitag
kein Papier bekommen hat, keinen Änderungsantrag,
den sie verschicken konnte? Zumindest ich als Aus-
schussvorsitzende habe davon keine Kenntnis. Ich habe
nichts bekommen. Das Ausschusssekretariat hat erst am
Dienstag um 15 Uhr und ein paar Minuten eine Vorlage
bekommen, die verschickbar ist. Das Ausschusssekreta-
riat hat am Freitagnachmittag Kenntnis davon bekom-
men, dass es angeblich ein Papier gibt. Das sei aber ver-
traulich, und es gebe nichts zu verschicken und, und,
und.


(Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Und da war nicht nur eine Änderung drin!)


Das ist, glaube ich, an dieser Stelle ein Unterschied, weil
ja zu einer guten Beratung auch gehört, dass das Aus-
schusssekretariat rechtzeitig Änderungsvorlagen ver-
schickt, damit diese dann auch noch zum Beispiel mit
Oberstaatsanwälten oder Wissenschaftlern aus der An-
hörung besprochen werden können. Diese Möglichkeit
gab es von Dienstag, 15 Uhr und ein paar Minuten, bis
Mittwoch, 9 Uhr, nicht.


(Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Das kann der Kollege doch nicht erklären!)



Alexander Hoffmann (CSU):
Rede ID: ID1806702700

Vielen Dank für die Frage. – Dazu muss man zum ei-

nen sagen: Ich bezweifle, dass die Möglichkeit bestan-
den hätte, es so weit auszuweiten, wenn das Ausschuss-
sekretariat am Freitag entsprechende Unterlagen vorgelegt
bekommen hätte. Zum anderen: Entscheidend ist doch,
dass die beteiligten Fraktionen im Ausschuss über die
entsprechende Information verfügen. Und das war am
Freitag schon der Fall.


(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nein! Das war nicht der Fall! Das war vertraulich, und das war nicht abschließend! – Gegenruf des Abg. Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Woher soll denn der Kollege das wissen? Er hat doch nichts verschickt!)


Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich habe es er-
wähnt: Es ist tatsächlich so, wir haben es eilig. Das will
ich gar nicht wegdiskutieren. Denn wir wollen in diesem
Gesetzgebungsverfahren – das ist ein ganz wichtiger
Punkt – noch in diesem Jahr zum Abschluss kommen.
Warum? Die Antwort ist im Grunde ganz einfach: weil
jeden Tag, und zwar wirklich jeden Tag, in irgendeinem
rumänischen, in irgendeinem bulgarischen Dorf oder
woanders auf der Welt wieder jemand aufschlagen kann,
der sich das Vertrauen der Kinder und der Eltern er-
schleicht und dann mit Nacktbildern der Kinder Handel
treibt. Solche Menschen werden in Zukunft in Deutsch-
land keine Geschäfte machen. Das sind Geschäftsmo-
delle, die für uns absolut inakzeptabel sind. Wir werden
diesen Markt trockenlegen. Das wird uns gelingen. Des-
wegen werden wir diesem Gesetzentwurf zustimmen.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1806702800

Nächster Redner ist der Kollege Dirk Wiese für die

SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dirk Wiese (SPD):
Rede ID: ID1806702900

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Der nun vorliegende Gesetzentwurf in der
durch den Änderungsantrag geänderten Form ist aus
meiner Sicht und aus Sicht der SPD-Bundestagsfraktion
ein wirkungsvolles Mittel, um bestehende Lücken im
Sexualstrafrecht zu schließen, ohne dabei gleichzeitig
Gefahr zu laufen, sozialadäquates Verhalten unter Strafe
zu stellen.

Mein Kollege Johannes Fechner hat bereits die zen-
tralen Punkte des Entwurfs, was Kinder- und Jugendpor-
nografie angeht, dargestellt. Ich möchte im Folgenden
auf vier weitere Themengebiete eingehen, die wir durch
das Gesetz neu regeln bzw. wo wir Lücken in der Straf-
barkeit schließen.

Erstens. Wir schließen Strafbarkeitslücken beim sexuel-
len Missbrauch von Schutzbefohlenen. Bundesminister
Heiko Maas hat das folgende Beispiel bereits in seiner
Rede zur ersten Lesung verwendet: Das Oberlandesge-
richt Koblenz musste im Dezember 2012 einen Lehrer,
der sich gezielt an eine 14-jährige Schülerin herange-
macht hatte und das Mädchen über fünf Monate letzt-
endlich zum Sex gedrängt hatte, vom Vorwurf des Miss-
brauchs von Schutzbefohlenen freisprechen. Grund für
den Freispruch war einzig und allein, dass der Lehrer das
Mädchen nicht regelmäßig unterrichtete und er damit als
Vertretungslehrer in keinem sogenannten Obhutsverhält-
nis zu der Neuntklässlerin stand. Mit der Neufassung
bzw. Ergänzung des § 174 Absatz 2 Strafgesetzbuch
schließen wir diese Regelungslücke nun. Niemand soll
seine Vertrauensstellung ungestraft missbrauchen dür-
fen; und es ist selbstverständlich, dass es dabei völlig
egal sein muss, ob der Täter nun Klassenlehrer ist oder
nur vertretungsweise unterrichtet.





Dirk Wiese


(A) (C)



(D)(B)


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Zweitens. Wir konkretisieren den Straftatbestand des
Cybergroomings. Kurz zur Begriffserklärung: Unter Cy-
bergrooming versteht man die Kontaktaufnahme er-
wachsener Täter mit Kindern im Internet zur Anbahnung
sexueller Handlungen. Die Zahl dieser Fälle nimmt lei-
der immer mehr zu. Laut polizeilicher Kriminalstatistik
meines Heimatlandes Nordrhein-Westfalen hatten wir
allein im Jahr 2013 eine Steigerung von über 50 Prozent
gegenüber dem Vorjahr. Bisher konnten Fälle, in denen
diese Informationsübertragung ausschließlich über Da-
tenleitungen erfolgte und es zu keiner Zwischenspeiche-
rung kam, nicht sicher erfasst werden. Der Handlungsbe-
darf ist gerade wegen der steigenden Zahl dieser Fälle
besonders hoch. Durch die Neufassung von § 174 Ab-
satz 4 Nummer 3 Strafgesetzbuch haben wir nun den
Tatbestand dahin gehend konkretisiert, dass es in sol-
chen Fällen keine Auslegungsprobleme des Tatbestandes
mehr gibt. Ich glaube auch, dass die gesetzliche Rege-
lung heute schon Möglichkeiten eröffnet, bei einem An-
fangsverdacht weitere Ermittlungsmethoden zu nutzen.

Drittens. Wir nehmen den Straftatbestand der Genital-
verstümmelung in den Katalog der Auslandsstraftaten
auf. Eines der abscheulichsten Verbrechen an Mädchen
und Frauen ist die in verschiedenen afrikanischen und ei-
nigen asiatischen Ländern praktizierte Beschneidung aus
traditionellen oder rituellen Gründen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)


Auch an in Deutschland lebenden Migrantinnen aus die-
sen Ländern wird das Beschneidungsritual teilweise in
ihren Herkunftsländern als sogenannte Ferienbeschnei-
dung praktiziert. Eltern fahren dafür extra mit ihren Kin-
dern in die entsprechenden Heimatregionen.

Problem bei der Strafverfolgung dieser im Ausland
begangenen Genitalverstümmelungen war bisher, dass
eine Strafbarkeit wegen Beihilfe nach deutschem Recht
bislang ausschied, sofern keine Vorbereitungshandlung
in Deutschland nachweisbar war. Durch Aufnahme des
Straftatbestandes der Genitalverstümmelung in den Ka-
talog der Auslandsstraftaten schließen wir diese Straf-
barkeitslücke nun – ein wichtiger und entscheidender
Schritt bei der Verfolgung dieses abscheulichen Verbre-
chens.

Viertens. Wir verlängern die Verjährungsfrist bei se-
xuellem Missbrauch an Kindern oder Jugendlichen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Erfahrungen aus
den letzten Jahren haben gezeigt, dass Menschen, die als
Jugendliche oder Kinder Opfer sexuellen Missbrauchs
wurden, häufig erst nach Jahren in der Lage sind, über
das Geschehene zu sprechen. Oftmals sind dann die Ta-
ten bereits verjährt. Das konnte man zum Beispiel bei
den Missbrauchsfällen sehen, die im Zusammenhang mit
der Odenwaldschule stehen. Deshalb ändern wir bei der-
artigen Straftaten die Verjährungsfrist.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, obgleich wir uns
der Probleme im Beweisverfahren bewusst sind, die die
Fristverlängerung mit sich bringen kann, haben wir uns
ganz klar für diese Fristverlängerung entschieden; denn
mit ihr senden wir auch ein starkes Signal an die Betrof-
fenen und lassen sie mit ihrem Leid nicht alleine.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Sie sehen, liebe Kolleginnen und Kollegen: Mit unse-
rem Gesetz bekämpfen wir nicht nur die Kinderporno-
grafie, sondern erweitern auch umfangreich den straf-
rechtlichen Schutz von Kindern und Jugendlichen vor
sexueller Gewalt und sexuellen Übergriffen. Flankiert
wird der vorliegende Gesetzentwurf zum Sexualstraf-
recht durch das Präventionskonzept „Gemeinsam gegen
sexuelle Gewalt“ von Bundesfamilienministerin Manuela
Schwesig, sodass wir am heutigen Tage insgesamt ein
gutes Maßnahmenbündel zum Schutz von Kindern und
Jugendlichen vorlegen können.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1806703000

Christina Schwarzer ist die letzte Rednerin zu diesem

Tagesordnungspunkt für die CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Christina Schwarzer (CDU):
Rede ID: ID1806703100

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Seit etwas
mehr als einem Jahr bin ich Bundestagsabgeordnete, und
ohne die Bedeutung aller anderen Initiativen und Gesetz-
entwürfe auch nur im Geringsten schmälern zu wollen,
kann ich Ihnen sagen: Meiner Ansicht nach sprechen wir
hier heute über den wichtigsten Gesetzentwurf zum
Schutz von Kindern und Jugendlichen in meiner Zeit als
Bundestagsabgeordnete. Sehr geehrte Damen und Her-
ren, ich glaube, das empfinden viele Kollegen heute
auch so.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Warum ist das so? Weil der Gesetzentwurf viele Verbes-
serungen für diejenigen beinhaltet, die sich nicht selbst
wehren können und unsere Unterstützung benötigen. Es
geht unter anderem darum, die Schwächsten unter uns zu
schützen. Darum ist es auch so wichtig, dass wir schnell
handeln.

Gestatten Sie mir in diesem Zusammenhang, kurz den
Weg zu diesem Gesetz nachzuzeichnen. Manchmal über-
holen Geschehnisse politische Debatten, so auch hier.
Ganz abgesehen davon enthält der Koalitionsvertrag auf
Initiative der Union hin bereits mehrere konkrete Vorha-
ben zu entsprechenden Reformen des Sexualstrafrechts.

Auf der Basis eines Fachgesprächs haben wir bereits
im März dieses Jahres unter anderem auf Initiative der
stellvertretenden Fraktionsvorsitzenden Thomas Strobl
und Nadine Schön, der ich an dieser Stelle noch einmal
recht herzlich zur Geburt ihres Sohnes gratuliere


(Beifall)






Christina Schwarzer


(A) (C)



(D)(B)

– vielleicht sieht sie ja schon die Debatte; ich glaube, ihr
Herz geht auf, wenn sie sie heute sieht –, ein Eckpunkte-
papier mit einem Herzensanliegen vorgestellt: „Wir wol-
len ein Opferschutzpaket jetzt!“ Es beinhaltete Punkte
wie die Anpassung des Sexualstrafrechts an das digitale
Zeitalter, einen besseren Schutz vor Übergriffen in Ab-
hängigkeitsverhältnissen, die Verlängerung der Verjäh-
rungsfrist sowie Vorschläge zu Opferschutz und Präven-
tion. Der hier vorliegende Gesetzentwurf greift viele
dieser Punkte auf. Ich finde, es ist wirklich ein starkes
Zeichen, dass das Ministerium und der Bundestag dieses
wichtige Thema binnen Jahresfrist zu einem Ergebnis
geführt haben – zu einem sehr guten Ergebnis, wie ich
finde.

Das Ziel der Änderung des Strafgesetzbuches ist eine
deutliche Verbesserung des Schutzes gerade von Kin-
dern und Jugendlichen vor sexuellen Übergriffen und se-
xuellem Missbrauch. Nun müssen wir uns fragen: Ist
dieses Ziel mit dem hier vorliegenden Entwurf zu errei-
chen? Ich meine, ja, obwohl es einen Punkt gibt, den ich
etwas kritisch sehe; aber dazu später.

Wie erreicht dieser Gesetzentwurf das von uns allen
formulierte Ziel? Zum einen ist für mich die Verlänge-
rung der Verjährungsfristen ein extrem wichtiger Punkt.
Sexueller Missbrauch von Kindern ist für mich eines der
schlimmsten und schwersten Verbrechen überhaupt. Die
Opfer tragen die Folgen das ganze Leben lang mit sich.
Hier gibt es kein Vergessen. Gerade weil die Opfer die-
ser Straftaten die Folgen so lange mit sich tragen, drän-
gen die Verjährungsfristen sie häufig; denn sie brauchen
manchmal Jahrzehnte, um überhaupt über die Tat spre-
chen zu können, diese vielleicht sogar erst einmal zu
verstehen.

Wie wir bereits gehört haben, ist die Verlängerung der
Verjährungsfristen unter Juristen nicht unumstritten; das
hat auch die öffentliche Anhörung im letzten Monat er-
geben. Das Argument lautet: Je später die Ermittlungen
aufgenommen werden, Herr Wunderlich, desto schwerer
ist es, dem Täter etwas nachzuweisen. Ich sage dennoch:
Die Opfer brauchen Zeit, Kraft und vor allen Dingen
Mut, um das Geschehene ohne den Druck der drohenden
Verjährung zu verarbeiten. Die Frage der Verjährung
muss daher von der Perspektive der Opfer her gedacht
werden und nicht von der der Rechtspraxis. Da ein er-
schwertes Verfahren die Situation für die Opfer sicher
auch schwerer macht, ist hier eine umfangreiche und vor
allem realistische rechtliche Beratung der Opfer vorab
notwendig. Die Verlängerung der Verjährungsfrist ist
aber richtig und wichtig.


(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Dr. Alexander S. Neu [DIE LINKE])


Ein weiterer zentraler Punkt ist der § 174 StGB, Se-
xueller Missbrauch von Schutzbefohlenen. Ich möchte
es nicht ungesagt lassen, weil ich es für besonders wich-
tig halte: In der jetzt noch aktuellen Fassung geht dieser
Paragraf an der Lebensrealität vieler Opfer vorbei. Den
Opfern ist es nämlich völlig egal, ob es ein Fachlehrer,
ein Klassenlehrer oder nur ein Vertretungslehrer ist, der
sich an ihnen vergeht. An der Schwere der Tat und vor
allem an den Folgen für die Opfer ändert sich dadurch
nichts.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Dass außerdem eine Erweiterung auf Großeltern und
Stiefeltern in diesem Paragrafen vorgesehen ist, finde ich
ebenfalls sehr positiv. Das gilt ebenso für die Änderung,
die der Rechtsausschuss noch in dieser Woche beschlos-
sen hat und die besagt, dass Personen eheähnlicher oder
lebenspartnerschaftsähnlicher Gemeinschaften genauso
gemeint sind. Es gibt so vielfältige Familienformen in
unserem Land, dass dies nur folgerichtig ist. Das Straf-
recht an diesem Punkt auf leibliche Eltern oder Adoptiv-
eltern zu beschränken, würde dem nicht mehr gerecht.
Es wäre ein schlechtes Zeichen für die Opfer, wenn das
Gesetz sie nicht dabei unterstützt, sich auch gegen Stief-
eltern, Großeltern oder Lebenspartner der Mutter oder
des Vaters zur Wehr zu setzen.


(Beifall im ganzen Hause)


„Zeichen setzen“ ist übrigens auch ein gutes Stich-
wort, wenn es um das Thema des Strafmaßes beim Be-
sitz kinderpornografischer Schriften geht. Der Kollege
Wunderlich hat vorgestern in der Sitzung des Familien-
ausschusses angemerkt, dass es vielleicht keinen einzi-
gen Täter von einer Straftat abhält, wenn hier das Straf-
maß von zwei auf drei Jahre erhöht wird. Da hat er
vermutlich sogar recht. Ich bin keine Juristin; das wissen
Sie. Aber ich sehe hier die Perspektive der Opfer. Viele
Opfer haben im Hinterkopf, dass es zum Beispiel bei Ei-
gentumsdelikten – das hat die Kollegin ja schon ange-
deutet – zu einer Strafe von bis zu fünf Jahren kommen
kann. Angesichts dessen finden sie zu Recht, dass hier
die Verhältnisse nicht stimmen.

In der Expertenanhörung des Rechtsausschusses ha-
ben wir erfahren, dass es keinen signifikanten Zusam-
menhang zwischen Kinderpornografie und Kindesmiss-
brauch gibt, sprich: Statistisch ist nicht nachzuweisen,
dass Menschen, die Nacktbilder von Kindern konsumie-
ren, später in strafrechtlicher Hinsicht im Bereich des
Kindesmissbrauchs auffallen. Ich sage Ihnen ganz ehr-
lich – wir alle haben uns mit dieser Thematik viele Mo-
nate lang beschäftigt –: Mein Bauchgefühl sagt etwas
anderes. Auch wenn es hier keine statistische Relevanz
gibt, dies also einen relativ kleinen Prozentteil der Täter
betrifft, so sage ich dennoch: Jeder Einzelne, der eine
Straftat verübt, ist einer zu viel – einer zu viel für die
Opfer.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Ich hatte ja zu Beginn etwas Kritik angekündigt; Herr
Maas, das kann ich Ihnen an diesem Punkt nicht erspa-
ren. Es geht um das sogenannte Cybergrooming – auch
hierauf sind diverse Kollegen bereits eingegangen –, ge-
nauer gesagt um einen untauglichen Versuch: Wenn sich
ein Beamter des BKA im Internet als zehnjähriges Mäd-
chen ausgibt und von einem Erwachsenen zu sexuellen
Handlungen aufgefordert wird, dann soll dies nicht straf-
bar sein, obwohl der Täter glaubte, mit einer Minderjäh-
rigen zu chatten? Entschuldigen Sie, aber das erscheint





Christina Schwarzer


(A) (C)



(D)(B)

mir nicht richtig. Ich glaube, da müssen wir noch nach-
bessern. An dieser Stelle hätten wir für das Ziel, eine
deutliche Verbesserung des Schutzes von Kindern und
Jugendlichen vor sexuellen Übergriffen zu erreichen,
mehr tun können, gerade in unserer digitalen Welt.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Ein Thema will ich in den letzten 40 Sekunden mei-
ner Redezeit noch ansprechen, und das ist das Thema
Medienkompetenz. Versetzen wir uns alle einmal in un-
sere Kindheit zurück; bei manchen ist das noch gar nicht
so lange her.


(Unruhe)


– Jetzt überlegt jeder, wie alt er ist. – Was haben wir da
von unseren Eltern gelernt? Meine Mutter hat mir immer
gesagt: Steig nie in ein fremdes Auto! Nimm nie Scho-
kolade von einem Fremden an! – In der analogen Welt
geben wir unseren Kindern diese Regeln mit auf den
Weg, um sie sicher durch den Alltag zu geleiten. Aber in
der digitalen Welt ist das, glaube ich, noch keine Selbst-
verständlichkeit. Hier gibt es großen Nachholbedarf.

Genauso selbstverständlich wie bei dem Beispiel mit
der Schokolade müssen Eltern ihren Kindern erklären:
Wenn jemand im Internet um ein Bild von dir bittet, be-
ende das Gespräch und sende es ihm nicht! Antworte
nicht, wenn dich jemand fragt, ob du schon mal jeman-
den geküsst hast! – Aber sehr viele Eltern tun das leider
nicht, weil sie sich in der digitalen Welt einfach noch
nicht gut auskennen. Sehr geehrte Damen und Herren,
ich glaube, in allen Fraktionen wird das Thema Medien-
kompetenz gerade behandelt. Wir sind da auf einem gu-
ten Weg.

Lassen Sie mich als Letztes sagen: Das hier vorlie-
gende Gesetz beschäftigt sich mit der strafrechtlichen
Komponente. Es ist gut, dass wir so schnell gehandelt
haben. Kleine Kritikpunkte habe ich angesprochen. Al-
les in allem haben wir einen sehr guten Gesetzentwurf,
der sein Ziel erreichen wird: eine deutliche Verbesserung
des Schutzes von Kindern und Jugendlichen vor sexuel-
len Übergriffen und sexuellem Missbrauch.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie der Abg. Renate Künast [Bündnis 90/Die Grünen])



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1806703200

Ich schließe die Aussprache.

Wir kommen zur Abstimmung über den von den
Fraktionen der CDU/CSU und SPD eingebrachten Ge-
setzentwurf zur Änderung des Strafgesetzbuches – Um-
setzung europäischer Vorgaben zum Sexualstrafrecht.
Der Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz emp-
fiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf
der Drucksache 18/3202 (neu), den Gesetzentwurf der
Fraktionen der CDU/CSU und SPD auf der Drucksache
18/2601 in der Ausschussfassung anzunehmen. Die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat beantragt, getrennt
abzustimmen: zum einen über Artikel 1 Nummer 5 b
und Artikel 1 Nummer 18, zum anderen über den Ge-
setzentwurf im Übrigen. – Das ist korrekt?

(Anja Hajduk [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist richtig!)


Dann rufe ich zunächst Artikel 1 Nummer 5 b und Ar-
tikel 1 Nummer 18 in der Ausschussfassung auf und
bitte diejenigen, die diesen in der Ausschussfassung zu-
stimmen wollen, um das Handzeichen. – Wer stimmt da-
gegen? – Wer enthält sich? – Damit sind die gerade ge-
nannten Bestimmungen in der Ausschussfassung mit der
Mehrheit der Koalition gegen die Stimmen der Opposi-
tion angenommen.

Ich rufe nun die übrigen Teile des Gesetzentwurfs, wie-
derum in der Ausschussfassung, auf und bitte diejenigen,
die hier zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Wer
ist dagegen? – Dies ist jetzt mit den Stimmen der Koali-
tion und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen gegen die
Stimmen der Fraktion Die Linke angenommen.

Alle Teile des Gesetzentwurfs sind damit in zweiter
Beratung angenommen, sodass wir nun zur

dritten Beratung

und Schlussabstimmung kommen können. Ich bitte die-
jenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich
zu erheben. – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält
sich? – Damit ist der Gesetzentwurf im Ganzen mit den
Stimmen der Koalition gegen die Stimmen der Linken
bei Enthaltung der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen an-
genommen.

Wir stimmen nun über die Beschlussempfehlung zu
dem von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzent-
wurf zur Änderung des Strafgesetzbuches – immer noch
der gleiche Zusammenhang – ab. Der federführende
Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe b seiner Be-
schlussempfehlung auf der Drucksache 18/3202 (neu),
den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf der Druck-
sache 18/2954 für erledigt zu erklären. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? –
Alle sind dafür. Damit ist die Beschlussempfehlung an-
genommen.

Unter dem Punkt 5 b unserer Tagesordnung geht es
um die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Fami-
lie, Senioren, Frauen und Jugend zu dem Antrag der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit dem Titel „Kinder
schützen – Prävention stärken“. Dieser Ausschuss emp-
fiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf der Drucksache
18/3201, den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grü-
nen abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh-
lung? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Mit
den Stimmen der Koalition gegen die Stimmen der Op-
position ist die Beschlussempfehlung angenommen.

Damit sind wir am Ende dieses Tagesordnungspunkts.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 22 auf:

Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur besse-
ren Vereinbarkeit von Familie, Pflege und Be-
ruf

Drucksachen 18/3124, 18/3157
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (f)






Präsident Dr. Norbert Lammert


(A) (C)



(D)(B)

Innenausschuss
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Gesundheit
Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 der GO

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
diese Aussprache 96 Minuten vorgesehen. – Auch dazu
gibt es offensichtlich Einvernehmen, sodass wir in die
Aussprache eintreten können.

Erfreulicherweise ist die federführende Ministerin an-
wesend, und ich erteile ihr hiermit das Wort.

Manuela Schwesig, Bundesministerin für Familie,
Senioren, Frauen und Jugend:

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen
und Herren Abgeordnete! Berufstätige Frauen und be-
rufstätige Männer erleben, dass sich in ihrer Familien-
welt nicht nur die Frage stellt: „Wie kann das gehen, auf
der einen Seite die Anforderungen in meinem Job und
auf der anderen Seite die Anforderungen, die meine Kin-
der und meine Familie an mich stellen, zeitlich zu erfül-
len?“, sondern zunehmend auch eine andere. Zu den An-
forderungen im Job, aber auch in der Familie kommt
nämlich häufig das Problem pflegebedürftiger Angehöri-
ger hinzu. So hat es mir zum Beispiel eine berufstätige
Mutter erzählt, die ganz froh war, dass ihr Sohn nach den
vielen Jahren des Großwerdens endlich in Ausbildung
war. Ein guter Schulabschluss für die Kinder, dann eine
Ausbildung oder ein Studium, das treibt die Eltern um.
Sie dachte: Jetzt kann ich durchatmen. Jetzt kann ich
mich wieder stärker auf meine berufliche Perspektive
konzentrieren. Dann kam ein Anruf: Der Vater ist ge-
stürzt. Die Knochen sind porös. Ob er jemals wieder lau-
fen kann, ist ungewiss. Damit trat einerseits ihre Sorge
um einen guten Ausbildungsplatz für den Sohn in den
Hintergrund, aber andererseits kam sofort die akute
Sorge um den Vater dazu.

Das ist das, was eine zunehmende Zahl von Familien
in unserem Land erlebt. Die steigende Zahl der Pflege-
bedürftigen fordert die Kapazitäten von Pflegeeinrich-
tungen heraus. Sie fordert die Pflegeversicherung he-
raus. Aber vor allem die Familien in unserem Land
nehmen diese Herausforderung an. Die Familien in un-
serem Land leisten den größten Teil der Pflege und
Sorge für pflegebedürftige Menschen. Sie sind der
größte Pflegedienst der Nation. Deshalb haben sie un-
sere Unterstützung verdient.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


Über 1,8 Millionen Menschen werden zu Hause ge-
pflegt, zwei Drittel davon ausschließlich durch ihre An-
gehörigen. Deshalb wollen wir Familien entlasten. Wir
wollen Familien unterstützen, wenn sie für ihre pflege-
bedürftigen Angehörigen da sind. Wir stärken den Fami-
lien den Rücken, in denen die Menschen füreinander
Verantwortung übernehmen, wenn jemand im familiären
Umfeld pflegebedürftig wird. Mit dem Gesetz, das wir
heute einbringen, werden wir Familien helfen, Pflege
und Beruf besser zu vereinbaren: erstens durch eine
zehntägige Lohnersatzleistung für den akuten Pflegefall,


(Pia Zimmermann [DIE LINKE]: Für alle?)

zweitens durch einen Rechtsanspruch auf die Familien-
pflegezeit und drittens mit einem zinslosen Darlehen für
diese Zeit. Die Vereinbarkeit von Pflege und Beruf ge-
hört dazu, wenn wir von Familien reden, so wie die älte-
ren Menschen zur Familie gehören.

Für mich ist das ein weiterer Schritt in Richtung Fa-
milienarbeitszeit. Wir machen es möglich, eine Zeit lang
die Arbeitszeit zu reduzieren, um mehr Zeit für die Fa-
milie zu haben. Klar ist, dass man für die Pflege und
Sorge Auszeiten braucht. Aber man muss eben nicht
mehrere Jahre voll aussteigen; denn das bedeutet: raus
aus dem Job, weniger Einkommen, weniger Rente. So
hat es meine Tante erlebt, die für die Pflege der Schwie-
germutter jahrelang aus dem Beruf ausgestiegen war und
dann keine Chance mehr hatte, reinzukommen.

Es geht darum, überschaubare Auszeiten und Teilzeit-
möglichkeiten zu unterstützen und diese mit professio-
nellen Angeboten der ambulanten Pflege oder der Tages-
pflege zu kombinieren, die dank der Pflegereform jetzt
ausgebaut werden. Zeit für Familie und Zeit für Beruf
auch in Pflegesituationen, das ist der Anspruch an mo-
derne Familienpolitik, eine moderne Familienpolitik, die
auf partnerschaftliche Vereinbarkeit setzt. In der letzten
Woche haben wir mit dem Elterngeld Plus den ersten
Schritt in Richtung Familienarbeitszeit gemacht. Das
Elterngeld Plus erleichtert die Verbindung zwischen El-
terngeld und Teilzeitarbeit. Jetzt gehen wir mit dem
neuen Gesetz zur besseren Vereinbarkeit von Pflege und
Beruf den zweiten Schritt in Richtung Familienarbeits-
zeit. Dieses Gesetz wird die Verbindung von Pflege und
Teilzeitarbeit fördern.

Eine Frau wie die, deren Situation ich eben geschil-
dert habe, wird künftig die Möglichkeit haben, in einem
akuten Fall eine zehntägige Auszeit zu nehmen. Sie kann
ihren Vater natürlich nicht in zehn Tagen gesundpflegen,
aber sie kann sich darüber informieren, welche Ange-
bote es gibt. Sie kann sich beim Pflegestützpunkt beraten
lassen. Ist es zum Beispiel gut, dass der Vater künftig in
einer Tagespflege betreut wird, während sie ihre Arbeits-
zeit reduziert, um mehr Zeit für Sorge und Pflege zu ha-
ben? Nutzt sie den ambulanten Pflegedienst, damit der
Vater in den eigenen vier Wänden bleiben kann? Oder
soll es vielleicht doch eine stationäre Einrichtung sein?

In einer Pflegesituation ergeben sich viele Fragen;
aber es gibt auch viele Angebote. Man benötigt Zeit, um
die vielen Angebote auszuloten. Für die zehntägige Aus-
zeit gibt es künftig eine Lohnersatzleistung analog zum
Kinderkrankengeld. Das ist wichtig, weil somit künftig
alle Beschäftigten die Möglichkeit haben, diese zehn-
tägige Auszeit ohne großen Einkommensverlust zu neh-
men. Das ist eine Frage der sozialen Gerechtigkeit.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


Es ist aber nicht nur eine Frage des einzelnen Euro. Es
geht auch um die Frage: Wie ernst nehmen wir die Un-
terstützung für Familien mit Pflegebedarf? Mit dem vor-
liegenden Gesetzentwurf heben wir Familien mit Pflege-
bedarf auf eine Stufe mit Familien mit Kindern, für die
es undenkbar ist, dass es nicht die zehn Tage Auszeit mit
Lohnfortzahlung gibt, wenn ein Kind krank wird. Das





Bundesministerin Manuela Schwesig


(A) (C)



(D)(B)

gibt es jetzt auch im Bereich Pflege. Damit signalisieren
wir: Wir lassen die Familien mit dem Thema Pflege
nicht alleine, wir lassen sie nicht im Stich, sondern wir
unterstützen sie.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


Die Frau aus dem Beispiel hat nun Zeit, darüber nach-
zudenken, ob sie bis zu sechs Monate ganz aus dem Be-
ruf aussteigen oder ob sie ihre Arbeitszeit bis zu zwei
Jahre lang reduzieren will. Sie hat künftig einen Rechts-
anspruch darauf, der einen Kündigungsschutz ein-
schließt. Sie kann Lohnausfälle durch einen Lohnvor-
schuss in Form eines zinslosen Darlehens vom Staat
ausgleichen. Auch das ist eine erhebliche Verbesserung.
In der Vergangenheit ging das nur über den Arbeitgeber.
Die wenigsten haben das allerdings in Anspruch genom-
men.


(Beifall bei der SPD)


Die Frau müsste sich in dieser Zeit nicht alleine um
ihren Vater kümmern. Das Pflegestärkungsgesetz macht
es ihrem Vater leichter, Angebote der Tagespflege oder
von ambulanten Diensten in Anspruch zu nehmen. Ich
freue mich sehr, dass wir bei der Stärkung der Pflege gut
mit dem Bundesgesundheitsministerium zusammenar-
beiten. Es braucht ein Bündel von Maßnahmen, um beim
Thema Pflege in der Gesellschaft etwas zu bewegen,
nicht nur ein einzelnes Gesetz. Die Große Koalition
bringt nun die entsprechenden Maßnahmen auf den Weg
und unterstützt so die Familien in unserem Land.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


Eine pflegende Tochter oder ein pflegender Sohn sind
auch deshalb nicht alleine, weil sie die Auszeit zusam-
men mit anderen Angehörigen – gleichzeitig oder nach-
einander – nehmen können. Damit können lange Pflege-
zeiten abgedeckt werden, ohne dass die Arbeit nur auf
den Schultern einer Person, bisher oft auf den Schultern
der Frau, lastet. Das ist eine Chance für mehr Partner-
schaftlichkeit und für mehr Solidarität innerhalb der Fa-
milie. Damit bekommen Familien die Chance, auch län-
gere Zeiten in der Pflege abzudecken; denn mit zwei
Jahren ist es oft nicht getan.

Mit dem Gesetz wird auch der Kreis der Angehöri-
gen, die die Regelungen in Anspruch nehmen können,
erweitert. Ab 2015 sollen auch Stiefeltern, Schwager
oder Schwägerin und lebenspartnerschaftsähnliche Ge-
meinschaften die Möglichkeiten des Pflegezeitgesetzes
und Familienpflegezeitgesetzes in Anspruch nehmen
können. Zu einer modernen Familienpolitik gehört, dass
auch unverheiratete Partner genauso wie Ehepartner An-
spruch auf Pflege- und Familienpflegezeit haben. Zu ei-
ner modernen Familienpolitik gehört auch, dass schwule
oder lesbische Paare, die füreinander einstehen, Zeit für
die Pflege ihres Partners bekommen, egal ob sie in einer
eingetragenen Lebenspartnerschaft leben oder nicht.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Familienleben ist vielfältiger geworden. Wenn wir er-
warten, dass die Menschen füreinander einstehen, dann
müssen wir sie in ihrer jeweiligen Lebensform unterstüt-
zen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Das vorliegende Gesetz geht auf diese Vielfalt ein.

Neu ist auch eine Familienpflegezeit für Eltern mit
minderjährigen Kindern, die in einer Pflegeeinrichtung
betreut werden, zum Beispiel, wenn ein Kind mit Down-
Syndrom in einer Einrichtung der Lebenshilfe lebt und
nur am Wochenende nach Hause kommt. Hier geht es
weniger um die Pflege, die professionell in der Einrich-
tung erfolgt, hier geht es mehr um Zeit für das pflegebe-
dürftige Kind. Die Eltern hatten bisher keine Möglich-
keit, Auszeiten zu nehmen. Sie erhalten jetzt die
Möglichkeit, die Zeit für gemeinsame Stunden, für Zu-
wendung und Zuneigung zu nutzen.

Schließlich haben wir auch die Möglichkeit geschaf-
fen, Menschen in der letzten Lebensphase nahe sein zu
können. Sie sind gestern in diesem Haus in eine wichtige
Debatte über die sogenannte Sterbebegleitung eingestie-
gen. Ich finde, das war eine sehr bewegende Debatte. Sie
hat gezeigt, wie sehr es uns alle beschäftigt, wenn
Krankheit und Leid bei Freunden oder in der Familie
nicht mehr zu heilen sind. Es gibt eben nicht die einfache
Lösung, aber wir sind uns alle darüber einig, dass wir ei-
nes organisieren müssen: Wir müssen alles dafür tun,
dass niemand im Sterben allein ist. So hat es Volker
Kauder gestern gesagt:

Wir werden alles dafür tun, dass im Sterben nie-
mand allein ist, sondern dass er begleitet wird, dass
er Beistand hat.

Genau diesen Schritt gehen wir mit diesem Gesetzent-
wurf. Wir wollen es mit dem vorliegenden Gesetzent-
wurf möglich machen, dass er oder sie in der letzten Le-
bensphase begleitet wird und Beistand hat. Das ist der
Wunsch vieler Menschen, ein berechtigter und wichtiger
Wunsch. Wir sollten ihnen diesen Wunsch erfüllen.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


Sehr geehrte Damen und Herren Abgeordnete, Ver-
einbarkeit braucht die Mitwirkung der Arbeitgeber. Das
machen wir damit deutlich, dass wir einen Rechtsan-
spruch festschreiben wollen. Ich bin überzeugt – das ha-
ben meine Gespräche und Unternehmensbesuche gezeigt –,
dass die Arbeitgeber selbst ein Interesse daran haben,
dass die Vereinbarkeit von Beruf und Familie und Pflege
gelingt; denn die Vereinbarkeit ist ein Gewinn für die
Unternehmen. Nehmen wir den Facharbeiter für Auto-
matisierungstechnik oder die Fachärztin für Innere Me-
dizin. Das sind nur zwei von sehr vielen Berufen, in de-
nen Fachkräfte gesucht werden. Für den Arbeitgeber ist
es von großem Vorteil, wenn diese Fachkräfte nicht un-
ter dem Druck einer großen Belastung aufgrund von
Pflegeaufgaben in der Familie zusammenbrechen und
aus dem Job aussteigen, sondern an Bord bleiben; sie
können in dieser Zeit gerne ihre Arbeitszeit reduzieren,
wenn sie nur an Bord bleiben. Deshalb ist es gut für die
Wirtschaft, dass wir dieses Gesetz machen. Es ist wich-





Bundesministerin Manuela Schwesig


(A) (C)



(D)(B)

tig, die Fachkräfte an Bord zu halten. Sie sind das Rück-
grat der Wirtschaft. Dieser Gesetzentwurf zeigt, dass wir
mit Gesetzen beides zusammenbringen können, die Inte-
ressen der Wirtschaft und die Interessen der Familien.
Für mich ist das kein Widerspruch, sondern das gehört
zusammen gedacht.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


Sehr geehrte Damen und Herren Abgeordnete, viele
Menschen möchten für ihre Familie da sein, wenn je-
mand Hilfe braucht, ob ein kleines, schwerkrankes Kind,
ein pflegebedürftiger Vater oder die Großmutter. Oft
kommt alles gleichzeitig: der Pflegefall der Eltern, die
Einschulung der Kinder und neue Anforderungen im
Job. Manchmal hat man das eine gerade geschafft, und
die nächste Herausforderung kündigt sich schon an. Das
ist Stress. Das ist das Gefühl, zerrieben zu werden zwi-
schen den verschiedenen Wünschen, zwischen dem
Wunsch, da zu sein für die Kinder oder die eigenen El-
tern, und dem Wunsch, den Job gut zu machen. Das trifft
oft die sogenannte Sandwichgeneration, die in der Rush-
hour des Lebens lebt. Dies sind aber die Leistungsträger
unserer Gesellschaft. Sie sorgen mit ihrer Arbeit dafür,
dass das Sozialsystem sich trägt. Deshalb ist es wichtig,
dass wir diese Leistungsträger unterstützen, dass wir al-
les dafür tun, dass sich diese Rushhour entzerrt. Wir
werden sie nicht auflösen können, schon gar nicht mit ei-
nem einzelnen Gesetz, aber wir können die Botschaft
aussenden, dass wir diese Frauen und Männer nicht al-
leine lassen, dass wir die Familien in unserem Land
nicht alleine lassen, dass wir ihnen den Rücken stärken.
Das leistet dieser Gesetzentwurf – nach einem anderen,
der schon verabschiedet worden ist.

Ich freue mich auf die Beratungen, um mit Ihnen ge-
meinsam auf dem Weg, Familien in unserem Land bes-
ser zu unterstützen, weiterzugehen.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1806703300

Die Kollegin Pia Zimmermann hat nun das Wort für

die Fraktion Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Pia Zimmermann (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1806703400

Vielen Dank, Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Liebe Frau Ministerin Schwesig, ich finde, es
ist schon ziemlich sensationell, wie Sie nur minimale
Verbesserungen, die auch noch mit Verschlechterungen
einhergehen und nichts Grundsätzliches bewegen, den
Menschen hier als gut verkaufen wollen. Das ist mittler-
weile offensichtlich ein Markenzeichen der Bundesre-
gierung.

Meine Damen und Herren, Anfang Oktober hat die
Linke im Bundestag ein Pflegehearing veranstaltet, da-
mit sich die Betroffenen zum Pflegestärkungsgesetz zu
Wort melden konnten. Bei der Eröffnung saß eine Ver-
treterin der „Initiative gegen Armut durch Pflege“ auf
dem Podium, die seit 31 Jahren ihre Tochter pflegt. Sie
hat eindrucksvoll geschildert, was diese Pflegesituation
für sie heißt: Überlastung bis an den Rand des Burn-outs
mit einer enorm prekären finanziellen Situation.

Meine Damen und Herren, dieses Beispiel ist – das
ist, glaube ich, uns allen bekannt – kein Einzelfall. Die
überwiegende Mehrheit der pflegenden Frauen und
Männer erlebt die Pflege von Angehörigen als körperlich
und emotional belastend. Viele der Pflegenden, insbe-
sondere Frauen, sind zum Zeitpunkt des Pflegebeginns
nicht oder nur geringfügig erwerbstätig. Frauen geben
auch häufiger als männliche Pflegende ihre Erwerbstä-
tigkeit auf, wenn sie die Pflege übernehmen. Genau sol-
che Unterbrechungen führen zu geringeren Rentenan-
sprüchen im Alter.

Die Probleme in der Pflege sind uns allen bekannt.
Der Gesetzentwurf aber, welchen wir heute erstmals im
Bundestag debattieren – bei ihm wird im Titel recht voll-
mundig von einer „besseren Vereinbarkeit von Familie,
Pflege und Beruf gesprochen“ –, geht an einer wirkli-
chen Lösung völlig vorbei.


(Beifall bei der LINKEN)


Ja, es soll kleine Verbesserungen geben. Dass es für
die bisher unbezahlte zehntägige Pflegezeit eine Lohn-
ersatzleistung geben soll, ist zu begrüßen. Diese kleine
Verbesserung darf aber nicht über die völlig unzurei-
chenden Vorschläge der Bundesregierung hinwegtäu-
schen. Wer glaubt, in zehn Tagen die pflegerische Ver-
sorgung organisieren zu können, geht vollkommen an
den Lebensrealitäten von Menschen vorbei, die zum ers-
ten Mal mit Pflegebedürftigkeit konfrontiert sind. Es
mag sein, dass ein Kind in zehn Tagen gesund wird, eine
Pflegesituation lässt sich in zehn Tagen nicht regeln.
Wir, die Linke, fordern eine sechswöchige bezahlte Pfle-
gezeit für Erwerbstätige, die der Organisation und der
ersten pflegerischen Versorgung von Angehörigen oder
nahestehenden Personen dient.


(Beifall bei der LINKEN)


Ein anderes Beispiel für eine vollkommen unzurei-
chende Verbesserung ist die Reform der Familienpflege-
zeit. Das Familienpflegezeitgesetz von Schwarz-Gelb
war ein Vollflop. Gerade einmal 135 Personen – das
steht auch in Ihrem Gesetzentwurf – haben die Familien-
pflegezeit in Anspruch genommen. Schon bei der Verab-
schiedung haben wir einen verbindlichen Rechtsan-
spruch gefordert. Gut, dass die Bundesregierung hier
jetzt nachbessern will. Sie lässt aber – wer hätte das ge-
dacht? – den Arbeitgeberinnen und Arbeitgebern trotz-
dem eine Hintertür offen. Bei wichtigen betrieblichen
Gründen kann verweigert bzw. abgelehnt werden. Frau
Schwesig, das sind immer die Sachen, die Sie ver-
schweigen.

Völlig unverständlich ist auch, warum die Bundesre-
gierung darüber hinaus ein Fünftel der Beschäftigten von
dem Rechtsanspruch völlig ausschließen will. Was ist
das denn? Beschäftigte in Betrieben mit 15 oder weniger
Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern sollen von dieser Re-
gelung nämlich ausgenommen werden. Es sind doch
aber gerade die kleinen Betriebe, wo es besonders
schwer bis unmöglich ist, eine freiwillige Freistellung
gegenüber dem Arbeitgeber durchzusetzen. Konkret





Pia Zimmermann


(A) (C)



(D)(B)

heißt dies, dass weiterhin über 5 Millionen Arbeitneh-
merinnen und Arbeitnehmer vom Gutdünken ihres Ar-
beitgebers abhängig sind. Meine Damen und Herren, das
ist nicht hinnehmbar!


(Beifall bei der LINKEN)


Was das Familienministerium als bessere Verzahnung
von Pflegezeit- und Familienpflegezeitgesetz verkaufen
will, bedeutet im Endeffekt eine Verschlechterung. Frau
Schwesig, das möchte ich Ihnen auch gern erklären.
Bisher war die durch das Pflegezeitgesetz mögliche
sechsmonatige unbezahlte Freistellung eine die Fami-
lienpflegezeit – die bis zu 24 Monate dauern konnte –
ergänzende Möglichkeit. Der Gesetzentwurf regelt nun,
dass die Pflegezeit der Freistellung nach dem Familien-
pflegezeitgesetz vorgeht und auf die maximale Freistel-
lungszeit von 24 Monaten angerechnet wird. Das ist also
faktisch eine Verkürzung. Auch das verschweigen Sie.

Davon einmal abgesehen, ist Pflege schwer planbar.
Zu Beginn der Familienpflegezeit wird festgelegt, wie
lange sie dauern soll. Und danach? Frau Schwesig stellt
sich, wie wir gerade gehört haben, einen fliegenden
Wechsel der Familienmitglieder vor. Ob das aber realis-
tisch ist, ob die Familiensituationen, wie wir sie heute
haben, das überhaupt hergeben, wage ich zu bezweifeln.

Insgesamt gehen die Regelungen des Gesetzentwurfs
zulasten der Personen, die in prekären Arbeitsverhältnis-
sen oder Teilzeit arbeiten. Für sie kommt nämlich eine
Reduzierung der Arbeitszeit aus finanziellen Gründen
oftmals überhaupt nicht infrage. Studien belegen, dass
Geringverdienende öfter die Pflege von Angehörigen
übernehmen als Gutverdienende, weil sie sich nämlich
die professionelle Pflege nicht leisten können und weil
die Pflegeversicherung nur einen Teil der anfallenden
Kosten trägt. Das Gesetz löst also weder das Problem
der Vereinbarkeit von Pflege und Beruf noch das der so-
zialen Ungleichheit bei Versorgungschancen. Das geht
nicht, meine Damen und Herren!


(Beifall bei der LINKEN)


Der Gesetzentwurf verstärkt die soziale Spaltung und
geht vor allem zulasten von Frauen. Denn trotz steigen-
der Beteiligung von Männern sind es immer noch über-
wiegend Frauen, die Angehörige und Bekannte pflegen.
Es sind überwiegend Frauen, die in prekären Arbeitsver-
hältnissen oder in Teilzeit arbeiten.

Über Ihren Gesetzentwurf freuen dürften sich die Ar-
beitgeber. Sie werden bei der Finanzierung nämlich völ-
lig außen vor gelassen. Die Beschäftigten bauen Zeit-
schulden auf dem Arbeitszeitkonto auf, die sie später
abarbeiten müssen, und sie verschulden sich finanziell,
weil sie das Darlehen zur Aufstockung des Nettogehalts
zurückzahlen müssen. Da nützen Ihre wohlfeilen Worte,
Frau Schwesig, herzlich wenig. Die Kosten tragen dieje-
nigen, die doch eigentlich entlastet werden sollen: Be-
schäftigte, die ihre Angehörigen pflegen.

Ganz im Sinne der bisherigen Pflegepolitik von CDU/
CSU und SPD sowie der vorherigen Bundesregierungen
wird die Hauptverantwortung für die Pflege ins Private
geschoben. Auch Sie sprechen wie Frau Merkel von dem
größten Pflegedienst, den wir haben, nämlich die Fa-
milien und die Angehörigen. Die Sicherstellung pfle-
gerischer Betreuung wird so als Vereinbarkeitsproblem
individualisiert. Wir, die Linke, fordern, dass die Pflege-
versicherung zukunftsfähig wird, um den pflegerischen
Bedarf abdecken zu können.


(Beifall der Abg. Kathrin Vogler [DIE LINKE])


Eine echte Entlastung von Angehörigen und Pflege-
bedürftigen und auch ihrer persönlichen Beziehungen
wäre es, die professionelle Pflege zu stärken. Es geht mir
und meiner Fraktion nicht darum, die professionelle
Pflege und die Pflege durch Angehörige gegeneinander
auszuspielen. Aber Sie dürfen die Unterschiede doch
nicht einfach so vom Tisch wischen.


(Beifall bei der LINKEN)


Pflege ist eine hochkomplexe und anspruchsvolle Tätig-
keit. Wir alle fordern doch eine Verbesserung der Aus-
bildung in den Pflegeberufen. Gleichzeitig leisten die
Angehörigen natürlich einen enormen Beitrag für die
umfassende Versorgung. Sie kennen die zu pflegenden
Personen gut und können eine wichtige Ergänzung zur
professionellen Pflege sein.

Es darf hier nicht darum gehen, welche Form der
Pflege besser oder schlechter ist, sondern wir müssen die
Unterschiedlichkeit anerkennen und davon ausgehend
fragen, welcher Mix oder welches Pflegesetting, wie wir
es nennen, für alle Beteiligten richtig ist. Das gilt es he-
rauszufinden und zu unterstützen.


(Beifall bei der LINKEN)


Aber eine solche Offenheit lässt die Pflegeversiche-
rung für viele nicht zu. Solange die Pflegeversicherung
nur einen Teil der anfallenden Kosten abdeckt, ist keine
wirkliche Entscheidungsfreiheit gegeben, nicht für die
Pflegebedürftigen und auch nicht für die Angehörigen.
Deshalb fordern wir nicht nur eine sechswöchige be-
zahlte Pflegezeit für Erwerbstätige, sondern auch eine
deutliche Anhebung der Leistungen der Pflegeversiche-
rung, damit das gewünschte Pflegearrangement tatsäch-
lich unabhängig vom Geldbeutel gestaltet werden kann.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1806703500

Das Wort erhält nun der Kollege Marcus Weinberg

für die CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Marcus Weinberg (CDU):
Rede ID: ID1806703600

Vielen Dank. – Herr Präsident! Werte Kolleginnen

und Kollegen! Wenn es denn so ist, dass die Menschlich-
keit einer Gesellschaft daran zu messen ist, wie man mit
den Kleinsten, den Schwachen, den Kranken und auch
den Alten umgeht, dann kann man, glaube ich, mit Blick
auf diese Debatte und dieses Gesetz, mit Blick auf die
Debatte zuvor und auch mit Blick auf das Gesetz zur El-





Marcus Weinberg (Hamburg)



(A) (C)



(D)(B)

ternzeit, zum Elterngeld sagen, dass wir es geschafft ha-
ben, den Mensch wieder in den Mittelpunkt unserer Poli-
tik zu stellen. Das ist gut so für dieses Land. Ich glaube,
das zeigt auch eine neue Form des Umgangs und von
Menschlichkeit.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Frau Zimmermann, zwei Bemerkungen zu Ihrem De-
battenbeitrag.

Erstens. Dieses Gesetz ist tatsächlich etwas Konkre-
tes. Es ist mehr als nur Symbolpolitik oder Rhetorik,
dass wir es unterstützen, wenn Menschen sich einsetzen
und ihre nahen Angehörigen pflegen. Es wird konkrete
Veränderungen mit sich bringen. Wir stärken damit die
Menschen, die sich gerade im Bereich der Pflege enga-
gieren.

Zweitens. Sie sagen, dass wir die Pflege ins Private
verschieben wollen. Nein, die Menschen wollen zu
Hause gepflegt werden. Es gibt viele Menschen, die zu
Hause andere pflegen. Wir unterstützen sie stärker dabei.
Das ist unser Ziel. Das ist mit dem Gesetzentwurf inten-
diert.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Insoweit bin ich froh über diese Debatte. Dem Leitge-
danken, den Menschen in den Mittelpunkt zu stellen,
kommen wir in dieser Frage etwas näher. Es ist so, dass
der Wandlungsprozess bzw. der demografische Wandel,
wie es heißt, einige Veränderungen mit sich bringen
wird.


Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1806703700

Herr Kollege Weinberg, darf die Kollegin

Zimmermann Ihnen eine Frage stellen?


Marcus Weinberg (CDU):
Rede ID: ID1806703800

Sie darf mir immer Fragen stellen, gerne.


Pia Zimmermann (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1806703900

Vielen Dank, Herr Kollege Weinberg, dass Sie die

Zwischenfrage zulassen. – Ich habe eine Frage zum
größten Pflegedienst der Nation: zur Familie. Natürlich
ist es so, dass viele Menschen zu Hause gepflegt werden
wollen. Natürlich ist es so, dass das auch viele Menschen
machen. Es ist auch so, dass das viele Menschen machen
können. Aber können Sie sich vorstellen, dass es auch
viele machen müssen, weil sie sich etwas anderes nicht
leisten können?

Man muss ja immer die Frage stellen: Wie ist die
Pflegeversicherung aufgebaut? In der Pflegeversiche-
rung gibt es ja das Teilkaskoprinzip. Wenn jemand ge-
pflegt werden muss, sind damit also immer zusätzliche
Kosten verbunden. Wer nicht das eigene Häuschen oder
andere Dinge verkaufen möchte, wird dem Druck ausge-
setzt, zu Hause pflegen zu müssen.

Der zweite Punkt, der mich interessieren würde: Kön-
nen Sie sich vorstellen, dass Menschen in der Arbeits-
welt in prekäre Situationen kommen, weil sie zu Hause
pflegen, und dass als Folge prekärer Arbeitsverhältnisse
Altersarmut entstehen kann? Ich finde, es ist nicht so
einfach, wie Sie sagen – dass man in der Familie pflegen
kann –, sondern das ist für die betroffenen Menschen,
vor allen Dingen für Frauen, mit deutlichen Nachteilen
verbunden.


(Beifall bei der LINKEN)



Marcus Weinberg (CDU):
Rede ID: ID1806704000

Ich glaube, keiner von uns sagt, dass es einfach ist,

Menschen zu Hause zu pflegen. Das ist, glaube ich, die
größte Herausforderung für unsere Gesellschaft. Deswe-
gen sollten wir dankbar sein, dass es viele Menschen
gibt, die nahe Angehörige zu Hause pflegen wollen.

Ich will dazu nur zwei Dinge sagen:

Erstens. Für 87 Prozent der Menschen ist es wichtig
oder sehr wichtig, dass ihre Erwerbstätigkeit im Sinne
des Zeitmanagements erleichtert wird, weil sie sich ent-
schieden haben, einen nahen Angehörigen zu Hause zu
pflegen.

Zweitens. Fast alle alten Menschen wünschen sich, in
ihren letzten Lebensjahren in ihrer vertrauten Umgebung
bleiben zu können;


(Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. Dr. Carola Reimann [SPD])


das ist unter dem Gesichtspunkt von Selbstbestimmtheit
und Selbstständigkeit wichtig.

Das heißt, es gibt einen Antrieb, innerhalb der Fami-
lie zu pflegen. Unsere Aufgabe ist es – ich komme gleich
auf die einzelnen Punkte, die Sie angesprochen haben,
zu sprechen, auch im Hinblick auf die gesetzlichen Ver-
änderungen, die es schon gab, nämlich Pflegezeit und
Familienpflegezeit –, die Veränderungen so zu skizzie-
ren und sie so zu gestalten, dass sie in sich schlüssig und
klar sind und wir gewisse Defizite, auf die ich gleich
ebenfalls zu sprechen komme, ausräumen können. – Ich
glaube, damit habe ich Ihre Frage beantwortet. Die ein-
zelnen Aspekte würde ich Ihnen gerne anhand der Struk-
tur des Gesetzentwurfs verdeutlichen; ich werde mich
dann immer auf Ihre Frage beziehen.

Für uns als CDU/CSU-Fraktion und für die Große
Koalition steht fest, dass es ein Leitgedanke sein muss,
die Menschen zu stärken, die zu Hause nahe Angehörige
pflegen. Dies ist ein Zeichen des familiären Zusammen-
halts, der für unsere Gesellschaft wichtig ist. Das gilt
überall dort, wo Menschen füreinander Verantwortung
übernehmen, und betrifft den Umgang mit den Kleinsten
und den Umgang mit den Älteren.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Jetzt komme ich auf den ersten Ansatzpunkt von Frau
Zimmermann zu sprechen. Man muss sich fragen: Was
gab es bisher? Wir haben bereits 2008 und 2012 Bau-
steine zur Unterstützung der familiären Pflege auf den
Weg gebracht, nämlich mit dem Pflegezeitgesetz 2008
und mit dem Familienpflegezeitgesetz 2012. Dabei
spielten drei Komponenten, die die Ministerin schon an-





Marcus Weinberg (Hamburg)



(A) (C)



(D)(B)

gesprochen hat, eine Rolle. Es gibt drei verschiedene
Phasen, die für diejenigen, die andere Menschen zu
Hause pflegen wollen, wichtig sind.

Die erste Phase ist eine kurzzeitige: die zehntätige
Pflegeauszeit. Sie ist beim unerwarteten Eintritt einer
Pflegesituation von Bedeutung, da eine solche Situation
die Menschen immer überfordert. Sie kommt nämlich
immer zum ungünstigsten Zeitpunkt. Außerdem befin-
den sich die Menschen dann in der schwierigen Situa-
tion, viele Dinge für einen Angehörigen schnell regeln
und organisieren zu müssen. Hier wurde der Rechtsan-
spruch geschaffen, zehn Tage von der Arbeit fernzublei-
ben.

Was es aber nicht gab, war finanzielle Unterstützung;
jetzt komme ich auf den nächsten Punkt, den Sie er-
wähnt haben, zu sprechen. Gerade für viele Menschen
mit niedrigem Einkommen war das ein Problem, weil sie
zehn Tage lang kein Geld verdient haben. In Zukunft
wird es die Möglichkeit geben, diese Lücke durch eine
Lohnersatzleistung zu schließen. Das ist eine Verbesse-
rung. Insofern verbessert der Gesetzentwurf gerade die
Situation derer, die in einer prekären Situation sind und
kein hohes Einkommen haben.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Der zweite Punkt. Mittelfristig konnten sich Men-
schen für bis zu sechs Monate von der Arbeit freistellen
lassen. Auch hier gab es einen Rechtsanspruch; das ist
gut so. Wenn man sich sechs Monate lang freistellen las-
sen will, was möglich ist, gibt es aber ein Problem. Jetzt
komme ich wieder auf den von Ihnen genannten Punkt
zu sprechen. Sie haben nämlich gesagt: Viele können
sich das gar nicht leisten. – In Zukunft wird es die Mög-
lichkeit geben, ein zinsfreies Darlehen über das Bundes-
amt für Familie und zivilgesellschaftliche Aufgaben auf-
zunehmen. Das heißt, auch die finanzielle Absicherung
wird gestärkt, und zwar zusätzlich zu dem bereits beste-
henden Rechtsanspruch. Auch das ist eine Verbesserung
des geltenden Gesetzes.

Der dritte Punkt betrifft die Familienpflegezeit. Hier
gab es zwar keinen Rechtsanspruch, aber die Möglich-
keit, über einen Kredit – allerdings verbunden mit sehr
bürokratischen Hindernissen – zumindest die finanzielle
Situation abzusichern.

Mit der neuen Regelung wird es in Zukunft einen
Rechtsanspruch geben. Das heißt, es werden hier zwei
Dinge zusammengeführt: der Rechtsanspruch und der fi-
nanzielle Ausgleich. Dies geschieht unter dem Gesichts-
punkt: Wie kann ich mehr Zeit und mehr Flexibilität in
der Frage der Vereinbarkeit von Beruf, Pflege und Fami-
lie erreichen? Diese drei Komponenten werden nun zu-
sammengebracht.

Es war unser Ansatz in der Großen Koalition, zu sa-
gen: Wir haben drei Bausteine, die für sich genommen
gut sind. Aber wir müssen sie jetzt zusammenbringen.
Pflege kann nicht alleine gesehen werden, sondern
Pflege muss von einer kurzfristigen Wahrnehmung der
Dinge bis hin zu einer langfristigen Aufgabe in der Fa-
milie organisiert werden. Deswegen haben wir gesagt:
Wir müssen Rechtsansprüche definieren, finanzielle Si-
cherheiten schaffen und als dritte Komponente die ge-
sellschaftliche Veränderung mit aufnehmen.

Ein Beispiel hierfür ist die Pflege des Stiefvaters als
nahem Angehörigen. Es ist etwas paradox, zu sagen: Der
Vater kann gepflegt werden, aber der Stiefvater nicht. Es
gibt leider Fälle, in denen der Vater, als die Kinder drei
oder vier Jahre alt waren, die Familie verlassen und
möglicherweise nie Unterhalt gezahlt hat. Trotzdem be-
steht für die Kinder die Möglichkeit, den Vater als nahen
Angehörigen zu pflegen. Aber die Pflege des Stiefvaters,
der sich um die neue Familie gekümmert hat, durch die
Stiefkinder fiel bisher nicht unter die Pflege eines nahen
Angehörigen. Deswegen ist es eine gute Erweiterung,
dass auch Stiefeltern in die Regelung mit den nahen An-
gehörigen aufgenommen werden.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Pflegebedürftige Kinder brauchen oftmals eine beson-
dere Pflege. Diese besondere Pflege wird in erster Linie
in Einrichtungen angeboten. Da ist es richtig und konse-
quent, zu sagen: Auch bei pflegebedürftigen Kindern
kann die Familienpflegezeit genommen werden, selbst
wenn sie nicht zu Hause, sondern in einer Einrichtung
betreut werden, weil da die Kombination aus professio-
neller Pflege und Unterstützung der Betreuung durch die
Eltern wichtig ist. Auch diese Erweiterung war richtig
und wichtig. Damit haben wir ein Problem behoben.


(Beifall des Abg. Sönke Rix [SPD])


Als Ergebnis der Verhandlungen zum Koalitionsvertrag
haben wir uns darauf verständigt, diese drei wesentli-
chen Bereiche zusammenzuführen.

Ich möchte am Ende noch eine Sache ansprechen,
nämlich die Auswirkungen der Familienpflegezeit auf
die Arbeitgeberschaft. Man muss überlegen: Wie kann
man es schaffen, dass auch die Wirtschaft, gerade der
Mittelstand, diese Pflegezeit positiv begleitet?

Dazu zwei Dinge: Erstens. Man hat erkannt, dass es
wichtig ist, die Menschen mit ihren Kompetenzen – sie
sind schließlich Fachkräfte – im Unternehmen zu halten.
Dem wird mit den jetzigen Regelungen Rechnung getra-
gen. Deswegen ist für uns der Ansatz der Teilzeit wich-
tig. Wenn man in der Familienpflegezeit 15 Stunden in
der Woche arbeitet und die restliche Zeit freigestellt
wird, ist das auch für das Unternehmen gut, weil es über
die Teilzeit seine Fachkräfte im Unternehmen halten
kann. Das heißt, den Unternehmen geht das Know-how
der Mitarbeiter nicht verloren.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Zweitens. In der realen Betrachtung haben wir gese-
hen, dass durch die Pflege eines Angehörigen nicht nur
die Familie aus der Bahn geworfen wurde, sondern dass
diese neue Situation auch Konsequenzen auf das Ver-
hältnis zum Arbeitgeber hat. Wir wissen, dass sich viele
Arbeitnehmer in den ersten Tagen haben krankschreiben
lassen, weil sie mit der Situation nicht mehr zurechtka-
men. Ihre Motivation am Arbeitsplatz ließ durch die
neue Situation nach. Deswegen sind die Planungssicher-





Marcus Weinberg (Hamburg)



(A) (C)



(D)(B)

heit und die Stabilisierung finanzieller und zeitlicher Art
gut für die Unternehmen, weil die Motivation und die
Zufriedenheit mit der Arbeit bei den Arbeitnehmern stei-
gen; denn sie wissen, dass es verbindliche Regeln gibt,
an die sich alle halten müssen. Dadurch bekommen sie
es besser hin – das wird niemals perfekt werden –, ihren
nahen Angehörigen zu pflegen.

Auch für die Unternehmen bedeutet es eine Entlas-
tung, dass wir so die Beiträge zur Pflegeversicherung
stabil halten können. Man könnte ja sagen: Wenn wir die
familiäre Pflege nicht stärken, müssen wir möglicher-
weise die professionelle Pflege stärken, was durch eine
Erhöhung der Beiträge zur Pflegeversicherung gesche-
hen könnte. Ich glaube, es ist nicht im Sinne des Mittel-
standes und der deutschen Wirtschaft, die Beiträge zu er-
höhen. Daher ist unser Gesetz ein gutes Zeichen.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Zurzeit sind 2,6 Millionen Menschen pflegebedürftig,
über 1 Million Menschen wird zu Hause betreut. Für das
Jahr 2050 müssen wir mit der doppelten Anzahl an pfle-
gebedürftigen Menschen rechnen. In wenigen Jahren
wird die Wahrscheinlichkeit größer sein, auf der Straße
einen 80-Jährigen zu treffen als eine junge Mutter oder
einen jungen Vater mit einem Kinderwagen. Das heißt,
auf diese Entwicklung müssen wir uns einstellen.

Hier sind zwei Dinge zu nennen. Das eine ist der
Wunsch der Menschen, zu Hause in ihrer Umgebung ge-
pflegt zu werden. Es ist gut, dass Menschen das in unse-
rer Gesellschaft machen und auch machen wollen.

Das andere ist die Gewissheit, die sie brauchen – Stich-
wort Zeitmanagement –, dass sie sich in dieser schwieri-
gen Situation die Zeit besser einteilen können und dass
sie zumindest ein wenig finanziell entlastet werden.
Kein Pflegefall und kein Mensch, der sich in der Pflege
engagiert, sieht das als Geschäftsmodell oder will damit
irgendwie Missbrauch treiben. Es hinzubekommen, die
Familie zu versorgen, der Erwerbstätigkeit nachzugehen
und sich um einen Pflegefall zu kümmern: Das ist der
höchste Anspruch, den man haben kann. Deswegen ist
es, glaube ich, wichtig, dass wir mit dem vorliegenden
Gesetzentwurf jetzt auch den nächsten Schritt gehen.

Ich komme noch einmal zum Anfang zurück. Die
Menschlichkeit einer Gesellschaft spiegelt sich darin wi-
der, wie wir mit den Schwachen, den Kleinen, den Kran-
ken und auch den Alten umgehen. Deswegen ist es gut,
dass wir uns dieses Themas angenommen haben. Denn
ich glaube, die Vereinbarkeit von Pflege, Familie und
Beruf wird eine große Herausforderung sein. Dabei sind
wir auf einem guten Weg, der sicherlich noch einige wei-
tere Schritte mit sich bringen muss. Aber der Gesetzent-
wurf ist gut, und ich bitte um Unterstützung dafür.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1806704100

Das Wort erhält nun die Kollegin Elisabeth

Scharfenberg für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kolle-
gen! Sehr geehrte Frau Ministerin, Sie haben einen wei-
teren Gesetzentwurf vorgelegt. Das sieht zunächst ein-
mal sehr fleißig aus, aber wenn man genauer hinschaut,
wird deutlich: Diese schnelle Aktion ist eine ganz
schöne Luftnummer. Damit wurde nur eine schlechte
Vorlage ein wenig repariert.

Mit der Vorlage meine ich das schlecht gemachte Fa-
milienpflegezeitgesetz von Kristina Schröder. Es wurde
schon gesagt: Dieses Gesetz haben exakt 135 Menschen
in Anspruch genommen, und zwar nicht etwa auf Berlin
beschränkt, sondern deutschlandweit. Das war ein Flop,
und ich befürchte, dass diese Nachbesserung genauso
floppen wird.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)


Was sind denn die Reparaturen, die Sie uns mit vielen
Worten anbieten? Es gibt jetzt einen Rechtsanspruch auf
die Familienpflegezeit. Das haben wir immer gefordert,
und es ist gut, dass er jetzt eingeführt werden soll. Aber
leider gilt dieser Rechtsanspruch nur in Betrieben mit
mehr als 15 Beschäftigten. Damit ist dieser Gesetzent-
wurf nicht geschlechtsneutral, wie es in der Begründung
heißt, Frau Ministerin; denn weitaus mehr Frauen als
Männer arbeiten in kleinen Betrieben.

Es gibt nun einen Anspruch auf ein zinsloses Darle-
hen. Das bedeutet in der Tat etwas mehr Flexibilität für
die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer; denn bisher
gab es die Verpflichtung, vorab gezahltes Gehalt nach-
träglich wieder abzuarbeiten. Aber nach wie vor wird die
Hauptlast auf den Schultern der berufstätigen Pflegen-
den abgeladen. Sie müssen zuerst auf Gehalt verzichten.
Das Darlehen gleicht die Differenz zum vollen Gehalt
nur zur Hälfte aus. Es fehlt also letzten Endes ein Viertel
des monatlichen Lohns.

Nach der Pflegezeit müssen die pflegenden Angehöri-
gen das Darlehen zurückzahlen. Das heißt, auch dann
geht wieder etwas vom monatlichen Einkommen ab, was
sonst der Familie zur Verfügung steht. Im Klartext heißt
das, weiter auf Gehalt zu verzichten.

Geringverdiener ohne gut verdienenden Partner kön-
nen sich das nicht leisten. Das sind in der Mehrheit wie-
der die Frauen.

Wem also soll denn dieses Familienpflegezeitgesetz
überhaupt nutzen? Frau Ministerin, ich schlage vor, Sie
setzen Ihre rosarote Brille ab und wir schalten einmal
kollektiv den Weichzeichner aus. Was ist denn die Reali-
tät in diesem Land? Stellen Sie sich vor, ein älterer Mann
wird plötzlich pflegebedürftig, und seine Tochter nimmt
die zehntägige Auszeit, um eine Pflege für ihren Vater zu
organisieren. Dass es dafür jetzt eine Lohnersatzleistung
gibt, ist schön. Zehn Tage sind aber in einer solchen Si-
tuation nicht viel.

Wie geht es weiter in der realen Welt und im echten
Leben? Die Tochter hatte nie zuvor mit Pflege zu tun.
An wen wendet sie sich zuerst? Sie muss sich erst ein-





Elisabeth Scharfenberg


(A) (C)



(D)(B)

mal kundig machen. Der Vater muss begutachtet werden.
Ob er eine Pflegestufe bekommt oder nicht, ist entschei-
dend dafür, wie es weitergeht.

Die Tochter muss gemeinsam mit dem Vater bespre-
chen, wie er sich seine Zukunft weiter vorstellt, aber
auch, wie sie in dieser Situation ihr weiteres Leben pla-
nen möchte oder überhaupt planen kann. Ob sich die bei-
den für eine stationäre Einrichtung oder für die Pflege
zuhause mit ergänzender ambulanter Pflege entscheiden:
In jedem Fall muss sehr viel erledigt werden. Die Ver-
sorgung des Vaters in dieser Zeit geht zusätzlich weiter.
Viele Anbieter müssen kontaktiert werden. Es muss be-
sichtigt werden. Es muss eingeschätzt werden, und das
alles unter hohem Zeitdruck. Wie soll man das alles in
zehn Tagen schaffen?

Was ist aber, wenn der Vater dement ist und gar keine
Pflegestufe erhält? Die Tochter hat dann keinen An-
spruch auf das Pflegeunterstützungsgeld, also auf die
zehntägige Lohnersatzleistung. Die Tochter hat dann
auch keinen Anspruch auf die Familienpflegezeit. Heute
leben etwa 1,1 Millionen Demenzkranke in Deutschland
in privaten Haushalten. Alle möchten so lange wie mög-
lich in der vertrauten Wohnung oder in der Nachbar-
schaft bleiben. Alle brauchen Unterstützung. Aber:
Wenn keine Pflegestufe vorliegt, müssen die pflegenden
Angehörigen alleine eine Lösung finden. Dann lassen
Sie als Große Koalition genau diese Menschen weiterhin
im Regen stehen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Warum, Frau Ministerin, denken Sie die Dinge nicht
endlich zusammen? Der neue Pflegebegriff, der auch
Demenzkranke berücksichtigen wird, kommt irgend-
wann. Vielleicht kommt er auch nie. Aber er ist eben das
Herzstück einer Pflegereform.

Ihre Familienpflegezeit soll zum 1. Januar 2015 in
Kraft treten; das ist in sechs Wochen. Was können wir da
noch groß beraten? Das ist ein Witz! Für Demenzkranke
und ihre Angehörigen wird diese Familienpflegezeit
nicht gelten. Das ist nicht der einzige Stolperstein. Was
passiert, wenn sich jemand für die häusliche Pflege ent-
schieden hat? Die Familienpflegezeit ist auf zwei Jahre
begrenzt, und danach endet sie. Das Rückkehrrecht auf
die volle Arbeitszeit endet ebenfalls nach zwei Jahren.
Die Pflegerealität sieht aber ganz anders aus: Die Pflege-
zeit dauert oft viel länger als zwei Jahre. Ihre Regelun-
gen passen einfach nicht in die Lebenswirklichkeit der
Menschen. Ihre Regelungen gehen an den Bedürfnissen
der pflegenden Angehörigen und der Pflegebedürftigen
vorbei.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Jede Pflegesituation ist anders. Darum brauchen Pflege-
bedürftige und pflegende Angehörige als Allererstes
eine gute und umfassende Beratung. Es gibt einige un-
terstützende Angebote für Pflegebedürftige und ihre Fa-
milien: Kurzzeitpflege, Tages- und Nachtpflege sowie
zusätzliche Betreuungsleistungen. Aber viele dieser An-
gebote sind oft nicht bekannt. Eine gute Beratung kann
hier Wunder wirken. Natürlich kann eine gute Beratung
allein nicht alles richten. Zusätzlich brauchen wir mehr
und bessere Unterstützungs- und Entlastungsangebote.
Wir brauchen ein gutes Netzwerk, ein Netzwerk, das für
alle zugänglich und überschaubar ist.

Ich fordere Sie auf: Denken Sie ganzheitlich! Machen
Sie hier nicht ein Low-Budget-Gesetz, das auf dem Rü-
cken der pflegenden Angehörigen finanziert werden soll.
Die Lohnersatzleistung – das sind 100 Millionen Euro –
wird durch die Pflegeversicherung finanziert. Das Darle-
hen kostet Sie im nächsten Jahr 1,3 Millionen Euro. Ich
wiederhole: 1,3 Millionen Euro kostet dieses Gesetz
diese Regierung. Das finde ich unlauter. Denken Sie
ganzheitlich! Arbeiten Sie nicht einfach ohne Sinn und
Verstand Ihre Agenda ab, sondern tun Sie etwas im
Sinne der Pflegebedürftigen und der Angehörigen!

Danke schön.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Heike Baehrens [SPD]: Das ist jetzt völlig überzogen!)



Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1806704200

Vielen Dank, Frau Kollegin. – Guten Morgen von

meiner Seite aus, liebe Kolleginnen und Kollegen und
liebe Gäste auf der Tribüne.

Die nächste Rednerin in der Debatte: Dr. Carola
Reimann für die SPD.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. Carola Reimann (SPD):
Rede ID: ID1806704300

Guten Morgen, Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen

und Kollegen! Erst in der letzten Woche haben wir das
Elterngeld Plus als wichtigen Baustein für eine bessere
Vereinbarkeit von Kindern und Beruf hier im Bundestag
verabschiedet. Heute legen wir den nächsten Gesetzent-
wurf vor, diesmal zur besseren Vereinbarkeit von Pflege
und Beruf. Wir rücken damit das Thema Zeitpolitik er-
neut in das politische Rampenlicht und machen die Zeit-
konflikte deutlich, die viele von uns Tag für Tag fast zer-
reißen.

Die Vereinbarkeit von Familie und Beruf ist nicht nur
eine Herausforderung für Eltern. Den täglichen Spagat
zwischen Pflichten als Arbeitnehmerin und Arbeitneh-
mer auf der einen Seite und der Verantwortung für die
Angehörigen auf der anderen Seite müssen auch Be-
schäftigte bewältigen, die pflegen. Mehr als 2,5 Millio-
nen Menschen sind pflegebedürftig. Sieben von zehn,
also 70 Prozent, werden zu Hause gepflegt, auch oder
ausschließlich von ihren Angehörigen. Deshalb sind Fa-
milien, wie gern gesagt wird, der größte Pflegedienst der
Nation. Das sage ich ohne Wertung und ohne das gegen
die professionelle Pflege ausspielen zu wollen.

Für Pflegende stellt sich aber das Vereinbarkeitspro-
blem sogar verschärft; denn der Pflege des Partners oder
der Eltern fehlt das Niedliche, das Hoffnungsfrohe, das
Eltern, die ihre kleinen Kinder auf dem spannenden Weg
ins Leben begleiten, täglich erleben. Es ist schwer, dem
eigenen Ehemann nach einem Schlaganfall bei den
kleinsten Verrichtungen helfen zu müssen. Es ist fast un-





Dr. Carola Reimann


(A) (C)



(D)(B)

erträglich, die demente Mutter in das Reich des Verges-
sens entgleiten zu sehen. Kollegin Scharfenberg, De-
menz ist in der Tat nicht immer von Anfang an mit einer
Pflegestufe versehen, aber in schweren Fällen sehr wohl.


(Elisabeth Scharfenberg [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Da müssen die schon ganz schön schwer sein!)


Sechs von zehn Pflegenden geben an, dass sie die
Pflege sehr viel von ihrer eigenen Kraft kostet. Drei von
zehn fühlen sogar die eigene Gesundheit beeinträchtigt.
Das ist der alarmierende Befund der aktuell vorgelegten
Pflegestudie der Techniker Krankenkasse.

Zur Vereinbarkeit von Pflege und Beruf – eine große
Herausforderung – hat unsere Gesellschaft – da gebe ich
Ihnen recht – bislang noch keine ausreichenden Antwor-
ten gegeben. Ja, Beschäftigte haben Anspruch auf eine
zehntägige Auszeit für Pflege, aber dieser Auszeit fehlte
bislang der Lohnersatz, weil wir das in der letzten Gro-
ßen Koalition so nicht beraten konnten. Ich finde gut,
dass jetzt beide Koalitionspartner dahinterstehen und das
für richtig halten; denn viele konnten diese Pflegezeit in
der Tat deshalb nicht nehmen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Die Familienpflegezeit von Kristina Schröder aus der
letzten Legislaturperiode war sicher gut gemeint, aber
nicht gut gemacht. Angesichts der 135 Fälle pro Jahr ist
klar, dass das bei 3,5 Millionen Leuten, die in unserem
Land pflegen, kaum in Anspruch genommen wurde, weil
den Beschäftigten der Rechtsanspruch fehlte. Ferner ha-
ben sie diese Hilfe nicht leisten können, weil es keine
Lohnersatzleistung gab.

Mit dem jetzt vorliegenden Gesetzentwurf erleichtern
wir diese Vereinbarkeit. Die zehnjährige Pflegezeit
– Entschuldigung, natürlich die zehntägige Pflegezeit –
statten wir mit einem Lohnersatz aus. Es wird hier der
Eindruck erweckt, die zehn Tage reichen so gar nicht, es
müssen eher zehn Jahre sein. So ist das ist bei mir ange-
kommen. Deswegen der Versprecher. – Diese zehn Tage
sind dafür da, um Krisen und Pflegesituationen, die sich
nicht so entwickeln, wie man es erwartet hat, abzude-
cken. Sie sind für eine Unterstützung in einer Notfall-
situation gedacht. Das Pflegeunterstützungsgeld erlaubt
es jetzt den Pflegenden, sich einigermaßen frei von fi-
nanziellen Nöten auf das Organisatorische und die Un-
terstützung ihrer Angehörigen zu konzentrieren. Das ist
eine echte Verbesserung.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


Auf die Familienpflegezeit bekommen die Beschäf-
tigten einen Rechtsanspruch, damit sie diese Familien-
pflegezeit auch tatsächlich in ihren Betrieben und Be-
hörden durchsetzen können. Die Möglichkeit, ein
Darlehen zu bekommen, verbessert die Inanspruch-
nahme. Das hilft den Beschäftigten. Weil wir die Ge-
währung des Darlehens zu einer öffentlichen Aufgabe
machen, helfen wir auch den Arbeitgebern.

Mit unseren beiden Gesetzesinitiativen, einmal zum
Elterngeld Plus, zum anderen mit dem heute vorliegen-
den Gesetzentwurf, verabschieden wir uns natürlich
auch noch ein Stück weit mehr vom Alleinverdienermo-
dell und kommen in der Realität der Gegenwart unserer
Familien an; denn die meisten Frauen wollen mehr als
Kinder, Küche und Kanüle. Auch immer mehr Männer
wollen mehr familiäre Verantwortung übernehmen und
übernehmen sie auch – für ihre Kinder, für ihre Partnerin
und auch für ihre Eltern.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Für sie, Frauen wie Männer, wollen wir Wege aufzei-
gen, wie sie Beruf und familiäre Aufgaben unter einen
Hut bekommen können, ohne daran selbst zu zerbre-
chen.

Auch die Wirtschaft wird von unseren neuen gesetzli-
chen Regelungen profitieren; denn es geht nicht darum,
den Ausstieg aus Erwerbsarbeit zu organisieren, sondern
ganz im Gegenteil: Es geht darum, dass Beschäftigte den
Spagat zwischen Erwerbsarbeit und der Pflegeverant-
wortung besser bewältigen können und im Job bleiben.
Das gelingt heute noch zu selten. Von den nicht erwerbs-
tätigen Pflegenden hat jeder neunte seine Arbeit aufge-
geben. Viele gehen wegen der Pflege von Angehörigen
früher in Rente. Uns geht es deshalb auch darum, dass
die Beschäftigten mithilfe der neuen Regelungen leichter
im Job bleiben können und als Fachkräfte ihren Unter-
nehmen erhalten bleiben.

Mir persönlich sind zwei Aspekte noch besonders
wichtig. Wir regeln erstmals eine Auszeit für Sterbebe-
gleitungen. Wenn Eltern und Partner im Sterben liegen,
bekommen die Angehörigen das Recht, bis zu drei Mo-
nate ganz oder teilweise aus dem Job auszusteigen. Das
ist für viele eine wichtige Hilfe.

Gestern haben wir hier intensiv über mögliche rechtli-
che Regelungen zur Sterbehilfe und Sterbebegleitung
diskutiert. Dabei ist in ganz vielen Reden auf die Angst
Sterbender vor Einsamkeit und die Bedeutung der
menschlichen Begleitung hingewiesen worden. Deshalb
ist es konsequent, dass wir die Begleitung von Angehöri-
gen mindestens von der rechtlichen Seite her leichter
machen.

Meine sehr geehrten Damen und Herren, wir moder-
nisieren mit dem vorliegenden Gesetzentwurf den Ange-
hörigenbegriff. Künftig können auch Stiefeltern,
Schwägerinnen, Schwäger und gleichgeschlechtliche
Partnerinnen und Partner die Familienpflegezeit in An-
spruch nehmen. Auch diese Lösung orientiert sich stär-
ker an der Lebenswirklichkeit.

Ich persönlich würde mir wünschen, dass wir bei den
Angehörigen noch einen weiteren Schritt machen, näm-
lich dass wir auch Freunde und Nachbarn unterstützen,
wenn sie die Pflege anderer auf sich nehmen. Diese Be-
reitschaft ist vorhanden. Hilfenetzwerke im Freundes-
kreis oder in der Nachbarschaft nehmen an Bedeutung
zu. Um das festzustellen, muss ich nur den Blick in mein
eigenes Büro richten: Die Mütter meiner Mitarbeiterin-
nen und Mitarbeiter wohnen in Hamburg, im Ruhrge-
biet, in Bayern; meine eigene Mutter wohnt in Nord-
rhein-Westfalen.





Dr. Carola Reimann


(A) (C)



(D)(B)

Das tägliche Kümmern, das tägliche Nach-dem-Rech-
ten-Sehen können wir gar nicht allein leisten. Das über-
nehmen in allen Fällen gute Nachbarn und Freundinnen.
Dieses Engagement von Nachbarn und Freundinnen, ins-
besondere bei gesundheitlichen Krisensituationen – da ist
das Pflegeunterstützungsgeld angesprochen worden –
würde ich gern nicht nur im Rahmen von Reden zum
bürgerschaftlichen Engagement loben, sondern auch
wirklich unterstützen;


(Beifall der Abg. Katja Dörner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


denn für die Pflegeverantwortung ist nicht der Verwandt-
schaftsgrad entscheidend, sondern die Bereitschaft, ihr
verlässlich nachzukommen.

Danke.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1806704400

Vielen Dank, Frau Kollegin. – Nächster Redner in der

Debatte: Jörn Wunderlich für die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Jörn Wunderlich (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1806704500

Frau Präsidentin! Frau Ministerin! Liebe Kolleginnen

und Kollegen! „Entwurf eines Gesetzes zur besseren
Vereinbarkeit von Familie, Pflege und Beruf“ – man liest
den Titel des vorliegenden Gesetzentwurfs und denkt,
ein Quantensprung vollzieht sich. In der letzten Legisla-
turperiode haben wir noch von der Vereinbarkeit von Fa-
milie und Beruf gesprochen. Jetzt haben wir die Pflege
in die Vereinbarkeit aufgenommen – denkt man im ers-
ten Moment. Zu einigem hat meine Kollegin
Zimmermann hier schon ausgeführt. Ich möchte noch
auf einen Punkt eingehen, der aus Sicht der Linken ein
ganz wesentlicher ist.

Aus den Erfahrungen mit dem verfehlten Pflegezeit-
gesetz von Frau Schröder – wir haben es schon gehört;
es ist nicht in Anspruch genommen worden; die Zahlen
sind hier genannt worden – hat man nun den Rechtsan-
spruch auf Pflegezeit entwickelt. Dieser Rechtsanspruch,
der die Möglichkeit, eine Pflegezeit zu nehmen, nicht
mehr vom Willen des Arbeitgebers abhängig macht, ist
zwar ein guter Schritt; andererseits werden dabei
5,6 Millionen Beschäftigte außen vor gelassen.

Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes vom
31. Mai 2014 – diese Angaben sind also noch kein hal-
bes Jahr alt – sind 5,6 Millionen Menschen in Betrieben
mit 15 oder weniger als 15 Mitarbeitern beschäftigt. Sie
alle haben durch die im Gesetzentwurf verankerte Klein-
betriebsklausel eben keinen Anspruch auf Pflegezeit.
Als Alternative bleibt ihnen dann nur, das Beschäfti-
gungsverhältnis aufzugeben, wenn die Pflege nicht an-
ders sichergestellt werden kann.

Von der ambulanten Pflege haben wir schon gehört.
Viele wollen zu Hause gepflegt werden, möchten also in
ihrem häuslichen Umfeld bleiben. Dieser Wunsch sollte
auch respektiert werden. Dies kann natürlich auch mit
professioneller Pflege sichergestellt werden. Nur, wer
kann sie sich leisten? Das sind die wenigsten. Die Men-
schen, die ihren Arbeitsplatz aufgeben müssen, um eine
andere Person zu pflegen, kommen ebenfalls ihrer ge-
samtgesellschaftlichen Aufgabe nach, müssen dafür aber
weit stärkere Einschränkungen hinnehmen als diejeni-
gen, die von dem Gesetz profitieren.

Bei den 5,6 Millionen Betroffenen sind noch nicht die
erfasst, die in Teilzeit arbeiten. Bei den geringfügig Be-
schäftigten handelt es sich um weitere 5 Millionen. Der
überwiegende Teil davon arbeitet in kleinen Betrieben.
Daher muss man noch draufsatteln. Da liegen mir noch
keine genauen Zahlen vor.

Die vorgeschlagene Kombination von Pflegezeit und
Familienpflegezeit läuft darauf hinaus, dass nach Ablauf
der Pflegezeit von höchstens sechs Monaten als Voraus-
setzung für eine Inanspruchnahme der Familienpflege-
zeit die Wochenarbeitszeit im Betrieb mindestens
15 Stunden betragen muss. Damit sind wir wieder bei
der magischen Zahl 15: 15 Stunden, 15 Beschäftigte.
Wenn aber die Pflegesituation dies nicht zulässt oder die
Arbeitsbedingungen nicht entsprechend gegeben sind,
sind möglicherweise die Voraussetzungen für die Fort-
setzung des Arbeitsverhältnisses gar nicht da; dann ent-
fällt der Anspruch. Andererseits können auch die Bedin-
gungen für das Darlehen als vorrangige Leistung nicht
erfüllt werden. Es bricht also im Grunde alles zusam-
men. Anders ausgedrückt, die Kopplung des Anspruchs
auf Familienpflegezeit an die Voraussetzung der wö-
chentlichen Restarbeitszeit von 15 Stunden hat offen-
sichtlich nur die berufstätigen, gutbezahlten Vollzeitbe-
schäftigten im Blick. Ziel ist, deren Ausstieg aus dem
Berufsleben – es hieß ja auch: nicht auf die Fachkräfte
verzichten – zu verhindern. Teilzeitbeschäftigte mit ge-
ringer Stundenzahl sind im Grunde von der Inanspruch-
nahme der Familienpflegezeit und damit auch des Darle-
hens ausgeschlossen, und das, obwohl das Darlehen, wie
es so schön heißt, vorrangig vor Sozialleistungen in An-
spruch zu nehmen ist. Im Baugewerbe und Gaststätten-
gewerbe ist nahezu jeder zweite Beschäftigte von den
Segnungen der Familienpflegezeit ausgeschlossen, im
Handel immerhin jeder vierte.

Außerdem – das ist hier auch schon angeklungen –
vermisse ich in dem Gesetzentwurf Anreize, die sich auf
die Geschlechtergerechtigkeit beziehen.


(Beifall bei der LINKEN)


Nach Angaben des DGB sind 75 Prozent der Pflegenden
weiblich. Ich glaube nicht, dass der Gesetzentwurf, je-
denfalls in der Form, wie er momentan vorliegt, im Hin-
blick auf geschlechtergerechte Inanspruchnahme der
Pflegezeiten irgendetwas bewirkt. Aber ich hoffe erneut
auf die Ausschussberatungen und die Ausschusssitzun-
gen. Irgendwann muss sich doch einmal etwas zum Posi-
tiven ändern. Und, wie wir alle wissen: Die Hoffnung
stirbt zuletzt.

Danke für die Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der LINKEN)







(A) (C)



(D)(B)


Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1806704600

Danke, Jörn Wunderlich. – Nächste Rednerin in der

Debatte: Astrid Timmermann-Fechter für die CDU/
CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Astrid Timmermann-Fechter (CDU):
Rede ID: ID1806704700

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Das Gesetz zur besseren Vereinbarkeit von
Familie, Pflege und Beruf steht für eine Vielzahl von
Verbesserungen – Verbesserungen, mit denen wir die
häusliche Pflege stärken, Pflegebedürftige unterstützen,
die pflegenden Angehörigen entlasten. Das entspricht
dem Wunsch vieler Menschen in unserem Land, vor al-
lem vieler Pflegebedürftiger, die so lange wie möglich in
ihrer gewohnten Umgebung bleiben möchten. Dafür
führen wir die beiden schon bestehenden Gesetze, das
für die Pflegezeit sowie das für die Familienpflegezeit,
zusammen und machen sie mit zahlreichen Neuregelun-
gen noch attraktiver.

So haben Arbeitnehmer künftig einen Rechtsan-
spruch, für die Pflege ihrer Angehörigen die Arbeitszeit
über einen Zeitraum von bis zu 24 Monaten auf mindes-
tens 15 Stunden in der Woche zu reduzieren. Das heißt,
der bereits bestehende Rechtsanspruch gemäß Pflege-
zeitgesetz wird hier auch auf die Familienpflegezeit aus-
geweitet. Dieser Rechtsanspruch soll zu Beginn des
kommenden Jahres in Kraft treten – ein Rechtsanspruch,
der vielen Menschen in unserem Land ein ganz kostba-
res Gut gibt, nämlich Zeit: Zeit für die Pflege, Zeit für
Zuspruch und Trost, Zeit für die kranke Mutter, für den
hilfsbedürftigen Vater, für die hochbetagte Großmutter
oder den schwer erkrankten Partner, Zeit also für Men-
schen, die uns lieb und teuer sind, die uns wichtig in un-
serem Leben sind, denen wir selber vieles verdanken.
Darum sind die pflegenden Angehörigen auch bereit,
dieses Opfer, das die Pflege ja in der Tat darstellt, für
ihre Verwandten zu erbringen.

Dazu zählt neben Zeit und Kraft auch Geld. So müs-
sen Arbeitnehmer bislang meist Gehaltseinbußen in
Kauf nehmen, wenn sie im Rahmen des Pflegezeitgeset-
zes für die kurzfristige Organisation einer Pflegesitua-
tion in der Familie die bis zu zehntägige Auszeit nutzen.
Die Neuregelung sieht hier nun ein Pflegeunterstüt-
zungsgeld vor, mit dem Arbeitnehmer ähnlich wie beim
Kinderkrankengeld eine Lohnersatzleistung erhalten,
welche zulasten der Pflegekasse des zu pflegenden An-
gehörigen abgerechnet wird.

Finanzielle Einbußen entstehen aber erst recht, wenn
man seine Wochenarbeitszeit langfristig reduzieren
muss; denn mit einer 15-Stunden-Woche lässt sich in der
Regel der Lebensunterhalt oft nicht bestreiten. Erst recht
für eine Familie sind solche finanziellen Belastungen
eine extrem hohe Herausforderung.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Deshalb sieht das Familienpflegezeitgesetz hier ein zins-
loses Darlehen vor, um den Verdienstausfall wenigstens
zu einem Teil zu kompensieren. Neu ist jedoch, dass die-
ses Darlehen nun auch für die bis zu sechsmonatige Pfle-
gezeit in Anspruch genommen werden kann. Neu ist
auch, dass für dieses Darlehen keine Ausfallversicherung
mehr abgeschlossen werden muss. Das Ausfallrisiko trägt
hier der Bund allein. Härtefallregelungen sorgen im Falle
einer Langzeitarbeitslosigkeit oder im Todesfall für eine
soziale Abfederung.

Für die Darlehen sieht der Etat des Bundesfamilien-
ministeriums für das kommende Jahr 1,3 Millionen Euro
vor.

Im Zuge der Neuregelung werden im Übrigen auch
die Arbeitgeber entlastet. Die Beschäftigten beantragen
jetzt nämlich die Darlehen direkt beim Bundesamt für
Familie und zivilgesellschaftliche Aufgaben. Der Ar-
beitgeber muss keine Wertguthaben mehr für seine An-
gestellten führen. Hier werden bürokratische Hürden ab-
gebaut.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Die teilweise Freistellung von Arbeitnehmern hat zu-
dem den Effekt, dass langfristig den Unternehmen, den
Betrieben ihre Fachkräfte mit all ihren wertvollen
Kenntnissen erhalten bleiben. Niemand soll seine Arbeit
aufgeben müssen, um einen Angehörigen zu versorgen.
Das neue Gesetz zur besseren Vereinbarkeit von Familie,
Pflege und Beruf sichert somit Fachkräfte – angesichts
des demografischen Wandels mit den einhergehenden
Veränderungen auf dem Arbeitsmarkt ein ebenfalls kost-
bares Gut.

Meine Damen und Herren, es kann für kein Unterneh-
men von Interesse sein, Mitarbeiter zu beschäftigen, die
sich den ganzen Tag über Sorgen machen müssen, was
mit ihren pflegebedürftigen Angehörigen passiert. Wer
kann da noch gute Leistungen erbringen? Hier ist eine
rechtlich klar geregelte Freistellung wesentlich ökono-
mischer – für alle Beteiligten.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Denn einen Pflegebedürftigen zu Hause zu versorgen, ist
harte, kräftezehrende Arbeit, die viele Angehörige nicht
selten an die Grenzen der Belastbarkeit führt. Dies auch
noch mit der eigenen Vollzeitberufstätigkeit zu vereinba-
ren, ist in aller Regel ein Ding der Unmöglichkeit. Wol-
len wir, dass sich diese Menschen in solchen Stresssitua-
tionen um ihre Angehörigen kümmern müssen? So
etwas kann niemand wollen, und es kann auch nicht im
Interesse der Gesellschaft sein. Denn wir wünschen uns
alle eine menschliche, eine humane Pflege.

Diesem Bedürfnis wollen wir auch mit einer weiteren
Neuregelung Rechnung tragen. So sieht der Gesetzesent-
wurf nämlich auch eine Freistellung für die Begleitung
von Angehörigen in ihrer letzten Lebensphase sowie für
die Betreuung von pflegebedürftigen schwerkranken
Kindern vor, die sich in stationären Einrichtungen befin-
den. Das ist eine wirkliche Hilfe für viele Menschen in
besonders schwierigen Lebenssituationen sowie eine
Entlastung, die auch unserem christlichen Menschenbild
entspricht.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)






Astrid Timmermann-Fechter


(A) (C)



(D)(B)

Meine Damen und Herren, erfreulicherweise leben
wir immer länger und werden immer älter. Umso mehr
wird aber auch die Pflege langfristig eine immer größere
Herausforderung für unsere Gesellschaft. Von den rund
2,6 Millionen Pflegebedürftigen in Deutschland werden
derzeit etwa zwei Drittel zu Hause betreut, ein Großteil
davon von Angehörigen. Für das Jahr 2050 erwartet das
Statistische Bundesamt sogar 4,5 Millionen Pflegebe-
dürftige. Auch in Zukunft werden also Pflegebedürftige
von ihren Angehörigen gepflegt. Deshalb haben wir den
Begriff der Angehörigen ausgeweitet. Dieser umfasst
künftig auch Stiefeltern, Schwägerinnen und Schwäger
oder lebenspartnerschaftsähnliche Gemeinschaften. Da-
mit tragen wir den vielfältigen Lebensmodellen in
Deutschland Rechnung – Lebensmodelle, in denen sich
Menschen in ihrem Leben gegenseitig begleiten, Le-
bensmodelle, in denen Partner füreinander einstehen und
Pflichten übernehmen. Diese Bereitschaft und diesen
Zusammenhalt wollen wir mit der Erweiterung des An-
gehörigenbegriffes unterstützen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Die Neuausrichtung der beiden Gesetze für die Pflege-
zeit wie auch für die Familienpflegezeit bietet somit
nach dem Grundsatz „ambulant vor stationär“ eine Viel-
zahl neuer Möglichkeiten für eine bessere häusliche
Pflege – neue Möglichkeiten, die von einer nunmehr
größeren Zahl von Angehörigen in Anspruch genommen
werden können; auch das entlastet die Familien.

Mit seinen Neuregelungen liefert das Gesetz zur bes-
seren Vereinbarkeit von Familie, Pflege und Beruf somit
einen weiteren wichtigen Baustein für die Stärkung der
Pflege insgesamt. Das ist in dieser Legislaturperiode
nicht nur eines der Schwerpunktthemen dieser Koalition,
sondern auch für die CDU/CSU ein ganz wesentliches
Anliegen. Denn gute Pflege, meine Damen und Herren,
ist eben nicht nur eine hervorragende und innovative me-
dizinische Versorgung; das ist vor allem Liebe, Zunei-
gung und Aufmerksamkeit – eben all das, was Familie
und Partnerschaft, was unser Leben überhaupt ausmacht:


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des Abg. Sönke Rix [SPD])


das verlässliche Füreinander-Einstehen auch in schwe-
ren Zeiten. Für dieses Familienbild steht auch die CDU/
CSU. Denn Familie ist nicht allein nur dort, wo Kinder
sind, sondern vor allem auch dort, wo die Menschen für-
einander Verantwortung übernehmen. Ebendieses Fami-
lienbild wollen wir mit unserem neuen Gesetzentwurf
stärken. Wir wollen die Familie als Verantwortungsge-
meinschaft unterstützen, damit sich die Menschen noch
besser und flexibler um ihre pflegebedürftigen Angehö-
rigen kümmern können.

Als Gesellschaft können wir gar nicht dankbar genug
sein, dass so viele Menschen in unserem Land diesen an-
strengenden, oft auch entbehrungsreichen Dienst für ihre
Angehörigen erbringen. Familie ist das, was uns prägt
und uns Geborgenheit gibt, was uns aufgehoben sein
lässt. Wie sich aber die Familien organisieren, müssen
wir ihnen selbst überlassen. Der Staat kann hier nur Rah-
menbedingungen setzen. Dafür ist das geplante Gesetz
zur besseren Vereinbarkeit von Familie, Pflege und Be-
ruf ein sehr gutes, ein hervorragendes Beispiel; denn die-
ses Gesetz lässt mit seinen flexiblen Wahlmöglichkeiten
die Familien mit ihren individuellen Lebensverhältnis-
sen selbst entscheiden, wie sie die Pflege ihrer Angehö-
rigen organisieren wollen.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)



Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1806704800

Vielen Dank, Frau Kollegin Timmermann-Fechter. –

Nächste Rednerin in der Debatte: Katja Dörner für
Bündnis 90/Die Grünen.


Katja Dörner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1806704900

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen!

Liebe Kollegen! Berufstätigkeit und die Pflege von An-
gehörigen, von Menschen, die einem nahestehen, besser
oder überhaupt vereinbaren zu können, ist tatsächlich
eine drängende Herausforderung, der wir uns stellen
müssen und auf die wir politische Antworten finden
müssen. Insofern ist es wichtig, dass wir heute diese De-
batte führen. Wir müssen aber endlich zu Lösungen
kommen, die auch praxistauglich sind und die Familien
im Alltag tatsächlich unterstützen. Da habe ich bei dem
vorliegenden Gesetzentwurf leider einige Fragezeichen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, ich selbst komme
aus einem kleinen Dorf im Westerwald.


(Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Schöne Gegend!)


Als ich ein Kind war, da war die Sache klar – ich be-
schreibe es jetzt etwas scherenschnittartig –: Die Frauen
kümmerten sich um die Kinder, manche waren danach
halbtags berufstätig, viele auch nicht, und wenn, dann
haben sie ihren Job wieder aufgegeben, um sich um ihre
Mütter und Schwiegermütter, um ihre Väter und Schwie-
gerväter und auch um die kinderlosen Tanten zu küm-
mern, wenn diese pflegebedürftig wurden. Ich will hier
gar nicht die Frage stellen, ob das gut und gerecht war,
ob die Frauen, aber auch die Pflegebedürftigen sich das
so vorgestellt haben, obwohl man, glaube ich, diese
Frage sehr wohl stellen sollte. Das war einfach so, aber
so ist es eben nicht mehr bzw. wird immer weniger so
sein.

Wir leben im demografischen Wandel. Die Anzahl
pflegebedürftiger Menschen steigt. Frauen sind berufstä-
tig. Sie wollen berufstätig sein, aber sie müssen es auch,
sonst ist Altersarmut vorprogrammiert. Viele Menschen
haben keine Kinder. Die Kinder vieler Menschen leben
ganz woanders. Trotzdem sagen viele – und das finde ich
sehr gut –, dass sie ihren Eltern, dass sie Menschen, die
ihnen nahestehen, etwas zurückgeben wollen, wenn
diese pflegebedürftig sind. Ich finde es sehr wichtig,





Katja Dörner


(A) (C)



(D)(B)

dass wir das unterstützen. Aber mit diesem Gesetz wird
uns das nicht weitergehend gelingen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, in der vergange-
nen Legislaturperiode hat sich Kristina Schröder schon
die Zähne an einer Familienpflegezeit ausgebissen. Die
positiven Aspekte des damaligen Vorschlags sind zwi-
schen Referentenentwurf und der Beschlussfassung des
Gesetzes komplett ausradiert worden. Das Gesetz war
ein Rohrkrepierer: Seit 2011 haben gerade einmal – wir
haben es schon gehört – rund 300 Menschen die Fami-
lienpflegezeit überhaupt in Anspruch genommen. Von
den damals im Haushalt eingestellten 400 Millionen
Euro flossen mickrige 17 000 Euro ab. Warum war das
so? Die Antwort ist: Das Gesetz ging trotz massiven Be-
darfs an der Lebensrealität der Familien vorbei. Meine
Sorge ist, dass es dem Gesetz, das wir heute beraten, lei-
der genauso ergehen wird.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)


Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, richtig ist, dass
die neue Familienpflegezeit einen zentralen Fehler des
Schröderschen Konzepts beseitigt: Es soll zukünftig ei-
nen Rechtsanspruch auf die Familienpflegezeit geben.
Das ist gut, aber es reicht eben nicht, um die Familien-
pflegezeit wirklich praxistauglich auszugestalten. Es
reicht vor allem nicht, um eine praxistaugliche Regelung
für alle Familien, also auch für Familien mit einem nied-
rigen Einkommen, zu gewährleisten, aber auch nicht, um
Menschen, deren nahe Verwandte weiter entfernt woh-
nen, tatsächlich zu unterstützen.

Ich möchte das an zwei Punkten erläutern. Die Fami-
lienpflegezeit in Anspruch zu nehmen, ist mit Gehalts-
einbußen verbunden.

Statt diese aber über eine Lohnersatzleistung abzufe-
dern, setzt die Familienministerin auf ein zinsloses Dar-
lehen. Familien mit einem ausreichenden Einkommen
brauchen das nicht; sie werden das nicht in Anspruch
nehmen müssen. Vor allem Familien mit einem niedri-
gen oder mit einem mittleren Einkommen werden dieses
Darlehen in Anspruch nehmen. Es gibt also faktisch
keine finanzielle Entlastung für die pflegenden Angehö-
rigen; die Belastung wird einfach in die Zukunft ver-
schoben. Die Problematik verschärft sich massiv. Das er-
kennt man, wenn man mit in den Blick nimmt, dass der
Kredit nur über zwei Jahre hinweg gewährt wird. Dabei
ist die Zeitspanne, in der Angehörige ihre Familienmit-
glieder pflegen, oft deutlich länger. Nach zwei Jahren
stehen pflegende Angehörige da, haben kein Anrecht auf
Familienpflegezeit mehr; stattdessen haben sie einen
Kredit an der Backe, den sie abzahlen müssen. Liebe
Kolleginnen, liebe Kollegen, das ist aus meiner Sicht
keine gute Perspektive.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Auch Menschen mit einem geringen Einkommen müs-
sen eine Familienpflegezeit in Anspruch nehmen kön-
nen, ohne sich zu verschulden. Deshalb plädieren wir für
eine Lohnersatzleistung während der Familienpflegezeit.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Der zweite Punkt. In Anspruch nehmen können die Fa-
milienpflegezeit – wir haben es schon gehört – nahe An-
gehörige. Zu denen zählen jetzt auch Stiefeltern, Personen
in lebenspartnerschaftlicher Gemeinschaft, Schwägerin-
nen und Schwäger. Aber warum werden Nachbarn,
Freunde, Wahlverwandtschaften vom Anspruch auf die
Familienpflegezeit ausgeschlossen? Ich kann mich da
Frau Reimann anschließen, die das auch problematisiert
hat. Das macht in einer Zeit, in der Lebensformen viel-
fältiger werden und in der Wahlverwandtschaften eine
immer größere Rolle spielen, überhaupt keinen Sinn.

In meiner Heimat Bonn gibt es ganz großartige Mehr-
generationenwohnprojekte, wo gemeinsames Leben al-
ler Generationen ohne biologisch-familiäre Bezüge statt-
findet, wo es eine Verantwortungsübernahme in solchen
Zusammenhängen gibt. Es macht aus meiner Sicht über-
haupt keinen Sinn, dass die Verantwortungsübernahme,
die Fürsorge für Menschen in solchen Konstellationen
hier nicht gewürdigt wird, sondern von der Familienpfle-
gezeit explizit ausgenommen wird. Ich hoffe, dass sich
da im Gesetzgebungsverfahren noch etwas ändert. Aus
der SPD-Fraktion höre ich, dass es Bereitschaft gibt, sich
dahin zu bewegen. Dann kann es ja auch in der kurzen
Beratungsphase noch die Möglichkeit geben, an solch
wichtigen Stellen im Sinne der Familien, im Sinne von
Wahlverwandtschaften, im Sinne der Verantwortungs-
übernahme und Fürsorge im Kontext von Pflege noch et-
was zu verbessern.

Vielen Dank.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1806705000

Vielen Dank, Katja Dörner. – Nächster Redner in der

Debatte ist Paul Lehrieder für die CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Paul Lehrieder (CSU):
Rede ID: ID1806705100

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Frau Ministerin! Liebe

Kolleginnen! Liebe Kollegen! Pflegebedürftigkeit ist ein
Thema, das im Alltag gern verdrängt wird. Zwar ist sich
jeder bewusst, dass die Eltern wohl irgendwann einmal
auf Hilfe angewiesen sein werden; aber meist setzt man
sich erst dann wirklich ernsthaft mit dem Thema Pflege
auseinander, wenn der Ernstfall eintritt und ein Angehö-
riger plötzlich zum Pflegefall wird. Ein Unfall, ein
Schlaganfall, eine schwere Krankheit oder eben das Al-
ter können der Grund dafür sein, dass Menschen pflege-
bedürftig werden.

In dieser Situation brauchen Angehörige kurzfristig
Zeit für die Organisation der neuen Situation. Sie sehen
sich vielen Herausforderungen und Fragen gegenüber
und müssen sich durch den Dschungel der Pflegestufen
und Richtlinien kämpfen: Wie beantragt man eine Pfle-
gestufe? Was macht der Medizinische Dienst? Wann und
wo bekommt man das Geld? Wie verbleibe ich mit mei-
nem Arbeitgeber?

Meist liegt der Wunsch nahe, die Pflege seines Ange-
hörigen selbst leisten zu können, ohne finanzielle und





Paul Lehrieder


(A) (C)



(D)(B)

berufliche Nachteile fürchten zu müssen. Zudem ent-
spricht es auch fast immer dem dringenden Wunsch des
Pflegebedürftigen, in der vertrauten Umgebung von ei-
ner nahestehenden Person gepflegt zu werden. Nach ei-
ner aktuellen Umfrage des Politbarometers erwarten
95 Prozent der Menschen von den Neuregelungen eine
erhebliche Verbesserung in der Pflege. Da bin ich also
etwas anderer Meinung als die Kolleginnen und Kolle-
gen der Opposition, die gesagt haben: Es reicht nicht
aus. – Viele Menschen werden das als deutliche Verbes-
serung in der Pflege empfinden können.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Meine Damen und Herren, mit dem heute in erster
Lesung zu beratenden Entwurf eines Gesetzes zur besse-
ren Vereinbarkeit von Familie, Pflege und Beruf kom-
men wir dem im Koalitionsvertrag verankerten Ziel der
Vereinbarkeit von Pflege und Berufsleben nach. Unser
wichtigstes Ziel ist dabei, die Wertschätzung der familiä-
ren Pflege zu verbessern und die Pflege insgesamt besser
abzusichern, darüber hinaus den Menschen die Gewiss-
heit zu geben: Es ist eine Pflege auch in der häuslichen
Umgebung möglich.

Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf wollen wir den
schon bestehenden Rechtsanspruch auf eine zehntägige
Pflegeauszeit bei akut auftretender Pflegesituation eines
nahen Angehörigen mit einer Lohnersatzleistung analog
zum Kinderkrankengeld ausgestalten. Beschäftigte haben
künftig einen Rechtsanspruch auf Pflegeunterstützungs-
geld. Dabei handelt es sich um eine Lohnersatzleistung
für eine bis zu zehntägige Auszeit, die Beschäftigte
kurzfristig für die Organisation einer akut aufgetretenen
Pflegesituation eines nahen Angehörigen in Anspruch
nehmen können. Die hierfür erforderlichen Mittel im
Umfang bis zu 100 Millionen Euro – es wurde bereits
darauf hingewiesen – werden von der sozialen Pflege-
versicherung getragen.

Wir haben den Kreis der Berechtigten auf nahe Ange-
hörige und Stiefeltern beschränkt. Wir sind anders als
Sie, Frau Kollegin Dörner, der Auffassung, dass wir die-
sen Kreis nicht willkürlich auf Wahlverwandtschaften
bzw. Wahlbeziehungen ausweiten sollten. Wir müssen
erst einmal die nahen Angehörigen, die bereit sind, Ver-
antwortung zu tragen, mit dieser Leistung ausstatten und
dürfen den Kreis der Berechtigten auch im Interesse der
Arbeitswelt nicht beliebig ausweiten. Ich bitte daher um
Verständnis, dass es bei den nahen Angehörigen bleibt.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Wer einen nahestehenden Menschen pflegt, braucht
dafür Zeit und muss die Pflegetätigkeit mit seinem Be-
rufsleben vereinbaren können. Daher haben wir einen
Rechtsanspruch auf Familienpflegezeit eingeführt, der
für Betriebe mit mehr als 15 Beschäftigten gilt. Die Kol-
legen Zimmermann und Wunderlich haben darauf hinge-
wiesen, dass damit ein Fünftel der Unternehmen, also
Kleinbetriebe mit unter 15 Beschäftigten, nicht erreicht
wird. Das ist natürlich gewollt. Meine Damen und Her-
ren, wir reden hier nicht von volkseigenen Betrieben mit
mehreren Hundert Beschäftigten. Wir reden über den
kleinen Handwerksmeister, der seine Mitarbeiter noch
mit Vornamen kennt. In vielen solcher kleinen Hand-
werksbetriebe ist durch das Zusammenwirken, das Dis-
kutieren der Probleme natürlich ein anderes Verhältnis
vorhanden als in Großunternehmen und die Bereitschaft
der Arbeitgeberseite, auf die Belange des Arbeitnehmers
einzugehen, in vielen Fällen auch anders ausgeprägt.


(Beifall bei der CDU/CSU – Pia Zimmermann [DIE LINKE]: Und was machen Sie da? Haben Sie eine Antwort darauf?)


Ich darf Ihnen versichern: Ich habe viele Handwerksmeis-
ter aus meiner Region vor meinem geistigen Auge. – Frau
Kollegin Zimmermann möchte eine Frage stellen.


Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1806705200

Vielen Dank, dass Sie mich darauf hinweisen. Ich

habe aber auch Augen.


Paul Lehrieder (CSU):
Rede ID: ID1806705300

Ich wollte nur signalisieren, dass ich bereit bin, die

Frage anzunehmen.


Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1806705400

Dann muss ich Sie also gar nicht mehr fragen, ob Sie

bereit sind. – Langer Rede kurzer Sinn: Was wollen Sie
ihn denn gerne fragen?


Pia Zimmermann (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1806705500

Vielen Dank. – Mich würde interessieren, wie Sie

denn den Beschäftigten in den Betrieben mit weniger als
15 Mitarbeitern – es geht ja nicht um eine Handvoll, son-
dern um Millionen von Menschen – erklären wollen, wie
sie die Pflege zu Hause gestalten sollen, weil es ja ge-
rade diese Menschen sind, die bei den, wie man im
Volksmund sagt, sogenannten Krauterfirmen arbeiten?
Darunter sind ja auch Menschen, die möglicherweise
wenig Geld haben, und viele, die im Handel – nicht in
großen Kaufhäusern, sondern in kleinen Lebensmittellä-
den oder anderen Läden – unter prekären Beschäfti-
gungsbedingungen arbeiten. Wie sollen die denn die
Pflege zu Hause gestalten? Sie sagen doch selber, dass
Sie es so wichtig finden, dass Menschen zu Hause ge-
pflegt werden und dass der familiäre Zusammenhang
vorhanden ist.


Paul Lehrieder (CSU):
Rede ID: ID1806705600

Frau Kollegin Zimmermann, herzlichen Dank für die

Frage. – Zunächst einmal muss ich klarstellen: Ich kenne
keine Krauterfirma. Ich kenne viele Unternehmen, in de-
nen tüchtig gearbeitet wird. „Krauter“ ist ein abwerten-
der Begriff, der in meinem Vokabular nicht vorkommt.


(Beifall bei der CDU/CSU – Pia Zimmermann [DIE LINKE]: So nennen die sich selber!)


Es gibt auch viele kleine Unternehmen, die genauso
auf die Belange der Arbeitnehmer eingehen wie große.
Wissen Sie, wir haben ein anderes Verständnis vom Ver-
hältnis zwischen Arbeitgeber- und Arbeitnehmerseite.
Wir sind nicht so dogmatisch eingeengt wie Sie und Ihre
Partei. Wir sagen: Jawohl, der Arbeitnehmer hat die





Paul Lehrieder


(A) (C)



(D)(B)

Möglichkeit, zu sagen: Lieber Chef, ich brauche jetzt et-
was Zeit, um in den nächsten sechs bis acht Monaten
meine Angehörigen zu pflegen. Wie schaut es aus? Kann
ich meine Zeit reduzieren? – Wenn der Arbeitgeber sagt:
„Das geht aber absolut nicht“, dann hat der Arbeitneh-
mer doch aufgrund des Fachkräftemangels, der mittler-
weile in vielen Branchen herrscht – auch in denen, die
von Ihnen schmählich als Krauterfirmen bezeichnet wur-
den –, die Möglichkeit, zu sagen: Gut, lieber Chef, wenn
du mir das nicht gewährst, dann muss ich leider in ein
Unternehmen gehen, wo ich diesen Anspruch habe. –
Das heißt also, es wird in vielen Bereichen funktionie-
ren. Schauen Sie sich die Realität an. Wie gesagt, ich
halte von dogmatischen, klassenkämpferischen Parolen
in diesem Bereich sehr wenig. – Frau Zimmermann,
bleiben Sie stehen. Ich bin noch nicht fertig.


(Pia Zimmermann [DIE LINKE]: Meine Frage war, wie Sie helfen!)



Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1806705700

Moment. Noch bin ich die Chefin hier. Ich weiß, dass

Ihnen das nicht leichtfällt.


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Frau Zimmermanns Frage war noch nicht beantwor-
tet. Deswegen kann Sie gerne stehen bleiben. – Herr
Lehrieder, bitte.


Paul Lehrieder (CSU):
Rede ID: ID1806705800

Herzlichen Dank, Frau Präsidentin. Danke für das

Entgegenkommen.


Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1806705900

So bin ich.


Paul Lehrieder (CSU):
Rede ID: ID1806706000

Selbstverständlich wird das Gespräch in diesen Un-

ternehmen zu sinnvollen Lösungen führen, die es in vie-
len Bereichen schon gibt. Im Übrigen darf ich darauf
hinweisen, dass ich in meiner letzten Rede vor einer Wo-
che gesagt habe, dass in vielen Tarifverträgen durch die
Gewerkschaften für die Arbeitnehmer auch in Bezug auf
die Kinderbetreuung schon sinnvolle Regelungen ver-
einbart wurden. Viele arbeiten daran mit, und wir wer-
den erleben, dass die Unternehmen, vor allem die klei-
nen Betriebe, in Zeiten des Fachkräftemangels darauf
achten werden, mit ihren Arbeitnehmern einen Modus
Vivendi hinzubekommen, sodass beide Seiten zufrieden
sind. Was nützt es dem Unternehmen, dem kleinen
Handwerksbetrieb, wenn der Arbeitnehmer durch Über-
lastung einen Burn-out bekommt, weil er versucht
– vielleicht ein paar Tage, vielleicht ein paar Wochen –
nebenher die Pflege eines Angehörigen zu managen. Da-
mit ist dem Unternehmer auch nicht gedient.


(Pia Zimmermann [DIE LINKE]: Das ist ja interessant!)


Der Mitarbeiter ist dann sechs Wochen krank. Und wer
zahlt das? Das zahlt allein der Arbeitgeber. Ich glaube,
dass die Handwerksbetriebe clever genug sind, das zu
erkennen; zumindest sind das die, die ich kenne. Ich
wünsche Ihnen, Frau Zimmermann, dass es auch in Ihrer
Region solche Handwerksbetriebe gibt. Die sind be-
stimmt zu finden. – Jetzt bin ich mit der Beantwortung
fertig.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1806706100

Danke, Frau Zimmermann. – So, jetzt geht es weiter

in Ihrer Rede, Herr Lehrieder.


Paul Lehrieder (CSU):
Rede ID: ID1806706200

Der neue Anspruch auf Familienpflegezeit kann, wie

bereits ausgeführt, mit dem bereits geltenden Anspruch
auf Pflegezeit verbunden werden. Mit dieser Regelung
leisten wir einen zentralen Beitrag zur Fachkräftesiche-
rung. Das dient den Interessen der Arbeitgeber, weil das
Erfahrungswissen der Fachkräfte im Unternehmen blei-
ben kann.

Frau Kollegin Zimmermann, Sie haben die fehlende
Beteiligung der Arbeitgeber an den Kosten angespro-
chen. Wir haben heute den 14. November. Heute in zehn
Tagen, also am 24. November, werden wir zu dieser
Thematik – Herr Kollege Wunderlich, das haben Sie sich
gewünscht – eine sehr umfangreiche Anhörung im Aus-
schuss durchführen, zu der auch Arbeitgeberverbände
eingeladen sind. Es wird um die Kostenbeteiligung, aber
auch um die Probleme gehen, die die Arbeitgeber haben,
wenn es darum geht, Ersatzpersonal für die Mitarbeiter
einzustellen, die sich eine Auszeit für die Pflege nehmen
wollen. Es ist nicht für jedes Unternehmen leicht, für
eine begrenzte Zeit von einem halben Jahr bis zu 24 Mo-
naten schnell mal eine Teilzeitstelle zu besetzen, weil
sich ein Mitarbeiter der Pflege widmen will.


(Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Das ist richtig!)


Aber das muss möglich sein. In einem Unternehmen mit
über 15 Beschäftigen ist das nach unserer Auffassung
organisatorisch leichter zu bewältigen als in kleinen Un-
ternehmen.

Darüber hinaus erhalten Beschäftigte, die Pflegezeit
oder Familienpflegezeit in Anspruch nehmen, zur besse-
ren Absicherung ihres Lebensunterhalts während der
Freistellung einen Anspruch auf Förderung. Sie können
beim Bundesamt für Familie und zivilgesellschaftliche
Aufgaben, kurz BAFzA, ein zinsloses Darlehen beantra-
gen. Die Frau Ministerin hat darauf hingewiesen, dass
das Darlehen während einer Erkrankung selbstverständ-
lich automatisch gestundet wird. Wenn aber wieder gear-
beitet wird, dann muss dieses Darlehen, das aus Steuer-
mitteln finanziert worden ist, um finanzielle Freiräume
für die Zeit der Pflege zu ermöglichen, natürlich sukzes-
sive zurückgezahlt werden. Die Rückzahlungsmodalitä-
ten werden so gestaltet, dass kein Arbeitnehmer überlas-
tet wird. Das Darlehen soll in moderaten, zumutbaren
Raten zurückgezahlt werden können. Der Vorteil für die
Arbeitnehmer, Frau Kollegin Zimmermann, besteht da-
rin, dass durch das zinslose Darlehen für die Zeit der





Paul Lehrieder


(A) (C)



(D)(B)

Pflege wirtschaftliche Freiräume gewährt werden. Das
sollte man nicht zu gering schätzen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Sönke Rix [SPD])


Dass eine Weiterentwicklung und Verzahnung des Fa-
milienpflegezeitgesetzes und des Pflegezeitgesetzes nötig
sind, verdeutlichen die zum Teil bereits vorgetragenen
Zahlen: Rund 2,6 Millionen Menschen in Deutschland
sind auf Pflege angewiesen. 1,8 Millionen Menschen
werden zu Hause versorgt, zwei Drittel von ihnen durch
Angehörige, der Rest durch ambulante Dienste. – In den
nächsten Jahrzehnten wird die Zahl der Pflegebedürfti-
gen merklich steigen. Die Notwendigkeit einer besseren
Vereinbarkeit von Familie, Pflege und Beruf ist gerade
angesichts der demografischen Entwicklung in unserem
Lande groß. Ich bin ziemlich sicher, dass uns die The-
men „Pflege“ und „demografische Entwicklung“ auch in
den nächsten Jahren periodisch immer wieder beschäfti-
gen werden. Wir werden immer wieder nachjustieren
müssen.

Sie haben es angesprochen, Frau Scharfenberg: Das
geltende Gesetz hat bisher leider nicht so gut gegriffen.
Deshalb müssen wir es verbessern. Wir müssen prüfen:
Wie wirkt das Gesetz? In welchen Bereichen besteht in
zwei, drei, vier oder fünf Jahren weiterer Handlungsbe-
darf? Ich bin sicher: Auch da ist nicht das Ende der Fah-
nenstange erreicht.


(Elisabeth Scharfenberg [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Noch lange nicht!)


Wir müssen auf das Problem der demografischen Ent-
wicklung in unserer Gesellschaft Antworten finden. Das
ist natürlich primär Aufgabe der Politik. Deswegen wer-
den wir das Thema hier immer wieder diskutieren.

Die Bereitschaft und das Interesse in der Bevölkerung
sind vorhanden. Die überwiegende Mehrheit der Berufs-
tätigen möchte ihre Angehörigen, soweit möglich, selbst
betreuen. Auch von den Pflegebedürftigen wird das so
gewünscht.

Frau Präsidentin, ich habe gerade einmal fünf Sekun-
den überzogen und das Licht leuchtet schon auf.


(Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit und freue
mich auf die Ausschussanhörung in zehn Tagen. – Herz-
lichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1806706300

Vielen Dank, Herr Kollege. Ich habe gegoogelt – ich

weiß, das darf ich eigentlich nicht –, was unter einer
Krauterfirma zu verstehen ist. Ich weiß, dass dieser Be-
griff im Süddeutschen, auch bei uns im Schwäbischen,
genau den Beiklang hat, den Herr Lehrieder angespro-
chen hat. Jetzt lese ich aber – das will ich zitieren –:

Unter einem Krauter versteht man im Osten
Deutschlands einen kleinen selbstständigen Hand-
werker, oft allein oder nur mit wenigen Angestell-
ten arbeitend. Die Bezeichnung wird heute oft he-
rabsetzend als Synonym für „unseriös arbeitend“
verwandt. Das kenne ich

– sagt jemand aus dem Osten –

von früher in dieser Form nicht unbedingt.

Also, wir sind eine vielfältige, bunte Republik Deutsch-
land.


(Beifall bei der LINKEN sowie der Abg. Corinna Rüffer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Die nächste Rednerin in der Debatte ist Petra Crone
für die SPD.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Petra Crone (SPD):
Rede ID: ID1806706400

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Liebe Gäste auf den Tribünen! Jetzt haben wir festge-
stellt, dass nicht nur die Opposition, sondern auch die
Koalitionsfraktionen recht haben. Wunderbar. Es ist al-
les geregelt.


(Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Ist das herrlich!)


Ich habe mir Ihren Änderungswunschkatalog und Ihre
Kritik zu dem heute eingebrachten Gesetzentwurf genau
angehört, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Oppo-
sition. Einiges davon ist bedenkenswert – ohne Frage –,
aber einiges – das muss ich schon sagen – ist reichlich
überzogen. Wenn Sie ganz genau hinschauen, dann müs-
sen Sie zugeben: Dieser Entwurf eines Gesetzes zur bes-
seren Vereinbarkeit von Familie, Pflege und Beruf hat
seinen Namen wirklich verdient.


(Beifall bei der SPD)


Das kann ich gleich auch noch belegen.


(Elisabeth Scharfenberg [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Bitte!)


Das ist keine Luftnummer. Wir haben vor drei Jahren
das Gesetz über die Familienpflegezeit verabschiedet.
Das allerdings war ein zahnloser Tiger: Es gab keinen
Rechtsanspruch und stattdessen jede Menge Kleinge-
drucktes.


(Elisabeth Scharfenberg [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Jetzt kriegt er ein Gebiss!)


Wer die Not kennt, die Angehörige umtreibt, die dem
Wunsch von pflegebedürftigen Angehörigen nachkom-
men und sie pflegen wollen, der muss zugeben, dass
Ministerin Manuela Schwesig den vorliegenden Ge-
setzentwurf richtig angegangen ist, indem sie einen
Rechtsanspruch und Lohnersatzleistungen während ei-
ner zehntägigen Auszeit verankert hat, zudem einen
Kündigungsschutz und die Möglichkeit, die Arbeitszeit
bis zu 24 Monate lang zu verringern. Das ist ein Riesen-
unterschied.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)






Petra Crone


(A) (C)



(D)(B)

Es ist kein Wunder, dass die Arbeitnehmerinnen und Ar-
beitnehmer dieses Angebot vorher nicht angenommen
haben. Jetzt geben wir ihnen ganz andere Möglichkeiten.
Deswegen finde ich die Kritik überzogen.


(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Paul Lehrieder [CDU/CSU])


Endlich wird die wichtige Aufgabe, die Angehörige
mit der Pflege übernehmen, erleichtert. Pflege ist eine
Aufgabe, die unsere allergrößte Hochachtung verdient.
Mit dem heute vorliegenden Gesetzentwurf schaffen wir
endlich realistischere Bedingungen. Arbeitnehmer und
Arbeitnehmerinnen müssen ihre finanziellen Einbußen
nicht länger alleine tragen. Der aufgezwungene Abschluss
einer privaten Versicherung wird zurückgenommen. Damit
wird privates Engagement von Angehörigen nicht länger
bestraft. Außerdem kommen wir dem Wunsch vieler An-
gehöriger entgegen, die gerne zu Hause pflegen möch-
ten.

Auch in meinem Wahlkreis ist es so – wir haben das
Thema vorhin schon angesprochen –, dass viele Unter-
nehmen schon einen Schritt weiter gegangen sind und
betriebsinterne Vereinbarungen anbieten. Ich komme aus
Südwestfalen, einer ganz starken Wirtschaftsregion. Für
die mittelständischen Unternehmen dort ist das ein ganz
wichtiges Thema, weil sie ihre Fachkräfte nicht verlieren
wollen.


(Beifall des Abg. Paul Lehrieder [CDU/CSU])


Deswegen unterstützen sie Vorhaben für eine bessere
Vereinbarkeit von Pflege und Beruf.


(Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Finden die denn auch Ersatzkräfte?)


Solche Regelungen gibt es aber auch überregional. Rewe
und Real zum Beispiel bieten auch betriebsinterne Ver-
einbarungen an.

Lebensnah und realistisch ist es auch, entferntere An-
gehörige zum Empfang von Pflegegeld zu berechtigen.
Immer öfter wohnen Kinder nicht mehr in der Nähe, sind
Pflegebedürftige alleinstehend. Wir müssen verlässliche
Strukturen fördern, damit Angehörige gepflegt werden
können, auch unabhängig vom ehelichen Status. Ehrlich
gesagt – da gebe ich meiner Kollegin Carola Reimann
recht –: Vielleicht müssen wir den Personenkreis noch
ausweiten.

Ich freue mich aber auch besonders über die Möglich-
keit für Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen, ihre An-
gehörigen in den letzten Wochen zu begleiten, auch
wenn diese in Hospizen leben. Wir haben gestern eine
Debatte darüber geführt und immer wieder betont, wie
wichtig es ist, Angehörige auf dem letzten Weg zu be-
gleiten und sie würdevoll sterben zu lassen.

Ich glaube, wir alle sind uns einig, dass die bisherigen
Regelungen zur Vereinbarkeit von Pflege, Familie und
Beruf nicht ausreichend waren. Mit Blick auf die Zu-
kunft brauchen wir deutlich mehr Maßnahmen. Die Be-
troffenen brauchen flexible Lösungen für ihre individu-
ellen pflegerischen und beruflichen Herausforderungen.
Liebe Kollegen und Kolleginnen, das Thema Pflege
ist durch die demografische Entwicklung in unserem
Land eine riesengroße Herausforderung. Die Familien-
pflegezeit ist da ein Baustein eines ganzen Pakets. Wir
brauchen und schaffen weitere Bausteine. Wir haben
jetzt das Erste Pflegestärkungsgesetz vereinbart, mit
dem die Pflegeversicherung und ihre Leistungen moder-
nisiert werden. Wir werden die Pflegeausbildung refor-
mieren und attraktiver machen. Durch die Zuschussva-
riante bei der Förderung altersgerechten Umbaus werden
die Menschen in ihrem Wunsch unterstützt, so lange wie
möglich in den eigenen vier Wänden bleiben zu können.

Letztendlich aber ist ein Familienpflegezeitgesetz nur
so gut wie die Pflegestruktur in den Städten und Kom-
munen. Da brauchen wir eine gute, unabhängige Bera-
tung, die betroffene Bürger aufsucht, haushaltsnahe
Dienstleistungen sowie ambulante Betreuung und Pflege,
auch Tagespflege. Wir benötigen weiter ein dichtes Netz
von Ärzten, Anbietern der Wohlfahrtspflege, privaten
und kommunalen Anbietern, Ehrenamt, Palliativmedizin
und Hospizen. Eine gute Sozialplanung sollte unser Ziel
sein.

Ich danke Ihnen.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)



Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1806706500

Vielen Dank, Frau Kollegin Crone. – Die nächste

Rednerin in der Debatte ist Antje Lezius für die CDU/
CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Der Entwurf eines Gesetzes zur besseren Vereinbarkeit von Familie, Pflege und Beruf ist ein wichtiger Gesetzentwurf. Er spiegelt wider, was wir von der CDU/CSU gemeinsam mit der SPD im Koalitionsvertrag festgelegt haben. Wir wollen gemeinsam dafür sorgen, dass Menschen, die Angehörige pflegen, sich weiterhin auch ihrem Beruf widmen können. Warum ist das notwendig? Der demografische Wandel sorgt für zahlreiche Veränderungen und Herausforderungen in unserer Gesellschaft. In Zukunft werden wir nicht nur aufgrund der guten gesundheitlichen Versorgung deutlich älter werden als Generationen vor uns. Gott sei Dank! Jüngere Menschen – gerade wenn sie gut ausgebildet sind – gehen dorthin, wo sie meinen, die besten Bedingungen für ihren Lebensentwurf vorzufinden. Häufig geschieht das zulasten gerade ländlicher Regionen. In meinem Wahlkreis, in Rheinland-Pfalz, sehen wir dies besonders deutlich. Der Bevölkerungsrückgang beispielsweise im Kreis Birkenfeld liegt deutlich über dem Landesdurchschnitt. Deswegen müssen wir dem demografischen Wandel so umfassend wie möglich und auch so schnell wie möglich begegnen. Das Bundesfamilienministerium erwartet deutliche Auswirkungen der Bevölkerungsentwicklung schon für 2020, wenn die geburtenstarken Jahrgänge aus dem Er Antje Lezius werbsleben ausscheiden. Wir werden älter, und wir werden weniger – und das regional verschieden. Die Bundesregierung hat sich deswegen diesem Thema schon 2012 mit einer umfassen Demografiestrategie gewidmet. In diese fügt sich der vorliegende Gesetzentwurf ein. Die Pflege hat aufgrund der zu erwartenden Altersstruktur einen besonderen Stellenwert in der aktuellen und der zukünftigen Gesetzgebung. Bundesgesundheitsminister Gröhe nennt Verbesserungen der Pflege ausdrücklich einen Schwerpunkt dieser Bundesregierung und stellt dies mit dem Pflegestärkungsgesetz unter Beweis. (Beifall bei der CDU/CSU – Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Guter Mann!)

Antje Lezius (CDU):
Rede ID: ID1806706600




(A) (C)


(D)(B)


Dieses enthält zahlreiche Verbesserungen für Pflegebe-
dürftige und ihre Angehörigen. Das zeigt, wie bedeutend
rechtzeitige Weichenstellungen für die Zukunft sind.

Eine zunehmende Anzahl an Pflegebedürftigen erfor-
dert auch einen zunehmenden Bedarf an Pflegekräften.
So rechnet das Gesundheitsministerium damit, dass ab
2015 pro Jahr durch die Pflegeversicherung bis zu
45 000 zusätzliche Betreuungskräfte für die stationäre
Pflege finanziert werden können. Das ist richtig und
wichtig, um die vorhandenen Pflegekräfte zu entlasten
und zusätzliche Arbeitsplätze zu schaffen.

Die häusliche Pflege ist aber deutlich wichtiger. So
werden zwei Drittel aller Pflegebedürftigen von ihren
Angehörigen liebevoll zu Hause gepflegt. In einer
menschlichen Gesellschaft haben wir Verständnis dafür,
dass viele ältere Menschen nicht aus ihrem gewohnten
Wohnumfeld gerissen werden möchten. Viele Pflegebe-
dürftige fühlen sich wohler, wenn sie von ihren Angehö-
rigen betreut werden, anstatt Fremden anvertraut zu sein.
Diese pflegenden Angehörigen sind aber heute häufig
selbst berufstätig.

Das Gesetz zur besseren Vereinbarkeit von Familie,
Pflege und Beruf kommt sozusagen ergänzend von der
anderen Seite. Es schafft Erleichterung durch bessere
Bedingungen für diejenigen, die pflegen. Der Kern des
vorliegenden Gesetzentwurfs ist die Zusammenführung
von Pflege- und Familienpflegezeit. Uns als Union geht
es neben der Planungssicherheit für betroffene Arbeit-
nehmer und deren Familien aber auch um diejenigen, die
Arbeitsplätze schaffen. Uns als CDU/CSU liegen die Fa-
milien am Herzen, und wir haben auch ein offenes Ohr
für die Wirtschaft.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Ich möchte hier nicht unerwähnt lassen, dass es zu
diesem Gesetz in der Wirtschaft reale Bedenken gibt. In
meinem Wahlkreis, der ländlich geprägt ist, gibt es ei-
nige Unternehmen, die schon heute mit dem Fachkräfte-
mangel erheblich zu kämpfen haben. Es ist dort bereits
jetzt sehr schwer, gute Leute zu bekommen. Von einem
mittelständischen kunststoffverarbeitenden Betrieb mit
160 Mitarbeitern werde ich zum Beispiel darauf hinge-
wiesen, dass die Rekrutierung passender Ersatzkräfte im
Rahmen der Familienpflegezeit schwerfällt. Vor allem
ist das dann der Fall, wenn das Arbeitsverhältnis bei vor-
zeitiger Beendigung der Familienpflegezeit ebenfalls be-
endet werden könnte. Zu den Konditionen einer befriste-
ten Beschäftigung oder eines Zeitarbeitsverhältnisses
sind beispielsweise ein Betriebstechniker oder eine Ver-
fahrensspezialistin nicht zu bekommen.

Durch Wirtschaftsverbände wird insbesondere der
Rechtsanspruch auf die Familienpflegezeit kritisch gese-
hen. Dem werden die freiwilligen Vereinbarungen ge-
genübergestellt, die schon heute in vielen Betrieben üb-
lich sind. Laut DIHK bieten bereits 75 Prozent aller
Unternehmen ab 1 000 Mitarbeitern gezielt Arbeitszeit-
modelle an, die die bessere Vereinbarkeit von Pflege
und Beruf gewährleisten sollen. Seit der Einführung
der Familienpflegezeit im Jahre 2012 ermöglichen über
25 Prozent der Unternehmen mit über 20 Mitarbeitern
diese ihren Angestellten; 32 Prozent wollen in Zukunft
nachziehen.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Weitere Beispiele für die unternehmerische Kreativi-
tät, dem demografischen Wandel zu begegnen, finden
sich auch in regionalen Netzwerken, in Kooperationen
mit anderen Unternehmen oder kommunalen und kirch-
lichen Trägern. Die Unternehmen leisten dies im urei-
gensten Interesse: zur Bindung vorhandener Mitarbeiter
und erfolgreichen Gewinnung neuer Mitarbeiter. Das
sind Sorgen der Arbeitgeber, die wir genauso ernst neh-
men müssen, wenn wir verantwortungsvolle Politik für
die Zukunft unseres Landes gestalten wollen.

Positiv sind die zahlreichen Verbesserungen, die der
Gesetzentwurf auch für die Unternehmen bringt. Die
Ankündigungsfristen für die Pflegezeit im Anschluss an
die Familienpflegezeit und umgekehrt von zwölf Wo-
chen halte ich für richtig und zielführend. Wir geben
Arbeitgebern damit die Möglichkeit, sich mit ihrer Per-
sonalplanung auf die veränderten Bedingungen einzu-
stellen. Als ehemalige Unternehmerin habe ich auch hier
für die Einwände der Unternehmer Verständnis, weil ich
selbst erlebt habe, wie komplex Personalplanung, unter
anderem auch im Schichtbetrieb, sein kann. Gerade klei-
nere Unternehmen, die mit einem übersichtlichen Perso-
nalstamm auskommen müssen, können oft niemanden
entbehren. Wir begrüßen, dass es nun auch für kurzfris-
tige Auszeiten zur Organisation von Pflege klare Regeln
geben wird. Wer pflegt, braucht einen sicheren Lebens-
unterhalt.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Das bisherige Wertguthaben, das durch den Arbeitge-
ber verwaltet wurde, wird durch ein direktes zinsloses
Darlehen beim Bundesamt für Familie und zivilgesell-
schaftliche Aufgaben ersetzt. Das ist uns wichtig; denn
auch dies entlastet besonders kleine Unternehmen von
unnötiger Bürokratie.

Unternehmen wie Mitarbeiter wünschen sich für die
Vereinbarkeit von Pflege und Beruf flexible Lösungen,
die beiden Seiten gerecht werden. Zwei Drittel aller Be-
triebe hätten sich darüber hinaus über die bereits beste-
hende Familienpflegezeit bessere Informationen ge-
wünscht. Deswegen wünsche ich mir, dass wir mit





Antje Lezius


(A) (C)



(D)(B)

diesem Gesetz sorgsam umgehen und sowohl Arbeitge-
ber als auch Arbeitnehmer besser und praxisnah darüber
informieren.

Um sicherzustellen, dass die getroffenen Regelungen
zielgerichtet umgesetzt werden, setzen wir weiterhin ei-
nen unabhängigen Beirat für die Vereinbarkeit von Beruf
und Pflege ein, was ich sehr begrüße. Durch die vorge-
nommene Evaluation können die Bedürfnisse angepasst
werden. Auch können wir über diesen Weg erfahren, wie
diese Instrumente angenommen und genutzt werden.

Ein wesentlicher Aspekt des Themas „Pflege und fa-
miliäre Fürsorge“ ist die Konzentration auf die Frauen,
die traditionell im Wesentlichen damit befasst sind. Uns
als Union ist bewusst, dass Frauen ihre berufliche Tätig-
keit und Weiterentwicklung aus familiären Gründen oft
unfreiwillig hintanstellen. Hier wollen wir Hilfestellung
leisten. Gemäß der Zahlen der Initiative Neue Soziale
Marktwirtschaft legen über 40 Prozent der Frauen zwi-
schen 20 und 39 Jahren ihre Berufstätigkeit auf Eis, um
Kinder zu betreuen oder Angehörige zu pflegen. Dabei
liegt der Anteil der Frauen, die in Deutschland familien-
bedingt auf Teilzeit ausweichen, mit 55 Prozent deutlich
über dem EU-Schnitt von 46 Prozent.

Ich habe in zahlreichen Gesprächen, die ich zu diesem
Thema geführt habe, die Sorge gehört, dass die Fami-
lienpflegezeit schon aus diesem Grund für Frauen pro-
blematisch sein könnte. Ich wünsche mir auch hier Aus-
gewogenheit. Was wir neben gesetzlichen Regelungen
aber genauso brauchen, ist ein gesellschaftlicher Be-
wusstseinswandel. Neben generationengerechten Lösun-
gen brauchen wir hier einen gesellschaftlichen Werte-
wandel hin zu mehr Miteinander statt Nebeneinander.
Daher lautet mein Appell – das ist gleichzeitig meine
große Hoffnung –, dass Männer und Frauen genauso wie
Politik und Wirtschaft mit diesem Gesetzentwurf in
gleichwertiger Verantwortung die richtigen Weichen für
die Zukunft stellen.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1806706700

Vielen Dank, Frau Kollegin. – Letzter Redner in die-

ser Debatte: Erwin Rüddel für die CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Erwin Rüddel (CDU):
Rede ID: ID1806706800

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen

und Herren! Die Pflege ist in dieser Legislaturperiode
ein zentrales Thema. Die Koalitionsfraktionen haben
den Pflegebedürftigen, ihren Angehörigen und den Pfle-
gekräften einen großen Wurf versprochen. Wir werden
Wort halten.


(Pia Zimmermann [DIE LINKE]: Da sind wir ja mal gespannt!)


Wir setzen diesen großen Wurf Schritt für Schritt um.
Die Familienpflegezeit ist ein wichtiger Baustein eines
großen Gesamtkonzeptes. Ich sage ganz bewusst auch in
Richtung der Grünenfraktion: Pflege und die Hilfe, die
gebraucht wird, sind nicht schwarz-weiß zu sehen. Was
wir machen, ist Folgendes: Wir vergrößern einen Bau-
kasten und gestalten ihn für all diejenigen, die in einem
Pflegefall Hilfe brauchen, flexibler.


(Beifall bei der CDU/CSU – Pia Zimmermann [DIE LINKE]: Wo ist denn das Gesamtkonzept?)


Ich erwähne in diesem Zusammenhang, dass wir be-
reits das Pflegestärkungsgesetz 1 verabschiedet haben,
das deutlich mehr und flexiblere Leistungen für Pflege-
bedürftige und deren Familien mit sich bringt. Ich nenne
als Beispiel – das möchte ich ganz besonders betonen –,
dass wir dafür gesorgt haben, dass Pflegesachleistungen
in niederschwellige Leistungen umgewandelt werden
können, damit die Familien flexibler handeln können.
Ich nenne aber auch das Pflegestärkungsgesetz 2, das
2017 verabschiedet werden soll und mit dem wir deutli-
che Verbesserungen für Demenzkranke auf den Weg
bringen werden. Da heute in der Debatte der Pflegebe-
dürftigkeitsbegriff angesprochen worden ist: Wir erpro-
ben bereits die Umsetzung des Pflegebedürftigkeitsbe-
griffes, und wir werden ihn spätestens 2017 im Gesetz
festschreiben.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Ich erwähne auch das Versorgungsstärkungsgesetz,
über das wir derzeit diskutieren, in dem es um konkrete
Verbesserungen der medizinischen Versorgung von Pfle-
gebedürftigen geht. Ich erwähne in diesem Zusammen-
hang das Pflegeberufegesetz, das in nächster Zeit disku-
tiert wird und in dem es um die Verbesserung der
Pflegeausbildung und der Arbeitsbedingungen in der
Pflege geht.

Aber ich denke im Rahmen unserer Krankenhauspoli-
tik auch an unsere Krankenhausgesetzgebung. Qualität
im Krankenhaus wird in Zukunft daran gemessen wer-
den müssen, ob die Strukturen stimmen, ob es ein gutes
Entlassmanagement gibt, wie die Übergänge vom Kran-
kenhaus in die Pflege sind, wie Palliativversorgung und
Hospizarbeit ausgestaltet sind.

Bei all dem, was wir in der Pflegepolitik machen,
steht für uns im Mittelpunkt: mehr Qualität, mehr Be-
treuung und mehr Hände für gute Pflege in Deutschland.
Ich habe es mehrfach gesagt: Es wird in dieser Legisla-
turperiode kein Gesundheitsgesetz geben, in dem der
Aspekt der Pflege keine Rolle spielen wird. Ich kann in
dieser Aufzählung auch das Präventionsgesetz erwäh-
nen, in dem die Pflege wieder eine große Rolle spielen
wird.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Wir haben den Pflegebedürftigen und ihren Familien so-
wie all denen, die in der Pflege arbeiten, in unserem
Koalitionsvertrag ein Versprechen gegeben. Dieses Ver-
sprechen werden wir stringent einlösen.

In dieses Gesamtkonzept fügt sich der Entwurf eines
Gesetzes zur besseren Vereinbarkeit von Familie, Pflege
und Beruf sehr gut ein. Für meine Fraktion ist die Unter-





Erwin Rüddel


(A) (C)



(D)(B)

stützung pflegender Angehöriger ein zentrales Anliegen.
Ältere Menschen haben Anspruch auf ein möglichst
selbstständiges und selbstbestimmtes Leben, und zwar
ungeachtet der Tatsache, dass Alter auch Leid und
Krankheit, Hilfe und Pflegebedürftigkeit bedeuten kann.
Schicksalsschläge wie Demenz treffen nicht nur die
Kranken, sondern ebenso auch die unmittelbaren Ange-
hörigen, die sehr oft zugleich berufstätig sind.

Beschäftigte haben künftig einen Rechtsanspruch auf
Pflegeunterstützungsgeld aus der sozialen Pflegeversi-
cherung. Wir haben bereits in der letzten Legislatur-
periode die Familienpflegezeit eingeführt und sie mit
dem vorliegenden Gesetzentwurf weiterentwickelt.

Die meisten Menschen wollen die Pflege naher Ange-
höriger nicht delegieren. Sie möchten ihre Angehörigen
nach Möglichkeit selbst betreuen und in ihrer gewohnten
Umgebung belassen. Umgekehrt gilt dies auch für die
meisten pflegebedürftigen Menschen: Sie bauen auf die
Unterstützung ihrer Angehörigen in den vertrauten vier
Wänden. Diesem Anliegen trägt der vorliegende Gesetz-
entwurf, auch in Verbindung mit all den Gesetzesinitia-
tiven, die ich eben vorgetragen habe, mit einer Vielzahl
von hilfreichen Angeboten Rechnung. Dabei gewinnen
alle: die Pflegebedürftigen, die pflegenden Beschäftigten
und die Unternehmer.

Als Pflegepolitiker wünsche ich mir, dass wir diese
Angebote künftig durch noch mehr niederschwellige und
familiennahe Maßnahmen ergänzen und unterstützen.
Dabei denke ich an aufsuchende Angebote für ältere
Menschen, an Vernetzung und Kooperation in der Alten-
hilfe und Gesundheitsförderung sowie an die Stärkung
professioneller und ehrenamtlicher Strukturen in den
Kommunen.

Ein letztes Wort zu den Unternehmen; denn ich weiß,
dass es aus der Wirtschaft vereinzelt Kritik gibt. Kluge
und weitblickende Unternehmer haben längst erkannt,
dass ihnen die demografische Entwicklung, die langfris-
tige Finanzierung unserer Sozialsysteme und der Bedarf
an qualifizierten Erwerbstätigen künftig gar keine andere
Wahl lässt, als die Vereinbarkeit von Pflege und Beruf zu
verbessern. Deshalb sage ich den Kritikern, dass wir
durchaus im wohlverstandenen Interesse der Unterneh-
men handeln, und knüpfe daran die Hoffnung, dass unser
Vorhaben weiterführende und innovative Lösungen in
den Betrieben selbst befördert.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1806706900

Vielen Dank, Herr Kollege – Ich schließe die Aus-

sprache.

Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf Drucksachen 18/3124 und 18/3157 an die in
der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschla-
gen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? – Diese gibt
es nicht. Dann ist die Überweisung so beschlossen.

Jetzt gibt es wahrscheinlich einen Platzwechsel. Ich
bitte Sie, das zügig zu tun.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 23 auf:

Erste Beratung des von den Abgeordneten
Dr. Konstantin von Notz, Luise Amtsberg,
Volker Beck (Köln), weiteren Abgeordneten und
der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN so-
wie den Abgeordneten Halina Wawzyniak,
Herbert Behrens, Dr. Petra Sitte, weiteren Abge-
ordneten und der Fraktion DIE LINKE einge-
brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ände-
rung des Telemediengesetzes – Störerhaftung

Drucksache 18/3047
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Energie (f)

Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz (f)

Innenausschuss
Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur
Ausschuss für Kultur und Medien
Ausschuss Digitale Agenda
Federführung strittig

In einer interfraktionellen Vereinbarung wurde festge-
halten, dass dafür 38 Minuten vorgesehen sind. – Ich
höre und sehe keinen Widerspruch. Dann ist das so be-
schlossen.

Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat
Dr. Konstantin von Notz für Bündnis 90/Die Grünen.


(Beifall der Abg. Halina Wawzyniak [Die Linke] – Marcus Held [SPD]: Wenigstens jemand von links für die Grünen!)


– Der Fanklub ist auch schon da.


(Heiterkeit beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)



(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Vo-
raussetzung für die Teilhabe in und an der digitalen Ge-
sellschaft ist ein möglichst barrierefreier Zugang zum
Netz.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Dem steht aber eine 2010 durch ein BGH-Urteil entstan-
dene Rechtsunsicherheit für die Betreiber von WLAN-
Netzen entgegen.

Für meine Fraktion sage ich ganz deutlich: Wir müs-
sen die verloren gegangene Rechtssicherheit endlich
wieder herstellen. Deswegen ist eine gesetzliche Rege-
lung überfällig.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Vollmundig haben Sie in den letzten Wochen von Ih-
rer unterfinanzierten und ideenlosen Digitalen Agenda
geredet, liebe Kolleginnen und Kollegen der Großen
Koalition.


(Widerspruch bei Abgeordneten der CDU/ CSU und der SPD)






Dr. Konstantin von Notz


(A) (C)



(D)(B)

– Ah, Sie leben noch, das ist gut. – Aber gute Politik ent-
scheidet sich nicht an wohlfeilen Reden auf irgendwel-
chen IT-Gipfeln, sondern daran, was man konkret tut. Ihr
Umgang mit dem Problem der Störerhaftung steht dabei
sinnbildlich für Ihr anhaltendes Fremdeln mit dem Digi-
talen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Er steht für eine Verweigerungshaltung, den digitalen
Wandel unserer Gesellschaft aktiv zu gestalten – im
Sinne der Bürgerinnen und Bürger, aber auch für die
Wirtschaft in unserem Land, für Start-ups, kleine und
mittelständische Unternehmen und die Industrie.

Hier könnte die Regierung Merkel/Gabriel fernab al-
ler Hochglanzagenden und Sonntagsreden tatsächlich
einmal etwas Richtiges tun und gesetzgeberisch gestal-
ten. Aber sie tut es nicht, und wir müssen hier zum x-ten
Mal über dieses Thema diskutieren.

Unser Gesetzentwurf schafft eine Regelung sowohl
im Sinne derjenigen, die ihre WLAN-Netze anderen
Menschen gegenüber öffnen wollen – darunter Privat-
personen, Freifunkinitiativen, aber auch Betreiber von
Hotels, Gaststätten, Bahnhöfen, Flughäfen usw. –, als
auch im Sinne derjenigen, die diese Netze nutzen wol-
len, weil sie sich beispielsweise keinen eigenen Zugang
leisten können oder – Achtung, ganz lebenspraktisch –
wenn sie unterwegs arbeiten wollen.


(Marcus Held [SPD]: Das muss man hier dazusagen!)


Die Liste derjenigen, die sich für eine gesetzgeberi-
sche Reform einsetzen, ist lang. Klar ausgesprochen ha-
ben sich zahlreiche Landesparlamente, der Bundesrat,
die Justizministerkonferenz, die Freifunkinitiativen und
zahlreiche Wirtschaftsverbände. Und nicht zuletzt haben
wir uns selbst erst in der Enquete-Kommission und dann
im Deutschen Bundestag ganz klar dafür ausgesprochen,
meine Damen und Herren.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)


Alle fordern eine Reform. Niemand ist mit dem Status
quo zufrieden. Sie versprechen sogar diese Reform. Seit
Jahren aber geschieht nichts. Bis heute ist nichts passiert.

Sie haben in den letzten Wochen großspurig erklärt,
Sie wollen Deutschland zum „digitalen Wachstumsland
Nummer 1“ machen, und schaffen es nicht einmal, die
Störerhaftung zu beseitigen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)


Wer soll denn Ihre digitale Wirtschaftspolitik mit all den
lustigen Schlagworten wie Industrie 4.0 ernst nehmen?
Wer soll Ihnen abnehmen, dass Sie die seit Jahren unbe-
arbeiteten netzpolitischen Großbaustellen im Breit-
bandausbau, Datenschutz, Urheberrecht und bei der
Netzneutralität meistern werden, wenn Sie selbst beim
kleinen Einmaleins scheitern, meine Damen und Her-
ren?

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Ihr Unterlassen geschieht vorsätzlich. In Ihrem Koali-
tionsvertrag schreiben Sie selbst, liebe Kolleginnen und
Kollegen von der SPD, dass Sie die Rechtssicherheit für
Betreiber von WLAN-Netzen herstellen wollen. Das
heißt, Sie attestieren dem Status quo Rechtsunsicherheit.
Doch was machen Sie? Ihre drei federführenden Minis-
ter verheddern sich erneut in einem Kompetenzgerangel,
das seinesgleichen sucht. Plötzlich wollen Sie Provider-
privilegierung nur noch auf kommerzielle, nicht aber auf
private Anbieter ausweiten.


(Tankred Schipanski [CDU/CSU]: Sehr richtig!)


Sonst könnte möglicherweise jeder sein Netz öffnen.
Aber genau darum geht es. Herzlichen Glückwunsch!


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN – Zuruf des Abg. Thomas Jarzombek [CDU/CSU])


– Herr Jarzombek, schön, dass Sie da sind.

Warum halten Sie das Funknetz einer Privatperson ei-
gentlich für eine solche Gefahr, Herr Jarzombek,


(Thomas Jarzombek [CDU/CSU]: Das tun wir nicht!)


das Netz bei McDonalds, in einem Hotel oder einem
Café aber nicht? Das ist doch offensichtlich wider-
sprüchlich.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)


Warum haben Sie Angst vor einer Regelung, die überall
sonst auf der Welt zu keinerlei Problemen führt? Warum
schwadronieren die zuständigen Minister in völliger Un-
kenntnis des § 13 des Telemediengesetzes in der Bun-
despressekonferenz erneut von Einfallstoren für ano-
nyme Kriminelle, die man schaffe? Das erinnert mich
sehr, Kollege Jarzombek, an das Vermummungsverbot
im Internet.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)


Ich sage Ihnen, warum das so ist. Hier kommen die alten
Ressentiments durch, die wir lange überwunden ge-
glaubt haben. Auf die netzpolitischen Podien werden
gerne Sie geschickt, Herr Jarzombek.


(Thomas Jarzombek [CDU/CSU]: So viel Ehre gebührt mir auch nicht!)


Die Netzpolitik aber macht Volker Kauder. Das ist netz-
politische Steinzeit.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)


Die SPD freut sich jetzt. Aber auch Sie muss ich fra-
gen: Wo stehen Sie eigentlich auf dem Feld?


(Marcus Held [SPD]: Mittendrin!)






Dr. Konstantin von Notz


(A) (C)



(D)(B)

Auf der letzten Bundespressekonferenz haben Sie noch
einen schnieken Antrag vorgelegt. Heute hört man von
Ihnen in der Debatte nichts mehr, außer subversiven
Kram von Herrn Gabriel. Das reicht nicht.


(Heiterkeit beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Lachen bei der SPD)


Wir fordern Sie gemeinsam mit den Kolleginnen und
Kollegen der Linken sowie einer höchst engagierten
Szene rund um die digitale Gesellschaft, aus deren Mitte
immer wieder Impulse für diese Debatte kamen und
kommen, auf: Ermöglichen Sie bei uns endlich, was
überall sonst auf der Welt bis auf China, Russland und
Nordkorea eine Selbstverständlichkeit ist!


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN – Lachen bei der SPD)


Geben Sie sich einen Ruck, und beheben Sie mit uns ge-
meinsam diesen unerträglichen Zustand!

Ganz herzlichen Dank.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN – Thomas Jarzombek [CDU/CSU]: Das war Kabarett! Kommen wir jetzt zur Sache!)



Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1806707000

Vielen Dank, Herr Kollege von Notz. – Es ist schön,

dass das eine so spannende und lebendige Debatte ist.

Nächster Redner ist Hansjörg Durz, Augsburg-Land,
für die CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Ich bin aus Augsburg-Stadt. Deswegen darf ich Augs-
burg-Land ganz herzlich begrüßen.


Hansjörg Durz (CSU):
Rede ID: ID1806707100

Frau Präsidentin, Sie haben Augsburg perfekt ausge-

sprochen.

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen
und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren!
Heute in einem Monat wird die Deutsche Bahn ihren
Fahrgästen in allen 255 ICEs kostenlosen Internetzugang
über WLAN anbieten.


(Zurufe von der CDU/CSU: Hört! Hört! – Luise Amtsberg [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Jetzt kommt die Nummer!)


Das ist zunächst zwar nur beschränkt auf die 1. Klasse.
Aber geplant ist, das Angebot zu erweitern. Dahinter
steht der Wunsch der Kunden, der in Fernbussen bereits
erfüllt ist, auf ihren Reisen mobile Endgeräte kostenlos
nutzen zu können. Die Menschen wollen nahezu immer
und überall Zugang zum Netz haben.

Die Verbreitung WLAN-fähiger Endgeräte entwickelt
sich sowohl in Deutschland als auch global in einer
atemberaubenden Rasanz. Ende 2013 übertraf mit rund
7,5 Milliarden die Zahl der Geräte erstmals die Zahl der
auf der Erde lebenden Menschen. Experten gehen davon
aus, dass sich dieser Trend fortsetzt. Ende 2017 soll die
Marke von 20 Milliarden Geräten weltweit überschritten
sein. In Deutschland ist die Verbreitungsrate WLAN-fä-
higer Endgeräte bereits heute weit überdurchschnittlich.
Gerade der Trend hin zu Smartphones, Tablets oder
WLAN-fähigen Fernsehern hat dazu geführt, dass die
Adaptionsrate mit rund drei Geräten pro Kopf deutlich
über dem derzeitigen weltweiten Durchschnitt liegt.
Auch in Deutschland wird sich der Trend weiter fortset-
zen. 2018 rechnen Experten mit einer Gerätezahl in
Deutschland von 400 Millionen.

Es existieren neben den eingangs erwähnten Bahn-
und Busreisen eine Vielzahl von Situationen, in denen
sich Menschen Zugang zum Netz über öffentlich zu-
gängliche Hotspots wünschen, zum Beispiel in Einkaufs-
zentren, auf Messen, in Museen, Bibliotheken oder im
Bereich der Gastronomie. Die wirtschaftlichen Potenziale
und Vorteile, die sich aus einer flächendeckenden
Versorgung mit WLAN-Zugängen ergeben, sind vielfäl-
tig.


(Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dann mal los!)


Der flächendeckende Einsatz von WLAN-Technologie
wird ganz generell einen Beitrag zur digitalen Grundver-
sorgung


(Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Alles richtig!)


sowie zur Versorgung mit breitbandigen Internetzugän-
gen insbesondere in ländlichen Räumen leisten. Darauf
aufbauend können durch die bessere Verfügbarkeit von
WLAN innovative Dienste und Services besser und in-
tensiver genutzt werden und sich dadurch neue Produkte
und Anwendungen schneller entwickeln und auf dem
Markt etablieren.

Auch der Einzelhandel kann durch die Bereitstellung
von WLAN für seine Kunden profitieren. Indem der sta-
tionäre mit dem elektronischen Handel verknüpft wird,
etwa durch die Nutzung mobiler Bezahlsysteme


(Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Alles wahre Worte!)


oder die Bereitstellung zusätzlicher Produktinformatio-
nen durch QR-Reader, bieten sich hier neue Chancen. So
betont auch der Handelsverband Deutschland die Bedeu-
tung von öffentlich zugänglichem WLAN – ich zitiere –:
„WLAN-Angebote könnten … dazu beitragen, dass In-
nenstädte wieder lebendiger und attraktiver werden.“


(Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dann machen Sie es endlich! – Gegenruf des Abg. Marcus Held [SPD]: Jetzt bleib doch mal cool, Mensch!)


Im Tourismus ist die Bedeutung von WLAN riesig.
Nach einer Umfrage unter Hotelgästen wird die Verfüg-
barkeit von Internet mit weitem Abstand als die wich-
tigste zusätzliche Annehmlichkeit während eines Auf-
enthalts benannt, noch vor Fernseher und Badewanne.
Übrigens: Drei Sterne und mehr erhält nur das Hotel, das
seinen Gästen einen Internetzugang im Hotel zur Verfü-





Hansjörg Durz


(A) (C)



(D)(B)

gung stellt. Der praktische Nutzen sowie die wirtschaft-
lichen Vorteile sind unbestritten. Da sind wir uns einig.

Dennoch: In Deutschland existieren vor allem im Ver-
gleich zu vielen anderen führenden Industrienationen
zwar sehr viele WLAN-Zugänge, aber deutlich zu we-
nige offene WLAN-Hotspots, auf die jeder kostenfrei
zugreifen kann. Woran liegt das? Das wurde bereits aus-
geführt. Fakt ist: Nach derzeitiger Rechtsprechung des
BGH riskiert in Deutschland derjenige, der ein offenes
WLAN betreibt, die Gefahr teurer Abmahnungen bei
Rechtsverletzungen Dritter. Diese Rechtsunsicherheit
für WLAN-Betreiber ist der wesentliche Hemmschuh
für die Bereitstellung solcher Hotspots.

Das Problem haben die Koalitionsfraktionen erkannt,
und sie greifen es im Koalitionsvertrag auf. Es findet
sich in der Digitalen Agenda wieder. Bundesminister
Gabriel hat angekündigt, in Kürze einen Gesetzentwurf
vorzulegen.


(Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das kündigt er seit Monaten an! – Halina Wawzyniak [DIE LINKE]: Wir haben ihm die Arbeit abgenommen!)


Nun haben die Oppositionsfraktionen einen eigenen
Gesetzentwurf vorgelegt, der das Problem lösen soll, in-
dem das sogenannte Providerprivileg durch eine Ergän-
zung des Telemediengesetzes auf kommerzielle und pri-
vate WLAN-Betreiber erweitert wird. Dadurch würden
Betreiber öffentlicher WLANs haftungsrechtlich ge-
werblichen Internetanbietern, die bereits heute von der
Haftung freigestellt sind, gleichgestellt. Um es vorweg-
zunehmen: Der vorgelegte Ansatz ist zu simpel; denn für
Rechtsverletzungen Dritter werden keine Lösungen vor-
geschlagen. Das Thema wird im Antrag nicht einmal er-
wähnt.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Wir sind uns alle der Potenziale von WLAN bewusst,
und es herrscht Einigkeit hier im Deutschen Bundestag
über das Ziel, die Verbreitung von WLAN-Zugängen zu
erhöhen. Die Bundesregierung hat im Rahmen der Digi-
talen Agenda angekündigt: Wir werden Rechtssicherheit
für die Anbieter solcher WLANs im öffentlichen Be-
reich, beispielsweise Flughäfen, Hotels, Cafés, schaffen.
Diese sollen grundsätzlich nicht für Rechtsverletzungen
ihrer Kunden haften. – Sie hat aber auch erklärt: Wir
werden die Verbreitung und Verfügbarkeit von mobilem
Internet über WLAN verbessern. Dabei werden wir da-
rauf achten, dass die IT-Sicherheit gewahrt bleibt und
keine neuen Einfallstore für anonyme Kriminalität ent-
stehen. – In diesem Spannungsfeld bewegen wir uns.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Ich bin sicher, dass die Bundesregierung mit Hoch-
druck an einer Regelung arbeitet, die es erlaubt, die Vor-
teile einer flächendeckenden Verfügbarkeit von WLAN
im öffentlichen Raum zu nutzen, gleichzeitig aber einen
praktikablen Weg findet, dass sich die Nutzung nicht
komplett anonym abspielt.

Für Flughäfen, Hotels, Cafés, Gewerbetreibende usw.
wird es sicher Lösungen geben. Eine einfache Auswei-
tung der Providerprivilegierung auf jeden, auch privaten
Inhaber eines WLAN-Zugangs ohne jegliche Form von
Registrierung, wie auch immer die aussehen mag, kann
aber nicht die Lösung sein.


Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1806707200

Herr Kollege.


Hansjörg Durz (CSU):
Rede ID: ID1806707300

Bei allen Vorteilen offener Internetzugänge: Wir müs-

sen uns mit dem Gedanken auseinandersetzen, dass ein
höheres Maß an Anonymität beim Internetzugang auch
negative Folgen entfalten kann.


Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1806707400

Herr Kollege.


Hansjörg Durz (CSU):
Rede ID: ID1806707500

Der Vorschlag der Opposition zu Ende gedacht – so-

fort –, bedeutet, –


Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1806707600

Das will ich nicht unterbrechen. Bedeutet was?


(Heiterkeit)



Hansjörg Durz (CSU):
Rede ID: ID1806707700

– dass sich im Zweifel jeder WLAN-Besitzer, auch

der kriminelle, auf das Providerprivileg zurückziehen
und nicht mehr haftbar gemacht werden kann.


(Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist ja ungeheuerlich!)



Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1806707800

So, jetzt fragt Ihr von allen Podien bekannter Kollege,

ob er Ihnen eine Frage stellen oder eine Bemerkung ma-
chen darf.


Hansjörg Durz (CSU):
Rede ID: ID1806707900

Bitte.


(Marcus Held [SPD]: Das darf ja wohl nicht wahr sein! – Weiterer Zuruf von der SPD: Streber! – Gegenruf des Abg. Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Da mault der Koalitionspartner!)



Thomas Jarzombek (CDU):
Rede ID: ID1806708000

Ich habe einen großen Wissensbedarf, Herr Kollege

Durz. Ihr Vorredner, der Kollege von Notz, hat umfang-
reiche konkrete Kritik an einem Gesetzentwurf geübt.
Dabei ging es um die Unterteilung zwischen kommer-
ziellen und nichtkommerziellen Anbietern. Jetzt möchte
ich einmal fragen, Herr Kollege Durz, ob ein entspre-
chender Gesetzentwurf vorliegt, sich in der Abstimmung
befindet oder Ihnen bekannt ist?


Hansjörg Durz (CSU):
Rede ID: ID1806708100

Mir ist nicht bekannt, dass ein Gesetzentwurf wie der,

der in der Rede erwähnt wurde, vorliegt.





Hansjörg Durz


(A) (C)



(D)(B)


(Thomas Jarzombek [CDU/CSU]: Vielen Dank!)



Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1806708200

Vielen Dank. – Jetzt geht es weiter in Ihrer Rede, Herr

Durz.


Hansjörg Durz (CSU):
Rede ID: ID1806708300

Meine sehr geehrten Damen und Herren, um einer-

seits die Potenziale zu heben


(Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie verheben sich gerade!)


und andererseits den beschriebenen Problemen zu be-
gegnen, bedarf es einer intelligenten, aber auch pragma-
tischen Lösung.


(Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja, wie sieht die aus?)


Der entsprechende Gesetzentwurf der Bundesregierung
soll in Kürze folgen. Diesen sollten wir abwarten. Dann
haben wir wieder die Gelegenheit, uns über einen Vor-
schlag zu unterhalten, der dann aber alle Aspekte be-
rücksichtigt.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1806708400

Vielen Dank, Herr Kollege. – Nächste Rednerin in der

Debatte ist Halina Wawzyniak für die Linke.


(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])



Halina Wawzyniak (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1806708500

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Kolleginnen

und Kollegen! Herr Durz, ich habe bis zur Hälfte Ihrer
Rede gedacht, dass Sie sich bei den Grünen und der Lin-
ken dafür bedanken, dass wir Ihre Arbeit gemacht und
einen Gesetzentwurf vorgelegt haben. Leider Gottes
musste ich zum Ende Ihrer Rede feststellen, dass Sie an
die Störerhaftung offensichtlich überhaupt nicht heran-
wollen.

Stellen Sie sich einfach einmal vor, Sie fahren mit Ih-
rem Auto eine Straße entlang. Dann passiert es: Ein kur-
zer Moment der Unachtsamkeit, zu spät gebremst, und
Sie fahren mit Ihrem Auto auf das Auto Ihres Vorder-
manns oder Ihrer Vorderfrau auf. Normalerweise ist das
eine sehr teure Angelegenheit. Aber zum Glück brau-
chen Sie sich keine Sorgen zu machen; denn Sie waren
ja auf einer Straße unterwegs, und deswegen werden
nicht Sie für den Unfall belangt, sondern ein Dritter.
Schließlich hatte der Dritte Ihnen die Straße zur Verfü-
gung gestellt, und hätte er dies nicht getan, hätten Sie da-
rauf nicht fahren können und hätten auch keinen Unfall
bauen können. Ergo muss der Dritte für den entstande-
nen Schaden geradestehen und nicht Sie.
Jetzt sind Sie vielleicht verwirrt und sagen: Das ist
Quatsch. – Zu Recht; es ist Quatsch. Aber das ist der jet-
zige Zustand bei der Störerhaftung, beim Zugänglichma-
chen von WLANs für Dritte. Dieser Zustand ist natürlich
nicht zu akzeptieren.


(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Um es noch einmal jenseits des Autobeispiels deut-
lich zu machen: Wer heute für Dritte seinen WLAN-An-
schluss öffnet und damit anderen den Zugang zum Inter-
net ermöglicht, wird für Urheberrechtsverletzungen
verantwortlich gemacht und muss gegebenenfalls den
Schaden ersetzen. Dazu gibt es jede Menge Urteile des
Bundesgerichtshofes, und der sagt: Das Haftungsprivi-
leg gilt nicht.

Dieser Zustand ist verheerend. Erst letzte Woche hat
der Internetverband eco aufgeschlüsselt, wie die Situa-
tion in Deutschland aussieht: Nur 15 000 von 1 Million
Hotspots sind frei zugänglich. In Deutschland kommen
auf 10 000 Einwohner deutlich weniger Hotspots als in
anderen Ländern. Als Konsequenz fordert eco – was
wohl? – die Abschaffung der Störerhaftung, und zwar zu
Recht.


(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Die Vorteile offener WLANs liegen auf der Hand:
Gewerbetreibende hätten die Möglichkeit, ihren Kunden
einen weiteren Service anzubieten, Kommunen könnten
offene WLANs aufbauen, und jeder könnte sein WLAN
für seinen Nachbarn öffnen – ohne Angst. Vor allem aus
sozialen Gesichtspunkten ist dies etwas, was ausge-
sprochen sinnvoll ist; denn Menschen mit geringem Ein-
kommen könnten so die Möglichkeiten des Internets
kostenlos nutzen. Das wirkt sich insbesondere auf die
Bildungschancen von Kindern aus; denn Kinder ohne In-
ternetzugang sind von Onlineangeboten, die kostenfrei
verfügbar sind, abgeschnitten. Offene WLANs könnten
also einen Beitrag dazu leisten, die digitale Spaltung der
Gesellschaft zu verringern.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Nachdem wir den Koalitionsvertrag gelesen hatten,
dachten wir zunächst, auch die Koalition habe begriffen,
dass die Abschaffung der Störerhaftung sinnvoll ist.


(Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Zu früh gefreut!)


– Ja, Konstantin von Notz sagt es: „Zu früh gefreut“;
denn irgendwann kam die Digitale Agenda. Über die hat
er im Übrigen gesprochen und nicht über den Gesetzent-
wurf. Mit der Digitalen Agenda geht es wieder einen
Schritt zurück. Denn nach ihr soll die Störerhaftung nur
abgeschafft werden für gewerbliche Betreiber und Ge-
schäfte, nicht aber für Private. Das ist einfach unver-
ständlich und nicht nachvollziehbar.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)






Halina Wawzyniak


(A) (C)



(D)(B)

Wir haben Ihre Arbeit gemacht. Wir und die Grünen
haben gemeinsam einen Gesetzentwurf vorgelegt, des-
sen Verabschiedung das Problem beheben würde. Wir
haben uns dabei auf Expertise der Digitalen Gesellschaft
bezogen. Wir können es ganz einfach machen: Wir über-
weisen den Gesetzentwurf, beraten ihn in den Ausschüs-
sen, und noch am Ende dieses Jahres wäre es möglich,
die Störerhaftung abzuschaffen.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ganz große Politik! – Tankred Schipanski [CDU/CSU]: Schlimme Rechtsunsicherheit! Das wurde Ihnen eingehend erklärt! Es ist nicht besser geworden!)


Der vorliegende Gesetzentwurf kommt Ihnen viel-
leicht bekannt vor: Er lag in der letzten Legislaturpe-
riode schon einmal vor. Da hat er leider keine Mehrheit
gefunden.


(Tankred Schipanski [CDU/CSU]: Er ist nicht besser geworden!)


Aber wenn Sie Ihren Koalitionsvertrag ernst nehmen,
dann könnte er diesmal eine Mehrheit finden. Wir kön-
nen Sie einfach nur dazu auffordern, das gemeinsam mit
den Grünen und uns hier mit großer Mehrheit zu be-
schließen.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Wir schlagen als Lösung des Problems vor, die in § 8
des Telemediengesetzes geregelte Haftungsfreistellung
auf gewerbliche und nichtgewerbliche Betreiber von
WLANs auszuweiten. Zum einen wollen wir klarstellen,
dass auch Betreiber von WLANs als Diensteanbieter im
Sinne des § 8 Telemediengesetz gelten; damit würden
die dort aufgeführten Regelungen ebenfalls für diese
zutreffen. Dabei soll es egal sein, ob sie den Zugang ab-
sichtlich oder, aufgrund unzureichender Sicherungsmaß-
nahmen, fahrlässig anbieten. Es geht uns mit dem Ge-
setzentwurf darum, die Störerhaftung in diesem Bereich
zu beseitigen und die Haftungsfreistellung auch auf An-
sprüche auf Unterlassung auszuweiten.

Noch einmal: Es ist sehr einfach, der Gesetzentwurf
liegt auf dem Tisch. Lassen Sie uns ihn heute überwei-
sen! Lassen Sie uns ihn Anfang Dezember in den Aus-
schüssen beraten, und dann lassen Sie uns an dieser
Stelle den Koalitionsvertrag ernst nehmen und alle ge-
meinsam die Störerhaftung abschaffen.

Danke schön.


(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1806708600

Vielen Dank, Frau Kollegin. – Nächster Redner in der

Debatte: Marcus Held für die SPD.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)


Marcus Held (SPD):
Rede ID: ID1806708700

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und

Herren! Die digitale Welt ist schon heute grenzenlos, sie
macht nicht Halt an Schlagbäumen und unterscheidet
keine Kontinente. Wir Bürgerinnen und Bürger sehen
den Zugang zum Internet heute als Normalität an. Den-
noch ist der Zugang vielen Menschen verwehrt, oder sie
können nur sehr eingeschränkt auf das Internet zugrei-
fen.

Deshalb müssen wir dringend sicherstellen, dass auch
in Deutschland ein flächendeckender Zugang zum Inter-
net möglich ist, schrankenlos, räumlich wie auch zeit-
lich. Diese Aufgabe müssen wir sehr ernst nehmen; denn
nur so garantieren wir gesellschaftliche Teilhabe an der
Wissensvermehrung und somit auch an Bildung. Wir
können es uns nicht leisten, dieses enorme Potenzial für
unser Land nicht zu heben. Ich spreche ganz konkret die
Versorgungsproblematik im ländlichen Raum an; denn
das Internet kann in Deutschland leider noch immer
nicht flächendeckend in einer angemessenen Geschwin-
digkeit genutzt werden.

Um zügig Verbesserungen zu erreichen, brauchen wir
einfache, niederschwellige Lösungen, die auch Kleinan-
bieter wie Cafés, Campingplätze, Schulen oder auch
Museen erfüllen können. Wir dürfen keine zusätzlichen
bürokratischen Schranken aufbauen. Dies gilt auch und
gerade für den Mittelstand, für Angebote von Bil-
dungseinrichtungen und Möglichkeiten in touristi-
schen Zentren. Dass die Versorgung mit einem schnel-
len Internetzugang für die wirtschaftliche Stärke und für
Chancengleichheit bei der gesellschaftlichen Entwick-
lung in Städten, aber auch ganz besonders im ländlichen
Raum eine große Rolle spielt, zeigt uns der internatio-
nale Vergleich; denn andere Länder machen es uns heute
schon vor: In Italien beispielsweise wird der öffentliche
WLAN-Ausbau durch staatliche Zuschüsse gefördert. In
Estland hat man schon 1997 begonnen, alle Schulen mit
öffentlichem WLAN zu versorgen. Und in den USA hat
Barack Obama jetzt angekündigt, 3,2 Milliarden Dollar
investieren zu wollen, um alle Schulen in den Staaten bis
2018 zu versorgen.


(Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Muss man auswandern!)


In Deutschland gibt es kommunale Leuchttürme wie
zum Beispiel in Passau, wo nach der Jahrhundertflut
2013 kostenfreies ganzheitliches WLAN zur Verfügung
gestellt wurde


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


– da klatschen die Passauer, jawohl –, um die Wirtschaft
und die Einwohnerschaft entsprechend mit Wissen ver-
sorgen zu können.

Wenn wir Wettbewerbsfähigkeit ernst nehmen, dann
brauchen wir, meine Damen und Herren, flächendecken-
des WLAN, um in Bereichen wie dem Tourismus inter-
national ernst genommen zu werden und gewerbliche
Ansiedlungen überall in Deutschland zu ermöglichen.
Gerade im ländlichen Raum ist es für Neuansiedlungen
elementar, arbeiten zu können, und das kann man heute
eben nur mit entsprechend schnellem Internetzugang.





Marcus Held


(A) (C)



(D)(B)

Wie können wir dieses Ziel erreichen?


(Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja, wie?)


Mit Investitionen im gewerblichen Bereich. Aber auch
im privaten Sektor müssen Hürden genommen werden,
die eben schon angesprochen worden sind.


(Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: In unserem Gesetzentwurf!)


Hier spreche ich insbesondere das Thema der Störer-
haftung an. Es wäre nicht nachzuvollziehen, wenn die
Störerhaftung für Gewerbetreibende abgeschafft würde,
sie aber für Private erhalten bliebe. Mit Privaten meine
ich zum Beispiel auch engagierte WLAN-Vereine, die es
in Städten und Gemeinden, gerade auf dem flachen
Land, sehr häufig gibt. Ich denke, das Know-how dieser
WLAN-Vereine sollten wir dringend nutzen; wir sollten
die Vereine positiv mit in die Verantwortung nehmen.


(Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: So ist es!)


Die Störerhaftung muss für alle abgeschafft werden;
denn Anbieter von WLAN dürfen nicht dafür verant-
wortlich gemacht werden, was die Nutzer tun.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Derzeit sorgt die Regelung zur Störerhaftung dafür, dass
eben nicht beim Rechtsverletzer angesetzt wird, sondern
der Anbieter als Dritter in die Pflicht genommen wird.
Das muss sich ändern; ich glaube, da sind wir uns einig.

Ich danke deshalb im Namen der SPD-Fraktion für
die Vorlage des Gesetzentwurfs, der dem Ausbau der di-
gitalen Infrastruktur einen Impuls gibt. Sie haben heute
einen Musterentwurf vorgelegt, der der digitalen Gesell-
schaft entspringt und somit auch gute, wichtige Impulse
der Zivilgesellschaft aufgreift. Selbstverständlich wird
der von Ihnen eingebrachte Entwurf in die weiteren
Überlegungen innerhalb der Koalition einbezogen. Denn
auch für uns, die SPD, ist es wichtig, die Nutzung der
Potenziale der digitalen Infrastruktur voranzubringen,
die aufgrund der bestehenden Rechtsunsicherheiten lei-
der noch brachliegen. Wir werden uns also um Rechtssi-
cherheit kümmern, was dringend geboten ist.

Wir haben im Koalitionsvertrag vereinbart, die Poten-
ziale der lokalen Funknetze auszuschöpfen und mobiles
Internet über WLAN für jeden verfügbar zu machen.
Denn das Recht auf freie und unbeobachtete Kommuni-
kation hat in Deutschland Verfassungsrang. Natürlich
muss auch ermittelt werden, wenn es Anhaltspunkte für
Rechtsverletzungen gibt – das ist völlig klar –; aber das
kann nicht gleichzeitig bedeuten, dass alle Bürgerinnen
und Bürger, die freies WLAN nutzen, unter einen Gene-
ralverdacht gestellt werden; das muss auch für die digi-
tale Gesellschaft gelten. Die Digitale Agenda hat dieses
wichtige Ziel des Koalitionsvertrags aufgegriffen.

Im Moment finden zwischen den Ressorts die Ab-
stimmungen zur Vorlage eines entsprechenden Gesetz-
entwurfs statt. Die Beratungen hierzu sind noch nicht
ganz abgeschlossen, werden aber sicherlich in Kürze be-
endet sein, sodass hier ein entsprechender Vorschlag auf
den Tisch kommt. Sie können sich also darauf verlassen,
dass die Umsetzung dieses Punktes der Koalitionsver-
einbarung für die SPD von großer Bedeutung ist, damit
offene Funknetze in öffentlichen Räumen auch in
Deutschland zur Normalität werden, so wie sie bereits
heute in vielen anderen Ländern in Europa und der Welt
Normalität sind.

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1806708800

Vielen Dank, Herr Kollege Held. – Nächster Redner

in der Debatte: Axel Knoerig für die CDU/CSU-Frak-
tion.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Axel Knoerig (CDU):
Rede ID: ID1806708900

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten

Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Es ist heute alltäglich, dass wir in allen Lebenslagen on-
line sind: Wir nutzen den Laptop am Flughafen, das
Smartphone beim Einkaufen oder das Tablet im Café,
um drahtlos im Internet zu surfen.


(Zuruf von der SPD: Vor allen Dingen im Bundestag!)


Dafür werden an vielen Orten WLAN-Netze bereitge-
stellt.


(Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Nein!)


Die Oppositionsfraktionen haben nun einen Gesetz-
entwurf zur Änderung des Telemediengesetzes vorge-
legt. Es geht dabei um die sogenannte Störerhaftung.
Diese bezieht sich auf die Inhaber von WLAN-An-
schlüssen: Wer seinen Internetzugang anderen zur Verfü-
gung stellt, muss für deren Rechtsverstöße haften. Das
betrifft zum Beispiel Familienmitglieder, Mitbewohner,
Gäste und Kunden.

Allerdings hat der Bundesgerichtshof entschieden,
dass man nur haften muss, wenn man seine Prüfpflichten
verletzt hat. Die Wahrung dieser Pflichten geschieht
durch Verschlüsselung und individuelle WLAN-Pass-
wörter sowie durch Einwilligung der Nutzer in eine
Datenspeicherung. Die Opposition fordert nun, dass flä-
chendeckend WLAN-Netze für jedermann frei zugäng-
lich sein sollen.


(Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Der Bundesrat auch!)


Dazu will sie das Haftungsprivileg der Internetprovider
auf alle ausweiten, die ihren WLAN-Zugang für weitere
Nutzer öffnen.

Ich möchte das derzeitige Haftungsproblem an einem
Beispiel aus meinem Wahlkreis Diepholz – Nienburg I
veranschaulichen. Dort hat nämlich der Betreiber des
Hotels „Roshop“ in Barnstorf den Service der Nutzung





Axel Knoerig


(A) (C)



(D)(B)

des WLAN-Netzes angeboten. Da die Gäste immer wie-
der illegale Downloads vornehmen, hat er schon zahlrei-
che Abmahnungen von Rechteinhabern erhalten.

Welche Möglichkeiten hat nun der Hotelier als An-
schlussinhaber? Er bietet seinen Gästen den WLAN-An-
schluss nicht weiter an und ist somit in der Hotelbranche
nicht mehr wettbewerbsfähig.


(Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Da ist der Gesetzgeber gefragt!)


Oder aber, er bietet weiter freien Zugang zum WLAN-
Netz an und muss ständig steigende Abmahnkosten be-
zahlen. Oder drittens, er vergibt an jeden Gastnutzer ein
individuelles Passwort und holt zugleich die Einwilli-
gung zur Erfassung der Nutzerdaten ein. Im Falle eines
Rechtsverstoßes kann er so nachweisen, wer diesen be-
gangen hat.


(Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Oder er wählt Grün und Links und kriegt ein gutes Gesetz!)


Für diese Variante hat sich der Hotelier in meinem Wahl-
kreis entschieden.

Doch selbst dieser bürokratische Aufwand entlässt
ihn nicht aus der Haftung. Das ist entscheidend. Als An-
schlussinhaber muss er beweisen, dass er jede einzelne
betroffene Webseite nicht besucht hat. Das bedeutet
ständige Anwaltskosten und zusätzliche Belastungen in
einer weiterhin unsicheren Rechtslage.


(Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Und deswegen?)


– Und deswegen müssen wir gewerbliche WLAN-Inha-
ber wie den Hotelier in Barnstorf schützen.


(Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: So ist es!)


In dieser Sache geht es grundsätzlich nicht nur um Urhe-
berrechtsverletzungen, sondern vielmehr um den Daten-
schutz im Internet insgesamt. Doch das, Herr von Notz,
klammern Sie als Opposition in Ihrem Antrag völlig aus.


(Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Der Bundesrat auch!)


Meine sehr verehrten Damen und Herren, zur Ver-
deutlichung möchte ich eine Zahl nennen, die uns auf-
schrecken lässt. Im vergangenen Jahr wurden rund
21 Millionen Menschen in Deutschland von Internetkri-
minellen geschädigt.


(Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Hinterwäldlerisch ist das!)


Wir von der Union fordern deshalb verschlüsselte Funk-
netze; denn im Gegensatz zu offenen Netzen schützen
sie vor Hackerangriffen, Wirtschaftsspionage und Da-
tenklau.

Dieses Thema drängt. Die bestehende Rechtslage
muss den Entwicklungen im Netz angepasst werden.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Ich ergänze: Internetkriminelle dürfen sich nicht länger
hinter den Inhabern von WLAN-Anschlüssen vor Straf-
verfolgung verstecken können. Deswegen ist die Bun-
desregierung gefordert, zügig ihren Gesetzentwurf
vorzulegen. Wir sagen: Unsere Netzpolitik ist voraus-
schauend und auch verantwortungsvoll. Wir müssen alle
rechtlichen Seiten prüfen, und zwar zusammen mit allen
betroffenen Ressorts. Das unterscheidet uns von Ihnen,
Herr Notz, da Sie mit Ihrem Antrag im Grunde einen
Schnellschuss vorlegen.


(Beifall bei der CDU/CSU – Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Und vom Bundesrat!)


Wir setzen lieber darauf, zusammen mit allen beteiligten
Akteuren einen ausgewogenen, umfassenden Gesetzent-
wurf zu erarbeiten. Ob Rechteinhaber, Internetprovider,
Anschlussinhaber oder WLAN-Nutzer, sie alle müssen
in einem Entwurf gleichermaßen berücksichtigt werden.
Doch Ihr Entwurf von den Grünen und den Linken geht
zulasten der Rechteinhaber und insgesamt zulasten der
Datensicherheit. Wir von der Union halten fest: Das
geistige Eigentum muss geschützt werden. Es darf kei-
nen Freifahrtschein für Urheberrechtsverletzungen ge-
ben. Das ist gerade für den Forschungs- und Wissen-
schaftsstandort Deutschland außerordentlich wichtig.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Ein wichtiger Aspekt beim Thema Störerhaftung ist
außerdem die digitale Kompetenz der Nutzer. Jüngsten
Studien zufolge ist der Digitalisierungsgrad in Deutsch-
land nur auf mittlerem Niveau. Da müssen wir ansetzen.
Wir stehen in der Verantwortung, Internetnutzer aufzu-
klären, damit sie ihren digitalen Umgang sicherer gestal-
ten. Wir müssen die digitale Bildung und den verantwor-
tungsbewussten Umgang mit IT-Systemen in allen
Altersstufen fördern. Schließlich sind in unserer heuti-
gen Welt unsere Daten unser höchstes Gut.

Es wird schon seit Jahren gefordert, auch im Deut-
schen Bundestag den Internetzugang auf WLAN-Tech-
nik auszuweiten.


(Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Allerdings!)


Wir wissen doch, dass hier im Regierungsviertel nicht
nur Mobiltelefone, sondern auch WLAN-Netze extrem
abhörgefährdet sind.


(Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist der Status quo! Geht ohne WLAN!)


Daher bedarf auch dieses Thema, Herr Notz, einer um-
sichtigen Debatte.

Genauso muss uns bewusst sein, dass die sichere Ver-
netzung eine wesentliche Grundlage für unseren wirt-
schaftlichen Erfolg ist. Unser Ziel ist die bestmögliche
IT-Sicherheit zum Schutz unserer Unternehmen.


(Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Einfach abschalten! Gar kein Internet!)






Axel Knoerig


(A) (C)



(D)(B)

Dazu haben wir ein Projekt, das wir als Leuchtturmpro-
jekt herausstellen, nämlich das Zukunftsprojekt Industrie
4.0, das aufzeigt, dass unsere Leitbranchen nur durch
weltweite Vernetzung, Digitalisierung und Internet inter-
national wettbewerbsfähig bleiben.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Das alles darf aber nicht dazu führen, dass wir durch
falsche oder übertriebene Sicherheitsbedenken Furcht
vor Big Data und der Digitalisierung entwickeln; denn
dann werden wir, wie unsere Bundeskanzlerin in diesem
Jahr auf dem IT-Gipfel vortrefflich formulierte, nicht zu
den Wertschöpfungsketten vorstoßen.


(Thomas Jarzombek [CDU/CSU]: Das unterscheidet uns von den Grünen!)


Das geplante IT-Sicherheitsgesetz zielt daher auf die
richtige Balance zwischen Schutz und Umsetzbarkeit
von Sicherheitsstandards ab.

Ich komme zu einem weiteren Aspekt, den der Ge-
setzentwurf der Opposition vernachlässigt, Herr Notz.
Sie haben nämlich völlig vergessen, dass die Haftungs-
frage im europäischen Kontext zu sehen ist. Ihr Entwurf
verkennt die Tatsache, dass wir es beim Internet mit ei-
nem globalen Netz zu tun haben. Alle Äußerungen, die
Sie hier gemacht haben, waren lediglich auf nationale
Themen fokussiert.


Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1806709000

Herr Kollege, erlauben Sie eine Bemerkung oder

Zwischenfrage von Konstantin von Notz?


Axel Knoerig (CDU):
Rede ID: ID1806709100

Herzlich gern.


Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1806709200

Gut.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Vielen Dank. Das ist nett. Ich mache es auch kurz,
und ich habe mich nur gemeldet, weil Sie mich jetzt
dreimal darauf angesprochen haben.

Wissen Sie denn, was die E-Commerce-Richtlinie der
Europäischen Union besagt? Ihre Unterscheidung zwi-
schen öffentlichem Hotel-WLAN und privatem WLAN
kommt darin überhaupt nicht vor. Gerade weil Sie euro-
päisch denken müssen, müssen Sie freie WLAN-Netze
gewährleisten. Das tun Sie aber nicht. Sie regieren jetzt
schon so viele Jahre; das sage ich gerade in Richtung der
Union. Es ist hinterwäldlerisch, dass in Deutschland
diese Regelung noch existiert; vom Bundestag will ich
gar nicht reden. In vielen anderen Ländern ist das nicht
der Fall. So können Sie nicht argumentieren. Mit Europa
brauchen Sie gar nicht zu kommen; das geht genau in die
andere Richtung.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)


Axel Knoerig (CDU):
Rede ID: ID1806709300

Herr von Notz, wir sind uns sicherlich einig, dass wir

dann, wenn wir nationale Angelegenheiten durchdenken,
als Erstes natürlich den europäischen Markt und dann
auch den internationalen Markt in den Blick nehmen
müssen. Das heißt im Klartext für unsere Software- und
IT-Branche, dass nationale Vorgaben uns auf internatio-
nalen Märkten im Grunde genommen hemmen.

Sie haben die europäische E-Commerce-Richtlinie
angesprochen.


(Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Genau!)


Wo befindet die sich zurzeit? Wir erwarten jetzt – dabei
ist mit „jetzt“ eher gemeint: in ein bis zwei Jahren –,
dass der EuGH zu einer Rechtsprechung kommt und uns
auf diese Weise hilfreiche Vorgaben gibt.

Es bleibt dabei: Es ist nicht im Interesse deutscher
Unternehmungen, wenn wir auf nationalem Feld voran-
marschieren; wir müssen es europäisch und international
anpacken.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Haftungsfragen, meine sehr verehrten Damen und
Herren, müssen in der digitalen Welt auf internationaler
Ebene gelöst werden. Sie dürfen nicht bei kleinen natio-
nalen Regelungen enden und einer Umsetzung des euro-
päischen digitalen Binnenmarkts vorgreifen.

Ich wiederhole es gern: Auch der Europäische Ge-
richtshof beschäftigt sich mit dieser Haftungsproblema-
tik. Sein Urteil wird zur Klärung der Rechtslage beitra-
gen.

Darüber hinaus – das ist nicht im engeren Zusammen-
hang damit zu sehen, aber im weiteren Zusammenhang
damit – muss die EU-Datenschutz-Grundverordnung zü-
gig verabschiedet werden.

Wenn man diese Themen aneinanderreiht, mit einer
europäischen Komponente, dann kann auch die natio-
nale Politik hier sinnhaft Vorgaben machen.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1806709400

Vielen Dank, Herr Kollege Knoerig. – Letzter Redner

in dieser Debatte: Christian Flisek für die SPD.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Christian Flisek (SPD):
Rede ID: ID1806709500

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Kolleginnen

und Kollegen! Meine Damen und Herren! Als 1997 das
Informations- und Kommunikationsdienste-Gesetz vom
deutschen Gesetzgeber verabschiedet wurde, haben wir
tatsächlich Neuland betreten. Dieses Gesetz war eine
Pioniertat. Es war das erste spezifische Internetgesetz.
Man hat damals gleichsam Maßstäbe für ganz Europa
gesetzt – und das, wohlgemerkt, in einer Zeit, als es





Christian Flisek


(A) (C)



(D)(B)

Google noch nicht gab und jemand wie Mark Zuckerberg
mit 13 Jahren vielleicht noch andere Dinge im Kopf
hatte als die Gründung von Facebook; von Twitter,
Spotify und Skype ganz zu schweigen.

Zehn Jahre lang spiegelte dieses Gesetz die föderale
Ordnung unseres Landes wider mit dem Nebeneinander
von Teledienstegesetz und Mediendienste-Staatsvertrag.
Der Bund hat die Regelung der Individualkommunika-
tion für sich reklamiert, die Länder haben die Zuständig-
keit für die Massenkommunikation für sich beansprucht.
Dieses Nebeneinander und die daraus resultierenden Ab-
grenzungsschwierigkeiten waren eher eine Arbeitsbe-
schaffungsmaßnahme für Rechtswissenschaftler; es war
keine vernünftige Regelung.

Seit 2007 werden die Regelungen zu diesem Bereich
im Wesentlichen im Telemediengesetz zusammenge-
fasst. Dieses Gesetz regelt die Anbieterkennzeichnung,
die Informationspflichten, den bereichsspezifischen Da-
tenschutz für das Internet und eben auch die Provider-
haftung.

Wesentliche Weichenstellungen bei der Providerhaf-
tung haben sich somit seit 1997 eigentlich nicht verän-
dert. Die Rechtsprechung hat darauf aufgebaut und die
Grundsätze weiterentwickelt. Das wurde in der heutigen
Debatte auch schon angesprochen. Was sich allerdings
verändert hat, ist die technische Entwicklung. Durch
leistungsfähige, vor allen Dingen mobile Endgeräte ist
der Bedarf an WLANs, in die wir uns überall einschalten
können, gestiegen. Auch das Nutzerverhalten hat sich
weiterentwickelt. Streaming mag hier als ein Stichwort
genügen.

Auf diese Entwicklung hat sich die Koalition einge-
lassen. Sie hat sich vorgenommen, hierauf angemessen
zu reagieren. Wir wollen ein mobiles Internet in ganz
Deutschland für jedermann verfügbar machen. Wir wol-
len das Potenzial lokaler WLANs nutzen, vor allem des-
wegen, weil wir dies als einen ganz wesentlichen Beitrag
zum digitalen Fortschritt in Deutschland sehen. Ich bin
dem Kollegen Held dankbar, dass er Passau als Beispiel
zitiert hat. Danke für diesen Werbeblock. Das ist natür-
lich ein schönes Beispiel für die funktionierende und his-
torisch gewachsene pfälzisch-bayerische Freundschaft.

Zu dem notwendigen Breitbandausbau gehört auch
eine Novellierung des Telemediengesetzes. Das eine hat
mit dem anderen viel zu tun. Wir werden die Haftungsre-
gelungen so ausgestalten, dass der Betrieb eines WLANs
nicht zu einem unkalkulierbaren Haftungsrisiko wird,
aber auch nicht zu einer Einladung zu massenhaften
Rechtsverletzungen. Berücksichtigt man dann noch, dass
eine freie und unbeobachtete Kommunikation Verfas-
sungsrang hat, dann genügen, glaube ich, diese wenigen
Aussagen, um das sehr komplexe Problemfeld zu skiz-
zieren und deutlich zu machen. Wir werden als Große
Koalition auf einen angemessenen Ausgleich der Inte-
ressen aller Beteiligten hinarbeiten. Die Nutzer spielen
hier eine wesentliche Rolle, die WLAN-Betreiber, aber
eben auch die Rechteinhaber.

Lieber Konstantin von Notz, bis zu Ihrer Rede hätte
ich eigentlich vorgehabt, auch die Grünen für diesen
konstruktiven Beitrag zur Debatte zu loben. Die einlei-
tende Rede war dann weniger konstruktiv.


(Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ehrt mich, Herr Flisek!)


Ich betone aber ausdrücklich, dass ein solcher Beitrag
von uns ernst genommen wird, weil er – darauf wurde ja
bereits vom Kollegen Held hingewiesen – eben mitten
aus der Zivilgesellschaft stammt.


(Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Der war sehr viel konstruktiver als Sie jetzt!)


Ich hoffe, dass ich mit diesem Lob durch die Blume
deutlich gemacht habe, dass wir diesem Gesetzentwurf
nicht zustimmen werden, schlicht und ergreifend des-
halb, weil wir in der Großen Koalition einen eigenen er-
arbeiten werden, der noch einige weitere Aspekte, die
dringend notwendig sind, berücksichtigt und genau für
diesen angemessenen Ausgleich der Interessen aller Be-
teiligten steht.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)



Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1806709600

Vielen Dank, Herr Kollege. – Damit schließe ich

diese Aussprache.

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/3047 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Es gibt aber einen
Streit über die Federführung. Darüber müssen wir jetzt
entscheiden.

Die Fraktionen der CDU/CSU und SPD wünschen
Federführung beim Ausschuss für Wirtschaft und Ener-
gie, die Fraktionen Bündnis 90/Die Grünen und Die
Linke wünschen Federführung beim Ausschuss für
Recht und Verbraucherschutz. Ich lasse zuerst über den
Überweisungsvorschlag der Fraktionen Bündnis 90/Die
Grünen und Die Linke abstimmen, also Federführung
beim Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz. Wer
stimmt für diesen Überweisungsvorschlag? – Wer
stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Überwei-
sungsvorschlag ist trotz Zustimmung von Bündnis 90/
Die Grünen und der Linken mit der Mehrheit von CDU/
CSU und SPD abgelehnt.

Wir müssen jetzt aber trotzdem über den Überwei-
sungsvorschlag der Fraktionen der CDU/CSU und der
SPD abstimmen, also Federführung beim Ausschuss für
Wirtschaft und Energie. Wer stimmt für diesen Überwei-
sungsvorschlag? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält
sich? – Damit ist dieser Überweisungsvorschlag mit den
Stimmen von CDU/CSU und SPD gegen die Stimmen
von Bündnis 90/Die Grünen und der Linken angenom-
men.

Ich rufe die Tagesordnungspunkte 24 a und 24 b auf:

a) Erste Beratung des von der Bundesregierung
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur
Umsetzung von Empfehlungen des NSU-





Vizepräsidentin Claudia Roth


(A) (C)



(D)(B)

Untersuchungsausschusses des Deutschen
Bundestages
Drucksache 18/3007
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz (f)

Innenausschuss

b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Volker
Beck (Köln), Luise Amtsberg, Kai Gehring, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN

Hasskriminalität wirkungsvoll statt symbo-
lisch verfolgen
Drucksache 18/3150
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz (f)

Innenausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. – Ich höre kei-
nen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache und gebe das Wort Bun-
desminister Heiko Maas für die Bundesregierung.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Heiko Maas, Bundesminister der Justiz und für Ver-
braucherschutz:

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und
Herren! Vor einer Woche haben wir hier an die Aufde-
ckung der Verbrechen des sogenannten Nationalsozialis-
tischen Untergrundes erinnert. Wir waren uns dabei ei-
nig, dass wir aus der Mordserie und aus den Fehlern, die
bei ihrer Aufklärung gemacht worden sind, die richtigen
Konsequenzen ziehen müssen.

Mit dem jetzt vorliegenden Gesetzentwurf setzen wir
die Empfehlungen des NSU-Untersuchungsausschusses
zur Zuständigkeit des Generalbundesanwalts um und än-
dern das Strafgesetzbuch. Der Gesetzentwurf enthält
zwei Teile, mit denen wir die unterschiedlichen Lehren,
die wir aus dem Geschehenen gezogen haben, abbilden
wollen.

Der erste Teil erweitert den Spielraum des General-
bundesanwaltes. Er soll die Ermittlungen in Zukunft
schon dann an sich ziehen können, wenn eine Tat beson-
dere Bedeutung und objektiv staatsschutzfeindlichen
Charakter hat. Bislang ging das nur, wenn zusätzlich
auch noch feststand, dass der Täter eine staatsschutz-
feindliche Zielvorstellung hatte. Das ist zu Beginn der
Ermittlungen aber oft noch gar nicht bekannt. Deshalb
wollen wir das ändern. Wir wollen so sicherstellen, dass
der Generalbundesanwalt frühzeitig eingeschaltet wird,
wenn es um rassistische Taten geht, wie es bei denen des
NSU der Fall gewesen ist. Der Gesetzentwurf stellt au-
ßerdem klar, dass gerade bei länderübergreifenden Fäl-
len mit Staatsschutzbezug eine Zuständigkeit des Gene-
ralbundesanwalts gegeben sein kann.

Aus den Versäumnissen bei den Ermittlungen zum
NSU haben wir vor allen Dingen eines gelernt: Durch
das Nebeneinander verschiedener Untersuchungen kön-
nen wertvolle Informationen verloren gehen, weil der
eine nicht weiß, was der andere bereits herausgefunden
hat. Um genau das zu verhindern, wollen wir in diesen
Fällen eine zentrale Ermittlungstätigkeit bei den Exper-
ten des Generalbundesanwalts möglich machen. Der
Wechsel des Bundeslandes darf nicht mehr dazu führen,
dass sich Täter der Strafverfolgung entziehen können.
Auch das ist eine Lehre aus den Geschehnissen, und wir
ziehen jetzt die Konsequenzen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Der zweite Teil des Gesetzentwurfs befasst sich mit
der sogenannten Hasskriminalität. Wir stellen im Straf-
gesetzbuch nun ausdrücklich klar: Bei der Festsetzung
der Strafe sind auch rassistische, fremdenfeindliche oder
sonstige menschenverachtende Beweggründe des Täters
zu berücksichtigen. Dadurch soll die Bedeutung dieser
Motive für die Strafzumessung der Gerichte hervorgeho-
ben werden. Damit bezwecken wir aber vor allen Din-
gen, dass Staatsanwaltschaft und Polizei ihre Ermittlun-
gen von vornherein auch auf solche Motive erstrecken.
Die Taten rechter Gewalttäter können so künftig nicht
mehr als Kneipenschlägereien, Nachbarschaftskonflikte
oder Jugendsünden abgetan werden. Wir erhoffen uns
davon, dass bereits bei der Ermittlung der Fokus darauf
gelegt wird, ob Taten vorliegen, die möglicherweise ei-
nen rassistischen Hintergrund haben.

Der Untersuchungsausschuss hat festgestellt, dass das
oft halbherzige Vorgehen der Ermittlungsbehörden im
Fall des NSU, aber auch das Vorgehen der Justiz in den
90er-Jahren die rechte Szene in dieser Zeit sogar radika-
lisiert hat. Das galt ganz besonders für das NSU-Trio im
Thüringer Heimatschutz.

Solchen Entwicklungen wird der Staat in Zukunft ent-
schiedener entgegentreten, entgegentreten müssen und mit
den gesetzlichen Grundlagen, die wir schaffen, auch ent-
gegentreten können. Rechte Gewalttaten sollen als das
ermittelt und bestraft werden, was sie tatsächlich sind,
nämlich besonders verwerfliche Angriffe auf schutzbe-
dürftige Opfer und auf unsere offene Gesellschaft insge-
samt gerichtete Gewalttaten. Deshalb ist diese Änderung
bitter notwendig.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Das sind – daraus mache ich gar keinen Hehl – kleine
Schritte auf dem Weg zu einer verbesserten Aufklärung
solcher Taten, auch von Hassverbrechen und insbeson-
dere solch abscheulicher Hassverbrechen wie die, die
wir heute dem sogenannten NSU zuschreiben können.
Ich glaube dennoch: Jeder einzelne Schritt, auch wenn es
nur ein kleiner ist, ist wichtig, wenn wir unser Ziel, dafür
zu sorgen, dass so etwas nicht noch einmal vorkommen
kann, erreichen wollen.

Halit Yozgat ist am 6. April 2006 in Kassel erschos-
sen worden. Als er erschossen wurde, war sein Vater
Ismail ganz in seiner Nähe. Er wollte ihn nachmittags
hinter dem Tresen des Internetcafés ablösen, das die Fa-
milie betrieb. Als Ismail Yozgat ankam, lag sein Sohn





Bundesminister Heiko Maas


(A) (C)



(D)(B)

bereits im Sterben. Bis die Hintergründe dieser Tat fünf
Jahre später endlich geklärt waren, stand Ismail Yozgat,
der Vater, auch selbst lange im Fokus der Ermittlungen.
Er hatte seinen Sohn verloren und wurde nun auch noch
zum Verdächtigen gestempelt. Trotzdem sagte und sagt
Ismail Yozgat, sein Vertrauen in die deutsche Justiz sei
immer groß gewesen und es bleibe groß. Meine Damen
und Herren, ich finde, wir müssen nun alles tun, um die-
ses große Vertrauen in unsere Justiz zu rechtfertigen.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Dieser Gesetzentwurf ist ein Baustein dafür. Das ist
ein Baustein, um aus einem nachlässigen wieder einen
wehrhaften Staat zu machen. Das sind wir ihm, Ismail
Yozgat, und allen Opfern der Verbrechen des NSU bitter
schuldig.

Ich danke Ihnen.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)



Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1806709700

Die Kollegin Martina Renner spricht jetzt für die

Fraktion Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Martina Renner (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1806709800

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Kollegen

und Kolleginnen! Noch immer ereignen sich täglich
zwei bis drei politisch rechts motivierte oder rassistisch
geprägte Gewalttaten in Deutschland. Daran hat sich
nach der Selbstenttarnung des Nationalsozialistischen
Untergrunds überhaupt nichts geändert. Im Gegenteil:
Wie aus der Antwort der Bundesregierung auf eine
Kleine Anfrage meinerseits hervorgeht, haben die Poli-
zeien der Länder seit dem 4. November 2011 über
200 rechte Straf- und Gewalttaten registriert, mit denen
die Täter sich explizit und für alle erkennbar offen und
positiv auf den NSU beziehen und seine rassistischen
Morde und Anschläge verherrlichen.

Einige Beispiele für rassistische Gewalttaten aus den
letzten Monaten: Ende September wird ein syrischer
Arzt in Lößnig bei Leipzig von einem maskierten Mann
mit einem Baseballschläger angegriffen und rassistisch
beleidigt. Mitte Juli schlagen und bedrohen in Gardele-
gen ein Dutzend Neonazis, die T-Shirts mit der Auf-
schrift „Kameradschaft Kommando Werwolf“ trugen,
eine Wirtin, die öffentlich Flüchtlinge unterstützt.

Ob die Strafverfolgungsbehörden, die rassistische und
politisch rechte Motivation dieser Taten erkennen und
vor Gericht angemessen würdigen werden, ist leider
vollständig offen. Daran wird auch der vorgelegte Ge-
setzentwurf überhaupt nichts ändern. Denn die vom
Bundesjustizministerium vorgeschlagene Änderung des
§ 46 StGB ist inhaltlich beliebig und viel zu weit gefasst.
Sie verfehlt das Ziel und beschränkt sich auf eine gefähr-
liche Symbolpolitik.


(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Schon nach der jetzigen Fassung von § 46 StGB sind
Richter und Staatsanwälte gehalten, die Tatmotivation
bei der Strafzumessung zu berücksichtigen. Sie machen
dies aber vor allem bei rassistisch motivierten Gewaltta-
ten in der Regel nicht, wie nicht zuletzt die skandalösen
Urteile zu rassistischen Angriffen in Pirna und Bernburg
eindrücklich gezeigt haben.

Richter und Staatsanwälte, die in Fällen von rechter
Gewalt keine rassistische Tatmotivation anerkennen,
weil der Angriff, wie sie sagen, spontan und unter Alko-
holeinfluss erfolgt sei, werden auch in Zukunft am Kern
des Problems vorbeigehen: Rassismus ist eine Haltung,
die sich in unterschiedlichster Form und bei unterschied-
lichen Gelegenheiten gewaltförmig Bahn bricht. Des-
halb sagen wir: Dieser Gesetzentwurf ist verfehlt.


(Beifall bei der LINKEN sowie der Abg. Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Auch der erleichterten Übernahme von Verfahren durch
die Generalbundesanwaltschaft stehen wir skeptisch ge-
genüber. Was nützt diese Maßnahme, wenn zum Beispiel
in Fällen von 23 Brandanschlägen auf Flüchtlingsunter-
künfte, die in den ersten drei Quartalen dieses Jahres ge-
zählt wurden, die Generalbundesanwaltschaft in keinem
einzigen Fall tätig geworden ist, obwohl sie die Über-
nahme der Ermittlungen geprüft hat? Ich sage dazu: Wir
brauchen eine inhaltliche Neujustierung in Bezug da-
rauf, wie Justiz mit rechtsextremer und rassistischer Ge-
walt umgeht, und keine symbolische Gesetzesänderung.


(Beifall bei der LINKEN)


An anderer Stelle hinkt die Bundesregierung weiter
bei der Umsetzung der Empfehlungen des NSU-Unter-
suchungsausschusses hinterher, nämlich bei der Forde-
rung, dass zukünftig bei allen Gewalttaten gegen Mig-
rantinnen und Migranten auch Rassismus als Tatmotiv
mitermittelt werden muss. Dafür hat der Untersuchungs-
ausschuss eine Änderung der sogenannten RiStBV vor-
geschlagen. Im Sommer sollte hierzu eine Abstimmung
in der Justizministerkonferenz stattfinden. Nun ist es
Herbst, und diese wirklich dringende Vorgabe lässt im-
mer noch auf sich warten. Wir unterstützen deshalb aus-
drücklich den Antrag von Bündnis 90/Die Grünen, der
sich dieser Thematik annimmt.


(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Unsere Forderungen nach Umsetzung der gemeinsam
beschlossenen Empfehlungen aus den NSU-Untersu-
chungsausschüssen gehen aber weiter. Die Untersu-
chungsausschüsse haben deutlich gemacht, dass institu-
tioneller Rassismus die polizeilichen Ermittlungen zur
Ceska-Mordserie sowohl im Umgang mit den Angehöri-
gen geprägt als auch bei der Suche nach den Tätern mas-
siv behindert hat. Wir fordern eine umfassende Studie,
die nach Rassismus im Polizeiapparat fragt und uns end-
lich verlässliche Zahlen gibt, damit die Debatte insbe-
sondere bei denen, die dieses Phänomen negieren, auf
sachliche Grundlagen gestellt werden kann. Das Gleiche
gilt übrigens für die längst überfällige Einrichtung von
unabhängigen Polizeibeschwerdestellen.


(Beifall bei der LINKEN)






Martina Renner


(A) (C)



(D)(B)

Noch ein paar Worte zum Bundesprogramm. Auch
bei der Umsetzung der dringend empfohlenen Unterstüt-
zung der Projekte gegen Rechtsextremismus ist die Ko-
alition, so sagen wir, auf halber Strecke stehen geblie-
ben. Statt die Mittel auf 50 Millionen Euro zu erhöhen,
fehlen jetzt immer noch 10 Millionen Euro. Das macht
sich vor allem im Westen bemerkbar, wo beispielsweise
in Baden-Württemberg, Niedersachsen und Hessen im-
mer noch spezialisierte Opferberatungsstellen fehlen.

Auch wenn der Haushaltsausschuss in letzter Minute
das Förderprogramm auf 40 Millionen Euro aufgestockt
hat, entspricht dies meiner Meinung nach keineswegs
den Schlussfolgerungen, die wir aus dem NSU-Komplex
ziehen: Mit den Erhöhungen sollen nämlich in Zukunft
auch noch Salafismus und Islamismus als Schwerpunkte
bearbeitet werden. Ich bin durchaus der Meinung, dass
Salafismus und Islamismus ein drängendes Problem
sind. Allerdings benötigt die Auseinandersetzung damit
ein eigenes differenziertes Programm.


(Beifall bei der LINKEN)


Die Lehren aus dem NSU-Komplex zu ziehen, bedeu-
tet eine verstärkte gesamtgesellschaftliche Auseinander-
setzung mit Rassismus auf allen Ebenen, auch in den In-
stitutionen. Ein antiextremistischer Gemischtwarenladen
wird diesem Problem keineswegs gerecht werden.

Wir hatten versucht, zwei Änderungsanträge in die
heutige Debatte einzubringen. Mit dem einen wollten
wir die Aufstockung der Mittel für das Bundesprogramm
auf 50 Millionen Euro erreichen.


Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1806709900

Frau Kollegin Renner, Sie denken an die vereinbarte

Redezeit!


Martina Renner (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1806710000

Okay. – Mit dem anderen wollten wir uns für ein hu-

manitäres Bleiberecht für die Opfer rassistischer Gewalt
engagieren. Beides durfte der Beratung heute nicht bei-
gefügt werden. Wir bedauern das sehr und glauben, dass
diese Entscheidung der Sache schadet und allein partei-
politisch motiviert ist. Das tut der Auseinandersetzung
mit dem NSU-Komplex nicht gut.


(Beifall bei der LINKEN)



Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1806710100

Für die CDU/CSU spricht jetzt der Kollege Dr. Volker

Ullrich.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)



Dr. Volker Ullrich (CSU):
Rede ID: ID1806710200

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Vor zehn Tagen hat der Deutsche Bundestag in
einer würdigen Debatte des dritten Jahrestages der Auf-
klärung der Terrorzelle des Nationalsozialistischen Un-
tergrunds gedacht. Das Gebot der Stunde ist nicht nur die
weitere Aufklärung der noch offenen Fragen, sondern
auch ein entschiedenes und entschlossenes Handeln. Das
bedeutet für uns die Abarbeitung der 47 Empfehlungen
des NSU-Untersuchungsausschusses. Das sind wir uns,
das sind wir den Opfern schuldig.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Der Gesetzentwurf der Bundesregierung trägt dieser
Verpflichtung Rechnung. Mit dem Gesetzentwurf wer-
den im Bereich der Justiz und Strafverfolgung zwei
wesentliche Anker gesetzt, die vielleicht nicht die Welt
verändern, die aber im Zusammenspiel der Strafverfol-
gungsbehörden und auch bei der Bemessung der Strafe
die notwendigen Akzente setzen, um vergleichbare
Sachverhalte zukünftig zu verhindern.


(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Verbrechen!)


Wir ändern die Zuständigkeit des Generalbundesan-
walts in Staatsschutzsachen. Das ist eine sensible Mate-
rie. Denn es geht hier nicht nur um die Frage, wofür der
Generalbundesanwalt zuständig ist, sondern es handelt
sich auch um eine Frage im Kernbereich des Verhältnis-
ses zwischen dem Bund und den Ländern. Die Länder
sind nach unserem Grundgesetz grundsätzlich auch zur
Verfolgung und Aburteilung von Strafsachen zuständig.
Der Bund hat nur eine sehr begrenzte Zuständigkeit, die
er vor dem Hintergrund unseres Verfassungsgefüges sehr
sensibel und zurückhaltend wahrzunehmen hat. Den-
noch sind die hier vorgeschlagenen Maßnahmen vor
dem Hintergrund unserer Verfassungsordnung notwen-
dig. Ja, ich meine, sie sind auch geboten.

Die Frage der Zuständigkeit des Generalbundesan-
walts bei Staatsschutzsachen darf sich zukünftig nicht
mehr stellen, wenn die Straftaten „bestimmt und geeig-
net sind“. Denn im Untersuchungsausschuss ist zu Recht
festgestellt worden, dass die Frage der subjektiven Mo-
tivlage des Vorsatzes nur sehr schwer zu bemessen ist.
Wenn dann der Generalbundesanwalt im Zweifel, weil
diese subjektiven Umstände nicht vorhanden sind, auf
seine Möglichkeiten verzichtet, dann ist der Staat viel-
leicht nicht so wehrhaft, wie er tatsächlich sein müsste.
Deswegen ist es richtig, dass zukünftig die objektive Be-
stimmung einer Tat ausreicht, die Kompetenz des Gene-
ralbundesanwalts zu begründen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Es ist auch richtig, dass die Staatsanwaltschaften der
Länder zukünftig eine Vorlagepflicht gegenüber dem
Generalbundesanwalt haben. Damit soll sichergestellt
werden, dass der Generalbundesanwalt bei länderüber-
greifenden Sachverhalten – seien wir ehrlich, Verbrecher
und Feinde unserer Freiheit halten sich nicht an Länder-
grenzen – von sich aus prüft, ob seine Kompetenz be-
gründet ist und er mit seinem Apparat und mit seinen
Möglichkeiten die Strafverfolgung an sich zieht.

Das setzt etwas voraus, worüber wir in den nächsten
Jahren sprechen müssen, nämlich die tatsächliche Fähig-
keit des Generalbundesanwalts als Behörde, diesem er-
höhten Arbeitsaufwand Rechnung zu tragen. Es kann
nicht sein, dass wir in einem Gesetzentwurf wohlfeile
Worte und mehr Kompetenzen begründen, aber dem Ge-
neralbundesanwalt dann nicht die Möglichkeiten bieten,





Dr. Volker Ullrich


(A) (C)



(D)(B)

diese Kompetenzen auszufüllen. Deswegen bedeutet
eine Stärkung des Generalbundesanwalts auch eine per-
sonelle und sachliche Aufstockung. Anders geht es
nicht.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Auch die zweite Stufe dieses Gesetzesvorhabens ist
ein wichtiger Schritt im Bereich unserer Strafrechts-
pflege: die Verankerung von rassistischen, fremden-
feindlichen und menschenverachtenden Motiven bei der
Strafzumessung.


(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das gibt es doch schon! Nichts Neues!)


Bislang ist im § 46 des Strafgesetzbuches eine Aufzäh-
lung von Motiven spezieller Art nicht zu finden. Es ist
ein Paradigmenwechsel in der Systematik des Straf-
rechts, dass wir von einer allgemeinen Grundlage der
Strafzumessung hin zu speziellen Motiven kommen.
Auch bislang finden besondere Motive, wenn es um die
Schuld geht, schon Berücksichtigung. Wir haben im
Grunde genommen also keine strafrechtliche, sondern
eine rechtspolitische und moralische Regelungslücke.
Diese schließen wir mit diesem Gesetzentwurf.


(Beifall bei der CDU/CSU – Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Im Strafrecht!)


Auch wenn hier „rassistisch“ und „fremdenfeindlich“
steht und es damit in erster Linie, wie Sie formuliert ha-
ben, um die Opfer rechtsextremer Gewalt geht, geht die-
ser Gesetzentwurf natürlich weiter. Er richtet sich gegen
die Feinde unserer Freiheit insgesamt. Er richtet sich ge-
gen Linksextreme. Er richtet sich gegen Dschihadisten,
gegen Salafisten, gegen alle, die aus tiefster Überzeu-
gung unsere Freiheit und andere Menschen angreifen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD – Tankred Schipanski [CDU/ CSU]: Sehr richtig! Nicht nur gegen die Rechtsextremisten!)


Es wird abzuwarten sein, wie sich die besondere Strafzu-
messung in der Rechtspraxis bewähren wird.


Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1806710300

Herr Kollege Ullrich, gestatten Sie eine Zwischen-

frage oder Bemerkung des Kollegen Ströbele?


Dr. Volker Ullrich (CSU):
Rede ID: ID1806710400

Ja.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Herr Kollege, danke. – Wenn Sie sagen: „Da muss das
Strafrecht verändert werden“, meinen Sie damit, dass in
dem laufenden Prozess vor dem Oberlandesgericht Mün-
chen, wenn es zu einer Verurteilung kommen sollte – das
wissen wir ja nicht; wir wollen dem auch nicht vorgrei-
fen –, solche Überlegungen, die Ihrer Meinung nach der-
zeit im Gesetz noch nicht hinreichend Berücksichtigung
finden, bei der Strafzumessung nicht berücksichtigt wür-
den? Das ist nur ein Beispiel; es gibt ja auch viele andere
Verfahren, in denen es um ähnliche Themen und Verbre-
chen geht. Sind Sie also der Auffassung, dass Motive
wie Hass und Ähnliches, die Sie jetzt ins Gesetz aufneh-
men wollen, bei der Strafzumessung derzeit nicht be-
rücksichtigt werden?


Dr. Volker Ullrich (CSU):
Rede ID: ID1806710500

Herr Kollege Ströbele, ich nehme den Verfassungs-

grundsatz der Gewaltenteilung ernst. Deswegen werde
ich mich als Mitglied des Deutschen Bundestages nicht
zu einem laufenden Strafverfahren äußern.


(Steffi Lemke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Er hat ja allgemein gefragt!)


Wenn Sie aber allgemein fragen, ob diese Strafbemes-
sungsvorschriften eine Relevanz haben oder nicht, so
muss ich Ihnen erwidern, dass Sie nicht ordentlich zuge-
hört haben.


(Irene Mihalic [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Er kann aber lesen!)


Ich habe gerade gesagt, dass die Motivlage eines Täters
schon nach dem jetzigen § 46 Strafgesetzbuch Berück-
sichtigung findet und finden muss,


(Dr. André Hahn [DIE LINKE]: Aber warum wird es nicht gemacht? Es wird ja nicht gemacht!)


dass es hier aber um die rechtspolitische und moralische
Grundsatz- und Wertentscheidung des Gesetzgebers
geht, besondere Motive in Worte zu fassen,


(Irene Mihalic [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Weiße Salbe)


um damit die Wertentscheidung, die der Gesetzgeber ge-
troffen hat, deutlich zu machen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Ich darf abschließend sagen: Wir müssen aufpassen,
dass diese Änderung des § 46 Strafgesetzbuch so formu-
liert und von der Rechtspraxis so gelebt wird, dass die
Vertreter unserer rechtsprechenden Gewalt revisions-
feste Urteile schreiben können. Es darf nicht so sein,
dass wir Gutes gewollt, letzten Endes aber für eine
schwierige Situation gesorgt haben.

Aber abgesehen von der Frage einer rechtlichen Än-
derung ist es wichtig, dass wir insgesamt das Bewusst-
sein eines demokratischen und wehrhaften Rechtsstaates
pflegen und dass wir alle aufgerufen sind, dafür einzu-
treten, dass Unrecht dem Recht weicht, dass die Men-
schenwürde und der demokratische Rechtsstaat in keiner
Sekunde und bei keiner Gelegenheit zur Diskussion ge-
stellt werden.

Das ist die wichtigste Botschaft dieses Gesetzentwur-
fes. Deswegen lassen Sie uns mit diesen Grundlagen ge-
meinsam in die Beratung gehen.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)







(A) (C)



(D)(B)


Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1806710600

Danke schön. – Die Kollegin Monika Lazar spricht

als Nächste für Bündnis 90/Die Grünen.


Monika Lazar (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1806710700

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das

Auffliegen des NSU setzte viele Aktivitäten in Gang:
Untersuchungsausschüsse tagten, Aktenberge wurden
angehäuft, und parlamentarische Beschlüsse wurden ge-
fasst. Die rechtsterroristischen Morde haben Staat und
Gesellschaft aufgerüttelt – für die Opfer und ihre Ange-
hörigen leider zu spät. Hat all die Geschäftigkeit dazu
geführt, dass potenzielle Opfer in Zukunft wirksamer
vor rassistischer Gewalt geschützt sind? Werden die
Missstände in den staatlichen Strukturen, die das Fiasko
ermöglichten, beseitigt? Nun, damit stehen wir erst ganz
am Anfang.

Gerade jährte sich die NSU-Selbstenttarnung zum
dritten Mal. Wir gedachten vor wenigen Tagen der Op-
fer, während die Angehörigen bis heute vergebens auf
die lückenlose Aufklärung warten, die ihnen einst auch
Kanzlerin Merkel versprach. Weder wurde die Vernet-
zung des NSU umfassend offengelegt, noch das gravie-
rende Versagen der Sicherheitsbehörden konsequent ge-
ahndet. Im Fokus steht das Fehlverhalten einzelner
Bediensteter, aber nicht der strukturelle Rassismus, der
das Klima für solche Ermittlungsfehler schafft und ver-
stärkt.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)


Rassismus zerstört unseren gesellschaftlichen Zusam-
menhalt. Wir müssen ihn deshalb auf allen Ebenen be-
kämpfen.

Nun legt die Bundesregierung diesen Gesetzentwurf
vor, in dem unter anderem auf ein härteres Durchgreifen
gegenüber Tätern von Hasskriminalität gesetzt wird. In
§ 46 Absatz 2 des Strafgesetzbuches sollen die Tatmo-
tive „rassistisch“, „fremdenfeindlich“ und „menschen-
verachtend“ künftig explizit benannt und bei der Strafzu-
messung stärker berücksichtigt werden.

Längere Haftstrafen hätten dann eine abschreckende
Wirkung und dies wiederum würde zu weniger Opfern
führen, so in etwa hat sich das Justizminister Maas wohl
gedacht. Außerdem sollen die Staatsanwaltschaften be-
stimmte Tatmotive mehr beachten. Die Vorschläge aller-
dings gehen am Kern des Problems vorbei; denn wenn
bereits bei der polizeilichen Erfassung rassistische Tat-
motive unerkannt bleiben, können diese später auch bei
der Strafzumessung keine Berücksichtigung finden.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Zudem ist es so, dass viele Straftaten erst in den Sta-
tistiken der zivilgesellschaftlichen Opferberatungsstellen
als Hasskriminalität sichtbar gemacht werden. Deren
Zahlen liegen regelmäßig höher als die der offiziellen
Polizeistatistik. Ein solches Erfassungsdefizit ist aber
kein Problem der geltenden Rechtslage und lässt sich
auch nicht mit der geplanten Paragrafenkosmetik än-
dern.

Wer etwas anwenden soll, muss dafür sensibilisiert
werden. Die verschiedenen Formen von Hassdelikten
müssen in Aus- und Fortbildungen vermittelt werden,
damit die staatlichen Behörden und diejenigen, die dort
arbeiten, damit umgehen können. Menschenrechtsarbeit
und interkulturelle Bildung sind wichtig, und der Nach-
holbedarf ist leider nach wie vor groß.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


In unserem grünen Antrag zur Bekämpfung der Hass-
kriminalität betonen wir die Bedeutung einer konse-
quenten Ermittlung der Motive und der Verfolgung von
Hasskriminalität. Sie richtet sich nicht nur gegen die ein-
zelnen Menschen. Das Opfer wird aufgrund seiner tat-
sächlichen oder zugeschriebenen Zugehörigkeit zu einer
bestimmten Gruppe angegriffen. Besonders oft werden
Menschen aufgrund der ethnischen Herkunft, sexuellen
Orientierung oder Geschlechtsidentität, der Religion
oder Weltanschauung oder einer Behinderung zum Ziel
von Hassverbrechen. Auch diese Motive gehören unbe-
dingt bei der rechtspolitischen Präzisierung in den Blick.

In einer Pressemitteilung des Lesben- und Schwulen-
verbandes vom heutigen Tag wird darauf verwiesen,
dass es hier eine Regelungslücke gibt. Zudem gibt es
weitere Kriterien, die von einer Expertenkommission
hinsichtlich ihrer Berücksichtigung geprüft werden müs-
sen. Das gilt zum Beispiel für Geschlecht, Alter, politi-
sche Einstellung und den sozialen Status in Bezug auf
Wohnungslose und andere offenkundig sozial Ausge-
grenzte.

Alle genannten Kriterien sind Formen von gruppen-
bezogener Menschenfeindlichkeit. Ohne einen gesamt-
gesellschaftlichen Ansatz kann eine Auseinandersetzung
nicht gelingen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Dr. André Hahn [DIE LINKE])


Ein Beitrag zur umfassenden Prävention ist auch die
Stärkung des Bundesprogramms gegen Rechtsextremis-
mus. Schon mehrfach jammerte Ministerin Schwesig öf-
fentlich, dass sie mehr Geld für ihr neues Bundespro-
gramm „Demokratie leben!“ braucht. In der Regierung
konnte sie sich allerdings nicht durchsetzen.


(Tankred Schipanski [CDU/CSU]: Wir diskutieren hier über den Justizbereich, Frau Kollegin! Können Sie mal zur Sache sprechen? Es geht um das BMJ! – Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Es ist keine Haushaltsberatung!)


– Ich habe fünf Minuten zu Ihrem Gesetzentwurf gespro-
chen. Ich nehme an, dass Ihnen, jedenfalls den Kollegin-
nen und Kollegen der SPD, das Bundesprogramm „De-
mokratie leben!“ am Herzen liegt. Deshalb wollte ich
Sie zum Schluss noch loben. Aber Sie haben es wahr-
scheinlich nicht verdient.





Monika Lazar


(A) (C)



(D)(B)


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN – Dr. Eva Högl [SPD]: Wir nehmen das Lob sehr gern an, Frau Lazar! – Tankred Schipanski [CDU/CSU]: Frau Schwesig ist doch gar nicht da!)


– Frau Schwesig ist nicht da, aber die Mittel für ihr Bun-
desprogramm wurden gestern in der Bereinigungssit-
zung zum Haushalt um 10 Millionen Euro erhöht.
Zumindest die Kolleginnen und Kollegen der SPD-Bun-
destagsfraktion haben sich darüber gefreut.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der LINKEN)


Die grüne Bundestagsfraktion fordert seit vielen Jah-
ren eine Erhöhung der Bundesmittel für Maßnahmen ge-
gen Rechtsextremismus und andere Formen gruppenbe-
zogener Menschenfeindlichkeit auf jährlich mindestens
50 Millionen Euro. Deshalb ist das, auch wenn es noch
nicht weit genug geht, ein Schritt in die richtige Rich-
tung. Ich will hier das Positive in den Vordergrund stel-
len und mich lobend äußern.

Ich hoffe, dass die 10 Millionen Euro auch der Opfer-
beratung und den mobilen Beratungsstellen zugutekom-
men. Denn auch diese tragen dazu bei, Hasskriminalität
besser zu erkennen. Dazu gehört auch, sich weiterhin an
entsprechenden Aus- und Fortbildungen zu beteiligen.
Mir war es jedenfalls wichtig, dass auch dieser Aspekt in
dieser Debatte eine Rolle spielt.

Ich bedanke mich.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)



Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1806710800

Die Kollegin Dr. Eva Högl spricht jetzt für die Sozial-

demokraten.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. Eva Högl (SPD):
Rede ID: ID1806710900

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Liebe Frau Lazar, ganz herzlichen Dank für
das Lob, das wir sehr gerne entgegengenommen haben.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


10 Millionen Euro sind kein Pappenstiel. Dass das Pro-
gramm jetzt auf mehr als 40 Millionen Euro aufgestockt
wird, war gestern ein guter Beschluss. Darüber haben
wir uns sehr gefreut.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir haben mit dem
Abschlussbericht des NSU-Untersuchungsausschusses
im September 2013 50 Maßnahmen vorgeschlagen, die
die Zustimmung aller Fraktionen im Deutschen Bundes-
tag fanden. Deswegen sind diese Empfehlungen eine ge-
meinsame Verpflichtung für uns alle im Bundestag.

Wir brauchen Reformen – das wurde bereits festge-
stellt – bei der Polizei, beim Verfassungsschutz und auch
bei der Justiz. Heute geht es in unserer Debatte um die
Justiz. Justizminister Heiko Maas hat dazu gute und
wichtige Vorschläge vorgelegt.

Zunächst geht es um die Stellung des Generalbundes-
anwalts. Bei der NSU-Mordserie wäre, so haben wir im
Untersuchungsausschuss festgestellt, eine zentrale Über-
nahme durch den Generalbundesanwalt oder auch ein
staatsanwaltschaftliches Sammelverfahren nicht nur
denkbar, sondern auch erfolgversprechender gewesen.


(Dr. André Hahn [DIE LINKE]: Und notwendig!)


– Das wäre notwendig gewesen. – Die Forderung nach
einem zentralen Ermittlungsverfahren wurde auch sei-
tens der Staatsanwaltschaften Rostock und München er-
hoben. Deswegen haben wir uns entschlossen, genau an
diesem Punkt anzusetzen und dem Generalbundesanwalt
dies zu ermöglichen. Er hat auch selbst geprüft, ob eine
Übernahme des Verfahrens in Betracht kommt. Aber
weil dafür eine subjektiv staatsschutzfeindliche Zielvor-
stellung Voraussetzung ist, hat er das abgelehnt. Zu den
Details, wie er das geprüft hat – nämlich leider nur auf
Grundlage von Presseberichten –, könnte man durchaus
noch etwas anmerken.

Aber wir sind jedenfalls zu der Erkenntnis gekom-
men, dass für die Übernahme des Verfahrens durch den
Generalbundesanwalt ein objektiv staatsschutzfeindlicher
Charakter der Tat ausreicht und wir dies nicht zusätzlich
mit der Voraussetzung einer subjektiv staatsschutzfeindli-
chen Motivation verbinden dürfen. Das regelt der Ge-
setzentwurf. Außerdem soll der Generalbundesanwalt
bei länderübergreifenden Straftaten die Verfahren über-
nehmen können, sodass ein Kompetenzgerangel, wie wir
es beim NSU erlebt haben, künftig vermieden werden
kann. Wir erleichtern die Führung eines Sammelverfah-
rens.

Ich finde einen Punkt sehr wichtig, den ich hervorhe-
ben möchte: Der Generalbundesanwalt wird mit dem
Gesetz die Möglichkeit bekommen, frühzeitig in lau-
fende Ermittlungen eingebunden zu werden, wenn es
Anhaltspunkte dafür gibt, dass seine Zuständigkeit in
Betracht kommt. Das ist eine sehr wichtige Änderung.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


Ich nehme gerne Stellung zu § 46 Absatz 2 StGB und
auch zu dem Vorwurf, es handele sich hierbei um sym-
bolische Gesetzgebung. § 46 Absatz 2 sieht selbstver-
ständlich schon jetzt vor, lieber Kollege Ströbele, dass
eine rassistische, rechtsextreme, fremdenfeindliche Mo-
tivation strafverschärfend beim Strafurteil berücksichtigt
werden kann. Wir wissen aber, dass das in der Praxis
– das wurde hier schon angesprochen – nur in Ausnah-
mefällen geschieht. Die Gerichte berücksichtigen diese
Motivation häufig nicht.

Ich möchte den Fall eines Paars aus Hoyerswerda
schildern, den ich schon einmal angesprochen habe. Die
Polizei in Hoyerswerda hat das Paar aufgefordert, umzu-
ziehen, weil sie das Paar nicht mehr schützen konnte.
Die Wohnung des Paars wurde stundenlang von rechts-
extremen Tätern belagert. Das Paar erhielt Todes- und
Vergewaltigungsdrohungen. Die Täter traten gegen die





Dr. Eva Högl


(A) (C)



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Wohnungstür und sangen Naziparolen. Der Spion wurde
zugeklebt. Die Täter wurden im Januar 2014 verurteilt.
Ihre rechtsextreme Tatmotivation und politische Einstel-
lung wurden nur deshalb berücksichtigt, weil die Betrof-
fenen als Nebenkläger im Prozess sehr engagiert auftra-
ten und darauf gedrungen haben.

Ich möchte Ihnen ein weiteres Beispiel nennen, das
Sie sicherlich in den Medien verfolgt haben. Eine Fami-
lie aus Syrien wurde auf dem Volksfest „Eisleber Wiese“
brutal zusammengeschlagen. Wir alle haben diesen Fall
zur Kenntnis nehmen müssen. Teilweise konnte das Le-
ben der Betroffenen nur mit Mühe gerettet werden. Die
Vorsitzende Richterin fand – das ist ein positives Bei-
spiel – bei ihrem Urteil deutliche Worte, hob die fremden-
feindliche Gesinnung der Täter hervor und verurteilte sie
scharf. Wie wir sehen, gibt es also Möglichkeiten. Aber
wir wollen § 46 Absatz 2 ändern, damit es nicht bei der
Möglichkeit bleibt und dies den Gerichten überlassen
bleibt – in der Praxis wird eine solche Motivation, wie
gesagt, selten strafverschärfend gewürdigt –, sondern da-
mit es eine Verpflichtung dazu gibt, solche Motivationen
strafverschärfend zu berücksichtigen.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


Ich halte Folgendes für sehr wichtig – deswegen ist es
keine symbolische Gesetzgebung –: Eine solche Klar-
stellung und Verdeutlichung in § 46 Absatz 2 wird Aus-
wirkungen auf die strafrechtlichen Ermittlungsverfah-
ren, auf das Vorfeld vor einem strafrechtlichen Urteil,
haben.


(Dr. André Hahn [DIE LINKE]: Hoffentlich!)


Denn Polizei und Staatsanwaltschaft sind natürlich ganz
anders gehalten, auch in diese Richtung zu ermitteln,
wenn sie wissen, dass die Strafgerichte diese Motivation
dann strafverschärfend berücksichtigen. Deshalb ist das
eine gute und wichtige Änderung.

Eine letzte Bemerkung zur RiStBV. Ich denke – ich
hoffe, dass ich hier im Namen vieler Kolleginnen und
Kollegen spreche –, dass die Dienstanweisungen und Er-
mittlungsrichtlinien für Straf- und Bußgeldverfahren nun
so geändert werden müssen, wie es der NSU-Untersu-
chungsausschuss vorgeschlagen hat. Es ist unsere Forde-
rung Nummer eins, dass eine fremdenfeindliche Motiva-
tion zwingend geprüft werden muss. Wir erwarten mit
Spannung, dass sich die Justizministerinnen und Justiz-
minister entsprechend positionieren und einen Beschluss
fassen.

Ich denke, wir sind auf einem guten Weg. Ich freue
mich auf die weitere Umsetzung der Beschlüsse des
NSU-Untersuchungsausschusses.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)



Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1806711000

Abschließender Redner zu diesem Tagesordnungs-

punkt ist der Kollege Tankred Schipanski von der CDU/
CSU.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Tankred Schipanski (CDU):
Rede ID: ID1806711100

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Als Mit-

glied des NSU-Untersuchungsausschusses der 17. Legis-
laturperiode freue ich mich natürlich, dass nunmehr auch
das BMJV die Umsetzung der Empfehlungen des Unter-
suchungsausschusses vorantreibt. Schnell wurde bei un-
serer Aufklärungsarbeit klar, dass es nicht nur Polizei
und Verfassungsschutz sind, die einer kritischen Be-
trachtung bedürfen, sondern allen voran auch die Rolle
der Staatsanwaltschaften und der Gerichte.


(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das stimmt!)


Die Staatsanwaltschaft als die Herrin des Verfahrens, der
bis zur NSU-Aufklärung über Zweifel erhabene Gene-
ralbundesanwalt und einfachste Anordnungen durch das
Gericht im Rahmen klassischer Ermittlungsarbeit, auf
allen diesen Feldern mussten wir eklatante Mängel fest-
stellen. Ich erinnere mich an den Zeugen Dr. Förster, bei
dessen Aussage wir fast den Glauben an die Arbeits-
weise des GBA verloren haben; Frau Högl hat das be-
reits angesprochen. Ich erinnere mich an die Aussage
des Zeugen Staatsanwalt Schultz aus Gera, bei der wir
feststellen mussten, dass die Justiz in Thüringen in den
90er-Jahren absolut überfordert war; der Minister hat das
bereits angesprochen. Wir haben fraktionsübergreifend
– darauf hat Frau Högl zu Recht hingewiesen – Hand-
lungsempfehlungen beschlossen, die auch den Bereich
der Justiz betreffen.

Einen Baustein beraten wir heute hier in erster Le-
sung. Ich sage ganz bewusst: einen Baustein; denn wir
wissen um die Maßnahmen, die bereits in der letzten Le-
gislatur ergriffen wurden, gerade im Hinblick auf Num-
mer 15 und Nummer 202 in der RiStBV. Ich denke auch
an die Standards, die sich der Generalbundesanwalt für
seine Arbeit gegeben hat. Heute erfolgt nun ein nächster,
aber nicht der letzte Schritt mit Blick auf die Anpassung
des Gerichtsverfassungsgesetzes.

Mit der vorliegenden Anpassung des GVG wollen wir
die Begründung der Zuständigkeit des Generalbundes-
anwaltes vereinfachen sowie sicherstellen, dass der
GBA frühzeitig in laufende Ermittlungen einbezogen
wird. Die Anpassung des GVG tut not, weil wir im Rah-
men der NSU-Aufklärung praxisnah erlebt haben, dass
die Zusammenarbeit zwischen dem GBA und den
Staatsanwälten eben nicht richtig funktioniert.

Einen eigenen Akzent setzen die Kollegen des Rechts-
ausschusses, wenn sie nunmehr im Bereich der Strafzu-
messung über die Empfehlung des Untersuchungsaus-
schusses hinausgehen und eine ausdrückliche Regelung
aufnehmen, um fremdenfeindliche Beweggründe bei ei-
ner Tat schärfer zu ahnden.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Das sind richtige Schritte, und ich erinnere zugleich
daran, dass weitere im Bereich der Justiz umgesetzt wer-
den. Es bedarf sicherlich mit Blick auf den Informations-





Tankred Schipanski


(A) (C)



(D)(B)

austausch zwischen Staatsanwaltschaften und Polizei
oder auch im Hinblick auf den Opferschutz weiterer
Maßnahmen; denn noch heute erleben wir in der Praxis
Defizite beim Umgang mit Opfern extremistischer Ge-
walt. Die Opferberatungsstelle ezra der Evangelischen
Kirche in Mitteldeutschland in Neudietendorf hat in die-
sem Jahr einen Bericht vorgelegt, der aufzeigt, wo noch
Handlungsbedarf besteht.

Der Name der Studie „Die haben uns nicht ernst ge-
nommen“ zeigt exemplarisch, wo in der Praxis noch Op-
timierungsbedarf bei der Arbeit mit Opfern extremisti-
scher Gewalt vorhanden ist. Da geht es nicht immer um
große Gesetzesänderungen, sondern es reicht oftmals
schon die Anpassung von Verhaltensrichtlinien oder Be-
lehrungsvorschriften. Dreh- und Angelpunkt ist oftmals
diese RiStBV, bei deren Anpassung auch die Bundeslän-
der gefordert sind. Ich gehe davon aus, dass Sie, Herr
Minister, regelmäßig im Rechtsausschuss über die Um-
setzung der Empfehlungen des NSU-Untersuchungsaus-
schusses und auch über die Zusammenarbeit mit den
Landesjustizministern in diesem Zusammenhang berich-
ten werden.

Wir als Parlament bleiben dran, wir machen Druck.
Der Bericht der Bundesregierung vom 18. Februar die-
ses Jahres zum Umsetzungsstand der Empfehlungen des
NSU-Untersuchungsausschusses zeigt einen klaren
Fahrplan auf. Wir werden anhand dieses Berichtes sowie
anhand der Empfehlungen kontrollieren, inwieweit diese
Umsetzung erfolgt. Die Debatte zum dritten Jahrestag
der NSU-Aufklärung hat dies, denke ich, hier im Bun-
destag sehr deutlich gemacht.

Im Übrigen verbietet sich da jegliche Empörungsrhe-
torik. Noch nie haben eine Bundesregierung oder ein
Parlament so planvoll und detailliert auf die Ergebnisse
eines Untersuchungsausschusses reagiert.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Neben den Maßnahmen im Bereich der Justiz sind es
vor allem Maßnahmen im Bereich des Verfassungsschut-
zes und der Polizei, die wir als Konsequenz aus dem
NSU-Komplex ergreifen. Ziel ist es dabei, dass wir
unseren Staat weiterhin aktiv vor Extremismus und Ter-
rorismus schützen. Ich erinnere an die Worte unseres
Bundesinnenministers Thomas de Maizière: keine Maß-
nahme ohne Kenntnis.

Kenntnis erlange ich nur durch Vorfeldaufklärung. Im
Freistaat Thüringen schickt sich die Linke an, gemein-
sam mit einer unheiligen Allianz aus SPD und Grünen,


(Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das musste jetzt kommen!)


diese Vorfeldaufklärung abzuschaffen.


(Beifall der Abg. Halina Wawzyniak [DIE LINKE])


Mich schockiert es, heute in den Medien lesen zu müs-
sen, dass Rot-Rot-Grün in Thüringen die V-Leute ab-
schaffen will

(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)


und somit eine effektive Extremismusbekämpfung ver-
hindert. Mich schockiert, dass dieses Bündnis, statt
Staatswohl zu fördern, nunmehr das Staatswohl gefähr-
det.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Zurufe von der SPD)


In Thüringen wird das Gegenteil von dem gemacht,
was der NSU-Untersuchungsausschuss hier im Bundes-
tag empfohlen hat. Ich kann die Kollegen der SPD und
der Grünen nur eindringlich vor einem solchen Bündnis
warnen. Liebe Grüne, unter diesem Blickwinkel relati-
viert sich auch Ihr Antrag, den Sie heute vorlegen.


(Abg. Martina Renner [DIE LINKE] meldet sich zu einer Zwischenfrage)



Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1806711200

Herr Kollege.


Tankred Schipanski (CDU):
Rede ID: ID1806711300

Ich freue mich auf eine Kurzintervention. Ich bin

nämlich gleich fertig.

Mit Bernhard Lichtenberg kann ich Ihnen nur sagen:
Die Taten eines Menschen sind die Konsequenzen seiner
Grundsätze, und sind die Grundsätze falsch, so werden
auch diese Taten nicht richtig sein.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1806711400

Vielen Dank, Herr Kollege. – Bevor wir zum Schluss

der Debatte kommen, gibt es noch zwei Wünsche nach
Kurzinterventionen von der Kollegin Renner und vom
Kollegen Ströbele.

Wir beginnen mit der Kollegin Renner.


Martina Renner (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1806711500

Herr Kollege Schipanski, Ihre Ausführungen eben

entbehrten jeden Stils.


(Beifall bei der LINKEN, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Dr. Hendrik Hoppenstedt [CDU/CSU]: Haben Sie nicht richtig zugehört?)


Ein Ergebnis der Untersuchungsausschüsse, insbe-
sondere des Untersuchungsausschusses in Thüringen,
war, dass festgestellt wurde, in welcher Art und Weise
Spitzel die Neonazi-Szene in den 1990er-Jahren großge-
macht haben, abgeschirmt haben vor Strafverfolgung
und ausgestattet haben mit Geld, Handys, Mobilität und
einer ganzen Menge mehr, was dazu geführt hat, dass
insbesondere die militanten Strukturen, denen der NSU
entstammte – die Anti-Antifa und das Netzwerk Blood
& Honour –, sich in einer Art und Weise bundesweit ent-
wickeln konnten, wie es ohne den Einsatz der Spitzel
– das kann man mittlerweile wirklich nachweisen – in
dieser Form nie geschehen wäre.





Martina Renner


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Wir sagen ganz klar – ich bin darüber sehr froh –,
dass es auch in Zukunft unter Rot-Rot-Grün in Thürin-
gen Kanon ist, dass eine Trennlinie zwischen denen, die
das Lebensrecht von Menschen negieren, die die Demo-
kratie gefährden, die sich in die Historie und die Vergan-
genheit des NS einreihen, und denen, die den Staat, die
Demokratie und die Menschenwürde schützen sollen,
gezogen werden soll. Es darf keine Vermischung zwi-
schen Demokratie und Feinden der Demokratie geben,
wie es durch die Führung von quasi hauptamtlichen
Neonazis durch die Verfassungsschutzbehörden passiert
ist.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Ich finde, das ist eine zentrale Schlussfolgerung aus
den Erkenntnissen der NSU-Untersuchungsausschüsse.
Ich glaube, dass diese Maßnahme zu einer Stärkung von
Demokratie und zu einem sensibleren Umgang mit den
Bedrohungen durch militanten Neonazismus führen wird
und auch ein höheres Maß an Schutz für diejenigen be-
deuten wird, die potenziell Opfer rechtsextremer Gewalt
sind, zum Beispiel in Thüringen. Ich hoffe, dieses Bei-
spiel wird auch in anderen Ländern diskutiert.

Sie sollten sich mit der Arbeit und den Ergebnissen
der Untersuchungsausschüsse und insbesondere den
Praktiken der Verfassungsschutzbehörden mit Blick auf
die Neonazi-Szene wirklich etwas detaillierter auseinan-
dersetzen. Das täte insbesondere Ihnen als Thüringer
Abgeordneten sehr gut.


(Beifall bei der LINKEN, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1806711600

Herr Kollege Schipanski.


Tankred Schipanski (CDU):
Rede ID: ID1806711700

Frau Kollegin Renner, ich habe ja gesagt, ich bin Mit-

glied des Untersuchungsausschusses gewesen. Wir ha-
ben fraktionsübergreifend 47 Handlungsempfehlungen
beschlossen. Darin steht, dass wir die V-Leute nicht ab-
schaffen wollen, sondern dass wir das V-Mann-Wesen
reformieren wollen. Wir haben dazu ganz konkrete Vor-
schläge ausgearbeitet.

Ich kann nur noch einmal sagen: Mich schockiert,
dass Rot-Rot-Grün in Thüringen die V-Mann-Praxis ab-
schaffen will, in diesem Rahmen keine Voraufklärung
mehr leisten möchte.


(Dr. Johannes Fechner [SPD]: Das stimmt doch nicht!)


Ich kann nur noch einmal wiederholen: ohne Kenntnis
keine Maßnahme. Ich stehe zu dem, was wir hier frak-
tionsübergreifend beschlossen haben: V-Leute erhalten,
klare Richtlinien festlegen. Ich bin davon überzeugt,
dass die designierte thüringische Landesregierung mit
der Maßnahme, die heute den Medien zu entnehmen ist,
das Staatswohl gefährdet und nicht fördert.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Dr. Eva Högl [SPD]: Das ist heute nicht das Thema! – Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Geht es noch ein bisschen kleiner?)



Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1806711800

Herr Kollege Ströbele, Sie haben ebenfalls die Mög-

lichkeit zu einer Kurzintervention.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Herr Kollege Schipanski, ich bedauere es außeror-
dentlich, dass Sie den Konsens der fünf Fraktionen der
17. Wahlperiode des Deutschen Bundestages hiermit
heute aufgekündigt haben, diese schreckliche Mordserie
parteipolitisch nicht zu missbrauchen. Es war ein Kon-
sens – er war für die Arbeit dieses Untersuchungsaus-
schusses prägend –, dass es uns hier einheitlich darum
geht – auch ich musste mich manchmal zurückhalten –,
das Ganze aufzuklären und alles zu tun, dass so etwas
nie wieder passiert.

Zwei Jahre lang haben wir das durchgehalten – bis
heute –, und Sie stellen sich nun hier in den Deutschen
Bundestag hin und nutzen für einen ganz billigen Ver-
such der parteipolitischen Profilierung dieses Thema,
weil Sie mit der möglichen Koalition in Thüringen Pro-
bleme haben. Sie nutzen diese Mordserie, um damit
Wasser auf die Mühlen Ihrer Partei zu gießen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN – Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Schäbig ist das!)


Das ist überhaupt nicht in Ordnung. Ich meine, Sie soll-
ten sich in Ihrer Erwiderung dafür entschuldigen,


(Lachen bei Abgeordneten der CDU/CSU)


das zurücknehmen und wenigstens versuchen, den Kon-
sens bei der Aufarbeitung und Verhinderung solcher Ver-
brechen wiederherzustellen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD)



Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1806711900

Herr Kollege Schipanski, Sie haben das Wort.


Tankred Schipanski (CDU):
Rede ID: ID1806712000

Also, Kollege Ströbele, einen Konsens hat hier heute

überhaupt niemand aufgekündigt.


(Zurufe vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Doch! – Doch, Sie!)


Ich habe darauf verwiesen, dass wir einen Konsens ha-
ben; wir haben diese Handlungsempfehlungen ja einver-
nehmlich beschlossen. Wenn jetzt ein Bundesland aus
diesem Konsens ausbricht


(Dr. Johannes Fechner [SPD]: Wie denn? Wodurch denn?)






Tankred Schipanski


(A) (C)



(D)(B)

und etwas macht, was absolut nicht in diesen Hand-
lungsempfehlungen steht, dann wird man darauf wohl
hinweisen dürfen, ohne dass hier behauptet wird, es
werde ein Konsens irgendwie aufgekündigt.


(Steffi Lemke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Reden Sie sich doch nicht noch tiefer da rein!)


– Nein, ich will Ihnen das so sagen, wie es ist. – Wenn
SPD und Grüne in Thüringen es unterstützen, V-Leute
abzuschaffen, dann ist das etwas völlig anderes als das,
was wir hier beschlossen haben.


(Dr. Eva Högl [SPD]: Das ist hier nicht das Thema! – Weitere Zurufe von der SPD)


Darauf habe ich zu Recht hingewiesen, und ich bin da-
mit, dass ich mir Sorgen mache, nicht allein. Am 9. No-
vember waren in Erfurt 4 000 Leute mit Kerzen auf dem
Domplatz und haben darauf hingewiesen, was da pas-
siert.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Steffi Lemke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das darf doch nicht wahr sein! Schämen Sie sich! – Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Schämen Sie sich! – Widerspruch bei Abgeordneten der LINKEN)


In diesem Sinne: Schauen Sie jetzt auf die nächste
Debatte! Es geht um die Rehabilitierung in der DDR
politisch Verfolgter; dazu können Sie sich gerne äußern.


(Beifall bei der CDU/CSU – Steffi Lemke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Unwürdig! – Gegenruf des Abg. Arnold Vaatz [CDU/CSU]: Das geht Sie doch nichts an! – Weitere Zurufe der Abg. Steffi Lemke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] – Weiterer Gegenruf des Abg. Arnold Vaatz [CDU/CSU]: Ihr habt nicht zu zensieren, warum Leute demonstrieren!)



Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1806712100

Damit sind wir am Schluss unserer Aussprache zu

diesem Tagesordnungspunkt angekommen; deshalb
schließe ich diese Aussprache.


(Zurufe vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Gegenrufe von der CDU/CSU)


Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 18/3007 und 18/3150 an die in der Ta-
gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. –
Weil ich keinen Widerspruch sehe, gehe ich davon aus,
dass Sie damit einverstanden sind. Dann sind die Über-
weisungen so beschlossen.

Ich rufe jetzt die Tagesordnungspunkte 25 a und 25 b
auf:

a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Fünften Gesetzes
zur Verbesserung rehabilitierungsrechtlicher
Vorschriften für Opfer der politischen Verfol-
gung in der ehemaligen DDR

Drucksache 18/3120
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz (f)

Innenausschuss
Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 der GO

b) Erste Beratung des von den Abgeordneten
Halina Wawzyniak, Dr. Dietmar Bartsch, Jan
Korte, weiteren Abgeordneten und der Fraktion
DIE LINKE eingebrachten Entwurfs eines Fünf-
ten Gesetzes zur Verbesserung rehabilitie-
rungsrechtlicher Vorschriften für Opfer der
politischen Verfolgung in der ehemaligen
DDR

Drucksache 18/3145
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz (f)

Innenausschuss
Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 der GO

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
diese Aussprache 38 Minuten vorgesehen. – Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.


(Zurufe vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Gegenrufe von der CDU/CSU)


Ich eröffne die Aussprache zu diesem Tagesordnungs-
punkt und bitte, sich darauf zu konzentrieren.

Das Wort hat als erster Redner Bundesminister Heiko
Maas.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Heiko Maas, Bundesminister der Justiz und für Ver-
braucherschutz:

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Vielleicht ist dieses Gesetz geeignet, etwas mehr
Ruhe ins Hohe Haus zu bringen; denn es geht um ein
Thema, das, wie ich glaube, uns allen wichtig ist.

Ich freue mich, dass wir gerade in diesen Tagen den
Regierungsentwurf für ein Fünftes Gesetz zur Verbesse-
rung rehabilitierungsrechtlicher Vorschriften für Opfer
der politischen Verfolgung in der ehemaligen DDR bera-
ten können. Vor dem historischen Hintergrund des
25. Jahrestages des Falls der Berliner Mauer wollen wir
ein Gesetz auf den Weg bringen, das die wirtschaftliche
Situation der Opfer der politischen Verfolgung in der
ehemaligen DDR verbessert. Es soll zugleich den Ein-
satz jener Menschen, die sich als Vorkämpfer für Frei-
heit, Demokratie und ein vereinigtes Deutschland gegen
das SED-System aufgelehnt haben und deshalb Zwangs-
maßnahmen erdulden mussten, stärker würdigen.

Wie Sie wissen, hat sich der Deutsche Bundestag schon
in der letzten Legislaturperiode mit breiter Mehrheit für
eine Überprüfung der Höhe der sogenannten Opferrente
starkgemacht. Sowohl von der damaligen Regierungs-
koalition als auch von der Opposition hatte es hierzu
Entschließungen gegeben. Auf dieser Linie haben CDU,
CSU und SPD in ihrem Koalitionsvertrag für diese Le-
gislaturperiode eine Erhöhung der Opferrente vereinbart.
Nun setzen wir diese Vereinbarung mit dem heute in ers-
ter Lesung vorliegenden Gesetz um.





Bundesminister Heiko Maas


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Die Opferrente wird um 50 Euro angehoben und
steigt damit von 250 auf 300 Euro monatlich.


(Beifall im ganzen Hause)


Ich will gar nicht erst den Versuch machen, den Ein-
druck zu erwecken, dass man mit Geld überhaupt das
Unrecht wiedergutmachen könnte, das den Betroffenen
widerfahren ist; aber ich glaube, nach so vielen Jahren
ist man denjenigen, die unter dem Regime gelitten ha-
ben, eine Weiterentwicklung der Beträge schuldig.

Meine Damen und Herren, die Opferrente wird politi-
schen Häftlingen gewährt, die mindestens 180 Tage
Freiheitsentzug erlitten haben. Zudem werden wir die
Erhöhung auf eine Leistung nach dem Beruflichen Reha-
bilitierungsgesetz übertragen: Die monatlichen Aus-
gleichsleistungen für beruflich durch die SED-Diktatur
Geschädigte werden ebenfalls angehoben. Die Aus-
gleichsleistung nach dem Beruflichen Rehabilitierungs-
gesetz wurde das letzte Mal vor gut zehn Jahren erhöht.
Das zeigt, wie notwendig es jetzt ist, sich mit dem
Thema auseinanderzusetzen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Bei der Opferrente ist es die erste Anhebung seit Inkraft-
treten der Regelung im Jahr 2007. Auch da kann man sa-
gen: Es ist wirklich an der Zeit.

Wir wollen, dass die Betroffenen schon sehr bald,
nämlich ab dem 1. Januar 2015, in den Genuss der ange-
hobenen Leistungen kommen. Die Erhöhung wird über
45 000 ehemaligen politischen Häftlingen zugutekom-
men, die bereits jetzt im laufenden Bezug sind.

Meine Damen und Herren, ich freue mich, dass auch
diese Leistungserhöhungen, wie alle Leistungen nach
dem Strafrechtlichen und dem Beruflichen Rehabilitie-
rungsgesetz, von Bund und Ländern gemeinsam finan-
ziert werden. Trotz angespannter Haushaltslagen in vie-
len Ländern zeigt sich in der weiterhin einvernehmlichen
Kostenverteilung zwischen Bund und Ländern die ge-
lebte gemeinsame Verantwortung für die Unterstützung
der Opfer politischer Willkür in der ehemaligen DDR.
Insofern bitte ich Sie um Unterstützung für diesen Ge-
setzentwurf.

Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1806712200

Vielen Dank, Herr Minister. – Nächste Rednerin ist

die Kollegin Halina Wawzyniak für die Fraktion Die
Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Halina Wawzyniak (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1806712300

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-

ren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Bundesregie-
rung will den Betrag der SED-Opferrente erhöhen. Das
ist richtig, das ist gut. Wir werden dem zustimmen.


(Beifall bei der LINKEN und der SPD)

Aber wir wollen mehr. Deswegen haben wir einen eige-
nen Gesetzentwurf vorgelegt. Dieser Gesetzentwurf ist
nicht neu: In der vergangenen Legislaturperiode haben
wir einen Entschließungsantrag vorgelegt, und das, was
in diesem Entschließungsantrag stand, setzen wir jetzt in
Gesetzesform um.

Was ist dieses Mehr? Wir wollen, dass diejenigen, die
wegen asozialen Verhaltens im Zusammenhang mit den
Weltfestspielen der Jugend und Studenten verurteilt wur-
den, ebenfalls anspruchsberechtigt sind.


(Beifall bei der LINKEN)


Wir wollen, dass diejenigen, die von Zersetzungs-
maßnahmen des Ministeriums für Staatssicherheit be-
troffen waren und deren Lebensführung durch diese
Maßnahmen erheblich beeinträchtigt wurde, mit denje-
nigen gleichgestellt werden, gegen die Urteile gespro-
chen wurden, die mit wesentlichen Grundsätzen einer
freiheitlich-demokratischen Grundordnung unvereinbar
sind; auch sie sollen anspruchsberechtigt sein.


(Beifall bei der LINKEN)


Wir wollen, dass der Anspruch ab dem ersten Tag der
Haft gilt und nicht erst nach 180 Tagen.


(Beifall bei der LINKEN)


Wir wollen, dass die Leistungen unabhängig vom
Einkommen gewährt werden, als Anerkennung und
Würdigung des Einsatzes für Freiheit und Bürgerrechte
in der SED-Diktatur. Wir finden es nicht akzeptabel,
dass Menschen, die ein Einkommen haben, das mehr als
1 173 Euro beträgt, von diesen Leistungen ausgeschlos-
sen sind. Die Leistungen müssen unabhängig vom Ein-
kommen gewährt werden.


(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Wir wollen, dass es keine Begrenzung der Frist zur
Antragstellung gibt. Wir wollen, dass im Zweifelsfall
eine Kausalität zwischen Haft und Gesundheitsschädi-
gung als gegeben angesehen wird und es nicht den Be-
troffenen aufgebürdet wird, diese im Detail nachzuwei-
sen.


(Beifall bei der LINKEN)


In einer Anhörung im Ausschuss für Kultur und Me-
dien am 5. November – da war unser Gesetzentwurf
schon im innerfraktionellen Verfahren – sind genau diese
Forderungen von der Union der Opferverbände aufge-
stellt worden. Ich sage Ihnen: Es gibt keinen Grund,
diese Erweiterung abzulehnen.


(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Sie haben in den vergangenen Jahren unsere Gesetz-
entwürfe immer wieder mit dem Argument abgelehnt,
dass wir, juristisch gesehen, die Nachfolgepartei der
SED sind.


(Beifall bei der CDU/CSU – Arnold Vaatz [CDU/CSU]: Das ist auch so! – Dr. André Halina Wawzyniak Hahn [DIE LINKE]: Es geht doch um die Betroffenen!)





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Deswegen mache ich einen ganz einfachen Vorschlag:
Schreiben Sie auf unseren Gesetzentwurf „Gesetzent-
wurf der Fraktionen der CDU/CSU, der SPD und des
Bündnisses 90/Die Grünen“, und wir stimmen trotzdem
zu.


(Beifall bei der LINKEN)


Wenn Sie etwas tun wollen, dann ersetzen Sie einfach
die einreichende Fraktion. Wir werden dem zustimmen.

Ich sage Ihnen aber auch: Keine andere Partei in der
Bundesrepublik hat sich so intensiv mit der eigenen Ge-
schichte beschäftigt wie unsere Partei,


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN – Lachen bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)


angefangen mit dem Referat über den Bruch mit dem
Stalinismus als System, mit der Entschuldigung bei den
Bürgerinnen und Bürgern der DDR im Dezember 1989.


Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1806712400

Frau Kollegin Wawzyniak, gestatten Sie eine Zwi-

schenfrage des Kollegen Vaatz?


Halina Wawzyniak (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1806712500

Selbstverständlich. Ich wäre beleidigt, würde keine

Zwischenfrage kommen.


Arnold Vaatz (CDU):
Rede ID: ID1806712600

Frau Wawzyniak, ich kann Ihnen ein solches Beleidi-

gungserlebnis ersparen. – Ich habe mehrere Fragen. Ers-
tens. Sie sind doch sicher mit mir einer Meinung, dass es
überhaupt keiner Opferpensionen bedürfte, wenn es
nicht das Unterdrückungssystem der SED gegeben hätte.

Wenn dem so ist, dass Sie damit übereinstimmen,
dann frage ich Sie zweitens, ob Sie sich vorstellen kön-
nen, dass die Erben der SED einen eingetragenen Verein
gründen, in den sie jeden Monat 5 Prozent ihres Einkom-
mens einzahlen, um all die noch vorhandenen Mängel,
die Sie gerade anführen, zu begleichen.


(Veronika Bellmann [CDU/CSU]: Opferfonds!)


Meine dritte Frage. Sie sagen, Sie hätten die inten-
sivste Aufarbeitung von allen Parteien überhaupt betrie-
ben. Wie stehen Sie dazu, dass Sie alles, was Sie hinter-
lassen haben, in die Haftung der Gemeinschaft schieben
wollen, aber keinerlei Bereitschaft zeigen, auch nur ei-
nen Pfennig persönliche Haftung für das von Ihnen an-
gerichtete Unglück zu übernehmen? Ganz im Gegenteil:
Sie feilschen um jeden einzelnen Pfennig gegenüber der
Gemeinschaft, wenn es beispielsweise um die Renten
von ehemaligen Stasileuten geht.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Halina Wawzyniak (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1806712700

Frage eins. Sie haben recht, wir müssten darüber nicht

reden, hätte es die SED-Diktatur nicht gegeben.


(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das stimmt!)


Frage zwei. Wir können gerne einen Verein gründen.
Ich bin auch gerne dazu bereit, Gründungsmitglied zu
werden und persönlich Geld zur Verfügung zu stellen.

Frage drei. Was die Kosten angeht: Ihnen ist sicher-
lich bekannt, dass im Jahr 1990 circa 4 Milliarden DDR-
Mark vom Vermögen der SED in den Staatshaushalt der
DDR überführt worden sind. Ihnen ist sicherlich be-
kannt, dass im Jahr 1995 ein rechtsgültiger Vergleich ge-
schlossen worden ist, in dem wir auf das Vermögen, das
nicht rechtsstaatlich erworben wurde, verzichtet haben.


(Veronika Bellmann [CDU/CSU]: Den Rest haben Sie versteckt!)


Ihnen ist sicherlich bekannt, dass es eine Blockpartei
CDU gab, die auch rechtsstaatlich nicht gerechtfertigtes
Vermögen besessen hat.


(Dr. André Hahn [DIE LINKE]: Und behalten hat!)


Sie können sich wieder setzen; denn ich würde gerne
in meiner Rede fortfahren, wenn das okay ist. – Danke.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Ich sage Ihnen aber auch: Wir haben Schlussfolgerun-
gen aus unserer Geschichte gezogen. Soziale Gerechtig-
keit und Freiheit sind zwei Seiten derselben Medaille.
Keine von beiden hat, abstrakt gesehen, einen höheren
Wert; das eine ist ohne das andere nichts, aber auch gar
nichts wert.

Wir haben Ihnen vor dem Hintergrund dieser Ge-
schichte diesen Gesetzentwurf vorgelegt. Ich habe Ihnen
jetzt zwei Wege aufgezeigt, wie Sie diesem Gesetzent-
wurf zustimmen können und wie statt Worten tatsächlich
auch Taten folgen können. Variante 1: Sie stimmen unse-
rem Gesetzentwurf zu. Variante 2: Sie schreiben einfach
„CDU/CSU, SPD, Grüne, Linke“ obendrüber, wobei Sie
„Linke“ auch weglassen können; wir stimmen trotzdem
zu.

Ich will Ihnen zum Schluss noch etwas sagen. Dinge,
die geschehen sind, können wir nicht ungeschehen ma-
chen. Ich selbst war zur Wendezeit 16 Jahre alt. Ich habe
25 Jahre meines Lebens damit verbracht, mich mit dieser
Geschichte auseinanderzusetzen. Die Auseinanderset-
zung mit dieser Geschichte hat dazu geführt, dass wir
genau diesen Gesetzentwurf vorgelegt haben. Wir kön-
nen es nicht ungeschehen machen, aber wir können da-
für sorgen, dass den Opfern der SED-Diktatur mehr Ge-
rechtigkeit widerfährt.


(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)







(A) (C)



(D)(B)


Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1806712800

Der Kollege Dr. Stefan Heck spricht als Nächster für

die Unionsfraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Dr. Stefan Heck (CDU):
Rede ID: ID1806712900

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Am

vergangenen Sonntag feierte ganz Deutschland den
Mauerfall vom 9. November 1989 und damit den end-
gültigen Niedergang des SED-Unrechtsstaats. Heute, nur
wenige Tage später, beraten wir hier über die Erhöhung
der SED-Opferrente. Das ist nach so langer Zeit beileibe
keine Selbstverständlichkeit. Deswegen möchte ich mit
einer eigentlich ganz naheliegenden Frage beginnen: Ist
es nach nunmehr über 25 Jahren tatsächlich noch not-
wendig, sich im Deutschen Bundestag weiterhin mit
dem Unrechtsregime eines inzwischen untergegangenen
Staates zu befassen? Ich bin der festen Überzeugung,
dass es notwendig ist. Lassen Sie mich dafür drei
Gründe nennen:

Es ist erstens notwendig, weil wir im Aufarbeitungs-
prozess immer weiter fortschreiten und bestehende Re-
gelungen schon deswegen immer wieder überprüfen
müssen. Es ist zweitens notwendig, weil der Umgang
mit geschehenem staatlichen Unrecht immer auch ein
Gradmesser für die Selbstachtung eines Rechtsstaats ist.
Es ist drittens notwendig, weil wir – das finde ich eigent-
lich am wichtigsten – diejenigen niemals vergessen dür-
fen, die der zweiten Diktatur auf deutschem Boden als
Erste den Gehorsam verweigerten. Die Opfer der politi-
schen Verfolgung in der ehemaligen DDR verdienen un-
sere Solidarität und unsere Anerkennung.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Die Entschädigung der Opfer staatlichen Unrechts auf
deutschem Boden hat in der Bundesrepublik gute Tradi-
tion. Während sich die DDR nach dem Zweiten Weltkrieg
der Entschädigung der NS-Opfer mit dem zynischen Ar-
gument entzog, sie gehörten zu den antifaschistischen
Siegern des Zweiten Weltkriegs – das gehört zur Ge-
schichte dazu, Frau Wawzyniak –, war für die Bundes-
republik von Anfang an das klar, was Konrad Adenauer
im Deutschen Bundestag am 27. September 1951 gesagt
hat – Zitat –:

Im Namen des deutschen Volkes sind … unsagbare
Verbrechen begangen worden, die zur moralischen
und materiellen Wiedergutmachung verpflichten …

Die Erklärung Adenauers wurde damals, wie das Proto-
koll vermerkt, im ganzen Hause mit lebhaftem Beifall
bedacht, außer bei der KPD und auf der äußersten Rech-
ten.

Die junge Demokratie – sie war damals ja erst wenige
Jahre alt – hatte erkannt: Es bedarf zur Selbstachtung ih-
rer eigenen Werte sichtbarer Zeichen der Wiedergutma-
chung zugunsten derjenigen, die in den Zeiten totalitärer
Diktatur schwer gelitten hatten.

(Zurufe der Abg. Kathrin Vogler [DIE LINKE] und Harald Petzold [Havelland] [DIE LINKE])


Das haben wir auch in der Freude über die Wiederver-
einigung nicht vergessen. Unsere Vorgänger im Deut-
schen Bundestag haben damals das nachgeholt, was die
DDR versäumt hatte. Wir haben die Entschädigung für
die NS-Opfer beschlossen, die in der Zeit bis 1945 auf
dem Gebiet der späteren DDR Opfer von Verfolgungs-
maßnahmen wurden. Hier hat sich die SED 40 Jahre
lang ihrer gesamtdeutschen Verantwortung entzogen.

Liebe Frau Wawzyniak, es ist eigentlich kein weiterer
Beweis dafür mehr erforderlich, dass Sie in dieser Frage
keine besonders glaubwürdigen Vertreter sind.


(Beifall bei der CDU/CSU – Halina Wawzyniak [DIE LINKE]: Sie können unserem Gesetzentwurf trotzdem zustimmen!)


Herr Minister, Sie haben es gesagt: Eine finanzielle
Entschädigung kann geschehenes Leid niemals rückgän-
gig machen. – Aber sie ist das Mindeste, was wir für die
Opfer tun können. Staatliches Unrecht auf deutschem
Boden geht uns alle etwas an.

Inzwischen konnten 47 000 Menschen von der soge-
nannten Opferrente profitieren. Allein diese Zahl sollte
Anlass genug sein, dass wir uns heute wieder mit diesem
Thema beschäftigen, zumal – auch das haben Sie gesagt –
die Beträge der Opferrente seitdem nicht erhöht worden
sind. Wir tragen damit den berechtigten Interessen der
Opferverbände Rechnung. Was die Höhe der Entschädi-
gung angeht – auch da gibt es ja ganz unterschiedliche
Forderungen –, glaube ich, dass wir gut beraten sind,
weiterhin an dem Grundsatz festzuhalten, dass die Höhe
der Entschädigungsleistungen für die NS-Opfer die
Obergrenze für die Entschädigungsleistungen für die
Opfer des SED-Unrechts bildet. Die monatliche Beihilfe
für NS-Opfer beträgt nach dem Abkommen gegenwärtig
310 Euro. Vor diesem Hintergrund erscheint es uns an-
gemessen, dass die monatlichen Zuwendungen nach
dem Strafrechtlichen Rehabilitierungsgesetz um 50 Euro
auf nunmehr 300 Euro angehoben werden. So bleibt
auch die Verhältnismäßigkeit zwischen den Opfergrup-
pen und den dahinterstehenden Schicksalen gewahrt.

Ich möchte noch einmal sagen: Kein Geldbetrag kann
das Leid rückgängig machen. Eine Opferrente wird im-
mer einen symbolischen Charakter haben. Wir sollten
heute, denke ich, auch anerkennen, dass die Opfer will-
kürlicher SED-Haft mit den genannten Beträgen besser-
gestellt werden als jemand, der nach erlittener Untersu-
chungs- oder gar Strafhaft als unschuldig entlassen und
entschädigt wird. Die Situationen sind nur schwer ver-
gleichbar, aber es gibt ja auch den Fall, dass jemand
sozusagen ganz rechtsstaatlich, aber am Ende doch un-
schuldig bestraft wurde und der Zahlung einer staat-
lichen Entschädigungsleistung als Wiedergutmachung
bedarf, die das Gesetz heute schon vorsieht. Die Gewäh-
rung einer Geldrente bleibt aber mit guten Gründen den
Opfern totalitärer Diktatur vorbehalten. Damit erkennen
wir das besondere Unrecht an, das diesen Opfern wider-
fahren ist.





Dr. Stefan Heck


(A) (C)



(D)(B)


(Halina Wawzyniak [DIE LINKE]: Und 177 Tage Knast reichen nicht, oder was?)


Frau Wawzyniak, gerade weil die Opfer willkürlicher
Haft in der DDR zu Recht in privilegierter Weise ent-
schädigt wirken, müssen wir den Kreis der Anspruchs-
berechtigten auf die wirklichen Opfer eingrenzen und
Missbrauch erschweren. Deswegen halte ich auch nichts
von Ihren Vorschlägen, die Erhöhung jetzt an eine Art
Beweislastumkehr zu knüpfen, bis hin zu einem Amts-
ermittlungsgrundsatz, oder sie an eine Kausalitätsvermu-
tung zu koppeln. Wir müssen doch dafür sorgen, dass
vor allem diejenigen weiterhin von der Gewährung der
SED-Opferrente ausgeschlossen bleiben, die wissent-
lich und willentlich mit der Stasi zusammengearbeitet
haben. Das wäre ein Schlag ins Gesicht all derjenigen,
die hinreichend nachweisen können, dass sie Opfer die-
ses verbrecherischen Regimes waren.

Uns ist es wichtig, dass wir auch weiterhin dafür sor-
gen, dass diejenigen, die eine Stasivergangenheit haben,
die schwerste Verbrechen begangen haben, von der Ge-
währung der SED-Opferrente ausgeschlossen bleiben.
Deshalb ist es wichtig, dass der Beweis über das Vorlie-
gen der Rehabilitierungsvoraussetzungen, wie es das
Gesetz vorsieht, weiterhin vom Antragsteller erbracht
werden muss. Die privilegierte Entschädigung durch
eine Opferrente wollen wir auch weiterhin auf die
wirklich bedürftigen Opfer beschränken. Das, Frau
Wawzyniak, ist auch der Sinn der Mindesthaftdauer von
180 Tagen in diesem Gesetz.


(Halina Wawzyniak [DIE LINKE]: 175 waren nicht so schlimm, oder was?)


– Selbstverständlich, Frau Wawzyniak, ist jeder Tag, den
ein Unschuldiger in Haft verbringt, ein Tag zu viel.


(Halina Wawzyniak [DIE LINKE]: Ja!)


Deshalb bekommen auch Opfer der SED-Diktatur, die
kürzer als diese Mindesthaftzeit eingesessen haben, eine
Entschädigung, nämlich eine einmalige Entschädigung
gemessen an der Haftzeit.


(Halina Wawzyniak [DIE LINKE]: Richtig!)


Aber eine Haftzeit von wenigen Tagen oder Wochen
kann eben nicht verglichen werden mit dem Leid, dem
Unrecht und auch den psychischen Folgen, die Men-
schen erlebt haben, die über ein halbes Jahr im Gefäng-
nis eingesessen haben.


(Halina Wawzyniak [DIE LINKE]: Das ist doch absurd!)


Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Linksfrak-
tion, ich will zum Abschluss noch einmal in besonderer
Weise auf Ihre Vorschläge eingehen. Sie haben ja hier in
beeindruckender Offenheit gesagt, dass es Ihre Partei
war, die bis 1989 das Unrecht in der DDR an allererster
Stelle verantwortet hat.


(Halina Wawzyniak [DIE LINKE]: Ja!)


Damals war an Entschädigung derjenigen, die Unrecht
erlebt haben, nicht zu denken. Ich habe von den NS-Op-
fern gesprochen, die in der DDR 40 Jahre auf ihre Ent-
schädigung gewartet haben. Insofern ist es schon beacht-
lich, dass ausgerechnet Sie sich hier heute an die Spitze
derjenigen stellen, die eine Entschädigung fordern.

Frau Wawzyniak, bei all dem, was Sie hier gesagt ha-
ben, was Sie hier ja wortreich und konziliant vorgetra-
gen haben, habe ich einen Satz vermisst. Wenn Sie wirk-
lich etwas für die Wiedergutmachung des durch Ihre
eigene Partei verursachten Unrechts tun wollen, dann
schlage ich Ihnen vor: Stellen Sie sich hier vorne hin,
und sagen Sie uns ohne Wenn und Aber, dass die DDR
ein Unrechtsstaat war.


(Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Definieren Sie „Unrechtsstaat“!)


Damit tun Sie mehr für die Opfer dieses Systems als mit
Ihren Vorschlägen, die heute hier vorliegen.


(Beifall bei der CDU/CSU – Halina Wawzyniak [DIE LINKE]: Sie wollten doch etwas zu unseren Vorschlägen im Detail sagen! Kommt das noch?)


In dem heute vorliegenden Gesetzentwurf wird zum
einen ein wichtiger Punkt des Koalitionsvertrags zwi-
schen CDU/CSU und SPD umgesetzt. Zum anderen
würdigen wir – und das ist noch viel wichtiger – durch
die Erhöhung der SED-Opferrente den Einsatz all derje-
nigen Menschen, die in der DDR, ungeachtet persönli-
cher Nachteile, für Freiheit und Demokratie gekämpft
haben und dafür verfolgt und eingesperrt wurden. Die
Erhöhung der Opferrente ist ein wichtiger Ausdruck un-
serer Wertschätzung ihres Einsatzes.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1806713000

Nächste Rednerin ist für die Fraktion Bündnis 90/Die

Grünen die Kollegin Katja Keul.


Katja Keul (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1806713100

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Wer wie ich zur Zeit der Mauer im Westen
groß geworden ist, hat in der Regel wenig Bezug zu Op-
fern von SED-Unrecht gehabt.

Mir ist die Realität erstmals als Scheidungsanwältin
begegnet, als eine Mandantin aus unerfindlichen Grün-
den trotz meiner unterstützenden Hinweise die Formu-
lare zum Versorgungsausgleich partout nicht ausfüllen
konnte oder wollte. Sie kam aus dem Osten, aber im Üb-
rigen schien es ein Routinefall ohne besondere Um-
stände zu sein.

Irgendwann brach es während einer Beratung aus ihr
heraus, wobei sie am ganzen Körper zitterte: Sie war als
Jugendliche als asozial eingestuft und bereits mit 16 in-
haftiert worden. Was sie mir an diesem Tag schilderte,
hat mir erstmals auch emotional nahegebracht, was
SED-Unrecht bedeutet.

Die Bundesregierung hat uns heute einen Gesetzent-
wurf zur Aufstockung der Opferrente für die von der
politischen Verfolgung in der ehemaligen Sowjetischen





Katja Keul


(A) (C)



(D)(B)

Besatzungszone und der Deutschen Demokratischen Re-
publik Betroffenen vorgelegt. Zum 1. Januar 2015 soll
die monatliche Zuwendung nach § 17 a des Strafrechtli-
chen Rehabilitierungsgesetzes um 20 Prozent, die mo-
natliche Ausgleichszahlung nach § 8 des Beruflichen
Rehabilitierungsgesetzes von 184 auf 214 Euro aufge-
stockt werden. Dies sind die ersten Erhöhungen seit der
Einführung der Zuwendungen im Jahre 2007 bzw. 2003
und damit längst überfällig.

Der eingeschlagene Weg ist zu begrüßen. Auch vor
dem zeitlichen Hintergrund des 25. Jahrestages des
Mauerfalls hat dies durchaus eine symbolische Wirkung.
Doch ist dies auch ausreichend?

In der Denkschrift der Bundesregierung zum Eini-
gungsvertrag heißt es ausdrücklich, dass die Rehabilitie-
rung aus rechtspolitischen, humanitären und sozialen
Gründen geboten sei, um das Unrecht und seine Auswir-
kungen im Rahmen der gegebenen Möglichkeiten zu be-
seitigen. Eine Erhöhung um 50 Euro erscheint mir zur
Umsetzung dieses Zieles zu wenig.

Seit der Einführung der Opferrente werden die Au-
ßerachtlassung bestimmter Opfergruppen sowie das Kri-
terium der finanziellen Bedürftigkeit vonseiten des
Dachverbandes der SED-Opfer zu Recht kritisiert. Die
Rente dient als Ausgleich für das erlittene Unrecht und
wird ohne hinreichenden Grund zu einer Sozialleistung
gemacht. Herr Maas, Sie haben gesagt, man will die
wirtschaftlichen Bedingungen für die Opfer verbessern.
Aber wenn der höhere Betrag auf Sozialleistungen ange-
rechnet wird, dann ändert sich für die Betroffenen nichts.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)


Um dem eigentlichen Ziel gerecht zu werden, sollte sie
also einkommensunabhängig ausbezahlt werden.


(Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: So ist es!)


Ebenso ist die Beschränkung des Kreises der An-
spruchsberechtigten auf ehemalige Häftlinge, die min-
destens 180 Tage im Gefängnis verbringen mussten, sehr
problematisch. Was ist denn mit denen, die nur wenige
Wochen im Stasigefängnis malträtiert wurden? Sind sie
deshalb keine Opfer? Was ist mit den verfolgten Schüle-
rinnen und Schülern, wie die eingangs erwähnte Man-
dantin? Was ist mit den aus dem Grenzgebiet Zwangs-
ausgesiedelten? Diese Gruppen erhalten bislang keine
Ausgleichsleistungen. Das ist ungerecht.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)


Auch die Leistungssportler der DDR, denen die Ein-
nahme von Dopingmitteln oft ohne deren Wissen bereits
im Kindes- und Jugendalter staatlich verordnet wurde
und die bis heute mit den schweren gesundheitlichen
Langzeitfolgen dieser Vorgehensweise zu kämpfen ha-
ben, müssen in den Kreis der Anspruchsteller mit aufge-
nommen werden.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)

Die dadurch erlittenen Einbußen wie Schwerbehinderun-
gen und Persönlichkeitsstörungen werden für diese Per-
sonen mit zunehmendem Alter gravierender, sodass es
mit einer Einmalzahlung in diesem Bereich nicht getan
ist.

Meine Fraktion hat bereits im Februar 2013 einen An-
trag zur Einführung einer Rente für Dopingopfer der
DDR eingebracht. Getan hat sich bislang nichts. Herr
Maas, Sie haben sich kürzlich zusammen mit Herrn de
Maizière auf einen Entwurf für ein Anti-Doping-Gesetz
verständigt. Die Dopingopfer wurden jedoch auch hier
nicht berücksichtigt. Das ist bedauerlich.

Mit der jetzigen Gesetzesänderung bewegt sich die
Bundesregierung lediglich mit kleinen Schritten in die
richtige Richtung. Die Opfer benötigen jedoch eine deut-
lichere und offensivere Gangart, um die angemessene
Anerkennung – und darum geht es ja, jedenfalls mehr als
um die Beträge – des erlittenen Unrechts zu erfahren.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)


Aus diesem Grund fordern wir Grüne, dass alle Be-
troffenen der Zersetzungsmaßnahmen des Staatssi-
cherheitsdienstes in die Gewährung der Opferpension
einbezogen werden und vollständig auf die Bedürftig-
keitsprüfung verzichtet wird. Zudem sollen Personen mit
einer Haftzeit von weniger als 180 Tagen zumindest eine
anteilige besondere Zuwendung erhalten.

Der zu diesem Thema vorgelegte Gesetzentwurf der
Fraktion Die Linke greift einige der genannten Punkte
auf, etwa die Unabhängigkeit vom Einkommen. Wir
haben in der letzten Legislaturperiode Ihrem Entschlie-
ßungsantrag zugestimmt. Wir werden jetzt den vorlie-
genden Gesetzentwurf prüfen. Ich bin aber zuversicht-
lich, dass wir zusammenkommen. Ich hoffe auch, dass
die Anhörung in der nächsten Sitzungswoche weitere
Wege aufzeigt, wie wir angemessen mit dem Thema um-
gehen können.

Vielen Dank.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)



Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1806713200

Der Kollege Matthias Bartke spricht jetzt für die So-

zialdemokraten.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. Matthias Bartke (SPD):
Rede ID: ID1806713300

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Im Koali-

tionsvertrag haben wir vereinbart, die Zuwendung für
Opfer des SED-Unrechts zu erhöhen. Ich finde, es gibt
keinen besseren Zeitpunkt hierfür als den Monat, in dem
sich der Mauerfall zum 25. Mal jährt.

Jeder Betroffene reagiert unterschiedlich auf Repres-
sionen eines Unrechtssystems. Manche stecken dies weg
und leben danach unbeschwert weiter und auch beruflich
erfolgreich weiter. Andere allerdings erholen sich nie





Dr. Matthias Bartke


(A) (C)



(D)(B)

wieder wirklich von dieser Erfahrung und kommen nicht
mehr auf die Beine. Die beiden Opferrenten, die wir mit
dem vorliegenden Gesetzentwurf aufstocken werden,
sind gerade für diese Opfer gedacht. Sie sind für diejeni-
gen, die die traumatischen Erfahrungen der Haft und der
Repression nicht verwunden haben und wirtschaftlich
nicht mehr auf die Beine gekommen sind.

Das klingt abstrakt. Ich habe vor einigen Wochen mit
einer meiner Besuchergruppen das Stasigefängnis Ho-
henschönhausen besucht. Ich kann das nur jedem emp-
fehlen. Ich war von diesem Besuch tief erschüttert. Das
war nämlich überhaupt nicht mehr abstrakt, sondern be-
klemmend konkret. Das Stasiuntersuchungsgefängnis in
Hohenschönhausen war nur eines von 17 Stasiuntersu-
chungsgefängnissen in der DDR. Das Prinzip dieser Ge-
fängnisse bestand darin, die Häftlinge zu erniedrigen
und zu brechen. Mit staatlichen Repressionen mussten
nicht nur Republikflüchtlinge rechnen. Das galt bei-
spielsweise auch für Teilnehmer des Aufstands vom
17. Juni 1953, für die Zeugen Jehovas und auch für in
Ungnade gefallene Politiker wie etwa Walter Janka und
Wolfgang Harich.

Seit Gründung der DDR kamen aus politischen Grün-
den zwischen 200 000 und 250 000 Menschen ins Ge-
fängnis. Aber natürlich waren die Gefängnisse nur die
Spitze des Eisbergs, des Repressionssystems der DDR.
Noch wichtiger als die Verhaftung und Verurteilung von
Fluchtwilligen und Andersdenkenden war die abschre-
ckende Wirkung, die davon ausging. Den meisten Men-
schen in der DDR war eben immer bewusst, dass man
sie, wenn sie sich auflehnten, jederzeit verhaften konnte.
Sie wussten, dass sie der Stasi dann schutzlos ausgelie-
fert waren, dass sie ihre Arbeitsstelle und jede berufliche
Perspektive verlieren konnten.

Der Kontroll- und Überwachungsapparat des MfS
wurde im Laufe der Zeit immer weiter ausgebaut. Am
Ende verfügte die Stasi über 91 000 hauptamtliche und
über 180 000 inoffizielle Mitarbeiter, die sogenannten
IMs. Zum Vergleich: Das ist mehr als die Bundeswehr
heute an Soldaten hat.

Ganz besonders tragisch sind in meinen Augen die
Fälle, bei denen die Stasi die psychische Bedrängnis der
Opfer in ihren Gefängnissen ausgenutzt hat, um sie zu
einer Zusammenarbeit zu drängen. Das lief dann häufig
nach dem Motto „Wir könnten Ihre Haft natürlich ver-
kürzen; Sie müssten sich nur etwas kooperationswilliger
zeigen“. In solchen Situationen, Herr Heck, sind dann
doch viele Menschen schwach geworden und haben die
IM-Erklärung unterzeichnet. Ich finde, man sollte vor-
sichtig sein mit Vorwürfen und Verurteilungen denen ge-
genüber, die in einer solchen Situation schwach gewor-
den sind.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf erhöhen wir die
Opferrenten nach dem Strafrechtlichen und dem Berufli-
chen Rehabilitierungsgesetz. Das ist nicht nur eine
monetäre Maßnahme. Es ist vor allem auch von Staats
wegen eine moralische Anerkennung des erlittenen Un-
rechts. Für viele ist das noch viel wichtiger als die Geld-
leistung: die Anerkennung, dass man selbst keine Schuld
hatte und dass es der Staat DDR war, der verbrecherisch
gehandelt hat. Gerade für die vielen Opfer des SED-Re-
gimes war es daher wichtig, dass Rot-Rot-Grün in Thü-
ringen klargestellt hat, dass die DDR ein Unrechtsstaat
war. Ich finde, Frau Wawzyniak, dass Sie hier noch ein-
mal sehr beeindruckend klargestellt haben, dass dies der
Fall gewesen ist.


(Dr. Stefan Heck [CDU/CSU]: Habe ich nicht gehört!)


Für eine zukunftsorientierte Politik ist es von eminen-
ter Bedeutung, dass das historische Fundament stimmt.
Hierzu gehört in erster Linie eine gemeinsame Bewer-
tung der jüngeren Vergangenheit unseres Landes. Zu einer
zukunftsorientierten Politik gehört auch, dass man sich zu
seiner Vergangenheit bekennt und daraus die Lehren
zieht. Weiter gehört dazu, dass die Opfer des DDR-Un-
rechts für ihre erduldeten Leiden wertgeschätzt werden
und eine Entschädigung erhalten. Die geplanten Opfer-
rentenerhöhungen sind daher ein wichtiges und richtiges
Signal zu einem symbolträchtigen Zeitpunkt.

Ich danke Ihnen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN)



Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1806713400

Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der

Kollege Dr. Volker Ullrich, CDU/CSU.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Dr. Volker Ullrich (CSU):
Rede ID: ID1806713500

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Die Mauer ist vor 25 Jahren gefallen – und da-
mit der SED-Unrechtsstaat. Die Opfer leiden noch heute.
„Zu viele Verbote und zu wenig Rechte gab es in diesem
Land“ – das schreibt der Autor Jürgen Brand in seinem
Buch „Hafterlebnisse eines DDR-Bürgers“. Er wollte
frei sein, seine Meinung äußern, und war dann Opfer von
Stasibespitzelung und Bedrängung. Er musste 20 Mo-
nate inhaftiert in einer Stasihaftanstalt verbringen. Dort
wurde er in Einzelhaft gehalten, durfte nicht schreiben
und nicht lesen. Er befand sich in Isolation und ist durch
Mitarbeiter der Staatssicherheit bedrängt worden.

„Die Haft dauert an“, schreibt Angelika Cholewa in
der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Auch sie wollte
frei sein und in den Westen übersiedeln. Bei einem
Fluchtversuch an der Grenze zur damaligen Tschecho-
slowakei wurde sie verhaftet und musste über drei Jahre
in DDR-Haft verbringen. Sie wurde in der Haft schwer
krank und bekam nicht die notwendige medizinische
Versorgung. Ganz im Gegenteil: Man hat ihr sogar noch
gedroht und vorgemacht, dass ihre Mutter im Sterben
liege und sie diese nur sehen dürfe, wenn sie Mitglied
der Stasi werde.

Jürgen Brand und Angelika Cholewa sind nur zwei
von vielen Hunderttausend Opfern dieser Diktatur. Wenn
beinahe 40 000 Menschen zurzeit eine SED-Opferrente





Dr. Volker Ullrich


(A) (C)



(D)(B)

beziehen, dann geht es um 40 000 Schicksale. Es handelt
sich um 40 000 Menschen, die allesamt länger als ein
halbes Jahr in Stasihaft waren und über ein halbes Jahr
Verzweiflung und schreckliche Erlebnisse durchmachen
mussten. Wer vor dem Hintergrund dieser Schicksale
immer noch nicht erkannt hat, welche Dimension der
Unrechtsstaat der SED hatte, der verhöhnt die Opfer,
meine sehr verehrten Damen und Herren.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD und der Abg. Halina Wawzyniak [DIE LINKE])


Wir müssen bei der Bemessung der SED-Opferrente
eine kluge und rechtsstaatlich exakte Abwägung vorneh-
men. Natürlich kann gesagt werden, dass 350, 400 oder
450 Euro immer noch besser seien als das, was wir in
diesem Gesetzentwurf vorschlagen. Der entscheidende
Punkt aber ist, dass wir bei der Bewältigung der Leiden
der Opfer zweier Diktaturen auf deutschem Boden die
Frage der Gleichmäßigkeit und der Verhältnismäßigkeit
zu beachten haben. Deswegen meine ich, sollten die Op-
fer der SED-Diktatur so behandelt werden wie die Opfer
der NS-Diktatur, nicht schlechter, aber auch nicht besser.
Dieser Staat behandelt diese Opfergruppen gleich, weil
damit auch das Signal ausgeht: Wir wollen weder auf
dem Boden dieses Landes noch in Europa jemals wieder
Zustände wie in der SED-Diktatur oder während des NS-
Regimes haben.

Natürlich kann Geld eine verwundete Seele nicht hei-
len oder den Rechtsstaat wieder in die Balance bringen;
aber wir sind vor dem Hintergrund unserer Geschichte
und dem, was die Opfer durchgemacht haben, sowie vor
dem Hintergrund ihrer eigenen Selbstachtung verpflich-
tet, sensibel mit diesem Thema umzugehen und die
SED-Opferrente an dieses Niveau anzupassen. Die Tat-
sache, dass wir erst im Jahr 2007 – übrigens auch damals
unter der Führung einer Großen Koalition – die SED-
Opferrente eingeführt haben, zeigt, dass wir da vielleicht
zu lange gezögert haben.

An dieser Stelle sei auch den Opferverbänden gedacht
und gedankt, die dieses Thema über viele Jahre hinweg
im Bewusstsein der Öffentlichkeit halten und die Opfer
vertreten, die angesichts des ihnen beigefügten Leides
oftmals gar nicht in der Lage sind, ihre Erfahrungen in
der Öffentlichkeit zu artikulieren. Ich habe mich lange
genug geschämt, sagt ein Opfer der SED-Diktatur. Das
Symbol und die Botschaft dieser heutigen Debatte müs-
sen auch sein: Es darf und es muss sich kein Opfer mehr
schämen. Die Symbolik muss auch sein: Die Opfer der
SED-Diktatur sind nicht allein. Sie haben unsere Solida-
rität und unsere Unterstützung, weil es unser aller Anlie-
gen ist, dass sie rehabilitiert werden und einen Ehren-
platz in der Mitte unserer Gesellschaft finden.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)



Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1806713600

Vielen Dank, Herr Kollege Ullrich. – Damit schließe

ich die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen
auf den Drucksachen 18/3120 und 18/3145 an die in der
Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall; denn
ich sehe keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlos-
sen.

Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 26 auf:

Beratung des Antrags der Abgeordneten Ralph
Lenkert, Eva Bulling-Schröter, Caren Lay, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE

Bundeseinheitliche Netzentgelte für Strom

Drucksache 18/3050
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Energie (f)

Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und
Reaktorsicherheit

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind auch
für diese Aussprache 38 Minuten vorgesehen. – Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.

Ich eröffne zugleich die Aussprache. Das Wort hat der
Kollege Ralph Lenkert von der Fraktion Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Ralph Lenkert (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1806713700

Sehr geehrter Herr Präsident! Geehrte Kolleginnen

und Kollegen! Die Linke bringt ihren Antrag für bundes-
einheitliche Netzentgelte von der Ostsee bis zu den Al-
pen ein. Der Forderungsteil ist kurz – ich zitiere –:

Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregie-
rung auf, einen Gesetzentwurf vorzulegen, der eine
bundeseinheitliche Wälzung der Stromnetzentgelte
für Privat- und Gewerbekunden vorsieht.


(Beifall bei der LINKEN)


Wälzung ist die Umlage der Kosten des Netzes über den
Strompreis.

Warum fordern wir dies? Die Netze und ihre Betrei-
bung sind eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Aber
gerade in strukturschwachen Regionen sind die Netzent-
gelte am höchsten. Nach einer Studie der TU Dresden,
beauftragt durch die Sächsische Staatsregierung, betru-
gen im Jahr 2013 die Netzentgelte in Düsseldorf
4,03 Cent je Kilowattstunde, gleichzeitig 9,29 Cent je
Kilowattstunde im Havelland.


(Zuruf von der LINKEN: Unglaublich!)


Bis 2023 würden diese Unterschiede, würden wir so
weitermachen wie bisher, von 4,77 Cent bis auf
14,3 Cent je Kilowattstunde ansteigen. Das wären inklu-
sive Mehrwertsteuer Preisunterschiede beim Endkunden
zwischen heute 6 Cent und über 11 Cent im Jahr 2023.


(Harald Petzold [Havelland] [DIE LINKE]: Schweinerei!)


Welche sind die Ursachen dafür? Eine Ursache ist das
Alter der Stromleitungen. Ältere Leitungen verursachen
weniger Abschreibungskosten; sie sind damit tendenziell





Ralph Lenkert


(A) (C)



(D)(B)

billiger. Auch die Bevölkerungsdichte ist entscheidend:
Wenn in einer Region weniger Stromkundinnen und -kun-
den leben, ist natürlich auch die Anzahl derer, die die
Netzentgelte tragen müssen, geringer. Und: Sondertatbe-
stände werden unterschiedlich gewichtet. Die Kosten
von KWK-Anlagen, also von Kraft-Wärme-Kopplungs-
Anlagen, werden bundeseinheitlich umgelegt. Die Kos-
ten von Offshore-Anlagen werden bundeseinheitlich
umgelegt. Industrierabatte werden bundeseinheitlich
umgelegt. Die Aluminiumhütten in Hamburg beispiels-
weise, die für zusätzliche Arbeitsplätze und Gewerbe-
steuereinnahmen in Hamburg sorgen, bekommen die
Stromrabatte von allen Kundinnen und Kunden bundes-
weit finanziert.

Hingegen: Die Kosten für Transportverluste beim
Strom, die Redispatch-Kosten, das heißt die Kosten zur
Sicherung der Netzstabilität, und die Regelenergiekosten
werden nur regional umgelegt, und zwar dort, wo sie an-
fallen, und das, obwohl die damit bezahlten Leistungen
für ein funktionierendes gesamtdeutsches Stromnetz
zwingend erforderlich sind. Wir fordern ein Ende dieser
Ungleichbehandlung.


(Beifall bei der LINKEN)


Ein weiterer Grund ist der Ausbau der erneuerbaren
Energien. Gerade in den Regionen, in denen besonders
die erneuerbaren Energien ausgebaut werden, fallen vor
allem hohe Netzentgeltkosten an, zum Beispiel aufgrund
von Netzverstärkung.

Ich möchte Ihnen ein konkretes Beispiel nennen: Eon
erzeugt im Windpark Schönwalde Südost im Landkreis
Dahme-Spreewald Strom. Die dortigen Bewohnerinnen
und Bewohner zahlen auf den Strompreis Netzentgelte
in Höhe von 9,11 Cent je Kilowattstunde. Die Gewinne
dieses Windparks fließen zur Eon-Zentrale nach Düssel-
dorf. Dort beträgt das Netzentgelt 4,03 Cent. Schön für
die Düsseldorferinnen und Düsseldorfer! Der Landkreis
Dahme-Spreewald hat einen Windpark mit unverstell-
tem Blick auf Windräder, es findet dort eine Zerschnei-
dung der Landschaft durch die Stromtrassen statt, und
wegen dieses Windparks sind die Stromkosten um
6 Cent höher. Das ist ungerecht.


(Beifall bei der LINKEN – Harald Petzold [Havelland] [DIE LINKE]: Schweinerei! – Dr. Kirsten Tackmann [DIE LINKE]: Das muss beendet werden!)


Diese Ungerechtigkeit betrifft Regionen in Oberfran-
ken, in Niedersachsen, in Vorpommern, in Brandenburg,
in Thüringen. Diese Regionen haben eine Belastung
durch die Erzeugung der erneuerbaren Energien und eine
Belastung durch die Stromtrassen, ihre Natur wird zer-
schnitten, und dafür müssen sie auch noch zusätzliche
Netzentgelte zahlen. So wird die Energiewende nicht
funktionieren.


(Beifall bei der LINKEN)


Wir fordern natürlich nicht, dass Windräder auf der
Düsseldorfer Kö installiert werden.


(Dr. Kirsten Tackmann [DIE LINKE]: Na ja, eine Idee wäre es!)

Aber wir fordern von den strukturstarken, dicht besiedel-
ten Regionen Solidarität ein. Auch sie sollen ihren Bei-
trag zu den Netzentgelten leisten. Deswegen fordern wir
einheitliche Netzentgelte.


(Beifall bei der LINKEN)


Dies würde im Übrigen auch dazu führen, dass Investo-
ren keinen Bogen mehr um strukturschwache Regionen
machen würden, weil der Strom dort einfach zu teuer ist.
Gemeinsam können wir die Akzeptanz der Energie-
wende erhöhen, wenn es uns gelingt, die Netzentgelte zu
vereinheitlichen. Wir haben unseren Antrag vorgelegt.
Er ist ein Diskussionsbeitrag.

Es gibt weitere Ungerechtigkeiten, die wir nicht er-
wähnt haben, zum Beispiel die Ungerechtigkeit der
Netzentgeltbefreiung. Durch die Abschaffung der Netzent-
geltbefreiung könnten im Übrigen auch die notwendigen
Erhöhungen in einigen Gebieten kompensiert werden.
Wir haben bewusst darauf verzichtet, dies anzusprechen,
damit die bei einigen Fraktionen bekannten Reflexe,
wenn man an Subventionen für die Industrie herangeht,
nicht auftreten. Wir wollen offen diskutieren.

Es gibt weitere Probleme. Dabei geht es zum Beispiel
um die Frage, ob man die Netzentgelte zukünftig viel-
leicht nicht mehr nach dem Kilowattstundenverbrauch,
sondern nach der Anschlussleistung berechnet. Wir kön-
nen über alles reden; wir sind offen. Das Ziel muss aber
sein, bei der Verteilung der Lasten für Gerechtigkeit zu
sorgen, damit wir gemeinsam eine erfolgreiche Energie-
wende hinbekommen. Deswegen bitte ich Sie ausdrück-
lich: Sorgen wir gemeinsam dafür, dass die Netzentgelte
in der Bundesrepublik einheitlich werden!

Vielen Dank.


(Beifall bei der LINKEN)



Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1806713800

Für die CDU/CSU hat das Wort der Kollege Thomas

Bareiß.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Thomas Bareiß (CDU):
Rede ID: ID1806713900

Herr Präsident! Meine Damen! Meine Herren! Lieber

Herr Lenkert, die Forderung nach einer bundeseinheitli-
chen Wälzung der Stromnetzentgelte für Privat- und Ge-
werbekunden scheint auf den ersten Blick nachvollzieh-
bar zu sein. Ungleiche Preise sind immer für diejenigen
ein Ärgernis, die davon negativ betroffen sind. Beispiele
gibt es zur Genüge: Der Münchner Mieter wünscht sich
die Mieten von Schwerin, der Nutzer des öffentlichen
Nahverkehrs in Stuttgart würde gerne Berliner Preise be-
zahlen, und das Kilo Äpfel kostet auf dem Land wahr-
scheinlich etwas weniger als in der Stadt.

Auch bei den Netzentgelten gibt es Unterschiede.
Hier trifft es viele Regionen in den neuen Ländern, wie
gerade schon beschrieben, aber auch vermehrt den länd-
lichen Raum in ganz Deutschland. Die Verbraucher aus
diesen Regionen zahlen höhere Netzentgelte und damit
auch höhere Strompreise, da die Kosten im Verteilnetz
auf die betroffenen Kunden nur regional umverteilt wer-
den.





Thomas Bareiß


(A) (C)



(D)(B)

Auch wenn ich den Unmut der Betroffenen nachvoll-
ziehen kann, so gilt grundsätzlich: Eine Marktwirtschaft
braucht auch Preisunterschiede. Nur so können Angebot
und Nachfrage effizient ausgeglichen werden. Gleich-
macherei ist zwar die vermeintlich leichte Lösung, je-
doch nicht nachhaltig und auch nicht immer gerecht.
Bundeseinheitliche Netzentgelte sind weder gerecht,
noch schaffen sie ausreichend Anreize, den Netzausbau
stärker mit dem Ausbau der erneuerbaren Energien zu
synchronisieren. Im Gegenteil: Sie schaffen weitere Ge-
rechtigkeitsdebatten und Ineffizienzen.


Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1806714000

Herr Kollege Bareiß, gestatten Sie eine Zwischen-

frage oder eine Zwischenbemerkung des Kollegen
Lenkert?


Thomas Bareiß (CDU):
Rede ID: ID1806714100

Nein.


(Dr. Joachim Pfeiffer [CDU/CSU]: Er muss noch zum Flieger!)


Es gibt gute Gründe für regionale und differenzierte
Netzentgelte. Erster Grund: In den neuen Bundesländern
wurden die Netze nach der Wiedervereinigung umfang-
reich modernisiert; das wurde gerade beschrieben. Das
war auch dringend notwendig. Die daraus resultierenden
langfristigen Abschreibungskosten sind nun von den ört-
lichen Kunden zu tragen. Auch diese profitieren von den
Investitionen.

Das wird sich aber in den nächsten Jahren ändern;
denn in den nächsten Jahren sind verstärkt Neuinvesti-
tionen in die Netze in den alten Bundesländern erforder-
lich. Auch hier braucht es moderne Netze, die sich an die
zukünftigen Herausforderungen anpassen. Deshalb wird
es in den nächsten Jahren zwangsläufig auch hier zu Ver-
schiebungen kommen.


(Ralph Lenkert [DIE LINKE]: Nein!)


Zweiter Grund – auch dieser wurde schon genannt –:
Der zukünftige enorme Ausbau der erneuerbaren Ener-
gien findet vor allem in den ländlichen Regionen und
nicht in Ballungsräumen statt.


(Dr. Kirsten Tackmann [DIE LINKE]: Eben drum!)


Das gilt sowohl für den Westen als auch für den Osten
unseres Landes. Deshalb kann man Düsseldorf auch
nicht mit dem Havelland in Brandenburg vergleichen
– das war das Beispiel, das Sie vorhin genannt haben –,
so wie das auch in Ihrem Antrag zu finden ist.


(Dr. Kirsten Tackmann [DIE LINKE]: Lesen Sie doch noch einmal nach! Die Argumentation war anders!)


Auch in meiner Heimat, in Baden-Württemberg, gibt
es ländliche Gebiete mit einem stärkeren Zubau der er-
neuerbaren Energien


(Dr. Kirsten Tackmann [DIE LINKE]: Deswegen wollen wir ja bundesweit!)

und entsprechend höheren Netzentgelten. Das gilt natür-
lich auch für die dünn besiedelten Gebiete der neuen
Bundesländer, in denen derzeit ein starker Ausbau von
erneuerbaren Energien erfolgt. So ist die Ökostrompro-
duktion in Ostdeutschland um 10 Prozent höher als im
Westen.

Eines kann man schon heute sagen: Der Schwerpunkt
der hohen Netzentgelte wird sich in den kommenden
Jahren noch stärker in den ländlichen Raum verlagern,
auch in den alten Bundesländern. Dadurch ergibt sich
aber nicht nur ein höheres Netzentgelt, sondern auch
eine hohe regionale Wertschöpfung,


(Dr. Kirsten Tackmann [DIE LINKE]: Nein! Eben nicht!)


die durch den Ausbau der erneuerbaren Energien gewollt
ist und die von diesem Pult aus oftmals beschrieben und
gelobt wurde.

Der ländliche Raum hat mit der Energiewende ein
neues Wachstumsfeld bekommen,


(Dr. Kirsten Tackmann [DIE LINKE]: Die Regionen haben nichts davon!)


das im Übrigen von allen Stromverbrauchern mit über
20 Milliarden Euro jährlich subventioniert wird. Nie-
mand profitiert von der Energiewende mehr als die länd-
lichen Räume. Landwirte, Kommunen, Häuslebauer und
Handwerksbetriebe auf dem Land profitieren in beson-
derer Weise von der Energiewende; denn wo erneuer-
bare Energien ausgebaut werden, entsteht auch regionale
Wertschöpfung.


(Dr. Kirsten Tackmann [DIE LINKE]: Eben nicht!)


Einheitliche Netzentgelte sind nicht gerechter, son-
dern sie hebeln die bestehende Anreizregulierung aus;
denn das derzeitige Anreizregulierungssystem setzt Effi-
zienzanreize für die verschiedenen kommunalen und re-
gionalen Netzbetreiber.


(Dr. Kirsten Tackmann [DIE LINKE]: So ein Quatsch!)


Solche regulatorischen Effizienzanreize sind erforder-
lich, um ineffiziente Investitionen zulasten der Strom-
verbraucher zu vermeiden.

Ein einheitliches Netzentgelt würde den Effizienz-
wettbewerb zunichtemachen. Das wäre kontraproduktiv.
Damit würde beispielsweise auch die Sinnhaftigkeit,
dass wir 900 Verteilnetzbetreiber haben, infrage gestellt.
Denn wenn wir ein einheitliches Netzentgelt einführen,
dann würde auch ein großer Verteilnetzbetreiber völlig
ausreichen. Die immer wieder von vielen propagierte
Rekommunalisierung, die auch von Ihnen gewünscht
wird, wäre damit endgültig überflüssig.

Meine Damen und Herren, wer tatsächlich die
Netzentgelte mindern will, muss das System der „ver-
miedenen Netzentgelte“ angehen und die erneuerbaren
Energien netztechnisch besser steuern. Das System der
vermiedenen Netzentgelte ist überholt; seine Abschaf-
fung würde bei den Netzentgelten um 350 Millionen





Thomas Bareiß


(A) (C)



(D)(B)

Euro entlasten. Das käme vor allem den Regionen mit
höheren Netzentgelten, also auch den vorhin genannten
Regionen, nachhaltig zugute. Vermiedene Netzentgelte
basieren auf der Annahme, dass dezentrale Stromein-
speisungen den Netzausbaubedarf auf der vorgelagerten
Netzebene reduzieren. Dadurch würden, so die An-
nahme, Infrastrukturkosten vermieden.

Diese Grundannahme ist nachweislich falsch.


(Beifall des Abg. Arnold Vaatz [CDU/CSU])


Denn gerade die Anlagen für fluktuierende erneuerbare
Energien wie Wind- und Sonnenenergie sind die Ursa-
chen für den erheblichen Netzausbau, der gerade auch
die Verteilnetzumlagen ständig nach oben treibt. Bei den
erneuerbaren Energien ist die Einspeisung nicht planbar,
und die Anlagen sind nur schwer steuerbar, da eine Ab-
nahmepflicht existiert. Es entstehen erhebliche Kosten
für den Ausbau des bestehenden Netzes, da der Über-
schussstrom ins vorgelagerte Netz gedrückt wird. Da-
rüber sollten wir reden, statt über die Art und Weise, wie
wir die Netzentgelte zulasten der Verbraucher anders
verteilen können.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Meine Damen und Herren, auch die erneuerbaren
Energien müssen in Zukunft netzverträglicher ausgebaut
werden. Wir sollten uns ernsthaft überlegen, ob die
Netzanschlusspflicht und die Entschädigungsregelun-
gen in der jetzigen Form noch sinnvoll sind. Denn der
Ausbau von Windanlagen in netzschwachen Regionen
geht lediglich zulasten der Verbraucher, die die stillste-
henden Windräder über die EEG-Umlage entschädigen.

Deshalb ist es gut, dass wir dieses Problem zeitnah
angehen möchten. Wir sollten ernsthaft über eine deutli-
che Senkung der Entschädigung für stillstehende Anla-
gen nachdenken.


(Beifall des Abg. Arnold Vaatz [CDU/CSU])


Heute erhält ein stillstehendes Windrad 95 Prozent
der EEG-Vergütung. Wenn man diesen Wert absenken
würde, gäbe es einen Anreiz für Anlagenbetreiber, in
Regionen mit ausreichenden Netzen zu investieren. Das
wäre volkswirtschaftlich sinnvoll; es wäre aber auch für
die betroffenen Regionen eine spürbare Entlastung in der
Zukunft.

Meine Damen und Herren, wir müssen natürlich auch
die Netze weiter ausbauen. Denn das zeigt auch diese
Debatte: Der Ausbau der erneuerbaren Energien alleine
reicht nicht aus. Neuer Strom muss auch abtransportiert
werden: vom Land in die Stadt, vom Norden in den Sü-
den. Das bedeutet, Netze müssen ausgebaut und ertüch-
tigt werden. Hierfür haben wir bisher die gesetzlichen
Rahmenbedingungen geschaffen. Jetzt müssen wir auch
den Ausbau vorantreiben.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1806714200

Der Kollege Lenkert hat jetzt die Möglichkeit zu ei-

ner Kurzintervention.


Ralph Lenkert (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1806714300

Vielen Dank, Herr Präsident. – Herr Kollege Bareiß,

ich möchte Ihnen kurz ein paar Punkte erklären, die Sie
unserem Antrag wahrscheinlich nicht komplett entnom-
men haben. Das bundeseinheitliche Netzentgelt führt
nicht zu Effizienzverlusten bei den Netzbetreibern. Denn
wir planen – wenn Sie den Antrag richtig gelesen hätten,
dann wüssten Sie das –, dass die Netzbetreiber sich wie
bisher von der Bundesnetzagentur ihre jeweiligen Netzent-
gelte genehmigen lassen. Dann wird das Netzentgelt wie
bisher, aber eben bundesweit einheitlich, mit der Strom-
rechnung von allen Stromkunden eingezogen. Das Geld
fließt in einen Fonds, aus dem dann die Netzbetreiber die
ihnen jeweils zustehenden und genehmigten Netzent-
gelte zurückerhalten. Damit werden keine Effizienzver-
luste eintreten. Das ist der erste Punkt.

Der zweite Punkt ist: Sie sagten, das wäre ein Vorteil
für die einheimische Wirtschaft. Wenn zwischen zwei
Regionen im Industriebereich ein Strompreisunterschied
von 100 Prozent besteht, dann liegt eine Wettbewerbs-
verzerrung vor und wird die strukturschwache Region
noch strukturschwächer. Dann müssen die dortigen
Handwerksbetriebe aus Kostengründen – wegen der hö-
heren Energiekosten – in die ohnehin schon strukturstar-
ken Regionen wegziehen. Das verstärkt das Ungleichge-
wicht weiter, und damit wird es noch schwieriger, die
Energiewende zu meistern. Diesen Aspekt sollten Sie
also auch nicht vergessen.

Ein letzter Punkt: Die TU Dresden hat, beauftragt
durch die sächsische Staatsregierung, ermittelt, dass in-
klusive der Modernisierung der Netze im Westen die
Schere zwischen Regionen mit den niedrigsten Netzent-
gelten und denen mit den höchsten sich immer weiter
öffnen wird.

Im Übrigen kann ich Ihnen einen der Kreise nennen,
die die höchsten Netzentgelte im Jahr 2023 haben wer-
den. Das ist der Wahlkreis Vorpommern-Rügen Ihrer
Bundeskanzlerin. Dieser Kreis wird den dritthöchsten
Netzentgeltpreis aus den eben genannten Gründen ha-
ben.

Wir sind der Meinung, dass alle gleichmäßig an den
Lasten der Energiewende beteiligt werden sollten. Un-
terschiede zwischen 4,7 Cent und 14 Cent Netzentgelt
sind einfach nicht vermittelbar. Obendrauf kommt die
Mehrwertsteuer. Dadurch wird man noch mehr ge-
schröpft. Reden Sie also nicht von Maßnahmen, die Sie
vielleicht ergreifen wollen! Ergreifen Sie endlich Maß-
nahmen! Wenn Sie mit anderen Maßnahmen die
Netzentgelte senken, werden wir dem nicht entgegenste-
hen.


(Beifall bei der LINKEN)



Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1806714400

Herr Kollege Bareiß, Sie haben die Möglichkeit, da-

rauf zu erwidern.






(A) (C)



(D)(B)


Thomas Bareiß (CDU):
Rede ID: ID1806714500

Herzlichen Dank. – Herr Lenkert, der Unterschied

zwischen uns beiden ist, dass Sie erhöhte Preise neu ver-
teilen wollen. Ich möchte versuchen, erhöhte Preise zu
reduzieren. Ich glaube nicht, dass es günstiger wird, in-
dem wir alles sozialisieren.


(Dr. Kirsten Tackmann [DIE LINKE]: Es geht um Gerechtigkeit, nicht um Sozialisieren!)


Auch wenn ich Ihr Anliegen verstehen kann, müssen wir
berücksichtigen, dass in den Regionen, die erhöhte
Netzentgelte haben, eine regionale Wertschöpfung statt-
findet;


(Dr. Kirsten Tackmann [DIE LINKE]: Das ist aber nicht so!)


darauf bezog sich ein großer Teil meiner Rede. Es gibt
also sowohl Vorteile als auch Nachteile für die betreffen-
den Regionen. Wir werden darüber in den nächsten Mo-
naten intensiv sprechen. Es handelt sich aber nicht um
ein Ost-West-Problem, sondern um ein generelles Pro-
blem der Energiewende. Das muss fein austariert wer-
den. Wir müssen unsere Anstrengungen darauf verwen-
den, die Kosten zu reduzieren. Für mich bietet eine
Sozialisierung keine Grundlage. Sie wird nicht zu einer
Lösung führen.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU – Dr. Kirsten Tackmann [DIE LINKE]: Das haben Sie einfach falsch verstanden!)



Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1806714600

Jetzt hat der Kollege Oliver Krischer für Bündnis 90/

Die Grünen das Wort.


Oliver Krischer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1806714700

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es

ist in der Tat richtig: Die Netzentgelte in Deutschland
sind reformbedürftig. Vor allen Dingen muss eine Leis-
tungskomponente eingeführt werden, weg von der rei-
nen Kilowattorientierung der Netzentgelte; denn es ent-
stehen Kosten dadurch, dass das System vorgehalten
werden muss, egal wie viele Kilowattstunden bezogen
werden. Die Große Koalition hat das als wichtiges
Thema erkannt; das steht auch im Koalitionsvertrag.
Aber ich hätte mir gewünscht, Herr Bareiß, dass Sie sa-
gen, wie der Stand ist und was Sie unternehmen. Dazu
habe ich leider nichts gehört; ich habe nur von der Abre-
gelung der Windkraftanlagen gehört. Das ist eigentlich
nicht das Thema. Ich hätte mir gewünscht, dass Sie eine
Ansage zur Einführung einer Leistungskomponente bei
den Netzentgelten machen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)


Der zweite Punkt ist: Wir müssen die Anreizregulie-
rungsverordnung novellieren; denn im Moment werden
Verteilnetzbetreiber, die nicht in ihre Netze investieren,
tendenziell eher belohnt werden als diejenigen, die vor-
angehen und moderne Netze, sogenannte Smart-Netze,
bauen. Auch dieses Problem wird im Koalitionsvertrag
benannt. Sogar die Bundesnetzagentur weist darauf hin,
dass hier etwas getan werden muss. Aber, Herr Bareiß,
auch dazu habe ich nichts gehört. Es wäre interessant, zu
erfahren – vielleicht sagt der Kollege Becker gleich noch
etwas dazu –, wie der Stand ist und wann wir mit etwas
rechnen können.

Last, but not least haben wir – auch das ist ein wesent-
licher Punkt – ein absurdes Sammelsurium von Ausnah-
metatbeständen. Ich will nicht wieder die Golfplätze er-
wähnen. Nur so viel: Mir kann keiner erklären, warum
der Betreiber eines Golfplatzes verminderte Netznut-
zungsentgelte zahlt. Wir müssen § 19 Absatz 2 der Strom-
netzentgeltverordnung reformieren, Stichwort: Mitter-
nachtsparagrafen. Dazu höre ich von Ihnen gar nichts.
Aber das würde die Verbraucher entlasten und tatsäch-
lich etwas bringen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)


Nun haben die Kollegen von der Linken einen Antrag
eingebracht, der ein Problem beschreibt, das real exis-
tiert. Ich finde es nur ein bisschen schade, Ralph
Lenkert, dass das hier als Ost-West-Problem aufgezogen
wird.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Wenn überhaupt, dann ist das ein Problem zwischen Bal-
lungsgebieten und ländlichen Regionen.


(Ralph Lenkert [DIE LINKE]: Habe ich doch gesagt!)


Wenn man für die Energiewende ist, sollte man das dif-
ferenziert darstellen und hinzufügen – hier bin ich Kolle-
gen Bareiß ausnahmsweise dankbar –, dass ländliche
Regionen von der Energiewende überwiegend profitie-
ren. Damit wird Wertschöpfung in die ländlichen Regio-
nen verlagert. Das heißt, das ist etwas Positives.

Sie stellen das Problem so dar, als ob die hohen Netz-
entgelte allein durch die Energiewende verursacht wä-
ren. Das ist aber überhaupt nicht der Fall. Gerade im Os-
ten haben wir hohe Netzentgelte, weil in den vergange-
nen 25 Jahren nach der Wiedervereinigung stark in die
Netze investiert worden ist und deshalb die Kosten dort
gestiegen sind. Im Westen steht das in vielen Regionen
noch bevor. Das hat gar nichts mit der Energiewende zu
tun, das hat etwas mit dem Alter der Netze zu tun. Bei
mir zu Hause steht ein Verteilerkasten aus den 50er-Jah-
ren vor der Haustür. Der wird irgendwann ausgetauscht
werden müssen, und dann stehen Investitionen an. Wenn
es so läuft, wie Sie es machen wollen, dann führt das am
Ende dazu, dass der Osten die Umlage des Westens be-
zahlt. Das kann nicht in Ihrem Sinne sein. Da schießen
Sie an der Stelle ein Eigentor.


(Ralph Lenkert [DIE LINKE]: Lesen Sie die Studie von der TU Dresden!)


Worüber wir wirklich reden müssen, ist die Frage, wie
wir die Kosten für die Ausbaukomponenten, die durch
die Energiewende verursacht werden, tatsächlich gerecht
verteilen können. Da, finde ich, haben Sie mit Ihrem An-





Oliver Krischer


(A) (C)



(D)(B)

trag einen Punkt getroffen, über den man reden muss.
Das ist aber Teil der Frage, wie wir modernisieren und
wie wir den ganzen Komplex der Netzentgelte neu ord-
nen. Das steht auf der Tagesordnung. Wenn Ihr Antrag
einen Anlass bietet, darüber zu reden und auch einmal zu
hören, welche Vorstellungen die Große Koalition dazu
hat, dann ist das insgesamt gut.

Man muss aber auch ein bisschen aufpassen, was man
mit so einer Debatte anfängt. Das haben wir gerade vom
Kollegen Bareiß gehört. Ich würde sagen: Der Kollege
ist nicht immer ganz so auf der Seite der erneuerbaren
Energien; diesen Eindruck habe ich, wenn ich die Debat-
ten so verfolge. Es wird die Frage gestellt: Brauchen wir
überhaupt 900 Verteilnetzbetreiber? Wenn wir Netzent-
gelte komplett ausgleichen, dann muss man auch die
Frage beantworten, wie wir dafür sorgen, dass weiter re-
gional und dezentral effizient gewirtschaftet wird.

Das haben Sie zwar angesprochen, man sucht aber in
Ihrem Antrag vergeblich die Lösung. Die findet man
nicht. Das geht an der Stelle nicht. Deshalb hoffe ich da-
rauf, dass wir im Wirtschaftsausschuss eine vernünftige
fachliche Debatte führen; denn das ist etwas für Fein-
schmecker der Energiewende. Ich hoffe, dass wir am
Ende eine Lösung finden werden.

Wenn der Antrag der Anlass dazu ist, dass wir insge-
samt die vielen fachlichen Detailfragen, von der Leis-
tungskomponente über die Anreizregulierungsverordnung
und die Ausnahmetatbestände bis hin zur regionalen
Verteilung und zu regionaler Gerechtigkeit, unter einen
Hut bringen können, dann wäre das am Ende ein gutes
Ergebnis. Darauf freue ich mich. Wenn das der Anlass
ist, dann ist das okay.

Danke schön.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1806714800

Das Wort hat jetzt der Kollege Dirk Becker für die

Sozialdemokraten.


(Beifall bei der SPD)



Dirk Becker (SPD):
Rede ID: ID1806714900

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!

Ich habe gerade zu Oliver Krischer aus Spaß gesagt:
Mensch, du kannst ja auch vernünftig sein.


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ich bin vernünftig! Ich bin die Vernünftigkeit in Person!)


Was will ich damit sagen? Ich bin der Fraktion Die
Linke durchaus dankbar, dass sie sich dem Energiethema
widmet, mit dem man in der Tat vielleicht keine Wahl-
kämpfe gewinnt. Es sind etliche Themen in der Pipeline,
die für die Energiewende unverzichtbar sind, und das
Thema der Verteilnetze, der Übertragungsnetze gehört
unstrittig dazu.

Ich will zu Beginn auch mit Blick auf Thomas Bareiß
kurz den Koalitionsvertrag zitieren, wenn ich darf, Herr
Präsident. Dort ist nämlich das festgehalten, was Oliver
Krischer eben gesagt hat.

Die Koalition wird das System der Netzentgelte auf
eine faire Lastenverteilung bei der Finanzierung der
Netzinfrastruktur überprüfen.

Es ist klar: Wir haben in den Koalitionsverhandlun-
gen erkannt, dass es hier Handlungsbedarf gibt. Es gibt
Unterschiede, die aus den eben dargestellten Gründen
herrühren. Wir wollen uns das anschauen und dann für
eine fairere Verteilung sorgen.

Aber, lieber Ralph Lenkert, man darf das Thema nicht
an diesem Punkt beenden.


(Ralph Lenkert [DIE LINKE]: Nein!)


Man darf nicht nur eine Gerechtigkeitsdebatte daraus
machen, sondern es handelt sich auch um eine Frage der
Technik, der neuen Herausforderungen, der Weiterent-
wicklung und ob wir Leistungskomponenten brauchen.
Auch das ist im Koalitionsvertrag genauso adressiert.
Das heißt, es geht nicht nur um die Frage, ob es gerecht
oder fair ist, sondern auch darum, wie ich die künftigen
Herausforderungen angehen kann. Man muss aufpassen
– das hat Oliver Krischer gesagt –, dass man die Anreize
für Effizienzmaßnahmen hochhält, dass man aber die
ungerechten Differenzierungen, die gesamtsystematisch
entstanden sind – denn die Energiewende ist eine ge-
samtdeutsche Herausforderung –, ausgleicht.

Lieber Thomas Bareiß, gestatte mir einen Hinweis.
Möglicherweise könnte hier und da der Eindruck entste-
hen, dass wir in dieser Debatte grundsätzlich noch ein-
mal die Frage der Entschädigungsregelung diskutieren.
Du kennst die offizielle Sprachregelung in der Koalition.
Wir haben das im Rahmen der EEG-Novelle diskutiert.
Wir sind zu einer anderen Überzeugung gekommen, und
die gilt bis zum Ende dieser Legislaturperiode. Ich sage
das nur, damit für Außenstehende an dieser Stelle keine
Verunsicherung entsteht.


(Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Danke für die Klarstellung!)


Was mir relativ wichtig ist, ist, dass wir Folgendes
noch einmal miteinander besprechen – das klang eben an –:
Das ist die Frage, ob Annahmen der Energiewende heute
noch so zutreffen wie beispielsweise zu dem Zeitpunkt,
als wir über die vermiedenen Netznutzungsentgelte ge-
sprochen haben. Wir haben vor einigen Jahren angenom-
men, dass wir mit dem Ausbau der erneuerbaren Ener-
gien weniger Investitionen in die Netze zu tätigen haben.
Der Gegenbeweis ist heute an vielen Stellen erbracht:
Die Netze haben neue Funktionen erhalten; sie müssen
anders aufgestellt werden; andere Investitionen sind er-
forderlich. Von daher müssen wir an dieser Stelle in Er-
wägung ziehen, dass die vermiedenen Netznutzungsent-
gelte heute eigentlich nicht mehr zeitgemäß sind, und
müssen darüber hinaus – wir haben das beim Thema Ei-
genverbrauch und beim EEG diskutiert – schauen, wie
wir alle stärker an den Kosten der Infrastruktur beteili-
gen, unabhängig davon, ob sie sie ständig nutzen oder
nur als Rückfalloption betrachten. Diese Investitionen





Dirk Becker


(A) (C)



(D)(B)

sind für das gesamte System erforderlich, und alle sind
daran zu beteiligen.

Von Oliver Krischer wurde eben die Frage gestellt:
Wie seid ihr denn aufgestellt? Es ist so – ich glaube, das
weißt du auch; der Zeitplan ist ja nicht geheim –, dass
bis zur Sommerpause des nächsten Jahres die Regierung
eine Reform der Anreizregulierungsverordnung plant
und dass wir in dem Zusammenhang die vom Kollegen
Lenkert aufgeworfenen Fragen prüfen.

Ich will an dieser Stelle eines aber auch sagen – ich
habe es Ihnen vorweg schon gesagt –: Wir haben natür-
lich schon Gespräche mit den Akteuren im Markt ge-
führt; denn so etwas macht man nicht am Reißbrett und
nicht, indem man das nur als Gerechtigkeitsfrage behan-
delt. Dabei hat man es mit etwas zu tun, was oft vor-
kommt: Jeder Übertragungsnetzbetreiber hat eine andere
Position. Den Vorschlag, den Sie machen, sehe ich ge-
genwärtig – ich sage es einmal vorsichtig – noch am
weitesten weg. Es gibt viele Vorschläge dazu, wie man
so etwas in einem Übergang, vielleicht in verschiedenen
Stufen, modellieren kann.

All das werden wir besprechen, gern mit der Opposi-
tion, in jedem Fall aber mit den Akteuren am Markt. Das
Problem ist angekommen, es steht auf der Agenda der
Großen Koalition, und wir werden es entsprechend lö-
sen.

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1806715000

Vielen Dank, Herr Kollege Becker. – Sie hatten ge-

fragt, ob das Zitieren des Koalitionsvertrags zulässig ist.
Ich möchte Ihnen hier eindeutig erklären: Es ist zulässig;
allerdings wird es auf die Redezeit angerechnet.


(Heiterkeit)


Nächste Rednerin ist die Kollegin Dr. Herlind
Gundelach für die CDU/CSU.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Bernd Westphal [SPD])



Dr. Herlind Gundelach (CDU):
Rede ID: ID1806715100

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Meine sehr geehrten Damen und Herren! Unsere Netze
sind in allen drei Spannungsebenen ein unverzichtbarer
Teil unseres Energiesystems – ich glaube, da sind wir
uns einig –, und sie sind auch das Rückgrat unserer
Energieversorgung. Daraus folgt: Ohne eine ausrei-
chende Netzkapazität kann letztendlich auch die Ener-
giewende nicht gelingen. Um dieses Rückgrat der Ener-
giewende kontinuierlich stabil zu halten, arbeiten wir
seit vielen Jahren daran, die Netzinfrastruktur mit der
Energieerzeugung und dem Energieverbrauch in Ein-
klang zu bringen; denn Netzausbau und Ausbau der er-
neuerbaren Energien bedingen einander und müssen des-
wegen eng verzahnt miteinander gestaltet werden.
Dabei müssen wir aber auch berücksichtigen, dass der
Aus- und Umbau unseres Stromnetzes je nach regionaler
Beschaffenheit unterschiedliche Anforderungen auf-
weist und dadurch auch unterschiedlich intensiv ausge-
prägt ist. Dies hat vor allem zwei Gründe – auf sie sind
die Vorredner schon eingegangen; deswegen, denke ich,
muss ich das nicht auch noch tun –: Diese betreffen zum
einen die Entwicklung in den neuen Bundesländern und
zum anderen all die Regionen, wo erneuerbare Energien
in stärkerem Umfang installiert worden sind als an-
derswo.

Ich möchte einmal ganz nüchtern auf die von der Lin-
ken präsentierten Zahlen eingehen. Sie sprechen in Ih-
rem Antrag davon, dass es teilweise eine Kostendiffe-
renz von 100 Prozent geben würde, bei einem Verbrauch
von 3 500 Kilowattstunden eine Kostendifferenz von
192 Euro. Da habe ich selber angefangen, ein bisschen
zu rechnen. Gehen wir davon aus, dass die Netznut-
zungsentgelte ungefähr 22 Prozent des Strompreises aus-
machen.


(Ralph Lenkert [DIE LINKE]: Nein!)


Ich habe die Netzentgelte in ungefähr gleich großen
Städten im Westen und im Osten miteinander verglichen
und erhielt ganz andere Zahlen. Sie haben in Ihrem An-
trag – darauf ist schon hingewiesen worden – eine Groß-
stadt, nämlich Düsseldorf, mit einer Region, dem Havel-
land, verglichen. Damit ändern Sie Vergleichsparameter.
Jeder Statistiker wird Ihnen sagen, dass das nicht geht.

Ich habe die Netzkosten der Kleinstädte Wittenberge
in Brandenburg und Bad Saulgau in Baden-Württem-
berg miteinander verglichen. Beide Städte haben rund
17 000 Einwohner. Vergleicht man nun auf Grundlage
des von Ihnen zitierten Vergleichsportals Verivox, müs-
sen die Wittenberger bei einem Verbrauch von 3 500 Ki-
lowattstunden rund 168 Euro an Netzkosten bezahlen,
die Bad-Saulgauer rund 170 Euro. Ich glaube, das ist
kein allzu großer Unterschied.


(Dr. Matthias Heider [CDU/CSU]: Hört! Hört!)


Dieser Vergleich belegt, dass Sie Ihre Argumente offen-
sichtlich nur mit einer bestimmten Brille gewählt haben;
denn höhere Netznutzungsentgelte – das ist heute schon
deutlich geworden – sind nicht nur im Osten und in
strukturschwachen Regionen zu finden. Vielmehr zeigt
sich, dass diese Netznutzungsentgelte regional unter-
schiedlich hoch ausfallen, und zwar im Westen wie im
Osten.


(Ralph Lenkert [DIE LINKE]: Habe ich doch gesagt! Sie können nachlesen, dass ich das gesagt habe!)


Regionale Unterschiede müssen aus meiner Sicht aber
auch regional gelöst werden.


(Beifall des Abg. Dr. Joachim Pfeiffer [CDU/ CSU])


Genau aus diesen Gründen werden die Netznutzungsent-
gelte gemäß dem Verursacherprinzip regional gewälzt und
dort getragen, wo sie anfallen. Wir haben in Deutschland





Dr. Herlind Gundelach


(A) (C)



(D)(B)

doch auch ganz bewusst keinen Einheitsmietpreis und
keinen Einheitswasserpreis. So etwas wie ein Länderfi-
nanzausgleich für Netze wäre nicht marktwirtschaftlich
und aus unserer Sicht auch nicht umsetzbar.

Davon abgesehen ignorieren Sie einen weiteren
Punkt, auf den ich jetzt nur kurz eingehen möchte, näm-
lich dass mit dem Ausbau der erneuerbaren Energien
durchaus auch Wertschöpfung in diesen Regionen er-
folgt, was zu erhöhten Steuereinnahmen und auch mehr
Ausbildungs- und Arbeitsplätzen führt. Durch eine bun-
desweite Vereinheitlichung der Netzentgelte würden wir
den gewünschten Standortwettbewerb der Länder unter-
binden. Die Höhe der Netzentgelte stellt gerade für
stromintensive Unternehmen einen bedeutsamen Stand-
ortfaktor dar, der durch die Schaffung bundeseinheitli-
cher Netzentgelte nicht nachteilig beeinflusst werden
sollte. Für die industriell geprägten Bundesländer, die
nicht von einer gestärkten Wertschöpfung durch die
Energiewirtschaft profitieren, könnten einheitliche
Netzentgelte zu einer Mehrbelastung von bis zu 40 Pro-
zent führen.

Die Energiewende führt, wie Sie in Ihrem Antrag
richtig ausgeführt haben, zu einer Dezentralisierung un-
seres Energiesystems. Daher ist in der Vergangenheit
auch immer wieder über die sachgerechte und angemes-
sene Ausgestaltung der Netznutzungsentgelte diskutiert
worden. Wir haben im Koalitionsvertrag vereinbart, die
Netzentgelte dahin gehend zu überprüfen; das hat Herr
Becker gerade gesagt. Das werden wir auch machen. Vor
diesem Hintergrund haben wir bereits 2007 die Berech-
nung der Netznutzungsentgelte auf das Anreizregulie-
rungssystem umgestellt. Ich kann mich erinnern, dass
ich damals im Vermittlungsausschuss, als wir die ersten
Überlegungen dazu anstellten, auf Länderseite dabei
war. Das war ein schwieriger Komplex; aber ich glaube,
der Ansatz, den wir damals gewählt haben, war richtig.
Dieses System soll Netzbetreibern gerade Anreize zur
Steigerung der Effizienz geben und damit zu Kostensen-
kungen für den Verbraucher führen. Die Genehmigung
der Netzentgelte erfolgt durch die Bundesnetzagentur,
die diese Prüfung sehr sorgfältig durchführt und dabei
stets das Interesse der Verbraucher im Blick hat.

Eine Vereinheitlichung der Netzentgelte würde hinge-
gen nach unserer Auffassung zu einer Aushebelung des
Wettbewerbs und damit zu einer Entkopplung der An-
reizmechanismen führen.


(Ralph Lenkert [DIE LINKE]: Zuhören!)


Netzbetreiber hätten dann keine großen Anreize mehr
für eine effiziente Bewirtschaftung ihrer Netze. Im Netz
darf der Effizienzdruck nicht über Regulierung erfolgen,
sondern muss weiterhin über den marktwirtschaftlichen
Mechanismus des Preises funktionieren; alles andere
geht aus meiner Sicht in Richtung Planwirtschaft. Sie
fordern im Prinzip eine Situation ein, die einer Verstaat-
lichung der Netze gleichkommt. Planwirtschaft und Ver-
staatlichung durch die Hintertür, das wollen wir nicht
unterstützen.


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist nun auch Quatsch!)

Um die Wirkungsweise des Anreizregulierungssys-
tems beurteilen zu können, haben wir die regelmäßige
Erstellung eines Evaluierungsberichts durch die Bundes-
netzagentur eingeführt. Dieser Evaluierungsbericht ist
bis zum 31. Dezember 2014 dem Bundesministerium für
Wirtschaft und Energie vorzulegen. Der Bericht wird un-
ter anderem Angaben zum Investitionsverhalten der
Netzbetreiber und zur Notwendigkeit von Maßnahmen
zur Beseitigung von Investitionshemmnissen enthalten.

Sollten wir bei Überprüfung der Anreizregulierung
feststellen, dass die vorhandene Netzentgeltsystematik
nicht ausreichend greift, müssen wir uns Gedanken ma-
chen, wie wir eine Novellierung systematisch angehen
können, ohne dass bereits bestehende marktwirtschaftli-
che Instrumente ausgehebelt werden.

Ich sehe beispielsweise in der steigenden Eigenstrom-
versorgung durchaus eine Herausforderung, der wir uns
auch im Bereich der Netze stellen müssen. Hier könnte
man zum Beispiel über eine Änderung der Netzanschluss-
kosten oder anderes nachdenken. Nicht durchdachte
Schnellschüsse, wie sie Ihrem Antrag zugrunde liegen,
sollten wir aus meiner Sicht in jedem Fall vermeiden.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1806715200

Abschließender Redner zu diesem Tagesordnungs-

punkt ist der Kollege Johann Saathoff, SPD.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Johann Saathoff (SPD):
Rede ID: ID1806715300

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Als ich den Antrag der Linken zum ersten Mal
gelesen habe, dachte ich, ich müsste in meiner Rede
heute Details aus der Evaluierung der Anreizregulie-
rungsverordnung vortragen, was ich gar nicht kann, weil
der Prozess noch nicht abgeschlossen ist. Ich diskutiere
über dieses Thema oft genug mit meinem Sohn
Christian, einem Auszubildenden im Bereich der erneu-
erbaren Energien. Diese Gespräche sind für den Rest un-
serer Familie, liebe Kolleginnen und Kollegen, keine
große Freude.


(Heiterkeit bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was ist denn in der Familie Saathoff los?)


Ich denke, Sie werden mir alle dankbar sein, wenn ich
uns das so kurz vor dem Abschluss dieser Sitzungswo-
che erspare.

Stattdessen möchte ich lieber den Gedanken Ihres An-
trags aufgreifen. „Entsolidarisierung“ war der erste Be-
griff, der mir dabei einfiel. Es ist nicht richtig, dass die
Lasten des regionalen Netzausbaus ungerecht verteilt
werden. Wir alle wollen im Sinne der Gerechtigkeit und
der gleichen Lebensverhältnisse insbesondere der Men-
schen in den ländlichen Räumen einheitliche finanzielle





Johann Saathoff


(A) (C)



(D)(B)

Rahmenbedingungen bei den Netznutzungsentgelten
schaffen.

Wenn Sie einen Blick in unseren Koalitionsvertrag
geworfen haben – er ist schon zitiert worden –, haben
Sie gesehen, dass wir das System der Netzentgelte über-
prüfen wollen – was wir ja bereits tun –, und dies vor al-
lem mit Blick auf eine faire Lastenverteilung bei der Fi-
nanzierung der Netzinfrastruktur. Liebe Kolleginnen und
Kollegen, wie es aussieht, besteht Konsens über das
Ziel; nur über den Weg dahin sind wir uns uneins.

Den fairen Lastenausgleich dürfen wir aber nicht nur
auf die Netzentgelte beziehen. Die Energiewende ist eine
gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Deshalb muss sich
auch die gesamte Gesellschaft an den Lasten beteiligen.
Der Zustand, den Sie in Ihrem Antrag beschreiben, näm-
lich dass Stromkunden in ländlichen Räumen und Regio-
nen mehr Netzentgelte zu zahlen haben als Stromkunden
in Ballungsgebieten, ist ein gutes Beispiel für die wach-
sende Kluft zwischen den Ballungsgebieten und den
ländlichen Regionen.

Ich komme aus einer ländlichen Region. Mein Wahl-
kreis ist einer der wenigen Wahlkreise in Deutschland
ohne einen einzigen Autobahnkilometer.


(Dr. Joachim Pfeiffer [CDU/CSU]: Meiner auch!)


Schnelles Internet gibt es längst nicht überall, und wir
führen immer wieder Diskussionen über den Erhalt von
Institutionen der Daseinsvorsorge. Er ist ein Beispiel für
viele ländliche Regionen in Deutschland, die in ihrer
Entwicklung einfach mehr und mehr abgehängt werden.
Für dort lebende Menschen macht das die Sache nicht
einfacher. Deshalb freue ich mich darüber, dass wir in
dieser Legislaturperiode zum Beispiel die Gemein-
schaftsaufgabe „Verbesserung der Agrarstruktur und des
Küstenschutzes“ zu einer Gemeinschaftsaufgabe „Länd-
liche Entwicklung“ weiterentwickeln wollen. Damit
können wir künftig viel für die Menschen in den ländli-
chen Räumen tun. Dieses Projekt werden wir im Früh-
jahr 2015 starten. Auch beim Breitbandausbau wollen
wir viel Geld in die Hand nehmen. Ziel ist es, bis 2018
alle Haushalte in Deutschland mit einer Übertragungsge-
schwindigkeit von 50 Megabit pro Sekunde zu versor-
gen.

Um wieder zur Energie zurückzukehren, möchte ich
den Bundeswirtschaftsminister zitieren, der dieses Jahr
nicht müde wurde, zu betonen, dass wir die Lasten der
Energiewende wieder auf mehr Schultern verteilen wol-
len, und das wollen wir auch nach der Novelle des EEG.
Allerdings werden wir dabei nicht den von Ihnen vorge-
schlagenen Weg eines Gesetzes beschreiten; denn die für
die Netzentgelte maßgeblichen Bestimmungen sind Ver-
ordnungen.
Die Netzentgelte sind für uns aber nur ein Teilaspekt
zukünftiger Aufgaben, zu denen ich noch einige Sätze
sagen möchte: Das Bundesministerium für Wirtschaft
und Energie hat kürzlich ein Grünbuch zum Strom-
marktdesign vorgelegt. Dieses Grünbuch ist ein Diskus-
sionspapier, und wir in der SPD-Bundestagsfraktion be-
raten dieses Thema schon seit einiger Zeit sehr intensiv
unter Federführung meines Kollegen Dirk Becker. Dabei
ist eine ganz zentrale Frage, ob die notwendigen Reser-
vekapazitäten allein in einem Strommarkt 2.0 wirtschaft-
lich vorgehalten und eingesetzt werden können oder ob
wir dafür einen zweiten Markt oder Mechanismus, einen
Kapazitätsmechanismus, brauchen. Eine weitere Auf-
gabe besteht darin, einen möglichst großen Teil des ge-
planten Netzausbaus zu vermeiden, indem wir den Be-
darf mit intelligenten Netztechnologien oder smarter
Steuerung kompensieren. Dadurch würden bestimmte
Kosten erst gar nicht entstehen, und gerade die Kosten,
die nicht entstehen, sind doch die besten. Ich denke, da
sind wir uns einig.

Nun, am Ende meiner Rede am Ende dieser Sitzungs-
woche, freue ich mich auf eine fünfstündige Zugfahrt in
diese wunderbare Region ohne Autobahn und ohne
schnelles Internet, die für mich trotzdem die schönste
Region Deutschlands ist, dahin, wo Deiche hoch und
Berge Fehlanzeige sind,


(Heiterkeit bei Abgeordneten der SPD, der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


in das schöne Ostfriesland.

Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. Komm’t
gaud na Huus hen!


(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1806715400

Lieber Herr Kollege Saathoff, vielen Dank für die

Schilderung der Heimatregion. – Damit sind wir am
Ende unserer Aussprache angelangt.

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/3050 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.

Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tages-
ordnung und auch dieser Woche.

Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun-
destages ein auf Dienstag, den 25. November 2014,
10 Uhr.

Die Sitzung ist geschlossen. Kommen Sie alle gut
nach Hause.