Gesamtes Protokol
Die Sitzung ist eröffnet. Nehmen Sie bitte Platz.
Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
begrüße Sie alle herzlich und darf vor Eintritt in unsere
Tagesordnung einige Mitteilungen machen:
Die Kollegin Sabine Bätzing-Lichtenthäler hat ihr
Bundestagsmandat bedauerlicherweise niedergelegt.
Für sie ist am 12. November 2014 die Kollegin
Angelika Glöckner nachgerückt, die ich im Namen des
Hauses herzlich begrüße und mit der wir uns eine gute
Zusammenarbeit wünschen. Herzlich willkommen!
Der Ältestenrat hat sich in seiner gestrigen Sitzung
darauf verständigt, dass während der Haushaltsbera-
tungen in unserer nächsten Sitzungswoche, also ab dem
25. November, wie in Haushaltswochen üblich keine Be-
fragung der Bundesregierung, keine Fragestunde und
auch keine Aktuellen Stunden durchgeführt werden. Als
Präsenztage sind die Tage von Montag, dem 24. Novem-
ber, bis Freitag, dem 28. November, festgelegt worden.
Ich vermute, dass Sie damit einverstanden sind. – Das ist
der Fall. Dann verfahren wir so.
Ich rufe unsere Tagesordnungspunkte 5 a und 5 b auf:
a) – Zweite und dritte Beratung des von den Frak-
tionen der CDU/CSU und SPD eingebrach-
ten Entwurfs eines … Gesetzes zur Ände-
rung des Strafgesetzbuches – Umsetzung
europäischer Vorgaben zum Sexualstraf-
recht
Drucksache 18/2601
– Zweite und dritte Beratung des von der Bun-
desregierung eingebrachten Entwurfs eines
… Gesetzes zur Änderung des Strafgesetz-
buches – Umsetzung europäischer Vorga-
ben zum Sexualstrafrecht
Drucksache 18/2954
Beschlussempfehlung und Bericht des Aus-
schusses für Recht und Verbraucherschutz
Drucksache 18/3202
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Familie, Senioren,
Frauen und Jugend zu dem An-
trag der Abgeordneten Dr. Franziska Brantner,
Katja Dörner, Tabea Rößner, weiterer Abgeord-
neter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN
Kinder schützen – Prävention stärken
Drucksachen 18/2619, 18/3201
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 60 Minuten vorgesehen. – Auch dazu
kann ich Einvernehmen feststellen. Dann können wir so
verfahren.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem
Kollegen Johannes Fechner für die SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Kolleginnen undKollegen! Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer! Ich bin sehrfroh, dass wir heute diesen Gesetzentwurf verabschiedenkönnen, weil wir damit eine EU-Richtlinie umsetzen– das ist der Anlass für dieses Gesetz –, was bei der Vor-gängerregierung liegen geblieben war. Sie sehen also:Wir reden nicht nur vom Schutz von Kindern, sondernwir handeln auch, und wir schließen mit diesem Gesetzzum Schutz der Kinder wichtige Strafbarkeitslücken inDeutschland.
Dabei sind wir uns bewusst, dass wir mit dem Straf-recht allein den Missbrauch von Kindern sicherlich nichtverhindern können. Dazu brauchen wir Präventionspro-jekte wie das Projekt „Kein Täter werden“ in Berlin oder
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6338 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 67. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. November 2014
Dr. Johannes Fechner
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ein ähnliches Projekt in Baden-Württemberg. Wir unter-stützen das Projekt „Kein Täter werden“ in diesemHaushaltsjahr mit zusätzlichen 150 000 Euro.Natürlich, die besten und strengsten Gesetze helfennichts, wenn wir bei den Ermittlungsbehörden, etwa beider Polizeidienststelle vor Ort, nicht die technische undauch nicht die personelle Ausstattung haben, die für dieVerbrechensbekämpfung benötigt werden.
Ich bin gespannt, was zu diesem für mich wesentlichenAspekt im Untersuchungsausschuss zum BKA heraus-kommt; denn die entscheidende Frage ist: Was könnenwir hier verbessern?Es gibt in Deutschland Strafbarkeitslücken im Straf-gesetzbuch, die wir mit diesem Gesetz schließen wollen.Wichtig ist mir, dass wir das Strafmaß für den Besitz vonKinderpornografie von zwei auf drei Jahre erhöhen; dashalte ich für eine wichtige Maßnahme. Das Erstellen, dasVerbreiten und der Besitz sogenannter Posingbilder wer-den zukünftig nach dem StGB explizit als Kinderporno-grafie strafbar sein. Ich halte es für ganz wichtig, dasswir hier ein klares Kriterium gefunden haben und im Ge-setz definiert haben, wann etwas als Kinderpornografiestrafbar sein soll.Wir haben klar definiert, wann ein Bild eines nacktenKindes oder eines Jugendlichen als pornografisch unddamit strafbar einzuschätzen ist, nämlich dann, wenn dasBild oder das Video die unbekleideten Genitalien oderdas unbekleidete Gesäß eines Kindes zeigt oder wennein Kind bzw. ein Jugendlicher in unnatürlicher, ge-schlechtsbetonter Körperhaltung abgebildet ist. Zudemmacht sich nach unserer Neuregelung strafbar, wer mitkommerziellen Absichten Nacktbilder von Jugendli-chen, die die Schwelle zur Pornografie, die ich geradebeschrieben habe, nicht erreichen, herstellt oder anbietet.Wir beschließen noch viele weitere wichtige Maßnah-men. Da möchte ich dem Kollegen Wiese allerdingsnicht vorgreifen. Ich will nur benennen, dass wir dasCybergrooming zukünftig explizit unter Strafe stellen.Ich finde, eine wichtige Maßnahme ist auch, dass wir dieVerjährungsfrist deutlich verlängern. Sie sehen also: Wirnehmen den Schutz der Kinder sehr ernst. Wir schließenStrafbarkeitslücken im Gesetz zum Wohle der Kinder inDeutschland.
Aber auch den höchstpersönlichen Lebensbereich vonErwachsenen schützen wir zukünftig besser, etwa indemwir die Personen, die in einer hilflosen Situation fotogra-fiert und dadurch zur Schau gestellt werden, strafrecht-lich schützen. Strafbar macht sich zukünftig auch, werunbefugt ein Bild – das Wort „unbefugt“ ist ein ganzwichtiges Korrektiv im Gesetzestext – herstellt und da-bei dem Ansehen der fotografierten Person erheblichschadet. Wir haben ja heute die Situation, dass Smart-phones und damit Kameras und Videokameras allgegen-wärtig sind. Sofort ist jemand da, der auf den Auslöserdrücken und knipsen kann. Ich finde, angesichts diesertechnischen Entwicklung müssen wir den höchstpersön-lichen Lebensbereich, nicht nur der Kinder, sondernauch der Erwachsenen besser schützen.
Sie sehen also: Wir haben in Umsetzung der EU-Richtlinie präzise Regelungen für das Strafgesetzbuchzum Schutz der Kinder in Deutschland getroffen. Da inmanchen Medien anscheinend noch Unklarheiten be-standen, möchte ich ausdrücklich auf Folgendes hinwei-sen: Die Sorge, dass die journalistische Bildberichter-stattung durch dieses Gesetz in irgendeiner Formeingeschränkt werden könnte, ist unbegründet. Wir ha-ben in einer Vorschrift explizit geregelt, dass die journa-listische Bildberichterstattung und wissenschaftliche Tä-tigkeiten von der Strafbarkeit ausgeschlossen sind. Daauch viele Eltern nach Medienberichten Sorge hatten, istes mir ebenso wichtig, zu sagen: Wenn Eltern ihre klei-nen Kinder im Familienurlaub nackt am Strand spielendfotografieren, dann ist das nicht strafbar, auch dannnicht, wenn solche Fotos verbreitet werden. Es war unsganz wichtig, dass solche privaten Fotos nicht kriminali-siert werden.Zusammengefasst: Wann sind Nacktfotos von Kin-dern strafrechtlich problematisch? Das ist bei der Her-stellung, beim Besitz oder beim Erwerb von Nacktbil-dern von Kindern und Jugendlichen der Fall, wenn dasBild vom Täter mit der Absicht, es zu verkaufen, also ei-nem Dritten gegen Entgelt zugänglich zu machen, herge-stellt wurde oder wenn es sich um pornografische Bilderhandelt, wobei wir im Gesetz ganz klar definiert haben,wann diese Schwelle erreicht ist.Meine Damen und Herren, mit diesem Gesetz verbes-sern wir den Schutz der Kinder vor Missbrauch, und wirschützen den höchstpersönlichen Lebensbereich vonBürgerinnen und Bürgern, ganz unabhängig vom Alter.Es ist deshalb ein wichtiges und sinnvolles Gesetz, demwir alle einvernehmlich zustimmen sollten.Herzlichen Dank.
Nächster Redner ist der Kollege Jörn Wunderlich für
die Fraktion Die Linke.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Liebe Zuhörer und Zuschauer! Zunächst möchte ichmich bei allen Kollegen für die sachliche Beratung inden Ausschüssen bedanken. Es ist ein heikles Thema. Esist ein schwieriges Thema. Ich denke, da sollte manEmotionen oder irgendwelche wie auch immer gearteteParteivorbehalte und Ähnliches beiseitelassen.
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Jörn Wunderlich
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Es geht hier um Kinderschutz. Ich denke, ich spreche füralle Mitglieder des Hauses, wenn ich sage, dass es für je-den von uns ein Herzensanliegen ist, unsere Kinder zuschützen.
Der Gesetzentwurf, so wie er vorliegt, hat ein hehresZiel, wie der Kollege Fechner eben ausgeführt hat,schießt aber nach Überzeugung der Linken weit überdieses Ziel hinaus. Er wurde von den Koalitionsfraktio-nen anlässlich der sogenannten Edathy-Affäre erarbeitet.In der sich aus dieser Affäre ergebenden emotional hochaufgeladenen Debatte kamen die verstärkten Rufe nachStrafverschärfung. Bundesminister Maas kündigte da-raufhin einen Gesetzentwurf zur Schließung der Lückenund zur Umsetzung der Richtlinie an. Dieser liegt unsnun vor.In der Form, wie er uns vorliegt, kann ihm aber nichtzugestimmt werden; denn es ist unsere Überzeugung: Ermissachtet die Maßgabe des Strafrechts als Ultima Ra-tio, indem er Verhaltensweisen unter Strafe stellt, diemoralisch verwerflich sein mögen, aber keine Kriminal-strafe rechtfertigen. Nicht jedes moralisch verwerflicheVerhalten muss unter Strafe gestellt werden.
Der Gesetzentwurf trägt darüber hinaus den Anforde-rungen des Bestimmtheitsgebots nicht ausreichendRechnung, und er sieht Strafrahmenerhöhungen vor, ob-wohl durch verschiedene kriminologische Studien im-mer wieder belegt worden ist, dass das Strafmaß alssolches keine abschreckende Wirkung hat. Das Ent-deckungsrisiko schreckt potenzielle Täter ab, aber keinwie auch immer gearteter Strafrahmen.
Ich möchte im Rahmen der mir gegebenen Zeit auf ei-nige Punkte eingehen. Zunächst das Positive: § 174StGB – Missbrauch von Schutzbefohlenen – wird ange-messen dahin gehend ergänzt und erweitert, dass nun ne-ben die leiblichen oder angenommenen Kinder auch dieleiblichen oder angenommenen Kinder von Ehepartnernoder Lebensgefährten treten, um etwaige diesbezüglicheAbhängigkeitsverhältnisse zu erfassen. Des Weiterenwurde in Absatz 2 der sogenannte Vertretungslehrerfallergänzt. Wir hätten uns zwar noch eine sachgerechtereDifferenzierung gewünscht, aber es ist eine sinnvolle Er-gänzung.Beim sexuellen Missbrauch von Kindern, § 176StGB, wird das sogenannte Cybergrooming – das istauch schon angesprochen worden – einbezogen, also dasgezielte Ansprechen von Kindern und Jugendlichen imInternet mit dem Ziel, sexuelle Kontakte anzubahnen.Die Regelung ist problematisch, da sie bereits die ersteKontaktaufnahme mit „bösen Hintergedanken“ erfasst,ohne dass es zu weiteren Handlungen oder Kontaktauf-nahmen kommt. Die EU-Richtlinie sieht allerdings eineStrafbarkeit nur vor, wenn auf einen per Telekommuni-kation erfolgten Vorschlag eines Treffens weitere, aufein solches Treffen hinführende konkrete Handlungenerfolgt sind. Hier stellt sich die Frage, wie bei dieserVorverlagerung der Strafbarkeit der Nachweis der Täter-motivation geführt werden soll. Im Zweifel wird dasnicht gelingen, da die „bösen Hintergedanken“ nachzu-weisen sind.Hinsichtlich der Änderungen zur Kinderpornografie,§ 184 b, soll nun die „unnatürlich geschlechtsbetonteKörperhaltung“ strafbar sein. Dies wurde bereits durchdie BGH-Rechtsprechung zum Posing erfasst. Danachwaren Handlungen erfasst, bei denen das Kind vor demFotografieren aufgefordert wurde, sich zu entblößen undStellungen einzunehmen, die seine Genitalien zeigen.Nun sollen auch Handlungsweisen erfasst werden, beidenen das Kind keine aktive Rolle spielt, wenn zum Bei-spiel ein schlafendes, teilweise entblößtes Kind fotogra-fiert wird. Allerdings ist die Ergänzung um „unnatürlichgeschlechtsbetonte Haltung“ zu unbestimmt, was im Üb-rigen auch von den Sachverständigen in der Anhörungbemängelt wurde. Daran ändert auch nichts die Ergän-zung um das unbekleidete Gesäß oder die Geschlechts-teile eines Kindes. Außerdem bleibt fraglich, was dieVersuchsstrafbarkeit an Zugewinn bringt, da die Vor-schrift als Unternehmensdelikt ausgelegt ist. Bereits jetztist die erfolglose Suche nach kinderpornografischemBildmaterial als Unternehmensdelikt strafbar.In § 184 d Strafgesetzbuch soll nun der wissentlicheAbruf von kinder- und jugendpornografischem Inhaltexplizit unter Strafe gestellt werden. Hier entsteht eineRechtsunsicherheit; denn: Wie soll ohne Zwischenspei-cherung ein Abruf nachgewiesen werden? Hier scheintdie Überprüfung und Verfolgung jedenfalls äußerst pro-blematisch und öffnet der Vorratsspeicherung oder garder Onlineüberwachung Tür und Tor.
Wie soll sichergestellt werden, dass es sich nicht um ei-nen versehentlichen Abruf handelt?Zuletzt möchte ich einen Punkt dieses Gesetzes be-sonders erwähnen: den von Anfang an heftig kritisiertenEntwurf für einen ausgeweiteten § 201 a Strafgesetz-buch. Schon die Änderungen in Absatz 2 stoßen auf er-hebliche Bedenken. Er soll nun heißen:Ebenso wird bestraft, wer unbefugt von einer ande-ren Person eine Bildaufnahme, die geeignet ist, demAnsehen der abgebildeten Person erheblich zuschaden … einer dritten Person … zugänglichmacht.Es reicht also aus, das einer dritten Person zugänglich zumachen, von „verbreiten“ ist keine Rede. Daraus erge-ben sich nun alle möglichen Fallkonstellationen: einFoto am FKK-Strand oder eines angetrunkenen Party-gastes, das Foto eines CSU-Politikers gemeinsam mit ei-nem Politiker der Linken bei einem Bier an der Spree.
All das kann zur Strafbarkeit führen, sobald dieses Bildeiner dritten Person, auch im Familienkreis, zugänglichgemacht wird. In der Begründung des Gesetzentwurfs
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6340 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 67. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. November 2014
Jörn Wunderlich
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wird primär auf Bildaufnahmen von unbekleideten Kin-dern abgestellt. Das war letztlich ja auch Grundlage fürdiese Gesetzesänderung. Tatsächlich werden aber auchErwachsene von dieser Regelung erfasst, und um diewird es in der Praxis dann wohl auch vorrangig gehen.
Das Ganze ist geändert worden von einem Antragsde-likt in ein relatives Antragsdelikt, und zwar auch bei denBildern, die ich gerade erwähnt habe. So weit, so gut.Aber jetzt kann, wie gesagt, jeder Strafanzeige erstatten.Das heißt jeder, der ein Bild sieht und sagt: „Die abgebil-dete Person könnte in ihrem Ansehen erheblich geschä-digt sein“, kann einen Strafantrag stellen.
Damit kann, wie gesagt, jeder Anzeige erstatten. Daskann für den betroffenen Fotografen eine mindestens un-angenehme, wenn nicht sogar eine existenzvernichtendeStrafverfolgung auslösen, obwohl zivilrechtlich allesrechtmäßig ist und bleibt.Wie gesagt, es gibt alle möglichen Fallkonstellatio-nen. Und es gibt gute Gründe, warum alle Sachverstän-digen in der Anhörung des Ausschusses diesen Entwurfzur Änderung von § 201 a StGB abgelehnt haben.
Es bedarf an dieser Stelle keines entsprechenden neuenStraftatbestandes. Das ist alles bereits durch die Straf-vorschriften und das Urhebergesetz unter Strafe gestellt.Zuletzt noch zwei Sätze zur Verlängerung der Verjäh-rungsfrist. Jeder Praktiker kann bestätigen, dass nachBekanntwerden einer möglicherweise Jahrzehnte zu-rückliegenden Tat, zu welcher es zudem keine objekti-ven Beweismittel gibt, eine Verurteilung unter rechts-staatlichen Gesichtspunkten wegen mangelnderBeweismittel und Erinnerungsverlusten der Zeugen sehr,sehr unwahrscheinlich ist. Hier wird den Opfern widerbesseres Wissen suggeriert, eine Bestrafung der Täter seimöglich. Das Strafrecht ist aber nicht das primäre Instru-ment, um den Opfern Genugtuung oder Wiedergutma-chung zu gewähren. Wiedergutmachung kann man indiesen Fällen eh nicht leisten. Es geht um den Strafan-spruch des Staates. Bei allem Verständnis für die Opfersolcher Taten – da spreche ich als ehemaliger Staatsan-walt und Richter, der auch mit solchen Fällen befasstwar – dürfen nicht Hoffnungen geweckt werden, die imErgebnis nicht zu erfüllen sind.
Alles in allem kann dieser Gesetzentwurf in der Ge-samtschau daher nur abgelehnt werden. Mit dem Antragder Grünen, über den wir heute auch debattieren, liegtein Vorschlag auf dem Tisch, wie unabhängig von Straf-rechtsverschärfungen der Kinderschutz durch Präventionauf verschiedenen Ebenen verbessert werden kann. DerAntrag ist zumindest ein großer Schritt in die richtigeRichtung. Diesem ist daher zuzustimmen.Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.
Das Wort erhält nun die Kollegin Winkelmeier-
Becker.
– Entschuldigung, das ist hier nicht klar angekommen.
Ich habe mich extra noch einmal erkundigt. Wir bekom-
men das aber geregelt auf die Reihe. Wenn Sie einen Ge-
schäftsordnungsantrag stellen möchten, können Sie
das gerne tun. Das können Sie auch vom Platz tun.
Ich kann den Antrag vom Platz aus stellen. So habe
ich das verstanden. – Es tut mir leid, dass es zu einem
Missverständnis gekommen ist, Herr Präsident.
Ich möchte gerne für meine Fraktion und für das Haus
den Antrag stellen, dass wir ein Mitglied der Bundesre-
gierung, und zwar den Justizminister Heiko Maas, her-
beirufen. Es ist für mich völlig unverständlich, dass
diese Debatte ohne ihn stattfindet. Diese Debatte führen
wir schon lange miteinander, und es soll jetzt sehr kurz-
fristig auf Wunsch der Regierungsfraktionen zum Ab-
schluss dieser Beratungen kommen. Es gab viele
Diskussionen über das Verfahren. Jenseits von Verfah-
rensfragen ist zu sagen: Die Diskussionen über das
Sexualstrafrecht, insbesondere in diesem Fall, in dem es
um Nacktbilder von Kindern und deren Veröffentlichung
geht, bewegen uns alle sehr. Das ist von hoher Relevanz.
Ich habe mich erkundigt. Der Minister ist nicht ent-
schuldigt, weder vorher bei den Fraktionen noch hier
vorne. Es gibt für mich keinerlei Begründung, dass er
nicht hier ist. Ich finde, wir dürfen erwarten – das betrifft
nicht nur die Oppositionsfraktionen, sondern das ganze
Haus –, dass er an unseren Beratungen hier, an dieser
Debatte teilnimmt. Deswegen bitte ich sehr um Unter-
stützung der Großen Koalition, die diesen Debattenplatz
haben wollte. Er wurde wegen der Fraktionsberatungen
kurzfristig verlegt. Ich bitte Sie, uns und unser Interesse
an der Beratung dieses Punktes ernst zu nehmen und un-
serem Antrag zuzustimmen.
Schönen Dank.
Frau Kollegin Hajduk, ich mache einen Verfahrens-vorschlag. Den Antrag, den Sie gestellt haben, halte ichnicht nur für zulässig, sondern auch für begründet. Ichhöre, dass der Minister auf dem Weg ist. Mein Vorschlaglautet: Wenn er bis zum Ende des Beitrags, der jetzt ge-
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Präsident Dr. Norbert Lammert
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rade aufgerufen wurde, nicht im Plenum erschienen seinsollte, stimmen wir über Ihren Antrag ab. Vielleicht hatsich das aber bis dahin im Sinne Ihrer Antragstellung er-ledigt. – Okay, ich stelle dazu Einvernehmen fest. – FrauWinkelmeier-Becker, bitte.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Esist eigentlich schade: Auch ich hätte den Minister gerneals Zuhörer gehabt.
Es wäre aber, glaube ich, nicht kollegial, wenn wir jetztalle warten lassen würden. Deshalb werde ich jetzt gernedie Gelegenheit nutzen, Ihnen unsere Gedanken zu die-sem Gesetzentwurf darzulegen.Rechtspolitik in dieser Woche ist nun wirklich nichtlangweilig. Wir haben sehr viele verschiedene Themenzu behandeln. Gestern waren es die Mietpreisbremseund die Sterbehilfe. Die Diskussion darüber betrifft letzt-endlich eine Kernfrage der Rechtspolitik. Es kommennoch die Hasskriminalität – NSU-Ausschuss – dazu.Trotzdem ist es mir wichtig, zu zeigen: Das alles sindnicht Themen, die unverbunden nebeneinander stehen,sondern da gibt es rote Linien.Ich habe von diesem Platz aus schon einmal unsererote Linie der mittelstandsunterstützenden Rechtspolitikdargelegt. Heute geht es hier um einen anderen, ganzwichtigen roten Faden, nämlich um den Opferschutz,den wir verbessern wollen. Dazu haben wir mehrere Pro-jekte – auch im Koalitionsvertrag – vereinbart. Ich denkedabei an unsere wichtige Diskussion über Menschenhan-del und Zwangsprostitution, aber auch an solche Dingewie zivilrechtliche Schäden, die demnächst in Annex-verfahren einfacher geltend gemacht werden sollen. Da-bei geht es darum, dass nahe Angehörige beim Tod einesOpfers Schmerzensgeld erhalten sollen. All das sindwichtige Punkte.Das aber, was heute hier diskutiert wird, nämlich derSchutz von Kindern vor Übergriffen bzw. Verletzung ih-rer Intimsphäre oder sexuellen Selbstbestimmung, stehtganz stark im Mittelpunkt unserer Rechtspolitik.
Bereits im Koalitionsvertrag haben wir, wie gesagt,angesprochen, dass die Verjährung von Taten in derKindheit bis zum 30. Lebensjahr ruhen soll. Aus meinerSicht ist das eine wichtige Erweiterung des Rechtsschut-zes, weil es eben oft lange dauert, bis man sprechfähigist, das verarbeitet hat und sich dem noch einmal stellenkann. Natürlich kann es auch zu Enttäuschungen führen.Deshalb ist es, glaube ich, wichtig und unsere Aufgabe,hier noch einmal darauf hinzuweisen, dass es trotzdemmöglichst früh gemacht werden sollte, um hinterherauch zum Erfolg zu kommen. Trotzdem denke ich aber,dass diese Möglichkeit, nach längerer Zeit im weiterenLeben darauf zurückzukommen, doch ein Gewinn fürdie Opfer ist.Ich möchte nun vor allem auf die Regelungen im Be-reich der Kinderpornografie eingehen, welche die Öf-fentlichkeit am meisten interessieren. Im Frühjahr diesesJahres gab es einen prominenten Fall, der uns aufgezeigthat, dass wir da Schutzlücken haben. Wenn gegen Ent-gelt schwunghafter Handel mit Bildern von unschuldi-gen nackten bzw. entblößten Kindern, die davon nichtsmitbekommen, getätigt wird, die ins Internet gesetztwerden, nicht mehr einholbar und überall auf der Weltabrufbar sind, dann ist das unerträglich. Das geht nicht.Wir müssen das absolut unter Strafe stellen.
Ein Zitat des römischen Kaisers Mark Aurel lautetwie folgt:Oft tut auch der Unrecht, der nichts tut. Wer dasUnrecht nicht verbietet …, der befiehlt es.Das ist ein Aspekt, der dazu führt, dass wir schnell arbei-ten müssen. Wir dürfen hier nicht mehr lange warten,sondern müssen handeln, damit diese Schutzlücke imGesetz geschlossen wird.Die Richtlinie, die wir gleichzeitig umsetzen, sollteaußerdem bereits zum Ende des vergangenen Jahres um-gesetzt werden. Sie ist liegen geblieben. Auch das ist einGrund, jetzt schnell voranzugehen. Wir wollen dieseFrist nicht um mehr als ein Jahr reißen und dazu kom-men, das Gesetz an dieser Stelle nachzubessern.Der Minister hatte zu all dem einen Entwurf vorge-legt, der in einigen Punkten noch nicht optimal war,nicht so richtig treffsicher bei dem, was wir als strafwür-diges Unrecht erkennen. Auf der anderen Seite ging er ineinigen Punkten zu weit. Auch der Bundesrat hat dasgeltend gemacht, einerseits unter dem Begriff „Be-stimmtheitsgebot“ – dem genügt es nicht – und anderer-seits unter dem Begriff „Angemessenheit“; der Entwurfging an einigen Stellen weit über das Ziel hinaus. Des-halb bin ich froh, dass wir eine kritische Diskussion ge-führt haben. Sie hat dem Verfahren gutgetan. Wir habenjetzt ein Ergebnis, das deutlich besser ist. Daher dankeich an dieser Stelle allen, mit denen wir gut zusammen-gearbeitet haben, allen, die gute Ideen eingebracht ha-ben. Ich denke, wir dürfen unsere Teams und auch dieMitarbeiter im Ministerium in diesen Dank einschließen.Wir haben in den letzten Tagen auf der Strecke noch ei-niges Gutes bewirkt.
– Ich finde, auch Sie können sich im Gesetz wiederfin-den.
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6342 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 67. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. November 2014
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Auf der einen Seite haben wir jetzt das, was strafwür-diges Unrecht sein soll, viel besser gefasst. Auf der an-deren Seite haben wir klargestellt, dass niemand in Be-zug auf sein privates Fotoalbum Sorge haben muss,wenn sich darin normale Urlaubsfotos von den Kindernam Strand befinden, auch wenn einmal Nachbarskinderdabei sind. Es zieht nicht die Anstandsdame ein. Es gibtkeine verordnete Prüderie im privaten Bereich, abereben Schutz, wo er nötig ist.Zunächst zu den Bildern, auf denen Kinder nackt po-sieren. Mit der Formulierung „unnatürlich geschlechts-betonte Körperhaltung“ schließen wir die Schutzlücke inBezug auf das Posing. Das wird jetzt klargestellt. Aberwir haben in der Diskussion auch gemerkt, dass dasnicht alle strafwürdigen Fälle erfasst. Das Kind, das imSchlaf entblößt ist und fotografiert wird, befindet sicheben gerade nicht in einer unnatürlichen Haltung, auchnicht, wenn es sich spielerisch bewegt. Wenn dann Nah-aufnahmen der Genitalien in sexuell aufreizender Weisegemacht werden, wäre das bisher nicht unter die Posing-und Pornografievorschriften gefallen. Das haben wirjetzt klargestellt. Auch da ist jetzt die Strafbarkeit nach§ 184 b StGB gesichert.
Wir haben den Strafrahmen von zwei auf drei Jahreerhöht. An diesem Punkt sind wir im Dissens auseinan-dergegangen. Wir hätten den Strafrahmen gern auf fünfJahre erhöht, zum Beispiel in Anlehnung an die Strafbar-keit von Diebstahl. Wir hören aus der Praxis, dass dieDarstellung des echten Missbrauchs – also nicht diePosingfälle, sondern anderes – sehr brutal geworden ist.Der Gedanke, dass das nur deshalb passiert, weil am an-deren Ende ein Käufer dafür zahlt, war für uns Grundgenug, auf fünf Jahre gehen zu wollen. Heute bleibt esallerdings bei drei Jahren. Vielleicht setzen wir das beianderer Gelegenheit noch einmal auf die Tagesordnung.
Bei den jugendpornografischen Schriften haben wirdavon abgesehen, die Regelungen komplett parallel zurKinderpornografie zu gestalten. Denn wir sehen natür-lich, dass die sexuelle Selbstbestimmung und auch das,was die Jugendlichen selber tun und entscheiden kön-nen, ein ganz anderes Maß hat als das, was bei Kindernmöglich ist. Hier haben wir ganz klare Ausnahmen fürdas private Fotoalbum gemacht. Wer Aufnahmen vonsich und seinem Partner mit allseitiger Einwilligungmacht, der bleibt straflos, wenn er diese nur für den eige-nen Gebrauch macht und in diesem Kreis behält. Das ha-ben wir, solange es den privaten Gebrauch nicht über-steigt, nicht unter das Verdikt der Strafe gestellt.Bei den Kindernacktbildern der sogenannten Katego-rie 2 haben wir aber die klare Auffassung, dass es gegendie Würde der Kinder verstößt, wenn mit solchen Bil-dern ihr Recht auf Intimsphäre und Persönlichkeitsent-wicklung verletzt wird, wenn sie zu Zwecken und alsObjekt der Wünsche von Erwachsenen dargestellt wer-den und diese Bilder ins weltweite Netz gestellt werden.Das wollten wir ganz klar unter Strafe stellen.Der Befürchtung, dass das vielfach auch im privatenBereich zu strafwürdigem Verhalten führt, sind wir miteiner ganz einfachen Grenzziehung entgegengetreten.Die Nacktheit von Kindern und Jugendlichen auf Bil-dern ist nur dann strafwürdig, wenn dies im Rahmen ei-nes entgeltlichen Austauschs geschieht – Entgelt mit t,also nicht nur für Geld, sondern auch im Rahmen einesTauschs –; denn das geht nicht, das ist nicht tolerabel.Davon abzugrenzen sind allerdings all die Fälle imprivaten Bereich. Natürlich denkt niemand daran, mitBildern der eigenen Kinder gegen Entgelt einen Tausch-handel zu betreiben; diese sind natürlich nur für das pri-vate Album gedacht. Aber der unsägliche massenhafteHandel mit solchen Bildern wird von der geplanten Re-gelung erfasst.
Nun haben Sie gefragt, wie das mit den Bildern in derBravo ist.
Hier gelten die ganz normalen Einwilligungs- und Ein-verständnisvorschriften des Allgemeinen Teils des BGB.Es ist ganz einfach: Wenn die Eltern eines Jugendlichenim Rahmen ihres Sorgerechts ihre Einwilligung dazu er-teilen, dort entsprechende Bilder zu veröffentlichen, isteine Strafbarkeit natürlich auszuschließen. Das ist derganz normale Fall der Formulierung eines Tatbestandesim Besonderen Teil des StGB. Die Tatsache, dass wir andieser Stelle nicht das Wörtchen „unbefugt“ finden, hatalso nicht die Auswirkung, die Sie hier hineininterpretie-ren wollen. Vielmehr ist ganz klar: Hier gelten, wie auchsonst überall, die allgemeinen Rechtfertigungs- und Ein-willigungsgrundsätze.Strafwürdiges Verhalten haben wir unter Strafe ge-stellt. Aber wir haben viele Korrektive installiert, die da-für sorgen, dass die vorgesehenen Regelungen an dieserStelle nicht zu weit gehen. Die Aufnahme von Bildern,die die Hilflosigkeit einer dritten Person zur Schau stel-len, und von Bildern, die das Ansehen einer anderen Per-son erheblich schädigen, ist strafbar. Es gibt allerdingsweitreichende Gründe, die eine Strafbarkeit entfallenlassen können. So können überwiegende Interessen vonPresse, Wissenschaft und Kunst und auch private Inte-ressen hier eine Rolle spielen. Es ist also sichergestellt,dass sich die geplante Regelung nur auf das Verhaltenbezieht, das wir für strafwürdig halten, und nicht darüberhinausgeht. Wer sich sozial adäquat verhält, ist absolutim grünen Bereich.
Frau Kollegin.
Models, die in der Bravo abgebildet werden oder beiGermany’s next Topmodel auftreten, brauchen also keineAngst zu haben.Vielen Dank.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 67. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. November 2014 6343
Elisabeth Winkelmeier-Becker
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Frau Kollegin Hajduk, der Parlamentarische Staatsse-
kretär hat mir zugesichert, dass der Minister jeden Au-
genblick eintreffen müsse.
– Das halte ich für gar keinen schlechten Einfall. Jeden-
falls erscheint mir das klüger als eine Abstimmung mit
unvernünftigem Ergebnis.
Dann unterbreche ich die Sitzung bis zum Eintreffen
des Bundesministers der Justiz.
Die unterbrochene Sitzung ist wieder eröffnet.
Wir setzen die Debatte über diesen Tagesordnungs-
punkt nun in Anwesenheit des federführend zuständigen
Ministers fort. Ich erteile das Wort der Kollegin Katja
Keul für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Guten Morgen, Herr Maas!
Obwohl Sie es bis zur letzten Minute spannend gemachthaben, hat die Zeit offensichtlich nicht gereicht, die Sa-che zu Ende zu denken. Am Dienstagnachmittag um-fangreiche Änderungen vorzulegen, die Mittwochmor-gen im Ausschuss beschlossen werden, ist nicht nur keinguter parlamentarischer Umgang mit der Opposition,sondern führt auch zu miserablen Gesetzen.
Das Ganze konnte schon deswegen nicht gelingen,weil Sie zwei völlig verschiedene Strafrechtsbereichemiteinander vermengt haben und den Persönlichkeits-schutz so zu einer Art Auffangtatbestand für all das ma-chen wollen, was nicht unter den Schutz der sexuellenSelbstbestimmung fällt.Ich will im Gegensatz zu Ihnen die Dinge klar ausei-nanderhalten. Die gute Nachricht zuerst: das Sexual-strafrecht. Hier kann ich Sie ausnahmsweise einmal lo-ben. Sie sind unserem Hinweis gefolgt und haben denFehler im Tatbestand der Jugendpornografie korrigiert,der dazu geführt hätte, dass sich ein Volljähriger, derseine 17-jährige Freundin beim Posieren am Pool foto-grafiert, strafbar gemacht hätte. Auf unsere Anregunghin haben Sie die Einwilligung der Jugendlichen in denAusschlusstatbestand des Absatzes 4 aufgenommen. Da-mit ist jetzt klar, dass sich Jugendliche von ihren volljäh-rigen Freunden fotografieren lassen dürfen, sodass wirdem sexualstrafrechtlichen Teil Ihres Gesetzes gerade sozustimmen können.Bei der Definition der Kinderpornografie in § 184 bStGB konnten Sie sich leider nicht entscheiden und ha-ben jetzt die SPD-Version und den bayerischen Vor-schlag als Alternative ins Gesetz geschrieben. So kannman die Große Koalition künftig direkt im Gesetzes-wortlaut ablesen.
Da aber die Konkretisierung hinsichtlich der Darstellungder Genitalien sinnvoll ist, tragen wir das mit.
Die Klarstellungen beim Grooming und bei den soge-nannten Livedarbietungen – dabei geht es um die Umset-zung der EU-Richtlinie – hatten wir bereits in der erstenLesung begrüßt. Die Verlängerung der Verjährungshem-mung bis zum 30. Lebensjahr ist unter rechtspolitischenGesichtspunkten durchaus umstritten. Da es aber tat-sächlich vor allem den Opfern zugutekommt, den Ent-scheidungsdruck von ihnen zu nehmen, stimmen wirauch dieser nicht unproblematischen Regelung zu.
Aber jetzt zur schlechten Nachricht. Der neue § 201 aStGB ist und bleibt irreparabel misslungen und unver-hältnismäßig. Für die Strafbarkeit von Fotos, die geeig-net sind, dem Ansehen einer Person zu schaden, habenSie bereits herbe Kritik nicht nur von uns als Oppositioneinstecken müssen, sondern auch aus der versammeltenFachwelt und von Ihren eigenen Experten in der Anhö-rung. Was geeignet ist, dem Ansehen zu schaden, bleibtein subjektiver und damit unbestimmter Rechtsbegriff.
Es ist also vorprogrammiert, dass die Frage, ob ein Fotogeeignet ist, dem Ansehen zu schaden, von dem Fotogra-fen und der abgebildeten Person regelmäßig unterschied-lich beantwortet wird.Immerhin haben Sie erkannt, dass die Strafbarkeit derreinen Herstellung dieser Bilder zu weit geht. Strafbarmacht sich künftig dann, wer solch ein peinliches Fotoeinem Dritten zugänglich macht. Das ist aber immernoch viel weniger als etwa die Verbreitung oder Veröf-fentlichung eines Fotos, was bereits nach bisherigerRechtslage strafbar ist.Zur Verdeutlichung möchte ich auf meinen Beispiel-fall aus der ersten Lesung zurückkommen. Sie macheneinen Ausflug auf der Reeperbahn in Hamburg und ma-chen dabei touristische Fotos von interessanten Fassa-den, als just in dem Moment ein bundesweit bekannterBundestagsabgeordneter aus einem einschlägigen Eta-
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Katja Keul
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blissement kommt und Ihnen direkt ins Bild läuft. Siemachen sich jetzt zwar nicht mehr in dem Moment straf-bar, in dem Sie auf den Auslöser drücken – so war dasnoch im Kabinettsentwurf vorgesehen –, aber spätestensdann, wenn Sie zu Hause am Küchentisch Ihren Freun-den die Hamburg-Fotos zeigen und einer erfreut ausruft:„Mensch, das ist doch der Abgeordnete XY! Was machtder denn da?“. Ob dem Ansehen tatsächlich geschadetwird, spielt dabei gar keine Rolle. Es reicht, dass dasFoto dazu geeignet ist, was bei einem Bordellbesuch imRegelfall zu bejahen wäre.
Nach wie vor greift das Strafrecht hier ohne jede Notin den rein privaten Bereich ein. Die unbefugte Veröf-fentlichung und Verbreitung ist hingegen jetzt schonvom Straftatbestand im Kunsturhebergesetz ausreichenderfasst. Hier gibt es weder eine Lücke noch sonst einenBedarf, die Strafbarkeit auszuweiten.
Nachdem Sie jetzt die reine Herstellung von peinli-chen Bildern als Straftat herausgenommen haben, ver-fassen Sie kurzfristig einen neuen Absatz, in dem Sieden alten Fehler wieder einbauen. Danach soll künftigstrafbar sein, ein Foto, welches die Hilflosigkeit einerPerson zur Schau stellt, zu machen. Vielleicht war das jader Versuch, sich ausnahmsweise an dem Kunsturheber-gesetz zu orientieren, wonach Bildnisse nur mit Einwilli-gung des Abgebildeten verbreitet oder öffentlich zurSchau gestellt werden dürfen. Sie haben aber das Wort„öffentlich“ vergessen und stellen damit wieder die reineHerstellung unter Strafe.Was heißt das? Wenn ein Jugendlicher seinen betrun-kenen Kumpel fotografiert, ist er bereits straffällig, ohnedass er dieses Foto überhaupt weitergibt oder ins Netzstellt.
Es reicht, wenn das Bild die Hilflosigkeit des Betrunke-nen zur Schau stellt. Das geht zu weit.
Wenn überhaupt, dann ist doch ausschließlich dieVerbreitung und Veröffentlichung eines solchen Bildesstrafwürdig. Das aber ist bereits heute strafbar, sodassIhre ganze Ausweitung des § 201 a StGB schlicht über-flüssig ist.
Wer nämlich unfreiwillig in hilfloser Lage Hauptdarstel-ler eines YouTube-Videos werden sollte, kann bereitsheute nach dem Kunsturhebergesetz einen Strafantragstellen. Das halte ich auch für sinnvoll und ausreichend.
Beim Strafrahmen passt jetzt auch nichts mehr zu-sammen. Das öffentliche Zurschaustellen soll nach demKunsturhebergesetz mit bis zu einem Jahr geahndet wer-den, die bloße Herstellung des Fotos aber nach dem neugefassten § 201 a StGB mit bis zu zwei Jahren. Daskommt davon, wenn man einen Straftatbestand doppeltregelt und das dann nicht einmal aufeinander abstimmt.Im neuen Absatz 3 haben Sie auf die Kritik bei derStrafbarkeit von Nacktbildern reagiert und diese auf Bil-der von Minderjährigen beschränkt. Strafbar soll jetztdie Herstellung sein, wenn sie erfolgt, um dieses Bild ei-ner dritten Person gegen Entgelt zu verschaffen. Strafbarist auch der Bezug eines solchen Bildes. Jeder hat hierden Fall vor Augen, an den Sie dabei gedacht haben. DasProblem ist aber, dass Sie nur noch an diesen Fall ge-dacht haben, und das ist beim Verfassen von Gesetzes-texten verheerend.
Zunächst einmal versuchen Sie hier beim Persönlich-keitsschutz eine Lücke im Sexualstrafrecht zu schließen,die es gar nicht gibt. Jemand, der im Internet Aufnahmennackter Minderjähriger erwirbt, verfügt – das belegt dieErfahrung der Ermittler – in 90 Prozent der Fälle auchüber strafbares Material. In der Regel reicht es für einenAnfangsverdacht und eine Durchsuchung, bei der sichder Rest dann findet. Das haben die Staatsanwälte in derAnhörung und die Gerichte im Fall Edathy bestätigt.Wer darüber hinaus die Begründung des Bundesver-fassungsgerichts zu der Beschwerde des ehemaligenKollegen liest, wird feststellen, dass der Fall Edathyschon deswegen keine Strafbarkeitslücke offenbart hat,weil bereits das Ausgangsmaterial nicht legal war. LetzteZweifel an der Strafbarkeit wären spätestens mit der er-gänzten Definition der Kinderpornografie ausgeräumt,die wir heute verabschieden.Wenn es also aus diesem Zusammenhang herauskeine Notwendigkeit für eine weitere Strafvorschriftgibt, sollten wir die Finger davon lassen, um zu vermei-den, dass wir im Zweifelsfall auch Jugendliche erfassen,die es aus unerfindlichen Gründen cool finden, sich ge-genseitig Nacktfotos zu schicken. Denn immerhin ist derBegründung zu entnehmen, dass mit Entgelt auch derTausch von Bildern gemeint sein soll.Ein klassischer Flüchtigkeitsfehler dürfte Ihnen unter-laufen sein, als Sie in der Eile am Wochenende dasWörtchen „unbefugt“ aus Absatz 3 herausgestrichen ha-ben. Sie haben dabei wieder nur an den Fall Edathy ge-dacht und wollten verhindern, dass die Einwilligung derEltern der rumänischen Jungs eine Rolle spielt. Das istIhnen auch gelungen. Jetzt kann niemand mehr einwilli-gen: weder die Minderjährigen noch deren Eltern.
Man kann zwar, wie die Union im Ausschuss, der Mei-nung sein, dass 17-jährige Models auch mit Einverständ-nis ihrer Eltern in Dessous-Katalogen oder in der Bravonichts zu suchen haben. Künftig machen sich aber nicht
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Katja Keul
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nur die Fotografen dabei strafbar, sondern auch jeder,der ein solches Heft erwirbt.
Hier hätte eine ordentliche Beratung sicherlich gutgetan.
Wir werden sämtliche Änderungen des § 201 a StGBheute in getrennter Abstimmung ablehnen. Gleiches giltfür die Ausweitung der Volksverhetzung nach § 130StGB, mit der Sie eine neue Versuchsstrafbarkeit einfüh-ren, für die es keine hinreichend plausible Notwendig-keit gibt. Den Änderungen im Sexualstrafrecht hingegenstimmen wir zu.Vielen Dank.
Für die SPD-Fraktion hat nun die Kollegin Susanne
Mittag das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Wir haben in der laufenden Debatte über dieReform des Sexualstrafrechts viele rechtliche Einschät-zungen gehört. Ob ein bestimmter Aspekt des Gesetzent-wurfs gerechtfertigt ist, ob der Entwurf über das Ziel hi-nausschießt oder ob er verhältnismäßig ist, wurdedargelegt. Das ist eine wichtige und richtige Diskussion,die wir zurzeit noch führen und die die Redner, die nachmir sprechen, fortsetzen werden. Als gelernte Polizistinmöchte ich mich aber nicht an der juristischen Debattebeteiligen. Ich möchte lieber darüber sprechen, was es inder Ermittlungspraxis bedeutet, das Sexualstrafrecht zureformieren.In der Arbeit der Polizei gab es in der Vergangenheitimmer wieder Probleme, zum Beispiel Bilder von Kin-dern klar in „erlaubt“ und „verboten“ zu unterscheiden.Da unterscheiden die Polizei und die Ermittlungsbehör-den zwischen Kategorie-1-Bildern, klar kinderpornogra-fisch, und Kategorie-2-Bildern, den sogenannten Posing-bildern. Je nach Rechtsauffassung des bearbeitendenStaatsanwalts konnte der Besitz von Kategorie-2-Bilderndazu führen, dass ein Ermittlungsverfahren eingeleitetwurde, oder nicht. Diese Ermessenslücke schließen wirnun endlich und stellen klar, dass die Herstellung, dieVerbreitung und der Besitz von Posingbildern verbotensind.
Über den derzeitigen 2. Untersuchungsausschuss undein laufendes Ermittlungsverfahren ist in den Medienviel berichtet worden. Da es sich um ein laufendes Ver-fahren handelt, möchte ich mich nicht näher dazu äu-ßern, auch wenn es hier schon erwähnt wurde. Nur soviel: Die Reform des Sexualstrafrechts führt nicht zu ei-nem Amnestiegesetz, wie es eine etwas größere, polemi-sierende Zeitung öffentlich dargelegt hat. Das trifft nichtzu. Wir verschärfen das Sexualstrafrecht. Wir haben dasStrafmaß heraufgesetzt. Wir haben Verjährungsfristenverlängert. Wir haben bestehende Straftatbestände er-weitert und neue Straftatbestände aufgenommen, umSchutzlücken zu schließen, zum Beispiel beim sexuellenMissbrauch von Schutzbefohlenen – da fehlte einiges –,beim Cybergrooming und auch beim Thema Genitalver-stümmelung, das bislang hier noch gar nicht erwähntwurde, obwohl es recht wichtig ist. All diese Punkte ha-ben wir, SPD und CDU/CSU, schon im letzten Jahr imKoalitionsvertrag verankert und setzen das nun um. Dasist gut so; denn das erleichtert die Arbeit von Polizei undErmittlungsbehörden.Hier kommen wir allerdings zu einem kritischenPunkt. Sicherheit können wir hier im Deutschen Bundes-tag nicht beschließen. Kein Paragraf im Strafgesetzbuchklärt eine Straftat auf. Wir dürfen uns heute nicht zufrie-den auf die Schulter klopfen, weil wir das Sexualstraf-recht reformiert haben, und das war es dann. Nein, da-nach geht die Arbeit erst richtig los, nämlich die Arbeitfür Polizei und Justiz. Aber diese kommen leider ihrenAufgaben teilweise schon jetzt nicht mehr in adäquaterWeise nach.Wenn wir die Verjährungsfristen anheben, dann be-deutet das auch, dass mehr Straftaten bei den Behördenangezeigt werden. Dabei handelt es sich nicht um einfa-che Ermittlungen. Tatortspuren gibt es in der Regelkaum noch. Erinnerungen von Zeugen verblassen oderverändern sich. Ermittlungen, die auch den Opfern ge-recht werden sollen, sind schwierig und nicht schnell ab-zuschließen. Das ist sicherlich kein Grund, auf derartigeErmittlungen zu verzichten. Aber das heißt, wir brau-chen in diesem Bereich erheblich mehr Ermittler.Wenn wir die Herstellung, die Verbreitung und denBesitz von Kinderpornografie bekämpfen wollen, dannbrauchen wir auch dort mehr Ermittler. Die Beamten desBKA haben uns im Innenausschuss berichtet, dass sieüber zwei Jahre gebraucht haben, um die Daten der Ope-ration „Spade“ auszuwerten. Zwei Jahre! Das ist zulange und darf eigentlich gar nicht sein. Das hat so langegedauert, nicht weil die Beamten des BKA langsam ge-arbeitet hätten, sondern weil es zu wenige Beamte wa-ren. Es sind zu wenige Ermittlungsbeamte für die rasantansteigenden Fallzahlen gerade im Internet. Oft müssensich die Beamten durch ein Terabyte von Daten arbeiten.Das sind 1 000 Gigabyte voll mit schrecklichen Bildern,Videos und Texten. Das alles muss gesichtet, bewertetund in Akten angelegt werden.Wenn wir als Parlamentarier den Polizistinnen undPolizisten beim BKA, bei der Bundespolizei, aber auchbei den Landespolizeien mehr Aufgaben übertragen,dann müssen wir sie auch personell und materiell gutausstatten, damit sie ihre Arbeit machen können.
Das ist unsere Arbeit in den Haushaltsberatungen. Esgibt leicht positive Signale aus dem Haushaltsausschuss.
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Susanne Mittag
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Das ist sehr schön. Aber ich sage ganz deutlich: Dasreicht noch nicht, nicht für diesen hier beschriebenenBereich.Ich bin mir sicher, dass wir gemeinsam als Parlamenteinen Weg finden können, um den Sicherheitsbehördendie notwendige Ausstattung für ihre Arbeit zu geben, da-mit wir nicht nur Gesetze beschließen, sondern damitdiese dann auch umgesetzt werden können. Es wird sichzeigen, wie ernst wir es damit meinen. Das sind wir denvielen Opfern dieser Straftaten schuldig; denn diese tra-gen ein ganzes Leben an der Tat.Herzlichen Dank.
Alexander Hoffmann ist der nächste Redner für die
CDU/CSU-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Geschätzte Kolleginnenund Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren!Adrian P. war ein fröhliches Kind. Er ist groß gewordenin der Region um Satu Mare in Rumänien. Eines Tageskommt in sein Dorf ein Deutscher, der sich das Ver-trauen der Eltern und der Kinder erschleicht. Das tut erüber Wochen hinweg, indem er Süßigkeiten verteilt,Ausflüge organisiert und durch andere Großzügigkeiten.Ohne das Wissen der Eltern bewegt er dann die Knabendazu, bei ihm nackt zu baden, sich gegenseitig mit Öleinzureiben oder nackt miteinander zu raufen, und erfilmt das Ganze.Diese Filme vertreibt er dann und findet als Abneh-mer zum Beispiel ein Unternehmen wie Azov Films,eine Firma, die in drei Jahren mit Material dieser Artüber 4 Millionen Euro umsetzt. Da möchte ich schoneinhaken, weil es immer heißt, wir hätten nur einen be-stimmten Fall im Auge. Meine Damen und meine Her-ren, wir haben diesen Markt im Auge. Wir alle waren er-schrocken, als im Zusammenhang mit der Edathy-Affärezutage gefördert worden ist, dass eine ganze Brancheentstanden ist, die mit gerade noch legalem MaterialMillionenumsätze macht. Darauf haben wir uns bei die-sem Gesetzentwurf konzentriert, nicht auf diesen einzel-nen Fall.
Wir waren uns damals in einer gemeinsamen Kampf-ansage alle einig, dass es uns darum gehen muss, diesenMarkt trockenzulegen. Ich sage Ihnen heute: Das wirduns mit diesem Gesetzentwurf gelingen.Ganz kurz – es ist schon viel dargestellt worden –zwei, drei wichtige Argumente und Elemente aus meinerSicht. So wurde der Begriff der Kinderpornografie er-weitert. Dazu zählen nicht mehr nur Bilder mit sexuellenHandlungen an und von Kindern oder auch Bilder vonunbekleideten Kindern in unnatürlich geschlechtsbeton-ter Körperhaltung – das ist das, was die ganze Zeit schonim Bereich des Posings Rechtsprechung war –, sondernjetzt auch die sexuell aufreizende Wiedergabe der unbe-kleideten Genitalien und des Gesäßes eines Kindes. Dasist eine ganz wichtige Ergänzung, die zum einen damiteinen Gleichlauf zur Lanzarote-Konvention herstellt,zum anderen einem Vorstoß der Bundesländer Bayernund Hessen im Bundesrat gerecht wird, für den wir imLaufe der Beratungen sehr dankbar waren.Dennoch ist es uns gelungen – auch das ist vorhin an-geklungen –, den Begriff der Jugendpornografie davontrennscharf abzugrenzen, weil Jugendliche einfach eineandere Sexualität haben. Da passiert es schon einmal,dass sich ein jugendliches Pärchen Posingbilder perMMS hin- und herschickt. Durch die Möglichkeit derEinwilligungsfähigkeit für den höchstpersönlichen Ge-brauch haben wir hier eine trennscharfe Formulierunggefunden.Im Hinblick auf den Fall, den ich vorhin geschilderthabe, ist es uns eben auch gelungen, Schlupflöcher zuschließen. Oft kam die platte Behauptung, man habe nurlegales Material bezogen, und das waren dann 5 000oder 10 000 einzelne Bilder. Oder es kam das Argument,man sei Liebhaber der Landschaft und der Kunst. Straf-bar ist nunmehr die Herstellung von Nacktbildern vonPersonen unter 18 Jahren in der Absicht – das ist wichtig –,diese einem Dritten entgeltlich zu verschaffen; strafbarmacht sich auch derjenige, der sich solche Bilder ent-geltlich verschafft.Jetzt haben wir im Rahmen der Kritik in dieser WocheBeispiele gehört: das Nacktbild der 17-Jährigen in derBravo. Aber vergessen wir eines nicht: Die Institutionder rechtfertigenden Einwilligung gibt es nach wie vor.Bei einem solchen Bild können die Eltern selbstver-ständlich im Rahmen ihres Sorgerechts einwilligen.Bitte denken Sie daran – der Kollege Dr. Fechner hat esvorhin dargestellt –: Es gibt Ausnahmen in § 201 a Ab-satz 4 StGB. Auch hier können wir die Strafbarkeit sehrtrennscharf regulieren.Jetzt ein zweites Beispiel, das ich persönlich als eherskurril empfinde: die 17-Jährige im Dessouskatalog. Esmüsste also die Nacktheit der 17-Jährigen Gegenstanddes Dessouskatalogs sein. Da muss ich ganz ehrlich sa-gen – das ist meine persönliche Auffassung –, dass ichmich dann schon wundere. Eine nackte 17-Jährige hatfür mich in einem Dessouskatalog nichts zu suchen.Aber wenn man nicht prüde sein will, so ist es auch hiermöglich, dass die Eltern einwilligen, solange das unterdas Sorgerecht der Eltern fällt.Wir haben die ganze Woche die Kritik vernommen,das Gesetz sei zu unbestimmt, man müsse vorsichtigsein, und man verstehe nicht, was gemeint sei. Auch da-rüber wundere ich mich. Überlegen wir einmal, welcheAnträge und Gesetzentwürfe uns teilweise hier vorgelegtwerden. Oft strotzen Gesetzentwürfe nur so vor unbe-stimmten Rechtsbegriffen, und es wird ganz schnell ein-mal mit einem Federstrich ein Ordnungswidrigkeitentat-bestand formuliert, zum Beispiel für den Fall, dass einUnternehmer nicht rechtzeitig ein Gleichstellungskon-zept erstellt. In diesem wichtigen Fall hören wir die
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Alexander Hoffmann
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ganze Zeit: Das ist nicht bestimmt genug. Da müssen wirvorsichtig sein. Das ist unverständlich. – Ich will das garnicht weiter werten. Aber man merkt – auch in der Dis-kussion –, wie die Gewichtigkeit dieses Themas in denunterschiedlichen Gruppierungen ausfällt.
Es ist, meine Damen, meine Herren, ein guter Gesetz-entwurf. Ich möchte an dieser Stelle dem Ministerium,dem Minister und auch den Kolleginnen und Kollegendanken, weil es uns gerade in den letzten Wochen gelun-gen ist, viele neue Regelungen zu erarbeiten, die letzt-endlich eine trennscharfe Abgrenzung ermöglichen.Aber es gibt für mich persönlich – das sage ich ganzoffen – auch einen Wermutstropfen: Wir von der Unionhätten sehr gerne die Strafbarkeit des Cybergrooming si-chergestellt. Worum es dabei geht, ist ganz einfach er-zählt: Erwachsene gehen ins Internet – das geschieht tau-sendfach; das muss man so sagen –, um in Chatroomsmit Mädchen, mit Kindern sexuellen Kontakt anzubah-nen. Das große Problem in der Praxis ist – das wurdeauch in den Anhörungen ganz deutlich zutage gefördert –,dass die einzige Möglichkeit der Polizei, solcher Täterhabhaft zu werden, ist, dass sich Ermittlungsbeamte insolchen Chatrooms als Kinder ausgeben, um so anpotenzielle Täter heranzukommen.Auch an dieser Stelle ein Dankeschön; denn dasMinisterium hat angeboten, dass wir in einem weiterenFachgespräch etwas über die Praxis erfahren. So hoffenwir, dass wir hier die Impulse aus der Praxis aufnehmenkönnen. Ich kann hier für meine Fraktion sprechen: Wirsind bei der Beurteilung der Notwendigkeit noch langenicht am Ende der Beratungen angelangt.
Am Ende, meine Damen, meine Herren, noch einPunkt, der mich bewegt – auch das wurde als Kritik ge-äußert –: Es hieß, dieser Gesetzentwurf komme zuschnell, er sei mit heißer Nadel gestrickt, man habe kei-nerlei Beteiligungsmöglichkeit gehabt. – Das ist nichtrichtig. Kollegin Keul, Sie haben vorhin gesagt, amDienstagnachmittag seien noch umfassende Änderungenvorgelegt worden. Das stimmt einfach nicht. Das warenredaktionelle Änderungen, die wirklich in einem über-schaubaren Rahmen stattgefunden haben.
Wir hatten insgesamt ein sehr fruchtbares Beteili-gungsverfahren. Wir hatten eine gute Anhörung. Kolle-gin Keul, auch wir beide hatten ein sehr gutes Gespräch– das können Sie nicht bestreiten –, und Anregungen vonIhnen aus diesem Gespräch habe ich in die weitere Bera-tung einfließen lassen.
Darf die Kollegin Keul eine Zwischenbemerkung ma-
chen oder eine Zwischenfrage stellen?
Aber sehr gerne.
Sie zwingen mich jetzt geradezu, mich noch einmal
zu melden und eine Zwischenbemerkung zu machen. Es
ist völlig unstreitig, dass wir über den Kabinettsentwurf,
wie er vorlag, Gespräche geführt haben, dass wir ihn be-
raten haben – auch wir beide –, was zu dem Ergebnis ge-
führt hat, dass tatsächlich Fehler beseitigt wurden. Mei-
nes Erachtens zeigt das, dass ein parlamentarisches
ordnungsgemäßes Verfahren seinen Sinn hat und dass
wir uns daran auch halten sollten.
Freitagmittag um 12 Uhr war die Frist abgelaufen, bis
zu der dem Rechtsausschuss die Änderungen am Kabi-
nettsentwurf hätten vorliegen müssen; wir haben sie am
Dienstagnachmittag bekommen. Diese Änderungen sind
umfangreich und komplex. Ich habe zu § 201 a StGB
viel gesagt. Sämtliche Änderungen sind über das Wo-
chenende, also in letzter Minute, gestrickt worden, und
wir mussten am Mittwoch beschließen. Das ist kein ord-
nungsgemäßes parlamentarisches Verfahren.
Ich gehe davon aus, dass der eine oder andere Fehler
möglicherweise hätte korrigiert werden können, wenn
wir uns gründlich und vernünftig über diese Änderungs-
vorschläge unterhalten hätten.
Danke für dieses Statement. – Es war im Kern doch
so – Sie haben es gerade angesprochen –, dass am Frei-
tagnachmittag der Gesetzentwurf vorlag. Die umfas-
sende Änderung, von der Sie vorhin gesprochen haben,
war die Streichung des Wortes „unbefugt“. Ich denke,
wir haben mit Hilfestellung des Kommentars dargelegt,
was die Begrifflichkeit „unbefugt“ bedeutet. – Ich habe
befürchtet, dass die Ausschussvorsitzende auch noch
eine Frage hat, Herr Präsident.
Nein. Sie wollte nur hilfreich sein, um darauf hinzu-
weisen, dass sich Frau Keul zur Entgegennahme der Be-
antwortung ihrer Zwischenfrage vielleicht freundlicher-
weise von ihrem Platz erhebt.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich komme zumEnde.
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Alexander Hoffmann
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– Herr Präsident, Frau Künast möchte doch eine Zwi-schenfrage stellen.
Und Sie machen den Eindruck, als wollten Sie die
auch zulassen.
Sehr gerne.
Bitte schön.
Also, da Sie jetzt gesagt haben, am Freitag seien den
Mitgliedern Unterlagen zugegangen, frage ich jetzt:
Trifft es zu, dass die Ausschussvorsitzende am Freitag
kein Papier bekommen hat, keinen Änderungsantrag,
den sie verschicken konnte? Zumindest ich als Aus-
schussvorsitzende habe davon keine Kenntnis. Ich habe
nichts bekommen. Das Ausschusssekretariat hat erst am
Dienstag um 15 Uhr und ein paar Minuten eine Vorlage
bekommen, die verschickbar ist. Das Ausschusssekreta-
riat hat am Freitagnachmittag Kenntnis davon bekom-
men, dass es angeblich ein Papier gibt. Das sei aber ver-
traulich, und es gebe nichts zu verschicken und, und,
und.
Das ist, glaube ich, an dieser Stelle ein Unterschied, weil
ja zu einer guten Beratung auch gehört, dass das Aus-
schusssekretariat rechtzeitig Änderungsvorlagen ver-
schickt, damit diese dann auch noch zum Beispiel mit
Oberstaatsanwälten oder Wissenschaftlern aus der An-
hörung besprochen werden können. Diese Möglichkeit
gab es von Dienstag, 15 Uhr und ein paar Minuten, bis
Mittwoch, 9 Uhr, nicht.
Vielen Dank für die Frage. – Dazu muss man zum ei-
nen sagen: Ich bezweifle, dass die Möglichkeit bestan-
den hätte, es so weit auszuweiten, wenn das Ausschuss-
sekretariat am Freitag entsprechende Unterlagen vorgelegt
bekommen hätte. Zum anderen: Entscheidend ist doch,
dass die beteiligten Fraktionen im Ausschuss über die
entsprechende Information verfügen. Und das war am
Freitag schon der Fall.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich habe es er-
wähnt: Es ist tatsächlich so, wir haben es eilig. Das will
ich gar nicht wegdiskutieren. Denn wir wollen in diesem
Gesetzgebungsverfahren – das ist ein ganz wichtiger
Punkt – noch in diesem Jahr zum Abschluss kommen.
Warum? Die Antwort ist im Grunde ganz einfach: weil
jeden Tag, und zwar wirklich jeden Tag, in irgendeinem
rumänischen, in irgendeinem bulgarischen Dorf oder
woanders auf der Welt wieder jemand aufschlagen kann,
der sich das Vertrauen der Kinder und der Eltern er-
schleicht und dann mit Nacktbildern der Kinder Handel
treibt. Solche Menschen werden in Zukunft in Deutsch-
land keine Geschäfte machen. Das sind Geschäftsmo-
delle, die für uns absolut inakzeptabel sind. Wir werden
diesen Markt trockenlegen. Das wird uns gelingen. Des-
wegen werden wir diesem Gesetzentwurf zustimmen.
Vielen Dank.
Nächster Redner ist der Kollege Dirk Wiese für die
SPD-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Der nun vorliegende Gesetzentwurf in derdurch den Änderungsantrag geänderten Form ist ausmeiner Sicht und aus Sicht der SPD-Bundestagsfraktionein wirkungsvolles Mittel, um bestehende Lücken imSexualstrafrecht zu schließen, ohne dabei gleichzeitigGefahr zu laufen, sozialadäquates Verhalten unter Strafezu stellen.Mein Kollege Johannes Fechner hat bereits die zen-tralen Punkte des Entwurfs, was Kinder- und Jugendpor-nografie angeht, dargestellt. Ich möchte im Folgendenauf vier weitere Themengebiete eingehen, die wir durchdas Gesetz neu regeln bzw. wo wir Lücken in der Straf-barkeit schließen.Erstens. Wir schließen Strafbarkeitslücken beim sexuel-len Missbrauch von Schutzbefohlenen. BundesministerHeiko Maas hat das folgende Beispiel bereits in seinerRede zur ersten Lesung verwendet: Das Oberlandesge-richt Koblenz musste im Dezember 2012 einen Lehrer,der sich gezielt an eine 14-jährige Schülerin herange-macht hatte und das Mädchen über fünf Monate letzt-endlich zum Sex gedrängt hatte, vom Vorwurf des Miss-brauchs von Schutzbefohlenen freisprechen. Grund fürden Freispruch war einzig und allein, dass der Lehrer dasMädchen nicht regelmäßig unterrichtete und er damit alsVertretungslehrer in keinem sogenannten Obhutsverhält-nis zu der Neuntklässlerin stand. Mit der Neufassungbzw. Ergänzung des § 174 Absatz 2 Strafgesetzbuchschließen wir diese Regelungslücke nun. Niemand sollseine Vertrauensstellung ungestraft missbrauchen dür-fen; und es ist selbstverständlich, dass es dabei völligegal sein muss, ob der Täter nun Klassenlehrer ist odernur vertretungsweise unterrichtet.
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Dirk Wiese
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Zweitens. Wir konkretisieren den Straftatbestand desCybergroomings. Kurz zur Begriffserklärung: Unter Cy-bergrooming versteht man die Kontaktaufnahme er-wachsener Täter mit Kindern im Internet zur Anbahnungsexueller Handlungen. Die Zahl dieser Fälle nimmt lei-der immer mehr zu. Laut polizeilicher Kriminalstatistikmeines Heimatlandes Nordrhein-Westfalen hatten wirallein im Jahr 2013 eine Steigerung von über 50 Prozentgegenüber dem Vorjahr. Bisher konnten Fälle, in denendiese Informationsübertragung ausschließlich über Da-tenleitungen erfolgte und es zu keiner Zwischenspeiche-rung kam, nicht sicher erfasst werden. Der Handlungsbe-darf ist gerade wegen der steigenden Zahl dieser Fällebesonders hoch. Durch die Neufassung von § 174 Ab-satz 4 Nummer 3 Strafgesetzbuch haben wir nun denTatbestand dahin gehend konkretisiert, dass es in sol-chen Fällen keine Auslegungsprobleme des Tatbestandesmehr gibt. Ich glaube auch, dass die gesetzliche Rege-lung heute schon Möglichkeiten eröffnet, bei einem An-fangsverdacht weitere Ermittlungsmethoden zu nutzen.Drittens. Wir nehmen den Straftatbestand der Genital-verstümmelung in den Katalog der Auslandsstraftatenauf. Eines der abscheulichsten Verbrechen an Mädchenund Frauen ist die in verschiedenen afrikanischen und ei-nigen asiatischen Ländern praktizierte Beschneidung austraditionellen oder rituellen Gründen.
Auch an in Deutschland lebenden Migrantinnen aus die-sen Ländern wird das Beschneidungsritual teilweise inihren Herkunftsländern als sogenannte Ferienbeschnei-dung praktiziert. Eltern fahren dafür extra mit ihren Kin-dern in die entsprechenden Heimatregionen.Problem bei der Strafverfolgung dieser im Auslandbegangenen Genitalverstümmelungen war bisher, dasseine Strafbarkeit wegen Beihilfe nach deutschem Rechtbislang ausschied, sofern keine Vorbereitungshandlungin Deutschland nachweisbar war. Durch Aufnahme desStraftatbestandes der Genitalverstümmelung in den Ka-talog der Auslandsstraftaten schließen wir diese Straf-barkeitslücke nun – ein wichtiger und entscheidenderSchritt bei der Verfolgung dieses abscheulichen Verbre-chens.Viertens. Wir verlängern die Verjährungsfrist bei se-xuellem Missbrauch an Kindern oder Jugendlichen.Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Erfahrungen ausden letzten Jahren haben gezeigt, dass Menschen, die alsJugendliche oder Kinder Opfer sexuellen Missbrauchswurden, häufig erst nach Jahren in der Lage sind, überdas Geschehene zu sprechen. Oftmals sind dann die Ta-ten bereits verjährt. Das konnte man zum Beispiel beiden Missbrauchsfällen sehen, die im Zusammenhang mitder Odenwaldschule stehen. Deshalb ändern wir bei der-artigen Straftaten die Verjährungsfrist.Liebe Kolleginnen und Kollegen, obgleich wir unsder Probleme im Beweisverfahren bewusst sind, die dieFristverlängerung mit sich bringen kann, haben wir unsganz klar für diese Fristverlängerung entschieden; dennmit ihr senden wir auch ein starkes Signal an die Betrof-fenen und lassen sie mit ihrem Leid nicht alleine.
Sie sehen, liebe Kolleginnen und Kollegen: Mit unse-rem Gesetz bekämpfen wir nicht nur die Kinderporno-grafie, sondern erweitern auch umfangreich den straf-rechtlichen Schutz von Kindern und Jugendlichen vorsexueller Gewalt und sexuellen Übergriffen. Flankiertwird der vorliegende Gesetzentwurf zum Sexualstraf-recht durch das Präventionskonzept „Gemeinsam gegensexuelle Gewalt“ von Bundesfamilienministerin ManuelaSchwesig, sodass wir am heutigen Tage insgesamt eingutes Maßnahmenbündel zum Schutz von Kindern undJugendlichen vorlegen können.Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Christina Schwarzer ist die letzte Rednerin zu diesem
Tagesordnungspunkt für die CDU/CSU-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Seit etwasmehr als einem Jahr bin ich Bundestagsabgeordnete, undohne die Bedeutung aller anderen Initiativen und Gesetz-entwürfe auch nur im Geringsten schmälern zu wollen,kann ich Ihnen sagen: Meiner Ansicht nach sprechen wirhier heute über den wichtigsten Gesetzentwurf zumSchutz von Kindern und Jugendlichen in meiner Zeit alsBundestagsabgeordnete. Sehr geehrte Damen und Her-ren, ich glaube, das empfinden viele Kollegen heuteauch so.
Warum ist das so? Weil der Gesetzentwurf viele Verbes-serungen für diejenigen beinhaltet, die sich nicht selbstwehren können und unsere Unterstützung benötigen. Esgeht unter anderem darum, die Schwächsten unter uns zuschützen. Darum ist es auch so wichtig, dass wir schnellhandeln.Gestatten Sie mir in diesem Zusammenhang, kurz denWeg zu diesem Gesetz nachzuzeichnen. Manchmal über-holen Geschehnisse politische Debatten, so auch hier.Ganz abgesehen davon enthält der Koalitionsvertrag aufInitiative der Union hin bereits mehrere konkrete Vorha-ben zu entsprechenden Reformen des Sexualstrafrechts.Auf der Basis eines Fachgesprächs haben wir bereitsim März dieses Jahres unter anderem auf Initiative derstellvertretenden Fraktionsvorsitzenden Thomas Stroblund Nadine Schön, der ich an dieser Stelle noch einmalrecht herzlich zur Geburt ihres Sohnes gratuliere
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Christina Schwarzer
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– vielleicht sieht sie ja schon die Debatte; ich glaube, ihrHerz geht auf, wenn sie sie heute sieht –, ein Eckpunkte-papier mit einem Herzensanliegen vorgestellt: „Wir wol-len ein Opferschutzpaket jetzt!“ Es beinhaltete Punktewie die Anpassung des Sexualstrafrechts an das digitaleZeitalter, einen besseren Schutz vor Übergriffen in Ab-hängigkeitsverhältnissen, die Verlängerung der Verjäh-rungsfrist sowie Vorschläge zu Opferschutz und Präven-tion. Der hier vorliegende Gesetzentwurf greift vieledieser Punkte auf. Ich finde, es ist wirklich ein starkesZeichen, dass das Ministerium und der Bundestag dieseswichtige Thema binnen Jahresfrist zu einem Ergebnisgeführt haben – zu einem sehr guten Ergebnis, wie ichfinde.Das Ziel der Änderung des Strafgesetzbuches ist einedeutliche Verbesserung des Schutzes gerade von Kin-dern und Jugendlichen vor sexuellen Übergriffen und se-xuellem Missbrauch. Nun müssen wir uns fragen: Istdieses Ziel mit dem hier vorliegenden Entwurf zu errei-chen? Ich meine, ja, obwohl es einen Punkt gibt, den ichetwas kritisch sehe; aber dazu später.Wie erreicht dieser Gesetzentwurf das von uns allenformulierte Ziel? Zum einen ist für mich die Verlänge-rung der Verjährungsfristen ein extrem wichtiger Punkt.Sexueller Missbrauch von Kindern ist für mich eines derschlimmsten und schwersten Verbrechen überhaupt. DieOpfer tragen die Folgen das ganze Leben lang mit sich.Hier gibt es kein Vergessen. Gerade weil die Opfer die-ser Straftaten die Folgen so lange mit sich tragen, drän-gen die Verjährungsfristen sie häufig; denn sie brauchenmanchmal Jahrzehnte, um überhaupt über die Tat spre-chen zu können, diese vielleicht sogar erst einmal zuverstehen.Wie wir bereits gehört haben, ist die Verlängerung derVerjährungsfristen unter Juristen nicht unumstritten; dashat auch die öffentliche Anhörung im letzten Monat er-geben. Das Argument lautet: Je später die Ermittlungenaufgenommen werden, Herr Wunderlich, desto schwererist es, dem Täter etwas nachzuweisen. Ich sage dennoch:Die Opfer brauchen Zeit, Kraft und vor allen DingenMut, um das Geschehene ohne den Druck der drohendenVerjährung zu verarbeiten. Die Frage der Verjährungmuss daher von der Perspektive der Opfer her gedachtwerden und nicht von der der Rechtspraxis. Da ein er-schwertes Verfahren die Situation für die Opfer sicherauch schwerer macht, ist hier eine umfangreiche und vorallem realistische rechtliche Beratung der Opfer vorabnotwendig. Die Verlängerung der Verjährungsfrist istaber richtig und wichtig.
Ein weiterer zentraler Punkt ist der § 174 StGB, Se-xueller Missbrauch von Schutzbefohlenen. Ich möchtees nicht ungesagt lassen, weil ich es für besonders wich-tig halte: In der jetzt noch aktuellen Fassung geht dieserParagraf an der Lebensrealität vieler Opfer vorbei. DenOpfern ist es nämlich völlig egal, ob es ein Fachlehrer,ein Klassenlehrer oder nur ein Vertretungslehrer ist, dersich an ihnen vergeht. An der Schwere der Tat und vorallem an den Folgen für die Opfer ändert sich dadurchnichts.
Dass außerdem eine Erweiterung auf Großeltern undStiefeltern in diesem Paragrafen vorgesehen ist, finde ichebenfalls sehr positiv. Das gilt ebenso für die Änderung,die der Rechtsausschuss noch in dieser Woche beschlos-sen hat und die besagt, dass Personen eheähnlicher oderlebenspartnerschaftsähnlicher Gemeinschaften genausogemeint sind. Es gibt so vielfältige Familienformen inunserem Land, dass dies nur folgerichtig ist. Das Straf-recht an diesem Punkt auf leibliche Eltern oder Adoptiv-eltern zu beschränken, würde dem nicht mehr gerecht.Es wäre ein schlechtes Zeichen für die Opfer, wenn dasGesetz sie nicht dabei unterstützt, sich auch gegen Stief-eltern, Großeltern oder Lebenspartner der Mutter oderdes Vaters zur Wehr zu setzen.
„Zeichen setzen“ ist übrigens auch ein gutes Stich-wort, wenn es um das Thema des Strafmaßes beim Be-sitz kinderpornografischer Schriften geht. Der KollegeWunderlich hat vorgestern in der Sitzung des Familien-ausschusses angemerkt, dass es vielleicht keinen einzi-gen Täter von einer Straftat abhält, wenn hier das Straf-maß von zwei auf drei Jahre erhöht wird. Da hat ervermutlich sogar recht. Ich bin keine Juristin; das wissenSie. Aber ich sehe hier die Perspektive der Opfer. VieleOpfer haben im Hinterkopf, dass es zum Beispiel bei Ei-gentumsdelikten – das hat die Kollegin ja schon ange-deutet – zu einer Strafe von bis zu fünf Jahren kommenkann. Angesichts dessen finden sie zu Recht, dass hierdie Verhältnisse nicht stimmen.In der Expertenanhörung des Rechtsausschusses ha-ben wir erfahren, dass es keinen signifikanten Zusam-menhang zwischen Kinderpornografie und Kindesmiss-brauch gibt, sprich: Statistisch ist nicht nachzuweisen,dass Menschen, die Nacktbilder von Kindern konsumie-ren, später in strafrechtlicher Hinsicht im Bereich desKindesmissbrauchs auffallen. Ich sage Ihnen ganz ehr-lich – wir alle haben uns mit dieser Thematik viele Mo-nate lang beschäftigt –: Mein Bauchgefühl sagt etwasanderes. Auch wenn es hier keine statistische Relevanzgibt, dies also einen relativ kleinen Prozentteil der Täterbetrifft, so sage ich dennoch: Jeder Einzelne, der eineStraftat verübt, ist einer zu viel – einer zu viel für dieOpfer.
Ich hatte ja zu Beginn etwas Kritik angekündigt; HerrMaas, das kann ich Ihnen an diesem Punkt nicht erspa-ren. Es geht um das sogenannte Cybergrooming – auchhierauf sind diverse Kollegen bereits eingegangen –, ge-nauer gesagt um einen untauglichen Versuch: Wenn sichein Beamter des BKA im Internet als zehnjähriges Mäd-chen ausgibt und von einem Erwachsenen zu sexuellenHandlungen aufgefordert wird, dann soll dies nicht straf-bar sein, obwohl der Täter glaubte, mit einer Minderjäh-rigen zu chatten? Entschuldigen Sie, aber das erscheint
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Christina Schwarzer
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mir nicht richtig. Ich glaube, da müssen wir noch nach-bessern. An dieser Stelle hätten wir für das Ziel, einedeutliche Verbesserung des Schutzes von Kindern undJugendlichen vor sexuellen Übergriffen zu erreichen,mehr tun können, gerade in unserer digitalen Welt.
Ein Thema will ich in den letzten 40 Sekunden mei-ner Redezeit noch ansprechen, und das ist das ThemaMedienkompetenz. Versetzen wir uns alle einmal in un-sere Kindheit zurück; bei manchen ist das noch gar nichtso lange her.
– Jetzt überlegt jeder, wie alt er ist. – Was haben wir davon unseren Eltern gelernt? Meine Mutter hat mir immergesagt: Steig nie in ein fremdes Auto! Nimm nie Scho-kolade von einem Fremden an! – In der analogen Weltgeben wir unseren Kindern diese Regeln mit auf denWeg, um sie sicher durch den Alltag zu geleiten. Aber inder digitalen Welt ist das, glaube ich, noch keine Selbst-verständlichkeit. Hier gibt es großen Nachholbedarf.Genauso selbstverständlich wie bei dem Beispiel mitder Schokolade müssen Eltern ihren Kindern erklären:Wenn jemand im Internet um ein Bild von dir bittet, be-ende das Gespräch und sende es ihm nicht! Antwortenicht, wenn dich jemand fragt, ob du schon mal jeman-den geküsst hast! – Aber sehr viele Eltern tun das leidernicht, weil sie sich in der digitalen Welt einfach nochnicht gut auskennen. Sehr geehrte Damen und Herren,ich glaube, in allen Fraktionen wird das Thema Medien-kompetenz gerade behandelt. Wir sind da auf einem gu-ten Weg.Lassen Sie mich als Letztes sagen: Das hier vorlie-gende Gesetz beschäftigt sich mit der strafrechtlichenKomponente. Es ist gut, dass wir so schnell gehandelthaben. Kleine Kritikpunkte habe ich angesprochen. Al-les in allem haben wir einen sehr guten Gesetzentwurf,der sein Ziel erreichen wird: eine deutliche Verbesserungdes Schutzes von Kindern und Jugendlichen vor sexuel-len Übergriffen und sexuellem Missbrauch.
Ich schließe die Aussprache.Wir kommen zur Abstimmung über den von denFraktionen der CDU/CSU und SPD eingebrachten Ge-setzentwurf zur Änderung des Strafgesetzbuches – Um-setzung europäischer Vorgaben zum Sexualstrafrecht.Der Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz emp-fiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung aufder Drucksache 18/3202 , den Gesetzentwurf derFraktionen der CDU/CSU und SPD auf der Drucksache18/2601 in der Ausschussfassung anzunehmen. DieFraktion Bündnis 90/Die Grünen hat beantragt, getrenntabzustimmen: zum einen über Artikel 1 Nummer 5 bund Artikel 1 Nummer 18, zum anderen über den Ge-setzentwurf im Übrigen. – Das ist korrekt?
Dann rufe ich zunächst Artikel 1 Nummer 5 b und Ar-tikel 1 Nummer 18 in der Ausschussfassung auf undbitte diejenigen, die diesen in der Ausschussfassung zu-stimmen wollen, um das Handzeichen. – Wer stimmt da-gegen? – Wer enthält sich? – Damit sind die gerade ge-nannten Bestimmungen in der Ausschussfassung mit derMehrheit der Koalition gegen die Stimmen der Opposi-tion angenommen.Ich rufe nun die übrigen Teile des Gesetzentwurfs, wie-derum in der Ausschussfassung, auf und bitte diejenigen,die hier zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Werist dagegen? – Dies ist jetzt mit den Stimmen der Koali-tion und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen gegen dieStimmen der Fraktion Die Linke angenommen.Alle Teile des Gesetzentwurfs sind damit in zweiterBeratung angenommen, sodass wir nun zurdritten Beratungund Schlussabstimmung kommen können. Ich bitte die-jenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sichzu erheben. – Wer stimmt dagegen? – Wer enthältsich? – Damit ist der Gesetzentwurf im Ganzen mit denStimmen der Koalition gegen die Stimmen der Linkenbei Enthaltung der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen an-genommen.Wir stimmen nun über die Beschlussempfehlung zudem von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzent-wurf zur Änderung des Strafgesetzbuches – immer nochder gleiche Zusammenhang – ab. Der federführendeAusschuss empfiehlt unter Buchstabe b seiner Be-schlussempfehlung auf der Drucksache 18/3202 ,den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf der Druck-sache 18/2954 für erledigt zu erklären. Wer stimmt fürdiese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? –Alle sind dafür. Damit ist die Beschlussempfehlung an-genommen.Unter dem Punkt 5 b unserer Tagesordnung geht esum die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Fami-lie, Senioren, Frauen und Jugend zu dem Antrag derFraktion Bündnis 90/Die Grünen mit dem Titel „Kinderschützen – Prävention stärken“. Dieser Ausschuss emp-fiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf der Drucksache18/3201, den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grü-nen abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh-lung? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Mitden Stimmen der Koalition gegen die Stimmen der Op-position ist die Beschlussempfehlung angenommen.Damit sind wir am Ende dieses Tagesordnungspunkts.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 22 auf:Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur besse-ren Vereinbarkeit von Familie, Pflege und Be-rufDrucksachen 18/3124, 18/3157Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
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Präsident Dr. Norbert Lammert
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InnenausschussAusschuss für Recht und VerbraucherschutzAusschuss für Arbeit und SozialesAusschuss für GesundheitHaushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 der GONach einer interfraktionellen Vereinbarung sind fürdiese Aussprache 96 Minuten vorgesehen. – Auch dazugibt es offensichtlich Einvernehmen, sodass wir in dieAussprache eintreten können.Erfreulicherweise ist die federführende Ministerin an-wesend, und ich erteile ihr hiermit das Wort.Manuela Schwesig, Bundesministerin für Familie,Senioren, Frauen und Jugend:Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damenund Herren Abgeordnete! Berufstätige Frauen und be-rufstätige Männer erleben, dass sich in ihrer Familien-welt nicht nur die Frage stellt: „Wie kann das gehen, aufder einen Seite die Anforderungen in meinem Job undauf der anderen Seite die Anforderungen, die meine Kin-der und meine Familie an mich stellen, zeitlich zu erfül-len?“, sondern zunehmend auch eine andere. Zu den An-forderungen im Job, aber auch in der Familie kommtnämlich häufig das Problem pflegebedürftiger Angehöri-ger hinzu. So hat es mir zum Beispiel eine berufstätigeMutter erzählt, die ganz froh war, dass ihr Sohn nach denvielen Jahren des Großwerdens endlich in Ausbildungwar. Ein guter Schulabschluss für die Kinder, dann eineAusbildung oder ein Studium, das treibt die Eltern um.Sie dachte: Jetzt kann ich durchatmen. Jetzt kann ichmich wieder stärker auf meine berufliche Perspektivekonzentrieren. Dann kam ein Anruf: Der Vater ist ge-stürzt. Die Knochen sind porös. Ob er jemals wieder lau-fen kann, ist ungewiss. Damit trat einerseits ihre Sorgeum einen guten Ausbildungsplatz für den Sohn in denHintergrund, aber andererseits kam sofort die akuteSorge um den Vater dazu.Das ist das, was eine zunehmende Zahl von Familienin unserem Land erlebt. Die steigende Zahl der Pflege-bedürftigen fordert die Kapazitäten von Pflegeeinrich-tungen heraus. Sie fordert die Pflegeversicherung he-raus. Aber vor allem die Familien in unserem Landnehmen diese Herausforderung an. Die Familien in un-serem Land leisten den größten Teil der Pflege undSorge für pflegebedürftige Menschen. Sie sind dergrößte Pflegedienst der Nation. Deshalb haben sie un-sere Unterstützung verdient.
Über 1,8 Millionen Menschen werden zu Hause ge-pflegt, zwei Drittel davon ausschließlich durch ihre An-gehörigen. Deshalb wollen wir Familien entlasten. Wirwollen Familien unterstützen, wenn sie für ihre pflege-bedürftigen Angehörigen da sind. Wir stärken den Fami-lien den Rücken, in denen die Menschen füreinanderVerantwortung übernehmen, wenn jemand im familiärenUmfeld pflegebedürftig wird. Mit dem Gesetz, das wirheute einbringen, werden wir Familien helfen, Pflegeund Beruf besser zu vereinbaren: erstens durch einezehntägige Lohnersatzleistung für den akuten Pflegefall,
zweitens durch einen Rechtsanspruch auf die Familien-pflegezeit und drittens mit einem zinslosen Darlehen fürdiese Zeit. Die Vereinbarkeit von Pflege und Beruf ge-hört dazu, wenn wir von Familien reden, so wie die älte-ren Menschen zur Familie gehören.Für mich ist das ein weiterer Schritt in Richtung Fa-milienarbeitszeit. Wir machen es möglich, eine Zeit langdie Arbeitszeit zu reduzieren, um mehr Zeit für die Fa-milie zu haben. Klar ist, dass man für die Pflege undSorge Auszeiten braucht. Aber man muss eben nichtmehrere Jahre voll aussteigen; denn das bedeutet: rausaus dem Job, weniger Einkommen, weniger Rente. Sohat es meine Tante erlebt, die für die Pflege der Schwie-germutter jahrelang aus dem Beruf ausgestiegen war unddann keine Chance mehr hatte, reinzukommen.Es geht darum, überschaubare Auszeiten und Teilzeit-möglichkeiten zu unterstützen und diese mit professio-nellen Angeboten der ambulanten Pflege oder der Tages-pflege zu kombinieren, die dank der Pflegereform jetztausgebaut werden. Zeit für Familie und Zeit für Berufauch in Pflegesituationen, das ist der Anspruch an mo-derne Familienpolitik, eine moderne Familienpolitik, dieauf partnerschaftliche Vereinbarkeit setzt. In der letztenWoche haben wir mit dem Elterngeld Plus den erstenSchritt in Richtung Familienarbeitszeit gemacht. DasElterngeld Plus erleichtert die Verbindung zwischen El-terngeld und Teilzeitarbeit. Jetzt gehen wir mit demneuen Gesetz zur besseren Vereinbarkeit von Pflege undBeruf den zweiten Schritt in Richtung Familienarbeits-zeit. Dieses Gesetz wird die Verbindung von Pflege undTeilzeitarbeit fördern.Eine Frau wie die, deren Situation ich eben geschil-dert habe, wird künftig die Möglichkeit haben, in einemakuten Fall eine zehntägige Auszeit zu nehmen. Sie kannihren Vater natürlich nicht in zehn Tagen gesundpflegen,aber sie kann sich darüber informieren, welche Ange-bote es gibt. Sie kann sich beim Pflegestützpunkt beratenlassen. Ist es zum Beispiel gut, dass der Vater künftig ineiner Tagespflege betreut wird, während sie ihre Arbeits-zeit reduziert, um mehr Zeit für Sorge und Pflege zu ha-ben? Nutzt sie den ambulanten Pflegedienst, damit derVater in den eigenen vier Wänden bleiben kann? Odersoll es vielleicht doch eine stationäre Einrichtung sein?In einer Pflegesituation ergeben sich viele Fragen;aber es gibt auch viele Angebote. Man benötigt Zeit, umdie vielen Angebote auszuloten. Für die zehntägige Aus-zeit gibt es künftig eine Lohnersatzleistung analog zumKinderkrankengeld. Das ist wichtig, weil somit künftigalle Beschäftigten die Möglichkeit haben, diese zehn-tägige Auszeit ohne großen Einkommensverlust zu neh-men. Das ist eine Frage der sozialen Gerechtigkeit.
Es ist aber nicht nur eine Frage des einzelnen Euro. Esgeht auch um die Frage: Wie ernst nehmen wir die Un-terstützung für Familien mit Pflegebedarf? Mit dem vor-liegenden Gesetzentwurf heben wir Familien mit Pflege-bedarf auf eine Stufe mit Familien mit Kindern, für diees undenkbar ist, dass es nicht die zehn Tage Auszeit mitLohnfortzahlung gibt, wenn ein Kind krank wird. Das
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Bundesministerin Manuela Schwesig
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gibt es jetzt auch im Bereich Pflege. Damit signalisierenwir: Wir lassen die Familien mit dem Thema Pflegenicht alleine, wir lassen sie nicht im Stich, sondern wirunterstützen sie.
Die Frau aus dem Beispiel hat nun Zeit, darüber nach-zudenken, ob sie bis zu sechs Monate ganz aus dem Be-ruf aussteigen oder ob sie ihre Arbeitszeit bis zu zweiJahre lang reduzieren will. Sie hat künftig einen Rechts-anspruch darauf, der einen Kündigungsschutz ein-schließt. Sie kann Lohnausfälle durch einen Lohnvor-schuss in Form eines zinslosen Darlehens vom Staatausgleichen. Auch das ist eine erhebliche Verbesserung.In der Vergangenheit ging das nur über den Arbeitgeber.Die wenigsten haben das allerdings in Anspruch genom-men.
Die Frau müsste sich in dieser Zeit nicht alleine umihren Vater kümmern. Das Pflegestärkungsgesetz machtes ihrem Vater leichter, Angebote der Tagespflege odervon ambulanten Diensten in Anspruch zu nehmen. Ichfreue mich sehr, dass wir bei der Stärkung der Pflege gutmit dem Bundesgesundheitsministerium zusammenar-beiten. Es braucht ein Bündel von Maßnahmen, um beimThema Pflege in der Gesellschaft etwas zu bewegen,nicht nur ein einzelnes Gesetz. Die Große Koalitionbringt nun die entsprechenden Maßnahmen auf den Wegund unterstützt so die Familien in unserem Land.
Eine pflegende Tochter oder ein pflegender Sohn sindauch deshalb nicht alleine, weil sie die Auszeit zusam-men mit anderen Angehörigen – gleichzeitig oder nach-einander – nehmen können. Damit können lange Pflege-zeiten abgedeckt werden, ohne dass die Arbeit nur aufden Schultern einer Person, bisher oft auf den Schulternder Frau, lastet. Das ist eine Chance für mehr Partner-schaftlichkeit und für mehr Solidarität innerhalb der Fa-milie. Damit bekommen Familien die Chance, auch län-gere Zeiten in der Pflege abzudecken; denn mit zweiJahren ist es oft nicht getan.Mit dem Gesetz wird auch der Kreis der Angehöri-gen, die die Regelungen in Anspruch nehmen können,erweitert. Ab 2015 sollen auch Stiefeltern, Schwageroder Schwägerin und lebenspartnerschaftsähnliche Ge-meinschaften die Möglichkeiten des Pflegezeitgesetzesund Familienpflegezeitgesetzes in Anspruch nehmenkönnen. Zu einer modernen Familienpolitik gehört, dassauch unverheiratete Partner genauso wie Ehepartner An-spruch auf Pflege- und Familienpflegezeit haben. Zu ei-ner modernen Familienpolitik gehört auch, dass schwuleoder lesbische Paare, die füreinander einstehen, Zeit fürdie Pflege ihres Partners bekommen, egal ob sie in einereingetragenen Lebenspartnerschaft leben oder nicht.
Familienleben ist vielfältiger geworden. Wenn wir er-warten, dass die Menschen füreinander einstehen, dannmüssen wir sie in ihrer jeweiligen Lebensform unterstüt-zen.
Das vorliegende Gesetz geht auf diese Vielfalt ein.Neu ist auch eine Familienpflegezeit für Eltern mitminderjährigen Kindern, die in einer Pflegeeinrichtungbetreut werden, zum Beispiel, wenn ein Kind mit Down-Syndrom in einer Einrichtung der Lebenshilfe lebt undnur am Wochenende nach Hause kommt. Hier geht esweniger um die Pflege, die professionell in der Einrich-tung erfolgt, hier geht es mehr um Zeit für das pflegebe-dürftige Kind. Die Eltern hatten bisher keine Möglich-keit, Auszeiten zu nehmen. Sie erhalten jetzt dieMöglichkeit, die Zeit für gemeinsame Stunden, für Zu-wendung und Zuneigung zu nutzen.Schließlich haben wir auch die Möglichkeit geschaf-fen, Menschen in der letzten Lebensphase nahe sein zukönnen. Sie sind gestern in diesem Haus in eine wichtigeDebatte über die sogenannte Sterbebegleitung eingestie-gen. Ich finde, das war eine sehr bewegende Debatte. Siehat gezeigt, wie sehr es uns alle beschäftigt, wennKrankheit und Leid bei Freunden oder in der Familienicht mehr zu heilen sind. Es gibt eben nicht die einfacheLösung, aber wir sind uns alle darüber einig, dass wir ei-nes organisieren müssen: Wir müssen alles dafür tun,dass niemand im Sterben allein ist. So hat es VolkerKauder gestern gesagt:Wir werden alles dafür tun, dass im Sterben nie-mand allein ist, sondern dass er begleitet wird, dasser Beistand hat.Genau diesen Schritt gehen wir mit diesem Gesetzent-wurf. Wir wollen es mit dem vorliegenden Gesetzent-wurf möglich machen, dass er oder sie in der letzten Le-bensphase begleitet wird und Beistand hat. Das ist derWunsch vieler Menschen, ein berechtigter und wichtigerWunsch. Wir sollten ihnen diesen Wunsch erfüllen.
Sehr geehrte Damen und Herren Abgeordnete, Ver-einbarkeit braucht die Mitwirkung der Arbeitgeber. Dasmachen wir damit deutlich, dass wir einen Rechtsan-spruch festschreiben wollen. Ich bin überzeugt – das ha-ben meine Gespräche und Unternehmensbesuche gezeigt –,dass die Arbeitgeber selbst ein Interesse daran haben,dass die Vereinbarkeit von Beruf und Familie und Pflegegelingt; denn die Vereinbarkeit ist ein Gewinn für dieUnternehmen. Nehmen wir den Facharbeiter für Auto-matisierungstechnik oder die Fachärztin für Innere Me-dizin. Das sind nur zwei von sehr vielen Berufen, in de-nen Fachkräfte gesucht werden. Für den Arbeitgeber istes von großem Vorteil, wenn diese Fachkräfte nicht un-ter dem Druck einer großen Belastung aufgrund vonPflegeaufgaben in der Familie zusammenbrechen undaus dem Job aussteigen, sondern an Bord bleiben; siekönnen in dieser Zeit gerne ihre Arbeitszeit reduzieren,wenn sie nur an Bord bleiben. Deshalb ist es gut für dieWirtschaft, dass wir dieses Gesetz machen. Es ist wich-
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6354 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 67. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. November 2014
Bundesministerin Manuela Schwesig
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tig, die Fachkräfte an Bord zu halten. Sie sind das Rück-grat der Wirtschaft. Dieser Gesetzentwurf zeigt, dass wirmit Gesetzen beides zusammenbringen können, die Inte-ressen der Wirtschaft und die Interessen der Familien.Für mich ist das kein Widerspruch, sondern das gehörtzusammen gedacht.
Sehr geehrte Damen und Herren Abgeordnete, vieleMenschen möchten für ihre Familie da sein, wenn je-mand Hilfe braucht, ob ein kleines, schwerkrankes Kind,ein pflegebedürftiger Vater oder die Großmutter. Oftkommt alles gleichzeitig: der Pflegefall der Eltern, dieEinschulung der Kinder und neue Anforderungen imJob. Manchmal hat man das eine gerade geschafft, unddie nächste Herausforderung kündigt sich schon an. Dasist Stress. Das ist das Gefühl, zerrieben zu werden zwi-schen den verschiedenen Wünschen, zwischen demWunsch, da zu sein für die Kinder oder die eigenen El-tern, und dem Wunsch, den Job gut zu machen. Das trifftoft die sogenannte Sandwichgeneration, die in der Rush-hour des Lebens lebt. Dies sind aber die Leistungsträgerunserer Gesellschaft. Sie sorgen mit ihrer Arbeit dafür,dass das Sozialsystem sich trägt. Deshalb ist es wichtig,dass wir diese Leistungsträger unterstützen, dass wir al-les dafür tun, dass sich diese Rushhour entzerrt. Wirwerden sie nicht auflösen können, schon gar nicht mit ei-nem einzelnen Gesetz, aber wir können die Botschaftaussenden, dass wir diese Frauen und Männer nicht al-leine lassen, dass wir die Familien in unserem Landnicht alleine lassen, dass wir ihnen den Rücken stärken.Das leistet dieser Gesetzentwurf – nach einem anderen,der schon verabschiedet worden ist.Ich freue mich auf die Beratungen, um mit Ihnen ge-meinsam auf dem Weg, Familien in unserem Land bes-ser zu unterstützen, weiterzugehen.
Die Kollegin Pia Zimmermann hat nun das Wort für
die Fraktion Die Linke.
Vielen Dank, Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Liebe Frau Ministerin Schwesig, ich finde, esist schon ziemlich sensationell, wie Sie nur minimaleVerbesserungen, die auch noch mit Verschlechterungeneinhergehen und nichts Grundsätzliches bewegen, denMenschen hier als gut verkaufen wollen. Das ist mittler-weile offensichtlich ein Markenzeichen der Bundesre-gierung.Meine Damen und Herren, Anfang Oktober hat dieLinke im Bundestag ein Pflegehearing veranstaltet, da-mit sich die Betroffenen zum Pflegestärkungsgesetz zuWort melden konnten. Bei der Eröffnung saß eine Ver-treterin der „Initiative gegen Armut durch Pflege“ aufdem Podium, die seit 31 Jahren ihre Tochter pflegt. Siehat eindrucksvoll geschildert, was diese Pflegesituationfür sie heißt: Überlastung bis an den Rand des Burn-outsmit einer enorm prekären finanziellen Situation.Meine Damen und Herren, dieses Beispiel ist – dasist, glaube ich, uns allen bekannt – kein Einzelfall. Dieüberwiegende Mehrheit der pflegenden Frauen undMänner erlebt die Pflege von Angehörigen als körperlichund emotional belastend. Viele der Pflegenden, insbe-sondere Frauen, sind zum Zeitpunkt des Pflegebeginnsnicht oder nur geringfügig erwerbstätig. Frauen gebenauch häufiger als männliche Pflegende ihre Erwerbstä-tigkeit auf, wenn sie die Pflege übernehmen. Genau sol-che Unterbrechungen führen zu geringeren Rentenan-sprüchen im Alter.Die Probleme in der Pflege sind uns allen bekannt.Der Gesetzentwurf aber, welchen wir heute erstmals imBundestag debattieren – bei ihm wird im Titel recht voll-mundig von einer „besseren Vereinbarkeit von Familie,Pflege und Beruf gesprochen“ –, geht an einer wirkli-chen Lösung völlig vorbei.
Ja, es soll kleine Verbesserungen geben. Dass es fürdie bisher unbezahlte zehntägige Pflegezeit eine Lohn-ersatzleistung geben soll, ist zu begrüßen. Diese kleineVerbesserung darf aber nicht über die völlig unzurei-chenden Vorschläge der Bundesregierung hinwegtäu-schen. Wer glaubt, in zehn Tagen die pflegerische Ver-sorgung organisieren zu können, geht vollkommen anden Lebensrealitäten von Menschen vorbei, die zum ers-ten Mal mit Pflegebedürftigkeit konfrontiert sind. Esmag sein, dass ein Kind in zehn Tagen gesund wird, einePflegesituation lässt sich in zehn Tagen nicht regeln.Wir, die Linke, fordern eine sechswöchige bezahlte Pfle-gezeit für Erwerbstätige, die der Organisation und derersten pflegerischen Versorgung von Angehörigen odernahestehenden Personen dient.
Ein anderes Beispiel für eine vollkommen unzurei-chende Verbesserung ist die Reform der Familienpflege-zeit. Das Familienpflegezeitgesetz von Schwarz-Gelbwar ein Vollflop. Gerade einmal 135 Personen – dassteht auch in Ihrem Gesetzentwurf – haben die Familien-pflegezeit in Anspruch genommen. Schon bei der Verab-schiedung haben wir einen verbindlichen Rechtsan-spruch gefordert. Gut, dass die Bundesregierung hierjetzt nachbessern will. Sie lässt aber – wer hätte das ge-dacht? – den Arbeitgeberinnen und Arbeitgebern trotz-dem eine Hintertür offen. Bei wichtigen betrieblichenGründen kann verweigert bzw. abgelehnt werden. FrauSchwesig, das sind immer die Sachen, die Sie ver-schweigen.Völlig unverständlich ist auch, warum die Bundesre-gierung darüber hinaus ein Fünftel der Beschäftigten vondem Rechtsanspruch völlig ausschließen will. Was istdas denn? Beschäftigte in Betrieben mit 15 oder wenigerMitarbeiterinnen und Mitarbeitern sollen von dieser Re-gelung nämlich ausgenommen werden. Es sind dochaber gerade die kleinen Betriebe, wo es besondersschwer bis unmöglich ist, eine freiwillige Freistellunggegenüber dem Arbeitgeber durchzusetzen. Konkret
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 67. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. November 2014 6355
Pia Zimmermann
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heißt dies, dass weiterhin über 5 Millionen Arbeitneh-merinnen und Arbeitnehmer vom Gutdünken ihres Ar-beitgebers abhängig sind. Meine Damen und Herren, dasist nicht hinnehmbar!
Was das Familienministerium als bessere Verzahnungvon Pflegezeit- und Familienpflegezeitgesetz verkaufenwill, bedeutet im Endeffekt eine Verschlechterung. FrauSchwesig, das möchte ich Ihnen auch gern erklären.Bisher war die durch das Pflegezeitgesetz möglichesechsmonatige unbezahlte Freistellung eine die Fami-lienpflegezeit – die bis zu 24 Monate dauern konnte –ergänzende Möglichkeit. Der Gesetzentwurf regelt nun,dass die Pflegezeit der Freistellung nach dem Familien-pflegezeitgesetz vorgeht und auf die maximale Freistel-lungszeit von 24 Monaten angerechnet wird. Das ist alsofaktisch eine Verkürzung. Auch das verschweigen Sie.Davon einmal abgesehen, ist Pflege schwer planbar.Zu Beginn der Familienpflegezeit wird festgelegt, wielange sie dauern soll. Und danach? Frau Schwesig stelltsich, wie wir gerade gehört haben, einen fliegendenWechsel der Familienmitglieder vor. Ob das aber realis-tisch ist, ob die Familiensituationen, wie wir sie heutehaben, das überhaupt hergeben, wage ich zu bezweifeln.Insgesamt gehen die Regelungen des Gesetzentwurfszulasten der Personen, die in prekären Arbeitsverhältnis-sen oder Teilzeit arbeiten. Für sie kommt nämlich eineReduzierung der Arbeitszeit aus finanziellen Gründenoftmals überhaupt nicht infrage. Studien belegen, dassGeringverdienende öfter die Pflege von Angehörigenübernehmen als Gutverdienende, weil sie sich nämlichdie professionelle Pflege nicht leisten können und weildie Pflegeversicherung nur einen Teil der anfallendenKosten trägt. Das Gesetz löst also weder das Problemder Vereinbarkeit von Pflege und Beruf noch das der so-zialen Ungleichheit bei Versorgungschancen. Das gehtnicht, meine Damen und Herren!
Der Gesetzentwurf verstärkt die soziale Spaltung undgeht vor allem zulasten von Frauen. Denn trotz steigen-der Beteiligung von Männern sind es immer noch über-wiegend Frauen, die Angehörige und Bekannte pflegen.Es sind überwiegend Frauen, die in prekären Arbeitsver-hältnissen oder in Teilzeit arbeiten.Über Ihren Gesetzentwurf freuen dürften sich die Ar-beitgeber. Sie werden bei der Finanzierung nämlich völ-lig außen vor gelassen. Die Beschäftigten bauen Zeit-schulden auf dem Arbeitszeitkonto auf, die sie späterabarbeiten müssen, und sie verschulden sich finanziell,weil sie das Darlehen zur Aufstockung des Nettogehaltszurückzahlen müssen. Da nützen Ihre wohlfeilen Worte,Frau Schwesig, herzlich wenig. Die Kosten tragen dieje-nigen, die doch eigentlich entlastet werden sollen: Be-schäftigte, die ihre Angehörigen pflegen.Ganz im Sinne der bisherigen Pflegepolitik von CDU/CSU und SPD sowie der vorherigen Bundesregierungenwird die Hauptverantwortung für die Pflege ins Privategeschoben. Auch Sie sprechen wie Frau Merkel von demgrößten Pflegedienst, den wir haben, nämlich die Fa-milien und die Angehörigen. Die Sicherstellung pfle-gerischer Betreuung wird so als Vereinbarkeitsproblemindividualisiert. Wir, die Linke, fordern, dass die Pflege-versicherung zukunftsfähig wird, um den pflegerischenBedarf abdecken zu können.
Eine echte Entlastung von Angehörigen und Pflege-bedürftigen und auch ihrer persönlichen Beziehungenwäre es, die professionelle Pflege zu stärken. Es geht mirund meiner Fraktion nicht darum, die professionellePflege und die Pflege durch Angehörige gegeneinanderauszuspielen. Aber Sie dürfen die Unterschiede dochnicht einfach so vom Tisch wischen.
Pflege ist eine hochkomplexe und anspruchsvolle Tätig-keit. Wir alle fordern doch eine Verbesserung der Aus-bildung in den Pflegeberufen. Gleichzeitig leisten dieAngehörigen natürlich einen enormen Beitrag für dieumfassende Versorgung. Sie kennen die zu pflegendenPersonen gut und können eine wichtige Ergänzung zurprofessionellen Pflege sein.Es darf hier nicht darum gehen, welche Form derPflege besser oder schlechter ist, sondern wir müssen dieUnterschiedlichkeit anerkennen und davon ausgehendfragen, welcher Mix oder welches Pflegesetting, wie wires nennen, für alle Beteiligten richtig ist. Das gilt es he-rauszufinden und zu unterstützen.
Aber eine solche Offenheit lässt die Pflegeversiche-rung für viele nicht zu. Solange die Pflegeversicherungnur einen Teil der anfallenden Kosten abdeckt, ist keinewirkliche Entscheidungsfreiheit gegeben, nicht für diePflegebedürftigen und auch nicht für die Angehörigen.Deshalb fordern wir nicht nur eine sechswöchige be-zahlte Pflegezeit für Erwerbstätige, sondern auch einedeutliche Anhebung der Leistungen der Pflegeversiche-rung, damit das gewünschte Pflegearrangement tatsäch-lich unabhängig vom Geldbeutel gestaltet werden kann.Herzlichen Dank.
Das Wort erhält nun der Kollege Marcus Weinberg
für die CDU/CSU-Fraktion.
Vielen Dank. – Herr Präsident! Werte Kolleginnenund Kollegen! Wenn es denn so ist, dass die Menschlich-keit einer Gesellschaft daran zu messen ist, wie man mitden Kleinsten, den Schwachen, den Kranken und auchden Alten umgeht, dann kann man, glaube ich, mit Blickauf diese Debatte und dieses Gesetz, mit Blick auf dieDebatte zuvor und auch mit Blick auf das Gesetz zur El-
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Marcus Weinberg
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ternzeit, zum Elterngeld sagen, dass wir es geschafft ha-ben, den Mensch wieder in den Mittelpunkt unserer Poli-tik zu stellen. Das ist gut so für dieses Land. Ich glaube,das zeigt auch eine neue Form des Umgangs und vonMenschlichkeit.
Frau Zimmermann, zwei Bemerkungen zu Ihrem De-battenbeitrag.Erstens. Dieses Gesetz ist tatsächlich etwas Konkre-tes. Es ist mehr als nur Symbolpolitik oder Rhetorik,dass wir es unterstützen, wenn Menschen sich einsetzenund ihre nahen Angehörigen pflegen. Es wird konkreteVeränderungen mit sich bringen. Wir stärken damit dieMenschen, die sich gerade im Bereich der Pflege enga-gieren.Zweitens. Sie sagen, dass wir die Pflege ins Privateverschieben wollen. Nein, die Menschen wollen zuHause gepflegt werden. Es gibt viele Menschen, die zuHause andere pflegen. Wir unterstützen sie stärker dabei.Das ist unser Ziel. Das ist mit dem Gesetzentwurf inten-diert.
Insoweit bin ich froh über diese Debatte. Dem Leitge-danken, den Menschen in den Mittelpunkt zu stellen,kommen wir in dieser Frage etwas näher. Es ist so, dassder Wandlungsprozess bzw. der demografische Wandel,wie es heißt, einige Veränderungen mit sich bringenwird.
Herr Kollege Weinberg, darf die Kollegin
Zimmermann Ihnen eine Frage stellen?
Sie darf mir immer Fragen stellen, gerne.
Vielen Dank, Herr Kollege Weinberg, dass Sie die
Zwischenfrage zulassen. – Ich habe eine Frage zum
größten Pflegedienst der Nation: zur Familie. Natürlich
ist es so, dass viele Menschen zu Hause gepflegt werden
wollen. Natürlich ist es so, dass das auch viele Menschen
machen. Es ist auch so, dass das viele Menschen machen
können. Aber können Sie sich vorstellen, dass es auch
viele machen müssen, weil sie sich etwas anderes nicht
leisten können?
Man muss ja immer die Frage stellen: Wie ist die
Pflegeversicherung aufgebaut? In der Pflegeversiche-
rung gibt es ja das Teilkaskoprinzip. Wenn jemand ge-
pflegt werden muss, sind damit also immer zusätzliche
Kosten verbunden. Wer nicht das eigene Häuschen oder
andere Dinge verkaufen möchte, wird dem Druck ausge-
setzt, zu Hause pflegen zu müssen.
Der zweite Punkt, der mich interessieren würde: Kön-
nen Sie sich vorstellen, dass Menschen in der Arbeits-
welt in prekäre Situationen kommen, weil sie zu Hause
pflegen, und dass als Folge prekärer Arbeitsverhältnisse
Altersarmut entstehen kann? Ich finde, es ist nicht so
einfach, wie Sie sagen – dass man in der Familie pflegen
kann –, sondern das ist für die betroffenen Menschen,
vor allen Dingen für Frauen, mit deutlichen Nachteilen
verbunden.
Ich glaube, keiner von uns sagt, dass es einfach ist,Menschen zu Hause zu pflegen. Das ist, glaube ich, diegrößte Herausforderung für unsere Gesellschaft. Deswe-gen sollten wir dankbar sein, dass es viele Menschengibt, die nahe Angehörige zu Hause pflegen wollen.Ich will dazu nur zwei Dinge sagen:Erstens. Für 87 Prozent der Menschen ist es wichtigoder sehr wichtig, dass ihre Erwerbstätigkeit im Sinnedes Zeitmanagements erleichtert wird, weil sie sich ent-schieden haben, einen nahen Angehörigen zu Hause zupflegen.Zweitens. Fast alle alten Menschen wünschen sich, inihren letzten Lebensjahren in ihrer vertrauten Umgebungbleiben zu können;
das ist unter dem Gesichtspunkt von Selbstbestimmtheitund Selbstständigkeit wichtig.Das heißt, es gibt einen Antrieb, innerhalb der Fami-lie zu pflegen. Unsere Aufgabe ist es – ich komme gleichauf die einzelnen Punkte, die Sie angesprochen haben,zu sprechen, auch im Hinblick auf die gesetzlichen Ver-änderungen, die es schon gab, nämlich Pflegezeit undFamilienpflegezeit –, die Veränderungen so zu skizzie-ren und sie so zu gestalten, dass sie in sich schlüssig undklar sind und wir gewisse Defizite, auf die ich gleichebenfalls zu sprechen komme, ausräumen können. – Ichglaube, damit habe ich Ihre Frage beantwortet. Die ein-zelnen Aspekte würde ich Ihnen gerne anhand der Struk-tur des Gesetzentwurfs verdeutlichen; ich werde michdann immer auf Ihre Frage beziehen.Für uns als CDU/CSU-Fraktion und für die GroßeKoalition steht fest, dass es ein Leitgedanke sein muss,die Menschen zu stärken, die zu Hause nahe Angehörigepflegen. Dies ist ein Zeichen des familiären Zusammen-halts, der für unsere Gesellschaft wichtig ist. Das giltüberall dort, wo Menschen füreinander Verantwortungübernehmen, und betrifft den Umgang mit den Kleinstenund den Umgang mit den Älteren.
Jetzt komme ich auf den ersten Ansatzpunkt von FrauZimmermann zu sprechen. Man muss sich fragen: Wasgab es bisher? Wir haben bereits 2008 und 2012 Bau-steine zur Unterstützung der familiären Pflege auf denWeg gebracht, nämlich mit dem Pflegezeitgesetz 2008und mit dem Familienpflegezeitgesetz 2012. Dabeispielten drei Komponenten, die die Ministerin schon an-
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gesprochen hat, eine Rolle. Es gibt drei verschiedenePhasen, die für diejenigen, die andere Menschen zuHause pflegen wollen, wichtig sind.Die erste Phase ist eine kurzzeitige: die zehntätigePflegeauszeit. Sie ist beim unerwarteten Eintritt einerPflegesituation von Bedeutung, da eine solche Situationdie Menschen immer überfordert. Sie kommt nämlichimmer zum ungünstigsten Zeitpunkt. Außerdem befin-den sich die Menschen dann in der schwierigen Situa-tion, viele Dinge für einen Angehörigen schnell regelnund organisieren zu müssen. Hier wurde der Rechtsan-spruch geschaffen, zehn Tage von der Arbeit fernzublei-ben.Was es aber nicht gab, war finanzielle Unterstützung;jetzt komme ich auf den nächsten Punkt, den Sie er-wähnt haben, zu sprechen. Gerade für viele Menschenmit niedrigem Einkommen war das ein Problem, weil siezehn Tage lang kein Geld verdient haben. In Zukunftwird es die Möglichkeit geben, diese Lücke durch eineLohnersatzleistung zu schließen. Das ist eine Verbesse-rung. Insofern verbessert der Gesetzentwurf gerade dieSituation derer, die in einer prekären Situation sind undkein hohes Einkommen haben.
Der zweite Punkt. Mittelfristig konnten sich Men-schen für bis zu sechs Monate von der Arbeit freistellenlassen. Auch hier gab es einen Rechtsanspruch; das istgut so. Wenn man sich sechs Monate lang freistellen las-sen will, was möglich ist, gibt es aber ein Problem. Jetztkomme ich wieder auf den von Ihnen genannten Punktzu sprechen. Sie haben nämlich gesagt: Viele könnensich das gar nicht leisten. – In Zukunft wird es die Mög-lichkeit geben, ein zinsfreies Darlehen über das Bundes-amt für Familie und zivilgesellschaftliche Aufgaben auf-zunehmen. Das heißt, auch die finanzielle Absicherungwird gestärkt, und zwar zusätzlich zu dem bereits beste-henden Rechtsanspruch. Auch das ist eine Verbesserungdes geltenden Gesetzes.Der dritte Punkt betrifft die Familienpflegezeit. Hiergab es zwar keinen Rechtsanspruch, aber die Möglich-keit, über einen Kredit – allerdings verbunden mit sehrbürokratischen Hindernissen – zumindest die finanzielleSituation abzusichern.Mit der neuen Regelung wird es in Zukunft einenRechtsanspruch geben. Das heißt, es werden hier zweiDinge zusammengeführt: der Rechtsanspruch und der fi-nanzielle Ausgleich. Dies geschieht unter dem Gesichts-punkt: Wie kann ich mehr Zeit und mehr Flexibilität inder Frage der Vereinbarkeit von Beruf, Pflege und Fami-lie erreichen? Diese drei Komponenten werden nun zu-sammengebracht.Es war unser Ansatz in der Großen Koalition, zu sa-gen: Wir haben drei Bausteine, die für sich genommengut sind. Aber wir müssen sie jetzt zusammenbringen.Pflege kann nicht alleine gesehen werden, sondernPflege muss von einer kurzfristigen Wahrnehmung derDinge bis hin zu einer langfristigen Aufgabe in der Fa-milie organisiert werden. Deswegen haben wir gesagt:Wir müssen Rechtsansprüche definieren, finanzielle Si-cherheiten schaffen und als dritte Komponente die ge-sellschaftliche Veränderung mit aufnehmen.Ein Beispiel hierfür ist die Pflege des Stiefvaters alsnahem Angehörigen. Es ist etwas paradox, zu sagen: DerVater kann gepflegt werden, aber der Stiefvater nicht. Esgibt leider Fälle, in denen der Vater, als die Kinder dreioder vier Jahre alt waren, die Familie verlassen undmöglicherweise nie Unterhalt gezahlt hat. Trotzdem be-steht für die Kinder die Möglichkeit, den Vater als nahenAngehörigen zu pflegen. Aber die Pflege des Stiefvaters,der sich um die neue Familie gekümmert hat, durch dieStiefkinder fiel bisher nicht unter die Pflege eines nahenAngehörigen. Deswegen ist es eine gute Erweiterung,dass auch Stiefeltern in die Regelung mit den nahen An-gehörigen aufgenommen werden.
Pflegebedürftige Kinder brauchen oftmals eine beson-dere Pflege. Diese besondere Pflege wird in erster Liniein Einrichtungen angeboten. Da ist es richtig und konse-quent, zu sagen: Auch bei pflegebedürftigen Kindernkann die Familienpflegezeit genommen werden, selbstwenn sie nicht zu Hause, sondern in einer Einrichtungbetreut werden, weil da die Kombination aus professio-neller Pflege und Unterstützung der Betreuung durch dieEltern wichtig ist. Auch diese Erweiterung war richtigund wichtig. Damit haben wir ein Problem behoben.
Als Ergebnis der Verhandlungen zum Koalitionsvertraghaben wir uns darauf verständigt, diese drei wesentli-chen Bereiche zusammenzuführen.Ich möchte am Ende noch eine Sache ansprechen,nämlich die Auswirkungen der Familienpflegezeit aufdie Arbeitgeberschaft. Man muss überlegen: Wie kannman es schaffen, dass auch die Wirtschaft, gerade derMittelstand, diese Pflegezeit positiv begleitet?Dazu zwei Dinge: Erstens. Man hat erkannt, dass eswichtig ist, die Menschen mit ihren Kompetenzen – siesind schließlich Fachkräfte – im Unternehmen zu halten.Dem wird mit den jetzigen Regelungen Rechnung getra-gen. Deswegen ist für uns der Ansatz der Teilzeit wich-tig. Wenn man in der Familienpflegezeit 15 Stunden inder Woche arbeitet und die restliche Zeit freigestelltwird, ist das auch für das Unternehmen gut, weil es überdie Teilzeit seine Fachkräfte im Unternehmen haltenkann. Das heißt, den Unternehmen geht das Know-howder Mitarbeiter nicht verloren.
Zweitens. In der realen Betrachtung haben wir gese-hen, dass durch die Pflege eines Angehörigen nicht nurdie Familie aus der Bahn geworfen wurde, sondern dassdiese neue Situation auch Konsequenzen auf das Ver-hältnis zum Arbeitgeber hat. Wir wissen, dass sich vieleArbeitnehmer in den ersten Tagen haben krankschreibenlassen, weil sie mit der Situation nicht mehr zurechtka-men. Ihre Motivation am Arbeitsplatz ließ durch dieneue Situation nach. Deswegen sind die Planungssicher-
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heit und die Stabilisierung finanzieller und zeitlicher Artgut für die Unternehmen, weil die Motivation und dieZufriedenheit mit der Arbeit bei den Arbeitnehmern stei-gen; denn sie wissen, dass es verbindliche Regeln gibt,an die sich alle halten müssen. Dadurch bekommen siees besser hin – das wird niemals perfekt werden –, ihrennahen Angehörigen zu pflegen.Auch für die Unternehmen bedeutet es eine Entlas-tung, dass wir so die Beiträge zur Pflegeversicherungstabil halten können. Man könnte ja sagen: Wenn wir diefamiliäre Pflege nicht stärken, müssen wir möglicher-weise die professionelle Pflege stärken, was durch eineErhöhung der Beiträge zur Pflegeversicherung gesche-hen könnte. Ich glaube, es ist nicht im Sinne des Mittel-standes und der deutschen Wirtschaft, die Beiträge zu er-höhen. Daher ist unser Gesetz ein gutes Zeichen.
Zurzeit sind 2,6 Millionen Menschen pflegebedürftig,über 1 Million Menschen wird zu Hause betreut. Für dasJahr 2050 müssen wir mit der doppelten Anzahl an pfle-gebedürftigen Menschen rechnen. In wenigen Jahrenwird die Wahrscheinlichkeit größer sein, auf der Straßeeinen 80-Jährigen zu treffen als eine junge Mutter odereinen jungen Vater mit einem Kinderwagen. Das heißt,auf diese Entwicklung müssen wir uns einstellen.Hier sind zwei Dinge zu nennen. Das eine ist derWunsch der Menschen, zu Hause in ihrer Umgebung ge-pflegt zu werden. Es ist gut, dass Menschen das in unse-rer Gesellschaft machen und auch machen wollen.Das andere ist die Gewissheit, die sie brauchen – Stich-wort Zeitmanagement –, dass sie sich in dieser schwieri-gen Situation die Zeit besser einteilen können und dasssie zumindest ein wenig finanziell entlastet werden.Kein Pflegefall und kein Mensch, der sich in der Pflegeengagiert, sieht das als Geschäftsmodell oder will damitirgendwie Missbrauch treiben. Es hinzubekommen, dieFamilie zu versorgen, der Erwerbstätigkeit nachzugehenund sich um einen Pflegefall zu kümmern: Das ist derhöchste Anspruch, den man haben kann. Deswegen istes, glaube ich, wichtig, dass wir mit dem vorliegendenGesetzentwurf jetzt auch den nächsten Schritt gehen.Ich komme noch einmal zum Anfang zurück. DieMenschlichkeit einer Gesellschaft spiegelt sich darin wi-der, wie wir mit den Schwachen, den Kleinen, den Kran-ken und auch den Alten umgehen. Deswegen ist es gut,dass wir uns dieses Themas angenommen haben. Dennich glaube, die Vereinbarkeit von Pflege, Familie undBeruf wird eine große Herausforderung sein. Dabei sindwir auf einem guten Weg, der sicherlich noch einige wei-tere Schritte mit sich bringen muss. Aber der Gesetzent-wurf ist gut, und ich bitte um Unterstützung dafür.Herzlichen Dank.
Das Wort erhält nun die Kollegin ElisabethScharfenberg für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kolle-gen! Sehr geehrte Frau Ministerin, Sie haben einen wei-teren Gesetzentwurf vorgelegt. Das sieht zunächst ein-mal sehr fleißig aus, aber wenn man genauer hinschaut,wird deutlich: Diese schnelle Aktion ist eine ganzschöne Luftnummer. Damit wurde nur eine schlechteVorlage ein wenig repariert.Mit der Vorlage meine ich das schlecht gemachte Fa-milienpflegezeitgesetz von Kristina Schröder. Es wurdeschon gesagt: Dieses Gesetz haben exakt 135 Menschenin Anspruch genommen, und zwar nicht etwa auf Berlinbeschränkt, sondern deutschlandweit. Das war ein Flop,und ich befürchte, dass diese Nachbesserung genausofloppen wird.
Was sind denn die Reparaturen, die Sie uns mit vielenWorten anbieten? Es gibt jetzt einen Rechtsanspruch aufdie Familienpflegezeit. Das haben wir immer gefordert,und es ist gut, dass er jetzt eingeführt werden soll. Aberleider gilt dieser Rechtsanspruch nur in Betrieben mitmehr als 15 Beschäftigten. Damit ist dieser Gesetzent-wurf nicht geschlechtsneutral, wie es in der Begründungheißt, Frau Ministerin; denn weitaus mehr Frauen alsMänner arbeiten in kleinen Betrieben.Es gibt nun einen Anspruch auf ein zinsloses Darle-hen. Das bedeutet in der Tat etwas mehr Flexibilität fürdie Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer; denn bishergab es die Verpflichtung, vorab gezahltes Gehalt nach-träglich wieder abzuarbeiten. Aber nach wie vor wird dieHauptlast auf den Schultern der berufstätigen Pflegen-den abgeladen. Sie müssen zuerst auf Gehalt verzichten.Das Darlehen gleicht die Differenz zum vollen Gehaltnur zur Hälfte aus. Es fehlt also letzten Endes ein Vierteldes monatlichen Lohns.Nach der Pflegezeit müssen die pflegenden Angehöri-gen das Darlehen zurückzahlen. Das heißt, auch danngeht wieder etwas vom monatlichen Einkommen ab, wassonst der Familie zur Verfügung steht. Im Klartext heißtdas, weiter auf Gehalt zu verzichten.Geringverdiener ohne gut verdienenden Partner kön-nen sich das nicht leisten. Das sind in der Mehrheit wie-der die Frauen.Wem also soll denn dieses Familienpflegezeitgesetzüberhaupt nutzen? Frau Ministerin, ich schlage vor, Siesetzen Ihre rosarote Brille ab und wir schalten einmalkollektiv den Weichzeichner aus. Was ist denn die Reali-tät in diesem Land? Stellen Sie sich vor, ein älterer Mannwird plötzlich pflegebedürftig, und seine Tochter nimmtdie zehntägige Auszeit, um eine Pflege für ihren Vater zuorganisieren. Dass es dafür jetzt eine Lohnersatzleistunggibt, ist schön. Zehn Tage sind aber in einer solchen Si-tuation nicht viel.Wie geht es weiter in der realen Welt und im echtenLeben? Die Tochter hatte nie zuvor mit Pflege zu tun.An wen wendet sie sich zuerst? Sie muss sich erst ein-
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Elisabeth Scharfenberg
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mal kundig machen. Der Vater muss begutachtet werden.Ob er eine Pflegestufe bekommt oder nicht, ist entschei-dend dafür, wie es weitergeht.Die Tochter muss gemeinsam mit dem Vater bespre-chen, wie er sich seine Zukunft weiter vorstellt, aberauch, wie sie in dieser Situation ihr weiteres Leben pla-nen möchte oder überhaupt planen kann. Ob sich die bei-den für eine stationäre Einrichtung oder für die Pflegezuhause mit ergänzender ambulanter Pflege entscheiden:In jedem Fall muss sehr viel erledigt werden. Die Ver-sorgung des Vaters in dieser Zeit geht zusätzlich weiter.Viele Anbieter müssen kontaktiert werden. Es muss be-sichtigt werden. Es muss eingeschätzt werden, und dasalles unter hohem Zeitdruck. Wie soll man das alles inzehn Tagen schaffen?Was ist aber, wenn der Vater dement ist und gar keinePflegestufe erhält? Die Tochter hat dann keinen An-spruch auf das Pflegeunterstützungsgeld, also auf diezehntägige Lohnersatzleistung. Die Tochter hat dannauch keinen Anspruch auf die Familienpflegezeit. Heuteleben etwa 1,1 Millionen Demenzkranke in Deutschlandin privaten Haushalten. Alle möchten so lange wie mög-lich in der vertrauten Wohnung oder in der Nachbar-schaft bleiben. Alle brauchen Unterstützung. Aber:Wenn keine Pflegestufe vorliegt, müssen die pflegendenAngehörigen alleine eine Lösung finden. Dann lassenSie als Große Koalition genau diese Menschen weiterhinim Regen stehen.
Warum, Frau Ministerin, denken Sie die Dinge nichtendlich zusammen? Der neue Pflegebegriff, der auchDemenzkranke berücksichtigen wird, kommt irgend-wann. Vielleicht kommt er auch nie. Aber er ist eben dasHerzstück einer Pflegereform.Ihre Familienpflegezeit soll zum 1. Januar 2015 inKraft treten; das ist in sechs Wochen. Was können wir danoch groß beraten? Das ist ein Witz! Für Demenzkrankeund ihre Angehörigen wird diese Familienpflegezeitnicht gelten. Das ist nicht der einzige Stolperstein. Waspassiert, wenn sich jemand für die häusliche Pflege ent-schieden hat? Die Familienpflegezeit ist auf zwei Jahrebegrenzt, und danach endet sie. Das Rückkehrrecht aufdie volle Arbeitszeit endet ebenfalls nach zwei Jahren.Die Pflegerealität sieht aber ganz anders aus: Die Pflege-zeit dauert oft viel länger als zwei Jahre. Ihre Regelun-gen passen einfach nicht in die Lebenswirklichkeit derMenschen. Ihre Regelungen gehen an den Bedürfnissender pflegenden Angehörigen und der Pflegebedürftigenvorbei.
Jede Pflegesituation ist anders. Darum brauchen Pflege-bedürftige und pflegende Angehörige als Allerersteseine gute und umfassende Beratung. Es gibt einige un-terstützende Angebote für Pflegebedürftige und ihre Fa-milien: Kurzzeitpflege, Tages- und Nachtpflege sowiezusätzliche Betreuungsleistungen. Aber viele dieser An-gebote sind oft nicht bekannt. Eine gute Beratung kannhier Wunder wirken. Natürlich kann eine gute Beratungallein nicht alles richten. Zusätzlich brauchen wir mehrund bessere Unterstützungs- und Entlastungsangebote.Wir brauchen ein gutes Netzwerk, ein Netzwerk, das füralle zugänglich und überschaubar ist.Ich fordere Sie auf: Denken Sie ganzheitlich! MachenSie hier nicht ein Low-Budget-Gesetz, das auf dem Rü-cken der pflegenden Angehörigen finanziert werden soll.Die Lohnersatzleistung – das sind 100 Millionen Euro –wird durch die Pflegeversicherung finanziert. Das Darle-hen kostet Sie im nächsten Jahr 1,3 Millionen Euro. Ichwiederhole: 1,3 Millionen Euro kostet dieses Gesetzdiese Regierung. Das finde ich unlauter. Denken Sieganzheitlich! Arbeiten Sie nicht einfach ohne Sinn undVerstand Ihre Agenda ab, sondern tun Sie etwas imSinne der Pflegebedürftigen und der Angehörigen!Danke schön.
Vielen Dank, Frau Kollegin. – Guten Morgen von
meiner Seite aus, liebe Kolleginnen und Kollegen und
liebe Gäste auf der Tribüne.
Die nächste Rednerin in der Debatte: Dr. Carola
Reimann für die SPD.
Guten Morgen, Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnenund Kollegen! Erst in der letzten Woche haben wir dasElterngeld Plus als wichtigen Baustein für eine bessereVereinbarkeit von Kindern und Beruf hier im Bundestagverabschiedet. Heute legen wir den nächsten Gesetzent-wurf vor, diesmal zur besseren Vereinbarkeit von Pflegeund Beruf. Wir rücken damit das Thema Zeitpolitik er-neut in das politische Rampenlicht und machen die Zeit-konflikte deutlich, die viele von uns Tag für Tag fast zer-reißen.Die Vereinbarkeit von Familie und Beruf ist nicht nureine Herausforderung für Eltern. Den täglichen Spagatzwischen Pflichten als Arbeitnehmerin und Arbeitneh-mer auf der einen Seite und der Verantwortung für dieAngehörigen auf der anderen Seite müssen auch Be-schäftigte bewältigen, die pflegen. Mehr als 2,5 Millio-nen Menschen sind pflegebedürftig. Sieben von zehn,also 70 Prozent, werden zu Hause gepflegt, auch oderausschließlich von ihren Angehörigen. Deshalb sind Fa-milien, wie gern gesagt wird, der größte Pflegedienst derNation. Das sage ich ohne Wertung und ohne das gegendie professionelle Pflege ausspielen zu wollen.Für Pflegende stellt sich aber das Vereinbarkeitspro-blem sogar verschärft; denn der Pflege des Partners oderder Eltern fehlt das Niedliche, das Hoffnungsfrohe, dasEltern, die ihre kleinen Kinder auf dem spannenden Wegins Leben begleiten, täglich erleben. Es ist schwer, demeigenen Ehemann nach einem Schlaganfall bei denkleinsten Verrichtungen helfen zu müssen. Es ist fast un-
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Dr. Carola Reimann
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erträglich, die demente Mutter in das Reich des Verges-sens entgleiten zu sehen. Kollegin Scharfenberg, De-menz ist in der Tat nicht immer von Anfang an mit einerPflegestufe versehen, aber in schweren Fällen sehr wohl.
Sechs von zehn Pflegenden geben an, dass sie diePflege sehr viel von ihrer eigenen Kraft kostet. Drei vonzehn fühlen sogar die eigene Gesundheit beeinträchtigt.Das ist der alarmierende Befund der aktuell vorgelegtenPflegestudie der Techniker Krankenkasse.Zur Vereinbarkeit von Pflege und Beruf – eine großeHerausforderung – hat unsere Gesellschaft – da gebe ichIhnen recht – bislang noch keine ausreichenden Antwor-ten gegeben. Ja, Beschäftigte haben Anspruch auf einezehntägige Auszeit für Pflege, aber dieser Auszeit fehltebislang der Lohnersatz, weil wir das in der letzten Gro-ßen Koalition so nicht beraten konnten. Ich finde gut,dass jetzt beide Koalitionspartner dahinterstehen und dasfür richtig halten; denn viele konnten diese Pflegezeit inder Tat deshalb nicht nehmen.
Die Familienpflegezeit von Kristina Schröder aus derletzten Legislaturperiode war sicher gut gemeint, abernicht gut gemacht. Angesichts der 135 Fälle pro Jahr istklar, dass das bei 3,5 Millionen Leuten, die in unseremLand pflegen, kaum in Anspruch genommen wurde, weilden Beschäftigten der Rechtsanspruch fehlte. Ferner ha-ben sie diese Hilfe nicht leisten können, weil es keineLohnersatzleistung gab.Mit dem jetzt vorliegenden Gesetzentwurf erleichternwir diese Vereinbarkeit. Die zehnjährige Pflegezeit– Entschuldigung, natürlich die zehntägige Pflegezeit –statten wir mit einem Lohnersatz aus. Es wird hier derEindruck erweckt, die zehn Tage reichen so gar nicht, esmüssen eher zehn Jahre sein. So ist das ist bei mir ange-kommen. Deswegen der Versprecher. – Diese zehn Tagesind dafür da, um Krisen und Pflegesituationen, die sichnicht so entwickeln, wie man es erwartet hat, abzude-cken. Sie sind für eine Unterstützung in einer Notfall-situation gedacht. Das Pflegeunterstützungsgeld erlaubtes jetzt den Pflegenden, sich einigermaßen frei von fi-nanziellen Nöten auf das Organisatorische und die Un-terstützung ihrer Angehörigen zu konzentrieren. Das isteine echte Verbesserung.
Auf die Familienpflegezeit bekommen die Beschäf-tigten einen Rechtsanspruch, damit sie diese Familien-pflegezeit auch tatsächlich in ihren Betrieben und Be-hörden durchsetzen können. Die Möglichkeit, einDarlehen zu bekommen, verbessert die Inanspruch-nahme. Das hilft den Beschäftigten. Weil wir die Ge-währung des Darlehens zu einer öffentlichen Aufgabemachen, helfen wir auch den Arbeitgebern.Mit unseren beiden Gesetzesinitiativen, einmal zumElterngeld Plus, zum anderen mit dem heute vorliegen-den Gesetzentwurf, verabschieden wir uns natürlichauch noch ein Stück weit mehr vom Alleinverdienermo-dell und kommen in der Realität der Gegenwart unsererFamilien an; denn die meisten Frauen wollen mehr alsKinder, Küche und Kanüle. Auch immer mehr Männerwollen mehr familiäre Verantwortung übernehmen undübernehmen sie auch – für ihre Kinder, für ihre Partnerinund auch für ihre Eltern.
Für sie, Frauen wie Männer, wollen wir Wege aufzei-gen, wie sie Beruf und familiäre Aufgaben unter einenHut bekommen können, ohne daran selbst zu zerbre-chen.Auch die Wirtschaft wird von unseren neuen gesetzli-chen Regelungen profitieren; denn es geht nicht darum,den Ausstieg aus Erwerbsarbeit zu organisieren, sondernganz im Gegenteil: Es geht darum, dass Beschäftigte denSpagat zwischen Erwerbsarbeit und der Pflegeverant-wortung besser bewältigen können und im Job bleiben.Das gelingt heute noch zu selten. Von den nicht erwerbs-tätigen Pflegenden hat jeder neunte seine Arbeit aufge-geben. Viele gehen wegen der Pflege von Angehörigenfrüher in Rente. Uns geht es deshalb auch darum, dassdie Beschäftigten mithilfe der neuen Regelungen leichterim Job bleiben können und als Fachkräfte ihren Unter-nehmen erhalten bleiben.Mir persönlich sind zwei Aspekte noch besonderswichtig. Wir regeln erstmals eine Auszeit für Sterbebe-gleitungen. Wenn Eltern und Partner im Sterben liegen,bekommen die Angehörigen das Recht, bis zu drei Mo-nate ganz oder teilweise aus dem Job auszusteigen. Dasist für viele eine wichtige Hilfe.Gestern haben wir hier intensiv über mögliche rechtli-che Regelungen zur Sterbehilfe und Sterbebegleitungdiskutiert. Dabei ist in ganz vielen Reden auf die AngstSterbender vor Einsamkeit und die Bedeutung dermenschlichen Begleitung hingewiesen worden. Deshalbist es konsequent, dass wir die Begleitung von Angehöri-gen mindestens von der rechtlichen Seite her leichtermachen.Meine sehr geehrten Damen und Herren, wir moder-nisieren mit dem vorliegenden Gesetzentwurf den Ange-hörigenbegriff. Künftig können auch Stiefeltern,Schwägerinnen, Schwäger und gleichgeschlechtlichePartnerinnen und Partner die Familienpflegezeit in An-spruch nehmen. Auch diese Lösung orientiert sich stär-ker an der Lebenswirklichkeit.Ich persönlich würde mir wünschen, dass wir bei denAngehörigen noch einen weiteren Schritt machen, näm-lich dass wir auch Freunde und Nachbarn unterstützen,wenn sie die Pflege anderer auf sich nehmen. Diese Be-reitschaft ist vorhanden. Hilfenetzwerke im Freundes-kreis oder in der Nachbarschaft nehmen an Bedeutungzu. Um das festzustellen, muss ich nur den Blick in meineigenes Büro richten: Die Mütter meiner Mitarbeiterin-nen und Mitarbeiter wohnen in Hamburg, im Ruhrge-biet, in Bayern; meine eigene Mutter wohnt in Nord-rhein-Westfalen.
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Dr. Carola Reimann
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Das tägliche Kümmern, das tägliche Nach-dem-Rech-ten-Sehen können wir gar nicht allein leisten. Das über-nehmen in allen Fällen gute Nachbarn und Freundinnen.Dieses Engagement von Nachbarn und Freundinnen, ins-besondere bei gesundheitlichen Krisensituationen – da istdas Pflegeunterstützungsgeld angesprochen worden –würde ich gern nicht nur im Rahmen von Reden zumbürgerschaftlichen Engagement loben, sondern auchwirklich unterstützen;
denn für die Pflegeverantwortung ist nicht der Verwandt-schaftsgrad entscheidend, sondern die Bereitschaft, ihrverlässlich nachzukommen.Danke.
Vielen Dank, Frau Kollegin. – Nächster Redner in der
Debatte: Jörn Wunderlich für die Linke.
Frau Präsidentin! Frau Ministerin! Liebe Kolleginnenund Kollegen! „Entwurf eines Gesetzes zur besserenVereinbarkeit von Familie, Pflege und Beruf“ – man liestden Titel des vorliegenden Gesetzentwurfs und denkt,ein Quantensprung vollzieht sich. In der letzten Legisla-turperiode haben wir noch von der Vereinbarkeit von Fa-milie und Beruf gesprochen. Jetzt haben wir die Pflegein die Vereinbarkeit aufgenommen – denkt man im ers-ten Moment. Zu einigem hat meine KolleginZimmermann hier schon ausgeführt. Ich möchte nochauf einen Punkt eingehen, der aus Sicht der Linken einganz wesentlicher ist.Aus den Erfahrungen mit dem verfehlten Pflegezeit-gesetz von Frau Schröder – wir haben es schon gehört;es ist nicht in Anspruch genommen worden; die Zahlensind hier genannt worden – hat man nun den Rechtsan-spruch auf Pflegezeit entwickelt. Dieser Rechtsanspruch,der die Möglichkeit, eine Pflegezeit zu nehmen, nichtmehr vom Willen des Arbeitgebers abhängig macht, istzwar ein guter Schritt; andererseits werden dabei5,6 Millionen Beschäftigte außen vor gelassen.Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes vom31. Mai 2014 – diese Angaben sind also noch kein hal-bes Jahr alt – sind 5,6 Millionen Menschen in Betriebenmit 15 oder weniger als 15 Mitarbeitern beschäftigt. Siealle haben durch die im Gesetzentwurf verankerte Klein-betriebsklausel eben keinen Anspruch auf Pflegezeit.Als Alternative bleibt ihnen dann nur, das Beschäfti-gungsverhältnis aufzugeben, wenn die Pflege nicht an-ders sichergestellt werden kann.Von der ambulanten Pflege haben wir schon gehört.Viele wollen zu Hause gepflegt werden, möchten also inihrem häuslichen Umfeld bleiben. Dieser Wunsch sollteauch respektiert werden. Dies kann natürlich auch mitprofessioneller Pflege sichergestellt werden. Nur, werkann sie sich leisten? Das sind die wenigsten. Die Men-schen, die ihren Arbeitsplatz aufgeben müssen, um eineandere Person zu pflegen, kommen ebenfalls ihrer ge-samtgesellschaftlichen Aufgabe nach, müssen dafür aberweit stärkere Einschränkungen hinnehmen als diejeni-gen, die von dem Gesetz profitieren.Bei den 5,6 Millionen Betroffenen sind noch nicht dieerfasst, die in Teilzeit arbeiten. Bei den geringfügig Be-schäftigten handelt es sich um weitere 5 Millionen. Derüberwiegende Teil davon arbeitet in kleinen Betrieben.Daher muss man noch draufsatteln. Da liegen mir nochkeine genauen Zahlen vor.Die vorgeschlagene Kombination von Pflegezeit undFamilienpflegezeit läuft darauf hinaus, dass nach Ablaufder Pflegezeit von höchstens sechs Monaten als Voraus-setzung für eine Inanspruchnahme der Familienpflege-zeit die Wochenarbeitszeit im Betrieb mindestens15 Stunden betragen muss. Damit sind wir wieder beider magischen Zahl 15: 15 Stunden, 15 Beschäftigte.Wenn aber die Pflegesituation dies nicht zulässt oder dieArbeitsbedingungen nicht entsprechend gegeben sind,sind möglicherweise die Voraussetzungen für die Fort-setzung des Arbeitsverhältnisses gar nicht da; dann ent-fällt der Anspruch. Andererseits können auch die Bedin-gungen für das Darlehen als vorrangige Leistung nichterfüllt werden. Es bricht also im Grunde alles zusam-men. Anders ausgedrückt, die Kopplung des Anspruchsauf Familienpflegezeit an die Voraussetzung der wö-chentlichen Restarbeitszeit von 15 Stunden hat offen-sichtlich nur die berufstätigen, gutbezahlten Vollzeitbe-schäftigten im Blick. Ziel ist, deren Ausstieg aus demBerufsleben – es hieß ja auch: nicht auf die Fachkräfteverzichten – zu verhindern. Teilzeitbeschäftigte mit ge-ringer Stundenzahl sind im Grunde von der Inanspruch-nahme der Familienpflegezeit und damit auch des Darle-hens ausgeschlossen, und das, obwohl das Darlehen, wiees so schön heißt, vorrangig vor Sozialleistungen in An-spruch zu nehmen ist. Im Baugewerbe und Gaststätten-gewerbe ist nahezu jeder zweite Beschäftigte von denSegnungen der Familienpflegezeit ausgeschlossen, imHandel immerhin jeder vierte.Außerdem – das ist hier auch schon angeklungen –vermisse ich in dem Gesetzentwurf Anreize, die sich aufdie Geschlechtergerechtigkeit beziehen.
Nach Angaben des DGB sind 75 Prozent der Pflegendenweiblich. Ich glaube nicht, dass der Gesetzentwurf, je-denfalls in der Form, wie er momentan vorliegt, im Hin-blick auf geschlechtergerechte Inanspruchnahme derPflegezeiten irgendetwas bewirkt. Aber ich hoffe erneutauf die Ausschussberatungen und die Ausschusssitzun-gen. Irgendwann muss sich doch einmal etwas zum Posi-tiven ändern. Und, wie wir alle wissen: Die Hoffnungstirbt zuletzt.Danke für die Aufmerksamkeit.
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6362 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 67. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. November 2014
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Danke, Jörn Wunderlich. – Nächste Rednerin in der
Debatte: Astrid Timmermann-Fechter für die CDU/
CSU-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Das Gesetz zur besseren Vereinbarkeit vonFamilie, Pflege und Beruf steht für eine Vielzahl vonVerbesserungen – Verbesserungen, mit denen wir diehäusliche Pflege stärken, Pflegebedürftige unterstützen,die pflegenden Angehörigen entlasten. Das entsprichtdem Wunsch vieler Menschen in unserem Land, vor al-lem vieler Pflegebedürftiger, die so lange wie möglich inihrer gewohnten Umgebung bleiben möchten. Dafürführen wir die beiden schon bestehenden Gesetze, dasfür die Pflegezeit sowie das für die Familienpflegezeit,zusammen und machen sie mit zahlreichen Neuregelun-gen noch attraktiver.So haben Arbeitnehmer künftig einen Rechtsan-spruch, für die Pflege ihrer Angehörigen die Arbeitszeitüber einen Zeitraum von bis zu 24 Monaten auf mindes-tens 15 Stunden in der Woche zu reduzieren. Das heißt,der bereits bestehende Rechtsanspruch gemäß Pflege-zeitgesetz wird hier auch auf die Familienpflegezeit aus-geweitet. Dieser Rechtsanspruch soll zu Beginn deskommenden Jahres in Kraft treten – ein Rechtsanspruch,der vielen Menschen in unserem Land ein ganz kostba-res Gut gibt, nämlich Zeit: Zeit für die Pflege, Zeit fürZuspruch und Trost, Zeit für die kranke Mutter, für denhilfsbedürftigen Vater, für die hochbetagte Großmutteroder den schwer erkrankten Partner, Zeit also für Men-schen, die uns lieb und teuer sind, die uns wichtig in un-serem Leben sind, denen wir selber vieles verdanken.Darum sind die pflegenden Angehörigen auch bereit,dieses Opfer, das die Pflege ja in der Tat darstellt, fürihre Verwandten zu erbringen.Dazu zählt neben Zeit und Kraft auch Geld. So müs-sen Arbeitnehmer bislang meist Gehaltseinbußen inKauf nehmen, wenn sie im Rahmen des Pflegezeitgeset-zes für die kurzfristige Organisation einer Pflegesitua-tion in der Familie die bis zu zehntägige Auszeit nutzen.Die Neuregelung sieht hier nun ein Pflegeunterstüt-zungsgeld vor, mit dem Arbeitnehmer ähnlich wie beimKinderkrankengeld eine Lohnersatzleistung erhalten,welche zulasten der Pflegekasse des zu pflegenden An-gehörigen abgerechnet wird.Finanzielle Einbußen entstehen aber erst recht, wennman seine Wochenarbeitszeit langfristig reduzierenmuss; denn mit einer 15-Stunden-Woche lässt sich in derRegel der Lebensunterhalt oft nicht bestreiten. Erst rechtfür eine Familie sind solche finanziellen Belastungeneine extrem hohe Herausforderung.
Deshalb sieht das Familienpflegezeitgesetz hier ein zins-loses Darlehen vor, um den Verdienstausfall wenigstenszu einem Teil zu kompensieren. Neu ist jedoch, dass die-ses Darlehen nun auch für die bis zu sechsmonatige Pfle-gezeit in Anspruch genommen werden kann. Neu istauch, dass für dieses Darlehen keine Ausfallversicherungmehr abgeschlossen werden muss. Das Ausfallrisiko trägthier der Bund allein. Härtefallregelungen sorgen im Falleeiner Langzeitarbeitslosigkeit oder im Todesfall für einesoziale Abfederung.Für die Darlehen sieht der Etat des Bundesfamilien-ministeriums für das kommende Jahr 1,3 Millionen Eurovor.Im Zuge der Neuregelung werden im Übrigen auchdie Arbeitgeber entlastet. Die Beschäftigten beantragenjetzt nämlich die Darlehen direkt beim Bundesamt fürFamilie und zivilgesellschaftliche Aufgaben. Der Ar-beitgeber muss keine Wertguthaben mehr für seine An-gestellten führen. Hier werden bürokratische Hürden ab-gebaut.
Die teilweise Freistellung von Arbeitnehmern hat zu-dem den Effekt, dass langfristig den Unternehmen, denBetrieben ihre Fachkräfte mit all ihren wertvollenKenntnissen erhalten bleiben. Niemand soll seine Arbeitaufgeben müssen, um einen Angehörigen zu versorgen.Das neue Gesetz zur besseren Vereinbarkeit von Familie,Pflege und Beruf sichert somit Fachkräfte – angesichtsdes demografischen Wandels mit den einhergehendenVeränderungen auf dem Arbeitsmarkt ein ebenfalls kost-bares Gut.Meine Damen und Herren, es kann für kein Unterneh-men von Interesse sein, Mitarbeiter zu beschäftigen, diesich den ganzen Tag über Sorgen machen müssen, wasmit ihren pflegebedürftigen Angehörigen passiert. Werkann da noch gute Leistungen erbringen? Hier ist einerechtlich klar geregelte Freistellung wesentlich ökono-mischer – für alle Beteiligten.
Denn einen Pflegebedürftigen zu Hause zu versorgen, istharte, kräftezehrende Arbeit, die viele Angehörige nichtselten an die Grenzen der Belastbarkeit führt. Dies auchnoch mit der eigenen Vollzeitberufstätigkeit zu vereinba-ren, ist in aller Regel ein Ding der Unmöglichkeit. Wol-len wir, dass sich diese Menschen in solchen Stresssitua-tionen um ihre Angehörigen kümmern müssen? Soetwas kann niemand wollen, und es kann auch nicht imInteresse der Gesellschaft sein. Denn wir wünschen unsalle eine menschliche, eine humane Pflege.Diesem Bedürfnis wollen wir auch mit einer weiterenNeuregelung Rechnung tragen. So sieht der Gesetzesent-wurf nämlich auch eine Freistellung für die Begleitungvon Angehörigen in ihrer letzten Lebensphase sowie fürdie Betreuung von pflegebedürftigen schwerkrankenKindern vor, die sich in stationären Einrichtungen befin-den. Das ist eine wirkliche Hilfe für viele Menschen inbesonders schwierigen Lebenssituationen sowie eineEntlastung, die auch unserem christlichen Menschenbildentspricht.
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Astrid Timmermann-Fechter
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Meine Damen und Herren, erfreulicherweise lebenwir immer länger und werden immer älter. Umso mehrwird aber auch die Pflege langfristig eine immer größereHerausforderung für unsere Gesellschaft. Von den rund2,6 Millionen Pflegebedürftigen in Deutschland werdenderzeit etwa zwei Drittel zu Hause betreut, ein Großteildavon von Angehörigen. Für das Jahr 2050 erwartet dasStatistische Bundesamt sogar 4,5 Millionen Pflegebe-dürftige. Auch in Zukunft werden also Pflegebedürftigevon ihren Angehörigen gepflegt. Deshalb haben wir denBegriff der Angehörigen ausgeweitet. Dieser umfasstkünftig auch Stiefeltern, Schwägerinnen und Schwägeroder lebenspartnerschaftsähnliche Gemeinschaften. Da-mit tragen wir den vielfältigen Lebensmodellen inDeutschland Rechnung – Lebensmodelle, in denen sichMenschen in ihrem Leben gegenseitig begleiten, Le-bensmodelle, in denen Partner füreinander einstehen undPflichten übernehmen. Diese Bereitschaft und diesenZusammenhalt wollen wir mit der Erweiterung des An-gehörigenbegriffes unterstützen.
Die Neuausrichtung der beiden Gesetze für die Pflege-zeit wie auch für die Familienpflegezeit bietet somitnach dem Grundsatz „ambulant vor stationär“ eine Viel-zahl neuer Möglichkeiten für eine bessere häuslichePflege – neue Möglichkeiten, die von einer nunmehrgrößeren Zahl von Angehörigen in Anspruch genommenwerden können; auch das entlastet die Familien.Mit seinen Neuregelungen liefert das Gesetz zur bes-seren Vereinbarkeit von Familie, Pflege und Beruf somiteinen weiteren wichtigen Baustein für die Stärkung derPflege insgesamt. Das ist in dieser Legislaturperiodenicht nur eines der Schwerpunktthemen dieser Koalition,sondern auch für die CDU/CSU ein ganz wesentlichesAnliegen. Denn gute Pflege, meine Damen und Herren,ist eben nicht nur eine hervorragende und innovative me-dizinische Versorgung; das ist vor allem Liebe, Zunei-gung und Aufmerksamkeit – eben all das, was Familieund Partnerschaft, was unser Leben überhaupt ausmacht:
das verlässliche Füreinander-Einstehen auch in schwe-ren Zeiten. Für dieses Familienbild steht auch die CDU/CSU. Denn Familie ist nicht allein nur dort, wo Kindersind, sondern vor allem auch dort, wo die Menschen für-einander Verantwortung übernehmen. Ebendieses Fami-lienbild wollen wir mit unserem neuen Gesetzentwurfstärken. Wir wollen die Familie als Verantwortungsge-meinschaft unterstützen, damit sich die Menschen nochbesser und flexibler um ihre pflegebedürftigen Angehö-rigen kümmern können.Als Gesellschaft können wir gar nicht dankbar genugsein, dass so viele Menschen in unserem Land diesen an-strengenden, oft auch entbehrungsreichen Dienst für ihreAngehörigen erbringen. Familie ist das, was uns prägtund uns Geborgenheit gibt, was uns aufgehoben seinlässt. Wie sich aber die Familien organisieren, müssenwir ihnen selbst überlassen. Der Staat kann hier nur Rah-menbedingungen setzen. Dafür ist das geplante Gesetzzur besseren Vereinbarkeit von Familie, Pflege und Be-ruf ein sehr gutes, ein hervorragendes Beispiel; denn die-ses Gesetz lässt mit seinen flexiblen Wahlmöglichkeitendie Familien mit ihren individuellen Lebensverhältnis-sen selbst entscheiden, wie sie die Pflege ihrer Angehö-rigen organisieren wollen.Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Vielen Dank, Frau Kollegin Timmermann-Fechter. –
Nächste Rednerin in der Debatte: Katja Dörner für
Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen!Liebe Kollegen! Berufstätigkeit und die Pflege von An-gehörigen, von Menschen, die einem nahestehen, besseroder überhaupt vereinbaren zu können, ist tatsächlicheine drängende Herausforderung, der wir uns stellenmüssen und auf die wir politische Antworten findenmüssen. Insofern ist es wichtig, dass wir heute diese De-batte führen. Wir müssen aber endlich zu Lösungenkommen, die auch praxistauglich sind und die Familienim Alltag tatsächlich unterstützen. Da habe ich bei demvorliegenden Gesetzentwurf leider einige Fragezeichen.
Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, ich selbst kommeaus einem kleinen Dorf im Westerwald.
Als ich ein Kind war, da war die Sache klar – ich be-schreibe es jetzt etwas scherenschnittartig –: Die Frauenkümmerten sich um die Kinder, manche waren danachhalbtags berufstätig, viele auch nicht, und wenn, dannhaben sie ihren Job wieder aufgegeben, um sich um ihreMütter und Schwiegermütter, um ihre Väter und Schwie-gerväter und auch um die kinderlosen Tanten zu küm-mern, wenn diese pflegebedürftig wurden. Ich will hiergar nicht die Frage stellen, ob das gut und gerecht war,ob die Frauen, aber auch die Pflegebedürftigen sich dasso vorgestellt haben, obwohl man, glaube ich, dieseFrage sehr wohl stellen sollte. Das war einfach so, aberso ist es eben nicht mehr bzw. wird immer weniger sosein.Wir leben im demografischen Wandel. Die Anzahlpflegebedürftiger Menschen steigt. Frauen sind berufstä-tig. Sie wollen berufstätig sein, aber sie müssen es auch,sonst ist Altersarmut vorprogrammiert. Viele Menschenhaben keine Kinder. Die Kinder vieler Menschen lebenganz woanders. Trotzdem sagen viele – und das finde ichsehr gut –, dass sie ihren Eltern, dass sie Menschen, dieihnen nahestehen, etwas zurückgeben wollen, wenndiese pflegebedürftig sind. Ich finde es sehr wichtig,
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Katja Dörner
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dass wir das unterstützen. Aber mit diesem Gesetz wirduns das nicht weitergehend gelingen.
Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, in der vergange-nen Legislaturperiode hat sich Kristina Schröder schondie Zähne an einer Familienpflegezeit ausgebissen. Diepositiven Aspekte des damaligen Vorschlags sind zwi-schen Referentenentwurf und der Beschlussfassung desGesetzes komplett ausradiert worden. Das Gesetz warein Rohrkrepierer: Seit 2011 haben gerade einmal – wirhaben es schon gehört – rund 300 Menschen die Fami-lienpflegezeit überhaupt in Anspruch genommen. Vonden damals im Haushalt eingestellten 400 MillionenEuro flossen mickrige 17 000 Euro ab. Warum war dasso? Die Antwort ist: Das Gesetz ging trotz massiven Be-darfs an der Lebensrealität der Familien vorbei. MeineSorge ist, dass es dem Gesetz, das wir heute beraten, lei-der genauso ergehen wird.
Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, richtig ist, dassdie neue Familienpflegezeit einen zentralen Fehler desSchröderschen Konzepts beseitigt: Es soll zukünftig ei-nen Rechtsanspruch auf die Familienpflegezeit geben.Das ist gut, aber es reicht eben nicht, um die Familien-pflegezeit wirklich praxistauglich auszugestalten. Esreicht vor allem nicht, um eine praxistaugliche Regelungfür alle Familien, also auch für Familien mit einem nied-rigen Einkommen, zu gewährleisten, aber auch nicht, umMenschen, deren nahe Verwandte weiter entfernt woh-nen, tatsächlich zu unterstützen.Ich möchte das an zwei Punkten erläutern. Die Fami-lienpflegezeit in Anspruch zu nehmen, ist mit Gehalts-einbußen verbunden.Statt diese aber über eine Lohnersatzleistung abzufe-dern, setzt die Familienministerin auf ein zinsloses Dar-lehen. Familien mit einem ausreichenden Einkommenbrauchen das nicht; sie werden das nicht in Anspruchnehmen müssen. Vor allem Familien mit einem niedri-gen oder mit einem mittleren Einkommen werden diesesDarlehen in Anspruch nehmen. Es gibt also faktischkeine finanzielle Entlastung für die pflegenden Angehö-rigen; die Belastung wird einfach in die Zukunft ver-schoben. Die Problematik verschärft sich massiv. Das er-kennt man, wenn man mit in den Blick nimmt, dass derKredit nur über zwei Jahre hinweg gewährt wird. Dabeiist die Zeitspanne, in der Angehörige ihre Familienmit-glieder pflegen, oft deutlich länger. Nach zwei Jahrenstehen pflegende Angehörige da, haben kein Anrecht aufFamilienpflegezeit mehr; stattdessen haben sie einenKredit an der Backe, den sie abzahlen müssen. LiebeKolleginnen, liebe Kollegen, das ist aus meiner Sichtkeine gute Perspektive.
Auch Menschen mit einem geringen Einkommen müs-sen eine Familienpflegezeit in Anspruch nehmen kön-nen, ohne sich zu verschulden. Deshalb plädieren wir füreine Lohnersatzleistung während der Familienpflegezeit.
Der zweite Punkt. In Anspruch nehmen können die Fa-milienpflegezeit – wir haben es schon gehört – nahe An-gehörige. Zu denen zählen jetzt auch Stiefeltern, Personenin lebenspartnerschaftlicher Gemeinschaft, Schwägerin-nen und Schwäger. Aber warum werden Nachbarn,Freunde, Wahlverwandtschaften vom Anspruch auf dieFamilienpflegezeit ausgeschlossen? Ich kann mich daFrau Reimann anschließen, die das auch problematisierthat. Das macht in einer Zeit, in der Lebensformen viel-fältiger werden und in der Wahlverwandtschaften eineimmer größere Rolle spielen, überhaupt keinen Sinn.In meiner Heimat Bonn gibt es ganz großartige Mehr-generationenwohnprojekte, wo gemeinsames Leben al-ler Generationen ohne biologisch-familiäre Bezüge statt-findet, wo es eine Verantwortungsübernahme in solchenZusammenhängen gibt. Es macht aus meiner Sicht über-haupt keinen Sinn, dass die Verantwortungsübernahme,die Fürsorge für Menschen in solchen Konstellationenhier nicht gewürdigt wird, sondern von der Familienpfle-gezeit explizit ausgenommen wird. Ich hoffe, dass sichda im Gesetzgebungsverfahren noch etwas ändert. Ausder SPD-Fraktion höre ich, dass es Bereitschaft gibt, sichdahin zu bewegen. Dann kann es ja auch in der kurzenBeratungsphase noch die Möglichkeit geben, an solchwichtigen Stellen im Sinne der Familien, im Sinne vonWahlverwandtschaften, im Sinne der Verantwortungs-übernahme und Fürsorge im Kontext von Pflege noch et-was zu verbessern.Vielen Dank.
Vielen Dank, Katja Dörner. – Nächster Redner in der
Debatte ist Paul Lehrieder für die CDU/CSU-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Frau Ministerin! LiebeKolleginnen! Liebe Kollegen! Pflegebedürftigkeit ist einThema, das im Alltag gern verdrängt wird. Zwar ist sichjeder bewusst, dass die Eltern wohl irgendwann einmalauf Hilfe angewiesen sein werden; aber meist setzt mansich erst dann wirklich ernsthaft mit dem Thema Pflegeauseinander, wenn der Ernstfall eintritt und ein Angehö-riger plötzlich zum Pflegefall wird. Ein Unfall, einSchlaganfall, eine schwere Krankheit oder eben das Al-ter können der Grund dafür sein, dass Menschen pflege-bedürftig werden.In dieser Situation brauchen Angehörige kurzfristigZeit für die Organisation der neuen Situation. Sie sehensich vielen Herausforderungen und Fragen gegenüberund müssen sich durch den Dschungel der Pflegestufenund Richtlinien kämpfen: Wie beantragt man eine Pfle-gestufe? Was macht der Medizinische Dienst? Wann undwo bekommt man das Geld? Wie verbleibe ich mit mei-nem Arbeitgeber?Meist liegt der Wunsch nahe, die Pflege seines Ange-hörigen selbst leisten zu können, ohne finanzielle und
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Paul Lehrieder
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berufliche Nachteile fürchten zu müssen. Zudem ent-spricht es auch fast immer dem dringenden Wunsch desPflegebedürftigen, in der vertrauten Umgebung von ei-ner nahestehenden Person gepflegt zu werden. Nach ei-ner aktuellen Umfrage des Politbarometers erwarten95 Prozent der Menschen von den Neuregelungen eineerhebliche Verbesserung in der Pflege. Da bin ich alsoetwas anderer Meinung als die Kolleginnen und Kolle-gen der Opposition, die gesagt haben: Es reicht nichtaus. – Viele Menschen werden das als deutliche Verbes-serung in der Pflege empfinden können.
Meine Damen und Herren, mit dem heute in ersterLesung zu beratenden Entwurf eines Gesetzes zur besse-ren Vereinbarkeit von Familie, Pflege und Beruf kom-men wir dem im Koalitionsvertrag verankerten Ziel derVereinbarkeit von Pflege und Berufsleben nach. Unserwichtigstes Ziel ist dabei, die Wertschätzung der familiä-ren Pflege zu verbessern und die Pflege insgesamt besserabzusichern, darüber hinaus den Menschen die Gewiss-heit zu geben: Es ist eine Pflege auch in der häuslichenUmgebung möglich.Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf wollen wir denschon bestehenden Rechtsanspruch auf eine zehntägigePflegeauszeit bei akut auftretender Pflegesituation einesnahen Angehörigen mit einer Lohnersatzleistung analogzum Kinderkrankengeld ausgestalten. Beschäftigte habenkünftig einen Rechtsanspruch auf Pflegeunterstützungs-geld. Dabei handelt es sich um eine Lohnersatzleistungfür eine bis zu zehntägige Auszeit, die Beschäftigtekurzfristig für die Organisation einer akut aufgetretenenPflegesituation eines nahen Angehörigen in Anspruchnehmen können. Die hierfür erforderlichen Mittel imUmfang bis zu 100 Millionen Euro – es wurde bereitsdarauf hingewiesen – werden von der sozialen Pflege-versicherung getragen.Wir haben den Kreis der Berechtigten auf nahe Ange-hörige und Stiefeltern beschränkt. Wir sind anders alsSie, Frau Kollegin Dörner, der Auffassung, dass wir die-sen Kreis nicht willkürlich auf Wahlverwandtschaftenbzw. Wahlbeziehungen ausweiten sollten. Wir müssenerst einmal die nahen Angehörigen, die bereit sind, Ver-antwortung zu tragen, mit dieser Leistung ausstatten unddürfen den Kreis der Berechtigten auch im Interesse derArbeitswelt nicht beliebig ausweiten. Ich bitte daher umVerständnis, dass es bei den nahen Angehörigen bleibt.
Wer einen nahestehenden Menschen pflegt, brauchtdafür Zeit und muss die Pflegetätigkeit mit seinem Be-rufsleben vereinbaren können. Daher haben wir einenRechtsanspruch auf Familienpflegezeit eingeführt, derfür Betriebe mit mehr als 15 Beschäftigten gilt. Die Kol-legen Zimmermann und Wunderlich haben darauf hinge-wiesen, dass damit ein Fünftel der Unternehmen, alsoKleinbetriebe mit unter 15 Beschäftigten, nicht erreichtwird. Das ist natürlich gewollt. Meine Damen und Her-ren, wir reden hier nicht von volkseigenen Betrieben mitmehreren Hundert Beschäftigten. Wir reden über denkleinen Handwerksmeister, der seine Mitarbeiter nochmit Vornamen kennt. In vielen solcher kleinen Hand-werksbetriebe ist durch das Zusammenwirken, das Dis-kutieren der Probleme natürlich ein anderes Verhältnisvorhanden als in Großunternehmen und die Bereitschaftder Arbeitgeberseite, auf die Belange des Arbeitnehmerseinzugehen, in vielen Fällen auch anders ausgeprägt.
Ich darf Ihnen versichern: Ich habe viele Handwerksmeis-ter aus meiner Region vor meinem geistigen Auge. – FrauKollegin Zimmermann möchte eine Frage stellen.
Vielen Dank, dass Sie mich darauf hinweisen. Ich
habe aber auch Augen.
Ich wollte nur signalisieren, dass ich bereit bin, die
Frage anzunehmen.
Dann muss ich Sie also gar nicht mehr fragen, ob Sie
bereit sind. – Langer Rede kurzer Sinn: Was wollen Sie
ihn denn gerne fragen?
Vielen Dank. – Mich würde interessieren, wie Sie
denn den Beschäftigten in den Betrieben mit weniger als
15 Mitarbeitern – es geht ja nicht um eine Handvoll, son-
dern um Millionen von Menschen – erklären wollen, wie
sie die Pflege zu Hause gestalten sollen, weil es ja ge-
rade diese Menschen sind, die bei den, wie man im
Volksmund sagt, sogenannten Krauterfirmen arbeiten?
Darunter sind ja auch Menschen, die möglicherweise
wenig Geld haben, und viele, die im Handel – nicht in
großen Kaufhäusern, sondern in kleinen Lebensmittellä-
den oder anderen Läden – unter prekären Beschäfti-
gungsbedingungen arbeiten. Wie sollen die denn die
Pflege zu Hause gestalten? Sie sagen doch selber, dass
Sie es so wichtig finden, dass Menschen zu Hause ge-
pflegt werden und dass der familiäre Zusammenhang
vorhanden ist.
Frau Kollegin Zimmermann, herzlichen Dank für dieFrage. – Zunächst einmal muss ich klarstellen: Ich kennekeine Krauterfirma. Ich kenne viele Unternehmen, in de-nen tüchtig gearbeitet wird. „Krauter“ ist ein abwerten-der Begriff, der in meinem Vokabular nicht vorkommt.
Es gibt auch viele kleine Unternehmen, die genausoauf die Belange der Arbeitnehmer eingehen wie große.Wissen Sie, wir haben ein anderes Verständnis vom Ver-hältnis zwischen Arbeitgeber- und Arbeitnehmerseite.Wir sind nicht so dogmatisch eingeengt wie Sie und IhrePartei. Wir sagen: Jawohl, der Arbeitnehmer hat die
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Möglichkeit, zu sagen: Lieber Chef, ich brauche jetzt et-was Zeit, um in den nächsten sechs bis acht Monatenmeine Angehörigen zu pflegen. Wie schaut es aus? Kannich meine Zeit reduzieren? – Wenn der Arbeitgeber sagt:„Das geht aber absolut nicht“, dann hat der Arbeitneh-mer doch aufgrund des Fachkräftemangels, der mittler-weile in vielen Branchen herrscht – auch in denen, dievon Ihnen schmählich als Krauterfirmen bezeichnet wur-den –, die Möglichkeit, zu sagen: Gut, lieber Chef, wenndu mir das nicht gewährst, dann muss ich leider in einUnternehmen gehen, wo ich diesen Anspruch habe. –Das heißt also, es wird in vielen Bereichen funktionie-ren. Schauen Sie sich die Realität an. Wie gesagt, ichhalte von dogmatischen, klassenkämpferischen Parolenin diesem Bereich sehr wenig. – Frau Zimmermann,bleiben Sie stehen. Ich bin noch nicht fertig.
Moment. Noch bin ich die Chefin hier. Ich weiß, dass
Ihnen das nicht leichtfällt.
Frau Zimmermanns Frage war noch nicht beantwor-
tet. Deswegen kann Sie gerne stehen bleiben. – Herr
Lehrieder, bitte.
Herzlichen Dank, Frau Präsidentin. Danke für das
Entgegenkommen.
So bin ich.
Selbstverständlich wird das Gespräch in diesen Un-
ternehmen zu sinnvollen Lösungen führen, die es in vie-
len Bereichen schon gibt. Im Übrigen darf ich darauf
hinweisen, dass ich in meiner letzten Rede vor einer Wo-
che gesagt habe, dass in vielen Tarifverträgen durch die
Gewerkschaften für die Arbeitnehmer auch in Bezug auf
die Kinderbetreuung schon sinnvolle Regelungen ver-
einbart wurden. Viele arbeiten daran mit, und wir wer-
den erleben, dass die Unternehmen, vor allem die klei-
nen Betriebe, in Zeiten des Fachkräftemangels darauf
achten werden, mit ihren Arbeitnehmern einen Modus
Vivendi hinzubekommen, sodass beide Seiten zufrieden
sind. Was nützt es dem Unternehmen, dem kleinen
Handwerksbetrieb, wenn der Arbeitnehmer durch Über-
lastung einen Burn-out bekommt, weil er versucht
– vielleicht ein paar Tage, vielleicht ein paar Wochen –
nebenher die Pflege eines Angehörigen zu managen. Da-
mit ist dem Unternehmer auch nicht gedient.
Der Mitarbeiter ist dann sechs Wochen krank. Und wer
zahlt das? Das zahlt allein der Arbeitgeber. Ich glaube,
dass die Handwerksbetriebe clever genug sind, das zu
erkennen; zumindest sind das die, die ich kenne. Ich
wünsche Ihnen, Frau Zimmermann, dass es auch in Ihrer
Region solche Handwerksbetriebe gibt. Die sind be-
stimmt zu finden. – Jetzt bin ich mit der Beantwortung
fertig.
Danke, Frau Zimmermann. – So, jetzt geht es weiter
in Ihrer Rede, Herr Lehrieder.
Der neue Anspruch auf Familienpflegezeit kann, wiebereits ausgeführt, mit dem bereits geltenden Anspruchauf Pflegezeit verbunden werden. Mit dieser Regelungleisten wir einen zentralen Beitrag zur Fachkräftesiche-rung. Das dient den Interessen der Arbeitgeber, weil dasErfahrungswissen der Fachkräfte im Unternehmen blei-ben kann.Frau Kollegin Zimmermann, Sie haben die fehlendeBeteiligung der Arbeitgeber an den Kosten angespro-chen. Wir haben heute den 14. November. Heute in zehnTagen, also am 24. November, werden wir zu dieserThematik – Herr Kollege Wunderlich, das haben Sie sichgewünscht – eine sehr umfangreiche Anhörung im Aus-schuss durchführen, zu der auch Arbeitgeberverbändeeingeladen sind. Es wird um die Kostenbeteiligung, aberauch um die Probleme gehen, die die Arbeitgeber haben,wenn es darum geht, Ersatzpersonal für die Mitarbeitereinzustellen, die sich eine Auszeit für die Pflege nehmenwollen. Es ist nicht für jedes Unternehmen leicht, füreine begrenzte Zeit von einem halben Jahr bis zu 24 Mo-naten schnell mal eine Teilzeitstelle zu besetzen, weilsich ein Mitarbeiter der Pflege widmen will.
Aber das muss möglich sein. In einem Unternehmen mitüber 15 Beschäftigen ist das nach unserer Auffassungorganisatorisch leichter zu bewältigen als in kleinen Un-ternehmen.Darüber hinaus erhalten Beschäftigte, die Pflegezeitoder Familienpflegezeit in Anspruch nehmen, zur besse-ren Absicherung ihres Lebensunterhalts während derFreistellung einen Anspruch auf Förderung. Sie könnenbeim Bundesamt für Familie und zivilgesellschaftlicheAufgaben, kurz BAFzA, ein zinsloses Darlehen beantra-gen. Die Frau Ministerin hat darauf hingewiesen, dassdas Darlehen während einer Erkrankung selbstverständ-lich automatisch gestundet wird. Wenn aber wieder gear-beitet wird, dann muss dieses Darlehen, das aus Steuer-mitteln finanziert worden ist, um finanzielle Freiräumefür die Zeit der Pflege zu ermöglichen, natürlich sukzes-sive zurückgezahlt werden. Die Rückzahlungsmodalitä-ten werden so gestaltet, dass kein Arbeitnehmer überlas-tet wird. Das Darlehen soll in moderaten, zumutbarenRaten zurückgezahlt werden können. Der Vorteil für dieArbeitnehmer, Frau Kollegin Zimmermann, besteht da-rin, dass durch das zinslose Darlehen für die Zeit der
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Paul Lehrieder
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Pflege wirtschaftliche Freiräume gewährt werden. Dassollte man nicht zu gering schätzen.
Dass eine Weiterentwicklung und Verzahnung des Fa-milienpflegezeitgesetzes und des Pflegezeitgesetzes nötigsind, verdeutlichen die zum Teil bereits vorgetragenenZahlen: Rund 2,6 Millionen Menschen in Deutschlandsind auf Pflege angewiesen. 1,8 Millionen Menschenwerden zu Hause versorgt, zwei Drittel von ihnen durchAngehörige, der Rest durch ambulante Dienste. – In dennächsten Jahrzehnten wird die Zahl der Pflegebedürfti-gen merklich steigen. Die Notwendigkeit einer besserenVereinbarkeit von Familie, Pflege und Beruf ist geradeangesichts der demografischen Entwicklung in unseremLande groß. Ich bin ziemlich sicher, dass uns die The-men „Pflege“ und „demografische Entwicklung“ auch inden nächsten Jahren periodisch immer wieder beschäfti-gen werden. Wir werden immer wieder nachjustierenmüssen.Sie haben es angesprochen, Frau Scharfenberg: Dasgeltende Gesetz hat bisher leider nicht so gut gegriffen.Deshalb müssen wir es verbessern. Wir müssen prüfen:Wie wirkt das Gesetz? In welchen Bereichen besteht inzwei, drei, vier oder fünf Jahren weiterer Handlungsbe-darf? Ich bin sicher: Auch da ist nicht das Ende der Fah-nenstange erreicht.
Wir müssen auf das Problem der demografischen Ent-wicklung in unserer Gesellschaft Antworten finden. Dasist natürlich primär Aufgabe der Politik. Deswegen wer-den wir das Thema hier immer wieder diskutieren.Die Bereitschaft und das Interesse in der Bevölkerungsind vorhanden. Die überwiegende Mehrheit der Berufs-tätigen möchte ihre Angehörigen, soweit möglich, selbstbetreuen. Auch von den Pflegebedürftigen wird das sogewünscht.Frau Präsidentin, ich habe gerade einmal fünf Sekun-den überzogen und das Licht leuchtet schon auf.
Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit und freuemich auf die Ausschussanhörung in zehn Tagen. – Herz-lichen Dank.
Vielen Dank, Herr Kollege. Ich habe gegoogelt – ich
weiß, das darf ich eigentlich nicht –, was unter einer
Krauterfirma zu verstehen ist. Ich weiß, dass dieser Be-
griff im Süddeutschen, auch bei uns im Schwäbischen,
genau den Beiklang hat, den Herr Lehrieder angespro-
chen hat. Jetzt lese ich aber – das will ich zitieren –:
Unter einem Krauter versteht man im Osten
Deutschlands einen kleinen selbstständigen Hand-
werker, oft allein oder nur mit wenigen Angestell-
ten arbeitend. Die Bezeichnung wird heute oft he-
rabsetzend als Synonym für „unseriös arbeitend“
verwandt. Das kenne ich
– sagt jemand aus dem Osten –
von früher in dieser Form nicht unbedingt.
Also, wir sind eine vielfältige, bunte Republik Deutsch-
land.
Die nächste Rednerin in der Debatte ist Petra Crone
für die SPD.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Liebe Gäste auf den Tribünen! Jetzt haben wir festge-stellt, dass nicht nur die Opposition, sondern auch dieKoalitionsfraktionen recht haben. Wunderbar. Es ist al-les geregelt.
Ich habe mir Ihren Änderungswunschkatalog und IhreKritik zu dem heute eingebrachten Gesetzentwurf genauangehört, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Oppo-sition. Einiges davon ist bedenkenswert – ohne Frage –,aber einiges – das muss ich schon sagen – ist reichlichüberzogen. Wenn Sie ganz genau hinschauen, dann müs-sen Sie zugeben: Dieser Entwurf eines Gesetzes zur bes-seren Vereinbarkeit von Familie, Pflege und Beruf hatseinen Namen wirklich verdient.
Das kann ich gleich auch noch belegen.
Das ist keine Luftnummer. Wir haben vor drei Jahrendas Gesetz über die Familienpflegezeit verabschiedet.Das allerdings war ein zahnloser Tiger: Es gab keinenRechtsanspruch und stattdessen jede Menge Kleinge-drucktes.
Wer die Not kennt, die Angehörige umtreibt, die demWunsch von pflegebedürftigen Angehörigen nachkom-men und sie pflegen wollen, der muss zugeben, dassMinisterin Manuela Schwesig den vorliegenden Ge-setzentwurf richtig angegangen ist, indem sie einenRechtsanspruch und Lohnersatzleistungen während ei-ner zehntägigen Auszeit verankert hat, zudem einenKündigungsschutz und die Möglichkeit, die Arbeitszeitbis zu 24 Monate lang zu verringern. Das ist ein Riesen-unterschied.
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Petra Crone
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Es ist kein Wunder, dass die Arbeitnehmerinnen und Ar-beitnehmer dieses Angebot vorher nicht angenommenhaben. Jetzt geben wir ihnen ganz andere Möglichkeiten.Deswegen finde ich die Kritik überzogen.
Endlich wird die wichtige Aufgabe, die Angehörigemit der Pflege übernehmen, erleichtert. Pflege ist eineAufgabe, die unsere allergrößte Hochachtung verdient.Mit dem heute vorliegenden Gesetzentwurf schaffen wirendlich realistischere Bedingungen. Arbeitnehmer undArbeitnehmerinnen müssen ihre finanziellen Einbußennicht länger alleine tragen. Der aufgezwungene Abschlusseiner privaten Versicherung wird zurückgenommen. Damitwird privates Engagement von Angehörigen nicht längerbestraft. Außerdem kommen wir dem Wunsch vieler An-gehöriger entgegen, die gerne zu Hause pflegen möch-ten.Auch in meinem Wahlkreis ist es so – wir haben dasThema vorhin schon angesprochen –, dass viele Unter-nehmen schon einen Schritt weiter gegangen sind undbetriebsinterne Vereinbarungen anbieten. Ich komme ausSüdwestfalen, einer ganz starken Wirtschaftsregion. Fürdie mittelständischen Unternehmen dort ist das ein ganzwichtiges Thema, weil sie ihre Fachkräfte nicht verlierenwollen.
Deswegen unterstützen sie Vorhaben für eine bessereVereinbarkeit von Pflege und Beruf.
Solche Regelungen gibt es aber auch überregional. Reweund Real zum Beispiel bieten auch betriebsinterne Ver-einbarungen an.Lebensnah und realistisch ist es auch, entferntere An-gehörige zum Empfang von Pflegegeld zu berechtigen.Immer öfter wohnen Kinder nicht mehr in der Nähe, sindPflegebedürftige alleinstehend. Wir müssen verlässlicheStrukturen fördern, damit Angehörige gepflegt werdenkönnen, auch unabhängig vom ehelichen Status. Ehrlichgesagt – da gebe ich meiner Kollegin Carola Reimannrecht –: Vielleicht müssen wir den Personenkreis nochausweiten.Ich freue mich aber auch besonders über die Möglich-keit für Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen, ihre An-gehörigen in den letzten Wochen zu begleiten, auchwenn diese in Hospizen leben. Wir haben gestern eineDebatte darüber geführt und immer wieder betont, wiewichtig es ist, Angehörige auf dem letzten Weg zu be-gleiten und sie würdevoll sterben zu lassen.Ich glaube, wir alle sind uns einig, dass die bisherigenRegelungen zur Vereinbarkeit von Pflege, Familie undBeruf nicht ausreichend waren. Mit Blick auf die Zu-kunft brauchen wir deutlich mehr Maßnahmen. Die Be-troffenen brauchen flexible Lösungen für ihre individu-ellen pflegerischen und beruflichen Herausforderungen.Liebe Kollegen und Kolleginnen, das Thema Pflegeist durch die demografische Entwicklung in unseremLand eine riesengroße Herausforderung. Die Familien-pflegezeit ist da ein Baustein eines ganzen Pakets. Wirbrauchen und schaffen weitere Bausteine. Wir habenjetzt das Erste Pflegestärkungsgesetz vereinbart, mitdem die Pflegeversicherung und ihre Leistungen moder-nisiert werden. Wir werden die Pflegeausbildung refor-mieren und attraktiver machen. Durch die Zuschussva-riante bei der Förderung altersgerechten Umbaus werdendie Menschen in ihrem Wunsch unterstützt, so lange wiemöglich in den eigenen vier Wänden bleiben zu können.Letztendlich aber ist ein Familienpflegezeitgesetz nurso gut wie die Pflegestruktur in den Städten und Kom-munen. Da brauchen wir eine gute, unabhängige Bera-tung, die betroffene Bürger aufsucht, haushaltsnaheDienstleistungen sowie ambulante Betreuung und Pflege,auch Tagespflege. Wir benötigen weiter ein dichtes Netzvon Ärzten, Anbietern der Wohlfahrtspflege, privatenund kommunalen Anbietern, Ehrenamt, Palliativmedizinund Hospizen. Eine gute Sozialplanung sollte unser Zielsein.Ich danke Ihnen.
Vielen Dank, Frau Kollegin Crone. – Die nächste
Rednerin in der Debatte ist Antje Lezius für die CDU/
CSU-Fraktion.
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Dieses enthält zahlreiche Verbesserungen für Pflegebe-dürftige und ihre Angehörigen. Das zeigt, wie bedeutendrechtzeitige Weichenstellungen für die Zukunft sind.Eine zunehmende Anzahl an Pflegebedürftigen erfor-dert auch einen zunehmenden Bedarf an Pflegekräften.So rechnet das Gesundheitsministerium damit, dass ab2015 pro Jahr durch die Pflegeversicherung bis zu45 000 zusätzliche Betreuungskräfte für die stationärePflege finanziert werden können. Das ist richtig undwichtig, um die vorhandenen Pflegekräfte zu entlastenund zusätzliche Arbeitsplätze zu schaffen.Die häusliche Pflege ist aber deutlich wichtiger. Sowerden zwei Drittel aller Pflegebedürftigen von ihrenAngehörigen liebevoll zu Hause gepflegt. In einermenschlichen Gesellschaft haben wir Verständnis dafür,dass viele ältere Menschen nicht aus ihrem gewohntenWohnumfeld gerissen werden möchten. Viele Pflegebe-dürftige fühlen sich wohler, wenn sie von ihren Angehö-rigen betreut werden, anstatt Fremden anvertraut zu sein.Diese pflegenden Angehörigen sind aber heute häufigselbst berufstätig.Das Gesetz zur besseren Vereinbarkeit von Familie,Pflege und Beruf kommt sozusagen ergänzend von deranderen Seite. Es schafft Erleichterung durch bessereBedingungen für diejenigen, die pflegen. Der Kern desvorliegenden Gesetzentwurfs ist die Zusammenführungvon Pflege- und Familienpflegezeit. Uns als Union gehtes neben der Planungssicherheit für betroffene Arbeit-nehmer und deren Familien aber auch um diejenigen, dieArbeitsplätze schaffen. Uns als CDU/CSU liegen die Fa-milien am Herzen, und wir haben auch ein offenes Ohrfür die Wirtschaft.
Ich möchte hier nicht unerwähnt lassen, dass es zudiesem Gesetz in der Wirtschaft reale Bedenken gibt. Inmeinem Wahlkreis, der ländlich geprägt ist, gibt es ei-nige Unternehmen, die schon heute mit dem Fachkräfte-mangel erheblich zu kämpfen haben. Es ist dort bereitsjetzt sehr schwer, gute Leute zu bekommen. Von einemmittelständischen kunststoffverarbeitenden Betrieb mit160 Mitarbeitern werde ich zum Beispiel darauf hinge-wiesen, dass die Rekrutierung passender Ersatzkräfte imRahmen der Familienpflegezeit schwerfällt. Vor allemist das dann der Fall, wenn das Arbeitsverhältnis bei vor-zeitiger Beendigung der Familienpflegezeit ebenfalls be-endet werden könnte. Zu den Konditionen einer befriste-ten Beschäftigung oder eines Zeitarbeitsverhältnissessind beispielsweise ein Betriebstechniker oder eine Ver-fahrensspezialistin nicht zu bekommen.Durch Wirtschaftsverbände wird insbesondere derRechtsanspruch auf die Familienpflegezeit kritisch gese-hen. Dem werden die freiwilligen Vereinbarungen ge-genübergestellt, die schon heute in vielen Betrieben üb-lich sind. Laut DIHK bieten bereits 75 Prozent allerUnternehmen ab 1 000 Mitarbeitern gezielt Arbeitszeit-modelle an, die die bessere Vereinbarkeit von Pflegeund Beruf gewährleisten sollen. Seit der Einführungder Familienpflegezeit im Jahre 2012 ermöglichen über25 Prozent der Unternehmen mit über 20 Mitarbeiterndiese ihren Angestellten; 32 Prozent wollen in Zukunftnachziehen.
Weitere Beispiele für die unternehmerische Kreativi-tät, dem demografischen Wandel zu begegnen, findensich auch in regionalen Netzwerken, in Kooperationenmit anderen Unternehmen oder kommunalen und kirch-lichen Trägern. Die Unternehmen leisten dies im urei-gensten Interesse: zur Bindung vorhandener Mitarbeiterund erfolgreichen Gewinnung neuer Mitarbeiter. Dassind Sorgen der Arbeitgeber, die wir genauso ernst neh-men müssen, wenn wir verantwortungsvolle Politik fürdie Zukunft unseres Landes gestalten wollen.Positiv sind die zahlreichen Verbesserungen, die derGesetzentwurf auch für die Unternehmen bringt. DieAnkündigungsfristen für die Pflegezeit im Anschluss andie Familienpflegezeit und umgekehrt von zwölf Wo-chen halte ich für richtig und zielführend. Wir gebenArbeitgebern damit die Möglichkeit, sich mit ihrer Per-sonalplanung auf die veränderten Bedingungen einzu-stellen. Als ehemalige Unternehmerin habe ich auch hierfür die Einwände der Unternehmer Verständnis, weil ichselbst erlebt habe, wie komplex Personalplanung, unteranderem auch im Schichtbetrieb, sein kann. Gerade klei-nere Unternehmen, die mit einem übersichtlichen Perso-nalstamm auskommen müssen, können oft niemandenentbehren. Wir begrüßen, dass es nun auch für kurzfris-tige Auszeiten zur Organisation von Pflege klare Regelngeben wird. Wer pflegt, braucht einen sicheren Lebens-unterhalt.
Das bisherige Wertguthaben, das durch den Arbeitge-ber verwaltet wurde, wird durch ein direktes zinslosesDarlehen beim Bundesamt für Familie und zivilgesell-schaftliche Aufgaben ersetzt. Das ist uns wichtig; dennauch dies entlastet besonders kleine Unternehmen vonunnötiger Bürokratie.Unternehmen wie Mitarbeiter wünschen sich für dieVereinbarkeit von Pflege und Beruf flexible Lösungen,die beiden Seiten gerecht werden. Zwei Drittel aller Be-triebe hätten sich darüber hinaus über die bereits beste-hende Familienpflegezeit bessere Informationen ge-wünscht. Deswegen wünsche ich mir, dass wir mit
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Antje Lezius
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diesem Gesetz sorgsam umgehen und sowohl Arbeitge-ber als auch Arbeitnehmer besser und praxisnah darüberinformieren.Um sicherzustellen, dass die getroffenen Regelungenzielgerichtet umgesetzt werden, setzen wir weiterhin ei-nen unabhängigen Beirat für die Vereinbarkeit von Berufund Pflege ein, was ich sehr begrüße. Durch die vorge-nommene Evaluation können die Bedürfnisse angepasstwerden. Auch können wir über diesen Weg erfahren, wiediese Instrumente angenommen und genutzt werden.Ein wesentlicher Aspekt des Themas „Pflege und fa-miliäre Fürsorge“ ist die Konzentration auf die Frauen,die traditionell im Wesentlichen damit befasst sind. Unsals Union ist bewusst, dass Frauen ihre berufliche Tätig-keit und Weiterentwicklung aus familiären Gründen oftunfreiwillig hintanstellen. Hier wollen wir Hilfestellungleisten. Gemäß der Zahlen der Initiative Neue SozialeMarktwirtschaft legen über 40 Prozent der Frauen zwi-schen 20 und 39 Jahren ihre Berufstätigkeit auf Eis, umKinder zu betreuen oder Angehörige zu pflegen. Dabeiliegt der Anteil der Frauen, die in Deutschland familien-bedingt auf Teilzeit ausweichen, mit 55 Prozent deutlichüber dem EU-Schnitt von 46 Prozent.Ich habe in zahlreichen Gesprächen, die ich zu diesemThema geführt habe, die Sorge gehört, dass die Fami-lienpflegezeit schon aus diesem Grund für Frauen pro-blematisch sein könnte. Ich wünsche mir auch hier Aus-gewogenheit. Was wir neben gesetzlichen Regelungenaber genauso brauchen, ist ein gesellschaftlicher Be-wusstseinswandel. Neben generationengerechten Lösun-gen brauchen wir hier einen gesellschaftlichen Werte-wandel hin zu mehr Miteinander statt Nebeneinander.Daher lautet mein Appell – das ist gleichzeitig meinegroße Hoffnung –, dass Männer und Frauen genauso wiePolitik und Wirtschaft mit diesem Gesetzentwurf ingleichwertiger Verantwortung die richtigen Weichen fürdie Zukunft stellen.Herzlichen Dank.
Vielen Dank, Frau Kollegin. – Letzter Redner in die-
ser Debatte: Erwin Rüddel für die CDU/CSU-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damenund Herren! Die Pflege ist in dieser Legislaturperiodeein zentrales Thema. Die Koalitionsfraktionen habenden Pflegebedürftigen, ihren Angehörigen und den Pfle-gekräften einen großen Wurf versprochen. Wir werdenWort halten.
Wir setzen diesen großen Wurf Schritt für Schritt um.Die Familienpflegezeit ist ein wichtiger Baustein einesgroßen Gesamtkonzeptes. Ich sage ganz bewusst auch inRichtung der Grünenfraktion: Pflege und die Hilfe, diegebraucht wird, sind nicht schwarz-weiß zu sehen. Waswir machen, ist Folgendes: Wir vergrößern einen Bau-kasten und gestalten ihn für all diejenigen, die in einemPflegefall Hilfe brauchen, flexibler.
Ich erwähne in diesem Zusammenhang, dass wir be-reits das Pflegestärkungsgesetz 1 verabschiedet haben,das deutlich mehr und flexiblere Leistungen für Pflege-bedürftige und deren Familien mit sich bringt. Ich nenneals Beispiel – das möchte ich ganz besonders betonen –,dass wir dafür gesorgt haben, dass Pflegesachleistungenin niederschwellige Leistungen umgewandelt werdenkönnen, damit die Familien flexibler handeln können.Ich nenne aber auch das Pflegestärkungsgesetz 2, das2017 verabschiedet werden soll und mit dem wir deutli-che Verbesserungen für Demenzkranke auf den Wegbringen werden. Da heute in der Debatte der Pflegebe-dürftigkeitsbegriff angesprochen worden ist: Wir erpro-ben bereits die Umsetzung des Pflegebedürftigkeitsbe-griffes, und wir werden ihn spätestens 2017 im Gesetzfestschreiben.
Ich erwähne auch das Versorgungsstärkungsgesetz,über das wir derzeit diskutieren, in dem es um konkreteVerbesserungen der medizinischen Versorgung von Pfle-gebedürftigen geht. Ich erwähne in diesem Zusammen-hang das Pflegeberufegesetz, das in nächster Zeit disku-tiert wird und in dem es um die Verbesserung derPflegeausbildung und der Arbeitsbedingungen in derPflege geht.Aber ich denke im Rahmen unserer Krankenhauspoli-tik auch an unsere Krankenhausgesetzgebung. Qualitätim Krankenhaus wird in Zukunft daran gemessen wer-den müssen, ob die Strukturen stimmen, ob es ein gutesEntlassmanagement gibt, wie die Übergänge vom Kran-kenhaus in die Pflege sind, wie Palliativversorgung undHospizarbeit ausgestaltet sind.Bei all dem, was wir in der Pflegepolitik machen,steht für uns im Mittelpunkt: mehr Qualität, mehr Be-treuung und mehr Hände für gute Pflege in Deutschland.Ich habe es mehrfach gesagt: Es wird in dieser Legisla-turperiode kein Gesundheitsgesetz geben, in dem derAspekt der Pflege keine Rolle spielen wird. Ich kann indieser Aufzählung auch das Präventionsgesetz erwäh-nen, in dem die Pflege wieder eine große Rolle spielenwird.
Wir haben den Pflegebedürftigen und ihren Familien so-wie all denen, die in der Pflege arbeiten, in unseremKoalitionsvertrag ein Versprechen gegeben. Dieses Ver-sprechen werden wir stringent einlösen.In dieses Gesamtkonzept fügt sich der Entwurf einesGesetzes zur besseren Vereinbarkeit von Familie, Pflegeund Beruf sehr gut ein. Für meine Fraktion ist die Unter-
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Erwin Rüddel
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stützung pflegender Angehöriger ein zentrales Anliegen.Ältere Menschen haben Anspruch auf ein möglichstselbstständiges und selbstbestimmtes Leben, und zwarungeachtet der Tatsache, dass Alter auch Leid undKrankheit, Hilfe und Pflegebedürftigkeit bedeuten kann.Schicksalsschläge wie Demenz treffen nicht nur dieKranken, sondern ebenso auch die unmittelbaren Ange-hörigen, die sehr oft zugleich berufstätig sind.Beschäftigte haben künftig einen Rechtsanspruch aufPflegeunterstützungsgeld aus der sozialen Pflegeversi-cherung. Wir haben bereits in der letzten Legislatur-periode die Familienpflegezeit eingeführt und sie mitdem vorliegenden Gesetzentwurf weiterentwickelt.Die meisten Menschen wollen die Pflege naher Ange-höriger nicht delegieren. Sie möchten ihre Angehörigennach Möglichkeit selbst betreuen und in ihrer gewohntenUmgebung belassen. Umgekehrt gilt dies auch für diemeisten pflegebedürftigen Menschen: Sie bauen auf dieUnterstützung ihrer Angehörigen in den vertrauten vierWänden. Diesem Anliegen trägt der vorliegende Gesetz-entwurf, auch in Verbindung mit all den Gesetzesinitia-tiven, die ich eben vorgetragen habe, mit einer Vielzahlvon hilfreichen Angeboten Rechnung. Dabei gewinnenalle: die Pflegebedürftigen, die pflegenden Beschäftigtenund die Unternehmer.Als Pflegepolitiker wünsche ich mir, dass wir dieseAngebote künftig durch noch mehr niederschwellige undfamiliennahe Maßnahmen ergänzen und unterstützen.Dabei denke ich an aufsuchende Angebote für ältereMenschen, an Vernetzung und Kooperation in der Alten-hilfe und Gesundheitsförderung sowie an die Stärkungprofessioneller und ehrenamtlicher Strukturen in denKommunen.Ein letztes Wort zu den Unternehmen; denn ich weiß,dass es aus der Wirtschaft vereinzelt Kritik gibt. Klugeund weitblickende Unternehmer haben längst erkannt,dass ihnen die demografische Entwicklung, die langfris-tige Finanzierung unserer Sozialsysteme und der Bedarfan qualifizierten Erwerbstätigen künftig gar keine andereWahl lässt, als die Vereinbarkeit von Pflege und Beruf zuverbessern. Deshalb sage ich den Kritikern, dass wirdurchaus im wohlverstandenen Interesse der Unterneh-men handeln, und knüpfe daran die Hoffnung, dass unserVorhaben weiterführende und innovative Lösungen inden Betrieben selbst befördert.
Vielen Dank, Herr Kollege – Ich schließe die Aus-sprache.Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-wurfs auf Drucksachen 18/3124 und 18/3157 an die inder Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschla-gen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? – Diese gibtes nicht. Dann ist die Überweisung so beschlossen.Jetzt gibt es wahrscheinlich einen Platzwechsel. Ichbitte Sie, das zügig zu tun.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 23 auf:Erste Beratung des von den AbgeordnetenDr. Konstantin von Notz, Luise Amtsberg,Volker Beck , weiteren Abgeordneten undder Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN so-wie den Abgeordneten Halina Wawzyniak,Herbert Behrens, Dr. Petra Sitte, weiteren Abge-ordneten und der Fraktion DIE LINKE einge-brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ände-rung des Telemediengesetzes – StörerhaftungDrucksache 18/3047Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Wirtschaft und Energie
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
InnenausschussAusschuss für Verkehr und digitale InfrastrukturAusschuss für Kultur und MedienAusschuss Digitale AgendaFederführung strittigIn einer interfraktionellen Vereinbarung wurde festge-halten, dass dafür 38 Minuten vorgesehen sind. – Ichhöre und sehe keinen Widerspruch. Dann ist das so be-schlossen.Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hatDr. Konstantin von Notz für Bündnis 90/Die Grünen.
– Der Fanklub ist auch schon da.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Vo-raussetzung für die Teilhabe in und an der digitalen Ge-sellschaft ist ein möglichst barrierefreier Zugang zumNetz.
Dem steht aber eine 2010 durch ein BGH-Urteil entstan-dene Rechtsunsicherheit für die Betreiber von WLAN-Netzen entgegen.Für meine Fraktion sage ich ganz deutlich: Wir müs-sen die verloren gegangene Rechtssicherheit endlichwieder herstellen. Deswegen ist eine gesetzliche Rege-lung überfällig.
Vollmundig haben Sie in den letzten Wochen von Ih-rer unterfinanzierten und ideenlosen Digitalen Agendageredet, liebe Kolleginnen und Kollegen der GroßenKoalition.
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Dr. Konstantin von Notz
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– Ah, Sie leben noch, das ist gut. – Aber gute Politik ent-scheidet sich nicht an wohlfeilen Reden auf irgendwel-chen IT-Gipfeln, sondern daran, was man konkret tut. IhrUmgang mit dem Problem der Störerhaftung steht dabeisinnbildlich für Ihr anhaltendes Fremdeln mit dem Digi-talen.
Er steht für eine Verweigerungshaltung, den digitalenWandel unserer Gesellschaft aktiv zu gestalten – imSinne der Bürgerinnen und Bürger, aber auch für dieWirtschaft in unserem Land, für Start-ups, kleine undmittelständische Unternehmen und die Industrie.Hier könnte die Regierung Merkel/Gabriel fernab al-ler Hochglanzagenden und Sonntagsreden tatsächlicheinmal etwas Richtiges tun und gesetzgeberisch gestal-ten. Aber sie tut es nicht, und wir müssen hier zum x-tenMal über dieses Thema diskutieren.Unser Gesetzentwurf schafft eine Regelung sowohlim Sinne derjenigen, die ihre WLAN-Netze anderenMenschen gegenüber öffnen wollen – darunter Privat-personen, Freifunkinitiativen, aber auch Betreiber vonHotels, Gaststätten, Bahnhöfen, Flughäfen usw. –, alsauch im Sinne derjenigen, die diese Netze nutzen wol-len, weil sie sich beispielsweise keinen eigenen Zugangleisten können oder – Achtung, ganz lebenspraktisch –wenn sie unterwegs arbeiten wollen.
Die Liste derjenigen, die sich für eine gesetzgeberi-sche Reform einsetzen, ist lang. Klar ausgesprochen ha-ben sich zahlreiche Landesparlamente, der Bundesrat,die Justizministerkonferenz, die Freifunkinitiativen undzahlreiche Wirtschaftsverbände. Und nicht zuletzt habenwir uns selbst erst in der Enquete-Kommission und dannim Deutschen Bundestag ganz klar dafür ausgesprochen,meine Damen und Herren.
Alle fordern eine Reform. Niemand ist mit dem Statusquo zufrieden. Sie versprechen sogar diese Reform. SeitJahren aber geschieht nichts. Bis heute ist nichts passiert.Sie haben in den letzten Wochen großspurig erklärt,Sie wollen Deutschland zum „digitalen WachstumslandNummer 1“ machen, und schaffen es nicht einmal, dieStörerhaftung zu beseitigen.
Wer soll denn Ihre digitale Wirtschaftspolitik mit all denlustigen Schlagworten wie Industrie 4.0 ernst nehmen?Wer soll Ihnen abnehmen, dass Sie die seit Jahren unbe-arbeiteten netzpolitischen Großbaustellen im Breit-bandausbau, Datenschutz, Urheberrecht und bei derNetzneutralität meistern werden, wenn Sie selbst beimkleinen Einmaleins scheitern, meine Damen und Her-ren?
Ihr Unterlassen geschieht vorsätzlich. In Ihrem Koali-tionsvertrag schreiben Sie selbst, liebe Kolleginnen undKollegen von der SPD, dass Sie die Rechtssicherheit fürBetreiber von WLAN-Netzen herstellen wollen. Dasheißt, Sie attestieren dem Status quo Rechtsunsicherheit.Doch was machen Sie? Ihre drei federführenden Minis-ter verheddern sich erneut in einem Kompetenzgerangel,das seinesgleichen sucht. Plötzlich wollen Sie Provider-privilegierung nur noch auf kommerzielle, nicht aber aufprivate Anbieter ausweiten.
Sonst könnte möglicherweise jeder sein Netz öffnen.Aber genau darum geht es. Herzlichen Glückwunsch!
– Herr Jarzombek, schön, dass Sie da sind.Warum halten Sie das Funknetz einer Privatperson ei-gentlich für eine solche Gefahr, Herr Jarzombek,
das Netz bei McDonalds, in einem Hotel oder einemCafé aber nicht? Das ist doch offensichtlich wider-sprüchlich.
Warum haben Sie Angst vor einer Regelung, die überallsonst auf der Welt zu keinerlei Problemen führt? Warumschwadronieren die zuständigen Minister in völliger Un-kenntnis des § 13 des Telemediengesetzes in der Bun-despressekonferenz erneut von Einfallstoren für ano-nyme Kriminelle, die man schaffe? Das erinnert michsehr, Kollege Jarzombek, an das Vermummungsverbotim Internet.
Ich sage Ihnen, warum das so ist. Hier kommen die altenRessentiments durch, die wir lange überwunden ge-glaubt haben. Auf die netzpolitischen Podien werdengerne Sie geschickt, Herr Jarzombek.
Die Netzpolitik aber macht Volker Kauder. Das ist netz-politische Steinzeit.
Die SPD freut sich jetzt. Aber auch Sie muss ich fra-gen: Wo stehen Sie eigentlich auf dem Feld?
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 67. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. November 2014 6373
Dr. Konstantin von Notz
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Auf der letzten Bundespressekonferenz haben Sie nocheinen schnieken Antrag vorgelegt. Heute hört man vonIhnen in der Debatte nichts mehr, außer subversivenKram von Herrn Gabriel. Das reicht nicht.
Wir fordern Sie gemeinsam mit den Kolleginnen undKollegen der Linken sowie einer höchst engagiertenSzene rund um die digitale Gesellschaft, aus deren Mitteimmer wieder Impulse für diese Debatte kamen undkommen, auf: Ermöglichen Sie bei uns endlich, wasüberall sonst auf der Welt bis auf China, Russland undNordkorea eine Selbstverständlichkeit ist!
Geben Sie sich einen Ruck, und beheben Sie mit uns ge-meinsam diesen unerträglichen Zustand!Ganz herzlichen Dank.
Vielen Dank, Herr Kollege von Notz. – Es ist schön,
dass das eine so spannende und lebendige Debatte ist.
Nächster Redner ist Hansjörg Durz, Augsburg-Land,
für die CDU/CSU-Fraktion.
Ich bin aus Augsburg-Stadt. Deswegen darf ich Augs-
burg-Land ganz herzlich begrüßen.
Frau Präsidentin, Sie haben Augsburg perfekt ausge-sprochen.Sehr geehrte Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnenund Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren!Heute in einem Monat wird die Deutsche Bahn ihrenFahrgästen in allen 255 ICEs kostenlosen Internetzugangüber WLAN anbieten.
Das ist zunächst zwar nur beschränkt auf die 1. Klasse.Aber geplant ist, das Angebot zu erweitern. Dahintersteht der Wunsch der Kunden, der in Fernbussen bereitserfüllt ist, auf ihren Reisen mobile Endgeräte kostenlosnutzen zu können. Die Menschen wollen nahezu immerund überall Zugang zum Netz haben.Die Verbreitung WLAN-fähiger Endgeräte entwickeltsich sowohl in Deutschland als auch global in eineratemberaubenden Rasanz. Ende 2013 übertraf mit rund7,5 Milliarden die Zahl der Geräte erstmals die Zahl derauf der Erde lebenden Menschen. Experten gehen davonaus, dass sich dieser Trend fortsetzt. Ende 2017 soll dieMarke von 20 Milliarden Geräten weltweit überschrittensein. In Deutschland ist die Verbreitungsrate WLAN-fä-higer Endgeräte bereits heute weit überdurchschnittlich.Gerade der Trend hin zu Smartphones, Tablets oderWLAN-fähigen Fernsehern hat dazu geführt, dass dieAdaptionsrate mit rund drei Geräten pro Kopf deutlichüber dem derzeitigen weltweiten Durchschnitt liegt.Auch in Deutschland wird sich der Trend weiter fortset-zen. 2018 rechnen Experten mit einer Gerätezahl inDeutschland von 400 Millionen.Es existieren neben den eingangs erwähnten Bahn-und Busreisen eine Vielzahl von Situationen, in denensich Menschen Zugang zum Netz über öffentlich zu-gängliche Hotspots wünschen, zum Beispiel in Einkaufs-zentren, auf Messen, in Museen, Bibliotheken oder imBereich der Gastronomie. Die wirtschaftlichen Potenzialeund Vorteile, die sich aus einer flächendeckendenVersorgung mit WLAN-Zugängen ergeben, sind vielfäl-tig.
Der flächendeckende Einsatz von WLAN-Technologiewird ganz generell einen Beitrag zur digitalen Grundver-sorgung
sowie zur Versorgung mit breitbandigen Internetzugän-gen insbesondere in ländlichen Räumen leisten. Daraufaufbauend können durch die bessere Verfügbarkeit vonWLAN innovative Dienste und Services besser und in-tensiver genutzt werden und sich dadurch neue Produkteund Anwendungen schneller entwickeln und auf demMarkt etablieren.Auch der Einzelhandel kann durch die Bereitstellungvon WLAN für seine Kunden profitieren. Indem der sta-tionäre mit dem elektronischen Handel verknüpft wird,etwa durch die Nutzung mobiler Bezahlsysteme
oder die Bereitstellung zusätzlicher Produktinformatio-nen durch QR-Reader, bieten sich hier neue Chancen. Sobetont auch der Handelsverband Deutschland die Bedeu-tung von öffentlich zugänglichem WLAN – ich zitiere –:„WLAN-Angebote könnten … dazu beitragen, dass In-nenstädte wieder lebendiger und attraktiver werden.“
Im Tourismus ist die Bedeutung von WLAN riesig.Nach einer Umfrage unter Hotelgästen wird die Verfüg-barkeit von Internet mit weitem Abstand als die wich-tigste zusätzliche Annehmlichkeit während eines Auf-enthalts benannt, noch vor Fernseher und Badewanne.Übrigens: Drei Sterne und mehr erhält nur das Hotel, dasseinen Gästen einen Internetzugang im Hotel zur Verfü-
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Hansjörg Durz
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gung stellt. Der praktische Nutzen sowie die wirtschaft-lichen Vorteile sind unbestritten. Da sind wir uns einig.Dennoch: In Deutschland existieren vor allem im Ver-gleich zu vielen anderen führenden Industrienationenzwar sehr viele WLAN-Zugänge, aber deutlich zu we-nige offene WLAN-Hotspots, auf die jeder kostenfreizugreifen kann. Woran liegt das? Das wurde bereits aus-geführt. Fakt ist: Nach derzeitiger Rechtsprechung desBGH riskiert in Deutschland derjenige, der ein offenesWLAN betreibt, die Gefahr teurer Abmahnungen beiRechtsverletzungen Dritter. Diese Rechtsunsicherheitfür WLAN-Betreiber ist der wesentliche Hemmschuhfür die Bereitstellung solcher Hotspots.Das Problem haben die Koalitionsfraktionen erkannt,und sie greifen es im Koalitionsvertrag auf. Es findetsich in der Digitalen Agenda wieder. BundesministerGabriel hat angekündigt, in Kürze einen Gesetzentwurfvorzulegen.
Nun haben die Oppositionsfraktionen einen eigenenGesetzentwurf vorgelegt, der das Problem lösen soll, in-dem das sogenannte Providerprivileg durch eine Ergän-zung des Telemediengesetzes auf kommerzielle und pri-vate WLAN-Betreiber erweitert wird. Dadurch würdenBetreiber öffentlicher WLANs haftungsrechtlich ge-werblichen Internetanbietern, die bereits heute von derHaftung freigestellt sind, gleichgestellt. Um es vorweg-zunehmen: Der vorgelegte Ansatz ist zu simpel; denn fürRechtsverletzungen Dritter werden keine Lösungen vor-geschlagen. Das Thema wird im Antrag nicht einmal er-wähnt.
Wir sind uns alle der Potenziale von WLAN bewusst,und es herrscht Einigkeit hier im Deutschen Bundestagüber das Ziel, die Verbreitung von WLAN-Zugängen zuerhöhen. Die Bundesregierung hat im Rahmen der Digi-talen Agenda angekündigt: Wir werden Rechtssicherheitfür die Anbieter solcher WLANs im öffentlichen Be-reich, beispielsweise Flughäfen, Hotels, Cafés, schaffen.Diese sollen grundsätzlich nicht für Rechtsverletzungenihrer Kunden haften. – Sie hat aber auch erklärt: Wirwerden die Verbreitung und Verfügbarkeit von mobilemInternet über WLAN verbessern. Dabei werden wir da-rauf achten, dass die IT-Sicherheit gewahrt bleibt undkeine neuen Einfallstore für anonyme Kriminalität ent-stehen. – In diesem Spannungsfeld bewegen wir uns.
Ich bin sicher, dass die Bundesregierung mit Hoch-druck an einer Regelung arbeitet, die es erlaubt, die Vor-teile einer flächendeckenden Verfügbarkeit von WLANim öffentlichen Raum zu nutzen, gleichzeitig aber einenpraktikablen Weg findet, dass sich die Nutzung nichtkomplett anonym abspielt.Für Flughäfen, Hotels, Cafés, Gewerbetreibende usw.wird es sicher Lösungen geben. Eine einfache Auswei-tung der Providerprivilegierung auf jeden, auch privatenInhaber eines WLAN-Zugangs ohne jegliche Form vonRegistrierung, wie auch immer die aussehen mag, kannaber nicht die Lösung sein.
Herr Kollege.
Bei allen Vorteilen offener Internetzugänge: Wir müs-
sen uns mit dem Gedanken auseinandersetzen, dass ein
höheres Maß an Anonymität beim Internetzugang auch
negative Folgen entfalten kann.
Herr Kollege.
Der Vorschlag der Opposition zu Ende gedacht – so-
fort –, bedeutet, –
Das will ich nicht unterbrechen. Bedeutet was?
– dass sich im Zweifel jeder WLAN-Besitzer, auch
der kriminelle, auf das Providerprivileg zurückziehen
und nicht mehr haftbar gemacht werden kann.
So, jetzt fragt Ihr von allen Podien bekannter Kollege,
ob er Ihnen eine Frage stellen oder eine Bemerkung ma-
chen darf.
Bitte.
Ich habe einen großen Wissensbedarf, Herr Kollege
Durz. Ihr Vorredner, der Kollege von Notz, hat umfang-
reiche konkrete Kritik an einem Gesetzentwurf geübt.
Dabei ging es um die Unterteilung zwischen kommer-
ziellen und nichtkommerziellen Anbietern. Jetzt möchte
ich einmal fragen, Herr Kollege Durz, ob ein entspre-
chender Gesetzentwurf vorliegt, sich in der Abstimmung
befindet oder Ihnen bekannt ist?
Mir ist nicht bekannt, dass ein Gesetzentwurf wie der,der in der Rede erwähnt wurde, vorliegt.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 67. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. November 2014 6375
Hansjörg Durz
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Vielen Dank. – Jetzt geht es weiter in Ihrer Rede, Herr
Durz.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, um einer-
seits die Potenziale zu heben
und andererseits den beschriebenen Problemen zu be-
gegnen, bedarf es einer intelligenten, aber auch pragma-
tischen Lösung.
Der entsprechende Gesetzentwurf der Bundesregierung
soll in Kürze folgen. Diesen sollten wir abwarten. Dann
haben wir wieder die Gelegenheit, uns über einen Vor-
schlag zu unterhalten, der dann aber alle Aspekte be-
rücksichtigt.
Vielen Dank.
Vielen Dank, Herr Kollege. – Nächste Rednerin in der
Debatte ist Halina Wawzyniak für die Linke.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Kolleginnenund Kollegen! Herr Durz, ich habe bis zur Hälfte IhrerRede gedacht, dass Sie sich bei den Grünen und der Lin-ken dafür bedanken, dass wir Ihre Arbeit gemacht undeinen Gesetzentwurf vorgelegt haben. Leider Gottesmusste ich zum Ende Ihrer Rede feststellen, dass Sie andie Störerhaftung offensichtlich überhaupt nicht heran-wollen.Stellen Sie sich einfach einmal vor, Sie fahren mit Ih-rem Auto eine Straße entlang. Dann passiert es: Ein kur-zer Moment der Unachtsamkeit, zu spät gebremst, undSie fahren mit Ihrem Auto auf das Auto Ihres Vorder-manns oder Ihrer Vorderfrau auf. Normalerweise ist daseine sehr teure Angelegenheit. Aber zum Glück brau-chen Sie sich keine Sorgen zu machen; denn Sie warenja auf einer Straße unterwegs, und deswegen werdennicht Sie für den Unfall belangt, sondern ein Dritter.Schließlich hatte der Dritte Ihnen die Straße zur Verfü-gung gestellt, und hätte er dies nicht getan, hätten Sie da-rauf nicht fahren können und hätten auch keinen Unfallbauen können. Ergo muss der Dritte für den entstande-nen Schaden geradestehen und nicht Sie.Jetzt sind Sie vielleicht verwirrt und sagen: Das istQuatsch. – Zu Recht; es ist Quatsch. Aber das ist der jet-zige Zustand bei der Störerhaftung, beim Zugänglichma-chen von WLANs für Dritte. Dieser Zustand ist natürlichnicht zu akzeptieren.
Um es noch einmal jenseits des Autobeispiels deut-lich zu machen: Wer heute für Dritte seinen WLAN-An-schluss öffnet und damit anderen den Zugang zum Inter-net ermöglicht, wird für Urheberrechtsverletzungenverantwortlich gemacht und muss gegebenenfalls denSchaden ersetzen. Dazu gibt es jede Menge Urteile desBundesgerichtshofes, und der sagt: Das Haftungsprivi-leg gilt nicht.Dieser Zustand ist verheerend. Erst letzte Woche hatder Internetverband eco aufgeschlüsselt, wie die Situa-tion in Deutschland aussieht: Nur 15 000 von 1 MillionHotspots sind frei zugänglich. In Deutschland kommenauf 10 000 Einwohner deutlich weniger Hotspots als inanderen Ländern. Als Konsequenz fordert eco – waswohl? – die Abschaffung der Störerhaftung, und zwar zuRecht.
Die Vorteile offener WLANs liegen auf der Hand:Gewerbetreibende hätten die Möglichkeit, ihren Kundeneinen weiteren Service anzubieten, Kommunen könntenoffene WLANs aufbauen, und jeder könnte sein WLANfür seinen Nachbarn öffnen – ohne Angst. Vor allem aussozialen Gesichtspunkten ist dies etwas, was ausge-sprochen sinnvoll ist; denn Menschen mit geringem Ein-kommen könnten so die Möglichkeiten des Internetskostenlos nutzen. Das wirkt sich insbesondere auf dieBildungschancen von Kindern aus; denn Kinder ohne In-ternetzugang sind von Onlineangeboten, die kostenfreiverfügbar sind, abgeschnitten. Offene WLANs könntenalso einen Beitrag dazu leisten, die digitale Spaltung derGesellschaft zu verringern.
Nachdem wir den Koalitionsvertrag gelesen hatten,dachten wir zunächst, auch die Koalition habe begriffen,dass die Abschaffung der Störerhaftung sinnvoll ist.
– Ja, Konstantin von Notz sagt es: „Zu früh gefreut“;denn irgendwann kam die Digitale Agenda. Über die hater im Übrigen gesprochen und nicht über den Gesetzent-wurf. Mit der Digitalen Agenda geht es wieder einenSchritt zurück. Denn nach ihr soll die Störerhaftung nurabgeschafft werden für gewerbliche Betreiber und Ge-schäfte, nicht aber für Private. Das ist einfach unver-ständlich und nicht nachvollziehbar.
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Halina Wawzyniak
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Wir haben Ihre Arbeit gemacht. Wir und die Grünenhaben gemeinsam einen Gesetzentwurf vorgelegt, des-sen Verabschiedung das Problem beheben würde. Wirhaben uns dabei auf Expertise der Digitalen Gesellschaftbezogen. Wir können es ganz einfach machen: Wir über-weisen den Gesetzentwurf, beraten ihn in den Ausschüs-sen, und noch am Ende dieses Jahres wäre es möglich,die Störerhaftung abzuschaffen.
Der vorliegende Gesetzentwurf kommt Ihnen viel-leicht bekannt vor: Er lag in der letzten Legislaturpe-riode schon einmal vor. Da hat er leider keine Mehrheitgefunden.
Aber wenn Sie Ihren Koalitionsvertrag ernst nehmen,dann könnte er diesmal eine Mehrheit finden. Wir kön-nen Sie einfach nur dazu auffordern, das gemeinsam mitden Grünen und uns hier mit großer Mehrheit zu be-schließen.
Wir schlagen als Lösung des Problems vor, die in § 8des Telemediengesetzes geregelte Haftungsfreistellungauf gewerbliche und nichtgewerbliche Betreiber vonWLANs auszuweiten. Zum einen wollen wir klarstellen,dass auch Betreiber von WLANs als Diensteanbieter imSinne des § 8 Telemediengesetz gelten; damit würdendie dort aufgeführten Regelungen ebenfalls für diesezutreffen. Dabei soll es egal sein, ob sie den Zugang ab-sichtlich oder, aufgrund unzureichender Sicherungsmaß-nahmen, fahrlässig anbieten. Es geht uns mit dem Ge-setzentwurf darum, die Störerhaftung in diesem Bereichzu beseitigen und die Haftungsfreistellung auch auf An-sprüche auf Unterlassung auszuweiten.Noch einmal: Es ist sehr einfach, der Gesetzentwurfliegt auf dem Tisch. Lassen Sie uns ihn heute überwei-sen! Lassen Sie uns ihn Anfang Dezember in den Aus-schüssen beraten, und dann lassen Sie uns an dieserStelle den Koalitionsvertrag ernst nehmen und alle ge-meinsam die Störerhaftung abschaffen.Danke schön.
Vielen Dank, Frau Kollegin. – Nächster Redner in der
Debatte: Marcus Held für die SPD.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen undHerren! Die digitale Welt ist schon heute grenzenlos, siemacht nicht Halt an Schlagbäumen und unterscheidetkeine Kontinente. Wir Bürgerinnen und Bürger sehenden Zugang zum Internet heute als Normalität an. Den-noch ist der Zugang vielen Menschen verwehrt, oder siekönnen nur sehr eingeschränkt auf das Internet zugrei-fen.Deshalb müssen wir dringend sicherstellen, dass auchin Deutschland ein flächendeckender Zugang zum Inter-net möglich ist, schrankenlos, räumlich wie auch zeit-lich. Diese Aufgabe müssen wir sehr ernst nehmen; dennnur so garantieren wir gesellschaftliche Teilhabe an derWissensvermehrung und somit auch an Bildung. Wirkönnen es uns nicht leisten, dieses enorme Potenzial fürunser Land nicht zu heben. Ich spreche ganz konkret dieVersorgungsproblematik im ländlichen Raum an; denndas Internet kann in Deutschland leider noch immernicht flächendeckend in einer angemessenen Geschwin-digkeit genutzt werden.Um zügig Verbesserungen zu erreichen, brauchen wireinfache, niederschwellige Lösungen, die auch Kleinan-bieter wie Cafés, Campingplätze, Schulen oder auchMuseen erfüllen können. Wir dürfen keine zusätzlichenbürokratischen Schranken aufbauen. Dies gilt auch undgerade für den Mittelstand, für Angebote von Bil-dungseinrichtungen und Möglichkeiten in touristi-schen Zentren. Dass die Versorgung mit einem schnel-len Internetzugang für die wirtschaftliche Stärke und fürChancengleichheit bei der gesellschaftlichen Entwick-lung in Städten, aber auch ganz besonders im ländlichenRaum eine große Rolle spielt, zeigt uns der internatio-nale Vergleich; denn andere Länder machen es uns heuteschon vor: In Italien beispielsweise wird der öffentlicheWLAN-Ausbau durch staatliche Zuschüsse gefördert. InEstland hat man schon 1997 begonnen, alle Schulen mitöffentlichem WLAN zu versorgen. Und in den USA hatBarack Obama jetzt angekündigt, 3,2 Milliarden Dollarinvestieren zu wollen, um alle Schulen in den Staaten bis2018 zu versorgen.
In Deutschland gibt es kommunale Leuchttürme wiezum Beispiel in Passau, wo nach der Jahrhundertflut2013 kostenfreies ganzheitliches WLAN zur Verfügunggestellt wurde
– da klatschen die Passauer, jawohl –, um die Wirtschaftund die Einwohnerschaft entsprechend mit Wissen ver-sorgen zu können.Wenn wir Wettbewerbsfähigkeit ernst nehmen, dannbrauchen wir, meine Damen und Herren, flächendecken-des WLAN, um in Bereichen wie dem Tourismus inter-national ernst genommen zu werden und gewerblicheAnsiedlungen überall in Deutschland zu ermöglichen.Gerade im ländlichen Raum ist es für Neuansiedlungenelementar, arbeiten zu können, und das kann man heuteeben nur mit entsprechend schnellem Internetzugang.
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Marcus Held
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Wie können wir dieses Ziel erreichen?
Mit Investitionen im gewerblichen Bereich. Aber auchim privaten Sektor müssen Hürden genommen werden,die eben schon angesprochen worden sind.
Hier spreche ich insbesondere das Thema der Störer-haftung an. Es wäre nicht nachzuvollziehen, wenn dieStörerhaftung für Gewerbetreibende abgeschafft würde,sie aber für Private erhalten bliebe. Mit Privaten meineich zum Beispiel auch engagierte WLAN-Vereine, die esin Städten und Gemeinden, gerade auf dem flachenLand, sehr häufig gibt. Ich denke, das Know-how dieserWLAN-Vereine sollten wir dringend nutzen; wir solltendie Vereine positiv mit in die Verantwortung nehmen.
Die Störerhaftung muss für alle abgeschafft werden;denn Anbieter von WLAN dürfen nicht dafür verant-wortlich gemacht werden, was die Nutzer tun.
Derzeit sorgt die Regelung zur Störerhaftung dafür, dasseben nicht beim Rechtsverletzer angesetzt wird, sondernder Anbieter als Dritter in die Pflicht genommen wird.Das muss sich ändern; ich glaube, da sind wir uns einig.Ich danke deshalb im Namen der SPD-Fraktion fürdie Vorlage des Gesetzentwurfs, der dem Ausbau der di-gitalen Infrastruktur einen Impuls gibt. Sie haben heuteeinen Musterentwurf vorgelegt, der der digitalen Gesell-schaft entspringt und somit auch gute, wichtige Impulseder Zivilgesellschaft aufgreift. Selbstverständlich wirdder von Ihnen eingebrachte Entwurf in die weiterenÜberlegungen innerhalb der Koalition einbezogen. Dennauch für uns, die SPD, ist es wichtig, die Nutzung derPotenziale der digitalen Infrastruktur voranzubringen,die aufgrund der bestehenden Rechtsunsicherheiten lei-der noch brachliegen. Wir werden uns also um Rechtssi-cherheit kümmern, was dringend geboten ist.Wir haben im Koalitionsvertrag vereinbart, die Poten-ziale der lokalen Funknetze auszuschöpfen und mobilesInternet über WLAN für jeden verfügbar zu machen.Denn das Recht auf freie und unbeobachtete Kommuni-kation hat in Deutschland Verfassungsrang. Natürlichmuss auch ermittelt werden, wenn es Anhaltspunkte fürRechtsverletzungen gibt – das ist völlig klar –; aber daskann nicht gleichzeitig bedeuten, dass alle Bürgerinnenund Bürger, die freies WLAN nutzen, unter einen Gene-ralverdacht gestellt werden; das muss auch für die digi-tale Gesellschaft gelten. Die Digitale Agenda hat dieseswichtige Ziel des Koalitionsvertrags aufgegriffen.Im Moment finden zwischen den Ressorts die Ab-stimmungen zur Vorlage eines entsprechenden Gesetz-entwurfs statt. Die Beratungen hierzu sind noch nichtganz abgeschlossen, werden aber sicherlich in Kürze be-endet sein, sodass hier ein entsprechender Vorschlag aufden Tisch kommt. Sie können sich also darauf verlassen,dass die Umsetzung dieses Punktes der Koalitionsver-einbarung für die SPD von großer Bedeutung ist, damitoffene Funknetze in öffentlichen Räumen auch inDeutschland zur Normalität werden, so wie sie bereitsheute in vielen anderen Ländern in Europa und der WeltNormalität sind.Vielen Dank.
Vielen Dank, Herr Kollege Held. – Nächster Redner
in der Debatte: Axel Knoerig für die CDU/CSU-Frak-
tion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrtenDamen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Es ist heute alltäglich, dass wir in allen Lebenslagen on-line sind: Wir nutzen den Laptop am Flughafen, dasSmartphone beim Einkaufen oder das Tablet im Café,um drahtlos im Internet zu surfen.
Dafür werden an vielen Orten WLAN-Netze bereitge-stellt.
Die Oppositionsfraktionen haben nun einen Gesetz-entwurf zur Änderung des Telemediengesetzes vorge-legt. Es geht dabei um die sogenannte Störerhaftung.Diese bezieht sich auf die Inhaber von WLAN-An-schlüssen: Wer seinen Internetzugang anderen zur Verfü-gung stellt, muss für deren Rechtsverstöße haften. Dasbetrifft zum Beispiel Familienmitglieder, Mitbewohner,Gäste und Kunden.Allerdings hat der Bundesgerichtshof entschieden,dass man nur haften muss, wenn man seine Prüfpflichtenverletzt hat. Die Wahrung dieser Pflichten geschiehtdurch Verschlüsselung und individuelle WLAN-Pass-wörter sowie durch Einwilligung der Nutzer in eineDatenspeicherung. Die Opposition fordert nun, dass flä-chendeckend WLAN-Netze für jedermann frei zugäng-lich sein sollen.
Dazu will sie das Haftungsprivileg der Internetproviderauf alle ausweiten, die ihren WLAN-Zugang für weitereNutzer öffnen.Ich möchte das derzeitige Haftungsproblem an einemBeispiel aus meinem Wahlkreis Diepholz – Nienburg Iveranschaulichen. Dort hat nämlich der Betreiber desHotels „Roshop“ in Barnstorf den Service der Nutzung
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Axel Knoerig
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des WLAN-Netzes angeboten. Da die Gäste immer wie-der illegale Downloads vornehmen, hat er schon zahlrei-che Abmahnungen von Rechteinhabern erhalten.Welche Möglichkeiten hat nun der Hotelier als An-schlussinhaber? Er bietet seinen Gästen den WLAN-An-schluss nicht weiter an und ist somit in der Hotelbranchenicht mehr wettbewerbsfähig.
Oder aber, er bietet weiter freien Zugang zum WLAN-Netz an und muss ständig steigende Abmahnkosten be-zahlen. Oder drittens, er vergibt an jeden Gastnutzer einindividuelles Passwort und holt zugleich die Einwilli-gung zur Erfassung der Nutzerdaten ein. Im Falle einesRechtsverstoßes kann er so nachweisen, wer diesen be-gangen hat.
Für diese Variante hat sich der Hotelier in meinem Wahl-kreis entschieden.Doch selbst dieser bürokratische Aufwand entlässtihn nicht aus der Haftung. Das ist entscheidend. Als An-schlussinhaber muss er beweisen, dass er jede einzelnebetroffene Webseite nicht besucht hat. Das bedeutetständige Anwaltskosten und zusätzliche Belastungen ineiner weiterhin unsicheren Rechtslage.
– Und deswegen müssen wir gewerbliche WLAN-Inha-ber wie den Hotelier in Barnstorf schützen.
In dieser Sache geht es grundsätzlich nicht nur um Urhe-berrechtsverletzungen, sondern vielmehr um den Daten-schutz im Internet insgesamt. Doch das, Herr von Notz,klammern Sie als Opposition in Ihrem Antrag völlig aus.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, zur Ver-deutlichung möchte ich eine Zahl nennen, die uns auf-schrecken lässt. Im vergangenen Jahr wurden rund21 Millionen Menschen in Deutschland von Internetkri-minellen geschädigt.
Wir von der Union fordern deshalb verschlüsselte Funk-netze; denn im Gegensatz zu offenen Netzen schützensie vor Hackerangriffen, Wirtschaftsspionage und Da-tenklau.Dieses Thema drängt. Die bestehende Rechtslagemuss den Entwicklungen im Netz angepasst werden.
Ich ergänze: Internetkriminelle dürfen sich nicht längerhinter den Inhabern von WLAN-Anschlüssen vor Straf-verfolgung verstecken können. Deswegen ist die Bun-desregierung gefordert, zügig ihren Gesetzentwurfvorzulegen. Wir sagen: Unsere Netzpolitik ist voraus-schauend und auch verantwortungsvoll. Wir müssen allerechtlichen Seiten prüfen, und zwar zusammen mit allenbetroffenen Ressorts. Das unterscheidet uns von Ihnen,Herr Notz, da Sie mit Ihrem Antrag im Grunde einenSchnellschuss vorlegen.
Wir setzen lieber darauf, zusammen mit allen beteiligtenAkteuren einen ausgewogenen, umfassenden Gesetzent-wurf zu erarbeiten. Ob Rechteinhaber, Internetprovider,Anschlussinhaber oder WLAN-Nutzer, sie alle müssenin einem Entwurf gleichermaßen berücksichtigt werden.Doch Ihr Entwurf von den Grünen und den Linken gehtzulasten der Rechteinhaber und insgesamt zulasten derDatensicherheit. Wir von der Union halten fest: Dasgeistige Eigentum muss geschützt werden. Es darf kei-nen Freifahrtschein für Urheberrechtsverletzungen ge-ben. Das ist gerade für den Forschungs- und Wissen-schaftsstandort Deutschland außerordentlich wichtig.
Ein wichtiger Aspekt beim Thema Störerhaftung istaußerdem die digitale Kompetenz der Nutzer. JüngstenStudien zufolge ist der Digitalisierungsgrad in Deutsch-land nur auf mittlerem Niveau. Da müssen wir ansetzen.Wir stehen in der Verantwortung, Internetnutzer aufzu-klären, damit sie ihren digitalen Umgang sicherer gestal-ten. Wir müssen die digitale Bildung und den verantwor-tungsbewussten Umgang mit IT-Systemen in allenAltersstufen fördern. Schließlich sind in unserer heuti-gen Welt unsere Daten unser höchstes Gut.Es wird schon seit Jahren gefordert, auch im Deut-schen Bundestag den Internetzugang auf WLAN-Tech-nik auszuweiten.
Wir wissen doch, dass hier im Regierungsviertel nichtnur Mobiltelefone, sondern auch WLAN-Netze extremabhörgefährdet sind.
Daher bedarf auch dieses Thema, Herr Notz, einer um-sichtigen Debatte.Genauso muss uns bewusst sein, dass die sichere Ver-netzung eine wesentliche Grundlage für unseren wirt-schaftlichen Erfolg ist. Unser Ziel ist die bestmöglicheIT-Sicherheit zum Schutz unserer Unternehmen.
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Axel Knoerig
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Dazu haben wir ein Projekt, das wir als Leuchtturmpro-jekt herausstellen, nämlich das Zukunftsprojekt Industrie4.0, das aufzeigt, dass unsere Leitbranchen nur durchweltweite Vernetzung, Digitalisierung und Internet inter-national wettbewerbsfähig bleiben.
Das alles darf aber nicht dazu führen, dass wir durchfalsche oder übertriebene Sicherheitsbedenken Furchtvor Big Data und der Digitalisierung entwickeln; denndann werden wir, wie unsere Bundeskanzlerin in diesemJahr auf dem IT-Gipfel vortrefflich formulierte, nicht zuden Wertschöpfungsketten vorstoßen.
Das geplante IT-Sicherheitsgesetz zielt daher auf dierichtige Balance zwischen Schutz und Umsetzbarkeitvon Sicherheitsstandards ab.Ich komme zu einem weiteren Aspekt, den der Ge-setzentwurf der Opposition vernachlässigt, Herr Notz.Sie haben nämlich völlig vergessen, dass die Haftungs-frage im europäischen Kontext zu sehen ist. Ihr Entwurfverkennt die Tatsache, dass wir es beim Internet mit ei-nem globalen Netz zu tun haben. Alle Äußerungen, dieSie hier gemacht haben, waren lediglich auf nationaleThemen fokussiert.
Herr Kollege, erlauben Sie eine Bemerkung oder
Zwischenfrage von Konstantin von Notz?
Herzlich gern.
Gut.
Vielen Dank. Das ist nett. Ich mache es auch kurz,
und ich habe mich nur gemeldet, weil Sie mich jetzt
dreimal darauf angesprochen haben.
Wissen Sie denn, was die E-Commerce-Richtlinie der
Europäischen Union besagt? Ihre Unterscheidung zwi-
schen öffentlichem Hotel-WLAN und privatem WLAN
kommt darin überhaupt nicht vor. Gerade weil Sie euro-
päisch denken müssen, müssen Sie freie WLAN-Netze
gewährleisten. Das tun Sie aber nicht. Sie regieren jetzt
schon so viele Jahre; das sage ich gerade in Richtung der
Union. Es ist hinterwäldlerisch, dass in Deutschland
diese Regelung noch existiert; vom Bundestag will ich
gar nicht reden. In vielen anderen Ländern ist das nicht
der Fall. So können Sie nicht argumentieren. Mit Europa
brauchen Sie gar nicht zu kommen; das geht genau in die
andere Richtung.
Herr von Notz, wir sind uns sicherlich einig, dass wir
dann, wenn wir nationale Angelegenheiten durchdenken,
als Erstes natürlich den europäischen Markt und dann
auch den internationalen Markt in den Blick nehmen
müssen. Das heißt im Klartext für unsere Software- und
IT-Branche, dass nationale Vorgaben uns auf internatio-
nalen Märkten im Grunde genommen hemmen.
Sie haben die europäische E-Commerce-Richtlinie
angesprochen.
Wo befindet die sich zurzeit? Wir erwarten jetzt – dabei
ist mit „jetzt“ eher gemeint: in ein bis zwei Jahren –,
dass der EuGH zu einer Rechtsprechung kommt und uns
auf diese Weise hilfreiche Vorgaben gibt.
Es bleibt dabei: Es ist nicht im Interesse deutscher
Unternehmungen, wenn wir auf nationalem Feld voran-
marschieren; wir müssen es europäisch und international
anpacken.
Haftungsfragen, meine sehr verehrten Damen und
Herren, müssen in der digitalen Welt auf internationaler
Ebene gelöst werden. Sie dürfen nicht bei kleinen natio-
nalen Regelungen enden und einer Umsetzung des euro-
päischen digitalen Binnenmarkts vorgreifen.
Ich wiederhole es gern: Auch der Europäische Ge-
richtshof beschäftigt sich mit dieser Haftungsproblema-
tik. Sein Urteil wird zur Klärung der Rechtslage beitra-
gen.
Darüber hinaus – das ist nicht im engeren Zusammen-
hang damit zu sehen, aber im weiteren Zusammenhang
damit – muss die EU-Datenschutz-Grundverordnung zü-
gig verabschiedet werden.
Wenn man diese Themen aneinanderreiht, mit einer
europäischen Komponente, dann kann auch die natio-
nale Politik hier sinnhaft Vorgaben machen.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Vielen Dank, Herr Kollege Knoerig. – Letzter Redner
in dieser Debatte: Christian Flisek für die SPD.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Kolleginnenund Kollegen! Meine Damen und Herren! Als 1997 dasInformations- und Kommunikationsdienste-Gesetz vomdeutschen Gesetzgeber verabschiedet wurde, haben wirtatsächlich Neuland betreten. Dieses Gesetz war einePioniertat. Es war das erste spezifische Internetgesetz.Man hat damals gleichsam Maßstäbe für ganz Europagesetzt – und das, wohlgemerkt, in einer Zeit, als es
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Christian Flisek
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Google noch nicht gab und jemand wie Mark Zuckerbergmit 13 Jahren vielleicht noch andere Dinge im Kopfhatte als die Gründung von Facebook; von Twitter,Spotify und Skype ganz zu schweigen.Zehn Jahre lang spiegelte dieses Gesetz die föderaleOrdnung unseres Landes wider mit dem Nebeneinandervon Teledienstegesetz und Mediendienste-Staatsvertrag.Der Bund hat die Regelung der Individualkommunika-tion für sich reklamiert, die Länder haben die Zuständig-keit für die Massenkommunikation für sich beansprucht.Dieses Nebeneinander und die daraus resultierenden Ab-grenzungsschwierigkeiten waren eher eine Arbeitsbe-schaffungsmaßnahme für Rechtswissenschaftler; es warkeine vernünftige Regelung.Seit 2007 werden die Regelungen zu diesem Bereichim Wesentlichen im Telemediengesetz zusammenge-fasst. Dieses Gesetz regelt die Anbieterkennzeichnung,die Informationspflichten, den bereichsspezifischen Da-tenschutz für das Internet und eben auch die Provider-haftung.Wesentliche Weichenstellungen bei der Providerhaf-tung haben sich somit seit 1997 eigentlich nicht verän-dert. Die Rechtsprechung hat darauf aufgebaut und dieGrundsätze weiterentwickelt. Das wurde in der heutigenDebatte auch schon angesprochen. Was sich allerdingsverändert hat, ist die technische Entwicklung. Durchleistungsfähige, vor allen Dingen mobile Endgeräte istder Bedarf an WLANs, in die wir uns überall einschaltenkönnen, gestiegen. Auch das Nutzerverhalten hat sichweiterentwickelt. Streaming mag hier als ein Stichwortgenügen.Auf diese Entwicklung hat sich die Koalition einge-lassen. Sie hat sich vorgenommen, hierauf angemessenzu reagieren. Wir wollen ein mobiles Internet in ganzDeutschland für jedermann verfügbar machen. Wir wol-len das Potenzial lokaler WLANs nutzen, vor allem des-wegen, weil wir dies als einen ganz wesentlichen Beitragzum digitalen Fortschritt in Deutschland sehen. Ich bindem Kollegen Held dankbar, dass er Passau als Beispielzitiert hat. Danke für diesen Werbeblock. Das ist natür-lich ein schönes Beispiel für die funktionierende und his-torisch gewachsene pfälzisch-bayerische Freundschaft.Zu dem notwendigen Breitbandausbau gehört aucheine Novellierung des Telemediengesetzes. Das eine hatmit dem anderen viel zu tun. Wir werden die Haftungsre-gelungen so ausgestalten, dass der Betrieb eines WLANsnicht zu einem unkalkulierbaren Haftungsrisiko wird,aber auch nicht zu einer Einladung zu massenhaftenRechtsverletzungen. Berücksichtigt man dann noch, dasseine freie und unbeobachtete Kommunikation Verfas-sungsrang hat, dann genügen, glaube ich, diese wenigenAussagen, um das sehr komplexe Problemfeld zu skiz-zieren und deutlich zu machen. Wir werden als GroßeKoalition auf einen angemessenen Ausgleich der Inte-ressen aller Beteiligten hinarbeiten. Die Nutzer spielenhier eine wesentliche Rolle, die WLAN-Betreiber, abereben auch die Rechteinhaber.Lieber Konstantin von Notz, bis zu Ihrer Rede hätteich eigentlich vorgehabt, auch die Grünen für diesenkonstruktiven Beitrag zur Debatte zu loben. Die einlei-tende Rede war dann weniger konstruktiv.
Ich betone aber ausdrücklich, dass ein solcher Beitragvon uns ernst genommen wird, weil er – darauf wurde jabereits vom Kollegen Held hingewiesen – eben mittenaus der Zivilgesellschaft stammt.
Ich hoffe, dass ich mit diesem Lob durch die Blumedeutlich gemacht habe, dass wir diesem Gesetzentwurfnicht zustimmen werden, schlicht und ergreifend des-halb, weil wir in der Großen Koalition einen eigenen er-arbeiten werden, der noch einige weitere Aspekte, diedringend notwendig sind, berücksichtigt und genau fürdiesen angemessenen Ausgleich der Interessen aller Be-teiligten steht.Herzlichen Dank.
Vielen Dank, Herr Kollege. – Damit schließe ichdiese Aussprache.Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage aufDrucksache 18/3047 an die in der Tagesordnung aufge-führten Ausschüsse vorgeschlagen. Es gibt aber einenStreit über die Federführung. Darüber müssen wir jetztentscheiden.Die Fraktionen der CDU/CSU und SPD wünschenFederführung beim Ausschuss für Wirtschaft und Ener-gie, die Fraktionen Bündnis 90/Die Grünen und DieLinke wünschen Federführung beim Ausschuss fürRecht und Verbraucherschutz. Ich lasse zuerst über denÜberweisungsvorschlag der Fraktionen Bündnis 90/DieGrünen und Die Linke abstimmen, also Federführungbeim Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz. Werstimmt für diesen Überweisungsvorschlag? – Werstimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Überwei-sungsvorschlag ist trotz Zustimmung von Bündnis 90/Die Grünen und der Linken mit der Mehrheit von CDU/CSU und SPD abgelehnt.Wir müssen jetzt aber trotzdem über den Überwei-sungsvorschlag der Fraktionen der CDU/CSU und derSPD abstimmen, also Federführung beim Ausschuss fürWirtschaft und Energie. Wer stimmt für diesen Überwei-sungsvorschlag? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthältsich? – Damit ist dieser Überweisungsvorschlag mit denStimmen von CDU/CSU und SPD gegen die Stimmenvon Bündnis 90/Die Grünen und der Linken angenom-men.Ich rufe die Tagesordnungspunkte 24 a und 24 b auf:a) Erste Beratung des von der Bundesregierungeingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zurUmsetzung von Empfehlungen des NSU-
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Vizepräsidentin Claudia Roth
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Untersuchungsausschusses des DeutschenBundestagesDrucksache 18/3007Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Innenausschussb) Beratung des Antrags der Abgeordneten VolkerBeck , Luise Amtsberg, Kai Gehring, wei-terer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-NIS 90/DIE GRÜNENHasskriminalität wirkungsvoll statt symbo-lisch verfolgenDrucksache 18/3150Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
InnenausschussAusschuss für Menschenrechte und Humanitäre HilfeNach einer interfraktionellen Vereinbarung sind fürdie Aussprache 38 Minuten vorgesehen. – Ich höre kei-nen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache und gebe das Wort Bun-desminister Heiko Maas für die Bundesregierung.
Heiko Maas, Bundesminister der Justiz und für Ver-braucherschutz:Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen undHerren! Vor einer Woche haben wir hier an die Aufde-ckung der Verbrechen des sogenannten Nationalsozialis-tischen Untergrundes erinnert. Wir waren uns dabei ei-nig, dass wir aus der Mordserie und aus den Fehlern, diebei ihrer Aufklärung gemacht worden sind, die richtigenKonsequenzen ziehen müssen.Mit dem jetzt vorliegenden Gesetzentwurf setzen wirdie Empfehlungen des NSU-Untersuchungsausschusseszur Zuständigkeit des Generalbundesanwalts um und än-dern das Strafgesetzbuch. Der Gesetzentwurf enthältzwei Teile, mit denen wir die unterschiedlichen Lehren,die wir aus dem Geschehenen gezogen haben, abbildenwollen.Der erste Teil erweitert den Spielraum des General-bundesanwaltes. Er soll die Ermittlungen in Zukunftschon dann an sich ziehen können, wenn eine Tat beson-dere Bedeutung und objektiv staatsschutzfeindlichenCharakter hat. Bislang ging das nur, wenn zusätzlichauch noch feststand, dass der Täter eine staatsschutz-feindliche Zielvorstellung hatte. Das ist zu Beginn derErmittlungen aber oft noch gar nicht bekannt. Deshalbwollen wir das ändern. Wir wollen so sicherstellen, dassder Generalbundesanwalt frühzeitig eingeschaltet wird,wenn es um rassistische Taten geht, wie es bei denen desNSU der Fall gewesen ist. Der Gesetzentwurf stellt au-ßerdem klar, dass gerade bei länderübergreifenden Fäl-len mit Staatsschutzbezug eine Zuständigkeit des Gene-ralbundesanwalts gegeben sein kann.Aus den Versäumnissen bei den Ermittlungen zumNSU haben wir vor allen Dingen eines gelernt: Durchdas Nebeneinander verschiedener Untersuchungen kön-nen wertvolle Informationen verloren gehen, weil dereine nicht weiß, was der andere bereits herausgefundenhat. Um genau das zu verhindern, wollen wir in diesenFällen eine zentrale Ermittlungstätigkeit bei den Exper-ten des Generalbundesanwalts möglich machen. DerWechsel des Bundeslandes darf nicht mehr dazu führen,dass sich Täter der Strafverfolgung entziehen können.Auch das ist eine Lehre aus den Geschehnissen, und wirziehen jetzt die Konsequenzen.
Der zweite Teil des Gesetzentwurfs befasst sich mitder sogenannten Hasskriminalität. Wir stellen im Straf-gesetzbuch nun ausdrücklich klar: Bei der Festsetzungder Strafe sind auch rassistische, fremdenfeindliche odersonstige menschenverachtende Beweggründe des Täterszu berücksichtigen. Dadurch soll die Bedeutung dieserMotive für die Strafzumessung der Gerichte hervorgeho-ben werden. Damit bezwecken wir aber vor allen Din-gen, dass Staatsanwaltschaft und Polizei ihre Ermittlun-gen von vornherein auch auf solche Motive erstrecken.Die Taten rechter Gewalttäter können so künftig nichtmehr als Kneipenschlägereien, Nachbarschaftskonflikteoder Jugendsünden abgetan werden. Wir erhoffen unsdavon, dass bereits bei der Ermittlung der Fokus daraufgelegt wird, ob Taten vorliegen, die möglicherweise ei-nen rassistischen Hintergrund haben.Der Untersuchungsausschuss hat festgestellt, dass dasoft halbherzige Vorgehen der Ermittlungsbehörden imFall des NSU, aber auch das Vorgehen der Justiz in den90er-Jahren die rechte Szene in dieser Zeit sogar radika-lisiert hat. Das galt ganz besonders für das NSU-Trio imThüringer Heimatschutz.Solchen Entwicklungen wird der Staat in Zukunft ent-schiedener entgegentreten, entgegentreten müssen und mitden gesetzlichen Grundlagen, die wir schaffen, auch ent-gegentreten können. Rechte Gewalttaten sollen als dasermittelt und bestraft werden, was sie tatsächlich sind,nämlich besonders verwerfliche Angriffe auf schutzbe-dürftige Opfer und auf unsere offene Gesellschaft insge-samt gerichtete Gewalttaten. Deshalb ist diese Änderungbitter notwendig.
Das sind – daraus mache ich gar keinen Hehl – kleineSchritte auf dem Weg zu einer verbesserten Aufklärungsolcher Taten, auch von Hassverbrechen und insbeson-dere solch abscheulicher Hassverbrechen wie die, diewir heute dem sogenannten NSU zuschreiben können.Ich glaube dennoch: Jeder einzelne Schritt, auch wenn esnur ein kleiner ist, ist wichtig, wenn wir unser Ziel, dafürzu sorgen, dass so etwas nicht noch einmal vorkommenkann, erreichen wollen.Halit Yozgat ist am 6. April 2006 in Kassel erschos-sen worden. Als er erschossen wurde, war sein VaterIsmail ganz in seiner Nähe. Er wollte ihn nachmittagshinter dem Tresen des Internetcafés ablösen, das die Fa-milie betrieb. Als Ismail Yozgat ankam, lag sein Sohn
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Bundesminister Heiko Maas
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bereits im Sterben. Bis die Hintergründe dieser Tat fünfJahre später endlich geklärt waren, stand Ismail Yozgat,der Vater, auch selbst lange im Fokus der Ermittlungen.Er hatte seinen Sohn verloren und wurde nun auch nochzum Verdächtigen gestempelt. Trotzdem sagte und sagtIsmail Yozgat, sein Vertrauen in die deutsche Justiz seiimmer groß gewesen und es bleibe groß. Meine Damenund Herren, ich finde, wir müssen nun alles tun, um die-ses große Vertrauen in unsere Justiz zu rechtfertigen.
Dieser Gesetzentwurf ist ein Baustein dafür. Das istein Baustein, um aus einem nachlässigen wieder einenwehrhaften Staat zu machen. Das sind wir ihm, IsmailYozgat, und allen Opfern der Verbrechen des NSU bitterschuldig.Ich danke Ihnen.
Die Kollegin Martina Renner spricht jetzt für die
Fraktion Die Linke.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Kollegenund Kolleginnen! Noch immer ereignen sich täglichzwei bis drei politisch rechts motivierte oder rassistischgeprägte Gewalttaten in Deutschland. Daran hat sichnach der Selbstenttarnung des NationalsozialistischenUntergrunds überhaupt nichts geändert. Im Gegenteil:Wie aus der Antwort der Bundesregierung auf eineKleine Anfrage meinerseits hervorgeht, haben die Poli-zeien der Länder seit dem 4. November 2011 über200 rechte Straf- und Gewalttaten registriert, mit denendie Täter sich explizit und für alle erkennbar offen undpositiv auf den NSU beziehen und seine rassistischenMorde und Anschläge verherrlichen.Einige Beispiele für rassistische Gewalttaten aus denletzten Monaten: Ende September wird ein syrischerArzt in Lößnig bei Leipzig von einem maskierten Mannmit einem Baseballschläger angegriffen und rassistischbeleidigt. Mitte Juli schlagen und bedrohen in Gardele-gen ein Dutzend Neonazis, die T-Shirts mit der Auf-schrift „Kameradschaft Kommando Werwolf“ trugen,eine Wirtin, die öffentlich Flüchtlinge unterstützt.Ob die Strafverfolgungsbehörden, die rassistische undpolitisch rechte Motivation dieser Taten erkennen undvor Gericht angemessen würdigen werden, ist leidervollständig offen. Daran wird auch der vorgelegte Ge-setzentwurf überhaupt nichts ändern. Denn die vomBundesjustizministerium vorgeschlagene Änderung des§ 46 StGB ist inhaltlich beliebig und viel zu weit gefasst.Sie verfehlt das Ziel und beschränkt sich auf eine gefähr-liche Symbolpolitik.
Schon nach der jetzigen Fassung von § 46 StGB sindRichter und Staatsanwälte gehalten, die Tatmotivationbei der Strafzumessung zu berücksichtigen. Sie machendies aber vor allem bei rassistisch motivierten Gewaltta-ten in der Regel nicht, wie nicht zuletzt die skandalösenUrteile zu rassistischen Angriffen in Pirna und Bernburgeindrücklich gezeigt haben.Richter und Staatsanwälte, die in Fällen von rechterGewalt keine rassistische Tatmotivation anerkennen,weil der Angriff, wie sie sagen, spontan und unter Alko-holeinfluss erfolgt sei, werden auch in Zukunft am Kerndes Problems vorbeigehen: Rassismus ist eine Haltung,die sich in unterschiedlichster Form und bei unterschied-lichen Gelegenheiten gewaltförmig Bahn bricht. Des-halb sagen wir: Dieser Gesetzentwurf ist verfehlt.
Auch der erleichterten Übernahme von Verfahren durchdie Generalbundesanwaltschaft stehen wir skeptisch ge-genüber. Was nützt diese Maßnahme, wenn zum Beispielin Fällen von 23 Brandanschlägen auf Flüchtlingsunter-künfte, die in den ersten drei Quartalen dieses Jahres ge-zählt wurden, die Generalbundesanwaltschaft in keinemeinzigen Fall tätig geworden ist, obwohl sie die Über-nahme der Ermittlungen geprüft hat? Ich sage dazu: Wirbrauchen eine inhaltliche Neujustierung in Bezug da-rauf, wie Justiz mit rechtsextremer und rassistischer Ge-walt umgeht, und keine symbolische Gesetzesänderung.
An anderer Stelle hinkt die Bundesregierung weiterbei der Umsetzung der Empfehlungen des NSU-Unter-suchungsausschusses hinterher, nämlich bei der Forde-rung, dass zukünftig bei allen Gewalttaten gegen Mig-rantinnen und Migranten auch Rassismus als Tatmotivmitermittelt werden muss. Dafür hat der Untersuchungs-ausschuss eine Änderung der sogenannten RiStBV vor-geschlagen. Im Sommer sollte hierzu eine Abstimmungin der Justizministerkonferenz stattfinden. Nun ist esHerbst, und diese wirklich dringende Vorgabe lässt im-mer noch auf sich warten. Wir unterstützen deshalb aus-drücklich den Antrag von Bündnis 90/Die Grünen, dersich dieser Thematik annimmt.
Unsere Forderungen nach Umsetzung der gemeinsambeschlossenen Empfehlungen aus den NSU-Untersu-chungsausschüssen gehen aber weiter. Die Untersu-chungsausschüsse haben deutlich gemacht, dass institu-tioneller Rassismus die polizeilichen Ermittlungen zurCeska-Mordserie sowohl im Umgang mit den Angehöri-gen geprägt als auch bei der Suche nach den Tätern mas-siv behindert hat. Wir fordern eine umfassende Studie,die nach Rassismus im Polizeiapparat fragt und uns end-lich verlässliche Zahlen gibt, damit die Debatte insbe-sondere bei denen, die dieses Phänomen negieren, aufsachliche Grundlagen gestellt werden kann. Das Gleichegilt übrigens für die längst überfällige Einrichtung vonunabhängigen Polizeibeschwerdestellen.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 67. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. November 2014 6383
Martina Renner
(C)
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Noch ein paar Worte zum Bundesprogramm. Auchbei der Umsetzung der dringend empfohlenen Unterstüt-zung der Projekte gegen Rechtsextremismus ist die Ko-alition, so sagen wir, auf halber Strecke stehen geblie-ben. Statt die Mittel auf 50 Millionen Euro zu erhöhen,fehlen jetzt immer noch 10 Millionen Euro. Das machtsich vor allem im Westen bemerkbar, wo beispielsweisein Baden-Württemberg, Niedersachsen und Hessen im-mer noch spezialisierte Opferberatungsstellen fehlen.Auch wenn der Haushaltsausschuss in letzter Minutedas Förderprogramm auf 40 Millionen Euro aufgestockthat, entspricht dies meiner Meinung nach keineswegsden Schlussfolgerungen, die wir aus dem NSU-Komplexziehen: Mit den Erhöhungen sollen nämlich in Zukunftauch noch Salafismus und Islamismus als Schwerpunktebearbeitet werden. Ich bin durchaus der Meinung, dassSalafismus und Islamismus ein drängendes Problemsind. Allerdings benötigt die Auseinandersetzung damitein eigenes differenziertes Programm.
Die Lehren aus dem NSU-Komplex zu ziehen, bedeu-tet eine verstärkte gesamtgesellschaftliche Auseinander-setzung mit Rassismus auf allen Ebenen, auch in den In-stitutionen. Ein antiextremistischer Gemischtwarenladenwird diesem Problem keineswegs gerecht werden.Wir hatten versucht, zwei Änderungsanträge in dieheutige Debatte einzubringen. Mit dem einen wolltenwir die Aufstockung der Mittel für das Bundesprogrammauf 50 Millionen Euro erreichen.
Frau Kollegin Renner, Sie denken an die vereinbarte
Redezeit!
Okay. – Mit dem anderen wollten wir uns für ein hu-
manitäres Bleiberecht für die Opfer rassistischer Gewalt
engagieren. Beides durfte der Beratung heute nicht bei-
gefügt werden. Wir bedauern das sehr und glauben, dass
diese Entscheidung der Sache schadet und allein partei-
politisch motiviert ist. Das tut der Auseinandersetzung
mit dem NSU-Komplex nicht gut.
Für die CDU/CSU spricht jetzt der Kollege Dr. Volker
Ullrich.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Vor zehn Tagen hat der Deutsche Bundestag ineiner würdigen Debatte des dritten Jahrestages der Auf-klärung der Terrorzelle des Nationalsozialistischen Un-tergrunds gedacht. Das Gebot der Stunde ist nicht nur dieweitere Aufklärung der noch offenen Fragen, sondernauch ein entschiedenes und entschlossenes Handeln. Dasbedeutet für uns die Abarbeitung der 47 Empfehlungendes NSU-Untersuchungsausschusses. Das sind wir uns,das sind wir den Opfern schuldig.
Der Gesetzentwurf der Bundesregierung trägt dieserVerpflichtung Rechnung. Mit dem Gesetzentwurf wer-den im Bereich der Justiz und Strafverfolgung zweiwesentliche Anker gesetzt, die vielleicht nicht die Weltverändern, die aber im Zusammenspiel der Strafverfol-gungsbehörden und auch bei der Bemessung der Strafedie notwendigen Akzente setzen, um vergleichbareSachverhalte zukünftig zu verhindern.
Wir ändern die Zuständigkeit des Generalbundesan-walts in Staatsschutzsachen. Das ist eine sensible Mate-rie. Denn es geht hier nicht nur um die Frage, wofür derGeneralbundesanwalt zuständig ist, sondern es handeltsich auch um eine Frage im Kernbereich des Verhältnis-ses zwischen dem Bund und den Ländern. Die Ländersind nach unserem Grundgesetz grundsätzlich auch zurVerfolgung und Aburteilung von Strafsachen zuständig.Der Bund hat nur eine sehr begrenzte Zuständigkeit, dieer vor dem Hintergrund unseres Verfassungsgefüges sehrsensibel und zurückhaltend wahrzunehmen hat. Den-noch sind die hier vorgeschlagenen Maßnahmen vordem Hintergrund unserer Verfassungsordnung notwen-dig. Ja, ich meine, sie sind auch geboten.Die Frage der Zuständigkeit des Generalbundesan-walts bei Staatsschutzsachen darf sich zukünftig nichtmehr stellen, wenn die Straftaten „bestimmt und geeig-net sind“. Denn im Untersuchungsausschuss ist zu Rechtfestgestellt worden, dass die Frage der subjektiven Mo-tivlage des Vorsatzes nur sehr schwer zu bemessen ist.Wenn dann der Generalbundesanwalt im Zweifel, weildiese subjektiven Umstände nicht vorhanden sind, aufseine Möglichkeiten verzichtet, dann ist der Staat viel-leicht nicht so wehrhaft, wie er tatsächlich sein müsste.Deswegen ist es richtig, dass zukünftig die objektive Be-stimmung einer Tat ausreicht, die Kompetenz des Gene-ralbundesanwalts zu begründen.
Es ist auch richtig, dass die Staatsanwaltschaften derLänder zukünftig eine Vorlagepflicht gegenüber demGeneralbundesanwalt haben. Damit soll sichergestelltwerden, dass der Generalbundesanwalt bei länderüber-greifenden Sachverhalten – seien wir ehrlich, Verbrecherund Feinde unserer Freiheit halten sich nicht an Länder-grenzen – von sich aus prüft, ob seine Kompetenz be-gründet ist und er mit seinem Apparat und mit seinenMöglichkeiten die Strafverfolgung an sich zieht.Das setzt etwas voraus, worüber wir in den nächstenJahren sprechen müssen, nämlich die tatsächliche Fähig-keit des Generalbundesanwalts als Behörde, diesem er-höhten Arbeitsaufwand Rechnung zu tragen. Es kannnicht sein, dass wir in einem Gesetzentwurf wohlfeileWorte und mehr Kompetenzen begründen, aber dem Ge-neralbundesanwalt dann nicht die Möglichkeiten bieten,
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Dr. Volker Ullrich
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diese Kompetenzen auszufüllen. Deswegen bedeuteteine Stärkung des Generalbundesanwalts auch eine per-sonelle und sachliche Aufstockung. Anders geht esnicht.
Auch die zweite Stufe dieses Gesetzesvorhabens istein wichtiger Schritt im Bereich unserer Strafrechts-pflege: die Verankerung von rassistischen, fremden-feindlichen und menschenverachtenden Motiven bei derStrafzumessung.
Bislang ist im § 46 des Strafgesetzbuches eine Aufzäh-lung von Motiven spezieller Art nicht zu finden. Es istein Paradigmenwechsel in der Systematik des Straf-rechts, dass wir von einer allgemeinen Grundlage derStrafzumessung hin zu speziellen Motiven kommen.Auch bislang finden besondere Motive, wenn es um dieSchuld geht, schon Berücksichtigung. Wir haben imGrunde genommen also keine strafrechtliche, sonderneine rechtspolitische und moralische Regelungslücke.Diese schließen wir mit diesem Gesetzentwurf.
Auch wenn hier „rassistisch“ und „fremdenfeindlich“steht und es damit in erster Linie, wie Sie formuliert ha-ben, um die Opfer rechtsextremer Gewalt geht, geht die-ser Gesetzentwurf natürlich weiter. Er richtet sich gegendie Feinde unserer Freiheit insgesamt. Er richtet sich ge-gen Linksextreme. Er richtet sich gegen Dschihadisten,gegen Salafisten, gegen alle, die aus tiefster Überzeu-gung unsere Freiheit und andere Menschen angreifen.
Es wird abzuwarten sein, wie sich die besondere Strafzu-messung in der Rechtspraxis bewähren wird.
Herr Kollege Ullrich, gestatten Sie eine Zwischen-
frage oder Bemerkung des Kollegen Ströbele?
Ja.
Herr Kollege, danke. – Wenn Sie sagen: „Da muss das
Strafrecht verändert werden“, meinen Sie damit, dass in
dem laufenden Prozess vor dem Oberlandesgericht Mün-
chen, wenn es zu einer Verurteilung kommen sollte – das
wissen wir ja nicht; wir wollen dem auch nicht vorgrei-
fen –, solche Überlegungen, die Ihrer Meinung nach der-
zeit im Gesetz noch nicht hinreichend Berücksichtigung
finden, bei der Strafzumessung nicht berücksichtigt wür-
den? Das ist nur ein Beispiel; es gibt ja auch viele andere
Verfahren, in denen es um ähnliche Themen und Verbre-
chen geht. Sind Sie also der Auffassung, dass Motive
wie Hass und Ähnliches, die Sie jetzt ins Gesetz aufneh-
men wollen, bei der Strafzumessung derzeit nicht be-
rücksichtigt werden?
Herr Kollege Ströbele, ich nehme den Verfassungs-grundsatz der Gewaltenteilung ernst. Deswegen werdeich mich als Mitglied des Deutschen Bundestages nichtzu einem laufenden Strafverfahren äußern.
Wenn Sie aber allgemein fragen, ob diese Strafbemes-sungsvorschriften eine Relevanz haben oder nicht, somuss ich Ihnen erwidern, dass Sie nicht ordentlich zuge-hört haben.
Ich habe gerade gesagt, dass die Motivlage eines Tätersschon nach dem jetzigen § 46 Strafgesetzbuch Berück-sichtigung findet und finden muss,
dass es hier aber um die rechtspolitische und moralischeGrundsatz- und Wertentscheidung des Gesetzgebersgeht, besondere Motive in Worte zu fassen,
um damit die Wertentscheidung, die der Gesetzgeber ge-troffen hat, deutlich zu machen.
Ich darf abschließend sagen: Wir müssen aufpassen,dass diese Änderung des § 46 Strafgesetzbuch so formu-liert und von der Rechtspraxis so gelebt wird, dass dieVertreter unserer rechtsprechenden Gewalt revisions-feste Urteile schreiben können. Es darf nicht so sein,dass wir Gutes gewollt, letzten Endes aber für eineschwierige Situation gesorgt haben.Aber abgesehen von der Frage einer rechtlichen Än-derung ist es wichtig, dass wir insgesamt das Bewusst-sein eines demokratischen und wehrhaften Rechtsstaatespflegen und dass wir alle aufgerufen sind, dafür einzu-treten, dass Unrecht dem Recht weicht, dass die Men-schenwürde und der demokratische Rechtsstaat in keinerSekunde und bei keiner Gelegenheit zur Diskussion ge-stellt werden.Das ist die wichtigste Botschaft dieses Gesetzentwur-fes. Deswegen lassen Sie uns mit diesen Grundlagen ge-meinsam in die Beratung gehen.Vielen Dank.
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Danke schön. – Die Kollegin Monika Lazar spricht
als Nächste für Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! DasAuffliegen des NSU setzte viele Aktivitäten in Gang:Untersuchungsausschüsse tagten, Aktenberge wurdenangehäuft, und parlamentarische Beschlüsse wurden ge-fasst. Die rechtsterroristischen Morde haben Staat undGesellschaft aufgerüttelt – für die Opfer und ihre Ange-hörigen leider zu spät. Hat all die Geschäftigkeit dazugeführt, dass potenzielle Opfer in Zukunft wirksamervor rassistischer Gewalt geschützt sind? Werden dieMissstände in den staatlichen Strukturen, die das Fiaskoermöglichten, beseitigt? Nun, damit stehen wir erst ganzam Anfang.Gerade jährte sich die NSU-Selbstenttarnung zumdritten Mal. Wir gedachten vor wenigen Tagen der Op-fer, während die Angehörigen bis heute vergebens aufdie lückenlose Aufklärung warten, die ihnen einst auchKanzlerin Merkel versprach. Weder wurde die Vernet-zung des NSU umfassend offengelegt, noch das gravie-rende Versagen der Sicherheitsbehörden konsequent ge-ahndet. Im Fokus steht das Fehlverhalten einzelnerBediensteter, aber nicht der strukturelle Rassismus, derdas Klima für solche Ermittlungsfehler schafft und ver-stärkt.
Rassismus zerstört unseren gesellschaftlichen Zusam-menhalt. Wir müssen ihn deshalb auf allen Ebenen be-kämpfen.Nun legt die Bundesregierung diesen Gesetzentwurfvor, in dem unter anderem auf ein härteres Durchgreifengegenüber Tätern von Hasskriminalität gesetzt wird. In§ 46 Absatz 2 des Strafgesetzbuches sollen die Tatmo-tive „rassistisch“, „fremdenfeindlich“ und „menschen-verachtend“ künftig explizit benannt und bei der Strafzu-messung stärker berücksichtigt werden.Längere Haftstrafen hätten dann eine abschreckendeWirkung und dies wiederum würde zu weniger Opfernführen, so in etwa hat sich das Justizminister Maas wohlgedacht. Außerdem sollen die Staatsanwaltschaften be-stimmte Tatmotive mehr beachten. Die Vorschläge aller-dings gehen am Kern des Problems vorbei; denn wennbereits bei der polizeilichen Erfassung rassistische Tat-motive unerkannt bleiben, können diese später auch beider Strafzumessung keine Berücksichtigung finden.
Zudem ist es so, dass viele Straftaten erst in den Sta-tistiken der zivilgesellschaftlichen Opferberatungsstellenals Hasskriminalität sichtbar gemacht werden. DerenZahlen liegen regelmäßig höher als die der offiziellenPolizeistatistik. Ein solches Erfassungsdefizit ist aberkein Problem der geltenden Rechtslage und lässt sichauch nicht mit der geplanten Paragrafenkosmetik än-dern.Wer etwas anwenden soll, muss dafür sensibilisiertwerden. Die verschiedenen Formen von Hassdeliktenmüssen in Aus- und Fortbildungen vermittelt werden,damit die staatlichen Behörden und diejenigen, die dortarbeiten, damit umgehen können. Menschenrechtsarbeitund interkulturelle Bildung sind wichtig, und der Nach-holbedarf ist leider nach wie vor groß.
In unserem grünen Antrag zur Bekämpfung der Hass-kriminalität betonen wir die Bedeutung einer konse-quenten Ermittlung der Motive und der Verfolgung vonHasskriminalität. Sie richtet sich nicht nur gegen die ein-zelnen Menschen. Das Opfer wird aufgrund seiner tat-sächlichen oder zugeschriebenen Zugehörigkeit zu einerbestimmten Gruppe angegriffen. Besonders oft werdenMenschen aufgrund der ethnischen Herkunft, sexuellenOrientierung oder Geschlechtsidentität, der Religionoder Weltanschauung oder einer Behinderung zum Zielvon Hassverbrechen. Auch diese Motive gehören unbe-dingt bei der rechtspolitischen Präzisierung in den Blick.In einer Pressemitteilung des Lesben- und Schwulen-verbandes vom heutigen Tag wird darauf verwiesen,dass es hier eine Regelungslücke gibt. Zudem gibt esweitere Kriterien, die von einer Expertenkommissionhinsichtlich ihrer Berücksichtigung geprüft werden müs-sen. Das gilt zum Beispiel für Geschlecht, Alter, politi-sche Einstellung und den sozialen Status in Bezug aufWohnungslose und andere offenkundig sozial Ausge-grenzte.Alle genannten Kriterien sind Formen von gruppen-bezogener Menschenfeindlichkeit. Ohne einen gesamt-gesellschaftlichen Ansatz kann eine Auseinandersetzungnicht gelingen.
Ein Beitrag zur umfassenden Prävention ist auch dieStärkung des Bundesprogramms gegen Rechtsextremis-mus. Schon mehrfach jammerte Ministerin Schwesig öf-fentlich, dass sie mehr Geld für ihr neues Bundespro-gramm „Demokratie leben!“ braucht. In der Regierungkonnte sie sich allerdings nicht durchsetzen.
– Ich habe fünf Minuten zu Ihrem Gesetzentwurf gespro-chen. Ich nehme an, dass Ihnen, jedenfalls den Kollegin-nen und Kollegen der SPD, das Bundesprogramm „De-mokratie leben!“ am Herzen liegt. Deshalb wollte ichSie zum Schluss noch loben. Aber Sie haben es wahr-scheinlich nicht verdient.
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Monika Lazar
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– Frau Schwesig ist nicht da, aber die Mittel für ihr Bun-desprogramm wurden gestern in der Bereinigungssit-zung zum Haushalt um 10 Millionen Euro erhöht.Zumindest die Kolleginnen und Kollegen der SPD-Bun-destagsfraktion haben sich darüber gefreut.
Die grüne Bundestagsfraktion fordert seit vielen Jah-ren eine Erhöhung der Bundesmittel für Maßnahmen ge-gen Rechtsextremismus und andere Formen gruppenbe-zogener Menschenfeindlichkeit auf jährlich mindestens50 Millionen Euro. Deshalb ist das, auch wenn es nochnicht weit genug geht, ein Schritt in die richtige Rich-tung. Ich will hier das Positive in den Vordergrund stel-len und mich lobend äußern.Ich hoffe, dass die 10 Millionen Euro auch der Opfer-beratung und den mobilen Beratungsstellen zugutekom-men. Denn auch diese tragen dazu bei, Hasskriminalitätbesser zu erkennen. Dazu gehört auch, sich weiterhin anentsprechenden Aus- und Fortbildungen zu beteiligen.Mir war es jedenfalls wichtig, dass auch dieser Aspekt indieser Debatte eine Rolle spielt.Ich bedanke mich.
Die Kollegin Dr. Eva Högl spricht jetzt für die Sozial-
demokraten.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Liebe Frau Lazar, ganz herzlichen Dank fürdas Lob, das wir sehr gerne entgegengenommen haben.
10 Millionen Euro sind kein Pappenstiel. Dass das Pro-gramm jetzt auf mehr als 40 Millionen Euro aufgestocktwird, war gestern ein guter Beschluss. Darüber habenwir uns sehr gefreut.Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir haben mit demAbschlussbericht des NSU-Untersuchungsausschussesim September 2013 50 Maßnahmen vorgeschlagen, diedie Zustimmung aller Fraktionen im Deutschen Bundes-tag fanden. Deswegen sind diese Empfehlungen eine ge-meinsame Verpflichtung für uns alle im Bundestag.Wir brauchen Reformen – das wurde bereits festge-stellt – bei der Polizei, beim Verfassungsschutz und auchbei der Justiz. Heute geht es in unserer Debatte um dieJustiz. Justizminister Heiko Maas hat dazu gute undwichtige Vorschläge vorgelegt.Zunächst geht es um die Stellung des Generalbundes-anwalts. Bei der NSU-Mordserie wäre, so haben wir imUntersuchungsausschuss festgestellt, eine zentrale Über-nahme durch den Generalbundesanwalt oder auch einstaatsanwaltschaftliches Sammelverfahren nicht nurdenkbar, sondern auch erfolgversprechender gewesen.
– Das wäre notwendig gewesen. – Die Forderung nacheinem zentralen Ermittlungsverfahren wurde auch sei-tens der Staatsanwaltschaften Rostock und München er-hoben. Deswegen haben wir uns entschlossen, genau andiesem Punkt anzusetzen und dem Generalbundesanwaltdies zu ermöglichen. Er hat auch selbst geprüft, ob eineÜbernahme des Verfahrens in Betracht kommt. Aberweil dafür eine subjektiv staatsschutzfeindliche Zielvor-stellung Voraussetzung ist, hat er das abgelehnt. Zu denDetails, wie er das geprüft hat – nämlich leider nur aufGrundlage von Presseberichten –, könnte man durchausnoch etwas anmerken.Aber wir sind jedenfalls zu der Erkenntnis gekom-men, dass für die Übernahme des Verfahrens durch denGeneralbundesanwalt ein objektiv staatsschutzfeindlicherCharakter der Tat ausreicht und wir dies nicht zusätzlichmit der Voraussetzung einer subjektiv staatsschutzfeindli-chen Motivation verbinden dürfen. Das regelt der Ge-setzentwurf. Außerdem soll der Generalbundesanwaltbei länderübergreifenden Straftaten die Verfahren über-nehmen können, sodass ein Kompetenzgerangel, wie wires beim NSU erlebt haben, künftig vermieden werdenkann. Wir erleichtern die Führung eines Sammelverfah-rens.Ich finde einen Punkt sehr wichtig, den ich hervorhe-ben möchte: Der Generalbundesanwalt wird mit demGesetz die Möglichkeit bekommen, frühzeitig in lau-fende Ermittlungen eingebunden zu werden, wenn esAnhaltspunkte dafür gibt, dass seine Zuständigkeit inBetracht kommt. Das ist eine sehr wichtige Änderung.
Ich nehme gerne Stellung zu § 46 Absatz 2 StGB undauch zu dem Vorwurf, es handele sich hierbei um sym-bolische Gesetzgebung. § 46 Absatz 2 sieht selbstver-ständlich schon jetzt vor, lieber Kollege Ströbele, dasseine rassistische, rechtsextreme, fremdenfeindliche Mo-tivation strafverschärfend beim Strafurteil berücksichtigtwerden kann. Wir wissen aber, dass das in der Praxis– das wurde hier schon angesprochen – nur in Ausnah-mefällen geschieht. Die Gerichte berücksichtigen dieseMotivation häufig nicht.Ich möchte den Fall eines Paars aus Hoyerswerdaschildern, den ich schon einmal angesprochen habe. DiePolizei in Hoyerswerda hat das Paar aufgefordert, umzu-ziehen, weil sie das Paar nicht mehr schützen konnte.Die Wohnung des Paars wurde stundenlang von rechts-extremen Tätern belagert. Das Paar erhielt Todes- undVergewaltigungsdrohungen. Die Täter traten gegen die
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Dr. Eva Högl
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Wohnungstür und sangen Naziparolen. Der Spion wurdezugeklebt. Die Täter wurden im Januar 2014 verurteilt.Ihre rechtsextreme Tatmotivation und politische Einstel-lung wurden nur deshalb berücksichtigt, weil die Betrof-fenen als Nebenkläger im Prozess sehr engagiert auftra-ten und darauf gedrungen haben.Ich möchte Ihnen ein weiteres Beispiel nennen, dasSie sicherlich in den Medien verfolgt haben. Eine Fami-lie aus Syrien wurde auf dem Volksfest „Eisleber Wiese“brutal zusammengeschlagen. Wir alle haben diesen Fallzur Kenntnis nehmen müssen. Teilweise konnte das Le-ben der Betroffenen nur mit Mühe gerettet werden. DieVorsitzende Richterin fand – das ist ein positives Bei-spiel – bei ihrem Urteil deutliche Worte, hob die fremden-feindliche Gesinnung der Täter hervor und verurteilte siescharf. Wie wir sehen, gibt es also Möglichkeiten. Aberwir wollen § 46 Absatz 2 ändern, damit es nicht bei derMöglichkeit bleibt und dies den Gerichten überlassenbleibt – in der Praxis wird eine solche Motivation, wiegesagt, selten strafverschärfend gewürdigt –, sondern da-mit es eine Verpflichtung dazu gibt, solche Motivationenstrafverschärfend zu berücksichtigen.
Ich halte Folgendes für sehr wichtig – deswegen ist eskeine symbolische Gesetzgebung –: Eine solche Klar-stellung und Verdeutlichung in § 46 Absatz 2 wird Aus-wirkungen auf die strafrechtlichen Ermittlungsverfah-ren, auf das Vorfeld vor einem strafrechtlichen Urteil,haben.
Denn Polizei und Staatsanwaltschaft sind natürlich ganzanders gehalten, auch in diese Richtung zu ermitteln,wenn sie wissen, dass die Strafgerichte diese Motivationdann strafverschärfend berücksichtigen. Deshalb ist daseine gute und wichtige Änderung.Eine letzte Bemerkung zur RiStBV. Ich denke – ichhoffe, dass ich hier im Namen vieler Kolleginnen undKollegen spreche –, dass die Dienstanweisungen und Er-mittlungsrichtlinien für Straf- und Bußgeldverfahren nunso geändert werden müssen, wie es der NSU-Untersu-chungsausschuss vorgeschlagen hat. Es ist unsere Forde-rung Nummer eins, dass eine fremdenfeindliche Motiva-tion zwingend geprüft werden muss. Wir erwarten mitSpannung, dass sich die Justizministerinnen und Justiz-minister entsprechend positionieren und einen Beschlussfassen.Ich denke, wir sind auf einem guten Weg. Ich freuemich auf die weitere Umsetzung der Beschlüsse desNSU-Untersuchungsausschusses.Herzlichen Dank.
Abschließender Redner zu diesem Tagesordnungs-
punkt ist der Kollege Tankred Schipanski von der CDU/
CSU.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Als Mit-glied des NSU-Untersuchungsausschusses der 17. Legis-laturperiode freue ich mich natürlich, dass nunmehr auchdas BMJV die Umsetzung der Empfehlungen des Unter-suchungsausschusses vorantreibt. Schnell wurde bei un-serer Aufklärungsarbeit klar, dass es nicht nur Polizeiund Verfassungsschutz sind, die einer kritischen Be-trachtung bedürfen, sondern allen voran auch die Rolleder Staatsanwaltschaften und der Gerichte.
Die Staatsanwaltschaft als die Herrin des Verfahrens, derbis zur NSU-Aufklärung über Zweifel erhabene Gene-ralbundesanwalt und einfachste Anordnungen durch dasGericht im Rahmen klassischer Ermittlungsarbeit, aufallen diesen Feldern mussten wir eklatante Mängel fest-stellen. Ich erinnere mich an den Zeugen Dr. Förster, beidessen Aussage wir fast den Glauben an die Arbeits-weise des GBA verloren haben; Frau Högl hat das be-reits angesprochen. Ich erinnere mich an die Aussagedes Zeugen Staatsanwalt Schultz aus Gera, bei der wirfeststellen mussten, dass die Justiz in Thüringen in den90er-Jahren absolut überfordert war; der Minister hat dasbereits angesprochen. Wir haben fraktionsübergreifend– darauf hat Frau Högl zu Recht hingewiesen – Hand-lungsempfehlungen beschlossen, die auch den Bereichder Justiz betreffen.Einen Baustein beraten wir heute hier in erster Le-sung. Ich sage ganz bewusst: einen Baustein; denn wirwissen um die Maßnahmen, die bereits in der letzten Le-gislatur ergriffen wurden, gerade im Hinblick auf Num-mer 15 und Nummer 202 in der RiStBV. Ich denke auchan die Standards, die sich der Generalbundesanwalt fürseine Arbeit gegeben hat. Heute erfolgt nun ein nächster,aber nicht der letzte Schritt mit Blick auf die Anpassungdes Gerichtsverfassungsgesetzes.Mit der vorliegenden Anpassung des GVG wollen wirdie Begründung der Zuständigkeit des Generalbundes-anwaltes vereinfachen sowie sicherstellen, dass derGBA frühzeitig in laufende Ermittlungen einbezogenwird. Die Anpassung des GVG tut not, weil wir im Rah-men der NSU-Aufklärung praxisnah erlebt haben, dassdie Zusammenarbeit zwischen dem GBA und denStaatsanwälten eben nicht richtig funktioniert.Einen eigenen Akzent setzen die Kollegen des Rechts-ausschusses, wenn sie nunmehr im Bereich der Strafzu-messung über die Empfehlung des Untersuchungsaus-schusses hinausgehen und eine ausdrückliche Regelungaufnehmen, um fremdenfeindliche Beweggründe bei ei-ner Tat schärfer zu ahnden.
Das sind richtige Schritte, und ich erinnere zugleichdaran, dass weitere im Bereich der Justiz umgesetzt wer-den. Es bedarf sicherlich mit Blick auf den Informations-
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Tankred Schipanski
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austausch zwischen Staatsanwaltschaften und Polizeioder auch im Hinblick auf den Opferschutz weitererMaßnahmen; denn noch heute erleben wir in der PraxisDefizite beim Umgang mit Opfern extremistischer Ge-walt. Die Opferberatungsstelle ezra der EvangelischenKirche in Mitteldeutschland in Neudietendorf hat in die-sem Jahr einen Bericht vorgelegt, der aufzeigt, wo nochHandlungsbedarf besteht.Der Name der Studie „Die haben uns nicht ernst ge-nommen“ zeigt exemplarisch, wo in der Praxis noch Op-timierungsbedarf bei der Arbeit mit Opfern extremisti-scher Gewalt vorhanden ist. Da geht es nicht immer umgroße Gesetzesänderungen, sondern es reicht oftmalsschon die Anpassung von Verhaltensrichtlinien oder Be-lehrungsvorschriften. Dreh- und Angelpunkt ist oftmalsdiese RiStBV, bei deren Anpassung auch die Bundeslän-der gefordert sind. Ich gehe davon aus, dass Sie, HerrMinister, regelmäßig im Rechtsausschuss über die Um-setzung der Empfehlungen des NSU-Untersuchungsaus-schusses und auch über die Zusammenarbeit mit denLandesjustizministern in diesem Zusammenhang berich-ten werden.Wir als Parlament bleiben dran, wir machen Druck.Der Bericht der Bundesregierung vom 18. Februar die-ses Jahres zum Umsetzungsstand der Empfehlungen desNSU-Untersuchungsausschusses zeigt einen klarenFahrplan auf. Wir werden anhand dieses Berichtes sowieanhand der Empfehlungen kontrollieren, inwieweit dieseUmsetzung erfolgt. Die Debatte zum dritten Jahrestagder NSU-Aufklärung hat dies, denke ich, hier im Bun-destag sehr deutlich gemacht.Im Übrigen verbietet sich da jegliche Empörungsrhe-torik. Noch nie haben eine Bundesregierung oder einParlament so planvoll und detailliert auf die Ergebnisseeines Untersuchungsausschusses reagiert.
Neben den Maßnahmen im Bereich der Justiz sind esvor allem Maßnahmen im Bereich des Verfassungsschut-zes und der Polizei, die wir als Konsequenz aus demNSU-Komplex ergreifen. Ziel ist es dabei, dass wirunseren Staat weiterhin aktiv vor Extremismus und Ter-rorismus schützen. Ich erinnere an die Worte unseresBundesinnenministers Thomas de Maizière: keine Maß-nahme ohne Kenntnis.Kenntnis erlange ich nur durch Vorfeldaufklärung. ImFreistaat Thüringen schickt sich die Linke an, gemein-sam mit einer unheiligen Allianz aus SPD und Grünen,
diese Vorfeldaufklärung abzuschaffen.
Mich schockiert es, heute in den Medien lesen zu müs-sen, dass Rot-Rot-Grün in Thüringen die V-Leute ab-schaffen will
und somit eine effektive Extremismusbekämpfung ver-hindert. Mich schockiert, dass dieses Bündnis, stattStaatswohl zu fördern, nunmehr das Staatswohl gefähr-det.
In Thüringen wird das Gegenteil von dem gemacht,was der NSU-Untersuchungsausschuss hier im Bundes-tag empfohlen hat. Ich kann die Kollegen der SPD undder Grünen nur eindringlich vor einem solchen Bündniswarnen. Liebe Grüne, unter diesem Blickwinkel relati-viert sich auch Ihr Antrag, den Sie heute vorlegen.
Herr Kollege.
Ich freue mich auf eine Kurzintervention. Ich bin
nämlich gleich fertig.
Mit Bernhard Lichtenberg kann ich Ihnen nur sagen:
Die Taten eines Menschen sind die Konsequenzen seiner
Grundsätze, und sind die Grundsätze falsch, so werden
auch diese Taten nicht richtig sein.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Vielen Dank, Herr Kollege. – Bevor wir zum Schluss
der Debatte kommen, gibt es noch zwei Wünsche nach
Kurzinterventionen von der Kollegin Renner und vom
Kollegen Ströbele.
Wir beginnen mit der Kollegin Renner.
Herr Kollege Schipanski, Ihre Ausführungen ebenentbehrten jeden Stils.
Ein Ergebnis der Untersuchungsausschüsse, insbe-sondere des Untersuchungsausschusses in Thüringen,war, dass festgestellt wurde, in welcher Art und WeiseSpitzel die Neonazi-Szene in den 1990er-Jahren großge-macht haben, abgeschirmt haben vor Strafverfolgungund ausgestattet haben mit Geld, Handys, Mobilität undeiner ganzen Menge mehr, was dazu geführt hat, dassinsbesondere die militanten Strukturen, denen der NSUentstammte – die Anti-Antifa und das Netzwerk Blood& Honour –, sich in einer Art und Weise bundesweit ent-wickeln konnten, wie es ohne den Einsatz der Spitzel– das kann man mittlerweile wirklich nachweisen – indieser Form nie geschehen wäre.
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Martina Renner
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Wir sagen ganz klar – ich bin darüber sehr froh –,dass es auch in Zukunft unter Rot-Rot-Grün in Thürin-gen Kanon ist, dass eine Trennlinie zwischen denen, diedas Lebensrecht von Menschen negieren, die die Demo-kratie gefährden, die sich in die Historie und die Vergan-genheit des NS einreihen, und denen, die den Staat, dieDemokratie und die Menschenwürde schützen sollen,gezogen werden soll. Es darf keine Vermischung zwi-schen Demokratie und Feinden der Demokratie geben,wie es durch die Führung von quasi hauptamtlichenNeonazis durch die Verfassungsschutzbehörden passiertist.
Ich finde, das ist eine zentrale Schlussfolgerung ausden Erkenntnissen der NSU-Untersuchungsausschüsse.Ich glaube, dass diese Maßnahme zu einer Stärkung vonDemokratie und zu einem sensibleren Umgang mit denBedrohungen durch militanten Neonazismus führen wirdund auch ein höheres Maß an Schutz für diejenigen be-deuten wird, die potenziell Opfer rechtsextremer Gewaltsind, zum Beispiel in Thüringen. Ich hoffe, dieses Bei-spiel wird auch in anderen Ländern diskutiert.Sie sollten sich mit der Arbeit und den Ergebnissender Untersuchungsausschüsse und insbesondere denPraktiken der Verfassungsschutzbehörden mit Blick aufdie Neonazi-Szene wirklich etwas detaillierter auseinan-dersetzen. Das täte insbesondere Ihnen als ThüringerAbgeordneten sehr gut.
Herr Kollege Schipanski.
Frau Kollegin Renner, ich habe ja gesagt, ich bin Mit-
glied des Untersuchungsausschusses gewesen. Wir ha-
ben fraktionsübergreifend 47 Handlungsempfehlungen
beschlossen. Darin steht, dass wir die V-Leute nicht ab-
schaffen wollen, sondern dass wir das V-Mann-Wesen
reformieren wollen. Wir haben dazu ganz konkrete Vor-
schläge ausgearbeitet.
Ich kann nur noch einmal sagen: Mich schockiert,
dass Rot-Rot-Grün in Thüringen die V-Mann-Praxis ab-
schaffen will, in diesem Rahmen keine Voraufklärung
mehr leisten möchte.
Ich kann nur noch einmal wiederholen: ohne Kenntnis
keine Maßnahme. Ich stehe zu dem, was wir hier frak-
tionsübergreifend beschlossen haben: V-Leute erhalten,
klare Richtlinien festlegen. Ich bin davon überzeugt,
dass die designierte thüringische Landesregierung mit
der Maßnahme, die heute den Medien zu entnehmen ist,
das Staatswohl gefährdet und nicht fördert.
Herr Kollege Ströbele, Sie haben ebenfalls die Mög-
lichkeit zu einer Kurzintervention.
Herr Kollege Schipanski, ich bedauere es außeror-
dentlich, dass Sie den Konsens der fünf Fraktionen der
17. Wahlperiode des Deutschen Bundestages hiermit
heute aufgekündigt haben, diese schreckliche Mordserie
parteipolitisch nicht zu missbrauchen. Es war ein Kon-
sens – er war für die Arbeit dieses Untersuchungsaus-
schusses prägend –, dass es uns hier einheitlich darum
geht – auch ich musste mich manchmal zurückhalten –,
das Ganze aufzuklären und alles zu tun, dass so etwas
nie wieder passiert.
Zwei Jahre lang haben wir das durchgehalten – bis
heute –, und Sie stellen sich nun hier in den Deutschen
Bundestag hin und nutzen für einen ganz billigen Ver-
such der parteipolitischen Profilierung dieses Thema,
weil Sie mit der möglichen Koalition in Thüringen Pro-
bleme haben. Sie nutzen diese Mordserie, um damit
Wasser auf die Mühlen Ihrer Partei zu gießen.
Das ist überhaupt nicht in Ordnung. Ich meine, Sie soll-
ten sich in Ihrer Erwiderung dafür entschuldigen,
das zurücknehmen und wenigstens versuchen, den Kon-
sens bei der Aufarbeitung und Verhinderung solcher Ver-
brechen wiederherzustellen.
Herr Kollege Schipanski, Sie haben das Wort.
Also, Kollege Ströbele, einen Konsens hat hier heuteüberhaupt niemand aufgekündigt.
Ich habe darauf verwiesen, dass wir einen Konsens ha-ben; wir haben diese Handlungsempfehlungen ja einver-nehmlich beschlossen. Wenn jetzt ein Bundesland ausdiesem Konsens ausbricht
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6390 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 67. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. November 2014
Tankred Schipanski
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und etwas macht, was absolut nicht in diesen Hand-lungsempfehlungen steht, dann wird man darauf wohlhinweisen dürfen, ohne dass hier behauptet wird, eswerde ein Konsens irgendwie aufgekündigt.
– Nein, ich will Ihnen das so sagen, wie es ist. – WennSPD und Grüne in Thüringen es unterstützen, V-Leuteabzuschaffen, dann ist das etwas völlig anderes als das,was wir hier beschlossen haben.
Darauf habe ich zu Recht hingewiesen, und ich bin da-mit, dass ich mir Sorgen mache, nicht allein. Am 9. No-vember waren in Erfurt 4 000 Leute mit Kerzen auf demDomplatz und haben darauf hingewiesen, was da pas-siert.
In diesem Sinne: Schauen Sie jetzt auf die nächsteDebatte! Es geht um die Rehabilitierung in der DDRpolitisch Verfolgter; dazu können Sie sich gerne äußern.
Damit sind wir am Schluss unserer Aussprache zudiesem Tagesordnungspunkt angekommen; deshalbschließe ich diese Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen aufden Drucksachen 18/3007 und 18/3150 an die in der Ta-gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. –Weil ich keinen Widerspruch sehe, gehe ich davon aus,dass Sie damit einverstanden sind. Dann sind die Über-weisungen so beschlossen.Ich rufe jetzt die Tagesordnungspunkte 25 a und 25 bauf:a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Fünften Gesetzeszur Verbesserung rehabilitierungsrechtlicherVorschriften für Opfer der politischen Verfol-gung in der ehemaligen DDRDrucksache 18/3120Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
InnenausschussHaushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 der GOb) Erste Beratung des von den AbgeordnetenHalina Wawzyniak, Dr. Dietmar Bartsch, JanKorte, weiteren Abgeordneten und der FraktionDIE LINKE eingebrachten Entwurfs eines Fünf-ten Gesetzes zur Verbesserung rehabilitie-rungsrechtlicher Vorschriften für Opfer derpolitischen Verfolgung in der ehemaligenDDRDrucksache 18/3145Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
InnenausschussHaushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 der GONach einer interfraktionellen Vereinbarung sind fürdiese Aussprache 38 Minuten vorgesehen. – Ich hörekeinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache zu diesem Tagesordnungs-punkt und bitte, sich darauf zu konzentrieren.Das Wort hat als erster Redner Bundesminister HeikoMaas.
Heiko Maas, Bundesminister der Justiz und für Ver-braucherschutz:Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Vielleicht ist dieses Gesetz geeignet, etwas mehrRuhe ins Hohe Haus zu bringen; denn es geht um einThema, das, wie ich glaube, uns allen wichtig ist.Ich freue mich, dass wir gerade in diesen Tagen denRegierungsentwurf für ein Fünftes Gesetz zur Verbesse-rung rehabilitierungsrechtlicher Vorschriften für Opferder politischen Verfolgung in der ehemaligen DDR bera-ten können. Vor dem historischen Hintergrund des25. Jahrestages des Falls der Berliner Mauer wollen wirein Gesetz auf den Weg bringen, das die wirtschaftlicheSituation der Opfer der politischen Verfolgung in derehemaligen DDR verbessert. Es soll zugleich den Ein-satz jener Menschen, die sich als Vorkämpfer für Frei-heit, Demokratie und ein vereinigtes Deutschland gegendas SED-System aufgelehnt haben und deshalb Zwangs-maßnahmen erdulden mussten, stärker würdigen.Wie Sie wissen, hat sich der Deutsche Bundestag schonin der letzten Legislaturperiode mit breiter Mehrheit füreine Überprüfung der Höhe der sogenannten Opferrentestarkgemacht. Sowohl von der damaligen Regierungs-koalition als auch von der Opposition hatte es hierzuEntschließungen gegeben. Auf dieser Linie haben CDU,CSU und SPD in ihrem Koalitionsvertrag für diese Le-gislaturperiode eine Erhöhung der Opferrente vereinbart.Nun setzen wir diese Vereinbarung mit dem heute in ers-ter Lesung vorliegenden Gesetz um.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 67. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. November 2014 6391
Bundesminister Heiko Maas
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Die Opferrente wird um 50 Euro angehoben undsteigt damit von 250 auf 300 Euro monatlich.
Ich will gar nicht erst den Versuch machen, den Ein-druck zu erwecken, dass man mit Geld überhaupt dasUnrecht wiedergutmachen könnte, das den Betroffenenwiderfahren ist; aber ich glaube, nach so vielen Jahrenist man denjenigen, die unter dem Regime gelitten ha-ben, eine Weiterentwicklung der Beträge schuldig.Meine Damen und Herren, die Opferrente wird politi-schen Häftlingen gewährt, die mindestens 180 TageFreiheitsentzug erlitten haben. Zudem werden wir dieErhöhung auf eine Leistung nach dem Beruflichen Reha-bilitierungsgesetz übertragen: Die monatlichen Aus-gleichsleistungen für beruflich durch die SED-DiktaturGeschädigte werden ebenfalls angehoben. Die Aus-gleichsleistung nach dem Beruflichen Rehabilitierungs-gesetz wurde das letzte Mal vor gut zehn Jahren erhöht.Das zeigt, wie notwendig es jetzt ist, sich mit demThema auseinanderzusetzen.
Bei der Opferrente ist es die erste Anhebung seit Inkraft-treten der Regelung im Jahr 2007. Auch da kann man sa-gen: Es ist wirklich an der Zeit.Wir wollen, dass die Betroffenen schon sehr bald,nämlich ab dem 1. Januar 2015, in den Genuss der ange-hobenen Leistungen kommen. Die Erhöhung wird über45 000 ehemaligen politischen Häftlingen zugutekom-men, die bereits jetzt im laufenden Bezug sind.Meine Damen und Herren, ich freue mich, dass auchdiese Leistungserhöhungen, wie alle Leistungen nachdem Strafrechtlichen und dem Beruflichen Rehabilitie-rungsgesetz, von Bund und Ländern gemeinsam finan-ziert werden. Trotz angespannter Haushaltslagen in vie-len Ländern zeigt sich in der weiterhin einvernehmlichenKostenverteilung zwischen Bund und Ländern die ge-lebte gemeinsame Verantwortung für die Unterstützungder Opfer politischer Willkür in der ehemaligen DDR.Insofern bitte ich Sie um Unterstützung für diesen Ge-setzentwurf.Vielen Dank.
Vielen Dank, Herr Minister. – Nächste Rednerin ist
die Kollegin Halina Wawzyniak für die Fraktion Die
Linke.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-ren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Bundesregie-rung will den Betrag der SED-Opferrente erhöhen. Dasist richtig, das ist gut. Wir werden dem zustimmen.
Aber wir wollen mehr. Deswegen haben wir einen eige-nen Gesetzentwurf vorgelegt. Dieser Gesetzentwurf istnicht neu: In der vergangenen Legislaturperiode habenwir einen Entschließungsantrag vorgelegt, und das, wasin diesem Entschließungsantrag stand, setzen wir jetzt inGesetzesform um.Was ist dieses Mehr? Wir wollen, dass diejenigen, diewegen asozialen Verhaltens im Zusammenhang mit denWeltfestspielen der Jugend und Studenten verurteilt wur-den, ebenfalls anspruchsberechtigt sind.
Wir wollen, dass diejenigen, die von Zersetzungs-maßnahmen des Ministeriums für Staatssicherheit be-troffen waren und deren Lebensführung durch dieseMaßnahmen erheblich beeinträchtigt wurde, mit denje-nigen gleichgestellt werden, gegen die Urteile gespro-chen wurden, die mit wesentlichen Grundsätzen einerfreiheitlich-demokratischen Grundordnung unvereinbarsind; auch sie sollen anspruchsberechtigt sein.
Wir wollen, dass der Anspruch ab dem ersten Tag derHaft gilt und nicht erst nach 180 Tagen.
Wir wollen, dass die Leistungen unabhängig vomEinkommen gewährt werden, als Anerkennung undWürdigung des Einsatzes für Freiheit und Bürgerrechtein der SED-Diktatur. Wir finden es nicht akzeptabel,dass Menschen, die ein Einkommen haben, das mehr als1 173 Euro beträgt, von diesen Leistungen ausgeschlos-sen sind. Die Leistungen müssen unabhängig vom Ein-kommen gewährt werden.
Wir wollen, dass es keine Begrenzung der Frist zurAntragstellung gibt. Wir wollen, dass im Zweifelsfalleine Kausalität zwischen Haft und Gesundheitsschädi-gung als gegeben angesehen wird und es nicht den Be-troffenen aufgebürdet wird, diese im Detail nachzuwei-sen.
In einer Anhörung im Ausschuss für Kultur und Me-dien am 5. November – da war unser Gesetzentwurfschon im innerfraktionellen Verfahren – sind genau dieseForderungen von der Union der Opferverbände aufge-stellt worden. Ich sage Ihnen: Es gibt keinen Grund,diese Erweiterung abzulehnen.
Sie haben in den vergangenen Jahren unsere Gesetz-entwürfe immer wieder mit dem Argument abgelehnt,dass wir, juristisch gesehen, die Nachfolgepartei derSED sind.
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Deswegen mache ich einen ganz einfachen Vorschlag:Schreiben Sie auf unseren Gesetzentwurf „Gesetzent-wurf der Fraktionen der CDU/CSU, der SPD und desBündnisses 90/Die Grünen“, und wir stimmen trotzdemzu.
Wenn Sie etwas tun wollen, dann ersetzen Sie einfachdie einreichende Fraktion. Wir werden dem zustimmen.Ich sage Ihnen aber auch: Keine andere Partei in derBundesrepublik hat sich so intensiv mit der eigenen Ge-schichte beschäftigt wie unsere Partei,
angefangen mit dem Referat über den Bruch mit demStalinismus als System, mit der Entschuldigung bei denBürgerinnen und Bürgern der DDR im Dezember 1989.
Frau Kollegin Wawzyniak, gestatten Sie eine Zwi-
schenfrage des Kollegen Vaatz?
Selbstverständlich. Ich wäre beleidigt, würde keine
Zwischenfrage kommen.
Frau Wawzyniak, ich kann Ihnen ein solches Beleidi-
gungserlebnis ersparen. – Ich habe mehrere Fragen. Ers-
tens. Sie sind doch sicher mit mir einer Meinung, dass es
überhaupt keiner Opferpensionen bedürfte, wenn es
nicht das Unterdrückungssystem der SED gegeben hätte.
Wenn dem so ist, dass Sie damit übereinstimmen,
dann frage ich Sie zweitens, ob Sie sich vorstellen kön-
nen, dass die Erben der SED einen eingetragenen Verein
gründen, in den sie jeden Monat 5 Prozent ihres Einkom-
mens einzahlen, um all die noch vorhandenen Mängel,
die Sie gerade anführen, zu begleichen.
Meine dritte Frage. Sie sagen, Sie hätten die inten-
sivste Aufarbeitung von allen Parteien überhaupt betrie-
ben. Wie stehen Sie dazu, dass Sie alles, was Sie hinter-
lassen haben, in die Haftung der Gemeinschaft schieben
wollen, aber keinerlei Bereitschaft zeigen, auch nur ei-
nen Pfennig persönliche Haftung für das von Ihnen an-
gerichtete Unglück zu übernehmen? Ganz im Gegenteil:
Sie feilschen um jeden einzelnen Pfennig gegenüber der
Gemeinschaft, wenn es beispielsweise um die Renten
von ehemaligen Stasileuten geht.
Frage eins. Sie haben recht, wir müssten darüber nichtreden, hätte es die SED-Diktatur nicht gegeben.
Frage zwei. Wir können gerne einen Verein gründen.Ich bin auch gerne dazu bereit, Gründungsmitglied zuwerden und persönlich Geld zur Verfügung zu stellen.Frage drei. Was die Kosten angeht: Ihnen ist sicher-lich bekannt, dass im Jahr 1990 circa 4 Milliarden DDR-Mark vom Vermögen der SED in den Staatshaushalt derDDR überführt worden sind. Ihnen ist sicherlich be-kannt, dass im Jahr 1995 ein rechtsgültiger Vergleich ge-schlossen worden ist, in dem wir auf das Vermögen, dasnicht rechtsstaatlich erworben wurde, verzichtet haben.
Ihnen ist sicherlich bekannt, dass es eine BlockparteiCDU gab, die auch rechtsstaatlich nicht gerechtfertigtesVermögen besessen hat.
Sie können sich wieder setzen; denn ich würde gernein meiner Rede fortfahren, wenn das okay ist. – Danke.
Ich sage Ihnen aber auch: Wir haben Schlussfolgerun-gen aus unserer Geschichte gezogen. Soziale Gerechtig-keit und Freiheit sind zwei Seiten derselben Medaille.Keine von beiden hat, abstrakt gesehen, einen höherenWert; das eine ist ohne das andere nichts, aber auch garnichts wert.Wir haben Ihnen vor dem Hintergrund dieser Ge-schichte diesen Gesetzentwurf vorgelegt. Ich habe Ihnenjetzt zwei Wege aufgezeigt, wie Sie diesem Gesetzent-wurf zustimmen können und wie statt Worten tatsächlichauch Taten folgen können. Variante 1: Sie stimmen unse-rem Gesetzentwurf zu. Variante 2: Sie schreiben einfach„CDU/CSU, SPD, Grüne, Linke“ obendrüber, wobei Sie„Linke“ auch weglassen können; wir stimmen trotzdemzu.Ich will Ihnen zum Schluss noch etwas sagen. Dinge,die geschehen sind, können wir nicht ungeschehen ma-chen. Ich selbst war zur Wendezeit 16 Jahre alt. Ich habe25 Jahre meines Lebens damit verbracht, mich mit dieserGeschichte auseinanderzusetzen. Die Auseinanderset-zung mit dieser Geschichte hat dazu geführt, dass wirgenau diesen Gesetzentwurf vorgelegt haben. Wir kön-nen es nicht ungeschehen machen, aber wir können da-für sorgen, dass den Opfern der SED-Diktatur mehr Ge-rechtigkeit widerfährt.
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Der Kollege Dr. Stefan Heck spricht als Nächster für
die Unionsfraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Amvergangenen Sonntag feierte ganz Deutschland denMauerfall vom 9. November 1989 und damit den end-gültigen Niedergang des SED-Unrechtsstaats. Heute, nurwenige Tage später, beraten wir hier über die Erhöhungder SED-Opferrente. Das ist nach so langer Zeit beileibekeine Selbstverständlichkeit. Deswegen möchte ich miteiner eigentlich ganz naheliegenden Frage beginnen: Istes nach nunmehr über 25 Jahren tatsächlich noch not-wendig, sich im Deutschen Bundestag weiterhin mitdem Unrechtsregime eines inzwischen untergegangenenStaates zu befassen? Ich bin der festen Überzeugung,dass es notwendig ist. Lassen Sie mich dafür dreiGründe nennen:Es ist erstens notwendig, weil wir im Aufarbeitungs-prozess immer weiter fortschreiten und bestehende Re-gelungen schon deswegen immer wieder überprüfenmüssen. Es ist zweitens notwendig, weil der Umgangmit geschehenem staatlichen Unrecht immer auch einGradmesser für die Selbstachtung eines Rechtsstaats ist.Es ist drittens notwendig, weil wir – das finde ich eigent-lich am wichtigsten – diejenigen niemals vergessen dür-fen, die der zweiten Diktatur auf deutschem Boden alsErste den Gehorsam verweigerten. Die Opfer der politi-schen Verfolgung in der ehemaligen DDR verdienen un-sere Solidarität und unsere Anerkennung.
Die Entschädigung der Opfer staatlichen Unrechts aufdeutschem Boden hat in der Bundesrepublik gute Tradi-tion. Während sich die DDR nach dem Zweiten Weltkriegder Entschädigung der NS-Opfer mit dem zynischen Ar-gument entzog, sie gehörten zu den antifaschistischenSiegern des Zweiten Weltkriegs – das gehört zur Ge-schichte dazu, Frau Wawzyniak –, war für die Bundes-republik von Anfang an das klar, was Konrad Adenauerim Deutschen Bundestag am 27. September 1951 gesagthat – Zitat –:Im Namen des deutschen Volkes sind … unsagbareVerbrechen begangen worden, die zur moralischenund materiellen Wiedergutmachung verpflichten …Die Erklärung Adenauers wurde damals, wie das Proto-koll vermerkt, im ganzen Hause mit lebhaftem Beifallbedacht, außer bei der KPD und auf der äußersten Rech-ten.Die junge Demokratie – sie war damals ja erst wenigeJahre alt – hatte erkannt: Es bedarf zur Selbstachtung ih-rer eigenen Werte sichtbarer Zeichen der Wiedergutma-chung zugunsten derjenigen, die in den Zeiten totalitärerDiktatur schwer gelitten hatten.
Das haben wir auch in der Freude über die Wiederver-einigung nicht vergessen. Unsere Vorgänger im Deut-schen Bundestag haben damals das nachgeholt, was dieDDR versäumt hatte. Wir haben die Entschädigung fürdie NS-Opfer beschlossen, die in der Zeit bis 1945 aufdem Gebiet der späteren DDR Opfer von Verfolgungs-maßnahmen wurden. Hier hat sich die SED 40 Jahrelang ihrer gesamtdeutschen Verantwortung entzogen.Liebe Frau Wawzyniak, es ist eigentlich kein weitererBeweis dafür mehr erforderlich, dass Sie in dieser Fragekeine besonders glaubwürdigen Vertreter sind.
Herr Minister, Sie haben es gesagt: Eine finanzielleEntschädigung kann geschehenes Leid niemals rückgän-gig machen. – Aber sie ist das Mindeste, was wir für dieOpfer tun können. Staatliches Unrecht auf deutschemBoden geht uns alle etwas an.Inzwischen konnten 47 000 Menschen von der soge-nannten Opferrente profitieren. Allein diese Zahl sollteAnlass genug sein, dass wir uns heute wieder mit diesemThema beschäftigen, zumal – auch das haben Sie gesagt –die Beträge der Opferrente seitdem nicht erhöht wordensind. Wir tragen damit den berechtigten Interessen derOpferverbände Rechnung. Was die Höhe der Entschädi-gung angeht – auch da gibt es ja ganz unterschiedlicheForderungen –, glaube ich, dass wir gut beraten sind,weiterhin an dem Grundsatz festzuhalten, dass die Höheder Entschädigungsleistungen für die NS-Opfer dieObergrenze für die Entschädigungsleistungen für dieOpfer des SED-Unrechts bildet. Die monatliche Beihilfefür NS-Opfer beträgt nach dem Abkommen gegenwärtig310 Euro. Vor diesem Hintergrund erscheint es uns an-gemessen, dass die monatlichen Zuwendungen nachdem Strafrechtlichen Rehabilitierungsgesetz um 50 Euroauf nunmehr 300 Euro angehoben werden. So bleibtauch die Verhältnismäßigkeit zwischen den Opfergrup-pen und den dahinterstehenden Schicksalen gewahrt.Ich möchte noch einmal sagen: Kein Geldbetrag kanndas Leid rückgängig machen. Eine Opferrente wird im-mer einen symbolischen Charakter haben. Wir solltenheute, denke ich, auch anerkennen, dass die Opfer will-kürlicher SED-Haft mit den genannten Beträgen besser-gestellt werden als jemand, der nach erlittener Untersu-chungs- oder gar Strafhaft als unschuldig entlassen undentschädigt wird. Die Situationen sind nur schwer ver-gleichbar, aber es gibt ja auch den Fall, dass jemandsozusagen ganz rechtsstaatlich, aber am Ende doch un-schuldig bestraft wurde und der Zahlung einer staat-lichen Entschädigungsleistung als Wiedergutmachungbedarf, die das Gesetz heute schon vorsieht. Die Gewäh-rung einer Geldrente bleibt aber mit guten Gründen denOpfern totalitärer Diktatur vorbehalten. Damit erkennenwir das besondere Unrecht an, das diesen Opfern wider-fahren ist.
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Dr. Stefan Heck
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Frau Wawzyniak, gerade weil die Opfer willkürlicherHaft in der DDR zu Recht in privilegierter Weise ent-schädigt wirken, müssen wir den Kreis der Anspruchs-berechtigten auf die wirklichen Opfer eingrenzen undMissbrauch erschweren. Deswegen halte ich auch nichtsvon Ihren Vorschlägen, die Erhöhung jetzt an eine ArtBeweislastumkehr zu knüpfen, bis hin zu einem Amts-ermittlungsgrundsatz, oder sie an eine Kausalitätsvermu-tung zu koppeln. Wir müssen doch dafür sorgen, dassvor allem diejenigen weiterhin von der Gewährung derSED-Opferrente ausgeschlossen bleiben, die wissent-lich und willentlich mit der Stasi zusammengearbeitethaben. Das wäre ein Schlag ins Gesicht all derjenigen,die hinreichend nachweisen können, dass sie Opfer die-ses verbrecherischen Regimes waren.Uns ist es wichtig, dass wir auch weiterhin dafür sor-gen, dass diejenigen, die eine Stasivergangenheit haben,die schwerste Verbrechen begangen haben, von der Ge-währung der SED-Opferrente ausgeschlossen bleiben.Deshalb ist es wichtig, dass der Beweis über das Vorlie-gen der Rehabilitierungsvoraussetzungen, wie es dasGesetz vorsieht, weiterhin vom Antragsteller erbrachtwerden muss. Die privilegierte Entschädigung durcheine Opferrente wollen wir auch weiterhin auf diewirklich bedürftigen Opfer beschränken. Das, FrauWawzyniak, ist auch der Sinn der Mindesthaftdauer von180 Tagen in diesem Gesetz.
– Selbstverständlich, Frau Wawzyniak, ist jeder Tag, denein Unschuldiger in Haft verbringt, ein Tag zu viel.
Deshalb bekommen auch Opfer der SED-Diktatur, diekürzer als diese Mindesthaftzeit eingesessen haben, eineEntschädigung, nämlich eine einmalige Entschädigunggemessen an der Haftzeit.
Aber eine Haftzeit von wenigen Tagen oder Wochenkann eben nicht verglichen werden mit dem Leid, demUnrecht und auch den psychischen Folgen, die Men-schen erlebt haben, die über ein halbes Jahr im Gefäng-nis eingesessen haben.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Linksfrak-tion, ich will zum Abschluss noch einmal in besondererWeise auf Ihre Vorschläge eingehen. Sie haben ja hier inbeeindruckender Offenheit gesagt, dass es Ihre Parteiwar, die bis 1989 das Unrecht in der DDR an allerersterStelle verantwortet hat.
Damals war an Entschädigung derjenigen, die Unrechterlebt haben, nicht zu denken. Ich habe von den NS-Op-fern gesprochen, die in der DDR 40 Jahre auf ihre Ent-schädigung gewartet haben. Insofern ist es schon beacht-lich, dass ausgerechnet Sie sich hier heute an die Spitzederjenigen stellen, die eine Entschädigung fordern.Frau Wawzyniak, bei all dem, was Sie hier gesagt ha-ben, was Sie hier ja wortreich und konziliant vorgetra-gen haben, habe ich einen Satz vermisst. Wenn Sie wirk-lich etwas für die Wiedergutmachung des durch Ihreeigene Partei verursachten Unrechts tun wollen, dannschlage ich Ihnen vor: Stellen Sie sich hier vorne hin,und sagen Sie uns ohne Wenn und Aber, dass die DDRein Unrechtsstaat war.
Damit tun Sie mehr für die Opfer dieses Systems als mitIhren Vorschlägen, die heute hier vorliegen.
In dem heute vorliegenden Gesetzentwurf wird zumeinen ein wichtiger Punkt des Koalitionsvertrags zwi-schen CDU/CSU und SPD umgesetzt. Zum anderenwürdigen wir – und das ist noch viel wichtiger – durchdie Erhöhung der SED-Opferrente den Einsatz all derje-nigen Menschen, die in der DDR, ungeachtet persönli-cher Nachteile, für Freiheit und Demokratie gekämpfthaben und dafür verfolgt und eingesperrt wurden. DieErhöhung der Opferrente ist ein wichtiger Ausdruck un-serer Wertschätzung ihres Einsatzes.Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Nächste Rednerin ist für die Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen die Kollegin Katja Keul.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Wer wie ich zur Zeit der Mauer im Westengroß geworden ist, hat in der Regel wenig Bezug zu Op-fern von SED-Unrecht gehabt.Mir ist die Realität erstmals als Scheidungsanwältinbegegnet, als eine Mandantin aus unerfindlichen Grün-den trotz meiner unterstützenden Hinweise die Formu-lare zum Versorgungsausgleich partout nicht ausfüllenkonnte oder wollte. Sie kam aus dem Osten, aber im Üb-rigen schien es ein Routinefall ohne besondere Um-stände zu sein.Irgendwann brach es während einer Beratung aus ihrheraus, wobei sie am ganzen Körper zitterte: Sie war alsJugendliche als asozial eingestuft und bereits mit 16 in-haftiert worden. Was sie mir an diesem Tag schilderte,hat mir erstmals auch emotional nahegebracht, wasSED-Unrecht bedeutet.Die Bundesregierung hat uns heute einen Gesetzent-wurf zur Aufstockung der Opferrente für die von derpolitischen Verfolgung in der ehemaligen Sowjetischen
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Katja Keul
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Besatzungszone und der Deutschen Demokratischen Re-publik Betroffenen vorgelegt. Zum 1. Januar 2015 solldie monatliche Zuwendung nach § 17 a des Strafrechtli-chen Rehabilitierungsgesetzes um 20 Prozent, die mo-natliche Ausgleichszahlung nach § 8 des BeruflichenRehabilitierungsgesetzes von 184 auf 214 Euro aufge-stockt werden. Dies sind die ersten Erhöhungen seit derEinführung der Zuwendungen im Jahre 2007 bzw. 2003und damit längst überfällig.Der eingeschlagene Weg ist zu begrüßen. Auch vordem zeitlichen Hintergrund des 25. Jahrestages desMauerfalls hat dies durchaus eine symbolische Wirkung.Doch ist dies auch ausreichend?In der Denkschrift der Bundesregierung zum Eini-gungsvertrag heißt es ausdrücklich, dass die Rehabilitie-rung aus rechtspolitischen, humanitären und sozialenGründen geboten sei, um das Unrecht und seine Auswir-kungen im Rahmen der gegebenen Möglichkeiten zu be-seitigen. Eine Erhöhung um 50 Euro erscheint mir zurUmsetzung dieses Zieles zu wenig.Seit der Einführung der Opferrente werden die Au-ßerachtlassung bestimmter Opfergruppen sowie das Kri-terium der finanziellen Bedürftigkeit vonseiten desDachverbandes der SED-Opfer zu Recht kritisiert. DieRente dient als Ausgleich für das erlittene Unrecht undwird ohne hinreichenden Grund zu einer Sozialleistunggemacht. Herr Maas, Sie haben gesagt, man will diewirtschaftlichen Bedingungen für die Opfer verbessern.Aber wenn der höhere Betrag auf Sozialleistungen ange-rechnet wird, dann ändert sich für die Betroffenen nichts.
Um dem eigentlichen Ziel gerecht zu werden, sollte siealso einkommensunabhängig ausbezahlt werden.
Ebenso ist die Beschränkung des Kreises der An-spruchsberechtigten auf ehemalige Häftlinge, die min-destens 180 Tage im Gefängnis verbringen mussten, sehrproblematisch. Was ist denn mit denen, die nur wenigeWochen im Stasigefängnis malträtiert wurden? Sind siedeshalb keine Opfer? Was ist mit den verfolgten Schüle-rinnen und Schülern, wie die eingangs erwähnte Man-dantin? Was ist mit den aus dem Grenzgebiet Zwangs-ausgesiedelten? Diese Gruppen erhalten bislang keineAusgleichsleistungen. Das ist ungerecht.
Auch die Leistungssportler der DDR, denen die Ein-nahme von Dopingmitteln oft ohne deren Wissen bereitsim Kindes- und Jugendalter staatlich verordnet wurdeund die bis heute mit den schweren gesundheitlichenLangzeitfolgen dieser Vorgehensweise zu kämpfen ha-ben, müssen in den Kreis der Anspruchsteller mit aufge-nommen werden.
Die dadurch erlittenen Einbußen wie Schwerbehinderun-gen und Persönlichkeitsstörungen werden für diese Per-sonen mit zunehmendem Alter gravierender, sodass esmit einer Einmalzahlung in diesem Bereich nicht getanist.Meine Fraktion hat bereits im Februar 2013 einen An-trag zur Einführung einer Rente für Dopingopfer derDDR eingebracht. Getan hat sich bislang nichts. HerrMaas, Sie haben sich kürzlich zusammen mit Herrn deMaizière auf einen Entwurf für ein Anti-Doping-Gesetzverständigt. Die Dopingopfer wurden jedoch auch hiernicht berücksichtigt. Das ist bedauerlich.Mit der jetzigen Gesetzesänderung bewegt sich dieBundesregierung lediglich mit kleinen Schritten in dierichtige Richtung. Die Opfer benötigen jedoch eine deut-lichere und offensivere Gangart, um die angemesseneAnerkennung – und darum geht es ja, jedenfalls mehr alsum die Beträge – des erlittenen Unrechts zu erfahren.
Aus diesem Grund fordern wir Grüne, dass alle Be-troffenen der Zersetzungsmaßnahmen des Staatssi-cherheitsdienstes in die Gewährung der Opferpensioneinbezogen werden und vollständig auf die Bedürftig-keitsprüfung verzichtet wird. Zudem sollen Personen miteiner Haftzeit von weniger als 180 Tagen zumindest eineanteilige besondere Zuwendung erhalten.Der zu diesem Thema vorgelegte Gesetzentwurf derFraktion Die Linke greift einige der genannten Punkteauf, etwa die Unabhängigkeit vom Einkommen. Wirhaben in der letzten Legislaturperiode Ihrem Entschlie-ßungsantrag zugestimmt. Wir werden jetzt den vorlie-genden Gesetzentwurf prüfen. Ich bin aber zuversicht-lich, dass wir zusammenkommen. Ich hoffe auch, dassdie Anhörung in der nächsten Sitzungswoche weitereWege aufzeigt, wie wir angemessen mit dem Thema um-gehen können.Vielen Dank.
Der Kollege Matthias Bartke spricht jetzt für die So-
zialdemokraten.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Im Koali-tionsvertrag haben wir vereinbart, die Zuwendung fürOpfer des SED-Unrechts zu erhöhen. Ich finde, es gibtkeinen besseren Zeitpunkt hierfür als den Monat, in demsich der Mauerfall zum 25. Mal jährt.Jeder Betroffene reagiert unterschiedlich auf Repres-sionen eines Unrechtssystems. Manche stecken dies wegund leben danach unbeschwert weiter und auch beruflicherfolgreich weiter. Andere allerdings erholen sich nie
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6396 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 67. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. November 2014
Dr. Matthias Bartke
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wieder wirklich von dieser Erfahrung und kommen nichtmehr auf die Beine. Die beiden Opferrenten, die wir mitdem vorliegenden Gesetzentwurf aufstocken werden,sind gerade für diese Opfer gedacht. Sie sind für diejeni-gen, die die traumatischen Erfahrungen der Haft und derRepression nicht verwunden haben und wirtschaftlichnicht mehr auf die Beine gekommen sind.Das klingt abstrakt. Ich habe vor einigen Wochen miteiner meiner Besuchergruppen das Stasigefängnis Ho-henschönhausen besucht. Ich kann das nur jedem emp-fehlen. Ich war von diesem Besuch tief erschüttert. Daswar nämlich überhaupt nicht mehr abstrakt, sondern be-klemmend konkret. Das Stasiuntersuchungsgefängnis inHohenschönhausen war nur eines von 17 Stasiuntersu-chungsgefängnissen in der DDR. Das Prinzip dieser Ge-fängnisse bestand darin, die Häftlinge zu erniedrigenund zu brechen. Mit staatlichen Repressionen musstennicht nur Republikflüchtlinge rechnen. Das galt bei-spielsweise auch für Teilnehmer des Aufstands vom17. Juni 1953, für die Zeugen Jehovas und auch für inUngnade gefallene Politiker wie etwa Walter Janka undWolfgang Harich.Seit Gründung der DDR kamen aus politischen Grün-den zwischen 200 000 und 250 000 Menschen ins Ge-fängnis. Aber natürlich waren die Gefängnisse nur dieSpitze des Eisbergs, des Repressionssystems der DDR.Noch wichtiger als die Verhaftung und Verurteilung vonFluchtwilligen und Andersdenkenden war die abschre-ckende Wirkung, die davon ausging. Den meisten Men-schen in der DDR war eben immer bewusst, dass mansie, wenn sie sich auflehnten, jederzeit verhaften konnte.Sie wussten, dass sie der Stasi dann schutzlos ausgelie-fert waren, dass sie ihre Arbeitsstelle und jede beruflichePerspektive verlieren konnten.Der Kontroll- und Überwachungsapparat des MfSwurde im Laufe der Zeit immer weiter ausgebaut. AmEnde verfügte die Stasi über 91 000 hauptamtliche undüber 180 000 inoffizielle Mitarbeiter, die sogenanntenIMs. Zum Vergleich: Das ist mehr als die Bundeswehrheute an Soldaten hat.Ganz besonders tragisch sind in meinen Augen dieFälle, bei denen die Stasi die psychische Bedrängnis derOpfer in ihren Gefängnissen ausgenutzt hat, um sie zueiner Zusammenarbeit zu drängen. Das lief dann häufignach dem Motto „Wir könnten Ihre Haft natürlich ver-kürzen; Sie müssten sich nur etwas kooperationswilligerzeigen“. In solchen Situationen, Herr Heck, sind danndoch viele Menschen schwach geworden und haben dieIM-Erklärung unterzeichnet. Ich finde, man sollte vor-sichtig sein mit Vorwürfen und Verurteilungen denen ge-genüber, die in einer solchen Situation schwach gewor-den sind.
Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf erhöhen wir dieOpferrenten nach dem Strafrechtlichen und dem Berufli-chen Rehabilitierungsgesetz. Das ist nicht nur einemonetäre Maßnahme. Es ist vor allem auch von Staatswegen eine moralische Anerkennung des erlittenen Un-rechts. Für viele ist das noch viel wichtiger als die Geld-leistung: die Anerkennung, dass man selbst keine Schuldhatte und dass es der Staat DDR war, der verbrecherischgehandelt hat. Gerade für die vielen Opfer des SED-Re-gimes war es daher wichtig, dass Rot-Rot-Grün in Thü-ringen klargestellt hat, dass die DDR ein Unrechtsstaatwar. Ich finde, Frau Wawzyniak, dass Sie hier noch ein-mal sehr beeindruckend klargestellt haben, dass dies derFall gewesen ist.
Für eine zukunftsorientierte Politik ist es von eminen-ter Bedeutung, dass das historische Fundament stimmt.Hierzu gehört in erster Linie eine gemeinsame Bewer-tung der jüngeren Vergangenheit unseres Landes. Zu einerzukunftsorientierten Politik gehört auch, dass man sich zuseiner Vergangenheit bekennt und daraus die Lehrenzieht. Weiter gehört dazu, dass die Opfer des DDR-Un-rechts für ihre erduldeten Leiden wertgeschätzt werdenund eine Entschädigung erhalten. Die geplanten Opfer-rentenerhöhungen sind daher ein wichtiges und richtigesSignal zu einem symbolträchtigen Zeitpunkt.Ich danke Ihnen.
Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der
Kollege Dr. Volker Ullrich, CDU/CSU.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Die Mauer ist vor 25 Jahren gefallen – und da-mit der SED-Unrechtsstaat. Die Opfer leiden noch heute.„Zu viele Verbote und zu wenig Rechte gab es in diesemLand“ – das schreibt der Autor Jürgen Brand in seinemBuch „Hafterlebnisse eines DDR-Bürgers“. Er wolltefrei sein, seine Meinung äußern, und war dann Opfer vonStasibespitzelung und Bedrängung. Er musste 20 Mo-nate inhaftiert in einer Stasihaftanstalt verbringen. Dortwurde er in Einzelhaft gehalten, durfte nicht schreibenund nicht lesen. Er befand sich in Isolation und ist durchMitarbeiter der Staatssicherheit bedrängt worden.„Die Haft dauert an“, schreibt Angelika Cholewa inder Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Auch sie wolltefrei sein und in den Westen übersiedeln. Bei einemFluchtversuch an der Grenze zur damaligen Tschecho-slowakei wurde sie verhaftet und musste über drei Jahrein DDR-Haft verbringen. Sie wurde in der Haft schwerkrank und bekam nicht die notwendige medizinischeVersorgung. Ganz im Gegenteil: Man hat ihr sogar nochgedroht und vorgemacht, dass ihre Mutter im Sterbenliege und sie diese nur sehen dürfe, wenn sie Mitgliedder Stasi werde.Jürgen Brand und Angelika Cholewa sind nur zweivon vielen Hunderttausend Opfern dieser Diktatur. Wennbeinahe 40 000 Menschen zurzeit eine SED-Opferrente
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 67. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. November 2014 6397
Dr. Volker Ullrich
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beziehen, dann geht es um 40 000 Schicksale. Es handeltsich um 40 000 Menschen, die allesamt länger als einhalbes Jahr in Stasihaft waren und über ein halbes JahrVerzweiflung und schreckliche Erlebnisse durchmachenmussten. Wer vor dem Hintergrund dieser Schicksaleimmer noch nicht erkannt hat, welche Dimension derUnrechtsstaat der SED hatte, der verhöhnt die Opfer,meine sehr verehrten Damen und Herren.
Wir müssen bei der Bemessung der SED-Opferrenteeine kluge und rechtsstaatlich exakte Abwägung vorneh-men. Natürlich kann gesagt werden, dass 350, 400 oder450 Euro immer noch besser seien als das, was wir indiesem Gesetzentwurf vorschlagen. Der entscheidendePunkt aber ist, dass wir bei der Bewältigung der Leidender Opfer zweier Diktaturen auf deutschem Boden dieFrage der Gleichmäßigkeit und der Verhältnismäßigkeitzu beachten haben. Deswegen meine ich, sollten die Op-fer der SED-Diktatur so behandelt werden wie die Opferder NS-Diktatur, nicht schlechter, aber auch nicht besser.Dieser Staat behandelt diese Opfergruppen gleich, weildamit auch das Signal ausgeht: Wir wollen weder aufdem Boden dieses Landes noch in Europa jemals wiederZustände wie in der SED-Diktatur oder während des NS-Regimes haben.Natürlich kann Geld eine verwundete Seele nicht hei-len oder den Rechtsstaat wieder in die Balance bringen;aber wir sind vor dem Hintergrund unserer Geschichteund dem, was die Opfer durchgemacht haben, sowie vordem Hintergrund ihrer eigenen Selbstachtung verpflich-tet, sensibel mit diesem Thema umzugehen und dieSED-Opferrente an dieses Niveau anzupassen. Die Tat-sache, dass wir erst im Jahr 2007 – übrigens auch damalsunter der Führung einer Großen Koalition – die SED-Opferrente eingeführt haben, zeigt, dass wir da vielleichtzu lange gezögert haben.An dieser Stelle sei auch den Opferverbänden gedachtund gedankt, die dieses Thema über viele Jahre hinwegim Bewusstsein der Öffentlichkeit halten und die Opfervertreten, die angesichts des ihnen beigefügten Leidesoftmals gar nicht in der Lage sind, ihre Erfahrungen inder Öffentlichkeit zu artikulieren. Ich habe mich langegenug geschämt, sagt ein Opfer der SED-Diktatur. DasSymbol und die Botschaft dieser heutigen Debatte müs-sen auch sein: Es darf und es muss sich kein Opfer mehrschämen. Die Symbolik muss auch sein: Die Opfer derSED-Diktatur sind nicht allein. Sie haben unsere Solida-rität und unsere Unterstützung, weil es unser aller Anlie-gen ist, dass sie rehabilitiert werden und einen Ehren-platz in der Mitte unserer Gesellschaft finden.Vielen Dank.
Vielen Dank, Herr Kollege Ullrich. – Damit schließe
ich die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen
auf den Drucksachen 18/3120 und 18/3145 an die in der
Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall; denn
ich sehe keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlos-
sen.
Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 26 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Ralph
Lenkert, Eva Bulling-Schröter, Caren Lay, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Bundeseinheitliche Netzentgelte für Strom
Drucksache 18/3050
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Energie
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und
Reaktorsicherheit
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind auch
für diese Aussprache 38 Minuten vorgesehen. – Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne zugleich die Aussprache. Das Wort hat der
Kollege Ralph Lenkert von der Fraktion Die Linke.
Sehr geehrter Herr Präsident! Geehrte Kolleginnenund Kollegen! Die Linke bringt ihren Antrag für bundes-einheitliche Netzentgelte von der Ostsee bis zu den Al-pen ein. Der Forderungsteil ist kurz – ich zitiere –:Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregie-rung auf, einen Gesetzentwurf vorzulegen, der einebundeseinheitliche Wälzung der Stromnetzentgeltefür Privat- und Gewerbekunden vorsieht.
Wälzung ist die Umlage der Kosten des Netzes über denStrompreis.Warum fordern wir dies? Die Netze und ihre Betrei-bung sind eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Abergerade in strukturschwachen Regionen sind die Netzent-gelte am höchsten. Nach einer Studie der TU Dresden,beauftragt durch die Sächsische Staatsregierung, betru-gen im Jahr 2013 die Netzentgelte in Düsseldorf4,03 Cent je Kilowattstunde, gleichzeitig 9,29 Cent jeKilowattstunde im Havelland.
Bis 2023 würden diese Unterschiede, würden wir soweitermachen wie bisher, von 4,77 Cent bis auf14,3 Cent je Kilowattstunde ansteigen. Das wären inklu-sive Mehrwertsteuer Preisunterschiede beim Endkundenzwischen heute 6 Cent und über 11 Cent im Jahr 2023.
Welche sind die Ursachen dafür? Eine Ursache ist dasAlter der Stromleitungen. Ältere Leitungen verursachenweniger Abschreibungskosten; sie sind damit tendenziell
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Ralph Lenkert
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billiger. Auch die Bevölkerungsdichte ist entscheidend:Wenn in einer Region weniger Stromkundinnen und -kun-den leben, ist natürlich auch die Anzahl derer, die dieNetzentgelte tragen müssen, geringer. Und: Sondertatbe-stände werden unterschiedlich gewichtet. Die Kostenvon KWK-Anlagen, also von Kraft-Wärme-Kopplungs-Anlagen, werden bundeseinheitlich umgelegt. Die Kos-ten von Offshore-Anlagen werden bundeseinheitlichumgelegt. Industrierabatte werden bundeseinheitlichumgelegt. Die Aluminiumhütten in Hamburg beispiels-weise, die für zusätzliche Arbeitsplätze und Gewerbe-steuereinnahmen in Hamburg sorgen, bekommen dieStromrabatte von allen Kundinnen und Kunden bundes-weit finanziert.Hingegen: Die Kosten für Transportverluste beimStrom, die Redispatch-Kosten, das heißt die Kosten zurSicherung der Netzstabilität, und die Regelenergiekostenwerden nur regional umgelegt, und zwar dort, wo sie an-fallen, und das, obwohl die damit bezahlten Leistungenfür ein funktionierendes gesamtdeutsches Stromnetzzwingend erforderlich sind. Wir fordern ein Ende dieserUngleichbehandlung.
Ein weiterer Grund ist der Ausbau der erneuerbarenEnergien. Gerade in den Regionen, in denen besondersdie erneuerbaren Energien ausgebaut werden, fallen vorallem hohe Netzentgeltkosten an, zum Beispiel aufgrundvon Netzverstärkung.Ich möchte Ihnen ein konkretes Beispiel nennen: Eonerzeugt im Windpark Schönwalde Südost im LandkreisDahme-Spreewald Strom. Die dortigen Bewohnerinnenund Bewohner zahlen auf den Strompreis Netzentgeltein Höhe von 9,11 Cent je Kilowattstunde. Die Gewinnedieses Windparks fließen zur Eon-Zentrale nach Düssel-dorf. Dort beträgt das Netzentgelt 4,03 Cent. Schön fürdie Düsseldorferinnen und Düsseldorfer! Der LandkreisDahme-Spreewald hat einen Windpark mit unverstell-tem Blick auf Windräder, es findet dort eine Zerschnei-dung der Landschaft durch die Stromtrassen statt, undwegen dieses Windparks sind die Stromkosten um6 Cent höher. Das ist ungerecht.
Diese Ungerechtigkeit betrifft Regionen in Oberfran-ken, in Niedersachsen, in Vorpommern, in Brandenburg,in Thüringen. Diese Regionen haben eine Belastungdurch die Erzeugung der erneuerbaren Energien und eineBelastung durch die Stromtrassen, ihre Natur wird zer-schnitten, und dafür müssen sie auch noch zusätzlicheNetzentgelte zahlen. So wird die Energiewende nichtfunktionieren.
Wir fordern natürlich nicht, dass Windräder auf derDüsseldorfer Kö installiert werden.
Aber wir fordern von den strukturstarken, dicht besiedel-ten Regionen Solidarität ein. Auch sie sollen ihren Bei-trag zu den Netzentgelten leisten. Deswegen fordern wireinheitliche Netzentgelte.
Dies würde im Übrigen auch dazu führen, dass Investo-ren keinen Bogen mehr um strukturschwache Regionenmachen würden, weil der Strom dort einfach zu teuer ist.Gemeinsam können wir die Akzeptanz der Energie-wende erhöhen, wenn es uns gelingt, die Netzentgelte zuvereinheitlichen. Wir haben unseren Antrag vorgelegt.Er ist ein Diskussionsbeitrag.Es gibt weitere Ungerechtigkeiten, die wir nicht er-wähnt haben, zum Beispiel die Ungerechtigkeit derNetzentgeltbefreiung. Durch die Abschaffung der Netzent-geltbefreiung könnten im Übrigen auch die notwendigenErhöhungen in einigen Gebieten kompensiert werden.Wir haben bewusst darauf verzichtet, dies anzusprechen,damit die bei einigen Fraktionen bekannten Reflexe,wenn man an Subventionen für die Industrie herangeht,nicht auftreten. Wir wollen offen diskutieren.Es gibt weitere Probleme. Dabei geht es zum Beispielum die Frage, ob man die Netzentgelte zukünftig viel-leicht nicht mehr nach dem Kilowattstundenverbrauch,sondern nach der Anschlussleistung berechnet. Wir kön-nen über alles reden; wir sind offen. Das Ziel muss abersein, bei der Verteilung der Lasten für Gerechtigkeit zusorgen, damit wir gemeinsam eine erfolgreiche Energie-wende hinbekommen. Deswegen bitte ich Sie ausdrück-lich: Sorgen wir gemeinsam dafür, dass die Netzentgeltein der Bundesrepublik einheitlich werden!Vielen Dank.
Für die CDU/CSU hat das Wort der Kollege Thomas
Bareiß.
Herr Präsident! Meine Damen! Meine Herren! LieberHerr Lenkert, die Forderung nach einer bundeseinheitli-chen Wälzung der Stromnetzentgelte für Privat- und Ge-werbekunden scheint auf den ersten Blick nachvollzieh-bar zu sein. Ungleiche Preise sind immer für diejenigenein Ärgernis, die davon negativ betroffen sind. Beispielegibt es zur Genüge: Der Münchner Mieter wünscht sichdie Mieten von Schwerin, der Nutzer des öffentlichenNahverkehrs in Stuttgart würde gerne Berliner Preise be-zahlen, und das Kilo Äpfel kostet auf dem Land wahr-scheinlich etwas weniger als in der Stadt.Auch bei den Netzentgelten gibt es Unterschiede.Hier trifft es viele Regionen in den neuen Ländern, wiegerade schon beschrieben, aber auch vermehrt den länd-lichen Raum in ganz Deutschland. Die Verbraucher ausdiesen Regionen zahlen höhere Netzentgelte und damitauch höhere Strompreise, da die Kosten im Verteilnetzauf die betroffenen Kunden nur regional umverteilt wer-den.
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Thomas Bareiß
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Auch wenn ich den Unmut der Betroffenen nachvoll-ziehen kann, so gilt grundsätzlich: Eine Marktwirtschaftbraucht auch Preisunterschiede. Nur so können Angebotund Nachfrage effizient ausgeglichen werden. Gleich-macherei ist zwar die vermeintlich leichte Lösung, je-doch nicht nachhaltig und auch nicht immer gerecht.Bundeseinheitliche Netzentgelte sind weder gerecht,noch schaffen sie ausreichend Anreize, den Netzausbaustärker mit dem Ausbau der erneuerbaren Energien zusynchronisieren. Im Gegenteil: Sie schaffen weitere Ge-rechtigkeitsdebatten und Ineffizienzen.
Herr Kollege Bareiß, gestatten Sie eine Zwischen-
frage oder eine Zwischenbemerkung des Kollegen
Lenkert?
Nein.
Es gibt gute Gründe für regionale und differenzierteNetzentgelte. Erster Grund: In den neuen Bundesländernwurden die Netze nach der Wiedervereinigung umfang-reich modernisiert; das wurde gerade beschrieben. Daswar auch dringend notwendig. Die daraus resultierendenlangfristigen Abschreibungskosten sind nun von den ört-lichen Kunden zu tragen. Auch diese profitieren von denInvestitionen.Das wird sich aber in den nächsten Jahren ändern;denn in den nächsten Jahren sind verstärkt Neuinvesti-tionen in die Netze in den alten Bundesländern erforder-lich. Auch hier braucht es moderne Netze, die sich an diezukünftigen Herausforderungen anpassen. Deshalb wirdes in den nächsten Jahren zwangsläufig auch hier zu Ver-schiebungen kommen.
Zweiter Grund – auch dieser wurde schon genannt –:Der zukünftige enorme Ausbau der erneuerbaren Ener-gien findet vor allem in den ländlichen Regionen undnicht in Ballungsräumen statt.
Das gilt sowohl für den Westen als auch für den Ostenunseres Landes. Deshalb kann man Düsseldorf auchnicht mit dem Havelland in Brandenburg vergleichen– das war das Beispiel, das Sie vorhin genannt haben –,so wie das auch in Ihrem Antrag zu finden ist.
Auch in meiner Heimat, in Baden-Württemberg, gibtes ländliche Gebiete mit einem stärkeren Zubau der er-neuerbaren Energien
und entsprechend höheren Netzentgelten. Das gilt natür-lich auch für die dünn besiedelten Gebiete der neuenBundesländer, in denen derzeit ein starker Ausbau vonerneuerbaren Energien erfolgt. So ist die Ökostrompro-duktion in Ostdeutschland um 10 Prozent höher als imWesten.Eines kann man schon heute sagen: Der Schwerpunktder hohen Netzentgelte wird sich in den kommendenJahren noch stärker in den ländlichen Raum verlagern,auch in den alten Bundesländern. Dadurch ergibt sichaber nicht nur ein höheres Netzentgelt, sondern aucheine hohe regionale Wertschöpfung,
die durch den Ausbau der erneuerbaren Energien gewolltist und die von diesem Pult aus oftmals beschrieben undgelobt wurde.Der ländliche Raum hat mit der Energiewende einneues Wachstumsfeld bekommen,
das im Übrigen von allen Stromverbrauchern mit über20 Milliarden Euro jährlich subventioniert wird. Nie-mand profitiert von der Energiewende mehr als die länd-lichen Räume. Landwirte, Kommunen, Häuslebauer undHandwerksbetriebe auf dem Land profitieren in beson-derer Weise von der Energiewende; denn wo erneuer-bare Energien ausgebaut werden, entsteht auch regionaleWertschöpfung.
Einheitliche Netzentgelte sind nicht gerechter, son-dern sie hebeln die bestehende Anreizregulierung aus;denn das derzeitige Anreizregulierungssystem setzt Effi-zienzanreize für die verschiedenen kommunalen und re-gionalen Netzbetreiber.
Solche regulatorischen Effizienzanreize sind erforder-lich, um ineffiziente Investitionen zulasten der Strom-verbraucher zu vermeiden.Ein einheitliches Netzentgelt würde den Effizienz-wettbewerb zunichtemachen. Das wäre kontraproduktiv.Damit würde beispielsweise auch die Sinnhaftigkeit,dass wir 900 Verteilnetzbetreiber haben, infrage gestellt.Denn wenn wir ein einheitliches Netzentgelt einführen,dann würde auch ein großer Verteilnetzbetreiber völligausreichen. Die immer wieder von vielen propagierteRekommunalisierung, die auch von Ihnen gewünschtwird, wäre damit endgültig überflüssig.Meine Damen und Herren, wer tatsächlich dieNetzentgelte mindern will, muss das System der „ver-miedenen Netzentgelte“ angehen und die erneuerbarenEnergien netztechnisch besser steuern. Das System dervermiedenen Netzentgelte ist überholt; seine Abschaf-fung würde bei den Netzentgelten um 350 Millionen
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6400 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 67. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. November 2014
Thomas Bareiß
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Euro entlasten. Das käme vor allem den Regionen mithöheren Netzentgelten, also auch den vorhin genanntenRegionen, nachhaltig zugute. Vermiedene Netzentgeltebasieren auf der Annahme, dass dezentrale Stromein-speisungen den Netzausbaubedarf auf der vorgelagertenNetzebene reduzieren. Dadurch würden, so die An-nahme, Infrastrukturkosten vermieden.Diese Grundannahme ist nachweislich falsch.
Denn gerade die Anlagen für fluktuierende erneuerbareEnergien wie Wind- und Sonnenenergie sind die Ursa-chen für den erheblichen Netzausbau, der gerade auchdie Verteilnetzumlagen ständig nach oben treibt. Bei denerneuerbaren Energien ist die Einspeisung nicht planbar,und die Anlagen sind nur schwer steuerbar, da eine Ab-nahmepflicht existiert. Es entstehen erhebliche Kostenfür den Ausbau des bestehenden Netzes, da der Über-schussstrom ins vorgelagerte Netz gedrückt wird. Da-rüber sollten wir reden, statt über die Art und Weise, wiewir die Netzentgelte zulasten der Verbraucher andersverteilen können.
Meine Damen und Herren, auch die erneuerbarenEnergien müssen in Zukunft netzverträglicher ausgebautwerden. Wir sollten uns ernsthaft überlegen, ob dieNetzanschlusspflicht und die Entschädigungsregelun-gen in der jetzigen Form noch sinnvoll sind. Denn derAusbau von Windanlagen in netzschwachen Regionengeht lediglich zulasten der Verbraucher, die die stillste-henden Windräder über die EEG-Umlage entschädigen.Deshalb ist es gut, dass wir dieses Problem zeitnahangehen möchten. Wir sollten ernsthaft über eine deutli-che Senkung der Entschädigung für stillstehende Anla-gen nachdenken.
Heute erhält ein stillstehendes Windrad 95 Prozentder EEG-Vergütung. Wenn man diesen Wert absenkenwürde, gäbe es einen Anreiz für Anlagenbetreiber, inRegionen mit ausreichenden Netzen zu investieren. Daswäre volkswirtschaftlich sinnvoll; es wäre aber auch fürdie betroffenen Regionen eine spürbare Entlastung in derZukunft.Meine Damen und Herren, wir müssen natürlich auchdie Netze weiter ausbauen. Denn das zeigt auch dieseDebatte: Der Ausbau der erneuerbaren Energien alleinereicht nicht aus. Neuer Strom muss auch abtransportiertwerden: vom Land in die Stadt, vom Norden in den Sü-den. Das bedeutet, Netze müssen ausgebaut und ertüch-tigt werden. Hierfür haben wir bisher die gesetzlichenRahmenbedingungen geschaffen. Jetzt müssen wir auchden Ausbau vorantreiben.Herzlichen Dank.
Der Kollege Lenkert hat jetzt die Möglichkeit zu ei-
ner Kurzintervention.
Vielen Dank, Herr Präsident. – Herr Kollege Bareiß,
ich möchte Ihnen kurz ein paar Punkte erklären, die Sie
unserem Antrag wahrscheinlich nicht komplett entnom-
men haben. Das bundeseinheitliche Netzentgelt führt
nicht zu Effizienzverlusten bei den Netzbetreibern. Denn
wir planen – wenn Sie den Antrag richtig gelesen hätten,
dann wüssten Sie das –, dass die Netzbetreiber sich wie
bisher von der Bundesnetzagentur ihre jeweiligen Netzent-
gelte genehmigen lassen. Dann wird das Netzentgelt wie
bisher, aber eben bundesweit einheitlich, mit der Strom-
rechnung von allen Stromkunden eingezogen. Das Geld
fließt in einen Fonds, aus dem dann die Netzbetreiber die
ihnen jeweils zustehenden und genehmigten Netzent-
gelte zurückerhalten. Damit werden keine Effizienzver-
luste eintreten. Das ist der erste Punkt.
Der zweite Punkt ist: Sie sagten, das wäre ein Vorteil
für die einheimische Wirtschaft. Wenn zwischen zwei
Regionen im Industriebereich ein Strompreisunterschied
von 100 Prozent besteht, dann liegt eine Wettbewerbs-
verzerrung vor und wird die strukturschwache Region
noch strukturschwächer. Dann müssen die dortigen
Handwerksbetriebe aus Kostengründen – wegen der hö-
heren Energiekosten – in die ohnehin schon strukturstar-
ken Regionen wegziehen. Das verstärkt das Ungleichge-
wicht weiter, und damit wird es noch schwieriger, die
Energiewende zu meistern. Diesen Aspekt sollten Sie
also auch nicht vergessen.
Ein letzter Punkt: Die TU Dresden hat, beauftragt
durch die sächsische Staatsregierung, ermittelt, dass in-
klusive der Modernisierung der Netze im Westen die
Schere zwischen Regionen mit den niedrigsten Netzent-
gelten und denen mit den höchsten sich immer weiter
öffnen wird.
Im Übrigen kann ich Ihnen einen der Kreise nennen,
die die höchsten Netzentgelte im Jahr 2023 haben wer-
den. Das ist der Wahlkreis Vorpommern-Rügen Ihrer
Bundeskanzlerin. Dieser Kreis wird den dritthöchsten
Netzentgeltpreis aus den eben genannten Gründen ha-
ben.
Wir sind der Meinung, dass alle gleichmäßig an den
Lasten der Energiewende beteiligt werden sollten. Un-
terschiede zwischen 4,7 Cent und 14 Cent Netzentgelt
sind einfach nicht vermittelbar. Obendrauf kommt die
Mehrwertsteuer. Dadurch wird man noch mehr ge-
schröpft. Reden Sie also nicht von Maßnahmen, die Sie
vielleicht ergreifen wollen! Ergreifen Sie endlich Maß-
nahmen! Wenn Sie mit anderen Maßnahmen die
Netzentgelte senken, werden wir dem nicht entgegenste-
hen.
Herr Kollege Bareiß, Sie haben die Möglichkeit, da-rauf zu erwidern.
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Herzlichen Dank. – Herr Lenkert, der Unterschied
zwischen uns beiden ist, dass Sie erhöhte Preise neu ver-
teilen wollen. Ich möchte versuchen, erhöhte Preise zu
reduzieren. Ich glaube nicht, dass es günstiger wird, in-
dem wir alles sozialisieren.
Auch wenn ich Ihr Anliegen verstehen kann, müssen wir
berücksichtigen, dass in den Regionen, die erhöhte
Netzentgelte haben, eine regionale Wertschöpfung statt-
findet;
darauf bezog sich ein großer Teil meiner Rede. Es gibt
also sowohl Vorteile als auch Nachteile für die betreffen-
den Regionen. Wir werden darüber in den nächsten Mo-
naten intensiv sprechen. Es handelt sich aber nicht um
ein Ost-West-Problem, sondern um ein generelles Pro-
blem der Energiewende. Das muss fein austariert wer-
den. Wir müssen unsere Anstrengungen darauf verwen-
den, die Kosten zu reduzieren. Für mich bietet eine
Sozialisierung keine Grundlage. Sie wird nicht zu einer
Lösung führen.
Herzlichen Dank.
Jetzt hat der Kollege Oliver Krischer für Bündnis 90/
Die Grünen das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Esist in der Tat richtig: Die Netzentgelte in Deutschlandsind reformbedürftig. Vor allen Dingen muss eine Leis-tungskomponente eingeführt werden, weg von der rei-nen Kilowattorientierung der Netzentgelte; denn es ent-stehen Kosten dadurch, dass das System vorgehaltenwerden muss, egal wie viele Kilowattstunden bezogenwerden. Die Große Koalition hat das als wichtigesThema erkannt; das steht auch im Koalitionsvertrag.Aber ich hätte mir gewünscht, Herr Bareiß, dass Sie sa-gen, wie der Stand ist und was Sie unternehmen. Dazuhabe ich leider nichts gehört; ich habe nur von der Abre-gelung der Windkraftanlagen gehört. Das ist eigentlichnicht das Thema. Ich hätte mir gewünscht, dass Sie eineAnsage zur Einführung einer Leistungskomponente beiden Netzentgelten machen.
Der zweite Punkt ist: Wir müssen die Anreizregulie-rungsverordnung novellieren; denn im Moment werdenVerteilnetzbetreiber, die nicht in ihre Netze investieren,tendenziell eher belohnt werden als diejenigen, die vor-angehen und moderne Netze, sogenannte Smart-Netze,bauen. Auch dieses Problem wird im Koalitionsvertragbenannt. Sogar die Bundesnetzagentur weist darauf hin,dass hier etwas getan werden muss. Aber, Herr Bareiß,auch dazu habe ich nichts gehört. Es wäre interessant, zuerfahren – vielleicht sagt der Kollege Becker gleich nochetwas dazu –, wie der Stand ist und wann wir mit etwasrechnen können.Last, but not least haben wir – auch das ist ein wesent-licher Punkt – ein absurdes Sammelsurium von Ausnah-metatbeständen. Ich will nicht wieder die Golfplätze er-wähnen. Nur so viel: Mir kann keiner erklären, warumder Betreiber eines Golfplatzes verminderte Netznut-zungsentgelte zahlt. Wir müssen § 19 Absatz 2 der Strom-netzentgeltverordnung reformieren, Stichwort: Mitter-nachtsparagrafen. Dazu höre ich von Ihnen gar nichts.Aber das würde die Verbraucher entlasten und tatsäch-lich etwas bringen.
Nun haben die Kollegen von der Linken einen Antrageingebracht, der ein Problem beschreibt, das real exis-tiert. Ich finde es nur ein bisschen schade, RalphLenkert, dass das hier als Ost-West-Problem aufgezogenwird.
Wenn überhaupt, dann ist das ein Problem zwischen Bal-lungsgebieten und ländlichen Regionen.
Wenn man für die Energiewende ist, sollte man das dif-ferenziert darstellen und hinzufügen – hier bin ich Kolle-gen Bareiß ausnahmsweise dankbar –, dass ländlicheRegionen von der Energiewende überwiegend profitie-ren. Damit wird Wertschöpfung in die ländlichen Regio-nen verlagert. Das heißt, das ist etwas Positives.Sie stellen das Problem so dar, als ob die hohen Netz-entgelte allein durch die Energiewende verursacht wä-ren. Das ist aber überhaupt nicht der Fall. Gerade im Os-ten haben wir hohe Netzentgelte, weil in den vergange-nen 25 Jahren nach der Wiedervereinigung stark in dieNetze investiert worden ist und deshalb die Kosten dortgestiegen sind. Im Westen steht das in vielen Regionennoch bevor. Das hat gar nichts mit der Energiewende zutun, das hat etwas mit dem Alter der Netze zu tun. Beimir zu Hause steht ein Verteilerkasten aus den 50er-Jah-ren vor der Haustür. Der wird irgendwann ausgetauschtwerden müssen, und dann stehen Investitionen an. Wennes so läuft, wie Sie es machen wollen, dann führt das amEnde dazu, dass der Osten die Umlage des Westens be-zahlt. Das kann nicht in Ihrem Sinne sein. Da schießenSie an der Stelle ein Eigentor.
Worüber wir wirklich reden müssen, ist die Frage, wiewir die Kosten für die Ausbaukomponenten, die durchdie Energiewende verursacht werden, tatsächlich gerechtverteilen können. Da, finde ich, haben Sie mit Ihrem An-
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6402 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 67. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. November 2014
Oliver Krischer
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trag einen Punkt getroffen, über den man reden muss.Das ist aber Teil der Frage, wie wir modernisieren undwie wir den ganzen Komplex der Netzentgelte neu ord-nen. Das steht auf der Tagesordnung. Wenn Ihr Antrageinen Anlass bietet, darüber zu reden und auch einmal zuhören, welche Vorstellungen die Große Koalition dazuhat, dann ist das insgesamt gut.Man muss aber auch ein bisschen aufpassen, was manmit so einer Debatte anfängt. Das haben wir gerade vomKollegen Bareiß gehört. Ich würde sagen: Der Kollegeist nicht immer ganz so auf der Seite der erneuerbarenEnergien; diesen Eindruck habe ich, wenn ich die Debat-ten so verfolge. Es wird die Frage gestellt: Brauchen wirüberhaupt 900 Verteilnetzbetreiber? Wenn wir Netzent-gelte komplett ausgleichen, dann muss man auch dieFrage beantworten, wie wir dafür sorgen, dass weiter re-gional und dezentral effizient gewirtschaftet wird.Das haben Sie zwar angesprochen, man sucht aber inIhrem Antrag vergeblich die Lösung. Die findet mannicht. Das geht an der Stelle nicht. Deshalb hoffe ich da-rauf, dass wir im Wirtschaftsausschuss eine vernünftigefachliche Debatte führen; denn das ist etwas für Fein-schmecker der Energiewende. Ich hoffe, dass wir amEnde eine Lösung finden werden.Wenn der Antrag der Anlass dazu ist, dass wir insge-samt die vielen fachlichen Detailfragen, von der Leis-tungskomponente über die Anreizregulierungsverordnungund die Ausnahmetatbestände bis hin zur regionalenVerteilung und zu regionaler Gerechtigkeit, unter einenHut bringen können, dann wäre das am Ende ein gutesErgebnis. Darauf freue ich mich. Wenn das der Anlassist, dann ist das okay.Danke schön.
Das Wort hat jetzt der Kollege Dirk Becker für die
Sozialdemokraten.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!Ich habe gerade zu Oliver Krischer aus Spaß gesagt:Mensch, du kannst ja auch vernünftig sein.
Was will ich damit sagen? Ich bin der Fraktion DieLinke durchaus dankbar, dass sie sich dem Energiethemawidmet, mit dem man in der Tat vielleicht keine Wahl-kämpfe gewinnt. Es sind etliche Themen in der Pipeline,die für die Energiewende unverzichtbar sind, und dasThema der Verteilnetze, der Übertragungsnetze gehörtunstrittig dazu.Ich will zu Beginn auch mit Blick auf Thomas Bareißkurz den Koalitionsvertrag zitieren, wenn ich darf, HerrPräsident. Dort ist nämlich das festgehalten, was OliverKrischer eben gesagt hat.Die Koalition wird das System der Netzentgelte aufeine faire Lastenverteilung bei der Finanzierung derNetzinfrastruktur überprüfen.Es ist klar: Wir haben in den Koalitionsverhandlun-gen erkannt, dass es hier Handlungsbedarf gibt. Es gibtUnterschiede, die aus den eben dargestellten Gründenherrühren. Wir wollen uns das anschauen und dann füreine fairere Verteilung sorgen.Aber, lieber Ralph Lenkert, man darf das Thema nichtan diesem Punkt beenden.
Man darf nicht nur eine Gerechtigkeitsdebatte darausmachen, sondern es handelt sich auch um eine Frage derTechnik, der neuen Herausforderungen, der Weiterent-wicklung und ob wir Leistungskomponenten brauchen.Auch das ist im Koalitionsvertrag genauso adressiert.Das heißt, es geht nicht nur um die Frage, ob es gerechtoder fair ist, sondern auch darum, wie ich die künftigenHerausforderungen angehen kann. Man muss aufpassen– das hat Oliver Krischer gesagt –, dass man die Anreizefür Effizienzmaßnahmen hochhält, dass man aber dieungerechten Differenzierungen, die gesamtsystematischentstanden sind – denn die Energiewende ist eine ge-samtdeutsche Herausforderung –, ausgleicht.Lieber Thomas Bareiß, gestatte mir einen Hinweis.Möglicherweise könnte hier und da der Eindruck entste-hen, dass wir in dieser Debatte grundsätzlich noch ein-mal die Frage der Entschädigungsregelung diskutieren.Du kennst die offizielle Sprachregelung in der Koalition.Wir haben das im Rahmen der EEG-Novelle diskutiert.Wir sind zu einer anderen Überzeugung gekommen, unddie gilt bis zum Ende dieser Legislaturperiode. Ich sagedas nur, damit für Außenstehende an dieser Stelle keineVerunsicherung entsteht.
Was mir relativ wichtig ist, ist, dass wir Folgendesnoch einmal miteinander besprechen – das klang eben an –:Das ist die Frage, ob Annahmen der Energiewende heutenoch so zutreffen wie beispielsweise zu dem Zeitpunkt,als wir über die vermiedenen Netznutzungsentgelte ge-sprochen haben. Wir haben vor einigen Jahren angenom-men, dass wir mit dem Ausbau der erneuerbaren Ener-gien weniger Investitionen in die Netze zu tätigen haben.Der Gegenbeweis ist heute an vielen Stellen erbracht:Die Netze haben neue Funktionen erhalten; sie müssenanders aufgestellt werden; andere Investitionen sind er-forderlich. Von daher müssen wir an dieser Stelle in Er-wägung ziehen, dass die vermiedenen Netznutzungsent-gelte heute eigentlich nicht mehr zeitgemäß sind, undmüssen darüber hinaus – wir haben das beim Thema Ei-genverbrauch und beim EEG diskutiert – schauen, wiewir alle stärker an den Kosten der Infrastruktur beteili-gen, unabhängig davon, ob sie sie ständig nutzen odernur als Rückfalloption betrachten. Diese Investitionen
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 67. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. November 2014 6403
Dirk Becker
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sind für das gesamte System erforderlich, und alle sinddaran zu beteiligen.Von Oliver Krischer wurde eben die Frage gestellt:Wie seid ihr denn aufgestellt? Es ist so – ich glaube, dasweißt du auch; der Zeitplan ist ja nicht geheim –, dassbis zur Sommerpause des nächsten Jahres die Regierungeine Reform der Anreizregulierungsverordnung plantund dass wir in dem Zusammenhang die vom KollegenLenkert aufgeworfenen Fragen prüfen.Ich will an dieser Stelle eines aber auch sagen – ichhabe es Ihnen vorweg schon gesagt –: Wir haben natür-lich schon Gespräche mit den Akteuren im Markt ge-führt; denn so etwas macht man nicht am Reißbrett undnicht, indem man das nur als Gerechtigkeitsfrage behan-delt. Dabei hat man es mit etwas zu tun, was oft vor-kommt: Jeder Übertragungsnetzbetreiber hat eine anderePosition. Den Vorschlag, den Sie machen, sehe ich ge-genwärtig – ich sage es einmal vorsichtig – noch amweitesten weg. Es gibt viele Vorschläge dazu, wie manso etwas in einem Übergang, vielleicht in verschiedenenStufen, modellieren kann.All das werden wir besprechen, gern mit der Opposi-tion, in jedem Fall aber mit den Akteuren am Markt. DasProblem ist angekommen, es steht auf der Agenda derGroßen Koalition, und wir werden es entsprechend lö-sen.Vielen Dank.
Vielen Dank, Herr Kollege Becker. – Sie hatten ge-
fragt, ob das Zitieren des Koalitionsvertrags zulässig ist.
Ich möchte Ihnen hier eindeutig erklären: Es ist zulässig;
allerdings wird es auf die Redezeit angerechnet.
Nächste Rednerin ist die Kollegin Dr. Herlind
Gundelach für die CDU/CSU.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Meine sehr geehrten Damen und Herren! Unsere Netzesind in allen drei Spannungsebenen ein unverzichtbarerTeil unseres Energiesystems – ich glaube, da sind wiruns einig –, und sie sind auch das Rückgrat unsererEnergieversorgung. Daraus folgt: Ohne eine ausrei-chende Netzkapazität kann letztendlich auch die Ener-giewende nicht gelingen. Um dieses Rückgrat der Ener-giewende kontinuierlich stabil zu halten, arbeiten wirseit vielen Jahren daran, die Netzinfrastruktur mit derEnergieerzeugung und dem Energieverbrauch in Ein-klang zu bringen; denn Netzausbau und Ausbau der er-neuerbaren Energien bedingen einander und müssen des-wegen eng verzahnt miteinander gestaltet werden.Dabei müssen wir aber auch berücksichtigen, dass derAus- und Umbau unseres Stromnetzes je nach regionalerBeschaffenheit unterschiedliche Anforderungen auf-weist und dadurch auch unterschiedlich intensiv ausge-prägt ist. Dies hat vor allem zwei Gründe – auf sie sinddie Vorredner schon eingegangen; deswegen, denke ich,muss ich das nicht auch noch tun –: Diese betreffen zumeinen die Entwicklung in den neuen Bundesländern undzum anderen all die Regionen, wo erneuerbare Energienin stärkerem Umfang installiert worden sind als an-derswo.Ich möchte einmal ganz nüchtern auf die von der Lin-ken präsentierten Zahlen eingehen. Sie sprechen in Ih-rem Antrag davon, dass es teilweise eine Kostendiffe-renz von 100 Prozent geben würde, bei einem Verbrauchvon 3 500 Kilowattstunden eine Kostendifferenz von192 Euro. Da habe ich selber angefangen, ein bisschenzu rechnen. Gehen wir davon aus, dass die Netznut-zungsentgelte ungefähr 22 Prozent des Strompreises aus-machen.
Ich habe die Netzentgelte in ungefähr gleich großenStädten im Westen und im Osten miteinander verglichenund erhielt ganz andere Zahlen. Sie haben in Ihrem An-trag – darauf ist schon hingewiesen worden – eine Groß-stadt, nämlich Düsseldorf, mit einer Region, dem Havel-land, verglichen. Damit ändern Sie Vergleichsparameter.Jeder Statistiker wird Ihnen sagen, dass das nicht geht.Ich habe die Netzkosten der Kleinstädte Wittenbergein Brandenburg und Bad Saulgau in Baden-Württem-berg miteinander verglichen. Beide Städte haben rund17 000 Einwohner. Vergleicht man nun auf Grundlagedes von Ihnen zitierten Vergleichsportals Verivox, müs-sen die Wittenberger bei einem Verbrauch von 3 500 Ki-lowattstunden rund 168 Euro an Netzkosten bezahlen,die Bad-Saulgauer rund 170 Euro. Ich glaube, das istkein allzu großer Unterschied.
Dieser Vergleich belegt, dass Sie Ihre Argumente offen-sichtlich nur mit einer bestimmten Brille gewählt haben;denn höhere Netznutzungsentgelte – das ist heute schondeutlich geworden – sind nicht nur im Osten und instrukturschwachen Regionen zu finden. Vielmehr zeigtsich, dass diese Netznutzungsentgelte regional unter-schiedlich hoch ausfallen, und zwar im Westen wie imOsten.
Regionale Unterschiede müssen aus meiner Sicht aberauch regional gelöst werden.
Genau aus diesen Gründen werden die Netznutzungsent-gelte gemäß dem Verursacherprinzip regional gewälzt unddort getragen, wo sie anfallen. Wir haben in Deutschland
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Dr. Herlind Gundelach
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doch auch ganz bewusst keinen Einheitsmietpreis undkeinen Einheitswasserpreis. So etwas wie ein Länderfi-nanzausgleich für Netze wäre nicht marktwirtschaftlichund aus unserer Sicht auch nicht umsetzbar.Davon abgesehen ignorieren Sie einen weiterenPunkt, auf den ich jetzt nur kurz eingehen möchte, näm-lich dass mit dem Ausbau der erneuerbaren Energiendurchaus auch Wertschöpfung in diesen Regionen er-folgt, was zu erhöhten Steuereinnahmen und auch mehrAusbildungs- und Arbeitsplätzen führt. Durch eine bun-desweite Vereinheitlichung der Netzentgelte würden wirden gewünschten Standortwettbewerb der Länder unter-binden. Die Höhe der Netzentgelte stellt gerade fürstromintensive Unternehmen einen bedeutsamen Stand-ortfaktor dar, der durch die Schaffung bundeseinheitli-cher Netzentgelte nicht nachteilig beeinflusst werdensollte. Für die industriell geprägten Bundesländer, dienicht von einer gestärkten Wertschöpfung durch dieEnergiewirtschaft profitieren, könnten einheitlicheNetzentgelte zu einer Mehrbelastung von bis zu 40 Pro-zent führen.Die Energiewende führt, wie Sie in Ihrem Antragrichtig ausgeführt haben, zu einer Dezentralisierung un-seres Energiesystems. Daher ist in der Vergangenheitauch immer wieder über die sachgerechte und angemes-sene Ausgestaltung der Netznutzungsentgelte diskutiertworden. Wir haben im Koalitionsvertrag vereinbart, dieNetzentgelte dahin gehend zu überprüfen; das hat HerrBecker gerade gesagt. Das werden wir auch machen. Vordiesem Hintergrund haben wir bereits 2007 die Berech-nung der Netznutzungsentgelte auf das Anreizregulie-rungssystem umgestellt. Ich kann mich erinnern, dassich damals im Vermittlungsausschuss, als wir die erstenÜberlegungen dazu anstellten, auf Länderseite dabeiwar. Das war ein schwieriger Komplex; aber ich glaube,der Ansatz, den wir damals gewählt haben, war richtig.Dieses System soll Netzbetreibern gerade Anreize zurSteigerung der Effizienz geben und damit zu Kostensen-kungen für den Verbraucher führen. Die Genehmigungder Netzentgelte erfolgt durch die Bundesnetzagentur,die diese Prüfung sehr sorgfältig durchführt und dabeistets das Interesse der Verbraucher im Blick hat.Eine Vereinheitlichung der Netzentgelte würde hinge-gen nach unserer Auffassung zu einer Aushebelung desWettbewerbs und damit zu einer Entkopplung der An-reizmechanismen führen.
Netzbetreiber hätten dann keine großen Anreize mehrfür eine effiziente Bewirtschaftung ihrer Netze. Im Netzdarf der Effizienzdruck nicht über Regulierung erfolgen,sondern muss weiterhin über den marktwirtschaftlichenMechanismus des Preises funktionieren; alles anderegeht aus meiner Sicht in Richtung Planwirtschaft. Siefordern im Prinzip eine Situation ein, die einer Verstaat-lichung der Netze gleichkommt. Planwirtschaft und Ver-staatlichung durch die Hintertür, das wollen wir nichtunterstützen.
Um die Wirkungsweise des Anreizregulierungssys-tems beurteilen zu können, haben wir die regelmäßigeErstellung eines Evaluierungsberichts durch die Bundes-netzagentur eingeführt. Dieser Evaluierungsbericht istbis zum 31. Dezember 2014 dem Bundesministerium fürWirtschaft und Energie vorzulegen. Der Bericht wird un-ter anderem Angaben zum Investitionsverhalten derNetzbetreiber und zur Notwendigkeit von Maßnahmenzur Beseitigung von Investitionshemmnissen enthalten.Sollten wir bei Überprüfung der Anreizregulierungfeststellen, dass die vorhandene Netzentgeltsystematiknicht ausreichend greift, müssen wir uns Gedanken ma-chen, wie wir eine Novellierung systematisch angehenkönnen, ohne dass bereits bestehende marktwirtschaftli-che Instrumente ausgehebelt werden.Ich sehe beispielsweise in der steigenden Eigenstrom-versorgung durchaus eine Herausforderung, der wir unsauch im Bereich der Netze stellen müssen. Hier könnteman zum Beispiel über eine Änderung der Netzanschluss-kosten oder anderes nachdenken. Nicht durchdachteSchnellschüsse, wie sie Ihrem Antrag zugrunde liegen,sollten wir aus meiner Sicht in jedem Fall vermeiden.Herzlichen Dank.
Abschließender Redner zu diesem Tagesordnungs-
punkt ist der Kollege Johann Saathoff, SPD.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Als ich den Antrag der Linken zum ersten Malgelesen habe, dachte ich, ich müsste in meiner Redeheute Details aus der Evaluierung der Anreizregulie-rungsverordnung vortragen, was ich gar nicht kann, weilder Prozess noch nicht abgeschlossen ist. Ich diskutiereüber dieses Thema oft genug mit meinem SohnChristian, einem Auszubildenden im Bereich der erneu-erbaren Energien. Diese Gespräche sind für den Rest un-serer Familie, liebe Kolleginnen und Kollegen, keinegroße Freude.
Ich denke, Sie werden mir alle dankbar sein, wenn ichuns das so kurz vor dem Abschluss dieser Sitzungswo-che erspare.Stattdessen möchte ich lieber den Gedanken Ihres An-trags aufgreifen. „Entsolidarisierung“ war der erste Be-griff, der mir dabei einfiel. Es ist nicht richtig, dass dieLasten des regionalen Netzausbaus ungerecht verteiltwerden. Wir alle wollen im Sinne der Gerechtigkeit undder gleichen Lebensverhältnisse insbesondere der Men-schen in den ländlichen Räumen einheitliche finanzielle
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 67. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. November 2014 6405
Johann Saathoff
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Rahmenbedingungen bei den Netznutzungsentgeltenschaffen.Wenn Sie einen Blick in unseren Koalitionsvertraggeworfen haben – er ist schon zitiert worden –, habenSie gesehen, dass wir das System der Netzentgelte über-prüfen wollen – was wir ja bereits tun –, und dies vor al-lem mit Blick auf eine faire Lastenverteilung bei der Fi-nanzierung der Netzinfrastruktur. Liebe Kolleginnen undKollegen, wie es aussieht, besteht Konsens über dasZiel; nur über den Weg dahin sind wir uns uneins.Den fairen Lastenausgleich dürfen wir aber nicht nurauf die Netzentgelte beziehen. Die Energiewende ist einegesamtgesellschaftliche Aufgabe. Deshalb muss sichauch die gesamte Gesellschaft an den Lasten beteiligen.Der Zustand, den Sie in Ihrem Antrag beschreiben, näm-lich dass Stromkunden in ländlichen Räumen und Regio-nen mehr Netzentgelte zu zahlen haben als Stromkundenin Ballungsgebieten, ist ein gutes Beispiel für die wach-sende Kluft zwischen den Ballungsgebieten und denländlichen Regionen.Ich komme aus einer ländlichen Region. Mein Wahl-kreis ist einer der wenigen Wahlkreise in Deutschlandohne einen einzigen Autobahnkilometer.
Schnelles Internet gibt es längst nicht überall, und wirführen immer wieder Diskussionen über den Erhalt vonInstitutionen der Daseinsvorsorge. Er ist ein Beispiel fürviele ländliche Regionen in Deutschland, die in ihrerEntwicklung einfach mehr und mehr abgehängt werden.Für dort lebende Menschen macht das die Sache nichteinfacher. Deshalb freue ich mich darüber, dass wir indieser Legislaturperiode zum Beispiel die Gemein-schaftsaufgabe „Verbesserung der Agrarstruktur und desKüstenschutzes“ zu einer Gemeinschaftsaufgabe „Länd-liche Entwicklung“ weiterentwickeln wollen. Damitkönnen wir künftig viel für die Menschen in den ländli-chen Räumen tun. Dieses Projekt werden wir im Früh-jahr 2015 starten. Auch beim Breitbandausbau wollenwir viel Geld in die Hand nehmen. Ziel ist es, bis 2018alle Haushalte in Deutschland mit einer Übertragungsge-schwindigkeit von 50 Megabit pro Sekunde zu versor-gen.Um wieder zur Energie zurückzukehren, möchte ichden Bundeswirtschaftsminister zitieren, der dieses Jahrnicht müde wurde, zu betonen, dass wir die Lasten derEnergiewende wieder auf mehr Schultern verteilen wol-len, und das wollen wir auch nach der Novelle des EEG.Allerdings werden wir dabei nicht den von Ihnen vorge-schlagenen Weg eines Gesetzes beschreiten; denn die fürdie Netzentgelte maßgeblichen Bestimmungen sind Ver-ordnungen.Die Netzentgelte sind für uns aber nur ein Teilaspektzukünftiger Aufgaben, zu denen ich noch einige Sätzesagen möchte: Das Bundesministerium für Wirtschaftund Energie hat kürzlich ein Grünbuch zum Strom-marktdesign vorgelegt. Dieses Grünbuch ist ein Diskus-sionspapier, und wir in der SPD-Bundestagsfraktion be-raten dieses Thema schon seit einiger Zeit sehr intensivunter Federführung meines Kollegen Dirk Becker. Dabeiist eine ganz zentrale Frage, ob die notwendigen Reser-vekapazitäten allein in einem Strommarkt 2.0 wirtschaft-lich vorgehalten und eingesetzt werden können oder obwir dafür einen zweiten Markt oder Mechanismus, einenKapazitätsmechanismus, brauchen. Eine weitere Auf-gabe besteht darin, einen möglichst großen Teil des ge-planten Netzausbaus zu vermeiden, indem wir den Be-darf mit intelligenten Netztechnologien oder smarterSteuerung kompensieren. Dadurch würden bestimmteKosten erst gar nicht entstehen, und gerade die Kosten,die nicht entstehen, sind doch die besten. Ich denke, dasind wir uns einig.Nun, am Ende meiner Rede am Ende dieser Sitzungs-woche, freue ich mich auf eine fünfstündige Zugfahrt indiese wunderbare Region ohne Autobahn und ohneschnelles Internet, die für mich trotzdem die schönsteRegion Deutschlands ist, dahin, wo Deiche hoch undBerge Fehlanzeige sind,
in das schöne Ostfriesland.Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. Komm’tgaud na Huus hen!
Lieber Herr Kollege Saathoff, vielen Dank für die
Schilderung der Heimatregion. – Damit sind wir am
Ende unserer Aussprache angelangt.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/3050 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tages-
ordnung und auch dieser Woche.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun-
destages ein auf Dienstag, den 25. November 2014,
10 Uhr.
Die Sitzung ist geschlossen. Kommen Sie alle gut
nach Hause.