Gesamtes Protokol
Die Sitzung ist eröffnet. Nehmen Sie bitte Platz.
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich rufe den Tages-
ordnungspunkt 26 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Barbara
Höll, Dr. Axel Troost, Richard Pitterle, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Wer Schulden bremsen will, muss Millionäre
besteuern
– Drucksache 17/8792 –
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. – Ich höre keinen
Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat für die
Fraktion Die Linke der Kollege Dr. Gregor Gysi.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! DieFDP ist beim Thema Vermögensteuer wirklich reichlichvertreten. Das liegt an der inneren Ablehnung, die daherrscht.
Vor 15 Jahren wurde die Vermögensteuer ausgesetzt.Das Bundesverfassungsgericht hatte entschieden, dassdie unterschiedliche Bewertung von Geldvermögen undGrundvermögen nicht zulässig sei. Dieser Fehler solltekorrigiert werden. Er ist nicht korrigiert worden. So liefdann die Erhebung der Vermögensteuer aus. Wir tretenganz energisch für eine Wiedererhebung ein.
Die Ungleichheit der Vermögensverteilung ist durchmassive Umverteilung von unten nach oben immer grö-ßer geworden, nicht nur in Deutschland, aber auch inDeutschland. Ich nenne einmal ein Beispiel: Der VW-Chef Martin Winterkorn bezieht ein Jahreseinkommenvon 17,5 Millionen Euro.
Das ist etwa das Doppelte von dem, was HerrAckermann verdient. Da darf man sich als Erstes dieFrage erlauben, ob er wirklich doppelt so viel arbeitetwie Herr Ackermann. Aber jetzt kommt das Entschei-dende: Er verdient das Tausendfache eines Leiharbeitersbei VW. Ich frage Sie: Glauben Sie im Ernst, dass er dasTausendfache leistet? Auch sein Tag hat nur 24 Stunden.
Das heißt, das Ganze wird unvermittelbar.Das Nettovermögen hier in Deutschland – Geld undImmobilien – belief sich 2011 auf 8,2 Billionen Euro.Das reichste Zehntel unserer Bevölkerung besitzt davon61 Prozent; das sind 5 Billionen Euro. Die untersten70 Prozent – was heißt hier eigentlich „untersten“? – be-sitzen unter 9 Prozent des Nettovermögens. Bei uns le-ben jetzt 830 000 Euro-Vermögensmillionäre; vor dreiJahren waren es 720 000. Das heißt, während der Kriseist die Zahl der Vermögensmillionäre um 110 000 gestie-gen. Sie müssen der Bevölkerung einmal erklären, wes-halb die Bevölkerung arm wird, aber die Vermögensmil-lionäre immer mehr und auch noch reicher werden.
Diese 830 000 Vermögensmillionäre in Deutschlandhaben ein Gesamtvermögen von 2,2 Billionen Euro. Dasist mehr als die Gesamtverschuldung des Bundes, derLänder und der Kommunen, die bei nur 2 Billionen Euroliegt.
Theoretisch könnte man das ausgleichen – das fordernwir gar nicht –, aber eine angemessene Vermögensteuer
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20088 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 170. Sitzung. Berlin, Freitag, den 23. März 2012
Dr. Gregor Gysi
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ist doch wohl das Mindeste, was man in diesem Zusam-menhang leisten muss.
Unsere Milliardäre – es sind übrigens knapp über 100 –haben ein Vermögen von 300 Milliarden Euro; das decktunseren gesamten Bundeshaushalt ab.
Ihr Vermögen steigt seit 2003 jährlich um 10 Prozent.Für den öffentlichen Dienst verlangt Verdi nun eineLohnsteigerung von 6,5 Prozent. Und Sie sagen, das seiunbezahlbar? Ich halte das in Anbetracht dieser Tatsa-chen für eine Unverschämtheit.
Die Unternehmens- und Vermögenseinkommen stie-gen seit 2000 um knapp 31 Prozent. Die Reallöhne fielenin den letzten Jahren, bis 2010, um 4,5 Prozent, im Nie-driglohnbereich sogar um bis zu 19 Prozent. Diese Um-verteilung – das muss man klipp und klar sagen – habenSPD und Grüne, dann Union und SPD und jetzt Unionund FDP organisiert, indem die Reichen steuerlich privi-legiert wurden. Ich nenne Ihnen einige Beispiele: Aus-setzung der Vermögensteuer 1997, Senkung des Spitzen-steuersatzes der Einkommensteuer von 53 Prozent auf42 Prozent. Früher musste man für Zins- und Kapitalein-künfte Einkommensteuer bezahlen, das heißt, bei hohenEinkünften 53 Prozent und dann abgesenkt wenigstens42 Prozent. Auch das wurde nicht gehalten. Man hat fürsolche Einkünfte die Abgeltungsteuer in Höhe von25 Prozent eingeführt.Es gibt einen Verein, in Hamburg gegründet, mit über40 Mitgliedern – alles Vermögensmillionäre. Dieser Ver-ein blamiert die Bundesregierung, indem er regelmäßigfordert, endlich wieder Vermögensteuer bezahlen zu dür-fen. Das müssen Sie sich einmal überlegen: Da setzensich über 40 Vermögensmillionäre zusammen und for-dern das, und die Regierung sagt: Um Gottes willen!
– Ich will Ihnen ein Mitglied nennen: Peter Vollmer. Erhat gesagt, dass er für seine verzinslichen Papiere undSparguthaben unter Kohl 53 Prozent bezahlen musste,jetzt nur noch 25 Prozent. Er – nicht ich! – bezeichneteDeutschland als ein Niedrigsteuerland für Reiche. Dasist die Tatsache, mit der wir es zu tun haben!
Würden noch die Steuergesetze gelten, die unter Kohlgalten, hätten wir jährlich Mehreinnahmen von 51 Mil-liarden Euro.Es gibt noch einen zweiten Grund. Die Konzentrationauf immer größere Vermögen hat die maßlose Spekula-tion und die Jagd nach immer höheren Renditen beflü-gelt. Vermögende konsumieren nicht mehr, sie investie-ren auch nicht mehr, wenn sie glauben, einfach durchSpekulation aus Geld mehr Geld machen zu können.Nur: Jemand muss das bezahlen. Diese Illusion ist zer-platzt und hat zur bisher schwersten Finanzkrise geführt.Um die maroden Banken und Hedgefonds zu retten,mussten sich die Staaten immer höher verschulden. Werkommt für die Verluste auf? Die Steuerzahlerinnen undSteuerzahler! Wir haben einen Rettungsschirm für dieBanken in Höhe von 480 Milliarden Euro. Sie kennendie europäischen Rettungsschirme. Hier haftet Deutsch-land mit Bürgschaften und für Risiken in einer Gesamt-höhe von 280 Milliarden Euro. Wer haftet letztlich da-für? Wer bezahlt das Ganze? Die Lohnabhängigen, dieRentnerinnen, die Arbeitslosen, die Handwerker und diekleinen und mittelständischen Unternehmer! Die Vermö-genden bleiben ungeschoren.Die Banken kennen überhaupt kein Risiko mehr; Pro-fite verteilen sie, und Verluste werden den Steuerzahle-rinnen und Steuerzahlern auferlegt. Das verletzt sogardas Eigentumsrecht; denn man haftet auch für die Ver-luste seines Eigentums. Nicht einmal das kriegen Sie ge-backen!
Deswegen sage ich Ihnen immer wieder: Die großenBanken müssen verkleinert und öffentlich-rechtlich ge-staltet werden.Frau Merkel kennt beim Schuldenabbau immer nureine Medizin, nämlich Ausgabenkürzungen und Schul-denbremse. Warum kommen Sie eigentlich nie auf dieIdee, die Einnahmen zu erhöhen? Das wäre doch eineselbstverständliche, zumindest zweite Methode.
Aber das tun Sie nicht; denn dann müssten Sie sich ein-mal mit der Privilegierung und der Verhätschelung derVermögensbesitzer auseinandersetzen
und sagen: Wir treiben das nicht weiter. – Es wäre viel-leicht höchste Zeit.
Ich erinnere noch einmal daran: Nachdem Sie all dasgemacht haben, sagen Sie den Beschäftigten im öffentli-chen Dienst: 6,5 Prozent Lohnerhöhung ist zu viel. –Dieser Grad der Ungerechtigkeit ist nicht vermittelbar.
– Der Bundesinnenminister.Wir brauchen eine Vermögensteuer von 5 Prozent– da sehen Sie mal, wie radikal unsere Forderung ist –auf Privatvermögen, das über 1 Million Euro liegt.
Mein Gott, davon ginge doch die Welt nicht unter! Aberes brächte uns steuerliche Mehreinnahmen von jährlich80 Milliarden Euro, die wir sehr sinnvoll für Bildung,Kultur und soziale Gerechtigkeit ausgeben könnten.
Ich sage Ihnen zum Schluss: Wer hier kein Stück Ge-rechtigkeit einführt – wer unseren Antrag also ablehnt –,
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Dr. Gregor Gysi
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macht sich mit sozialen Forderungen, mit Forderungennach mehr Bildung und nach mehr Kultur restlos un-glaubwürdig.
Das Wort hat der Kollege Olav Gutting für die
Unionsfraktion.
Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Verehrte Kollegin-nen und Kollegen! Die Fraktion Die Linke fordert zumwiederholten Mal,
zuletzt war es, glaube ich, 2010, die Wiedereinführungder Vermögensteuer, und wir werden den Antrag auchdieses Mal wieder aus guten Gründen zurückweisen.
Eine Steuererhöhungsmaßnahme mit Einnahmen – Siehaben es vorhin gesagt – von jährlich 80 Milliarden Eurozerschlägt Leistungsanreize und ist schädlich für unsereVolkswirtschaft.
Mit der von Ihnen geforderten massiven Substanzbe-steuerung – und das ist es – werden die Investitionen zu-rückgehen, eine Kapitalflucht wird einsetzen, Wachstumwird zerstört, und Arbeitsplätze werden verschwinden.Das ist für uns kein gangbarer Weg.Es geht Ihnen in Wirklichkeit auch nicht um dieRückführung der Staatsverschuldung.
Sie wollen die Schulden nicht bremsen; denn Sie planenan anderer Stelle in Ihren Programmen Ausgaben, diediese Einnahmen aus der Vermögensteuer um ein Vielfa-ches übertreffen.
Linke Politik, meine Damen und Herren, bedeutet immermehr Schulden. Das sehen wir gerade auch in Nord-rhein-Westfalen.
Worum es Ihnen hier geht, ist: Sie wollen enteignen,
Sie wollen umverteilen, und Sie bedienen hier Neidkom-plexe. Staatsfinanzen nachhaltig konsolidieren undSchulden bremsen, das funktioniert anders. Hierzubraucht man eine gesunde und starke Wirtschaft sowieeine hohe Beschäftigungsquote.
Dazu, meine Damen und Herren, muss man dem Steuer-zahler so viel belassen, dass es auch noch einen Leis-tungsanreiz gibt. Man muss ihm so viel belassen,
dass sich Leistung auch lohnt. Deshalb haben wir hierauch unseren Vorschlag zum Abbau der kalten Progres-sion eingebracht.
Allein im letzten Jahr sind die Steuereinnahmen um40 Milliarden Euro gestiegen. 2013 werden wir inDeutschland aller Voraussicht nach die Schallmauer vonüber 600 Milliarden Euro Steuereinnahmen durchbre-chen. 2013 über 600 Milliarden Euro Steuereinnahmen!
Wenn die Konjunktur weiter so gut läuft – dafür arbeitenwir hier –, dann ist es machbar, dass wir schon 2014überhaupt keine Neuverschuldung mehr haben werden.
Es ist einfach ein steuerliches Naturgesetz, dass einezu hohe Steuerlast letztendlich dazu führt, dass insge-samt weniger Steuern eingenommen werden.
Großbritannien hat das gerade erkannt und senkt den vorkurzem angehobenen Spitzensteuersatz jetzt wieder ab.Man hat gemerkt, dass ein hoher Spitzensteuersatz sogut wie gar nichts für die Haushaltskonsolidierung bringtund stattdessen Investoren abschreckt. Nur für Sie vonden Linken ist diese Regel anscheinend immer noch un-interessant. Für Sie ist diesbezüglich die Erde immernoch eine Scheibe.Ihr Vorhaben einer Vermögensteuer mit 5 Prozent proJahr zehrt die betroffenen Steuerzahler aus.
Sie wollen – das sagen Sie ganz ehrlich – mit dieserSteuer enteignen. Da sagen Sie ganz lapidar: Ja, waswollen Sie denn eigentlich? Denen bleibt doch noch1 Million.
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20090 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 170. Sitzung. Berlin, Freitag, den 23. März 2012
Olav Gutting
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Und 1 Million Euro ist für die meisten Menschen inDeutschland – und auch für mich – richtig viel Geld.Wenn man den Millionären – die im Übrigen, HerrGysi, auch zu unserer Bevölkerung gehören; das istkeine andere Volksgruppe –
1 Million Euro belässt, werden die in der Tat dadurchnicht arm. Diese Menschen werden dann aber nicht mehrlange in diesem Lande sein. Sie werden dieses Landziemlich schnell verlassen, und dieses Land wird dannziemlich schnell auch ziemlich arm werden.
Schauen wir uns Ihren Vorschlag einmal ganz genauan.
Kollege Gutting, gestatten Sie eine Frage oder eine
Bemerkung des Kollegen Gysi?
Ich komme gleich dazu, glaube ich. Lassen Sie unserst einmal den Vorschlag ganz genau anschauen.Sie fordern eine jährliche Besteuerung in Höhe von5 Prozent des gesamten Geld-, Immobilien- und Sach-vermögens von über 1 Million Euro. Diese Steuer sollvöllig unabhängig davon erhoben werden, ob aus diesemKapital ein Ertrag erwächst oder ob der Steuerzahler da-mit vielleicht auch Verluste macht.Die durchschnittliche Rendite bei Immobilienvermö-gen liegt derzeit deutlich unter 5 Prozent. Die Renditebei Bundesschatzbriefen liegt bei ungefähr 1 Prozent,bei Festgeld, bei Tagesgeld weit unter 3 Prozent. NachZahlung sämtlicher Ertragsteuern, die wir zusätzlich ha-ben – die Wirkung der Geldentwertung, der Inflationmuss auch noch berücksichtigt werden –, soll dann dasgesamte den Freibetrag übersteigende Vermögen nocheinmal mit 5 Prozent zusätzlich besteuert werden,
völlig unabhängig davon, ob daraus Gewinn entstehtoder nicht. Wer, bitte, soll dann – das ist die Frage – inDeutschland noch investieren?
Wer soll in Immobilien investieren? Wer soll in bezahl-baren Wohnraum investieren, wenn aufgrund dieser Ver-mögensteuer ein jährlicher Verlust vorprogrammiert ist?Gerade die Mietimmobilien für sozial Schwache wer-den mit dieser Vermögensteuer verkommen, weil keinermehr investiert. Noch gravierender ist: Es wird, es musssogar zu gravierenden Mieterhöhungen kommen, damitdiese Vermögensteuer bedient werden kann.
Gerade Sie von der ehemaligen PDS müssten es dochbesser wissen. Sie haben in der DDR das Prinzip des realexistierenden Sozialismus gehabt.
Was ist passiert? Es wurde nicht mehr in den Wohnrauminvestiert. Wohnraum verknappt, Wohnraum verkommt.Sie haben das doch 40 Jahre lang in der DDR erlebt.Lassen Sie also die Finger von der Wiedereinführung derVermögensteuer! Nicht ohne Grund wird ab 2013 vonden EU-15-Staaten nur noch Frankreich die Vermögen-steuer erheben. Auch dort wird sie – das wird man baldsehen – keine Zukunft haben.Es gibt noch andere wichtige Argumente. Die Verwal-tungskosten für diese Steuer beliefen sich bei ihrer Erhe-bung in der Vergangenheit auf ungefähr ein Drittel derEinnahmen.
Sie betrugen damals das Fünffache der Erhebungskostenfür die Lohnsteuer, und sie betrugen das Sechsfache derErhebungskosten für die Körperschaftsteuer.Wenn Sie eine verfassungsgemäße Vermögensteuerhaben wollen, dann brauchen Sie eine kontinuierlicheund gegenwartsnahe Bewertung der Vermögen.
Diese gegenwartsnahe und kontinuierliche Bewertungbedeutet einen enormen Bürokratieaufwand. Das wirdzu enormen Kosten führen.
Das ist eine Mammutaufgabe für die öffentliche Verwal-tung, für die Finanzverwaltung und für die Gerichte. Wiewollen Sie verfassungssicher zwischen Privatvermögenund Betriebsvermögen trennen? Diese Frage können Sienicht beantworten. Es ist völlig klar, dass dann Steuerge-staltung und Steuerflucht ins Ausland vorprogrammiertsind.
Die Vermögensteuer, wie Sie sie einführen wollen,schädigt die Volkswirtschaft. Sie ist investitionsfeind-lich. Sie ist bürokratisch und teuer. Sie ist unsozial ge-genüber Mietern. Sie führt zu Steuerflucht und zuArbeitslosigkeit. Sie wird mittel- und langfristig beimStaatshaushalt zu wegbrechenden Steuereinnahmen füh-ren.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 170. Sitzung. Berlin, Freitag, den 23. März 2012 20091
Olav Gutting
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Genau deswegen können wir diesem Antrag nicht zu-stimmen. Genau deswegen werden wir ihn wieder undwieder ablehnen.Vielen Dank.
Für die SPD-Fraktion hat nun der Kollege Joachim
Poß das Wort.
Ich muss jetzt erst einmal drei Minuten warten, bis
das Rednerpult heruntergefahren ist. – Man kann auch
an einem niedrigen Pult auf einer gewissen geistigen
Höhe argumentieren.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Lieber
Kollege Gutting, ich glaube, mit sozialer Ignoranz kann
man die Spaltung in unserer Gesellschaft, die man leider
konstatieren muss, nicht überwinden.
Sie haben einen Beleg dafür geliefert, wohin diese Igno-
ranz führt. Dass Sie das, was Ihnen nicht passt, einfach
zur Seite schieben, das verstehen, glaube ich, selbst die
CDU-Wähler nicht mehr. Auch die verstehen die Welt
nicht mehr. Das merke ich, wenn ich mit Leuten disku-
tiere, von denen ich weiß, dass sie nicht unbedingt meine
Partei wählen.
Warum der VW-Chef – das ist überhaupt keine Diffa-
mierung der betreffenden Person – ein Gehalt von mehr
als 17 Millionen Euro erhält, das verstehen die Men-
schen einfach nicht, wie auch immer das begründet wird.
Ich sage Ihnen: Die Menschen haben recht. Das ist nicht
mehr zu verstehen!
Ein so hohes Gehalt muss nicht sein. Das ist gestaltbar.
Auch viele Unternehmer, zum Beispiel der Chef von
Continental, fragen sich inzwischen öffentlich, ob so
hohe Manager- und Vorstandsgehälter überhaupt zu
rechtfertigen sind.
– Es gibt Zusammenhänge mit dem Thema, über das wir
hier diskutieren. – Dabei geht es – das ist interessant –
nicht nur um die Relation zu den Gehältern der „einfa-
chen“ Arbeitnehmer.
Kollege Poß, gestatten Sie eine Frage oder Bemer-
kung des Kollegen Wissing?
Aber gerne.
– Herr Wissing sitzt daneben. Er spricht ja gleich. Er
kann seine Rede aber auch in eine Zwischenfrage pa-
cken. Das reicht dann auch.
Entschuldigung. Ich habe das vorweggenommen. Die
Arbeitsteilung bei der FDP wollen wir natürlich respek-
tieren. – Bitte.
Die Arbeitsteilung funktioniert. – Herr Kollege Poß,
weil Sie uns eine Frage bezüglich der Höhe der Vergü-
tungen, die bei VW gezahlt werden, gestellt haben, frage
ich: Stimmen Sie mir zu, dass das ein mitbestimmtes
Unternehmen ist?
Stimmen Sie mir zu, dass solche Fragen natürlich auch
im Aufsichtsrat dieses mitbestimmten Unternehmens be-
handelt werden? Wie können Sie sich erklären, dass die
Vertreter der Gewerkschaften solchen aus Ihrer Sicht
überzogenen Gehältern zustimmen? Das würde mich in-
teressieren.
Lieber Kollege, auf diese Frage wollte ich gleich zusprechen kommen.
Diese Frage ist Gegenstand meiner weiteren Ausführun-gen. Ich will Ihnen jetzt gern den Kern erläutern: Alleinüber Änderungen der Besteuerung schaffen wir nicht diesoziale Akzeptanz, die wir für unsere soziale Marktwirt-schaft benötigen.
Dazu bedarf es weiterer Maßnahmen. Als ein Beispielwollte ich die Begrenzung von Vorstands- und Manager-gehältern – dies war in den letzten Jahren schon des Öf-teren Gegenstand der Debatten hier im Hause – nennen.
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20092 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 170. Sitzung. Berlin, Freitag, den 23. März 2012
Joachim Poß
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Ich werde Ihnen erläutern, wie man das machen kann.Dazu bedarf es, ob bei Volkswagen oder woanders, nichtnur der Mitwirkung der Aktionäre, der Eigentümer, son-dern – da haben Sie vollkommen recht – auch der Mit-wirkung der Gewerkschaften, der Betriebsräte, aller Ak-teure, im Übrigen auch der Politik.Wir haben in der Großen Koalition – HerrMichelbach, ich glaube, damals haben Sie zugestimmt –eine ganze Reihe von Änderungen des Aktiengesetzesvorgenommen. Es war sehr mühsam, in den anderthalb-jährigen Verhandlungen, die unter anderem ich mit derCDU/CSU geführt habe, zu Ergebnissen zu kommen.Eine andere Richtung für Vergütungen in Unterneh-men sollte vorgegeben werden: Nicht mehr Kurzfrist-denken, sondern langjährige Performance, wie man esneudeutsch nennt, soll das entscheidende Kriterium sein.Das heißt – da haben Sie vollkommen recht –, es gehtnicht nur um Besteuerungsfragen, sondern auch um dassogenannte Primäreinkommen. Da bedarf es einer Dop-pelstrategie.Aber auch die Politik ist in der Verantwortung, dieseFragen zu regeln. Das wollte ich zum Ausdruck bringen.
Nicht nur die Unternehmen tragen diese Verantwortung.Sie haben auf die Verantwortung der Unternehmen hin-gewiesen.
– Das wäre eine Verengung. Natürlich sind die Betriebs-räte und die Gewerkschaften in einem Mitbestimmungs-modell Mitwirkende. Oft genug haben sie es nicht ganzeinfach. Insofern sind sie in der Verantwortung.Der Kern unserer damaligen gesetzlichen Neurege-lung in der Großen Koalition war, dass die Aufsichtsräteeine stärkere Verantwortung und auch stärkere Auf-sichtsmöglichkeiten bekommen. Wir haben gesetzlicheVeränderungen durchgesetzt, aber leider nicht in demUmfang, in dem wir Sozialdemokraten es vorgeschlagenhatten.Wir erleben – auch die FDP ist nicht frei von diesenErlebnissen –, dass Gerechtigkeitsfragen und die Wahr-nehmung der zunehmenden sozialen Spaltung in allenBevölkerungsteilen, auch im sogenannten wirtschaftli-chen Mittelstand, an Bedeutung gewinnen. Wenn dieMenschen von Gehältern wie dem von Herrn Winterkornund von anderen Managergehältern lesen und hören, sa-gen sie zu Recht: Das kann ja wohl nicht wahr sein.Die sozialen und materiellen Verhältnisse sind ausdem Gleichgewicht geraten. Hier besteht Korrekturbe-darf. Die Korrekturen müssen wir auf verschiedenenWegen erreichen. Ein Weg führt über die Besteuerung.Die Besteuerung hoher Vermögen gehört auf jeden Falldazu. Das ist unbestritten. Wir haben die Wiedereinfüh-rung der Vermögensteuer nicht erst auf unserem letztenParteitag beschlossen, sondern schon viel früher. Wirsind fest entschlossen, im Fall der Übernahme der Re-gierungsverantwortung die Vermögensteuer wieder zuerheben. Wir brauchen auch einen höheren Spitzensteu-ersatz,
um die soziale und steuerliche Balance wiederherzustel-len; das ist aus dem Gleichgewicht geraten.Es wird argumentiert: Wir haben eine gerechte Ge-sellschaft; 10 Prozent der Steuerzahler erbringen über50 Prozent des Einkommensteueraufkommens. – Das istrichtig, aber zu kurz gesprungen. Das ist kein Beleg fürGerechtigkeit, sondern zeigt nur, wie die Einkommens-verhältnisse bei uns auseinandergedriftet sind.
Auf der einen Seite stagnieren die Realeinkommen.Ich gehe gar nicht auf prekäre Beschäftigungsverhält-nisse usw. ein; das würde meine Redezeit sprengen. Aufder anderen Seite explodieren zur gleichen Zeit, auch inschwierigsten wirtschaftlichen Situationen, die Mana-gergehälter. Das durchschnittliche Einkommen eines Be-schäftigten im Vergleich zum Einkommen eines Mana-gers steht zwar nicht im Verhältnis von 1 : 1 000, aber imVergleich zu Vorständen im Verhältnis von 1 : 50. InEinzelfällen beträgt dieses Verhältnis 1 : 100 und im Fallvon VW 1 : 350. Sicherlich gibt es aber auch Fälle, etwabei Leiharbeitern, in denen das Verhältnis 1 : 1000 be-trägt. Eine Gesellschaft, die ein solches Gehalts- und Bo-nisystem nicht für veränderungswürdig hält, wird krank,meine Damen und Herren. Das ist so.
Es besteht dringender Änderungsbedarf. Wir müssenin Umsetzung dessen, was wir im Rahmen der Änderungdes Aktiengesetzes schon beschlossen haben, von denUnternehmen erwarten, dass sie durch Zusammenwirkenaller Akteure – durch Zusammenwirken aller Akteure! –etwas einführen, was wir damals übrigens schon in einerAnhörung erörtert haben:
Kein Aktiengesetz und kein Code of Governance – dassind die Regeln, die sich Unternehmer freiwillig geben –hält Unternehmen davon ab, ein sogenanntes Cap einzu-führen, das heißt eine Begrenzung der Gehälter vorzuse-hen. Man muss die vorgesehene Umstellung der Krite-rien vornehmen, und dann hat man eine Grenze. Jetzt ist
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 170. Sitzung. Berlin, Freitag, den 23. März 2012 20093
Joachim Poß
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gesellschaftspolitisch der richtige Zeitpunkt dafür, dasssich die Unternehmen dieses Mittels – in der Wissen-schaft wird darüber schon lange diskutiert – endlich be-dienen, um den sozialen Sprengstoff, der sich hieraus er-gibt, aus der Welt zu schaffen.
Kollege Poß, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Kolb?
An die Zwischenfragen habe ich mich schon ge-
wöhnt. Ich danke Ihnen schon im Voraus herzlich für
Ihre Frage.
Und, wie ich denke, für die Verlängerung der Rede-
zeit.
Ja; das gehört ja dazu. Das ist eine einmalige Chance.
Nach allem, was Sie gesagt haben, bin ich schon ge-
spannt, wie Sie gleich abstimmen werden.
Mich interessiert allerdings erst einmal ein ganz konkre-
ter Punkt. Sie haben jetzt viel über die Erhöhung des
Spitzensteuersatzes gesprochen, der ja auch für Perso-
nengesellschaften der maßgebende Ertragsteuersatz ist.
Eigentlich wäre es dann nur logisch, wenn die SPD auch
beabsichtigt, den Ertragsteuersatz für Kapitalgesell-
schaften zu erhöhen. Strebt die SPD das an – ja oder
nein? – und, wenn ja, auf welche Höhe?
Es muss eine weitgehende Belastungsgleichheit her-gestellt werden. Es muss dafür gesorgt werden, dass Per-sonengesellschaften, was ihre Belastung betrifft, in etwawie Kapitalgesellschaften behandelt werden. Das ist dieAntwort auf diese Frage.
Sie werden verstehen, dass ich jetzt nicht in die Einzel-heiten gehe. Aber: Dazu gibt es verschiedene steuer-rechtliche Möglichkeiten.
Das ist auch nicht neu.
Wenn ich polemisch wäre – wozu ich überhaupt nichtneige, vor allen Dingen heute Morgen nicht –,
dann müsste ich Sie daran erinnern – ich weiß nicht, obSie damals schon im Parlament waren; aber das kann gutsein –,
wie hoch während Ihrer Regierungszeit in den 90er-Jah-ren die steuerliche Belastung für Personengesellschaftenwar. Unter Helmut Kohl lag der Spitzensteuersatz bei53 Prozent. Geben Sie doch nicht den Schlaumeier undergehen Sie sich hier nicht in falscher Sorge um die Un-ternehmen!
Natürlich würden wir in Regierungsverantwortungunter Berücksichtigung aller Notwendigkeiten, geradewas die Behandlung des Mittelstandes betrifft – wir wis-sen, dass 85 Prozent der Unternehmen in DeutschlandPersonengesellschaften sind –, entsprechende Vor-schläge entwickeln. Ich denke, dass ein möglicher grü-ner Koalitionspartner in eine ähnliche Richtung denkt.
Um auch das noch einmal klarzustellen: Wir habendiese Fragen der Vergütung – Herr Gysi ist ja im Gegen-satz zu mir Jurist –
im Rahmen der parlamentarischen Beratung, die zur Zeitder Großen Koalition stattgefunden hat, erörtert. Jeden-falls gibt es erhebliche Zweifel, ob es überhaupt verfas-sungsrechtlich zulässig wäre, gesetzliche Obergrenzen– und dann noch in einer bestimmten Relation – einzu-ziehen.
Bevor dieser Streit ausgetragen wird – das wird ge-schehen –, muss der zweite Bestandteil unserer Doppel-strategie umgesetzt werden: Man muss den gesellschaft-lichen Druck erhöhen – auch über die Gewerkschaftenund andere Verbände – und dafür sorgen, dass ein Capeingeführt wird; denn wir brauchen eine gewisseGrenze. Gleichzeitig muss man durch die Besteuerung,
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20094 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 170. Sitzung. Berlin, Freitag, den 23. März 2012
Joachim Poß
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sowohl von Einkommen wie auch von Vermögen, einensozialen Ausgleich herzustellen versuchen. Auch dieswird nicht von heute auf morgen zu erreichen sein; dasist klar.Die von Ihnen im vorliegenden und heute diskutiertenAntrag, meine Damen und Herren von der Linkspartei,vorgeschlagene isolierte Maßnahme, nur eine Vermö-gensteuer einzuführen, und die Vorstellung, die Sie,meine Damen und Herren von der Linkspartei, in IhremAntrag und in Ihren Ausführungen damit verbinden,dass man durch eine möglichst hohe Besteuerung allegesellschaftlichen Probleme in den Griff bekommenwürde, ist nun wirklich populistisch.
Diese populistische Vorstellung teilen wir ebenso wenigwie den Populismus von rechts, der sich hier heute Mor-gen teilweise leider schon wieder gezeigt hat. Also,überdenken Sie Ihre Ignoranz, meine Damen und Herrenvon CDU/CSU und FDP.
Nun hat der Kollege Dr. Volker Wissing für die FDP-
Fraktion das Wort.
Lieber Joachim Poß, wenn man anderen Vorwürfemacht und von Populismus spricht, dann sollte mannicht selber so populistisch reden wie Sie eben hier vordem Deutschen Bundestag.
Ich fand es sehr entlarvend: Als Herr Kollege KolbSie gefragt hat, ob Sie beabsichtigen, auch für die großenKapitalgesellschaften in Deutschland die Steuern zu er-höhen, haben Sie sich nicht getraut, zu sagen: Nein, dieSPD möchte nicht, dass die großen Kapitalgesellschaf-ten in Deutschland höher besteuert werden. – Sie zahlenknapp unter 30 Prozent an Steuern, und Sie wollen dasnicht erhöhen.
Sie haben dann gesagt: Wir wollen die Besteuerungvon Personengesellschaften der Besteuerung von Kapi-talgesellschaften anpassen. Damit haben Sie verdeckteine Steuersenkung gefordert. Gleichzeitig erklären Sieden Leuten aber scheinheilig, Sie seien für eine Erhö-hung des Spitzensteuersatzes. Sie müssen sich schoneinmal entscheiden.
Entweder wollen Sie sachliche Steuerpolitik machen,oder Sie wollen Populismus betreiben. Das müssen Sieden Leuten dann klar sagen.
Sie haben für die großen Unternehmen die Steuerngesenkt und reden ständig von Steuererhöhungen fürPersonengesellschaften, für die kleinen und mittelständi-schen Unternehmerinnen und Unternehmer.
Lieber Kollege Poß, das ist scheinheilige, populistischePolitik. Die SPD muss sich einmal entscheiden, für wensie in Deutschland Politik machen will.
Wenn Sie diese Entscheidung getroffen haben, dannkann man mit Ihnen auch wieder sachlich über Steuer-politik reden.Jetzt komme ich zur Linken. Herr Gysi, Sie machendas ja sehr trickreich. Sie erwecken den Eindruck, manmüsste in Deutschland endlich auch einmal Millionärebesteuern. Dabei werden sie besteuert.
Daneben erwecken Sie den Eindruck, die Linkewollte die Schuldenbremse in Deutschland einhalten.Dabei waren Sie gegen die Einführung der Schulden-bremse. Diese trickreichen Dinge, die in Ihren Anträgenstehen, tragen in Wahrheit nicht zur Verbesserung derLage bei, und sie tragen auch nicht dazu bei, das politi-sche Klima in Deutschland zu verbessern.
Ich sage Ihnen Folgendes: Wenn Sie sich hier hinstel-len und Sätze sagen wie: „Die Milliardäre haben zusam-men ein Vermögen in Höhe von 300 Milliarden Euro,was dem Bundeshaushalt entspricht“, dann erwecken Siedamit den Eindruck, als könnte man damit irgendeinhaushaltspolitisches Problem lösen. In Wahrheit wissenSie doch genauso gut wie ich: Wenn man diese 300 Mil-liarden Euro wegbesteuert, dann kann man sie einmal imBundeshaushalt einsetzen.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 170. Sitzung. Berlin, Freitag, den 23. März 2012 20095
Dr. Volker Wissing
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Wenn Sie das nicht dazu sagen, dann arbeiten Sie trick-reich an der Verwirrrung der Öffentlichkeit. Das ist keinsachlicher Beitrag – schon gar nicht zur Lösung der Pro-bleme dieses Landes.
Herr Kollege Gutting hat Ihnen sehr sachlich dar-gelegt, warum Ihr Antrag schlicht und einfach blankerPopulismus ist. Wenn Menschen beispielsweise in Im-mobilien investieren und eine Rendite von unter 5 Pro-zent erzielen, dann können Sie doch nicht ernsthaft eineSteuer von 5 Prozent verlangen. Frau Enkelmann stelltsich dann auch noch hier hin und sagt: Ich weiß garnicht, was Herr Gutting meint, wenn er von Mieterhö-hungen spricht. – Tun Sie doch nicht so scheinheilig. Siewissen doch ganz genau: Wenn Ihr Antrag eine Mehrheitfände, dann müssten die kleinen Leute, die Mieterinnenund Mieter, die Zeche bezahlen.
Man kann Ihrem Antrag schon deswegen nicht zustim-men,
weil man die Menschen, die niedrige Einkommen haben,vor einer solchen Steuerpolitik schützen muss.
Seien Sie doch für all die Menschen, die an Sie glau-ben, froh darüber, dass wir Ihre Anträge ablehnen, weilsie die Situation der Menschen mit geringen Einkommenin Wahrheit nicht verbessern, sondern verschlechternwürden. Das tun Sie ja auch mit der Politik, die Sie ananderer Stelle vertreten.Wir legen Ihnen einen Entwurf zum Abbau der kaltenProgression in den unteren Einkommensgruppen vor,
weil es hier eine Gerechtigkeitslücke gibt. Die Linkesagt: „Das lehnen wir ab“,
ohne ein sachliches Argument dafür zu haben, weshalbSie das tun.Auch an dieser Stelle sieht man, dass Sie nur nach au-ßen hin den Eindruck erwecken, als würden Sie eineSteuerpolitik für die Bezieher unterer Einkommen ma-chen. Tatsächlich ist das Gegenteil der Fall. Ihnen gehtes darum, an Vermögen heranzukommen, eine andereGesellschaft aufzubauen und umzuverteilen,
weil Sie die Unterschiede in unserer Gesellschaft nichtertragen können. Der richtige Weg ist aber, dass man fürdie Bezieher unterer Einkommen eine Verbesserungschafft.
Sie aber sagen: Wir lassen die Bezieher unterer Einkom-men im Stich und kümmern uns darum, dass es anderenschlechter geht.
Wir wollen keine Gesellschaft, in der es allen gleichschlecht geht.
Deswegen laden wir Sie ein: Helfen Sie mit, durch denAbbau der kalten Progression für die Bezieher untererEinkommen jetzt etwas zu verbessern. Dann wird es inDeutschland ein Stück gerechter.
Sehen Sie, Sie winken schon wieder ab und sagen: Wirmachen doch nichts für die unteren Einkommen,
wir werden doch nicht die kalte Progression bei den Be-ziehern kleiner Einkommen in Deutschland beseitigen.
Kollege Wissing, wollen Sie die Chance wahrneh-
men, eine Frage oder eine Bemerkung des Kollegen
Ernst zu hören?
Ja, bitte.
Ich möchte einmal klarstellen, dass wir uns schon inder letzten Legislaturperiode zur kalten Progressionpositioniert haben und selbstverständlich dafür waren,sie auszugleichen. Aber wir wollen dies gegenfinanzie-ren. Gegenfinanzieren bedeutet für uns, dass wir denSpitzensteuersatz erhöhen, um den Staatshaushalt ent-sprechend zu sanieren. Auch das ist ein Punkt, um zu ei-nem vernünftigen Staatshaushalt zu kommen.Eine Frage muss ich Ihnen aber doch stellen. Sie ha-ben gerade gesagt, die Besteuerung von Vermögen – ichstelle noch einmal klar, es geht um Vermögen oberhalbvon 1 Million Euro; unterhalb von 1 Million Euro pas-siert überhaupt nichts – würde nicht dazu führen, dassdie Vermögenden tatsächlich höher besteuert würden.
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20096 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 170. Sitzung. Berlin, Freitag, den 23. März 2012
Klaus Ernst
(C)
(B)
Vielmehr wäre das eine Vorgehensweise, die letztendlichwiederum die kleinen Leute finanzieren müssten. Jetztmüssen Sie mir „den kleinen Mann“ oder „die kleineFrau“ zeigen, die ein Vermögen von über 1 Million Eurohat. Dann ist sie keine „kleine Frau“ mehr. Wenn mangenau diese Gruppe besonders besteuert, dann wirddiese Gruppe zur Finanzierung des Staatshaushalts he-rangezogen und auch die Neuverschuldung geringer.
Mehr Einnahmen bedeuten nämlich weniger Verschul-dung, und dann brauchen wir auch die unsinnige Schul-denbremse in der jetzigen Form nicht. Ist das richtig,oder ist das falsch?
– Bei der nächsten Wahl lachen Sie nicht mehr so.
Herr Kollege Ernst, es gibt exakt zwei Möglichkeiten:
Entweder verstehen Sie nichts, aber auch gar nichts vom
Steuerrecht. Dann frage ich mich aber, warum Sie bei
dieser Debatte in der ersten Reihe sitzen.
Oder Sie betreiben genau das gleiche Geschäft wie Herr
Gysi: Sie täuschen die Öffentlichkeit mit bewussten Ver-
wirrungen und Verdrehungen der Realität.
Der Kollege Gutting hat es Ihnen doch klar erläutert:
Wenn Sie auf Vermögen eine Steuer von 5 Prozent erhe-
ben und die Rendite bei Immobilieninvestitionen bei
unter 5 Prozent liegt – können Sie mir so weit folgen? –,
dann müssen Sie doch die Frage beantworten, was mit
der Differenz ist. Diese führt dann zu Mieterhöhungen.
Diese Mieterhöhungen würden Sie, würde Ihr Antrag
umgesetzt, den Bürgerinnen und Bürgern in Deutschland
zumuten. Deswegen lehnen wir Ihren Antrag ab. Haben
Sie das verstanden?
Im Übrigen haben auch Sie bestätigt: Die Linke ist
dagegen, dass es Beziehern unterer Einkommen besser
geht.
Stattdessen konzentriert sich die Linke darauf, dafür zu
sorgen, dass es anderen Einkommensbeziehern schlech-
ter geht.
Das kann Ihre Politik sein; das mag Ihr Weg sein.
Aber wir arbeiten auf einer anderen Baustelle.
Wir sorgen mit dem Abbau der kalten Progression dafür,
dass es den Beziehern unterer Einkommen besser geht
und dass sie gerechter besteuert werden, und das machen
wir auch nicht auf Pump.
– Nein, das geschieht nicht auf Pump, Herr Kollege
Zöllmer.
Sie betreiben den gleichen Populismus. Also, wir ma-
chen es nicht auf Pump, sondern es ist der Verzicht auf
ungewollte Steuermehreinnahmen.
Im Übrigen betreiben Sie ganz bewusst ein Verwirr-
spiel in der Öffentlichkeit; das muss man den Menschen
auch einmal sagen. Sie differenzieren nämlich nicht
zwischen höheren Steuersätzen und höherem Steuerauf-
kommen. Tatsächlich ist es so, dass die Steuereinnahmen
des Staates in den letzten Jahren kontinuierlich gestiegen
sind. Sie erwecken allerdings den Eindruck, man müsse
die Steuersätze endlich erhöhen, damit die Steuern flie-
ßen. Fakt ist: Wenn man die Unternehmensbesteuerung
in Deutschland auf über 30 Prozent anhebt, dann werden
die Kassen leerer. Das wissen Sie, aber Sie sagen es der
Öffentlichkeit nicht. Der Kollege Poß ist ja der klaren
Frage von Herrn Kolb scheinheilig ausgewichen.
Herr Kollege Wissing, Sie können gerne weiterreden,
allerdings geschieht dies dann auf Kosten Ihrer Frak-
tionskollegen.
Sie haben zu dieser Debatte nichts Sachliches beizu-
tragen.
Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat die Kol-
legin Lisa Paus das Wort.
Herr Wissing, auch wenn Sie es immer noch nichtverstehen wollen: Das Thema Verteilungsgerechtigkeitgehört in Deutschland tatsächlich ganz oben auf dieAgenda.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 170. Sitzung. Berlin, Freitag, den 23. März 2012 20097
Lisa Paus
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Genau eine Person dieser Koalition hat das verstan-den. Es ist keine vier Wochen her, als Bundestagspräsi-dent Lammert sagte:Es muss Sie mindestens so sehr besorgen wie mich,dass drei Viertel der in Deutschland lebenden Be-völkerung die bestehende Einkommens- und Ver-mögensverteilung für ungerecht empfinden.Und er hat, an Ihre Adresse gerichtet, extra ergänzt, dassselbst bei den Wählern der liberalen FDP diese Zahl bei65 Prozent liege.
Er steht damit zwar allein in der Koalition; das wollenSie offenbar nicht begreifen. Aber er steht damit nichtallein in der Gesellschaft und auch nicht allein – das istneu – in der Wirtschaft.
Es gibt inzwischen schon seit über einem Jahr die Ini-tiative „Appell Vermögender für eine Vermögensab-gabe“. Diese hat inzwischen entsprechende Anzeigengedruckt.
Es gibt in dieser Woche nach Bekanntgabe der Re-kordgehälter deutscher Spitzenmanager eine Meldungdes Verbandes der Familienunternehmer – wirklich nichtverdächtig, linke Positionen zu vertreten;
wir alle kennen ihn. Er formuliert so klar und einfachwie wahr:Kein Top-Manager ist das … 400-Fache eines ein-fachen Angestellten wert.
Der Verband legt nach und fordert eine Obergrenze fürManagervergütungen. Das Gleiche tut auch die DeutscheSchutzvereinigung für Wertpapierbesitz, auch kein Hortder Linken.Dies geht weiter. Einer der Spitzenmanager, PostchefFrank Appel – er hat im letzten Jahr 5,2 Millionen Euroverdient –, formuliert:Viele Spitzenmanager wie ich haben nichts dage-gen, … mehr Steuern oder eine Vermögensabgabezu zahlen …Die Schulden müssenauf ein Maß gesenkt werden, das unsere Kinder in30 Jahren tragen können.
Er ergänzt:Ich denke, ein nicht unwesentlicher Teil der Wirt-schaftselite teilt meine Ansicht. … Ja, wir Besser-verdiener wollen höhere Steuern zahlen. So habenmir einige nach meinem Vorschlag geschrieben.Damit endet das aber nicht. Es gibt dazu Debattenbei-träge in allen bürgerlichen Zeitungen. In der FrankfurterAllgemeinen Zeitung, in der Zeit, in der Wirtschafts-woche, in der Capital: Überall ist das Thema virulent.All das macht deutlich: Erstens. Die Schere zwischenArm und Reich hat sich inzwischen in einem Maß geöff-net, das längst nicht mehr nur ungerecht ist, sondern dasden Zusammenhalt unserer Gesellschaft akut gefährdet.
Oder wie es Professor Corneo von der Freien UniversitätBerlin am Montag bei der Anhörung zur kalten Progres-sion ganz sachlich formuliert hat: Sie müssen sich ent-scheiden, ob Sie weiter in einer Demokratie leben wol-len oder ob Sie eine verstärkte Ungleichverteilungzwischen Arm und Reich zulassen wollen.
All das macht zweitens deutlich: Die Verschuldung istinzwischen so hoch, dass sie allein durch Sparpolitikschlichtweg nicht mehr auszugleichen ist. Die Besteue-rung von Vermögen ist eben nicht mehr nur eine Frageder Gerechtigkeit, sondern sie ist heute eine Frage derökonomischen Vernunft. So forderte bereits im Septem-ber letzten Jahres die ebenfalls im Hinblick auf linkeIdeen völlig unverdächtige Unternehmensberatung Bos-ton Consulting eine europaweite Vermögensabgabe. IhreBegründung hat nichts mit Gerechtigkeit zu tun, sondernlautet schlichtweg: Das ist die ökonomisch sinnvollsteLösung.
Wir können unsere Probleme eben nicht über Wachstumlösen. Die einzigen Alternativen, die ansonsten zur Wahlstehen, sind entweder eine Rezession durch reine Spar-politik oder eine Inflation. Eine Vermögensabgabe ist dieökonomisch sinnvollste Lösung. Nehmen Sie sich dieWorte von Boston Consulting einmal zu Herzen.
Wir Grünen waren mit die Ersten und sind bis heutedie einzige Partei, die seit Beginn der Finanz- und Schul-denkrise für die Erhebung einer einmaligen Vermögens-abgabe zur Tilgung der krisenbedingten Schulden ge-worben hat. Unser Vorschlag für Deutschland, den wirvor einem Jahr gutachterlich vom Deutschen Institut für
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20098 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 170. Sitzung. Berlin, Freitag, den 23. März 2012
Lisa Paus
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Wirtschaftsforschung haben unterfüttern lassen, lautet:Wir wollen, dass die reichsten 330 000 Deutschen – dasist weniger als 1 Prozent der Bevölkerung – eine einma-lige Vermögensabgabe auf ihr gesamtes Nettovermögenzahlen, zahlbar über zehn Jahre mit jährlich 1,5 Prozent.Nach Berechnungen des Deutschen Instituts für Wirt-schaftsforschung könnten so 100 Milliarden Euro einge-nommen werden. Das entspricht den geschätzten bishe-rigen Kosten der Krise für den Bundeshaushalt.
Es geht eben nicht – das funktioniert auch schlicht-weg nicht –, aus privaten Schulden öffentliche Schuldenzu machen, um sie dann über noch mehr Staatsverschul-dung zu finanzieren. Das hat uns die europäische Schul-denkrise schneller als erwartet vor Augen geführt. Esfunktioniert genauso wenig, wenn die Schulden der Ban-ken von den Hartz-IV-Empfängern abgetragen werdensollen.Was allerdings auch nicht funktioniert, ist der Vor-schlag der Linken; ich muss leider wiederholen, was ichschon vor zwei Jahren gesagt habe, weil Sie Ihren An-trag nicht geändert haben. Es ist verständlich, dass Sievor der Saarland-Wahl eine wahlkampftaugliche Bot-schaft aussenden wollen. Aber dann muss auch endlichwieder Substanz in Ihre Partei kommen und nicht nurheiße Luft.
Ich kann der rechten Seite dieses Hauses Entwarnunggeben: Das vollmundig daherkommende Versprechenvon Mehreinnahmen in Höhe von 80 Milliarden Eurotaugt nicht einmal für 10 Pfennig.
Frau Kollegin Paus, gestatten Sie eine Zwischenfrage
von Herrn Wissing?
Nein. Ich bin am Schluss meiner Redezeit; ich habe
leider nur noch 30 Sekunden.
Nur ein Beispiel, warum Ihr Vorschlag schwächelt:
Da Sie Betriebsvermögen von der geplanten Besteue-
rung ausschließen, öffnen Sie ein riesengroßes Scheu-
nentor für Steuerumgehung. Dafür ist keine Flucht ins
Ausland oder ein teurer Steuerberater nötig. Das geht
ganz einfach: Man muss nur eine Verwaltungsgesell-
schaft gründen, in der das Privatvermögen gebündelt
wird, und schon greift Ihre Steuer komplett ins Leere.
Wegen dieser Substanzlosigkeit wird es leider so
kommen: Sie werden, jenseits von Lafontaine-Land, ge-
meinsam mit der FDP zu Recht abgewählt werden,
meine lieben Damen und Herren von der Linken.
Das Wort hat der Kollege Dr. h. c. Hans Michelbach
für die Unionsfraktion.
Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Bei allden populistischen Täuschungsmanövern und Neid-debatten der Opposition
darf heute eines nicht in Vergessenheit geraten: Bei derKrisenbewältigung und der Einführung einer Schulden-bremse war Deutschland europaweit am erfolgreichsten.Diese Vorbildfunktion hat zum europäischen Fiskalpaktgeführt. Die Sicherung von Wachstum und Beschäfti-gung wurde durch Steuergesetze und Konjunkturpro-gramme erfolgreich gestaltet.
Mittlere und kleine Einkommen wurden durch dieseBundesregierung und diese Koalition wesentlich entlas-tet.
Das ist die Wahrheit. Dadurch hat es den Konjunkturauf-schwung in Deutschland gegeben.Diesen Weg wollen wir jetzt mit dem Gesetzentwurfzum Abbau der kalten Progression fortsetzen. Das isteine erfolgreiche Politik für unsere Steuerzahler. Wirwollen 6 Milliarden Euro zurückgeben, und Sie wollendas blockieren. Das ist die Wahrheit.
Unsere Steuerpolitik wird grundsätzlich am Prinzipder Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit ausgerich-tet. Wir lehnen leistungsfeindliche Substanzbesteuerun-gen ab, weil sie volkswirtschaftliche Schäden hervorru-fen.Die 100 Milliarden Euro, die Frau Paus gerne einneh-men würde, könnten Sie nur einmal einnehmen. Sie ent-ziehen diese Gelder letzten Endes der Volkswirtschaft.Davon hat der normale Bürger leider nichts.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 170. Sitzung. Berlin, Freitag, den 23. März 2012 20099
Dr. h. c. Hans Michelbach
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Sie betreiben so eine gemeinwohlwidrige Politik.
Unsere Politik wird strikt am Prinzip der Besteuerungnach der Leistungsfähigkeit ausgerichtet.
Wir lehnen leistungsfeindliche Substanzbesteuerungenab. Wir wollen eine lückenlose Besteuerung des Ertrags.Das ist eine gerechte, wachstumsfördernde und ökono-misch sinnvolle Steuerpolitik.Steuergerechtigkeit können Sie auch nicht an den30 DAX-Vorständen festmachen, wie es von Herrn Gysiversucht wurde. Man kann zwar immer wieder die An-gemessenheit der Managergehälter infrage stellen, aberin einer freiheitlichen Marktwirtschaft sollten wir Frei-heit und Verantwortung im Blick haben und diese Men-schen nicht wegen der Besteuerung ins Ausland treiben.
Mir ist jeder Höchststeuerzahler, der in DeutschlandSteuern zahlt, lieber als der, der ins Ausland abwandert.Sie wollen anscheinend, dass diese Menschen gemein-wohlwidrig ins Ausland abwandern. Das war ja leider inder Vergangenheit aufgrund Ihrer Steuerpolitik schonhäufig genug der Fall.Wir müssen eine lückenlose Besteuerung des Ertragsund des Einkommens sicherstellen. Wir dürfen aber keineSubstanzbesteuerung vornehmen. Substanzbesteuerun-gen sind nicht im Interesse der volkswirtschaftlichenLeistungsfähigkeit und der volkswirtschaftlichen Ent-wicklung.
– Herr Ernst, ich weiß, dass Sie Voodoo-Ökonomie studierthaben. Ich kann Ihnen nur sagen: Die volkswirtschaftlicheLeistungsfähigkeit wird durch eine zunehmende Substanz-besteuerung zerstört; das ist die Wahrheit. Das solltenSie endlich einmal lernen.
Was wir machen, ist keine Ignoranz, sondern ökonomi-sche Vernunft. Die Opposition hat nach meiner Ansichtein gestörtes Verhältnis zur Leistung; das wird hier im-mer wieder deutlich.
Deswegen können wir Ihren Vorstellungen nicht zustim-men.Wenn man sich die Steueraufkommensstatistik an-schaut, dann stellt man fest, dass 79 500 Steuerpflichtigenach der Splittingtabelle über ein gemeinsames Einkom-men in Höhe von 500 000 Euro verfügen.
Sie sagen, dass 500 000 Euro 1 Million DM sind unddass es sich somit um Einkommensmillionäre handelt.Dementsprechend stellen Sie Ihre Anfragen.
Ich möchte Ihnen Folgendes in Erinnerung rufen: ImJahr 2011 haben diese 79 500 Steuerpflichtigen Einkom-mensteuer in Höhe von 28,43 Milliarden Euro gezahlt.Der Anteil dieser Reichensteuerzahler an der Zahl allerSteuerpflichtigen liegt bei 0,2 Prozent. Man muss sichdas einmal vorstellen: 0,2 Prozent der Steuerpflichtigenleisten über 12 Prozent des Steueraufkommens. Diesewollen Sie vertreiben? Ich bin froh, dass diese Steuer-pflichtigen 12 Prozent des gesamten Steueraufkommensleisten. Das sollten Sie sich vor Augen halten.Die Erhöhung des Reichensteuersatzes um 1 Prozent-punkt würde die individuelle Steuerlast um durchschnitt-lich 6 300 Euro pro Jahr erhöhen und zu einem Steuer-mehraufkommen in Höhe von lediglich 0,5 MilliardenEuro, also von 500 Millionen Euro, pro Jahr führen. Dasheißt, das, was Sie vorschlagen, ist nicht zielführend.Angesichts der geringen Zahl der betreffenden Steuer-pflichtigen ist die steuerliche Leistungsfähigkeit mini-mal. Ich muss daher ganz deutlich sagen: Ihre Rechnungkann auf keinen Fall aufgehen.Es ist nicht gut, dass vor Wahlen, wie sie jetzt bevor-stehen, die Menschen, die Leistung erbringen, immerwieder geradezu vorgeführt werden. Herr Lafontainefordert eine Steuer in Höhe von 75 Prozent. Sie verlan-gen 5 Prozent zusätzlich. Das ist im Vergleich zu derForderung von Herrn Lafontaine geradezu ein Schnäpp-chen.
Ich bin gespannt, wie SPD und Grüne abstimmenwerden, ob sie einem solchen willkürlichen Steuerauf-wuchs zustimmen werden. Ich frage mich, was die SPDinsbesondere im Hinblick auf die Großkonzerne eigent-lich will. Will sie die Steuerlast der mittelständischenBetriebe eher senken oder im Rahmen einer Steuerorgieweiter erhöhen? Das alles passt doch nicht zusammen.Angesichts ihrer großen Zahl sind die mittelständischenUnternehmen für das Gemeinwohl in Deutschland wich-tig. Sie dürfen daher die Personengesellschaften nichtweiter mit Einkommensteuererhöhungen traktieren. Dasgeht doch nicht auf. Das können Sie nicht machen. Dasist gemeinwohlwidrig.
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20100 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 170. Sitzung. Berlin, Freitag, den 23. März 2012
Dr. h. c. Hans Michelbach
(C)
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Die Menschen werden erkennen, dass unsere Steuer-politik, die auf dem Prinzip der Besteuerung nach derLeistungsfähigkeit basiert, die einzig richtige ist. Daranwerden wir uns messen lassen. Wir werden die Zustim-mung der Bürgerinnen und Bürger dafür erhalten.Vielen Dank.
Das Wort hat der Kollege Manfred Zöllmer für die
SPD-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Und täglich grüßt das Murmeltier. Alle ken-
nen sicherlich diesen Film. Diese Aussage bezieht sich
nicht nur auf die Rede von Herrn Michelbach – das alles
haben wir so oder so ähnlich schon einmal gehört –, son-
dern in diesem Fall auch auf den Antrag der Fraktion
Die Linke. Wenn einem nichts mehr einfällt, dann bringt
man einfach einen alten Antrag, den man schon einge-
bracht hatte, wortgleich wieder ein, ändert aber die
Überschrift. So viel Kreativität gibt es immerhin.
Bei den Inhalten gibt es allerdings keine Kreativität.
Über all das, was Sie vortragen, haben wir bereits disku-
tiert. Es wäre schön, wenn Sie das eine oder andere aus
den Diskussionen in Ihre Anträge aufgenommen und Re-
cycling anders definiert hätten, als Sie es hier gemacht
haben.
Wir Sozialdemokraten wollen die Vermögensteuer
wieder einführen. Wir brauchen eine Vermögensteuer in
Deutschland, weil viele Menschen – wir haben hierzu
schon Zahlen gehört – ihre Einkommen nicht nur aus Ar-
beit erzielen, sondern auch aus Vermögen; die Schere
geht immer weiter auseinander. Dies ist ein Gebot sozia-
ler Gerechtigkeit. Unser Steueraufkommen muss gerech-
ter verteilt werden. Dazu ist eine Vermögensteuer
notwendig; denn die Einkommens- und Vermögensver-
teilung in Deutschland ist zutiefst ungerecht. Das obere
Zehntel in Deutschland besitzt über 60 Prozent des ge-
samten Vermögens.
Im internationalen Vergleich – schauen Sie sich ein-
mal die Statistiken der OECD an, Herr Wissing – steht
Deutschland bei vermögensbezogenen Steuern ganz un-
ten. Die Struktur des Steueraufkommens in Deutschland
ist zu stark am Lohneinkommen orientiert. Wir müssen
diese Orientierung verändern.
Kollege Zöllmer, gestatten Sie eine Frage oder Be-
merkung des Kollegen Ernst?
Aber gerne.
Bitte schön.
Ich nehme ja mit Freude zur Kenntnis, dass Sie für
eine gerechte Vermögensverteilung sind. Aber ich kann
das nicht unwidersprochen stehen lassen.
Könnte es sein, dass die jetzige ungerechte Vermö-
gensverteilung, die Sie konstatieren, damit zusammen-
hängt, dass Sie in Ihrer Regierungszeit den Spitzensteu-
ersatz von 53 Prozent auf 42 Prozent gesenkt haben?
– Ihr braucht euch gar nicht so aufzuregen; das ist eure
Angelegenheit. – Könnte es damit zusammenhängen,
dass zum Beispiel im Jahr 2000 das Aufkommen aus der
Körperschaftsteuer geringer war als das Aufkommen aus
der Hundesteuer in diesem Land? Könnte es sein, dass
Sie in Ihrer Regierungszeit auf die Wiedereinführung ei-
ner Vermögensteuer verzichtet haben?
– Aber ihr habt regiert. – Könnte die ungerechte Vermö-
gensverteilung in diesem Lande, die Sie so wie wir
konstatieren, durch eine vollkommen falsche Besteue-
rungspolitik vonseiten der sozialdemokratischen Partei
verursacht worden sein?
– Ich verstehe überhaupt nicht, warum Sie so brüllen.
Das ist doch eure Politik. Steht doch dazu oder sagt: Das
war falsch.
Vielen Dank, Herr Kollege, für diese Frage. ZumStichwort Vermögensteuer fällt mir ein, dass es einenFinanzminister namens Lafontaine gab, der die Chancegehabt hätte, die Vermögensteuer wieder einzuführen. Esgab da ein kurzes Zeitfenster, auch im Hinblick auf dieMehrheit im Bundesrat, in dem das möglich gewesenwäre.
Er hat es nicht getan.
Sprechen Sie doch einfach mit ihm, und fragen Sie ihneinmal, warum er das damals nicht gemacht hat.
Darüber hinaus argumentieren Sie immer: Wenn wirnoch die Steuersätze von Helmut Kohl hätten, dannginge es uns fantastisch.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 170. Sitzung. Berlin, Freitag, den 23. März 2012 20101
Manfred Zöllmer
(C)
(B)
Dazu fällt mir nur ein: Wenn wir das Wetter vom 15. Julihätten, wäre es wärmer draußen.
Das Problem ist doch, dass sich die Welt verändert hat– diese Veränderung der Welt müssen doch auch Sie zurKenntnis nehmen –, und darauf muss man steuerpoli-tisch reagieren.
Die OECD hat das Problem analysiert und gesagt, inDeutschland gebe es ein Ungleichgewicht zwischen derBesteuerung von Einkommen und Ertrag und der Be-steuerung von Vermögen. Das ist aus meiner Sicht einerichtige Analyse. Dieses Ungleichgewicht müssen wirbeseitigen. Denken Sie einfach einmal darüber nach.Vielleicht bekommen wir dann ja demnächst einen An-trag von Ihnen, den wir hier diskutieren können.Ich betone noch einmal: Eine Vermögensteuer istwirtschaftspolitisch richtig, und sie auch ein Gebot so-zialer Gerechtigkeit.
Wie sieht eigentlich die Steuerpolitik der Koalitionaus?
Die erste Frage, die sich stellt, ist: Gibt es überhaupt eineSteuerpolitik dieser Koalition? Ich habe mir einmal dieMühe gemacht, noch einmal in den Koalitionsvertrag zuschauen. Ich habe gelacht, als ich gelesen habe, was Siedamals alles aufgeschrieben haben. Wenn Ihre Steuer-politik eine Person wäre und zwei Beine hätte, dannkönnte sie Stargast in der Sendung Pleiten, Pech undPannen sein.
Schauen wir uns einmal die FDP an. Sie sind alsMehr-netto-vom-Brutto-Partei gestartet. Dann haben Sieirgendwann gemerkt, dass Sie ein totes Pferd reiten, undsind abgestiegen. Nach den jetzigen Umfragen liegenSie bei 2 Prozent. Sie suchen nach einem neuen Pferd,haben es aber nicht gefunden. Geblieben ist eine unsägli-che Klientelpolitik, die ihren Ausdruck zum Beispiel inder Steuererleichterung für Mövenpick fand.
Herr Michelbach, schauen wir uns doch einmal dieUnion an. Sie als Union haben doch die Klientelpolitikebenfalls vorangetrieben. Ich darf nur an die CSU erin-nern, die bei der Hoteliersteuer an führender Stelle betei-ligt war.
Sie machen Steuerpolitik nach dem Motto: Wer sichbewegt, hat schon verloren. Vermögensteuer, Gemeinde-finanzreform, Vereinfachung des Steuerrechts, Mehr-wertsteuerreform, Finanztransaktionsteuer – alles Fehl-anzeige bei Ihnen. Das ist Ihre Bilanz. Diese Koalitionist doch steuerpolitisch am Ende. Sie leben alleine vonden Erfolgen einer Reformpolitik, zu der Sie nichts bei-getragen haben.
Wohlstand, Sicherheit und soziale Gerechtigkeit er-fordern einen handlungsfähigen Staat. Dazu sind ausrei-chende und verlässliche Staatseinnahmen nötig. Wennwir uns den Schuldenstand von Bund, Ländern undKommunen anschauen, dann stellen wir fest: Wir sind invielen Bereichen von einem handlungsfähigen Staat weitentfernt.
Das gilt für die Bundesländer und Kommunen, die zu-künftig auch die Schuldenbremse einhalten müssen. Nunglaubt die Linke, mit der Vermögensteuer – diese steht jaden Bundesländern zu – den steuerpolitischen Stein derWeisen gefunden zu haben,
damit sie nicht mehr Haushalte konsolidieren muss. Dasist doch Ihr Problem. Haushaltskonsolidierung und dieEinhaltung der Schuldenbremse sind eine große Heraus-forderung. Das ist völlig unbestritten.
– Was war Ihre Frage?
– Das habe ich viermal gesagt. Sie müssen einfach nurzuhören, dann erledigt sich schon einiges.
Die Vermögensteuer ist ein wichtiges Element zurLandesfinanzierung. Das ist unbestritten. Deshalb wun-dere ich mich, dass CDU und FDP diese ablehnen unddie FDP auch noch Steuersenkungen auf Pump fordert
und in Nordrhein-Westfalen den Wahlkampf damit be-streitet, sich als oberster Haushaltskonsolidierer zu pro-
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20102 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 170. Sitzung. Berlin, Freitag, den 23. März 2012
Manfred Zöllmer
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filieren. Das passt überhaupt nicht zusammen. SchauenSie sich doch Nordrhein-Westfalen an.
Die rot-grüne Landesregierung hat den notleidendenKommunen mit dem Stärkungspakt Kommunalfinanzenunter die Arme gegriffen.
Was hat der Bund gemacht? Sie greifen den Ländern undden Kommunen in die Tasche und nehmen ihnen dasGeld wieder weg.
Diese Art der finanzpolitischen Arbeitsteilung verurtei-len wir. Dies ist doch unsinnig.Die Vermögensteuer ist kein Deus ex Machina, keinGeist aus der Flasche, kein Wundermittel zur Lösung al-ler Probleme, wie die Fraktion Die Linke glaubt.
Kollege Zöllmer, es tut mir leid, Sie müssen zum
Schluss kommen.
– Die Zwischenfrage von der FDP kommt ein bisschen
zu spät zur Verlängerung der Redezeit.
Das finde auch ich. – Die Vermögensteuer ist verfas-
sungsrechtlich möglich, die Bewertungsprobleme sind
lösbar, sie schafft mehr Gerechtigkeit. Deshalb ist sie
dringend notwendig.
Für die FDP-Fraktion hat der Kollege Dr. Daniel Volk
das Wort.
Herzlichen Dank. – Frau Präsidentin! Meine sehr ge-ehrten Damen und Herren! Herr Kollege Zöllmer, Siehaben schon eine sehr selektive Sichtweise der letztenJahre hier dargelegt. Die Sichtweise ist abhängig davon,wer in welchem Bundesland regiert. Ich darf Ihnen zu-nächst einmal darlegen, dass wir in der Steuerpolitik zuBeginn dieser Legislaturperiode mit dem Wachstumsbe-schleunigungsgesetz Familien in Deutschland entlastethaben. Wir haben bei der Gewerbesteuer die substanzbe-steuernden Elemente zurückgefahren.
Uns wurde schon damals von Ihnen gesagt, das sei sozu-sagen das Ende einer soliden Staatsfinanzierung.
Das Gegenteil ist eingetreten. Wir haben sprudelndeSteuereinnahmen. Die Steuereinnahmen sind jetzt sohoch wie noch nie in der Geschichte der BundesrepublikDeutschland.
Wir haben den Haushalt so geführt, dass wir in dennächsten Jahren, 2013/2014, in den Bereich eines ausge-glichenen Haushaltes kommen werden. Das ist das Er-gebnis der soliden Steuer- und Finanzpolitik dieser Bun-desregierung.Wenn ich auch noch darauf hinweisen darf:
Ein weiteres Ergebnis dieser Bundesregierung ist, dasswir historisch niedrige Arbeitslosenzahlen haben.
Wissen Sie, das unterscheidet eben uns von Ihnen.
Als Rot-Grün 2005 abgewählt wurde, haben Sie als Er-gebnis Ihrer Regierungspolitik mehr als 5 Millionen Ar-beitslose hinterlassen. Wir haben die Arbeitslosenzahlenauf ein historisches Niveau gesenkt. Wir sorgen für mehrWohlstand für alle in diesem Land.
Wenn Sie sich hier hinstellen und feststellen, dassWohlstand und Vermögen ungerecht verteilt sind,
dann kommt einem doch gleich die Frage in den Sinn,wie das wieder zusammengeführt werden kann.
Ihr Weg ist: Dann nehmen wir es halt den Reichen
und geben es den Armen – eine Art Robin-Hood-Politik.Nur leider Gottes wird diese Politik nicht aufgehen. Derrichtige Ansatz – das macht diese Regierung –
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 170. Sitzung. Berlin, Freitag, den 23. März 2012 20103
Dr. Daniel Volk
(C)
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ist, denjenigen mit unteren oder mittleren Einkommendie Möglichkeit zu geben, am Wohlstand zu partizipie-ren,
Vermögen aufzubauen, die Bezieher unterer und mittle-rer Einkommen von einer überzogenen Besteuerung zuentlasten.
Die kalte Progression abzubauen, heißt, den Beziehernunterer und mittlerer Einkommen die Möglichkeit zu ge-ben, am Wohlstand teilzuhaben.
Ich fordere Sie auf: Gehen Sie diesen Schritt mit! Ma-chen Sie wirklich eine Politik für die Bezieher untererund mittlerer Einkommen! Damit wird es in DeutschlandWohlstand für alle geben. Das ist ein vernünftiger An-satz in der Steuer- und Finanzpolitik,
im Gegensatz zu einer Haushaltspolitik, die wie in Nord-rhein-Westfalen in immer mehr Verschuldung geht.
Es muss vielmehr eine Politik des gerechten Ausgleichsund einer soliden Staatsfinanzierung sowie eine guteSteuerpolitik geben, wovon jede Person hier partizipie-ren kann.Vielen Dank.
Der letzte Redner in dieser Debatte ist der Kollege
von Stetten für die Unionsfraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Die lebhafte Debatte zeigt, dass am kommen-den Wochenende, wenn auch nur in einem kleinen Bun-desland, Landtagswahlen stattfinden.
Sollte der heute öffentlich beratene Antrag der Links-fraktion Rückenwind für den Spitzengenossen OskarLafontaine erzeugen, so ist dieser Schuss, wie die heu-tige Debatte gezeigt hat, nach hinten losgegangen.
Denn eine 5-prozentige Vermögensabgabe ist volkswirt-schaftlicher Wahnsinn und ein Schritt in die falscheRichtung.
Die Linken träumen von einer jährlichen Einnahme inHöhe von 80 Milliarden Euro, die sie bei den Bürgernabkassieren wollen.
Dabei wissen sie ganz genau, dass das nicht umgesetztwerden wird. Die Fraktion von Bündnis 90/Die Grünenhat es sehr klar herausgearbeitet: Sie haben noch nichteinmal festgelegt, was mit Sachvermögen gemeint istbzw. wie Sie verhindern wollen, dass Umgehungstatbe-stände, die Sie ja sonst immer anprangern, geschaffenwerden.
Das wird in Ihrem Antrag nicht deutlich; er ist völlig dif-fus, auch wenn er zum wiederholten Male in dieser Le-gislaturperiode eingebracht worden ist.
– Herr Poß, es kommt mir sowieso so vor, als ob dielinke Seite des Hauses, wenn es um steuerpolitische Fra-gen geht, nur drei Antworten kennt: Einmal fordern Siedie Erhöhung des Spitzensteuersatzes, dann die Erhö-hung der Erbschaftsteuer und, wie jetzt auch wieder, dieEinführung der Vermögensteuer.
All das bringen Sie immer wieder ein.In schöner Regelmäßigkeit gibt es auch einen Antragder Linksfraktion, der im letzten Jahr schon zweimal ab-gelehnt worden ist.
– Das befürchten wir. – Ich sehe übrigens auch keinengroßen qualitativen Unterschied zu dem Antrag, der imletzten Jahr vom Haus abgelehnt worden ist. Nur einkleiner Unterschied ist mir aufgefallen, der qualitativvielleicht bedeutend ist: Im letzten Jahr sollte das Parla-ment noch beschließen, dass jährlich ein Steuersatz von5 Prozent für Vermögen, das über dem Freibetrag liegt,erhoben wird. In Ihrem jetzigen Antrag haben Sie alsStichtag nicht den 31. Dezember des jeweiligen Jahres,sondern den 31. Dezember 2012 festgelegt. So stellt sichdie Frage: Soll das eine einmalige Abgabe sein, die zumEnde des Jahres 2012 erhoben wird?
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Christian Freiherr von Stetten
(C)
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Ich habe gehofft, dass Sie klüger geworden sind. Siebleiben also bei der Forderung von jährlich 5 Prozentund sorgen dadurch dafür, dass die Substanz entzogenwird. Ich glaube, dass wir das beim letzten Mal auchschon diskutiert haben. Bei einem Steuersatz von 5 Pro-zent auf den Verkehrswert für das Vermögen, das überdem Freibetrag liegt, enteignen Sie die Bürger nach20 Jahren.
Nehmen wir den Besitzer eines großen Hauses: Imersten Jahr haben Sie die Hofeinfahrt wegbesteuert, imzweiten Jahr die Garage, im dritten Jahr das Bad und imvierten Jahr die Küche. Nach 20 Jahren haben Sie ausdem stolzen Hausbesitzer wieder einen Mieter gemacht.Anträge auf Einführung dieses Sozialismus können Sieruhig noch öfter im Parlament einbringen. Wir werdenIhre Anträge immer wieder ablehnen.
Herr Ernst, ich komme zu den Mietern. Der KollegeGutting hat die Auswirkungen auf den Mieter am An-fang sehr gut dargestellt. Sie haben dennoch an den Kol-legen Wissing eine Zwischenfrage gestellt, warum dienormalen Mieter von dieser Vermögensteuerabgabe be-troffen sind. Nach den Ausführungen des KollegenWissing haben Sie gesagt, Sie hätten es immer nochnicht verstanden.
Deswegen möchte ich es Ihnen noch einmal erklären:Nehmen wir einen privaten Besitzer großer Immobilien,für Sie im Prinzip also eines der Feindbilder, die jedenTag durch das Dorf getrieben werden. Dieser Immobi-lienbesitzer hat verschiedene Wohnungen und durch dieMieteinnahmen eine Verzinsung von – ich sage mal –4 Prozent. Von diesen 4 Prozent muss er seine Steuernzahlen. Dann kommen Sie mit einer jährlichen Substanz-steuer in Höhe von 5 Prozent. Er wäre ein schlechter Un-ternehmer, wenn er das mitmachen würde. Er würde alsoversuchen, diese Wohnungen am Markt zu verkaufen.Wer aber kauft ein Objekt mit einer Rendite von 4 Pro-zent, wenn er darauf 5 Prozent Steuern zahlen muss?
Er wird diese Wohnungen nicht loswerden. Was wird eralso tun? Er wird die Abgabe von 5 Prozent über dieMietnebenkosten auf die Mieter abwälzen. Ein Abwäl-zen der 5-prozentigen Vermögensteuer auf die Mietne-benkosten bedeutet für den normalen Mieter eine Ver-doppelung der jährlichen Mietnebenkosten. Das werdenCDU/CSU und FDP in diesem Hause nicht zulassen.Deswegen werden wir Ihren Antrag ablehnen.
Damit wir uns nicht falsch verstehen: Wir sind uns inder Koalition einig, dass starke Schultern selbstverständ-lich mehr tragen müssen als schwache Schultern. So istunser Steuersystem aufgebaut.
Dass Sie eine Substanzsteuer einführen wollen, die auchfällig wird, wenn der Betroffene zum Beispiel die Hälfteseines Vermögens verloren hat oder wenn das Vermögenbeispielsweise keine Rendite abwirft, ist Gift für unserLand und für die Betroffenen.
Betroffen sein werden natürlich auch Familienunter-nehmer. Sie wollen auch die Handwerksmeister dadurchschröpfen. Es kann doch keiner sagen, dass dieser Perso-nenkreis für die jetzige Finanzkrise verantwortlich ist.
Diesem Personenkreis wollen Sie einen höheren Ein-kommensteuersatz aufoktroyieren. Sie wollen denen ei-nen höheren Erbschaftsteuersatz aufoktroyieren. Auchdie Vermögensteuer trifft selbstverständlich die Fami-lienunternehmer, die ihr Vermögen, das sie in den letztenJahrzehnten erarbeitet haben, im Umkreis des Familien-unternehmens angehäuft haben, die hier Immobilien ge-kauft haben, die nicht ins Ausland gegangen sind, son-dern treu hier in Deutschland geblieben sind.Sie können auch mit den Gewerkschaften sprechen.Fragen Sie die Mitarbeiter, ob sie lieber in einem famili-engeführten Unternehmen arbeiten, bei dem sie nochwissen, wo der Chef sein Büro hat, wo sich der Chefnoch persönlich um deren Anliegen kümmert, oder obsie im Falle einer Veräußerung des Unternehmens, weildie Steuer nicht mehr bezahlt werden konnte, lieber beieinem anonymen Unternehmen arbeiten wollen. Ichglaube, hier sind die Antworten relativ deutlich.Sie schreiben – ich komme zum Schluss – imSchlusssatz Ihres Antrages, die von Ihnen geplante Mil-lionärsteuer wäre die einzig logische Möglichkeit, dieStaatsschulden abzubauen. Ich glaube, in der heutigenDebatte ist deutlich geworden, dass es kein logischerAntrag, sondern ein ideologischer Antrag ohne Substanzund Sinnhaftigkeit ist. Deswegen werden wir nach inten-siven Beratungen, so wie in den vergangenen Jahren,diesen Antrag ablehnen.Herzlichen Dank.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 170. Sitzung. Berlin, Freitag, den 23. März 2012 20105
Christian Freiherr von Stetten
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Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/8792 an den Finanzausschuss vorge-
schlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der
Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 27 a und b sowie
die Zusatzpunkte 9 und 10 auf:
27 a) Beratung der Unterrichtung durch die Bundes-
regierung
Agrarpolitischer Bericht 2011 der Bundes-
regierung
– Drucksache 17/5810 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für Tourismus
Haushaltsausschuss
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Ernährung, Landwirt-
schaft und Verbraucherschutz zu
dem Antrag der Abgeordneten Cornelia Behm,
Ulrike Höfken, Friedrich Ostendorff, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Klimabilanz im Ackerbau verbessern
– Drucksachen 17/2487, 17/4888 Buchstabe b –
Berichterstattung:
Abgeordnete Johannes Röring
Waltraud Wolff
Dr. Edmund Peter Geisen
Dr. Kirsten Tackmann
Cornelia Behm
ZP 9 Beratung des Antrags der Abgeordneten Heinz
Paula, Dr. Wilhelm Priesmeier, Willi Brase, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Kleingruppenhaltung für Legehennen endgül-
tig beenden
– Drucksache 17/9028 –
ZP 10 Beratung des Antrags der Abgeordneten
der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Verordnung zur Kleingruppenhaltung unver-
züglich in Kraft setzen
– Drucksache 17/9035 –
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. – Ich nehme an,
dass das kein Widerspruch ist, was an mein Ohr dringt,
sondern unbedingt notwendige Gespräche. Dann ist so
beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Parla-
mentarische Staatssekretär Dr. Gerd Müller.
Dr
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren!Deutschland ist ein schönes Land –
so hat es auch unser Bundespräsident heute formuliert –:herrliche Landschaften, Seen, Gewässer, Meer, Berge.Wenn Sie am Wochenende in die herrliche Natur hinaus-gehen, werden Sie das alles sehen können.Für den Erhalt dieser Landschaften sorgen die Bäue-rinnen und Bauern, die Fischer, die Forstwirte und alldiejenigen, die in den grünen Berufen tätig sind. Wir sa-gen Ihnen heute ein herzliches Dankeschön für Ihregroßartige Arbeit.
Harte Arbeit, Fleiß, Familiensinn und Bodenständigkeitzeichnen diese Familien aus. Sie sind das Rückgrat unse-rer ländlichen Räume.
Wir diskutieren heute den Agrarpolitischen Bericht2011 der Bundesregierung. Über 300 000 landwirt-schaftliche Betriebe, 650 000 Beschäftigte in der Land-wirtschaft, 780 000 Betriebe, 5 Millionen Arbeitsplätze– Sie hören richtig –: Das ist das Agrobusiness, von derUrproduktion auf dem Feld bis hin zum Verbraucher. Je-der achte Arbeitsplatz ist in diesem Sektor zu Hause.Landwirtschaft hat eine ethische, eine ökonomische,eine ökologische und eine soziale Dimension. Landwirt-schaft sichert und bewahrt die Schöpfung, unsere natür-lichen Lebensgrundlagen von Mensch, Tier und Natur.
Das ist die ethische Dimension.Landwirtschaft ernährt uns. Ernährung ist die Überle-bensfrage der Menschheit. Zu Zeiten Goethes lebten1 Milliarde Menschen auf dem Planeten, heute sind es7 Milliarden, im Jahr 2050 werden es 10 Milliarden sein.Diese Menschen wollen jeden Tag etwas essen. Die FAOprognostiziert uns, dass wir die Nahrungsmittelproduk-tion bis 2050 um 70 Prozent steigern müssen, und dasbei weniger Fläche und geringer werdenden Ressourcen,
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20106 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 170. Sitzung. Berlin, Freitag, den 23. März 2012
Parl. Staatssekretär Dr. Gerd Müller
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Stichwort Wasser. Das ist die große Herausforderung imHinblick auf die Überlebensfrage der Menschheit.
Die Pflanzen, der Wald und das Land geben uns nichtnur Nahrung und Energie, sondern sie schützen auch un-ser Klima, Stichwort CO2-Speicher/Sauerstoffproduzent.Das ist die ökologische Dimension der Landwirtschaft.Deshalb sage ich: Bei der Landwirtschaft handelt es sichnicht – wie es häufig dargestellt wird – um eine Branchevon gestern, mit dem Klischee etwa von Gummistiefeln.Nein, die Landwirtschaft ist die Schlüsselwirtschaft vonmorgen schlechthin.Diese vielfältige Funktion der Landwirtschaft musssich in einer Form von Wertschätzung abbilden. Leiderverzeichnen wir jedoch die Entwicklung, dass der Anteilder Ausgaben für Nahrungsmittel an den Konsumausga-ben insgesamt aus der Sicht des Verbrauchers heute nurnoch 11 Prozent ausmacht, während dieser Anteil 1970noch bei 20 Prozent lag. Nirgendwo sonst auf der Weltist das Angebot an Lebensmitteln so vielfältig und sinddiese so günstig und zugleich qualitativ hochwertig wiein Deutschland.
Der Preis für Brot ist seit 1950 um das Zehnfache ge-stiegen. Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer, der Preis fürBrotgetreide, das der Bauer liefert, ist jedoch auf demNiveau von 1950 stehen geblieben. So stellt sich die Si-tuation dar.
Deshalb sage ich an dieser Stelle in Richtung Verbrau-cherinnen und Verbraucher: Die Wertschätzung für un-sere Bäuerinnen und Bauern und ihre Leistung ist daseine. Wir brauchen aber auch eine neue Verbraucher-ethik. Das bedeutet: Handeln nach dem Motto „Geiz istgeil“ ist im Hinblick auf die Entlohnung unserer Land-wirte nicht zeitgemäß.
Wir brauchen einen fairen Preis und ein faires Einkom-men für harte Arbeit.Der Agrarbericht, den wir diskutieren, zeigt auf – esist immer schwierig, mit Statistiken zu arbeiten –: DasBruttoeinkommen pro Familienarbeitskraft lag 2010 bei30 200 Euro; das ist ein Durchschnittswert, meine Da-men und Herren. 2009 hatten wir beispielsweise bei derMilch die Sonderentwicklung, dass es innerhalb einesJahres einen Einbruch der Preise von 30 Prozent gab.Wir haben heute die Situation, dass es im Bereich derMilchwirtschaft eine Steigerung der Preise um nahezu30 Prozent gibt. Die Frage ist immer: Welche Ver-gleichsbasis nehmen wir? Der Milchpreis von seinerzeit25 Cent pro Liter war natürlich entschieden zu gering;heute sind es 35 Cent. Die Statistik ist an dieser Stellealso nicht aussagekräftig. Der Agrarbericht zeigt aber,dass der Preistrend insgesamt nach oben geht und dieStimmung in der Landwirtschaft deshalb gut ist.Meine Damen und Herren, der Agrarbericht offenbartaber auch etwas anderes: die Bedeutung der Direktzah-lungen. 2010 und 2011 machten Direktzahlungen52 Prozent des Einkommens der Landwirte aus; das istganz erheblich. Der Anteil der Direktzahlungen und Zu-schüsse am Einkommen, der im Agrarbericht ausgewie-sen ist, betrug im Durchschnitt 69 Prozent. Das zeigt,welch hohen Stellenwert die Zahlungen auch in Zukunfthaben. Sie sind unverzichtbar.Wir müssen deshalb die Betriebe weiter stärken. DieKoalition aus CDU, CSU und FDP ist sich hier einig.Wir haben im Sinne der deutschen Landwirtschaft undder deutschen Verbraucher gehandelt.
Angesichts der Zeit kann ich nur kurz folgende Punktenennen:Erstens. Es geht um den Erhalt der Förderung im Rah-men der GAP, um nominale Konstanz, um eine starkeerste und zweite Säule der GAP.Zweitens. Wir werden im Unterschied zu früherenRegierungen das hohe Niveau der Mittel im Rahmen derGAK halten.Drittens. Wir stehen zum ökologischen Landbau. Wirerhalten die Förderung. Wir fordern aber auch die Län-der auf, sich verstärkt in der Frage der Förderung desökologischen Landbaus zu engagieren.
Wir brauchen 10 000 zusätzliche Betriebe, die in diesenSektor wechseln; das hat die BioFach eindeutig gezeigt.Viertens. Wir brauchen Verlässlichkeit in der Agrar-sozialpolitik. Diese Koalition, FDP und Union, hat dieReform der landwirtschaftlichen Sozialversicherung um-gesetzt.Fünftens. Die Reform der Erbschaftsteuer hatte undhat eine große Bedeutung. Das Eigentum, meine Damenund Herren, die Höfe müssen auch in Zukunft in der Ge-nerationenfolge vererbbar bleiben.
Sechstens. Ohne Landwirte wird auch die Energie-wende nicht gelingen. Ich nenne die Themen Biomasseund Photovoltaik. Wir haben hier Themen, die wir ge-meinsam anzugehen haben: Durchleitungsrechte, Netz-bau.Siebtens: das Problem der Ausgleichsflächenrege-lung. Wir verlieren täglich circa 100 Hektar Nutzfläche.Es kann nicht sein – hier müssen wir zu Änderungenkommen –, dass wir für jedes Windrad zusätzlich 5 Hek-tar Ausgleichsfläche ausweisen müssen. Wir werdendies ändern.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 170. Sitzung. Berlin, Freitag, den 23. März 2012 20107
Parl. Staatssekretär Dr. Gerd Müller
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Der Flächenfraß muss gestoppt werden. Deshalb lehnenwir auch die vorliegenden Vorschläge der EU-Kommis-sion zum Greening ab.
Meine Damen und Herren, unser Leitbild ist die nach-haltige, ressourcenschonende, produktive Landwirtschaftmit höchsten Umwelt-, Tierschutz- und Produktionsstan-dards. Bundesministerin Aigner hat in Deutschland undin der EU großartige Erfolge erzielt. Wir werden weitereVorschläge zur Reform der GAP machen, insbesonderein Richtung Entbürokratisierung. Der Bauer gehört aufsFeld und nicht vornehmlich ins Büro.
Die Bundesministerin setzt auf Dialog und Transpa-renz. Im Charta-Prozess wurde ein Dialog mit allen ge-sellschaftlichen Gruppen geführt. Die Stalltüren sind of-fen, die Betriebe haben nichts zu verbergen. Frau Aignerhat wichtige weitere Schritte angekündigt, die ich zumSchluss nur kurz aufführen möchte.
Herr Staatssekretär, das können Sie gern tun. Ich
muss Sie darauf aufmerksam machen, dass das dann
aber Auswirkungen für die Redner der Unionsfraktion
hat.
Dr
Frau Pau, wenn Sie mich so behandeln würden wie
üblicherweise auch die Kolleginnen und Kollegen von
den Grünen? Ich bin in einer Minute fertig.
Frau Aigner hat weitere für die Zukunft wichtige
Schritte angekündigt, über die wir diskutieren werden.
Wir werden Vorschläge zur Weiterentwicklung des Tier-
schutzes und zur Verbesserung des Tierwohls vorlegen.
Wir werden neben den bereits vorhandenen weitere Vor-
schläge zur Reduzierung des Einsatzes von Antibiotika
in der Mast vorlegen. Wir werden weitere Vorschläge
zur Stärkung der Lebensmittelsicherheit vorlegen und
umsetzen. Frau Aigner hat das Thema Lebensmittelver-
schwendung aufgegriffen. Wir treten gegen die Welle
von Spekulationen im Bereich der Agrarrohstoffe an.
Wir verstärken die Agrarforschung. Außerdem stellen
wir uns dem Thema Welternährung.
Die deutsche Landwirtschaft ist gut aufgestellt. Die
Politik steht zu unseren Bauern. Die Sicherung der Nah-
rungsmittelversorgung ist eine nationale strategische
Aufgabe, international gesehen geht es schlechthin um
das Überleben der Menschheit. Deshalb sind wir stolz
auf unser Land und unsere Bauern.
Herzlichen Dank.
Für die SPD-Fraktion spricht jetzt der Kollege
Dr. Wilhelm Priesmeier.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich habe ebenden Eindruck gewonnen, die Rede kann eigentlich nurder Deutsche Bauernverband geschrieben haben.
Sie beschwören eine Agrarromantik
und verkünden mit großen Pathos, dass die Regierungzur Landwirtschaft steht. Das ist doch eine Selbstver-ständlichkeit, das muss man nicht betonen.Wir debattieren über den Agrarbericht 2011. Das istimmer eine Gelegenheit, auch zu der grundsätzlichenAusrichtung der Agrarpolitik Stellung zu nehmen. Dazuhabe ich heute allerdings nichts gehört. Von zukunftsfä-higer Agrarpolitik war überhaupt nicht die Rede.Wenn man die Bilanz der deutschen Land- und Agrar-wirtschaft betrachtet, dann stellt man fest: Das kann sichsehen lassen. Seit 2000 gab es bei der Schweinefleisch-produktion eine Steigerung um 45 Prozent, die Geflügel-fleischproduktion hat sich fast verdoppelt, und derExportwert liegt bei über 60 Milliarden Euro. Uns So-zialdemokraten interessieren besonders auch die Ar-beitsplätze. Aber das ist nur die eine Seite der Medaille.Die andere Seite der Medaille ist, dass wir die gesell-schaftliche Diskussion über die Land- und Agrarwirt-schaft nicht aus dem Blick verlieren dürfen. Diese habenSie jedoch vollständig aus dem Blick verloren, wie wirheute sehen konnten.Nach der Abwesenheit bei der gestrigen Debatte hatteich gehofft, dass die Ministerin zumindest bei der heuti-gen Debatte anwesend wäre.
Aber die Ministerin zieht es offensichtlich vor, die deut-sche Agrarpolitik auf Pressekonferenzen oder Empfän-gen zu kommentieren und nicht dort, wo das eigentlichhingehört, nämlich hier im deutschen Parlament.
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20108 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 170. Sitzung. Berlin, Freitag, den 23. März 2012
Dr. Wilhelm Priesmeier
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Es würde sich anbieten, den Antrag zu stellen, die Minis-terin herbeizuzitieren. Ich finde, das ist eine Missach-tung der Agrardebatte. Das kann es eigentlich gar nichtgeben. Die Ministerin gehört hierher und nicht derStaatssekretär.
Die deutsche Agrarpolitik steckt trotz all der Erfolgein einem großen Dilemma. Das werden Sie aber nichtauflösen, zumindest nicht mit der rückwärts gewandtenPolitik, die Sie zum gegenwärtigen Zeitpunkt in Brüsselbetreiben.
Lassen Sie mich als Beispiel die Veredelungswirtschaftnennen. In der gesellschaftlichen Debatte wird deutlich,was sich dort abspielt. Das ist für jeden wahrnehmbar.Man muss sich nur die Stellungnahmen der großen Or-ganisationen wie NABU und der kirchlichen Organisa-tionen durchlesen. Die muss man doch ernst nehmen.Bei aller Lobhudelei und aller Freude über die wirt-schaftliche Stärke und unsere Wettbewerbsfähigkeit: Daskann man doch nicht verdrängen.
Wir brauchen vernünftige Rahmenbedingungen, die inder Gesellschaft Akzeptanz finden; denn sonst gerät die-ser wichtige volkswirtschaftliche Sektor der Agrarwirt-schaft zunehmend in Schwierigkeiten. Es wird inZukunft erhebliche Diskussionen über die Weiterent-wicklung dieses Sektors geben, vor allem was die Stan-dards betrifft.Mit der Charta für Landwirtschaft und Verbraucherhaben Sie einen richtigen Weg eingeschlagen. Er mussaber fortgeführt und verstetigt werden. Wir dürfen dasnicht auf eine einmalige Aktion und einen einmaligenAnsatz beschränken, sondern wir müssen mit all den Be-teiligten dauerhaft im Gespräch bleiben und die Agrar-politik stetig weiterentwickeln.
Schauen Sie sich die DAFA-Strategie zur Nutztierhal-tung an, die letzte Woche beschlossen wurde. Sie ist einAnsatz, dessen Umsetzung uns alle vor Herausforderun-gen stellt. Insofern glaube ich, dass man darauf in derZukunft auch die deutsche Agrarpolitik mit ausrichtensollte.Wir brauchen mehr Akzeptanz für Investitionen zumBeispiel in Stallbauten in ländlichen Räumen. Wir brau-chen Bewegung im Baugesetz, um hier flexibel ansetzenzu können. Man darf sich da nicht – wie letztens gesche-hen – verweigern.Ein Problem ist die Belastung der Böden mit Nitraten.Dieses Problem ist die Regierung hier bislang noch nichtangegangen. Das Erlassen einer Verbringungsverord-nung allein löst das Problem nicht. Wir verlieren in derLandschaft zunehmend an Artenvielfalt. In den letzten40 Jahren sind mindestens 40 Arten verlorengegangen.Die Flächenkonkurrenz steigt auch aufgrund der Bio-masseproduktion. Wir müssen uns klar positionieren,wir müssen deutlich machen, wohin wir in Zukunft wol-len. Auch die Regierung muss das tun. Die Diskussionüber den Antibiotikaverbrauch in den letzten Monatenhat gezeigt, wie schwierig die Situation wird, wenn esum das Verbrauchervertrauen geht. Da brauchen wirklare und eindeutige Minderungsziele und nicht einfachnur einen hohlen Entwurf zur Änderung des Arzneimit-telgesetzes bzw. eine Novelle, die außer Verordnungser-mächtigungen an Klarheit nichts enthält und mit der wirdie weitere Ausgestaltung eventuell den Bürokraten aufder Länder- und der Bundesebene überlassen. So gehtdas nicht.
In der Weise – das ist schon gewiss – wird der Gesetz-entwurf auch nicht hier durch das Parlament gehen. Dawollen wir Hand anlegen; wir wollen da ordentlich et-was tun. Sie führen Scheindebatten über das Dispensier-recht, treffen aber den eigentlichen Kern des Problemsnicht.Wir brauchen ein besseres und tiergerechtes Hal-tungssystem für die Tiere, mehr Hygiene im Stall undein besseres Management in der Produktion. Vor allenDingen müssen wir die Systeme an die Tiere anpassen –und nicht umgekehrt.
Man braucht Geld, um diese Entwicklung zu befördern.Das Geld brauchen wir in der zweiten Säule und nichtmehr in der ersten, wie Sie es hier mit Ihrer Agrarstein-zeitpolitik vertreten.Wenn wir zukünftig einen richtungsweisenden Ansatzfür die Agrarpolitik haben wollen, kann das an sich nurheißen: langsamer, aber stetiger Ausstieg aus dem Sys-tem der an sich überholten Direktzahlungen und weg mitdem Gießkannenprinzip. Die Direktzahlungsverord-nung, die wir nach 2014 bekommen werden, bietet einenAnsatz dafür. Schichten wir zunächst einmal 510 Millio-nen Euro von der ersten in die zweite Säule um. Dannhaben wir den finanziellen Spielraum, um das mitzu-gestalten. Beschränken wir die Ausgleichszulage auf Re-gionen, die sie brauchen, und verteilen wir sie nicht analle Regionen. 30 Prozent können bei uns nicht so be-nachteiligt sein. Das ergibt sich aus den Zahlen, die Sieheute Morgen vorgetragen haben. Insofern schaffen wir– auch durch Verlagerung der Ausgleichszahlungen vonder ersten in die zweite Säule – für die KofinanzierungRaum. Dann sind wir, glaube ich, auf einem guten Weg.Wir brauchen für die Zukunft mehr Investitionen,klare Rahmenbedingungen und vor allen Dingen mehrInvestitionen in Beschäftigung, Wertschöpfung undInnovation. Davon ist heute hier gar nichts deutlich ge-worden.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 170. Sitzung. Berlin, Freitag, den 23. März 2012 20109
Dr. Wilhelm Priesmeier
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Wir brauchen in der zweiten Säule langfristig angelegteFörderprogramme und keine kurzfristigen Programme,die man nur als Sonderprogramme für bestimmte Be-reiche vorantreibt. Wir brauchen öffentliches Geld nurnoch für öffentliche Güter. Wir müssen die Artenvielfaltsichern. Wir müssen uns dem Klimaschutz aktiv zuwen-den und das Tierwohl verbessern. Das alles sind Maß-nahmen, zu denen Sie hier heute vom Grundsatz herkeine Stellung bezogen haben.Entwickeln Sie doch endlich eine Konzeption, dievon allen Fraktionen hier im Parlament getragen wirdund mit der wir gemeinsam aus der jetzigen antiquiertenAgrarpolitik aussteigen.
Ich setze fest darauf, dass wir Sozialdemokraten spätes-tens ab 2013 diese Fehler korrigieren können. Die Zeitist reif für den Wandel.Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. VielenDank.
Für die FDP-Fraktion hat nun die Kollegin Dr. Christel
Happach-Kasan das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Das Allensbacher Jahrbuch beschreibt seitBeginn der Bundesrepublik Deutschland die Bewusst-seinslage in Deutschland. Im zwölften Jahrbuch aus demJahre 2010 heißt es: 96 Prozent der Menschen inDeutschland stimmen der Aussage zu, dass wir eineschöne Landschaft und eine herrliche Natur haben.87 Prozent stimmen dieser Aussage zu: Bei uns gibt esgutes Essen und Trinken. Im Fazit: Landwirtschaft tutgut. Das ist ein hervorragendes Ergebnis, das unsereLandwirte erzielen.
Dass das nicht nur graue Zahlen sind, zeigt sich auchdaran, dass regionale Produkte an Beliebtheit gewinnen,und zwar nicht nur regionale Produkte, die bei uns her-gestellt werden, sondern auch Produkte, für die die Ideeaus Deutschland stammt, beispielsweise Lübecker Mar-zipan. Die Idee stammt aus Lübeck. Das ist ein hervorra-gendes Produkt, das sich großer Beliebtheit erfreut.
Die drei Länder, in denen die meisten Menschen ausDeutschland Ferien machen, Bayern, Mecklenburg-Vor-pommern und Schleswig-Holstein, sind landwirtschaft-lich strukturiert. Auch das zeigt, dass Landwirtschaft un-serem Land guttut.Ich weiß, dass es Demonstrationen gegen die Ansied-lung landwirtschaftlicher Betriebe gibt. Ich weiß aberauch, dass dies Einzelereignisse sind; das macht dasAllensbacher Jahrbuch deutlich. Die Volksabstimmungzu Stuttgart 21 hat uns gezeigt, dass die lauten Rufernicht automatisch die Mehrheit haben.
Das wurde auch im Januar dieses Jahres in Berlin deut-lich: Von 90 Verbänden eingeladen, haben 5 300 Men-schen gegen unsere heimische Landwirtschaft demons-triert, aber 400 000 Menschen haben die Grüne Wochebesucht und dafür sogar Eintritt gezahlt.
Die Anerkennung für unsere Landwirtschaft ist alsoenorm groß.5 Millionen Menschen sind in der Landwirtschaft undin den vor- und nachgelagerten Bereichen beschäftigt.Die Bruttowertschöpfung beträgt 140 Milliarden Euro.Das Exportvolumen beträgt 50 Milliarden Euro. Damitwerden Arbeitsplätze in Land- und Ernährungswirtschaftin Deutschland gesichert.Die Regierungskoalition hat eine sehr gute Bilanzvorzuweisen: Waldgesetz und Waldstrategie sind auf denWeg gebracht, die Agrardieselbesteuerung konnte zu-rückgeführt werden, der Bereich der Pflanzenschutzmit-telzulassungen wurde geordnet, über die Charta wird– das erkennt sogar die SPD an – eine gute Diskussionmit der Bevölkerung geführt, die Neuorganisation derLandwirtschaftlichen Sozialversicherung wurde auf denWeg gebracht – schade, dass die SPD, obwohl sie imPlenum zustimmt, im Hintergrund dagegen arbeitet –,und auch das Problem mit der Fehlsteuerung des EEGim Bereich der Biomasse, das gerade vonseiten der SPDkritisiert wurde, haben wir behoben.
– Du hast vollkommen recht, Wilhelm.
Was ist weiterhin zu tun? Darauf wollen wir gerne zusprechen kommen. Wenn wir uns den Agrarbericht an-schauen, dann müssen wir feststellen, dass die Einkom-men im Bereich der Landwirtschaft in den letzten fünfJahren geringer waren als in den fünf Jahren davor, dassdie Einkommen im Bereich der Landwirtschaft nach wievor niedriger sind als die gewerblichen Vergleichsein-kommen.
Das bedeutet, dass man mit der Beendigung der Direkt-zahlungen die landwirtschaftlichen Betriebe letztlich indie Armut treiben würde. Das muss jeder wissen, dersagt: Wir wollen die Direktzahlungen beenden. – Das
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20110 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 170. Sitzung. Berlin, Freitag, den 23. März 2012
Dr. Christel Happach-Kasan
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(B)
wollen wir nicht. Deswegen stehen wir zu den zwei Säu-len der Landwirtschaft.
Der Strukturwandel wird sich natürlich weiter vollzie-hen; das ist der entscheidende Impuls. Wir wollen diesenStrukturwandel begleiten, damit er sich nach ethischenMaßstäben und sozialverträglich vollzieht.
Wir wollen den Strukturwandel nicht aufhalten; denn daswürde Gelder kosten, die wir alle nicht haben – Sie übri-gens auch nicht.
Kollegin Happach-Kasan, gestatten Sie eine Frage
oder Bemerkung des Kollegen Priesmeier?
Eine Frage, ja.
Tja, unsere Geschäftsordnung gibt beide Möglichkei-
ten her. – Bitte.
Es ehrt Sie, Frau Kollegin, dass Sie Fragen gestatten.
Lassen Sie mich aber auch eine Bemerkung machen.
Kennen Sie das Gutachten des Sachverständigenrates
zur Agrarpolitik, insbesondere die Perspektiven, Aussa-
gen und Forderungen, die darin bezogen auf die Fortfüh-
rung des Direktzahlungssystems enthalten sind? Kennen
Sie zum Beispiel die Stellungnahme des an sich doch
sehr renommierten Agrarökonomen Professor Isermeyer?
Wissen Sie, was er dazu sagt? Können Sie mir vielleicht
deutlich machen, worin der Unterschied zwischen seiner
Position und Ihrer Position liegt? Warum möchten Sie
das so weiterführen?
Ich habe nicht gesagt, dass ich irgendetwas weiterfüh-ren möchte. Ich habe gesagt, dass wir diese Direktzah-lungen im Bereich der Landwirtschaft in der heutigenSituation, die im Agrarbericht der Bundesregierung auf-gezeigt wird, brauchen, dass wir für die Zukunft aber ei-nen Ausstieg haben wollen. Die FDP-Bundestagsfrak-tion hat mit dem Modell der Kulturlandschaftsprämie,mit der Forderung nach einer Entkoppelung einen Wegbeschrieben, wie man Direktzahlungen sukzessive ablö-sen kann. Das beinhaltet, dass wir den Landwirten dieMöglichkeit geben müssen, ihr Einkommen vollständigam Markt zu erwirtschaften. Das bedeutet, dass wir inForschung investieren müssen, um eine nachhaltige Pro-duktivitätssteigerung zu erreichen; dies wird so vorge-schlagen.Ich stimme sowohl Professor Isermeyer als auch Pro-fessor Schmitz, der dies auf dem Agrarkongress derFDP-Bundestagsfraktion in Kiel noch einmal deutlichgemacht hat, zu, dass wir natürlich im Blick haben müs-sen, dass wir das Ziel, mehr am Markt zu erwirtschaften,nur über eine nachhaltige Produktivitätssteigerung errei-chen können. Diese müssen wir langfristig anlegen, umsicherzugehen, dass genau die Betriebe, die Zukunfts-potenzial haben, erhalten bleiben und nicht die Betriebegestärkt werden, die dieses Zukunftspotenzial nicht ha-ben. Wir wollen nicht, dass jemand seinen landwirt-schaftlichen Betrieb aufgeben muss und in Armut fällt.Wir wollen den geordneten Ausstieg mancher Be-triebe aus der Landwirtschaft. Wir wollen selbstver-ständlich sicherstellen, dass die Landwirtschaft Struktu-ren bekommt, die dazu beitragen, dass die in derLandwirtschaft Tätigen ihr Einkommen selbstständig er-wirtschaften können. Da sind wir mit den Wissenschaft-lern in keiner Weise auseinander. Aber wir sagen auch:Dies muss sukzessive erfolgen. Es kann nicht von heuteauf morgen geschehen.
Wir brauchen eine Verbraucherethik; diese hat Staats-sekretär Müller zutreffend beschrieben. Wir sehen: Ausder Bevölkerung werden Ansprüche an die Landwirt-schaft gestellt, aber die Bereitschaft, für entsprechendeProdukte mehr zu zahlen, ist vergleichsweise gering.Deswegen müssen wir dafür werben, dass die Menschendie Leistungen, die sie einfordern, auch bezahlen.Ich habe gesagt: Wir brauchen eine nachhaltige Pro-duktivitätssteigerung. Das bedeutet auch, dass wir mehrForschung brauchen. Zwei unserer Ressortforschungs-einrichtungen sind Teile von Exzellenzclustern; Sie wis-sen das sicherlich. Es handelt sich um das Institut in Ma-riensee und das Institut in Kiel. Ich finde, beide müsstendafür belohnt werden, dass sie – anders als andere Insti-tute – mit ihrer Forschung international Anschluss ge-funden haben.Wir müssen natürlich auch darauf einwirken, dass dieForschungsergebnisse umgesetzt werden. Da gibt esnach wie vor Defizite, zum Beispiel im Bereich der Bio-masseproduktion. Kurzumtriebsplantagen haben nochnicht den Stellenwert, den sie laut Gutachten des Wis-senschaftlichen Beirats haben sollten. Die gentechnischeZüchtung hat in Deutschland nicht den Rückhalt, den siebraucht. Durch sie werden den Landwirten neue Sortenan die Hand gegeben, die ertragreicher sind und bei de-nen weniger Pflanzenschutzmittel eingesetzt werdenmüssen.Ehec hat uns vor Augen geführt, dass für die Lebens-mittelsicherheit nicht die Belastungen mit chemischenProdukten, beispielsweise mit Dioxin – darüber wurdeAnfang letzten Jahres gesprochen –, das Problem sind,sondern die Keimbelastungen. Deswegen müssen wirdem Bereich Hygiene sehr viel mehr Stellenwert einräu-men als bisher. Wir müssen auch deutlich machen, dassdie Vermeidung von Antibiotikaresistenzen wichtig ist.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 170. Sitzung. Berlin, Freitag, den 23. März 2012 20111
Dr. Christel Happach-Kasan
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Wir brauchen nach meiner Auffassung auf europäi-scher Ebene ein Tierwohl-Label auf freiwilliger Basis,wie es von vielen gefordert wird. Dieses zeichnet Tier-haltung mit einem höheren Tierschutzstandard aus. DieMenschen, die diesen fordern, haben dann die Wahl undwerden dann aber auch entsprechend mehr für diese Pro-dukte zahlen.Bei der Legehennenverordnung ist nicht Tierschutzdas Thema.
Kollegin Happach-Kasan, ich glaube, Sie können
jetzt kein neues Thema mehr ansprechen. Das Minus vor
der Zeitangabe zeigt Ihnen, wie weit Sie Ihre Redezeit
bereits überschritten haben.
Dann werde ich meine Rede abschließen. – Der Bun-
desratsbeschluss zielt nicht auf Tierschutz, sondern da-
rauf, dass wir uns grundgesetzwidrig verhalten. Dies
kann die Bundesregierung natürlich nicht tun.
Ich danke für die Aufmerksamkeit.
Das Wort hat der Kollege Alexander Süßmair für die
Fraktion Die Linke.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Wir beraten heute vor allem den Agrarpoliti-schen Bericht 2011 der Bundesregierung. Darin geht esum die Situation der Landwirtschaft von 2007 bis 2010und um die Ziele der Agrarpolitik. In dem Bericht heißtes so schön – ich zitiere –:Zur Ernährungssicherung einer wachsenden Welt-bevölkerung und zur Produktion nachwachsenderRohstoffe ist eine leistungsfähige und sozialver-trägliche, Ressourcen schonende, die Biodiversitäterhaltende Wirtschaftsweise erforderlich.Alle diese Ziele sind richtig. Man könnte glauben, dassSie durchaus verstanden haben, worum es geht. Aberstimmt das mit der Agrarpolitik, die Sie betreiben, über-ein? Ich sage nein. Das beweise ich Ihnen anhand zweierPunkte.Punkt eins. Ihre Politik ist nicht sozialverträglich;denn die Einkommen im ländlichen Raum sind immernoch geringer als die in den industriellen Ballungsgebie-ten. Das steht auch im Bericht. Dort kann man nachle-sen, dass im Wirtschaftsjahr 2009/2010 das durch-schnittliche jährliche Bruttoeinkommen eines Landwirtsbzw. einer Landwirtin 23 211 Euro betrug.Das sind im Monat etwa 1 934 Euro. Damit lag dasEinkommen der Landwirte um 34 Prozent unter demdurchschnittlichen Bruttoeinkommen. Viele Menschenwandern deshalb aus den ländlichen Räumen ab, undviele Betriebe finden keinen Nachfolger.Heute ist Equal Pay Day. Das heißt: gleicher Lohn fürdie gleiche Arbeit für Männer und Frauen.
Leider ist es auch im ländlichen Raum so, dass Frauenfür die gleiche Arbeit weniger Lohn bekommen als Män-ner. Damit sind Frauen, was ihre Einkommen betrifft, imländlichen Raum am schlechtesten gestellt. Nur 8 Pro-zent der Betriebe in der Landwirtschaft werden vonFrauen geleitet. Da wundert es nicht, dass vor allemjunge, qualifizierte Frauen den ländlichen Raum verlas-sen.Was steht dazu im Agrarbericht der Bundesregierung?Auf Seite 76 befindet sich eine Tabelle zu Auszubilden-den in Agrarberufen. Dort steht das Wort „Molkereifach-mann/-frau“. Das ist das einzige Mal, dass in diesemAgrarbericht das Wort „Frau“ überhaupt vorkommt.
Auf 108 Seiten kein Wort zur Situation von Frauen inder Landwirtschaft, geschweige denn zu gleichem Lohnund Chancengleichheit von Männern und Frauen!
Das ist ein Armutszeugnis für Ministerin Aigner und einTiefschlag für die schwarz-gelbe Bundesregierung.
Der Trend zur Industriealisierung der Landwirtschafthat sich in den letzten Jahren drastisch verstärkt. Durchdie Öffnung der Märkte und die Orientierung auf denWeltmarkt sind die landwirtschaftlichen Betriebe einemimmer stärkeren Kostendruck ausgesetzt. Dafür müssendann Hunderttausende von Saisonarbeitskräften aus Ost-europa teils zu Hungerlöhnen schuften, und die Beschäf-tigten in den Betrieben werden mit niedrigen Löhnenausgebeutet. Bäuerinnen und Bauern sind immer stärker– das ist schon erwähnt worden – auf die Fördergelderder EU angewiesen, weil sie für ihre Produkte keine fai-ren Preise bekommen. Immer mehr kleine und mittlereHöfe müssen aufgeben, weil sie diesem Kostendrucknicht mehr standhalten und das Geld für notwendige In-vestitionen nicht mehr erwirtschaften können. Das istder völlig falsche Weg.
In Ihrem Agrarpolitischen Bericht heißt es dazu, dasZiel der Bundesregierung sei, die Exportpotenziale derdeutschen Landwirtschaft weiter auszuschöpfen. Das be-deutet nichts anderes, als dass diese Entwicklung weitervorangetrieben werden soll, auf Kosten von Mensch,
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20112 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 170. Sitzung. Berlin, Freitag, den 23. März 2012
Alexander Süßmair
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Tier und Umwelt. Eine solche sozial und ökologisch un-verantwortliche Politik lehnen wir ab.
Punkt zwei. Ihre Politik ist nicht ressourcenschonendoder nachhaltig. Die Bundesregierung fördert mit der In-tensivierung der Landwirtschaft die damit verbundenenStrukturen, hin zu Monokulturen, zu höherem Verbrauchvon Energie, zum Einsatz von mehr Düngemitteln undPflanzenschutzmitteln. Gleichzeitig erleben wir, dass diezunehmende Verknappung von fossilen Energieträgernund Mineraldünger wie Phosphor voranschreitet. AlleExperten sind sich einig, dass die Preise für diese Roh-stoffe in den nächsten Jahren stetig steigen werden.Hinzu kommt, dass die Artenvielfalt durch die Intensi-vierung deutlich abgenommen hat.Etwa 50 Prozent unserer Exporte sind Fleischexporte.Um die dafür notwendige Menge Fleisch zu erzeugen,müssen billige Futtermittel importiert werden. Sie sor-gen dafür, dass woanders in der Welt Regenwälder abge-holzt werden. Sie sorgen dafür, dass Menschen vonihrem Land vertrieben werden und unter sozial unzumut-baren Bedingungen auf pestizidverseuchten Feldernarbeiten müssen, und das nur, weil Ihnen kurzfristigewirtschaftliche Erfolge und Profite wichtiger sind alsökologische und soziale Nachhaltigkeit. Das machen wirnicht mit.
Eine andere Agrarpolitik ist möglich, und es gibt Al-ternativen. Die Linke will einen gesetzlichen flächende-ckenden Mindestlohn,
der auch in der Landwirtschaft gilt.
Wir brauchen faire Erzeugerpreise in der Landwirt-schaft; wir müssen die Marktmacht der Bäuerinnen undBauern stärken und Erzeugergemeinschaften fördern.Wir wollen die Abkehr vom Dogma des Exports und hinzu regionalen Wirtschaftskreisläufen, damit die Wert-schöpfung im ländlichen Raum bleibt, die Umwelt ge-schont wird und die Menschen wieder eine lebenswertePerspektive haben. Wir wollen eine gezielte und stärkereFörderung von Betrieben, die gute Arbeitsplätze erhal-ten, höhere Anforderungen an den Umweltschutz erfül-len, den Tierschutz verbessern und tiergerechte Hal-tungssysteme betreiben. Wir wollen den Ausbau desÖkolandbaus und auch die Forschung dafür stärken. Wirbrauchen endlich eine geschlechterspezifische Förde-rung im ländlichen Raum.
Wir brauchen auch eine Handelspolitik, die die Märkteder Entwicklungsländer schützt und den Erzeugerinnenund Erzeugern dort den Verkauf ihrer Produkte zu fairenPreisen ermöglicht, statt ihre Ressourcen auszubeuten.Das verstehen wir unter guten Perspektiven für dieLandwirtschaft.Lassen Sie mich noch kurz etwas zu den beiden vor-liegenden Anträgen von SPD und Grünen zum Verbotder Kleingruppenhaltung sagen. Das Verbot ist richtig.Wir sind der Meinung, dass Eier aus Legebatterien undaus Käfighaltung so schnell wie möglich verboten wer-den müssen; auch die Verbraucherinnen und Verbraucherhaben im Supermarkt schon längst entschieden.
Sie kaufen nur noch Eier aus Bodenhaltung, Freilandhal-tung oder aus Bio- und Ökolandbau. Nur die Industriehat ein Interesse an möglichst billigen Eiern aus Lege-batterien. Das lehnen wir ab, und deshalb unterstützenwir Ihre Anträge.
Kollege Süßmair, es tut mir leid, dass ich auch Sie an
die Redezeit erinnern muss.
Ja. – Nur wenn wir Menschen sorgsam mit Natur und
Tier umgehen, haben wir eine Zukunft.
Vielen Dank.
Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat die Kol-
legin Cornelia Behm das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Das Thema Klimaschutz in der Landwirt-schaft kommt im Agrarbericht so gut wie gar nicht vor.Dort stehen ein paar Zeilen mit Allgemeinplätzen, aberHandlungsvorschläge für die Land- und Forstwirtschaftsucht man darin vergebens. Dabei kommen wir über-haupt nicht umhin, Klimaschutz und Landwirtschaft zu-sammenzudenken.
Inwieweit die Landwirtschaft aber Betroffene des Kli-mawandels ist oder ob sie ihn bremst oder anheizt, hängtin starkem Maße von der Bewirtschaftungsform ab.In der ersten Lesung zu unserem Klimaschutzantraghat der Kollege Röring den Vorwurf erhoben, wir wür-den die Augen vor der Realität verschließen und in ideo-logische Wunschvorstellungen flüchten, anstatt effektiveLösungswege zu erschließen.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 170. Sitzung. Berlin, Freitag, den 23. März 2012 20113
Cornelia Behm
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Herr Röring, diesen Vorwurf müssten Sie ebenso an denWeltagrarrat, an den Sachverständigenrat für Umweltfra-gen und darüber hinaus an breite Teile der Gesellschaftrichten; denn sie erheben die gleichen Forderungen wiedie, die in unserem Antrag formuliert sind. Es sind eherdie Kollegen aus dem schwarz-gelben Lager, die die Au-gen vor der Realität verschließen.
Es ist eine Binsenweisheit, dass energieintensive Be-wirtschaftungsformen die Landwirtschaft zum Verursa-cher von Treibhausgasemissionen machen. Deshalb istes angesichts der mehrfachen Herausforderungen, vordenen die Landwirtschaft steht – Welternährung, Erhaltder Biodiversität und Klimawandel –, besonders wichtig,die Klimabilanz durch Maßnahmen der Energieeinspa-rung und -effizienz zu verbessern.
Die stereotype Antwort von Union und FDP auf dieseHerausforderungen ist aber, dass die Landwirtschaft effi-zient und intensiv betrieben werden muss.In den Augen der Regierungskoalition heißt effizient:industrialisierte Landwirtschaft mit viel und teurer Tech-nik,
Abbau von Arbeitsplätzen, Massenproduktion und Se-gregation der Landnutzung zulasten der Biodiversität.
Für die Agrarpolitiker auf der rechten Seite des Hausesbedeutet intensiv, einige wenige Hochleistungssortenweltweit anzubauen, gentechnisch veränderte Pflanzenzur Absatzförderung für Herbizide,
chemisch-synthetische Pflanzenschutzmittel und Stick-stoffdünger satt.
Darin steckt viel Energie. Das hat mit Klimaschutznichts zu tun.
Aus grüner Sicht bekommen diese beiden Begriffe,angewandt auf die Landwirtschaft, eine völlig andereBedeutung. Uns Grünen geht es um ökologische Intensi-vierung, das heißt die Ressourcen vor Ort effizient nut-zen, Innovationen, gut ausgebildete Arbeitskräfte, inregionalen Kreisläufen wirtschaften, Bewahrung derAgrobiodiversität und vielgliedrige Fruchtfolgen mitStickstoffzehrern, aber auch mit Stickstoffmehrern. Nurso kann man die Landwirtschaft klimatauglich machen.
Der dauerhafte Erhalt von Grünland und Mooren istim Hinblick auf die Klimawirkung der Landwirtschafteffizient. Denn hier wird CO2 lang anhaltend gebunden.Die ackerbauliche Nutzung dieser Standorte macht dieLandwirtschaft hingegen zum Klimakiller. Übrigens hatdie EU gerade erst in der vergangenen Woche Klima-bilanzen von Land- und Forstwirtschaften gefordert.Jetzt können Sie sich nicht mehr wegducken.In unserem Antrag haben wir Vorschläge für einenParadigmenwechsel in der Landwirtschaft gemacht. Siesoll intensiv und effizient für das Klima, für die Welt-ernährung und für die biologische Vielfalt sein – nichtaber für Agrarkonzerne und die Chemieindustrie.
Das Wort hat der Kollege Franz-Josef Holzenkamp
für die Unionsfraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Ich möchte zu Beginn einleitend nur noch einmal kurzdarauf hinweisen, dass es der erste Agrarbericht ist, dereinen Zeitraum von vier Jahren beschreibt. Das zeigt,dass wir damals alles richtig gemacht haben. Wir wolltennämlich erstens weniger Bürokratie, und zweitens habenwir die Aussagekraft erhöht, weil wir sehr volatileMarktpreise in unserer Branche berücksichtigt haben. Esist also ein guter Einstieg.
Da uns immer andere Dinge unterstellt werden,möchte ich einen Satz zu unserem Leitbild voranstellen,Frau Behm. Unser Leitbild ist und bleibt eine leistungs-und wettbewerbsorientierte, aber familiengeführte bäu-erliche Landwirtschaft.
Das war schon immer so, und das wird auch immer sobleiben. Alle Betriebe sind uns gleich lieb – ob konven-tionell oder öko, ob groß oder klein.
Das ist der Unterschied: Wir differenzieren nicht in„gut“ oder „schlecht“, wie Sie dies ideologisch und pau-schalisiert tun.
Meine Damen und Herren, gerade die Vielfalt ist dasBesondere an der deutschen Landwirtschaft und amländlichen Raum. Es geht darum, nachhaltig zu wirt-schaften, die Ressourcen effizient zu nutzen und hochinnovativ zu sein. Das gilt für alle Produktionsformen,ob mit Laptop oder mit Gummistiefeln. Wünschen
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20114 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 170. Sitzung. Berlin, Freitag, den 23. März 2012
Franz-Josef Holzenkamp
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würde ich mir natürlich auch eine höhere Wertschätzungvon Lebensmitteln, damit wir in unserer Gesellschaftschneller vorankommen, die Lebensmittelverschwen-dung weiter abzubauen.Wo stehen wir in der Landwirtschaft aktuell? Wir hat-ten in diesem Berichtszeitraum einige Krisen zu über-winden. Es gab die Finanzkrise, der die Milchkrisefolgte. Wir haben stürmische Zeiten durchleben müssen.Aktuell möchte ich an das Kämpfen mit dem Schmallen-berg-Virus erinnern. Außerdem müssen zurzeit vieleBauern aufgrund der Frostsituation ihre Getreideflächenumbrechen. Insgesamt sind wir allerdings relativ stabil,weil – das ist ganz einfach, meine Damen und Herren –unsere landwirtschaftlichen Betriebe ihre Hausaufgabengemacht und den Markt angenommen haben. Sie wollenihr Geld, ihr Familieneinkommen mit ihren Produktenauf dem Markt, aber nicht mit Subventionen verdienen.Das werden wir politisch begleiten und stärken. Auf unskönnen sich die Landwirte letztendlich verlassen.Meine Damen und Herren, wir erleben natürlich einenpermanenten Strukturwandel, und diesen wird auch nie-mand von uns aufhalten. Gerd Müller, der Staatssekretär,hat auf die Gesamtbeschäftigung in der Branche hinge-wiesen,
und ich will Folgendes noch einmal deutlich sagen: DasGegenteil von dem, was Sie behauptet haben, FrauBehm, ist tatsächlich Realität. Die Beschäftigtenzahl inder gesamten Kette steigt.
Sie ist 2011 von etwa 4,6 oder 4,7 auf etwa 5 MillionenBeschäftigte gestiegen. Das heißt, trotz einer Abnahmeder Anzahl der landwirtschaftlichen Betriebe um 2 bis2,5 Prozent hat die Gesamtbeschäftigung zugenommen,und das zeigt, wie innovativ und wirtschaftlich leis-tungsfähig diese Branche letztendlich ist.
Ich will auch noch einen Satz zum Export sagen, weilder Export immer pauschal kritisiert wird. Meine Damenund Herren, wenn man importiert, dann muss man auchexportieren. So einfach ist das. Wenn wir wollen, dassdie Bevölkerung auf der Welt satt wird, dann gehörtWelthandel dazu. Alle Produkte wachsen schließlichnicht überall auf der Welt. Das sollten wir wirklich ein-mal zur Kenntnis nehmen.
Wenn Produkte made in Germany weltweit gewünschtwerden, wie Autos von BMW, Audi oder Mercedes,freuen wir uns darüber. Darauf können wir uns wirklichetwas einbilden.Aber weil immer behauptet wird, wir seien aus-schließlich exportausgerichtet: Schauen wir uns denSaldo bei Import und Export an. Unser Land hat einenImportüberschuss von etwa 16 Prozent. Das ist dieWahrheit, nicht das, was Sie immer behaupten.Noch ein Satz zu der Mär von den Exporterstattun-gen. Die Exporterstattungen spielen in Europa zurzeitfast keine Rolle mehr. Wir sind für eine europaweite Ab-schaffung der Exporterstattung, um das deutlich zu sa-gen.
Zu den Herausforderungen. Auch wir in Deutschlandmüssen unseren Beitrag zur Hungerbekämpfung leisten.Wir müssen die Emissionen zur Bekämpfung des Klima-wandels reduzieren. Da sind wir uns in der Zielsetzungvollkommen einig.Wir sollen und wollen auch schonend Energie erzeu-gen. Ich persönlich – Herr Kollege Priesmeier, das habenSie angesprochen – sage deutlich: Wir haben in meinenAugen die Grenze beim Biomasseanbau erreicht. Diese2,15 Millionen Hektar in Deutschland sind definitiv ge-nug. Wenn wir mehr machen wollen, müssen wir ver-stärkt zur Kaskadennutzung übergehen. Das ist vernünf-tig. Dabei spielt natürlich die Forschung eine zentraleRolle.
Herr Holzenkamp, erlauben Sie eine Zwischenfrage
des Kollegen Süßmair von der Fraktion Die Linke?
Ja, sehr gerne. Herr Süßmair, bitte schön.
Herr Kollege Holzenkamp, vielen Dank für die Zwi-schenfrage. – Ich möchte noch einmal auf den Export zusprechen kommen. Es geht nicht darum – das sagt wederdie Linke noch jemand von denen, die den Export kriti-sieren –, dass wir mit anderen Ländern – ich meine be-stimmte Produkte, zum Beispiel Kaffee, Bananen undAnanas, die wir hier nicht anbauen können – Handeltreiben.Es geht um Folgendes: Wir konzentrieren uns – dasist ja leider in einigen Branchen, etwa bei der Autoindus-trie oder dem Maschinenbau, der Fall – darauf, mög-lichst immer mehr zu exportieren.
Sehr viele Ökonomen bescheinigen uns, dass Deutsch-land durch seine hohen Exportüberschüsse mitverant-wortlich für die Euro-Krise ist,
dafür dass andere Länder ihre Produkte nicht mehr ab-setzen können, dass dort Arbeitsplätze in Bezug auf denBinnenmarkt verlorengegangen sind. Auch wir habenmit Blick auf den Binnenmarkt viele Arbeitsplätze verlo-ren. Wir haben einen sehr großen Niedriglohnsektor undeine geringe Kaufkraft.
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Alexander Süßmair
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Nehmen Sie das Beispiel Griechenland. Griechenlandwar früher ein Agrarexportland und ist in den letztenJahren zu einem Agrarimportland geworden.
Ich bitte darum, eine Frage zu stellen.
Daran ist auch Deutschland mit schuld.
Stimmen Sie mir nicht zu,
dass es um das richtige Augenmaß geht und nicht darum,
mit unseren Produkten – möglichst billig und in Masse
hergestellt – andere Volkswirtschaften zu zerstören? Das
ist eben nicht nachhaltig. Wir haben das selbst während
einer Ausschussreise in Afrika gesehen.
Herr Kollege, Sie haben Ihre Frage gestellt. Sie müs-
sen sie nicht noch zusätzlich kommentieren.
Darf ich aber.
Herr Holzenkamp, würden Sie bitte antworten?
Vielen Dank, Herr Präsident. – Herr Kollege Süßmair,erstens: Gesamtwirtschaftlich haben wir im Saldo einenExportüberschuss, aber in der Agrarwirtschaft geradenicht. Dort haben wir einen Importüberschuss. Wenn SieExport und Import im Saldo gegenüberstellen, dann se-hen Sie: Wir haben einen Importüberschuss von etwa16 Prozent.Zweitens. Damit schaffen wir Arbeitsplätze. Ich habevorhin ausdrücklich darauf hingewiesen: Obwohl sich inder Landwirtschaft ein Strukturwandel vollzieht, erlebenwir in der gesamten Wertschöpfungskette eine Zunahmevon Arbeitsplätzen, gerade in 2011. Das belegt, dass esandersherum ist.Drittens: Bringen wir Arbeitsplätze in anderen Län-dern in Gefahr? Die Fokussierung des Exports zielt aus-schließlich auf kaufkräftige Länder, gerade auch aufNichtentwicklungsländer – auf keine anderen.
Ich habe nicht umsonst betont, dass wir für eine euro-paweite Abschaffung der Exporterstattung sind, die übri-gens heute – vielleicht haben Sie eben nicht genau zuge-hört – in Europa fast keine Rolle mehr spielt. Also: Wirbelasten keine Märkte, besonders nicht in sensiblen Län-dern.Die Fokussierung unseres Exports zielt auf kaufkräf-tige Länder, weil uns diese Länder auch beliefern. Wennwir einen Importanteil von 40 Prozent bei Milchproduk-ten haben, dann müssen wir einen Teil unserer Milchpro-dukte auch wieder exportieren.
Das lernt man in der Grundschule.
Meine Damen und Herren, wir verbessern die Wettbe-werbsfähigkeit in der Landwirtschaft. Die StichworteAgrardiesel und Erbschaftsteuer sind schon gefallen.Wir schützen Eigentum und bauen Wettbewerbsverzer-rungen ab. Wir sorgen für soziale Absicherung in denlandwirtschaftlichen Familien. Wir haben gerade denBundesträger in unserer Landwirtschaftlichen Sozialver-sicherung geschaffen. Wir sorgen für die Verbesserungvon Futtermittel- und Lebensmittelsicherheit – stellver-tretend nenne ich nur den „Dioxin-Aktionsplan“ –,wobei wir permanent nachjustieren, und wir sorgen füreinen umfangreichen Natur- und Umweltschutz. Bei-spielhaft sei das Pflanzenschutzgesetz erwähnt, das ei-nen zusätzlichen EU-weiten Schutz der Natur und derProdukte in diesem Bereich gewährleistet.
Was bleibt zu tun? Tierschutz ist schon angesprochenworden. Hier haben wir einiges vor. Die Novelle ist inder Bearbeitung. Damit werden wir uns in Kürze be-schäftigen. Ich möchte in Richtung Opposition auf Fol-gendes hinweisen: Egal ob man für oder gegen Käfighal-tung ist: Es hat sich bei den Hühnern gezeigt, dass es zuWettbewerbsverzerrungen kommt, wenn die einen etwasmachen und die anderen nicht.Wir alle wissen, dass ab 1. Januar 2013 in der Sauen-haltung die Gruppenhaltung Pflicht wird. Wir müssendafür sorgen – ich fordere die Bundesregierung auf, alleszu tun, was in ihrer Kraft steht, und entsprechendenDruck auszuüben –, dass die Umsetzung einheitlich er-folgt. Es kann nicht sein, dass die Sauenhalter inDeutschland darunter leiden, dass andere Länder dieVorgabe nicht umsetzen, wie dies bei den Hühnern derFall ist.
Das kann nicht sein.
Noch kurz zur GAP: Die GAP soll fairer, grüner undeinfacher sein. Staatssekretär Müller hat schon im Kerndazu Stellung genommen. Wenn wir mehr leisten und ef-fizienter produzieren sollen, dann kann es nicht sein,dass jeder Betrieb, unabhängig davon, wie er gelagert
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20116 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 170. Sitzung. Berlin, Freitag, den 23. März 2012
Franz-Josef Holzenkamp
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ist, 7 Prozent seiner Fläche stilllegen muss. Es ist politi-scher Unsinn, so etwas zu beschließen.
Das muss man über Freiwilligenprojekte der zweitenSäule machen. Hierbei waren wir bisher sehr erfolgreich.40 Prozent aller landwirtschaftlichen Betriebe inDeutschland führen auf 25 Prozent der GesamtflächeAgrarumweltmaßnahmen durch. Das kann sich sehenlassen. Das wollen wir gerne weiter ausbauen.Deshalb ist es auch wichtig, den Flächenverbrauch zureduzieren.
Wir verbrauchen immer noch 90 bis 100 Hektar am Tag.Ich lade die Opposition herzlich ein, mitzumachen, et-was für den qualitativen Naturschutz zu tun, damit wirnicht weiter jeden Tag so viel Fläche verbrauchen.Abschließend ein Hinweis: Wir haben uns viel vorge-nommen, um den Dialog mit unserer Gesellschaft zuverbessern.
Immer mehr Menschen wissen nicht mehr, was Land-wirtschaft ist, insbesondere eine moderne, arbeitsteiligeLandwirtschaft, die beispielsweise Sie überhaupt nichtwollen. Wo es Nichtwissen gibt, entstehen Freiräume fürIdeologien, und von manchen wird ein Spiel mit denÄngsten betrieben. Daraus resultiert letztendlich Tech-nologiefeindlichkeit.Wir, die Bundesregierung und insbesondere unsereMinisterin, Frau Aigner, haben den Charta-Prozess ini-tiiert, um zu einem stärkeren Dialog zu kommen. Dasunterstützen wir mit aller Kraft. Das sollten wir auch ge-meinsam tun, damit wir den Menschen in unserer Ge-sellschaft, die zunehmend urban leben, wieder zu einemWissen darüber verhelfen können, wie Landwirtschaftfunktioniert.Herzlichen Dank und später ein schönes Wochen-ende.
Für die SPD-Fraktion hat nun das Wort der Kollege
Heinz Paula.
Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! WerteGäste! Ich möchte Frau Ministerin Aigner eines zugute-halten: Sie hat sowohl im Agrarbericht als auch in ihremTierschutzbericht 2011 ein Problem erfasst, nämlich dieKleingruppenkäfighaltung bei Legehennen. Ich darf ausdem Agrarbericht zitieren:… sind die Anforderungen an die Legehennenhal-tung aufgrund eines Beschlusses des Bundesverfas-sungsgerichts zur Kleingruppenhaltung bis April2012– also in kurzer Zeit –neu zu regeln.Weiter heißt es:Die Änderung der Tierschutz-Nutztierhaltungsver-ordnung wird keine Regelungen für Kleingruppen-haltung mehr vorsehen, aber einen angemessenenBestandsschutz beinhalten.Was versteht nun unsere Tierschutzministerin Aigner un-ter „angemessen“? Bestandsschutz bis 2035! 23 Jahre!
Wieder einmal verschleppt die Ministerin ein Problem,weil sie nicht klar entscheidet,
und das, obwohl sich hinter den lapidaren Sätzen desAgrarberichts das Elend von über 4,5 Millionen Lege-hennen in Deutschland verbirgt, obwohl hinter diesenSätzen der Kampf Abertausender Bürgerinnen undBürger für mehr Tierschutz steckt, wie er in unseremGrundgesetz verbürgt ist, und obwohl von allen Seitengefordert wird, dass Frau Aigner endlich handelt: dasBundesverfassungsgericht, einstimmig der Bundesratmit allen Ministerpräsidenten, darunter auch HerrSeehofer aus Bayern, Frau Kollegin Mortler. Allerortsund parteiübergreifend kämpft man gegen den Unwillender Bundesregierung, eine Verordnung vorzulegen, diedie Kleingruppenhaltung von Legehennen zumindest inabsehbarer Zeit beendet.Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Regierungs-koalition, ich weise auf Art. 20 a unseres Grundgesetzeshin – ich zitiere –:Der Staat schützt auch in Verantwortung für diekünftigen Generationen die natürlichen Lebens-grundlagen und die Tiere …Sie wissen, dass Legehennen auch nach dem Verbot derkonventionellen Käfighaltung weiterhin in Käfigen,mehrere Etagen übereinander, gehalten werden. WissenSie eigentlich auch, was das für ein Huhn bedeutet? Dasbedeutet, dass ein Huhn sein Leben auf sage undschreibe eineinhalb DIN-A-4-Blättern fristen muss. Indieser drangvollen Enge der Käfige herrscht absoluterBewegungsmangel, was bei den Hennen zu erheblichengesundheitlichen Schäden führt. Sie können ihr arttypi-sches Verhalten nicht ausleben. Die Folgen sind klar:Kannibalismus und Federpicken. Diese Haltung ist nichttierartgerecht. Sie ist schlicht und ergreifend Tierquäle-rei.
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Herr Kollege Holzenkamp, ich muss immer wiederfeststellen: Hier werden mehr die Lobbyisten als dieTiere geschützt. Dabei war bereits 1999 allen klar, dassdie Käfighaltung keine Zukunft haben wird. Die EU hateine entsprechende Richtlinie erlassen. Das Bundesver-fassungsgericht hat die konventionelle Käfighaltung ver-boten. Rheinland-Pfalz hat 2006 eine Normenkontroll-klage gegen die Regelung zur Kleingruppenhaltungeingereicht. Dieser wurde 2010 stattgegeben. Die Folgewar eine bemerkenswerte Vorgehensweise: Über alleParteigrenzen hinweg hat sich der Bundesrat auf einenKompromissvorschlag der Länder Niedersachsen undRheinland-Pfalz geeinigt. Grundlage war übrigens einGutachten von KTL, einer hochanerkannten Einrich-tung. Die Kleingruppenhaltung muss also spätestens2023 – spät genug, wie ich finde – endlich beendet wer-den. Jetzt müsste Frau Ministerin endlich eine Entschei-dung treffen. Aber was tut sie? Sie verweigert sich undblockiert. Ich kann nur feststellen: Diese Regierung ver-weigert die Arbeit.
Sie wollen doch nicht allen Ernstes behaupten, dassdie Kompetenz Ihrer Justizminister – von Frau Merk ausBayern, Herrn Hahn aus Hessen und Herrn Busemannaus Niedersachsen – nicht ausreicht, die von Ihnen ange-führten verfassungsrechtlichen Bedenken zu klären. Sieerreichen mit Ihrer Vorgehensweise des Nichtentschei-dens nur eines: Es wird ein totales Chaos ab April in un-serem Land geben, einen Flickenteppich unterschied-lichster Regelungen. Es kann doch nicht Ihr Ernst sein,hier ein zusätzliches Bürokratiemonster zu schaffen. Dassteht im Gegensatz zu Ihrem angekündigten Bürokratie-abbau, Herr Kollege Holzenkamp.
Sie sollten endlich aufhören, zu lamentieren, dass essich hier um einen ungerechtfertigten Eingriff ins Eigen-tum handele. Wir wissen seit 1999, wohin die Entwick-lung geht. Wir wissen auch, dass Planungssicherheit fürdie Produzenten ein ganz entscheidendes Moment dar-stellt.Handeln Sie also endlich, machen Sie Nägel mit Köp-fen, damit Klarheit herrscht! Denn die Verbraucher unddie Produzenten, die Industrie insgesamt, sind schon umein Vielfaches weiter als Sie. Nehmen Sie zum BeispielAldi, Edeka, Dr. Oetker, Birkel usw.: Sie verwendenkeine derartigen Käfigeier mehr. Auch die Verbrauchersagen zu über 90 Prozent, dass sie auf durch Käfighal-tung gewonnene Eier verzichten. Handeln Sie endlichso, wie die Kunden und die Produzenten es wollen!
Frau Ministerin bzw. Herr Staatssekretär, Sie wissendoch ganz genau, was auf dem Spiel steht, dass dringen-der Entscheidungsbedarf besteht, dass Sie endlich auchbeim Tierschutz zumindest eine Maßnahme ergreifenmüssen. Bislang sind Sie, was den Tierschutz anbelangt– in aller Deutlichkeit gesagt –, ein Totalausfall.
Nutzen Sie die Steilvorlage des Bundesrates und sor-gen Sie dafür, dass Sie nicht nur in Ihrem Parteinamendas Wort „christlich“ führen. Ich darf Sie daran erinnern:Christliche Werte bedeuten den Schutz aller Geschöpfe.An der Stelle darf ich Ihnen einfach einmal ein kurzesZitat aus der Bibel vorlesen – 1. Buch Mose –:
Hiermit schließe ich meinen Bund mit euch und miteuren Nachkommen und mit allen Lebewesen beieuch, mit den Vögeln, dem Vieh und allen Tierendes Feldes, mit allen Tieren der Erde …Handeln Sie entsprechend!
Für die FDP-Fraktion hat jetzt das Wort der Kollege
Dr. Edmund Peter Geisen.
Vielen Dank. – Herr Präsident! Meine verehrten Kol-leginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Her-ren! Die SPD-Fraktion hat es geschafft, Herr Paula, ihreigenes Land zu missionieren. Aber Sie sind nicht in dieWelt hinausgezogen, um die Käfighaltung oder dieKleingruppenhaltung zu beschränken oder zu verhin-dern. Deswegen werden wir zu dieser Osterzeit keinedeutschen Eier auf dem Tisch haben.
Vielmehr werden 50 Prozent der verarbeiteten Eier ausdem Ausland aus Käfighaltung kommen. Das haben dieBürger Ihnen zu verdanken.
Diese Probleme kann man nur auf europäischer oderinternationaler Ebene lösen, aber nicht so, wie Sie es ge-tan haben und wie Sie es weiterhin tun wollen. Im Ge-gensatz zur Opposition sind wir in der christlich-libera-len Koalition uns einig, wenn wir feststellen: GanzDeutschland profitiert von einer prosperierenden Land-wirtschaft und von den dadurch blühenden und lebendi-gen ländlichen Räumen. Keine Landwirtschaft ohne
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20118 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 170. Sitzung. Berlin, Freitag, den 23. März 2012
Dr. Edmund Peter Geisen
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ländliche Räume und keine ländlichen Räume ohneLandwirtschaft.
Dies bestimmt auch die Zielsetzungen und die Aus-richtung der christlich-liberalen Politik. Nicht ideologi-sche Gefechtsdebatten führen zum Erfolg, sondern diekontinuierliche erfolgreiche Agrarpolitik der Regie-rungskoalition.
Im Agrarbereich ist Praktikabilität gefragt, die sich anden Naturgegebenheiten ausrichtet. Nur eine effizienteLandwirtschaft, die nachhaltig, standortbezogen undumweltgerecht ist und die den bäuerlichen Unternehmenökonomische Erfolgschancen belässt, hat eine gute Zu-kunft in Deutschland.
Genau das wollen wir von der christlich-liberalenKoalition. Deshalb haben wir in den vergangenen zweiJahren auf Rückendeckung für die und Stabilisierung derLandwirtschaft gesetzt. Dies haben wir weitgehend er-reicht, zum Beispiel mit dem Sofortprogramm, mit derAbschaffung von Marktordnungen, durch die Stabilisie-rung der Sozialversicherungssysteme – gestern hat dieSPD sich erneut geweigert, die Übergangsfinanzierungmitzugestalten –
oder mit dem Abbau wettbewerbsverzerrender Unter-schiede wie beim Agrardiesel; auch dagegen haben Siesich immer wieder ausgesprochen.
Wir meinen, dass ein verstärkter Flächenschutz – alsoweniger Flächenverbrauch außerhalb der Landwirtschaft– unser Ziel sein muss. Wir haben uns vorgenommen,den Flächenverbrauch ganz gravierend zu reduzieren.
Das gilt auch für die Dinge, die mit dem EEG und derEnergieversorgung zusammenhängen. Wir müssen neueWege gehen, was den Flächenverbrauch angeht.Der deutschen Landwirtschaft geht es heute viel bes-ser als in den Jahren vor der christlich-liberalen Koali-tion.
Diese Entwicklung wollen wir von der FDP-Fraktion aufjeden Fall mit Ministerin Aigner fortsetzen. Die Bäue-rinnen und Bauern müssen auch künftig Freude und Er-füllung in ihrem Beruf finden. Das nützt unserer gesam-ten Gesellschaft. Leider wird immer wieder versucht,den ganzen Berufsstand aufgrund von einzelbetriebli-chen Missständen zu verunglimpfen, und es werden im-mer wieder viel strengere Anforderungen an unsere hei-mische Landwirtschaft gestellt als an den Rest der Welt.Hiergegen wenden wir uns als FDP-Politiker mit allerMacht; denn das ist Wettbewerbsverzerrung.
Wir sind selbstverständlich für Tierschutz, für Um-weltschutz, für Klimaschutz, und wir sind auch fürhöchste Produktqualität. Das kann gar nicht anders sein.Alles macht aber nur Sinn, wenn wir die Anforderungen,die wir an unsere Landwirtschaft stellen, auch an alle inder EU in gleicher Weise stellen.
Wir können uns nicht mehr leisten, unserer Land- undErnährungswirtschaft ständig neue Wettbewerbsnach-teile aufzubürden. Damit erweisen wir uns allen einenBärendienst. Wir erreichen lediglich, dass wir auf Pro-dukte anderer angewiesen sind. Damit helfen wir wederunserer Landwirtschaft noch dem Umwelt- und Tier-schutz – und dem Verbraucher schon gar nicht.
Herr Kollege Geisen, kommen Sie bitte zum Schluss.
Wir sollten auch vor Ostern mit gutem Appetit Oster-
eier essen, auch wenn sie nicht aus Deutschland kom-
men. Auch die Ostereier aus anderen Ländern sollen
schön aussehen, schön gefärbt sein und sollten uns allen
sehr gut schmecken.
Ich wünsche Ihnen allen eine frohe Osterzeit.
Schönen Dank.
Jetzt hat das Wort der Kollege Friedrich Ostendorffvon Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine lieben Kollegin-nen und Kollegen! Wir stehen mitten in der gesellschaft-lichen Debatte über die Zukunft der Landwirtschaft,über gesunde Lebensmittel, über den verantwortungs-vollen Umgang mit der Natur und den Ressourcen, überden Erhalt von Landschaften und Arten, über Gentech-nikfreiheit und über hohe Tierschutzstandards.
All das erwarten die Menschen von einer Zukunftsland-wirtschaft. Das hat uns auch der Charta-Prozess im letz-ten Jahr gezeigt.
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Friedrich Ostendorff
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Leider prallt diese Debatte immer wieder an denMauern des Ministeriums ab. Im Agrarbericht 2011 han-delt die Ministerin auf einem Drittel einer Seite der ins-gesamt 108 Seiten das große Zukunftsthema ab, das dieMenschen bewegt: die Beendigung des hundertmillio-nenfachen Leides der Nutztiere in den Agrarfabriken.
Die Menschen haben die vielen Lippenbekenntnisse undAnkündigungen zum Tierschutz restlos satt, sie wollenendlich Taten sehen, sie wollen Bauernhöfe statt Agrar-fabriken, aber Sie von der Regierungskoalition werdendiese Menschen wieder enttäuschen.
Herr Müller, was bieten Sie denn an? Zum x-ten Malkündigen Sie an, die Haltung von Kaninchen zu regeln.Erst heute haben Sie das wieder getan.
Auch in diesem Herbst soll einmal wieder das umgesetztwerden, was Sie im Frühjahr angekündigt haben. Aberdie Blätter werden wohl wieder eher von den Bäumenfallen, als dass sich für die Kaninchen etwas verbessert.
Weiterhin völlig ungeregelt bleibt die Großbaustelle derwiderwärtigen Haltung von Puten – Klammer auf: dreiPutenhähne mit 20 Kilogramm Gewicht pro Quadratme-ter Stallfläche, Klammer zu. Hier brauchen wir dringendscharfe gesetzliche Regelungen. Doch Sie, Herr Müller,tun nichts.
Völlig absurd und ein Skandal ist das Nichthandelnvon Frau Aigner bei den Legehennen. Noch im Juli 2011wollte sie der Käfighaltung per Verordnung einen Be-standsschutz bis 2035 geben, für ein weiteres Viertel-jahrhundert. Diese Regelung wurde zum Glück im Bun-desrat zu Fall gebracht.
Daraufhin verkündete die Ministerin beleidigt, nun garnichts mehr zu tun. Der vom Bundesrat beschlosseneLindemann-Höfken-Kompromiss des Übergangs bis2023 löste auch bei uns Grünen keine Freudenschreieaus, aber gegenüber dem Ursprungsentwurf war er einklarer Fortschritt für den Tierschutz.
Herr Staatssekretär, Sie machen verfassungsrechtlicheBedenken geltend. Ich denke, wir dürfen Ihrem KollegenLindemann schon zutrauen, dass er das geprüft hat. Wirkennen ihn hier in Berlin und wissen das einzuschätzen.Liebe Kolleginnen und Kollegen, in Wahrheit ist esdoch so: Frau Aigner ist wieder einmal vor den Drohge-bärden der Agrarlobby eingeknickt. Herr Staatssekretär,wenn es hart auf hart geht, haben Sie den Tierschutz im-mer noch hinten herunterfallen lassen. Mit uns Grünenist das nicht zu machen.
Wir fordern Sie auf: Setzen Sie die Verordnung desBundesrates zur Legehennenhaltung unverzüglich um!Beenden Sie hier die Anarchie, die droht! Geben Sie denBetrieben Klarheit für ihre weitere Planung, und been-den Sie endlich die tierschutzwidrige Käfighaltung!
Weiteres Nichthandeln ist unverantwortlich. Sie habendie Ethik bemüht. Ich glaube, es wäre auch aus ethischenGründen unverantwortlich. Sprechen Sie nicht nur vonEthik! Handeln Sie danach!
Als letztem Redner zu diesem Tagesordnungspunkt
erteile ich jetzt das Wort dem Kollegen Johannes Röring
von der CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! FrauBehm, Herr Paula, dass Sie sich in den letzten Jahren eingefährliches Halbwissen über Landwirtschaft angeeignethaben, war mir bekannt. Aber dass Sie, Herr Ostendorff,das mit Ihrer Ausbildung als Landwirt auch noch wie-derholen, finde ich nicht okay.
Ich hoffe, es haben viele Landwirte zugehört.
Meine Damen und Herren, wir haben in dieser De-batte über einen Antrag der Grünen zum Klimaschutz zusprechen. Ich glaube, an diesem Antrag können wir er-kennen, dass Künstler am Werk waren: Künstler dergrünen Schwarz-Weiß-Malerei. Sie haben im Antragversucht, die konventionelle Landwirtschaft für die Pro-bleme im Klimaschutz und für die Hungerproblematikverantwortlich zu machen, und bevorzugen darin einsei-tig den Ökolandbau – grüne Schwarz-Weiß-Malereieben.Auch Ihr Versuch, Keile zwischen die verschiedenenProduktionsrichtungen zu treiben, wird keinen Erfolg
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Johannes Röring
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haben. Unserer Ministerin Frau Aigner ist es ja imCharta-Prozess gelungen – Herr Müller wird es ihr aus-richten –,
die Gräben zwischen diesen Produktionsrichtungen zu-zuschütten. Wir finden das sehr gut.Liebe Kollegen der Grünen, Sie schlagen die Schlach-ten der Vergangenheit.
Es gibt viele Themen, bei denen konventionell wirt-schaftende Bauern von den ökologisch wirtschaftendenviel lernen können; genauso gilt das umgekehrt.
Eines ist aber Fakt – das sollten wir nicht unterschät-zen –: Es wird in den nächsten Jahren mehr pflanzlicheBiomasse benötigt. Wenn der Ökolandbau dies nicht mitnachhaltiger Ertragssteigerung schafft, hat er eben eineschwierige Zukunft.
Ihr Antrag lässt völlig außer Acht, dass Effizienzsteige-rung und Intensivierung in der Landwirtschaft keinSelbstzweck sind, sondern der Sicherung der Lebensmit-telversorgung dienen. Das blenden Sie in Ihrem Antragschlichtweg aus.
Dabei wissen Sie doch – der Kollege Holzenkamp hat esgesagt –:
Deutschland ernährt sich nicht selber. Wir würden un-sere Export-Import-Bilanz noch verschlechtern, wennwir Ihrem Antrag folgen würden. Ökolandbau bedeutetnun einmal: auf viel Fläche wenig erzeugen. Das Gegen-teil ist aber, wie ich glaube, in Zukunft notwendig.
Sie werfen in Ihrem Antrag zur Klimabilanz imAckerbau der Landwirtschaft vor, durch den Ausstoßvon Treibhausgasen Mitverursacher des Klimawandelszu sein. Nehmen Sie bitte zur Kenntnis, dass der Ausstoßvon Wasserdampf, Kohlendioxid, Methan und Lachgasaus der Natur und eben auch aus der Landwirtschaftdazu beiträgt,
dass die Erde nicht vereist, dass es einen Mantel ausSpurengasen gibt, dass die Wärme nicht entweicht, dasswir plus 15 und nicht minus 18 Grad auf der Erde haben.Zusätzliche Emissionen fossiler Art, die klimarele-vant sind, wie die Nutzung fossiler Energie zum Beispielfür schöne Flugreisen, sind eine Hauptursache.
Nur, wenn man Ihren Antrag liest, könnte man glauben,die moderne Landwirtschaft sei der Übeltäter.
Landwirtschaft – und das sollten alle wissen – ist dereinzige Wirtschaftszweig, der in der Lage ist, durchPflanzenwachstum und Humusbildung CO2 zu binden.
Die bedarfsgerechte Intensivierung ist also nicht dasProblem, sondern Teil der Lösung. Wir werden geradewegen der vor uns liegenden Herausforderung nicht um-hinkommen, die Leistungsfähigkeit unserer Kulturpflan-zen zu steigern. Sonst können wir weder Teller nochTank bedienen. Wir wollen beides.
Anstelle von ganzheitlichen Lösungen haben Sie unswieder ein Instrumentarium aus der grünen Tonne gelie-fert. Sanktionen und Abgaben sind Ihre Lösung. Damitwollen Sie die konventionelle Landwirtschaft einseitigbelasten. Sie fordern die Abschaffung der Steuerbegüns-tigung für Agrardiesel, der Befreiung von der Kfz-Steuersowie die schrittweise Aufhebung der Energiesteuer-ermäßigung. Mit diesem steuerpolitischen Rundum-schlag treffen Sie aber die konventionelle und die ökolo-gische Landwirtschaft gleichermaßen; denn sie ackertauch nicht mehr mit Ochs und Esel. Beim Agrardieselgeht es nur um Wettbewerbsfähigkeit.
Sie fordern weiter eine Stickstoffüberschussabgabe,um die Optimierung des Stickstoffeinsatzes zu erreichen.Optimierungen werden aber nur selten durch Sanktionenerreicht. Ohne Stickstoffdüngung – das sollten wir wis-sen – kann keine Landwirtschaft betrieben werden, dieden Hunger der Menschen nur annähernd stillen kann.Wir sollten uns darüber Gedanken machen, wie wir neueTechniken zur Optimierung der Stickstoffdüngung– Sensoren, Dosierung – fördern können. Ihr Antrag istder klägliche Versuch, den Ökolandbau und die konven-tionelle Landwirtschaft über die Klimaschiene gegenei-nander auszuspielen. Wir brauchen Lösungsansätze, dieauf Sachkunde und nicht auf Ideologie beruhen. Klima-
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 170. Sitzung. Berlin, Freitag, den 23. März 2012 20121
Johannes Röring
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freundliche Agrarpolitik und agrarfreundliche Klima-politik sind keine Gegensätze. Sie sollten vernünftig mit-einander verbunden werden.Ich komme zum Schluss. Verehrte Kolleginnen undKollegen von den Grünen, ich vermisse in Ihrem Antrageinen ganz wichtigen Punkt. Das ist die Tatsache, dasswir jeden Tag über 100 Hektar Produktionsfläche für Le-bensmittel unwiederbringlich verlieren.
Das ist für mich nicht hinnehmbar.
Dazu sagen Sie in Ihrem Antrag überhaupt nichts. Wirsollten gemeinsam alle Anstrengungen unternehmen, dielandwirtschaftliche Nutzfläche, Acker und Grünland,ebenso unter Schutz zu stellen wie unseren Wald und un-sere Feuchtgebiete. Ihr Antrag ist nicht zielführend. Des-wegen lehnen wir ihn ab.Vielen Dank.
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/5810 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es dagegen Wi-
derspruch? – Das ist nicht der Fall. Dann ist das so be-
schlossen.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss-
empfehlung des Ausschusses für Ernährung, Landwirt-
schaft und Verbraucherschutz auf Drucksache 17/4888.
Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe b seiner Be-
schlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Frak-
tion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/2487
mit dem Titel „Klimabilanz im Ackerbau verbessern“.
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer
stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die Beschluss-
empfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktio-
nen bei Gegenstimmen der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen und bei Enthaltung der SPD und der Linken an-
genommen.
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktion der SPD auf Drucksache 17/9028 mit dem Titel
„Kleingruppenhaltung für Legehennen endgültig been-
den“. Wer stimmt für diesen Antrag? – Wer stimmt dage-
gen? – Enthaltungen? – Dieser Antrag ist mit den Stim-
men der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen von
SPD, Linken und Bündnis 90/Die Grünen abgelehnt.
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/9035
mit dem Titel „Verordnung zur Kleingruppenhaltung un-
verzüglich in Kraft setzen“. Wer stimmt für diesen An-
trag? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der An-
trag ist mit dem gleichen Stimmenverhältnis abgelehnt.
Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 28 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Stephan
Kühn, Sven-Christian Kindler, Dr. Anton
Hofreiter, weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Verlässliche Finanzierung des öffentlichen
Personennahverkehrs – Fortführung der
Kompensationsmittel nach dem Entflech-
tungsgesetz
– Drucksache 17/8918 –
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Innenausschuss
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Tourismus
Haushaltsausschuss
Federführung strittig
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Gibt es Wi-
derspruch? – Das ist nicht der Fall.
Dann eröffne ich die Aussprache und erteile als ers-
tem Redner das Wort dem Kollegen Stephan Kühn von
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ein leis-tungsfähiger und hochwertiger öffentlicher Personen-nahverkehr war noch nie so wichtig wie heute. DerÖPNV leistet einen unverzichtbaren Beitrag dazu, dassMobilität umwelt- und klimagerecht ermöglicht wird.Der ÖPNV ist mehr als doppelt so energieeffizient wieder Pkw-Verkehr. Der Ausbau des ÖPNV ist ein wichti-ger Beitrag zur Verkehrssicherheit. Bus- und Bahnfahr-ten sind 50-mal sicherer als die Fahrt im eigenen Fahr-zeug. Die Kosten pro Personenkilometer sind im Autoviermal höher als die im ÖPNV.Eine aktuelle Studie, die gestern von der Allianz proSchiene und dem Verbraucherzentrale Bundesverbandveröffentlicht wurde, hat ergeben, dass 24 Prozent derDeutschen ihre Mobilität aus Kostengründen einge-schränkt haben. Mobilitätsarmut ist ein Problem. Ichsage ganz deutlich: Soziale Teilhabe kann nur mit öffent-lichem Verkehr gewährleistet werden.
2011 nutzten in Deutschland fast 10 Milliarden Fahr-gäste Busse und Bahnen. Die Zahl der Fahrgäste wächstbeständig. So sichert der ÖPNV in diesem Land die Ar-beitsplätze von 240 000 Menschen.Als Ergebnis der Föderalismusreform I fällt die Ge-meindeverkehrsfinanzierung nach Ablauf des Jahres2019 vollständig den Ländern zu. Die derzeitigen Fi-nanzhilfen des Bundes in Höhe von 1,335 MilliardenEuro für ÖPNV-Infrastrukturinvestitionen – einschließ-
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Stephan Kühn
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lich Fahrzeuge, Infrastruktur und Erhalt des Straßennet-zes – sind nur noch bis Ende 2013 gesichert, ebenso dieZweckbindung dafür. Im Entflechtungsgesetz wurdeverankert, dass für den Zeitraum 2014 bis 2019 zwi-schen Bund und Ländern Einvernehmen darüber erzieltwerden soll, in welcher Höhe die Finanzmittel für denUmweltverbund weiter erforderlich sind.Der Bedarf ist für jeden ersichtlich; der Erhaltungs-rückstand in der Infrastruktur wächst an. Allein für denSubstanzerhalt wären 550 Millionen Euro pro Jahr not-wendig; den Verkehrsunternehmen fehlen aber 300 Mil-lionen Euro.
Der Investitionsrückstand wird mittlerweile auf 2,5 Mil-liarden Euro beziffert.Jetzt, wo die Spritpreise wieder auf Rekordniveauklettern, will die Bundesregierung die Mittel für dieÖPNV-Finanzierung zusammenstreichen und versucht,in den Verhandlungen mit den Ländern ein lineares Ab-schmelzen der Kompensationszahlungen nach dem Ent-flechtungsgesetz bis 2019 auf null durchzusetzen. Manhört auch einen anderen Vorschlag, nach dem 50 Prozentder Mittel durchgehend bis 2019 gekürzt werden sollen.Anstatt den positiven Trend der steigenden ÖPNV-Nut-zung zu stützen, will sich die schwarz-gelbe Regierungbereits vor 2019 aus der Nahverkehrsfinanzierung zu-rückziehen.
Die Aussage der Bundesregierung, die Sicherung derFinanzierung des ÖPNV und des kommunalen Straßen-baus sei eine wichtige Zukunftsaufgabe, bleibt so einLippenbekenntnis.Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Verunsicherungbei den Verkehrsunternehmen und den ÖPNV-Aufga-benträgern kann sich jeder von uns in seinem Wahlkreisanschauen. Viele notwendige und sinnvolle Ausbauvor-haben von Stadt- und Straßenbahnen zwischen Aachenund Görlitz, Flensburg und Freiburg liegen auf Eis, weilden Unternehmen schlichtweg die Planungssicherheitgenommen wurde. Dabei dürfte doch weitgehende Ei-nigkeit darin bestehen, dass der ÖPNV weiter ausgebautwerden muss; auf seine Vorzüge habe ich eingangs hin-gewiesen. Nur mit einem starken ÖPNV werden wir dieKlimaschutzziele im Verkehrssektor erreichen und dieLebensqualität in unseren Städten und Gemeinden erhal-ten können.
Dafür brauchen wir aber eine solide und verlässlicheFinanzierungsgrundlage. Die ist zurzeit nicht gegeben.Daher fordern wir in unserem Antrag die Bundesregie-rung auf, mit den Ländern mindestens eine Verstetigungder Finanzhilfen bis 2019 zu vereinbaren. Im Gegenzug– das sage ich auch – müssen sich die Länder verpflich-ten, diese Mittel tatsächlich für Investitionen in die Ver-kehrsmittel des Umweltverbundes zu verwenden.
Meine Damen und Herren, es geht jetzt darum, Brü-che bei der Finanzierung von ÖPNV-Projekten zu ver-hindern, bis 2019 die bestehenden Instrumente zu erhal-ten, eine verlässliche Grundlage für die Finanzierung desÖPNV zu sichern und, wenn das gelungen ist, sich Ge-danken darüber zu machen, wie es nach 2019 weitergeht.
Für diese Zukunftsaufgabe schlagen wir die Einrichtungeiner Kommission vor, in der gemeinsam nach neuenFinanzierungsinstrumenten gesucht wird. Jetzt geht esdarum, die Brücke nicht abzureißen, sondern zu erhal-ten, im Sinne einer nachhaltigen Verkehrsinfrastruktur-finanzierung.Herzlichen Dank.
Das Wort hat jetzt die Kollegin Antje Tillmann von
der CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Verehrte Zuhörerinnen und Zuhörer! Lieber Herr Kühn,wir hatten eine Kommission, die sich genau mit diesemThema befasst hat, nämlich die Föderalismuskommis-sion I. Das, was im Entflechtungsgesetz festgelegt wor-den ist, entspricht genau dem über Parteigrenzen hinauserzielten Ergebnis der Föderalismuskommission I. Wirwollten eine Entflechtung der Gemeinschaftsaufgaben.Wir wollten eine klare Zuteilung der Zuständigkeiten andie verschiedenen staatlichen Ebenen. Wir wollten – ins-besondere im Hinblick auf die Schuldenbremse –, dassdie einzelnen staatlichen Ebenen unverflochten für ihreeigenen Haushalte zuständig sind.
Auch Ihre Kolleginnen und Kollegen haben damalsmitgemacht. Vielleicht lag es daran, dass Ihre Finanz-politiker beraten haben. Es ist ein deutliches Zeichen,dass heute zwar Herr Fricke spricht, aber kein Finanz-politiker der Opposition. Ich glaube, das zeigt sehr deut-lich, worum es in Ihrem Antrag geht: Es geht nicht umden ÖPNV, auch nicht um den kommunalen Straßenbau,sondern ausschließlich um mehr Geld.
Ich glaube, da sind die Haushaltsberatungen der bessereWeg. Herr Fricke wird mit Sicherheit gleich darauf zusprechen kommen.
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Antje Tillmann
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Um Ihnen zu beweisen, dass wir den Inhalt des Ent-flechtungsgesetzes völlig einvernehmlich in der Födera-lismuskommission I beschlossen haben, zitiere ich zweiKollegen. So hat der Kollege Rainder Steenblock vonBündnis 90/Die Grünen zum Bereich der Verkehrsfinan-zierung ausgeführt – ich zitiere mit Genehmigung desPräsidenten –, dass dies „regionale Themen“ seien, „diedie Länder bzw. die Kommunen von der Planung undVerwaltung her wahrscheinlich sehr viel besser realisie-ren können“.
Ich zitiere weiter:Deshalb wäre es schon vernünftig, in den folgendenGesprächen noch einmal zu überlegen, ob diese Auf-gabe und damit natürlich auch die Mittel, die derBund den Ländern dafür zur Verfügung stellt …, denLändern übertragen werden könnte. Diese Kompe-tenzen können die Länder originär wahrnehmen,und dadurch würden auch ihre Planungskapazitätennicht überfordert, weil sie auf diesem Gebiet häufigschon im Wege der Auftragsverwaltung tätig sind.Mit einer solchen Lösung könnten die Länder ihreureigenen Aufgaben in diesem Bereich wahrneh-men.Der Kollege Kröning von der SPD ist noch deutlichergeworden.
In der Arbeitsunterlage 0009 der Kommission fasst erkorrekt zusammen:Die dauerhaften Finanzhilfen zur sozialen Wohn-raumförderung und zur Verbesserung der Verkehrs-verhältnisse der Gemeinden sind Beispiele fürFehlentwicklungen im Bereich der Finanzhilfekom-petenz des Art. 104 a Abs. 4 GG. Diese Finanzhil-fen, die letztlich auf entsprechende Bundesförder-maßnahmen aus der Zeit vor der Finanzreform1969/70 zurückgehen, haben sich zu einem stetigenFinanztransfer entwickelt, der auf konkrete Be-darfssituationen keine Rücksicht nimmt. Im Be-reich des GVFG wird ein festgeschriebener Teil desMineralölsteueraufkommens dauerhaft nach einem
Schematisch verfestigte und keiner echten Kon-trolle unterliegende Finanztransfers wie in denBereichen „Soziale Wohnraumförderung“ und „Ge-meindeverkehrsfinanzierungsgesetz“ sind zukünf-tig zu vermeiden… Dazu bedarf es einer grundsätz-lichen Befristung von Finanzhilfen– ich bin gespannt, was der SPD-Kollege gleich fordert –und einer Verstärkung der Wirksamkeitskontrollebezüglich der Zielerreichung, abgesichert auf Ver-fassungsebene.Das ist ein Originalzitat aus der Arbeitsunterlage 0009des SPD-Kollegen Kröning. Er hatte recht, als er das ge-schrieben hat.Diese Zitate zeigen, dass wir uns in der Föderalismus-kommission I einig waren, einen Ausstieg aus derMischfinanzierung vorzunehmen. Lieber Kollege Kühn,das ist nichts, was FDP und CDU/CSU zusammen be-schlossen hätten; das ist etwas, was die Große Koalitionzusammen beschlossen hat. Ich weiß, dass die Kollegin-nen und Kollegen von Bündnis 90/Die Grünen den Er-gebnissen der FöKo I ebenfalls zugestimmt hätten, wennder Bildungsbereich nicht gewesen wäre. Sie waren indiesem Bereich, gerade auch was das Gemeindever-kehrsfinanzierungsgesetz anbelangt, mit uns einer Mei-nung.
Nun ist festgelegt worden, dass die Länder bis Ende2013 Kompensationszahlungen in Höhe des Durch-schnitts der Finanzierungsanteile des Bundes im Refe-renzzeitraum 2000 bis 2008 erhalten. Dieser Zeitraum istdeswegen gewählt worden, weil in dieser Zeit besondershohe Bundesfördermittel gewährt worden sind; es sindim Durchschnitt 1,335 Milliarden Euro. Es ist abergleichzeitig festgelegt worden, dass ab 2014 die bishe-rige bereichsspezifische Zweckbindung wegfällt. Das istalso genau das Gegenteil von dem, was Sie heute for-dern. Es ist einvernehmlich festgelegt worden, weil wirder Meinung waren, dass die Länder vor Ort sehr vielbesser entscheiden können, für welchen Bereich siediese Mittel brauchen. In die Aufhebung der Zweckbin-dung sind auch andere Mischfinanzierungen aufgenom-men worden, nämlich in den Bereichen Ausbau undNeubau von Hochschulen, Bildungsplanung, Finanzhilfefür Investitionen zur Verbesserung der Verkehrsverhält-nisse sowie Wohnraumförderung; hier geht es insgesamtum eine Summe von 2,6 Milliarden Euro. Genau deswe-gen haben sich die Länder bereit erklärt, der Finanzie-rungszusage zuzustimmen. Sie erreichen dadurch näm-lich mehr Flexibilität.Hierzu hat der Bund rechtzeitig vor Ende des 31. De-zember 2013 die Verhandlungen mit den Ländern aufge-nommen, und zwar unter Federführung des BMF – wes-halb wir das in der Arbeitsgruppe Finanzen beraten –,unter Hinzunahme des BMVBS, des Beauftragten derBundesregierung für die Neuen Länder und des Bil-dungsministeriums. Die Gespräche dauern an; sie sindauf Wunsch der Länder noch einmal verschoben worden.
Aber ich kann im Moment nicht erkennen, dass Zeit-druck bestünde; denn die Haushaltsberatungen 2013 fan-gen gerade erst an. Wir sollten diese Gespräche abwar-ten.
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20124 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 170. Sitzung. Berlin, Freitag, den 23. März 2012
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Ich habe im Vermittlungsausschuss noch nie den Ein-druck gehabt, dass die Länder nicht Manns bzw. Frau ge-nug gewesen wären, ihre Interessen zu vertreten.
Ich habe eher die Sorge, dass das Ergebnis zu unserenLasten ausgeht, als dass die Länder ihre Interessen nichtdurchsetzen.
Sie haben gesagt, der öffentliche Personennahverkehrkönne aus finanzieller Not einige Projekte nicht umset-zen. Das ist nicht der Fall. Die Bundesregierung gibt an,dass die Länder die vom Bund zur Verfügung gestelltenMittel bei weitem nicht vollständig abgerufen haben.Mehr als ein Viertel an Ausgabenresten hat sich in derZeit von 2007 bis 2010 angesammelt. Als Haushältersehe ich ehrlich gesagt nicht ein, warum ich diese25 Prozent den Ländern weiterhin zur Verfügung stellensoll, wenn sie sowieso nicht abgerufen werden. Überdiese Zahl wird man in den Beratungen nachdenkenmüssen. Ich bin mir sicher, dass wir eine Lösung findenwerden; aber es wird keine Lösung sein, mit der wir dieErgebnisse der Föderalismuskommission I rückabwi-ckeln.
– Doch, das verlangen Sie. Sie verlangen, dass wir eineZweckbindung festlegen. Sie verlangen vom Bund einedauerhafte Finanzierung von Aufgaben, die eindeutigLänderaufgaben sind.Wir haben gemeinsam mit den Ländern Schulden-bremsen ausgehandelt. Wir sind zuständig für die Ver-schuldung des Bundes, und dafür übernehmen wir auchdie Verantwortung. Die Länder sind für ihre Verschul-dung zuständig. Der Bürger hat ein Recht darauf, erken-nen zu können, wer seine Aufgaben erfüllt oder auchnicht erfüllt. Deshalb ist im Entflechtungsgesetz klar ge-regelt, dass wir Transparenz in den Haushalten wollen.Mischfinanzierungen bringen immer zusätzliche Kostenmit sich und haben noch nie dazu geführt, dass Haus-haltsklarheit und Haushaltswahrheit eingehalten wurden.
Die Verhandlungen sind auf einem guten Weg. Ich binsicher, dass das BMF mit den Ländern sehr kollegial um-gehen wird. Es kann auch gar nicht gegen die Länderentscheiden. Herr Kampeter lächelt freundlich; ich sehe,dass seine Liebe auch den Haushalten der Länder gilt.
Gegenüber der Europäischen Union müssen wir dieSchuldenbremse natürlich gemeinsam einhalten. Ichweiß, dass er alleine in die Verhandlungen mit den Län-dern geht.
Es besteht zum jetzigen Zeitpunkt auch keine Notwen-digkeit, einzusteigen.Wir werden Ihrem Antrag nicht zustimmen. SolltenSie den Eindruck haben, dass Gefahr im Verzug ist: DieHaushaltsberatungen stehen Ihnen offen, um die von Ih-nen beantragten 1,335 Milliarden Euro in den Haushalteinzustellen. Wir werden die Beratungen abwarten undinsbesondere die Schuldenbremse des Bundes im Blickbehalten. Das fällt nämlich in unsere Zuständigkeit; dasist unsere Verpflichtung, unsere Verantwortung. Als Be-richterstatter meiner Fraktion zum Thema Schulden-bremse stelle ich fest: Das ist unser Anliegen für dienächsten Jahre. Wir sind es kommenden Generationenschuldig, dass mit Geld vernünftig umgegangen wird,und zwar unabhängig davon, wo es eingesetzt wird.Wenn Geld nicht gebraucht wird, sollte man es auchnicht ausgeben.Ich danke Ihnen.
Für die SPD-Fraktion hat jetzt das Wort der Kollege
Sören Bartol.
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kolle-gen! Ich meine, bei den Verhandlungen um die soge-nannten Entflechtungsmittel sollte es um mehr gehen alsdarum, wer finanzpolitisch am längeren Hebel sitzt.
Leider ist mein Eindruck bisher ein anderer. Wenn dasBundesfinanzministerium die Mittel tatsächlich auf nullabschmelzen will,
dann ist das ein Pokerspiel, aber kein Beitrag zu einerernsthaften Verhandlung im Sinne der Sache, und weitvon dem entfernt, was für eine funktionsfähige kommu-nale Verkehrsinfrastruktur notwendig ist.
Der Bedarf für die kommunale Verkehrsinfrastrukturübersteigt die Mittel schon heute. 1,9 Milliarden Eurowären für Kommunalstraßen und ÖPNV-Infrastrukturjährlich erforderlich.
Das ist deutlich mehr als die 1,3 Milliarden Euro, die derBund den Ländern bis 2013 zahlt. Damit wächst der In-vestitionsstau schon jetzt Jahr für Jahr. Das Gutachtender Länder für die Verkehrsministerkonferenz zeigt dasseriös, und ich glaube, dass das bisher niemand bezwei-felt hat.Auch wenn mit der Föderalismusreform der Rückzugdes Bundes aus der Finanzierung der kommunalen Ver-
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 170. Sitzung. Berlin, Freitag, den 23. März 2012 20125
Sören Bartol
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kehrsinfrastruktur beschlossen wurde – ob das sinnvollist oder nicht, sei jetzt dahingestellt –, ist der Bund nachdem Entflechtungsgesetz bis Ende 2019 zu Kompensa-tionszahlungen verpflichtet. Für die Zeit von 2014 bis2019 ist lediglich zu überprüfen, ob die Zahlungen nochangemessen und erforderlich sind. Ich nehme an, dasssich unter uns kaum eine Abgeordnete oder ein Abge-ordneter finden wird, die bzw. der, wenn sie den Zustandder Straßen oder Busbahnhöfe zu Hause in den Wahl-kreisen vor Augen haben, diese Erforderlichkeit nichtseht.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP undvon der Union, Sie hatten im Koalitionsvertrag die Neu-festsetzung der Mittel zur Mitte der Legislaturperiodeangekündigt. Auch wenn wir optimistisch davon ausge-hen, dass die Legislaturperiode vier Jahre hat: Sie sindim Verzug.
Umso unverständlicher ist es, dass die Bundesregierungmit einer Position in die Verhandlungen gestartet ist, dieden Ländern keine andere Wahl ließ, als den für Dezem-ber 2011 angesetzten Verhandlungstermin platzen zu las-sen. Hoffen wir, dass das nächste Verhandlungsangebotnäher an der Realität ist.
Ich frage mich die ganze Zeit: Wo ist eigentlich bei alldem der zuständige Bundesverkehrsminister? Wo istPeter Ramsauers Gestaltungswille, wenn es um die Zu-kunft kommunaler Verkehrsinfrastruktur geht?
Wo sind seine Vorschläge für die Finanzierung dieserzentralen Aufgabe der Daseinsvorsorge ab 2019, wennnicht nur die Kompensationsmittel auslaufen, sondernauch das Bundesprogramm für ÖPNV-Großvorhaben?
Der Bundesverkehrsminister konstatiert zwar, dassdie GVFG-Bundesprogrammmittel schon jetzt über-bucht sind. Konsequenzen daraus zieht er aber in keinerWeise. Die jährlich 330 Millionen Euro reichen dochhinten und vorne nicht, wenn 1,7 Milliarden Euro alleindurch laufende Vorhaben gebunden sind. Zu den knap-pen Mitteln kommt noch die Unsicherheit, was ab 2019sein wird. Die Folge: Die finanziell ohnehin klammenKommunen lassen lieber die Finger davon, dringendnotwendige Infrastrukturprojekte in Angriff zu nehmen.Nicht ohne Grund schlagen die Bürgermeister aus demRuhrgebiet Alarm. Ihnen steht doch das Wasser bis zumHalse.
In dieser Situation benötigten wir einen Bundesver-kehrsminister, der sich für einen leistungsfähigen öffent-lichen Personenverkehr in Ballungsräumen wie im länd-lichen Raum sowie für ein funktionsfähiges kommunalesund regionales Straßennetz starkmacht. Wir benötigteneinen Bundesverkehrsminister, der die Sicherung nach-haltiger Daseinsvorsorge als vorrangiges Ziel einer inte-grierten Verkehrs-, Stadt- und Raumentwicklungspolitikbegreift. Das ist ein Ziel, für das auch der Bund weiter-hin Mitverantwortung übernehmen muss, gerade ange-sichts der wachsenden Herausforderung des demografi-schen, wirtschaftsstrukturellen und des Klimawandelssowie natürlich der knappen Ressourcen. Wir benötigtenauch Verkehrspolitiker der Koalitionsfraktionen, die dasThema im Deutschen Bundestag nicht einfach in den Fi-nanzausschuss abschieben, weil sie ihre eigene Machtlo-sigkeit verschleiern wollen. Ich stelle fest: KraftloserBundesverkehrsminister Ramsauer im Kabinett, der sichfür nicht zuständig hält, trifft auf kraftlose Verkehrspoli-tiker der Koalition im Bundestag, die sich ebenso fürnicht zuständig halten.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Koalition,trotzdem setze ich auf Ihre kurzfristige Einsicht. Stim-men Sie doch einer Überweisung des vorliegenden An-trags in Federführung des Verkehrsausschusses zu. Stel-len Sie sich doch den Problemen bei der Finanzierungder kommunalen Verkehrsinfrastruktur. Dort, wo Städteboomen, stellen sich die Aufgaben anders als dort, woperiphere ländliche Regionen, zunehmend aber auchStädte von Bevölkerungsrückgang, Arbeitsplatzabbauund sinkender Wirtschaftskraft betroffen sind. Klar ist,dass die Kommunen in ihrer gegenwärtigen finanziellenLage nicht in der Lage sind, diese Herausforderung zubewältigen.Statt finanzpolitischem Hickhack fordern wir deshalbein klares Bekenntnis zur Mitverantwortung des Bundesfür die kommunale Verkehrsinfrastruktur.
Es ist höchste Zeit für einen Investitionspakt von Bundund Ländern für den ÖPNV und die Kommunalstraßen.
Für den Bund heißt das: Er muss den Ländern bis 2019weiter angemessene Mittel gewähren und ihnen bis da-hin Planungssicherheit geben. Im Gegenzug müssen sichdie Länder nachprüfbar zu einer zweckgebundenen Ver-wendung verpflichten. Konstruktionsfehler der ehemali-gen Gemeindeverkehrsfinanzierung müssen endlich kor-rigiert werden. Neben Neuinvestitionen müssen auchErhaltungsinvestitionen förderfähig werden. Bei Neuin-vestitionen müssen ausreichend Rücklagen für den Er-halt gebildet werden.Zudem brauchen wir zügig klare Perspektiven für dieZeit nach 2019. Die Föderalismusreform bedeutet nichtnur, dass die Verantwortung an die Länder übergeht, son-dern dass die Länder bei der anstehenden Neuordnungdes bundesstaatlichen Finanzausgleichs auch ausrei-
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chend Mittel für diese Aufgaben erhalten und sie denKommunen zur Verfügung stellen.
Der Komplettrückzug des Bundes aus der Verantwor-tung für die ÖPNV-Infrastruktur gehört noch einmalgründlich auf den Prüfstand. Das ist eine Aufgabe, dersich der Bundesverkehrsminister endlich einmal stellensollte.Vielen Dank.
Für die FDP-Fraktion hat jetzt das Wort der Kollege
Otto Fricke.
Geschätzter Herr Vizepräsident! Meine sehr geehrtenDamen und Herren! Das ist wieder ein Antrag der Grü-nen – so einen hatten wir schon gestern; dazu hat derKollege Kampeter eine feurige Rede gehalten –, der aufnichts anderes als auf eine Forderung hinausläuft: MehrGeld! Mehr Geld! Mehr Geld!
Zu der Frage, wer das bezahlen soll, sagt dieser Antragnichts.
Für die Zuschauer und Zuhörer sage ich: Sie sollen esbezahlen.Es geht um den öffentlichen Personennahverkehr undseine Finanzierung. Wir alle wissen und wir alle wollen,dass es an dieser Stelle einen Zuschuss gibt. Es ist klar,dass wir den öffentlichen Personennahverkehr nicht zu100 Prozent durch diejenigen, die ihn nutzen, finanzie-ren können. Wir wissen, dass das nicht geht.
Jetzt kommt die Frage: Wie bekommen wir das hin, undwessen Aufgabe ist das? Spontan sagt jeder – das sagendie Grünen und auch die SPD; der Kollege Bartol hatdas gerade deutlich gesagt; ich habe jetzt auch verstan-den, warum der Kollege Bartol den Haushaltsausschussverlassen hat –, das solle der Bund bezahlen, der Bundmache nichts mehr, er kürze die Ausgaben.Was ist Fakt? Ist das wirklich so? Das Regionalisie-rungsgesetz sieht Leistungen des Bundes für den öffent-lichen Personennahverkehr in Höhe von 7 Milliar-den Euro vor, die aus dem Bundeshaushalt zufinanzieren sind. Ändert sich daran etwas? Fahren wirdie Zahlen herunter? Nein, im Gegenteil: Wir erhöhendie Ausgaben sogar um 1,5 Prozent pro Jahr. Das ist,wenn ich das richtig sehe, ein ganz schöner Batzen Geld.Das entspricht übrigens einem Mehrwertsteuerpunkt;das sage ich nur, damit die Bürger wissen, was das heißt.Für das Gemeindeverkehrsfinanzierungsgesetz, das bis2019 bestehen bleibt, sind ebenfalls entsprechende Mit-tel vorgesehen: jährlich 335 Millionen Euro aus demHaushalt des Bundes.Jetzt könnte man als Nächstes sagen: Wir müssen dasEntflechtungsgesetz ändern. Wir haben im Rahmen derFöderalismuskommission gesagt – die KolleginTillmann hat das deutlich gemacht –: Das ist des BundesAufgabe – das muss der Bund finanzieren. Das ist derLänder Aufgabe – das müssen die Länder mit ihrenKommunen finanzieren. Jetzt kommen Sie daher und sa-gen: Nein, das machen wir anders. Den öffentlichen Per-sonennahverkehr soll der Bund finanzieren, aber dieLänder sollen entscheiden.
Dazu sage ich ganz klar: Das machen wir nicht. Wir hal-ten uns an das, was im Rahmen der Föderalismuskom-mission beschlossen wurde. Wir halten uns an das, waskluge Sozialdemokraten, kluge Freidemokraten, klugeChristdemokraten und eigentlich auch die Grünen ge-meinsam beschlossen haben. Das aufzukündigen, wäreeine Veräppelung der Bürger.
Es kommt noch etwas anderes hinzu – das möchte icherklären, weil das nicht das tägliche Geschäft aller ist –:Die meisten Bürger meinen – das bekomme ich in Ge-sprächen mit –, dass der Bund die meisten Steuereinnah-men, das meiste Geld bekommt. Sie glauben, dass derBund 80 bis 90 Prozent der Steuereinnahmen erhält. DieEinnahmen aus der Mehrwertsteuer und der Einkom-mensteuer, alles fließt an den Bund. Jetzt fragen Sie sichselber einmal, ob das, was ich sage, stimmt. Ich richtediese Frage auch an die Opposition. Sie gerieren sichhier als Freunde der Kommunen, indem Sie sagen: Wirtun etwas für den ÖPNV. – Wer hat denn mehr Steuer-einnahmen, Herr Kollege Bartol, Herr Kollege Kühn?Hat der Bund mehr Steuereinnahmen, oder haben Län-der und Kommunen mehr Steuereinnahmen? Fakt ist:Länder und Kommunen haben mehr Steuereinnahmen.Das ist die Überraschung. Länder und Kommunen erhal-ten 52,5 Prozent aller Steuereinnahmen. Das heißt, jedesMal, wenn Sie als Bürger 1 Euro Steuern bezahlen, ge-hen 52 Cent davon an die Länder und Kommunen. Anden Bund fließen 43 Cent, der Rest geht nach Europa.Jetzt sagen Sie: Der Bund soll noch mehr tun.Wir gehen noch einen Schritt weiter, weil es so be-liebt ist, zu Hause, im Wahlkreis zu sagen: Ich tue etwasfür die Gemeinde, ich tue etwas fürs Land, im Gegensatz
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 170. Sitzung. Berlin, Freitag, den 23. März 2012 20127
Otto Fricke
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zu denen in Berlin, im Gegensatz zum Bund. – Wir ha-ben auch hier eine Verantwortung.
– Ja, jetzt kommen Sie wieder mit der kommunalen Ver-ankerung. Glauben Sie, ich bin nicht kommunal veran-kert? Glauben Sie, irgendjemand hier hat seinen Wahl-kreis nicht im Auge?
Trotzdem haben wir als Bundestagsabgeordnete die Auf-gabe, den Bürgern klar zu sagen: Ihr müsst für die schö-nen Dinge, die gefordert werden, bezahlen.Nach den aktuellen Zahlen der Monate Januar undFebruar
haben die Länder in diesem Zeitraum mehr Steuern ein-genommen als der Bund, und Sie sagen, der Bund sollenoch mehr bezahlen, ohne etwas zur Finanzierung zu sa-gen. Jetzt komme ich zu der für mich größten Schweine-rei dieser Woche: Anfang dieser Woche haben Grüneund Sozialdemokraten gesagt, dass der Finanzministerbzw. die Koalition in diesem Land nicht genug spart.Heute hingegen fordern Sie Mehrausgaben in Milliar-denhöhe. Das ist scheinheilig. Das hilft den Kommunenund dem öffentlichen Personennahverkehr in keinerWeise.
– Ja, anscheinend habe ich Sie doch getroffen.
– Es ist schade, dass man draußen nicht mitbekommt,wie sehr Sie sich gerade darüber aufregen. – Es bleibtdabei: Sie als Opposition können nicht auf der einenSeite sagen, dass Sie für die schönen Dinge der Welt zu-ständig sind, aber auf der anderen Seite den Bürgernnicht sagen, woher das Geld kommen soll.
Jetzt zum Abschluss zu der Frage, warum der Bundzu seinen Finanzierungsfähigkeiten beim öffentlichenPersonennahverkehr steht. Wir werden den öffentlichenPersonennahverkehr in Zukunft noch mehr benötigen alsbisher. Das ist gar keine Frage. Wir werden aber darübersprechen müssen, welchen öffentlichen Personennahver-kehr wir brauchen, wo wir ihn brauchen und welche Li-nien effizient sind. Es geht auch um den Unterschiedzwischen städtischen und ländlichen Bereichen. Ich habewährend meines Studiums in Freiburg einen guten öf-fentlichen Personennahverkehr erlebt. Ich sehe aberauch, wie sinnlos es teilweise auf dem Land ist, wennman dort Buslinien nur aus traditionellen Gründen er-hält,
ohne sich zu überlegen, ob es nicht moderne Möglich-keiten des öffentlichen Personennahverkehrs gibt, stattmit großen leeren Bussen durch die Gegend zu fahren,wofür andere zahlen müssen. Ich weiß nicht, wo Sie le-ben, aber ich sehe das täglich.
Eines wird diese Koalition nicht machen: Sie wirdVereinbarungen der Föderalismusreform nicht brechen.Sie wird vor allen Dingen Ihrem Antrag nicht zustim-men. Sie legen gern einen Antrag vor und fordern mehrGeld für alle, wissen aber nicht, woher es kommen soll.Sie stehen nicht auf der Schuldenbremse, sondern Siestehen, so wie in Nordrhein-Westfalen, auf dem Gas-pedal und fahren damit vor die Wand.Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat
jetzt das Wort der Kollege Thomas Lutze von der Frak-
tion Die Linke.
Herr Präsident! Sehr verehrte Damen und Herren!Herr Fricke, ich lade Sie gerne ein und übernehme auchdie Fahrtkosten. Zeigen Sie mir den Überlandbus, dersinnlos durch die Welt fährt. Ich nehme das dann gernezur Kenntnis. Ich kenne kaum noch eine Verkehrsverbin-dung auf dem Land, die funktioniert.Sie haben einen zweiten sachlichen Fehler gemacht.Die Regionalisierungsmittel, die ohne Zweifel steigen,werden hauptsächlich dem Regionalverkehr bei derDeutschen Bahn und den Privatbahnen zuteil.
In der heutigen Debatte und in dem Antrag der Grünengeht es hauptsächlich um den Stadtverkehr. Für diesen
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20128 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 170. Sitzung. Berlin, Freitag, den 23. März 2012
Thomas Lutze
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sollen die Regionalisierungsmittel eigentlich nicht ver-wendet werden.
Der Verband Deutscher Verkehrsunternehmen bestä-tigt: Immer mehr Menschen nutzen regelmäßig den öf-fentlichen Personennahverkehr. Ich glaube, da sind wiruns alle einig. Genau gesagt: Im Jahr 2011 fuhren9,7 Milliarden Menschen mit Bussen und Bahnen. Diesist eine Steigerung von 0,7 Prozent im Vergleich zumVorjahr. Im Fortschrittsbericht zur nationalen Nachhal-tigkeitsstrategie steht ganz deutlich, dass der ÖPNV un-erlässlich für den nachhaltigen Verkehr in Deutschlandist.
Über die Frage der zukünftigen Finanzierung der öf-fentlichen Verkehrsmittel wird jedoch wieder nur in klei-nen Verhandlungsrunden im stillen Kämmerlein gespro-chen. Die vom Bund gewährten Finanzmittel verlierenab 2014 ihre Zweckbindung, werden dann kontinuierlichheruntergefahren, und ab 2020 gibt es überhaupt keinGeld mehr für den Nahverkehr. Das ist kontraproduktivund steht im völligen Widerspruch zur Studie des Ver-bandes Deutscher Verkehrsunternehmen, die dem öffent-lichen Nahverkehr eine dramatische Unterfinanzierungattestiert.Von den benötigten 550 Millionen Euro für Erhal-tungsinvestitionen können derzeit lediglich 220 Millio-nen Euro von den kommunalen Verkehrsunternehmenaufgebracht werden. Hinzu kommt ein Investitionsstau– auch das ist hier schon gesagt worden – in Höhe von2,5 Milliarden Euro. Dieses Geld wird für notwendigeSanierungsarbeiten dringend benötigt. Schon jetzt sprichtman vielerorts von einem Erhaltungsrückstand. Die Fol-gen sind oder werden sein: Betriebseinschränkungen oderim schlimmsten Fall sogar Betriebseinstellungen.Erklären Sie bitte dem Stadtrat in Bochum, wie er dieanstehende Renovierung seiner drei U-Bahn-Linienfinanzieren soll.
– Jetzt vergleichen Sie bitte nicht wieder Äpfel mit Bir-nen. – Erklären Sie, wie die Renovierung der U-Bahnfinanziert werden soll. Erklären Sie dem Stadtrat meinerHeimatstadt Saarbrücken, wie der geplante Ausbau derSaarbahn – ursprünglich sollte ein Netz von Linien ent-stehen – zukünftig finanziert werden soll. Das hat in derVergangenheit dankenswerterweise der Bund mit über-nommen. Wenn sich der Bund dort komplett zurück-zieht, wird es keine weiteren Investitionen in diesem Be-reich geben.Sowohl mittel- als auch langfristig gibt es einen wei-terhin steigenden Finanzbedarf für den Aus- und Neubaudes ÖPNV-Netzes. In vielen Städten wird die Verkehrs-leistung weiter zunehmen. Das Leistungs- und Nachfra-gewachstum macht eine Weiterentwicklung des beste-henden Angebots auch in Anbetracht des Klimawandelsund der Ressourcenknappheit dringend nötig.
Was passiert, wenn die Kraftstoffpreise weiter so stei-gen, ist, glaube ich, auch allen klar: Die Busse und Bah-nen werden sich füllen.Wir, die Linken, können nicht nachvollziehen, warumdie Finanzhilfen stetig gekürzt werden, obwohl derÖPNV weiter ausgebaut wird und der Finanzierungs-rückstand bis Ende 2019 noch lange nicht abgebaut seinwird. Deshalb fordern wir, die Finanzierung für Investi-tionen und den Betrieb des öffentlichen Verkehrs alswichtigen Bestandteil der Daseinsvorsorge auszuweiten.
Dazu müssen die ÖPNV-Investitionsmittel auch nach2013 nicht nur verstetigt werden, wie es die Grünen for-dern, sondern entsprechend dem Bedarf auf 1,9 Milliar-den Euro erhöht werden. Diese Forderung bestätigt imÜbrigen auch der Deutsche Städtetag, bekanntlich keinelinke Vorfeldorganisation.Fazit: Egal wie Sie die Förderung in Zukunft nennen,egal ob es mehrere Fördertöpfe oder nur einen Förder-topf gibt, Deutschland braucht dringend einen neuenKonsens zur Finanzierung des öffentlichen Nahverkehrsin den Städten, Kommunen und Regionen.Herzlichen Dank und Glück auf!
Ich schließe die Aussprache.Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage aufDrucksache 17/8918 an die in der Tagesordnung aufge-führten Ausschüsse vorgeschlagen. Die Federführung istjedoch strittig. Die Fraktionen der CDU/CSU und derFDP wünschen Federführung beim Finanzausschuss, dieFraktion Bündnis 90/Die Grünen wünscht Federführungbeim Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung.Ich lasse zuerst über den Überweisungsvorschlag derFraktion Bündnis 90/Die Grünen abstimmen. Wer stimmtfür diesen Überweisungsvorschlag? – Wer stimmt dage-gen? – Enthaltungen? – Der Überweisungsvorschlag istmit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen dieStimmen der Oppositionsfraktionen abgelehnt.Ich lasse nun über den Überweisungsvorschlag derFraktionen der CDU/CSU und der FDP abstimmen. Werstimmt für diesen Überweisungsvorschlag? – Gegenstim-men? – Enthaltungen? – Der Überweisungsvorschlag istmit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen dieStimmen der Oppositionsfraktionen angenommen.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 170. Sitzung. Berlin, Freitag, den 23. März 2012 20129
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
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Ich rufe den Tagesordnungspunkt 29 auf:Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Familie, Senioren,Frauen und Jugend
– zu dem Antrag der Abgeordneten ChristelHumme, Caren Marks, Petra Crone, weitererAbgeordneter und der Fraktion der SPDEntgeltgleichheit zwischen Männern undFrauen gesetzlich durchsetzen– zu dem Antrag der Abgeordneten MonikaLazar, Kerstin Andreae, Ekin Deligöz, weitererAbgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENFrauen verdienen mehr – Gleichstellung istInnovationspolitik– Drucksachen 17/5038, 17/4852, 17/5821 –Berichterstattung:Abgeordnete Nadine Schön
Christel HummeNicole Bracht-BendtYvonne PloetzMonika LazarNach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. Gibt esWiderspruch dagegen? – Das ist nicht der Fall.Dann eröffne ich die Aussprache und erteile als ersterRednerin der Kollegin Nadine Schön von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Nadine Schön (CDU/CSU):Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! „Wieso nimmt die ihr rotes Handtäschchenmit ans Rednerpult?“, werden sich viele fragen. Dieserote Handtasche ist ein Symbol. Sie ist das allgemeineSymbol des Equal Pay Day. Sie ist das Symbol des heu-tigen Tages.Was soll uns diese Tasche sagen? Sie soll uns erstenssagen: Auch heute, 2012, gibt es einen Entgeltunter-schied zwischen Frauen und Männern von 23 Prozent;im ländlichen Raum, aus dem ich selbst komme, ist dieLohnlücke noch 10 Prozent größer. Sie soll uns zumZweiten sagen: Dieser Entgeltunterschied, der GenderPay Gap, entwickelt sich später, im Alter, zu einem Gen-der Pension Gap, zu einem Unterschied in der Rente vonsage und schreibe 59 Prozent.
Sie soll uns drittens sagen: Europaweit ist Deutschlandmit dieser Lohnlücke führend, und zwar führend im ne-gativen Sinn. Nur in Österreich und Tschechien gibt eseine noch größere Entgeltungleichheit als bei uns.Schließlich soll sie uns sagen: Tut etwas dagegen!Liebe Kolleginnen und Kollegen, über 770 Gruppen inganz Deutschland führen heute, am Equal Pay Day, unterFederführung von „Business and Professional Women –Germany“ und mit finanzieller Förderung des Bundes-gleichstellungsministeriums Aktionen zum Thema Ent-geltgleichheit durch. Das ist eine großartige Leistung.
Deshalb will ich mich ganz am Anfang bei allen herzlichbedanken, die heute diese Aktionen durchführen und fürdieses wichtige Thema werben.
Die Aktionen informieren heute über die Gründe undUrsachen der Lohnlücke. Auch für uns zur Erinnerung:Der größte Teil der Lohnlücke von 23 Prozent hat objek-tive Gründe. Frauen fehlen in bestimmten Berufen, inbestimmten Branchen und auf den höheren Stufen derKarriereleiter, Frauen sind im Schnitt schlechter qualifi-ziert als Männer – noch! –, und Frauen haben außerdemmehr und längere Erwerbsunterbrechungen.Rechnet man diese objektiven Gründen aus den23 Prozent heraus, dann müssen wir immer noch die so-genannte bereinigte Entgeltlücke von 8 Prozent feststel-len. Diese ist mit objektiven Gründen eben nicht zurechtfertigen. Hier müssen wir subjektive Gründe anneh-men und auch davon ausgehen, dass es sich um Diskri-minierung handelt.
Problematisch sind aber eben nicht nur diese 8 Pro-zent, sondern auch die 23 Prozent, und zwar nicht zuletztdeshalb – ich habe es erwähnt –, weil sich das im Alterzu einer Rentenlücke von mehr als 54 Prozent aus-wächst. Dann fehlt das Geld wirklich. Deshalb begnügensich die Aktivistinnen und Aktivisten heute eben nichtdamit, zu erklären und zu informieren, sondern sie sagenauch: Tut etwas dagegen! – Tun wir also etwas dagegen.
Dieser Appell der Aktionen – Tut etwas dagegen! –hat viele Adressaten. In diesem Jahr geht er vor allem andie Tarifparteien und an diejenigen, die in die Lohnfin-dung involviert sind. Es geht hier um die Frage: Wiekönnen Arbeitgeber und Arbeitnehmer bei der indivi-duellen Lohnfindung und Gewerkschaften und Unter-nehmen, wenn sie Tarifverträge verhandeln,
darauf achten, dass hier keine geschlechtsspezifischenUnterschiede gemacht werden? Hier muss man sich alsTarifpartei ganz bewusst die Fragen stellen: Was ist ei-gentlich eine angemessene Bezahlung? Wie werden wireigentlich frauenspezifischen Tätigkeiten gerecht? Le-gen wir faire und vergleichbare Kriterien an? Die Tarif-parteien haben hier eine ganz besondere Verantwortung.
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20130 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 170. Sitzung. Berlin, Freitag, den 23. März 2012
Nadine Schön
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Liebe Frau Kollegin, Sie haben gerade „Politik“ da-zwischengerufen. Dazu komme ich ganz sicher noch.Mich hat es aber schon gewundert, dass Sie die Tarifpar-teien in Ihrem Antrag so kleinreden. Ich bin der Mei-nung, wir können den Tarifparteien schon zutrauen, dasssie hier ganz aktiv etwas zur Beseitigung der Entgeltun-gleichheit beitragen. Dass Sie den Glauben schon aufge-geben haben, finde ich wirklich schade.
Der zweite Adressat des Appells ist die Gesellschaft;das sind wir alle. Wenn es nämlich so ist, dass der größteTeil der Lohnlücke – man spricht von etwa 18 Prozent –deshalb entsteht, weil Frauen häufiger und auch längerihre Arbeitszeit unterbrechen,
dann sind wir alle gefragt. Obwohl die Unterbrechung ansich ja nicht negativ ist und obwohl die Entscheidungensehr oft einvernehmlich zwischen den beiden Partnerngefällt werden, bringen sie meist negative Konsequen-zen mit sich, nämlich einen schlechteren Lohn beimWiedereinstieg. Diese negativen Konsequenzen trägt al-lein die Frau.Das heißt für uns und unsere Gesellschaft, dass wirdiese Erwerbsunterbrechungen möglichst auf beide Part-ner aufteilen müssen, damit beide die Konsequenzen tra-gen. Mit dem Ausbau der Kitabetreuung, mit den Part-nermonaten und mit dem Elterngeld unterstützen wirvon politischer Seite die Familien, die genau das wollen.Ich kenne das aus meinem Freundeskreis und aus meinerUmgebung: Gerade für junge Paare ist es heute selbst-verständlich, dass man die sehr wichtige, aber eben un-bezahlte Familienarbeit und die bezahlte Erwerbsarbeituntereinander aufteilt. Das ist eine Form der Partner-schaft, die in Zukunft dazu beitragen wird, dass es weni-ger Erwerbsunterbrechungen geben wird. Das bringtauch etwas für die Schließung der Lohnlücke.Gefragt sind auch die Unternehmen. Der Appell andie Unternehmen lautet: Seid sensibel für Entgeltun-gleichheit in eurem Betrieb. Das Bundesfamilienminis-terium bietet ja das Logib-D-Verfahren an. Das ist einwirklich gutes Tool, mit dem man herausfinden kann, obEntgeltunterschiede im Betrieb bestehen und wo die Ur-sachen liegen. Das kann ich wirklich nur jedem Unter-nehmen empfehlen.Sie von der Opposition wollen hier ja ein gutes Stückweiter gehen und diese Überprüfung zur Pflicht machen.Anschließend sollen die Daten – anonymisiert –, einerstaatlichen Stelle vorgelegt und von NGOs und Interes-sengruppen geprüft werden. Dann soll bei jedem einzel-nen Unternehmen geprüft werden, ob es irgendwo inseiner Mitarbeiterschaft eine ungerechtfertigte Entgel-tungleichheit gibt.
– Ganz ehrlich, liebe Frau Humme: Ich weiß, Sie habenein gutes Ziel vor Augen, das ich auch unterstütze. Aberdas, was Sie vorschlagen, ist wirklich ein Bürokratie-monster.
Sie glauben doch wirklich nicht, dass die Sensibilitätfür dieses Thema in den Unternehmen wächst, wenn derstaatliche „Big Brother“ in einem riesenbürokratischenVerfahren kommt und alle Lohnabschlüsse überprüft.Das muss man sich einmal genau anschauen.
Ich bin der Meinung, damit kommen Sie keinenSchritt weiter. Sie schaffen Bürokratie. Sie schaffen auchAbwehrhaltungen in den Unternehmen, und das ist ge-nau das, was wir nicht brauchen. Vielmehr brauchen wirauch in den Unternehmen Sensibilität für dieses kom-plexe Thema, und deshalb müssen wir diesen Vorschlagleider ablehnen.
Der Staat und die Politik können aber einiges machen.Sie können Rahmenbedingungen ändern
und viele Dinge anstoßen, die dazu beitragen, dass dieEntgeltlücke geschlossen wird. Ich habe das StichwortErwerbsunterbrechungen erwähnt. Hierzu gibt es guteProgramme des Ministeriums, etwa „Perspektive Wie-dereinstieg“, „Familienbewusste Arbeitszeiten“ oder ge-nerell das Elterngeld, und auch bei den steuerlichen Rah-menbedingungen kann man etwas tun.Die Politik kann nachhelfen – Sie kennen meine Posi-tion an dieser Stelle –, dass zumindest in den Füh-rungsetagen deutscher börsennotierter Konzerne mehrFrauen vertreten sind, und ich glaube schon, dass wireine gesetzliche Regelung brauchen, um mehr Frauen inFührungspositionen zu bringen. Ich bin der Meinung,dass diese Regelung bei Vorständen flexibel, aber beiAufsichtsräten fest gelten sollte und dass mehr Frauen inFührungspositionen zu mehr Entgeltgleichheit führenwerden.
Auch der Staat kann mit gutem Beispiel vorangehen.Er kann beispielsweise in seinen eigenen Behörden dafürsorgen, dass die Entgeltlücke nicht so groß ist. Darüberhinaus kann der Staat auf allen Ebenen mit den gesell-schaftlichen Gruppen dafür sorgen, dass das Thema eineRelevanz erhält. Bewusstseinsbildung bringt hier sehrviel, und deshalb begrüße ich das Projekt mit den Land-frauen sehr; denn es greift das wichtige Thema der Ent-geltungleichheit im ländlichen Raum auf. Als Vertreterindes ländlichen Raums weiß ich schließlich, wie wichtigdas ist.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 170. Sitzung. Berlin, Freitag, den 23. März 2012 20131
Nadine Schön
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All diese Initiativen seitens Staat, Gesellschaft, Unter-nehmen und Tarifparteien werden gemeinsam dazu bei-tragen, dass der Entgeltunterschied schrumpfen wird,und das muss unser aller erklärtes Ziel sein. Denn, liebeKolleginnen und Kollegen, Gleichstellungspolitik istnichts, was wir nur für uns Frauen machen. Gleichstel-lungspolitik hat auch, aber nicht nur etwas mit gerechtenChancen zu tun. Nein, Gleichstellungspolitik hat auchetwas mit der Innovationsfähigkeit, mit dem Wachstumund mit der Lebensqualität einer Gesellschaft zu tun
Deswegen, liebe Kolleginnen und Kollegen, tun wirnicht nur etwas für die Frauen, wenn wir uns für die Be-seitigung der Lohnlücke einsetzen. Wir tun etwas fürganz Deutschland.
Denken Sie heute daran, und denken Sie auch immer da-ran, wenn Sie eine rote Handtasche sehen.
Für die SPD-Fraktion hat jetzt die Kollegin Caren
Marks das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damenund Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die meis-ten von uns kommen gerade von der Kundgebung amBrandenburger Tor. Bei gutem Wetter war sie gut be-sucht, und das war gut.
Obwohl der Anlass kein erfreulicher ist, ist es richtigund notwendig, Flagge zu zeigen. Aber ich muss ganzehrlich sagen: Ich möchte da nicht noch in 20 Jahren ste-hen und dafür streiten, was uns zusteht.
Sowohl der Deutsche Gewerkschaftsbund als auchder Deutsche Frauenrat hatten zu dieser Kundgebung un-ter dem Motto „Recht auf Mehr“ aufgerufen. Recht ha-ben Sie mit „Recht auf Mehr“, nämlich dem Recht aufgleiche Bezahlung für Frauen und Männer in unseremLand.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir müssen über-haupt nicht darüber streiten, ob eine Lohnlücke von21,6 oder 22 oder 23 Prozent besteht. Fest steht: In kei-nem anderen OECD-Land klafft diese Lücke so weitauseinander wie in unserem Land.
In Vollzeit arbeitende Frauen verdienen laut OECD-Studie – Herr Staatssekretär, auch Sie könnten etwas ler-nen –
bis zu 21,6 Prozent weniger als Männer. Der Durch-schnitt liegt in der OECD bei 16 Prozent. Dies wurdeuns erst letzte Woche wieder bescheinigt. Auch im euro-päischen Vergleich liegt Deutschland am unteren Endeder Skala. Damit gehören wir leider zu den Spitzenrei-tern bei der Diskriminierung von Frauen. Dieses Ergeb-nis ist nicht nur bitter. Es ist schlicht beschämend!
Es ist vor allem nicht hinnehmbar. Wir haben es hiermit einem „Prinzip ohne Praxis“ zu tun. Obwohl näm-lich nach geltender Rechtslage die unterschiedliche Ent-lohnung von Arbeit aufgrund des Geschlechts sowohlnach nationalen als auch nach europarechtlichen Re-gelungen definitiv verboten ist, werden Frauen weiterdiskriminiert. Der jährlich stattfindende Equal Pay Daymacht dies öffentlichkeitswirksam zum Thema. MeineGeduld, die Geduld der Frauen in diesem Land und dieGeduld der gesamten SPD-Bundestagsfraktion sind zuRecht am Ende.
– Und die der übrigen Engagierten natürlich auch.
Es ist höchste Zeit, zu handeln. Handeln müsste drin-gend diese Bundesregierung. Handeln muss dieses Par-lament.Aber wie bei der Quote und wie bei vielen anderenThemen: Bundesministerin Schröder verschließt die Au-gen vor der Realität.
Aber die Augen zu schließen, verändert nicht die Reali-tät. Das ist ein Spiel, von dem kleine Kinder überzeugtsind, dass es funktioniert: Ich schließe die Augen, undkeiner sieht mich. Auch die vorhandenen Probleme siehtman dann nicht mehr.
Es soll sich alles schön von alleine regeln. Frauen brau-chen keine Quoten. Wer gut ist, kommt alleine in dieFührungsetagen.
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20132 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 170. Sitzung. Berlin, Freitag, den 23. März 2012
Caren Marks
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Frau Schröder sieht die Quote gar als eine Diskrimi-nierung; so in der letzten Woche zu lesen. Heutige Män-ner – so die Ministerin – sollen nicht ausbaden müssen,was Generationen von Männern falsch gemacht haben. –Man reiche mir ein Taschentuch.
Sie spricht gar von einer „Kollektivhaftung“. – All diesist eine mehr als absurde Argumentation von einerMinisterin, die bis heute nicht verstanden hat, für wensie eigentlich in diesem Land Politik machen muss.
Ich denke, ich kann im Namen aller Frauen sagen:
Besten Dank, Frau Schröder! Sie können gehen!
Nach einer Umfrage der Bertelsmann-Stiftung for-dern 87 Prozent der Befragten gleichen Lohn für gleicheArbeit. So sieht die Realität aus, eine Realität, die FrauSchröder, aber auch die gesamte Bundesregierung end-lich zur Kenntnis nehmen sollten.Fordert eine Frau heute gleiches Entgelt für gleicheArbeit ein, so muss sie das alleine durchsetzen, indivi-duell gegenüber ihrem Arbeitgeber. Hier hat das All-gemeine Gleichbehandlungsgesetz keine wirkliche Ver-besserung gebracht. Es fehlt in unserem Land einInstrument, das die Durchsetzung des Prinzips der glei-chen Bezahlung ermöglicht. Und deswegen arbeiten wir,die SPD-Bundestagsfraktion, an einem entsprechendenGesetz, einem Equal-Pay-Gesetz.
Damit wollen wir die Unternehmen in diesem Landverpflichten, endlich für diskriminierungsfreie Entgelt-systeme zu sorgen. Dabei gilt für uns natürlich, FrauSchön: so wenig Staat und Bürokratie wie möglich, soviel wie notwendig, um diesem Gesetz zur Wirksamkeitzu verhelfen.
Mit diesem Gesetz wollen wir notwendige Transpa-renz bei Entlohnungsstrukturen herstellen; denn nir-gendwo wird aus der Bezahlung so ein Geheimnis ge-macht wie in Deutschland. Mehr Transparenz – davonbin ich fest überzeugt – wird die versteckten Möglich-keiten der Diskriminierung abbauen. Das ist dringendnotwendig.
Natürlich muss das Gesetz einen Weg zur Kontrolleund Durchsetzbarkeit vorgeben. Aber all dies ist mach-bar, wenn gewollt. Wir, die SPD-Bundestagsfraktion,wollen dies gesetzlich ermöglichen. Im Mai wird unserGesetzentwurf eingebracht. Seitens der Bundesregierunghingegen ist für die Frauen in unserem Land nichts ge-wollt. Ein deutlicheres Zeichen als die Debatte am Inter-nationalen Frauentag in der letzten Sitzungswochekonnte es kaum geben.Natürlich wird ein Gesetz zur Herstellung von Ent-geltgleichheit nicht all die Probleme lösen, die struktu-rell bedingt sind. Ehegattensplitting und Minijobs, alldas muss dringend reformiert werden. Aber auch derAusbau der Betreuungsangebote muss schneller voran-gehen.Ein gutes und wirksames Instrument zur Eindäm-mung der Entgeltunterschiede ist auch der gesetzlicheMindestlohn, den diese Bundesregierung, auch die Ar-beitsministerin Frau von der Leyen, nach wie vor nichteinführen will. Erst letzte Woche konnten wir in demneuesten Report des Instituts Arbeit und Qualifikationder Uni Duisburg-Essen nachlesen, dass bei der Einfüh-rung eines gesetzlichen Mindestlohns von 8,50 Eurojede vierte Frau Anspruch auf eine Lohnerhöhung hätte.Damit wäre schon ein guter Anfang gemacht, FrauSchröder und Frau von der Leyen. Es wäre schön, wennbeide heute anwesend wären, aber die Staatssekretärekönnen es ihnen ausrichten.
Diese Ergebnisse haben deutlich gemacht, dassFrauen sehr viel häufiger von besonders niedrigen Stun-denlöhnen betroffen sind. Knapp 5 Prozent der weibli-chen Beschäftigten arbeiteten 2010 für Stundenlöhne un-ter 5 Euro und 15 Prozent für unter 7 Euro. Ich frage dieschwarz-gelbe Bundesregierung: Wie lange will einwirtschaftlich gut aufgestelltes Land wie Deutschlanddies seinen Arbeitnehmerinnen noch zumuten? Hier sindwir, hier ist die Bundesregierung, hier ist der Gesetzge-ber gefordert.Wenn diese Bundesregierung für Frauen nicht tätigwerden will, dann wird es die SPD-Bundestagsfraktion,und ich weiß, dass die anderen Oppositionsfraktionendies auch wollen. Wir werden Ihnen gesetzliche Lösun-gen vorlegen, eine nach der anderen. Denn ich will wiedie anderen Frauen und viele Männer an unserer Seitenicht noch in 20 Jahren am Brandenburger Tor für Lohn-gleichheit streiten müssen.Herzlichen Dank.
Für die FDP-Fraktion hat jetzt die Kollegin NicoleBracht-Bendt das Wort.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 170. Sitzung. Berlin, Freitag, den 23. März 2012 20133
(C)
(B)
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich
komme gerade vom Infostand der FDP-Fraktion zum
Equal Pay Day zurück.
Eine Frau fragte mich, warum es trotz eines Verbots
im Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz von 2006 in
Deutschland immer noch so eine große Lohnlücke gibt
und warum die Bundesregierung hier nicht mit einem
Gesetz zu einem flächendeckenden Mindestlohn einen
Riegel vorschiebt. Genau das ist der Vorschlag von SPD-
Fraktion und Bündnis 90/Die Grünen. Die FDP-Fraktion
lehnt das aus mehreren Gründen ab.
– Hören Sie zu! – Die Lohnfindung ist Sache der Tarif-
partner; einen solch massiven Eingriff in die Tarif-
autonomie, wie Sie es mit einer gesetzlichen Regelung
vorschlagen, lehnen wir ab.
Außerdem wollen wir kein neues bürokratisches Re-
gelwerk, mit dem Sie nahezu allen Betrieben neue
Regeln und Berichtspflichten aufbürden wollen. Wir als
FDP-Fraktion wollen mehr Transparenz bei den Gehalts-
strukturen.
Wir setzen auf die anonyme Offenlegung von Gehältern,
um die Ursachen ungerechter Bezahlung auszumachen
und abzubauen. Es gibt also dasselbe Ziel; nur die Wege
sind unterschiedlich.
Wir alle kennen die Fakten: Bei gleicher Qualifika-
tion und vergleichbarer Tätigkeit liegt der Verdienstun-
terschied zwischen Männern und Frauen bei 8 Prozent.
Dennoch sind auch die durchschnittlich 23 Prozent, von
denen so oft die Rede ist, Realität.
Das hat vor allem strukturelle Gründe. Wir müssen
sehen, dass sich junge Frauen in Deutschland deutlich
häufiger als in anderen Ländern nach der Geburt eines
Kindes aus dem Beruf zurückziehen und ausschließlich
der Familie widmen.
Das passiert freiwillig, und ich bin froh, dass der Gesetz-
geber keine Lufthoheit über unseren Kinderbetten hat.
– Sie können ruhig lachen. – Den Frauen muss klar sein,
dass jedes Jahr, das sie aus dem Beruf aussteigen, Ein-
schnitte in ihrem Portemonnaie bedeutet. Das gilt nicht
nur für die Zeit, bis sie wieder in den Beruf einsteigen,
sondern auch für die Rentenzeit. Hier müssen wir anset-
zen, Ursachen ausloten und Lösungen entwickeln.
Frau Kollegin.
Nein, ich lasse keine Zwischenfrage zu.
Keine Zwischenfrage, gut.
Daher müssen wir in Deutschland noch mehr für diebessere Vereinbarung von Familie und Beruf tun. DieKoalition hat hierzu schon einiges auf den Weg gebracht,zum Beispiel Initiativen für familienbewusste Arbeits-zeiten für Männer und Frauen, den Ausbau der Kinder-betreuung und Programme zur Erleichterung des Wie-dereinstiegs.
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20134 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 170. Sitzung. Berlin, Freitag, den 23. März 2012
(C)
(B)
Wie können Sie als Fraktion, die die Regierung trägt,
vertreten, dass die Ministerin lieber draußen die Medien-
vertreter anlächelt, anstatt die halbe Stunde hier im Ple-
num zu sitzen, mit uns zu debattieren und ein klares
Wort zu äußern? Ich nenne das Wegducken vor der Ver-
antwortung.
Zur Erwiderung, Frau Bracht-Bendt.
Ich weiß nicht, auf wen Sie anspielen und wer sich so
geäußert haben soll. Wir waren heute mit einem Stand an
der Friedrichstraße vertreten und haben uns mit dem Ta-
gesthema befasst. Wir haben uns als Fraktion für diesen
Standort entschieden. Ich denke, das ist unsere Entschei-
dung für die Frauen und Männer in unserem Land.
Danke.
Für die Fraktion Die Linke hat jetzt das Wort die Kol-
legin Yvonne Ploetz.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Meine Damen und Herren! Heute ist der 23. März. VonAnfang letzten Jahres bis heute müssen Frauen arbeiten,um den gleichen Lohn zu bekommen, den die Männerallein im letzten Jahr verdient haben. Das ist ein sagen-hafter Lohnunterschied von 23 Prozent, wie wir heutebereits gehört haben. Dabei sollte es doch heute hier undjetzt eine Selbstverständlichkeit sein, dass Frauen dengleichen Lohn für die gleiche Arbeit bekommen. Ihnenstehen die ganzen 100 Prozent zu.
In Deutschland haben wir seit Jahren dieses enormeLohngefälle. Nirgendwo in Europa geht die Lohnscherederart weit auseinander wie bei uns in Deutschland,nicht in Griechenland, nicht in Frankreich, nicht in Bul-garien und auch nicht in der Slowakei. Da muss mansich wirklich die Frage stellen, wie ernst Sie es als Re-gierung mit der Gleichstellung von Mann und Frau mei-nen.In diesem Zusammenhang stellte die taz Jana Webervor. Jana und ihr Partner sind als freiberufliche Schau-spielerin und Schauspieler unterwegs, an Theatern in derganzen Republik, von Düsseldorf bis Leipzig, von Ham-burg bis Passau, oft zur selben Zeit im selben Stück. Im-mer ärgert sich Jana über ihre Verträge. Während ihrPartner 250 Euro für eine Vorstellung bekommt, erhältsie nur 200 Euro, und das nur, weil sie eine Frau ist. Da-mit muss jetzt endlich Schluss sein.
Leider ist das deutscher Alltag, egal ob eine FrauSchauspielerin, Schreinerin oder Managerin ist. Das istwirklich eine ganz bittere Bilanz. Das ist die bittere Bi-lanz einer Regierung, die die Mehrheit der Gesellschaftnoch immer wie eine Minderheit behandelt.Dabei haben Sie sich als Regierung vorgenommen,den Lohnunterschied bis 2020 auf 10 Prozent zu redu-zieren. Ich kann Ihnen schon heute sagen: Sie werdendas nicht erreichen, wenn Sie weiterhin an Ihrem Frei-willigkeits- und Selbstverpflichtungskurs festhalten.
Sie werden nicht darum herumkommen, ein echtesGleichstellungsgesetz zu initiieren, mit dem Sie die Be-triebe dazu verpflichten, gleiche Löhne für gleiche Ar-beit auszuzahlen.
Wenn man sich das Ganze genau anschaut, sieht man,dass die Probleme tatsächlich noch tiefer liegen. Lohn-diskriminierungen häufen sich im Laufe eines Frauenle-bens an. Nimmt man das gesamte Erwerbsleben vomSchulabschluss bis zur Rente in den Blick, dann erkenntman, dass der Lohnunterschied nicht 23 Prozent, son-dern annähernd 50 Prozent beträgt. Schuld daran sind
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Yvonne Ploetz
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Niedriglöhne, unfreiwillige Teilzeitarbeit, Minijobs,Pausen, um die Kinder zu erziehen oder um Angehörigezu pflegen, fehlende Aufstiegschancen und das gerin-gere Gehalt. All das kommt in vielen Frauenleben zu-sammen und endet in einer Rentenlücke von knapp59 Prozent.
Auch das gehört zur Wahrheit und somit zu dieser De-batte.
An dieser Situation ändert sich schon seit Jahrenüberhaupt nichts. Stattdessen finde ich, wenn ich mir dieHomepage equalpayday.de anschaue, ein Zitat unsererFrauenministerin – ich zitiere –:Verdienen Sie mehr? Diese Frage kann frau sich ru-hig öfter stellen!Ich persönlich finde, dass dieses Zitat gerade aus demMunde der Ministerin, die daran schuld ist, dass wirheute schon wieder den Equal Pay Day feiern müssen,wirklich eine Unverschämtheit ist.
Dabei gibt es doch zahlreiche Lösungsvorschläge, wieman den Equal Pay Day viel früher im Jahr oder besten-falls gar nicht haben könnte:Erstens. Streiten Sie mit uns doch endlich gegen Hun-gerlöhne, gegen die Armutsfalle Minijobs und gegen Ar-mut trotz Arbeit. Jede Frau und jeder Mann muss füreine Stunde Erwerbsarbeit mindestens 10 Euro bekom-men.
Zweitens. Stellen Sie sich doch endlich an die Seiteder Alleinerziehenden und ihrer Kinder im Land. Wirhaben in Deutschland eine ganz enorm hohe Kinder- undJugendarmutsquote. Das liegt oftmals daran, dass dieMütter in einer sehr prekären Situation leben. Nur einigeVorschläge: Sie könnten ein Programm für gute Arbeitfür Alleinerziehende auflegen. Sie müssen die Kinderbe-treuung modernisieren und ausbauen. Nur so geht dieGleichung „Vereinbarkeit von Familie und Beruf“ auf.Nur so hat jeder Wahlfreiheit.
Drittens. Es fehlt Transparenz. In Norwegen undSchweden gibt es sogenannte öffentliche Verdienstlisten.Dort kann jeder nachlesen, was der Kollege verdient,was der Chef verdient und was der Nachbar verdient.Genau so etwas würde den Frauen in Deutschland wirk-lich helfen, Gehaltsforderungen zu stellen und Gehalts-verhandlungen zu führen. Das würde uns allen inDeutschland gut zu Gesicht stehen.
– Genau. Wie vor allem, was gesetzlich geregelt wird.Von alledem geschieht nichts. Stattdessen glänzen Siemit Initiativen, die für die Frauenbewegung ein richtigerAusfall sind. Das Stichwort Logib-D ist schon gefal-len. Viele kennen es sicherlich nicht. Das ist ein Sam-melsurium von Excel-Tabellen, PDFs und Download-möglichkeiten im Internet. Damit soll Unternehmengeholfen werden, sich mit der Entgeltungleichheit im ei-genen Betrieb auseinanderzusetzen – natürlich, wie im-mer, freiwillig und natürlich, wie immer, völlig erfolgs-frei.Mit solchen freiwilligen Instrumenten beweist dieFrauenministerin, die nicht hier ist, eigentlich nur eines:Ihr fehlt nicht nur der politische Biss. Sie ist frauenpoli-tisch ganz und gar zahnlos.Um auf Frau Schröders Frage, ob Frauen mehr ver-dienen, zu antworten: Natürlich verdienen Frauen mehr– mehr Geld, mehr Anerkennung und mehr Aufstiegs-chancen. Eine Frauenministerin fehlt uns ganz. Wir ha-ben ein Recht auf mehr.Danke schön.
Das Wort hat die Kollegin Monika Lazar von Bünd-
nis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!„Frauen verdienen mehr“ – so heißt der grüne Antrag,den wir heute unter anderem beraten. Es wurde von denVorrednerinnen schon gesagt: Das Thema begleitet unsschon seit Jahren, und seit Jahren ändert sich nichts.In der taz von gestern war zu lesen – ich zitiere –:Lang und ruhig verläuft die Linie, die den Ver-dienstunterschied von Frauen und Männern im Ver-lauf der Jahre anzeigt. 1995 lag sie bei 21 Prozent,1999 taucht sie mal kurz unter 20 Prozent, dann er-höht sie sich auf 23 Prozent – und da bleibt sie bisheute.Nach Angaben der OECD gibt es kein anderes euro-päisches Land, wo das Lohngefälle so groß ist wie inDeutschland. Vollzeitbeschäftigte Frauen verdienen hier-zulande im Schnitt immer noch 21,6 Prozent weniger alsMänner. Die Gehaltsunterschiede nehmen mit dem Alterzu und schwanken in den einzelnen Berufsfeldern sehr.Manche Gründe für dieses Lohngefälle liegen in derBerufs- und Branchenwahl – das wurde vorhin schon an-gesprochen –, aber auch in den ungleich verteilten Ar-beitsplatzanforderungen hinsichtlich Führung und Quali-fikation. Junge Frauen wählen ihre Ausbildung immer
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Monika Lazar
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noch aus einem sehr schmalen Spektrum von sogenann-ten Frauenberufen. Es wäre besser, wenn sie ihre Berufs-möglichkeiten breiter ausschöpften. Wir werden in ei-nem Monat den Girls’ Day haben, an dem unsereBundestagsfraktion junge Frauen empfängt und mit ih-nen diskutiert.Aber es gibt Unterschiede, die nicht erklärbar sind.Laut WSI beträgt der Gehaltsunterschied zum Beispielbei Informatikerinnen und Informatikern 4 Prozent, aberbei Physikerinnen und Physikern 24 Prozent; das ist ein-fach nicht zu verstehen.Über die geschlechtergerechten Besetzungen vonAufsichtsräten und Vorständen haben wir hier schonhäufig gesprochen. Es gibt auch gute Vorschläge der Op-position hierzu. Auch wir Grüne haben Anträge und Ge-setzentwürfe eingebracht. Der Aufstieg in Führungsposi-tionen ist für Frauen immer noch viel zu schwierig. Esmacht mich wütend, dass Frauen in Führungsetagen– das hat das DIW kürzlich veröffentlicht – durch-schnittlich 1 000 Euro brutto weniger als Männer verdie-nen. Ich finde, das ist ein furchtbarer Skandal.
Komplizierter wird es, wenn wir uns die unmittelbareDiskriminierung anschauen. Da besteht ein Unterschiedvon immer noch 8 Prozent. Das darf es in einem moder-nen Land wirklich nicht geben.Wir Grüne haben vor zwei Wochen hier unseren An-trag zum Thema Entgeltgleichheit eingebracht. Wir for-dern ein Entgeltgleichheitsgesetz. Die Tarifverträgemüssen dahin gehend überprüft werden, ob sie diskrimi-nierende Passagen enthalten. Wir wollen, dass mit einemanalytischen Bewertungssystem geprüft wird, weil dassummarische Verfahren, das das Ministerium vorschlägt,nicht ausreicht.Wir wollen, dass die entsprechenden Kompetenzenbei der Antidiskriminierungsstelle angesiedelt sind. FrauLüders hat soeben auf der Veranstaltung am Brandenbur-ger Tor gesagt, dass sie diese Aufgaben gern überneh-men will. Das ist wichtig. Diese Stelle muss natürlichauch personell und finanziell besser ausgestattet werden.Die Koalition hingegen nimmt der Antidiskriminie-rungsstelle Geld weg.
Wir brauchen endlich ein Verbandsklagerecht für An-tidiskriminierungsverbände, Gewerkschaften, Betriebs-und Personalräte und Mitarbeitervertretungen. Weiterhinmüssen ein gesetzlicher Mindestlohn und mehr bran-chen- und regionalspezifische Mindestlöhne eingeführtwerden.Ich verstehe die Gleichstellung von Frauen und Män-nern als eine zentrale Gerechtigkeitsfrage. GleicheChancen und Rechte auf dem Arbeitsmarkt gehörendazu. Wir haben in den letzten Wochen sehr viel zumThema Gleichstellung diskutiert. Wir kommen geradevon der Kundgebung des DGB und des Deutschen Frau-enrats am Brandenburger Tor. Es waren fast alle Fraktio-nen vertreten. Die FDP hat gefehlt. Ich frage mich, wa-rum Sie zwei Straßenecken weiter stehen, allein imSchatten,
und warum Sie sich nicht unserer Kundgebung ange-schlossen haben. Selbst die Frauenunion war da und hateine Rednerin gestellt.
Wir haben dort mitbekommen, dass die Einschätzun-gen im Grunde genommen gleich sind. Ich frage michallerdings, warum die Konsequenzen immer noch nichtgezogen werden. Wir von der Opposition machen Vor-schläge. Wir vermissen aber immer noch die Vorschlägeder Koalition und der Bundesregierung. Sie können sichgerne an unseren Vorschlägen bedienen, aber – darinsind wir uns alle einig – wir wollen nicht noch Jahreoder Jahrzehnte diskutieren. Deshalb meine Aufforde-rung: Tun Sie endlich etwas, damit Entgeltgleichheit indiesem Land endlich umgesetzt wird!
Jetzt hat die Kollegin Katharina Landgraf von der
CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Am heuti-gen Tag der gleichen Entlohnung, Equal Pay Day, wirdviel über die Ursachen des Lohnabstandes zwischenMännern und Frauen gesprochen; das haben bereitsmeine Vorredner ausführlich dargelegt.
– Vorrednerinnen, Sie haben recht. –Die Anträge, über die wir heute debattieren, sind aberbereits über ein Jahr alt: Der von der SPD stammt vonMärz 2011 und der von den Grünen von Februar 2011.Dabei ist doch inzwischen, wie ich bei meiner Vorberei-tung festgestellt habe, einiges passiert.
Wir versuchen nämlich zusammen mit den Akteuren ausder Wirtschaft, die Ursachen der Entgeltungleichheit mitkonkreten Maßnahmen zu bekämpfen.
– Es ist ein Anfang. – Durch Verbesserung der Rahmen-bedingungen wollen wir die Karrierechancen von Frauenund die Vereinbarkeit von Familie und Beruf fördern.Ich möchte hier nur kurz die Initiative für familienbe-
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wusste Arbeitszeiten, das Programm „Perspektive Wie-dereinstieg“, den Girls’ Day, die MINT-Initiativen, denstetigen Ausbau der Kinderbetreuung und die Partner-monate beim Elterngeld erwähnen.
Das alles wird dazu beitragen, das Berufswahlverfahrenzu beeinflussen und Erwerbsunterbrechungen zu ver-mindern.
Das sind nämlich zwei Hauptursachen – das haben Sieselbst angeführt, Frau Marks – für den Gehaltsunter-schied zwischen Männern und Frauen.Gerade bei der Berufswahl stehen den Frauen dochjetzt alle Wege offen. Die typischen Frauenberufe wieKrankenschwester und Altenpflegerin möchte ich ein-mal bewusst ausklammern. Wir dürfen nämlich nichtdulden, dass der Dienst am Menschen schlechter bezahltwird als der Dienst an Maschinen.
Ich meine vielmehr andere Berufsfelder wie das Finanz-wesen. Dort wählen Frauen zum Beispiel noch immerüberwiegend den Beruf der Buchhalterin, der nur halb sogut bezahlt wird wie der des kaufmännischen Leiters.Hier ist offensichtlich noch Aufklärungsarbeit zu leisten.
Ein weiterer Teil der Gesamtstrategie ist die schon er-wähnte Einführung von Logib-D, „Lohngleichheit imBetrieb – Deutschland“. Die Teilnahme ist freiwillig undkostenlos. Daher würde es mich freuen, wenn noch mehrUnternehmen als bisher ihre Lohnstruktur überprüfenwürden.
In diesem Zusammenhang müssen wir uns überlegen, obsich vielleicht nicht auch der öffentliche Dienst einersolchen Überprüfung stellen sollte.
Denn auch dort kann von einer gleichen Bezahlung vonMännern und Frauen nicht die Rede sein. Beamtinnenund Richterinnen verdienen rund 20 Prozent weniger alsihre Kollegen. Besonders krass sind die Unterschiede immittleren und im höheren Dienst. Häufig dient der Hin-weis auf die hohe Teilzeitquote der Frauen zur Erklä-rung. Das Argument zieht aber nicht; denn auch vollzeit-beschäftigte Frauen erhalten im Schnitt erheblichweniger Besoldung als Männer.
Das liegt daran, dass Frauen in Leitungspositionen nied-riger eingruppiert werden als ihre Kollegen. Auch das istein unhaltbarer Zustand.
– Da sind wir uns einig.Anstoß zum Wandel könnte ein Gleichstellungsindexgeben. Das ist ein Ranking, durch das ermittelt wird,welche Behörde die geringste Lohnlücke zwischen Män-nern und Frauen aufweist. Für die Behörden, die die obe-ren Plätze einnehmen, ist es eine vortreffliche Werbung,und für die Behörden, die die unteren Plätze einnehmen,wäre es sicherlich ein großer Anreiz, sich an die Spitzezu arbeiten. Gewinner sind, auf längere Sicht gesehen,auf jeden Fall die Frauen.So groß die Gehaltslücke zwischen Männern undFrauen auch ist: Es gibt Licht am Ende des Tunnels. Seit2008 ist die Lohnkluft von 28 Prozent auf 23 Prozent ge-fallen. Das ist nicht viel, aber wenigstens etwas. Gleich-zeitig ist der Verdienst der Frauen in dieser Zeit um rund400 Euro gestiegen, während die Männer durchschnitt-lich nur rund 60 Euro mehr verdienen. Die Lückeschließt sich also langsam, aber stetig.
Dennoch bleibt ein erhebliches Verdienstgefälle zwi-schen Frauen und Männern bestehen.Allerdings muss man auch sagen, dass sich Fraueneher mit ihrer Lage abfinden
und offensichtlich mehr Angst vor Veränderungen ha-ben. So wechseln zum Beispiel Männer erheblich öfterden Arbeitsplatz, um durch eine berufliche VeränderungAussicht auf ein besseres Gehalt zu bekommen. Ein Lö-sungsansatz wäre, am Selbstvertrauen und Verhand-lungsgeschick der Frauen zu arbeiten. Daran mangelt esden meisten Frauen gewaltig. Das ist auch ein Problemder jüngeren.
– Das ist nicht blöd.Ich möchte ein Zitat von Frau Marie von Ebner-Eschenbach anführen:Wenn es einen Glauben gibt, der Berge versetzenkann, so ist es der Glaube an die eigene Kraft.Das sollten sich die Frauen wirklich hinter den Spiegelklemmen.
– Das heißt nicht, sie sind selbst daran schuld, sondern:Wir alle sollten ihnen helfen, Selbstvertrauen zu finden.Eine aktuelle Umfrage unter Studenten hat ergeben,dass die besten Studentinnen im Vergleich zu den nurdurchschnittlichen männlichen Studenten quer durch alle
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Katharina Landgraf
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Studienfächer geringere Gehaltserwartungen zum Be-rufseinstieg haben.
Das ist eine verzerrte Wahrnehmung der eigenen Fähig-keiten. Man kann es als „typisch weiblich“ bezeichnen.So sind Frauen, im Gegensatz zu Männern, dafür be-kannt, das eigene Licht eher unter den Scheffel zu stel-len, als mit ihren guten Leistungen hausieren zu gehen.Wer beim Gehaltspoker allerdings zu wenig fordert, ver-kauft sich unter Wert, und das hinterlässt beim zukünfti-gen Arbeitgeber keinen guten Eindruck.
Machen wir also die Frauen stark und selbstbewusst,und jammern wir nicht herum. Das sollte auch im Inte-resse der Arbeitgeber liegen; denn die Wirtschaft benö-tigt, wie wir alle wissen, dringend gut ausgebildeteFrauen. Demzufolge suchen künftige Arbeitgeber bereitsan den Unis nach den besten Nachwuchskräften.
Auf Bewerbungsmessen sollten verstärkt Coachingsfür Frauen angeboten werden, in denen die eigene Posi-tion für künftige Gehaltsverhandlungen gestärkt werdenkann. Eine Unterstützung von Frauen bei individuellenLohnverhandlungen über Mentoring-Programme, Frauen-lohnspiegel und anderes wird vom Familienministeriumbereits koordiniert.Aber auch bei Tarifverhandlungen der Gewerkschaf-ten müssen Frauen intensiver mitwirken. Ich erinneredaran, dass unser neuer Bundespräsident Gauck heuteauch auf die Gewerkschaften hingewiesen hat. Frauensollten sich hier aktiver als bisher einbringen.
Ich bin überzeugt: Das ist der richtige Weg. Selbstbe-wusste und geschickt verhandelnde Frauen lassen sichnicht mit einem Gehalt abspeisen, das geringer ist alsdas, das ihre männlichen Konkurrenten schon lange be-kommen – und genau das ist es, was ihnen zusteht. Dassollte eine Selbstverständlichkeit sein. Leider ist es nochnicht so weit. Arbeiten wir daran, dass es in unseremLand selbstverständlich wird!Vielen Dank.
Das Wort hat jetzt die Kollegin Christel Humme von
der SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kollegen! Liebe Kolleginnen!Frau Schön, Ihrem roten Täschchen möchte ich gerne et-was entgegenhalten: Ich zeige Ihnen hier eine Lohntüte,in der mehr drin ist. Die Frauen fordern 23 Prozent mehrLohn. Das bringen wir nur – davon sind wir Sozialdemo-kratinnen und Sozialdemokraten überzeugt – mit einergesetzlichen Regelung zustande. Darum haben wir die-sen Antrag gestellt.
Liebe Kollegen, 101 – 23 – 59,6: Wenn das die Maßeeines Topmodels wären, würden Sie sicher etwas ge-nauer hinsehen. Aber leider sind das die nüchternen Zah-len zur Situation von Frauen auf dem Arbeitsmarkt. Seit101 Jahren, Frau Bracht-Bendt –
– Sie erinnern sich, wunderbar –, seit dem ersten Interna-tionalen Frauentag, gibt es die Forderung „GleicherLohn für gleiche Arbeit“. So viel zu Ihrer Überzeugung,das alles gehe freiwillig.Wir haben heute gehört, dass die Lohnlücke 23 Pro-zent beträgt. Sie stagniert seit 15 Jahren auf dieserEbene. Was viel schlimmer ist: Seit fünf Jahren gibt es inWestdeutschland eine Lohnlücke in Höhe von 25 Pro-zent. Das zeigt ganz deutlich, dass die Freiwilligkeitüberhaupt nicht greift.Frau Schön, wenn Sie sagen, die Diskriminierung be-stehe in einer Entgeltlücke zwischen Frauen und Män-nern von 8 Prozent, so stimme ich Ihnen zu. Aber auchin den übrigen Bereichen, in den Strukturen, findet Dis-kriminierung statt.
Darum darf man an dieser Stelle nichts, aber auch garnichts beschönigen, Frau Schön.
Die Rentenlücke beträgt – das haben einige schon ge-sagt – 59,6 Prozent. Das heißt, Frauen erhalten schonheute etwa 60 Prozent, also fast zwei Drittel, wenigerRente als die Männer. Lohndiskriminierung ist für vieleFrauen ein direkter Weg in die Altersarmut. Wollen Siedas noch länger hinnehmen? Ich sage Ihnen: Wir wollenes nicht! Wir wollen eine gesetzliche Regelung. DieseRegelung ist uns in diesem Moment viel zu wichtig.
Wir haben dazu beim letzten Equal Pay Day vor ei-nem Jahr einen Antrag vorgelegt. Dieser Antrag ist mitt-lerweile im Ausschuss diskutiert worden. Die Regie-rungsfraktionen haben ihn dort abgelehnt. Gleichzeitighaben Sie ein Geheimnis daraus gemacht, wie Sie dieLohnungerechtigkeit konkret beseitigen wollen; das ha-ben Sie auch im Ausschuss in keiner Weise offengelegt.Frau Landgraf, glauben Sie denn wirklich, dass esreicht – genau so äußern sich immer Frau Schröder unddie Kanzlerin Merkel –, den Frauen zu sagen: „Seid mu-tiger, geht zum Chef und fordert mehr Lohn!“?
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 170. Sitzung. Berlin, Freitag, den 23. März 2012 20139
Christel Humme
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Was ist denn das für eine Forderung? Das reicht meinerAnsicht nach überhaupt nicht.
Frau Schön, glauben Sie denn wirklich, dass es aus-reicht, darauf zu hoffen, dass die Unternehmen dasLohnanalyseverfahren Logib-D, das das Ministeriumüber das Internet zur Verfügung stellt, herunterladen undanwenden? Frau Landgraf, Sie haben gesagt, auch deröffentliche Dienst sei wichtig. Fangen wir doch einmalan, Herr Kues. Schöne Grüße an die Frau Ministerin, dieheute nicht da ist!
Fangen wir endlich an. Wenden Sie das Lohnanalysever-fahren selber einmal in Ihrem Ministerium an und prüfenSie, ob Sie diskriminierend oder nicht diskriminierendentlohnen. Das wäre doch ein gutes Vorbild, oder etwanicht?
Nur auf Freiwilligkeit zu setzen, nützt nichts.Glauben Sie wirklich, dass es reicht, zu fordern:„Mehr Männer in die Kitas“? Glauben Sie wirklich,dann ändere sich plötzlich das Berufswahlverhalten vonMännern und Frauen? Sie vernachlässigen dabei völligdie Lohnstruktur. Ich glaube, das Prinzip Hoffnung wirdüberhaupt nicht funktionieren.Weil wir eben nicht auf das Prinzip Hoffnung setzen,sondern auf Tatsachen und auf Veränderungen, sind wirder festen Überzeugung: Es geht nicht anders. Wir brau-chen gesetzliche Regelungen.
Darum haben wir diesen Antrag gestellt. Ich sage Ihnen:Wir werden Ihnen auch ein Gesetz vorlegen.
Bei der Veranstaltung zum Equal Pay Day am Bran-denburger Tor, wo viele von uns waren – Sie von derFDP waren leider überhaupt nicht anwesend,
die CDU/CSU war nur mit wenigen Personen vertre-ten –, haben wir viel Rückenwind für unsere Forderungbekommen. Alle Redner – bis auf eine Rednerin von derCDU – haben genau das gefordert: eine gesetzliche Re-gelung.Wir haben mittlerweile auch Rückenwind aus denLändern. Baden-Württemberg wird in der nächsten Wo-che im Bundesrat eine Initiative zu einem Entgeltgleich-heitsgesetz einbringen. Wir haben sogar Rückenwindaus Hessen – man glaubt es nicht –, und zwar von derCDU. Dort hat sich das Sozialministerium auf den Weggemacht und bringt in die nächste Gleichstellungs- undFrauenministerkonferenz den Antrag ein, den Entwurfeines Gesetzes zur Schaffung von Entgeltgleichheit zuberaten.Last, but not least möchte ich sagen: Ich habe michüber einen ganz bestimmten Rückenwind besonders ge-freut, nämlich über den aus Europa vom letzten Diens-tag.
– Wahrscheinlich unterhalten sich die Männer da hintengerade über Topmodelmaße;
sie hören zumindest nicht zu. – 72 Prozent der Abgeord-neten im Europäischen Parlament haben gesetzliche Re-gelungen gefordert, und zwar nicht nur im Hinblick aufdie Quote, sondern auch auf die Beseitigung der Lohn-ungleichheit.
Kommen Sie bitte zum Schluss.
Ja. – Ich sage zur FDP: Von den deutschen FDP-Ab-
geordneten im Europäischen Parlament, zwölf an der
Zahl,
haben acht zugestimmt, zwei haben sich enthalten, und
nur zwei waren dagegen. Ich rate Ihnen von der FDP:
Tauschen Sie sich doch einmal mit Ihren europäischen
Kollegen ein bisschen aus. Dann kommen Sie auch hier
in unserem Parlament zu den richtigen Schlüssen.
Frau Kollegin, bitte. Sie haben Ihre Zeit weit überzo-
gen.
Ich komme zum Schluss. – Sie, die Regierung, habensich heute mit Ihrer Nichtpolitik zur Schaffung vonGleichstellung völlig isoliert.
Ich sage Ihnen: Wir werden Ihnen ein Gesetz präsentie-ren.Danke schön.
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Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat
nun der Kollege Jörg von Polheim für die FDP-Fraktion
das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrtenDamen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Vor wenigen Stunden hat an selber Stelle der neue Bun-despräsident Dr. Gauck darauf hingewiesen, dass Frei-heit immer wieder neu erkämpft und entdeckt werdenmuss. Heute möchte ich mich hier als typischer Mittel-ständler für die Freiheit von staatlicher Gängelung unddie Förderung der unternehmerischen Handlungsfreiheiteinsetzen.
– Sie haben eine sehr einseitige Sichtweise.
– Doch!
Als Rückgrat unserer Gesellschaft muss der Mittel-stand in seiner Wettbewerbsfähigkeit gestärkt und darf ernicht durch komplizierte und überflüssige Regeln belas-tet werden.
Der Antrag der SPD zur Durchsetzung eines Entgelt-gleichheitsgesetzes widerspricht dem Gedanken derFreiheit grundlegend.
– Ich möchte Ihnen einmal sagen: Nicht wer am lautes-ten brüllt, hat am meisten recht.
Die Forderung der SPD nach Erstellung von betriebli-chen Entgeltberichten und der Einrichtung einer zentra-len behördlichen Prüfungsstelle löst das Problem derfaktischen Diskriminierung von Frauen nicht. Im Gegen-teil: Es wird nur verlagert, nämlich weg von einer kon-struktiven gesellschaftspolitischen Debatte über die Auf-sprengung traditioneller Rollenbilder hin zur staatlichenReglementierung und zu gesetzlichen Zwangsmaßnah-men.
Man erhöht mit dieser Regelung nur das Frustpotenzialim Zusammenhang mit staatlich verordneter Bürokratie.Wir Liberalen lehnen diese staatliche Bevormundung ab.Wir treten für Chancengleichheit und für transparenteGehaltsstrukturen bei Männern und Frauen ein, für wel-che die Qualifikation entscheidend ist. Es mangelt auchnicht an einer Rechtsgrundlage zur Entgeltgleichheit.Denn das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz legt be-reits eindeutig und umfassend fest, dass für gleiche Ar-beit gleicher Lohn zu zahlen ist. Woran es mangelt, istdie Umsetzung dieser gesetzlichen Regelung.
– Das Ausredenlassen fällt aber schwer. – Hierzu habenwir Liberale schon verschiedene Vorschläge gemacht. Sofordern wir unter anderem flexible Teilzeitmodelle, diefür Frauen und Männer gleichermaßen attraktiv sind.Damit könnte die Entgeltungleichheit zwischen den Ge-schlechtern endlich beseitigt werden. Gerade auch inFührungs- und Leitungspositionen sind diese Arbeits-zeitmodelle wichtig, um mehr Wahlfreiheit im Hinblickauf die Vereinbarkeit von Familie und Beruf bzw. Pflegeund Beruf zu ermöglichen.Der aktuelle Familienbericht des Bundesfamilienmi-nisteriums greift diese Problematik auf und verweist aufein neues Politikfeld, nämlich die Zeitpolitik. Deren Zielist es, eine stärkere Angleichung der durchschnittlichenwöchentlichen Arbeitszeit und der Lebensarbeitszeit vonFrauen und Männern zu erreichen. Dies kann zum Bei-spiel durch stärkere Inanspruchnahme der Elternzeitdurch Väter geschehen. Die Partnermonate des Eltern-geldes sind ein besonders wichtiger Baustein der Politikder christlich-liberalen Koalition zur Überwindung derEntgeltungleichheit.
Zudem haben wir mit dem Aktionsprogramm „Per-spektive Wiedereinstieg“ die Ein- und Aufstiegschancenvon Frauen nach einer familienbedingten Erwerbsunter-brechung deutlich verbessert.
Die Gleichstellung von Frauen und Männern in derArbeitswelt voranzutreiben, ist ein wichtiges Ziel. Wirhaben sehr wohl erkannt, dass die Erwerbstätigkeit derFrauen seit Jahren kontinuierlich zunimmt. Doch einetatsächliche Gleichstellung von Frauen in der Arbeits-welt ist noch nicht erreicht; das wissen wir. Dabei wirddeutlich, dass die faktische Gleichstellung und dieSchaffung von Chancengleichheit für Frauen und Män-ner Aufgabe aller verantwortlichen gesellschaftlichenAkteure ist, nicht allein die der Politik.Ich begrüße daher den Vorschlag, lokale Kooperatio-nen von kleinen und mittelständischen Unternehmen zufördern, um gemeinsame überbetriebliche Betreuungs-möglichkeiten für Kinder einzurichten.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 170. Sitzung. Berlin, Freitag, den 23. März 2012 20141
Jörg von Polheim
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Damit können wir unbürokratisch und ohne staatlichenZwang eine verbesserte Vereinbarkeit von Beruf und Fa-milie ermöglichen und vermeiden so die von Ihnen, vonder SPD, geforderten staatlichen Zwangsmaßnahmen.
Entgeltgleichheit ist kein rechtliches Problem, sonderneines der Nutzung der vorhandenen Möglichkeiten.Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit und wün-sche allen ein schönes Wochenende.
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss-
empfehlung des Ausschusses für Familie, Senioren,
Frauen und Jugend zu dem Antrag der Fraktion der SPD
mit dem Titel „Entgeltgleichheit zwischen Männern und
Frauen gesetzlich durchsetzen“. Der Ausschuss emp-
fiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 17/5821, den Antrag der Fraktion der SPD
auf Drucksache 17/5038 abzulehnen. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? –
Wer enthält sich? – Die Beschlussempfehlung ist mit den
Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen
von SPD und Grünen bei Enthaltung der Linken ange-
nommen.
Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss die Ab-
lehnung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grü-
nen auf Drucksache 17/4852 mit dem Titel „Frauen ver-
dienen mehr – Gleichstellung ist Innovationspolitik“.
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Gegen-
stimmen? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung
ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die
Stimmen der Grünen bei Enthaltung von SPD und Lin-
ken angenommen.
Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tages-
ordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun-
destages auf Mittwoch, den 28. März 2012, 13 Uhr, ein.
Die Sitzung ist geschlossen.