Gesamtes Protokol
Die Sitzung ist eröffnet.
Meine Damen und Herren, die heutige Tagesordnung wird gemäß § 39 unserer Geschäftsordnung um den Zusatzpunkt
Einspruch des Abgeordneten Norbert Mann gegen die am 20. März 1986 erteilten Ordnungsrufe
erweitert.
Der Einspruch liegt Ihnen vor. Über diesen Einspruch entscheidet der Bundestag gemäß § 39 unserer Geschäftsordnung ohne Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung. Wer dem Einspruch des Abgeordneten Mann stattgeben möchte, den bitte ich um das Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Der Einspruch ist zurückgewiesen.
Ich rufe Zusatzpunkt 1 der Tagesordnung auf: Aktuelle Stunde
Haltung der Bundesregierung zur Kostenentwicklung im Gesundheitswesen
Die Fraktion der SPD hat gemäß Nr. 1 c der Anlage 5 unserer Geschäftsordnung eine Aktuelle Stunde zu dem genannten Thema verlangt.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Herr Abgeordnete Urbaniak.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Als der Bundeskanzler während seiner Intervention anläßlich der gestrigen Debatte um die Verabschiedung des § 116 die Rekordleistungen seiner Regierung abfeierte, hat er einen besonders traurigen Rekord unterschlagen, der wie viele andere traurige Rekorde dieser Regierung auf das Konto des Bundesarbeitsministers Blüm geht: Die Krankenversicherungsbeiträge in der Bundesrepublik Deutschland haben einen absoluten Höchststand erreicht. Die gesundheitspolitische Untätigkeit dieser Bundesregierung hat dazu geführt, daß die gesetzlichen Krankenkassen in den vergangenen zwei Jahren Rekorddefizite zu verzeichnen hatten, 1984 ein Defizit von 3 Milliarden DM, 1985 einDefizit von 2,5 Milliarden DM. Dies ist ein gesundheitspolitisches Trauerspiel.
Die Koalition hat die finanziellen Wohltaten, die ihre eigentümliche Steuerreform ab 1. Januar 1986 für die Arbeitnehmer mit sich bringen soll, lauthals gepriesen. Für die Sozialdemokraten stelle ich fest, daß die überfälligen steuerlichen Entlastungen, die sie den Arbeitnehmern zum 1. Januar 1986 gewährt hat, von den höheren Krankenversicherungsbeiträgen, die Sie, meine Damen und Herren, durch Ihre politische Untätigkeit verursacht haben,
weitestgehend aufgezehrt sind.
Seit Ihrem Regierungsantritt haben Sie zugelassen, daß die Leistungserbringer im Gesundheitswesen, vor allen Dingen die Pharmaindustrie und die Zahnärzte, die Kassen der gesetzlichen Krankenversicherung hemmungslos geplündert haben. Aber nicht nur das, Sie haben die Versicherten auch mit ständig steigenden Gebühren und Abgaben im Gesundheitswesen belegt; ich erinnere an die höhere Rezeptgebühr bei Arzneimitteln, und ich erinnere an die Einführung der Selbstbeteiligung beim Krankenhausaufenthalt, also bei der stationären Behandlung, wobei über 50 % dessen, was Sie einnehmen, durch Verwaltungskosten aufgezehrt werden. Es ist doch ein Unsinn, den Sie da betrieben haben!
Sie haben nichts getan, was es den Krankenkassen ermöglichte, die Interessen der Beitragszahler gegenüber den Interessen der Leistungserbringer im Gesundheitswesen besser zur Geltung zu bringen. Im Gegenteil, Sie haben diesem Chor der Unersättlichen freien Lauf gelassen. Ihre Politik besteht darin, immer die Schwächeren zu treffen und die Stärkeren zu begünstigen.
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15948 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 208. Sitzung. Bonn, Freitag, den 21. März 1986
UrbaniakAnstatt Ihre Pflicht zu tun und den Krankenkassen geeignete gesetzliche Instrumente an die Hand zu geben, damit sie kostendämpfend gegenüber den Erbringern von Gesundheitsleistungen tätig werden können, haben Sie fortwährend nur appelliert, meine Damen und Herren. Das Ergebnis dieser Politik des Nichtstuns liegt auf der Hand. Die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer müssen mit ihren Beitragsgroschen geradezu atemberaubende Gewinne und Einkünfte der Pharmaindustrie, der Ärzte und der Zahnärzte finanzieren. 276 000 DM ist das durchschnittliche Jahreseinkommen vor Steuern — d. h. nach Abzug aller sonstigen Unkosten — eines Zahnarztes, fast 180 000 DM Jahreseinkommen vor Steuern hat in dieser Republik ein Arzt — und dies alles aus den Beitragsgroschen der kleinen Leute.Wir stellen uns dieser Entwicklung entgegen, meine Damen und Herren, und wir sagen auch: die FDP hat ihr Ziel für diese Klientel voll erreicht. Sie beugen sich dieser Politik, verlassen die Solidarität
und treffen nur die Kleinen. Wir werden Sie für diese Dinge in die Verantwortung nehmen.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Becker.
Herr Präsident! Meine Kolleginnen und Kollegen! Nach dieser Schimpfkanonade und Belastungsverteilung wieder zu den Tatsachen zurück. Die Kostenentwicklung im Gesundheitswesen gibt nicht erst seit 1985, sondern bereits seit anderthalb Jahrzehnten Anlaß zur Besorgnis. Auch 1985 gab es in den Bereichen Krankenhaus, Arznei-, Heil- und Hilfsmittel stärkere Zuwachsmengen. Die Zahnärzte lagen deutlich darunter.So entstand in der gesetzlichen Krankenversicherung ein Defizit von 2,4 Milliarden DM. Ein Drittel aller Krankenkassen mußte daher zum 1. Januar ihre Beitragssätze anheben. Wir haben jetzt einen Durchschnittssatz von 12,15%;
er lag damit nur um ein Geringes höher als 1982 bei unserer Regierungsübernahme. Dazwischen waren aber fast drei Jahre lang Beitragssatzsenkungen möglich, während Ihrer Zeit nie.
Wie nicht anders zu erwarten, mahnt die SPD auch heute gesetzliche Maßnahmen, Kostendämpfungsgesetze usw. an. Dabei vergißt sie, daß ihre eigenen Erfahrungen damit mehr als dürftig waren.
Denn trotz dieser staatlichen Eingriffe wurden damals immer weitere Beitragssatzsteigerungen notwendig. 1976 lag der Durchschnittssatz bei 11,28 %, 1978 bei 11,38 % und 1982 bei 12,0 %.Die alten Hüte, meine Damen und Herren, bringen uns nicht weiter. Es ist eine alte Erfahrung: Wenn es einem sonst gutgeht, dann wird am lautesten gemeckert. Bundesregierung und Koalitionsparteien haben im vergangenen Jahr nicht den Weg des staatlichen Eingriffs gewählt, sondern den Weg der stärkeren Aktivierung der Selbstverwaltung, um über Vereinbarungen zwischen den Partnern zu einer Stabilisierung zu kommen. Naturgemäß wirken solche Vereinbarungen aber erst mit Verzögerung, bis sie in den unteren Ebenen umgesetzt sind. Auf diesem Wege der Vereinbarungen, frei von Dirigismus, von Staatseingriffen, ist jetzt in dieser Konzertierten Aktion im Frühjahr der Selbstverwaltung und der Bundesregierung ein großer Erfolg gelungen. Bundesarbeitsminister Dr. Norbert Blüm kann sich diesen voll anrechnen.
Mit diesem Erfolg ergibt sich die Chance, die Beitragssätze stabil zu halten und die Defizite aus dem Vorjahr abzubauen. Die Ärzte haben mit den Krankenkassen eine Regelung getroffen, nach der die Honorarzuwächse für zwei Jahre — wohlgemerkt: nicht für ein Jahr, sondern für zwei Jahre — nur im Rahmen der Grundlohnsummenzuwächse steigen können. Dabei geht das Risiko der Mengenausweitung wie vermehrte Krankheitsbelastung oder Ärzteschwemme voll zu Lasten der Ärzte.
Das zeigt, was Freiwilligkeit und Verantwortung gegenüber dem Ganzen zustande bringen können. Bei den Zahnärzten war vor kurzem kaum damit zu rechnen, daß überhaupt eine Vereinbarung zustande kommen würde.
Trotzdem gelang es den Partnern, den Honorarzuwachs auch für die nächsten zwei Jahre jeweils auf — hören Sie zu — 1,66 %, also deutlich unter dem Zuwachs der Grundlohnsumme, festzuschreiben.
Am wichtigsten aber ist der Erfolg bei den Krankenhausvereinbarungen zu werten. In diesem kostenträchtigsten Teil der gesetzlichen Krankenversicherung gelang erstmals, Frau Fuchs, eine quantifizierte Festlegung auf einen Zuwachs von 3,25 %. Im Laufe dieses Jahres wird die neue Bundespflegesatzverordnung für eine weitere Verbesserung der Kostenlage sorgen. Hier haben auch die Länder mitgemacht. Einen Erfolg dieser Art hätten Sie früher mit großem Jubelschrei verkündet.Hier ist zu sagen: Wir danken heute allen Beteiligten bei dieser Konzertierten Aktion für ihre Mitwirkung bei diesem Ergebnis, das letzten Endes auch den Versicherten und den Arbeitgebern zugute kommt. Das Ergebnis dieser Konzertierten Aktion gibt uns den Optimismus, genügend Zeit in den kommenden zwei Jahren für die gründliche Vorbe-
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 208. Sitzung. Bonn, Freitag, den 21. März 1986 15949
Dr. Becker
reitung der notwendigen Strukturreform im Gesundheitswesen zu haben.Schönen Dank und frohe Ostern!
Das Wort hat die Frau Abgeordnete Wagner.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Alle sind zufrieden nach dem Treffen der Konzertierten Aktion im Gesundheitswesen.
So war es zumindest in den Fachzeitschriften zu lesen.Im Gegensatz zu dem letzten Treffen im Herbst, als Herr Blüm von den Zahnärzten durch ihren Streik um ihre ansehnlichen Einkommen bedrängt wurde, scheint in diesem Jahr Harmonie angesagt zu sein. Ja, Ärzte, Zahnärzte, Krankenhäuser und Pharmaindustrie haben sich schon vor der Konzertierten Aktion geeinigt. So konnte man es jedenfalls auch in der „Ärztezeitschrift" lesen. Die Vertragspartner üben sich derzeit in der Abfassung von bundesweiten Empfehlungen, die, wie die Pharmapreise und die verordneten Pharmamengen gezeigt, haben, dann doch nicht eingehalten werden. Na j a, dann folgt eben eine neue Empfehlung, daß die Preiserhöhungen rückgängig gemacht werden sollen. — Wir haben also nun einen Korb voller Empfehlungen. Aber mehr kann und darf dieses gesetzlich verordnete Schauspiel Konzertierte Aktion auch gar nicht. Wir können dieses Gremium also beruhigt wieder verlassen, zumal es auch nur die Logik der einnahmenorientierten Ausgabenpolitik der Krankenkassen folgt.Gesundheitspolitik wird hier in bornierter Weise mit dem Feilschen um Prozentsätze, d. h. der Steigerung der Grundlohnsumme, gleichgesetzt. Es geht schlichtweg um die Steigerung der Einkommen der Anbieterseite im Gesundheitswesen.
Geschickterweise wird dabei nicht von dem Niveau der Einkommen der Anbieter ausgegangen. So werden Äpfel mit Birnen verglichen. Und dies geschieht, obwohl doch jeder weiß, daß die Einkommen der Lohnabhängigen im Durchschnitt um einiges unter denen der Zahnärzte liegen. Ich rede hier, wohlgemerkt, von Durchschnitten und nicht von dem Spitzeneinkommen eines Laborarztes und auch nicht von der Situation junger Ärzte, die durch Zulassungssperren und Stellenkürzungen im Krankenhausbereich in die Arbeitslosigkeit getrieben werden.Die Frage der Kosten im Gesundheitswesen wird nur unter dem Gesichtspunkt der Kostensteigerungen betrachtet. Gesundheitspolitik ist das, was bislang als solche verkauft wurde, nicht. Es ist Verteilungspolitik, es sei denn, daß man Konzeptionslosigkeit als Gesundheitspolitik darstellen wollte.
Es geht um die Verteilung des KrankenkassenKuchens, ohne ihn weiter zu hinterfragen. Dabei spielt dann noch das Interesse der Wirtschaft an möglichst stabilen Beitragssätzen der gesetzlichen Krankenkassen eine Rolle. Dies kollidiert natürlich mit den Geschäftsinteressen der Anbieterseite im Gesundheitswesen, also der Ärzte, der Pharmaindustrie, der Medizingerätehersteller usw.
Diese Kollision kann nur zuungunsten der Patienten und Beitragszahler ausgehen.Aber auch hier hat Herr Blüm schon die magische Formel in der Hand: die Selbstbeteiligung. Unter dem Deckmantel der steigenden Lohnnebenkosten wird weiter umverteilt und werden weiter Nebelkerzen geworfen.Uns sind die Inhalte und die Art und Weise des Krankenversorgungssystems wichtig. Diese müssen in der bestehenden Form in Frage gestellt werden. Doch auch die SPD stellt diese Aktuelle Stunde nur unter das Motto der Kostenfrage.
Ich frage Sie: Wo geht es Ihnen denn um die Qualität ärztlicher Leistungen, um Patientenrechte, um Patientenschutz, um Beschwerdestellen, um die Qualifizierung der Ärzte in den Krankenhäusern und um das Aufbrechen des ärztlichen Behandlungsmonopols, das die zentrale Stellung der Ärzte zementiert? Und weiter: Wo geht es Ihnen denn um eine strukturverändernde Planung des Angebots durch die Versicherten selber?Erst kürzlich wurde von der SPD ihr eigener Gesetzentwurf zur Planung der medizinischen Großgeräte im ambulanten und stationären Bereich wieder zurückgezogen, mit dem Hinweis, die Krankenkassen regelten das schon zusammen mit den Ärzten.
Damit betreiben Sie einfache Krankenkassenpolitik. Das ist auch nicht sehr viel. Welche Selbstverwaltungsregelung dann dabei herauskommt, haben wir in den letzten Jahren doch ausreichend vorgeführt bekommen.Wir fordern eine breite Diskussion um die Inhalte der Gesundheitspolitik und des Krankenversorgungssystems sowie die Struktur der gesetzlichen Krankenkassen. Dann nämlich wird deutlich — und dies hat unsere Anhörung mit kritischen Wissenschaftlern in Selbsthilfegruppen deutlich gemacht —, daß vorsorgende, strukturverändernde Gesundheitspolitik, die alle gesellschaftlichen Bereiche durchzieht und die Interessen der Nutzer des Gesundheitswesens in den Vordergrund rückt, dringender denn je erforderlich ist. Ansätze hierzu gibt
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15950 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 208. Sitzung. Bonn, Freitag, den 21. März 1986
Frau Wagneres genug. Es fehlt allein an der Bereitschaft zu weitergehenden Änderungen.Danke schön.
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Dr. Adam-Schwaetzer.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau Wagner, ich muß sagen, ich empfinde es als ausgesprochen ärgerlich, wenn Sie hier behaupten, es käme uns nicht auf die Qualität der ärztlichen Versorgung an. Das geht nun wirklich so unglaublich an der Sache vorbei, wie man sich das schlimmer eigentlich gar nicht vorstellen kann.
Wenn sich in diesem Lande wirklich etwas positiv entwickelt hat, dann ist es die Qualität der medizinischen Versorgung, und die Patienten draußen wissen das ganz genau.
Die Entwicklung der Beitragssätze in der gesetzlichen Krankenversicherung ist, meine Damen und Herren, unbefriedigend. Das sagen wir vor allem deshalb, weil es einen Schub zu mehr Lohnnebenkosten gibt. Das können wir so natürlich nicht hinnehmen. Trotzdem sagen wir, die Neiddiskussion, die hier von der SPD und den GRÜNEN wieder angefangen wird, ist sicherlich nicht das Mittel zur Lösung der Probleme.
Das gesamte System, meine Damen und Herren, ist auf Verschwendung und Expansion ausgerichtet. Das betrifft die Leistungserbringer, aber das betrifft genausogut die Patienten. Der einzelne fühlt sich eben nicht dafür verantwortlich, daß das Ganze funktioniert und auch im Rahmen bleibt. Die Krankenkassen machen da munter mit. Wenn ich mir überlege, daß in diesem Lande schon jemand, der 5 400 DM brutto verdient, ein Härtefall in den Augen verschiedener Krankenkassen ist, wenn es um Zahnersatzregelungen geht, dann frage ich mich wirklich, was Härtefall eigentlich noch bedeuten könnte.
Die Selbstverwaltung hat viel mehr Erfolge erzielt, meine Damen und Herren, als viele Kostendämpfungsbemühungen, die in der Vergangenheit diskutiert oder auch durchgesetzt worden sind. Die Verträge, die in der Konzertierten Aktion jetzt empfohlen worden sind,
legen zum erstenmal auch die Mengenentwicklung in die Verantwortung der Leistungserbringer. Daß hier zugestimmt worden ist, kann wirklich als ein Erfolg dieses Selbstverwaltungsinstrumentes bezeichnet werden. Deshalb, denke ich, ist es besser, auf diesem Wege weiterzugehen, als neue Kostendämpfungsgesetze einzubringen, wie das früher der Fall gewesen ist. Kostendämpfungsgesetze hat es in der Vergangenheit etliche gegeben. Die Erfahrungen sollten uns eigentlich zeigen, daß sie zwar kurzfristig ein wenig die Kostenentwicklung zu bremsen vermögen, daß aber anschließend Kostensprünge auftreten, die dann nur schwer wieder in den Griff zu bekommen sind. Deshalb, meine Damen und Herren, fordere ich auch die SPD auf: Sie sollte aus der Vergangenheit lernen — das haben wir gemeinsam gemacht, und dazu stehen wir — und sollte sagen: Dieser Weg ist nicht der gangbare.
Was wir brauchen, ist eine Strukturreform des Gesundheitswesens. Das werden wir in der nächsten Legislaturperiode angehen. Wir werden eine Strukturreform vorschlagen, in der alle, Frau Steinhauer, Leistungserbringer und auch Patienten, einbezogen werden. Wir gehen nämlich nicht den Weg, den Sie gehen. Sie verlagern die Probleme ja immer nur auf eine Seite des Gesundheitswesens.
Wir wollen alle am Gesundheitswesen Beteiligten an der Lösung mitwirken lassen und alle einbeziehen. Gesundheitsbewußtes und kostenbewußtes Verhalten muß in der Zukunft belohnt werden.
Dazu sind die Strukturen auf allen Seiten zu verändern.
Für heute, meine Damen und Herren, gilt wie für den Rest dieser Legislaturperiode: Wir dürfen den Krankenkassen keine neuen Belastungen durch den Gesetzgeber auferlegen, die nur bei den Krankenkassen verbleiben, ohne daß wir ihnen gleichzeitig an einer anderen Stelle Entlastung verschaffen.
Ich sage das ganz bewußt im Hinblick auf die Forderungen, die hier in den Raum gestellt werden. Es ist vieles wünschbar, es ist vieles denkbar.
Aber gerade deshalb, weil uns die Beitragssatzentwicklung nicht befriedigen kann, müssen wir uns für den Rest dieser Legislaturperiode stärkste Zurückhaltung auferlegen.
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Steinhauer.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Herren und Damen! Zunächst einmal: Wir führen hier heute morgen keine Neiddiskussion, sondern eine Diskussion aus Sorge um die Kostenentwicklung im Gesundheitswesen.
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 208. Sitzung. Bonn, Freitag, den 21. März 1986 15951
Frau SteinhauerAber eigentlich müßte der Bundesarbeitsminister neidisch auf die früheren Arbeitsminister zurückschauen. Sozialdemokratische Arbeitsminister haben nämlich die Konzertierte Aktion im Gesundheitswesen zu einem wirksamen Instrument gemacht,
mit dessen Hilfe 1977 bis 1981 für stabile Krankenversicherungsbeiträge gesorgt wurde.
Seit dem Amtsantritt dieser Regierung hat sich das wesentlich geändert. Die Konzertierte Aktion im Gesundheitswesen ist zu einem Debattierklub heruntergekommen. Zur Abgabe wirksamer Empfehlungen ist sie kaum noch fähig.
Auch die zu Beginn dieser Woche abgehaltene Sitzung widerspricht dieser Meinung nicht. Ich kann ja verstehen, daß die Vertreter der Koalition diese Sitzung hochloben. Aber wer die dort erzielten Ergebnisse einmal näher unter die Lupe nimmt, wird schnell bemerken, daß Lob nicht angebracht ist.
Dort, wo der gesundheitspolitische Handlungsbedarf am größten ist, nämlich im Bereich der Arzneimittelversorgung, wurde ein Ergebnis nicht erzielt.
Es bleibt dabei: Die Pharmaindustrie verdient sich eine goldene Nase, und der Bundesarbeitsminister hat nichts anderes als Appelle anzubieten. Er gibt der Pharmaindustrie auf, sie möge Selbstbeschränkung bei der Preisgestaltung üben; aber es ändert sich nichts.Ich frage Sie, Herr Arbeitsminister: Wo bleibt Ihr Gesetzesvorschlag, um diesem Treiben endlich einen Riegel vorzuschieben?
Der zweite Problemkreis betrifft die Zahnärzte. Da erzwingen die Ersatzkassen im Vorfeld der Konzertierten Aktion im Gesundheitswesen nach harten Verhandlungen mit den Zahnärzten ein Schiedsverfahren, dessen Ergebnis einen wirksamen Beitrag zur Kostendämpfung leisten könnte. Was geschieht? Die anderen Krankenkassen verhandeln ebenfalls mit den Zahnärzten und tun so, als gäbe es dieses Ergebnis überhaupt nicht. Sie erreichen dann prompt ein Ergebnis, von dem jetzt schon feststeht, daß es keinen Beitrag zur Kostendämpfung leisten wird.
Was macht der Arbeitsminister? Er läßt das schlechtere Ergebnis von der Konzertierten Aktion im Gesundheitswesen als Empfehlung verabschieden. Erfolg: Auch die Ersatzkassen, die eigentlich ein besseres Ergebnis erzielt hatten, ziehen dieses bessere Ergebnis zurück und werden voraussichtlich das schlechtere Ergebnis übernehmen.
Ich kann nur sagen: Hoch lebe das System der gegliederten Krankenversicherung.
Soll dies das Ergebnis der Bemühungen der Selbstverwaltung um Kostendämpfung sein? Wenn ein solches Ergebnis auch noch vom Bundesarbeitsminister herbeigeführt wird, dann trägt er nicht nur die Verantwortung für die Kostenexplosion im Gesundheitswesen, sondern er führt sie auch noch direkt herbei.
Was sollen die Beitragszahler eigentlich von einer Empfehlung der Konzertierten Aktion im Gesundheitswesen halten, bei der sich Krankenkassen und Zahnärzte dazu verpflichten, den Versicherten gegenüber die Verwirklichung der Kriterien von Notwendigkeit, Zweckmäßigkeit und Wirtschaftlichkeit der Versorgung zu gewährleisten? Dies ist übrigens seit über 30 Jahren Gesetzesauftrag.Was sollen die Beitragszahler eigentlich davon halten, wenn bei den Milliardendefiziten in der Krankenversicherung die Betroffenen dazu angehalten werden, ein altes Gesetz einzuhalten? Ich frage den Bundesarbeitsminister: Wie steht es eigentlich mit seiner politischen Verantwortung, die Einhaltung der Gesetze zu überwachen? Es geht doch nicht darum, Gesetze vor sich herzuschieben und um deren Einhaltung zu bitten. Politische Verantwortung muß vielmehr heißen: Die Durchführung der Gesetze muß überwacht werden, und es dürfen nicht nur Appelle ausgesprochen werden.Was soll eigentlich von einer Empfehlung der Konzertierten Aktion gehalten werden, wenn man, salopp formuliert, feststellt: Krankenkassen und Zahnärzte gehen davon aus — ich wiederhole: gehen davon aus —, daß die Zahnärzte nicht mehr Leistungen, als eigentlich notwendig sind, erbringen. Was heißt zunächst einmal „ausgehen"? Das bedeutet, daß man nicht genau weiß, was eigentlich ist. Im übrigen steht bereits im Gesetz, daß die Zahnärzte überhaupt nicht mehr Leistungen erbringen dürfen, als notwendig sind. Ich frage den Bundesarbeitsminister: Wie wäre es denn, wenn er, anstatt von etwas auszugehen, dafür sorgen würde, daß bestehende Gesetze eingehalten werden? Herr Bundesarbeitsminister, gehen Sie nicht von etwas aus, sondern sorgen Sie dafür, daß die Gesetze eingehalten werden, oder legen Sie bessere Gesetze vor!
Entfalten Sie dort Aktivität, wo es notwendig ist, und nicht wie gestern bei dem Gesetz, wo es nicht notwendig ist!
Im übrigen hoffe ich, daß auch wir sagen können: Frohe Ostern!
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15952 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 208. Sitzung. Bonn, Freitag, den 21. März 1986
Ich erteile dem Herrn Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zunächst wußte ich nicht, daß Sie die Aktuelle Stunde beantragt haben. Nach einer der erfolgreichsten Konzertierten Aktionen ist es mir unklar, warum ausgerechnet Sie heute eine Aktuelle Stunde dazu beantragen. Das gibt mir natürlich Gelegenheit, über den Erfolg der Konzertierten Aktion hier im Plenum des Deutschen Bundestages zu berichten. Ich bedanke mich bei der Opposition ausdrücklich für die freundliche Hilfeleistung.
Meine Damen und Herren, ich glaube schon daß dieser Konzertierten Aktion eine große Bedeutung zukommt, weil damit bewiesen ist: Man muß nicht alles reglementieren, bürokratisieren, paragraphieren, so verfettet, verkalkt, erstarrt ist unsere Gesellschaft nicht
— schließen Sie nicht von sich auf andere —,
daß sie nicht aus freiem Willen, Einsicht und Solidarität Lösungen zustande bringt. Ich möchte deshalb allen Dank sagen, die dabei mitgewirkt haben, den Krankenkassen, den Ärzten, den Zahnärzten, den Krankenhäusern, der Deutschen Krankenhausgesellschaft, den Ländern, der Selbstverwaltung. Sie hat sich in schwierigen Zeiten als lösungsfähig erwiesen. Ich finde, das ist auch für die Gesundheitspolitik der Zukunft sehr wichtig.Meine Damen und Herren, noch etwas: Dieses gesetzliche Krankenversicherungssystem nimmt derzeit 108 Milliarden DM in Anspruch. Ich denke, das ist ein Fundus, aus dem auch der medizinische Fortschritt finanziert werden kann; denn medizinischer Fortschritt kann doch nicht nur bedeuten, daß alles teurer wird,
medizinischer Fortschritt muß auch bedeuten, daß Menschen schneller gesunden, besser geheilt werden, nicht krank werden. Insofern verträgt sich medizinischer Fortschritt mit Beitragsstabilität; das ist kein Gegensatz. Freilich müssen wir auch bereit und mutig sein, Prioritäten zu setzen: Was ist wichtig, was ist weniger wichtig?
— Frau Fuchs, Sie wissen alles, das weiß ich. Durch eine Verwandtschaft mit dem lieben Gott wissen Sie alles. Ich bin noch nicht so weit wie Sie; wir haben dafür ein Sachverständigengremium eingesetzt, das die medizinischen Orientierungsdaten liefern soll.
Denn ich finde, der Politiker ist völlig überfordert, wenn er auch noch den medizinischen Bereich mit seinem Sach- und Fachverstand ersetzen soll. Wir wollen durch dieses Sachverständigengremium gerade die Entwicklung der medizinischen Wissenschaft ins Gesundheitssystem einbringen, und wir sind nicht so arrogant, zu behaupten, die Politiker wüßten alles.
— Für Sie spreche ich nie. Ich spreche nur für die Regierungsparteien, nicht für Sie. Wir wissen nicht alles; das halte ich einmal fest.Aber in der Tat läßt sich heute schon sagen, daß wir beispielsweise den stationären Bereich überdimensioniert haben. Wir haben zu viele Krankenhausbetten und zu wenig ambulante Versorgung. Eine solche Umgruppierung muß nicht auf Kosten, darf nicht auf Kosten der Gesundheit gehen. Ich glaube auch, daß wir den Weg in eine reine Apparatemedizin abbremsen müssen, daß es darum geht, den alten Hausarzt auch als Partner des Patienten mit neuem Ansehen zu versehen und entsprechend zu honorieren. Ja, ich glaube in der Tat, daß der Arztberuf seiner ganzen Tradition nach dem Beruf des Seelsorgers nähersteht als dem des Maschinisten, und darauf kommt es an.
— Ich rede gerade über das, was wir tun. Wir tun jedenfalls mehr als Sie, die Sie nur reden.
Meine Damen und Herren, merkwürdig finde ich natürlich Vorwürfe der Opposition hinsichtlich Ausgabensteigerung. Solche Rekordmarken, wie es sie in Ihrer Zeit gegeben hat, habe ich nie erreicht.
— Hören Sie zu und weichen Sie nicht aus. — Von 1970 bis 1975 gab es — zum Mitschreiben — Jahr für Jahr eine Ausgabensteigerung von 17,5%. Im Krankenhausbereich gab es in einem Jahr, 1974, sogar 30 % Ausgabensteigerung.
Und jetzt fahren Sie den Wagen gegen den Baum, steigen aus und sagen, Sie seien Fahrlehrer; so ungefähr ist das doch.
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 208. Sitzung. Bonn, Freitag, den 21. März 1986 15953
Bundesminister Dr. BlümSie haben den Nachkriegsrekord an Ausgabensteigerung und stellen sich hier hin und wollen Ratschläge geben, wie man die Ausgaben bremst.
Nun komme ich noch einmal zur Konzertierten Aktion: Ärzte und Krankenkassen haben, und zwar für einen Zeitraum von zwei Jahren, nicht nur Honorarvereinbarungen, Empfehlungen für Honorarvereinbarungen, sondern auch für die Mengenkomponente getroffen. Also, Leistungsausweitung geht jetzt auf Kosten der Leistungsanbieter. Das kann, wenn sich eine solche Vereinbarung im Rahmen der Grundlohnsumme bewegt, bei gestiegenen Arztzahlen, bei erhöhten Praxiskosten für den einzelnen Arzt sogar Einkommensverlust bedeuten. Nun gehöre ich zu denen, die sich an Kritik immer beteiligen. Nur, ich meine, zur zweiten Seite der Politik gehört auch Anerkennung.
Dieser solidarischen Leistung der Ärzte und Krankenkassen gehören Anerkennung und Dank; sonst verlieren die den Spaß, sich anzustrengen.
Ich sage das auch für die Zahnärzte. Wie schnell hat sich das doch geändert! Vor einem halben Jahr waren die Fronten noch sehr verhärtet. Sie sehen, man kann in der Gesellschaft noch immer etwas bewegen.
Eine Empfehlung, die jetzt gegeben wurde, nimmt für den Zahnersatz auch wiederum die Mengenkomponente zur Hilfe. Das heißt, daß man nicht in die Fülle der Leistungen fliehen kann, um sein Einkommen zu erhöhen. Wenn man die Vereinbarung auch auf dem Hintergrund einer Umbewertung des Bewertungsmaßstabes liest, nämlich daß wir Zahnerhaltung in Zukunft höher und Zahnersatz etwas niedriger bewerten, was auch gesundheitspolitisch erwünscht ist, dann ist erkennbar, daß das alles in allem zu einem Einkommensverlust von 2 % bis 3 % führt. Insofern gilt auch hier diesem Berufsstand, den Zahnärzten, ihrem Berufsverband und den Krankenkassen, die dafür die Vorarbeit geleistet haben, meine hohe Anerkennung, der Dank der Bundesregierung.
Weiter: Liebe Frau Fuchs, erzählen Sie mir doch einmal von einer Konzertierten Aktion unter sozialdemokratischer Leitung, bei der es zu einer Empfehlung für Krankenhäuser kam. Es ist ein Novum, daß wir für das Krankenhaus eine Empfehlung aussprechen, und zwar eine zwischen Deutscher Krankenhausgesellschaft, den Ländern und den Krankenkassen, eine Empfehlung, auch hier in diesem wichtigen Bereich, der ja den Hauptanteil unseres gesetzlichen Systems ausmacht, unterhalb der Grundlohnsummensteigerung zu bleiben
und damit einen wichtigen Beitrag zur Beitragsstabilität zu leisten.Ich sehe auch, daß die Pharmaindustrie in Beweispflicht steht. Sie hat sich im Oktober zur Preisdisziplin verpflichtet. — Ja, lachen Sie doch nicht so früh. — Wir werden abrechnen, und zwar Unternehmen für Unternehmen, um zu sehen, ob diese sich nicht nur an den Appell ihres Verbandes gehalten, sondern auch die Konsequenzen gezogen haben. Ich füge auch hier hinzu: Das schafft auch den Ausgangspunkt für die Strukturdebatte. Wer Solidar-pflichten nicht freiwillig erfüllt, beschädigt seine Argumente, daß auf freiwilliger Basis immer noch die besten Regelungen zu finden sind.Ich sehe in der Preisvergleichsliste, die auf den Weg gebracht ist, auch für die Ärzte eine bessere Handreichung, einen Überblick über die Vielzahl der Arzneimittel und ihre Kosten zu erhalten. Ich appelliere an die Versicherten, nicht dem Kinderglauben anheimzufallen, daß ein Medikament um so besser sei, je teurer es ist. Das ist ein Kinderglauben, der durch nichts gerechtfertigt ist.
Und vor allen Dingen: Ganz vergessen sollten wir nicht, daß Gesundheit auch eine Sache der eigenen Anstrengungen ist. Wir müssen unser Gesundheitssystem auch vor der Versuchung bewahren, alles den Maschinen, den Medikamenten, den Apparaten zu überlassen.Vielleicht gibt die Konzertierte Aktion Anlaß auch zu dieser aufklärerischen Gesundheitspolitik, die auch an den einzelnen appelliert. Ich sehe in der Leistung der Konzertierten Aktion einen solidarischen Beitrag für die gesamte Sozialpoltik. Denn Beitragsstabilität ist eine wichtige Hilfe zur Wiedereingliederung der Arbeitslosen. Die Beiträge sind gestiegen. Sie sind im übrigen nur etwas höher als auf die Marke gestiegen, die ich von Ihnen übernommen hatte. Sie sollten nicht ganz vergessen, daß wir sie mit 12 % übernommen haben.Wir stehen nicht mit leeren Händen da. Wir haben ein Krankenhausgesetz und eine Pflegesatzverordnung vorgelegt. Und so schnell geht es in der Politik nicht. Die Pflegesatzverordnung ist seit 1. Januar in Kraft. Jetzt gibt es das Angebot an die Beteiligten, die Instrumente zu nutzen: auch im, Sinne einer humanen Gesundheitspolitik, einer finanzierbaren Gesundheitspolitik. Das heißt, wer krank ist, muß geheilt werden; aber wir brauchen trotz dieser Notwendigkeit die sparsame Handhabung der Mittel unserer solidarischen Krankenversicherung.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Egert.
Herr Dr. Faltlhauser, wissen Sie, wenn der Bundesarbeitsminister etwas zur Senkung der Kosten im Gesundheitswesen beigetragen
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15954 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 208. Sitzung. Bonn, Freitag, den 21. März 1986
Egerthat, dann war es sein Beitrag hier. Der hat meinen Kreislauf in Schwung gebracht, und das, finde ich, ist ein positiver Beitrag. Dafür danke ich dem Bundesarbeitsminister.Ansonsten hat er versucht, mit vielen Worten nichts zu sagen. Er hat uns versprochen: Er will hier sagen, was in der letzten Sitzung der Konzertierten Aktion vereinbart worden ist. Davon habe ich nichts gehört.
Ich habe gehört, daß, wer krank ist, geheilt werden soll. Ich finde das richtig, ich finde das unterstützenswert, und ich bin der Meinung: Wir sollten nun auch mal ein paar Worte über die Therapie sagen.
Herr Minister, wenn Sie am Beginn Ihrer Amtszeit wären und schöne blaue Augen hätten — ich weiß es nicht; vielleicht haben Sie welche —, dann würde ich sagen: Es ist einen Versuch wert, daß dieser Minister hingeht und sagt: Ich appelliere mal an die Beteiligten im Gesundheitswesen: Verhaltet euch mal positiv, konstruktiv angesichts der Kostensituation, angesichts der 108 Milliarden DM, die aus den Portemonnaies der arbeitenden Menschen bereitgestellt werden, um die gesetzliche Krankenversicherung zu finanzieren. Wenn er am Beginn wäre, hätte ich also gesagt: Laß ihn mit diesen Appellen mal einen Versuch machen.Nur, Herr Minister: Sie sind nicht mehr am Beginn Ihrer Amtszeit.
Insofern muß Ihre Bilanz vor dem Hintergrund dessen gewertet werden, was Sie bisher erreicht haben.
Nun höre ich seit mehreren Sitzungen der Konzertierten Aktion: Wir appellieren an die Pharmaindustrie, wir machen „bitte, bitte", damit sie ihre Preise bitte schön nicht über bestimmte Prozentsätze hinaus erhöht. Dies hat sie mißachtet.
Es ist schon so, daß in diesem Jahr die Preiserhöhungen bei der Pharmaindustrie so sind, daß das Ziel, das laut dem Appell erreicht werden soll, nicht mehr zu erreichen ist.
Wie lebenswirklich ist es denn, anzunehmen, daß die, die die Preise erhöht haben, nun nachdem der Bundesarbeitsminister in der Konzertierten Aktion Bitte-bitte gemacht hat, die Preise zurücknehmen? Ich halte das für lebensfremd, Herr Minister.
Von da wird die Pharmaindustrie — dies ist einer der Punkte, die Sie am vorigen Montag vereinbart haben — nicht ihren Beitrag leisten.
— Ach, der Dr. Becker soll sich um seine Gesundheit sorgen. Da hat er genug zu tun. Um meine muß er sich nicht sorgen. Diese Last nehme ich ihm ab.
Noch eine Bemerkung zu dem Thema Zahnärzte. Da ist ja ein mutiger Ritter ausgezogen — er heißt Norbert Blüm — und hat gesagt: Das, was die RVOKassen da vereinbart haben, kann nicht so stehen bleiben.
Dies ist viel weniger, als die Ersatzkassen erreicht haben. Und was lese ich im „Handelsblatt": „Blüm macht sich stark."
Gott: Bis zum Montag macht er sich stark. Am Montag einigt er sich genau auf den Kompromiß der RVO-Kassen, den er für nicht tauglich hält. Und dann steht da: Die Menge soll beobachtet werden.
Herr Minister, was ist denn das? Heiße, heiße Luft, nicht als Luft, Herr Minister.
Der dritte Punkt. Dann kommt der Minister her und sagt: Sie da haben es nicht geschafft, bei den Krankenhäusern Empfehlungsvereinbarungen zu erreichen.
Herr Minister, Sie wissen doch selbst, wie dieses Gesetz aussah, auf dessen Hintergrund die Konzertierte Aktion stattfinden konnte.Herr Blüm, Sie behaupten wahrheitswidrig, daß Ihre Vorgängerregierung in der Konzertierten Aktion eine Vereinbarung hätte erreichen können. Das konnte sie nicht, weil es gesetzlich nicht möglich war.Dann sind Sie hierher gegangen und haben gesagt, 1974 habe es eine Kostenexplosion im Krankenhauswesen gegeben. Herr Minister, wissen Sie denn nicht — aber Sie wissen es ja, Sie wollen das nur vernebeln —, daß 1972 ein neues Krankenhausfinanzierungsgesetz verabschiedet worden ist, mit dem die Arbeitsbedingungen der im Krankenhaus Beschäftigten aus der Zeit des Mittelalters an die Jetztzeit angepaßt worden sind. Daß das Kostenwirkungen hatte, war doch nur selbstverständlich. Warum behaupten Sie dann hier so etwas wahrheitswidrig?
Dann, Herr Minister, sorgen Sie sich um die Selbstverwaltung. Sorgen Sie sich doch einmal um
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 208. Sitzung. Bonn, Freitag, den 21. März 1986 15955
Egertdie Portemonnaies der Versicherten und der Beitragszahler.
Hier haben wir eine Liste von 208 Betriebskrankenkassen, die Anfang des Jahres ihre Beiträge erhöht haben. Wir haben eine stattliche Liste von mehreren Hundert Ortskrankenkassen, die ihre Beiträge erhöht haben. Und Sie kommen her und reden über Strukturreform und sagen dazu nicht ein Wort. Wir können doch nicht zulassen, daß in diesem Land Solidarität ein Synonym für Dummheit wird.
Wenn Sie die Bilanzen zwischen den Krankenkassen vergleichen, stellen Sie fest, daß es Beitragsunterschiede gibt zwischen Betriebskrankenkassen, Innungskrankenkassen, Ortskrankenkassen, Ersatzkassen. Das führt inzwischen zu regionalen Enteignungen in den Portemonnaies der Versicherten. Da müssen Sie etwas tun, Herr Minister.
Herr Abgeordneter, Ihre Redezeit ist abgelaufen. Bitte kommen Sie zum Schluß.
Ja.
Da müssen Sie etwas tun. Es reicht nicht, nur Kalendersprüche zu machen.
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Augustin.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Selten habe ich es erlebt, daß der Grund für eine Aktuelle Stunde des Deutschen Bundestages so an den Haaren herbeigezogen war. Ich möchte es noch deutlicher sagen: so scheinheilig war wie heute.
Während die von der CDU/CSU und der FDP getragene Bundesregierung stetig, zäh, gewissenhaft und mit großer Beharrlichkeit seit ihrer Amtsübernahme im Oktober 1982 daran arbeitet, die Kostenentwicklung im Gesundheitswesen wieder in den Griff zu bekommen, ohne dabei den Versicherten zu schaden, glaubt die SPD-Fraktion herbe Kritik üben zu müssen. Lieber Herr Egert, Ihre Rede — ich möchte lieber sagen: Ihre Tirade — heute morgen war dafür ein handfestes Beispiel.
Sie waren es doch, meine Damen und Herren von der SPD-Fraktion — allen voran Ihr ehemaliger Minister Ehrenberg; er ist heute nicht einmal da —,
die damals den völlig untauglichen und zu keinerlei Erfolg führenden Versuch unternommen haben — zur großen Verblüffung der Fachwelt —, die Kosten im Gesundheitswesen einfach per Gesetz dämpfen zu wollen. Krankenversicherungs-Kostendämpfungsgesetz — so hieß das damals. Das Wort muß man sich auf der Zunge zergehen lassen.Kurz danach haben Sie festgestellt, daß keinerlei Erfolg sichtbar wurde. Was geschah? Ein zweites Gesetz mußte her: das Krankenversicherungs-Kostendämpfungs-Ergänzungsgesetz.
— Krankenversicherungs-Kostendämpfungs-Ergänzungsgesetz. Darin war viel Sozialabbau enthalten. Ich habe aus persönlicher Sicht feststellen müssen, daß schwer Nierenkranke, Dialysepatienten, nun auf einmal, da sie 1,50 DM pro Arzneimittel zahlen mußten, auf Grund ihrer spezifischen Erkrankung aber eine Vielzahl von Arzneimitteln benötigen, voller Verzweiflung waren, weil sie nicht wußten, wie sie dieses Geld für ihre dringend benötigten Medikamente von einem Tag auf den anderen aufbringen sollten.Die Konzertierte Aktion am 17. März 1986 war ein voller Erfolg für unsere Bundesregierung und damit für Dr. Norbert Blüm.
Darauf sind Sie neidisch.
Während diese Bundesregierung erste Erfolge vorweisen kann, haben Sie es zu Ihrer Zeit noch nicht einmal für nötig erachtet, überhaupt einmal hinzuschauen, warum die Kosten gestiegen waren.
Ich vermute, es war Ihnen einfach zu lästig, denn sonst hätten Sie festgestellt, daß mit dem Anstieg der Kosten auch ein enormer Anstieg des Leistungsniveaus im Gesundheitswesen einhergegangen ist, und zwar sowohl in diagnostischer Hinsicht als auch in therapeutischer Hinsicht, und daß Menschenleben gerettet werden konnten, die man früher hätte aufgeben müssen. Und da meinen Sie allen Ernstes, man könne Kosten einfach per Gesetz dämpfen.Im Bereich der Arzneimittel schauen Sie auch heute wieder wehklagend auf Zahlen, ganz gleich, ob sie falsch oder richtig berechnet sind, ohne auch nur einmal den Blick darauf zu richten, daß durch den Einsatz von Medikamenten — volkswirtschaftlich gesehen — enorme Summen gespart werden können.
Ein Schweizer Institut in St. Gallen hat festgestellt, daß in einem einzigen Jahr in der Bundesrepublik Deutschland durch den Einsatz eines neuen Medikaments, nämlich Cimitidine — das ist ein Medikament gegen Zwölffingerdarmgeschwüre — 170 Millionen DM per Saldo gespart werden konnten, und zwar zum Teil durch die Vermeidung von Arbeits-
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Frau Augustinausfällen und zum Teil auch durch Vermeidung von Krankenhausaufenthalten.Diese Bundesregierung ist auf dem Wege, Kosten zu sparen, ohne dem Patienten zu schaden. Durch die Verankerung der Transparenz-Kommission im Arzneimittelgesetz leisten wir einen weiteren Beitrag auf dem Wege zu sinnvollen Einsparungen auf dem Arzneimittelsektor, und zwar auf freiwilliger Basis.Für den Preisstabilitäts-Beschluß der pharmazeutischen Industrie vom 21. Oktober 1985 sind wir dankbar. Wir wissen so, daß die Preise erst einmal zwei Jahre stabil bleiben.
Ich möchte allerdings nicht verhehlen, daß die pharmazeutische Industrie auf Grund ihrer wirtschaftlichen Ergebnisse durchaus in der Lage ist, dieses Opfer zu erbringen. Wir erwarten auch, daß sie ihre Verbandsangehörigen zur Preisdisziplin aufruft.
Frau Abgeordnete, bitte kommen Sie zum Schluß. Ihre Redezeit ist abgelaufen.
Jawohl, das werde ich tun.
Wir brauchen Innovation, und wir brauchen Arzneimittelsicherheit. Beides kostet Geld. Die Arbeiter bei der pharmazeutischen Industrie haben genauso ein Recht auf einen gerechten Lohn wie die im Bergbau und in der Metallindustrie.
Wir werden diese Bundesregierung, die sich auf dem richtigen Weg befindet, mit all unseren Kräften unterstützen.
Das Wort hat der Abgeordnete Cronenberg.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn Jürgen Egert von dieser Stelle aus festgestellt hat, die Beiträge von Norbert Blüm seien für ihn kreislauffördernd und damit gesundheitsfördernd gewesen, dann muß ich sagen: Lieber Jürgen Egert, der anschließende eigene Beitrag, die Überhitzung war sicher gesundheitsschädlich.
Die Ursachen für diese Aktuelle Stunde, die von den Sozialdemokraten beantragt worden ist, scheinen mir klar ersichtlich zu sein. Da sind in einer erfolgreichen Konzertierten Aktion — beitragsneutrale Vereinbarungen zwischen Ärzten, den Buhmännern der Nation, den Zahnärzten — ebenfalls Buhmänner der Nation verständlicherweise neben der FDP —, der Pharmaindustrie und den Apothekern geschlossen worden, die 50 % der Ausgaben im Gesundheitswesen umfassen. Dies alles sind Erfolge, die nehmen die Möglichkeit, Kritik zu üben. Da muß man schnell eine Aktuelle Stunde veranstalten, damit man weiter kräftig auf den Zahnärzten, den Ärzten, der FDP und den Heil- und Hilfsmittelherstellern herumprügeln kann. Das Krankenhaus wird freundlicherweise herausgelassen, vermutlich deswegen, weil man sich da mit der ÖTV anlegen müßte; denn da spielen die Lohnkosten eine große Rolle. Deswegen läßt man das freundlicherweise heraus.
Meine verehrten Kollegen und Kolleginnen, dies habe ich gestern abend vorhergesehen und vorhergesagt und deswegen eine Wette gewonnen. Insofern muß ich mich für die Aktuelle Stunde bedanken. Alles, was gesagt wurde, war ja vorhersehbar.
Im Ernst: Was nötig ist, sollte noch einmal gesagt werden. Zur Vermeidung eines verstaatlichten Gesundheitssystems, zur Erhaltung eines Gesundheitssystems, das freie Arztwahl, das Therapiefreiheit zu günstigsten Beiträgen garantiert, ist es nötig, daß alle Beteiligten — Leistungsträger genauso wie Versicherte — in die Pflicht genommen werden. Und in die Pflicht werden alle diese am besten genommen, wenn sie über das Portemonnaie motiviert werden. Das heißt, materielle Anreize müssen die Grundlage für vernünftige Verhaltensweisen darstellen. Wenn uns das gelingt — und es ist machbar —, dann können Sie sicher sein, daß Ihr Wunsch — hohe Leistungen zu niedrigen Prämien — ohne allzugroße Schwierigkeiten erfüllbar ist.
Das wird Gegenstand der Strukturreform sein. Wir werden sie in der nächsten Legislaturperiode verabschieden. Dabei brauchen wir viel Unterstützung. Ich gehe davon aus, daß wir sie bekommen.
Einige Elemente, solcher Überlegungen, Frau Kollegin Steinhauer, sind schon in der jetzigen Legislaturperiode verabschiedet worden. Das deutsche Gesundheitswesen ist um vieles besser als sein Ruf. Wie vieles andere ist es reformwürdig und reformfähig. Wir müssen nur die richtigen Elemente — und das sind keine dirigistischen — einsetzen.
Danke schön.
Das Wort hat der Abgeordnete Jaunich.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Frau Augustin, Sie reklamieren die Abwesenheit von Herrn Ehrenberg. Ich reklamiere die Abwesenheit von Frau Professor Süssmuth. Der Bundesgesundheitsminister gehört in das Plenum, wenn über diese Fragen gesprochen wird.Der Bundesarbeitsminister hat formal dafür gedankt, daß wir diese Aktuelle Stunde beantragt haben. Dies konnte aber nicht darüber hinwegtäuschen, daß es ihm peinlich ist, daß wir das getan haben. Herr Blüm, Sie hätten gerne eine Opposi-
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Jaunichtion, die Ihnen die Filzpantoffeln bereitstellt und Ihnen die Schlafmütze aufsetzt.
Aber mit beidem können wir nicht dienen. Für Filz ist die Berliner CDU zuständig, und die Schlafmütze haben Sie überhaupt noch nicht abgenommen, zumindest nicht bei der Bewältigung dieses Themas.
Es ist ja nicht das erste Mal, daß dieser Bundesarbeitsminister den Verlauf einer Konzertierten Aktion als einen Erfolg darstellt.
Nur, die Kosten im Gesundheitswesen steigen weiter, die Beiträge steigen — sie liegen im Durchschnitt über 12 % —, und die Tendenz ist steigend.Herr Blüm sagt dann, er habe alles im Griff. Ich füge hinzu: auf dem sinkenden Schiff. „Erfolgreichster Arbeitsminister" der Bundesrepublik, gar Europas — gestern vom Kanzler so genannt —,
Herr Blüm, sind Sie ernsthaft der Ansicht, daß das Ergebnis dieser Konzertierten Aktion so geartet ist, daß Sie sich diesen Ruf zu Recht umlegen können? Ich meine, nein.Ich will jetzt einen Beitrag herausgreifen und dann noch einige andere Diskussionsbeiträge aufzunehmen versuchen. Zunächst zum Arzneimittelbereich. Da ist von den Selbstverwaltern, die alles besser regeln können als der Staat, gesprochen worden. Nun gut, das ist eine Philosophie, mit der man sich auseinandersetzen kann, Herr Arbeitsminister. Aber dann schaffen wir doch der Selbstverwaltung die Instrumente, in denen sie sich bewähren kann!
Wenn wir das nicht tun — und Sie haben es nicht getan, Sie verweigern sich einem solchen Weg —, dann ist das Ganze eine Verhöhnung und nicht ein Feiern der Selbstverwaltung.
Wie sieht es denn im Arzneimittelbereich aus? Die Kassen wollen doch, sie fordern doch, daß sie in direkte Preisverhandlungen mit den Arzneimittelherstellern eintreten können. Die Kassen wissen ganz genau — besser als Sie —, daß freiwillige Selbstbeschränkungsabkommen, wie von der Pharmaindustrie, weiße Salbe sind und daß das Wiederholen dieses Ergebnisses in den Empfehlungen der Konzertierten Aktion noch etwas weniger als weiße Salbe ist.
— Mit Wirkung gleich Null.Deswegen brauchen wir ein Instrument, deswegen müssen wir ein Instrument entwicklen, damit die Selbstverwaltung sich bewähren kann. Sie legen ihr sogar diese Verantwortung auf. Sie haben soeben Drohungen ausgestoßen und haben gesagt: Bei einer Strukturreform wollen wir mal sehen, wer seine Schularbeiten nicht gemacht hat, wer seine Aufgaben nicht erfüllt hat. Erst einmal muß also die Gesetzgebung die Instrumente schaffen.Wir Sozialdemokraten haben hierzu einen Vorschlag vorgelegt. Wäre er von Ihnen befolgt worden, dann müßten wir uns hier und künftig nicht über ein uferloses Wachsen der Preise der Pharmaindustrie unterhalten; denn dann wäre das in der Verantwortung derer, die über die Preisgestaltung miteinander zu reden haben.
Hier ist natürlich auch noch von Interesse, daß die Bundesregierung im Zusammenhang mit der Novellierung des Arzneimittelrechts im Moment nichts Besseres zu tun hat, als zu versuchen, den Preiswettbewerb, soweit es ihn auf dem Pharmamarkt gibt, dadurch auf Null zu reduzieren, daß sie für die Nachahmerpräparate eine zehnjährige Verwertungssperre einführen will. Sie können sich j a sehr schnell ausrechnen, Herr Blüm, wie sich das auswirken wird. Dies war ja nicht die letzte Konzertierte Aktion; die nächste steht im Herbst an. Wir werden Sie nicht an Ihren fröhlichen Sprüchen von heute, sondern an den Ergebnissen im Herbst — und im Frühjahr nächsten Jahres noch einmal — zu messen haben.
Da ist jetzt bereits erkennbar: auf dem Pharmasektor keinerlei Stillstand, weiteres Anwachsen der Ausgaben. Das ist eine unzulässige Überforderung der Versichertengemeinschaft.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. Faltlhauser.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die brillante Idee der Opposition, hier eine Aktuelle Stunde zur Konzertierten Aktion und zur Kostenentwicklung im Gesundheitswesen abzuhalten, gibt uns die Möglichkeit, einen Riesenerfolg dieses Bundesarbeitsministers darzulegen,
einen klaren 4:0-Erfolg.1:0 bei den Ärzten: Die Vereinbarung reicht bis zum 30. Juni 1987. Bis dahin geben sie nicht mehr aus, als die Kassen einnehmen.
2:0 bei den Zahnärzten: Die Vereinbarung reicht sogar bis zum 1. Januar 1988. Die Zahnärzte begrenzen sich bis dahin freiwillig auf die Hälfte der Grundlohnsumme.3:0 bei den Krankenhäusern und 4:0 bei der Pharmaindustrie, die ihre Preistreiber selbst zur Brust nehmen wird.Im übrigen, Herr Egert, die Zahnärzte beobachten nicht nur die Menge, sondern in der Vereinba-
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Dr. Faltlhauserrung steht ausdrücklich, daß, wenn sie die Menge nicht in den Griff bekommen, der Ausgleich hergestellt werden muß. Dann muß für einen Ausgleich gesorgt werden.
Das steht im Vertrag. Ich glaube, das ist ein Rundumerfolg, der sich unmittelbar auf die Beitragsentwicklung auswirken wird.
Diese Konzertierte Aktion vom Montag war eine Bewährungsstunde für die Selbstverwaltung. Das Setzen auf die Selbstverwaltung hat sich gelohnt. Es war richtig, keinerlei kurzfristige, aus der Hüfte geschossene gesetzgeberische Maßnahmen loszulassen. Der Montag brachte auch eine Stärkung des Instruments der Konzertierten Aktion.Zu Ehrenbergs Zeiten wurde die Selbstverwaltung noch gewissermaßen als Befehlsempfänger herbestellt. Die Verbände waren Zuhörer; sie mußten sich angedrohte neue Gesetzgebungsmaßnahmen anhören, um dann nur noch zu nicken.Am Montag dagegen herrschte die Atmosphäre eines Kollegialgremiums, in dem Einigungswille im Vordergrund stand. Langfristige Zusammenarbeit war angeregt, und der Erfolg hat sich eingestellt.In der Präambel der Vereinbarung mit den Ärzten heißt es z. B. — ich zitiere —:Die Partner dieser Vereinbarung bekräftigen ihren Willen, zur Sicherung der qualitativ hochwertigen ärztlichen Versorgung längerfristig zusammenzuarbeiten.Daraus spricht ein guter Geist, gestiftet von dieser Regierung und von diesem Bundesarbeitsminister.
Wir müssen anerkennen, was da passiert ist: Ärzte und Zahnärzte beschränken selbst freiwillig ihr Einkommen über längere Zeit hinweg. Sagen Sie das doch einmal den Leuten von der IG Metall oder von der ÖTV. Selbstbeschränkung bei den Einkommensentwicklungen: das ist dort mit Sicherheit ein Fremdwort.
Was sind denn Ihre Alternativen, meine Damen und Herren von der Opposition: Staatsplanung, Zentralismus, Gängelung. Da gibt es einen Entwurf der Sozialpolitischen Kommission beim SPD-Parteivorstand, vorgelegt von Anke Fuchs und Eugen Glombig. Trotz einiger richtiger analytischer Anmerkungen, die in diesem Papier stehen
— selbstverständlich —, ist die Therapie immer wieder typisch sozialistische Staatsverliebtheit.
Da heißt es — ich zitiere —:
Es fehlt an zentraler Steuerung. An anderer Stelle heißt es:Künftig sollen die Krankenkassen eine umfassende Bedarfs- und Leistungsplanung erstellen.An anderer Stelle heißt es:Der Bundestag beschließt einen gesundheitspolitischen Orientierungsrahmen.Das bedeutet wohl: Wir legen alle detaillierten Zahlen so fest, wie wir es wollen.
Frau Fuchs und Eugen Glombig, dazu kann ich nur sagen: Mir graut davor; das wollen wir mit Sicherheit nicht, und das tut unserem Gesundheitssystem mit Sicherheit nicht gut.
Wir können im Gegenteil nur sagen: Herr Bundesarbeitsminister weiter auf dem erfolgreichen Weg, der auf die Selbstverwaltung setzt, der nicht staatlichen Dirigismus einführt, weiter so auf Ihrem Erfolgskurs, wie Sie ihn am Montag gezeigt haben!
Das Wort hat der Abgeordnete Louven.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Vor fast genau einem Jahr beantragte die SPD zur gleichen Frage eine Aktuelle Stunde. Damals gab der Kollege Egert folgende Begründung: dramatische Kostenentwicklung, Untätigkeit des Ministers, Minister gesundheitspolitisch gescheitert;
sogar konservative Blätter würden uns ein mageres Ergebnis bescheinigen.
Heute ist die Schlachtordnung dieselbe.
Die Begründung lautet wiederum: Politik der Untätigkeit,
Debattierklub.
Nur den Vorwurf, die Presse würde von einem mageren Ergebnis reden, haben Sie heute nicht wiederholt, und zwar offensichtlich deshalb nicht, weil sie die „Süddeutsche Zeitung" gelesen haben, die in einem Kommentar dem Minister die erfolgreichste Sitzung seiner Amtszeit bescheinigte
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Louvenund sogar meinte, die Bereitschaft der Vertragspartner im Gesundheitswesen, sich auf ein Bündel von Sparsamkeitsempfehlungen zu verständigen, bedeute einen entscheidenden Fortschritt.
Herr Egert, Sie sollten doch an das denken, was unter der SPD-Regierung bzw. während Ihrer Amtszeit geschehen ist: Die Beiträge stiegen von 8 auf 12 %. Als Sie als Staatssekretär abgingen, lagen sie bei 12 %. Ihre Fähigkeit, Unter- und Hinterlassenes zu verschweigen und statt dessen zu polemisieren, ist besonders ausgeprägt. Ich denke, daß das, was der Minister Ihnen gestern gesagt hat — Hauptsache Protest, Sachkenntnis kann dabei nur stören —, auch heute wieder seine Gültigkeit hat.Das Problem, vor dem wir stehen, ist das Fehlen von Anreizen zum wirtschaftlichen Verhalten der Kassen, der Leistungsanbieter und der Versicherten. Von daher ist die Selbstverwaltung besonders gefordert. Meine Damen und Herren, die Ergebnisse, die mit dieser Selbstverwaltung erreicht worden sind, können sich sehen lassen.
In allen Bereichen gibt es Empfehlungen für wirtschaftliches Verhalten. Die Prozesse sind vom Tisch. Selbst mit Ärzten und Zahnärzten gibt es Vereinbarungen. Meine Damen und Herren, Sie sollten einmal zur Kenntnis nehmen, daß die Zahnärzte schon bei Ihnen sehr viel Geld verdient haben und Sie nichts dagegen getan haben, wir jetzt aber Erfolge vorzuweisen haben.Wir sind weiter darum bemüht, mit den Ländern zu einem Bettenabbau zu kommen. Auch hier gibt es Fortschritte, nur sind diese von Land zu Land etwas unterschiedlich. In Nordrhein-Westfalen besuchte — auch dies muß Ihnen einmal gesagt werden — vor der Landtagswahl des letzten Jahres Herr Farthmann insbesondere konfessionelle Krankenhäuser, und er bescheinigte einem Haus nach dem anderen die Bedarfsgerechtigkeit. Heute muß sein Nachfolger diesen Häusern mitteilen, daß die Mittel, die sein Vorgänger in Aussicht gestellt hat, nicht zur Verfügung stehen. Auch so kann man Bettenabbau-Politik betreiben.
Meine Damen und Herren, diese Aktuelle Stunde war unnötig, aber sie gab uns die Gelegenheit, darauf hinzuweisen, daß der Minister ein hervorragendes Ergebnis erzielt hat. Von daher können wir Ihnen für diese Aktuelle Stunde nur danken.
Meine Damen und Herren, die Aktuelle Stunde ist beendet.
Bevor wir in der Tagesordnung fortfahren, darf ich folgende Mitteilung verlesen. Die Fraktion DIE GRÜNEN hat mit Schreiben vom 17. März 1986 folgende Umbesetzungsvorschläge für den Vermittlungsausschuß mitgeteilt: Der Abgeordnete Fritsch wird als ordentliches Mitglied, der Abgeordnete Dr. Schierholz wird als stellvertretendes Mitglied vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? — Ich höre keinen Widerspruch. Damit sind der Abgeordnete Fritsch zum ordentlichen Mitglied und der Abgeordnete Dr. Schierholz zum stellvertretenden Mitglied des Vermittlungsausschusses bestimmt.
Ich rufe Punkt 2 der Tagesordnung auf:
Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung von Vorschriften der gesetzlichen Rentenversicherung
— Drucksache 10/5053 —
Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung
— Drucksache 10/5212 —
Berichterstatter: Abgeordneter Günther
Hierzu liegt ein Änderungsantrag der Fraktion der SPD auf der Drucksache 10/5216 vor.
Meine Damen und Herren, nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache 45 Minuten vorgesehen. — Ich sehe und höre keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.
Wird das Wort zur Berichterstattung gewünscht? — Das Wort hat der Abgeordnete Günther als Berichterstatter.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Im Ausschußbericht zum Sechsten Rentenversicherungs-Änderungsgesetz — Drucksache 10/5212 — ist auf der Seite 2 unter C „Alternativen" durch ein Versehen statt des richtigen Zeitraums „vor dem 1. Januar 1986" irrigerweise der Zeitraum „nach dem 1. Januar 1986" genannt. Ich möchte das hiermit zu Protokoll korrigieren.
Danke schön.
Ich eröffne die allgemeine Aussprache.
Das Wort hat der Abgeordnete Müller .
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Anerkennung von Kindererziehungszeiten im Rentenrecht ist seit Anfang dieses Jahres nicht mehr bloße Wahlkampfaussage, nicht mehr nur graue Theorie und nicht mehr nur Wunschdenken der Familienpolitiker, sondern diese Anerkennung ist Wirklichkeit geworden. Seit dem 1. Januar 1986 werden Erziehungszeiten in der Rentenversicherung angerechnet, und zwar rentenbegründend und rentensteigernd.Die christlich-liberale Koalition hat damit sozialpolitisches Neuland betreten und ein neues Kapitel in der Rentenversicherung aufgeschlagen. In der
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Müller
über hundert Jahre alten Geschichte der Sozialversicherung hat es diese Anerkennung von Erziehungszeiten bisher nicht gegeben. Wir haben damit begonnen, das Unrecht zu beseitigen, daß Frauen und Männer wegen Kindererziehung auf Erwerbstätigkeit verzichten und deshalb keine Rentenansprüche erwerben können. Kindererziehung und Erwerbsarbeit sind für uns gleich wichtig. Endlich wird seit dem 1. Januar 1986 die erzieherische Leistung im Rentenrecht anerkannt und bewertet.Die Praxis hat nun aber gezeigt, daß das neue Gesetz in Fällen gutverdienender Mütter und Väter statt der erwarteten Rentenerhöhung von 300 DM pro Jahr und pro Kind eine Rentenkürzung zur Folge haben kann. Das resultiert daraus, daß in Einzelfällen Kindererziehungszeiten geringer bewertet werden als bestimmte Ausfall- und Zurechnungszeiten. Das neue Gesetz, von CDU/CSU und FDP eingebracht, soll mögliche Benachteiligungen verhindern. So werden rückwirkend ab 1. Januar 1986 Günstigkeitsberechnungen von den Rentenversicherungen vorgenommen mit dem Ziel, keine Rentenminderungen eintreten zu lassen.Ich freue mich, meine Damen und Herren, daß im Ausschuß nicht nur die antragstellenden Fraktionen, sondern auch die SPD-Fraktion dieser Klarstellung zugestimmt hat.Meine Damen und Herren, die SPD hat weiterhin den Antrag gestellt, daß den Müttern, die bereits vor dem 1. Januar 1986 eine Versicherten- oder Witwenrente der gesetzlichen Rentenversicherung bezogen haben, für jedes Kind ein Kindererziehungszuschlag zur Rente gezahlt wird. Die Kosten hierfür betragen 4 Milliarden DM.
Meine Damen und Herren, diese Forderung kann man aus der Opposition heraus gut stellen. Denn da braucht man für seine Vorschläge finanziell nicht geradezustehen.
Die Frage, ob der geforderte Zuschlag gezahlt wird oder nicht,
ist aber nicht eine Frage des guten Willens, sondern eine Frage der finanziellen Spielräume. Die gesamte CDU/CSU-Fraktion, meine Damen und Herren, hätte es gern gesehen, wenn wir zum 1. Januar 1986 auch diejenigen Frauen hätten einbeziehen können, die bereits 65 Jahre alt sind und die in harter Arbeit aus dem Trümmerhaufen Deutschland wieder ein blühendes Land mitgeschaffen haben. Leider aber geht das aus finanziellen Gründen zur Zeit noch nicht. Und Sie, meine Damen und Herren von der SPD, sollten aufhören, den Sozialneid zu schüren und andere Gruppen wie z. B. die Landwirte gegen diese Frauen auszuspielen.
Sie hatten 13 Jahre lang Zeit, das zu tun, was Sie heute lauthals fordern. Sie wollen doch nur vergessen machen, daß Ihre Finanzminister es stets eiskalt abgelehnt haben, Kindererziehungszeiten zu finanzieren —
mit der Begründung, dafür sei kein Geld da.
Meine Damen und Herren von der SPD, ich habe es doch selbst in meiner Eigenschaft als Vorsitzender der KAB wenigstens ein halbes dutzendmal erlebt, als ich während Ihrer Regierungszeit bei Ihnen gewesen war. Sie haben mir, als ich dieses Anliegen vortrug, immer wieder erklärt: Das geht nicht. Dafür ist kein Geld da. Das ist nicht zu finanzieren. — Und ich habe auch nicht vergessen, wie der damalige Arbeitsminister Ehrenberg mit einer nicht mehr zu überbietenden sozialpolitischen Kälte und Herzlosigkeit die Annahme der von der KAB gesammelten Unterschriften verweigerte.
Mit über 1 Million Unterschriften forderten 1978 die Katholischen Arbeitnehmer die Anerkennung von Kindererziehungszeiten. Darauf haben Sie damals überhaupt nicht reagiert.
Und muß ich Sie an das von Ihnen geplante Babyjahr erinnern? Da wollten Sie doch auch ausgrenzen und die damals über 65 Jahre alten Menschen draußen lassen. Nein, meine Damen und Herren, ich meine, Sie haben jedes Recht verloren, meine Partei in dieser Frage weiter zu kritisieren. Helmut Kohl, Norbert Blüm und Heiner Geißler haben in den dreieinhalb Jahren ihrer Regierungsarbeit mehr auf den Weg gebracht als Sie in 13 Jahren.
Hören Sie doch auf, die alten Menschen zu Wahlkampfzwecken zu mißbrauchen und gegen uns aufzuwiegeln. Der ehrenwerte Herr Rau segelt am Rande der Heuchelei, wenn er uns in teuren Anzeigen — für über 1 Million DM — Anstand und Versöhnung zu verkaufen sucht. In Wirklichkeit wollen Sie doch gar nicht versöhnen, sondern spalten.
Und das, meine Damen und Herren von der SPD, wird Ihnen nicht gelingen.
Wir werden den Menschen offen und ehrlich sagen, was möglich ist und was nicht möglich ist.
Sie haben jahrelang Sozialpolitik auf Pump betrieben, und am Ende stand der größte Sozialabbau aller Zeiten.
Diesen für die kleinen Leute so verhängnisvollenWeg gehen wir nicht mit. Wir werden mit unserer
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Politik dafür sorgen, daß es mit der Wirtschaft weiter aufwärts geht. Und nur so schaffen wir
die Voraussetzungen dafür, daß wir in der Zukunft über eine weitere Ausgestaltung dieses Gesetzes zur Anerkennung von Kindererziehungszeiten im Rentenrecht ernsthaft nachdenken können.Vielen Dank.
Das Wort hat der Abgeordnete Heyenn.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Hier ist von Pump gesprochen worden. Lassen Sie mich nur kurz feststellen: Rente auf Pump hat es unter Sozialdemokraten nie gegeben. Dafür haben Sie während Ihrer Regierungszeit gesorgt.
Kaum in Kraft — ich meine die Anrechnung von Kindererziehungszeiten für jüngere Frauen —, bedarf es schon des ersten Korrekturgesetzes,
um zu verhindern, daß Rentenempfänger durch die Anrechnung von Kindererziehungszeiten schlechter gestellt werden als ohne die Anrechnung dieser Zeiten.
Diese Peinlichkeit wäre vermeidbar gewesen, hätten die Koalitionsfraktionen, hätte der Bundesarbeitsminister in den Ausschußberatungen auf die Sozialdemokraten gehört. Wir haben Sie darauf hingewiesen. Aber die derzeitige Mehrheit sagt: Was richtig ist, bestimmt die Mehrheit. So wird häufig Falsches durch Stimmenmehrheit zum Richtigen erklärt. Dieses Verhalten wird durch den permanenten Zeitdruck gefördert, unter dem sozialpolitische Beratungen seit 1983 stattfinden.
Ich habe den Eindruck, das ist eine Entwicklung, die die Regierung und die Koalitionsfraktionen
immer stärker der Fähigkeit beraubt, überhaupt auf Argumente der Opposition einzugehen. — Sie brauchen nicht den Kopf zu schütteln. Das Ergebnis ist doch die schlampige Arbeit, die wir heute korrigieren müssen, Herr Cronenberg.
Wir werden dieser Korrektur zustimmen; aber dabei wollen wir der augenblicklichen Mehrheit die Chance geben, zu einem viel bedeutsameren Antrag der SPD j a zu sagen. Wir fordern die Anrechnung von Kindererziehungszeiten auch für die älteren Frauen.
Stimmen Sie zu und korrigieren Sie eine der schreiendsten Ungerechtigkeiten dieser Legislaturperiode!
Ich fordere Sie auf: Hören Sie auf, den Bürgern Sand in die Augen zu streuen, sie zu verwirren und damit zu versuchen, von der unbarmherzigen Politik zu Lasten der älteren Frauen abzulenken! Der Bürger hat wenig davon:
- Was ist das, Kappes? Sie verweigern sich den älteren Frauen, Sie bestrafen die älteren Frauen.
Ich finde es bezeichnend, daß Sie sagen: Das ist Kappes.
Aber seien wir doch mal ehrlich!
Das ist doch alles nur Verwirrung. Was hat der Bürger davon, wenn Sie immer sagen, die SPD hätte in den 70er Jahren das machen können,
und wenn wir immer sagen: Warum haben Sie es 1972 verhindert?! Lassen Sie uns doch darüber reden, was heute ist, und hören Sie auf, das Schreckgespenst mit den fünf bis sechs Milliarden an die Wand zu malen;
dies dient ebenfalls nur der Verschleierung. Damit wollen Sie begründen, daß Sie es nicht finanzieren können. Sie dividieren die Frauen in zwei Lager auseinander,
indem Sie die Frauen über 65 von der rentensteigernden Wirkung der Kindererziehungszeiten ausschließen. Sie bestrafen diese Frauen. Sie vergessen dabei, daß es gerade die Kinder dieser Frauen sind, die mit ihren Steuern das Babyjahr für die jüngeren Frauen finanzieren.
Unser Vorschlag kostet nach den bisherigen, auch von dem Verband Deutscher Rentenversicherungsträger gestützten Berechnungen knapp 4 Milliarden DM. Diese Ausgaben werden allmählich absinken. Wir beziehen mit unserem Antrag alle Frauen ein, für die im Januar dieses Jahres ein Rentenanspruch bestand. Wir beziehen auch alle Frauen ein, die lediglich eine Witwenrente beziehen.Da klopft der Arbeitsminister Sprüche. Er erklärt vor wenigen Tagen: „Also, natürlich gibt es Alters-
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Heyennarmut, und eine Gesellschaft wäre hartherzig, würde sie die Augen davor verschließen; nur, die Rentenversicherung, die mit Beiträgen finanziert wird, kann nicht alle sozialen Fragen lösen; dafür sind die Steuerzahler, also auch die besser Verdienenden, zuständig." — So weit, so gut, Herr Blüm. Aber was nützt es den von Altersarmut Betroffenen — und das sind zum großen Teil Frauen —, wenn Sie deren Lage anerkennen, aber Lösungen zugunsten dieser Frauen vermeiden, weil Sie diese älteren Frauen abgeschrieben haben, weil Sie die Gesellschaft in zwei Teile spalten.
Am Geld kann es doch nicht liegen, Herr Müller. Am Geld kann es nicht liegen. Es kommt doch nur darauf an, wo man Prioritäten setzt. Sie setzen die Prioritäten in Milliarden-Ausgaben-Programme für neue Beschaffungsprogramme der Bundeswehr.
Sie setzen Prioritäten bei der frühen Pensionierungsgrenze für Bundeswehroffiziere. Sie setzen Prioritäten bei der Landwirtschaft. Von einem neuen Milliarden-Ding von Herrn Kiechle vor der Niedersachsenwahl haben wir schon gehört. Sie vermeiden es, die besser Verdienenden zu einer Ergänzungsabgabe heranzuziehen, damit nur die unten belastet und die oben geschont werden. Geld ist vorhanden. Es kommt darauf an, wie man Politik gestalten will.
Für all das Schwere, das ältere Frauen erlebt haben, werden sie heute mit der unbarmherzigen Politik dieser Regierung bestraft. Da bezeichnet in diesen Tagen die Gewerkschaft Textil und Bekleidung den Ausschluß der als „Trümmerfrauen" in die deutsche Geschichte eingegangenen Personen als moralisch verwerflich. Da fordert die Arbeitsgemeinschaft Hamburger Frauenorganisationen, die immerhin 300 000 Frauen vertritt, daß Kindererziehungszeiten auch bei den älteren Frauen angerechnet werden, und sagt: Die Behandlung der Jahrgänge der älteren Mütter ist ein sozialpolitischer Skandal, der nicht entschuldbar ist.
So könnte ich weiter zitieren. Aber dies alles beeindruckt die Regierung nicht.Ich möchte Sie bitten, mir zwei Minuten lang zuzuhören, wenn ich aus einem Brief vorlese, der von einer Frau aus einem Ort in Süddeutschland an Herrn Bundesarbeitsminister Blüm gerichtet wurde. Wir haben von diesem Brief eine Kopie erhalten.Diese Frau schreibt:Sehr geehrter Herr Minister Blüm! Laut Nachrichtenmeldung haben sich bei Ihrer Mütterbelohnungsaktion 1921 inzwischen Gesetzeslükken herausgestellt. Ein echtes Reformbedürfnis werden in der Bundesrepublik etliche Mütter bejahen, und zwar diejenigen, deren Geburt vor dem Jahre 1921 liegt, die auch Kinder geboren und ihre Berufstätigkeit aufgegeben haben, um sich der Erziehung ihrer Kinder widmen zu können.Nur hatten diese Mütter, die ihre Kinder in den Kriegsjahren geboren haben — und das waren vorwiegend die Jahrgänge der Frauen 1900 bis 1920 —, weitaus schwerere Belastungen zu tragen. Es ging damals um das Existentielle, um das Überleben: nachts mit den winzigen Geschöpfen in den Bunker, tagsüber stundenlang Schlangestehen mit den Lebensmittelkarten, ein Kind am Arm, das andere am Rücken aufgebunden.So sah das damals aus, Herr Minister. Sie selbst waren zu dieser Zeit noch ein Kind und haben scheinbar bis heute nicht erfaßt, was Ihre Mutter damals für Sie leisten mußte.
Auch für das Wegräumen von Schutt und Trümmern waren wir dem neuen demokratischen Staat alt genug. Wochenlang haben wir — und es waren mit uns viele Berlinerinnen — ganze Straßenzüge vom Ruinenschutt gesäubert, in unseren alten Klamotten und mit gestelltem Eimer. Da wurde beileibe nicht nach dem Alter gefragt.Wir haben in Berlin Kinderkrippen eingerichtet und ältere Aufsichtspersonen organisiert,
damit wir unsere Kinder für ein paar Stunden dort unterbringen und ungehindert arbeiten konnten -- arbeiten für Gotteslohn in Schutt, Staub und Trümmern, aber im Glücksgefühl, im guten Glauben an die neue, gerechte Republik.Und 1945, als die Russen kamen, Herr Minister, glauben Sie, die haben gefragt, ob man 24 oder 25 Jahre alt war? Nein, dieses Unterscheidungsmerkmal der Mütter ist Ihnen vorbehalten geblieben, Herr Dr. Blüm.Ende 1984 hörte ich ein mit Ihnen geführtes Interview. Da wollten Sie das Jahrhundertunrecht für die Mütter gutmachen. Mit dem von Ihnen ausgearbeiteten Gesetz haben Sie das Unrecht erst heraufbeschworen, indem Sie das Jahrhundert zerschnitten haben.Die Mütter, die Sie heute und in Zukunft belohnen, haben ihre Kinder in Ruhe, ohne Bomben und in gesicherten Ernährungsverhältnissen, ohne Hunger und ohne Schlangestehen aufziehen können. Sehen Sie darin die Wiedergutmachung des Jahrhunderts?Ihre kranke Logik, kann sie darin liegen, daß diese Mütter unter besonders erschwerten Bedingungen ihre Kinder aufziehen mußten?
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 208. Sitzung. Bonn, Freitag, den 21. März 1986 15963
HeyennIch glaube, dies ist ein erschütternder Brief. Er steht für tausend andere, die in dieser Sache geschrieben wurden. Ich glaube, Sie entlarven sich selbst, wenn Sie sagen: Dies hat etwas mit dem Neidkomplex zu tun. Ich würde sagen: Dies hat etwas damit zu tun, daß Opfer und persönliche Entbehrungen von Ihnen gering geachtet werden,
denn gerade ältere Frauen haben mit ihren Minirenten eine Anpassung ihrer Bezüge besonders nötig. 57 % der ehemaligen Arbeiterinnen erhielten Mitte 1984 eine Rente von unter 500 DM. Über einen Betrag zwischen 500 DM und 1000 DM verfügten 34 % der ehemaligen Arbeiterinnen.Meine Damen und Herren, unabhängig davon, ob die vom Reichsbund in diesen Tagen angegebenen Kosten der von uns beantragten Erhöhung, nämlich unter 4 Milliarden DM, zutreffen, eines steht fest: Dieses Babyjahr für ältere Frauen ist gerechtfertigt. Es entspricht der moralischen Verpflichtung der heute arbeitenden Generation, und es ist finanzierbar.
Meine Damen und Herrn von der CDU, Sie haben in den letzten Tagen einen Seniorenkongreß durchgeführt. Dessen Motto lautete „Selbständig, sicher, geborgen — für ein glückliches Leben im Alter". Dieses Motto ist vor dem Hintergrund der Bestrafung der älteren Frauen die Verhöhnung einer ganzen Generation.
Aber da gibt es viele Frauen, Frau Minister Süssmuth,
die von Ihren Worten zur Familienpolitik angetan sind,
die sich daran erinnern, daß Sie vor Ihrem Amtsantritt in dieser Bundesrepublik die Familienpolitik der Bundesregierung mit dem Prädikat „unzufrieden" belegt haben.
Heute verbreiten Sie landauf, landab Hoffnungen. Von Herrn Blüm will ich nicht mehr reden; er hat zu Anfang auch Hoffnungen erweckt, und er hat bitter enttäuscht.
Nun fragen diese Frauen: Wird das mit der Frau Süssmuth genauso laufen wie mit dem Blüm: schöne Worte und sonst nichts?
Sie haben sich draußen im Lande, Frau Minister, für die Einbeziehung der älteren Frauen ausgesprochen. Hier und heute ist die Nagelprobe: Bleibt diese Regierung beim Nein, sind ihr auch in Zukunft die jüngeren Frauen mehr wert als die älteren, dann entlarvt sich Frau Süssmuth genauso, wie sich Herr Blüm entlarvt hat.
Ich glaube, ihr Wirken wird dann in dieser Bundesregierung darin bestehen, ein Potemkinsches Dorf aufzubauen.Meine Damen und Herren, ich habe den Wahlkampf in Schleswig-Holstein in guter Erinnerung. Journalisten wollten es vielfach nicht glauben, wenn wir ihnen erzählten, daß viele ältere Frauen zu uns an die Info-Stände gekommen sind und sich darüber beklagt haben, daß sie von den Kindererziehungszeiten ausgeschlossen werden. Das Ergebnis der Wahlen vom 2. März 1986 ist Ihnen bekannt. Im Lande des großen Hoffnungsträgers der Union, im Lande des Herrn Dr. Stoltenberg, gab es eine vernichtende Niederlage für die CDU und für die FDP. 5 von 6 Verlustpunkten der CDU hat der Ministerpräsident Barschel der Bundesregierung in die Schuhe geschoben, und aus Kreisen der schleswigholsteinischen Landesregierung hören wir — ich glaube, da liegt sie mal richtig —, daß nicht nur von den Landwirten, sondern insbesondere aus der Generation der älteren Frauen, die Sie bestrafen, Wahlenthaltung zu Lasten der jetzigen Regierungsparteien hier in Bonn geübt worden ist.
Wir geben der Regierungskoalition heute die Chance, den Eckpunkten zu einem schlechten Abschneiden 1987, nämlich der Rekordarbeitslosigkeit des besten Arbeitsministers aller Zeiten, der Situation nach der Verabschiedung des § 116 AFG nicht noch einen weiteren hinzuzufügen. Tilgen Sie diese Bestrafung der älteren Frauen, nehmen Sie unseren Antrag an!
Wenn Sie nein sagen, wenn Sie die Trümmerfrauen weiter bestrafen, dann werden wir Sozialdemokraten nicht nachlassen, dieses Verhalten bis ins letzte Altersheim, bis in den letzten Altentreff hineinzutragen
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15964 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 208. Sitzung. Bonn, Freitag, den 21. März 1986
Heyennund zu sagen, wie Sie sich gegenüber der älteren Generation verhalten. — Warum sind Sie so aufgeregt, trifft es Sie so? Es soll Sie auch treffen.
Ich möchte den betroffenen Frauen sagen: Schreiben Sie uns weiter über Ihre Probleme! Denken Sie daran: Nur mit dem Stimmzettel in Niedersachsen, in Hamburg, in Bayern und im Januar 1987 können Sie dazu beitragen,
uns Sozialdemokraten in die Lage zu versetzen, diese Bestrafung der älteren Frauen, zu beenden und Kindererziehungszeiten allen Frauen in dieser Gesellschaft anzurechnen.
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Dr. Adam-Schwaetzer.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Heyenn, was Sie hier soeben gemacht haben, ist nicht nur bösartig, es ist auch unanständig.
Es ist bösartig und auch unanständig, anderen anzulasten, daß sie nicht tun, wozu man selber nicht fähig gewesen ist, als man noch in der Lage dazu war.
— Wenn Sie einmal zuhören, werden Sie das sehr wohl sehen. — Ich möchte das begründen. Ich beziehe mich hier zunächst auf 1972 — das haben wir hier im Bundestag im übrigen schon häufig genug behandelt — und lese einmal vor, was die SPDAbgeordnete, die Sozialdemokratin Frau Schlei 1972 zur Einführung von Kindererziehungszeiten gesagt hat:
Besonders gründlich wurde auch die Frage der sogenannten alten Last geprüft, also das Hineinnehmen der Mütter, die bereits Rentnerinnen sind, in die Vergünstigung.
Der Kindererziehungszeiten.
Diesen Frauen haben ihre Mutterschaft unter viel schwierigeren materiellen Bedingungen bestehen müssen, als das heute allgemein der Fall ist.
Dann kommt noch etwas anderes. Ich verzichte darauf, das hier jetzt vorzulesen. Dann geht es weiter:
Der Verzicht auf diese Lösung
— die Einbeziehung dieser Mütter —
fiel uns allen schwer.
Dem Protokoll vom 21. Juni 1972 ist zu entnehmen, daß auch die Kollegen der Opposition
— also damals die CDU —,
dieses Problem gern positiv geregelt gesehen hätten ...
Sehen Sie, meine Damen und Herren, das bezeichne ich als scheinheilig:
sich hier heute hinzustellen und mit diesen Worten zu beklagen, daß wir — wenn auch nicht im wünschenswerten Umfang — die Anrechnung von Kindererziehungszeiten eingeführt haben. Nicht einmal dazu ist die sozialliberale Koalition in der Folge noch gekommen! Wir, die Koalition aus CDU/CSU und FDP, haben die Anrechnung von Kindererziehungszeiten im Rentenrecht überhaupt erst eingeführt.
Sich hinzustellen und uns vorzuwerfen, daß wir zwar etwas gemacht haben, allerdings das, was auch Sie damals nicht machen wollten, heute nicht tun, bezeichne ich als scheinheilig.
Meine Damen und Herren, ich beziehe mich ausdrücklich nicht nur auf 1972. 1972 ist der Antrag nicht zum Zuge gekommen, weil die CDU/CSUFraktion und auch ein Teil der damaligen FDPFraktion dagegengestimmt haben. Aber, meine Damen und Herren: Ich selbst bin seit 1980 hier im Bundestag. Ich weiß, daß eine Regelung von Kindererziehungszeiten im Rentenrecht mit der damaligen sozialdemokratischen Fraktion überhaupt nicht möglich gewesen wäre.
Frau Abgeordnete, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Glombig?
Nein, Herr Präsident.
Ich habe hier noch eine ganze Menge zu sagen.
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 208. Sitzung. Bonn, Freitag, den 21. März 1986 15965
Frau Dr. Adam-Schwaetzer— Herr Präsident, hier steht der sicherlich nicht parlamentarische Vorwurf der Lüge im Raum. Jetzt möchte ich die Zwischenfrage des Kollegen Glombig trotzdem zulassen; denn ich möchte das nicht so im Raum stehen lassen.
Herr Abgeordneter Glombig, wollen Sie die Zwischenfrage stellen?
Bitte sehr, Sie haben die Gelegenheit.
Aber sehr verspätet habe ich die Gelegenheit. Ich bin doch kein Stehauf-Männchen.
Frau Dr. Adam-Schwaetzer, ist Ihnen eigentlich bekannt, daß es im Jahre 1972, als Sie noch nicht Mitglied des Deutschen Bundestages waren — Sie haben es ja gesagt, Sie sind erst seit 1980 Mitglied des Deutschen Bundestages —, eine sozialliberale Koalition unter Beteiligung der FDP gegeben hat? Und wenn Ihnen dies bekannt sein sollte, dann müßte Ihnen, wenn Sie sich um die Geschichte der Rentenreform 1972 bekümmert hätten, eigentlich auch bekannt sein, daß die Einführung von Kindererziehungszeiten — über das Problem der Schließung von Versicherungslücken für Frauen hinaus — von Ihnen 1972 in Verhandlungen abgelehnt worden ist.
Herr Kollege Glombig, ich habe in meinen Ausführungen ausdrücklich darauf hingewiesen, daß es damals eine sozialliberale Koalition gegeben hat. Ich habe ausdrücklich darauf hingewiesen, daß auch ein Teil der Kollegen aus der damaligen FDP-Fraktion diese Regelungen nicht mitgemacht hat. Ich ergänze jetzt, daß die Mehrheit der FDP — auch auf Grund der Programmlage der Partei — die Einführung von Kindererziehungszeiten wollte.
Aber, Herr Glombig, ich weiß aus eigener Erfahrung, daß Altbundeskanzler Schmidt und mit ihm die große Mehrheit der sozialdemokratischen Fraktion in der Folge nicht mehr bereit waren, über dieses Thema noch einmal zu sprechen.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, der vorgelegte Gesetzentwurf schließt eine Lücke, die im nachhinein aufgefallen ist, nachdem das Gesetz zur Anerkennung von Kindererziehungszeiten hier im Deutschen Bundestag verabschiedet worden ist. Die Lücke besteht darin, daß Frauen, die im Jahr nach der Geburt des Kindes gearbeitet und in dieser Zeit mehr Geld als der Durchschnitt der Arbeitnehmer verdient haben, bei der Anrechnung von Kindererziehungszeiten benachteiligt werden. Dies halten wir für falsch. Deshalb wird für die Zukunft klar und eindeutig geregelt, daß in jedem Fall der für die
Frauen günstigere Berechnungsfall zugrunde gelegt wird.
Wir begrüßen es ausdrücklich, daß die Koalition aus CDU/CSU und FDP zum ersten Mal überhaupt diesen entscheidenden Schritt getan hat, die Anrechnung von Kindererziehungszeiten im Rentenrecht zu verankern.
Die Rentenversicherung kann nur dann leben, wenn der Generationenvertrag erfüllt wird. Das gilt heute, und das gilt auch für die Zukunft. Deshalb sind wir all den Eltern schuldig, daß die Kindererziehungszeiten ihren gebührenden Platz bei der Berechnung von Renten finden. Wir sind es den Müttern schuldig, die heute wie früher ihre Aufgabe erfüllen. Ich sage es noch einmal, weil das immer wieder in Zweifel gezogen wird: Hierbei handelt es sich um eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Die Kosten, die dadurch entstehen, sind aus dem Bundeshaushalt zu tragen und nicht von der Rentenversicherung.
Wir haben das bei der Verabschiedung des Gesetzes damals durchgesetzt, und wir werden auch für die Zukunft dabei bleiben.
Wir geben dem vorliegenden Gesetzentwurf die Zustimmung und werden den Änderungsantrag der Sozialdemokraten ablehnen.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Mann.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Bundesarbeitsminister! Der Gesetzentwurf, der hier heute zu behandeln ist, beweist, daß das angebliche Rentenreformpaket, nämlich das am 21. Juni 1985 vom Bundestag verabschiedete, am 1. Januar 1986 in Kraft getretene Hinterbliebenenrenten- und Erziehungszeiten-Gesetz ein schludriges und wenig durchdachtes Gesetz ist, typisch für die Qualität der Gesetzgebung unter der Regierung Kohl/Bangemann mit dem Nebenkanzler Strauß in München.
Wir haben bereits bei den Beratungen des sogenannten Rentenreformpakets auf die verfassungsrechtliche Problematik hingewiesen, Rentnerinnen und Rentner ungleich zu behandeln, nur weil sie verschiedenen Jahrgängen angehören. Was Sie hier heute korrigieren müssen, ist nur die Spitze des Eisbergs. Die Hauruckgesetzgebung der konservativ-liberalen Koalition brachte Verbesserung fast ausschließlich für die Männer. Das ist ein sozialpolitischer Skandal. Es ist für die Millionen von Rentnerinnen und Rentnern in der Bundesrepublik Deutschland kaum einzusehen, warum auf Grund
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Manndes Bundesverfassungsgerichtsurteils den Männern die Witwerrente zugestanden worden ist, während für die über 65jährigen Frauen kein Geld zur Verfügung stehen soll. Die Forderung einer rentenrechtlichen Anerkennung der Kindererziehungszeiten für alle Frauen, also auch für die vor dem 1. Januar 1921 geborenenen sogenannten Trümmerfrauen, die in den Kriegs- und Nachkriegsjahren ohne die Hilfe ihrer Männer ihre Kinder unter großen Entbehrungen erziehen mußten, ist sozial-, familien- und rechtspolitisch berechtigt. Warum sollen Frauen im Alter dafür bestraft werden, daß sie ihre Kinder erzogen haben? Es ist paradox, daß das Hinterbliebenenrenten- und Erziehungszeiten-Gesetz von den Frauen verlangt, nach der Geburt ihres Kindes allenfalls geringfügig erwerbstätig zu sein. Denn bei mehr als 75 % des Durchschnittseinkommens verlieren Frauen den Anspruch auf das Babyjahr. Andererseits werden die Frauen, denen wir den Wiederaufbau nach dem Krieg zu einem großen Teil verdanken, dafür bestraft, daß sie genau dies getan haben. Ihnen wird die Anrechung der Erziehungszeit ohne sachliche Rechtfertigung verweigert.Die GRÜNEN im Bundestag unterstützen die verschiedenen Initiativen, die in den letzten Wochen und Monaten an uns herangetragen worden sind, z. B. von Frauen- und Altenorganisationen, von den DGB-Frauen über die Grauen Panther bis zum Deutschen Familienverband. Diese Initiativen wehren sich gegen die Ausgrenzung der heutigen Rentnerinnen aus durchsichtigen finanzpolitischen Gründen.Uns haben in den letzten Tagen noch verschiedene Schreiben erreicht. Ich möchte beispielhaft erwähnen ein Schreiben der Gewerkschaft Nahrung, Genuß, Gaststätten und der IG Metall. Ich muß mir aus Zeitgründen erparen, daraus zu zitieren. Im Petitionsausschuß liegen uns Petitionen z. B. des Seniorenrates der Stadt Dortmund vor. Ein Schreiben des Rentnerforums Herne vom 6. März 1986 habe ich vor mir liegen.Ich möchte zum Schluß für unsere Fraktion erklären, daß wir diesem Gesetz, dieser notwendigen Korrektur natürlich zustimmnen. Ich möchte weiter erklären, daß wir dem SPD-Antrag zustimmen. Was Ihre Vergangenheitsbewältigung angeht, Frau Dr. Adam-Schwaetzer und die Kollegen von der SPD-Fraktion, möchte ich Ihnen von dieser Stelle aus sagen: Wir sollten nicht das beklagen, was in der Vergangenheit falsch gelaufen ist, sondern wir sollten sozialpolitisch das tun, was die Frauen von uns zu Recht erwarten.
Herr Blüm, ich erinnere Sie an meine Zwischenfrage vom 21. Juni 1985: Warum sind wir, wenn wir das politisch wollen, nicht in der Lage, diese 4 Milliarden DM
für die von der SPD hier und heute vorgeschlagenesozialpolitische Verbesserung aufzubringen, z. B.aus dem Verteidigungshaushalt, der mit allen indirekten Kosten über 80 Milliarden DM ausmacht, z. B. aus dem Bereich der Subventionen für die Landwirtschaft? Wenn wir das politisch wollen, ist das überhaupt kein Problem. Aber Sie sind nicht bereit zu solchen sozialpolitischen Verbesserungen.Ganz zum Schluß möchte ich an die Kolleginnen und Kollegen von der SPD-Fraktion die Bitte richten, mit uns gemeinsam zu prüfen, ob sich die GRÜNEN und die SPD nicht im Wege einer Organ- oder Normenkontrollklage gemeinsam an das Bundesverfassungsgericht wenden sollten, um diese skandalöse sozialpolitische Ungleichbehandlung überprüfen zu lassen. Wir sollten nicht nur Krokodilstränen weinen, sondern wir sollten versuchen, gemeinsam die notwendige sozialpolitische Gerechtigkeit für die Trümmerfrauen herzustellen.Vielen Dank.
Ich erteile das Wort dem Herrn Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Kollege Heyenn hat den Zeitdruck beklagt, unter dem wir Sozialpolitik betreiben müssen. Ich stimme mit dem Arbeitsministerium in diese Klage ein. Ich verstehe sehr gut, daß der Ausschuß für Arbeit unter einer großen Arbeitsbelastung steht. Nur, Herr Kollege Heyenn, die Frage ist, warum: Weil unsere Vorgänger ihre Hausaufgaben nicht erledigt haben,
weil Sie uns so viele Probleme hinterlassen haben. Wenn das Verursacherprinzip gilt, müssen Sie Ihre Klage an Ihre eigene Partei richten.
— Dann sollten Sie sich auch einmal entscheiden, welcher Vorwurf jetzt gilt. Einerseits werfen Sie mir vor, ich sei untätig. Kaum haben Sie Atem geholt, sagen Sie im nächsten Satz, wir legten zu viele Gesetze vor. Was ist denn jetzt?Ich glaube in der Tat, wir stehen unter einem großen Handlungszwang, weil auch sozial- und gesellschaftspolitisch noch vieles gelöst werden muß.Das Rentenversicherungs-Änderungsgesetz, das wir heute vorlegen, betrifft zwar keine große Zahl von Frauen. Aber wir machen Sozialpolitik nicht erst, wenn Massen betroffen sind. Wir wollen, daß durch die Einführung von Kindererziehungszeiten kein rentenpolitischer Besitzstand gefährdet ist. Die Wege der Rentenversicherung sind so kompliziert, daß offenbar die Gefahr besteht, daß das bei einigen der Fall ist. Das wollen wir mit diesem Gesetz ausschließen.Ich bedanke mich dafür, daß wir in dieser Frage — daß der Besitzstand gewahrt bleiben soll — übereinstimmen.
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 208. Sitzung. Bonn, Freitag, den 21. März 1986 15967
Bundesminister Dr. BlümZu den Kindererziehungszeiten selbst: Ich halte sie für den größten rentenpolitischen Durchbruch dieser Legislaturperiode.
Wenn wir in der ganzen Legislaturperiode nichts anderes gemacht hätten, als Kindererziehungszeiten einzuführen — wir haben sehr viel mehr gemacht: die Renten gesichert, die Hinterbliebenenreform durchgeführt, auch für die Frauen die Wartezeit gesenkt, damit sie schon nach fünf Jahren Ansprüche haben; vieles, vieles haben wir gemacht —, würde bereits das allein die Existenz dieser Bundesregierung in Sachen Rentenpolitik rechtfertigen.
100 Jahre ist darüber geredet worden; 100 Jahre reden, reden, davon 13 Jahre unter Ihrer Federführung. 100 Jahre lang ist nichts geschehen. Endlich wird die Rentenversicherung ihrem Anspruch gerecht, nämlich daß sie drei Generationen umfaßt, daß die Kinder von heute die Rentenversicherung von übermorgen sichern. Die Kinder von heute sind die Beitragszahler. Insofern ist die Einführung von Kindererziehungszeiten kein Geschenk der Rentenversicherung, sondern endlich die Honorierung dafür, daß der Generationenvertrag auf Kinder und Kindererziehung angewiesen ist. Wer Kinder erzieht, leistet genausoviel, wie jeder Erwerbstätige für die Rentenversicherung leistet.
Meine Damen und Herren, mit Ihnen standen wir vor der Frage: Wie führen wir die Anerkennung von Kindererziehungszeiten ein? Da gibt es drei Möglichkeiten.Die erste Möglichkeit: für alle, in der Vergangenheit, in der Gegenwart und in der Zukunft. Daran gibt es doch keinen Zweifel: Sie für alle einzuführen ist die einzig befriedigende Lösung. Ich will doch gar nicht in Zweifel ziehen, daß unsere Lösung nicht alle Wünsche, nicht alle Hoffnungen erfüllt. Für alle: Das wäre die einzig gerechte Lösung gewesen.Sie war nicht finanzierbar. Sie kostet auf Anhieb 5 bis 6 Milliarden DM. Herr Mann, wenn Sie sagen, wir sollten dieses Geld beim Verteidigungshaushalt wegnehmen: Ich bin dafür, daß die Mittel beim Verteidigungshaushalt bleiben, damit keine Mutter mehr ihren Sohn in den Krieg schicken muß.
Für mich ist die Bundeswehr ein Friedenssicherungsinstrument. Nichts ist für die Mütter wie für die Väter wichtiger — noch wichtiger als Kindererziehungszeiten —, als daß der Frieden gesichert bleibt.Wenn die 5 bis 6 Milliarden DM nicht vorhanden waren, ergab sich eine zweite Alternative: Wir führen das Kinderjahr nur für diejenigen ein, deren Kinder nach Inkrafttreten des Gesetzes geboren werden. Das sind die Mütter von heute; aber bis die ins Rentenalter kommen, vergehen in der Regel 20 bis 30 Jahre. Das hieße, die Einführung von Kindererziehungszeiten praktisch erst in 20 bis 30 Jahren realisieren. So eine Reform machen wir nicht. Dann bin ich nicht mehr im Amt. Ich bin zwar noch lange im Amt, aber 30 Jahre halte ich für zu lange.
Das wäre eine Reform nur mit Ankündigungen, mit Vertröstungen.Dann bleibt eigentlich nur die mittlere Lösung übrig: Wenn nicht für alle und wenn nicht erst für die Kinder, die jetzt geboren werden, dann für die Frauen, die jetzt in Rente gehen. Das ist die mittlere Lösung: für die Frauen, die nach Inkrafttreten des Gesetzes in Rente gehen. Wir mußten das an dem Jahrgang 1921 festmachen. Das sind die heute 65jährigen. Aber auch diejenigen, die schon in Rente sind, aber noch nicht 65 Jahre sind, werden es erhalten, denn sonst käme ja die Ungereimtheit zustande, daß eine 60jährige Mutter Kindererziehungszeiten angerechnet bekommt, während ihre 30jährige Tochter, die eine Erwerbsunfähigkeitsrente bekommt, weil sie einen Unfall hatte, keine Kindererziehungszeiten erhält. Das ist ganz praktische Sozialpolitik.Jetzt frage ich Sie, meine Damen und Herren — gerade die Sozialpolitiker —: Sollten wir es, wenn es nicht für alle geht, um eines abstrakten Gleichheitsbegriffs willen für niemanden einführen? Das wäre dann auch gerecht. Nur, ich frage: Was hätten die Alteren davon, daß die Jüngeren es auch nicht bekommen?
Hätten die nur eine Mark mehr? Was ist das für eine weltferne Sozialpolitik? Ich mache das, was jetzt möglich ist. Diejenigen, die immer warten, bis die perfekten Lösungen möglich sind, sind meistens alt geworden, gestorben, haben das nicht erlebt. Das jetzt Mögliche zu tun ist die beste Tradition der Sozialpolitik. Sie hat immer den Schritt unternommen, der jetzt möglich war, auch wenn das Ziel nicht in einem Schritt erreicht wurde. Es ist erforderlich, den Schritt zu machen, der jetzt möglich ist.Meine Damen und Herren, hätten Sie 1969 den Schritt gemacht, den wir jetzt machen, dann wäre die Grenze nicht der Jahrgang 1921; dann wäre die Grenze 1905. Sehen Sie, da wären schon ganze Jahrgänge in den Genuß dieser Kindererziehungszeiten gekommen. Die Sozialpolitik war immer an der Kunst des Möglichen orientiert. Sie war nie revolutionär. Die Revolutionäre wollten immer mit einem Schlag alle Probleme lösen. Wenn sie aufgewacht sind, lag die Welt in Trümmern. Sozialpolitik wurde immer Schritt für Schritt betrieben.
Sie haben über das Babyjahr gesprochen — gesprochen und gesprochen. Ich frage Ihre Generation: Was haben Sie von Ihren Reden gehabt? Selbst wenn Sie es durchgeführt hätten: Ihr Babyjahr war ganz anders konstruiert. Es war als Ausfallzeit für die berufstätigen Frauen gedacht. Bei Ihnen hätten weder die Hausfrauen der Vergangenheit noch die
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Bundesminister Dr. BlümHausfrauen der Zukunft — überhaupt keine Hausfrau — Kindererziehungszeiten gewährt bekommen.
Auch für die Berufstätigen wollten Sie sich — das hat schon meine verehrte Kollegin Adam-Schwaetzer vorgetragen —, weil Sie mit den Mitteln haushalten wollten und obwohl Sie 200 Milliarden DM verteilt hatten, dennoch nur auf die Zukunft beschränken. Sie wollten es von den Rentenversicherungsträgern bezahlen lassen. Wäre das damals Wirklichkeit geworden, hätte die Rentenversicherung inzwischen 18 Milliarden DM zahlen müssen. Sie hätten mit dieser Lösung die Rentenversicherung in den Keller gefahren.Zweitens — und das muß man sich auf der Zunge zergehen lassen —: Sie wollten es als Ausfallzeit und damit von der Rentenhöhe abhängig einführen. Das war Ihr sozialdemokratisches Babyjahr. Mit anderen Worten: große Rente — großes Baby;
kleine Rente — kleines Baby. Ja, das war Ihr Reformvorschlag als Lehrmeister unserer Kindererziehungszeiten: für die kleine Rentnerin pro Kind 2,50 DM, für die große Rentnerin über 50 DM. Für uns ist Kind, Kind.
Meine Damen und Herren, ich bleibe dabei: Mich schmerzt es — das will ich nicht in Abrede stellen —, daß wir nicht alles auf einmal tun können. Aber wir bleiben an diesem Problem. Wir zerbrechen uns den Kopf, um es zu lösen. Aber bevor wir uns der Alternative „alles oder nichts" stellen und im Nichts landen, machen wir wenigstens einen Schritt.Ich verstehe den Protest der älteren Generation. Wenn sie protestiert hätte, hätte ich das viel besser als alle Proteste um den § 116 verstanden. Ich appelliere an diese Generation, die in ihrem Leben erfahren hat, was Solidarität bedeutet.
Sonst hätte sie nicht die schweren Kriegszeiten in Luftschutzbunkern überlebt und nicht dieses Land mit ihrer Opfergesinnung ohne Wehleidigkeit aufgebaut.Gerade diese Generation soll, an meine Stelle gestellt, die Frage beantworten: Sollen wir, weil wir es für die Großmutter nicht einführen können, die Kindererziehungszeiten den Töchtern und Enkeln auch nicht gönnen? Sollten wir nicht irgendwann einmal anfangen?Meine Mutter — das weiß ich; ich brauche sie gar nicht zu fragen — sagt: Schön wäre es, wenn ihr das für alle einführen könntet; aber wenn ihr es nicht für alle einführen könnt, beseitigt wenigstens das Unrecht bei meinen Schwiegertöchtern und Enkelinnen. So denkt meine Mutter.
Sie versteht nichts von Revolution oder Ideologie;sie versteht nur, daß man im Leben nicht alles aufeinen Schlag erreichen kann, daß man nicht mit dem Kopf durch die Wand kann.Wir haben die Weichen neu gestellt und endlich— nach 100 Jahren Rentenversicherung — die Leistungen der Mütter zum erstenmal in der Rente anerkannt. Wenn wir Geld haben, werden wir es perfekt machen. Solange wir kein Geld haben, werden wir es Schritt für Schritt machen. Aber wir haben wenigstens damit angefangen.
Meine Damen und Herren, weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die Aussprache.Wir kommen zur Einzelberatung und Abstimmung. Ich rufe die Art. 1 bis 3 auf. Wer den aufgerufenen Vorschriften zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. — Wer stimmt dagegen?— Enthaltungen? — Die aufgerufenen Vorschriften sind angenommen.Ich rufe Art. 4 auf. Hierzu liegt auf der Drucksache 10/5216 unter Ziffer 1 ein Änderungsantrag der SPD vor. Wer stimmt für diesen Änderungsantrag? — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Der Änderungsantrag ist abgelehnt.Wer stimmt für Art. 4 in der Ausschußfassung? — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Art. 4 ist angenommen.Ich rufe Art. 5 auf. Hierzu liegt auf Drucksache 10/5216 unter Ziffer 2 ein Änderungsantrag der SPD vor. Wer stimmt für diesen Änderungsantrag? — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Der Änderungsantrag ist abgelehnt.Wer stimmt für Art. 5 in der Ausschußfassung? — Die Gegenprobe! — Enthaltungen? — Der Art. 5 ist angenommen.Ich rufe Art. 6 auf. Hierzu liegt auf Drucksache 10/5216 unter Ziffer 3 ein Änderungsantrag der SPD vor. Wer stimmt für den Änderungsantrag?— Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Der Änderungsantrag ist abgelehnt.
Wer stimmt für den Art. 6 in der Fassung der Ausschußvorlage? — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Der Art. 6 ist angenommen.Ich rufe die Art. 7 und 8, Einleitung und Überschrift auf. Wer zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Die aufgerufenen Vorschriften sind angenommen.Wir treten in diedritte Beratungein und kommen zur Schlußabstimmung. Wer dem Gesetzentwurf als Ganzem zuzustimmen wünscht, den bitte ich, sich zu erheben. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Der Gesetzentwurf ist einstimmig angenommen.
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 208. Sitzung. Bonn, Freitag, den 21. März 1986 15969
Präsident Dr. JenningerIch rufe den Zusatztagesordnungspunkt 2 auf:a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Anpassung der Renten der gesetzlichen Rentenversicherung und der Geldleistungen der gesetzlichen Unfallversicherung im Jahre 1986— Drucksache 10/4990 —aa) Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung
— Drucksache 10/5222 —Berichterstatter: Abgeordneter Buebbb) Bericht des Haushaltsausschusses
gemäß § 96 der Geschäftsordnung
— Drucksache 10/5224 —Berichterstatter: Abgeordnete Sieler StrubeFrau Seiler-Albring Dr. Müller
b) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung zu der Unterrichtung durch die BundesregierungBericht der Bundesregierung über die gesetzlichen Rentenversicherungen, insbesondere über deren Finanzlage in den künftigen 15 Kalenderjahren, gemäß §§ 1273 und 579 der Reichsversicherungsordnung, § 50 des Angestelltenversicherungsgesetzes und § 71 des Reichsknappschaftsgesetzes
sowie dasGutachten des Sozialbeirats zur Anpassung der Renten aus der gesetzlichen Rentenversicherung zum 1. Juli 1986 sowie zu den Vorausberechnungen der Bundesregierung über die Entwicklung der Finanzlage der Rentenversicherung bis 1999— Drucksachen 10/4550, 10/5222 —Berichterstatter: Abgeordneter BuebHierzu liegt ein Änderungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 10/5223 vor.Meine Damen und Herren, nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind eine gemeinsame Beratung der Punkte a und b und eine Aussprache von 45 Minuten vorgesehen. — Ich sehe keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.Wird das Wort zur Berichterstattung gewünscht? — Das ist nicht der Fall.Ich eröffne die allgemeine Aussprache. Das Wort hat der Abgeordnete Günther.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Entsprechend der Lohn- und Gehaltsentwicklung im Jahre 1985 werden auf Grund des zweiten vorläufigen Ergebnisses für die vollkswirtschaftliche Gesamtrechnung des Jahres 1985 des Statistischen Bundesamtes die Renten aus der gesetzlichen Rentenversicherung, der gesetzlichen Unfallversicherung und der gesetzlichen Altershilfe für Landwirte zum 1. Juli 1986 um brutto 2,9 % angehoben.Unter Berücksichtigung der Beteiligung der Rentner an den Beiträgen für ihre Krankenversicherung um weitere 0,7 % der Rente ergibt sich eine effektive Erhöhung der verfügbaren Renten um 2,15%.Im Jahre 1984 betrug der effektive Anpassungssatz 1,31 %, im Jahre 1985 1,41 %. In diesem Jahr sind es nunmehr 2,15%.Wir haben heute nicht die hohen Anpassungsraten wie vor einigen Jahren. Aber, meine Damen und Herren, dafür bekommen die Rentner bei uns mehr für ihr Geld; denn diese Rentenanpassung muß im Zusammenhang mit der Geldentwertungsrate gesehen werden. Hier ist ein Vergleich schon sehr aufschlußreich.
Im Jahre 1982 belief sich zwar die Anpassung auf 5,76%; dieser Erhöhung stand aber eine Inflationsrate von 5,3% gegenüber. Wenn ich die zurückliegenden Jahre 1980 und 1981 nehmen würde, fiele dieser Vergleich noch viel schlechter aus.
Da lag der Anpassungssatz unter der Preissteigerungsrate.
— Insofern, Kollege Scharrenbroich, kann ich das nur bestätigen: Ein Segen für die Rentner, daß diese Koalition jetzt regiert.
— Vom Lachen der Opposition haben die Rentner wenig. Sie brauchen ihr Geld und müssen dafür etwas Gutes bekommen, und das ist der Fall.
Der Anpassungsrate 1986 von 2,15% steht eine voraussichtliche Geldentwertungsrate von 1% gegenüber. Man könnte zur Zeit natürlich auch von 0,7 % sprechen, aber da wir wissen, daß das im Jahresschnitt wohl nicht zu halten ist, und da wir ehrliche Leute sind, reden wir schon jetzt davon, daß es wahrscheinlich 1 % sein wird. Eine optisch geringere Steigerung kann demnach für den Rentner durchaus ein mehr an Kaufkraft bedeuten, zumal bei einer geringeren Preissteigerungsrate auch an-
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Güntherdere Einkünfte der Rentner und die Spargroschen mehr wert sind als zur Zeit hoher Inflationsraten.
Dies gilt nicht nur für Rentner; es gilt für die ganze Bevölkerung, besonders für diejenigen mit niedrigem Einkommen.Im übrigen muß auch in diesem Jahr darauf hingewiesen werden, daß die Höhe der Rentenanpassung die logische Folge der Tarifpolitik der Gewerkschaften und der Arbeitgeber ist. Verursacht durch eine geringe Inflationsrate sowie durch eine teilweise vorrangige Politik der Arbeitszeitverkürzung, fiel die Barlohnerhöhung im vorigen Jahr mit 2,9% relativ niedrig aus. Die Höhe der Rentenanpassung hängt von dieser Lohn- und Gehaltsentwicklung ab, und für die sind bekanntlich in erster Linie die Tarifpartner zuständig.
Ich weise hierauf besonders hin, weil die gegenüber früheren Jahren vergleichsweise niedrige Anpassungsrate immer wieder der Politik angelastet wird, nicht jedoch den dafür im eigentlichen Sinne Zuständigen.Die Kaufkraftsteigerung aus der diesjährigen Rentenerhöhung macht für die Rentner nach Berücksichtigung des Krankenversicherungsbeitrages der Rentner allein in der gesetzlichen Rentenversicherung rund 3,2 Milliarden DM aus.
Insgesamt erhöht sich das Rentenvolumen um 4,8 Milliarden DM, die sich auf 4,5 Milliarden DM höhere Rentenzahlungen und 0,3 Milliarden DM hierauf zu zahlende Beitragszuschüsse zur Krankenversicherung der Rentner aufteilen.Meine Damen und Herren, die diesjährige Rentenanpassung, der Rentenanpassungsbericht 1985 und die aktuellen Meldungen über die Rentenfinanzen zeigen, daß die Rentenversicherung mittelfristig über den Berg ist.
Die Rentner können wieder mit Zuversicht in die Zukunft schauen. Die Verunsicherung der Rentner hat ein Ende, und dem, der das nicht glauben will, sage ich: Sie muß auch ein Ende haben, denn ich finde es unerträglich, die alten Menschen immer wieder in Angst und Schrecken zu versetzen.
Wir haben ja in den letzten Jahren erlebt, wie Scharlatane die Menschen aufgehetzt haben. Ich glaube, das sollten wir nicht wiederholen. Dies ist auch ein Appell an das ganze Parlament.
Meine Damen und Herren, in diesem und im nächsten Jahr ergeben sich noch einmal Abzüge auf Grund der stufenweisen Einführung der Krankenversicherungsbeiträge für die Rentner.Die Strategie der Regierungskoalition, nach der die Rentensicherheit Vorrang hat, ist aber erfolgreich. Der Rentenanpassungsbericht 1985 zeigt, daß bis weit in die 90er Jahre hinein die Rentenfinanzierung ohne zusätzliche Eingriffe gesichert ist und daß wir nunmehr in Ruhe die langfristigen Probleme der gesetzlichen Rentenversicherung angehen können. Der Sozialbeirat hat dies soeben in seinem Gutachten bestätigt. Wie schon im vorigen Jahr gesagt: Es besteht überhaupt kein Anlaß zur Eile oder zur Hektik, denn wir haben ausreichend Zeit, die Auswirkungen der demographischen Entwicklung in unserem Rentensystem zu verankern bzw. die negativen Folgen aufzufangen. Das Instrumentarium für das Rentenstrukturreformgesetz in der nächsten Legislaturperiode ist weitgehend erarbeitet, und die CDU/CSU hat sich für eine Reform im Rahmen des Systems entschieden. Grundsicherungs- und Grundrentenpläne, aus welchen Motiven und von wem auch immer erarbeitet, werden mit großer Skepsis betrachtet und als langfristiger Lösungsweg abgelehnt.Meine Damen und Herren, es ist interessant und bemerkenswert zugleich, daß die Sozialdemokraten offenbar vorhaben, die bis heute vorhandene Obereinstimmung hinsichtlich des Rentensystems künftig aufzugeben. „Mindestrente" und ähnliche Begriffe sind uns zwar nicht neu, aber Zuständigkeiten zu verändern — z. B. bei Berufs- oder Erwerbsunfähigkeitsrenten — bedeutet mehr. Die Vorschläge, die da herumgeistern, für die Berufs- und Erwerbsunfähigkeitsrenten solle nur noch die Berufsgenossenschaft zuständig sein, rütteln gewaltig am ganzen System.
Meine Damen und Herren, obwohl viele Berufene und auch Unberufene über das System der sozialen Sicherung in der Bundesrepublik Deutschland schreiben und reden, ist festzuhalten, daß sich die beitragsbezogene umlagefinanzierte dynamische Rente des Jahres 1957 bewährt hat. Und Bewährtes sollte man nicht grundlegend ändern, sondern allenfalls an veränderte wirtschaftliche und gesellschaftliche Bedingungen anpassen.Bei der Alterssicherung in jedweder Form handelt es sich um ein Stück Lebensplanung. Lebensplanung gedeiht nur auf sicherem Grund. Deshalb sind Kontinuität, Sicherheit und Seriosität auf diesem Sektor besonders wichtig.
Die CDU/CSU-Fraktion steht dafür ein.
Ich rufe den Rentnern zu: Lassen Sie sich nicht verunsichern, und lassen Sie sich auch im Wahlkampfjahr 1986 nicht mißbrauchen!
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Glombig.
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 208. Sitzung. Bonn, Freitag, den 21. März 1986 15971
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Günther, Sie haben hier von Geistern gesprochen oder von dem, was vielleicht umhergeistert. Soweit es sich um das sozialpolitische Programm der SPD handelt, ist dies kein Geist und kein Geistern, sondern Realität.
— Das kann nun wirklich nur jemand sagen, der selbst keinen Geist hat.
Oder ich muß daraus schließen, daß Sie unser Programm nicht gelesen haben. Das letztere wird wohl richtig sein. Deswegen nehme ich das erstere zurück. Aber Sie sollten nicht so leichtfertige Zwischenrufe machen.
Ich möchte zu Beginn zu etwas Stellung nehmen, meine Damen und Herren, was auch beim vorigen Tagesordnungspunkt eine Rolle gespielt hat, aber hier in gleicher Weise ganz kurz abgehandelt werden muß, zumal der Herr Bundesarbeitsminister in diesem Zusammenhang etwas von Verursacherprinzip gesagt hat. Der Herr Bundesarbeitsminister ist ja nicht nur ein Vortragskünstler, er ist auch ein Verdrehungskünstler.
— Ich muß sagen, der Lack geht allmählich ab.
— Das wollen wir einmal sehen.
Der Minister hat also gesagt, das Verursacherprinzip sei dafür verantwortlich, daß der Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung in dieser überhasteten und durch nichts gerechtfertigten Form
die Gesetze durch die Mehrheit von CDU/CSU und FDP durchpeitschen läßt. Da wollte ich dem Herrn Bundesarbeitsminister, der uns wohl im Augenblick verläßt, sagen, daß diese Hektik im Ausschuß nicht daran liegt, daß in diesem Ausschuß das wieder in Ordnung gebracht werden muß, was die sozial-liberale Koalition vermasselt hätte. Nein, das liegt einfach daran, daß diese Koalitionsmehrheit das, was wir an sozialem Fortschritt beschlossen haben, zum Teil sogar mit den Stimmen von CDU/CSU und FDP, nicht nur im eigentlichen Leistungsbereich des Systems der sozialen Sicherheit, sondern auch dort, wo es um Arbeitnehmerrechte geht, rigoros abbaut und weiterhin abbauen will,
und dies möglichst noch vor den Wahlen.
Deswegen kommen wir in diese Bredouille, deswegen sind wir genötigt, in dieser unmöglichen Art Gesetze zu verabschieden. Das ist der wahre Grund. Sie möchten nicht so dicht an die Wahlen heran, sondern möchten das sofort machen, weil Sie glauben, das merke nun niemand. Wir werden dafür sorgen, daß das alle merken.
Nun will ich Ihnen sagen: Was dieses Gesetz angeht, hat es nicht einmal eine Stunde Beratungszeit gegeben. In der vorigen Woche ist eine halbe Stunde zur Einführung gesprochen worden. Und in dieser Woche — Herr Staatssekretär Vogt, Sie haben neben mir gesessen — hatten wir kaum Zeit zur Abstimmung. Ich mußte ein verkürztes Verfahren der Abstimmung wählen, ganz abgesehen davon, daß wir zum Inhalt des Gesetzentwurfs und zum Inhalt des Änderungsantrages der SPD-Fraktion so gut wie keine Zeit der Beratung hatten.
Das ist die Wahrheit.
Bei der Gelegenheit möchte ich mal sagen: Wir im Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung haben eine vorgesetzte Behörde, und diese vorgesetzte Behörde heißt Herr Seiters. Seiters ist Fraktionsgeschäftsführer der CDU/CSU.
Er hat mich hier bereits als Blockierer beschimpft. Aber er ist der Durchpeitscher. Er schreibt an den Präsidenten, und zwar am Ausschuß vorbei, und veranlaßt, wann wir, zu welchen Tages- und Nachtzeiten und an welchen Wochentagen, im Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Sondersitzungen zu machen haben. Dies bestimmt weder der Vorsitzende noch der Ausschuß, dies bestimmt Herr Seiters — und der Präsident natürlich, der dies genehmigt.
Das ist die Art der Beratung in Sondersitzungen, Durchpeitschen sozialpolitischer Gesetze dieses Ausmaßes und der Bedeutung, wie wir das in dieser Woche auch mit dem § 116 AFG erlebt haben.
Herr Abgeordneter Glombig, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Heyenn?
Bitte schön. Vizepräsident Stücklen: Bitte sehr.
Herr Abgeordneter Glombig, stimmen Sie mir zu, daß es sich um ein Novum in der Geschichte dieses Parlaments handelt, wenn im Ausschußbericht auf Seite 17 vom Berichterstatter unter 2 a steht:
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15972 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 208. Sitzung. Bonn, Freitag, den 21. März 1986
HeyennDie Neuregelung der Hinzuverdienstgrenze konnte aus Zeitgründen nicht beraten werden.
Na, „Fehlpaß". Sie haben doch nun wirklich gar keine Ahnung. Wieso reden Sie von „Fehlpaß"? Wissen Sie überhaupt, was eine „Hinzuverdienstgrenze" ist?
Aber hier von einem „Fehlpaß" reden. Sie wissen doch gar nicht, worum es sich handelt. — Das ist eine wichtige Frage aus dem Zusammenhang mit der flexiblen Altersgrenze. Und jetzt sprechen Sie von einem „Fehlpaß". Dies hier ist doch kein Fußballplatz — und der Ausschuß schon gar nicht.
Also, meine Damen und Herren, die Bundesregierung und die Koalition versuchen, was aus ihrer Sicht leicht zu erklären ist, die Rentenanpassung des Jahres 1986 als Routineangelegenheit erscheinen zu lassen. Wie stehen wir denn da?, so ungefähr.
Es soll der Eindruck entstehen — und wir werden das auch vom Arbeitsminister hören; ich kündige es an, so wird es auch kommen —, als sei die Rentenversicherung nach dreijährigem nahezu pausenlosem Hickhack in den Zutand der Normalität zurückgekehrt.
Dies ist nun leider nicht der Fall.Dies ist aus drei Gründen nicht der Fall:Am 1. Juli dieses Jahres wird nicht einfach eine Rentenerhöhung stattfinden, sondern auch eine weitere Sanierung der Rentenversicherung auf dem Rücken der Rentner, weil die Schraube des Rentnerkrankenversicherungsbeitrages, über den wir hier abstimmen werden, um weitere 0,7 Prozentpunkte angezogen wird. Auch in diesem Jahr ist die Rentensteigerung niedriger als der Anstieg der verfügbaren Arbeitnehmereinkommen. Dies ist die Tatsache, mit der wir es zu tun haben.
— Das ist nicht falsch, das ist richtig.
Ihre Rechenkunststücke mit dem Preisanstieg sind nur bedingt zutreffend, weil in die Berechnung der Preissteigerungsrate vor allem auch Preise von Gütern eingehen, die sich Rentner ohnehin nicht leisten können.
Es sind natürlich sehr merkwürdige Vergleiche,wenn man bei der Berechnung dieser Preissteigerungsrate Luxusgüter mit hineinnimmt, die sichRentner und Geringverdienende, Lohnempfänger, z. B. ohnehin nicht erlauben können.
Insofern ist diese Aussage von der indirekten Rentenerhöhung über die niedrige Preissteigerungsrate, von der Sie nun auch noch glauben, Sie hätten sie per Gesetz angeordnet, in einem Lande mit freier Marktwirtschaft zu relativieren.
— Ich erwähne das, weil Sie gesagt haben: Dies ist unser Verdienst. Sie tun so, als wenn Sie hier die Preise diktierten.
— Ich verunsichere? Ich habe das Wort vom Rentenbetrug im Jahre 1976 nicht in die Welt gebracht,
das im Grunde genommen dazu geführt hat, daß die Rentner, vor allem von Ihnen, ständig in Unsicherheit gebracht wurden. Ihr größter Spezialist auf diesem Gebiet war Herr Heinrich Franke, heute Präsident der Bundesanstalt für Arbeit,
der sich an den Beratungen im Ausschuß so gut wie nicht beteiligt hat und von dieser Stelle aus eigentlich nur die Rentner verunsichert hat. Das war alles.Also, auch in diesem Jahr ist die Rentensteigerung niedriger als der Anstieg der verfügbaren Arbeitnehmereinkommen. Auch auf die Rentenerhöhung des Jahres 1986 fällt der Schatten der völlig ungelösten Probleme der langfristigen Rentenfinanzierung.
Das Rentenanpassungsgesetz 1986 wird am 1. Juli im Endergebnis die Renten nur um 2,15 % erhöhen.
— Dazu habe ich das Notwendige gesagt. — Die Jahresrente 1986, also im Durchschnitt aus erstem und zweitem Halbjahr 1986, liegt damit nur um 1,78 % höher als die Jahresrente 1985.Niemand kann uns einreden, meine Damen und Herren, daß damit der gesetzlichen Verpflichtung des § 1272 der Reichsversicherungsordnung Rechnung getragen wird, die besagt, daß die Rentenanpassung eine gleichgewichtige Entwicklung von Renten und verfügbarem Arbeitseinkommen gewährleisten soll. Dies ist im vorigen Jahr nicht der Fall gewesen und in diesem Jahr auch nicht. 1985 lag die durchschnittliche Nettolohnsteigerung bei rund 2,8 %. 1986 wird sie nach den eigenen Ankündigungen der Bundesregierung möglicherweise bei 3 % liegen. Wir haben dauernd Aufforderungen, vor
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 208. Sitzung. Bonn, Freitag, den 21. März 1986 15973
Glombigallem von Bundesfinanzminister Stoltenberg, man möge höhere Tarife abschließen; dies reiche doch eigentlich gar nicht. Wie kommt man dann dazu, mit einer Nettolohnsteigerung von unter 3 % zu rechnen? 3% sind das Mindeste; es werden sicherlich mehr sein. Wo bleibt da die gleichgewichtige Entwicklung, wenn die Rentner nur 2,15% erhalten sollen? Daraus kann nur ein Schluß gezogen werden: die Vorlage der Bundesregierung und der Ausschußmehrheit entspricht nicht dem geltenden Recht, das die regierende Koalition selbst geschaffen hat.Man müßte sagen, Sie machen sich völlig unglaubwürdig, wenn Sie sich nicht schon längst durch die vier stümperhaften Rentenreparaturgesetze um jeden rentenpolitischen Kredit gebracht hätten.
— Es wird eben immer wahrer, es wird deutlicher, je mehr wir es wiederholen, was für ein Unsinn vor sich gegangen ist.Für uns ist es auch nichts anderes als eine Ausrede, wenn die Koalition, um die niedrige Rentenanpassung zu rechtfertigen, jetzt behauptet, die Gleichgewichtigkeit der Entwicklung von Renten und verfügbarem Arbeitseinkommen müsse nach § 1272 der Reichsversicherungsordnung nicht in jedem einzelnen Jahr gegeben sein. Das ist eine absolut willkürliche Interpretation, die es der Bundesregierung ermöglichen würde, in jedem Jahr eigenmächtig zu entscheiden, ob sie das Gesetz befolgen will oder nicht.
Genauso unsinnig ist das Argument der Koalition, die Rentenerhöhung bleibe 1986 hinter den Nettolohnerhöhungen nur deswegen zurück, weil seit dem 1. Januar die Arbeitnehmer in den Genuß der Steuersenkungen gekommen seien. Ganz abgesehen davon, daß die Steuersenkung bei der Masse der Arbeitnehmer mit niedrigem und mittlerem Einkommen gar nicht voll oder nur mit einigen wenigen Mark angekommen ist, — —
— Dies ist ja wohl wahr. Fragen Sie doch mal die Arbeitnehmer. Die Steuersenkungen rechtfertigen in gar keiner Weise, die Rentner gegen das ausdrückliche Gebot des Gesetzes von der Nettolohnentwicklung abzukoppeln.
Die SPD-Bundestagsfraktion stellt deshalb den Antrag, die vorgesehene Anhebung des Rentnerkrankenversicherungsbeitrages um ein Jahr zu verschieben. Danach soll der Krankenversicherungsbeitrag der Rentner im Jahre 1986 bei 4,5% bleiben. Er soll erst am 1. Juli 1987 auf 5,2%, ab 1. Juli 1988 auf 5,9 % erhöht werden. Damit würde die effektive Rentenanpassung zum 1. Juli 1986 2,9 % statt 2,15% betragen und dann, meine Damen und Herren, in der Tat immer noch unter dem Nettolohnanstieg liegen.Finanzielle Argumente gegen diesen Antrag der SPD-Bundestagsfraktion gibt es nicht. Unser Antrag verursacht keine dauerhafte Mehrbelastung der Rentenversicherungsträger, sondern nur vorübergehende Mehrausgaben im zweiten Halbjahr 1986, im Jahre 1987 und im ersten Halbjahr 1988. In den in Frage kommenden Jahren ist aber die finanzielle Situation der Rentenversicherung, wenn auch leider nur vorübergehend, nicht besorgniserregend, zumindest nicht bis zum Jahre 1990. Wenn die Bundesregierung selbst landauf, landab behauptet, daß die Renten bis 1990 sicher seien
— das behauptet die Bundesregierung —, dann, so meine ich, können wir davon ausgehen, daß auch das Geld zur Finanzierung der Rentenanpassung in einem normalen Umfang zur Verfügung steht.
— Ach, reden Sie doch nicht! — Sie bestätigt damit unsere Auffassung, daß die Verschiebung der Erhöhung des Rentnerkrankenversicherungsbeitrags ohne weiteres zu verkraften ist.Wenn der Bundesarbeitsminister jetzt schon ankündigt, daß er noch vor der Sommerpause einen Gesetzentwurf auf Kosten der Beitragszahler in der gesetzlichen Krankenversicherung einbringen will — wir haben es hier mit einem Gesamtsozialversicherungsbeitrag zu tun —, der den Schwerstpflegebedürftigen Leistungen in Höhe von 2 Milliarden DM kurz vor der Wahl zusichert — das ist eine Zusage, die auf den Schlitz der Wahlurne gezielt ist —, obwohl der Bundesarbeitsminister weiß, daß sich das gar nicht durchsetzen läßt — er tut es nur, um die alten Leute zu beruhigen —, dann, so meine ich, sollte man erst einmal den Rentnern, vor allem jenen mit niedrigen Renten, ihre normale Rentenanpassung geben, auf die sie einen Anspruch haben.
Deshalb appellieren wir an die Mehrheitsfraktionen, ihre Position zu überdenken.
— Ich weiß nicht, was daran merkwürdig ist.
Sind Sie dafür, daß eine solche Maßnahme, die eine Aufgabe dieses Staates ist, zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung geht? Wenn Sie dieser Auffassung sind, dann stellen Sie sich hier hin und bringen das auch zum Ausdruck, damit Ihnen Ihre Freunde bei der Deutschen Angestellten-Gewerkschaft und bei den Angestellten-Ersatzkassen eine entsprechende Antwort geben können!
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15974 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 208. Sitzung. Bonn, Freitag, den 21. März 1986
GlombigWir appellieren an die Mehrheitsfraktionen, ihre Position zu überdenken und den Rentnern nach Jahren des realen Kaufkraftverlustes nun auch einen angemessenen Anteil an der wirtschaftlichen Entwicklung zu gönnen.
— Das tun Sie eben nicht.
Auch die Rentenanpassung 1986 muß vor dem Hintergrund der längerfristigen Finanzsituation der Rentenversicherung gesehen werden. Deswegen fordern wir heute noch einmal mit allem Nachdruck diese Bundesregierung und diese Koalitionsmehrheit auf, den Wählern zu sagen — das haben wir bereits seit längerer Zeit getan —, wie sie die Strukturreform in der gesetzlichen Rentenversicherung durchzuführen gedenken.
Sie sollten die Wähler nicht mit Versprechungen hinhalten, die überhaupt keine Realität haben.
Sagen Sie den Wählern vor der Wahl, wie Sie die Neuordnung der Rentenversicherung durchzuführen gedenken.
Bisher haben wir nichts gehört.Schönen Dank.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Cronenberg.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Neben den Gründen, die eben aufgeführt worden sind, warum für die Beratungen nicht die gewünschte Zeit zur Verfügung stand, sollte man nicht unerwähnt lassen, daß ein Hauptgrund ist: Am 31. Juli dieses Jahres sollen die Renten pünktlich erhöht werden.
— Entschuldigung, zum 1. Juli. Dies ist der Grund, daß so gedrängt wurde. Aber zuzugeben ist, der Beratungszeitraum könnte durchaus etwas länger sein.Der Rentenanpassungsbericht 1986 und das Gutachten des Sozialbeirates bieten Gelegenheit, einige Feststellungen zu treffen. Eugen Glombig hat zu Recht — ich meine, das ganze Haus kann sich darüber freuen — festgestellt, daß wir davon ausgehen können, daß Liquiditätsprobleme in der Rentenversicherung bis zu den 90er Jahren nicht auftreten werden.Ich möchte einen Blick auf die Ursachen für diese positive Entwicklung werfen. Eine der Ursachen ist, daß wir ca. 400 000 beschäftigte Menschen mehr haben und daß wir dadurch mehr Beitragseinnahmen haben und daß die Konsolidierungspolitik, die wir betrieben haben, erfolgreich war. Die Feststellung, die wir hier zu treffen haben, nämlich daß die Renten bis in die 90er Jahre sicher sind, ist das Ergebnis einer erfolgreichen Politik.
Deswegen ist es notwendig, diese eingeleitete Konsolidierung fortzusetzen.Da darf man nicht heute hü und morgen hott sagen. Vielmehr wird Stetigkeit verlangt. Der Bürger hat einen Anspruch darauf, zu wissen, wie es weitergeht.Deswegen ist es richtig, daß wir den Krankenversicherungsbeitrag auch bei dieser Rentenerhöhung berücksichtigen, damit diese Konsolidierung in beiden Systemen, im Krankenversicherungssystem und im Rentenversicherungssystem, fortgesetzt wird. Wir werden meines Erachtens damit im Grunde genommen auch dem programmatischen Anspruch der Sozialdemokraten gerecht, die in ihren Programmen auch immer verlangen, daß die Renten nettoähnlich steigen. Dies geschieht, und deswegen müßte man eigentlich erwarten, daß die Sozialdemokraten dies nicht durch einen Änderungsantrag verschieben, sondern unseren Vorschlag gutheißen, und darum möchte ich Sie auch bitten.
Kollege Glombig hat hier zum Schluß mit Recht die Frage gestellt, wie es langfristig in der Rentenversicherung weitergehen soll, und er hat auch um eine Antwort gebeten. Auch hier will ich dem Wunsch des Ausschußvorsitzenden mit Vergnügen nachkommen. Gemeinsam mit den sachkundigen Kollegen in der SPD und CDU bin ich der Meinung, daß unser Rentenversicherungssystem reformwürdig und reformfähig ist.
Es ist, auch wenn manche das bestreiten, weit besser als sein Ruf. Kern und Angelpunkt jeder Alterssicherungspolitik müssen beitrags- und leistungsbezogene Renten sein. Das bedeutet für uns: Stärkung des Versicherungsprinzips, gemeinsames Zusammenwirken aller Beteiligten, um die Finanzierung der Alterssicherung in der gesetzlichen Rentenversicherung auch künftig auf eine langfristig tragfähige Basis zu stellen, Konkretisierung des Bundeszuschusses und seine notwendige Anpassung an versicherungsfremde Leistungen, Neubewertung beitragsfreier und, Herr Minister, beitragsgeminderter Zeiten, eine möglichst weitgehende Unabhängigkeit der Rentenversicherung von kurzfristigen konjunkturellen Schwankungen, wohlwissend, wie schwierig das ist, mehr Wahlfreiheit beim Übergang vom Arbeitsleben in den Ruhestand ohne zusätzliche Belastung der Solidargemeinschaft, länger arbeiten: Bonus, kürzer arbeiten: Malus, Verbesserungen bei der Berücksichtigung von Kindererziehungszeiten im Rahmen der finanziellen Möglichkeiten, Stärkung der Zusatzversorgungen, insbesondere in der betrieblichen Altersversorgung.Meine Damen und Herren, wer die Rentenversicherung dauerhaft und solide finanzieren will, darf weder das Beitragsniveau noch das Rentenniveau
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 208. Sitzung. Bonn, Freitag, den 21. März 1986 15975
Cronenberg
noch das Rentenzugangsalter für tabu erklären. Natürlich ist auch der Bundeszuschuß nicht tabu. Ein gegliedertes Alterssicherungssystem, wie wir es auch künftig bejahen, setzt meines Erachtens gleichzeitig eine sinnvolle Trennung der einzelnen Systeme voraus. Vermischungen, gleich welcher Form, öffnen nur den Weg zu einer ungewünschten Nivellierung. Dies, lieber Eugen Glombig, sind Grundsätze, auf die sich alle drei Fraktionen in einer Diskussion verständigen können, wenn sie das System für reformwürdig und für reformfähig halten. Daß ich die GRÜNEN da nicht einbeziehen kann, wird die Herren Abgeordneten nicht überraschen.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Glombig?
Ja.
Was ist denn, Herr Kollege Cronenberg, mit den Grundrentenplänen Ihres Parteivorsitzenden Bangemann?
Gehören die eigentlich auch zu einem möglichen Konsens, der natürlich gar keiner ist, wenn er so zustande käme, wie Sie das soeben vorgetragen haben?
Hochverehrter Kollege Glombig, natürlich habe ich die Frage erwartet, eigentlich ein bißchen eher und nicht so spät. Ich habe die Position der Fraktion hier deutlich gemacht. Beitragsfinanzierte Grundrenten, staatliche Einheitsrenten, Nivellierungen der Renten wird es mit den Freien Demokraten und meiner Zustimmung nicht geben. Ich hoffe, das ist eine deutliche Antwort.
Ich erteile dem Herrn Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung das Wort.
Herr Lutz kann heute nur durch Zurufe ins Protokoll gelangen. —
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die wichtigste Nachricht in der Rentenpolitik dieses Jahres ist die Nachricht: Die Renten sind sicherer geworden. Unsere Politik hat die Rentensicherheit erhöht. Das ist für die ältere Generation das Wichtigste.
Ja, meine Damen und Herren, das ist eine Nachricht, die sich auf Fakten, auf Zahlen stützt. 13 Jahre kannten die Rentenfinanzen nur eine Bewegung: abwärts. In diesem Jahr, nach 13 Jahren Abschmelzen der Rücklage,
geht die Rücklage nach oben, sammeln wir Rücklage an.
— Wenn Sie fragen, was die Wende ist, dann lautet die Antwort: Das ist die rentenpolitische Wende: vom Abwärts ins Aufwärts.
Dafür waren drei Jahre harte Arbeit notwendig. Im Saldo mußten 60 Milliarden DM aufgebracht werden, um das Rentenfundament zu stabilisieren: von den Rentnern selber — die Rentenerhöhungen konnten nicht mehr so hoch sein wie in früheren Zeiten; wir mußten einen Krankenversicherungsbeitrag einführen — wie von den Aktiven: Wir mußten eine Beitragserhöhung durchführen. Der Staat hat seinen Bundeszuschuß erhöht. Solange die Sozialdemokraten regiert haben, hat man in der Rentenversicherung beim Stichwort Bundeszuschuß nur eins gekannt: Wenn das Wort „Bundeszuschuß" fiel, haben die Sozialdemokraten der Rentenversicherung Geld weggenommen.
So haben sie der Rentenkasse kurz vor ihrer Verabschiedung 3,5 Milliarden DM entzogen. Wir haben die Garantie gegeben, über die Verpflichtung hinaus bis zu 1,5 Milliarden DM zuzuzahlen. Dank besserer Beschäftigungsentwicklung brauchten die 1,5 Milliarden DM nicht ganz in Anspruch genommen zu werden.
Herr Bundesminister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Glombig?
Bitte schön, Herr Kollege Glombig.
Herr Bundesminister, da Sie soeben von einer größeren Sicherheit der Rentenfinanzen gesprochen haben:
Wie erklären Sie sich dann, daß Ihnen im Jahre 1982 Rücklagen in der Rentenversicherung in Höhe von 20 Milliarden DM übergeben worden sind, die inzwischen auf 10 Milliarden DM geschmolzen sind?
Das kann ich Ihnen leicht erklären. Als Sie die Regierung übernahmen, waren neun Monatsrücklagen in der Rentenkasse. Sie hatten den Karren einen steilen Abhang hinunterrasen lassen. Eine solche Talfahrt können Sie nicht in einer Spitzkehre bremsen. Da brauchen Sie eine große Kurve. Die zu nehmen, hat drei Jahre Zeit ge-
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15976 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 208. Sitzung. Bonn, Freitag, den 21. März 1986
Bundesminister Dr. Blümbraucht. Aber wären Sie in der Regierung geblieben, dann wäre der Karren in den Abgrund gefahren; das ist der Unterschied.
— Ja, Sie können doch nicht alles behaupten. Sie können nicht sagen, wir hätten erstens zu viel gespart, zweitens die Beiträge zu stark erhöht, und es sei drittens zu wenig Geld in der Rücklage. Also, Sie müssen sich jetzt entscheiden, welche Vorwürfe Sie uns machen. Sie können nicht sagen: zu wenig in der Rücklage und zu viel gespart. Beides geht nicht, intellektuell geht es nicht; politisch können Sie vieles.
Ich bleibe dabei: Das Wichtigste ist: Die Rücklage wächst. Liebe Rentner, das ist für euch die beste Nachricht: daß eure Renten sicher sind, daß die Einsturzgefahr beseitigt ist, daß wir jetzt eine Reformdiskussion führen können,
ohne daß uns die Brocken um die Ohren fliegen. Man kann kein Haus renovieren, wenn das Fundament ungesichert ist. Man kann kein Haus renovieren, wenn Einsturzgefahr besteht.Die wichtigste Leistung war, zu konsolidieren. Und wir haben dabei gestaltet: Wir haben die Hinterbliebenenreform durchgeführt. Sieben Jahre haben Sie darüber gebrütet, gegackert, gegackert, gegackert, aber diese Reform kam nicht zustande. Wir haben sie mit Zustimmung — ich wiederhole es, weil Sie es so gerne hören — des Deutschen Gewerkschaftsbundes, der Deutschen Angestelltengewerkschaft, mit Zustimmung der Frauenverbände durchgeführt. Sie hatten in Ihrer Nachbarschaft den Bundesverband der Deutschen Arbeitgeberverbände, auch ein ehrenwerter Verein. Also, was Ihr Feindbild angeht, wir seien sozusagen immer Vertreter des Kapitals, Sie dagegen Vertreter der Arbeitnehmer, so ist in der Rentenpolitik mit Händen greifbar, daß das alles sozialdemokratische Propaganda ist. Wir haben Rentenpolitik für die Arbeitnehmer, für die Rentner gemacht.
Und weil das soeben schon eine Rolle gespielt hat: Früher mußte man — —
Herr Bundesminister, gestatten Sie noch eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Glombig?
Herr Kollege Glombig, ich habe nur ein paar Minuten Zeit, Zeit für wichtige Nachrichten, die auch Sie interessieren werden, beispielsweise für die Nachricht, daß wir eine Rentenpolitik auf solidem Fundament machen.
— Bitte, wir können es nachher vertiefen; wir kennen uns j a gut.Das Wichtigste ist: Wir haben die Wartezeit — also die Zahl der Jahre, die man Beitrag zahlen muß, um überhaupt einen Anspruch auf Altersrente zu erhalten — von 15 Jahre auf 5 Jahre gesenkt. Jetzt frage ich Sie: Wer profitiert davon?
Viele, viele Frauen! Meine Mutter — wir haben vorhin von den Müttern gesprochen — auch. Die hatte 8 Jahre in der Rentenversicherung geklebt. Als ihr erster Sohn kam — das war ich —,
hat sie den Spaß an der Erwerbsarbeit verloren und sich ganz der Erziehung ihres Sohnes gewidmet — wie sie sehen: nicht ohne Erfolg.
Aber sie hat keinen Rentenanspruch erworben, weil sie vor der Hürde „15 Jahre" stehenblieb. Wir haben diese Hürde gesenkt. Viele, viele Frauen erhalten überhaupt zum ersten Mal einen Anspruch auf Altersrente. Der betrug im vorigen Jahr 225 DM. Ich gebe zu: Dieser erste Anspruch für diese Frauen ist wenig. 225 DM sind sehr wenig. Es sind aber 225 DM mehr als zu SPD-Zeiten.
Das ist ganz wichtig.Wir haben Kindererziehungszeiten eingeführt. Freilich, die ganze Rentenpolitik wird nicht aus irgendwelchen anonymen Quellen finanziert. Sie wird aus der Arbeit finanziert. Deshalb ist der wichtigste Finanzierungsfortschritt, daß Arbeitsplätze wieder zuwachsen. Nach Jahren des Arbeitsplatzverlustes wuchsen im vorigen Jahr zum erstenmal wieder Arbeitsplätze zu: 200 000. In diesem Jahr sind es wahrscheinlich 300 000. Das ist in zwei Jahren so viel Arbeitsplatzgewinn, wie Sie im letzten Jahr Ihrer Regierung Arbeitsplätze beseitigt haben.
Sie sehen auch an dem Beispiel: Zerstören geht schneller als aufbauen. Ein Jahr, um 500 000 Arbeitsplätze zu SPD-Zeiten zu beseitigen — wir brauchen zwei Jahre, um den SPD-Schaden gutzumachen. Deswegen brauchen wir auch noch ein paar Legislaturperioden. Das ist doch klar. In einer schaffen wir das nicht.
Ich füge eine weitere wichtige Nachricht für die Rentner hinzu: Preisstabilität. Liebe Rentner, was habt ihr denn von hohen Rentensteigerungen, wenn die Preise noch schneller steigen? Was habt ihr denn von einer Rentenanhebung von 4 % gehabt, wenn die Preise um 6 % stiegen? Und wenn es stimmt, was der Herr Glombig gesagt hat, die offizielle Preisteigerungsrate sei für die Rentner geschönt, sie sei eigentlich noch sehr viel höher, dann ist der Unterschied zu SPD-Zeiten noch schlimmer gewesen; dann sind es nicht 6 % gewesen, sondern dann waren es — ich nehme den Vorschlag von
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 208. Sitzung. Bonn, Freitag, den 21. März 1986 15977
Bundesminister Dr. BlümHerrn Glombig gern auf — 7 %; dann habt ihr die Rentner mit eurer Wirtschafts- und Sozialpolitik noch mehr über die Löffel balbiert.
0,7 % Preissteigerung! Das sind 4 % weniger Preissteigerung als im letzten Jahr der SPD-Regierung. 4 % — das ist Kaufkraftgewinn für die Rentner, also, bescheiden gerechnet, zwischen 8 und 10 Milliarden DM mehr Kaufkraft für die Rentner. Ich weiß, daß diese volkswirtschaftlichen Fachbegriffe ja gar nicht ins Erlebnis übersetzt werden. Deshalb: Was bedeutet das? Das bedeutet drei Monatsmieten für den Durchschnittsrentner,
drei durchschnittliche Mieten für den Durchschnittsrentner; Kleidung und Schuhe für ein Jahr. Stellen Sie sich vor, der Norbert Blüm würde hier stehen und sagen: Wir haben eine Politik gemacht, den Rentnern drei Monatsmieten zu zahlen! Ja, das haben wir wirklich gemacht. Durch Preisstabilität ist ihnen Kaufkraft zugewachsen,
die es ihnen erlaubt, drei Monatsmieten zu zahlen. Ja, so einfach ist das. So einfach ist das: Preisstabilität ist die beste Politik für die kleinen Leute.
Inflation: das kennt die Generation der heute 60-, 70jährigen. Die haben Währungsreform mitgemacht. Die sind in Inflationsjahren Kinder gewesen. Die wissen: Inflation, das ist Diebstahl an den kleinen Leuten; Preisstabilität, das ist Politik für die kleinen Leute.
Ich gebe zu — darum rede ich so laut darüber —: Preisstabilität merkt man nicht. Die kommt so auf leisen Sohlen einher. Deshalb muß darüber geredet werden. Denn die Verteilungspolitik ist immer spektakulärer. Da nehme ich erst klammheimlich viel Beiträge und Steuern ein und gebe sie dann lautstark an dieselben Leute zurück. Bei diesem Umverteilungsvorgang bleibt leider zu viel in den Verteilungsmaschinen hängen. Deswegen sind wir für eine vernünftige Abgabenpolitik, für eine vernünftige Steuerpolitik und für Preisstabilität. Das ist unsere Rentenpolitik: Rentensicherheit und stabile Preise.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Bueb.
Meine Damen und Herren! Die Renten steigen in diesem Jahr nicht, wie nach dem Rentenanpassungsgesetz vorgesehen, um 2,9 % brutto und auch nicht um 2,15 % netto, sondern sie steigen um 1,8 %, wobei natürlich, wie Herr Glombig schon richtig gesagt hat, die niedrige Preissteigerungsrate im ersten halben Jahr mitgerechnet werden muß. Damit ist klar, daß die Entwicklung der Renten um 1 % hinter der der Löhne herhinkt. Damit gibt es wiederum keine gleichgewichtige Entwicklung der Renten und der verfügbaren Arbeitsentgelte, wie ebenfalls schon festgestellt worden ist.Damit wird klar, daß das Nettorentenniveau seit 1984 zum zweitenmal sinkt. Es geht zurück auf das Niveau Anfang der 80er Jahre; so stellten es jedenfalls die Fachleute im Sozialbeirat fest.Wenn Herr Blüm sagt, daß die Renten konsolidiert worden seien, dann gilt doch, daß das eine kurzfristige Maßnahme ist. Wir wissen, daß es in den nächsten Jahren schon wieder anders sein wird. Und wenn Sie konsolidiert haben, Herr Blüm, dann haben Sie auf dem Rücken der sozial Schwachen konsolidiert. Wenn das Nettorentenniveau zurückgeht auf den Stand des Jahres 1980, dann haben Sie konsolidiert, indem Sie praktisch die Pfennige der armen Leute zurückgehalten haben.
Wenn wir uns über die Rentenanpassung unterhalten, muß auch über Armut im Alter gesprochen werden. Denn was nützt z. B. einer Rentnerin, die eine Rente unterhalb des Sozialhilfeniveaus bezieht, eine Anpassung um 5 bis 10 DM, wenn dann das Sozialamt kommt und diese Anpassung wieder einkassiert? So geht es nämlich Hunderttausenden von Rentnern bei uns in der Bundesrepublik.Wir haben bisher als einzige Fraktion in diesem Hause ernsthaft und mit Vehemenz auf das grassierende Problem der Altersarmut hingewiesen. Ich möchte die Zahlen und Daten, die diese bedrükkende Realität belegen, nicht nochmals wiederholen — sie müssen Ihnen mittlerweile bekannt sein —, die seitens dieser Regierung und vor allen Dingen von Herrn Blüm ständig heruntergerechnet werden. Die Manipulation der Statistik des Elends gehört ja bekanntlich zum Geschäft der Optimismusverbreitung dieser Regierung.
Zum Problem der Altersarmut hat sich der Bundestag bislang noch nicht geäußert. Auch diese Rentenanpassung suggeriert wieder, als wäre alles in Ordnung. Die Selbstgerechtigkeit, die ein Herr Blüm verbreitet, dieser dreiste Konservativismus, mit dem an einem Rentensystem festgehalten wird, das systematisch Ungerechtigkeiten produziert, das Armut nicht ausschließt und Frauen diskriminiert, diese deutsche Normalität — ich muß es Ihnen ganz ehrlich sagen — widert mich ziemlich an.
Die Fraktion der GRÜNEN hat deshalb bereits im Vorjahr mit ihrem Antrag „Grundrente statt Altersarmut" ein Paket von Sofortmaßnahmen zur Bekämpfung von Altersarmut vorgelegt.
Allem voran fordern wir, daß die Renten der gesetzlichen Rentenversicherung unter Anrechnung sämtlicher sonstiger Einkünfte auf ein Mindestrentenniveau von 1 000 DM pro Monat aufgestockt wer-
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15978 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 208. Sitzung. Bonn, Freitag, den 21. März 1986
Buebden. Diese Aufstockung muß den Rentenversicherungsträgern durch einen Bundeszuschuß erstattet werden, den Sie in den letzten Jahren andauernd gekürzt haben.
Nehmen Sie diesen Vorschlag doch endlich auf. Die Aufstockung ist finanzpolitisch ohne weiteres praktikabel, sozial dringend erforderlich und sofort machbar.Es ist ja ganz löblich, wenn sich die Sozialdemokratie in der Öffentlichkeit mit Programmpapieren profiliert, in denen eine soziale Grundsicherung durch die gesetzliche Rentenversicherung angekündigt wird. Allerdings geschieht das ohne konkrete Zahlen. Da ist Frau Adam-Schwaetzer schon konkreter, die eine steuerfinanzierte Aufstockung auf das viel zu niedrige Niveau der Sozialhilfe fordert. Das scheint überhaupt Ihre grundsätzliche Vorstellung vom Sozialstaat zu sein, meine Damen und Herren von den Koalitionsfraktionen: gesetzliche Leistungen des Staates auf das Sozialhilfeniveau beschränken und alles andere dem sogenannten freien Spiel der Kräfte nach dem Motto überlassen: Der Schwache bleibt auf der Strecke, und der Starke hat davon den Nutzen.Gefordert sind nicht billige Worte. Was für die Hunderttausenden von armen Frauen, für die Millionen Menschen mit weniger als 1 000 DM im Monat allein zählt, ist, wie sich die Parteien im Bundestag verhalten.Wenn wir allerdings dem vorgeschlagenen Rentenanpassungsgesetz gleichwohl zustimmen werden, so nicht deshalb, weil wir es grundsätzlich billigen, sondern nur deshalb, weil die Rentnerinnen und Rentner auf jede Mark angewiesen sind. Aber machen Sie sich endlich einmal Gedanken darüber, wie die Altersarmut beseitigt werden kann. Wir schlagen vor: durch Aufstockung der niedrigen Renten.
Meine Damen und Herren, weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die Aussprache.Wir kommen zur Einzelberatung und Abstimmung über Zusatztagesordnungspunkt 2 a, den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf auf Drucksache 10/4990.Ich rufe Art. 1 in der Ausschußfassung auf. Hierzu liegt auf Drucksache 10/5223 unter Nr. 1 ein Änderungsantrag der SPD vor. Wer stimmt für den Änderungsantrag? — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Keine Enthaltungen. Mit Mehrheit abgelehnt.Wer stimmt für Art. 1 in der Ausschußfassung? — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Einstimmige Annahme.Ich rufe Art. 2 in der Ausschußfassung auf. Hierzu liegt auf Drucksache 10/5223 unter Nr. 2 ein Änderungsantrag der SPD vor. Wer stimmt dem Änderungsantrag zu? — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Keine Enthaltungen. Mit Mehrheit abgelehnt.Wer stimmt für Art. 2 in der Ausschußfassung? — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Ohne Enthaltungen und ohne Gegenstimmen einstimmig angenommen.Ich rufe Art. 3 in der Ausschußfassung auf. Hierzu liegt auf Drucksache 10/5223 unter Nr. 3 ein Änderungsantrag der Fraktion der SPD vor. Wer stimmt für den Änderungsantrag? — Gegenprobe!— Enthaltungen? — Keine Enthaltungen. Mit Mehrheit abgelehnt.Wer stimmt für Art. 3 in der Ausschußfassung? — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Würden Sie sich bitte auch beteiligen.
— Ich muß das feststellen. Das Protokoll muß ja stimmen. — Einstimmig angenommen.Ich rufe Art. 4 in der Ausschußfassung auf. Hierzu liegt auf Drucksache 10/5223 unter Nr. 4 ein Änderungsantrag der SPD vor. Wer für den Änderungsantrag stimmt, den bitte ich um das Handzeichen. — Wer ist dagegen? — Enthaltungen? — Keine Enthaltungen. Mit Mehrheit abgelehnt. — Ich bitte diejenigen, die im Saal sind, sich an der Abstimmung zu beteiligen. Es könnte hier oben im Präsidium ein falscher Eindruck entstehen.Wer stimmt für Art. 4 in der Ausschußfassung? — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Einstimmig angenommen.Ich rufe Art. 5 und 6, Einleitung und Überschrift in der Ausschußfassung auf. Wer den aufgerufenen Vorschriften zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Einstimmig angenommen.Damit ist die zweite Beratung abgeschlossen. Wir treten in diedritte Beratungein und kommen zur Schlußabstimmung. Wer dem Gesetzentwurf als Ganzem zuzustimmen wünscht, den bitte ich, sich zu erheben. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Einstimmige Annahme dieses Gesetzentwurfes.Zu Zusatztagesordnungspunkt 2 b schlägt der Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung unter Nr. 2 seiner Beschlußempfehlung auf Drucksache 10/5222 Kenntnisnahme des Rentenanpassungsberichtes 1985 vor. Wer dieser Beschlußempfehlung zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Weder Gegenstimmen noch Enthaltungen, also einstimmig angenommen.Ich rufe Punkt 3 der Tagesordnung auf:
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— Drucksache 10/5209 —Überweisungsvorschlag:Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Ausschuß für Jugend, Familie und Gesundheit Haushaltsausschuß mitberatend und gemäß § 96 GOMeine Damen und Herren, im Ältestenrat ist eine Aussprache von fünf Minuten für jede Fraktion vereinbart worden. Ist das Haus damit einverstanden? — Es ist so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Herr Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir bringen das Anpassungsgesetz zur Kriegsopferversorgung ein. Ich denke, das ist eine Gelegenheit, uns alle daran zu erinnern, daß es in der Kriegsopferversorgung nicht nur um Sozialpolitik, sondern auch um Erinnerungen an unsere geschichtliche Verpflichtung geht, den Opfern des Krieges gerecht zu werden. Das ist mehr als nur Sozialpolitik; das ist das Bekenntnis zur Identität unserer nationalen Existenz und damit auch zu den Opfern, die im Krieg gebracht wurden.
Deshalb ist Kriegsopferversorgung nicht in einem Versicherungssystem unterzubringen. Sie ist Entschädigung; sie ist Wiedergutmachung; sie ist Anerkennung einer Generation, die für unser Volk und für unseren Staat viel geleistet hat,
die große Opfer gebracht hat für den Aufbau der Demokratie, auch für das, was andere Wirtschaftswunder genannt haben. Gerade das war die Leistung jener Generation, die aus dem Krieg heimgekehrt ist und sich an den Wiederaufbau gemacht hat. Auf ihren Schultern stehen wir alle.
Der Kriegsopferanpassungssatz wird bei 2,15% liegen, damit — wie bei der Sozialversicherungsrente — über der Preissteigerungsrate. Es kommt darauf an, daß Kaufkraft zuwächst, daß man sich mehr von seinem Geld kaufen kann. Das ist gerade in der Sozialpolitik sehr wichtig.Ich will auf den Anpassungsverbund mit der Rentenversicherung deshalb hinweisen, damit klar wird, daß diese 2,15% nicht eine gegriffene Zahl sind, sondern wir der Lohnentwicklung des Vorjahres in der Rentenversicherung und in der Kriegsopferversorgung unter Abrechnung dessen folgen, daß ein Krankenversicherungsbeitrag in der Rentenversicherung gezahlt werden muß.Ich will darauf hinweisen: Auch die Arbeitnehmer leben nicht von dem, was Bruttolohn ist. Die Lohnerhöhungen des letzten Jahres betrugen im Durchschnitt 2,9%. Aber das ist ja nicht die Größe, die die Arbeitnehmer verbrauchen können. Davon müssen sie ja ans Finanzamt, an die Sozialversicherung Geld abführen. Insofern liegen die Rentner und Kriegsopfer mit den 2,15% nicht unter der Lohnentwicklung des Vorjahres. Die Anpassung für Rentner und Kriegsopfer folgt immer in einjährigem Abstand den Arbeitnehmern. Kein Rentner, kein Kriegsopferversorgungsberechtigter braucht Angst zu haben, daß die Lohnentwicklung an ihm vorbeigeht. Sie landen mit einem Jahr Verspätung bei ihm. Im selben Jahr läßt sich so etwas nicht organisieren, weil man im Juni nicht weiß, wie die Lohnentwicklung des ganzen Jahres ist.Ich will in dieser Debatte auch darauf hinweisen, daß wir wiederum strukturelle Verbesserungen in die Kriegsopferversorgung einbauen: Pflegehilfe, Altenhilfe, Hilfe zur Haushaltserweiterung, Krankenhilfe werden von der Sozialhilfe abgekoppelt und zur eigenständigen Kriegsopferfürsorge gemacht. Wir wollen die Kriegsopfer nicht in die Nähe der Sozialhilfe rücken, sondern wir wollen den Entschädigungscharakter durch diese Abkoppelung verdeutlichen.Wir wollen die Ausgleichsrente für diejenigen erhöhen, die mancherorts in Gefahr waren, in die Nähe der Sozialhilfe zu geraten. Es wird zu einer Anhebung bis zu 150 DM kommen. Wir betreiben Sozialpolitik gezielt, nicht mit der Gießkanne.
— Gezielt für diejenigen, die es am meisten brauchen. Das ist unser Verständnis von Sozialpolitik.
— Ja, Sie werden doch wohl zugeben, daß in der Ausgleichsrente diejenigen, die in der Nähe der Sozialhilfe sind, die Hilfe von allen am meisten brauchen. Über den Berufsschadensausgleich sollten wir nicht nur nachdenken, sondern auch prüfen, ob weitere Verbesserungen möglich sind.Wir werden den Verordnungsentwurf für die orthopädische Versorgung im nächsten Monat dem Kabinett zuleiten. Das ist eine Verbesserung gerade für diejenigen, deren Kraftfahrzeuge behindertengerecht ausgestattet werden sollen. Dieser Verordnungsentwurf erhöht die Leistungen und ist für rund 100 000 Versorgungsempfänger eine Hilfe. Das ist keine spektakuläre Sozialpolitik, aber eine Sozialpolitik, die dem einzelnen Menschen hilft.Ich will darauf hinweisen, daß wir schon im letzten Jahr die Kapitalabfindung verbessert haben, daß wir das Bestattungsgeld erhöht haben. Wir haben mit der Umstellung der Einkommensanrechnung auf 200 Stufen mehr Gerechtigkeit und auf diese Weise eine Leistungsverbesserung zustande gebracht.Meine Damen und Herren, ich danke auch an dieser Stelle gerade den Kriegsopferverbänden — stellvertretend nenne ich VdK und Reichsbund — für ihre Arbeit im Dienste der Kriegsopfer.Der Sozialstaat lebt nicht nur von Paragraphen und großen Institutionen, sondern von dem Engagement vieler, die in diesen Verbänden Dienst am
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Bundesminister Dr. BlümNachbarn tun. Das ist konkrete Nächstenhilfe. Dafür sollten wir — der Deutsche Bundestag — diesen Verbänden Dank sagen.
Herr Minister, sind Sie bereit, eine Zwischenfrage zuzulassen? — Bitte sehr, Herr Ströbele.
Herr Minister, sind Sie bereit, sich auch dafür einzusetzen, daß die Opfer der Naziherrschaft eine angemessene Versorgung bekommen?
Für alle Opfer in der Tat eine angemessene Versorgung. Wir werden allen, die berechtigte Ansprüche haben, gerecht werden.
Das Wort hat der Abgeordnete von der Wiesche.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Zur Debatte steht in erster Beratung der Entwurf eines Gesetzes über die fünfzehnte Anpassung der Leistungen nach dem Bundesversorgungsgesetz. Aber die Art — und die Sorgfalt —, wie die Regierung und die Koalition ein für die Kriegsopfer so wichtiges Gesetz behandeln, kann man schon daran erkennen, daß die Aufnahme dieses Entwurfs in die Tagesordnung des Deutschen Bundestages bereits betrieben wurde, obwohl noch nicht einmal der Bundesrat seine Stellungnahme abgegeben, geschweige denn die Bundesregierung die erforderliche Gegenäußerung beschlossen hatte.
Die neue Drucksache haben wir erst vor zwei Tagen auf den Tisch bekommen. Dies liegt hauptsächlich daran, daß die Bundesregierung auch in diesem Jahr mit dem Anpassungsgesetz wieder zu spät kommt. Mit einer solchen zeitlichen Pression Gesetzgebung zu betreiben, ist zwar bei dieser Koalition nichts Neues; aber ein solches ungehöriges Verfahren muß an dieser Stelle immer wieder angeprangert werden.
Zum Inhalt des Gesetzentwurfs stellt die sozialdemokratische Bundestagsfraktion fest, daß die tatsächliche Anpassung der Kriegsopferrenten nach den neuesten Daten nunmehr nur noch 2,15% betragen soll. Dies deckt aber nicht einmal den Kaufkraftverlust und kann meines Erachtens wohl kaum Rentenerhöhung genannt werden.
Mit Interesse habe ich gelesen, was die Bundesregierung zur wünschenswerten Verselbständigung der Kriegsopferfürsorge vorschlägt. Herr Blüm hat ja dazu gerade noch einmal Stellung genommen.
Meine Damen und Herren, als die SPD-Fraktion genau diese übrigens kostenneutrale Verbesserung im vergangenen Jahr anläßlich des Vierzehnten Anpassungsgesetzes zur Kriegsopferversorgung vorschlug, wurde dieser Antrag im Ausschuß und im Plenum von CDU/CSU und FDP niedergestimmt.
Hätte Herr Blüm das Hohelied, das er jetzt zu Recht für die Betroffenen singt, doch auch eben gesungen, als es um die Betroffenen im Bereich des Babyjahres ging.
Aber, meine sehr verehrten Damen und Herren, wir sind ja nicht nachtragend. Wir bedanken uns für die einsichtsvolle Kehrtwendung dieser Regierung. Aber ich sage auch sehr deutlich: Die SPD-Fraktion hofft auf Fortsetzung dieses Lernprozesses; denn echte Strukturverbesserungen, die diesen Namen verdienen, sind ansonsten nicht zu entdekken. Wohl aber sind sie in den Stellungnahmen des Bundesrates zu finden. Es muß nachdrücklich anerkannt werden, daß auch die Vertreter konservativer Länderregierungen echten Leistungsverbesserungen zugestimmt haben, was aber, wie in der Gegenäußerung nachzulesen ist, die immer noch konservativere Bundesregierung offensichtlich leider nur wenig beeindruckt.
Wenn wir über den Berufsschadensausgleich reden, hoffe ich, daß wir im Ausschuß in dieser Frage zu einer für die Betroffenen wirklich positiven Regelung kommen. Der Bundesarbeitsminister ist aufgefordert, nicht nur davon zu reden, sondern dann auch tatsächlich etwas zu tun.
Meine Damen und Herren, wenn das Gesetz über die fünfzehnte Anpassung der Kriegsopferversorgungsleistungen den Kriegsopfern wirklich spürbare Hilfen bringen soll, bedarf es noch entscheidender Verbesserungen in den Ausschußberatungen. Die SPD wird dazu ihren Beitrag leisten. Der vorgeschlagenen Ausschußüberweisung wird von meiner Fraktion zugestimmt.
Herr Abgeordneter Pöppl, bevor ich Ihnen das Wort erteile, erteile ich Ihnen erst einmal einen Ordnungsruf für die Bezeichnung „Heuchler", bezogen auf ein Mitglied dieses Hauses.
Herr Abgeordneter Pöppl, Sie haben das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! 40 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges sind weiten Teilen der Öffentlichkeit die unübersehbaren Opfer, die der Krieg gefordert hat, kaum noch bewußt. Mit dem zeitlichen Abstand vom Kriegsgeschehen wächst die Neigung, das Gewicht der Aufgabe, die der Staat mit der Kriegsopferversorgung übernommen hat, geringer einzuschätzen, als es in Wirklichkeit ist. 40 Jahre nach Kriegsende leben in der Bundesrepublik Deutschland, leben unter uns noch rund 1,6 Millionen Kriegsopfer, die infolge ihres fortgeschrittenen Lebensalters in besonderem Maße auf die Leistungen der Kriegsopferversorgung und der Kriegsopferfürsorge angewiesen sind.Die von den Kriegsopfern erbrachten Sonderopfer an Leben, Gesundheit und wirtschaftlichen Einbußen haben weder durch den Zeitablauf noch durch die allgemeine wirtschaftliche Entwicklung an Bedeutung verloren. Auch 40 Jahre nach Kriegsende stehen Staat und Gesellschaft nach wie vor in
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Pöpplder Pflicht, die Leistungen der Kriegsopferversorgung so auszugestalten, daß sie den von den Kriegsbeschädigten und Kriegshinterbliebenen erbrachten Opfern auch heute noch voll gerecht werden, und dies um so mehr, als die Generation der Kriegsopfer maßgeblich am Wiederaufbau der Bundesrepublik Deutschland beteiligt war.An dieser Stelle will ich die Gelegenheit nutzen, an den beispielhaften Einsatz so vieler Parlamentarier für die Belange der Kriegsopfer zu erinnern. Namen wie der von Franz Xaver Geisenhofer oder der der Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages Frau Maria Probst, deren Todestag sich im übrigen am 1. Mai zum neunzehnten Male jährt, sind leuchtende Beispiele des unerschütterlichen Eintretens für die Belange der Kriegsbeschädigten und -hinterbliebenen.Diese Linie gilt es fortzusetzen. Wir in der CDU/ CSU wissen um die besondere Verantwortung gegenüber den Opfern des Krieges. Wir werden dafür sorgen, daß die zukunftsgerechte Weiterentwicklung des sozialen Entschädigungsrechts als eines unserer wichtigen sozialpolitischen Anliegen auf der Tagesordnung bleibt, und ich begrüße es, Herr Kollege von der Wiesche, wenn sich die SPD daran beteiligen wird. Ich begrüße das sehr.Meine sehr geehrten Damen und Herren, der Minister für Arbeit und Sozialordnung hat schon darauf hingewiesen, daß mit dem vorliegenden Entwurf die Renten der Kriegsopfer im Anpassungsverbund um 2,15% netto angehoben werden; ich sage hier ganz deutlich: im unverzichtbaren Anpassungsverbund. Die Anpassung der Kriegsopferrenten liegt damit — das kann man nach dem, was hier an Mengenlehre heute wieder geboten wurde, nicht oft genug wiederholen — erheblich über der Preissteigerungsrate, die derzeit 0,7 % beträgt.
— Jawohl, Herr Bueb! Ich darf hier darauf hinweisen, daß eine noch so hohe Rentensteigerung nichts nützt, wenn sie — aber zu der Zeit waren Sie noch gar nicht da — durch noch höhere Preissteigerungsraten wieder aufgefangen wird. Im letzten Jahr der SPD-Regierung, 1981, stiegen die Renten um 4 %; die Inflationsrate lag bei 6,1 %. Ich frage Sie einmal, was eigentlich besser ist: das, was heute, 1986, passiert, oder das, was 1981 passiert ist. Heuer steigen diese Renten netto um über 2 %; die Preissteigerungsrate liegt bei 0,7 %. Ich glaube, die Kriegsopfer wissen wohl zu werten und zu gewichten, wie sich die Situation verändert hat.In Fortführung der mit dem Zehnten Anpassungsgesetz-KOV eingeleiteten Abkoppelung der Kriegsopferfürsorge vom Recht der Sozialhilfe bringt die eigenständige Regelung der für die Kriegsopferfürsorge besonders bedeutsamen Hilfen eine weitere Verbesserung und konsequente Weiterführung in diesem Bereich. Die Hilfen zur Weiterführung des Haushalts, die Krankenhilfe, die Hilfe zur Pflege, die Altenhilfe werden nunmehr im Bundesversorgungsgesetz selbständig geregelt. Das ist ein wichtiger Bereich für die Kriegsopferfürsorge, weil die eigenständige Regelung wegen des zunehmenden Alters der Kriegsopfer von besonderer Bedeutung und wegen der Leistungsbezüge von besonderer Aktualität ist.Eine weitere strukturelle Verbesserung erfolgt durch die Erhöhung der Ausgleichsrente für Beschädigte mit einer MdE von 50 und 60 v. H. auf nunmehr monatlich 519 DM.Erlauben Sie mit bitte, weil meine Redezeit zu Ende geht, in diesem Zusammenhang noch einen mir wichtig erscheinenden Punkt anzusprechen. Es sollte in naher Zukunft geprüft werden, ob im Hinblick auf das fortschreitende Alter der Kriegsopfer deren Bedürfnis nach mehr gesundheitssichernden und gesundheitserhaltenden Maßnahmen wie z. B. Badekuren unterstützt werden kann. Gerade Kurmaßnahmen tragen zu einer Stabilisierung des Gesundheitszustandes in wesentlichem Umfang bei.Zusammenfassend darf ich namens der CDU/ CSU feststellen, daß mit dem Fünfzehnten Anpassungsgesetz der Etat für die Versorgung der Kriegsopfer über 12 Milliarden DM beträgt. Das ist ein, wie ich meine, stolzes Ausgabenvolumen, mit dem sich die Bundesrepublik Deutschland sehen lassen kann.Ich danke Ihnen.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Bueb.
Meine Damen und Herren! Angeblich liegt die Anpassung der Versorgungsbezüge bei 2,34%. Ich kann hier nur wiederholen, was ich eben gesagt habe: Die Anpassung beträgt im Jahre 1986 effektiv 1,8 %, da die geringere Erhöhung des ersten halben Jahres berücksichtigt werden muß. Angesichts einer Erhöhung der Bruttoarbeitsentgelte um 2,8 % im Jahre 1985 bedeutet das ein weiteres reales Hinterherhinken der Kriegsopfer hinter den Erwerbstätigen. Wenn hier andauernd von der Inflation geredet wird, wie es auch mein Vorredner getan hat, dann muß man doch fragen: Warum sollen die Rentner einen Prozentpunkt weniger bekommen als die Erwerbstätigen? Das verschweigen Sie bei Ihrer Rechnung andauernd.
Die Erwerbstätigen bekommen 2,8 %, und die Rentner sollen 1,8% bekommen.
Diese Regierung zerstört seit ihrer Machtübernahme die bislang geltende Koppelung von Arbeitnehmereinkommen und Lohnersatzleistungen bzw. anderen Renten und Entschädigungsleistungen bei Behinderung oder im Alter.Diese Koppelung ist grundsätzlich ein wichtiges Zeichen der Solidarität zwischen Erwerbstätigen und Nichterwerbstätigen. Wer diese aufkündigt, treibt einen Keil der Entsolidarisierung in die Gesellschaft. Wenn auch in erheblich geringerem Umfang, so gilt auch für die Kriegsopfer, vor allem aber auch für ihre Hinterbliebenen, im wesentlichen die
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BuebFrauen, und für die heute bereits viel beschworenen Trümmerfrauen: Eine prinzipielle Grundsicherung, die den Gang zum Sozialamt erspart, ist längst überfällig. Zwar existiert bei der KOV bereits eine Grundrente, je nach Minderung der Erwerbsfähigkeit kann sie im Alter immerhin den Betrag von 800 DM monatlich erreichen.Wir fordern freilich eine Grundrente für alle, ergänzt um eine obligatorische gesetzliche Zusatzrente und damit einen Mindestrentenbetrag von 1 150 DM bis 1 200 DM pro Person.
Insofern meinen wir, daß Regelungsformen der KOV durchaus Anregungen für eine Neugestaltung des gesamten Systems der sozialen Sicherung geben könnten.Damit sind wir bei der zweiten Neuregelung des heute zu diskutierenden Gesetzentwurfes, der Loslösung weiterer Hilfen der Kriegsopferversorgung aus der Sozialhilfe und gleichzeitig bei den Leistungsverbesserungen im Bereich der Ausgleichsrente. Wir werden dem Regierungsentwurf trotz schwerer Bedenken zustimmen. Immerhin bringt er für einige Betroffene durchaus beachtliche Verbesserungen insoweit, als sie nicht mehr den oft genug demütigenden Gang zum Sozialamt einschlagen müssen. Doch hinter dem Vorschlag, der in seinem Grundzug die Billigung aller Organisationen der Kriegsopfer findet, steht ein prinzipielleres politisches, sozialpolitisches, ja verfassungsrechtliches Problem, die Begründung verschiedener Klassen von Alten und Behinderten. Im Entschädigungsrecht ginge es, so wird begründet, um eine bescheidene finanzielle Wiedergutmachung von Opfern, die der Staat abverlangte, als er die armen Teufel in den Krieg trieb, sie zum Waffendienst anstachelte. Für diese persönlichen Opfer müsse der Staat auch aufkommen. Kriegsopfer könnten deshalb beispielsweise mit Straßenverkehrsunfallopfern nicht gleichbehandelt werden. Wir lehnen diese Aufspaltung in verschiedene Opfergruppen, in heroische Kriegsopfer und Verkehrsopfer, ab.
Diese Aufspaltung in verschiedene Versorgungsklassen — das gilt vor allem auch für Beamte — ist ein Relikt aus dem 19. Jahrhundert und in einem modernen Sozialstaat überhaupt nicht aufrechtzuerhalten.
Vor diesem Hintergrund erscheint es uns als sozialpolitisch überhaupt nicht wünschenswert, bestimmte Tatbestände sozialer Hilfen, vor allem Pflegehilfen im weitesten Sinne, aus dem Bundessozialhilfegesetz herauszunehmen, eine Gruppe zu befriedigen, um dann im nächsten Atemzug dem verbliebenen Rest der Sozialhilfeabhängigen weitere Belastungen zuzumuten. Von daher plädieren die GRÜNEN für eine Neuregelung des gesamten Pflegehilfewesens und seiner Finanzierung. Wir haben den Entwurf eines Bundespflegegesetzes als eines Bundesleistungsgesetzes bereits hier in den Bundestag eingebracht. Diese Gleichstellung allerHilfsbedürftigen halten wir für einen wesentlichen Schritt nach vorn in eine gerechte Sozialordnung. Der Vorschlag der Bundesregierung zementiert die heute existierende, auf der Potenz von Lobbygruppen basierende gegliederte Systemanordnung in unserem Sozialstaat.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Cronenberg.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Bueb, trotz des überraschend konstruktiven Abstimmungsverhaltens, das Sie angekündigt haben, muß ich Sie darauf aufmerksam machen, daß bei der Beurteilung der Prozentzahlen der Erhöhungen der Unterschied zwischen brutto und netto berücksichtigt werden muß.
Wenn Sie sich einmal die Bruttoleistungen anschauen, Herr Kollege Bueb, und auf einer Lohnabrechnung nachsehen, wie hoch die Abzüge für Steuern, Renten-, Kranken- und Arbeitslosenversicherung sind, werden Sie noch weitere Gründe für Ihr vernünftiges Abstimmungsverhalten finden.Für die Freien Demokraten möchte ich in diesem Zusammenhang feststellen: Das Schicksal der Generation der Kriegsopfer und ihrer Hinterbliebenen ist Mahnung für die heutige Generation. Wir schulden den Kriegsopfern Respekt. Wir fühlen uns ihnen verpflichtet. Ihre Opfer, ihre Leiden sind Ursache genug, den Versuch eines Ausgleichs zu unternehmen. Ich weiß, daß finanzielle Leistungen allein dies sicher nicht tun können. Wir setzen uns schon seit langem für die Kriegsopfer ein und haben gemeinsam eine Verbesserung der Situation der Kriegsopfer und ihrer Hinterbliebenen erreichen können.
Der vorliegende Gesetzentwurf bewegt sich in dieser Kontinuität. Er stellt sicher, daß sich die Renten der Kriegsopfer im Gleichschritt mit dem Anstieg der Renten entwickeln. Dieser Anpassungsverbund hat positive, aber in schlechten Zeiten auch negative Seiten. Dennoch glaube ich, daß die Parallelität der Anhebung in allen Versorgungssystemen eine sinnvolle, eine sachgerechte Entscheidung des Gesetzgebers ist. Wir haben uns um diese Lösung seinerzeit sehr bemüht. Wir werden auch künftig daran festhalten.Die Anpassung der Kriegsopferrenten erreicht nicht gerade eine Rekordhöhe. Aber die ältere Generation weiß, daß letztendlich solide Renten, Preisstabilität viel mehr wert sind als inflationsbedingte Supererhöhungsraten. Auch hier gilt der Satz: Ein wenig weniger bedeutet häufig mehr.
Der Gesetzentwurf enthält Änderungen, die alten Anliegen der Kriegsopferverbände Rechnung tragen. Der Bundesrat hat uns darüber hinaus einen Strauß von Verbesserungsmöglichkeiten beschert.
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Cronenberg
Die Verbände der Kriegsopfer wären sicherlich in der Lage, diesen noch zu vergrößern. Ich denke hierbei an die Erhöhung der Beihilfen für fremde Führung bei den Kriegsblinden.Wir werden das alles in Ruhe und Sachlichkeit gründlich beraten, aber wohl wissend, Herr von der Wiesche, daß wir nicht alle Wünsche erfüllen können. Wir Freien Demokraten werden wie in der Vergangenheit im Rahmen der politischen und der finanziellen Möglichkeiten unseren Beitrag für eine konsequente Weiterentwicklung des Leistungsrechts der Kriegsopfer und ihrer Hinterbliebenen leisten. Ich hoffe, daß wir diese Problematik aus dem Parteienstreit heraushalten können.Herzlichen Dank.
Meine Damen und Herren, weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die Aussprache.
Es wird vorgeschlagen, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 10/5209 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Gibt es weitere Vorschläge? — Das ist nicht der Fall; es ist so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 12 auf:
a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Neuregelung der steuerrechtlichen Förderung des selbstgenutzten Wohneigentums
— Drucksache 10/3633 —
aa) Beschlußempfehlung und Bericht des Finanzausschusses
Drucksache 10/5208 —
Berichterstatter:
Abgeordnete Huonker Schulhoff
bb) Bericht des Haushaltsausschusses
gemäß § 96 der Geschäftsordnung
Drucksache 10/5225 —
Berichterstatter:
Abgeordnete Roth Hoppe
Wieczorek
Suhr
b) Zweite und dritte Beratung des von der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Neuregelung der steuerlichen Förderung selbstgenutzten Wohneigentums
— Drucksache 10/2404 — Beschlußempfehlung und Bericht des Finanzausschusses
— Drucksache 10/5208 —
Berichterstatter:
Abgeordnete Huonker Schulhoff
Zu Tagesordnungspunkt 12 a liegen ein Entschließungsantrag der Fraktion DIE GRÜNEN auf Drucksache 10/5220 sowie ein Änderungsantrag der Fraktionen der CDU/CSU und der FDP auf Drucksache 10/5221 vor.
Meine Damen und Herren, nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind eine gemeinsame Beratung der Punkte 12a und 12b und eine Aussprache von 90 Minuten vorgesehen. Ist das Haus damit einverstanden? — Ich sehe und höre keinen Widerspruch; es ist so beschlossen.
Wünscht einer der Berichterstatter das Wort? — Das ist nicht der Fall.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Herr Abgeordnete Schulhoff.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das vorliegende Gesetz ist in vielfacher Hinsicht bemerkenswert. Es stellt nämlich nicht nur steuersystematisch eine wesentliche Verbesserung gegenüber der jetzigen steuerlichen Behandlung des selbstgenutzten Wohnungseigentums dar, sondern schafft darüber hinaus auch bessere Voraussetzungen dafür, daß mehr Bürger als bisher, insbesondere Familien mit Kindern und Familien mit geringem Einkommen, Wohneigentum erwerben können.Die steuerliche Neuregelung, die wir hier vornehmen, schließt bei der Förderung des selbstgenutzten Wohneigentums im Grundsatz an den seit 1949 bestehenden § 7 b des Einkommensteuergesetzes an, der in den zurückliegenden 36 Jahren wohl zu dem bekanntesten Paragraphen des Einkommensteuergesetzes geworden ist und dessen Förderungsmethode — Abzug von der Steuerbemessungsgrundlage unter Anknüpfung an die Anschaffungs- oder Herstellungskosten — im Bewußtsein der Bevölkerung nicht nur tief verankert ist, sondern auch als gerecht akzeptiert wird. Der in diesem Zusammenhang hin und wieder zu hörende Vorwurf, diese Regelung sei nicht gerecht, ist nach meiner Ansicht nach dem leider heute noch vorliegenden Steuertarif nicht gerechtfertigt. Wer die Progression in der vorliegenden Form bejaht, muß auch den progressionsbedingten Abzug bejahen.
Die soziale Komponente wird meiner Ansicht nach nicht vernachlässigt. Ich denke an das Baukindergeld, insbesondere aber auch an die offenen Hilfen im Rahmen des sozialen Wohnungsbaus.Die bisher jedoch allgemein auf das Wohneigentum ausgerichtete Förderung nach § 7 b läuft unter Einräumung großzügiger Übergangsfristen ab. Das ist auch gut so; denn im Zeichen einer zunehmenden Sättigung des Wohnungsmarktes konzentriert
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15984 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 208. Sitzung. Bonn, Freitag, den 21. März 1986
Schulhoffsich die neue Förderung jetzt auf das selbstgenutzte Wohneigentum. Hier haben wir noch einen großen Nachholbedarf. Es geht mir nicht in den Kopf, meine sehr verehrten Damen und Herren, daß ein so reiches Land wie die Bundesrepublik Deutschland in Europa noch eine unterdurchschnittliche Quote an Wohneigentum aufweist.
Der Wegfall des § 7 b für vermietete Wohnungen ermöglicht nämlich, daß statt bisher höchstens 10 000 DM für ein Einfamilienhaus bzw. 12 500 DM für ein Zweifamilienhaus künftig bis zu 15 000 DM für selbstgenutztes Wohneigentum abgezogen werden können. Das ist ein wesentlicher Fortschritt.
— In der Tat, das ist er.Der vorliegende Gesetzentwurf schafft endlich auch Klarheit, indem er der Tatsache Rechnung trägt, daß Wohnen zur persönlichen Lebensgestaltung gehört und demzufolge die selbstgenutzte Wohnung nicht mehr als Investitions-, sondern als Privatgut zu betrachten ist.
— Ich freue mich, daß die SPD-Fraktion derselben Meinung ist.
— Darüber können wir uns streiten.Bei einer derartigen Betrachtungsweise muß nämlich zwangsläufig die bisher praktizierte Nutzungswertbesteuerung wegfallen. Der Verzicht auf die Besteuerung des Nutzungswertes beseitigt die Systemwidrigkeit, daß fiktive Einnahmen besteuert werden. Die eigene Wohnung war der einzige Fall dieser Art in unserem Steuerrecht, bei dem ein derartiger fiktiver Abzug vorgesehen war. Wer ein eigenes Auto nutzt, wer mit seinem eigenen Wohnwagen in Urlaub fährt und sein Segelboot mitnimmt, braucht — das ist für alle selbstverständlich — den Wert dieser Nutzung nicht zu versteuern. Niemand kommt auf die Idee, dem Eigentümer eines Autos den Betrag als Einnahme zuzurechnen, den er an einen Mietwagenunternehmer hätte zahlen müssen. So soll auch künftig bei der Nutzung der eigenen Wohnung verfahren werden.
Der Verzicht auf die Besteuerung des Nutzungswertes ist gleichzeitig ein Beitrag des Staates zur Eigenvorsorge der Bürger für das Alter. Ein Normalverdiener, der sein Eigenkapital für die eigenen vier Wände langsam ansparen muß, ist meist erst im zweiten Drittel oder in der zweiten Hälfte seines Arbeitslebens so weit, daß er seine Pläne realisieren kann. Er baut seine Finanzierung, wenn er weit genug vorausdenkt, so auf, daß mit dem Eintritt in den Ruhestand die Schulden möglichst voll abgetragen sind. Genau dann aber schlägt bisher die Steuer verstärkt zu.Das ist künftig anders. Nach Ablauf der Förderphase interessiert sich das Finanzamt für die eigene Wohnung nicht mehr. Der Verzicht auf die Besteuerung des Nutzungswertes ist damit auch ein Beitrag zur Steuervereinfachung. Viele Bürger, die bisher nur wegen ihrer Wohnung zur Einkommensteuer veranlagt werden mußten, können ihre Steuerangelegenheiten zukünftig im Lohnsteuerverfahren abwickeln oder fallen z. B. als Rentner mit der niedrigen Ertragsteilbesteuerung ihrer Rente ganz aus der Pflicht zur Abgabe einer Einkommensteuererklärung heraus.Bei der eigengenutzten Wohnung im Zwei- oder Mehrfamilienhaus entfällt der besonders ärgerliche Streit mit dem Finanzamt über die Höhe des anzusetzenden Mietwertes. Damit, meine sehr verehrten Damen und Herren, leistet dieses Gesetz einen wesentlichen Beitrag zur Entbürokratisierung.
Der Verzicht auf die Besteuerung des Nutzungswertes und die Beschränkung der Förderung auf die selbstgenutzte Wohnung führen schließlich auch zu einer steuerlichen Gleichbehandlung aller eigengenutzten Wohnungen, unabhängig davon, ob sie in einem Einfamilienhaus, einem Zweifamilienhaus oder als Eigentumswohnungen in einem Mehrfamilienhaus liegen. Dies führt meiner Meinung nach auch zu mehr Steuergerechtigkeit.Bei der Förderung werden die Fälle der Anschaffung von Wohneigentum und die Fälle der Herstellung gleichbehandelt, ebenso wie schon bei dem geltenden § 7 b. Das ist deshalb geboten, weil das Ziel der Förderung, wie ich eingangs schon betonte, nicht die Bereitstellung von zusätzlichem Wohnraum, sondern die Bildung von Wohneigentum bei den einzelnen Bürgern ist.Die Obergrenze für die begünstigten Anschaffungs- und Herstellungskosten wird von bisher 200 000 DM bei Einfamilienhäusern und Eigentumswohnungen sowie von 250 000 DM bei Zweifamilienhäusern auf 300 000 DM erhöht.Gegenüber dem Regierungsentwurf tritt eine weitere Verbesserung dadurch ein, daß die Hälfte der Grundstückskosten in die Förderung mit einbezogen wird. Das wird den Grad der Ausschöpfung der Förderobergrenze wesentlich erhöhen.
Wir hätten gern, verehrter Herr Kollege, die Grundstückskosten in vollem Umfang mit einbezogen; ich gebe das zu. Dies hätte die soziale Komponente verstärkt und wäre außerdem einfacher gewesen, weil dann in den Erwerbsfällen eine Aufteilung des Gesamtkaufpreises im Kaufpreis für Grund und Boden und Kaufpreis für Gebäude überflüssig gewesen wäre, solange die Wohnung nicht vermietet wird und solange deshalb keine Abschreibungen vorzunehmen sind. Eine Einbeziehung der vollen Grundstückskosten hätte jedoch den zur Verfügung
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Schulhoffstehenden finanziellen Rahmen für die Förderung gesprengt.
Wir mußten uns hier auch nach der finanziellen Decke strecken.Das sogenannte Baukindergeld, also der Abzug von 600 DM von der Steuerschuld mit der Auswirkung eines Steuerfreibetrages in der Proportional-zone von 2 727 DM — dieser Freibetrag ist also höher als der normale Freibetrag von 2 484 DM pro Kind — wird nicht mehr — das ist ganz wichtig — ab dem zweiten Kind, sondern bereits für das erste Kind gewährt.
Das ist auch ein Fortschritt, meine Damen und Herren. Damit setzt die Bundesregierung ihre erfolgreiche Familienpolitik konsequent fort.
Gegenüber dem Regierungsvorschlag haben wir eine weitere Vereinfachung erreicht, indem die vorgesehene Anrechnung des Sonderausgabenabzugs auf die bei einer späteren Vermietung vorzunehmende Abschreibung entfällt.Der Regierungsentwurf konnte auch in einem weiteren Punkt verbessert werden, nämlich hinsichtlich der Behandlung der Wohnungen, die sich in einem Betriebsvermögen befinden. Hier haben wir vorgesehen, daß sowohl bei Wohnungen, die zum notwendigen Betriebsvermögen gehören, als auch bei denen, die zum gewillkürten Betriebsvermögen gehören, innerhalb einer Zwölf-Jahres-Frist eine steuerneutrale Entnahme zu dem Zeitpunkt möglich ist, zu dem der Steuerpflichtige zum neuen Recht übergeht.Dasselbe gilt für die weiteren Sonderregelungen für die Land- und Forstwirtschaft. Danach kommt die Anwendung des bisherigen Rechts, soweit es günstiger war, auch für solche eigengenutzten Wohnungen in Betracht, die erst 1987, also zu einem Zeitpunkt fertiggestellt werden, in dem für andere Wohnungen stets das neue Recht gilt. Diese Ausnahmeregelung erschien geboten, weil der Regierungsentwurf für die land- und forstwirtschaftlichen Wohnungen keine Regelung enthielt und weil der Bundesrat in seiner Stellungnahme vorgeschlagen hatte, die Wohnungen der Land- und Forstwirte nicht in die Neuregelung einzubeziehen. Aus Gründen des Vertrauensschutzes hatten wir hier so handeln müssen.Auch in einem anderen Punkt wurde für die Landwirtschaft eine wesentliche Verbesserung eingebaut, nämlich bei der Freibetragsregelung, wenn in der Land- und Forstwirtschaft weichende Erben zu Lebzeiten der Eltern abgefunden werden sollen und dazu Grundstücke verkauft oder entnommen werden. Hier wird künftig ein Freibetrag je Erbe von 120 000 DM gewährt. Das ist ein Freibetrag in einer Höhe, von der andere Berufsgruppen nur träumen können.
Auch hier hoffe ich, daß wir nicht fürchten müssen, daß auch dies unter Selbstverständlichkeiten verbucht wird. Meine Damen und Herren, wir haben dies nämlich, wie schon bei früheren steuerlichen Regelungen für die Landwirtschaft — ich denke an das Steuerbereinigungsgesetz 1986 — in der Überzeugung beschlossen, damit einen weiteren Beitrag zur Lösung der großen landwirtschaftlichen Strukturprobleme zu leisten.
Bleiben wir bei der Landwirtschaft. Nach Abschluß der Beratungen des federführenden Finanzausschusses hat der Agrarausschuß in seiner gutachtlichen Stellungnahme darauf aufmerksam gemacht, daß die Systemumstellung auch bei solchen landwirtschaftlichen Wohnungen zu Härten infolge steuerpflichtiger Entnahme führen kann, die derzeit noch fremdgenutzt sind und infolgedessen nicht unter dieses Gesetz und seine großzügige Übergangsregelung fallen. Der Ihnen vorliegende Änderungsantrag auf Drucksache 10/5221 sieht auch für diese Wohnungen eine steuerfreie Entnahme vor, wenn sie vor dem 1. Januar 1999 für Wohnzwecke des Betriebsinhabers oder eines Altenteilers genutzt werden. Dasselbe ist aus Gleichbehandlungsgründen — wir haben hier also nicht nur die Landwirtschaft bedacht — für Wohnungen vorgesehen, die sich im gewillkürten Betriebsvermögen von Gewerbetreibenden oder Freiberuflern befinden.Lassen Sie mich zum Schluß auf die Entschließung, die Ihnen auch vorliegt, hinweisen, die den Denkmalschutz betrifft. Die speziellen Begünstigungen für diese Gebäude werden ja in der Obergangszeit fortgeführt. Wir gehen davon aus, daß auch für die Zeit danach eine zufriedenstellende Lösung gefunden wird und daß dabei vor allem der Begriff der erhaltenswerten und wertvollen Bausubstanz so gefaßt wird, daß, um nur zwei Beispiele herauszugreifen, unsere Schwarzwaldhöfe und unsere Höfe in den Marschen — und natürlich alle anderen Höfe auch — erhalten werden können.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich fasse zusammen: Dieser Gesetzentwurf ist nicht nur steuersystematisch eine Verbesserung, sondern er ist auch ein Beitrag zur Entbürokratisierung. Darüber hinaus ist er auch in familien- und eigentumspolitischer Hinsicht ein Fortschritt und führt letztlich — das hoffen wir ja alle — zu einer Verstetigung der Bautätigkeit.Die CDU/CSU-Fraktion stimmt zu.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Reschke.
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Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Schon seit Beginn dieser Legislaturperiode beschäftigen sich alle Fraktionen mit den Auswirkungen einer Neuregelung der Förderung von Wohneigentum und dessen Ausgestaltung. Der vorliegende Gesetzentwurf der SPD-Fraktion hat die Konzentration der Mittel, die der Staat über Steuerverzichte vergeben kann, ebenso wie der Mittel der Direktförderung auf diejenigen zum Ziel, die es brauchen. Das ist nicht nur sozial, sondern auch ökonomisch richtig und wichtig. Es muß aufhören, daß der Wunsch zum Kauf von Immobilien oder der Bau von Wohnungen mehr vom Anreiz, Steuern zu sparen, als vom Wunsch bestimmt wird, familiengerechtem Wohnen und der Vermögensbildung zu dienen.Das System ist hier angesprochen. Der Staat hat belastungsgerechtes Bauen zu ermöglichen. Ich widerspreche der These des Finanzstaatssekretärs, Progressionsminderung sei das beste System und habe den größten Anreiz, für meine Fraktion ausdrücklich.
Dem ist am meisten zu helfen, meine sehr verehrten Damen und Herren, der das geringste Einkommen und die größte Familie hat und nicht umgekehrt, wie die Koalition es will.
Abzug von der Steuerbemessungsgrundlage ist unsozial, meine sehr verehrten Damen und Herren. Deshalb gewährleistet der Abzug von der Steuerschuld, wie die SPD es vorschlägt, für alle Bauherren und Erwerber größere Verteilungsgerechtigkeit und schafft einen Ausgleich zwischen sozialpolitischen und vermögenspolitischen Komponenten, die beim Bauen zum Tragen kommen sollen.
Familien-, sozial- und vermögenspolitisch ist es falsch, von der Steuerprogression aus die Grundförderung zu bemessen. Ich zitiere hier den Städtetag, der j a in seiner Mehrheit wahrlich nicht SPD-regiert ist. Soviel ich weiß, sind Sie, Herr Kollege Daniels, da ja auch Mitglied. Der Städtetag hat am 15. Januar 1985 die Mitglieder des Bundestages wie folgt angeschrieben:Die Förderung sollte in der Form des Abzugs von der Steuerschuld geschehen, weil nur so die Ausrichtung auf die bei der Eigentumsbildung benachteiligte städtische Bevölkerung mittleren und geringeren Einkommens erfolgen würde und damit Schichten zum eigengenutzten Wohneigentum verholfen werden könnte, die dies bisher aus eigener Kraft nicht erreichen konnten.Ich glaube, es ist deutlich, daß die CDU — auch die FDP; aber da nützen Ermahnungen ja nichts — hier mitermahnt wird, von ihrem Weg abzugehen. Herr Kollege Schulhoff, Sie mögen die Eigentumsquote in den Großstädten zwar wirklich bedauern, aber die SPD-Bundestagsfraktion können Sie imBedauern gar nicht übertreffen; denn wir machen darauf schon seit Jahren aufmerksam.
— Ja, man wird ja auch in 13 Jahren schlauer. — Nach Feststellungen beispielsweise des Instituts „Wohnen und Umwelt" ist die Eigentumsquote der unteren 40 % der Einkommenspyramide in den letzten 20 Jahren in den Städten gesunken, während die Eigentumsbildung der oberen 20 % besonders stark gestiegen ist. Ich glaube, das bedingt wirklich, daß wir hinsichtlich der Umstellung der Eigentumsförderung in Richtung auf eine stärkere Förderung umdenken, wie der Städtetag es haben will.
— Ach, Herr Kollege Kansy, ich bitte Sie wirklich, zuzuhören. Wissen Sie: Wenn ich die CDU-Abgeordneten nach den Kategorien betrachte, die Ihr Herr Geißler ausgegeben hat, gehören Sie in eine neue Kategorie: Neben den Hoffnungsträgern, Mandatsträgern und Leistungsträgern gehören Sie für mich zu den Ahnungsträgern, aber zu den Trägern der Ahnungslosigkeit in vielen Bereichen. Insofern: Hören Sie mal genau zu, was dahintersteckt!
Abzug von der Steuerschuld heißt wie beim Baukindergeld: Eigenheimabzugsbetrag für geringe und hohe Einkommen gleich hoch. Abzug von der Steuerschuld heißt auch, Förderbeträge vom Finanzamt auszuzahlen, wenn die Fördersumme oder der Abzugsbetrag die Steuerschuld übersteigen. Die Höhe der Grundförderung hilft hohen Einkommen zur vollen Ausnutzung der Vorteile. Alle Banken und Sparkassen zeigen auf Grund ihrer Finanzierungsstatistiken, daß ein großer Teil derer, die die Förderung nötig haben, die von der CDU vorgeschlagene Bemessungsgrundlage für die Grundförderung von 300 000 DM nicht erreichen, um zur vollen Abschreibungshöhe zu kommen.Die Behauptung des Zentralverbands des Handwerks ist wohl sehr fadenscheinig. Er schreibt: Bei einer Festsetzung des förderwürdigen Höchstbetrags auf 250 000 DM würde ein zusätzlicher Anreiz für Bauleistungen in Schwarzarbeit geschaffen. Ich frage Sie allen Ernstes: War der bisherige § 7 b ein Schwarzarbeiterparagraph — bei der Abschreibungssumme 200 000 DM für ein Einfamilienhaus und 250 000 DM für ein Zweifamilienhaus —? Oder würde im Gegensatz dazu die Schwarzarbeit am Bau
bei selbstgenutztem Wohneigentum wegfallen, wenn wir die Höchstgrenze auf 600 000 DM anheben? Wenn das das Handwerk veröffentlicht, frage ich mich: Haben die nichts Besseres an Vorschlägen zumindest aus ihrer Sachkenntnis heraus dem Deutschen Bundestag vorzulegen?
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ReschkeIch glaube eher: Der Wohnungsbauminister mußte sich in diesem Punkt der Neidhammel-Diskussion der FDP beugen, statt seinen Überzeugungen und Einsichten zu folgen, die er wohnungspolitisch auch auf Kongressen der CDU vertritt.Wohnungspolitische Vernunft spricht für die volle Einbeziehung der Grundstückskosten. Die Entscheidung der Koalition, die Grundstückskosten nur zur Hälfte in die Förderung einzubeziehen, ist ebenso willkürlich, wie wenn das Dach oder die tragenden Wände nur zur Hälfte gefördert würden.
Sie begünstigt außerdem teure Objekte auf flachem Land mit niedrigen Grundstückspreisen und benachteiligt den Wohneigentumserwerb in Ballungsgebieten mit besonders hohen Grundstückspreisen und vor allem aus diesem Grund mit niedrigerer Eigentumsquote. Herr Kollege Schulhoff, Sie sollten wirklich bedauern, was Sie damit anstellen.
Wenn schon Finanzierungsschwierigkeiten vom Finanzminister eingeräumt werden, dann wäre eine Herabsetzung der insgesamt zu fördernden Erwerbskosten geboten und wären statt dessen die vollen Grundstückskosten zugunsten mittlerer und kleinerer Einkommen in den Städten anzuerkennen.
Die Anhörung von Sachverständigen erbrachte, daß es sinnvoll ist, jedem einmal im Leben eine Wohneigentumsförderung zu geben und Ehepaaren oder Generationen die Zusammenlegung ihrer Förderung auf ein Objekt zu ermöglichen. Wenig verdienende Ehepaare haben ja jetzt schon Schwierigkeiten, wenigstens ein Objekt zu finanzieren. Ein mahnendes Zeichen ist die steigende Zahl von Zwangsversteigerungen in Verbindung mit der dahinter stehenden Sozialstruktur.
Gut verdienende Ehepaare haben von § 7 b schon zum zweitenmal Gebrauch gemacht. Auch hier ist die Koalition zur Einsicht unfähig.Die Ferienwohnung soll nicht mehr als Wohneigentum gefördert werden. Das ist richtig. Dem stimmen auch wir zu. Das ist ein wohnungspolitisches Ziel. Allerdings muß klar sein, daß die Bindung an die Selbstnutzung der Förderung Mißbrauch ausschließt. Die neue Förderung darf nicht die zweite Wohnung über den zweiten Wohnsitz des Ehepartners hintenherum doch noch zur Ferienwohnungsförderung von einkommensstarken Gruppen werden lassen.
Mißbrauch muß ausgeschlossen werden. Das hat der Fachausschuß deutlich festgestellt. Wir werden darauf achten.Sicher ist die Förderung aus dem Bestand zur Wohneigentumsbildung in unseren Großstädten wichtig und notwendig. Allerdings sind über 50% Bestandsförderung ein Zeichen, daß Bauleistungen auf dem Land und Zweite-Hand-Wohnungen in der Stadt gefördert werden. Die Gebrauchtimmobilien sind 20 bis 30% kostengünstiger. Daher sollte man ein bißchen darüber nachdenken, ob eine sinnvolle differenzierte Förderung nicht Möglichkeiten schaffen würde, in die Ballungszonen mehr Bauleistungen zu holen, z. B. — wenn wir Finanzierungsspielraum bekommen — durch die Förderung von Genossenschaftseigentum. Das wäre für Bauleistungen im Rahmen von Modernisierung und Erneuerung sicherlich ganz besonders in Ballungsgebieten sinnvoll.Im Fachausschuß erklärte der Kollege Dr. Daniels dazu — mit sehr gutem Fachverstand aus der Kommunalpolitik; ich zitiere —: „Die Förderung von Genossenschaftseigentum solle aus wohnungspolitischer Sicht begrüßt werden. Dem Finanzausschuß wird vorgeschlagen, eine solche Regelung vorzusehen."
Es ist unverständlich, daß der Kollege Schulhoff, Sprecher für den Finanzausschuß, so eine Regelung nicht vorgeschlagen hat. Ich bedaure es, daß wir nicht dazu übergehen, Genossenschaftseigentum zu fördern.Was die Koalition aus ideologischen Gründen bei der Grundförderung abgelehnt hat, hat sie beim Baukindergeld zugestanden. Baukindergeld gibt es als Abzug von der Steuerschuld; 600 DM je Kind nach dem Vorschlag der Koalition.
Der Vorschlag der SPD, auch schon ab dem ersten Kind 1 200 DM je Kind zehn Jahre lang zu gewähren, fand keine Mehrheit.
Unser Vorschlag, den Abzugsbetrag auch für Kinder zu gewähren, die innerhalb eines Zeitraums von vier Jahren nach dem Bezug geboren werden, wurde fadenscheinig mit Verwaltungsaufwand und mit Stichtagsproblemen abgetan. Man kann den Bürgern nur empfehlen: Achtet auf den Stichtag, für die Nachgeborenen gibt es kein Baukindergeld.
Für Kinder, die nach Bezug des Wohneigentums geboren werden, gibt es keine Förderung. Der Förderzeitraum bei der Grundförderung wurde entgegen dem SPD-Vorschlag um ein Jahr gekürzt, beim Baukindergeld um zwei Jahre. Das alles würde gerade bei kinderreichen Familien den Auslauf der Förderung abfedern und sinnvolle Familienpolitik bedeuten. Die Familienministerin hat das wohl nicht gelesen; sonst wäre ihr aufgefallen, daß der Schutzraumbau weiterhin steuerbegünstigt ist, aber nicht die sich vergrößernde Familie.
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15988 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 208. Sitzung. Bonn, Freitag, den 21. März 1986
ReschkeObendrein, Herr Kollege Schulhoff, nennen Sie das konsequente Fortsetzung der Familienpolitik.Die SPD tritt für die Abschaffung der Nutzungswertbesteuerung und für die Behandlung der selbst genutzten Wohnung als Privatgut ein. Allerdings, die Gewinner sind wieder einmal teilweise Einkommensstarke. Während Eigentümer von Eigentumswohnungen und Einfamilienhäusern nur begrenzt, in sehr geringem Umfang Belastungen bei der bisherigen 7 b-Förderung absetzen können, ist es den Eigentümern von Zweifamilienhäusern nach heutigem Recht erlaubt, alle Kosten von Zinsen bis Reparaturen steuermindernd abzusetzen. Mit Hilfe der Steuerverzichte des Staates ist das Haus entschuldet worden. Jetzt, wo die Entschuldung eintritt und der Eigentümer den Überschuß aus Vermietung und Verpachtung zu versteuern hätte, wird er quasi amnestiert, indem er die Privatgutlösung wählen kann. Das ist ungerecht gegenüber vielen Eigenheimern und Mietern, die diese Vorteile nicht gehabt haben.Wenn die Finanzsorgen so groß gewesen wären, hätte die Koalition auch verzichten können auf die Hereinnahme des Wohneigentums in die Privatgutlösung im Bereich Landwirtschaft und Forsten mit der Maßgabe der Steuerneutralität bei der Überführung. Steuerfreie Gewinnentnahme ist sicherlich die richtige Bezeichnung dafür. Auch hier wurden jahrelang alle Kosten und Belastungen dieser „Betriebsvermögen" steuermindernd abgesetzt, während der Eigenheimer diese Kosten nicht absetzen konnte.
Entschuldet und entlastet mit Steuerersparnissen werden auch diese Berufsgruppen vor der Besteuerung gerettet, wenn die Entschuldung eingetreten ist.Sozialdemokraten bleiben dabei: Förderung, unabhängig vom Einkommen, als eigener Abzugsbetrag von der Steuerschuld — ist die Steuerschuld zu gering, zahlt das Finanzamt den Förderbetrag aus —; eine Staffelung nach der Zahl der Kinder mit einem Förderzeitraum von acht Jahren für die Grundförderung und zehn Jahren für das Baukindergeld nach dem Jahr der Anschaffung; die Berücksichtigung von später geborenen Kindern beim Baukindergeld; sinnvolle Unterscheidung zwischen Erwerb aus dem Bestand, Neubau und Neukauf. Die Förderung von Genossenschaftseigentum und die Abschaffung der Nutzungswertbesteuerung halten wir für sinnvoll.Die Begrenzung der Werbungskosten in der Bauphase würde sinnvollen Finanzspielraum schaffen. Darüber hinaus treten wir für eine verstärkte Förderung des Bau- und Vorsparens ein und für eine Reform der Grunderwerbsteuer, die unseres Erachtens überfällig ist.Den Regierungsentwurf lehnen wir ab. Die SPD hält ihren Gesetzentwurf weiterhin in vollem Umfang für gerechtfertigt und sozial-, wohnungs- und finanzpolitisch für sinnvoll.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Gattermann.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich habe mir gestern einmal die Debattenbeiträge zu ersten Lesung dieses Gesetzentwurfs durchgelesen. Man meidet innerhalb eines so kurzen Zeitraums von sechs Monaten ja gerne Widersprüche. Dabei habe ich eine angenehme Feststellung getroffen, nämlich daß es nicht notwendig sein wird, Zeit zu verbrauchen, um Lernprozesse während des Beratungsverfahrens zu erläutern oder Widersprüche aufzuklären. Vor allen Dingen aber habe ich für mich daraus die Aufgabe abgeleitet, hier jetzt keine langatmigen Ausführungen mehr über die Grundphilosophie des Gesetzentwurfs zu machen. Ich bitte die Kollegen, das im Protokoll vom 12. September nachzulesen; da habe ich das nämlich sehr ausführlich getan.
— Lieber Herr Müntefering, das gilt auch für den in der Art einer Gebetsmühle geführten Streit über den Abzug von der Steuerschuld oder Abzug von der Bemessungsgrundlage. Auch das kann dort nachgelesen werden; das haben wir am 12. September in einem sehr ausführlichen Frage- und Antwortspiel abgehandelt. Ihre Argumente aus dem Alternativ-Gesetzentwurf haben uns nicht überzeugt.
Meine Damen und Herren, ich sage trotzdem: Während des Gesetzgebungsverfahrens hat es einen Zeitpunkt gegeben, der möglicherweise die Erläuterung veränderter Auffassungen notwendig gemacht hätte. Ich meine jenen Zeitpunkt, als zur Debatte stand, den Förderhöchstbetrag auf 250 000 DM abzusenken und die Grundstückskosten voll in die Bemessungsgrundlage einzubeziehen. Immerhin hatte ich hier am 12. September für meine Fraktion ausdrücklich Offenheit in bezug auf die Einbeziehung von Grundstückskosten erklärt, hatte aber auch einen Appell an die Bauwilligen und Kaufwilligen gerichtet, um der Gefahr des Attentismus zu begegnen. In diesem Appell hieß es: Niemand braucht damit zu rechnen, daß in den wesentlichen wirtschaftlichen Eckdaten, die diesem Gesetzentwurf zugrunde liegen, Verschlechterungen, Verböserungen eintreten werden. Dieser Appell, den auch die Bundesregierung über 20 Monate hinweg verkündet hat, ergab die Notwendigkeit, das Vertrauen jener Bürger zu schützen, die auf den Höchstbetrag von 300 000 DM vertraut hatten. Dennoch haben wir die Grundstückskosten wenigstens teilweise — nämlich zur Hälfte — einbezogen.Der Kollege Huonker hatte uns am 12. September versprochen, er wolle dem Finanzminister und uns vorrechnen, daß ohne zusätzliche Steuerausfälle eine Einbeziehung der Grundstückskosten möglich
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Gattermannsei. Dies ist ihm leider nicht gelungen. Wäre es ihm gelungen, dann hätten wir die Grundstückskosten selbstverständlich voll einbezogen. Nein, es gibt zusätzliche Steuerausfälle in einer Höhe von alles in allem um 600 Millionen DM.
— Herr Kollege Spöri, Sie müssen nicht nur sporadisch zuhören, sondern Sie müssen meinen Ausführungen schon insgesamt zuhören.
Ich habe nämlich hier gerade unter Bezugnahme auf das Protokoll vom 12. September erklärt, daß wir damals gesagt haben: Wir sind offen für die Einbeziehung von Grundstückskosten. Da war kein Lernprozeß erforderlich.Meine Damen und Herren, die ganze Operation kostet über den gesamten Förderzeitraum ungefähr 600 Millionen DM mehr. Es war nicht ganz einfach, den Bundesfinanzminister zu überzeugen.Meine sehr verehrten Damen und Herren, die meisten Probleme bei den Gesetzesberatungen haben die Übergangsregelungen bereitet, weil wir j a die klare politische Zielsetzung hatten Reformopfer zu vermeiden. Wir betrachten die Abschaffung der Nutzungswertbesteuerung, die Abschaffung der Steuerpflicht für Einkommen, das man überhaupt nicht erzielt, sondern das lediglich erspart wird, weil man es nicht an einen fremden Vermieter zahlen mußte, den Rückzug des Staates als Ertragssteuereintreiber aus der Privatsphäre des Bürgers in der Tat als ein Stück Gesellschaftsreform.
Aber wenn man reformiert, muß man sich darum bemühen, Opfer zu vermeiden; denn sonst ist der politische Erfolg gefährdet.Dies hat also die meisten Schwierigkeiten gebracht. Dabei haben sich die Probleme bis in die letzten Tage ergeben; denn der Teufel steckt bekanntlich im Detail.Meine Damen und Herren, ein Problem ist bisher nicht gelöst. Nämlich in der grundsätzlichen Frage Steuerpflicht für selbstgenutztes Wohneigentum —ja oder nein —, die wir jetzt entschieden haben, ist eine Gruppe übriggeblieben, bei der auf Dauer die Steuerpflicht notwendig ist, damit Verluste verrechnet werden können. Das sind größere Anwesen unter Denkmalschutz, sage ich jetzt verkürzt. Dafür haben wir die Detaillösung noch nicht gefunden. Das ist aber kein aktuelles Problem. Wir haben viele Jahre Zeit, um es zu lösen. Wichtig war, daß es eine eindeutige politische Willenserklärung gab. Dies ist mit dem vorliegenden Entschließungsantrag der Fall.
Ein weiteres Problem, im wesentlichen die Landwirtschaft ebenso wie die großen denkmalschutzgepflegten Anwesen betreffend, hat sich erst in den allerletzten Tagen herausgestellt. Wir haben auch hierfür eine Lösung gefunden. Sie haben zur zweiten Lesung einen Änderungsantrag der Koalitionsfraktionen vor sich. Das ist ein etwas ungewöhnliches Verfahren. Ich möchte mich in aller Form dafür bedanken, daß die Fraktion der SPD signalisiert hat, keine Verfahrenshindernisse aufzubauen. Ich bedanke mich ausdrücklich dafür.
Es wäre wirklich mißlich, wenn ein Landwirt, der seinen Hof verpachtet hatte und ihn im nächsten oder übernächsten Jahr wieder übernimmt, plötzlich als Eintrittsgeld wegen der Zwangsentnahme von Grund und Boden aus dem Betriebsvermögen Steuern zahlen müßte, ohne daß sich geldmäßig in seiner Tasche etwas vollzieht. Solche Ergebnisse haben wir nun durch diesen Änderungsantrag ausgeschlossen.Meine Damen und Herren, im übrigen ist bei den Übergangsregelungen insgesamt großzügig verfahren worden. Das ist gut so und im Sinne der Reform, die ich angesprochen habe. Die zwölfjährige Übergangsfrist ist in einer Vielzahl von Fällen, sowohl bei Zweifamilienhaus-Eigentümern, bei Eigentümern von Wohnungen in Mehrfamilienhäusern als auch bei Landwirten oder Gewerbetreibenden mit Wohnungen im Betriebsvermögen optimal. Für eine kleine Zahl von Fällen — je nach Finanzierung — ist es nicht gerade optimal, aber tolerabel; tolerabel deshalb, weil man eben zwölf Jahre lang Zeit hat, die eigenen wirtschaftlichen und Besteuerungsgrundlagen an das veränderte Recht anzupassen.Meine Damen und Herren, wir haben in den Gesetzesberatungen noch ein bißchen Vereinfachung vollzogen — Herr Kollege Schulhoff hat darauf hingewiesen —, indem wir die Vorschrift über die Anrechnung von in Anspruch genommenen Sonderabzugsbeträgen bei der späteren Bemessung der abschreibungsfähigen Herstellungskosten schlicht gestrichen haben. Es gibt kein besseres Stück Vereinfachung als Streichung. Ich glaube, darüber besteht Einvernehmen.Meine Damen und Herren, ich kann es mir nicht ersparen, einige Anmerkungen zu dem Gesetzestitel zu machen. Er ist wieder einmal ungewöhnlich bürokratisch kompliziert, administrativ gesteltzt und außerdem wahrscheinlich philologisch anfechtbar. Mich berührt, daß dieser Titel den jetzt vielfach beschworenen Kern des Gesetzes nicht durchschimmern läßt, nämlich die Abschaffung der Steuerpflicht für eigene Wohnungen. Ich will einmal als Frage in den Raum stellen: Verbirgt sich eigentlich dahinter ein Stück Politikverständnis des Inhalts, daß gute Politik nur jene sei, Wohltaten möglichst üppig zu verteilen und je nach parteipolitischer Orientierung dies zielgruppenorientiert zu tun?
Oder ist das ein falsches Politikverständnis? Ich meine, es ist ein falsches Politikverständnis. Wir brauchen eine Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung, die es dem Bürger ermöglicht, in der Regel die Art des Wohnens seiner Familie aus eigener Kraft zu gestalten. Die Hilfen des Staates, die im-
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Gattermannmer notwendig sein werden, sollten die Ausnahme und nicht die Regel sein, wie wir es jetzt wieder in diesem Gesetz haben festschreiben müssen, weil wir auf Grund einer 35jährigen subventionsgeschwängerten Wohnungspolitik eine Marktlage geschaffen haben, in der es in der Regel nicht möglich ist, Ertrag und Kapitaleinsatz in ein vernünftiges Verhältnis zu bringen. Wir sind hier auf Grund unseres Tuns in der Vergangenheit in einen Handlungszwang geraten.Meine Damen und Herren, das Gesetz wird sogar ein einfacheres Gesetz sein. Wenn in 13, 14 Jahren alle Übergangsregelungen aus diesem Gesetz herausgestrichen sein werden, haben wir sogar ein relativ einfaches Gesetz geschaffen. Alles in allem ist es ein gutes Gesetz, und wir stimmen ihm gern zu.Pflichtgemäß, aber aus Überzeugung habe ich abschließend den Kollegen in den beteiligten Ausschüssen für die wie immer stets kooperative Arbeit an diesem Gesetzeswerk zu danken. Insbesondere aber verdient die Mitwirkung der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im Sekretariat und im Ministerium meinen und meiner Fraktion lobenden Dank.
Das Wort hat der Abgeordnete Werner .
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Unsere Alternative zum Gesetzentwurf der Bundesregierung haben wir GRÜNEN in einem Entschließungsantrag formuliert, der Ihnen vorliegt. Wir streben eine Änderung der Förderung selbstgenutzten Wohneigentums mit folgenden Schritten an:
Erstens. Die Förderung im Einkommensteuerrecht wird völlig gestrichen. Statt dessen werden aus dem dann erhöhten Steueraufkommen direkte Subventionen gezahlt.
Zweitens. Diese direkten Subventionen gibt es nur für Bauten mit solchen Träger- und Eigentumsformen, die wirkungsvoll gegen jede Spekulationsmöglichkeit geschützt sind.
Drittens. Die Situation aller Menschen, die zur Miete wohnen, wird durch Schaffung eines Dauerwohnrechtes gesichert.
Viertens. Die Umwandlung von Mietwohnungen in Eigentumswohnungen wird verboten.
Fünftens. Die Wohnungsgemeinnützigkeit wird reformiert. Genossenschaftliche und genossenschaftsähnliche Eigentumsformen werden gefördert durch den Abbau bisheriger rechtlicher, steuerlicher, subventions- und kredittechnischer Hindernisse.
Sechstens. Es wird nicht eingegriffen in bestehende Eigentumsverhältnisse, in laufende Förderungsfälle und auch nicht in die bisherige Förderung des sozialen Wohnungsbaus und der Modernisierung, ebenso nicht in die Städtebauförderung.
Zur Erläuterung dieser sechs Punkte einige Anmerkungen. Privates Einzeleigentum im Wohnungsbereich wird nur dann gefördert, wenn sichergestellt ist, daß es wirksam davor geschützt ist, jemals Objekt von Spekulationen zu werden. Ansonsten wird privates Einzeleigentum weder gefördert noch behindert. Die Förderung wird hauptsächlich eingesetzt für Formen von Gemeinschaftseigentum, wie Stiftungen, Genossenschaften und ähnliche Formen, bei denen eine dauerhafte Vermögensbindung sichergestellt ist.
Diese dauerhafte Bindung besteht vor allem in einem Veräußerungsverbot, verbunden mit einem Heimfallanspruch an den gemeinnützigen Träger oder die jeweilige Stiftung, bei Erstattung der Eigenleistung einschließlich einer Verzinsung von 4%.
Statt einer Verzinsung öffentlicher Förderungsmittel gibt es eine Solidarabgabe, die nach Haushaltsgröße, Wohnfläche, Einkommen und Eigenleistungen berechnet wird. Zweckbestimmung der Solidarabgabe ist der Erhalt und die Ausweitung des sozial gebundenen Wohnungsbestands.
Zu unserem Konzept gehört natürlich ein erheblicher Ausbau der Rechte von Mietern.
Das Bedürfnis nach dauerhaft gesicherter Wohnungsversorgung darf nicht ausschließlich demjenigen vorbehalten sein, der Eigentum besitzt. Die Politik der Bundesregierung und der Koalition läuft auf einen Zwang zum Eigentum hinaus, dem wir uns widersetzen. Dieser Zwang zum Eigentum wird um so größer, je unsicherer die Situation der Mieter wird. Darum fordern wir die Rücknahme des Mietrechtsänderungsgesetzes von 1982, die Rücknahme der Möglichkeit von Staffel- und Zeitmietverträgen usw.; nähere Einzelheiten dazu finden Sie ja in unserem Antrag.
Die Auffassung der Bundesregierung und der Koalition ist mit unserer Auffassung absolut nicht vereinbar. Auch wochenlange Diskussionen könnten hier keine Annäherung bringen.
Herr Abgeordneter Werner, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Gallus?
Bitte keine Zwischenfragen, grundsätzlich nicht.
Weil diese Gegensätzlichkeit hier einmal grundsätzlich dargestellt und auch grundsätzlich diskutiert werden müßte, will ich meine weitere Redezeit nicht auf eine Beschäftigung mit den Details der Regierungsvorlage oder der SPD-Vorlage verwenden, sondern möchte einmal Grundsätzliches darlegen. Die SPD-Vorlage weicht aus unserer Sicht übrigens nicht wesentlich von der Regierungsvorlage ab, wenn sie auch etwas mehr Verteilungsgerechtigkeit beinhaltet und auch an einer Stelle auf das Genossenschaftliche eingeht.
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Werner
Grundsätzlich gehört zur Eigentumsvorstellung der Konservativen wie auch der Liberalen das Element der damit verbundenen persönlichen Freiheit. An dieser Stelle möchte ich einmal einhaken und auf folgendes hinweisen.Zum Zeitpunkt des Beginns der Neuzeit unseres Kulturbereichs — damit meine ich unsere westliche Zivilisation und den Zeitpunkt der Französischen Revolution — tauchte diese Forderung nach Freiheit auf, aber sie war begleitet von zwei anderen, gleichrangigen Forderungen, nämlich bekanntlich von der nach Gleichheit und der nach Brüderlichkeit.Was damals noch unverstanden war, war die Zuordnung dieser drei Forderungen zu den Politikfeldern, mit denen es ein Parlament im Alltag zu tun hat.Eine solche Zuordnung hat erstmals nach Ende des Ersten Weltkrieges stattgefunden, und zwar in einem Konzept, das hier kürzlich Otto Schily in seiner vorläufig letzten Rede erwähnte, nämlich in dem von Rudolf Steiner vorgestellten Konzept einer Gliederung des sozialen Organismus in die drei Bereiche Wirtschaft, Recht und Kultur. Steiner zeigt in diesem Konzept schlüssig, daß das Ordnungsprinzip Freiheit ausschließlich der Kultur im weitesten Sinne zuzuordnen ist, die Gleichheit dagegen ausschließlich dem Recht, die Brüderlichkeit der Wirtschaft.Unser grüner Antrag zur steuerlichen Förderung des selbstgenutzten Wohneigentums befindet sich in Übereinstimmung mit dieser Zuordnung. Wir versuchen nämlich, Grund und Boden und die darauf errichteten Wohnungen als wirtschaftliche Tatsachen unter das Ordnungsprinzip Brüderlichkeit zu stellen. Das bedeutet Gemeinschaftsbildung zur Befriedigung des letztlich wirtschaftlichen Grundbedürfnisses
gesicherter Wohnraumversorgung.
Das Konzept der Koalition versucht dagegen, das Element der persönlichen Freiheit mit dem Eigentum an Grund und Boden, an Wohnraum usw. zu verknüpfen, wie ja auch sonst in dieser Gesellschaft die Freiheit als die Freiheit in der Wirtschaft bzw. als die Freiheit des wirtschaftlich Starken mißverstanden wird.
Dieses Konzept bedeutet einen politischen Kardinalfehler, der sich letztlich nur als Keim für künftige soziale und gesellschaftliche Katastrophen auswirken kann.
Schon heute ist erkennbar, daß diese Art Eigentumsideologie mit ihren zunehmenden Zwangsversteigerungen, mit zahllosen Streitigkeiten zwischen Mietern und Vermietern usw. in der Realität so etwas wie einen ständigen Kriegszustand der Gesellschaft hervorrufen muß. Solange solche grundsätzlichen Zusammenhänge nicht durchschaut werden, werden wir auch hier in diesem Parlament immer wieder in der Gefahr stehen, mit unseren Beschlüssen Keime für Katastrophen zu legen.Dafür nur ein Beispiel aus einem anderen Bereich: Da, wo der Mensch sein Bedürfnis nach persönlicher Freiheit besonders stark spürt, möchten Sie von der Koalition ihn mit Ihren sogenannten Sicherheitsgesetzen voll der totalen Erfaßbarkeit aussetzen, und damit unterstellen Sie für die Zukunft Persönlichkeitsrechte der jeweiligen zufälligen Parteimehrheit, welche die Exekutive gerade in der Hand hat, wie wir GRÜNEN es bekanntlich noch kürzlich erleben mußten. Das ist eine echte Katastrophe, hervorgegrufen durch ein Nichtdurchschauen der Zusammenhänge. Genau dahin gehört aber die Freiheit als Ordnungsprinzip, nicht in die wirtschaftlichen Bereiche, wo Sie sie irrtümlich ansiedeln wollen.Mir ist klar, daß diese kurzen Andeutungen am Ende einer 8,25-Minuten-Rede für den, der nichts verstehen will, unverständlich bleiben müssen.
Was aber jeder verstehen kann, ist unsere Aussage: Wir GRÜNEN lehnen dieses Gesetz ab, weil wir der Meinung sind, daß das Grundrecht auf sicheres Wohnen gesellschaftlich unteilbar ist. Es darf nicht dem wirtschaftlich Starken vorbehalten bleiben.Vielen Dank.
Das Wort hat der Herr Parlamentarische Staatssekretär Dr. Häfele.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zunächst möchte ich allen beteiligten Ausschüssen, dem Finanzausschuß und den mitberatenden, herzlich danken, daß wir jetzt, noch im März dieses Jahres, dieses Gesetz verabschieden können und damit für den Zeitpunkt des Inkrafttretens am 1. Januar nächsten Jahres Rechtssicherheit schaffen, also sehr rechtzeitig. Wir können auch die Hoffnung haben, daß der Bundesrat noch im April dieses Jahres dieses Gesetz verabschiedet.Hauptziel des Gesetzes ist, das „erlebte Eigentum" an den vier Wänden zu stärken. Kernpunkt dabei ist der Wegfall der Besteuerung des selbstgenutzten Wohneigentums. Das ist eine wichtige Weichenstellung in Richtung auf weniger Staat, weniger Bürokratie. Zugleich wird der Förderungsbetrag von 200 000 DM auf 300 000 DM angehoben. Die Familie wird besonders gefördert vor allem durch den Steuerabzugsbetrag von 600 DM auch für das Erstkind. Diese Absicht steckt in diesem Gesetz: Neben Sozialversicherungsrente, Betriebsrente, privatem
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Parl. Staatssekretär Dr. HäfeleSparen und Privatversicherung ist das „erlebte Eigentum" der eigenen vier Wände als vierte Säule der Alters- und Lebensvorsorge, ein ganz wichtiges langfristiges Anliegen auch im Hinblick auf das nächste Jahrhundert. Denn wir alle wissen, daß die Altersversorgung im nächsten Jahrhundert vermehrt den eigenverantwortlichen Anteil braucht. Das ist ein wesentlicher Bestandteil dieses Gesetzes.
Im einzelnen sind folgende Regelungen wichtig.Erstens. Der Wegfall der Nutzungswertbesteuerung bedeutet den Rückzug des Staates aus dem privaten Bereich des Wohneigentums. Das bringt eine steuerliche Entlastung, aber vor allem auch weniger Bürokratie. Denn selbstgenutztes Wohneigentum ist künftig für das Besteuerungsverfahren bedeutungslos. Im Förderungszeitraum muß sich der Bürger natürlich noch mit dem Finanzamt befassen. Aber insgesamt ist das eine klare Vereinfachung für den Bürger. Er hat nicht mehr diesen schwierigen Vordruck auszufüllen. Auch für die Finanzämter ist es eine Vereinfachung. Es trifft vor allem, und zwar schon sofort, die Rentner. Das sind Millionen Fälle, die allein wegen des an sich nur geringfügigen steuerlichen Ertragsanteils der Renten in die Veranlagung gekommen sind, weil der Nutzungswert der Wohnung zu versteuern war. Das wird künftig alles entfallen.Schließlich wird auch eine gleichmäßige steuerliche Behandlung des selbstgenutzten Wohneigentums erreicht. Es ist gleichgültig, ob es ein Häusle ist, ein Wohneigentum oder ein Zwei- oder Dreifamilienhaus. Alle, die in einem eigenen Haus wohnen, werden gleich behandelt. Das ist eine große Vereinfachung. Auch viele Auseinandersetzungen mit den Finanzämtern wegen der Abgrenzung — was ist eigengenutzt, was ist vermietet? —, die es bisher in der Praxis gegeben hat, können künftig entfallen.Ein zweites tragendes Element ist die Umgestaltung und Verbesserung der Förderung. Sie wird auf das selbstgenutzte Wohneigentum konzentriert. Das ist der Sinn des Ganzen. Es ist gleichgültig, ob Eigentumswohnung, Einfamilienhaus, Zweifamilienhaus oder Mehrfamilienhaus. Der Förderungsbetrag wird um 50% von 200 000 DM auf 300 000 DM erhöht. Auch die Hälfte der Kosten der Anschaffung von Grund und Boden wird einbezogen. Das ist vor allem für die Erwerber von preisgünstigen Eigenheimen oder Eigentumswohnungen von großer Bedeutung. Vor allem hier wirkt sich das günstig aus. Auch weitere Verbesserungen kommen in Betracht, vor allem für die Familie. Schon für das erste Kind gibt es einen Abzugsbetrag. Auch die Förderung von Um- und Ausbauten sind gerade für Familien mit mehreren Kindern bedeutsam.Drittens. Die Förderung wird nunmehr dem Sonderausgabenbereich zugeordnet, aber wie bisher von der Bemessungsgrundlage abgezogen. Damit wird deutlich, daß die Förderung des Wohneigentums nach unserem Steuerrecht in der gleichen Linie zu sehen ist wie die eigenverantwortliche Alters- und Lebensvorsorge, etwa beim Abzug der Sozialversicherungsbeiträge, beim Abzug der Lebensversicherungsbeiträge oder der Bausparprämien. Gerade beim Abzug von der Bemessungsgrundlage für alle vier Arten zeigt sich, daß weniger eine Bauförderung hinter dieser Regelung steckt, sondern die Eigentumsidee im Sinne der Lebens- und Altersvorsorge. Dies hat auch, rein praktisch gesehen, nach aller Erfahrung die beste Anreizwirkung, gerade für aufstrebende Familien. Wenn demnächst 70% unserer Bürger progressiv besteuert werden, ist es völlig müßig, hier einen ideologischen Streit zu führen. Wir wollen vielmehr möglichst viele aufstrebende Leute mit dem Anreiz belohnen, daß sie einmal im Leben progressionsmildernd Wohneigen-turn bilden können.
Viertens. Aus Vertrauensschutzgründen sind im Gesetz bis 1998 großzügige Übergangsregelungen geschaffen worden. Besonders großzügig geregelt ist die Überführung der Wohnungen von Landwirten, Gewerbetreibenden und Freiberuflern vom bisherigen Betriebsvermögen ins Privatvermögen. Bis 1998 kann diese Entnahme steuerfrei vollzogen werden. Die Steuerpflichtigen haben bis 1998 Wahlfreiheit. Aber einmal muß hiermit natürlich Schluß sein. Das ist großzügig geregelt. Und dann haben wir die durchgehende Linie der Wohnung als Privatgut.Für eine Übergangszeit bis 1991 sind auch noch Steuervergünstigungen für Umwelt- und Energiesparmaßnahmen, für Denkmalpflege und Stadterneuerung vorgesehen.Und darüber hinaus — das ist in dem Entschließungsantrag deutlich geworden —: Das besondere Problem beim Denkmalschutz ist auf jeden Fall bis 1998 geklärt, eigentlich auch schon darüber hinaus, weil wir die praktische Anwendung dieses Erlasses haben werden, wonach es sich hierbei um eine außergewöhnliche Belastung handelt. Wir haben den Auftrag, bis Mitte 1991 zu überlegen, wie man das vielleicht noch klären, verbessern kann. Alles in allem, glaube ich, ist das eine Verbesserung des bisherigen Zustandes.Ich möchte zum Schluß an alle bauwilligen Bürger appellieren, jetzt ihr Vorhaben planmäßig zu verwirklichen, auf nichts mehr zu warten. Wenn sie die Bauabsicht haben, sollten sie jetzt beginnen. Sie können sich auf dieses Gesetz verlassen. Der Wegfall der Nutzungswertbesteuerung trifft Alt- und Neufälle. Man muß also nicht irgendwie warten. Keinerlei Abwartehaltung ist am Platz. Wir haben jetzt günstige Bodenpreise, günstige Baupreise, und wir haben niedrige Zinsen. Dieses Gesetz öffnet die Tür, um gleich zu beginnen.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Müntefering.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die steuerliche Förderung des selbstgenutzten Wohneigentums ist eine Möglichkeit, denen zu helfen, die selbstnutzende Wohnungseigentümer werden wollen. Aber wer sein Ja
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Münteferingzum Wohneigentum auf das heute hier zur Rede stehende Gesetz reduzierte, spränge damit zu kurz. Deshalb will ich vorweg ein paar Anmerkungen zu anderen Aspekten machen, die zur Förderung selbstgenutzten Wohneigentums auch Beachtung verdienen.Es besteht kein Zweifel: Der Wunsch nach Wohneigentum steht bei vielen Bundesbürgern, seien es nun 65 oder 80%, in der Wunschskala ganz oben. Die 100 Milliarden DM an Bausparvertragssummen sind ein schlagender Beweis dafür. Auch die Tatsache, daß auch in schwierigen Zeiten der Neubau von Eigenheimen deutlich weniger zurückgeht als der von Mietwohnungen, ist ein Zeichen für diesen Wunsch vieler Mitbürger. Insgesamt aber dümpeln wir mit der Wohneigentumsquote so um die 40% herum, und es geht nicht so recht voran. Die Frage ist: Woran liegt das, und wie wird es weitergehen mit dem Eigenheimbau?Wer Geld zum Bauen hat und ein Eigentum haben möchte, hat dies inzwischen. Die Gruppe der Bezieher oberer Einkommen ist aus der Gruppe potentieller Bauherren weitgehend ausgeschieden — erledigt durch Vollzug. Für die meisten, die jetzt noch bauen oder sich als selbstnutzende Eigentümer in den Bestand einkaufen wollen, geht es um eine Lebensentscheidung. Auch das ist nicht neu. Schon bisher nehmen Eigenheimbauherren um des Eigentums willen auf Jahre große Lasten auf sich. Bisher konnten sie erkennen, daß bei hohen Einkommenszuwächsen und deutlicher Inflationsrate die Durststrecke nach einigen Jahren durchlaufen sein würde. Man riskierte es.Da hat sich nun in den letzten Jahren einiges verändert. Die Zahl der Eigenheimerpleiten bis hin zu Zwangsversteigerungen hat drastisch zugenommen. Jeder kennt Fälle aus der Nachbarschaft oder aus seiner Gemeinde, wo Bauherren ihr Eigentum wieder aufgeben und mit riesigem Schuldenberg wieder in die Mietwohnung zurück mußten. Viele hat das nachdenklich und unsicher gemacht, und mancher, der unter den Bedingungen von vor zehn Jahren längst Bauherr wäre, hält sich vorsichtig zurück. Ich denke, wir Politiker müssen daraus Lehren ziehen:Erstens. Eine hundertprozentige Fremdfinanzierung, die Ende der 70er Jahre plötzlich Mode wurde, ist in den meisten Fällen unverantwortlich. In dieses Spiel mit vielen Unbekannten dürfen Eigenheimbauer nicht gedrängt werden. Anders: Vorsparen ist nicht antiquiert, sondern meistens die Voraussetzung für eine solide Finanzierung. Deshalb sollte dem heutigen Gesetz bald eine Initiative in Sachen Bausparförderung folgen. Es muß uns Sorge machen, daß die Bausparförderung Jahr für Jahr schrumpft. Die Einkommensgrenzen und die förderungsfähigen Höchstbeträge im Zusammenhang mit der Bausparförderung sollten deshalb bald diskutiert und korrigiert werden.Zweitens. Die Standards für Eigenheime, die sich vielerorts herausgebildet haben, übersteigen oft die finanziellen Möglichkeiten der Bauherren und erhöhen das Risiko. Von den schönen Bildern in bunten Katalogen und dem Ehrgeiz, Nachbarn undFreunden nicht nachzustehen, lassen sich zu viele Bauherren in unnötige Abenteuer locken. Auch die Politik hat daran ihren Anteil. Statt kostensparendes Bauen besonders zu fördern, haben wir — Sie und wir — den Unsinn der Prestigebauten zu lange unkommentiert hingenommen. Wir müssen — auch heute bei der Beschlußfassung zu diesem Gesetz — den Menschen sagen: Ein Eigentum ist etwas Schönes, aber es ist nicht alles. Im Interesse der Familien, insbesondere auch der Kinder, kann man nicht wollen, daß die Lebensentscheidung „Eigenheim" allen anderen Gesichtspunkten, z. B. Aus- und Fortbildung, z. B. der Gesundheit, z. B. auch dem Familienfrieden, übergestülpt wird. Wer aus dem Eigenheim eine Ideologie macht, tut den so betroffenen Menschen keinen Gefallen.Zu einer Debatte um die Förderung selbstgenutzten Wohneigentums gehören auch einige Sätze zu dem für viele größten Hindernis auf dem Wege zum Eigentum, dem Bauplatz, den Kosten für Grund und Boden. Der Anstieg der Grundstückskosten ist gebremst. Teilweise gibt es eine gegenläufige Tendenz, aber überall auf einem insgesamt hohen Niveau. Es war dieser Koalition vorbehalten, die immer so schöne Worte zum Eigenheim findet, die Grundsteuer wieder obligatorisch zu machen und so auch für den Kleinsten die Grundstückspreise zusätzlich zu verteuern. Vergessen ist das nicht. Dafür wollten Sie dann die Grundstückskosten nicht in die Förderungsfähigkeit einbeziehen und haben sich erst unter dem Eindruck unseres Entwurfs dahin bewegt. Jetzt sollen nach Ihrem Entwurf die Grundstückskosten bis zur Hälfte bei der steuerlichen Förderung berücksichtigt werden. Wir wollen sie bis zu 100% berücksichtigungsfähig halten. Meine Frage an Sie: Haben Sie eigentlich Ihrer Entbürokratisierungskommission von Herrn Waffenschmidt gezeigt, was Sie hier ausgeheckt haben? Insbesondere bei Wohnungen aus dem Bestand ist der Grundstückskostenanteil am Gesamtpreis nicht immer so eindeutig. Also wird es wohl wieder einen Fragebogen mehr vom Finanzamt geben, auf dem säuberlich auseinandergerechnet und ermittelt werden muß, was das denn heißt: 50 % der Grundstückskosten.Eine andere Frage zur Förderung des selbstgenutzten Wohneigentums: Haben wir eigentlich ausreichend Bauplätze? Ausgewiesen ist mehr Baugelände, als in den vor uns liegenden Jahren überhaupt bebaut werden kann. Nur liegt es oft an den Stellen, wo es nicht gebraucht wird. Anders: Das Ansteigen der Eigenheimerquote auf 50 %, wie sie vom Bauminister seit drei Jahren ohne spürbaren Erfolg in Aussicht gestellt wird, müßte zu erheblichem zusätzlichem Landschaftsverbrauch, besonders in den Randlagen der Bedarfsschwerpunkte, führen; denn dort besteht der große Druck.Nun gibt es natürlich auch die Möglichkeit, aus dem Bestand heraus Eigentum zu erwerben. Wir haben im Prinzip nichts dagegen; aber es gibt zwei Maximen, an denen wir dabei festhalten. Erstens. Die Umwandlung bisheriger Mietwohnungen in Eigentumswohnungen darf nicht zur Verdrängung
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Münteferingder Mieter führen, die heute in diesen Mietwohnungen wohnen.
Die Regierung ist da nicht sehr glaubwürdig.
Wir haben gesetzliche Regelungen vorgeschlagen, die dieses Ziel beschreiben und gesetzlich fixieren. Leider folgen Sie dem bisher nicht.Zweitens brauchen wir auch in Zukunft einen breiten Sockel preiswerter Mietwohnungen. Es wäre ein Witz, wenn große Verkaufs- und Umwandlungsaktionen angestoßen würden und anschließend neue, teure Mietwohnungen gebaut werden müßten. Auch die Steigerung der Eigentumsquote ist aus dem Bestand nicht zur Gänze möglich. Sie hat da ihre Grenzen.Die, die seit vielen Jahren eigentumsähnlich in Genossenschaftswohnungen wohnen, dürften ohnehin keinen Anlaß sehen, auch dort de facto Eigentümer werden. Hier und da entdecken erfreulicherweise sogar Gruppen den Genossenschaftsgedanken neu. Uns war das ein Anlaß, auch für Genossenschaftswohnungen zukünftig eine Förderung vorzusehen. Nach dem Willen der SPD — das ist in unserem Gesetzentwurf vorgesehen — sollen selbstnutzende Genossenschaftler, die mit mindestens 10 000 DM engagiert sind, wie alle anderen selbstnutzenden Eigentümer die Vorteile dieses Gesetzes nutzen können.Angesichts dieses SPD-Vorschlags gab sich die Koalition in den Ausschußberatungen nachdenklich. Aber das war es dann auch; getan hat sich nichts.Ein drittes wichtiges Kapitel der Eigenheimförderung sind die öffentlichen Mittel, die als Zuschüsse oder Darlehen an Bauherren gegeben werden, die innerhalb bestimmter Einkommensgrenzen liegen. Die steuerliche Förderung reicht eben bei vielen nicht, besonders bei kinderreichen Familien nicht, aus eigener Kraft bauen zu können.
Deshalb die bewährte Methode der Direktförderung. Aber mit dieser Direktförderung geht es nach dem Willen der Koalition und der Regierung jetzt bergab.
Schon in den letzten Jahren schrumpften die Haushaltsansätze. Das wird sich fortsetzen. In der mittelfristigen Finanzplanung ist erkennbar, daß bis Ende der 80er Jahre der Bund sein Engagement auf das gesetzlich fixierte Minimum, von über 500 Millionen DM auf dann ungefähr 150 Millionen DM, reduzieren will.In Zahlen: 1980 wurden noch 56 992 Wohnungen nach dem ersten bzw. zweiten Förderweg gefördert. 1985 waren es noch 38 000. Die Bundesregierung selbst schätzt vorsichtig, daß sich die Zahl in den nächsten Jahren vielleicht auf etwa 30 000 reduzieren könnte. Weil das so ist, liebe Kolleginnen undKollegen von der Union, ist Ihr Argument so dünn, man könne hinter dem Gesetzentwurf der SPD zurückbleiben, weil es ja immer noch die Direktförderung gebe. Diese wird es eben in dem bisherigen Umfang nicht mehr geben. Damit steht fest: Für diejenigen, die beim Bauen oder beim Erwerb eines selbstgenutzten Wohneigentums besonders auf Hilfe angewiesen sind — etwa kinderreiche Familien —, wird der Weg zum Eigenheim mit den Entscheidungen dieser Koalition schwerer, nicht leichter. Dabei darf man nicht nur das Gesetz von heute sehen, sondern man muß Ihre Wohnungspolitik insgesamt sehen. Ihre Wohnungspolitik ist eine schlechte Familienpolitik; da nutzen alle Sonntagsreden nicht.Ich sehe mit Interesse, daß zu dieser für die Familie so außerordentlich wichtigen Entscheidung das Familienministerium nicht mit der Spitze hier vertreten ist.
Es wäre interessant gewesen, sich damit auseinanderzusetzen. Herr Kollege, es ist für die Familie außerordentlich wichtig, was wir heute hier beschließen. Nach Ihren Sonntagsreden hätte es dazugehört, daß das Familienministerium hier Rede und Antwort steht und sagt, wie Sie dazu stehen, welche Wohnungspolitik Sie betreiben.
Die Sozialdemokraten kennen die Probleme und Schwierigkeiten, die dem Erwerb und dem Bau selbstgenutzten Wohneigentums entgegenstehen. Wir verkleistern diese Probleme nicht. Deshalb habe ich sie auch mit Deutlichkeit angesprochen. Wir haben mit unserem Gesetzentwurf einen Weg aufgezeigt, wie diejenigen wirkungsvoll unterstützt werden können, die das Eigentum nicht aus eigener Kraft bauen oder kaufen können.In wesentlichen Punkten ist der SPD-Entwurf sozialer, familienfreundlicher, wirkungsvoller und auch unbürokratischer als jener der Regierung.Erstens. Die Gutverdienenden werden nicht mehr überproportional, die Geringverdienenden werden nicht mehr schlechter gefördert. Das erreichen wir durch Umstellung auf den Abzug von der Steuerschuld. Es ist auch nicht einzusehen, daß der eine, der selbstgenutztes Wohneigentum baut, 3 500 DM Steuervorteil pro Jahr erfährt, der andere aber über 8 000 DM.
Unser Abzug von der Steuerschuld bringt mehr Gerechtigkeit und erhöht faktisch die Hilfe für die mittleren und unteren Einkommen.Bei einem berücksichtigungsfähigen Höchstbetrag von 225 000 DM sind das im ersten Jahr 6 750 DM Abzugsbetrag, in den folgenden Jahren 5 600 DM. Wenn ein Ehepaar die Kumulationsmöglichkeit nutzt, sind es im ersten Jahr bis zu 10 500 DM, in den folgenden Jahren bis zu 8 750 DM — wohlgemerkt: gleich und gerecht für alle.
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MünteferingZweitens. Zu erwähnen sind die besonderen Hilfen für Familien mit Kindern. Wir wollen ein Baukindergeld in Höhe von 1 200 DM pro Kind ab dem ersten Kind.
— Wir machen es jetzt, Herr Kollege Möller. Es istimmer noch früh genug, wenn man jetzt dazulernt.
Die Regierung bleibt bei ihrem Vorschlag der Hälfte, also 600 DM. Das verwundert nicht; denn mit Ihrer Abkehr vom Kindergeld hin zum Freibetrag sind Sie ja ohnehin erkennbar auf dem Weg, die Kinder geringverdienender Eltern zu bestrafen.
Es gilt eben immer noch das Wort von Strauß: Kinder gutverdienender Eltern haben größere Ansprüche, also müssen die Eltern auch stärker entlastet werden.
Um die Konsequenzen der unterschiedlichen Baukindergeldregelungen noch einmal plastisch deutlich zu machen: Das Ehepaar mit zwei Kindern, mittleres Einkommen, das ein Eigenheim für 300000 DM, einschließlich Grundstückskosten, baut, hat nach unseren Vorschlägen im ersten Jahr einen Vorteil von 9 000 DM Abzug von der Steuerschuld plus 1200 DM je Kind, insgesamt also 11400 DM. Nach dem Gesetzentwurf der Regierung wird dasselbe Ehepaar bei einem Steuersatz von 35 % 6 450 DM erhalten. Also 11400 DM gegenüber 6450 DM!Drittens. Der Anspruch gilt auch über die Steuerschuld hinaus. Das soll für gering verdienende Bauherren kein Nachteil sein. Denn wenn die Steuerschuld des Jahres geringer ist als der Vorteil, der dem Bauherren nach dem Gesetz zusteht, soll der Unterschiedsbetrag erstattet werden. Konkret: Bei 8000 DM Steuerschuld und einem Anspruch von 9 000 DM als Eigenheimabzugsbetrag zahlt das Finanzamt die 1 000 DM an den Bauherrn. Das ist ganz einfach und richtig so.Viertens. Bei unseren Regelungen sind die Grundstückskosten mit 100 % angerechnet; ich sagte das schon. Das Ergebnis: Neben dem bürokratischen Unsinn, der mit der von Ihnen vorgesehenen Regelung verbunden ist, bekommen Höherverdienende bei Ihrer Regelung meistens einen erheblichen Teil der Grundstückskosten angerechnet, während die anderen auch mit der hälftigen Anrechenbarkeit meisten unter dem Höchstbetrag bleiben. Auch hier haben wir eine soziale Ungerechtigkeit. Die Vorteile des SPD-Entwurfs, deckungsgleich mit dem Vorschlag Nordrhein-Westfalens, sind so offensichtlich, daß man sich wirklich fragen muß, was die Regierung zu ihrem alternativen Entwurf getrieben hat; denn bekanntlich lag unser Entwurf schon lange auf dem Tisch, als sich die Koalition endlich auf den Weg machte.Am 29. März 1985, also etwa vor einem Jahr, war hier die erste Lesung unseres Gesetzentwurfs; seitdem liegt er auf Eis. Der Termin des Inkrafttretens am 1. Januar 1986, den wir wollten, wäre ohne weiteres zu erreichen gewesen, wenn die Koalition nicht gebremst hätte.
Damit hätten die potentiellen Bauherren auch schon damals Sicherheit über die zukünftige Regelung gewonnen.
Ein ganzes Jahr ist verloren, und das neue Gesetz wird für die meisten Betroffenen enttäuschend sein. Da wird das wahre Gesicht der Koalition deutlich: Sonntagssprüche über Familie und die besondere Bedeutung eines Zuhauses, aber freitags hier im Bundestag bricht sich das Grundmotiv Bahn, zunächst für die zu sorgen, die schon haben — Herr Staatssekretär Häfele hat von den „Aufstrebenden" gesprochen —, der Rest dann für die anderen. Das ist unsoziale Wohnungspolitik, und deshalb stimmen wir gegen Ihren und natürlich für unseren Gesetzentwurf.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. Daniels.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Das Wohneigentumsförderungsgesetz, das wir heute verabschieden, ist ein weiterer wichtiger Schritt auf dem Weg zu einer sozialen Wohnungsmarktwirtschaft. Soziale Wohnungsmarktwirtschaft bedeutet wie Soziale Marktwirtschaft überhaupt nun auch für den Bereich der Wohnungen einen weiteren Abbau von Staat und Bürokratie, die Förderung von Eigentum, von Selbständigkeit und Selbstverantwortung und die gezielte Hilfe für die, die die Hilfe wirklich nötig haben.In diesem Zusammenhang ein Wort zu dem Herrn Kollegen Werner, der gerade wieder hereinkommt. Herr Werner, was Sie hier vorgetragen und uns in Ihrem Entschließungsantrag vorgelegt haben, das hat der alte Karl Marx schon besser formuliert.
— Das habe ich.
Ich meine, wenn man sich einmal in den Ländern umsieht, wo seine Lehren heute zur Politik geworden sind und das Privateigentum wirklich abgeschafft ist, dann kann man eine praktische Vorstellung von dem bekommen, was eintreten würde, wenn Sie für Ihre Vorstellungen hier in der Bundesrepublik Deutschland je eine Mehrheit fänden.
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Dr. DanielsIch glaube, es gibt keine bessere Argumentation — auch in dem kommenden Wahlkampf — gegen Ihre Politik, als Ihrem Entschließungsantrag eine möglichst große Verbreitung zu verschaffen.
Meine Damen und Herren, ich komme erstens zum Abbau von Staat und Bürokratie. Ich will das nicht wiederholen, was hier gesagt worden ist. Es sind insgesamt 7 bis 8 Millionen Haus- und Wohnungseigentümer betroffen, die bisher Steuererklärungen für ihre Wohnungen abgeben mußten. Viele von Ihnen werden in Zukunft überhaupt nichts mehr mit dem Finanzamt zu tun haben.Zweiter Punkt: Eigentumsförderung. Die Förderung nach dem neuen Gesetz wird — im Gegensatz zu den bisherigen Regelungen — auf Wohnungen konzentriert, die der Eigentümer selbst bewohnt. Das ist eine entscheidende Wende in der Wohnungspolitik. Bloße Kapitalanlage im Wohnungsbau wird in Zukunft nicht mehr gefördert.
Das wäre auch nicht gerechtfertigt. — Ganz einig, Herr Müntefering, sind wir uns nicht. Denn Sie fördern den Neubau immer noch mehr als den Erwerb.
Heute besteht generell kein Mangel an Wohnungen mehr. Selbst in Ballungsgebieten gibt es heute schon häufig leerstehende Wohnungen. Nach übereinstimmender Auffassung fast aller Sachverständigen ist es deshalb heute nicht mehr zu verantworten, die bloße Kapitalanlage im Wohnungsbau durch Steuermittel zu fördern.Lassen Sie mich noch einige Bemerkungen zu den Unterschieden machen, die zwischen den Vorstellungen der SPD und denen der Koalition bestehen. Der wichtigste Unterschied zwischen diesen Vorstellungen ist: Die SPD-Vorschläge kosten wesentlich mehr Geld. Nach Berechnungen des Bundesfinanzministeriums sind es für einen Baujahrgang mindestens 3 Milliarden DM zusätzlich, die erforderlich wären, um die SPD-Vorstellungen in die Tat umzusetzen.
Solche kostenwirksamen Vorstellungen entwickeln zu können ist natürlich immer der Vorteil der Opposition, Herr Müntefering. Das ist auch der Grund, weshalb Sie das nicht gemacht haben, als Sie noch regierten.
Wer regiert, muß darüber nachdenken, wie etwas solide finanziert werden kann.
Wer in der Opposition ist, kann einfach zusätzlichnoch alle möglichen schönen Dinge fordern, ohnedaß er darüber nachdenken muß, wie er es bezahlt.Meine Damen und Herren, auch wir hätten das Baukindergeld natürlich gern verdoppelt und es für zehn Jahre statt für acht Jahre gegeben. Auch wir hätten die Grundförderung natürlich gern nicht nach acht Jahren auslaufen lassen, sondern sie, wenn nötig, degressiv noch ein bißchen verlängert, um die Baufinanzierung damit abzufedern. Auch wir hätten den Grunderwerb natürlich gern voll in die Förderung einbezogen.Das alles ist nicht möglich, weil es eben zuviel kostet und weil die Fortsetzung der so erfolgreichen, von uns begonnenen Haushaltskonsolidierung für uns Vorrang hat.
— Herr Müntefering, Sie wissen wie wir, daß diese Haushaltskonsolidierung die Voraussetzung dafür gewesen ist, daß wir die Inflationsrate inzwischen auf 0,7 % gedrückt haben.
Sie wissen wie wir, daß diese Haushaltskonsolidierung die Voraussetzung dafür ist, daß wir ein so niedriges Zinsniveau haben,
und daß wir die Baukonjunktur damit mehr fördern als mit allen Maßnahmen, die man staatlicher- und steuerlicherseits dabei treffen könnte.
Sie wissen wie wir, daß Haushaltskonsolidierung auf der anderen Seite eben auch Verzicht auf manches Wünschenswerte bedeutet, wenn es nicht unbedingt erforderlich ist.
Das ist der Grund dafür, weshalb wir eben nur die Hälfte der Grunderwerbskosten in die Förderung haben einbeziehen können, obwohl auch wir uns mehr gewünscht hätten.Es gibt dann auch einige strukturelle Unterschiede zwischen den Gesetzentwürfen: Die Koalition will den Abzug von der Steuerbemessungsgrundlage, die SPD den von der Steuerschuld. Auch ich will nicht mehr auf die grundsätzliche Problematik eingehen, weil das ja schon so oft geschehen ist, möchte aber doch noch einmal an einem Beispiel deutlich machen, daß Ihre Rechnung, Herr Müntefering, bloß die Steuervorteile zu vergleichen und die Direktförderung dabei unberücksichtigt zu lassen, unseriös ist. Man muß beides miteinander kombinieren, und erst dann darf man vergleichen: Wie stehen einkommensschwache und kinderreiche
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Dr. DanielsFamilien da, und wie stehen die sogenannten Aufsteiger da?
— Herr Müntefering, wir streichen die Direktförderung nicht weiter zusammen.
Wir sind allerdings der Auffassung, daß die Direktförderung, die die örtlichen Verhältnisse in stärkerem Maße berücksichtigen muß, in der Verantwortung der Länder fortgesetzt werden soll.
— Fortgesetzt werden muß, j a.
— Ja, auf den Wunsch der Länder. — Dies ist eine grundsätzliche Reform der Finanzverfassung zwischen Bund und Ländern, die wir schrittweise auf Wunsch der Länder durchführen, indem wir eine Reihe von Bereichen, die bisher mischfinanziert waren, in die alleinige Verantwortung der Länder übergeben wollen. Das heißt nicht, daß die Förderung damit abgebaut werden soll. Es sollen nur andere, ortsnähere Zuständigkeiten geschaffen werden. Es bleibt also nach wie vor wahr, daß wir steuerliche Förderung und Direktförderung miteinander sehen müssen.Ich nenne Ihnen als Beispiel eine Familie mit drei Kindern mit einem Jahresbruttoeinkommen von rund 40 000 DM. Wenn diese Familie ein Reihenhaus in Selbsthilfe herstellt, das etwa 200 000 DM kostet und bei dem ein Grundstücksanteil von 40 000 DM zugrunde gelegt wird, dann beträgt die steuerliche Förderung zwar nur 28 500 DM, aber die Vorteile der Direktförderung belaufen sich in den ersten 15 Jahren auf 129 000 DM, so daß 157 500 DM Gesamtförderung für diese einkommensschwache kinderreiche Familie herauskommen. Das sind mehr als drei Viertel der Gesamtkosten des Wohneigentums, die ja 200 000 DM betragen haben.Dieses Zusammenspiel von Direktförderung und steuerlicher Entlastung müssen Sie in den Blick nehmen, um zu sehen, daß auch nach den Vorstellungen der Koalition ganz eindeutig die Einkommensschwachen und Kinderreichen am meisten gefördert werden.Dann wollen Sie den Erwerb von Wohneigentum im Gegensatz zur Koalition weniger als den Neubau fördern. Aber gerade durch die Förderung des Erwerbs wird breiten Schichten der Bevölkerung überhaupt erst Eigentum ermöglicht. Einkommensschwache Kinderreiche können sich normalerweise einen teuren Neubau nicht leisten. Sie haben das eben selber gesagt. Die einzige Chance, zu Eigentum zu kommen, ist — und zwar auch in der Vergangenheit — der Erwerb. Wenn Sie dort weniger als beim Neubau fördern, nehmen Sie gerade den schwächsten Bevölkerungskreisen die Möglichkeit, zu Eigentum zu kommen. Für mich ist es unbegreiflich, wie eine Partei, die doch immer gerade den Einsatz für die Schwachen im Mund führt, einen solchen Vorschlag machen kann.
Im übrigen ist auch die Gleichbehandlung des Erwerbs gerade im Interesse der städtischen Bevölkerung und der Bevölkerung der Ballungsgebiete, die andernfalls vom Wohneigentum weitgehend ausgeschlossen würde. Sie haben den Deutschen Städtetag zitiert, Herr Reschke. Auch ich tue es. Deswegen tritt der Deutsche Städtetag auch mit den Stimmen aller SPD-Oberbürgermeister für eine gleichmäßige Förderung von Erwerb und Neubau ein.Sie haben die Genossenschaftswohnungen noch erwähnt, Herr Reschke. Ich finde es Ihrer eigentlich nicht würdig, daß Sie mich unvollständig zitieren. Ich habe in der Tat gesagt, daß es wohnungspolitisch erwünscht sei, die Förderung von Genossenschaften in das Gesetz einzubauen, habe aber hinzugefügt, daß noch nicht klar sei, ob dazu eine steuerrechtlich und steuersystematisch einwandfreie Regelung möglich ist.Wir haben dann mit unserer Mehrheit — ich zitiere aus dem Beschluß des Ausschusses — an den Finanzausschuß die Bitte gerichtet, zu prüfen, ob eine steuerrechtlich und steuersystematisch einwandfreie Regelung für eine wohnungspolitisch erwünschte Förderung gefunden werden könnte. Diese Prüfung ist, wie Sie wissen, negativ ausgefallen.
— Ja. Ich habe auch nur noch einen Satz: Wir alle wissen — es ist heute schon gesagt worden —, daß der Anteil derer, die ihre eigene Wohnung bewohnen, in der Bundesrepublik Deutschland im Vergleich zu den Nachbarstaaten außerordentlich gering ist. Wir sind sicher, daß sich dieser Anteil durch die Verabschiedung dieses Gesetzes wesentlich erhöhen wird.Ich wünsche Ihnen nun zum Schluß, daß der Fraktionsvorstand der CDU/CSU jetzt eine so kurze Sitzung abhält, daß auch dessen Mitglieder ganz schnell nach Hause können.
Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die Aussprache.Wir kommen zuerst zur Einzelberatung und Abstimmung über Tagesordnungspunkt 12 a, über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf auf Drucksache 10/3633.Ich rufe Art. 1 in der Ausschußfassung auf. Hierzu liegt auf Drucksache 10/5221 ein Änderungsantrag der Fraktionen der CDU/CSU und der
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15998 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 208. Sitzung. Bonn, Freitag, den 21. März 1986
Vizepräsident StücklenFDP vor. Wer dem Änderungsantrag zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Bei 2 Gegenstimmen und einer Reihe von Enthaltungen ist dieser Änderungsantrag angenommen.
— Bei Enthaltung der SPD-Fraktion und 2 Gegenstimmen der Fraktion DIE GRÜNEN.Wer Art. 1 in der Ausschußfassung mit der soeben beschlossenen Änderung zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. — Gegenprobe!— Enthaltungen? — Bei einigen Gegenstimmen und ohne Stimmenthaltungen ist Art. 1 angenommen.
Ich rufe die Art. 2 bis 4, Einleitung und Überschrift in der Ausschußfassung auf. Wer den aufgerufenen Vorschriften zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Bei einigen Gegenstimmen mit Mehrheit angenommen.Wir können unmittelbar in die dritte Beratung eintreten, obwohl in der zweiten Beratung ein Änderungsantrag angenommen worden ist, wenn zwei Drittel der Anwesenden dafür sind. Kann ich davon ausgehen, daß das der Fall ist?
— Das wird vom Präsidium einstimmig bejaht. Wir treten in diedritte Beratungein und kommen zur Schlußabstimmung. Wer dem Gesetzentwurf als Ganzem zuzustimmen wünscht, den bitte ich, sich zu erheben. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Bei einigen Gegenstimmen mit großer Mehrheit angenommen.
Wir kommen nunmehr zu dem Entschließungsantrag der Fraktion DIE GRÜNEN auf Drucksache 10/5220. Es ist beantragt, diesen Entschließungsantrag zu überweisen zur federführenden Beratung an den Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau und zur Mitberatung an den Finanzausschuß. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? — Das ist nicht der Fall. Es ist damit so beschlossen.Wir kommen jetzt zu Tagesordnungspunkt 12b. Der Ausschuß empfiehlt in seiner Beschlußempfehlung auf Drucksache 10/5208 unter Nr. 2, den Gesetzentwurf der SPD auf Drucksache 10/2404 für erledigt zu erklären. Wer dieser Beschlußempfehlung zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Bei einigen Gegenstimmen und einer Enthaltung ist diese Beschlußempfehlung angenommen.Der Ausschuß empfiehlt auf Drucksache 10/5208 unter Nr. 3 weiter die Annahme einer Entschließung. Wer zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. — Gegenprobe! —
Enthaltungen? — Bei einigen Gegenstimmen und ohne Enthaltungen angenommen.Um das Wort zur Geschäftsordnung nach § 32 unserer Geschäftsordnung hat Herr Abgeordneter Ströbele gebeten. Bitte.
Herr Präsident! Ich möchte Gelegenheit nehmen, eine Erklärung außerhalb der Tagesordnung abzugeben.
In der 192. Sitzung des Deutschen Bundestages am 24. Januar 1986 hat der Abgeordnete Olderog ausweislich des Protokolls u. a. folgendes erklärt — ich zitiere —:
Ist es nicht ein wirklicher Skandal, daß Gerald Klöpper, beteiligt an der Ermordung des Kammergerichtspräsidenten von Drenkmann, ..., Kandidat der „Alternativen Liste" zum Abgeordnetenhaus in Berlin wurde?
Als Abgeordneter der Alternativen Liste für Demokratie und Umweltschutz Berlin im Deutschen Bundestag erkläre ich dazu folgendes.
Die Behauptung des Abgeordneten Olderog, die ich soeben zitiert habe, ist falsch. Herr Klöpper ist wegen verschiedener Delikte verurteilt worden, aber er ist von dem Vorwurf einer Beteiligung an dem Versuch der Entführung und Erschießung des Kammergerichtspräsidenten von Drenkmann freigesprochen worden. Das freisprechende Urteil des Ersten Strafsenats des Kammergerichts Berlin ist seit mehr als fünf Jahren rechtskräftig.
Der Abgeordnete Olderog hat somit vor dem Plenum des Deutschen Bundestages einen Menschen zu Unrecht der Beteiligung an einer Ermordung beschuldigt.
Immunität und Indemnität schützen den Abgeordneten davor, von dem Betroffenen rechtlich in Anspruch genommen und zur Verantwortung gezogen zu werden. Ich fordere den Abgeordneten Olderog auf, den Vorwurf hier vor dem Plenum des Deutschen Bundestages zurückzunehmen und sich öffentlich zu entschuldigen.
Das Wort nach § 32 unserer Geschäftsordnung hat der Herr Abgeordnete Olderog.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Auf die Erklärung des Abgeordneten Ströbele möchte ich gerne antworten.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 208. Sitzung. Bonn, Freitag, den 21. März 1986 15999
Dr. OlderogIn meiner damaligen Rede habe ich darauf hingewiesen, daß Strafgerichte führende Funktionsträger der GRÜNEN bzw. ihr nahestehender Organisationen wegen Beteiligung an terroristischen oder verfassungsfeindlichen Aktivitäten zu hohen Freiheitsstrafen verurteilt haben.
Ich habe diese Information einer Sendung des ZDF entnommen.Meine Feststellungen zu Heinrich, Klöckner, Härlin und Ströbele sind zutreffend.
Insbesondere entspricht es den Tatsachen, daß der Kollege Ströbele 1982 zu zehn Monaten Gefängnis
wegen Unterstützung der RAF rechtskräftig verurteilt wurde.
Meine Behauptung zu Gerald Klöpper bedarf in einem Punkt der Korrektur. Zutreffend habe ich darauf hingewiesen, daß das Kammergericht Berlin Klöpper zu elf Jahren und zwei Monaten Freiheitsstrafe verurteilt hat.
Dies erfolgte wegen Geiselnahme in Tateinheit miterpresserischem Menschenraub, Nötigung von Mitgliedern eines Verfassungsorgans, unbefugten Waffenbesitzes und Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung,
nicht aber wegen Beteiligung an einem Mord. Der Nachweis für den auch insoweit von der Staatsanwaltschaft erhobenen Vorwurf hat sich in der Hauptverhandlung nicht erbringen lassen.Ich bedaure meinen Irrtum und entschuldige mich insoweit für meine Äußerung.Dies ändert nichts an meiner damaligen Beurteilung des Tatbestandes, daß im Europäischen Parlament und im deutschen Parlament Abgeordnete sitzen, die nicht nur eine extremistische Vergangenheit haben, sondern von denen eine Reihe wegen Unterstützung von Verfassungsfeinden und Terroristen rechtskräftig zu Freiheitsstrafen verurteilt worden sind.
Meine Damen und Herren, wir sind am Ende unserer Tagesordnung.
Sie werden jetzt in den Osterurlaub entlassen. Ich hoffe, daß Sie sich gut erholen, sonniges Wetter haben und gesund wieder in den Bundestag zurückkehren.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Mittwoch, den 16. April 1986, 13 Uhr ein.
Die Sitzung ist geschlossen.