Gesamtes Protokol
Die Sitzung ist eröffnet.
Vor Eintritt in die Tagesordnung gedenke ich der Opfer der Erdbebenkatastrophe in Italien. Ein verheerendes Erdbeben hat seit Sonntagabend in Süditalien Tausende von Toten und Verletzten gefordert. Viele Dörfer und Städte wurden dem Erdboden gleichgemacht.
Dem italienischen Volk gilt in diesen schweren Stunden unsere Anteilnahme. Den Angehörigen der Opfer gilt unser tiefempfundenes Mitgefühl. Im Namen des Deutschen Bundestages und in meinem eigenen Namen habe ich gegenüber der Präsidentin der italienischen Kammer in einem Kondolenztelegramm unsere Bestürzung und Trauer zum Ausdruck gebracht.
Sie haben sich zu Ehren der Opfer von den Plätzen erhoben; ich danke Ihnen.
Eine weitere Mitteilung vor Eintritt in die Tagesordnung: Ich habe zweier Geburtstage zu gedenken. Am 13. November 1980 wurden Frau Abgeordnete Berger und am 23. November 1980 Herr Abgeordneter Ronneburger 60 Jahre alt. Ich spreche die herzlichsten Glückwünsche des Hauses aus.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung soll die heutige Tagesordnung ergänzt werden um die Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU, SPD und FDP betr. Mitglieder des Gremiums gemäß § 9 Abs. 1 des Gesetzes zur Beschränkung des Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnisses — Drucksache 9/16 —. Ist das Haus damit einverstanden? — Ich sehe keine gegenteilige Meinung. Es ist so beschlossen.
Ich rufe Punkt 2 der Tagesordnung auf:
Aussprache über dig Erklärung der Bundesregierung
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. Kohl.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Mit dieser heutigen Aussprache und Diskussion eröffnen wir in der praktischen Arbeit des Hohen Hauses die Legislaturperiode. Wir besprechen als ersten Punkt nach alter Tradition und Sitte die Regierungserklärung.Die Regierungserklärung vom Montag, das war die Rechenschaftslegung eines fleißigen Mannes, Punkt für Punkt, Ressort für Ressort.
— Meine Damen und Herren von der SPD, ich bin ganz sicher, daß der Herr Bundeskanzler wenigstens heute Ihren Beifall zu würdigen weiß.
— Herr Kollege Wehner, mir ist auch klar, daß Sie jetzt bereits eingreifen müssen. Auch das gehört zur Rechenschaftslegung eines fleißigen Mannes.
Ich sage es noch einmal: Rechenschaftslegung eines fleißigen Mannes, Punkt für Punkt, Ressort für Ressort.Aber, Herr Bundeskanzler, eine Bilanz der nationalen Interessen und Ziele, der Möglichkeiten und Grenzen, ein Entwurf für die Zukunft unseres Landes war dies nicht.
Wer Mut zur Zukunft fordert, der muß auch Mut zur Ehrlichkeit haben,
muß von der Nüchternheit des Urteils ausgehen, von knappen Mitteln reden, er sollte es auch wagen, das Wort Verzicht oder Opfer, das notwendig ist, auszusprechen. Mut, Herr Bundeskanzler, beruht auf Einsicht, nicht auf der Selbstberuhigung, es werde schon irgendwie alles wieder gut werden.Wo der Reformismus an Auszehrung leidet, da bleibt nur die Katalogisierung organisierter Interessen. Das haben wir 110 Minuten hindurch zur Kenntnis nehmen dürfen, und wir waren über diesen Bericht nicht überrascht. Es war eine Regierungserklärung, die zugleich Beleg für die geistige Austrocknung der Koalition von SPD und FDP ist.
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46 Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 26. November 1980
Dr. KohlHerr Bundeskanzler, wo sind die großen Perspektiven der Zukunft, wo sind die verpflichtenden Ziele, wo kann Ihr Programm über den Tag hinaus Gültigkeit beanspruchen?
Es ist ein weiter Weg, Herr Kollege Wehner, vom einstigen Kampfruf des Jahres 1969 „Mehr Demokratie wagen" — jetzt eigentlich beginne die deutsche Demokratie — bis zu diesen 110 Minuten am vergangenen Montag.
Für den, der im Saal dabei war, war j a eigentlich weniger interessant, Herr Kollege Wehner, was der Kanzler sagte, als wie Ihre Fraktion es aufnahm. Daß der Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland die Ausflucht wählen muß, mitten in seiner Regierungserklärung eine persönliche Erklärung abzugeben, ist symptomatisch. Jener beinahe flehentliche Appell an seine Genossen, die Sozialdemokraten seien doch jetzt 15 Jahre an der Regierungsmacht, sie hätten doch noch die Aussicht, weitere vier Jahre dranzubleiben, und das allein bedeute doch schon einen Wert an sich — das war's, was Sinn dieses persönlichen Appells war.
Das Wichtigste, Herr Kollege Wehner, ist für Sie und den Bundeskanzler gemeinsam, an der Macht zu bleiben, um jeden Preis an der Macht zu bleiben.
Das war der Appell an eine demoralisierte Truppe, die eigene Fraktion, die natürlich begriffen hat — gerade nach dieser Regierungserklärung —, daß der Satz richtig ist: Wer nur verwaltet — vielleicht sogar schlecht verwaltet —, der regiert nicht!Herr Bundeskanzler, welche Antwort geben Sie mit Ihrer Erklärung dem Jugendlichen, der Sie fragt: Wofür steht unser Staat, die Bundesrepublik Deutschland? Wozu ist es wert, für diesen Staat persönlichen Einsatz zu wagen? Gibt es hinter der technokratischen Vision von immer mehr Gesetzen, mehr Verwaltung und mehr Bürokratie wirklich einen verpflichtenden Sinn, einen Weg in die Zukunft, die große Vision?Jeder von uns weiß, daß sich die Bundesrepublik Deutschland in einer gefährlichen Schieflage befindet — binnenwirtschaftlich, außenwirtschaftlich, außen- und sicherheitspolitisch. Jener eiskalte Wind, Herr Bundeskanzler, der seit einem Jahr vom Osten her alle Entspannungshoffnungen des vergangenen Jahrzehnts wie das Herbstlaub in diesen Tagen von den Bäumen fegt,
hat zuletzt auch das deutsch-deutsche Verhältnis mit Frost überzogen. — Herr Wehner, es drängt sich doch gerade heute die Frage auf, wem Sie und Ihre Partei wohl die Verantwortung für die skandalöseErhöhung der Zwangsumtauschgebühren zugeschrieben hätten, wäre sie einer Regierung Strauß statt einer Regierung Schmidt/Genscher als Morgengabe zuteil geworden.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
„Wir spüren, daß der Frieden zerbrechlich ist"; Sie sagen: „Wir spüren Ängste und Unsicherheit." Das ist Ihre Bilanz in diesen Tagen.Wir alle wissen, daß die Krisenherde im Mittleren und Nahen Osten auch unsere nationalen Interessen unmittelbar und in vielfältiger Weise berühren. Wir wissen, daß die Sowjetunion dabei ist, ein neues Wettrüsten zu provozieren, und wir erleben bereits, wie die Neigung Moskaus und seiner Verbündeten wächst, von wirtschaftlichen und politischen Schwierigkeiten in ihrem Machtbereich durch die Anheizung deutsch-deutscher Konflikte abzulenken. Wir spüren, wie versucht wird, den innen- und außenpolitischen Kurs mit der wahrheitswidrigen Begründung zu verschärfen: Die Bundesrepublik Deutschland und andere westliche Länder mischen sich in die inneren Verhältnisse der Warschauer-Pakt-Staaten ein.Wir teilen deshalb mit Ihnen, Herr Bundeskanzler, die Sorge über die Ausbreitung internationaler Spannungen und Krisen. Wir teilen die Sorge um die Sicherung des Friedens in Europa und in der Welt. Wir würden aber beide — Sie als Regierung, die sie tragenden Fraktionen und wir als Opposition — vor der Aufgabe der Zukunft versagen, wenn wir nicht fähig wären, gemeinsam darüber nachzudenken, was heute dem Frieden dient und wie wir auch künftig Frieden und Freiheit sichern können.
Meine Damen und Herren, welche Schlußfolgerungen erfordert dies?Erstens. Wir dürfen den Mächtigen im Kreml und in Ost-Berlin nicht die Chance geben, Wahlhelfer irgendeiner Partei in unserem Land zu werden. Das wäre gefährlich, unwürdig, und — wir haben es erlebt — es führt zu unguten Vertragsabschlüssen. Die jüngsten Belastungen im innerdeutschen Verhältnis haben doch auch ihre Ursache in der sprunghaften Art und Weise, in der Bundesregierung, Bundeskanzler das Gespräch mit SED-Chef Honecker im Vorfeld der Bundestagswahl vorbereitet und am Ende doch abgesagt haben.Zweitens. Die deutsche Politik gegenüber Osteuropa und der Sowjetunion muß in Zukunft wieder so angelegt sein, daß sie auf einem Konsens ruht. Konsens, meine Damen und Herren, heißt nicht konfliktfreie Harmonie, Konsens heißt allgemeine Grundüberzeugungen über die bleibende Gestalt der deutschen Nation, über die verbindenden Werte der Nation und über das Bewußtsein der Zusammengehörigkeit in Geschichte, Gegenwart und Zukunft. Dazu gehört auch das gemeinsame Bemühen um Übereinstimmung darüber, was zu tun ist.
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Dr. KohlDrittens. Dazu gehört die Erfahrung, daß in Ost-und Mitteleuropa eine tiefe Unruhe herrscht, daß die unerfüllten Verheißungen der Schlußakte von Helsinki
eingefordert werden und daß die Menschenrechte, Herr Kollege Wehner, dort ihre Kraft entfalten, wo sie am stärksten mißachtet werden.
Zur Zeit steht unser Nachbar Polen vor einem schweren Winter. Die neu gegründete freie Gewerkschaft stellt das Land vor die sicherlich nicht einfache Aufgabe, ein neues politisches Gleichgewicht zu finden und zu stabilisieren. Wir verfolgen diese Entwicklung mit großem innerem Engagement und mit herzlicher Sympathie.
Polen hat, wir wir wissen, sehr ernste Versorgungsprobleme, vor allem im Bereich der Ernährung des Landes. Wir sollten als Nachbarn und Europäer ohne Verzug intensiv und phantasievoll und, wenn möglich, in allen Parteien des Hauses darüber nachdenken, was wir dazu beitragen können, daß unser europäischer Überfluß an Nahrungsmitteln in Wahrnehmung europäischer und christlicher Solidarität denen zugute kommen kann, die sonst neben uns Mangel leiden müssen.
Viertens. Die deutsch-deutschen Beziehungen müssen verstärkt als Teil der internationalen Politik begriffen werden. Sie sind mehr als anderes ein Problem des Friedens in Europa und in der Welt. Deshalb muß es im Interesse aller europäischen Staaten und der internationalen Politik liegen, daß keine neuen Spannungen von deutsch-deutschen Beziehungen ausgehen können. Das heißt für uns, meine Damen und Herren: beide Seiten müssen füreinander kalkulierbar handeln.Fünftens. Die deutsche Frage ist für uns aber nicht nur große Politik. Gerade in unseren Tagen sind wir daran erinnert worden, daß dies auch getrennte Familien sind — Kinder und Eltern, Brüder und Schwestern — und daß es eine lange gemeinsame Geschichte, auch eine Geschichte des Schmerzes und der Tränen gibt. Unsere Nation, mag sie auch geteilt sein durch eine schreckliche Grenze, bleibt auch in ihrem Leiden an der Trennung eine Einheit.
Herr Bundeskanzler, wir — die CDU/CSU — haben Ihren Vorgänger wie auch Sie rechtzeitig vor der Selbsttäuschung gewarnt, die jetzt offenbar wird. Aber die Lage ist zu ernst und die Vertiefung der Trennungslinien für alle Deutschen zu belastend, als daß wir uns hier selbstgefällig mit Rechthabereien aufhalten können. Ebenso wenig jedoch, Herr Bundeskanzler, gibt es jetzt einen Anlaß, von uns zu verlangen, wir sollten nachträglich jenesWunschdenken von SPD und FDP übernehmen, das sich gerade in diesen Tagen als eine volle Täuschung erweist.
Es ist in nichts zerfallen, was so manche Sozialdemokraten sich selbst versprachen: Wandel durch Annäherung. Es besteht vielmehr aller Grund zu einer schmerzhaften Überprüfung der deutschen Position in der Welt und der Folgerungen, die sich daraus für die innere Situation ergeben.
Was ist zu tun? Erstens. Wir müssen auch in den 80er Jahren mit Moskau, Ost-Berlin, Warschau und den anderen Staaten des Warschauer Pakts im Gespräch bleiben.Zweitens. Gegenüber der Sowjetunion brauchen wir wieder eine klare Geschäftsgrundlage, gegenüber Osteuropa eine behutsame Politik,
die nicht als Einmischung denunziert, aber, Herr Wehner, auch nicht als kaltes Desinteresse mißverstanden werden kann.
Unsere Beziehungen müssen, auch wenn Ihnen dies schwerfällt, der Verschiedenartigkeit der politischen und wirtschaftlichen Probleme der sozialistischen Länder Ost-Europas Rechnung tragen, Herr Wehner. Wärme und Verständnis für die Völker und Nüchternheit und Sachlichkeit gegenüber den Regierungen — das muß die Leitlinie sein.
Das muß die Leitlinie insbesondere gegenüber Ost-Berlin sein, fernab jeder Verbrüderung, fernab peinlicher Brüderküsse unter Genossen.
Dabei bleibt es uns aufgegeben, für die Menschen und das friedliche Nebeneinander der Völker das Mögliche zu erreichen.
Drittens. Der Moskauer Vertrag, der Warschauer Vertrag, der Grundlagenvertrag mit der DDR, der Brief zur Deutschen Einheit, die Urteile des Bundesverfassungsgerichts, der UNO-Beitritt und die Schlußakte von Helsinki sind nicht nur geltendes Recht, an das wir uns halten. Sie sind wesentliche Komponenten der deutschen Außenpolitik, die völker- und verfassungsrechtlich richtig ausgelegt, aber auch politisch intensiv im Interesse unseres Volkes und des Friedens genutzt werden müssen.
Viertens. Unsere östlichen Gesprächs- und Verhandlungspartner — und jetzt hören Sie bitte gut zu,
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Dr. KohlHerr Wehner — müssen wir wieder ernster nehmen als in den letzten Jahren: Das beginnt mit der nüchternen Beurteilung ihrer politischen Strategie. Sie liegt offen zutage, und sie ist durchaus berechenbar. Das setzt sich in der Sprache fort. Entscheidend darf eben nicht die Atmosphäre von Gesprächen sein. Was zählt, sind Ergebnisse.
Die östlichen Gesprächspartner ernster nehmen, heißt aber auch, sie nicht über unsere eigene Politik im unklaren lassen. Nach dem ständigen und andauernden Streit über die Auslegung der Ostverträge und der KSZE-Schlußakte müssen wir zu einer pragmatischen Diplomatie zurückkehren. Das heißt vor allem: Abmachungen mit Staaten, die sich selbst als ideologische Feinde der Bundesrepublik Deutschland bezeichnen, müssen eindeutig, in Leistung und Gegenleistung ausgewogen und in gleicher Weise bindend sein.
Nur eine klare Sprache garantiert eine zuverlässige und für alle Seiten berechenbare Politik.Je klarsichtiger, zielstrebiger und disziplinierter wir alle im Westen unsere eigenen Maßstäbe und Ziele im Rahmen der zweiseitigen Beziehungen mit den Staaten des Warschauer Paktes, im Rahmen der UNO und der KSZE zur Geltung bringen, um so eher werden die Führer der Sowjetunion Sachzwängen Rechnung tragen und auf den Boden der politischen Realitäten zurückkehren.Angesichts der besonderen Empfindlichkeit insbesondere im Bereich der humanitären Fragen verstehen wir das Bedürfnis von Verhandlungsführern nach Diskretion. Wir sind bereit, dies zu akzeptieren, wenn es zu konkreten Ergebnissen kommt.Dem steht gegenüber, daß die Deutschlandpolitik wegen ihrer großen Bedeutung vom öffentlichen Bewußtsein und vom Willen der Bürger getragen sein muß. Dies erfordert die offene und öffentliche Diskussion.Deshalb hängt alles davon ab, daß alle Parteien dieses Hohen Hauses die Deutschland- und Ost-Politik in verantwortlicher Weise miteinander und nicht aus innenpolitischen und wahltaktischen Gründen gegeneinander behandeln.
Fünftens. Die CDU/CSU tritt weiterhin für die Zusammenarbeit im wirtschaftlichen und technischwissenschaftlichen Bereich auf der Grundlage des gegenseitigen Nutzens ein. Wir warnen aber entschieden davor, uns in einseitige wirtschaftliche Abhängigkeit zu begeben. Ich muß noch einmal daran erinnern, daß der sowjetische Delegationsleiter Juri Krasnov erst im Frühjahr dieses Jahres auf der Hannover-Messe damit gedroht hat, daß die Sowjetunion notfalls den Gashahn abdrehen könne, wenn die Bundesrepublik Deutschland nicht politisches Wohlverhalten zeige.
Sechstens. Eine Politik der Verständigung und Entspannung setzt, meine Damen und Herren, ein militärisches Gleichgewicht — nicht nur weltweit, sondern auch in Europa — voraus. Dazu müssen wir gerade im Rahmen des NATO-Bündnisses beitragen. Gerade die letzten zehn Jahre verstärkter sowjetischer Aufrüstung und der sowjetische Überfall auf Afghanistan haben gezeigt, wie gefährlich es sein kann, auf Grund unseres Wunsches nach Frieden und Entspannung den Sektor militärischer Sicherheit zu vernachlässigen. Wir müssen gegenüber der Sowjetunion und ihren Verbündeten entschlossen auf Wiederherstellung des militärischen Gleichgewichts und der dadurch bedingten Sicherheit in Europa bestehen.
Siebtens. Es bleibt für uns unannehmbar, daß auf unfreundliche Maßnahmen anderer Staaten oder Organisationen gegen die Bundesrepublik Deutschland keine Reaktionen der Bundesregierung erfolgen. Der Ruf „Rettet die Entspannung!" ist für Ihre Regierung, Herr Bundeskanzler, vielfach zum Ausdruck für Hilflosigkeit und Konzeptionslosigkeit geworden.
Ihre Regierung sollte weniger reden als vielmehr angemessen, schnell und entschieden handeln. Aber, Herr Bundeskanzler, natürlich kann nur der handeln, der weiß, was er will.
Uns als Opposition kommt es zu, Bedenken, Warnungen und Kritik zu äußern und damit stets auch die Verhandlungsposition der Regierung nach außen zu stärken.
— Herr Kollege Wehner, das ist der Unterschied im Oppositionsverständnis zwischen uns beiden. Ihr Zuruf ist entlarvend, aber das ist nichts Neues für mich.
Sie haben zwar nicht gesagt: „Wir brauchen die Opposition nicht", aber Sie denken es, und das läuft auf das gleiche hinaus.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich an einigen wichtigen Beispielen erläutern, was in den 80er Jahren unter Gemeinsamkeit zu verstehen ist und wo für uns die Grenzen liegen.Erstens. Die CDU/CSU hält weltweite und Ost-West-Verhandlungen über die Begrenzung von Waffen in einer Zeit der Massenvernichtungstechnik und zunehmender Not in der Welt für eine politische, für eine menschliche Pflicht. Wir haben deshalb alle wesentlichen Verhandlungspositionen der Bundesregierung in internationalen Gremien mitgetragen. Dies gilt insbesondere für die Abrüstungspositionen der Bundesrepublik Deutschland in Brüssel, Wien, Genf und New York. Den Doppelbeschluß der NATO vom Dezember 1979 — jeder weiß dies — haben wir in seinen beiden Teilen angemessen gefördert und mitvertreten. Wir sehen jedoch mit
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Dr. Kohlwachsender Sorge die Zunahme von Kräften und Tendenzen innerhalb der SPD, die gerade diesen NATO-Beschluß auszuhöhlen bereit sind. Sie werden auf unseren entschiedenen Widerstand treffen.
Ost-West-Verhandlungen über die Minderung der Rüstungslasten mit dem Ziel, unverminderte Sicherheit auf einem niedrigeren militärischen Niveau zu erreichen, finden unsere Unterstützung. Wir, die CDU/CSU, wollen Abrüstung mit Sicherheit. Wovor wir warnen, ist: Abrüstung ohne Sicherheit.
Zweitens. Bei den Wiener Truppenabbauverhandlungen werden wir die Positionen des Bündnisses — ich hoffe damit: auch die der Bundesregierung — weiterhin mittragen, wenn es zu einer unverfälschten Parität und zu einer unverfälschten Kollektivität kommt. Um es deutlich zu sagen: Herr Bundeskanzler, Ihr persönlicher Vorschlag und der auf ihm beruhende sowjetische Vorschlag einer Ost-West-Vereinbarung, die der Bundeswehr eine Obergrenze auferlegt, ist für uns völlig indiskutabel.
Wenn wir, die Bundesrepublik Deutschland, innerhalb des Westens Absprachen treffen wollen, die allen Allianzpartnern gleiche Pflichten und Lasten auferlegen, dann brauchen wir dafür nicht den Umweg eines Ost-West-Abkommens in Wien, das der Sowjetunion ein erstes Mitspracherecht über den Umfang der Bundeswehr einräumen würde. Ich halte es nach wie vor für einen schweren Fehler, daß der deutsche Bundeskanzler einen Vorschlag gemacht hat, der die westliche Verhandlungsposition in Wien schwächt und der deshalb von Moskau begierig aufgegriffen wurde.
Drittens. Beim Madrider KSZE-Folgetreffen werden wir die Haltung der Bundesregierung daran messen, wie weit sie dem Auftrag dieser Veranstaltung gerecht wird, d. h. die Einhaltung der Schlußakte ausgiebig und öffentlich zu überprüfen und weiterführende Vorschläge hinsichtlich der Ziele und die Durchsetzung der Ziele der KSZE zu verabschieden.Da wir, meine Damen und Herren, in Europa das einzige Land sind, das zwischen Ost und West geteilt ist, werden wir insbesondere darauf zu achten haben, daß die Interessen unseres ganzen Volkes mit dem notwendigen Nachdruck wahrgenommen werden.
Die Rede von Bundesminister Genscher zu Beginn des Folgetreffens bietet Ansatzpunkte einer Übereinstimmung, von denen wir hoffen, daß sie sich als tragfähig erweisen werden. Ich begrüße es, Herr Bundesaußenminister, daß Sie auf unseren Vorschlag eingegangen sind, in Madrid ein Menschenrechtsschutzsystem vorzuschlagen, das anknüpft an das Menschenrechtsschutzsystem des Europarates und an seine eigenen Vorschläge für einen internationalen Menschenrechtsgerichtshof. Eine Einrichtung dieser Art könnte einen wichtigen Dienst für die Anwendung der internationalen Menschenrechtspakte leisten, und das käme vor allem uns in Deutschland zugute.
Eine europäische Abrüstungskonferenz halten wir nur dann für sinnvoll, wenn sie nicht ein neues Gremium für östliche Abrüstungspropaganda wird, hinter der sich weiter ungehemmt Aufrüstung vollzieht.
Damit dieser Mißbrauch von vornherein verhindert wird, muß das Madrider Folgetreffen für eine solche Konferenz ein klares Verhandlungsmandat erarbeiten, in dem auch gesichert ist, daß — entsprechend dem französischen Vorschlag — vertrauensbildende Maßnahmen vereinbart werden müssen, die auch den europäischen Teil der Sowjetunion erfassen.
Viertens. In der Frage der Staatsbürgerschaft sind wir aus verfassungsrechtlichen Gründen, um des Rechtsstatus Berlins willen, aber auch aus Gründen unseres demokratischen Selbstverständnisses nicht bereit, Einschränkungen, Veränderungen oder Manipulationen irgendwelcher Art unseres Staatsangehörigkeitsrechts hinzunehmen.
Wer an unserem Staatsangehörigkeitsrecht angeblich um der Menschen willen rührt oder es einmal mehr als „juristischen Formelkram" abtut, schadet den Interessen aller Deutschen. Auch hier gilt: Entspannungspolitik ohne entschiedene Behauptung der eigenen Position schlägt um in eine spannungerzeugende Politik.
Fünftens. Die Frage der nationalen Identität ist auch die Frage unseres Verhältnisses zu den Deutschen in der DDR. Dieser Frage der deutschen Identität kann niemand von uns ausweichen. Sie bleibt uns aufgegeben mit unserer Geschichte, mit unserer Sprache, mit unserer politischen Kultur.Papst Johannes Paul II. hat in seiner eindrucksvollen Rede in Mainz alle Verantwortlichen zum gemeinsamen Bemühen um den Frieden aufgerufen. Er sagte:Wir hoffen, daß die Sorge um den Frieden alle Verantwortlichen dazu bewegt, einen ständigen Dialog über die verschiedenen Probleme zu suchen — mögen diese auch noch so schwerwiegend und komplex sein —, um dadurch den so ersehnten Frieden von Tag zu Tag mehr zu festigen.In seiner Abschiedsrede auf dem Münchner Flughafen fügte er hinzu:Wie in jeder menschlichen Familie jeder ihr angehörende Mensch alle Achtung findet, so müssen in der Völkerfamilie alle Nationen — große, mittlere und kleine — geachtet werden. Diese Nationen haben schon ihre lange Geschichte,
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Dr. Kohlihre volle Identität und ihre eigene Kultur. Dieser eigenen geschichtlichen Reife entspricht das Recht auf Selbstbestimmung, wobei natürlich auch die entsprechenden Rechte der anderen Nationen gebührend berücksichtigt werden müssen.Meine Damen und Herren, besser kann man auch die Position, die wir, wie ich hoffe, gemeinsam vertreten, nicht deutlich machen. Ich glaube, wir alle schulden Papst Johannes Paul II. Dank, nicht nur für diese Reise und für das Erlebnis, das er über alle Konfession hinweg den Deutschen mit seiner charismatischen Persönlichkeit, mit seiner Menschlichkeit bereitet hat, sondern auch für sein besonderes Verständnis für die Deutschen. Herzlichen Dank!
Diese Worte des Papstes sind eine allgemeine Verpflichtung für uns alle. Sie sollten deshalb heute aus der Verantwortung der Bundesrepublik Deutschland für den Frieden in Europa auch in einem gemeinsamen Friedensappell unseres Parlaments hinausgehen in die Welt. Alle demokratischen Kräfte in der Bundesrepublik Deutschland wollen den Frieden und sind entschlossen, dafür zu arbeiten. Deswegen darf es keinen Streit unter uns darüber geben, wer mehr oder wer weniger bereit ist, für den Frieden zu arbeiten.
Die Überprüfung der deutschen Interessen darf den Blick aber nicht nur nach Osten richten. Auch im Westen bedarf es staatsmännischen Augenmaßes und praktischer Vernunft, um die Europäische Gemeinschaft vor dem langsamen Ersticken in der Kleinkrämerei und dem wirtschaftlichen Protektionismus zu bewahren. Das fühlbar abgesunkene Interesse der Europäer — auch der Deutschen — an europäischen Angelegenheiten steht nicht nur in krassem Gegensatz zu den tatsächlichen politischen Chancen Europas, sondern in Wahrheit auch — und das muß man aussprechen — zu den Vorteilen, die alle EG-Mitglieder bereits längst erreicht haben. Wir sind zutiefst davon überzeugt, daß die politische Einigung Europas nicht nur über die Zukunft unseres Friedens und unserer Freiheit entscheidet, sondern auch für den Frieden der ganzen Welt und für die Chance der Freiheit auf dieser Erde von entscheidender Bedeutung ist.Die Europäer sind noch immer nicht in der Lage, ihre weltpolitische Rolle aktiv zu spielen, die darin bestehen müßte, Amerika ein verläßlicher, aber auch bei weltpolitischen Entscheidungen ein ernstzunehmender Partner zu sein, mit der Sowjetunion auf gleichgewichtiger Basis über einen vernünftigen Ausgleich der Interessen zu reden, für die Dritte Welt eine ernste und langfristige Hoffnung zu sein und vor allem allen Europäern Heimat zu sein, in der sie sich über das bloß Wirtschaftliche hinaus wohlfühlen können.Das 1979 direkt gewählte Europäische Parlament hat die europäische Wirklichkeit erweitert. Es gelang, eine Reihe von Themen,die nicht auf Grund der Römischen Verträge zu seiner Zuständigkeit gehören, in das Parlament zu bringen und auf diese Weise zu Themen der gesamteuropäischen Politik zu machen. Wir müssen diesen Weg auch hier im Hause unterstützen, wir müssen den Mut und die Unabhängigkeit aufbringen, auf diesem Weg weiterzugehen. In allem, was dazu dient, die europäische Vision wieder neu zu beleben, ihr neues Leben zu geben, wird die Bundesregierung uns bereit finden, die nationalen Interessen zusammen mit den übergeordneten europäischen Interessen gemeinsam zu vertreten.
Für die Politik nach Osten wie für die Einbindung der Bundesrepublik Deutschland in Europa gilt, daß ihr Aktionsradius soweit wie die Festigkeit des westlichen Bündnisses reicht. Das westliche Bündnis und die Freundschaft zu den Vereinigten Staaten von Amerika haben für uns eindeutigen Vorrang. Wer eine andere Politik verfolgt, führt die Bundesrepublik Deutschland in eine gefährliche Isolierung von ihren Freunden. Es bedarf deshalb einer sorgfältigen Abstimmung zwischen dem Ziel der Stärkung der westlichen Allianz, dem Wunsch nach Rüstungskontrolle und dem Erfordernis der Sicherheit vor militärischem Druck aus dem Osten. Damit bleibt unser Verhältnis zu den Vereinigten Staaten von Amerika von elementarster Bedeutung.
Herr Bundeskanzler, ein Rat unter Freunden, wenn er erbeten wird, ist eine gute Sache; öffentlicher Spott ist eine kostspielige Ohrfeige, deren Preis die Nation zu zahlen hat.
Präpotente Interviews, Herr Bundeskanzler, erwecken in der Welt nur ungute Erinnerungen an Wilhelm II.
Wir zweifeln nicht, daß es zwischen dem demnächst scheidenden Präsident, Jimmy Carter, und dem neuen Präsidenten, Ronald Reagan, wie bei allen Führungswechseln der letzten Jahrzehnte in Washington in den Grundfragen der Bündnistreue Amerikas zu Europa eine ungebrochene Kontinuität geben wird.Ich will in diesem Zusammenhang etwas nachtragen, Herr Bundeskanzler, was ich eigentlich gern auch von Ihnen gehört hätte: Als höchster Repräsentant des uns befreundeten amerikanischen Volkes hat Präsident Carter mit seiner Administration in den letzten vier Jahren sein Bestes gegeben für die Erhaltung des Friedens, für die Wahrung unserer Freiheit, für die Geltendmachung der Menschenrechte, für das Ziel weltweiter Rüstungsbegrenzung auf der Grundlage unverminderter Sicherheit. Ich finde — auch in der Stunde des Abschieds soll das
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Dr. Kohldeutlich werden —, dafür gebührt auch Präsident Carter und seiner Administration unser Dank.
Der neue Präsident der USA, Ronald Reagan, muß in der Bundesrepublik Deutschland einen Partner finden, der von der fundamentalen Interessenübereinstimmung zwischen Amerika und dem freien Teil Deutschlands ausgeht. Wir sehen der Präsidentschaft Ronald Reagans mit großer Zuversicht entgegen.
Meine Damen und Herren, nicht nur wirkliche Entspannung ist unteilbar, auch die Sicherheit Amerikas und Europas ist unteilbar. Es bedarf des politischen Augenmaßes, um die Allianz unter veränderten Verhältnissen in die Zukunft zu führen. Dieses Verständnis und dieses Augenmaß vermissen wir bei Ihnen, Herr Bundeskanzler. Statt den Amerikanern in Mitteleuropa Entlastung zu bieten, hat die Bundesregierung es für richtig gehalten, ihre NATO-Zusagen in Zweifel zu ziehen. Immerhin haben auch Sie die 3 %-Formel 1978 mit geboren. In den letzten Wochen hat die Bundesregierung zunächst nur 0,2 % Steigerung des Verteidigungshaushaltes angekündigt, dann sollten es 1,8 °A) sein, und unmittelbar vor Ihrer Reise, Herr Bundeskanzler, sollen nun doch die zugesagten 3 % erreicht werden. Wieder einmal ist politischer Schaden dadurch entstanden, daß Sie hier undurchsichtig geredet haben. Wieder einmal, Herr Bundeskanzler, mußten Sie sich in Washington mit einer selbst geschaffenen Krise herumschlagen.
„Friedenspolitik beginnt zu Hause", so haben Sie am 31. August 1980 erklärt. Als jetzt anläßlich des 25. Jahrestages der Bundeswehr Rekruten ihr feierliches Gelöbnis öffentlich abgelegt haben, „das Recht und die Freiheit des deutschen Volkes tapfer zu verteidigen", da riefen Sozialdemokraten in Bremen, in München, in Hannover, hier in Bonn zu Demonstrationen gegen das Gelöbnis, j a gegen die Bundeswehr und gegen das Bündnis auf.Meine Damen und Herren, wer hier beschönigt, nimmt unserem Verständnis von Staat und Gemeinwesen die Grundlage. Wenn Sozialdemokraten im öffentlichen Gelöbnis von jungen Soldaten auf unseren Staat und unsere Verfassung eine Militarisierung unserer Gesellschaft sehen, so ist dies ein schrilles Alarmzeichen.
Sie, Herr Bundeskanzler, müssen als stellvertretender Parteivorsitzender der SPD endlich den Mut aufbringen, unseren Mitbürgern die Frage zu beantworten, warum viele, allzu viele aus den Reihen der SPD vor solchen Angriffen aus den eigenen Reihen die weiße Flagge hissen.Meine Damen und Herren, lassen Sie mich zusammenfassend sagen: Die Regierung wird unsere volle Unterstützung haben, wenn sie Initiativen zur Fortentwicklung der europäischen Einigung ergreift, wenn sie atlantische Solidarität praktiziert, wenn sie einen Beitrag zur gleichgewichtigen Abrüstung leistet, wenn sie die Absichtserklärungen der Ostverträge mit Leben erfüllen und menschliche Erleichterungen zwischen Ost und West erreichen will, wenn sie ihren Beitrag zu einer humaneren Entwicklung der Dritten Welt leisten will. Aber in all diesen Gebieten reicht es nicht aus, auf bessere Zeiten zu warten. Seien Sie aktiv, bevor uns Krisen zu überfälligen Reaktionen zwingen!Genau diese Aufforderung, Herr Bundeskanzler, kann ich auch als Leitmotiv zu Ihrer Wirtschafts-, Finanz- und Haushaltspolitik voranstellen. Nie zuvor in der 30jährigen Geschichte der Bundesrepublik Deutschland hatte ein Regierungschef eine so schlechte Bilanz in diesem Bereich zu verantworten wie Sie, Herr Bundeskanzler.
Seit sieben Jahren leidet unser Land unter einer Arbeitslosigkeit in Millionenhöhe. Diese Arbeitslosigkeit wird im kommenden Jahr noch erheblich darüber hinauswachsen. Ein schleichender Kaufkraftverlust kann durch ein hohes, investitionshemmendes Zinsniveau nur mühsam gebremst, aber nicht aufgehalten werden. Der Bund hat die Staatsverschuldung selbst in konjunkturell günstigen Zeiten in einem solchen Tempo anwachsen lassen, daß der Schuldendienst schon in Kürze aus der Substanz des Steueraufkommens bedient werden muß. Das Defizit in unserer Leistungsbilanz ist auf annähernd 30 Milliarden DM pro Jahr gewachsen, unsere Devisenreserven schmelzen zusammen. Wir machen mittlerweile auch im Ausland erhebliche Schulden. Die fallende Notierung der D-Mark an den internationalen Devisenbörsen signalisiert kein Vertrauen zu unserer Wirtschaftspolitik. Unsere Abhängigkeit vom Öl besteht unvermindert fort. Unsere Energieversorgung in der Zukunft ist ungewisser denn je. Der internationale Wettbewerbsdruck wächst, aber eine gewaltige Investitionslücke verzögert die Strukturanpassung unserer Wirtschaft. Das Wirtschaftswachstum verlangsamt sich im kommenden Jahr voraussichtlich bis zum faktischen Stillstand.All dies, Herr Bundeskanzler, war auch schon vor der Wahl bekannt. Wir haben beizeiten gewarnt, und jetzt kommt die Stunde der Wahrheit — nur Wochen nach der Wahl, wie beim letzten Mal. „Für Pessimismus" bestehe „keine Berechtigung", erklärten Sie vor der Wahl. Das „Gerede" von der Staatsverschuldung nannten Sie „dummes Zeug". Die Daten, mit denen wir Sie vor der Wahl konfrontierten, haben Sie als „Horrorzahlen" weggewischt.Nach der Wahl wurden dann diese traurigen Tatsachen in einem Brief bestätigt, den Ihnen Ihr Wirtschaftsminister, Graf Lambsdorff, als Grundlage Ihrer Regierungserklärung zusandte. Die ungeschminkte Wahrheit, Herr Bundeskanzler, haben die Wähler von Ihnen bisher noch nie rechtzeitig zu hören bekommen.
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52 Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 26. November 1980
Dr. KohlIhr Fraktionskollege Gansel ist Ihnen in dieser Frage besonders konstruktiv entgegengekommen. Herr Gansel sagte — —
— Ich will ja seine Karriere fördern, Herr Kollege Schmidt; bei dem Personalwechsel im Kanzleramt ist er vielleicht der richtige Mann für die Zukunft.
Herr Gansel sagte: „1976 erfuhren wir 14 Tage nach der Wahl die wirkliche Lage der Rentenfinanzen, 1980 erfuhren wir 14 Tage nach der Wahl die wirkliche Lage der Staatsfinanzen. Ich schlage vor, 1984 die Wahl um 14 Tage zu verschieben."
Stellen Sie sich einmal vor, Franz Josef Strauß hätte diesen Satz gesprochen! Stellen Sie sich einmal den Aufruhr in der SPD-Fraktion vor! In Wahrheit — und das ehrt Sie ja — denken die meisten so wie Herr Gansel. Bloß haben sie nicht den Mut, das offen zu sagen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Sie brauchen nicht 14 Tage mehr Zeit, Sie brauchen mehr Mut zur Wahrheit. Den haben Sie auch nicht in 14 Tagen.
Weil wir alle, unser ganzes Volk, die Zeche dieser verfehlten Politik zu bezahlen haben, ist es unvermeidbar, daß ich Sie gerade auch auf Ihre ganz persönliche Verantwortlichkeit hinweise. Vernünftige Wirtschaftspolitik kann in der gegenwärtigen Krise nur bedeuten, daß wir in einer konsequenten Politik der Sozialen Marktwirtschaft die noch immer vorhandenen wirtschaftlichen, geistigen und moralischen Kräfte unseres Landes wieder stärker herausfordern. Denn Sparsamkeit für sich allein ist kein Programm. Wir brauchen auch maßvolles Wirtschaftswachstum.Unsere äußere Sicherheit, die Verstärkung unseres Beitrags zur Entwicklung der Dritten Welt, die Einstellung auf die internationale Wettbewerbslage und nicht zuletzt der Auftrag, der nachwachsenden Generation Chancen und Gestaltungsmöglichkeiten zu eröffnen, all dies erfordert Investitionen, die eben nur von einer wachsenden Wirtschaft erbracht werden können. Soziale Marktwirtschaft verlangt mehr politische Selbstdisziplin und vor allem Verzicht auf die Illusion, für den Staat sei alles „machbar". Sie verlangt Vertrauen in den Bürger und den Verzicht auf Gesetzgebungseifer und bürokratische Disziplinierung.Staatsverschuldung — dies gilt es zu begreifen — ist nicht nur ein ökonomisches, ein finanzpolitisches Problem. Staatsverschuldung ist immer auch eine Belastung für das Vertrauen der Bürger. Denn es weiß doch jedermann: jede Mark Kredit wird entweder irgendwann zu Steuern oder durch hohe Inflationsraten weggemogelt; einen dritten Weg gibt es in Wahrheit nicht. Deshalb, Herr Bundeskanzler, werden wir sehr genau prüfen, was Sie zur Konsolidierung des Staatshaushaltes tun.Wir gehen dabei von folgenden Überlegungen aus. Erstens. Einsparungen im öffentlichen Haushalt sind der richtige Weg. Die Mehrbelastung des Bürgers steht unter einem besonderen Begründungszwang. Zweitens. Einnahmeverbesserungen dürfen auf absehbare Zeit nicht zur Finanzierung neuer Aufgaben, sie müssen zur Konsolidierung des Haushalts eingesetzt werden. Drittens. Ausgabenkürzungen und Mehrbelastungen des Bürgers müssen auch in ihren Konsequenzen dargestellt und verantwortet werden. So bewirkt doch die in Aussicht genommene Erhöhung der Mineralölsteuer eine Verschärfung der Tendenz, die Wohnung in der Nähe des Arbeitsplatzes, also in den Ballungszentren, zu suchen, genau in jenen Gebieten, in denen schon jetzt die Wohnraumversorgung große Probleme aufwirft.
Neben der Konsolidierung des Staatshaushalts kommt der Konsolidierung unserer nationalen Leistungsbilanz eine Schlüsselfunktion zu. Die Analyse des Bundesfinanzministers zu diesem Thema greift hierbei zu kurz. Natürlich müssen wir unseren Ölbedarf reduzieren, Energie sparen und andere Energieträger fördern. Aber in erster Linie gilt es, meine Damen und Herren, die internationale Wettbewerbsfähigkeit unserer Wirtschaft zu stärken. Die Hochzinspolitik, mit der wir uns gegenwärtig ausländisches Geld besorgen und so die Leistungsbilanzdefizite ausgleichen, ist nur für begrenzte Zeit vertretbar. Hohe Zinsen ziehen zwar Kapital an, sie verteuern und bremsen aber Investitionen. Investitionen aber braucht nicht nur die Wirtschaft, Investitionen braucht das ganze Land. Wir müssen deshalb bei den konsumtiven Ausgaben sparen und nicht, wie Sie, Herr Bundeskanzler, es beabsichtigen, bei den Zukunftsinvestitionen.
Nur Tagträumer können glauben, wir könnten unsere internationalen Verpflichtungen erfüllen, den sozialen Frieden in unserem Lande erhalten und der jungen Generation Zukunftschancen eröffnen, wenn in der Wirtschaft nicht investiert und nicht modernisiert wird. Wir müssen wettbewerbsfähig bleiben. Dazu sind Innovationen notwendig; notwendig sind Anstrengung, Leistung, Initiative. Wir sind ganz gewiß keine Wachstumsfanatiker. Wirtschaftliches Wachstum ist für uns kein Selbstzweck. Es hat dienende Funktion; es dient und nützt uns allen.
Das Gerede und Gehetze gegen den Gewinn ist nicht nur giftig, weil es an den Neid appelliert, es ist auch dumm, weil es elementare Voraussetzungen jeder erfolgreichen Wirtschaftstätigkeit — gleichgültig, ob im Kapitalismus, in der Sozialen Marktwirtschaft oder im Sozialismus — leugnet. Ich möchte das denjenigen unter unseren jungen Mitbürgern zu bedenken geben, die häufig Wachstum mit mehr Wohlstand, mehr Konsum und sinnentleertem Materialismus gleichsetzen. Ein maßvolles Wirtschaftswachstum und technischer Fortschritt nach menschlichem Maß liegen vor allem im Interesse de-
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Dr. Kohlrer, die ihr Leben noch vor sich haben, und im Interesse derer, denen wir helfen müssen. Nur ein maßvolles Wirtschaftswachstum kann uns zudem helfen, die Grundlagen unseres Systems der sozialen Sicherheit und damit die Solidarität zwischen den Generationen sowie den sozialen Frieden in unserem Lande zu erhalten.Die geburtenschwachen Jahrgänge der letzten 15 Jahre haben bereits jetzt zu einer Strukturverzerrung unserer Alterspyramide geführt. In 20 bis 30 Jahren müssen fünf Erwerbstätige jeweils die Rente für vier ältere Mitbürger erwirtschaften. Das ist ohne schwerwiegende Zusatzbelastung für den einzelnen nur durch einen kontinuierlichen Produktivitätszuwachs möglich. Die älteren Mitbürger, die Rentner, spüren doch, meine Damen und Herren, schon heute, daß die Solidarität mit ihnen auf das Maß der Kassenlage verkürzt wird.
In Ihrer Koalitionsvereinbarung und in Ihrem Regierungsprogramm, Herr Bundeskanzler, bleibt auch zu diesem Thema vieles unklar und unausgewogen. Uns fehlt z. B. die klare Aussage, ob wir nach Ihrem Willen auf Dauer zum Prinzip der bruttolohnbezogenen Rente zurückkehren und wie es mit den Prinzipien der Rentenfinanzierung zu vereinbaren ist, daß einerseits Beiträge erhöht und andererseits Bundeszuschüsse gekürzt werden. Die vorgesehene Regelung des Krankenversicherungsbeitrags der Rentner ist, wie wir meinen, hinsichtlich der Belastungen unausgewogen und in ihrer Durchführung fragwürdig. Fragwürdig sind auch die Buchungstricks zwischen der Rentenkasse und der Nürnberger Bundesanstalt, deren Haushalt nach den neuesten Zahlen ohnehin einen weit höheren Bundeszuschuß braucht.Herr Bundeskanzler, insgesamt vermittelt gerade Ihr wirtschafts- und haushaltspolitisches Programm den Eindruck, daß Sie sich von Tag zu Tag, von Krise zu Krise auch weiterhin nur durchwursteln.
Dies gilt in ganz besonderem Maße auch für das, was wir zum Thema der Montan-Mitbestimmung gehört haben. Das, was Sie hier als Kompromiß der SPD/FDP-Koalition vorgestellt haben, steht in keinem Verhältnis zum tatsächlichen politischen Anliegen.Ich will dazu ganz einfach den Kommentar einer großen deutschen Tageszeitung zitieren. Die „Süddeutsche Zeitung" schrieb dazu:In der einen zum Symbol erhobenen Frage der Montan-Mitbestimmung kam nach zähem Strei in letzter Minute nicht mehr heraus als eine schlichte Vertagung. Fast hat man den Eindruck, die Antwort auf die eigentlichen Fragen sei bewußt in eine Zeit verschoben worden, in der sich vielleicht eine andere Regierung damit befassen muß. Eine verdeckte Abdankung?Ich glaube, damit ist der Kern der Sache richtig getroffen.
So leben Sie mit Ihrer Regierung in den Tag hinein — „Nach uns die Sintflut!" —, und die eigentlichen Probleme sollen andere lösen.
Ich hoffe, wir werden bald Gelegenheit haben, intensiv zu diesem Thema hier zu sprechen. Wir, die CDU/CSU, die beiden Schwesterparteien mit ihren Vorstandsgremien, haben vor der Wahl eine klare Erklärung abgegeben. Selbstverständlich gilt das vor der Wahl gegebene Wort auch nach der Wahl. Wir erwarten jetzt die Gesetzesvorlage der Bundesregierung. Wir werden sie sorgfältig prüfen und mit Ihnen diskutieren.Ihr Programm, Herr Bundeskanzler, läßt eine dauerhafte Sicherung unserer materiellen Existenzgrundlagen nicht erwarten. „No future", so steht es an den Wänden deutscher Großstädte. Keine Zukunft: das ist auch die Prognose, die wir Ihnen und Ihrer Politik stellen müssen.Es ist unübersehbar, daß der perspektivlose Pragmatismus ökonomischer Krisenverwaltung elementare, vor allem immaterielle Bedürfnisse der Menschen unbefriedigt läßt. Herr Bundeskanzler, Sie haben in Ihrer Regierungserklärung zu den Aufgaben im eigenen Land gesagt: „Hier geht es um Einkommen und Auskommen." Aber, Herr Bundeskanzler, das ist allenfalls die halbe Wahrheit.
Sie wollen jetzt dem Land „Mut zur Zukunft" verordnen, aber Sie deprimieren in Wahrheit die Menschen, weil Ihre Politik all jene Fragen ausklammert, auf die Sie mit mehr Geld, mehr Gesetzen und mehr Behörden keine Antwort geben können.
Wie sollen wir in Zukunft leben, wenn unser wirtschaftliches Wachstum nicht mehr jedes Problem zu lösen hilft? Wie erhalten wir uns den inneren Frieden, den sozialen Frieden, wenn es nur noch wenig zu verteilen gibt? Wie sieht die Perspektive einer lebenswerten, einer menschlichen Zukunft aus?Das, meine Damen und Herren, werden Kernfragen deutscher Politik in den vor uns liegenden Zeiten sein. Herr Bundeskanzler, ich frage Sie: Wo sind Ihre Antworten?
Wohlstand und materielle Sicherheit können nicht ausgleichen, was die Menschen in der Härte und Hektik, in der Anonymität und Kälte ihres Alltagsdaseins an Lebensqualität verlieren. Eine Generation wächst heran, für die Wohlstand und soziale Sicherheit selbstverständlich sind und die jetzt auch wieder nach Werten fragt, die eben mit Geld nicht zu kaufen sind, aber für das Glück der Menschen entscheidend sind:
das Gefühl der Geborgenheit, das Erlebnis menschlicher Zuwendung, die Überschaubarkeit persönlicher Lebensbereiche, Orientierungssicherheit in einer Welt des Wandels — das sind Bedürfnisse, für
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Dr. Kohldie die Politik eine neue Sensibilität entwickeln muß.
— Herr Wehner, es mag sein, daß Ihnen das poetisch vorkommt.
Aber das hat eben damit zu tun, daß Sie sich inzwischen weit, weit von unserem Volk entfernt haben.
Die Sorge um Natur und Landschaft und die Bereitschaft, sich für ihre Pflege einzusetzen, ist wahrlich keine Erfindung unserer Tage. Diese Werthaltung ist im besten Sinne des Wortes konservativ. Sie hat in der Arbeit von Organisationen des Natur- und Landschaftsschutzes, sie hat im Selbstverständnis von Heimat- und Wandervereinen, von Winzern, Bauern und Jägern eine lange Tradition. Nicht die Wertschätzung für unsere Umwelt hat sich verändert, sondern der Grad ihrer Gefährdung. Das müssen wir zur Kenntnis nehmen.
Herr Kollege Wehner, das ist ein Vorwurf an uns alle in der Politik. Ich schließe mich dabei nicht aus. Nicht nur an den Bund, sondern genauso an die Länder und Gemeinden richtet sich die Frage: Warum habt ihr es in Jahrzehnten nicht geschafft, die Verschmutzung von Flüssen und Seen aufzuhalten? Warum habt ihr es zugelassen, daß Landschaften zersiedelt und von Verkehrswegen zerschnitten wurden, daß wir die Schönheit vieler Städte und Gemeinden dem seelenlosen Futurismus der Städte-und Verkehrsplaner geopfert haben? Die Wohnmaschinen moderner Trabantenstädte, in denen es Nachbarn, aber keine Nachbarschaft mehr gibt, sind Stein gewordene Zeugnisse nicht nur architektonischer, sondern vor allem politischer Fehlleistungen.
Auch wenn im Bereich des Umweltschutzes vieles erreicht werden konnte — das ist doch wahr — und obwohl die Politik dem Umweltschutz einen erkennbar höheren Stellenwert zumißt, scheint sich im Bewußtsein vieler — wie ich finde, zu vieler — Bürger die Meinung festzusetzen, daß Politik im Grunde unsensibel ist für ihre Sorge um den Erhalt einer natürlichen Umwelt. Dieses Vorurteil, Herr Bundeskanzler, gilt gerade auch Ihrem ökonomisch verkürzten Politikverständnis. Was immer Sie an Gesetzen, Programmen und finanziellen Aufwendungen auch vorweisen mögen, hier bleibt eine Glaubwürdigkeitslücke.Der Opportunismus, mit dem Sie und Ihre Partei zugleich eine Option für und gegen die Kernenergie offenhalten wollen, verstärkt eben die Sorge und den Widerstand vieler Bürger.
Wer so tut, als sei er nur halb und mit schlechtemGewissen für die Kernkraft, kann nicht überzeugend darlegen, daß wir Kernkraft wirklich brauchen und daß Kernkraft auch ein wichtiger Beitrag zum Umweltschutz ist,
weil sie eben die Umwelt weniger belastet als Kohlekraftwerke, weil sie hilft, Rohstoffe zu sparen, die zu kostbar sind, um sie zu verheizen, und weil sie die notwendige Energie liefert, mit der wir andere Aufgaben des Umweltschutzes, z. B. die Reinhaltung des Wassers, verwirklichen können.Mit Ihrer Zwei-Optionen-Politik, Herr Bundeskanzler, wirken Sie auf die Bürger wie der Exponent eines technokratischen Staates, der den Menschen kaltherzig schwere Risiken zumuten würde, der aber zurückzuckt, sobald er auf den Widerstand konfliktfähiger Gegner trifft. Diese Wirkung wird verstärkt durch eine Erfahrung, die die Bürger mit Ihrer Politik immer wieder und anläßlich der jüngsten Koalitionsverhandlungen in besonders krasser Form machen mußten: die Erfahrung nämlich, daß Politiker und Parteien viel vom Gemeinwohl und von sozialer Verantwortung reden, daß sie dann aber nicht den Mut haben, das Notwendige für die Schwachen auch einmal gegen die Interessen mächtiger Gruppen zu tun.
Herr Bundeskanzler, Erfolg hat bei Ihrer Politik, wer mit der Mitgliederzahl seiner Organisation argumentieren, wer ankündigen kann, der Regierung demnächst gegebenenfalls mitten ins Gesicht zu blasen.
Erfolg hat auch derjenige, der mit Aktionen und Demonstrationen auf die Straße geht. Erfolglos dagegen bleiben die Schwachen, die Kinder, die alten Leute, die Familie, diejenigen, die nicht laut schreien und nicht demonstrieren,
deren Interesse nicht organisierbar ist. Und erfolglos bleiben auch die Einsichtigen, die dem Staat vertrauen, statt ihn herauszufordern.
Hier liegt die Zukunftsaufgabe des Sozialstaats. Es geht um eine neue soziale Frage: nicht um den Klassenkampf des 19. Jahrhunderts, sondern um eine ganz konkrete menschliche Solidarität mit den Schwachen in unserer Gesellschaft.Das Gefährliche für die politische Kultur unseres Landes ist die Tatsache, daß Rentner, behinderte Menschen und kinderreiche Familien mit ihren Ansprüchen oft jahrelang vertröstet werden, daß aber derselbe Staat, der ihnen Verzicht zumutet, selbst vor kleinsten Gruppen zurückweicht, wenn diese zum offenen Konflikt bereit sind.
Dieses Verhalten, Herr Bundeskanzler, untergräbt auf die Dauer die innere Verfassung unserer Demokratie, weil es eine Prämie auf die Politik der Ellenbogen setzt. Es produziert Unregierbarkeit und ge-
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Dr. Kohlfährdet den inneren Frieden, weil es der jungen Generation die Erfahrung vermittelt, daß eine Forderung politisch um so erfolgreicher durchzusetzen ist, je radikaler, je brutaler sie vertreten wird.
Not, Elend, Vertreibung, Hunger und Tod von Millionen Menschen begegnen uns in schmerzlicher Direktheit beinahe täglich über die öffentlichen Medien. Wie können junge Mitbürger begreifen, daß es uns nicht möglich sein soll, wenigstens den Hunger und die unmittelbare Not zu überwinden, während hierzulande ein Berg an Überschußgütern produziert wird. Wenn es uns und den anderen wohlhabenderen Ländern nicht gelingt, dieses Problem zu lösen, dann wird manche Arbeit an klug durchdachten langfristigen Projekten der Wirtschaftsentwicklung, der Bildung und der Ausbildung, des Aufbaus von Genossenschaften und anderen wichtigen Vorhaben in diesen Ländern umsonst sein. Umsonst, weil eben solche Hilfe weder in der Dritten Welt noch hierzulande in ihrer guten Absicht wirklich verstanden und angenommen werden kann, solange andernorts noch Kinder kläglich an Hunger sterben. Auch dazu, Herr Bundeskanzler, hätte ich noch ein Wort von Ihnen erwartet. Auch hier vermisse ich in Ihrer Politik die menschliche Dimension.All die Themen, die ich jetzt ansprach, haben einen direkten Bezug zum Motto, zum Thema, Ihrer Regierungserklärung: Wer die Bürger zum Mut zur Zukunft auffordert, dessen Politik muß vor allem glaubhaft sein. Sie muß auch und vor allem in ihrer menschlichen Dimension überzeugen. Aber auch der leidenschaftlichste, beschwörende Appell an Pflichten und Tugenden, an Solidarität und Bürgersinn wird ohne Wirkung bleiben, wenn die Menschen für ihre bürgerlichen Tugenden nicht belohnt, sondern in Wahrheit im Alltag bestraft werden.Ich will dies an drei wichtigen Themen zeigen: Leistungsbereitschaft, Familie und Sozialstaat.Vieles deutet darauf hin, daß die Menschen unseres Landes — vor allem die junge Generation — das Leistungsprinzip zunehmend in Frage stellen. Aber ich bin zutiefst davon überzeugt, daß all diese Anzeichen abnehmender Leistungsbereitschaft überhaupt keinen grundsätzlichen Wertverfall ankündigen, sondern menschlich verständliche Reaktionen auf politisch zu verantwortende Fehlentwicklungen sind.
Meine Damen und Herren, die angemessene Gegenleistung für Mühe und Fleiß, für Pflichtbewußtsein und Verantwortungsbereitschaft, für Treue, Wissen und Können, wird den Bürgern unseres Landes heutzutage immer häufiger vorenthalten; denn der größte Feind individueller Leistung ist der bürokratisch bevormundende Steuer- und Abgabenstaat geworden.
Herr Bundeskanzler, das ist für unsere Mitbürger keine Theorie. Wer in diesen Tagen seine Weihnachtsgratifikation erhält, zahlt so viel Steuern, daß ihm jede Lust vergeht, sein Einkommen durch einMehr an Leistung, Verantwortung, Arbeitszeit und Mühe zu steigern.
Wenn Sie die Leistungsbereitschaft der Menschen herausfordern wollen, Herr Bundeskanzler, dann können Sie ihnen Mut machen, wenn Sie hier ansetzen; dann müssen Sie die Bremsklötze des Bürokratismus wegschaffen und Leistung wieder lohnend machen.
Ich finde es bedauerlich, Herr Bundeskanzler — lassen Sie mich auch das ganz offen sagen —, daß Sie sich das bißchen Rechtspolitik in Ihrem Regierungsprogramm offensichtlich von Herrn Baum diktieren ließen.
Wem es um die Liberalität in unserem Lande geht, der findet große und lohnende Aufgaben. Haben Sie doch endlich einmal den Mut, zu sagen, daß sich die Liberalität in unserem Lande nicht allein danach bemißt, wie frei sich etwa Anwälte von Terroristen fühlen können, sondern auch danach, wie der Staat mit seinen Bürgern insgesamt umgeht.
Verkehrsteilnehmern und Steuerzahlern, Bauherren und Gewerbetreibenden, Lehrern und Eltern begegnet der Staat zunehmend reglementierend und bevormundend, kontrollierend und — oft genug so empfunden — mit anmaßendem Mißtrauen.Hier, Herr Bundeskanzler, im Zentrum des bürgerlichen Lebens sind Freiheit, Vitalität und Leistungswille weit mehr bedroht als in den Randzonen unserer Gesellschaft. Und — ich sage das jetzt an unsere gemeinsame Adresse — was die Leistungsbereitschaft der jungen Generation, der Schüler, der Lehrlinge und Studenten anlangt, müssen wir uns alle fragen, ob wir in diesen 15 Jahren nicht schwere Fehler gemacht haben. Der Streit um Organisationsprobleme des Bildungswesens hat die langfristig wichtigen Fragen der Inhalte und der Ziele und der Menschlichkeit in Schulen und Hochschulen zum Schaden vieler Betroffener verdrängt.Meine Damen und Herren, wir müssen uns doch fragen, ob die Schulbildung, die heute angeboten wird, wirklich kindgerecht ist, ob Kinder in unseren Schulen nicht erst wieder das Lernen lernen sollten, ob wir wirklich alle Begabungen — auch die praktischen und die musischen Begabungen — junger Menschen fördern, ob wir ihnen wirklich das an Wissen und Können vermitteln, was sie später fähig macht, im Wettbewerb mit der jungen Generation anderer Länder zu bestehen. Wir haben zu lange und fruchtlos über „Gleichheit" oder „Gerechtigkeit" von Chancen, fürchte ich, gestritten. Jetzt kommt es vor allem wieder darauf an, daß die junge Generation überhaupt wieder eine Zukunftschance sieht.
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Dr. KohlIch finde, wir alle wären gut beraten, wenn wir die Bildungspolitik wieder mehr aus dem Geiste verantwortlich denkender Eltern gestalten würden.
Ich bin ganz sicher, daß wir der jungen Generation auf diese Weise sehr bald wieder etwas Besseres zu bieten hätten als die zutiefst deprimierende Wahl, Herr Bundeskanzler, zwischen Resignation und Anpassung.
— Sehen Sie, Herr Wehner, das ist j a eines der Probleme in diesem Hause, daß ein Sachverhalt, in dem klar gekennzeichnet ist, daß er uns alle betrifft, daß wir alle Fehler gemacht haben, von Ihnen gar nicht mehr aufgenommen werden kann, weil Sie so im Freund-Feind-Denken verhaftet sind.
Resignation, Herr Bundeskanzler, ist auch im Bereich der Familienpolitik der traurige Befund nach einem Jahrzehnt sozialistischer Regierungsverantwortung. Noch immer ist für die weit überwiegende Mehrzahl aller Menschen die Familie der selbstverständliche Mittelpunkt ihres Lebens, der wichtigste Ort individueller Geborgenheit und Sinnvermittlung.Rechtlich, materiell und psychologisch hat Ihre Politik die Familien immer weiter ins soziale Abseits gedrängt. Sie sollten nicht länger unbeachtet lassen, Herr Bundeskanzler, daß Sie gegenüber der Familie in der Pflicht unserer Verfassung stehen. Wir haben schon vor der Wahl erklärt, daß trotz der angespannten Haushaltslage die Familie der Schwerpunkt unserer Sozialpolitik sein wird. Zu dieser Aussage stehen wir selbstverständlich auch heute.
Wenn wir uns für das Erziehungsgeld, die Partnerrente und die Anrechnung von Erziehungszeiten im Rentenrecht einsetzen, dann ist schon heute abzusehen, daß die Koalition versuchen wird, all dies mit dem Hinweis auf die Kassenlage abzublocken.Richtig ist nur so viel: Die Belastung der Bürger mit Sozialabgaben hat die Grenze des Zumutbaren erreicht. Aber diese Tatsache kann den Staat nicht aus seiner sozialen Verantwortung für die Schwachen und die bisher vernachlässigten Gruppen in unserer Gesellschaft entlassen. Es geht nicht um den ungehemmten quantitativen Ausbau eines Versorgungsstaates, sondern um die qualitativ bessere Ausgestaltung unseres Sozialstaates.
Mehr Gerechtigkeit und mehr Menschlichkeit in unserem Sozialstaat sind keine Frage der finanziellen Zuwächse. Statt dessen gilt es, den beiden Grundprinzipien des Sozialstaates wieder volle Geltung zu verschaffen: mitmenschlicher Solidarität und Subsidiarität.Der Hauptmangel unseres Sozialstaates ist, daß er die gewachsenen Solidargemeinschaften immer weiter verdrängt und die Menschen in Not undSchwäche einer anonymen, kostspieligen und oft ahnungslosen Versorgungsbürokratie überantwortet, einer Bürokratie von Großorganisationen, der gerade die Schwachen und Bedürftigen oft genug hilf- und ratlos gegenüberstehen. Es ist eine der Absurditäten des bürokratischen Versorgungsstaates, daß er für die wirklich Schwachen zum unübersehbaren Dschungel wird, während er für die besonders Raffinierten eine große Quelle von Bereicherungsmöglichkeiten bietet.
Es gibt im Alltag unseres Sozialstaates Besitzstände und Ausbeutung, die dem Prinzip der Solidarität scharf widersprechen: fehlbelegte Sozialwohnungen, unechte Arbeitslosigkeit, Krankfeiern, Ausbeuten überholter Steuerprivilegien und Subventionen, die längst Sinn und Zweck verloren haben. Was viele der redlichen und bescheidenen Bürger immer wieder deprimiert, das sind die Hemmungslosigkeit und der Erfolg, mit dem immer mehr Menschen bei uns den Wohlfahrtsstaat in Anspruch nehmen und ausbeuten.
Die Politik muß endlich den Mut aufbringen, von dieser unheilvollen Entwicklung Kenntnis zu nehmen und ihr Einhalt zu gebieten, weil es unverantwortlich wäre, in Kenntnis solcher Ausbeutungstatbestände andere, berechtigte Ansprüche abzuweisen, weil angeblich kein Geld da ist.Es gibt noch viel zu tun: für die Familien, für die Gleichstellung der Frauen bei der Hinterbliebenenversorgung, für die behinderten Menschen und für die soziale Integration unserer ausländischen Mitbürger.Ich stimme in diesem Zusammenhang der Regierungserklärung ausdrücklich und nachdrücklich zu.
All dies kostet Geld. Aber der Sozialhaushalt in unserem Land hat die Grenze erreicht, jenseits derer die Soziallasten für die Allgemeinheit unerträglich werden. Wir müssen also mit den vorhandenen Mitteln sparsamer, gerechter und kritischer haushalten. Wir müssen fähig sein, Besitzstände zu überprüfen. Wir müssen neue Prioritäten setzen. Dies gilt übrigens nicht nur für die Sozialpolitik, sondern für die gesamte Politik.Wer das „soziale Demontage" nennt und jedes Nachdenken verweigert, der muß sich fragen lassen, wie er es mit seinem Gewissen vereinbart, wenn deshalb andere Gruppen auch weiterhin im sozialen Abseits, „draußen vor der Tür", bleiben müßten.
Wir stehen am Anfang einer Legislaturperiode,
die unseren Staat — das gilt für alle Bereiche der Politik — ernsten Belastungs- und Bewährungsproben aussetzen wird.
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Dr. KohlIn dieser Lage erhebt sich für uns alle — ob für die Regierung oder die Opposition — die zentrale Frage, die lautet: Was erwarten die Bürger von uns, ihren gewählten Vertretern, in den kommenden Jahren?Nach dem Bundestagswahlkampf, der hinter uns liegt, gibt es Anlaß genug, über diese Fragen nachzudenken und sie zu beantworten. Der Wahlkampf 1980 hat wie keiner zuvor den inneren Frieden der Bundesrepublik Deutschland belastet. Ohne inneren Frieden — das ist die einprägsame Lehre der Geschichte — ist die parlamentarische Demokratie auf die Dauer nicht lebensfähig. Wir brauchen nur auf die erste deutsche Republik von Weimar und ihre Agonie zu blicken, um zu wissen, daß dem Verfall des inneren Friedens der Verfall des freiheitlichen Staates folgt.Wenn wir, die gewählten Vertreter des Volkes, unserer demokratischen Verantwortung gegenüber Volk und Staat gerecht werden wollen, dann müssen wir alle — bei allem Streit um den besseren Weg, die bessere Lösung in der Politik — immer darauf bedacht sein, aus diesem Streit niemals einen Glaubenskrieg mit dem Willen zur moralischen Vernichtung des Andersdenkenden werden zu lassen.
— Auch Ihr Zwischenruf kann mich nicht abhalten, das jetzt Folgende zu sagen, Herr Wehner.
Dies gilt für uns alle, dies gilt auch für mich und meine politischen Freunde: Wenn die politischen Parteien in der parlamentarischen Demokratie darauf verzichten, den Gegner zu dämonisieren,
dann ist das ein Beitrag zum inneren Frieden unddamit zum Erhalt der parlamentarischen Demokratie.
Der Bürger erwartet von den Parteien des Bundestages gewiß nicht, daß sie in den vor uns liegenden Jahren die Grenzlinien, die zwischen ihnen verlaufen, verwischen und Auseinandersetzungen in der Sache kleinschreiben. Aber was er von ihnen erwartet und auch erwarten darf, ist dies: Achtung voreinander und weniger Kälte im Umgang miteinander, mehr Bereitschaft, einander zuzuhören
und — notwendigerweise auch — das Gemeinsame über das Trennende zu stellen. Nun, was ist uns allen gemeinsam? In seiner letzten öffentlichen Rede hat Konrad Adenauer gesagt — er hat dieses Wort an alle Demokraten in unserem Lande gerichtet —, entscheidend sei die Liebe zu unserem Volk. Lassen Sie uns im Geiste dieser Mahnung an die Arbeit gehen — zum Wohle unseres Volkes! In diesem Sinne, Herr Bundeskanzler, wünschen wir Ihnen für die vor uns liegenden Jahre Erfolg für unser Vaterland.
Das Wort hat Herr Abgeordneter Brandt.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der erste Mann der Opposition in diesem Hause
hat am vergangenen Sonntag, am Vorabend der Abgabe der Regierungserklärung, die Rolle der Opposition durch drei Begriffe gekennzeichnet: Kontrolle, Kritik, Alternativen. Ich habe den Eindruck: Die Alternativen sind noch nicht so stark durchgekommen wie die Kritik.
Im englischen Unterhaus würde man jetzt sagen, Herr Kohl: My honourable friend hat sich eine Chance entgehen lassen. Sie wissen j a selbst, wie das ist — es fängt auf der Schule an und setzt sich später fort —: Keine Sache ist so gut, als daß sie nicht kritikfähig wäre. Manchmal möchte man sein eigener Kritiker sein. Aber das können wir Ihnen nicht noch abnehmen, denn wir kriegen — wie alle anderen — auch nur einmal Diäten und nicht die für die Opposition dazu.Ich würde es sehr begrüßen, wenn man sich hier an den Vorsatz hielte, der ja wohl doch durchklang, nicht permanenten Wahlkampf zu betreiben. Was unser Volk von uns erwartet, ist nämlich etwas anderes: nicht Dinge zu verwischen, nichts unter den Teppich zu kehren, aber miteinander zu wetteifern, wo es um die Lebensbedingungen geht, um die vitalen Interessen unserer Menschen, um die Sicherung ihrer Zukunft. Darum müssen wir miteinander wetteifern.
Dafür gewähren wir der Regierung unsere Unterstützung, und dazu bieten wir allen Teilen dieses Hauses, so dies möglich ist, unsere Zusammenarbeit an.Wir stehen natürlich zu den Vereinbarungen mit unserem Koalitionspartner, den Kollegen von der Freien Demokratischen Partei.Die Regierungserklärung vorgestern hatte den großen Vorteil — ich habe mich ein bißchen erkundigt —, daß sie von denen, die zuhörten, nicht nur hier, gut verstanden werden konnte,
— wissen Sie: in den Betrieben und am Kochherd manchmal noch ein bißchen besser als bei manchen hochgestochenen Kommentatoren.
Ich will gerne vorweg sagen: Die 16 Millionen sozialdemokratischer Wähler am 5. Oktober
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Brandtsollen wissen: Wir kennen ihren Auftrag, ihre Interessen, ihre Wünsche. Hier gibt es keine Abkehr von der Politik der realistischen Friedenssicherung,
keine Abkehr von einer Politik der Reformen, durch die dem Auftrag des Grundgesetzes, den demokratischen und sozialen Bundesstaat zu gestalten, Rechnung getragen werden soll.
Hier gibt es keinen Schnitt ins soziale Netz und keine Gefährdung der Renten.
Hier gibt es auch keinen Ausstieg aus der Mitverantwortung dafür, einen Zustand unter den jeweiligen weltpolitischen Bedingungen zu erreichen, durch den man dem Ziel der Vollbeschäftigung so nahe wie irgend möglich kommt.
Nein, hier gibt es keinen antisozialen Rechtsruck. Das wäre, von der Vernunft oder Unvernunft abgesehen, auch gegen den Wählerauftrag; denn die Wähler in der Bundesrepublik Deutschland haben eben am 5. Oktober mehrheitlich gegen Strauß, also gegen rechts, gestimmt.
Die Opposition spricht — das ist naheliegend, nicht nur ihr gutes Recht; alles hier zu sagen, ist ihr gutes Recht —, wenn es um die Regierungserklärung geht, wenn eine neue Legislaturperiode beginnt, von der Stunde der Wahrheit. Das haben wir auch gemacht. Darüber braucht es keinen Streit zu geben. Aber dann wollen wir, bitte, wo es um die Wahrheiten im einzelnen geht, auch nicht einfach in Schlagworte der vergangenen Monate zurückfallen!
Ich hätte es begrüßt, wenn der Führer der Opposition an vier Feststellungen zur Bestandsaufnahme — dann kommt immer noch das, was mit den zusätzlichen Aufgaben zusammenhängt —, wenn der Führer der Opposition an vier wesentlichen Feststellungen zur Bestandsaufnahme — und das war ja ein Wort dieser Wochen — nicht vorübergegangen wäre.Erstens. In der Regierungsklärung heißt es:Kaum ein Land der Welt hat zugleich so niedrige Arbeitslosenziffern, so niedrigen Preisaufstieg und ein so hohes Reallohn- und Rentenniveau wie unser Land.Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen, keiner vergibt sich doch etwas, wenn er zugibt: So ist das. — Das ist ja beileibe nicht nur das Verdienst einer Regierung, sondern es ist das Werk eines Volkes in der Bundesrepublik Deutschland.
Es wäre doch aller Mühen wert, das zu sichern, was wir erreicht haben, um darauf dann weiter aufbauen zu können.Zweitens. Die Regierungserklärung sagt:Die Rentenversorgung ... befindet sich derzeit dank der Konsolidierungsmaßnahmen im Gleichgewicht. Die Rentenleistungen der letzten Jahre sind höher, als sie jemals vorher in Deutschland gewesen sind. Von 1969 bis heute— das ist ja ein Zeitpunkt, der uns im engeren Sinne angeht —sind die Renten real um 45 % gestiegen, die Nettoeinkommen der aktiven Arbeitnehmer— was die Ziffern angeht, gibt es sicher keinen Streit —real nur um 32 %. Und „real" heißt ja: nach Abzug aller Preissteigerungen.
Meine Damen und Herren, keiner vergibt sich etwas, wenn er zugibt: Ja, so ist es, wie der Bundeskanzler, wie die Regierung es hier gesagt hat.
Wir wollen uns alle Mühe geben, die Reform zur Gleichstellung die wir ja schon des Auftrages des Verfassungsgerichts wegen durchführen müssen, so gerecht wie möglich zu gestalten. Ein sozialdemokratisches Konzept dazu gibt es. Es liegt auf dem Tisch. Es schließt auch die schwierige, aber notwendige Entwicklung hin zur Mindestrente ein.Drittens. Zur Kreditaufnahme heißt es in der Regierungserklärung:Die Nettokreditaufnahme soll mit ungefähr 27 Milliarden DM diejenige des Jahres 1980 nicht überschreiten. Damit halten wir uns exakt an die Linie, die wir vor der Wahl aufgezeigt haben, die der Finanzplanungsrat am 4. Juli letzten Sommers empfohlen hatte. Wir tun heute das, was im Sommer angekündigt war.
Keiner vergibt sich etwas, wenn er zugibt:
Regierung und Koalition halten sich an das, womit sie vor die Wähler getreten sind. Herr Kohl war gut beraten, daß er den Ausdruck „Wählertäuschung" in seiner heutigen Rede nicht gebraucht hat.
Viertens. Zur Schuldenfrage wird in der Regierungserklärung gesagt:Bei einem internationalen Vergleich steht die Bundesrepublik . günstig da. .. Von Ende 1969 bis Ende 1979 hat der Bund insgesamt 148 Milliarden DM netto an Krediten aufgenommen.Der Bundeskanzler und ich sind uns sicher darübereinig: Auch wenn man hier gelernt hat, Milliarden
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Brandtauf Millionen herunterzurechnen, ist das, was das Ollenhauer-Haus zu machen hat, vergleichsweise ein kleiner Klacks. Wir beide tragen unsere Art von formaler Verantwortung dafür, daß wir mit unseren Dingen wieder in Ordnung kommen. Im selben Zeitraum, von dem ich hier spreche, hat der Staat aber mehr als 230 Milliarden DM für Investitionen ausgegeben, und zwar zusätzlich zu den 140 Milliarden DM, die vom Bund an die Länder geflossen sind. Es hat überhaupt keinen Sinn, die Schwierigkeiten der vor uns liegenden Jahre zu verniedlichen. Darin stimme ich mit Herrn Kohl, was die Art, sich dem Problem zu nähern, angeht, überein. Aber noch unsinniger wäre es, ein Gift der Verunsicherung um sich greifen zu lassen. Wir Sozialdemokraten sehen unsere Aufgabe so, daß wir die Chancen aufzeigen, die allen Schwierigkeiten zum Trotz vor unserem Volk liegen, und daß wir ihm nicht nur sagen, was gewissermaßen von oben her auf sie zukommt, sondern daß wir an die vielen einzelnen und die Gruppen, die die Dinge mit nach vorn bewegen wollen, appellieren, solidarisch und ausgewogen zu handeln.Die finanziellen Grenzen für viele Felder der Politik, worüber Vater Staat — heute ist das eine ganze Anzahl der für die staatlichen Ebenen Verantwortlichen, aber sagen wir einmal wie in alten Tagen, „Vater Staat" — verfügen kann, sind in den nächsten Jahren bekanntermaßen eng. Unter diesen Bedingungen wird ein Doppelprinzip eine noch stärkere Bedeutung als schon bisher erhalten müssen. Ich meine die rationelle und gerechte Verteilung der vorhandenen Mittel. Gerechtigkeit ist einer unserer Grundwerte. Die Rationalität des Mitteleinsatzes ist damit eng verknüpft. Wir wissen, wieviel Kraft das fordert. Hier geht es auch — ich sage es ganz offen, Herr Bundeskanzler — weiterhin um Mut zur Auseinandersetzung mit veralteten Besitzständen und verkrusteten Strukturen.
Ich möchte je drei Aufgabenfelder besprechen, die mit dem Frieden nach außen und dem Frieden nach innen zu tun haben. Themen, die ich nicht berühre oder nur andeute, werden von meinen Kollegen in der Debatte aufgegriffen, und irgendeine unterschiedliche Wertigkeit ist damit nicht verbunden.Wo es um unsere Stellung in der Welt geht, da stelle ich die Frage — natürlich über Strecken hinweg gar nicht so weit entfernt von- meinem Vorredner, in Teilen aber mit unterschiedlichen Akzenten — nach dem gegenwärtigen Ost-West-Verhältnis und damit nach Krieg und Frieden, nach nicht mehr und nicht weniger. Ich denke, wir brauchen uns hier weder zu überzeugen noch gar zu übertrumpfen, wo es um die Kennzeichnung des Ernstes der internationalen Lage geht. Das Verhältnis zwischen den Weltmächten und ihren Blöcken hat sich in besorgniserregender Weise verschlechtert. Das ist durch Afghanistan besonders deutlich geworden, zu dem eine noch größere Mehrheit der Vereinten Nationen als das vorige Mal gesagt hat: Das kann so nicht bleiben; die militärische Intervention muß zu Ende gebracht werden.
Der Prozeß der gesamteuropäischen Zusammenarbeit hat noch lange nicht zu Fortschritten auf dem Gebiet der militärischen Sicherheit geführt. Der Rüstungswettlauf ist weitergegangen, die Bemühungen um Rüstungskontrolle haben nicht zu wirklichen Fortschritten geführt.
Es gibt zahlreiche Krisenherde außerhalb Europas. Man muß heute den Persischen Golf an erster Stelle nennen, aber immer noch den Nahen Osten an zweiter Stelle, und man kann Südostasien und man kann das südliche Afrika, man kann aber auch Zentralamerika hinzufügen, um zu sagen: Diese zahlreichen Krisenherde außerhalb Europas würden jeder für sich bei einer weiteren Verschärfung der Ost-WestRivalität die Welt in einen globalen Krieg führen können.Meine Damen und Herren, nun meinen manche, das Problem sei damit gelöst, daß man feststelle, die Entspannung sei tot.
Es mag ja sein, wenn sich die Beteiligten entsprechend verhalten, daß die Politik der Entspannung diese Jahre nicht überleben wird. Aber als Alternative bliebe mit großer Wahrscheinlichkeit nur die eine oder andere Form von Katastrophe; denn der Rückfall in den Kalten Krieg würde viel mehr bedeuten als nur die Rückkehr zur bedrohlichen Lage der 50er Jahre.
Seitdem hat das Wettrüsten zu einer Ansammlung von Kriegspotentialen geführt, die in einer Zeit verschärfter Spannungen in sich selbst ein zusätzliches ungeheures Sicherheitsrisiko darstellen.
Die Kriegsmaschine bedeutet vor allem dann die Gefahr des gewissermaßen technokratisch ausgelösten, also politisch nicht mehr beeinflußbaren Krieges, wenn es an einem Mindestmaß an Vertrauen fehlt, und der Kalte Krieg ist eben ein Zustand wuchernden Mißtrauens.Meine Damen und Herren, wir Deutschen haben ein ganz besonderes Interesse daran, daß Ost und West nicht völlig auseinanderdriften. Wir, gerade wir auf Grund unserer Lage und als geteiltes Land im geteilten Europa brauchen, wenn es irgend geht, Rüstungsbegrenzung, um zu verhindern, wie vorgestern noch durch den Bundeskanzler ausgeführt, daß die Welt sich buchstäblich zu Tode rüstet, und um eines nicht zu fernen Tages, füge ich hinzu, frei werdende Ressourcen für Zwecke der Entwicklung in der Welt umlenken zu können.
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BrandtEntspannung in unserem Sinne, auch im Sinne der Verträge, um die wir gestritten haben, ist nicht auf Wunschdenken basiert, sondern ist rational. Sie handelt von gemeinsamen Interessen — bei allen sonstigen Gegensätzlichkeiten. Sie ist kein Ergebnis, sondern in sich selbst ein widerspruchsvoller Prozeß, und es geht, so wichtig das manchmal ist, nicht um die Regelung noch so wichtiger technischer Fragen; es geht in Wirklichkeit darum, daß sich der politische Wille zur Rüstungsbegrenzung durchsetzt und wenn möglich zur Abrüstung. Das heißt, Herr Kollege Kohl, hier gibt es viel, denke ich, was miteinander kritisch überprüft und hoffentlich auch konstruktiv voranbewegt werden könnte, aber wirklich nicht — das kann ich guten Gewissens sagen — im Gegensatz zu einer Politik, die, wie wir es getan haben und tun, Sicherheit in ihren vielfältigen Dimensionen sieht.Die Verträge, die hier so hart umstritten waren, stehen nicht zur Disposition. Wir gehen hinter die Verträge nicht zurück.
In der Tat, es wäre gut, wenn wesentliche Bereiche der Außenpolitik aus dem zugespitzten Parteienstreit herausgenommen werden könnten. Aber Gemeinsamkeit kann ja auch nicht heißen, daß wir uns nachträglich der Linie anschließen, die durch Herrn Strauß vertreten war. Die hat beim Wähler nicht genügend Unterstützung gefunden. Und manche Kollegen innerhalb der Union möchten j a auch aus der Sterilität heraus, die dadurch zum Ausdruck kam. Kein Wunschdenken, nein, Herr Kollege Kohl. Aber: Verträge halten, auch Beschlüsse des Bündnisses halten, um die es — wie wir vorgestern gehört haben — immer mit geht.Gleichgewicht — so haben wir gehört, und das ist j a auch so — gibt es nicht ohne verläßlichen Frieden; aber das sei auch noch nicht alles. Was die Sache natürlich so schwierig macht, ist, daß es zunehmend — auch unter den Fachleuten — Definitionsschwierigkeiten darüber geben wird: was ist das eigentlich, „militärisches Gleichgewicht", und wie wird zusammengerechnet? Das kann ich jetzt nicht behandeln. Ich will jedenfalls sagen: Ohne die Vereinigten Staaten gibt es ein wie immer definiertes militärisches Gleichgewicht nicht. Deshalb — auch deshalb — hängt so viel von unserem Verhältnis zu den Vereinigten Staaten ab.
Ich bin da ohne Komplexe, Herr Kollege Kohl. Ich habe seit meiner Zeit als Berliner Bürgermeister mit Präsidenten und Administrationen mal der einen, mal der anderen Partei zu tun gehabt. Das Berlin-Abkommen, auf das ich gleich noch komme, ist ja auch unter und mit einem republikanischen Präsidenten zustande gekommen. Wir haben da keine Probleme.
Aber ich darf einmal einen anderen Punkt mit hineinbringen. Wir haben damals, Anfang der 70er Jahre, Herr Kollege Kohl, gesagt: Die große Feier der Vereinigten Staaten — damals — benutzen wir, um einen Beitrag zu leisten. Ehmke hat mir wesentlich dabei geholfen, andere haben geholfen. Wir haben sehr viele Mittel in Übereinstimmung mit Ihnen für den German Marshall Fund aufgewandt. Heute sage ich — und ich bitte, darüber nachzudenken —: Wenn von einer — ich zitiere — „ständigen, fruchtbaren Zusammenarbeit mit den Vereinigten Staaten" die Rede ist, dann sollten wir auch darüber nachdenken, was wir tun können, um das gegenseitige Kennenlernen vieler aus der jungen Generation zu fördern, — vieler aus der jungen Generation.
Das läßt sich nicht einfach kopieren, wenn man den deutsch-französischen Vertrag zugrunde legt. Aber keiner von uns wird hier bestreiten, daß er, nämlich der Teil des Deutsch-Französischen Jugendwerks, insgesamt ein großer Erfolg gewesen ist. Ich werfe den Stein ins Wasser: für die dort, für Sie dort und für meine Fraktion.Womit man jedoch, Herr Kollege Kohl, unserem Staat und den Interessen unseres Volkes nicht hilft, das ist der — wenn auch heute abgeschwächt formulierte — Eindruck, wir hätten in der Allianz unsere Pflicht nicht getan. Ich möchte nicht, daß wir in die Lage kommen, hier einmal wirklich nebeneinanderzustellen, wer was geleistet hat in diesen Jahren, wer wann immer zu seinen Verpflichtungen gestanden hat. Aber richtig ist eben auch das, was Bundeskanzler Schmidt sagt: Wir dürfen uns nicht größer machen, als wir sind — was für mich übrigens nie ein Problem nur des Verhältnisses zum Osten war. Es gibt auch eine spezifische Größe der Bundesrepublik Deutschland im Verhältnis zum Westen, die andere, wenn sie Geld von uns haben wollen, nicht immer gleich so rasch erkennen, wie wir sie erkennen müssen.
Ich möchte mich heute nicht auf eine törichte Diskussion über Prozente einlassen. Wir werden ja noch eine Haushaltsdebatte haben. Ich will nur einmal allgemein — für alle beteiligten Staaten — sagen: Es wäre wohl eine Illusion, zu meinen, daß sich dann, wenn — was ich j a nicht hoffe — über Jahre alles stagniere, allein die militärischen Sektoren durch Wachstum auszeichnen könnten.
Zur Bundeswehr, meine Kollegen von den Unionsparteien, in aller Bescheidenheit: Sozialdemokraten haben entscheidende Beiträge geleistet, um die Streitkräfte der Bundesrepublik Deutschland unlösbar in die demokratische Grundordnung einzubinden. Diese Bundeswehr ist die Armee unserer Demokratie, vom Volk getragen, vom Parlament gegründet und von der Regierung geführt.
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BrandtEs ist auch dem Wirken von drei sozialdemokratischen Bundesministern der Verteidigung zu verdanken, wenn die Bundeswehr zu einer Armee von Demokraten in einer funktionierenden Demokratie geworden ist — und außerdem natürlich noch, was für andere manchmal noch wichtiger ist — zu einem angesehenen Partner im Atlantischen Bündnis.
Die notwendige Abrüstungsdiskussion darf nicht auf dem Rücken der deutschen Soldaten ausgetragen werden.
Soldatendienst ist notwendiger Waffendienst für den Frieden.
Mein Parteivorstand hat zusätzlich erklärt, er habe Verständnis dafür, daß gerade jungen Bürgern bestimmte traditionelle militärische Formen fremd und unverständlich erscheinen. Das gilt ja — seien wir ehrlich — auch für andere Formen der Traditionspflege in unserem Lande. Ich merke das immer am deutlichsten, Herr Kohl, wenn ich mich an die frühen 60er Jahre erinnere. Da ging ich ins OlympiaStadion, wo die Bereitschaftspolizei einen Zapfenstreich hinlegte; da war alles dran. Da ging ein Raunen der Bewunderung durch die Reihen, und auf den Gesichtern der Alliierten war blanker Neid. Keinem von uns — auch niemandem von unseren jungen Freunden — wäre es damals in den Sinn gekommen, darin etwas Schlechtes zu sehen. Heute sehen viele das anders.Übrigens schlagen sich — das sage ich jetzt einer christlich-demokratischen Partei — selbst die Kirchen, viel ältere Institutionen, mit dem Problem ihrer Traditionen herum. Ist das nicht so? Also bin ich Bundesminister Apel dafür dankbar, daß er keinen Zweifel an dem, was die Bundeswehr ist und sein muß, aufkommen läßt, keinen Zweifel daran, was Dienst dort ist und sein muß, zugleich aber sagt: Über die Formen der Traditionspflege muß man reden können.
Und darüber wollen wir denn auch reden.Wir müssen wirklich gemeinsam mit unseren Partnern zu Verhandlungen über ein stabiles militärisches Gleichgewicht auf niedrigerem Niveau kommen. Das ist der Kurs, dem wir bei den interkontinentalen strategischen Vernichtungsmaschinen voll und ganz zustimmen. Das gilt aber für uns Deutsche auch und gerade für die Waffen, die man beschönigend „nichtstrategische", allenfalls „eurostrategische" genannt hat. Die haben es ja auch in sich: die SS-20 drüben und das andere, was hier kommen wird, wenn nicht noch Verhandlungen aufgenommen werden und auch etwas erbringen.Wir kennen das alles. Unser Volk nimmt zunehmend zur Kenntnis: jeden Tag auf der Welt 2 Milliarden DM für Rüstung, im Jahr über 500 Milliarden Dollar für Rüstungen. Da sage ich ebenso simpel wie gravierend — ohne daß uns dies im Moment für unsere Disposition hilft, es ist doch wahr —: Mehr Waffen machen die Menschheit nicht sicherer, sie machen die Menschheit nur ärmer.
Ich wollte die Frage nach dem Verhältnis zwischen Nord und Süd und damit danach stellen, ob der Welthunger sich verschlimmern oder ob neue Partnerschaft Platz greifen soll. Die Beziehungen zwischen Nord und Süd haben sich weiter verschlechtert. Zu viele Verantwortliche denken noch immer in den Kategorien von Macht und staatlicher oder ökonomischer Überlegenheit.Was wir statt dessen brauchen, das ist das ernste Bemühen angesichts der offenbaren Gefahren, jene verbindenden Interessen herauszufiltern, die zu gemeinsamem Handeln mit fairen Kompromissen herausfordern, ohne dabei bestehende Konflikte, die ja zum großen Teil weiterwirken werden, unter den Teppich zu kehren.Um ein faires Reformprogramm, Herr Bundeskanzler, hat sich die Kommission bemüht, die Sie beiläufig erwähnten und der ich zwei Jahre vorgesessen habe, die ja auch in den Vereinten Nationen mittlerweile Beachtung gefunden hat, auch bei vielen in den Kirchen, zuletzt bei Papst Johannes Paul II. in seiner Brühler Rede, was ich sehr wohl als hilfreich empfunden habe.Wenn wir von den Empfindungen der Jungen im Lande sprechen: Die moralischen Herausforderungen der Jungen werden immer bewußter, und die Friedensdimension kommt hinzu. Die Älteren von uns haben schon zweimal erlebt — ich das erste Mal als kleiner Junge —, wie aus Krieg Hunger wird. Die Jungen könnten einmal erleben, daß aus Massenhunger Krieg wird. Das ist die neue Friedensdimension. Das eigene Interesse nicht nur an Öl und Rohstoffen, sondern auch am Wirtschaftsaustausch und der Belebung des internationalen Warenverkehrs kommt hinzu, so sehr man, füge ich dann allerdings auch hinzu, nicht nur unserer Textilarbeiter wegen, aber auch ihretwegen, um vernünftige Anpassungen bemüht sein muß. Einfach zu rufen „freier Welthandel!" ist allein nicht genug. Man muß für Anpassung sorgen und für ein richtiges Tempo. Die Anpassung gegenüber den Herausforderungen der Dritten Welt ist nicht zu lösen von der Notwendigkeit der Strukturpolitik innerhalb der Bundesrepublik Deutschland.
Ich hoffe, daß etwas bei der Spitzenbegegnung in Mexiko herauskommt. Ich habe die mexikanische und die österreichische Regierung ermutigt. Wir erleben ja alle, wie diese Mammutkonferenzen nicht viel bringen. Vielleicht kann eine Zusammenkunft in begrenzterem Kreis mit den Chefs selbst dazu führen, daß Impulse auch für die Verhandlungen innerhalb der Vereinten Nationen von dort ausgehen, denn sonst kommen die nicht voran.Ich möchte noch zwei ergänzende Hinweise geben. Auch wenn die Rahmenbedingungen ungünstiger geworden sind, auch wenn die Meßlatte mit den vielzitierten 0,7 % des Bruttosozialprodukts unbefrie-Brandtdigend und sogar irreführend in bestimmten Situationen sein kann — ich meine, das kommt ja auch auf bescheidene Weise mit der Zusage: „Das wird stärker steigen als anderes" zum Ausdruck —: Wir Deutschen müssen dem nacheifern, was die Skandinavier und die Holländer für ihre Länder möglich gemacht haben.
Goldrichtig ist, was an zwei Schwerpunkten genannt wurde, nämlich den anderen bei der Entwicklung neuer Energiequellen und beim Aufbau einer unabhängigen Ernährungsbasis zu helfen. Da kann man meistens mehr machen, als wenn man Überschußprodukte wohin schickt; jedenfalls wird das letztere teurer.Zwei oder drei gezielte Bemerkungen, bevor ich „Nord-Süd" verlasse. Im Nahen Osten bleiben die deutschen Sozialdemokraten an der Seite derer, die sich um eine tragfähige Friedenslösung bemühen. Die muß aus dreierlei bestehen: gesicherte Existenz des Staates Israel, Verwirklichung der Rechte des palästinensischen Volkes und drittens Friedensverträge in der Region und mit dieser.
In Afrika geht es, Herr Bundeskanzler, Herr Bundesaußenminister, ja offensichtlich nicht mehr nur um Freiheit für Namibia. Aber die ist endlich geboten. Ich halte es für vernünftig, daß die Regierung, die j a auch sonst schon nicht ganz außen vor war, die Befreiungsbewegungen jetzt auch in aller Form zur Kenntnis nimmt, offensichtlich ohne Widerspruch der Opposition, was ja nicht immer so gewesen ist.
In Lateinamerika gibt es vieles zu beklagen. Das ist ja eine Welt, in der es überhaupt mehr zu beklagen als zu begrüßen gibt. Ich wende mich trotzdem in diesem Augenblick noch einmal leidenschaftlich gegen die Militärherrschaft der Rauschgiftgeneräle in Bolivien.
und gegen solche in Zentralamerika, die geneigt sein könnten, den Präsidentenwechsel in den USA nicht nur voreilig, sondern auch sehr eigenwillig zu interpretieren.Schließlich — auch wenn es schon gesagt ist, Herr Bundeskanzler — wollen die Sozialdemokraten, wo es um Südkorea geht, durch mich noch einmal gesagt haben: Kim Dae Jung darf nicht zu Tode gebracht werden.
Europas Aufgabe ist es, so meine ich, als Macht des Ausgleichs und des Friedens in der Welt zu wirken. Niemand darf sich wundern, wie schwierig das immer noch ist.Der Bundeskanzler hat eine Leistungsbilanz gemacht, und die schließt mit dem Wort „Fortschritte". Ich kann das verstehen; das ist eigentlich ein bißchen kühn. Denn was bedeutet es jetzt konkret, mit der europäischen Zusammenarbeit und Einigung voranzukommen? Das heißt zunächst, daß sich die Europäische Gemeinschaft selbst in die Lage versetzt, mit den ökonomischen und politischen Fragen der bevorstehenden Erweiterung um Griechenland, Spanien, Portugal fertig zu werden. Die Strukturen, die schon für die Sechsergemeinschaft kaum ausreichend waren und die Neunergemeinschaft nicht mehr wirklich verkrafteten, müssen — und das muß der Ministerrat wissen — für eine Zwölfergemeinschaft wesentlich reformiert werden.Das betrifft schon die Funktionsweise der Organe, also das Zusammenspiel von Rat, Kommission und Parlament. Die Institutionen arbeiten noch immer zuviel aneinander vorbei und scheinen selbst über ihre Rolle im europäischen Einigungsprozeß im unklaren zu sein.Herr Kollege Kohl hat sich zu allgemein zum Europäischen Parlament geäußert: daß da neue Themen hineinkommen. Herr Bundeskanzler und Herr Bundesaußenminister, Sie haben mit den anderen zusammen den Prozeß auf den Weg gebracht, daß gewählt werden konnte. Es bleibt Ihnen und den anderen Regierungen nicht erspart, mit uns darüber nachzudenken, was so ein direkt gewählter Verein eigentlich tun soll,
außer daß er sich mit allen möglichen Themen in der Welt befaßt. Und wenn man ganz bescheiden ist: Soll das Parlament in Zukunft etwas zu sagen haben auch nur über seinen Arbeitssitz, oder will der Ministerrat es weiter wie einen Wanderzirkus zwischen drei Städten hin- und herziehen lassen?
Die Notwendigkeit einer Reform des Agrarmarktes ist nicht zu bestreiten. Ich will nur eines klarstellen: Die SPD hat sich da ja vor der Regierungserklärung sehr viel Mühe gemacht. Wenn wir sagen: Das geht so nicht weiter, dann sagen wir dies auch im Interesse der deutschen Bauern, der bäuerlichen Familienbetriebe, die wir erhalten wollen.
Aber genau die würden Schaden leiden, wenn die europäische Agrarpolitik an ihren Unsinnigkeiten erstickt.
Es geht nicht an, daß mit dem Geld der europäischen Steuerzahler so unvernünftig umgegangen wird und für andere wichtige Aufgaben kaum Mittel zur Verfügung stehen.Meine Damen und Herren, die Überprüfungskonferenz — das gilt für ganz Europa — in Madrid hat fast mit einem Skandal begonnen. Noch weiß niemand, was daraus wird. Nun hat j a wohl in Wirklichkeit — auch wenn wir hier und da nicht allzu pessimistisch waren — niemand ernsthaft damit gerechnet, daß noch so schöne Papiere von Helsinki den Frieden ein für allemal sichern und tief verwurzelte ideologische Gegensätze wegzaubern können. Das
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Brandthaben wir vernünftiger Weise ja wohl nicht erwarten können. Die verschlechterte Weltlage schlägt nicht voll, aber sehr stark durch. Trotzdem: So schlecht ist ja, Herr Kollege Kohl, die Bilanz nicht, was die 70er Jahre und auch die zusätzliche Verantwortung der Vereinigten Staaten und Kanadas für diesen Prozeß angeht. Aber genauso stimmt allerdings — ich sagte es soeben schon mit anderen Worten —, daß der KSZE-Prozeß nicht unabhängig von den Belastungen der weltpolitischen Lage gesehen werden kann. Trotz allem sollte in Madrid noch versucht werden, sich um eine möglichst konkrete Befassung mit den Fragen sachlicher Zusammenarbeit sowie menschlicher Beziehungen und Erleichterungen zu bemühen, aber Fortschritte werden sich gegen den ausdrücklichen Willen bestimmter Staaten nicht durchsetzen lassen.
Es erschiene ratsam, eine Energiekonferenz, wie das angedeutet wurde, ins Auge zu fassen. Dieselbe Methode bietet sich auch für die qualitative Erweiterung dessen an, was unter vertrauensbildenden Maßnahmen verstanden wird, eine Konferenz aus der nach den Vorstellungen mehrerer Regierungen, nämlich der französischen, der polnischen und der schwedischen Regierung, eine europäische Abrüstungskonferenz werden könnte.Wenn es um das Verhältnis zur DDR geht, nehme ich die Formel von vorgestern auf, daß der Gesamtzusammenhang unserer Beziehungen zu berücksichtigen sei. Genau hierauf sowie auch darauf, daß man nicht nur stur preußisch sagen kann: „Weiter wie bisher", habe ich vor einigen Wochen hinweisen wollen; ich wollte auch darauf hinweisen, daß es nur eine Geschäftsgrundlage für die Politik der Entspannung und der vertraglich gesicherten Zusammenarbeit geben kann.Herr Kollege Kohl, in allem Ernst: das, was hinterher kam über Gemeinsamkeit, paßte nicht zusammen mit den Bruderküssen beim Thema Deutschland.
Denn da die Deutsche Kommunistische Partei nicht im Bundestag vertreten ist, müßten Sie sich eine Gelegenheit aussuchen, wo Sie sie erreichen mit Ihren Worten, um diese Bemerkung dann gegebenenfalls an richtiger Stelle noch mal loszuwerden.
Für Berlin braucht man nicht dauernd nach neuen Aufgaben, Funktionen und dergleichen zu suchen. Die Stadt lebt aus einer langen Tradition. Auf einer Reihe von Gebieten hat sie Leistungen und Erfahrungen zu bieten, mit denen sie sich gegenüber jeder anderen Stadt in unserem Land messen kann. Aber ich muß noch hinzufügen — ich habe es j a schon angekündigt —, das alles geht nur und geht nur weiter, wenn wir mit dafür sorgen, daß nicht am Viermächteabkommen über Berlin herumgedoktert wird.
Wer könnte — und so geht es uns allen gleichermaßen, auch wenn wir die Akzente unterschiedlich setzen — gleichgültig sein, wo es um Polen geht! Ich habe im Sommer und im Herbst manchmal den Eindruck gehabt, einige in unserem Lande ereiferten sich mehr für freie Gewerkschaften, wenn sie möglichst weit von hier weg sind, als wenn es um die im eigenen Lande geht.
Aber gut, das ist wieder ein anderes Thema.Was dort jetzt vor sich geht, hat ja wohl, meine Damen und Herren, auch mit der Identitätsfindung einer neuen Generation zu tun — übrigens: auch eine Bildungsexplosion hat in Polen stattgefunden — unter dem Inhalt der dortigen gesellschaftlichen Ordnung und außenpolitischen Zuordnung. Wir wissen, daß dies weit über die Grenzen jenes Landes hinaus von Bedeutung ist. Der Vorsitzende der deutschen Sozialdemokraten kann gar nicht gleichgültig sein, wenn Arbeiter irgendwo — zumal in Europa — sich um ihre Rechte mühen und ihre Interessen wahrnehmen wollen,
frei ihre Meinung sagen wollen. Aber der bei allen Beteiligten in den letzten Wochen immer wieder sichtbar gewordene ernste Wille zum Ausgleich, zum Kompromiß verdient nicht nur Respekt, der findet ihn auch, jedenfalls bei mir.Wir, meine Freunde und ich, hoffen aufrichtig, daß Polen aus diesem Ringen um seine Identität in dem Rahmen, von dem ich sprach, mitmenschlich und national, politisch und wirtschaftlich gestärkt hervorgehen möge.
Freunde erkennt man in schwierigen Zeiten; im konkreten Falle: indem wir uns — und das ist eine Mahnung an meine Landsleute — in die Zucht der Zurückhaltung nehmen, wo es ganz allein um das geht, was die Polen miteinander ausmachen.
Ich werde ja meine norwegischen Jahre nie ganz los. Da gab es den pathetischen Dichter Bjørnstjerne Bjornson, und im Jahre 1905, als die sich von Schweden unabhängig machten, schickte der pathetische Dichter an den konservativen Regierungschef — das war ein Schiffsreeder aus Bergen, der hieß Michel-sen — ein Telegramm. Er wollte nun mit dem Telegramm die Kluft überbrücken: „Herr Ministerpräsident, jetzt müssen wir zusammenhalten." Da kriegte der Dichter Bjornson ein Telegramm zurück: „Jetzt müssen wir das Maul halten." Da ist ein bißchen was mit drin.
Aber wir müssen in der Tat — und da habe ich von meinem Platz aus Herrn Kohl j a auch Beifall gespendet — im Rahmen unserer Möglichkeiten wie andere in Ost und West — hoffentlich! — unsere Bereitschaft bekunden, durch praktische Zusammen-
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Brandtarbeit zu helfen, vorübergehende Schwierigkeiten — z. B. in der Versorgung — zu überwinden.
Polen und Deutsche, Deutsche und Polen sollten in den Jahren, die kommen, mit jener Kraft zusammenarbeiten, die das verzehrende Gegeneinander aus der Geschichte, gerade auch aus der jüngsten Geschichte, auslöschen könnte.
Wir müssen uns immer wieder neu bewähren in unserem beiderseitigen und miteinander verflochtenen Dienst am Frieden.Ich hatte gesagt, daß ich gern drei Bemerkungen zu den Aufgaben im Innern machen würde. Das wird nun in starkem Maß von Kollegen zu übernehmen sein. Ich wollte dabei zuerst etwas über Ökonomie und Ökologie sagen, über Bund, Länder und Gemeinden, über Wohnen und über Demokratie, Liberalität und Mitbestimmung.Meine Partei hat vor der Wahl gesagt, und sie steht dazu unverändert: Die Veränderung der Weltwirtschaft und der binnenwirtschaftliche Strukturwandel erfordern eine aktive, vorausschauende Wirtschafts- und Strukturpolitik. Wir dürfen uns nicht darauf beschränken, Engpässe und Krisen zu beseitigen. Langfristige Handlungsstrategien sind erforderlich, um drängende Probleme wie Arbeitslosigkeit, Energieversorgung, Umweltschutz und wachsenden Protektionismus zu lösen. Die Wirtschaft muß bei grundsätzlicher Beibehaltung der Marktsteuerung stärker als bisher gesellschaftliche Notwendigkeit berücksichtigen. Das steht übrigens nicht im Widerspruch zu dem zu Recht eingeführten deutlichen Ziel, dafür zu sorgen, in dieser Ein- und Zuordnung unsere internationale Wettbewerbsfähigkeit zu erhalten und dort, wo es notwendig ist, neu zu schaffen.Wir haben gesagt: Ausgehend vom Recht auf Arbeit, setzen sich die Sozialdemokraten mit aller Kraft für die Vollbeschäftigung ein. Jeder Mann und jede Frau, die arbeiten wollen, müssen dazu die Chance haben.
Die Sozialdemokraten wenden sich gegen alle Versuche, den Staat aus der Verantwortung für die Arbeitsplätze zu entlassen. Beschäftigungspolitik ist aus unserer Sicht ein wesentlicher Teil der Wirtschaftspolitik.Wir haben bei gleicher Gelegenheit vor zehn Jahren zusammen mit unseren freidemokratischen Kollegen mit unserem Umweltschutzprogramm begonnen, die gesetzlichen Grundlagen für bessere Luft, sauberes Wasser, weniger Lärm, weniger Schadstoffe zu legen. Die drohende weitere Verschlechterung der Umwelt konnte abgebremst werden. Mehr noch nicht. Aber sie konnte abgebremst werden.Nun sagen wir Sozialdemokraten — und berühren uns dabei natürlich weithin mit der Regierungserklärung —: Als Grundlage zukünftiger Umweltpolitik möchten wir hin zu einem umfassenden ökologisch-ökonomischen Gesamtkonzept. Dementsprechend setzen wir uns für den vorbeugenden Umweltschutz ein. In der kommenden Zeit wird der Schwerpunkt der Umweltschutzpolitik deshalb in der Verhinderung der Umweltverschmutzung und -belastung zu liegen haben, also in der Vorsorge.Daraus ergibt sich weiter: Solche Technologien und Wirtschaftsbereiche sind verstärkt zu fördern, die umweltfreundlichen Verfahren und die Sicherheit der Arbeitsplätze miteinander verbinden.Die Regierungserklärung wird dem weithin gerecht. Ich will hinzufügen: Es wäre unrichtig, das Scheitern der Grünen als politischer Partei mit einer kompletten Niederlage der ökologischen Bewegung gleichzusetzen. Dem ist nicht so.
Es ist wohl eher so, daß die Probleme im Ökologiebereich in den 80er Jahren wachsen werden und daß sie in den Industriegesellschaften westlicher und übrigens auch östlicher Prägung einen Werte- und Strukturwandel einleiten, der bisher bei uns noch nicht vollends in das Bewußtsein der Menschen gedrungen ist, übrigens auch noch nicht in das Bewußtsein der Verwaltungsetagen, der Planungsbüros, der Konstruktionsbüros. Und dies sage ich jetzt aus sozialdemokratischer Sicht mit Betonung — aber ich bin sicher: nicht im Gegensatz zu unseren freidemokratischen Kollegen, ich glaube, im Grunde auch nicht im Gegensatz zu den Kollegen von der Union —: Das, wovon ich gerade spreche, gilt in besonderem Maße, obwohl das Vorsorgeprinzip dort schon lange Eingang gefunden hat, für die Ökologie der Arbeitsplätze, d. h. für die Humanisierung am Arbeitsplatz.
Waren die 70er Jahre, so hat mir Volker Hauff neulich einmal auseinandergesetzt, im Ökologiebereich das Jahrzehnt des Aufspürens ökologischer Versäumnisse und der Versuch, mit dem Verursacherprinzip die Hauptproblembereiche der Umweltverschmutzung einzudämmen, so müssen die 80er Jahre das Jahrzehnt werden, in dem Ökologiefragen in die Kreisläufe unserer wirtschaftlichen Entwicklung von vornherein mit eingebaut werden. Vorsorge statt Nachbehandlung im Ökologiebereich heißt seit langem die eigentliche Herausforderung.
Was hat sich da, meine Damen und Herren, in unserer eigenen Einstellung geändert, auch in unserer! Ich lasse jetzt einmal außen vor, daß ich das Glück hatte, ein paar Jahre früher das zu sagen, wofür man damals noch verlacht wurde; das ist ja nicht so wichtig. Wir alle — nicht nur wir in Europa —: Wie anders sind wir an den Aufbau unserer zerbombten Städte herangegangen, als wir es nach heutigem Verständnis tun würden! Wie anders haben wir manche Großplanungen in der Bundesrepublik gemacht, als wir sie heute durchführen würden! Wie einseitig haben wir uns manchmal an Modelle angelehnt, als ob alle Häuser so hoch wie auf Manhattan und alle Straßen so voll mit Autos sein müßten wie in Chikago!
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BrandtWie sorglos war man bei uns und anderswo mit dem Export von Modellen woandershin! Die Ölnot vieler Länder der Vierten Welt kommt doch daher, daß sie das 01 für das Zeug brauchen, das der Westen oder der industrialisierte Osten dort hingeschafft hat.
Aber es sind ja nicht nur die Planer, sondern es ist j a auch
— ich darf das sagen, auch wenn nicht alle einig sind— das Bodenrecht, das vieles sich so hat entwickeln lassen, wie es heute eigentlich nicht sein sollte.
Ich habe es für ungerecht gehalten, den hessischen Ministerpräsidenten, meinen Freund Holger Börner, zu tadeln, als er aus seinem Amtsverständnis meinte, jetzt müsse ein über viele Jahre gegangener Prozeß mit seinem Urteil zum Tragen gebracht werden. Um so mehr rechne ich ihm und meinen Freunden im Hessischen Landtag an, daß auch dort — nach einem sehr heftigen Streit — durch Anhörung vor dem Landtag Gelegenheit gegeben wird, alte Argumente wieder oder zusätzliche Argumente neu vortragen und abklopfen zu lassen.
Energiepolitik nimmt einen breiten Raum ein in der Regierungserklärung. Wir wissen, was da alles drinsteckt. Wir wissen, daß Energiesparen nicht nur erforderlich ist, um unsere Leistungsbilanz auszugleichen und unsere außenpolitische Erpreßbarkeit zu reduzieren, sondern daß es auch aus ökologischen Gründen erforderlich ist. Wir haben eine Pflicht zum vernünftigen Umgang mit Rohstoffen, und wir haben eine Pflicht zur Rücksichtnahme auf die Menschen in den ärmsten Ländern in der Welt. Das ist eben auch eine innerpolitische Voraussetzung für eine vernünftige Nord-Süd-Politik.Wir müssen in der Tat in vielem umdenken, allerdings mit der Ökonomie, nicht gegen die Ökonomie. Dabei ist die Ökonomie freilich nicht überall gleich Markt, wie wir durch manche Gebiete, gerade wo es um Energie geht, wissen. Wir dürfen uns daher auch für das Energiesparen nicht allein auf den Markt verlassen. Ich bin dankbar dafür, daß der Bericht der Enquete-Kommission weiter berücksichtigt werden soll, auch mit dem hohen Wert, der der Kohle zugemessen wird und den — jetzt sage ich hier mal nicht nur: „Leistungen des Kohlenbergbaus", sondern ich sage — Leistungen der deutschen Bergleute und ihrer ausländischen Kollegen.
Man kann nicht erwarten, daß die Arbeitnehmer, obwohl viele von ihnen zum 1. Januar bei der Lohnsteuer wesentlich entlastet werden, begeistert sind, wenn sie mitgeteilt bekommen, daß auch Lasten auf sie entfallen. Die vielen, die in der Bundesrepublik Lohnsteuer zahlen, bleiben doch weiterhin in Ländern und Bund diejenigen, die den eigentlichen Brocken dessen leisten, woraus der Staat lebt.Ihre, der kritischen Arbeitnehmer Mitwirkung und Mitbestimmung ist unerläßlich, wenn man Strukturen erneuern will, ohne unnötige Schmerzen und schwere Rückschläge dabei in Kauf nehmen zu wollen.
Bund, Länder und Gemeinden waren mein zweiter Merkposten dafür, wo neu zugeordnet werden muß, wo in etwas eingeschnitten werden muß, wenn es denn nicht anders geht — obwohl ich meine, daß die Gemeinschaftsaufgaben sehr wohl ihren Sinn gehabt haben. Das haben wir uns vor 13, 14 Jahren nicht mutwillig ausgedacht gehabt. Wenn etwas neu eingeordnet werden muß — das sage ich jetzt an beide Seiten, Bund und Länder —: Bitte nicht nach der Art von Teppichhändlern, sondern jetzt mal wirklich im Sinne des kooperativen Föderalismus! Und ich darf für den Bund unterstellen — das mag die Sache für die Länder leichter machen —: ohne daß der Bund bei einem solchen Prozeß finanzielle Vorteile für sich erzielen will.Ich hätte gerne gesehen, daß wir in diesen Tagen das, was mit kommunaler Selbstverwaltung zu tun hat, noch ein bißchen deutlicher machen. Das wird nicht weniger wichtig. Gerade dann, wenn sich die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen erschweren, wird das, was in den Städten geschieht, noch wichtiger. Ich will hier mal sagen: Ich bin als Bundestagsabgeordneter zwar in erster Linie der Partner der Bundesregierung, ich bin als Vorsitzender der Sozialdemokratischen Partei zugleich derjenige, der für unsere Verantwortlichkeit im Bund, in den Ländern und in den Städten und Gemeinden einzustehen hat. Ich möchte, daß das nicht zu kurz kommt in der Zeit, die vor uns liegt.Bei der Wohnungspolitik denke ich: Wie der Staat in einer — gewissen — Verantwortung für die Arbeitsmarktpolitik steht, so steht er auch in der Verantwortung für die Wohnungspolitik, wo es um die Schwachen geht.
Das gilt auch für den Mieterschutz. Von den — summa summarum — 20 Milliarden DM öffentlicher Mittel, die staatlicherseits für den Wohnungsbau jährlich zur Verfügung stehen — seien es Etatmittel, seien es Steuerverzichte —, fließen 15 Milliarden DM der Eigentumsbildung, gegen die ich ja vom Prinzip her gar nichts habe und haben kann, und 5 Milliarden DM den Förderungsprogrammen zu. Das ist nicht ausgewogen. Es ist eben so, daß die Förderungsprogramme, die jetzt — erfreulicherweise — nicht gestrichen werden, trotzdem nicht eine neue Wohnung mehr bringen werden. Ich halte es für richtig, die Rahmenbedingungen des sogenannten frei finanzierten Mietwohnungsbaus zu verbessern. Ich bin nicht sicher, ob der erhoffte Effekt eintreten wird. Unverständlich bliebe es vielen von uns, wenn bei der Eigentumsbildung neuer Art oder reduzierter Art besonders diejenigen steuerlich gefördert würden, die am meisten verdienen.
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66 Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 26. November 1980
BrandtJe höher das Einkommen und die Steuerlast eines Bauherrn sind, desto größer ist sein Vorteil, wenn er baut. Darüber muß man noch ein bißchen weiter nachdenken. Ich möchte sehr darum bitten, daß man dann, wenn die Länder in Zukunft die volle Verantwortung für den sozialen Wohnungsbau übernehmen, seine Aufmerksamkeit auf den zu befürchtenden negativen wohnungspolitischen und sozialpolitischen Effekt richtet. Wenn der Staat jetzt eine sogenannte Fehlbelegungsabgabe für diejenigen, die viel verdienen und im sozialen Wohnungsbau leben, einführen will — es ist an eine gemeinsame Durchsetzung gedacht; anders geht es ja nicht —, dann wäre eine vergleichbare Maßnahme doch eigentlich auch im Bereich der Eigentumsförderung berechtigt.
Ich will kein zu düsteres Bild malen. Wir haben es zunächst mit einer zeitlich begrenzten Aufgabe zu tun. Die demographische Entwicklung zeigt uns, daß es Ende der 80er Jahre sehr viel leichter wird, daß es dann sehr viel weniger junge Leute geben wird, die heiraten und eine Wohnung haben wollen. Ich möchte nur dies sagen: Herr Bundeskanzler, zu den von Ihnen genannten Gruppen, um die man sich besonders kümmern muß — kinderreiche Familien, Alleinstehende, ausländische Arbeitnehmer —, gehören heute die Studenten in vielen Städten der Bundesrepublik dazu.
Deshalb habe ich persönlich — ich habe dies nicht mit meiner Fraktion besprochen — meine Zweifel — ich verstehe ja die finanziellen Zwänge —, ob man bei noch wachsender Studentenzahl — und dies haben wir ja mit gewollt — die Bundesförderung von Studentenwohnheimen einstellen sollte.
Meine Damen und Herren, Mut zur Zukunft, Mut zur Erneuerung muß immer auch heißen: Mut zur Demokratie. Herr Kohl sprach etwas spöttisch — warum nicht, als Polemik — von der geistigen Austrocknung. Es gibt aber eben doch ein gutes Stück gemeinsamer geistiger Tradition seit 1848.
Auch die Arbeiterbewegung ist im Ringen um liberale Grundrechte großgeworden, und andere haben erkannt, daß auch die liberalen Grundrechte durch neue soziale Grundrechte ergänzt werden müssen.
So weit auseinander ist das nicht. Reformen brauchen Gleichgewicht, wenn es um die liberalen und um die sozialen Ansprüche geht. Für Sozialdemokraten ist das klar: im Zweifel für die Freiheit. Das gilt nicht nur für Sozialdemokraten in Deutschland, das gilt auch für demokratische Sozialisten anderswo in Europa. Wir sind selbst dabei. Was könnte wohl von unseren wohlfahrtsstaatlichen und etatistischen Traditionen überholt sein — das machen wir ja selbst, das können wir auch mit anderen machen —, was uns nicht zu neoliberalistischen Konsequenzen führt, indem man vom Markt und von derGeldpolitik mehr erwartet, als sie geben können? Ich wiederhole es in diesem Zusammenhang noch einmal: eine Politik, die auch und gerade von Arbeitern und Angestellten Einschränkungen und Opfer verlangt, kann nur gemeinsam mit den Arbeitnehmern, ihren Vertretern und ihren Organisationen vernünftig gemacht werden.
Ich habe keine Sorgen um die Grundlagen sozialliberaler Politik. Ich finde, daß wir mit Hans-Dietrich Genscher und mit den Kollegen aus der freien Demokratischen Partei eine solide auswärtige Politik weitermachen. Ich sehe nicht die Konstellation, die dies besser machen könnte. Ich sehe, daß diese Koalition unser Land trotz aller Schwierigkeiten durch schwierige Krisen gebracht hat und — davon bin ich überzeugt — weiter bringen wird.
Wir sind für den Ausbau des Rechtsstaates und die Wahrung seiner Liberalität, wie es in der Regierungserklärung steht. Wir sind — das braucht nicht in der Regierungserklärung zu stehen — für Toleranz und geistige Freiheit. Wir können miteinander gehen, um dafür zu sorgen, daß Gleichberechtigung nicht nur auf dem Papier stehenbleibt, und wir können uns erneut, hoffentlich auch mit vielen aus der Union, im Kampf gegen die Bürokratie verbünden.
An vier Stellen — ich will sie jetzt nicht alle aufzählen — kommt das in der Regierungserklärung und an zwei Stellen beim Kollegen Kohl vor. Diese Punkte lassen sich gut zusammenordnen.In der Regierungserklärung gab es die wichtige Anknüpfung an das, was man ohne zu große Worte den Gesellschaftsvertrag des Jahres 1951 genannt hat. Damals waren es Konrad Adenauer, Hans Böckler, erster Bundeskanzler, Führer der deutschen Gewerkschaften, nach all dem Elend, das über unser Land gekommen war. Seitdem sind für uns Sozialdemokraten und für unsere Freunde in den Gewerkschaften Einheitsgewerkschaft und Mitbestimmung Säulen der zweiten deutschen Demokratie.
Da gibt es starke Berührungen mit der katholischen Soziallehre und der evangelischen Sozialethik, übrigens auch mit Friedrich Naumann, wenn ich dies sagen darf.
Mitbestimmung in den beiden besonders schwierigen Bereichen Kohle und Stahl hat tiefgreifende Strukturkrisen vertrauensvoll lösen helfen.
Jetzt sind zwei Koalitionspartner von wirklich sehr unterschiedlichen Ausgangspositionen an diese Sache herangegangen. Aber entgegen den Wunschvorstellungen anderer haben wir — das wird nicht bei dieser Sache bleiben — die Kraft zum gemeinsamen Vorgehen gefunden, so wie wir sie gefunden haben
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Brandtbeim Betriebsverfassungsgesetz 1972, beim Personalvertretungsgesetz 1974, beim Mitbestimmungsgesetz 1976.
Es war jedesmal etwas, was sich für die Menschen in Fabriken und Büros in dieser Bundesrepublik Deutschland gut ausgewirkt hat.
Die jetzt getroffene Abmachung bedeutet ja nicht, daß irgendwo ein Fallbeil für diese dreißig Unternehmen mit einer halben Million Arbeitnehmer heruntergeht. Im Gegenteil, auch wenn die nach dem Gesetz geltenden Voraussetzungen beim Produktionsanteil entfallen, geht das noch sechs Jahre weiter, und dann kümmern wir uns um das Anschlußgesetz. Das ist doch wohl klar. Daß die Gewerkschaftsvertreter innerhalb der Gesetzgebung der Jahre 1951 bis 1956 ihre Vertreter so zur Wahl stellen wie die gewissermaßen internen im Aufsichtsrat, ist ja so schlecht nicht. Das entspricht übrigens im Grundzuge dem, was der damalige Fraktionsvorsitzende Helmut Schmidt 1968 mit einem Entwurf zur Mitbestimmung hier im Bundestag eingebracht hat. Manchmal ist es gut, man blättert ein bißchen nach.Es ist j a nicht so, als ob das Kapitel Mitbestimmung abgeschlossen sei. Die Freien Demokraten haben uns vorher wissen lassen, daß sie nicht nur davon ausgehen, sondern es für natürlich halten, daß Sozialdemokraten hierzu noch ein ergänzendes Wort sagen. Wir waren z. B. der Meinung und werden das wieder aufgreifen, wenn es das nächste Mal kommt, daß es bei dem hohen Rang, die die autonomen Gruppen in unserer Gesellschaft haben, gar nicht so schlecht wäre, wenn der Gesetzgeber die Voraussetzung dafür gäbe, daß sich Unternehmensleitungen und Gewerkschaften auch vereinbaren könnten über das, was mit gleichgewichtiger Mitbestimmung zu tun hat.Nein, wir werden unser Ziel nicht aus den Augen lassen. Wir werden unseren Freunden in den Gewerkschaften nicht hineinreden. Ich bin dem Vorsitzenden des Deutschen Gewerkschaftsbundes, meinem Freund Heinz-Oskar Vetter dankbar dafür, daß er dies richtig eingeordnet hat.
Ich bitte manche meiner anderen Freunde in den Gewerkschaften, die j a auch immer, wie wir, sonst noch viel zu tun haben, noch genauer hinzuschauen, noch genauer durchzurechnen und nicht notwendigerweise ein halbvolles Glas ein halbleeres zu nennen.
Was sagt die Bundesregierung der Jugend? Die Regierungserklärung enthielt einiges. Da ist sicher auch hinzuzufügen, daß wir lernen müssen, diese jungen Menschen zu gewinnen; denn es ist ihr Leben, es sind ihre Möglichkeiten, über die in diesen Jahren entschieden wird. Deshalb bitte hier und anderswo nicht von oben herab im Verhältnis zur Jugend, sondern um ihre Teilnahme bitten, auch dort, wo diese Teilnahme unbequem ist!
Ein Teil der Jugend empfindet nun einmal aus ihrer Erfahrungswelt heraus Unbehagen gegenüber einer Gesellschaft, von der sie meint, sie sei zu einseitig materialistisch orientiert. Ein Teil dieser Jugend fragt nach Chancen für neue Lebenseinstellungen und für eine neue Qualität mitmenschlicher Bindungen. Und da bitte — das richtet sich an alle, die staatliche Verantwortung tragen — nicht zusammenzucken, schon gar nicht nach dem Büttel staatlicher Macht rufen, wenn jemand einmal etwas denkt, was mit der mehrheitlichen Meinung ganz und gar nicht konform ist,
nicht Barrieren bauen, wenn jemand etwas in Frage stellt, was uns — ich muß von mir aus sagen —: Alten und den anderen, den mittleren Jahrgängen vertraut ist! Wir haben früher gesagt — ich bleibe dabei —: Wir brauchen Menschen, die kritisch mitdenken, mitentscheiden, mitverantworten. Dazu bedarf es eines Klimas der Freiheit, der Offenheit, der Toleranz. Toleranz ist ohnehin eine der Haupttugenden der Demokratie. Die ist nur dann lebensfähig, wenn jeder Bürger die Garantie hat, er selber bleiben zu können. Das unterscheidet uns j a von einem totalitären Staat. Deshalb bitte nicht gleich von einer Störung der Ordnung sprechen, wenn Institutionen angezweifelt werden.
Wenn wir mit der Jugend, mit dem kritischen Teil der Jugend, nur reden, um ihr etwa den Sinn einer äußeren Form zu erklären,
aber sprachlos bleiben auf die Fragen, die sie sonst zu stellen hat, dann kann uns der Gesprächsfaden entgleiten.Ich will hier ganz offen sagen — ich war ja damals mitverantwortlich, manche meinen: mitschuldig —: ich war tief erschrocken — inzwischen höre ich, der Ministerpräsident Vogel aus Rheinland-Pfalz sieht es nicht viel anders —, tief erschrocken, welcher Unsinn aus der Prüfung der Verfassungstreue im öffentlichen Dienst gemacht worden ist
und welche bürokratische Idiotie — ich wiederhole das Wort: bürokratische Idiotie — damit verbunden worden ist. Da ging es doch in Wahrheit vielfach gar nicht darum, unser Gemeinwesen vor bombenwerfenden Systemveränderern zu schützen, sondern da wurde der Eindruck vermittelt, junge Leute sollten dafür bestraft werden, daß sie die Frage aufgeworfen hatten, ob nicht manches hier anders und nach ihrem Verständnis besser gemacht werden könnte.
In der Regierungserklärung heißt es: „Je nach- dem, wie wir uns politisch entscheiden, kann unser Land in 10 oder 20 Jahren sehr verschieden ausse-
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Brandthen." Das ist wohl wahr. Wie die Entscheidungsalternativen aussehen, wie sie aussehen können, das ist eine Frage nicht nur der objektiven Gegebenheiten, sondern auch der Ideen und des Gestaltungswillens. Das, Herr Kollege Kohl, hängt natürlich mit der Frage zusammen, wie wir uns zueinander verhalten.Ich habe daran mitgewirkt, daß zwei Tage nach der Wahl die Vorsitzenden der Parteien und Fraktionen von dort und von dort zu Papier gebracht haben:Alle demokratischen Kräfte sind aufgerufen, den Nutzen unseres Volkes zu mehren und Schaden von ihm abzuwenden. Deshalb halten es die Koalitionspartner für wünschenswert, daß die zum Teil schlimmen Entgleisungen im Wahlkampf vom Tisch kommen. Dies geht nur, wenn alle Seiten den Willen dazu haben. Die Meinungsverschiedenheiten in der Sache sollen davon nicht berührt werden.Der Herr Bundestagspräsident, den man normalerweise nicht in eine Parlamentsdebatte einbezieht, hat zu Beginn unserer Arbeit eine Rede gehalten, die wir mit mehr als einem dem Präsidenten gebührenden Respekt zur Kenntnis genommen haben. Ich habe ihm dafür gedankt, habe es aber auch für richtig gehalten, den Satz so zu formulieren: „Ich weiß auch zu würdigen, daß Sie einen Beitrag dazu geleistet haben, das Klima zwischen den tragenden politischen Kräften in unserem Lande zu entgiften."Verehrter Herr Kollege Kohl, ich denke, wenn man sich das, was auf der vorletzten Seite Ihrer Rede festgehalten ist, noch einmal in Ruhe anguckt, dann führt das ein Stück weiter. Ich muß eben in aller Offenheit — was vorhin schon durch einen Zwischenruf zum Ausdruck kam — sagen: ein paar Dinge müssen noch vom Tisch. Sie mögen ja meinen, das sei bei uns auch so.
Ich denke, wenn dies jetzt — worüber zu diesem Teil gesprochen worden ist — nicht bloße Pflichtübung bleiben soll, muß noch das eine vor allen Dingen dort, wo es in der Tradition der deutschen Rechten Landesverrat und Hochverrat unterstellt, geklärt werden.
Im übrigen, meine Damen und Herren, sage ich zum Schluß: Blanker Materialismus — das wissen Sozialdemokraten so gut wie andere — eignet sich nicht zu demokratischer Staatsräson. Aber ich predige, wir predigen nicht eine Ethik des Verzichts. Wir plädieren für ausreichende Gerechtigkeit nicht nur innerhalb der Staaten, sondern auch zwischen diesen in der Welt. Wir werden in einer Zeit rapiden und tiefgreifenden Wandels nur dann bestehen können, wenn Einzelinteressen in eine gesamtgesellschaftliche Solidarität eingefügt sind.
In der Wirtschafts- und Sozialpolitik braucht es — ich habe es begründet — eine möglichst enge Zusammenarbeit zwischen Staat, Unternehmern und Gewerkschaften. Ein Weiteres: Diejenigen, die politische Verantwortung tragen, müssen für neue Ideen — ob sie sie nun selbst zu entwickeln vermögen oder nicht — aufgeschlossen bleiben, und staatliche Entscheidungen von Gewicht sind in möglichst enger Abstimmung mit den betroffenen und interessierten Bürgern zu fällen. Diejenigen, die es angeht, sollen spüren: Ihr Sachverstand wird gebraucht; der demokratische Staat ist auf ihre Mitwirkung angewiesen.Meine Damen und Herren von der Opposition, ich habe einleitend gesagt: Was unser Volk von uns erwartet, ist, miteinander zu wetteifern, wo es um die Lebensbedingungen der Menschen geht, um ihre Interessen, um die Sicherung der Zukunft unseres Volkes. Dafür gewähren wir der Regierung unsere aktive Unterstützung, und dazu bieten wir allen Teilen dieses Hauses, so dies möglich ist, unsere Zusammenarbeit an.
Meine Damen und Herren, das Wort hat der Herr Abgeordnete Hoppe.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ein Vorläufer der sozialliberalen Koalition war die SPD/FDP-Regierung in Berlin. Ich bin deshalb dem Zufall dankbar, hier nach dem Parteivorsitzenden der SPD, meinem damaligen regierenden Bürgermeister, sprechen zu dürfen. Auch dies ist ein Stück Kontinuität in der gemeinsamen Politik.
Das, was der Kollege Brandt in seiner Sorge über Polen gesagt hat, stimmt mit der Einstellung der Freien Demokraten voll überein. Herr Kohl hat deutlich gemacht, daß es in dieser europäischen Frage keine grundlegenden Differenzen im Deutschen Bundestag gibt — Gott sei Dank.Bei dem Oppositionsführer waren heute neue Töne zu hören. Das läßt für die neue Legislaturperiode hoffen. Das Angebot zur Zusammenarbeit auf einigen Feldern der Politik war bemerkenswert, und wir sollten die Opposition beim Wort nehmen. Nicht nur die Teilung der Nation gebietet Gemeinsamkeit; mehr demokratischer Konsens wäre unserer Politik sicher insgesamt bekömmlich.
Aber dieses Angebot sollte nicht von der Unterstellung begleitet werden, daß Teile des Parlaments eine solche Zusammenarbeit mit der Opposition a limine ablehnen. Mit einem so formulierten Vorbehalt wird es schon in der ersten Stunde wieder fragwürdig.Meine Damen und Herren, so ist es denn auch nicht verwunderlich, daß immer noch — und wie mir scheint: immer wieder — Zeichen von Unbeweglichkeit und Uneinsichtigkeit deutlich werden, besonders auf dem Gebiet der Entspannungspolitik.
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HoppeDie Koalition und die Mehrheit unserer Bevölkerung fühlen sich deshalb, wie ich glaube — und das Wahlergebnis hat es deutlich gemacht —, beim Kabinett Schmidt/Genscher gut aufgehoben.
Der Bundeskanzler ist eben nicht nur fleißig, sondern umsichtig, besonnen und handlungsbereit.
Wir durchleben gegenwärtig eine Zeit tief greifender Veränderungen der ökonomischen Bedingungen, die ihre Wurzeln in der Ölpreis- und Energiekrise haben. Zusammen mit der rasant fortschreitenden Bevölkerungsentwicklung in den Ländern der Dritten Welt schafft dies eine Nord-Süd-Aufgabe von höchster Brisanz und Dringlichkeit. Dazu hat der Überfall auf Afghanistan die internationale Lage verschärft. Es droht ein neuer, Milliarden verschlingender Rüstungswettlauf zwischen Ost und West. Die Sowjetunion macht es uns schwer, Sachwalter der Entspannungspolitik zu bleiben.
Gerade deshalb ist der Bundesregierung zu danken, daß sie sich mit ihrer eindeutigen, für alle berechenbaren Haltung energisch und bislang auch mit Erfolg darum bemüht hat, den Entspannungsprozeß mit dem Ziel der Friedenssicherung durch Abrilstung nicht völlig aus dem Ruder laufen zu lassen.
Die Rede des Außenministers auf der KSZE-Nachfolgekonferenz in Madrid hat dafür Zeugnis abgelegt.Kann die Rüstungseskalation nicht verhindert und eine Umkehr nicht eingeleitet werden, käme dies einer Bankrotterklärung der Zivilisation gleich. Bankrott gehen wir dabei im wahrsten Sinne des Wortes; denn die Volkswirtschaften können diese Belastungen einfach nicht mehr verkraften. Der Zwang zur Umkehr müßte eigentlich auch bei den Führern des Ostblocks übermächtig werden.
Am Anfang unserer Debatte könnte das Eingeständnis stehen, daß wir alle zu lange mit politischen Mitteln und Vorstellungen hantiert haben, die aus der „guten alten Zeit" des permanenten Wachstums kamen. Diese Zeiten sind vorbei. Unser kräftig gewachsener Lebensstandard ist an die Decke gestoßen. Wir haben uns aber allesamt schwergetan, auf die Warnsignale der Vergangenheit schlüssig zu reagieren.Da wurde der Ölpreisschock von 1973 schnell, fast zu schnell verdrängt. Es blieb der autofreie Sonntag als nostalgische Erinnerung.
Welche Mühsal hat es uns auch bereitet, vom hohen Roß einer unreflektiert fortgeschriebenen Rentenpolitik herunterzukommen! Hier standen die Zeichen auf Sturm. Aber wir haben uns mit lokaler Betäubung über die Runden gebracht.Lernprozesse finden immer mit Verzögerung statt. Deshalb läßt sich auch so mancher Sündenfall der Vergangenheit, wenn auch nicht entschuldigen, so doch wenigstens erklären. Nur, spätestens heute wäre es unentschuldbar und auch unerklärbar, wenn wir weiter so täten, als könnten wir innerhalb eines weit gesteckten Finanzrahmens agieren.Die Strukturen des alten Weltwährungs- und Welthandelssystems haben sich aufgelöst. Gewaltige Geldströme wurden aus den Industrieländern in die ölexportierenden Länder umgeleitet. Unser Leistungsbilanzdefizit führt uns die dramatische Veränderung überdeutlich vor Augen. Der Horizont ist dunkler geworden. Das Zurechtschneiden auf das finanziell Mögliche und das politisch Verantwortbare muß deshalb zum Prinzip allen staatlichen Handelns werden. Keine Partei sollte sich der Aufgabe entziehen, die Notwendigkeit einer Politik der Bescheidenheit offensiv zu vertreten.Die sozialliberale Koalition hat einen ersten Anlauf gemacht. Das Unternehmen ist mühsam und unpopulär. Mit jedem weiteren Versuch, die Subventionslandschaft zu ordnen und überschaubar zu machen, werden wir auch auf weitere Proteste stoßen. Das Vertrackte an der Sache ist und bleibt nun einmal, daß jedermann für das Sparen des Staates eintritt, sofern es nicht ihn, sondern die anderen trifft.Der Bundeskanzler hat in seiner Regierungserklärung vom Mut zur Zukunft gesprochen und festgestellt, daß wir auch den Mut zur Erneuerung und zur Korrektur brauchen. Ich möchte diesem Leitmotiv zustimmen und ergänzend hinzufügen: Auch der Mut zur Realität ist unerläßlich.
Nur wenn wir jetzt zupacken, werden wir die Aufgaben der Zukunft bewältigen.
Die notwendige Konsolidierung muß, wie es uns die Sachverständigen noch einmal ins Stammbuch geschrieben haben, in den nächsten Jahren ein Stück vorangebracht und für jedermann erkennbar werden. Der Bundesfinanzminister darf sich deshalb bei seinen Bemühungen, die vom Finanzplanungsrat vorgegebenen Eckdaten für Ausgaben und Verschuldung einzuhalten, unserer vollen Unterstützung sicher sein.
Das gilt auch für die Absicht der Bundesregierung,gemeinsam mit den Ländern die grundlegenden Fi-
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Hoppenanzbeziehungen neu zu gestalten und dabei zu einer Entflechtung der Mischfinanzierung zu kommen.Es wäre denkbar und auch wünschenswert, wenn es nicht nur bei diesem bereits verabredeten Themenbereich bliebe. Nach allen Erfahrungen werden wir nur über weitere Eingriffe in Subventionen und Leistungsgesetze zu jenen finanziellen Entlastungen gelangen, die tatsächlich eine langfristige Strukturbereinigung bewirken.Das mit dem Haushaltsgesetz 1981 auf den Weg zu bringende Konzept für eine allmähliche Gesundung der Staatsfinanzen und die dazu gefaßten Beschlüsse zum Abbau der Subventionen können nur ein Anfang sein.Zugegebenermaßen fällt diese Operation in eine konjunkturell ungünstige Zeit. Dennoch muß Kurs gehalten werden. Die Problematik der Staatsverschuldung hat in dem hinter uns liegenden Wahlkampf eine bedeutende Rolle gespielt. Hoffentlich wird der Wille, die Verschuldung des Staatshaushalts in den Griff zu bekommen, nicht so schnell erlahmen.
Es ist eine Aufgabe, der sich nicht nur der Bund zu unterziehen hat, sondern mit der gleichen Gründlichkeit auch die Länder und Gemeinden.
Meine Damen und Herren, wir können dabei der Frage nicht ausweichen, ob wir für unsere in den Dienst der Konjunktur gestellte Haushaltspolitik in der Vergangenheit nicht einen zu hohen Preis gezahlt haben.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Seit 1972 ist der Staatshaushalt über die Konjunkturzyklen hinweg ununterbrochen expansiv gewesen. Aber man kann kaum sagen, daß sich die erwünschten Wachstums- und Beschäftigungswirkungen eingestellt hätten. Zu ähnlichen Schlußfolgerungen— so Hermsdorf —muß man kommen, wenn man sich die Entwicklung im Ausland ansieht. Ganz offensichtlich kommt man national wie international mit dem Allheilmittel der staatlichen Finanzierungsdefizite nicht mehr so recht weiter. Ein wesentlicher Grund dafür dürfte in den wachsenden Ansprüchen auf Staatsleistungen aller Art zu suchen sein. Zusätzliche Ausgaben beschließen zu dürfen, gehört zum Schönsten, was einer Regierung und einem Parlament unterkommen kann. Davon abzukommen, schien bislang unmöglich, harren doch immer neue Bedürfnisse der Erfüllung. Ein immer höheres deficit spending entspricht dann allmählich einem tatsächlichenHandlungsbedarf, weil die Volkswirtschaft inzwischen daran angepaßt ist.Meine Damen und Herren, Hans Hermsdorf plädiert nicht für den bedingungslosen Rückzug des Staates aus angestammten Aufgabenbereichen, aber wie er sollten auch wir zu dem Schluß kommen, daß Korrekturen wenigstens dort angebracht sind, wo wir mit gewaltigem Kostenaufwand nur optische Aufhellungen zuwege gebracht haben, ohne die Strukturprobleme tatsächlich zu erfassen und zu beseitigen.
Wir müssen auch erkennen, daß sich manche gut gedachte Hilfe des Staates bei der Wirtschaft keineswegs immer anregend, sondern hier und da auch lähmend ausgewirkt hat.
Durch die finanziellen Wohltaten sind Unternehmer manchmal auch zu „Mitnehmern" geworden.
Subventions- und Bedienungsmentalität droht sich allenthalben auszubreiten. Es kann deshalb also nicht darum gehen, das Zuweisungssystem zu vervollständigen, sondern wir müssen das Ordnungssystem der Sozialen Marktwirtschaft weiterentwikkeln. Die Aufgabe des Gesetzgebers ist es, deren Dynamik durch Rahmenbedingungen zur Sicherung des Wettbewerbs auf Touren zu halten.
Solange der Steuerungsmechanismus der Marktwirtschaft funktioniert, werden die Ressourcen dorthin gelenkt, wo sie den produktivsten Beitrag erbringen. Zur Bewältigung unserer Zukunftsaufgaben ist dies unerläßlich.Auf Innovation, Forschung und Entwicklung kommt es künftig noch stärker an, denn unsere Produkte und Dienstleistungen, die auf der Basis eines hohen Personalkostenniveaus produziert und erbracht werden, müssen konkurrenzfähig bleiben. In der Tat muß es uns zu denken geben, wenn die Einfuhren weit schneller steigen als die Ausfuhren. Die deutschen Unternehmer werden ihre internationale Konkurrenzfähigkeit nur dann behaupten und zurückgewinnen können, wenn auf der einen Seite die Innovationskraft einen neuen Schub erhält und auf der anderen Seite das Kostengefüge einigermaßen im Rahmen bleibt.
Die Lohnpolitik der Gewerkschaften wird von entscheidender Bedeutung für die künftigen wachstums- und beschäftigungspolitischen Perspektiven in unserem Lande sein. Die Freien Demokraten wissen sehr wohl, in welchem großen Maße das Verantwortungsbewußtsein der Gewerkschaften zur gedeihlichen Wirtschaftsentwicklung in unserem Lande beigetragen hat. Die Vertretung der Arbeitnehmerinteressen liegt offensichtlich in guten Händen.
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HoppeAuch die Konsequenz der Gewerkschaften in Sachen Montan-Mitbestimmung wird gleichfalls jeden beeindrucken. Aber dies kann doch nicht dazu führen, daß wir die im Montanbereich geltenden Regeln künstlich aufrechterhalten, wenn ein Unternehmen aus eben diesem Sektor herausgewachsen ist.
Meine Damen und Herren, nicht von ungefähr kennt das 56er Ergänzungsgesetz bereits eine solche Auslaufregelung. Somit erscheint den Freien Demokraten der in den Koalitionsverhandlungen gefundene Kompromiß fair und logisch.Meine Damen und Herren, eine entscheidende Bedingung für die Stabilisierung des Wirtschaftsgeschehens ist eine gesicherte Energieversorgung. Die Konflikte im Nahen Osten sind mahnende Aufforderung an uns, die Abhängigkeit vom Öl zu verringern. Dies geht eben nur durch Reduzierung des Verbrauchs und durch Substitution des Öls. Die FDP drängt deshalb darauf, daß Restriktionen und Hemmnisse bei der Errichtung von Kraftwerken beseitigt werden. Keine Anlage wird nämlich durch längere Genehmigungsverfahren und umfangreichere Unterlagen sicherer; eher ist das Gegenteil zu befürchten.
Es ist gut, daß heute auch über die Nutzung der Kernenergie sachbezogener diskutiert werden kann. Die friedliche Nutzung der Kernenergie ist weder zu verdammen noch als einzig möglicher Ausweg aus dem Energiedilemma zu bejubeln.
Ich bin dem Bundeskanzler dankbar, daß er in seinen Ausführungen auf den unauflösbaren Zusammenhang zwischen dem weiteren Ausbau der Kernenergie und der sicheren Gewährleistung der Entsorgung hingewiesen hat.
„Ich kann als Politiker in der Kernenergiefrage überhaupt keine endgültige Aussage heute machen. Ich bin nicht in der Lage zu sagen, so oder so läuft die Sache." Das war ein Zitat. Ich füge ein zweites an:„Das Entscheidende ist, daß die Menschen hier in mehrfacher Weise mit Neuland konfrontiert werden, das sie überhaupt nicht übersehen können. Die möglichen Gefahren sind lautlos, dauerhaft, unsichtbar und schon deshalb unheimlich; sie reichen über Jahre, Jahrzehnte, Jahrhunderte. Das ist eine vollkommen neue Dimension."Dieses sagte im vergangenen Jahr in einem „Spiegel"-Gespräch Herr Biedenkopf.Es würde die energiepolitische Diskussion sicher erleichtern, wenn sich auch seine Partei diesen abwägenden Gedanken anschließen könnte.
Ein Minderheitenvotum der CDU/CSU zum Ergebnis der Enquete-Kommission Zukünftige Energiepolitik brauchte es dann sicher nicht zu geben. Schließlich wird von der Koalition genau der Kurs der abgesicherten und vorsichtigen Hantierung mit Kernenergie vorgezeichnet.Meine Damen und Herren, wir Freien Demokraten wollen den überschaubaren und kalkulierbaren Fortschritt. Wir wollen vor allem verhindern, daß im Konflikt widerstreitender Ziele die natürlichen Lebensgrundlagen beschädigt werden. Im Gegenteil. Ihre Erhaltung muß absoluten Vorrang haben.
Dabei ist durch die Erfahrung in den vergangenen Jahren hoffentlich klar geworden, daß wirtschaftliche Entwicklung und Umweltschutz nicht unbedingt gegeneinander gerichtet sein müssen, sondern sich auf vernünftige Weise ergänzen, ja einander bedingen können. Die radikalste Aufforderung zur Bewahrung unserer natürlichen Lebensgrundlagen kam in diesem Herbst von den deutschen katholischen Bischöfen: „Der Mensch darf nicht alles, was er kann. Je mehr er kann, desto größer wird seine Verantwortung." Die FDP begrüßt diese Hinwendung zu den grundlegenden Problemen einer durch die zivilisatorische Entwicklung bedrohten Umwelt.Wir haben vor neun Jahren mit unseren Freiburger Thesen auch auf dem Gebiet des Umweltschutzes gefordert, sich von den eingefahrenen Denkweisen zu lösen und einschneidende Konsequenzen in der praktischen Politik zu ziehen. Inzwischen verfügt die Bundesrepublik Deutschland über eine hochmoderne Umweltschutzgesetzgebung, die alle wichtigen Bereiche wie Abfallbeseitigung, Immissionsschutz, Wasserhaushalt, Fluglärm und Naturschutz umfaßt. Mit dem Gesetzesinstrumentarium sind wir in der Lage, Umweltschäden zu reparieren und zu reduzieren.Auf die Dauer wird dies aber nicht ausreichen. Wir müssen umschalten von der nachträglichen Schadensregulierung auf eine umfassende ressortübergreifende Umweltvorsorge, weil anders der Wettlauf mit den Zivilisationseinwirkungen nicht gewonnen werden kann.
Der Anspruch des Bürgers auf eine intakte Umwelt ist so elementar, die Gefährdungen sind so schwerwiegend, daß die Aufnahme dieses Rechts in das Grundgesetz wahrlich zu rechtfertigen ist. In der Umweltpolitik haben wir den Erfolg dann auf unserer Seite, wenn wir den Bürger als Partner begreifen und auf seine Bereitschaft zur Mitarbeit setzen.Für uns Liberale ist es besonders erfreulich, daß die Verbandsklage für allgemein anerkannte Naturschutzverbände zum gemeinsamen Ziel der Koalition erklärt wurde.
Lärmschutz ist das Stichwort, das den Nachholbedarf aufzeigt, den wir auf diesem Gebiet noch haben.
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72 Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 26. November 1980
HoppeOhne internationale Absprachen werden unsere nationalen Umweltbemühungen ihre Wirkungen nicht voll entfalten können. Die Verschmutzung der Nordsee ist ein Beispiel dafür. Wenigstens innerhalb der Europäischen Gemeinschaft müssen die Umweltauflagen einander angeglichen werden, auch aus Gründen der Verhinderung von Wettbewerbsnachteilen. Umweltfragen gehören ebenso auf den Konferenztisch zwischen Ost und West und vor die UNO.Freilich, ein grünes Utopia werden wir Liberalen nicht versprechen. Wer das fordert, erweckt unerfüllbare Hoffnungen. Er kalkuliert wirtschaftliche Rückschläge ein und setzt das System sozialer Leistungen aufs Spiel. Dies wäre gesellschaftspolitisch töricht und moralisch verwerflich.Was wir aber wollen, ist, den nachfolgenden Generationen eine Welt zu hinterlassen, die lebenswert ist.
Dazu gehört die Gewißheit, als Bürger über eine geschützte Persönlichkeitssphäre zu verfügen, in die keine noch so moderne Verwaltung und keine noch so verlockende technische Entwicklung eindringt.
Ein neues Zeitalter hat auf dem Gebiet der Kommunikationstechnik und Datenverarbeitung begonnen. Hier tut sich ein Feld für eine Vielzahl von Erleichterungen im täglichen Leben auf, aber zugleich auch die große Gefahr, daß der Mensch in diesem rasanten Prozeß nicht mehr gestaltendes Subjekt bleibt, sondern zu einem ausgelieferten Objekt wird.Wir Freien Demokraten sehen im Schutz der Persönlichkeitssphäre eine herausragende Aufgabe zur Verteidigung der Bürgerrechte in den 80er Jahren. Die bevorstehende Einführung neuer Medien wie Bildschirmtext und Kabelfernsehen mit Rückkanal wird die Gefahr des Eingriffs in die Privatsphäre durch den technischen Fortschritt noch erhöhen. Wir wollen, meine Damen und Herren, auf den Fortschritt zwar nicht verzichten, aber er darf nicht zu einem Enthüllungsmechanismus im privaten Bereich führen.
Das Thema Datenschutz soll uns deshalb nicht mehr loslassen. Wir müssen erreichen, daß Informationen ausschließlich nach dem Prinzip der Erforderlichkeit und Ausgewogenheit gesammelt und verteilt werden. Angesichts unserer Wirklichkeit sollte ein Grundrecht des Bürgers auf Datenschutz als zwingende Orientierung und Selbstverpflichtung für Politik und Verwaltung eingeführt werden.
Lebenswerte Zukunft: Der Gedanke daran setzt eine Fülle von Vorstellungen und Wünschen frei. Das gilt auch für die Bildungspolitik. Was zur Zeit in Sachen Anerkennung oder Nichtanerkennung von Schulabschlüssen geschieht, ist haarsträubend. Es ist einfach grotesk, wie hier die simpelsten Gebote der Toleranz und der Verantwortung gegenüber Schülern, Eltern und Lehrern mißachtet werden.
Es lohnt sich, einmal darauf zu hören, was der frischgewählte Vorsitzende der CDU Rheinland, Bernhard Worms, zur Stimmungsmache gegen die Gesamtschule gesagt hat:Wir haben uns— das sagte er für die CDU —in dieser Frage in eine Sackgasse verrannt. Wir haben uns paralysiert. Wir haben auf die Gesamtschule losgeschlagen, obwohl wir im Ernst bis heute nicht genau wissen, ob sie nun besser oder schlechter als das gegliederte Schulwesen ist.
— Verehrter Herr Kollege, ich war diesmal ausgerechnet bei Ihrer Partei, bei Ihren Parteifreunden grasen gegangen. Wenn Sie Ihren Parteifreund, den ich hier zitiere, zum Oberlehrer machen wollen, dann ist auch das für den Zustand und den Zuschnitt in Ihren Reihen wieder erhellend. —
Ich meine, solche Worte könnten das Umdenken in der Schulpolitik beschleunigen. Wird der Schulkampf nämlich auf die Spitze getrieben, so hätten wir in Schulfragen bald eine zweigeteilte Bundesrepublik.Lebenswerte Zukunft — das heißt für viele Bürger und hier speziell für viele weibliche Bürger, daß das Gleichberechtigungsgebot in Art. 3 der Verfassung konkretisiert wird. Wir Freien Demokraten stimmen mit einem Gutachten des Direktors des Instituts für Staatsrecht an der Kölner Universität, Professor Friauf, überein, wonach das Grundgesetz „den Staat zur aktiven Förderung und Unterstützung verpflichtet, um festgestellte Gleichheitsdefizite abzubauen". Wir streben deshalb ein Antidiskriminierungsgesetz an. Es soll sicherstellen, daß Gleichberechtigung von Mann und Frau auch im praktischen Leben befolgt wird.
Wir wissen sehr wohl: Für sich allein wird ein solches Gesetz die Gleichberechtigung kaum bewirken.
Aber es kann den notwendigen Umdenkungsprozeß fördern, der bei uns allen noch vor sich gehen muß.
Grund- und Freiheitsrechte sind niemals gesicherter Besitz. Sie müssen gelebt, in der Tagespolitik ständig erweitert und vor Gefährdungen und Eingriffen geschützt werden.
Dieses Selbstverständnis liberaler Innen- undRechtspolitik macht es erforderlich, daß einmal ge-
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Hoppetroffene Entscheidungen überprüft und dann korrigiert werden, wenn sie sich als falsch oder unwirksam erwiesen haben. Bei den sogenannten Gewaltparagraphen 88 a und 130 a ist ihre Wirkungslosigkeit bei der Terroristenbekämpfung offenkundig, ebenso sind es aber auch ihre negativen Auswirkungen auf kritische Geister. Diese Paragraphen wird niemand vermissen, wenn wir sie nun abschaffen.
Novelliert werden sollte das Kontaktsperregesetz. Es ist eine Regelung anzustreben, die dem Untersuchungshäftling in keiner Phase der Kontaktsperre die anwaltliche Vertretung nimmt. Sie ist für jeden Inhaftierten von ausschlaggebender Bedeutung. Und wer nicht in einseitigen Sicherheitskategorien denkt, wird sich diesem Argument auch nicht verschließen können.
So, wie wir mit der Innen- und Rechtspolitik dem inneren Frieden dienen, so dient unsere Verteidigungsbereitschaft dem äußeren Frieden. Der Frieden ist nicht alles, aber ohne Frieden ist alles nichts. Unser Land hat diese Lektion in vielen leidvollen Erfahrungen gelernt. Noch heute spüren wir Tag für Tag die Folgen der Vergangenheit. Der Trennungsstrich, der die Welt in zwei große Machtblöcke teilt, geht mitten durch Deutschland. Gerade deshalb fühlen wir uns zu einer Politik des Ausgleichs und der Veständigung mit allen Ländern der Erde verpflichtet. Befähigt dazu sind wir durch die Partnerschaft mit den Vereinigten Staaten, der Europäischen Gemeinschaft und den Verbündeten der NATO. Dies gibt unserem Land Sicherheit und Rückhalt. Hierzu leisten wir einen eigenen hohen Beitrag. In den letzten Tagen wurde viel über die Erfüllung unserer Bündnisverpflichtungen gesprochen und geschrieben. Ich bin sicher, daß wir, wie in den zurückliegenden zehn Jahren, unsere Zusagen auch in Zukunft erfüllen werden.Was die strukturelle Anpassung der Bundeswehr an die Bedingungen der kommenden Jahre angeht, so reicht das bloße Kurieren an den Symptomen sicher nicht aus. Mehr Effektivität, mehr Kampfkraft müssen nicht immer geichbedeutend sein mit mehr Geld. Besonders die Erfahrungen, die wir mit laufenden Rüstungsprogrammen — und hier besonders mit dem MRCA/Tornado — gemacht haben, werden uns zur Umkehr zwingen. Jede Gigantomanie bei der Rüstungsbeschaffung führt sich selbst ad absurdum.
Letztlich würden wir dadurch unsere Verteidigungsfähigkeit nur einbüßen. Auch hier gilt der Grundsatz: Weniger ist oft mehr.Dennoch werden wir auch in Zukunft einen großen Teil des Bundeshaushalts für Verteidigungsausgaben aufbringen müssen. Das ist der Preis, den wir für die Sicherung des Friedens und den Erhalt unserer Freiheit zu zahlen nun einmal gezwungen sind. Dafür kann die Bundeswehr für sich in Anspruch nehmen, länger dem Frieden gedient und ihn bewahrt zu haben, als dies bei der deutschen Armee in der Vergangenheit der Fall war.Meine Damen und Herren, das ist eine Bundeswehrtradition, die unsere Soldaten heute auszeichnet. Die Bundeswehr hat sich manchen Unkenrufen zum Trotz nicht zu einem Staat im Staate enwickelt. Wenn sie dennoch 25 Jahre nach ihrer Gründung bei ihrer Selbstdarstellung zum Anlaß wütender Kritik wird, so muß das nicht unbedingt an ihr selbst liegen.
Die Bürger in Zivil stellen dem Bürger in Uniform zu Recht Fragen, auch nach ihren Leitbildern und Traditionen. Aber Fragen zu stellen, heißt noch nicht, die Bundeswehr in Frage zu stellen.
Schwer erträglich ist jedoch jene Form der Auseinandersetzung, die wir bei den öffentlichen Gelöbnisfeiern miterleben mußten. Es gibt soldatische Traditionen, die Zivilisten fremd und unzeitgemäß erscheinen. Vielleicht hätte sich die Bundeswehr selbst einen Gefallen getan, wenn sie die Diskussion über die Traditionspflege vor ihrer Jubiläumsfeier zu einem gewissen Abschluß gebracht hätte.
Wer aber in der Diskussion über soldatische Traditionen ernstgenommen werden will, sollte sich hüten, etwas weitaus Schlimmeres wieder aufleben zu lassen: die Intoleranz.
Ich möchte unserer Bundeswehr wünschen, daß sie zu Formen findet, die auch den Menschen unserer Zeit etwas zu sagen haben. Das braucht Weile. Dies ist um so schwieriger, als die Bundeswehr nach Scharnhorst, in dessen reformerischer Tradition sie j a steht, ein Spiegelbild der Bevölkerung sein soll.
Wie aber kann man einer Armee das abverlangen, was Staat und Gesellschaft bis zum heutigen Tage auch nur höchst unvollkommen vermocht haben, nämlich die Entwicklung eines eigenen Geschichtsbewußtseins?
Der Wille der Bürger zur Verteidigung unseres Staates wird von der Überzeugung bestimmt, daß dieser Staat auch verteidigungswürdig ist. Je freiheitlicher und gerechter unser Staat im Innern ist, um so größer wird die Einsicht in die Notwendigkeit und den Sinn seiner Verteidigung nach außen sein. Diesen Zusammenhang gilt es bei allen politischen Entscheidungen immer wieder zu berücksichtigen. So gesehen ist Gesellschaftspolitik eben doch auch ein Stück Sicherheitspolitik.Sicherheit und Frieden haben ihre Wurzeln im Gleichgewicht der militärischen Kräfte und in der
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74 Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 26. November 1980
HoppeFähigkeit zur Verständigung. Entspannungspolitik verspricht keine heile Welt, aber sie ist ein unentbehrliches Instrument, um Konflikte und Spannungen zwischen West und Ost rational anzugehen und unter Kontrolle zu bringen. Jene Rechthaber sind auf dem Holzweg, die fast jubelnd im „Bayernkurier" den Zusammenbruch der Entspannungspolitik beschwören. Herr Kollege Kohl hat heute hierzu auch nur eine lyrische Bemerkung gemacht.Richtig ist, daß der Einmarsch der Sowjettruppen in Afghanistan völkerrechtsverletzend und imperialistisch geprägt ist. Über 110 Staaten haben dies in der vergangenen Woche vor den Vereinten Nationen noch einmal bekräftigt. Richtig ist auch, daß die Hinwendung zu pluralistischen Strukturen in Polen zu einer hochgradigen Verunsicherung im gesamten Ostblock geführt hat.Hieraus wuchs das hektische Bedürfnis nach Abschottung. Die Verantwortlichen in der DDR und in der Tschechoslowakei sind in dieser Hinsicht besonders eifrig, fühlen sich also offenbar besonders in der Klemme. Nur, das sind alles noch keine Argumente gegen die von uns verfolgte Entspannungspolitik. Es wäre töricht, das Dilemma zu leugnen, in das jedes kommunistische System gerät, wenn in seinem Herrschaftsbereich die Forderung nach mehr Menschenrechten virulent wird. Die volle Verwirklichung der Menschenrechte dort wäre nun einmal mit der Preisgabe der kommunistischen Herrschaftsbasis gleichzusetzen.Wer diesen existenziellen Zusammenhang nicht sehen will oder nicht sehen kann, der tut sich in der praktischen Außenpolitik schwer. Nur unter Beachtung der Realitäten war es erreichbar, daß in den 70er Jahren so viele handfeste Fortschritte, speziell für die Menschen in Deutschland, durchgesetzt werden konnten. Dieser realistischen Politik verdanken wir die Zukunftssicherung Berlins, den reibungslosen Transitverkehr, die vielen Begegnungen der Deutschen zwischen Ost und West.Daß jetzt die DDR-Führung nach Westen wie auch nach Osten Hürden aufbaut, ist nicht nur für uns und die polnischen Bürger, sondern besonders für die Menschen in der DDR eine Zumutung.
Was da aus offenkundiger Schwäche verfügt wurde, wird sicherlich nicht zur Beruhigung in der DDR beitragen, sondern den Unmut der Bürger dort erst recht entfachen.
Insofern kann ich mir vorstellen, daß sich die DDR-Führung eines, hoffentlich nicht zu fernen, Tages veranlaßt sehen wird, ihre Abgrenzungsmaßnahmen aus eigenem Sicherheitsinteresse wieder zurückzunehmen.Die Freien Demokraten bleiben jedenfalls auf ihrer in den 60er Jahren eingeschlagenen Linie, jeden Ansatzpunkt zu konstruktiven Veränderungen im deutsch-deutschen Verhältnis zu nutzen.
Wir werden uns allerdings mit Geduld zu wappnen haben. Sie gehört im Umgang mit den Repräsentanten des zweiten deutschen Staates nun einmal zur Normalausstattung. Der Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland, Landesbischof Lohse, hat treffend gesagt: „Geduld wird in der deutsch-deutschen Politik noch mehr als bisher eine der wichtigsten Tugenden sein. Zorn, so verständlich er ist, kann nichts zum Positiven wenden."„Friede" — so formuliert der niederländische Philosoph Spinoza — „ist nicht die Abwesenheit von Krieg, Friede ist eine Tugend, eine Geisteshaltung, eine Neigung zu Güte, Vertrauen, Gerechtigkeit." Aus dieser Geisteshaltung heraus ist für die Freien Demokraten die Hilfe zur wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung der Staaten der Dritten Welt ein unverzichtbarer Teil unserer Friedenspolitik.
Zwischen den Industriestaaten und den Entwicklungsländern bestehen inzwischen so enge wirtschaftliche und politische Wechselbeziehungen, daß heute keine dieser Ländergruppen mehr ohne die andere auskommt. Von unserem Wohlergehen hängen unsere Hilfsmöglichkeiten für die Dritte Welt ab. Ein umfassendes Wirtschaftswachstum in der Dritten Welt kann andererseits wesentliche Impulse für die Industrieländer geben. Diese Verflechtung wird in Zukunft noch zunehmen. Hinzu kommt, daß wichtige internationale Probleme ohne die Dritte Welt nicht mehr lösbar sind, wie die Beispiele Seerecht, Umweltschutz und weltweite Terrorismusbekämpfung zeigen. Es muß uns an einem fairen Zusammenleben von Nord und Süd gelegen sein.Mehr Hilfe zur Selbsthilfe, so lautet der Auftrag, den wir gegenüber den Staaten der Dritten Welt zu erfüllen haben. Das bedeutet nicht nur Steigerung des öffentlichen und privaten Kapitaltransfers und Verbesserung der Rahmenbedingungen für die Entwicklungsländer, indem wir ihnen weiter unsere Märkte öffnen, nein, das bedeutet auch vor allem Achtung der Souveränität und des Rechts der Bevölkerung auf eine selbstbestimmte Entwicklung. Entwicklungspolitik darf deshalb nicht mit der Schaffung neuer Einflußzonen gleichgesetzt werden. Wir sollten alles vermeiden, was den Ost-West-Gegensatz auf die Dritte Welt überträgt und den Entwicklungsländern fremde Gegensätze aufzwingt.Eine Politik der fortschreitenden partnerschaftlichen Zusammenarbeit hat nur Zukunft, wenn sie auf der Basis der Gleichberechtigung und der Wahrung der kulturellen und politischen Eigenständigkeit betrieben wird. Es ist eine Jahrhundertaufgabe, die von uns nicht nur höchsten moralischen, sondern auch materiellen Einsatz verlangt.Meine Damen und Herren, wie bei der Entwicklungshilfe müssen wir insgesamt lernen, gerechter zu teilen, um des Friedens in der Welt willen, aber mit ebensolcher Dringlichkeit auch zur Sicherung unserer eigenen Zukunft. Eine Abkehr vom üblich gewordenen Anspruchsdenken tut not, oder genauer: Unsere Ansprüche, die sich allzu einseitig am Materiellen orientieren, nehmen uns allmählich die Luft zum gedeihlichen Leben. Eine stärkere Hinwendung auf humane und kulturelle Ziele ist unaus-
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Hoppeweichlich. Wer für sich ohne Rücksicht auf die Konsequenzen immer mehr haben will, provoziert eine Atmosphäre der Aggressivität und der Unzufriedenheit nicht nur bei den Zukurzgekommenen, sondern letztlich auch bei den scheinbaren Gewinnern.
Gehen wir deshalb haushälterisch und klug mit dem um, was wir an Ideen, an Geld und Energie haben, und vor allem: lernen wir miteinander, ein bißchen bescheidener zu sein.
Meine Damen und Herren, wir treten in die Mittagspause ein und beginnen wieder um 14 Uhr.
Präsident Stücklen: Die unterbrochene Sitzung wird fortgesetzt.
Entsprechend einer interfraktionellen Vereinbarung soll zunächst der Tagesordnungspunkt 3 behandelt werden:
Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU, SPD und FDP
Bestimmung des Verfahrens für die Berechnung der Stellenanteile der Fraktionen
— Drucksache 9/10 — Wird das Wort dazu gewünscht? — Das ist nicht der Fall.
Wir kommen zur Abstimmung. Wer dem interfraktionellen Antrag auf Drucksache 9/10 zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Der Antrag ist einstimmig angenommen.
Ich rufe Punkt 4 der Tagesordnung auf:
Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU. SPD und FDP
Einsetzung von Ausschüssen
— Drucksache 9/11 —
Das Wort wird dazu nicht gewünscht. Wir kommen zur Abstimmung. Wer dem Antrag auf Drucksache 9/11 zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Keine. Dieser Antrag ist ebenfalls einstimmig angenommen.
Ich rufe den Zusatzpunkt auf:
Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU, SPD und FDP
Mitglieder des Gremiums gemäß § 9 Abs. 1 des Gesetzes zur Beschränkung des Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnisses
— Drucksache 9/16 —
Wird dazu das Wort gewünscht? — Das ist nicht der Fall.
Wir kommen zur Abstimmung. Wer dem interfraktionellen Antrag auf Drucksache 9/16 zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Auch dieser interfraktionelle Antrag ist einstimmig angenommen.
Meine Damen und Herren, wir fahren in der Aussprache über die Regierungserklärung fort.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Zimmermann.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Kollege Brandt, Parteivorsitzender der SPD, hat am Anfang seines Beitrages eine Art Geisterbeschwörung vorgenommen. Es war interessant, daß er von den 140 Punkten der Regierungserklärung ganze vier für wert befand, seiner Zustimmung Ausdruck zu geben.
Er sagte im übrigen über die Regierungserklärung — das war für mich die wichtigste Aussage, die er über sie machte; sonst war das sehr spärlich —, daß die Menschen am Arbeitsplatz und am Kochherd die Regierungserklärung besser verstanden hätten als die, wie er sich ausdrückte, „hochgestochenen Kommentatoren". Nun, wer sind denn die „hochgestochenen Kommentatoren"? Da muß man sich einmal die Kommentarübersicht „Fernsehen und Hörfunk" von gestern vornehmen, was da so zu lesen steht — und zwar überall, bei allen Stationen —: „Keine zukunftweisenden Perspektiven", „Begrenzte Perspektiven", „Ein müder Kanzler", „Kein großer Wurf", „Keine kraftvollen Ankündigungen", „Wenige hörten aufmerksam zu", „In Koalitionsrücksichten steckengeblieben", „Motto ohne Füllung", „Für die Jugend enttäuschend", „Lustlos wirkende Pflichtübung", „Regierung braucht Mut zur Zukunft", „Keine Neuigkeiten", „Banale Absichtserklärungen", „Neuigkeitswert gering", „Geistige Ode", „Kein Aufbruch zu neuen Ufern", „Auf eine glorreiche Zukunft deutet nichts hin", „Kein großartiger Auftritt", „Schlechter Start". Das waren die „hochgestochenen Kommentatoren",
und zwar einfach der Reihe nach heruntergelesen.
Herr Abgeordneter Dr. Zimmermann, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Wehner?
Bitte schön.
Nachdem Sie sich fremder Wertungen bedienen, frage ich Sie, ob Sie diese Bonbons auch als Ihre eigenen hier umherstreuen möchten.
Herr Kollege Wehner, ich bin jederzeit in der Lage — und dazu bin ich ja für die nächste Dreiviertelstunde ans Rednerpult gekommen —, hier meine eigenen Wertungen der Regierungserklärung darzulegen. Auf die „hochgestochenen Kommentatoren" bin ich nur deshalb ge-
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Dr. Zimmermannkommen, weil Ihr von Ihnen so geschätzter Nebenmann diese Bemerkung gemacht hat.
Noch etwas war bemerkenswert. Bemerkenswert war, daß die Rede des Kollegen Brandt fast ausschließlich an die eigene Fraktion gerichtet war. Die hatte er im Blick. Offenbar hat es diese Fraktion so nötig wie selten zuvor nach einer Regierungserklärung des eigenen Kanzlers, so beschwörend vorgenommen zu werden. Interessant!
Dann nahm der SPD-Vorsitzende noch den mißglückten Versuch auf sich, dieser Regierungserklärung einige reformerische Akzente aufzusetzen. Aber auch das ist mangels Masse nicht gelungen.Sein letzter Teil war der Beschwörung der FDP-Fraktion gewidmet. Wieweit das erfolgreich war, möchte ich dahingestellt sein lassen. Herr Kollege Hoppe hat gesagt: Der Bundeskanzler ist umsichtig, besonnen und handlungsbereit. Nun, wenn das der Kollege Brandt gesagt hätte, wäre es eine echte Sensation gewesen!
Meine Damen und Herren, der heutige Tagesordnungspunkt lautet: Aussprache über die Erklärung der Bundesregierung. Ich betone das, damit nicht ein Erwartungshorizont eröffent wird, der mit den Worten umschrieben wird — und manches in der Presse hat sich so angehört —, jetzt sei die CDU/ CSU daran, die bessere Regierungserklärung abzugeben.
Das wollen wir nicht tun.
Denn Sie von der SPD und Sie von der FDP stellen die Bundesregierung, Sie und Sie haben die Regierungserklärung zu verantworten. Sie haben eine Mehrheit. Deswegen kann es nicht unsere Aufgabe sein, eine zweite Regierungserklärung aus unserer Sicht abzugeben. Unsere Aufgabe ist es, die Grundrichtung der Regierungserklärung zu debattieren, da und dort kritisch nachzufragen, wo der Bundeskanzler unscharf blieb oder wo er unserer Meinung nach grundsätzlich falsch lag. Natürlich werden wir — und Helmut Kohl hat das bereits getan — die Akzente dort setzen, wo wir sie für notwendig halten.Die Regierungserklärung selbst wird weder den vorhandenen Problemen noch den Erwartungen der Bürger gerecht. Von dem notwendigen klaren Blick nach vorn war nichts zu spüren. Nichts hat das regierungsamtliche Etikett „Mut zur Zukunft" gerechtfertigt.Die Bundesregierung und die Koalitionsparteien tun sich schwer mit den Problemen der Gegenwart, weil sie noch vor wenigen Wochen allein die Frage nach etwaigen Problemen als frevelhaft verdammt haben — allein die Frage!
Das rächt sich jetzt. Deswegen war der Kanzler intensiv darum bemüht, das gestern Gesagte vergessen zu machen, dem Heute auszuweichen und sich in die Unverbindlichkeiten des Morgen zu flüchten.Von einer Regierungserklärung muß der Bürger jedoch konkrete Aussagen erwarten können. Wir haben philosophische Ausführungen zur Weltlage, einen ganzen Katalog von Prüfungsvorhaben und auslegungsfähige Absichtserklärungen gehört. Beinahe das einzige Konkrete für den Bürger waren die finanziellen Belastungen, die er sozusagen als erste Rate für die soeben erstandene Bundesregierung tragen darf. Weitere Raten sind allerdings schon angekündigt. Mit diesen soll offenbar die Belastungsfähigkeit des Arbeitnehmers getestet werden.Es ist schon merkwürdig, daß am Tage nach einer Bundestagswahl die Dinge so anders aussehen als am Tage davor.
1976 kam der Offenbarungseid bei der Rentenreform, und auch diesmal scheint in der Wahlnacht — sozusagen vom 5. auf den 6. Oktober — das Unheil über die Bundesrepublik hereingebrochen zu sein. Plötzlich ist von drohender Staatsverschuldung die Rede, von einer Million Arbeitslosen, vom DM-Kurs im Verhältnis zum Dollar. Das war natürlich alles nicht über Nacht. Aber die Bundesregierung und die sie tragenden Parteien haben es wie 1976 fertiggebracht, den wahren Sachverhalt zu verbergen und sich selbst Illusionen über die wirkliche Lage zu machen.Hier ist auf die Vergeßlichkeit der Menschen spekuliert worden. Es ist in Kauf genommen worden, daß ein so eklatanter Vertrauensschwund beim Bürger auch ein Stück Demontage der Glaubwürdigkeit der gesamten Demokratie bedeutet. Niemand braucht sich über die Abwendung vieler junger Leute von den politischen Parteien zu wundern, wenn Wahrhaftigkeit und Ehrlichkeit von der Spitze des Staates nicht geübt werden.
Dabei ist es kein Trost für uns, für die Unionsparteien, daß wir die Schwierigkeiten der finanz- und wirtschaftspolitischen Lage lange, lange Monate offen angesprochen haben. Jeder Verlust an Glaubwürdigkeit des demokratischen Systems trifft alle demokratischen Parteien.In der Fernsehdiskussion drei Tage vor der Bundestagswahl hat Franz Josef Strauß auf den hohen Schuldenstand der Bundesrepublik hingewiesen. Der Bundeskanzler hat ihn der Angstmacherei bezichtigt. Es hilft dem Bundeskanzler heute gar nichts, wenn er in einer Art von trotziger Rechthaberei verharrt und behauptet, daß alles nicht nur wohlgetan sei, sondern er auch wieder so handeln würde. Er fügt in der Regierungserklärung gleich an, daß heute die Situation anders sei und „andere Konzepte" erfordere.
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Dr. ZimmermannDa reibt man sich verwundert die Augen. Ist der heutige Zustand der öffentlichen Finanzen nicht die Folge der Politik der letzten Jahre, nicht etwa der letzten Monate?
Seit wann ist dieser Kanzler im Amt? Und war er nicht vorher auch Finanzminister? Es gehört schon viel Mut dazu, so mit der Vergangenheit zu verfahren.
Die Bundesregierung hat vor der Wahl die Wirtschafts- und Finanzlage stark geschönt, um es ganz vornehm auszudrücken.
Wir haben keine Veranlassung, jetzt der Regierung Hilfestellung zu leisten.Herr Wehner, es fällt mir bei dem Sachverhalt, wie er heute vor mir liegt, in der Tat schwer, diese Lage nur als von der Regierung „geschönt" zu bezeichnen. Das fällt mir schwer.
Die Koalition aus SPD und FDP verfügt über eine deutliche rechnerische Mehrheit. Diese Mehrheit muß sie nutzen. Jeder Wähler, der am 5. Oktober seine Stimme der SPD oder FDP gegeben hat, wird in der nächsten Zeit leider oft noch Grund haben, über diese seine Wahlentscheidung nachzudenken.Es ist sehr aufschlußreich, wenn man die Wahlversprechen der Bundesregierung mit den Realitäten der Regierungserklärung vergleicht. Noch im Mai dieses Jahres hat Finanzminster Matthöfer die bekannte Senkung der Lohnsteuer für 1981 verkündet, und er hat beruhigend hinzugefügt:Für die Finanzierung dieser Entlastungsmaßnahmen ist weder eine Erhöhung der Tabak-und Alkoholsteuer noch der Mehrwertsteuer vorgesehen. Sie werden durch Streichungen von Ausgaben finanziert.Genau diese Steuererhöhungen sind jetzt angekündigt, und die Mineralölsteuer wird dazu doppelt so hoch erhöht wie vor dem Wahltag angegeben.In der Regierungserklärung ist ein ganzes Kapitel einer angeblich sparsamen Haushaltsführung gewidmet. Im Text ist davon nichts zu finden. Die Limitierung der Nettokreditaufnahme auf rund 27 Milliarden DM ist weder eine Konsolidierung noch eine Sanierung des Staatshaushalts. Die Regierung sieht es offenbar als Erfolg an, wenn keine weitere Steigerung der Zuwachsrate der Neuverschuldung erfolgt; an einen Schuldenabbau wird offenbar überhaupt nicht gedacht.Wenig überzeugend ist die Begründung zur Einschränkung der Subventionen im Mineralölsektor und zur Erhöhung der Mineralölsteuer. Damit soll nur vordergründig der Ölverbrauch gedrosselt werden. In Wirklichkeit will der Staat mehr Geld vom Bürger. Nur sollte die Regierung dann auch den Mut haben, offen zuzugeben, daß das so ist.
Grotesk ist die Argumentation bei den Steuererhöhungen. Die Aufrechnung der Steuererhöhungen mit den Entlastungen durch das Steuerpaket 1981/82 ist unzulässig. Dieses Steuerentlastungsprogramm, auf das die CDU/CSU und namentlich Franz Josef Strauß langjährig hingearbeitet haben,
hat das Ziel, die in den Vorjahren bereits eingetretenen heimlichen Steuererhöhungen wenigstens zum Teil auszugleichen. Diese heimlichen Steuererhöhungen werden auf 10 bis 15 Milliarden DM pro Jahr geschätzt, für 1979 bis 1982 also auf 40 bis 60 Milliarden DM. Das heißt, eine Saldierung, wie sie hier die Regierungserklärung vornimmt, ist eine Milchmädchenrechnung, die auf die Vergeßlichkeit des Bürgers der Bundesrepublik Deutschland spekuliert.
Unredlich ist auch die Regierungsversion bei der angestrebten Umlegung der Kfz-Steuer auf die Mineralölsteuer. Hier bittet der Kanzler scheinheilig um die Zustimmung der Länder, da die Kfz-Steuer eine reine Ländersteuer ist. Gleichzeitig hat die Bundesregierung jedoch bereits zu erkennen gegeben, daß sie eine Aufteilung des Mineralölsteueraufkommens ablehnt und den Ländern auch bei der Umsatzsteuer nicht entgegenkommen will. Die Ankündigung der Umlegung der Kfz-Steuer ist also das Ansinnen, einen Vertrag zu Lasten Dritter zu schließen, nämlich zu Lasten der Länder und Gemeinden und zu Lasten der Millionen von Pendlern, die auf ihr Fahrzeug angewiesen sind.
Noch ein Wort zur Staatsverschuldung. Die Rechtfertigungsversuche des Bundeskanzlers sind irreführend, denn bezogen auf das Haushaltsvolumen betrug der Schuldenstand beim Bund 1969 nur 35 %, aber 1980 schon 105%. Bei den Ländern ging es im gleichen Zeitraum nur von 38 % auf 63 % aufwärts. Ganz erhebliche Unterschiede! Die Regierungserklärung nennt nur die absoluten Zahlen des Schuldenstandes, und damit lenkt sie von der viel höheren Verschuldung des Bundes gegenüber den Ländern und Gemeinden ab.
Auch ein internationaler Vergleich ist irreführend. Er berücksichtigt nicht, daß sich der Staat bei uns in zwei Währungsreformen seiner Altschulden praktisch entledigt hat, während Großbritannien zum Beispiel die Schulden zweier Weltkriege, ja, auch noch der Kolonialkriege des 19. Jahrhunderts mitschleppt. Ich sage das deshalb, weil gerade der Bundeskanzler immer so viel Wert auf internationale Vergleiche legt, nach der Parole, daß es uns viel besser gehe, als anderen. Bei der Zunahme der Verschuldung seit 1974 — das sind die entscheidenden Jahre seit der letzten Rezession — hält die Bundesrepublik Deutschland den internationalen Spitzenplatz. Wir liegen mit 154 % Verschuldungszunahme weit vor allen anderen: Schweden 112 %, Frankreich 72 % — nur die Hälfte —, USA 59 %.
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78 Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 26. November 1980
Dr. Zimmermann— Das alles ist verschwiegen worden. In der Schuldenzunahme in den letzten sechs Jahren heißt der Weltmeister Bundesrepublik Deutschland unter Bundeskanzler Schmidt.
Sowohl die Regierungserklärung wie auch der Kollege Brandt haben den immer wieder geübten Versuch unternommen, darzulegen, daß diese Schulden im wesentlichen für Investitionen ausgegeben worden seien. Auch hier möchte ich die Zahlen nennen. Seit Beginn des Wirtschaftsabschwunges 1974 hat die Regierung 5,58 Milliarden DM für Arbeitsmarkt-Sonderprogramme und 21,15 Milliarden DM für Wirtschaftsförderungsprogramme ausgegeben. Das sind zusammen rund 27 Milliarden DM. Aber im gleichen Zeitraum hat sie 162,9 Milliarden DM neue Schulden gemacht. Jetzt schauen Sie sich einmal das Verhältnis von 27 Milliarden DM zu 162 Milliarden DM an; dann haben Sie die Wahrheit auf dem Gebiet des Schuldenmachens.
Ich glaube, wir sollten uns einig sein, daß jede Generation aus den Staatseinnahmen ihres Zeitraums die notwendige Infrastruktur zu finanzieren hat. Wenn der Kanzler durch seinen Vergleich praktisch den Anspruch erhebt, daß die Investitionen durch Schulden finanziert werden könnten, so will er im Ergebnis unsere Generation von der Finanzierung der Investitionen aussparen und die Bezahlung unseren Kindern und Enkeln überlassen. Das ist keine gute, keine solide Politik! Diese Politik fördert bei der jungen Generation in gar keiner Weise den Mut zur Zukunft.
Ein besonders trauriges Kapitel der Regierungserklärung ist der Teil, der sich mit der Energieversorgung beschäftigt. Der Kanzler findet starke Worte über eine notwendige Sicherung der Energieversorgung, aber konkrete Angaben fehlen. Er ist — das hören wir seit zehn Jahren wie eine tibetanische Gebetsmühle — für einen „begrenzten Ausbau der Kernenergie".Wir — und, ich glaube, auch die Menschen in dieser Republik — würden ganz gern wissen: Was heißt das? Wieviel Kernkraftwerke mit wieviel Megawatt und in wieviel Jahren sollen es denn sein? Wenn der größte Konzern der Bundesrepublik Deutschland, zur Mehrheit im Bundesbesitz, die VEBA, ausgerechnet in diesen Tagen in ihrem Vorstandsbericht gesagt hat, in den nächsten 20 Jahren müsse der Anteil der Kernenergie in der Bundesrepublik Deutschland von gegenwärtig 4 % auf 20 % erhöht werden — es gebe keinen anderen Weg —, und wenn das geschehen sei, würden wir uns 40 Milliarden DM beim Öl ersparen, wenn das der Vorstand eines Bundesunternehmens sagen kann, dann möchte ich fragen: Warum kann das nicht die Bundesregierung sagen, damit sich die Menschen auskennen?
Es ist doch leider bei uns in der Bundesrepublik Realität geworden, daß wir trotz einer führendenTechnologie im Kraftwerksbau in den letzten Jahren keine neuen Kernkraftwerke in Angriff nehmen konnten, weil der Bundeskanzler und seine Regierung damit ausgelastet waren, die bestehenden Baustellen zum Teil auch vor eigenen Parteimitgliedern zu sichern und zu schützen. Wenn die Bundesregierung jetzt verkündet, die Genehmigungsverfahren zum Bau von Kernkraftwerken zu beschleunigen, dann, meine Damen und Herren, steht das in einem seltsamen Widerspruch zur Einführung der Verbandsklage;
denn diese Verbandsklage ist doch nichts anderes als ein Gesetz zur Beschaffung von Klägern und würde in der Praxis zu einer Blockade nicht nur bei den Kernkraftwerken, sondern bei Kraftwerken überhaupt, bei großen Industrieanlagen und im Straßenbau führen. Auch das, glaube ich, hat man nicht bedacht, wenn man die Absicht der Einführung einer Verbandsklage mit einer solchen Leichtfertigkeit in diese Regierungserklärung hineingeschrieben hat. Meine Damen und Herren, für Hamburg, für einen Stadtstaat, mag das noch angehen — für einen Flächenstaat wie Bayern wäre das ein absolut unerträglicher Zustand.
Herr Abgeordneter Zimmermann, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Wehner? — Bitte sehr.
Sehr geehrter Herr Zimmermann, Ihre eindrucksvollen fachlichen Ausführungen veranlassen mich zu der Frage, ob Sie hier jetzt zugleich ein Angebot über ein Entsorgungslager im Freistaat Bayern unterbreiten wollen?
Sie freuen sich zu früh, meine Damen und Herren.
Der Friedrich Zimmermann gehört, wie manche wissen, dem Großen Nuklearrat an. Er war bei all diesen Verhandlungen zwischen Bund und Länder dabei.
— Ja, die Antwort kommt. — Es fehlt daran, daß die Bundesregierung ihre Absichten, wo in der Bundesrepublik Deutschland Zwischenlager errichtet werden sollen, noch gar nicht bekanntgegeben hat. Wir wehren uns letzten Endes nicht dagegen. Lothar Späth, der baden-württembergische Ministerpräsident, hat erst in diesen Tagen gesagt: Jawohl, wenn es denn sein muß, werde ich ein solches Lager übernehmen. Das gleiche gilt auch für Bayern, Herr Wehner.
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Da bohren Sie doch zunächst einmal beim Herrn Bundeskanzler und bei der Bundesregierung, daß die Bundesregierung endlich ihre Absichten in dieser Richtung bekanntgibt, damit die Länder wissen, woran sie sind.
— Wie wir es mit Kohlekraftwerken halten? Wir sind in der unglücklichen Lage, daß wir in Bayern weniger Kohle haben als an der Ruhr. Deswegen tun wir uns mit der Beantwortung dieser Frage verhältnismäßig leicht.
— Sie schicken sie natürlich, weil Sie schon immer Politik ohne Rücksicht auf die Kosten machen, und wenn Sie Kohle tausend Kilometer verschickten, das wäre Ihnen ganz gleichgültig. Sie würden die Kohlekraftwerke auch dahin bauen, wo sie zweitausend Kilometer weit weg sind,
weil Sie noch nie einen Sinn für die Realitäten, für das Verhältnis von Kosten und Nutzen gehabt haben; das ist der Punkt.
Herr Abgeordneter Zimmermann, gestatten Sie noch eine Zwischenfrage?
Nein, danke; jetzt muß ich in meiner Rede fortfahren. Ich bitte um Nachsicht.Das war gerade ein Lehrstück für sozialistische Ökonomie, das wir hier geboten bekommen haben.
— Nicht mit zwei „e", sondern mit „eh", Herr Kollege Wehner.Meine Damen und Herren, es fällt auf, daß die Regierungserklärung die verschiedenen sozialen Gruppen in diesem Land unterschiedlich behandelt und unterschiedlich zur Kasse bittet. Die freundlichen Worte an die Adresse der Gewerkschaften sollen offenbar vergessen machen, wie stark der Arbeitnehmer neu belastet wird und daß von den DGB-Wahlprüfsteinen, die von der SPD vor der Wahl doch positiv bewertet wurden, rein gar nichts mehr übriggeblieben ist, überhaupt nichts.
Um so verwunderlich ist allerdings dies: Als einzige der zahlreichen Institutionen, Verbände und Gruppen, die sich zu dieser Regierungserklärung geäußert haben — als allereinzigste —, ist der DGB — nicht die IG Metall; die war sehr kritisch — übriggeblieben. Man kann daran ermessen, wie nah die Verbindung sein muß.Was die Rentner angeht, so können sie entnehmen, daß ihnen die Zukunft höhere finanzielle Opfer auferlegt.Auf die deutsche Landwirtschaft ist nur negativ Bezug genommen worden, versteckt in mehreren Punkten, damit es nicht so auffällt. Die Bauern haben von dieser Regierung gar nichts zu erwarten, schon gar keine Anerkennung für das, was sie für die Pflege der Kulturlandschaft geleistet haben, von der Versorgung einmal ganz abgesehen. Die Tendenz, vom bäuerlichen Familienbetrieb zur Industriefarm zu kommen, ist unverkennbar. Der Landwirtschaftsminister dieser Regierung ist nur zu bedauern.
— Noch mehr die Bauern in unserem Land. Aber die Bauern in unserem Land wird die CDU/CSU nicht alleinlassen.
Im Bereich der Innenpolitik läßt die Regierungserklärung mehr Fragen offen, als sie beantwortet.Was heißt beispielsweise: „Wir wollen keine Extremisten im Staatsdienst. Wir wollen aber auch keine Opportunisten und Angepaßte."? Ist das vielleicht ein Gegensatz?Die Verwässerung der wirksamen Antiterrorgesetze und die Öffnung des Staatsdienstes für Extremisten sind nicht geeignet, das Vertrauen in den Rechtsstaat zu verstärken. Es ist der Bevölkerung nur schwer begreiflich zu machen, daß bei einer Zunahme der Gewaltverbrechen, vor allem der Kindesentführungen, die Bundesregierung die Möglichkeit der Strafaussetzung bei lebenslanger Freiheitsstrafe erweitern will.Der Bundeskanzler ist auch auf die Medienlandschaft eingegangen. Ich kann mich nur wundern, daß man hier starr an Strukturen festhalten will, die zu einer Zeit entstanden sind, als es moderne Kabeltechnik und Bildplatte noch nicht gab.Gerade im Medienbereich muß es wieder mehr Freizügigkeit geben.
Es gibt im Gegensatz zur Meinung des Bundeskanzlers eben keine Zunahme der Fernsehberieselung. Untersuchungen des ZDF haben festgestellt, daß wir einen beginnenden Zuschauerschwund vor uns haben und daß es Ermüdungserscheinungen gegenüber den öffentlich-rechtlichen Programmen gibt.
Ich vermag deshalb nicht einzusehen, wieso ein breiteres Angebot an den Bürger, den j a gerade diese Regierung so gern als den mündigen bezeichnet, schlecht sein soll.
Und was die Finanzierung der Verkabelung — auch darüber hat der Bundeskanzler gesprochen — angeht: Es genügt ein Blick zum österreichischen
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Dr. ZimmermannNachbarn, wie es dort gemacht wird. Wer sich verkabeln läßt, der zahlt dafür. Eine einfache und sehr leicht durchzuführende Regelung!Im Bereich des Wohnungsbaus ist die Bundesregierung eigentlich jede Antwort schuldig geblieben.
Den Studentenwohnheimbau schiebt sie auf die Länder ab. Wenn schon öffentliche Mittel im notwendigen Umfang nicht mehr bereitgestellt werden können, bleibt es unsere Pflicht, im Wohnungsbau den privaten Anlieger wieder zu gewinnen. Wen denn sonst? Einen Dritten gibt es doch nicht!
Die öffentliche Wohnungsbauförderung hat durch die SPD/FDP-Koalition ihre soziale Treffsicherheit verloren und ihre wirtschaftliche Leistungskraft eingebüßt. Die Bundesregierung wird jedoch am Problem der steigenden Wohnungsnot — nicht nur der Studenten — auf die Dauer nicht vorbeikommen.Der Bundeskanzler hat die Bildungspolitik angesprochen und dabei versucht, Niedersachsen gegen Bayern auszuspielen.
Wenn er so schön sagt, der Wille der Eltern müsse respektiert werden, dann muß er das bitte an seine Parteifreunde in Nordrhein-Westfalen weitergeben, wo es eine klare Volksabstimmung in Sachen Koop gegen die Gesamtschule gegeben hat und wo die SPD trotzdem das Votum der Eltern ignoriert.
An dieser Stelle darf ich eine persönliche Bemerkung machen.
Herr Abgeordneter Dr. Zimmermann, .es liegt wieder eine Wortmeldung zu einer Zwischenfrage vor.
Gilt es generell, daß Sie bis zum Ablauf Ihrer Rede keine Zwischenfragen zulassen?
Es gilt jetzt generell. Die anderen Fraktionen und ihre Redner haben genügend Zeit, sich nachher mit meinen Ausführungen auseinanderzusetzen. Ich habe nicht so viel Zeit, wie die Redner des heutigen Vormittags hatten — mit Recht hatten; da muß es gewisse Abstufungen geben. Deswegen muß ich bitten, meinen diesbezüglichen Wunsch zu respektieren.Meine persönliche Bemerkung stellt einfach die Frage, ob das Hinundherexperimentieren mit der Gesamtschule in den letzten Jahren sich gelohnt hat. Ich bezweifle es. Ich glaube, daß wir mit einem sauber gegliederten Schulwesen und mit Übergangsmöglichkeiten von einer Schulart zur anderen insgesamt besser gefahren wären. Die Probleme für Kinder, Lehrer und Eltern wären geringer. Wir sollten uns — das gilt für uns alle, auch für meine eigenen Freunde — nicht scheuen, die Reform zu reformieren. Hier sollten die Bildungspolitiker aller Parteien eine Zukunftsaufgabe sehen.
Der Bundeskanzler hat seine Regierungserklärung mit einigen grundsätzlich gemeinten Formulierungen zur internationalen Lage, zur Stellung Deutschlands in der Welt eingeleitet. Vielem davon kann man zustimmen, auch den geäußerten vier Grundlinien der Außenpolitik. Es ist richtig, daß die Bundesrepublik Deutschland ihre Sicherheit nur im Atlantischen Bündnis finden kann. Es ist auch richtig, internationale Gespräche mit dem Ziel der Abrüstung zu führen. Wir stehen jedoch vor der Situation, daß die Sowjetunion das militärische Gleichgewicht in Europa zu ihren Gunsten verschoben hat und täglich weiter verschiebt. Wir stehen vor der Situation, daß die Sowjetunion ihren Einflußbereich in der Welt ausdehnt und damit den Frieden gefährdet. Wir stehen vor der Situation, daß die Sowjetunion den Nachbarstaat Afghanistan militärisch besetzt hat und einen Ausrottungsfeldzug gegen die Bevölkerung führt, wie sich in diesen Tagen wieder beweist.
Das sind die Realitäten; an denen kommt niemand vorbei. Der Westen muß eine Antwort finden. In den USA ist ein Umdenkungsprozeß im Gange. Dem Bundeskanzler ist das in seinem Gespräch mit dem künftigen amerikanischen Präsidenten sicher nicht entgangen. Im Gegensatz zu früheren Belehrungen an die Vereinigten Staaten über die Notwendigkeit einer Unterzeichnung von SALT II fallen seine Außerungen in dieser Regierungserklärung wesentlich zurückhaltender aus. Mit Interesse habe ich auch vernommen, daß der Bundeskanzler im Gespräch mit Präsident Reagan vom Begriff der Entspannung abgerückt sein soll und statt dessen lieber von Gleichgewicht redet. In der Regierungserklärung stehen beide Begriffe nebeneinander. Ich glaube, der Begriff der Entspannung ist in den letzten zehn Jahren derart mystifiziert worden, daß er die Realitäten heute nicht mehr ausreichend umschreibt.
Ein prominenter Neutraler, der Chef der Österreichischen Kriegsakademie, General Kuntner, spricht in einem lesenswerten Artikel von der Entspannung als „Fortsetzung der Spannung mit anderen Mitteln". Ich will mir das nicht zu eigen machen, aber der Begriff der Entspannung hat Illusionen über einen Grad der Ost-West-Beziehungen geweckt, der unerreichbar bleiben muß, solange sich die Politik der Sowjetunion nicht ändert. Das ist doch der allein entscheidende Punkt.
Was wir tun können, was wir tun müssen, ist ein unablässiges Bemühen um eine Minderung der Spannungen und ein friedliches Nebeneinander.
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Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 26. November 1980 81
Dr. ZimmermannFranz Josef Strauß hat in seinem Buch „Gebote der Freiheit" von einem Dreiklang deutscher Politik gesprochen, von Sicherheit, Frieden und Freiheit. Diese drei Faktoren werden unsere Zukunft bestimmen. Es wäre ein verhängnisvoller Irrtum, wenn wir dabei nur auf Europa sehen würden. Es gibt in der Welt heute keine isolierten Zonen mehr; der Krieg zwischen den Ölförderländern Irak und Iran zeigt das deutlich. Europa steht ziemlich hilflos daneben, obwohl wir existentiell berührt werden, wenn die Ölversorgung unterbrochen wird. Die Präsenz der Vereinigten Staaten in dieser Region dient doch auch unseren Sicherheitsinteressen.Im Wahlkampf gab es eine überhitzte Diskussion um etwaige Soldaten am Golf. Das liegt weit ab von den realen Gegebenheiten.
Aber richtig ist, daß der Westen eine Antwort auf das sowjetische Eindringen in diese Region finden muß, daß wir nicht unbeteiligter Zuschauer sein können. Unser Schwerpunkt liegt in Europa, genauer: in Mitteleuropa. Aber vielleicht müssen wir dort zusätzliche Aufgaben übernehmen, wenn andere für uns in einer lebenswichtigen Region ihre und unsere Aufgaben gemeinsam übernehmen.
In dieser Beziehung — Helmut Kohl hat es heute schon gesagt — war diese Drei-Prozent-Diskussion von einer miserablen Wirkung. Nachträgliche Manipulationen schaden dem Bündnis, schwächen die Verteidigungskraft und signalisieren der Sowjetunion, daß ihre Politik des Abwartens statt Abrüstens eine erfolgreiche Strategie sein kann.Im übrigen ist es falsch, daß unsere Verteidigungsaufwendungen in den letzten Jahren um knapp 3 % — so wörtlich — real gestiegen sind. Und es ist zuwenig, wenn sich die Bundesregierung um den gleichen Anstieg — so wörtlich — bemühen will. Hier werden wir die Bundesregierung aus ihren Zusagen nicht entlassen; denn die Weltlage hat sich leider nicht gebessert. Ist die Bedrohung geringer, die Sowjetunion defensiver geworden? Haben die Russen eine einzige SS-20 abgebaut?Es schafft daher wenig Vertrauen im Bündnis, wenn aus der SPD heraus gegen den Verteidigungshaushalt polemisiert wird und ein sehr prominenter SPD-Politiker in diesen Tagen gemeint hat, ein starres Festhalten am NATO-Beschluß sei „ganz dummes Zeug". Die Bundesregierung kannte doch wohl schon vor dem 5. Oktober die Finanzlage und bessert jetzt den Haushalt mit neuen Steuereinnahmen auf. Es drängt sich der Verdacht auf, daß es Kräfte in der SPD gibt, die den Verteidigungshaushalt aus ideologischen Gründen kürzen wollen. Es hat sich dem Vernehmen nach dort eine eigene parlamentarische Linke als neue Gruppe konstituiert. Ich glaube, es wäre nicht gut, wenn internationale Verpflichtungen zum Spielball innerparteilicher Gruppenkämpfe würden.
Mit Befriedigung haben wir gehört, daß der Bundeskanzler die Soldaten der Bundeswehr gegen die Angriffe der letzten Zeit in Schutz genommen hat. Das Echo in seiner eigenen Fraktion ist leider sehr gering gewesen.
Es ist eine schlimme Tatsache, daß an den Demonstrationen gegen die Bundeswehr auch Sozialdemokraten teilgenommen haben. Es ist auch eine Tatsache, daß, während der Verteidigungsminister im Beisein des Kanzlers auf dem Bonner Marktplatz zu jungen Soldaten sprach, in Bad Godesberg die SPD unter Beteiligung von Mitgliedern dieses Hauses
zu einer Diskussion um die Zweckmäßigkeit dieser Veranstaltung eingeladen hatte.
— Der kommt noch dran.Dabei bezeichnete der Juso Vorsitzende Piecyk das öffentliche Gelöbnis als ein „Spektakel". Es diene — so wörtlich — „wie bei der Nationalen Volksarmee der DDR nur der Selbstdarstellung reaktionärer Militärs".
Das Mitglied dieses Hauses, der SPD-Abgeordnete Hansen verstieg sich zu der Behauptung, die Bundeswehr sei eine „CDU-Gründung", und dieser „Geburtsmakel" hafte ihr immer noch an.
Da berührt es eigenartig, nachdem sich der Herr Kollege Brandt heute auf die Verdienste von drei SPD-Verteidigungsministern berufen hat, wenn man solche Worte aus der SPD-Fraktion dieses Hauses im Jahre 1980 hört.
Und das Ganze wurde moderiert von dem stellvertretenden Fraktionsvorsitzenden und Zwischenrufer Ehmke.
— Ja, das ist unerhört, daß man sich da solche Zwischenrufe zu machen traut, Kollege Ehmke.
Das ist nur ein Beleg, meine Damen und Herren, von vielen anderen Belegen, die hier angeführt werden könnten, um das gestörte Verhältnis von vielen SPD-Leuten zur Bundeswehr auszuleuchten.Wenn der Staat in der Frage der öffentlichen Gelöbnisse zurückzieht, wie es in dieser Regierungserklärung angedeutet wird, dann wird sich der Staat in der Zukunft noch weiter zurückziehen müssen.
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82 Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 26. November 1980
Dr. ZimmermannEs geht doch überhaupt nicht um Gelöbnisse; es geht darum, diesen demokratischen Staat zu treffen. Gestern waren es die Atomkraftwerke, heute ist es die Bundeswehr, morgen werden es andere Institutionen des Staates sein.
Wenn wir die Bundeswehr jetzt alleinlassen, muß das Auswirkungen auf die Moral der jungen Soldaten haben. Künftige Wehrpflichtige werden ebenso verunsichert werden wie Reservisten. Man braucht kein Prophet zu sein, um zu erkennen, daß sich immer mehr junge Leute fragen werden, ob sie unter diesen Umständen Wehrdienst leisten wollen. In dieser Lage kündigt die Bundesregierung erneut an, die Kriegsdienstverweigerung zu erleichtern — unter „Ausschöpfung des verfassungsmäßigen Rahmens", wie es schönfärberisch heißt. Diesen Weg wird die Union nicht mitgehen.Mit Recht hat die Bundesregierung der Deutschland- und Berlinpolitik ein eigenes Kapitel gewidmet. Der Bundeskanzler ist dabei auch auf die bestehenden Abgrenzungsmaßnahmen der DDR-Führung eingegangen. Er sieht darin einen schweren Rückschlag für alle Deutschen. Darin pflichten wir ihm bei. Er will sich damit nicht abfinden. Auch hier stimmen wir zu. Was heißt es aber, wenn der Bundeskanzler dann Zusammenarbeit gegen Abgrenzung setzen will? Er kann doch wohl nicht meinen, jetzt die Politik der offenen Hand ohne Wenn und Aber fortführen zu können, egal, wie die DDR reagiert. Wir können nach den Abgrenzungsmaßnahmen der DDR doch nicht vom bloßen Bedauern zur Tagesordnung übergehen. Wir müssen eine angemessene Antwort finden, wenn wir die Chance haben wollen, wieder zu einem geordneten Verhältnis mit der DDR zu kommen. Schließlich war es die Bundesregierung, die Jahr um Jahr die erheblichen finanziellen Leistungen der Bundesrepublik Deutschland mit mehr menschlichen Beziehungen begründet hat. Man kann sich auch nicht auf Vertragseinhaltung auf unserer Seite herausreden, wenn die andere Seite diese Verträge mehrfach erheblich verletzt hat.Sechs Wochen nach Inkrafttreten des erhöhten Zwangsumtausches ist der Besuch der West-Berliner im Ostteil um 62 % zurückgegangen. Das ist in der Tat ein schwerer Rückschlag. Die Wochenzeitung „Die Zeit" hat vor einem Monat auf notwendige Gegenmaßnahmen der Bundesregierung hingewiesen. Joachim Nawrocki: Es wäre eine angemessene Antwort, den Besuchern in Ost-Berlin und der DDR den erhöhten Zwangsumtausch voll zu erstatten und die Gelder dafür bei den Zahlungen an die DDR abzuziehen. Dafür kämen in Frage die Pauschale für die Straßenbenutzungsgebühr, die Swing-Regelung und eine Erhöhung des Mehrwertsteuersatzes für die DDR im innerdeutschen Handel. Möglichkeiten gibt es.Es gibt noch einen gewichtigeren Grund, warum die Bundesregierung zu Gegenmaßnahmen übergehen muß. Wenn es stimmt — und die Bundesregierung behauptet es —, daß die Abgrenzungsmaßnahmen nur auf Druck Moskaus erfolgten, so muß man der DDR die Chance geben, Moskau zu beweisen, daß sie, die DDR, in Schwierigkeiten kommt, wenn sie der Moskauer Weisung folgt. Gerade wer für bessere innerdeutsche Beziehungen ist, muß — so paradox das klingen mag — jetzt Gegenmaßnahmen beschließen. Wer für bessere innerdeutsche Beziehungen ist, muß jetzt Gegenmaßnahmen beschließen!
Es ist mir aufgefallen, daß der Bundeskanzler in seiner Regierungserklärung das Grundgesetzgebot der Wiedervereinigung Deutschlands nicht angesprochen hat. Allein das „Bewußtsein von der Einheit der deutschen Nation" ist zu wenig. Das Ziel bleibt die Wiedervereinigung Deutschlands in Freiheit. So steht es im Grundgesetz, so steht es im Brief zur deutschen Einheit, der von der Bundesregierung anläßlich der Unterzeichnung des Moskauer Vertrages der Sowjetunion übergeben wurde, und so steht es im Verfassungsgerichtsurteil zum Grundlagenvertrag mit der DDR. So muß es auch bleiben!
Merkwürdig berührt hat mich der Ausspruch des Kanzlers, er und der SED-Chef Honecker — so wörtlich — „konnten für alle Deutschen sprechen, daß von deutschem Boden nie wieder ein Krieg ausgehen darf".
Wie ist das zu verstehen, Herr Bundeskanzler? Sie sprechen als Kanzler nicht nur für die Bürger, die Sie gewählt haben, Sie sind auch Kanzler der anderen, von jedem Bürger der Bundesrepublik Deutschland. Das ist unser gemeinsames Verfassungsverständnis. Aber für wen spricht Herr Honecker, für das SED-Politbüro oder für die 17 Millionen Deutschen in der DDR? Schickt nicht die DDR-Führung ihre Militärberater zur Kriegsführung in alle Welt? War sie nicht bei der Besetzung der CSSR dabei? Wie geht es mit Polen weiter?
Was heißt es, Sie wollten „die DDR nicht bevormunden", wo Sie es bei einem uns sehr weit entfernten Land wie der Republik Südafrika ausdrücklich tun?Nein, das ist keine überzeugende Deutschlandpolitik. Die Union hat Ihnen in dieser Frage und darüber hinaus die Bestandsaufnahme angeboten. Sie haben das abgelehnt. Auch in der Regierungserklärung gibt es nicht einmal den Versuch eines Ansatzes von Gemeinsamkeiten mit uns. Ich stelle das fest; wir müssen uns darauf einstellen.Meine Damen und Herren, diese Regierungserklärung war eine Enttäuschung und keine erfolgversprechende Arbeitsgrundlage für die Bundesregierung. Das weiß der Bundeskanzler selbst; sonst hätte er nicht gesagt, daß er nur „Grundzüge" vortragen könne. Die Bundesregierung hat das Kunststück fertiggebracht, sich trotz einer höheren Zahl von Abgeordnetensitzen von der Bevölkerung schon in den ersten vier Wochen zu isolieren. Die fehlende Wahrhaftigkeit vor der Wahl führt nach der Wahl zur Bürgerferne. Die Bundesregierung will weiter machen. Das ist ihr Recht, und dazu hat sie Mandat
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Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 26. November 1980 83
Dr. Zimmermannund Mehrheit Aber um weiter handeln zu können, braucht sie Gestaltungskraft und Zielvorstellungen. Beides ist sie schuldig geblieben.
Bei der Koalition dominieren Gleichmut, Unmut, Mißmut, Schweigen, wie es der „Kölner Stadtanzeiger" schrieb. Statt Aufbruchstimmung Abbruchstimmung. Der Parteifreund Eppler bezweifelt, daß Sie, Herr Bundeskanzler, die geistige Führung der Bundesrepublik Deutschland für Ihre Aufgabe halten und empfiehlt bereits den Nachfolger. Ihre Rede war ohne jede Perspektive für die 80er Jahre. Den Alptraum eines rapiden Verfalls seit dem 5. Oktober haben Sie nicht bannen können. So ergibt sich ein paradoxes Bild: eine Regierung, in den Wahlen gestärkt, nach den Wahlen geschwächt, so schreibt es die „Süddeutsche Zeitung". Dem ist nicht viel hinzuzufügen.Trotzdem, trotz dem allen sage ich: In den Fragen der nationalen Existenz sind wir von der CDU/CSU zur loyalen Zusammenarbeit bereit.
Es wird an der Regierung liegen, zu beweisen, daß Ihnen an dieser Zusammenarbeit liegt, und zwar nicht als Lückenbüßer, sondern wirklich und unvoreingenommen. Wir erwarten Ihre Angebote, im Interesse und für die Zukunft des deutschen Volkes.
Das Wort hat der Bundesminister des Auswärtigen.
— Einen Augenblick, Herr Minister. — Ich werde das Protokoll nachsehen und werde genau feststellen, was die Stenographen festgehalten haben. Die Schriftführer sind dazu berufen, den Präsidenten in seiner Aufgabe zu unterstützen. Ein weiterer Kreis ist in der Geschäftsordnung nicht genannt.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Parteien der sozialliberalen Koalition haben am 5. Oktober 1980 von den Wählern der Bundesrepublik Deutschland den Auftrag erhalten, auch für diese Legislaturperiode die Bundesregierung zu stellen. Wir werden entsprechend diesem Auftrag handeln und Politik machen.
Die Regierungserklärung bildet für unsere Zusammenarbeit eine solide Grundlage, die mindestens die hier schon zu Wort gekommenen Sprecher der Opposition sehr wohl veranlaßt hat, sich mit ihr in aller Breite auseinanderzusetzen. Ich finde es bemerkenswert, daß der Vorsitzende des Deutschen Gewerkschaftsbundes gestern in einem Rundfunkinterview für diese Politik die Unterstützung seiner Organisation zugesagt hat. Ich habe den Eindruck, Herr Vetter hat im Gegensatz zu manchem oberflächlichen Beobachter, der glaubte, die Regierungserklärung durch Handauflegen erfassen zu können, diese Erklärung auch wirklich gelesen, und sich bemüht, sie zu verstehen.
Meine Damen und Herren, als heute morgen die Debatte eröffnet wurde, aber auch im Laufe des Vormittags, konnte man annehmen, daß wir zu einer sachlichen und uns auch in manchen Beziehungen weiterführenden Diskussion kommen würden. Ich habe nach dem, was wir von Herrn Zimmermann gehört haben, den Eindruck, daß nach der in mancher Beziehung wegen des Gesagten bemerkenswerten, in mancher Beziehung wegen des Nichtgesagten bemerkenswerten Rede des Kollegen Dr. Kohl ihm jetzt eine breite Überzeugungsarbeit in seiner eigenen Fraktion bevorsteht!
Der Kollege Zimmermann hat sich hier als Anwalt einer entschlossenen, zielbewußten, in die Zukunft weisenden und selbstverständlich auch aufrichtigen Politik, insonderheit Energiepolitik präsentiert. Herr Wehner hat schon die Fragen gestellt, wie das dann mit der Mitwirkung der bayerischen Staatsregierung ist. Wie ich höre, war es der Abgeordnete Zimmermann des Wahlkreises Landshut, der sich mit besonderer Energie bei der Staatsregierung in Bayern dafür verwendet hat, daß das Kernkraftwerk Ohu II vielleicht gebaut, aber auf keinen Fall in seinem Wahlkreis gebaut werden darf.
Bitte, meine sehr verehrten Damen und Herren, es ist ja nicht einfach, so etwas dort durchzusetzen, wo man Verantwortung trägt — ich kenne das auch —, aber man sollte dann bitte nicht andere schelten.
Herr Bundesminister Genscher, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Dr. Zimmermann?
Ja, selbstverständlich, das ist immer eine Bereicherung.
Wollen Sie bitte zur Kenntnis nehmen, Herr Kollege, Genscher, daß in diesem Wahlkreis sieben Kilometer vor den Toren Landshuts schon ein Kernkraftwerk steht, das nicht mehr in Betrieb ist? Ein neues mit fast 900 MW ist jetzt gebaut worden. Es war allerdings meine Auffassung, daß vielleicht erst einmal, bevor ein weiterer Block gebaut wird, also eine Massierung an einem Ort stattfindet, woanders und dann erst wieder in Landshut ein Kernkraftwerk gebaut werden sollte.
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Dr. ZimmermannNehmen Sie bitte zur Kenntnis, daß Sie nicht eine einzige Äußerung von mir finden werden, die sich gegen den Bau von Kernkraftwerken überhaupt ausspricht.
Herr Kollege Zimmermann, die Zuhörer meiner Rede werden ja festgestellt haben, daß ich ausdrücklich hervorgehoben habe, daß Sie für den Bau von Kernkraftwerken überhaupt sind, aber gegen dieses Kernkraftwerk Nr. II Bedenken erhoben haben.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich hoffe, daß bei einer Rückkehr zu einer sachlichen Debatte — und daran müssen wir alle ein erhebliches Interesse haben — das aufgegriffen wird, was Herr Kollege Willy Brandt am Schluß seiner Rede und unter Anknüpfung an eine Passage in der Rede des Kollegen Dr. Kohl als noch ausräumungsbedürftig — aus dem Bundestagswahlkampf — bezeichnet hat. Meine Partei war an diesen Problemen nicht beteiligt. Trotzdem bin ich der Meinung, daß nach den ermutigenden Feststellungen, die der Alterspräsident dieses Bundestages und der Bundestagspräsident vor dem Deutschen Bundestag getroffen haben, jetzt in dieser Debatte der Zeitpunkt gekommen sein sollte, alles das vom Tisch zu nehmen, was geeignet sein könnte, die Zusammenarbeit in diesem Hause für die Zukunft zu belasten.
Es ist auch von der Opposition viel kritisiert worden, es fehle der Regierungserklärung an Perspektiven. Sie haben ganz gewiß recht, Herr Kollege Dr. Zimmermann: wenn die Regierung die Aufgabe hat, für die kommenden vier Jahre zu regieren, so haben Sie zunächst einmal das Recht, sich mit den dabei gesetzten Zielen auseinanderzusetzen. Aber eines möchte ich nun einmal ganz klar sagen, auch aus eigener Oppositionserfahrung: die Notwendigkeit, in der parlamentarischen Demokratie Perspektiven aufzuzeigen, ist nicht an Ämter und schon gar nicht an Regierungsämter gebunden. Das darf auch die Opposition.
Da haben Sie bis zur Stunde die Möglichkeit dieser Debatte nicht genutzt.Wir stehen vor entscheidenden internationalen Entwicklungen. Angesichts dieser besorgniserregenden Entwicklungen in vielen Teilen der Welt wird es notwendig sein, daß wir uns in einer solchen Debatte am Beginn einer neuen Legislaturperiode fragen, an welchen Stellen wir bei der Außenpolitik übereinstimmen können und an welchen Stellen die Gegensätze ausgetragen werden müssen. Hier knüpfe ich an den Teil der Rede des Kollegen Dr. Kohl an, den ich als „in manchen Punkten bemerkenswert" bezeichnet habe.Ich sage erstens: wir stellen energische Anstrengungen für eine politische und wirtschaftliche Stärkung der Europäischen Gemeinschaft und gegen dieDesintegration dieser Gemeinschaft zur Zollgemeinschaft in den Vordergrund. Das Europäische Währungssystem ist ein wichtiger Fortschritt gewesen. Wir erleben gerade in dieser Zeit seine Auswirkungen. Der Bundeskanzler hat dazu einen wesentlichen Anteil geleistet.Wir haben — und wir werden dabei noch vor schwierigsten Problemen stehen — den Staaten Griechenland, Portugal und Spanien zugesagt, daß wir sie bei ihrem Eintritt in die Europäische Gemeinschaft unterstützen wollen. Dieser Wille und diese Zusagen werden sich in dieser Legislaturperiode bewähren müssen. Es sollte eine gemeinsame Perspektive deutscher Politik sein, daß wir auch angesichts der ökonomischen Probleme, die damit verbunden sind, entschlossen bleiben, diese noch offenen Fragen bei Spanien und Portugal zu einer für diese Länder und für die Europäische Gemeinschaft tragbaren Lösung zu bringen.
Ferner ist es in dieser Legislaturperiode notwendig, daß die Bundesregierung bei der Reform der europäischen Agrarpolitk mitwirkt. Wenn man das fordert, wird man immer die Unterstützung der breiten Öffentlichkeit haben. Ich möchte nur wünschen, daß mein Kollege Ertl sowohl bei den Verhandlungen in Brüssel als auch hier bei der Vertretung der Verhandlungsergebnisse im eigenen Lande die notwendige Unterstützung bekommt, damit wir als Bundesrepublik Deutschland unseren Anteil zur Glaubwürdigkeit der Europäischen Gemeinschaft, zur Stärkung der Europäischen Gemeinschaft, aber auch zur Sicherung des bäuerlichen Familienbetriebes in unserem Lande leisten können.
Meine Damen und Herren, ich war nicht sehr glücklich über das, was ich hier in der Rede des Kollegen Dr. Zimmermann an Kritik an der Landwirtschaftspolitik der Bundesregierung gehört habe. Ich bitte doch die Damen und Herren der CDU/CSU, noch einmal an das Jahr 1969 und daran zurückzudenken, wie es da aussah und welche Probleme sie damals hatten, als sie den Finanzminister und den Landwirtschaftsminister stellten. Josef Ertl war es, der den Grenzausgleich durchsetzen mußte, und ich kante Ihnen — bei allen Problemen, die man mit der Landwirtschaft immer haben wird — eines sagen: Er hat es mit den jeweiligen Finanzministern der SPD leichter gehabt als Ihr CSU-Landwirtschaftsminister mit dem CSU-Finanzminister der damaligen Zeit!
Meine Damen und Herren, wenn wir über Europa sprechen, so wird es in der Tat, wie Kollege Willy Brandt gesagt hat, darum gehen, die Institutionen dieses Europa zu stärken. Ich möchte hier als Regierungsmitglied auch einmal von dem Privileg Gebrauch machen, zu sagen, daß ich das Folgende auf meine eigene Kappe nehme. Ich würde mir wünschen, daß vom Europäischen Parlament stärkere Impulse für die künftige Ordnung der Europäischen
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Bundesminister GenscherGemeinschaft ausgingen — bis hin zu der Notwendigkeit, daß sich endlich die Öffentlichkeit in der Europäischen Gemeinschaft und dann auch, wie ich hoffe, die Regierungen und die Parlamente in den nationalen Mitgliedstaaten mit einem Verfassungsentwurf für Europa befassen. Ich habe nicht den Eindruck, daß die Impulse von den nationalen Regierungen kommen können. Sie können nur aus dem direkt gewählten Europäischen Parlament kommen, und andere müssen sich dann damit auseinandersetzen.
Meine Damen und Herren, so wird es notwendig sein, daß wir — diejenigen von uns und aus unseren Parteien, die Verantwortung im Europäischen Parlament tragen, und diejenigen, die hier im Parlament und in der Bundesregierung an der europäischen Politik mitwirken — für die Stärkung dieser Europäischen Gemeinschaft eintreten. Da sind wir uns bewußt, daß diese Europäische Gemeinschaft — längst über ihre ursprünglichen Ziele hinausgewachsen — ein Träger gemeinsamer europäischer Außenpolitik ist. Diese europäische Außenpolitik ist längst zu einem Faktor der Weltpolitik geworden, und wir Deutschen haben gerade im Ost-West-Verhältnis ein ganz enormes Interesse daran, daß diese gemeinsame Außenpolitik weiter gestärkt werden kann. Denn manches, was wir im Ost-West-Verhältnis verwirklichen wollen, können wir nur zusammen mit unseren Partnern in der Europäischen Gemeinschaft durchsetzen.Meine Damen und Herren, der zweite Grundsatz deutscher Außenpolitik, bei dem wir uns auch immer wieder neu festlegen müssen und jeden Bürger im Lande zur Entscheidung bringen müssen, ist: Wir stellen die Besinnung auf die gemeinsamen Wertvorstellungen und die gemeinsamen Sicherheitsinteressen Europas und Amerikas sowie die Entschlossenheit, nach dieser Einsicht zu handeln, gegen modischen Antiamerikanismus und gegen eine Abkoppelung Europas von den Vereinigten Staaten.In diesen beiden Feststellungen liegt die Erkenntnis, daß das Atlantische Bündnis eben nicht eine Militärallianz alten Stils mit ein paar sich deckenden, zeitlich begrenzten Sicherheitsinteressen ist, sondern daß sich hier Demokratien zusammengeschlossen haben, Demokratien, für die Selbstbestimmung, Menschenrechte und der Wille zum Frieden die entscheidenden einigenden Faktoren sind.Hier steht die zweite Erkenntnis von den übereinstimmenden Sicherheitsinteressen. Meine Damen und Herren, nichts ist gefährlicher, als europäische Sicherheitsinteressen anders als amerikanische zu definieren. Das könnte leicht dazu führen, daß es dann auch einmal Leute in den Vereinigten Staaten gibt, die ihre Sicherheitsinteressen abweichend von denen der Europäer glauben definieren zu müssen.
Die Freiheit Europas und die Freiheit der Vereinigten Staaten sind heute gar nicht mehr getrennt voneinander zu bewahren.Drittens stellen wir Gleichgewicht als unverzichtbare Voraussetzung von Stabilität und Sicherheit gegen Übergewicht des Ostens mit der Gefahr von Instabilität. Das Gleichgewicht zu betonen ist immer ein Anliegen dieser Bundesregierung gewesen, und die Einsicht, daß es ohne Gleichgewicht Sicherheit nicht gibt, ist j a der Grund dafür, daß wir nach den Vereinigten Staaten im westlichen Bündnis den erheblichsten Anteil leisten.Die Tatsache, Herr Kollege Zimmermann, daß der Bundeskanzler in der Regierungserklärung so betont von Gleichgewicht gesprochen hat, und daß Sie glauben, er habe vom Wort „Entspannung" Abstand genommen, zeigt eigentlich nur, daß Sie noch eine Menge in der Union diskutieren müssen; denn ich habe mit großem Interesse beobachtet, daß sich der Kollege Kohl jedenfalls nicht gescheut hat — ich halte das für vernünftig —, von der Notwendigkeit einer Entspannungspolitik zu sprechen. Wir sollten davon nicht Abstand nehmen, sondern wir sollten uns vielmehr darüber verständigen, was die Voraussetzungen dieser Politik der Entspannung sind.Gleichgewicht bedeutet, daß keine Seite Überlegenheit erreichen kann und daß nach Möglichkeit auch keine nach Überlegenheit strebt. Wir jedenfalls tun es nicht.Wir werden unseren Anteil an der gemeinsamen Sicherheit als Bundesrepublik Deutschland nur dann in Zukunft auch weiter erbringen können, wenn wir nicht nur die notwendigen Mittel zur Verfügung stellen — und das geschieht —, sondern wenn wir, wie mein Kollege Hoppe es gesagt hat, die Überzeugungskraft dieser freiheitlichen Demokratie sichern. Verteidigungsfähig ist auf Grund eigener Einsicht immer nur das, was der Bürger eines Landes als richtig, als schutzwürdig und als schutzbedürftig empfinden kann.
Deshalb sind soziale Gerechtigkeit und freiheitliche Ordnung unentbehrliche Voraussetzungen jeder Verteidigungsfähigkeit.Trotzdem, meine. Damen und Herren, müssen wir uns fragen, warum wir in dieser Debatte alle aus guten Gründen Anlaß zu haben glauben, über die Stellung der Bundeswehr in unserer Gesellschaft, in unserem Staat und über das Verhalten mancher Mitbürger zu dieser Bundeswehr zu sprechen. Ich glaube, daß es nichts hergibt, wenn der Kollege Dr. Zimmermann die Bemühungen der Bundesregierung, die auch in der Regierungserklärung zum Ausdruck kommen, glaubt kritisieren zu müssen, unter Ausschöpfung des möglichen Rahmens, wie das Verfassungsgericht ihn aufgezeichnet hat, das Recht auf Kriegsdienstverweigerung auch wirklich anzuwenden. Daß wir dieses Recht auf Kriegsdienstverweigerung haben, ist, meine Damen und Herren, auch etwas, was diese freiheitliche Demokratie unterscheidet von Diktaturen rechter und linker Strickart.
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86 Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 26. November 1980
Bundesminister GenscherDeshalb ist sie verteidigungswürdig.Aber wir müssen auch den Bürgern dieses Landes sagen, daß es nicht nur eine Gewissensentscheidung für die Kriegsdienstverweigerung gibt, sondern daß es auch eine Gewissensentscheidung für den Dienst für den Frieden in der Bundeswehr gibt.
Ich möchte diejenigen, die glauben, die Bundeswehr in ihrer Stellung in dieser Gesellschaft kritisieren zu müssen, daran erinnern, daß der Dienst derjenigen, die sich mit ihrem Gewissen für den Wehrdienst entscheiden, eine der unverzichtbaren Voraussetzungen dafür ist, daß die anderen ihr Recht auf Kriegsdienstverweigerung in Freiheit in Anspruch nehmen können.
Da müssen diejenigen, die bereit sind, diesen Dienst zu leisten, wissen, daß Gesellschaft und politische Parteien hinter ihnen stehen. Der Kollege Hoppe hat wohl recht, wenn er hier vor dem Deutschen Bundestag fragt, ob es denn eigentlich die Aufgabe der Bundeswehr allein sein könne, davon zu überzeugen, daß unser Beitrag zur Sicherheit notwendig ist und daß dieses Land diese Bundeswehr für die eigene und gemeinsame Sicherheit braucht.
Wie ist es eigentlich möglich, daß der Bundesminister der Verteidigung, um eine in unserem Demokratieverständnis eigentlich als selbstverständlich zu betrachtende Tatsache durchzusetzen, eigens zur Kultusministerkonferenz reisen muß? Ich hätte mir gewünscht, daß von dort dieses Problem längt erkannt worden wäre. Da nehme ich keine Partei aus, meine eigene auch nicht. Hier ist noch eine Menge zu tun.
— Bitte sehr.
Sie gestatten also eine Zwischenfrage. — Bitte, Herr Abgeordneter Wörner.
Herr Bundesaußenminister, würden Sie zur Kenntnis nehmen, daß es in der Bundesrepublik Deutschland Landesregierungen und Kultusminister gibt, die nicht nur diese Aufgabe sehen, sondern auch recht konkrete Maßnahmen beschlossen haben, um das zu verbessern, daß das allerdings erschwert wird dadurch, daß man auch die Lehrer haben muß, die den Geist der Verordnungen so ausführen, wie wir uns das in diesem Parlament wünschen?
Herr Kollege Wörner, ich habe keine Probleme, das zur Kenntnis zu nehmen. Wir müssen uns dann wiederum auch gemeinsam fragen, warum sich eigentlich dieses Problem bei den Lehrern stellt.
— Ich werde mit Interesse zuhören. Sie wissen, daß ich immer mit Interesse zuhöre, und Sie werden, wie ich vermute, nicht sehr viel Anlaß haben, das zu kritisieren, was ich gesagt habe.Vor allem ist es also notwendig, daß wir durch unseren Beitrag im westlichen Bündnis unseren Anteil leisten zur gemeinsamen Sicherheit.Wir sagen viertens, wir stellen das Bemühen um Gleichgewicht auf einem möglichst niedrigen Niveau der Rüstungen gegen die Gefahr eines neuen Rüstungswettlaufs.
Das heißt, es reicht nicht aus, das für die eigene Sicherheit Notwendige zu tun, es ist auch notwendig, die politischen Impulse in die internationale Politik einzubringen, die dazu führen, daß eine gefährliche Entwicklung, die in der Tat einen neuen Rüstungswettlauf weltweit in Gang setzen kann, umgekehrt wird. Da dürfen wir nichts versäumen, da dürfen wir uns und der Welt nichts schuldig bleiben, um eine solche Entwicklung in unserem Sinn einzuleiten.
In diesem Zusammenhang ist es wichtig, daß wir uns der Bedeutung der Konferenzen bewußt sind, die zur Zeit stattfinden, z. B. der Konferenz in Wien über Truppenreduzierung in Mitteleuropa. Wir schätzen hoch ein, daß auch die neue amerikanische Administration zum Ausdruck bringt, sie wolle den SALT-Prozeß fortsetzen. Wir können gemeinsam positiv feststellen, daß die Verhandlungen über Mittelstreckenraketen in einer ersten Phase begonnen haben und im neuen Jahr fortgesetzt werden sollen. Wir müssen sehen, wie wir dazu beitragen können, daß es zu einer europäischen Abrüstungskonferenz kommt.Daß ich zunächst von unserem Beitrag zur gemeinsamen Sicherheit durch die Bundeswehr und dann über die Möglichkeiten und Initiativen zur Abrüstung und Rüstungskontrolle gesprochen, daß ich diese Reihenfolge gewählt habe, ist nicht zufällig geschehen, sondern soll deutlich machen, daß nur derjenige Hoffnung haben kann, bei Rüstungskontrolle und Abrüstung Fortschritte zu erzielen, der keinen Zweifel daran läßt, daß er alles tun wird, um das fürdie eigene Sicherheit Erforderliche in seinem Zuständigkeitsbereich zu verwirklichen. Hierin liegt die eigentliche Philosophie des Doppelbeschlusses des westlichen Bündnisses vom Dezember 1979. Da ist das Verhandlungsangebot, um dessen Durchführung wir uns bemüht haben und bei dem wir bei dem Besuch in Moskau einen kleinen Beitrag haben leisten können, daß es im Osten ernstgenommen wird, damit kein Zweifel an der Entschlossenheit entstehen kann, auch den Teil des Beschlusses durchzusetzen, der als Nachrüstungsbeschluß die notwendige Antwort auf sowjetische Vorrüstung ist.
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Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 26. November 1980 87
Bundesminister GenscherVon besonderer Bedeutung wird sein, daß wir uns in Madrid um einen weiteren Schritt zu Vereinbarungen über vertrauensbildende Maßnahmen bemühen. Hier hat der Bundeskanzler ausdrücklich festgestellt, daß es hier darum geht, vertrauensbildende Maßnahmen in ganz Europa zu vereinbaren. Vertrauen ist nicht teilbar, auch nicht geographisch, und es ist deshalb notwendig, daß der ganze europäische Teil der Sowjetunion in diese vertrauensbildenden Maßnahmen einbezogen wird.Es wird also unser Ziel sein, in Madrid darauf hinzuwirken, daß in den drei Körben der Schlußakte von Helsinki Fortschritte gemacht werden und daß es außerdem ein konkretes Mandat — und nicht ein sehr allgemeines — für eine europäische Abrüstungskonferenz mit der Ausdehnung der vertrauensbildenden Maßnahmen auf ganz Europa gibt. Wir wissen, daß wir noch eine Menge von Problemen mit den Staaten des Warschauer Pakts auszuräumen haben, die dem Worte nach auch eine europäische Abrüstungskonferenz vorschlagen, aber mit anderen Zielvorstellungen und anderen Inhalten. Ich habe sehr wohl zur Kenntnis genommen, daß die Opposition in den anstehenden Fragen der Bundesregierung ihre Unterstützung zugesagt hat.Meine Damen und Herren, es war selbstverständlich — damit komme ich zum fünften Grundsatz —, daß der Bundeskanzler in der Regierungserklärung zum deutsch-deutschen Verhältnis Stellung genommen hat. Es wäre ganz wichtig, wenn wir uns in dieser Debatte darauf verständigen könnten, daß alle Seiten dieses Hauses unserer prinzipiellen Auffassung zustimmen, daß wir gegen Abgrenzung in jedem Fall den Willen zur Zusammenarbeit stellen, um nicht den Abgrenzern den Gefallen der Abgrenzung zusätzlich vom Westen aus zu tun.
Wir wissen, da ist Bemühen um Entspannung und um Fortschritte — eine Sache, die sehr viel Geduld verlangt —, aber wir wissen auch, daß wir nur mit langem Atem auch Perioden der Rückschläge überwinden können. Meine Damen und Herren, wir brauchen hier nicht die Frage der demokratischen Legitimität und Legitimation in den beiden Teilen Deutschlands zu untersuchen. Aber das hat doch gar nichts damit zu tun, wenn der Bundeskanzler hier sagt, er und Herr Honecker hätten für alle Deutschen sprechen können, wenn sie sagen, von deutschem Boden solle nie wieder ein Krieg ausgehen. Ich sage Ihnen: Ich bin zutiefst davon überzeugt, daß die Sorge um die Sicherung des Friedens in den Kantinen und Schulen und Wohnungen der DDR genauso groß ist und genau so intensiv diskutiert wird wie hier bei uns in der Bundesrepublik auch. Darum geht es.
Es geht darum, ob sie dabei für alle Deutschen sprechen wollten, weil wir nämlich damit etwas sagen wollen: Unabhängig von der Politik, die dieser oder jener in Deutschland macht, steht eines fest, meine Damen und Herren: das deutsche Volk in seiner Gesamtheit — hier wie in der DDR —, alle Bürger haben ihre geschichtliche Lektion gelernt: Wir wollen zum Frieden beitragen.
Wir wollen Anwälte einer Politik sein, die niemandem Abgrenzung erleichtert, sondern die immer wieder neu dazu zwingt, daß auch diejenigen, die in der DDR Verantwortung tragen, sich dem Willen der Deutschen stellen und daß auch sie — auch wenn sie eine andere Gesellschaftsordnung für ihren Staat festgelegt haben; ich meine die Regierenden, nicht die Regierten — sich der Notwendigkeit zur Zusammenarbeit in Deutschland stellen und damit auch in Europa beitragen.
Herr Bundesminister, gestatten Sie eine Zwischenfrage? — Herr Mertes, bitte schön.
Herr Bundesminister, teilen Sie meine Auffassung, daß, wenn sich der Bundeskanzler in diesem Zusammenhang mit einem Zitat zugunsten des Friedens auf eine Ebene mit dem Staatsratsvorsitzenden Honecker stellt, es dann seine Pflicht gewesen wäre, gerade in Verbindung mit diesem Zitat darauf hinzuweisen, daß Herr Honecker seine Soldaten und seine Jugend zum Haß erziehen läßt und selbst erzieht, während bei uns das Gegenteil der Fall ist?
Herr Kollege Dr. Mertes, die Aussage war nicht, was Herr Honecker tut, sondern die Aussage war, was die Deutschen in ganz Deutschland tun,
und daran ist nicht zu rütteln. Da will ich gern aufnehmen, was Sie gesagt haben. Ich habe hier im Hause vor einer großen internationalen Veranstaltung — es war die Interparlamentarische Union — die Delegierten aus allen Teilen der Welt aufgefordert, sie mögen bitte nicht direkt nach Abschluß der Veranstaltung unser Land verlassen, sondern sie mögen bitte in der Bundesrepublik Deutschland herumreisen, um sich vom Geist der Menschen bei uns und auch davon zu überzeugen, daß unsere Jugend hier in unseren Schulen zum Frieden und nicht zum Haß gegen andere erzogen wird. Und ich würde mir wünschen — da nehme ich das auf, was Sie sagen —, wenn das in der gleichen Weise in der DDR und in den anderen kommunistischen Staaten geschehen würde. Nur füge ich folgendes hinzu: was immer dort in dieser Frage über das Verhältnis der kommunistischen Staaten zu den freiheitlichen Gesellschaftsordnungen gesagt wird, eines steht fest: Der Wille zur Freiheit, die Überzeugung, daß diese Gesellschaftsordnung die überlegene ist, diese Überzeugung ist nicht nur bei uns ganz mehrheitlich vorhanden, sondern genauso bei unseren Mitbürgern in der DDR. Das will ich gerne hier feststellen.
Gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage, Herr Bundesminister?
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88 Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 26. November 1980
Ja, natürlich.
Herr Abgeordneter Horn, bitte schön.
Herr Minister, hielten Sie es nicht für angemessen, wenn die Kolleginnen und Kollegen der Opposition schon den übernächsten Satz in der Regierungserklärung lesen würden? Dort heißt es wörtlich: „Wir kennen die Grundunterschiede in der politischen Zielsetzung beider Staaten." Das heißt, daß sie dann keine selektive Auslese eines einzigen Satzes vornehmen, sondern ihn im Kontext der gesamten Regierungserklärung sehen würden.
Herr Kollege Horn, ich befinde mich auch hier in der angenehmen Lage, mit Ihnen übereinstimmen zu können.
— Es ist doch wirklich sehr leicht, Ihre Freude und Befriedigung zu erzielen. Meine Damen und Herren, ich bin nicht ganz sicher, ob uns das in dieser Form schon vor vier, fünf Monaten gelungen wäre. Wir machen alle Fortschritte im Umgang miteinander, und das ist eigentlich ganz hoffnungsvoll.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, wenn wir über Zusammenarbeit zwischen Ost und West sprechen, dann muß das ernstgenommen werden, was der Bundeskanzler hier gesagt hat über die Belastung der Ost-West-Beziehungen durch die sowjetische Intervention in Afghanistan, durch das Fortdauern dieser Intervention. Im Zusammenhang mit der Wahl des neuen amerikanischen Präsidenten ist von Publikationsorganen der Sowjetunion daran erinnert worden, daß sich vor einigen Jahren — im Jahre 1972 — die Vereinigten Staaten und die Sowjetunion gegenseitig Gleichberechtigung eingeräumt haben. Das war eine wichtige Voraussetzung für das Zusammenwirken der beiden Großmächte in der internationalen Politik. Das ist richtig so.Allerdings muß ergänzend bemerkt werden, daß dabei auch festgelegt worden ist, daß keiner sich auf Kosten des anderen Vorteile in bestimmten Teilen der Welt verschafft. Das gehört zu diesem Umgang miteinander hinzu, so daß nicht nur die Schlußakte von Helsinki und viele internationale Verpflichtungen wie auch der Grundsatz der Souveränität und Unabhängigkeit Afghanistans es erzwingen, daß die Sowjetunion dieses Land verläßt, sondern auch das Verhältnis der beiden Großmächte zueinander.Ich erwähne das hier noch einmal, weil ich an einen anderen Vorgang anknüpfen möchte, der für jeden von uns bewegend ist und wo sich zeigt, daß der Deutsche Bundestag und die deutsche Öffentlichkeit ihre Verantwortung sehr wohl kennen. Ich meine die Vorgänge in der Volksrepublik Polen, die wir alle mit großer Anteilnahme verfolgen.Ich möchte dem Herrn Kollegen Kohl sagen, daß seine Bemerkungen, die Union werde Bemühungen unterstützen, den Überfluß der Europäischen Gemeinschaft auch zur Überwindung ökonomischer Probleme in Polen einzusetzen, voll unseren Auffassungen entspricht. Wir sind in der Regierung und in der Eurpäischen Gemeinschaft — gestern ist darüber gesprochen worden — bemüht, durch Nahrungsmittelhilfen dazu beizutragen, daß schlimmste Not abgewendet werden kann.Es wird hoffentlich niemanden geben, der diese Bemühungen als Einmischung in die inneren Angelegenheiten dieses Landes mißdeuten will.
Es wird sicher auch nicht als Einmischung angesehen werden, wenn wir unsere Überzeugung äußern, daß es das Recht des polnischen Volkes und das Recht der Verantwortlichen in Polen sein muß, die schwerwiegenden Probleme des Landes in eigener Verantwortung zu lösen.
Es ist notwendig, daß wir uns selber verantwortungsvoll zeigen und daß wir nichts tun, was jemand, und sei es auch nur böswillig, als Einmischung auslegen kann. Das gilt für alle westlichen Länder.Aber ich denke, es ist auch notwendig, zu sagen, daß Nichteinmischung nicht nur eine Verpflichtung der westlichen Demokratien in Westeuropa ist, sondern daß Nichteinmischung in jeder Form eine Verpflichtung aller am Entspannungsprozeß Beteiligten sein muß, wenn diese von uns mit Leidenschaft verfolgte Entwicklung den Verlauf nehmen soll, den sich die Menschen in Polen — niemand sonst hat darüber zu entscheiden — wünschen.
Hoffentlich ist sich jeder auch bewußt, daß ein anderes Verhalten, von welcher Seite auch immer, das auslösen würde, was so nachdrücklich in der deutsch-französischen Erklärung vom Februar 1980 gesagt worden ist.Der sechste Grundsatz unserer Außenpolitik muß sein, daß wir ein Europa wollen, das Ausgangspunkt friedlicher Konfliktlösung in aller Welt ist, das sich, wie mein Kollege Hoppe zu Recht gesagt hat, gegen die Übertragung des Ost-West-Gegensatzes auf die Dritte Welt ausspricht und das Spannungsexport nicht will. Das bedeutet Zurückhaltung in den Angelegenheiten der Dritten Welt und wirkliche Hilfe für sie.Wir stellen — siebentens — die Unterstützung der Selbständigkeit und Unabhängigkeit der Staaten der Dritten Welt gegen eine Politik der Einflußnahme- und Vorherrschaftszonen, die die Dritte Welt nur zum Ausgangspunkt neuer Spannungen machen würde. Hierzu ist es erforderlich, daß wir uns von manchen Vorurteilen gegenüber Entwicklungen in der Dritten Welt freimachen. Ich sage jetzt ganz unpolemisch und ohne Ironie: Wenn ich vorhin gesagt habe, bemerkenswert sei auch vieles, was Herr Kollege Dr. Kohl nicht erwähnt habe, so meinte ich auch, daß er darauf verzichtet hat, die Teile der Re-
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Bundesminister Genschergierungserkärung zu kommentieren, kritisch zu kommentieren, die sich mit der Dritte-Welt-Politik der Bundesregierung, einschließlich der Befreiungsbewegungen und ihrer Rolle, befaßten.
Wenn es dabei bleibt, würde das ein ganz erheblicher Fortschritt für die gemeinsame Politik sein. Denn, meine Damen und Herren, wir müssen uns von einer verallgemeinernden Bewertung der Vorgänge in der Dritten Welt freimachen. Wer jede Befreiungsbewegung in der Dritten Welt als 5. Kolonne des Kreml diffamiert, darf sich nicht wundern, wenn die dann letztlich, weil sie sich gar keinen anderen Rat wissen, an der Kremltür auch noch anklopfen in der Erwartung, wenigstens von dort Unterstützung zu bekommen.
Ich denke, daß wir uns auch darüber im klaren sein müssen, daß unsere Politik der Hilfe für die Dritte Welt, unsere Politik zur ökonomischen und politischen Stabilisierung der Staaten der Dritten Welt auf jeden Fall nicht ein Beitrag zur Stabilisierung überholter Systeme in bestimmten Staaten der Dritten Welt sein darf. Hier wird unsere Politik gegenüber Mittelamerika ein Testfall für die Aufrichtigkeit dieser Zielsetzung sein müssen. Das gleiche gilt für unser Verhältnis zu der Politik, die in Südkorea gemacht wird. Unser Beitrag zur friedlichen Konfliktlösung ist durch den Hinweis auf den Nahen Osten, durch den Hinweis auf die Politik im südlichen Afrika in der Regierungserklärung dargelegt worden.Politik gegenüber der Dritten Welt muß heißen: handeln aus moralischer Verantwortung. Dazu ist es notwendig, daß wir uns — achtens — unserer Verantwortung für die Dritte Welt stellen, auch im Nord-Süd-Dialog; Herr Kollege Brandt hat mit Recht darauf hingewiesen. Deshalb war es notwendig, daß wir zu den Ländern gehörten, die sich auch für den im Juni in Mexiko geplanten Nord-Süd-Gipfel eingesetzt haben, damit in einer von den Beratungsformen der internationalen Organisationen abweichenden Form versucht werden kann, einen Weg nach vorn zu finden, den man gemeinsam gehen kann. Wir sind der Meinung, daß das eine Verpflichtung ist, die nicht nur die westlichen Demokratien angeht, sondern die in gleicher Weise auch die kommunistischen Industriestaaten angeht. Wir haben uns dafür eingesetzt, daß auch die Sowjetunion eine Einladung zu dieser Konferenz erhält, damit sie dort Gelegenheit hat, sich ihrer Verantwortung zu stellen.Meine Damen und Herren, es wird auch notwendig sein, daß durch eine West-Ost-Süd-Kooperation in der Energiepolitik — und das steckt hinter unserer Bereitschaft, an der Einsetzung einer europäischen Energiekonferenz mitzuwirken — die Gefahr eines weltweiten Energieverteilungskampfes abgewendet werden kann. Das wird eine ganz entscheidende Aufgabe sein, um deren Lösung wir ringen müssen. So ist es notwendig, daß wir uns an der Schwelle einer neuen Legislaturperiode — man kann auch sagen: an der Schwelle der 80er Jahre — in diesen grundlegenden Fragen unserer außenpolitischen Verantwortung stellen. Das sind die Perspektiven der Politik der Bundesregierung, für die jede Unterstützung willkommen ist. Diese Politik setzen wir ganz zielstrebig fort, weil wir wissen, daß ihre Berechenbarkeit, ihre Stetigkeit und ihre Dauerhaftigkeit ein ganz wesentlicher Beitrag zur Stabilisierung in der Welt sind.Diese Stabilisierung müssen wir bewirken, weil wir ja auch im Innern, meine Damen und Herren, eine Fülle von Problemen haben, deren Lösung uns nicht leicht fallen wird. Da haben wir alle eine gemeinsame Überzeugungsaufgabe, der wir uns im Bundestagswahlkampf schon gestellt haben. Unser Volk hat sich an steigende Wohlstands- und Wachstumskurven gewöhnt. Damit sind auch die materiellen Ansprüche gestiegen. Nun kommt es angesichts völlig veränderter außenwirtschaftlicher und binnenwirtschaftlicher Rahmenbedingungen, veränderter ökologischer Einsichten, auch veränderter Machtstrukturen in der Welt darauf an, die notwendigen Anpassungsprozesse ohne Gefahr für die soziale und damit auch für die demokratische Stabilität zu steuern.Da ist mit Recht in dieser Regierungserklärung auf die Notwendigkeit sparsamer Haushaltsführung hingewiesen worden. Aber sparsame Haushaltsführung darf uns nicht zum Verzicht auf politische Gestaltung bringen. Die Reformfähigkeit unserer Ordnung kann sich auch, ja, ich behaupte: sie muß sich gerade unter strengeren Haushaltsgesetzen bewähren können.Dann müssen wir ein höheres Problembewußtsein für alles entwickeln, was die Menschen in unserem Lande beeinträchtigt. Da gibt es nicht nur Probleme der Mehrheiten, sondern auch Probleme der Minderheiten.Man kann nicht an mehr Bürgerengagement und mehr Bürgerinitiative appellieren, man kann nicht gleichzeitig — wie der Herr Kollege Dr. Kohl dankenswerterweise — auf die Bedeutung des Umweltschutzes hinweisen und dann in der Form, wie es Herr Kollege Dr. Zimmermann getan hat, gegen die Verbandsklage zu Felde zu ziehen. Das eine oder das andere stimmt dann nicht, meine Damen und Herren.
— Ich dachte, das sei nur eine Minderheitsmeinung der CSU. Aber ich stelle fest: Auch in der CDU hat die Ablehnung der Verbandsklage eine massive Unterstützung.
Das zeigt: Da haben wir noch eine große Überzeugungsarbeit vor uns.Meine sehr verehrten Damen und Herren, in dieser Zeit wird es notwendig sein, daß die politische Führung — und damit sind nicht nur Regierungen gemeint, sondern auch Parteien, und das gilt auch für die Opposition — ihre Aufgabe sieht und sich ihrer Aufgabe bewußt zeigt. Hier sind heute morgen in
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Bundesminister Genscherden Diskussionsbeiträgen eine Reihe von Fragen aufgeworfen worden, die jenseits materieller Erfordernisse auf Probleme in unserer Gesellschaft verwiesen haben. Ich kann nur denen zustimmen, die eine Absage fordern an die Gigantomanie im öffentlichen Bauwesen jeder Art. Ob das die zu großen Schulen sind oder die zu großen Krankenhäuser oder die zu großen Rathäuser, allesamt Großeinheiten, in denen sich der Mensch nicht mehr zurechtfinden kann.
Meine Damen und Herren, da haben wir alle eine gemeinsame Verantwortung. Da wird auch keine Partei sagen, daß sie auf diesem Felde nicht gesündigt habe. Da kann auch keiner im Bundestag sagen, das sei eigentlich mehr Angelegenheit der Länder oder der Gemeinden. Wir repräsentieren hier auch politische Parteien, die eine durchgängige Verantwortung von der Gemeinde über die Länder bis zum Bund tragen, übrigens auch noch eine europäische Verantwortung. Wenn deshalb hier vom Deutschen Bundestag die Forderung ausginge: Schluß mit dieser Gigantomanie!, wäre das ein ganz ermutigender Schritt — auch von dieser Debatte, meine Damen und Herren.Der Bundeskanzler hat mit Recht darauf hingewiesen, daß wir ein erfreuliches Ansteigen bei der Gründung selbständiger Existenzen haben. Das ist auch ein Ausdruck eines veränderten gesellschaftlichen Bewußtseins — übrigens auf Grund von der Bundesregierung richtig gesetzter Rahmenbedingungen —, daß Leistung und Wille zur Selbständigkeit sich lohnen.Was wir brauchen, ist im Rahmen und im Verhältnis der Generationen zueinander auch mehr Einsicht in das menschlich Notwendige und nicht in das ökonomisch vielleicht Leichtere und Bessere. Wenn wir über Wohnungsbau und Städtebau reden, bitte, dann seien wir uns auch bewußt, daß eine, wenn auch vielleicht etwas teurere Wohnung für alte Menschen in einem Hause, in dem auch andere Familien anderer Generationen wohnen, auf jeden Fall menschlicher und besser ist als das am Stadtrand stehende noch so komfortable, zur Vereinsamung zwingende Altenheim, das wir alle kennen.
Meine Damen und Herren, im Zusammenhang mit der Bildungspolitik muß auch über ein Problem gesprochen werden, das ein qualitatives Bildungsproblem ist. Es ist über Notwendigkeiten, Aufgaben und Bedingungen von Sicherheitspolitik und unseren Beitrag dazu zu reden. Das reicht aber allein nicht aus. Der Bundeskanzler hat zu Recht darauf hingewiesen — es ist doch ganz legitim, daß er Niedersachsen und Bayern vergleicht —, wohin es führt, wenn Bildungsabschlüsse nicht anerkannt werden. Glauben Sie denn eigentlich — dies frage ich die Bundesländer und die Kultusminister —, daß Sie junge Menschen für diese Demokratie gewinnen können, wenn innerhalb der wahrlich nicht großen Bundesrepublik Deutschland bestimmte Bildungsabschlüsse nur in einem Teil unseres Landes anerkannt werden sollen?
Das ist ein Austragen von ideologischen Grabenkämpfen auf dem Rücken von Kindern, Eltern und Lehrern.Was wir in dieser Hinsicht brauchen, ist mehr Einsicht in die gemeinsame Verantwortung. Jedermann in diesem Hause weiß, daß ich mich seit langem für mehr Bundeskompetenzen auf dem Gebiet der Bildungspolitik einsetze. Ich habe das früher nur aus Gründen der Zweckmäßigkeit getan. Inzwischen ist dies — dieser Meinung bin ich — auch noch aus Gründen der Glaubwürdigkeit und Handlungsfähigkeit unseres demokratischen Staatswesens notwendig.
Wir müssen noch eine Menge tun, um auch im Bildungswesen zu erkennen, daß Reformfortschritte notwendig sind, aber bitte so, wie es der Bundeskanzler in der Regierungserklärung gesagt hat: unter Berücksichtigung der Pluralität in unserem Lande, unter Berücksichtigung des Elternwillens. Es kann eben nicht so sein, daß es in einem Lande praktisch nur noch Gesamtschulen und in dem anderen praktisch keine Gesamtschulen geben soll. Nicht die Kultusminister, nicht Kultusbürokratien sollen entscheiden, welche Schulen unsere Kinder besuchen. Das ist vielmehr Aufgabe der Eltern, wenn wir es mit dem Elternrecht ernst meinen.
Man muß es sogar ertragen können, wenn das, was gewünscht wird, nicht mit dem jeweiligen Parteiprogramm übereinstimmt.Wenn wir schon über Hochschulprobleme reden, sei auch dies gesagt. Die Bundesregierung wird den Versuch unternehmen, das Hochschulrahmengesetz zu novellieren. Ich wäre dankbar, wenn die Kollegen der Opposition noch einmal prüfen würden, ob sie nicht zustimmen könnten, wenn es darum geht, die verfaßte Studentenschaft wieder für alle Bundesländer vorzusehen. Gibt es eigentlich wirklich Gründe, die es wert erscheinen lassen, in einem wichtigen Bereich unseres Bildungswesens ohne Not zu Konfrontationen Anlaß zu geben? Prüfen Sie sich doch bitte einmal.
Wir müssen uns, wenn wir über das Bildungswesen sprechen, über gleiche Lebenschancen unterhalten. Wir müssen sehr viel über Inhalte im Bildungswesen sprechen, damit die Schulen den großen Anspruch erfüllen können, der in diesem Lande mit Recht an sie gestellt wird.Meine Damen und Herren, die sozialliberale Koalition läßt sich in ihrer gemeinsamen Politik bei der Lösung aller Zukunftsprobleme von der Forderung nach Liberalität und nach Solidarität leiten. Wir sehen zwischen beiden keine Gegensätze. Im Grunde ist beides notwendig, um in einem freiheitlichen und demokratischen Staatswesen in gegenseitiger Ach-
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Bundesminister Genschertung miteinander umzugehen. Weil wir in einer pluralistischen Gesellschaft und in einer pluralistischen Demokratie leben, müssen wir auch fähig sein, zwischen den Parteien und untereinander Kompromisse zu schließen. Der Kollege Willy Brandt hat heute morgen die Auffassung seiner Partei zur Mitbestimmungsfrage erläutert und hat dabei auch erkennen lassen, was die beiden Regierungsparteien unterscheidet. Er hatte aber recht, als er auf das verwiesen hat, was freie Demokraten und Sozialdemokraten auf diesem Gebiet bei der Reform des Betriebsverfassungsgesetzes, mit dem Mitbestimmungsgesetz von 1976 und auch mit der jetzt gefundenen Einigung gemeinsam geschaffen haben. Da soll man den Kompromiß gar nicht herabsetzen. Es ist einiger Fortschritt darin. Möge die Opposition bitte auch bewerten, daß wir anstelle der Entsendung von Gewerkschaftsvertretern jetzt ein Vorschlagsrecht haben, das der Bestätigung und Auswahl durch die vorhandenen Wahlkörper bedarf.
Ich will Ihnen ganz offen sagen: mit uns kann man auf der Mitbestimmungsstraße noch sehr, sehr weit gehen, wenn es darum geht, die Freiheitsrechte des einzelnen Arbeitnehmers, seine Mitwirkungsrechte weiter auszugestalten und auszubauen.
Das ist ein Angebot, und da werden wir weiter mit unserem Koalitionspartner sprechen. Da wird es vieles geben, was wir wie in der Vergangenheit auch in der Zukunft gemeinsam regeln können.Meine Damen und Herren, die Opposition ist natürlich eingeladen, unter Wahrmachung ihrer Ankündigung aus der Zeit vor der Bundestagswahl die hier gefundene Regelung zu unterstützen. Sie haben die Möglichkeit, die Entsendungsrechte abzulösen durch ein Wahlrecht für die bestehenden Wahlkörper. Sie hatten das nicht vorgesehen. Aber ich hoffe, daß Sie dabei zustimmen können, daß Sie das überwinden, was Sie damals vergessen hatten vorzubringen.
Wenn ich davon gesprochen habe, daß wir in einer pluralistischen Gesellschaft zum Kompromiß fähig sein müssen, so bedeutet das, daß wir in einer pluralistischen Gesellschaft nicht von dogmatischen Vorstellungen ausgehen dürfen. Das gilt nicht nur für die Zusammenarbeit in der Bundesregierung, wo das für uns eine Selbstverständlichkeit ist. Nein, das gilt frei von dogmatischen Vorstellungen und kleinlicher Rechthaberei, mit dem Willen zur Zusammenarbeit, auch mit der Opposition dort, wo die sachlichen Positionen es zulassen, im Interesse unseres Landes, vor allem auch in Fragen der Außenpolitik. Mit diesem Willen beginnen wir die Parlamentsarbeit im neuen Bundestag. Das ist Entschlossenheit zur Fortsetzung einer vereinbarten Regierungspolitik, und das ist Bereitschaft zu konstruktiver und sachlicher Zusammenarbeit auch mit der Opposition. Ich danke Ihnen.
Herr Abgeordneter Wehner, Sie haben ein Mitglied dieses Hauses als Verleumder bezeichnet. Ich rufe Sie zur Ordnung.
— Herr Abgeordneter Wehner, Sie wissen, daß eine Diskussion über Ordnungsmaßnahmen des Präsidenten nicht — —
- Auch Herr Abgeordneter Brandt: wir müssen uns in dieser Frage an die Geschäftsordnung halten.
Meine Damen und Herren, wir wollen uns nicht aufregen. Wir haben eine Geschäftsordnung, die vorsieht, daß Ordnungsmaßnahmen des Präsidenten nicht kritisiert werden können. Es gibt in der Geschäftsordnung einen anderen Weg, aber nicht denjenigen, der hier versucht worden ist.
Ich fahre in den Wortmeldungen fort. Das Wort hat der Herr Abgeordnete Bahr.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist im Laufe des heutigen Tages sehr viel von Gemeinsamkeiten die Rede gewesen. Der Parteivorsitzende der SPD hat heute früh sehr ernst und sehr ruhig dazu etwas gesagt. Ich möchte das in gleicher Weise fortsetzen, gerade nach dem, was wir eben erlebt haben, gerade nach dem, wie der Kollege Zimmermann gesprochen hat, und gerade nachdem er die Gelegenheit nicht genutzt hat, einen Beitrag zu leisten, zu dem er mehr gefordert ist als jeder andere in diesem Haus.
Meine Damen und Herren, Gemeinsamkeiten mit der „Moskau-Fraktion", das ist doch wohl nicht zumutbar. Der Bundeskanzler hat in seiner Regierungserklärung gesagt:Der Wahlkampf ist vorüber. Ich begrüße die Appelle des Alterspräsidenten und des Bundestagspräsidenten als erste Schritte in Richtung auf normale parlamentarische Arbeit.Ich stimme jedem Wort zu. Es waren erste Schritte. Die entscheidenden müssen von denen kommen, die jene Broschüre verfaßt haben,
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Bahrin der Mitgliedern dieses Hauses vielfach unterstellt wurde, daß sie Geschäfte einer anderen Macht besorgen, und die damit Mitglieder dieses Hauses verleumden.
Meine Damen und Herren, hier reicht es nach meiner Auffassung auch nicht aus, das gleichzustellen mit einer Äußerung des Bundeskanzlers in diesem hohen Hause in der Juni-Debatte, die zu Recht weder damals noch seither gerügt wurde. Viele Sprecher der Opposition haben sich angewöhnt, Sozialdemokraten nur noch Sozialisten zu nennen.
— Befolgen Sie doch einmal den Rat Ihres Vorsitzenden und gewöhnen Sie sich die Fähigkeit an, auch ruhig zuzuhören.
Es ist doch völlig klar, daß diese Bezeichnung nicht gemeint ist als Anerkennung der Formulierungen, wie sie in unserem Godesberger Programm stehen. Wer in der CDU und der CSU Sozialisten und Kommunisten nebeneinandersetzt — und ein Stück davon haben wir auch heute morgen wieder erlebt — und daraus die Kampfformel entwickelt hat und weiterführt, es ginge um Freiheit oder Sozialismus, der hat die Gräben zu verantworten, die er damit zu der traditionsreichsten Partei unseres Volkes aufgerissen hat.
Der Wahlkampf ist vorbei, und die meisten Bürger in diesem Lande sind froh darüber, die meisten in diesem Hause sicher auch.
Es ist aber eine Frage der Selbstachtung, nicht so zu tun, als könne man diese Dinge durch Schweigen aus der Welt bringen. Es ist übrigens auch eine Frage, bei der die Menschen in unserem Volke sehr genau hinsehen, ob die Gewählten sich vertragen, als ob sie sich nie geschlagen hätten. Insofern glaube ich, daß hier noch etwas in Ordnung zu bringen bleibt.
Meine Damen und Herren, wir haben in den zurückliegenden Wochen, aber auch im Verlaufe dieses Tages eine interessante Diskussion innerhalb der Opposition erlebt und verfolgen können. Sie fand darüber statt, ob die Opposition ihre Haltung zur Ostpolitik neu überdenken müsse, um sie auch innerlich und nicht nur auf der Basis geschlossener Verträge zu überdenken und sich auf diese Basis zu stellen.
Argumentiert wurde, man könne sich nach drei Wahlgängen gegen die Ostpolitik der Koalition nicht einen vierten Wahlgang 1984 — insoweit unverändert — vorstellen. Das ist eine taktische Überlegung,während es in Wirklichkeit um Inhalte geht. Aber auch die Taktik ist j a erlaubt.Die Gegenposition kam aus Kreuth. Nach der fünften Klausurtagung dort schrieb der Kollege Zimmermann — ich zitiere —:Nicht die Union, sondern die SPD/FDP-Koalition steht vor einem ostpolitischen Godesberg. Die Ostpolitik, so wie sie die Herren Brandt, Bahr und Wehner 1970 angelegt haben, ist nicht mehr.
Mit anderen Worten: die Opposition hat auch heute über einen Kurswechsel ihrer Ostpolitik diskutiert. Dabei ist das, was der Kollege Zimmermann jetzt eben zu Gehör gebracht hat, jedenfalls logisch: Wer die Wende gerade auch auf diesem Gebiet verlangt hat, kann nach der verlorenen Wahl die Wende nicht selbst vollziehen, wenn er seine Glaubwürdigkeit nicht verlieren will. Natürlich kann man niemandem verwehren, neue Erkenntnisse zu gewinnen, einen neuen Anfang zu machen. Aber nun soll die „Bestandsaufnahme" das Zauberwort sein, um der CDU/CSU ihr ostpolitisches Godesberg noch eine Weile zu ersparen.Es hat in diesem Zusammenhang eine Spekulation gegeben, die der Vorsitzende der CSU-Landesgruppe in der ihm eigenen freundlichen Art so formuliert hat — ich zitiere ihn —: „Wir wollten damit der SPD/FDP-Koalition die Chance geben, neuen Boden zu betreten, nachdem sich der alte als nicht tragfähig für Belastungen erwiesen hat."Der Herr Kollege Kohl wollte heute morgen vergessen machen, daß auch er eine Wende herbeiführen wollte. Der Kollege Zimmermann will die Wende und ihre Notwendigkeit wenigstens in Worten weiterführen. Wenn man das erlebt hat und vergleicht, was die beiden miteinander gesagt haben, dann ist ihnen zu empfehlen, daß die Bestandsaufnahme über Ost- und Deutschlandpolitik zuerst einmal innerhalb der Opposition erfolgt.
Aber alle diese Unterschiede und Spekulationen sind durch die Regierungserklärung beendet. Die Regierungserklärung hat ein Faktum gesetzt, von dem im Inland wie im Ausland auszugehen ist. Die Außen-, Sicherheits- und Deutschlandpolitik der Regierungserklärung setzt nahtlos die Politik fort, die die sozialliberale Regierung seit 1969 verfolgt hat. Für diese Politik — und nicht zuletzt für diese Politik — ist uns das Vertrauen ausgesprochen worden. Auch wegen dieser Politik sind die beiden Koalitionsparteien gestärkt in diesen Bundestag zurückgekehrt.
Es ist nur folgerichtig, daß eine bewährte Politik fortgesetzt werden soll, nachdem die Menschen in unserem Lande die Wende abgelehnt haben. Wir haben keinen Grund, anzunehmen, was die Wähler abgelehnt haben.
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BahrDer Bundeskanzler hat den Frieden und den Kurs des Friedens wieder an die erste Stelle gesetzt. Das entspricht nicht nur den Gefährdungen der internationalen Lage, über die wir im wesentlichen keine unterschiedlichen Meinungen haben, sondern es entspricht auch unserer Überzeugung, daß es angesichts der Krisen in der Welt, des nicht gestoppten Rüstungswettlaufs, der zunehmenden Verschärfung der Nord-Süd-Gegensätze keine wichtigere Aufgabe gibt. Es entspricht auch der über alle Jahre hinweg verfolgten Priorität dieser sozialliberalen Regierung; denn Sicherheit und Entspannung, Gleichgewicht und Zusammenarbeit sind Mittel und kein Selbstzweck. Das Ziel muß nicht nur bleiben, Krieg zu verhindern, soweit wir dazu mit unseren begrenzten Kräften beitragen können. Ziel muß es sein, einen Zustand zu erreichen, in dem der Friede in Europa und — wenn möglich — auch in anderen Regionen, also global, nicht mehr gefährdet werden kann.
Angesichts der ungeheuren Zerstörungskräfte, die heute in der Welt militärisch existieren, ist dieses Ziel aus dem Bereich der gewagten Utopie in den des Interesses zur Selbsterhaltung der Menschheit gerückt. In dieser Dimension werden die 80er Jahre entscheidende Jahre sein. In dieser Dimension sehen wir das Ziel der Regierungserklärung, auch den Punkt, den Rahmen der Verträge nicht nur auszufüllen, sondern auch weiterzuentwickeln. Die Zusammenarbeit mit der Sowjetunion ist langfristig angelegt. Das Verhältnis zu den anderen osteuropäischen Staaten und zur DDR ist langfristig angelegt. Es hat nicht nur formale Gründe, daß die geschlossenen Verträge zeitlich nicht begrenzt sind.In dieser Dimension sehen wir die Notwendigkeit, das militärische Gleichgewicht zu erhalten oder wiederherzustellen, möglichst auf einem niedrigeren Niveau. In dieser Dimension erhält das Bündnis seinen Zweck, ebenso die Beiträge und persönlichen Opfer, die wir unseren Bürgern, sei es finanziell, sei es durch den Dienst in und für die Bundeswehr, abverlangen.Es war der Sinn aller Verträge, im Interesse des Friedens Zusammenarbeit zu entwickeln, obwohl wir wußten und gesagt haben, daß es tiefgreifende und grundsätzliche ideologische Unterschiede zwischen Ost und West, zwischen uns und unseren Partnern gibt. Durch keinen Vertrag können sie wegverhandelt werden. Man muß nur dafür sorgen, daß diese ideologischen Auseinandersetzungen an die zweite Stelle rücken, also nicht mit Gewalt ausgetragen werden. Das ist ein zentraler Punkt der Vertragspolitik. Ich sehe keinen einzigen Gesichtspunkt, der nicht heute genauso gilt. Deshalb ist es richtig, daß diese Politik fortgesetzt wird.
Meine Damen und Herren, niemand wird es mißverstehen, wenn ich erst an zweiter Stelle die menschlichen Erleichterungen nenne, die wir erreicht haben. Sie werden von der Opposition ja auch anerkannt. Kein Rückschlag kann die Summe dessen mindern, was sehr, sehr vielen einzelnen Menschen und Familien an Erleichterungen verschafft werden konnte. Aber es wäre eine unzulässige Verengung, wenn wir den Blick nur darauf richteten, als würde sich der Inhalt unserer Politik in weiteren technischen Absprachen und weiteren menschlichen Erleichterungen erschöpfen — so wichtig das ist und sowenig wir uns mit Rückschlägen abfinden dürfen. Je fester die Sicherung des Friedens wird, je stärker gleichgerichtete Interessen zu Absprachen führen, um so mehr wird das auch den Menschen dienen. Das gilt global, das gilt in Europa, das gilt zwischen den beiden deutschen Staaten.Um diese Politik ungefährdet und sicher führen zu können, brauchen wir das militärische Gleichgewicht. Das eine wie das andere ist keine taktische Frage, das eine wie das andere ist durch die Bundesrepublik Deutschland berechenbar und auf Dauer angelegt. Seit 1969 hat sich da nichts verändert und darf sich auch gar nichts verändern.Natürlich kommt dabei unserem Verhältnis zu unserem stärksten Verbündeten eine besondere Bedeutung zu. Hier hat es in letzter Zeit hörbare Sorgen gegeben. Ich gestehe: ich habe sie geteilt, wenngleich nicht ausgesprochen. Natürlich hätte es gewaltige Folgen, wenn die Schwierigkeiten, den Rüstungswettlauf zu beenden, wie das so eindrucksvoll der Bundesaußenminister als Notwendigkeit gerade dargelegt hat, dadurch beseitigt würden, daß man ihn nun erst richtig beginnt. Eine Politik der Überlegenheit, von wem auch immer formuliert, ist mit unserer Überzeugung von der Politik des Gleichgewichts nicht zu vereinbaren.
Daß der Bundeskanzler seine seit vielen Jahren vertretene Überzeugung vom Gleichgewicht in voller Klarheit wiederholt hat, nachdem er mit dem neugewählten amerikanischen Präsidenten gesprochen hat, ist besonders wichtig.In der Vorstellung vom Gleichgewicht ist übrigens auch enthalten, daß die Sicherheit in und für Europa nicht ohne die Vereinigten Staaten zu erhalten ist und daß es dazu gehört, die Solidarität des Risikos zu erhalten. Gleichgewicht und Abkoppeln, das verträgt sich nicht.Wir haben zu SALT j a gesagt, weil es nach unserer Auffassung auch unseren Interessen entspricht. Wir sind überzeugt, daß SALT auch den amerikanischen Interessen entspricht; denn SALT ist ein wichtiges Instrument, bindet auch die Sowjetunion, die ihr militärisches Potential, wie wir gesehen haben, leichter steigern kann als westliche Länder.Wir haben den Doppelbeschluß der NATO unterstützt. Herr Kollege Zimmermann und Herr Kollege Kohl, Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen, daß wir da mit den Augen zwinkern.
Wir haben den Doppelbeschluß unterstützt inKenntnis der zusammenhängenden Zeitabläufe. Wirunterstützen die Bundesregierung und ermutigen
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Bahrsie, den SALT-Prozeß nach ihren Kräften zu fördern.
Auch auf diesem Gebiet stehen in den vor uns liegenden Jahren wichtige und schwierige Entscheidungen an, bei denen die konstruktive Haltung auch der Sowjetunion erforderlich sein wird.
Was da zuweilen an Vorwürfen gegen die Bundesrepublik und gegen die Bundesregierung gedruckt oder gesendet wird, ist nicht hilfreich. Wenn der Bundesregierung Doppeldeutigkeit vorgeworfen wird, so muß das zurückgewiesen werden.
Wir begrüßen, daß die Verhandlungen über das Gebiet der Mittelstreckenraketen in Genf begonnen haben. Daran haben der Bundeskanzler und der Bundesaußenminister ihr persönliches Verdienst. Das ist international anerkannt. Es hätte der Opposition nicht geschadet, es auch anzuerkennen, wenn ihr Wort von der Rüstungsbegrenzung nicht nur als bloßes Lippenbekenntnis erscheinen soll.
Allgemeine Bekenntnisse kennen wir. Bei der konkreten Politik wird sich zu erweisen haben, ob es wie bisher bleiben soll: theoretisch j a, praktisch immer nein.
Herr Abgeordneter, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Mertes?
Ich bitte um Entschuldigung; ich möchte den Gedanken zu Ende führen.
Herr Kollege Kohl hat heute früh den persönlichen Vorschlag des Bundeskanzlers zur Truppenreduktion als „undiskutabel" bezeichnet. Für uns ist er das nicht. Er kann sich im Gegenteil als sehr produktiv erweisen. Aber das werden wir dann j a sehen.
Bitte sehr.
Herr Kollege Bahr, wollen Sie bitte dem Hause bestätigen, daß es in der letzten Legislaturperiode des Deutschen Bundestages keine Verhandlungsposition des Bündnisses und damit der Bundesregierung in irgendeinem Abrüstungsgremium — ob Wien oder Genf oder New York oder Brüssel — gegeben hat, die die Opposition nicht uneingeschränkt und konstruktiv operativ mitgetragen hat, daß hingegen aus Ihrer Fraktion einige schwerwiegende Behinderungen dieser Positionen vorgetragen worden sind?
Kollege Mertes, zunächst einmal kann ich nicht sagen, daß das Verhalten von Mitgliedern meiner Fraktion behindernd oder hinderlich oder nicht konstruktiv gewesen ist.
In keinem einzigen Fall.
Zum anderen: Die theoretische Bereitschaft der Opposition, Ausgangspositionen nicht zu kritisieren, sondern mittragen zu lassen,
ist bisher deshalb nur von einem akademischen Wert — da sind wir uns sicher einig —, weil es bislang leider nicht zu Verhandlungsergebnissen gekommen ist, über die praktisch entschieden werden muß. Wie wir dann abstimmen, werden wir ja sehen. Mehr wollte ich dazu gar nicht sagen.
Wenn am Beginn der 80er Jahre darüber nachgedacht wird, in welcher Rolle sich Amerika und Europa sehen — hat das Gewicht der Bundesrepublik Deutschland, wie es die Opposition ja eigentlich immer bestreitet, so zugenommen, daß wir erhöhte Lasten auf uns nehmen sollen? —, muß man sich zunächst vor einem hüten. Ich glaube, man darf aus einer zeitweiligen Konditionsschwäche der Vereinigten Staaten nicht schließen, daß Amerika schwach ist. Es ist ungeheuer stark. Es mag auf einigen militärischen Sektoren einen Nachholbedarf haben, um der Rolle als Weltmacht voll gerecht werden zu können, die ihr niemand abnehmen kann.Wir führen unsere Diskussion über unsere Regierungserklärung. Der Bundeskanzler hat einen Punkt nicht erwähnt, und er war dabei wohl gut beraten. Ich meine die Diskussion, ob Europa, genauer gesagt Westeuropa, eine selbständigere Rolle in der Welt übernehmen soll, um seine Interessen in anderen Regionen besser zu wahren, also nicht auf die Hilfe der Amerikaner angewiesen zu sein. Wir werden über diesen Komplex sicher noch mehrfach zu diskutieren haben, vielleicht schon, wenn der neugewählte Präsident seine Form der außenpolitischen Regierungserklärung abgegeben haben wird. Ich sehe in solchen Überlegungen auch etwas Konstruktives, soweit sie unser Land in einem europäischen Verbund sehen.Aber es gibt eine Denkrichtung, die ich für gefährlich halte: Die mittelfristigen Vorstellungen der CSU zur Sicherheits- und Verteidigungspolitik im Rahmen der europäischen Integration, wie sie im Sommer veröffentlicht wurden, setzen als Ziel — ich zitiere — „eine europäische Verteidigungsunion". Sie soll „für ein geeintes Europa ... aus eigener Kraft in der Lage sein, seine Sicherheit zu gewährleisten und seine Freiheit zu verteidigen".
— Ich bin dankbar, wenn Sie das dementieren. Bisher haben Sie das versäumt.Das Atlantische Bündnis ist erwähnt: das ist richtig, Herr Kollege Wörner. Es steht dort allerdings in einem etwas anderen Zusammenhang. Es soll fortentwickelt werden bis hin zu dem notwendigen „Aufbau eines Westeuropäischen Atlantischen Verteidigungssystems", in dem Amerika auf der einen und Westeuropa auf der anderen Seite Partner sind. In
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Bahrder Konsequenz würde das bedeuten, die Einheit der Nordatlantischen Gemeinschaft durch ein Bündnis zwischen der europäischen Verteidigungsunion und den USA abzulösen.Nun gibt es bei uns niemanden, der bei solchen Vorstellungen diffamierende Verdächtigungen äußert. Aber soweit es dort zu lesen war, würde es die Abkopplung von der Solidarität und von dem unteilbaren gemeinsamen Sicherheitsrisiko mit den Vereinigten Staaten zum Programm erheben. Das, was der Bundesaußenminister zu diesem Punkt der Gleichheit des Sicherheitsrisikos zwischen uns und Amerika gesagt hat, muß auch dafür voll gelten, bleibt auch dafür in vollem Umfang richtig.Ich glaube nicht, daß es auch nur wünschenswert, daß es auch nur möglich wäre, den Versuch zu unternehmen, das Gleichgewicht gegenüber der Sowjetunion aus eigener europäischer Kraft — also zwischen Europa und der Sowjetunion — herstellen zu wollen. Es wäre für die Diskussion über die Perspektiven der 80er Jahre wichtig, von den Kollegen der CDU/CSU zu erfahren, welchen Stellenwert sie solchen formulierten Überlegungen beimessen. Der Kollege Zimmermann hat dazu etwas gesagt; Herr Kollege Kohl hat heute früh etwas gesagt, was in dieser Beziehung dunkel war.Meine Damen und Herren, die Bundesregierung ist gegenüber der DDR im Angebot geblieben, d. h. in der Bereitschaft, gegen die Abgrenzung den Willen zur Zusammenarbeit zu setzen. Nach dem, was wir in den letzten Wochen erlebt haben, gibt es kaum etwas, was den Willen zur Kontinuität unserer Politik besser und stärker zeigen kann. Auch hier ist die Opposition anderer Auffassung; das ist ihr gutes Recht. Sie hat die Bereitschaft zur Fortsetzung der Zusammenarbeit kritisiert; was sie selbst machen will, hat sie nicht gesagt.
„Maßnahmen" hat Herr Zimmermann gefordert, Herr Kohl nicht. Die Töne von Herrn Zimmermann dazu entsprechen der alten Linie, die eben nicht realisiert, daß es den Grundlagenvertrag gibt. „Weiter wie bisher" ist Ihre Parole, übrigens unsere auch. Auch deshalb wird es schwierig sein, sich zu verständigen, wenn Sie nicht in der Lage sind, sich auf den Boden der Realitäten und der geschaffenen Verträge zu stellen.
Natürlich sind die beiden deutschen Staaten ganz besonders betroffen von der allgemeinen Entwicklung zwischen Ost und West. Beide bleiben loyale Bündnispartner, aber darüber hinaus haben sie — wenngleich begrenzt — Möglichkeiten, auch dann kooperativ zu bleiben, wenn das Klima zwischen den beiden Supermächten kühler wird. Viele von uns haben das mit Staunen zur Kenntnis genommen.Die DDR hatte aus ihrer bis dahin in all den Jahren feststellbaren Haltung nach dem sowjetischen Einmarsch in Afghanistan zu einer Haltung gefunden, die die gleichen Sorgen teilte, die man in ganz Europa — in Ost- wie in Westeuropa — hören konnte, und sie hat die Hoffnung geteilt, daß die beiden Großmächte nicht in eine unberechenbare Entwicklung abgleiten. Nach meinem Eindruck wurde die DDR in einem bis dahin nicht gehabten Maße nach dem Einmarsch der Sowjetunion in Afghanistan kooperativ. Diese Phase dauerte 8 Monate. Es führt nicht weiter, öffentlich zu spekulieren, was die DDR zu einem Verhalten veranlaßt hat, das sicher ein Rückschlag ist, das sicher nicht ohne Folgen bleiben kann und das jedenfalls vielen Menschen — besonders in der DDR — praktisch etwas weggenommen hat.Ich bin übrigens auch hier anderer Auffassung als der Kollege Zimmermann, der auf die Frage, ob Bonn die Erhöhung des Zwangsumtausches von 13 DM auf 25 DM aus Bundesmitteln, aus übergeordneten politischen Interessen, ausgleichen soll, erklärt hat: „Über diese Idee kann man reden." — Ich finde das nicht, weil es zu falschen Schlüssen verleiten könnte. Ich weiß von manchem Bewohner der DDR, der die Politik der sozialliberalen Koalition schätzt und über die Maßnahmen seiner Regierung tief enttäuscht ist, daß es schwer verstanden würde, wenn man der Idee des Kollegen Zimmermann folgte.
— Entschuldigung, ich habe ihn mit Anführungsstrichen aus der „Welt" zitiert. Vielleicht hat er es dementiert; dann ist es nicht abgedruckt worden. Das kann j a passieren. —Gegenüber einigen Positionen, die die DDR in letzter Zeit öffentlich vertritt, ist es gut, sich auf den Grundlagenvertrag zu beziehen. Es ist bedauerlich, daß die beiden deutschen Staaten in einer völkerrechtlich komplizierten Situation leben. Der Vertrag zwischen ihnen ist völkerrechtlich gültig. Die beiden deutschen Staaten entwickeln ihre Beziehungen auf der Grundlage der Gleichberechtigung.Ich habe zu den Wünschen der DDR, Botschaften zu entwickeln, oder die Ständigen Vertretungen in Botschaften umzubenennen, nur darauf hinzuweisen, daß es sich dabei um eine Vertragsänderung handeln würde, und das setzt bekanntlich die Zustimmung beider Seiten voraus. Ich habe nicht gehört, daß die Bundesregierung das will; aber man kann nicht überrascht sein, daß die DDR das genauso gern will wie vor acht Jahren.Was die Staatsangehörigkeitsfragen angeht, so gibt es von beiden Seiten formulierte Erklärungen dazu. Die DDR hat erklärt: „Die Deutsche Demokratische Republik geht davon aus, daß der Vertrag eine Regelung der Staatsangehörigkeitsfragen erleichtern wird." Daß sie diese Erwartung von Zeit zu Zeit wiederholt, kann doch nicht überraschen. Die Bundesrepublik Deutschland hat erklärt: „Staatsangehörigkeitsfragen sind durch den Vertrag nicht geregelt worden." Der Hintergrund dieser Erklärung war den Vertragspartnern klar. Er hat sich nicht verändert.96 Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Mittwoch. den 26. November 1980BahrEs hat sich auch nichts daran verändert, daß durch den Grundlagenvertrag die Rechte und Verantwortlichkeiten der Vier Mächte nicht berührt werden können. Beide Seiten haben dies auch in entsprechenden Noten den Drei Mächten und der Sowjetunion mitgeteilt. Eine völkerrechtliche Anerkennung der DDR durch die Bundesrepublik Deutschland ist schon deshalb nicht möglich.
Unser Grundgesetz und das Bundesverfassungsgericht schätzeich nicht zu gering ein, wenn ich hinzufüge, daß diese Situation auch nicht durch eine Zweidrittelmehrheit dieses Hauses verändert werden könnte, selbst wenn der Deutsche Bundestag das wollte, was bekanntlich gar nicht der Fall ist.
Meine Damen und Herren, die beiden deutschen Staaten werden zu einem geeigneten Zeitpunkt die Gespräche nachzuholen haben, die bedauerlicherweise Ende August nicht stattgefunden haben; denn ihre Verantwortung für die Sicherung des Friedens in Europa, die bei aller Unterschiedlichkeit sonstiger Interessen gleich groß ist, verlangt das.Es kann sein, daß dies erst sinnvoll ist, wenn die Entwicklung in Polen überschaubar wird. Wir verfolgen sie mit Sorge und großer Anteilnahme. Insofern sind alle Europäer polnische Nachbarn. Wenn Arbeiter mehr Mitbestimmung wünschen, ist das etwas, was in der geschichtlichen Erfahrung und in der geschichtlichen Entwicklung von Industriestaaten — selbst in einem Land wie dem unseren — nicht ganz einfach ist. In dem dortigen ist es sehr viel schwieriger. Man kann allen Beteiligten nur von ganzem Herzen wünschen, daß sie die Klugheit und die Kraft haben, zwischen Möglichem und Unmöglichem zu unterscheiden. Niemand sollte sich einmischen, auch nicht durch Ratschläge, so gut sie gemeint sein mögen.Aber es ist wohl nicht übertrieben, zu sagen, daß Hoffnung und Sorge in bezug auf Polen auch eine europäische und vielleicht darüber hinausreichende Dimension gewonnen haben. Nun hat Herr Kollege Kohl heute früh seine Unterstützung dafür zugesagt, Polen eine nachbarschaftliche Hilfe zu geben. Der Kollege Brandt hat das positiv aufgegriffen. Wenn man diese Idee verfolgt, dann kann an diesem Beispiel deutlich werden, daß der Führer der Opposition es sich heute früh mit einigen allgemeinen, nebeneinander gestellten Grundsätzen seiner bis zur Stunde eben wirklich anderen Ostpolitik ein bißchen zu leicht gemacht hat.Er hat etwas von den klaren Bedingungen und von Leistungen und Gegenleistungen gesagt. Das seien Grundsätze, die befolgt werden müßten. Ich glaube, es kann politische Interessen und Situationen geben, in denen man davon abweicht. Das war immer so bei dem, was man „Swing" im innerdeutschen Handel genannt hat. Ich nehme an, es würde auch so sein, wenn man dieser Anregung folgt, d. h. wenn man gegenüber Polen als Europäische Gemeinschaft — und dann wohl ohne Gegenleistung — etwas leistet.Wichtiger wird etwas anderes sein. Eine derartige Leistung kann nur mit der polnischen Regierung vereinbart werden. Natürlich würde sie den Menschen zugute kommen. Aber sie würde, wenn sie wirksam wäre, die Dinge in Polen stabilisieren. Und ich habe nicht vergessen, welche leidenschaftlichen Debatten hier und außerhalb des Parlaments geführt wurden, daß es nicht unsere Aufgabe sein kann, kommunistische Regierungen zu stützen.
Wenn man einen Schritt weitergeht und eine derartige Leistung bedingungslos gibt, dann liegt es nahe, sie unter allen Umständen zu geben, gleichgültig, wie sich die Dinge in Polen entwickeln; damit es keinen falschen Nebengeschmack gibt.Meine Damen und Herren von der Opposition, wenn wir uns darüber einig wären, würde sehr viel von der vergifteten Art entfallen können, die die innenpolitische Auseinandersetzung um die Ostpolitik der Koalition in den zurückliegenden Jahren bestimmt hat.
Lassen Sie mich ein weiteres Beispiel nennen. Ich tue es nur zur Versachlichung. Sie haben auch heute von dem Wunschdenken, von den Enttäuschungen, von den Illusionen gesprochen — Herr Zimmermann noch mehr als Herr Kohl —. Die mit der Entspannung verstärkte Annäherung an den Osten habe drüben einen Wandel gefördert, auch wenn dadurch nicht zugleich eine höhere Stufe der Annäherung erreicht worden und der Frieden zwischen Ost und West nicht unbedingt sicherer geworden seien. Das könne für die Deutschen nicht bedeuten, auf das Ziel der Entspannung zu verzichten. So hat sich laut dpa Herr vom Weizsäcker in Berlin geäußert. Und gestern abend hat er gesagt:Entspannung hat gerade dort, wo sie einen wesentlichen Teil des angestrebten Erfolges zu erzielen im Begriff war, auch Spannung erzeugt: in der inneren Situation Osteuropas. Ich denke, es wird im Interesse der Sowjetunion und auch der DDR liegen, diejenigen Teile der Entspannungspolitik fortzusetzen, die ihr Vorteile bringen, andere dagegen abzuwehren, die in ihre Prioritäten nicht reinpassen. Priorität Nummer eins ist die Stabilisierung der inneren Verhältnisse. Und was diese inneren Verhältnisse, die Stabilisierung des Herrschaftssystems in Osteuropa stört, das wird in der Entspannung bis auf weiteres zurückgestellt und ausgeklammert.So weit Herr von Weizsäcker.Als Sozialdemokraten das gesagt haben — allerdings schon vor Jahren — wurden sie als gefährliche Aufweichler bezeichnet, genauso wie Herr Zimmermann als gefährliche Aufweichlerei dies heute wieder bezeichnet hat — was dann praktisch an Herrn von Weizsäcker geht. Aber es ist immerhin ein Fort-
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Bahrschritt, daß einer aus den Reihen der Opposition sich so öffentlich äußert.Diese nachdenklichen Töne waren heute morgen von der Opposition nicht zu hören.
Jedenfalls haben wir keinen Grund, unseren Kurs der bisherigen Politik der Entspannung zu ändern. Auch nach dem, was die Sprecher der Opposition bisher gesagt haben, bleibt offen: Eine Gruppe bei Ihnen war immer der Auffassung, daß die kommunistischen Systeme unveränderlich seien, eine andere beginnt, Realitäten und Chancen des konstruktiven Miteinander zu sehen. Bisher haben sich immer die ersten durchgesetzt, bis hin zur Ablehnung der Schlußakte von Helsinki, die heute ein wichtiger Punkt dessen ist, worauf man sich in osteuropäischen Ländern beruft, ganz zu schweigen davon, daß die Opposition die Erklärung von Helsinki heute am liebsten wie einen völkerrechtlich ratifizierten Vertrag einklagen möchte.
Wenn der Kollege Dregger kürzlich gesagt hat, ein tragfähiges ost- und deutschlandpolitisches Zukunftskonzept könne nicht das der Koalition, auch nicht das der CDU, sondern es müsse ein drittes und gemeinsames sein, so kann es zu diesen Überlegungen nach der Regierungserklärung und nach der Aussprache von heute nur ein Nein geben. Weder SPD noch FDP haben die Absicht, ein neues, drittes Konzept zu entwickeln, da das unsere — auch nach der Auffassung der Union — offenbar gar nicht so schlecht ist und die Opposition übrigens auch heute kein drittes oder neues vorgeschlagen hat.Niemand kann der Opposition ersparen, sich über ein geschlossenes Konzept der Entspannungspolitik in sich und mit sich klar zu werden. Dann werden wir sehen, wie sich das im praktischen Verhalten, in konkreten Beschlüssen auswirkt. Unsere Haltung bleibt die Fortsetzung dieser Politik mit dem Ziel, durch Zusammenarbeit Frieden zu sichern und Gräben zwischen Europa einzuebnen.Der Bundeskanzler hat die Offenheit der Regierung für neue Gedanken erklärt. Durch das, was die Opposition heute geboten hat, wird er nicht überbeschäftigt werden.Außen-, Sicherheits-, Entspannungs- und Deutschlandpolitik sind ein Markenzeichen dieser Koalition seit 1969. Man kann verstehen, daß dies die Opposition stört. Aber nach der Regierungserklärung bleibt das Markenzeichen voll und unversehrt erhalten. Die sozialdemokratische Fraktion wird die Bundesregierung bei der Fortsetzung dieser Politik in den 80er Jahren voll unterstützen.
Ich erteile das Wort dem Herrn Abgeordneten Dr. Wörner.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir haben soeben einen ganz interessanten Auftritt von Herrn Bahr erlebt, wie es meistens interessant ist, wenn Herr Bahr redet. Da er seine Worte zu wählen weiß, ist er ein ernstzunehmender Gesprächspartner. Aber während Herr Brandt heute morgen und Herr Genscher sichtbar bestrebt waren, Gemeinsamkeit zu finden und herzustellen, hat Herr Bahr soeben einen ganz anderen Versuch gemacht,
nämlich die Gemeinsamkeit schon im Ansatz zu zerstören, indem er Strohmänner aufbaut und nach bewährtem Muster auf sie eindrischt.
Das aber ist Ihr Problem, nicht das unsere. Herr Bahr, das müssen Sie zur Kenntnis nehmen: Unsere Außenpolitik war nie eine Frage der Taktik, sondern immer eine Frage der Grundsätze. Wir haben es nicht nötig wie Sie, unserem Volk nach den Wahlen etwas anderes zu sagen als vor den Wahlen.
Im übrigen ist es schon einigermaßen makaber, wenn ausgerechnet Herr Bahr mit uns über die Frage der Taktik philosophiert, Herr Bahr, der sich einmal in einer sehr delikaten Weise dazu geäußert hat, was man diesem Volk vor und was man ihm nach den Wahlen sagen könne. Ich kann in Ihrem Auftritt hier nur eines erkennen, Herr Bahr: einen taktischen Versuch. Aber noch einmal: Das mögen Sie unter sich ausmachen; das ist nicht unsere Sache.Wir gehen einem schwierigen, einem krisenträchtigen Jahrzehnt entgegen. Unsere Welt ringt ganz sichtbar um eine Neu- und Umverteilung wirtschaftlichen Wohlstandes, eine Neu- und Umverteilung von Rohstoffen, eine Neu- und Umverteilung auch politischer Macht. Dieses Ringen, dieses globale Ringen wird das kommende Jahrzehnt bestimmen. Einschneidende weltpolitische Veränderungen im Ost-West-Verhältnis und in der Dritten Welt vollziehen sich ganz sichtbar vor unseren Augen. Sie stellen unsere Politik in den 80er Jahren vor neue Herausforderungen.Sie aber haben nicht den Mut zu neuen Antworten. Ihre Devise, auch die Devise des Bundeskanzlers, lautet: Weitermachen wie bisher. Sie, Herr Bahr, haben das eben dankenswerterweise noch einmal ausgeführt. Aber darauf sagen wir Ihnen: Mit den Antworten von gestern lösen Sie die Probleme von morgen, die Probleme der 80er Jahre, eben nicht — um das klar und eindeutig zu sagen.
Ich will es Ihnen an einem Beispiel deutlich machen, das Herr Genscher selbst ins Spiel gebracht hat. Wer gegen die harte Politik der Abgrenzung und des Vertragsbruchs des Ostens nur den guten Willen zur Zusammenarbeit und nur die Formel von der Fortsetzung der Entspannungspolitik setzt, der of-
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Dr. Wörnerfenbart eben Konzeptionslosigkeit und nicht den Mut zur Zukunft, von dem die Rede war.
Ich will jetzt Herrn Genscher die Antwort auf seine Frage geben: Sicher, es ist richtig, daß wir auf Abgrenzung von drüben nicht mit Abgrenzung hier antworten können. Aber das ist nicht die ganze Antwort auf dieses Problem.
Entscheidend ist es, ein Instrument zu finden, das uns in Zukunft in die Lage setzt, auf Vertragsbrüche der anderen Seite angemessen zu reagieren. Wir müssen Leistung und Gegenleistung anders verknüpfen,
sonst stehen wir fortlaufend vor dem gleichen Problem, daß wir das, was wir nach drüben gegeben haben, weggegeben haben, die andere Seite es kassiert hat und wir nicht mehr in der Lage sind, es zurückzufordern. Vertragsbruch darf sich auch im Ost-West-Verhältnis nicht lohnen, meine Damen und Herren.
Das, was ich an dieser Regierungserklärung am meisten bedauert habe, ist das Auseinanderklaffen von schönen Worten auf der einen Seite und Taten auf der anderen Seite.
Ich will das an einem Beispiel deutlich machen. Sie sprechen von Klarheit und Berechenbarkeit Ihrer Außenpolitik. Aber zur gleichen Zeit brechen Sie ein Versprechen, das Sie feierlich dem Bündnis im Westen gegeben haben.
Sie reden zu Recht davon, daß ohne Gleichgewicht in unserer Welt kein verläßlicher Friede wäre; aber durch Ihre Politik verschärfen Sie das Ungleichgewicht, indem Sie die Verteidigung schwächen. Und Sie finden goldene Worte zur Bundeswehr, die übrigens charakteristischerweise — wie könnte es anders sein — den stärksten Beifall bei der CDU/CSU-Fraktion gefunden haben. Nur, das eine muß ich Ihnen sagen — und das werden wir Ihnen auch nicht ersparen, insbesondere dem Kanzler nicht —: Solange Jusos und — im übrigen, Herr Genscher — auch Judos zusammen mit Kommunisten gegen die Bundeswehr agitieren und demonstrieren, ohne dafür von der SPD zur Rechenschaft gezogen zu werden, solange können Sie sich diese feierlichen Appelle an diesem Platz sparen.
Ich war in einer bestimmten Lage, die mir wieder aufgetaucht ist, als der Herr Bundeskanzler hier diese Worte gebraucht hat, von denen wir jedes unterschreiben können. Ich erinnerte mich an die Fernsehsendung als der Kollege Apel vom BonnerMarktplatz zurückkam, wo er unter einem ohrenbetäubenden Pfeifkonzert das feierliche Gelöbnis hatte abhalten lassen, während zur gleichen Zeit der stellvertretende Vorsitzende seiner Fraktion namens Ehmke eine Gegenveranstaltung in Bad Godesberg leitete. Da kann ich nur sagen: Das sind die zwei Gesichter der SPD. Solange Sie die nicht beseitigen, sind Sie nicht glaubwürdig, auch und gerade der Jugend gegenüber.
Dem Herrn Bundeskanzler, der j a leider im Moment nicht da ist, hätte ich gerne dies gesagt: Wie will er die junge Generation in der Bundesrepublik Deutschland von der Pflicht zur Verteidigung überzeugen, wenn er noch nicht einmal seine eigene Partei überzeugen kann? Das ist weder Führung noch ist es Mut, sondern das ist das genaue Gegenteil davon.
Wir von der CDU/CSU lassen uns in der Außen-und Sicherheitspolitik von vier grundsätzlichen Zielen leiten.Erstens. Deutsche Politik ist Politik für die Freiheit. Nur eine Welt, in der die Völker frei über ihr Schicksal bestimmen können, nur eine Welt, in der keine Macht nach Vorherrschaft über andere strebt, kann auf die Dauer friedlich und stabil sein.Zweitens. Deutsche Politik ist Politik für den Frieden. Es gibt keine wichtigere Aufgabe als die Suche nach Ausgleich, als die Suche nach Stabilisierung gerade in einer krisenträchtigen Welt, als die Suche auch nach Begrenzung und Abbau von Rüstung. Wir suchen Verständigung, und wir suchen Verständnis nach West und Ost gleichermaßen, gerade auch gegenüber der Sowjetunion, gerade auch gegenüber der DDR und den osteuropäischen Staaten. Wir wünschen Miteinander statt Gegeneinander, Gespräch statt Feindseligkeit, Entspannung statt Spannung. Es muß doch erlaubt sein, dies zu sagen: Von der Bundesrepublik Deutschland ist in all den Jahren ihres Bestehens bis zum heutigen Tag keine Gefahr für den Frieden ausgegangen. Wir bedrohen niemanden.
Die Bundeswehr ist eine reine Verteidigungsarmee, eingegliedert in ein Verteidigungsbündnis. Ich sage hier — ich hoffe, mit Zustimmung des ganzen Hauses —: Die Welt wäre bedeutend friedlicher, wenn alle anderen Völker diesem unserem Beispiel gefolgt wären.
Drittens. Deutsche Politik ist Politik für die Einheit unseres ganzen Volkes. Das ist für uns kein Lippenbekenntnis. Wir nehmen den Auftrag unseres Grundgesetzes ernst, weil wir aus der Geschichte erkennen müssen, daß man auf die Dauer nicht ohne Gefahr die Zusammengehörigkeit einer Nation künstlich und gewaltsam zerschneiden kann. Gerade die jungen Deutschen müssen wissen: Nation, Volk und Vaterland sind keine altmodischen Begriffe. Ein guter Europäer, ein Weltbürger im besten
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Dr. WörnerSinne kann nur sein, wer ein guter Deutscher, ein guter Franzose, ein guter Italiener oder ein guter Engländer ist.
Wir wissen aber: Deutschland — auch Deutschland als Ganzes — hat nur im Rahmen eines freien Europa eine Zukunft. Darum bleiben für uns, die CDU/CSU, die Einigung Europas und damit die Stärkung der europäischen Institutionen, der Ausbau der Rechte des Europäischen Parlaments und eine engere politische Zusammenarbeit vordringlich. In dieser Hinsicht wird der Bundesaußenminister keine Mühe mit uns haben. Nach all den Erfahrungen, die wir gesammelt haben, hat er diese Mühe eher mit den Sozialisten im Europäischen Parlament. Deswegen war vorher der Adressat vielleicht der falsche.Ich will auch ganz offen sagen, daß die deutschfranzösische Zusammenarbeit auch für uns das Herzstück der europäischen Einigung ist und bleibt. Wir müssen uns allerdings davor hüten, Europa in das Lager der mächtigen und größeren Staaten auf der einen Seite und das Lager der kleineren Staaten auf der anderen Seite zerfallen zu lassen.
Viertens. Deutsche Politik ist Politik für die Menschenrechte, für ihre Durchsetzung, ihren Ausbau, ihre Sicherung überall in der Welt. Hier liegt unser ureigenster deutscher Beitrag für eine friedlichere, für eine gerechtere Welt. In der großen Geschichte unseres Volkes hat das Dritte Reich einen schmerzlichen, einen dunklen Makel eingebrannt — eben durch die brutale Mißachtung der Menschenrechte. Kein Volk hat es so schrecklich erfahren wie das unsere, wohin die Vergewaltigung der Menschenrechte führt. Darum ist hier das Feld, wo wir, wo gerade auch die jungen Deutschen, die in der geschichtlichen Haftung unseres Volkes stehen, im besten und im tiefsten Sinne wiedergutmachen können. Hier liegen große, übergroße Aufgaben für unser Volk, für jeden einzelnen Deutschen. Hier bei den Menschenrechten gibt es ein weites, sinnvolles Feld für Idealismus, für Einsatz, für Opferbereitschaft, gerade auch der jungen Deutschen, die uns oft genug fragen, ob wir denn noch lohnende Ziele und Aufgaben für sie bereithielten.Freilich — auch das muß gesagt werden — ist ein solcher Einsatz für die Menschenrechte nur dann glaubwürdig, wenn er Ost und West gleichermaßen gilt und weder nach links noch nach rechts Scheuklappen trägt.
Wer lautstark gegen die Verletzung der Menschenrechte in Südafrika und Südamerika vom Leder zieht, zu der Vergewaltigung der Menschenrechte in den Diktaturen des kommunistischen Machtbereichs aber verlegen schweigt, zeigt nur, daß es ihm um Ideologie und nicht um den Menschen geht.
Wir unterstützen aus vollem Herzen — übrigens hat das der Kollege Marx für die Fraktion bereits vor einigen Wochen getan — den Appell des Bundeskanzlers an die Adresse Südkoreas, Kim Dae Jung die Freiheit zu geben.
Aber wir appellieren gerade im Zusammenhang mit den Menschenrechten auch an die Sowjetunion, Herrn Sacharow und andere Bürgerrechtler nicht länger zu verfolgen und ihrer Menschenrechte zu berauben.
Kampf um die Menschenrechte heißt zunächst Kampf gegen Armut, gegen Hunger, gegen das Elend in der Welt. Darum darf Entwicklungshilfe nicht länger Stiefkind der deutschen Politik bleiben. Unsere Beziehungen zur Dritten Welt müssen als eigenständiger Bereich mehr ins Zentrum unserer Politik rücken.
Ich sage als Begründung dazu: Wir können auf Dauer nicht ruhig auf einer Insel des Wohlstandes leben, wenn rings um uns ein Meer von Elend, Krankheit und Revolution brandet.
Wir begrüßen die Absicht der Bundesregierung, die Mittel für Entwicklungspolitik doppelt so stark wie für den übrigen Haushalt zu erhöhen, und werden Sie dabei unterstützen.Aber auch hier muß noch etwas anders gesagt werden, was leider weder der Kollege Brandt noch der Außenminister der Bundesrepublik Deutschland in der nötigen Klarheit angesprochen haben. Die Welt wäre in der Bekämpfung von Hunger und Elend längst einen großen Schritt weiter, wenn die Sowjetunion endlich darauf verzichten würde, den Ost-West-Konflikt auf den Nord-Süd-Gegensatz zu übertragen und wenn sie sich statt dessen stärker an der Entwicklungshilfe beteiligen würde.
Es ist ein Skandal, daß der gesamte Ostblock zusammen nur ein Viertel der Entwicklungshilfe leistet, die die Bundesrepublik Deutschland allein aufbringt. Dafür pumpt aber der Ostblock das dreißig-und mehrfache an Waffen in die Dritte Welt.Lassen Sie mich noch etwas zum Nahen Osten sagen, weil das von Herrn Brandt angesprochen wurde. Wir alle wissen, daß der Friedensprozeß dort ungeheuer schwierig ist. Aber wir von der CDU/CSU sind der Meinung, daß es der bessere, sinnvollere Weg für Europa wäre, den Prozeß, den wir Camp-David-Prozeß nennen, den Friedensschluß zwischen Ägypten und Israel, zu unterstützen und von da aus weiterzubauen, statt ihn, wie es die Gemeinschaft der Neun gemacht hat, in gewisser Weise zu behindern, um nicht zu sagen zu torpedieren.
Dort liegt der richtige Ansatz für eine umfassendere Friedensregelung.Lassen Sie mich noch etwas anderes als ein unverbrüchliches Prinzip der CDU/CSU hinzusetzen. Die Existenz Israels in gesicherten Grenzen ist für uns nicht nur ein Gebot politischer Zweckmäßigkeit,
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Dr. Wörnersondern eine aus der Geschichte erwachsene moralische Verpflichtung, zu der wir stehen.
Wir stehen vor einer neuen kritischen Phase der Ost-West-Beziehungen. Diese ist im Osten markiert durch eine Politik harter Abgrenzung der Sowjetunion und der DDR, durch Erschütterungen im sowjetischen Machtbereich, durch die anhaltende Besetzung Afghanistans, durch die ungebrochene und massive sowjetische Aufrüstung. Sie wird markiert im Westen durch eine neue amerikanische Führung, die ganz deutlich andere Vorstellungen von der Stellung der USA in der Welt, vom Verhältnis zur Sowjetunion und von Entspannungspolitik hat.Sie wird ferner markiert durch ein neues Selbstvertrauen der amerikanischen Nation in sich selbst und ihre Kräfte. Ich kann nur sagen, das muß jeder, der in der Bundesrepublik Deutschland lebt, auf das wärmste begrüßen, weil wir uns darauf verlassen können. Das ist ein Prozeß, der hier in Gang gekommen ist, den wir uns gewünscht haben, um es deutlich zu sagen.
Täuschen wir uns nicht, die amerikanischen Wahlen haben mehr bewirkt als einen bloßen Regierungswechsel. Hier hat sich eine völlig andere, eine neue Grundstimmung im amerikanischen Volk Bahn gebrochen.Wir meinen, diese Veränderungen in Ost und West zwingen die Bundesregierung und natürlich nicht nur die Bundesregierung, zwingen jeden deutschen Politiker zur Überprüfung seiner Politik. Die Amerikaner und die Europäer können sich nicht länger ein unterschiedliches Konzept der Entspannung leisten. Wer, wie der Herr Bundeskanzler in seiner Regierungserklärung, so tut, als ob hier alles wieder beim alten geblieben sei, der legt im Grunde genommen schon wieder den Keim zu einer neuen Spaltung oder zu einer neuen Meinungsverschiedenheit im Bündnis.
Jetzt sage ich etwas zu Herrn Bahr — ich kann ihn im Moment nicht entdecken, ich habe ihn offensichtlich zu früh gelobt —: Die Entwicklung in Ost und West gerade der letzten Monate, hat unsere Kritik, die Kritik der CDU/CSU, in entscheidenden Punkten sichtbar bestätigt. Darum kann und darum wird es kein ostpolitisches Godesberg geben, um das klar und eindeutig zu sagen.
Aber im Unterschied zu Herrn Bahr geht es uns in der jetzigen Situation am Anfang einer Legislaturperiode, am Anfang eines wirklich schwierigen Jahrzehnts, nicht um billige Rechthaberei.
Es geht darum, auf der einen Seite von den illusionären Komponenten Ihrer Politik Abschied zu nehmen und auf der anderen Seite die konstruktiven Ansätze und Elemente, die diese Politik auch hat, fortzuentwickeln.Herr Kohl hat es gesagt, ich wiederhole es: Die Epoche der Auseinandersetzung um die Ostverträge ist abgeschlossen. Die Verträge sind eine Realität, sind auch für die CDU/CSU eine der Grundlagen ihrer Politik, und zwar in der Auslegung, die ihnen der Brief zur deutschen Einheit, das Bundesverfassungsgericht und die gemeinsame Erklärung des Deutschen Bundestages gegeben haben. Anstatt die Schlachten der Vergangenheit zu schlagen, sollten wir jetzt in die Zukunft hinein für die Menschen in ganz Deutschland das Beste aus ihnen machen.
Wenn ich von konstruktiven Ansätzen sprach, dann meinte ich in erster Linie die menschlichen Erleichterungen, die Erweiterung der menschlichen Begegnungen und Kontakte, die das Leid der Spaltung mindern. Allerdings liegt die grundlegende Schwäche dieser Vorteile darin, daß sie jederzeit widerruflich sind und ja auch von der DDR immer mal wieder zurückgenommen werden. Darum — ich wiederhole das — gilt es, in der Zukunft unsere Leistungen so zu dosieren und sie so mit den Gegenleistungen zu verknüpfen, daß bei vertragswidrigem Verhalten der anderen Seite spürbare Nachteile entstehen.
Zu den konstruktiven Elementen gehört auch der Wandel in den Lebensumständen und wohl auch in der Einstellung der Bevölkerung in den Ostblockstaaten durch mehr Information, Begegnung und Austausch. Das hat Richard von Weizsäcker gemeint, und zwar mit Recht, Herr Bahr. Ihnen nehme ich nicht ab, daß Sie nicht intelligent genug sind, den Unterschied im Wandel der Einstellung der Bevölkerung und der Reaktion der Systeme darauf zu sehen. Das sind j a eben die Grenzen dieser Politik, die es klarer zu sehen, klarer zu erkennen gilt. Es gibt hier eine eingebaute Bremse: Je erfolgreicher die Auflokkerung im Ostblock, desto energischer die Reaktion, d. h. die Abgrenzungspolitik der Machthaber. Das ist ja das, was wir in diesen Tagen erleben.Ein weiteres konstruktives Element. Sicher hat es eine gewisse Stabilisierung der Lage Berlins gegeben. Allerdings muß man auch hier sehen, die eigentliche Garantie, die Gewähr für die Sicherheit Berlins liegt in der Anwesenheit der alliierten Truppen, d. h. nichts anderes als im Zusammenhalt und in der Entschlossenheit des Bündnisses. Lassen Sie mich das hier an dieser Stelle und in dieser Debatte sagen. Nirgendwo wird deutlicher als in Berlin, welch ein fundamentaler Zusammenhang zwischen Bündnissolidarität und unserer Sicherheit besteht, und daß Westpolitik eine klare Priorität, einen klaren Vorrang im Bezugsrahmen deutscher Politik besitzt und behalten muß.
Wir werden darauf drängen, in Übereinstimmung mit dem Viermächteabkommen die Bindungen Berlins an den Bund weiter auszubauen. Dabei geht es nicht nur darum, daß Berlin den wirtschaftlichen Anschluß gefunden hat — so froh wir darüber sind —, es geht auch nicht nur darum, daß der Bundeskanzler gerne an die Berliner Theater, Museen
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Dr. Wörnerund Konzerte denkt — das tun wir alle; ich will bekennen, ich mit Vorliebe —,
sondern das Entscheidende an und für Berlin ist, daß die Stadt mit ihrer Existenz ein Symbol, ein Mittelpunkt deutscher Zukunftshoffungen ist und bleiben muß. Dazu müssen wir beitragen.
An welchem Ort, in welcher Stadt könnte das Bewußtsein von der Einheit der deutschen Nation eindrucksvoller und wirksamer wachgehalten werden als in und mit Berlin.Wenn wir also von der Fortentwicklung der konstruktiven Ansätze sprechen, dann heißt das zäher Bodengewinn auf dem steinigen Pfad der kleinen Schritte, hin zu mehr Durchlässigkeit, Begegnungen und menschlichen Erleichterungen. Allerdings muß klar sein: Solange die DDR ihre Verpflichtungen nicht erfüllt, solange sie beispielsweise nicht von der Erhöhung des Zwangsumtauschs abgeht, können keine neuen Vereinbarungen mit ihr abgeschlossen werden. Ich hoffe, daß Ihr Schweigen zu diesem Punkt nicht schon wieder ein Zurückweichen der Bundesregierung von ihrem eigenen ursprünglichen Kurs signalisiert. Dort würden Sie uns nicht mehr auf Ihrer Seite finden.
Über Polen, unsere Sympathie dem polnischen Volk und jenen gegenüber, die die Rechte der Arbeitnehmer dort vertreten, ist das Richtige schon gesagt worden. Ich will dazu nichts mehr sagen außer dem einen — daran zu denken und daran zu appellieren muß unsere Pflicht sein und ist unsere Pflicht —: Wenn wir Hilfe an Polen geben, müssen auf der anderen Seite auch verbindliche Abmachungen zugunsten der dort lebenden Deutschen und der zügigen Bearbeitung ihrer Aussiedlungsanträge erfolgen. Auch dies kann nicht unterschlagen werden.
Herr Abgeordneter, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Dr. Corterier?
Gerne!
Herr Wörner, ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie an dieser Stelle eine Klarstellung geben würden. Heute morgen hat Herr Kohl gefordert, daß es Hilfsmaßnahmen der Europäischen Gemeinschaft, speziell Lebensmittelhilfe, für Polen geben sollte. Sind Sie der Meinung, daß die von Herrn Kohl geforderten Hilfsmaßnahmen der Europäischen Gemeinschaft nur unter den Bedingungen gegeben werden dürfen, die Sie eben genannt haben?
Herr Corterier, es erstaunt mich, daß Sie eben nicht genau zugehört haben. Aber ich will der Frage nicht ausweichen. Da ich annehme, daß wir an dieser Hilfe maßgeblich beteiligt sein werden, und ich nicht an den technischen Details solcher Verhandlungen interessiert bin, meine ich, daß eine deutsche Regierung, die den Weg wirklich begehen will, die Mittel und Wege finden wird, das der polnischen Seite bei dieser Gelegenheit in der gebotenen Deutlichkeit nahezubringen und dafür zu sorgen, daß das auch auf der anderen Seite erfolgt.
Aber, Herr Bahr, die fällige Neuorientierung Ihrer Entspannungspolitik — ich sage noch einmal: die Neuorientierung der Entspannungspolitik der Bundesregierung —, die durch die Veränderungen in Ost und West zwangsläufig erfolgen muß, heißt vor allen Dingen — auch wenn Sie das nicht gerne hören —, Abschied zu nehmen von den Illusionen und von den fehlerhaften Komponenten dieser Politik, die es ebenso unbestreitbar gegeben hat.Die Hoffnung — um die erste dieser Illusionen anzusprechen — auf einen Wandel durch Annäherung ist eine Illusion geblieben. Sie mußte es bleiben. Es gibt keine Konvergenz. Es gibt keinen Wandel der kommunistischen Systeme, der den totalitären Charakter im Wesenskern ändern würde. Wenn es ans Eingemachte ihrer Herrschaft geht — es ist Realismus, das zu erkennen —, sichern die Machteliten des kommunistischen Lagers eben notfalls mit harter Abgrenzung und Unterdrückung ihre Herrschaft. Die Mittel dazu haben sie in einem perfektionierten Polizeistaat allemal. Mauer, Stacheldraht, Tötungsapparat, die grausame Verfolgung der Dissidenten und Bürgerrechtler sind brutale Symbole dieser Machtsicherung, die wir weder verschweigen noch vergessen dürfen.
Als gefährlichste Illusion — und die erscheint wieder in Ihren Bemerkungen — hat sich die Behauptung erwiesen, der Frieden sei sicherer geworden. Ich sage Ihnen das noch einmal in Abwesenheit des Bundeskanzlers und des Bundesaußenministers. Ich kenne die Gründe dafür nicht, aber ich empfinde es nicht als angemessen, daß beide im Augenblick während einer Aussprache über ihre Regierungserklärung nicht im Saal sind. Es gibt auch so etwas wie eine Art Achtung vor diesem Parlament.
Ich hoffe, daß man es ihnen sagt.
Der Bundeskanzler wie auch teilweise der Bundesaußenminister haben ganz bewußt aus innenpolitischen Gründen die Chancen der Entspannungspolitik überbetont. Sie haben es zu verantworten, meine Damen und Herren, daß die Entspannungspolitik wie eine Droge gewirkt hat, die die Verteidigungsbereitschaft in unserem Volk untergraben hat, während die UdSSR im letzten Jahrzehnt ihre militärische Macht schlichtweg verdoppelt hat.
Wir teilen j a das Bedauern von Herrn Brandt, der heute morgen ausgerufen hat: „Mehr Waffen machen die Welt nicht sicherer, sondern nur ärmer!"
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Dr. WörnerWer von uns würde das nicht unterschreiben! Nur wenn man so etwas ausspricht, muß man auch den Mut haben — das gehört zum Realismus einer Politik —, zu sagen, daß die Ursachen dort liegen, wo die Sowjetunion unsere Vorleistungen nicht honoriert hat, sondern weiter ihren Militärapparat Jahr um Jahr ausbaut, selbst dort, wo sie schon die Überlegenheit hat.Meine Damen und Herren, das ist die Realität, an der unsere Welt leidet. Wir müssen sie beim Namen nennen, damit unsere junge Generation beispielsweise weiß, warum sie zur Verteidigung zur Bundeswehr soll.
Man kann über Rüstungen nicht diskutieren, wenn man nicht auch den Zusammenhang mit den politischen Spannungsursachen sieht. Waffen sind am wenigsten die Ursache von Spannungen. Sie tragen zur Erhöhung von Spannungen bei. Ursache der Spannungen ist eine Politik, die von der Sowjetunion im Augenblick sichtbar betrieben wird. Sie versucht, ihren eigenen Machtbereich auf Kosten anderer Völker auszuweiten.
Wenn man die Spannungsursachen beseitigen will, muß man darüber auch in globalem Kontext mit der Sowjetunion reden. Auch die Europäer müssen das etwas deutlicher tun als in der Vergangenheit.
Das folgende ist eine andere Ihrer Illusionen, und jetzt schaue ich auf Sie, Herr Wehner: Die sowjetische Politik ist eben nicht nur defensiv, wie Sie sagen. Sie ist nicht nur auf die Erhaltung und Sicherung des Status quo gerichtet. Sie ist weltweit expansiv. Der Griff der Sowjetunion nach dem Nahen Osten gilt den Lebenslinien der westlichen Industriestaaten.
Dieser Griff zielt damit auf den Nerv auch unserer Unabhängigkeit und Sicherheit. Davor dürfen wir nicht die Augen verschließen, meine Damen und Herren.
Deswegen sagen wir: Entspannung ist unteilbar. Das heißt nicht, daß jede Spannung auf Europa übertragen werden muß, das heißt nicht, daß wir nicht alles daransetzen müßten, auch und gerade in Krisenzeiten die europäische Szene zu stabilisieren. Das heißt aber, zu begreifen und es dann auch auszusprechen, daß die Bundesrepublik Deutschland eben keine Insel der Entspannung in einer Welt der Spannung sein und bleiben kann, wie uns die Entwicklung der letzten Monate nachgewiesen hat.
Angesichts dieser Tatsachen liegen die Chancen und die Grenzen einer realistischen Entspannungspolitik fest. Eine realistische Entspannungspolitik kann und muß erstens den bewaffneten Konflikt unmöglich machen, zweitens den Konflikt menschlich und politisch erträglicher gestalten, drittens Spielregeln für die Austragung des Konflikts entwickeln — das ist das, was man „Konfliktmanagement" nennt —, viertens die sowjetische Machtpolitik durch Aufbau entsprechender Gegenmacht eindämmen.Hierzu bedarf es in einigen entscheidenden Punkten neuer Ansätze. Die unzulängliche, die unwirksame und die uneinige Reaktion des Westens auf den sowjetischen Einmarsch in Afghanistan hat gezeigt, woran es fehlt und was wir dringend brauchen: einmal ein Gesamtkonzept des Westens, das die finanziellen, wirtschaftlichen, technologischen, politischen und militärischen Möglichkeiten zu einem wirksamen Instrumentarium zusammenfaßt und das der sowjetischen Führung deutlich macht, daß eine weitere Machtexpansion auf den geschlossenen und entschlossenen Widerstand des ganzen Bündnisses stoßen wird. Nur das ist eine Garantie dafür, daß es nicht zu weiteren Afghanistans kommt.
Herr Abgeordneter Dr. Wörner, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Horn?
Ich bin schon etwas in Zeitknappheit. Ich bitte den von mir sehr geschätzten Kollegen Horn dafür um Verständnis. Er weiß, daß das sonst nicht meine Art ist.Zweitens brauchen wir eine Verknüpfung unserer Leistungen und Hilfen an den Ostblock mit verantwortlichem Verhalten der Ostblockstaaten auf der anderen Seite. Das ist das, was die Amerikaner „linkage", also Zusammenhang, Verknüpfung, nennen.Sicher, man darf dieses Konzept weltweiten Zusammenhangs der Spannung oder Entspannung nicht überfordern oder überfrachten. Aber der Sowjetunion muß deutlich gemacht werden, daß von ihr machtpolitische Zurückhaltung, Bereitschaft zur Eindämmung der Rüstungsanstrengungen und die Einhaltung friedens- und konfliktmindernder Spielregeln als Gegenleistung für eine Fortsetzung und Ausdehnung westlicher Hilfe und die Ausdehnung des Handels verlangt werden. Wenn wir ihr das nicht klarmachen, wenn „business as usual" weitergeht, meine Damen und Herren, dann wird die Sowjetunion von ihrer expansiven Politik nicht Abstand nehmen.Deswegen kann ich nur sagen: Die deutsche Regierung, Herr Bundeskanzler, wäre gut beraten, wenn sie sich hier der amerikanischen Linie, wie sie sich abzeichnet, anschlösse, und zwar nicht nur verbal. Sie leisten damit einen großen Beitrag im Bündnis, um das deutlich zu sagen.
Für eine Politik der Friedenssicherung und der Verständigung gibt es drei entscheidende Voraussetzungen: zum einen einen festen Stand und einen engen Schulterschluß im Bündnis; zum zweiten ein Gleichgewicht der Kräfte, das uns die nötige Sicherheit verbürgt; zum dritten eine Bevölkerung, die in ihrer großen Mehrheit eine solche Politik mitträgt
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Dr. Wörnerund die nötige Standfestigkeit und Widerstandsfähigkeit aufbringt.In allen diesen drei entscheidenden Punkten, Herr Bundeskanzler, haben Sie sich selbst Hypotheken aufgeladen, die unsere Zukunft völlig überflüssigerweise belasten.
Ich komme als erstes zum Verhältnis zu den Vereinigten Staaten. Ihre Weigerung, die harten. Maßnahmen der USA als Reaktion auf den Einfall der Sowjets nach Afghanistan mitzutragen, das unterschiedliche Entspannungsverständnis und das dauernde laute Klagen über amerikanisches Führungsversagen haben schon in den vergangenen Jahren unser Verhältnis zu den Amerikanern zunehmend belastet. Und nun gehen Sie her und brechen als erstes, noch ehe Sie zu regieren richtig angefangen haben, ein dem Bündnis gegenüber mehrfach gegebenes Versprechen. Das hat in Amerika verheerend gewirkt; das haben Sie auch nicht durch Ihren Besuch beseitigen können. Da bedarf es jetzt mehr als bloßer Absichtserklärungen. Da müssen Taten her, Herr Bundeskanzler, wenn Sie diese Scharte auswetzen wollen.
Die Bündnispolitik muß wieder Vorrang in der deutschen Politik erhalten. Ich sage auch an Ihre Adresse: Wir leben nicht in gleicher Distanz zu denI USA und zu der UdSSR. Wer das verschweigt, muß wissen, daß er die latente Neigung in unserem Volk zum Neutralismus fördert.
Wenn Herr Genscher in dieser Richtung Bedenken hat und wenn er einen Appell an uns gerichtet hat, dann kann ich nur sagen: Er hat den falschen Adressaten erwischt.Ich denke daran, daß Herr Kollege Brandt vom giftigen Gestammel der beiden Weltmächte gesprochen hat. Ich habe vor mir ein Interview des Bundeskanzlers vom 7. August 1980 im „Kölner Stadt-Anzeiger" liegen, indem er sagte:Soweit allerdings in Zukunft Probleme durch die beiden Weltmächte entstehen, wird in jedem einzelnen Fall der jeweilige Verbündete der Sowjetunion oder der USA sich immer wieder vor die Frage gestellt sehen, ob er zur Besorgnis Anlaß gebende Politik unterstützen kann oder nicht.Ja, was ist das denn anderes als gleiche Distanz, als auf die gleiche Wertskala stellen? Herr Genscher, Sie sollten mit Ihrem Bundeskanzler reden. Wir sind der Meinung, daß das Bündnis und unsere Politik im Bündnis sowie die Solidarität mit den Amerikanern Vorrang in der deutschen Politik haben.
Die Amerikaner stellen sich der Herausforderung im Golf.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Wir müssen uns an diesen Lasten beteiligen, d. h., wir müssen zusammen mit den anderen Europäern die Amerikaner dafür in Europa entlasten, und zwar nicht nur verbal, weil die Amerikaner von verbalen Zustimmungen und Zusicherungen genug gehört haben. Sie wollen jetzt sehen, daß die Europäer ebenfalls an den Lasten dieser veränderten Welt mittragen.Nun komme ich zur Verteidigung. Herr Genscher hat vor kurzem erklärt — er hat das ja hier in ähnlicher Weise wiederholt —, daß es Politik der Entspannung überhaupt nur auf der Grundlage eines gesicherten Gleichgewichts der Kräfte geben könne. In einem Interview haben Sie dann gesagt:Auch diese Politik— nämlich die Politik der Rüstungskontrolle und Abrüstung —setzt den Willen und die Entschlossenheit voraus, das für die eigene Sicherheit Erforderliche zu tun.Aber gerade das ist das Feld, wo wir Ihre Worte und Ihre Taten eben nicht in Übereinstimmung sehen.Erstens gibt es dieses Gleichgewicht nicht. Das verschweigen Sie dauernd. In der NATO unterschreiben Sie permanent Resolutionen, wonach das Ungleichgewicht gefährlich zunehme. Ich habe vor mir eine solche Resolution vom Juli 1980. Darin heißt es:Die Minister stellen mit Sorge fest, daß trotz der Erklärung des Warschauer Pakts, keine militärische Überlegenheit anstreben zu wollen, keinerlei Anzeichen für ein Nachlassen der erheblichen Verbesserungen in der Qualität, im Bereitschaftsstand, in der Stärke der sowjetischen und anderen Warschauer-Pakt-Streitkräfte festzustellen ist, wodurch— jetzt hören Sie gut zu —das derzeitige militärische Ungleichgewicht insbesondere in Europa sich noch weiter zu verschärfen droht.
Aber hier reden Sie dauernd vom Gleichgewicht. Obwohl Sie wissen, daß es nicht gegeben ist, verschärfen Sie es durch Ihre Politik dauernd weiter; denn Sie geben der Bundeswehr nicht mehr, was die Bundeswehr, was unsere Verteidigung braucht, um auch nur unsere Kampfkraft aufrechtzuerhalten. Das ist die pure, die reine Wahrheit.
Die 3 % realer Steigerung, über die — wie ich meine, mit Recht — geredet wird, sind doch keine Phantasiezahl; sie sind schon gar kein „dummes Zeug", wie Herr Wischnewski glaubt. Im übrigen: das „dumme Zeug" hätte der Herr Apel ausgehandelt. Es
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Dr. Wörnerwar doch der Herr Bundeskanzler, der in London die Zusage gegeben hat; er hat es doch wiederholt und auch international bekräftigt. Es muß Sie doch merkwürdig berühren, das nun als „dummes Zeug" charakterisiert zu haben. Da merken die Amerikaner doch, was in Wirklichkeit dahintersteckt. Die Amerikaner wissen doch auch, daß Sie im Wahlkampf wieder und wieder davon geredet haben, wie reich die Deutschen seien, und zwar doppelt so reich — wie Sie in München gesagt haben — wie die Sowjets und die Amerikaner. Das wird Ihnen jetzt vorgehalten, wenn Sie nach Amerika kommen und sagen, Sie seien in wirtschaftlichen Schwierigkeiten. Die Amerikaner sagen Ihnen, daß sie 8 Millionen Arbeitslose und eine höhere Inflation haben und dennoch das Ihre zur Sicherheit der freien Welt leisten. Dann können sie erwarten, daß auch Sie die entsprechenden Prioritäten in Ihrer Sicherheitspolitik setzen — nicht wegen der Aufrüstung, sondern wegen des Gleichgewichts, das Sie so oft beschwören, Herr Bundeskanzler.
Die Streichungen, die Sie jetzt beschließen, beschlossen haben und beschließen müssen, gehen doch ans Eingemachte, sie gehen doch an die Substanz. Das heißt: Selbst wenn es diesen Beschluß mit der realen Steigerung um 3 % nicht gäbe, bräuchten Sie diese 3 % um unserer Sicherheit willen. Sie streichen doch Waffensysteme, die unsere Truppe dringend braucht, weil die andere Seite sie bereits hat, und das in noch größerer Zahl. Sie gehen jetzt an die Heeresstruktur, Leopard II, Milan, Roland, von der Lage der Soldaten ganz zu schweigen. — Herr Bundeskanzler, das kann ich mir bei der Gelegenheit nicht verkneifen; das muß ich Ihnen offen sagen: Als ich hörte, mit welcher Überzeugung Sie in den Vereinigten Staaten die These vertreten haben, daß wir 1,2 Millionen Mann binnen drei Tagen mobilisiert hätten, da habe ich mich gefragt, wie lange es her ist, daß dieser Bundeskanzler die Hardthöhe zum letztenmal gesehen hat. Vielleicht lassen Sie sich einmal Ihren Informationsstand etwas aufbessern. Das, was Sie hier sagen, ist ein reines Phantasieprodukt, aber nicht die militärische Wirklichkeit, um das deutlich zu machen.
Den Vogel hat allerdings der Finanzminister dieser Bundesrepublik Deutschland, Herr Matthöfer, abgeschossen, der in einer Fernsehrunde gesagt hat: Wir können z. B. in zwölf Tagen über 4 Millionen Mann unter Waffen, die ihren Kampfauftrag kennen, in Stellung bringen und motivieren, ihre Heimat zu verteidigen.
Also wissen Sie, wenn mir das irgend jemand gesagt hätte, hätte ich milde gelächelt, aber daß der Finanzminister der Bundesrepublik Deutschland so etwas in einer Fernsehdiskussion erzählen kann, spricht nicht dafür, daß er für dieses Amt sonderlich geeignet wäre, um das deutlich zu sagen.
In Amerika hat die Chuzpe, die Unverfrorenheit, mit der Herr Matthöfer indirekt die amerikanischen Streitkräfte in der Bundesrepublik Deutschland herabgesetzt hat, wie eine Bombe eingeschlagen, als er davon sprach, daß unsere Soldaten wenigstens reden, schreiben und lesen könnten.Ich kann Ihnen sagen: Im amerikanischen Kongreß — —
— Wenn Sie jetzt dazwischenrufen, dann kann ich Ihnen nur eines sagen — es gibt einige Kollegen, die ich jetzt nicht namentlich nennen will, die das bestätigen könnten —: Sie können sich gar nicht vorstellen, wie das im Kongreß, im Senat der Vereinigten Staaten wirkt. Ein Senatsmitglied hat mir frank und frei gesagt — das ist nicht der Unwichtigste im amerikanischen Senat —: Wenn sie so schlecht sind, dann könnt ihr j a wohl nichts dageben haben, daß wir sie zurückziehen. — Ich warne dringend davor, die amerikanischen Streitkräfte in ihrer Kampfkraft so herabzusetzen, um sich selbst vor den zugesagten Leistungen zu drücken, meine Damen und Herren.
Nun bin ich bei der letzten und nach meinem Dafürhalten entscheidenden Frage, wenn wir von der Verteidigung und vom Gleichgewicht der Kräfte reden, nämlich bei der Frage, wie es um den Verteidigungswillen und um die Einstellung der jungen Generation zu diesem Staat bestellt ist. Die Vorgänge um das öffentliche Gelöbnis in verschiedenen Städten des Bundesgebiets, die steigenden Zahlen der Wehrdienstverweigerer, insbesondere der Abiturienten unter ihnen, das Um-sich-Greifen naiv-pazifistischer Einstellung — auch und gerade in kirchlichen Kreisen — kann uns nicht gleichgültig lassen. Und weil hier nach der Ursache gefragt wurde: Das ist einmal die Quittung für das Versagen von Elternhaus und Schule und zum anderen die Quittung für die jahrelange geistige und politische Führungslosigkeit einer Regierung, die sich seit langem kaum mehr traut, den Zusammenhang zwischen Friedenssicherung und einer glaubwürdigen Verteidigungsbereitschaft herzustellen und darzutun.
Vieles von dem, Herr Bundeskanzler,
was Sie jetzt an goldenen Worten sagen, vieles von dem, was der Herr Brandt heute morgen so gesagt hat, daß es jeder von uns unterschreiben kann,
hätte, wenn es rechtzeitig an die richtige Adresse draußen in unserem Volk beispielsweise vor der jungen Generation immer und immer wieder vertreten worden wäre, eben dazu geführt, daß das unmöglich gewesen wäre, was wir draußen erleben. Jetzt kommen Sie her und reden viel zu spät und, ich sage Ihnen, am falschen Platz das Richtige. Gehen Sie raus, in Ihre eigene Partei hinein, gehen Sie an die junge Generation heran, und sagen Sie ihr das mit uns zu-
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Dr. Wörnersammen. Wir drücken uns von dieser Aufgabe nicht.
Die Frage muß gestellt werden: Wie weit hat es ein Staat gebracht, in dem die Bundeswehr in größeren Städten nur noch unter Polizeischutz das Gelöbnis ablegen kann,
in dem sich junge Menschen auspfeifen lassen müssen, weil sie noch bereit sind, diesen Staat, sein Recht und seine Freiheit zu verteidigen? Die da pfeifen sind eine Minderheit.
Wenn dieser Staat — und das sage ich im Bewußtsein dessen, was ich dabei sage — noch einen Funken Selbstachtung hat, dann kann er und darf er sich nicht dem Diktat dieser pfeifenden Minderheit beugen, meine Damen und Herren.
Die weit überwiegende Mehrheit der Deutschen —das hat der Herr Brandt j a völlig richtig dargestellt —, gerade auch der jungen Deutschen, ist mit diesem öffentlichen Gelöbnis einverstanden, findet im übrigen auch am Großen Zapfenstreich nichts Anstößiges.
Seit 1957 praktizieren wir ihn. Gerade sozialdemokratische Verteidigungsminister haben ihn fortlaufend praktiziert. Niemand hat daran Anstoß genommen. Jetzt plötzlich, weil es in Bremen Krawall gegeben hat und weil es einer kleinen Minderheit einfällt, dagegen zu protestieren, dagegen zu pfeifen, Störungen zu verursachen, jetzt plötzlich wird es zu einem Problem, und jeder, der ein bißchen auf Schick und Mode hält, ist plötzlich der Meinung, man müsse das überprüfen. Wer entscheidet eigentlich über die Tradition, Sie, der Bundesverteidigungsminister oder die Minderheit da draußen? Ich glaube, wir hier im Parlament und Sie sind diejenigen, die die Entscheidung treffen.
Herr Apel, Sie haben völlig zu Recht wiederholt gesagt, es gehe vielen von denen gar nicht um das öffentliche Gelöbnis, es gehe ihnen um den Staat. Das ist richtig. Aber ich möchte noch eines hinzufügen. Was wir im Augenblick erleben, das ist, so behaupte ich, eine Kampagne, die ganz bewußt darauf abzielt, die jungen Wehrpflichtigen, die noch bereit sind zu dienen, zu verunsichern,
ihnen ein schlechtes Gewissen zu suggerieren, (Dr. Kohl [CDU/CSU]: Einzuschüchtern!)
sie einzuschüchtern. Darum, sage ich Ihnen, treten wir von der CDU/CSU energisch weiterhin für das öffentliche Gelöbnis und auch für das entsprechende Zeremoniell ein.
Keine Armee der Welt ist in ihrer Selbstdarstellung so bescheiden wie die Bundeswehr. Man kann ihr dieses karge Maß an Selbstdarstellung nicht auch noch verbauen.
Ich sage Ihnen, darüber sollten gerade Sie einmal nachdenken, denn ich habe das von einem Sozialdemokraten, von Gustav Radbruch, der j a die Gründe des Zusammenbruchs oder des Scheiterns der Weimarer Republik analysiert hat.
Wir als Demokratie dürfen die Symbole und damit die Ansprache der Gefühlswelt des Menschen nicht nur den Diktaturen und den Extremisten überlassen. Gerade Demokratien können und dürfen nicht darauf verzichten, den Staat und die Armee nicht nur im Kopf, sondern auch im Herzen der Menschen zu verankern.
Alle alten Demokratien wissen das, handeln entsprechend und nehmen ihre Soldaten feierlich und öffentlich in Pflicht.Junge Staatsbürger aus unserem Volk, die für ihr Volk Dienst tun, sollen dies auch in feierlicher Form vor ihrem Volk bekunden dürfen. Wir lassen diese unsere Armee nicht ins Abseits drängen. Wir wollen Staatsbürger in Uniform und eine Armee inmitten unsere Demokratie und nicht im Getto.
Die junge Generation von heute ist nicht schlechter als die vor ihr. Sie erwartet nur Maßstäbe, Werte, Führung im recht verstandenen Sinn.Mut macht der Jugend allerdings nur der, der selber Mut zeigt und nicht den wirklichen Problemen ausweicht. Sie, Herr Bundeskanzler, haben in Ihrer Regierungserklärung diesen Mut nicht gezeigt. Also werden Sie auch nicht Mut machen. Wir bedauern dies. Denn Sie hätten eine große Chance gehabt.
Ich erteile das Wort dem Herrn Abgeordneten Dr. Ehmke.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich will auf die Rede des Kollegen Wörner nicht im einzelnen eingehen. Wir haben diese Rede in den letzten zwei Legislaturperioden schon des öfteren gehört
und sie beantwortet.
Ich will auf zwei Punkte eingehen, die auch der Herr Kollege Kohl angeschnitten hat, nämlich auf das Thema Gemeinsamkeit und das Thema Jugend.Es hat uns natürlich nicht gewundert, daß Herr Kollege Zimmermann für die CSU hier eine sehr an-
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Dr. Ehmkedere Theorie von Gemeinsamkeit als der Kollege Kohl vertreten hat. Wir haben ja schon vorher aus Ihrem Mund etwas gehört, was man in dem Satz zusammenfassen kann: Und Strauß hat doch gesiegt. Das wird Ihnen draußen keiner glauben.Jetzt hören wir aber auch aus den Reihen der CDU eine Rede, wie sie genauso auch vor dem 5. Oktober hätte gehalten worden sein können.Dies ist nicht unser Problem. Das Problem der Union ist doch: Sehen Sie mal Ihr Jungwählerergebnis an!
Es sind doch nicht wir, die die Mehrheitsfähigkeit bei den Jungen verlieren, sondern wenn jemand nachzudenken hat, sind es doch Sie.
Wir überlassen das Ihnen.
Wir wären nur froh, Herr Kollege Kohl, wenn wir über das Thema „Gemeinsamkeit in der Außenpolitik" trotz dieser beiden Reden weitersprechen könnten. Ich bin nicht der Meinung, daß wir einen neuen Grundansatz brauchen. Aber ich bin der Meinung: Wir werden vor sehr neuen Problemen stehen, bei denen es diesem Land sehr guttun würde, wenn wir uns einiger wären, als wir uns offensichtlich bis jetzt sind.Wenn ich jetzt zur Frage Jugend und Ideale" komme, möchte ich auf das eingehen, was Herr Kollege Wörner zum Gelöbnis und zur Bundeswehr gesagt hat. Das war ja beispielhaft für Ihre Behandlung der Jugend, muß ich sagen. Denn so kann man das doch nicht machen, das man sagt: Da sind ja 60 Prozent für das Gelöbnis oder für den Zapfenstreich, und nun sollen also bitte auch alle anderen stramm dafür sein! Was soll eine solche Jugenddiskussion? — Das erinnert mich an Kollegen in der Universität, die, als die Studentenunruhen anfingen, zu sagen pflegten: Die Universität ist schon was Schönes, wenn es nur keine Studenten gäbe.Wir müssen uns darüber klar sein, und das müssen doch auch Sie, Herr Wörner, ernst nehmen: Nicht nur in der Bundesrepublik — gucken Sie zu Ihren Parteifreunden in Holland und zu unseren Parteifreunden in Holland — haben wir heute gerade aus beiden Kirchen — sehen Sie sich bitte mal die Stellungnahmen der theologischen Fakultäten und der Studentengemeinden in dieser Frage an — so etwas wie eine pazifistische Grundbewegung. Die wird stärker, als die grüne Bewegung war; das sage ich Ihnen voraus. Dies wird eine der ganz schwierigen Auseinandersetzungen der 80er Jahre sein.
— Es ist interessant, daß Sie immer dann, wenn esKritik gibt — selbst wenn sie von den Kirchenkommt —, meinen, es müsse irgend jemand dahinterstecken; vermutlich der Breschnew, nehme ich an.
Man muß das, was dort kommt, ernst nehmen, weil es hinsichtlich beider Fragen ernstzunehmende Argumente gibt.Herr Kollege Wörner hat soeben gesagt, er stimme mit Willy Brandt darin überein, daß Waffen uns nicht sicherer, sondern ärmer machen. Darum gibt es bei den jungen Leuten einen solchen moralischen Ausgangspunkt, bis weit hinein in die Pfarrerschaft. Also, ich kenne diese Diskussion: Da kommt oft der moralische Kurzschluß: Wenn man die Abrüstung nicht beidseitig machen kann — das ist zu kompliziert —, dann ist es am besten, wir machen es allein. Das ist doch ein großes Problem für uns alle, da müssen wir uns doch der Diskussion stellen.Hans Apel und der Bundesregierung möchte ich hier ganz herzlich dafür danken, daß sie angekündigt haben, Fragen des Gelöbnisses und der Traditionspflege zur Diskussion zu stellen. Herr Wörner, das ist kein Zurückweichen, für das Sie meinen Freund Hans Apel kritisieren dürften, sondern das ist etwas, was wir der Demokratie und der Bundeswehr schuldig sind.
Ich will Ihnen auch gleich sagen, warum: Es gibt Leute — da ist kein Zweifel, die sehen wir bei diesen Gelegenheiten —, die sind gegen diesen Staat. Es gibt Leute, die sind nicht gegen diesen Staat, aber die sind aus pazifistischen oder aus anderen Gründen gegen die Bundeswehr; mit denen haben auch wir nichts gemein. Dann gibt's Leute, die sind generell gegen das Gelöbnis; davon gibt es eine ganze Menge. Und dann gibt es Leute wie mich: Ich bin zwar nicht gegen das Gelöbnis, aber gegen diese Form. Im übrigen, Herr Wörner, ist diese Diskussion um die Abschaffung des Gelöbnisses ja nicht plötzlich, seit Bremen entstanden. Schon im Weißbuch 1970 stand, daß das abgeschafft werden sollte. Ich habe mir in den letzten Wochen einmal die Protokolle der Tagungen der Militärseelsorger durchgelesen. Schon in den 60er Jahren war es von der theologischen Seite her ein ganz großes Problem, ob man dieses Gelöbnis so durchführen sollte und ob man — —
— Herr Leber wird Ihnen sagen, daß er da — genauso wie ich — seine Meinung hat und er wird genauso wie ich sagen, daß dann, wenn es in einem Volk verschiedene Meinungen darüber gibt, diese ausdiskutiert werden müssen und nicht durch den
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Dr. EhmkeAppell für eine „stramme" Jugend überdeckt werden können.
Ich sage zunächst einmal, was ich für gefährlich halte — darum begrüße ich so, was Hans Apel gemacht hat —: Sie haben kein Interesse daran, wir haben kein Interesse daran, die Freien Demokraten haben kein Interesse daran, die, die Gegner unseres Staates sind, und die, die Gegner unserer Bundeswehr sind, mit den kritischen Demokraten — so hieß übrigens unsere Veranstaltung — in einen Topf zu werfen, die „für eine demokratische Bundeswehr" sind.
Darum müssen wir über Formen diskutieren, die vordemokratisch sind und an denen meines Erachtens — daraus mache ich keinen Hehl — viel zu diskutieren ist. Übrigens, Herr Zimmermann, Sie haben Herrn Piecyk nicht richtig zitiert. Das, was die Jungsozialisten gesagt haben, liegt j a gedruckt vor. Die haben gesagt: In der DDR gibt es den Stechschritt und andere Relikte des preußischen Militarismus; das wollen wir bei uns nicht.
Also, zitieren Sie bitte korrekt.Diese Dikussion muß geführt werden. Was hätten wir denn davon, wenn auch nur in einer kleinen Minderheit — aber so klein ist die gar nicht — der Vorwurf, wir würden unseren Verteidigungsanstrengungen ein pseudoreligiöses Gepräge geben, etwas wäre, was die Diskussion über Rüstung, Abrüstung und Nachrüstungsbeschluß emotionell für uns in eine Situation bringt, daß man sie gar nicht mehr durchstehen kann? Sie haben gesagt: Da marschieren Jusos zusammen mit der DKP. Auch das ist nicht wahr.
— Augenblick, ich komme genau darauf. Nur die Ruhe, lassen Sie mich einmal ausreden! — Warum dieser Angriff? Es ist gar keine Frage — wir haben uns auf der Sitzung des Parteivorstandes auch sehr kritisch dazu geäußert —: Die Jungsozialisten haben in Bremen schwere Fehler gemacht, sie haben ihre Demonstration von den Chaoten mißbrauchen lassen. In Hamburg ist das dann fast noch einmal geschehen. Es ist nämlich sehr schwer, sich gegen 500 oder 1 000 Leute, die organisiert sind, in einem nur lose organisierten Zug durchzusetzen. Aber wir haben daraus gelernt. In Bonn hat dies nicht stattgefunden, Herr Wörner. In Bonn haben sich die durchgesetzt, und zwar bei den Studentengemeinden, bei den Jungsozialisten, bei den Jungdemokraten — wenn ich für die Kollegen von der liberalen Seite mit sprechen darf —, die gesagt haben: An dem Abend ist keiner von uns an irgendeiner Demonstration beteiligt, die wieder mißbraucht werden kann. Ich frage jetzt nicht — darüber wird jetzt auch auf der Hardthöhe nachgedacht —, ob es klug war, das in Bonn in der Form zu machen. Das ist eine andere Frage.Wir haben denjenigen, die kritisch sind, gesagt: Geht nicht auf die Straße, bringt euch nicht wieder in die Situation, daß ihr von Chaoten mißbraucht werdet. Wir machen eine demokratische Diskussion; denn Diskussion ist die richtige Form, sich mit solchen schwierigen Fragen auseinanderzusetzen.Sie tun so, als ob das ein wilder Haufen gewesen wäre. Da hat Herr Baudissin, dem die Bundeswehr viel verdankt, mitdiskutiert, da haben aktive Offiziere der Bundeswehr mitdiskutiert, und aus dem Plenum — —
— Auch Herr Hansen. Sie haben doch wohl nichts dagegen. Der ist sogar Reserveoffizier der Bundeswehr, was Sie begrüßen sollten. Da haben Bundeswehrangehörige, Wehrpflichtige aus dem Plenum mitdiskutiert — in einer völlig sachlichen Diskussion. Da waren auch Chaoten. Aber nachdem die ihr Ei gelegt hatten und bei uns nicht ankamen, zogen sie dann aus dem Saal hinaus — unter dem Lachen der übrigen.Ich sage Ihnen: Wir werden noch viele, viele solcher Diskussionen führen müssen. Und wir werden noch viel bitterere und härtere in den vor uns liegenden Jahren über die Frage der Verteidigung und der Rüstungskontrolle führen müssen.
Kein strammer Appell, daß die Jugend doch bitte sauber, ordentlich und für die Bundeswehr sein solle, Herr Wörner, wird uns die Schwierigkeit dieser Diskussion abnehmen.
Wenn man meint — wie Kollege Kohl es heute zur Jugend gesagt hat —, daß die Politik auch schuld hat an der Entfremdung von Jugend und Politik — nicht die Politik allein —, dann muß man auf die Jugend eingehen, auch wenn es sich um Minderheiten handelt, auch dann, wenn man anderer Meinung ist als sie.Wir haben darin Erfahrung. Hätten wir es damals so gemacht, wie Sie es jetzt vorschlagen, hätten wir die APO nie von der Straße zurück zu demokratischer Reformarbeit gebracht. Die Anstrengung muß man auf sich nehmen.
— Also, Herr Kollege Hupka, Sie werden doch zugeben — das ist kein Vorwurf an Sie —: Wir waren nach dieser Seite näher dran. Es ist doch klar, daß wir für die Integration nach dieser Seite gewissermaßen zuständig sind. Aber Sie wollen doch wohl die Leistung der deutschen Sozialdemokratie in der Auseinandersetzung mit der außerparlamentarischen Opposition nicht bestreiten. Oder Sie haben damals nicht gelebt — kann ich nur sagen.
Meine herzliche Bitte: Lassen Sie uns nicht die Gegner dieses Staates mit kritischen Demokraten in
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Dr. Ehmkeeinen Topf werfen, die unbequeme, aber notwendige Fragen stellen.Darum zum Schluß noch einmal, im Gegensatz zu der Kritik an Herrn Apel: Meinen herzlichen Dank an den Verteidigungsminister, an die Regierung, daß sie sich klar für die Bundeswehr ausgesprochen haben, auch betont haben, daß sie sich nicht verkriechen darf. Das ist auch meine Meinung. Das wäre ganz undemokratisch. Demokraten müssen die Offentlichkeit der Bundeswehr fordern. Aber über das, was dort jetzt zur Diskussion steht, müssen wir in Ruhe diskutieren, ohne das Kommando „Stramm gestanden!" und ohne die Diskriminierung von Leuten, die anderer Meinung sind als wir, deren Meinung aber auch ernstgenommen werden will.
Das Wort hat der Abgeordnete Möllemann.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Eines der zentralen Themen, eine der zentralen Fragestellungen dieser Diskussion ist, ob, auf welchem Wege und in welchem Umfang die Opposition bereit sein wird, ihrer angedeuteten Bereitschaft zu mehr Kooperation im Bereich der Außenpolitik auch praktische Taten folgen zu lassen. Ich glaube, es ist insoweit eine bemerkenswerte Diskussion, als hier deutlich geworden ist, daß ein Willensbildungsprozeß im Gange, aber eben noch nicht abgeschlossen ist; denn in den zentralen Punkten der Bewertung der politischen Fragen, die wir diskutieren, unterschied sich das, was der Kollege Dr. Kohl vorgetragen hat, doch beachtlich von dem, was Herr Dr. Zimmermann dargestellt hat, und das unterschied sich wiederum deutlich von dem, was der Kollege Wörner gesagt hat.Sie haben gesagt, Sie wollten sich den konstruktiven Elementen unserer Außen- und Ostpolitik annähern. Sie haben jetzt auch einige dieser Elemente benannt — das ist in der Tat ein Fortschritt in Richtung auf mehr Gemeinsamkeit.Sie haben dann aber von den offenbar auch existenten destruktiven, negativen — wie auch immer —, für Sie nicht akzeptablen Elementen nicht gesprochen, sondern — um mit einer Ihrer Parolen zu erwidern — Sie sagten, die Probleme von morgen könne man nicht mit den Lösungsmodellen von gestern bewältigen. Sie haben für die Probleme von morgen ihre Parolen von gestern, die kritischen Parolen von gestern vorgetragen. Ich glaube, daß dieser Dialog von Ihnen schon noch konstruktiver gestaltet werden muß, wenn Sie es ernst meinen. Es gab j a keinen erkennbaren Dissens in den Zielen, die Sie genannt haben, und auch nicht in den Voraussetzungen. Sie müssen es j a nicht Godesberg nennen; Sie müssen auch nicht sagen, daß Sie voll unsere Politik übernehmen; aber Sie müssen schon klarmachen, wo für Sie die unakzeptablen Positionen liegen. Das haben Sie nicht getan.Die sicherheitspolitischen Debatten der vergangenen Zeit haben sich immer wieder mit der Frage beschäftigt, ob denn die Formel, daß Entspannung undVerteidigung gleichermaßen notwendige Prämissen für eine erfolgreiche Sicherheitspolitik seien, angesichts der Rückschläge, die wir in der letzten Zeit für einige Elemente der Entspannungspolitik zu verzeichnen hatten, ihren Wert behalten habe. Wir sind der Auffassung, daß diese Formel weiterhin begründet ist. Wir gründen unsere Politik auf diese Formel und können daher auch nicht umhin, die Notwendigkeit dieser Politik immer wieder zu begründen. Natürlich — dies haben wir einzuräumen — waren Afghanistan und die jüngsten Maßnahmen der DDR erhebliche Rückschläge für unsere Entspannungsbemühungen. Deshalb haben wir sie verurteilt. Der Außenminister Hans-Dietrich Genscher hat dies zuletzt auch sehr deutlich beim KSZE-Nachfolgetreffen in Madrid getan. Keiner kann sagen, daß dies nicht deutlich genug geschehen sei.Diese Probleme können uns aber nicht zur Resignation verleiten. Wir hatten nämlich stets eine realistische Auffassung von Entspannungspolitik und haben diese auch der Öffentlichkeit deutlich zu machen versucht. Wir haben immer betont, daß der Prozeß der Entspannungspolitik stets auch von Rückschlägen, j a sogar von schweren Rückschlägen begleitet sein wird, weil diese Politik zwischen Mächten mit verschiedenen ideologischen Positionen und machtpolitischen Zielsetzungen erfolgt und weil Entspannungspolitik diese Gegensätzlichkeiten eben auch nicht beseitigen kann. Für uns ist und bleibt Entspannungspolitik vielmehr der langfristig angelegte Versuch, die Gefahren zu zügeln, die aus diesen Gegensätzlichkeiten entstehen, also Krisen und Konflikte zu vermeiden, sie womöglich schon an den Orten ihres Entstehens durch Dialog, Konfliktregelung und Krisenmanagement, Interessenausgleich und Kooperation abzubauen. Dieses Verständnis von Entspannungspolitik werden wir auch in Zukunft haben; es wird auch in Zukunft unsere Außen- und Sicherheitspolitik prägen. Uns Deutschen muß am Gelingen dieser Politik auch besonders gelegen sein.Herr Dr. Wörner, Sie haben vorhin gefragt, ob wir uns eigentlich darüber im klaren seien, was unsere Politik zu bestimmen hätte — im Bündnis, in der Außen- und Sicherheitspolitik. Ich denke, es sind zuallererst unsere eigenen nationalen Interessen, die wir in dieses Bündnis einbringen, die unsere Politik bestimmen. Wir versuchen, diese eigenen Interessen im Bündnis gemeinsam wahrzunehmen. Wir müssen ein Interesse am Gelingen dieser Politik haben, und zwar wegen der exponierten politischen und geographischen Lage unseres Landes, wegen der Teilung unseres Landes, wegen der Zukunft Berlins und wegen der großen Zahl Deutscher und deutscher Volksangehöriger in Osteuropa. Diese Notwendigkeiten haben sich nicht geändert, und deshalb hat sich auch nichts an unserem festen Willen geändert, die Entspannungspolitik fortzusetzen.Darum begrüßen wir es, daß der Bundesaußenminister erklärt hat, daß wir gegen die derzeitigen Abgrenzungsversuche des Ostens unseren festen Willen zur Kooperation setzen werden. Darum halten wir es für richtig, wenn der Bundeskanzler in seiner Regierungserklärung feststellt:
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MöllemannWir werden die Politik der Zusammenarbeit mit unseren östlichen Nachbarn im Interesse der friedlichen Entwicklung in Europa und der Zukunft des ganzen deutschen Volkes fortsetzen.Wir begrüßen es auch, daß der Bundeskanzler den Willen der Regierung erklärt hat, den Rahmen der Verträge und Absprachen nicht nur auszufüllen, sondern auch weiterzuentwickeln. Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, wir würden dies auch gerne einmal von der Union hören.Die von mir genannten Notwendigkeiten der Entspannungspolitik sind von der Opposition bisher nicht erkannt worden,
oder die Opposition hat nicht die Kraft gefunden, ihre Erkenntnisse in die Tat umzusetzen.
Wie anders hätten Sie sonst versuchen können zu verhindern, daß die Verträge von Moskau und Warschau Wirklichkeit wurden, daß wir den Vereinten Nationen beitraten,
daß der Atomwaffensperrvertrag in Kraft trat und daß wir der KSZE-Schlußakte beitraten. Dies alles taten Sie, weil Sie stets nur Gefahren gewittert haben, für Chancen und Notwendigkeiten dieser Politik offenbar blind waren.
Auch Pessimismus kann zu einer unrealistischen Politik führen, die an den Gegebenheiten und Notwendigkeiten nicht weniger als eine auf Illusion bauende Politik vorbeigeht.
Wir wünschen uns also, daß die Opposition in ihrer Gesamtheit — Ansätze gab es heute — die Notwendigkeiten der Entspannung sieht und konstruktive Beiträge leistet und nicht nur Kritik vorträgt.
Wir wünschen uns aber auch, daß überall eine Beurteilung von Entspannungspolitik Platz greift, die auch die Grenzen dieser Politik sieht. Wir sind für eine Entspannungspolitik ohne Panik bei Rückschlägen, ohne Pessimismus, aber eben auch ohne Illusionen. Wir sind für Augenmaß, Besonnenheit und Festigkeit, auch und gerade in diesem Bereich.Dauerhafte Entspannungspolitik, meine sehr verehrten Damen und Herren, wird nur dann möglich sein, wenn in Ost und West ausreichende innere Stabilität herrscht. Die Gefährdung der inneren Stabilität ist in den kommunistischen Staaten des Ostblocks aber systemimmanent, wie sie es überall ist, wo die Menschenrechte ganz oder teilweise vorenthalten werden. Der Verweigerung der Freiheit in den Ostblockstaaten steht ein zunehmendes Verlangen nach Freiheit, aber auch nach besserem Lebensstandard gegenüber. Die Gefahr der inneren Destabilisierung wächst deshalb. Die Aufgabe unserer Position, vor allem des Eintretens für die Menschenrechte, ist aber unvertretbar. Aber gerade wenn wir in diesem Spannungsverhältnis den Menschen helfen und schwere Gefährdungen der Entspannungspolitik vermeiden wollen, dürfen wir unsere Forderungen nicht überziehen. Ich denke, daß darauf, Herr Kollege Wörner, die Zwischenfrage meines Kollegen Corterier im Blick auf die von Ihnen angemeldeten Konditionen für die Hilfen gegenüber Polen zielten. Gerade dann muß auf allen Seiten ein hohes Maß an Disziplin gewahrt werden, muß die innere Stabilität auch der anderen Seite gestützt werden, muß dies im Dialog nicht nur mit dem jeweils betroffenen Land, z. B. derzeit Polen, sondern auch im Dialog mit den Führungen auch der anderen Länder geschehen. Dieser Dialog muß deutlich machen, daß es dabei um die Stabilität und Sicherheit aller am Entspannungsprozeß Beteiligten geht.Realismus führt natürlich zu der Erkenntnis, daß die Sowjetunion ein anderes Verständnis von Entspannung als der Westen hat. Für sie ist Entspannungspolitik der friedlichen Koexistenz gleichzusetzen..Friedliche Koexistenz aber bedeutet für die Führung der Sowjetunion die weltweite Durchsetzung des Kommunismus. Darüber hinaus verfolgt die Sowjetunion auch die traditionellen russischen außenpolitischen Ziele. Dabei ist sie dort, wo es notwendig erscheint, durchaus bereit, Waffen anzuwenden. Darauf verzichten wird sie in diesen Fällen nur dort, wo ihr das Risiko inakzeptabel erscheint. Afghanistan ist nur ein folgenschweres Beispiel für diese Politik.Eine Fortsetzung sowjetischer Interventionspolitik, in welchem Teil der Welt auch immer, bedeutet eine substantielle Gefährdung der Entspannungspolitik und des Friedens. Entspannung und Frieden sind unteilbar. Die Sowjets selbst haben mehrere entsprechende Erklärungen unterschrieben. Die Feststellung und Forderung, daß Frieden und Entspannungspolitik unteilbar sein müssen, ist die Konsequenz der weltweiten wechselseitigen Abhängigkeiten. Sie ist zugleich ein Appell an die Vernunft und das Verantwortungsbewußtsein der sowjetischen Führung. Die Sowjetunion wird diese Forderung aber um so eher erfüllen, je mehr sie damit rechnen muß, daß man ihr entschlossen und fähig zur Eindämmung weiterer Expansionsabenteuer gegenübertritt. Das bedeutet nicht zuletzt, daß vor allem in Krisengebieten dieser Welt Destabilitäten beseitigt werden müssen, wie dies auch infolge deutscher Außenpolitik durch die EG-ASEAN-StaatenKooperation geschieht, wie dies bei der Zusammenarbeit zwischen Mittlerem Osten und EG geschehen soll. Das bedeutet auch genügende militärische und politische Präsenz des Westens in für ihn vital wichtigen Regionen. Diese Präsenz bringt für die Bundesrepublik Deutschland zusätzliche Verpflichtungen in Mitteleuropa mit sich. Nur die Fähigkeit, der
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MöllemannSowjetunion mit Festigkeit gegenüberzutreten, nur außenpolitische Stabilität ermöglichen die Fortführung einer stabilen Entspannungspolitik, die nicht eine Politik der Einbahnstraße, sondern eine Politik beiderseitigen Vorteils und beiderseitiger Sicherheit ist. Nur innere Stabilität in Ost und West ermöglicht dauerhafte Entspannungspolitik. Zur Stabilität der Beziehungen zwischen den Staaten und zur inneren Stabilität des Ostblocks werden wir weiterhin aus Verantwortung für den Frieden mit Engagement und Selbstdisziplin beitragen.Zentrales Element der Entspannungspolitik ist und bleibt das ständige Bemühen um politisches und militärisches Gleichgewicht. Herr Kollege Dr. Wörner, Sie haben den Bundesaußenminister falsch zitiert und sollten dies korrigieren, als Sie behaupteten, er habe festgestellt, wir hätten bereits in allen Bereichen ein militärisches Gleichgewicht. Im Gegenteil, wir haben immer wieder — Bundesregierung und auch die FDP-Fraktion —, darauf hingewiesen, daß wir alle Anstrengungen unternehmen, um dieses Gleichgewicht zu schaffen.Das bedeutet, erfolgreiche Entspannungspolitik ist nur im Rahmen von Bündnis und EG möglich, und sie wird auf Dauer nur dann wirksam sein, wenn es im Bündnis gelingt, zu einer von allen akzeptierten, gemeinsam getragenen Lagebeurteilung und Strategie zu gelangen. Diese Strategie muß arbeitsteilig sein. Sie muß unter dem Dach gemeinsamer Interessenverwirklichung die besonderen Fähigkeiten und Möglichkeiten, Erfahrungen, aber auch die Verschiedenartigkeit der spezifischen Situationen und Interessen aller Partner berücksichtigen.Das verlangt, daß die USA die geographische Lage und sicherheitspolitische Situation Europas und dessen spezifische Interessen an der Fortsetzung der wirtschaftlichen Kooperation mit dem Osten und an den humanitären Fragen im Ost-West-Verhältnis ebenso sehen, wie sie auch im Interesse ihrer eigenen Sicherheit auf die besonderen Erfahrungen und Möglichkeiten Westeuropas, Brücken zu den Staaten Osteuropas zu schlagen, zurückgreifen sollten. Es bedeutet auch, daß sich in der US-Öffentlichkeit die Einsicht weiter durchsetzt, daß auch Amerika in Europa verteidigt wird und nur mit Europa verteidigt werden kann. Es verlangt von Westeuropa, daß es dabei seine Fähigkeiten nicht überschätzt, daß es einsieht, daß es im Ost-West-Verhältnis nicht Neutraler, sondern nur Partei sein kann, daß es bereit ist, ausreichend zur Verteidigung beizutragen, und daß es fähig ist, eine eigenständige Konzeption im Rahmen der atlantischen Partnerschaft zu entwickeln.Das verlangt von beiden einen ständigen vertrauensvollen Prozeß des Dialogs und der Konsultationen. Ich glaube, es erweckt Hoffnungen, daß der zukünftige amerikanische Präsident verbesserte Konsultationen bereits zu einem seiner Ziele erklärt hat. Auch er geht offenbar davon aus, daß die NATO als ein Bündnis demokratischer Staaten nicht so geführt werden kann wie der Warschauer Pakt, sondern daß sich bei uns Meinungsbildung dadurch vollzieht, daß wir unsere Interessen in einen partnerschaftlichen Dialog einbringen und unsere Entscheidungen treffen.Ich sprach vom Gleichgewicht als unabdingbarer Voraussetzung für eine wirksame Entspannungspolitik. Wo immer möglich, streben wir an, daß dieses Gleichgewicht auf ein möglichst niedriges Niveau der Rüstungen reduziert wird. Der Bundesaußenminister hat unsere volle Unterstützung, wenn er trotz der zweifelsohne nicht sehr hoffnungsvollen Lage nach wie vor mit allen Kräften auf das Ziel hinarbeitet, daß dieses Jahrzehnt ein Jahrzehnt der Rüstungskontrolle, wenn schon nicht der Abrüstung werden wird.In diesem Zusammenhang haben wir mit großer Genugtuung gehört, daß die neue amerikanische Regierung offenbar entschlossen ist, den SALT-Prozeß fortzusetzen. Wir halten es für einen Erfolg der Festigkeit vor allem auch des Bundesaußenministers, daß im Oktober die Gespräche zwischen den USA und der Sowjetunion über Abrüstung im Bereich nuklearer Mittelstreckenraketen begonnen haben. Wir begrüßen es auch, daß die Sowjetunion offensichtlich an einer Fortsetzung des MBFR-Prozesses, der Gespräche in Wien über eine wechselseitige und ausgewogene Reduzierung von Truppen und Rüstungen, interessiert ist. Wir begrüßen vor allem, daß die Bundesregierung diesem Umstand Rechnung tragen und neue Initiativen einbringen will.Sosehr wir dieses Bemühen unterstützen, so sehr teilen wir allerdings auch die Auffassung der Bundesregierung, daß ein Zwischenabkommen nicht um den Preis der Minderung oder gar der Aufgabe der Prinzipien von Kollektivität und Parität auf der Grundlage gesicherter Daten erkauft werden kann. Wir treten da mit der Bundesregierung dafür ein, daß bei der Madrider Folgekonferenz die von Frankreich vorgeschlagene europäische Abrüstungskonferenz eingesetzt wird, die in ihrer ersten Phase vertrauensbildende Maßnahmen für ganz Europa beschließen soll. Das würde allen Völkern in Europa die Furcht vor Überraschungsangriffen nehmen, würde wirkliches Vertrauen aufbauen und den Boden für erfolgreiche, die beiderseitige Sicherheit berücksichtigende Abrüstungsverhandlungen geben.
Noch einmal: obwohl die Zeichen nicht nur hoffnungerweckend sind, sind wir entschlossen, alle nur denkbaren Anstrengungen zu unternehmen, um zu erreichen, daß das kommende Jahrzehnt ein Jahrzehnt der Rüstungskontrolle wird.
Wenn man die Zahl, die vor einigen Wochen veröffentlicht wurde, hört, und daran denkt, daß im laufenden Jahr 900 Milliarden DM weltweit für die Rüstung ausgegeben werden und daß im gleichen Jahr allein 15 Millionen Kinder auf der Welt verhungern, dann gibt es keinen dringenderen Appell als den, diese Ressourcen für die notwendigen Aufgaben freizusetzen.
Dort, wo die Rüstungskontrollangebote nicht oder noch nicht erfolgreich waren, müssen wir das
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MöllemannGleichgewicht durch entsprechende militärische Anstrengungen wahren oder dort, wo es nicht gegeben ist, herstellen. Hierzu ist nicht mehr, aber auch nicht weniger nötig, als die 1978 und 1979 in Washington und Brüssel gefaßten Beschlüsse zur Aufrechterhaltung der Abschreckungs- und Verteidigungsfähigkeit des Bündnisses auch durchzuführen. Das bedeutet vor allem die Modernisierung und Stärkung des eurostrategischen Potentials bei gleichzeitigem Bemühen um beidseitige Begrenzung dieser Waffen. Der Bundeskanzler hat auf die Gleichwertigkeit dieser beiden Komponenten hingewiesen. Das heißt weiter, daß die Verwirklichung des NATO-Langzeitprogramms vorangetrieben werden muß und daß auch die Absichtserklärung verfolgt und realisiert werden muß, den Verteidigungshaushalt jährlich um etwa 3 % real zu steigern. Es ist zweckmäßig, daß der Herr Bundeskanzler hier verdeutlicht hat, daß die Bundesrepublik Deutschland ihre Bündnisverpflichtungen erfüllen wird.Sicher ist die Festlegung auf 3% realer Steigerung problematisch. Nicht „wieviel?" ist die wesentliche Frage, sondern: „wieviel wofür?" So kann natürlich eine Wehrpflichtigenarmee wie die Bundeswehr erheblich mehr in Kampfkrafterhaltung bzw. -steigerung investieren, als dies bei einer Freiwilligenarmee möglich ist, die zu zu großen Aufwendungen für Personalkosten gezwungen ist. Bei der Bundeswehr liegen die kampfkraftbezogenen Investitionen bei einem Drittel des Verteidigungshaushalts.Als weitere stellt sich die Frage, wie hoch der eigentlich erst am Jahresende festzustellende Deflator angesetzt werden muß. Dennoch: trotz realer Steigerung der Mittel für Ausrüstung und Ausbildung müssen wir uns anstrengen, daß gesetzte Ziel zu erreichen. Wir benötigen eine echte Steigerung schon allein, um die bestellten Waffensysteme bezahlen zu können, Waffensysteme, die Kostensteigerungsraten von 132 % beim „Tornado" oder von 37 bei der „Fregatte" aufweisen. Wir müssen uns klar werden: über die durch die Bundeswehr entstehenden Kosten hinaus kommen weitere Belastungen auf uns zu, Belastungen, die uns vor allem aus der sicherheitspolitischen Entwicklung außerhalb des Vertragsbereiches erwachsen und die hier in Mitteleuropa zusätzliche Pflichten bringen können.Die Weigerung, unsere gegebene Absichtserklärung zu erfüllen, würde auch außenpolitisch unerfreuliche Konsequenzen gehabt haben. Sie hätte den Beginn der Zusammenarbeit mit der neuen US-Regierung wesentlich erschwert, möglicherweise sogar die Gefahr amerikanischer Truppenverminderungen in der Bundesrepublik heraufbeschworen. Und sie hätte uns die Möglichkeit genommen, positiv auf die Bündnispartner einzuwirken, auf diejenigen unter ihnen, die ihre Verpflichtungen nicht erfüllen. Schließlich hätte es auch unsere Möglichkeit gemindert, auf beide Großmächte glaubwürdig und erfolgreich im Sinne einer wirksamen Fortführung der Rüstungskontrolle einzuwirken.Lassen Sie mich gerade zu diesem Aspekt noch einen Satz sagen. Die Nichtverwirklichung einer hinreichenden Steigerungsrate würde nicht zur Erhaltung des Gleichgewichts beitragen. Sie würde damitauch unsere Fähigkeit zu einer wirksameren Entspannungspolitik als Voraussetzung dafür schwächen.Wer die Entspannungspolitik fördern und ihr nicht schaden will, muß bereit sein, das für unsere Verteidigung unbedingt Notwendige zu leisten. Dies alles kann kein Grund dafür sein, angesichts der Gegebenheiten und erklärten Absichten mit dem Finger auf die Bundesregierung zu zeigen, schon gar nicht seitens der Opposition.
— Eine interessante Frage.Die Bundesrepublik Deutschland hat nach Auffassung der Freien Demokraten im vergangenen Jahrzehnt unter der politischen Verantwortung der sozialliberalen Koalition einen Verteidigungsbeitrag geleistet, der den wirtschaftlichen Möglichkeiten unseres Landes entsprach und der gleichzeitig die Streitkräfte dazu befähigte, im Rahmen des NATO- Bündnisses zu einer glaubhaften Abschreckung beizutragen, ohne die Finanzierbarkeit anderer wichtiger Staatsaufgaben zu vernachlässigen.
Auch in den Zeiten langsameren wirtschaftlichen Wachstums sind die Verteidigungsausgaben jährlich weiter gestiegen. Noch stärker sind in diesem Zeitraum die nach NATO-Regeln berechneten Verteidigungsausgaben der Bundesrepublik Deutschland, die nicht nur den Verteidigungshaushalt, sondern auch alle anderen verteidigungsrelevanten Militärausgaben umfassen, von Jahr zu Jahr angestiegen.Meine Damen und Herren, wir Liberalen sind überdies der Auffassung, daß die militärischen und zivilen Verteidigungsanstrengungen der Bundesrepublik Deutschland im Rahmen der Gesamtverteidigung, ihre Schwerpunkte sowie die Notwendigkeiten und Möglichkeiten unseres Staates im NATO-Bündnis unter den veränderten politischen und gesellschaftlichen Bedingungen sowie unter den veränderten wirtschaftlichen und technologischen Verhältnissen der 80er und der 90er Jahre umfassend analysiert und neue realistische Optionen erarbeitet werden müssen. In diese Prüfung ist auch und vor allem die Frage einzubeziehen, welche neue Arbeitsteilung im Bündnis notwendig und sachgerecht ist. Es ist zu prüfen, ob und unter welchen Voraussetzungen die Forderungen unseres wichtigsten Verbündeten, der USA, auf verstärkte Unterstützung der in der Bundesrepublik Deutschland stationierten US-Soldaten und vor allem der zusätzlichen Verstärkungskräfte in Krisenzeiten durch die deutsche Gastgebèrnation erfüllt werden können.Die Struktur unserer Streitkräfte muß den genannten neuen Entwicklungen erneut angepaßt und entsprechend fortentwickelt werden. Wegen der hohen Personalkosten müssen Ausbildung und Verwendung der Soldaten künftig in einem kostenwirksameren Verhältnis zueinander stehen. Um dies zu erreichen, sollte eine neue Form der Verfügungsbe-
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Möllemannreitschaft die unverzügliche Herstellung der vollen Präsenz der Streitkräfte im Frieden ermöglichen und sollte das Prinzip der Kaderung in allen Teilstreitkräften — vornehmlich beim Heer — noch stärker genutzt werden. Auf einzelne bisherige Aufgaben der Bundeswehr muß unter Umständen verzichtet werden. Andere Aufgaben, z. B. im Bereich des Sanitätsdienstes, aber auch militärische Ausbildungskomponenten könnten vielleicht im Rahmen des zivilen Bereichs wirtschaftlicher erfüllt werden.Wir sind der Auffassung, daß die vor uns liegenden Jahre einschneidende Eingriffe in viele bisher gewohnte Vorgänge erfordern und daß hierzu auch eine kritische und unvoreingenommene Überprüfung der Aufgaben und Aufträge der Bundeswehr gehört. Die verantwortlichen militärischen Vorgesetzten sind verpflichtet, den ihnen erteilten Auftrag nach besten Kräften zu erfüllen. Es kann deshalb wohl von ihnen allein nicht erwartet werden, daß sie bei geänderten Bedingungen hinsichtlich der demographischen Entwicklung, der Technologie sowie der finanziellen und politischen Konditionen von sich aus ihnen erteilte Aufträge streichen oder abändern und andere als militärisch optimale Lösungen suchen. Konsequenterweise enden deshalb auch alle militärischen Zustandsberichte oder Bestandsaufnahmen mit dem Ergebnis, wie viele zusätzliche Mittel zu einer sachgerechten Auftragserfüllung benötigt werden.Wir Freien Demokraten haben deshalb vorgeschlagen, daß auf Grund der Erfahrungen mit der früheren — vom jetzigen Bundeskanzler eingesetzten — unabhängigen Wehrstrukturkommission für die Überprüfung der derzeitigen Struktur der Bundeswehr und ihrer Strategie und Ausrüstung in den 80er und den 90er Jahren eine Kommission unabhängiger Wissenschaftler, weisungsunabhängiger militärischer Experten und der Verteidigungspolitiker aller demokratischen Parteien von der Bundesregierung berufen werden sollte, um Vorschläge und Empfehlungen zu erarbeiten. Grundlage für die Arbeit dieser Kommission sollten kritische Bestandsaufnahmen in allen Bereichen der Sicherheits- und Verteidigungspolitik, wie sie der Bundesminister der Verteidigung für Teilgebiete seines Aufgabenbereichs bereits eingeleitet hat, sein.Ich habe allerdings erhebliche Vorbehalte gegen das, was ich davon bisher höre. Da wird der Parameter der Finanzplanung des Bundes an das Beschaffungsprogramm gehalten, und es wird mit dem Rotstift dort gestrichen, wo der jeweilige Bedarfsträger am wenigsten Widerstand leistet: zwei Fregatten weniger bei der Marine, weniger Flugzeuge neuen Typs bei der Luftwaffe und langsamerer Zulauf des Leopard II beim Heer. Ich glaube, dieses buchhalterische Vorgehen kann der vor uns stehenden Aufgabe, mit den verfügbaren Mitteln das Höchstmaß an Effektivität der Bundeswehr zu erreichen, nicht gerecht werden. Es kann nicht richtig sein, daß der Rotstift eine sachgerechte Gesamtplanung ersetzt. Wenn wir weniger Geld zur Verfügung haben, als sich jetzt für die Finanzierung der bisherigen Bundeswehrplanung als notwendig erweist, dann darf nicht jeder Teilstreitkraft in einem unzulässigen Kontingentdenken ein bißchen weggenommen werden, sondern die Gesamtplanung muß neu aufgestellt werden. Dabei muß man auch bereit sein, Planungsentscheidungen, die einmal durchaus richtig gewesen sein mögen, über Bord zu werfen, wenn sie unserer heutigen Lage nicht mehr gerecht werden. Es darf natürlich nicht jede Teilstreitkraft für sich planen. Nein, auch bei der Bundeswehr muß mit der zentralen Planungskompetenz Ernst gemacht werden. Sie kann nur beim Generalinspekteur liegen, dessen Stellung in diesem Bereich — wie wir schon des öfteren gesagt haben — auch überdacht werden sollte.Ich kann diese neue Planung, die ich für unbedingt erforderlich halte, damit wir nicht in eine mit überholten Entscheidungen gepflasterte Sackgasse geraten, nicht vorwegnehmen. Ich bin aber davon überzeugt, daß gute Ergebnisse nur erzielt werden können, wenn die Bundeswehr bereit ist, über viele Probleme nachzudenken, die sie seit Jahren nicht mehr oder kaum noch angerührt hat. Ich nenne nur wenige Beispiele, wie die Definition des Präsenzbegriffs der Streitkräfte, die Kaderung von Verbänden oder die Unterhaltung eigener Hochschulen oder Krankenhäuser.Auch wenn wir eine zentrale Kompetenz für die Planung der Bundeswehr erreichen, bleiben mir Zweifel, ob die vor der Bundeswehr stehenden planerischen Bestandsaufnahmen zu optimalen Ergebnissen führen werden, wenn die Bundeswehr sie allein bewältigen soll. Es muß vermieden werden, daß Betriebsblindheit mögliche unkonventionelle Lösungen übersehen läßt.Hat die Bundeswehr schon Strukturen anderer Armeen ernsthaft und eingehend daraufhin untersucht, ob sich daraus für sie Folgerungen ziehen lassen? Sollten nicht die Planungserfahrungen anderer Organisationen — auch aus dem Bereich der Industrie — zur Unterstützung herangezogen werden? Selbstverständlich ist eine Beratung der Kommission durch die verantwortlichen aktiven Soldaten unverzichtbar, insbesondere auch das Aufzeigen von Konsequenzen bei Eingriffen in die gewachsenen Strukturen.Alles dies sind nach unserer Auffassung Möglichkeiten, den finanziellen Bedarf der Streitkräfte auch zukünftig in einem gesamtwirtschaftlich vertretbaren Rahmen zu halten. Dies ist insbesondere auch deshalb erforderlich, weil nach Auffassung der Liberalen nunmehr neben dem militärischen Potential auch das bisher aus finanziellen Gründen zurückgestellte Programm der Zivilverteidigung stärker berücksichtigt werden muß.Lassen Sie mich kurz zu einem anderen Punkt kommen. Seit Jahren werden Institute und Wissenschaftler bei der Friedens- und Konfliktforschung finanziell unterstützt. Wir haben aber den Eindruck, daß die Ergebnisse dieser Forschung bisher bei der Planung im Bereich der Sicherheits- und Verteidigungspolitik nicht hinreichend verwertet worden sind. Dies liegt nicht immer nur an den Studien, die vielleicht teilweise von nicht zutreffenden Prämissen ausgehen.
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MöllemannWir halten es deshalb für dringend geboten, diese Studien verstärkt zu fördern, aber darüber hinaus auch ihre Ergebnisse auszuwerten und im Dialog mit den Instituten und Forschern unter Vorgabe neuer oder geänderter Prämissen für die Bewältigung von Krisen nutzbare Erkenntnisse zu gewinnen. Dieser Dialog muß sowohl bei der Regierung als auch beim Parlament bei den Ausschüssen institutionalisiert werden. Es geht nicht an, daß wir Millionenbeträge für die Friedens- und Konfliktforschung quasi als Alibi ausgeben, die Ergebnisse aber nicht zur Kenntnis nehmen wollen.
Eine Reihe von Problemen, die im verteidigungspolitischen Bereich hier nicht angesprochen worden sind, die aber die Soldaten in den Streitkräften ganz sicher sehr nachhaltig interessieren, möchte ich ganz kurz ansprechen. Die Motivation unserer wehrpflichtigen Soldaten muß verbessert werden. Ich begrüße es in diesem Zusammenhang ausdrücklich, daß der Bundeskanzler die Erhöhung des Wehrsoldes für die Wehrpflichtigen angekündigt hat. Das Problem wird aber mit Wehrsold allein nicht zu lösen sein. Der Wehrbeauftragte hat darauf hingewiesen — das ist eine Feststellung, die man nicht einfach so hinnehmen kann —, daß ein erheblicher Teil unserer Soldaten in menschenunwürdigen Unterkünften untergebracht ist. Deswegen müssen wir uns hier um eine Abhilfe kümmern.Natürlich — ich glaube, das ist noch entscheidender — müssen die Wehrpflichtigen und die übrigen Soldaten das Gefühl vermittelt bekommen, daß ihr Dienst Friedensdienst ist, daß der Dienst in den Streitkräften nicht im Gegensatz zur Entspannungspolitik steht, sondern die Prämissen für den Erfolg der Entspannungspolitik tatsächlich erst schafft.Die Erweiterung der Rechte des Vertrauensmannes, wie sie vom Verteidigungsminister angekündigt worden ist, wird von uns ausdrücklich begrüßt. Wir bleiben aber bei unserer Forderung, auch die Mitwirkung des einzelnen Soldaten auszuweiten. Beispiel sollten hier die zu Anfang der 70er Jahre in drei Bataillonen der Bundeswehr erfolgreich durchgeführten Mitwirkungsmodelle sein. Da haben immerhin drei Bataillone ganz konkrete Mitwirkungsmodelle praktiziert. Dort ist der Auftrag nicht zusammengebrochen. Die Bundeswehr ist nicht zusammengebrochen. Es geht. Man kann Soldaten mehr Mitwirkungsmöglichkeiten geben. Wir müssen es nur tun. Ich bitte den Verteidigungsminister, zu prüfen, ob diese erfolgreichen Modelle von Sigmaringen und Böblingen ausgeweitet werden können.Die vom Verwendungs- und Beförderungsstau Betroffenen müssen allmählich erfahren, wie ihre berufliche Zukunft aussieht. Niemand verlangt, daß ihnen für die nächste Zukunft eine schnelle Beförderung versprochen wird. Wir können dieses Problem auf Grund der Knappheit der Mittel so nicht bewältigen. Aber die Soldaten dürfen nicht länger im unklaren über ihre künftige Laufbahn gelassen werden. Die Probleme der Dienstzeitbelastung, des Abbaus des Verwendungsstaus, der Beseitigung von Nachteilen bei Versetzungen müssen vorrangig durch organisatorische Maßnahmen entschärft und gelöst werden. Der soziale Standard von zivilen Bürgern und Soldaten muß der gleiche sein.Meine Damen und Herren, eine abschließende Bemerkung zu dem Thema Traditionspflege und Gelöbnisse. Wir begrüßen es sehr nachdrücklich, daß der Verteidigungsminister einen Dialog zwischen den Soldaten und der Politik, aber auch zwischen dem Ministerium und dem Ausschuß angekündigt hat. Wir würden es auf Grund unseres Verständnisses von Innerer Führung für gut halten, wenn im Verteidigungsausschuß ein öffentliches Anhörverfahren stattfinden könnte, bei dem die Soldaten einmal selber ihre Auffassung darlegen könnten, wie sie, die Betroffenen, sich die Gestaltung von Gelöbnisfeiern vorstellen können. Die Form des Gelöbnisses muß in der Tat etwas sein, was völlig vorurteilsfrei diskutiert werden kann. Wir wissen von Soldaten und Politikern aller Couleur, daß die heute gegebene Form nicht von allen als das Nonplusultra angesehen wird. Wenn die Einheitsführer sagen, daß sie für den Großen Zapfenstreich im Bremer Weserstadion allein vier Wochen den normalen Ausbildungs- und Übungsbetrieb haben lahmlegen müssen, dann kann das j a nicht das letzthin Vernünftige sein.Was aber nicht in Frage kommt, meine sehr verehrten Damen und Herren, ist das Verdrängen der Bundeswehr aus der Öffentlichkeit, weil angeblich ihr öffentliches Auftreten Säbelrasseln sei, das im Gegensatz zu unserer Entspannungsbereitschaft stehe.
Wenn das so wäre, müßte j a die Bundeswehr selber sehr schnell in Frage gestellt werden. Sie erfüllt einen von uns hier gemeinsam übertragenen Auftrag: Friedenssicherung. Sie hat das Recht, in der Offentlichkeit nicht nur geduldet zu werden, sondern Rükkendeckung zu bekommen. Ich frage mich in der Tat, wo eigentlich in dieser schönen Stadt Bonn beim öffentlichen Gelöbnis all die vielen Beamten und öffentlich Bediensteten gewesen sind, die hier bei zahllosen Ministerien und Dienststellen Dienst tun und die es offenbar nicht für nötig erachtet haben, zu diesem Gelöbnis zu kommen und zu dokumentieren, daß man mit den jungen Wehrpflichtigen solidarisch ist. Ich meine, hier hätten die Ressortchefs gegenüber den Angehörigen der Ministerien auch einige Überzeugungsarbeit zu leisten.
Die Streitkräfte müssen, weil es sonst in der Tat eine Identitätskrise bei den Soldaten gibt, wissen, daß wir ihren Auftrag nicht in Zweifel ziehen, auch nicht ihr Recht, öffentlich tätig zu werden. Sie geben dieses Gelöbnis ja nicht für sich selbst ab, sondern für die Gemeinschaft, die sie verteidigen. Ich meine, daß deswegen der Verteidigungsminister recht hat, wenn er sagt:Es gibt eine Diskussion über die Formen des Gelöbnisses, über die Formen der Traditionspflege, aber es kann nicht sein, daß wir dem Diktat einer kleinen Minderheit folgen, die sich in Wahr-
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Möllemannheit gegen diesen Staat und seine Institutionen richtet.Das können wir auch nicht im Ansatz akzeptieren.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, abschließend darf ich Ihnen vielleicht ein Zitat vortragen, das wir am Abschluß der Beratungen des Untersuchungsausschusses über die Vorfälle anläßlich des Bremer Gelöbnisses gemeinsam fixiert haben. Ich glaube, daß es tatsächlich eine schwierige Aufgabe ist, Überzeugungsarbeit zu leisten. Man muß positiv zu diesem Konzept stehen. wenn man sie leisten will. Es heißt hier:Parteien, Verbände und Kirchen sollten die Notwendigkeit von Landesverteidigung und Bundeswehr stärker verdeutlichen und sich an eritsprechenden Veranstaltungen beteiligen. Information und Diskussion in diesem Sinne sollten sie in ihrem Verantwortungsbereich fördern. Dabei kommt einerseits dem Dialog auch mit kritischen Teilen der Bevölkerung, vor allem mit der jungen Generation, besondere Bedeutung zu.Herr Kollege Wörner, das haben Sie mit unterschrieben. Insofern muß dieser Dialog ja wohl auch möglich sein, j a, er ist sogar notwendig.Andererseits gehört hierzu die notwendige Abgrenzung gegen Kräfte mit undemokratischen Intentionen, um der Gefahr mißverständlicher Aktionseinheiten mit derartigen Gruppierungen begegnen zu können. Dies gilt auch für die Durchführung von Demonstrationen.Und schließlich heißt es:Im Schul- und Bildungsbereich müssen verstärkte Anstrengungen unternommen werden, die Jugend intensiver an Fragen der Landesverteidigung und der Wehrpflicht heranzuführen.Wir haben im Verteidigungsausschuß mit den Vertretern der Kultusministerkonferenz eine Anhörung durchgeführt. Bei aller Kritik, die notwendig ist, müssen wir nach diesem Anhörungsverfahren feststellen, daß immerhin in neun von elf Bundesländern die Curricula unmittelbar vor der Einführung in den schulischen Bereich stehen. Das heißt: Die Länder sind fähig, wenn sie auch willens sind, nunmehr diesen Mangel zu beseitigen.Ich glaube, Herr Kollege Dr. Wörner, wir alle haben keinen Grund, bei diesem Thema auf irgendeinen anderen zu zeigen, denn Widerstand in Form von öffentlichen Demonstrationen gegen die Gelöbnisse hat es in München ebenso wie in Bremen, in Kamen wie auch hier in Bonn — bei unterschiedlichen Regierungen; daran allein liegt es nicht — gegeben. Den Mangel im Schulunterricht gibt es in einer ganzen Reihe von Ländern, die CDU-Kultusminister haben, auch. Dieses Thema haben wir alle bisher nicht hinreichend ernstgenommen, und ich glaube, es ist sinnvoller, die Mängel gemeinsam abzustellen, als hier dem jeweils anderen die Schuld für das bisher noch nicht groß Bewältigte in die Schuhe zu schieben.
Das Wort hat der Herr Bundesminister der Verteidigung.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Auf dem Redemanuskript des Abgeordneten Dr. Wörner steht, daß das gesprochene Wort gilt. Dann muß ich mich auch mit dem gesprochenen Wort auseinandersetzen, denn der Text, der mich rechtzeitig erreicht hatte, ist natürlich auch sehr viel nuancierter und, wie ich meine, auch weniger problematisch.Ich möchte eine zweite Vorbemerkung machen. Ich finde es eigentlich unsinnig, in einer solchen Debatte Pappkameraden aufzubauen und dann drauf zu schießen. Ich bin auch gegen Polemik. Ich will deswegen versuchen, mich in aller Ruhe und aller Gelassenheit mit den Ausführungen von Herrn Dr. Wörner auseinanderzusetzen.Damit bin ich bei dem ersten Problem. Herr Wörner, von der einfachen Sachlogik geht eines nicht. Sie haben über Sicherheits- und Außenpolitik gesprochen und gesagt, vor den Wahlen hätten wir den Bürgern etwas anderes gesagt als nach den Wahlen.
Wenige Sekunden später haben Sie dann gesagt, im übrigen machten wir so weiter wie bisher. Hier funktioniert die simple Logik nicht.
— Also, ich bitte Sie, hier funktioniert die simple Logik nicht. Wir verfolgen — das gebe ich Ihnen zu; so steht es ja auch in Ihrem Manuskript — unsere Sicherheits-, Entspannungs- und Verteidigungspolitik wie bisher. Sie war wesentlicher Teil unseres Wahlkampfes. Es gibt auch überhaupt keinen Grund, sie zu ändern. Was wir vor der Wahl gesagt haben, war richtig; was wir nach der Wahl sagen, bleibt richtig.Ich möchte mit aller Deutlichkeit darauf hinweisen, daß das ja auch nicht die Politik der Bundesrepublik Deutschland allein ist. Es ist die Politik — in der Regierungserklärung wird darauf hingewiesen —, die spätestens seit 1967 die Politik der NATO ist, diese doppelte Politik: Verteidigungspolitik, Erhalt des militärischen Gleichgewichts und, darauf aufbauend, Entspannungspolitik. Das sind die beiden Elemente der Sicherheitspolitik. Sie sagen, es würde bei Ihnen kein ostpolitisches Godesberg geben. Nun, das muß ich zur Kenntnis nehmen, obwohl in der heutigen Debatte, aber insbesondere auch in der Debatte der letzten Tage — Herr von Weizsäcker ist hier zitiert worden — andere Töne angeklungen sind. Ich würde mich da als stellvertretender Fraktionsvorsitzender nicht so festlegen. Ich habe das Gefühl, Sie sind etwas isoliert von dem, was viele vor Ort bei Ihnen denken, die ja die politische Unhalt-
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Bundesminister Dr. Apelbarkeit der Position der Unionsparteien in der Ost-und Deutschlandpolitik zunehmend einsehen.Dann haben Sie gesagt — und das hat mich natürlich sehr interessiert —, vor allen Dingen brauchten wir Instrumente, um zu handeln. So haben Sie wörtlich gesagt. Das habe ich in Ihrem Redemanuskript nicht gefunden, aber das geredete Wort gilt ja. Das hört sich j a prima an. Dann werden Sie als stellvertretender Fraktionsvorsitzender, zuständig für die Sicherheits-, Außen- und Verteidigungspolitik, demnächst sagen müssen, was für Instrumente das sein sollen.
Das muß dann mal abgegriffen werden.Dann müssen Sie sagen, ob Sie z. B. das Instrument des innerdeutschen Handels meinen.
— Na gut, wenn Sie es eingeführt haben, dann werden Sie, Herr Mertes, wohl auch nicht daran denken, dem etwaigen Vorschlag von Herrn Wörner zu folgen, dies als ein Instrument der Auseinandersetzung zwischen den beiden deutschen Staaten einzusetzen.
— Nein, ich baue keinen Pappkameraden auf. Ich frage nur mal ab, was das denn wohl so wäre, was denn diese hohe Formulierung von Herrn Wörner wohl heißt.Und da könnten wir mal fragen: Meinen Sie z. B., daß der Autobahnbau zwischen Berlin und Hamburg, der auf westdeutschem Territorium wegen der Umweltschützer auf Probleme stößt, ein Instrument wäre? Ich sage nein. Ich sage Ihnen, es ist überhaupt kein Instrument; denn dies ist ein Autobahnbau, der neben der Veränderung der politischen Qualität zwischen den beiden deutschen Staaten eine neue Qualität für Berlin bringt und der — ich füge das als Hamburger Abgeordneter hinzu — auch große Vorteile für den Hamburger Hafen bringt. Ich sage das mal so ganz einfach.
— Einen Satz noch, Herr Petersen; dann sehr gern.Und dann muß man sich fragen, ob Transitpauschalen Instrumente sind.Ich bitte Sie sehr herzlich als stellvertretender Vorsitzender der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, zuständig für Sicherheits-, Außen- und Verteidigungspolitik, nicht mit Phrasen zu arbeiten, sondern, wenn Sie hier sagen wollen, Sie wollten nun Instrumente in die Hand nehmen, dann sagen Sie doch bitte, um was es geht, und dann kann man in aller Ruhe und ohne Polemik darüber debattieren. So kann ich mit dieser Leerformel nichts anfangen. Ein Zwischenrufer aus der CDU-Fraktion selbst hat deutlich gemacht, daß es in einem Punkte ja wohl nicht darum gehe, Instrumente in die Hand zu nehmen.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Aber natürlich.
Herr Minister, darf ich Sie fragen, ob Ihnen klar ist, daß Sie, wenn Sie pauschal von vornherein erklären, daß es keine Instrumente gibt und geben kann, der anderen Seite damit einen Blankoscheck ausstellen.
Nein, das sage ich überhaupt nicht, hochverehrter Herr Kollege Petersen, sondern ich sage: es gibt in der politischen Entwicklung der nächsten Jahre Überlegungen, Entwicklungen, Perspektiven — ich bleibe bewußt allgemein —,
die in ihrer Weiterentwicklung beeinflußt werden vom Verhältnis der beiden deutschen Staaten zueinander. Ich bin nur dagegen, dem deutschen Volk hölzern und hart Leerformeln anzubieten, von denen der eine oder andere meinen könnte, das hülfe ja; in Wirklichkeit wären es nur Eigentore.
Davor möchte ich uns bewahren.Sodann haben Sie, Herr Kollege Wörner, in vier Grundsätzen vier Ziele der deutschen Politik diskutiert. Die sind auch in dem ausgedruckten Text wiedergegeben. Ich finde es sehr gut, daß Sie sagen, wir müssen die Europäische Gemeinschaft ausbauen. Das ist richtig. Aber dann müssen wir in der Debatte — vielleicht kann das dann morgen geschehen — über die zentrale Gefährdung der Europäischen Gemeinschaft debattieren; das ist die aus dem Ruder gelaufene Agrarpolitik. Dann darf es nicht so sein, daß es wegen der Vorschläge, die in der Regierungserklärung stehen und die zu einem guten Teil von den Sozialdemokraten erarbeitet wurden, nun ein unglaubliches Protestgeschrei gibt. Wir wollen nicht den Familienbetrieb zerstören. Wir werden alles in unseren Kräften Stehende tun, um die Agrarstruktur in unserem Land in Ordnung zu halten. Aber wer die EG gefährden will, der braucht die Agrarpolitik nur so weiterlaufen zu lassen. Das kann nie gut gehen.
Und daraus darf man dann keinen parteipolitischen Vorteil ziehen.Lassen Sie mich zu den Bereichen etwas sagen, die wichtiger sind oder die mir eher anstehen. Da hat Herr Zimmermann gesagt, na, das sei ja wohl nicht richtig, das sei alles falsch, wenn der Bundeskanzler sage, daß wir im letzten Jahrzehnt die Verteidigungsausgaben fast oder knapp um real 3 Prozent jährlich gesteigert hätten. Das ist nicht falsch. Das ist richtig. Ich habe nachgerechnet. Es sind ganz genau 2,73 Prozent real. Das ist die reale Zahl: 2,73 Prozent — nach NATO-Kriterien, ohne die Milliar-
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Bundesminister Dr. Apelden, die wir jedes Jahr nach Berlin geben und die natürlich unter dem Strich der NATO mitgeteilt werden, aber nach NATO-Kriterien nicht angerechnet werden. Da können Sie doch nicht sagen: Die Aussage ist falsch. Sie ist richtig!Und wenn man sich den Teil der Ausgaben anschaut, der nun wirklich der belangvolle oder einer der wichtigen ist, nämlich die investiven Ausgaben, Beschaffungen z. B., so stellt man fest, daß dieser Teil im letzten Jahrzehnt inklusive des Haushaltsjahres 1980 stärker als drei Prozent real gestiegen ist.Also hören wir mal auf, so zu argumentieren, als seien die einen oder die anderen Betrüger. Hier ist niemand ein Betrüger. Dies sind die Zahlen. Die sind nachrechenbar; Sie kennen sie.Und nun haben Sie, Herr Dr. Wörner, gesagt: Ja, aber der Anteil der Verteidigungsausgaben am Bundeshaushalt hat sich verringert. — Das ist richtig. Aber ich bitte Sie: Welches Jahrzehnt oder welche fünf, sechs Jahre haben wir denn hinter uns? Eine weltweite Rezession! Und da gab es Prioritäten im Bundeshaushalt, die auch wichtig waren, nämlich 900 000 Arbeitsplätze in wenigen Jahren neu zu schaffen. Neu zu schaffen! Das ist Sicherheitspolitik.
Und da möchte ich mal wissen — das sage ich als Bundesminister der Verteidigung —, wo wir in diesem Land wären, wenn wir noch mehr getan hätten, aber der soziale Unfrieden hier ausgebrochen wäre, wenn es 2 Millionen Arbeitslose oder mehr gäbe und wenn die Bürger nicht mehr das Gefühl gehabt hätten, daß das ihr Land ist, in dem sie gut behandelt werden.Irgend jemand hat in diesen Tagen auf das Weißbuch 1979 verwiesen. Dort ist dargestellt, daß Sicherheitspolitik eben nicht nur Verteidigungspolitik ist, sondern daß innere Sicherheit, soziale Sicherheit und Entwicklungshilfe dazugehören.
Ich finde es gut, daß Sie hier eine akzeptable, gute Position bezogen haben.Nun haben Herr Möllemann und andere über das Haushaltsjahr 1981 geredet. Auch Sie, Herr Dr. Wörner. Ich sage Ihnen ganz offen: Ich weiß, ehrlich gesagt, nicht, was diese Debatte soll. Das Bundeskabinett wird am 16. und 17. Dezember seine „Lesung" des Bundeshaushaltes haben.
— Ja, ich gebe Ihnen gerne das Wort.
Herr Bundesminister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Dr. Wörner?
Wenn ich nur noch den Satz zu Ende sagen darf.
Bitte sehr.
Sie, meine Damen und Herren, werden ja in Ihrer Zeitplanung irgendwann im Januar oder Februar über den Bundeshaushalt 1981 debattieren. Abgerechnet wird, wie sehr richtig gesagt wurde, am Ende des Jahres. Mich erinnert diese Debatte an die Debatte vor einem Jahr, wo wir ähnlich argumentiert haben. Und siehe da: Am Ende dieses Jahres 1980 haben wir real 2,8 Prozent. Damit können wir uns aber wirklich sehr gut sehen lassen. Ich will die Liste der Länder in der NATO nicht aufblättern, die entsprechende Verteidigungsausgaben für sich verbuchen können.
Verzeihen Sie, Herr Bundesminister; gestatten Sie nun die Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Dr. Wörner?
Natürlich, bitte schön.
Herr Bundesminister, damit Sie die Naivität von uns allen nicht überstrapazieren,
— ja, „Naivität" habe ich gesagt —, darf ich Sie fragen, ob Sie es für zufällig halten, daß Sie gezwungen waren, mit den Mitarbeitern Ihres Hauses in einer, wie ich höre, außerordentlich dramatischen Weise über mögliche Kürzungen von schon beschlossenen Waffensystemen zu reden, und ob das nicht Anlaß für ein Parlament gibt, darüber angesichts der verteidigungspolitischen Lage wenigstens einige Sekunden nachzudenken.
Herr Kollege Dr. Wörner, wir sollten am Beginn der Legislaturperiode versuchen, die gegenseitigen Schärfen herauszunehmen. Deswegen lege ich das Wort „Naivität" mal beiseite. Jeder hat seinen besonderen Stil.
— Na, aber was soll das? — Wir haben auf der Hardthöhe in der Tat zusammengesessen und werden noch weiter zusammensitzen, um mit dem Problem Tornado fertigzuwerden. Das ist nicht nur ein Haushaltsproblem, sondern hier zeigt sich, wie wie bei einer Zusammenarbeit von mehreren Ländern mit unterschiedlichen Streiktagen pro Arbeitnehmer, mit unterschiedlichen Preisentwicklungen, mit einer sehr komplizierten Vertragsgestaltung, mit Vorlaufzeiten, die unglaublich kompliziert sind — da sind bereits Ersatzteile bestellt, Langläufer, ohne daß das Parlament die nächsten Lose freigegeben hat —, in Schwierigkeiten kommen. Aber abgerechnet werden die 3 % nicht heute, sondern heute in einem Jahr, und dann werden wir uns weiter darüber unterhalten.Insofern verstehe ich nicht, wie Sie hier auch in einem anderen Punkte argumentieren. Herr Wörner, Sie haben gesagt, der Bundeskanzler solle sich ein-
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Bundesminister Dr. Apelmal mehr um die Bundeswehr kümmern oder mehr auf die Hardthöhe gehen.
— Ja gut, das nehme ich zur Kenntnis. — Sie haben ausgeführt, er habe in Amerika gesagt, wir könnten binnen 72 Stunden 1,2 Millionen Soldaten unter Waffen haben. Sie haben das bestritten.
— Dann ist es vielleicht gut, wenn wir Sie bitten, demnächst auf die Hardthöhe zu kommen, damit Sie sich unterrichten.
— Nein, ich möchte meine Überlegungen jetzt zu Ende führen. Ich will darauf hinweisen: Ich verhalte mich da anders als Herr Zimmermann. Sie kriegen sofort das Wort; ich will nur meinen Gedanken noch zu Ende führen. — Ich empfehle die Lektüre des Weißbuches 1979, in dem steht: fast 500 000 unter Waffen — Zeitsoldaten, Berufssoldaten, Wehrpflichtige —, rund 700 000 Reservisten. Wenn ich noch eins mit anführen darf, Herr Wörner, um das Bild abzurunden: Im übrigen haben wir als einziges Land in der NATO ein Instrument, das sich Verfügungsbereitschaft nennt. Das heißt: der Bundesverteidigungsminister kann sich unabhängig von politischer Entwicklung — theoretisch — ohne Mobilmachungs- und andere Erklärung dazu entschließen, fast 60 000 junge Männer, die zwölf Monate nach Abschluß der Wehrpflicht in der Verfügungsbereitschaft sind, einzuberufen. Wir haben also auch hier ein hohes Maß an militärischer Flexibilität. Also, ich bitte Sie: Kommen Sie auf die Hardthöhe! Wir reden über die 72 Stunden und Sie werden sicherlich erleuchtet von dannen schreiten.
Ich möchte mich jetzt, Herr Kollege Wörner, mit den Fragen der Tradition auseinandersetzen. Da ist es so, daß z. B. Horst Ehmke und ich nicht immer in allen Fragen einer Meinung waren, vielleicht auch heute noch nicht sind. Nur, was ist daran eigentlich dramatisch? Also — da haben mich manche geärgert. Ich gehe davon aus, daß auch ich viele geärgert habe, so daß die im Stillen gefragt haben: Was ist denn in den gefahren? Dies diskutieren wir nun miteinander ganz offen, wie das bei Sozialdemokraten so ist. Ich finde das gut; das ist der erste Punkt.
Nun kommt der zweite Punkt, der auch wichtig ist. Horst Ehmke hat über Bremen und über die Fehler, die die SPD dort gemacht hat, gesprochen. Aber eins wollen wir doch festhalten: Die Krawaller in München, in Stuttgart und hier in Bonn
waren immer dieselben. Wenn wir einen Fehler gemacht haben, dann den, daß wir denen dadurch, daßwir es an verschiedenen Tagen gemacht haben, auchnoch die Möglichkeit gegeben haben, durch die Bundesrepublik zu reisen und überall präsent zu sein, wo etwas stattfand.
Dies hätten wir rechtzeitig merken müssen. Dann hätten wir die Veranstaltungen durch Dislozierung der schwachen Kräfte der Chaoten ruhiger hingekriegt.
— Gut. —
Aber nun wollen wir einmal das Thema selber betrachten. Tradition kann doch kein Selbstzweck sein. Was ist denn Tradition? Tradition ist aus meiner Sicht — meiner unvollkommenen Sicht; wir haben darüber im Weißbuch 1979 Ausführungen gemacht — etwas, was Menschen helfen soll, zu leben. Das ist z. B. Tradition. Es ist eine symbolische Handlung, die mir hilft, zu leben.
— Ja, sicherlich, man kann es auch so definieren. Ich wollte gerade dazu kommen. — Tradition ist die Erkenntnis, daß der Mensch mit seiner Erziehung, mit seiner Umwelt Verhaltensweisen übernimmt und weiterentwickelt, die für ihn bestimmend werden.
Tradition ist etwas, was Menschen auch verbinden muß. So muß die Tradition der Bundeswehr diejenigen, die außerhalb der Bundeswehr sind, mit der Bundeswehr verbinden.
Nun habe ich dies alles sicherlich sehr unvollkommen formuliert, weil ich hier auch keinen Text habe, sondern das sage, was ich denke.Tradition soll dem Menschen helfen. Er ist kein geschichtsloses Wesen — da greife ich ausdrücklich die Argumentation des Oppositionsführers auf. Drittens schließlich soll Tradition der Bundeswehr wie Tradition der Kirchen wie der großen Gruppen Menschen — auch andersdenkende — verbinden. Dann muß natürlich Tradition von ihrem Inhalt her bestehen können,
z. B. vor unserer Verfassung,
— z. B. vor unserer Geschichte —, z. B. auch vor der Entwicklung, vor dem Bewußtsein der großen Mehrheit unserer Bürger.
Dann, Herr Dr. Kohl, kann man doch wirklich nicht sagen, wie das Herr Dr. Zimmermann getan hat und in abgeschwächter Weise Herr Dr. Wörner — Sie haben das nicht so gesagt; ich muß das zugeben —: Daß der Apel eine Traditionsdebatte ankündigt, heißt
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Bundesminister Dr. ApelRückzug aus der Fläche, d. h. Zurückweichen. Also das kann ich nicht begreifen.Ich habe all denen, die das behauptet haben gesagt: Es gibt kein Zurückweichen. Wir werden die Veranstaltungen zum 25jährigen Geburtstag der Bundeswehr so durchführen, wie wir das geplant haben.Für mich war der Tag auf dem Münsterplatz eben kein schwarzer Tag, sondern er war ein Tag, an dem junge Soldaten und viele Anwesende mit Wut, aber mit innerer Festigkeit und Gelassenheit ertragen haben, daß andere sie ausgepfiffen haben. Ich verstehe, daß viele Bürger das anders sehen und fragen: Wie kann das in einem Staat wie dem unseren passieren? Das ist auch eine berechtigte Frage. Aber ebenso berechtigt ist meine Feststellung: Wenn wir das getan hätten, was sich vielleicht in manchem von uns bewegt hätte, dann wäre es schlimm geworden. So war es besser, so war es am Ende erträglicher.Dennoch darf sich das nicht wiederholen. Das kann so nicht sein. Deswegen brauchen wir — und da stimme ich Horst Ehmke bei vieler Unterschiedlichkeit der Grundpositionen zu — die große Debatte, um — wie ich irgendwo gesagt habe, wofür ich kritisiert worden bin, was ich aber wiederhole — die Spreu vom Weizen zu trennen.
— Innerhalb der jungen Gesellschaft. Ich komme nachher noch darauf zurück, wie Herr Dr. Wörner meinte, einseitig Verantwortung für falsche Bewußtseinslagen zuordnen zu können.Nur eines darf nicht sein: Wenn das eine Debatte nur über das Thema Zapfenstreich und Gelöbnis ist, dann ist sie mir aber wirklich zu eng. Das muß eine Debatte sein über Bundeswehr und Gesellschaft.
Es muß eine Debatte sein über die inneren Strukturen der Bundeswehr. Deswegen werden wir die Partizipationsrechte unserer Soldaten, der Wehrpflichtigen, der Unteroffiziere und der Offiziere kräftig stärken,
damit Innere Führung erlebbar wird. Dann kann es auch eine Debatte über Tradition sein.In einem stimme ich hier sofort jedem Redner zu: Richter und Ankläger sind nicht eine Person. Das gibt es nicht. Es gibt auch nicht die sofortige, über- hetzte, übereilte Debatte. Es gibt eine Debatte, die zeitlich abgesetzt ist und im Frühjahr stattfindet, dann, wenn wir uns vorbereitet haben. Natürlich werden wir Sie bitten, an dieser Debatte teilzunehmen, so, wie wir viele Bürger bitten, evangelische Kirchengemeinden, Jugendorganisationen, die Judos und die Jusos — und die Junge Union — aber selbstverständlich. Und dann wird nicht kapituliert. Dann wird versucht, das zu erreichen, was unbedingt erreicht werden muß: daß die kritische Debatte über Bedingungen der Sicherheit in Europa nicht auf dem Buckel der Bundeswehr anläßlich öffentlicher Gelöbnisse stattfindet, sondern zwischen Politikern.
Nun zur Kultusministerkonferenz. Das möchte ich hier noch zurechtrücken. Der Vizekanzler hat darauf aufmerksam gemacht. Das könnte ja so klingen, als würde hier ein Vorwurf gemacht: Apel muß nun da hin, damit die endlich was tun. Also so ist es nicht. Es hat protokollarische Probleme gegeben, für die ich nur in Grenzen Verständnis habe, denn ich bin der Meinung, auch ein Parlamentarischer Staatssekretär, insbesondere ein tüchtiger Parlamentarischer Staatssekretär, kann mit den Kultusministern über die Probleme der Sicherheitspolitik im Unterricht reden. Aber, na schön, wenn es der Bundesminister selbst sein muß, dann mache ich es auch selbst, obwohl ich von Bildungspolitik eigentlich wenig verstehe. Obwohl ich zwei Kinder habe, gebe ich dies ausdrücklich zu.Es ist auch nicht die Zeit, Vorwürfe zu machen. Es kommt darauf an — bei diesem Punkt muß ich auf das zurückkommen, was Sie, Herr Wörner, gesagt haben —, im Unterricht die Bedingungen des Friedens in Europa — so weit muß das Thema gefaßt werden — einzuführen, darüber zu debattieren und den Jugendoffizieren die Möglichkeiten zu geben, in die Schule hineinzugehen, so wie die Pfarrer, die für die Kriegsdienstverweigerung werben. Der junge Mann muß, wenn er zur Bundeswehr kommt, ungefähr wissen, was ihn dort erwartet. Dies ist also nicht nur eine Frage der Sicherheitspolitik und des Pazifismus, sondern auch eine Frage dessen, was Dienst ist und was den jungen Mann dort erwartet. Hier gibt es also keinen Grund für Vorwürfe. Mit einem Bundeskultusministerium würde ich das Problem auch nicht leichter lösen können. Es kommt darauf an, miteinander eine Debatte zu führen. Ich halte es für falsch, wenn gesagt wird: Die einen Kultusminister sind so, die anderen sind aber so. — Es hat hier zeitliche Versäumnisse gegeben, die ich auch dem Ministerium oder auch mir zuzuschreiben habe. Wir müssen sie aufarbeiten.Herr Wörner, auch hierzu einen Satz: Wer will denn eigentlich bezweifeln, daß auch Sozialdemokraten die sicherheitspolitische Debatte im letzten Jahrzehnt vielleicht nicht mit der gebotenen Sorgfalt geführt haben? Eines will ich Ihnen aber sagen — ich sage das bewußt ruhig und ohne Vorwurf —: So, wie Sie — auch heute — zu diesem Thema argumentieren, erreichen Sie jungen Leute überhaupt nicht.
Das rollt einfach über die Köpfe hinweg und führt nur zu einem, nämlich daß das nächste Mal die große Mehrheit der jungen Leute wiederum nicht CDU/ CSU wählen kann. Das sage ich Ihnen ja gar nicht im Sinne eines Vorwurfs. Ich bitte Sie nur, nicht so selbstgerecht zu sein.
Das Entscheidende ist doch, daß wir nicht so selbstgerecht sind, daß wir begreifen, welche Probleme wir haben.
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Bundesminister Dr. ApelNun noch zwei Bemerkungen — oder vielleicht auch nur anderthalb — zu Herrn Möllemann. Herr Möllemann, Sie haben, wenn ich es richtig mitgeschrieben habe, folgende Vokabeln verwandt: Wir würden auf der Hardthöhe buchhalterisch vorgehen; der Rotstift könne nicht die Politik ersetzen; wir seien betriebsblind. — Ich bin darüber nicht beleidigt; ich habe am Montag ja auch den „Spiegel" gelesen. Was soll es aber eigentlich, diese Art von saloppen Formulierungen in eine Bundestagsdebatte einzuführen, bei der es wirklich um schwierige Frage geht, welche mich als Bundesminister der Verteidigung sehr belasten? Deswegen habe ich, als ich den „Spiegel" gelesen hatte, auch gesagt: niedriger hängen, keinen Leserbrief schreiben, was soll das?, vergessen!. Jeder gibt die Interviews, die er geben möchte.
Herr Bundesminister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Möllemann?
Ja, natürlich.
Herr Bundesminister, wären Sie so freundlich, zur Kenntnis zu nehmen, daß ich selbstverständlich alle saloppen Formulierungen unterlassen hätte, wenn ich nicht davon ausgegangen wäre, daß ich bisher zu Recht annehmen durfte, auch Sie schätzten ab und an saloppe Formulierungen?
Sie sehen ja, ich bin sehr fröhlich. Allerdings gebe ich zu, daß ich manchmal auch ganz schön sauer auf Sie bin. Damit das klar ist!
Fröhlichkeit gehört dazu. Herr Möllemann, damit wir uns hier aber klar verstehen — Sie haben das ja heute auch in Ihren Ausführungen sehr deutlich gesagt —: Es ist eine Forderung der FDP, diese Kommission zu haben. Es ist keine Koalitionsabsprache. Das muß klar gesagt werden, damit die Positionen deutlich werden. Es gibt ja wechselseitige Forderungen vielfältigster Art. Die einen fordern das, andere wieder jenes. In der Koalitionsverabredung ist diese Kommission nicht festgeschrieben. Darüber sind wir uns einig. Im übrigen, Herr Möllemann, wissen Sie, daß das mit den Kommissionen so eine Sache ist. Sie haben auf die Wehrstrukturkommission als ein Vorbild hingewiesen. Herr Jung hat mir erzählt, er sei Mitglied dieser Kommission gewesen.
— Das waren Sie nicht? Gut, dann nehme ich das zurück. Dann habe ich das falsch verstanden. Eines ist aber richtig: Die Kommission hat Helmut Schmidt 1970 eingesetzt, und der wesentliche Teil, die Wehrstruktur und die Heeresstruktur, war am 17. Februar 1978, acht Jahre später, als ich auf die Hardthöhe ging, noch nicht erledigt. Das haben wir dann im November 1978 gemacht. Ich bin also nicht kommissions- und rätegläubig. Ich glaube nicht, daß wir Probleme dadurch lösen, daß wir erst einmal ein großes Palaver mit Kommissionen anfangen. Ich wäre schlecht beraten, wenn ich nicht allen Sachverstand an Land zöge. Ich habe es aber schon einmal salopp so gesagt: Ich bin kein Anhänger einer Räterepublik. Es gibt einen Bundesminister, der in seiner Verantwortung steht und gelegentlich auch kritisiert wird. Es gibt einen Verteidigungsausschuß, der voller Sachverstand ist — Sie gehören ihm j a an —, und dort wird dann debattiert. Dort wird mir dann gesagt, was richtig und was nicht richtig ist.
— Herr Würzbach, das ist ein interessanter Einwand. Die de Maizière-Kommission hat im Gegensatz zu diesen Kommissionen deswegen etwas leisten können, weil es dabei nicht um Geld und Technik ging, sondern da ist im Endeffekt ein kollektiver Ombudsmann durch die Bundeswehr gegangen und hat überall dorthin geguckt, wo Bürokratismus herrscht. Da halte ich so etwas für machbar.
— Lieber Herr Wörner, wir haben das neulich schon im Fernsehen debattiert, und, wenn ich mich recht erinnere, war das in der Art, daß ich vorn geredet habe und Sie im Hintergrund ununterbrochen gelacht haben. Wenigstens haben mir das Fernsehzuschauer erzählt.
Ich habe auch nichts dagegen. Nur liegt, lieber Herr Wörner, die Verantwortung beim Verteidigungsausschuß, dessen Vorsitz Sie nicht mehr haben,
beim Bundesminister der Verteidigung und beim Plenum des Deutschen Bundestages. Kommissionen können mich aus den Schwierigkeiten, in denen ich bin, nicht herausbringen.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Möllemann?
Ja, sicherlich.
Zunächst — nicht als Frage, sondern sozusagen als Einleitung — bin ich überrascht — —
Herr Kollege Möllemann, ich bitte, Fragen zu stellen.
Können Sie es sich vorstellen, Herr Kollege Apel, daß ich überrascht darüber bin,
daß Sie die Einführung einer Kommission durch Ihren Bundeskanzler als den ersten Ansatz der Räterepublik verstehen, und daß ich darüber hinaus noch mehr darüber überrascht bin, daß wir uns in vordergründigen Diskussionen über mögliche Instrumente
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Möllemannergehen wollen, angesichts der Tatsache, daß ganz offenkundig die gegebenen Instrumente, um es vorsichtig auszudrücken, nicht ausgereicht haben, die Bundeswehr aus der im Moment für sie gegebenen strukturellen, materiellen Krise herauszuhalten?
Herr Möllemann, das wollte ich eigentlich als Schlußbemerkung anbringen; aber wenn Sie mich so fragen, so macht es mir die Sache noch einfacher. Nun hören wir doch einmal auf, von dieser Krise zu reden! Dies ist der „Spiegel"-Jargon, aber nicht die Sprache des Deutschen Bundestages, finde ich. Wir haben sicherlich eine ganze Reihe von Problemen in der Bundeswehr. Sie haben einige aufgezählt. Wir haben den Verwendungsstau, und darüber bin ich im Chefgespräch mit dem Herrn Bundesfinanzminister. Das sind also Personalprobleme. Wir haben sicherlich auch Finanzprobleme. Aber die Heeresstruktur 4 läuft, wenn wir dafür die entsprechenden Stellen bekommen. Darüber wird verhandelt, das werden wir sehen.
— Es hat keinen Zweck, immer schon die Schlachten zu schlagen, die erst in sechs oder acht Monaten zu schlagen sein werden. Ich bin dagegen, mir eine Krise aufreden zu lassen, von wem auch immer, Herr Möllemann.
Wenn wir so argumentieren, dann können wir demnächst Strukturkommissionen bei allen Bundesministerien einsetzen; den überall gibt es Probleme, die mit den Finanzen und mit den neuen Problemen unserer Zeit zusammenhängen. Das hat keinen Zweck. Es geht hier nicht um Egozentrik, sondern um die Sache, und die Sache muß von denen erledigt werden, die in der Verantwortung stehen.
Nun möchte ich meine Ausführungen mit einem Zitat aus der „Times" vom 22. November dieses Jahres beenden, ohne daß ich darauf stolz bin; denn das, worum es geht, ist das Ergebnis aller. Da wird über Verteidigungslasten — auch über 3 % — und über alles mögliche geredet, was die Deutschen tun und nicht tun könnten. Da heißt es — ich übersetze das —:
Westdeutschlands bewaffnete Streitkräfte sind bereits ungefähr so groß wie sich das die Bundesrepublik leisten kann, wenn sie nicht mit ihren westlichen Alliierten Ärger haben will und natürlich auch mit ihren möglichen Gegnern in Osteuropa.
Ich glaube, dem Zitat habe ich nichts hinzuzufügen.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. Holtz.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Bundesverteidigungsminister Hans Apel hat gerade darauf hingewiesen, daß in der Frage der Sicherheits- und Friedenspolitik auch die Südpolitik, die Entwicklungspolitik, eine große Rolle spielt. In der Tat, Entwicklung trägt zur Freiheit von Not und Zwang bei und hilft, Spannungen und Konfliktpotentiale abzubauen; sie hilft, das Wohlstandsgefälle zwischen Nord und Süd, zwischen den Entwicklungsländern und auch innerhalb der Entwicklungsländer zu verringern.Der Bundeskanzler hat in seiner Regierungserklärung die Arbeit der Soldaten und der Zivildienstleistenden zu Recht gewürdigt. Ich möchte hinzufügen, auch die Entwicklungshelfer, die an Stelle des Wehrdienstes ihren Dienst für mindestens zwei Jahre in der Dritten Welt machen, leisten eine wertvolle Arbeit. Sie leisten einen Friedensdienst.
Für die Erneuerung und Bekräftigung des Engagements der Bundesregierung in der Dritten Welt, die der Bundeskanzler in der Regierungserklärung zum Ausdruck gebracht hat, möchte ich der Bundesregierung nachdrücklich danken. Wir alle wissen: Streichen bei finanzpolitisch schwierigen Verhältnissen allein bedeutet noch keine Wirtschafts- oder Finanzpolitik. Die notwendigen Einsparungen müssen nicht nur sozial ausgeglichen sein, es müssen auch die langfristig richtigen Prioritäten gesetzt werden. Die Regierungserklärung setzt eine richtige Priorität. Sie bietet eine wichtige Perspektive für die 80er Jahre, eine wichtige Perspektive auch für die Jugend, wenn sie dem Nord-Süd-Dialog eine starke Bedeutung zumißt.Trotz wachsendem Zahlungsbilanzdefizit ist die Bundesregierung willens, die Entwicklungshilfe überproportional zu steigern. Hier haben Sie, meine Damen und Herren von der Opposition, ein Beispiel auch für die menschliche Dimension der sozialliberalen Politik. Ich bin dankbar, daß Ihre Sprecher deutlich gemacht haben, daß Sie die überproportionalen Steigerungsraten mittragen werden.Entwicklungspolitik ist also keine Schönwetterveranstaltung, die man bei Turbulenzen einfach abblasen kann. Deshalb gilt es, diese besonders klaren Aussagen in der Regierungserklärung nochmals festzuhalten. Die Jugend hat vorwiegend SPD und FDP gewählt, weil sie die Politik der Rechten — Sie, Herr Minister sagten: der Selbstgerechten — ablehnt, auch, wie ich glaube, die Südpolitik der Rechten, wie sie in den vergangenen Jahren betrieben wurde.Wie viele junge Menschen wende ich mich dagegen, daß die Länder der Dritten Welt zu Bauern auf dem Schachbrett der Ost-West-Auseinandersetzungen gemacht werden. Herr Wörner, ich meine, es ist zu kurzsichtig, dies etwa nur auf die Sowjetunion zu schieben. Wir wissen, daß viele Ihrer Fraktion in der vergangenen Legislaturperiode gerade das NordSüd-Feld als ein Feld der Auseinandersetzung betrachtet haben, auf dem es gilt, den Ost-West-Streit auszufechten. Ich hoffe, daß dies jetzt beendet ist.
Ich bin dagegen, daß den Ländern der Dritten Weltordnungspolitische Vorstellungen übergestülpt wer-
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Dr. Holtzden. Ich bin auch darüber entsetzt gewesen, daß rechtskonservative Politiker mit, ich sage nur, „seltsamen" Regimen verkehrt haben, ja, diese sogar hoffiert haben.Sich eindeutig davon unterscheidend, hat der Herr Bundeskanzler die Haltung der Bundesregierung dargestellt. Ich möchte gerne die Opposition fragen, ob sie bereit ist, diese Ziele mitzutragen. Die Bundesregierung will nämlich nicht neue Abhängigkeiten für die Länder der Dritten Welt, sondern sie fördert deren wirtschaftliche, politische und kulturelle Unabhängigkeit. Die Bundesregierung sucht eine partnerschaftliche Zusammenarbeit mit den Entwicklungsländern auf der Grundlage der Gleichberechtigung und wendet sich gegen jedes Vormachtstreben. Sie lehnt die Rassenpolitik in der Südafrikanischen Republik ab. Ich würde dem Herrn Kollegen Zimmermann gerne sagen: Dies ist keine Bevormundung , wie er heute meinte, sondern klarer Ausdruck einer Regierung, die auf Grund der Geschichte des eigenen Volkes weiß, wie verhängnisvoll sich Rassismus über die eigenen Grenzen hinaus auswirkt.
Die Bundesregierung sucht den Dialog mit allen politischen Kräften im Süden des afrikanischen Kontinents einschließlich der Befreiungsbewegungen, und sie will ihre Bemühungen energisch fortsetzen, Namibia in eine international anerkannte Unabhängigkeit zu führen. Mit diesen Zielen können sich viele, besonders entwicklungspolitisch und auch christlich engagierte Menschen, Gruppen und Organisationen identifizieren. Wir bitten sie alle um Kritik, Ermunterung und Unterstützung bei dieser Arbeit.Die Regierungserklärung hatte vier tragende Säulen der Außenpolitik genannt. Die Nord-Süd-Politik zählt in der Tat in den 80er Jahren zu den wichtigen Aufgaben. Der Bericht der Nord-Süd-Kommission, der sogenannte Brandt-Bericht, nennt sie „die Herausforderung unserer Zeit". Für uns Sozialdemokraten ist dieser Nord-Süd-Bericht ein wichtiger Kompaß für die Politik in den nächsten Jahren.
Auch deshalb ist es wichtig, diese Herausforderung zu bestehen, weil das in unserem eigenen wohlverstandenen Interesse liegt. Weltweite Lösung der Energieprobleme heißt sichere Energieversorgung für uns. Gute Rohstoffexporterlöse für die Entwicklungsländer tragen zu einer sicheren Rohstoffversorgung für uns bei. Umweltschutz ist oft nur weltweit realisierbar. Entwicklung im Süden bedeutet mehr Arbeitsplätze bei uns. Wirtschaftlich starke Entwicklungsländer sind starke Handelspartner.Kaum ein Staat in der westlichen Welt — schreibt Klaus Natorp in der FAZ —ist so sehr auf kontinuierliche Rohstoffeinfuhren und einen florierenden Welthandel angewiesen wie der westdeutsche. Daher ist ein gutes Verhältnis zu möglichst vielen Staaten der Dritten Welt lebenswichtig für die Bundesrepublik. Das kostet seinen Preis.Also: Die Unterstützung der Dritten Welt ist nicht nur eine Frage der Moral, sie ist auch eine Frage der Vernunft. Es liegt im deutschen Interesse, wenn der Nord-Süd-Dialog erfolgreich zu Ende geführt wird. Er ist ins Stocken geraten.Noch kürzlich ist wiederum eine Chance verpaßt worden: bei der letzten Sondergeneralversammlung der Vereinten Nationen über die internationale wirtschaftliche Zusammenarbeit. Wir begrüßen deshalb ganz besonders, daß der Bundeskanzler angekündigt hat, er wolle an dem für Juni 1980 in Mexiko vorgesehenen Gipfelgespräch von Regierungschefs über Nord-Süd-Fragen aktiv teilnehmen.
Wir hoffen, daß die Bundesregierung an ihrer Seite auch die USA haben wird, aber ebenso, daß die Sowjetunion und daß die Volksrepublik China neben anderen Staaten an dem Gipfel teilnehmen werden.Richtig ist: alle Staaten müssen ihre Anstrengungen verstärken, die westlichen Industriestaaten, die östlichen Industriestaaten, die viel zuwenig tun, und die OPEC-Staaten. Aber nicht ganz bekannt ist, daß die OPEC-Länder — proportional gesehen zum Bruttosozialprodukt — mehr Entwicklungshilfe als die westlichen Industriestaaten im Durchschnitt geben. Ich meine dennoch, daß sie eine besondere Verantwortung gegenüber ihren Solidaritätspartnern haben.Ich hoffe, daß die Hinhaltetaktik, die des öfteren im Nord-Süd-Dialog zu spüren war, der Vergangenheit angehört. Durch Hinhalten erreichen wir nur mit Sicherheit eines: Der Preis, den wir für einen friedlichen Ausgleich mit der Dritten Welt eines Tages zwangsläufig werden entrichten müssen, wird von uns selbst in die Höhe geschraubt. Er verlagert sich zudem mehr und mehr auf Qualitäten, die für uns existenzbedrohend sein können. Eine solche Haltung ist darüber hinaus ökonomisch kurzsichtig und schädlich. Im Ergebnis haben die Industrieländer für ihre mangelnde Leistungsbereitschaft und den fehlenden politischen Verständigungswillen in der Vergangenheit bezahlt, nämlich mit einer Reduzierung künftiger Entwicklungschancen ihrer eigenen Wirtschaft.Deshalb betone ich nochmals: ich finde es sehr gut, daß die Bundesregierung ihre Entwicklungshilfe weiter steigern wird. Wir werden nicht morgen das 0,7 %-Ziel erreichen können. Aber es gilt zu sehen, daß viele andere westliche Länder ihren Entwicklungsetat zurückfahren, während wir ihn überproportional steigern.Es kommt jetzt darauf an — da kann Bundesminister Offergeld auf unsere Unterstützung zählen —, Prioritäten auch bei der Entwicklungspolitik zu setzen, die Qualität der Entwicklungshilfe weiter zu verbessern und sich auf Schwerpunkte wie etwa die ländliche Entwicklung, Energie und Schutz der natürlichen Ressourcen zu konzentrieren. Dazu gehört aber auch die Unterstützung demokratischer Entwicklungen in der Dritten Welt, wie sie sich z. B. in Lateinamerika abzeichnen.
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Dr. HoltzWir stimmen voll mit den entwicklungspolitischen Grundlinien der Bundesregierung vom Juli 1980 überein, in denen es heißt: Die Bundesregierung unterstützt Regierungen, die sich die Verwirklichung des sozialen Fortschritts und der sozialen Gerechtigkeit sowie die Wahrung der Menschenrechte zum Ziel gesetzt haben.Wir begrüßen die Demokratisierungsprozesse in Afrika, etwa in Ghana und Nigeria. Wir fordern Hilfe für Mozambique; ich hoffe, daß die Berlin-Klausel da nicht weiter ein Hindernis sein wird. Die Befreiungsbewegungen in Südafrika wie etwa den ANC und in Namibia — dort die SWAPO — erkennen wir als wichtige Sprecher ihrer Völker an. In der Westsahara sehen wir die Frente Polisario als politische Vertretung zur Verwirklichung der Selbstbestimmung des sahaurischen Volkes an, energisch sollte die Bundesregierung den Namibia-Plan vorantreiben.Wir beklagen die Rückfälle in die Diktatur und sind entsetzt über die Zustände in vielen Staaten und über den Mangel an Bereitschaft und/oder Möglichkeiten, der Demokratie wieder Geltung zu verschaffen. Wir beklagen die Besetzung Afghanistans und das Flüchtlingselend in südostasiatischen Staaten, dessen Hauptursache Menschenrechtsverletzungen sind, wir verurteilen das zur Demokratie unwillige Regime Südkoreas, und wir erwarten die baldige Rückkehr der Türkei zur Demokratie. Wir bedauern das Abgleiten von demokratischen Staaten in aller Welt. Ich verurteile besonders die jüngst begangenen Militärputsche, z. B. den in Guinea-Bissau. Er geht auch uns an, weil die regierende Partei, die PAIGC, sowohl auf den Kapverden als auch in Guinea-Bissau bislang eine blockfreie Politik verfolgt hat. Ich fände es sehr gut, wenn das Auswärtige Amt sicherstellen könnte, daß wir in solchen Staaten, mit denen wir Beziehungen haben, zumindest eine Vertretung haben — vielleicht nicht eine volle diplomatische Vertretung, daß wir aber wenigstens anwesend sind. Die anderen sind „vor Ort".Wir warnen vor den Forderungen nach Auflockerung unserer Haltung gegenüber Chile. Chile ist immer noch eine blutige Diktatur, und die Politik der Junta ist immer noch entwicklungsfeindlich und gegen die breiten Massen gerichtet. Deshalb würde ihnen auch Entwicklungshilfe nicht helfen.
In El Salvador erleben wir den grausamen Versuch einer verhaßten Junta, deren Helfer vor nichts zurückschrecken, sich an der Macht zu halten. Wir appellieren an alle, nicht zugunsten dieser Junta zu intervenieren — ein Mitglied dieses Hauses hat das getan —, sondern den Demokraten zu helfen.
Wir verurteilen den blutigen Putsch in Bolivien und bezeugen unsere Wertschätzung der tapferen und von hoher demokratischer Reife zeugenden Haltung vieler Bolivianer im eigenen Land und im Ausland, auch dem Generalkonsul in Hamburg.
Die geltende Weltwirtschaftsordnung kennt noch keine gleichberechtigten Partner. Die Weltwirtschaftsordnung bedarf also tiefgreifender Korrekturen. Der Prozeß der Unterentwicklung muß in vielen Bereichen gestoppt werden. Das sind auch die Länder der Dritten Welt selbst aufgerufen. Sie müssen ihre eigenen Anstrengungen verstärken, sie müssen zu Reformen — etwa im Agrarbereich — fähig sein.Unter dem Mantel des Neoliberalismus macht sich in der Dritten Welt ein wirtschaftspolitischer Konservatismus breit. Selten gibt es für Wirtschaftswissenschaftler Gelegenheit zum Ausprobieren ihrer Theorien. Milton Friedman und seine Schüler erhielten diese Gelegenheit in Chile und auch in Großbritannien. Selten gab es eine solche Klarheit über die negativen Folgen für das Volk.
Lassen Sie mich zum Abschluß sagen: Wirksame Partnerschaft ist auf die Zustimmung und Mitarbeit breiter Bevölkerungsschichten in den Industrieländern und auch in den Entwicklungsländern angewiesen. Die Bundesregierung bemüht sich darum, in der Bundesrepublik Deutschland das Verständnis für die Ursachen der Unterentwicklung, für die wirtschaftliche, soziale und kulturelle Lage in den Entwicklungsländern und für die Notwendigkeit erhöhter Leistungen zu vertiefen.Wir wenden uns, wie dies auch im Vorwort zum Brandt-Bericht zum Ausdruck kommt, insbesondere an die Jugend, an die Schulen, an die Einrichtungen der Erwachsenenbildung, an die Mitglieder von Parteien, kirchlichen Organisationen und Gewerkschaften und bitten sie, sich für eine stärkere Berücksichtigung der Nord-Süd-Probleme in ihrer Arbeit einzusetzen. Die Erziehung zum Frieden — in der Debatte über die Bundeswehr war von Curricula in den Schulen die Rede —, zur Gerechtigkeit, zur Solidarität muß ein Schwerpunkt der schulischen und außerschulischen Bildung werden, weil auf dem gerade geschilderten Felde moralisches, wertorientiertes Handeln gefordert ist.Lassen Sie uns gemeinsam dabei wetteifern, die Zusammenarbeit mit den Entwicklungsländern noch besser und erfolgreicher zu gestalten!
Das Wort hat der Abgeordnete Pieroth.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich freue mich, daß es so unerwartet heute abend noch zu einer entwicklungspolitischen Debatte gekommen ist. Das zeigt möglicherweise einen wachsenden Stellenwert der Entwicklungspolitik. Es gibt auf jeden Fall eine Gelegenheit, einige Klarstellungen zu treffen und auch Fragen für die große entwicklungspolitische Debatte im Januar anzumelden.Die erste Frage stellt sich, weil Herr Kollege Holtz, der Bundeskanzler, der Parteivorsitzende der SPD, weil sie alle so die überproportionale Steigerung des Einzelplans 23 angeführt haben, der doppelt so stark steigen soll wie der Gesamthaushalt.
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PierothWenn das echt ist, dann begrüßen wir das. Aber die Opposition und die Öffentlichkeit haben häufig schlechte Erfahrungen mit angekündigten Steigerungsraten in der Entwicklungshilfe machen müssen. Da wurden Verlagerungen aus den anderen Einzelplänen in den Einzelplan 23 vorgenommen, um für diesen dann einen höheren Prozentsatz der Steigerung ausweisen zu können. Da wurde vor der Wahl die baldige Verwirklichung des Ziels von 0,7 in die Programme von SPD und FDP geschrieben. Der Finanzminister hat Ihnen etwas anderes gesagt, noch vor der Wahl. Trotzdem wurde der Wahlkampf so geführt.Jetzt hören wir etwas von diesen rund 540 Millionen DM, um die gesteigert werden soll. In der Tat: Bei rund 5 Milliarden DM im Einzelplan wären das 10,3 %. Das wäre etwa doppelt soviel, wie der Gesamthaushalt gesteigert wird. Rechnen wir die 540 Millionen DM auf rund 6 Milliarden DM Entwicklungshilfeleistungen insgesamt, dann sind es nur noch 9 %.Aber, meine Damen und Herren und Kollege Holtz, wie halten wir es denn mit dem Nachtragshaushalt in diesem Jahr, mit diesen 239 Millionen DM für die Türkei? Die müssen wir doch in diesem Jahr einrechnen. Wenn wir sie aber einrechnen, dann beträgt die Steigerung für das nächste Jahr nicht mehr 540 Millionen, sondern nur noch runde 300 Millionen DM. Bezieht man diese Summe auf rund 6 Milliarden DM bisherige Entwicklungshilfeleistungen, sind das 5 % Steigerung. Wenn ich einigermaßen richtig rechnen konnte, wären also die von Ihnen groß angekündigten 10 % im wahrsten Sinne des Wortes eine „getürkte" Zahl, und das soll doch wohl nicht sein.
Die 5 % entsprächen dann nur noch der durchschnittlichen Steigerungsrate des Gesamthaushalts.Diese 5 % — jetzt geht es an das Eingemachte — sind aber nur eine nominale Steigerung. Ziehe ich die Inflationsrate davon ab, die ja auch 5 % beträgt, dann bleibt real keine Steigerung übrig. Dabei habe ich den tendenziell gesunkenen Wechselkurs der D-Mark, den wir dem Ausland gegenüber berücksichtigen müssen, noch gar nicht in Ansatz gebracht.Helfen Sie, im Januar das mögliche Mißverständnis — ich hoffe immer noch, daß es ein solches ist — aufzuklären, sonst ergäbe diese Rechnung ein Ergebnis, das real keine Steigerung ermöglicht, sondern real weniger als bisher für die Entwicklungshilfe bringt.Der Union geht es um eine reale Steigerung der Entwicklungshilfe. Daß Sie dem entsprechen, müssen Sie im Januar beweisen, um die Bevölkerung nicht zu enttäuschen; denn sie hilft gern: Ob es die unglücklichen Vietnamesen auf hoher See waren, die Kambodschaner, die Menschen in Somalia und Uganda, ob es die gewaltigen kirchlichen Hilfsprojekte sind — immer dann helfen unsere Mitbürger, wenn sie sich darauf verlassen können, daß die Hilfe für konkrete Aufgaben sinnvoll verwandt wird.Wenn nur die Politik der Regierung vor Ort glaubwürdiger wäre, könnten wir die großen Überzeugungsprobleme in der Entwicklungspolitik leichter meistern. Deshalb muß es uns in den nächsten Jahren um viel, viel mehr Glaubwürdigkeit gehen. Glaubwürdiger werden wir, wenn der Herr Bundeskanzler endlich aus seinem bisherigen Desinteresse gegenüber der Entwicklungspolitik heraustritt.
Dieses Desinteresse hat ja der frühere Staatssekretär Kollatz vor kurzem deutlich kritisiert. Das ist auch vorgestern in der Regierungserklärung nicht anders geworden.Was hat der Herr Bundeskanzler gebracht? Das reicht nicht, den schlechten Eindruck der letzten Jahre wegzuwischen. Es reicht nicht, Probleme der Entwicklungsländer in allgemeiner Form zu beschreiben. Und es reicht nicht, zur Lösung dieser Probleme vornehmlich, fast ausschließlich, an andere zu appellieren: an den Gipfel, an den Osten — so richtig das in dem Fall war —, an die OPEC, an die Entwicklungsländer selbst. Was notwendig ist, sind handfeste Lehren aus der Vergangenheit, konkrete Handlungsanweisungen für die Gegenwart und wirkliche Perspektiven für die Zukunft. Der Bundeskanzler muß hier mehr leisten als bisher.
Im übrigen: Geld reicht auch dann nicht, wenn es überhaupt dazu kommt, daß mehr Geld real eingeplant werden kann. Geld ist kein Alibi für persönliches Engagement — bei Weihnachtsgeschenken nicht und erst recht nicht in der Politik. Unsere Mitarbeiter draußen in den Entwicklungsländern und zu Hause in den Institutionen können erwarten, daß sich der Bundeskanzler mehr als bisher für Entwicklungshilfe engagiert, wo diese Mitarbeiter so aufopferungsvoll arbeiten. Ihnen allen danken wir, ob sie in die Entwicklungsländer anstatt des Wehrdienstes oder zusätzlich zum Wehrdienst gegangen sind. Diese Unterscheidung, Herr Kollege Holtz, möchten wir nicht machen.
Diese Entwicklungshelfer werden gebraucht; sie werden in den nächsten Jahren noch mehr gebraucht. Das gilt auch für Bauern, die zeigen, wie man dort mehr aus dem Boden herausholt, und für Handwerker, die dort ihre Fähigkeiten vermitteln. Bei einer glaubwürdigen Entwicklungspolitik — davon bin ich überzeugt — können wir junge Menschen für diese große Aufgabe gewinnen. Diese Jugend findet es hier doch häufig langweilig, weil schon alles da ist, während es in den Entwicklungsländern so trostlos ist, weil dort noch alles fehlt. Wir müssen diese Jugend gewinnen. Nur mit ihr können wir Armut, Hunger und Elend in der Welt bekämpfen.Glaubwürdig wird die Politik aber auch nur dann, wenn sie die Hungernden erreicht, wenn die Steuerzahler nicht befürchten müssen, daß die Entwicklungshilfe in der Bürokratie und in den Großstädten hängen bleibt. Die Grundbedürfnisse der Armen müssen nicht nur in den Papieren der Regierungen,
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Pierothsondern in der Wirklichkeit der Projekte Vorrang haben.
Alle Menschen in den Industrieländern und alle Parteien sind hier aus christlicher und menschlicher Verantwortung gleichermaßen gefordert.Diese Not der Armen läßt sich nicht nach Freunden und Feinden aufteilen. Herr Kollege Holtz, als Sie eben all die Rechtsregime aufgezählt und kein Linksregime genannt haben, hatte ich den Eindruck, daß Sie in der falschen Art aufteilen. Jeder Arme in der Welt ist unser Freund.
Glaubwürdig werden wir, wenn wir damit erst recht keinen Verzicht auf politische Ziele verbinden. Im Gegenteil: Wir müssen bei unserer Politik viel mehr auf die Verwirklichung der Menschenrechte achten. Wo die Menschenrechte mit Füßen getreten werden, macht weder der bloße Antikommunismus ein Regime, noch das bloße Etikett „Befreiungsbewegung" eine Gruppe zu unserem zuverlässigen Partner im Kampf gegen sowjetisches Vormachtstreben in der Dritten Welt und in unserem Bemühen, Völker in ihrem Freiheitsdrang zu unterstützen. Kollege Holtz, ich betone „sowjetisches Vormachtstreben", weil Sie meinten, die westlichen Länder würden da heute auch nicht anders handeln. Welches westliche Land hat — wie Sie formulierten — in den letzten Jahren Entwicklungsländer zu „Bauern auf dem Schachbrett der Machtpolitik" gemacht? Sie haben so formuliert, das Land aber nicht genannt. Was denken denn unsere Landsleute in der DDR, wenn sie dies von Ihnen in der Übertragung so hören mußten und damit die dortige Propaganda nur bestätigt wird?
Ich kann Ihnen aber zustimmen, wenn Sie sagen, daß Entwicklungspolitik nicht nur eine Frage der Moral, sondern auch der Vernunft ist. Das dürfen wir auch in unserem ureigensten wirtschaftlichen Interesse sagen. Langfristig können die Industrieländer nicht auf einer Insel des Wohlstands und der Freiheit überleben, wenn die übrige Welt in Armut und Elend versinkt.Unser Interesse am Frieden verlangt, daß die soziale Ungleichgewichtigkeit in den Entwicklungsländern und die Kluft zwischen den Industrie- und den Entwicklungsländern verringert werden. Unser Wohlstand läßt sich auf Dauer nur erhalten, wenn wir kaufkräftige Handelspartner und Märkte auch in der Dritten Welt finden und dort unsere Rohstoffund Energieversorgung gesichert wird. Das erfordert eine liberale Handelspolitik. Verketzern Sie nicht so leicht Milton Friedman! Wir sehen in zwei Jahren, wie weit er dann in England gekommen sein wird.
Das erfordert eine stärkere Förderung nichtstaatlicher Initiativen, wie die Privatinvestitionen, die Investitionen der Kirchen und gesellschaftlichen Gruppen. Wir müssen noch die Methode finden, wie wir kleine und mittlere Unternehmer für die „least developed countries", die ärmsten Entwicklungsländer, gewinnen können, weil die großen von sich aus dort gar nicht anfangen. Das erfordert Phantasie, erfordert Mut, erfordert auch eine gemeinsame Wirtschaftspolitik, eine Wirtschaftspolitik, die unserer Industrie die Bewältigung des weltweiten Strukturwandels erleichtert.Meine Damen und Herren, die CDU/CSU fordert die Regierung zu einem neuen Stil in der Entwicklungspolitik auf, beginnend mit einer kritischen Bestandsaufnahme. Wir sind bereit, hieran mitzuarbeiten; von einigem unnötigen ideologischen Ballast müssen Sie sich allerdings befreien.
Wir werden dann zu gegebener Zeit unsere eigenen Vorschläge vorlegen. Bei einem entwicklungspolitischen Neubeginn in diesem Sinn wird die Regierung in uns eine kritische und konstruktive Opposition vorfinden.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. Vohrer.
Herr Präsident! Meine Damen! Meine Herren! Der Entwicklungspolitik wird in der Regierungserklärung ein erfreulich hoher Stellenwert zugemessen. Die Entwicklungspolitik gehört zu den wenigen Bereichen der Politik, bei denen Politiker auf öffentliche Meinung nicht nur reagieren, sondern bei denen die Politiker auch einmal an der Spitze der Bewegung zu finden sind, wenn man den Parteiprogrammen glauben darf.Ich möchte auch darauf hinweisen, daß die neueren Befragungen den erfreulichen Trend aufzeigen, daß die öffentliche Meinung uns in unserer Aktivität im entwicklungspolitischen Bereich folgt und daß wir mehr Zustimmung dazu vorfinden, Beträge in der Größenordnung von immerhin 6 Milliarden DM jährlich in die Dritte Welt zu geben. Bei dieser Zustimmung der öffentlichen Meinung ist es insbesondere die jüngere Generation, die unserer Politik folgt. Ich würde es, da alle Parteien in diesem Hause auf die Jugend bauen, begrüßen, wenn wir diese politischen Ansätze gemeinsam tragen und gemeinsam vorwärtsbringen könnten.Bei den Zielen der Entwicklungspolitik werden die Gemeinsamkeiten der Parteien schon geringer. Zumindest sehen wir unterschiedliche Gewichtungen. Entwicklungshilfe soll ein Beitrag zum weltweiten Frieden darstellen und zum Abbau sozialer Spannungen. Deshalb sehen die Liberalen auch die Entwicklungspolitik im Zusammenhang mit den Fragen der Rüstung. Wir hoffen, daß Entwicklungshilfe einen Beitrag dazu leistet, Konflikte in dieser Welt gar nicht erst entstehen zu lassen. Wir sehen in der Entwicklungspolitik aber auch einen Beitrag zu mehr Humanität und internationaler Solidarität.Daneben verfolgen wir auch eigene Interessen mit der Entwicklungspolitik. Denken wir nur daran, daß wir unsere Exportmärkte ausdehnen wollen, daß wir heute schon 25 % unserer Exporte in die Länder der
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Dr. VohrerDritten Welt senden. Auch der Stellenwert der Rohstoffsicherung und der Fragen der Energiesicherung tritt in steigendem Maße in den Vordergrund, wenn es darum geht, die Kontakte mit der Dritten Welt zu verbessern.Der entscheidende Unterschied, den ich in den entwicklungspolitischen Ansätzen zwischen der sozialliberalen Koalition und der Opposition sehe, liegt jedoch in den Kriterien der Entwicklungshilfevergabe. Hier haben wir noch immer seitens der CDU/ CSU-Opposition die Aussage auf dem Tisch, wonach die Entwicklungshilfe in starkem Maße nach dem Kriterium Freund/Feind vergeben werden soll. Die Freunde oder Bündnispartner sollen Entwicklungshilfe bekommen, die anderen nicht. Wenn wir Entwicklungshilfe nach diesen Kriterien vergeben, schaffen wir neue Abhängigkeiten für Länder, die oftmals eben erst aus kolonialer Abhängigkeit kommen. Dies darf nicht Kriterium der Vergabe sein. Die Liberalen wollen ganz im Gegenteil die Entwicklungshilfe in der Weise geben, daß wir einen Beitrag zur größeren Unabhängigkeit der Entwicklungsländer leisten.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Pieroth?
Bitte schön.
Lieber Kollege, da Sie jetzt wieder gesagt haben, die CDU/CSU mache die Entwicklungshilfe von Freund/Feind-Verhältnissen abhängig,
darf ich Sie fragen, ob Sie zur Kenntnis nehmen wollen, daß in unserem entwicklungspolitischen Programm an erster Stelle steht: „Humanitäre Hilfe für die Ärmsten in der Welt werden wir ohne jede politische Bedingung leisten"?
Herr Kollege Pieroth, ich habe mir die Mühe gemacht, die Rede des Herrn Todenhöfer vom April dieses Jahres im Protokoll noch einmal nachzulesen. Darin hat Herr Todenhöfer ganz deutlich zum Ausdruck gebracht, daß Freunde und Bündnisüberlegungen Kriterium für die Vergabe der Entwicklungshilfe sein sollen. Ich begrüße sehr sowohl Ihren Beitrag als auch Ihre Zwischenfrage, die mir ein Zeichen dafür sind, daß hier ein gewisser Wandel eintritt. Ich hätte noch mehr begrüßt, wenn Sie die Zeit zwischen April und heute genutzt hätten, um deutlich zu machen, wie groß die Kluft zwischen Ihrem entwicklungspolitischen Sprecher und dem Programm Ihrer Partei ist.
Herr Pieroth, ich möchte hier eines ganz klar sagen: Ich hoffe sehr, daß mit dem personellen Wandel auch eine Änderung in den politischen Aussagen stattfindet. Ich würde es sehr begrüßen, wenn die Arbeit im Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit durch Sie zukünftig nicht mehr in dem Maße von Konfrontation, sondern mehr von Sachlichkeit gekennzeichnet würde. Aus meiner Sicht war IhrBeitrag heute ein guter Anfang für mehr Gemeinsamkeit in der Entwicklungspolitik zwischen Opposition und Koalition.
Wie gesagt, die Bundesregierung und die sozialliberale Koalition möchten Ost-West-Bündnissysteme nicht in die Dritte Welt hinein verlängert sehen.Es zeigen sich auch erste Erfolge dieser Politik. Wenn Sie die Zahl der blockfreien Länder verfolgen — es gibt dazu immer wieder die Möglichkeit bei UN-Abstimmungen —, sehen Sie, daß es im Januar schon 104 Länder waren, die die sowjetische Intervention in Afghanistan verurteilten, und im November stieg diese Zahl auf 111 Nationen, die in aller Klarheit solche Eingriffe in die Souveränität eines Staates mißbilligen und die Besetzer auffordern, sich aus Afghanistan zurückzuziehen.Im Zusammenhang mit den entwicklungspolitischen Aktivitäten im Bereich der Vereinten Nationen weise ich auch darauf hin, daß wir im Hinblick auf die im Januar beginnenden Globalen Verhandlungen Erwartungen haben und die Hoffnung hegen, daß sich Fortschritte in den Bereichen Energie, Rohstoffe, Handel und Währungen erzielen lassen. Wir sind überzeugt, daß die Bundesregierung dazu beitragen kann, daß Sonderorganisationen wie IWF, GATT und Weltbank dabei nicht geschwächt werden.Auf die andere Aktionsebene, die in dem NordSüd-Bericht mit der Konferenz in Mexiko angeregt wurde, hat mein Kollege Holtz hingewiesen. Auch hier laufen aktive Vorbereitungen seitens des Außenministers mit den Vorbereitungskonferenzen in Wien, damit diese Konferenz zu einem Erfolg werden kann.Was die entwicklungspolitische Konzeption betrifft, so wurde gut vorgearbeitet. Wir können in dieser Legislaturperiode auf Erarbeitetes zurückgreifen: sowohl auf seitens des Ausschusses erarbeitete konzeptionelle Elemente als auch auf die Konzeption, die vom Bundeskabinett verabschiedet wurde, die auf dem neuesten Stand ist und auch schon die Empfehlungen der unabhängigen Kommission für internationale Entwicklungsfragen eingearbeitet hat.Aus Zeitgründen gehe ich nicht auf die gesamten Schwerpunkte ein. Für mich stehen hier im Vordergrund die Konzentration auf die ärmsten Länder, die Konzentration auf ländliche Räume, der Vorrang der Nahrungsmittelproduktion, aber auch die Hilfe bei der Bewältigung der Energieprobleme in der Dritten Welt und gezielte Maßnahmen bei der Bewältigung der Bevölkerungsprobleme in diesen Ländern, damit die Produktivitätsfortschritte, die erreicht werden, den Menschen zugute kommen und nicht durch ein übermäßig schnelles Anwachsen der Bevölkerung vorzeitig aufgezehrt werden.Die entwicklungspolitischen Debatten der nächsten vier Jahre darf nicht auf das 0,7 %-Ziel und die jeweiligen Ziffern hinter dem Komma verkürzt werden. Wir müssen zugeben, daß sich unser finanzieller Spielraum vermindert hat, und der Ressourcen-
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Dr. Vohrertransfer allein durch die gestiegene Ölrechnung 1980 mit 30 Milliarden DM zusätzlichen Ausgaben, die weitgehend in Länder der Dritten Welt fließen, unsere Möglichkeiten reduziert hat. Die generelle Haushaltssituation macht darüber hinaus deutlich, daß wir auch im Bereich der Entwicklungspolitik Abstriche machen müssen.Dennoch halte ich es für ein Zeichen klarer politischer Prioritätensetzung, wenn der Bundeskanzler in der Regierungserklärung deutlich macht, wir könnten damit rechnen, daß im Bereich der Entwicklungshilfe eine, verglichen mit dem Gesamthaushalt, etwa doppelte Steigerungsrate erzielt werden soll. Herr Pieroth, wir sind uns einig: Wir werden diese Zahlen sehr genau überprüfen. Der Türke, den Sie hier vermuten, könnte wirklich auf das gesamte Land zurückzuführen sein. Also wir werden die Zahlen exakt überprüfen. Alle Entwicklungspolitiker sind sicher einhellig der Meinung, daß wir zu der Verdoppelung mit reellen Zahlen kommen wollen.
Wir werden aber den Zeitraum kleinerer Wachstumsraten in der 9. Wahlperiode auch dazu nutzen, die Qualität der öffentlichen Entwicklungshilfe stärker in den Vordergrund zu rücken. Wir haben genügend Grundsätze erarbeitet. Wir wollen die Entwicklungshilfeprojekte jetzt stärker auf ihre sozialen, auf ihre kulturellen, auf ihre ökologischen Nebenwirkungen hin untersuchen.Bisher blieb es weitgehend beim Erarbeiten der Grundsätze. Jetzt muß der Ausschuß sich in stärkerem Maße auch der Aufgabe unterziehen, die Grundsätze in die Praxis umzusetzen. Ich bin der festen Überzeugung: Die Glaubwürdigkeit der Entwicklungspolitik, der Entwicklungshilfe wird in erheblichem Maße dadurch gefördert werden, daß wir mit dazu beitragen, daß die von uns erstellten Grundsätze in der Praxis konsequent verwirklicht werden.Aber auch die Qualität unserer Entwicklungshilfe, die sich nicht nach DAC-Kriterien niederschlägt, also nicht auf das 0,7 %-Ziel angerechnet wird, sollte in einer entwicklungspolitischen Debatte deutlicher hervorgehoben werden. Dazu gehört die Lieferungebundenheit der deutschen Entwicklungshilfe, die für den Verwender zu einer größeren Effizienz der Entwicklungshilfe führt. Dazu gehört unsere Politik der offenen Märkte, die nicht dazu führt, daß wir auf der einen Seite die Maschinen zum Erstellen der Produkte verkaufen, auf der anderen Seite aber den Markt für die Endprodukte aus der Dritten Welt sperren. Es gehört viel Mut dazu, diese Politik durchzuhalten. Sie alle haben, verehrte Kollegen, die Briefe der Gewerkschaft für Bekleidung bekommen, die im Zusammenhang mit dem Welttextilabkommen, von uns eine restriktive und protektionistischere Haltung fordern.Es wird eine wichtige Aufgabe sein, daß wir uns im Zusammenhang mit der Öffnung der Märkte für die Dritte Welt um die strukturellen Anpassungen im Inland kümmern. Da nach Ansicht der sozialdemokratischen Kollegen ERP-Mittel für entwicklungspolitische Zwecke eingesetzt werden sollen, könnte ich mir vorstellen, daß wir uns eher überlegen, inwieweit wir mit diesen Mitteln die inländischen strukturellen Probleme gezielter angehen.Wir sollten, wenn wir über die Qualitätsmerkmale der deutschen Entwicklungspolitik reden, auch darauf hinweisen, daß wir unsere Bereitschaft gezeigt haben, am gemeinsamen Fonds und an den internationalen Rohstoffabkommen mitzuarbeiten, die zur Wirkung haben, daß sich Rohstoffpreise auf einem einträglichen Niveau stabilisieren. Das heißt konkret, daß auch hier ein gewisser Ressourcentransfer zugunsten der Dritten Welt möglich ist.Zu dieser Kategorie rechne ich auch die Förderung privater Investitionen, die natürlich kaum den ärmsten Ländern zugute kommen, die aber einen Beitrag leisten, deutsche private Investitionen vor allem in Schwellenländer zu lenken. Die Steuermindereinnahmen, die wir dadurch im eigenen Lande erleiden, werden wiederum nicht nach DAC-Kriterien angerechnet. Dennoch sind dies alles Maßnahmen, die die Qualität unserer Entwicklungshilfe verbessern. Wir sollten in den internationalen Gremien darauf drängen, daß auch diese Kriterien zur Bewertung der Entwicklungshilfe mit herangezogen werden.Meine verehrten Damen, meine Herren, Entwicklungspolitik ist Politik für die Zukunft. Es gilt, mit entsprechenden Anstrengungen weltweit einen Beitrag zum Frieden zu leisten. Die Regierungserklärung brachte den Willen zu solchen Bemühungen zum Ausdruck. Sie wurde in diesem Politikbereich dem Gesamtmotto „Mut zur Zukunft" gerecht.
Meine Damen und Herren, weitere Wortmeldungen zur heutigen Sitzung liegen nicht vor.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, 9 Uhr ein.
Die Sitzung ist geschlossen.