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    Plenarprotokoll 9/6 Bundestag Deutscher Stenographischer Bericht 6. Sitzung Bonn, Mittwoch, den 26. November 1980 Inhalt: Gedenkworte für die Opfer der Erdbebenkatastrophe in Italien 45 A Glückwünsche zu den Geburtstagen der Abg. Frau Berger (Berlin) und Ronneburger 45 B Erweiterung der Tagesordnung 45 B Aussprache über die Erklärung der Bundesregierung Dr. Kohl CDU/CSU 45 B Brandt SPD 57 C Hoppe FDP 68 C Dr. Zimmermann CDU/CSU 75 C Genscher, Bundesminister AA 83 B Bahr SPD 91 D Dr. Wörner CDU/CSU 97 C Dr. Ehmke SPD 105D Möllemann FDP 108 A Dr. Apel, Bundesminister BMVg . . . 114C Dr. Holtz SPD 120 B Pieroth CDU/CSU 122 D Dr. Vohrer FDP 124C Präsident Stücklen 91 C Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU, SPD und FDP Bestimmung des Verfahrens für die Berechnung der Stellenanteile der Fraktionen — Drucksache 9/10 — 75A Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU, SPD und FDP Einsetzung von Ausschüssen — Drucksache 9/11 — 75 B Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU, SPD und FDP Mitglieder des Gremiums gemäß § 9 Abs. 1 des Gesetzes zur Beschränkung des Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnisses — Drucksache 9/16 — 75B Nächste Sitzung 126 D Anlage Liste der entschuldigten Abgeordneten . 127* A Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 26. November 1980 45 6. Sitzung Bonn, den 26. November 1980 Beginn: 9.00 Uhr
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    Anlage zum Stenographischen Bericht Anlage Liste der entschuldigten Abgeordneten Abgeordnete(r) entschuldigt bis einschließlich Dr. van Aerssen 28. 11. Dr. Ahrens * 28. 11. Dr. Barzel 28. 11. Büchner (Speyer) * 27. 11. Höffkes 28. 11. Frau Hürland 28. 11. Landré 28. 11. Mahne 28. 11. Dr. Mertens (Bottrop) 28. 11. Pawelczyk 28. 11. Picard 28. 11. Rappe (Hildesheim) 28. 11. Rayer 28. 11. Reddemann * 27. 11. Schmidt (Wattenscheid) 28. 11. Spilker 28. 11. Dr. Steger 28. 11. Dr. Vohrer * 26. 11. Frau Dr. Wisniewski 26. 11. * für die Teilnahme an Sitzungen der Parlamentarischen Versammlung des Europarates
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    Sie brauchen nicht 14 Tage mehr Zeit, Sie brauchen mehr Mut zur Wahrheit. Den haben Sie auch nicht in 14 Tagen.

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    Weil wir alle, unser ganzes Volk, die Zeche dieser verfehlten Politik zu bezahlen haben, ist es unvermeidbar, daß ich Sie gerade auch auf Ihre ganz persönliche Verantwortlichkeit hinweise. Vernünftige Wirtschaftspolitik kann in der gegenwärtigen Krise nur bedeuten, daß wir in einer konsequenten Politik der Sozialen Marktwirtschaft die noch immer vorhandenen wirtschaftlichen, geistigen und moralischen Kräfte unseres Landes wieder stärker herausfordern. Denn Sparsamkeit für sich allein ist kein Programm. Wir brauchen auch maßvolles Wirtschaftswachstum.
    Unsere äußere Sicherheit, die Verstärkung unseres Beitrags zur Entwicklung der Dritten Welt, die Einstellung auf die internationale Wettbewerbslage und nicht zuletzt der Auftrag, der nachwachsenden Generation Chancen und Gestaltungsmöglichkeiten zu eröffnen, all dies erfordert Investitionen, die eben nur von einer wachsenden Wirtschaft erbracht werden können. Soziale Marktwirtschaft verlangt mehr politische Selbstdisziplin und vor allem Verzicht auf die Illusion, für den Staat sei alles „machbar". Sie verlangt Vertrauen in den Bürger und den Verzicht auf Gesetzgebungseifer und bürokratische Disziplinierung.
    Staatsverschuldung — dies gilt es zu begreifen — ist nicht nur ein ökonomisches, ein finanzpolitisches Problem. Staatsverschuldung ist immer auch eine Belastung für das Vertrauen der Bürger. Denn es weiß doch jedermann: jede Mark Kredit wird entweder irgendwann zu Steuern oder durch hohe Inflationsraten weggemogelt; einen dritten Weg gibt es in Wahrheit nicht. Deshalb, Herr Bundeskanzler, werden wir sehr genau prüfen, was Sie zur Konsolidierung des Staatshaushaltes tun.
    Wir gehen dabei von folgenden Überlegungen aus. Erstens. Einsparungen im öffentlichen Haushalt sind der richtige Weg. Die Mehrbelastung des Bürgers steht unter einem besonderen Begründungszwang. Zweitens. Einnahmeverbesserungen dürfen auf absehbare Zeit nicht zur Finanzierung neuer Aufgaben, sie müssen zur Konsolidierung des Haushalts eingesetzt werden. Drittens. Ausgabenkürzungen und Mehrbelastungen des Bürgers müssen auch in ihren Konsequenzen dargestellt und verantwortet werden. So bewirkt doch die in Aussicht genommene Erhöhung der Mineralölsteuer eine Verschärfung der Tendenz, die Wohnung in der Nähe des Arbeitsplatzes, also in den Ballungszentren, zu suchen, genau in jenen Gebieten, in denen schon jetzt die Wohnraumversorgung große Probleme aufwirft.

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    Neben der Konsolidierung des Staatshaushalts kommt der Konsolidierung unserer nationalen Leistungsbilanz eine Schlüsselfunktion zu. Die Analyse des Bundesfinanzministers zu diesem Thema greift hierbei zu kurz. Natürlich müssen wir unseren Ölbedarf reduzieren, Energie sparen und andere Energieträger fördern. Aber in erster Linie gilt es, meine Damen und Herren, die internationale Wettbewerbsfähigkeit unserer Wirtschaft zu stärken. Die Hochzinspolitik, mit der wir uns gegenwärtig ausländisches Geld besorgen und so die Leistungsbilanzdefizite ausgleichen, ist nur für begrenzte Zeit vertretbar. Hohe Zinsen ziehen zwar Kapital an, sie verteuern und bremsen aber Investitionen. Investitionen aber braucht nicht nur die Wirtschaft, Investitionen braucht das ganze Land. Wir müssen deshalb bei den konsumtiven Ausgaben sparen und nicht, wie Sie, Herr Bundeskanzler, es beabsichtigen, bei den Zukunftsinvestitionen.

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    Nur Tagträumer können glauben, wir könnten unsere internationalen Verpflichtungen erfüllen, den sozialen Frieden in unserem Lande erhalten und der jungen Generation Zukunftschancen eröffnen, wenn in der Wirtschaft nicht investiert und nicht modernisiert wird. Wir müssen wettbewerbsfähig bleiben. Dazu sind Innovationen notwendig; notwendig sind Anstrengung, Leistung, Initiative. Wir sind ganz gewiß keine Wachstumsfanatiker. Wirtschaftliches Wachstum ist für uns kein Selbstzweck. Es hat dienende Funktion; es dient und nützt uns allen.

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    Das Gerede und Gehetze gegen den Gewinn ist nicht nur giftig, weil es an den Neid appelliert, es ist auch dumm, weil es elementare Voraussetzungen jeder erfolgreichen Wirtschaftstätigkeit — gleichgültig, ob im Kapitalismus, in der Sozialen Marktwirtschaft oder im Sozialismus — leugnet. Ich möchte das denjenigen unter unseren jungen Mitbürgern zu bedenken geben, die häufig Wachstum mit mehr Wohlstand, mehr Konsum und sinnentleertem Materialismus gleichsetzen. Ein maßvolles Wirtschaftswachstum und technischer Fortschritt nach menschlichem Maß liegen vor allem im Interesse de-



    Dr. Kohl
    rer, die ihr Leben noch vor sich haben, und im Interesse derer, denen wir helfen müssen. Nur ein maßvolles Wirtschaftswachstum kann uns zudem helfen, die Grundlagen unseres Systems der sozialen Sicherheit und damit die Solidarität zwischen den Generationen sowie den sozialen Frieden in unserem Lande zu erhalten.
    Die geburtenschwachen Jahrgänge der letzten 15 Jahre haben bereits jetzt zu einer Strukturverzerrung unserer Alterspyramide geführt. In 20 bis 30 Jahren müssen fünf Erwerbstätige jeweils die Rente für vier ältere Mitbürger erwirtschaften. Das ist ohne schwerwiegende Zusatzbelastung für den einzelnen nur durch einen kontinuierlichen Produktivitätszuwachs möglich. Die älteren Mitbürger, die Rentner, spüren doch, meine Damen und Herren, schon heute, daß die Solidarität mit ihnen auf das Maß der Kassenlage verkürzt wird.

    (Beifall bei der CDU/CSU — Dr. Blüm [CDU/CSU]: So ist es!)

    In Ihrer Koalitionsvereinbarung und in Ihrem Regierungsprogramm, Herr Bundeskanzler, bleibt auch zu diesem Thema vieles unklar und unausgewogen. Uns fehlt z. B. die klare Aussage, ob wir nach Ihrem Willen auf Dauer zum Prinzip der bruttolohnbezogenen Rente zurückkehren und wie es mit den Prinzipien der Rentenfinanzierung zu vereinbaren ist, daß einerseits Beiträge erhöht und andererseits Bundeszuschüsse gekürzt werden. Die vorgesehene Regelung des Krankenversicherungsbeitrags der Rentner ist, wie wir meinen, hinsichtlich der Belastungen unausgewogen und in ihrer Durchführung fragwürdig. Fragwürdig sind auch die Buchungstricks zwischen der Rentenkasse und der Nürnberger Bundesanstalt, deren Haushalt nach den neuesten Zahlen ohnehin einen weit höheren Bundeszuschuß braucht.
    Herr Bundeskanzler, insgesamt vermittelt gerade Ihr wirtschafts- und haushaltspolitisches Programm den Eindruck, daß Sie sich von Tag zu Tag, von Krise zu Krise auch weiterhin nur durchwursteln.

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    Dies gilt in ganz besonderem Maße auch für das, was wir zum Thema der Montan-Mitbestimmung gehört haben. Das, was Sie hier als Kompromiß der SPD/FDP-Koalition vorgestellt haben, steht in keinem Verhältnis zum tatsächlichen politischen Anliegen.
    Ich will dazu ganz einfach den Kommentar einer großen deutschen Tageszeitung zitieren. Die „Süddeutsche Zeitung" schrieb dazu:
    In der einen zum Symbol erhobenen Frage der Montan-Mitbestimmung kam nach zähem Strei in letzter Minute nicht mehr heraus als eine schlichte Vertagung. Fast hat man den Eindruck, die Antwort auf die eigentlichen Fragen sei bewußt in eine Zeit verschoben worden, in der sich vielleicht eine andere Regierung damit befassen muß. Eine verdeckte Abdankung?
    Ich glaube, damit ist der Kern der Sache richtig getroffen.

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    So leben Sie mit Ihrer Regierung in den Tag hinein — „Nach uns die Sintflut!" —, und die eigentlichen Probleme sollen andere lösen.

    (Erneuter Beifall bei der CDU/CSU)

    Ich hoffe, wir werden bald Gelegenheit haben, intensiv zu diesem Thema hier zu sprechen. Wir, die CDU/CSU, die beiden Schwesterparteien mit ihren Vorstandsgremien, haben vor der Wahl eine klare Erklärung abgegeben. Selbstverständlich gilt das vor der Wahl gegebene Wort auch nach der Wahl. Wir erwarten jetzt die Gesetzesvorlage der Bundesregierung. Wir werden sie sorgfältig prüfen und mit Ihnen diskutieren.
    Ihr Programm, Herr Bundeskanzler, läßt eine dauerhafte Sicherung unserer materiellen Existenzgrundlagen nicht erwarten. „No future", so steht es an den Wänden deutscher Großstädte. Keine Zukunft: das ist auch die Prognose, die wir Ihnen und Ihrer Politik stellen müssen.
    Es ist unübersehbar, daß der perspektivlose Pragmatismus ökonomischer Krisenverwaltung elementare, vor allem immaterielle Bedürfnisse der Menschen unbefriedigt läßt. Herr Bundeskanzler, Sie haben in Ihrer Regierungserklärung zu den Aufgaben im eigenen Land gesagt: „Hier geht es um Einkommen und Auskommen." Aber, Herr Bundeskanzler, das ist allenfalls die halbe Wahrheit.

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    Sie wollen jetzt dem Land „Mut zur Zukunft" verordnen, aber Sie deprimieren in Wahrheit die Menschen, weil Ihre Politik all jene Fragen ausklammert, auf die Sie mit mehr Geld, mehr Gesetzen und mehr Behörden keine Antwort geben können.

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    Wie sollen wir in Zukunft leben, wenn unser wirtschaftliches Wachstum nicht mehr jedes Problem zu lösen hilft? Wie erhalten wir uns den inneren Frieden, den sozialen Frieden, wenn es nur noch wenig zu verteilen gibt? Wie sieht die Perspektive einer lebenswerten, einer menschlichen Zukunft aus?
    Das, meine Damen und Herren, werden Kernfragen deutscher Politik in den vor uns liegenden Zeiten sein. Herr Bundeskanzler, ich frage Sie: Wo sind Ihre Antworten?

    (Dr. Ehmke [SPD]: Und Ihre?)

    Wohlstand und materielle Sicherheit können nicht ausgleichen, was die Menschen in der Härte und Hektik, in der Anonymität und Kälte ihres Alltagsdaseins an Lebensqualität verlieren. Eine Generation wächst heran, für die Wohlstand und soziale Sicherheit selbstverständlich sind und die jetzt auch wieder nach Werten fragt, die eben mit Geld nicht zu kaufen sind, aber für das Glück der Menschen entscheidend sind:

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    das Gefühl der Geborgenheit, das Erlebnis menschlicher Zuwendung, die Überschaubarkeit persönlicher Lebensbereiche, Orientierungssicherheit in einer Welt des Wandels — das sind Bedürfnisse, für



    Dr. Kohl
    die die Politik eine neue Sensibilität entwickeln muß.

    (Wehner [SPD]: Beinahe poetisch!)

    — Herr Wehner, es mag sein, daß Ihnen das poetisch vorkommt.

    (Wehner [SPD]: „Beinahe" habe ich gesagt!)

    Aber das hat eben damit zu tun, daß Sie sich inzwischen weit, weit von unserem Volk entfernt haben.

    (Beifall bei der CDU/CSU — Erneuter Zuruf des Abg. Wehner [SPD])

    Die Sorge um Natur und Landschaft und die Bereitschaft, sich für ihre Pflege einzusetzen, ist wahrlich keine Erfindung unserer Tage. Diese Werthaltung ist im besten Sinne des Wortes konservativ. Sie hat in der Arbeit von Organisationen des Natur- und Landschaftsschutzes, sie hat im Selbstverständnis von Heimat- und Wandervereinen, von Winzern, Bauern und Jägern eine lange Tradition. Nicht die Wertschätzung für unsere Umwelt hat sich verändert, sondern der Grad ihrer Gefährdung. Das müssen wir zur Kenntnis nehmen.

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    Herr Kollege Wehner, das ist ein Vorwurf an uns alle in der Politik. Ich schließe mich dabei nicht aus. Nicht nur an den Bund, sondern genauso an die Länder und Gemeinden richtet sich die Frage: Warum habt ihr es in Jahrzehnten nicht geschafft, die Verschmutzung von Flüssen und Seen aufzuhalten? Warum habt ihr es zugelassen, daß Landschaften zersiedelt und von Verkehrswegen zerschnitten wurden, daß wir die Schönheit vieler Städte und Gemeinden dem seelenlosen Futurismus der Städte-und Verkehrsplaner geopfert haben? Die Wohnmaschinen moderner Trabantenstädte, in denen es Nachbarn, aber keine Nachbarschaft mehr gibt, sind Stein gewordene Zeugnisse nicht nur architektonischer, sondern vor allem politischer Fehlleistungen.

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    Auch wenn im Bereich des Umweltschutzes vieles erreicht werden konnte — das ist doch wahr — und obwohl die Politik dem Umweltschutz einen erkennbar höheren Stellenwert zumißt, scheint sich im Bewußtsein vieler — wie ich finde, zu vieler — Bürger die Meinung festzusetzen, daß Politik im Grunde unsensibel ist für ihre Sorge um den Erhalt einer natürlichen Umwelt. Dieses Vorurteil, Herr Bundeskanzler, gilt gerade auch Ihrem ökonomisch verkürzten Politikverständnis. Was immer Sie an Gesetzen, Programmen und finanziellen Aufwendungen auch vorweisen mögen, hier bleibt eine Glaubwürdigkeitslücke.
    Der Opportunismus, mit dem Sie und Ihre Partei zugleich eine Option für und gegen die Kernenergie offenhalten wollen, verstärkt eben die Sorge und den Widerstand vieler Bürger.

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    Wer so tut, als sei er nur halb und mit schlechtem
    Gewissen für die Kernkraft, kann nicht überzeugend darlegen, daß wir Kernkraft wirklich brauchen und daß Kernkraft auch ein wichtiger Beitrag zum Umweltschutz ist,

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    weil sie eben die Umwelt weniger belastet als Kohlekraftwerke, weil sie hilft, Rohstoffe zu sparen, die zu kostbar sind, um sie zu verheizen, und weil sie die notwendige Energie liefert, mit der wir andere Aufgaben des Umweltschutzes, z. B. die Reinhaltung des Wassers, verwirklichen können.
    Mit Ihrer Zwei-Optionen-Politik, Herr Bundeskanzler, wirken Sie auf die Bürger wie der Exponent eines technokratischen Staates, der den Menschen kaltherzig schwere Risiken zumuten würde, der aber zurückzuckt, sobald er auf den Widerstand konfliktfähiger Gegner trifft. Diese Wirkung wird verstärkt durch eine Erfahrung, die die Bürger mit Ihrer Politik immer wieder und anläßlich der jüngsten Koalitionsverhandlungen in besonders krasser Form machen mußten: die Erfahrung nämlich, daß Politiker und Parteien viel vom Gemeinwohl und von sozialer Verantwortung reden, daß sie dann aber nicht den Mut haben, das Notwendige für die Schwachen auch einmal gegen die Interessen mächtiger Gruppen zu tun.

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    Herr Bundeskanzler, Erfolg hat bei Ihrer Politik, wer mit der Mitgliederzahl seiner Organisation argumentieren, wer ankündigen kann, der Regierung demnächst gegebenenfalls mitten ins Gesicht zu blasen.

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    Erfolg hat auch derjenige, der mit Aktionen und Demonstrationen auf die Straße geht. Erfolglos dagegen bleiben die Schwachen, die Kinder, die alten Leute, die Familie, diejenigen, die nicht laut schreien und nicht demonstrieren,

    (Wehner [SPD]: Das ist ja rührend!)

    deren Interesse nicht organisierbar ist. Und erfolglos bleiben auch die Einsichtigen, die dem Staat vertrauen, statt ihn herauszufordern.

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    Hier liegt die Zukunftsaufgabe des Sozialstaats. Es geht um eine neue soziale Frage: nicht um den Klassenkampf des 19. Jahrhunderts, sondern um eine ganz konkrete menschliche Solidarität mit den Schwachen in unserer Gesellschaft.
    Das Gefährliche für die politische Kultur unseres Landes ist die Tatsache, daß Rentner, behinderte Menschen und kinderreiche Familien mit ihren Ansprüchen oft jahrelang vertröstet werden, daß aber derselbe Staat, der ihnen Verzicht zumutet, selbst vor kleinsten Gruppen zurückweicht, wenn diese zum offenen Konflikt bereit sind.

    (Anhaltender lebhafter Beifall bei der CDU/CSU)

    Dieses Verhalten, Herr Bundeskanzler, untergräbt auf die Dauer die innere Verfassung unserer Demokratie, weil es eine Prämie auf die Politik der Ellenbogen setzt. Es produziert Unregierbarkeit und ge-



    Dr. Kohl
    fährdet den inneren Frieden, weil es der jungen Generation die Erfahrung vermittelt, daß eine Forderung politisch um so erfolgreicher durchzusetzen ist, je radikaler, je brutaler sie vertreten wird.

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    Not, Elend, Vertreibung, Hunger und Tod von Millionen Menschen begegnen uns in schmerzlicher Direktheit beinahe täglich über die öffentlichen Medien. Wie können junge Mitbürger begreifen, daß es uns nicht möglich sein soll, wenigstens den Hunger und die unmittelbare Not zu überwinden, während hierzulande ein Berg an Überschußgütern produziert wird. Wenn es uns und den anderen wohlhabenderen Ländern nicht gelingt, dieses Problem zu lösen, dann wird manche Arbeit an klug durchdachten langfristigen Projekten der Wirtschaftsentwicklung, der Bildung und der Ausbildung, des Aufbaus von Genossenschaften und anderen wichtigen Vorhaben in diesen Ländern umsonst sein. Umsonst, weil eben solche Hilfe weder in der Dritten Welt noch hierzulande in ihrer guten Absicht wirklich verstanden und angenommen werden kann, solange andernorts noch Kinder kläglich an Hunger sterben. Auch dazu, Herr Bundeskanzler, hätte ich noch ein Wort von Ihnen erwartet. Auch hier vermisse ich in Ihrer Politik die menschliche Dimension.
    All die Themen, die ich jetzt ansprach, haben einen direkten Bezug zum Motto, zum Thema, Ihrer Regierungserklärung: Wer die Bürger zum Mut zur Zukunft auffordert, dessen Politik muß vor allem glaubhaft sein. Sie muß auch und vor allem in ihrer menschlichen Dimension überzeugen. Aber auch der leidenschaftlichste, beschwörende Appell an Pflichten und Tugenden, an Solidarität und Bürgersinn wird ohne Wirkung bleiben, wenn die Menschen für ihre bürgerlichen Tugenden nicht belohnt, sondern in Wahrheit im Alltag bestraft werden.
    Ich will dies an drei wichtigen Themen zeigen: Leistungsbereitschaft, Familie und Sozialstaat.
    Vieles deutet darauf hin, daß die Menschen unseres Landes — vor allem die junge Generation — das Leistungsprinzip zunehmend in Frage stellen. Aber ich bin zutiefst davon überzeugt, daß all diese Anzeichen abnehmender Leistungsbereitschaft überhaupt keinen grundsätzlichen Wertverfall ankündigen, sondern menschlich verständliche Reaktionen auf politisch zu verantwortende Fehlentwicklungen sind.

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    Meine Damen und Herren, die angemessene Gegenleistung für Mühe und Fleiß, für Pflichtbewußtsein und Verantwortungsbereitschaft, für Treue, Wissen und Können, wird den Bürgern unseres Landes heutzutage immer häufiger vorenthalten; denn der größte Feind individueller Leistung ist der bürokratisch bevormundende Steuer- und Abgabenstaat geworden.

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    Herr Bundeskanzler, das ist für unsere Mitbürger keine Theorie. Wer in diesen Tagen seine Weihnachtsgratifikation erhält, zahlt so viel Steuern, daß ihm jede Lust vergeht, sein Einkommen durch ein
    Mehr an Leistung, Verantwortung, Arbeitszeit und Mühe zu steigern.

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    Wenn Sie die Leistungsbereitschaft der Menschen herausfordern wollen, Herr Bundeskanzler, dann können Sie ihnen Mut machen, wenn Sie hier ansetzen; dann müssen Sie die Bremsklötze des Bürokratismus wegschaffen und Leistung wieder lohnend machen.

    (Zurufe von der SPD)

    Ich finde es bedauerlich, Herr Bundeskanzler — lassen Sie mich auch das ganz offen sagen —, daß Sie sich das bißchen Rechtspolitik in Ihrem Regierungsprogramm offensichtlich von Herrn Baum diktieren ließen.

    (Beifall bei der CDU/CSU — Lachen bei der SPD und der FDP)

    Wem es um die Liberalität in unserem Lande geht, der findet große und lohnende Aufgaben. Haben Sie doch endlich einmal den Mut, zu sagen, daß sich die Liberalität in unserem Lande nicht allein danach bemißt, wie frei sich etwa Anwälte von Terroristen fühlen können, sondern auch danach, wie der Staat mit seinen Bürgern insgesamt umgeht.

    (Anhaltender lebhafter Beifall)

    Verkehrsteilnehmern und Steuerzahlern, Bauherren und Gewerbetreibenden, Lehrern und Eltern begegnet der Staat zunehmend reglementierend und bevormundend, kontrollierend und — oft genug so empfunden — mit anmaßendem Mißtrauen.
    Hier, Herr Bundeskanzler, im Zentrum des bürgerlichen Lebens sind Freiheit, Vitalität und Leistungswille weit mehr bedroht als in den Randzonen unserer Gesellschaft. Und — ich sage das jetzt an unsere gemeinsame Adresse — was die Leistungsbereitschaft der jungen Generation, der Schüler, der Lehrlinge und Studenten anlangt, müssen wir uns alle fragen, ob wir in diesen 15 Jahren nicht schwere Fehler gemacht haben. Der Streit um Organisationsprobleme des Bildungswesens hat die langfristig wichtigen Fragen der Inhalte und der Ziele und der Menschlichkeit in Schulen und Hochschulen zum Schaden vieler Betroffener verdrängt.
    Meine Damen und Herren, wir müssen uns doch fragen, ob die Schulbildung, die heute angeboten wird, wirklich kindgerecht ist, ob Kinder in unseren Schulen nicht erst wieder das Lernen lernen sollten, ob wir wirklich alle Begabungen — auch die praktischen und die musischen Begabungen — junger Menschen fördern, ob wir ihnen wirklich das an Wissen und Können vermitteln, was sie später fähig macht, im Wettbewerb mit der jungen Generation anderer Länder zu bestehen. Wir haben zu lange und fruchtlos über „Gleichheit" oder „Gerechtigkeit" von Chancen, fürchte ich, gestritten. Jetzt kommt es vor allem wieder darauf an, daß die junge Generation überhaupt wieder eine Zukunftschance sieht.

    (Beifall bei der CDU/CSU)




    Dr. Kohl
    Ich finde, wir alle wären gut beraten, wenn wir die Bildungspolitik wieder mehr aus dem Geiste verantwortlich denkender Eltern gestalten würden.

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    Ich bin ganz sicher, daß wir der jungen Generation auf diese Weise sehr bald wieder etwas Besseres zu bieten hätten als die zutiefst deprimierende Wahl, Herr Bundeskanzler, zwischen Resignation und Anpassung.

    (Wehner [SPD]: In welchem Landtag sprechen Sie jetzt, Herr Dr. Kohl?)

    — Sehen Sie, Herr Wehner, das ist j a eines der Probleme in diesem Hause, daß ein Sachverhalt, in dem klar gekennzeichnet ist, daß er uns alle betrifft, daß wir alle Fehler gemacht haben, von Ihnen gar nicht mehr aufgenommen werden kann, weil Sie so im Freund-Feind-Denken verhaftet sind.

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    Resignation, Herr Bundeskanzler, ist auch im Bereich der Familienpolitik der traurige Befund nach einem Jahrzehnt sozialistischer Regierungsverantwortung. Noch immer ist für die weit überwiegende Mehrzahl aller Menschen die Familie der selbstverständliche Mittelpunkt ihres Lebens, der wichtigste Ort individueller Geborgenheit und Sinnvermittlung.
    Rechtlich, materiell und psychologisch hat Ihre Politik die Familien immer weiter ins soziale Abseits gedrängt. Sie sollten nicht länger unbeachtet lassen, Herr Bundeskanzler, daß Sie gegenüber der Familie in der Pflicht unserer Verfassung stehen. Wir haben schon vor der Wahl erklärt, daß trotz der angespannten Haushaltslage die Familie der Schwerpunkt unserer Sozialpolitik sein wird. Zu dieser Aussage stehen wir selbstverständlich auch heute.

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    Wenn wir uns für das Erziehungsgeld, die Partnerrente und die Anrechnung von Erziehungszeiten im Rentenrecht einsetzen, dann ist schon heute abzusehen, daß die Koalition versuchen wird, all dies mit dem Hinweis auf die Kassenlage abzublocken.
    Richtig ist nur so viel: Die Belastung der Bürger mit Sozialabgaben hat die Grenze des Zumutbaren erreicht. Aber diese Tatsache kann den Staat nicht aus seiner sozialen Verantwortung für die Schwachen und die bisher vernachlässigten Gruppen in unserer Gesellschaft entlassen. Es geht nicht um den ungehemmten quantitativen Ausbau eines Versorgungsstaates, sondern um die qualitativ bessere Ausgestaltung unseres Sozialstaates.

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    Mehr Gerechtigkeit und mehr Menschlichkeit in unserem Sozialstaat sind keine Frage der finanziellen Zuwächse. Statt dessen gilt es, den beiden Grundprinzipien des Sozialstaates wieder volle Geltung zu verschaffen: mitmenschlicher Solidarität und Subsidiarität.
    Der Hauptmangel unseres Sozialstaates ist, daß er die gewachsenen Solidargemeinschaften immer weiter verdrängt und die Menschen in Not und
    Schwäche einer anonymen, kostspieligen und oft ahnungslosen Versorgungsbürokratie überantwortet, einer Bürokratie von Großorganisationen, der gerade die Schwachen und Bedürftigen oft genug hilf- und ratlos gegenüberstehen. Es ist eine der Absurditäten des bürokratischen Versorgungsstaates, daß er für die wirklich Schwachen zum unübersehbaren Dschungel wird, während er für die besonders Raffinierten eine große Quelle von Bereicherungsmöglichkeiten bietet.

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    Es gibt im Alltag unseres Sozialstaates Besitzstände und Ausbeutung, die dem Prinzip der Solidarität scharf widersprechen: fehlbelegte Sozialwohnungen, unechte Arbeitslosigkeit, Krankfeiern, Ausbeuten überholter Steuerprivilegien und Subventionen, die längst Sinn und Zweck verloren haben. Was viele der redlichen und bescheidenen Bürger immer wieder deprimiert, das sind die Hemmungslosigkeit und der Erfolg, mit dem immer mehr Menschen bei uns den Wohlfahrtsstaat in Anspruch nehmen und ausbeuten.

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    Die Politik muß endlich den Mut aufbringen, von dieser unheilvollen Entwicklung Kenntnis zu nehmen und ihr Einhalt zu gebieten, weil es unverantwortlich wäre, in Kenntnis solcher Ausbeutungstatbestände andere, berechtigte Ansprüche abzuweisen, weil angeblich kein Geld da ist.
    Es gibt noch viel zu tun: für die Familien, für die Gleichstellung der Frauen bei der Hinterbliebenenversorgung, für die behinderten Menschen und für die soziale Integration unserer ausländischen Mitbürger.
    Ich stimme in diesem Zusammenhang der Regierungserklärung ausdrücklich und nachdrücklich zu.

    (Wehner [SPD]: Hört! Hört!)

    All dies kostet Geld. Aber der Sozialhaushalt in unserem Land hat die Grenze erreicht, jenseits derer die Soziallasten für die Allgemeinheit unerträglich werden. Wir müssen also mit den vorhandenen Mitteln sparsamer, gerechter und kritischer haushalten. Wir müssen fähig sein, Besitzstände zu überprüfen. Wir müssen neue Prioritäten setzen. Dies gilt übrigens nicht nur für die Sozialpolitik, sondern für die gesamte Politik.
    Wer das „soziale Demontage" nennt und jedes Nachdenken verweigert, der muß sich fragen lassen, wie er es mit seinem Gewissen vereinbart, wenn deshalb andere Gruppen auch weiterhin im sozialen Abseits, „draußen vor der Tür", bleiben müßten.

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    Wir stehen am Anfang einer Legislaturperiode,

    (Wehner [SPD]: Und am Ende einer Rede!)

    die unseren Staat — das gilt für alle Bereiche der Politik — ernsten Belastungs- und Bewährungsproben aussetzen wird.



    Dr. Kohl
    In dieser Lage erhebt sich für uns alle — ob für die Regierung oder die Opposition — die zentrale Frage, die lautet: Was erwarten die Bürger von uns, ihren gewählten Vertretern, in den kommenden Jahren?
    Nach dem Bundestagswahlkampf, der hinter uns liegt, gibt es Anlaß genug, über diese Fragen nachzudenken und sie zu beantworten. Der Wahlkampf 1980 hat wie keiner zuvor den inneren Frieden der Bundesrepublik Deutschland belastet. Ohne inneren Frieden — das ist die einprägsame Lehre der Geschichte — ist die parlamentarische Demokratie auf die Dauer nicht lebensfähig. Wir brauchen nur auf die erste deutsche Republik von Weimar und ihre Agonie zu blicken, um zu wissen, daß dem Verfall des inneren Friedens der Verfall des freiheitlichen Staates folgt.
    Wenn wir, die gewählten Vertreter des Volkes, unserer demokratischen Verantwortung gegenüber Volk und Staat gerecht werden wollen, dann müssen wir alle — bei allem Streit um den besseren Weg, die bessere Lösung in der Politik — immer darauf bedacht sein, aus diesem Streit niemals einen Glaubenskrieg mit dem Willen zur moralischen Vernichtung des Andersdenkenden werden zu lassen.

    (Beifall bei der CDU/CSU — Zuruf des Abg. Wehner [SPD])

    — Auch Ihr Zwischenruf kann mich nicht abhalten, das jetzt Folgende zu sagen, Herr Wehner.

    (Wehner [SPD]: Ist ja gut!)

    Dies gilt für uns alle, dies gilt auch für mich und meine politischen Freunde: Wenn die politischen Parteien in der parlamentarischen Demokratie darauf verzichten, den Gegner zu dämonisieren,

    (Wehner [SPD]: „Moskau-Fraktion" zum Beispiel!)

    dann ist das ein Beitrag zum inneren Frieden und
    damit zum Erhalt der parlamentarischen Demokratie.

    (Beifall bei der CDU/CSU — Wehner [SPD]: Herr Kohl, z. B. die „Moskau-Fraktion", nicht?)

    Der Bürger erwartet von den Parteien des Bundestages gewiß nicht, daß sie in den vor uns liegenden Jahren die Grenzlinien, die zwischen ihnen verlaufen, verwischen und Auseinandersetzungen in der Sache kleinschreiben. Aber was er von ihnen erwartet und auch erwarten darf, ist dies: Achtung voreinander und weniger Kälte im Umgang miteinander, mehr Bereitschaft, einander zuzuhören

    (Wehner [SPD]: Ja!)

    und — notwendigerweise auch — das Gemeinsame über das Trennende zu stellen. Nun, was ist uns allen gemeinsam? In seiner letzten öffentlichen Rede hat Konrad Adenauer gesagt — er hat dieses Wort an alle Demokraten in unserem Lande gerichtet —, entscheidend sei die Liebe zu unserem Volk. Lassen Sie uns im Geiste dieser Mahnung an die Arbeit gehen — zum Wohle unseres Volkes! In diesem Sinne, Herr Bundeskanzler, wünschen wir Ihnen für die vor uns liegenden Jahre Erfolg für unser Vaterland.

    (Langanhaltender, lebhafter Beifall bei der CDU/CSU)



Rede von Richard Stücklen
  • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (CSU)
  • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CSU)
Das Wort hat Herr Abgeordneter Brandt.

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    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: ()
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: ()

    Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der erste Mann der Opposition in diesem Hause

    (Dr. Kunz [Weiden] [CDU/CSU]: Hat sehr gut gesprochen!)

    hat am vergangenen Sonntag, am Vorabend der Abgabe der Regierungserklärung, die Rolle der Opposition durch drei Begriffe gekennzeichnet: Kontrolle, Kritik, Alternativen. Ich habe den Eindruck: Die Alternativen sind noch nicht so stark durchgekommen wie die Kritik.

    (Beifall bei der SPD — Zurufe von der CDU/ CSU)

    Im englischen Unterhaus würde man jetzt sagen, Herr Kohl: My honourable friend hat sich eine Chance entgehen lassen. Sie wissen j a selbst, wie das ist — es fängt auf der Schule an und setzt sich später fort —: Keine Sache ist so gut, als daß sie nicht kritikfähig wäre. Manchmal möchte man sein eigener Kritiker sein. Aber das können wir Ihnen nicht noch abnehmen, denn wir kriegen — wie alle anderen — auch nur einmal Diäten und nicht die für die Opposition dazu.
    Ich würde es sehr begrüßen, wenn man sich hier an den Vorsatz hielte, der ja wohl doch durchklang, nicht permanenten Wahlkampf zu betreiben. Was unser Volk von uns erwartet, ist nämlich etwas anderes: nicht Dinge zu verwischen, nichts unter den Teppich zu kehren, aber miteinander zu wetteifern, wo es um die Lebensbedingungen geht, um die vitalen Interessen unserer Menschen, um die Sicherung ihrer Zukunft. Darum müssen wir miteinander wetteifern.

    (Beifall bei der SPD und der FDP)

    Dafür gewähren wir der Regierung unsere Unterstützung, und dazu bieten wir allen Teilen dieses Hauses, so dies möglich ist, unsere Zusammenarbeit an.
    Wir stehen natürlich zu den Vereinbarungen mit unserem Koalitionspartner, den Kollegen von der Freien Demokratischen Partei.
    Die Regierungserklärung vorgestern hatte den großen Vorteil — ich habe mich ein bißchen erkundigt —, daß sie von denen, die zuhörten, nicht nur hier, gut verstanden werden konnte,

    (Lachen bei der CDU/CSU — Dr. Blüm [CDU/CSU]: Akustisch ja!)

    — wissen Sie: in den Betrieben und am Kochherd manchmal noch ein bißchen besser als bei manchen hochgestochenen Kommentatoren.

    (Beifall bei der SPD und der FDP)

    Ich will gerne vorweg sagen: Die 16 Millionen sozialdemokratischer Wähler am 5. Oktober

    (Dr. Blüm [CDU/CSU]: Die waren begeistert!)




    Brandt
    sollen wissen: Wir kennen ihren Auftrag, ihre Interessen, ihre Wünsche. Hier gibt es keine Abkehr von der Politik der realistischen Friedenssicherung,

    (Beifall bei der SPD und der FDP)

    keine Abkehr von einer Politik der Reformen, durch die dem Auftrag des Grundgesetzes, den demokratischen und sozialen Bundesstaat zu gestalten, Rechnung getragen werden soll.

    (Beifall bei der SPD und der FDP — Lachen bei der CDU/CSU)

    Hier gibt es keinen Schnitt ins soziale Netz und keine Gefährdung der Renten.

    (Beifall bei der SPD und der FDP — Zurufe von der CDU/CSU)

    Hier gibt es auch keinen Ausstieg aus der Mitverantwortung dafür, einen Zustand unter den jeweiligen weltpolitischen Bedingungen zu erreichen, durch den man dem Ziel der Vollbeschäftigung so nahe wie irgend möglich kommt.

    (Beifall bei der SPD und der FDP — Dr. Blüm [CDU/CSU]: Eine Million arbeitslos!)

    Nein, hier gibt es keinen antisozialen Rechtsruck. Das wäre, von der Vernunft oder Unvernunft abgesehen, auch gegen den Wählerauftrag; denn die Wähler in der Bundesrepublik Deutschland haben eben am 5. Oktober mehrheitlich gegen Strauß, also gegen rechts, gestimmt.

    (Beifall bei der SPD und der FDP)

    Die Opposition spricht — das ist naheliegend, nicht nur ihr gutes Recht; alles hier zu sagen, ist ihr gutes Recht —, wenn es um die Regierungserklärung geht, wenn eine neue Legislaturperiode beginnt, von der Stunde der Wahrheit. Das haben wir auch gemacht. Darüber braucht es keinen Streit zu geben. Aber dann wollen wir, bitte, wo es um die Wahrheiten im einzelnen geht, auch nicht einfach in Schlagworte der vergangenen Monate zurückfallen!

    (Beifall bei der SPD und der FDP)

    Ich hätte es begrüßt, wenn der Führer der Opposition an vier Feststellungen zur Bestandsaufnahme — dann kommt immer noch das, was mit den zusätzlichen Aufgaben zusammenhängt —, wenn der Führer der Opposition an vier wesentlichen Feststellungen zur Bestandsaufnahme — und das war ja ein Wort dieser Wochen — nicht vorübergegangen wäre.
    Erstens. In der Regierungsklärung heißt es:
    Kaum ein Land der Welt hat zugleich so niedrige Arbeitslosenziffern, so niedrigen Preisaufstieg und ein so hohes Reallohn- und Rentenniveau wie unser Land.
    Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen, keiner vergibt sich doch etwas, wenn er zugibt: So ist das. — Das ist ja beileibe nicht nur das Verdienst einer Regierung, sondern es ist das Werk eines Volkes in der Bundesrepublik Deutschland.

    (Beifall bei der SPD und der FDP)

    Es wäre doch aller Mühen wert, das zu sichern, was wir erreicht haben, um darauf dann weiter aufbauen zu können.
    Zweitens. Die Regierungserklärung sagt:
    Die Rentenversorgung ... befindet sich derzeit dank der Konsolidierungsmaßnahmen im Gleichgewicht. Die Rentenleistungen der letzten Jahre sind höher, als sie jemals vorher in Deutschland gewesen sind. Von 1969 bis heute
    — das ist ja ein Zeitpunkt, der uns im engeren Sinne angeht —
    sind die Renten real um 45 % gestiegen, die Nettoeinkommen der aktiven Arbeitnehmer
    — was die Ziffern angeht, gibt es sicher keinen Streit —
    real nur um 32 %. Und „real" heißt ja: nach Abzug aller Preissteigerungen.

    (Franke [CDU/CSU]: Wegen der hohen Steuern und Sozialabgaben, falls Sie verstehen, wie das zusammenhängt!)

    Meine Damen und Herren, keiner vergibt sich etwas, wenn er zugibt: Ja, so ist es, wie der Bundeskanzler, wie die Regierung es hier gesagt hat.

    (Beifall bei der SPD und der FDP)

    Wir wollen uns alle Mühe geben, die Reform zur Gleichstellung die wir ja schon des Auftrages des Verfassungsgerichts wegen durchführen müssen, so gerecht wie möglich zu gestalten. Ein sozialdemokratisches Konzept dazu gibt es. Es liegt auf dem Tisch. Es schließt auch die schwierige, aber notwendige Entwicklung hin zur Mindestrente ein.
    Drittens. Zur Kreditaufnahme heißt es in der Regierungserklärung:
    Die Nettokreditaufnahme soll mit ungefähr 27 Milliarden DM diejenige des Jahres 1980 nicht überschreiten. Damit halten wir uns exakt an die Linie, die wir vor der Wahl aufgezeigt haben, die der Finanzplanungsrat am 4. Juli letzten Sommers empfohlen hatte. Wir tun heute das, was im Sommer angekündigt war.

    (Dr. Friedmann [CDU/CSU]: Das ist schlimm genug!)

    Keiner vergibt sich etwas, wenn er zugibt:

    (Dr. Friedmann [CDU/CSU]: ... daß das schlimm genug ist!)

    Regierung und Koalition halten sich an das, womit sie vor die Wähler getreten sind. Herr Kohl war gut beraten, daß er den Ausdruck „Wählertäuschung" in seiner heutigen Rede nicht gebraucht hat.

    (Beifall bei der SPD und der FDP)

    Viertens. Zur Schuldenfrage wird in der Regierungserklärung gesagt:
    Bei einem internationalen Vergleich steht die Bundesrepublik . günstig da. .. Von Ende 1969 bis Ende 1979 hat der Bund insgesamt 148 Milliarden DM netto an Krediten aufgenommen.
    Der Bundeskanzler und ich sind uns sicher darüber
    einig: Auch wenn man hier gelernt hat, Milliarden



    Brandt
    auf Millionen herunterzurechnen, ist das, was das Ollenhauer-Haus zu machen hat, vergleichsweise ein kleiner Klacks. Wir beide tragen unsere Art von formaler Verantwortung dafür, daß wir mit unseren Dingen wieder in Ordnung kommen. Im selben Zeitraum, von dem ich hier spreche, hat der Staat aber mehr als 230 Milliarden DM für Investitionen ausgegeben, und zwar zusätzlich zu den 140 Milliarden DM, die vom Bund an die Länder geflossen sind. Es hat überhaupt keinen Sinn, die Schwierigkeiten der vor uns liegenden Jahre zu verniedlichen. Darin stimme ich mit Herrn Kohl, was die Art, sich dem Problem zu nähern, angeht, überein. Aber noch unsinniger wäre es, ein Gift der Verunsicherung um sich greifen zu lassen. Wir Sozialdemokraten sehen unsere Aufgabe so, daß wir die Chancen aufzeigen, die allen Schwierigkeiten zum Trotz vor unserem Volk liegen, und daß wir ihm nicht nur sagen, was gewissermaßen von oben her auf sie zukommt, sondern daß wir an die vielen einzelnen und die Gruppen, die die Dinge mit nach vorn bewegen wollen, appellieren, solidarisch und ausgewogen zu handeln.
    Die finanziellen Grenzen für viele Felder der Politik, worüber Vater Staat — heute ist das eine ganze Anzahl der für die staatlichen Ebenen Verantwortlichen, aber sagen wir einmal wie in alten Tagen, „Vater Staat" — verfügen kann, sind in den nächsten Jahren bekanntermaßen eng. Unter diesen Bedingungen wird ein Doppelprinzip eine noch stärkere Bedeutung als schon bisher erhalten müssen. Ich meine die rationelle und gerechte Verteilung der vorhandenen Mittel. Gerechtigkeit ist einer unserer Grundwerte. Die Rationalität des Mitteleinsatzes ist damit eng verknüpft. Wir wissen, wieviel Kraft das fordert. Hier geht es auch — ich sage es ganz offen, Herr Bundeskanzler — weiterhin um Mut zur Auseinandersetzung mit veralteten Besitzständen und verkrusteten Strukturen.

    (Beifall bei der SPD — Dr. Mertes [Gerolstein] [CDU/CSU]: Zum Beispiel?)

    Ich möchte je drei Aufgabenfelder besprechen, die mit dem Frieden nach außen und dem Frieden nach innen zu tun haben. Themen, die ich nicht berühre oder nur andeute, werden von meinen Kollegen in der Debatte aufgegriffen, und irgendeine unterschiedliche Wertigkeit ist damit nicht verbunden.
    Wo es um unsere Stellung in der Welt geht, da stelle ich die Frage — natürlich über Strecken hinweg gar nicht so weit entfernt von- meinem Vorredner, in Teilen aber mit unterschiedlichen Akzenten — nach dem gegenwärtigen Ost-West-Verhältnis und damit nach Krieg und Frieden, nach nicht mehr und nicht weniger. Ich denke, wir brauchen uns hier weder zu überzeugen noch gar zu übertrumpfen, wo es um die Kennzeichnung des Ernstes der internationalen Lage geht. Das Verhältnis zwischen den Weltmächten und ihren Blöcken hat sich in besorgniserregender Weise verschlechtert. Das ist durch Afghanistan besonders deutlich geworden, zu dem eine noch größere Mehrheit der Vereinten Nationen als das vorige Mal gesagt hat: Das kann so nicht bleiben; die militärische Intervention muß zu Ende gebracht werden.

    (Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten der FDP)

    Der Prozeß der gesamteuropäischen Zusammenarbeit hat noch lange nicht zu Fortschritten auf dem Gebiet der militärischen Sicherheit geführt. Der Rüstungswettlauf ist weitergegangen, die Bemühungen um Rüstungskontrolle haben nicht zu wirklichen Fortschritten geführt.

    (Dr. Mertes [Gerolstein] [CDU/CSU]: Warum wohl?)

    Es gibt zahlreiche Krisenherde außerhalb Europas. Man muß heute den Persischen Golf an erster Stelle nennen, aber immer noch den Nahen Osten an zweiter Stelle, und man kann Südostasien und man kann das südliche Afrika, man kann aber auch Zentralamerika hinzufügen, um zu sagen: Diese zahlreichen Krisenherde außerhalb Europas würden jeder für sich bei einer weiteren Verschärfung der Ost-WestRivalität die Welt in einen globalen Krieg führen können.
    Meine Damen und Herren, nun meinen manche, das Problem sei damit gelöst, daß man feststelle, die Entspannung sei tot.

    (Dr. Mertes [Gerolstein] [CDU/CSU]: Die falsche Entspannung!)

    Es mag ja sein, wenn sich die Beteiligten entsprechend verhalten, daß die Politik der Entspannung diese Jahre nicht überleben wird. Aber als Alternative bliebe mit großer Wahrscheinlichkeit nur die eine oder andere Form von Katastrophe; denn der Rückfall in den Kalten Krieg würde viel mehr bedeuten als nur die Rückkehr zur bedrohlichen Lage der 50er Jahre.

    (Beifall bei der SPD und der FDP)

    Seitdem hat das Wettrüsten zu einer Ansammlung von Kriegspotentialen geführt, die in einer Zeit verschärfter Spannungen in sich selbst ein zusätzliches ungeheures Sicherheitsrisiko darstellen.

    (Beifall bei der SPD und der FDP)

    Die Kriegsmaschine bedeutet vor allem dann die Gefahr des gewissermaßen technokratisch ausgelösten, also politisch nicht mehr beeinflußbaren Krieges, wenn es an einem Mindestmaß an Vertrauen fehlt, und der Kalte Krieg ist eben ein Zustand wuchernden Mißtrauens.
    Meine Damen und Herren, wir Deutschen haben ein ganz besonderes Interesse daran, daß Ost und West nicht völlig auseinanderdriften. Wir, gerade wir auf Grund unserer Lage und als geteiltes Land im geteilten Europa brauchen, wenn es irgend geht, Rüstungsbegrenzung, um zu verhindern, wie vorgestern noch durch den Bundeskanzler ausgeführt, daß die Welt sich buchstäblich zu Tode rüstet, und um eines nicht zu fernen Tages, füge ich hinzu, frei werdende Ressourcen für Zwecke der Entwicklung in der Welt umlenken zu können.

    (Beifall bei der SPD und der FDP)




    Brandt
    Entspannung in unserem Sinne, auch im Sinne der Verträge, um die wir gestritten haben, ist nicht auf Wunschdenken basiert, sondern ist rational. Sie handelt von gemeinsamen Interessen — bei allen sonstigen Gegensätzlichkeiten. Sie ist kein Ergebnis, sondern in sich selbst ein widerspruchsvoller Prozeß, und es geht, so wichtig das manchmal ist, nicht um die Regelung noch so wichtiger technischer Fragen; es geht in Wirklichkeit darum, daß sich der politische Wille zur Rüstungsbegrenzung durchsetzt und wenn möglich zur Abrüstung. Das heißt, Herr Kollege Kohl, hier gibt es viel, denke ich, was miteinander kritisch überprüft und hoffentlich auch konstruktiv voranbewegt werden könnte, aber wirklich nicht — das kann ich guten Gewissens sagen — im Gegensatz zu einer Politik, die, wie wir es getan haben und tun, Sicherheit in ihren vielfältigen Dimensionen sieht.
    Die Verträge, die hier so hart umstritten waren, stehen nicht zur Disposition. Wir gehen hinter die Verträge nicht zurück.

    (Beifall bei der SPD und FDP — Dr. Mertes [Gerolstein] [CDU/CSU]: Was heißt das konkret?)

    In der Tat, es wäre gut, wenn wesentliche Bereiche der Außenpolitik aus dem zugespitzten Parteienstreit herausgenommen werden könnten. Aber Gemeinsamkeit kann ja auch nicht heißen, daß wir uns nachträglich der Linie anschließen, die durch Herrn Strauß vertreten war. Die hat beim Wähler nicht genügend Unterstützung gefunden. Und manche Kollegen innerhalb der Union möchten j a auch aus der Sterilität heraus, die dadurch zum Ausdruck kam. Kein Wunschdenken, nein, Herr Kollege Kohl. Aber: Verträge halten, auch Beschlüsse des Bündnisses halten, um die es — wie wir vorgestern gehört haben — immer mit geht.
    Gleichgewicht — so haben wir gehört, und das ist j a auch so — gibt es nicht ohne verläßlichen Frieden; aber das sei auch noch nicht alles. Was die Sache natürlich so schwierig macht, ist, daß es zunehmend — auch unter den Fachleuten — Definitionsschwierigkeiten darüber geben wird: was ist das eigentlich, „militärisches Gleichgewicht", und wie wird zusammengerechnet? Das kann ich jetzt nicht behandeln. Ich will jedenfalls sagen: Ohne die Vereinigten Staaten gibt es ein wie immer definiertes militärisches Gleichgewicht nicht. Deshalb — auch deshalb — hängt so viel von unserem Verhältnis zu den Vereinigten Staaten ab.

    (Beifall bei der SPD)

    Ich bin da ohne Komplexe, Herr Kollege Kohl. Ich habe seit meiner Zeit als Berliner Bürgermeister mit Präsidenten und Administrationen mal der einen, mal der anderen Partei zu tun gehabt. Das Berlin-Abkommen, auf das ich gleich noch komme, ist ja auch unter und mit einem republikanischen Präsidenten zustande gekommen. Wir haben da keine Probleme.

    (Dr. Kohl [CDU/CSU]: Herr Kollege Brandt, wer hat denn gesagt, daß Sie Probleme haben?)

    Aber ich darf einmal einen anderen Punkt mit hineinbringen. Wir haben damals, Anfang der 70er Jahre, Herr Kollege Kohl, gesagt: Die große Feier der Vereinigten Staaten — damals — benutzen wir, um einen Beitrag zu leisten. Ehmke hat mir wesentlich dabei geholfen, andere haben geholfen. Wir haben sehr viele Mittel in Übereinstimmung mit Ihnen für den German Marshall Fund aufgewandt. Heute sage ich — und ich bitte, darüber nachzudenken —: Wenn von einer — ich zitiere — „ständigen, fruchtbaren Zusammenarbeit mit den Vereinigten Staaten" die Rede ist, dann sollten wir auch darüber nachdenken, was wir tun können, um das gegenseitige Kennenlernen vieler aus der jungen Generation zu fördern, — vieler aus der jungen Generation.

    (Beifall bei Abgeordneten aller Fraktionen)

    Das läßt sich nicht einfach kopieren, wenn man den deutsch-französischen Vertrag zugrunde legt. Aber keiner von uns wird hier bestreiten, daß er, nämlich der Teil des Deutsch-Französischen Jugendwerks, insgesamt ein großer Erfolg gewesen ist. Ich werfe den Stein ins Wasser: für die dort, für Sie dort und für meine Fraktion.
    Womit man jedoch, Herr Kollege Kohl, unserem Staat und den Interessen unseres Volkes nicht hilft, das ist der — wenn auch heute abgeschwächt formulierte — Eindruck, wir hätten in der Allianz unsere Pflicht nicht getan. Ich möchte nicht, daß wir in die Lage kommen, hier einmal wirklich nebeneinanderzustellen, wer was geleistet hat in diesen Jahren, wer wann immer zu seinen Verpflichtungen gestanden hat. Aber richtig ist eben auch das, was Bundeskanzler Schmidt sagt: Wir dürfen uns nicht größer machen, als wir sind — was für mich übrigens nie ein Problem nur des Verhältnisses zum Osten war. Es gibt auch eine spezifische Größe der Bundesrepublik Deutschland im Verhältnis zum Westen, die andere, wenn sie Geld von uns haben wollen, nicht immer gleich so rasch erkennen, wie wir sie erkennen müssen.

    (Beifall bei der SPD und der FDP)

    Ich möchte mich heute nicht auf eine törichte Diskussion über Prozente einlassen. Wir werden ja noch eine Haushaltsdebatte haben. Ich will nur einmal allgemein — für alle beteiligten Staaten — sagen: Es wäre wohl eine Illusion, zu meinen, daß sich dann, wenn — was ich j a nicht hoffe — über Jahre alles stagniere, allein die militärischen Sektoren durch Wachstum auszeichnen könnten.

    (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der FDP)

    Zur Bundeswehr, meine Kollegen von den Unionsparteien, in aller Bescheidenheit: Sozialdemokraten haben entscheidende Beiträge geleistet, um die Streitkräfte der Bundesrepublik Deutschland unlösbar in die demokratische Grundordnung einzubinden. Diese Bundeswehr ist die Armee unserer Demokratie, vom Volk getragen, vom Parlament gegründet und von der Regierung geführt.

    (Beifall bei Abgeordneten der SPD)




    Brandt
    Es ist auch dem Wirken von drei sozialdemokratischen Bundesministern der Verteidigung zu verdanken, wenn die Bundeswehr zu einer Armee von Demokraten in einer funktionierenden Demokratie geworden ist — und außerdem natürlich noch, was für andere manchmal noch wichtiger ist — zu einem angesehenen Partner im Atlantischen Bündnis.

    (Erhard [Bad Schwalbach] [CDU/CSU]: Was, erst ab 1970?)

    Die notwendige Abrüstungsdiskussion darf nicht auf dem Rücken der deutschen Soldaten ausgetragen werden.

    (Beifall bei der SPD und der FDP)

    Soldatendienst ist notwendiger Waffendienst für den Frieden.

    (Zustimmung des Abg. Dr. Ehmke [SPD])

    Mein Parteivorstand hat zusätzlich erklärt, er habe Verständnis dafür, daß gerade jungen Bürgern bestimmte traditionelle militärische Formen fremd und unverständlich erscheinen. Das gilt ja — seien wir ehrlich — auch für andere Formen der Traditionspflege in unserem Lande. Ich merke das immer am deutlichsten, Herr Kohl, wenn ich mich an die frühen 60er Jahre erinnere. Da ging ich ins OlympiaStadion, wo die Bereitschaftspolizei einen Zapfenstreich hinlegte; da war alles dran. Da ging ein Raunen der Bewunderung durch die Reihen, und auf den Gesichtern der Alliierten war blanker Neid. Keinem von uns — auch niemandem von unseren jungen Freunden — wäre es damals in den Sinn gekommen, darin etwas Schlechtes zu sehen. Heute sehen viele das anders.
    Übrigens schlagen sich — das sage ich jetzt einer christlich-demokratischen Partei — selbst die Kirchen, viel ältere Institutionen, mit dem Problem ihrer Traditionen herum. Ist das nicht so? Also bin ich Bundesminister Apel dafür dankbar, daß er keinen Zweifel an dem, was die Bundeswehr ist und sein muß, aufkommen läßt, keinen Zweifel daran, was Dienst dort ist und sein muß, zugleich aber sagt: Über die Formen der Traditionspflege muß man reden können.

    (Zustimmung bei Abgeordneten der SPD und der FDP)

    Und darüber wollen wir denn auch reden.
    Wir müssen wirklich gemeinsam mit unseren Partnern zu Verhandlungen über ein stabiles militärisches Gleichgewicht auf niedrigerem Niveau kommen. Das ist der Kurs, dem wir bei den interkontinentalen strategischen Vernichtungsmaschinen voll und ganz zustimmen. Das gilt aber für uns Deutsche auch und gerade für die Waffen, die man beschönigend „nichtstrategische", allenfalls „eurostrategische" genannt hat. Die haben es ja auch in sich: die SS-20 drüben und das andere, was hier kommen wird, wenn nicht noch Verhandlungen aufgenommen werden und auch etwas erbringen.
    Wir kennen das alles. Unser Volk nimmt zunehmend zur Kenntnis: jeden Tag auf der Welt 2 Milliarden DM für Rüstung, im Jahr über 500 Milliarden Dollar für Rüstungen. Da sage ich ebenso simpel wie gravierend — ohne daß uns dies im Moment für unsere Disposition hilft, es ist doch wahr —: Mehr Waffen machen die Menschheit nicht sicherer, sie machen die Menschheit nur ärmer.

    (Lebhafter Beifall bei der SPD und der FDP)

    Ich wollte die Frage nach dem Verhältnis zwischen Nord und Süd und damit danach stellen, ob der Welthunger sich verschlimmern oder ob neue Partnerschaft Platz greifen soll. Die Beziehungen zwischen Nord und Süd haben sich weiter verschlechtert. Zu viele Verantwortliche denken noch immer in den Kategorien von Macht und staatlicher oder ökonomischer Überlegenheit.
    Was wir statt dessen brauchen, das ist das ernste Bemühen angesichts der offenbaren Gefahren, jene verbindenden Interessen herauszufiltern, die zu gemeinsamem Handeln mit fairen Kompromissen herausfordern, ohne dabei bestehende Konflikte, die ja zum großen Teil weiterwirken werden, unter den Teppich zu kehren.
    Um ein faires Reformprogramm, Herr Bundeskanzler, hat sich die Kommission bemüht, die Sie beiläufig erwähnten und der ich zwei Jahre vorgesessen habe, die ja auch in den Vereinten Nationen mittlerweile Beachtung gefunden hat, auch bei vielen in den Kirchen, zuletzt bei Papst Johannes Paul II. in seiner Brühler Rede, was ich sehr wohl als hilfreich empfunden habe.
    Wenn wir von den Empfindungen der Jungen im Lande sprechen: Die moralischen Herausforderungen der Jungen werden immer bewußter, und die Friedensdimension kommt hinzu. Die Älteren von uns haben schon zweimal erlebt — ich das erste Mal als kleiner Junge —, wie aus Krieg Hunger wird. Die Jungen könnten einmal erleben, daß aus Massenhunger Krieg wird. Das ist die neue Friedensdimension. Das eigene Interesse nicht nur an Öl und Rohstoffen, sondern auch am Wirtschaftsaustausch und der Belebung des internationalen Warenverkehrs kommt hinzu, so sehr man, füge ich dann allerdings auch hinzu, nicht nur unserer Textilarbeiter wegen, aber auch ihretwegen, um vernünftige Anpassungen bemüht sein muß. Einfach zu rufen „freier Welthandel!" ist allein nicht genug. Man muß für Anpassung sorgen und für ein richtiges Tempo. Die Anpassung gegenüber den Herausforderungen der Dritten Welt ist nicht zu lösen von der Notwendigkeit der Strukturpolitik innerhalb der Bundesrepublik Deutschland.

    (Beifall bei der SPD und der FDP)

    Ich hoffe, daß etwas bei der Spitzenbegegnung in Mexiko herauskommt. Ich habe die mexikanische und die österreichische Regierung ermutigt. Wir erleben ja alle, wie diese Mammutkonferenzen nicht viel bringen. Vielleicht kann eine Zusammenkunft in begrenzterem Kreis mit den Chefs selbst dazu führen, daß Impulse auch für die Verhandlungen innerhalb der Vereinten Nationen von dort ausgehen, denn sonst kommen die nicht voran.
    Ich möchte noch zwei ergänzende Hinweise geben. Auch wenn die Rahmenbedingungen ungünstiger geworden sind, auch wenn die Meßlatte mit den vielzitierten 0,7 % des Bruttosozialprodukts unbefrie-

    Brandt
    digend und sogar irreführend in bestimmten Situationen sein kann — ich meine, das kommt ja auch auf bescheidene Weise mit der Zusage: „Das wird stärker steigen als anderes" zum Ausdruck —: Wir Deutschen müssen dem nacheifern, was die Skandinavier und die Holländer für ihre Länder möglich gemacht haben.

    (Beifall bei der SPD und der FDP)

    Goldrichtig ist, was an zwei Schwerpunkten genannt wurde, nämlich den anderen bei der Entwicklung neuer Energiequellen und beim Aufbau einer unabhängigen Ernährungsbasis zu helfen. Da kann man meistens mehr machen, als wenn man Überschußprodukte wohin schickt; jedenfalls wird das letztere teurer.
    Zwei oder drei gezielte Bemerkungen, bevor ich „Nord-Süd" verlasse. Im Nahen Osten bleiben die deutschen Sozialdemokraten an der Seite derer, die sich um eine tragfähige Friedenslösung bemühen. Die muß aus dreierlei bestehen: gesicherte Existenz des Staates Israel, Verwirklichung der Rechte des palästinensischen Volkes und drittens Friedensverträge in der Region und mit dieser.

    (Beifall bei der SPD und der FDP)

    In Afrika geht es, Herr Bundeskanzler, Herr Bundesaußenminister, ja offensichtlich nicht mehr nur um Freiheit für Namibia. Aber die ist endlich geboten. Ich halte es für vernünftig, daß die Regierung, die j a auch sonst schon nicht ganz außen vor war, die Befreiungsbewegungen jetzt auch in aller Form zur Kenntnis nimmt, offensichtlich ohne Widerspruch der Opposition, was ja nicht immer so gewesen ist.

    (Beifall bei der SPD und der FDP)

    In Lateinamerika gibt es vieles zu beklagen. Das ist ja eine Welt, in der es überhaupt mehr zu beklagen als zu begrüßen gibt. Ich wende mich trotzdem in diesem Augenblick noch einmal leidenschaftlich gegen die Militärherrschaft der Rauschgiftgeneräle in Bolivien.

    (Beifall bei der SPD und der FDP)

    und gegen solche in Zentralamerika, die geneigt sein könnten, den Präsidentenwechsel in den USA nicht nur voreilig, sondern auch sehr eigenwillig zu interpretieren.
    Schließlich — auch wenn es schon gesagt ist, Herr Bundeskanzler — wollen die Sozialdemokraten, wo es um Südkorea geht, durch mich noch einmal gesagt haben: Kim Dae Jung darf nicht zu Tode gebracht werden.

    (Beifall bei der SPD und der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

    Europas Aufgabe ist es, so meine ich, als Macht des Ausgleichs und des Friedens in der Welt zu wirken. Niemand darf sich wundern, wie schwierig das immer noch ist.
    Der Bundeskanzler hat eine Leistungsbilanz gemacht, und die schließt mit dem Wort „Fortschritte". Ich kann das verstehen; das ist eigentlich ein bißchen kühn. Denn was bedeutet es jetzt konkret, mit der europäischen Zusammenarbeit und Einigung voranzukommen? Das heißt zunächst, daß sich die Europäische Gemeinschaft selbst in die Lage versetzt, mit den ökonomischen und politischen Fragen der bevorstehenden Erweiterung um Griechenland, Spanien, Portugal fertig zu werden. Die Strukturen, die schon für die Sechsergemeinschaft kaum ausreichend waren und die Neunergemeinschaft nicht mehr wirklich verkrafteten, müssen — und das muß der Ministerrat wissen — für eine Zwölfergemeinschaft wesentlich reformiert werden.
    Das betrifft schon die Funktionsweise der Organe, also das Zusammenspiel von Rat, Kommission und Parlament. Die Institutionen arbeiten noch immer zuviel aneinander vorbei und scheinen selbst über ihre Rolle im europäischen Einigungsprozeß im unklaren zu sein.
    Herr Kollege Kohl hat sich zu allgemein zum Europäischen Parlament geäußert: daß da neue Themen hineinkommen. Herr Bundeskanzler und Herr Bundesaußenminister, Sie haben mit den anderen zusammen den Prozeß auf den Weg gebracht, daß gewählt werden konnte. Es bleibt Ihnen und den anderen Regierungen nicht erspart, mit uns darüber nachzudenken, was so ein direkt gewählter Verein eigentlich tun soll,

    (Dr. Jenninger [CDU/CSU]: Arbeiten, Herr Brandt! An Sitzungen teilnehmen! Einmal im Jahr geht er hin! — Weitere Zurufe von der CDU/CSU)

    außer daß er sich mit allen möglichen Themen in der Welt befaßt. Und wenn man ganz bescheiden ist: Soll das Parlament in Zukunft etwas zu sagen haben auch nur über seinen Arbeitssitz, oder will der Ministerrat es weiter wie einen Wanderzirkus zwischen drei Städten hin- und herziehen lassen?

    (Beifall bei der SPD)

    Die Notwendigkeit einer Reform des Agrarmarktes ist nicht zu bestreiten. Ich will nur eines klarstellen: Die SPD hat sich da ja vor der Regierungserklärung sehr viel Mühe gemacht. Wenn wir sagen: Das geht so nicht weiter, dann sagen wir dies auch im Interesse der deutschen Bauern, der bäuerlichen Familienbetriebe, die wir erhalten wollen.

    (Beifall bei der SPD)

    Aber genau die würden Schaden leiden, wenn die europäische Agrarpolitik an ihren Unsinnigkeiten erstickt.

    (Beifall bei der SPD und der FDP)

    Es geht nicht an, daß mit dem Geld der europäischen Steuerzahler so unvernünftig umgegangen wird und für andere wichtige Aufgaben kaum Mittel zur Verfügung stehen.
    Meine Damen und Herren, die Überprüfungskonferenz — das gilt für ganz Europa — in Madrid hat fast mit einem Skandal begonnen. Noch weiß niemand, was daraus wird. Nun hat j a wohl in Wirklichkeit — auch wenn wir hier und da nicht allzu pessimistisch waren — niemand ernsthaft damit gerechnet, daß noch so schöne Papiere von Helsinki den Frieden ein für allemal sichern und tief verwurzelte ideologische Gegensätze wegzaubern können. Das



    Brandt
    haben wir vernünftiger Weise ja wohl nicht erwarten können. Die verschlechterte Weltlage schlägt nicht voll, aber sehr stark durch. Trotzdem: So schlecht ist ja, Herr Kollege Kohl, die Bilanz nicht, was die 70er Jahre und auch die zusätzliche Verantwortung der Vereinigten Staaten und Kanadas für diesen Prozeß angeht. Aber genauso stimmt allerdings — ich sagte es soeben schon mit anderen Worten —, daß der KSZE-Prozeß nicht unabhängig von den Belastungen der weltpolitischen Lage gesehen werden kann. Trotz allem sollte in Madrid noch versucht werden, sich um eine möglichst konkrete Befassung mit den Fragen sachlicher Zusammenarbeit sowie menschlicher Beziehungen und Erleichterungen zu bemühen, aber Fortschritte werden sich gegen den ausdrücklichen Willen bestimmter Staaten nicht durchsetzen lassen.

    (Erhard [Bad Schwalbach] [CDU/CSU]: Die kann man doch nennen!)

    Es erschiene ratsam, eine Energiekonferenz, wie das angedeutet wurde, ins Auge zu fassen. Dieselbe Methode bietet sich auch für die qualitative Erweiterung dessen an, was unter vertrauensbildenden Maßnahmen verstanden wird, eine Konferenz aus der nach den Vorstellungen mehrerer Regierungen, nämlich der französischen, der polnischen und der schwedischen Regierung, eine europäische Abrüstungskonferenz werden könnte.
    Wenn es um das Verhältnis zur DDR geht, nehme ich die Formel von vorgestern auf, daß der Gesamtzusammenhang unserer Beziehungen zu berücksichtigen sei. Genau hierauf sowie auch darauf, daß man nicht nur stur preußisch sagen kann: „Weiter wie bisher", habe ich vor einigen Wochen hinweisen wollen; ich wollte auch darauf hinweisen, daß es nur eine Geschäftsgrundlage für die Politik der Entspannung und der vertraglich gesicherten Zusammenarbeit geben kann.
    Herr Kollege Kohl, in allem Ernst: das, was hinterher kam über Gemeinsamkeit, paßte nicht zusammen mit den Bruderküssen beim Thema Deutschland.

    (Beifall bei der SPD und der FDP)

    Denn da die Deutsche Kommunistische Partei nicht im Bundestag vertreten ist, müßten Sie sich eine Gelegenheit aussuchen, wo Sie sie erreichen mit Ihren Worten, um diese Bemerkung dann gegebenenfalls an richtiger Stelle noch mal loszuwerden.

    (Beifall bei der SPD und der FDP)

    Für Berlin braucht man nicht dauernd nach neuen Aufgaben, Funktionen und dergleichen zu suchen. Die Stadt lebt aus einer langen Tradition. Auf einer Reihe von Gebieten hat sie Leistungen und Erfahrungen zu bieten, mit denen sie sich gegenüber jeder anderen Stadt in unserem Land messen kann. Aber ich muß noch hinzufügen — ich habe es j a schon angekündigt —, das alles geht nur und geht nur weiter, wenn wir mit dafür sorgen, daß nicht am Viermächteabkommen über Berlin herumgedoktert wird.

    (Beifall bei der SPD und der FDP)

    Wer könnte — und so geht es uns allen gleichermaßen, auch wenn wir die Akzente unterschiedlich setzen — gleichgültig sein, wo es um Polen geht! Ich habe im Sommer und im Herbst manchmal den Eindruck gehabt, einige in unserem Lande ereiferten sich mehr für freie Gewerkschaften, wenn sie möglichst weit von hier weg sind, als wenn es um die im eigenen Lande geht.

    (Beifall bei der SPD)

    Aber gut, das ist wieder ein anderes Thema.
    Was dort jetzt vor sich geht, hat ja wohl, meine Damen und Herren, auch mit der Identitätsfindung einer neuen Generation zu tun — übrigens: auch eine Bildungsexplosion hat in Polen stattgefunden — unter dem Inhalt der dortigen gesellschaftlichen Ordnung und außenpolitischen Zuordnung. Wir wissen, daß dies weit über die Grenzen jenes Landes hinaus von Bedeutung ist. Der Vorsitzende der deutschen Sozialdemokraten kann gar nicht gleichgültig sein, wenn Arbeiter irgendwo — zumal in Europa — sich um ihre Rechte mühen und ihre Interessen wahrnehmen wollen,

    (Beifall bei der SPD und der FDP)

    frei ihre Meinung sagen wollen. Aber der bei allen Beteiligten in den letzten Wochen immer wieder sichtbar gewordene ernste Wille zum Ausgleich, zum Kompromiß verdient nicht nur Respekt, der findet ihn auch, jedenfalls bei mir.
    Wir, meine Freunde und ich, hoffen aufrichtig, daß Polen aus diesem Ringen um seine Identität in dem Rahmen, von dem ich sprach, mitmenschlich und national, politisch und wirtschaftlich gestärkt hervorgehen möge.

    (Beifall bei der SPD und der FDP)

    Freunde erkennt man in schwierigen Zeiten; im konkreten Falle: indem wir uns — und das ist eine Mahnung an meine Landsleute — in die Zucht der Zurückhaltung nehmen, wo es ganz allein um das geht, was die Polen miteinander ausmachen.

    (Beifall bei der SPD)

    Ich werde ja meine norwegischen Jahre nie ganz los. Da gab es den pathetischen Dichter Bjørnstjerne Bjornson, und im Jahre 1905, als die sich von Schweden unabhängig machten, schickte der pathetische Dichter an den konservativen Regierungschef — das war ein Schiffsreeder aus Bergen, der hieß Michel-sen — ein Telegramm. Er wollte nun mit dem Telegramm die Kluft überbrücken: „Herr Ministerpräsident, jetzt müssen wir zusammenhalten." Da kriegte der Dichter Bjornson ein Telegramm zurück: „Jetzt müssen wir das Maul halten." Da ist ein bißchen was mit drin.

    (Heiterkeit bei der SPD — Dr. Blüm [CDU/ CSU]: Wenn Gewerkschaftler verhaftet werden, kann man das Maul nicht halten!)

    Aber wir müssen in der Tat — und da habe ich von meinem Platz aus Herrn Kohl j a auch Beifall gespendet — im Rahmen unserer Möglichkeiten wie andere in Ost und West — hoffentlich! — unsere Bereitschaft bekunden, durch praktische Zusammen-



    Brandt
    arbeit zu helfen, vorübergehende Schwierigkeiten — z. B. in der Versorgung — zu überwinden.

    (Beifall bei der SPD und der FDP)

    Polen und Deutsche, Deutsche und Polen sollten in den Jahren, die kommen, mit jener Kraft zusammenarbeiten, die das verzehrende Gegeneinander aus der Geschichte, gerade auch aus der jüngsten Geschichte, auslöschen könnte.

    (Beifall bei der SPD und der FDP)

    Wir müssen uns immer wieder neu bewähren in unserem beiderseitigen und miteinander verflochtenen Dienst am Frieden.
    Ich hatte gesagt, daß ich gern drei Bemerkungen zu den Aufgaben im Innern machen würde. Das wird nun in starkem Maß von Kollegen zu übernehmen sein. Ich wollte dabei zuerst etwas über Ökonomie und Ökologie sagen, über Bund, Länder und Gemeinden, über Wohnen und über Demokratie, Liberalität und Mitbestimmung.
    Meine Partei hat vor der Wahl gesagt, und sie steht dazu unverändert: Die Veränderung der Weltwirtschaft und der binnenwirtschaftliche Strukturwandel erfordern eine aktive, vorausschauende Wirtschafts- und Strukturpolitik. Wir dürfen uns nicht darauf beschränken, Engpässe und Krisen zu beseitigen. Langfristige Handlungsstrategien sind erforderlich, um drängende Probleme wie Arbeitslosigkeit, Energieversorgung, Umweltschutz und wachsenden Protektionismus zu lösen. Die Wirtschaft muß bei grundsätzlicher Beibehaltung der Marktsteuerung stärker als bisher gesellschaftliche Notwendigkeit berücksichtigen. Das steht übrigens nicht im Widerspruch zu dem zu Recht eingeführten deutlichen Ziel, dafür zu sorgen, in dieser Ein- und Zuordnung unsere internationale Wettbewerbsfähigkeit zu erhalten und dort, wo es notwendig ist, neu zu schaffen.
    Wir haben gesagt: Ausgehend vom Recht auf Arbeit, setzen sich die Sozialdemokraten mit aller Kraft für die Vollbeschäftigung ein. Jeder Mann und jede Frau, die arbeiten wollen, müssen dazu die Chance haben.

    (Beifall bei der SPD und der FDP)

    Die Sozialdemokraten wenden sich gegen alle Versuche, den Staat aus der Verantwortung für die Arbeitsplätze zu entlassen. Beschäftigungspolitik ist aus unserer Sicht ein wesentlicher Teil der Wirtschaftspolitik.
    Wir haben bei gleicher Gelegenheit vor zehn Jahren zusammen mit unseren freidemokratischen Kollegen mit unserem Umweltschutzprogramm begonnen, die gesetzlichen Grundlagen für bessere Luft, sauberes Wasser, weniger Lärm, weniger Schadstoffe zu legen. Die drohende weitere Verschlechterung der Umwelt konnte abgebremst werden. Mehr noch nicht. Aber sie konnte abgebremst werden.
    Nun sagen wir Sozialdemokraten — und berühren uns dabei natürlich weithin mit der Regierungserklärung —: Als Grundlage zukünftiger Umweltpolitik möchten wir hin zu einem umfassenden ökologisch-ökonomischen Gesamtkonzept. Dementsprechend setzen wir uns für den vorbeugenden Umweltschutz ein. In der kommenden Zeit wird der Schwerpunkt der Umweltschutzpolitik deshalb in der Verhinderung der Umweltverschmutzung und -belastung zu liegen haben, also in der Vorsorge.
    Daraus ergibt sich weiter: Solche Technologien und Wirtschaftsbereiche sind verstärkt zu fördern, die umweltfreundlichen Verfahren und die Sicherheit der Arbeitsplätze miteinander verbinden.
    Die Regierungserklärung wird dem weithin gerecht. Ich will hinzufügen: Es wäre unrichtig, das Scheitern der Grünen als politischer Partei mit einer kompletten Niederlage der ökologischen Bewegung gleichzusetzen. Dem ist nicht so.

    (Beifall bei der SPD und der FDP)

    Es ist wohl eher so, daß die Probleme im Ökologiebereich in den 80er Jahren wachsen werden und daß sie in den Industriegesellschaften westlicher und übrigens auch östlicher Prägung einen Werte- und Strukturwandel einleiten, der bisher bei uns noch nicht vollends in das Bewußtsein der Menschen gedrungen ist, übrigens auch noch nicht in das Bewußtsein der Verwaltungsetagen, der Planungsbüros, der Konstruktionsbüros. Und dies sage ich jetzt aus sozialdemokratischer Sicht mit Betonung — aber ich bin sicher: nicht im Gegensatz zu unseren freidemokratischen Kollegen, ich glaube, im Grunde auch nicht im Gegensatz zu den Kollegen von der Union —: Das, wovon ich gerade spreche, gilt in besonderem Maße, obwohl das Vorsorgeprinzip dort schon lange Eingang gefunden hat, für die Ökologie der Arbeitsplätze, d. h. für die Humanisierung am Arbeitsplatz.

    (Beifall bei der SPD und der FDP)

    Waren die 70er Jahre, so hat mir Volker Hauff neulich einmal auseinandergesetzt, im Ökologiebereich das Jahrzehnt des Aufspürens ökologischer Versäumnisse und der Versuch, mit dem Verursacherprinzip die Hauptproblembereiche der Umweltverschmutzung einzudämmen, so müssen die 80er Jahre das Jahrzehnt werden, in dem Ökologiefragen in die Kreisläufe unserer wirtschaftlichen Entwicklung von vornherein mit eingebaut werden. Vorsorge statt Nachbehandlung im Ökologiebereich heißt seit langem die eigentliche Herausforderung.

    (Beifall bei der SPD)

    Was hat sich da, meine Damen und Herren, in unserer eigenen Einstellung geändert, auch in unserer! Ich lasse jetzt einmal außen vor, daß ich das Glück hatte, ein paar Jahre früher das zu sagen, wofür man damals noch verlacht wurde; das ist ja nicht so wichtig. Wir alle — nicht nur wir in Europa —: Wie anders sind wir an den Aufbau unserer zerbombten Städte herangegangen, als wir es nach heutigem Verständnis tun würden! Wie anders haben wir manche Großplanungen in der Bundesrepublik gemacht, als wir sie heute durchführen würden! Wie einseitig haben wir uns manchmal an Modelle angelehnt, als ob alle Häuser so hoch wie auf Manhattan und alle Straßen so voll mit Autos sein müßten wie in Chikago!

    (Beifall bei der SPD)




    Brandt
    Wie sorglos war man bei uns und anderswo mit dem Export von Modellen woandershin! Die Ölnot vieler Länder der Vierten Welt kommt doch daher, daß sie das 01 für das Zeug brauchen, das der Westen oder der industrialisierte Osten dort hingeschafft hat.

    (Beifall bei der SPD und der FDP)

    Aber es sind ja nicht nur die Planer, sondern es ist j a auch

    (Zurufe von der CDU/CSU)

    — ich darf das sagen, auch wenn nicht alle einig sind
    — das Bodenrecht, das vieles sich so hat entwickeln lassen, wie es heute eigentlich nicht sein sollte.

    (Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten der FDP)

    Ich habe es für ungerecht gehalten, den hessischen Ministerpräsidenten, meinen Freund Holger Börner, zu tadeln, als er aus seinem Amtsverständnis meinte, jetzt müsse ein über viele Jahre gegangener Prozeß mit seinem Urteil zum Tragen gebracht werden. Um so mehr rechne ich ihm und meinen Freunden im Hessischen Landtag an, daß auch dort — nach einem sehr heftigen Streit — durch Anhörung vor dem Landtag Gelegenheit gegeben wird, alte Argumente wieder oder zusätzliche Argumente neu vortragen und abklopfen zu lassen.

    (Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten der FDP)

    Energiepolitik nimmt einen breiten Raum ein in der Regierungserklärung. Wir wissen, was da alles drinsteckt. Wir wissen, daß Energiesparen nicht nur erforderlich ist, um unsere Leistungsbilanz auszugleichen und unsere außenpolitische Erpreßbarkeit zu reduzieren, sondern daß es auch aus ökologischen Gründen erforderlich ist. Wir haben eine Pflicht zum vernünftigen Umgang mit Rohstoffen, und wir haben eine Pflicht zur Rücksichtnahme auf die Menschen in den ärmsten Ländern in der Welt. Das ist eben auch eine innerpolitische Voraussetzung für eine vernünftige Nord-Süd-Politik.
    Wir müssen in der Tat in vielem umdenken, allerdings mit der Ökonomie, nicht gegen die Ökonomie. Dabei ist die Ökonomie freilich nicht überall gleich Markt, wie wir durch manche Gebiete, gerade wo es um Energie geht, wissen. Wir dürfen uns daher auch für das Energiesparen nicht allein auf den Markt verlassen. Ich bin dankbar dafür, daß der Bericht der Enquete-Kommission weiter berücksichtigt werden soll, auch mit dem hohen Wert, der der Kohle zugemessen wird und den — jetzt sage ich hier mal nicht nur: „Leistungen des Kohlenbergbaus", sondern ich sage — Leistungen der deutschen Bergleute und ihrer ausländischen Kollegen.

    (Beifall bei der SPD und der FDP)

    Man kann nicht erwarten, daß die Arbeitnehmer, obwohl viele von ihnen zum 1. Januar bei der Lohnsteuer wesentlich entlastet werden, begeistert sind, wenn sie mitgeteilt bekommen, daß auch Lasten auf sie entfallen. Die vielen, die in der Bundesrepublik Lohnsteuer zahlen, bleiben doch weiterhin in Ländern und Bund diejenigen, die den eigentlichen Brocken dessen leisten, woraus der Staat lebt.
    Ihre, der kritischen Arbeitnehmer Mitwirkung und Mitbestimmung ist unerläßlich, wenn man Strukturen erneuern will, ohne unnötige Schmerzen und schwere Rückschläge dabei in Kauf nehmen zu wollen.

    (Beifall bei der SPD und der FDP)

    Bund, Länder und Gemeinden waren mein zweiter Merkposten dafür, wo neu zugeordnet werden muß, wo in etwas eingeschnitten werden muß, wenn es denn nicht anders geht — obwohl ich meine, daß die Gemeinschaftsaufgaben sehr wohl ihren Sinn gehabt haben. Das haben wir uns vor 13, 14 Jahren nicht mutwillig ausgedacht gehabt. Wenn etwas neu eingeordnet werden muß — das sage ich jetzt an beide Seiten, Bund und Länder —: Bitte nicht nach der Art von Teppichhändlern, sondern jetzt mal wirklich im Sinne des kooperativen Föderalismus! Und ich darf für den Bund unterstellen — das mag die Sache für die Länder leichter machen —: ohne daß der Bund bei einem solchen Prozeß finanzielle Vorteile für sich erzielen will.
    Ich hätte gerne gesehen, daß wir in diesen Tagen das, was mit kommunaler Selbstverwaltung zu tun hat, noch ein bißchen deutlicher machen. Das wird nicht weniger wichtig. Gerade dann, wenn sich die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen erschweren, wird das, was in den Städten geschieht, noch wichtiger. Ich will hier mal sagen: Ich bin als Bundestagsabgeordneter zwar in erster Linie der Partner der Bundesregierung, ich bin als Vorsitzender der Sozialdemokratischen Partei zugleich derjenige, der für unsere Verantwortlichkeit im Bund, in den Ländern und in den Städten und Gemeinden einzustehen hat. Ich möchte, daß das nicht zu kurz kommt in der Zeit, die vor uns liegt.
    Bei der Wohnungspolitik denke ich: Wie der Staat in einer — gewissen — Verantwortung für die Arbeitsmarktpolitik steht, so steht er auch in der Verantwortung für die Wohnungspolitik, wo es um die Schwachen geht.

    (Beifall bei der SPD und der FDP)

    Das gilt auch für den Mieterschutz. Von den — summa summarum — 20 Milliarden DM öffentlicher Mittel, die staatlicherseits für den Wohnungsbau jährlich zur Verfügung stehen — seien es Etatmittel, seien es Steuerverzichte —, fließen 15 Milliarden DM der Eigentumsbildung, gegen die ich ja vom Prinzip her gar nichts habe und haben kann, und 5 Milliarden DM den Förderungsprogrammen zu. Das ist nicht ausgewogen. Es ist eben so, daß die Förderungsprogramme, die jetzt — erfreulicherweise — nicht gestrichen werden, trotzdem nicht eine neue Wohnung mehr bringen werden. Ich halte es für richtig, die Rahmenbedingungen des sogenannten frei finanzierten Mietwohnungsbaus zu verbessern. Ich bin nicht sicher, ob der erhoffte Effekt eintreten wird. Unverständlich bliebe es vielen von uns, wenn bei der Eigentumsbildung neuer Art oder reduzierter Art besonders diejenigen steuerlich gefördert würden, die am meisten verdienen.

    (Beifall bei der SPD)




    Brandt
    Je höher das Einkommen und die Steuerlast eines Bauherrn sind, desto größer ist sein Vorteil, wenn er baut. Darüber muß man noch ein bißchen weiter nachdenken. Ich möchte sehr darum bitten, daß man dann, wenn die Länder in Zukunft die volle Verantwortung für den sozialen Wohnungsbau übernehmen, seine Aufmerksamkeit auf den zu befürchtenden negativen wohnungspolitischen und sozialpolitischen Effekt richtet. Wenn der Staat jetzt eine sogenannte Fehlbelegungsabgabe für diejenigen, die viel verdienen und im sozialen Wohnungsbau leben, einführen will — es ist an eine gemeinsame Durchsetzung gedacht; anders geht es ja nicht —, dann wäre eine vergleichbare Maßnahme doch eigentlich auch im Bereich der Eigentumsförderung berechtigt.

    (Beifall bei der SPD)

    Ich will kein zu düsteres Bild malen. Wir haben es zunächst mit einer zeitlich begrenzten Aufgabe zu tun. Die demographische Entwicklung zeigt uns, daß es Ende der 80er Jahre sehr viel leichter wird, daß es dann sehr viel weniger junge Leute geben wird, die heiraten und eine Wohnung haben wollen. Ich möchte nur dies sagen: Herr Bundeskanzler, zu den von Ihnen genannten Gruppen, um die man sich besonders kümmern muß — kinderreiche Familien, Alleinstehende, ausländische Arbeitnehmer —, gehören heute die Studenten in vielen Städten der Bundesrepublik dazu.

    (Beifall bei der SPD und der FDP)

    Deshalb habe ich persönlich — ich habe dies nicht mit meiner Fraktion besprochen — meine Zweifel — ich verstehe ja die finanziellen Zwänge —, ob man bei noch wachsender Studentenzahl — und dies haben wir ja mit gewollt — die Bundesförderung von Studentenwohnheimen einstellen sollte.

    (Beifall bei der SPD und der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

    Meine Damen und Herren, Mut zur Zukunft, Mut zur Erneuerung muß immer auch heißen: Mut zur Demokratie. Herr Kohl sprach etwas spöttisch — warum nicht, als Polemik — von der geistigen Austrocknung. Es gibt aber eben doch ein gutes Stück gemeinsamer geistiger Tradition seit 1848.

    (Dr. Kohl [CDU/CSU]: Das ist aber schon lange her!)

    Auch die Arbeiterbewegung ist im Ringen um liberale Grundrechte großgeworden, und andere haben erkannt, daß auch die liberalen Grundrechte durch neue soziale Grundrechte ergänzt werden müssen.

    (Beifall bei der SPD und der FDP)

    So weit auseinander ist das nicht. Reformen brauchen Gleichgewicht, wenn es um die liberalen und um die sozialen Ansprüche geht. Für Sozialdemokraten ist das klar: im Zweifel für die Freiheit. Das gilt nicht nur für Sozialdemokraten in Deutschland, das gilt auch für demokratische Sozialisten anderswo in Europa. Wir sind selbst dabei. Was könnte wohl von unseren wohlfahrtsstaatlichen und etatistischen Traditionen überholt sein — das machen wir ja selbst, das können wir auch mit anderen machen —, was uns nicht zu neoliberalistischen Konsequenzen führt, indem man vom Markt und von der
    Geldpolitik mehr erwartet, als sie geben können? Ich wiederhole es in diesem Zusammenhang noch einmal: eine Politik, die auch und gerade von Arbeitern und Angestellten Einschränkungen und Opfer verlangt, kann nur gemeinsam mit den Arbeitnehmern, ihren Vertretern und ihren Organisationen vernünftig gemacht werden.

    (Beifall bei der SPD und der FDP)

    Ich habe keine Sorgen um die Grundlagen sozialliberaler Politik. Ich finde, daß wir mit Hans-Dietrich Genscher und mit den Kollegen aus der freien Demokratischen Partei eine solide auswärtige Politik weitermachen. Ich sehe nicht die Konstellation, die dies besser machen könnte. Ich sehe, daß diese Koalition unser Land trotz aller Schwierigkeiten durch schwierige Krisen gebracht hat und — davon bin ich überzeugt — weiter bringen wird.

    (Beifall bei der SPD und der FDP)

    Wir sind für den Ausbau des Rechtsstaates und die Wahrung seiner Liberalität, wie es in der Regierungserklärung steht. Wir sind — das braucht nicht in der Regierungserklärung zu stehen — für Toleranz und geistige Freiheit. Wir können miteinander gehen, um dafür zu sorgen, daß Gleichberechtigung nicht nur auf dem Papier stehenbleibt, und wir können uns erneut, hoffentlich auch mit vielen aus der Union, im Kampf gegen die Bürokratie verbünden.

    (Demonstrativer Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

    An vier Stellen — ich will sie jetzt nicht alle aufzählen — kommt das in der Regierungserklärung und an zwei Stellen beim Kollegen Kohl vor. Diese Punkte lassen sich gut zusammenordnen.
    In der Regierungserklärung gab es die wichtige Anknüpfung an das, was man ohne zu große Worte den Gesellschaftsvertrag des Jahres 1951 genannt hat. Damals waren es Konrad Adenauer, Hans Böckler, erster Bundeskanzler, Führer der deutschen Gewerkschaften, nach all dem Elend, das über unser Land gekommen war. Seitdem sind für uns Sozialdemokraten und für unsere Freunde in den Gewerkschaften Einheitsgewerkschaft und Mitbestimmung Säulen der zweiten deutschen Demokratie.

    (Lebhafter Beifall bei der SPD und Beifall bei Abgeordneten der FDP)

    Da gibt es starke Berührungen mit der katholischen Soziallehre und der evangelischen Sozialethik, übrigens auch mit Friedrich Naumann, wenn ich dies sagen darf.

    (Dr. Kohl [CDU/CSU]: Nicht ganz so!)

    Mitbestimmung in den beiden besonders schwierigen Bereichen Kohle und Stahl hat tiefgreifende Strukturkrisen vertrauensvoll lösen helfen.

    (Beifall bei der SPD und der FDP)

    Jetzt sind zwei Koalitionspartner von wirklich sehr unterschiedlichen Ausgangspositionen an diese Sache herangegangen. Aber entgegen den Wunschvorstellungen anderer haben wir — das wird nicht bei dieser Sache bleiben — die Kraft zum gemeinsamen Vorgehen gefunden, so wie wir sie gefunden haben



    Brandt
    beim Betriebsverfassungsgesetz 1972, beim Personalvertretungsgesetz 1974, beim Mitbestimmungsgesetz 1976.

    (Beifall bei Abgeordneten der FDP)

    Es war jedesmal etwas, was sich für die Menschen in Fabriken und Büros in dieser Bundesrepublik Deutschland gut ausgewirkt hat.

    (Beifall bei der SPD und der FDP)

    Die jetzt getroffene Abmachung bedeutet ja nicht, daß irgendwo ein Fallbeil für diese dreißig Unternehmen mit einer halben Million Arbeitnehmer heruntergeht. Im Gegenteil, auch wenn die nach dem Gesetz geltenden Voraussetzungen beim Produktionsanteil entfallen, geht das noch sechs Jahre weiter, und dann kümmern wir uns um das Anschlußgesetz. Das ist doch wohl klar. Daß die Gewerkschaftsvertreter innerhalb der Gesetzgebung der Jahre 1951 bis 1956 ihre Vertreter so zur Wahl stellen wie die gewissermaßen internen im Aufsichtsrat, ist ja so schlecht nicht. Das entspricht übrigens im Grundzuge dem, was der damalige Fraktionsvorsitzende Helmut Schmidt 1968 mit einem Entwurf zur Mitbestimmung hier im Bundestag eingebracht hat. Manchmal ist es gut, man blättert ein bißchen nach.
    Es ist j a nicht so, als ob das Kapitel Mitbestimmung abgeschlossen sei. Die Freien Demokraten haben uns vorher wissen lassen, daß sie nicht nur davon ausgehen, sondern es für natürlich halten, daß Sozialdemokraten hierzu noch ein ergänzendes Wort sagen. Wir waren z. B. der Meinung und werden das wieder aufgreifen, wenn es das nächste Mal kommt, daß es bei dem hohen Rang, die die autonomen Gruppen in unserer Gesellschaft haben, gar nicht so schlecht wäre, wenn der Gesetzgeber die Voraussetzung dafür gäbe, daß sich Unternehmensleitungen und Gewerkschaften auch vereinbaren könnten über das, was mit gleichgewichtiger Mitbestimmung zu tun hat.
    Nein, wir werden unser Ziel nicht aus den Augen lassen. Wir werden unseren Freunden in den Gewerkschaften nicht hineinreden. Ich bin dem Vorsitzenden des Deutschen Gewerkschaftsbundes, meinem Freund Heinz-Oskar Vetter dankbar dafür, daß er dies richtig eingeordnet hat.

    (Beifall bei der SPD)

    Ich bitte manche meiner anderen Freunde in den Gewerkschaften, die j a auch immer, wie wir, sonst noch viel zu tun haben, noch genauer hinzuschauen, noch genauer durchzurechnen und nicht notwendigerweise ein halbvolles Glas ein halbleeres zu nennen.

    (Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten der FDP)

    Was sagt die Bundesregierung der Jugend? Die Regierungserklärung enthielt einiges. Da ist sicher auch hinzuzufügen, daß wir lernen müssen, diese jungen Menschen zu gewinnen; denn es ist ihr Leben, es sind ihre Möglichkeiten, über die in diesen Jahren entschieden wird. Deshalb bitte hier und anderswo nicht von oben herab im Verhältnis zur Jugend, sondern um ihre Teilnahme bitten, auch dort, wo diese Teilnahme unbequem ist!

    (Beifall bei der SPD und der FDP)

    Ein Teil der Jugend empfindet nun einmal aus ihrer Erfahrungswelt heraus Unbehagen gegenüber einer Gesellschaft, von der sie meint, sie sei zu einseitig materialistisch orientiert. Ein Teil dieser Jugend fragt nach Chancen für neue Lebenseinstellungen und für eine neue Qualität mitmenschlicher Bindungen. Und da bitte — das richtet sich an alle, die staatliche Verantwortung tragen — nicht zusammenzucken, schon gar nicht nach dem Büttel staatlicher Macht rufen, wenn jemand einmal etwas denkt, was mit der mehrheitlichen Meinung ganz und gar nicht konform ist,

    (Beifall bei der SPD und der FDP)

    nicht Barrieren bauen, wenn jemand etwas in Frage stellt, was uns — ich muß von mir aus sagen —: Alten und den anderen, den mittleren Jahrgängen vertraut ist! Wir haben früher gesagt — ich bleibe dabei —: Wir brauchen Menschen, die kritisch mitdenken, mitentscheiden, mitverantworten. Dazu bedarf es eines Klimas der Freiheit, der Offenheit, der Toleranz. Toleranz ist ohnehin eine der Haupttugenden der Demokratie. Die ist nur dann lebensfähig, wenn jeder Bürger die Garantie hat, er selber bleiben zu können. Das unterscheidet uns j a von einem totalitären Staat. Deshalb bitte nicht gleich von einer Störung der Ordnung sprechen, wenn Institutionen angezweifelt werden.

    (Beifall bei der SPD)

    Wenn wir mit der Jugend, mit dem kritischen Teil der Jugend, nur reden, um ihr etwa den Sinn einer äußeren Form zu erklären,

    (Zuruf von der CDU/CSU: Sprechen Sie mal mit den Bonner Jugendlichen!)

    aber sprachlos bleiben auf die Fragen, die sie sonst zu stellen hat, dann kann uns der Gesprächsfaden entgleiten.
    Ich will hier ganz offen sagen — ich war ja damals mitverantwortlich, manche meinen: mitschuldig —: ich war tief erschrocken — inzwischen höre ich, der Ministerpräsident Vogel aus Rheinland-Pfalz sieht es nicht viel anders —, tief erschrocken, welcher Unsinn aus der Prüfung der Verfassungstreue im öffentlichen Dienst gemacht worden ist

    (Beifall bei der SPD und der FDP)

    und welche bürokratische Idiotie — ich wiederhole das Wort: bürokratische Idiotie — damit verbunden worden ist. Da ging es doch in Wahrheit vielfach gar nicht darum, unser Gemeinwesen vor bombenwerfenden Systemveränderern zu schützen, sondern da wurde der Eindruck vermittelt, junge Leute sollten dafür bestraft werden, daß sie die Frage aufgeworfen hatten, ob nicht manches hier anders und nach ihrem Verständnis besser gemacht werden könnte.

    (Beifall bei der SPD und der FDP)

    In der Regierungserklärung heißt es: „Je nach-
    dem, wie wir uns politisch entscheiden, kann unser Land in 10 oder 20 Jahren sehr verschieden ausse-



    Brandt
    hen." Das ist wohl wahr. Wie die Entscheidungsalternativen aussehen, wie sie aussehen können, das ist eine Frage nicht nur der objektiven Gegebenheiten, sondern auch der Ideen und des Gestaltungswillens. Das, Herr Kollege Kohl, hängt natürlich mit der Frage zusammen, wie wir uns zueinander verhalten.
    Ich habe daran mitgewirkt, daß zwei Tage nach der Wahl die Vorsitzenden der Parteien und Fraktionen von dort und von dort zu Papier gebracht haben:
    Alle demokratischen Kräfte sind aufgerufen, den Nutzen unseres Volkes zu mehren und Schaden von ihm abzuwenden. Deshalb halten es die Koalitionspartner für wünschenswert, daß die zum Teil schlimmen Entgleisungen im Wahlkampf vom Tisch kommen. Dies geht nur, wenn alle Seiten den Willen dazu haben. Die Meinungsverschiedenheiten in der Sache sollen davon nicht berührt werden.
    Der Herr Bundestagspräsident, den man normalerweise nicht in eine Parlamentsdebatte einbezieht, hat zu Beginn unserer Arbeit eine Rede gehalten, die wir mit mehr als einem dem Präsidenten gebührenden Respekt zur Kenntnis genommen haben. Ich habe ihm dafür gedankt, habe es aber auch für richtig gehalten, den Satz so zu formulieren: „Ich weiß auch zu würdigen, daß Sie einen Beitrag dazu geleistet haben, das Klima zwischen den tragenden politischen Kräften in unserem Lande zu entgiften."
    Verehrter Herr Kollege Kohl, ich denke, wenn man sich das, was auf der vorletzten Seite Ihrer Rede festgehalten ist, noch einmal in Ruhe anguckt, dann führt das ein Stück weiter. Ich muß eben in aller Offenheit — was vorhin schon durch einen Zwischenruf zum Ausdruck kam — sagen: ein paar Dinge müssen noch vom Tisch. Sie mögen ja meinen, das sei bei uns auch so.

    (Dr. Kohl [CDU/CSU]: In der Tat, in der Tat!)

    Ich denke, wenn dies jetzt — worüber zu diesem Teil gesprochen worden ist — nicht bloße Pflichtübung bleiben soll, muß noch das eine vor allen Dingen dort, wo es in der Tradition der deutschen Rechten Landesverrat und Hochverrat unterstellt, geklärt werden.

    (Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten der FDP)

    Im übrigen, meine Damen und Herren, sage ich zum Schluß: Blanker Materialismus — das wissen Sozialdemokraten so gut wie andere — eignet sich nicht zu demokratischer Staatsräson. Aber ich predige, wir predigen nicht eine Ethik des Verzichts. Wir plädieren für ausreichende Gerechtigkeit nicht nur innerhalb der Staaten, sondern auch zwischen diesen in der Welt. Wir werden in einer Zeit rapiden und tiefgreifenden Wandels nur dann bestehen können, wenn Einzelinteressen in eine gesamtgesellschaftliche Solidarität eingefügt sind.

    (Beifall bei der SPD und der FDP)

    In der Wirtschafts- und Sozialpolitik braucht es — ich habe es begründet — eine möglichst enge Zusammenarbeit zwischen Staat, Unternehmern und Gewerkschaften. Ein Weiteres: Diejenigen, die politische Verantwortung tragen, müssen für neue Ideen — ob sie sie nun selbst zu entwickeln vermögen oder nicht — aufgeschlossen bleiben, und staatliche Entscheidungen von Gewicht sind in möglichst enger Abstimmung mit den betroffenen und interessierten Bürgern zu fällen. Diejenigen, die es angeht, sollen spüren: Ihr Sachverstand wird gebraucht; der demokratische Staat ist auf ihre Mitwirkung angewiesen.
    Meine Damen und Herren von der Opposition, ich habe einleitend gesagt: Was unser Volk von uns erwartet, ist, miteinander zu wetteifern, wo es um die Lebensbedingungen der Menschen geht, um ihre Interessen, um die Sicherung der Zukunft unseres Volkes. Dafür gewähren wir der Regierung unsere aktive Unterstützung, und dazu bieten wir allen Teilen dieses Hauses, so dies möglich ist, unsere Zusammenarbeit an.

    (Anhaltender lebhafter Beifall bei der SPD und der FDP)